Dick Francis Gefilmt Roman
Ein berühmter englischer Schauspieler und Pferdeliebhaber gerät in Südafrika in eine mörderi...
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Dick Francis Gefilmt Roman
Ein berühmter englischer Schauspieler und Pferdeliebhaber gerät in Südafrika in eine mörderische Erbschaftsauseinandersetzung um eine Goldmine.
Dick Francis
Gefilmt
Originaltitel: ›Smokescreen‹
Aus dem Englischen von Malte Krutzsch
© 1993 Diogenes Verlag AG Zürich
ISBN 3 257 22656 X
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Edward Lincoln ist ein berühmter Schauspieler. Auf der Leinwand mimt er den mutigen Helden, den stürmischen Liebhaber und liefert den Verbrechern halsbrecherische Verfolgungsjagden. Außerhalb der Filmstudios ist er nichts als ein zufriedener Familienvater und ge wöhnlicher Bürger. Südafrika, wo Lincoln für seinen jüngsten Film Werbung machen soll, ist nun allerdings nicht gewöhnlich. Dort lau ern die Gefahren nicht nur vor der Kamera: eine bis oben mit Spreng stoff gefüllte Goldmine, ein Naturreservat voller Raubtiere und ein unheilvolles Gestüt feuriger Vollblutpferde, die kein einziges Rennen gewinnen … Seine beste Rolle spielt Lincoln ohne Drehbuch, fern der klimatisierten Filmstudios, in der sengenden Afrikasonne. Und dies mal ist es kein Spiel. »Francis wählt für jedes Buch eine völlig neue Konstellation, er stellt jeweils neue Hauptfiguren in den Mittelpunkt und vermeidet bewußt den Seriencharakter, wie man ihn bei anderen Krimi-Autoren häufig findet. Ungewöhnlich knapp, bissig und scharfsinnig sind die Dialoge, die seinen Büchern den typischen Francis-touch verleihen. Zudem sind die Helden keine schießwütigen James-Bond-Draufgänger, son dern eher nachdenkliche, intelligente Softies, die allerdings kein Par don mehr kennen, wenn sie von unbelehrbaren Schurken herausgefor dert werden.« Peter Münder / NDR, Hamburg Neuübersetzung
Der Autor
Dick Francis, geboren 1920, war viele Jahre Englands erfolgreichster Jockey, bis ein mysteriöser Sturz 1956 seine Karriere beendete. Seit 35 Jahren schreibt er jedes Jahr einen Roman. Dick Francis wurde un ter anderem dreifach mit dem Edgar Allan Poe Award und dem Grand Master Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau auf den CaymanInseln.
Dick Francis
Gefilmt
Roman
Aus dem Englischen
von Malte Krutzsch
Diogenes
Titel der 1972 bei Michael Joseph Ltd., London, erschienenen Originalausgabe: ›Smokescreen‹ Copyright © Dick Francis 1972
Umschlagzeichnung von
Tomi Ungerer
Meinen Dank an Jane und
Christopher Coldrey
Neuübersetzung Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1993
Diogenes Verlag AG
ISBN 3 257 22656 X
1
N
aßgeschwitzt, durstig, eingeengt und zum aus der Haut fahren müde. Zynisch zählte ich meine Leiden. Sie waren beträchtlich. In mehr als einer Hinsicht be trächtlich. Ich saß auf dem Fahrersitz einer aerodynamischen Sportwagen-Sonderanfertigung, dem ausrangierten Spiel zeug des Sohnes eines Ölscheichs. Ich saß nun bereits seit fast drei Tagen dort. Vor mir erstreckte sich die sonnen dürre Ebene bis hin zu ein paar fernen, braun und violetten Hügeln, und deren bucklige Formen blieben Stunde um Stunde genau, wo sie waren, am Horizont, denn der 150 Meilen schnelle Sportwagen bewegte sich nicht von der Stelle. Und ich auch nicht. Verdrießlich sah ich auf die massi ven blanken Handschellen, die sich um meine Handgelen ke spannten. Einer meiner Arme war von innen durch das Lenkrad geführt, der andere außen rum, so daß ich regel recht an das Steuer gefesselt war und daher fest mit dem Wagen verbunden. Dazu kam noch die Kleinigkeit mit dem Sicherheitsgurt. Der Sportwagen sprang nur an, wenn man den Gurt ge schlossen hatte. Jetzt steckte zwar kein Schlüssel in der Zündung, aber festgeschnallt war ich trotzdem: Der Gurt lag quer über meinem Magen und schräg über meiner Brust. 6
Ich bekam die Beine nicht aus ihrer gestreckten Sport flitzerposition heraus, um das Lenkrad mit den Füßen zu attackieren. Ich hatte es versucht. Ich war zu groß und konnte die Knie nicht weit genug anziehen. Außerdem war das Steuer auch nicht aus – möglicherweise zerbrechli chem – Kunststoff. Wer sündhaft teure Autos wie diese Spezialanfertigung baute, hatte mit Plastiklenkrädern nichts im Sinn. Das Teil hier war aus lederbezogenem Metall, mit kleinem Durchmesser, so beständig wie der Mont Blanc. Ich hatte es gründlich satt, in dem Wagen zu sitzen. Je der Muskel in meinen Beinen, dem Rücken und den Ar men protestierte energisch gegen das Eingezwängtsein. Eine harte, schwere Eisenklammer hinter meinen Augen zog sich zu einem spürbaren Schmerz zusammen. Es war wieder einmal Zeit für einen entschlossenen Ausbruchsversuch, wenn ich auch von zahllosen ähnlichen Versuchen wußte, daß es nicht zu schaffen war. Ich zerrte und zog mit aller Kraft an dem Gurt und an den Handschellen, kämpfte, bis mir erneut der Schweiß übers Gesicht lief – und kam, wie zuvor, nicht einen Mil limeter frei. Ich lehnte den Kopf gegen die gepolsterte Nackenstütze und drehte mein Gesicht zu dem offenen Fenster rechts neben mir. Ich schloß die Augen. Wie einen Hieb fühlte ich das Sonnenlicht mir auf Wangen, Hals und Schulter knallen, mit der ganzen Glut eines Julinachmittags um drei auf 37 Grad nördlicher Breite. Ich spürte die Hitze auf meinem linken Augenlid. Ich ließ Falten der Frustration und des Schmerzes auf meiner Stirn entstehen, gab meinem Mund einen Zug ins Grimmige, ließ einen Muskel am Unterkie fer zucken und schluckte wie einer, der alle Hoffnung auf gegeben hat. 7
Danach saß ich reglos und wartete. Die Wüstenlandschaft war sehr still. Ich wartete. Dann rief Evan Pentelow mit erkennbarem Zögern: »Schnitt«, und die Kameraleute nahmen ihre Augen vom Sucher. Nicht ein Windhauch fuhr in die großen bunten Schirme, die ihnen und ihrer Ausrüstung Schatten boten. Evan fächelte sich heftig mit seinem Drehplan, um so den Luftzug zu erzeugen, für den die Natur nicht gesorgt hatte, und andere aus der kleinen Gruppe unter den tragbaren grünen Polystyrol-Sonnnendächern erwachten träge zum Leben, nachdem die erbarmungslose Hitze sie vor Stunden schon ihrer Energie beraubt hatte. Der Tonmann nahm die Kopfhörer ab, hängte sie über die Stuhllehne und drehte langsam an den Knöpfen seines Nagra-Aufnahmegerätes herum, während die Beleuchter freundlicherweise den Haufen Minibrute-Lampen ausschalteten, die die Sonne unbarmherzig verstärkt hatten. Ich sah in das Objektiv der Arriflex, die aus zwei Metern Abstand von meiner rechten Schulter jede schwitzende Pore aufgenommen hatte. Terry, hinter der Kamera, wischte sich mit einem staubigen Taschentuch den Hals, und Simon ergänzte den Bildnegativbericht für das Ko pierwerk. Von weiter hinten, aus einem anderen Winkel, hatte die Mitchell mit ihrem 300-Meter-Magazin dieselbe Szene aufgenommen. Lucky, der sie bediente, wich geflissentlich meinem Blick aus, wie er es schon seit dem Frühstück tat. Er dachte, ich sei sauer auf ihn, weil sich herausgestellt hatte, daß seine letzten Aufnahmen von gestern – auch wenn er schwor, daß er nichts dafür konnte – verschleiert waren. Ich hatte ihn unter den Umständen recht mild gebe ten, darauf zu achten, daß heute nicht wieder was dane benging, da ich glaubte, nicht mehr allzu viele Wiederho lungen von Szene 623 ertragen zu können. 8
Seitdem hatten wir sie sechsmal neu aufgenommen. Un terbrochen allerdings von einer kurzen Mittagspause, das gebe ich zu. Evan Pentelow hatte sich laut und oft bei jedermann ent schuldigt, daß wir die Szene eben immer wieder drehen müßten, bis ich sie richtig hinbekäme. Nach jeder zweiten Aufnahme änderte er seine Meinung darüber, wie sie sein sollte, und obwohl ich mich ziemlich genau an seine minu tiösen Regieanweisungen hielt, hatte er sich noch kein einziges Mal zufrieden geäußert. Jedes einzelne Mitglied des Teams, das zum Abschluß der Außenaufnahmen nach Südspanien gekommen war, wußte, welche Feindseligkeit hinter der disziplinierten Höflichkeit lag, mit der er mich ansprach – und mit der ich ihm antwortete. Angeblich hatten sie Wetten darauf abge schlossen, wie lange ich mich beherrschen würde. Das Mädchen, das den kostbaren Schlüssel für die Hand schellen verwahrte, kam langsam von dem am weitesten entfernten grünen Sonnendach herüber, unter dem das Scriptgirl, die Maskenbildnerin und die Kostümfrau er schöpft auf ausgebreiteten Handtüchern saßen. Feuchte Haarkringel klebten am Hals des Mädchens, als sie die Wagentür öffnete und den Schlüssel ins Loch steckte. Es waren die bei der britischen Polizei üblichen Handschellen mit der Schraube, die zu öffnen man Kraft braucht, und sie hatte immer etwas Mühe, den Schlüssel um die entschei denden letzten Widerstände herumzudrehen. Sie sah mich ängstlich an, da sie wußte, daß ich vom Überkochen nicht weit entfernt sein konnte. Ich brachte wenigstens die Muskelbewegung eines Lächelns zustande, und die Erleichterung darüber, daß sie nicht angeschnauzt wurde, verlieh ihr den nötigen Schwung, um die Hand schellen jetzt flott herunterzubekommen. 9
Ich schnallte den Sicherheitsgurt los und trat steif hinaus in die Sonne. Es war gut zehn Grad kühler draußen als in dem Sportwagen. »Steigen Sie wieder ein«, sagte Evan. »Wir müssen es noch mal machen.« Ich zog eine Lunge voll reinster Saharaluft ein und zähl te im Geist bis fünf. Dann sagte ich: »Ich fahre jetzt rüber zum Wohnwagen, ein Bier trinken und pinkeln, und wir schießen das noch mal, wenn ich wiederkomme.« Dafür würden sie den Pott nicht austeilen, dachte ich be lustigt. Das mochte ein Riß im Vulkan sein, aber es war nicht der große Krakatau-Ausbruch. Ich fragte mich, ob sie auch von mir selbst eine Wette auf den Zeitpunkt der Eruption annehmen würden. Niemand hatte daran gedacht, die Plane über den Mini moke zu decken, um ihn gegen die Sonne zu schützen. Ich stieg in den kleinen offenen Wagen, der hinter dem größ ten Sonnendach abgestellt war, und fluchte, als ich mich durch die dünne Baumwollhose am Leder des Sitzes ver brannte. Das Steuer war heiß genug zum Eierbacken. Meine Hosenbeine waren bis zu den Knien hochgerollt, und an den Füßen hatte ich Strandschuhe. Sie bildeten ei nen merkwürdigen Gegensatz zu dem förmlichen weißen Hemd und der dunklen Krawatte, die ich dazu trug, doch schnitt die Arriflex mich bei der Aufnahme ja in Kniehöhe ab und die Mitchell noch weiter oben, über der Taille. Ich fuhr den Moke ohne Hast zu der zweihundert Meter entfernten Senke, in der im Halbkreis die Wohnwagen standen. Ein armseliger Baum warf einen dünnen Schatten, besser als nichts für den Moke, und so hielt ich dort an und ging zu Fuß zu dem Wohnwagen hinüber, der mir als Gardero be zugeteilt war. 10
Die klimatisierte Luft im Innern wirkte wie eine frische Brise und fühlte sich fantastisch an. Ich lockerte meinen Schlips, knöpfte den obersten Knopf an meinem Hemd auf, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich müde auf die Liege, um es zu trinken. Evan Pentelow war damit beschäftigt, eine alte Rech nung zu begleichen, und leider gab es für mich keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern. Ich hatte bisher erst einmal mit ihm gearbeitet, bei seinem ersten großen Film und meinem siebten, und zum Schluß konnten wir uns nicht mehr ausstehen. Die Lage hatte sich auch nicht da durch gebessert, daß ich es anschließend abgelehnt hatte, unter seiner Regie zu filmen, ein Umstand, durch den ihm mindestens zwei Kassenknüller entgangen waren, die er sonst hätte ergattern können. Evan war der Liebling jener Kritiker, die glaubten, daß Schauspieler nur spielen können, wenn der Regisseur ih nen haarklein sagt, was zu tun ist. Evan machte keine hal ben Sachen: Er sah es gern, wenn seine Filme als »der neue Pentelow« bezeichnet wurden, und das erreichte er, indem er die Leichtgläubigen überzeugte, daß die ganze Kiste von A bis Z auf sein Talent zurückging – und nur auf seines. Egal, was für ein alter Hase ein Schauspieler war, Evan brachte ihm rigoros sein Handwerk bei. Evan erörterte nicht, wie eine Szene gespielt, ein Wort betont werden sollte. Er schrieb es vor. Er hatte etliche große Namen auf Normalmaß gestutzt, ihnen zweifelhaftes Lob eingebracht wie etwa: »Pentelow ist es gelungen, ein ansprechendes Spiel aus Miss XY Su perstar herauszuholen.« Und er merkte sich jeden, der ihm, wie ich, keine Gelegenheit dazu gab. Zweifellos war er ein hervorragender Regisseur, begabt mit einer außerordentlich lebhaften visuellen Vorstel lungskraft. Die meisten Schauspieler arbeiteten ausgespro 11
chen gern mit ihm, da ihnen hohe Gagen winkten und sei ne Filme niemals unbeachtet blieben. Nur unverbesserli che Hornochsen wie ich waren der Ansicht, daß eine Dar bietung zu wenigstens neun Zehnteln die Eigenleistung des Schauspielers sein sollte. Ich seufzte, trank das Bier, ging aufs Klo und dann hin aus zu dem Moke. Apoll, um es einmal poetisch zu sagen, wütete noch immer am gleißenden Himmel. Der ursprüngliche Regisseur des heißen Action-Krimis, für den wir engagiert waren, war ein ruhiger Intellektueller gewesen, der sich meistens vor dem Frühstück schon ei nen angezischt hatte und eines Morgens um zehn nach ei ner Überdosis Scotch tot umfiel. Das passierte an einem freien Wochenende, das ich wandernd allein in den Ber gen von Yorkshire verbracht hatte, und als ich dienstags zum Drehort zurückkehrte, hatte Evan sich bereits häus lich eingerichtet und alle in die Zange genommen. Es war noch ungefähr ein Achtel von dem Film zu dre hen. Das durchtriebene Lächeln, das er aufgesetzt hatte, als er mich kommen sah, war reine, knüppeldicke Bosheit gewesen. Eine Beschwerde bei der Produktion hatte nur be schwichtigende Worte, aber keine erfreulichen Ergebnisse gebracht. »Sonst war niemand von dem Kaliber frei … Wir kön nen doch das Geld unserer Sponsoren nicht aufs Spiel set zen, oder? Nicht, wie die Dinge heute liegen. Das müssen wir realistisch sehen … Natürlich weiß ich, daß Sie nor malerweise nicht mit ihm arbeiten, Link, aber hier handelt es sich um einen Notfall, verdammt noch mal … Es steht auch diesmal nicht schwarz auf weiß in Ihrem Vertrag, müssen Sie wissen, denn ich habe nachgesehen. Na ja, wir haben wohl eigentlich auf Ihre Gutmütigkeit vertraut –« 12
»Und darauf«, unterbrach ich trocken, »daß ich vier Pro zent von den Bruttoeinnahmen kassiere?« Der Produktionsleiter räusperte sich. »Ehm, wir hätten unsererseits nicht den Fehler gemacht, Sie daran zu erin nern, aber da Sie es schon sagen, ja.« Belustigt hatte ich schließlich nachgegeben, wenn auch mit einem unguten Gefühl, da die Außenaufnahmen in dem Wagen alle noch bevorstanden. Ich hatte gewußt, daß Evan schwierig war, hatte aber nicht damit gerechnet, daß er es fast bis zum Sadismus treiben würde. Mit einem Ruck brachte ich den Moke hinter dem Son nendach zum Stehen und legte die Plane darüber, damit er nicht wieder zu glühen anfing. Ich war genau zwölf Minu ten weggewesen, doch als ich in den Unterstand trat, ent schuldigte Evan sich gerade bei den Kameraleuten, daß ich sie in dieser Hitze herumhängen ließ. Terry, der eben erst die Arriflex mit einem frischen Magazin aus der Kühlbox versorgt hatte, machte eine wegwerfende Hand bewegung, aber niemand raffte sich zu einer Widerrede auf. Bei vierzig Grad im Schatten hatte außer Evan nie mand mehr einen Funken Energie. »Also gut«, sagte er munter. »Steigen Sie in den Wagen, Link. Szene 623, die zehnte. Und daß es in drei Teufels Namen diesmal klappt.« Ich sagte nichts. Von den neun vorhergehenden Auf nahmen waren drei verschleiert; blieben die sechs von heute, und ich wußte genau wie alle anderen, daß Evan je de einzelne davon hätte verwenden können. Ich stieg ein. Wir filmten die Szene noch zweimal. Evan brachte es fertig, selbst danach noch zweifelnd den Kopf zu schütteln, doch der Chefkameramann sagte ihm, das Licht werde zu gelb und weitere Aufnahmen seien sinnlos, da sie sich nicht auf die Szene davor abstimmen 13
ließen. Evan gab nur nach, weil ihm kein plausibler Grund zum Weitermachen einfiel, und dafür dankte ich Apoll. Das Team packte zusammen. Das Mädchen kam schlapp herüber und nahm mir die Handschellen ab. Zwei Arbeiter begannen den Sportwagen in Staubdecken und Planen ein zumummeln, die sie am Boden festpflockten, und Terry und Lucky bauten ihre Kameras ab und machten sie trans portfertig. Zu zweit oder zu dritt zottelten alle zu den Wohnwagen hinüber, während ich Evan in dem Moke mitnahm und un terwegs nicht ein Wort zu ihm sagte. Der Bus aus der na hen Kleinstadt Madroledo war eingetroffen und hatte die beiden Nachtwächter mitgebracht. Die Bezeichnung »Bus« war schmeichelhaft für ihn – ein alter Flughafen pendler mit viel Gepäckraum und wenig Sitzkomfort. Die Firma behauptete, sie habe sich einen klimatisierten Lu xus-Reisebus ausbedungen, doch tatsächlich aufgetaucht war diese Klapperkiste. Das Hotel in Madroledo, in dem die ganze Crew wohnte, gehörte so ziemlich zur gleichen Kategorie. Die kleine Stadt im Landesinneren, weitab vom Fremdenverkehr, bot Vorzüge, über deren Bescheidenheit jeder Pauschalreise unternehmer erblaßt wäre, doch die Produktion sagte, sie hätte uns dort unterbringen müssen, da die besten Hotels an der Küste, in Almería, von Hunderten von Amerikanern belegt seien, die im benachbarten Wüstenabschnitt ein Westernepos drehten. Eigentlich waren mir selbst die strapaziösen Teile dieses Films noch erheblich lieber als das letzte kleine Abenteu er, in dem ich agiert hatte, eine nebelumwaberte Kletter jagd, bei der ich tagelang an Felsvorsprüngen hing, wäh rend die Requisite mir eimerweise künstlichen Gewitter regen über den Kopf schüttete. Es nützte nicht viel, wenn ich mich über die Hämmer beschwerte, die mir mitunter 14
zugemutet wurden: Ich hätte als eine Art Stuntman ange fangen, hieß es dann, was machte es da schon aus, wenn es ein bißchen kalt, ein bißchen heiß sei? Steigen Sie auf die Felskante, sagte man mir. Steigen Sie in den Wagen. Und denken Sie einfach daran, wieviel Kohle das gibt, mit der Sie sich später über Ihre Arthritis hinwegtrösten können. Nur keine Angst, sagte man, wir lassen nicht zu, daß Ihnen ernstlich was passiert – nicht bei den hohen Versiche rungsprämien und nicht, solange noch fast jeder Film, den Sie drehen, die Herstellungskosten innerhalb eines Monats einspielt. Reizende Menschen, die Produzenten, mit Dol larzeichen statt Augen, Registrierkassen statt Herzen. Abgekühlt und erfrischt traf sich das ganze Team zum Aperitif in Madroledos Vorstellung von einer amerikani schen Bar. Draußen in der Wüste stand der Sportwagen von Scheinwerfern bewacht in der warmen Nacht, ein vermummtes Etwas, das heute nicht mehr gebraucht wur de. Morgen abend oder spätestens übermorgen, dachte ich, würden wir alle Szenen abgedreht haben, für die ich ans Steuer gekettet sein mußte. Vorausgesetzt, daß Evan kein Vorwand einfiel, Szene 623 noch mal zu drehen, fehlten uns bloß noch 624 und 625, die Rettung aus höchster Not. Szene 622 und 621, in denen der Mann aus einem drogen induzierten Schlaf erwacht und seine mißliche Lage ab schätzt, hatten wir fertig, und auch die Helikopterschüsse waren im Kasten: weit ausgreifende und dann näher her angehende Luftaufnahmen, die den Sportwagen auf sei nem öden, einsamen Terrain zeigten und den zusammen gesackten Mann im Wageninneren erkennen ließen. Das sollten die ersten Bilder des Films sein und der Hinter grund zum Vorspann; der Hauptteil der Geschichte wurde anschließend in einer einzigen langen Rückblende erzählt, aus der hervorging, wie der Wagen und der Mann dorthin gekommen waren. 15
In der Bar unterhielten sich Terry und der Chefkamera mann lang und breit über Brennweiten, wobei sie jeden klugen Gedanken mit einem Schluck Sangria begossen. Der Chefkameramann, im Fach auch als »Lichtsetzender« bekannt und privat als Conrad, klopfte mir sacht auf die Schulter und drückte mir ein beinah kaltes Glas in die Hand. Wir alle hatten diesen einheimischen Durstlöscher schätzengelernt, einen herben Rotwein, verdünnt mit Eis und etwas Fruchtsaft. »Da, lieber Junge; das wirkt Wunder gegen die Aus trocknung«, sagte er und nahm im gleichen Atemzug das unterbrochene Gespräch mit Terry wieder auf. »Der hat also 18 Millimeter Weitwinkel benutzt, und natürlich ist jedes bißchen Spannung aus der Szene verschwunden.« Conrad sprach mit der Autorität dessen, der einen Oscar im Schrank stehen hat, und sagte zu jedermann »lieber Junge«, vom Generaldirektor abwärts. Mit seiner von Na tur aus volltönenden Baßstimme und dem gepflegten Hän geschnurrbart hatte er den beachtlichen Status eines »Ori ginals« erlangt in einer Branche, die auf Originale spezia lisiert ist, doch hinter der Extravaganz lag ein scharfer technischer Verstand, der das Leben in vierundzwanzig Bilder pro Sekunde zerlegte und in Eastman Color dachte. Terry sagte: »Die Beale-Film nimmt ihn nicht mehr, seit er in Ascot damals 700 Meter ohne 85 er-Filter gedreht hat und sie einen Monat überziehen mußten, bis da das näch ste Rennen stattfand …« Terry war dick, kahlköpfig, vierzig und hatte den einsti gen Ehrgeiz, es zum Chefkameramann zu bringen und sei nen Namen groß im Vorspann zu sehen, aufgegeben. Jetzt begnügte er sich damit, ein solider, erfahrener, gut ausge lasteter Handwerker zu sein, und Conrad hatte ihn immer gern in seinem Team. 16
Simon stieß zu uns, und Conrad gab auch ihm ein Glas Sangria. Simon, der Materialassistent von Terrys Crew, war unsicherer, als er es mit dreiundzwanzig hätte sein sollen, und manchmal so naiv, daß man dachte, er sei gei stig zurückgeblieben. Seine Aufgabe bestand darin, vor jeder Aufnahme die Klappe zu schlagen, genau darüber Buch zu führen, wieviel Meter welchen Filmtyps verwen det wurden, und das für die Aufnahmen bestimmte Mate rial in die Kassetten einzulegen. Terry selbst hatte ihm gezeigt, wie man die Magazine lädt, ein Vorgang, bei dem man in völliger Dunkelheit, so zusagen blind, die unbelichtete Filmrolle in die Trans portspulen einsetzt. Jeder angehende Materialassistent übt zuerst mit schon belichteten Filmresten im Hellen, so lan ge, bis er es auch mit geschlossenen Augen kann. Als Simon es aus dem Effeff konnte, beauftragte ihn Terry, ein paar Kassetten richtig zu laden, und erst am Ende eines langen Drehtages wurde im Kopierwerk entdeckt, daß der ganze Film vollkommen schwarz war. Simon hatte offenbar genau das getan, was man ihm bei gebracht hatte: Er war in die Dunkelkammer gegangen und hatte den Film mit geschlossenen Augen eingelegt. Und das Licht dabei brennen lassen. Er nippte an seiner rosa Erfrischung, sah die anderen verwirrt an und sagte: »Evan hat mich sämtliche Aufnah men, die wir heute gemacht haben, als Kopierer eintragen lassen.« Er erwartete, in unseren Gesichtern Verwunde rung zu lesen, und fand keine. »Na hört mal«, fuhr er auf, »wenn doch die ersten Aufnahmen so gut waren, daß man sie kopieren kann, warum hat er dann noch so viele ge macht?« Keiner antwortete ihm außer Conrad, der ihn mitleidig ansah und meinte: »Denk mal scharf nach, Junge. Denk nach.« Aber das war von Simon zuviel verlangt. 17
Die Bar war ein großer, kühler Raum, mit weiß getünch ten Wänden und braun gefliestem Boden, und tagsüber angenehm, (nur daß wir dann selten da waren), abends aber ungemütlich wegen der grellen Sofittenbeleuchtung, die irgendein Banause an der Decke installiert hatte. Die vier Mädchen, die lustlos vor halbleeren Gläsern mit Li monensaft, Bacardi und Soda an einem Tisch saßen, be kamen, als es draußen dunkel wurde und das Licht anging, einen Stich ins Grüne und wurden auf einen Schlag zehn Jahre älter. Conrads Tränensäcke warfen dunkle Schatten, und Simons Kinn trat einen wenig schmeichelhaften Rückzug an. Ein weiterer langer Abend lag vor uns, genau wie die neun vorher: stundenlange Fachsimpelei und Klatsch, un terbrochen durch einen gelegentlichen Kognak, eine Zi garre und ein spanisches Abendessen. Ich hatte noch nicht einmal einen Text für den nächsten Tag zu lernen, da mein ganzer verbaler Beitrag zu Szene 624 und 625 aus wech selndem Gestöhn und Gemurmel bestand. Was war ich froh, bei Gott, was war ich froh, bald wieder nach Hause zu kommen. Wir setzten uns zum Essen in unseren Speiseraum, der so wenig einladend war wie die Bar. Wir setzten uns, wie es gerade kam, und ich landete zwischen Simon und der Handschellenfrau im letzten Drittel des langen Tisches. Wir waren etwa fünfundzwanzig insgesamt, alles techni sche Mitarbeiter außer mir und dem Schauspieler, der mir als mexikanischer Bauer zu Hilfe kommen sollte. Die Be legschaft war auf ein Minimum, unser Aufenthalt auf wenige Tage reduziert worden; die Produktion hatte die Wüstenszenen sogar, wie den übrigen Film, in Pinewood drehen wollen oder zur Not auf einem dürren Landstrich anderswo in England; doch der damalige Regisseur hatte 18
auf dem authentischen Flirren echter Hitze bestanden – Gott schenke seiner armen Seele trotzdem Frieden. Auf der anderen Tischseite war ein Platz frei. Kein Evan. »Er telefoniert«, sagte das Handschellenmädchen. »Ich glaube, das tut er schon seit wir zurückgekommen sind.« Ich nickte. Evan rief meistens abends die Produktion an, wenn auch normalerweise nicht besonders lange. Wahr scheinlich hatte er Mühe durchzukommen. »Ich bin froh, daß ich nach Hause kann«, meinte das Mädchen seufzend. Ihr erster Job bei Außenaufnahmen, auf den sie sich gefreut hatte, war letztlich eine Enttäu schung gewesen: eintönig, zu heiß, bierernst. Jill – ihr richtiger Name war Jill, aber Evan hatte sie bald nur noch Handschelle genannt, und die meisten vom Team hatten das übernommen – sah mich lauernd von der Seite an und fragte: »Geht’s Ihnen nicht auch so?« »Doch«, sagte ich unverbindlich. Conrad, der uns gegenübersaß, schnaubte laut auf: »Handschelle, meine Liebe, das gilt nicht. Wer nachhilft, fliegt raus aus der Wette.« »Das war nicht nachgeholfen«, verteidigte sie sich. »Aber so gut wie.« »Wie viele von Euch sind denn an dem Pott beteiligt?« fragte ich sarkastisch. »Alle außer Evan«, gab Conrad vergnügt zu. »Da ist auch ganz schön was zusammengekommen.« »Und hat schon jemand sein Geld verloren?« Conrad lachte leise in sich hinein. »Die meisten, lieber Junge. Heute nachmittag.« »Und Sie?« sagte ich. »Sie auch?« 19
Er kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schräg. »Sie können zwar gewaltig in die Luft gehen, doch in der Regel für die anderen.« »Er darf Ihre Frage nicht beantworten, verstehen Sie«, erklärte mir Jill. »Das ist auch gegen die Spielregeln.« Aber ich hatte schon bei drei früheren Filmen mit Con rad gearbeitet, und er hatte mir tatsächlich verraten, wor auf er gesetzt hatte. Evan kam vom Telefonieren zurück, ging zielbewußt zu dem freien Platz und machte sich über seine Schildkröten suppe her. Gleichzeitig starrte er angestrengt auf den Tisch und konnte oder wollte auf Terrys Versuche, eine Konver sation in Gang zu bringen, nicht eingehen. Ich sah Evan nachdenklich an. Er war vierzig, mittelgroß, drahtig und geladen mit aggressiver Energie. Er hatte wi derspenstiges schwarzes Lockenhaar, ein Gesicht, in dem sogar die Knochen entschlossen wirkten, und stechende braune Augen. An diesem Abend waren die Augen nach innen, auf Bilder in seinem Kopf gerichtet, und das turbu lente Treiben, das dort herrschte, spiegelte sich deutlich in seinen angespannten Muskeln. Verkrampft hielt er den Löf fel in den Fingern, und Hals und Rücken waren stocksteif. Ich mochte seine Verbissenheit nicht, von jeher nicht und unter keinen Umständen. Sie hatte zur Folge, daß ich mich wie blöd gegen alles sperrte, was er so beharrlich wollte, auch wenn seine Ideen Hand und Fuß hatten. An diesem Abend brodelte es wieder gewaltig in ihm, und meine Antipathie wuchs entsprechend. Er schaufelte die britannisierte Paella, die auf die Suppe folgte, flott in sich hinein und schob dann energisch seinen leeren Teller weg. »Also …« sagte er, und alle hörten zu. Seine Stimme war laut und höher als sonst, wie unter großem inneren 20
Druck. Es war unmöglich, in diesem Raum zu sitzen, ohne ihn zu hören. »Wie Sie wissen, heißt der Film, den wir drehen, Der Mann im Wagen.« Wir wußten es. »Und wie Sie wissen, kommt der Wagen in mindestens der Hälfte der gedrehten Szenen vor.« Das wußten wir auch, sogar besser als er, da wir von An fang an dabeigewesen waren. »Also …« Er hielt inne, schaute in die Runde, zog die Blicke auf sich. »Ich habe mit dem Produzenten gespro chen, und er ist einverstanden … Ich möchte den Schwer punkt verlagern – die ganze Form des Films ändern. Es wird jetzt nicht nur eine, sondern mehrere Rückblenden geben. Die Handlung springt jedesmal von der Wüsten szene zurück, und jede Wüstenaufnahme wird zeigen, wie die Zeit vergeht und der Mann von Tag zu Tag schwächer wird. Eine Rettung als solche gibt es nicht mehr. Womit Ihr Part, Stephen« – damit wandte er sich direkt an den anderen Schauspieler –, »leider ganz wegfällt, aber Sie bekommen selbstverständlich die vereinbarte Gage.« Dann wandte er sich wieder dem Rest der Belegschaft zu: »Die trockenen, witzigen Szenen vom Wiedersehen mit dem Mädchen, die Sie in Pinewood gedreht haben, werfen wir raus. Statt dessen beenden wir den Film mit der Umkeh rung des Anfangs. Das heißt, mit einer Hubschrauberauf nahme, die erst den Wagen groß einfängt und dann all mählich von ihm weggeht, bis er nur noch ein Punkt im Gelände ist. Ganz zum Schluß erweitert sich das Blickfeld noch, so daß ein Bauer sichtbar wird, der mit seinem Esel einen Bergrücken entlangzieht, und jeder Betrachter des Films kann für sich entscheiden, ob der Bauer den Mann rettet oder vorbeiläuft, ohne ihn zu sehen.« 21
Er räusperte sich in eine gebannte Stille hinein. »Das be deutet natürlich, daß wir vor Ort hier noch viel Arbeit dranhängen müssen. Ich schätze, wir werden mindestens noch zwei Wochen hier sein, denn wir brauchen noch viel mehr Szenen mit Link in dem Auto.« Jemand stöhnte. Evan blickte grimmig in die Richtung des Protestes und erstickte ihn im Keim. Nur Conrad trau te sich, etwas zu sagen. »Ich bin froh, daß ich hinter der Kamera stehe und nicht davor«, meinte er langsam. »Link ist schon ziemlich mit genommen.« Ich schob die letzten beiden Stückchen Huhn mit meiner Gabel umher, ohne richtig den Teller zu sehen. Conrad starrte mich über den Tisch hinweg an; ich spürte seinen Blick. Und auch die Blicke aller anderen. Ich wußte, es war der Schauspieler in mir, der sie warten ließ, während ich einen Bissen aß, einen Schluck Wein trank und schließlich Evan ansah. »Geht in Ordnung«, sagte ich. Eine Art Beben lief durch das Team, und ich begriff, daß sie in Erwartung der Explosion des Jahrhunderts den Atem angehalten hatten. Ließ ich meine Gefühle aber beiseite, mußte ich zugeben, daß Evans Vorschlag filmisch ausge zeichnet war, und ich vertraute seinem Instinkt, wenn auch nicht seiner Menschlichkeit. Für einen guten Film nahm ich vieles in Kauf. Er war erstaunt über meine bedingungslose Zustimmung und auch begeistert. Die Bilder sprudelten nur so aus ihm hervor, schneller, als er sie in Worte fassen konnte. »Da gibt es Tränen – und Risse in der Haut und Hitze blasen – und furchtbaren Durst – und Muskeln und Seh nen, die vor Anspannung zittern wie Geigensaiten, und Hände, die zu Klauen verkrampft sind – und Qualen und 22
entsetzliche Verzweiflung – und die sengende, unerbittli che, dröhnende Stille – und gegen Ende den allmählichen Zerfall der Seele eines Menschen, so daß er, selbst wenn er gerettet wird, nachher nicht mehr derselbe ist. Und es wird keinen geben, der sich diesen Film ansieht und nicht hinterher erschöpft ist und gebeutelt und erfüllt von Ein drücken, die er niemals vergißt.« Die Kameraleute hörten zu, als würden sie das alles schon kennen, und die Maskenbildnerin sah Arbeit auf sich zukommen. Wie es schien, konnte ich mich als einzi ger in die Geschichte hineinversetzen, und ich spürte, wie mich innerlich ein Schauder durchlief, als ob ich wirklich sterben müßte und nicht nur so tun. Es war albern. Ich schüttelte mich; schüttelte die Illusion der persönlichen Betroffenheit ab. Wenn es etwas taugen sollte, mußte das Spiel eines Schauspielers vom Verstand, nicht vom Gefühl geleitet sein. Er unterbrach sich in seiner Rede, wartete mit starrem Blick darauf, daß ich ihm antwortete, und ich nahm an, wenn ich mich nicht völlig von ihm überrollen lassen wollte, war es Zeit, selbst etwas beizusteuern. »Krach«, sagte ich ruhig. »Bitte?« »Krach«, wiederholte ich. »Er würde anfangs auch Lärm schlagen. Um Hilfe schreien. Brüllen vor Wut, vor Hunger und Entsetzen. Halb tot würde er sich schreien.« Evans sich weitende Augen gaben mir recht. »Ja«, sagte er. Er holte tief Luft, hingerissen von der Art, wie seine Idee Gestalt annahm. »Ja.« Ein Teil des inneren Brandes kühlte zu einer gesünderen, eher nüchternen Erregung ab. »Machen Sie’s?« fragte er. 23
Ich wußte, daß er damit nicht meinte, ob ich die Szenen irgendwie durchziehen, sondern ob ich mein Bestes in sie hineinlegen würde. Und so, wie er sich an diesem Tag mir gegenüber benommen hatte, war die Frage auch berech tigt. Ich würde es machen, dachte ich; ich würde etwas Fabelhaftes daraus machen, aber ich antwortete ihm schnoddrig: »Es wird kein Auge im Publikum trocken bleiben.« Er blickte verärgert und enttäuscht drein, aber das scha dete nichts. Die anderen entspannten sich und begannen wieder zu plaudern, doch etwas von seiner Erregung war auf sie übergesprungen, und es wurde der beste Abend seit unserer Ankunft. Wir gingen also für weitere zwei Wochen in die Wüste, und sie waren lausig, aber das raffiniert gemachte kleine Abenteuer entpuppte sich schließlich als ein Kassenschla ger, den auch die Kritiker zu mögen schienen. Ich überstand die ganzen vierzehn Tage mit ungetrübter Gelassenheit, und als Folge davon gewann Conrad, der richtig geraten hatte, seine Wette und bekam den Pott.
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ngland, wohin ich im August zurückkehrte, war ver gleichsweise grün und kühl. In Heathrow holte ich meinen Wagen ab, einen serienmäßigen BMW, ziemlich dunkles Blau, normal durcheinandergewürfeltes Kennzei chen, alles andere als eine Sonderanfertigung, und fuhr mit einem wohligen Gefühl westwärts nach Berkshire. Vier Uhr nachmittags. Der Heimweg. Ich lachte vergnügt vor mich hin. Wie ein Kind, das aus der Schule kommt, dachte ich. Nach Haus an einem Som mernachmittag. Das Haus war mittelgroß, teils alt, teils neu, und stand an einem sanft abfallenden Hang außerhalb eines Dorfes am Oberlauf der Themse. Es bot einen Blick über den Fluß, hatte viel Abendsonne und war über einen unbeschilderten Weg zu erreichen, den die meisten Leute übersahen. Ein Jungenfahrrad lag halb auf dem Gras, halb auf der Zufahrt, und ein paar Gartengeräte lagen neben einem halb gejäteten Blumenbeet. Ich hielt vor der Garage an, blickte auf die geschlossene Vordertür und ging um das Haus herum nach hinten. Ich sah sie alle vier, bevor sie mich sahen: als schaute ich von draußen durch ein Fenster. Zwei kleine Jungen planschten mit einem schwarzweißen Wasserball im Schwimmbecken herum. Nicht weit davon ein etwas ver 25
blaßter Sonnenschirm, in dessen Schatten ein kleines Mädchen auf einer Luftmatratze lag. Eine junge Frau mit kurzen kastanienbraunen Haaren saß auf einer Decke in der Sonne und hielt ihre Knie umfaßt. Einer von den Jungen blickte hoch und sah, wie ich da stand und sie von der anderen Seite des Rasens beobachtete. »He«, rief er, »Dad ist wieder da«, und duckte seinen Bruder. Ich ging lächelnd auf sie zu. Charlie löste sich von der Decke und kam mir ohne Eile entgegen. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin voller Öl.« Sie spitzte ihren Mund zu einem Kuß und hielt mein Gesicht zwischen den Innenseiten ihrer Handgelenke. »Was hast du denn bloß mit dir angestellt?« fragte sie. »Du siehst furchtbar dünn aus.« »Es war heiß in Spanien«, sagte ich. Ich ging mit ihr zu rück ans Schwimmbecken und zog dabei meinen gelocker ten Schlips, dann mein Hemd aus. »Sehr braun geworden bist du ja nicht.« »Nein. Hab’ die meiste Zeit im Auto gesessen.« »Ist es was geworden?« Ich verzog das Gesicht. »Das wird sich rausstellen. Wie geht’s den Kindern?« »Bestens.« Ich war einen Monat weggewesen. Es hätte auch ein Tag sein können. Irgendein Vater, der nach einem Arbeitstag heim zu seiner Familie kam. Peter stemmte sich bäuchlings aus dem Becken und lief patschend über das Gras. »Was hast du uns mitgebracht?« wollte er wissen. »Ich hab dich doch gewarnt, Pete«, sagte Charlie gereizt, »wenn du fragst, bekommst du nichts.« 26
»Jedenfalls gibt es diesmal nicht viel«, erklärte ich ihm. »Da war meilenweit kein vernünftiger Laden. Und jetzt schaff mal dein Rad von der Einfahrt runter.« »Also ehrlich« sagte er. »Kaum bist du daheim, schon haben wir was falsch gemacht.« Er trollte sich ums Haus, und sein Rücken war steif vor Empörung. Charlie lachte. »Ich bin froh, daß du wieder da bist.« »Ich auch.« »Dad, guck mal. Guck mal, was ich mache, Dad.« Ich sah gehorsam zu, wie Chris einen komplizierten Pur zelbaum über den Wasserball vollführte. Mit einem sie gesbewußten Lächeln kam er wieder zum Vorschein, schüttelte sich das Wasser aus den Augen und wartete auf Lob. »Klasse«, sagte ich. »Guck noch mal, Dad.« »Gleich.« Charlie und ich gingen hinüber zu dem Sonnenschirm, und ich sah auf unsere Tochter nieder. Sie war fünf Jahre alt, braunhaarig und richtig süß. Ich setzte mich neben ihre Luftmatratze und kitzelte ihr den Bauch. Sie lachte leise und lächelte mich goldig an. »Wie war’s mit ihr?«
»Wie immer.«
»Soll ich sie mit ins Wasser nehmen?«
»Sie war heute morgen schon mit mir drin … aber es ge
fällt ihr. Schadet nichts, wenn sie noch mal reingeht.« Charlie kauerte sich neben sie. »Daddy ist wieder da, Kleines«, sagte sie. Aber Libby, unserer Kleinen, sagten Worte fast gar nichts. Ihre geistige Entwicklung hatte sich zum Schneckentempo verlangsamt, nachdem sie mit zehn 27
Monaten einen Schädelbruch erlitten hatte. Peter, der da mals fünf war, hatte sie aus dem Kinderwagen genommen, weil er sich nützlich machen und sie zum Mittagessen ins Haus bringen wollte. Aber Charlie, die herauskam, um sie zu holen, hatte gesehen, wie er stolperte und hinfiel, und dabei war Libby mit dem Kopf auf die Steinstufe der Ter rasse unserer damaligen Londoner Wohnung aufgeschla gen. Das Baby war kurz bewußtlos gewesen, doch ein, zwei Stunden darauf hatte der Arzt nichts bei ihr feststel len können. Erst zwei oder drei Wochen später war sie krank gewor den, und erst als sie sich von dieser sehr schweren Krank heit erholte, teilten die Ärzte der Klinik uns mit, da sei eine haarfeine Fraktur an der Schädelbasis gewesen, die sich infiziert und eine Hirnhautentzündung hervorgerufen habe. Wir waren so erleichtert, weil sie noch lebte, daß wir die vorsichtig formulierten Hinweise kaum zur Kenntnis nahmen. »Wir dürfen uns nicht wundern, wenn sie in der Entwicklung ein wenig hinterherhinkt.« Natürlich würde sie ein bißchen hinterherhinken, nachdem sie so krank gewesen war. Aber sie würde doch bestimmt aufholen, oder? Und wir verbannten den zweifelnden Gesichtsaus druck ebenso aus unseren Gedanken wie das unbekannte Wort »retardiert«. Im darauffolgenden Jahr sollten wir lernen, was es bedeu tet, und dadurch, daß wir uns einem solchen Schicksals schlag stellen mußten, auch viel über uns selbst erfahren. Vor dem Unglück wäre unsere Ehe unter dem Ansturm von Wohlstand und Erfolg beinah in die Brüche gegangen; da nach hatten wir das Band zwischen uns allmählich wieder gefestigt und eine viel klarere Vorstellung gewonnen von dem, was wirklich wichtig war und was nicht. Wir hatten dem Rampenlicht, der Schmeichelei und dem Tamtam adieu gesagt und waren aufs Land gezogen, wo 28
wir beide auch ursprünglich herkamen. Besser für die Kinder, hatten wir gesagt – und gewußt, daß es auch für uns selbst besser war. Libbys Zustand bereitete uns keinen akuten Kummer mehr. Akzeptiert und vertraut, war es einfach ein Teil un seres Lebens. Die Jungen waren gutmütig im Umgang mit ihr, Charlie liebevoll und ich sanft; und da sie selten krank war und durchaus zufrieden zu sein schien, hätte es sehr viel schlimmer kommen können. Letztlich war es schwieriger gewesen, sich gegen die Reaktionen Fremder abzuhärten, aber nach all den Jahren war es Charlie und mir völlig gleich, was irgend jemand sagte. Es mochte also sein, daß Libby noch nicht sprechen, nicht richtig laufen konnte, daß sie beim Essen kleckerte und nicht ganz und gar trocken war, aber sie war unsere Tochter, und damit hatte es sich. Ich ging ins Haus, zog die Badehose an und nahm Libby mit ins Becken. Sie lernte langsam schwimmen und hatte keine Angst vor dem Wasser. Vergnügt planschte sie in mei nem Arm liegend umher, patschte mir mit den nassen Händ chen ins Gesicht und rief mich »Dada«, schlang dann die Arme um meinen Hals und klebte wie eine Klette an mir. Nach einer Weile gab ich sie Charlie raus zum Abtrock nen und spielte mit Peter und Chris etwas, das wir unter uns »Wasserpolo« nannten, um nach zwanzig Minuten zu dem Schluß zu kommen, daß selbst Evan Pentelow einen nicht so hart drannahm. »Weiter, Dad«, sagten sie, und: »Na, hör mal, Dad, du willst doch nicht etwa schon rausgehn?« »Doch«, sagte ich bestimmt und trocknete mich neben Charlie auf der Decke ab. Sie brachte die Kinder ins Bett, während ich auspackte, und ich las ihnen Geschichten vor, während sie kochte, 29
und wir verbrachten den Abend allein, indem wir Hähn chen aßen und uns einen alten Spielfilm (von vor meiner Zeit) im Fernsehen anschauten. Danach räumten wir das Geschirr in die Spülmaschine und gingen zu Bett. Außer uns wohnte niemand in dem Haus. Viermal die Woche kam morgens eine Frau aus dem Dorf für die grö beren Hausarbeiten, und es gab auch eine pensionierte Kinderschwester, die, wenn wir ausgehen wollten, gern auf Libby und die Jungen aufpaßte. Charlie selbst hatte das so geregelt: Ich hatte ein ruhiges, intelligentes Mäd chen geheiratet, das zu einer praktischen, realistischen und – zu ihrer eigenen Überraschung – häuslichen Frau ge worden war. Seit unserem Wegzug von London hatte sie eine Stärke dazugewonnen, die man nur als Gelassenheit bezeichnen konnte, und obwohl sie mitunter ebenso in hel le Wut geriet wie ich, waren ihre Fundamente jetzt doch auf Fels gebaut. Viele Leute in der Filmwelt fanden meine Frau nicht aufregend genug und mein Familienleben langweilig, und sie erwarteten, daß ich bei jeder Gelegenheit Rotschöpfe und Blondinen pflückte. Aber ich hatte sehr wenig ge meinsam mit dem überlebensgroßen Draufgängertyp, den ich serienmäßig im Film verkörperte. Die Filme waren meine Arbeit, und ich arbeitete hart an ihnen, doch ich nahm sie nicht mit nach Hause. Charlie kuschelte sich unter der Steppdecke an mich und legte ihren Kopf an meine Brust. Ich strich mit den Hän den über ihre nackte Haut, spürte das Wellenkräuseln tief in ihrem Bauch und das leise Zittern in ihren Beinen. »Okay?« fragte ich und küßte ihr Haar. »Sehr …« Wir liebten uns auf die einfache, normale Art, wie wir es immer machten, aber da ich einen Monat weggewesen 30
war, war es atemberaubend schön, ein Erlebnis höchsten Glücks, eine jener elementaren Erfahrungen, die von blei bender Wirkung sind. Hier begann die Gewißheit, dachte ich. Hatte man dies, was brauchte man noch? »Fantastisch«, seufzte Charlie. »Das war fantastisch.« »Erinnere uns daran, daß wir es nicht so oft machen.« Sie lachte. »Es wird besser, wenn man sich zurückhält.« »Mhm.« Ich gähnte. »Hör mal«, sagte sie, »ich hab’ heute morgen beim Zahnarzt eine Illustrierte gelesen, als Chris die Zähne nachgesehen bekam. Da war auf der Kummerkastenseite ein Brief von einer Frau, die ihrem kahlen, dicken, mittel alterlichen Mann nichts mehr abgewinnen kann, und sie wollte einen Rat für ihr Sexualleben. Weißt du, was sie ihr geraten haben?« Ein Lächeln lag in ihrer Stimme. »›Stel len Sie sich vor, Sie schlafen mit Edward Lincoln.‹« »Das ist doch albern.« Ich gähnte wieder. »Klar … Ich wollte sogar hinschreiben und fragen, was sie mir raten würden.« »Wahrscheinlich, daß du dir vorstellen sollst, du schläfst mit einem dicken, kahlen mittelalterlichen Mann, der dich nicht anmacht.« Sie lachte leise. »Vielleicht hab ich den in zwanzig Jah ren.« »Du bist zu liebenswürdig.« »Gern geschehen.« Zufrieden schliefen wir ein. Ich hatte ein Rennpferd, einen Steepler, der bei einem er folgreichen Stall im Training war, und wenn ich nicht drehte, fuhr ich meistens hin – es waren nur fünf Meilen – 31
und ging mit dem Lot zur Morgenarbeit raus. Bill Tracker, der energische Trainer, sah es im allgemeinen nicht gern, wenn Besitzer ihre Pferde selbst reiten wollten, doch er fand sich mit meiner zeitweiligen Anwesenheit aus den gleichen beiden Gründen ab wie seine Pferdepfleger, näm lich weil mein Vater einst Futtermeister drüben in Lam bourn gewesen war und weil ich mir meinen Lebensunter halt auch selbst einmal mit Reiten, wenn schon nicht beim Pferderennen, verdient hatte. Im August war nicht viel los, aber ein paar Tage nach meiner Rückkehr fuhr ich doch rüber und arbeitete auf den Downs mit. Die neue Hindernissaison hatte eben erst be gonnen, und die meisten Pferde, meines eingeschlossen, klapperten noch die Straßen entlang, um ihre Beine zu kräftigen. Bill ließ mich großzügig einen der schon weiter fortgeschrittenen Hürdler reiten, der in rund zwei Wochen sein erstes Rennen laufen sollte, und wie immer war ich sehr dankbar, daß er mir die Gelegenheit gab, mich nütz lich zu machen und das einzige Talent, das mir in die Wiege gelegt worden war, wieder aufzufrischen. Ich hatte reiten gelernt, bevor ich laufen konnte, und war aufgewachsen mit dem Vorsatz, Jockey zu werden. Das Schicksal wollte es anders: Mit siebzehn war ich einen Meter achtzig groß, und das gewisse Etwas, das man zum Rennreiter braucht, besaß ich nicht. Die Erkenntnis war schmerzlich gewesen; der Wechsel zur Leinwandakrobatik ein dürftiger Ersatz. Sich daran zu erinnern entbehrte nicht der Ironie. Die Downs waren weit und windig und erfüllt von fri scher Luft: schön und urtümlich noch bis auf das Kraft werk am Horizont und den fernen Einschnitt einer Auto bahn. Wir ritten im Schritt und leichten Trab hinauf zum Trainingsgelände, kanterten und galoppierten auf Geheiß 32
und gingen im Schritt wieder zurück, um die Pferde abzu kühlen; es war einfach großartig. Ich blieb zum Frühstück bei den Trackers und ritt an schließend mein eigenes Pferd im zweiten Lot über die Landstraßen, wobei ich wie die Pfleger auch über die Autos schimpfte, die vorbeifuhren, ohne das Tempo zu dros seln. Ich entspannte mich mühelos im Sattel und lächelte, als mir einfiel, wie mein Vater sich an mir heiser gebrüllt hatte – »Setz dich gerade, du Pfeife! Und leg die Ellbogen an!« Evan Pentelow und Madroledo waren eine andere Welt. Als ich nach Hause kam, zankten die Jungen sich lautstark darüber, wer mit den noch nicht kaputten Rollschuhen fah ren durfte, und Charlie backte einen Kuchen. »Hallo«, sagte sie. »War es schön?« »Großartig.« »Prima … Also, es sind keine Anrufe gekommen, nur Nerissa hat sich gemeldet. Wollt ihr wohl still sein, ihr zwei, man versteht ja sein eigenes Wort nicht.« »Ich bin dran«, brüllte Peter. »Wenn ihr nicht gleich den Mund haltet, zieh ich euch die Ohren lang«, sagte ich. Sie hielten den Mund. Ich hatte die oft wiederholte Drohung noch nie wahrgemacht, aber der Gedanke gefiel ihnen nicht. Chris schnappte sich augenblicklich die um strittenen Rollschuhe und verschwand aus der Küche, und Peter nahm mit unterdrücktem Geschrei die Verfol gung auf. »Kinder!« sagte Charlie empört. Ich nahm mir einen Fingervoll rohen Kuchenteig und bekam einen Klaps aufs Handgelenk. 33
