BARBARA HAMBLY
GEFÄHRTEN DES TODES
Vampir-Roman
Ins Deutsche übertragen von Barbara Röhl
BASTEI-LUBBE-PAPERBACK Ban...
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BARBARA HAMBLY
GEFÄHRTEN DES TODES
Vampir-Roman
Ins Deutsche übertragen von Barbara Röhl
BASTEI-LUBBE-PAPERBACK Band 28 234 © Copyright 1995 by Barbara Hambly All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1996 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Travelling With The Dead Lektorat: Dr. Lutz Steinhoff/Stefan Bauer Titelbild: Wiktor Sadowski Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-404-28234-5
Erste Auflage Oktober 1996
Für George Mit einem Gebet, gesprochen im Schatten der Hagia Sophia
PROLOG
Das Haus war alt. Trotz seiner Größe wirkte es unscheinbar. Merkwürdig, dachte Lydia Asher, als sie auf der obersten Stufe der Eingangstreppe stand und den Kopf in den Nacken legte, um zu der fünf Stockwerke hohen, abweisenden Fassade aufzublicken. Noch seltsamer angesichts des offensichtlichen Alters des Hauses schienen ihr das ein fache Fachwerk, das unter jahrhundertealten Schichten von Schmutz und Ruß zu erkennen war, und die Butzenscheiben der Fenster ohne Fensterläden. Die steinernen Treppenstufen waren tief ausgetreten. Lydia erschauerte und kroch tiefer in den Mantel, den sie sich von der Köchin geliehen hatte - selbst das einfachste Stück aus ihrer eigenen Garderobe wäre in diesen engen, namenlosen Höfen und Gassen, die sich zwischen Blackfriars Bridge und Southwark am Flußufer drängten, unausweichlich als zu modisch aufgefallen. Er kann mir nichts tun, dachte sie und griff sich mit der Hand an die Kehle. Unter dem hohen Kragen ihres unauffälligen Wollkleids konnte sie die dicken Glieder von einem halben Dutzend Silberketten auf ihrer Haut spüren.
Wirklich nicht? Sie hatte fast eine Stunde gebraucht, um den Hof zu finden, der durch irgendeine Laune des Zufalls auf keiner der vier Karten dieses Teils von London verzeichnet war. Durch den ganzen Hof trieb aschfarbener Nebel, und um diese Zeit - Lydia hörte, wie es von dem schwarzen Turm der verfallenen Kirche hinter dem alten Haus drei schlug - verblaßte selbst das wenige Tageslicht. Dreimal war sie an dem Haus vorbeigegangen, bis sie es wirklich gesehen hatte, und sie spürte, daß es selbst bei klarem Wetter irgendwie schwierig gewesen wäre, das Gebäude zu erkennen. Sie hatte den absurden Eindruck, daß es bei Nacht, Laternen und Straßenlampen zum Trotz, überhaupt nicht sichtbar wäre. Auch strömte es einen Geruch aus, der furchterregend, aber unmöglich einzuordnen war. Lange Zeit stand sie am Fuß der Treppe. Er kann mir nichts tun, dachte sie wieder, doch sie fragte sich im selben Augenblick, ob das auch stimmte. Ihr Herz pochte heftig, und sie registrierte mit medizinischer Objektivität die Kälte ihrer Glieder trotz ihrer pelzbesetzten Lederhandschuhe und der zwei Paar Seidenstrümpfe, die sie in den zierlichen, hochhackigen Stiefeln trug. Festere Schuhe wären in dieser Situation besser gewesen, immer vorausgesetzt, es gäbe feste Schuhe, die ihre Trägerin nicht wie eine Waschfrau aussehen ließen - falls es welche gab, hatte Lydia sie noch nie gesehen -, aber der Adrenalinstoß, der ihre Adern durchrann, verriet ihr, daß ihr Frieren wahrscheinlich auf einen Schockzustand zurückzuführen war. Es war eine Sache, in der Sicherheit ihres Arbeitszimmers in Oxford über die Physiologie des Hausbesitzers zu spekulieren, oder wenn James mit einer Waffe an ihrer Seite war. Offensichtlich war es ganz etwas anderes, hinaufzugehen und an Don Simon Ysidros Haustür zu klopfen. Das Tock-tock von Hufen, das Klingeln von Pferdegeschirren und das langgezogene Hupen der motorisierten Busse klangen gedämpft durch den Nebel. Ein noch dumpferes Hupen hallte von einem Schiff auf dem Fluß herüber. Das Klappern ihrer Absätze auf den schmutzigen Stufen schien ihr wie ein lautes Hämmern, und das Rascheln ihres Unterrocks wie das Kratzen einer Säge. Das Türschloß war relativ neu, ein schweres amerikanisches Stockschloß, merkwürdigerweise verborgen hinter dem, was der ursprüngliche Beschlag aus den Zeiten Königin Elisabeths sein mußte. Es ließ sich jedoch nicht mit dem Dietrich öffnen, den sie hinten in der Taschentuchschublade ihres Mannes gefunden hatte. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie das Werkzeug so gebrauchte, wie er es sie gelehrt hatte, teils aus purer Furcht vor dem, was sie vorhatte, und teils, weil sie, gesetzesfürchtig und
zutiefst friedlich gesinnt, damit rechnete, daß jede Minute jemand von der Metropolitan Police hinter ihr auftauchen und schreien würde: He, was machst du da? Ziemlich absurd, dachte sie. Ganz offensichtlich hatte seit Jahren kein Vertreter des Gesetzes mehr den Fuß auf diesen Platz gesetzt. Sie schob die Brille mit den dicken Gläsern fester die Nase hinauf - Sie bricht nicht nur das Gesetz, donnerte der imaginäre Polizist, sondern ist noch häßlich und eine Brillenschlange dazu! -, ließ den Dietrich und die Schlüssel zurück in ihre Handtasche gleiten und schritt durch die Tür. Vor fünf Uhr würde es nicht ganz dunkel sein. Sie war vollkommen sicher. Die Halle selbst war viel dunkler, als sie erwartet hatte, die breiten Eichentüren an beiden Seiten waren geschlossen. Eine großzügige Treppe mit einer geschnitzten Balustrade führte kahl, ohne einen Teppich, nach oben ins Dunkel. Daneben gähnte der Flur, der in den hinteren Teil des Hauses führte, wie ein offenes Grab. Natürlich gab es keine Lampe. Lydia schalt sich milde dafür, daß sie diesen Umstand nicht vorausgesehen hatte natürlich würde es keine Lampe geben! -, und drückte eine der Seitentüren auf, die ein gedämpftes aschfarbenes Licht einließ. Es fiel auf einen Schlüssel, der auf einem Tisch in der Halle lag. Sie wandte sich um und schloß die Eingangstür. Eine Weile stand sie unentschlossen da und ging mit sich zu Rate, ob sie sich einschließen und dann beobachten sollte, wie verheerend sich große Mengen Adrenalin auf ihre Konzentrations fähigkeit auswirken würden ...
Wie würde ich es angehen, den Grad der Panik aufzuzeichnen und in Bezug zu setzen zu der Unfähigkeit, eine Entscheidung zu treffen? Im Armenhaus haben sie nicht zugelassen, daß ich meine Versuchspersonen in wirklich lebensbedrohende Situationen brachte. Schließlich drehte sie den Schlüssel, ließ ihn aber im Schloß und trat vorsichtig durch die Tür, die sie geöffnet hatte, in einen Raum, der wahrscheinlich einmal als Eßzimmer gedient hatte, aber so groß war wie der Ballsaal im Haus ihrer Tante in Mayfair. Er war vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestellt: Oben auf die ursprünglich drei Meter hohen Bücherregale hatte man noch Kisten gestellt; und Bretter waren in die Fenster- und Türrahmen eingefügt worden, so daß kein Quadratmeter der alten Täfelung mehr zu sehen war und die obersten Buchreihen an die Deckenverschalung stießen. Abenteuerromane von Conan Doyle und Clifford Ashdown mit ihren vergilbten Buchrücken standen neben abgegriffenen ledergebundenen Darstellungen von Heiligenleben, veralteten Chemiebüchern, Carlyle, Gibbon, de Sade, Balzac, billigen modernen Nachdrucken von Äschylos und Platon, Galsworthy, Wilde und Shaw. Vor dem blitzsauberen Kamin stand auf einer massigen Eichentruhe mit Ledergurten, dem einzigen Möbelstück im Raum, eine billige amerikanische Öllampe aus Glas und Stahl. Der kurzgeschrittene Docht hing in einem halbvollen Ölreservoir. Lydia zog ein Streichholz aus der Tasche, zündete die Lampe an und las in ihrem unruhigen Licht die Titel einer Reihe neuer Bände, die - noch halb in Packpapier eingeschlagen - neben der Lampe lagen. Ein französischer Text über Mathematik. Ein deutsches Physikbuch von einem Mann namens Einstein. The Wind in the Willows. Wieviel Zeit hatte sie noch? Etwas mühsam holte Lydia eine seltsame Vorrichtung unter ihrem Mantel hervor - eine einfache Insektenspritze aus Messing, die wie eine Pumpe funktionierte, die Düse sorgfältig mit einem Stückchen Heftpflaster abgeklebt, sowie eine Trageschlinge, geknotet aus mehreren Schals in den Farben der letzten Saison. Sie zog die Schutzkappe ab, hängte sich das Sprühgerät über den Mantel, nahm die Lampe und setzte ihren Weg durch das Haus fort. Der Raum im ersten Stock enthielt noch mehr Bücher. Im Hinterzimmer, das ebenfalls mit Bücherregalen ausgestattet war, stand ein schwerer Tisch, übersät mit mathematischen
Texten, Abakussen, Astrolabien, Armillarsphären, einem deutschen ›Braunschweig‹-Tabulator und etwas, das Lydia vage als einen Satz alter Rechenknöchelchen aus Elfenbein erkannte. Am anderen Ende des Zimmers ragte eine Maschine von der Größe eines Klaviers auf. Sie wirkte unheimlich mit ihrem Glas und Metall und Reihen von etwas, das aussah wie Zifferblätter und über dessen Bestimmung Lydia sich keine Vorstellung machen konnte. Neben der Maschine stand ein riesiger, unglaublich alter deutscher Schreibtisch aus dunklem Holz, übersät mit geschnitzten Göttergestalten und Bäumen, zwischen denen angelaufene Messingschlösser zu verborgenen Fächern und Schubladen hervorlugten. Ein durchgesessener, abgewetzter Ohrensessel aus purpurnem Samt stand vor einem Kamin, dessen blaue und gelbe Fliesen fast bis zur Unkenntlichkeit von Ruß überzogen waren. Die Armlehne war voller Katzenhaare, und auf der Sitzfläche lag eine amerikanische Zeitung. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sie keuchte auf, doch es war nur ihr eigenes Bild in einem halbblinden Spiegel, der fast völlig verdeckt wurde von einer schalartigen Gardine aus dem achtzehnten Jahrhundert. Lydia stellte die Lampe ab und schob die Gardine beiseite. Ein schmales und zerbrechliches Spiegelbild erwiderte ihren Blick: Ungeachtet ihrer sechsundzwanzig Jahre sah sie aus wie ein flachbrüstiges Schulmädchen, dachte sie verzweifelt. Und trotz allem, was sie mit Reispuder, Kajal und dem wenigen Rouge erreichte, das eine Dame aus guter Familie tragen konnte, bestand ihr Gesicht immer noch nur aus Nase und Brille. Brillen schlange hatte man sie ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch genannt - wenn es nicht Bohnenstange oder Bücherwurm gewesen war -, und würde nicht buchstäblich ihr Leben davon abhängen, wie schnell sie an diesem Ort Gefahren erkennen konnte, hätte sie ihre Brille niemals außerhalb der Räume getragen, die sie in Bloomsbury gemietet hatte. Ihr Leben, und ebenso das von James. Sie ließ den Spitzenstoff fallen und berührte noch einmal die Silberketten um ihren Hals und die dicken Kettenglieder, die unter den Ärmelaufschlägen und Handschuhen doppelt und dreifach um ihre Handgelenke geschlungen waren. Wieso ein Spiegel? Etwas, womit sie hier nicht gerechnet hatte. Bedeutete das, daß die Geschichten nicht stimmten? Sie nahm die Lampe wieder hoch und hoffte, daß die Informationen, die sie zu diesem Thema gesammelt hatte, wenigstens zum Teil richtig waren. Es war wirklich eine Schande, daß man in all den Jahren nicht mehr wissenschaftliche Daten zusammengetragen hatte. Sie würde wahrhaftig einen Artikel für das Journal of Medical Pathology schreiben müssen - oder vielleicht für eine von James' volkskundlichen Publikationen. Wenn sie das hier überlebte, dachte sie, und wieder erhitzte die Panik ihr Blut. Wenn sie es überlebte. Sie fand ein weiteres Stockwerk von Räumen mit hohen Decken und einen Dachboden, und alles war voller Bücher oder Zeitschriften. Sie wußte aus eigener Erfahrung, wie lang die Reihe der alten Ausgaben des Lancet und seiner britischen, europäischen und amerikanischen Konkurrenten war, und sie empfand eine lebhafte Sympathie. Das Gefühl von Neid, angesichts der vielen Regale dämpfte für den Augenblick beinahe ihre Furcht. Der Lancet reichte zurück bis 1823, und sie hatte wenig Zweifel, daß hier irgendwo auch die Erstausgabe zu finden sein würde. Ein kleines Gemach ganz oben enthielt teure und relativ neue Kleidung. Von Anfang an sagten ihr all ihre Instinkte, daß sie unten und nicht oben nach dem suchen mußte, was sie zu finden hoffte. Die Küche und die Spülküche lagen im Erdgeschoß, im hinteren Teil des Hauses, am Ende dieses gähnenden Schlunds von einem Flur. Eine Wendeltreppe führte weiter nach unten. In der Spülküche stand ein moderner Eisschrank. Lydia öffnete ihn und fand eine etwa zwei Tage alte Eisstange, eine Flasche Sahne und ein wenig in Papier eingeschla
genes Fleisch. In einer Ecke standen auf dem Boden vier oder fünf Teller - darunter eine Louis-XV-Untertasse aus Sèvres-Porzellan. Zum ersten Mal lächelte Lydia. Im nächstunteren Geschoß lagen Abstellkammer, Weinkeller und ein Lagerraum für Gemüse sowie viele kleinere Räume mit niedrigen Decken, die nach Erde und hohem Alter rochen. Das unstete Licht der Lampe glitt über Deckenbalken, verblichenen Putz und Mauerwerk, das davon zeugte, daß an dieser Stelle ein älteres Gebäude gestanden hatte. Wie auf ihrer Suche nach dem Haus selbst - das nach dem Brand von 1666 nie wieder im Nationalarchiv erwähnt worden war - ging Lydia drei- oder viermal durch den Raum, in dem sich ihres Wissens nach die Falltür zum untersten Kellergeschoß befinden müßte. Erst als sie keinen solchen Zugang sah, untersuchte sie die Mauern selbst und engte die Möglichkeiten ein auf den kleinen Vorratsraum, dessen feuchte Steinwände Spuren einer Treppe trugen, die einmal hier verlaufen war. Draußen erstarb jetzt wohl langsam das Tageslicht. Sie versuchte zu verhindern, daß ihre Hände jetzt nicht nur vor Angst, sondern auch vor Kälte zitterten, zog die Handschuhe aus und ließ ihre Finger unter der Fußleiste und den schweren Stuckrahmen der beiden Türen des Raums entlanggleiten. Unten neben der Tür zum Weinkeller spürte sie, wie ein Hebel unwillig unter ihren Fingern klickte. In dem flackernden gelblichen Licht sah sie, daß der Abstand zwischen zwei Dielenbrettern etwas breiter war. An der Innenseite des losen Betts befand sich ein Riegel, so daß es von unten bewegt werden konnte, und eine ausgetretene Leiter führte hinab. Wie Lydia vermutet hatte, sah der niedrige Raum darunter aus, als sei er einmal die Krypta einer Kirche gewesen, entweder derjenigen, die hinter dem Haus stand - an einem Platz, der seltsamerweise Spaniard's Court hieß - oder eines vergessenen, noch älteren Baus. Mit schwarzer Farbe und kaum sichtbar standen an den Deckenbalken die Worte
Salvum me fac, Deus, quoniam intraverunt aquae usque ad animam meam. Lydia war nicht im katholischen Glauben erzogen worden - ihre Tanten betrachteten schon das Aufstellen von Kerzen im Altarraum der Gemeinde als Grund für eine Beschwerde an den Bischof -, doch sie kannte aus der Zeit, als sie in St. Bartholomew gelebt hatte, die Worte aus der Totenmesse. Ein Granitsarkophag nahm den hinteren Teil der Kammer ein wie ein düsterer Altar, verbarg aber nicht eine niedrige verriegelte Tür. Eine Weile stand Lydia davor, hielt die Lampe in die Höhe und schätzte das Gewicht des steinernen Sargdeckels. Dann kniete sie sich nieder und untersuchte den Boden. Kein Staub. Eine mühsame Untersuchung der Risse in dem grauen Steinboden - im bernsteinfarbenen Glühen der Lampe ein für die Augen sehr anstrengendes Unterfangen - offenbarte ihr die Umrisse der Falltür. Sehr bald gab sie den Versuch auf, ihr Vorhaben durchzuführen, ohne dabei ihren Rock zu verschmutzen und zu zerknittern, und ebenso unmöglich war es ihr zu verhindern, daß die Korsettstangen in ihre Rippen stachen und das Sprühgerät ihr wiederholt gegen den Ellbogen schlug. Nach einer weiteren schmerzhaften halben Stunde, während der sie angestrengt umherspähte, entdeckte sie unter dem vorspringenden Steinrahmen der inneren Kammertür den Auslöser für die Schließvorrichtung der Falltür. Wie sie vermutet hatte, kam dem Sarkophag überhaupt keine Bedeutung zu. Es wäre zu offensichtlich gewesen. Die Stufen, die nach unten führten, waren flach und in der Mitte so tief ausgetreten, daß sie sich mit einer Schulter an der Mauer abstützen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie vermutete, daß es draußen inzwischen vollständig dunkel war, und unter ihrer wachsenden Furcht - der panikerfüllten Überzeugung, daß sie vollkommen unvorbereitet auf die Begegnung war, die vor ihr lag - fragte sie sich, wie dunkel genau ›dunkel genug‹ war. Sie unterdrückte den Impuls, auf die Uhr zu sehen und sich Notizen zu machen.
Das Licht der Lampe konnte die Finsternis vor ihr nicht durchdringen, und aus der
Dunkelheit stiegen Gerüche nach feuchter Erde, kaltem Stein und Rost auf.
Interessanterweise roch es nicht nach Ratten.
Das Licht sickerte über ein Gitter aus Metallstangen. Lydia manövrierte die Lampe
hindurch und hielt sie hoch, um auszuleuchten, was dahinterlag. Die Gitterstäbe waren
alt, doch das Schloß war neu und teuer und überstieg die Möglichkeiten ihrer
Einbruchswerkzeuge. Der Schein der Lampe drang nicht weit in die Katakombe vor, die
hinter den Eisenstäben lag, doch weit genug, um sie Mauernischen erkennen zu lassen,
die größtenteils leer waren oder angefüllt mit einer Ahnung grausiger Stilleben: Schädel,
Staub und abgefallene Haarsträhnen.
Zur Rechten verbargen die Schatten eine Nische, deren Inneres die Lampe nicht erhellen
konnte, in welchem Winkel Lydia sie auch hielt.
Doch über den Rand hing, wie Elfenbein vor dem Hintergrund des schmutzigen Steins,
die Hand eines Mannes: lange Finger, schmal und goldberingt. Die Dunkelheit verbarg
alles Übrige, und obwohl die weiße Hand selbst so perfekt aussah, als sei sie von Rubens
oder Holbein gemalt, wußte Lydia, daß ihr Besitzer schon seit langer Zeit tot war.
Es ist wahr, dachte sie, und ihr Herz pochte vor Angst schnell und hart. Wie dumm, fügte
sie hinzu, denn sie hatte bereits gewußt, daß es wahr war ... es war alles wahr. Sie war
diesem Mann schon begegnet und hatte andere wie ihn von weitem gesehen.
Doch etwas zu wissen, das hatte sie an diesem Nachmittag gelernt, war etwas anderes,
als es zu sehen, und sie fühlte sich entblößt, unsicher und allein im Dunkel.
Ich mache einen Fehler.
Ihr Atem erzeugte einen leicht apricotfarbenen Rauch im Licht der Lampe, als sie sich auf
die Stufen setzte. Sie legte ihre Waffe über die Knie, schob die Brille mit einem Finger
hoch und richtete sich darauf ein zu warten.
EINS
Allerseelen und strömender Regen; der Frost bohrte sich wie Nadeln durch Fleisch und Kleidung und drang bis in die Knochen. Es war Sonntagabend im Bahnhof Charing Cross, und das Stimmengewirr lärmte in den Deckengewölben aus Glas und Eisen wie Kugellager in einer Stahltrommel. James Asher hatte nur noch den einen Wunsch, nach Hause zu kommen. Der Tag und die Nacht, die er auf dem Begräbnis seines Cousins verbracht hatte - und damit, sich das Gezänk der Witwe, der Mutter und der beiden Söhne des Cousins über den Nachlaß anzuhören, für den er zum Testamentsvollstrecker benannt worden war -, hatten ihn lebhaft daran erinnert, warum er, nachdem er vor dreiundzwanzig Jahren nach Oxford gegangen war, den Kontakt zu seiner Tante abgebrochen hatte, die ihn aufgezogen hatte, seit er dreizehn gewesen war. Jetzt war es vollständig dunkel geworden, und Asher kroch tief in seinen Ulster, während er mit großen Schritten den langen, aus Ziegeln aufgemauerten Bahnsteig hinunterging, eingehüllt in eine Dunstwolke aus feuchter Wolle und Dampf, rechts und links an seine ehemaligen Mitreisenden stieß und über die tödliche Macht familiärer Schuldgefühle nachdachte. Auf den vereisten Straßen draußen würde es lebensgefährlich sein. Daran dachte Asher - und an die anderthalb Stunden, die zwischen der Ankunft des Schnellzugs aus Tunbridge Wells in Charing Cross und der Abfahrt des Nahverkehrszugs nach Oxford vom Bahnhof Paddington lagen -, als er die Männer sah. Später hätte er alles, was er besaß, dafür gegeben, nicht hingeschaut zu haben. Sie standen unter der Normaluhr in dem hallenden Gewölbe des Bahnhofs. Asher sah zufällig in ihre Richtung, als der größere der beiden den Hut abnahm und die Regentropfen abschüttelte. Dabei gestikulierte er mit einer behandschuhten Hand in Richtung des Eisenrahmens, in den Tafeln mit den Abfahrtszeiten eingelassen waren. Ashers Blick, der nach einem halben Leben im Geheimdienst seines Landes immer noch daran gewöhnt war, Details zu katalogisieren, wurde bereits von dem Mantel des Mannes angezogen: die ausgestellten Mantelschöße, der Kragen und die Ärmelaufschläge aus Karakullamm, die weiche Farbe von Kamelhaar und die Stickerei auf den Ärmeln - alles schrie ihm entgegen: Wien. Der Mann gehörte allerdings wohl eher zur dortigen madjarischen Aristokratie, denn die Wiener deutscher Abstammung neigten zu weniger extravaganter Kleidung. Ein Pariser hätte auch diesen fließenden, enganliegenden Schnitt getragen, aber wahrscheinlich nicht diese Farbe und ganz gewiß nicht diese Stickereien; und der Mantel des durchschnittlichen Berliners wies im allgemeinen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einer Pferdedecke auf, ganz gleich, wie reich der Mann sein mochte. Wien, dachte Asher mit einem winzigen Quentchen Nostalgie. Dann sah er das Gesicht des Mannes.
Lieber Gott. Er blieb oben an der Treppe stehen, die vom Gleis hinunterführte, und das Blut schien ihm in den Adern zu stocken. Doch noch bevor er in Gedanken die Worte Ignace Karolyi in England formulieren konnte, sah er das Gesicht des anderen Mannes.
Lieber Gott! Nein. Das war alles, was er denken konnte.
Nicht das. Später vermutete er, daß er den kleineren Mann überhaupt nicht wahrgenommen hätte, wäre sein Blick nicht zuerst von Karolyis Mantel und dann von dem Gesicht des Ungarn angezogen worden. Das war fast das Beängstigende an dem, was er jetzt sah. In den wenigen Sekunden, die die beiden Männer miteinander sprachen - und es waren nicht mehr als ein paar Sekunden, obwohl sie ihre Zeitungen austauschten, ein alter Trick, den er selbst in seinen Jahren beim Geheimdienst viele hundert Male angewendet hatte -,
registrierte Ashers Bewußtsein Einzelheiten, die er schon früher hätte wahrnehmen müssen: den taillierten Schnitt des schäbigen schwarzen Mantels, den der kleine Mann trug, und die Art, wie die faltenlosen gelbbraunen Steghosen nach unten hin enger wurden. Auf dem Kopf saß ein flacher Biberfellhut; das Haar darunter war kurzgeschoren. Während die beiden sprachen, stand er unbeweglich da: keine Bewegung, keine Änderung der Haltung, er rührte nicht einmal die behandschuhten Finger, die er über dem Knauf seines Stocks verschränkt hielt. Das sagte alles. Drei Frauen mit riesigen Hüten, deren Federn vor Nässe troffen, schoben sich in sein Blickfeld, und als Asher wieder hinschaute, ging Karolyi schnell in Richtung des Fährzugs nach Paris. Von dem anderen Mann war nichts mehr zu sehen.
Karolyi fährt nach Paris. Sie fahren beide nach Paris. Asher hätte nicht sagen können, woher er das wußte. Doch sein Instinkt, den die Jahre beim Department geschärft hatten, war in den acht friedlichen Jahren der Lehre in Oxford, die seit seinem Ausscheiden vergangen waren, nicht geschwunden. Sein Herz pochte so heftig, daß ihm beinahe übel war, als er sich ohne offensichtliche Eile zum Fahrkartenschalter durchdrängte. Die kleine Reisetasche mit Wäsche zum Wechseln für ein Wochenende und Rasierzeug baumelte fast unbemerkt an seiner Hand. Auf der Bahnhofsuhr war es halb sechs. Auf der Abfahrtstafel war der Zug zur Fähre nach Dover für Viertel vor sechs angekündigt. Der Fahrpreis nach Paris betrug ein Pfund, vierzehn Pence und acht Schilling für die zweite Klasse - Asher hatte nur etwas mehr als fünf Pfund in der Tasche, doch er zahlte, ohne zu zögern. In der dritten Klasse hätte er zwölf Schilling gespart - den Preis für mehrere Übernachtungen in Paris, wenn man wußte, wo man zu suchen hatte -, doch sein respektabler brauner Ulster und sein steifer Hut wären unter den grobgekleideten Arbeitern und schäbigen Frauen in den Dritte-Klasse-Waggons zu sehr aufgefallen. Während er die Fahrkarte kaufte, sagte er sich, daß die unbedingte Notwendigkeit, nicht aufzufallen, der einzige Grund war, heute nacht nicht Dritter Klasse zu fahren. Doch er wußte, das war eine Lüge. Er ging den Bahnsteig hinunter - zwischen Frauen in billigen Popelineröcken, die müde Kinder in die Waggons schoben und einander in dem abgehackten, nachlässigen Französisch der Pariser oder mit dem gerollten ›r‹ des Midi zuriefen; zwischen Männern, die keine Mäntel trugen und vor der Kälte in ihren Jacketts und Schals zusammenkrochen - und versuchte nicht auf sein Herz zu hören, das ihm sagte, daß heute nacht in der Dritten Klasse jemand sterben würde. Er legte einem vorbeigehenden Gepäckträger die Hand auf den Arm. »Würden Sie freundlicherweise im Gepäckwagen nachsehen und mir sagen, ob dort eine Kiste oder ein Koffer steht, einen Meter achtzig oder länger? Es könnte ein Sarg sein, aber wahrscheinlich ist es ein Koffer.« Der Mann warf einen verstohlenen Blick auf die halbe Krone in Ashers Hand und sah ihn dann aus gewitzten braunen Augen an. »Kann ich Ihnen sofort sagen, Sir.« Asher identifizierte am kurzen ›ou‹ und dem Kehlkopfverschlußlaut vor dem ›i‹ automatisch einen Iren aus Liverpool und staunte darüber, daß er noch in der Lage war, philologische Betrachtungen anzustellen, wenn sich sein Leben in Gefahr befand. Der Mann legte den Finger an die Mütze. »Hat den alten Joe fast umgebracht, das Ding reinzuheben, sperrig wie's war.« »Schwer?« Wenn es schwer gewesen war, war es der falsche Koffer. »Reichlich schwer, würd' ich sagen, aber nich' so vollgepackt wie andere. Alles in allem nich' mehr als siebzig Pfund.« »Könnten Sie mir die Adresse auf dem Gepäckanhänger besorgen? Es ist sehr wichtig«,
fügte er hinzu, als die braunen Augen sich mißtrauisch zusammenzogen, »für die Gattin des Mannes.« »Is' ihr durchgebrannt, was? Verdammtes Schwein!« Asher beschäftigte sich damit, seine Uhr mit der Bahnhofsuhr zu vergleichen. Die ganze Zeit über war er sich bewußt, daß Männer und Frauen in den Zug stiegen, daß die Menge weniger dicht und er mit jeder Sekunde sichtbarer wurde, sein Leben jede Sekunde ein schnelles Ende finden konnte. Dampf stieg von der Lokomotive auf, und ein dicker Mann in ländlich wirkendem Tweed, dessen Mantel wie ein Umhang hinter ihm herflatterte, rannte den Bahnsteig entlang und kletterte in die erste Klasse, gefolgt von einem mageren, abgehetzten Kammerdiener, der schwer mit Hutschachteln und Koffern beladen war. Er würde Lydia aus Paris telegraphieren müssen, dachte Asher. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich des Bedauerns - sie würde heute nacht aufsitzen und auf ihn warten, bis sie inmitten von Teegeschirr, Spitze und medizinischen Fachzeitschriften vor dem Kamin im Schlafzimmer einschlief, schön wie eine gelehrte Nymphe. Zwei Nächte lang hatte er sich darauf gefreut, wieder an ihrer Seite zu liegen. Angesichts des schlechten Wetters würde sie wahrscheinlich einfach annehmen, der Zug sei aufgehalten worden. Lydia war keine Schwarzseherin. Der Gepäckträger war immer noch nicht zurück. Er versuchte sich zu erinnern, wer dieser Tage die Sektion in Paris leitete. Und was, beim Himmel, sollte er den Leuten über Charles Farren, vormals Earl of Ernchester, erzählen? Seine Hand wanderte beinahe unbewußt zu seinem Kragen, um nach der beruhigend dicken Silberkette zu fühlen, die er darunter trug. Für einen Mann und einen Protestanten dazu war das ein ungewöhnliches Schmuckstück. Er hatte nicht viel darüber nachgedacht, er hatte nur seit einem Jahr nicht gewagt, die Kette abzulegen. Sie gehörte zu ihm wie die anderen Gewohnheiten, die er sich ›draußen‹ zugelegt hatte, wie man im Department sagte; Angewohnheiten wie die, sich den Grundriß jeden Ortes, an dem er sich aufhielt, so einzuprägen, daß er sich dort im Dunkeln zurechtfinden könnte, oder sich Gesichter zu merken für den Fall, daß sie ihm in einem anderen Zusammenhang wiederbegegneten, oder ein Messer im rechten Stiefel zu tragen. Die anderen Professoren am New College waren viel zu sehr in ihre Spezialgebiete und ihre akademischen Intrigen versunken, und so war ihnen noch nie aufgefallen, daß dieser zurückhaltende Dozent für Etymologie, Philologie und Volkskunde sogar die Namen ihrer Bediensteten wußte und jeden Hin terausgang jedes Colleges in dieser grünen, nebligen Stadt kannte. Dies waren Dinge, von denen einst sein Leben abgehangen hatte - und auch jetzt noch abhängen konnte. Im Sommer, als sie auf den Cherwell gewandert waren, hatten die Studenten Bemerkungen über die doppelten Ketten aus schwerem Silber gemacht, die er um beide Handgelenke trug; er hatte gesagt, sie seien das Geschenk einer abergläubischen Tante. Niemand hatte ein Wort über die Spur gezackter Narben verloren, die an seinem Hals vom Ohr bis zum Schlüsselbein und an seinen Armvenen entlang verliefen, oder sie in Verbindung mit den Ketten gebracht. Der Gepäckträger kehrte zurück und drückte ihm beiläufig ein Stück Papier in die Hand. Asher gab ihm noch eine halbe Krone, die er eigentlich kaum erübrigen konnte, wenn er an die Rückfahrt von Paris dachte, doch man mußte Prioritäten setzen. Er warf keinen Blick auf das Papier, steckte es nur ein, während er den Bahnsteig entlangschlenderte. Jemand rief »Alles einsteigen«, zum letzten Mal. Er sah sich auch nicht nach dem kleineren der beiden Männer um, obwohl er wußte, daß Ernchester, wie er selbst, erst im letzten Augenblick einsteigen würde. Er wußte, er würde ihn nicht sehen können.
Vor acht Jahren, gegen Ende des Burenkriegs, war James Asher bei einer Burenfamilie in den Außenbezirken von Pretoria untergekommen. Obwohl sie, wie viele Buren, den Deutschen Informationen lieferten, waren sie herzensgute Menschen, die glaubten, das, was sie taten, diene der Sache ihres Landes. Sie hatten ihn in ihr Haus aufgenommen, in der Annahme, er sei ein harmloser Linguistikprofessor aus Heidelberg, der sich in Afrika aufhielt, um Bantu-Pidginsprachen zu studieren. »Wir sind keine Wilden«, hatte Mrs. van der Platz gesagt. »Nur, weil jemand nicht Papiere über alles und jedes hat, heißt das noch nicht, daß er ein Spion ist.« Natürlich war Asher ein Spion gewesen. Und als Jan van der Platz - sechzehn Jahre alt und seit Wochen James' treuer Schatten - erfuhr, daß Asher kein Deutscher, sondern Engländer war und ihn unter Tränen zur Rede stellte, hatte Asher ihn erschossen, um seine Kontaktpersonen in der Stadt zu schützen, die Eingeborenen, die ihm Informationen zuspielten und die man aus Vergeltung auf furchtbare Weise getötet hätte und die britischen Truppen im Feld, die von den Burenkommandos massakriert worden wären, hätte man ihn zum Reden gebracht. Asher war nach London zurückgekehrt, hatte seinen Posten beim Foreign Office niedergelegt und zum Entsetzen ihrer Familie eine Acht zehnjährige geheiratet, von der er nie gedacht hätte, daß er auch nur die geringste Aussicht hatte, ihr Herz zu gewinnen. Damals hatte er geglaubt, er würde nie wieder sein Leben für König und Vaterland aufs Spiel setzen. Und nun war er auf dem Weg nach Paris - der Regen trommelte hohl auf das Dach des Zweite-Klasse-Waggons - nur mit ein paar Pfund in der Tasche, weil er beobachtet hatte, wie Ignace Karolyi von der österreichischen Kundschaftsstelle mit einem Mann sprach, der auf keinen Fall in österreichische Dienste treten durfte. Es war eine Möglichkeit, mit der Asher seit einem Jahr lebte und die er gefürchtet hatte, seit er erfahren hatte, wer und was Charles Farren und seinesgleichen waren. Asher ging durch den Korridor von Wagen zu Wagen und erspähte Karolyi durch ein Abteilfenster in der Ersten Klasse. Er saß allein im Abteil und las Zeitung. Die dreizehn Jahre, seit Asher ihn zuletzt gesehen hatte, hatten nichts an der dandyhaften Schönheit seiner Gesichtszüge geändert. Obwohl Karolyi inzwischen fast vierzig sein mußte, zeigte sich in seinem glatten schwarzen Haar und in dem schmalen Schnurrbart auf seiner kurzen Oberlippe keine Spur von Silber, nicht eine Falte verunzierte die Winkel seiner kindlich weit auseinanderstehenden, dunklen Augen. ›Mein Herz schlägt hoch bei dem Gedanken, jedem Befehl zu folgen, den der Kaiser mir erteilen mag‹ Asher erinnerte sich, wie er in dem sanften, hellen Dunst des mit Gaslicht beleuchteten Café Versailles am Graben aufgesprungen war und die Goldtressen auf dem Scharlachrot seiner Gardeuniform geglitzert hatten; erinnerte sich an den Glanz idea listischer Dummheit auf dem hochgereckten Gesicht. ›Ich werde auf jedem Schlachtfeld kämpfen, das Er mir anweist.‹ Man konnte geradezu den Großbuchstaben in ›Er‹ - der Kaiser - hören, und um ihn herum hatten die beaux sabreurs der Kaiserlichen Leibgarde vor Lachen gebrüllt und applaudiert, und noch lauter hatten sie gelacht, als einer von ihnen scherzhaft fragte: ›Ja natürlich, Igni ... aber wer wird dir zeigen, in welcher Richtung der Feind steht?‹ Auch wenn Karolyi Asher mit Hunden durch die Dinarischen Alpen gehetzt hatte, nachdem er seinen dortigen Kontaktmann und Führer zu Tode gefoltert hatte - als auch ein Blinder hätte sehen können, daß seine Pose als hirnloser junger Adliger, der den Großteil seiner Zeit eher auf Walzerbällen verbrachte als damit, mit seinem Regiment zu exerzieren, nur Schein war -, dies war immer noch der Karolyi, an den sich Asher erinnerte. In dieser höllischen Woche des Versteckspiels zwischen Bächen und Schluchten hatten sie sich nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, und Asher hatte keine Ahnung, ob Karolyi wußte, wer sein Gegner gewesen war. Doch als er jetzt durch den
Gang schritt und nur einen ganz kurzen Blick durch das Abteilfenster warf, sah er wieder die Leiche des Führers vor sich, und er war nicht geneigt, ein Risiko einzugehen. Ohnehin war es nicht Karolyi, den er am meisten fürchtete. In dem überfüllten Dritte-Klasse-Waggon war es lauter als in der Zweiten Klasse, und es roch nach ungewaschener Wolle und schmutziger Wäsche. Unrasierte Männer sahen vom Figaro oder den Illustrated London News auf, als Asher zwischen den harten, hochlehnigen Bänken durchging. Gelbliches elektrisches Licht flackerte über billigen Filzhüten, nassen Papierblumen und einfachen Hutnadeln aus Stahl; eine Frau sagte: »Schhhh, Beatrice, pssst«, mit einer Stimme, die keine Hoffnung barg, daß Beatrice vor dem Erreichen des Gare du Nord zur Ruhe kommen würde. Asher hielt seinen Kragen hochgeschlagen, denn ihm war klar, daß Farren ihn erkennen würde. Es war zermürbend zu wissen, daß der Mann in diesem Waggon sitzen konnte und er ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen würde. Er dachte nicht gern daran, was ihm in diesem Fall geschehen würde. Am hinteren Ende des Dritte-Klasse-Waggons lag ein Gepäckabteil, vollgestopft mit Fahrrädern, Hunden in Transportboxen und einem riesigen Krankenstuhl aus Rohrgeflecht. Es war unbeleuchtet. Durch die Fenster konnte Asher die fallenden Regentropfen erkennen, die in dem gedämpften Licht, das aus der Dritten Klasse hereinfiel, wie Diamanten glitzerten. Als Asher die Tür schloß, überfiel ihn die Kälte - alle Fenster standen offen und ratterten laut in ihren Rahmen. Regenwasser sprühte herein. Zu seinen Füßen winselte ein Hund in seinem Käfig. Der Geruch der Regennacht konnte den Gestank des Todes weder überdecken noch zerstreuen. Asher blickte sich schnell um und kniete nieder, damit er vom Fenster aus nicht gesehen werden konnte. Durch das kleine Guckloch in der Tür fiel schwaches Licht, doch nicht genug; er angelte ein Zündholz aus einer Schachtel in seiner Manteltasche und riß es mit dem Fingernagel an. Die Leiche des Mannes sah wie gefaltet aus, die Knie gegen die Brust gepreßt, die Arme um die Beine gebogen, und jemand hatte das magere Bündel fest in die Ecke hinter einem Kontrabaßkoffer gestopft. Asher blies das Zündholz aus, riß ein weiteres an und kauerte nieder, um sich heranzuschlängeln. Der Tote war jung und unrasiert und hatte die schwieligen Hände eines Arbeiters. Statt einer Krawatte trug er ein nachlässig geknotetes Tuch um den Hals. Seine Kleidung roch nach billigem Gin und noch billigerem Tabak. Eine seiner Schuhsohlen war durchgelaufen. Nur wenig Blut war in das Halstuch gesickert, obwohl Asher, als er es mit einem Finger herunterzog, sah, daß die Halsschlagader durchtrennt worden war, ein grober, gezackter Riß, dessen Ränder weiß, verquollen und zerfranst aussahen, als seien sie zerkaut und ausgesaugt worden. Asher selbst hatte eine Narbe von dieser Größe, dort, wo sein Kragen die Silberglieder der Halskette gegen seine Haut drückte. Im Licht eines dritten Streichholzes sah er, daß das Gesicht des Toten vollständig weiß und die Lippen blau waren, die Augenbrauen und Bartstoppeln glänzten, obwohl er nach dem Aussehen der Augenlider noch keine dreißig Minuten tot war. Asher schob einen ausgefransten Hosenaufschlag hoch und sah, daß sich an dem bloßen Knöchel noch keine Totenflecken gebildet hatten. Vielleicht, dachte er mit einer seltsamen, wütenden Kälte, würden sich erst gar keine bilden. Er blies sein Zündholz aus, steckte es - zusammen mit den Stummeln der ersten beiden in die Tasche und schlängelte sich zwischen dem Krankenstuhl und dem Kontrabaßkoffer hindurch. Im Zweite-Klasse-Waggon war er dem Schaffner auf seinem Weg zum hinteren Ende des Zugs begegnet. Das Näherkommen des Beamten hatte den Mörder wahrscheinlich gestört, so daß er die Leiche nicht mehr in die Nacht hatte hinauswerfen können, oder vielleicht wollte Ernchester warten, bis sie weiter von London entfernt
waren. Schnell verließ Asher das Abteil, wischte sich die Hände an den Mantelschößen ab und brummte vor sich hin wie ein Mann, der nicht gefunden hat, was er sucht. Nie mand in der Dritten Klasse beachtete ihn. Bis der Zug Dover erreichte, vermutete er, würde die Leiche verschwunden sein. Wenn er jetzt die Aufmerksamkeit auf seinen Fund lenkte, würde er nur unweigerlich auf sich selbst aufmerksam machen. Er war nicht so naiv zu glauben, daß er dann jemals lebend in Paris ankommen würde. In dem schmuddeligen Zweite-Klasse-Abteil, wo seine Tasche stand, hatte sich inzwischen eine lebhafte Pariser Familie häuslich niedergelassen. Sie reichten Brot und Käse herum, die bonne femme bot auch ihm davon an, dazu eine Blutorange, während ihr mari mühsam eine zerknitterte Ausgabe der L'Aurore überflog. Asher dankte ihr und fischte eine Times heraus, die er zum größten Teil bereits auf seiner Fahrt von Tunbridge Wells nach London gelesen hatte, und dabei fragte er sich müßig, was er demjenigen sagen sollte, der im Augenblick die Sektion in Paris leitete, wer immer das sein mochte. Er wußte, es würde eine lange Nacht werden. Er wagte nicht zu schlafen, damit Farren ihn nicht durch seine Träume aufspürte. 2.11.1908 - 06.00 Uhr PARIS / GARE DU NORD ERNCHESTER NACH PARIS GEFAHREN MIT IGNACE KAROLYI ÖSTERREICHISCHE SEITE - STOP - FOLGE IHNEN - STOP - WERDE ÜBERGEBEN - STOP - KOMME HEUTE NACHT ZURÜCK - STOP - JAMES
Ernchester. Lydia Asher legte das dünne gelbe Papier vor sich auf den mit Gold eingelegten Schreibtisch, und ihr Herz schlug schnell, als sie den Namen wiedererkannte.
Nach Paris gefahren mit jemandem von der ›österreichischen Seite‹. Es dauerte einen Moment, bis ihr die Bedeutung des Satzes aufging, in erster Linie, weil sie, obwohl sie auf den ersten Blick einen Parathyroid von einem Parathymus hätte unterscheiden können, sich nicht sofort darauf besinnen konnte, ob die Österreicher mit den Deutschen oder mit England verbündet waren. Doch als es ihr einfiel, ließ die Schlußfolgerung sie erschauern. »Ist es vom Herrn, Ma'am?« Sie blickte auf. Ellen, die ihr das Telegramm zusammen mit dem Tee gebracht hatte, stand noch in der Tür des Arbeitszimmers und steckte ihre großen roten Hände unter die Schürze. Der blauschwarze Wolkenbruch des gestrigen Abends war am Morgen zu einem langsamen, stetigen Strom geworden, der aus einem stahlfarbenen Himmel niederging; draußen vor den hohen Fenstern war die Holywell Street ein schimmerndes Mosaik aus Pflastersteinen und Pfützen, das durch Lydias Kurzsichtigkeit zu einem Manet in sanftem Grauschwarz und Silber verklärt wurde. Die hohe braune Mauer des New College auf der anderen Straßenseite war durch die Feuchtigkeit beinahe schwarz. Dann und wann ging ein Student vorüber, oder ein Dozent, gesichtslose Geister, die dennoch an ihrem Körperbau und der Art, wie sie sich bewegten, zu erkennen waren: Lydia hätte nie den kleinen, pfauenhaften Dekan vom Brasenose, der von sich eingenommen daherstolzierte, mit dem ebenso kleinen, aber zurückhaltenden Dr. Vyrdon vom Christ Church verwechselt. Lydia holte tief Atem, zwinkerte aus ihren großen braunen Augen in die Richtung des dunklen Rechtecks, das die Tür zum Flur darstellte, und bemerkte zum ersten Mal an diesem Morgen, daß sie halb verhungert war. »Ja«, sagte sie. »Er ist überraschend nach Paris gerufen worden.« »Tss, tss!« Ellen schüttelte empört den Kopf. »Und das bei diesem Regen! Was kann denn in Paris so wichtig sein, daß er gestern nacht nicht nach Hause gekommen ist, wo Sie sich solche Sorgen gemacht haben?«
Da Lydia nicht sehr gut antworten konnte: Vielleicht eine Partnerschaft, die damit beginnt, daß Deutschland England erobert, und Gott weiß wo endet, sagte sie nichts. Ellen sprach munter weiter. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen sich keine Sorgen um Mr. James machen, nicht, Ma'am? Bei dem Regen war es doch klar, daß er aufgehalten worden ist, obwohl ich nie an Paris gedacht hätte. Hat wohl etwas mit Investitionen zu tun.« Ellen hatte einige Jahre für Lydias Vater gearbeitet und war gewöhnt, daß, wenn der Herr des Hauses plötzlich abreiste, dies mit Investitionen zu tun hatte. »Obwohl ich gar nicht wußte«, setzte sie in einem ihrer gelegentlichen lichten Momente hinzu, »daß er welche hat.« »Ein paar kleine«, gab Lydia wahrheitsgemäß zurück, faltete das Telegramm zusammen und schloß eine Schublade des vergoldeten Sekretärs auf, an dem sie arbeitete. Ihr Inhalt war ein aufgeblähter Berg von Haushaltsrechnungen und Notizen über Pathologie. Verblüfft besah sich Lydia das Durcheinander, als wäre nicht bereits der gesamte Schreibtisch begraben unter Sezierschaubildern, Notizen und Korrespondenz mit anderen Forschern zum Thema endokrine Drüsen, Rechnungen von ihrer Modistin, Speiseplänen, Seidenmustern, Lancet-Heften und dem ersten Entwurf ihres Artikels über Pankreas-Sekretionen für die Januar-Ausgabe des British Medical Journal, an dem sie gearbeitet hatte, als Ellen hereingekommen war. Sie schob ihren Spitzenärmel zurück und stopfte den Inhalt entschlossen wieder in die Schublade und schloß sie mit Gewalt. Mit ähnlichem Ergebnis öffnete sie zwei weitere Schubladen und steckte schließlich das Telegramm an die Seite, in ein Bündel Notizen, die Auswirkungen von Elektrostimulation auf die Produktion von Adrenalin betreffend. Ihre Freundin Josetta Beyerly zog sie ständig damit auf, daß sie die Zeitungen nicht einmal gründlich genug las, um zu wissen, wer gerade Premierminister war, als ob Premierminister - und erst recht Balkan-Könige - nicht so schnell kamen und gingen, wie ein Wahlkreis fiel. Zeitungen zu lesen brachte Lydia nur dazu, sich zu fragen, ob Menschen wie Lord Balfour oder der Kaiser an einer Überfunktion der Schilddrüse oder Vitaminmangel litten, und wie sie das wohl herausbringen könnte, und sie hatte festgestellt, daß solche Spekulationen sie von der Arbeit ablenkten. »Er schreibt, er kommt heute zurück.« Sie wußte, es war unvernünftig von ihr, erleichtert zu sein. Jamie war vollkommen in der Lage, auf sich selbst zu achten, das hatte sie auch vergangene Nacht gewußt, als sie wachgelegen und an den schweren Silbergliedern der Kette genestelt hatte, die um ihren Hals hing. Doch im Traum hatte sie im entfernten Gaslicht einer Londoner Gasse ein leichenblasses Gesicht gesehen, mit seltsam spiegelnden Augen und einem knurrenden Mund, in dem riesige Fänge glitzerten. Dann war sie aufgewacht und hatte bis zum Morgen dagelegen und dem Regen gelauscht, der auf das Efeu prasselte. Es hatte keinen Grund gegeben, sich zu fürchten. Werde übergeben, hieß es in dem Telegramm. Es gab auch jetzt keinen Grund, Angst zu haben. Was war es dann, fragte sie sich, das im Hintergrund ihres Bewußtseins hakte wie ein eingerissener Fingernagel an Seide? »Obwohl es eine Schande wäre«, fuhr sie nachdenklich fort,»wenn er nicht wenigstens eine Weile in Paris bleiben würde, auf jeden Fall lange genug, um ein sauberes Hemd und eine Schachtel Pralinen zu kaufen. Er hatte nur Wäsche für eine Nacht dabei, wissen Sie, für die Beerdigung seines Cousins.«
Werde übergeben. Warum nur kam es ihr vor, als hätte sie den Namen Ignace Karolyi schon einmal gehört? Und wie in aller Welt würde er den Männern des Foreign Office in Paris Ernchester erklären? »Ob Sie mir wohl etwas von dem Toast bringen könnten, den ich beim Frühstück nicht gegessen habe?« fragte Lydia.
»Sofort, Ma'am.« Sie hörte das strahlende Lächeln in der Stimme des Hausmädchens, sah es in der Art, wie ihre Schultern sich entspannten, als sie davonging. Ellen und Mrs. Grimes hielten sie für zu dünn. Ihre Drohungen von früher - als sie ein Schulmädchen gewesen war, ein linkischer, bebrillter, heranwachsender Blaustrumpf - hatten sich jedoch als unbegründet erwiesen, ein Mädchen, das mit der Nase in den Büchern herumlief und nicht genug aß, um einen Kanarienvogel am Leben zu erhalten, würde nie einen Mann bekommen. Obschon man sie täglich an ihre mangelnde Attraktivität erinnert hatte, war Lydia immer klar gewesen, daß sie als einzige Erbin des Willoughby-Vermögens mit Heiratsanträgen überhäuft werden würde, sobald sie ihr Haar aufsteckte. Jamie sagte ihr, sie sei schön - der einzige Mann, dem sie je wirklich geglaubt hatte. Hatte Jamie ihr gegenüber jemals Ignace Karolyi erwähnt? Sie glaubte es nicht. Sie ließ ihre Gedanken zurückwandern zu dem hochgewachsenen, zurückhaltenden Professor, der mit ihr am Rande der Gartenparties ihres Vaters zusammensaß und über Gott und die Welt sprach - er erzählte ihr von der chinesischen Medizin und wie sie es am besten anstellte, sich auf die Vorprüfungen zum Bachelor of Arts vorzubereiten, ohne es ihren Vater wissen zu lassen. Dem sanften, fähigen Mann, der niemals Ansprüche an sie stellte, der erriet, daß sich hinter ihrer sorgfältig aufgebauten Fassade eine vollständig andere Person verbarg, und der sie genau so akzeptierte, wie sie war. Er war immer verschlossen gewesen, obwohl sie schon als Schulmädchen den Verdacht gehegt hatte, daß mehr an ihm war als sein beinahe unsichtbares Auftreten. Zurückhaltung war immer noch eine seiner Gewohnheiten; nach sieben Jahren Ehe handelten all seine Geschichten, wie die von Mark Twain, für gewöhnlich von Männern und Frauen, die Fergusson hießen. Das war es, was ihr jetzt Sorgen machte. Sie hatte Karolyis Namen in irgendeinem anderen Zusammenhang gehört oder gelesen. Gelesen, dachte sie ... Sie konnte mit dem -yi am Schluß keine Aussprache in Verbindung bringen. Was bedeutete, daß sie diesen Namen nicht von Jamie gehört hatte. Sie zog ihre Augengläser hinter einem Papierstapel hervor - sie zu verstecken, wenn jemand den Raum betrat, war eine lebenslange Gewohnheit -, erhob sich in einem Rascheln von Spitze und ging zu ihrer Seite des Bücherregals hinüber. Dort ließ sie sich auf dem Boden nieder und gab ihren Plan auf, heute nachmittag in der Pathologie des Radcliffe-Krankenhauses zu arbeiten. Ihr langes rotes Haar fiel über ihren Rücken hinab. Als Ellen mit einem Tablett voll Sandwiches und Zwiebelsuppe erschien - Mittag war längst vorbei -, war Lydia wieder eingefallen, wann und in welchem Zusammenhang ihr Karolyis Name begegnet war, und die Erinnerung beunruhigte sie noch mehr. Sie ließ das Tablett unberührt und ging zwei Stunden später in ihr Schlafzimmer hinauf, um ihre Nachforschungen in den alten Ausgaben des Lancet und der Medical Findings fortzusetzen, die sie unter dem Bett aufbewahrte. Sie wußte vielleicht nicht, ob Deutschland dieser Tage ein Parlament hatte, oder war nicht in der Lage, einen Bolschewiken von einem Menschewiken zu unterscheiden, doch sie konnte sich bis auf wenige Monate genau darauf besinnen, wann das Sekretin entdeckt worden war oder wie die Adresse von Marie Curies Labor in Paris lautete. Am späten Nachmittag las sie immer noch, als Ellen mit einem weiteren Tablett heraufkam und so lange schimpfte, bis sie ein halbes Ei und ein Stück von einem Scone aß. Ellen fachte währenddessen das Kaminfeuer im Schlafzimmer an und drehte das Gas auf. Lydia hatte die Stelle aufgespürt, die ihr wiederum einen weiteren Namen eingebracht hatte; sie war sich undeutlich bewußt, daß sie begonnen hatte, die Stunden bis Mitternacht zu zählen. Um diese Zeit mußte James ihrer Berechnung nach zu Hause sein. Wenn er sich nicht entschied, über Nacht in Paris zu bleiben. Wenn nichts schiefging. Wenn Ernchester ihn nicht gesehen hatte ... Wenn er in Paris bleibt, dachte sie, strich Marmelade und Devonshire-Sahne auf ein
Scone, legte es dann auf den Teller und starrte die Fenster an, hinter denen es jetzt dunkel wurde, dann schickt er mir ein Telegramm. Er wird mir Bescheid geben. Und wenn nicht? Sie fragte sich, ob sie ihn erreichen konnte, indem sie ein Telegramm an das Konsulat oder das Foreign Office schickte - oder unterstand der Geheimdienst dem Kriegsministerium? Wo in Paris befand sich überhaupt das Foreign Office? Wie bei den meisten Mädchen aus reicher Familie hatten die Gouvernanten Lydias Erfahrungen in der Stadt der Lichter streng auf die Champs Elysées und die Rue de la Paix beschränkt. Und wenn sie das Foreign Office in London anrief - wäre das in Whitehall? Das Parlament? Scotland Yard? Man würde ihr nur Lügen auftischen. Sie fühlte sich hilflos, ängstlich und unsicher, was sie unternehmen sollte, denn anders als die medizinische Forschung war dies etwas, auf das sie nicht vorbereitet war. Und auf jeden Fall, das wurde ihr erst jetzt klar, als sie die Dunkelheit hinter der Gardine wahrnahm, waren dort inzwischen alle nach Hause gegangen. Wie um dies zu bekräftigen, schlug die Louis-XV-Uhr unten auf dem Kaminsims im Salon laut fünf. Also konnte sie nur warten. Irgendwann nach Mitternacht schlief sie am Fußende des Betts ein, immer noch in ihrem dürftigen, rosenbestickten Morgenmantel, umgeben von medizinischen Fachzeitschriften, die sich wie ein Mahlstrom bis zur Schlafzimmertür ausbreiteten. Sie träumte von zerfallenen Häusern in uralten Städten, deren Steine mit dunklem Blut und Spinnweben vermörtelt waren, von flüsternden Gestalten, die sie in jahrhundertetiefen Schatten erahnen konnte. Am Morgen war James immer noch nicht zurück. Doch erst als sein zweites Telegramm eintraf, beschloß sie, nach London zu fahren und solch ein Haus aufzusuchen.
ZWEI »Der Earl of Ernchester ist ein Vampir.« Streatham - ein penibler Mann mit fliehendem Kinn, den Asher noch nie gemocht hatte betrachtete ihn einen Augenblick mit einem gewissen Erstaunen in seinen hellblauen Augen, als frage er sich, warum Asher ihm wohl solch ein Märchen auftischte und ob dies eine Bedrohung seiner Position als Leiter der Pariser Sektion des Departments darstellte. Asher hatte einen Gutteil der vergangenen Nacht, während er schlaflos an Bord der Fähre aus Dover und im Zug von Boulogne nach Paris gesessen hatte, damit verbracht, sich eine Argumentation zurechtzulegen, die die Verantwortlichen davon überzeugte, Karolyi entweder in Paris zu verhaften - unwahrscheinlich, da Karolyi nirgendwo ohne seinen Diplomatenpaß reiste -, oder einen Mann abzustellen, der ihn beschattete, um wenigstens zu erfahren, welches sein nächster Schritt sein würde. Als sich um fünf Minuten nach neun die grüngestrichene Tür des Stadthauses in der Rue de la Ville de l'Eveque auf sein Klopfen hin nicht geöffnet hatte, hatten Schlafmangel, Hunger und pure Verzweiflung das Ihre getan. Er hatte auf einer Bank vor der Madeleine gesessen und auf ein Lebenszeichen in dem Haus gewartet, während über ihm zwanzig eisige Minuten lang kalter Regen loszubrechen drohte, und schließlich gedacht: Zum
Teufel damit. Ich werde ihnen die Wahrheit sagen. Streatham wagte ein leises Lachen, wie ein Agent, der in der Untergrundbahn dem kleinen Büroangestellten einer fremden Gesandtschaft seine gelesene Zeitung anbietet. Er streckte einen Fühler aus, um die Lage zu sondieren. »Sie scherzen.« »Ernchester - oder Farren, wie er sich manchmal nennt; Wanthope ist ein weiterer seiner Namen - ist es vollkommen ernst damit«, sagte Asher grimmig und dachte an den toten Arbeiter im Zug. »Unabhängig davon, ob er zu Recht oder zu Unrecht behauptet, daß das Trinken menschlichen Bluts ihn in die Lage versetzt hat, zweihundert Jahre alt zu werden, weiß ich aus eigener Anschauung, daß der Mann Fähigkeiten hat, für die eine fremde Macht viel Geld bezahlen würde. Er kann ungesehen an Wachen vorbeikommen. Ich weiß nicht, wie er es anstellt, aber er kann es. Und er kann die Gedanken von Menschen beeinflussen. Ich habe es gesehen.« Eigentlich, dachte Asher und beobachtete, wie die Gedanken hinter den Augen des Pariser Leiters beinahe sichtbar abrollten, hatte er nichts von dem, was er beschrieben hatte, je bei Ernchester gesehen. Von all den Vampiren, die ihn im dunklen, nebligen London des letzten Herbstes wie Geister umringt hatten, war Charles Farren, einst Earl of Ernchester, einer der wenigen gewesen, die nicht in irgendeiner Weise die unheimlichen Fähigkeiten der Vampire benutzt hatten, um ihn in die Falle zu locken, zu jagen oder zu beeinflussen. Und während er zugesehen hatte, wie die stecknadelkopfgroßen gelben Lichter von Dover in der Schwärze des Nebels hinter der Reling am Heck der Lord Wairden verschwanden, hatte Asher überlegt, daß dies einer der seltsamsten Aspekte des Ganzen war: daß der Ungar sich Ernchester ausgesucht hatte. Es gab weit gefährlichere Vampire in London. Warum nicht einen von ihnen? Streathams Mund verzog sich zu etwas, das wahrscheinlich ein Lächeln darstellen sollte. »Wirklich, Dr. Asher. Das Department weiß Ihre Sorge aufrichtig zu schätzen, besonders in Anbetracht der Umstände Ihres Abschieds...« Das war eine unnötige Spitze, und Zorn durchzuckte Asher. »Was ich über das Department gesagt und empfunden habe, als ich gegangen bin, gilt immer noch.« Er setzte seine Teetasse ab. Wenigstens hatten sie ihm Tee angeboten, dachte er, etwas, das er wahrscheinlich nirgendwo sonst in Paris bekommen würde. »Wenn das Department in die Luft gesprengt werden sollte, glaube ich nicht, daß ich die Straße überqueren würde, um die Zündschnur durchzuschneiden.
Aber ich spreche nicht vom Department.« Seine Stimme war gleichmütig, aber kalt vor Wut. »Es geht um das Land. Sie können nicht zulassen, daß die Hofburg den Earl of
Ernchester anheuert.« »Glauben Sie nicht, daß Sie ein wenig übertreiben? Nur weil die Österreicher irgendeinen Hypnotiseur umwerben...« »Es ist mehr als Hypnose«, sagte Asher und wußte, wenn er die Geduld mit diesem Mann verlor, verlor er auch jede Hoffnung, hier Hilfe zu finden. »Ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß nur, daß es funktioniert.« Er holte tief Luft, und ihm war klar, wie wenig man beschreiben konnte, worin die Macht der Vampire wirklich bestand. Er war nicht sicher, ob er selbst jemandem, der bereit war zu glauben, diese seltsame Gedankenleere beschreiben konnte, die die Vampire über ihre Opfer warfen und die es ihnen erlaubte, sich ungesehen zu bewegen; ihre Fähigkeit, draußen vor einem Gebäude oder in der nächste Straße oder eine halbe Meile entfernt zu stehen und unbemerkt die Träume jedes beliebigen Menschen zu lesen. Sie waren die geborenen Spione. Natürlich würde Karolyi, der in der Wiege der Karpaten-Legenden aufgewachsen war, daran glauben oder bereit sein zu glauben. Ich bin bereit, alles zu tun, was mein Kaiser von mir verlangt ... er hatte mit demselben glühenden Edelmut gesprochen wie all die anderen jungen Dummköpfe im Offizierskorps, aber selbst damals war Asher klar gewesen, daß Karolyi die reine Wahrheit gesagt hatte. Der Unterschied war, daß nicht alle Menschen dieselbe Auffassung des Wortes alles vertraten. Nichts änderte sich wirklich, dachte er. Er wußte nicht, wie oft er in diesem diskreten Haus, nur ein paar Schritte von der Botschaft entfernt, gesessen hatte, während der Jahre, in denen er in ganz Europa umhergezogen war, angeblich auf der Suche nach aussterbenden Verbformen und abweichenden Legenden über Feen und Helden, und mit Plänen deutscher Kriegsschiffe oder Listen von Firmen, die Gewehre an die Griechen verkauften, zurückgekehrt war. Diese Jahre schienen ihm unglaublich fern, als sei es jemand anderes gewesen, der für Dinge, die ein Jahr später überholt sein würden, sein Leben riskiert und seine Seele verkauft hatte. Streatham faltete die Hände, die weiß und weich waren wie die einer Frau. In seiner Stimme lag ein perverses Vergnügen, als er sagte: »Natürlich, Sie sind so lange vom Department fort, daß Sie nichts über die Neuorganisation am Ende des Krieges und nach dem Tod der alten Königin wissen können. Nach Südafrika hat man uns das Budget drastisch gekürzt, wissen sie. Wir müssen dieses Haus jetzt mit der Visaabteilung und dem Finanzattaché teilen. Gewiß können wir nicht nur auf Ihr Wort hin die französischen Behörden bitten, die Verhaftung eines österreichischen Bürgers anzuordnen schon gar nicht die eines Mitglieds eines der Adelshäuser dieses Landes, vom Diplomatischen Corps gar nicht zu reden. Und wir können keinen Mann entbehren, der Karolyi durch Paris folgt, und erst recht nicht nach Wien oder Budapest oder wohin immer er weiterreisen mag.« »Karolyi ist nur ein Mittel zum Zweck«, sagte Asher ruhig. »Nur durch ihn können Sie Ernchester aufspüren.« »Und hören Sie auf, ihn ›Ernchester‹ zu nennen.« Gereizt schob Streatham einen Bericht so zurecht, daß der Rand des Papiers mit dem Schreibtischrand abschloß, und stellte das Tintenfaß mitten darauf. »Zufällig ist der Earl of Ernchester ein guter Freund von mir - der echte Earl of Ernchester. Lucius Wanthope. Wir waren zusammen am Haus«, fügte er süffisant hinzu. Asher wußte, mit dem ›Haus‹ meinte er das Christ Church College in Oxford, und er fragte sich, ob das derselbe Lucius Wanthope war, der vor acht oder neun Jahren einer von Lydias Verehrern gewesen war. Streatham sprach es Want'tp aus. Er verschluckte die
Mitte des Wortes, wie es in Oxford üblich war. »Wenn dieser Hochstapler schon herum läuft und sich diesen Titel anmaßt, dann ist das mindeste, was Sie tun können, sich nicht an diesem Scherz zu beteiligen.« »Mir ist es gleich«, sagte Asher müde, »ob er sich Albert von Sachsen-Coburg-Gotha nennt. Und ich weiß alles über die Reorganisation und den Etat. Lassen Sie ihn beschatten. Dies war die Adresse an seinem Gepäck. Es ist nur ein vorübergehender Aufenthaltsort, aber Ihr Mann kann ihn über die hiesigen Fuhrunternehmen aufspüren. Er wird heute einen großen Koffer irgendwohin transportieren lassen, vielleicht zum Gare de l'Est, um nach Wien zu fahren, wahrscheinlich zu irgendeinem Haus hier in der Stadt, wo sie das Unternehmen vorbereiten. Finden Sie heraus, wer seine Verbindungsleute sind...« »Und dann?« Streatham lachte hämisch. »Soll ich ihm einen Holzpflock durchs Herz treiben?« »Wenn es nötig ist, ja.« Streathams Augen - sie standen zu eng zusammen und lagen in schlaffen Tränensäcken von der Farbe eines Fischbauchs - verengten sich wieder und blickten ihn forschend an. Asher hatte sich in einem der öffentlichen Waschräume am Gare du Nord gewaschen und rasiert, nachdem er ein Telegramm an Lydia aufgegeben hatte, doch er war sich nur zu bewußt, daß er im Augenblick nicht unbedingt aussah wie ein Professor aus Oxford, sondern eher wie ein heruntergekommener Büroangestellter, der die Nacht durchgemacht hatte. Der Leiter der Pariser Sektion öffnete den Mund, um weiterzusprechen, doch Asher schnitt ihm das Wort ab. »Wenn es notwendig ist, werde ich Colonel Gleichen in Whitehall telegraphieren. Dies ist eine Angelegenheit, in der wir uns nicht erlauben können, ein Risiko einzugehen. Ich habe meinen letzten Penny ausgegeben, um den beiden bis hierher zu folgen, um Sie vor einer Gefahr zu warnen, die meiner jahrelangen Erfahrung nach größer ist als alles, was unser Department gegenwärtig an Gefahren zu meistern hat. Glauben Sie mir, ich hätte das nie getan, wenn ich der Meinung wäre, Ernchester sei nur ein Theater-Hypnotiseur mit einer guten Nummer, und ich hätte es nicht getan, wenn ich irgendeinen Ausweg aus der Gefahr gesehen hätte, vor der wir stehen, wenn er beginnt, für die Kundschaftsstelle zu arbeiten. Alles, was Wien erfährt, geht schließlich nach Berlin. Das wissen Sie. Gleichen weiß es ebenfalls.« Bei der Erwähnung des Leiters der Sektion MO-2 war Streathams Gesicht langsam rot angelaufen; jetzt stieß er einen demonstrativen Seufzer aus. »Es wird die gesamte Archivsektion um Tage zurückwerfen, aber ich kann Cramer aus der Informationsabteilung abziehen und Ihnen zuweisen. Würde Sie das zufriedenstellen?« Asher durchforstete sein Gedächtnis, fand aber nichts. »Er ist nach Ihrer Zeit zu uns gekommen«, sagte Streatham mit forsch-fröhlicher Bosheit. »Ein guter Mann.« »Woraus besteht seine Arbeit?« »Information.« »Sie meinen, er schneidet Zeitungsartikel aus?« Asher stand auf und nahm seinen Hut. Draußen, vor den hohen Fenstern, hatte es wieder zu regnen begonnen. Der Gedanke daran, die dreiviertel Meile bis zur Barclay's Bank auf dem Boulevard Haussmann zu Fuß zurückzulegen, rief ein Gefühl in ihm hervor, als setze sich tief in seiner Brust ein ungeöltes Getriebe in Bewegung. »Jeder im Department muß heutzutage mehrere Arbeitsbereiche abdecken.« Die Feindseligkeit in Streathams Stimme war jetzt offenkundig. »Es tut mir leid, Ihnen Ungelegenheiten zu bereiten und daß der Etat uns nicht erlaubt, Ihre Zugfahrkarte nach Hause zu übernehmen. Natürlich sind Sie herzlich eingeladen, in einem der Diensträume zu übernachten...« »Vielen Dank«, sagte Asher. »Ich bin gerade auf dem Weg zu meiner Bank.« Dieser
Cramer schneidet wirklich Zeitungsartikel aus, dachte er. »Ich will Sie nicht aufhalten.« Es hatte eine Zeit gegeben, überlegte Asher, als er die flachen Sandsteinstufen hinunterging, da hatte er Paris geliebt. Und eigentlich liebte er es immer noch. Vor dem Hintergrund der aschfarbenen Straßen und des regenschweren Himmels erschienen die weißgelben Umrisse der kahlen Platanen und der blaßgoldenen Stein der Gebäude seltsam leuchtend. Hinter Balkonen mit Eisengittern waren die Fensterläden geschlossen; die roten und blauen Markisen der Läden schienen wie Blumen zu blühen. Auf dem Boulevard herrschte dichter Verkehr: Droschken, deren Verdecke vor Nässe glänzten; leuchtend bunte elektrische Straßenbahnen, die sich den Weg freihupten; elegante Landauer. Aus den Nüstern der Pferde stieg in der feuchten Kälte Dampf auf, als seien sie Drachen; Männer und Frauen trugen Tageskleidung in den Farben von Auberginen und feuchtem Stein. Eine magische Stadt, dachte Asher. Selbst in seiner Zeit beim Department, als er sich mit ihren gedungenen Schlägern, ihren Safeknackern, Falschmünzern und Hehlern vertraut gemacht hatte, hatte er sie dennoch für etwas Magisches gehalten. Doch er wußte, daß er sich beeilen mußte, um seine Besorgungen zu erledigen, weil er auf keinen Fall in dieser Stadt sein wollte, wenn die Sonne unterging. Irgendwo im Marais-Distrikt gab es ein altes hôtel particulier, das einer Frau namens Elysée gehörte. Seit der Nacht, in der man ihn mit verbundenen Augen dort hingebracht und er die bleichen, schönen Kreaturen mit den seltsamen Augen gesehen hatte, die in dem hell erleuchteten Salon Karten spielten, hatte er sich in dieser Stadt nie mehr sicher gefühlt. Er war nicht sicher, ob er je wieder freiwillig eine Nacht hier verbringen würde. In der Barclay's Bank wies er sich aus und ließ sich zwanzig Pfund auszahlen fünfhundert Franc, weit mehr, als er für ein prix-fixe- Mittagessen im Palais Royale und seine Rückreise brauchen würde, aber nach den Unannehmlichkeiten der vergangenen Nacht verspürte er wenig Lust, dem Schicksal noch einmal zu trauen. Mittag war lange vorüber, doch im Vefory servierte man noch Lunch. Er ließ sich in einer Ecke nieder mit einem Omelett, frischem Spinat, Brot und Butter, die nichts gemeinsam hatte mit der englischen Farce gleichen Namens, Kaffee und einem Exemplar des Petit Journal. Der nächste Fährzug ging um vier. Er hatte nicht genug Zeit, um den Louvre zu besuchen nur die Buchverkäufer am Seineufer, dachte er, und eine kleine Weile in der erholsamen Stille von Notre Dame. Es würde gerade dunkel werden, wenn der Zug den Gare du Nord verließ, doch das reichte aus. Während er die Seiten des Journal umblätterte, siebte und sortierte die oberste Schicht seines Bewußtseins den Mischmasch aus serbischen Forderungen nach Unabhängigkeit von Österreich, russischen Forderungen nach Gerechtigkeit für die Sache der Serben, einem weiteren Massaker an Armeniern durch die neue türkische Regierung, Komplotten des Sultans, um wieder an die Macht zu kommen, und dem Streben des Kaisers nach immer schnelleren Schlachtschiffen und immer mächtigerer Artillerie, während ein anderer Teil seiner Gedanken versuchte, diesen Berichten zu entnehmen, welche Verwendung der österreichische Kaiser - oder vielleicht auch der Zar oder der deutsche Kaiser - für einen Vampir haben könnte. Wohin er auch sah, die Aussichten waren erschreckend. Europa schwankte am Rande eines Abgrunds, soviel war ihm klar. Der deutsche Kaiser betete, im wahrsten Sinne des Wortes und in aller Öffentlichkeit, um einen Vorwand, seine Armeen einzusetzen; in den Franzosen brannten Stolz, Wut und die alten Wunden des Elsaß. Der Kaiser von Österreich versuchte seine slawischen Minderheiten in Schach zu halten, während die Russen ihre Absicht hinausposaunten, die ›panslawischen Rechte‹ dieser Minderheiten zu unterstützen. Asher hatte mit eigenen Augen die Waffen gesehen,
um deren Kauf sich jedermann riß, die Eisenbahnlinien, die gebaut wurden, um Männer in die Schlacht zu transportieren, und in Afrika war er bereits Zeuge dessen geworden, was diese Waffen anrichten konnten. Würden Männer, die in Betracht zogen, andere Menschen ins Maschinengewehrfeuer zu schicken - oder vorhatten, Maschinengewehre gegen Soldaten zu richten, die nur Flinten in den Händen hatten -, davor zurückschrecken, jemandem, der ungesehen in Konsulate, Werkstätten, Marine- und Kriegsministerien schlüpfen konnte, einen oder zwei politische Gefangene pro Woche auszuliefern? Er blätterte um und sah einen Moment lang vor dem dunklen Hintergrund seiner Gedanken wieder ihre Gesichter. Der ungeschlachte und kraftvolle Grippen. Ysidros rätselhafte Herablassung. Bully Joe Davis. Die schöne Celeste. Der Earl of Ernchester. Warum Ernchester? fragte er sich wieder. Der schwächste von ihnen, seltsam zerbrechlich, Grippens Zögling und sklavisch der geistigen Oberherrschaft des Meistervampirs unterworfen. Wußte Grippen, daß der kleine Adlige London verlassen hatte? Einen Pakt mit einer fremden Macht geschlossen hatte? War man zuerst an Grippen herangetreten, hatte er sich geweigert? Kein Vampir, hatte Elysée de Montadour gesagt, und im Gaslicht hatten ihre grünen Augen geglänzt, wird etwas tun, das andere Vampire gefährdet, indem er den Menschen
ihre Verstecke, ihre Gewohnheiten oder auch die bloße Tatsache ihrer Existenz verrät. Eine hübsche Frau, mit wippenden Straußenfedern am Hut, und ihr grün-schwarzes Seidenkleid so modisch elegant, als sei sie nicht in einer Zeit von Krinolinenröcken und drei Fuß hohen Frisuren geboren worden. Er erinnerte sich an die kalte Kraft ihrer Hände und ihre klauenartigen Nägel, die die Venen an seinem Arm aufrissen, damit sie trinken konnte. Warum nahm Karolyi keinen Kontakt zu Elysée auf? fragte er sich. Oder den Vampiren von Wien? Sicher waren die Jäger der Nacht auch in dieser Stadt zu finden, wie in allen Städten, wo es Arme gab, von denen man sich ernähren konnte. Er blätterte die Zeitung durch auf der Suche nach einer Meldung über die Leiche eines unbekannten Arbeiters, die man blutleer im Fährzug gefunden hatte. Es gab keine. »Dr. Asher?« Er hatte den großen jungen Mann bemerkt, als er das Restaurant betreten hatte und auf seinen Tisch zugesteuert war; an seiner Kleidung und dem weichen Gesicht mit dem kräftigen Kiefer hatte er ihn als Engländer identifiziert. Der junge Mann reichte ihm die Hand und sah Asher aus aufrichtigen braunen Augen an, die unter einer nach vorn fal lenden Stirnlocke seines weizenblonden Haars lagen. »Ich bin Edmund Cramer.« »Ah.« Asher schüttelte die Hand des jungen, der Handschuhe aus robustem York-Leder trug. »Derjenige, dessen Abwesenheit vom Archiv die Verteidigung des Königreichs gegen die Franzosen gefährden wird.« Cramer lachte und setzte sich auf den Stuhl, den Asher mit dem Fuß leicht in dessen Richtung geschoben hatte. Der Kellner erschien mit einer weiteren Tasse Café noir und einer Flasche Cognac; letztere ließ Asher zurückgehen. »Ja, es stimmt schon, daß die ganze Ausstattung heutzutage reichlich dürftig ist, aber Streatham hätte verflixt gut für eine Zugfahrkarte aufkommen können, gar nicht zu reden vom Mittagessen! Sind Sie zu Ihrer Bank gekommen?« »Vor Ihren Augen liegt die Beute meines Raubzugs.« Asher wies mit großer Geste auf die leeren Teller und drückte dem Kellner, der mit noch mehr Café noir wieder erschien, zwei Francs in die Hand. »Sind Sie mir gefolgt?« »Ich dachte mir schon, daß ich Sie in einem der Cafés im Palais finden würde«, erklärte der jungen Mann. »Streatham sagte, daß Barclay's Ihre Bank ist, und das ist direkt um die Ecke. Ich bin auf dem Weg zum Hotel Terminus und wollte mir ein bißchen mehr
Informationen über diesen Vogel Ernchester und seinen ungarischen Freund besorgen.« Aus seiner Brusttasche zog er das Papier, auf dem Asher die Adresse des Hotel Terminus, in der Nähe des Gare St. Lazare, notiert hatte. »Der Chef denkt anscheinend, daß die Sache mit Karolyi heiß ist.« Heiß. Asher sah in diese leuchtenden Augen, und ihn verließ der Mut. Der Junge war kaum älter als die Studenten, vor denen er eigentlich heute im New College seine Vorlesung hätte halten sollen - und er betete, daß Pargeter seine Vorlesung übernommen hatte, wie sie es für den Fall abgesprochen hatten, daß er in Wells aufgehalten würde. Er konnte diesen milchbärtigen Anfänger nicht auf einen Mann wie Karolyi loslassen, und erst recht nicht auf Ernchester. »Er ist tödlich«, sagte Asher. »Lassen Sie sich nicht von ihm entdecken, lassen Sie nicht zu, daß er auf Armeslänge an Sie herankommt, wenn Sie es verhindern können. Er darf auf keinen Fall erfahren, daß Sie ihm auf den Fersen sind. Ich weiß, er sieht aus, als hätte er nie etwas anderes getan, als neue Uniformen anprobiert und seinen Schnurrbart gepflegt, aber das ist nicht der Fall.« Cramer nickte, ernüchtert von Ashers Worten. Asher fragte sich, was Streatham über ihn gesagt hatte. »Und Ernchester?« »Ernchester werden Sie nicht zu Gesicht bekommen.« Der junge Mann blickte verwirrt. »Das ist seine besondere Begabung.« Asher stand auf, ließ ein Fünf-Franc-Silberstück für den Kellner auf dem Tisch liegen und ging voraus zur Tür. »Also müssen wir uns darauf konzentrieren, Karolyi auf der Spur zu bleiben. Wieviel Geld haben Sie?« Cramers Augen funkelten. »Genug, um in letzter Minute eine Eisenbahnfahrkarte zu kaufen und in der Nacht nicht hungern zu müssen.« »An so etwas hatte ich gedacht.« Als sie durch die hohen Türen von Vefory's auf die Arkaden rund um das Palais Royale traten, begann es wieder zu regnen. Trotz des Regens bevölkerten sich die Arkaden: Männer von der Börse und den nahe gelegenen Banken mit Zylindern und teuren Mänteln und Damen in Glockenröcken, die vor dem eintönigen, tropfenden Grau der Hecken, Bäume und der winterlichen Erde des Parks wie bunte Blumen wirkten. Auf halbem Wege um die Arkaden fand Asher, was er suchte: DuBraque et Fils, Juwelier. Cramer beobachtete verwirrt, wie Asher drei Ketten erwarb, jede ungefähr achtzehn Zoll lang und, wie der Juwelier ihm versicherte, aus Sterling-Silber. »Legen Sie sich das um den Hals.« Er reichte Cramer eine der Ketten, als sie wieder in die Arkaden traten. In vielen der Läden hatte man bereits das Gas angezündet, und in dem Licht, das durch eine breite Fenterscheibe fiel, schimmerten die hellen Kettenglieder, als Cramer versuchte, den Verschluß zu öffnen, ohne seine Handschuhe auszuziehen. »Ernchester hält sich wirklich für einen Vampir«, fuhr Asher fort, während er eine zweite Kette zweimal um Cramers Handgelenk wand. »Wenn Sie Silber tragen, könnte das Ihr Leben retten.« »So durchgedreht ist er?« Asher, der gerade die zweite Kette schloß, blickte auf und sah dem jungen Mann einen Moment in die Augen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Verschluß zu. »Unterschätzen Sie ihn nicht.« Die Kette lag eng an; Cramer war ein etwas fülliger junger Mann. »Seien Sie jede Minute auf der Hut, sobald es dunkel ist. Er ist wahnsinnig, aber das heißt nicht, daß er Sie nicht innerhalb von Sekunden töten kann.« »Wenn das so ist, sollten wir nicht in Notre Dame vorbeigehen und uns ein Kruzifix besorgen?« Er lächelte zögernd. Asher dachte an einen Leutnant, den er im Veldt kennengelernt hatte - Pynchon? Prudhomme? Auf jeden Fall hatte er mit dem Kehlkopfverschlußlaut der Menschen in East Anglia gesprochen. Die Hände in die Hüften gestemmt, hatte er in die heiße, schwüle Stille des löwenfarbenen Landes hinausgestarrt. Nun, alles in allem sind sie doch bloß eine Horde Bauern, nicht wahr? »Es ist das Silber, das sie abschreckt«, sagte Asher.