»Was wollte Nerissa?« »Sie möchte, daß wir mit ihr zu Mittag essen.« Charlie hielt inne, und von ihrem Holzlöffel tropfte dickflüssiger Schokoladenguß in die Schüssel. »Sie war ein bißchen – na ja – komisch irgendwie. Nicht so munter wie sonst. Je denfalls wollte sie, daß wir heute kommen.« »Heute!« sagte ich mit einem Blick auf die Uhr. »Oh, ich habe ihr gesagt, wir könnten nicht, du wärst um zwölf erst wieder zurück. Da hat sie gefragt, ob es morgen ginge.« »Weshalb die Eile?« »Tja, ich weiß nicht, Schatz. Sie sagte nur, wir möchten sobald wie möglich kommen. Bevor du wieder drehen müßtest.« »Ich fange mit dem nächsten Film doch erst im Novem ber an.« »Ja, das habe ich ihr auch gesagt. Sie hat trotzdem ziem lich gedrängt. Also sagte ich, wir würden gern morgen kommen, es sei denn, du wärst verhindert – in dem Fall würde ich sie heute mittag zurückrufen.« »Was mag sie bloß wollen?« sagte ich. »Wir haben sie eine Ewigkeit nicht gesehen. Am besten, wir fahren mal hin, ja?« »Aber natürlich.« Also fuhren wir. Es ist schon gut, daß man die Zukunft nie voraussehen kann. Nerissa war so eine Art Kreuzung zwischen Tante, Patin und Vormund, was ich eigentlich alles nie besessen hatte. Ich hatte eine Stiefmutter gehabt, die einzig ihre beiden eigenen Kinder liebte, und einen sehr beschäftigten Vater, 34
den sie mit ihrem Gekeife zur Verzweiflung brachte. Nerissa, oft zu Besuch in dem von meinem Vater beauf sichtigten Stall, wo drei Pferde von ihr standen, hatte mir zuerst Süßigkeiten geschenkt, dann Pfundnoten, dann Ermutigung und schließlich mit den Jahren ihre Freund schaft. Es war nie eine enge Beziehung gewesen, aber eine bleibende Wärme im Hintergrund. Sie erwartete uns im Sommerzimmer ihres Hauses in den Cotswolds, mit Kristallgläsern und einer Karaffe trockenen Sherrys auf einem Silbertablett, und sie kam uns entgegen, als sie hörte, wie ihr Butler uns durch die Diele führte. »Kommt rein, ihr Lieben, kommt rein«, sagte sie. »Es ist schön, euch zu sehen. Charlotte, ich mag dich sehr in Gelb … und Edward, du bist ja so dünn geworden.« Sie stand mit dem Rücken zum Licht, das hell durchs Fenster flutete, das Fenster mit der besten Aussicht in Gloucestershire, und erst, als wir sie auf die dargebotene Wange küßten, bemerkten wir beide die erschreckende Veränderung an ihr. Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie eine attraktive Frau in den Fünfzigern gewesen, mit jungen blauen Augen und einer scheinbar unverwüstlichen Vitalität. Ihr Gang war fast ein Tanzen, und in ihrer Stimme lag ein gesunder Humor. Im Zuchtregister der Gesellschaft rangierte sie schon beinahe bei den adligen Vollblütern, und sie besaß das, was mein Vater kurz und bündig »Klasse« nannte. Aber jetzt, innerhalb von drei Monaten, war ihre Energie verschwunden, und ihr Blick war trüb geworden. Der Glanz in ihren Haaren, ihr federnder Gang, ihre lachende Stimme: alles war dahin. Sie wirkte eher wie siebzig als wie fünfzig, und ihre Hände zitterten. »Nerissa«, rief Charlie bestürzt aus, denn wie ich brachte auch sie ihr weit mehr als nur Sympathie entgegen. 35
»Ja, Liebes. Ja«, sagte Nerissa beruhigend. »Setz dich erst mal, Liebes, und Edward gibt dir einen Sherry.« Ich goß uns allen dreien etwas von der klaren, hellen Flüssigkeit ein, doch Nerissa rührte ihr Glas kaum an. Sie saß in einem langärmeligen blauen Leinenkleid in einem Sessel aus Goldbrokat, den Rücken der Sonne zugewandt und ihr Gesicht im Schatten. »Wie geht’s den zwei kleinen Strolchen?« fragte sie. »Und der süßen kleinen Libby? Und Edward, mein Lieber, so dünn, das steht dir nicht.« Sie redete weiter, machte gewandt Konversation, zeigte Interesse für unsere Ant worten und gab uns keine Gelegenheit, zu fragen, was mit ihr los war. Als sie ins Eßzimmer ging, benutzte sie einen Gehstock und meinen Arm als Stütze, und der extraleichte Lunch, der auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten war, gab mir nichts von meinen verlorenen Pfunden wieder. Anschließend gingen wir zum Kaffee langsam zurück in das Sommer zimmer. »Rauch nur, Edward. Im Schrank sind Zigarren. Du weißt, wie ich den Geruch mag … und hier raucht kaum noch jemand.« Ich nahm an, daß man es wegen ihrer Gesundheit blei ben ließ, aber wenn sie es wünschte, würde ich es tun, obwohl ich selten und nur abends rauchte. Es waren Coro nas, aber ein wenig trocken schon vom langen Liegen. Ich zündete eine an, und sie atmete tief den Rauch ein und lächelte mit echtem Vergnügen. »Wie gut das tut«, sagte sie. Charlie goß den Kaffee ein, doch wieder trank Nerissa kaum. Sie lehnte sich langsam in ihrem Sessel zurück und kreuzte ihre schlanken Beine. 36
»Also, meine Lieben«, sagte sie ruhig, »Weihnachten werde ich tot sein.« Wir schüttelten nicht einmal den Kopf. Es war allzu leicht zu glauben. Sie lächelte uns an. »Wie vernünftig ihr seid. Kein al bernes In-Ohnmacht-Fallen, kein Getue.« Sie hielt inne. »Wie es aussieht, habe ich irgend so eine blöde Krankheit, und man sagt mir, daß da nicht viel zu machen ist. Genau genommen fühle ich mich durch das, was sie machen, so krank. Vorher war es nicht so schlimm … aber ich habe wer weiß wie viele Bestrahlungen bekommen … und die ganzen gräßlichen Chemotherapeutika jetzt, die vertrage ich wirklich sehr schlecht.« Sie brachte wieder ein Lä cheln zustande. »Ich habe sie gebeten aufzuhören, aber ihr wißt ja, wie das ist. Wenn sie können, sagen sie, sie müs sen. Eine ziemlich unvernünftige Einstellung, meint ihr nicht auch? Aber egal, meine Lieben, das braucht euch nicht zu kümmern.« »Du möchtest aber, daß wir etwas für dich tun?« tippte Charlie an. Nerissa war erstaunt. »Wie kommst du darauf, daß ich so was im Sinn habe?« »Oh … weil es dir so eilig war mit uns – und du weißt doch bestimmt schon seit Wochen, wie es um dich steht.« »Edward, wie gescheit deine Charlotte ist«, sagte sie. »Ja, ich habe einen Wunsch … Edward soll etwas für mich tun, wenn er mag.« »Natürlich«, sagte ich. Eine trockene Belustigung schlich sich wieder in ihre Stimme. »Hör dir erst mal an, um was es geht, bevor du solche Blankoversprechungen machst.« 37
»Okay.« »Es hat mit meinen Pferden zu tun.« Sie überlegte, mit schräg geneigtem Kopf. »Sie laufen so schlecht.« »Aber«, sagte ich verblüfft, »sie sind doch in dieser Sai son noch gar nicht gestartet.« Sie ließ noch immer zwei Hindernispferde in dem Stall trainieren, wo ich aufgewachsen war, und obwohl ich seit dem Tod meines Vaters nicht mehr direkt damit in Ver bindung stand, wußte ich, daß sie in der vorigen Saison beide ein paar Rennen gewonnen hatten. Sie schüttelte den Kopf. »Nicht die Springer, Edward. Meine anderen Pferde. Fünf Hengste und sechs Stuten, die auf der Flachen laufen.« »Auf der Flachen? Entschuldige … Mir war nicht klar, daß du Flachpferde hast.« »In Südafrika.« »Oh.« Ich sah sie ein wenig ratlos an. »Vom südafrikani schen Rennsport habe ich keine Ahnung. Tut mir furchtbar leid. Ich würde dir gern helfen, aber ich weiß einfach viel zu wenig, um beurteilen zu können, warum deine Pferde da schlecht laufen.« »Es ist nett, daß du enttäuscht dreinschaust, Edward. Du kannst mir aber wirklich helfen, weißt du. Wenn du willst.« »Sag ihm nur wie«, warf Charlie ein, »dann tut er’s auch. Er würde alles für dich tun, Nerissa.« Zu dem Zeitpunkt und unter diesen Umständen hatte sie recht. Das Endgültige von Nerissas Zustand brachte mir scharf zum Bewußtsein, wieviel ich ihr seit jeher zu ver danken hatte, nicht so sehr an Konkretem, sondern wegen des Gefühls, daß sie da war und sich interessierte und An teil nahm an dem, was ich machte. In meinen mutterlosen Teenagerjahren hatte das viel bedeutet. 38
Sie seufzte. »Ich habe meinen Trainer da unten deshalb angeschrieben, und es scheint ihm ein großes Rätsel zu sein. Er weiß nicht, wieso meine Pferde schlecht laufen, denn alle anderen, die er trainiert, kommen gut. Aber Brie fe brauchen so lange – anscheinend ist die Post heutzutage auf beiden Seiten sehr launenhaft. Und deshalb, Edward, habe ich mich gefragt, ob du vielleicht … ich meine, es ist ziemlich viel verlangt, aber könntest du vielleicht eine Woche opfern und für mich da hinunterfahren und mal nach dem Rechten sehen?« Eine kurze Stille trat ein. Selbst Charlie beeilte sich nicht, zu sagen, daß ich selbstverständlich fahren würde, wenn auch bereits feststand, daß die Frage nur sein konn te, wie, nicht ob. Nerissa versuchte mich zu überreden. »Denn schau mal, Edward, du verstehst doch was vom Rennsport. Du kennst den Stallbetrieb und solche Sachen. Du würdest doch se hen, ob mit ihrem Training was nicht stimmt, oder? Und dann weißt du natürlich auch so gut, wie man Ermittlun gen anstellt.« »Wie man was?« fragte ich. »Ich habe noch nie in mei nem Leben Ermittlungen angestellt.« Sie wedelte mit der Hand. »Du weißt, wie man etwas herausfindet, und läßt dich durch nichts davon abbringen.« »Nerissa«, sagte ich argwöhnisch, »du hast meine Filme gesehen«. »Ja, natürlich. Die habe ich fast alle gesehen.« »Gut, aber das bin nicht ich. Diese fahndungserprobten Supermänner sind doch nur gespielt.« »Sei nicht albern, mein lieber Edward. Du könntest all die Sachen, die du im Film machst, nicht machen, wenn du nicht mutig und entschlossen wärst und mit Raffinesse etwas herauszufinden verstündest.« 39
Ich sah sie mit einer Mischung aus Zuneigung und Ge nervtheit an. So viele Leute verwechselten das Image mit dem Menschen, aber daß sie es tat … »Du hast mich schon gekannt, als ich acht war«, prote stierte ich. »Du weißt, daß ich nicht furchtlos oder sonder lich entschlossen bin. Ich bin Durchschnitt. Ich bin ich. Ich bin der Junge, dem du Süßigkeiten gegeben hast, wenn er heulte, weil er vom Pony gefallen war, und dem du gesagt hast: ›Mach dir nichts draus‹, als er sich nicht zutraute, Jockey zu werden.« Sie lächelte nachsichtig. »Aber seitdem hast du kämpfen gelernt. Und denk mal an den letzten Film, wo du mit ei ner Hand an einem Felsvorsprung gehangen hast, über einem Steilabfall von dreihundert Metern –« »Liebe, liebe Nerissa«, unterbrach ich sie. »Ich fahre ja für dich nach Südafrika. Ich fahre bestimmt. Aber diese Kampfszenen im Film – das bin meistens nicht ich; das ist jemand von meiner Größe und meiner Statur, der wirklich Judo kann. Ich kann keins. Ich kann überhaupt nicht kämpfen. Das ist nur mein Gesicht in Großaufnahme. Und die Felsvorsprünge, an die ich mich geklammert hab – die waren zwar an einer echten Felswand, aber ich war nicht in Gefahr. Ich wäre keine dreihundert Meter tief gestürzt, sondern nur drei, in so ein Netz, wie man es bei Trapez akten im Zirkus verwendet. Ich bin sogar zwei oder drei mal gestürzt. Und unter mir ging es in Wirklichkeit keine dreihundert Meter runter, jedenfalls nicht steil. Wir haben im Tal der Felsen in Norddevon gedreht, wo zwischen den Felswänden lauter kleine Plateaus sind, auf die man die Kameras stellen kann.« Sie hörte mit einer Miene zu, als glaubte sie mir kein Wort. Ich nahm an, es war zwecklos, weiterzureden – ihr zu sagen, daß ich kein Meisterschütze war, kein Flugzeug fliegen und nicht schneller als jedes Abfahrts-As zu Tal 40
jagen konnte, weder Russisch sprach noch ahnte, wie man ein Funkgerät baut oder Bomben entschärft, und daß ich bei der ersten Folterdrohung alles verraten würde. Sie wußte es besser; sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Ihr Gesichtsausdruck sagte mir das. »Also gut«, kapitulierte ich. »Ich weiß schon, was in einem Rennstall laufen sollte und was nicht. Jedenfalls in England.« »Und«, sagte sie zufrieden, »du kannst auch nicht be haupten, daß du es nicht warst, der all diese Reitkunst stücke hingelegt hat, als du beim Film anfingst.« Das konnte ich nicht. Es war aber nichts Besonderes gewesen. »Ich werde nach deinen Pferden sehen und mir anhören, was dein Trainer meint«, sagte ich – und dachte bei mir, wenn er keine Gründe angeben konnte, würde ich höchst wahrscheinlich auch keine finden. »Lieber Edward, das ist sehr nett …« Sie wirkte plötz lich geschwächt, als sei die Anstrengung, mich zu überre den, schon zuviel für sie gewesen. Als sie jedoch die Be stürzung in Charlies Gesicht und in meinem sah, setzte sie ein beruhigendes Lächeln auf. »Noch nicht, meine Lieben. Noch zwei Monate, viel leicht … Mindestens zwei Monate, denke ich.« Charlie schüttelte abwehrend den Kopf, doch Nerissa tät schelte ihr die Hand. »Ist schon gut, Liebes, Ich habe mich damit abgefunden. Aber ich will meine Angelegenheiten ordnen … deshalb hätte ich auch gern, daß Edward nach den Pferden sieht, und ich sollte vielleicht erklären …« »Ermüde dich nicht«, sagte ich. »Ich bin nicht … müde«, antwortete sie, obwohl das offensichtlich den Tatsachen widersprach. »Und ich möch 41
te es euch erzählen. Die Pferde haben meiner Schwester Portia gehört, die vor dreißig Jahren nach Südafrika heira tete. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie dort, weil all ihre Freunde da lebten, und ich habe sie im Lauf der Jahre mehrmals besucht. Ich weiß, daß ich euch von ihr erzählt habe.« Wir nickten. »Sie ist im vorigen Winter gestorben«, sagte ich. »Ja … ein schwerer Schlag.« Nerissa schien den Tod ih rer Schwester viel tragischer zu nehmen als ihren eigenen. »Sie hatte keine nahen Verwandten außer mir, und sie hin terließ mir fast alles, was sie von ihrem Mann geerbt hatte. Und ihre ganzen Pferde auch.« Sie hielt inne, um ihre Kräfte und ihre Gedanken zu sammeln. »Es waren damals Jährlinge. Teure Jährlinge. Ihr Trainer schrieb mir, ob ich sie verkaufen wollte, da man südafrikanische Pferde wegen der Quarantänebestimmungen nicht nach England holen kann. Aber ich dachte, es wäre vielleicht ganz schön, ganz interessant, sie in Südafrika laufen zu lassen und nachher an ein Gestüt zu verkaufen. Aber jetzt – tja, jetzt werde ich nicht mehr da sein, wenn sie alt genug für die Zucht sind, und sie haben bereits enorm an Wert verloren.« »Liebste Nerissa«, sagte Charlie. »Spielt das eine Rol le?« »O ja. Ja, meine Liebe, das tut es«, sagte sie nachdrück lich. »Ich vermache sie nämlich meinem Neffen Danilo, und mir mißfällt der Gedanke, ihm etwas Wertloses zu hinterlassen.« Sie blickte von einem zum anderen. »Ich weiß gar nicht – habt ihr Danilo mal kennengelernt?« Charlie sagte: »Nein«, und ich sagte: »Ich habe ihn ein paarmal gesehen, als er ein kleiner Junge war. Du hast ihn immer mit in den Stall gebracht.« 42
»Richtig, das stimmt. Und dann hat mein Schwager sich von dieser gräßlichen Frau, Danilos Mutter, endlich schei den lassen und ist mit ihm nach Kalifornien gezogen. Nun, Danilo war kürzlich in England, und er ist ein richtig net ter junger Mann geworden. Ist das nicht ein Glück, ihr Lieben? Wo ich doch so wenig Verwandte habe. Genau genommen ist Danilo sogar der einzige, und selbst er ist kein Blutsverwandter, da sein Vater der Bruder meines lieben John war, versteht ihr?« Wir verstanden. John Cavesey, seit mehr als sechzehn Jahren unter der Erde, war ein Landedelmann mit vier Jagdpferden und viel Humor gewesen. Außerdem hatte er Nerissa, keine Kinder, einen Bruder, einen Neffen und fünf Quadratmeilen vom »schönen grünen England« ge habt. Nach einer Pause sagte Nerissa: »Ich werde Mr. Arknold – das ist mein Trainer – telegrafieren, daß du kommst, um die Angelegenheit zu prüfen, und daß er dir ein Zimmer bestellen soll.« »Nein, tu das nicht. Er könnte dir übelnehmen, daß du jemand schickst, und sich gegen mich sperren. Ich bestel le schon das Zimmer und so weiter. Wenn du ihm tele grafierst, sag nur, daß ich vielleicht interessehalber vor beischaue, weil ich gerade zu einem kurzen Besuch in Südafrika bin.« Sie lächelte verschmitzt und sagte: »Siehst du, mein Lieber, du weißt eben doch, wie man Nachforschungen anstellt.«
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ünf Tage darauf flog ich nach Johannesburg, ausgerü stet mit einer Menge Fakten und keinerlei Vertrauen in meine Fähigkeit, sie zu entwirren. Charlie und ich waren doppelt deprimiert von Nerissa nach Hause gefahren. Arme Nerissa, sagten wir, wie schlimm für sie. Und wie schlimm für uns, sie zu verlie ren. »Und dabei bist du gerade erst heimgekommen«, setzte Charlie hinzu. »Ja.« Ich seufzte. »Trotzdem – ich hätte nicht nein sagen können.« »Nein.« »Nicht, daß ich viel ausrichten werde.« »Man kann nie wissen, vielleicht entdeckst du ja doch etwas.« »Sehr zweifelhaft.« »Aber«, sagte sie ein wenig besorgt, »du wirst doch dein Bestes tun?« »Natürlich, Liebes.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist schlauer, als du denkst.« »Aber klar«, sagte ich. »Sicher.« Sie verzog das Gesicht, und wir fuhren eine Weile schweigend. Dann sagte sie: »Als du draußen warst, um 44
dir die beiden jungen Steepler auf ihrer Koppel anzusehen, hat Nerissa mir gesagt, was mit ihr ist.« »So?« Charlie nickte. »Sie hat irgend etwas Schauerliches, das sich Hodgkinsche Krankheit nennt, davon schwellen wohl die Drüsen an und bilden abnorme Zellen, was immer das nun eigentlich bedeutet. Sie weiß selbst nicht genau Be scheid, glaube ich. Außer, daß es absolut tödlich ist.« Arme Nerissa. »Sie sagte mir auch«, fuhr Charlie fort, »daß sie jedem von uns ein Andenken in ihrem Testament vermacht hat.« »Tatsächlich?« Ich wandte den Kopf, um Charlie anzu sehen. »Wie nett von ihr. Hat sie gesagt, was?« »Paß um Himmels willen auf die Straße auf. Nein, was hat sie nicht gesagt. Aber es soll dazu dienen, daß wir sie in Erinnerung behalten. Sie sagte, es hat ihr richtig Spaß gemacht, das Testament aufzusetzen und die Leute darin zu bedenken. Ist sie nicht erstaunlich?« »Ja.« »Sie hat das wirklich ernst gemeint. Und wie es sie freut, daß ihr Neffe sich so gut entwickelt hat. Ich hab so jemand noch nie erlebt – da stirbt sie und trägt es ganz gefaßt und bleibt sogar bei Laune, auch wenn sie ihr Testament schreibt – und genau weiß – und genau weiß –« Ich sah sie von der Seite an. Tränen auf Charlies Wan gen. Sie weinte selten und mochte dabei nicht beobachtet werden. Ich paßte auf die Straße auf. Ich rief meinen Agenten an und verblüffte ihn maßlos. »A-aber«, stammelte er, »Sie fahren doch sonst nie wohin, das lehnen Sie grundsätzlich ab. Sie haben hier 45
deshalb schon auf den Tisch gehauen und mich ange brüllt.« »Stimmt«, gab ich zu. »Aber jetzt brauche ich einen trif tigen Grund, um nach Südafrika zu fahren – laufen da also demnächst Filme von mir an oder nicht?« »Tja …« Er war ganz durcheinander. »Also, das muß ich nachsehen. Sind Sie denn auch sicher«, fügte er ungläubig hinzu, »daß ich denen wirklich und wahrhaftig verspre chen soll, daß Sie persönlich erscheinen?« »Das habe ich doch gesagt.« »Ja. Ich kann es nur einfach nicht glauben.« Eine Stunde später rief er zurück. »Es laufen zwei an. In Kapstadt zeigen sie ab Montag in acht Tagen Moskau einfach. Das ist der Auftakt einer Rei he von sechs Wiederaufführungen, so daß Sie, auch wenn Moskau selbst schon ziemlich alt ist, durch Ihr Erscheinen Reklame für die ganze Staffel machen könnten. Das ande re ist die Premiere von Felsen in Johannesburg. Die wäre aber erst am 14. September. In drei Wochen. Ist das früh genug?« »Eigentlich nicht.« Ich überlegte. »Trotzdem wird es der Film in Johannesburg sein müssen.« »In Ordnung. Ich organisiere das. Und, ehm – erstreckt sich Ihr plötzlicher Sinneswandel auch auf Talkshows und Interviews in Zeitungen?« »Nein.« »Das habe ich befürchtet.« Ich hatte mir von Nerissa alle Briefe ihres Trainers mit nach Hause genommen, alle südafrikanischen Rennkalender, Zeitungsausschnitte und Zeitschriften, die sie geschickt 46
bekommen hatte, und die genauen Abstammungs- und Leistungsnachweise ihrer elf jungen Absteiger. Ein gewal tiger Berg Papier, wie sich herausstellte, und man mußte ihn schon aufmerksam lesen. Das Bild, das zutage trat, hätte allerdings jedem zu den ken gegeben, nicht nur dem Besitzer der fraglichen Pferde. Neun von den elf waren zu Beginn ihrer Rennkarriere gut gelaufen und hatten es zwischen Dezember und Mai auf insgesamt vierzehn Siege gebracht. Seit Mitte Mai hatte keines von ihnen mehr als einen vierten Platz errungen. Soweit ich es nach einem ersten Blick auf die Tabelle der erfolgreichsten Deckhengste und die Zuchtnachrichten des südafrikanischen Horse and Hound beurteilen konnte, waren sie alle von tadelloser Abstammung, und den ange legten Beträgen nach hatte Nerissas Schwester Portia sie auch nicht im Dutzend billiger erstanden. Bisher hatte kei nes von ihnen seinen Kaufpreis durch Sieggelder wieder hereingeholt, und mit jeder bekanntwerdenden Niederlage sank ihr zukünftiger Zuchtwert ein Stück in Richtung Null. Als Vermächtnis waren die südafrikanischen Pferde ein Klotz am Bein. Charlie begleitete mich nach Heathrow, da ich nur gerade neun Tage zu Hause gewesen war, was uns beiden nicht genügte. Während wir am Check-in-Schalter warteten, ba ten ein halbes Dutzend Damen mich um ein Autogramm für ihre Töchter, Neffen, Enkelkinder, und wir fingen etli che Blicke ein, bis schließlich ein Flughafenangestellter in dunkler Uniform herüberkam und uns anbot, in einem separaten kleinen Raum zu warten. Sie hatten Erfahrung damit, da ich ziemlich oft über den Flughafen kam, und wir nahmen dankend an. »Es ist, als wäre man mit zwei Menschen verheiratet«, meinte Charlie seufzend und setzte sich. »Mit dir als Mann 47
der Öffentlichkeit und mit dir privat. Ihr seid zweierlei. Weißt du, ich sehe einen deiner Filme oder auch nur einen Ausschnitt im Fernsehen – ich sehe die Aufnahmen von dir, und ich denke, mit dem Mann habe ich heute nacht geschlafen. Und das ist für mich seltsam, weil das öffent liche Du eigentlich gar nicht mir gehört, sondern all den Leuten, die dafür bezahlen, dich zu sehen. Und dann kommst du wieder nach Hause und bist einfach du, mein Mann, wie ich ihn kenne, und das öffentliche Du ist irgend jemand anders.« Ich sah sie zärtlich an. »Das private Ich hat vergessen, die Telefonrechnung zu bezahlen.« »Ach verdammt, ich hab’s dir zwanzig Mal gesagt.« »Bezahlst du sie?« »Na, werd’ ich wohl. Aber die Telefonrechnung ist deine Sache. Die ganzen Telegramme und die Anrufe nach Amerika, das muß man doch kontrollieren – ich blicke da nicht durch. Sie berechnen uns wahrscheinlich zuviel, wenn du es nicht nachprüfst.« »Das müssen wir in Kauf nehmen.« »Also ehrlich!« »Es wird doch sowieso von der Steuer abgesetzt.« »Stimmt auch wieder.« Ich setzte mich neben sie. Die unbezahlte Telefonrech nung war als Gesprächsthema so gut wie alles andere; wir brauchten nicht mehr laut zu sagen, was wir füreinander empfanden. In unserer Beziehung hatten wir von Tren nung und Abschied nie viel Aufhebens gemacht, und auch vom Wiedersehen nicht. Eine Menge Leute hielten das für Gleichgültigkeit. Vielleicht war es zu sehr das Gegenteil. Wir brauchten einander wie Bienen und Honig.
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Als ich sechzehn Stunden später auf dem Jan Smuts Inter national Airport landete, holte mich ein nervöser Mann mit feuchten Händen ab, der sich als Vertriebsdirektor von Worldic Cinemas in Südafrika vorstellte. »Wenkins«, sagte er. »Clifford Wenkins. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Er hatte unruhige Augen und einen silbenverschlucken den südafrikanischen Akzent. Um die Vierzig. Kein Er folgsmensch. Redete ein bißchen zu laut, zu vertraulich, mit der Art von gezwungener Leutseligkeit, die ich am wenigsten ausstehen konnte. So höflich wie möglich entwand ich meinen Jackenärmel seinem Griff. »Nett, daß Sie gekommen sind«, sagte ich und wünschte, er hätte es mir erspart. »Konnten doch Edward Lincoln nicht anreisen lassen, ohne ihn gebührend zu empfangen.« Er lachte laut vor Nervosität. Ich fragte mich flüchtig, weshalb er nur so schrecklich befangen war; als Filmverleiher traf er doch sicher dauernd mit Schauspielern zusammen. »Der Wagen steht da drüben.« Er lief im Krebsgang vor mir her, die Arme nach vorn und hinten ausgestreckt, als wollte er mir mit dem einen Arm den Weg bahnen und mich mit dem anderen führen. Es waren nicht genug Leute da, als daß auch nur die geringste Notwendigkeit dazu be standen hätte. Ich folgte ihm mit meinem Koffer und bemühte mich, seine Aufmerksamkeiten frohen Mutes zu ertragen. »Gar nicht weit«, versicherte er und sah mir begütigend ins Gesicht. »Prima«, sagte ich. Eine Gruppe von etwa zehn Leuten stand unmittelbar vor dem Hauptausgang. Ich betrachtete sie ernüchtert; ihre 49
Kleidung und ihre Art herumzustehen wies sie von weitem schon als Medienschaffende aus, und es überraschte mich nicht, die gezückten Kameras und Tonbandgeräte zu se hen, als wir näher kamen. »Mr. Lincoln, was halten Sie von Südafrika?« »Hey, Link, wie wär’s mit einem breiten Lächeln?« »Ist etwas Wahres an dem Gerücht …« »Unsere Leser wüßten gern, welche Ansichten Sie …« »Bitte recht freundlich.« Ich versuchte weiterzugehen, aber sie zwangen uns ein Schneckentempo auf. Ich lächelte in den Pulk und sagte beschwichtigende Dinge wie: »Ich bin froh, hier zu sein. Es ist mein erster Besuch. Ich freue mich sehr darauf«, und schließlich gelangten wir ins Freie. Clifford Wenkins bekam jetzt auch noch eine feuchte Stirn, obwohl die Sonne hier, fast 2000 Meter über dem Meeresspiegel, recht kühl war. »Tut mir leid«, sagte er, »aber mit denen war zu rech nen.« »Erstaunlich, daß sie genau den Tag und die Zeit wuß ten, wo mein Flug doch erst gestern morgen gebucht wor den ist.« »Äh … ja«, meinte er schwach. »Die Presse macht hier sicher auch gern schon mal Re klame für Leute, wenn Sie das möchten.« »Oh, allerdings«, gab er unumwunden zu. Ich lächelte ihn an. Man konnte ihm kaum verdenken, daß er mich als Bezahlung für vergangene und zukünftige Dienste gebrauchte. Es war zwar bekannt, daß ich Inter views lieber aus dem Weg ging, aber kaum jemand verstand es. In vielen Ländern spielten einem die Medien übel mit, wenn man sich keine Geschichten aus der Nase 50
ziehen ließ, und die Südafrikaner waren höflicher gewesen als die meisten. Wenkins wischte sich die glänzende Stirn mit der feuch ten Hand und sagte: »Lassen Sie mich Ihren Koffer tra gen.« Ich schüttelte den Kopf. »Der ist leicht«, sagte ich, und außerdem war ich viel größer und kräftiger als er. Wir gingen über den Parkplatz zu seinem Wagen, und ich erlebte zum erstenmal den eigentümlichen Geruch Afrikas. Ein Gemisch von schweren, süßen Düften mit ei nem Hauch von Dumpfigkeit: ein starkes, beunruhigendes Aroma, das mir drei oder vier Tage in der Nase blieb, bis meine Geruchsnerven sich daran gewöhnt hatten und es ignorierten. Doch mein erster ausschlaggebender Eindruck von Südafrika war, wie es roch. Zuviel lächelnd, zuviel schwitzend, zuviel redend fuhr Clifford Wenkins mich die Straße entlang nach Johannes burg. Der Flughafen lag östlich der Stadt, in den kahlen Weiten von Transvaal, und wir brauchten eine gute halbe Stunde, um unseren Bestimmungsort zu erreichen. »Ich hoffe, Sie werden mit allem zufrieden sein«, sagte Wenkins. »Wir bekommen nicht oft – ich meine, na ja –« Er lachte verkrampft. »Ihr Agent hat mir am Telefon ge sagt, ich solle keinen Empfang, keine Parties, keine Rund funksendungen, rein gar nichts ansetzen. Ich meine, nor malerweise ziehen wir für Stars, die uns besuchen, schon auch eine Schau ab – das, äh, heißt natürlich, wenn Worl dic ihre Filme vertreibt –, aber, äh, für Sie haben wir nichts dergleichen getan, und das scheint mir grundver kehrt zu sein. Aber Ihr Agent hat darauf bestanden – ja, und dann Ihr Zimmer – nicht in der Stadt, sagte er. Nicht direkt in der Stadt und keine Privatpension sollte es sein, und nun hoffe ich, es gefällt Ihnen – ich meine, wir waren 51
fix und fertig – äh, geehrt natürlich, als wir hörten, daß Sie kommen.« Mr. Wenkins, dachte ich, Sie würden es viel weiter brin gen im Leben, wenn Sie nicht so viel quasselten. Und laut sagte ich: »Es geht bestimmt alles in Ordnung.« »Ja, gut … Äh, wenn Sie aber auf das übliche Programm keinen Wert legen, was soll ich dann für Sie arrangieren? Ich meine, es sind noch vierzehn Tage bis zur Premiere von Felsen, ja? Und in der Zwischenzeit –?« Darauf antwortete ich nicht gleich. Statt dessen sagte ich: »Diese Premiere – wie wollen Sie die aufziehen?« »Oh.« Er lachte wieder über nichts Lustiges. »Ah, na ja, groß natürlich. Einladungen. Benefizkarten. Mit allen Schikanen, mein Alter – äh, ich meine – entschuldigen Sie – also Worldic sagte, da machen wir mal richtig ein Faß auf, nicht wahr, nachdem sie sich von dem Schreck erholt hatten.« »Verstehe.« Ich seufzte leise. Ich hatte mich auf die ver dammte Sache eingelassen, dachte ich, und ich hatte es so gewollt. Also mußte ich auch fair sein und ihnen für ihre Mühe etwas bieten. »Hören Sie«, sagte ich, »wenn Sie möchten, und wenn Sie glauben, daß jemand interessiert ist, dann veranstalten Sie doch so ein Stehdings mit Getränken und Büfett vor oder nach der Aufführung des Films, da komme ich dann hin. Und an einem der nächsten Vormittage können Sie, wenn Sie wollen, alle Ihre Freunde vom Flughafen und jeden aus der Branche, den Sie noch gern dabeihätten, ein laden, sich irgendwo mit uns auf einen Kaffee oder einen Drink zu treffen oder so. Was halten Sie davon?« Er war sprachlos vor Staunen. Ich sah zu ihm hinüber. Sein Mund öffnete und schloß sich wie bei einem Fisch. Ich lachte im stillen. Nerissa hatte viel zu verantworten. 52
»Die übrige Zeit brauchen Sie sich nicht um mich zu kümmern. Ich amüsiere mich schon. Als erstes geht’s zum Pferderennen.« »Oh.« Er meisterte endlich das Kieferproblem und be kam beide Hälften wieder startklar. »Äh – da kann ich Sie von jemand hinbringen lassen.« »Mal sehen«, sagte ich unverbindlich. Die Fahrt endete am Iguana Rock, einem sehr ange nehmen ländlichen Hotel am Nordrand der Stadt. Die Di rektion begrüßte mich höflich, gab mir ein luxuriöses Zimmer und deutete an, daß ein Händeklatschen genüge, um von Eiswasser bis zu Tanzmädchen alles Gewünschte zu bekommen. »Ich möchte einen Wagen mieten«, sagte ich, und Wenkins sprudelte hervor, das sei bereits erledigt, er habe einen bestellt; eine chauffeurgesteuerte Karosse sei ständig abrufbereit, auf Kosten von Worldic. Ich schüttelte den Kopf. »Auf meine Kosten«, sagte ich. »Hat Ihnen mein Agent nicht gesagt, daß ich beabsichtige, für die ganze Reise selbst aufzukommen?« »Doch, das hat er, aber Worldic würde gern die Rech nung übernehmen.« »Nein«, sagte ich. Er lachte nervös. »Nein … Mhm, ich verstehe, äh, ich meine – ja.« Er hatte ausgestottert. Seine Augen schossen ruhelos umher, die Hände vollführten unbestimmte Ge sten, das sinnlose Lächeln zuckte ihm krampfhaft um die Lippen, und er konnte nicht stillstehen. Normalerweise versetzte ich Leute nicht so in Aufregung, und ich fragte mich, was mein Agent ihm bloß gesagt haben konnte, daß er derart von der Rolle war. 53
Er fand schließlich hinaus aus dem Iguana Rock und zu rück in sein Auto, und sein Abgang erleichterte mich sehr. Innerhalb einer Stunde war er jedoch am Telefon. »Wäre es Ihnen, äh, morgen früh recht – äh, ich meine, mit der Presse?« »Ja«, sagte ich. »Würden Sie, äh, dann Ihren Fahrer anweisen, Sie zum – äh – Randfontein House zu bringen, äh – zum DettrickSaal? Das ist ein Empfangsraum, ja, den wir für solche Zwecke immer mieten.« »Um wieviel Uhr?« »Oh … sagen wir halb zwölf. Könnten Sie – äh – gegen halb zwölf da sein?« »Ja«, sagte ich wieder knapp, und nachdem er sich noch ein paarmal gewunden hatte, sagte er, er freue sich – äh – mich dann zu sehen. Ich legte auf, packte meine Sachen fertig aus, trank einen Kaffee, rief die Karosse und fuhr geradewegs zum Pferde rennen.
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lachrennen finden in Südafrika das ganze Jahr über mittwochs und samstags statt, aber sonst nur unregel mäßig. Daher hatte ich es für das klügste gehalten, an ei nem Mittwochmorgen in Johannesburg anzukommen und zu der landesweit einzigen Rennveranstaltung des Tages zu fahren, dem Meeting von Newmarket. Ich zahlte Eintritt und kaufte ein Programmheft. Einer von Nerissas Ausfällen, sah ich, sollte später am Nachmit tag noch einmal sein Glück versuchen. Newmarket war auch in diesem Teil der Welt New market. Tribünen, Menschenmassen, Pferde, Buchmacher; geschäftige, zweckgerichtete Atmosphäre; ein Flair von Tradition und Ordnung. Alles war ziemlich gleich. Ich wanderte zum Führring hinüber, wo die Pferde für das erste Rennen bereits präsentiert wurden. Die gleichen kleinen Grüppchen von Besitzern und Trainern standen hoffnungsvoll sich unterhaltend in der Mitte. Die gleichen ernsten Rennplatzbesucher lehnten an den Rails und be gutachteten die Ware. Die Unterschiede waren gering. Englischen Augen schien es, als seien die Pferde etwas kleiner gebaut und hätten sehr steile Fesseln, und sie wurden nicht von weißen Pfle gern in meist dunkler Alltagskleidung herumgeführt, son dern von schwarzen Stallboys in langen weißen Kitteln. Da ich aus Prinzip nur auf Pferde setze, über die ich etwas wußte, ließ ich die Hände vom Geldbeutel. Die 55
Jockeys in ihrem bunten Dreß kamen heraus und saßen auf; die Starter gingen auf die Bahn und schossen nach vorn; ihre Hufe klapperten auf dem knochentrockenen Geläuf. Ich schlenderte von der Tribüne herunter, um Nerissas Trainer Greville Arknold zu suchen und ihn mir anzusehen. Er hatte einen Starter im nächsten Rennen und mußte irgendwo beim Aufsatteln sein. Wie sich herausstellte, brauchte ich nicht groß zu su chen. Auf halbem Weg zu den Sattelboxen berührte ein junger Mann mich am Arm. »Hallo, Sie«, sagte er, »sind Sie nicht Edward Lincoln?« Ich nickte, lächelte ein wenig und ging weiter. »Es ist wohl besser, ich stelle mich mal vor. Danilo Cavesey. Ich glaube, Sie kennen meine Tante.« Da blieb ich dann doch stehen. Ich gab ihm die Hand, und er drückte sie herzlich. »Ich habe natürlich gehört, daß Sie kommen wollten. Tante Nerissa hat Greville telegrafiert, Sie seien auf dem Weg hierher zu einer Filmpremiere und er solle auf der Rennbahn nach Ihnen Ausschau halten. So habe ich Sie also erwartet.« Er sprach ein langsames, kalifornisch gedehntes Eng lisch voll träger Wärme. Es war sofort ersichtlich, wieso Nerissa ihn sympathisch fand. Sein sonnengebräuntes, hübsches Gesicht, sein offener, angenehmer Ausdruck, sein dunkelblondes Haar, lässig, aber sauber – all das entsprach dem überlieferten Idealbild vom jungen Ameri kaner. »Sie hat nicht gesagt, daß Sie in Südafrika sind«, be merkte ich überrascht. »Na ja, nein.« Er zog entwaffnend die Nase kraus. »Ich glaub auch nicht, daß sie das weiß. Ich bin vor ein paar 56
Tagen erst hergeflogen, hab Ferien. Sagen Sie, wie geht’s dem alten Mädchen? So ganz auf der Höhe war sie nicht, als ich sie zuletzt besucht hab.« Er lächelte vergnügt. Er wußte von nichts. Ich sagte: »Sie ist leider ziemlich krank.« »Ach ja? Das tut mir aber leid. Ich muß ihr mal schrei ben; ihr erzählen, daß ich hier bin; ihr erzählen, daß ich ein Auge auf die Pferde habe.« »Auf die Pferde?« wiederholte ich. »Na klar. Tante Nerissas Pferde hier laufen nicht gut. Sauschlecht, um genau zu sein.« Er grinste fröhlich. »Ich würde nicht auf die Acht im vierten Rennen setzen, wenn Sie reich sterben wollen.« »Danke«, sagte ich. »Sie hat mir allerdings gesagt, daß sie im Moment nicht so gut sind.« »Kann ich mir vorstellen. Die würden nicht mal siegen, wenn man ihnen zehn Minuten Vorsprung gibt und die anderen müde spritzt.« »Wissen Sie, wie das kommt?« »Keine Ahnung.« Er zuckte die Achseln. »Greville kann es sich nicht erklären. Er sagt, so was ist ihm noch nie pas siert.« »Kein Virus?« tippte ich an. »Kann nicht sein. Sonst würden ihn doch alle bekom men, nicht nur die von Tante Nerissa. Wir haben uns näm lich darüber unterhalten. Greville hat einfach keinen Schimmer.« »Ich würde ihn gern kennenlernen«, sagte ich beiläufig. »Na klar. Natürlich. Aber hören Sie, warum verschwin den wir nicht aus dem Wind hier und trinken irgendwo ein Bier oder so? Jetzt hat Greville gerade einen Starter, aber nachher freut er sich sicher über unseren Besuch.« 57
»In Ordnung«, sagte ich, und wir gingen ein Bier trin ken. Danilo hatte recht: Der Südwind war kalt und der Frühling bisher nur eine Ahnung und eine Erinnerung. Danilo, schätzte ich, war ungefähr zwanzig Jahre alt. Seine Augen waren strahlend blau, mit dunkelblonden Wimpern, und seine Zähne kalifornisch ebenmäßig. Er hatte das unberührte Aussehen eines, dem die Härten des Lebens noch nicht begegnet waren; nicht unbedingt ein verwöhnter Junge, aber einer, dem viel in den Schoß ge fallen war. Er studiere an der Universität von Kalifornien in Berkeley Politikwissenschaft, sagte er, und gehe ins letzte Jahr. »Nächsten Sommer um diese Zeit habe ich die Uni hinter mir.« »Und was haben Sie dann vor?« fragte ich gesprächs weise. Ein belustigtes Funkeln kam in die blauen Augen. »Oh, da muß ich mir wohl noch was überlegen, aber im Mo ment steht nichts an.« Die Zukunft konnte für sich selber sorgen, dachte ich und sinnierte, daß sie es für Goldjungen wie Danilo ge wöhnlich auch tat. Wir schauten gemeinsam dem nächsten Rennen zu. Grevilles Starter kam knapp geschlagen als Dritter ein. »Pech«, seufzte Danilo. »Ich hatte ihn nur auf Sieg, nicht auf Platz.« »Haben Sie viel verloren?« fragte ich mitfühlend. »Es geht. Nur ein paar Rand.« Zwei Rand waren etwa ein Pfund Sterling, ein Rand un gefähr ein Dollar. Er konnte sich keinen großen Schaden zugefügt haben. 58
Wir verließen die Tribüne und gingen zu den Absattel plätzen hinüber. »Wissen Sie was?« sagte er. »Sie sind überhaupt nicht so, wie ich’s erwartet habe.« »Inwiefern?« fragte ich lächelnd. »Oh, ich glaube … Bei einem großen Filmstar hatte ich so etwas wie, na ja, Charisma erwartet. Verstehen Sie?« »Wenn sie nicht vor der Kamera stehen, sind Filmschau spieler so farblos wie jeder andere.« Er warf mir einen argwöhnischen Blick zu, aber ich machte mich nicht über ihn lustig. Ich meinte es ernst. Er hatte von Natur aus viel mehr Ausstrahlung als ich. Ich mochte ein paar Zentimeter größer sein, etwas breitere Schultern haben, aber das war nicht ausschlaggebend. Der Mann, der um das Pferd herumging, das Dritter ge worden war, dabei kritisch seine Beine betrachtete und ihm mit prüfender Hand über die Lende strich, war ein stämmiger, untersetzter Mensch mit einem unzufriedenen Gesicht. »Das ist Greville«, nickte Danilo, meinem Blick folgend. Der Trainer unterhielt sich kurz mit einer Frau, die laut Danilo die Besitzerin des Pferdes war. Sein Benehmen wirkte aus zehn Schritt Entfernung schroff und keines wegs verbindlich. Ich wußte, daß Trainer sich ein dickes Fell zulegen mußten, um bei Verstand zu bleiben: Man konnte sich nicht immerzu bei den Besitzern entschuldi gen, wenn ihre Pferde unterlagen; man mußte ihnen klar machen, daß trotz des Hafers und des investierten Trai nings die Pferde anderer Leute vielleicht eben doch schneller laufen konnten. Aber Greville Arknold schien einfach unangenehm zu sein. Nach einiger Zeit wurden die Pferde weggeführt, und die Menschenmenge zerstreute sich. Arknold hörte mit zusammengekniffenem Mund und eigensinnig zurückge 59
worfenem Kopf der Besitzerin zu, die nachgerade um Ent schuldigung zu bitten schien. Sie hielt inne, sah, daß er sich nicht milde stimmen ließ, zuckte die Achseln, wandte sich langsam ab und ging davon. Arknolds arrogante Augen lösten sich von ihr und hefte ten sich auf Danilo. Einen Moment lang schaute er nur, ehe er fragend die Brauen hochzog. Danilo nickte kaum merklich in meine Richtung, und Arknold wandte seine Aufmerksamkeit mir zu. Wieder das langsame Abschätzen. Dann kam er herüber. Danilo machte uns miteinander bekannt, als wäre es wunder was für ein Spaß, daß wir uns kennenlernten. Eine Ehre für mich wie für ihn. Großartig. Greville Arknold war mir auf Anhieb unsympathisch und blieb es. Und doch war er durchaus freundlich zu mir: lächelte, gab mir die Hand, sagte, er sei erfreut, sagte, Mrs. Cavesey habe ihm telegrafiert, daß ich eventuell zum Pferderennen käme und daß er sich dann meiner anneh men solle. Er sprach mit deutlich afrikaansem Akzent, und später fand ich heraus, daß er wie viele Südafrikaner dreisprachig war – Englisch, Afrikaans und Zulu. Er hatte ein aus dik ken Fleischlappen bestehendes Gesicht, Lippen so dünn, daß sie kaum existierten, Narben von alter Akne an Kinn und Hals und einen struppigen rotblonden Schnauzer, daumendick, drei Finger breit, unter der Nase. Und bei all dem Lächeln und Begrüßungsgeplauder blieben seine Au gen kalt. »Ihr Pferd ist gerade gut gelaufen«, meinte ich ge sprächsweise. Der Ärger von vorhin zeigte sich sofort wieder in seiner Miene. »Diese dumme Person hat darauf bestanden, daß 60
ihr Pferd heute antritt, dabei wollte ich es am Samstag lau fen lassen. Es hatte letzten Samstag in Turffontein ein schweres Rennen. Da brauchte es noch drei Tage Ruhe.« »Es sah aus, als hätte sie um Entschuldigung gebeten«, sagte ich. »Ja. Hat sie. Zu spät natürlich. Wär’ sie mal vernünftiger gewesen. Ist ja ein ganz ordentlicher Hengst. Am Samstag hätte er gewonnen. Kein bißchen Verstand. Besitzer soll ten sich immer nach dem Trainer richten. Sie bezahlen doch für das Fachwissen, oder? Dann sollten sie auch im mer tun, was der Fachmann sagt.« Ich lächelte unbestimmt, unverbindlich. Aus meiner ei genen Erfahrung als Besitzer, wenn auch nur eines mit telmäßigen Hindernispferdes, konnte ich dem »immer« nicht zustimmen. Manchmal oder auch meistens, ja. Aber immer, nein. Ich wußte von mindestens einem GrandNational-Sieger, der niemals angetreten wäre, hätte sein Besitzer auf den Rat des Trainers gehört. »Wie ich sehe, hat Mrs. Cavesey einen Starter im vier ten«, sagte ich. Die dogmatische Miene verschwand und machte einem leichten Stirnrunzeln Platz. »Ja«, sagte Arnold. »Vielleicht hat sie Ihnen ja erzählt, daß ihre Pferde nicht gut laufen.« »Sie sagte mir, Sie hätten keine Ahnung, warum«, erwi derte ich und nickte. Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Sie wer den behandelt wie alle anderen. Dasselbe Futter, dieselbe Arbeit und alles. Sie sind nicht krank. Ich habe sie mehr mals von einem Tierarzt untersuchen lassen. Es ist beun ruhigend. Sehr.« »Ja, sicher«, sagte ich mitfühlend. 61
»Und Dopingproben!« sagte er. »Wir haben bestimmt schon hundert Dopingproben gemacht. Allesamt negativ.« »Sehen sie denn fit aus?« fragte ich. »Ich meine, würde man ihnen vom Aussehen her zutrauen, daß sie besser lau fen?« »Überzeugen Sie sich selbst.« Er zuckte die Achseln. »Das heißt … ich weiß ja nicht, wie Sie sich mit Pferden auskennen.« »Sicher ziemlich gut«, warf Danilo ein. »Es ist schließ lich kein Geheimnis, daß sein Vater ein Stallangestellter war.« »So?« sagte Arknold. »Möchten Sie sich dann vielleicht im Stall einmal umsehen? Am Ende können Sie uns sogar einen Tip geben zum Lot von Mrs. Cavesey, man weiß ja nie.« Sein ironischer Tonfall ließ erkennen, daß er das für ausgeschlossen hielt. Das bedeutete entweder, er wußte wirklich nicht, was mit den Pferden los war, oder er wußte es, war aber fest überzeugt, daß ich nicht dahinterkommen würde. »Ich möchte sehr gerne die Ställe sehen«, sagte ich. »Gut. Dann sollen Sie das auch. Wie wär’s mit morgen, am Spätnachmittag? Sie können mich bei der Stallkontrol le begleiten. Um halb fünf.« Ich nickte. »In Ordnung also. Und Sie, Danilo? Möchten Sie auch kommen?« »Fänd’ ich prima, Greville. Würd’ ich gern.« Damit war das abgemacht; und Danilo sagte, er werde selbst am Iguana Rock vorbeikommen und mich abholen. Chink, Nerissas Starter im vierten Rennen, sah im Führ ring eigentlich ganz gut aus, mit einem gesunden Glanz im 62
Haarkleid und einer Muskulatur, die kräftig, beweglich und locker wirkte. Er hatte nicht besonders viel Substanz, aber einen intelligenten Kopf und starke, gut liegende Schultern. Nerissas Schwester Portia hatte auf sein Pedi gree hin fünfundzwanzigtausend Rand für ihn als Jährling bezahlt, und bisher hatte er nur ein Rennen gewonnen, sein erstes, im vergangenen April. »Was halten Sie von ihm, Link?« fragte Danilo und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Führringzaun. »Er sieht ganz fit aus«, sagte ich. »Eben. Tun sie alle, sagt Greville.« Chink wurde von zwei Pflegern herumgeführt, einem auf jeder Seite. An Arknolds Sicherheitsvorkehrungen gab es nichts auszusetzen. Wegen der steilen Fesseln fand ich es schwierig, die Ela stizität von Chinks Gang einzuschätzen. Die Pferde kamen mir alle vor, als gingen sie auf den Zehenspitzen, eine Ei genart, die ich darauf zurückführte, daß sie von Geburt an auf hartem, trockenem Boden lebten. Jedenfalls ging er nicht steifer als die anderen zum Start hinunter, und pro blemlos stellte er sich in die Startbox und schnellte aus ihr hervor. Ich beobachtete jeden Schritt seines Weges durch mein 8 x 50er Zeissglas. Er nahm die erste halbe Meile anscheinend ohne Mühe, geschickt etwa an sechster Stelle liegend, gleich hinter der Spitzengruppe. Als sie auf die Einlaufgerade gingen, be schleunigten die führenden Pferde, aber Chink nicht. Ich sah, wie der Kopf des Jockeys wippte und sein übriger Körper energisch in Bewegung geriet, um das Pferd anzu treiben; aber wenn ein Jockey schon weit vor dem Ziel so arbeiten muß, kann er sich die Mühe gleich sparen. Chink war die Puste ausgegangen, und daran hätte der beste Rei ter der Welt nichts ändern können. 63
Ich ließ mein Fernglas sinken. Der Sieger gewann Kopf an Kopf, die Menge tobte, und Chink kam ungefeiert, un gewettet, unbeachtet gut dreißig Längen hinter dem Ersten ein. Zusammen mit Danilo ging ich zum Absattelplatz, und wir traten in den Bannkreis ratlosen, finsteren Brütens, den Greville Arknold dort um sich gezogen hatte. »Na bitte«, sagte er. »Sie haben es selbst gesehen.« »Ja«, sagte ich. Chink schwitzte und sah müde aus. Er stand da mit hän gendem Kopf, als spürte er die Schmach. »Was meinen Sie dazu?« fragte Arknold. Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte er schlicht wie ein langsames Pferd ausgesehen, aber bei seinem Pedigree und bei der schnellen Zeit des Rennens, das er gewonnen hatte, konnte er das nicht sein. Er und die zehn anderen konnten nicht alle ein schwa ches Herz oder schlechte Zähne oder Blutkrankheiten ha ben, die noch keiner entdeckt hatte. Nicht nach all den eingehenden tierärztlichen Untersuchungen. Und nicht sie alle. Das war unmöglich. Sie waren nicht alle jedesmal von dem gleichen Jockey geritten worden. Wie ich Nerissas Rennsportzeitungen entnommen hatte, gab es in Südafrika sehr wenige Jockeys im Vergleich zu England: ganze dreizehn – und zweiund zwanzig Lehrlinge – ritten auf den Natal-Bahnen bei Durban, dem offiziellen Zentrum des Sports. Es gab vier große Rennsportregionen: die Johannesbur ger Bahnen in Transvaal, die Pietermaritzburg-DurbanPisten in Natal, die Port-Elizabeth-Bahnen im östlichen Kapland und die Kapstadt-Bahnen in der Kapprovinz. Ver schiedene Pferde Nerissas waren in allen vier Regionen 64
gelaufen, waren von den einheimischen Jockeys geritten worden und hatten die gleichen Ergebnisse vorzuweisen. Schnell bis Mai, Schneckentempo seit Juni. Wenn sie umherreisten, hieß das wohl auch, daß ihr Ver sagen sich nicht auf etwas in ihrem Stammquartier zurück führen ließ. Keine Krankheit. Kein Doping. Keine feste Adresse. Kein gemeinsamer Jockey. Das alles deutete auf nur eine Lösung hin. Eine einzige Wurzel des Übels. Der Trainer selbst. Ein Trainer konnte relativ leicht dafür sorgen, daß eins seiner Pferde nicht gewann, wenn er das wollte. Er brauchte ihm bloß einen zu harten Galopp zu kurz vor dem Rennen aufzubürden. Tatsächlich wurden so viele Rennen ungewollt auf diese Weise verloren, daß sich unmöglich nachweisen ließ, ob jemand es mit Absicht machte. Trainer dopten ihre Pferde selten zur Minderung der Lei stung, da sie in der Regel mehr zu gewinnen hatten, wenn die Pferde siegten. Mir sah es aber ganz so aus, als müsse Arknold hier der Verantwortliche sein, selbst wenn die Methode, die er anwandte, die einfachste der Welt war. Ich dachte, Nerissas Problem sei dadurch zu lösen, daß sie mit ihren Pferden zu einem anderen Trainer ging. Ich dachte, ich könnte eigentlich gleich nach Hause flie gen und ihr das sagen. Zwei böse Hindernisse gab es. Ich hatte eine Premiere in vierzehn Tagen zugesagt. Und wenn ich auch ahnte, wer die Pferde manipulierte und wie, so wußte ich doch nicht warum.
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ie Damen und Herren von der Presse (oder anders gesagt, ein teilweise rasierter, Rollkragen tragender, kunstvoll-lässiger und uninformierter Verein) gähnten zum Steinerweichen, als ich im Dettrick-Saal von Rand fontein House eintraf, während die Uhrzeiger noch auf halb zwölf standen. Clifford Wenkins hatte mich in der Halle empfangen, flatterig wie zuvor und mit noch feuchteren Händen. Wir fuhren zusammen mit dem Lift hoch, wobei er mir genau erklärte, wen er eingeladen hatte und wer gekommen war. Interviewer von zwei Rundfunksendern; ich hatte doch hoffentlich nichts dagegen? Sie wollten nur gern meine Antworten auf ihre Fragen auf Band aufnehmen. Ich wür de also in ein Mikrofon sprechen müssen. Schlimm? Au ßerdem waren da noch die Tageszeitungen, die Wochen zeitungen, die Frauenzeitschriften und ein, zwei Leute, die eigens mit dem Flugzeug von Kapstadt und Durban ange reist waren. Ich wünschte, ich hätte das Ganze nicht vorgeschlagen. Jetzt war es zum Weglaufen zu spät. Es blieb nur eins, dachte ich, als der Lift zischend anhielt und die Tür zurückglitt, nämlich so etwas wie eine Vor stellung zu geben. Zu schauspielern. »Warten Sie mal«, sagte ich zu Wenkins. Er blieb mit mir vor dem Lift stehen, als die Tür sich hinter uns schloß. 66
»Was ist?« fragte er bang. »Nichts. Ich brauche nur ein paar Sekunden Zeit, bevor wir reingehen.« Er verstand es nicht, dabei war das, was ich machte, ein keineswegs nur Berufsschauspielern geläufiges Verfahren. Die Lenden gürten, nannte es die Bibel. Das Adrenalin in Bewegung bringen. Den Herzschlag ankurbeln. Geistig in den höchsten Gang schalten. Politiker konnten das in knapp drei Sekunden. »Okay«, sagte ich. Er seufzte erleichtert, überquerte den Korridor und öff nete eine schwere, polierte Tür auf der anderen Seite. Wir gingen hinein. Sie kamen von Sofas und vom Teppichboden hoch, stie ßen sich müde von den Wänden ab, stupsten ein oder zwei Zigaretten aus, steckten sich neue an. »Tag«, sagte einer von den Männern, und die anderen sahen wie ein Rudel Urwaldtiere abwartend zu. Er gehörte zu denen, die am Flughafen gewesen waren. Wie sie alle hatte er keinen Grund anzunehmen, daß ich jetzt anders sein würde. »Hallo«, sagte ich. Nun, salopp sein konnte ich immer, wenn ich es wirklich wollte. Fast jeder gutgeschulte Schauspieler kann es. Ich sah, wie sie sich entspannten, sah die Müdigkeit aus ihren Mienen verschwinden und das Lächeln in ihren Au gen aufglimmen. Sie würden mich in ihren Artikeln jetzt nicht mehr zerreißen, auch wenn sie nachher noch mit den bissigen Fragen kamen, die sie in ihren Notizbüchern be reithielten. Der Mann, der »Tag« gesagt hatte, offenbar ihr natürli cher Anführer, streckte zur Begrüßung die Hand aus und 67
sagte: »Ich bin Roderick Hodge vom Rand Daily Star. Redakteur für Titelgeschichten.« Ende Dreißig, aber bemüht zu übersehen, daß die Zeit verging: jugendlicher Haarschnitt, jugendliche Kleidung, auf jung getrimmte Art zu reden. Hatte eine gewisse Groß spurigkeit an sich, aber auch etwas von dem skrupellosen Zynismus erfahrener Journalisten. Ich gab ihm die Hand und lächelte ihn wie einen Freund an. Ich brauchte ihn als Freund. »Also«, sagte ich, »wenn Sie es nicht alle ganz eilig ha ben, sollten wir uns ruhig wieder hinsetzen, und Sie kön nen mich alles fragen, was Sie wollen … Vielleicht, daß Sie Grüppchen bilden, zwischen denen ich ein bißchen herumgehe – so nutzen wir die Zeit am Ende besser, als wenn ich mich hier einfach vor Sie hinstelle.« Das fanden sie in Ordnung. Niemand hatte es besonders eilig, sagten Sie. Roderick meinte trocken, es werde jeden falls niemand gehen, bevor der Alkohol anrollte, und die Atmosphäre wurde zusehends gelöster, wie bei einer Zu sammenkunft von Geschäftsfreunden. Sie stellten die persönlichen Fragen weitgehend zuerst. Ihrer Rechnung nach war ich dreiunddreißig. Stimmte das? Es stimmte. Verheiratet? Ja. Glücklich? Ja. Meine erste oder meine zweite Ehe? Die erste. Für sie auch die erste? Ja. Sie wollten wissen, wie viele Kinder ich hatte, mit Na men und Alter. Sie fragten mich, wie viele Zimmer mein Haus hatte und wie teuer es gewesen war. Wie viele Autos, Hunde, Pferde, Yachten ich besaß. Wieviel ich im Jahr verdiente, wie hoch meine Gage für Felsen gewesen war. 68
Wieviel gab ich meiner Frau zum Kleiderkaufen? War ich der Ansicht, daß der Platz einer Frau im Haus sei? »Im Herzen«, sagte ich scherzhaft, und das gefiel der Fragestellerin, dem Mädchen von der Frauenzeitschrift, während es allen anderen etwas sauer aufstieß. Warum lebte ich nicht in einer Steueroase? Ich mochte England. Ein teurer Luxus? Sehr. Und war ich Millionär? An manchen Tagen vielleicht, auf dem Papier, wenn die Aktienkurse stiegen. War ich so reich, warum arbeitete ich dann? Um Steuern zu zahlen, sagte ich. Clifford Wenkins hatte bei einem Gastroservice Kaffee, Käsegebäck und Scotch bestellt. Die Presseleute kippten den Whisky in den Kaffee und seufzten zufrieden. Ich hielt beides getrennt, hatte aber große Mühe, dem Kellner begreiflich zu machen, daß ich meinen Alkohol ungern mit neunmal soviel Wasser verdünnt trank. In Südafrika, so hatte ich bereits festgestellt, neigte man dazu, die Glä ser bis obenhin aufzufüllen, und vermutlich hatte Whisky als Longdrink in einem heißen Klima auch etwas für sich; solange es aber kalt war, verdarb man damit nur guten Scotch. Clifford Wenkins betrachtete meinen kleinen Drink in dem großen Glas. »Warten Sie, ich hole Ihnen Wasser.« »Nicht nötig. Pur ist mir lieber.« »Oh … wirklich?« Er hastete geschäftig davon und kam mit einem ernsten, bärtigen Menschen zurück, der ein Handmikrofon mit ei nem langen Kabel anschleppte. Da hinter dem Bart kein Funken Humor lebte, fiel das Interview, wie ich fand, ziemlich steif aus, doch er versicherte mir anschließend, es sei genau richtig, die ideale 5-Minuten-Einlage für seine Samstagabendsendung. Er nahm das Mikrofon, das ich 69
gehalten hatte, wieder an sich, schüttelte mir ernst die Hand und verschwand in einer Ecke, in der eine große Anzahl von Aufnahmegeräten stand. Danach sollte ich noch ein zweites Interview geben, diesmal für ein Frauenprogramm, doch eine technische Störung war aufgetreten. Ich wanderte mit der Zeit durch den ganzen Raum, setzte mich auf den Fußboden, auf Sessellehnen, lehnte an den Fensterbänken oder stand einfach herum. Durch den Scotch lockerer geworden, stellten sie die an deren Fragen. Was hielt ich von Südafrika? Es gefiel mir. Welche Meinung hatte ich zu den politischen Verhältnis sen? Gar keine, sagte ich. Ich sei erst einen Tag in ihrem Land. So schnell könne man sich keine Meinung bilden. Die meisten Leute kamen mit vorgefaßten Meinungen angereist, bemerkten sie. Ich sagte, das hielte ich nicht für vernünftig. Tja, und wie stand ich zur Rassendiskriminierung? Ich sagte ohne Eifer, daß jede Form von Diskriminierung meiner Ansicht nach zu Ungerechtigkeiten führen mußte. Ich sagte, ich fände es bedauerlich, daß Menschen es im mer wieder für nötig hielten, andere Menschen zu diskri minieren, seien es Frauen, Juden, australische Ureinwoh ner, die Indianer Amerikas oder ein Freund von mir in Nairobi, der trotz überragender Leistungen beruflich nicht aufsteigen konnte, weil er weiß war. Ich sagte auch, daß ich keine weiteren Fragen dieser Art mehr beantworten könne; und wir möchten doch bitte weggehen von der Politik und den Bürgerrechten, es sei denn, sie wollten, daß ich ihnen die Unterschiede zwi schen den Wirtschaftstheorien der Tories und der Arbei terpartei erklärte. 70
Sie lachten. Nein, sagten sie; das wollten sie nicht. Sie kamen wieder aufs Kino zurück und stellten Fragen, die zu beantworten ich mich eher imstande fühlte. Traf es zu, daß ich als Stuntman angefangen hatte? So ungefähr, sagte ich. Ich hatte Pferde durch alle möglichen Filmkulissen geritten, durch die Wälder von Robin Hood über Bosworth Field hin zum Angriff der leichten Kavalle rie. Bis mich eines Tages während einer kleinen Soloszene ein Regisseur zu sich rief, mir ein paar Worte zu sprechen gab und mir sagte, ich sei im Geschäft. Eine richtig ro mantische Geschichte, tut mir leid, doch manchmal pas siert es eben tatsächlich so. Und dann? Oh, dann bekam ich einen besseren Part in seinem nächsten Film. Und wie alt war ich damals? Zwei undzwanzig, frisch verheiratet, lebte in einer Souterrain wohnung in Hammersmith von Bohnen aus der Dose und nahm abends immer noch Sprach- und Schauspielunter richt wie schon seit drei Jahren. Ich stand mehr oder weniger in der Mitte des Raums, als die Tür sich hinter mir öffnete. Clifford Wenkins wandte den Kopf, um zu sehen, wer es war, zog verwirrt die Stirn kraus und eilte hinüber, um die Situation zu klären. »Hier können Sie leider nicht rein«, sagte er. »Der Saal ist reserviert. Privater Empfang. Tut mir leid, aber würden Sie bitte – na hören Sie, das geht doch nicht … der Saal ist reserviert. Ja, hat man noch –« Ich entnahm daraus, daß Wenkins den kürzeren zog. Ei gentlich nicht überraschend. Dann spürte ich die Pranke auf der Schulter und hörte die vertraute sonore Stimme. »Link, mein lieber Junge. Sagen Sie diesem – äh – Men schen, daß wir gute alte Freunde sind. Er möchte anschei nend nicht, daß ich hereinkomme. Also, ich bitte Sie!« 71
Ich drehte mich um. Staunte nicht schlecht. Sagte zu Wenkins: »Vielleicht kann er doch bleiben. Ich kenne ihn. Es ist ein Kameramann.« Conrad zog jäh die Brauen hoch. »Chefkameramann, mein Junge! Als ob ich ein Schwenker wär’.« »Verzeihung«, sagte ich ironisch. »Ein Scotch gefällig?« »Na, so, mein Junge, ist das schon besser.« Wenkins gab sich geschlagen und ging einen Drink für Conrad holen. Conrad schaute sich die entspannte Atmo sphäre an, den wabernden Qualm, die leeren Tassen und halbleeren Gläser und die freundlichen Medienvertreter, die sich in Gruppen beieinandersitzend unterhielten. »Mein Gott«, sagte er. »Du meine Güte. Das haut mich um. Ich hab’ es wirklich nicht geglaubt, als die mir sagten, Edward Lincoln gäbe in diesem Moment hier in Johannes burg eine Pressekonferenz. Ich hab’ gewettet, daß das nicht stimmt. Da sagten sie mir, wo. In dem Nobelzimmer oben im Randfontein. Ich solle mich selbst überzeugen. Und es stimmt.« Gelächter stieg grollend irgendwo in seinem Bauch auf und brach als schallender Lachhusten hervor. »Seien Sie doch still«, sagte ich. Er breitete die Arme in einer den Raum umfassenden Gebärde. »Die wissen nicht, die wissen einfach nicht, was sie hier sehen, ja? Die haben keine Ahnung.« »Seien Sie doch still, Conrad, verdammt«, sagte ich. Er keuchte und schnaufte, so schwer fiel es ihm, das La chen zu unterdrücken. »Mein lieber Junge. Ich habe nicht gewußt, daß Sie das können. Außer vor der Kamera, mei ne ich. Ein Dompteur und lauter zahme Tiger, die ihm aus der Hand fressen … Na, wenn das Evan hört.« 72
»Wird er wohl kaum«, sagte ich beruhigt. »Nicht auf der anderen Seite des Erdballs.« Er schüttelte sich vor Vergnügen. »O nein, mein Junge. Der ist hier mitten in Johannesburg. Praktisch eine Straße weiter.« »Sagen Sie bloß!« »Wir sind seit Sonntag hier.« Er würgte den letzten Rest seines Gelächters ab und wischte sich mit dem Daumen über die Augen. »Essen Sie mit mir zu Mittag, Junge, dann erzähl’ ich Ihnen alles genau.« Ich sah auf meine Uhr. Zwanzig nach zwölf. »Ja, gut. Ich muß nur erst noch was auf Band sprechen, wenn die hier ein Ersatzmikrofon aufgetrieben haben.« Roderick Hodge löste sich von einer Gruppe am Fenster und kam mit einem herausgeputzten Mädchen an, während Clifford Wenkins mit Conrads Drink herbeieilte. Das Mädchen, die vorgesehene Interviewerin für das Frauenprogramm, hatte ein Gesicht, das bei jeder anderen reizlos gewesen wäre; aber sie hatte auch einen wuscheli gen braunen Lockenkopf, eine riesige, gelbgerahmte Son nenbrille auf der Nase und eine besenstielartige Figur, die in einem braun-orange karierten Hosenanzug steckte. Die spontane Freundlichkeit ihres Auftretens bewahrte sie da vor, als Karikatur zu erscheinen. Conrad würdigte ihre Farbwerte mit anerkennenden Blicken, während er erklär te, daß er in jüngster Zeit vier Filme mit mir gedreht habe. Rodericks Aufmerksamkeit konzentrierte sich wie ein scharf eingestelltes Objektiv. »Wie ist er bei der Arbeit?« wollte er wissen. »Das ist nicht fair«, sagte ich. Weder Roderick noch Conrad hörten mir zu. Conrad sah mich abwägend an, schürzte die Lippen, hielt eine Hand 73
hoch und bog einen Finger nach dem anderen um, wäh rend er sich die Worte auf der Zunge zergehen ließ. »Patent, potent, pünktlich, professionell und purita nisch.« Und weithin hörbar flüsterte er mir zu: »Na, wie war das?« »Dilettant«, sagte ich. Roderick stürzte sich wie vorauszusehen auf den letzten Punkt. »Puritanisch. Wie meinen Sie das?« Conrad amüsierte sich glänzend. »Seine Filmpartnerin nen bemäkeln alle, daß er sie gekonnt, aber nicht mit Ge fühl küßt.« Ich konnte förmlich sehen, wie die Schlagzeilen in Rodericks Kopf entstanden. Seine Augen strahlten. »Meine Söhne mögen das nicht«, sagte ich. »Was denn?« »Als der ältere mich mal im Film eine Frau hat küssen sehen, die nicht seine Mutter war, hat er eine Woche nicht mit mir geredet.« Sie lachten. Aber damals war das keineswegs lustig gewesen. Peter hatte zudem – mit fünf Jahren – wieder angefangen, sein Bett naßzumachen, und sehr viel geweint, und ein Kinder psychiater hatte uns gesagt, er tue das, weil er verunsichert sei; er habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil Papi andere Frauen küßte und sich mit Mami zu Hause zankte. Das war so bald nach Libbys Un fall eingetreten, daß wir uns fragten, ob er sich darüber auch grämte; aber wir hatten ihm nie gesagt, daß Libby krank geworden war, weil er sie fallengelassen hatte, und hatten auch nicht vor, es zu tun. Man durfte ein Kind nicht mit solchen Erkenntnissen belasten, denn ein sinnloses, 74
unnützes Schuldgefühl konnte es in seiner ganzen Ent wicklung fehllenken. »Was haben Sie dagegen gemacht?« fragte das Mädchen mitfühlend. »Ihn zum Ausgleich in ein paar gute, anständige Horror filme mitgenommen.« »Ganz bestimmt«, sagte Conrad. Clifford Wenkins kam aufgeregt von einer seiner hurti gen Beschaffungstouren zurück. Wieder lag der Schweiß in perlengroßen Tropfen auf seiner faltigen Stirn. Ich frag te mich flüchtig, wie er wohl zu Rande kam, wenn es Sommer wurde. Er drückte mir triumphierend ein Mikrofon in die Hand. Das Kabel lief in die Ecke, wo die Aufzeichnungsgeräte standen. »So, das wär’s – äh – das hätten wir.« Er blickte in unnötiger Verwirrung von mir zu dem Mädchen. »Bitte schön, Katya. Ähm – alles klar, denke ich.« Ich blickte zu Conrad. Ich sagte: »Gestern beim Pferde rennen habe ich genau ein Wort Afrikaans gelernt, und das können Sie jetzt mal machen, während ich das Interview aufnehme.« Conrad sagte argwöhnisch: »Was für ein Wort?« »Voetsek«, sagte ich im Plauderton. Alle kringelten sich höflich. Voetsek hieß »zieh Leine«. Als man es ihm übersetzte, bekam Conrad einen seiner glucksenden Lachanfälle. »Wenn bloß Evan das sehen könnte«, meinte er schnau fend. »Vergessen wir Evan«, schlug ich vor. Conrad legte Roderick die Hand auf den Arm und zog ihn mit sich fort, während jeder über etwas anderes lachte. 75
Katyas eher kleine Augen lachten hinter der riesigen, gelbgefaßten Brille. »Und dabei hieß es, auf dem Flugha fen seien Sie kalt wie ein gefrorener Fisch gewesen.« Ich lächelte sie von der Seite an. »Vielleicht war ich mü de.« Ich beäugte das Notizbuch, das sie in der einen Hand hielt. »Was wollen Sie denn so fragen?« »Ach, genau das gleiche wie die anderen, würde ich meinen.« Aber da war ein schelmisches Zähneblitzen, das nichts Gutes ahnen ließ. »Wir können, Katya«, rief ein Mann von dem Elektro nik-Arsenal herüber. »Wann immer du willst.« »Gut.« Sie sah auf das Notizbuch nieder und dann zu mir hoch. Ich stand etwa einen Meter von ihr weg, hielt mein Glas in der einen Hand und das Mikrofon in der anderen. Sie schaute sich das mit zur Seite geneigtem Kopf an und trat dann einen großen Schritt näher. Fast auf Tuchfüh lung. »So ist das glaub’ ich besser. Es gibt zuviel Hintergrund rauschen, wenn einer von uns zu weit weg von dem Mikro steht. Ein altes Ding, wie’s scheint. Oh, und vielleicht hal te ich es mal. Sie sehen etwas unglücklich damit aus.« Sie nahm das Mikrofon und rief durch den Raum: »Okay, Joe, schalt ein.« Joe schaltete ein. Katya zuckte entsetzlich von Kopf bis Fuß, flog mit durchgebogenem Rücken nach hinten und stürzte zu Bo den. Die leise miteinander plaudernden Leute drehten sich um, schnappten nach Luft und schrien auf, ihre Gesichter vor Schreck verzerrt. »Ausschalten!« rief ich scharf. »Schalten Sie alles aus. Sofort!« 76
Roderick machte zwei Schritte und beugte sich mit aus gestreckten Händen über Katya, um ihr zu helfen, doch ich zog ihn zurück. »Joe soll erst das verdammte Mikrofon abschalten, sonst kriegen Sie den Schlag auch mit.« Der fragliche Joe kam mit bleichem Gesicht herüberge laufen. »Ist gemacht«, sagte er. »Es ist jetzt abgeschaltet.« Ich dachte, sie alle, jeder von ihnen, wüßte, was zu tun war, und würde es tun. Aber sie standen und knieten ein fach rings herum und sahen mich an, als hätte ich Be scheid zu wissen und zu handeln, als hätte ich der findige Kopf aus all den Filmen zu sein, der immer, aber auch immer die Führung übernahm. O Gott, dachte ich. Sieh dir die bloß an. Und es war keine Zeit zu verlieren. Keine Sekunde. Sie atmete nicht mehr. Ich kniete mich neben sie und nahm ihr die Brille ab. Riß den Kragen ihres Hemdes auf. Bog ihr den Kopf zu rück. Drückte meinen Mund auf ihren und blies ihr meinen Atem in die Lunge. »Ruft einen Arzt«, sagte Roderick. »Und einen Ret tungswagen. O verdammt … Beeilt euch. Schnell!« Ich atmete in sie hinein. Nicht zu fest. Mit normaler Atemstärke. Aber immer und immer wieder, so daß ihre Brust sich hob und senkte. Ein starker elektrischer Schlag bringt das Herz zum Stillstand. Ich versuchte, einen Puls an ihrem Hals zu ertasten, fand aber keinen. Roderick verstand, was ich wollte, und ergriff ihr Handgelenk, aber auch da tat sich nichts. Sein Gesicht sah gequält aus. Katya war offenbar viel mehr für ihn als nur eine Kollegin. 77
Zwei Minuten zogen sich wie zweitausend Jahre. Rode rick legte ein Ohr an Katyas linke Brust. Ich beatmete sie weiter, obwohl ich mit jeder Sekunde mehr das Gefühl be kam, daß es keinen Zweck hatte, daß sie tot war. Ihre Haut hatte die Farbe des Todes und war sehr kalt. Er hörte den ersten Klopfer, bevor ich ihn spürte. Ich sah es an seinem Gesicht. Dann kamen zwei einzelne Stöße in dem Blutgefäß an ihrem Hals, auf das ich die Finger hielt, danach ein paar ungleichmäßige, stockende kleine Schläge und unglaublicherweise dann schließlich langsam, rhyth misch und zusehends stärker das lebensspendende Babum, ba-bum, ba-bum eines Herzens, das seine Funktion wieder ausübte. Rodericks Lippen wurden schmal und verzogen sich, als er den Kopf hob, und die Sehnen an seinem Hals traten hervor, so angestrengt war er bemüht, nicht zu weinen. Aber die Tränen der Erleichterung liefen ihm dennoch über die Wangen, und er versuchte sie mit den Fingern wegzuwischen. Ich tat, als sähe ich es nicht, falls es ihm darum ging. Aber ich wußte – der Himmel möge mir verzeihen –, daß ich eines Tages dieses Gesicht, diese Reaktion in einen Film einbringen würde. Was immer man lernte, was im mer man sah und wie privat es auch sein mochte, als Schauspieler verwertete man es irgendwann. Sie atmete krampfhaft aus eigener Kraft ein, während ich gerade durch die Nase Atem holte. Es war ein seltsames Gefühl, als sauge sie die Luft aus mir heraus. Ich löste meinen Mund von ihrem und hörte auf, ihre Kiefer mit den Händen offenzuhalten. Sie atmete weiter, ein bißchen schwach erst, aber dann ganz gleichmäßig, in flachen, den Körper durchbebenden, hörbaren Zügen. »Sie muß wärmer liegen«, sagte ich zu Roderick. »Sie braucht Decken.« 78
Er sah mich benommen an. »Ja, Decken.« »Ich hol’ welche«, sagte jemand, und die atemlose Stille, die den Raum erfüllt hatte, schlug um in plötzliche Ge schäftigkeit. Aus lähmendem Entsetzen wurde banger Schrecken, daraus nachlassender Schrecken, und darauf trank man erst mal wieder einen Schluck Whisky. Ich sah Clifford Wenkins auf Katyas immer noch be wußtlose Gestalt herunterschauen. Sein Gesicht war grau und sah aus wie zerlaufender Kitt; der Schweiß hatte keine Zeit zum Trocknen gehabt. Ausnahmsweise aber hatte es ihm einmal die Sprache verschlagen. Auch Conrad schien das »lieber Junge« vorübergehend vergangen zu sein. Dabei merkte ich genau, daß die Aus druckslosigkeit seines Gesichts nicht vom Schrecken her rührte. Er war bei der Arbeit, wie ich vorhin – er betrach tete einen Elektrounfall im Hinblick auf Kamerawinkel, Licht und Schatten, Farbeffekte. An welchem Punkt, frag te ich mich, wurde die Ausbeutung des Leidens anderer eigentlich zur Sünde? Jemand kam mit ein paar Decken wieder, und mit zit ternden Händen wickelte Roderick Katya darin ein und schob ihr ein Kissen unter den Kopf. Ich sagte zu ihm: »Erwarten Sie nicht zuviel, wenn Sie aufwacht. Sie ist wahrscheinlich verwirrt.« Er nickte. Ihre Wangen bekamen wieder Farbe. Sie schien über den Berg zu sein. Die Zeit der schlimmsten Befürchtungen war vorbei. Er sah plötzlich zu mir hoch, dann auf sie runter, dann wieder zu mir hoch. Der erste Gedanke, der nicht mehr rein vom Gefühl bestimmt war, faßte Wurzeln. Als wäre es eine plötzliche Erkenntnis, sagte er langsam: »Sie sind Edward Lincoln.« 79
Auch für ihn erhob sich die Gewissensfrage: Sollte er aus dem Beinah-Tod seiner Freundin Profit schlagen oder nicht? Ich blickte mich im Raum um und er auch. Die Reihen hatten sich merklich gelichtet. Ich begegnete Rodericks Augen und wußte, was er dachte; die Presse war ans Tele fon gestürzt, und er war hier der einzige vom Rand Daily Star. Er sah erneut auf das Mädchen nieder. »Sie kommt doch jetzt in Ordnung, nicht?« sagte er. Ich machte eine unentschiedene Gebärde mit den Hän den und antwortete nicht direkt. Ich wußte nicht, ob sie in Ordnung kommen würde. Ich nahm an, daß ihr Herz kaum länger als drei Minuten ausgesetzt hatte; mit etwas Glück würde ihr Gehirn also nicht geschädigt sein. Aber meine Kenntnisse waren nur die dürftigen Überbleibsel eines lange zurückliegenden Erste-Hilfe-Kurses. Der Journalist in Roderick trug den Sieg davon. Er stand abrupt auf und sagte: »Tun Sie mir einen Gefallen? Sehen Sie zu, daß man sie nicht ins Krankenhaus oder sonstwo hin bringt, bevor ich zurück bin.« »Ich will’s versuchen«, sagte ich; und er trat schleu nigst ab. Joe, der Tontechniker, rollte das Kabel des defekten Mi krofons zusammen, nachdem er es vorsichtig aus der Steckdose gezogen hatte. Er betrachtete es zweifelnd und sagte: »Das ist so alt – ich wußte gar nicht, daß wir’s ha ben. Es lag eben in der Kiste. Ich wünschte zu Gott, ich hätte es nicht genommen. Dachte bloß, das geht schneller, als wenn wir auf den Ersatz aus dem Studio warten. Jeden falls sorge ich dafür, daß es nicht noch mehr Schaden an richtet. Ich nehme es gleich auseinander und werfe es weg.« 80
Conrad kam wieder an meine Seite und sah auf Katya nieder, die Anzeichen von wiederkehrendem Bewußtsein zeigte. Ihre Augenlider flatterten. Sie bewegte sich unter den Decken. Conrad sagte: »Es ist Ihnen doch wohl klar, mein Junge, daß Sie dieses Mikrofon bis ganz kurz vor dem Unfall selbst gehalten haben.« »Ja«, sagte ich unverbindlich. »Und«, sagte Conrad, »wie viele Leute hier im Raum hatten auch nur die leiseste Ahnung davon, daß die einzige Hoffnung für das Opfer eines Stromschlags in sofortiger künstlicher Beatmung besteht?« Ich sah ihm gerade ins Gesicht. »Haben Sie es gewußt?« Er seufzte. »Sie sind ganz schön zynisch, lieber Junge. Nein, ich wußte es nicht.«
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anilo erschien um vier am Iguana Rock, mit einem gemieteten Triumph, einem knallroten, offenen Hemd und seinem sonnengebräunten breiten Lächeln. Ich war selbst noch keine Stunde wieder zurück, da Conrad und ich bei Bier und Sandwiches lange in einer unauffälligen Bar herumgesessen hatten. Katya war ins Krankenhaus gekommen, einen verstörten Roderick im Schlepptau, und die anderen Reporter klopften sich mo mentan die Finger auf ihren Schreibmaschinen wund. Clifford Wenkins war irgendwann im Laufe der Ereignisse unbemerkt entflattert, und als Conrad und ich gingen, sa hen wir auch ihn ernst in ein Telefongespräch vertieft. Zweifellos erstattete er Worldic Bericht. Ich unterdrückte einen mutlosen Seufzer. Nicht die Chance eines Schmet terlings im Schneesturm, daß irgendwer die ganze Ge schichte als uninteressant abtun würde. Danilo plauderte auf seine sorglose Art, während er uns die erhöhte Sir-de-Villiers-Graaf-Umgehungsstraße ent lang fuhr, Gottes Geschenk an die Bewohner der Stadt, das den Durchgangsverkehr über ihre Häupter verlegte. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie Johannesburg war, bevor sie diese Schnellstraße gebaut haben«, bemerkte Danilo. »Die haben auch jetzt noch ein schweres Ver kehrsproblem im Zentrum, und was das Parken angeht – da unten stehen mehr Autos am Straßenrand als einarmige Banditen in Nevada.« 82
»Sie sind schon länger hier, ja?« »Ach woher«, sagte er grinsend. »Erst ein paar Tage. Aber ich war schon einmal hier, und man braucht sowieso nur zwanzig Minuten herumzukurven, bis man raushat, daß die Parkplätze dauernd belegt sind und die nächste Lücke mindestens eine Viertelmeile von da weg ist, wo man hinwill.« Er fuhr ruhig und geschickt auf der für ihn verkehrten Straßenseite. »Greville wohnt in der Nähe von Turffontein«, sagte er. »Wir gehen jetzt gleich von der Hochstraße runter … Stand auf dem Schild da Ausfahrt Eloff Street?« »Ja«, bestätigte ich. »Prima.« Er nahm die Abzweigung, und wir verließen die südafrikanische M 1, um bald darauf an einigen Fuß ballplätzen und einer Eisbahn vorbeizukommen. »Sie nennen das Wembley«, sagte Danilo. »Und da drü ben ist ein See namens Wemmer Pan, zum Bootfahren. Da haben sie auch eine Wasserorgel, die bunte Fontänen im Takt zur Musik in die Luft schießt.« »Waren Sie mal dort?« »Nein … Greville hat mir das erzählt, glaub’ ich. Er sagt auch, es ist eine ideale Stelle, um halbverweste Leichen und Torsos ohne Kopf an Land zu ziehen.« »Hübsch«, sagte ich. Er lachte. Bevor wir nach Turffontein kamen, bog er auf eine Ne benstraße ab, die kurz darauf zu harter, festgebackener Er de wurde, bedeckt mit einer Lage Staub. »Hier hat es schon vier oder fünf Monate nicht gereg net«, sagte Danilo. »Sieht alles ganz schön trocken aus.« 83
Das Gras war in der Tat bräunlich, aber damit hatte ich gerechnet. Dagegen erstaunte es mich, von Danilo zu hö ren, daß in einem Monat, wenn der Regen kam und die Tage wärmer wurden, die ganze Gegend farbenfroh und grün im Saft stehen würde. »Schade, daß Sie die Jacarandas nicht mehr erleben wer den«, sagte Danilo. »Die blühen hier überall, wenn Sie wieder weg sind.« »Haben Sie sie mal gesehen?« Er zögerte. »Na ja, also nicht direkt. Als ich voriges Mal hier war, haben sie nicht geblüht. Es ist nur das, was Gre ville sagt.« »Verstehe«, sagte ich. »Wir sind da. Zu Greville geht’s da rauf.« Er zeigte, bog dann zwischen ein paar schmucklosen Backsteinsäulen ein und fuhr eine kiesbestreute Auffahrt entlang zu einem Stall, der aussah, als sei er geradewegs aus England hier her verpflanzt worden. Arknold war bereits draußen auf dem Hof und unterhielt sich mit einem schwarzen Afrikaner, den er als seinen Fut termeister Barty vorstellte. Er sah so hart aus wie Arknold selbst; ein kräftiger, untersetzter Mann um die Dreißig mit einem dicken Hals und ernsten, kalten Augen. Der erste Schwarzafrikaner, dachte ich ein wenig überrascht, dessen Gesichtsausdruck auf mich nicht gutmütig wirkte. In sei nem Benehmen lag jedoch nichts als Höflichkeit, und er erwiderte Danilos Gruß mit einem Nicken, wie es unter Leuten üblich ist, die sich öfter sehen. Arknold sagte, es sei alles bereit, und ohne weitere Um stände begannen wir mit dem Stallrundgang. Die Pferde waren alle wie die, die ich auf der Bahn gesehen hatte: steilgefesselt, von etwas weniger starkem Knochenbau als die daheim. 84
Es gab nichts, was Nerissas Pferde von ihren Stallgefähr ten unterschied. Sie sahen genauso gut aus, hatten genauso feste Beine, genauso glänzende Augen; und sie waren auch nicht in einem Block zusammengelegt, sondern zwi schen den übrigen verteilt. Hengste in einem Komplex, Stuten in einem anderen. Alles wie es sein sollte, wie es normalerweise in England war. Die Pfleger – die Boys – waren alle jung und alle schwarz. Wie Pferdepfleger auf der ganzen Welt hingen sie voller Stolz an den Tieren, die sie betreuten, doch ne ben dem Stolz trat ein zweites Verhaltensmuster recht klar zutage. Sie begegneten mir lächelnd, Arknold mit Respekt und Barty mit unverkennbarer Furcht. Ich wußte nicht, ob vielleicht irgendeine Stammessitua tion ihm solche Macht über sie gab, und fand es nie her aus, doch ihren argwöhnischen Blicken und ihrem Zu rückweichen, wenn er sich näherte, war zu entnehmen, daß er sie in einer viel strengeren Knechtschaft hielt, als ein britischer Futtermeister es sich je hätte erlauben kön nen. Ich dachte an die eiserne Hand zurück, mit der einst mein Vater regierte. Die Pfleger hatten vor ihm gekuscht, die Lehrlinge hatten pariert, und auch ich war seinen Wünschen zügig nachgekommen, aber ich entsann mich nicht, daß jemand regelrecht Angst vor ihm gehabt hätte. Ich sah Barty an, und mir schauderte leicht. Ich hätte nicht gern unter ihm gearbeitet, so wenig wie Arknolds Pfleger. »Das ist Tables Turned«, sagte Arknold gerade und ging auf die Tür der Box eines dunklen Fuchshengstes zu. »Ein Pferd von Mrs. Cavesey. Läuft am Samstag in Ger miston.« 85
»Ich wollte vielleicht nach Germiston fahren«, sagte ich. »Großartig«, meinte Danilo begeistert. Arknold nickte eher zurückhaltend und sagte, er werde an der Kasse Freikarten für mich bereitlegen lassen. Wir gingen in die Box und musterten Tables Turned von Kopf bis Fuß, wie üblich zunächst schweigend, wobei Arknold besonders auf Veränderungen gegenüber dem Vortag achtete und ich auf etwas nicht zu Unvorteilhaftes sann, das sich über ihn sagen ließ. »Guter Hals«, lobte ich. »Gute, kraftvolle Schultern.« Und ein bißchen rattenartig um den Kopf rum, dachte ich. Arknold zuckte bedrückt die Achseln. »Für die Winter saison habe ich ihn mit nach Natal genommen, genau wie die anderen. Hatte fast das ganze Lot für knapp drei Mo nate da unten, wie jedes Jahr. Wir halten sie in Summer veld, verstehen Sie?« »Wo ist Summerveld?« fragte ich. »Besser, was ist Summerveld«, sagte er. »Es ist ein gro ßes Gebiet mit Stallungen für rund achthundert Pferde in Shongweni bei Durban. Wir buchen immer einen Stall block für die Saison. Sie haben dort alles, was man braucht, in Reichweite – Arbeitsbahn, Restaurants, Her bergen für die Boys, alles. Und die Schule für Jockeys und Lehrlinge ist auch da.« »Aber dieses Jahr hatten Sie nicht viel Erfolg?« sagte ich mitfühlend. »Wir haben mit den anderen ein paar Rennen gewonnen, aber Mrs. Caveseys Lot … Also, das sind so viele, da kann ich’s mir offen gestanden nicht leisten, wenn die alle aus fallen. Schadet meinem Ruf, verstehen Sie?« Ich verstand es. Und ich dachte bei mir, daß er es gelas sener nahm, als am Platz gewesen wäre. 86
»Tables Turned hier«, sagte er und klopfte dem Pferd aufs Hinterteil, »der schien nach seiner Abstammung und seiner Anfangsform ein ziemlich guter Kandidat für das Hollis Memorial Plate im Juni zu sein – das ist ein Spit zenrennen für Zweijährige –, und er ist genauso gelaufen wie Chink, den Sie in Newmarket gesehen haben. Fünf hundert Meter vorm Ziel bricht er ein und endet erschöpft, obwohl ich geschworen hätte, daß er so fit wie nur irgend einer ist.« Er nickte dem Boy zu, der den Kopf des Pferdes hielt, drehte sich auf dem Absatz um und ging aus der Box. Weiter unten in der Reihe kamen wir zu einem anderen Pferd Nerissas, über das er sich besonders empörte. »Also dieser Hengst, Medic, der hätte wirklich jeden schlagen müssen. Ich dachte mir, er würde das Natal Free Handicap im Juli gewinnen, aber schließlich hab’ ich ihn gar nicht erst nach Clairwood geschickt. Die vier Rennen davor waren zu beschämend.« Ich hatte stark das Gefühl, daß sein Ärger nur zum Teil echt war. Was sollte man davon halten? Es schien ihn durchaus zu kümmern, daß die Pferde alle versagt hatten, und doch war ich mir sicher, daß er nicht nur wußte, woran es lag, sondern es auch selbst in die Wege geleitet hatte. Begleitet von Barty, der jeden verschüchterten Boy mit vorstoßendem schwarzen Finger auf Versäumnisse hin wies, inspizierten wir das ganze Lot durch und gingen dann auf einen Drink rüber ins Haus. »Die Pferde von Mrs. Cavesey gelten natürlich jetzt als Dreijährige«, sagte Arknold. »Das Rennalter wechselt hier am 1. August, nicht am 1. Januar wie bei Ihnen.« »Ja«, sagte ich. »Im August gibt es wenig gute Rennen bei uns in Süd afrika. Nichts, was für Sie sonderlich interessant wäre, glaube ich.« 87
»Ich finde das alles äußerst interessant«, sagte ich wahr heitsgemäß. »Werden Sie Mrs. Caveseys Pferde denn auch als Dreijährige starten lassen?« »Solange sie die Trainingsgebühren zahlt«, sagte er düster. »Und wenn sie zu verkaufen beschließt?« »Sie bekäme jetzt sehr wenig dafür.« »Aber wenn – würden Sie welche kaufen?« fragte ich. Er antwortete nicht gleich, da er uns den Weg in sein Büro wies, einen quadratischen Raum voller Papiere, Rennberichte, Aktenschränke und harter Stühle mit gera den Lehnen. Arknolds Gäste sollten es anscheinend nicht so bequem haben, daß sie länger blieben als erwünscht. Ich wiederholte meine Frage unklugerweise und bekam Arknolds gebündelte Galle ins Ohr. »Hören Sie, Mister«, sagte er heftig, »was Sie da un terstellen, gefällt mir nicht. Sie wollen damit sagen, daß ich vielleicht Rennen verliere, um die Pferde billig kaufen zu können, und wenn sie dann mir gehören, Rennen ge winne und sie mit Profit in die Zucht verkaufe. Das mei nen Sie doch, Mister.« »Ich habe nichts dergleichen gesagt«, widersprach ich mild. »Sie denken es aber.« »Nun«, sagte ich, »es war eine Möglichkeit. Wenn Sie es mal objektiv von außen betrachten, hätten Sie dann nicht auch daran gedacht?« Er blickte immer noch finster, aber die Feindseligkeit legte sich langsam. Ich wünschte, ich hätte entscheiden können, ob er wütend geworden war, weil ich ihn beleidigt hatte oder weil ich der Wahrheit zu nah gekommen war. Danilo, der die ganze Zeit hinterhergelaufen war und sonnige Bemerkungen an niemand Bestimmten gerichtet hatte, versuchte seinen gereizten Freund zu beruhigen. 88
»Ach kommen Sie, Greville, er hat’s nicht so gemeint.« Arknold warf mir einen säuerlichen Blick zu. »Na, kommen Sie. Tante Nerissa hat ihm wahrscheinlich gesagt, er soll, wenn’s geht, nach Gründen suchen. Kann man ihr doch nicht verdenken, wo sie all das gute Geld in schlechte Pferde steckt, Greville, hab’ ich recht?« Arknold gab sich einigermaßen besänftigt und bot uns etwas zu trinken an. Danilo lächelte breit und sagte er leichtert, es ginge ja nun nicht, es käme gar nicht in die Tüte, daß wir uns zankten. Ich nippte an meinem Drink und sah die beiden an. Schicker, strahlender Goldjunge. Mürrischer, bulliger Mann mittleren Alters. Beide tranken und beobachteten mich über den Rand ihrer Gläser hinweg. Ich konnte ihnen keinen Zentimeter in die Seele blicken. Im Iguana Rock erwartete mich ein durch Boten abgege bener Brief. Ich las ihn oben in meinem Zimmer, an dem Fenster stehend, das auf die Gärten, die Tennisplätze und die großartige afrikanische Landschaft hinausging. Es dämmerte schon und würde bald dunkel sein, aber die selbstbewußte Handschrift war noch gut zu sehen. Sehr geehrter Mr. Lincoln, Ich habe ein Telegramm von Nerissa Cavesey erhalten mit der Bitte, Sie zum Dinner einzuladen. Meine Frau und ich würden uns freuen, Sie im Verlauf Ihres Besuches als un seren Gast begrüßen zu dürfen, falls Sie uns das Vergnü gen machen können. Nerissa ist die Schwester von Portia, der Frau meines verstorbenen Bruders, und durch ihre Besuche hier sind wir eng mit ihr befreundet. Ich erkläre dies, da 89
Mr. Clifford Wenkins von Worldic Cinemas, der mir nur widerstrebend mitteilte, wo Sie zu erreichen sind, nach drücklich betont hat, daß Ihnen an privaten Einladungen nichts liege. Mit bestem Gruß, Quentin van Horen Hinter den steifen, höflichen Sätzen spürte man die Ge reiztheit, mit der er diese Zeilen geschrieben hatte. Ich war offenbar nicht der einzige, der Nerissa zuliebe etwas auf sich nahm, das ihm gegen den Strich ging; und Clifford Wenkins hatte mit der vorwitzigen Verkennung seiner Kompetenzen die Lage keineswegs verbessert. Ich ging zum Telefon am Bett hinüber und wählte die Nummer, die neben der Adresse auf dem Briefkopf stand. Der Anruf wurde von einer schwarzen Stimme entge gengenommen – einer Frau, die sagte, sie wolle schauen, ob Mr. van Horen zu Hause sei. Mr. van Horen entschied, daß er es war. »Ich rufe an, um mich für Ihren Brief zu bedanken«, be gann ich. »Und um Ihnen zu sagen, daß ich Ihre Einla dung, während meines Aufenthalts einmal bei Ihnen zu Abend zu essen, sehr gern annehme.« Ultrahöflich sein konnte ich auch. Seine Stimme war so fest wie seine Handschrift und ebenso reserviert. »Gut«, kam die Antwort, aber allzuer freut klang sie nicht. »Nerissa tut man immer gern einen Gefallen.« »Ja«, sagte ich. Eine Pause entstand. Man konnte kaum behaupten, daß unser Gespräch in schwindelerregendem Tempo dahin rauschte. 90
Hilfsbereit sagte ich: »Ich bin bis Mittwoch in einer Wo che hier.« »Verstehe. Ja. Aber ich bin die ganze nächste Woche nicht zu Hause, und diesen Samstag und Sonntag haben wir schon etwas vor.« »Dann machen Sie sich bitte keine Gedanken«, sagte ich. Er räusperte sich. »Morgen«, meinte er zweifelnd, »wä ren Sie wohl nicht frei? Oder noch heute abend? Mein Haus ist nicht weit vom Iguana Rock … aber bestimmt sind Sie längst vergeben.« Morgen früh, dachte ich, würden sämtliche Zeitungen mindestens eine Meldung über die Freundin von Roderick Hodge bringen. Bis morgen abend konnte es Mrs. van Ho ren einfallen, in ihrem Haus die Art von Party aufzuzie hen, an der mir nichts lag. Und morgen abend war ich mit Conrad zum Essen verabredet, obwohl sich das notfalls verschieben ließ. Ich sagte: »Wenn es Ihnen nicht zu kurzfristig ist, wäre mir heute abend sehr recht.« »Also gut. Sagen wir, um acht? Ich schicke Ihnen mei nen Wagen.« Beim Auflegen bedauerte ich schon halb, daß ich gesagt hatte, ich würde kommen, denn seine Freude über meine Zusage war ungefähr so lebhaft wie ein pochiertes Ei. Doch die Alternativen waren die gleichen wie am Abend zuvor: entweder im Restaurant des Iguana Rock zu essen, wo man mir von den anderen Tischen Seitenblicke zuwarf, oder allein auf meinem Zimmer, mit dem Wunsch, daheim bei Charlie zu sein. Das Haus, zu dem mich der Wagen der van Horens brachte, war groß, alt und roch schon auf der marmornen Türschwelle nach Geld. Die Halle war riesig, mit einer ins 91
Unsichtbare entschwebenden Decke, und hatte auf allen vier Seiten eine anmutige Kolonnade, mit Säulen und Rundbögen: Es sah aus wie eine reizende kleine italieni sche Piazza mit einem Dach irgendwo oben darüber. Aus einer Tür unter der Kolonnade auf der anderen Seite kamen ein Mann und eine Frau in die Halle. »Ich bin Quentin van Horen«, sagte er. »Und das ist meine Frau Vivi.« »Guten Tag«, sagte ich höflich und gab ihnen die Hand. Eine kleine Pause trat ein. »Ja … so«, sagte er und machte eine Gebärde, die fast ein Achselzucken war. »Dann kommen Sie mal rein.« Ich folgte ihnen in den Raum, aus dem sie gekommen waren. Im hellen Licht dort war Quentin van Horen sofort als ein seriöser, vermögender Mann zu erkennen, denn ihn umgab jene unverwechselbare Aura von Erfahrung, Tüch tigkeit und Sachverstand, die wahre Autorität ausmacht. Da Solidität und Professionalismus mir vertraute Eigen schaften waren, war ich gleich geneigt, ihn mehr zu mö gen als er wahrscheinlich mich. Vivi, seine Frau, war anders: elegant anzusehen, aber geistig nicht auf demselben Niveau. Sie sagte: »Setzen Sie sich doch, Mr. Lincoln. Wir sind so froh, daß Sie kommen konnten. Nerissa ist uns eine sehr liebe Freundin …« Sie hatte kühle Augen und routinierte Umgangsformen. In ihrer Stimme lag weniger Wärme als in ihren Worten. »Whisky?« fragte van Horen, und ich sagte: »Ja, danke« und bekam das Glas voll Wasser mit dem Spritzer Scotch. »Leider habe ich noch keinen Ihrer Filme gesehen«, sag te van Horen ohne hörbares Bedauern, und seine Frau setzte hinzu: 92
»Wir gehen selten ins Kino.« »Sehr klug«, sagte ich neutral, und beide wußten nicht recht, wie sie das auffassen sollten. Ich fand es im großen ganzen leichter, mit Leuten umzu gehen, die mich kurz abfertigten, als mit Schmeichlern aller Art. Den Achselzuckern fühlte ich mich nicht ver pflichtet. Ich setzte mich auf das Goldbrokatsofa, auf das sie ge deutet hatte, und nippte an meinem verpanschten Drink. »Hat Nerissa Ihnen gesagt, daß sie … krank ist?« fragte ich. Sie setzten sich beide ohne Eile. Van Horen verrückte ein kleines Kissen, drehte sich dabei im Sessel, um zu se hen, was er machte, und antwortete über seine Schulter hinweg. »Sie hat vor einiger Zeit geschrieben. Sie schrieb, mit ih ren Drüsen stimme etwas nicht.« »Sie stirbt«, sagte ich geradeheraus und bewirkte damit ihre erste ehrliche Reaktion. Sie hörten auf, an mich zu denken. Dachten an Nerissa. An sich selbst. Der Schock und das Bedauern in ihren Gesichtern waren echt. Van Horen hielt noch das Kissen in der Hand. »Sind Sie sicher?« sagte er. Ich nickte. »Sie hat es mir selbst gesagt. Ein oder zwei Monate, sagt sie, bleiben ihr noch.« »O nein«, sagte Vivi, und der Kummer stach durch den gesellschaftlichen Firnis wie eine Distel im Orchideenbeet. »Ich kann es nicht glauben«, rief van Horen aus. »Sie ist immer so voll Leben. So fröhlich. So vital.« Ich dachte an Nerissa, wie ich sie zurückgelassen hatte: die Vitalität dahin, das Leben selbst rapide im Schwinden begriffen. 93
»Sie macht sich Sorgen um ihre Rennpferde«, sagte ich. »Die Pferde, die Portia ihr hinterlassen hat.« Sie waren beide noch nicht bereit, an Rennpferde zu denken. Van Horen schüttelte den Kopf, legte das Kissen endgültig in seinem Sessel zurecht und starrte ins Leere. Er war ein gut gebauter Mann in den Fünfzigern, mit edlen grauen Schläfen wie Hermesflügel. Im Profil gesehen, war seine Nase oben stark gehöckert, endete aber gerade und kurz, ohne den Eindruck einer Hakennase zu vermitteln. Er hatte einen vollippigen, festen, klar gezeichneten Mund, Hände mit geraden, gut manikürten Fingernägeln und trug einen dunkelgrauen Anzug, mit dem sich jemand viel Mühe gegeben hatte. Die Tür zur Halle wurde plötzlich geöffnet, und ein Jun ge und ein Mädchen, die sich erstaunlich ähnlich sahen, kamen herein. Er, ungefähr zwanzig, hatte den leicht ver drießlichen Zug eines jungen Mannes, der sich bei aller Lust am Rebellieren nicht entschließen konnte, das feudale Elternhaus zu verlassen. Sie, ungefähr fünfzehn, hatte die unkomplizierte Direktheit eines Mädchens, dem der Ge danke an Rebellion noch nicht gekommen war. »Oh, Entschuldigung«, sagte sie. »Wußte nicht, daß je mand mit uns zu Abend ißt.« Sie kam in ihren Jeans und einem blaßgelben T-Shirt durch den Raum, hinter ihr der ähnlich gekleidete Bruder. Van Horen sagte: »Das sind mein Sohn Jonathan und meine Tochter Sally.« Ich stand auf, um dem Mädchen die Hand zu geben, was sie anscheinend belustigte. »Na sowas«, sagte sie. »Hat Ihnen schon mal jemand ge sagt, daß Sie wie Edward Lincoln aussehen?« »Ja«, sagte ich, »der bin ich auch.« »Wer sind Sie?« 94
»Edward Lincoln.« »Aber sicher.« Sie sah mich genauer an. »Menschens kind. Du lieber Himmel. Der sind Sie auch.« Dann zwei felnd, besorgt, ich könnte sie zum Narren halten: »Sind Sie es wirklich?« Ihr Vater sagte: »Mr. Lincoln ist ein Freund von Mrs. Cavesey.« »Tante Nerissa! Stimmt ja. Sie hat uns mal erzählt, daß sie Sie gut kennt. Die ist richtig lieb, was?« »Ja«, sagte ich und setzte mich wieder. Jonathan betrachtete mich ruhig, mit kalten, unbeein druckten Augen. »So Filme wie Ihre sehe ich mir nie an«, stellte er fest. Ich lächelte ein wenig und antwortete nicht; solche her absetzenden Bemerkungen wurden mir mehr oder minder aggressiv fast jede Woche an den Kopf geworfen. Die Er fahrung hatte gezeigt, daß die einzige nicht provozierende Antwort darauf Schweigen war. »Aber ich«, sagte Sally. »Ich hab’ eine ganze Reihe ge sehen. Haben Sie das Pferd in Spion über Land wirklich selbst geritten, wie’s auf den Plakaten stand?« Ich nickte. »Mhm.« Sie sah mich nachdenklich an. »Wären Sie da mit einem gebißlosen Zaum nicht besser gefahren?« Ich lachte unwillkürlich. »Nein. Ich weiß, daß laut Dreh buch das Pferd ein sehr empfindliches Maul hatte, aber das Pferd, auf das sie mich dann gesetzt haben, hatte ein har tes.« »Sally ist eine große Pferdefreundin«, sagte ihre Mutter überflüssigerweise. »Sie hat die Großpony-Klasse hier beim Osterturnier gewonnen.« »Auf Rojedda Reef«, fügte Sally hinzu. 95
Der Name sagte mir nichts. Die anderen dachten aber offensichtlich, er sei mir bekannt. Sie sahen mich erwar tungsvoll an, und schließlich sagte Jonathan von oben her ab: »So heißt unsere Goldmine.« »Ah ja? Ich wußte nicht, daß Sie eine Goldmine haben.« Ich sagte das halb absichtlich in dem gleichen Tonfall, in dem Vater und Sohn gesagt hatten, sie sähen sich meine Filme nicht an, und Quentin van Horen bemerkte es. Un vermittelt wandte er sich mir zu, und ich spürte, wie ein Lächeln in meine Augen stieg. »Ja«, sagte er nachdenklich und hielt meinen Blick fest. »Ich verstehe.« Seine Lippen zuckten. »Hätten Sie Lust, mal eine zu besichtigen? Sich den Betrieb anzusehen?« Den erstaunten Gesichtern der übrigen Familie entnahm ich, daß sein Angebot mehr oder weniger das Gegenstück zu einer von mir vorgeschlagenen Pressekonferenz war. »Das würde ich sehr, sehr gern«, versicherte ich ihm. »Ich fliege Montag früh nach Welkom runter«, sagte er. »Das ist der Ort, wo Rojedda liegt. Ich bleibe die ganze Woche da, aber wenn Sie Montag mit mir kommen, kön nen Sie am selben Abend zurückfliegen.« Ich sagte, das wäre großartig. Gegen Ende des Abendessens hatte das van HorenLincoln-Bündnis sich so weit entwickelt, daß drei von der Familie beschlossen, am Samstag mit nach Germiston zu kommen, um Nerissas Pferde laufen zu sehen. Jonathan sagte, er habe Wichtigeres zu tun. »Was denn zum Beispiel?« hakte Sally ein. Jonathan wußte es nicht genau.