Cramer wußte anscheinend nicht, was er antworten sollte. Selbst am Palais Royale war es schwierig, im Regen eine freie Droschke zu finden. Schließlich nahmen sie die Untergrundbahn zum Gare St. Lazare und überquerten den Platz, an dem das Hotel Terminus lag. »Sollten wir nicht am Droschkenstand fragen?« Cramer zeigte auf die Reihe leichter, zweirädriger Fiaker, die an dem Zaun um die place standen. Die mit Decken vor dem Regen geschützten Pferde ließen die Köpfe hängen, und die Männer standen in Gruppen unter den Bäumen, eingehüllt in alles, was sie finden konnten, um sich warm zu halten. Asher schüttelte den Kopf. »Er wird ein Fuhrunternehmen beauftragt haben. Es ist ein großer Koffer. Er würde gerade eben in eine vierrädrige Londoner Kutsche passen; ein Pariser Fiaker ist zu leicht gefedert. Wir werden das schnell überprüfen...« Er stieg die grauen Granitstufen des Terminus hinauf und ging über die dunklen türkischen Teppiche zum Empfang. Cramer folgte ihm auf dem Fuße wie ein wohlerzogener, sehr großer Hund. »Pardon«, sprach Asher den Portier in dem Französisch eines Deutschen aus Straßburg an. Er stand da wie ein Deutscher und hielt seine Schultern so, wie er es bei süddeutschen Offizieren gesehen hatte, aber ohne die preußische Starre, die in dieser Stadt, die ein gutes Gedächtnis hatte, wenig hilfreich gewesen wäre. »Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester Agnes; sie hätte heute morgen mit dem Zug aus Dieppe ankommen sollen, und ich habe nichts von ihr gehört. Das Problem ist, ich weiß nicht, ob sie unter ihrem eigenen Namen reist, unter dem ihres ersten Mannes, der in Kenia gefallen ist, oder dem ihres zweiten...« Als er mit Cramer wieder den Platz überquerte, sagte Asher: »Karolyi ist tatsächlich hier abgestiegen.« Er wich einer knallroten elektrischen Straßenbahn aus und dem polierten Automobil eines Mannes von altem gratin, bog in die Rue de Rome ein, und dann in die Rue d'Isly. »Sein Name steht im Hotelregister, oder jedenfalls einer seiner niedrigeren Titel. Jetzt kommen wir zum langweiligen, nervtötenden Teil...« »Ich weigere mich zu glauben«, sagte Cramer fröhlich und schlug seinen Kragen gegen die Kälte hoch, »daß es etwas Langweiligeres und Nervtötenderes gibt, als täglich einhundertfünfzig französische Zeitungen - und das sind nur die politischen, und nur die, die in Paris erscheinen - zu durchkämmen und nach ›interessanten Meldungen‹ für das Kriegsministerium zu suchen. Da können Sie sagen, was Sie wollen.« Asher grinste und ging voraus, die Treppe zu dem bescheidenen Hôtel d'Isny hinauf, das nicht mehr als eine Tür zwischen einem staatlichen Tabakladen und einer Arbeiterkneipe war. »Aus Ihnen spricht eine tapfere Seele und ein wahrer Agent.« Ein vielversprechender Junge. Wieder nahm er die Haltung und die Redeweise eines Deutschen aus Straßburg an und erzählte dem Portier in dem engen Foyer im ersten Stock seine Geschichte; diesmal nicht von einer verschwundenen Schwester, sondern einem verschwundenen Koffer: anderthalb Meter lang, aus lederbezogener Eiche mit eisernen Beschlägen. Eine Verwechslung am Bahnhof, vertauschte Kofferanhänger ... Nein? Nein. Vielleicht konnte der gnädige Herr ihm weiterhelfen, was die hiesigen Fuhrunternehmen anging, wie sie sich jemand vielleicht zum Bahnhof bestellt hatte? Sicherlich, man konnte das städtische Adreßbuch kaufen, doch das gab wenig Aufschluß ... »Diese Schwarte, pfff!« Der Angestellte machte eine empörte Geste. »Hier ist die Liste, die wir benutzen, M'sieu, wenn wir einen Kunden mit solch einem Koffer haben. Nicht alle haben Telephon, verstehen Sie, aber wenn Sie die anrufen wollen, dort ist das Telephonkabinett.« »Wunderschön! Der Herr ist zu freundlich. Ich werde Sie für alle Anrufe entschädigen. Bitte, nehmen Sie dieses kleine Geschenk an...« »Jetzt sind Sie dran«, sagte Asher leise, als der Angestellte hinter seine Theke zurückgekehrt war und Asher und Cramer allein hinter der hölzernen Trennwand des
Telephonkabinetts standen. »Sie werden zu Fuß weitergehen müssen, um die Unternehmen zu überprüfen, die kein Telephon haben, aber nahe genug liegen, um einen Pagen mit einer Nachricht zu schicken. Ich gehe zurück zum Terminus und halte Aus schau nach Karolyi. An der Ecke Rue d'Amsterdam und Place du Havre gibt es ein Café, und noch eines am anderen Ende der Rue de Rome; von beiden aus kann man den Droschkenstand überblicken. Ich werde in einem von beiden oder unter den Arkaden des Bahnhofs sein. Wenn ich nicht da bin - wenn Karolyi zurückkommt und wieder fortfährt und ich ihm selbst folge - warten Sie dort auf mich. Der letzte Zug nach London heute abend geht um neun Uhr von St. Lazare. Ich warte bis halb neun auf Sie. In Ordnung?« Cramer nickte. »In Ordnung. Furchtbar nett, daß Sie mir Ihr Vertrauen schenken...« Asher schüttelte abwehrend den Kopf, stand auf und grub seine Handschuhe aus der Manteltasche. »Lassen Sie keinen von ihnen wissen, daß Sie ihnen auf der Spur sind. Aber verlieren Sie sie nicht. Es ist wichtiger, als Sie sich vorstellen können.« Er lächelte jungenhaft. »Ich kann nur mein Bestes tun.« Asher hob das verbeulte braune Lederköfferchen auf, das ihn den ganzen Tag begleitet hatte, und nickte. »Mehr kann keiner von uns tun.« Oben auf der Treppe hielt er inne und drehte sich um, um zu der großen, stämmigen Gestalt zurückzublicken, die in dem Telephonkabinett hockte, die Liste des Portiers auf den Knien ausgebreitet. War das der Nachwuchs, auf den das Department baute? fragte er sich in einer Art Verzweiflung. Paris war kein Unruheherd. Die erfahrenen Männer, die das Department hatte, waren in Irland oder an der indischen Grenze. Beinahe wäre er zurückgegangen. Und was dann? fragte er sich. Sollte er anbieten, Karolyi selbst zu verfolgen? Zulassen,
daß das Department mich wieder bekommt, tun, was sie von mir verlangen, wie vorher? Aber das hier war etwas anderes. Es war immer etwas anderes, dachte er bitter und wandte sich ab. Das einzige, das immer gleich blieb, war, daß sie wollten, daß man es tat - und natürlich das, was sie mit einem anstellten. Etwas in ihm schmerzte, wie eine alte Wunde, wenn ein Sturm heraufzog. In dem Café an der Ecke der Rue d'Amsterdam bestellte Asher einen Café noir und richtete sich darauf ein zu warten. Da er nicht Zeitung lesen konnte, bat er den Kellner um Stift und Papier und unterhielt sich, während er auf den Droschkenstand achtete, damit, die Reisenden zu beobachten, die den Bahnhof betraten oder verließen. Er machte sich ein Spiel daraus, aus den Einzelheiten der Kleidung, des Verhaltens und der Sprache auf die finanziellen Verhältnisse, den Beruf und die familiären Bindungen zu schließen, weniger systematisch als Conan Doyles Mr. Holmes, aber mit der durch die Gewohnheit geschärften Beobachtungsgabe eines Agenten. Dies war ein guter Platz dafür: Er hörte drei Arten von Deutsch, fünf italienische Dialekte, Ungarisch, Holländisch und ein halbes Dutzend Varianten des Französischen. Einmal ging ein griechisch sprechendes Paar vorüber - Bruder und Schwester, vermutete er sowohl wegen ihrer vertrauten Redeweise als auch wegen der Ähnlichkeit zwischen ihnen. Später kam eine kleine japanische Familie vorbei, und er dachte: Ich muß diese Sprache einmal lernen. Wenn er das hier überlebte. Die Uhr an der Trinité schlug vier, und er wußte, daß er den Nachmittags-Fährzug verpaßt hatte. Und immer noch war nichts von Cramer oder Karolyi zu sehen. In regelmäßigen Abständen brachten die Kellner ihm Kaffee, schienen nichts dagegen zu haben, daß er dort so lange saß. Asher wußte, daß es Männer gab, die den ganzen Nachmittag und Abend in Cafés saßen und Briefe schrieben, lasen, Kaffee und Liköre tranken und schweigend Cribbage, Domino oder Schach spielten. Reisende kamen auf einen Kaffee herein oder um auf Freunde zu warten. Es dunkelte, der Himmel wurde
rußfarben, und um ihn herum auf dem Platz flammten strahlend weiße elektrische Lichter auf. Die Droschkenkutscher tauschten ihre Pferde für den Tag gegen die ramponierten Mähren aus, mit denen sie nach Sonnenuntergang fuhren - warum sein bestes Tier den Unbilden der Nachtarbeit aussetzen? - und zündeten die gelben Laternen an, die an ihre Herkunft aus dem Montmartre-Viertel erinnerten. Es war beinahe sechs, als er Karolyi sah. Der Mann hatte eine geschmeidige Tödlichkeit an sich, wie ein Gepard, der sich als Hauskatze getarnt hatte; er hatte es so eilig, daß die weiten Schöße seines ungarischen Mantels um seine Stiefelschächte flatterten. Er warf hastige Blicke um sich, als er die Stufen des Hotel Terminus hinaufsprang. Das Licht der Bogenlampen fiel auf sein glattes, starkes Kinn und die wohlgeformten Lippen. Seine Augen verbarg er im Schatten seiner Hutkrempe. Die Art, wie er sich bewegte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, war für Asher damals in Wien der Auslöser gewesen, sich Gedanken über ihn zu machen. Das, und die Tatsache, daß er eindeutig zu intelligent war, um sich mit dem, was er tat, zufriedenzugeben. Asher bezahlte seine Rechnung und verfluchte das Department, nahm seinen Koffer und schlenderte gelassen über den Platz. Er lungerte im tiefen Schatten der Bäume am Droschkenstand herum, als der Ungar wieder durch das Portal des Terminus trat. Er hörte, wie er mit einem Kutscher sprach und ihm eine Adresse in der Rue du Bac nannte. Da es auch möglich war, daß Karolyi die Droschke wechseln würde, sagte Asher seinem eigenen Fahrer nur: »Folgen Sie dieser Droschke, aber passen Sie auf, daß er uns nicht sieht«, und der Mann, ein galliger kleiner Vogel von einem Pariser mit einem verblichenen Armeemantel und einem dicken Schal, zwinkerte ihm wissend zu und gab seinem unansehnlichen alten Gaul die Peitsche, um die Verfolgung aufzunehmen. Am Pont Royal überquerten sie den Fluß. Die Lichter des Louvre spiegelten sich im schwarzen Wasser. In der Nähe des Quai d'Orsay entließ Karolyi seine Droschke, und Asher folgte ihm zu Fuß durch die belebten Straßen des linken Seineufers. Unter den Bäumen des Boulevard St. Germain las Karolyi eine jener buntgekleideten, ungekämmten Frauen auf, die Asher - ein wenig so, als sei sie selbst ein Vampir - aus der Dunkelheit hatte auftauchen sehen, sobald die Straßenlampen angezündet wurden. Er spürte einen plötzlichen Ekel, sowohl vor dem Mann, den er beschattete, als auch vor sich selbst. Er schlenderte gerade weit genug hinter ihnen her, um ihn und seine neue Gefährtin im Auge zu behalten. Sie bogen von dem erleuchteten Boulevard in die dunklen alten Straßen ein, die schon lange vor den Reformen des Bürgerkriegs dieses Viertel ausgemacht hatten, und kehrten auf ein Glas in ein Arbeitercafe ein. Asher stand in einer schäbigen, düsteren Gasse und hörte, wie es von St. Clothilde halb schlug. Das Jaulen von Fiedeln und Ziehharmonikas drang an sein Ohr, und im hellen Schein der farbigen Lichter sah er schreiend bunte Petticoats hochwirbeln, gestreifte Strümpfe und lachende Münder durch den blauen Dunst von Zigarettenrauch. Der Nachtzug ging um neun. Er fragte sich, ob er Zeit hatte, Cramer eine Nachricht zu hinterlassen und den Zug immer noch zu erreichen, oder ob er doch eine Nacht in Paris verbringen mußte. Der Gedanke war nicht angenehm. Als er ein Geräusch hinter sich hörte, fuhr er herum und sah vor seinem inneren Auge die kalten, weißen Gesichter und seltsam glänzenden Augen der Meistervampirin von Paris und ihrer Zöglinge ... Doch es war nur eine Katze. Wäre es Elysée de Montadour gewesen, hätte er nichts gehört, das wußte er. Als Karolyi aus dem Café trat, hing die Frau an seinem Arm. Ihre wilde, messingfarbene Mähne hatte sie aus den Haarnadeln gelöst, und ihr Kopf schwankte. Asher erinnerte sich, daß Karolyi immer sehr vorsichtig mit den Mädchen seiner eigenen Schicht oder den Töchtern der Wiener nouveaux riches umgegangen war und sich statt dessen seine Beute inkognito unter den Ladenmädchen der Vorstädte gesucht hatte, oder zu Gasthäusern auf dem Land hinausgefahren war, um die jungen Mädchen zu verführen, die in den Weinbergen arbeiteten.
Auf dem feuchten Pflaster waren ihre Schritte deutlich zu hören. Als sie sich Ashers verborgenem Beobachtungsposten in der Gasse näherten, trat ein Mann in einem gestreiften Pullover und einer Seemannsjacke aus einem Hauseingang. »Haben Sie ein paar Sous für einen ehrlichen Mann, der Pech gehabt hat?« Als Karolyi in seiner eisigen, perfekten Aussprache sagte: »Gehen Sie doch zum Teufel«, wurde der Mann aggressiv und trat ihm in den Weg. Er war nicht so groß wie der Ungar, dafür aber muskulöser. Er straffte angriffslustig die Schultern, und seine Hände waren bereit. »Das ist doch keine Art...« In einer einzigen Bewegung löste Karolyi die Frau von seinem Arm, so daß sie gegen die rußschwarze Mauer fiel, und griff seinen Spazierstock fester. Bevor der Bettler einen Laut ausstoßen konnte, hob Karolyi den Stock seitwärts hoch und schlug ihn mit aller Wucht über den Schädel des Mannes. Als der Mann zusammensank, schlug Karolyi nochmals zu, mit schweren, gezielten, kraftvollen Schlägen, als klopfe er einen Teppich. Ohne Hast. Dies war kein Viertel, in dem sich die Polizei häufig sehen ließ. Die Frau stand schwankend da, hatte die Faust vor den Mund gepreßt und beobachtete die Szene blinzelnd, in benommenem Entsetzen. Sie machte keine Anstalten zu fliehen, und Asher fragte sich, ob sie überhaupt in der Lage dazu wäre. Als Karolyi fertig war, wandte er sich um, ergriff sie am Kragen und zog sie wieder an sich. Sie fiel gegen seine Schulter, als sei sie betrunken oder stehe unter Drogen. In dem schwachen Licht, das aus dem Café fiel, sah Asher das Blut des Bettlers, das sich dunkel auf dem unebenen Straßenpflaster ausbreitete. Der Atem des Mannes ging in pfeifenden, rasselnden Stößen. Asher dachte: Er braucht Hilfe. Und dann: Wenn ich ins Café gehe und Hilfe hole, verliere
ich Karolyi. Während er im Schatten lautlos wie eine magere braune Katze dem sich entfernenden Paar folgte, erinnerte Asher sich daran, warum er das Department verlassen hatte. Wenn man einmal die Notwendigkeit dessen, was man tat, akzeptiert hatte - was immer mein Land von mir verlangt -, dann haßte man sich vielleicht selbst, doch man gehorchte. Das Haus war eine jener anonymen, an einer schmalen Gasse gelegenen Pariser Behausungen mit Stuckfassade, an deren Charakter sich seit den Tagen des Sonnenkönigs nichts geändert hatte. Die Läden an Türen und Fenstern waren fest verriegelt. Als Karolyi die Tür zu einer Werkstatt im Souterrain öffnete, huschte Asher wie ein Geist durch eine Gasse, die ein paar Häuser entfernt verlief, zählte die Schornsteine, studierte den Verlauf der Dächer und schlüpfte in einen schlammbedeckten, unkrautbewachsenen Hof. Durch die Fensterläden im zweiten Stock fiel gerade so viel Licht, daß er zwischen schmutzigem Gerümpel - Regentonnen, alten Brettern, zerbrochenen Kisten - den zerfallenen Schuppen erkennen konnte, der einmal eine Küche beherbergt hatte. Um sich herum erkannte er andere geschlossene Fensterläden als leuchtende Ritzen und messingfarbene Schlitze. Seine Stiefel klebten in dem Schmier unter seinen Füßen, und die Luft war beinahe so dick wie der Schlamm und roch erstickend nach Abort und etwas, das noch nicht lange tot war. Er ließ seinen Koffer neben einer Regenrinne stehen und kletterte unendlich vorsichtig auf das Dach des Schuppens. Durch eine zerbrochene Jalousie konnte er erkennen, daß Karolyi die Frau an einen wackligen Stuhl fesselte. »Magst du es so, ja, Kumpel? Soll ich mich ein bißchen gegen dich wehren?« »Igen.« Karolyi hatte für diese Arbeit seine Handschuhe ausgezogen und seinen Hut auf die fleckige, durchgelegene Matratze des Bettes geworfen. Sein Gesicht war so ruhig und freundlich wie das einer Statue, seine Schultern waren entspannt, als ließe er alles an sich abgleiten, in dem Wissen, daß alles, was er im Namen seines Landes tat, gerechtfertigt und verzeihlich war. In seiner Stimme klang echte Fröhlichkeit. »Wehr dich nur, mein kleiner Vogel. Schau, ob es dir etwas hilft.«
Hinter ihnen konnte Asher einen riesigen Koffer erkennen, der eine Seite des Raums vollständig einnahm: er war mit Leder überzogen und hatte Schnallen und Beschläge aus Messing. Er stand offen, und das trübe Licht der Öllampe glitzerte auf den Metallteilen und füllte ihn mit Schatten, doch Asher konnte erkennen, daß sich im Inneren ein zweiter, nur wenig kleinerer Koffer befand. Der innere Koffer hätte immer noch leicht einen Menschen aufnehmen können. Ein Geräusch im Hof ließ sein Herz beinahe stillstehen; ein Zischen und Rascheln; kämpfende Ratten, erkannte er und lehnte sich an die eiskalte Ziegelmauer. Ihm fiel wieder der Geruch von etwas Totem in der Nähe des Schuppens ein. Als er wieder hineinsah, befand sich Ernchester im Zimmer. »Sie kommen spät.« Seinem Tonfall nach hätte Karolyi von einer Verabredung zum Tee sprechen können. »Der Zug verläßt den Gare de l'Est um halb acht. Wir haben kaum Zeit, mit diesem kleinen Liebesknochen fertig zu werden, bevor die Träger kommen.« Er trat zu der kichernden Frau, ergriff die schmutzige Spitze ihres Kragens und riß ihr Kleid bis zur Taille auf. Darunter trug sie ein Korsett, aber kein Hemd; Brüste hingen wie flache Teiglaibe über dem Fächer aus Fischbein und Leinen. Ihre Brustwarzen waren groß wie Kupferpennies. An ihrem Hals schimmerte eine billige vergoldete Kette. Sie zwinkerte Ernchester zu und warf mit dem Knie blitzschnell ihre Röcke bis über den Schoß hoch. Sie trug auch keinen Schlüpfer. »Es ist noch Zeit, bis dein Zug fährt, chéri.« Sie beugte den Kopf nach hinten, warf ihm mit ihrem geschminkten Mund Küsse zu und brach dann in Kichern aus. Ernchester sah ausdruckslos auf sie hinab. Er schien kleiner zu sein, als Asher ihn in Erinnerung hatte, mager und unscheinbar in seiner altmodischen Kleidung. Obwohl kein Vampir, dem Asher je begegnet war, physisch älter gewirkt hatte als Mitte Dreißig, schien Ernchester irgendwie gealtert, selbst in dem einen Jahr. Seine Haltung und sein Gesicht waren irgendwie durchscheinend; in seinem kurzgeschorenen blonden Haar zeigte sich kein Grau. Als Asher ihn ansah, hatte er das Gefühl, er blicke auf ein leeres Glas, ausgetrocknet und von bitterem Staub überzogen. »Ich habe schon gespeist.« Er wandte sich ab. »Ach, komm schon, Kleiner«, lachte die Frau. »Hast du keine Lust auf ein Dessert?« Karolyi brummte angeekelt: »Sacrées couilles« - nicht zu der Frau, sondern wegen der Verzögerung und der sinnlosen Risiken - und zog einen dünnen Seidenschal aus der Tasche. Mit tödlicher Anmut formte er ihn zu einer Schlinge und legte ihn der Frau um den Hals. Sie keuchte und quietschte, als ihr die Luft abgedrückt wurde. Ihr Körper hob sich und fiel wieder zusammen, und ihre bestrumpften Beine schlugen; in ihrem Todeskampf trat sie einen ihrer Schuhe fort, der mit einem Knall gegen die Wand flog. Asher wandte das Gesicht ab und preßte die Wange an die kalten Ziegelsteine. Ihm war übel, doch er wußte, daß er ein toter Mann war, wenn er versuchte, das Geringste zu unternehmen, um dem, was da geschah, Einhalt zu gebieten. Ihm wurde klar, daß er von dem Augenblick an, als Karolyi sie aufgelesen hatte, gewußt hatte, daß sie sterben würde. Ihm war ebenso klar, daß der Lärm im Zimmer - das Scharren und Rumpeln des Stuhls, die obszönen Geräusche, die die Frau von sich gab, als blubbere, spritze und platze das Leben aus ihrem Körper - die Geräusche seines Aufbruchs übertönen würde, so daß er den Gare de l'Est vor ihnen erreichen und herausfinden konnte, welcher Zug um halb acht ging. Er war zu lange im Department gewesen, dachte er, während er lautlos die Regenrinne hinunterglitt. Er wußte, er konnte nichts tun, um diese Frau zu retten. Der Versuch würde nicht nur ihn das Leben kosten, sondern auch unzählige Engländer, falls der Kaiser den Krieg bekam, den er wollte ... Feigling, beschimpfte er sich. Feigling, Feigling ... Man hatte ihm immer gesagt, das wichtigste sei, die Informationen nach Hause zu bringen, gleich, was es einen selbst oder
andere kostete. Ehre war noch so ein Luxus, den das Department sich nicht leisten konnte. Die Uhr schlug sieben und erinnerte ihn daran, daß die Zeit knapp war. Asher klopfte gegen einen Bretterstapel an der Küchenmauer. Ratten strömten wie grausig trippelnde Schatten in alle Richtungen davon, und erneut nahm er den Gestank des Todes wahr. Er hob seinen Koffer auf, doch etwas veranlaßte ihn, sich umzudrehen und zurückzugehen. Dort, wo die Bretter auseinandergerutscht waren, konnte er in dem schmalen Lichtschein, der aus einem Fenster hoch oben fiel, die Hand eines Mannes sehen. Die Handfläche war nach oben gedreht. Ich habe gespeist, hatte Ernchester gesagt. Asher bückte sich und schob das Brett beiseite. Die Ratten hatten das Gesicht des Mannes, den man unter die Bretter geschoben hatte, bereits angenagt; ohnehin hätte man in dem tiefen Schatten nicht erkennen können, wer er war. Doch um sein plumpes Handgelenk lag eine Silberkette.
DREI
»Schon lange finde ich die Umgangsformen derer, die sich heutzutage gern für die bessere Gesellschaft halten, beklagenswert.« Lydia keuchte, als habe man sie mit einem Guß eiskalten Wassers geweckt. Der bleiche Mann nahm ihr mit der einen Hand die Sprühpistole ab, die sie umklammert hielt, und zog sie mit der anderen auf die Füße. Der Griff seiner Finger um ihren Ellbogen war so fest, daß sie instinktiv spürte, er hätte ihr den Knochen brechen können, wenn er gewollt hätte. Über seine Schulter hinweg sah sie, daß das Gitter offenstand, obwohl sie keine Bewegung des Toten in der Nische wahrgenommen hatte. Angst und Schrecken überfluteten sie, als sie erkannte, daß sie einige Augenblicke ohne Bewußtsein gewesen war. Jetzt stand er neben ihr, mager und kalt und überaus korrekt in seinen langen weißen Hausmantel gekleidet. Seine Augen, die auf einer Höhe mit ihren lagen - denn er war kein großer Mann -, waren von einem hellen, klaren Gelb, mit braun-grauen Flecken, wie sie Holz aufweist, wenn es im Alter austrocknet. Er schob sie gegen die Steinmauer, und als er sprach, konnte sie seine Fänge im seltsamen Widerschein der Lampe glitzern sehen. »Nicht, daß es in diesem Land ordentliche Manieren oder eine wirklich gehobene Gesellschaft gegeben hätte, seit der letzte seiner wahren Könige nach Frankreich ging und dieser Haufen wurstfressender deutscher Häretiker mit seinem Anhang aufgetaucht ist.« In seiner Stimme klang kein Zorn, und sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, doch sein Griff um ihren Arm hielt sie weiter fest, wo sie war. Seine Hände waren wie Marmor - die Hände eines Toten. Er fuhr fort: »Ich bin schon immer der Meinung gewesen, daß eine Frau, die einen Mann in seinem Gemach aufsucht, während er schläft, dies auf eigenes Risiko tut.« James war in Gefahr. Später wurde Lydia klar, daß einzig diese Tatsache ihr den Mut gab zu sprechen. Ihr bisher einziges Zusammentreffen mit Ysidro war Bestandteil eines größeren Risikos gewesen, und damals hatte sie gewußt, wo sie stand. Dies hier war etwas anderes. »Ich mußte mit Ihnen sprechen. Ich bin bei Tag gekommen, damit die anderen nichts davon erfahren.« Er ließ ihren Arm los, doch auf der schmalen Treppe standen sie so nahe beieinander, als umarmten sie sich. Sie bemerkte, daß sein Körper keine Wärme ausstrahlte und - außer einem ganz schwachen Gestank nach altem Blut, der aus den Falten seines Totenhemds aufstieg – keinen Geruch. Außer wenn er sprach, drang kein Laut aus seinem Körper, weder durch Atem noch Bewegung. All diese Fakten nahm sie auf, doch sie war sich bewußt, daß keine Analyse auch nur annähernd beschreiben konnte, wie er war. Sie schob ihre Brille hoch. »Lord Ysidro - Don Simon -, ich glaube, mein Mann ist in Gefahr. Ich benötige Ihren Rat.« »Ihrem Mann, Mistress, habe ich bereits dadurch all meine Gunst und Gnade erwiesen, und noch mehr, daß der Atem des Lebens noch immer über seine Lippen strömt.« Die schwefelfarbenen Augen sahen sie distanziert und kalt an. Sie waren weder katzen- noch schlangengleich, noch wie die Augen irgendeines anderen Tieres, doch es waren auch keine menschlichen Augen. Selbst seine Wimpern waren so weiß wie sein Haar. »Und ich werde ihm ein zweites Mal ein unverdientes Geschenk in die Hände legen, indem ich Ihnen gestatte, dieses Haus wieder zu verlassen.« »Der Earl of Ernchester verkauft seine Dienste an eine ausländische Regierung.« Don Simon Ysidros Miene änderte sich nicht. Tatsächlich zeigte sein Gesicht, ruhig wie die nackte Elfenbeinstatue eines vergessenen Gottes, weder Zorn noch Verachtung, als sei sein Fleisch im Laufe der Jahre auf der feinen Knochenstruktur seines Schädels
endgültig zur Ruhe gekommen. Seine Stimme war immer noch leise, nicht ganz monoton, aber darum um so furchteinflößender. Don Simon Xavier Christian Morado de la Cadena-Ysidro war der einzige Vampir, dem Lydia je begegnet war. Sie fragte sich, ob die anderen waren wie er. »Kommen Sie nach oben.« Er gab ihr ihre Waffe zurück und ging voraus, die Lampe erhoben, um die feuchten Steinstufen zu erhellen. Unter dem Saum seines totenhemdähnlichen wollenen Gewands schauten seine Füße bloß hervor. Er schien die Kälte nicht zu spüren. Lydias Atem sah im Licht der Lampe wie eine goldfarbene Wolke aus. In der Spülküche tauchten von irgendwoher vier Katzen auf, die maunzend nach Futter verlangten. Lydia fiel auf, daß sich keine in die Reichweite des Vampirs begab. Ysidro stellte die Lampe auf den Tisch und entzündete an der Flamme einen Fidibus. Obwohl es extrem schwierig war, seine Bewegungen zu verfolgen, hatte Lydia einzelne Eindrücke, wie eingefrorene Traumbilder, von weißen Händen, die sich leicht über dem gebogenen Glasröhrchen wölbten und es zu den Brennern über dem Herd trugen; von den intensiv goldenen Umrissen der leicht gebogenen Nase, dem langen Kinn und den Schattenspuren in seinen Mundwinkeln. Er öffnete den Eisschrank, sprach die Katzen auf spanisch an und holte Fleisch und Milch für sie heraus. Erst als er von den Tellern forttrat, kamen sie näher, um zu fressen. »Wo haben Sie das gehört?« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht, und sie setzte sich. Dann ließ er sich halb auf einer Ecke des Tisches nieder. Sein Englisch war makellos bis auf die leiseste Andeutung eines kastilischen Lispelns und eine gelegentliche Abweichung im Tonfall, die für James, so dachte Lydia, Bände gesprochen hätte. In der Haltung von Ysidros Schultern, in der Art, wie er den Kopf trug, sah sie den Nachhall eines lange verschwundenen Wamses mit steifer Halskrause. Sie reichte ihm das Telegramm, das sie am Montag morgen vom Gare du Nord bekommen hatte. »Ignace Karolyi ist...« »Ich weiß, wer Ignace Karolyi ist.« Seine Stimme verriet immer noch kein großes Interesse, als seien alle Gefühle im Lauf der Zeit abgeschliffen worden. Wenn er sich nicht bewegte, hatte Lydia den merkwürdigen Eindruck, daß er schon seit Jahren, vielleicht seit Jahrhunderten, so auf der Tischkante saß. Der Vampir wendete das Papier in seinen elfenbeinfarbenen Fingern, hob es an seine Nase, und berührte dann damit, sehr vorsichtig, zuerst seinen Wangenknochen, danach seine Unterlippe. »Ein ungarischer Bojar und, wie Ihr Mann einst, jemand, der die Ehre seines Dienstes an seinem Reich über seine persönliche Ehre stellt, obwohl die Ungarn vielleicht allgemein anders über Wahrheit und Loyalität denken als die Engländer. Ein Diplomat und ein Spion.« »Dann habe ich doch nichts über Karolyi gewußt«, sagte Lydia. Ihre Panik ließ etwas nach - wenigstens schien er gewillt, ihr zuzuhören. »Ich meine, ich weiß nur, was James in seinem Telegramm geschrieben hat. Aber ich habe seinen Name wiedererkannt. Ich habe ihn auf einer der Listen gefunden, die ich vor einem Jahr angefertigt habe, als ich versuchte, Ärzte aufzuspüren, die ich in Verdacht hatte, Kontakt zu Vampiren zu haben. Ich habe mir jeden Namen notiert, den ich in irgendeinem Artikel gefunden habe. Sein Name steht in einem Artikel über Dr. Bedford Fairport.« Er neigte den Kopf ein wenig, wie ein albinoartiger Vogel. »Der Mann, der möchte, daß die Menschen ewig leben.« »Sie haben also von ihm gehört.« Als sie vergangene Nacht die zahlreichen Artikel überflogen hatte, hatte sie an Fairports Arbeiten über die Veränderungen, die mit dem Alter im Gehirn, im Blut und in der Chemie der Drüsen eintraten, nicht gerade in diesem Licht gedacht - sie bezweifelte, ob Fairport selbst sie so sehen würde. Doch plötzlich wußte sie, daß Ysidro recht hatte. »Es war einer seiner frühen Aufsätze«, fuhr sie langsam fort. »Aus den Jahren 1886 oder
87, als er zum ersten Mal nach Österreich fuhr, um diese steirischen Bauern zu studieren, die einhundertzehn Jahre alt werden. Er erwähnt, daß das Privatsanatorium, dessen Leitung man ihm übertrug, der Familie Karolyi gehört, und daß Ignace Karolyi alles arrangiert hat. Im nächsten Artikel erwähnt er Karolyi als Mäzen, der die Forschung ermöglicht hat. Und dann verschwindet Karolyi. Tatsächlich verschwindet jeder Bezug auf Fairports Finanzquellen. Der Punkt wird nie wieder erwähnt. Ich habe es überprüft.« »Es erstaunt mich, daß ich das nicht selbst gelesen habe.« Ysidro klang nicht im mindesten erstaunt. »Aber ich habe eine ganze Reihe Journale abonniert, wie Sie wahrscheinlich gesehen haben.« Lydia errötete. Was ihr zuvor als die notwendige Erforschung eines Vampirschlupfwinkels erschienen war, stellte sich jetzt als Eindringen in das Haus eines Gentleman dar. »Es tut mir leid«, stammelte sie, doch er würdigte sie keiner Antwort. Statt dessen deutete er mit dem Finger auf die Spritze. »Und was ist dies?« »Oh.« Lydia nahm das Pflaster aus der Tasche und klebte es wieder auf die Düse. »Es ist mit Silbernitratlösung gefüllt. Man kann sie in jeder Kerzenhandlung kaufen. Ich ... nun, James hat einmal erwähnt, daß Vampire manchmal zu mehreren in einem Haus schlafen. Ich wußte nicht, was mich erwartete, verstehen Sie.« Sie fürchtete, er werde sie verspotten, denn, wenn sie es recht bedachte, wäre es sicherlich schwierig gewesen, die Waffe so schnell einzusetzen, daß sie ihr zu etwas nütze gewesen wäre. Von Jugend an war sie daran gewöhnt, mit Spötteleien wegen ihrer medizinischen Studien umzugehen, doch hier konnte sie sich nicht einfach umdrehen und hinausgehen. Aber der Vampir sagte nur »genial«, berührte den Tank mit der Oberseite seiner Finger und zog sie dann schnell fort. In dem bleichen Gaslicht konnte Lydia erkennen, daß seine Ohrläppchen vor langer Zeit durchstochen worden waren wie bei einem Zigeuner. »Also wird dieser Fairport wirklich von Karolyi ausgehalten.« »Ich glaube schon.« Lydia reichte ihm ein weiteres Telegramm; das Telegramm, das, als es heute morgen aus München angekommen war, der Grund dafür gewesen war, daß sie die Koffer gepackt, ihren Dienstboten eine einigermaßen plausible Geschichte erzählt und den Zug nach London genommen hatte, auf der Suche nach dem Mann, in dessen Küche sie jetzt saß. Die kleinste seiner Katzen - ein geschmeidiger schattengrauer Kater - strich um ihre Fußknöchel. Ysidro nahm das zweite Papier aus ihrer Hand entgegen. VERLASSE PARIS - STOP - BIN BEI EPPLER - STOP ADRESSBUCH -STOP - JAMES »Seit dem ersten Telegramm ist er vorsichtiger geworden.« Der Vampir führte das Papier wieder an seine Unterlippe. »Haben Sie dieses Buch identifiziert, von dem er spricht?« »Ja, nachdem ich die Botschaft entschlüsselt hatte.« Halb unbewußt streckte sie die Hand nach unten aus, um die Katze zu streicheln und sah zu Ysidro auf, der über ihr saß und die Hände über dem Knie gefaltet hatte. Seine Nägel reichten mehr als einen halben Zentimeter über seine Fingerkuppen hinaus, sahen merkwürdig glasig aus und waren weit dicker als menschliche Fingernägel. Eine Art Chitin? Es war wohl zu unhöflich, ihn um einen abgeschnittenen Fingernagel zu bitten. »Das Wort ›Adreßbuch‹ war der Schlüssel, verstehen Sie«, erklärte sie. »Es ist ein einfacher Code; der letzte Buchstabe zuerst, von innen nach außen gelesen, und A bedeutet B, B bedeutet C, und so weiter. Er führt ein Doppel seines Adreßbuchs. Eppler ist der zweitletzte Name unter E - Mrs. Eppler ist die Mutter eines seiner ehemaligen Schüler. Sie wohnt in Botley, etwa zehn Meilen von Oxford entfernt, und es wäre lächerlich, wenn er von Paris aus dorthin fahren würde. Der zweite Name unter F war Fairport in Wien. Wie Sie sehen, wurde das Telegramm in München aufgegeben, am
Dienstag nachmittag um ein Uhr vierzig.« »Und es war so leicht, mich zu finden?« Lydia zögerte und fragte sich, ob sie lügen sollte. Obwohl ihre anfängliche Furcht sich gelegt hatte, war ihr klar, daß sie immer noch in großer Gefahr schwebte. Sie nahm an, daß Ysidro die Fähigkeit besaß, den Menschen die Angst vor ihm zu nehmen, andernfalls wäre er bereits vor Jahrhunderten verhungert. Die schlimmsten Ängste lagen noch vor ihr, ein weites, unerforschtes Territorium von Taten, von denen sie keine Vorstellung hatte, wie sie sie vollbringen sollte. Schließlich sagte sie: »Ich weiß seit einem Jahr von diesem Haus. In der Theorie. Ich hatte es noch nicht ausfindig gemacht. Aber ich habe für James alle möglichen Standorte von Vampirschlupfwinkeln überprüft, als er ... für Sie gearbeitet hat.« Eine feine Linie grub sich für einen Augenblick neben dem Mund mit den Fangzähnen ein, und seine Nasenlöcher weiteten sich in einem winzigen Anflug von Zorn. Doch er sagte nur: »Dann glaubt das Department in Wien, daß Fairport auf seiner Seite steht auch ihm sind die Artikel entgangen, die von Karolyis Beitrag zu Fairports Forschungen sprechen. Nicht verwunderlich angesichts des Mangels an Agenten und der Probleme auf dem Balkan und in Frankreich in jenem Jahr. Man kann annehmen, daß Fairport danach so klug war, den Namen seines Mäzens nicht mehr zu veröffentlichen.« »Was bedeutet«, sagte Lydia ruhig, »daß James in eine Falle läuft.« Ysidro blieb eine Weile ruhig sitzen und hielt das Telegramm unbeweglich zwischen den Fingern. Doch Lydia konnte sehen, wie im Hintergrund der wie Juwelen glänzenden gelben Augen Gedanken und Erinnerungen aufblitzten wie Karten, die gemischt wurden. Sie nahm an, daß er sich Fairports Artikel über ungarische und rumänische Hundertjährige, sein Bestreben, das Leben zu verlängern und seine Arbeit in einem Teil der Welt ins Gedächtnis rief, den James als Brutstätte der Vampirlegenden beschrieben hatte. Dann hob er den Kopf und sagte: »Warten Sie auf mich.« Und Lydia war allein, ohne daß sie ihn hatte hinausgehen sehen. Sie blickte auf die Uhr und fragte sich, wie lange ›warten Sie auf mich‹ dauern würde. Wenn sie selbst in furchtbarer Eile war, benötigte sie knapp unter zweieinhalb Stunden, um sich zu waschen, anzuziehen, ihr Haar zu kräuseln und aufzustecken und eine sorgfältig bemessene Menge Reispuder, Khol, Rouge und Eau de Cologne aufzutragen, was James, typisch Mann, als einen unvernünftig langen Zeitraum zu betrachten schien. Wenigstens, dachte Lydia, wußte sie, wie lange sie brauchte, um sich herzurichten, und kalkulierte die Zeit ein, anders als gewisse Dandys aus ihrem Bekanntenkreis, die in der freundlichen Illusion lebten, daß sie die Bestandteile ihrer Fassade in ›nur einem winzigen Augenblick, meine liebste Mrs. Asher‹ zusammensetzen konnten. Sie erinnerte sich an die Kleidung von den feinsten Schneidern der Saville Road in dem Ankleideraum oben. James hatte sie gewarnt, und jetzt wußte sie aus eigener, erschreckender Erfahrung, wie schnell Vampire sich bewegen konnten, doch sie wußte auch, daß Männer, als Spezies gesehen, dazu neigten zu trödeln, endlos an ihren Krawatten herumzuzupfen und Münzen, Notizbücher und Theaterkarten von einer Tasche in die andere zu räumen, als fürchteten sie, sonst zu kentern wie ein Schiff mit Schlagseite. Sie fragte sich, ob der Tod etwas daran änderte. Fünfundzwanzig Minuten. Sie schloß eine Wette mit sich selbst ab, und drei Minuten vor Ablauf dieser Zeit wandte sie den Kopf und sah Ysidro wieder an ihrer Seite stehen. Er trug einen aschgrauen Anzug, seine Haut war so weiß wie das Leinen seines Hemds, und er erschien geisterhafter als in dem weißen Gewand, als sei die Kleidung eine Barriere, ein Schatten der Distanz. »Kommen Sie.« Die Gassen und Seitenstraßen, durch die er sie führte, waren unbeleuchtet, übelriechend und erfüllt von verstohlenen Bewegungen. Sie vermutete, daß sie nicht den direkten Weg nahmen, konnte aber nicht sicher sein, weil er ihr, sobald sie die Eingangstreppe seines
Hauses hinabgeschritten waren, die Brille abgenommen hatte. Außerdem wurde ihr drei oder viermal während ihres fünfzehnminütigen Wegs bewußt, daß er ihre Gedanken mit einer träumerischen Leere berührte, die Vampire anscheinend um sich werfen konnten. Lydia hatte das Gefühl, wiederholt aus Träumen zu erwachen und sich jedesmal in einer anderen Straße, einem anderen Hof wiederzufinden. Sie blinzelte gegen zehn verschiedene Schattierungen verwischter Dunkelheit an, die alle durchsetzt waren von den bunten, glühenden Reflexen der Lichter aus den Kneipen. Von allen Seiten drangen Jiddisch, Deutsch oder Russisch aus kleinen Knäueln schmieriger, bärtiger Männer, die sich in Hauseingängen oder um die Kohlebecken der Kastanienverkäufer drängten. Unbewußt traten die Männer beiseite, um Ysidro vorbeizulassen, wobei sie ihn nicht ansahen, als hätten auch sie Anteil an seinem Traum von der Unsichtbarkeit; ihre Kleider rochen nach harter Arbeit, schlechtem Essen und zuwenig heißem Wasser zum Waschen. Jede zweite Woche nahm Lydia den Zug nach London, um in den Sezierräumen des St.-Luke's-Hospitals zu arbeiten. Die Wagen vom Armenhaus brachten Männer wie diese mit braunen, abgebrochenen Zähnen, Flohbissen und schmutzigen, schwieligen Händen, nach Karbol und Formalin riechend, gestorben an Tumoren, die, unbehandelt, geplatzt waren, an Lungenentzündung, Auszehrung und den anderen Krankheiten der Armut, damit sie und andere die komplizierte Schönheit von Muskeln und Nerven unter dem Messer studieren konnten. Zum ersten Mal in ihrem der Wissenschaft gewidmeten Leben bewegte Lydia sich unter solchen Menschen, die lebten, und der Kopf schwirrte ihr vor Fragen, die sie ihnen stellen wollte über die Ernährung und die Arbeitsbedingungen, die zu ihren Krankheiten beitrugen. Andererseits war sie sehr froh über Ysidros Schutz. Sie gingen über eine Brücke aus Holzbohlen über einem Gewässer, das unter tiefliegendem Nebel beinahe unsichtbar war, vorbei an dem baufälligen, dunklen Umriß des Daches einer uralten Kirche. Später überquerten sie eine heruntergekommene Gasse hinter einer Kneipe am Fluß und gingen einen Durchgang hinunter, der von Abfall und dem Gestank von Katzen erfüllt war. Obwohl ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah Lydia nur etwas wie ein Mottenflattern bleicher Hände und hörte dann das Klicken eines nachgebenden Schlosses. Türangeln knarrten. Ysidro sagte wieder »Kommen Sie« und trat in die vollständige Dunkelheit. Ein Zündholz wurde angerissen. In seinem safrangelben Schein erschien Ysidros schmales Gesicht. »Sie brauchen sich keine Sorgen wegen der Ratten zu machen.« Er hielt die Flamme an zwei tropfende Kerzen in einem doppelarmigen Leuchter. Der Putz an den Wänden war schwarz vor Schimmel, bröckelte ab und enthüllte die Ziegelmauer darunter. »Genau wie Katzen nehmen sie wahr, was wir sind, und wissen, daß wir, obwohl wir den menschlichen Tod brauchen, um unseren Geist zu nähren, zur Not von dem Blut jeder lebenden Kreatur existieren können.« Er hob den Kerzenleuchter. Das doppelte Licht rief Zwillingsgeister aus Schatten, die in einem seltsamen Reigen ineinanderflossen und einander umkreisten, während er Lydia zur Hintertreppe führte. »Anthea und Ernchester schlafen dieser Tage selten in dem Haus am Savoy Walk. Es ist am besten, die Erinnerungen ruhen zu lassen. Sie jagt kaum jemals so früh in der Nacht, aber es kann sein, daß sie zu ihrer Schneiderin gegangen ist.« Lydia sah wieder auf ihre Uhr, während sie durch eine Eingangshalle im Erdgeschoß gingen. Die seidene Wandbespannung löste sich ab, Türen standen offen wie schwarze Höhlen. »Ich nehme an, so kurz vor Weihnachten hat wohl eine geöffnet...« »Wenn man Geld hat, Mistress, findet man immer jemanden, der bereit ist, seinen Schlaf und seine freie Zeit zu verkaufen. Ich habe meinen Schuhmacher schon um Mitternacht aufgesucht und ihn nie anders als hocherfreut angetroffen.« »Was erzählen Sie ihm?« Sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Modistin ihrer Tante Harriet nach sieben Uhr abends ihr Geschäft öffnete, nicht einmal für Queen Alexandra in Person.
Ysidro sah sie aus Augen an, die in dem rötlichen Licht bernsteinfarben wirkten. »Ich sage ihm, daß ich von diesem Unsinn mit zweifarbigen Schuhen nichts wissen will und keine Knöpfe an der Seite wünsche.« Er wandte sich zu einem Raum am Ende der Treppe. »Hier ist es.« Genau wie Ysidros Haus enthielt der Raum nur wenige Möbelstücke, und diese waren alt. Ein Bett mit einem geschwungenen Fußende stand vor der verfaulenden Wandverschalung. Die Tagesdecke war so verblichen wie die Seidentapeten unten. An der anderen Wand stand ein Kleiderschrank aus dunklem Holz, fleckig, zerkratzt, dicht mit von Staub erstickten Schnitzereien überzogen und gesprenkelt mit Wasserflecken. Seine Türen standen offen. Unterröcke, Korsetts und Strümpfe lagen auf dem Bett, und daneben - getrennt durch einen freien Raum, in den ein größerer Handkoffer gepaßt hätte - zwei Kleider, die Lydia sofort als unpassend für eine Reise erkannte, eines wegen seiner inzwischen unmodischen Keulenärmel und das andere, weil es weiß war, eine Farbe, die keine Frau im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten, gleich ob lebend oder untot, auf einer Zugfahrt tragen würde. »Sie ist ihm nachgefahren«, sagte Lydia und öffnete die Türen des Kleiderschranks. Die einzigen Kleider nach der gegenwärtigen Mode waren die ausgeschittenen Seiden- und üppigen Samtkleider für den Abend. Keine Tageskleider, keine Röcke - Lydia spähte kurzsichtig in die untere Schublade, und Ysidro gab ihr die Brille zurück - und keine Laufschuhe. »Sie hat eilig gepackt...« Sie hielt inne, runzelte die Stirn, während ihre Augen sich auf die plötzliche klare Sicht einstellten, und bemerkte, daß die Kommoden in Unordnung waren: Schals, Ärmel und Tücher klemmten in Schubladen, die hastig geschlossen worden waren. »Dieser Ort ist durchsucht worden.« Ysidro, der schnell in das andere Zimmer gegangen war, kehrte zurück und bewegte den Kopf, als nehme er eine Witterung auf. »Lebende. Tage, bevor sie gepackt hat, glaube ich. Die Luft ist immer noch erfüllt von dem Geruch ihres Tabaks und ihres Bluts.« Er ging zum Bett hinüber und untersuchte die Kleidungsstücke, die dort lagen. Alle Farben, soweit Lydia das in dem schwachen bernsteinfarbenen Schein der Kerzen beurteilen konnte, paßten zu einer dunkelhaarigen Frau; alles war von höchster Qualität - Schweizer Baumwolle, Meltonwolle, italienische Seide. Sie waren für eine Frau von Lydias Größe geschnitten, die eine Wespentaille und Brüste wie vollerblühte Rosen hatte. »Ihre Kleider.« Ysidro wendete ein Unterkleid in seiner graubehandschuhten Hand. »Nichts von ihm. Das gefällt mir nicht, Mistress Asher.« Er ließ die Seide durch seine Finger gleiten. »Seit vielen Jahren schon hält ihn nur die Liebe zu ihr auf dieser Erde. Sie ist die Stärkere. Er jagt in ihrem Schatten, der zerbrechlich ist wie antikes Glas.« »Könnte das sein Beweggrund sein?« Lydia wandte sich von der Frisierkommode ab, wo ein Haartopf aus Elfenbein und eine Schere mit Elfenbeingriff auf andere Teile einer inzwischen verschwundenen Toilettengarnitur hinwiesen: Bürste, Kamm, Spiegel. Eine Handschuhschachtel stand offen, und Handschuhe in allen Farben lagen wie vertrocknete, schlaffe Spinnen da, wo sie verstreut worden waren. Ysidro zog eine Augenbraue hoch. Zögernd sprach Lydia weiter. »Könnte es sein, daß er vor ihr flieht?« »In solch eine Zuflucht, wie das österreichische Kaiserreich sie ihm gewähren würde?« Er ging um die Ecke des Betts herum, berührte den Eindruck auf der staubigen Tagesdecke, wo der Koffer gelegen hatte, und seine Nüstern blähten sich erneut, als suchten sie nach Aufschlüssen in den fremden Gerüchen in der Luft. »Das hätte ich nie vermutet. Sie liebt ihn, sie beschützt ihn, sie ist sein Ein und Alles.« Er schwieg lange, das Gesicht, das genauso ausdruckslos war wie die gleichförmige Sanftheit seiner Stimme, halb von ihr abgewandt. »Doch es ist wahr, daß man sein Ein und Alles gleichzeitig hassen und lieben kann. Das war etwas...« Eine weitere Pause, in der er mit sich zu ringen schien, dann fuhr er fort. »Das war etwas, das ich als Lebender
nicht verstanden habe.«
Sein ausdrucksloser Blick begegnete ihren Augen, und sie konnte nicht antworten.
Nach einiger Zeit sagte er: »Der Postzug nach Calais fährt um neun von Charing Cross ab.
Ich bezweifle, daß wir unsere Vorbereitungen schnell genug treffen können, um den
heutigen zu bekommen. Treffen Sie sich morgen um acht mit mir auf dem Bahnsteig, Sie
und Ihre Zofe. Ich werde in Paris alles telegraphisch arrangieren; ich kann...«
»Ich nehme keine Zofe mit«, sagte Lydia schockiert.
Ysidros Brauen hoben sich wieder, farblos vor seinem farblosen Gesicht.
»Natürlich wird sie nichts von meiner Existenz erfahren, ich werde nur eine
Zufallsbekanntschaft im Zug sein.«
»Nein.«
»Mistress Asher...«
»Ich diskutiere nicht darüber, Don Simon.« So viel Angst ihr auch der Gedanke einjagte,
nach Wien zu reisen - es mit einem oder möglicherweise mehreren Vampiren
aufzunehmen -, der Gedanke, jemanden auf diese Reise mitzunehmen, brachte sie noch
mehr aus der Ruhe. Ellen oder jemand anderen in solche Gefahr zu bringen ...
»Ich bin gekommen, um Sie um Rat für den Umgang mit Vampiren, besonders mit Lord
Ernchester, zu bitten. Es gibt nicht allzuviel verläßliche Informationen über dieses Thema,
wie Sie wissen.« Hinter der Ruhe des Vampirs sah sie Ärger in seinen Augen
aufflammen, doch zu ihrem eigenen Erstaunen ängstigte sie dies nicht so sehr wie zuvor.
»Aber ich würde niemanden - und erst recht nicht eine Frau, die seit fast fünfzehn Jahren
meine Freundin und Bedienstete ist - in diese Lage bringen, ohne ihr mitzuteilen, in
welche Gefahr sie sich vielleicht begibt.«
»Eine Frau von Ihrem Stand reist nicht allein.«
»Unsinn. Meine Freundin Josetta Beyerly reist ständig allein umher. Und auch...«
»Sie werden das nicht tun.« Ysidro hob nicht die Stimme, seine Miene änderte sich nicht,
doch sie spürte seinen Zorn wie eine Welle kalter Luft, die von einem Eisblock ausging.
»Zu meiner Zeit ist keine Frau allein gereist, nur Bäuerinnen und Frauen von der Straße.«
»Nun, wenn ich zwischen hier und Calais einer marodierenden Söldnerbande begegne,
werde ich mir sicher wünschen, ich hätte Ihren Rat beherzigt.«
»Reden Sie keinen Unsinn. Sie mögen Karolyi aufspüren, doch Sie würden nie an
Ernchester herankommen, und er ist es, mit dem ich über diese Angelegenheit reden
muß.«
»Jetzt reden Sie Unsinn«, gab Lydia zurück, obwohl sie wußte, daß er recht hatte. »Wir
leben im zwanzigsten Jahrhundert und nicht im sechzehnten. Ich weiß bestimmt jeden
Rat zu schätzen, den Sie mir geben können...«
»Ratschläge werden Ihnen gegenüber Karolyi oder Ernchester wenig nützen. Wenn Sie
Ihren Gatten vor der Gefahr warnen wollen, in der er schwebt, müssen Sie mit mir reisen
- und reisen werde ich, um Charles davon abzuhalten, dies zu tun, was auch immer seine Beweggründe sind.« Lydia schwieg einen Augenblick. Sie war über alle Maßen aufgebracht über den Gedanken an eine solche Reise, doch sie erinnerte sich daran, wie unzureichend sie auf die Begegnung in der Krypta vorbereitet gewesen war. »Tun Sie, was Sie tun müssen«, sagte sie langsam, und ihr Traum von den weißen Gesichtern mit den Fangzähnen stand ihr wieder vor Augen. »Ich danke Ihnen ... aber ich werde meine Zofe nicht in die Lage bringen, der sie sich gegenübersähe, falls wir Ernchester treffen, und ich werde sie nicht dem Risiko aussetzen, Dinge über Sie herauszufinden, die sie nicht wissen darf. Und das würde sie«, setzte Lydia hinzu. »Ellen ist sehr wißbegierig, und sie ist klüger, als es den Anschein hat. Das werde ich ihr nicht antun.« »Dann stellen Sie für die Reise eine Frau ein.« »Damit Sie sie töten, wenn die Reise vorüber ist? - Haben Sie eigentlich auch vor, mich zu töten?« fügte sie noch hinzu, als ihr klar wurde, daß sie sich in Lebensgefahr begab,
wenn sie mit dem Toten reiste. Sie wußte schon zu viel - bereits ihr Geständnis, daß sie wußte, wo seine Schlupfwinkel lagen, hatte die Grenzen verletzt, die James und Ysidro so sorgfältig gezogen hatten, als sie vor einem Jahr in dem brennenden Haus in der Harley Street auseinandergegangen waren. Er brauchte auf der Suche nach Ernchester einen menschlichen Reisegefährten, dachte sie, jemanden, der mit Problemen fertig wurde, vor die ihn das Anbrechen des Tageslichts stellen mochte; und er brauchte jemanden, der James gut genug kannte, um seiner Spur zu folgen, seine Bewegungen zu erraten und über ihn Karolyi und Ernchester aufzuspüren. Sie hatte Ellen und Mrs. Grimes erzählt, daß sie ihre Cousinen in Maida Vale besuchte. Es würde Wochen dauern, bis man sie auch nur vermißte. Sie hielt den Blick auf ihn geheftet, überzeugt, daß sie einem kurzsichtigen Kaninchen ähnelte, das versuchte dem Blick eines Drachen standzuhalten. Langsam sagte der Vampir: »Sie haben von mir nichts zu befürchten, Mistress. Und auch Ihre Begleiterin nicht, solange Sie nicht nach Dingen fragt, die Sie nichts angehen.« »Nein.« James hatte ihr von der Fähigkeit der Vampire erzählt, das Bewußtsein Lebender zu berühren, ein kalter Griff, die schreckliche Empfindung eines stählernen Willens. Doch Ysidros Macht beschränkte sich darauf, Leere zu erzeugen und Gedanken zu ersticken, die Aufmerksamkeit abzulenken ... aber er konnte keine Entschlüsse beeinflussen. Es war das Talent eines Raubtiers, eines Spions und eines Flüchtlings, doch es nutzte ihm nichts, wenn er mit Menschen verhandeln mußte. Sie sah diese Erkenntnis in seinen Augen dämmern, und verärgert preßte er die Lippen zusammen. »Wenn wir bei diesem Unternehmen Reisegefährten sein sollen, werde ich nicht zulassen, daß Sie allein im Ausland herumreisen wie eine umherziehende Dirne« sagte er. »Ich glaube, Ihr Gatte wäre einer Meinung mit mir.« »Was mein Mann denkt, ist seine Sache und geht weder Sie noch mich an«, sagte Lydia. »Und ich möchte lieber für eine umherziehende Dirne gehalten werden, als eine Frau zu hintergehen, die abhängig von mir ist. Und wenn Ihnen das nicht genehm ist, werde ich auf eigene Faust reisen.« Ysidro verbeugte sich und küßte ihr die Hand. Seine Lippen waren wie Seide, die in einer trockenen Frostnacht im Freien gelegen hat. »Dann gute Reise, Mistress. Und viel Glück für Ihre Geschäfte mit den Untoten.« Mit einem Gefühl, als wache sie auf, fand Lydia sich allein wieder. Eigentlich war es nicht zu spät, um sich in einem vollständig unvertrauten Teil Londons zurechtzufinden. Obwohl der Nebel dichter geworden war und die Nacht abkühlte, waren die Straßen immer noch belebt, wenn auch mit Fremdarbeitern aus den kleinen Werkstätten, von denen es in diesem Viertel zahlreiche gab, und Seeleuten, die Ysidros überholte Ansicht zu teilen schienen, daß eine Frau, die allein unterwegs war, eine umherziehende Dirne sei, jedenfalls soweit Lydia ihre idiomatischen Anspielungen auf Master John Thursday und ›ein Tänzchen wagen‹ verstehen konnte. Offensichtlich waren Josettas Suffragetten-Ansichten noch nicht bis hierher vorgedrungen. Lydia nahm sich vor, ihr das mitzuteilen. Wie sie vermutet hatte, befand sie sich nicht weit vom Fluß, und auf der breiten, elektrisch beleuchteten Uferstraße fand sie problemlos eine Droschke, die sie zu dem kleinen Hotel in der Nähe des Museums zurückbrachte, wo sie ihr Gepäck gelassen hatte. Wenn man das Für und Wider abwog, dachte sie, während sie die Handschuhe auszog und die Nadeln an dem unauffälligen Hut der Köchin löste, war sie eher froh, daß Ysidro sie nicht nach Wien begleiten würde. Es gab schließlich Menschen, die allein reisten, und es gab keinen Grund, warum sie das nicht auch tun sollte, Ysidros antiquierten Vorstellungen zum Trotz: Die Welt war voller Polizisten, an die man sich wenden, und Portiers, denen man Trinkgeld geben konnte, voller Droschken, Fremdenführer,
Reisebüros, guter Hotels mit zuvorkommenden Geschäftsführern und Läden, in denen sie alles kaufen konnte, was sie vielleicht vergaß einzupacken. Die Abwesenheit einer Zofe würde natürlich bestimmte Schwierigkeiten mit sich bringen, doch dafür gab es in Hotels schließlich Zimmermädchen. Es war unwahrscheinlich, daß sie James einholte, bevor er Wien erreichte, aber mit etwas Glück würde seine vorsichtige Art ihn vor unmittelbarer Gefahr bewahren, bis sie zu ihm stoßen und ihn davon in Kenntnis setzen konnte, daß er es mit einem Doppelagenten zu tun hatte - wenn es zum Schlimmsten kam, konnte sie der Person, die das Wiener Department leitete, mitteilen, daß Dr. Fairports Sanatorium im Wienerwald der Ort war, wo am ehesten Hinweise auf James' Aufenthalt zu finden wären. Falls die Person, die das Department leitete, nicht ebenfalls im Sold der Österreicher stand. Nach dem, was James ihr erzählt hatte, war das zumindest eine Möglichkeit, und Lydia fragte sich, wie in aller Welt sie das erraten sollte. Wieder rang sie ihre Panik nieder und ging durch, was sie für die Nacht ausgepackt hatte: Negligé, zwei Paar Hausschuhe - das hübschere, aber weit weniger bequeme für den Fall, daß jemand vom Hotelpersonal hereinkam -, Rosenwasser und Glyzerin für ihre Hände, destilliertes Wasser aus grüner Ananas, um die beginnenden Falten zu mildern, von denen Tante Harriet ihr immer versichert hatte, sie würden durch übermäßiges Lesen verursacht, eine silberne Haarbürste, Kamm, Zahnbürste, Nagelfeile, Lockenschere, Kräuseleisen, Haarnadeln, mehrere Garnituren Unterwäsche, Korsetts, Unterröcke, eine stattliche Anzahl silberner Tafelmesser mit so tödlich scharf geschliffenen Klingen, wie es Silber zuließ, und einen 38er Revolver, geladen mit den Silberkugeln, die sie letztes Jahr gegossen hatte. Lydia war sich wie die Heldin eines Groschenromans vorgekommen, als sie diese Dinge zusammen mit Talkum, Reispuder, Rouge, Lotionen und Parfüms eingepackt hatte. Da war auch der Einkaufskorb, den sie heute nachmittag in Covent Garden erworben hatte, gefüllt mit dicken Knoblauchzöpfen, Päckchen mit Eisenhut und Weißdorn und Zweigen wilder Rosen. Sie legte sie um ihr Kissen und hängte sie vor das einzige Fenster des kleinen, ungeheizten Schlafzimmers, und als sie sich auskleidete und aufschnürte - es hatte seine Nachteile, in Hotels zu wohnen, wo es unwahrscheinlich war, auf jemanden zu treffen, den sie oder ihre Familie kannte -, ging sie in Gedanken ihre anderen Optionen durch. Sollte sie sich einer ihrer Freundinnen anvertrauen und sie als Reisegefährtin mitnehmen? Josetta verstand etwas von Politik und hatte vor nichts Angst, doch Lydia wußte aus Erfahrung, daß sie nicht besonders praktisch veranlagt war. Sie schien immer empört, wenn sie wegen ihrer Suffragetten-Aktionen verhaftet wurde, die, obwohl sie zweifellos für die Gesamtstrategie der Bewegung notwendig waren, offen das Gesetz verletzten. Ihre andere enge Freundin, die klügere und intelligentere Anne Gresholm, hielt selbst Vorlesungen und hatte Studenten, um die sie sich kümmern mußte, und war nicht bei guter Gesundheit. Und in jedem Fall blieb die Gefahr dieselbe. Lydia war sich auch bewußt, daß Ysidro einiges hinnehmen würde, solange sie niemandem etwas von der Existenz der Vampire verriet. Wenn sie dieses Geheimnis verletzte oder wenn Josetta oder Anne es errieten - was sie sicher tun würden -, konnte sie nicht für ihre oder ihre eigene Sicherheit garantieren, sobald sie zurückkehrten. Und zu Ysidro zu gehen, ihn zu bitten, sie doch zu begleiten? Dies würde nur das Thema der Zofe wieder aufbringen. Sie würde Ellen nicht in Gefahr bringen, und eine zufällig engagierte Fremde schwebte in derselben Gefahr und war vielleicht neugieriger und weniger verläßlich. Lydia seufzte, legte den Revolver unter ihr schäbiges Kissen und glitt schließlich unter Decken, die mit Eisenhut, Bahnfahrplänen und Reiseführern über die östlichen Gebiete der österreichischen Lande übersät waren, hinüber in den Schlaf.
Es muß der Knoblauchgeruch sein, dachte sie. Sie wußte, daß sie träumte, und daß der Traum weit lebendiger war - sogar grellfarben als jeder Traum, den sie je zu Hause gehabt hatte. Der Knoblauch oder dieses Haus im Nebel ... Sie stand auf der Terrasse eines großen Herrenhauses, prächtig mit seinem Fachwerk und seinen Steinornamenten. Auf der einen Seite lag ein labyrinthischer, mondscheinüberfluteter Garten, und auf der anderen waren hellerleuchtete Fenster mit Butzenscheiben. Als sie hindurchsah, erblickte sie Höflinge in den steifen Samtstoffen und den sanft schimmernden Perlen der elisabethanischen Ära. Sie tanzten, und sie konnte den schnellen und komplexen Lauf der Musik hören: Man faßte sich an den Händen, Krinolinenröcke drehten sich. Die Männer trugen alle kleine Shakespeare-Kinnbärte und sahen über alle Maßen dümmlich aus in ihren langen Strümpfen, kurzen Pumphosen und gewölbten, ausgestopften Wämsern; die Frauen trugen Reifröcke, die so breit waren wie ein Küchentisch, und hochgestellte, mit Draht verstärkte Spitzenkragen. In der Nähe der Fenster stand eine Frau, die Lydia auffiel, weil sie moderne Kleidung trug, ein einfaches braunes Sergekleid, das nicht besonders gut saß und ihr absolut nicht stand. Sie hatte ein unscheinbares Gesicht mit leicht fliehendem Kinn, war mittelgroß und eher birnenförmig, ohne daß sie dick gewesen wäre; eine Mähne lockigen schwarzen Haars fiel lose auf ihre schmalen Schultern. Manchmal, wenn Lydias Blick kurz abgeschweift war und wieder zu ihr zurückkehrte, trug sie elisabethanische Kleidung, dunkel und hochgeschlossen, das Gewand einer Dienerin oder einer armen Verwandten. Mit den kleinen Händen nestelte sie an den Jettknöpfen an ihren Ärmeln. Dann erklang sehr leise Ysidros Stimme. »So wie sie tanzen, sollte man meinen, daß sie etwas anziehen sollten, das passender für diesen Sport ist, nicht wahr?« Seine Stimme war so ruhig, daß Lydia erstaunt war, sie durch das Glas und die Musik hören zu können. Dann sah sie ihn. Er stand neben der braungekleideten Frau. Sein schwarzes Samtwams, seine knielangen Breeches und hohen, weichen Stiefel stammten aus einer älteren Zeit, die gerade lange genug zurücklag, um der Lächerlichkeit zu entgehen, die der elisabethanischen Männerkleidung eignete, und nicht anachronistisch zu wirken, und sein farbloses Haar erschien im Licht der Fackeln wärmer und dunkler, beinahe honigfarben. Die Antwort des Mädchens war unhörbar, doch sie brachte Ysidro zum Lachen, als spiele er die Rolle eines anderen. Kann sie es nicht erkennen? fragte sich Lydia entsetzt. Kann sie nicht erkennen, was er ist? Eine Zeitlang standen sie Schulter an Schulter und sahen den Tänzern in ihren Märchenkostümen zu, der Vampir und das Mädchen. Lydias Träume wandelten sich, zerflossen. Wieder sah sie die beiden, diesmal in einem Garten mit weiten Rasenflächen und beschnittenen Hecken, als er das Mädchen im Mondlicht unter den leeren Augen von Marmorgöttern Walzer tanzen lehrte. Sah, wie sie sich später küßten, unter den Wasserspeiern eines Bogengangs zwischen Häusern, die dichtgedrängt auf einer Brücke gebaut waren, und in Ysidros Augen spiegelte sich das Licht der Fackeln und der Lampen aus den Fenstern über ihnen rot wie Rubin. Durch ein anderes Fenster - es waren zwei Fenster, denn Lydia selbst befand sich in einem dunklen Raum auf der anderen Seite einer Gasse, die zwanzig Meter tief in eine nachtschwarze Schlucht abfiel - sah sie Ysidro verwundet auf dem schäbigen Bett des Mädchens liegen. Das Mädchen beugte sich in einem altmodischen Gewand über ihn und verknotete Verbände über einer Schwertwunde in seiner Brust, die einen lebenden Mann getötet hätte. Ysidro hob seine Hand ein wenig, und das Mädchen neigte sich herab und preßte ihre Lippen auf seine. »Du bist anders als all die anderen«, hörte sie ihn durch die Vorhänge eines Fensters im Palast sagen, und der Klang der Geigen war wie ein zerbrechlicher Duft zwischen den
Gesprächen und dem Lachen der Tänzer. Schloß Versailles, riet Lydia vage nach dem Schnitt von Ysidros pflaumenfarbenem Seidenmantel. »Wie überdrüssig ich ihrer im Lauf der Ewigkeit geworden bin. Ich hätte nicht geglaubt, einmal eine Frau wie dich zu finden.« Er hob die Hand des Mädchens an seine Lippen. »Wir haben einander seit unendlichen Zeiten gekannt, einander geliebt.« Er hüllte das Mädchen in seinen dicken, schweren Samtumhang. Sie standen allein in winterlichen Wäldern, und das Mondlicht glitzerte auf dem Schnee. Das Haar des Mädchens war aufgelöst, ihr Gewand zerrissen, und Lydia wußte, daß Ysidro sie aus einer Gefahr errettet hatten, und daß in einer Schlucht, die sie nicht sehen konnte, die Leichen von Männern an einem winterstillen Strom lagen. Lydias Füße waren kalt in schneematschdurchnäßten Schuhen, sie stand hinter einem Baum, und ihre nassen Röcke klebten schwer an ihren Knöcheln. »Erinnerst du dich nicht?« Das Mädchen in Braun - es war dasselbe braune Kleid wie zuvor, mit den Puffärmeln und dem großen Kragen, zehn Jahre aus der Mode - flüsterte: »Ich erinnere mich, Simon. Ich erinnere mich ... an alles«, und ihre Lippen trafen sich in dem Mondlicht, das durch die Zweige fiel. Nein! schrie Lydia, und obwohl ihr Atem in einer diamantenen Wolke gefror, konnte sie keinen Laut herausbringen. Er lügt dich an! Er wird dich töten! Entsetzt kämpfte sie darum, auf die beiden zuzulaufen, aber schwarze Dornen gruben sich in ihre Röcke und hielten sie zurück. Sie versuchte sich freizumachen, und die Zweige knackten unter ihren Fingern wie vertrocknete Insekten. Als sie aufwachte, umklammerte sie die knochigen Fragmente der Weißdornzweige, die auf ihrem Kissen lagen. Lydia nahm den Zwei-Uhr-Zug nach Paris. Selbst nachdem das seltsame Gemisch romantischer Episoden im Mondschein aus ihren Träumen verblaßt war, ging sie im Wachen mit dem eisigen Gefühl umher, daß ein schlanker Schatten mit gelben Augen vor ihrer Tür auf sie wartete. Bis sie aufgewacht war und sich gebadet, geschnürt und angezogen, gepudert, parfümiert, geschminkt und ihr Haar hergerichtet hatte - ohne Zofe keine geringe Leistung - und sich dem Blick der Öffentlichkeit gewachsen fühlte, hatte sie beide Frühzüge verpaßt. Nie wieder, dachte sie, werde ich in einem unauffälligen Hotel absteigen, nur um den Fragen meiner Familie aus dem Weg zu gehen. Kurz nach neun an diesem Abend erreichte sie Paris und verpaßte den Zug nach Wien um anderthalb Stunden - ohnehin fuhr er von einem anderen Bahnhof ab - und stieg, reisemüde und wund, im Hotel St. Petersbourg ab, das Thomas Cook und Söhne zuvorkommenderweise am Tag zuvor in ihrem Auftrag kontaktiert hatten. Paris wenigstens kannte sie aus den Tagen ihrer Einkaufsbummel und Besichtigungen von Kulturdenkmälern als Debütantin und von späteren medizinischen Kongressen. Ihr Französisch war gut, und sie konnte sich in diesem Milieu bewegen. Vielleicht, überlegte sie, würde die Reise leichter werden, als sie befürchtet hatte, wenn sie alles methodisch und Schritt für Schritt anging, wie eine komplizierte Sektion oder eine Reihe von Analysen unbekannter Drüsenausscheidungen. Wieder schlief sie schlecht. Ihre Träume waren erfüllt von dem dunkelhaarigen Mädchen in Braun und Don Simon, die einander vor den Gardisten des Kardinals retteten und im Sand mondübergossener marokkanischer Wüsten Küsse tauschten. Sie lag im Dunkeln wach, das Deckbett bis unters Kinn gezogen, starrte die Fensterläden an, durch deren Schlitze der Widerschein der Straßenlampen drang, lauschte den Stimmen aus dem Café unten an der Straße und fragte sich, wo James war und ob es ihm gutging. Als sie endlich einschlief, knarrten schon die Milchwagen durch die Straßen. Der Expreß nach Wien fuhr erst um sieben Uhr dreißig an diesem Abend, so daß sie viel Zeit hatte, nicht nur um zu packen, sich anständig anzuziehen und sich das Haar von der Hotelzofe richten zu lassen, sondern auch, um einen kleinen Einkaufsbummel im Magasin du Printemps zu machen, das ein paar Schritte die Straße hinunter lag. Sie saß in dem fast leeren Speiseraum, strich Butter auf ein Croissant und spekulierte
über Don Simons Fingernägel - eindeutig hatte eine organische Veränderung irgendeiner Art stattgefunden, also brachte die physische Seite des Vampir-Syndroms keine vollkommene zelluläre Stauung mit sich -, als sie hörte, wie der einsame Kellner ›B'njour m'mselle‹ murmelte. Sie blickte auf und sah, daß eine andere Frau den Raum betrat. Lydia zog den Schluß, daß diese Frau harmlos war: Sie war relativ groß und ging leicht gebeugt. Sie bewegte sich mit der Unsicherheit von jemandem, der sich selbst im eigenen Land halbwegs fremd fühlt, und erst recht in einem Land, dessen Sprache er nicht spricht. Im nächsten Augenblick runzelte sie die. Stirn und fragte sich, warum sie glaubte, die Frau zu kennen. Sie hatte etwas Vertrautes, und als sie näher kam und sie sie etwas besser erkennen konnte, wußte Lydia, was es war. Sie trug ein braunes Kleid mit Puffärmeln und großem Kragen, wie es in den neunziger Jahren Mode gewesen war. Lydia setzte ihre Kaffeetasse ab. »Mrs. Asher?« Die Frau blieb neben ihrem Tisch stehen und zupfte verlegen an den geflickten Handschuhen. Ihre blauen Augen blickten ängstlich. Sie war ungefähr dreiundzwanzig, viel unbeholfener, als sie in den Träumen gewesen war und trug Augengläser wie Lydia, wenn sie sicher war, daß niemand sie sah. »Don Simon sagte mir, daß ich Sie hier finden würde.«
VIER
In dem Jahr, in dem Asher häufig in Wien gewesen war, war in der Stadt ein Walzer aus Tschaikowskys ›Nußknackersuite‹ beliebt gewesen. Als er zu dem einschläfernden Rütteln des Zuges die Augen schloß, konnte er ihn wieder hören. Die Musik zog ein buntes Gefolge von Erinnerungen nach sich, an den hellen Schein des Gaslichts im Café New York am Opernring während der Karnevalsaison, an das Glitzern des Schnees auf dem Straßenpflaster, alles eingehüllt in ein verwischtes Raunen von Französisch, Italienisch und Wienerisch. Hoftratsch und Psychoanalyse, Musik und Politik, und wessen Frau wen betrog. Dreizehn Jahre später war alles immer noch so klar, als sei es gestern gewesen. Junge Matronen in ihren Masken und Kostümen waren nervös auf der Suche nach unbestimmten Aufregungen. Offiziere in Uniform, schneidig mit ihren Schwertern, Sporen und Tressen. Françoise. »Nichts hier ist, was es scheint«, hatte sie an dem Abend gesagt, als er mit ihr ins Café ging, nach einem Ball, den ihr Bruder zum Valentinstag gegeben hatte; und er hatte gewußt, daß dies zumindest auf ihn zutraf. Sie war eine schmalgesichtige Frau etwa in seinem Alter und von seiner Größe, obwohl man es seit jeher nur bei Männern für attraktiv hielt, fünfunddreißig und fast einen Meter achtzig groß zu sein und ausgeprägte Züge zu haben. Ihr Bruder war Direktor der größten Wiener Bank und besaß Landgüter, Weinberge und Mietshäuser im siebten Bezirk. Seine Frau, die zweite Tochter eines Barons, versuchte seit Jahren, Françoise in Diplomatenkreise zu verheiraten. Asher fragte sich, ob sie jemals geheiratet, ob sie je wieder einem Mann vertraut hatte. »Die Leute vertändeln die Tage in Cafés wie diesem, schlürfen Kaffee, lesen die Feuilletons und lassen die Welt an sich vorbeiziehen.« Graziös zuckte sie die Schulter und lächelte kläglich und ein wenig traurig. Ihre Hautfarbe war blaß, aber ihre Augen sprühten grüne Funken wie die Smaragde in ihren Ohrringen. »Außenstehende meinen immer, daß das sehr entspannt ist, sehr gemütlich, aber in Wirklichkeit liegt es daran, daß die meisten Leute hier mit ihrer ganzen Familie in einem einzigen Zimmer leben und sie die Küchengerüche, die schmutzigen Windeln und das Gezänk ihrer Kinder nicht ertragen können. Also kommen sie hierher und sehen müßig und sorglos aus, doch genau das sind sie nicht. Wir haben hier in Wien hundert verschiedene Abstufungen von Adel und Bürokratie, Titel und Ordnung und Sauberkeit und Regeln, und unter dieser Oberfläche fordern die Slowenen, die Serben, die Tschechen, die Moldawier und Muslime alle ihre eigene Nation, eigene Schulen, ihre eigene Sprache und eigene Krone. Sie legen Bomben, schießen, sorgen für Aufruhr und paktieren mit den Russen, den Briten und jedem sonst, von dem sie glauben, daß er ihnen hilft, sich zu befreien.« Sie gestikulierte mit ihren großen Händen in den langen, elfenbeinfarbenen Glacéhandschuhen, als illustriere sie ihre Worte mit Mustern, die Asher nicht sehen konnte. Zum ersten Mal war er ihr in seiner Tarnung als Professor für Volkskunde auf einem Ball am Dreikönigstag begegnet. Volkskunde war in Wien immer beliebt, je bizarrer, desto besser, und im Austausch für die Geheimnisse der japanischen Werwölfe und chinesischen Naturfeen hatte Asher eine Anzahl der erwähnten Serben, Tschechen und Moldawier kennengelernt und war gerade dabei herauszubringen, mit wem genau sie Aufstände, Bombenanschläge und die Freiheit von österreichischer Kontrolle planten. Eigentlich hätte er Françoise kein zweites Mal aufsuchen müssen. Doch er hatte es getan. »Wenn wir klagen«, fuhr er fort, »ist es nicht wirklich eine Klage. Wenn wir weinen, dann nicht unbedingt vor Kummer; und wenn wir tanzen, ist es nicht immer aus Freude. Ja ist
nicht wirklich ja, und nein bedeutet selten nein, und die Paläste, die Sie sehen, sind nicht wirklich Paläste, und alle reden über alles, nur nicht über das, das sie wirklich beschäftigt.« Ihre dunklen Brauen zogen sich über diesen klugen grünen Augen zusammen, als sie ihn eindringlich ansah. Sie war nahe daran, Fragen zu stellen, von denen sie nicht sicher war, ob sie die Antwort hören oder sich ihr überhaupt stellen wollte. »Wir wissen nicht immer, ob das, was wir sehen, real oder eine Maske ist.« Ashers Blick war dem ihren begegnet, und er hatte nicht gewußt, was er darauf sagen sollte.
Letzte Woche habe ich mit dir gesprochen, um herauszufinden, welche der jungen Offiziere unter deinen Freunden am tiefsten in Schulden stecken. Ich bin hier, um Dinge zu erfahren, durch die eure Armeen besiegt, dein Land gedemütigt und deine Freunde und dein Neffe getötet werden könnten. Ich glaube, ich liebe dich. Er war sich nicht sicher, wann genau letzteres geschehen war. Eine Zeitlang sahen sie einander ohne Maske an. Selbst jetzt, als er am Rande des Traums daran zurückdachte, wußte Asher nicht, was er gesagt hätte, hätte sie ihn damals gefragt. Doch sie lächelte, setzte ihre Maske wieder auf und streckte die Hand aus. »Es ist der ›Blumenwalzer‹«, sagte sie. »Tanzen Sie?« Er war nie mehr nach Wien zurückgekehrt. Brutal riß er sich vom Rande des Schlafs zurück. Es war zu früh, um zu schlafen. Die Lichter von Paris lagen gerade erst hinter ihm: St. Denis, Gagny, Vaires-sur-Marne leuchteten in der indigoblauen Dunkelheit wie Glühwürmchen. Asher nippte an dem Café noir, er hatte dem Schlafwagenschaffner ein Trinkgeld gegeben, damit er ihm den Kaffee in sein Einzelabteil brachte - das Abteil, das er sich im letztmöglichen Augenblick hatte sichern können, wodurch er wieder, überlegte er verdrossen, mit nur fünf Pfund in der Tasche dasaß. Doch im Paris-Wien-Express war es unabdingbar, daß er Erster Klasse reiste, wenn er in den Waggon gelangen wollte, in dem Karolyi und Ernchester sitzen würden. Er wußte, daß er nicht in der Lage war, in der Zweiten Klasse eine weitere Nacht hindurch wach zu bleiben. In der Ersten Klasse war er sicherer, und es war weniger wahrscheinlich, daß Ernchester oder Karolyi ihn sahen. Karolyi.
Nichts hier ist, wie es scheint. An demselben Abend im Karneval hatte er gesehen, wie Karolyi einen Tanz mit der attraktivsten Wiener Erbin der Saison ausschlug, um nach draußen zu gehen und einen Fuhrmann daran zu hindern, sein Pferd zu peitschen. Françoises Kommentar hatte gelautet: »Er trägt ein bißchen dick auf, nicht?« Und, als Asher die Brauen hob, hatte sie hinzugesetzt: »Sie müssen doch bemerkt haben, daß er solche Dinge nur tut, wenn andere sie sehen.« Asher hatte es bemerkt, aber seines Wissens war das niemandem außer Françoise aufgefallen. Er hatte keine Zeit gehabt, Lydia zu telegraphieren. Oder Streatham, um ihm mitzuteilen, daß Cramer tot war. Streatham würde um sechs ohnehin nicht mehr im Büro sein, überlegte Asher boshaft, und vor zwanzig nach neun am Morgen kam er nicht zurück. Lieber Gott, war es erst heute morgen gewesen? Wenn er die Augen schloß, sah er die Prostituierte mit dem messingfarbenen Haar, ihren Rücken wie einen Bogen über den Stuhlsitz gewölbt, wie sie mit den Beinen zappelte und trat, während ihr Körper sein Leben aushauchte. Sah das dunkle Glitzern von Cramers Blut, da, wo die Ratten sein Gesicht angenagt hatten.
Er fürchtete seine Träume, doch sie sogen ihn ein, wie Wasser, das in die Dunkelheit hinabfloß. Er dachte: Ich bin schon einmal in diesem Raum gewesen. Wann bin ich in diesem Zimmer gewesen? Hinter den zugezogenen Fenstern rauschten schwere Regenfluten herab; war der Raum einmal möbliert gewesen, dann hatte man ihn jetzt bis auf einen Tisch auf einer Seite leergeräumt. In hohen Leuchtern brannten Kerzenstümpfe, eingehüllt in vertropftes Wachs, zwei am Kopf und zwei am Fuß des Tisches, und ihr Licht warf Schatten wie von Narzissen auf das Sargtuch aus Samt, das über eine Seite des Tischs drapiert war wie eine zurückgeworfene Tagesdecke und sich in den juwelenbesetzten Blättern einer Krone spiegelte, die mitten auf dem schwarzen Tuch stand. Der Traum hatte den Beiklang einer sehr weit zurückliegenden Erinnerung, und irgendwie wußte er, daß es tiefste Nacht war. Auf dem gelblichen Marmorboden vor dem Tisch lag wie ein weiteres Bahrtuch, das ein nachlässiger Diener hatte fallen lassen, eine Frau, unbequem gekleidet in Korsetts und seltsame flatternde Bänder. Ihr Haar war schwarz, bis auf die Stellen, wo das Kerzenlicht es mit einem zimtfarbenen Schimmer überhauchte. Wie ihre Kleidung war auch ihr hochfrisiertes, in Locken gelegtes Haar ein wirres Durcheinander. »Anthea.« Ein zweite Frau schritt durch den Raum und ging so nah an Asher vorbei, daß er sie hätte berühren können. »Anthea, du mußt ins Bett kommen.« Selbst betäubt vom Schlaf, identifizierte Asher die längeren Vokale in Bett und kommen und dachte automatisch: spätes siebzehntes Jahrhundert. Auch die gerade hereingekommene Frau trug schwarz. Vor dem Hintergrund ebenholzschwarzer Spitze, die von hochgesteckten Haarkämmen herabfiel, schien ihr Gesicht leblos, ihre Augen waren geschwollen und rot. »Mitternacht ist lange vorbei, und die Trauergäste sind nach Hause gegangen.« In einem Wasserfall nach hinten geraffter Röcke kniete sie nieder und berührte den Arm der am Boden hingestreckten Frau. »Wie ist es möglich, daß er tot ist?« Für eine Frau hatte sie eine tiefe Stimme, leise, doch sehr klar. Keine Tränen schwangen darin, nur eine müde Verwunderung, als frage sie sich das wirklich. Das Merkwürdige war, daß Asher den Satz schon einmal gehört hatte, in einer moderneren Aussprache, anders als die, die sie jetzt gebrauchte. »Ich ... ich habe nicht das Gefühl, daß er tot ist. Wenn ich die Treppe hinaufginge, würde er nicht oben warten?« Ein Kopfputz mit Bändern hing lose in ihrem Haar, neigte sich, als sie den Kopf hob, und glitt dann unbeachtet zu Boden. Obwohl er mindestens zwanzig Fuß von ihr entfernt stand, wußte Asher, daß ihre Augen die Farbe von altem Herbstlaub hatten, das den Grund eines Teiches bedeckte. »Ich habe das auch so empfunden, als mein Andrew gestorben ist.« Die andere Frau legte eine Hand um Antheas Taille, um ihr aufzuhelfen. Unsicher erhob sich Anthea. Sie war groß und von vollkommener Schönheit, obwohl ihre Kleidung vom Liegen auf dem Boden zerdrückt war. Ihre Brüste erhoben sich wie milchweiße Hügel über ihrem engen Mieder, und kleine Schatten lagen unter der noch bleicheren Linie ihres Schlüsselbeins und dem Bogen ihrer kräftigen Wangen. »Glaub mir, Liebes«, sagte ihre Freundin, »er ist tot.« Langsam, wie eine sehr alte Frau, machte Anthea einen Schritt nach vorn und streckte die Hand aus, um das samtene Bahrtuch zu berühren, wo, wie Asher klar wurde, ein Sarg gestanden hatte. Ihre Stimme klang sehr dünn, wie die eines Kindes. »Ich kann mir nicht vorstellen, was ich ohne ihn anfangen soll.« Sie wandte sich um und ging den Raum entlang, als sehe sie ihre Freundin nicht, die ihr auf dem Fuß folgte. Bestimmt sah sie Asher nicht, obwohl ihre schwarzen Röcke seine Stiefelspitzen streiften und er den Moschusduft, gemischt aus Ambra, Weihrauch und Frau, wahrnahm, den ihre Kleidung ausströmte. Ihr hoher Spitzenkopfputz lag auf dem Boden, wo sie ihn hatte fallen lassen, wie eine geknickte schwarze Rose. »Steffi, Lieber, ist dir eigentlich klar, wie langweilig du bist, wenn du eifersüchtig wirst?«
Asher schreckte aus dem Schlaf hoch. Sein Nacken war steif, und das sanfte, unaufhörliche Rütteln des Zuges pochte immer noch in seinen Knochen. Er ließ sich wieder in die Ecke des Sitzes zurücksinken und hörte, wie Steffi - wer auch immer Steffi sein mochte - irgendeine Antwort in hartem Berliner Hochdeutsch knurrte. Beide gingen draußen auf dem Korridor vorbei, wahrscheinlich in Richtung Speisewagen. Asher langte nach oben, knipste die immer noch brennende elektrische Lampe über seinem Platz aus und drückte dann auf den Porzellanknopf, um den Schaffner zu rufen. Während er Rasierwasser bestellte - begleitet von einem Trinkgeld, das er sich eigentlich nicht leisten konnte -, fragte Asher nach der Uhrzeit. »In Wien ist es fünf Minuten nach zehn am Morgen, Sir«, sagte der Mann in einem Französisch mit italienischem Akzent. »Zehn Minuten nach neun in Paris. Wo wir jetzt sind, dürfte es Viertel vor zehn sein.« Asher, der seine Uhr auf Pariser Zeit umgestellt hatte, aber letzte Nacht zu erschöpft gewesen war, um sie aufzuziehen, stellte sie erneut. »Wird noch Frühstück serviert?« »Bis M'sieu mit dem Rasieren fertig ist, nicht mehr.« Der Schaffner legte den Finger an die Mütze. Venezianer, schätzte Asher. Dunkel, aber mit der außerordentlichen sinnlichen Schönheit, die selbst den vertrockneten alten Frauen dieser altehrwürdigen Republik eigen war. »Ich könnte M'sieu eine Kleinigkeit bringen.« Asher reichte ihm noch ein silbernes Zweifrancstück und überlegte, daß die Schaffner im Paris-Wien-Express zweifellos alles von Dollars bis zu Piastern zugesteckt bekamen. »Sie wissen nicht zufällig, ob der ungarische Gentleman, der mit dem Engländer zusammen reist, noch im Speisesaal ist, oder? Allerdings«, fügte er hinzu und hob die Hand, »ist es nicht notwendig, meine Fragen einem der beiden gegenüber zu erwähnen.« Die dunklen Augen des Italieners leuchteten interessiert auf, und Asher legte noch einen Franc hinzu. »Eine Familienangelegenheit.« »Ah.« Er nickte wissend. »Bei dem Ungarn und dem Engländer brannte die ganze Nacht das Licht, obwohl natürlich der Vorhang geschlossen war und ich nicht sehen konnte, was in dem Abteil selbst vor sich ging. Aber ich weiß, daß sie mich nicht gerufen haben, um ihre Betten herunterzuklappen, und als ich heute morgen hineingegangen bin, um das Abteil aufzuräumen, waren sie unbenutzt.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf Ashers unberührtes Bett. Nachdem er das Abteil betreten hatte, hatte Asher die Tür abgeschlossen, und falls dieser Mann geklopft hatte, hatte er es nicht gehört. Als der Schaffner mit Namen Guiseppe mit heißem Wasser, einem Frühstückstablett und Kaffee zurückkehrte, brachte er auch die Nachricht mit, daß der Ungar, Herr Feketelo, nicht mehr im Speisewagen sei. Nachdem er gefrühstückt hatte, machte Asher sich unauffällig auf den Weg den Korridor hinunter, wobei er darauf baute, daß sowohl Karolyi als auch dessen Reisegefährte während des Tages schlafen würden. Sein eigenes Abteil lag ziemlich weit vorn im Waggon, in der Nähe der Brücke mit den Akkordeonfalten, die zum Speisewagen führte. Das Abteil, das Karolyi und Ernchester nach Guiseppes Auskunft teilten, lag am hinteren Ende. Der nächste Waggon im Zug, dessen war sich Asher sicher, war der Gepäckwagen. Er war versiegelt, doch Asher hatte oft genug mit kopierten Siegeln und Nachschlüsseln zu tun gehabt - und war häufig genug Zeuge der schlicht übernatürlichen Körperkraft und Beweglichkeit der Vampire gewesen -, um zu wissen, daß dies für Ernchester kein Problem wäre. Asher gab noch einige weitere Francs aus seinen schwindenden Reserven aus, damit Giuseppe ihm auch das Mittagessen auf einem Tablett brachte. Dies war ganz gewiß eine bequemere Art, Mitteleuropa zu bereisen, dachte er, als sich durch die dinarischen Alpen zu schlagen, einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt, mit Hunden - und Karolyi - auf seiner Spur, die Taschen voll mit belastenden Schweizer Kontonummern und einer Kugel in der Schulter. Er lauschte den Stimmen, die im Korridor vorüberzogen, hielt seinen Vorhang geschlossen und sah zu, wie die dunklen Bäume und Märchendörfer des Schwarzwalds
vor ihm aufstiegen und sich über dem Anstieg zur Schwäbischen Alb falteten, im Hintergrund das weiße Glitzern der Alpen, die sich näherten, als der Zug sich gen Süden wandte. In München hielt der Express eine halbe Stunde, um zwei Zweite-Klasse-Waggons und noch einen Waggon-lits anzuhängen, und Asher riskierte einen schnellen Ausflug zum Telegraphenamt am Bahnhof, um zwei Telegramme aufzugeben; eines an Lydia, in dem er ihr über seine geänderten Pläne berichtete, und eines an Streatham, in dem er ihm den Tod seines Agenten mitteilte. Sein Zorn darüber hielt an, nicht so sehr auf Ernchester und Karolyi - schließlich war das ein Spiel, das sie alle spielen -, sondern auf Streatham, der dem unerfahrensten seiner Männer eine Aufgabe gestellt hatte, von der er hätte wissen müssen, daß sie gefährlich war. Und, obwohl er wußte, daß er nichts weiter hätte tun können, war er zornig auf sich selbst. Als er die weite Halle des Bahnhofs unter dem schwachen grauen Tageslicht, das durch die Glasdecke drang, durchquerte, versuchte Asher sich zu erinnern, wer im Augenblick der Verantwortliche in Wien war. Wahrscheinlich niemand, den er kannte. Streatham hatte natürlich recht gehabt mit dem, was er über die Reorganisation gesagt hatte. Fair port zumindest würde immer noch in Wien sein, unauffällig den konspirativen Unterschlupf in seinem Sanatorium im Wienerwald verwalten und Bankiers und Frauen von Börsenmaklern Verjüngungskuren verkaufen, penibel und zittrig, mit seiner schlechten Gesundheit, seinen Baumwollhandschuhen und diesem fanatischen Glitzern in den blaßblauen Augen. Asher lächelte, als er sich an die drei Tage erinnerte, die er mit diesem Hypochonder verbracht hatte, der aus einer komischen Oper entsprungen schien. Sie waren zu irgendeinem abgelegenen tschechischen Dorf gefahren, Fairport, um mit einem Geschwisterpaar, Bauern, zu sprechen, die Zeitgenossen seiner eigenen Großeltern waren, und Asher, um lokale Varianten des Verbs byti und biti aufzuspüren - und sich eine Straße anzusehen, die durch den Wald nach Sachsen führte und ohne ersichtlichen Grund mit Mitteln aus Berlin verbreitert und ausgebessert worden war. Während der gesamten Reise hatte der Alte seine Handschuhe nicht ausgezogen, hatte das Schneewasser aus den Bächen gewärmt, weil es besser für die Leber war, und seine eigenen Nahrungsmittel, seine eigene Bettwäsche und seine eigene Seife mitgebracht. Die Bauern dort hatten mit dem Kopf geschüttelt und ihm Namen verliehen wie ›Wäscherin‹ oder ›englische Großmutter‹, und in einem Dorf hatte der Gastwirt Asher beiseite genommen und ihn ernst befragt, ob es wahr sein, daß es in der Stadt - das heißt in Wien -, Ärzte gab, die Menschen von solchen Leiden kurieren konnten. Asher hatte nur schwer erklären können, daß die englische Großmutter solch ein Arzt war. Er grinste und ließ sich mit dem Gefühl, erfolgreich einen komplizierten Hindernisparcours bewältigt zu haben, wieder in seinem Abteil nieder. Er hatte nicht nur die Telegramme aufgegeben, sondern auch die Neue Freie Presse und zwei Kinderspielzeuge zum Aufziehen gekauft: einen Bären, der zwei Becken zusammenschlug, wenn man ihn aufdrehte, und einen Esel, dessen vier Beine sich so bewegten, daß er einigermaßen lief, wenn man ihn sorgfältig ausbalancierte. Mit tiefer und ernster Freude probierte er sie auf dem Tisch aus. Bewaffnet mit neuen Büchern, Magazinen, Zeitungen, Süßigkeiten oder Gebäck stiegen auch andere Mitreisende wieder ein. Durch das Fenster erhaschte er einen Blick auf den Mann, der zu der eifersüchtigen Steffi gehören mußte, und seine elfengleiche Wiener Freundin, die frische Blumen im Arm trug. Er lächelte ein wenig über die menschliche Fähigkeit zu glauben, was man gern glauben wollte. Da waren noch eine schöne Witwe in einem tadellosen Kleid von Worth, eine verschüchterte Zofe und drei kleine schwarze französische Bulldoggen im Schlepptau, und ein weißbärtiger Gentleman mit dem Gesicht eines kriegerischen Mönchs. Ein Junge, der sein Enkelsohn oder ein Diener hätte sein können, eilte hinter ihm her. Karolyi
schlenderte, glattrasiert und frisch, mit einer Winterrose im Knopfloch, leichten Schrittes über den Bahnsteig. Er blieb stehen, um den Hut abzunehmen, während er mit einem abgerissenen Mädchen sprach, das Erdnußplätzchen verkaufte. Asher sah an dem Gesicht des Mädchens, daß er sie erheblich überbezahlt hatte, und erinnerte sich wieder an die gefesselte Dirne mit dem messingfarbenen Haar. Er fragte sich, ob die Polizei ihre Leiche schon gefunden hatte.
Warum ausgerechnet Ernchester? Als der Zug wieder anruckte, wandten sich seine Gedanken wieder dieser Frage zu. Warum überhaupt ein Engländer? Hatten die Vampire von Wien sich geweigert, mit den Österreichern zu kooperieren? Das war nicht so seltsam, wie es sich anhören mochte: Ashers Erfahrung nach hatten die Wiener ihre eignen Gründe, etwas zu tun oder nicht, eine typische Unberechenbarkeit, die darin begründet liegen konnte, daß sie sich als Tschechen oder Ungarn oder Serben, Moldawier oder Venezianer fühlten oder daß sie die persönliche Meinung vertraten, der Kaiser sei ein komischer alter Kauz, dem zu dienen sie ablehnten. Und in der Tat wußte Asher, daß die Vampire recht hatten, wenn sie ihre Anonymität wahrten, egal, welche Garantien die Regierung gab. Siebzehn Jahre lang war er Spion gewesen und wußte nur zu gut, daß man den Versprechungen keiner Regierung trauen durfte - und erst recht nicht denen der eigenen. Doch das erklärte immer noch nicht, warum man an einen englischen und nicht einen französischen oder deutschen Vampir herangetreten war. Oder war man das? Er hatte gerade den aufziehbaren Bären auseinandergenommen und hielt inne. Vor seinem inneren Auge stieg die groteske Vision von dem versiegelten Gepäckwagen auf, in dem Särge und Schrankkoffer bis unter die Decke gestapelt waren, in denen die Vampire von Paris schlummerten; von sich selbst, wie er unschuldig in den Speisewagen schlenderte und sich an einem Tisch nach dem anderen kalkweißen, knochigen Gesichtern gegenübersah, einem Meer phosphoreszierend leuchtender Augen. Was zum Teufel sollte er tun, wenn er in Wien ankam? Versuchen, das Problem an einen weiteren unfähigen und zögerlichen Departementleiter zu übergeben? Zulassen, das noch ein junger Anfänger getötet wurde? Er klappte sein Bett herunter und legte sich schlafen. Aus unruhigen Träumen wachte er mit dem Gefühl auf, das er im Umgang mit Vampiren zuvor schon gehabt hatte, einer zeitweiligen Bewußtseinsleere. Lautlos und blitzschnell rollte er sich aus seiner Schlafkoje. Das Abteil um ihn herum wurde nur von dem gelben Lichtschein aus dem Gang erhellt, der an den Rändern der Vorhänge eindrang. Das Abteil war leer - zweifellos gab es nichts, wo sich jemand hätte verstecken können, denn es war kaum genug Platz für eine Person, geschweige denn für zwei -, und er drückte sein Gesicht gegen den Türrahmen und schob den Vorhang gerade so weit beiseite, daß er daran vorbeisehen konnte. Karolyi und Ernchester gingen den Korridor hinauf. Karolyi sprach mit beredten Gesten seiner weiß behandschuhten Hände, Ernchester wirkte neben ihm ausdruckslos und sehr klein und mager. »Verstehen Sie, es geht nicht an, daß wir die gesamte Reise in unserem Abteil verbringen. Zum einen klatschen die Schaffner.« »Ich sehe nicht, was uns das Geplapper von Erdenwürmern angeht.« Ernchesters Stimme war leise, beinahe unhörbar, und Asher fragte sich, warum das länger gesprochene ›A‹ und das offene ›E‹ ihm so vertraut in den Ohren klangen. Wo hatte er kürzlich, dachte er, jemanden mit dieser archaischen Färbung sprechen hören? »In diesem ›Zug‹ - er sprach das Wort aus, als sei es ihm fremd - »gibt es nichts, was mich interessiert. Wenn wir, wie Sie sagen, in einigen Tagen in Wien sind...« Sie waren außer Hörweite. Asher fand seine Uhr und hielt sie in den Spalt des hereinfallenden Lichts. Es war kurz nach halb sieben, Wiener Zeit. Karolyi mußte Ernchester eben aus dem Gepäckwagen gelassen und das Siegel wieder durch ein
Duplikat ersetzt haben. Was er im Schlaf gespürt hatte, war die subtile Berührung aller Menschen in dem Waggon durch den Geist des Vampirs gewesen. Vor Ashers Fenster schimmerten die Alpen in unirdischem Blau. Schnell zog er sich an, stahl sich den Gang hinunter und lauschte auf Stimmen in den anderen Abteilen. Es herrschte Stille. Er schätzte, daß die meisten schon beim Abendessen saßen. Das Schloß an Karolyis Abteil gab bereitwillig den Drahtwerkzeugen nach, die er aus dem Innenleben des Esels und des Bären konstruiert hatte. Er suchte schnell und gründlich, obwohl er wußte, daß Karolyi nicht der Mann war, der Informationen herumliegen ließ. Keine Notizbücher, keine Briefe, keine Adressen. Eine große Menge Geld in dem Koffer, den Asher öffnete, nachdem er das Schloß und den Rahmen sorgfältig auf Haarstückchen, Holzspäne oder Gummi untersucht hatte; er entwendete zweihundert Schilling in Banknoten und auch zwei von den etwa einem Dutzend Kopien des Gepäckraumsiegels. Unter dem doppelten Boden des Koffers fand Asher zehn kleine Kästen aus Wachs und Holz, die Abdrücke von Schlüsseln enthielten, wahrscheinlich zum Gepäckwagen vielleicht zu allen Gepäckwagen, die auf dieser Strecke verkehrten. Asher steckte sie ein und schloß die Abdeckung wieder. Bis Karolyi ihr Fehlen bemerkte, würden sie nicht mehr im Zug sein. Der Koffer enthielt auch zusammengefaltete Rubriken mit Familienanzeigen der Londoner Times von zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Diese wagte er nicht mitzunehmen. Die Zeit verging schnell, er hatte keine Zeit, sie zu überfliegen, denn er wußte, daß die Anzeige, auf die es ankam, nicht angestrichen sein würde. Er merkte sich die Daten, faltete die Zeitungen so zusammen, wie sie gewesen waren, und stellte den Koffer wieder in den Samtsitz. Auf dem Tisch stand ein Reiseschach, die Figuren ordentlich zu einem Spiel aufgestellt. Ernchesters altmodischer taillierter Mantel hing neben der Tür neben Karolyis weit ausgestelltem. Asher durchsuchte schnell die Taschen und fragte sich, wo der Vampir unterkommen würde, wenn sie Wien erreicht hatten. Wieder zurück in seinem Abteil, läutete er nach dem Schaffner und ließ sich das Abendessen bringen. Mit einem Augenzwinkern und einigen Francs fügte er hinzu, er sei indisponiert. »Sie haben wohl nicht die englische Times an Bord, oder?« »Certamente, Sir«, sagte Giuseppe und richtete sich empört zu voller Größe auf. »Für unsere Erste-Klasse-Passagiere haben wir alle Zeitungen, die neuesten Ausgaben.« Wie steht es mit der Zeitung vom letzten Samstag? Und vom letzten Freitag, wenn möglich?« »Hmm. Das weiß ich nicht, M'sieu. Ich werde nachfragen, mich in den Räumen der Schaffner umsehen...« »Diskret«, sagte Asher. »Sie brauchen mir nicht alles zu bringen. Nur die Seiten mit den Familienanzeigen.« Er hob eine Augenbraue, neigte vielsagend den Kopf, und der Schaffner eilte geschäftig davon mit dem Gebaren von jemandem, der sich als erfahrenen internationalen Intriganten sieht. Und wahrscheinlich war er das auch, dachte Asher. In seiner Position hätte er die Gelegenheit dazu. Auf jeden Fall kehrte Giuseppe mit einem zerlesenen Exemplar der Familienanzeigen aus der Samstagabendausgabe zurück, die er in der Schaffnertoilette aufgetrieben hatte. Die nächste halbe Stunde verbrachte Asher damit, die Rubrik nach der Botschaft zu untersuchen, die zum Treffen zwischen dem Vampir und dem Ungarn geführt hatte.
Olumsiz Bey-Treppe vor dem Britischen Museum, 7. - Umitsiz
Asher mußte die Anzeige zweimal lesen, bis er erkannte, daß sie das war, wonach er gesucht hatte. Olumsiz war Türkisch für todlos - oder vielleicht untot. Umitsiz stand für hoffnungslos oder vielleicht für die englische Form des Namens Wanthope, eines der Familiennamen der Grafen von Ernchester, einem von mehreren, unter denen Charles Farren vor vielen Jahren Besitztümer an sich selbst vererbt hatte. Seltsam? Warum Türkisch? Asher faltete das Papier zusammen und steckte es in seinen Koffer. Der todlose Herr. Ohne Hoffnung. Auf englisch Want-Hope. Wanthope. Der
todlose Lord ... Ganz eindeutig wollten Ernchester und Karolyi ihre Transaktionen im Verborgenen halten. Das würde ins Bild passen, wenn die anderen Londoner Vampire - die ganz sicher die Familienanzeigen lasen, denn die Nächte der Untoten sind lang - einer solchen Allianz ablehnend gegenüberstanden. Sprach Grippen, der Meistervampir von London, wohl Türkisch? Ysidro sprach es wahrscheinlich, dachte Asher, seltsam unruhig bei dem Gedanken an diesen ausgebleichten spanischen Hidalgo, der, gegen den Willen aller anderen Londoner Vampire, als erster Hilfe bei ihm gesucht hatte. Im sechzehnten Jahrhundert hatte das osmanische Reich eine gewaltige Macht dargestellt. Es war denk bar, daß Ysidro als Höfling und Gelegenheitsgelehrter einige Kenntnisse des Türkischen jener Zeit besaß. Ebenfalls denkbar war, daß der Earl es verstand. Jedenfalls wahrscheinlicher als zum Beispiel Ungarisch, das zu seiner Zeit die Sprache von Barbaren und Hirten gewesen war, Leuten, die im Westen keinen Einfluß hatten. Jeder der anderen Londoner Vampire würde fast mit Sicherheit Deutsch oder Französisch verstehen. Für einen Vampir aus Wien oder Ungarn war es sehr wahrscheinlich, daß er die Sprache der Armeen verstand, die sein Land seit dem sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert wiederholt überrannt hatten. Asher sah wieder auf den Kopf der Seite. Samstag, 31. Oktober - und kein Exemplar der Zeitung vom Freitag. Was, fragte er sich, stand in dieser Anzeige, daß Ernchester so darauf bedacht war, seine Schritte vor den anderen Londoner Vampiren zu verbergen, selbst vor seiner Frau? Wer war es, der sich der Todlose Herr nannte? Selbst um zehn Uhr abends war der Bahnhof von Wien noch die geschäftige Drehscheibe des Kaiserreichs. Als Asher schnell aus dem Zug stieg, bevor er noch ganz um Halten gekommen war, und mit großen Schritten den Bahnsteig entlangging, um sich unter die Menge zu mischen, durchfuhr ihn ein Gefühl des Heimkehrens - nost-algia, der Schmerz der Erinnerung. Keine Stadt auf der Welt war wie Wien. Da waren Juden aus dem Hinterland in schwarzen Kaftanen, Tallis und langen Schläfenlocken, die von ihren reformierten germanischen Glaubensbrüdern in ihren Gehröcken entschlossen ignoriert wurden, ungarische Csikos mit hohen Stiefeln und weiten Hosen, zerlumpte, buntgekleidete Zigeuner. Da waren die Wiener selbst, in leinene Reisemäntel und Schleier als Schutz gegen den Ruß gehüllte Damen, Männer in glänzenden Uniformen, die ebensogut Ulanen wie Postboten hätten sein können, Kinder, die sich an schwarzgekleideten Gouvernanten klammerten, und Studenten mit bunten Kappen. Französisch, Italienisch, der wienerische Singsang, der Sprache Berlins so unähnlich wie nur möglich, vermischt mit Tschechisch, Rumänisch, Jiddisch, Russisch, Ukrainisch ... Kaffeeduft lag in der Luft. Wien. Als er zum Fiakerstand ging - wohin sich Ernchester und Karolyi erst wenden würden, wenn die Zollbeamten mit ihrem Gepäck fertig waren - stellte Asher fest, daß er gegen jede Logik den Atem anhielt und fürchtete er werde irgendwie, unwahrscheinlicherweise, Françoise begegnen.
In seinem unruhigen Schlaf heute nachmittag hatte er von ihr geträumt - ein Traum, durchzogen von Walzermelodien. Sie ging den Schottenring entlang, vorbei an dem Marmor, Stuck und Gold der großen Wohnhäuser, im kristallklaren Licht eines Frühlingsabends. Sie sah nicht aus wie vor dreizehn Jahren, sondern so, wie sie jetzt aussehen mußte. Ihr Haar war fast vollständig ergraut, und sie war so hager, wie manche Katzen im Alter werden, wie eine graue Katze in einem grauen, mit schwarzer Spitze getigertem Ausgehkleid.
Es tut mir leid, Françoise. Als er sie beobachtete, hatte er überdeutlich wahrgenommen, wie der metallisch glänzende Taft ihres Rocks die verzierten Bronzegitter streifte, die auf der Höhe des Gehwegs in die Wände eingelassen waren. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit, erkannte er, bewegte sich unter dem Pflaster, auf dem sie ging; da waren ein Flüstern in den Schatten und Augen im Dunkel. Sie warteten nur auf das Einbrechen der Nacht. Sie waren auch in Wien. Françoise, verschwinde von dort! versuchte er zu schreien. Geh nach Hause, zünde die
Lampen an, laß sie nicht herein. Sprich nicht mit ihnen, wenn du ihnen auf der Straße begegnest. Aber sie konnte ihn nicht hören oder würde seinen Rat nicht beachten. Sie ging weiter, und ihm schien, daß grauer Nebel aus diesen Bronzegittern aufstieg und hinter ihr die Straße entlangzog. Er schüttelte die Erinnerung ab. Es war unwahrscheinlich, daß er ihr begegnen würde vielleicht lebte sie überhaupt nicht mehr in Wien -, und auf jeden Fall war die Liebe zwischen ihnen vergangen und abgeschlossen. Und für nichts würde er die Aussicht eintauschen, den Rest seines Lebens mit Lydia zu verbringen, dieser kupferhaarigen, bebrillten Nymphe. Doch immer noch war da dieser Schmerz in seinem Herzen, wenn er den ›Blumenwalzer‹ hörte. »Herr Professor Doktor Asher?« Verblüfft wandte er sich auf halbem Weg zum Fiakerstand um, und sein erster Gedanke war Nicht jetzt! In wenigen Minuten würden Karolyi und Ernchester hiersein ... Zwei Wiener Polizisten in braunen Uniformen standen hinter ihm. Beide verbeugten sich. »Sind Sie der Herr Professor Doktor Asher, der eben mit dem Paris-Wien-Express angekommen ist?« »Das bin ich, Herr Oberhaupt.« Sogleich fiel er in den alten Wiener Brauch zurück, jedermann einen Titel zu geben, und in seinen singenden, leicht italienischen Wiener Akzent. »Gibt es ein Problem? Ich habe meinen Paß vorgelegt...« »Nein, kein Problem mit dem Paß«, sagte der eine Polizist. »Wir bedauern außerordentlich, Sie zu einem Verhör in Zusammenhang mit dem Mord an einem Mann in Paris, einem Herrn Edmund Cramer, bestellen zu müssen. Würden Sie so gut sein, uns aufs Rathaus zu begleiten?« Asher war so schockiert, daß er den Polizisten einen Augenblick nur anstarren konnte. Dann drang eine Flut tschechischer Flüche an sein Ohr, und er drehte sich rechtzeitig um, um zu sehen, wie mehrere Gepäckträger einen riesigen messingbeschlagenen Schrankkoffer auf einen Frachtwagen luden. Karolyi und der Graf von Ernchester sahen zu. Zufällig wandte Karolyi den Kopf, und einen Augenblick lang sah er Asher in die Augen. Er tippte mit dem Finger an seinen breitkrempigen Hut und lächelte. Das letzte, was Asher von ihnen sah, während er aus dem Bahnhof eskortiert wurde, war, daß der Spion und der Vampir gemächlich zum Fiakerstand gingen.
FÜNF
»Wir haben einander in einem früheren Leben gekannt, verstehen Sie.« Miss Margaret Potton blickte von ihrem linken Ärmel auf, wo sie an dem losen Faden eines Knopfs gezupft hatte, und hinter ihren Brillengläsern, die so massiv waren wie Lydias - hätte Lydia sie an einem so öffentlichen Ort getragen wie dem Speisesaal des Hotel St. Petersbourg - lag in ihren blauen Augen ein Ausdruck argwöhnischen Trotzes. »In vielen Leben. Es ist, als hätte ich es immer gewußt, mein ganzes Leben lang. Mein Leben lang muß ich diese Träume gehabt haben, nur um sie am Morgen absolut und vollständig zu vergessen.« »Müssen?« wiederholte Lydia und versuchte, ihre Stimme von ihrem Zorn auf Ysidro freizuhalten. »Wann? Wenn sie sie vollständig vergessen haben, woher wissen Sie dann, daß Sie sie ›Ihr ganzes Leben lang‹ gehabt haben? Seien Sie ehrlich, erinnern Sie sich an irgendeinen Traum vor gestern nacht?« Der kleine Mund zog sich eigensinnig zusammen. »Ja. Ja, ich erinnere mich. Jetzt.« Lydia sagte nichts. Dieser Schuft! war alles, was ihr in den Sinn kam, und sie dachte:
Sicher gibt es ein ausdrucksvolleres Wort als dieses. James ist Sprachwissenschaftler. Ich muß ihn danach fragen. Miss Potton sah wieder auf und reckte ihr fliehendes Kinn. »Das heißt, ich wußte, daß ich etwas Wichtiges geträumt hatte. Ich habe immer gewußt, daß ich von etwas ... etwas Schönem, etwas Entscheidendem träumte, etwas, das mein Leben verändern würde. Nur, daß ich mich bis letzte Nacht nie daran erinnern konnte.« »Noch nie in meinem Leben habe ich solch einen Unsinn gehört!« All die grellfarbenen Träume standen ihr wieder vor Augen; Liebe, Rettung, Walzer auf mondbeschienenen Terrassen; sie war geistreich, und er legte ihr zögernd sein Herz zu Füßen. »Letzte Nacht wollte er, daß Sie glaubten, sich zu erinnern. Weil es ihm zupaß kam...« »Nein.« Auf ihren Wangen erschienen tiefrote Flecken. »Ja. Irgendwie schon. Weil er mich brauchte.« Sie zupfte wieder an ihrem Ärmelknopf. »Als er letzte Nacht zu mir kam als ich im Mondschein erwachte und ihn am Fußende meines Betts stehen sah -, sagte er, er wäre nie wieder in mein Leben getreten, hätte sich zu meinem eigenen Besten gezwungen, mir fernzubleiben, wenn er nicht meine Hilfe gebraucht hätte. Er brauchte meine Hilfe. Sie verstehen ihn nicht.« »Und Sie schon?« »Ja.« Sie blickte nicht auf. Lydia holte tief Luft, doch sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie, wenn sie ihren wahren Gefühlen freien Lauf ließ, wahrscheinlich schreien würde, und das wäre im Speisesaal des Hotel St. Petersbourg eindeutig nicht angemessen. Die Wut auf Ysidro ertränkte ihre Angst - ihre Angst vor ihm, vor Ernchester, vor dem weiten, unvermessenen Ozean der Welt außerhalb der akademischen Forschung. Sie erkannte, daß das Wort, das sie gesucht hatte, Vampir war. Miss Potton hob den Kopf und fuhr fort: »Ich verstehe, daß die wie er Menschen brauchen, denen sie trauen können. Er hat mir erzählt, daß sie oft jahrelang ein menschliches Wesen suchen, das großherzig genug ist, sie so anzunehmen, wie sie sind,
in dessen Hände sie ihr Leben zu legen wagen. Ich war ... wir beide waren ... so war es
zwischen uns ... in der Vergangenheit, viele Leben lang. Er sagte, er habe immer gewußt,
wo ich war, doch er habe in diesem Leben absichtlich keinen Kontakt zu mir
aufgenommen, weil ich in einem früheren Leben, als ... als ich in seinen Diensten stand,
getötet worden bin.«
»Das ist doch das Lächerlichste...«
»Das ist alles, was Sie dazu sagen können.« Miss Potton sah sie mit einem starren,
bleichen, fanatischen Blick an. »Aber ich erinnere mich. Mein ganzes Leben lang habe ich
mich in meinen Träumen daran erinnert. Und er brauchte mich wieder, er brauchte jemanden, der nach Wien reist...« »Er brauchte innerhalb eines halben Tages eine Anstandsdame für mich!« schrie Lydia aufgebracht. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist, diese abstruse Altväterlichkeit oder das, was er mit Ihnen...« »Er ist ein Gentleman von alter Art«, sagte Miss Potton ruhig. »Er ist ein Mörder! Und dazu noch ein bigotter Katholik und der unerhörteste Snob, der auf Schuhen durch die Gegend läuft, und Sie sind eine dumme Gans, wenn Sie glauben...« »Er ist nicht bigott!« Der Kellner kam und brachte eine Tasse Café au lait von der Größe einer Suppenschüssel. Miss Potton sah ängstlich zu ihm auf, als fürchte sie, er verlange von ihr, sofort zu zahlen. Erst als er ohne ein Wort ging, wandte sie sich wieder Lydia zu, und ihr Gesicht glühte vor Eifer. »Während des Massakers in der Bartholomäusnacht, in den Religionskreisen in Frankreich, hatte Don Simon einen Diener, einen Hugenotten, der sein Leben dafür hingab, daß sein Herr nicht von der Inquisition verbrannt wurde. Später retteten wir beide die Familie dieses Dieners und brachten sie auf ein Schiff nach Amerika...« Lydia starrte sie an, unfähig, irgend etwas zu entgegnen. Selbst auf die Entfernung über den Tisch hinweg war Miss Potton, in ihrem braunen Wollkleid, das für jemand anderen angefertigt und schlecht geändert worden war, nur ein verschwommener Umriß. Ihr aus der Form gegangener schwarzer Samthut ... dem Hut, den Lydia sich von ihrer Köchin ausgeborgt hatte, frappierend ähnlich - war seit Jahren aus der Mode. Die Brille war nicht bis in die Träume gelangt. »Aber ich ... ich weiß, daß ich schon früher davon geträumt habe. Ich weiß alles. Wie wir am Strand entlanggerannt sind, Minuten vor dem ersten verhängnisvollen Licht der Morgendämmerung; wie Don Simon sich zurückwandte und das Schwert zog, um die Männer des Kardinals in Schach zu halten, während ich Pascalous Kinder ins Ruderboot setzte. Der Geruch des Meeres, das Kreischen der Möwen.« Direkt bei Dumas entlehnt. Unverzeihlich. Lydia versuchte vergeblich in ihrem Kaffee zu rühren, ihre Hand zitterte zu stark. Trotz all ihrer sorgfältigen Übung in gesellschaftlichen Nettigkeiten, in modischem Flirten und Konversation beim Dinner hatte sie den Großteil der Menschheit immer als etwas fremde Spezies betrachtet, die ein faszinierendes Kreis lauf- und Drüsensystem besaß, aber mit einigen wenigen Ausnahmen wie James und Josetta und Anne und Ellen weit entfernt von ihr war und ihren Interessen und größtenteils unverständlich. Sie hatte überhaupt keine Vorstellung davon, wie sie es anstellen sollte, dieses arme, dumme Kind davor zu warnen, mit ihr zu reden und durch den Vampirglanz ihrer Träume zu ihr vorzudringen. »Miss Potton«, sagte sie schließlich mit einer Stimme, die nur durch jahrelangen Benimmunterricht gleichmütig klang, »bitte danken Sie Don Simon im meinem Namen, aber sagen Sie ihm, daß ich eine erwachsene Frau und durchaus in der Lage bin, allein zu reisen. Ich brauche keine Hofdame, wie er zu glauben scheint. Und ich brauche ihn nicht. Aber wenn Sie auf meinen Rat hören...« Sie sah, wie Miss Potton bei diesem Wort erstarrte und erkannte verzweifelt, daß sie das Falsche gesagt haben mußte. Aber ihr fiel auch nichts anderes ein, was sie hätte sagen können. »Wenn Sie auf meinen Rat hören, fahren Sie zurück nach London.« Ich muß mich ziemlich herablassend anhören, dachte sie niedergedrückt. »Halten Sie sich von Don Simon fern. Wenn Sie wieder von ihm träumen, achten Sie nicht darauf. Wenn Sie ihn in Wirklichkeit sehen...« »Ich kann nicht zurück.« Auf ihrem kleinen, harten Mund erschien ein triumphierendes Lächeln. »Ich habe Mrs. Wendell gestern morgen beim Frühstück gekündigt. Seit drei Uhr, seit Don Simon zu mir in mein Zimmer gekommen ist, mich aus all diesen Jahren des Traums aufgeweckt hat, war ich auf und habe gepackt. Ich habe ihr gesagt, daß sie
sich jemand anderen suchen soll, der auf ihre verzogenen Kinder aufpaßt, und daß ich solche Dinge für immer hinter mir habe.« Lydia konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ihre Tante Harriet eine solche Ankündigung von Nana zu ihrem leicht gebutterten Toast und chinesischen Tee an einem regnerischen Morgen aufgenommen hätte ... Nicht, daß Nana jemals etwas so Ungehöriges getan hätte. Das arme Mädchen würde nie wieder eine Stellung finden. In der Tat, solche Dinge hatte sie für immer hinter sich! »Ich habe keine Familie«, fuhr Miss Potton mit demselben düsteren Stolz fort. »Ich habe mich und mein Schicksal in Don Simons Hände gelegt, genauso, wie er sich selbst in meine gegeben hat. Und es fühlt sich ... richtig an. Wahrhaftig. Gut.« »Alles würde sich so anfühlen«, argumentierte Lydia, »nachdem man Jahre - wie viele Jahre waren Sie bei Mrs. Wenden? - damit verbracht hat, auf anderer Leute Kinder aufzupassen.« Der Mund der jungen Frau zuckte, und als sie die Augen abwandte, sah Lydia das kurze Aufblitzen von Tränen. Ihr erster Zorn legte sich, und Lydia konnte sehen, daß dieses unbeholfene Mädchen nur ein paar Jahre jünger und genauso unscheinbar war wie sie. Doch Miss Potton hatte nie gelernt, sich der Mode und gewisser Kunstgriffe zu bedienen, um diese Tatsache zu verbergen - oder sie hatte nie das Geld dazu gehabt. Kein Wunder, daß sie ein leichtes Opfer für Ysidro gewesen war, als er heute nacht durch London gestreift war, auf der Suche nach jemandem, in dessen Träume er eindringen konnte. »Es tut mir leid...« Lydia rang nach Worten. Doch wenn Worte einmal ausgesprochen waren, gab es kein Es tut mir leid mehr. Miss Potton schüttelte den Kopf. »Nein« , sagte sie und nahm einen Schluck Kaffee, um sich zu fassen. Ihre Stimmte verlor etwas von ihrem melodramatischen Unterton. »Nein, Sie haben recht. Seit Jahren habe ich dort herauskommen, etwas anderes finden wollen. David und Julia sind wirklich die gräßlichsten Bälger, die es gibt. Aber deshalb ist das, was Don Simon mir erzählt hat, nicht weniger wahr. Ich glaube, ich habe nach einem Ausweg gesucht, weil ich wußte, daß es eine andere Möglichkeit gibt. Als lebten die Erinnerungen an diese anderen Zeiten, diese anderen Leben, in mir fort, obwohl ich sie nicht zurückrufen konnte, und sagten mir, daß es mehr gibt als das.« »Das haben sie nicht getan.« Lydia fühlte sich wie ein Monstrum, das am Weihnachtsmorgen eine neue, über alles geliebte Puppe aus den Händen eines Kindes reißt und sie vor dessen ungläubigen Augen mit einem Hammer zerschlägt. Doch in dieser Puppe saß ein Skorpion. Eine weiße Gottesanbeterin, dünn und lauernd und unnatürlich ruhig, die sie mit furchtbaren Augen aus dem Schatten heraus beobachtete. »Vor einem Jahr hat Ysidro meinem Mann erzählt, daß Vampire die Träume der Lebenden lesen können«, fuhr Lydia langsam fort. »Ysidro ist ein sehr alter Vampir, ein sehr geschickter Vampir - einer der ältesten, die noch existieren, jedenfalls in Europa. Offensichtlich ist er zu mehr fähig, als nur Träume zu lesen. Die ... die Aufgabe, die ich in Wien erledigen muß, erfordert seine Hilfe, und das, was auf dem Spiel steht, ist so wichtig für ihn, daß er mit mir fahren muß, aber er weigert sich, solange ich mich nicht seinen mittelalterlichen Begriffen von weiblichem Benimm unterwerfe. Ich bin erstaunt, daß er nicht darauf bestanden hat, daß ich auch einen Geistlichen und eine Stickdame mitnehme. Er hat Sie ausgesucht, weil er dachte, er könne sie dazu bewegen, alles hinter sich zu lassen und innerhalb eines Tages mit ihm - mit mir - zu fahren.« Miss Potton sagte nichts, aber sie schlug wieder die Augen nieder und zupfte an einer kleinen gestopften Stelle im Finger ihres Handschuhs. »Fahren Sie nach London zurück«, sagte Lydia. »Erzählen Sie Mrs. Wendell, daß Sie sich um die Angelegenheiten eines in Schulden geratenen Bruders oder eines trunksüchtigen Vaters kümmern mußten, und selbst wenn sie eine neue Gouvernante gefunden hat, läßt
sie sich vielleicht erweichen, Ihnen ein Zeugnis zu schreiben, damit Sie eine neue Stelle finden. Tun Sie dies nicht. Lassen Sie nicht zu, daß Ysidro Ihnen das antut.« Miss Potton sagte immer noch nichts. Auf dem Boulevard de la Madeleine fuhr knallend und stotternd ein Automobil vorbei und machte einen Lärm wie eine Horde randalierender amerikanischer Cowboys. Irgendwo hupte eine Straßenbahn. »Diese Angelegenheit geht Sie nichts an. Sagen Sie Ysidro, daß er ... daß er herzlich eingeladen ist, mich auf meiner Reise zu begleiten, aber daß ich keine dritte Person meiner oder seiner Wahl hineinziehen werde ... Obwohl Sie wahrscheinlich nicht einmal wissen, wo er sich aufhält, oder?« »Nein.« Sie mußte das Wort von Miss Pottons Lippen ablesen. »Natürlich nicht.« Lydia dachte an die verborgenen Falltüren, die modernen Schlösser, das Haus, den Platz, der auf keinem Stadtplan von London mehr zu finden war. Sie nahm ihre Handtasche und zog ein dünnes Röllchen Banknoten heraus. »Nehmen Sie das und fahren Sie noch heute nachmittag nach England zurück.« Miss Potton stand auf und streckte den Rücken, den sie vor langer Zeit unauffällig gebeugt hatte wie alle Unterdrückten. »Ich brauche Ihr Geld nicht«, sagte sie ruhig. »Ich vertraue darauf, daß Don Simon sich meiner annehmen wird.« Und sie verließ den Raum mit einem würdevollen Rauschen ihrer Röcke. Lydia kam um sieben am Gare de l'Est an. Sie war zu bedrückt gewesen, um die magasins zu besuchen, für die Paris berühmt war, doch trotzdem hatte sie sich gezwungen, über die Rue St. Denis zu den Halles Centrales zu gehen - dem großen zentralen Lebensmittelmarkt der Stadt - und Knoblauch, Eisenhut und wilde Rosen einzukaufen. Als sie den Bahnsteig entlang zum Wien-Express ging, gefolgt von zwei Gepäckträgern mit ihren Hutschachteln und Koffern, überlegte sie, daß es Margaret Potton erstaunlichen Mut gekostet haben mußte, ihre Stelle als Gouvernante zu kündigen, ihre wenigen Habseligkeiten zu packen und über den Ärmelkanal in ein Land zu fahren, in dem sie wahrscheinlich noch nie gewesen war und dessen Sprache sie nur aus Lehrbüchern kannte, in den Speisesaal eines fremden Hotels zu treten, sich vor eine völlig fremde Person zu stellen und zu erklären: »Ich weiß alles über die Reise, die Sie vorhaben, und ein Vampir hat mich geschickt, um Sie zu begleiten.« Sie war nicht sicher, ob sie das hätte tun können. Und um Jamie zu retten? Mehr oder weniger war es das, was sie im Begriff war zu tun. Lydia holte tief Luft. Unter normalen Umständen wäre ihre Reaktion auf Miss Pottons Enthüllungen eine verwirrte Ungläubigkeit gewesen. Menschen taten und glaubten die außerordentlichsten Dinge, was ein Grund dafür war, daß Lydia sich als Wissenschaftlerin stets viel wohler in ihrer Haut gefühlt hatte. Doch sie fühlte sich verantwortlich für Miss Potton, für Ysidros tödliche Verführungskünste, und es war deprimierend einzusehen, daß sie detailliert die Funktionen der Thymusdrüse dieses Kindskopfs hätte beschreiben können, aber nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie ihn zur Vernunft bringen könnte. Verspätet ging Lydia auf, daß die vielversprechendste Vorgehensweise wohl ein verständnisloser Blick und ein kühles »Wie meinen sie?« gewesen wäre. Jetzt konnte sie nur hoffen, daß Miss Potton nach London zurückfahren würde ... Aber wohin? Würde Ysidro sie überhaupt zurückkehren lassen? Verdammt soll er sein, dachte sie, und ihre wiederaufflammende Wut verdrängte das Gefühl der Hilflosigkeit. Wenn er ihr etwas antut, wenn er wagt, ihr etwas anzutun ... Doch wieder flüsterte ihre innere Stimme: Was dann? Miss Potton hatte ihre Wahl getroffen. Und sie selbst auch. Sie fuhr nach Wien, um sich allein mit dem Vampirgrafen auseinanderzusetzen - und Gott wußte, mit was für anderen Vampiren, gar nicht zu reden
von den schlüpfrigen Intrigen des Foreign Office. Einen Schritt nach dem anderen, dachte sie. Wenn Jamie ihr am Montag ein Telegramm aus München geschickt hatte, mußte er Wien am Montag abend erreicht haben. Heute war Freitag. Gestern abend hatte sie vom Bahnhof Charing Cross aus Mrs. Grimes angerufen und sich vergewissert, daß er nichts von sich hatte hören lassen. Vier Tage mit Dr. Fairport, dachte sie, mit dem potentiellen Verräter und Sucher nach Unsterblichkeit; vier Tage der Gefahr durch Ernchester und Karolyi ausgesetzt, und wer wußte, was sonst noch geschehen war. Die Träger luden ihr Gepäck in den Waggon, damit es für die Reise nach Wien versiegelt wurde, und trugen den kleineren Handkoffer, zwei Hutschachteln und eine Reisetasche zu dem Abteil, das Mr. Cook & Co. für sie reserviert hatten und dessen Nummer sie vielleicht selbst hätte feststellen können, wäre sie bereit gewesen, die Augen ein wenig zusammenzukneifen. Nach ihrer Unterhaltung mit Miss Potton hatte sie das Kursbuch im Hotel überprüft und einen Zug nach Wien gesucht, der vor Sonnenuntergang fuhr, doch obwohl es eine Menge Züge gab, die sie über Zürich, Lyon oder Straßburg schließlich dorthin gebracht hätten, war keiner schneller als der Wien-Express. Und Schnelligkeit war das wichtigste. James war in Gefahr, denn er ging von falschen Voraussetzungen aus, die sich jederzeit gegen ihn kehren konnten. Oder er war bereits ein Gefangener. Oder ... Sie schob den Gedanken weit von sich. Das Abteil war komfortabel und mit Rosenholzpaneelen, Samtpolstern und elektrischen Lämpchen in Form reifüberzogener Lilien ansprechend ausgestattet. Als sie allein war, zog Lydia die Nadeln aus dem Hut, einem Traum aus Jade und Aubergine, ließ sich auf ihrem Platz nieder und sah aus dem Fenster. Der Bahnsteig war ein impressionistisches Blumenmeer aus Farbe, Schatten und Licht. Ihr war bewußt, daß sie nach einem stämmigen braunen Farbklecks Ausschau hielt, der Margaret Potton sein könnte. Nach kurzem Zögern öffnete sie die Handtasche und fischte ihre Brille heraus. Wie immer war sie ein wenig verblüfft darüber, wie klar sie plötzlich die Gesichter der Menschen, die Schrift auf den Anschlagtafeln erkennen konnte. Der Broschüre zufolge, die auf dem kleinen Tisch vor ihr lag, würde das Dinner um halb neun im Salonwagen serviert, doch sie bezweifelte, ob sie eingedenk ihrer Angst um James und der unbestimmten Furcht, doch noch Ysidro zu begegnen, sehr hungrig sein würde. Ihr Kopf schmerzte, und ihr fiel ein, daß sie seit dem Auftauchen von Margaret Potton im Speisesaal des Hotels nichts mehr gegessen hatte. Sie sah aus dem Fenster, bis der Zug sich in Bewegung setzte. Dann lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und seufzte. Jamie ... »Wenn ich das sagen darf, Mistress«, murmelte eine Stimme, die wie ein Gleiten von Seide über nackter Haut war, »Sie machen es einem schwer, auf Sie achtzugeben. Wäre ich Ihr Mann, hätte ich Sie besser erzogen.« Lydia schnellte auf ihrem Platz herum, und sie hatte ein flaues Gefühl im Magen aus Wut, Angst und, gegen ihren Willen, plötzlicher tiefer Erleichterung darüber, daß sie irgendeine Art von Hilfe und Rat haben würde. Ihre Erleichterung ärgerte sie erst recht, und sie erwiderte scharf: »Wenn Sie mein Mann wären, würde ich auf getrennten Abteilen bestehen.« Sie nahm die Brille ab und steckte sie hinter ihren Hut. Er stand in der Tür, ein elfenbeinfarbener Schatten. Wie damals in seinem Grab fiel das Licht nur auf seine schlanken Hände mit dem Goldring. Hinter ihm, im Korridor, blitzten Brillengläser. »Sieh an.« Er trat ein, und seine kleine Hand berührte das Rosenholz, den Samt und die reifüberzogenen Lilienlampen. Er hatte Nahrung zu sich genommen. Sie konnte das zarte Rosa erkennen, das sein
weißes Gesicht und seinen schmalen Mund färbte, so daß er im hellen Licht menschlicher als sonst erschien. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, daß sie so erleichtert gewesen war. Daß sie jemals ein solches Wesen um Hilfe oder Rat gebeten hatte. »Miss Potton hat ihr Abteil am anderen Ende des Waggons«, fuhr Ysidro fort. »Es wäre uns ein Vergnügen, wenn Sie sich zu einem Kartenspiel zu uns setzen würden.« Lydia stand auf, schlank und hochaufgerichtet in ihrem Reisekleid aus blaßroter Ripsseide; Jettperlen und Bernstein glitzerten. »Schicken Sie sie nach Hause.« »Ich sagte Ihnen bereits, daß ich nicht...«, begann Miss Potton, und Ysidro hob einen Finger. »Dies ist nicht möglich.« »Wird es denn möglich sein, wenn wir aus Wien zurück sind?« Lydias Gesicht war fast so kalkweiß wie das des Vampirs. »Werden Sie sie töten, wenn Sie wieder sicher in London sind? Und mich und James, um die Geheimnisse zu bewahren, von denen Sie hoffen, daß Sie Ernchester davon abhalten können, sie den Österreichern zu verraten?« Seine Miene änderte sich nicht, doch sie bemerkte, daß hinter dem Labyrinth aus Schwefelkristallen in seinen Augen Gedanken vorbeizogen. Ging er seine Optionen durch? fragte sie sich. Oder überlegte er nur, welche Geschichte sie am wahrscheinlichsten glauben würde? »Die Geheimnisse, die Sie vor einem Jahr entdeckt haben, haben Sie bewundernswert bewahrt«, sagte er nach einer Weile. »Man würde Ihnen heute nicht mehr Glauben schenken als damals. Und ich glaube, Miss Potton ist genausogut in der Lage, ein Geheimnis zu hüten, wie Sie.« Der Zug ruckte ein wenig, als er über die Weichen fuhr; vor dem Fenster flogen Lichter vorbei. Im Korridor bellte ein kleiner Hund wütend, und eine Frau sprach sanft auf ihn ein: »Là, tais-toi, p'tit malin!« »Ich höre, daß das Dinner um halb neun serviert wird.« Ysidros Finger wiesen auf das Heftchen auf dem Tisch, berührten es aber nicht. Wie immer war die Geste minimal, als sei er über die langen Jahre aller Symbole dessen müde geworden, was menschliche Eigenarten, menschlicher Ausdruck oder menschliche Sprache gewesen waren. Lydia fühlte sich plötzlich an den Kreis abgeschliffener Steine auf einer Wiese in der Nähe von Willoughby Close erinnert, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, die wie weiße Zahnstümpfe aus dem olivgrünen Rasen ragten. »Ich schlage vor, daß die Damen essen gehen, wenn Sie es wünschen, und danach in Miss Pottons Abteil zurückkehren. Spielen Sie Picquet, Mistress? Ein hervorragendes Spiel, und ein Miniaturbild allen menschlichen Trachtens. Ich versichere Ihnen«, setzte er hinzu, und sein safrangelber Blick traf ihre braunen Augen, »daß keine von Ihnen etwas von mir zu befürchten hat.« »Ich habe noch nie Angst vor dir gehabt«, sagte Margaret von der Tür her. Ysidro zuckte mit keiner Wimper. Lydia sagte: »Ich glaube Ihnen nicht.« Der Vampir verneigte sich. »Diese Nachricht bricht mir das Herz.« Und dann war er fort. Margaret, die genausowenig wie Lydia gesehen hatte, daß er gegangen war, schaute überrascht, dann eilte sie den Korridor hinunter, ohne sich auch nur zu entschuldigen, und ließ Lydia stehen. Eine halbe Stunde später kehrte Miss Potton zurück und pochte leise an das Glas, hinter dem die Vorhänge zugezogen waren. Lydia, die in der Zwischenzeit weder ihre Brille wieder aufgesetzt noch das Journal des Etudes Physiochemiques aus dem Handkoffer geholt hatte, das sie zu ihrer Zerstreuung mitgenommen hatte, schreckte aus einer blicklosen Betrachtung der im Dunkel entfliehenden Lichter auf und sagte: »Herein.« Die Gouvernante trat ein und hielt sich am Türrahmen fest, als habe sie Angst, getadelt zu
werden. Sie hatte ihren furchtbaren Hut abgelegt.
Ihr Haar, das sie mit Nadeln festgezwängt hatte, war das einzige an ihr, das genauso war
wie in den Träumen: dicht, schwer, seidig und schwarz wie die Nacht.
Ich habe sie eine dumme Gans genannt, dachte Lydia, als sie das Zögern im Blick der
anderen Frau sah.
Aber sie ist eine dumme Gans.
Doch es ihr noch einmal zu sagen würde die Macht, die Ysidro über sie hatte, nicht
brechen.
Lydia holte tief Luft, stand auf und streckte die Hand aus. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich
traue ihm nicht, aber das ist kein Grund ... ärgerlich auf Sie zu sein.«
Die Gouvernante lächelte unsicher. Lydia wurde klar, daß Miss Potton sich auf eine Fahrt
in Gesellschaft einer eisig feindseligen Reisegefährtin eingestellt hatte, Grund genug, so
todunglücklich auszusehen. »Verstehen Sie, Sie können ihm trauen«, sagte sie, und ihre
blauen Augen weiteten sich vor Ernsthaftigkeit. »Er ist ein wirklicher Gentleman.«
Und ein Massenmörder, der seit mindestens vierhundert Jahren kein Mensch mehr ist.
»Das habe ich nie bezweifelt«, sagte Lydia. »Ist er dort?« Sie wies mit dem Kopf den
Korridor hinunter. Als Margaret nickte, fuhr sie fort: »Würden Sie hier auf mich warten?
Es gibt etwas, das ich ihm unter vier Augen sagen muß.« Er spielte Solitaire. Ein Abakus,
eine kleine Rechenmaschine und ein Notizbuch lagen auf dem Tisch neben den
ausgelegten Karten. Vier Kartenstapel. Das Licht aus dem Gang machte seine Augen zu
matten Spiegeln. Über dem kleinen Tisch, an dem er saß, brannte kein Licht.
»Sie haben sie meinetwegen gerufen, weil eine Dame nicht allein reist, ist das richtig?«
Er neigte das bleiche Haupt. Im Halbdunkel erschien er ihr wie ein Schädel, der umgeben
war von den spinnenbeindünnen Strähnen seines langen Haars.
»Dann wäre die logische Folge, daß keine Dame mit jemandem reist, von dem sie weiß,
daß er ein Mörder ist?«
»In den vergangenen sieben Jahren haben Sie jede Nacht neben einem Mörder gelegen,
Mistress«, antwortete die beinahe tonlose Stimme. »Zu meiner Zeit sind Damen
regelmäßig zu ihrem Schutz mit solchen Männern gereist, was sehr vernünftig war, falls
ich das bemerken darf.« Eine weiße Hand, im Schatten beinahe substanzlos, legte Karte
auf Karte und hob ein Päckchen ab, verschob eine Perle auf dem Abakus, notierte was.
»War es zu Ihrer Zeit«, fragte Lydia beharrlich, »nicht üblich, daß ein Gentleman die
Wünsche der Damen respektierte, mit denen er reiste?«
»Wenn sie nicht unvernünftig waren.« Er deckte eine Karte auf, machte sich noch eine
Notiz.
»Ich werde nicht zulassen, daß Sie töten, solange wir zusammen unterwegs sind.«
Noch eine Karte. In dem grauen Halbdunkel konnte sie die Farben nicht unterscheiden. Er
sah sie nicht an. »Außer, wenn es Ihnen von Nutzen ist?«
Lydia stand eine Weile da, und ihr Atem ging schnell. Dann wandte sie sich ab und schritt
den Gang hinunter zum Speisewagen. Er blieb allein zurück und fuhr fort, im Dunkeln
Karten aufzudecken.
SECHS
»Mein lieber Asher, ein schrecklicher Irrtum ... ein schrecklicher Irrtum.« Dr. Bedford Fairport nestelte an den Manschetten seiner grauen Baumwollhandschuhe und zuckte vor einem stämmigen blonden Polizisten zurück, der durch die Tür des Dienstraums der Wache kam, einen Betrunkenen mit musikalischen Neigungen im Schlepptau. Wien hielt sich viel auf seinen Ruf als ›Stadt der Musik‹ zugute. Asher fragte sich, ob die Schwärmer dabei an so etwas dachten. Beide Betrunkene, mit denen er in der vergangen Nacht die Zelle geteilt hatte, hatten gesungen, wenn auch nicht immer dieselben Lieder. Einer war Wagnerianer und der andere ein Jünger von Richard Strauß gewesen. Es war eine lange Nacht geworden. »Irrtum, zum Teufel.« Asher schloß seinen Koffer, nachdem er sich vergewissert hatte, daß sein Inhalt - einschließlich der Schlüsselabdrucke aus Wachs und der gefälschten Siegel zum Gepäckraum in dem Geheimfach - unberührt war. Ein uniformierter Beamter reichte ihm ein Entlassungsformular zur Unterschrift, dann ein Papier für Fairport. »Karolyi muß mich gesehen haben, als ich in München ausgestiegen bin, um Streatham zu telegraphieren. Ich sollte wohl froh sein, daß es nicht schlimmer gekommen ist.« »Der ehrenwerte Herr wird bei Herrn Professor Fairport wohnen?« Asher zögerte, doch Fairport sagte: »Ja, ja, natürlich. Sie werden mir überhaupt nicht zur Last fallen, mein lieber Asher«, setzte er hinzu, während die beiden über den ausgetretenen Marmorboden schritten und in das kalte, dunstige Sonnenlicht des Rings traten. »Da ich mich für Ihr Wohlverhalten verantwortlich erklärt habe, bin ich ohnehin sicher, daß die Polizei dies erwartet. Es wird wie in alten Zeiten sein.« Asher grinste leicht ironisch und dachte zurück an das saubere kleine Schlafzimmer über den ehemaligen Ställen in ›Frühlingszeit‹, dem Sanatorium, das versteckt zwischen den ruhigen Hängen des Wienerwalds lag. »Sie müssen eine fürchterliche Nacht hinter sich haben!« zwitscherte Fairport. »Absolut unverantwortlich - ich werde an die Neue Freie Presse schreiben über das entsetzliche Fehlverhalten der Polizei, die einfach Zeugen, die nur vernommen werden sollen, gleich in die Zelle steckt! In dieser Zelle hätten Sie sich alles holen können, von Tuberkulose bis zu Pocken oder Cholera!« Der alte Mann hustete, und Asher erinnerte sich, daß Fairport als Kind Tuberkulose - und Pocken - gehabt hatte. Seine milchweiße Haut war immer noch übersät von Pockennarben wie von alten Mäusebissen. Er sah nicht gut aus. Aber Fairport hatte schließlich noch nie sehr gesund gewirkt. Als Asher ihm vor dreizehn Jahren zum ersten Mal begegnet war, war er überrascht gewesen, als Maxwell - damals Leiter der Sektion Wien - ihm erzählte, der Doktor sei erst vierundfünfzig. Vor der Zeit gebeugt, knittrig und weißhaarig, wirkte er wie ein Beinahe-Invalide, und Asher hatte nicht den Eindruck, daß er eine gute Werbung für sein Sanatorium abgab. Die Wiener dachten offensichtlich anders. In Scharen strömten sie in die einsame Villa und zahlten enorme Summen für ›Ruhekuren‹ und ›Verjüngung‹ durch Chemie, Elektrizität und esoterische Bäder. Als er jetzt auf den gebeugten Mann neben sich hinabsah - selbst hochaufgerichtet hätte er Asher nur bis knapp über Schulterhöhe gereicht -, fragte er sich, ob Fairports Anliegen, die Auswirkungen des Alterns rückgängig zu machen, etwas mit seinem Zorn über den fortschreitenden Verfall seines eigenen Körpers zu tun hatte. Fairport mußte jetzt auf die Siebzig zugehen, rechnete Asher nach und zwang sich, dem alten Mann, der über das Pflaster hinkte, keine Hilfe anzubieten. Sein eingefallenes Gesicht trug die Spuren jahrelanger Erschöpfung, und seine Hände - wie immer gehüllt in die grauen Baumwollhandschuhe, die er im Dutzend kaufte, nach jedem Tragen wusch und nach einer Woche fortwarf - zitterten unkontrolliert. Lydia, schoß es ihm durch den Kopf, hätte augenblicklich die eine oder andere Diagnose gestellt.