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reitag erwies sich als ein magerer Tag für Nachrichten von Weltrang, so daß viel zuviel Platz für Katyas ge fährliches Leben blieb. Selten war die Presse im voraus zu einem solchen Schauspiel eingeladen worden, und die meisten Zeitungen brachten es anscheinend auf der Titel seite. Eine von ihnen deutete unfreundlicherweise erst an, das Ganze sei ein Werbetrick gewesen, der schiefgelaufen war, und bestritt es dann wenig überzeugend in dem nach folgenden Artikel. Ich fragte mich, während ich ihn las, wieviele Leute ge nau das glauben würden. Ich fragte mich im Gedanken an ihr schalkhaftes Lächeln, ob Katya es möglicherweise selbst inszeniert haben könnte. Sie und Roderick gemein sam. Aber sie hätte nicht ihr Leben riskiert. Es sei denn, ihr wäre nicht klar gewesen, daß sie es aufs Spiel setzte. Ich griff zum Rand Daily Star, um zu sehen, was sie mit Rodericks Informationen angefangen hatten, und sah, daß er den Artikel selbst geschrieben hatte. »Vom Augenzeu gen des Rand Daily Star, Roderick Hodge«, hieß es vorne weg. Gemessen an seiner gefühlsmäßigen Beteiligung dramatisierte er die Geschichte kaum, doch mehr als jeder andere war er es, der wie Conrad hervorhob, daß ich den Schlag bekommen haben würde, hätte Katya mir das Mi krofon nicht abgenommen. 97
Ich fragte mich, wie sehr Roderick sich das wünschte. Schon weil es eine bessere Story abgegeben hätte. Mit einem schiefen Lächeln las ich zu Ende. Katya, be richtete er abschließend, sei über Nacht im Krankenhaus geblieben, ihr Zustand werde als zufriedenstellend be zeichnet. Ich schob die Zeitungen beiseite, und während ich duschte und mich rasierte, zog ich ein doppeltes Fazit. Einmal, daß das, was ich getan hatte, nicht sonderlich be merkenswert war und die Berichterstattung wirklich nicht verdiente, und zum anderen, daß es mir nach diesem Rummel noch schwerer fallen würde, Nerissa zu erklären, wieso ich ihr nur Mutmaßungen bringen konnte statt Be weise. An der Rezeption fragte ich, ob sie mir ein Lunchpaket schnüren und mir für den Tag ein Pferd in irgendeinem vernünftigen Trekkinggelände mieten könnten. Selbst verständlich, hieß es. Sie schwangen ihre Zauberstäbe, und Mitte des Vormittags ritt ich 25 Meilen nördlich von Johannesburg auf einem pensionierten Rennpferd, das ein mal bessere Tage gesehen hatte, bei strahlendem Sonnen schein eine Naturstraße entlang. Zufrieden atmete ich in tiefen Zügen den süßen Geruch Afrikas und empfand im Dahintrotten ein großartiges Gefühl von Freiheit. Die Leute, denen das Pferd gehörte, hatten sanft darauf bestanden, mir ihren Stallmeister mitzugeben, damit ich mich nicht verirrte, doch da er wenig Englisch sprach und ich kein Bantu, fand ich in ihm einen denkbar ruhigen Gefährten. George war klein, gut zu Pferd und hatte immer ein bananenbreites Lächeln auf Lager. Wir kamen zu einer Kreuzung, an der ganz für sich al lein eine Bude stand, beladen mit leuchtend orangen Früchten, vollgehängt mit Ananas, behütet von einem strahlenden Verkäufer. 98
»Naartjies«, sagte George und zeigte mit dem Finger. Ich signalisierte ihm, daß ich nicht verstand. Manchmal kam einem die Schauspielerei schon zugute. »Naartjies«, wiederholte George, stieg von seinem Pferd und führte es auf den Obststand zu. Da ich begriff, daß er etwas kaufen wollte, rief ich ihn und kramte einen 5-RandSchein hervor. George lächelte, verhandelte flugs und kam mit einem großen Beutel Naartjies, zwei reifen Ananas und dem größten Teil des Geldes zurück. In ungezwungener, anspruchsloser Zweisamkeit ritten wir weiter, saßen irgendwo im Schatten ab, aßen jeder ei ne Ananas und kaltes Hähnchen vom Iguana Rock und tranken erfrischenden ungesüßten Apfelsaft aus Dosen, die man George mitgegeben hatte. Die Naartjies waren eine Art große, dicke Mandarinen mit grünen Flecken auf der Schale; sie schmeckten auch wie Mandarinen, nur besser. George aß sein Mittagsbrot zehn Meter entfernt von mir. Ich winkte ihm, näher zu kommen, aber das wollte er nicht. Am Nachmittag trabten und kanterten wir eine weite Strecke über struppiges, braungedörrtes Gras, und als wir schließlich im Schritt gingen, um die Pferde abzukühlen, stellte ich fest, daß wir uns aus der unserer anfänglichen Marschroute entgegengesetzten Richtung wieder dem Heimatstall näherten. Sie verlangten zehn Rand Miete für das Pferd, obwohl der Tag, den ich erlebt hatte, mir tausend wert war, und ich gab George fünf Rand extra, auch wenn sein Arbeitge ber flüsterte, das sei zuviel. George reichte mir mit einem letzten blendenden Lächeln den Beutel Naartjies, und sie alle winkten mir freundlich zum Abschied. Wäre doch nur das ganze Leben so natürlich, so anspruchslos, so frei. Fünf Meilen die Straße hinunter überlegte ich, daß ich mich dann zu Tode langweilen würde. 99
Conrad war vor mir im Iguana. Er kam mir entgegen, als ich die Halle betrat, und mu sterte mich von Kopf bis Fuß – inklusive Staub, Schweiß und Naartjies. »Mein lieber Junge, was haben Sie denn angestellt?« »Ich war reiten.« »Schade, daß ich meine Arriflex nicht dabeihabe«, rief er aus. »Welch ein Bild – wie Sie da stehen im Zigeunerlook, mit dem Rücken zum Licht und diesen Apfelsinen –, das bringen wir in unserem nächsten gemeinsamen Film unter. So eine Einstellung darf man nicht vergeuden.« »Sie sind früh dran«, bemerkte ich. »Ob ich nun hier warte oder irgendwo anders.« »Dann kommen Sie mit rauf, ich will mich umziehen.« Er fuhr mit auf mein Zimmer und suchte sich mit un fehlbarem Instinkt den bequemsten Sessel aus. »Essen Sie ein Naartjie«, sagte ich. »Ein Martini wäre mir lieber, mein Junge.« »Dann bestellen Sie sich einen.« Sein Drink kam, während ich unter der Dusche stand. Ich trocknete mich ab, und als ich in der Unterhose zurück ins Zimmer kam, fand ich ihn außerdem mit einer churchill kalibrigen Zigarre ausgestattet und in Rauch gehüllt, um weht von einem Duft nach Londoner Clubs und Geldadel. Er sah den Stoß Zeitungen durch, die noch geordnet auf dem Tisch lagen, schlug aber keine auf. »Die hab’ ich alle gelesen«, sagte er. »Wie finden Sie es, zur Abwechslung mal ein echter Held zu sein?« »Hören Sie auf zu spinnen. Was ist denn so heldenhaft an Erster Hilfe?« 100
Er grinste. Wechselte das Thema. »Was in Dreiteufelsnamen hat Sie veranlaßt, hierher zu einer Premiere zu kommen, nachdem Sie sich all die Jahre geweigert haben, außerhalb der Leinwand Ihr Gesicht zu zeigen?« »Ich bin hier, um mir ein paar Pferde anzusehen«, sagte ich und erzählte ihm von Nerissa. »Ah ja, mein Junge, so leuchtet mir das eher ein. Und haben Sie rausgefunden, was da nicht stimmt?« Ich zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht. Wüßte auch nicht, wie.« Ich suchte ein frisches Hemd heraus und zog es an. »Morgen fahre ich zum Pferderennen nach Germiston und halte noch mal die Augen offen, aber ich bezweifle, ob man Greville Arknold etwas nachweisen kann.« Ich zog Socken und dunkelblaue Hosen an und ein Paar Slip per. »Was tun Sie und Evan überhaupt hier?« »Einen Film drehen, was sonst?« »Was für einen Film?« »Irgendeine hanebüchene Geschichte über Elefanten, die sich Evan in den Kopf gesetzt hat. Die war schon geplant, bevor sie ihn verpflichtet haben, den Mann im Wagen fer tigzudrehen, und da er so lange in Spanien herumgetändelt hat, sind wir mit Verspätung hier angekommen. Wir soll ten längst im Krüger-Nationalpark sein.« Ich kämmte mir die Haare. »Wer spielt die Hauptrolle? « »Drix Goddart.« Ich warf Conrad über meine Schulter einen Blick zu. Er lächelte ironisch. »Wachs in Evans Händen, lieber Junge. Lechzt nach Regieanweisungen wie ein gut gestreicheltes Hundebaby.« »Schön für euch.« 101
»Der ist so neurotisch, wenn dem nicht alle fünf Minuten jemand sagt, er sei glänzend, meint er, alle hassen ihn.« »Ist er auch hier?« »Zum Glück nicht. Er sollte zwar erst, aber jetzt kommt er mit dem übrigen Team nach, wenn Evan und ich die Drehorte ausgesucht haben.« Ich legte Kamm und Bürste weg und band meine Arm banduhr um. Schlüssel, Kleingeld, Taschentuch in die Ho sentaschen. »Haben Sie die Schnellkopien von den Wüstenszenen gesehen, als Sie in England waren?« »Nein«, sagte ich. »Evan hat mich nicht eingeladen.« »Sieht ihm ähnlich.« Er nahm einen großen Schluck und rollte den Martini im Mund. Mit zusammengekniffenen Augen sah er auf den langen Aschekegel an der Spitze seines Mini-Torpedos. Er sagte: »Sie waren gut.« »Das sollten sie verdammt noch mal auch sein. Wir ha ben sie oft genug gedreht.« Er lächelte, ohne mich anzusehen. »Der fertige Film wird Ihnen nicht gefallen.« Weil er es nicht ausführte, sagte ich nach einer Pause: »Wieso nicht?« »Da liegt mehr und etwas anderes als Schauspielerei drin.« Er zögerte und wog seine Worte ab. »Selbst für ei nen zynischen Betrachter wie mich, lieber Junge, ist das, was da an Leiden rüberkommt, erschütternd.« Ich sagte nichts. Er drehte sich mir zu. »Normalerweise geben Sie nicht viel von sich preis, oder? Also diesmal, lieber Junge, diesmal …« Ich preßte die Lippen zusammen. Ich wußte, was ich ge tan hatte. Es war mir von vornherein klar gewesen. Ich 102
hatte nur gehofft, niemand wäre aufmerksam genug, es zu bemerken. »Werden die Kritiker sehen, was Sie gesehen haben?« fragte ich. Er lächelte schief. »Müssen Sie wohl, oder? Die guten jedenfalls.« Ich starrte verzagt auf den Teppich. Das unangenehme an Szenen, die man zu gut spielte, an Gefühlen, die man klar und eingängig vermittelte, war, daß man sich dabei vor der Öffentlichkeit entblößte. Ohne nackte Haut zu zeigen oder so etwas Simples, gab man der ganzen Welt Einblick in sein Innenleben, seine Überzeugungen, seine Erfahrung. Um ein Gefühl so wiedergeben zu können, daß andere es erkannten und es vielleicht zum erstenmal auch verstanden, mußte man einen Begriff davon haben, wie es wirklich war. Zu zeigen, daß man es kannte, hieß erkennen lassen, was man gefühlt hatte. Niemand präsentierte sich gern all zu nackt, aber wenn man sein Inneres nicht enthüllte, wur de man nie ein großer Schauspieler. Ich war kein großer Schauspieler. Ich war kompetent und beliebt, doch wenn ich nicht mit ganzem Herzen den Schritt in die gefürchtete Selbstentblößung wagte, würde ich nie etwas Großes vollbringen. Das Spielen einer Rolle war für mich, wo es über eine bestimmte Grenze hinaus ging, seelisch schmerzhaft. Als ich aber in dem Wagen so spielte, hatte ich gedacht, meine persönlichen Züge wür den so mit den Qualen der erfundenen Figur verschmel zen, daß man mich dahinter nicht wahrnahm. Ich hatte wegen Evan so gespielt: aus Trotz eher, als um es ihm recht zu machen. Es gibt einen Punkt, über den hinaus kein Regisseur die Leistung eines Schauspielers sich selbst als Verdienst anrechnen kann, und ich war weit über diesen Punkt hinausgegangen. 103
»Woran denken Sie?« wollte Conrad wissen.
»Ich habe gerade beschlossen, in Zukunft ganz bei un
realistischer Action und Unterhaltung zu bleiben.« »Sie sind ein Feigling, lieber Junge.« »Ja.« Er tippte die Asche von seiner Zigarre. »Niemand wird damit zufrieden sein, wenn Sie das tun.« »Aber selbstverständlich.« »M-m.« Er schüttelte den Kopf. »Hat einer erst mal ge sehen, daß er alles kriegen kann, begnügt er sich nicht mehr mit halben Sachen.« »Hören sie auf, Martini zu trinken«, sagte ich. »Sie re den schon Unsinn.« Ich ging durch das Zimmer, nahm mein Jackett, zog es an und verstaute Brieftasche und Terminkalender darin. »Gehen wir runter in die Bar«, sagte ich. Er wuchtete sich gehorsam aus dem Sessel. »Sie können nicht ewig vor sich weglaufen, mein Lie ber.« »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten.« »O doch, lieber Junge«, sagte Conrad. »Das sind Sie.« Auf der Rennbahn in Germiston am nächsten Tag erwarte ten mich am Eingang nicht nur die von Greville Arknold versprochenen Freikarten, sondern auch ein Funktionär, der mir einen zweiten Satz Freikarten gab und Anweisung hatte, mich zum Lunch beim Präsidenten des Rennvereins zu geleiten. Ich überließ mich seiner Führung und wurde schließlich in einen großen Speiseraum komplimentiert, in dem etwa hundert Personen bereits an langen Tischen saßen. Die 104
ganze Familie van Horen, einschließlich des mürrischen Jonathan, war am ersten Tisch bei der Tür plaziert, und als er mich eintreten sah, erhob sich van Horen. »Mr. Klugvoigt, das ist Edward Lincoln«, sagte er zu dem Mann am Kopf des Tisches, und zu mir gewandt: »Mr. Klugvoigt ist der Präsident.« Klugvoigt stand auf, gab mir die Hand, wies auf den lee ren Stuhl zu seiner Linken, und wir nahmen Platz. Vivi van Horen saß in einem breitkrempigen grünen Hut mir gegenüber, dem Präsidenten zur Rechten, an der Seite ihres Mannes. Sally van Horen saß links von mir und ihr Bruder eins weiter. Sie schienen Klugvoigt alle gut zu kennen, und als Persönlichkeit hatte er viel mit van Horen gemein: das gleiche Flair von Wohlhabenheit und Anse hen, das gleiche Selbstbewußtsein, die gleiche massige Statur und der wache Verstand. Nach der Begrüßung und den Höflichkeiten (wie gefiel mir Südafrika? Nirgends war es so gemütlich wie im Iguana Rock. Wie lange wollte ich bleiben?) kehrte das Gespräch ganz natürlich wieder zu der vorliegenden Hauptangelegenheit zurück. Pferde. Die van Horens besaßen einen Vierjährigen, der im Dunlop Gold Cup einen Monat zuvor Dritter geworden war, aber in diesen weniger wichtigen Monaten gaben sie ihm eine Atempause. Klugvoigt besaß zwei Dreijährige, die an diesem Nachmittag starteten, wenn auch nicht sehr aussichtsreich. Ich lenkte das Gespräch ohne große Mühe auf Nerissas Pferde und von dort auf Greville Arknold, um eher beiläu fig zu fragen, was man allgemein von ihm hielt, als Mensch wie auch als Trainer. 105
Weder van Horen noch Klugvoigt gehörten zu den Leu ten, die gleich aussprechen, was sie denken. Jonathan war es, der sich vorbeugte und mit seiner wahren Meinung herausplatzte. »Das ist ein ungehobelter Kerl mit nichts im Kopf, aber ein Paar Pranken, daß er Goldbarren auswringen könnte.« »Ich werde mit Nerissa reden müssen, wenn ich zurück komme«, bemerkte ich. »Tante Portia hat immer gesagt, er kann gut mit Pferden umgehen«, warf Sally zu seiner Verteidigung ein. »Jaha. Bis sie umfallen«, sagte Jonathan. Van Horen warf ihm einen flackernden Blick zu, in dem Humor gewiß nicht fehlte, wechselte aber mit der Ge wandtheit eines Mannes, der weiß, was üble Nachrede ist, sofort das Thema. »Ihr Clifford Wenkins, Link, rief mich gestern nachmit tag an, um uns Karten für Ihre Premiere anzubieten.« Er sah belustigt aus. Ich nahm dankbar zur Kenntnis, daß er warm genug mit mir geworden war, um auf das steife »Mr.« zu verzichten; in ein, zwei Stunden würde ich viel leicht auch zu »Quentin« übergehen können. »Offenbar fand er, daß er doch ein bißchen schroff zu mir war, als ich Ihre Adresse haben wollte.« »Hat wahrscheinlich seine Hausaufgaben nachgeholt«, stimmte Klugvoigt zu, der voll informiert zu sein schien. »Es ist nur ein – ein Abenteuerfilm«, sagte ich. »Mög lich, daß er Ihnen nicht gefällt.« Er lächelte ein trockenes ironisches Lächeln. »Sie wer fen mir nicht noch einmal vor, daß ich etwas verurteile, was ich nicht gesehen habe.« Ich lächelte zurück. Ich mochte den Bruder des Mannes von Nerissas Schwester. 106
Wir beendeten das vorzügliche Mittagessen und gingen zum ersten Rennen hinaus. Die Jockeys saßen bereits auf, und Vivi und Sally eilten davon, um rasch noch die Quo ten mit einigen Rand durcheinanderzubringen. »Ihr Freund Wenkins wollte heute auch hier sein«, be merkte van Horen. »Ach je.« Er lachte leise. Arknold warf im Führring seinen magentarot bedreßten Jockey in den Sattel. »Wie schwer ist ein Goldbarren?« fragte ich. Van Horen folgte meinem Blick. »Zweiundsiebzig Pfund normalerweise. Die lassen sich aber nicht so leicht heben wie zweiundsiebzig Pfund Jockey.« Danilo stand an den Rails und schaute zu. Er drehte sich um, als die Pferde mit ihren Reitern hinausgingen, erblick te uns und kam geradewegs herüber. »Tag, Link. Ich hab Sie schon gesucht. Wie wär’s mit einem Bier?« Ich sagte: »Quentin« (nicht zwei Stunden: zehn Minu ten) »das ist Danilo Cavesey, Nerissas Neffe. Und Danilo, das ist Quentin van Horen, dessen Schwägerin Portia van Horen Nerissas Schwester war.« »Na so was«, sagte Danilo. Seine Augen weiteten sich und blieben geweitet, ohne zu blinzeln. Er war mehr als überrascht. »Du meine Güte«, rief van Horen aus. »Ich wußte gar nicht, daß sie einen Neffen hat.« »Ich bin wohl irgendwie aus ihrem Leben verschwun den, als ich sechs war«, sagte Danilo. »Ich habe sie erst diesen Sommer wiedergesehen, als ich von den Staaten rüber nach England bin.« 107
Van Horen sagte, er sei Nerissas Mann nur zweimal be gegnet und dessen Bruder, Danilos Vater, niemals. Danilo sagte, er habe Portia nie kennengelernt. Beide spürten den verwandtschaftlichen Beziehungen nach, bis sie sie zu friedenstellend geklärt hatten, und schienen sehr bald schon zu einem guten Einvernehmen zu gelangen. »Tja, was sagt man dazu?« meinte Danilo, offenbar hocherfreut. »Hat man da noch Töne?« Als Vivi und Sally und Jonathan nach dem Rennen wie der zu uns stießen, schnatterten sie darüber wie die Vögel, warfen die Arme umher und ließen kleine Freudenschreie erschallen. »Er ist so was wie ein Cousin«, sagte Sally entschieden. »Ist das nicht völlig irre?« Selbst Jonathan schien von dem Gedanken, diesen Sohn der Sonne in die Familie aufzunehmen, angetan, und bald darauf schleppten die beiden ihn auf eigene Faust davon. Ich sah, wie er dabei über die Schulter zurückschaute und mir einen Blick zuwarf, der viel älter war als alles, was Jonathan und Sally hervorbringen konnten. »Was für ein netter Junge«, sagte Vivi. »Nerissa hat ihn sehr gern«, stimmte ich zu. »Wir müssen ihn mal einladen, solange er hier ist, meinst du nicht, Quentin? Ach, schau mal, wer da hinten steht – Janet Frankenloots … die hab’ ich eine Ewigkeit nicht ge sehen. Ach, bitte entschuldigen Sie mich, Link …« Der große Hut wippte der langvermißten Freundin entgegen. Van Horen hatte deprimierenderweise nur allzurecht damit, daß Clifford Wenkins auf dem Rennplatz war. Zu sagen, daß der Filmverleiher direkt auf uns zukam wie Danilo, wäre unzutreffend: er näherte sich in einem schräg verzogenen, Entschuldigung heischenden Halbkreis, stol 108
perte über seine Füße und landete feuchtwarm an meiner Seite. »Äh – Link, schön Sie zu sehen … Äh, Sie sind wohl Mr. van Horen? Erfreut, äh – sehr erfreut, Sir.« Er gab van Horen die Hand, und dessen Umgangsformen waren so gefestigt, daß er es unterließ, sich die Handflä chen danach an der Hose abzuwischen. »Nun denn. Äh – Link. Ich habe Sie ein paarmal zu er reichen versucht, aber Sie sind anscheinend nie, äh – ich meine, ich habe nie angerufen, wenn Sie, äh – da waren. Und da dachte ich – nun, ich meine – äh, hier würde ich Sie doch bestimmt treffen.« Ich wartete ohne viel Geduld. Er zog hastig ein Bündel Papiere aus einer Innentasche. »Also, wir möchten – das heißt, Worldic hat vorgesehen – äh, weil Sie doch die Presseinterviews gegeben haben, meine ich – daß Sie nun einiges noch mitnehmen, und zwar … schauen wir mal … Bei der Wahl der Miss Jo hannesburg am nächsten Mittwoch, da möchten Sie als Preisrichter fungieren – und, äh, bei den FilmkunstKochkunst-Frauen am Donnerstag, da sind Sie Ehrengast – und weiter geht’s am Freitag mit einer Sammelaktion, einem Benefizempfang unserer – äh, unserer Sponsoren für die Premiere – das heißt, äh, Wau-Miau-Tiernahrung natürlich, und, äh, nun, am Samstag ist die offizielle Er öffnung der Ausstellung Modernes Heim. Lauter gute Publicity – äh –« »Nein«, sagte ich. Und daß du hier bloß nicht die Nerven verlierst, ermahnte ich mich streng. »Äh«, sagte Wenkins, der keine Gefahrensignale wahr nahm. »Wir – äh, das heißt, Worldic findet, meine ich – Sie sollten wirklich etwas hilfsbereit sein.« 109
»So?« Ich verlangsamte bewußt mein Atemtempo. »Und was glauben Sie, warum ich Worldic nicht meine Spesen zahlen lasse? Warum bezahle ich wohl alles selbst?« Er war zutiefst unglücklich. Worldic mußte ihn von der einen Seite unter Druck gesetzt haben, und jetzt hielt ich von der anderen dagegen. Die Schweißperlen sprangen ihm auf die Stirn. »Ja, aber –« Er schluckte. »Nun – ich nehme an, die ein zelnen Organisationen wären vielleicht auch bereit, Ihnen – äh, ich meine – nun ja, ein Honorar anzubieten.« Ich zählte bis fünf. Kniff die Augen zusammen und öff nete sie. Sagte, als ich sicher war, daß es gemäßigt klingen würde: »Mr. Wenkins, Sie können Worldic ausrichten, daß ich keine dieser Einladungen annehmen möchte. Tatsache ist, ich werde nur zu der Premiere selbst gehen und zu ei nem einfachen Empfang vorher und nachher, wie ich schon sagte.« »Aber wir haben allen zugesagt, daß Sie kommen.« »Sie wissen, daß mein Agent Sie gleich zu Anfang aus drücklich gebeten hat, nichts zu verabreden.« »Schon, aber Worldic sagt – ich meine –« Zum Teufel mit Worldic, dachte ich heftig. Ich sagte: »Die Sachen da mache ich nicht.« »Aber Sie können doch – ich meine – Sie können doch all diese Leute nicht draufsetzen. Die werden nicht in Ihre Filme gehen, wenn Sie nicht erscheinen, obwohl, äh – wir, äh, nun ja – es versprochen haben.« »Dann müssen Sie ihnen eben sagen, daß Sie mich ver pflichtet haben, ohne mich vorher zu fragen.« »Das wird Worldic nicht recht sein.« »Es wird ihnen nicht recht sein, weil es möglicherweise auf ihre Einnahmen drückt. Aber sie sind selbst schuld 110
daran. Wenn sie dachten, sie könnten mich durch eine Art Erpressung dazu bringen, daß ich diese Veranstaltungen besuche, haben sie sich getäuscht.« Clifford Wenkins sah mich besorgt an und van Horen ein wenig neugierig, und ich wußte, daß mir allen guten Vor sätzen zum Trotz der Ärger anzumerken war. Ich bekam Mitleid mit Clifford Wenkins und nahm mich zusammen. »Sagen Sie Worldic, daß ich die ganze kom mende Woche nicht in Johannesburg bin. Sagen Sie ihnen, wenn sie vernünftig gewesen wären und hätten erst bei mir rückgefragt, hätte ich ihnen sagen können, daß ich bis zu der Premiere anderweitig verpflichtet bin.« Er schluckte erneut und sah noch unglücklicher aus. »Man sagte mir, ich müsse Sie überreden.« »Das tut mir leid.« »Vielleicht wirft man mich sogar raus.« »Auch Ihnen zuliebe kann ich es nicht machen. Ich bin ja nicht hier.« Er sah mich an wie ein geprügelter Spaniel, was ich überhaupt nicht putzig fand, und als ich nichts mehr sagte, wandte er sich empört ab und ging davon, wobei er die Papiere unsanft in die Seitentasche seines Jacketts stopfte. Van Horen wandte den markanten Kopf und warf mir einen abschätzenden Blick zu. »Warum haben Sie ihn abgeschmettert?« fragte er. Kein Vorwurf in der Stimme, lediglich Interesse. Ich holte tief Atem, setzte mein klägliches Lächeln auf und drängte den Ärger zurück, den Clifford Wenkins her vorgerufen hatte wie einen allergischen Ausschlag. »Ich mache so was nie mit – Schönheitswettbewerbe oder Festessen oder Eröffnungen.« »Ja. Aber warum nicht?« 111
»Ich habe nicht das Stehvermögen.« »Sie sind doch kräftig«, meinte er. Ich lächelte und schüttelte den Kopf. Es hätte überheb lich geklungen, ihm zu sagen, daß ich mich nach soge nannten »persönlichen Auftritten« ausgehöhlt, ausgelaugt und aufgerieben fühlte und daß ich schmeichelhaften Grußreden nichts abgewinnen konnte. Das einzige Kom pliment, daß ich wirklich gelten ließ, war das Geld, das die Leute an der Kinokasse zahlten. »Wohin wollen Sie denn nächste Woche?« fragte er. »Afrika ist groß«, sagte ich, und er lachte. Wir schlenderten zurück, um uns den nächsten hoff nungsvollen Trupp im Führring anzusehen, und identifi zierten die Nummer acht als Nerissas Stute Lebona. »Sie sieht tadellos aus«, bemerkte van Horen. »Sie wird auch tadellos abkommen«, stimmte ich zu. »Und drei Viertel der Strecke wird sie gut laufen. Dann wird sie innerhalb von wenigen Schritten plötzlich ermü den und weg vom Fenster sein, und wenn sie zurück kommt, heben sich ihre Seiten, und sie sieht erschöpft aus.« Er war verblüfft. »Das hört sich an, als wüßten Sie, was kommt.« »Reine Vermutung. Ich habe Chink am Mittwoch in Newmarket so laufen sehen.« »Aber glauben Sie denn, die laufen alle nach dem glei chen Muster?« »Den Rennberichten nach sieht es so aus.« »Was werden Sie Nerissa sagen?« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht … Wahrschein lich, daß sie ihren Trainer wechseln soll.« 112
Zur gegebenen Zeit kehrten wir auf die Tribüne zurück und sahen Lebona wie erwartet laufen. Da van Horen of fenbar nicht darauf brannte, mich zugunsten anregenderer Gesellschaft loszuwerden, und ich ihn ganz gern als Puffer um mich hatte, beschlossen wir, uns an einen der Tische unter den Sonnenschirmen der Caféterrasse zu setzen und eine Erfrischung zu bestellen. Zum erstenmal seit meiner Ankunft schien die Sonne richtig warm. Kein Luftzug bewegte die Fransen an den geblümten Schirmen, und rings umher legten die Damen ihre Mäntel ab. Van Horen seufzte jedoch, als ich auf das schöne Wetter zu sprechen kam. »Mir ist der Winter am liebsten«, sagte er. »Wenn es kalt, trocken und sonnig ist. Die Sommer sind naß und viel zu heiß, auch hier oben auf dem Highveld.« »In Südafrika stellt man es sich immer heiß vor.« »Das ist es natürlich auch. Kommt man erst runter auf Meereshöhe, kann es selbst um diese Jahreszeit schon sengend heiß sein.« Der Schatten von zwei Männern fiel über den Tisch, und wir blickten auf. Zwei Männer, die ich kannte. Conrad … und Evan Pentelow. Ich übernahm die Vorstellung, und sie zogen Stühle her an und setzten sich zu uns: Conrad extravagant wie ge wohnt, mit »lieber Junge« nur so um sich werfend, und Evan, die Haare widerspenstig wie gehabt, die Augen brennend wie eh und je. Evan stürzte sich gleich ins Gefecht. »Jetzt weigern Sie sich ja wohl hoffentlich auch nicht, zu der Premiere von meinem Mann im Wagen zu erscheinen.« 113
»Das klingt aber sehr nach Besitzerstolz«, sagte ich mild. »Es ist nicht ganz allein Ihr Werk.« »Mein Name erscheint als erster im Vorspann«, entgeg nete er aggressiv. »Vor meinem?« Die Plakate von Evans Filmen waren meist so gestaltet, daß oben groß »EVAN PENTELOW« stand, darunter der Titel des Films und darunter, eng zusammengedrängt im letzten Plakatdrittel, die Namen der Schauspieler. Piraterie war das, oder doch beinah. Evan blickte böse, und ich nahm an, daß er meinen Ver trag für den Film eingesehen und dabei, wie ich selbst, festgestellt hatte, daß mein Agent in der Frage der Plazie rung keine Mißverständnisse aufkommen ließ. »Vor dem anderen Regisseur«, sagte er widerwillig. Das mochte angehen. Er hatte zwar bei weniger als ei nem Viertel des Films Regie geführt, aber die Endfassung würde auf seiner Idee beruhen. Van Horen verfolgte aufmerksam amüsiert unser Ge plänkel. »Wer an welcher Stelle genannt wird, ist also doch so wichtig wie man immer hört.« »Es kommt darauf an«, – ich lächelte – »wer wem das Messer in den Rücken stößt.« Evan hatte keinen Humor und war nicht belustigt. Statt dessen begann er von dem Film zu reden, den er als näch stes drehen wollte. »Es ist eine Allegorie … Jeder Szene mit Menschen wird eine ähnliche gegenübergestellt, die unter Elefanten spielt. Sie sollten ursprünglich die Guten in der Handlung sein, aber inzwischen habe ich so einiges über Elefanten ge lernt. Wußten Sie, daß die dem Menschen gefährlicher 114
werden als jedes andere Tier in Afrika? Wußten Sie, daß die keinerlei Feinde haben außer den Elfenbeinjägern und daß infolge des Elfenbeinjagdverbots im Krüger-Park die Elefanten dort mitten in einer Bevölkerungsexplosion ste hen? Sie vermehren sich pro Jahr um tausend, so daß in zehn Jahren für irgendwelche anderen Tiere kein Platz mehr sein wird und der Park wahrscheinlich auch keine Bäume mehr hat, da die Elefanten sie zu Hunderten ausreißen.« Evan war wie immer, wenn ein Thema seine Aufmerk samkeit in Anspruch nahm, dogmatisch und eindringlich. »Und wußten Sie schon«, fuhr er fort, »daß Elefanten keine Volkswagen mögen? Diese kleinen, meine ich. Für gewöhnlich greifen Elefanten selten Autos an, aber auf Volkswagen scheinen sie geradewegs loszugehen.« Van Horen lächelte ungläubig, was Evan naturgemäß zu noch größerem Eifer anspornte. »Es ist wahr! Ich nehme es vielleicht sogar mit in den Film rein.« »Dürfte interessant sein«, meinte Conrad mit mehr als einem Hauch trockenen Humors. »Ein Auto, das als Köder rumsteht, ist doch mal etwas anderes als immer Ziegen und Tiger.« Evan sah ihn scharf an, nickte aber. »Wir fahren am Mittwoch in den Park.« Van Horen wandte sich mit bedauernder Miene zu mir. »Schade, daß Sie nächste Woche da nicht auch hinfahren können, Link. Sie suchen ja etwas, und da hätte es Ihnen gefallen. Die Wildschutzgebiete sind so ungefähr das ein zige, was noch vom alten, natürlichen Afrika geblieben ist, und der Krüger-Park ist groß und offen und noch immer ziemlich wild. Aber ich weiß, daß die Unterkünfte dort immer Monate im voraus ausgebucht sind.« Ich hätte nie gedacht, daß Evan mich würde dabeihaben wollen, doch zu meiner Überraschung sagte er langsam: 115
»Nun, zufälligerweise haben wir für Drix Goddart mit gebucht, aber der kommt erst in ein, zwei Wochen. Wir haben die Reservierung nicht rückgängig gemacht … Da wäre also ein Bett frei, wenn Sie mitkommen wollen.« Ich blickte erstaunt zu Conrad, fand aber in seinen hoch gezogenen Brauen und dem ironischen Mund keine Erklä rung. Wäre Evan nicht gewesen, hätte ich begeistert zugegrif fen; aber selbst er war dem Programm von Clifford Wen kins wohl bei weitem vorzuziehen. Und wenn ich nicht zum Krüger-Park fuhr, der mich wirklich reizte, wohin dann? »Würde ich gern«, sagte ich. »Schönen Dank auch.«
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anilo stieß, flankiert von seinen beiden van-HorenSatelliten, wieder zu uns. Sally wartete nicht, bis sie Conrad und Evan vorgestellt wurde. Sie paßte auf, daß sie niemanden mitten im Satz unterbrach, und sprach ihren Vater direkt an. »Wir haben Danilo gesagt, daß du Link am Montag mit in die Goldmine nehmen willst, und er wüßte gern, ob er auch mitkommen kann.« Danilo schien etwas verlegen darüber, daß seine Bitte so unverblümt vorgebracht wurde, doch nach nur einem win zigen Zögern sagte van Horen: »Aber natürlich, Danilo, wenn Sie möchten.« »Klar möchte ich«, sagte er ernst. »Goldmine?« sagte Evan gespannt, sich auf das Wort stürzend. »Das Familienunternehmen«, erklärte van Horen und machte alle miteinander bekannt. »Das könnte tolles Hintergrundmaterial geben … Eine Goldmine … ließe sich vielleicht eines Tages verwerten.« Er sah van Horen erwartungsvoll an, der unfairerweise damit vor die Wahl gestellt war, sich nötigen zu lassen oder stur zu sein. Ein Klacks für ihn. »Aber natürlich, kommen Sie ruhig am Montag mit, wenn Sie wollen.« 117
Evan gab ihm keine Gelegenheit, das Angebot zurück zuziehen, und nahm es für Conrad gleich mit an. Als sie und die drei jungen Leute gegangen waren, um Wetten abzuschließen, entschuldigte ich mich bei van Ho ren, daß seine Großzügigkeit so ausgenutzt worden war. Er schüttelte den Kopf. »Das geht schon. Wir lassen sel ten große Besuchergruppen in die Mine, weil es den Be trieb zu sehr behindert oder aufhält, aber vier Personen schaffen wir schon ohne Arbeitsunterbrechung, wenn Sie alle vernünftig sind, und davon bin ich überzeugt.« Bis zum Ende des Nachmittags war die Zahl auf fünf angewachsen; auch Roderick Hodge tauchte in Germiston auf und bat, als er von der Expedition erfuhr, van Horen unter vier Augen, sich anschließen zu dürfen, um für einen Sonderbericht im Rand Daily Star zu recherchieren. Ich hätte gedacht, Goldminen seien in Johannesburg ausgereizt, aber Roderick bekam seinen Willen. Er stand unverhofft auf einmal neben mir, als ich mir Tables Turned anschaute, der durch den Führring schritt und aussah wie der Klassehengst, der er nicht war. Danilo und sämtliche van Horens waren zum Präsidententee ge gangen, ein Imbiß, auf den ich lieber verzichtete, und Con rad und Evan wurden in der Ferne gerade von dem ewig schwitzenden Clifford angesprochen. Roderick berührte mich am Arm und sagte zögernd: »Link?« Ich drehte mich um. Sein Vierzigergesicht hatte in den letzten Tagen neue Falten bekommen und sah viel zu alt aus für die modisch langen Haare und den jugendlichen Schnitt seiner Kleidung. »Wie geht’s Katya?« fragte ich. »Der geht’s blendend. Wirklich ganz erstaunlich.« 118
Ich sagte, das freue mich, und fragte dann, ob er oft zum Pferderennen gehe. »Nein … Eigentlich bin ich gekommen, um Sie zu spre chen. Ich habe versucht, Sie im Iguana Rock zu erreichen, aber man sagte mir, Sie seien auf der Rennbahn.« »So, so«, murmelte ich. »Ich habe dort das, was man eine Quelle nennen könnte«, erklärte er. »Hält mich auf dem laufenden, verstehen Sie?« Ich verstand. Überall auf der Welt gab es so ein kleines graues Heer, das der Presse Hinweise zukommen ließ und dafür Trinkgelder einsteckte. Hotelportiers, Gepäckträger, Krankenhauspförtner und alles, was sich in Hörweite der Vorzugswartehallen auf Flughäfen aufhielt. »Ich wohne auf dieser Seite der Stadt und dachte, da könnte ich genausogut mal herkommen.« »Ist auch schön heute«, sagte ich. Er blickte zum Himmel, als wäre es ihm einerlei gewe sen, wenn es geschneit hätte. »Jaja … Hören Sie, heute morgen hat mich Joe angeru fen – das ist der Typ, der die Tonanlage in Randfontein House aufgebaut hat.« »Ich erinnere mich«, sagte ich. »Er sagt, er hat das Mikrofon zerlegt und es war nichts verkehrt daran. Aber der äußere Draht des Koaxialkabels war natürlich mit dem Metallgehäuse verbunden –« »Aha«, unterbrach ich ihn. »Und was genau ist ein Ko axialkabel?« »Nie gehört? Das ist ein Elektrokabel mit zwei Leitern, aber der eine Leitungsdraht geht durch die Mitte und der andere umschließt ihn wie ein Rohr. Fernsehantennenka bel sind koaxial. Das sieht man an dem Ende, das man in die Geräte einsteckt.« 119
»Ah ja«, sagte ich. »Verstehe.« »Joe sagt, er hat festgestellt, daß die Erdung und der stromführende Draht in der Steckdose des Aufnahmege räts, das er bei Katya benutzt hat, falsch geklemmt waren. Er sagt, die Leute werden immer wieder darauf hingewie sen, wie gefährlich das ist, aber sie tun es trotzdem. Da geht der Strom natürlich direkt: durch das Mikrogehäuse und erdet sich durch den, der es hält.« Ich überlegte. »Hätte dann nicht das Aufnahmegerät auch unter Strom stehen müssen?« Er kniff die Augen zusammen. »Ja. Joe sagt, im Innern schon. Davon kann man aber keinen Schlag bekommen. Das Gehäuse ist aus Plastik, die Knöpfe sind aus Plastik, und Joe selbst hat Schuhe mit Gummisohlen getragen; er sagt, das tut er vorsichtshalber immer.« »Aber er muß das Gerät doch vorher schon benutzt ha ben«, wandte ich ein. »Er sagt nein. Er sagt, das hat er bloß angeschlossen, weil es gerade dastand, als mit seinem was nicht klappte. Er weiß nicht, wem das Gerät gehört, und bis jetzt hat of fenbar keiner Anspruch darauf erhoben.« Arknold warf seinen Jockey auf Tables Turned, und die Pferde begannen auf die Bahn hinauszugehen. Ich sagte: »Es war einfach ein böser Zufall.« »Das meint Joe auch«, sagte er. In seiner Stimme lag je doch eine Andeutung von Zweifel, und ich sah ihn fragend an. »Nun … es ist schrecklich, so etwas zu sagen, aber Joe hat sich gefragt, ob es am Ende ein Werbetrick gewesen sein könnte, der zu weit ging. Er sagt, Clifford Wenkins sei nach Ihrer ersten Aufnahme um die Anlage herumge geistert, und Sie selbst hätten ja die Konferenz angesetzt, und schließlich haben Sie ja auch für die Rettung Katyas eine fantastische Presse bekommen.« 120
»Ich finde es auch schrecklich, so etwas zu sagen«, meinte ich vergnügt. »Betrachten Sie mich als entsetzt. Und beachten Sie bitte, daß ich mich auch schon gefragt habe, ob es ein von Ihnen und Katya inszenierter Werbe trick war …, der zu weit gegangen ist.« Er bekam große Augen. Dann entspannte er sich. Dann lächelte er kläglich. »Also gut«, sagte er. »Keiner von uns hat es getrickst. Wie steht’s mit unserem Clifford?« »Den kennen Sie besser als ich«, war meine Antwort. »Aber wenn man auch glauben könnte, er hätte Worldic Cinemas seine Seele verkauft – mir kommt es nicht so vor, als besäße er den Mut oder die Raffinesse, um die ganze Sache aufzuziehen.« »Sie bringen ihn aus der Fassung«, bemerkte Roderick. »Er ist nicht immer so völlig daneben wie seit Ihrer An kunft.« Ein Stück entfernt von uns an den Rails stand Danilo und betrachtete Nerissas Hengst mit einem Lächeln in dem hübschen, offenen Gesicht. Ich dachte bei mir, wenn er gewußt hätte, daß er die Pferde bald erben sollte, wäre er eher besorgt gewesen. Arknold trat zu ihm, und gemeinsam gingen sie auf die Tribüne. Roderick und ich zockelten hinterdrein. Alle sa hen wir zu, wie Tables Turned ein prächtiges Tempo vor legte, vierhundert Meter vor dem Ziel aus der Puste kam und restlos verausgabt endete. Arknold brummte etwas vor sich hin und stieß mit mir zusammen, als er sich mit Donnerwettermiene einen Weg nach unten bahnte, zur Nachbesprechung mit dem Jockey. Er faßte mich ins Auge und sagte abrupt: »Das ist zuviel, Mister. Das ist zuviel. Der Hengst ist verdammt gut, und bei dem Feld hätte er mit Längen gewinnen müssen.« Er 121
klappte den Mund wie eine Falle zu, strich an mir vorbei und drängte sich weiter durch die Menge. »Was sollte das denn?« fragte Roderick beiläufig; so beiläufig, daß mir der Rand Daily Star einfiel und ich ihm nichts erklärte. »Keine Ahnung«, sagte ich und mimte ein wenig den Verdutzten, aber Rodericks skeptischem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, daß er sich auch entsann, was mein Be ruf war. Wir gingen die Tribüne hinunter. Ich sann auf Mittel und Wege und hielt es für das beste, mich mit meinem Anlie gen an Klugvoigt zu wenden. Also steuerte ich Roderick sanft dahin, wo Conrad und Evan gerade einen Barbesuch erörterten, empfahl ihn ihrer Aufmerksamkeit und ging, als er anfing, Conrad die Theorie von Joe und dem Koaxi alkabel zu verbraten. Der Präsident war in seiner Loge, umgeben von Damen mit dekorativen Hüten. Er sah mich zögernd allein herum stehen, winkte mir, die angrenzende Treppe hinaufzu kommen, und drückte mir, als ich bei ihm anlangte, einen verwässerten Whisky in einem angewärmten Glas in die Hand. »Wie steht’s?« fragte er. »Sie haben hoffentlich gewon nen?« »Jedenfalls nicht verloren.« Ich lächelte. »Auf wen tippen Sie im nächsten Lauf?« »Da müßte ich sie erst im Führring sehen.« »Sehr vernünftig«, stimmte er zu. Ich bewunderte die Baulichkeiten. »Die Tribüne sieht neu aus«, bemerkte ich. »Sie steht noch nicht lange«, sagte er. »Sie wurde aber dringend gebraucht.« 122
»Und die Waage – von außen sieht sie sehr komfortabel aus.« »Oh, das ist sie auch, mein Lieber.« Ihm kam ein Ge danke. »Möchten Sie sie gern von innen sehen?« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte ich herzlich – und demonstrierte Startbereitschaft, damit er es nicht vergaß. Bald darauf stellten wir unsere unausgetrunkenen Gläser hin und schlenderten zu dem großen viereckigen Verwal tungsblock hinüber, der im Erdgeschoß die Waage und die Jockeystube beherbergte und darüber die Rennbahnbüros. Das Ganze war modern und komfortabel, weit entfernt von allzu vielen englischen Gegenstücken. Es gab einen großen, mit Lehnstühlen ausgestatteten Raum, in dem Be sitzer und Trainer sich bequem zusammensetzen konnten, um ihre Coups zu planen und ihre Flops zu analysieren, doch Klugvoigt scheuchte mich daran vorbei ins Innere. Die Jockeys selbst hatten auch teil an der Fülle, denn es standen ihnen mannshohe Spinde für ihre Kleider zur Ver fügung (statt eines Wandhakens), eine Sauna (sowie Du schen) und gepolsterte Liegen zum Ausruhen (statt einer harten schmalen Holzbank). Der Mann, den ich zu sehen gehofft hatte, lag auf einer der mit schwarzem Leder bezogenen Liegen und stützte sich auf einem Ellbogen auf. Ich kannte ihn von den An zeigetafeln her als K. L. Fahrden. Er war Greville Arknolds Jockey. Ich sagte Klugvoigt, ich sei daran interessiert, mit Fahrden zu reden, und er meinte, klar, dann werde er im vorde ren Raum auf mich warten, denn dort sei jemand, mit dem er selbst sprechen wolle. Fahrden hatte die übliche fein gemeißelte Statur mit dem üblichen Mangel an Fettgewebe unter der Haut. Sein arg 123
wöhnisch gespannter Ausdruck änderte sich ein wenig zum Besseren, als ihm Klugvoigt meinen Namen sagte, kam aber in alter Stärke wieder, als ich sagte, ich sei ein Freund von Mrs. Cavesey. »Man kann mir nicht die Schuld geben, wenn ihre Pferde so beschissen laufen«, sagte er, als müsse er sich vertei digen. »Das tu ich auch nicht«, erwiderte ich geduldig. »Ich wollte Sie nur fragen, wie Ihr persönlicher Eindruck von den Tieren ist, damit ich Mrs. Cavesey das berichten kann.« »Oh. Na gut.« Er überlegte und rückte damit heraus. »Also am Start, da geben sie einem ein gutes Gefühl. Vol ler Kraft, und sie genießen es. Dann fordert man sie, ja, und es geht einfach nichts. Man macht Druck, ja, und fast sofort ist die Luft raus.« »Sie haben sich bestimmt schon viel Gedanken darüber gemacht«, sagte ich. »Was glauben Sie, was mit ihnen los ist?« Er sah mich von der Seite an. »Keine Ahnung«, sagte er. »Sie müssen doch eine Theorie haben«, drängte ich. »Bloß die, auf die jeder andere auch käme«, antwortete er widerstrebend. »Und mehr sage ich dazu nicht.« »Mhm … Tja, was halten Sie von Mr. Arknolds Futter meister?« »Barty? So ein brutaler Hund. Nicht, daß ich über den viel nachdenke. Ich würde ihm nicht gern allein im Dun keln begegnen, wenn Sie das meinen.« Es war nicht ganz das, was ich meinte, aber ich ließ es dabei bewenden. Und ich fragte ihn, wie er mit Danilo auskam. »Der ist echt nett, der Junge«, sagte er mit dem ersten Anzeichen von Freundlichkeit. »Interessiert sich natürlich 124
immer sehr für Arknolds Pferde, wo doch so viele davon seiner Tante gehören.« »Haben Sie ihn kennengelernt, als er schon mal hier war?« fragte ich. »Ja, klar. Er hat ein paar Wochen in dem Hotel unten in Summerveld gewohnt. Ein prima Kerl. Immer für einen Lacher gut. Er sagte, er hätte gerade seine Tante besucht und sie sei ein prima Mädchen. Er war auch der einzige Lichtblick da, als die Pferde anfingen, so schlecht zu lau fen.« »Wann war das?« fragte ich in verständnisvollem Ton. »Ach, letzten Juni irgendwann. Seitdem ist auf jede er denkliche Art untersucht worden, warum sie versagen. Dopingproben, Tierärzte und alles.« »Reiten Sie gern für Arknold?« fragte ich. Er machte sofort dicht. »Es kostet mich meinen Job, wenn ich was anderes sage.« Ich las Klugvoigt im Empfangsraum auf, bedankte mich und ging wieder mit ihm in Richtung Führring. Da ihn unterwegs jemand abfing, zog ich allein weiter und wan derte quer über die Bahn zu der einfachen, aus Holz ge zimmerten Tribüne auf der anderen Seite. Von dort ließ die gesamte Anlage sich überblicken: die langgezogenen Tribünenbauten, die schmale Terrasse mit den Sonnen schirmen, der Logenblock. Hinter all dem der Führring und die Waage. Und Teil der bunten Menge, plaudernd, Informationen austauschend, erfrischende Getränke schlürfend, waren Danilo und Arknold, Conrad und Evan, Roderick und Clif ford Wenkins sowie Quentin, Vivi, Jonathan und Sally van Horen. 125
Als ich am Abend zurück ins Iguana Rock kam, meldete ich ein Telefongespräch mit Charlie an, und pünktlich am nächsten Morgen, Sonntag um zehn, erhielt ich die Ver bindung. Ihre Stimme klang so nah, als wären wir sechs Meilen getrennt statt sechstausend. Sie sagte, sie sei froh, daß ich anrief und daß ich keinen tödlichen Stromschlag bekom men hätte – es hätte gestern zu Hause in sämtlichen Zei tungen gestanden, und einige hätten empört angedeutet, es sei ein abgekartetes Spiel gewesen. »War es nicht«, sagte ich. »Ich erzähl’ dir alles, wenn ich zu Hause bin. Wie geht’s den Kindern?« »Ach, bestens. Chris sagt, er will Astronaut werden, und Libby schafft es jetzt, ›Pool‹ zu sagen, wenn sie ins Was ser möchte.« »Das ist ja toll«, sagte ich und meinte damit Libbys Fortschritt. Charlie stimmte mir bei. »Du fehlst mir«, sagte ich leichthin, und sie antwortete mit ebensowenig Nachdruck: »Es kommt mir vor, als wärst du schon viel länger als fünf Tage weg.« »Ich komme gleich nach der Premiere heim«, sagte ich. »Vorher sehe ich mir noch eine Goldmine an und verbrin ge ein paar Tage im Krüger-Nationalpark.« »Glückspilz.« »Wenn die Kinder wieder in der Schule sind, machen wir irgendwo Urlaub, ganz für uns allein.« »Ich nehm’ dich beim Wort.« »Du kannst dir aussuchen wo, also überleg schon mal.« »Okay.« Sie sagte es beiläufig, schien sich aber zu freuen. »Hör mal … ich rufe eigentlich wegen Nerissas Pferden an.« »Hast du rausgekriegt, was mit ihnen los ist?« 126
»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Mir ist da ein ziemlich fol genschwerer Gedanke gekommen. Ich kann aber erst si cher sein – oder vielmehr nur sicher sein –, wenn du in England etwas für mich tust.« »Schieß los«, sagte sie kurz. »Ich möchte, daß du dir Nerissas Testament ansiehst.« »Wau.« Sie zog scharf die Luft ein. »Wie soll ich das denn machen?« »Bitte sie drum. Ich weiß nicht, wie du das am besten anstellst, aber wenn sie Spaß daran gehabt hat, es aufzu setzen, macht es ihr vielleicht auch nichts aus, darüber zu reden.« »Also, nach was genau soll ich denn suchen, wenn sie es mir zeigt?« »Ich möchte vor allem wissen, ob sie Danilo außer den Pferden auch ihren Restnachlaß vermacht hat.« »Na schön«, meinte sie zweifelnd. »Ist das sehr wich tig?« »Ja und nein.« Ich lachte halb. »Der junge Danilo ist im Augenblick hier in Südafrika.« »So?« rief sie aus. »Davon hat Nerissa uns ja gar nichts gesagt.« »Nerissa weiß es nicht«, sagte ich. Ich beschrieb ihr den goldenen Danilo und auch Arknold und erklärte ihr, daß die Pferde alle nach dem gleichen Schema verloren. »Klingt, als ob der Trainer sie dopt«, bemerkte sie. »Ja. Das habe ich zuerst auch gedacht. Aber jetzt – nun, ich glaube, es ist unser Junge aus Kalifornien, dieser Danilo.« »Der doch nicht«, wandte sie ein. »Was hätte er dabei zu gewinnen?« 127
»Erbschaftssteuern«, sagte ich. Mit Nachdruck. Nach einer Pause meinte Charlie zweifelnd: »Das kann nicht dein Ernst sein.« »Doch. Jedenfalls ist es eine Theorie. Nur habe ich keine Möglichkeit, sie zu beweisen.« »Mir ist nicht ganz klar …« »Dann stell dir doch mal vor«, sagte ich, »Nerissa hat Danilo bei seinem Besuch im Frühsommer – als sie sich zum erstenmal nach all den Jahren wiedersahen – gesagt, daß sie an der Hodgkin-Krankheit leidet. Da brauchte er nur in einem medizinischen Handbuch nachzusehen, um zu erfahren, daß die immer tödlich ausgeht.« »Ach je«, meinte sie seufzend. »Weiter.« »Nerissa mochte ihn sehr«, sagte ich. »Nun, er ist auch ein durchaus einnehmender Junge. Nimm mal an, sie hat ihren Entschluß, Danilo zu bedenken, nicht für sich behal ten, sondern ihm gesagt, sie wolle ihm ihre Pferde hinter lassen und etwas Geld.« »Das sind aber ziemlich viele Mutmaßungen.« »Ja«, gab ich zu. »Würdest du Nerissa fragen? Frag, ob sie Danilo gesagt hat, woran sie erkrankt ist, und auch, ob sie ihm gesagt hat, was sie ihm vermachen will.« »Liebling, sie wäre doch furchtbar unglücklich, wenn sie jetzt feststellen müßte, daß sie sich in ihm getäuscht hat.« Charlie klang selbst aufgewühlt. »Wo sie sich doch so freut, ihn als Erben zu haben.« »Bring einfach die Rede drauf, wenn du kannst, und frag sie nebenher. Ich bin auch der Meinung, daß es wichtig ist, ihr Kummer zu ersparen. Es könnte sogar besser sein, man ließe Danilo ungeschoren davonkommen. Darüber habe ich auch fast den ganzen Abend nachgedacht. Er hat sie um die Geldpreise betrogen, die sie hätte gewinnen kön nen. Würde ihr das etwas ausmachen?« 128
»Sie würde vielleicht sogar darüber lachen. Du lachst ja selbst. Es könnte sogar sein, daß sie es für einen ziemlich klugen Schachzug hält.« »Ja. Natürlich hat er auch das südafrikanische Wett publikum betrogen, aber das zu ahnden, wäre wohl Sache der hiesigen Rennsportbehörden, falls sie ihn erwischen.« »Wie kommst du darauf, daß es Danilo ist?« »Nichts, was stichhaltig wäre«, sagte ich frustriert. »Das meiste sind zufällige Bemerkungen und Eindrücke, das wenigste sind Fakten. Also, zunächst mal war Danilo in der Nähe, als die Pferde anfingen, schlecht zu laufen. Ihr Jockey hat mir gesagt, daß Danilo damals im Juni vierzehn Tage in Afrika war, und das muß kurz nach seinem Wie dersehen mit Nerissa gewesen sein, denn er sprach von dem Besuch bei ihr. Danach war er vermutlich für einige Zeit wieder in den Staaten, aber die Pferde verloren wei ter, so daß er sie offensichtlich nicht selber ausgeschaltet hat. Es ist überhaupt schwer vorstellbar, daß er jemals die Gelegenheit gehabt hätte, es selbst zu tun, aber er scheint eine Abmachung mit Arknolds Futtermeister zu haben; und ich gebe zu, daß dafür nichts weiter spricht als die Art, wie sie sich ansehen. Danilo paßt übrigens nie auf sein Gesicht auf. Er hütet seine Zunge, vergißt aber sein Gesicht. Nehmen wir also mal an, es ist Barty, der Futter meister, der das eigentliche Müdmachen besorgt, gegen ein angemessenes Entgelt von Danilo.« »Hm – und wie, wenn du recht hast?« »Es gibt nur zwei Methoden, die auch bei längerer An wendung nicht nachzuweisen sind: übertrainieren, wobei das Rennen beim Galopp daheim verloren wird – aber da hinter steckt immer der Trainer, und die Leute merken es und reden –, oder die Methode, die Barty wohl benutzt, der simple alte Eimer Wasser.« 129
Charlie sagte: »Man läßt das Pferd dursten, mischt viel leicht sogar Salz in sein Futter und gibt ihm dann ein, zwei Eimer Wasser vor dem Start?« »Genau. Die Ärmsten können die Distanz nicht durch stehen, wenn ihnen zehn oder fünfzehn Liter Wasser im Bauch herumschwappen. Und was Barty angeht – selbst wenn der nicht immer da sein sollte, um rechtzeitig das Wasser zu kredenzen: Er hat die anderen Pfleger derart eingeschüchtert, die würden sich wahrscheinlich die Oh ren abschneiden, wenn er’s ihnen sagt.« »Aber«, wandte sie ein, »wenn der Futtermeister das schon wochen- und monatelang betreibt, muß der Trainer es doch geschnallt haben.« »Ich glaube, das hat er auch«, stimmte ich zu. »Anschei nend gefällt es ihm nicht, aber er läßt es durchgehen. Er sagte, das sei ›zuviel‹, als einer von Nerissas besten Heng sten gestern in einem drittklassigen Rennen unterging. Und dann hat er mir selbst eine Version geliefert von dem, was da vor sich gehen und was daraus werden könnte. Er warf mir vor, ich hätte angedeutet, daß er die Pferde ver lieren läßt, damit Nerissa sie verkauft; er könnte sie dann billig übernehmen, wieder auf Siegkurs gehen und sie mit großem Gewinn in die Zucht verkaufen. Ich hatte nur vage in diese Richtung gedacht, aber er traf sofort den Kern, als wäre ihm der Gedanke keineswegs neu. Das hat mich ei gentlich erst auf Danilo gebracht. Das und die Art, wie der Junge gelächelt hat, als er eins von den Pferden auf die Bahn hinausreiten sah. Dieses Lächeln war völlig unan gebracht. Jedenfalls, wenn er den Wert der Pferde bis zu Nerissas Tod auf beinah Null herunterschrauben kann, braucht er wesentlich weniger Steuern für sie zu bezahlen, als wenn sie alle siegen. Der Unterschied beliefe sich auf zig tausend Pfund, wenn man bedenkt, daß es elf Pferde sind. Dafür würden sich ein paar Südafrikareisen und die 130
Bestechung des Futtermeisters schon lohnen. Ich glaube, das System soll geändert werden, aber beim derzeitigen Stand des Steuerrechts müßte er Anwärter auf den Rein nachlaß sein, wenn das, was er macht, einen Sinn haben soll.« »Hilf mir auf die Sprünge«, sagte Charlie. Ich lachte. »Nun, für alles, was Nerissa besitzt, muß Erb schaftssteuer bezahlt werden. Danach werden die einzel nen Legate verteilt. Was dann übrigbleibt, ist der Rein nachlaß. Obwohl die Pferde in Südafrika sind, wird die Steuer für sie in England erhoben, weil Nerissa dort lebt. Wenn also aus dem Vermögen soundsoviel Tausende an Erbschaftssteuer für die Pferde bezahlt werden müssen, bleiben soundsoviel tausend weniger im Reinnachlaß üb rig für Danilo.« »Kapiert«, sagte sie. »Und noch mal wau.« »Sind sie dann erst fest in seiner Hand, gibt er den Was sertrick auf, läßt sie gewinnen, verkauft sie oder gibt sie in die Zucht und kassiert auf ein neues.« »Ja, clever. Sehr clever.« »Und auch ziemlich einfach.« »Hör mal«, sagte sie, »können wir in der Richtung nicht auch was probieren? Die Unmenge Zuschlagsteuer, die wir bezahlen … und wenn dann einer von uns stirbt, kostet es uns noch mal ein Riesenstück von dem Kuchen, für den wir bereits Steuern bezahlt haben.« Ich lächelte. »Mir fällt nichts ein, was so leicht im Wert schwankt wie Pferde.« »Dann laß uns noch welche kaufen.« »Und natürlich müßte man auch so ziemlich auf den Monat genau wissen, wann einer stirbt.« »Ach verdammt«, sagte Charlie lachend. »Das Leben 131
besteht doch aus nichts als sauren Äpfeln und Nacken schlägen.« »Bei Nackenschlägen muß ich immer an die Zähne eines Vampirs denken.« »Der Vampir kommt«, sagte sie, »oder die Herren vom Finanzamt.« »Ich bringe dir ein paar Nuggets aus der Goldmine mit«, versprach ich. »Oh, danke.« »Und ich ruf’ dich noch mal an – sagen wir, Donnerstag abend. Da bin ich dann im Krüger-Park. Würde Donners tag dir passen?« »Ja«, sagte sie nüchtern, die Freude war verschwunden wie Nebel. »Bis dahin fahre ich zu Nerissa und schau’, was ich rausfinde.«
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E
ine gute Dakota kann man nicht am Boden halten.