Selbst unter einem bewölkten Himmel besaß Wien die helle Atmosphäre, an die er sich erinnerte: labyrinthische Schluchten von cremefarbenen, goldenen oder braunen Gebäuden mit ihren Girlanden aus imitiertem Marmor, ihren Putten und verzerrten Theatermasken; vergoldete schmiedeeiserne Ornamente, winzige Balkone, große dunkle Türen, die über geflieste Innenhöfe wachten. Als sie ein kurzes Stück über den Ring gegangen waren, fuhr neben ihnen ein eleganter Brougham vor. Der schwarze Rumpf der geschlossenen Kutsche war glänzend lackiert, und die polierten Messingbeschläge strahlten wie Gold. Ein großer Mann saß auf dem Kutschbock, eingehüllt in den langen Mantel und Schal eines Kutschers, und blickte finster unter zusammengewachsenen Brauen hervor, während ein ebenso großer Lakai von der hinteren Plattform sprang, um die Tür zu öffnen. Asher überlegte, daß das Sanatorium florieren mußte, wenn der alte Mann sich diese Art von Auftritt leisten konnte. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich nach einem heißen Bad und einer langen Rast sehnen.« Fairport wehrte den Arm, den ihm sein Lakai anbot, mit einem Wedeln seines Stocks ab. »Danke, Lukas ... Ich habe mit Halliwell telefoniert - er ist inzwischen Leiter der Sektion Wien, kennen Sie ihn noch? -, um ihm mitzuteilen, daß Sie in der Stadt sind, aber heute abend ist es noch früh genug dazu, falls Sie sich dann der Sache gewachsen fühlen.« Asher überlegte. Es war früh am Vormittag, und der Nebel hatte sich noch kaum in der hellen Luft aufgelöst. Obwohl sie an der Schwelle des Winters standen, schien die Kälte nicht so rauh wie in London oder Paris zu sein, die Feuchtigkeit nicht so schneidend. Die Luft war irgendwie weich, wie Rosenblüten. Im Volksgarten saßen einige abgehärtete Bürger hinter der Absperrung aus Ketten und Bäumen in Kübeln, die die Terrasse eines kleinen Kaffeehauses abgrenzte, und Asher Schoß die Erinnerung an echten Wiener Kaffee und die konzentrierte Sündhaftigkeit einer Cremeschnitte durch den Kopf. Das Sanatorium Frühlingszeit, einsam zwischen Wäldern und Weinbergen gelegen, war friedlich und ruhig, doch es lag ungefähr eine Fahrstunde vor den Toren der Stadt. »Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Asher langsam, »ich habe hier noch etwas zu tun. Ich muß unverzüglich jemanden aufspüren.« »Karolyi?« Fairports beinahe haarlose Brauen hoben sich zu kleinen Bogen auf seiner Stirn, die weiß war wie ein Fischbauch. »Seine Adressen sind allgemein bekannt. Ein Stadthaus in Döbling und eine Wohnung in der Kärntnerstraße ... Ich nehme an, daß Sie nicht an dem Stammschloß in Feketelo in den Karpaten interessiert sind...« »Nein.« Asher schüttelte den Kopf. »Nein, jemand anderen, jemand, dessen Namen ich nicht kenne. Und es kann etwas dauern, bis ich die Eintragungen im Stadtarchiv gefunden habe.« Er wußte, es mußte getan werden, und seine Gedanken eilten voraus. Er überlegte, wie lange es dauern würde und wann die Sonne unterging. Vermutlich würde er Zeit haben, die Sache zu erledigen, solange er sicher war, doch er rieb mit einer beinahe unbewußten Geste über sein Handgelenk, um durch den Handschuh und die Manschetten die schüt zenden Kettenglieder aus Silber zu spüren. »Wenn ich Ihre Gastfreundschaft so weit mißbrauchen darf, ich glaube, ich brauche zuerst ein öffentliches Bad, um mich zu säubern, und dann muß ich mit meiner Suche im Archiv beginnen. Bis wann kann ich nach Frühlingszeit herauskommen, ohne jemanden zu stören, damit er mich einläßt?« Fairport lächelte, ein trockenes Verziehen seines Mundes zu einem V. »Mein lieber Asher, wir sind in Wien! Meine Mitarbeiter sind bis fast elf Uhr beschäftigt, und ich arbeite oft bis Mitternacht im Labor. Im Augenblick haben wir im Sanatorium keine Gäste - Anfang der Woche hatten wir einige Schwierigkeiten mit der Elektrizität -, so daß es kein Problem ist.« Er grub in der Tasche seines altmodischen Gehrocks und zog einen Schlüssel hervor.
»Wenn Sie kein Licht in meinem Arbeitszimmer oder im Labor sehen, schließen Sie sich einfach selbst auf. Ich lasse Ihnen das alte Zimmer richten, das, das nach hinten auf den Garten geht, wissen Sie noch?« Asher lächelte. »Ich erinnere mich.« Sein Lächeln verblaßte, als Fairport in den Brougham stieg - Lukas, der Lakai, mußte ihm helfen - und im bewegten Verkehr auf dem Ring davonfuhr. Die Messingbeschläge blinkten wie Heliographen. Er erinnerte sich. Er erinnerte sich, wie er stundenlang am Fenster des weißgetünchten Raums gesessen und hinuntergesehen hatte in den überwucherten Hof, dessen hohe Mauern ihn nur symbolisch von den flüsternden Hochsommerwäldern trennten, und wieder und wieder die drei Telegramme las, die er bei seiner Rückkehr aus den Bergen vorgefunden hatte. Er erinnerte sich, daß er nicht hatte wahrhaben wollen, was sie bedeuteten. Alle drei waren von Françoise gewesen, aufgegeben an aufeinanderfolgenden Tagen. Alle drei hatten um unverzügliche Antwort gebeten. Doch als er sie an jenem Tag im Café New York getroffen hatte - mit fest bandagierter Schulter und einer kräftigen Dosis von Fairports Anregungsmitteln im Blut -, hatte sie die Telegramme beiläufig erwähnt, aber gesagt, sie seien nicht von Bedeutung gewesen. Das bedeutete, daß sie in dem Zeitraum, in dem er angeblich erkrankt und nicht verschwunden gewesen war, seine Aktivitäten überprüft hatte. Das bedeutete auch, daß sie ihn in Verdacht hatte, ein Doppelleben zu führen. Und daß er kurz davor stand, aufzufliegen. Angesichts der Tatsache, daß Karolyi innerhalb der nächsten Tage nach Wien zurückkehren würde, wußte er, was das bedeutete. Sie war scharfsinnig genug gewesen, um durch Karolyis vorgeschobene Haltung als unbedarfter junger Dummkopf hindurchzusehen. Warum hatte er geglaubt, sie würde seine Maske eines harmlosen Wissenschaftlers nicht durchschauen? Er hatte am Fenster gesessen, bis der lange Sommernachmittag verging und die weißen Rosen an der Gartenmauer zu milchigen Flecken verschwammen, bis er die Schrift auf den knisternden gelben Telegrammformularen nicht mehr hatte lesen können, obwohl er längst jedes einzelne auswendig kannte. Er wußte, was sie bedeuteten. Er wußte, was er zu tun hatte. Entschlossen schob er die Erinnerung beiseite. Als er an Wiener Kaffee und Cremeschnitten zurückgedacht hatte, hatte er automatisch an das Café New York gedacht. Obwohl er vermutete, daß Françoise es seit dem Sommer 1895 ebensowenig betreten hatte wie er, er würde diese kleine Freuden anderswo suchen müssen. Was die Cafés von Wien anging, hatte Françoise recht gehabt. Und dasselbe traf auf die öffentlichen Bäder zu. Obwohl nicht ganz so zahlreich wie die Cafés, gab es viele und gute, und das aus demselben Grund. In vielen Wohnungen in der überbevölkerten Stadt gab es kein heißes Wasser; Tausende von Familien waren immer noch auf Gemein schaftswasserpumpen in den Fluren und gemeinsame Toiletten im Hof angewiesen. Doch die Wiener waren ein reinliches Völkchen, Ashers Erfahrung nach sauberer als die Pariser, trotz all des Fanatismus', mit dem die Franzosen ihre Fenster fleckenlos sauber hielten. Selbst die Gefängniszelle, in der er die vergangene Nacht verbracht hatte, war alles andere als das Pestloch gewesen, das sich Fairport vorstellte. Das Sankt-Stephans-Bad war ein wahrer Tempel der Sauberkeit und selbst für einen Dienstagmorgen äußerst gut besucht. In den rosafarbenen Marmorwannen schrubbten sich gewissenhaft Arbeiter, Studenten, bärtige Bürger und phlegmatische Hofräte unter der üblichen Schar von Marmorengeln und Mosaiken und der üblichen Wiener Hierarchie vom Herrn Oberbademeister, Oberbademeister, Unterbademeister bis zum garzone, der die Handtücher einsammelte. Asher ging zum Barbier nebenan und ließ sich rasieren, zog das Hemd und die Wäsche an, die er auf dem Weg von der Polizeipräfektur gekauft hatte,
und stattete einem Mann einen Besuch ab, den er damals kennengelernt hatte und der Schlüssel anfertigte. Jetzt fühlte er sich viel besser, obwohl die Angestellten im Rathaus einen schiefen Blick auf sein zerdrücktes Jackett warfen, als er darum bat, die Erbscheine und Besitzurkunden für die älteren Gebäude in der Altstadt einzusehen. Er schätzte, daß er genug Zeit haben würde, um alles zu erledigen, wenn nicht bis zum Dunkelwerden, dann doch wenigstens, bevor die belebten Straßen sich leerten. Sowohl als Wissenschaftler wie auch als Spion hatte Asher schon vor langer Zeit erkannt, daß der Mensch die wahren Beweggründe seiner Seele enthüllt, wenn er mit etwas so sehr beschäftigt ist, daß es über das normale Bestreben hinausgeht andere zu beeindrucken - und dieses Etwas ist für gewöhnlich Besitz. Er war, überlegte er trocken, nach dem Begräbnis seines Cousins vor drei Tagen Zeuge eines besonders unap petitlichen modernen Beispiels für genau dieses Phänomen gewesen. Wenn sie nur damit beschäftigt sind, wer was bekommen wird, vergessen die Leute, ihre Spuren zu verwischen: Bankauszüge, Testamente, gerichtliche Testamentsbestätigungen, Pachtverträge und Kontobücher können jemand, der genügend Zeit hat und Staub gut verträgt, eine unglaubliche Menge Informationen liefern. Asher begann mit den ältesten Palästen der Altstadt, jenen überreich dekorierten Meisterwerken aus weißem Stuck, deren barocke Fassaden in der Enge der Altstadtgassen kaum zu erkennen waren, und verglich Besitzurkunden mit Testamenten, Testamente mit Totenscheinen und, noch wichtiger, Geburtsurkunden; er bedeckte jede Seite seines Notizbuchs und die Ränder der Abschnitte aus der Times mit den Familienanzeigen. Es waren die einzigen Fetzen Papier, die er in seinem Koffer hatte. Er vermißte Lydia von ganzem Herzen, nicht so sehr aus einer romantischen Anwandlung heraus, sondern einfach deswegen, weil sie eine feine Spürnase hatte und die Sache ihr sicherlich Spaß machen würde. Gegen zwei verließ er kurz das Rathaus und aß ein Sandwich, und er bemerkte erst, daß die Dunkelheit längst hereingebrochen war und die elektrischen Lichter brannten, als einer der bebrillten Angestellten zu seinem Tisch im Lesesaal kam und entschuldigend sagte: »Bitte, Herr Professor Doktor, wir schließen jetzt.« In früheren Zeiten hatte Artemus Halliwell im Café Donizetti auf ihn gewartet. Der Leiter der Wiener Sektion war ein brilletragender, etwas unsauberer, bärtiger und außerordentlich korpulenter Mittdreißiger. Asher kannte ihn aus der Londoner Abteilung für Statistik. Als Halliwell Ashers Reisebericht anhörte, wirkten seine blaßgrünen Augen hinter den dicken ovalen Brillengläsern wie zwei mugelige Edelsteine. »Und dieser Farren glaubt also ein Vampir zu sein.« Halliwell schnitt säuberlich einen Bissen vom Backhendl ab und schob ihn in seinen großen rosigen Mund. »Ich nehme an, daß er deswegen ganz oben auf Ihrer Liste steht.« Asher nickte. In gewissem Sinn hatte Halliwell recht. »Es gibt einige Vampire in Wien, allerdings nicht so viele wie in Buda-Pest. Als ich letztes Jahr westlich von hier in den Bergen war, herrschte in einem der Dörfer helle Aufregung wegen eines Mannes, der sich angeblich in einen Wolf verwandelt hatte. Ich habe von Gegenden im Schwarzwald gehört, wo niemand mit Ihnen sprechen, Ihnen etwas verkaufen oder den Weg zeigen wird, wenn Sie einen Hasen töten.« Er tupfte seine Lippen mit einer Serviette ab. Der allgegenwärtige Ober erschien, um mit gefalteten Händen nachzufragen, ob alles nach Wunsch sei. »Ich glaube, Sie sollten wissen«, sagte der Dicke, als der Ober wieder verschwunden war, »daß es ein bißchen Stunk gegeben hat.« Asher fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Er hatte lange genug mit dem Department zu tun gehabt, um diesen angestrengt neutralen Tonfall wiederzuerkennen. »Ach ja?« »Streatham.« Er machte eine wegwerfende Geste mit seiner Gabel. »Natürlich. Ist schon immer ein verdammter Idiot gewesen. Er hat bei den französischen Behörden ein
Geschrei über den Tod dieses jungen Cramer veranstaltet und sich über britische Staatsbürger und Vertragsrechte ereifert. Das Problem ist, daß die Franzosen ihre Hände in Unschuld waschen und Kontakt zur Wiener Polizei aufgenommen haben. Sie verlangen, daß Sie mit dem nächsten Zug unter Bewachung zurückkehren. Ich habe sie einen Tag hingehalten und behauptet, ich hätte keine Ahnung, wo Sie sich aufhielten«, fuhr er fort und hob angesichts von Ashers Protest die Hand. »Aber was immer Sie heute im Rathaus erfahren haben, Sie geben es wahrscheinlich besser an mich weiter.« »Idiot«, sagte Asher leidenschaftslos, während seine Gedanken vorauseilten. Es war kurz vor acht; bis mindestens zehn, vielleicht noch länger, würden die Straßen belebt genug sein, um ihn zu schützen, und er bezweifelte, daß die Vampire daraus, daß ein zufälliger Beobachter ein einziges Mal an bestimmten Häusern vorbeiging, ein übermäßiges Interesse an ihren Schlupfwinkeln ableiten konnten. Doch selbst ein einmaliges Vorbeigehen konnte ihm eine Menge verraten, besonders, welches von mehreren Häusern auf seiner Liste das wahrscheinlichste Refugium war. Wenigstens so viele Informationen, daß, wer auch immer den Fall übernehmen würde, nicht so schutzlos in den Auftrag hineinstolpern würde wie Cramer. »Und was«, fragte Halliwell, »haben Sie heute im Rathaus gesucht?« Asher überlegte einen Augenblick und sagte dann ruhig: »Vampire.« Halliwells buschige Brauen hoben sich. »Gibt es hier Leute, die daran glauben?« Der Wiener Leiter wedelte wieder mit seiner Gabel. »Unter den Zigeunern wird immer geredet. Der Kellner in meinem Café schwört, daß er auf einem alten Stadtturm, der an ein Haus in der Biberstraße grenzt und früher zu den alten Befestigungen gehörte, einen Vampir gesehen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Café. Ich höre mich schon an wie ein Wiener. Kürzlich habe ich mich dabei ertappt, wie ich dieses Café mein Restaurant genannt habe, genau wie ich zu Hause von meinem Club reden würde.« »Ich weiß nicht.« Asher sah sich gemächlich um, beruhigt von der Atmosphäre des Raums, der leichten Schäbigkeit der Eichenpaneele, dem leisen Flackern des Gaslichts und dem alles durchdringenden Duft nach Gulasch, und kratzte sich an einer Schnurrbartspitze. »Ist so ein Café hier nicht ein bißchen wie der eigene Club in London?« »Beim Teufel auch.« Halliwell nahm einen chirurgischen Schnitt an einem weiteren Stück Hähnchen vor. »In einem Club können sie darüber abstimmen, wer eingelassen wird. Hier kann jeder hereinkommen - und er tut es auch.« Er warf einen wütenden Blick auf eine Gruppe lärmender junger Offiziersanwärter in den himmelblauen Uniformjacken der kaiserlich-königlichen Ulanen. »Der Wein ist fürchterlich, und ich glaube, wenn ich noch einen Walzer höre, noch eine Operette oder noch ein Mozartkonzert, eröffne ich Verhandlungen mit den Türken, damit sie eine neue Invasion unternehmen, und dieses Mal werde ich verdammt sichergehen, daß sie gewinnen. Ist Farren schon einmal in Wien gewesen?« »Das habe ich nicht herausfinden können«, sagte Asher. »Jedenfalls nicht unter seinem eigenen Namen.« Was wahr sein mochte oder nicht; aber wahrscheinlich traf es wenigstens für dieses Jahrhundert zu. »Ich habe so eine Ahnung, daß er sich in einem Haus verbergen könnte, das einen Ruf als Spukhaus hat oder irgendwie mit ... merkwürdigen Gerüchten in Verbindung gebracht wird.« Halliwell nickte nachdenklich, und der Ober kehrte zurück, den Herrn Ober im Schlepptau, um die Überreste von Halliwells Backhendl und Ashers Tafelspitz abzuräumen und mit der Miene eines Mannes, der fürchtet, sein Kunde werde vor Auszehrung zusammenbrechen, wenn man sich nicht um ihn kümmert, beflissen zu versuchen, Halliwell für den Nachtisch zu interessieren. Halliwell gab in einer Detailliertheit, die die Seele des Herrn Ober zu erfreuen schien, genaue Anweisungen bezüglich der Zubereitung eines Indianer und wandte sich dann, als die beiden Kellner sich verbeugten
und zurückzogen, wieder Asher zu. »Ich habe gehört, daß die Japaner das im Chinesischen Krieg getan haben«, sagte Halliwell. »Sie hatten ihr Hauptquartier in Spukhäusern in Peking.« Asher nickte. »Das stimmt. Ich bin dort gewesen«, sagte er. »Sie hatten alles, bis hin zu Spiegeltricks, direkt von der Pariser Opernbühne. Hier ist so etwas wahrscheinlich schwieriger...« »Nicht so schwer, wie Sie glauben.« An der Tür entstand ein kleiner Tumult - zwei weitere schneidige junge Offiziere mit Goldtressen, zwei buntgekleidete Mädchen am Arm, traten ein und wurden von den lärmenden Unteroffizieren mit Begrüßungsrufen empfangen -, und Asher sah, wie Halliwell kurz und unauffällig in diese Richtung blickte, um sich zu vergewissern, daß der Lärm keine potentielle Gefahr darstellte. Keine Reaktion, die man von einem fetten Gourmand erwartet hätte, der angeblich ausschließlich mit seinem Gebäck beschäftigt war. Sein Blick kehrte zu Asher zurück. »In Wien halten sich eine Menge Leute aus dem Osten auf: Tschechen, Ungarn, Rumänen ... Alle kommen hierher, um in den Fabriken zu arbeiten, nachdem sie den ersten Teil ihres Lebens praktisch im sechzehnten Jahrhundert verbracht haben. Die Leute oben in der Altstadt mischen sich nicht ein, wenn es dort einen großen alten Palast gibt, der Tag für Tag abgesperrt ist – so etwas gehört zum Viertel, und niemand würde das Risiko eingehen, sich das Mißfallen eines Barons zuzuziehen. Aber Leute, die nicht aus der Stadt sind, werden neugierig.« »Und über welchen großen alten Palast«, wollte Asher wissen, »reden wir?« Halliwell grinste und strich sich säuberlich ein Stäubchen Puderzucker aus dem Schnurrbart. »Es gibt drei oder vier. Von dem einen am Haarhof sagt man, daß es dort spukt, und in der Bäckergasse gibt es ein Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert, von dem die Leute behaupten, dort Licht gesehen zu haben. Alle ungarischen Kellner in der Stadt schwören, daß das Barockpalais in der Steindlgasse, das über den Ruinen der alten St.-Rochus-Kirche errichtet ist, von Vampiren bewohnt wird - es gehört übrigens einer Seitenlinie der Batthyanys -, und dann gibt es noch ein Haus in der Vorlaufstraße, in der Nähe der alten Stadtmauer, wo angeblich im Laufe der letzten zehn Jahre vier oder fünf Menschen verschwunden sind. Bei allen sind übrigens die Besitzverhältnisse vollkommen legitim; es sind Winterpaläste von Familien aus dem Landadel, die draußen größere Güter haben.« »Gehört einer davon Karolyi?« »Ich glaube, das Palais in der Bäckergasse gehört dem Prager Zweig der Familie. Nicht unserem Vogel. Es ist ein riesiger Clan.« Hinter den Brillengläsern hüpften die blassen Augen, als sei er erfreut, daß er diesen Gedanken vorausgesehen hatte. »Werden Sie Hilfe brauchen?« Asher zögerte. Er sah wieder Cramers blutiges, zerfetztes Gesicht vor sich, schauerlich glänzend im Widerschein des Lichts. Blutverkrustet hatte die Silberkette über den riesigen Wunden an seinem Hals gelegen. Der Ladenbesitzer im Palais Royal hatte geschworen, die Ketten seien aus reinem Silber. Wahrscheinlich waren sie Schund für Touristen gewe sen, aus dünn versilbertem Zinn oder Blei. Der Junge hatte Ernchester wahrscheinlich nicht einmal kommen hören. »Ich kann Ihnen nicht allzuviel mitgeben«, fuhr Halliwell fort. »Streatham ist ein Esel, aber in einem hat er recht gehabt. Seit Kriegsende ist alles zusammengestrichen worden. Aber wenn Sie einen Mann brauchen...« Hinter den vergoldeten Fensterrahmen des Donizetti eilten die Passanten über das Pflaster, fest in ihre Mäntel gehüllt. Vom Donaukanal war wieder Nebel aufgestiegen und verwischte die Konturen von Mietshäusern, wo großartige Treppenfluchten zu grauen Mansardenzimmern führten, die Flickschuster, Stickerinnen und Ober mit ihren Frauen, Kindern, diversen Verwandten und allem anderen teilten. Zwischen den Gebäuden lagen in tiefem Schatten die engen Gassen, die ins Herz der Altstadt führten und in die das Sonnenlicht nur am Mittag fiel.
Eine der Möglichkeiten auf Ashers sehr unvollständiger Liste verdächtiger Gebäude war das in der Steindlgasse: Man sagt, es stehe über der Krypta der alten St.-Rochus-Kirche. »Nein«, sagte Asher leise. »Nein, ich glaube, ich komme allein zurecht.« Das Palais in der Steindlgasse war typisch für die großen Stadthäuser des Adels in der Altstadt: fünf Stockwerke massive graue Mauern, eingezwängt zwischen einem alten Mietshaus und dem Stadtpalast irgendeines Grafen aus der Familie der Montenuovo, der für einen Ball erleuchtet war wie ein Weihnachtsbaum. Als er nach oben sah, konnte Asher sehen, daß die hohen Fenster der Salons im ersten Stock im Gaslicht erstrahlten, das die enge Straße teilweise erhellte; er konnte kristallene Kronleuchter erkennen und ein Stück goldverzierter Barockdecke. Der Batthyany-Palast lag in völliger Dunkelheit. Das an sich war schon merkwürdig, dachte Asher und blieb vor dem schweren Türbogen stehen. Zahlreiche alte Adelsfamilien besserten ihr Einkommen auf, indem sie das Erdgeschoß ihrer Paläste als Läden und die obersten ein oder zwei Stockwerke unter dem Dach als Wohnungen vermieteten. Auch durch das große Portal des Montenuovo-Palais' kamen und gingen gewiß Menschen, die nicht zur Oberschicht gehörten. Die anderen Gebäude im Haarhof und in der Bäckergasse, die sich Asher angesehen hatte, nachdem er sich von Halliwell getrennt hatte, waren ebenfalls dunkel gewesen, und wie sie wirkte dieses Haus etwas heruntergekommen. Die obligatorischen Marmoratlanten, die das schmale Portal und die über und über mit Schnitzereien bedeckten Fensterrahmen trugen, waren verschmutzt, obwohl Asher interessiert bemerkte, daß die Türangeln und die Eisenbeschläge auf der Tür frei von Rost waren. Das Gebäude war eindeutig das älteste in der Straße. Asher steckte die Arme unter die Achseln, um sich zu wärmen, und schlenderte langsam an den riesigen Türen vorbei. So spät hatte er sich eigentlich nicht im Freien aufhalten wollen. Im Nebel und in der zunehmenden Kälte waren nur noch wenige Passanten unterwegs. Vom Stephansdom einige Straßen weiter hörte er es elf schlagen. Er bemerkte die Fensterläden hinter den Eisengittern der Fenster; das Pflaster vor den Türen wies keine Anzeichen auf, daß in letzter Zeit jemand darüber gegangen war. Asher drehte sich um, um sich die unregelmäßige Form dieser engen Gasse einzuprägen und sich in dem Gewirr kleiner Straßen zu orientieren, die zwischen dem Dom und dem alten Judenplatz lagen. Hinter dem Tor würde ein breiter Durchgang liegen, oder vielleicht eine Art Säulenportal, das sich zum Innenhof öffnete. Nicht groß, nach der Gebäudefront zu urteilen, aber das Haus mochte viel länger sein als breit. Er ging weiter und suchte nach einem Weg, den Häuserblock zu umrunden. Als er die Lichter der Mietshäuser und des Stadthauses der Montenuovo hinter sich ließ, spürte er mit seinem alten Instinkt für Gefahr, wie sich seine Nackenhaare aufstellten; doch wenn man ihn am Morgen nach Paris zurückexpedieren würde, war das mindeste, was er tun konnte, seinen Nachfolger mit einigen Informationen darüber zu wappnen, worauf er sich einließ. Asher bog in eine kurze Gasse ein, und seine Stiefel platschten durch flache Pfützen. Die kleinen Eisenlampen, die hier hoch an den Mauern brannten, waren die einzige Lichtquelle und durchdrangen den dichter werdenden Nebel nur schwach. Er bog wieder ab und überlegte, daß dieser Teil der Altstadt so übel war wie die Londoner Viertel am Fluß. In mancher Hinsicht war das hier schlimmer, denn die einheitlich hohen Mauern schlossen sich um ihn wie eine Schlucht und verstellten selbst den Blick auf Kirchturmspitzen oder Kamine, die als Landmarken hätten dienen können. Um ihn herum war niemand zu sehen. Er dachte: Bring das zu Ende, und verschwinde
hier. In einer weiteren engen Nebengasse der Tuchlaubenstraße identifizierte er das, was er für die Rückfront des Batthyany-Palais hielt, als ein Stück älteren Mauerwerks, das in
einem seltsamen Winkel zwischen zwei Mietshäusern lag; es gab eine kleine Seitenpforte,
deren eisernen Türgriff er sich hütete zu berühren.
Dicht hinter ihm trat jemand in eine Pfütze. Asher wandte sich um, warf sich mit dem
Rücken an die Mauer und schlug zu, als eine dunkle Gestalt ihn von der Seite zu packen
versuchte. Im selben Moment hörte er, wie ein weiterer Mann sich keuchend näherte.
Seine Faust traf mit einem häßlichen Geräusch auf einen knochigen Kiefer. Der Mann
sprang zurück, und Asher wirbelte herum. Der zweite Angreifer packte seinen Arm. Mit
der freien Hand riß Asher am Haar des Mannes, schlug dessen Kopf heftig gegen die
Steinmauer hinter sich und wand sich aus seinem Klammergriff. Gleichzeitig registrierte
er den Geruch nach Tabak und Schweiß und schmutzigen Kleidern, Atemgeräusche und
die Wärme der Hände, die an ihm zerrten. Ein Schmerz durchfuhr seine Seite, doch er
brachte den Mann zu Fall, schlug die Hände weg, die seine Kehle umklammerten, und
rammte seine Faust in das Gesicht des anderen.
Im Dunkel zwischen den Gebäuden konnte er sie kaum sehen, und so brach er in die
Richtung aus, in der er sie nicht vermutete. Etwas klammerte sich an seine Mantelschöße,
konnte sie jedoch nicht festhalten. Er floh, stolperte, schlug sich die Schulter an einer
Mauerecke an und stürzte, als er mit dem Fuß in ein Schlagloch in dem beschädigten
Straßenpflaster geriet. Er fing sich an einer Mauer ab, und wieder durchzuckte der
Schmerz seine Seite. Ihm wurde klar, daß einer von ihnen ein Messer gehabt hatte.
Er ging ein Gäßchen hinab, von dem er vermutete, es führe zurück zur Seitzergasse, doch
der trübe Lichtschein aus einem Fenster hoch oben zu einer Rechten zeigte ihm eine
kahle Mauer. Er drückte sich in eine Ecke, dort, wo die Schatten am dunkelsten waren,
und streckte die Hand aus, um das Messer aus dem Stiefel zu ziehen, als in der schmalen
Passage vor ihm Keuchen und Schritte laut widerhallten und er verschwommen etwas
wahrnahm, das Gesichter und das Glitzern scharfen Stahls hätte sein können. Dann legte
sich eine Hand wie eine Stahlfalle oberhalb des Ellbogens um seinen Arm, und eine
andere, leichenkalt und stark wie der Tod, bedeckte seinen Mund. Er wurde nach hinten
gezerrt, abwärts, in eine feuchte Kälte, die nach nassen Steinen, Erde und Ratten roch,
und der undeutliche Bogen blasser Dunkelheit verschwand plötzlich, als die Tür
zugetreten wurde.
Ein Duft nach Patou-Parfüm erfüllte seine Nasenlöcher und überdeckte eine leichte
Ausdünstung nach altem Blut.
Eine Frauenstimme flüsterte ihm ins Ohr: »Schreien Sie nicht.«
Asher war still. Selbst wenn das Silber die großen Venen an Hals und Handgelenken
schützte, konnte ein Vampir ihm immer noch den Hals brechen, und ihm war klar, was da
im Dunkel neben ihm stand.
Die Hände lösten sich von seinem Arm und seinem Gesicht. Er horchte und fragte sich,
wie viele es waren.
Er hörte niemanden atmen, natürlich nicht. Einen Augenblick später war da ein silbriges
Rascheln, als rieben unendlich dünne Metallplättchen aneinander. Der Taftunterrock einer
Frau.
Er dachte: Sie spricht Englisch.
Dann wurde ein Streichholz angerissen.
Er zwinkerte in das helle, goldene Licht, in dem plötzlich die Umrisse einer farblosen
Hand und eines papierweißen Gesichts erschienen, das umrahmt war von wallend
schwarzem Haar. Braune Augen blickten in seine, reflektierende Vampiraugen, aber
immer noch von der Farbe welken Laubs am Grund eines Teichs im Winter.
Es war, erkannte er, Anthea Farren, Gräfin von Ernchester.
»Ich verstehe nicht, wie es geschieht«, sagte Ysidro.
Er hatte seine Handschuhe ausgezogen, um die Karten zu geben, und jetzt hielt er die
Hand hoch, die schmal und weiß war mit langen Fingern, wie die Spulen, mit denen man
Spitzen herstellte. Lydia beobachtete wieder die beinahe krallenartige Form der Nägel und daß die Muskulatur keine abnormale Entwicklung aufwies, obwohl sie schon gese hen hatte, wie dieser Mann Eisenstäbe auseinanderbog. »Meine Theorie ist, daß es ein Virus ist oder, wahrscheinlicher, ein Komplex mehrerer Viren.« Lydia ordnete ihre Karten: Herz-As, -König, -Zehn, -Acht, und -Sieben; Pik-Dame, -Bube, -Sieben und -Zehn. Fast kein Kreuz - eine Neun - und Karo-Dame und -Bube. Die Dunkelheit glitt an den Zugfenstern vorüber. Um sie herum war es in dem ErsteKlasse-Waggon nach und nach still geworden. »Weil sich die Körperzellen selbst verändern?« Sie hielt inne, ein wenig erstaunt, daß der Vampir wußte, was ein Virus war, dann fielen ihr all die medizinischen Fachzeitschriften in seinem Haus ein. Das Kartenspiel und die Unterhaltung hatten unmerklich ihre Angst vor ihm verringert - sie fragte sich, ob er aus diesem Grund ein neues Spiel gewählt hatte, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, oder ob er einfach, wie ihre Tante Lavinia, eine Mitspielerin für die Reise brauchte. »So würde sich die extreme Empfindlichkeit des Fleischs gegenüber Substanzen wie Silber und bestimmten Kräutern erklären«, sagte sie nach einer Weile. »Gar nicht zu reden von dem Verglühen im Tageslicht.« »Müssen wir wirklich über so etwas sprechen?« Margaret rutschte unbehaglich hin und her und hob den Blick nicht von ihrer huschenden Häkelnadel und den Sesselschonern aus Spitze, die wie Schneeflocken aus dem Handarbeitskorb auf ihrem Schoß quollen. Nach zwei oder drei Versuchen, Picquet zu lernen, hatte Margaret sich auf ihre Handarbeit zurückgezogen. Sie kämpfte darum, wach zu bleiben, um nicht aus der Unterhaltung mit Ysidro ausgeschlossen zu werden, obwohl sie sehr wenig dazu beigetragen hatte. In die Diskussion über Eisenbahnfahrten, die Feinheiten des Picquet-Spiels, die mathematischen Wahrscheinlichkeiten beim Kartenspiel und die Struktur der Musik -Ysidros Musikverständnis bewegte sich auf einer ganz anderen Ebene als Lydias oberflächliche Bekanntschaft damit - hatte Margaret gelegentlich Bemerkungen darüber eingeworfen, daß sie England noch nie verlassen hatte oder daß sie in einem Reisebericht oder in Lord Byrons Memoiren von diesem oder jenem Monument oder einer bemerkenswerten Sehenswürdigkeit gelesen hatte. Zwei- oder dreimal hatte sie versucht, das Gespräch von den physischen Ausprägungen des Vampirismus wegzulenken, doch als sie jetzt sprach, klang ihre Stimme leise, als wolle sie eine Klage zum Ausdruck bringen, die die anderen eigentlich nicht hören sollten. Dumm, dachte Lydia, angesichts der Tatsache, daß Ysidro Menschen an ihrer Atmung erkennen konnte. Der Vampir bewegte zwei Karten in seiner Hand, nahm drei fort, legte sie verdeckt neben den Stock und nahm dafür drei neue auf. »Es mag seltsam klingen, aber bis heute verstehe ich nicht, was mit meinem Körper in der Nacht geschehen ist, als ich genommen wurde, in einem Kirchhof am Fluß, als ich auf dem Heimweg von meiner Mätresse war ... Zu dieser Zeit hatte ich immer Mätressen, Mädchen von der anderen Seite des Flusses, denen es nichts ausmachte, daß ich ein Spanier aus dem Gefolge der Königin war.« Er nahm zwei weitere Karten und ersetzte sie aus dem Stock, ohne daß sein Gesichtsausdruck sich änderte. »Ich glaube, dieser Zustand hat zwei verschiedene Aspekte: Was das Fleisch angeht, so wird der Körper nicht so erhalten, wie er im Augenblick des Todes war, sondern so, wie das Bewußtsein es wünscht, so daß selbst jene, die als alte Menschen genommen werden, die Gestalt wiedererlangen, die sie in der Blüte ihrer Jahre hatten. Und der andere Aspekt betrifft den Geist, der geschärft wird; sowohl der Wille als auch die Sinne werden stärker, und wir erlangen Macht über den Willen und die Sinne der Lebenden.« Lydia legte ihr Kreuz und zwei Karo ab, zog noch ein Kreuz - die Acht -, das Pik-As und die Herz-Dame. Nach vier oder fünf Spielen, in denen Ysidro sie systematisch geschlagen hatte, bekam sie langsam heraus, worum es bei dem Spiel ging, nämlich eine
komplizierte Manipulation von Punkten, durch die sie mehr oder weniger erschließen konnte, was Ysidro auf der Hand hatte, obwohl die Information ihr bisher noch nicht allzuviel nützte. Als Lehrer verfügte er über endlose Geduld; er war sanft, ohne im allergeringsten freundlich zu sein. Mit Margarets totalem Mangel an Kartensinn und ihrer Unfähigkeit, sich die Regeln zu merken, war er mit einer Sachlichkeit umgegangen, die die Gouvernante merkwürdigerweise fast zu Tränen getrieben hatte. »Das Blut ernährt das Fleisch«, sagte Ysidro. »Wir können - und wir tun es, wenn wir müssen - von Tierblut leben, oder von Blut, das wir den Lebenden nehmen, ohne daß dazu ihr Tod notwendig ist. Aber es ist der Tod, der unsere geistigen Kräfte nährt. Wenn wir nicht töten, stellen wir fest, daß unsere Fähigkeiten schwinden, der Mantel der Illusion, den wir tragen, fadenscheinig wird und unser Geschick, die Gedanken der Lebenden abzulenken, nachläßt. Ohne diese Talente können wir das Bewußtsein der Lebenden nicht in Schlaf versetzen und sie etwas sehen lassen, das sie eigentlich nicht sehen, oder sie dazu bringen, Straßen hinunterzugehen, die sie normalerweise nicht und nur in einem Anfall von - wie sie es empfinden - Geistesabwesenheit betreten würden.« Margaret sagte nichts, doch die Nadel huschte schnell auf der blumigen Spitze in ihren Händen hin und her. Er nahm seine Karten auf. »Dies sind im großen und ganzen unsere gesamten Kräfte, wenn wir die interessanten Spekulationen von Mr. Stoker beiseite lassen. Ich persönlich habe mich immer gefragt, wie man sich in eine Fledermaus oder eine Ratte verwandeln soll. Obwohl ich weniger wiege als ein Lebender, habe ich immer noch eine viel größere Masse als solch eine Kreatur. Doch die Hypothesen dieses Einstein haben mir einiges zu denken gegeben.« »Werfen Sie ein Spiegelbild?« Lydia war beim Betreten des Abteils aufgefallen, daß ein Schal - vermutlich einer von Margaret, ein Druckstoff mit riesengroßen roten und gelben Rosen auf blauem Untergrund - über den kleinen Spiegel drapiert war, und die Vorhänge waren dicht über dem dunklen Fensterglas zugezogen. Sie dachte an ihr geisterhaftes Bild in Ysidros riesigem, mit schwarzer Spitze verhängten venezianischen Spiegel. »Das tun wir.« Ysidro warf die Karten ab. »Die Gesetze der Physik ändern sich weder zu unseren Gunsten noch zu unseren Ungunsten. Viele von uns meiden Spiegel einfach wegen der Konzentration von Silber auf der Rückseite. Selbst auf die Entfernung ruft es bei einigen Schmerz hervor. Doch vor allem zeigen Spiegel uns so, wie wir wirklich sind, ohne die Trugbilder, die wir in den Augen aller Lebenden tragen. Also gehen wir ihnen aus dem Weg, denn obwohl wir immer noch einen Schleier über das Bewußtsein des Opfers werfen können, das uns im Spiegel sieht, ist das Opfer für gewöhnlich beunruhigt durch das, was es sieht oder zu sehen glaubt. Wir sind selbst nicht allzu erpicht auf diese Erfahrung. Vier für die Pik-Quart, Zehn sticht.« Sie spielten Karten bis lange nach Mitternacht, während die Lichter von Nancy vorbeihuschten und sich dann die Vogesen unter sternenlosem Wolkenschein erhoben. Immer noch fasziniert, aber todmüde kehrte Lydia in ihr Abteil zurück. Doch wie sie befürchtet hatte, konnte sie nicht einschlafen. Durch den Vorhang fiel ein wenig Licht aus dem Korridor, tröstlich wie das Nachtlicht in Form eines Elefanten, das in ihrem Zimmer gebrannt hatte, als sie ein Kind war. Einmal ging ein Schatten durch dieses Licht, und sie lag einige Zeit wach und stellte sich vor, wie Ysidro sich lautlos wie ein Gespenst durch den Zug treiben ließ und Träume belauschte: die der Dame mit dem kleinen Hund oder die der beiden Brüder, die darum gebeten hatten, beim Dinner im Speisewagen den Tisch mit Lydia und Margaret zu teilen, die des Lokführers auf seinem Sitz und der Küchenjungen in ihren Schlafkojen, wie ein Kenner, der verschiedene Weine kostete. Sie hätte gern gewußt, worüber Margaret und Ysidro sich während der Nacht unterhielten.
SIEBEN »Haben Sie ihn gesehen?« Lady Ernchester neigte den Kerzenstummel, um ein paar Tropfen Wachs auf das in Ellbogenhöhe befindliche Steinsims einer Nische fallen zu lassen, und drückte das Licht dann hinein. Die Flamme wurde ruhig und wuchs. Sie überhauchte zuerst ihr Gesicht und dann die starren, traurigen Züge einer kleinen Steinskulptur der Himmelskönigin in der von Rattenexkrementen und Schneckenspuren verschmutzten Nische mit ihrer täuschenden Wärme. Das Licht drang noch weiter und zeigte, daß sie in einer Art Vestibül am Fuße der schiefen Treppenstufen standen, über die Anthea ihn nach unten geführt hatte. Von den Wänden und dem Deckengewölbe aus Ziegel und Stein war der Großteil des Putzes abgefallen, und die feuchte, durchdringende Ausdünstung des Lehmbodens hing in der Luft. Gegenüber hatte man die Tür zu einem weiteren Gewölbe zugemauert, nicht aber die hohen Fenster rechts und links der Tür. Asher konnte erkennen, daß der Raum weit tiefer und höher war als der, in dem er sich befand, mit menschlichen Knochen gefüllt war. Er lehnte sich an die Mauer, denn durch den Schmerz in seiner Seite wurden ihm plötzlich die Knie weich. Als er die Hand unter seinen Mantel preßte, spürte er, daß seine Kleidung von heißem Blut durchtränkt war. »Sie sind verletzt...« Sie trat vor und nahm seinen Arm; dann riß sie die Hand zurück, und er taumelte, denn ihre Finger waren zufällig über die Silberketten geglitten, dort, wo sie unter seinen Ärmelaufschlägen lagen. Einen Augenblick lang standen sie da und sahen einander im flackernden Kerzenschein an. »Warten Sie hier auf mich«, sagte sie. Er hörte das Rascheln ihrer Unterröcke, sah jedoch nicht, wie sie ging. Er sank auf die Fensterbank und lehnte sich an die rostigen Eisenstäbe. Alles drehte sich um ihn, doch er wagte nicht, das Bewußtsein zu verlieren. Hinter ihm erhoben sich die Berge aufgehäufter Knochen, die in der Entfernung mit dem tiefen Dunkel verschmolzen. Da waren ein leises, kratzendes Trippeln, Bewegungen zwischen den aufgestapelten Schädeln, und das Glitzern winziger Augen. Eine Pestkrypta, dachte er. Gut und gerne so groß wie die unter dem Dom, obwohl sie wahrscheinlich tiefer im Boden lag. In dem schwachen Glühen der Kerze schienen die Knochen braun und glänzend wie Kiesel. Geh in das Gemach meiner Lady, dachte Asher, und ihn schwindelte. Sag ihr, daß dies
ihr Ende sein wird, und wenn sie sich einen Zoll dick anmalt ... »Hier.« Eine Hand legte sich auf seine Schulter und wurde schnell zurückgezogen. Sie stand wieder neben ihm, seinen Koffer in der Hand. »Ziehen Sie Ihren Mantel aus.« Das Messer des Angreifers hatte den schweren Wollstoff und den leichteren Tweed des Jacketts und der Weste darunter aufgeschlitzt. Hemd und Weste hatten den größten Teil des Blutes aufgesogen; hätte er den Mantel nicht getragen, wäre er wahrscheinlich tot gewesen. So war die Wunde oberflächlich, wenn auch schmerzhaft - er konnte den Arm bewegen, obwohl er wußte, daß er später steif werden würde. Seine Atmung war nicht beeinträchtigt. Mit einer Anstrengung, die ihn benommen machte, zog er sich bis zur Taille aus, und die kalte Luft traf auf seine Haut wie ein Schock. Er blieb in der Fensterhöhlung sitzen, und sie ging zur gegenüberliegenden Seite des Vestibüls unter der Nische der Jungfrau Maria, wo sie das blutige Hemd in ordentliche Streifen riß, als sei das feste Leinen nur ein dünnes Zigarettenpapier. Während sie arbeitete, sprach sie in dem schnellen, abgerissenen Tonfall von jemandem, der versucht, sich vor dem zu schützen, was das Schweigen bringen mochte. »Haben Sie ihn gesehen?« fragte sie nochmals.
»Ich habe ihn am Bahnhof Charing Cross gesehen«, erwiderte er. »Er sprach mit einem Mann, von dem ich weiß, daß er für den österreichischen Geheimdienst arbeitet.« Sie blickte hoch und riß schockiert die flammenden Augen auf. Sie waren mahagonifarben, aber nicht menschlicher als die eines Raubvogels. In dem gedämpften safranfarbenen Licht waren ihre Lippen so farblos wie die bleiche Haut, eine Blässe, die irgendwie gemildert - oder gerechtfertigt - wurde durch das Schwarz ihrer Trauerkleidung. Ihr Haar, aufgesteckt in einem Stil, den Lydia ›Gibson Girl‹ nannte, schien aus ihrer dunklen Kleidung zu fließen, und granatbesetzte Haarnadeln schimmerten darin wie Bluttröpfchen. »Er hat mit jemandem gesprochen?« »Warum erstaunt Sie das?« »Ich hatte geglaubt...« Sie zögerte und sah ihn einen Augenblick an; dann wandten sich die unmenschlichen Augen wieder ihrer Arbeit zu, als wagten sie nicht, auf dem dunklen Glitzern von Blut an seiner Seite zu verweilen. »Unser Haus ist durchsucht worden, verstehen Sie. Von Menschen durchwühlt, als ich nicht da war.« Aus dem Täschchen an ihrem Gürtel zog sie ein kleingefaltetes Stück gelben Papiers, durchquerte den Raum, um es ihm mit blutbefleckten Fingern zu reichen, und zog sich dann schnell wieder zurück. »Dies hat auf dem Boden gelegen, als ich zurückkam.« Asher faltete es auseinander. Es war ein Eisenbahnfahrplan. Der sonntägliche Fährzug um neunzehn Uhr dreißig war eingekreist; jemand hatte in kräftiger europäischer Handschrift auf den Rand geschrieben: Wien-Express. »Als ich in dieser Nacht nach Hause kam, war er fort«, sagte Anthea und wühlte in seinem Koffer nach der kleinen Flasche Whiskey. Sie tränkte ein sauberes Stück Hemdstoff damit und nahm sich kaum merklich zusammen, bevor sie nahe genug an Asher herantrat, um ihn wieder zu berühren. Asher hob die Arme, damit das Silber an seinen Handgelenken nicht zufällig in Kontakt mit ihren ungeschützten Händen kam. Der Whiskey brannte kalt in seiner Wunde, und sein Geruch überdeckte beinahe die durchdringende Ausdünstung des Blutes. »Im Winter, wenn es um vier Uhr dunkel wird, gehe ich häufig Besorgungen machen, Zeitungen oder Bücher kaufen. Ich habe eine Schneiderin, die für mich länger geöffnet hat. Ernchester bleibt manchmal die ganze Nacht in seinem Arbeitszimmer und liest, selbst in den Nächten, wenn ich später ausgehe...« Sie sagte nicht um zu jagen. Doch Asher erkannte es daran, wie sie den Blick abwandte. Eisig lagen ihre Hände auf seiner bloßen Haut. Sie arbeitete schnell und fixierte die Verbände mit kleinen Stückchen des wenigen Heftpflasters, das er für Notfälle in seinem Koffer gehabt hatte. Sein Blut rann über ihre Finger, grellfarben wie Farbspritzer auf Elfenbein. Von den Knochen in der Krypta wehte ein kalter Hauch zu ihm herüber, und ihn fröstelte noch mehr. Mit schnellen Worten sprach sie weiter, so wie eine Frau in der Gegenwart eines Mannes redet, von dem sie fürchtet, er werde sie verführen. »Er ging häufig spazieren. Auf einen anderen Gedanken bin ich nicht gekommen. Also bin ich noch einmal ausgegangen, und als ich zurückkehrte, fand ich die Wohnung durchwühlt vor, nach menschlichem Tabak und menschlichem Schweiß riechend, und das hier lag auf dem Boden. Ich dachte ... ich dachte, er sei entführt worden.« Ihre dunklen Brauen zogen sich zusammen, während sie die letzten Bandagen festheftete. »Wenn ihm ... etwas zugestoßen wäre, wüßte ich es.« Asher erinnerte sich an seinen Traum. Wie kann er tot sein? hatte sie gefragt. Wenn ich
die Treppe hinaufginge, würde er dann nicht oben auf mich warten? Selbst damals hatte sie es gewußt. »Und sind Sie nicht zu Grippen gegangen?« Anthea schüttelte den Kopf. »Seit letztem Jahr - seitdem wir uns Ihretwegen und wegen Ihres Wissens über uns getrennt haben - herrscht Unruhe unter den Untoten von London.
Grippen hat sich neue Zöglinge gemacht und auch einige seiner älteren Zöglinge nach London gerufen. Mir hat er noch nie getraut. In der Tat ... bis sie von dem Österreicher gesprochen haben, war ich keineswegs sicher, ob dies nicht Grippens Werk war. Doch aus diesem Grund habe ich auch nicht gewagt, zu Ysidro zu gehen.« Sie reichte ihm eines der neuen Hemden, die er gekauft hatte, dann nahm sie die Whiskey-Flasche und trat schnell beiseite. Sie goß sich den Alkohol über die Finger und rieb peinlich genau, geradezu besessen, jede Spur seines Bluts ab. Währenddessen zog er das Hemd an, die Krawatte, sein Jackett und seinen Mantel. Seine Bewegungen waren langsam, denn ab und zu wurde ihm schwarz vor Augen, doch sie bot ihm keine Hilfe an. Im Dunkel der Krypta huschten zwischen den Knochen die Schatten der Ratten umher. »Bis auf eine gewisse Entfernung kann ich den Geist meines Mannes spüren, seine Anwesenheit fühlen. Ich ... ich habe nicht gewagt, länger zu warten.« Sie hob den Blick, um ihn anzusehen. »Könnte es sein, daß er zu diesem Österreicher gegangen ist, weil er auf der Flucht vor dem Meister von London war?« »Das ist eine Möglichkeit«, sagte Asher. »Aber ich vermute, daß Grippen nichts damit zu tun hat. Kommen Sie.« Er nahm seinen Koffer. »Gehen Sie einen Kaffee mit mir trinken?« Sie gingen ins La Stanza am Graben. Das Gaslicht war hell, und die pastellfarbenen Kleider der Tanzenden leuchteten. Anthea hatte die schwarzen Spitzenhandschuhe einer Witwe über ihre kalten weißen Finger gestreift und aus einer Ecke des Vestibüls der Krypta einen federgeschmückten Hut mit Schleier hervorgeholt, der ihre weiße Haut ver barg - und gleichzeitig im Kontrast noch weißer erscheinen ließ. Sie mußte ihn dort gelassen haben, dachte Asher, als sie ihm gegen seine Angreifer in der Gasse zur Hilfe geeilt war. Offenbar hatte der Geruch ihres Haars, der in der Seide hing, ausgereicht, um die Ratten auf Distanz zu halten. »Schon seit Jahren habe ich Angst um Charles«, sagte sie, nachdem der Ober ihre Bestellung aufgenommen hatte. »Zum Teil lag es daran, daß Danny getötet worden war der Mann, der uns seit den Tagen des letzten Königs George gedient hatte. Zu Asche verbrannt im Sonnenlicht. Manch einer würde sagen, ein verdientes Ende für einen von uns.« Sie warf ihm einen schnellen, herausfordernden Blick zu, doch Asher sagte nichts. »Zum Teil war es auch der Tod der Stadt, die er gekannt hatte. Nicht plötzlich, wie damals bei dem Großen Feuer, sondern nach und nach; ein Gebäude wird abgebrochen, eine Straße aufgerissen, damit die Untergrundbahn fahren kann. Ein Wort oder ein Ausdruck kam aus der Mode, oder es starb ein Komponist, dessen Arbeiten er liebte. Jede Nacht ging er in Konzerte, hörte voller Freude den neuen Musikern zu, diesen leichten Melodien, die wie ein Strauß Blumen waren, und dann der starken, leidenschaftlichen Musik, die später kam...« Ein Kellner brachte ihnen den Kaffee: für sie ›dunkel mit Haut‹ - in Wien mußte man wissen, was man wollte, wenn man Kaffee bestellte - und für ihn einen Einspänner, schwarzen Kaffee mit Schlagsahne. »Ist der Walzer inzwischen passe?« Sie schlug ihren Schleier zurück und hob die Tasse an die Lippen. Doch sie trank nicht, sondern atmete tief den bittersüßen, aromatischen Duft ein. Auf der Tanzfläche schwebten Frauen wie schwerelos zu den ›Geschichten aus dem Wienerwald‹. Ihre Kleider schienen wie safrangelbe, rosa und blaßgrüne Lilien; die schwarzen Anzüge der Männer stellten eine Baßnote dar, und die Uniformen der Offiziere flammten wie Edelsteine. »Ich glaube schon.« Er dachte daran, wie er mit Françoise getanzt hatte. Auf den ersten Blick wirkte sie unbeholfen wie eine Vogelscheuche, doch sie verpaßte nie einen Schritt und war leicht wie eine Glockenblume. »Bei Leuten meines Alters nicht«, sprach er weiter. »Aber die Jungen und die feinen Leute tanzen andere Sachen wie Foxtrott und Tango.« »Tango.« Genießerisch sprach sie das unvertraute Wort aus. »Es klingt wie eine Frucht aus der Neuen Welt. Etwas, dessen Saft einem das Kinn hinunterrinnt, wenn man
hineinbeißt. Ich muß ihn einmal lernen.« Schnell kehrte ihr Blick zu den Tänzern zurück, als schiebe sie einen Gedanken fort. »Der Walzer war ein Skandal, als ich ihn damals gelernt habe. Und auch ich habe ihn dafür gehalten.« Sie lachte ein wenig über sich selbst. »Zu jener Zeit ging Ernchester noch gern tanzen. Grippen spottete über uns. Für ihn ist alles nur dazu da, dem Töten zu dienen. Aber wir sind in Almacks Tanzsäle oder während der Saison zu den großen Bällen gegangen. Er ... er war nicht immer so, wie Sie ihn gesehen haben.« »Was hat ihn so verändert?« Seine Stimme drang leise durch die Musik, doch sie verstand ihn, und hinter ihrem geisterhaften Schleier sah sie ihn wieder an. Dann schaute sie weg. »Die Zeit.« Sie zog den ohrförmigen Bogen des Tassenhenkels nach, eine Geste, die ihn an Lydia erinnerte, wenn sie sich über etwa Sorgen machte. »Ich wünschte, Sie hätten ihn so kennengelernt, wie er einmal gewesen ist. Ich wünschte, Sie hätten uns beide so kennengelernt.« Bis auf die Musik und das Surren von Seide und Schuhleder lag Stille zwischen ihnen. »Lesen Sie die Familienanzeigen?« fragte Asher, und die Frage schreckte sie aus dem Tagtraum, in den sie versunken war. Er wollte nach dem Koffer greifen, der auf dem Boden zwischen ihren Stühlen stand, doch der Schmerz in seiner Wunde ließ ihn innehalten; er deutete auf die Zeitung, die in der Öffnung der Tasche zu sehen war. »Oder, genauer gefragt, liest Ihr Mann sie?« »Das tun sie alle.« Sie beugte sich hinunter, um die zusammengefalteten Blätter herauszuziehen. »Wir verfolgen Familien, Namen, Stadtviertel jahrelang, oft jahrzehntelang. Die Abfolge von Ereignissen ist für uns wie die Leben von Balzacs oder Dicken's Romanfiguren. Die Nächte sind lang.« Asher schlug die Rubrik auf und legte den Finger auf die Anzeige, die er entdeckt hatte. »Die Zeitung vom Samstag«, sagte er. »Seine Anreise ist im voraus arrangiert worden. Umitsiz heißt auf türkisch hoffnungslos - ich vermute, eine Variante von Want-hope. Versteht Ernchester Türkisch?« »Er gehörte zu der Gesandtschaft, die König Charles nach Konstantinopel schickte, vor unserer Heirat. Drei Jahre war er fort. Mir schien es damals eine Ewigkeit.« Ein mattes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie über diese Ironie nachdachte, und sie setzte ein wenig schüchtern hinzu: »Im Rückblick erscheint es mir immer noch so, wissen Sie.« Dann runzelte sie die Stirn und hielt den Eisenbahnfahrplan wie zum Vergleich neben die kurzen gedruckten Zeilen. »Aber warum?« fragte sie schließlich. »Was könnten sie ihm mitgeteilt haben - dieser Olumsiz Bey -, daß er hierhergefahren ist, ohne mir ein Wort zu sagen? Auch ohne Grippens Unterstützung haben wir Reichtum und einen Ort, wo wir sicher sind. Das Haus wurde von Menschen durchsucht, ja, aber sie haben es bei Nacht getan - sie hätten ihn nicht überwältigen können, selbst wenn er zurückgekehrt wäre und sie überrascht hätte. In der Nacht kann man den Menschen leicht aus dem Weg gehen. Charles kennt jeden Keller und jedes Schlupfloch in London. Doch selbst wenn er Wien einmal gekannt hat, so ändern Städte sich doch mit der Zeit, und diese Veränderungen sind gefährlich für die, deren Fleisch die Sonne zerstören wird. Was kann man ihm geboten haben?« »Ich habe den Verdacht, daß die Männer nur Agenten von jemand anderem waren.« Asher legte Papier und Fahrplan wieder zusammen. »Ysidro sagte mir einmal, daß die Untoten für gewöhnlich wissen, wenn jemand sie verfolgt. Haben Sie von den Männern, die das Haus durchsucht haben, nichts gewußt, nichts geahnt?« Sie schüttelte den Kopf. »Da waren keine ... keine unbekannten Gesichter, keine Schritte, wo keine hätten sein dürfen.« »Was bedeutet, daß jemand ihnen von dem Haus erzählt hat.« Der Walzer war zu Ende. Auf dem Podium packte das Orchester die Instrumente zusammen. Eine Frau, klein, grauhaarig und pummelig, lachte, als ihr weißbärtiger
Freund sie in einen extravaganten Umhang aus goldfarbenem Pelz hüllte. Anthea wandte den Kopf, um die beiden zu beobachten, und in ihren Augen nahm Asher einen Ausdruck beinahe sinnlichen Genusses wahr, als habe sie Wein getrunken. Karolyi! fragte sich Asher. Ein Versuch, sicherzugehen, daß die Frau des Earl ihn nicht davon abhielt zu kommen? Aber konnte Karolyi von dem Machtkampf zwischen Anthea und Grippen wissen, der sie und Ernchester um die Unterstützung des Meistervampirs gebracht hatte? Mit Sicherheit hatte Karolyi die Schläger angeheuert, die ihn heute abend angegriffen hatten. Sie waren ihm wahrscheinlich den ganzen Tag gefolgt und hatten auf ihre Chance gewartet. Das bedeutete, daß er sich am besten den am stabilsten aussehenden Fiaker aussuchte, den er finden konnte, und den Kutscher warnte, daß es Ärger geben könnte, sobald sie die einsamen Feldwege und Weinberge des Wienerwalds erreicht hatten. Der Ober erschien, Lady Ernchesters schwarzen Umhang über dem Arm. Als er ihn um ihre Schultern legte, durchzuckte Asher ein kurzer, heftiger Schmerz, und sie wandte sich schnell um. »Sie haben Schmerzen.« Ihre Finger waren immer noch kalt, obwohl sie sie an der Tasse gewärmt hatte. »Es tut mir leid, ich habe nicht daran gedacht.« »Es hat mich nur überrascht«, sagte er. »Ich bringe Sie zu Ihrem Quartier.« Ein Nebelschleier dämpfte die Gaslaternen auf dem Graben zu trüben Lichtkreisen und ließ die Ornamente und Statuen der Fassaden nur undeutlich erkennen. Hier und da leuchtete noch ein Fenster, dort, wo die Zofen, nachdem sie ihre Herrinnen aufgeschnürt, ihnen das Haar gebürstet und Nachthemden und Gebetbücher gereicht hatten, jetzt Schmuck wegschlossen, Schmutz von Schuhen bürsteten oder als letztes das Kaminfeuer für den nächsten Tag vorbereiteten, bevor sie selbst in kalte Betten krochen. Die Luft war eisig, und an den entlaubten Bäumen, die wie Reliefs unleserlicher Runen aussahen, vorbei eilten nur wenige letzte Schatten heimwärts. »Dr. Asher.« Er verhielt den Schritt und sah, daß sie wieder verwirrt das Gesicht halb von ihm abwandte. »Ich weiß, daß keine anständige Frau einen Mann bittet, sie in ihre Räume zurückzubegleiten und die Nacht mit ihr zu verbringen.« Ihre Finger zuckten am Saum seines Ärmels. »Ich verstehe schon, daß es eine Farce ist, daß ich überhaupt etwas um solche Konventionen gebe. Alte Gewohnheiten sterben langsamer, als man denkt. Aber ... werden Sie dies tun?« Während sie sprach, hob sie den Blick und sah ihn an. Merkwürdig, er spürte kein Gefühl von Gefahr. Er erinnerte sich, wie sorgfältig sie sich das Blut von den Fingern gewischt hatte, und an ihr nervöses Stammeln, mit dem sie die Pausen des Schweigens in der dunklen Krypta gefüllt hatte. Ihm ging durch den Kopf, ob sie wohl den Kaffeeduft so tief inhaliert hatte, um den Geruch seines Blutes zu überdecken. Und doch spürte er nichts davon, daß sie sein Bewußtsein beeinflußte und den Glanz der Vampire über ihn warf, der die Opfer blind machte für die Gefahr, in der sie schwebten. Was aber auch bedeuten konnte, dachte er, daß sie sehr, sehr geschickt darin war. In sein Zögern hinein sprach sie weiter: »Nur eines, das ich je getan habe, war schrecklicher, als allein in diesem Zug zu reisen.« Sie gingen weiter die breite Straße entlang, zwei einsame Gestalten in dem dichter werdenden Nebel. Neben ihnen erhob sich die Pestsäule, diese erstaunliche Ansammlung von Cherubinen, Heiligen und Wolken, weiß aus dem Gaslicht und den Schatten. »Das Hotelzimmer in Paris habe ich gerade noch rechtzeitig erreicht, und ich hatte entsetzliche Angst, daß der Schlaf - der Schlaf der Untoten, aus dem man nicht aufgeweckt werden kann - mich überfallen würde, während ich auf der Straße stand. Sie müssen mich für eine Wahnsinnige gehalten haben, so habe ich die Träger angetrieben, meine Koffer aufs Zimmer zu bringen, und dann habe ich alle hinausgeschoben und die
Türen doppelt und dreifach abgeschlossen. Und auch als ich allein war, hat die Furcht mich beinahe überwältigt. Wie konnte ich sicher sein, daß ich bei Sonnenuntergang wieder erwachen und nicht schreiend in Flammen aufgehen würde wegen eines neugierigen oder diebischen Zimmermädchens?« Sie ging schneller und faßte seinen Arm fester, und die Erinnerung an diesen Schrecken verwandelte ihre Finger für einen Augenblick in Stahlklammern. »Und es war noch schlimmer, als ich in der folgenden Nacht den Koffer aufgegeben habe«, fuhr sie fort. »Mich selbst wie ein Paket zu verschicken, beim Schaukeln des Zuges einzuschlafen und mich dem Schicksal anzuvertrauen. Nicht zu wissen, ob ich je wieder aufwachen würde. Man sagt, sollte unsere Dunkelheit durch das Sonnenlicht zerbrochen werden, daß wir im Schlaf verbrennen. Aber wer will das wissen?« Ihr Gesicht unter dem Schleier war ruhig, doch ihre Stimme zitterte leicht, und sie kroch in ihren Umhang hinein, als spüre selbst ihr untotes Fleisch die Kälte. »Niemand von uns ist jemals Zeuge gewesen, wie dies einem anderen zugestoßen ist. Selbst wenn wir in tiefster Dunkelheit schlafen, dringt die Sonne in unser Bewußtsein. Manchmal hören und wissen wir, was um uns herum geschieht, aber wir wachen nicht auf.« Sie hatten die Tür ihres Hotels erreicht, eines prächtigen Herrenhauses, dessen untere Stockwerke die palastartige Residenz einer reichen Familie darstellten. Die Marmortreppe führte jedoch zu einem weit einfacheren Hotelfoyer im Obergeschoß. Anthea blieb im Schatten der Säulen des Portals stehen. »Vor einem Jahr hat Ysidro Sie als seinen Diener angeworben - Sie in seinen Dienst gezwungen. Um im Tageslicht das für ihn zu tun, wozu er nicht in der Lage war. Und Sie haben es ehrenhaft getan.« Sein Atem mischte sich weiß mit dem Nebel, der durch das äußere Tor hinter ihnen eingedrungen war. Ihre Worte waren nicht von einer solchen Atemwolke begleitet worden. »Ich hatte keine andere Wahl.« »Wir alle haben eine Wahl.« In dem schwachen Licht des Kerzenleuchters aus Kristall und Messing trafen sich ihre Blicke. »Ich kann Sie nur bitten. Bleiben Sie bei mir im Zimmer, bis die Sonne wieder untergeht. Bitte.« Lydia hatte einmal ausgerechnet, wie viele Menschen ein durchschnittlicher Vampir in einem Jahrhundert tötete. Wäre er der Mann, der er einmal gewesen war, dachte Asher, hätte er ja gesagt und dann später den Deckel des Schrankkoffers aufgerissen, um eine solche Mörderin zu Asche verbrennen zu lassen. Weil sie sein Leben gerettet hatte, hätte er vielleicht nein gesagt. Die Uhr am Stephansdom schlug zwei, und wie Höflinge, die einen Scherz des Monarchen nachplappern, fielen die Uhren an Kirchen und Klöstern in der ganzen Altstadt ein. Stundenlang würde er allein mit dieser Frau wachen, bevor sie mit ihm allein sein würde, schlafend, ihm ebenso vertrauend, wie er ihr vertrauen mußte. Wenn nicht alles eine Falle war, um ihn an einen Ort zu bringen, wo er nicht um Hilfe rufen konnte. Aber sicherlich war die Krypta solch ein Ort gewesen. Er sagte sich, daß er dies tat, weil er Ernchester finden mußte, etwas, das er ohne die Hilfe eines Vampirs nicht erreichen konnte. Doch er wußte, daß das nicht die Wahrheit war. »Einverstanden«, sagte er. »Vor fünfzig, vielleicht sechzig Jahren hat er aufgehört, sich für irgend etwas zu interessieren.« Anthea nahm ihren Hut ab, und trotz des Schmerzes, der erneut seine Seite durchzuckte, half Asher ihr aus dem Umhang und der Jacke, die sie darunter trug. Ihr Kleid war aus Norwich-Seide, in seinen Rüschen glitzerten Sternwolken aus Jettsteinen. »Musik, Menschen beobachten - nicht als Beute, sondern einfach aus der Neugier heraus, wie sie ihr Leben leben -, all das bedeutete ihm immer weniger. Wie in diesem Märchenbuch, das vor ein paar Jahren herausgekommen ist, wo die Glieder eines
Mannes nach und nach auf zauberische Weise durch Glieder aus Blech ersetzt werden, bis er plötzlich erkennt, daß er kein Herz mehr hat und kein Mensch mehr ist.« Sie fuhr mit der behandschuhten Hand über die Augen, als schmerze die zarte Haut der Augenlider in der Erinnerung an eine Pein. »Sie denken natürlich daran, daß er diese ganzen fünfzig, sechzig Jahre hindurch, in denen sein Leben ihm immer weniger bedeutete, es immer wieder verlängert hat, indem er zwei oder manchmal drei Menschen pro Woche tötete. Es gibt Dinge, die man ... nicht erklären kann. Es ist leichter, als Sie glauben, in ... Gewohnheiten zu verfallen.« »Ich denke gar nichts.« Er erinnerte sich an das Blut von Jan van der Platz an der Scheunenmauer, an den schockierten, verletzten Ausdruck in den Augen des Jungen, kurz bevor Asher abgedrückt hatte. Sie zündete die Lampe auf dem massiven Tisch an. Asher fragte sich, ob sie den Todeskampf der Prostituierten mit dem messingfarbenen Haar wahrgenommen hatte, und dann fiel ihm ein, daß diese Frau wahrscheinlich schon Schlimmeres gesehen hatte. Vielleicht hatte sie selbst Schlimmeres getan. Das kleine Gemach, das mit Büscheln von Pfauenfedern und Trockenblumen reich dekoriert war und vage nach Teppichen roch, war noch nicht einmal mit Gas und erst recht nicht mit Elektrizität ausgestattet. Das topasfarbene Licht ließ das Gesicht der Vampirin menschlicher erscheinen, verlieh ihren Wangen Farbe, ihren Augen eine Art Leben und erzeugte zinnoberrote Reflexe in ihrem Haar. Asher erinnerte sich wieder an seine Vision von ihr, wie sie am Boden lag in einem Haus, das er jetzt als das alte Stadthaus der Ernchester am Savoy Walk erkannte, das Haus, in dem er dieser Frau zuerst begegnet war - wo sie ihn vor dem Zorn des Meisters von London gerettet hatte. »Es tut mir leid, daß es meinetwegen zu dieser Spaltung gekommen ist«, sagte er. »Daß ich sie jeglicher Unterstützung durch Grippen beraubt habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es seit Jahrzehnten kommen sehen. Vielleicht seit Jahrhunderten. Er wollte Charles - und die Häuser und das Land, das ihm ein ganzes Netz von Schlupfwinkeln verschaffen würde. Wir hatten kein lebendes Kind, und es gibt Wege, selbst unveräußerliches Familienvermögen zu manipulieren, einen großen Teil des eigenen Besitzes zu behalten. Grippen hat beim großen Feuer viel verloren, und danach hat die Stadt sich sehr verändert. Ich habe das Vermögen treuhänderisch verwalten lassen, so daß Grippen es nicht vollständig in seinen Besitz bringen konnte. Doch es war nur eine Frage der Zeit, wann er Charles nicht mehr brauchen würde. Vampire töten keine anderen Vampire, aber ... ich vermute, er wäre ihm auf keinen Fall zu Hilfe gekommen.« »Wer ist dieser Karolyi?« Sie zog die Handschuhe aus, und ihre langen Nägel glitzerten seltsam im Lampenlicht. Während sie die juwelenbesetzten Nadeln aus ihrem Haar zog, erzählte Asher ihr von seiner früheren Bekanntschaft mit Karolyi in Wien. »Soviel ich weiß, ist er immer noch beim Diplomatischen Corps. Das ist üblich für junge Männer seines Standes, und sie brauchen nur eine minimale Qualifikation. Ich weiß, daß er in den letzten zehn Jahren für den Tod mindestens zweier unserer Agenten verantwortlich gewesen ist, doch das ist nie bewiesen worden.« »Wie kann er von meinem Mann gehört haben?« Mit der Haarbürste in der Hand hielt sie inne. »Er mag rücksichtslos sein, ja, klug und gefährlich, doch das hätte ihn nicht in die Lage versetzt, einen Londoner Vampir aufzuspüren. Nur ein anderer Vampir hätte das tun können. Und warum sollte er sich einen Londoner Vampir aussuchen, um ihn ... hierherzubringen? Die Meister der Untoten wachen eifersüchtig über ihre Territorien. Sie tolerieren keine Vampire, die nicht ihre Zöglinge und ihrem Willen unterworfen sind. Ernchester weiß das.« »Das gehört vielleicht zu Karolyis Plan.« Steif und linkisch begann Asher, mit kaltem Wasser und einem Schwamm an dem Blut auf seinem Mantel herumzutupfen. Anthea sagte: »Ich mache das«, und nahm ihm den Mantel ab. Nun, da der erste Schock vorüber
war, fühlte er sich sehr müde. Der Schmerz in seiner Seele war zu einem dumpfen Druck herabgesunken. Er war froh, ruhig auf dem dickgepolsterten Brokatsofa des Zimmers zu sitzen. »Wozu er Ihren Mann braucht, ist weniger klar«, sagte er nach einer Weile. »Vielleicht will er Ihren Mann, weil er kein Zögling eines Meisters von hier oder von irgendwo in Bulgarien oder Griechenland ist. Das ist es, was ich herausfinden muß. Es mag sein, daß Karolyi ihren Mann braucht, um einen Zögling zu machen, dessen er sich bedienen kann. Doch was immer er plant, wegen Grippen mußte er Ihren Mann aus London fortbringen.« »Ja«, sagte Anthea leise. »Grippen hätte es erfahren.« Sie ging zur Tür, die ins Nebenzimmer führte, und die Bewegung ihres Schattens rief undeutliche Lichtreflexe auf den Messingbeschlägen des Schrankkoffers hervor, der außer dem Himmelbett den größten Teil des Raums einnahm. Ihre Hände, die zu der Spitze an ihrem Hals gewandert waren, sahen aus wie Lilien. Sie trug nur einen Goldring. »Wenn ein Meistervampir sich einen Zögling macht«, sagte Anthea langsam, »nimmt er ... den Geist des Zöglings, sein Bewußtsein und seine Persönlichkeit in sein eigenes Wesen auf für die Zeit, die ... der Körper dieses Zöglings braucht, um zu sterben. Sobald der Tod abgeschlossen ist, sobald die ... Veränderungen, die ihn zum Vampir machen, begonnen haben, haucht der Meister diesen Geist, diese Seele dem sich verwandelnden Körper wieder ein. Aber nicht vollständig. Und das, was er ihm wieder einhaucht, ist ... befleckt. Verändert. Nur ein wenig.« Sie hielt ihr marmornes Profil abgewandt, und die sienabraunen Augen sahen blicklos in die Ferne. »Nein«, sagte sie. »Er würde Charles nicht in London benutzen. Grippen erfährt ... alles. Und er beobachtet uns schon lange. Vielleicht wartet er auf seine Chance. Ich hasse ihn.« Sie schüttelte den Kopf und bewegte die Schultern, als wolle sie das Gewicht der Gedanken abschütteln. »Ich habe ihn gehaßt seit der ersten Nacht, in der Charles mich in sein Haus gebracht hat. Elysée de Montadour, die Meisterin von Paris, ist nicht so alt oder so mächtig wie Grippen, doch ich glaube, sie würde es spüren, wenn ein fremder Vampir nach Paris käme. Aber sie hätten immer noch nach Rouen oder Orleans fahren können, um ihre Pläne zu schmieden. Die Vampire dieser Städte sind in den Wirren des letzten Kriegs mit den Deutschen umgekommen. Solch eine Reise wäre sicherer gewesen, es wäre nicht nötig gewesen, bei Tag zu reisen...« »Kennen Sie die Vampire von Wien?« »Nein.« Sie ging zum Fenster hinüber und zog die tiefgrünen Samtvorhänge mit ihren dreifachen Goldfransen und doppelt faustgroßen Troddeln zurück. »Ich spüre sie ... fühle ihre Anwesenheit. So, wie sie die meine spüren, obwohl sie nicht direkt erkennen können, wo ich bin. Sie wissen, daß ich hier bin.« Ihre Finger glitten über die Fransen, den Stoff. Sie schienen ihre Beschaffenheit einzusaugen, genau wie sie die Form und Struktur der Porzellantasse eingesogen hatten. Das schwache Licht von der Straße unten fiel auf ihr Gesicht und verwandelte es in eine Komposition aus goldenen und schwarzen Flächen. »Ich spüre ... alles. In dieser neuen Stadt scheinen selbst die Steine Musik auszuströmen ... Als ich die Männer sah, die Sie verfolgten, war ich fast eine Stunde in den Straßen herumgelaufen und hatte einfach die neuen Geschmäcker und die neuen Gerüche genossen, das Raunen eines Flusses, der nicht die Themse ist. All diese neuen Träume und Gedanken und Empfindungen vibrieren um mich herum, dringen auf mich und in mich ein. Ich habe das Gefühl, daß unter jedem Pflasterstein ein Diamant liegt, und ich möchte durch die Straßen rennen und sie aufsammeln wie ein gieriges kleines Mädchen.« Die farblosen Lippen verzogen sich zu einem halb erstaunten Lächeln, und Asher erinnerte sich, wie sie in dem Café die Tanzenden beobachtet, den Duft des Kaffees und die Walzermusik in sich hineingetrunken hatte. »Ich weiß, daß ich in Gefahr bin. Ich habe
Angst, und ich weiß, daß ich eigentlich mehr Angst haben sollte. Ich könnte innerhalb von Augenblicken umkommen, einfach, weil ich nicht das richtige Versteck kenne, nicht die richtige Querstraße nehme. Aber es ist so wunderschön.« Sie legte den Vorhang halb um sich, und die üppige Farbe nahm sich neben ihrem Gesicht überraschend aus, wie eine silberne Ikone oder ein Gemälde von Klimt. »Es ist alles so neu für mich, wundervoll und fremd. Verstehen Sie, es ist das erste Mal, daß ich England verlassen habe. Zum ersten Mal seit ... seit ich wurde, was ich bin, komme ich aus London heraus. Seit beinahe zweihundert Jahren, Dr. Asher. Ich bin ein wenig gereist, nachdem ich glaubte, Ernchester sei tot, habe eine Schwester im Norden besucht. Aber in meiner Trauer habe ich keinen Geschmack daran gefunden und hatte nur den Wunsch, zu dem zurückzukehren, was ich kannte. Ich habe lange Zeit getrauert.« Asher hatte ein Porträt von ihr gesehen, angefertigt, als sie in ihrem sterblichen Leben über sechzig war. Sie hatte zugenommen, ihr Haar war ergraut, und die hinreißenden Augen, die jetzt in der rosigen Flamme der Lampe kupferfarben blitzten, waren tot gewesen, resigniert, erfüllt von einer Art verletztem Erstaunen, als habe sie nie aufgehört zu fragen: Wie ist es möglich, daß er tot sein soll? Auf dem Gemälde hatte sie den breiten Goldring getragen, der jetzt an ihrem Finger glänzte. »Ein Vampir auf Reisen ist ... furchtbar verletzlich.« »Und doch sind Sie gekommen.« Sie lächelte, ein menschliches Lächeln, und ihre vollen, bleichen Lippen verbargen die Fangzähne. »Ich liebe ihn«, sagte sie. »Bis zum letzten Atemzug - und zwei Jahrhunderte darüber hinaus.« Lady Ernchester hatte die Hotelleitung angewiesen, daß sie von den Zimmermädchen nicht gestört werden wolle. Sie wäre Schauspielerin, hatte sie gesagt, und würde wahrscheinlich den größten Teil der Nacht außer Haus sein und bei Tag schlafen. Als sie Asher dies erzählte, inmitten einer Diskussion darüber, wie bestimmte Wörter in ihrer frühen Kinderzeit ausgesprochen wurden, während sie die Risse in seinem Rock und seinem Mantel flickte, schloß er kurz die Augen und stellte sich die Reaktion der Hausbesorgerin auf diese Bitte vor. Als Asher später hörte, wie die Zimmermädchen im Korridor auf tschechisch und ungarisch schwatzten, klopfte niemand auch nur an die Tür. Asher hatte versucht, sich die Nacht über wachzuhalten, indem er mit der Vampirgräfin über Philologie und Volkskunde sprach - ihre Nachahmung des Dialekts ihres Kindermädchens aus Wessex war ebenso entsetzlich wie faszinierend gewesen -, doch der Wundschmerz, der Blutverlust und die Erschöpfung forderten ihren Tribut. Die Stim men der Zimmermädchen weckten ihn am Vormittag. Durch die Schlitze in den dunkelgrünen Vorhängen schien ihm helles Sonnenlicht in die Augen. Er legte sich wieder auf das Sofa und versuchte in Gedanken einen Artikel zu formulieren - die Landbevölkerung hatte zu Antheas Zeit das y oder e am Ende von Wörtern wie hande mit einer Art Aspiration ausgesprochen, obwohl sie das e nicht mehr als a aussprach. Aber wie in aller Welt konnte er erklären, daß er ein Gespräch mit einer Zeitgenossin als Verfasser von Ritterromanen geführt hatte? Nach und nach verklangen die Stimmen der Zimmermädchen, und im oberen Stockwerk des alten Palais wurde es ruhig. Ein lastendes Schweigen, unterbrochen nur durch das weit entfernte Rattern einer Straßenbahn auf dem Schottenring und dem fernen Leiern einer Drehorgel. Wieder dachte er an die schlafende Frau in ihrem doppelten Schrankkoffer, die seinem Wort vertraute, daß er den Tag über bleiben und dafür sorgen würde, daß ihr nichts geschah. Über die Jahrhunderte hatte sie ... wie viele Menschen getötet?
Ich wünschte, Sie hätten uns so kennengelernt, wie wir gewesen sind. War der ganze Vampirismus ein Verlangen, an der Süße einer vergangenen Jugend
festzuhalten, eine Sehnsucht, die guten Jahre, die Jahre der Träume, nicht im dahinfließenden Strom der Zeit entschwinden zu lassen? Ich liebe ihn, hatte sie gesagt. Ich wußte, daß er nicht tot sein konnte. Wer hatte die Männer, die Frauen, die Kinder geliebt, mit deren Leben sie die Verlängerung ihres eigenen bezahlt hatte? Er seufzte und berührte seinen Nasenrücken mit den Fingerknöcheln. Angesichts dieser Frage wand er sich wieder wie ein Fisch am Haken. Sie vertraute ihm. Und tatsächlich konnte er nur durch sie hoffen, Ernchester jetzt zu finden, ihn davon abzuhalten, dem Habsburger seine Dienste zu verkaufen, falls er das nicht bereits getan hatte. Was hatte Karolyi ihm geboten? Sicherheit vor Grippen? Warum hatte er dann Anthea nichts gesagt? Warum hatte er sie nicht nach Wien mitgenommen? Wer hatte das Haus durchsucht, wer hatte von Karolyis Plänen gewußt, und wonach hatten sie gesucht? Wer war Olumsiz Bey? Ein anderer Name für den Meister von Wien? Er mochte durchaus selbst Türke sein. Bis in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts hinein war die ganze Region immer wieder von den Türken überrannt worden, und es war denkbar, daß die Untoten in dieser kosmopolitischsten aller Städte nicht einmal Österreicher - oder Europäer - waren. Und vor allem, was würde er tun, wenn er Ernchester wirklich fand? Ihn töten? Ihm war jetzt schon klar, daß er nie wieder ruhig schlafen würde, wenn er Anthea nicht ebenfalls tötete. Mit einem leisen, gutgeölten Klicken drehte sich der Schlüssel im Schloß. Asher suchte in Gedanken müde nach der ungarischen Übersetzung für Bitte nicht stören, während er aufstand und zur Tür ging. Diese öffnete sich, und er sah Bedford Fairport. »Asher!« Der kleine Mann zwinkerte erstaunt und rückte seine Brille zurecht, als sei Asher eine Luftspiegelung, die ihm einen Streich spielte. »Was in aller Welt ...?« Der telegraphische Deportationsbefehl, dachte Asher automatisch. Er war noch müde, und sein Bewußtsein arbeitete träge. Und dann: Wie haben sie mich aufgespürt? Er legte sich in Gedanken zurecht, was er Halliwell über den Grundriß des Batthyany-Palais sagen würde, als Ignace Karolyi mit pantherhafter Schnelligkeit in den Türrahmen trat und Asher ein Messer an die Kehle hielt. Fairport rief mit meckernder Stimme: »Nein!« als die Klinge Ashers Haut ritzte wie eine Glasscherbe. »Nicht hier!« Der Kutscher mit den Affenbrauen und zwei kräftige Schläger, die Asher noch nie zuvor gesehen hatte, waren bereits im Zimmer und schlossen die Tür. Einer von ihnen faßte Asher von hinten bei den Ellbogen und stieß ihn gegen die Wand; der andere ging geradewegs zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Das Blut aus dem kleinen Schnitt an seinem Hals brannte heiß auf Ashers Haut. Karolyi hatte seine Aufmerksamkeit bereits auf etwas anderes gerichtet, hielt die Klinge jedoch immer noch an Ashers Hals. »Geht es suchen.« Asher versuchte sich umzudrehen, wurde aber wieder gegen die Wand gestoßen. Über die Schulter sah er, wie Fairport ihn in einer Art entgeisterter Verblüffung ansah; einer der Schläger nahm Fairport die Arzttasche aus der Hand, öffnete sie und zog einen Streifen Heftpflaster heraus, den er Asher grob über den Mund klebte. Mit der freien Hand nahm Karolyi etwas aus seiner Manteltasche, einen Seidenschal, mit dem der bullige Kerl Asher die Hände band. Vielleicht derselbe Schal, dachte Asher, den er benutzt hatte, um die Frau in Paris zu erdrosseln. Erst dann nahm Karolyi das Messer von Ashers Kehle und schob es in die Innentasche seines Rocks. Der Mann, der Asher an den Armen festgehalten hatte, trat ihm brutal in die Kniekehlen und warf ihn zu Boden - ein Nebenschauplatz, während die übrigen sich durch die Tür in das angrenzende Zimmer drängten. Asher versuchte zu schreien - eine Warnung, einen Protest, einen Appell - angesichts der furchtbaren Vorstellung, sie könnten die doppelten Deckel des Schrankkoffers aufbrechen ...
Dann wurde ihm klar, daß Anthea vollkommen sicher war. Es war Karolyi, der ihr Haus hatte durchsuchen lassen - wahrscheinlich war es Karolyi gewesen, der Wien-Expreß auf den Fahrplan geschrieben hatte. Er war ihr vom Bahnhof hierher gefolgt. »Das muß es sein«, hörte er Fairport auf deutsch sagen. »Wollen Sie nicht nachsehen?« fragte der Kutscher. Fairport protestierte quietschend; Karolyi sagte: »Laß gut sein, Lukas.« Es klang beiläufig, doch der Gauner trat schnell aus dem Zimmer. »Sie haben wohl nicht geglaubt, daß sie ihm nachfahren würde?« »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich war nicht sicher.« Asher drehte auf dem dicken, nach Staub riechenden Teppich den Kopf und sah sie zusammen in der Tür stehen. Der alte Mann sah zu Karolyi auf wie ein Apportierhund, der soeben einen Fasan herangeschleppt hat, der fast so groß war wie er selbst. Er dachte: Fairport ist ein Doppelagent. Etwas an dem Abstand zwischen ihnen, an Fairports Kopf haltung, verriet ihm die ganze Geschichte. Er spielt seit Jahren ein Doppelspiel. Wenn er es sich recht überlegte, sollte er vermutlich Zorn spüren, doch das war nicht der Fall. Das war etwas, das im Großen Spiel vorkam, genauso, wie streunende Huren erdrosselt und die, die zuviel wußten, erschossen wurden. Karolyi blickte mit einem Ausdruck reuevoll und ein wenig amüsiert auf Asher hinab. »Jetzt sagen Sie mir, Dr. Asher - war es nur ein Zufall, daß man gerade Sie auf mich angesetzt hat? Oder hat sich Ernchester geirrt, als er glaubte, die Briten würden sich nicht auch der Untoten bedienen?« Asher wandte den Kopf ab. Er überlegte, daß dies vielleicht sogar die Wahrheit sein mochte. Karolyi lachte. »Ich glaube gern, daß es nicht viele sind. Die Männer in Ihrem Department sind gute, rational denkende, gottesfürchtige und studierte Männer der Kirche von England. Zivilisiert, so wie man mein ganzes Leben lang versucht hat, mich zu zivilisieren.« Er ging hinüber und hockte sich neben Ashers Schulter, schlank und soldatisch selbst in dem tadellos geschnittenen braunen Anzug, den er trug. Ein heißer Sonnenstrahl ließ das Gold und den Rubin seiner Krawattennadel aufblitzen, deren Farben sich an seinem Siegelring wiederholten. »Doch, wenn Sie in den Bergen aufwachsen, ist das etwas Besonderes. Ich vermute, ich habe im Alter von fünf Jahren schon alles von meiner mährischen Amme gelernt, was Sie durch jahrelanges Vergleichen von Legenden und das Zusammentragen seltsamer Tatsachen, die nicht in die Lehrpläne von Oxford oder Innsbruck passen, erfahren haben. Hat man deshalb Sie ausgesucht, um mir zu folgen? Man hat doch sicher nicht gedacht, daß ich gerne ein vertrautes Gesicht sehen würde?« Asher konnte wegen des Pflasters nicht antworten und sah ihm nur in die Augen. Du weißt genau, daß ich ohnehin keine Antwort auf deine Fragen geben würde, sagte sein Blick, und Karolyis volle, rote Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Nun, ich muß zugeben, erst als ich Sie auf dem Münchner Bahnhof gesehen habe, wurde mir klar, daß das im Jahr 95 wirklich Sie waren. Unser guter Dr. Fairport hat mir damals dieses kleine Geheimnis vorenthalten.« Karolyi stand auf. Hinter ihm trugen die beiden Schläger den Schrankkoffer mit Anthea zur Tür, die Lukas, der Kutscher, aufhielt; Fairport stand daneben, und seine wäßrigen Augen zuckten nervös zwischen dem Koffer, Asher und Karolyi hin und her. »Wissen Sie, ich hätte gedacht, Sie wären inzwischen befördert worden und kein einfacher Agent mehr. Ich hatte immer den Eindruck, Sie seien klüger. Aber vielleicht haben Sie damals auch nur Glück gehabt.« Er nahm seine Handschuhe aus der Tasche und schickte sich an, sie anzuziehen, doch dann blickte er zu Asher hinab und steckte sie wieder ein. Eine kleine Geste, doch Asher war augenblicklich klar, was sie bedeutete. Weißes Glacéleder war teuer, und Blut ließ sich nicht auswaschen.
»Denk an meine Anweisungen, Lukas ... alle meine Anweisungen...«, rief er, dann wandte er sich mit bewundernswerter Beiläufigkeit um und sagte: »Dr. Fairport, vielleicht gehen Sie besser mit ihnen.« Fairport nickte, und hinter den dicken Brillengläsern hielt er den Blick fest auf den Koffer geheftet, den die Träger gerade durch die Tür manövrierten. »Natürlich«, sagte er atemlos, »sie haben ja keine Ahnung ... Klaus! Bitte, Klaus, ein bißchen sanfter!« Er hat vergessen, daß ich hier bin, dachte Asher. Eher wütend als ängstlich brachte er einen erstickten Laut hervor, der klang wie Fairports Vorname. Die Art, wie der Alte zusammenzuckte, verriet Asher, daß er recht gehabt hatte. Erfüllt, fasziniert, besessen von der Aussicht, einen Vampir lebend in seine Gewalt zu bringen, hatte Fairport ihn wirklich vergessen. Hatte vergessen, was Karolyi mit denen tat, die ihm im Weg standen, falls er es je gewußt hatte. Der alte Mann wandte sich zurück, aber nicht rechtzeitig genug, um zu sehen, wie Karolyi leise die Hand aus seinem Mantel zurückzog. Asher sah Fairport in die Augen und ließ nicht zu, daß er nicht erriet, was in der Minute, in der er den Raum verließ, geschehen würde. Die Augen des Alten, blaßgrau, winzig und verzerrt hinter riesigen runden Gläsern, blickten zur Seite. Verdammt sollst du sein,
dachte Asher, wenn du zulassen willst, daß er mich tötet, dann gesteh dir wenigstens selbst ein, was du tust ... »Es ist sicher am besten, wenn Sie sie beaufsichtigen«, sagte Karolyi sanft und wies mit dem Kinn auf die sich entfernenden Männer. Sie wollen das doch nicht wirklich mit
ansehen, oder?« Karolyi heftete seinen Blick auf Fairport, und Asher verstand den unausgesprochenen Handel: Wenn Sie nie wieder etwas mit Vampiren zu tun haben wollen, können wir
natürlich auch dafür sorgen ... Fairport drehte sich unsicher um, als habe Karolyi angedeutet, daß nur sein Einschreiten die drei Träger davon abhalten körne, den Schrankkoffer mit Anthea aus dem Fenster zu hieven und treppabwärts Schlitten darauf zu fahren. Dann wandte er sich zurück. »Vielleicht ... ähem ... hat uns jemand hereinkommen sehen«, sagte er zögernd. »Dann hat er bestimmt auch den Namen auf dem Wagen gesehen.« Er blickte entschuldigend zu Asher hinab und knetete seine Finger in ihren grauen Baumwollhandschuhen, als sei das alles, was er tun könne. Asher hätte ihn am liebsten getreten. Karolyi stieß einen leidgeprüften Seufzer aus. »Wenn Sie schon da sind, haben Sie Chloroform in Ihrer Tasche?« Fairport ging zu seinem Instrumentenkoffer, doch seine Hände zitterten vor Nervosität noch mehr als sonst, und er verschüttete das Chloroform, als er versuchte, es auf den Wattebausch zu gießen. Karolyi ging hinüber, um ihn zu stützen, und in diesem Augenblick spannte Asher seine Handgelenke gegen den hastig verknoteten Seidenschal an. Die Seide war kein Strick mit verdrillten Fasern; ein Knoten zog sich fest, während der andere verrutschte und sich löste. Als Karolyi sich umdrehte, die mit dem Betäubungsmittel getränkte Watte in der Hand, trat Asher mit aller Kraft gegen die Fußknöchel des Ungarn, befreite einen Arm von dem Schal, rollte auf die Füße und machte einen Satz zur Tür. Karolyi, der nach Fairports Schulter gegriffen hatte, um das Gleichgewicht zu halten, stieß den zerbrechlichen alten Mann beiseite, stürzte hinter Asher her und schrie gleichzeitig: »Haltet den Dieb!« Ohne Mantel, unrasiert, fremd in dem Hotel und immer noch stumm durch das Heftpflaster auf seinem Mund, hastete Asher die Eingangstreppe hinab. Als zwei stämmige Portiers in grünen Uniformen mit Messingknöpfen ihm nachsetzten, schwang er sich über das Geländer auf die nächste Treppe hinab. Er trat eine wacklige Glastür zu einer Galerie auf, die um zwei Seiten des Innenhofs verlief, und rutschte an einer Regenrinne in den Hof hinab, wo ein rotweißer Wagen mit Lukas am Zügel eben in die
Durchfahrt zur Straße rumpelte. Als der Kutscher die Zügel anzog und einer der Schläger sich hinten vom Wagen fallen ließ, um ihn zu stellen, schlug er einen Haken und duckte sich durch eine Tür, die in den Küchenbereich führte. Blitzschnell schob er sich an zwei verblüfften Köchen und einem Spülmädchen vorbei und wieder hinaus auf eine Gasse, verfolgt von den Rufen ›Dieb! Mörder!‹ und dem Geräusch eiliger Schritte. Die engen mittelalterlichen Straßen der Altstadt schienen voller Fußgänger, die entweder erschrocken vor ihm zurückwichen oder sich der Verfolgung anschlossen. Er stieß mit jemandem zusammen, rannte gegen eine Marktfrau und einen mit Paketen beladenen Postboten, hechtete durch ein offenes Tor in einen weiteren Hof und durch eine weitere Küche. Ein halbes Dutzend junger Offiziere in den blaugelben Uniformen der kaiserlich-königlichen Husaren sprangen von ihrem Tisch in einem Straßencafe auf und setzten ihm fröhlich nach, die Hände am Schwertknauf. Ihre Sporen ratterten auf dem Straßenpflaster. Er schlüpfte durch ein anderes Tor und rannte eine dunkle Treppe hinauf, während Polizei, Gardisten und Passanten an ihm vorbei in den Hof liefen und nach einer Küchentür oder dem Hinterausgang eines Ladens suchten. Als sie einen Durchgang fanden, stürmten sie hindurch, während Asher sich das Heftpflaster vom Mund riß wobei er einigen Schaden an seinem Schnurrbart anrichtete - und, als sie fort waren, die Stufen hinabstieg und wieder auf das Pflaster der Dorotheergasse trat. Der Schmerz in der Seite nahm ihm den Atem, und unter den Bandagen konnte er das warme Sickern von Blut spüren. Die Kälte des grauen Nachmittags drang durch seine Hemdsärmel. Während er auf die Menschenmengen auf dem Graben zueilte, kämpfte er gegen eine Woge des Schwindels an. Er griff in seine Hosentasche und betete, daß noch etwas anderes außer seinem Taschentuch darin war. Er hatte Glück. Letzte Nacht hatte er den Kaffee mit einem von Karolyis Zehn-Schilling-Scheinen bezahlt, und da die Wunde in seiner Seite zog, hatte er das Wechselgeld in die Hosentasche statt in die Innentasche seines Rocks gesteckt. Es würde vielleicht ausreichen, um sich auf dem Flohmarkt auf dem Stephansplatz einen Rock zu kaufen, wenn er nicht zu anspruchsvoll war, und ein Billett für eine Straßenbahn, die ihn aus der unmittelbaren Umgebung der alten Gassen hinausbringen würde, irgendwohin, wo er sich verbergen konnte.
ACHT
Asher blieb bis fast vier Uhr im Prater, damit sich das Zeter- und Mordiogeschrei wieder legen konnte. In einem der rustikalen Cafés, die die gewundenen Wege des Volkspraters säumten, nahm er ein spätes Mittagessen zu sich und aß tschechische Würste und butchy, während er den breiten Kiesweg im Auge behielt, der von den Leierkastenmännern und Karussells rund um das große Riesenrad in das herbstliche Graubraun des alten kaiserlichen Jagdparks führte. Einmal erhaschte er zwischen den dürren Bäumen einen Blick auf die strahlenden, kobaltblauen Uniformröcke des kaiserlich-königlichen Kontingents unter seinen Verfolgern und hörte aus der Entfernung, wie sie einander bei ihrer Suche zuriefen.
England, wenn es Krieg gibt, droht dir, glaube ich, von der österreichischen Front keine Gefahr. Doch sein verstohlenes Lächeln verblaßte, als er an Ernchester dachte, der jetzt nicht mehr ganz frei war. Wenn er sich bei dem Handel, den er mit Karolyi eingegangen war, irgend etwas ausbedungen hatte, Dinge, die er auf Geheiß des Adligen nicht tun würde, dann hatten die Regeln sich geändert. Oder sie würden sich ändern, sobald sie ihm mit teilten, daß sie Anthea gefangenhielten. Er zitterte in seinem Rock vom Trödelmarkt. Wie lange war Fairport schon Doppelagent? fragte er sich. Karolyi zufolge war er es schon bei dem lange zurückliegenden Aufruhr um die geschmuggelten russischen Gewehre gewesen. Daß Fairport ihn damals nicht an Karolyi verraten hatte, war nicht so ungewöhnlich, wie es Außenstehenden erscheinen mochte. Die Tatsache, daß Fairport der Kundschaftsstelle von Zeit zu Zeit Informationen zuspielte, bedeutete nicht, daß er ganz und gar ihr Mann war. Doppelagenten - insbesondere Männer wie Fairport - waren häufig Meister der Selbsttäuschung, wie Asher aus eigener Erfahrung wußte. Immer enthielten sie beiden Seiten Dinge vor, manchmal aus den bizarrsten und absurdesten Gründen. Er erinnerte sich an einen amerikanischen Missionar in China, der ihn nicht vor einem bevorstehenden Rebellenangriff gewarnt hatte, weil er verhindern wollte, daß ein chinesischer Förderer der Mission erfuhr, daß sein Sohn - der des Gönners - eine Mätresse in dem Viertel von Tientsin hatte, durch das die Rebellen vermutlich kommen würden. Und vielleicht hatte Karolyi ihn nicht danach gefragt, weil er die Angelegenheit für zu unbedeutend gehalten hatte, um einen Trumpf aus der Hand zu geben für Informationen, die er auch anderweitig bekommen konnte. Doch selbst im Rückblick schauderte Asher bei dem Gedanken daran, wie nahe er daran gewesen war, so zu sterben, wie sein tschechischer Bergführer gestorben war. Fairports Forschungen waren schon in den neunziger Jahren zur Besessenheit geworden. Material von höchster Qualität, technische Einrichtungen und Forschungsreisen waren immer teuer, und Fairport war kein reicher Mann. Die besten Agenten, überlegte Asher, waren die ohne irgendwelche Schwachpunkte, ohne irgendwelche Hebel, an denen ein Feind ansetzen konnte. Wie Karolyi. Glatte, hohle Männer, denen ihr Auftrag alles bedeutete. Er warf einen Blick zurück zu dem bescheidenen, rustikalen Kiosk, wo die Kellnerin zusammengekauert draußen im Kalten stand, und fragte sich, ob man Halliwell trauen konnte. Fairport mochte nicht der einzige sein, der in Karolyis Sold stand. Es wäre sicherlich besser, bis sechs zu warten und eine Botschaft im Donizetti zu hinterlassen, um ein Treffen zu arrangieren. Falls er bis dahin unerkannt bleiben konnte ... Doch nach sechs Uhr kam es nicht mehr darauf an.
Nicht für Karolyi. Obwohl Asher bereits ziemlich sicher war, was er darin entdecken würde, schlenderte er zum Kiosk und kaufte die Neue Freie Presse vom Tage. Auf der Rückseite fand er eine kleine Überschrift: LEICHE EINER SPITZENKLÖPPLERIN IM WIENERWALD GEFUNDEN Er überflog die kurze Meldung, und sein Blick machte das Wort »blutleer« aus. Der Name des Weinbergs, in dessen Nähe sie gefunden worden war, war ihm vertraut. Nur eine Viertelstunde Fahrt von Frühlingszeit entfernt. So war das also. Er starrte blicklos zu dem fröhlich-bunten Hauptweg, auf die Schießbuden und Kasperltheater, das Panoptikum, wo zur Erbauung von Schulbuben eine Wachsfigur des Zarenmörders ausgestellt war. Ein Hauch von Musik wehte aus dieser Richtung herüber, ein verzerrtes Klimpern von Orgelpfeifen und Glockenspiel, und dann war er verklungen. ›Der Blumenwalzer.‹
So war das also. Eine Spitzenklöpplerin. Eine Frau, die niemand vermissen würde, wie die Prostituierte in Paris. Natürlich hatte Karolyi sich eine Frau ausgesucht. Ernchester würde bis irgendwann heute nacht dort sein. Fairport war unwichtig. Selbst auf die Enthüllung eines Komplotts, bei dem man sich der Vampire bediente, konnte man verzichten. Wie Karolyi gesagt hatte, würden die meisten Männer im Department ohnehin nicht daran glauben. Wer nicht entbehrlich war - und auf wen er selbst nicht verzichten konnte - war Ernchester. In diesem Moment wußte Asher, wo der Vampirgraf war, wo Anthea zu finden sein würde. Wenn sie erfuhren, daß Fairport - und Frühlingszeit - aufgeflogen waren, würden sie heute nacht weiterziehen, sich wie echte Vampire im Nebel auflösen und nur ein wenig Blut und ein Raunen von Gerüchten zurücklassen. Auf dem Weg fuhr ein Fiaker vorüber, und der Kutscher pfiff munter vor sich hin. Das Licht des Nachmittags war stählern und kalt geworden. Asher erschauerte wieder und hauchte auf seine Hände. Natürlich hatte er immer die Möglichkeit, den nächsten Zug zurück nach München zu nehmen - so, wie die Dinge standen, würde er sich einen Platz im Gepäckwagen erbetteln müssen. Asher hatte auch dies seinerzeit schon getan. Wenn Burdon immer noch Leiter der Münchner Sektion war - wenn es in München noch eine Sektion gab -, konnte er wenigstens genügend Geld bekommen, um nach England zurückzugelangen. Er würde ihnen mitteilen, daß Fairport ein Verräter war, daß Karolyi ein Bündnis mit - nun, mit einem sehr gefährlichen Mann - geschlossen hatte, und seine Hände in Unschuld waschen. Ohnehin ging ihn nichts davon etwas an. Er hatte alles getan, was man von ihm erwarten konnte. Doch Anthea wäre immer noch in Karolyis Händen. Und er wußte, wo Ernchester heute war. Dies war der springende Punkt. Im Kiosk gab es ein Telefon. Wenn er Halliwell anrief, konnte die Polizei ihn zweifellos über die Vermittlung aufspüren - er hatte zu oft mit dem endlosen Geplapper der Wiener »Fräulein vom Amt« zu tun gehabt, um zu glauben, daß er diese Transaktion schnell erledigen konnte. Und wenn er eine Nacht im Gefängnis aufgehalten wurde, hieß das, daß Ernchester - und Anthea - spurlos verschwunden sein würden. Als er an seinem Tisch Platz genommen hatte, vom Pfad aus gesehen halb hinter einer Hecke verborgen, waren noch zwei oder drei andere tapfere Seelen dagewesen, die ihren Kaffee geschlürft und nachdenklich über das schieferfarbene Wasser des Kanals geblickt hatten. Jetzt war er allein. Auf der anderen Seite des Flusses schlug die Uhr am Stephansdom drei. Unwillig stand Asher auf, schob die bloßen Hände energisch in die Taschen, und nachdem er vorsichtige Blicke den Pfad hinauf- und hinabgeworfen hatte, um Anzeichen
einer Verfolgung zu entdecken, ging er über die Hauptallee in Richtung Praterstern, wo er mit seinen letzten paar Groschen eine Straßenbahn erwischen konnte, die ihn wenigstens einen Teil des Weges zum Wienerwald mitnehmen konnte. Nicht lange nachdem es vollständig dunkel geworden war, bemerkte Asher, daß er verfolgt wurde. Er nahm die Straßenbahn bis Döbling und stieg dann die Straße hinauf, die durch die dürren, rost- und zinnfarbenen Wälder an Grinzing vorbeiführte. Die Bewegung verschaffte ihm ein wenig Wärme, obwohl seine Seite bei jedem Schritt schmerzte und er wiederholt eine Pause einlegen und auf den niedrigen Steinmauern rasten mußte, die die Wälder oder Weinberge von der Straße trennten. Als er so dasaß und versuchte, nach einem besonders steilen Stück Straße wieder zu Atem zu kommen, hörte er, wie die Uhr dort in dem Märchendorf fünf schlug. Dann und wann fuhr ein Bauernfuhrwerk vorbei, und einmal ein Automobil voller Städter, die ländliche Ruhe gesucht hatten und jetzt auf dem Heimweg waren. Als das Zwielicht unter den Bäumen tiefer wurde, begegnete ihm fast niemand mehr. Eine leichte Brise schob die Wolken beiseite; in einem eisigen Hof schwebte der Mond wie eine polierte Silberscheibe. Um sechs war es stockdunkel. Das war in diesem Fall nicht so wichtig, denn Asher kannte die Straße. Während er sich bergauf schleppte und eine schmerzhafte Müdigkeit an seinen Gliedern zerrte, hatte er manchmal das Gefühl, er sei nie fortgewesen. Er brauchte nicht einmal Ausschau nach den efeubewachsenen steinernen Torpfosten des Sanatoriums Frühlingszeit zu halten. Die Steigung der Straße sagte ihm genau, wie weit er noch zu gehen hatte. Er lauschte auf menschliche Verfolger. Doch was er schließlich hörte, war etwas anderes. Nur schwer hätte er beschreiben können, was er hörte oder was er spürte, das ihm verriet, sie waren in den Wäldern hinter ihm. Wäre er nicht vor einem Jahr dem Tod durch ihre Hand so nahe gewesen - oder durch die Hand von ihresgleichen in Paris -, wäre ihm vielleicht nicht einmal bewußt geworden, daß er verfolgt wurde. Doch er wußte es. Ein Hauch von Schläfrigkeit in seinem Bewußtsein, trotz des Windes, der sich durch seinen löchrigen Rock fraß, und des Schmerzes in seiner Wunde. Ein Gefühl, daß es eigentlich nicht nötig war, sich umzuschauen oder einen Blick auf die Wälder ringsherum zu werfen. Und dann trug ein kleiner Lufthauch, der aus der aschfarbenen Dunkelheit zwischen den Bäumen drang, ihm den süßlichen Gestank von Blut zu. Er ging weder schneller noch langsamer, denn er wagte nicht, sie merken zu lassen, daß er Bescheid wußte, doch erfragte sich, was er tun sollte. Er war beinahe an der Zufahrt, die nach Frühlingszeit führte, und mindestens die Einfahrt würde von Karolyis Männern beobachtet werden. Dort würde er die Straße verlassen müssen. Das Silber an seinem Hals und seinen Handgelenken würde ihm ein paar Sekunden einbringen, doch es würde ihn nicht davor bewahren, daß sie ihm das Genick brachen. Die Straße vor ihm lag verlassen da. Normalerweise bewegten sie sich lautlos, aber es war Spätherbst, und unter den bleichen Stämmen der Buchen lag das braune Laub in dicken Haufen, und abgestorbener Farn und Efeu raschelten und wisperten, als unsichtbare Füße darüberschritten. Er blieb am Straßenrand stehen - für den Fall, daß Karolyi Wachen auf der Straße hatte, hatte er sich im Schatten am Rand des Grabens gehalten -, nahm seine Uhr aus der Tasche und drehte sie so, daß er sie im Mondlicht lesen konnte. Dann schloß er sie mit einem Klicken und hakte die Uhr, während er so tat, als würde er sie wieder in die Tasche stecken, von seinem Gürtel los. Mit einer schnellen Bewegung wickelte er die Kette zweimal um den Mittelfinger, so daß er, als er die Hand wieder hervorzog - und unter die Achsel steckte, wie um sich zu wärmen - das silberne Rund in der Handfläche verborgen hielt. Es war nicht viel, aber es würde reichen müssen.
Er sprang über den Graben, kletterte ein Stück die Böschung hinauf und fragte sich, ob sie das plötzliche heftige Hämmern seines Herzens hören konnten. Die Wälder von Wien waren nicht dicht. Er bezweifelte, ob er sich unter einem sommerlichen Blätterdach hätte orientieren können, doch da die Bäume kahl waren, konnte er in dem bleichen Mondlicht, das durch das Gitterwerk der Äste schien, gerade eben die vertrauten Umrisse von Buchen und Platanen erkennen. Es gab keine Möglichkeiten herauszufinden, wie groß die Streitmacht war, die Karolyi im Sanatorium hatte. Doch ein einziger Mann wäre genug, um Alarm zu schlagen. Immer vorausgesetzt, er gelangte lebend in die Nähe der Mauern. Was hatte Anthea gesagt? Die Meister der Untoten wachen eifersüchtig über ihre Territorien. Er erinnerte sich auch an Bully Joe Davis damals in London, diesen kläglichen Zögling, wie er schreckerfüllt über die Schulter geschaut hatte: Sie würden mich töten,
sie würden es tun - Grippen will niemand in London haben außer seiner eigenen Brut, seinen eigenen Sklaven ... Hatten sie ebenfalls - wer auch immer sie waren - die kleine Meldung über die tote Spitzenklöpplerin in der Neuen Freien Presse gelesen und wußten, daß ein anderer in ihrem Revier jagte und auf eine Weise tötete, die das Mißtrauen der Herrscher des Tages erwecken mußte? Oder, fragte sich Asher, erkannten sie einfach seinen Herzschlag, den Geruch seines Blutes als den des Eindringlings, der letzte Nacht um die Mauern ihrer Palais geschnüffelt hatte? Asher schritt schnell und zielbewußt aus. Einmal hörte er die Blätter rascheln und ein Geräusch, das von einem Taftunterrock hätte stammen können, aber seine Sinne schrien ihm zu, daß es mehr waren als einer. Wie Haie folgten sie ihm und glitten unsichtbar durch die Abgründe zwischen den Bäumen. Vor ihm schimmerte es weiß, von schwarzen Adern durchzogen: die rückwärtige Mauer von Frühlingszeit. Darüber erhoben sich die steilen Dächer und Stuckwände des Hauses; der Goldockerton, der so charakteristisch für die Wiener Häuser ist, wirkte in der Dunkelheit schmutzig. An den meisten Fenstern, die auf die Wälder hinausgingen, waren die Läden geschlossen, doch aus den Fenstern zum Hof drang Lampenlicht und zeigte die Umrisse dessen, was einmal der Stall gewesen und seither zu einem Labor und Behandlungsraum umgebaut worden war. Asher hatte immer den Verdacht gehegt, daß sich der Zustand der alternden Katzen und Hunde - und gelegentlich eines Wiener Ge schäftsmanns -, mit denen Fairport experimentierte, vor allem aufgrund der therapeutischen Massagen, des guten Essens und der sorgfältigen Pflege, die mit der ›magnetischen Induktion‹ einhergingen, verbesserte. Wie Asher sich erinnerte, lag unter dem Stall eine Art Krypta, wo neben den Karbol-, Äther-, Kerosin- und Kohlevorräten Fairports Generator untergebracht war. Als er sich der Mauer näherte, roch er den Zigarettenrauch eines Wächters. Die Bäume standen bis dicht an die Rückseite des Anwesens. Aus seinem Versteck hinter einer Eiche konnte er das Fenster sehen, wo er jenen längst vergangenen Nachmittag über gesessen und Pläne geschmiedet hatte, wie er aus Wien herauskommen und dabei Françoise auf die verletzendste Art verraten könnte. Dann wandte er den Kopf und sah, daß eine Frau neben ihm stand. Die Haare standen ihm zu Berge. Er hatte nicht einen Laut gehört. Sie war schön, wie aus Mondlicht geschmiedet. Ihr flachsblondes Haar trug sie hochgesteckt, doch Zweige hatten sich darin verfangen und Strähnen herausgezogen, die jetzt wie eine schimmernde Aura um ihr Gesicht schwebten; sie hatte helle Augen, grau oder blau, ausgeblichen und durchscheinend. Auch ihr Kleid schien wie aus Mondlicht, ein Perlmutton, farblos wie ein Spinnennetz. An den Ärmeln blitzte der Glanz von Satin auf, als sie die Hände erhob. Ihre Augen waren voller Sehnsucht, Leid und Begehren. Asher spürte, wie sein Bewußtsein sich verengte, und ein heißes Verlangen nach ihr
durchströmte sein Herz, seine Gedanken und seine Lenden, obwohl er im Schatten dieser wächsernen Lippen die gebogenen Fänge sah. Es kam nicht darauf an. Es kam nur noch darauf an, daß er sie wollte, so verzweifelt, wie er die hübschen Ladenmädchen von Oxford gewollt hatte, als er Student und von den erwachenden Lüsten eines Jünglings besessen gewesen war. Gegen seinen Willen erfüllte eine Art Trunkenheit seinen Geist, und unwillkürlich griff er nach ihr, erfüllt von der irrationalen Überzeugung, daß es nichts ausmachen würde, wenn er sie küßte, wenn er sie berührte, daß alles gut werden würde, wie im Traum. Er sah sich selbst wie aus großer Entfernung, und sein Bewußtsein protestierte, konnte seine Gedanken aber nicht mit seinen Handlungen in Verbindung setzen. Ihre Hände berührten sein Gesicht, kalt selbst in den muschelfarbenen Glacéhandschuhen; sie glitten über seine Ohren und hinab zu seinem Hals, und seine Hand fühlte sich auf dem engan liegenden silbrigen Stoff über ihrer Taille rauh und kalt an. Dann verzog sich ihr Mund, weit aufgerissen wie der Rachen einer wütenden Katze, zu einem Knurren. Der Glanz, den sie über ihn geworfen hatte, fiel ab. Sie riß die Hände von seinem Kragen zurück, wo sie selbst durch den Stoff und das Leder das Brennen des Darunterliegenden Silbers spürte. Asher keuchte, und ihm schien, als wache er aus einem Traum auf. Ihr Mund war nur Zentimeter von seiner Kehle entfernt, und sie hielt seinen Arm bereits in ihrem eisenharten Griff. Bevor sie eine Bewegung machen konnte, schlug er mit der silbernen Uhr, die er in der Handfläche trug, nach ihrer Wange und riß sich von ihr los, als sie vor Schock, Schmerz und Wut zu schreien begann - wie der Schrei einer Raubkatze oder eines Höllendämons. Er schleuderte sie beiseite und machte einen Satz zur Mauer. Sie schrie nochmals, und aus dem Augenwinkel sah er, wie sie auf die Knie sank, ihre Wange umklammerte, weiter- und weiterschrie und die Krallen in das Fleisch grub. Etwas - etwas Dunkles erschien zwischen den Bäumen, und er spürte, wie eine alles erstickende Müdigkeit sich über sein Bewußtsein legte wie in Samt gehülltes Eisen. Er schüttelte sie ab, kämpfte sich hoch und über die Mauer, während irgendwo in der Nähe die Schreie von Männerstimmen erklangen, und ließ sich, Augenblicke bevor der erste von Fairports Dienern um das Haus gestampft kam, in die Rosenbüsche hinabfallen. Er rollte sich in den Schatten und verbarg sein Gesicht, das sonst als bleicher Fleck sichtbar gewesen wäre, während sie durch den Garten zum Tor rannten. In dem Moment, als der letzte fort war, stürzte er über den schmalen Zwischenraum aus Kies und nackten Dornen zu der Tür unter der Treppe. Dann waren andere Männer im Garten und riefen einander zu. Er hörte den Namen von Lukas, dem Kutscher, und jemand rief ›Herr Kapitän‹, wahrscheinlich war es Karolyis Regimentsrang. Das Schreien hatte aufgehört. Doch sie würden alle noch eine Zeitlang beschäftigt sein. Zehn Minuten lang, schätzte er - während er schnell den gefliesten Flur zur Küche hinunterging - würde jedermann wie verrückt an der Mauer entlangrennen. Länger vielleicht, wenn sie so wenige Leute hatten, wie er vermutete, oder falls sie irgend etwas fanden. Er löste den Hebel hinter dem Geschirrschrank aus und glitt die schmale Treppe hinab, die der Schrank freigab. Mehr als einmal hatte er slawische Nationalisten oder russische Kuriere hier hinuntergebracht, damit Fairports Patienten sie nicht zu Gesicht bekamen. Gott, wie die blonde Frau geschrien hatte! Auf dem Flohmarkt hatte er Draht gekauft, um sich einen neuen Dietrich zu fabrizieren; während er ihn in das Schloß unten an der Treppe schob, zitterten seine Hände. Es war ein altertümliches Schnappschloß, und er hätte es im Schlaf aufbrechen können - ein dutzendmal hatte er Fairport deswegen gewarnt ... Es faszinierte ihn, daß siebzehn Jahre im Department ihn nicht immun gemacht hatten gegen die alte Stimme der Ritterlichkeit in ihm, die empört schrie, daß es Dinge gab, die
ein Gentleman tat, und welche, die er nicht einmal tun würde, wenn es um sein Leben ging: einen Mann treten, der am Boden lag, das austeilen, was man euphemistisch einen ›Schlag unter die Gürtellinie‹ nannte, jemanden von hinten erschießen, einen Eid brechen, einen falschen Namen benutzen. Einen sechzehnjährigen Jungen erschießen, der einem vertraute. Der Frau, die man liebte, Geld stehlen. Einem schönen Mädchen mit einer Handvoll einer Substanz ins Gesicht schlagen, von der man einigermaßen sicher war, daß sie wirkte wie Vitriol. Offensichtlich war die Tatsache, daß sie ihn innerhalb der nächsten Sekunden getötet hätte, hätte er es nicht getan, für diese alten Stimmen aus seiner Kindheit nicht von Belang: die Stimmen seines Vaters, des Landarztes, seines finster blickenden Onkels, seiner Tutoren in Winchester und Oxford. Er kam sich immer noch ganz und gar wie ein Schwein vor. Glaubte er, sie sei anders gewesen als Anthea? Die Sperrklinken des Schlosses schnappten zurück. Als er die Tür öffnete, sah er in dem trüben Gaslicht aus der Spülküche über ihm, daß der Beschlag des Schlosses merkwürdig schimmerte. Asher stellte einen Fuß in die Tür, damit sie nicht zuschlug - sie hatte, wie er sich erinnerte, eine starke Feder - und riß ein Streichholz an, um besser sehen zu können. Auf der Innenseite war das Schloß aus Silber. Der Duft frischer Sägespäne stieg ihm in die Nase, und darunter lag ein Geruch nach Blut. Wieder stellten sich seine Nackenhaare auf, und er stand still, horchte und atmete kaum. Dann drehte er langsam den Riegel, damit er nicht wieder zuschnappte, hob sein Zündholz höher und hielt es in den Raum hinein. Silber blitzte im Schein des Phosphorlichts auf. Wo er nur einen kleinen Kellerraum gekannt hatte, ausgestattet mit Bett, Stuhl und Nachttopf, sah er jetzt ein schimmerndes Gitter aus Silberstangen, das sich weniger als drei Fuß von der Tür entfernt von einer Wand zur anderen erstreckte. Dort, wo es mit der untersten Stange aus galvanisch versil bertem Stahl im Boden verankert war, lagen Sägespäne, gelblich und frisch. Hinter den Gitterstäben waren Augen, die das Licht reflektierten wie die Augen einer Katze. Als die Flamme ihm die Finger versengte, blies Asher das Streichholz aus. In dem schwachen, doppelt reflektierten Licht von der Treppe sah er ein bleiches Gesicht und bleiche Hände, die sich den Gittern näherten, das Weiß einer Hemdbrust und eine altmodische Halsbinde. Aus dem Dunkel klang eine Stimme. »Sind Sie gekommen, damit ich kapituliere? Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich alles tun werde, was Sie verlangen. Ist es nicht genug, daß Sie mich verraten, mich angelogen haben? War es nötig zu ... zu tun, was Sie getan haben?« Eine Pause entstand, während Asher blicklos ins Dunkel starrte und die seltsamen, funkelnden Augen hinter den Gitterstäben ihn ansahen. Dann sagte die Stimme: »Dr. Asher. Der Sprachendoktor aus London. Don Simon sagte, Sie seien einmal ein Spion gewesen.« Verspätet machte Ashers Bewußtsein einen Satz. »Es war nicht Ihre Frau, deren Schrei Sie gehört haben«, sagte er. Eine der weißen Hände bewegte sich; Ernchester preßte sie einen Augenblick auf den Mund und schloß die Augen wie ein Mann, der versucht, etwas in sich zum Schweigen zu bringen. Schnell fuhr Asher fort: »Es war ein anderer Vampir, eine Frau, die mich direkt vor den Mauern angegriffen hat. Wissen Sie, wo der Schlüssel aufbewahrt wird?« Ernchester schüttelte den Kopf. »Fairport hat ihn«, sagte er nach einer Weile. Wie Asher schon im Zug gehört hatte, war seine Aussprache weit weniger modern als die seiner Frau, und die flachen Vokale ließen sie sehr amerikanisch klingen. »Wo ist Anthea? Sie
haben gesagt, daß Sie sie haben...« »Ich weiß es nicht.« »Finden Sie sie. Ich flehe Sie an, bringen Sie sie von diesem Ort weg...« Asher trat an die Stäbe und untersuchte das Schlüsselloch an der kleinen Tür, die in das Gitter eingelassen war. Es war ein Yale-Zylinderschloß, und es aufzubrechen überstieg die Möglichkeiten eines Stücks Draht bei weitem. Im Hintergrund des vergitterten Bereichs konnte er wie ein Felsblock aus Schatten einen Schrankkoffer erkennen. Davor wirkte der Graf sehr klein in seinem schäbigen Schwalbenschwanzrock, seiner fröhlich rot-gelb gestreiften Weste und seinen Steghosen, ein Geist, aus Staub geboren, eine Mumie, die das Sonnenlicht zerstören würde. »Ich komme wieder.« Als er sich zum Gehen wandte, sah er auf der Bank neben der Außentür die Spitzenhandschuhe liegen, die Anthea im La Stanza getragen hatte, und ein rotes Band, an dem eine schwarze Perle von der Größe einer Erbse hing. Sie hatte es um den Hals getragen, als sie sich in den Schrankkoffer gelegt hatte, der ihr als Reisesarg diente. Sie mußten ihm die Gegenstände gebracht haben, um ihm zu beweisen, daß sie sie tat sächlich hatten. Was war wohl der ursprüngliche Handel gewesen? fragte er sich, als er die verborgene Treppe zur Spülküche hinaufstieg und das Regal hinter sich zuschob. War er ein Köder gewesen, damit sie Ernchester in ihre Gewalt brachten und damit er etwas tat, dem er niemals zugestimmt hätte? Was? Gewiß war Ernchester in Charing Cross aus eigenem Willen in den Zug gestiegen, war ein freier Mann gewesen, als er Cramer ermordet hatte. Bitter biß Asher die Zähne zusammen, als er an das naive Grinsen des fülligen jungen Mannes dachte. Er sollte den Mörder des Jungen erschießen und nicht sein eigenes Leben riskieren, um ihn zu befreien. Als er schnell und lautlos die Treppe zu Fairports Büro hinaufstieg - er hielt sich an der Wand, damit die Stufen nicht knarrten -, erinnerte er sich wieder, warum es soweit gekommen war, daß er das Große Spiel haßte. Im Büro brannte eine Lampe - ungünstig, denn einer der Vorhänge war halb offen, und dies bedeutete, daß er vorsichtig vorgehen mußte, um von außen nicht gesehen zu werden. Auf allen vieren kroch er zum Schreibtisch. In diesem Flügel des Gebäudes hatte er niemanden gehört. Er hatte nur Minuten, bis sie zurückkehrten und die Suche ernsthaft aufnahmen, und Ernchester hatte recht, daß er vor allem Anthea befreien mußte. Solange Karolyi sie hatte, hatte er auch den Vampirgrafen, gleich, ob er den Mann tatsächlich in Gewahrsam hielt oder nicht. Die Tatsache, daß Ernchester sofort den Schluß gezogen hatte, der furchtbare Schrei, den er gehört hatte, stamme von ihr, sprach für sich. Sie sind Mörder, dachte er in einer Art verblüfften Zorns auf sich selbst. Über die Jahre
hat Anthea Tausenden von Menschen das angetan, was diese Frau beinahe mit mir gemacht hätte. Warum sollte mich ihr Schicksal kümmern? Doch alles, woran er sich erinnerte, war das Gesicht einer plumpen, müden grauhaarigen Frau auf einem Porträt, die um einen Gatten trauerte, der seit dreißig Jahren tot war. Wie
ist es möglich, daß er tot ist? Zwischen den Papieren, die auf der Platte des Schreibtischs verstreut waren - Fairport war ein unordentlicher Haushälter, wenn auch nicht so schlimm wie Lydia -, erkannte Asher das zusammengefaltete Exemplar der Times vom letzten Freitag. Daneben lag ein gelber Umschlag, der zwei Zugfahrkarten enthielt. Paris - Konstantinopel, über Wien.
Konstantinopel? Ihm kam ein Gedanke. Ist es nicht genug, daß Sie mich verraten, mich angelogen haben? Er hockte sich auf den Boden neben dem Schreibtisch, nahm den Hörer vom Telefon und kurbelte, bis er die Wiener Vermittlung hatte.
»Hier ist die Wiener Zentrale Telefonvermittlung«, meldete sich die fröhliche Stimme der Telefonistin. »Einen sehr guten Abend wünsche ich Ihnen, ehrenwerter Herr.« »Auch Ihnen einen sehr guten Abend, verehrte Dame«, erwiderte Asher, der wußte, daß nichts Gutes dabei herauskam, wenn man eine Wiener Telefonistin zur Eile drängte. »Würden Sie so freundlich sein, mich mit dem Café Donizetti in der Herrengasse zu verbinden und zu fragen, ob ich mit dem Herrn Ober sprechen dürfte, bitte?« Der Boden vibrierte, als irgendwo eine Tür geschlossen wurde. Schnelle Schritte bewegten sich durch einen Flur im Erdgeschoß. Sekunden fielen auf ihn herab wie Erde in ein Grab, das zugeschaufelt wird. »Gewiß, ehrenwerter Herr, es wäre mir ein großes Vergnügen.« Entfernt hörte er ihre Stimme, die sich in formellen Begrüßungen und kunstvollen höflichen Nichtigkeiten mit jemandem im Donizetti erging und schließlich nach dem verehrten Herrn Ober fragte, da sei ein höchst ehrenwerter Herr, der ihn zu sprechen wünsche, falls seine Pflichten ihm Zeit ließen, und näher hörte er Stimmen, die vom Hof vor dem Fenster heraufdrangen. »... nichts gefunden ... jemanden dorthin...« Nur noch Minuten, dachte er, dann würden sie beginnen, das Haus zu durchsuchen. »Ladislas Levkowitz zu Ihren Diensten, ehrenwerter Herr.« »Mein lieber Herr Levkowitz, ich verstehe, daß es für einen so beschäftigten Mann wie Sie eine ungeheure Zumutung ist, aber ist wohl Herr Halliwell aus Großbritannien schon zum Abendessen erschienen? Könnten Sie ihn freundlicherweise wissen lassen, daß ein Herr Asher mit ihm über eine Angelegenheit von einiger Dringlichkeit sprechen möchte? Vielen Dank...« Asher drückte den Hörer gegen die Wange, erhob sich auf die Knie und inspizierte nach einem kurzen Blick zum Fenster schnell das, was sonst noch auf dem Schreibtisch lag. Drei oder vier grün eingebundene Notizbücher enthielten Aufzeichnungen über Gespräche mit Achtzigjährigen aus der Wiener Umgegend und mit anderen weiter draußen auf dem Lande. Ein dickes Bündel Rechnungen über Glas und Chemikalien für Experimente mit dem Blut dieser Alten belegte auf einen Blick, daß Fairports Ausgaben so hoch waren, daß die Gewinne aus dem Sanatorium sie unmöglich decken konnten. Hinten in einer Schublade lag ein dicker Stapel aufgerissener Umschläge mit dem Siegel der österreichischen Botschaft in Konstantinopel. Alle enthielten datierte Abschnitte, auf denen Summen standen - hohe Summen - und die mit ›Karolyi‹ unterzeichnet waren. Die Daten reichten zwei Jahre zurück. Es gab ein halbes Dutzend Schlüssel, von denen keiner auf ein Zylinderschloß von dem Typ in der Tür des Silbergitters paßte. Ein Brecheisen, dachte er. In der Krypta, wo der Generator stand, würde eines sein, falls er dorthin gelangen konnte. Verdammt, dachte er, hör auf, mit dem Herrn Ober zu schwatzen und komm ans
Telefon ... »Legen Sie den Hörer zurück auf die Gabel, Asher.« Er blickte sich um. In der Bürotür stand Fairport, eine Pistole in der grau behandschuhten Hand.
NEUN Asher machte keine Bewegung. »Ich werde sie benutzen«, sagte Fairport warnend. Langsam kam er ins Zimmer, indem er einen großen Bogen machte, um sich außerhalb von Ashers Reichweite zu bringen, und hielt die Pistole auf ihn gerichtet, bis er dem Schreibtisch nahe genug war, um die freie Hand auszustrecken, die Gabel herunterzudrücken und damit die Verbindung zu unterbrechen. Asher, der neben dem Schreibtisch gekniet hatte, ließ sich wieder auf den Boden nieder. Den Hörer hielt er immer noch in seiner Hand. »Auch gegen einen Ihrer eigenen Landsleute?« Dies waren die scheinheiligen Phrasen des Großen Spiels - Ehre auf den Sportplätzen von Eton, und Gott schütze den König. Doch auch Fairport spielte dieses Spiel seit Jahren, und es war immerhin möglich, daß er immer noch in dessen Kate gorien dachte. Und Asher war neugierig auf die Kategorien, in denen er tatsächlich dachte. »Diese Sache hat internationale Ausmaße, Asher«, sagte Fairport leise. Er trat ein wenig zurück, aus Ashers unmittelbarer Reichweite. »Sie können an nichts anderes denken, nicht wahr? Es ist alles, woran dieser Lackaffe Ignace denken kann. Sie beide sind wie Wilde, die Bände von Plato zerreißen, um damit die Löcher im Dach zu stopfen, damit es nicht hereinregnet. Was wir herausgefunden haben, ist die größte Offenbarung, die bedeutendste Entdeckung in der Geschichte der Menschheit, und er kann nur daran denken, von welchem Nutzen ein solcher Mann in Mazedonien und gegen die Russen in Bulgarien sein kann - und alles, woran Sie denken können, ist, einen solchen Mann zu töten, damit sich in dem ›Großen Spiel‹ die Waagschale nicht zu Ihren Ungunsten neigt. Sie verstehen nicht. Sie weigern sich zu verstehen.« »Ich verstehe, welchen Schaden ein Mann wie er anrichten kann, wenn er sich mit jeglicher Regierung verbündet. Und ich kann mir vorstellen, welche Form von Honorar eine Regierung solch einem Mann zahlen würde.« Fairport sah vollkommen verständnislos drein. Dann, als Asher die Augenbrauen hochzog, stieg dem Alten eine ungesunde, fleckige Röte ins Gesicht. »Oh. Oh, das. Ich bin sicher, daß das ein Zustand ist, der durch gründliche medizinische Forschungen korrigiert werden kann ... Ich habe in Joghurt und chinesischem Ginseng erstaunliche Eigenschaf ten entdeckt, die sie zu Nahrungsmitteln machen, die die Langlebigkeit fördern. Sie werden nicht immer menschliches Blut trinken...« »Ich bin sicher, die Spitzenklöpplerin, die Ernchester letzte Nacht getötet hat, würde sich freuen, das zu hören«, erwiderte Asher grimmig, obwohl er in einem entlegenen Winkel seines Bewußtseins darum kämpfte, nicht über die Vorstellung zu lachen, wie Lionel Grippen, Meistervampir von London, bei einem Abendessen aus Joghurt und Ginsengtee saß. »Und glauben Sie nicht, daß es Vampire geben könnte, die den Geschmack des menschlichen Todes genauso lieben wie den des menschlichen Blutes?« Der Alte verzog den Mund. »Das ist das Abstoßendste, was ich je gehört habe! Das können sie nicht ... Niemand, der bei Verstand ist, könnte das. Sie werden diese Befreiung ebenso begrüßen wie ein Trinker die Befreiung vom Alkohol. Und in der Zwischenzeit kann man ihnen die, die körperlich und sozial untauglich sind...« »Sie meinen Verräter?« Im Haus waren keine anderen Geräusche zu hören, obwohl es in den Büschen gedämpft raschelte, als jemand unter den Fenstern vorüberging. Wenn er Fairport entwaffnen konnte, ohne daß ein Schuß fiel, hatte er vielleicht noch Zeit. Fairport richtete sich auf. »Ich bin kein Verräter«, sagte er würdevoll. Asher seufzte, aufrichtig angeekelt. »Ich habe noch nie einen Doppelagenten getroffen, der einer war.« »Ich habe Baron Karolyi niemals Informationen weitergegeben, die irgendeinem unserer
Kontaktleute oder Agenten hätten schaden können...« »Woher wollen Sie das wissen?« fragte Asher müde. »Sie haben keine Ahnung von Politik, Sie lesen kaum eine Zeitung, jedenfalls haben Sie es nicht getan, als ich hier war. Glauben Sie nicht, daß er, wenn er einen Handel mit den Vampiren abschließen kann wenn er Ernchester dazu erpreßt, andere Vampire zu schaffen, Zöglinge, die der österreichischen Regierung ergeben sind - diese nicht am Ende gegen uns benutzt? Oder sogar in England?« »Das wird nicht geschehen!« schrie Fairport. »Ich werde es nicht zulassen! Asher, Karolyi ist nur ein Mittel zum Zweck. Diese kleinliche Politik, eine Handvoll militärischer Geheimnisse, die in drei Jahren nutzlos sein werden, sie sind ein kleiner Preis für das Wissen, die Erkenntnis, die den Menschen endlich aus den Krallen des Alters, der Gebrechlichkeit und des Todes befreien werden! Asher, sehen Sie mich an!« Er schüttelte seine winzige Faust wie ein frustriertes Kind. »Sehen Sie mich an! Ich bin schon mit fünfunddreißig ein alter Mann gewesen! Sans Zähne, sans Augen, sans Geschmackssinn...«Er schüttelte den Kopf. »Und in den letzten zwanzig Jahren habe ich jeden Tag mit Männern zu tun gehabt, die genau wie ich diesen kalten, furchtbaren Schrecken darüber empfunden haben, daß ihr Körper sie im Stich läßt. Männer, die gestrauchelt sind, als sie versuchten, den Wettlauf mit dem Tod zu gewinnen. Ich habe alles versucht, bin in die entferntesten Winkel der Erde gereist und habe die aufgesucht, die das Alter besiegt haben - habe versucht herauszufinden, was es ist, das den Körper versagen läßt, uns blind, taub, weißhaarig und aufgedunsen und impotent und mürbe macht.« Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern glitzerten plötzlich, und Gehässigkeit schlich sich in seine Stimme. »Was ist es, das manchen auslaugt, während andere noch fressen, herumhuren und tanzen, wenn sie achtzig sind, und...« Asher schlug zu. Blitzschnell schossen seine langen Beine vor und schleuderten die Hand beiseite, in der Fairport die Waffe hielt, und im selben Augenblick rammte er die Faust gegen das Kinn des Alten. Er schlug mit aller Kraft zu, um den Abstand zwischen ihnen schneller zu überbrücken, als Fairport reagieren und schießen konnte. Die Wucht des Schlages streckte den Professor rücklings zu Boden, als habe Asher ein Kind niedergeschlagen. Er hatte keine Zeit nachzudenken oder es zu bedauern - im nächsten Augenblick konnte Karolyi oder einer der Lakaien hereinkommen, und Asher wußte, dann würde er sterben. Anders als Fairport war Karolyi kein Mann, der sich rechtfertigte oder Erklärungen abgab. Er hob die Waffe auf, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche des alten Mannes und steckte ihn ein, löste den Gürtel des Alten und benutzte ihn, um ihm die Hände hinter dem Rücken zu binden, dann knebelte er Fairport mit seinem eigenen Taschentuch. Er nahm sich noch einen Augenblick Zeit, um ihn hinter den Schreibtisch zu zerren, immer noch geduckt, damit man ihn nicht durch das Fenster sah ... Wirklich, dachte er mit leisem Bedauern, der Mann war schon immer etwas durcheinander gewesen... Da roch er den Qualm. Unter der Decke des Flurs im ersten Stock zogen Rauchwolken dahin. Asher fluchte. Wenn er versuchte, Fairport hier herauszuschaffen, würden sie ihn mit Sicherheit fragen, doch es half nichts. Mit seinem halbherzigen Einschreiten dort in der Wiener Pension hatte der Mann ihm höchstwahrscheinlich das Leben gerettet. Er sah durch die Glastüren hinter dem Schreibtisch, vergewisserte sich, daß in den Gärten dar unter niemand zu sehen war, trat die Türen auf und zog den kleinen Mann nach draußen auf den Balkon, wo die frische Luft ihn wiederbeleben würde und er sich die Außentreppe hinabschleppen konnte. Der purpurrote Widerschein des Feuers in den kahlen Ästen zeigte ihm, daß zwei oder drei der Zimmer im Erdgeschoß bereits in Flammen standen, und während er noch schaute, sah er, wie in den dunklen Fenstern der ehemaligen Stallungen ein gelber Schein aufloderte.
Brandstiftung, dachte Asher erschrocken. An zwei Stellen gleichzeitig. Wer zum Teufel ...? Mit Fairports Waffe in der Hand, stürzte er die Treppe hinunter, und der Rauch ließ bereits seine Augen tränen und fraß sich in seine Lungen. Unter dem Stuck bestand das alte Haus größtenteils aus Holz und würde schnell niederbrennen. Unten war der Qualm dichter, und die Hitze schlug Asher ins Gesicht und machte ihn schwindlig, während er den Flur zur Spülküche entlangrannte. Während er lief, dachte er: Wenn das Karolyis
Werk ist, warum hat er dann Fairport die Freiheit gelassen? Oder ist Anthea irgendwie dafür verantwortlich? In der Tür der Spülküche lag die Leiche des Kutschers. Seine Augen und sein Mund waren schockartig weit geöffnet. Der Kragen war aufgerissen und das Hemd heruntergezogen worden, so daß Hals und Brust, massig und behaart, zu sehen waren. Wunden wie zerfranste weiße Münder zogen sich vom Ohr bis zum Schlüsselbein, doch es war fast kein Blut zu sehen. Asher hatte das Gefühl, sein Herz ziehe sich zusammen und gefriere ihm in der Brust. Er durchquerte die Küche, warf einen schnellen Blick durch die Hintertür in den Hof und sah in den Schatten unter der Außentreppe etwas, das aussah wie eine weitere Leiche. Der Rauch versengte ihm die Nasenlöcher und lag schwer auf seiner Brust. Er hätte nicht sagen können, ob es nach Blut roch oder nicht.
Das war nicht Anthea. Und nicht Ernchester. Die anderen. Die Vampire von Wien. Die, die ihm hierher gefolgt waren. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, als er die Regale beiseite schob und die Treppe in den kühlen Abgrund des Kellers hinunterrannte. Als er sich durch die Tür am unteren Ende schob, riß er ein Streichholz an; Ernchester, der in dem Silberkäfig auf und ab ging wie ein gefangenes Tier, wirbelte herum, und in dem winzigen Schein des Flämmchens blitzten seine Augen. »Sie sind hier«, sagte er heiser. »Ich spüre sie. Das Haus - sie haben das Haus angezündet...« Er huschte durch die Tür aus Silberstäben, sobald Asher sie geöffnet hatte, und dabei wand er sich, damit sein Körper sie nicht berührte. »Anthea!« Er wollte zur Tür, wandte sich dann zurück und hielt Asher mit einem Griff, der ihm beinahe den Knochen gebrochen hätte, am Ellbogen fest. »Haben Sie sie gefunden? Sie ist nicht in diesem Haus, das hätte ich wahrgenommen, ich hätte sie gespürt, ihre Träume gelesen...« Asher fiel etwas ein, das Ysidro ihm einmal erzählt hatte: er könnte durch das dämpfende Gewicht der Erde die Gegenwart von Menschen in tiefen Kellern nicht spüren. »Sie wird in der Krypta unter dem Stall sein.« Der Schein der Flammen ergoß sich über die Treppe und lag blutrot auf dem Gesicht des Grafen, eines schmalen, nicht eigentlich aristokratischen Gesichts mit einem undefinierbaren Ausdruck von Alter. Wie Anthea wirkte er nicht älter als fünfunddreißig. Während sie über die Treppe in das erstickende Inferno der Küche rannten, bemerkte Asher, daß aus der glatten Stirn des Vampirs nicht ein einziger Schweißtropfen brach. Asher lief quer über den Hof. Der Vampirgraf eilte ihm voraus. Er bewegte sich mit einer insektengleichen, gewichtslosen Schnelligkeit und machte riesige Sätze wie eine Gazelle. Doch vor dem brennenden Stall blieb Ernchester stehen, schlug die Hände vors Gesicht, und seine blaugrauen Augen waren krank vor Entsetzen und Schock. Ohne Fragen zu stellen, folgte er Asher jedoch um das Gebäude herum zur Rückfront, wo es weniger heftig brannte. Asher trat mit dem Stiefel ein Kellerfenster ein und sprang hinab in eine alte Waschküche. Es roch nach Schmutz, feuchten Ziegeln und der dünnen, widerlichen Ausdünstung von Kerosin. Ashers Nackenhaare stellten sich auf. Er grub noch ein Streichholz aus seiner Tasche und riß es an der Mauer hinter sich an. An der Wand standen Fässer mit dem Zeug aufgereiht, davor der Generator selbst, eine
kauernde schwarze Monstrosität. Er hörte, wie der Graf hinter ihm »Allmächtiger!« flüsterte, und dann deutete er auf etwas, das aussah wie eine Schranktür, beinahe unsichtbar in den Schatten neben dem Kohlenkasten. »Dort hindurch. Wir haben ein paar Minuten. Das Feuer ist eben erst ausgebrochen.« Die Tür war verschlossen. Ernchester riß den gesamten Mechanismus - Beschlag, Türgriff und Riegel - ohne sichtbare Anstrengung aus dem Holz und ließ ihn auf den Holzboden fallen. Dann verschwand er im Dunkel wie eine Motte. Asher war oft in der Krypta gewesen. Wie den Keller unter der Spülküche benutzte Fairport sie, um Leute zu verbergen, die sich angeblich nicht in Wien aufhielten oder die Stadt eilig verlassen mußten. Von den Patienten, die für gewöhnlich dort wohnten, war sie häufig für Treffen benutzt worden, wenn Instruktionen weitergegeben werden mußten und man das Risiko, beobachtet zu werden, möglichst gering halten wollte. Er hatte sich halb das verschalte Treppenhaus hinuntergetastet, als unten gelbliches Licht aufglomm. Durch die Tür sah er, wie Ernchester die eben angezündete Öllampe auf den Tisch stellte und sich dann wieder zu dem Sargkoffer umwandte, der die Hälfte des Raums einnahm. »Sie ist da drin«, sagte der Graf leise und kniete neben dem Schrankkoffer nieder. Er ließ die Hände am Deckel entlanggleiten und legte die Wange an das Leder. Seine Augen schlossen sich. Die Haut um sie herum knitterte und schob sich zusammen wie bei einem alten Mann. Dann bewegte er den Kopf und sah über die Schulter zu Asher, der in der Tür stand. »Können Sie das eine Ende nehmen?« Es war schwierig, den Schrankkoffer um die Ecken der Treppe herumzuhieven. In den wenigen Minuten, die sie in der Krypta verbracht hatten, hatte sich die Luft in der Waschküche erhitzt, und der Rauch wurde dichter. Wie das Haus war der Stall aus Holz gebaut, und das Dach und die Wände brannten wie Zunder. Als sie den Koffer unsanft nach oben zerrten, bemerkten sie, daß im Erdgeschoß eine erstickende Hitze herrschte. Unter einem heimtückischen Aschen- und Funkenregen war es erfüllt von Rauch, der die Augen tränen ließ. Asher hustete, schnappte nach Luft, und der Koffer glitt ihm aus den Händen. Als ihm die Beine versagten, fragte er sich plötzlich, was für Chemikalien Fair port hier in den Laboratorien aufbewahrte, und welche Dämpfe sie dem Brodem des Rauchs hinzufügen mochten. Er versuchte, auf die Füße zu kommen und stürzte. Durch das Röhren des Feuers über ihm hörte er, wie die messingbeschlagenen Kanten des Koffers über den Boden schrammten. Dann zerrte Ernchester - ohne zu atmen, untot, verzweifelt bemüht, seine Frau um jeden Preis zu retten - ihn zur Tür und in Sicherheit. Eine Welle schwarzer Bewußtlosigkeit überspülte Asher. Er versuchte aufzustehen, dann erkannte er, daß die Luft unten am Boden ein wenig kühler war. Wenn er einatmete, war es, als atme er Kerosin. Kerosin, dachte er schwindlig. Wenn das Dach in Flammen
aufgeht, entzündet sich auch der Boden, und das ganze Gebäude wird sich in einen Feuerofen verwandeln ... Der Gedanke, daß er wahrscheinlich von dem herabstürzenden Dach getötet würde, bevor die Explosion des Kerosins das Gebäude über einen halben Hektar Wienerwald verstreute, war ein schwacher Trost. In einem Punkt glaubte er, daß er vorwärtskroch, doch einen Augenblick später stellte er fest, daß er mit dem Gesicht auf dem überhitzten Linoleum des Bodens lag und herabgefallene Glut ihm den linken Handrücken verbrannte. Hände, so kalt und stark wie eine Maschine, ergriffen ihn bei den Armen, hoben ihn hoch und schleppten ihn fort, als sei er ein Reisigbündel. Draußen schien ihm der Geruch des Rauchs stärker, vielleicht, weil seine Lungen wieder arbeiteten. Er stolperte, versuchte auf die Füße zu kommen und hielt sich an den Schultern fest, die seinen Arm stützten. Er spürte, wie sie zurückzuckten. Silber, dachte er. Natürlich brannte die Kette an seinem Handgelenk durch Ernchesters Mantel hindurch.