Zwei waren es, die auf dem kleinen Flugplatz un weit der Rennbahn von Germiston wartend auf den Spornrädern hockten und ihre Delphinschnauzen hoff nungsvoll gen Himmel reckten. Zusammen mit mehreren anderen Passagieren bestiegen wir die eine der beiden, die auch eine beträchtliche Menge Frachtgut aufnahm, Montag früh um acht. Tag und Stunde meinten es nicht gut mit Roderick und ließen deutlicher denn je erkennen, daß es längst Zeit für ihn war, den An schein der Jugend aufzugeben. Der Mann, überlegte ich, lief Gefahr, die Phase, in der er am eindrucksvollsten aus sehen konnte, ungenutzt verstreichen zu lassen; wenn Roderick nicht achtgab, würde er von der späten Jugend direkt ins offensichtliche Alter abrutschen, ein Fehler, der im Showgewerbe häufiger vorkam als in der Zeitungs branche. Er trug eine braune langärmlige Wildlederjacke mit Fransen an jeder Naht. Darunter ein orangebraunes Hemd mit offenem Kragen, Hosen, deren Schnitt die Männlich keit hervorhob, und die neuesten Wüstentreter. Van Horen, am anderen Ende der Skala in einem dunk len Straßenanzug, traf zuletzt ein, übernahm mühelos das Ruder und bugsierte uns alle an Bord. Die Dakota flog eine Stunde und landete hundertsechzig Meilen südlich in einer abgelegenen Bergwerksstadt, deren Name, 133
»Welkom«, von praktisch allen Wänden und Werbeflä chen grüßte. Die Van-Horen-Mine lag auf der dem Flughafen entge gengesetzten Seite, und ein kleiner Bus kam uns abholen. Die Stadt war sauber, modern, geometrisch, mit geraden hellen Reihen kleiner viereckiger Häuser und Kilometern verglaster Supermärkte. Eine hygienisch verpackte Stadt, deren Lebensnerv tief unter der Erde lag. Unser Ziel sah auf den ersten Blick wie eine Ansamm lung von gewaltigen grauweißen Halden aus, darunter ei ne, auf die ein Bahngleis hinaufführte. Im Näherkommen sah man das Rad des Förderturms über dem Schacht, eine Menge Verwaltungsgebäude und Wohnheime für die Mi nenarbeiter sowie Dutzende von dekorativen Dattelpal men. Die kurzen, gedrungenen Bäume, deren sonnenbe schienene Wedel in der leichten Brise sanft raschelten, machten sich in der öden Umgebung recht gut, wie rosa Schleifen an einer Schaufel. Van Horen entschuldigte sich lächelnd, daß er nicht mit uns in die Mine hineinfahren konnte; er hatte den ganzen Morgen unaufschiebbare Besprechungen. »Aber wir treffen uns zum Mittagessen«, versprach er, »und zu dem Drink, den Sie dann alle nötig haben wer den!« Der Führer, den jemand ein paar Sprossen weiter unten in der Hierarchie uns zugeteilt hatte, war ein brummiger jun ger Afrikaander, der sich als Pieter Losenwoldt, Bergwerks ingenieur, vorstellte und uns mehr oder minder deutlich zu verstehen gab, daß seine derzeitige Aufgabe lästig, eine Un terbrechung seiner Arbeit und unter seiner Würde sei. Er brachte uns in einen Umkleideraum, wo wir alle Un terschiede durch weiße Overalls, schwere Stiefel und hohe Schutzhelme beseitigen sollten. 134
»Nehmen sie nichts Persönliches mit in die Mine außer Ihrer Unterwäsche und einem Taschentuch«, sagte er dogmatisch. »Keine Kameras.« Er blickte finster auf die Ausrüstung, die Conrad angeschleppt hatte. »Blitzlicht ist gefährlich. Auch keine Streichhölzer. Keine Feuerzeuge. Wenn ich nichts sage, dann meine ich nichts.« »Was ist mit Brieftaschen?« fragte Danilo, der sich brüskiert fühlte und es auch zeigte. Losenwoldt musterte ihn, sah jemanden vor sich, der anziehender, reicher, auf den ersten Blick liebenswerter aussah als er selbst, und reagierte mit noch schlechter verborgenem Unmut. »Lassen Sie alles hier«, sagte er gereizt. »Der Raum wird abgeschlossen. Hier ist alles in Sicherheit, bis Sie zu rückkommen.« Er ging fort, während wir uns umzogen, und kam in ei ner ähnlichen Kluft wieder. »Fertig? Gut. Also, wir gehen jetzt 1300 Meter tief run ter. Der Korb macht 900 Meter pro Minute. An manchen Stellen unter Tage ist es sehr heiß. Wenn jemand Platz angst bekommt oder sich sonstwie krank fühlt, soll er sich sofort melden, damit er nach oben gebracht wird. Ist das klar?« Er erntete fünf Nicker und keine Sympathie. Plötzlich blickte er mich forschend an, überlegte und verwarf seinen Gedanken dann mit geschürzten Lippen und einem Kopfschütteln. Niemand klärte ihn auf. »Ihre Grubenlampen sind da auf dem Tisch. Bitte legen Sie sie an.« Die Grubenlampen bestanden aus einer flachen Batterie, die man über der Lendengegend trug, und einer Lampe, 135
die vorn an den Helm geklemmt wurde. Ein Kabel ver band eins mit dem anderen. Die Batterien wurden mit ei nem Gurt um die Taille geschnallt und waren recht schwer. Fast wie die sieben Zwerge marschierten wir zur Mine. Der Korb, mit dem wir hinunterfuhren, hatte nur halbhohe Wände, so daß die Wirklichkeit des Untertagebaus sofort auf uns eindrang. Null Komfort. Eine Menge Krach. Der scheußliche Gedanke an all die Leere unter den Stiefel sohlen. Vermutlich dauerte die Fahrt noch keine zwei Minuten, doch da ich fest eingekeilt war zwischen Evan, dessen glü hende Augen ausnahmsweise einmal ängstlich blickten, und einem zwei Meter großen Zweieinhalbzentner-Bergmann, der mit einigen Spezis oben noch zugestiegen war, konnte ich die Zeit nicht gerade mit der Stoppuhr nehmen. Wir landeten scheppernd am Boden und stiegen aus. Ein anderes Kontingent wollte nach oben, und sobald wir draußen waren, drängten sie sich hinein, betätigten eine Reihe von Summern und glitten klirrend aufwärts. »Steigen Sie in die Förderwagen«, sagte Losenwoldt herrisch. »Sie fassen je zwölf Personen.« Conrad betrachtete die beiden Wagen, die aussahen wie Drahtkörbe auf Rädern, mit Platz für einen großen Hund, wenn der sich zusammenrollte, und meinte zu mir: »Öl sardinen haben’s enger.« Ich lachte. Aber die Wagen faßten tatsächlich zwölf; ge rade so. Der letzte Mann mußte sich in die Öffnung hok ken, die als Einstieg diente, und sich, so gut es ging, an irgend etwas festhalten, damit er nicht rausfiel. Evan war der letzte Mann. Er hielt sich an Losenwoldts Overall fest. Losenwoldt war davon nicht angetan. 136
Voll besetzt rollten die Wagen den Stollen entlang, der sich geradeaus vor uns erstreckte, soweit das Auge reichte. Die Wände waren bis in eine Höhe von etwa einszwanzig weiß gestrichen, dann kam eine fünf Zentimeter breite, leuchtend rote Linie und darüber dann das graue Gestein. Conrad fragte Losenwoldt, wozu die rote Linie da sei; er mußte brüllen, um sich verständlich zu machen, und er mußte zweimal brüllen, da Losenwoldt ihm zunächst keine Antwort gab. Schließlich brüllte er unwirsch zurück: »Danach richten sich die Driller. Wenn der Stollen so ausgemalt ist, können sie sehen, ob sie ihn gerade und eben vortreiben. Rot ist die Leitlinie.« Die Unterhaltung schlief ein. Die Wagen legten in schnellem Tempo etwa zwei Meilen zurück und hielten unvermittelt irgendwo. Mit einemmal konnte man sich wieder verstehen, und Losenwoldt sagte: »Wir steigen hier aus und gehen zu Fuß.« Alles entknäuelte sich und kletterte hinaus. Die Bergleu te stiefelten zielbewußt durch den Stollen davon, doch für Besichtigungen gab es offenbar ein festes Schema. Losen woldt sagte unfreundlich (aber immerhin sagte er es): »An der Decke des Stollens sehen Sie die Kabel, die uns mit Licht versorgen.« Die Lampen hingen in regelmäßigen Abständen über uns, so daß der ganze Stollen gleichmäßig beleuchtet war. »Daneben verläuft eine Stromschiene.« Er zeigte hin. »Sie liefert Strom für die Wagen, die das Ge stein wegschaffen. Das Gestein wird in einem besonders schnellen Korb nach oben gebracht, mit über tausend Me tern die Minute. Das große runde Rohr dort liefert Luft. Die Mine wird durch an zahlreichen Stellen zugeführte Druckluft bewettert.« Wir schauten ihn an wie Kinder, die sich um einen Leh rer scharen, doch da er diesen Teil seiner Pflichtübung zu 137
Ende gebracht hatte, kehrte er uns den Rücken und stapfte tiefer in den Stollen. Wir hinterher. Eine große Gruppe von schwarzen Afrikanern kam uns entgegen. Sie waren gekleidet wie wir, außer daß sie Jak ken über ihren Overalls trugen. Roderick fragte: »Wozu die Jacken?« Losenwoldt sagte: »Es ist heiß hier unten. Der Körper gewöhnt sich. Ohne Jacke wird einem kalt, wenn man rauskommt. Man kann sich erkälten.« Evan nickte wissend. Wir gingen weiter. Schließlich kamen wir zu einer breiteren Stelle, wo ein Querschlag nach rechts abzweigte. Eine weitere Gruppe Afrikaner versammelte sich dort, zog Jacken an und wurde auf einer Liste abgehakt. »Sie haben ihre Schicht beendet«, sagte Losenwoldt auf seine knappe Art, zähneknirschend. »Ihre Namen werden abgehakt, um zu gewährleisten, daß keiner von ihnen mehr unter Tag ist, wenn wir sprengen.« »Sprengen, lieber Junge?« sagte Conrad zerstreut. Der Fachmann beäugte ihn mit Mißfallen. »Der Fels muß gesprengt werden. Man bekommt ihn nicht mit Pik keln los.« »Aber ich dachte, das sei eine Goldmine, mein Junge. Man muß doch wohl nicht sprengen, um Gold abzubauen? Da gräbt man doch Kies aus und siebt das Gold heraus.« Losenwoldt sah ihn fast verächtlich an. »In Kalifornien und Alaska und an einigen anderen Orten mag das der Fall sein. In Südafrika ist das Gold nicht sichtbar. Es steckt in winzigen Partikeln im Gestein. Man muß das goldhaltige Gestein heraussprengen, es an die Oberfläche bringen und zahlreichen Verfahren unterwerfen, um das Gold zu ge 138
winnen. In dieser Mine muß man drei Tonnen Gestein he ben, um eine Unze reines Gold zu erhalten.« Ich glaube, daß es uns allen die Sprache verschlug. Danilo fiel richtig die Kinnlade herunter. »In einigen Minen hier auf dem Goldfeld von Oden daalsrus«, fuhr Losenwoldt fort, anscheinend ohne unsere Verblüffung zu bemerken, »braucht man nur anderthalb Tonnen zu fördern, um eine Unze zu gewinnen. Das sind natürlich die ergiebigsten Minen. Andere benötigen mehr als wir: dreieinhalb bis vier Tonnen.« Roderick schaute sich um. »Und das ganze Gold ist hier abgebaut worden? Und da, wo wir herkommen?« Jetzt wurde ihm der mitleidig-verächtliche Blick zuteil. »Dieser Stollen führt nicht durch goldhaltiges Gestein. Er ermöglicht uns nur, an das goldführende Gestein in die sem Teil der Mine heranzukommen. Es findet sich erst ab dreizehnhundert Metern Tiefe.« »Ach du lieber Gott«, sagte Conrad und sprach für uns alle. Losenwoldt leierte widerwillig seinen Vortrag herunter, doch sein Publikum war gefesselt. »Das Reef – so heißt das goldhaltige Gestein – ist nur eine dünne Schicht. Sie verläuft abschüssig von Norden unter Welkom durch nach Süden, wo sie am mächtigsten ist. Das Reef erstreckt sich etwa acht Meilen von Ost nach West und etwa vierzehn von Nord nach Süd, aber mit un regelmäßigen Begrenzungen. Es ist nirgends mehr als ei nen Meter mächtig und in dieser Mine im Durchschnitt 33 Zentimeter.« Er erntete eine Menge wahrhaft erstaunter Blicke, aber nur Danilo hatte eine Frage. »Ich nehme doch an, das lohnt sich«, meinte er zwei 139
felnd. »Die ganze Arbeit und die Technik, um an so ein bißchen Gold zu kommen.« »Es muß sich wohl lohnen, sonst wären wir nicht hier«, sagte Losenwoldt in vernichtendem Ton, und zumindest für mich klang das nach Unkenntnis der Gewinnziffern des Unternehmens. Aber es zahlte sich bestimmt aus, überlegte ich, sonst würde van Horen nicht in einem klei nen Palast wohnen. Niemand sonst sagte etwas. Selten war zwangloses Ge plauder so resolut unterbunden worden. Und Evans ange borene Neigung, stets das Kommando zu übernehmen, war ernstlich beeinträchtigt; hatte er im Aufzug schon ängstlich gewirkt, so schien es jetzt, als litte er am meisten von uns allen unter dem Gedanken an die Millionen Ton nen Gestein, deren Druck direkt auf uns lastete. »Also gut«, sagte Losenwoldt voller Genugtuung dar über, daß er dem Fußvolk den Mund gestopft hatte. »Schalten Sie jetzt bitte Ihre Grubenlampen an. Da drin gibt es kein Licht mehr.« Er wies in den Querschlag. »Wir wollen uns ansehen, wie der Streckenbau vorangeht.« Er stiefelte los, ohne zu kontrollieren, ob wir alle hinter ihm waren, aber wir folgten ihm, wenngleich Evan einen Blick zurück in Richtung Schacht warf, der einem vorsich tigeren Führer nahegelegt hätte, nicht zuviel als selbstver ständlich zu betrachten. Der Stollen verlief eine Zeitlang gerade und bog dann nach rechts ab. Als wir uns der Ecke näherten, hörten wir ein zunehmend lautes Dröhnen, das sich hinter der Biegung noch erheblich steigerte. »Was ist das für ein Lärm?« fragte Evan mit einer Stimme, die noch frei von akuter Angst war. Losenwoldt sagte über seine Schulter hinweg: »Teils die Belüftung, teils die Bohrungen«, und ging weiter. Die in 140
Abständen angeordnete Glühbirnenbeleuchtung endete. Das Licht an unseren Helmen zeigte den Weg. Plötzlich erkannten wir einen fernen, hellen Schein, weit vor dem Licht, das wir selbst aussandten. Bei genauerem Hinsehen löste der Schein sich in drei einzelne Gruben lampen auf, die in die gleiche Richtung leuchteten wie un sere, aber diese Lampen strahlten nur massiven Fels an. Wir kamen ans Ende des Stollens. Die Wände waren an dieser Stelle nicht mehr beruhigend weiß angemalt und mit einem roten Strich versehen, son dern hatten das gleichförmige dunkle Grau des Felsge steins. Irgendwie unterstrich das noch, wie fantastisch es war, sich so tief in die unberührte Erdkruste hineinzugra ben, auf der Suche nach unsichtbarem gelbem Staub. Die Luftleitung endete jäh, und die Druckluft strömte röhrend aus der Öffnung. Weiter hinten gewann der Bohr lärm die Oberhand, ein Angriff auf das Trommelfell wie eine Handvoll entfesselte Diskotheken. Drei Bergleute standen auf einer hölzernen Plattform und bohrten nahe der zweieinhalb Meter hohen Decke ein Loch in den Fels. Unsere Lampen beschienen den Schweiß auf ihrer dunklen Haut und reflektierten auf den Unterhemden und dünnen Hosen, die sie anstelle der dik ken weißen Overalls ihrer Kollegen trugen. Der Krach kam ebensosehr von einem Kompressor, der auf dem Boden stand, wie von dem Bohrer selbst. Wir schauten eine Weile zu. Evan wollte etwas fragen, aber nur jemand, der von den Lippen lesen konnte, hätte ihn verstanden. Schließlich gab Losenwoldt, indem er den Kopf schwenkte, mit verkniffenem Mund das Zeichen zur Um kehr. Wir folgten ihm und waren froh, daß der Druck auf unseren Ohren nachließ. Ich ging am Schluß und knipste 141
da, wo die Luftleitung endete, für einen Moment meine Lampe aus und blickte zurück. Drei Männer auf einem Gerüst, vertieft in ihre Arbeit, eingehüllt in Lärm und be leuchtet nur von den Glühwürmchen auf ihren Häuptern. Wenn ich mich abwandte und weiterging, würde das ur zeitliche Dunkel sie wieder völlig umschließen. In meiner Phantasie kamen sie mir vor wie ein Trupp fleißiger Teu fel, die sich zum Höllenfeuer durchgruben. Wieder zurück in dem breiteren Abschnitt, setzte Losen woldt unsere Unterweisung fort. »Sie bohren Löcher von ungefähr zwei Metern, mit Hartmetallbohrern. Das« – er zeigte mit dem Finger – »sind die Bohrer.« Wir sahen in die Richtung, in die er wies. Die waage recht gestapelten, zwei Meter langen Geräte an der Stol lenwand hatten zuerst eher wie ein Haufen unbenutzter Leitungsrohre ausgesehen; aber es waren dickwandige Bohrstangen von etwa sechs Zentimetern Durchmesser, jede mit einer Spitze aus glänzendem Wolframstahl. »Die Bohrer müssen jeden Tag zum Schleifen nach oben gebracht werden.« Wir nickten wie weise alte Eulen. »Die drei Männer sind mit dem Bohren für heute fast fertig. Sie haben zahlreiche Löcher in die Ortsbrust ge trieben. Jedes Loch wird mit einer Ladung Sprengstoff gefüllt, und nach der Sprengung wird das losgebrochene Gestein entfernt. Dann kehren die Driller zurück, und der Vorgang beginnt von neuem.« »Wieviel Streckenmeter schaffen sie am Tag?« fragte Roderick. »Zweieinhalb pro Schicht.« Evan lehnte sich gegen die Felswand und fuhr sich mit 142
der Hand über eine Stirn, so feucht, daß selbst Clifford Wenkins sie nicht hätte übertreffen können. »Verwenden Sie gar keine Abstützungen?« sagte er. Losenwoldt nahm die Frage wörtlich und erkannte nicht die Furcht, die dahintersteckte. »Natürlich nicht. Wir treiben ja die Strecke nicht durch Erdreich, sondern durch Grundgestein. Es besteht keine Gefahr, daß der Stollen einstürzt. Hin und wieder fällt mal eine gelockerte Felsplatte von der Decke oder von der Wand. Das passiert meistens in frisch gesprengten Berei chen. Sehen wir solch lockeres Gestein, holen wir es nach Möglichkeit gleich runter, um Unfällen vorzubeugen.« Evan sah keineswegs beruhigt aus. Er kramte sein Ta schentuch hervor und wischte sich das Gesicht. »Womit sprengen Sie?« fragte Danilo. Losenwoldt moch te ihn noch immer nicht und gab keine Antwort. Roderick, den es ebenfalls interessierte, stellte die gleiche Frage. Losenwoldt unterdrückte ostentativ einen Seufzer und antwortete abgehackter denn je. »Wir nehmen Dynagel. Das ist ein schwarzes Pulver. Es wird in verschlossenen roten Behältern gelagert, die an der Stollenwand befestigt sind.« Er zeigte auf einen, der ein Stück weiter vorn hing. Ich war an zwei oder drei vorbeigelaufen, Vorhängeschloß und alles, ohne mir Gedanken über ihren Zweck zu machen. Danilo sagte sarkastisch zu Roderick: »Fragen Sie ihn mal, was passiert, wenn sie sprengen«, und Roderick tat es. Losenwoldt zuckte die Achseln. »Was glauben Sie wohl? Aber keiner sieht die Sprengung. Alles verläßt die Mine, bevor die Ladungen gezündet werden. Nach der Sprengung fährt vier Stunden lang keiner ein.« »Wieso nicht, mein Junge?« wollte Conrad wissen. 143
»Staub«, sagte Losenwoldt knapp. »Wann bekommen wir das Golderz zu sehen – das Reef?« fragte Danilo. »Gleich.« Losenwoldt wies in die Verlängerung des Hauptstollens. »Weiter vorn wird es sehr heiß. Da kommt ein Abschnitt ohne Belüftung. Danach gibt es dann wieder Luft. Lassen Sie Ihre Lampen an; Sie werden sie brau chen. Passen Sie auf, wo Sie langgehen. Der Boden ist stellenweise uneben.« Er klappte den Mund zu und mar schierte wie zuvor mit dem Rücken zu uns los. Wieder gingen wir hinterher. Ich sagte zu Evan: »Alles in Ordnung?«, was ihn so auf regte, daß er den Rücken straffte und sagte, selbstverständ lich sei alles in Ordnung – hielt ich ihn vielleicht für blöd? »Nein«, sagte ich. »Na also.« Er zog entschlossen an mir vorbei, um näher an die Perlen heranzukommen, die Losenwoldt uns hin warf, und ich bildete wieder den Schluß. Die Hitze weiter vorn war stark, aber trocken, so daß man sie zwar spürte, aber nicht in Schweiß geriet. Der Stollen wurde jetzt holprig – unebene Wände, aufgerisse ner Boden, kein Licht, keine Markierungslinien; außerdem führte er allmählich bergab. Wir stapften auf dem kiesi gen, knirschenden Untergrund voran. Je weiter wir kamen, desto mehr Aktivität begegnete uns. Überall waren mit Werkzeugen ausgerüstete Männer in weißen Overalls zugange, und das Geleucht an ihren Helmen strahlte die konzentrierten Gesichter ihrer Gegen über an. Die Helmschilder warfen oft ein dunkles Schat tenband über die Augen der Leute, und ein paarmal mußte ich den vor mir gehenden Roderick antippen, damit er sich umdrehte und ich sehen konnte, ob ich noch dem richtigen Mann folgte. 144
Am Ende des heißen Abschnitts war es, als käme man direkt in die Arktis. Losenwoldt blieb stehen und berat schlagte kurz mit zwei anderen jungen Bergleuten, die sich dort unterhielten. »Wir werden uns jetzt trennen«, sagte er schließlich. »Sie beide gehen mit mir.« Er wies auf Roderick und Evan. »Sie beide mit Mr. Anders.« Er teilte Conrad und Danilo einer dickeren Ausgabe seiner selbst zu. »Sie« – er wies auf mich – »mit Mr. Yates.« Yates, jünger als die anderen, war unsicher und unter würfig, was niemandem half, und hatte einen leichten Sprachfehler wie von einer Gaumenspalte. Er schenkte mir ein nervös zuckendes Lächeln und sagte, es mache mir hof fentlich nichts aus, aber er sei es nicht gewohnt, Leute her umzuführen, das sei normalerweise nicht seine Aufgabe. »Um so netter, daß Sie es tun«, sagte ich beschwichti gend. Die anderen entfernten sich in zwei kleinen Grüppchen und waren bald in dem allgemeinen Gedränge weißer Overalls verschwunden. »Dann kommen Sie mal.« Wir gingen weiter durch den Stollen. Ich fragte meinen neuen Führer, wie stark das Gefälle sei. »Rund fünf Prozent«, sagte er. Danach aber verfiel er in Schweigen, und ich schätzte, wenn ich sonst noch etwas wissen wollte, mußte ich schon fragen. Yates kannte nicht den Rundführungstext wie Losenwoldt, der rückblickend gar nicht so übel erschien. Hin und wieder tauchten in der linken Wand Löcher auf, hinter denen offenbar ein großer Hohlraum lag. »Ich dachte, der Stollen läuft durch massiven Fels«, be merkte ich. »Was sind das dann für Löcher?« 145
»Oh … wir sind jetzt im Reef. Aus dem Abschnitt da hinter der Wand ist das Reef weitgehend abgebaut worden … gleich kann ich Ihnen das besser zeigen.« »Das Reef hat also ein Gefälle von fünf Prozent?« fragte ich. Er wunderte sich über die Frage. »Natürlich«, sagte er. »Und der Querschlag, der da hinten gebohrt wird, wo führt der hin?« »In einen anderen Teil des Reefs.« Ja. Blöde Frage. Das Reef erstreckte sich buchstäblich meilenweit. Der Abbau der Goldader mußte ungefähr so sein, wie wenn man eine dünne Scheibe Schinken aus ei nem dicken Sandwich herausholt. »Was geschieht, wenn das ganze Reef abgebaut ist?« fragte ich. »Das sind doch riesige Bereiche und nichts, was die dar überliegenden Gesteinsschichten trägt.« Er antwortete durchaus bereitwillig. »Wir entfernen nicht sämtliche Stützen. Zum Beispiel sind die Stollen wände ja dick, trotz der Löcher, die der Sprengung und dem Belüften dienen. Sie tragen das Hangende in dem ganzen Gebiet hier. Irgendwann natürlich, wenn die Grube ausgeschöpft und stillgelegt ist, werden sich die Gesteins schichten nach und nach setzen. Der größte Teil von Jo hannesburg soll sich um etwa einen Meter gesenkt haben, als die darunterliegenden Schichten nach dem Abtragen des ganzen Reefs zusammengesunken sind.« »In den letzten Jahren?« fragte ich erstaunt. »Aber nein. Das ist lange her. Die Rand-Goldfelder lie gen näher an der Oberfläche, und dort begann der Abbau zuerst.« Leute schafften Hartmetallbohrer den Stollen hinauf, und andere passierten uns in der Gegenrichtung. 146
»Wir bereiten die Sprengung vor«, sagte Yates unge fragt. »Die Bohrarbeiten sind beendet, und die Techniker legen die Ladungen an.« »Dann bleibt uns nicht mehr viel Zeit«, sagte ich. »Wahrscheinlich nicht.« »Ich würde gerne sehen, wie am Reef selbst gearbeitet wird.« »Oh … ja. Dann noch ein Stück hier entlang. Ich bringe Sie zum nächsten Abbau. Weiter unten sind noch mehr.« Wir kamen zu einem verhältnismäßig großen Loch in der Wand. Es reichte vom Boden gut anderthalb Meter hinauf, aber man konnte nicht aufrecht durchgehen, da es innen steil nach oben anstieg. Er sagte: »Achten Sie auf Ihren Kopf. Es ist sehr niedrig da drin.« »Okay«, sagte ich. Er bedeutete mir, vor ihm hineinzuklettern, und ich tat es. Der Hohlraum war etwa einen Meter hoch, erstreckte sich jedoch nach beiden Seiten außer Sicht. Eine Menge Schinken war bereits aus diesem Teil des Sandwiches ver schwunden. Statt über festen Felsboden kletterten wir jetzt über ein Bett von scharfkantigen Steinsplittern, die klirrend unter unseren Füßen wegrutschten. Ich kroch ein Stück in die flache Höhle hinein und wartete auf Yates. Er war dicht hinter mir und sah nach rechts, wo einige Männer weiter unten an einem zehn Meter langen, gewölbten Abschnitt der vorderen Wand arbeiteten. »Sie prüfen noch mal die Sprengladungen«, sagte Yates. »Bald werden alle rausgehen.« »Das lose Zeug, auf dem wir liegen«, sagte ich, »ist das das Reef?« 147
»Oh … nein, nicht direkt. Das sind nur Steinsplitter. Se hen Sie, das Reef lag etwa auf halber Höhe der Strosse.« »Was heißt Strosse?« »Entschuldigung. Strosse ist das, wo wir jetzt drin sind. Der Ort, an dem das Reef entnommen wird.« »Tja, und woran erkennen Sie in dem noch nicht ge sprengten Teil hier, wo das Reef ist?« Für mich sah das alles gleich aus. Dunkelgrau von oben bis unten. Dunkelgraue unebene Decke, die sich über dun kelgrauen unebenen Wänden wölbte, die in dunkelgrauen Schotterboden übergingen. »Ich hole Ihnen ein Stück«, sagte er entgegenkommend und kroch auf dem Bauch zu der Stelle hinüber, wo seine Kollegen arbeiteten. Es war kaum möglich, in der Strosse aufrecht zu sitzen. Man konnte gerade noch auf Händen und Knien kauern, wenn man den Kopf unten behielt. Ich stützte mich auf einen Ellenbogen auf und sah zu, wie er sich eine kleine Picke auslieh und einen Splitter aus der Wand brach. Er kroch wieder zu mir her. »Bitte sehr. Das ist ein Stück vom Reef.« Wir richteten beide unsere Lampen darauf. Ein fünf Zen timeter langer, scharfkantiger grauer Stein mit schwach lichtreflektierenden Flecken und Streifen von dunklerem Grau auf der Oberfläche. »Was sind denn das für dunkle Flecke?« sagte ich. »Das ist das Erz«, antwortete er. »Die helleren Partien sind ganz gewöhnlicher Stein. Je mehr von diesen dunklen Stellen das Reef aufweist, desto größer der Goldertrag pro Tonne.« »Das Dunkle ist also Gold?« fragte ich. 148
»Es enthält Gold«, sagte er nickend. »Effektiv setzt es sich aus vier Bestandteilen zusammen: Gold, Silber, Uran und Chrom. Das Erz wird gemahlen und seine Bestandtei le auf chemischem Weg getrennt. Es enthält mehr Gold als Silber oder Uran.« »Kann ich das Stück behalten?« fragte ich. »Natürlich.« Er räusperte sich. »Entschuldigen Sie, aber die haben da drüben was für mich zu tun. Meinen Sie, Sie finden allein durch den Stollen zurück? Sie können sich nicht verlaufen.« »In Ordnung«, sagte ich. »Gehen Sie nur. Ich möchte Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten.« »Danke«, sagte er und kroch eilig davon, um es den Leu ten recht zu machen, die wirklich für ihn zählten. Ich blieb eine Weile, wo ich war, sah den Technikern zu und spähte in den endlosen, ansteigenden Hohlraum. Das Licht meiner Grubenlampe erreichte seine Grenzen nicht. Er erstreckte sich in undurchdringliche Schwärze. Der Trupp unter mir zog langsam ab, hinaus in den Stol len, um den Rückweg zum Schacht anzutreten. Ich steckte das winzige Stück Reef in die Tasche, sah mich ein letztes Mal um und schob mich auf das Loch zu, durch das ich hereingekommen war. Ich drehte mich, um mit den Füßen voran in den Stollen zu kommen, doch während ich her umbalancierte, hörte ich jemand hinter mir in die Strosse klettern, und das Licht seiner Lampe fiel auf meinen Overall. Ich hielt an, um ihn vorbeizulassen. Er kam ein wenig näher heran, und ich blickte kurz über meine Schul ter, um zu sehen, wer es war. Ich konnte nur den Schirm seines Helms sehen und darunter Schatten. Dann flog mein Helm nach vorn, und ein dicker Brocken vom alten Afrika knallte mit Wucht auf meinen Hinterkopf. 149
Mir war, als spürte ich, wie das Bewußtsein mich lang sam verließ; benommen stürzte ich durch endlose Berg werksschächte, flimmernde Punkte vor meinen Augen. Ich war längst bewußtlos, bevor ich unten ankam.
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chwärze. Nichts. Ich schlug die Augen auf. Konnte nichts sehen. Hob die Hand ans Gesicht, um zu fühlen, ob meine Lider geöffnet waren. Sie waren es. Mein Denken war völlig aus den Fugen. Ich wußte we der, wo ich war, noch warum ich da war, noch wieso ich nichts sehen konnte. Die Zeit schien aufgehoben. Ich wur de mir nicht klar darüber, ob ich schlief oder wach war, und eine Weile konnte ich mich nicht einmal entsinnen, wie ich hieß. Driftete wieder weg. Kam zu mir. War mit einem Schlag dann bei Besinnung. Wußte, daß ich wach war. Wußte, daß ich ich war. Konnte immer noch nichts sehen. Ich bewegte mich; versuchte mich aufzusetzen. Stellte fest, daß ich auf der Seite lag. Als ich mich bewegte, hörte ich das knirschende Geräusch und spürte den Druck der scharfen Steinsplitter. In der Strosse. Vorsichtig hob ich die Hand. Die Gesteinsdecke war ei nen halben Meter über mir. Kein Helm auf meinem Kopf. Eine empfindliche Beule hinten am Schädel und drinnen ein pochender Schmerz. 151
Verdammter Mist, dachte ich. Ich muß mir den Kopf ge stoßen haben. Ich bin in der Strosse. Ich kann nichts se hen, weil nirgends Licht ist. Alle haben die Mine verlas sen. Und jeden Augenblick werden die Sprengladungen hochgehen. Eine Ewigkeit konnte ich an nichts anderes denken, als daß es mich in Stücke reißen würde, bevor ich die Situation noch ganz erfaßt hatte. Dann dachte ich, daß es vielleicht besser gewesen wäre, es hätte mich in Stücke gerissen, bevor ich zu mir gekommen war. Dann würde ich jetzt wenigstens nicht wach sein und mich quälen. Danach, und keinesfalls zu früh, sann ich auf Abhilfe. Zuerst mal Licht. Ich suchte tastend hinter mir, fand das Kabel und zog es sachte heran. Das andere Ende schrappte über den Schot ter auf mich zu, doch als ich die Lampe aufhob, wußte ich, daß ich kein Licht bekommen würde. Das Deckglas und die Birne waren zerbrochen. Die Lampe hatte sich aus der Fassung am Helm gelöst. Ich tastete mit ausgestreckter Hand um mich herum, konn te aber den Helm nicht finden. Nur raus hier, dachte ich verzweifelt – und fragte mich in demselben Sekundenbruchteil, wo es hinausging. Ich zwang mich, still zu liegen. Das letzte, woran ich mich erinnerte, war, daß ich Yates versichert hatte, ich fände allein zurück. Ich mußte vergessen haben, den Kopf einzuziehen. Mußte buchstäblich die Decke eingerannt haben. Erinnern konnte ich mich daran nicht. Klar zu sein schien nur, daß ich im Fallen meine Grubenlampe zer schlagen hatte und daß mich im Dunkeln da niemand hatte liegen sehen. Dummkopf, beschimpfte ich mich. Ungeschickter Trot tel, dich so in die Klemme zu bringen. 152
Vorsichtig, den einen Arm ausgestreckt, schob ich mich ein Stück vor. Meine Finger fanden nichts zum Anfassen als Steinsplitter. Ich mußte wissen, in welche Richtung es ging. Sonst kroch ich womöglich noch auf die Gefahr zu, statt weg von ihr. Ich mußte den Durchbruch zum Stollen finden. Ich ergriff eine Handvoll von den quarzähnlichen Stei nen und begann sie systematisch von rechts im Kreis um mich zu werfen. Es war ein Versuch voller Irrtümer, denn etliche trafen die Decke und andere den Boden, aber ein paar flogen weit genug, um mir die Gewißheit zu geben, daß vor mir leerer Raum lag. Ich rollte mich auf den Rücken, und die Batterie drückte mir ins Kreuz. Ich schnallte den Gurt auf und legte ihn ab. Dann warf ich eine Handvoll Steine im Bogen um meine Beine herum. Da war die Stollenwand. Viele von den Steinen trafen sie. Mein Herz klopfte inzwischen so sehr, daß mir die Oh ren dröhnten. Ruhig, ruhig, sagte ich mir. Hab nicht so verdammte Angst; du kannst sie nicht gebrauchen. Ich warf wieder Steine, diesmal nicht, um die Wand zu finden, sondern das Loch darin. Ich fand es fast sofort. Warf noch mehr Steine, um sicherzugehen; aber da mußte es sein, ein wenig links von der Richtung, in die meine Füße zeigten, denn alle Steine, die ich dorthin warf, lande ten weiter weg und klapperten noch nach. Sie waren nicht rund genug, um zu kullern, aber schwer genug, um bergab weiterzuschlittern, wenn sie herunterfielen. Bergab … die steile kleine Schräge von der Strosse in den Stollen. Noch mehr Steine. Ich bewegte erst die Füße, dann den ganzen Körper, bis das Loch genau vor mir, über meinen Zehenspitzen war. Dann rutschte ich auf Ellbogen und Hintern voran, wobei ich den Kopf schön unten ließ. 153
Noch mehr Steine. Das Loch war noch da.
Weiterrutschen. Noch eine Kontrolle.
Es konnten nicht mehr als drei Meter sein. Sie kamen
mir vor wie dreitausend. Ich schwenkte versuchsweise die Arme in der Luft. Fühlte die Decke, sonst nichts. Rückte noch etwa einen Meter weiter vor. Tastete mit den Armen umher. Berührte massiven Fels. Rechts vor mir. Noch ein Rutscher nach vorn. Spürte, wie meine Füße jäh nach unten gingen, meine Knie sich beugten. Streckte die Hände schräg nach vorn und fühlte Stein auf beiden Seiten. Halb heraus aus dem Loch … und flach liegend schob ich mich vorsichtig Zentimeter für Zentimeter vor an, bis meine Füße knirschend auf dem Boden des Stol lens aufkamen. Selbst dann noch hielt ich die Knie ge beugt und schlängelte mich weiter, ohne den Kopf zu heben, wußte ich doch nur zu gut, wie hart und kantig das Gestein über mir war und wie verletzlich mein unbehelm ter Schädel. Ich landete auf den Knien im Stollen, keuchend und so angsterfüllt wie eh und je. Denk nach. Die Löcher waren auf der linken Seite gewesen, als wir herkamen. War ich erst mal im Stollen, hatte Yates gesagt, konnte ich mich nicht verlaufen. Okay. Halt dich rechts. Immer geradeaus. Ganz einfach. Ich stand vorsichtig auf und wandte mich mit dem Durchbruch im Rücken nach rechts. Legte eine Hand auf die rauhe Felswand. Machte einen Schritt nach vorn. Das Knirschen meines Stiefels auf dem Felsboden brach te mir erst zum Bewußtsein, wie ruhig es war. In der 154
Strosse hatten die Steine und mein eigenes Herz mir in den Ohren geklungen. Nichts davon jetzt. Die Stille war so to tal wie die Dunkelheit. Ich grübelte nicht groß darüber nach. Ging vorwärts, so schnell ich es wagte, vorsichtig, Schritt für Schritt. Kein Laut. Das hieß, die Belüftung war abgeschaltet, was kaum eine Rolle spielte; das ganze Bergwerk war noch voll von unverbrauchter Luft, mochte sie auch heiß sein. Meine Hand verlor plötzlich den Kontakt mit der Wand, und mein Herz stimmte einen neuen Kanon an. Ich brachte meine Atmung unter Kontrolle und ging einen Schritt zu rück. Die rechte Hand wieder an der Wand. Okay. Ausat men. Gut, jetzt hinknien, am Boden entlangtasten, dabei rechts mit der Wand in Kontakt bleiben. Dich an einem der Löcher vorbeilotsen, die in die Strosse führten … Lö cher, durch die der Explosionsdruck entweichen würde, wenn die Ladungen hochgingen. Druckwellen pflanzen sich weit fort, wenn sie in einen langen, engen Raum gesperrt sind. Druck ist eine mörderi sche Kraft, so tödlich wie fliegendes Gestein. O Gott, dachte ich. Hölle und Teufel. Woran denkt man, wenn man damit rechnet, jeden Augenblick zu sterben? Ich dachte daran, so schnell ich konnte so weit wie mög lich aus der Mine herauszukommen. Ich dachte daran, nicht den Kontakt mit der rechtsseitigen Wand zu verlie ren, wenn ich an einem Durchbruch vorbeikam, denn sonst konnte es passieren, daß ich mich im Dunkeln drehte, die andere Wand ertastete und schnurstracks wieder auf die Explosion zuging. Ich dachte an nichts anderes. Nicht einmal an Charlie. Ich ging weiter. Die Luft wurde immer heißer. Der Streckenabschnitt, der schon auf dem Hinweg heiß gewe sen war, war jetzt ein Angriff auf die Nervenenden. 155
Wie schnell ich vorankam, mich voranquälte, wußte ich nicht. Sehr langsam vermutlich. Wie in einem Alptraum, wenn man vor etwas Entsetzlichem zu fliehen versucht und auf der Stelle tritt. Ich gelangte schließlich wieder zu der Verbreiterung, und die Explosion war immer noch nicht erfolgt. Auch in dem Querschlag sollte gesprengt werden, aber die Biegung des Stollens würde den Druck einigermaßen verteilen. Allmählich wagte ich doch wieder zu hoffen, und indem ich die Hand an der rechten Wand behielt, da buchstäblich mein Leben daran hing, tappte ich langsam weiter. Zwei Meilen vielleicht bis zum Fuß des Schachts … aber jeder Schritt brachte mich der Rettung näher. Die tödlichen Ladungen Dynagel explodierten nicht; je denfalls nicht, solange ich unter Tage war. Eben noch machte ich einen Schritt ins Dunkle. Im nächsten Augenblick wurde ich von Licht geblendet. Ich schloß die Augen, zuckte vor der Helligkeit zurück, dann blieb ich stehen und lehnte mich gegen die Wand. Als ich die Augen wieder aufschlug, brannte die Gruben beleuchtung in ihrer ganzen Pracht, und die Strecke war so gediegen, so sicher und farblich so beruhigend anzusehen wie auf dem Hinweg. Schwach vor Erleichterung stieß ich mich von der Wand ab und ging weiter mit plötzlich zitternden Knien und ei nem Kopf, der wie von einem Kater schmerzte. Ein leises Summen erfüllte jetzt wieder die Mine, und ganz weit vorn im Stollen löste sich ein einzelnes Ge räusch davon und wurde lauter: das Rattern der Förder wagen auf dem Weg ins Innere. Bald hörte es auf, und das Geräusch von mehreren Paar 156
Stiefeln folgte, und schließlich kamen aus einer Biegung vier Männer in weißen Overalls. Im Eilschritt. Sie sahen mich und fingen an zu laufen. Verlangsamten ihr Tempo und blieben kurz vor mir stehen, und die Er leichterung darüber, daß ich auf den Beinen war, spiegelte sich in ihren Gesichtern. Losenwoldt war mit dabei; die anderen kannte ich nicht. »Mr. Lincoln, alles in Ordnung?« fragte einer von ihnen besorgt. »Klar«, sagte ich. Es hörte sich nicht richtig an. Ich sagte es noch einmal. »Klar.« Schon viel besser. »Wieso sind Sie zurückgeblieben?« fragte Losenwoldt ta delnd, um jegliche Schuld von sich abzuwälzen. Nicht, daß ich ihm welche zugewiesen hätte; er baute lediglich vor. Ich sagte: »Es tut mir leid, daß ich Ihnen solche Umstän de bereite … Ich glaube, ich habe mir den Kopf gestoßen und bin umgekippt, aber richtig erinnern kann ich mich daran nicht.« Ich legte die Stirn in Falten. »Wirklich blöd von mir.« Einer sagte: »Wo waren Sie denn genau?« »In der Strosse«, sagte ich. »Menschenskind … Wahrscheinlich haben Sie zu schnell den Kopf gehoben, oder ein Stück Stein ist von der Decke gefallen und hat Sie getroffen.« »Ja«, sagte ich. Ein anderer fragte: »Aber wenn Sie bewußtlos in der Strosse waren, wie sind Sie dann hierhergekommen?« Ich erzählte ihnen von den Steinen. Sie sagten nichts. Schauten sich nur an. Einer ging um mich herum und sagte nach einem Mo ment: »Sie haben etwas Blut im Haar und am Nacken, 157
aber es sieht trocken aus. Ich glaube nicht, daß Sie noch bluten.« Er stellte sich neben mich. »Meinen Sie, Sie kön nen bis zum Förderwagen laufen? Wir haben eine Trage mitgebracht – für alle Fälle.« Ich lächelte. »Wird schon gehen.« Wir gingen. Ich fragte: »Wie haben Sie festgestellt, daß ich noch unten war?« Einer sagte kleinlaut: »Das System, nach dem wir prü fen, ob vor dem Sprengen alle aus der Grube raus sind, soll unfehlbar sein. Und soweit es die Arbeiter angeht, ist es das auch. Aber Gäste … Sie müssen wissen, daß wir inoffiziellen Besuch von kleinen Gruppen, so wie heute, nicht oft bekommen. Mr. van Horen lädt selten jemand ein, und sonst darf es keiner. Zu uns kommen fast immer nur vorangemeldete Reisegruppen von rund zwanzig Per sonen, und der Bergwerksbetrieb steht mehr oder weniger still, während wir die herumführen, aber das passiert so alle sechs Wochen mal. An diesen Tagen sprengen wir gewöhnlich gar nicht. Aber heute hat einer aus Ihrer Gruppe sich nicht wohlgefühlt und ist vor den anderen zu rück nach oben, und irgendwie sind alle davon ausgegan gen, daß Sie mit ihm hochgefahren sind. Tim Yates sagte, als er Sie zuletzt gesehen hat, wollten Sie gerade auf die Hauptstrecke zurück.« »Ja«, sagte ich. »Daran entsinne ich mich.« »Die drei anderen Besucher sind zusammen hochgefah ren, und die Kontrolleure hatten alle Bergleute abgehakt, so daß wir annahmen, daß alles draußen sei, und klar zum Sprengen waren …« Ein langer, dünner Mann führte die Geschichte fort. »Dann sagte einer von den Leuten, die zählen, wie viele ein- und ausfahren, es sei einer mehr runter als rauf. Die Schichtkontrolleure meinten, daß sei unmöglich, jeder 158
Trupp sei Name für Name ausgecheckt worden. Der Zähler sagte, er sei sicher. Tja, damit blieben nur die Be sucher. Also haben wir die überprüft. Die drei im Umklei deraum sagten, Sie hätten sich noch nicht umgezogen, Ihre Kleider seien noch da, folglich müßten Sie in der Unfall station bei diesem Conrad sein, der sich nicht wohl gefühlt hatte.« »Conrad«, rief ich aus. Ich hatte gedacht, es handele sich um Evan. »Was ist mit ihm?« »Ich glaube, er hatte einen Asthmaanfall. Jedenfalls sind wir hin und haben ihn gefragt, und er sagte, Sie seien nicht mit ihm raufgekommen.« »Oh«, sagte ich tonlos. Wäre ich bei ihm gewesen, wäre ich sicher mit ihm hochgefahren, aber ich hatte ihn ja nicht mehr gesehen, seit wir uns vor dem Reef getrennt hatten. Wir kamen zu den Förderwagen und stiegen ein. Sehr viel Platz bei nur fünf Leuten statt zwölf. »Der, dem nicht gut war«, meinte Losenwoldt tugend haft, »der Kräftige mit dem Hängeschnurrbart, der war nicht bei mir. Wäre er bei mir gewesen, hätte ich ihn na türlich zu den Wagen zurückbegleitet, und dann hätte ich natürlich gewußt, daß Sie nicht bei ihm waren.« »Natürlich«, sagte ich trocken. Wir ratterten durch den Stollen zum Fuß des Schachts und von dort, nach dem Austausch der Klingelzeichen, im Förderkorb durch eine Dreiviertelmeile Fels hinauf ans Sonnenlicht. Die Helligkeit tat im ersten Moment weh, und es war so kalt, daß ich zu zittern anfing. »Jacke«, rief einer von meinen Begleitern. »Wir hatten eine Decke mit runtergenommen – die hätten wir Ihnen umlegen sollen.« Er eilte in ein kleines Gebäude beim Schacht und kam mit einer abgetragenen TweedSportjacke wieder, in die er mir hineinhalf. 159
Ein besorgt aussehendes Empfangskomitee stand herum: Evan, Roderick, Danilo und van Horen selbst. »Mein lieber Freund«, sagte er und starrte mich an, als wolle er sich vergewissern, daß ich wirklich da war. »Was soll ich sagen?« »Um Himmels willen«, sagte ich, »das war doch meine eigene Schuld, und es tut mir schrecklich leid, daß ich so viel Aufregung verursacht habe.« Van Horen sah erleich tert aus und lächelte, genau wie Evan, Roderick und Danilo. Ich drehte mich nach den drei Unbekannten um, die mich heraufgeholt hatten; Losenwoldt war bereits fort. »Dan ke«, sagte ich. »Herzlichen Dank.« Sie grinsten alle. »Wir möchten eine Belohnung.« Bestimmt sah ich verdutzt aus. Ich fragte mich, was an gemessen wäre. Wieviel. »Ihr Autogramm«, erklärte einer von ihnen. »Oh.« Ich lachte. »Okay.« Er holte einen Notizblock hervor, und ich schrieb jedem ein Dankeschön, auf drei getrennte Seiten. Ein wirklich guter Preis, dachte ich. Der Grubenarzt tupfte Staub von der Wunde an meinem Kopf und sagte, sie sei nicht tief, nichts Ernstes, sie brau che nicht genäht zu werden und verbunden auch nur, wenn ich’s wollte. »Nein, danke«, sagte ich. »Alles klar. Dann nehmen Sie mal die Tabletten hier. Damit Sie keine Kopfschmerzen bekommen.« Ich nahm sie gehorsam. Holte Conrad, der jetzt wieder normal atmete, nebenan aus einem Ruheraum und ging mit ihm, nachdem man uns den Weg erklärt hatte, zum Mittagessen ins Kasino. Unterwegs tauschten wir sozusa 160
gen unsere Krankengeschichten aus. Keiner von uns war zufrieden mit sich. Wir fünf aßen mit Quentin van Horen und zwei leitenden Angestellten, deren Namen ich nie erfuhr, an einem Tisch. Mein knappes Entkommen wurde von allen immer wieder durchgekaut, und ich sagte mit Nachdruck zu Roderick, daß ich ihm sehr verbunden wäre, wenn er mein Mißge schick nicht an die große Glocke hängen würde. Er grinste. »Klar … Das gäbe auch viel mehr her, wenn Sie in die Luft geflogen wären. Ein Kontrolleur, der or dentlich seine Arbeit macht, hat wenig Nachrichtenwert.« »Gott sei Dank«, sagte ich. Conrad sah mich an. »Aber es ist doch wie verhext mit Ih nen in Südafrika, mein lieber Junge. Schon zum zweitenmal innerhalb einer Woche wären Sie fast umgekommen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wie verhext. Ganz im Gegenteil. Ich habe zweimal überlebt. Betrachten Sie’s mal so.« »Nur noch sieben Leben übrig«, sagte Conrad. Die Rede kam wieder aufs Gold. Das war in Welkom wohl immer so, genau wie in Newmarket jeder von Pfer den spricht. »Sagen Sie, wie zieht man das denn aus dem Stein?« wollte Danilo wissen. »Man sieht es ja nicht mal.« Van Horen lächelte nachsichtig. »Danilo, das ist ganz einfach. Man zerkleinert und zermahlt das Gestein zu ei nem Pulver. Man gibt Kaliumzyanid hinzu, das die Gold partikel löst. Man gibt Zink zu, das die Goldpartikel bin det. Dann wäscht man die Säure aus. Danach trennt man Zink und Gold wieder mit Königswasser, und schließlich hat man das Gold.« 161
»O ja, ganz einfach«, stimmte Conrad zu. »Junge, Jun ge.« Van Horen erwärmte sich für ihn und lächelte vor Ver gnügen. »Das war eigentlich noch nicht alles. Man muß das Gold noch verfeinern – die Unreinheiten entfernen, indem man es bei größter Hitze schmilzt und es in Barren gießt. Die Rückstände fließen ab, und man erhält das reine Gold.« Danilo rechnete schnell. »Sie müssen ungefähr dreitau sendfünfhundert Tonnen Gestein aus der Mine holen, um einen einzigen kleinen Barren zu kriegen.« »Richtig«, stimmte van Horen lächelnd zu. »Plus oder minus ein paar Tonnen.« »Wieviel fördern Sie in der Woche?« fragte Danilo. »Etwas über vierzigtausend metrische Tonnen.« Danilos Augen flackerten, als er nachrechnete. »Das wä ren, ehm … etwa elfeinhalb Goldbarren pro Woche.« »Möchten Sie einen Job in der Rechnungsabteilung, Danilo?« fragte van Horen ziemlich belustigt. Aber Danilo war noch nicht fertig. »Jeder Barren wiegt zweiundsiebzig Pfund, ja? Dann ergibt das … Moment … rund achthundert Pfund Gold die Woche. He, und wie steht der Goldpreis je Unze? Mensch, da ist man wirklich im richtigen Geschäft. Super!« Er war jetzt wieder sehr aufgedreht, erfüllt von einer starken inneren Erregung, die seine Augen glänzen ließ. Ein Hang zum Geldverdienen und die Rechnerei, die nötig war, um die Erbschaftssteuer zu umgehen, das schien mir genau zusammenzupassen. Van Horen sagte, immer noch lächelnd: »Sie vergessen die Löhne und Gehälter, die Unterhaltskosten und die Ak tionäre. Es bleiben nur Krümel übrig, wenn alle sich ihren Anteil geholt haben.« 162
Danilos sich verziehender Mund zeigte, daß er das nicht glaubte. Roderick reckte eine orange Manschette aus dem braunen Wildlederärmel und legte einen halben Zentner Tigerauge frei, der als Manschettenknopf diente. »Dann gehört Ihnen die Mine also nicht ganz allein, Quentin?« Die leitenden Angestellten und van Horen selbst lächel ten nachsichtig über Rodericks Naivität. »Nein«, sagte van Horen. »Meine Familie besitzt das Land und die Abbaurechte. Von daher gehört uns das Gold wohl auch. Aber man braucht enormes Kapital, viele Mil lionen Rand, um einen Schacht niederzubringen und die ganze Grubenanlage zu bauen. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren haben mein Bruder und ich eine Gesellschaft ge gründet, um Kapital für die Bohrarbeiten aufzutreiben, und so hat die Firma Hunderte von Aktionären.« »Die Mine sieht nicht so aus, als wäre sie fünfundzwan zig Jahre alt«, wandte ich freundlich ein. Van Horen richtete seine lächelnden Augen auf mich und erklärte weiter. »Der Teil, den Sie heute morgen gesehen haben, ist die neueste Strecke und die tiefste. Es gibt andere, die höher liegen. In früheren Jahren haben wir alle oberen Bereiche des Reefs abgebaut.« »Und es ist immer noch viel übrig?« Van Horens Lächeln hatte die Unbeschwertheit dessen, dem es nie an einem Tausender fehlen würde. »Es wird Jonathan überdauern«, sagte er. Evan fand die technische und wirtschaftliche Seite weni ger interessant als den Zweck und warf die Arme in die Luft, während er mit seinen wilden Augen reihum die Blicke der anderen festhielt und eindringlich wie gewohnt das Wort ergriff. 163
»Aber wozu ist Gold gut? Das ist die Frage, die wir uns stellen sollten. Die jeder sich stellen sollte. Welchen Sinn hat es? Alle strengen sich so an, um es zu kriegen, und be zahlen es so teuer, und dabei gibt es keine richtige Ver wendung dafür.« »Vergoldete Mondfahrzeuge«, meinte ich leise. Evan funkelte mich an. »Alle buddeln es hier aus dem Boden und verfrachten es in Fort Knox wieder unter die Erde, wo es dann nie mehr ans Licht kommt … Sehen Sie nicht, daß das alles künstlich ist? Warum soll der Wohlstand der ganzen Welt auf einem gelben Metall be ruhen, das keinen vernünftigen Zweck hat?« »Es ist gut für Zahnfüllungen«, sagte ich im Plauderton. »Und für reine Funkverbindungen bei Transistoren«, er gänzte Roderick, sich an dem Spiel beteiligend. Van Horen sah und hörte zu, als sei das Gespräch mal eine nette Abwechslung für ihn an einem Montag. Ich hör te jedoch auf, Evan zu hänseln, da ich nach der Besichti gung der Mine fast seine Auffassung teilte. Am Abend ging es mit der Dakota zurück nach Johannes burg; ich saß neben Roderick und fühlte mich etwas abge spannt. Der Rundgang durch die Grubenanlage am heißen Nachmittag, die Besichtigung eines goldausgießenden Tie gelofens, die optischen (und akustischen) Eindrücke von der Zerkleinerung des Erzes und der anschließende Besuch eines Bergarbeiter-Wohnheims, das alles hatte meinem brummenden Schädel nicht gut getan. Ein halbes Dutzend Mal war ich drauf und dran, das Handtuch zu werfen, doch ich hatte – zumal in Gedanken an Rodericks lauernde Schreibmaschine – kein Aufhebens machen wollen. Die Besichtigung des Wohnheims war das beste gewe sen; das Mittagessen für die nächste Übertageschicht wur 164
de gerade zubereitet, und wir kosteten es in der Küche. Große Bottiche mit einer dicken Brühe von vorzüglichem Geschmack, unbekanntes Gemüse, nach dem zu erkundi gen ich mich nicht aufraffen konnte, und dicke Fladen von einem cremefarbenen, mehlbestäubten Brot, eine Art fett loses Teiggebäck. Von dort gingen wir nach nebenan in die Bar des Wohn heims, wo sich die ersten Leute von der ausfahrenden Schicht recht engagiert über etwas hermachten, das aussah wie 2-Liter-Plastikkrüge mit Milchkakao. »Das ist Bantu-Bier«, sagte unser Nachmittagsführer, der im Gegensatz zu dem grantigen Losenwoldt erfreulich freundlich war. Wir versuchten es. Es hatte einen angenehm herben Ge schmack, der aber nicht entfernt an Bier erinnerte. »Ist das alkoholisch, lieber Junge?« fragte Conrad. Alkoholisch schon, sagte der liebe Junge, aber nur schwach. Bedenkt man, daß wir sahen, wie ein Mann sei nen ganzen Krug in zwei großen Zügen hinunterkippte, war das eigentlich ganz gut so. Unser Führer winkte einen anderen Mann, der mit seinen Kollegen an einem Tisch saß, heran, und er stand auf und kam zu uns. Er war hochgewachsen und nicht mehr jung, und er hatte ein breites, zahniges Grinsen, das ich anstek kend fand. Der Führer sagte: »Das ist Piano Nyembezi. Er ist der Kontrolleur, der behauptet hat, wir hätten jemanden in der Mine zurückgelassen.« »Sie waren das?« fragte ich interessiert. »Yebo«, sagte er, und wie ich später erfuhr, hieß das »ja« auf Zulu. (»Nein« dagegen bestand aus einem Schnalzen, einem Knacklaut und einem langgezogenen »aa«. Für ei 165
nen Europäer zumindest war es unmöglich, schnell nein zu sagen.) »Nun, Piano«, sagte ich. »Haben Sie vielen Dank.« Ich streckte meine Hand aus, und er schüttelte sie, ein Ereig nis, das bei seinen Freunden breites Lächeln hervorrief, ein scharfes Luftholen bei unserem Führer, ein Kopfschüt teln bei Roderick und gar keine Reaktion bei Evan, Con rad und Danilo. Im Hintergrund spielte sich irgendein Gerangel ab, und dann kam einer von den anderen mit einer abgegriffenen Filmzeitschrift herüber. »Die Zeitung gehört Piano«, sagte der Neuankömmling und drückte sie ihm in die Finger. Nyembezi sah verlegen aus, zeigte mir aber, was es war. Ganzseitig, und die Visa ge so langweilig wie immer. Ich zog die Nase kraus, nahm das Heft, schrieb unten über mein Konterfei: »Ich verdanke mein Leben Piano Nyembezi«, und setzte meinen Namen hinzu. »Das wird er sich für immer aufheben«, meinte unser Führer. Vielleicht auch nur bis morgen, dachte ich. Die Dakota dröhnte weiter. Die Abendsonne schien voll auf meine Augenlider, als wir in der Schräglage auf einen neuen Kurs gingen, und vorsichtig hob ich den Kopf von der Nackenstütze und drehte mich auf die andere Seite. Die Wunde am Hinterkopf mochte nicht tief sein, tat aber weh. Aus irgendeinem Grund aktivierte die kleine Bewegung ein paar schläfrige Nervenzellen, und ganz nebenher fiel mir ein, daß jemand bei mir in der Strosse gewesen war. Mir fiel ein, daß ich mich hatte herumdrehen wollen, um mit den Füßen zuerst rauszuklettern, und daß ich gewartet 166
hatte, um jemand anders hereinzulassen. Mir fiel ein, daß ich sein Gesicht nicht gesehen hatte und nicht wußte, wer es war. Wenn er dort gewesen war, als ich mir den Kopf an schlug, warum hatte er mir dann nicht geholfen? Ich war in einem so benebelten Zustand, daß es noch ei ne ganze Minute dauerte, bis ich zu dem Schluß kam, daß er mir nicht geholfen hatte, weil der Schlag mit dem Stein von ihm selbst gekommen war. Ich riß die Augen auf. Rodericks Gesicht war mir zuge wandt. Ich machte den Mund auf, um es ihm zu sagen. Schloß ihn dann wieder fest. Ich hatte nicht den leisesten Wunsch, es dem Rand Daily Star zu verbraten.
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in Großteil der Zeit, die ich besser zum Schlafen ge nutzt hätte, verwandte ich in dieser Nacht darauf, mich mit dem Gedanken abzufinden, daß jemand versucht haben könnte, mich umzubringen. Ich wußte nicht, wer. Ahnte nicht, warum. Und war mir auch immer noch nicht sicher, ob meine Erinnerung nicht trog; vielleicht war ja der andere Mann in der Strosse wie der fortgegangen, und ich hatte es vergessen. Aber auch, wenn ich mir hundertprozentig sicher gewe sen wäre, hätte ich nicht gewußt, was ich tun sollte. Van Horen anrufen? Eine Untersuchung einleiten? Es wa ren doch so viele Leute unten in der Mine gewesen, alle gleich gekleidet und halb im Dunkeln. Jede Untersuchung würde mehr Gerede und Zweifel bringen als Ergebnisse, und auf einen Klatschspaltenaufmacher wie »Lincoln erstat tet Anzeige wegen Mordversuchs« konnte ich verzichten. Zweimal innerhalb einer Woche war ich fast über die Klinge gesprungen, hatte Conrad gesagt. Es ergab keinen Sinn. Nur die Jungs, die ich im Film spielte, wurden bedroht und angegriffen und entkamen wie durch ein Wunder. Aber was, wenn ich nichts unternahm? Hatte wirklich jemand versucht, mich umzubringen, dann hinderte ihn nichts daran, es noch einmal zu versuchen. Wie sollte ich mich Tag für Tag rund um die Uhr schützen, zumal gegen 168
etwas Unerwartetes wie Mikrofone oder einen Stein im Goldbergwerk? Wenn – wovon ich nicht ganz überzeugt war – zwei Mordversuche stattgefunden hatten, dann waren sie beide so angelegt gewesen, daß sie wie Unfälle aussahen. Daher hatte es wenig Zweck, Vorsichtsmaßnahmen gegen Gift und Blei und Messerstiche in dunklen Gassen zu ergreifen. Man würde sich eher vor Autos ohne Bremsen, tödlichen Insekten im Schuh oder vor baufälligen Balkons in acht nehmen müssen. Ich scheute mich lange, darüber nachzudenken, wer es gewesen sein könnte, denn es mußte jemand sein, der mit in der Mine war. Ein Bergarbeiter, der meine Filme nicht mochte und zur Tat geschritten war, um nicht noch mehr sehen zu müs sen? Da brauchte er mich nicht zu töten, er konnte ihnen einfach fernbleiben. Jemand, der von blindem beruflichem Neid zerfressen wurde? Die einzige mir bekannte Person, die regelmäßig schwor, mich auf den Tod zu hassen, war Drix Goddart, und der war noch nicht in Südafrika, geschweige denn tau senddreihundert Meter unter Welkom. Von den Leuten in der Mine hatte keiner gewußt, daß ich kommen würde, und bis zu dem Zwischenfall hatte nie mand meinen Namen genannt. Blieben also … Ach, hol’s der Teufel, dachte ich. Blie ben also Evan … und Conrad … und Danilo … und Rode rick. Und außerdem van Horen, der über eine große An zahl Menschen gebot und andere für sich handeln lassen konnte. Was das Warum anging, so waren Evans berufsbedingte Ressentiments wohl kaum ausreichend, und Danilo wußte nicht, daß ich ihm mit den Pferden auf die Schliche ge 169
kommen war; aber selbst wenn er es gewußt hätte, würde er nicht versucht haben, ein so geringfügiges Vergehen mit einem Mord zu vertuschen. Eher hätte er es lachend zugegeben und ein Rennbahnverbot mit einem Ach-was soll’s abgetan. Motive für Conrad, Roderick und van Horen erforderten noch weniger Denkarbeit. Ich kriegte einfach kein ver nünftiges Motiv zusammen. Sie hatten alle (bis auf Conrad, der in der Unfallstation gewesen war) erleichtert ausgesehen, als ich heil und ge sund aus der Mine kam. Oder sollten sie bloß aufgeatmet haben, weil ich sagte, ich könne mich nicht erinnern, wie ich das Bewußtsein verloren hatte? Das alles schien so unwahrscheinlich. Ich konnte mir keinen von ihnen als Ränkeschmied in den dunklen Laby rinthen des Bösen vorstellen. Es ergab keinen Sinn. Kurz um, ich mußte mir etwas einbilden. Ich hatte zuviel Kino mitgemacht und fing schon an, es auf die Wirklichkeit zu projizieren. Ich seufzte. Wurde mir bewußt, daß mein Kopf nicht mehr schmerzte und auch das schwindlige Gefühl einer Gehirnerschütterung nachließ, und schlief bald darauf ein. Am Morgen erschienen meine nächtlichen Gedanken mir noch abwegiger. Conrad war es, der eine Verbindung zwischen dem Mikro und der Mine hergestellt hatte; und Conrad hatte sich geirrt. Roderick rief zur Frühstückszeit an. Ob ich Lust hätte, bei ihm daheim mit ihm und Katya zu Abend zu essen – nur wir drei, ohne großes Trara? Und als ich mit der Antwort ein paar Sekunden zögerte, setzte er schnell hinzu, das Ganze werde streng vertraulich sein; nichts, was ich sagte, würde aufgezeichnet und gegen mich verwendet werden. 170
»Okay« willigte ich ein, mit einem Lächeln in der Stim me und Vorbehalten im Kopf. »Also, wo finde ich Sie?« Er nannte mir die Adresse und sagte: »Ihr Fahrer weiß schon, wie man dahin kommt.« »Ach so. Ja«, sagte ich. Ich legte langsam auf; aber es bestand kein Grund, wes halb er von dem gemieteten Wagen mit Chauffeur nichts wissen sollte, und natürlich hatte er auch seine »Quelle« im Iguana. Roderick hatte die ganze Zeit gewußt, wohin ich ging, was ich machte und wie oft ich mir die Zähne putzte. Kaum hatte ich die Hand vom Hörer genommen, da klingelte das Telefon wieder. Clifford Wenkins. Konnte er, äh, oder besser gesagt, war es mir recht, wenn er an diesem Morgen ins Hotel kam, äh, um die Einzelheiten für die, äh, Premiere zu bespre chen? »Äh, ja«, sagte ich. Danach rief Conrad an. Ob ich mit ihm und Evan zum Krüger-Park fahren wollte. »Wie lange bleiben Sie?« fragte ich. »So etwa zehn Tage, nehme ich an.« »Dann nicht. Ich muß spätestens nächsten Dienstag wie der hier sein. Ich fahre getrennt hin. Mit zwei Wagen sind wir sowieso besser bedient, wenn Sie und Evan auf Dreh ortsuche gehen.« »Klar«, meinte er und hörte sich recht froh an; er hatte wohl keinen Wert darauf gelegt, eine Woche lang aufpassen zu müssen, daß Evan und ich uns nicht an die Kehle gingen. Sie würden vor dem Mittagessen auf ein Glas vorbei kommen, sagte er. Evan, so schien es, platzte vor Einfällen für seinen neuen Film. (Wann tat er das nicht?) 171
Danach Arknold. »Hören Sie, Mr. Lincoln. Was Mrs. Caveseys Pferde an geht … Hören Sie …« Schweratmend verstummte er. Nachdem ich vergebens darauf gewartet hatte, daß er noch mal loslegte, sagte ich: »Ich bin den ganzen Morgen hier, falls Sie vorbeikommen möchten.« Drei schwere Atemzüge. Dann: »Vielleicht. Wäre viel leicht nicht schlecht. Ja. Also gut. Gegen elf dann, wenn ich die Pferde habe arbeiten sehen.« »Bis dann«, sagte ich. Heißer Sonnenschein, blauer Himmel. Ich ging nach unten, trank meinen Kaffee auf der Terras se und las die Zeitung. Eng gedruckte Spalten über lauter landesspezifische Themen, die ein Hintergrundwissen vor aussetzten, das mir fehlte. Es war etwa so, als ob man in einen Film kommt, der schon halb vorbei ist. Ein Mann war in Johannesburg ermordet worden: gefun den vor zwei Tagen, mit einer Drahtschlinge um den Hals. Schaudernd legte ich die Zeitung weg. Mich wollte kei ner ermorden. Ich hatte entschieden, daß das Unsinn war. Der Tod eines anderen brauchte mir also keine Gänsehaut zu verursachen. Dummerweise hatte niemand meinem Unterbewußtsein erklärt, daß der Alarmzustand beendet war. »Guten Morgen«, sagte eine frische junge Stimme mir ins Ohr. »Was machen Sie?« »Ich sehe zu, wie die Blumen wachsen.« Sie setzte sich mir gegenüber und grinste über ihr ganzes fünfzehnjähriges Gesicht. »Ich bin zum Tennisspielen hier.« 172
Sie trug einen kurzen weißen Dreß, weiße Socken, weiße Tennisschuhe und hatte zwei Schläger in wasserdichten Hüllen dabei. Ihr dunkles, schulterlanges Haar wurde von einem grünen Band zurückgehalten, und der Wohlstand der van Horens sprach so beredt wie immer aus ihrer Hal tung und ihrem natürlichen Selbstvertrauen. »Kaffee?« schlug ich vor. »Lieber Orangensaft.« Ich bestellte ihn. »Fanden Sie die Goldmine nicht einfach riesig?« wollte sie wissen. »Die war einfach riesig«, stimmte ich zu und ahmte Danilos Akzent nach, da sie eine Wendung von ihm ge braucht hatte. Sie zog belustigt die Nase kraus. »Ihnen entgeht aber auch gar nichts, was? Dad sagt, Sie haben ei nen intuitiven Verstand, was’ immer das nun sein soll.« »Es bedeutet, daß ich voreilige Schlüsse ziehe«, sagte ich. Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »M-m. Er scheint es gut zu finden.« Der Orangensaft kam, und sie trank und ließ das Eis klir ren. Sie hatte lange dunkle Wimpern und eine Haut, die eher creme- als pfirsichfarben war. Ich unterdrückte wie immer die plötzliche innere Wehmut, die Mädchen wie Sally in mir auslösten: Meine eigene Tochter wurde viel leicht einmal ebenso hübsch, aber der Schwung und das Feuer würden fehlen. Sie setzte ihr Glas hin, und ihre Augen suchten die Clubgebäude hinter mir ab. »Haben Sie Danilo gesehen?« fragte sie. »Das Schwein hat gesagt, er wäre um zehn hier, und jetzt ist es schon Viertel nach.« 173
»Er hat gestern den ganzen Tag schwer gerechnet«, sagte ich ernst. »Das hat ihn geschafft, nehme ich an.« »Was denn gerechnet?« fragte sie mißtrauisch. Ich sagte es ihr. Sie lachte. »Dann glaube ich fast, der kann nicht anders. Am Samstag auf dem Rennplatz hat er das auch gemacht. Einen wandelnden Computer hab’ ich ihn genannt.« Sie trank noch einen Schluck Orangensaft. »Ach, und wußten Sie, daß er ein hemmungsloser Zocker ist? Er hat zehn Rand auf eins von den Pferden gesetzt. Zehn Rand!« Ich dachte bei mir, daß van Horen sie sehr vernünftig er zogen hatte, wenn zehn Rand Einsatz ihr noch überhöht erschienen. »Wohlgemerkt«, setzte sie hinzu, »das Pferd hat gesiegt. Ich hab’ den Gewinn mit ihm abgeholt. Fünfundzwanzig Rand, ist das zu glauben? Er sagt, er gewinnt öfter. Er war richtig fröhlich und aufgedreht deswegen.« »Am Ende verliert jeder«, sagte ich. »Ach, jetzt seien Sie doch nicht so negativ«, fuhr sie auf. »Genau wie Dad.« Ihre Augen weiteten sich plötzlich, und sie verlagerte ih re Aufmerksamkeit auf etwas hinter mir. Danilo trat zu uns. Weiße Shorts, kräftige braungebrannte Beine, hell blaue offene Windjacke. »Hallo«, sagte er vergnügt zu uns beiden. »Hallo«, erwiderte Sally und sah hingerissen aus. Sie verließ mich und den halb getrunkenen Orangensaft, ohne sich noch einmal umzudrehen, und zog mit dem auf geweckten Jungen los, wie die Mädchen es seit Evas Zei ten tun. Aber der Vater dieses Mädchens besaß eine Goldmine; und Danilo hatte seine Rechenaufgaben ge macht. 174
Arknold kam, und die Rezeption wies ihn in den Garten. Er gab mir die Hand, setzte sich, schnaufte und pustete und ließ sich ein Bier spendieren. In der Ferne knallten Danilo und Sally sporadisch den Ball übers Netz und lach ten viel dabei. Arknold folgte meinem Blick, erkannte Danilo, und die Falten auf seiner Stirn verdichteten sich zu einem Aus druck tiefer Unentschlossenheit. »Ich wußte nicht, daß Danilo hier sein würde«, sagte er. »Er kann Sie nicht hören.« »Nein, aber … Hören Sie, Mister, können wir vielleicht reingehen?« »Wenn Sie möchten«, sagte ich; also verzogen wir uns in die Halle, wo er aber auch zu unruhig war, um zur Sa che zu kommen, und schließlich hinauf in mein Zimmer. Man konnte die Tennisplätze zwar immer noch sehen, aber die Tennisplätze uns nicht. Er setzte sich wie Conrad in den größeren der beiden Sessel, da er sich als starke Persönlichkeit ansah. Das großflächige Gesicht ließ keine feineren Gefühlsnuancen in der wechselnden Muskelspannung um Augen, Mund oder Kinn sichtbar werden, so daß ich es wie immer fast unmöglich fand, zu erraten, was er dachte. Der Gesamt eindruck war der eines Tauziehens zwischen Aggressivität und Besorgnis: das Ergebnis offenbar Unschlüssigkeit, ob er angreifen oder beschwichtigen sollte. »Hören Sie«, sagte er schließlich, »was werden Sie Mrs. Cavesey erzählen, wenn Sie zurück nach England kommen?« Ich überlegte. »Das habe ich noch nicht entschieden.« Er schob sein Gesicht vor wie eine Bulldogge. »Sagen Sie ihr bloß nicht, sie soll den Trainer wechseln.« 175
»Und wieso nicht, bitte?« »Weil das Training, das die Pferde kriegen, in Ordnung ist.« »Sie sehen gut aus«, stimmte ich zu. »Aber sie laufen miserabel. Die meisten Besitzer hätten sie längst zu einem anderen Trainer gegeben.« »Es ist nicht meine Schuld, daß sie nicht siegen«, be hauptete er mit schwerer Stimme. »Sagen Sie ihr das. Deshalb bin ich hergekommen. Sagen Sie ihr, daß es nicht meine Schuld ist.« »Sie würden die Trainingsgebühren einbüßen, wenn man Ihnen die Pferde nimmt«, sagte ich. »Und Sie würden viel leicht an Prestige verlieren. Dafür brauchten Sie aber keine Angst mehr zu haben, daß man Sie wegen Betrugs verklagt.« »Jetzt passen Sie mal auf, Mister«, begann er wütend, aber ich unterbrach ihn. »Die andere Möglichkeit wäre, Sie entlassen Ihren Fut termeister Barty.« Was immer er hatte sagen wollen, blieb ungesagt. Sein Nußknackerkinn fiel herunter. »Sollten Sie sich entschließen, Barty rauszuwerfen«, sagte ich im Gesprächston, »dann könnte ich Mrs. Cavesey raten, die Pferde zu lassen, wo sie sind.« Er schloß den Mund. Eine lange Pause entstand, wäh rend die Angriffslust zum größten Teil versiegte und einer müden Resignation wich. »Das kann ich nicht«, sagte er mürrisch, ohne die Not wendigkeit des Schrittes zu leugnen. »Weil man Ihnen gedroht hat, daß Sie sich damit ein Rennbahnverbot einhandeln?« tippte ich an. »Oder wegen des künftigen Profits?« 176
»Hören Sie, Mister –« »Sorgen Sie dafür, daß Barty geht, bevor ich heimfahre«, sagte ich freundlich. Er stand schwerfällig auf und sah mich scharf an, was ihm nicht sonderlich viel einbrachte. Er atmete laut durch die Nase, kriegte aber den Mund nicht auf; und ich konnte aus seinem Gesichtsausdruck nicht ersehen, ob das, was ihm auf der Zunge brannte, ein Schwall von Verwün schungen war, ein Plädoyer für mildernde Umstände oder gar ein Hilferuf. Er vergewisserte sich mit einem Blick aus dem Fenster, daß sein Kumpel Danilo noch auf den Courts war, dann wandte er sich jäh ab und ging, ohne noch etwas zu sagen, aus meinem Zimmer: ein Mann auf einer dreizinkigen Röstgabel, wenn ich je einen gesehen hatte. Ich kehrte auf die Terrasse zurück und fand Clifford Wen kins, wie er unschlüssig umherlief und fremde Menschen hinter ihren Zeitungen anstarrte. »Mr. Wenkins«, rief ich. Er schaute auf, nickte nervös und schlängelte sich zwi schen Tischen und Stühlen hindurch zu mir herüber. »Guten Morgen – äh – Link«, begann er und streckte halb die Hand aus, aber nicht weit genug, daß ich sie schütteln konnte. Ich deutete einen ebenso unverbindli chen Gruß an. Sein bester Freund mußte es ihm gesagt ha ben, dachte ich. Wir setzten uns an einen der kleinen Tische im Schatten einer gelb-weiß gestreiften Markise, und er stimmte mir bei, daß – äh – ein Bier ausgezeichnet wäre. Wieder zog er ein unordentliches Bündel Papiere aus seiner Innentasche. Der Blick darauf schien ihm Kraft zu verleihen. 177
»Äh – Worldic hat beschlossen … Äh – sie halten es für das beste, meine ich, den Empfang vor dem – äh – vor dem Film zu geben, wenn Sie verstehen.« Ich verstand. Sie hatten Angst, ich könnte während der Vorführung verschwinden, wenn sie es andersherum auf zogen. »Hier – äh – ist eine Liste von Leuten, die – äh – Worldic eingeladen hat. Und hier – Moment – ah ja, da ist die Pres seliste und – äh – eine Liste der Leute, die Karten für den Empfang gekauft haben … Wir haben die Anzahl – äh – begrenzt, aber es gibt – äh – es gab – ich meine, es könnte sein, daß es vielleicht ein bißchen ein Gedränge gibt, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er schwitzte. Wischte sich mit einem säuberlich gefalte ten weißen Vierecktuch die Stirn. Wartete anscheinend darauf, daß ich hochging. Aber was sollte ich sagen? Ich hatte es selbst eingefädelt, und an sich war ich dankbar, daß wirklich Leute kommen wollten. »Äh – wenn es Ihnen recht ist … ich meine – also, es sind noch ein paar Karten – äh – für die Premiere selbst übrig, wenn Sie verstehen – äh – zu zwanzig Rand.« »Zwanzig Rand?« sagte ich. »Das ist doch wohl zu teuer.« »Es ist für einen wohltätigen Zweck«, sagte er schnell. »Für welchen?« »Oh – äh – Moment. Das hab’ ich hier irgendwo.« Aber er konnte es nicht finden. »Jedenfalls – für einen guten Zweck – und deshalb möchte Worldic, daß Sie … ich meine, weil doch noch Karten zu haben sind – äh – na ja, daß Sie ein wenig die Trommel dafür rühren.« »Nein«, sagte ich. Er sah unglücklich aus. »Das hab’ ich denen auch ge sagt, aber sie meinten – na ja …« Er blendete sich aus wie 178
ein Popsong und sagte nicht, daß Worldics Umgang mit Schauspielern das KGB direkt väterlich erscheinen ließ. »Wo findet der Empfang statt?« fragte ich. »Oh – äh – gegenüber dem Wideworld-Kino, im Klipspringer Heights Hotel. Ich – äh – ich denke, das wird Ihnen gefallen … ich meine, es ist eins der besten – äh – Hotels in Johannesburg.« »Prima«, sagte ich. »Ich bin Dienstag abend, sagen wir, so gegen sechs wieder hier. Dann können Sie mir alles Nötige telefonisch noch durchgeben.« »Ach so, ja – äh«, sagte er, »aber Worldic hätte gern gewußt – äh – wo Sie sich im Krüger-Park – äh – aufhal ten.« »Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Nun, äh – könnten Sie es rausfinden?« Er sah unglück lich aus. »Worldic sagte – äh –, das soll ich auf alle Fälle in Erfahrung bringen.« »Ah. Na schön«, sagte ich. »Ich gebe Ihnen Bescheid.« »Danke«, keuchte er. »Nun – äh – also – ich meine – äh –« Beim Vortragen des nächsten Punktes verhaspelte er sich mehr denn je. Im stillen hatte ich bereits ein großes NEIN formuliert, ehe der Gedanke, daß Worldic ihm im Nacken saß, ihn zwang, damit herauszurücken. »Wir – äh, das heißt vielmehr Worldic hat einen, äh – Fototermin für Sie angesetzt … Ich meine – also heute nachmittag, genau gesagt.« »Was für einen Fototermin?« fragte ich finster. Er wischte sich wieder übers Gesicht. »Na ja – Fotos eben.« Er machte Schlimmes durch, während er erklärte – und noch Schlimmeres, als ich begriff –, daß Worldic Fotos 179
von mir haben wollte, auf denen ich in Badehose mit einer vollbusigen Bikinischönheit unter einem Sonnenschirm lag. »Gehen Sie bloß schnell heim zu Worldic und sagen denen, daß ihre Werbeideen fünfzig Jahre hinter der Zeit zurück sind, wenn sie glauben, daß sich mit so was 20 Rand-Plätze verkaufen lassen.« Er schwitzte. »Und außerdem können Sie Worldic bestellen, noch so ein hirnrissiger Vorschlag, und ich werde nie mehr an ei ner ihrer Veranstaltungen teilnehmen.« »A-aber«, stammelte er. »Verstehen Sie, nach den Fotos in der Zeitung – wie Sie Katya zurück ins Leben küssen – also danach wurden wir von Anfragen überschwemmt – richtig überschwemmt … Und die ganzen billigeren Plätze waren im Nu weg – und auch die Karten für den Empfang – allesamt …« »Aber das«, sagte ich langsam und bestimmt, »war kein Werbetrick.« »Aber nein.« Er schluckte. »Aber nein. Natürlich nicht. Nein.« Er stand so ruckartig auf, daß er dabei seinen Stuhl umstieß. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, und seine Augen blickten wild. Er war dicht, ganz dicht davor, in Panik zu flüchten, als Danilo und Sally laut und munter vom Tennis wiederkamen. »Hallo, Mr. Wenkins«, sagte Sally auf ihre jugendlich unbekümmerte Art. »He, Sie sehen ja fast so verschwitzt aus wie wir.« Wenkins warf ihr einen glasigen Blick zu, wie hypnoti siert, und fummelte mit seinem Taschentuch herum. Danilo sah ihn durchdringend und nachdenklich an, ohne etwas zu sagen. 180
»Also – ich – äh, ich gebe das weiter – aber es wird ih nen – nicht gefallen.« »Sagen Sie es ihnen«, hakte ich nach. »Keine Werbe tricks.« »Keine Werbetricks«, echote er schwach, aber ich zwei felte, ob er den Mut aufbringen würde, das auszurichten. Sally schaute seinem unsicher sich zum Club durchfä delnden Rücken nach und ließ sich in einen Sessel fallen. »Na, der ist aber ganz schön runter mit den Nerven, was? Haben Sie das arme Lämmchen schikaniert, Link?« »Er ist ein Schaf, kein Lamm.« »Ein dummes Schaf«, sagte Danilo vage, als wäre er mit den Gedanken irgendwo anders. »Kriege ich einen Orangensaft?« sagte Sally. Evan und Conrad trafen vor dem Kellner ein, und die Ge tränkebestellung wurde erweitert. Evan zeigte sich von seiner fanatischsten Seite, fuchtelte mit den Armen herum und erzählte Conrad in der üblichen dominierenden »Ich bin-der-Regisseur-und-ihr-anderen-seid-Dreck«-Manier, wo es langging. Conrad wirkte halb geduldig, halb gereizt; ein Chefkameramann war dem Regisseur untergeordnet, aber gefallen mußte ihm das nicht. »Symbolik«, sagte Evan grimmig. »Symbolik ist das A und O dieses Films. Und Funktürme sind das neue Phal lussymbol, das für die Kraft einer Nation steht. Jedes po tente Land braucht sein kreisendes Turmrestaurant.« »Gerade weil jedes Land eins hat, ist das von Johannes burg vielleicht nichts Neues«, murmelte Conrad in einem Ton, aus dem die Streitlust etwas zu sorgfältig getilgt war. »Der Turm kommt rein«, konstatierte Evan entschieden. 181
»Selbst wenn sich kein Elefant von entsprechender Sta tur findet«, sagte ich nickend. Conrad verschluckte sich, und Evan blickte finster. Sally sagte: »Was ist denn ein Phallussymbol?« Und Danilo bat sie freundlich, es im Lexikon nachzusehen. Ich fragte Evan, wo genau wir im Krüger-Park wohnen würden, damit man mich notfalls erreichen konnte. »Erwarten Sie von mir keine Hilfe«, sagte er ungefällig. »Die Produktionsabteilung hat das vor Monaten gebucht. Mehrere verschiedene Camps, angefangen im Süden und dann rauf nach Norden, soweit ich weiß.« Conrad fügte beiläufig hinzu: »Wir haben im Hotel eine Liste. Die könnte ich Ihnen kopieren, lieber Junge.« »So wichtig ist das nicht«, sagte ich. »Worldic wollte nur informiert sein.« »Nicht so wichtig!« rief Evan aus. »Wenn Worldic in formiert sein will, dann müssen sie natürlich eine Liste bekommen.« Evan hatte keine Vorbehalte gegenüber Ver leihfirmen, die seine Meisterwerke in die Kinos brachten. »Conrad kann die Adressen kopieren und sie ihnen direkt schicken.« Ich blickte belustigt zu Conrad. »An Clifford Wenkins dann«, meinte ich. »Er wollte sie haben.« Conrad nickte kurz. Die Liste aus Gefälligkeit zu kopie ren war etwas ganz anderes, als es auf Evans Anweisung hin zu tun; ich wußte genau, was in ihm vorging. »Sie wollen ja wohl nicht mit dem Chauffeur kommen, den Worldic Ihnen gestellt hat«, sagte Evan barsch zu mir. »Für den haben wir kein Zimmer.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich mild. »Ich miete einen Wagen und fahre selbst.« »Na gut.« 182
Auch an diesem schönen Dienstag morgen, bei einem halb ausgetrunkenen bekömmlichen Gin und frei von jedem Druck, ließ Evan die brennenden Augen noch wie Lanzen blitzen und krümmte seine Finger, daß die Sehnen straff hervortraten. Das ungebändigte Lockenhaar umzün gelte ihn wie Medusas Schlangen, und selbst die Luft um ihn herum schien unter seinem Energieausstoß zu beben. Sally fand ihn faszinierend. »Es wird Ihnen gefallen im Wildpark«, sagte sie ernst. »Die Tiere sind so lieb.« Evan wußte mit so jungen Mädchen nur umzugehen, wenn er sie vor einer Kamera tyrannisieren konnte; und der Gedanke, daß Tiere lieb sein könnten statt symbolisch, schien ihn zu verwirren. »Äh …« sagte er unsicher und hörte sich genau wie Wenkins an. Conrad wurde gleich sichtlich fröhlicher, strich sich den Schnurrbart und sah Sally gutmütig an. Sie schenkte ihm ein offenes Lächeln und wandte sich Danilo zu. »Dir würde es da auch gefallen«, sagte sie. »Wenn du nächstes Mal nach Südafrika kommst, müssen wir mit dir hinfahren.« Danilo versicherte, er könne es kaum erwarten. Conrad fragte ihn, wie lange er diesmal noch bliebe, und Danilo sagte, so etwa acht Tage noch. Sally bestand ängstlich darauf, daß er nur ja bis zu meiner Premiere blieb; sicher wisse er doch noch, daß er mit den van Horens zu dem Empfang gehen wollte. Danilo wußte es noch; na und ob. Er lächelte sie an. Sie blühte auf. Ich hoffte, der Sonny boy hatte neben der Mathematik auch noch genügend Mit gefühl zu bieten.
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Evan und Conrad blieben zum Mittagessen und bespra chen endlos die Drehorte, die sie überall in der Stadt aus gesucht hatten. Sie wollten offenbar eine Menge Cinéma vérité einbauen, Szenen vom ungeschminkten Leben, die Conrad mit einer Handkamera filmen sollte. Bis der Käse uns den Magen schloß, hatte ich den Eindruck gewonnen, daß der ganze Film – Symbolik, Elefanten und alles – da zu verdammt war, gähnende Langeweile zu verbreiten. Conrads Interesse war vor allem technischer Natur. Meins war inexistent. Evans wie gewohnt unerschöpflich. »Also nehmen wir die Arriflex natürlich mit«, sagte er zu Conrad. »Vielleicht sehen wir unwiederbringliche Bil der. Es wäre dumm, nicht gerüstet zu sein.« Conrad stimmte zu. Sie sprachen auch über die tontech nische Ausrüstung und beschlossen, sie ebenfalls mitzu nehmen. Die Produktion hatte einen Wildhüter verpflich tet, der sie mit einem Landrover im Park herumfahren soll te; sie würden also bequem vom Auto aus drehen können. Alles, was sie für die Hinfahrt nicht in ihren gemieteten Kombi hineinkriegten, sagten sie, könnte ich doch in mei nem Wagen mitnehmen, oder? Ich konnte. Ich erklärte mich bereit, am nächsten Morgen als erstes zu ihrem Hotel zu kommen und den Überschuß einzuladen. Als sie fort waren, bezahlte ich den Wagen mit Chauffeur, den Worldic gestellt hatte, und mietete statt dessen eine Mittelklasse-Limousine zum Selbstfahren. Ein Mann von der Autovermietung brachte sie zum Iguana, zeigte mir die Gangschaltung, sagte, es sei ein neuer, gerade erst einge fahrener Wagen, der mir keine Probleme bereiten werde, und fuhr mit dem Chauffeur davon. Ich drehte eine Übungsrunde, verfuhr mich, kaufte einen Stadtplan und fand wieder zurück. Der Wagen war berg 184
auf etwas schwach, aber sehr kurvengängig: ein Auto für den Sonntagsnachmittagsausflug mit Großmama und ih rem feschen Hut.
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er Stadtplan und das Auto brachten mich zu Rode ricks Wohnung, als es gerade dunkel wurde. Ich testete die Bremsen, ehe ich losfuhr, da der Wagen stundenlang unbewacht auf dem Parkplatz gestanden hat te. Natürlich waren sie in Ordnung. Ich bespöttelte mich selbst dafür, daß ich so zickig war. Rodericks Wohnung lag im sechsten Stock. Sie hatte einen Balkon. Roderick lud mich als erstes ein, mit rauszukommen und mir die Aussicht anzuschauen. »Es ist fantastisch abends um diese Zeit«, sagte er, »wenn überall die Lichter angehen. Tagsüber sind es zu viele Fabriken und Straßen und Bergwerkshalden, wenn man nicht gerade eine Schwäche für Industrie und Wirt schaft hat … Und bald ist es schon zu dunkel, um in der Dämmerung noch Konturen zu erkennen.« Ich blieb unwillkürlich in der Tür stehen. »Kommen Sie«, sagte er. »Haben Sie Höhenangst?« »Nein.« Damit trat ich hinaus, und die Aussicht wurde seiner Ankündigung gerecht. Der Balkon ging nach Süden: Ge radeaus vor uns schwebte das drachenförmige Kreuz des Südens schräg am Himmel, und orangerote Lichter er streckten sich wie eine Kette auf der Autobahn in Rich tung Durban. 186
Roderick lehnte sich nicht an die löchrige Schmiedear beit, die den Balkon einfaßte. Innerlich fröstelnd, während ich mich zugleich ermahnte, nicht so ein Affe zu sein, hielt ich mich näher am Haus als Roderick. Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihm mißtraute, konnte ihm aber dennoch nicht trauen und erkannte, wie zersetzend Argwohn war. Wir gingen hinein. Natürlich gingen wir hinein. Unver sehrt. Ich spürte, wie sich in meinem Kinn und meinem Bauch Muskeln entspannten, von denen ich gar nicht ge wußt hatte, daß sie angespannt waren. Blödmann, dachte ich und versuchte die Tatsache auszublenden, daß sowohl bei dem Mikro- wie bei dem Minenunglück Roderick da beigewesen war. Seine Wohnung war klein, aber wie vorauszusehen ef fektvoll eingerichtet. Ein schwarzer Sitzsack lungerte auf einem hell olivgrünen Teppichboden; aus khakifarbenen Wänden sprossen wuchtige Messingleuchten zwischen großen minimalistischen Gemälden in herausfordernd knalligen Farben; ein niedriger Glastisch stand vor einem kastenförmigen Sofa aus imitiertem Tigerfell; und eine Andy Warhol nachempfundene Bierdose, hüfthoch, schmückte eine Ecke. Ausgesprochen modisch, das Gan ze; wie sein Besitzer vermittelte es den Eindruck, daß ex trem sein alles ist, Mann, und wenn du nicht so abgefahren bist wie möglich, dann kannst du dich gleich begraben las sen. Es schien eine ausgemachte Sache, daß er Pot rauchte. Natürlich hatte er eine teure Stereoanlage. Die Musik, die er auflegte, war weniger untergründig, als sie in Lon don zu bekommen war, aber die Mischung aus Anarchie und Selbstmitleid kam in den näselnden Stimmen trotz dem deutlich rüber. Ich fragte mich, ob das nur mit zum Image gehörte oder ob es ihm wirklich gefiel. »Was zu trinken?« bot er an, und ich sagte ja, gern. 187
Campari und Soda, bittersüßes rosa Zeug. Er sah es als selbstverständlich an, daß mir das recht war. »Katya wird bald kommen. Sie hatte irgendwelche Auf nahmen.« »Geht es ihr wieder gut?« »Klar« sagte er. »Hundertprozentig.« Er spielte die Er leichterung herunter, doch ich erinnerte mich an sein Ent setzen, seine Tränen; es lebten noch echte Gefühle hinter der Schicki-Fassade. Er trug wieder ein Paar wie auf die Haut geklebte Hosen und dazu ein tailliertes blaues Rüschenhemd mit Schnür bändern statt Knöpfen. Ein Outfit, so prägnant und plaka tiv wie Straßenschilder: der wilde Mann im Balzkleid. Meine eigene Kleidung machte wohl auch eine Aussage, denn genaugenommen tut das jede. Katyas Aussage war klar wie ein Trompetenstoß und lautete: »Schaut mich an.« Sie wehte herein wie eine Brise frischfröhliches Show geschäft, in einem umwerfenden gelben Overall, dessen Beine unter den Knien zu weit ausgestellten, schwarz ge ränderten Rüschen wurden. Sie sah aus wie eine zweige teilte Flamencotänzerin, und sie krönte diesen Eindruck mit einem hohen Schildpattkamm, den sie wie eine Tiara in ihren Wuschelkopf gesteckt hatte. Mit ausgestreckten Armen kam sie auf mich zu, aus al len Poren förmlich sprühend vor Lebendigkeit, als hätte der Stromschlag, statt ihr zu schaden, ihre Vitalität ver doppelt. »Link, mein Lieber, wie wundervoll«, sagte sie über schwenglich. Und sie hatte jemand mitgebracht. Die Schranken in meinem Kopf schlossen sich sofort wie eine Wand und blieben den ganzen Abend zu. Rode 188
rick und Katya hatten eine Sexbombe besorgt, um mich zu einem Fehltritt zu verleiten, und ihre Absicht verriet sich in Katyas verstärkt intrigantem Gehabe. Das Spiel gefiel mir nicht, aber als alter Hase hatte ich es im Griff. Ich seufzte bedauernd wegen des Essens ohne Trara, das Ro derick versprochen hatte. Von Anfang an zuviel erwartet, nahm ich an. Das Mädchen war hinreißend, mit einer Wolke dunkler Haare und riesengroßen, etwas kurzsichtig wirkenden Au gen. Sie trug ein weich fließendes Gewand, grün und bo denlang, das sich jeder ihrer Bewegungen anschmiegte, jetzt eine Hüfte hervorhob, jetzt eine Brust, alles offen sichtlich gut geformt. Roderick beobachtete heimlich meine Reaktion, wäh rend er weitere Camparis einschenkte. »Das ist Melanie«, sagte Katya gerade so, als hätte sie Venus aus den Wellen gezaubert; und vielleicht lag auch ein Hauch Botticelli in der anmutigen Nackenlinie. Bestimmt heißt sie Mabel, sagte ich mir ungalant und begrüßte sie mit lauem Lächeln und einem konventionel len Händedruck. Aber Melanie war kein Mädchen, das sich durch einen kühlen Empfang beirren ließ. Sie schenk te mir ein leises Flattern ihrer ziemlich langen Wimpern, verzog reizend die zartrosa Lippen und legte ein glühendes Versprechen in die rauchgrauen Augen. Sie hat so was schon mal gemacht, dachte ich, und sie ist sich ihrer Wir kung so bewußt wie ich, wenn ich vor der Kamera stehe. Melanie setzte sich zufällig neben mich auf das Tiger fellsofa und lagerte sich träge hin, so daß die ganze schlanke Gestalt unter dem grünen Stoff sichtbar wurde. Sie hatte zufällig kein Feuerzeug dabei, so daß ich mit Rodericks kugelförmigem orangen Tischmodell aushelfen mußte. Zufällig mußte sie meine Hand in ihre beiden Hän 189
de nehmen, um die Flamme an das Ende ihrer Zigarette zu führen. Zufällig stützte sie sich mit der Hand auf meinen Arm, als sie sich vorbeugte, um die Asche abzuklopfen. Katya verbreitete Fröhlichkeit, Roderick füllte mir Gin ins Glas, als er dachte, ich sähe nicht hin, und ich fragte mich allmählich, wo sie das Tonbandgerät versteckt hat ten. Wenn diese kleine Nummer nicht für die Öffentlich keit bestimmt war, war ich der Klempnergehilfe. Dinner gab es bei Kerzenschein an einem viereckigen schwarzen Tisch in einer senffarbenen Eßecke. Das Essen war vorzüglich, und die Unterhaltung provokativ, doch größtenteils spielten die drei sich untereinander die Bälle zu, während ich wenn nötig mit einem Lächeln oder Mur meln antwortete, das sich nicht als Zitat verwenden ließ. Melanie duftete zart nach Joy, und Roderick hatte mei nen Wein mit Kognak versetzt. Er beobachtete und bela berte und bediente mich mit freundlichen Augen und war tete darauf, daß ich mich ihnen auslieferte. Zum Teufel mit dem Rand Daily Star, dachte ich; mein Freund Rode rick ist ein Mistkerl, und ich kann den Mund halten. Etwas von meiner Wachsamkeit mußte in meinen Augen zu erkennen gewesen sein, denn plötzlich huschte ein nachdenklicher Ausdruck über Rodericks Stirn, und er ging in zwei Sätzen von sexuellen Anspielungen zu sinn voller Gesellschaftskritik über. Er sagte: »Wie stehen Sie zur Apartheid, jetzt, wo Sie acht Tage hier sind?« »Wie stehen Sie denn dazu?« konterte ich. »Sie drei le ben doch hier. Erzählen Sie mal.« Roderick schüttelte den Kopf, und Katya sagte, wichtig sei, was die Gäste dächten, und nur Melanie, die nach an deren Regeln spielte, rückte mit der Sprache heraus. »Apartheid«, sagte sie ernst, »ist notwendig.« 190
Roderick machte eine abwehrende Geste, aber ich fragte: »Inwiefern?« »Es heißt, getrennt leben«, sagte sie. »Es heißt nicht, daß eine Rasse besser als die andere ist, sondern nur, daß sie verschieden sind und es auch bleiben sollten. Die ganze Welt glaubt anscheinend, daß die weißen Südafrikaner die Schwarzen hassen und sie zu unterdrücken versuchen, aber das ist nicht wahr. Wir mögen sie … und den Slogan ›Black is beautiful‹ haben weiße Afrikaner sich ausge dacht, um den schwarzen Afrikanern Selbstbewußtsein zu geben.« Ich war baß erstaunt, aber Roderick nickte zögernd. »Das ist wahr. Die Black-Power-Bewegung hat ihn sich zu eigen gemacht, aber sie hat ihn nicht erfunden. Man könn te sagen, der Slogan hat alles bewirkt, wozu er gedacht war, und noch ein bißchen mehr.« »Wenn man ausländische Zeitungen liest«, sagte Mela nie empört und erwärmte sich für ihr Thema, »dann könn te man meinen, die Schwarzen seien ein Haufen analpha betischer billiger Arbeitskräfte. Und das stimmt nicht. Die Schulpflicht gilt für beide Rassen, und die Fabriken zahlen nach Tarif, ungeachtet der Hautfarbe. Und das«, setzte sie hinzu, »haben die weißen Gewerkschaftler ausgehandelt.« Sie war mir viel sympathischer, seit sie vergessen hatte, die Sexbombe zu spielen. Die dunklen Augen bargen so wohl Feuer wie auch Rauch, und es war einmal eine Ab wechslung, zu hören, wie jemand leidenschaftlich dieses Land verteidigte. »Erzählen Sie mehr«, sagte ich keck. »Oh …« Sie sah einen Augenblick verwirrt aus, geriet dann aber wieder in Schwung wie ein Pferd, das den zwei ten Wind bekommt: »Die Schwarzen haben alles genauso wie die Weißen. Alles, was sie wollen. Nur eine Minder 191
heit hat große Häuser, weil die Mehrheit sie nicht mag. Sie leben gern im Freien und suchen nur zum Schlafen Schutz. Aber sie haben Autos und Geschäfte und Urlaub und Krankenhäuser und Hotels und Kinos – alles, was dazuge hört.« Die Weißen hatten im großen ganzen mehr Geld, dachte ich, und zweifellos mehr Handlungsfreiheit. Ich öffnete den Mund, um eine harmlose Bemerkung über die vielen Eingangstüren mit der Aufschrift »Nicht für Weiße« und »Nur für Weiße« vorzubringen, doch Melanie funkte da zwischen, um jeder Anfechtung zuvorzukommen, was Roderick nun überhaupt nicht recht war. Er sah sie mißbil ligend an. Sie war zu sehr in Fahrt, um es zu bemerken. »Ich weiß, was Sie sagen wollen«, sagte sie unrichtiger weise. »Sie wollen von Ungerechtigkeit reden. Jeder, der aus England kommt, redet davon. Nun, natürlich gibt es Unge rechtigkeiten. Die gibt es in jedem Land der Welt, Ihres eingeschlossen. Ungerechtigkeiten machen Schlagzeilen. Gerechtigkeit ist nicht aktuell. Die Leute kommen her und suchen bewußt nach Ungerechtigkeit, und natürlich finden sie die auch. Aber nie berichten sie über die guten Seiten; sie machen einfach die Augen zu und tun so, als gäbe es keine.« Ich sah sie nachdenklich an. Es war etwas dran an dem, was sie sagte. »Wenn ein Land wie England unsere Lebensverhältnisse angreift«, sagte sie, »schadet das jedesmal mehr, als daß es nützt. Man spürt dann, wie sich hier die Reihen schließen und die Fronten verhärten. Es ist dumm. Es verlangsamt den allmählichen Fortschritt unseres Landes hin zur Part nerschaft zwischen den Rassen. Die alte, starre Form der Apartheid stirbt aus, müssen Sie wissen, und in fünf oder 192
zehn Jahren werden es nur noch die Militanten und Ex tremisten auf beiden Seiten sein, die ernstlich dafür sind. Sie schreien und agitieren, und die Auslandspresse schenkt ihnen ein offenes Ohr, denn sie hört immer auf Wirrköpfe, und dabei übersieht sie – oder jedenfalls erwähnt sie nie –, wie sich die Verhältnisse hier langsam bessern.« Ich fragte mich, wie sie darüber denken würde, wenn sie schwarz wäre. Mochten sich die Dinge auch ändern, so gab es doch noch keine allgemeine Chancengleichheit. Schwarze konnten Lehrer, Ärzte, Anwälte und Priester werden. Jockey werden konnten sie nicht. Ungerecht … Roderick, der vergebens darauf wartete, daß ich voll ein stieg, sah sich wieder zu einer direkten Frage getrieben. »Wie stehen Sie dazu, Link?« Ich lächelte ihn an. »Ich gehöre zu einem Berufsstand«, sagte ich, »der we der Schwarze noch Juden noch Frauen noch Katholiken oder Protestanten oder stieläugige Monster diskriminiert, sondern lediglich die Nichtmitglieder von Equity.« Melanie sah aus, als könne sie mit Equity, dem Namen der britischen Schauspielergewerkschaft, nichts anfangen, aber zu den Juden hatte sie etwas zu sagen. »Was immer man den weißen Südafrikanern vorwerfen mag«, führte sie ins Feld, »wir haben keine sechs Millio nen Schwarze in die Gaskammer geschickt.« Das war ungefähr so, dachte ich respektlos, als ob man sagt, man habe zwar die Masern, habe aber noch nie je manden mit Keuchhusten angesteckt. Roderick gab es auf, nach einem zitierbaren politischen Bekenntnis zu fischen, und versuchte Melanie wieder auf Verführungskurs zu bringen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie mehr bei mir erreichte, wenn sie den Sex wegließ, denn 193
die Zweifel waren ihr deutlich anzumerken, als sie sich bemühte, seinem Wunsch nachzukommen. Doch anschei nend war es für sie beide wichtig, daß sie weitermachte, und sie ließ sich nicht dadurch entmutigen, daß kein Funke zu mir übersprang. Sie lächelte ein sanftmütiges Weib chenlächeln, um jede ihrer Meinungsäußerungen zu ent schuldigen, und schlug verschämt die dichten schwarzen Wimpern nieder. Katya und Roderick tauschten Blicksignale, die blende ten wie Leuchtfeuer in einer dunklen Nacht, und Katya sagte, sie werde Kaffee kochen. Roderick sagte, er werde ihr dabei helfen, und Melanie und Link sollten doch schon mal rüber aufs Sofa gehen, das sei bequemer, als am Tisch zu sitzen. Melanie lächelte scheu. Ich bewunderte die Leistung; an und für sich war sie scheu wie ein Hauptfeldwebel. Sie drapierte sich wunderschön über das Sofa, so daß der grü ne Stoff sich eng an den vollendeten Busen schmiegte, der sich bei jedem Atemzug sanft hob und senkte. Sie bemerk te die Richtung meines Blickes und lächelte mit katzenhaf ter Zufriedenheit. Verfrüht, liebste Melanie, verfrüht, dachte ich. Roderick brachte ein Tablett mit Kaffeetassen herein, und Katya ging hinaus auf den Balkon. Als sie wiederkam, schüttelte sie den Kopf. Roderick goß den Kaffee ein, und Katya reichte ihn herum; die unterdrückte innere Erre gung, während des Essens unsichtbar, erschien wieder in ihren lächelnden Mundwinkeln. Ich sah auf meine Uhr. Viertel nach zehn. Ich sagte: »Ich muß bald gehen. Mein Tag morgen fängt leider früh an.« Katya sagte schnell: »Aber nein, Sie dürfen noch nicht gehen, Link«, und Roderick reichte mir ein Ballonglas mit 194
genügend Kognak, um ein Schlachtschiff zu versenken. Ich nippte daran, ließ es aber aussehen wie einen guten Schluck und überlegte, daß ich, wenn ich alles getrunken hätte, was er mir einschenkte, nicht mehr fahrtüchtig ge wesen wäre. Melanie schleuderte ihre goldenen Slipper von sich und stellte die Zehen hoch. Perlmuttrosa Nagellack schimmer te, und mit einem raschen Aufblitzen nackter Fesseln, nackter Waden brachte sie es fertig, mir die Idee ein zugeben, daß sie unter dem grünen Hänger nichts weiter anhatte. Der Kaffee war so gut wie das Essen; Katya verstand mehr vom Kochen als vom Intrigieren. Nach kaum zwan zig Minuten schlenderte sie noch einmal raus auf den Bal kon, und als sie diesmal wiederkam, war die Botschaft ein Nicken. Ich sah mir die drei an und rätselte. Roderick mit seinem altjungen Gesicht, Katya übermütig und in gelben Rü schen, Melanie, die so gewissenhaft ihr Netz spann. Sie hatten mir eine Falle gestellt. Fragte sich nur … was für eine? Zwanzig vor elf. Ich trank meinen Kaffee aus, stand auf und sagte: »Ich muß jetzt wirklich gehen.« Diesmal gab es keinen Widerstand. Alle drei erhoben sich. »Danke«, sagte ich, »für einen tollen Abend.« Sie lächelten. »Fabelhaftes Essen«, sagte ich zu Katya. Sie lächelte. »Erlesene Getränke«, sagte ich zu Roderick. Er lächelte. »Vorzügliche Gesellschaft«, sagte ich zu Melanie. 195
Sie lächelte. Nicht ein einziges wirklich ehrliches Lächeln darunter. Sie hatten gespannte, erwartungsvolle Augen. Mein Mund fühlte sich trotz der großen Flüssigkeitszufuhr trocken an. Wir gingen auf die Diele zu, die eine Verlängerung des Wohnzimmers war. Melanie sagte: »Für mich wird es auch Zeit, Roderick, rufst du mir ein Taxi?« »Klar, Liebes«, sagte er obenhin, und dann, als wäre der Gedanke ihm gerade erst gekommen, »aber du mußt doch in dieselbe Richtung wie Link. Er nimmt dich sicher mit.« Alle sahen mich lächelnd an. »Natürlich«, sagte ich. Was sonst. Was konnte man sonst sagen? Das Lächeln ging weiter. Melanie nahm sich einen winzigen Umhang vom Garde robenständer, und Roderick und Katya begleiteten uns über den Flur zum Lift und winkten noch, als die Tür sich zwischen uns schloß. Der Lift fuhr abwärts. Es war einer von den automatischen, die in jeder vorher gedrückten Etage anhalten. Ich drückte auf E für Erdgeschoß, und in E für Erdgeschoß hielt er an. Höflich ließ ich Melanie zuerst aussteigen. Dann sagte ich: »O je – tut mir schrecklich leid, ich habe meinen Sie gelring auf dem Waschbecken bei Roderick im Bad lie genlassen. Ich sause grad noch mal hoch. Warten Sie, ich bin gleich wieder da.« Die Tür schloß sich, bevor sie Einwendungen machen konnte. Ich drückte auf die Knöpfe 2 und 6. Stieg in 2 aus. Beobachtete, wie der Pfeil auf Rodericks Etage, die 6, zu glitt und schlüpfte rasch durch die Tür des Dienstboten aufgangs hinten im Flur. 196
Die schmucklose Betontreppe mit dem Eisengeländer wand sich einen engen, steilen Schacht hinunter und brachte mich in einen Bereich voller gestapelter Wäsche körbe, Zentralheizungskessel und Reihen von Müllton nen. Draußen auf der schmalen Straße hinter dem über dachten Hof wandte ich mich nach links, lief zügig um den ganzen nächsten Block herum, verlangsamte schließ lich und ging unauffällig im Schatten wieder auf Rode ricks Wohnung zu. Hundert Meter entfernt blieb ich in einem Eingang ste hen und schaute. Vier Männer warteten auf der Straße. Zwei gegenüber dem Vordereingang von Rodericks Haus. Zwei andere standen geduldig in der Nähe meines Mietwagens. Alle hatten Gegenstände dabei, die in der Straßenbeleuchtung glänzten und deren Form ich nur allzugut kannte. Melanie kam aus dem Haus und eilte über die Straße, um mit zwei von den Männern zu reden. Das grüne Kleid klebte an ihrem Körper und wirkte gerade im Licht der La ternen hauchdünn, fast durchsichtig. Sie und die Männer diskutierten aufgeregt, und es gab sehr viel Kopfschütteln. Alle drei sahen plötzlich hoch, und ich folgte ihrer Blickrichtung. Roderick und Katya standen auf dem Bal kon und riefen von oben herunter. Ich war zu weit weg, um es genau zu verstehen, aber der Sinn ließ sich un schwer erraten. Die Beute war entwischt, und das freute keinen von ihnen. Melanie und die beiden Männer drehten sich um und kamen auf mich zu, blieben aber bei den zwei anderen an meinem Wagen stehen. Alle fünf steckten die Köpfe zu sammen, so wenig dabei auch herauskommen konnte, und schließlich kehrte Melanie alleine um und verschwand in dem Wohnblock. 197
Ich seufzte gequält. Roderick war kein Mörder. Er war ein Zeitungsmensch. Die vier Männer waren mit Kameras bewaffnet. Nicht mit Messern. Nicht mit Schießeisen. Nicht auf mein Leben hatten sie es abgesehen; nur auf mein Foto. Ein Foto von mir, nachts vor einem Apartmenthaus, al lein mit einem schönen Mädchen in seinem sehr offenher zigen Kleid. Ich blickte nachdenklich auf die vier Männer bei mei nem Wagen, entschied, daß ich schlechte Chancen hatte, drehte mich auf dem Absatz um und räumte das Feld. Zurück im Iguana Rock (per Taxi), rief ich Roderick an. Er klang bedrückt. Ich sagte: »Sie sollten sich was schämen.« »Ja.« »Lassen Sie das Telefon hier abhören?« Eine Pause. Dann, wieder mit einem Seufzer: »Ja.« »Zu spät zum Ehrlichsein, mein Freund.« »Link –« »Vergessen Sie’s«, sagte ich. »Sagen Sie mir nur, war um.« »Meine Zeitung –« »Nein«, sagte ich. »Zeitungen wenden solche Tricks nicht an. Das war eine kleine Privatinitiative.« Eine längere Pause. »Ich bin es Ihnen wohl schuldig«, meinte er langsam. »Wir haben das für Clifford Wenkins gemacht. Der Bru der hat eine Heidenangst vor Worldic, und zum Ausgleich für die eine oder andere Gefälligkeit, die er uns erwiesen hat, wollte er, daß wir Sie ihm auf dem Tablett servieren. 198
Er sagte, Worldic würde ihn feuern, wenn er Sie nicht zu ein paar Turtelfotos für den Verkauf ihrer 20-Rand-Karten überreden könne, und er hätte Sie gefragt, und Sie hätten rundweg abgelehnt. Melanie ist unser bestbezahltes Mo del, und er konnte sie als Mitstreiterin für die gute Sache gewinnen.« »Dieser Wenkins«, sagte ich bitter, »würde seine Seele für Reklametricks verkaufen.« »Es tut mir leid, Link.« »Nicht so leid, wie es ihm tun wird«, sagte ich unheil drohend. »Ich habe ihm versprochen, Ihnen nichts zu sagen.« »Ihr könnt mich beide«, erwiderte ich heftig und knallte den Hörer auf die Gabel.