Der Schrankkoffer lag vor dem Tor der Scheune. Er war noch geschlossen. Ernchester mußte augenblicklich zurückgekommen sein, sobald er ihn außer Reichweite des Feuers gezerrt hatte. »Sie schläft.« Asher hob den Kopf. Sein braunes Haar hing ihm in die Augen, unter einer Schicht aus Schweiß, Ruß und Schmutz brannte sein Gesicht in der kalten Luft. Ernchester kniete neben dem Koffer nieder, einen Arm auf den Deckel gelegt, und der Widerschein der Flammen warf ein blutrotes Licht über sein schmales Gesicht und schimmerte in seinem kurzgeschorenen blonden Haar und seinen gehetzten, müden Augen. »Sie haben sie betäubt«, fuhr Ernchester leise fort. »Vielleicht ... ist es besser so. Ich danke Ihnen.« Asher sah durch die Gärten zurück. Der vordere Teil des Hauptgebäudes stand in Flammen. Der hintere Flügel, wo sich Fairports Büro und seine eigenen Räume befanden, war noch intakt. In dem flackernden Licht waren deutlich zwei Leichen auf den Kieswegen erkennbar. Er wühlte in seinen Taschen nach Fairports Schlüsseln und fand zwei, die in die schweren Riegel des Koffers paßten. Als er den Deckel öffnen wollte, berührte Ernchester leicht seine Hand. »Noch nicht. Die Luft wird sie aufwecken, und ich glaube nicht, daß ich das ertragen könnte. Das kann ich ihr nicht antun.« Der Graf richtete sich auf, obwohl er auf den Knien blieb, die Hände auf dem Kofferdeckel übereinandergelegt. »Bringen Sie sie von hier fort. Fahren Sie mit ihr nach England zurück. Holen Sie sie hier heraus. Ich flehe Sie an.« Er schloß die Augen. »Ich flehe Sie an.« Der Feuerschein ließ plötzlich Linien um seine Augen hervortreten - ein Gesicht, das niemandem auffallen würde, dachte Asher, nur war es kein Gesicht des neunzehnten Jahrhunderts, erst recht keines, das zum neuen Jahrhundert gehörte. Die Muskeln, die Sprache, die Ausdrucksweise, die diesen Mund, dieses Kinn und die Form der Wangen hervorgebracht hatten, stammten alle aus einer früheren Zeit, und die Jahre hatten sie nicht verändert. »Ich kann es ihnen nie vergelten«, setzte er leise hinzu. »Ich werde weder Sie noch irgendwen, den Sie kennen, jemals wiedersehen. Für diese Gunst, für diesen Segen, werde ich Ihnen auf ewig verpflichtet bleiben. Aber sorgen Sie bitte dafür, daß sie sicher nach Hause kommt. Sagen Sie ihr...« Seine Stimme brach nicht, doch er schwieg einen Augenblick, als suche er nach Worten. »Sagen Sie ihr, daß sie alles ist, was ich je gewollt, und alles, was ich je gehabt habe.« Dann hob er zuerst den äußeren, dann den inneren Deckel, und sie sahen die Frau, die darin schlief. Die lebenden Toten, hatte man sie genannt. Im fiebrigen Feuerschein sah sie in der Tat zugleich lebendig und tot aus: wächsern, still, ohne Atem; ihr dunkles Haar wallte um ihr Gesicht, und ihre Haut war so weiß wie das Gewand, das sie bedeckte. Und sie war schön, dachte Asher. Unsagbar schön. Als er aufblickte, sah er Ernchesters Gesicht; es war leer, als sei jeder Ausdruck bis auf den in seinen Augen unter dem Gewicht endloser Jahre zuviel für ihn geworden. Ernchester neigte sich ein wenig, um die Wange seiner Frau zu berühren und beugte sich dann hinunter, um ihre Lippen zu küssen. Zu Asher sagte er: »Sie wird bald aufwachen. Sagen Sie ihr, daß ich sie liebe. Auf ewig.« Das gelbe Licht flackerte höher, als sich die Flammen am Dach des Hauptgebäudes ausbreiteten. Verblüfft wandte Asher sich um, rechtzeitig, um zu sehen, wie eine spindeldürre Gestalt sich auf dem Balkon bewegte, sich mühsam aufrichtete, wacklig und schwankend. Das Licht fiel auf zerrauftes weißes Haar, und als die Gestalt den Kopf wandte, sahen ihre Brillengläser aus wie große Scheiben brennenden Bernsteins. Taumelnd begann Fairport, die Treppe hinunterzugehen. Eigentlich hätte Asher es durch das Tosen des Feuers nicht hören dürfen, doch er hörte es. Ein dünnes, silbriges Lachen, wie das Brechen von hauchzartem Glas, und darunter
ein Baßlachen wie das obszöne Quaken einer Kröte. Sie schienen über den Balkon und die Treppe zu gleiten, kaum berührt vom Licht des Feuers, als sei Sichtbarkeit etwas, das willentlich an- oder abgelegt werden konnte, und einmal dachte Asher, daß eine von ihnen ein Kleid in der Farbe von Spinnweben und Mondschein trug. Fairport schrie unter seinem Knebel, stürzte und rollte die Treppe hinunter. Sie schwebten hinter ihm her, halberblickte Traumvisionen von Alabastergesichtern, schimmernden Händen, Augen, die das Licht reflektierten wie die Augen der Ratten zwischen den Knochen von St. Rochus. Am Fuß der Treppe versuchte er auf die Füße zu kommen. Er stürzte schwer und versuchte es wieder, und sie umringten ihn wie spielende Delphine, flackernde Schatten von einer Macht, die er ganz und gar unterschätzt hatte, und sie folgten ihm, als er herumtastete und sich über den Boden davonschleppte. Sie ließen ihn ein ganzes Stück weit kommen, dann begannen sie mit ihrer Mahlzeit. Mit einem dumpfen Röhren stürzte das Dach der Stallungen ein, und die Flammenwände sprangen höher, gelber auf, loderten und konnten doch nicht vollständig erhellen, was im Hof geschah. Dann gab es ein tieferes Röhren, wie von einer Batterie Acht-Zoll-Geschütze, und die Erde erbebte unter seinen Füßen, als das Kerosin in die Luft flog. Neben Asher schrie Anthea »Charles!« und setzte sich plötzlich auf, die braunen Augen schreckgeweitet. Asher nahm ihre Hand. Der Blick, der seine Augen traf, war umwölkt von alten Träumen. »Die Steine. Die Steine sind in der Hitze explodiert.« Dann zuckte sie zusammen und wandte sich ab, und Asher wurde klar, daß sie einen Augenblick lang geglaubt hatte, sie sei noch in London, vor vielen Jahren, als die ganze Stadt niedergebrannt war. »Charles«, sagte sie noch einmal, und als sie Asher diesmal ansah, war ihr Blick klar. »Er ist fort.« Sie wollte sich erheben, und er legte seine Hand fest über ihre, zog sie jedoch zurück, denn er wußte, daß er keine Möglichkeit hatte, sie festzuhalten, wenn sie sich einfach losmachte. Es hätte sie nur wenig Mühe gekostet, ihm das Handgelenk oder den Hals zu brechen. Wieder sah sie ihn an, fragend und bittend. Ihre schwarzen Locken umgaben ihr Gesicht und ihre Schultern wie eine Wolke, und die Flammen tränkten ihre Augen mit Gold. »Er hat mich gebeten, Sie nach England zurückzubringen«, sagte Asher. »Dafür zu sorgen, daß Sie sicher ankommen. Er sagte, er werde mich - und Sie, vermute ich - nie wiedersehen. Er sagte, daß er Sie liebt, für immer und ewig.« Im Hof waren die Vampire in einem Kreis um Fairport herum niedergesunken, dessen panische Laute zu einem erstickten Crescendo angestiegen und dann abgebrochen waren. Asher fragte sich, was er tun würde, wenn Anthea verschwand wie Ernchester, in die Wälder davonflatterte wie ein Geist, um ihn zu suchen. Er würde es niemals zurück nach Wien schaffen. Einen Moment dachte er, sie würde es tun. Dann blickte auch sie hinüber zu den dunklen Umrissen im Feuerschein. Nur einen Augenblick lang schlüpfte ihre bleiche Zunge heraus und leckte über ihre Lippen. Doch als sie sich ihm zuwandte, waren ihre Augen die einer Frau. »Wissen Sie, wohin er gegangen ist?« Asher strich über eine seiner Schnurrbartspitzen. »Ich weiß es nicht«, sagte er, »aber ich kann es vermuten. Und meine Vermutung ist: Konstantinopel.«
ZEHN
»Donnerstag!« Im Licht der Bahnhofslampen starrte Lydia mit leerem Blick auf die Zeitung. »Donnerstag nacht. Da waren wir noch in Paris.« Margaret flüsterte: »O mein Gott« durch die Hände, die sie vor den Mund geschlagen hatte. »Ich dachte ... ich dachte, ich hätte ein wenig mehr Zeit, ihn einzuholen. Daß die Dinge nicht so schnell geschehen würden.« Ysidro erschien wieder an ihrer Seite, im Schlepptau ein schweigsames Individuum in den weiten weißen Pluderhosen eines Slowaken, der auf seinen Befehl Ysidros Schrankkoffer und seinen Handkoffer, Margarets Ledertasche und Lydias umfangreiche Besitztümer auf einen Handwagen lud, den er auf die Türen zuschob. Der Vampir zog Lydia sacht die Zeitung aus der Hand und las. ARZT BEI BRAND IN SANATORIUM GETÖTET Am frühen gestrigen Abend brannte das bekannte Sanatorium Frühlingszeit bei einem Großbrand bis auf die Grundmauern ab und forderte das Leben des Mannes, der es zu seinem Lebenswerk und Monument gemacht hatte. Die Leiche des hervorragendsten englischen Spezialisten für Verjüngungsmedizin, Dr. Bedford Fairport, dessen Arbeit in den vergangenen achtzehn Jahren in Wien zum Wohlbefinden und zur Genesung Hunderter von Männern und Frauen beigetragen hat, wurde in den Frühstunden des Frei tag von Polizeibeamten und Feuerwehrleuten in den rauchenden Trümmern gefunden. Die Wiener Polizei vermutet, daß er keines natürlichen Todes gestorben ist. Es wurden auch die Leichen eines Kutschers und eines Arbeiters gefunden. Als das Sanatorium niederbrannte, waren dort keine Patienten untergebracht, denn Dr. Fairport hatte die Anstalt vergangene Woche vorübergehend geschlossen. Der ehrenwerte Herr Hofrat Theobald Beidenstunde von der kaiserlich-königlichen Bergwerkskammer, der sich in der letzten Woche wegen nervöser Beschwerden einer Behandlung in Frühlingszeit unterzog, gibt an, daß Herr Professor Doktor Fairport wegen Reparaturen am Fundament des Hauptgebäudes alle Patienten aufforderte, nach Hause zu fahren. Alle Patienten, die dies betraf, wurden finanziell voll und ganz entschädigt. Es wird angenommen, daß das Feuer im Laboratorium ausbrach, wo ein Generator zu nahe an den Kerosinvorräten aufgestellt war, und sich später auf die Hauptvilla ausbreitete. Brandstiftung wird dennoch nicht ausgeschlossen, da alle drei Leichen Spuren von Gewaltanwendung aufwiesen. Die Wiener Polizei setzt ihre Untersuchungen fort. »Sieh da, die Engländer«, murmelte Ysidro. »Der gute Hofrat Beidenstunde sollte seinen Sternen dafür danken, daß er sein Geld zurückbekommen hat. Die alte Königin wäre solch einer Bitte um finanzielle Entschädigung nie nachgekommen.« Er legte die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche seines Umhangs. »Königin Victoria?« fragte Margaret Potton erstaunt. »Königin Elisabeth. Dort steht nichts, was etwas über das Schicksal Ihres Gatten aussagt, Mistress. Hier entlang.« Auf dem Platz draußen erwartete der Slowake sie auf dem Kutschbock eines buntgestrichenen Wagens. Ysidro half den beiden Frauen hinein - er hob Lydia mit beängstigender Leichtigkeit vom Pflaster hoch -, und ohne ein Wort zu verlieren, fuhren sie in das gewundene Netz von Gassen zwischen hohen Mauern, die den ältesten Teil der Altstadt bildeten. »Wen - außer Fairport - würde Jamie in Wien aufsuchen?« »Vor drei Jahren war es ein Mann namens Halliwell.« Ysidro drehte den Kopf, als horche er auf einen Laut unter oder zwischen den Myriaden von Stimmen und verirrten Fetzen
von Melodien, die lautstark die geschäftigen Straßen um sie herum erfüllten. »Neuere Kunde habe ich nicht, noch bin ich sicher, wo das Department heutzutage sein Haupt quartier hat. Bestimmt ist die Botschaft der richtige Ort, um nach ihm zu fragen. Sagen Sie, daß Sie Ihren Mann suchen, daß Sie mit Halliwell sprechen wollen.« »Am Sonntag ist dort sicher niemand«, sagte Margaret mit besorgter Stimme. »Aber wenigstens können wir eine Kutsche mieten und zu den Ruinen des Sanatoriums hinausfahren.« Lydia hob die Zeitung nahe genug an ihre Nase, um etwas mehr zu erkennen als verschwommene graue Spalten. »Es mag nichts über Jamie darinstehen, aber wenn man bedenkt, daß ich gekommen bin, um ihn vor Fairport zu warnen, ist das Zusammentreffen ein wenig zu auffällig. Ich nehme an, wir können die Anschrift in einem städtischen Adreßverzeichnis finden.« »Ich schätze, jeder Kutscher in der Stadt wird wissen, wo es liegt«, bemerkte Ysidro. »Nach dem, was ich über die menschliche Natur weiß, werden die Schaulustigen den Ort überschwemmen, noch ehe die Asche kalt ist.« Paläste umschlossen sie von allen Seiten, Tausende leuchtender Fenster bildeten im Dunkel Licht- und Farbtupfer, deren Schein die Schnörkel über den Türen mit flüchtigen Pinselstrichen vergoldete und die Gesichter der Marmorengel seltsam verwandt mit Ysidros ruhigen, mageren Zügen erscheinen ließ, als der Vampir wieder den Kopf wandte, um Ausschau nach dem zu halten, was immer er auch suchte. Der Wagen fuhr vor einem großen, gelben Haus in der Bäckergasse vor, das aussah wie eine überladene Hochzeitstorte aus butterfarbenem Stuck. Ysidro begleitete die beiden Frauen nach drinnen und sah zu, wie der Slowake Lydias Koffer, den Handkoffer, die Reisetasche und die Hutschachteln ablud, doch als er damit fertig war, ging Ysidro zu sei nem eigenen Gepäck zurück, das noch auf dem Wagen war, und fuhr damit in die Dunkelheit davon. Eine Stunde später kehrte er zurück, so geschäftig und unkommunikativ wie immer, um Picquet in einem Salon zu spielen, der eine Miniaturausgabe von Versailles war und über einem Laden lag, wo Seide verkauft wurde. »Ich habe alles arrangiert, ehe ich London verlassen habe«, sagte er und mischte die Karten. »Es ist notwendig, von der Existenz solcher Orte zu wissen, die man in jeder Stadt um einen bestimmten Preis bekommen kann. Am Morgen werden Ihnen eine Köchin und ein Zimmermädchen zur Verfügung stehen, obwohl sie kein Englisch und wenig Deutsch sprechen. Doch ich habe mich versichert, daß die Köchin den höchsten Ansprüchen genügt. Für Engländer wird sie sicherlich gut genug sein.« Margaret sagte: »Du bist zu freundlich...« »Bei wem haben Sie sich versichert?« wollte Lydia wissen. Ysidro hob seine Karten auf. »Bei jemandem, dessen Aufgabe es ist, so etwas zu wissen. Sie kommen heraus, Mistress.« Ysidros Einschätzung der menschlichen Natur erwies sich als deprimierend genau. Als Lydia und Miss Potton am folgenden Nachmittag in einem gemieteten Fiaker bei der rußigen Mauer ankamen, die das umgab, was vom Sanatorium Frühlingszeit übrig war, fanden sie dort mindestens fünf weitere Wagen vor. Die Fahrer saßen gemütlich auf der niedrigen Steinmauer auf der anderen Straßenseite und schwatzten miteinander, und eine große Anzahl modisch gekleideter Männer und Frauen strichen auf dem zertrampelten Gras herum und stritten sich mit einigen stämmigen Männern, die anscheinend die Tore bewachten. »Ich sehe nicht ein, daß Sie die Befugnis haben, uns fortzuschicken«, sagte ein schmaler Mann mit einer auffälligen Weste, gerade als Lydia zögernd die Straße überquerte. »Ich sehe das überhaupt nicht ein.« »Kann nichts daran ändern, Sir.« Der stämmige Mann schob seine flache Stoffkappe zurück und fuhr fort, den Eingang zu versperren. Selbst in der tröstlichen Verschwommenheit ihrer Kurzsichtigkeit war der Blick auf die geschwärzten Dachsparren
und die eingestürzten Mauern entsetzlich, und der Geruch nach kalter Asche lag dünn und wie Staub in der kalten Luft. »Ich werde darüber an die Neue Freie Presse schreiben.« »Tun Sie das, Sir.« Als der schlanke Mann zu seiner Gesellschaft bei den Kutschen davonstürmte, trat Lydia zögernd näher; der Stämmige fixierte sie mit zynischem Blick und sagte in nicht sehr gutem Deutsch: »Hier darf niemand hinein, gnädige Frau.« »Ist ... ist ein Mr. Halliwell hier?« fragte Lydia. Wenn Dr. Fairport offiziell ein britischer Agent gewesen war, konnte man davon ausgehen, daß der Brand seines Sanatoriums vom Department untersucht werden würde. Es erstaunte sie nur, daß sie nach drei Tagen immer noch damit beschäftigt waren. Sie bemerkte, wie sich beim Klang dieses Namens die Haltung des Mannes änderte, und sagte: »Könnten Sie ihm mitteilen, daß eine Mrs. Asher ihn sehen möchte? Mrs. James Asher.« Ohne ihre Brille kam ihr Mr. Halliwell wie eine Mischung aus einer Elster und einem alt testamentarischen Monstrum vor, eine Reihe von Kreisen in Schwarz, Weiß, Rosa und schimmernden Lichtreflexen, die in vier Fuß Höhe zu einem schweren, kämpferischen Gesicht mit strahlend humorvollen grünen Augen hinter kleinen ovalen Brillengläsern zusammenflossen. Eine große, schwitzige Hand ergriff Lydias Hand, während die andere sie feucht tätschelte; die kleinen Knäuel verhinderter Schaulustiger auf der anderen Straßenseite machten ein finsteres Gesicht ob dieser Sonderbehandlung. »Meine liebe Mrs. Asher!« »Meine Freundin, Miss Potton.« Halliwell verbeugte sich nochmals, ein ehrfurchtgebietender Anblick. »Komische Sache. Verflixt komische Sache. Ihr Mann hat doch nicht nach Ihnen geschickt, oder?« Von seiner Höhe herab warf er ihr einen verstohlenen Blick zu, und sie bemerkte, daß seine Stimme kaum lauter war als ein Flüstern. Sie schüttelte den Kopf. »Aber das Telegramm, das er mir auf dem Weg hierher geschickt hat, hat mir Anlaß zu der Vermutung gegeben, daß er vielleicht in Schwierigkeiten ist. Er ... er war doch nicht hier, als es geschehen ist, oder?« Die grünen Augen zogen sich zusammen. »Wie kommen Sie darauf?« »Weil...« Lydia holte tief Luft. Am hellichten Tag und vor einem halben Dutzend streitlustiger Wiener, dachte sie, konnten sie sie nicht gut in einem verschlossenen Wagen fortbringen. Sie sagte sehr leise: »Weil er mir mitgeteilt hat, daß er zu Dr. Fairport gehen würde. Und weil ich Grund habe zu glauben, daß Dr. Fairport im Sold der Österreicher stand.« Sein Blick zuckte über die Straße, dann zu Miss Potton - die diskret außer Hörweite gegangen war - und wieder zurück. »Sie haben das«, sagte er ebenso ruhig, »nicht zufällig irgend jemand anderem gegenüber erwähnt?« »Nein. Nicht einmal Miss Potton gegenüber«, fügte sie noch hinzu, eingedenk der Sicherheit ihrer Reisegefährtin. »Aber ich glaube, daß es wahr ist. Ich schließe daraus«, fuhr sie langsam fort, »daß Sie mit Dr. Asher nicht über dieses Thema gesprochen haben.« Halliwell zupfte an seinem kurzgeschnittenen Bart und sah sie aufmerksam an, als überlege er, ob der auberginefarbene Taft ihres Kleides und die mintgrünen und beigen Rüschen an ihrem Hut zusammenpaßten. Lydia fragte sich, wie James es fertiggebracht hatte, so lange den Spion zu spielen: Es war sowohl ermüdend als auch zermürbend, nicht zu wissen, was man sagen sollte, oder zu wem. Vielleicht würde Ysidro kommen und sie retten, wenn Halliwell ebenfalls ein Doppelagent war, vorausgesetzt, Margaret hatte so viel Verstand, ihn zu Hilfe zu rufen ... Aber Margaret war dumm genug gewesen, um an Ysidros krause Geschichten über frühere Leben zu glauben, und Gott allein wußte, was sie in einer Krise tun mochte. »Ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen«, sagte der fette Mann abrupt. »Ich hatte selbst
begonnen, darüber nachzudenken, bevor Sie aufgetaucht sind. Allein die Tatsache, daß die Kundschaftsstelle uns bis zum Morgen nicht hereingelassen hat, verrät mir, daß hier etwas faul ist, obwohl wir natürlich nicht hergehen und sagen können, daß der Mann für uns gearbeitet hat.« Er sah wieder zu den Touristen hinüber, die auf der anderen Straßenseite herumlungerten. »Wären die Damen so freundlich, mich heute abend um acht zum Dinner im Café Donizetti in der Herrengasse zu treffen? Dort können wir reden.« Mit dem Kopf deutete er nach hinten auf die ausgebrannten Mauern des Hauses, wo ein anderer Mann zu sehen war, der sich langsam durch das Durcheinander aus zusammengefallenen Balken und Ziegelsteinen arbeitete. »Ich darf Ihnen soviel sagen, daß bis jetzt niemand eine Spur von Ihrem Mann gefunden hat... und, das, was wir gefunden haben, ist nichts, was eine Dame sehen sollte.« »Gott weiß, was die Kundschaftsstelle gefunden hat, bevor sie uns hereingelassen haben.« Halliwell warf die Lippen seines kleinen, eher weiblichen Mundes auf und zog die Handschuhe aus. Er schien sich in das gelbstichige Renoir-Bild einzufügen, als das Lydia das Donizetti ohne Brille erschien, und wurde auf seltsame Weise unsichtbar, anders als in der ihm unvertrauten Umgebung im Freien, in den kahlen Wäldern. Er erinnerte Lydia an einige ihrer Onkel, die in ihren Londoner Clubs vegetierten wie bleiche, fleischige Topfpflanzen und nie das Tageslicht sahen. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Mrs. Asher - wäre Ihr Gatte in Frühlingszeit gewesen, als es niederbrannte, hätte uns niemand etwas davon gesagt. Sie haben den Ort zwei Tage lang abgeriegelt. Erst nach vierundzwanzig Stunden haben sie auch nur die Polizei hineingelassen. Als sich der Sohn des Kaisers vor zwanzig Jahren das Hirn weggepustet und ein siebzehnjähriges Mädchen mitgenommen hat, aus Gründen, die nur ihm bekannt waren, hieß die offizielle Geschichte ›Herzversagen‹. Agenten der Regierung und ihr eigener Onkel setzten ihre Leiche in eine Kutsche und hielten sie mit einem Besenstiel im Rücken aufrecht, damit die Reporter nicht merkten, daß man am Tatort zwei Leichen statt einer gefunden hatte. Wie hat Ihr Mann diesen Farren kennengelernt, und wie haben Sie das mit Fairport herausgefunden?« An diesem Punkt erschien wieder der Oberkellner, den Kellner und den Küchenjungen im Schlepptau, und es folgte eine lange und byzantinische Diskussion über die Komposition von Tafelspitz und darüber, wie die Ente à la Strasbourg heute abend zubereitet wurde, und die relative Säuerlichkeit der Sauerkirschsuppe. Zu Lydias Erstaunen schaltete sich Margaret, die den ganzen Tag über wie üblich keinen Ton herausgebracht hatte, mit dem selbstvergessenen Interesse eines Gourmets in die Unterhaltung ein und gewann den Beifall Halliwells und des Oberkellners - des Herrn Ober, wie Halliwell ihn nannte - mit ihrer Meinung über Kapern und braune Butter. Das, überlegte Lydia, war eine völlig neue Seite an ihrer Reisegefährtin. Erst als die kleine Karawane der Bediensteten fort war, wandte Halliwell sich ihr wieder zu. Lydia schwieg einen Augenblick, um sich zu sammeln, und skizzierte eine zensierte Version der Telegramme, die sie erhalten hatte, der Artikel, die sie sie veranlaßt hatten zu lesen, ihrer Erkenntnis, daß Fairport sich sicherlich für Ernchesters Pathologie inter essieren würde und ebenso sicher für Karolyi oder mit ihm zusammenarbeitete. »Ich weiß nicht, was oder wieviel an Farrens Fähigkeiten in Zusammenhang mit seinem Glauben steht, er sei ein Vampir«, schloß sie vorsichtig. »Doch ich weiß, daß Dr. Asher ihn für einen sehr gefährlichen Mann hält, gefährlich genug, daß er es ihm wert war, alles stehen- und liegenzulassen und ihm nach Paris zu folgen, um ihn davon abzuhalten, dem Kaiser seine Dienste zu verkaufen.« »Hmm. Wofür er beim alten Streatham wenig Dankbarkeit geerntet hat, nehme ich an. Woher wußten Sie, daß Sie zu mir kommen mußten? Bis Asher hier ankam, kannte er meinen Namen nicht.«
»Von einem Freund meines Mannes«, sagte Lydia. Sie war nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagte. »Am Dienstag abend hat Ihr Mann mit mir in diesem Café zu Abend gegessen«, sagte Halliwell. »In Paris hatte es Probleme gegeben, und einer unserer Agenten war getötet worden. Ihr Mann schien zu glauben, daß dieser Farren der Täter war, aber man hat der Polizei die Information zugespielt, Ihr Mann hätte etwas damit zu tun. Karolyis Werk natürlich. Ihr Mann hat die Nacht im Gefängnis verbracht, was allerdings nicht so unangenehm ist, wie es in London wäre, und wollte am Mittwoch im Sanatorium übernachten, nachdem er sich in der Altstadt umgesehen hatte. Ihr Mann hat sich früher schon dort aufgehalten.« »Und hat er es getan?« Sie stocherte ein wenig in dem zarten Crêpe auf ihrem Teller herum, doch ihr war der Appetit vergangen. »Ich nehme es nicht an. Am nächsten Morgen tauchte Fairport im Büro auf und fragte, ob wir etwas von Asher gehört hätten.« »Vielleicht sollte das der Tarnung dienen.« »Das glaube ich nicht.« Halliwell tupfte sich den Mund mit der Grazie eines adligen Fräuleins ab. »Er schnüffelte nach Informationen, was er meiner Meinung nach nicht getan hätte, wenn er ihn in den Klauen gehabt hätte. So schlau war er nicht. Später am Nachmittag kam er zurück und sagte, Asher werde von der Polizei gesucht, was ich bereits wußte, und warum ich nicht mit ihnen redete? Er hing herum, verschwendete meine Zeit, stellte mir tausend Fragen und ging mit mir zum Bahnhof, genau das, was er getan hätte, wäre er ein Doppelagent gewesen und hätte darauf gewartet, daß Asher versuchte anzurufen, obwohl mir das vielleicht erst im nachhinein klargeworden ist. Wenn ich Karolyi wäre, hätte ich ihn dafür erschossen. Ich persönlich hätte nie gedacht, daß die alte Wanze genug Mumm hätte, um ein Doppelspiel zu spielen. An diesem Abend kam gegen sieben Ladislas - der Herr Ober - an meinen Tisch und sagte mir, es sei ein Herr Asher für mich am Telefon, und es sei dringend. Als ich hinkam, war die Leitung tot. Ungefähr zwei Stunden später haben wir die ersten Berichte über das Feuer erhalten.« »Oh«, sagte Lydia langsam. »Ich verstehe.« »Wirklich?« Die grünen Augen blitzten sie scharf an. »Ich nicht. Sie glauben, daß vielleicht Ihr Mann das Feuer gelegt hat...« »Nun«, sagte Lydia betont, »mein Mann sagte immer, daß man den Ort, an dem man jemanden umgebracht hat, niederbrennen sollte...« Sie sah Halliwell verblüfft an, als der Dicke in fröhliches Gelächter ausbrach. »Das stimmt doch«, protestierte sie. »Und es standen schließlich keine anderen Gebäude in der Nähe, die hätten beschädigt werden können.« »Meine liebe Mrs. Asher«, kicherte er, »jetzt verstehe ich, warum der gute James Sie geheiratet hat.« »Tja«, sagte sie, »gewiß nicht wegen meiner hausfraulichen Talente. Aber wenn James das Feuer gelegt hätte, glaube ich nicht, daß man von den zwei Leichen genug gefunden hätte, um sie zu identifizieren. Für gewöhnlich geht er gründlicher vor:« »Nein.« Halliwells rundes Gesicht zeigte plötzlich einen grimmigen Ausdruck. »Und ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr Mann sie auf die Art umgebracht hätte, wie diese Männer getötet worden sind.« Er warf Margaret einen entschuldigenden Blick zu - sie schaufelte sich gerade zufrieden durch einen hohen Berg Schokolade und Schlagsahne - und senkte die Stimme. »Unseren Quellen bei der Kundschaftsstelle zufolge sind sie ... furchtbar verletzt worden. Fast völlig ausgeblutet. Man muß ihnen im Haus die Kehle durchgeschnitten und sie später ins Freie gezerrt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr Mann oder irgend jemand, der bei Verstand ist, das getan hätte.« Lydia war sich bewußt, daß Margaret die Gabel niederlegte. Ihre Hand zitterte plötzlich. Halliwell fuhr fort: »Und man hat mehr als drei Leichen gefunden. Es waren mindestens
fünf, obwohl zwei davon so verkohlt waren, daß sie nicht identifiziert werden konnten; und man ist noch nicht einmal damit fertig, das Gebäude auszugraben, wo das Kerosin explodiert ist. Die alte Wanze hatte darunter einen Raum, den wir als Versteck für Leute benutzten, die unpassenderweise in Verbindung zu den hiesigen Sozialisten, Anarchisten oder serbischen Nationalisten standen. Wenn Asher sein Gefangener war, hätte er ihn dort unten festgehalten.« Lydia blickte wieder auf ihr unberührtes Dessert. Ihr war kalt. Sie war dumm gewesen, dachte sie, nicht darauf zu kommen, daß die Zeitung lügen würde. Sie war dumm gewesen zu glauben, sie könne ihn rechtzeitig einholen, um eine Katastrophe zu verhindern. Sie sagte noch einmal: »Ich verstehe.« »Wir haben eine Menge Beweise dafür gefunden, was für ein Mensch Farren ist, wenn er fünf Männer auf diese Weise ausschalten konnte, und auch Beweise, wofür er sich hielt. Fairport hatte eine Arrestzelle mit silbernen Gittern eingerichtet - Vampire hassen angeblich Silber, nicht? Aber wir haben keine Spur von Ihrem Gatten gefunden.« Sie holte tief Luft. »Und von Farren?« Halliwell schüttelte den Kopf. »Auch keinen Hinweis auf ihn. Unsere Verbindungsleute bei der Kundschaftsstelle melden, daß man den ganzen Abend den Bahnhof überwacht hat, um Ihren Mann zu finden - die Polizei hat ihn an diesem Tag tatsächlich gesucht - also ist nicht anzunehmen, daß er auf diesem Weg die Straße verlassen hat.« Er streckte die Hand aus und tätschelte unbeholfen ihren Arm. »Das heißt nicht, daß ihm etwas zugestoßen ist«, sagte er. Lydia blickte schnell zu ihm auf. »Soviel ich weiß, suchen sie immer noch nach ihm. Gott weiß, was Karolyi ihnen über ihn erzählt hat. Ich habe sie gefragt, und sie sind verdammt zugeknöpft. Und er könnte die Stadt auch mit der Donaufähre verlassen oder eine Straßenbahn genommen haben und zu einem anderen Bahnhof gefahren sein. Alles möglich. Vielleicht hält er sich einfach versteckt.« »Vielleicht.« Lydia erinnerte sich an einen von James' Exkursen darüber, wie leicht es war, aus einer Stadt herauszukommen, deren Pflaster vorübergehend zu heiß geworden war. Dann dachte sie an das verbrannte Gerippe des Sanatoriums und den Gestank verkohlten Holzes, der noch in der eiskalten Luft gehangen hatte, und ihr Herz sank wie durch Übelkeit oder Schock. »In der Zwischenzeit können Sie mir einen Gefallen tun, Mrs. Asher, wenn Sie so gut sein würden. Ihr Mann sagte, Sie seien Ärztin?« Sie nickte. »Ja, ich habe den Doktortitel, aber in erster Linie führe ich am Radcliffe-Krankenhaus Forschungen über endokrine Sekretionen durch. Die wenigen Frauen, die praktizieren, spezialisieren sich anscheinend alle auf das, was man ›Frauenmedizin‹ nennt - und haben immer noch Probleme, davon zu leben, wenn ich das dazu sagen darf. Und ich habe mich nie so schrecklich für das interessiert, was meine Tanten immer ›Klempnerarbeiten‹ genannt haben. Benötigen Sie einen medizinischen Rat?« Er schaufelte den Rest seiner Sachertorte in sich hinein und warf einen traurigen Blick auf den blankgeputzten weißen Porzellanteller. Dann schob er die Brille hoch und runzelte die Stirn. »Keines der Labors ist unversehrt geblieben - sie lagen alle direkt über dem Kerosinlager -, aber wir haben Fairports Notizbücher aus seinem Büro. Der Raum war ziemlich übel verkohlt, trotzdem, wir haben es geschafft, sie sicherzustellen. Er war britischer Staatsbürger, und zum Teufel mit dem, der die Miete für das Sanatorium bezahlt hat. Ich vermute, irgendwann wird die Kundschaftsstelle die Notizbücher sehen wollen, aber wenn Sie die Güte hätten, sie durchzusehen und uns alles mitzuteilen, was vielleicht wertvoll für uns ist, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich habe sie hier.« Er hielt eine zerschrammte Ledertasche hoch, prall gefüllt und mit Bindfaden zusammengeschnürt, wo die Schnallen nicht halten wollten. »Wir möchten gern wissen,
woran er gearbeitet hat. Falls Sie noch Ihre Liste seiner Artikel haben...«
Lydia nickte. »Der Alterungsprozeß«, sagte sie. »Blut. Unsterblichkeit.«
Halliwell ächzte. »Kein Wunder, daß Farren es ihm angetan hatte.« »Ja«, sagte Lydia
ruhig. »Kein Wunder.«
Im Licht der Artikel, die sie gelesen hatte, wurde der Sinn von Fairports Experimenten
mit Blut, Speichel, Schleim, mit der Chemie des Gehirns und der Drüsen - kristallklar.
Der Mann, der auf der Suche nach der Unsterblichkeit ist, hatte Ysidro gesagt.
Er hatte recht gehabt, dachte sie, und durchblätterte die Seiten der geheimnisvollen
Notizen, während Margaret inmitten einer Unzahl gehäkelter Schneeflocken vor sich hin
döste. Er hatte recht gehabt.
Bedford Fairport war ganz klar ein Mann gewesen, der von der fanatischen
Entschlossenheit besessen war zu entdecken, woher der Verfall des Alters kam, und einer
noch größeren Entschlossenheit, zu erfahren, wie man seine Auswirkungen rückgängig
machen konnte.
In dem Artikel, in dem er Ignace Karolyis Stiftung des Sanatoriums und der Mittel
erwähnt hatte, hatte Fairport sein eigenes »vorzeitiges Altern« angesprochen. Lydia hatte
Berichte über diese Art Progerie gefunden, die aus dem sechzehnten Jahrhundert
datierten, und war der Meinung, daß ein Vitaminmangel oder ein Zusammenbruch dafür
verantwortlich waren. Sie schob die Brille vor die Stirn und rieb sich die Augen. Natürlich
würde er sich an jedes Gerücht über Unsterblichkeit klammern.
Ein Blick auf seine Reagenzien und Vitaminlösungen verriet Lydia, daß seine Experimente
entsetzlich kostspielig gewesen waren. Zwei dutzendmal in den vergangenen paar Jahren
hatte er Orang-Utans als Versuchsobjekte benutzt, und Lydia wußte von ihren eigenen
Experimenten, wie teuer die Tiere waren. Und unnötig, dachte sie. Die meisten Versuche
zu Mangelsyndromen schienen mit Schweinen ebensogut zu funktionieren. Eine
nochmalige Überprüfung zeigte ihr, daß er die Orang-Utans benutzt hatte, um
Experimente zu wiederholen, die er an Schweinen durchgeführt hatte. Er hatte sich
geweigert, die in ihren Augen eindeutig gescheiterten Versuche als etwas anderes zu
sehen als individuelle Datenvariationen. Gegen Ende hatte er sich darauf verlegt,
zusätzliche Tests über alles mögliche durchzuführen und verbissen immer winzigere
Anhaltspunkte untersucht, wie jemand, der sich an einen Strohhalm klammert. Selbst
wenn Fairport über Privatvermögen verfügte, hätte er unglaublich reich sein müssen, um
solch eine Arbeit so lange weiterzuführen, wie er es getan hatte.
Und Lydia wußte, wenn er ererbtes Vermögen gehabt hätte - falls er mit einer der
reicheren Familien in England verwandt gewesen wäre -, dann hätte ihre Tante Lavinia
ihn ihr zu irgendeinem Zeitpunkt während ihres Studiums in Oxford als mögliche Quelle
von Empfehlungsschreiben, als Partner oder Kollegen vorgestellt.
Er hatte James verraten. Ihn gefangengenommen. Sie sind noch nicht einmal damit
fertig, das Gebäude auszugraben, wo das Kerosin explodiert ist ... Wenn Asher
festgehalten wurde, dann dort unten . .. Vielleicht hatte James die Stadt verlassen, sagte sie sich trotzig. Die Polizei suchte nach
ihm. Er konnte die Straßenbahn genommen haben, was, wie er immer gesagt hatte, am
besten war, oder die Fähre.
Fast vollständig ausgeblutet ...
Tränen stiegen ihr in die Kehle, und entschlossen drängte sie sie zurück. Wir wissen noch
überhaupt nichts. Wir wissen es nicht.
»Ein ganzes Notizbuch über Geschichte und Volkskunde.«
Die leise Stimme ließ sie beinahe von ihrem Stuhl hochfahren. Als sie aufsah, sah sie,
daß Ysidro ihr gegenübersaß. Vor ihm lag aufgeschlagen eine in grünes Leinen
gebundene Kladde. Hinter der Schulter des Vampirs war die Uhr auf dem Kaminsims zu
sehen, und Lydia war milde erstaunt, daß es inzwischen kurz vor drei Uhr morgens war.
»So weit war ich noch nicht gekommen.« Sie griff in ihren Nacken, um ihren schweren Zopf zu einem weniger schulmädchenhaften Knoten zu schlingen. Die Köchin - eine exzellente Frau mit breitem Lächeln und vollkommen unverständlicher Sprache - hatte Sachertorte, Brot und Butter und einen üppigen Zweig italienischer Trauben hinterlassen, für den Fall, daß eine der dziewczyna vor dem Morgengrauen plötzlich in Gefahr geriet zu verhungern. Der Duft des Kaffees, der auf dem kleinen Primuskocher warm gehalten wurde, lag schwer im Raum. »Und bei der Volkskunde handelt es sich wohl nur um reine Spekulation. Selbst die sogenannten ›historischen‹ Persönlichkeiten - die Gerüchte über Ninon de l'Enclos und Cagliostro und den Grafen in Paris, wie war noch sein Name...« »Sind letztendlich kaum Spekulationen.« Ysidro drehte die Kladde um und schob sie ihr über den Tisch zu. Seine Hände wirkten im Lampenlicht wie altes Elfenbein. Alte Männer, die tausend Jahre lebten, hieß es in der unsteten Handschrift. Dorf Brzchek.
Frau, die fünfhundert Jahre alt wurde (webte Mondschein). Dorf Okurka. Frau, die Mondlicht benutzte, um für immer schön zu bleiben. Dorf Salek. Mann, der einen Pakt mit dem Teufel schloß, für immer lebte. Dorf Bily Hora. Frau, die in Blut badete, wurde fünfhundert Jahre alt. Brusa, Bily Hora, Salek. Verwirrt blickte sie auf. »Das hört sich an wie das, was James tut - mit Geschichtenerzählern und Großmüttern und alten Dorftrotteln in Wirtshäusern auf dem Land zu reden.« »Ich nehme an, Fairport hat beobachtet, wie James seine Befragungen anging und hat die Methode zu seinen eigenen Zwecken verwendet.« Er neigte den Kopf und schob den Stapel Rechnungen herum, so daß er das oberste Blatt lesen konnte. Seine bleichen Augenbrauen hoben sich. »Auf jeden Fall kann man erkennen, in welche Richtung er dachte. Aber Orang Utans? - Ich habe mit denen gesprochen, die gesehen haben, wie James diese Stadt verlassen hat.« Sie sog scharf den Atem ein; Ysidro beobachtete sie einen Augenblick schweigend, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, wie eine weiße Gottesanbeterin, und wieder hoben sich seine Augenbrauen. Der Ausdruck in seinen Augen war undeutbar. »Gehen Sie mit mir spazieren, Lady.« Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Der Meister von Wien hat mir die Erlaubnis erteilt, in dieser Stadt zu jagen, solange ich vorsichtig bin. Sollte er uns zusammen sehen, werden Sie für ihn eine Durchreisende sein, und er wird uns für Zufallsbekannte und Sie für eine harmlose Beute halten.« Als Ysidro ihr ihren Mantel reichte, warf Lydia einen Blick zurück auf die schnarchende Margaret. Selbst durch die Handschuhe, die er angezogen hatte, und das Glacéleder, das ihre eigenen Hände bedeckte, fühlte sich seine Haut eiskalt an. Obwohl niemand sie sehen würde, nahm sie automatisch ihre Brille ab und steckte sie in die Tasche. Durch das Kartenspiel hatte sie mit ihrer Gewohnheit gebrochen, in Ysidros Gegenwart ihre Augengläser zu verstecken; er hatte ihr häßlichstes vieräugiges Gesicht gesehen, dachte sie, und es schien ihm nichts auszumachen. Vielleicht lag es nur daran, daß er viele andere gesehen hatte, die häßlicher waren als sie. Er führte sie die Treppe aus Gold und Marmor hinab und durch die unauffällige Tür aus gehämmerter Bronze nach draußen auf die Straße. »Sie haben also den Meister von Wien getroffen?« »Graf Batthyany Nikolai Alessandro August - und seine Frauen. Er regiert Wien, und tatsächlich den größten Teil des Donautals, seit den Tagen, in denen noch Männer an den Ufern des Flusses gegen die Türken gekämpft haben. Zum Glück ist uns beiden das alte höfische Französisch geläufig, denn Deutsch kenne ich nur aus Büchern. Verstehen Sie, zu meiner Zeit war das keine Sprache, die ein Mensch von guter Herkunft sprach; ein Grund, warum ich darauf geachtet habe, mich anderswo aufzuhalten, bis die Könige von England eine zivilisiertere Sprache gelernt hatten.« Lydia verbarg ihr Lächeln. Sie hatte gehört, wie er mit dem Slowaken und der Köchin deutsch gesprochen hatte. Eines, das sie in den letzten Tagen an Ysidro entdeckt hatte,
war sein ausgeprägter Snobismus. Um sie herum lag Wien im Schlummer, ein versunkenes Atlantis am Grund eines lichtlosen Meers. Die sonst hellerleuchteten Cafés lagen hinter Jalousien aus Holz und Glas, und selbst die Mansardenfenster der Dienerschaft, über den hochaufragenden Schluchten der Mauern, waren fest geschlossene, träumende Augen. »Ihr Gatte hat Batthyanys jüngste Frau verletzt«, fuhr Ysidro fort, als sie weitergingen. »Er hat gut daran getan, Wien zu verlassen. Man hat ihn am Bahnhof beobachtet, wie er in den Orientexpress nach Konstantinopel stieg.« »Konstantinopel?« fragte Lydia verblüfft. »In der Tat. Eine äußerst merkwürdige Wahl.« »Aber wer ... wer hat ihn gesehen? Wenn es einer der Vampire dieses Batthyany war...« »Eine andere seiner Frauen«, sagte Ysidro sanft, »die vielleicht ihre eigenen Gründe hatte, der blonden deutschen Schönheit übel zu wollen, die - bis James ihr anscheinend das Gesicht mit einer Handvoll Silber verbrannte - die Favoritin des Grafen gewesen war. Die Deutsche - ihr Name ist Grete - hat mindestens zwei der Wächter in Frühlingszeit umgebracht, in der Hoffnung, daß ihr Blut die Heilung ihrer Wunde beschleunigen würde, doch es wird einige Zeit dauern, bis sie anders als furchterregend aussieht. Tatsächlich muß Batthyanys Clique in der nächsten Zeit mit allergrößter Vorsicht jagen, aus Angst, die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen - ein weiterer Grund, warum es gut ist, daß Ihr Gatte Wien jetzt verlassen hat. Graf Batthyany hat von Rache gesprochen, aber seine älteste Frau - aus Ungarn, wie er - schien erfreut.« Sie bogen um eine Ecke und traten aus den hohen Mauern auf einen kopfsteingepflasterten Platz, wo sich im winterlichen Mondschein plötzlich wie ein schwarz-weißes Fischgerippe der Dom vor ihnen erhob. Am Boden lag dünner Nebel, der sich bewegte, als sie hindurchgingen; die Luft schmerzte beim Atmen in Lydias Nase. »Waren es also die Vampire, die Professor Fairport getötet haben?« »Selbstverständlich.« Ysidro wandte den Kopf, als ein leises Geräusch über das Pflaster klang. Ein junges Mädchen trat aus dem Portal des Doms und eilte über den Platz in das schützende Dunkel der Gassen. Während sie ging, zog sie ihren Schal über den Kopf. Der Spanier sah ihr gedankenvoll nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. »Verstehen Sie, Batthyany war aufgebracht, daß ein Zögling eines anderen sein Reich betreten hatte«, sagte er und wandte sich wieder Lydia zu. »Und doppelt wütend darüber, daß jemand sich mit sterblichen Regierungen verbündet und sie so in Kenntnis über die Vampire setzt. Das Niederbrennen von Frühlingszeit - und den Tod der Männer, die mit der Sache zu tun hatten - hat er als ausreichende Warnung betrachtet. Seine Absicht war, daß Ernchester bei dem Brand ebenfalls umkommt, doch er sagt, daß auch der Graf Wien verlassen hat. Seiner ältesten Frau zufolge wurde Ihr Gatte von einer Vampirin, die sie auf dem Gelände gefunden hatten, zum Zug begleitet, und die hätte behauptet, sie sei von Fairport entführt und gefangengehalten worden. Batthyany und seine Gräfin haben dieser Frau sogar geholfen, Pferde aus dem Stall zu holen und im Licht des brennenden Hauses ihren Reisesarg in den Wagen zu laden. Mit Pferd und Wagen könnte sie leicht rechtzeitig nach Wien zurückgelangt sein, um den Zug zu nehmen.« »Anthea?« »So scheint es. Und meine Vermutung ist, daß Ihr Mann lebend in diesem Sarg lag. Anders hätte er nicht entkommen können.« Lydias Gesicht zeigte nichts von dem inneren Schauder, den sie bei diesem Gedanken empfand, doch selbst während er sie durchlief, war ein anderer Teil ihrer Gedanken damit beschäftigt, Schlußfolgerungen zusammenzufügen. Um sie herum schien die ganze Stadt im bleichen Mondlicht zu liegen wie in einem Betäubungsschlaf aus Nebel und Schatten, still, totenstill. Ysidros Welt, dachte sie. Die andere Seite der Nacht. Dieses Gefühl, der letzte Überlebende zu sein.
»Das bedeutet - das muß bedeuten -, daß Ernchester nach Konstantinopel gefahren ist.« »In der Tat«, stimmte Ysidro zu. »Gräfin Batthyany sagt, Anthea habe behauptet, sie sei von Karolyi und Fairport als Geisel benutzt worden, damit sie Ernchester ihrem Willen unterwerfen konnten. Daraus folgt natürlich, daß Ernchester nicht aus freiem Willen nach Wien gekommen war, und daher machten sie keine weitere Jagd auf ihn.« »Aber James hat gesehen, wie er aus freien Stücken mit Karolyi in den Zug gestiegen ist«, sagte Lydia verwirrt. »Nachdem Karolyi tot und Ernchester selbst befreit war, warum sollte er fliehen?« »Die Tatsache, daß Ernchester freiwillig in den Zug gestiegen ist«, sagte Ysidro leise, »bedeutet nicht, daß er es aus eigenem Willen getan hat. Und das würde erklären, was mich von Anfang an beunruhigt hat. Ernchester ist nicht die Wahl eines Politikers - diese Schlampe, die Grippen sich kürzlich in St. John's Wood gemacht hat, ist bei der Jagd und beim Töten stärker als Ernchester. Aber jemand wußte genug über ihn, so daß man ihn beherrschen konnte. Daß eine Drohung gegen Anthea ihn herbringen würde. Daß sein Wohlverhalten garantieren würde, sie festzuhalten.« »Hat Karolyi es gewußt?« »Offensichtlich.« Sie waren wieder an dem Haus in der Bäckergasse angelangt. Vielleicht waren die Vampire nicht bereit, den Besitz dieser dunklen Straßen aufzugeben, die allein ihr Reich waren. Wie in unausgesprochenem Einverständnis setzten Lydia und Ysidro sich auf den Marmorrand des kleinen Springbrunnens vor dem Haus. Das Gaslicht tanzte auf der Wasseroberfläche, verwandelte die Augen des Bronzekaisers über dem Wasser in wachsame Höhlen und fiel auf die untere Hälfte von Ysidros Gesicht, das wirkte wie eine Karnevalsmaske, hinter der feurige Augen glühten wie Torffeuer, während er sprach. »Werden Sie nach London zurückkehren, Mistress? Die Falle hier ist nicht zugeschnappt.« Lydia zögerte. Eine Minute lang spürte sie eine überwältigende Sehnsucht nach den Dingen, die sie kannte, der Welt der Forschung, umschlossen von den Mauern der Universität. Doch während der Gedanke in ihrem Kopf Gestalt annahm, wußte sie ganz genau, daß nur eine Falle nicht zugeschnappt war. »Es ist ... es ist noch nicht vorüber, nicht wahr? Wie auch immer es begonnen hat. Nicht annähernd.« »Nein.« So beängstigend es ihr auch zu Anfang erschienen war, Wien war gar nicht so schlecht gewesen. »Wäre es eine Hilfe für Sie, wenn ich mit nach Konstantinopel führe? Denn das würde ich am liebsten tun«, setzte sie hinzu, als sie an den Augen des Spaniers sah, daß er schnell nachdachte. »Es würde mir helfen, Ernchester zu finden, ja.« Er blickte ernst. »Ich möchte nicht, daß Sie ein unnötiges Risiko eingehen - aber Sie wissen, wie Ihr Gatte denkt, und die Legitimität Ihrer Nachforschungen wird uns bei der Suche nach dem Kern dieser Angelegenheit helfen.« Er hielt wieder inne, überlegte, und Lydia dachte, daß in den rätselhaften Augen nur die allerkleinste Andeutung von Erstaunen lag. »Merkwürdig«, fuhr er fort, »Ernchester ist schon in Konstantinopel gewesen. Es war vor vielen Jahren, aber vielleicht gibt es dort noch welche, die ihn kannten, als er - und vielleicht auch sie - Lebende waren.« »Aber das macht keinen Sinn...« Lydia zog den Kragen enger um ihr Gesicht, »... wenn alle Vampire so ... so eifersüchtig auf Eindringlinge sind wie Graf Batthyany. Das heißt ... sind sie das?« »Für gewöhnlich ja«, sagte Ysidro. »Frühlingszeit als Warnung niederzubrennen war eine der milderen Bekundungen von Mißvergnügen, die mir schon begegnet sind. Wenn Meistervampire das Gefühl haben, daß ihre Territorien bedroht werden, ist mit ihnen
nicht zu spaßen. Doch nur ein Vampir kann Ernchester nach Konstantinopel gerufen haben. Nur ein Vampir würde wissen, welche Drohung ihn herbeiholen würde. Nur ein Vampir könnte wissen, daß unter allen Vampiren, die ich kennengelernt habe, Ernchester einer der wenigen ist, die fähig sind zu lieben.«
ELF »Können Vampire nicht lieben?« Ysidro, der seine Punkte zusammenrechnete, blickte auf. Lydia hatte durch den Herz-König aus acht Punkten sechzehn gemacht, mit der Neun in einer Vierersequenz; Ysidro hatte dadurch, daß er eine Karo-Sequenz nicht erklärt hatte, die meisten Stiche mitgenommen, einschließlich des letzten. Es hatte ihn nicht gerettet. Sie hatten den Tag in den alten Basiliken und Rosengärten von Adrianopel verbracht, da Ysidro sich rundheraus weigerte, während der Tagesstunden zu reisen. Nun schienen, soweit Lydia das beurteilen konnte, die rauhen Hügel von Thrakien, durch die sie sich während der ganzen vergangenen Nacht knarrend und mit nervenzerreißender Langsamkeit bewegt hatten, flacher geworden zu sein. Der Zug war stabil, in Deutschland gebaut und ausgestattet, doch selbst dieser Erste-Klasse-Waggon roch nach Knoblauch, starkem Kaffee, Tabak und ungewaschener Kleidung. Auf den Bahnsteigen von Sofia und Belgrad hatte Lydia beobachtet, daß das Eisenbahnpersonal, je weiter Sie gen Osten kamen, die Anwesenheit von Haustieren in den Personenwaggons als immer selbstverständlicher hinnahm. Früh am Abend, in Adrianopel, hatte sie gesehen, wie eine bosnische Familie ganz selbstverständlich zwei Ziegenböcke in den Dritte-Klasse-Waggon lud. Der Vater trug die langhaarigen Ziegen auf dem Arm und trat höflich zurück, um einen bärtigen orthodoxen Priester zuerst in den Zug klettern zu lassen, während weiter unten auf dem Gleis die Leute Kisten mit Hühnern durch die Fenster reichten. Tante Lavinia hatte immer gesagt, Reisen erweitere den Horizont. Lydia vermutete, daß sie dabei nicht an so etwas gedacht hatte. In den anderen Erste-Klasse-Abteilen schien es ruhiger zu werden, obwohl in den Gängen immer noch der Tabakrauch stand. Miss Potton war, nachdem sie wie üblich verbissen damit gekämpft hatte, ein Spiel zu spielen, für das sie weder Talent noch Interesse hatte, an Ysidros Seite eingedöst. Seit fast einer Stunde hatten die einzigen Worte, die sie gewechselt hatten, sich auf das Ablegen der Karten und die Berechnung der Punkte bezogen, doch Lydia hatte den Verdacht, daß die Gouvernante darauf ebenso eifersüchtig reagierte wie auf die übrigen Unterhaltungen, die sie und Ysidro führten. Die Räder ratterten eintönig, wie nicht enden wollender Regen. Ysidro beendete seine Berechnung. Seine Stahlfeder kratzte leise auf dem billigen gelben Notizblock, und die Reibung seiner Manschetten auf der Tischplatte war ein trockenes Flüstern vor dem Hintergrund von Margarets rasselndem Atem und dem gelegentlich laut aufbrandenden Gelächter oder den Gesprächen, die durch die Wand des Abteils zu hören waren. Es dauerte lange, bis der Vampir antwortete. Schließlich sagte er: »So, wie die Menschen es verstehen?« »Wie verstehen Menschen es denn?« Lydia sammelte die Karten ein und drehte sie in den Händen. Nachts zu leben - in dem tiefen Schweigen der Dunkelheit - hatte sie etwas besser verstehen lassen, was Ysidro zuvor einmal erwähnt hatte, nämlich daß die Sinne eines Vampirs weit schärfer seien als die eines Menschen. Wenn die Finsternis gegen das Fenster drückte und jenseits des einsamen Lichtkreises des Gasbrenners tiefe Schatten lagen, schien jeder Laut, jeder Anblick gewichtig, bedeutungsvoller als die einfacheren Umrisse des Tages. »In Wien haben Sie gesagt, Ernchester sei eine Seltenheit unter den Vampiren, weil er fähig sei zu lieben. Ich habe mich gefragt, was genau das bedeutet.« »Wie bei den Lebenden hat auch bei den Untoten die Liebe für verschiedene Individuen unterschiedliche Bedeutung.« Er wandte den Kopf, und seine champagnerfarbenen Augen ruhten kurz auf der Frau, die neben ihm in ihrem Wirrwarr von Häkelgarn schnarchte. Einen Moment später sank ihr Kopf noch tiefer; sie sackte gegen ihn, und er schob sie mit großer Sorgfalt in die andere Ecke des Sitzes. In den fünf Tagen, die es sie
bis jetzt gekostet hatte, sich über Budapest, Belgrad, Sofia und Adrianopel mit Lokalzügen nach Süden vorzukämpfen - denn der Orientexpress verließ Wien nur donnerstags - und in denen sie oft den größten Teil des Tages auf den ersten Zug gewartet hatten, der nach Sonnenuntergang ging, hatte Lydia gelegentlich die farbigen, romantischen Träume wahrgenommen, die Margaret Pottons Schlaf bevölkerten. In allen war Ysidro ein unglaublich byronscher Vampir gewesen, in schwarzem Leder und Perlen, aus dessen Stiefelschächten Dolche hervorschauten. In allen war es unausgesprochen um Liebe gegangen, seine angebliche leidenschaftliche Liebe zu ihr, die sie wie mit silbernen Fesseln in Liebe an ihn band. Was immer Liebe sein mag, fügte Lydia in Gedanken hinzu. Im Moment wäre es sicher nicht gut, wenn Margaret Ysidros ehrliche Meinung über die Fähigkeit der Vampire zu lieben hören konnte. »Es ist nicht unwahrscheinlich, nicht einmal selten«, sagte Ysidro, »daß diejenigen, die die Fähigkeit haben, andere mehr zu lieben als sich selbst, auch den Wunsch haben, vom lebenden in den untoten Zustand überzutreten.« Der Zug rumpelte durch die Kurve, die enger war als die Kurven in Nord- oder Westeuropa. Ysidro legte seine behandschuhte Hand auf Margarets Schulter, um sie zu stützen - vielleicht, damit sie nicht aufwachte. Selbst mit Handschuhen berührte er sie vorsichtig. Lydia wußte, daß seine Hände dieser Tage eiskalt waren. Sie konnte erkennen, wann er gespeist hatte, und sie wußte, er hatte in Wien nicht gejagt. »Es ist jedoch ungewöhnlich, daß so jemand den Tod der Menschen, die er liebt, lange überlebt. In vielen Fällen stellen Freunde oder Verwandte die ersten Opfer der Vampire dar, oder sie werden im Lauf der Jahre ihre Beute. Jene Vampire, die nicht die Annehmlichkeit - und den seltsamen Trost - dieser Lösung des Rätsels der Unsterblichkeit nutzen, empfinden häufig ein Gefühl der Desorientierung, wenn die Familie und die geliebten Menschen altern und einer nach dem anderen stirbt. Meiner Erfahrung nach geben die, die fähig sind zu lieben, selten erfolgreiche Vampire ab.« In dem zuckenden Schein des Gaslichts erschien sein Gesicht wie ein Schädel, aschfarben umrahmt von seinem Haar; Lydia fragte sich, ob er schon immer so ausgesehen hatte oder ob er in den letzten fünf Tagen so dünn und verhärmt geworden war. Margaret bewegte sich im Schlaf, und Ysidro wandte sich noch einmal ab, um sie mit einem Blick von undeutbarer Gleichgültigkeit anzusehen. »Sie müssen verstehen, daß meine Erfahrung mit der menschlichen Liebe ... unvollständig ist, da ich im Alter von fünfundzwanzig Jahren Vampir geworden bin«, fuhr er fort, als gehe ihn das alles nichts an. »Was Liebe in unserem Fall bedeutet, ist, daß jemand - einer der Vampire von Konstantinopel oder jemand, der mit ihm oder ihr in Kontakt gestanden hat - weiß, daß eine Drohung, Anthea etwas anzutun - vielleicht durch menschliche Einwirkung oder mit der unausgesprochenen Folgerung, daß, sollten menschliche Mittel keinen Erfolg haben, die Vampire nicht weit wären - Charles parieren lassen würde. Der Geist eines Vampirs ist unendlich vielschichtig, und Charles weiß, in welchem Ausmaß sie in der Lage sind, den Zufall zu manipulieren. Selbst wenn Grippen willens ist, Anthea zu schützen, könnte es jenseits seiner Macht liegen, sie gegen einen Angriff, der entschlossen genug ist, zu verteidigen. Um seine eigene Sicherheit würde Charles sich nicht kümmern, doch, wie Dryden sagt, wenn wir lieben, geben wir dem Schicksal eine Geisel in die Hand.« Er machte eine Handbewegung, als lege er eine verdeckte Karte auf. »Ich würde vermuten, daß die Plünderung des Hauses ein Versuch war, sie als Geisel zu nehmen, sobald er abgereist war, um zu verhindern, daß er seine Meinung ändert.« »Aber wenn der Sultan einen Vampir will«, fragte Lydia verwirrt, »und wenn er zu einem Verbindung aufgenommen und so erst von Ernchester erfahren hat, warum sollte er sich solche Mühe machen? Gibt es nicht genug Vampire in Konstantinopel? Nach allen Legenden jedenfalls, die James hört, muß es in Griechenland und auf dem Balkan von
ihnen nur so wimmeln.« »Vielleicht ist der Vampir, der Karolyi von Ernchester erzählt hat - oder der Sultan, wenn er es war, der Karolyi geschickt hat - inzwischen tot. Wir können nicht wissen, wie lange das her ist, und kürzlich hat es Aufruhr in der Stadt gegeben. Mit Sicherheit wäre er oder sie - tot, hätte der Meister von Konstantinopel erfahren, daß eine Verschwörung im Gange ist, um einen Eindringling in seine Stadt zu holen. Und es mag sein, daß, wer auch immer nach Ernchester geschickt hat, das Gefühl hat, er würde leichter zu kontrollieren sein als jemand, der unter dem Einfluß des Meisters von Konstantinopel steht. Darin hätte er recht.« Ysidro streckte eine wie ein behandschuhter Knochen aussehende Hand aus, um den Fenstervorhang zu teilen. »Sehen Sie.« Es war nicht wie in Paris, nicht wie das glitzernde Meer der Gaslichter von Paris. Weit weniger Lichter, aber sanftere - Bernstein, Zitrin, Topas und das Rot von Blutorangensaft leuchteten wie Edelsteine an dem langgestreckten Hügelgrat, auf dem die Stadt lag, und schwammen wie einzelne flammende Pailletten auf dem beinahe unsichtbaren bewegten Meer. Der Zug durchfuhr eine lange Kurve. Aus dem Dunkel erhob sich ein Tor mit vielen Türmen. In den Bogengängen hingen gelbe elektrische Lampen, deren Widerschein einen baumbestandenen Graben erhellte und eine massige Mauer, die sich in die Nacht hinein verlor. Verblüfft holte Lydia tief Luft - sie hatte von den Mauern von Konstantinopel gehört, doch ihr war nicht bewußt gewesen, daß die byzantinischen Befestigungen mitsamt ihren Wachtürmen immer noch standen. Als der Zug langsamer fuhr, spiegelte sich das Licht aus seinen Fenstern auf den schwarzglasigen Wellenkämmen der bewegten See unterhalb des Bahndamms. Dort, wo das Ufer einen Bogen beschrieb, erhob sich über den Schienen die Seeseite der alten Stadtmauer. Aus dem antiken Mauerwerk sprossen dunkle Häuser, deren obere Stockwerke vorsprangen wie Pilze aus einem gespalteten Eichenstamm. Ysidro zog eine goldene Taschenuhr hervor. »Zwanzig vor eins«, sagte er anerkennend. »Nur zwei Stunden Verspätung. Ausgezeichnet für die osmanischen Lande.« Nachdem sie in Sofia mit viereinhalb Stunden Verspätung angekommen waren - der Himmel war wie feuchter Schiefer gewesen und Margaret so hysterisch, als würde sie und nicht Ysidro durch das Licht der Morgendämmerung zermalmt -, konnte Lydia nur dankbar sein. Bei dieser Gelegenheit war Ysidro, während der Zug nach Sofia die gesamte Strecke durch die kahlen Hügel von Thrakien geholpert, immer wieder stehengeblieben und angeruckt war, immer ruhiger geworden, und, wenn er etwas gesagt hatte, immer scharfzüngiger. Obwohl Lydia nicht wußte, wieviel Licht genau nötig war, um die fotoreaktiven Vorgänge im Körper eines Vampirs auszulösen, nahm sie an, daß nur noch Minuten gefehlt hatten, als sie das Bahnhofshotel in Sofia erreichten und Ysidro sich wie üblich von ihnen verabschiedete. Dies hatte zu einer wütenden und nicht sehr logischen Szene mit Margaret geführt, die Lydia noch im nachhinein peinlich war. Die Jüngere hatte Lydia vorgeworfen, Ysidro sei ihr ›vollkommen gleichgültig‹, sie würde ›mit Menschen umgehen wie mit alten Tellern, die man fortwirft, wenn sie einen Sprung bekommen‹. Als Lydia darauf hingewiesen hatte, Ysidro habe sich schließlich jederzeit in seinen Sargkoffer zurückziehen und es den Frauen überlassen können, ihn in Sicherheit zu bringen, hatte Margaret geschrien: »Hätten Sie sich jemals Ihren Lebensunterhalt verdienen müssen und wäre Ihnen nicht alles, was Sie wollten, auf einem Silbertablett serviert worden, dann hätten Sie gelernt, daß Sie Menschen, die versuchen, Ihnen zu helfen, nicht so behandeln können!« In Anbetracht von Ysidros Beziehung zu Margaret war das Lydia so unerhört vorgekommen, daß sie einfach gesagt hatte: »Ach, hören Sie doch auf, sich wie eine dumme Gans zu benehmen.« Dann war sie in das einzige Schlafzimmer der Suite gegangen und hatte die Tür geschlossen. Ihre eigenen Ängste hatten sie viel zu sehr erschöpft, als daß sie lange wachgelegen hätte. In den wenigen Minuten, die sie
gebraucht hatte, um ihre Oberkleidung, Unterröcke und Korsett abzulegen, hatte sie Margaret im Salon hysterisch schluchzen hören. Als sie wenig erfrischt, Stunden später hinausging, hatte die Gouvernante unvorteilhaft über dem Sofa gelegen. Ihr Gesicht war gerötet, sie hatte ihre Hemdbluse ausgezogen, ihr Korsett aufgeschnürt und lag in tiefem Schlaf. Sie hatten sich irgendwie arrangiert, wie Reisegefährten es tun müssen, doch ihre niemals unkomplizierte Beziehung war weiter angespannt. Jetzt murmelte Margaret: »Sie hätten mich eher wecken sollen«, als Lydia sie schüttelte. »Wir sind da. Konstantinopel.« Sie erwähnte nicht, daß Ysidro sein Möglichstes getan hatte, damit sie weiterschlief. Margaret zog einen Kamm aus der Handtasche und ordnete ihr Haar, wobei sie Ysidro nervöse Blicke zuwarf, als habe er sie nicht schon viele Nächte in zerzaustem Schlaf gesehen. Erst dann wandte sie sich zum Fenster und sagte enttäuscht: »Oh. Man sieht ja gar nichts.« Jenseits des bewegten onyxfarbenen Wassers glomm ein ausgedehnter Lichterbogen, als habe eine Versammlung von Schäfern Wachfeuer auf der Landspitze angezündet. Hier und dort neben den Gleisen sah man im Widerschein des Lichts honigfarbene Mauern, wie mit dem Daumen hingewischt, doch größtenteils war die Stadt finster. Das hohe, dunkle Rückgrat des Landes unter dem Licht des dreiviertelvollen untergehenden Mondes war übersät mit Minaretten und Kuppeln: die Verkörperung formloser Träume, die unscharfe Andeutung eines Labyrinths, das Dunkelheit barg. Nein, dachte Lydia. Du kannst es nicht sehen. Du hast von der Dunkelheit getrunken, und es hat dich mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Hunger, Verlust und Gram erfüllt. »Man nannte sie einst die Stadt der Mauern«, sagte Ysidro leise. »Die Stadt der Paläste. Sie ist wie ein Schatz bei Kipling, der von einer Kobra bewacht wird. Während all der langen Jahrhunderte, seit der Kaiser Rom verließ, hat man um sie gekämpft oder sie gefürchtet. Nicht einmal die, die sie erobert, die sie bewohnt haben, haben sie je ganz kennengelernt.« Wie James, dachte Lydia, wenn er die Türme von Oxford ansah und jeden beim Namen nannte. Benannte Ysidro im Herzen jede Kuppel, jedes Quartett von Minarettspitzen unter diesem leuchtenden Himmel? »Bist du schon einmal hiergewesen?« Margaret rückte besitzergreifend an ihn heran, nahm seinen Arm - obwohl Lydia wußte, daß er es haßte, berührt zu werden - und sah ihm ins Gesicht. Ysidro lächelte, für sie. »Einmal«, sagte er mit einer Stimme, die ihr neue Träume versprach. Über ihren Kopf hinweg traf sein rätselhafter Blick den Lydias, dann sah er weg. Der Zug hielt schnaufend in einem kleinen Bahnhof unter den hochaufragenden Türmen eines alten Festungstors. Von nahem gesehen war die Atmosphäre alles andere als exotisch. Der Bahnhof war westlich, stuckgeschmückt und in demselben Ockerbeige gestrichen, das in Wien so verbreitet war, und im harten Licht der elektrischen Lampen sah Lydia die Großmütter und die Ziegen, die Männer in rotem Fez und schwarzen Mänteln, die Griechen in weiten weißen Hosen und die Bulgaren mit ihren Hühnerkäfigen und strohgeflochtenen Koffern, wie sie mit der Gelassenheit von Menschen ein- und ausstiegen, die wissen, daß der Zug es nicht eilig hat, irgendwohin zu kommen. Der Gestank der Slums und Gerbereien war durchdringend, und Lydia bemerkte, daß sich im Bahnhof eine Menge Soldaten aufhielt. Sie trugen moderne Khakiuniformen und hatten nichts mit den buntgewandeten Kriegern aus den Märchen gemeinsam. »Das sind wohl nicht die Janitscharen, oder?« fragte sie, und in den kalten, ironischen Tiefen von Ysidros Augen glomm ein winziges amüsiertes Funkeln auf, wie ein ferner Stern. Trotz der insektenhaften Magerkeit seines Gesichts und seiner weißseidenen Blässe sah er für einen kurzen Moment menschlich aus. »Das Janitscharenkorps wurde vor einem Jahrhundert auf Befehl von Sultan Murad, der
eine moderne Armee aufbauen wollte, abgeschafft, genauer gesagt, komplett massakriert. Im vergangenen Juli hat diese moderne Armee sich dafür bedankt, indem sie den jetzigen Sultan abgesetzt und zwangsweise zu der Art von konstitutionellem Monarchen gemacht hat, wie sie zur Zeit bei denen Mode sind, die sich gern aufgeklärt geben.« »Du meinst, es gibt keinen Sultan mehr?« Margaret klang wie ein Kind, dem man am vierundzwanzigsten Dezember erzählt hat, daß der Weihnachtsmann sich in einer Villa in Südfrankreich vorzeitig zur Ruhe gesetzt hat. »Juli...«, sagte Lydia nachdenklich. »Der Abgabetermin für meine Monographie über die Wirkungen von ultraviolettem Licht auf den Hypothalamus war am fünfzehnten August ... Und ich vergesse immer, ob sie auf unserer Seite sind oder auf der der Deutschen. Könnte es demnach der Sultan gewesen sein, der nach Ernchester geschickt hat?« »Es kann gut sein«, sagte Ysidro. »Er ist selbst jetzt nicht ohne Macht. Doch wenn er glaubt, sie zurückzugewinnen, indem er sich einen Vampir holt, den er zu kontrollieren hofft, dann hat er seine Rechnung ohne den Meister von Konstantinopel gemacht.« Der Zug ruckte an und fuhr langsam und rüttelnd weiter. Um sie herum wuchs die Stadt in dichten Sedimentschichten von Schatten, Lichtern und alten, in Weinlaub gehüllten Mauern empor. »Wer ist der Meister von Konstantinopel?« fragte Lydia ruhig. Sie drückten sich alle drei an die Abteilfenster und blickten über das tintenschwarze Wasser auf die Lichter des Vorgebirges und die verschwommenen Hügel Asiens dahinter. »Zu meiner Zeit hat man es für unklug gehalten, seinen Namen auszusprechen.« Ysidro wandte sich zurück zum Tisch und sammelte die Karten ein. Er griff daneben, ließ sie fallen; Margaret sprang sofort hinzu, um ihm zu helfen, doch er hatte sie schon aufgehoben, sie in das Papierband geschoben, das gewöhnlich um den Packen lag, und sie in einer Tasche seines mausgrauen Mantels gesteckt. »Im Leben war er ein Hexer, ein Titel, der alles bedeuten kann von einem alchimistischen Theoretiker bis zu jemandem, der die Eigenschaften von Heilpflanzen erforscht. Ganz bestimmt war er ein Giftmischer, vielleicht ein Astronom, obwohl man diese Attribute nicht immer beibehält. Er übte, vor und nach seinem Tod, immense Macht über die Wesire der Hohen Pforte aus. In Legenden heißt es, daß ein gewisser Sultan ihm Gefangene zum Geschenk machte, auf daß er sich von ihrem Tod nährte, obgleich ich das angesichts der Anzahl der Bettler in Konstantinopel weder für wahrscheinlich noch für notwendig halte. Und, wie Juvenal sagt, ›Dumm ist der, der Fürsten sein Vertrauen schenkt.‹ Ich persönlich würde nichts Eßbares anrühren, das ein Sultan mir anbietet.« Ysidro streckte wieder eine Hand aus, um sich an der Wand abzustützen, als der Zug den felsigen Abhang eines Hügels umrundete und in einen weiteren Vorortbahnhof ratterte. Auch hier gab es elektrisches Licht und Soldaten, die mit Enfields bewaffnet waren. »Es ist wahrscheinlich das Beste«, sagte er, »so lange nicht von dem Meister dieser Stadt zu sprechen, bis wir in Pera sind.« Ein weiterer von Ysidros barschen einheimischen Gesellen erwartete sie auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof von Stambul, diesmal ein Grieche - den Ysidro auf spanisch ansprach -, wie üblich mit Wagen und Pferden. Lydia hatte ihre Brille abgenommen, bevor sie das Zugabteil verließ, aber sobald sie sich auf dem hohen Sitz niedergelassen hatten und durch das Wirrwarr von Handwagen, Eselskarren und Fußgängern davonfuhren, setzte sie sie heimlich wieder auf und blickte sich voll Staunen um. Am Ende des Platzes spiegelten sich die Lichter der Schiffe in den dunklen Wassern des Goldenen Horns, und selbst kurz vor zwei Uhr morgens waren die Lichter kleiner Boote zu sehen, die zwischen dem Stambuler Ufer und den mit Lämpchen übersäten Hügeln von Pera auf der anderen Seite verkehrten. Sie wurden von den dunklen Straßen verschluckt, und ein paar Minuten lang konnte Lydia die Umrisse der Häuser, die sich über ihnen drängten, nur erahnen. Balkone,
manchmal ganze Stockwerke sprangen vor, als kämpften sie um einen Platz in der Luft,
und hier und da sah man hinter dichten Gittern einen trüben Lampenschein. Überall
glühten Katzenaugen, und der Geruch nach Ziegen, Hunden und menschlichem Abfall
war wie ein Vorhang, so dicht, daß man ihn beinahe anfassen konnte. Als sie einen Platz
überquerten, sahen sie im Licht von Lampen in eisernen Käfigen die düstere Pracht einer
Moschee, die halb in höllische Finsternis gehüllt war, ein uraltes Monument, direkt neben
einer hell erleuchteten modernen Eisenbrücke.
Auf der anderen Seite der Brücke waren die Häuser europäisch - das heißt griechisch, mit
weißen Mauern, die im Mondlicht wirkten wie geronnener Rahm. Auf gewundenen
Pfaden fuhren sie hügelaufwärts zu einem baumbestandenen öffentlichen Platz vor einem
herrlichen Palast aus blaßgoldenem Stein in italienischem Stil.
»Die britische Botschaft«, ließ sich Ysidros leise Stimme vernehmen. »Ich nehme an, die
Damen werden am Morgen bei dem ehrenwerten Mr. Lowther vorsprechen. Seit vielen
Jahren stellen hier die Botschaften die eigentliche Macht dar.«
Wie üblich hatte Ysidro telegrafisch für eine Unterkunft gesorgt, diesmal ein
rosagetünchtes Haus in griechischem Stil, dessen steingefliester Bogengang in einen Hof
führte, der im Schatten eines dicken Granatapfelbaums lag. Das Personal bestand aus
drei stämmigen Griechinnen, offensichtlich einer Mutter und zwei Töchtern, die lächelten
und auf alles, was Lydia sagte, mit »Parakalo - parakalo...« antworteten.
Wie in Belgrad, Sofia und Adrianopel stieg Ysidro, sobald Lydias Koffer, Handkoffer,
Hutschachteln und Kräuterkörbe hinaufgetragen worden waren, wieder in den Wagen
und verschwand zu seiner eigenen geheimen Bleibe.
»Sie können unmöglich von ihm verlangen, daß er so weitermacht.«
Verblüfft wandte Lydia sich um, und ihr moosgrüner Samtmorgenmantel wog schwer auf
ihrem Arm. Morgen würde sie nicht nur bei dem ehrenwerten G. A. Lowther vorsprechen,
sondern auch, bewaffnet mit Mr. Halliwells Empfehlungsschreiben, bei Sir Burnwell
Clapham, dem Attaché, der für das zuständig war, was man nebulös »verschiedene
Angelegenheiten« nannte. Es war durchaus möglich, dachte sie, daß Jamie dort war,
oder Jamie würde irgendwo in der Nähe sein. Ach ja, Dr. Asher. Er ist letzte Woche
angekommen ...
Bitte, dachte sie und zitterte innerlich. Bitte ...
Margaret stand linkisch in der Tür des einzigen großen Schlafzimmers, das die beiden
Frauen teilen würden. Wie in Wien, Belgrad und Sofia hatten sie es sich nicht ausgesucht
- auch wenn die Beziehungen zwischen ihnen nicht angespannt gewesen wären, hätte Lydia es vorgezogen, wenn ihr die nächtlichen Seufzer und das Traumgemurmel ihrer Reisegefährtin erspart geblieben wäre. Aber in keinem Haus war mehr als ein Bett zurechtgemacht worden, noch konnte man irgendwo die Diener dazu bewegen. In der kleinen angrenzenden Kammer hatte Lydia bereits die auseinandermontierten Teile eines massiven Himmelbetts entdeckt, das aussah, als habe es jemand auf dem Höhepunkt der Mittelalter-Mode aus Berlin kommen lassen. Sein Gegenstück füllte den größten Teil dieses Zimmers aus, und die Tagesdecke, eine bunte, rosablaue einheimische Handarbeit, wollte mit ihrem fröhlichen Muster nicht dazu passen. Der Frisiertisch, der Spiegelschrank und der Waschtisch mit der Marmorplatte waren eindeutig zusammen mit dem Bett bestellt worden, und obwohl der Raum groß war, mit einem Erker, der über die Straße ragte, wirkte er durch die Möbel überladen, vollgestopft und unschön. Wenigstens, dachte Lydia, waren sie nicht mit Nippessachen aus Porzellan übersät wie in ihrer Unterkunft in Belgrad, und an den verputzten, weißgetünchten Wänden hingen keine grellfarbenen Ölbilder orthodoxer Heiliger. Sie wandte sich vom Schrank ab, den Morgenmantel noch in den Händen. »Was?« »Sie haben ihm verboten...« Margaret zögerte und wandte ihre weitaufgerissenen blauen Augen ab, während sie ein anderes Wort suchte. »Sie haben ihm verboten zu jagen«,
sagte sie schließlich. »Als Bedingung dafür, daß er mit Ihnen reisen, Sie beschützen darf.« Ihre Stimme stockte, und sie rang die schwarzbehandschuhten Hände. »Jetzt, wo wir unser Ziel erreicht haben, haben Sie wirklich kein Recht, weiter ... weiter...« Lydia erstarrte. Sie konnte Margaret nur anstarren, zu schockiert, um zusprechen. Margaret, die gehofft hatte, Lydia würde etwas sagen und es ihr ersparen, den Satz - und ihren eigentlichen Gedanken - zu Ende zu führen, verstummte unsicher, und einen Augenblick lang war nur ihr krampfhaftes Ein- und Ausatmen zu hören. Dann platzte sie heraus: »Sie verstehen ihn nicht!« »Das sagen Sie ständig.« Lydia ging zum Bett, ließ den Morgenmantel neben das Nachthemd fallen, das die Zofe ausgebreitet hatte, und begann ihr Oberteil aufzuknöpfen. Die kleinen Perlenverschlüsse an den Ärmeln waren schwierig, doch sie hatte die Dienerin entlassen, nachdem sie ihre Koffer ausgepackt hatte, und sie sprach nicht genug modernes Griechisch, um sie zurückzurufen. Sie fragte sich, was die Bediensteten wohl von den Silbermessern und der mit Silberkugeln geladenen Pistole zwischen den zahllosen Unterröcken, Röcken, Oberteilen, der Wäsche und den Abendkleidern gehalten hatten - und sie fragte sich ebenfalls, ob sie ihnen die Bitte verständlich machen konnte, morgen Knoblauch, Weißdorn und wilde Rosen zu kaufen. Oder würden sie sich als Ysidros Untergebene weigern, solch einer Anordnung Folge zu leisten? Margaret streckte die Hand aus und hielt sie am Ärmel fest. Ihr Gesicht war von kummervollen Linien durchzogen, die durch die schroffen Schatten, die die Lampe warf, noch vertieft wurden. »Sie können ihm nicht verbieten zu jagen!« flehte sie verzweifelt. »Es ist nicht, als ob er ... als ob die Menschen, die er ... er nimmt...« »Sie meinen, die er tötet?« Bei dem Wort zuckte sie zusammen, doch sie schlug beinahe sofort zurück: »Es ist nicht so, als hätten sie es nicht verdient!« Eine Weile stand Lydia nur da. Ihre Finger ruhten immer noch auf den Perlenknöpfen, doch sie hatte vergessen, was sie damit wollte. Als sie sprach, war ihre Stimme sehr ruhig. »Hat er Ihnen das erzählt?« »Ich weiß es!« Die Gouvernante stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Ja, er hat es mir erzählt! Ich meine, ich weiß es ... ich meine, in der Vergangenheit ... in vergangenen Leben ... in Träumen, die ich über unsere früheren gemeinsamen Leben gehabt habe ... Und sagen Sie mir nicht, daß alles Lüge ist«, fuhr sie plötzlich herum, »weil ich weiß, daß es nicht so ist! Ich weiß, daß Sie es für Lügen halten, aber es ist nicht so! Glauben Sie mir!« Als Lydia versuchte, sich abzuwenden, warf Margaret sich vor ihr nieder, ihr Gesicht rot und fleckig, als sei sie den Tränen nahe. »Verstehen Sie doch, wenn ein Vampir seine Jagd nicht ... nicht zum Abschluß bringt...« Immer noch vermied sie das Wort ›töten‹. »Sie ernähren sich von der Energie, dem Leben, der Lebenskraft!« fuhr sie schnell fort. »Nur das Leben, das sie nehmen, verleiht ihrem Geist die Kräfte, die sie brauchen, um sich zu schützen!« »Sie meinen, um andere Menschen zu töten?« »Sie lassen ihn verhungern!« schrie Margaret. »Sie rauben ihm die Kräfte, mit denen er sich gegen Gefahren verteidigt, gerade jetzt, hier, wo die Gefahr am größten ist! Deshalb brauchen Vampire so lange, um zu jagen, oder jedenfalls braucht er deshalb so lange für die Jagd. Er hat mir erzählt, daß er die Straßen der Stadt durchstreift, um einen Dieb, einen Mörder, einen ... einen Spitzbuben zu finden, der den Tod verdient! Sie wissen doch, daß die Welt voll von ihnen ist. So jagt er seit Hunderten und Aberhunderten von Jahren! Nur dieser Art Menschen nimmt er das Leben, das er braucht! Und er ist zu ehrenhaft, um das Wort zu brechen, das er Ihnen gegeben hat...« »Hat er Sie gebeten, mit mir zu sprechen?« Lydias Stimme klang in ihren eigenen Ohren so kalt wie das Silber an ihrem Hals.
»Nein.« Margaret schniefte und wischte sich wütend die Augen, dagegen ankämpfend, nicht vor diesem schmalen, rothaarigen und weißhäutigen Mädchen, schlank wie ein Schilfrohr, zusammenzubrechen, dieser verwöhnten schönen Erbin, unter deren aufgeknöpftem Oberteil man die schweren Silberketten sah, die vielfach um ihren Hals geschlungen waren. »Aber ich kann es sehen!« schluchzte sie. »Jeden Tag sehe ich es. Sie schlagen ihn jetzt ständig beim Kartenspiel...« »Ich habe eine Woche ununterbrochener Übung hinter mir«, machte Lydia sie aufmerksam. »Sie könnten ihn niemals schlagen, wenn er nicht darum kämpfen würde, seine anderen Geisteskräfte intakt zu halten! Um sich zu schützen...« »Vielen Dank.« Lydia hatte Kopfschmerzen vor Müdigkeit - denn es war kurz vor drei Uhr morgens - und sie wandte sich ab. Es stimmte, daß Ysidro sehr hager geworden war - es stimmte auch, daß er vor einer Woche niemals die Karten hätte fallen lassen, nie zugelassen hätte, daß die Frauen sahen, wie er sie aufhob. Er konnte die Dinge nicht mehr vor ihnen verbergen wie früher. Oder sparte er sich seine Kraft für andere Dinge? »Margaret, müssen wir jetzt darüber reden? Ich bin müde, Sie sind müde, und ich nehme an, Sie meinen nicht alles, was Sie sagen...« »Wie können Sie nur so blind sein!« fuhr Margaret hektisch fort. Sie ließ nicht locker und folgte Lydia zurück zum Bett. »Sehen Sie es denn nicht? Auf den Bahnhöfen kann er die Gedanken der Menschen nicht mehr so ablenken wie vorher oder in den Waggons horchen und ihre Träume lesen...« Lydias strapazierter Geduldsfaden riß. »Oder kleine Szenen in Ihre Träume weben, in denen Sie beide Walzer tanzen - der im sechzehnten Jahrhundert noch nicht einmal erfunden war? Es tut mir leid«, sagte sie sofort, als Margaret ob dieses brutalen Vorwurfs in einen Tränensturm ausbrach. »Das hätte ich nicht sagen sollen...« »Sie verstehen das nicht!« schrie Margaret wild. »Sie verstehen ihn nicht! Alles, was Sie interessiert, ist, Ihren langweiligen alten Knaben von Ehemann zu finden und ihm zu helfen, Spion zu spielen, und Sie sehen nicht ein, daß Sie einen großherzigen, edlen, einsamen, tragischen Helden zerstören!« Dann stürmte sie aus dem Zimmer. Lydia hörte das Treppengeländer knirschen, als Margaret dagegen stolperte, hörte, wie sie eiligen Schritts die beiden halbkreisförmigen Treppen hinunterpolterte. »Margaret!« Sie riß ihre Brille vom Frisiertisch und rannte ihr nach. Mit den Händen raffte sie ihren Taftrock, als sie die Treppen hinuntereilte. Unter ihren bestrumpften Füßen waren die Fliesen kalt. Unter sich hörte sie, wie die Tür zugeschlagen wurde, und entsetzt folgte sie Margaret in die überdachte Ausfahrt, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie das schwere Außentor in seinen Angeln zuschwang. »Margaret!« Durch ihre Sorge hindurch dachte sie undeutlich, Nun ja, nun war auch dieses Paar Strümpfe hin - selbst in dem relativ sauberen Vorort Pera waren die Straßen nicht dazu geeignet, ohne Schuhe erkundet zu werden. Zwei kleine Wandleuchter hinter ihr erhellten den Hof. In einer Nische stand vor einer Heiligenikone eine Kerze und warf ihr flackerndes Licht in die Unterseite des Ziegelgewölbes der Ausfahrt. Hinter dem Tor war die Straße finster wie eine Höhle, die tausend Fuß unter der Erde lag. Lydia blieb auf der Schwelle stehen, als sei diese unergründliche Dunkelheit ein Abgrund, in den sie hineinstürzen könnte. Irgendwo keuchte Margaret auf, und sie sah die Andeutung einer Bewegung, etwas Bleiches im Dunkeln. Ein Fleckchen Mondlicht beleuchtete ein weißes, schädelähnliches Gesicht, eine Strähne spinnwebfeinen Haars. Einen Moment später erkannte Lydia, deren Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, die weißen Hände, die Margaret bei den Handgelenken festhielten. Margaret warf sich wortlos an seine Brust, hielt sich an ihm fest und weinte.
Ysidro mußte etwas gesagt haben, so leise, daß Lydia es nicht hörte. Lydia selbst war durch Margarets Träumereien und wortlose Vorwürfe oft so außer sich gewesen, daß sie sie hätte ohrfeigen können, doch den Vampir hatte sie nie anders als geduldig und verständnisvoll bei der Frau erlebt, die er zu seiner Sklavin gemacht hatte. Natürlich verstand er sie, dachte Lydia bitter, als sie zusah, wie Ysidro den Kopf hinunterbeugte, um einer erstickten, hysterischen Schimpfkanonade zu lauschen, wie Margarets magere Hände an seinen Ärmeln, seinen Schultern, den langen Falten seines Umhangs zerrten. Hätte er sie nicht verstanden, hätte er den Köder für seine Falle nicht auslegen können. Nur von dem schwachen Licht aus dem Fenster über ihnen beschienen, wirkten sie wie Gestalten in einem Theaterstück, das man von weitem sieht, beinahe wie in einem Traum. Margaret warf den Kopf zurück, blickte auf Ysidros Gesicht, dann riß sie mit einer leidenschaftlichen Geste ihr Oberteil auf und entblößte ihre Kehle und ihren weißen, wei chen Busen. »Nimm mich!« hörte Lydia sie keuchen. »Auch bis zum Tode, wenn es das ist, was du brauchst!« Lydia erfuhr nie, was Ysidro antwortete. Doch sie sah, wie er ihr Oberteil wieder zusammenzog, ihr die Hände auf die Schultern legte und ruhig sprach, während sie den Kopf beugte. Als er sich anschickte, sie durch die Gasse zum Tor zurückzuführen, zog Lydia sich lautlos in den Hof zurück und verbarg sich im tiefen Schatten des Granatapfel baums, damit Margaret die Peinlichkeit erspart blieb zu erfahren, daß sie ihre Begegnung beobachtet hatte. Einen Augenblick standen sie im Rahmen des Torbogens zur Einfahrt. Ysidro mußte noch etwas gesagt haben, denn Lydia sah, wie Margaret nickte und ihre Brille hochschob, um sich die Wangen abzuwischen. Dann ging sie hinein, und die Tür schloß sich hinter ihr. Eine Weile hörte Lydia nichts, obwohl sie wußte, daß Ysidro nicht hineingegangen war; und tatsächlich zeigte sich Augenblicke später ein schwacher Lichtspalt, als er das Tor wieder öffnete, einen Moment stehenblieb und hinaussah. Der Schlitz verschwand; er trat in den Hof wie ein umherirrender Geist und ging zu ihrem Versteck hinüber, als habe er sie die ganze Zeit gesehen. »Ich wünschte, sie hätte sich solch theatralische Auftritte für eine andere Zeit und einen anderen Ort aufgespart.« »Ja.« Sie war ärgerlich über Margaret gewesen, doch ihr größter Zorn galt immer noch ihm. Sie verschränkte die Arme, um die Kälte abzuwehren. »Es ist sicher lästig, wenn Menschen beschließen, mehr zu empfinden als das, was Sie für sie vorgesehen haben, nicht wahr?« »So ist es.« Der Mond ging unter; nur der Kerzenschein von den Heiligenbildern neben der Küchentür erhellte den Garten, der vor ihnen lag. »Doch die Träume, die sie träumt, stammen nicht alle von mir. Und ich gebe zu, daß ich mich sicherer fühle, wenn ich weiß, daß Sie beide in einem Bett schlafen, um das Sie, dessen bin ich sicher, wie in Sofia und Belgrad das stinkende Unkraut hängen werden, das Sie seit Paris mitschleppen.« Die eisige Brise aus den Hügeln Asiens bewegte die letzten Blätter hoch über ihnen. Ein verirrter Windhauch brachte die Votivkerzen zum Flackern und zeigte ihr kurz Ysidros Gesicht. Im Schatten wurden seine Augen zu Höhlen wie die eines Schädels, die Wangenknochen zu hohlen, dunklen Flecken. Lydia dachte an das, was er über Spiegel gesagt hatte, und fragte sich plötzlich, ob er tatsächlich vor ihren Augen zu einem Gespenst aus Ektoplasma und Knochen schwand, oder ob das, was schwand, einfach seine Fähigkeit war, sie glauben zu machen, daß sie ihn anders sah, als er wirklich war. »Die Galata-Slums am Fuß des Hügels und die hochgelegenen Straßen von Pera mit ihren Botschaften und Banken riechen alle nach Vampiren.« Die Flamme flackerte wieder auf, sie war wie ein kalter gelber Kristall in seinen Augen. »Gerade eben habe ich auf den Stufen der Yusek-Kalderim-Straße gestanden und meinen Geist über das Goldene Horn ausgeschickt. Die Stadt liegt unter einer Ausdünstung, wie sie mir nie zuvor begegnet ist. Das Bewußtsein von Vampiren, das Bewußtsein des Meisters, andere Geister ... Ich kann sie riechen, sie wie Seide in meiner Hand wägen. Aber alles ist versperrt, umschattet, in
Illusion und Täuschung gehüllt, als sei jede Karte auf dem Spieltisch verdeckt, und man müßte alles, was man hat, setzen und hätte nur drei Karten auf der Hand.« Er blickte finster und sah wieder zum Tor zurück. Unwillkürlich trat Lydia näher zu ihm. Ihr Zorn war vergessen. »Sind Sie sicher? Sie haben selbst gesagt, daß Ihre Wahrnehmungen nicht mehr ... nicht mehr so gut sind...« Eine ironische Linie zeichnete sich in einem seiner Mundwinkel ab, der Widerhall des ironischen Lächelns eines Lebenden. »Tut es Ihnen leid, Mistress? Bedauern Sie die Tatsache, daß Sie mich gebeten haben, nicht zu töten, um mein eigenes Leben zu erhalten, nur um zu entdecken, daß eine solche Enthaltsamkeit mich daran hindern könnte, das Ihrige zu schützen?« Einen Augenblick studierte sie sein Gesicht und versuchte, etwas aus dem schwefelfarbenen Glitzern seiner Augen zu lesen. Sie lagen in ihren Höhlen wie Drachenaugen. »Nein«, sagte sie. »Ich bin vielleicht besorgt, aber es tut mir nicht leid.« »Nein«, wiederholte er leise. »Durch und durch einer Lady würdig.« Dies war, wurde ihr klar, das erste Mal, daß er mit ihr über ihre Bedingung gesprochen hatte. Dann schüttelte er den Kopf und blickte zurück zum Tor und der tiefen, tintenschwarzen Dunkelheit, die auf der anderen Seite lag. »Und Jamie?« Ihr fiel auf, daß sie kaum seinen Namen aussprechen konnte. Es fiel ihr schwer, auch nur zu fragen, aus Angst, Ysidro könnte ihr sagen, was sie seit Tagen fürchtete zu hören. Seine Brauen runzelten sich kaum wahrnehmbar. »Wenn er hier ist, ist er nicht in Pera.« In seiner Stimme lag beinahe ein Zögern, eine Unwilligkeit. »Wenn er auf der Stambuler Seite schläft...« Er schüttelte den Kopf. »Nein, meine Wahrnehmung ist getrübt, aber dies ist keine Frage der Abstufung. Dieser ... Schatten, diese ... Verschwommenheit, die über der Stadt liegt ... es ist etwas, das von den Vampiren selbst ausgeht. Eine Dunkelheit, zusammengetragen, um sich darin zu verbergen. Ein Nebel, wie ihn die Untoten angeblich rufen können...« Sein Lächeln war - beinahe - das eines Lebenden gewesen. Der Schatten in diesen Drachenaugen war plötzlich, einen flüchtigen Augenblick lang, die Angst eines Lebenden. »Morgen nacht wird es noch früh genug sein, um hinüberzufahren, in der Dunkelheit umherzugehen und zu lauschen und zu sehen, was man aus der Nähe noch herausbringen kann.« Er zog seinen Umhang enger um sich, eine unbewußte Geste, und das Weiß seiner Handschuhe wirkte vor dem dunklen Wollstoff wie Reif auf schwarzem Fels. »Doch mir ist klar, daß in dieser Stadt etwas sehr Seltsames geschieht, und mir wäre wohler, hätte unsere romantische Freundin nicht herumgeschrien von Jagen und Töten und dem Trinken von Blut, nicht einmal auf englisch. Ich halte es für besser, wenn solche Dinge nicht laut ausgesprochen werden, nicht einmal hier in Pera. Nicht einmal im Tageslicht.«
ZWÖLF
Die Stimmen der Muezzine weckten Asher: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammad ist Sein Prophet...« Er kannte die Worte, konnte sie aber nicht aus dem dunklen Rollen der Laute isolieren. Einst hatten sich über die ganze Länge des Raums, der schmal, aber fünfmal so lang wie breit war, Bogenfenster erstreckt, doch diese waren schon vor Jahrhunderten zugemauert worden. Die Fenster in den Trommeln der fünf niedrigen Deckenkuppeln waren, so weit er erkennen konnte, mit Silber vergittert, ganz sicher war er nicht. Bei Tag hatte er von unten keine Stimmen gehört, weder das Klappern von Eselshufen noch das Knirschen von Rädern, nur gelegentlich und in weiter Ferne das Bellen der berüchtigten Hunde von Konstantinopel. Dann und wann trug der Wind ihm den Ruf eines Straßenverkäufers in abgehacktem Neugriechisch zu. Bei Tag und Nacht waren die Geräusche, die ihm am nächsten waren, das Schreien der Möwen und das Heulen von Katzen. Durch das Gitter hatte der Himmel die Farbe von Tigerlilien, und das Licht war für Augenblicke ein sanftes, verschwommenes Lachsbeige auf den blauen Kacheln, die um die Kuppeln herum verliefen. Asher wandte sich nicht gen Mekka - obwohl er schließen konnte, in welcher Richtung es lag -, noch wiederholte er die Worte, wie es in der Absicht des Muezzin stand, doch er saß zwischen den Kissen und Decken des Diwans und betete. Er hatte große Angst. Als er aufhörte, war es im Raum dunkler geworden, das Licht zu Schatten dahingeschwunden. Wegen der Kuppeln füllte sich der Raum von unten nach oben mit Dunkelheit. In der Mitte des Fußbodens erschien das rechteckige, blaugeflieste Bassin, das einmal ein Springbrunnen oder Fischteich gewesen sein mußte, im Zwielicht unendlich tief, ein grauenerregender Schacht, aus dem alles auftauchen konnte. Asher zog ein Zündholz aus der Tasche und riß es an, um den Docht einer der wenigen Bronzelampen anzuzünden, die noch immer in den Reihen der Wandnischen standen. Der Lichtschein konnte nur wenig gegen das schreckliche, unheilschwangere Halbdunkel ausrichten. Er griff nach seiner Uhr, um sie aufzuziehen, wie es seine Gewohnheit war, aber natürlich hatte man sie ihm abgenommen, zusammen mit den Silberketten, die seine Handgelenke und seine Kehle geschützt hatten. Er zog sich an, wusch sich und stopfte das Bettzeug, in dem er geschlafen hatte, in einen der flachen Schränke im Zimmer, während er die ganze Zeit über lauschte, wie in dem schweigenden Haus die Nacht einbrach. Als es vollständig dunkel war - so, daß man einen weißen nicht mehr von einem schwarzen Faden unterscheiden konnte, wie es im Koran heißt, hörte er, daß sich der Schlüssel in dem altmodischen Schloß drehte. Er trat soweit wie möglich von der Tür weg und nahm sich bewußt vor, nichts zu empfinden, nicht der seltsamen, trägen Zerstreutheit zu unterliegen, die die Vampire ausstrahlen. Doch er sah nicht, wie sie den Raum betraten. Er hatte den vagen Eindruck, er habe einmal davon geträumt, in einer dunklen Galerie zu stehen und auf eine Tür zu blicken, die mit Messing und Elfenbein eingelegt war, als diese begann sich zu öffnen ... Doch ihm schien, daß sie im nächsten Moment alle um ihn herumstanden und ihm mit einer schmalen Seidenschnur die Hände auf den Rücken fesselten. Im Lampenlicht waren ihre Augen wie Rattenaugen, und ihre Haut fühlte sich auf seiner an wie toter Lehm. Sie hatten nicht gespeist. »Also, wer bist du, Englis?« fragte der eine, von dem man ihm letzte Nacht gesagt hatte, er heiße Zardalu. Er war bartlos und knochenlos wie ein leerer Strumpf und hatte rotlackierte Fingernägel und die hellblauen Augen eines Tscherkessen. »Gestern nacht habe ich dich für einen der makaniki des Bey gehalten, und ich dachte, diesen will er zu einem von uns machen, um sich um dieses Ding zu kümmern, das sie in der Krypta bauen, diesen dastgah.« Er warf Asher unter geschminkten Augenlidern einen Seitenblick
zu; und Asher versuchte, das Pochen seines Herzens zu beruhigen, denn er wußte, sie konnten es hören. »Und nun hat der Bey uns andere Anweisungen gegeben. Was sollen wir da denken?« »Glaubst du wirklich, er würde uns um seines Experiments willen noch jemanden zugesellen?« Jamila Baykus - die ›Kadine‹ Baykus hatten sie sie genannt, klapperdürr und von einer seltsamen zerzausten Wildheit, die irgendwie sehr der Eule ähnelte, deren Namen sie trug - legte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn aus riesigen Dämonenau gen. Die Hälfte ihres Haars war geflochten oder gelockt und mit juwelenbesetzten Kämmen festgesteckt, der Rest hing als riesiges malzfarbenes Gewirr bis zu ihren Schenkeln herab. Perlen steckten darin, wie Muscheln, die man inmitten angespülten Seetangs entdeckt; um ihren Hals lag eine Kette aus Rattenknochen und Diamanten. »Ist es das, was du bist, Englis?« Der Finger, den sie nach oben streckte, um die Unterseite seines Kinns zu berühren - denn sie war nicht größer als eine normale Zwölfjährige -, war wie ein Zweig, den jemand von draußen mitgebracht hat, eiskalt wie das Eis der Nacht. »Er hat gesagt, daß wir ihm keine Fragen stellen sollen.« Das war Haralpos, ein einäugiger Schlägertyp, der einmal ein Janitschar gewesen war. Er hielt einen Schal aus feiner Baumwolle hoch, der verknittert, schmutzig und voll dunkler Flecke war. »Hat er auch gesagt, daß ich euch keine Fragen stellen darf?« Asher hatte Persisch und genügend Arabisch studiert, um das grobe Osmanli, das sie sprachen, ungefähr zu erfassen und sich verständlich zu machen. Zardalus Augenbrauen hoben sich zu bösartig erfreuten Bögen, und seine Fänge schimmerten in einem Lächeln. »Oh, was für ein kluger Englis. Natürlich darfst du uns befragen. Was sind wir anderes als deine Gefährten im Dienst des Todlosen Herrn?« »Er hat gesagt, wir sollten schweigen«, sagte Haralpos wieder. Der dunkle Habib und das üppige und stille russische Mädchen, Pelageya, machten eine unbehagliche Geste. Asher wußte, von wem der Janitschar sprach, und er wußte, daß den anderen zu Recht unwohl war. »Er hat uns befohlen, schweigend zu gehen wie der Nebel. Wollt ihr zulassen, daß dieser Ungläubige um Hilfe schreit?« »Würde es mir irgend etwas nützen, das zu tun?« konterte Asher. Er wandte sich an Zardalu, von dem er spürte, daß er der Gefährlichste unter ihnen war, und fragte: »Was ist das für ein dastgah?« Das Wort bedeutete ›wissenschaftlicher Apparat‹ und konnte für alles von einem Astrolabium bis zu einer chemischen Versuchsanordnung stehen. »Woher soll ich das wissen, Englis? Der todlose Herr hat silberne Gitter vor den Keller gelegt, der unter den alten, unbenutzten Bädern liegt. Er hat den Ort durch seinen Geist verschleiert, um uns daran zu hindern, an ihn zu denken, genau wie er einen Schleier über diese ganze Stadt gelegt hat.« Die weiche Altstimme senkte sich, als der Vampir sich zu ihm beugte, und sein Haar und seine Kleidung strömten einen Geruch nach Patschuli und Verwesung aus. »Er hat einen Schleier über diesen Ort geworfen, und doch spüren wir die Kälte des Eises, das er während des Tages von Menschen für seine Experimente bringen läßt. Wir riechen das naft, den alkol, den Gestank dessen, was er tut ... ebenso wie wir die Schritte der Arbeiter unten in der Krypta hören, während wir schlafen. Denkt er, daß wir es nicht bemerken?« »Komm«, sagte Haralpos ungeduldig. »Jetzt.« Er streckte die Hand mit dem Schal aus, und Zardalu berührte Asher am Handgelenk. »Unser Freund James hat gesagt - wir dürfen dich doch James nennen, Englis? - daß er sich hüten wird zu schreien. Wenn er entkommt, wird der Bey uns sicherlich bestrafen, also bedeutet auch nur ein Versuch zu fliehen - oh, nicht den Tod...« Sein kalter Fingerknöchel streifte über die Narben unter Ashers Ohr. »...aber sicherlich einige unangenehme Erfahrungen mit Zangen oder Wasser oder heißem Sand.« Die roten Nägel krallten sich plötzlich fest in sein Ohrläppchen, schnitten tiefer und tiefer ein wie der Griff einer Maschine. Asher biß die Zähne zusammen, schloß die Augen und zwang
den Schmerz aus seinem Bewußtsein. Gerade als er glaubte, die Klauen würden das Fleisch fortreißen, ließ Zardalu ihn los. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, daß Zardalu ihn mit seinen Fangzähnen anlächelte. »Und er weiß, daß er nicht entkommen wird.« An Zardalus Fingernägeln klebte Blut. Der Vampir hielt seinen Blick fest auf Ashers Augen geheftet, während er die Fingernägel langsam sauberleckte. Sie führten ihn auf eine offene Galerie, zwei Stockwerke über einem steingepflasterten Hof. Ein alter han, eine Karawanserei, vermutete Asher, während sie die langen gefliesten Treppen hinuntergingen. In einer Wandnische am Fuß der Treppenflucht brannte eine einzige Lampe. Sie erhellte einen kurzen Bogengang, der in ein achteckiges Vestibül führte. Die schon seit langem zerstörten Mosaikböden zeigten immer noch Fragmente byzantinischer Figuren. Gestern nachmittag hatte er dieses Vestibül durchquert, inmitten der Männer, die ihn in einer Gasse des Marktviertels umringt und ihm ein Messer an den Rücken gepreßt hatten. Sie hatten ihm nichts gesagt, doch das war auch nicht nötig gewesen. Das Alter dieses Ortes hatte ihm, ebenso wie das Fehlen von Lampen in den Nischen und Spiegeln an den Wänden, verraten, in was für ein Haus man ihn gebracht hatte. Letzte Nacht hatte Olumsiz Bey im flackernden Lampenlicht des Gemachs im oberen Stockwerk zu ihm gesagt: »Es wäre unfair, dich ganz und gar als Gefangenen zu halten, wenn mein Haus über Bibliotheken, Bäder und Zerstreuungen für einen intelligenten Menschen verfügt.« Da hatte Asher auf dem Diwan gelegen, an Händen und Füßen gefesselt und mit mehr Angst, als er je in seinem Leben gehabt hatte. »Doch das Haus der Oleander ist ein uraltes Haus, und ein großes. Es gibt Zimmer, in denen seit unzähligen Jahren keine Lampe mehr angezündet worden ist, und meine Kinder kommen und gehen in der Dunkelheit, wie sie wollen.« Der Bey wies mit seiner rechten Hand auf seine Zöglinge, einer Hand, die grob und eckig und mit Ringen bedeckt war, deren Steine geschnitten worden waren, lange bevor man den Facettenschliff für Edelsteine erfunden hatte. In der Linken trug er eine Waffe, die Asher ihn noch nicht hatte ablegen sehen, eine fünfeinhalb Fuß lange Hellebarde, deren nackte Achtzehn-Zoll-Klinge aus schimmerndem Silber geschmiedet, rasiermesserscharf geschliffen und mit Widerhaken besetzt war. »Daher glaube ich, es ist am besten, wenn Sayyed hier mit dir geht.« Der Wink des Todlosen Herrn rief einen gleichmütigen Diener herbei, einen der drei, die ihn gestern entführt hatten. »Ich denke«, hatte der Meister von Konstantinopel hinzugefügt, als der Diener - ein Lebender - ein Messer zog und Ashers Bande zerschnitt, »daß er dein bester Freund werden wird.« Asher verstand. Mehrere Stunden lang hatte Sayyed in der Tür der Bibliothek gestanden und ihm zugesehen, während er im Licht von einem Dutzend Lampen und Kerzen die Schränke mit den Einlegearbeiten erforschte und die Titel der Bücher las, die sie enthielten - auf arabisch, deutsch und latein. Der Diener hatte keine Bemerkung gemacht, als Asher einen Band von Procopius' Geheimer Geschichte und einen bronzenen Kerzenleuchter mit zurück in sein Zimmer genommen hatte, und genau das hatte Asher erreichen wollen. Der Kerzenhalter war verziert mit aus Bronzedraht gearbeiteten Weinranken. Asher hatte sie gelöst und zu Dietrichen verarbeitet, sobald die Sonne aufgegangen war. An dieses Gespräch mit Olumsiz Bey erinnerte er sich jetzt, während Haralpos ihm die Augen mit dem schmutzigen Schal verband und er weitergeführt wurde, gefesselt und blind und umgeben von den flüsternden Stimmen derer, denen aus dem Weg zu gehen der Bey ihm ans Herz gelegt hatte. Er dachte auch an die silberne Waffe, die der Bey getragen hatte, und daran, was die Tatsache, daß er sie trug, bedeutete.
Asher versuchte, die Abzweigungen und die Schritte zu zählen, und konzentrierte sich darauf, wie sich der Boden unter seinen Füßen anfühlte. Doch wie der Bey gesagt hatte, war das Haus groß, und es setzte sich nach dem wenigen, das Asher gesehen hatte, aus mehreren alten hans zusammen, kleineren Palästen türkischer oder byzantinischer Bauart. Sie gingen durch zwei offene Höfe - oder zweimal durch denselben Hof, denn die Ziegel fühlten sich unter seinen Füßen gleich an - Stufen hinauf und hinab, durch einen Ort hindurch, an dem seichtes Wasser unter seinen Stiefel spritzte, und einen anderen, an dem lose Bodenbretter hohl klangen, allerdings nur unter seinen eigenen Schritten, trotz der kalten Hände, die ihn an den Ellbogen festhielten. Es nutzte ihm nichts, die Stufen und Abzweigungen zu zählen, denn ihm schien, daß er wie ein Schlafwandler erwachte, als er sich draußen wiederfand. Der Gestank der Straßen von Konstantinopel stieg ihm in die Nase, und das Bellen der Hunde drang lauter an seine Ohren. Unheimlicherweise spürte er die Vampire um sich herum nicht. Es war, als ginge er allein, nur daß ihre Hände auf seinen Schultern, seinen Armen, seinem Nacken ruhten und daß sie dann und wann sprachen. »Kannst du dir vorstellen, daß der Bey einen solchen zu einem von uns macht?« Haralpos' tiefe Stimme erklang nahe an seinem Ohr, während sie durch eine steile Straße auf die Geräusche des Hafens zugingen. »Einen Ungläubigen, der mit Maschinen herumpfuscht? Er ist wählerisch geworden, der Todlose Herr. Seit Tinnin umgekommen ist, hat er niemanden mehr in unsere Reihen aufgenommen.« »Tinnin war ein Gelehrter«, hauchte eine Stimme, die Asher als die der Kadine Baykus erkannte. »Ein nubischer philosophe, wie jene im Europa seiner Zeit, die selbst Könige herausforderten ... Ah, aber zärtlich. Zärtlich. Er hätte um den Sinn dieser Experimente gewußt, nicht nur mit den Metall- und Drahtstückchen herumgespielt.« »Vielleicht kennt unser James ja ebenfalls den Sinn?« schnurrte Zardalu. »Vielleicht vertraut unser Bey uns nicht?« Unter seinen Füßen stieg der Boden steil an, dann kamen Stufen - irgendwo schrien Möwen. Das Haus der Oleander lag einen Steinwurf von den Ministerien auf der Kuppe des Zweiten Hügels entfernt. Das Marktviertel zwischen dem Paradeplatz und der Sultanin-Valide-Moschee war eines der ältesten und verwinkeltsten Viertel der Stadt. Wie in vielen islamischen Städten zogen sich die Einwohner nach dem Abendgebet in ihre Häuser zurück und verriegelten die Türen; die Untoten und ihr Gefangener schritten ungehindert dahin. »Höchste Zeit, daß er jemandem traut«, brummte Haralpos. »Er hat auch Zarifa nicht vertraut«, sagte die Kadine Baykus mit einer Stimme wie Grashalme und Knochen. »Noch Shahar, und du hast gesehen, was aus ihnen geworden ist. Es ist ein undurchsichtiges Spiel, das er spielt, unser Todloser Herr, und jetzt, mit diesem neuen kleinen Spielzeug, ist es noch undurchsichtiger geworden.« Ihre Nägel, einen Zoll lange Klauen an diesen mageren Kinderhänden, glitten kurz über seinen Hals. Einer von ihnen mußte gefühlt haben, daß er zuhörte, sein Bewußtsein gespürt haben, denn ihm schien beinahe, als bliese jemand betäubenden Rauch in seine Gedanken, so daß er darum kämpfen mußte, auch nur ein wenig von seiner Umgebung wahrzunehmen. Sein Geist wanderte umher, durchflossen von seltsamen Eindrücken und fremden Gerüchen, doch als er wieder klar wurde, waren der Salzduft des Meeres und das düstere Läuten von Schiffsglocken verschwunden und ersetzt worden von entferntem lebhaften Geplauder und der Musik des Zigeunerviertels. Sie gingen zu den Stadtmauern. Er sagte sich, wenn sie ihn töten wollten, wo der Bey es nicht sah, hätten sie es sicherlich schon getan. Es half nicht viel. Der Boden stieg steil an, unter den Füßen spürte er knöcheltiefe Schlaglöcher und Fels, und gelegentlich streiften seine Schultern rauhes Mauerwerk. Einmal drückte jemand mit der Hand gegen seinen Kopf, damit er sich duckte. Dann spürte er kalten Wind von der
See und hörte das Rascheln von Bäumen. Als seine Augenbinde abgenommen wurde, konnte er ringsumher die bleichen Umrisse von Grabstellen erkennen, wie Gruppen von Fingerknochen in den schwarzen Schatten der Bäume, und die massiv aufragenden steinernen turbe-Gräber. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber die Sterne leuchteten schwach, so daß er gerade eben die farblose, massige Form erkennen konnte, die hinter ihm aufstieg: alte Wachtürme, verfallene Befestigungen, einen mit Gras überwucherten Graben, Schatten und die Geister von Männern, die bei der Verteidigung dieser Mauern gefallen waren. Schwarz vor schwarzem Hintergrund, nur von dem allerschwächsten Licht berührt, hoben die Hügel der Stadt Kuppeln und Minarette in einen eisernen Himmel. Nur Zardalu stand neben ihm und lächelte ein wenig. An seiner altmodischen Kleidung Pluderhosen, Tunika, Oberkleid aus schwarzem Samt - glitzerten Edelsteine. »Nun wirst du einen kleinen Spaziergang zwischen den Gräbern machen, James, mein Freund, nicht?« Mühelos schnitten die bemalten Nägel die Bande um seine Handgelenke durch. Unter dem Rouge und der Schminke auf seinen Augenlidern, alles während der Nacht in dunkle Schlieren verwandelt, war sein weißes Gesicht wie etwas aus einem Alptraum, ungewiß und knochenlos wie der Rest seines Körpers. Er warf sein langes Haar zurück, das in Locken gelegt war wie das einer Frau, und Ohrringe blitzten feucht darin auf. »Zeig dich so, wie die Untoten, die sich in dieser Stadt aufhalten, sich ehrerbietig zeigen müssen, damit der Todlose Herr sie betrachten mag und ihnen die Erlaubnis gibt zu jagen oder nicht. Ich hoffe«, setzte er mit dem breiten Grinsen einer Leiche hinzu, »daß du die Regeln verstanden hast.« »Ich glaube schon.« Asher rieb sich die Handgelenke. Das Band war, obwohl weich, fest angezogen gewesen, und seine geschwollenen Finger waren beinahe taub. Er brauchte nur an den Versuch zu denken, es zurück bis zu den Stadtmauern zu schaffen, in den verfallenen Gängen der verlassenen Türme Verstecken mit jenen zu spielen, die in der mitternächtlichen Finsternis sehen konnten, um die Idee sofort und entschieden zu verwerfen. Etwas zupfte an seinem Haar wie ein Windhauch. Er wirbelte herum, als sei es die Berührung einer Messerspitze gewesen, doch es war nichts zu sehen. Zardalu lachte, ein lautloses Aufreißen seines Gummimundes. Seine Fänge waren lang und spitz wie die eines Wolfs. »Wer bist du also wirklich, Englis?« fragte er leise. »Und wer ist der, von dem der Bey glaubt, daß er sein Leben riskiert, um zu dir zu kommen? Seit der Sommer geschwunden ist, hat er gesagt: ›Findet ihn, und tötet ihn.‹ Jetzt sagt er, bringt mir den, der zu dem Englis kommt.« Er wies auf die zerfallenden turbes, die Stelen, in die Turbane - oder stilisierte Schleier eingehauen waren und die sich in alle Richtungen neigten, als habe ein Riesenkind tausend riesige Zündhölzer in das ungepflegte Gras gesteckt. »Bist du sein Diener? Oder ist es ein Geheimnis, das du kennst?« Die ausgebleichten Augen, die im Licht der Sterne wie schmutziges Eis wirkten, schienen eine Weile das einzig Wirkliche an dem Eunuchen zu sein, alles andere an ihm war wie aus Rauch und Träumen. Asher spürte den einschläfernden Druck der Kräfte des Vampirs auf sein Bewußtsein, ein beinahe unglaubliches Gewicht von Schlaf. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Wer ist dieser Eindringling, Englis? Und was hat das mit dem dastgah und den Silbergittern zu tun, die den Weg in die Krypta bewachen?« Mühsam schob Asher die sanfte Umwölkung beiseite. »Wenn dein Meister dich für diese Fragen bestrafen wird«, sagte er, »steht es mir, glaube ich, nicht an, sie zu beantworten.« Zardalu warf die Hände in einer übertriebenen Nachahmung von Belustigung hoch, doch sein Zorn war spürbar. »Sieh an, ein weiser Mann!« rief er, tonlos wie der Nachtwind. »Jetzt braucht er nur noch ein kleines Glöckchen, wie die Ziege, die man anpflockt, um den Tiger zu ködern.«
Asher fühlte den Zugriff auf sein Bewußtsein und versuchte ihn nochmals abzuschütteln, versuchte zu verfolgen, wohin der große Vampir ging, brachte es aber nicht fertig. Es war, als wache er wieder einmal plötzlich auf, und er stand allein in der Kälte zwischen den zerfallenden Gräbern. Sie waren alle irgendwo, dachte er. Zardalu und Jamila Baykus; Haralpos und Habib und Pelageya: Sie beobachteten ihn. Ein Hinterhalt. Eine Falle. Anthea hatte ihm von dem seltsamen Zustand erzählt, einer Art geistigem Bann, den sie über der Stadt spürte und der sie daran hinderte, die Präsenz anderer Vampire wahrzunehmen - das Werk, hatte sie voller Furcht gesagt, eines großen Meisters der Meister. Während er vorsichtig zwischen den Gräbern umherging und sich dort vortastete, wo die dunklen Zypressen selbst den matten Schimmer des Himmels verdeckten, versuchte er soviel von der Umgebung aufzunehmen, wie er konnte. War Anthea nach seinem Verschwinden aus ihrer Unterkunft geflohen, um sich an einem solchen Ort zu verbergen? Oder war sein Zusammenstoß mit den Männern der Sultansgarde, die ihn im Hof der Bajazid-Moschee geschnappt hatten, inszeniert worden, um sie schutzlos zurückzulassen? Warum ihn dann aber weniger als eine Stunde nach seiner Freilassung entführen, noch bevor er zu ihr zurückgekehrt war? Warum ihn so benutzen wie jetzt, als Köder? War die Falle vielleicht für sie gestellt? Er setzte sich auf das niedrige, flache Grab eines Prinzen oder Adligen, wie eine Marmorbank mit Inschriften in fließender arabischer Schrift, das in einer schmalen Stele endete, gekrönt von dem Umriß eines Turbans. Der Turban wies auf einen Mann hin. Die Tatsache, daß er zur Seite geneigt dargestellt war, bedeutete, daß der Tote auf Befehl des Sultans stranguliert worden war. Der Marmor war mit weißen Sternen überzogen, dort, wo Kugeln eingeschlagen waren, als die Armee hier im Juli zu ihrem letzten Kampf gegen die Truppen des Sultans durchgezogen war. Und jener letzte Kampf, dachte er, hatte der Macht, über die Olumsiz Bey vielleicht am Hof des Sultans verfügte, ein abruptes Ende gesetzt - sicher war es eine finanzielle Macht gewesen, denn das ganze Land war tief verschuldet. Da Abdul Hamid in Yildiz gefangen saß, während das Komitee für Einheit und Fortschritt darüber diskutierte, wie man ein Parlament wählen und das Reich mit einemmal aus dem sechzehnten ins zwanzigste Jahrhundert katapultieren sollte, hatte der Bey jemand finden müssen, den er nach England schickte, um Ernchester hierherzubringen. Aus welchem Grund auch immer er den Grafen überhaupt hier haben wollte. Etwas bewegte sich zwischen den schwarzen Bäumen, doch sosehr er auch die Augen anstrengte, er konnte nichts erkennen. Eine Ratte oder ein Fuchs - obwohl, wenn Ratten vor dem Geruch von Antheas Haar flohen, war es unwahrscheinlich, daß sie sich in die Nähe der stillen Beobachter unter den Bäumen wagen würden. Er glitt von dem Grab und ging weiter. Gräber zogen sich über die ganze Länge der Mauern hin, vom Yeni-Koule-Tor mit seinen sieben Türmen bis zur Moschee in Eyoub. Am Tage kamen Leute hierher, um zu beten, doch die turbe selbst störte man nicht. Irgendwo in der Nähe heulten Hunde. Seine Vorstellung von einer Ziege bei einer Tigerjagd dauerte nach seiner Berechnung, die er nach dem Vorrücken des Mondes zwischen den Wolken anstellte, beinahe zwei Stunden. Aus der dunklen Stadt stiegen die letzten Rufe der Muezzine auf, dieses tiefe, unheimliche Heulen, das keinem anderen Laut auf der Erde gleicht. Nach einer Weile antwortete vom anderen Ufer, aus Pera, leise und klar eine Kirchenglocke. Erwarteten sie, daß Anthea auftauchen würde? Oder Ernchester? Oder vielleicht auch jemand anderes? Nach dem, was Zardalu gesagt hatte, war Asher nicht sicher, ob sie genau wußten, wen sie in die Falle locken sollten.
Anthea, dachte er, flieh von diesem Ort. Geh fort. Dann kam Zardalu auf ihn zu, über freies Feld, wo das aschfarbene Gras um seine Pluderhosen wogte. Als er Asher wieder fesselte und den Schal über seine Augen schlang, waren seine Hände warm. »Du dienst einem herzlosen Meister«, sagte der Eunuch. »Oder vielleicht hat er sich inzwischen einen neuen Diener gesucht, klug oder nicht. Hat er dir das ewige Leben versprochen, James? Das tun sie alle.« »Sogar der Bey?« »Ah. Du bist nichts als ein unverschämter Ungläubiger.« Asher konnte das Lächeln in Zardalus zartem Flüstern hören. »Nur neugierig.« Als sie diesmal die Stadtmauern passierten, war auf den Straßen außer dem Schreien der Möwen kein Laut zu hören. Zardalu hielt eine Hand auf Ashers Ellbogen und die andere auf seinen Nacken gelegt, und der Geruch nach frischem Blut und die Ausdünstung des Todes übertönte sowohl den Gestank des Schlamms unter ihren Füßen als auch das Parfüm des Vampirs. Erst als sie nach Ashers Schätzung wieder über den zweiten Hügel kamen, hörte er andere Stimmen und Schritte, die sich näherten. Ein Mann murmelte in hart klingendem Griechisch: »Geliebte ... wunderschöne Fee...« und die Brise trug Asher ein silbriges Aufflackern von Vampirgelächter zu, wie die Dämpfe vergifteter Blumen. »Sie hat einen Schatz gefunden, unsere Pelageya«, hauchte Zardalus Stimme ihm ins Ohr. »Wie ist es, sagir sayyat? Hast du einen starken Ochsen gefunden, um ihn in deinen Netzen zu fangen?« Das russische Mädchen lachte, ein leises, kehliges Kribbeln, das gegen seinen Willen und trotz allem, was er wußte, direkt zu seinen Lenden strömte, als liege die Frau nackt in seinen Armen. Sie blieben stehen. Er hörte das Geräusch eines Schlüssels in einem Schloß, doch er konnte unmöglich feststellen, welche Art Schlüssel es war - der Mann, der bei ihnen war, murmelte betrunken vor sich hin, schwor ewige Liebe, versprach Großtaten der Ekstase, die seine neuentdeckte Angebetete vor Dankbarkeit schreien lassen würde, und die ganze Zeit über hörte Asher um sich herum das Flüstern unheiliger Belustigung - Haralpos, Habib, die Kadine Baykus. Ihre Stimmen waren ein fließendes Säuseln, einmal vor ihm, einmal hinter ihm, während man ihn durch eine Tür und über eine lange, unebene Treppe hinunterführte, deren Stufen in der Mitte unglaublich tief ausgetreten waren, zu einem Ort, an dem es nach Wasser und Stein roch. »Die kleine Bettlerin, die Habib hat, wird niemand vermissen, aber was ist mit diesem deinem Ochsen? Er sieht wohlgenährt aus.« »Und wenn schon? Er ist Armenier, sie hat ihn in Kara Geumruk aufgetan. Der Sultan beeilt sich mehr, Zigeuner und Juden zu rächen als solche Leute...« »Aber ist er nüchtern genug, damit wir Spaß mit ihm haben?« Zardalus schleppende Stimme klang quengelig. »Es mag ja angehen, schlafende Bettlerkinder für El-Malik zu stehlen, aber nachdem ich die ganze Nacht auf einem Friedhof gehockt und nur einen elenden Landstreicher gefunden habe, der hinter einem Grab schlief, möchte ich ein bißchen Spaß haben.« »El-Malik bewirtet seine ungläubigen makaniki.« Er konnte beinahe das gleichgültige Achselzucken des russischen Mädchens sehen. »Ich kann den Kaffee von der Straße riechen. Dieser hier wird wach genug werden.« El-Malik. Der Meister, der König. Der Meistervampir von Konstantinopel. Die Treppe machte an ihrem unteren Ende eine scharfe Wendung, noch zwei Schritte, dann strich ein Vorhang über Ashers Gesicht. Eine Drehung nach rechts, ein unebener Ziegelboden und plötzlich ein Gestank nach Ammoniak und Chemikalien, der ihm den Atem nahm, und ein Schwall kalter Luft. Und weit entfernt, unverständlich vor Todesangst und Schrecken, gedämpft wie durch
eine Barriere aus Holz und Eisen, das Schreien eines Mannes. »Letzte Nacht, als ich früh zurückkehrte, bin ich auf einen der makaniki gestoßen«, erzählte Zardalu im Plauderton. Asher vermutete, daß er sich umwandte, denn seine Hand glitt von seinem Nacken auf die Schulter. Andernfalls, dachte er, hätte der Vampir spüren müssen, wie sich seine Haare bei diesem Laut entsetzlicher Verzweiflung aufstellten. »Ein fetter kleiner Ungläubiger, wie ein asure-Pudding, mit einer Brille auf der Nase, so ... Er wich an die Wand beim Hintertor zurück, hielt seinen kleinen Hammer hoch, so wie ich es jetzt zeige, warf Blicke umher und quietschte: ›Wer ist da? Ich höre dich ... Du kannst nicht entkommen ... Komm, zeig dich, und ich werde dir nichts tun ...‹ während der unselige junge Armenier Koseworte murmelte und Asher in Gedanken eine schmale Treppe maß, die sich dreimal um sich selbst wand, dann den Hall eines offenen Raums, und noch mehr Treppen. Unter seinen Füßen Kopfsteinpflaster aus kleinen Steinen, dann aus grö ßeren Steinen wie Kanonenkugeln, in einem Raum unter freiem Himmel, wo Gras zwischen den Steinblöcken wuchs. Rechts, dann eine verschlossene Tür ... Plötzlich blieben sie in einem Raum mit blankem Holzboden stehen. Ihr Schweigen verriet Asher, warum. »Nichts?« Die Stimme war wie brauner Samt, Rosen und Gold. Zardalus Griff verschob sich, und Asher wußte, daß er sich verbeugte. »Nichts, Herr.« In seiner Blindheit hörte er das dichte Rascheln von Seide, doch erst, als er nahe genug kam, konnte er Kaffee, Weihrauch, Ammoniak ... und Blut riechen. »Doch ihr habt gute Arbeit geleistet. Habib, mein Lieber, ist diese sarigi burma für mich? Was für ein schmutziges kleines Ding sie ist. Und, oh, Pelageya...« Asher konnte beinahe sehen, wie er sich verbeugte, und er hörte ein kurzes Handgemenge, ein Rascheln von Kleidung und ein ersticktes, panikerfülltes Ächzen, als der junge Mann plötzlich, viel zu spät, erkannte, daß er sich in der Gesellschaft des lächelnden Todes befand. Eine Hand wie belebter Stahl glitt beinahe zärtlich über Ashers Wange. Der Schal wurde fortgezogen. Im Schein von Öllampen, die direkt über ihnen hingen, blinzelten ihn Augen an, die einst kaffeebraun gewesen waren, aber nun zu einem grellen, unnatürlichen Orange ausgebleicht waren. Olumsiz Bey trat zurück. Er war so groß wie Asher - sechs Fuß - und beinahe ebenso schlank, doch seine Schultern waren gebeugt und verliehen dem schmalen, haarlosen Kopf eine aufwärts gerichtete Haltung wie bei einer Schildkröte. Die Nase war wie eine Axtschneide, die mit einem einzigen Schlag den lippenlosen Mund aus dem Gesicht hätte schlagen können, doch es war kein unattraktives Gesicht. In einem Ohr trug er einen riesigen Bern steinbrocken von demselben Orange wie seine Augen, der eine so große Ameise einschloß, daß Asher den Bogen der gezackten Kiefer erkennen konnte; beinahe erwartete er, in den erstarrten Verliesen seiner Augen noch mehr eingeschlossene Insekten zu sehen. »Es ist wohl recht«, sagte Olumsiz Bey in dem blumigen Osmanli des Hofes zu ihm, »wenn du nun in dein Gemach zurückkehrst, Scheherazade, und dort bleibst, bis die Nacht sich neigt. Die Geschichten, die wir heute nacht erzählen werden, sind nicht für die Ohren der Lebenden.« Ashers Blick wanderte an ihm vorbei zu den Zöglingen, die jetzt dicht um einen stämmigen jungen Mann mit kräftiger Nase und dunklem, dichtgelocktem Haar standen. Der Jüngling starrte um sich, und sein wachsendes Entsetzen kämpfte gegen den Wein und den Glanz, den Pelageya über seinen Geist geworfen hatte. Er nahm den prächtigen Garten mit den blauen und gelben Kacheln in der Halle wahr und die Art, wie die Dunkelheit in jeder Ecke lauerte. Asher nahm alles auf und prägte es sich ein ... Habib, ein grober, kraftvoller Vampir, der besonders mit Haralpos befreundet schien, trug, wie Asher gefolgert hatte, ein schlafendes Bettlermädchen von etwa zwölf Jahren und lehnte es an seine Schulter, als sei es ein Kleinkind.
»Sayyed hat schon Speisen für dich dorthin gebracht«, fuhr der Meister von Konstantinopel fort. »Und Bücher - wenn du mir verzeihst, daß ich so vermessen war, sie für dich auszuwählen -, um dir mit alten Legenden die Nacht zu vertreiben. Es wird hier ... ein kleines Spiel geben.« In seinem Lächeln lag etwas Elastisches, eine Rundung, wie ein Reflex, den seine Augen vor langer Zeit vergessen oder niemals besessen hatten. Er machte eine Geste mit der rechten Hand, denn seine Linke löste niemals ihren Griff um seine Waffe mit der silbernen Schneide, die in dem vielfarbigen Schein der Bronzelampen an der Decke weißlich glitzerte. Die Augen der Zöglinge warfen diesen Schein zurück, sie waren wie Katzen, die darauf warteten, gefüttert zu werden. Der armenische Junge stieß einen leisen Laut des Entsetzens hervor und versuchte, seine Arme aus Pelageyas und Haralpos' Griff zu winden, doch er brachte es nicht fertig. Asher roch Urin. Der Jüngling würde ihnen die Jagd liefern, die sie wollten, dachte Asher bitter, durch all die dunklen Galerien dieses verwunschenen Hauses. Und die ganze Zeit über wiederholte er lautlos: Ein Hof mit Kopfsteinpflaster jenseits
dieses Platzes, kleinere Pflastersteine, geradeaus durch eine Tür, durch eine Halle, eine enge Treppe hinunter und dann noch eine Treppe, doppelt so tief ... Der Ort mit den Silbergittern, wo laut Zardalu der dastgah war, und der nach Chemikalien roch ... Und eine Stimme, die ihre Verzweiflung ins Dunkel hinausschrie. Er konnte sich nur eine Person vorstellen, die der Bey hinter silbernen Gittern gefangenhalten würde. »Meine Kinder vergessen sich manchmal bei ihrer Jagd.« Mit einem Ruck brachte Asher seine Gedanken zurück - der Bey durfte seine Geistesabwesenheit nicht erraten. »Ja, ich glaube, es ist wirklich besser, wenn du in deinem Gemach bleibst, und falls irgend jemand außer mir nach dir ruft, schlage ich vor, daß du nicht aufmachst. Mein Liebster...« Die juwelengeschmückte rechte Hand des Bey streichelte Zardalus Wange. Hinter den Saphiraugen flackerte es gelassen auf, nicht mehr. »Ich werde diesen hier in sein Gemach zurückbringen. Sorg dafür, daß Habib das Kind in mein eigenes Zimmer bringt.« Er hob den Schal auf, der Ashers Augen bedeckt hatte, und reichte ihn wieder seinem Zögling. »Sei so gut, meinen anderen Gast dieses Abends zu dem üblichen Treffpunkt zurückzuführen. Denk daran, ich werde es erfahren, wenn ihm auch nur das Geringste zustößt. In der Tat, ich werde erfahren, wenn du auch nur mit ihm sprichst, so wie du es mit diesem hier getan hast, und er mit dir.« Wieder dieses Lächeln, so kalt wie sein Griff. »Und ich werde nicht erfreut sein. Hast du das verstanden?« Zardalu verbeugte sich wieder, indem er seine lange, knochenlose Gestalt so bog, daß seine schwarzen Locken über seine Schultern nach vorn fielen und über die Holzbretter des Bodens streiften. »Ich habe es verstanden, Herr.« »Kommen Sie.« Olumsiz Bey winkte jemandem zu, der die ganze Zeit über im Halbdunkel der inneren Tür des Raums gestanden hatte, und wechselte zu vollkommen modernem und akzentfreiem Deutsch ohne jede falsche Betonung über. »Dieser Mann wird Sie nach draußen bringen. Ich garantiere Ihnen, daß Sie von ihm nichts zu fürchten haben.« »In Ihrem Haus, oder wohin auch immer ich unter Ihrem Schutz gehe, fürchte ich nichts, Herr.« Aus dem Dunkel trat Ignace Karolyi. Sein hellbrauner Anzug aus der Saville Row paßte so wenig in diese Umgebung wie ein Tommy in Khakiuniform mit einer Enfield nach Marathon. Er blieb einen Moment vor Asher stehen und sah ihn aus seinen weit auseinanderstehenden braunen Augen an, als habe sich eine Vermutung plötzlich bestätigt. Dann wandte er sich zurück zu Olumsiz Bey und verbeugte sich. »Ich hoffe, daß Sie mir vergeben haben, Herr, und daß wir immer noch zu einer Übereinkunft gelangen können.«
Der Bey sah ihn aus seltsamen Augen an und hielt seine silberne Waffe, deren Klinge im Licht schimmerte. »Man wird sehen. Wie alles liegt auch dies in Gottes Hand.«
DREIZEHN
»Ich sehe nicht ein, warum er nicht mit uns kommen kann.« Margaret Potton stieg dicht hinter Lydia aus der Kutsche der Botschaft und eilte, gefolgt von einem griechischen Pagen, hinter der beeindruckenden Lady Clapham her, einer großen, dünnen, pferdegesichtigen Gestalt. Lydia hatte sie vom ersten Augenblick an für die Frau an der Spitze der britischen Diplomatengemeinde in Pera gehalten. »Sie könnten ihn als Ihren Cousin vorstellen. Als Sie Sir Burnwell erzählten, daß Sie einen Cousin hier in Konstantinopel haben, dachte ich, das sei eine gute Idee.« »Ich habe ihm das nur erzählt, falls wir Ysidro in einem Notfall vorstellen müssen«, antwortete Lydia, geduldig und leicht verwirrt, aber ohne Zorn. »Ich glaube nicht, daß ein diplomatischer Empfang im Palast als solcher zu betrachten ist.« Vor ihnen, gerade noch zu sehen zwischen schlendernden Damen in Ensembles mit Glockenröcken und Hüten wie Kohlenkästen, die in Paris und Wien nicht fehl am Platz gewesen wären, blieb Lady Clapham in der Tür von Mademoiselle Ursules Boutique stehen und sah sich nach ihren beiden Schutzbefohlenen um. Lydia erwartete beinahe, daß sie zischen würde: Kommt
schon, Mädchen, zack, zack ... »Ich weiß nicht«, sagte Margaret. »Ich dachte, es wäre nett für ihn.« Lydia schüttelte den Kopf, doch die Fortsetzung der Diskussion wurde ihr dadurch erspart, daß sie an der Tür der Boutique mit ihrer Fremdenführerin und Gastgeberin bei diesem Einkaufsbummel sowie der Modistin zusammentrafen, einer enggeschnürten Belgierin mittleren Alters, die augenblicklich den Unterschied zwischen Lydias zwei hundert Guineen teurem himmelblauen Gewand aus Rohseide und Margarets unmodischem braunen Wollkleid wahrnahm, aber in der Wärme ihres Willkommenslächelns für beide nicht die Spur eines Unterschieds machte. Während Lady Clapham Mademoiselle Ursule erklärte, warum sie gekommen waren, durchzuckte Lydia der Gedanke, daß Ysidro dieser Tage einige Probleme haben dürfte, als Lebender durchzugehen. Margaret verschlug es den Atem, als sie erfuhr, daß sie ihretwegen, nicht um Lydias willen, den Ausflug in das modische europäische Einkaufsviertel an der Grand Rue gemacht hatten. »Dumme Gans«, erklärte Lady Clapham nicht unfreundlich, als die Gouvernante vor Freude errötete. »Natürlich werden Sie Mrs. Asher heute abend beglei ten, und das, was Sie da anhaben, können Sie auf keinen Fall tragen.« Lydia fühlte sich etwas erleichtert angesichts dieser Bestätigung, daß andere Menschen älter und Respektpersonen der Gesellschaft - weit taktloser waren als sie selbst. Sosehr sich Lydia auch ärgerte, es zugeben zu müssen; Ysidro hatte ganz recht gehabt. In Konstantinopel wie schon in Wien war Margaret ihr Mantel der Ehrbarkeit, und ihre bloße Anwesenheit machte es unnötig, daß Lydia zu jemandem sagen mußte: Wie Sie sehen, bin ich keine umherziehende Dirne. Gestern nachmittag in der Botschaft hatte ihre Anwesenheit jedenfalls das beabsichtigte Wunder gewirkt. Lydia vermutete, daß sie auch ohne Margaret eingelassen worden wäre, ihre Fragen auch ohne sie beantwortet worden wären ... Sie hätte auch so mit Sir Burnwell gesprochen, der gebeugt war und grau, mit dem leicht aufgedunsenen Gesicht von jemandem, der gelegentlich Probleme mit den Nieren hat ... Aber nur die Anwesenheit und Ehrbarkeit einer Gefährtin hatte dazu geführt, daß Lady Clapham ins Büro gekommen war, die Hände ausgestreckt und gesagt hatte: Meine
Liebe, es tut mir so leid... Es tut mir so leid. Kälte umfing sie wieder und dämpfte die Stimmen von Mademoiselle Ursule, Lady Clapham und Miss Potton, als liege der kleine, hübsche und extrem pariserische Raum mit seinen pudrigblauen Satintapeten und vergoldeten Spiegeln am Ende eines sehr
langen Korridors. Mittwoch. Seit Mittwoch nachmittag wurde James vermißt. »Welches gefällt Ihnen, meine Liebe?« Lady Claphams Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Die Schneiderin hatte zwei Kleider auf dem Tisch ausgebreitet, eines strohgelb mit einem Übergewand aus weißem Georgette, das andere aus beige und weiß gestreiftem Seidenmousselin, abgesetzt mit rosa Seide. »Ich glaube, dieses paßt zu Miss Potton«, sagte Lydia, brachte mühsam ein Lächeln zustande und trat näher, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie die Kleider wirklich aussahen. Miss Potton wurde abwechselnd rot, bleich und rosig, dann erschien auf ihren Wangen eine fleckige Kombination aller drei Farben, und schließlich entschied sie sich für das Seidenmousselinkleid, zu dem Lydia ihr ein Paar weißer Satinslipper, Glacéhandschuhe und eine dünne Goldkette mit einem Rosenquarzanhänger und passende Ohrringe kaufte. »Das hätten Sie wirklich nicht tun sollen«, sagte Margaret leise, später in ihrem Schlafzimmer, während Stefania Potoneros sie in ihr Kleid schnürte. »Ich meine ... es muß schrecklich teuer gewesen sein.« Das war es nach den Begriffen exklusiver Mode nicht gewesen, überlegte Lydia, während sie ihre Brille aufsetzte und das Mädchen über die Schulter ansah. Mademoiselle Ursule hatte eine ausgezeichnet sortierte Auswahl von Kleidern für alle Gelegenheiten, und das beige-weiße Seidenkleid war zwar hübsch, aber dazu entworfen, absolut keine Konkur renz zu Lydias Kleid aus Spitzen und Seidenbändern darzustellen. Doch einem Mädchen ohne Familie, das ungezählte Jahre in der trüben Umgebung der typischen Gouvernantenquartiere verbracht hatte, mußte es vorkommen wie Aschenputtels Ballkleid. »Ich kann...«, stammelte Margaret, »ich kann es Ihnen nicht zurückzahlen.« »Lieber Himmel, nein!« sagte Lydia. Sie schwiegen, und Margaret erinnerte sich zweifellos - ebenso wie Lydia - an den hysterischen Anfall in Sofia, den wütenden Ausbruch bei ihrer Ankunft vorgestern nacht. Ein wenig unbeholfen erklärte sie: »Es ist wirklich nichts. Ich meine ... was habe ich davon, eine reiche Erbin zu sein und mich mit Onkeln und Tanten abzufinden, die mir erzählen, wie ich leben und wen ich heiraten soll, wenn ich nicht ... nicht dann und wann jemandem ein Geschenk kaufen kann? Und ich weiß, daß es eine Hilfe ist, wenn man das Richtige anzuziehen hat.« »Ich dachte, eine reiche Erbin zu sein bedeutet, daß man tun kann, was man will«, sagte Margaret, als Lydia ihre Wangen kaum spürbar mit der Puderquaste aus Eiderdaunen berührte und sich dann vorbeugte, bis die Nase beinahe gegen das Glas stieß, um das Ergebnis im Spiegel zu begutachten. Lydia schüttelte den Kopf. »Nun, ich weiß nicht, wie es anderen Erbinnen ergeht. Mein Vater und seine beiden Schwestern hatten einen Horror vor Glücksrittern, und mein Leben war zeitweilig ... sehr eingeschränkt.«
Ich werde nicht zulassen, daß du mein Geld einem dahergelaufenen Halunken überläßt, waren die genauen - und häufig wiederholten - Worte ihres Vaters gewesen. Nicht: Ein Mann, der dich nur des Geldes wegen heiratet, wird dich unglücklich machen. Nicht: Wie kannst du erwarten, daß solch ein Mann in das Leben paßt, das du dir
aufbauen willst? Ich werde nicht zulassen, daß du mein Geld einem dahergelaufenen Halunken überläßt. Sein Geld, auch wenn er sterben sollte. Sie rieb das Rouge auf ihre Fingerspitzen, legte die leiseste Andeutung eines Rots auf ihre Wangenknochen und Schläfen und suchte die Perfektion, die ihr einziger Schutz gegen alles gewesen war, das sie ihr antun konnten. »So eingeschränkt kann es nicht gewesen sein, wenn sie Sie nach Oxford haben gehen lassen«, sagte Margaret. Sie hob die Puderquaste hoch und wandte sie vorsichtig mit einer eckigen, mißbilligenden Handbewegung hin und her. »Lernen alle Erbinnen,
Kosmetika so zu benutzen?« »Nur wenn sie so eine Nase haben wie ich.« Lydia überprüfte blinzelnd die Wirkung des Rouge, leckte dann die Spitze ihres Kajalstiftes an und begann, vorsichtig einen Schatten entlang der oberen Wimpern aufzulegen. »James - er war ein Freund meines Onkels Ambrose, des Dekans von All Souls - hat mir zusammen mit einem der Pathologie-Professoren geholfen, unter einem anderen Namen Geld zu borgen. Ich habe Onkel Ambrose angefleht, es Vater nicht zu sagen, obwohl ich nicht sicher bin, ob er zugestimmt hätte, wenn er gewußt hätte, daß ich Medizin studierte. Es war äußerst ermüdend, im Zug hin und her zu fahren und die Sitzungen mit meinem Tutor heimlich abzuhalten, wenn er in die Stadt kam. Zum Glück lag unser Besitz in der Nähe von Oxford - in Willoughby Close -, und Vater verbrachte ganze Wochen unten in London. Wenn meine Mutter noch gelebt hätte, hätte ich es niemals geschafft.« »Was haben sie getan, als sie es herausbekamen?« fragte Margaret mit besorgt aufgerissenen blauen Augen. »Es gab einen Streit«, sagte Lydia ausweichend. Warum verletzte sie der kalte Zorn ihres Vaters nach acht Jahren immer noch? »Würden Sie dies wohl gern ausprobieren?« setzte sie hinzu, denn sie hatte gesehen, wie sich Margarets Hand zu dem Rougetiegel, dem Lippenrot und den verschiedenen Sorten von Puder und Hautcremes verirrt hatte, die unentbehrlich für das Kunsterzeugnis waren, das Lydia als ihren Panzer gegen die Welt betrachtete. »D ... darf ich?« stammelte Margaret und wurde wieder rot. »Ich weiß, ich sollte es nicht tun - die Schwestern im Waisenhaus haben alle gesagt, daß eine Dame solche Dinge nicht benutzt...« »Also, ich bin noch nie einer Dame begegnet, die es nicht tut«, sagte Lydia mit einem Lächeln. »Es ist nur ein Trick dabei, es so zu tun, daß niemand es bemerkt. So.« Die Verwandlung war nicht überwältigend, aber Lydia hatte Jahre damit verbracht, das, was sie als ihre Schwachpunkte betrachtete - eine leicht gebogene Nase, zu schmale Wangen und eine unmodische Lippenform - auszugleichen, und wußte, wie sie Rouge und Puder so aufzutragen hatte, daß sie den Eindruck des fliehenden Kinns und der Stupsnase bei Margaret verringern und ihr bessere Wangenknochen verleihen konnte als die, mit denen sie geboren war. Schließlich starrte Margaret in das von Lampenlicht erhellte Glas und hauchte in einer Art Verzauberung: »Oh...« Ihre blauen Augen wirkten größer und tiefer, und das bleiche, hübsche Gesicht war umgeben von der rabenschwar zen lockigen Mähne, genau wie in ihren Träumen, wie Lydia sehr wohl wußte. »Oh, danke.« Sie tastete nach ihrer Brille. Lydia lachte. »Sie werden sie doch nicht bei dem Empfang tragen, oder?« »Selbstverständlich.« Margaret setzte sie fest auf ihre Nase, während Lydia ihre eigene Brille abnahm, um sich von der Zofe in ihr Kleid helfen zu lassen. »Wenn die Leute mich mit meiner Brille nicht mögen, kann ich auch nichts daran ändern.« Sie zwinkerte Lydia milde zu, während die griechische Zofe ihr fachmännisch den Rücken schnürte. »Danke«, sagte Margaret einfach. »Ich danke Ihnen sehr, daß Sie dies für mich getan haben. Ich bin noch nie zuvor schön gewesen.« Lydia lächelte ein wenig und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie möchten, bringe ich Ihnen bei, wie man es macht«, sagte sie, verstaute ihre Brille in einer silberbeschlagenen Lederschachtel und überprüfte ein letztes Mal ihre Erscheinung im Spiegel. Vor zwanzig Minuten war Stefanias Schwester Helena zur Tür gekommen mit der Nachricht, daß Sir Burnwell und Lady Clapham unten mit dem Wagen warteten; sie sollten, vermutete Lydia, angemessen rechtzeitig im Palast ankommen. Sie zwängte ihre Hände in die engen Glacéhandschuhe und nahm Margaret noch einmal in Augenschein. Trotz der Brille war sie erfreut über das Ergebnis. Sie hatte ihr Bestes getan - und sie hatte den Verdacht, daß das rabenschwarze Haar und die
turmalinfarbenen Augen ihrer Reisegefährtin sie hübscher erscheinen ließen als sie selbst. »Margaret«, fragte sie, während sie Täschchen, Fächer, Schals und Schlüssel zusammensuchten, »was werden Sie tun, wenn Sie zurückkehren? Nach London, meine ich? Ich könnte Ihnen helfen...« »Oh, das werde ich Don Simon überlassen«, sagte Margaret. »Mein Schicksal liegt in seinen Händen.« Sie lächelte glücklich und folgte Lydia die Treppen hinunter. Der Empfang fand in einem mittelgroßen Pavillon im inneren Gartenhof des alten Sultanspalasts statt, der von Platanen flankiert und von einem Säulengang mit niedrigen grüngefliesten Kuppeln umgeben war. Der Sultan selbst hatte den Topkapi-Palast nicht einmal fünfzig Jahre bewohnt, und die neue Regierung - das Komitee für Einheit und Fortschritt - nutzte ihn für Staatsempfänge. Die Suite mit drei Räumen war, obwohl für einen Empfang ein wenig zu klein und mit ihren niedrigen Kassettendecken und Kronleuchtern im westlichen Stil eher ungemütlich, zumindest unberührt von jeglicher osmanischen Tradition. »Botschafter Lowther weiß heutzutage kaum, mit wem er reden soll«, vertraute Sir Burnwell Lydia an, während unglaublich herausgeputzte Palastdiener ihnen an der Tür des kleinen Vorraums zum Gartenhaus die Mäntel und Umhänge abnahmen. »Es ist wie die alte Geschichte von dem Hellseher, der in der Hälfte der Fälle recht hatte, nur wußte man nie, bei welcher Hälfte. Das Komitee hat stellenweise die Macht, aber niemand weiß, welche Stellen das sind.« »Unter dem alten Sultan wußte man wenigstens, wen man bestechen mußte.« Lady Clapham strich die Falten ihres grün-goldenen Chiffonkleides glatt und nickte den beiden jüngeren Mitgliedern der Gruppe anerkennend zu. »Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe«, fügte sie, zu Lydia gewandt, leise hinzu. »Wenn man etwas über Ihren Gatten her ausfinden kann, dann werden wir es hier finden. Jedenfalls weiß ich von jemandem, der ihn Mittwoch nachmittag gesehen hat. Ich hoffe, er ist hier ... Die Russen haben solch einen orientalischen Zeitbegriff.« Sie ging voraus in die Haupthalle, wo die Reihe der Gäste langsam an dem bärengleichen Talaat Bey vorbeirückte, dem neuen Herrn dieses Ortes, wo fünf Jahrhunderte lang die Sultane regiert hatten, und an dem Romeo der neuen Armee, dem schönen Enver Bey. Der Raum war angefüllt mit Männern und Frauen, die nach der neuesten europäischen Mode gekleidet waren - die meisten davon waren hellhäutig, und alle sprachen französisch -, und Dienern in altmodischen Turbanen, Pantoffeln und Pumphosen, die Silbertabletts mit Erfrischungen trugen. Lydia bemerkte, daß Miss Potton den Kopf reckte und sich umsah, wahrscheinlich in der Hoffnung, daß Ysidro ihnen doch hierher gefolgt war. »Andrei!« rief Lady Clapham aus, stürzte sich in die Menge und kehrte einen Moment später mit einem jagdgrün gewandeten Koloß am Arm zurück. »Prinz Andrei Illyich Razumovsky von der russischen Botschaft; Mrs. James Asher. Seine Hoheit ist ein Bekannter Ihres Gatten, meine Liebe. Er war der letzte, der ihn nach diesem Zwischenfall mit den Gardisten des Sultans am Mittwoch gesehen hat, nicht wahr, Andrei?« »Die Gardisten des Sultans?« Lydia hob ihren Blick zu dem Mann, der hoch über ihr aufragte. Das impressionistische Glitzern von Gold, Knöpfen, Epauletten, Tressen und einem Bart von noch hellerem Gold mündete in ein gutmütiges, hübsches Gesicht und strahlende blaue Augen. Der Prinz verbeugte sich, um ihr die Hand zu küssen. Slavischer Gesichtsschnitt, dachte Lydia automatisch. Rundschädliger Typus. Schädelindex
ungefähr 82. Ich muß wirklich aufhören, Menschen nur mit den Augen eines Mediziners zu sehen ... »Sorgen Sie sich nicht«, sagte der Prinz in schönstem Oxford-Englisch und bot ihr seinen
Arm. Lydia folgte ihm zurück nach draußen in den Säulengang, wo man zwischen den Säulen in unregelmäßigen Abständen elektrische Lampen aufgehängt hatte. Am einen Ende der Arkade standen ein paar Männer und rauchten - Lydia nahm nur den bitteren Tabakgeruch wahr, denn auf diese Entfernung waren sie für sie wenig mehr als eine Ansammlung schwarzer Umrisse, gesprenkelt mit dem Weiß von Hemdbrüsten. Der Tag war kalt gewesen, und wenige der Damen, deren Schultern bloß waren wie ihre eigenen, wagten sich in die Dunkelheit und die kalte Seeluft. »Ihr Gatte hatte eine Unterkunft hier in Stambul«, fuhr der Prinz fort, als sie außer Hörweite der Raucher waren. »Die meisten Europäer wohnen natürlich lieber in Pera, besonders seit dem Staatsstreich. In den letzten ein, zwei Wochen hat es keinen Aufruhr unter den Armeniern gegeben, aber die Straßenkämpfe zwischen den Griechen und den Türken sind nicht zu stoppen. Ihr Mann...« Einen Augenblick sah er von seiner Höhe zu ihr hinab, und Lydia konnte erkennen, daß er mit sich zu Rate ging, wonach er sie in aller Diskretion fragen konnte. Der Ausdruck in Lady Claphams Augen, als sie gesagt hatte ein Bekannter Ihres Gatten, hatte ihr genau gesagt, was dieser »Juniorattaché« im Dienst des Zaren tat. »Ich weiß, daß mein Mann nach Konstantinopel gekommen ist, um den Rat ... gewisser Freunde einzuholen.« Sie betonte die letzten Wörter und sah ihm in die Augen. Seine Augenwinkel krausten sich zu einem leisen Lächeln. Ja, ich weiß, daß mein Mann ein Spion gewesen ist und daß Sie immer noch einer sind. Wahrscheinlich, dachte sie, hätte Lady Clapham sie einander nicht auf diese Weise vorgestellt, wenn Rußland mit Österreich verbündet wäre. Auf wessen Seite stand das Osmanische Reich? »Ah«, sagte er. »Wenn Sie es sagen, Madame Asher.« Sein Lächeln wurde breiter. »Dann wissen Sie, daß er vielleicht seine Gründe hatte. Sie wissen nicht zufällig, welche es waren?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte nur, daß er vielleicht in Schwierigkeiten ist. Sir Burnwell hat mir gesagt, daß er gestern vor einer Woche in Konstantinopel angekommen ist und daß ihn seit Mittwoch nachmittag niemand mehr gesehen hat.« »Und wie haben Sie geglaubt, ihm behilflich sein zu können?« Er sprach freundlich, doch sie konnte in seinem Blick etwas anderes erkennen. Nur weil wir Verbündete sind, hatte Jamie oft gesagt, heißt das noch nicht, daß wir auf derselben Seite stehen. Wieder spürte sie Panik, wie in Wien, Panik und die Unfähigkeit, die richtige Wahl zu treffen. Mit Gewalt schob sie die Panik beiseite. »Ich dachte, ich könnte den Mann erkennen, der ihn vielleicht verraten wird.« Lydia log und hoffte, daß sie dabei ruhig blieb. »Seinen Namen kenne ich nicht«, setzte sie hinzu und fuhr sogleich fort: »Aber was ist denn nun am Mittwoch nachmittag geschehen?« Razumovsky sah aus, als wollte er noch etwas sagen, doch er entschied sich dagegen. Vielleicht, dachte Lydia, weil er es für wahrscheinlicher hielt, daß er später mehr Informationen bekommen würde, wenn er selbst ein wenig preisgab. Vielleicht mochte er Jamie sogar wirklich - er wirkte wie die Art Mensch, die Jamie, und sie selbst auch, mögen könnte und würde. »Wie ich sagte, logierte er auf der Stambuler Seite des Horns.« Der Prinz senkte die Stimme und warf noch einen Blick an der Kolonnade entlang auf die Gruppe der Raucher. Niemand sah in ihre Richtung, doch der Prinz führte sie die kurze Marmortreppe zu einem unterirdischen Bogengang hinunter, der unter dem Pavillon hindurchführte und in die dunklen Gärten dahinter mündete. »Er hat niemandem gesagt, wo er wohnt, und als ich ihn traf, wirkte er wie jemand, der ständig über die Schulter sieht. Am Mittwoch haben Männer aus dem Palast ihn auf dem Großen Bazar festgenommen, auf Geheiß des Hohen Kammerherrn, wie sie sagten. Jeder hätte ihn dazu bestechen können.« Er grinste. »Ich selbst habe ihn schon bestochen, ähnliches zu tun.« »Und er hat nach Ihnen um Hilfe geschickt?« »Wir sind schon eine Reihe von Jahren befreundet«, sagte der Russe. »Sir Burnwell hätte
vielleicht zuerst bei der Armee Klage geführt, oder beim Komitee, und wäre weiß Gott wie lange hingehalten worden. Die Halbbarbarei hat ihre Vorteile. Ich bin hierher gegangen - wo der Kammerherr und eigentlich der Sultan immer noch über einige Macht verfügen - und habe getobt und mit der Faust gedroht. Mit der Faust meines Landes gedroht, was sie noch mehr in Angst versetzt hat. Der Sultan spielt bereits das Volk gegen die Armee aus und versucht, es zu einem Gegencoup anzustacheln, denn er hat die Macht des höchsten moslemischen Würdenträgers, verstehen Sie. Wenn es dazu kommt, werden der Kammerherr und sein Herr Unterstützung brauchen.« Lydia erschauerte und erinnerte sich an eine Szene, die sie aus dem Fenster der Botschaftskutsche erhascht hatte, während sie eine der wenigen Straßen in der Altstadt entlanggerumpelt waren, die breit genug für ein solches Fahrzeug war: Drei Männer, dunkelhaarig und hakennasig, in den Khakiuniformen der neuen Armee hatten vor einem halbgeschlossenen Laden einen alten Mann zusammengeschlagen. Eine murmelnde Menschenmenge hatte sich angesammelt, aber niemand hatte gewagt, sich einzumischen; der alte Mann hatte nur schützend die Hände über den Kopf gehalten, als wisse er ganz genau, daß es gleichermaßen außer Frage stand, um Gnade zu flehen oder um Hilfe zu rufen. »Es hat nicht lange gedauert, bis sie ihn freigelassen haben«, fuhr Razumovsky fort und strich sich über seinen widerspenstigen goldblonden Schnurrbart. »Wie ich vermutet hatte, hielten sie ihn hier in der Wachstube fest, was bedeutet, daß der Kammerherr derjenige war, den man bestochen hatte. Er war ein wenig herumgestoßen worden, nichts Ernstes.« »Ich hoffe, er hat ein ordentliches Antiseptikum draufgetan«, sagte Lydia und war verblüfft, als der Prinz in Gelächter ausbrach. »Ich meine«, setzte sie hastig hinzu, als sie erkannte, wie das geklungen hatte, »ich bin natürlich ziemlich schockiert darüber, daß er verletzt worden ist, aber wenn er wirklich in Gefahr gerät ... Was hatte er angestellt?« »Anscheinend - er hat es mir nicht erzählt, aber ich habe es durch meine eigenen Kontakte im Palast herausgefunden - hatte er Geschichtenerzähler auf den Märkten befragt. So wußten sie, wo sie ihn finden würden.« »Geschichtenerzähler.« Alte Männer, die tausend Jahre lebten ... Sofort stand ihr die unstete Schrift aus Fairports Notizbuch vor Augen. Frau, die fünfhundert Jahre alt wurde (webte Mondlicht). »Sie müssen mir sagen, warum«, sagte der Prinz. Lydia schüttelte nur den Kopf, obwohl ein taubes Gefühl seinen Ursprung hinter ihrem Brustbein nahm und sich auf ihre Finger, Lippen und Zehen auszubreiten schien. Streß, zusätzlich zur Unterkühlung, dachte sie. Und dann, mit einer leisen inneren Stimme wie der eines Kindes: Jamie, nein ... »Sie frieren, Madame.« Der Prinz legte eine warme Hand auf ihren Rücken und führte sie wieder die Stufen hinauf, auf die hellen Lichter am anderen Ende der Arkade zu. »Wir gingen zurück zu seinen Räumen im Bajazid-Palast, als ein armenischer Junge auf ihn zutrat. Ich habe nicht alles gehört, was der Junge sagte, aber ich weiß noch, daß er gesagt hat: ›Mein Herr hat mir befohlen, dir den Ort zu zeigen.‹ James hat sich von mir verabschiedet...« Er schüttelte den Kopf. Hat er gut ausgesehen? wollte sie fragen. Haben sie ihm sein Messer abgenommen, als
er verhaftet wurde, und hat er es zurückbekommen? Haben Sie gesehen, ob er immer noch das Silber um seinen Hals und an den Handgelenken trug? Es war denkbar, überlegte sie, daß die Gardisten des Sultans es gestohlen hatten. Die, die sie an den Außentoren des Palasts gesehen hatte, sahen aus, als seien sie in der Lage, einem Toten die Schuhe zu stehlen. Unter ihrem Korsett schlug ihr Herz unangenehm schnell. »Ihre Kontaktperson im Palast hat Ihnen nicht zufällig gesagt, welche Geschichtenerzähler es waren, oder?« Razumovsky blieb stehen und sah wieder zu ihr hinunter. Männer waren in der
Kolonnade erschienen, Europäer in leuchtenden Farben, die Uniformen sein mußten. Aus der Art, wie sie sich umsahen, erriet Lydia, daß sie die Adjutanten des Prinzen waren. »Mrs. Asher«, sagte er ruhig, »Konstantinopel ist keine gute Stadt. Es ist keine sichere Stadt, besonders jetzt, wo die Armee an der Macht ist und das Unterste zuoberst kehrt, und es ist nie eine gute Stadt für eine Frau gewesen. Ich habe selbst Nachforschungen nach James angestellt. Wenn ich etwas höre, auch das Allerkleinste, werde ich sofort nach Ihnen schicken.« »Danke.« Lydia drückte die breite Hand in den Glacéhandschuhen. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Ich kann ... es gibt Gründe dafür, daß ich Ihnen nicht sagen kann, woher ich weiß ... was ich weiß. Aber wenn Sie mir helfen können...« »Unter einer Bedingung.« Razumovsky strich wieder über seinen Schnurrbart. Die Knöpfe seiner Handschuhe waren mit Diamanten besetzt, die wie winzige Sterne funkelten. »Etwas sagt mir, daß ich Ihnen das nicht zu erzählen brauche, aber ich werde es trotzdem tun. Stellen Sie allein keine Nachforschungen an. Nichts. Bitten Sie mich um Hilfe, gleich zu welcher Uhrzeit. Gibt es ein Telefon, wo Sie wohnen?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann schicken Sie einen Pagen. Verstehen Sie? Wenn ich nicht kommen kann, schicke ich einen Diener. Sie brauchen weder mir noch ihm, noch sonst jemandem zu verraten, wohin Sie gehen, aber gehen Sie nicht allein. Sir Burnwell und die Angestellten der Botschaft sind gute Leute, aber sie sind nicht so lange hier wie ich. Außerdem nimmt man an, daß sie auf Seiten des Komitees stehen und gegen die alten Mächte sind. Auf jeden Fall haben die deutschen Geschäftsleute, die beiden Seiten Geld vorgeschossen haben, hier mehr Macht in Händen als meine oder Ihre Botschaft. Wenn Sie sich in der Stadt bewegen, nehmen Sie jemanden mit jemanden außer diesem dummen Mädchen, das Sie da haben -, und nehmen Sie nicht an, daß Sie bei irgend etwas ungeschoren davonkommen. Wir sind hier nicht in England. - Da sind wir«, sagte er und führte sie wieder auf die Lichter zu, auf die Raucher, die Tür mit ihren hochgewachsenen Wachen in ihren Pluderhosen und Turbanen in orange und rot. Erst, als sie drinnen waren und er ihr Champagner und einen Kräcker mit saurer Sahne und Kaviar geholt hatte, entschuldigte er sich, und zwei Minuten später sah sie ihn - oder jedenfalls jemanden von seiner Größe mit einem goldblonden Bart und einer jagdgrünen Uniform - tief in eine Unterhaltung mit Enver Bey versunken.