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A
m nächsten Morgen, nachdem die Geschäftsleitung des Iguana freundlicherweise meinen Wagen vor Ro dericks Wohnung hatte abholen lassen, packte ich das we nige, das ich für den Krüger-Park brauchte, und schnurrte hinüber zu Evans und Conrads Hotel. Das Beladen ihres Kombis wurde eben von Evan beauf sichtigt, als handele es sich um die Schlüsselszene einer prestigeträchtigen Regiearbeit, und von Conrad auf das exzentrischste ausgeführt. Kisten, Taschen und schwarz verhüllte Ausrüstungsgegenstände übersäten im Umkreis von zehn Metern den Boden. »Lieber Junge«, sagte Conrad, als ich herankam, »besor gen Sie um Gottes willen etwas Eis.« »Eis?« wiederholte ich zerstreut. »Eis.« Er wies auf eine gelbe Plastikbox von etwa 60 mal 30 Zentimetern. »Dafür. Für die Filme.« »Wie steht’s mit Bier?« Er warf mir einen traurigen, vernichtenden Blick zu. »Bier ist in der roten, lieber Junge.« Die rote Kühlbox hatte Vorrang gehabt, sie stand bereits fest verschlossen im Wagen. Lächelnd ging ich ins Hotel, um meinen Auftrag auszuführen, und kam mit einer gro ßen, vollen Plastiktüte wieder. Conrad legte das Eis in die gelbe Box und packte sorgfältig sein Rohmaterial darauf. Die gelbe Box kam zu der roten, und Evan meinte, wenn 200
wir in dem Tempo weitermachten, würden wir nicht vor Einbruch der Nacht im Nationalpark ankommen. Um elf war der Kombi brechend voll, aber der Boden war immer noch übersät mit der erstaunlichen Ansamm lung von Kabeln, Kästen, Stativen und Klammern, die Kameraleute anscheinend überallhin begleiten. Evan schwenkte die Arme, als ließe sich durch Zauberei der ganze Plunder ordnen. Conrad zupfte unsicher an sei nem Schnurrbart. Ich öffnete den Kofferraum meiner Li mousine, warf ohne viel Federlesens alles hinein und sagte ihnen, sie könnten es sortieren, wenn wir am Ziel seien. Danach gingen wir etwas Erfrischendes trinken und bra chen schließlich gegen Mittag auf. Wir fuhren etwa fünf Stunden nach Nordosten und kamen von der Johannesbur ger Hochebene herunter auf wenige hundert Fuß über Meereshöhe. Die Luft wurde mit jeder längeren Abwärts strecke merklich wärmer, was Anlaß zu drei oder vier wei teren Erfrischungspausen gab. Conrads Trinkvermögen machte dem der Bantus Konkurrenz. Gegen fünf erreichten wir das Numbi-Tor, die nächste Zufahrt zum Park. Der Nationalpark erstreckte sich von hier zweihundert Meilen nach Norden und fünfzig nach Osten, und nur ihr eigener Wunsch zu bleiben hielt die Tiere in diesen Grenzen fest. Das Numbi-Tor bestand aus einem schlichten Schlagbaum, bewacht von zwei Schwarzafrikanern in Khakiuniform, und einem kleinen Büro. Evan legte Passierscheine für zwei Wagen vor und Buchungsbestätigungen für den Aufenthalt in den Camps, und lächelnd und salutierend stempelte man uns die Scheine, und der Schlagbaum ging hoch. Leuchtend rote und purpurne Bougainvilleas gleich da hinter erwiesen sich als irreführend: Der Park selbst war nach Monaten ohne Regen trocken wie Zunder und dornig 201
braun. Die schmale Straße erstreckte sich vor uns in eine ausgedörrte Wildnis, in der das einzige sichtbare Werk von Menschenhand der Asphalt selbst war. »Zebras!« rief Evan durch sein heruntergedrehtes Fen ster. Ich folgte der Richtung seines Zeigefingers und sah die staubige Herde geduldig unter kahlen Bäumen stehen, wobei sie langsam mit den Schwänzen schlugen und auf unheimliche Weise mit dem streifigen Schatten ver schmolzen. Conrad hatte eine Karte, und das war ganz gut so. Wir wollten zum nächstgelegenen Camp, Pretoriuskop, aber vor uns wanden sich die Wege kreuz und quer, unbefestig te trockene Sandpisten zweigten jäh ab in weite Landstri che, als deren Bewohner man sich unschwer Löwe, Nas horn, Büffel und Krokodil vorstellen konnte. Und natürlich Elefanten. Das Camp erwies sich als ein mehrere Hektar großes Ge lände, das umschlossen war von einem starken Drahtzaun und nichts so Lagerartiges wie etwa Zelte enthielt. Es war eher wie Butlin’s im Eingeborenen-Look, fand ich: Grüppchen von runden, strohgedeckten Backsteinhütten wie rosarote Trommeln mit breitkrempigen Hüten drauf. »Rondavels«, sagte Evan in bester Alleswissermanier und winkte zu den Unterkünften hinüber. Er meldete uns in dem großen Empfangsbüro an und fuhr gleich los, um die Hütten mit den richtigen Nummern zu suchen. Es wa ren drei: für jeden eine. Im Innern zwei Betten, ein Tisch, zwei Stühle, Einbauschrank, Duschraum und Klimaanlage. Jegliche moderne Errungenschaft mitten im Dschungel. Evan klopfte an meine Tür und sagte, ich solle heraus kommen, wir würden einen kleinen Ausflug machen. Das Camp schließe seine Tore abends um halb sieben, so daß 202
wir noch vierzig Minuten Zeit hätten, nach Affen und Ele fanten zu suchen. »Den Kombi ausräumen dauert zu lange«, sagte er. »Wir nehmen also Ihren Wagen.« Ich fuhr, und sie sahen unentwegt aus dem Fenster. In der Ferne lausten sich ein paar Paviane im Abendsonnen schein auf einem Felsenhügel, und eine Herde Impalas tat sich an nahezu blattlosen Sträuchern gütlich, doch ein Ele fant war nicht zu sehen. »Kehren wir lieber um, ehe wir uns verfahren«, sagte ich, aber auch so schlüpften wir nur Sekunden vor Tor schluß noch zurück ins Lager. »Was passiert, wenn man zu spät kommt?« fragte ich. »Dann muß man draußen übernachten«, sagte Evan be stimmt. »Wenn das Tor erst zu ist, bleibt es zu.« Evan schien wie üblich seine Kenntnisse aus der Luft zu greifen, ein Rätsel, das sich später löste, als er eine Infor mationsbroschüre hervorholte, die er bei der Anmeldung bekommen hatte. Die Broschüre riet auch davon ab, Wa genfenster herunterzudrehen und »Zebra!« in die Gegend zu schreien, da die Tiere das nicht mochten. Wildtiere hielten Autos offenbar für harmlos und ließen sie in Ruhe, neigten aber dazu, jedes Stück Mensch zu beißen, das her vorschaute. Conrad hatte den ganzen Kombi ausladen müssen, um an die rote Bierbox ranzukommen; sicher würde er sie in Zu kunft als letztes verstauen. Wir setzten uns um einen runden Tisch vor den Hütten, kühlten unsere Kehlen in der warmen Luft und sahen zu, wie die Dunkelheit zwischen den Ron davels Einzug hielt. Trotz Evan war es friedlich genug, um die angespanntesten Nerven zu beruhigen … und noch den wachsamsten Verstand in Sicherheit zu wiegen.
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Am nächsten Tag, Donnerstag, brachen wir in der Mor gendämmerung auf und frühstückten im nächsten Camp, Skukusa, wo wir auch die Nacht verbringen wollten. Skukusa war größer und besaß Rondavels für gehobene Ansprüche, so daß Evans Produktionsfirma natürlich gleich zugegriffen hatte. Sie hatten auch einen Wildhüter namens Haagner zu unserer ganztägigen Betreuung engagiert, und das wäre ausgezeichnet gewesen, hätte es sich nicht um ei nen Afrikaander gehandelt, mit dessen Englisch es haperte. Er war groß, behäbig, ruhig und emotionslos, der Gegenpol zu Evans leidenschaftlicher Begeisterung fürs Allegorische. Evan feuerte Fragen auf ihn ab und mußte däumchendre hend auf die Antwort warten; sicher übersetzte Haagner lediglich das eine für sich in Afrikaans, formulierte das an dere und übersetzte es ins Englische, doch die Verzögerung irritierte Evan von Anfang an. Haagner hielt Evan auf Dis tanz und ließ sich nicht zur Eile drängen, woraus Conrad die (dezent verborgene) Befriedigung des Unterdrückten zog, der seinen Herrn auf einer Bananenschale ausrutschen sieht. Wir fuhren mit Haagners Rangerover, begleitet von der Arriflex, einem Tonbandgerät, einem halben Dutzend kleinerer Kameras und der roten Kühlbox mit einer ge mischten Ladung aus Filmen, Bier, Obst und Sandwiches in Plastiktüten. Evan hatte noch Skizzenblöcke, Karten und Notizbücher eingesteckt und bemerkte sechsmal, die Produktion hätte ihm eine Sekretärin mitgeben sollen. Conrad murmelte, wir könnten froh sein, daß sie uns Drix Goddart noch nicht mitgegeben habe, doch dem säuerli chen Blick nach zu urteilen, den Evan mir zuwarf, war er nicht unbedingt der gleichen Meinung. »Olifant«, sagte Haagner und zeigte mit dem Finger, nachdem ihm dreimal der Zweck der Expedition erklärt worden war. 204
Er hielt den Wagen an. »Dort, im Tal.« Wir schauten. Viele Bäume, ein Streifen Grün, ein sich windender Fluß. »Da, Mann«, sagte er. Endlich erblickten unsere ungeschulten Augen sie; drei dunkle, bucklige Silhouetten, die, durch die Entfernung verkleinert, halb durch Buschwerk verdeckt, träge mit den Ohren wackelten. »Nicht nah genug«, sagte Evan ungehalten. »Wir müssen näher ran.« »Nicht hier«, sagte Haagner. »Sie sind auf der anderen Seite vom Fluß. Vom Sabiefluß. ›Sabie‹ ist Bantuwort; es bedeutet ›Furcht‹.« Ich sah ihn mißtrauisch an, doch er wollte Evan keines wegs provozieren; er gab nur eine Auskunft. Der friedlich wirkende Wasserlauf wand sich langsam durch das Tal und flößte so wenig Furcht ein wie die Themse. Evan hatte keine Augen für die verschiedenen Verwand ten der Antilope, auf die Haagner hinwies, noch für die Blauhäher und Hornraben, die Meerkatzen und die Gnus, und schon gar nicht für die Herden sanftmütiger Impalas. Nur das potentiell Gewalttätige erregte seine Aufmerk samkeit: der Geier, die Hyäne, das Warzenschwein, der möglicherweise auftauchende Löwe, der seltene Gepard. Und natürlich Olifanten. Evan machte sich das Afri kaanswort zu eigen und ließ es auf seiner Zunge zergehen, als habe er es selbst erfunden. Olifantendung auf der Straße (frisch, sagte Haagner) erregte ihn fast bis zum Orgasmus. Er bestand darauf, daß wir anhielten und zurücksetzten, um die Exkremente besser sehen zu können, und darauf, daß Conrad die Arriflex zum Fenster hinaushielt und gut fünfzehn Meter Film aus verschiedenen Winkeln und mit unterschiedlichen Brennweiten verschoß. 205
Haagner, der den Wagen für jede neue Aufnahme gedul dig in Stellung brachte, sah sich diese Possen an und hielt Evan offensichtlich für geistesgestört; ich lachte innerlich, bis ich platzte. Wäre der gute Elefant zurückgekommen, hätte Evan ihn zweifellos aufgefordert, für Szene 1, die zweite noch einmal Kot abzusetzen. Er hätte daran nichts komisch gefunden. Evan trennte sich widerstrebend von dem Haufen und überlegte, wie er sich als möglichst sinnfälliges Symbol verwenden ließ. Conrad meinte, er könne ein Bier gebrau chen, doch Haagner deutete geradeaus und sagte: »OnderSabie«, der nächste Halt, das nächste Camp, wie sich herausstellte. »Olifant im Salijifluß«, sagte Haagner, als er vom Plausch mit einigen Kollegen wiederkam. »Wenn wir gleich hin fahren, sehen Sie sie vielleicht.« Evan scheuchte uns von dem schattigen Tisch und unse ren halb geleerten Gläsern auf und preschte wieder hinaus in die zunehmende Mittagshitze. Rings um uns fächelten vernünftigere Sterbliche sich Luft zu und dachten an Siesta, aber Evan stellte Olifanten über die Vernunft. Der Rangerover war wie ein Backofen. »Heiß heute«, sagte Haagner. »Morgen noch heißer. Der Sommer kommt. Bald ist der Regen da, und der ganze Park wird grün.« Evan sagte bestürzt: »Nein, nein. Der Park muß so aus gedörrt sein, wie er jetzt ist. Unwirtliches Land, kahl, hungrig, räuberisch, aggressiv und grausam. Bloß nicht satt und üppig.« Haagner verstand kaum ein Zehntel. Nach einer langen Pause wiederholte er lediglich die schlechte Neuigkeit: »Wenn der Regen einsetzt, ist in einem Monat der ganze Park grün. Dann gibt es viel Wasser. Jetzt gibt es nicht 206
viel. Die kleinen Flußläufe sind alle trocken. Olifant fin den wir an den großen Flüssen. Am Saliji.« Er fuhr mehrere Meilen und hielt bei einem großen höl zernen Sonnendach, das hoch oben am Ende eines Tals er richtet worden war. Unter uns floß der Saliji, und die Ele fanten zeigten sich Evan im besten Licht. Eine große Fa milie von ihnen spielte im Wasser, bespritzte sich gegen seitig mit ihren Rüsseln und paßte auf ihren Nachwuchs auf. Da es ein offizieller Picknickplatz war, eigens angelegt auf planiertem Gelände, durften wir alle aussteigen. Ich streckte mich dankbar und kramte in der roten Box nach etwas Trinkbarem. Conrad hielt eine Kamera in der einen Hand und ein Bier in der anderen, und Evan schwang sei ne Begeisterung wie eine Peitsche über uns. Haagner und ich saßen bei vierzig Grad im Schatten an einem der verstreut stehenden kleinen Tische und aßen von den eingepackten Sandwiches. Er hatte Evan ermahnt, sich beim Filmen nicht zu weit von dem Unterstand zu entfernen, da dies eine offene Einladung für hungrige Lö wen darstelle, aber Evan glaubte selbstredend, er würde keinem begegnen; und er begegnete auch keinem. Er schleifte Conrad samt Arriflex für ein paar Nahaufnahmen fünfzig Meter bergab in den Busch, und Haagner rief drängend hinter ihm her, er solle zurückkommen; er ver liere seinen Job, wenn ihm Evan verlorengehe. Conrad kam bald wieder herauf, wischte sich Tropfen von der Stirn, die nicht bloß hitzebedingt waren, und er zählte, irgend etwas habe da hinter ein paar Felsen ge knurrt. »Es gibt zwölfhundert Löwen im Schutzgebiet«, sagte Haagner. »Wenn sie Hunger haben, töten sie. Die Löwen allein töten jedes Jahr dreißigtausend Tiere im Park.« 207
»Gott«, rief Conrad, und sein Interesse an Evans ganzem Projekt ließ sichtlich nach. Endlich kehrte Evan unversehrt zurück, doch Haagner betrachtete ihn mit Mißfallen. »Mehr Olifant im Norden«, sagte er. »Für Olifant müs sen Sie nach Norden.« Raus aus seinem Bezirk, besagte sein Tonfall. Evan nickte kurz und beruhigte sich. »Morgen. Wir brechen morgen nach Norden auf und übernachten in Camp Satara.« Ebenfalls beruhigt, fuhr Haagner uns langsam zurück in Richtung Skukusa und wies uns die ganze Zeit wieder ge wissenhaft auf Tiere hin. »Könnte man den Park auf einem Pferd durchqueren?« fragte ich Haagner. Er schüttelte entschieden den Kopf. »Sehr gefährlich. Gefährlicher, als wenn man zu Fuß geht, und zu Fuß ge hen ist auch nicht sicher.« Er sah Evan an. »Wenn Ihr Wagen liegenbleibt, warten Sie auf das nächste Fahrzeug und bitten Sie jemand, die Wildhüter im nächsten Camp zu verständigen. Steigen Sie nicht aus. Laufen Sie nicht im Park herum. Laufen Sie vor allem nicht bei Nacht im Park herum. Bleiben Sie die ganze Nacht im Wagen.« Evan lauschte dem Vortrag mit allen Anzeichen von Gleichgültigkeit. Er zeigte auf eine der unbeschotterten Nebenstraßen mit dem Schild »Keine Durchfahrt«, an de nen wir immer wieder vorbeikamen, und fragte, wo sie hinführten. »Manche gehen zu den Wachstationen der BantuRanger«, sagte Haagner nach einer Übersetzungspause. »Andere zu Wasserlöchern. Manche sind Feuerschneisen. Es sind Wege für die Ranger – die Wildhüter. Nicht für 208
Besucher. Benutzen Sie diese Wege nicht.« Er blickte Evan an, der ganz so aussah, als ob er sich nicht unbedingt daran halten würde. »Es ist nicht gestattet.« »Warum nicht?« »Der Park hat achttausend Quadratmeilen. Besucher können sich verfahren.« »Wir haben eine Karte«, wandte Evan ein. »Die Nebenstraßen«, sagte Haagner stur, »sind auf den Karten nicht eingezeichnet.« Evan aß meuterisch ein Päckchen Sandwiches und dreh te das Fenster runter, um die Plastiktüte hinauszuwerfen. »Unterlassen Sie das«, sagte Haagner so scharf, daß es ihn bremste. »Warum?« »Die Tiere fressen das und ersticken daran. Es darf kein Abfall rausgeworfen werden. Für die Tiere ist das lebens gefährlich.« »Na gut«, sagte Evan mißmutig und gab mir die zer knüllte Tüte, damit ich sie wieder in die rote Kühlbox legte. Da die Box jedoch verschlossen und auch nicht für Abfall gedacht war, steckte ich die Tüte in meine Hosenta sche. Evan rundete seinen ärgerlichen Auftritt dadurch ab, daß er die halbverzehrte Kruste seines Käse-und-TomatenSandwiches hinauswarf. »Bitte nicht die Tiere füttern«, sagte Haagner automa tisch. »Wieso?« Evan setzte ein trotziges Tierschützergesicht auf. »Es ist unklug, den Tieren beizubringen, daß Autos Freßbares enthalten.« Das brachte ihn prompt zum Schweigen. Conrad sah mich mit hochzuckender Augenbraue an, und ich verbann 209
te jeden Ausdruck aus meinem Gesicht, soweit das geht, wenn man sich innerlich kugelt. Wegen eines Olifanten, der einen Steinwurf entfernt vor uns mit den Ohren schlackerte, kamen wir nicht rechtzei tig nach Skukusa zurück. Evan, blind für die rasch unter gehende Sonne, sah überall Allegorien und ließ Conrad kilometerweise Film mit Aufnahmen durchs Fensterglas verschwenden. Er hatte gewollt, daß Conrad draußen ein Stativ aufstellte, um ein ruhigeres Bild als mit der Hand zu bekommen, doch selbst sein Eifer wurde ein wenig ge dämpft durch den entgeisterten Ton, in dem Haagner sich dagegen stemmte. »Olifant ist das gefährlichste von allen Tieren«, sagte er ernst, und Conrad versicherte ihm ebenso ernst, daß er, Conrad, um nichts auf der Welt den Rangerover verlassen werde. Haagner erlaubte nicht einmal ein offenes Fenster und wollte sofort wegfahren. Anscheinend brachten Oli fanten, wenn sie auf diese Weise mit den Ohren wedelten, ihren Unmut zum Ausdruck, und da sie sieben Tonnen wogen und mit 25 Meilen in der Stunde Sturm laufen konnten, war Herumlungern nicht ratsam. Evan glaubte nicht, daß irgendein Tier sich unterstehen würde, so wichtige menschliche Wesen wie E. Pentelow, Regisseur, und E. Lincoln, Schauspieler, zu attackieren. Er überredete Conrad, die Kamera einzuschalten, und Haag ner saß da bei laufendem Motor, den Fuß auf dem Gaspe dal. Als der Elefant schließlich einen Schritt in unsere Richtung machte, schossen wir in einem solchen Ruck davon, daß es Conrad samt Kamera und allem auf den Wagenboden warf. Ich half ihm auf, und Evan beschwerte sich bei Haagner. Der Wildhüter, dessen Geduld sich dem Ende näherte, hielt mit einem nicht minder scharfen Blick den Wagen an und zog die Handbremse. 210
»Also schön«, sagte er. »Wir warten.« Der Elefant kam hundert Meter hinter uns auf die Straße. Die großen Ohren flatterten wie Fahnen. Conrad schaute sich um. »Fahren Sie doch, lieber Jun ge«, sagte er mit Angst in der Stimme. Haagner kniff die Lippen zusammen. Der Elefant be schloß uns zu folgen. Außerdem beschleunigte er zum Trab. Es dauerte länger, als mir lieb war, bis Evan nachgab. Er sagte gerade: »Herrgott noch mal, wo ist die Arriflex?« zu Conrad, als ihm endlich zu dämmern schien, daß echte Gefahr bestehen könnte. »Fahren Sie los«, sagte er drängend zu Haagner. »Sehen Sie nicht, daß das Tier angreift?« Und Stoßzähne hatte es auch, stellte ich fest. Haagner fand ebenfalls, daß es reichte. Mit einer einzi gen flotten Bewegung hatte er die Handbremse gelöst und den Gang eingelegt, und der Elefant kriegte den Rüssel voll Staub. »Was ist mit dem nächsten Wagen, der kommt?« fragte ich. »Die fahren direkt auf ihn drauf.« Haagner schüttelte den Kopf. »Heute kommen hier keine Autos mehr lang. Es ist zu spät. Jetzt dürften alle bei den Camps sein. Und dieser Olifant, der läuft gleich wieder in den Busch. Er bleibt nicht auf der Straße.« Conrad sah auf die Uhr. »Wie lange brauchen wir noch bis Skukusa?« »Wenn wir nicht mehr anhalten«, sagte Haagner bissig, »ungefähr eine halbe Stunde.« »Aber es ist doch schon Viertel nach sechs!« rief Conrad. 211
Haagner macht eine unverbindliche Bewegung mit dem Kopf und antwortete nicht. Evan schien es die Sprache verschlagen zu haben, und ein Ausdruck ruhiger Befriedi gung breitete sich über das Gesicht des Afrikaanders. Der Ausdruck blieb dort während der restlichen Fahrt, zuerst in der kurzen Dämmerung, dann im zurückgeworfenen Licht der Scheinwerfer. Bevor wir Skukusa erreichten, lenkte Haagner den Rangerover plötzlich auf eine der für den Verkehr gesperrten Nebenstraßen, ein Abstecher, der uns nach ein oder zwei Meilen unverhofft in ein Dorf mit modernen Bungalows, kleinen Blumengärten und Stra ßenbeleuchtung brachte. Wir bekamen große Augen. Ein Vorort, nichts Geringe res, erhob sich da grün aus dem staubtrockenen Veld. »Das ist ein Wildhüterdorf«, sagte Haagner. »Mein Haus steht da drüben, das dritte in der Straße. Alle Weißen, die im Camp arbeiten, und die weißen Wildhüter wohnen hier. Die Bantu-Ranger und -Arbeiter haben auch Dörfer im Park.« »Aber die Löwen«, sagte ich. »Ist so ein Dorf denn si cher, bei der Abgeschiedenheit?« Er lächelte. »Es liegt nicht abgeschieden.« Der Range rover kam ans Ende der Häuserreihe, fuhr etwa fünfzig Meter unbeleuchtete Straße entlang und schnurrte gerade wegs in die Randzone von Camp Skukusa hinein. »Aber völlig sicher ist es auch nicht. Man darf sich abends nicht weit von den Häusern entfernen. Löwen halten normaler weise Abstand von den Gärten – und wir haben sie einge zäunt –, aber einmal wurde nachts ein junger Bantu von einem Löwen geholt, auf dem kurzen Stück Weg zwischen unserem Dorf und dem Camp. Ich kannte ihn gut. Man hatte ihm gesagt, er solle nie zu Fuß gehen … Es war wirklich traurig.« 212
»Werden oft Leute von Löwen – geholt?« fragte ich, als er bei unseren Rondavels anhielt und wir mit den Kameras und der roten Kühlbox ausstiegen. »Nein. Manchmal. Nicht oft. Leute, die im Park arbeiten. Besucher nie. Im Auto ist man sicher.« Er warf Evan einen letzten bedeutungsvollen Blick zu. »Verlassen Sie Ihr Fahrzeug nicht. Das ist gefährlich.« Vor dem Abendessen im Camp-Restaurant meldete ich ein Gespräch nach England an. Zwei Stunden Wartezeit, hieß es, aber um neun sprach ich mit Charlie. Alles sei in Ordnung, sagte sie; die Kinder seien kleine Rabauken, und sie habe Nerissa besucht. »Ich war gestern den ganzen Tag bei ihr. Die meiste Zeit haben wir bloß dagesessen, weil sie furchtbar müde war, aber sie wollte anscheinend nicht, daß ich gehe. Ich habe sie gefragt, was du wissen wolltest – nicht alles auf ein mal, sondern so nach und nach.« »Was hat sie gesagt?« »Nun, mit einigem lagst du richtig. Sie hat Danilo er zählt, daß sie die Hodgkinsche Krankheit hat. Sie sagt, damals hat sie selbst noch nicht gewußt, daß es unheilbar ist, aber sie meint nicht, daß er besonders Notiz davon ge nommen hat; er sagte lediglich, er habe geglaubt, nur jun ge Leute bekämen die Krankheit.« Wenn er das wußte, dachte ich, dann wußte er noch viel mehr. »Anscheinend war er so etwa zehn Tage bei ihr, und sie wurden gute Freunde. So hat sie das bezeichnet. Bevor er nach Amerika zurückfuhr, sagte sie ihm also, daß sie ihm die Pferde als persönliches Geschenk vermachen wollte und, da er ihr einziger Verwandter sei, außerdem alles, 213
was nach Verteilung der anderen Legate von ihrem Ver mögen übrigbliebe.« »Glücklicher Danilo.« »Ja. Nun, er hat sie noch einmal besucht, vor ein paar Wochen, Ende Juli oder Anfang August. Als du in Spani en warst, jedenfalls. Da wußte sie inzwischen, daß sie sterben muß, hat aber Danilo nichts davon gesagt. Aller dings hat sie ihm ihr Testament gezeigt, da es ihn zu inter essieren schien. Nachdem er es gelesen hatte, sei er sehr lieb gewesen und habe gesagt, er erbe hoffentlich erst in zwanzig Jahren.« »Der kleine Heuchler.« »Ich weiß nicht«, meinte Charlie zweifelnd, »obwohl du in vielem recht hast, ist nämlich doch ein dickes Haar in der Suppe.« »Was für eins?« »Danilo kann nichts dafür, wenn die Pferde verlieren. Das haut nicht hin.« »Doch«, sagte ich, »wieso denn nicht?« »Als Nerissa ihm erzählte, daß sie über das schlechte Abschneiden der Pferde besorgt sei und gern herausfinden würde, woran es liegt, hat Danilo selbst den Einfall ge habt, dich zu schicken.« »Das ist doch nicht möglich«, rief ich. »Hundertprozentig«, sagte Charlie. »Sie ist ganz sicher. Es war Danilos Vorschlag.« »Verdammt«, sagte ich. »Er hätte wohl nicht vorgeschlagen, daß jemand mal nach dem Rechten sieht, wenn er sie selber dopt.« »Nein, wahrscheinlich nicht.« »Du hörst dich deprimiert an«, sagte sie. 214
»Ich habe sonst keine Antworten für Nerissa.«
»Mach dir nichts draus. Du hättest ihr sowieso nicht ge
sagt, daß ihr Neffe krumme Touren abzieht.« »Stimmt auch wieder«, gab ich zu. »Und es war nicht schwer für Danilo, das Testament zu lesen. Sie läßt es immer auf dem Intarsientisch in der Wohnzimmerecke herumliegen. Sie hat es mir gleich ge zeigt, als ich darauf zu sprechen kam, weil es sie sehr be schäftigt. Und ich habe gesehen, was sie uns zum Anden ken hinterläßt, falls es dich interessiert.« »Was denn?« fragte ich nebenher, während ich an Danilo dachte. »Sie vermacht dir ihren Anteil an etwas, das sich Rojedda nennt, und mir einen Diamantanhänger und ein paar Ohr ringe. Die hat sie mir gezeigt. Sie sind einfach wunder schön, und ich sagte ihr, das sei viel zuviel, aber ich mußte sie anlegen, damit sie sehen konnte, wie sie mir stehen. Sie schien richtig froh, richtig glücklich zu sein. Ist sie nicht unglaublich? Ich kann es kaum ertragen – o je – o je …« »Weine nicht, Liebes«, sagte ich. Es kamen ein paar Schluckgeräusche. »Ich – ich kann nichts – dafür. Es geht ihr schon viel schlechter als bei unserem letzten Besuch, und sie fühlt sich sehr unwohl. Eine von ihren geschwollenen Lymph drüsen drückt ihr die Brust zusammen.« »Wir besuchen sie, sobald ich zurückkomme.« »Ja.« Sie schnüffelte die Tränen weg. »Gott, was fehlst du mir.« »Du mir auch«, sagte ich. »Nur noch eine Woche. Heute in acht Tagen bin ich zu Hause, und wir fahren mit den Kindern nach Cornwall.«
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Nach dem Anruf ging ich hinaus und wanderte langsam über das unebene, grasige Gelände hinter den Rondavels. Die afrikanische Nacht war sehr still. Kein Verkehrslärm von irgendeiner fernen Stadt, nur das leise, stetige Sum men des Generators, der Skukusa mit Strom versorgte, und das nimmermüde Zirpen der Zikaden. Nerissa hatte mir meine Antworten geliefert. Ich begriff, was sie bedeuteten, und wollte es nicht glauben. Ein Spiel. Nicht mehr, nicht weniger. Mit meinem Leben als Einsatz. Ich ging zurück zum Telefon und tätigte noch einen An ruf. Van Horens Butler sagte, er wolle einmal nachsehen, und Quentin kam an den Apparat. Ich sagte, ich hätte ein etwas merkwürdiges Anliegen, das ich ihm erklären wür de, wenn ich ihn das nächste Mal sah, aber könnte er mir vielleicht sagen, wie groß ungefähr Nerissas Anteil an Rojedda sei? »So groß wie meiner«, erwiderte er ohne Zögern. »Sie hat den Anteil meines Bruders von Portia geerbt.« Ich dankte ihm benommen. »Bis zur Premiere«, sagte er. »Wir freuen uns sehr dar auf.« Stundenlang konnte ich nicht schlafen. Und doch, wo hätte ich sicherer sein können als in einem bewachten Camp, wo Evan und Conrad in den Nachbarhütten schnarchten, daß sich die Wände bogen? Aber als ich aufwachte, lag ich nicht mehr im Bett. Ich war in dem Wagen, den ich in Johannesburg gemie tet hatte. 216
Der Wagen stand im frühen Tageslicht im KrügerNationalpark. Bäume, Gestrüpp und dürres Gras. Kein Rondavel weit und breit. Leichter Äthergeruch benebelte mir die Sinne, aber eine Tatsache war klar und augenfällig. Einer meiner Arme ging durch die Speichen des Lenk rads, und meine Handgelenke waren mit einem Paar Handschellen aneinandergefesselt.
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D
as mußte irgendein abscheulicher Streich sein. Evan auf die linke Tour. Es mußte ein besonders fauler Werbetrick sein, auf den Clifford Wenkins verfallen war. Es durfte alles, nur nicht wahr sein. Aber tief drinnen, im Eis gewordenen Innersten, wußte ich, daß diesmal kein Mädchen namens Jill kommen wür de, um mich zu befreien. Diesmal stand Sterben auf dem Plan. Der Tod starrte mir ins Gesicht. Griff bereits nach meinen Schultern, zog mich an den Armen. Danilo spielte um seine Goldmine. Ich fühlte mich benommen und krank. Was immer für ein Betäubungsmittel ich auch bekommen hatte, ich hatte es dicke bekommen. Wahrscheinlich viel zuviel für den Zweck. Wenn das außer mir wohl auch kaum jemanden kümmerte. Weiter konnte ich eine Ewigkeit nicht denken. Die Be nommenheit kam in feuchtkalten, erbsengrünen Wellen immer wieder. Mein körperliches Elend blockierte jeden anderen Gedanken, nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Auf Dämmerzustände folgte jedesmal ein neues Erwachen, das erneute Erkennen meiner Zwangslage, dann Übelkeit und Jammer. Die erste objektive Beobachtung, die den Nebel durch drang, war die, daß ich in Unterhosen ins Bett gegangen 218
war und jetzt Kleider anhatte. Die Hose vom Tag zuvor und das Hemd. Ebenso, als ich nachschaute, Socken und Slipper. Die nächste Entdeckung – sie hatte schon einige Zeit an die Tür des Bewußtseins geklopft, war aber als unwill kommen ausgesperrt worden – war die, daß ich mit dem Sicherheitsgurt angeschnallt war. Er ging quer über meine Brust und über meinen Schoß, wie in dem Sportwagen. Er saß nicht straff, aber ich kam nicht an den Verschluß heran. Ich versuchte es. Der erste von vielen Versuchen mit vielen Dingen. Die erste von vielen Enttäuschungen. Ich versuchte meine Hand aus den Handschellen zu zie hen; aber wie gehabt war es das Standardmodell der briti schen Polizei, eigens so konstruiert, daß man die Hände nicht herauszwängen konnte. Meine Knochen, wie gehabt, waren zu stark. Ich versuchte mit aller Kraft, das Steuer durchzubrechen, doch obwohl es im Vergleich zu dem des Sportwagens zerbrechlich aussah, schaffte ich es nicht. Ich konnte mich ein wenig mehr bewegen als im Film. Der Gurt saß nicht so stramm, und ich hatte mehr Platz für die Beine. Davon abgesehen bestand wenig Unterschied. Zum ersten Mal von vielen Malen fragte ich mich, wie lange es dauern würde, bis man nach mir suchte. Evan und Conrad würden, wenn sie mein Fehlen be merkten, sicher eine Suchaktion starten. Haagner würde sicher jeden Wildhüter im Park alarmieren. Es würde schon bald jemand kommen. Natürlich würden sie kom men. Sie würden mich befreien. Es begann wärmer zu werden, und die Sonne am wol kenlosen Himmel schien hell durch das Fenster zu meiner 219
Rechten. Der Wagen stand folglich mit der Schnauze nach Norden, und bei dem Gedanken stöhnte ich, denn in der südlichen Hemisphäre scheint die Sonne mittags von Nor den, und ich würde ihre Hitze und ihr Licht voll ins Ge sicht bekommen. Vielleicht kam jemand vor dem Mittag. Vielleicht. Die schlimmste Übelkeit ging nach ein bis zwei Stunden vorbei, wenn auch die Wellen des Unbehagens noch viel länger hin und her schwappten. Allmählich aber fing ich wieder an zu denken und hatte nicht mehr das Gefühl, es ginge mir so schlecht, daß es mir egal sein könne, ob der Tod mir im Nacken saß. Der klare Gedanke Nummer eins war, daß Danilo mich in diesen Wagen gesperrt hatte, damit ich starb und er Nerissas Hälfte von der van-Horen-Goldmine erbte. Nerissa vermachte mir ihren Anteil an Rojedda in ihrem Testament, und Danilo, der das Testament gelesen hatte, wußte es. Danilo sollte den Reinnachlaß erben. Starb ich vor Ne rissa, war das Rojedda-Legat frei, und der Anteil wurde dem Restnachlaß zugerechnet. Blieb ich am Leben, ent ging Danilo nicht nur ein Anteil an der Goldmine, er büßte auch noch Hunderttausende von Pfund ein. Nach dem derzeit geltenden Recht, das noch gelten wür de, wenn Nerissa starb, war die Erbschaftssteuer für alles, was sie besaß, aus dem Reinnachlaß zu bezahlen. Jeder für das Erbe, das Nerissa mir hinterließ, bezahlte Pfennig ging also Danilo verloren. Hätte sie mir doch nur erzählt, was sie vorhatte, dachte ich unnützerweise; ich hätte ihr sagen können, warum sie es anders machen sollte. Vielleicht war sie sich nicht dar über im klaren gewesen, wie ungeheuer wertvoll der 220
Rojedda-Anteil war; sie hatte ihn erst kürzlich von ihrer Schwester erhalten. Vielleicht hatte sie nicht gewußt, wie die Erbschaftssteuer geregelt war. Bedachte man, welche Freude sie an ihrem fast schon vergessenen Neffen gefun den hatte, dann hatte sie bestimmt nicht gewollt, daß ich auf Kosten Danilos unermeßlich reich wurde. Jeder Steuerberater hätte ihr das gesagt, aber ein Testa ment wurde normalerweise vom Notar, nicht von Steuer beratern aufgesetzt, und finanzielle Beratung war nicht Sache eines Notars. Danilo mit seinem mathematischen Verstand hatte das Testament gelesen und die Haken darin gesehen, wie ich sie auch gesehen hätte. Danilo mußte genau in diesem Moment angefangen haben, meinen Tod zu planen. Er hätte mir nur zu sagen brauchen, was sie geschrieben hatte. Aber woher sollte er das wissen? Wenn er mir im umgekehrten Fall eine Nase gedreht hätte, dachte er viel leicht, daß ich, daß jeder andere das auch tun würde. Nerissa, dachte ich. Liebe, liebe Nerissa. Meinte es gut mit allen, hinterließ ihnen frohen Herzens Geschenke und brachte mich dadurch in die allergrößte, übelste Be drängnis. Danilo der Spieler. Danilo der Aufgeweckte, der wußte, daß Morbus Hodgkin tödlich war. Danilo, der kleine Intri gant, der damit anfing, daß er den Wert eines Lots Renn pferde verminderte, um weniger Erbschaftssteuer dafür zahlen zu müssen, und der, als er feststellte, daß es in Wirklichkeit viel mehr zu gewinnen gab, den Nerv hatte, sofort in die erste Spielklasse zu gehen. Ich erinnerte mich an seine Faszination in der Mine, an seine Fragen nach den Fördermengen während des Mit tagessens und an sein Tennismatch mit Sally. Er wollte al les, nicht bloß die Hälfte. Eine Hälfte erben und die andere 221
heiraten. Egal, daß sie erst fünfzehn war; in zwei Jahren würde es eine überaus passende Verbindung sein. Danilo … Ich riß vergebens in plötzlicher, zitternder Wut an dem unbeeindruckten Lenkrad. Eine solche Grausamkeit war doch unmöglich. Wie konnte er – wie konnte irgendwer – einen Menschen in ein Auto sperren und ihn an Hitze, Durst und Erschöpfung zugrunde gehen lassen? Das gab es nur im Film – in einem Film: Der Mann im Wagen. Steigen Sie nicht aus dem Fahrzeug, hatte Haagner ge sagt. Aussteigen ist nicht sicher. Das war nun wirklich zum Lachen. Wenn ich aus diesem Wagen herauskam, nahm ich die Löwen gerne in Kauf. Was hatte ich in dem Film für ein Geschrei veranstaltet. Kalt erinnerte ich mich daran. Die geistigen Qualen, die ich mir vorgestellt und die ich gespielt hatte. Der Zerfall einer Psyche, ein Vorgang, den ich in eine Serie von Bildern zer legt hatte, die eins nach dem anderen präsentiert wurden, bis die Abfolge unerbittlich zu der leeren Hülse eines Men schen führte, der seelisch zu kaputt war, um sich davon jemals zu erholen, selbst wenn er physisch gerettet wurde. Der Mann in dem Sportwagen war eine erfundene Figur gewesen. Er war gezeigt worden als jemand, der in jeder Situation impulsiv und gefühlsbetont reagiert, und deshalb konnte er in der äußersten Not auch Weinkrämpfe haben. Aber ich war nicht wie dieser Mann; in vieler Hinsicht war ich ihm genau entgegengesetzt. Ich sah das vorliegende Problem hauptsächlich von der praktischen Seite und ge dachte das auch weiterhin zu tun. Irgendwann würde irgend jemand mich finden. Ich muß te nur alles daransetzen, solange am Leben – und bei Verstand – zu bleiben.
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Die Sonne stieg, und im Wagen wurde es heiß; aber das störte mich noch nicht weiter. Meine Blase war zum Bersten voll. Ich konnte die Hände so um das Lenkrad herum strek ken, daß ich den Reißverschluß meiner Hose aufbekam. Aber ich konnte mich auf dem Sitz nicht viel bewegen, und selbst wenn es mir gelang, mit dem Ellbogen die Tür zu öffnen, hatte ich keine Chance, bis nach draußen zu kommen. Obwohl es sinnlos war, schob ich den unver meidlichen Augenblick auf, bis das Zurückhalten eher schmerzhaft als lästig war. Aber der Widerstand hatte sei ne Grenzen. Als ich schließlich nachgeben mußte, ging viel zwar auf den Boden, aber viel auch nicht, und ich spürte, wie die Nässe vom Schritt bis zum Knie in meine Hose sickerte. In einer Pfütze zu sitzen, machte mich ungemein wü tend. Daß ich gezwungen worden war, mich naßzuma chen, kam mir unsinnigerweise brutaler vor, als daß ich überhaupt in den Wagen gesteckt worden war. Im Film hatten wir dieses Problem überspielt, als wäre es gegen über dem Geisteszustand belanglos. Wir hatten uns geirrt. Es gehörte dazu. Das Resultat war, daß ich in meinem Entschluß, mich nicht unterkriegen zu lassen, nur bestärkt wurde. Es mach te mich gemein und rachsüchtig. Ich bekam einen Haß auf Danilo. Der Morgen schleppte sich dahin. Die Hitze war anstren gend, und ich wurde das Stillsitzen leid. Aber in Spanien, sagte ich mir, hatte ich drei Wochen in genau der gleichen Haltung zugebracht. Da war es sogar viel heißer gewesen. Ich blendete bewußt den Gedanken aus, daß wir in Spanien immer eine Mittagspause eingelegt hatten. 223
Meiner Uhr nach war es bald schon Mittag. Nun … viel leicht kam ja jemand … Und wie sollte einer hierherkommen? fragte ich mich. Vor mir war kein Weg, nur kleine Bäume, dürres Gras und karges Gestrüpp. Zu beiden Seiten das gleiche. Aber der Wagen mußte hierhergefahren worden sein, ein vorbeise gelnder Adler hatte ihn nicht fallen gelassen. Ich drehte den Hals, und in den Rückspiegel schauend sah ich, daß die Straße, soweit vorhanden, direkt hinter mir lag. Es war ein unbefestigter Weg, der kein Anzeichen von Instandhal tung und sehr viele Spuren von Verlassenheit aufwies, und etwa zwanzig Meter von dort, wo ich saß, lief er vollends aus. Mein Wagen war vom Ende des Wegs schnurstracks in den Busch gesteuert worden. In weniger als einem Monat würde es regnen; die Bäume und das Gras würden saftig und grün werden und die Stra ße sich in Schlamm verwandeln. Niemand würde den Wa gen finden, falls er noch da war, wenn der Regen kam. Falls ich … noch da war, wenn der Regen kam. Ich gab mir einen Ruck. Diese Gedankengänge führten geradewegs zum Geisteszustand des Mannes in dem Film, und ich hatte mir doch vorgenommen, klüger zu sein. Natürlich. Vielleicht würden sie einen Hubschrauber schicken … Es war ein grauer Wagen, unscheinbar. Aber aus der Luft war sicher jedes Fahrzeug auszumachen. Es gab ei nen kleinen Flugplatz in der Nähe von Skukusa; ich hatte die Markierung auf der Karte gesehen. Bestimmt würde Evan einen Hubschrauber losschicken … Aber wohin? Ich saß mit dem Gesicht nach Norden, am Ende eines unbenutzten Fahrwegs. Ich konnte überall sein. 224
Vielleicht würde mich, wenn ich doch Lärm schlug, je mand hören … All die Leute, die meilenweit weg in ihren sicheren kleinen Autos daherkurvten, mit brummendem Motor und fest geschlossenen Fenstern. Die Hupe … nutzlos. Es war so ein Auto, bei dem man die Zündung einschalten muß, bevor die Hupe geht. In der Zündung … kein Schlüssel. Der Mittag ging vorüber. Ich hätte ein schönes kühles Bier vertragen können. Ein lautes Rascheln in dem Gestrüpp hinter mir ließ mich hoffnungsvoll den Kopf in diese Richtung drehen. Jemand war gekommen. Na, hatte ich es nicht gewußt? Aber keine Freiheit bringenden menschlichen Stimmen ertönten. Mein Besucher hatte gar keine Stimme, denn es war eine Giraffe. Der große, braun-gelb gefleckte Wolkenkratzer schob sich rhythmisch schwankend an dem Auto vorbei und be gann das spärliche Laub vom Wipfel des Baumes vor mir zu rupfen. Die Giraffe war so nah, daß ihr Körper die Sonne aussperrte und eine willkommene Oase des Schat tens abgab. Riesenhaft und anmutig blieb sie eine Weile, äste friedlich und hielt hin und wieder inne, um das ge hörnte Haupt zum Wagen hin zu beugen und ihn aus Au gen anzuplinkern, die von unverschämt langen Wimpern eingerahmt waren. Jeder Vamp würde vor dem Wimpern schlag einer Giraffe vor Neid erblassen. Ich begann laut mit ihr zu reden. »Schwirr doch mal ab nach Skukusa, ja, und sieh zu, daß unser Freund Haagner schleunigst mit seinem Rangerover herkommt.« Der Klang meiner Stimme erschreckte mich, denn ich hörte meine eigenen Befürchtungen heraus. Ich hoffte 225
vielleicht, daß Evan, Conrad, Haagner oder auch nur ir gendein vorbeikommender Fremder mich finden würde, aber ich glaubte nicht daran. Unbewußt war ich wegen des Films bereits auf langes Warten eingestellt. Daß schließlich jemand auftauchen würde, glaubte ich schon. Der Bauer würde mit seinem Esel daherkommen, den Wagen sehen und den Mann retten. Es war der einzig erträgliche Ausgang. Der, an den ich mich klammern und auf den ich hinarbeiten mußte. Zu guter Letzt würde man mich suchen. Wenn ich nicht zu der Premiere erschien, würde es Fra gen und Nachforschungen geben und schließlich eine Suchaktion. Die Premiere war nächsten Mittwoch. Heute, nahm ich an, war Freitag. Menschen konnten nur sechs bis sieben Tage ohne Was ser leben. Ich starrte düster die Giraffe an. Sie klapperte mit den fantastischen Wimpern, schüttelte sacht den Kopf wie vor Kummer und schlenderte elegant davon. Bis Mittwoch abend würde ich sechs volle Tage ohne Wasser verbracht haben. Am Donnerstag würde man mich noch nicht finden. Freitag oder Samstag vielleicht, wenn sie es klug anfin gen. Es ging nicht. Es mußte gehen. Als die Giraffe ihr Fleckchen Schatten mit sich nahm, merkte ich, wie glühend heiß die Sonne geworden war. Wenn ich nichts unternahm, dachte ich, würde ich mir ei nen bösen Sonnenbrand zuziehen. Am erbarmungslosesten der Sonne ausgesetzt waren merkwürdigerweise meine Hände. Wie in den meisten Au 226
tos warmer Länder war das obere Drittel der Windschutz scheibe als Blendschutz grün getönt, und wenn ich den Kopf zurücklegte, konnte ich mein Gesicht den einfallen den Strahlen entziehen; aber sie fielen ungehindert auf meinen Schoß. Ich vermied das Schlimmste, indem ich meine Manschetten aufknöpfte und die Hände in den ge genüberliegenden Ärmel steckte wie in einen Muff. Danach überlegte ich, ob es ratsam war, meine Schuhe und Socken auszuziehen und das Fenster zu öffnen, um ein wenig frische und kühlere Luft hereinzulassen. Ich konnte nacheinander die Füße bis zu meinen Händen hochziehen, um die Socken abzustreifen. Ich konnte mich auch weit genug auf dem Sitz drehen, um mit den Zehen das linke Fenster herunterzukurbeln. Nicht der Gedanke an eine Invasion von Tieren war es, der mich im letzten Moment davon abhielt, sondern die knifflige Frage der Luftfeuchtigkeit. Das einzige Wasser, das mir in der ganzen Zeit, die ich hier saß, zur Verfügung stand, war dasjenige, das sich momentan in meinem Körper befand. Mit jeder Bewegung und jedem Atemzug griff ich den Vorrat an und gab Was ser in der Form von unsichtbarem Wasserdampf an die mich umgebende Luft ab. Wenn ich die Fenster geschlos sen hielt, blieb der Wasserdampf größtenteils im Wagen inneren. Öffnete ich sie, ging er sofort verloren. Die Luft draußen war nach den regenlosen Monaten so trocken wie die Prohibition. Ich konnte zwar nicht verhin dern, daß mein Körper eine Menge Feuchtigkeit verlor, aber mir schien, ich konnte sie bis zu einem gewissen Grad wiederverwenden. In feuchter Luft würde es länger dauern, bis meine Haut vom Wasserverlust rissig wurde. Durch Wiedereinatmen der kondensierten Luft ließ der Zeitpunkt sich ein wenig hinausschieben, an dem die Schleimhäute in Nase und Rachen austrockneten. 227
Kurz und gut, ich ließ das Fenster zu. Wie ein Besessener kehrte ich immer wieder zu der Wippschaukel von Hoffnung und Verzweiflung zurück, mal überzeugt, daß Evan und Conrad Suchtrupps entsandt hatten, sobald sie mein Verschwinden bemerkten, dann wieder sicher, daß sie mein unmögliches Benehmen ver flucht hatten und allein nach Norden aufgebrochen waren, wo Evan sich derart in Olifant versenken würde, daß E. Lincoln ihm aus dem Sinn ging wie die Nachrichten von gestern. Niemand sonst würde mich vermissen. In Johannesburg wußten alle – die van Horens, Roderick, Clifford Wenkins –, daß ich für den Rest der Woche in das Wildtierreservat gefahren war. Keiner von ihnen würde Nachricht von mir erwarten. Keiner von ihnen erwartete mich vor Dienstag zurück. Meine einzige Hoffnung lag bei Evan und Conrad … und bei dem Bauern, der mit seinem Esel vorbeikam. Irgendwann im Laufe des langen Nachmittags kam mir der Gedanke, einmal nachzusehen, was ich noch alles vom Tag vorher in den Hosentaschen hatte. Ich hatte die Ta schen nicht geleert, als ich mich auszog, sondern meine Kleider einfach auf das zweite Bett gelegt. Es zeigte sich, daß meine Brieftasche noch in der zuge knöpften Gesäßtasche war, denn ich spürte ihre Form, wenn ich mich gegen den Sitz preßte. Aber Geld war unter diesen Umständen nutzlos. Indem ich mich drehte und mich ein paar Zentimeter vom Sitz hochbog, gelang es mir, meine rechte Hosenta sche nach vorn in die Mitte zu ziehen, und ihre sorgfältige Durchsuchung erbrachte als Gesamtausbeute ein Streich holzbriefchen vom Iguana Rock mit vier verbliebenen 228
Hölzern, einen blauen Gummiring und einen fingerlangen Bleistiftstummel ohne Spitze. Ich steckte all das wieder dahin, wo es hergekommen war, und zog in der Gegenrichtung, bis ich in meine linke Tasche greifen konnte. Darin waren nur zwei Sachen: ein Taschentuch … und die vergessene, zerknüllte Plastiktüte von Evans Sandwiches. »Werfen Sie keine Plastiktüten aus dem Wagenfenster«, hatte Haagner gesagt. »Sie können für die Tiere tödlich sein.« Und Menschen das Leben retten. Gute, kostbare Plastiktüte. Durchqueren Sie eine Wüste nie ohne. Ich wußte, wie man in heißem Klima mit einem Stück Plastikfolie alle vierundzwanzig Stunden eine halbe Tasse Wasser gewinnen kann, aber das ging nicht, wenn man in sitzender Stellung in einem Auto festgeschnallt war. Man brauchte ein Loch im Boden, ein kleines Gewicht und etwas, um das Wasser aufzufangen. Dennoch, das Prinzip war da, wenn ich es nur anzuwen den verstand. Kondensation. Die Loch-im-Boden-Methode funktionierte über Nacht. In der Hitze des Tages grub man ein Loch, knapp einen halben Meter tief und im Durchmesser etwas kleiner als das verfügbare Stück Plastik. Man stellte eine Tasse in die Mitte des Lochs. Man breitete die Plastikfolie über das Loch und beschwerte sie an den Rändern mit der ausgegra benen Erde, dem ausgegrabenen Sand, um das Loch abzu dichten. Schließlich legte man einen kleinen Stein oder ein paar Geldstücke in die Mitte der Folie, so daß sie an einem Punkt direkt über der Tasse niedergedrückt wurde. 229
Danach wartete man. Der in der Nacht abkühlende Wasserdampf in der heißen Luft, die in dem Loch eingeschlossen war, kondensierte zu sichtbaren Wassertröpfchen, die sich auf der kalten, un durchlässigen Folie bildeten, von dort zum tiefsten Punkt rannen und in die Tasse tropften. Eine Plastiktüte voll heißer Luft würde bis zum Morgen wohl einen Teelöffel Wasser hergeben. Viel war das nicht. Nach einiger Zeit zog ich eine Hand, soweit es ging, an mich heran, stemmte mich gegen den Gurt nach vorn und stellte fest, daß ich so in die Tüte blasen konnte, wenn ich sie in einem Ring aus Daumen und Zeigefinger lose um faßt hielt. Wohl eine halbe Stunde lang atmete ich durch die Nase ein und durch den Mund in die Plastiktüte aus. Zum Schluß hingen Hunderte von kleinen Tropfen innen an der Tüte – der Wasserdampf aus meinen Lungen, eingefangen und konserviert, statt in die Luft zu entweichen. Ich stülpte die Tüte um und leckte daran. Sie war naß. Als ich sie soweit wie möglich abgeleckt hatte, hielt ich die kühle, feuchte Folie an mein Gesicht, und da übermannte mich – vielleicht wegen der Dürftigkeit des Erreichten – zum erstenmal das jähe Gefühl der Verzweiflung. Ich kramte den blauen Gummiring wieder hervor und füllte, solange noch warm die Sonne schien, die Tüte er neut mit Luft, drehte den Hals gut zu und befestigte sie mit dem Gummi auf der einen Seite des Lenkrads. Sie hing da wie ein Spielzeugballon und wippte, wenn ich sie berührte.
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Ich hatte den ganzen Tag Durst gehabt, aber es ließ sich aushalten. Nach Einbruch der Dunkelheit gab ein zögerndes inneres Grollen sich als Hunger zu erkennen. Auch er ließ sich aushalten. Das Blasenproblem meldete sich erneut und war wieder eine Katastrophe. Aber diese Schwierigkeit würde sich mit der Zeit wohl geben: keine Zufuhr, weniger Ausstoß. Die Hoffnung mußte nach Einbruch der Dunkelheit zu rückgestellt werden. Zwölf Stunden, bis man wieder in die Tretmühle des »Kommen sie? Kommen sie nicht?« stei gen konnte. Einsame, schreckliche Stunden für mich. Die Krämpfe, die ich im Film so einfallsreich dargestellt hatte, befielen mich jetzt wirklich, als die Hitze des Tages abklang und meine Muskeln steif wurden. Zuerst wärmte ich mich durch ein Dutzend weitere Ver suche auf, das Steuer von der Lenkradsäule abzureißen, und wieder überstand der Wagen die Kraftprobe glänzend. Danach versuchte ich ein gezieltes Programm von isome trischen Übungen zu absolvieren, die den Körper warm und leistungsfähig halten sollten, doch ich wurde nur halb fertig damit. Gegen alle Wahrscheinlichkeit schlief ich ein. Der Alptraum war noch da, als ich aufwachte. Ich zitterte vor Kälte, war steif bis ins Mark und mehr als nur ein bißchen hungrig. Ich hatte nichts zu essen als vier Streichhölzer, ein Ta schentuch und einen stumpfen Bleistift. Nach kurzem Nachdenken kramte ich den Bleistift aus und knabberte daran herum. Weniger wegen des Nähr 231
werts, sondern um das Blei freizulegen. Mit diesem Blei stift, entschied ich, konnte ich Danilo zu Fall bringen. Vor Tagesanbruch kam mir nach und nach die Erkenntnis, daß Danilo mich nicht ohne Hilfe in dem Wagen ausge setzt haben konnte. Er mußte jemanden gehabt haben, der ihn wegbrachte, nachdem er mich eingesperrt hatte. Er war bestimmt nicht zu Fuß durch das Wildreservat gegangen, nicht nur wegen der gefährlichen Tiere, sondern auch, weil ein zu Fuß Gehender so auffällig gewesen wäre wie ein Rittersmann in voller Rüstung. Also hatte ihm jemand ge holfen. Wer? Arknold … Er hatte die Augen vor Danilos Betrug verschlossen, als er dahintergekommen war; hatte geschwiegen, weil er durch mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen seine Lizenz aufs Spiel gesetzt hatte. Aber würde er sich auf Mord ein lassen, damit ihm die Lizenz erhalten blieb? Nein. Würde er nicht. Barty, für Geld? Ich wußte es nicht. Einer – irgendeiner – von den van Horens, aus irgendei nem Grund? Nein. Roderick, für die Schlagzeilen? Oder Katya, oder Melanie? Nein.
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Clifford Wenkins, der Reklame wegen? Wenn er es war, war ich außer Gefahr, denn er würde mich nicht mehr lange hierlassen. Das würde er nicht wa gen. Schon weil Worldic bestimmt nichts daran lag, daß ihre Ware in beschädigtem Zustand wieder auftauchte. Ich wünschte, ich hätte glauben können, daß es Wenkins war, aber ich tat es nicht. Evan? Conrad? Davor graute mir. Sie waren beide da gewesen. An Ort und Stelle. Hatten nebenan geschlafen. Sehr praktisch, um in der Nacht ein zudringen und mich mit Äther zu betäuben. Einer von ihnen konnte es getan haben, während der an dere schlief. Aber welcher? Und warum? Wenn es Evan oder Conrad war, würde ich sterben, denn nur sie konnten mich retten. Mit diesen trüben Gedanken brach der Tag an, und das Morgenlicht zeigte mir, daß meine Theorie über den Was serdampf stimmte. Ich konnte vom Krüger-Nationalpark nichts sehen, denn alle Fenster waren angelaufen und mit perlendem Kondenswasser beschlagen. Ich konnte die Scheibe neben mir erreichen und leckte daran. Ein tolles Gefühl. Die Trockenheit auf meiner Zun ge und in meinem Hals wurde sofort gelindert, obwohl ich immer noch ein Halbes vom Faß hätte gebrauchen können. Ich schaute durch die freigeleckte Stelle. Der gleiche alte Busch. Immer noch niemand da. Mein Löffel voll Wasser hatte sich tatsächlich in der nun kalten Plastiktüte gebildet. Behutsam knotete ich sie auf, 233
ohne sie aus dem Gummiring zu nehmen, und drückte die Luft heraus, um zu verhindern, daß sie sich nachher in der Hitze ausdehnte und das kostbare Naß wieder absorbierte. Ich würde erst später trinken, beschloß ich. Wenn es schlimmer wurde. Bei all der kostbaren Feuchtigkeit, die innen an den Fen stern haftete, war es ungefährlich, eine Luftveränderung zu wagen. Ich zog einen Socken aus, drehte den Griff mit den Zehen und öffnete das linke Fenster knapp zwei Zentimeter weit. Durfte nicht riskieren, es nicht wieder schließen zu können; aber als die Sonne aufging, bekam ich es ohne große Mühe zu. Als die zunehmende Hitze die Scheiben freimachte, indem sie das Wasser wieder verdunsten ließ, konnte ich mich wenigstens mit der Gewißheit trösten, daß es ja noch im Auto war und sein Bestes tat. Der Bleistift, den ich in der Nacht beknabbert (und zur si cheren Aufbewahrung unter mein Uhrarmband gesteckt) hatte, sah allmählich schon brauchbar aus. Noch eine Sit zung mit den Schneidezähnen, dann hatte er genügend blankes Blei zum Schreiben an der Spitze. Das einzige in meinen Taschen, worauf ich schreiben konnte, waren die Innenseiten des Streichholzbriefchens, und das reichte gerade für »Danilo war es«, aber nicht für mein ganzes Vorhaben. Im Handschuhfach lagen jedoch Karten und Wagenpapiere, und nach einem langen Gerak ker, bei dem ich mir die Zehen verrenkte und viel zuviel wertvolle Energie verbrauchte, bekam ich einen großen braunen Umschlag zu fassen und ein Kartenset mit schö nen freien Rückseiten. Es gab viel zu schreiben.
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anilo hatte Nerissa vorgeschlagen, daß ich nach Süd afrika fahren sollte, weil er dort, fern von zu Hause, jede sich bietende Gelegenheit ergreifen konnte, mich so um die Ecke zu bringen, daß es wie ein Unfall aussah. Er hatte mich mit einem Köder an die Hinrichtungsstätte ge lockt, von dem er wußte, ich würde ihn annehmen – der Wunsch einer sterbenskranken Frau, die ich mochte und der ich dankbar war. Ein offensichtlicher Mord hätte ihn allzu leicht in Ver dacht geraten lassen. Ein scheinbarer Unfall – wie etwa ein Stromschlag durch ein Mikrofon – würde mit weniger Mißtrauen untersucht werden. Danilo war nicht in Randfontein House gewesen. Roderick war dort gewesen und Clifford Wenkins und Conrad. Und fünfzig andere außerdem. Wenn Danilo das stromführende Mikro besorgt hatte, mußte es mir bei der Pressekonferenz jemand in die Hände gespielt haben. Nur durch einen glücklichen Zufall wurde es mir wieder abge nommen. Und in der Mine unten, als sich die nächste Chance bot – kracks. Wäre nicht die Beharrlichkeit eines Kontrolleurs namens Nyembezi gewesen, hätte der Versuch damals geklappt. Das hier würde hingegen nicht nach einem Unfall ausse hen. Die Handschellen konnten nicht zufällig dasein. 235
Vielleicht hatte Danilo vor, nach meinem Tod wiederzu kommen und sie mir abzunehmen. Dann würde man viel leicht glauben, ich hätte mich im Park verfahren und sei lieber in dem Wagen gestorben, als einen Fußmarsch zu riskieren. Aber die Zeit war knapp bemessen. Er konnte keine Wo che warten, um sicherzugehen, daß ich tot war, bevor er wiederkam, denn bis dahin würden alle nach mir suchen, und jemand konnte vor ihm zu mir gelangen. Ich seufzte entmutigt. Nichts davon ergab einen Sinn. Der Tag erwies sich als Inferno im Vergleich zu dem da vor. Viel schlimmer noch als Spanien. Die sengende Hitze setzte mir derart zu, daß Denken unmöglich wurde und Krämpfe meine Schultern, meine Arme, meinen Magen schüttelten. Ich steckte meine Hände in die Ärmel, bog den Kopf aus dem direkt angestrahlten Bereich zurück und saß einfach da und hielt es aus, weil mir nichts anderes übrigblieb. Soviel zu meinen läppischen kleinen Versuchen, den Wasserhaushalt zu regeln. Die brutale Sonne dörrte mich mit jeder Minute mehr aus, und ich wußte jetzt, daß eine Woche heillos optimistisch war. Bei dieser Hitze genügten ein bis zwei Tage. Meine Kehle brannte vor Durst, und Speichel war ein Ding der Vergangenheit. Vier Liter Wasser unter der Kühlerhaube … so uner reichbar wie eine Fata Morgana. Als ich nicht mehr schlucken konnte, ohne vor Schmerz zusammenzuzucken, und nicht mehr atmen, ohne die Luft zu spüren wie ein Messer, band ich die Plastiktüte los und schüttete mir ihren Inhalt in den Mund. Ich kostete das 236
himmlische H2O so lange wie möglich aus, spülte es um Zähne und Gaumen und unter meine Zunge. Zum Schluk ken war kaum noch etwas übrig, und als es weg war, fühl te ich mich elend. Jetzt war nichts mehr zwischen mir und dem Dunkelwerden. Ich stülpte die Tüte um, leckte sie aus und hielt sie mir an den Mund, bis die Hitze sie völlig getrocknet hatte; dann füllte ich sie wieder mit meinem Atem und klemmte sie mit zitternden Fingern in den Gummiring am Steuer. Mir fiel ein, daß der Kofferraum noch einen ganzen Teil von Conrads Ausrüstung enthielt. Die Sachen brauchte er doch bestimmt, und danach würde er suchen, wenn schon nicht nach mir. Evan, dachte ich, um Gottes willen komm und finde mich. Aber Evan war in den Norden des Reservats gereist, das sich über 200 Meilen erstreckte bis zu seiner Grenze oben am großen, graugrün-grießigen Limpopofluß. Evan suchte dort sein Elefantenkind. Und ich … ich saß in einem Auto und war im Begriff, für eine Goldmine zu sterben, die ich nicht haben wollte. Die Nacht kam und der Hunger. Die Menschen bezahlten dafür, daß man sie auf Schön heitsfarmen hungern ließ, und die Menschen traten in den Hungerstreik, um gegen dies und jenes zu protestieren – was also war so Besonderes am Hunger? Nichts. Er war schlicht und einfach quälend. Die Nacht war kühl, ein Segen. Am Morgen, als ich so weit wie möglich das Fenster abgeleckt hatte, begab ich mich wieder ans Schreiben. Ich schrieb alles auf, was mir 237
an Einzelheiten einfiel, die der Untersuchung meines To des dienlich sein konnten. Die Hitze ging los, bevor ich damit fertig wurde. Ich schrieb »Liebe Grüße an Charlie« und setzte meinen Na men darunter, da ich mir nicht sicher war, ob ich am Abend noch in der Lage sein würde zu schreiben. Dann schob ich die beschriebenen Blätter unter meinen linken Oberschenkel, damit sie nicht außer Reichweite auf den Boden fielen, steckte den kleinen Bleistift unter mein Uhr armband, drückte die Luft aus der Plastiktüte, um den nächsten Teelöffel Wasser zu sichern, und fragte mich, wie lange ich durchhalten würde. Am Mittag wollte ich nicht mehr. Bis dahin hatte ich wegen meines Tropfens Wasser aus geharrt, aber als der fort war, wäre ich gern gestorben. Nachdem die Tüte an meinem Gesicht getrocknet war, brauchte ich viel Zeit und sehr viel Willenskraft, um sie aufzublasen und wieder am Lenkrad zu befestigen. Mor gen, dachte ich, würde sich der Fingerhut voll Flüssigkeit wieder gebildet haben, aber ich würde ihn nicht mehr trin ken können. In dem Film hatten wir uns geirrt, dachte ich. Wir hatten uns zu sehr auf das geistige Befinden des Mannes kon zentriert und das körperliche dabei vernachlässigt. Von Beinen wie Blei und von Knöcheln, die auf Ballgröße an schwellen, hatten wir nichts geahnt. Ich hatte mich längst meiner Socken entledigt, und die Chance, meine Schuhe wieder anzubekommen, war etwa so groß wie die, daß mir Flügel wuchsen. Wir hatten nicht gewußt, daß Gase den Bauch qualvoll aufblähen und daß der Gurt dann auf ihn drückt wie ein 238
Tau. Wir hatten nicht geahnt, daß die Augen sich anfühlen wie Sandpapier, wenn die Tränendrüsen austrocknen. Wir hatten unterschätzt, wie der Wasserentzug sich auf die Kehle auswirkt. Die überwältigende Hitze erdrückte und betäubte jegli ches Empfinden. Da war nichts mehr außer Schmerz und keine Aussicht darauf, daß er enden würde. Außer mit dem Tod natürlich. Am Spätnachmittag kam ein Elefant und riß den Baum aus, den die Giraffe abgekämmt hatte. Das wäre für Evan wohl allegorisch genug, dachte ich verwirrt. Elefanten waren die unzerstörbaren Zerstörer der Wildnis. Aber Evan war Meilen entfernt. Evan, dachte ich, Evan … O Gott, Evan … Komm … finde mich. Der Elefant fraß einige saftige Blätter von dem Baum, zog dann ab und ließ ihn mit den Wurzeln in der Luft zu rück, so daß er an Wassermangel sterben würde. Vor Einbruch der Dunkelheit schrieb ich noch ein paar Sätze. Meine Hände zitterten fortwährend, verkrallten sich in Krämpfen und waren am Ende zu schwach, um den Bleistift zu halten. Er fiel auf den Boden und rollte unter meinen Sitz. Ich konnte ihn weder sehen noch ihn mit meinen geschwolle nen Zehen aufheben. Heulen wäre Wasserverschwendung gewesen.
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Die Nacht kam wieder, und die Zeit verschwamm. Ich wußte nicht mehr, wie lange ich schon dort war oder wie lange es noch bis Mittwoch dauerte. Mittwoch war so weit weg wie Charlie, und ich würde beide nicht mehr sehen. Ich hatte eine Vision von dem Schwimmbecken im Garten, in dem die Kinder plansch ten, und was mir unwirklich erschien, war der Wagen, nicht das Schwimmbecken. Krämpfe beutelten stundenlang meine Glieder. Die Nacht war kalt. Die Muskeln wurden steif. Die Zäh ne klapperten. Der Magen schrie nach Nahrung. Am Morgen war die Kondensation an den Fenstern so stark, daß das Wasser in Rinnsalen am Glas hinunterlief. Ich konnte wie immer nur die kleine Fläche neben meinem Kopf erreichen. Matt leckte ich sie ab. Es war nicht genug. Ich hatte nicht mehr die Energie, zum Lüften das Fenster zu öffnen; aber Autos sind niemals völlig luftdicht, und ersticken würde ich schon nicht. Die unvermeidliche Sonne kehrte als unschuldige Morgen röte wieder, ein sanftes Vorspiel zu dem entsetzlichen Tag, der vor mir lag. Ich glaubte nicht mehr, daß jemand kam. Mir blieb nur, bis zur Bewußtlosigkeit zu leiden, denn danach würde Frieden einkehren. Selbst das Delirium würde eine Art Frieden sein, war doch die schlimmste Tortur das Wachsein, das Verstehen. Ich würde die Bene belung willkommen heißen, wenn sie kam. Sie war für mich der eigentliche Tod. Derjenige, der zählte. Ich würde es nicht merken und mir nichts daraus machen, wenn schließlich mein Herz stehenblieb. 240
Die Hitze knallte in den Wagen wie ein Sturmbock. Ich brannte. Ich brannte.
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ie kamen doch. Als die Sonne am höchsten stand, kamen Evan und Conrad mit dem Kombi: Evan mit den wüst abstehen den Haaren und den allzu stechenden Augen sprang vor lauter Energie im Dreieck; Conrad, ein wenig außer Puste unter dem Hängeschnurrbart, trocknete sich die Stirn mit einem Taschentuch. Sie kamen einfach zum Wagen und machten die Tür auf. Dann blieben sie stehen. Sie starrten mich an. Ich dachte, sie seien unwirklich; die ersten Halluzinatio nen. Ich erwiderte ihr Starren und wartete darauf, daß sie verschwanden. Dann sagte Evan: »Wo zum Teufel haben Sie gesteckt? Wir suchen seit gestern morgen den ganzen verdammten Park nach Ihnen ab.« Ich antwortete ihm nicht. Ich konnte nicht. Conrad sagte: »Mein Gott, mein Gott, lieber Junge, mein Gott …« wie eine festgefahrene Grammophonnadel. Evan ging zurück zu dem Kombi, fuhr ihn übers Gras und parkte ihn neben dem Wagen, in dem ich saß. Dann kletterte er hinten hinein und klappte die Kühlbox auf. »Geht auch Bier?« rief er. »Wir haben kein Wasser da bei.« Bier ging auch. 242
Er goß es aus der Dose in einen Plastikbecher und hielt es mir an den Mund. Es war kalt, prickelnd, unglaublich. Ich trank es nur halb, denn das Schlucken tat weh. Conrad öffnete die Tür auf der linken Seite und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Wir haben keinen Schlüssel für die Handschellen«, sag te er entschuldigend. Ein Lachen regte sich irgendwo in mir, das erste seit langem. »Puh«, sagte Evan. »Sie stinken aber.« Sie sahen, daß ich nicht sprechen konnte. Evan schenkte Bier nach und hielt es mir hin, und Conrad stieg aus und wühlte im Kofferraum herum. Er kam mit vier kurzen, dicken Drahtstücken und einer Rolle Isolierband wieder und schickte sich an, mich zu befreien. Er steckte die vier Drähte in das Gehäuse des Handschel lenschlosses, klemmte die vorstehenden Enden fest zu sammen, um einen Ansatzpunkt zu haben, und begann zu drehen. Der improvisierte Schlüssel leistete Großes. Nach vielen Flüchen und etlichen neuen Anläufen, weil die Drähte herausgerutscht waren, bekam Conrad die Fessel an meiner rechten Hand auf. Und wen kümmerte die andere? Die konnte warten. Sie schnallten den Sicherheitsgurt los und wollten mir aus dem Wagen helfen, aber ich hatte über achtzig Stun den in der gleichen beengten Stellung verbracht, und wie Beton schien mein Körper sich dieser Form angepaßt zu haben. Evan meinte unsicher: »Ich glaube, einer von uns sollte einen Arzt holen.« Ich schüttelte entschieden den Kopf. Es gab einiges, das ich ihnen sagen wollte, bevor die Außenwelt über uns her einbrach. Ich tastete fahrig unter meinem Schenkel nach 243
den Zetteln, die ich geschrieben hatte, und machte Schreibbewegungen mit der Hand. Conrad zog wortlos den goldenen Kugelschreiber hervor, den er immer bei sich trug, und tattrig schrieb ich auf eine freie Ecke des braunen Umschlags: »Wenn Sie niemandem erzählen, daß Sie mich gefunden haben, können wir den Mann fassen, der mich hierhergebracht hat.« Und als Nachsatz fügte ich hinzu: »Das möchte ich gern.« Sie lasen die krakeligen Worte, standen verwundert da und kratzten sich fast buchstäblich die Köpfe. Ich schrieb noch ein wenig: »Bitte decken Sie die Wind schutzscheibe zu.« Das leuchtete ihnen immerhin ein. Conrad verhängte die Vorderseite des Wagens mit einer dicken Regenplane, durch die es gleich zehn Grad kühler wurde. Evan sah die Plastiktüte am Steuer hängen und zog sie aus dem Gummiring. »Was zum Teufel ist das?« sagte er. Ich deutete auf die noch ungetrunkene Portion Wasser, die sich in der Tüte angesammelt hatte. Evan verstand und sah völlig entgeistert aus. Er nahm mir die beschriebenen Blätter aus der Hand und las sie. Ich trank noch etwas Bier, hielt zwar den Becher mit zittrigen Fingern, spürte aber, wie das Leben mit jedem mühsamen Schluck wieder in all die ausgetrockneten Kanäle einströmte. Er las bis zum Ende und gab dann Conrad die Blätter. Er starrte mich an, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Ein ungewohnter Zustand bei Evan. Nach geraumer Zeit sagte er langsam: »Dachten Sie wirklich, Conrad oder ich hätten Sie mit hierhergeschafft?« Ich schüttelte den Kopf. 244
»Und den armen Clifford Wenkins können Sie auch streichen, denn der ist tot. Man hat ihn Samstag nachmit tag aus dem Wemmer Pan gefischt. Er ist auf einer Boots fahrt ertrunken.« Die Neuigkeit brauchte eine Weile, bis sie durchdrang. Ich dachte, kein Gestotter mehr, keine feuchten Hände, kein nervöser kleiner Mann … armer, nervöser kleiner Mann … Ich ergriff Conrads goldenen Kuli, und Evan gab mir ei nen seiner allgegenwärtigen Notizblöcke zum Schreiben. »Ich würde mich gern hinlegen. In dem Kombi?« »Klar«, sagte er, offenbar froh, etwas tun zu können. »Wir richten Ihnen ein Bett her.« Er hüpfte wieder in den Kombi und packte die ganze Ausrüstung auf eine Seite. In der freigeräumten Hälfte baute er aus den Rücksitzen beider Autos eine Matratze zusammen, mit einem dicken Kopfkissen aus Jacken und Pullovern. »Das Ritz«, sagte er, »zu Ihren Diensten.« Ich versuchte ein Lächeln und bekam es im Rückspiegel zu sehen. Gräßlich. Ich hatte einen Viertagebart, eingesunkene, rötliche Augen und sah so grau und rot aus wie ein Ge spenst mit Sonnenbrand. Behutsamer, als ich es ihnen beiden zugetraut hätte, hal fen sie mir aus dem Wagen und trugen mich mehr, als daß sie mich stützten, zu dem Kombi hinüber. Zusammenge krümmt, mit eingerosteten Muskeln und einem Gefühl, als zerknackte es mir die Lendenwirbel, erreichte ich mein Ziel und begann, sobald ich auf dem Behelfsbett lag, mit der wohltuend schmerzhaften Prozedur des Michausstrek kens. Evan nahm die Regenplane von meinem Wagen und 245
breitete sie über das Dach des Kombis, um die Hitze ab zuhalten und auch, um Schatten zu bekommen. Ich schrieb erneut, und zwar: »Bleiben Sie hier, Evan«, denn ich dachte, sie würden vielleicht meinen Wagen mit einem Startkabel anwerfen und Hilfe holen fahren. Da er unschlüssig aussah, setzte ich mit ziemlicher Verzweif lung hinzu: »Lassen Sie mich bitte nicht allein.« »Gott«, sagte er, als er das las. »Gott, Kumpel, wir las sen Sie doch nicht allein.« Er war sichtlich aufgewühlt, und das überraschte mich. Er konnte mich ja gar nicht lei den, und in Spanien hatte er mich gnadenlos durch den Wolf gedreht. Ich trank wieder Bier, schön einen Schluck nach dem anderen. Mein Hals war immer noch hundertmal schlim mer als jede Mandelentzündung, aber langsam zeigte das Befeuchten Wirkung. Ich konnte die Zunge besser bewe gen, und sie fühlte sich schon nicht mehr so nach einem aufgequollenen Stück Leber an. Evan und Conrad setzten sich nach vorn in den Kombi und beratschlagten, wohin sie fahren sollten. Sie hatten keine Unterkunft in Skukusa reserviert, offenbar noch immer das nächstgelegene Camp, und bis zu den in Satara gebuchten Betten waren es zwei Stunden Fahrt. Satara und die Betten trugen den Sieg davon, was mir nur recht war. Evan sagte: »Dann können wir eigentlich gleich losfah ren. Hier ist es echt zu heiß. Mir langt’s. Wir suchen uns ein schattiges Plätzchen unterwegs und essen zu Mittag. Es ist schon zwei durch, und ich habe Hunger.« Das klang viel eher nach dem Evan, den ich kannte und verabscheute. Innerlich lächelnd griff ich erneut zum Kuli. »Merken Sie sich den Ort, damit man ihn wiederfindet.« 246
»Den Wagen kann jemand anders holen«, meinte Evan gereizt. »Später.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir müssen wiederkommen.« »Wieso?« »Um Danilo Cavesey zu kriegen.« Sie schauten von dem Block zu meinem Gesicht. Dann sagte Evan nur: »Wie?« Ich schrieb es auf. Sie lasen es. Die gespannte Erregung erwachte wieder bei Evan, und rasche fachliche Erwä gungen furchten Conrads Stirn, denn was ich von ihnen wollte, war ganz nach ihrem Geschmack. Dann kam ihnen beiden im Zusammenhang damit ein anderer Gedanke, und sie sahen mich zweifelnd an. »Das kann nicht Ihr Ernst sein, lieber Junge«, sagte Conrad. Aber ich nickte. »Was ist mit dem, der ihm geholfen hat?« fragte Evan. »Wie wollen Sie gegen den vorgehen?« »Der ist jetzt tot.« »Tot?« Er sah mich ungläubig an. »Meinen Sie etwa … Clifford Wenkins?« Ich nickte. Ich war müde. Ich schrieb: »Das erkläre ich Ihnen, wenn ich reden kann.« Damit waren sie einverstanden. Sie schlossen die Türen meines Wagens, stiegen wieder in den Kombi, wendeten, und wir rollten die Sandpiste entlang, die für mich so lan ge Zeit nur eine Reflexion in einem 8 mal 16 Zentimeter großen Spiegel gewesen war. Conrad fuhr, und Evan skizzierte eine Karte. Anschei nend war es reine Glückssache, daß sie mich gefunden 247
hatten, denn ich hatte eine Meile weit von der Abzwei gung eines ebenso verlotterten Wegs gestanden, der zu ei nem ausgetrockneten Wasserloch führte. Der Wasser lochweg stieß auf einen anderen, der schließlich wieder zu den von Besuchern benutzten Straßen führte. Evan sagte, er könne meinen Wagen auf Anhieb wiederfinden; das sei einfach. Gestern hätten sie jeden Seitenweg zwischen Skukusa und Numbi abgeklappert, setzte er hinzu. Heute war das karge, trockene Terrain südlich des Sabie an die Reihe gekommen, und auf dem fünften Wirtschaftsweg hatten sie mich entdeckt. Nach fünf oder sechs Meilen kamen wir zu einer klei nen Baumgruppe, die ein wenig gesprenkelten Schatten warf. Conrad fuhr sofort ran, und schon wühlte Evan in der roten Kühlbox. Sie hatten noch Sandwiches, Obst und Bier. Ich wollte mit Sandwiches und Obst erst einmal warten. Das Bier wirkte Wunder. Ich trank noch welches. Die beiden anderen futterten drauflos, als handelte es sich um ein ganz alltägliches Picknick. Sie drehten die Fenster weit auf in der Annahme, daß jedes vernünftige Tier bei dieser Hitze schlief, anstatt sorglosen Zweibeinern nachzustellen. Es kamen keine Autos vorbei. Auch alle vernünftigen Menschen waren in den klimatisierten Camps mit ihrer Siesta beschäftigt. Evan machte die Hitze natürlich nichts aus, und Conrad mußte sich damit abfinden. Ich schrieb wieder. »Was hat Sie veranlaßt, mich zu su chen?« Evan sprach zwischen zwei Schinkensandwich-Bissen. »Wir brauchten immer wieder die Sachen von Conrad, die Sie im Wagen hatten. Es wurde bald sehr lästig, da nicht dran zu können. Also haben wir gestern Morgen im Iguana 248
angerufen, um Ihnen zu sagen, wie rücksichtslos es war, die einfach mitzunehmen.« »Es hieß, Sie seien nicht da«, sagte Conrad. »Es hieß, Sie hätten für einige Tage in den Krüger-Park fahren wol len.« »Da kamen wir nicht mit«, sagte Evan nickend. »Wegen Ihres Zettels.« »Was für ein Zettel?« Ich wollte die Frage automatisch aussprechen, doch meine Kehle ließ es noch nicht zu. Ich schrieb sie also. »Die Nachricht, die Sie hinterlassen haben«, sagte Evan gereizt, »Sie seien nach Johannesburg zurückgekehrt.« »Ich habe keine Nachricht hinterlassen.« Er hörte auf zu kauen und saß da mit vollem Mund wie erstarrt. Dann kaute er weiter und sagte: »Nein. Stimmt. Sieht nicht so aus.« »Wir dachten aber, Sie hätten sie hinterlassen«, sagte Conrad. »Es war bloß ein Zettel, auf dem in Großbuchstaben stand: ›Bin zurück nach Johannesburg, Link.‹ Verdammt unhöflich und undankbar fanden wir das, lieber Junge. Ih ren Kram zu packen und im ersten Morgengrauen abzu hauen, ohne auch nur Wiedersehn zu sagen!« »Tut mir leid.« Conrad lachte. »Danach haben wir versucht, Clifford Wenkins zu erreichen, da wir dachten, er wüßte vielleicht, wo Sie sind, aber unter seiner Nummer meldete sich bloß eine hysterische Frau, die sagte, er sei im Wemmer Pan er trunken.« »Wir haben es noch bei ein paar anderen Leuten ver sucht«, fuhr Evan fort. »Den van Horens und so weiter.« »Danilo?« schrieb ich. 249
»Nein.« Evan schüttelte den Kopf. »An den haben wir nicht gedacht. Wir wissen ja auch gar nicht, wo er wohnt.« Nachdenklich aß er einen Bissen. »Wir fanden es etwas eigenartig, daß Sie einfach wegfahren, ohne jemand mit zuteilen, wo man Sie erreichen kann, und dann dachten wir, weiß der Geier, vielleicht hat er nicht aufgepaßt und sich im Park verfahren und ist nie in Johannesburg ange kommen. Nach einigem Hin und Her haben wir also die Anmeldung in Satara überredet, mal nachzuhören, wann Sie am Freitag morgen durchs Numbi-Tor gefahren sind, und der Schrankenwärter sagte, nach ihren Unterlagen sei en Sie überhaupt nicht raus.« »Wir haben mit Haagner telefoniert, lieber Junge«, sagte Conrad, »und ihm die Lage erklärt, aber er schien nicht weiter besorgt zu sein. Er meinte, in Numbi kommen die Leute oft ohne Papiere durch, obwohl man eigentlich Quittungen vorzeigen soll als Beleg, daß man für den Auf enthalt in den Camps bezahlt hat. In Ihrem Fall, meinte er, brauchten Sie nur zu sagen, Evan und ich seien noch im Park und hätten für Sie bezahlt. Die Leute von Numbi würden in Skukusa rückfragen und Sie durchlassen. Er meinte auch, Sie könnten sich im Park nicht verfahren ha ben. Sie seien zu vernünftig, und nur Idioten würden sich verfahren. Leute, die meilenweit die gesperrten Wege ent langbrettern und dann mit ihren Autos liegenbleiben.« Und vermutlich hatten sie geglaubt, genau das sei mir pas siert. Aber ich murrte nicht. Sie rissen Bierdosen auf und tranken. Ich nippte langsam weiter. »Wir haben in Skukusa auch für Sie bezahlt«, sagte Evan vorwurfsvoll. »Einschließlich des Fensters, das Sie zerschlagen haben.« Ich brauchte nur den Kuli zu ergreifen. 250
»Mein Gott«, sagte Evan, bevor ich es zu Papier brachte. »Danilo Cavesey hat das Fenster eingeschlagen … um in Ihr Rondavel zu gelangen.« Ich nahm es an. Er war an der verschlossenen Tür vor beigekommen, ohne mich aufzuwecken. »Sie sind ein ziemlich wertvolles Stück, lieber Junge«, beendete Conrad die Erzählung. »Deshalb fanden wir, wir sollten vielleicht ein, zwei Tage opfern, um Sie zu su chen.« »Gestern nachmittag haben wir eine prächtige Elefan tenherde gesehen«, sagte Evan und gab damit zu verste hen, daß die Verzögerung gegenüber ihren ursprünglichen Plänen keine gänzlich unvergeudete Zeit war. »Und viel leicht sehen wir heute ja auch wieder eine.« Sie halfen mir in Satara in das Rondavel, und ich bat sie, die Klimaanlage auszuschalten, da es mir in der Hütte kalt vorkam. Wenn mir wieder kalt wurde, wurde ich wieder steif, und das hätte meine Schmerzen nur verstärkt. Ich legte mich auf eins der Betten, mit drei Wolldecken über mir, und fühlte mich miserabel. Conrad holte ein Glas Wasser, und er und Evan standen verlegen herum. Evan sagte: »Lassen Sie sich Ihre stinkigen Klamotten ausziehen. Im Moment würden Sie ein Schwein beschä men.« Ich schüttelte den Kopf. »Möchten Sie sich vielleicht waschen, wenn wir Ihnen Wasser bringen?« Wieder nein. Evan rümpfte die Nase. »Gut, dann stört es Sie wohl nicht, wenn keiner hier bei Ihnen schläft?« 251
Ich schüttelte den Kopf. Mein Geruch war mir selbst wi derwärtig, nachdem ich jetzt so viel frische Luft geatmet hatte. Conrad ging in den Laden des Camps, um etwas zu be sorgen, das ich schlucken konnte, und kam bald darauf mit einem halben Liter Milch und einer Dose Hühnersuppe wieder. Der einzige Öffner, den sie hatten, war der Bier dosenöffner, doch schließlich schafften sie es, die Suppe in einen Krug umzufüllen. Da es keine Möglichkeit gab, sie zu erhitzen, kippten sie die Hälfte der Milch hinzu und rührten, bis das Ganze flüssig war. Dann schenkten sie mir ein Glas voll ein, und dankbar für ihre ungeschickte Mühe trank ich es Schluck für Schluck. »So«, sagte Evan munter in der Gewißheit, daß sie ihr möglichstes für mich getan hatten, »dann wollen wir jetzt mal die Falle entwerfen.« Als ich es diesmal versuchte, gelang mir etwas Ähnli ches wie sprechen. »Danilo wohnt im Vaal Majestic«, sagte ich. »Was haben Sie gesagt?« fragte Evan. »Gott sei’s ge dankt, daß Sie wieder reden können, aber verstanden habe ich kein Wort.« Ich schrieb es auf. »Ah. Gut.« Ich sagte: »Rufen Sie ihn morgen früh an und sagen ihm …« Es war ein Krächzen, rauh und rissig. »Hören Sie«, unterbrach Evan, »wir kommen schneller klar, wenn Sie es aufschreiben.« Ich nickte. Meinem Hals konnte es nur recht sein. »Fragen Sie Danilo morgen früh am Telefon, ob er wis se, wo ich sei; Sie müßten das herauskriegen, weil ich 252
Conrads Ausrüstung im Wagen hätte. Sagen Sie ihm, ich hätte auch Conrads goldenen Bleistift eingesteckt, und den wollte er unbedingt wiederhaben. Außerdem hätte ich ei nen Notizblock von Ihnen, und Sie brauchten Ihre Notizen. Sagen Sie ihm, Sie machen sich Sorgen, weil ich so eine Theorie hatte, daß jemand, den ich kenne, mich umbringen wollte.« Evan las und schaute skeptisch drein. »Sind Sie sicher, daß er deswegen hier heraufkommt?« Ich schrieb: »Würden Sie an seiner Stelle das Risiko ein gehen, daß ich meine Theorie aufschreibe, wenn Sie wüß ten, ich habe Papier und Bleistift in greifbarer Nähe?« Er überlegte. Er sagte: »Nein.« »Ich hab’s ja auch aufgeschrieben.« »Stimmt.« Conrad ließ sich schwer in den Sessel sinken und nickte. »Was noch, lieber Junge?« Ich schrieb: »Rufen Sie heute abend Quentin van Horen an. Erzählen Sie ihm, in welchem Zustand Sie mich ge funden haben. Sagen Sie ihm, ich hätte Aufzeichnungen gemacht. Lesen Sie ihm die vor. Erzählen Sie ihm von der Falle für Danilo. Er soll die Polizei verständigen. Bei sei nem Einfluß kriegt er das schon richtig hin.« »Sicher. Klar.« Mit ungebrochener Energie raffte Evan mein Auto-Kassiber und sein Notizbuch mit unseren Plä nen zusammen und eilte geradewegs zu dem Telefon im Hauptgebäude. Conrad blieb und zündete sich eine Zigarre an, zweifel los, um die üblen Gerüche abzuwehren. »Evan war es, der darauf bestanden hat, Sie zu suchen, Junge«, sagte er. »Absolut fanatisch war er. Sie wissen ja, daß er nie aufgibt, wenn er sich was in den Kopf gesetzt 253
hat. Wir sind die unwahrscheinlichsten Wege abgefahren – kam mir saublöd vor –, bis wir Sie gefunden haben.« »Wer«, sagte ich langsam und bemühte mich, deutlich zu sprechen, »hat Danilo von Der Mann im Wagen erzählt?« Er zuckte ein wenig verlegen die Achseln. »Kann sein, daß ich das war. In Germiston. Da wollte jeder was über Ihre neueste Arbeit hören – die van Horens, Clifford Wen kins, Danilo – sie alle.« Es spielte keine Rolle. Wenkins hätte die Handlung des Films ohne weiteres auch über Worldic erfahren können. »Apropos, lieber Junge«, sagte Conrad nachdenklich. »Die Maske in dem Film ist völlig daneben.« Er paffte an seiner Zigarre. »Wenn Sie aber so aussähen, würden Sie Ihr Publikum vergraulen.« »Danke.« Er lächelte. »Noch etwas Suppe?« Evan blieb lange fort und wirkte, als er zurückkam, ernst und angespannt. »Ich soll ihn später noch mal anrufen. Er war ziemlich verwirrt, als ich alles erzählt hatte.« Evan zog die Brauen hoch, erstaunt, daß jemand Zeit brauchte, um so ein paar unangenehme Tatsachen zu verdauen. »Er sagte, er wolle darüber nachdenken, was zu tun sei. Und – ach ja, ich soll Sie fragen, wie Sie jetzt darauf kommen, daß es Clifford Wenkins war, der Danilo geholfen hat.« Ich sagte: »Clifford Wenkins hätte bestimmt geholfen –« »Schreiben Sie es auf«, sagte Evan ungeduldig. »Sie hö ren sich an wie ein kehlkopfkranker Rabe.« Ich schrieb: »Clifford Wenkins hätte zu Werbezwecken alles getan! So hat er zum Beispiel auch Aufnahmegeräte und Mikrofone vertauscht. Ich glaube nicht, daß er ge dacht hat, dabei könnte jemand sterben – aber wenn ich 254
bei einer Pressekonferenz einen Stromschlag kriegte, würde mein Name und der Zweck meines Besuches garan tiert in die Zeitungen kommen. Ich glaube, Danilo hat ihm das alles in den Kopf gesetzt und ihm die stromführenden Geräte verschafft. Wenkins war entsetzt, als Katya einen so schweren Schlag bekam, und danach sah ich ihn mit sehr besorgtem Gesicht telefonieren. Ich dachte, er spre che mit Worldic, aber er könnte auch Danilo berichtet haben, daß der Werbetrick schiefgegangen war.« »Von Worldics Standpunkt aus, lieber Junge, ist er mehr als gutgegangen«, bemerkte Conrad. »Worldic hat Clifford Wenkins erbarmungslos genötigt, für Publicity zu sorgen; wenn Danilo ihm also vorge schlagen hätte, sie sollten mich kidnappen und in mein Auto sperren wie in meinem neuen Film, dann wäre er wohl blöd genug gewesen, dem zuzustimmen. Als ich drei Tage in dem Wagen gesessen hatte, glaubte ich nicht mehr, daß Wenkins der sein könnte, der Danilo zur Hand gegangen war, denn Wenkins hätte mich nicht so lange da sitzen lassen. Aber als Wenkins erst tot war, wußte niemand außer Danilo, wo ich geblieben war. Er brauchte mich nur dazulassen. Nach der Entdeckung meiner Leiche würde man zu dem Schluß kommen, daß es sich um einen von Wenkins und mir selbst geplanten Werbetrick gehandelt hat, der schief ging, weil er ertrank und die notwendige Suchaktion nicht einleiten konnte. Er und Danilo dürften mit Wenkins’ Wagen in den Park gekommen sein, und so wird bei der Anmeldung am Num bi-Tor belegt sein, daß er hier war.« Evan, der, während ich schrieb, ungeduldig umherge tigert war, riß mir förmlich den Notizblock aus der Hand. Er las alles durch und gab Conrad den Block. 255
»Sind Sie sich darüber im klaren«, wollte er wissen, »daß Sie Danilo praktisch beschuldigen, er habe Clifford Wenkins umgebracht, damit man Sie nicht findet?« Ich nickte. »Ich glaube, das hat er getan«, krächzte ich. »Wegen ei ner Goldmine.« Sie ließen mich mit Wasser und Suppe am Bett allein und gingen zum Abendessen in das Restaurant. Als sie zurück kamen, hatte Evan noch einmal mit van Horen telefoniert. »Jetzt hat er etwas besser durchgeblickt«, meinte Evan herablassend. »Ich habe ihm vorgelesen, was Sie über Wenkins geschrieben haben, und er war der Ansicht, da könnten Sie recht haben. Er sagte, er sei bestürzt wegen Danilo, denn er habe ihn gemocht, aber er werde tun, was Sie verlangen. Er sagte, er will selbst herkommen. Er fliegt morgen in aller Frühe nach Skukusa. Die Polizei wird dann ordnungsgemäß informiert sein. Conrad und ich holen Sie und van Horen vom Flugplatz ab und machen weiter im Text, wenn es so aussieht, als ob Danilo ange bissen hat.« Wir wollten Danilo am nächsten Morgen anrufen. Selbst wenn er ebenfalls so schnell wie möglich herflog, würden alle auf dem Posten sein, bevor er ankam. Die Nacht war das Paradies im Vergleich zu den vorher gehenden, aber immer noch weit entfernt vom Himmel. Am Morgen fühlte ich mich schon viel kräftiger: Die Krämpfe hatten aufgehört, und das Feuer in meiner Kehle hätte Celsius nicht mehr erschreckt. Ich schleppte mich ins Bad, krumm und gebeugt wie Adam, der greise Gärtner, aber ich schaffte es; und ich aß die Banane, die Conrad mir zum Frühstück brachte. 256
Evan telefoniere gerade mit Danilo, sagte Conrad, und später kam Evan dann mit einem zufriedenen Lächeln her ein. »Er war da«, sagte er. »Und ich würde behaupten, er hat es eindeutig geschluckt. Er hörte sich ziemlich besorgt an – scharfe Stimme und so weiter. Er fragte, woher ich das mit dem goldenen Stift so genau wüßte. Ist das zu glau ben? Ich sagte, den hätte Conrad Ihnen am Donnnerstag abend geborgt, und ich hätte gesehen, wie Sie ihn einge steckt haben. Freitag früh seien Sie dann nach Johannes burg gefahren, ohne ihn zurückzugeben.«
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as Schwierigste, was ich je gemacht habe, war, mich wieder in diesen Wagen zu setzen. Wir erreichten ihn um halb elf, und Evan und Conrad beeilten sich, verschiedene Gerätschaften zu montieren, darunter einen Summer, der mir signalisieren würde, wann Danilo anrückte. Eine halbe Stunde später, als sie fertig waren, bahnte sich wieder ein knallheißer Tag an. Ich trank die ganze Flasche Wasser, die wir aus Satara mitgenommen hatten, und aß noch eine Banane. Evan hüpfte auf der Stelle. »Los doch. Kommen Sie. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Wir müssen schnellstens nach Skukusa, van Horen abholen.« Ich stieg aus dem Kombi, humpelte zu meinem Wagen hinüber, setzte mich auf den Fahrersitz und schnallte mich an. Die fast überwundenen Schmerzen flammten sofort wie der auf. Conrad nahte mit den Handschellen, und es schnürte mir die Kehle zu. Ich konnte ihn nicht ansehen, konnte Evan nicht ansehen … noch sonst etwas. Ich konnte es nicht; al le meine Nerven und Muskeln sträubten sich dagegen. Es ging nicht. Conrad, der mich beobachtete, sagte sachlich: »Sie müssen es ja nicht machen, Link. Es war Ihre eigene 258
Idee, lieber Junge. Er wird kommen, ob Sie hier sind oder nicht.« »Versuchen Sie doch jetzt nicht, es ihm auszureden«, meinte Evan verärgert. »Wofür mühen wir uns denn hier die ganze Zeit ab? Und Link hat ja selbst darauf hingewie sen, daß sich kein schlüssiger Beweis ergibt, wenn Danilo kommt und er nicht im Wagen ist.« Conrad zögerte noch immer. Meine Schuld. »Machen Sie schon«, sagte Evan. Ich schob meinen Arm durch das Lenkrad. Er zitterte. Conrad ließ die Handschellen erst um das eine, dann um das andere Handgelenk schnappen, und ich erschauerte von Kopf bis Fuß. »Junge, Junge …«, sagte Conrad unsicher. »Kommen Sie«, drängte Evan. Ich sagte nichts. Ich dachte, jedes Wort würde mir zu ei ner flehenden Bitte geraten, daß sie mich nicht alleinlassen sollten. Aber alleinlassen mußten sie mich. Evan schlug barsch die Wagentür zu und bedeutete Con rad, ihm zu dem Kombi zu folgen. Conrad blickte im Weggehen über die Schulter, um zu sehen, ob ich ihn rief. Sie stiegen ein, wendeten und fuhren davon. Die Stille des zundertrockenen Parks senkte sich über mich. Ich wünschte, ich hätte diesen Plan nie vorgeschlagen. Das Auto erschien mir heißer denn je, die Hitze noch un erträglicher. Innerhalb einer Stunde stellte sich trotz der Wassermengen, die ich am Morgen getrunken hatte, hefti ger Durst ein. In meinen Beinen zuckten wieder Krämpfe auf. Mein Rückgrat protestierte. Meine Schultern waren verspannt. Ich verfluchte mich. 259
Wenn er nun den ganzen Tag braucht? dachte ich. Wenn er nicht geflogen, sondern gefahren ist? Um acht hat Evan ihn angerufen. Mindestens fünf Stunden Fahrt bis Numbi, dann noch mal anderthalb bis zu mir … Möglicherweise kam er erst um drei oder vier, und das würde fünf Stunden im Wagen bedeuten … Ich steckte meine Hände in die Hemdsärmel und nahm den Kopf aus der Sonne. Da war kein Wasserdampf, keine Plastiktüte, die meinen Geist beschäftigt hätten. Die krakelig beschriebenen Blät ter lagen auf meinen Knien, und der Clip von Conrads goldenem Bleistift, passend zu seinem Kuli, hielt sie zu sammen. Es gab kein Pendeln mehr von Hoffnung zu Ver zweiflung und wieder zurück, und das war sicher eine wohltuende Erleichterung, doch wurde die Zeit dadurch unerwartet lang. Jede Minute schleppte sich hin. Die Premiere sollte am nächsten Abend stattfinden. Ich fragte mich, wer sie wohl jetzt organisierte, wo der arme Clifford Wenkins in seinem nassen Grab lag. Ich fragte mich, ob ich rechtzeitig zum Klipspringer Heights Hotel kommen würde. In vierundzwanzig Stunden rasiert, geba det, ausgeruht, getränkt, gespeist – vielleicht würde ich es gerade so schaffen. Bei all den Leuten, die zwanzig Rand für einen Platz bezahlt hatten, wäre es unfair, nicht zu er scheinen, wenn ich irgend konnte. Die Zeit kroch dahin. Ich sah auf meine Uhr. Sie strengte sich nicht an. Conrad hatte einen Sender angebracht mit einem Knopf, auf den ich drücken konnte, wenn ich es einfach nicht mehr aushielt. Drückte ich ihn aber, war der ganze Aufwand heu 260
te umsonst. Man würde mir zu Hilfe eilen, aber Danilo würde die Bewegung sehen und niemals herankommen. Ich wünschte, Conrad hätte nicht auf diesem Knopf be standen. Evan hatte gesagt, er sei notwendig, damit er, van Horen und die Polizei mit Sicherheit wußten, daß Danilo gekommen war, falls sie ihn auf der Straße durch Zufall verpaßten. Ein Summton hieß, Danilo war gekommen. Zwei, daß er wieder weg war. Eine Reihe von kurzen Summtönen würde sie jederzeit sofort herbeirufen, um mich zu befreien. Ich würde noch zehn Minuten warten, bevor ich aufgab, dachte ich. Dann noch mal zehn. Dann noch mal. Zehn Minuten waren immer möglich. Conrads Warnsignal sirrte mir wie eine Wespe im Ohr und ließ mich mit einem Ruck in Aktion treten. Danilo kam herangefahren und hielt neben mir, wo der Kombi gestanden hatte. Ich drückte die Schalter, die in Reichweite an der Lenk radsäule befestigt waren. Ich bot mein ganzes schauspielerisches Können auf, um auszusehen, als wäre ich dem Tod nah, und dazu brauchte ich den Zustand, den ich wirklich erlebt hatte, gar nicht so sehr weiterzuentwickeln. Ein paar Geier hatten sich pas senderweise auf einem nahen Baum niedergelassen und hockten da abwartend wie Umstürzler am Vorabend der Revolution. Ich beäugte sie säuerlich, aber Danilo war be ruhigt. Er öffnete die Tür, und aus engen Augenschlitzen sah ich, wie er zurückprallte, als der ungemilderte, aufgeheizte 261
Gestank ihm in die Nase fuhr. Es hatte sich gelohnt, un gewaschen zu bleiben, sich nicht umzuziehen. Nichts an mir ließ erkennen, daß mein Aufenthalt, seit er mich dort zurückgelassen hatte, unterbrochen worden war, und vie les deutete auf das Gegenteil. Er betrachtete meinen herabhängenden Kopf, meine schlaffen Hände, meine bloßen, geschwollenen Füße. Er zeigte keine Reue, kein Mitleid. Die Sonne brannte auf den flachsblonden Schopf und verlieh ihm einen Heiligen schein. Der typisch amerikanische Junge mit dem offenen Gesicht, so kalt, glitzernd und unbarmherzig wie Eis. Er beugte sich vor und riß mir praktisch die Zettel vom Schoß. Nahm den Bleistift weg und warf ihn auf den Rücksitz. Las, was ich geschrieben hatte, ganz durch. »Sie sind also draufgekommen … und haben es aufge schrieben«, sagte er. »Kluger Ed Lincoln – überschlau. Schade, daß das nie jemand lesen wird …« Er starrte mir in die halb geschlossenen Augen, um sich zu vergewis sern, daß ich ihn sehen, ihn hören konnte. Dann nahm er ein Feuerzeug, knipste es an und setzte die Zettel in Brand. Ich zitterte schwach, in stummem Protest. Das gefiel ihm. Er lächelte. Er drehte die Zettel um, ließ sie ganz verbrennen und zertrat die Asche dann zu nichts als Staub in dem staubi gen Gras. »Da«, sagte er fröhlich. Ich gab ein leises Krächzen von mir. Er merkte auf. Ich sagte: »Lassen … Sie mich … frei.« »Ausgeschlossen.« Er griff in seine Tasche und holte ei nen Schlüsselbund hervor. »Schlüssel für den Wagen.« Er hielt sie klingelnd hoch. »Schlüssel für die Handschellen.« Er schwenkte ihn vor meinen Augen. 262
»Bitte«, sagte ich. »Dein Tod ist mir zuviel wert, Kumpel. Tut mir leid und alles. Aber so steht’s.« Er steckte die Schlüssel ein, schlug mir die Tür vor der Nase zu und fuhr ohne einen weiteren Blick herzlos da von. Arme Nerissa, dachte ich. Hoffentlich starb sie, bevor sie die Wahrheit über Danilo erfuhr; aber das Leben war nicht immer gnädig. Nach kurzer Zeit rollten vier Fahrzeuge in das Bild im Rückspiegel und hielten rings um meinen Wagen an. Evans und Conrads Kombi. Van Horen mit Chauffeur. Zwei Polizeiwagen: im ersten, wie ich bald feststellte, ihr Fotograf und ihr Arzt; im zweiten drei höhere Beamte und Danilo Cavesey. Sie standen alle draußen vor den Autos: Eine prächtige Mahlzeit für jedes vorbeikommende Löwenrudel. Die wil den Tiere hielten sich jedoch dezent verborgen. Danilo übertraf sie alle an Brutalität. Conrad kam hastig herüber und riß die Tür auf. »Alles in Ordnung, lieber Junge?« fragte er besorgt. Ich nickte. Danilo sagte laut und scheinheilig: »So glauben Sie mir doch, ich hatte ihn gerade gefunden und wollte Hilfe holen.« »Na klar«, murmelte Conrad und grub seine Kabel aus. »Er hat den Handschellenschlüssel in der Tasche«, sagte ich. »Sie scherzen wohl, mein Junge?« Er sah jedoch, daß ich es ernst meinte. Er ging zu den Polizeibeamten hinüber 263
und sagte es ihnen, und nach einem kurzen Gerangel fan den sie den Schlüssel. Ebenso die Wagenschlüssel. Und würde Mr. Cavesey jetzt vielleicht einmal erklären, wieso er weggefahren war, wo er doch alles Nötige in der Tasche hatte, um Mr. Lincoln zu befreien? Mr. Cavesey blickte finster und blieb stur. Er habe Hilfe holen wollen, sagte er. Evan, der sich königlich amüsierte, ging zu dem Baum hinüber, den der Elefant ausgerissen hatte, und legte unter dem welkenden Laub die Arriflex auf ihrem Stativ frei. »Alles, was Sie hier getan haben, ist gefilmt worden«, teilte er Danilo mit. »Link hatte eine Kabelverbindung im Wagen. Er hat die Kamera in Gang gesetzt, als Sie auf tauchten.« Conrad holte sein bestes Tonbandgerät unter dem Wagen hervor und löste das empfindliche Mikrofon von der vor deren Tür. »Alles, was Sie hier gesagt haben«, echote er mit gleich großer Befriedigung, »wurde aufgezeichnet. Link hat den Recorder eingeschaltet, als Sie kamen.« Die Polizei zückte ein Paar Handschellen und legte sie Danilo an, der unter der Sonnenbräune aschfahl geworden war. Quentin van Horen kam zum Wagen herüber und sah auf mich nieder. Conrad hatte eine Kleinigkeit vergessen, nämlich die Schlüssel mitzubringen und mich zu befreien. Ich saß noch immer hilflos und gefesselt da, wie zu Be ginn. »Um Gottes willen …« Van Horen sah entsetzt aus. Ich lächelte schief und schüttelte den Kopf. »Um Goldes willen«, sagte ich. Sein Mund bewegte sich, aber die Worte blieben aus. 264
Gold, Habgier und verwöhnte Jungen – eine ganz üble Mischung. Evan stolzierte umher und sah wichtig, angespannt und zufrieden aus, so als habe er die ganze Vorstellung aufge zogen und inszeniert. Aber er sah, daß ich immer noch nicht frei war, und ausnahmsweise zeigte sich ein Funke Mitgefühl bei ihm. Er ging den Schlüssel holen. Als er zurückkam, blieb er einen Augenblick neben van Horen stehen und starrte auf mich herunter, als sähe er et was Neues. Zum allerersten Mal lächelte er mit einer An deutung von Freundschaft. »Schnitt«, sagte er. »Keine Wiederholung heute.«
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