VIERZEHN
Der Raum war überfüllt. Während ihrer Unterhaltung mit dem Prinzen hatte Lydia am Rande ihres Bewußtseins wahrgenommen, daß zwischen den Bäumen und Hecken Lichter vorbeigeglitten waren, als Diener Neuankömmlinge über die Wege von dem riesigen Außenhof hergeführt hatten. Sie ließ den Blick über ihr zugewandte Rücken wandern und identifizierte die asymmetrischen malvenfarbenen Rüschen des Kleides ihrer Schutzpatronin inmitten einer dunklen Traube von Männerkleidung. Als sie sich näherte, hörte sie das gutturale Rasseln von Deutsch und machte Erwähnungen über Bahnkilometer, rollendes Material, Spurweiten und die Krupps aus, die ihr verrieten, daß Lady Clapham unter die Geschäftsmänner gefallen war. Jedenfalls streckte Lady Clapham ihr die Hand entgegen wie eine Andromeda mit etwas zu lang geratenen Zähnen, und sie kam sich vor wie ein Perseus in Gestalt eines Schulmädchens in ecrufarbener Seide mit rosa Bändern. »Meine liebe Mrs. Asher«, rief sie aus. »Darf ich Ihnen Herrn Franz Hindl vorstellen? Herr Hindl, Mrs. Asher. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen wollen, Herr Hindl, ich habe Herrn Dettmars versprochen, ihn Mrs. Asher vorzustellen ... Sie hat der Himmel geschickt, meine Liebe!« setzte sie leise hinzu, als sie den stämmigen, blonden Gentleman, der Lydias Hand geschüttelt hatte, mit bemerkenswerter Geschwindigkeit hinter sich ließen. »Was für ein Langweiler.« Sie schob Lydia in eines der kleineren Hinterzimmer des Pavillons, der ebenso voll und - wenn das überhaupt möglich war - noch stickiger war als der langgestreckte vordere Raum. »Sehe ich aus wie eine Frau, die zugrunde geht, wenn sie nicht genaue Informationen betreffs der Unterschiede zwischen Weichkohlebrennern und Anthrazitregulieröfen erhält?« Lydia schwieg und studierte sie mit gespieltem Ernst. »Drehen Sie sich um«, befahl sie, und mit todernstem Gesicht gehorchte ihr die Frau des Attachés. »Nur ein wenig, von hinten«, antwortete Lydia nach einer angemessenen Zeit der Überlegung. »Dann werde ich einen Schal darüber tragen«, versicherte Lady Clapham. »Ich ersticke. Konnte Prinz Razumovsky Ihnen irgend etwas über Ihren Mann sagen, Liebes?« Lydia nickte langsam. »Er hat mir erzählt, daß mein Mann irgendwelche Untersuchungen durchführt und mit Geschichtenerzählern auf den Märkten gesprochen hat. Hat er - ich meine Dr. Asher - mit Ihnen darüber gesprochen?« »Er ist doch sicher nicht deshalb nach Konstantinopel gekommen, oder?« »Nein«, sagte Lydia. »Aber er untersucht solche Dinge, wo immer er sich aufhält. Er ist sowohl Volkskundler als auch Linguist.« Lady Clapham seufzte resigniert und zupfte an ihrer unordentlichen ergrauenden Frisur. »Na ja, immer noch besser als manche Verrückte wie mein Bruder, der herumläuft und Abriebe von Grabsteinen anfertigt. Nicht einmal in heidnischen Gefilden, sondern an Orten wie Wensley Parva oder der Kathedrale von Bath. Und das während der Jagdsaison!« Sie schüttelte verwundert den Kopf und nahm einen Kräcker mit Kaviar von dem Tablett eines Dieners, als sei der Mann ein Tisch. »Ja, er hat nach Geschichtenerzählern gefragt. Burnie hat ihm von dem alten Knaben erzählt, der in der Straße der Messingverkäufer im Großen Bazar sitzt. Hat Seine Hoheit Ihnen seine Hilfe angeboten? Das habe ich mir gedacht. Achten Sie nur darauf, daß Sie Miss Potton immer bei sich haben, und Sie sollten keine Probleme bekommen. Wo ist überhaupt Miss Potton?« Lydia blickte in dem kleinen Zimmer umher. Während für sie ohne ihre Brille die meisten Männer der Menschenmenge gleich aussahen - außer James natürlich, den sie überall und unter allen Umständen erkannt hätte, und Weihnachtsbäumen in Menschengestalt wie Prinz Razumovsky -, konnte sie Frauen im allgemeinen an den Farben und Formen
ihrer Kleider ausmachen. Doch in der Menge war nichts von dem beige-weißen Seidenkleid zu sehen, kein Tintenklecks schwarzer Locken glänzte in dem grellen gelblichen Licht. Sie erinnerte sich, daß Ysidro gestern nacht bemerkt hatte: Vielleicht bin ich irgendwo in der Nähe, und an Margarets Sehnsucht, ihn bei dem Empfang zu sehen ... Und erst recht jetzt, um ihm ihre neu entdeckte Schönheit zu zeigen. »Sie könnte in den Garten gegangen sein.« Ein Bild von Margaret, wie sie in einem Aufzug aus der Zeit von König George mit Ysidro auf der Terrasse irgendeines Traum-Landhauses Walzer tanzte, schob sich in ihr Bewußtsein. »Sie wird erfrieren«, prophezeite Lady Clapham. »Oh, meine Liebe, da ist jemand, den ich Ihnen unbedingt vorstellen will ... absolut charmant und so von sich eingenommen...« Sie führte Lydia zu einem Mann, der eben in den kleineren Raum getreten war. Noch eine Uniform, diesmal scharlachrot mit schweren Silbertressen und geschmückt mit ausgerechnet - einem Leopardenfell über der Schulter; auffallend schwarzes Haar und eine Haltung, die ihr sofort, ohne daß sie nahe genug gewesen wäre, um sein Gesicht zu erkennen, verriet, daß er schön wie Apollo war und daß er dies auch wußte. Alle Adonisse - oder hieß es Adoni? - schienen auf dieselbe Art dazustehen. Sie fragte sich, ob schon einmal jemand eine Untersuchung darüber angestellt hatte. Natürlich würde das nur einer Frau auffallen. »...Mitglied der hiesigen diplomatischen Gemeinde und ein absoluter Charmeur, selbst wenn er mit seinem Geist niemals die Welt erschüttern wird. Baron Ignace Karolyi...« »Entschuldigen Sie mich«, sagte Lydia hastig. »Ich glaube, ich sehe Miss Potton, und ich muß wirklich mit ihr ... Ich bin sofort zurück...« »Wirklich? Wo...« Blitzschnell verschwand sie in der Menge. Glücklicherweise verband eine Tür diesen Raum mit dem anderen Hinterzimmer der Suite. Lydia tauchte hindurch, schlängelte sich zur Tür, die zurück in den großen Salon führte, und drängte sich so schnell sie konnte - bei einer Sichtweite von weniger als einem Meter, obwohl die leuchtende Farbe seiner Uniform ihr half, dem Mann auszuweichen - zu der Doppeltür durch, die zur Kolonnade führte. Die Kälte war durchdringend. Lydia wünschte, sie hätte Zeit gehabt, ihren Umhang zu holen. Sie eilte über das schwarz-weiße Kopfsteinpflaster zu dem Treppengang, in dem sie mit dem Prinzen Zuflucht gesucht hatte. Sie raffte ihre Spitzenschleppe, um in den Tunnel hinabzusteigen, der zu der Terrasse auf der anderen Seite führte. Sobald sie sicher war, außer Sicht zu sein, zog sie ihre Brille aus der Handtasche und setzte sie sich auf die Nase. Aus dem Eindruck blättriger Schwärze und schwimmender Farbtupfer war plötzlich das scharfe Bild eines zobelschwarzen Wunderlandes aus Zypressen und Weiden geworden, das zu dem indigoblauen Glimmern des Meeres hin abfiel. Kahle Buchen und dunkle Blätter wurden von unten durch einen zarten Regenbogen bunter Lampen erhellt, die die Umrisse von Wegen und Terrassen beschrieben wie glühende Edelsteine, die auf Samt verstreut waren. Zu ihrer Linken umrissen die Lichter Terrassen, Treppen und die Vordächer blasser Pavillons mit geschlossenen Fenstern mit einem flackernden Netz von rubinroten, azurblauen und honigfarbenen Sternen ... und oben an einer Marmortreppe sah sie, daß ein Stern fehlte. Eine Lampe war fortgenommen worden. Margaret. Sie wußte nicht, warum sie so sicher war. Energisch raffte sie ihre Schleppe, hastete die Terrasse entlang und die bleichen Stufen hinauf zu der Lücke in der Lichterkette. Oben breiteten sich vor ihr dunkle, mit Marmorplatten belegte Wege und niedrige Hecken aus, die wie hinter einem Gitter aus Edelsteinen breite Baum- und Wiesenflächen trennten. Der Plattenweg führte sie zu den geschlossenen Türen zweier Pavillons, unter denen die tieferen Gärten lagen. Hinter der Tür des zweiten Pavillons durchstieß ein nied riger Bogengang aus sehr alten Ziegeln die Wand; Marmorstufen führten durch einen
gewölbten Tunnel weiter hinab zu den darunterliegenden Terrassen. Hatte Margaret Ysidro in den Gärten gesehen? Oder nur einen Umriß, von dem sie glaubte, er sei es? Sie wandte sich zurück, um den Blick über die Kolonnaden und die kunstvollen Pavillons über und hinter sich schweifen zu lassen, doch dort sah sie keine Bewegung, noch war in der Halbwildnis aus Bäumen und hohem Gras, die zwischen ihr und dem Meer lag, eine Spur des hellen Seidenmousselinkleides zu entdecken. Sie zog ein Tuch aus der Handtasche, um ihre Finger vor der Hitze zu schützen, und hob dann eine weitere Lampe auf, deren Messingfuß unter der rubinroten Glasglocke sich durch Stoff und Handschuh hindurch heiß anfühlte. Eine der unzähligen streunenden Katzen, die in dem halbverwilderten Buschwerk lebten, starrte sie einen Moment lang an und verschmolz dann mit der Dunkelheit. Was mache ich eigentlich? fragte sich Lydia, halbwegs angewidert, während sie die Marmorstufen hinabschritt. Zwei Minuten nachdem der schöne russische Prinz mich
warnt ›Unternehmen Sie nichts allein‹, ziehe ich los wie die Helden eines billigen Kriminalromans ... Doch etwas an der schattenerfüllten Dunkelheit des Palasts, die sie umgab, seit sie das Getümmel um die Gartenhäuser hinter sich gelassen hatte, erfüllte sie mit Angst um die jüngere Frau. Der Anblick Karolyis hatte sie erschüttert, und sie wagte weder zu warten noch zurückzugehen. Das rote Licht der Lampe fiel auf die Umrisse eines eisernen Löwen, der in etwas stand, was einmal Blumenbeete gewesen waren. An dem Rankengewirr eines wildwuchernden Rosenbusches erblickte Lydia weiße Fäden, wo der Saum eines Unterrocks sich verfangen hatte und losgerissen worden war. Verborgen in den Schatten der drei hohen Bögen aus alten Ziegeln lag eine Tür. Sie stand offen. Lange Zeit stand Lydia zögernd in der schmalen Öffnung, eine Hand gegen den steinernen Türpfosten gepreßt, die rotglühende Lampe erhoben. Der Teich wenige Meter hinter ihr schien kalte Luft über ihre bloßen Schultern zu hauchen, ein Widerhall der feuchten Kälte, die in der Dunkelheit vor ihr lag. Noch ahnte sie nicht, zitierte Lydia den besagten billigen Kriminalroman, welches Grauen auf sie lauerte, bemüht, die Furcht zurückzudrängen, die in ihrem Herzen flüsterte. Aber es war nur eine Steintreppe - mit feuchten Fußspuren, die undeutlich auf den obersten ein oder zwei Stufen zu erkennen waren. Die Schuhe einer Frau. Dumme Gans, dumme Gans, dumme Gans. Sie war nicht sicher, ob sie Miss Potton meinte oder sich selbst. Am Fuß der Treppe, hinter einer weiteren geöffneten Tür, lag eine riesige, in Schatten verlorene Höhle, wo in dem trüben, rubinroten Schein ihrer Lampe vage unglaublich alte Säulen zu erahnen waren, die sich aus schimmernd schwarzem Wasser zu dem Ziegelgewölbe der niedrigen Decke erhoben. Natürlich, dachte Lydia. All diese Teiche in den Gärten mußten von irgendwoher mit Wasser versorgt werden. An einer Seite der Zisterne verlief ein Steg, der sehr bald in der Dunkelheit verschwand. Mit heftig pochendem Herzen, in der Hoffnung, Margaret schnell zu finden, begann sie ihn entlangzugehen. »Das ist nicht sehr klug, Mistress.« Ysidros Stimme war kaum lauter als der Schritt einer Katze hinter ihr, doch irgendwie erschrak sie nicht. Es war, als habe sie, in den ein oder zwei Sekunden bevor er sprach, gewußt, daß er da war. Sie wandte sich um und sah ihn auf dem Steg, gekleidet in einen schwarzen Cut und graugestreifte Hosen wie die Männer auf dem Empfang im Palast. Sein farbloses Haar umrahmte das Gesicht eines Toten. Mit einem zittrigen Seufzer holte sie Luft. »Es war auch nicht sehr klug, nach Konstantinopel zu kommen«, sagte sie. »Ich habe mich schon gefragt, was Sie in Ihrem
Schrankkoffer hatten. Haben Sie auch einen Zylinder mitgenommen?« »Er liegt dort, wo ich ihn erreichen kann, sollte ich beschließen, den Pavillon zu betreten.« Er trat näher, nahm sie bei der Hand und führte sie den Pfad über den schwarzen Teich entlang. Das Licht schien ihnen zu folgen wie ein Fisch in der Tiefe. Kalt, wie ihr war, war auch die Hand, die auf ihrer Taille lag. »Früher haben die Sultane die Haremsdamen hier hinaufgebracht, wenn sie von den Gartenhäusern an der Terrasse beim Polo oder beim Bogenschießen zusahen.« »Haben Sie eine Spur von ihr gefunden?« »Dann ist sie Ihnen nicht begegnet?« In der Gleichförmigkeit seiner Stimme spürte sie seinen Ärger. Er wußte, wen sie meinte, und was geschehen war. Dann: »Meine Konzentration war auf anderes gerichtet. Es ist schwierig...« Die gleichmütigen Worte hätten ebensogut ein vollständiger Satz sein können wie eine abgebrochene Einleitung, doch Lydia wußte, was er ihr nicht hatte sagen wollen. Einen Augenblick lang standen sie sich in der offenen Tür zu einer weiteren Treppe gegenüber, die Lampe zwischen sich, wie sie auf der Treppe seiner Londoner Krypta gestanden hatten. Das blutrote Licht ließ ihn noch fremdartiger erscheinen, und sie hatte das seltsame Gefühl, wenn sie die Augen schlösse, würden seine Züge verschwimmen und nicht länger das Gesicht sein, das er sich stets so bemühte, den Lebenden zu zeigen, sondern das, das er von Spiegeln abwandte, um sich selbst nicht zu sehen. »Es ist meine Schuld.« Sie fragte sich, was sie noch sagen konnte. Es tut mir leid, daß ich
Sie gebeten habe, keine unschuldigen Fremden auf der Straße, im Zug oder in den Ecken dieses Palastes zu töten? Nach einer Weile sagte er: »Nein. Meine eigene, weil ich angenommen hatte, ich könnte meinen Willen bekommen, ohne den Preis dafür zu bezahlen. Ich werde es überleben.« Wieder schwiegen sie. Lydia sah Margarets weiße Brust vor sich, als sie vorletzte Nacht auf der leeren Straße ihr Mieder aufgerissen hatte. Sie mußte ihn fragen, obwohl sie wußte, daß es sie nichts anging. »Trinken Sie ihr Blut?« »Es würde mir nicht guttun«, antwortete die sanfte Stimme, doch die Frage schien ihn nicht zu überraschen. »Es ist der Tod, den wir brauchen, um die Kräfte unseres Geistes zu nähren. So wie die Dinge stehen, wäre es zu leicht, sie zu töten, sollte ich ihr Blut auch nur schmecken.«
Ich sollte Angst vor ihm haben. Und es war ihre Schuld. »Es ist nicht leicht«, fuhr er fort, als habe er ihre Gedanken gelesen, »mich im Spiegel Ihrer Ehre zu sehen. Wir wollen ihn verhüllen, wie ich es mit den Spiegeln in meinem Haus tue, und uns mit den Alltäglichkeiten beschäftigen, die wir vorfinden. Ihnen ist kalt.« Während er sie die lange Treppe hinaufführte, bemerkte sie, daß sie zitterte. Sie hatte nicht den Eindruck, daß er von ihrer Seite gewichen war, nachdem sie die Tür am Ende der Treppe erreicht hatten, doch irgendwie hatte er plötzlich einen Schal aus schwerer Seide in den Händen, den er ihr über die Schultern legte. »Es ist nicht sicher, an diesem Ort umherzugehen.« Er streckte die Finger in Richtung der Lampe aus und erstickte auf irgendeine Art die Flamme, ohne sie zu berühren. Sie kamen in einen Hof, der kaum breiter war als ein Flur. Treppen verliefen von hier aus nach oben und unten in undurchdringliche Finsternis. Dunkelheit lag über ihnen wie das Siegel des Todes, so daß er sie führen mußte. Durch das dünne Glacéleder ihres und seines Handschuhs fühlten sich seine Finger an wie der Marmor eines Grabsteins. »Ich habe ihre Fußspuren gesehen, als ich zu der Treppe an der Zisterne zurückkehrte«, sagte er. »Sie waren unklar, und ich mußte auf dem Steg nachsehen, um sicher zu sein, daß sie nicht auf diesem Weg nach draußen gelangt war.« Er unterbrach sich und setzte etwas hinzu. Lydia sprach genug Spanisch, um es zu verstehen. »Sie haben sie ausgesucht, weil sie dumm ist«, erinnerte sie ihn leise. »Dumm und loyal. Was sie für Sie empfindet, ist Ihr Werk.«
»Es ist eine Sache, einem Gatten zu folgen, von dem Sie wissen, daß er blind und ungewappnet in einen Verrat rennt.« Sie kamen in eine Kammer, überquerten Lagen dick eingestaubter Teppiche und stiegen eine wacklige Treppe zu einem vergitterten Balkon hinauf. »Sie haben Rat in der Angelegenheit gesucht, da Sie Ihre - und seine - Grenzen erkannt haben. Es ist eine andere Sache, ohne Not jemandem zu folgen, für den Sie nichts als eine Belastung sind, bloß um ihm etwas zu sagen, das er bereits weiß. Dieser Ort ist nicht sicher; weder sollte sie hier herumlaufen, noch sollten wir rufen oder Lampen hochhalten, damit sie ein Licht sehen kann.« »Dies ist der Harem, nicht wahr?« Der Name beschwor in Lydias Gedanken hoffnungslos romantische Bilder herauf, doch der Raum, den sie betraten - und tatsächlich alle Räume, die an diesem lichtlosen Treppenhaus lagen - erschien in dem gedämpften Licht, das aus einem anderen Gebäudeflügel hineinfiel. Er war selbst ohne Möbel winzig und voll gestopft. Die Wände waren schmucklos verputzt, schmutzig und von Schimmel überzogen. Die Diwane waren klumpig und weit niedriger, als Lydia sie sich nach Märchenbüchern vorgestellt hatte, ungefähr von der Dicke einer guten Matratze. Die Teppiche waren fadenscheinig und rochen nach Mäusen und altem Parfüm. »Ich dachte, der Palast sei seit den fünfziger Jahren nicht mehr benutzt worden.« »Nicht als Residenz des Sultans.« Die Stimme hörte sich an, als dringe sie wie Staub aus den Teppichen unter ihren Füßen. »Bis letzten Juli war er Regierungssitz. Aber er hat Frauen, die seinem Vater oder seinem Großvater gehörten, oder Mädchen, die nicht sein Gefallen fanden, in einen Teil des alten Serails gesteckt. Hier leben sie immer noch mit ihren Dienern - wenige Frauen, aber fast so wie früher. In den Glanzzeiten dieses Ortes schliefen hier, zu viert oder fünft in einem Zimmer, diejenigen, die nicht sein Wohlwollen fanden, und sahen niemanden außer den Eunuchen und einander; sie sahen sogar selten die Sonne.« In der fast vollständigen Dunkelheit sah sie, wie er im Vorübergehen die Wand berührte. »Viele von ihnen lebten vom Opium; Opium und Intrigen. Aus den Wänden hier sickern ihr Kleingeist, ihre Langeweile und ihre Tränen.« Seine Lider senkten sich, er neigte den Kopf und lauschte. »Dort«, flüsterte er. Er führte Lydia mit schnellen, gewichtslosen Schritten eine Treppe hinunter, die steil wie ein Höllenschlund war und so dunkel, daß sie die Stufen nicht erkennen konnte. Später, als sie sicher in ihrem Bett in Pera lag, wunderte Lydia sich ein wenig über ihr absolutes Vertrauen zu ihm, ihre Bereitschaft, von seiner Hand gezogen in tiefstes Dunkel zu treten. Nicht, daß Ysidro ihr eine andere Wahl gelassen hätte, dachte sie. Margaret stand inmitten eines großen Gemachs, in dessen Zentrum einmal ein Becken eingelassen gewesen war, das jetzt nur noch ein ovaler Schatten mit einem gewellten Muschelrand war. Auf drei Seiten bedeckte marmornes Gitterwerk die Fenster; ein Diwan verlief um das Gemach, und schräg einfallende Lichtquadrate, nicht größer als ein Tee sandwich, lagen auf den schmutzigen, von Mäusen zernagten Kissen verstreut. Die Luft im ganzen Raum roch erstickend nach Schimmel. Margaret trug keine Lampe in der Hand, als habe sie sie irgendwo niedergesetzt und vergessen. In dem gefleckten Lichtschein von den Fenstern war ihr Gesicht ausdruckslos; die Augen hinter ihren dicken Brillengläsern waren die einer Schlafwandlerin. Sie sah wunderschön aus, wie in ihren Träumen. Lydia fand sich allein in dem gefliesten Eingang wieder und beobachtete, wie Ysidro Margarets Kopf sanft drehte, damit er ihren entblößten - und ungezeichneten - weißen Hals sehen konnte. »Margharita«, flüsterte der Vampir. Das Mädchen fuhr hoch wie jemand, der erwacht. Dann sog Margaret mit einem heiseren Keuchen die Luft ein, fiel Ysidro um den Hals und klammerte sich mit verzweifelten, gierigen Händen an ihn. In der nächsten Sekunde erblickte sie über seine Schulter hinweg Lydia, die die Spitzenkaskade ihrer Schleppe über einem glacebehandschuhten Arm trug und das verblichene Gewebe eines alten Sei
denschals um ihre Schultern geschlungen hatte. Schnell trat Margaret zurück. »Geht ... es Ihnen gut?« Sie sprach nicht zu Lydia. »Allerdings.« Der Vampir neigte höflich den Kopf. »Es ginge mir allerdings besser, wenn ich nicht an diesen Ort hätte zurückkehren müssen, um dich zu suchen. Es war dumm von dir, mir zu folgen, Margharita, schon um deines Rufes willen und deiner Sicherheit. Und der von mir und Mistress Asher auch, die hierhergekommen ist, um dich zu suchen. Nun laß uns zurückgehen, ehe man unsere Abwesenheit bemerkt; und ich warne dich, lauf mir nicht noch einmal auf diese Weise nach.« Nicht einmal erhob sich seine Stimme über ihren üblichen gleichmütigen Klang, und auch sein Tonfall war nicht ein Jota anders als die höflichen Floskeln seiner üblichen Sprechweise, doch Lydia zuckte innerlich zusammen, als hätte er Sarkasmen oder Beschimpfungen gesagt. Margarets Wangen liefen dunkel an, und sie sah weg, und einen Augenblick lang hatte Lydia den Eindruck, daß sie geflohen wäre, sich in das unbekannte Labyrinth des inneren Harems gestürzt hätte, hätte Ysidro ihr nicht die Hand auf den Arm gelegt. Ihre Stimme zitterte, als sie ihn wieder aus tränenerfüllten blauen Augen ansah. »Ich hatte nur Angst...« »Angst?« Er lächelte sein kaltes Lächeln, das er, wie Lydia vermutete, aufsetzte, um seinen immer noch vorhandenen Zorn zu verbergen. Doch die Wirkung war verblüffend, der Widerhall eines einnehmenden Charmes, der dem lebenden Mann eigen gewesen sein mußte. »Daß ich hier auf eine Gefahr stoße, die über meine Fähigkeiten hinausgeht und aus der du mich erretten könntest?« Kein Ausdruck, keine Betonung; Lydia erinnerte sich daran, daß er schon lange tot war. Doch tief im Hintergrund der Schwefelkristallaugen erriet sie ein winziges amüsiertes Funkeln. Margaret nicht. Sie ließ nur den Kopf hängen, schniefte und ließ zu, daß Ysidro ihren Arm nahm und sie durch das Labyrinth zu der gefährlichen Treppe an der Zisterne führte, und von dort aus an der Terrasse entlang, über die die Haremsdamen zu ihrem Herren gegangen waren. Als sie durch einen weiten Hof, vorbei an einer Terrasse und einem Teich, kamen, wo sich Reihen um Reihen von Fenstern mit geschlossenen Läden über ihren Köpfen erhoben, glaubte Lydia, sie sähe den Schein einer Lampe, die jemand unter einer der baufälligen Treppen zurückgelassen hatte, und wollte sich dorthin wenden. »Lassen Sie sie dort«, sagte Ysidro leise. »Es wird nur diejenigen anziehen, denen wir nicht zu begegnen wünschen.« In der Garderobe nahm Lydia ihre Brille wieder ab und faltete den Schal unauffällig zusammen, bevor sie zurück in den dicht mit Diplomaten bevölkerten Salon trat. Den Rest des Empfangs hindurch konzentrierte sie sich darauf, ein Zusammentreffen mit der hochaufgerichteten, anmutigen Gestalt in der blutroten Uniform der Ungarischen Leibgarde zu vermeiden. »Passen Sie bloß auf diesen Razumovsky auf«, sagte Lady Clapham zu ihr, als sie in die Wagen stiegen. »Und passen Sie auf dieses Mädchen auf.« Verblüfft wandte Lydia sich um und sah, wie Margaret mit Hilfe von Dienern in die Kutsche der Botschaft stieg. Auf dem kleinen Platz drängten sich Soldaten. Das Licht der Fackeln spiegelte sich hell auf ihren Gewehren, denn es war die Nachricht gekommen, daß unter den Armeniern in Galata spontane Kämpfe ausgebrochen waren, die sich auf Stambul ausbreiten könnten. »Ich glaube wirklich nicht, daß wir uns Sorgen machen müssen«, sagte Lydia. »Zufällig weiß ich, daß ihr Herz ... anderweitig vergeben ist.« Und darüber hinaus noch an jemanden, der unendlich gefährlicher war als ein russischer Adliger. »Ich meine, passen Sie auf, was sie sagt.« Ihre Ladyschaft zog Lydia ein wenig weiter in die Dunkelheit des Tors zurück. Die Schatten der Soldaten tanzten trunken über die mit Weinlaub bewachsene Ziegelwand gegenüber, hinter der die schweigenden Kuppeln der Hagia Sophia im Dunkeln schliefen. »Und was Sie sagen. Razumovsky ist kein Dummkopf, und er weiß ganz genau, daß Ihr
Mann nicht nach Konstantinopel gekommen ist, um sich mit Geschichtenerzählern zu unterhalten. Der Vertrag, den der König unterzeichnet hat, ist keinen Pfifferling wert, wenn der Zar eine Chance sieht zu gewinnen, entweder hier oder in Indien.« Lydia seufzte, beruhigte ihre Gastgeberin und schüttelte innerlich den Kopf, während sie Sir Burnwells Hand ergriff, um in die Kutsche zu steigen. Wenigstens hatte jeder Mensch auf der Welt ein kardivaskuläres System und endokrine Drüsen, und über die ließ sich nicht streiten. Einen Moment lang dachte sie sehnsüchtig an das Radcliffe-Krankenhaus, wo die Dinge sicher und am richtigen Platz waren - führte Pickering die Aufzeichnungen über die Langzeit-Gewichtszunahme der Versuchsobjekte auch ordentlich? Sie hatte keine Ahnung, was sie den Herausgebern des Journal of Internal Research über ihren Artikel erzählen sollte. Es tut mir leid, ich mußte nach Konstantinopel fahren, um meinen Mann
vor Vampiren zu retten. Aber ohne Jamie ... Sie schüttelte den Kopf. Sie würde ihn finden. Sie mußte ihn finden.
FÜNFZEHN »Wovor haben Sie Angst gehabt, dort im Serail?« Ysidro wandte sich nicht um. Nachdem er die Frauen in das Haus an der Rue Abydos zurückbegleitet hatte, hatte er sich gegen seine Gewohnheit versichert, daß Margaret sicher in ihrem Bett lag, war dann ins Stockwerk darunter gegangen und hatte sich in den Erker des Salons gesetzt, eine Art Balkon, der über der Eingangstür lag. Seit beinahe einer Stunde hatte Lydia ihn dort sitzen sehen, während sie, immer noch im Abendkleid, den aromatischen Tee trank, den Madame Potoneros ihr gebraut hatte. Es war spät, kurz vor drei. Der Beinahe-Aufstand im armenischen Viertel hatte sie zu einem langen Umweg durch das Marktviertel zur alten Mohammed-Brücke genötigt; und selbst dort hatten sie, als sie die steile, gewundene Rue Iskander hinaufgefahren waren, die entfernten Schreie hören können, zerbrechendes Glas, die Schüsse. Lydia hatte ruhig zwischen Margaret und Lady Clapham gesessen, war tiefer in ihren Umhang gekrochen und hatte sich gefragt, ob ihr je wieder warm werden würde. Immer noch lag keine Betonung, kein Auf und Ab in seiner Stimme. »Also vermuten Sie wie Margaret, daß ich in Gefahr geschwebt habe? Ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Mistress.« »Nun, ich weiß, daß Sie vollkommen in der Lage sind, zwölf säbelschwingenden Eunuchen aus dem Weg zu gehen, die den Namen des Sultans vor Entehrung schützen wollen. Wovor also hatten Sie Angst? Was hätte Margaret begegnen können?« Sie dachte ihren Gedanken zu Ende und fragte dann: »Ein anderer Vampir?« Er legte seinen Kopf ein wenig zur Seite. Das Licht des spät aufgegangenen Mondes übergoß sein Profil wie mit wäßriger Milch. »Ihr Name ist Zenaida. Ich bin ins Serail gegangen, um mit ihr zu sprechen, bevor ich auch nur wußte, daß Margaret mir gefolgt war.« Seine Hände, die auf dem Fenstersims übereinanderlagen, schienen sich bewegen zu wollen, blieben dann aber in ihrer unbeweglichen Haltung; der Widerhall einer Geste, die die Zeit abgeschliffen hatte. »Sie ist schon lange dort und erinnert sich nicht mehr an den Namen des Sultans, für den sie einmal auf den Straßen von Smyrna gekauft worden ist. Vielleicht hat sie ihn niemals gewußt. Wie die meisten Frauen des Sultans war sie verschlagen, aber dumm und ungebildet wie der Esel eines Hausierers. Sie hat mir erzählt, daß viele von den Odalisken sie immer noch für eine Lebende halten, irgendeine vergessene kadine des Sultans.« »Und Sie glauben, daß sie vielleicht etwas über ... über Ernchester weiß ... Oder über James?« Er saß auf einer alten Truhe, die in dem Erker als niedriger Tisch diente; sie lehnte sich an eine Mauerecke. Hinter den Gittern waren die Fenster geöffnet; und so angestrengt sie auch lauschte - sie konnte nicht anders - jetzt konnte sie keinen Laut aus den Elendsvierteln mehr vernehmen, die am Fuße des Hügels lagen. Immer noch stieg Rauch in den Himmel. »Darüber...«, stimmte der Vampir ruhig zu. »Und über andere Dinge.« Noch eine Weile blickte er in anscheinendem Desinteresse durch die geschnitzten Sichtblenden auf weiße Wände und gekachelte Dächer. Die Stadt der Mauern mit ihren Minaretten und Kuppeln, ihren Märkten und ihrem Schmutz war in der Nacht nicht mehr als ein mit faltigem Samt bedeckter Bergrücken auf der anderen Seite des Wassers. Dann wandte er ihr seine gelblichen Insektenaugen zu. »Meine Sinne, meine Wahrnehmung, meine Fähigkeit, die Fäden von Gedanken, Duft und Wärme zu berühren, die in der Luft einer Stadt schweben - all diese haben darunter gelitten, daß sie nicht richtig genährt werden. Dennoch sollte ich in der Lage sein, etwas von dem zu spüren, das in den Leben der Wesen vorgeht, die die Nacht durchstreifen. Wenn nicht von hier aus, dann vom Torhaus des Palasts, wo ich heute nacht gestanden habe, oder vom Hügel
der Hagia Sophia aus, wo all die Träume der Stadt wie in einem Brennglas zusammenkommen. Und ich spüre nichts.« Lydia schob die Brille auf ihrer Nase hoch. Sie hatte die Handschuhe und die Perlen abgelegt, und das Silber glänzte an ihrem Hals und ihren Handgelenken, als seien die verschlungenen Kettenglieder aus Eis. »Und da hat es Ihnen gerade noch gefehlt, auf zwei törichte Heldinnen aufzupassen«, sagte sie reuig und schüchtern. Er bewegte wieder den Kopf, einmal, und sah ihr mit diesem kurzen Aufflackern menschlicher Heiterkeit in die Augen. Auf der Straße unten bellte ein Hund, sein rauhes Kläffen wurde in einer anderen Gasse aufgenommen, und in noch einer, als fühle sich die ganze Horde dieser Hungerleider bemüßigt, etwas dazu beizutragen und zu erwidern. Ysi dro wartete, bis es wieder still war, wobei er horchte, als könne er in dem Lärm einen Hinweis entdecken. »Letzte Nacht, als ich Sie hier abgesetzt hatte, bin ich durch Galata gegangen«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe die Brücke nach Stambul überquert und die anderen Viertel aufgesucht, wo die Armenier leben, zwischen dem Meer und der Verbrannten Säule, und die ärmsten Viertel an den Stadtmauern. Verstehen Sie, dort werden die Vampire jagen, unter denen, deren Tod für die Türken weniger bedeutet als die Reste, mit denen ich meine Katzen füttere. Dort war der Dunst dicht, dieses Gefühl, daß die Aufmerksamkeit abgelenkt wird, daß man wie durch Rauch blickt, obwohl die Nacht klar war. Es war wie der Schleier, den wir über das menschliche Auge und das menschliche Bewußtsein werfen, doch dieser Schleier war von anderer Beschaffenheit, gewoben, um eine andere Art von Geist abzuschirmen. Es herrscht Krieg zwischen den Vampiren in dieser Stadt.« Lydia erinnerte sich an die ausgeklügelten Sicherheitsvorkehrungen in Ysidros Londoner Haus - oder einem seiner Londoner Häuser -, und ihr kam der Gedanke, daß menschliches Eindringen nicht die einzige Bedrohung sein mochte, gegen die er sich schützte. »Sie glauben, daß einer der Zöglinge des Meisters von Konstantinopel ... gegen ihn rebelliert? Versucht, ihn zu stürzen? Und daß er Ernchester hergerufen oder erpreßt hat, ihm zu helfen?« »So könnte es sein«, stimmte Ysidro zu. »Das kann vorkommen, obwohl in der Regel ein Meister, der so alt ist wie der von Konstantinopel, sorgfältiger darauf achtet, wen er zu seinem Zögling macht. Oder ein Neuankömmling ist von außen gekommen, auf der Flucht vor ihrem oder seinem Meistervampir, und strebt danach, selbst die Herrschaft über Konstantinopel zu übernehmen. Er wird feststellen, daß das nicht leicht ist.«
»Ernchester?« Er zog ratlos die Augenbraue hoch, eine Geste, die vor dreihundert Jahren vielleicht ein Achselzucken und eine Handbewegung gewesen wäre. »Wahrhaftig, dieser Brocken ist hart zu schlucken, vor allem angesichts der Tatsache, daß er den Meister der Stadt als Lebenden gekannt haben muß. Doch der Krieg ist da. Charles spielt irgendeine Rolle darin...« »Und da Karolyi davon weiß«, sagte Lydia nachdenklich, »wird er soviel herausholen, wie er kann. Ist es möglich, daß er hinter James' ... Verschwinden steckt?« »Ich halte es für wahrscheinlicher, daß er diesen Zwischenfall mit der Palastgarde inszeniert hat.« Ysidros weiße Hand glitt über das Fenstersims. »Denken Sie daran, zu welcher Tageszeit es geschehen ist. Er wurde am Vormittag festgenommen, die beste Zeit, um einen Lebenden zu verhören oder in dessen Abwesenheit zu handeln. Außerdem wurde er vor dem Großen Bazar aufgegriffen, denn man wußte, daß er dort mit den Geschichtenerzählern gesprochen hatte. Also war sein Wohnort nicht bekannt. Karolyi hatte nicht mit James' Freundschaft zu Ihrem goldblonden Barbaren gerechnet, und er hatte keine Zeit, ihn in die Hand zu bekommen, bevor er freigelassen wurde. Ich glaube«, setzte er hinzu, »daß dieser Karolyi etwas von dem weiß, was vor sich geht, aber nicht
alles. Und ich denke, daß, wenn es sein Ziel war, James in die Hand zu bekommen, statt ihn einfach zu töten, er durch ihn Anthea finden wollte.« »Also waren sie noch beisammen.« »So scheint es.« Seine Hand bewegte sich wieder in den Schatten, und Lydia sah, daß er ein dickes Kaschmirplaid über seinen Cut gelegt hatte, als wolle er sich vor der Kälte der Herbstnacht schützen. »Ich bin zwei Nächte umhergewandert und habe keine Spur gefunden, daß Anthea gejagt hat, und Zenaida hat auf ihrer eigenen mitternächtlichen Suche nach Blut nichts von einer fremden Frau gesehen. Dies könnte bedeuten, daß Anthea sich irgendwo versteckt oder daß sie gefangengenommen wurde, entweder von Karolyi oder dem Bey, dem Meister der Stadt ... oder von seinem Widersacher, gleich, ob er ein aufbegehrender Zögling ist oder ein Eindringling. Und wo Charles sein mag...« Er schüttelte den Kopf. »Dies ist eine alte Stadt, und sehr groß. Verhüllt wie sie ist - und Zenaida sagt, daß dieser Nebel, diese Illusion sich kurz nach den Schüssen und dem Aufruhr durch die Armee über die Stadt gelegt hat, nicht daß der Sturz des Sultans sie im mindesten interessiert oder sie etwas darüber gewußt hätte -, gibt es unzählige Orte, wo man sich verbergen kann. Zenaida sagt, sie weiß nicht, wo der Bey sich aufhält, und sie weiß auch nichts von anderen Vampiren. Sie sagt, daß es ihr gleich ist und sie sich nie um die Herrschaft des Bey geschert hat.« Lydia blickte eine Weile schweigend in die Nacht hinter den Gittern, auf die monddurchflutete Stadt und die silbergesprenkelten Wasser, die dazwischen lagen. Schließlich sagte sie: »Und sie wußte nichts ... wußte wohl nichts ... über Jamie?« Ysidro gab keine Antwort. Mein Herr hat mir befohlen, dir den Ort zu zeigen, hatte der Junge gesagt. »Wäre es eine Hilfe, wenn wir das Versteck des Meisters der Stadt finden würden?« Er warf ihr einen Blick voll unergründlicher Ironie zu, als wolle er sagen: Wie Sie meines gefunden haben? »Er wird viele haben, wissen Sie. In einem Krieg unter den Vampiren wird er jede Nacht seinen Schlafplatz wechseln.« »Ich verstehe«, sagte Lydia. »Doch es wäre ein Anfang, und wenn wir soviel herausfinden, wie wir können, könnte ein Hinweis zum anderen führen. Über Anthea oder Ernchester oder ... oder Jamie.« »Immer vorausgesetzt, daß Jamie nicht mit durchschnittener Kehle auf dem Grund des Hafens liegt.« »Wenn ich bereit wäre, dies ohne weitere Nachforschungen hinzunehmen«, gab Lydia zurück, »könnte ich ebensogut nach London zurückfahren.« Er beugte das Haupt, und sie wußte nicht, ob es spöttisch oder entschuldigend gemeint war. »Jedenfalls«, fuhr sie einen Moment später fort, »habe ich offensichtlich nicht Jamies Übung darin, Geschichtenerzähler zu befragen, abgesehen davon, daß ich kein ... spricht man hier Türkisch?« »Türkisch und Griechisch auf den Straßen. Die Gelehrten sprechen Arabisch, und am Hof des Sultans spricht man Osmanli.« »Da es hier anscheinend kein Zentralarchiv gibt, werde ich wohl Tee mit deutschen Geschäftsleuten trinken und sie nach einheimischen Kunden ausfragen müssen und versuchen, irgendwelche Merkwürdigkeiten in der Zahlungsweise auszumachen. Mein Deutsch ist nicht gerade strahlend, aber gestern nacht schienen die meisten von ihnen sehr gut Französisch zu sprechen. Ich frage mich, ob ich an jemanden bei der Osmanischen Bank herankommen kann. Oder bei der Deutschen Orientbank?« Sie straffte die Schultern. Schon die Worte verliehen ihr Mut; sie sprach, als sortiere sie beim Kartenspiel ihr Blatt und überprüfe, was sie hatte und was sie noch brauchte. »Übermäßige Inanspruchnahme von Mittelsmännern und Gesellschaften, die keine andere Daseinsberechtigung zu haben scheinen, als die Rechnungen von einem oder
zwei Haushalten zu begleichen; Bezahlung eher in Gold oder per Kredit als in Silbermünzen; Kunden, die entweder nie persönlich auftreten oder nur nach Einbruch der Dunkelheit. Diese Art von Dingen. Der Erwerb von Gebäuden, unter denen irgendeine Art Keller mit mehreren Stockwerken liegt oder die über alten Krypten errichtet sind, wie dieser Zisterne, durch die wir gekommen sind. Vielleicht Firmenkredite, die durch den Palast geschleust werden, mit Anweisungen, die Echtheit nicht allzu genau zu prüfen?« Sie schwieg und beobachtete sein Gesicht, das keinen Ausdruck zeigte. Sein Schweigen lastete auf ihrem Herzen wie Bleiplatten. Dann sagte er: »Jeder seiner Schlupfwinkel könnte bewacht sein. Kein sicheres Unterfangen, aber wie Sie sagen, führt ein Hinweis zum anderen, und mir ist klar, daß es notwendig ist zu erfahren, was in dieser Stadt vor sich geht - wichtiger als Charles zu finden, wichtiger als Anthea zu finden. Wenn Karolyi hier ist, sind die Verhandlungen noch im Gange.« Hinter ihnen schlug die Uhr auf dem Kaminsims vier; in der Dunkelheit draußen schrien Möwen. Ysidro fuhr fort: »Sie haben bereits einen Katalog der Dinge aufgestellt, die ich in meinen eigenen Arrangements ändern werde, sobald ich wieder in London bin. Forschen Sie bei Ihren deutschen Geschäftsmännern nach Nachrichten über den Erwerb einer großen Menge von silbernen oder versilberten Stangen. Wenn unter den Vampiren dieser Stadt Krieg herrscht - wenn der Meister der Stadt bemüht ist, Ernchester herbeizurufen und gefangenzusetzen -, wird er einen Ort brauchen, wo er ihn festhalten kann. Und suchen Sie ebenfalls«, setzte er hinzu, »nach jemandem, der die umständlichen finanziellen Methoden, von denen Sie gesprochen haben, benutzt hat, um eine moderne Zentralheizung zu kaufen und sie in einem oder mehreren alten Häusern zu installieren.« »Zentralheizung?« Vor ihrem inneren Auge erschien das absurde Bild von einem aus einem Theater im West End entsprungenen finsteren Dracula in seinem Umhang, tief in eine Unterhaltung mit Herrn Hindl über Weichkohlenbrenner, doppelte Heizungsrohre und Anthrazit-Öfen versunken, nur siebenundneunzig Mark zuzüglich Versandkosten ... »Wenn jemand die Macht des Bey herausfordert, kann das sehr gut daran liegen, daß der Bey selbst ... müde geworden ist. Mürbe. Ihm die Zügel entgleiten. Etwas, das man selten mit dem Bey in Verbindung bringt«, setzte Ysidro hinzu, »aber eine Möglichkeit. Es geschieht gelegentlich auch den Untoten. Wenn dies eintritt, leiden Vampire unter Erkältungen und Gliederschmerzen. Der Winter steht vor der Tür. Diese Stadt wird zugeschneit sein. Ein Meister, der um seine Stellung kämpft und sich weigert einzugestehen, daß die Dunkelheit auf seiner Seele lastet, mag sehr wohl zu seiner Bequemlichkeit einen oder mehrere seiner Schlupfwinkel heizen, besonders, wenn es seine Gewohnheit ist, sich Lebender als Dienstboten zu bedienen.« Er hatte die dunkle Straße betrachtet. Jetzt wandte er ihr wieder seine volle Aufmerksamkeit zu - der Schatten eines Gespenstes im Zwielicht. »Sie verstehen schon«, sagte er, »daß Sie, obwohl Hinweise dieser Art uns zu Ernchester oder zum Kern dieser Affäre mit Karolyi führen mögen, Sie Ihren Mann vielleicht nicht finden werden, Mistress.« Sie senkte den Blick, dahin, wo das Mondlicht auf dem Schal lag, den sie über den Armen trug. »Ich verstehe. Als ich gestern nachmittag - Samstag nachmittag - zur Botschaft gegangen bin«, fuhr sie nach einem langem Schweigen mit leiser Stimme fort, als spreche sie mit sich selbst, »hatte ich gehofft, Sir Burnwell würde etwas sagen wie: ›Oh, natürlich, er logiert direkt auf der anderen Straßenseite im Palast von Pera.‹ Und daß der Tag damit zu Ende gehen würde, daß wir bei italienischem Eis auf der Terrasse sitzen und uns im Bett die halbe Nacht lang unsere Erlebnisse erzählen würden.« Sie wickelte die langen Fransen des Schals um ihre Finger, um sie am Zittern zu hindern. »Dann sind Sie noch niemals allein gewesen.« Es war nicht die Bemerkung, die sie von ihm erwartet hatte - wenn sie überhaupt erwartet
hatte, daß er etwas dazu sagte -, doch er hatte recht. Sie nickte, ohne aufzusehen. »Nun, ich hatte viele Jahre das Gefühl, allein zu sein, bevor ich ihn kennengelernt habe. Aber ich vermute, die meisten Kinder fühlen sich einsam. Und ich lernte ihn kennen - ich meine, er ging im Haus von Onkel Ambrose ein und aus -, als ich fünfzehn oder sechzehn war. Ich erinnere mich nicht, mich in einem bestimmten Augenblick in ihn verliebt zu haben, aber ich erinnere mich, daß ich immer wußte, daß ich mit niemandem lieber zusammenleben würde. Ich weiß noch, wie ich geweint habe, weil ich wußte, sie würden niemals zulassen, daß ich ihn heiratete. Ich war noch nicht volljährig. Und er wollte mich nicht fragen. Er wollte nicht, daß ich durch einen Familienzwist verletzt wurde. Er wollte nicht, daß ich seinetwegen mein Erbe verlor.« »Ich vermute, daß Ihr Vater dies auf seine eigene Weise interpretiert hat.« Die leise Stimme war wie der Wind, der durch eine leere Halle streicht. »Was ist geschehen?« »Vater hat mich wegen meines Studiums enterbt. Jamie war fort, in Afrika. Das war während des Kriegs. Jemand ... jemand sagte, er sei tot. Ich hatte schreckliche Angst, weil ich nicht wußte, ob ich es schaffen würde, eine Praxis zu eröffnen. Die meisten Frauen haben es furchtbar schwer. Meine Forschungsarbeit ist einwandfrei, aber Forschung allein würde nicht ausreichen, und ich ... ich wußte nicht, ob Jamie je zurück kommen würde. Aber ohne ihn war es mir wirklich gleich, was aus mir werden würde. Als er zurückkam, hat er mich gebeten, ihn zu heiraten, weil ich kein Geld hatte, und Vater gab seine Zustimmung. Später hat er dann sein Testament wieder geändert.« »Aber Sie haben nie daran gedacht, Ihre Studien aufzugeben?« Der Vampir klang amüsiert. Schockiert hob Lydia den Kopf. »Natürlich nicht!« Sie sah, daß er sie mit einer seltsamen, undeutbaren Intensität seiner schwefelfarbenen Augen anblickte. Einen Moment dachte sie, er werde etwas sagen, doch dann schien er sich wie ein Geist ein wenig von ihr zurückzuziehen. »Wahrhaftig«, sagte er, »wir können nur unser Möglichstes tun. Ich habe das eben nicht gesagt, um Ihre Hoffnung zu zerschmettern, Mistress, sondern nur, um Sie zu warnen, daß nicht jeder Gral unversehrt gefunden wird. Oder überhaupt gefunden wird.« »Nein«, sagte Lydia leise, »ich verstehe. Danke.« Er stand auf. Sie reichte ihm die Hand wie einem Bruder, falls sie einen gehabt hätte, oder einem Freund. Nach kurzem Zögern nahm er sie; seine schmale Hand erschien aus den dunklen Falten seines Plaids wie die Hand des Todes, seltsam leer ohne die dazugehörige Sense. Unter ihrer Berührung spürte sie fleischlose Knöchel und zerbrechliche Knochen, trocken wie gebleichter Bambus. Sie hatte ihr Haar gelöst, während sie ihren Tee getrunken hatte; nun hing es in ungeordneten zinnoberroten Strähnen über ihre Schultern und ihren Rücken, wie Seetang an einem Strand nach dem Sturm. Mit der freien Hand schob sie wieder ihre Brille hoch, die Geste eines Schulmädchens. Als sie später zurückdachte, hatte sie den Eindruck, daß er noch etwas zu ihr gesagt hatte - oder vielleicht hatte er nur ihren Namen ausgesprochen - und daß seine kalte Hand über ihr Gesicht geglitten war und ihr flammendes Haar von ihrer Wange zurückgestrichen hatte. Aber es war nicht eindeutig, so als habe sie es geträumt. Ihr fiel allerdings auf, daß es Ysidro ganz und gar nicht ähnlich sah, sich Gedanken darüber zu machen, ob ihre Hoffnungen zerstört wurden oder nicht. Die Straße der Messingverkäufer lag nach den Worten des Rosenölhändlers, bei dem Lydia sich erkundigte, vier oder fünf Gassen vom Haupteingang des Großen Bazars entfernt. »Oder eine mehr oder weniger«, fügte der Mann in ausgezeichnetem Französisch hinzu; das strahlende Lächeln, das sein dunkles Gesicht teilte, erinnerte sie unweigerlich an eine verfärbte und unvollständige Reihe Klaviertasten. »Aber was will la belle mademoiselle nur mit Messing? Pfui, Messing! Rosenöl, die unvergleichlichen
Essenzen von Damaskus und Bagdad, sind es, die das Herz erfreuen und Gott das Opfer ihrer Süße darbringen. Nur dreißig Piaster ... Dieser elende, betrügerische Sohn eines armenischen Kameltreibers wird Ihnen mehr als fünfzig für einen Messingfingerhut abnehmen, der nicht einmal aus Messing ist, sondern aus dünnem Blech, mit einem Messingüberzug, der nicht länger hält als der Eid eines Griechen ... Sagte ich dreißig Piaster? Fünfzehn!« Lydia lächelte, machte einen Knicks, murmelte »Merci ... merci«. Mit slawischer Hellsichtigkeit erschien Prinz Razumovsky, riesig in seinem exklusiven Zivilanzug von Londoner Zuschnitt, an ihrer Seite, sagte: »Kommen Sie, kommen Sie«, und steuerte die beiden Frauen - Margaret war ein wenig zurückgeblieben, um noch einmal an einem bemalten Salbentöpfchen zu riechen - durch die Menge. »Können wir noch einmal zurückgehen?« fragte Margaret seine Hoheit zaghaft. »Ich meine, wenn wir den Geschichtenerzähler gefunden haben? Solch ein Flakon echtes Rosenöl kostet zu Hause zehn oder zwölf Shilling.« Sie reckte den Hals und versuchte zwischen zwei sich durchdrängenden deutschen Geschäftsmännern und mehreren Soldaten in groben Uniformen hindurch zu dem kleinen Stand mit magischen Reihen von blitzendem Glas zurückzusehen. Der Ladenbesitzer schenkte ihr ein weiteres zahnlückiges Lächeln und ein Zwinkern, so strahlend wie seine Waren. »Meine liebe Miss Potton«, der Prinz lächelte durch seinen goldenen Bart, »zwanzig Fuß von hier können Sie einen Flakon dieser Größe für zwei Piaster kaufen, wenn Sie gleichgültig genug aussehen. Es erfordert etwas Übung. Halten Sie sich in Gedanken das Bild eines Zimmers - nein, eines Gebäudes - voll solcher Flakons vor Augen ... oder, noch besser, stellen Sie sich vor, Sie müßten ein veddras von dem Zeug - ungefähr drei Ihrer Gallonen - einen steilen Hügel hinauftragen und dann zurückgehen und noch einen holen, noch einen und noch einen...« Margaret kicherte und errötete, und jemand anderer rief in fürchterlichem Französisch mit griechischem Akzent: »Madame, Madame, hier sein alle die Parfüm, alle besten Rosen aus Land von Nachtigallen ...!« Das Licht, das das verwirrende Labyrinth des Großen Bazars durchflutete, war nirgendwo direkt, denn es fiel durch Fenster, die hoch oben in die Deckengewölbe eingelassen waren, und in den blaßgrünen Bogengängen wirbelte ein Brei aus den Stimmen jeder Nation zwischen Nordsee und Indischem Ozean. Es gab keine hellen Lichtpunkte, keinen tiefen Schatten, nur ein schwindelndes Kaleidoskop von Farben, das sich für Lydia zu schnell drehte, so daß sie entferntere Dinge nicht erkennen konnte - die Auslagen der Läden, an denen sie entlangschritten, die Gesichter oder die Nationalität der Männer, die aus der Entfernung nur wie Wirbel weißer, dunkler oder farbiger Gewänder schienen. Als sie nahe an ihnen vorbeigingen, rückten sie in ihr Blickfeld: dunkle türkische Männer in Pluderhosen, die auf dem Boden saßen, um zu feilschen, zu reden und kochendheißen Tee aus Gläsern zu trinken; griechische Männer in weiten weißen Gewändern und bunten Kappen oder ihre Frauen in engen, kunstlosen Kleidern, die aus vollem Halse mit den Ladenbesitzern stritten; Armenier in ausgebeulten Hosen; Träger, gleichmütig gebeugt unter menschenunmöglichen Lasten, orthodoxe Priester und Juden mit langen Bärten in schwarzem Gabardine und mit Gebetsschärpen. Kleine Jungen boten schreiend ihre Dienste als Schuhputzer oder Fremdenführer an, oder sie sausten gewichtig durch das Gedränge der Kauflustigen und trugen Messingtabletts, auf denen ein einziges Glas Tee stand. Die Luft roch nach verschwitzter Wolle, Knoblauch, Teppichen, Hunden und Abwässern. In den Gängen, die sich quer durch den Bazar erstreckten, erhaschte Lydia Blicke auf Waren, von denen sie nur erraten konnte, was es war: Mäntel aus Karakul- und Astrachanpelzen, blau-rote Teppiche, Schals, blitzendes Glas, hängende Auslagen mit Silberohrringen, Ballen mit einfachen Wollstoffen neben Gazeschleiern in allen
Regenbogenfarben. jedesmal, wenn ein Bettler jammernd auf sie zutrat - manche von ihnen waren furchtbar entstellt, Mißgeburten, die überall in Europa nur auf dem Jahrmarkt zu sehen gewesen wären -, jedesmal, wenn sie an umherschlendernden Gruppen von Soldaten vorbeikamen, die hinter ihnen herpfiffen und mit den Augen rollten, war Lydia von Herzen froh, daß sie den Prinzen gebeten hatte, als ihr Beschützer und Fremdenführer zu fungieren. Er hatte recht gehabt. Dies war nicht England. Es wäre Wahnsinn gewesen, allein Nachforschungen anzustellen. Die wenigen Stunden nach Ysidros Weggang hatte sie unruhig geschlafen und war das Opfer beunruhigender Träume gewesen. Zum Teil hatten sie im Harem gespielt, in seinen stinkenden kleinen Zellen mit seinen schmalen Fenstern, die keinen Blick auf die Stadt erlaubten, auf das Meer, ins Sonnenlicht, wenn es Tag gewesen wäre. Aus den Wänden sickern ihr Kleingeist, ihre Langeweile und ihre Tränen. Sie hatte geträumt, daß sie in dieser Finsternis umherwanderte und jemanden suchte. Die Zimmer um sie herum waren immer kleiner geworden, während sie die Gegenwart eines Wesens gespürt hatte, das sehr still, wartend auf einem geborstenen und stinkenden Diwan lag und auf ihre Schritte lauschte, mit einem Lächeln auf dem, was vor langer Zeit einmal sein Gesicht gewesen war. Einmal, sehr kurz, hatte sie das fragmentarische Bild eines gotischen Turms im Gewitter gesehen. Grell wie Bogenlicht zuckten die Blitze über einem Meer wildbewegten Heidekrauts, und störender Regen fiel in einen verlassenen Hof - ein Regen, der irgendwie das weiße Kleid und die rabenschwarzen Locken der Frau nur benetzte, die am Tor des Turms stand und wartend über die Wildnis der Heide blickte. Lydia war im Schutz eines verfallenen Schuppens auf der anderen Seite des Hofs überhaupt nicht naß geworden, obwohl sie die regengetränkte Erde riechen konnte. Sie vermutete, daß die Frau auf einen Reiter wartete. Als sie den Kopf wandte, sah sie Ysidro in der Nähe stehen, wie vorhin auf dem Balkon in den Cut und die gestreiften Hosen gekleidet, das Plaid fest um die Schultern geschlungen. Er hielt den Kopf gebeugt, seine farblosen Augen waren geschlossen wie in tiefer Konzentration. Sein Gesicht war wie ein Totenschädel. Das Traumbild verlosch wie eine flackernde Kerze, und als Lydia erwachte, hörte sie Margaret weinen, erstickt, wütend und verletzt. An diesem Morgen hatte Margaret ihr sehr wenig zu sagen und wollte ihr nicht in die Augen sehen. Seit sie sich mit Razumovsky zu einem späten Frühstück getroffen hatten, hatte sie all ihre Bemerkungen an den Prinzen gerichtet, über seine Galanterien gekichert und fröhlich auf seine Bemühungen reagiert, sie aus der Reserve zu locken. Die Geschichtenerzähler schienen überall zu sein. Sie saßen auf schmutzigen Teppichen und Decken, wiegten sich im Rhythmus ihrer Geschichten, breiteten die Arme aus und beschworen mit ihrer Stimme Donner, Wut, Liebe und Staunen. Kinder und Jugendliche saßen um sie herum, und selbst erwachsene Männer und einige wenige schwanzge kleidete Frauen standen dabei, in der Haltung von Menschen, die es nicht eilig haben zu gehen. Lydia schlenderte auf einen von ihnen zu und beäugte kurzsichtig die Waren an den umliegenden Buden. Lady Clapham hatte ihr erzählt, daß jeder der Männer seinen Stammplatz hatte, und der Mann, dessen Revier die Straße der Kaffeehändler war, würde genausowenig daran denken, in die Straße der Pantoffelverkäufer zu wechseln, wie sie selbst auf die Idee gekommen wäre, uneingeladen in das Haus ihrer Nachbarin in Oxford zu spazieren und sich ihres Nachthemds und ihres Betts zu bemächtigen. Man tat es einfach nicht. Als sie sich ein Stück in die Menge schob und versuchte, an den dunklen Rücken der Griechinnen vorbeizusehen, legte ein Mann ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Madame Asher?« Sie drehte sich um und mußte ein wenig zu dem Adonis-Gesicht und den schönen dunklen Augen eines großen Mannes aufschauen, der sich in seinem tabakfarbenen
Anzug wie ein Athlet bewegte. Auf diese Entfernung konnte sie den kurzgeschnittenen Schnurrbart erkennen, die langen Wimpern und die Perlenknöpfe an seinen Handschuhen, als er sich verbeugte, um ihr die Hand zu küssen. Er trug eine goldene Kra wattennadel mit einem geflügelten Greif, der sie aus einem einzigen Rubinauge böse ansah. »Ich habe Ihren Mann gesehen«, sagte er ruhig, und während sie noch schockiert den Atem anhielt, fügte er hinzu: »Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Baron Ignace Karolyi, vom Kaiserlichen Diplomatischen Dienst. Können wir reden?« Er führte sie aus der Menge in das Halbdunkel vor einer Ladenfront, wo ein ältlicher Grieche Pantoffeln aus buntem Leder nähte und ihnen - äußerst untypisch für einen Händler des Großen Bazars - nicht einen Blick gönnte. Lydia dachte, daß Karolyi ihn im voraus für diese Nichtbeachtung bezahlt haben mußte. »Lebt er?« Karolyi nickte. Sie wußte, daß er mindestens fünfunddreißig sein mußte, aber er wirkte jünger und strahlte eine Art ernster Eindringlichkeit aus, wie ein jugendlicher Charmeur, der seinen Charme beiseite gelegt hat, um von wichtigen Dingen zu sprechen. »Obwohl ich nicht dafür garantieren kann, wie lange noch. Er ist in den Händen von...« Er machte eine Kunstpause und studierte ihr Gesicht, wie jemand, der mit sich selbst darüber zu Rate geht, wieviel von dem, was er sagt, man ihm glauben wird. Doch sie erkannte, daß er sie in Wirklichkeit beobachtete und zu erraten versuchte, wieviel sie wußte. Wie Ysidro beim Picquet, dachte sie, wenn er einen kurzen Blick auf die Karten aus dem Stock wirft und sich fragt, welche er aufnehmen soll und welche ihm nichts nützt. Ihr Herz schlug heftiger, und sie dachte: Jamie wird sterben, wenn du das hier
verpfuschst. »Er ist in den Händen eines Mannes namens Olumsiz Bey«, fuhr Karolyi einen Moment später fort. »Ein Türke. Ein wahrhaft böser Mensch. Erzählen Sie niemandem davon«, setzte er schnell hinzu, als Lydia die Hände vor den Mund schlug und ihre Augen aufriß, so wie es Tante Lavinia im allgemeinen tat, bevor sie entsetzt aufschrie über die Anwesenheit todeswütiger Spinnen oder die Perfidie der Nachbarskinder. »Was genau hat er Ihnen erzählt, Mrs. Asher, das Sie veranlaßt hat, nach Konstantinopel zu kommen, um ihn zu suchen?« Er muß mit Lady Clapham gesprochen haben. Sie fragte sich, wieviel diese respektgebietende Frau für angebracht gehalten hatte, ihm zu erzählen - wieviel sie nicht für der Mühe wert gehalten hatte zu verbergen. »Oh, wo und wann?« Sie erwartete keine ehrliche Antwort auf die Fragen und stellte sie, um Zeit zum Nachdenken zu schinden, doch die Panik und Verzweiflung, die sie in ihre Stimme legte, brauchte sie nicht zu spielen. Sie hatte sich nie für eine Schauspielerin gehalten, aber jede junge Dame aus guter Gesellschaft wußte, wie man Freude oder Schrecken übertreibt, oder jedes andere Gefühl, das verlangt wurde. Eine Reihe von Unterredungen mit Margaret im Lauf der vergangenen Woche würden ihren Auftritt sicherlich verbessern. Sie schlug die Hände vor der Brust zusammen. »Haben Sie mit ihm gesprochen? Sah er gut aus?« Hat er sich mit seiner Abteilung in Verbindung gesetzt? Wissen Sie, daß ich mit
Mr. Halliwell zu Abend gegessen habe? Warum in aller Welt wäre ich wohl nach Konstantinopel gekommen, wenn ich nicht wüßte, in welcher Gefahr er schwebt? »Wir hatten keine Gelegenheit, miteinander zu sprechen.« Karolyis Stimme klang beruhigend, ein schön modulierter Tenor mit einer winzigen Andeutung eines mitteleuropäischen Akzents. Eine äußerst vertrauenerweckende Stimme. »Er schien unverletzt, obwohl, wie ich sagte, nicht vorhersehbar ist, wie lange noch. Deshalb müssen wir beide reden. Als Sie gestern abend vor mir geflohen sind, fürchtete ich, irgendein Gerücht oder eine Verleumdung sei an Ihre Ohren gedrungen. Ich versichere
Ihnen, Madame...« Er ließ seine Stimme ernst und tief besorgt klingen. »Ich versichere Ihnen, solche Gerüchte sind Übertreibungen, genährt von der Feindschaft unserer beiden Länder und dem Mißtrauen von Männern, die nichts als Gefahren sehen, wo immer sie hinschauen.« »Vor Ihnen geflohen?« Lydia nahm ihren Mut zusammen, zog die Brille aus der Handtasche und setzte sie auf, um ihn anzublinzeln. »Gestern abend? Waren Sie gestern abend auf dem Empfang im Palast?« Unter dem dünnen Schnurrbart zuckte sein Mund. Für einen Moment hatte sie ihm den Wind aus den Segeln genommen. Mit zwei schnellen Bewegungen seines Zeigefingers glättete er den Schnurrbart, und Lydia bemerkte den guten Schnitt der hellen Lederhandschuhe, französisches Glacéleder zu sechs Shilling das Paar. »Baron!« Razumovskys graugoldene massige Gestalt tauchte um die Ecke eines Standes auf und schob sich durch die Menge. Margaret trippelte hinter ihm her. Lydias Brille verschwand augenblicklich aus ihrem Gesicht und in den Falten ihres Kleides. »Sie sind von Ihrer Stippvisite in London zurück, wie ich sehe.« »Prinz.« Karolyi verbeugte sich genauso tief, wie es ein russischer, kein englischer Prinz für angemessen halten würde. »Es war in der Tat ein kurzer Besuch, aber man muß sich kleiden, Sie verstehen.« Er stieß ein ziemlich leeres Lachen aus und schnippte kurz gegen die Revers seines Anzugs aus der Saville Row. »Sind Sie mit Mrs. Asher hier?« Er glaubt, daß er mich überrascht hat, dachte Lydia schnell. Wenn ich Karolyi jetzt
hinhalte, wird er erraten, daß ich Zeit hatte, mich darauf vorzubereiten. »Würden Sie uns einige Augenblicke entschuldigen, Euer Hoheit?« Als der Russe wegging, drehte sie sich leicht zur Seite, legte die Hand auf den Rücken und signalisierte ihm - sie hoffte, er sah es - mit gespreizten Fingern ›fünf Minuten‹. »Dem, was Mr. Halliwell sagte, entnehme ich, daß Sie und mein Mann nicht gerade Freunde gewesen sind«, sagte sie schnell. Sie ließ ihre Stimme gehetzt und atemlos klingen, damit sie nicht vor Unsicherheit und Angst ins Stammeln geriet. »Aber eigentlich ist doch das Ganze eine ... eine Art Bruderschaft, nicht wahr? Sie sind alle im selben Geschäft, gleich, auf welcher Seite Sie stehen.« Sie zog ihre Brille wieder hervor und setzte sie auf, denn sie war sich sehr wohl bewußt, daß sie ihrem Gesicht einen Ausdruck gelehrter Weltfremdheit verlieh. »Vielen, vielen Dank, daß Sie es mir mitgeteilt haben. Ich wußte - ich wußte -, daß Cousine Elizabeth sich nicht geirrt haben konnte!« »Cousine Elizabeth?« »Cousine Elizabeth aus Wien«, sagte Lydia, als sei sie milde erstaunt, daß Karolyi ihre Familie nicht kannte. »Donnerstag abend hat sie meinem Mann zwanzig Pfund geliehen, damit er den Orientexpress nach Konstantinopel nehmen konnte. Sie ist seine Cousine genauer gesagt, eine seiner Cousinen zweiten Grades -, und sie lebt in einer der Vor städte, den Namen habe ich vergessen ... Jedenfalls habe ich sie angerufen, als Mr. Halliwell mir die Nachricht meines Mannes gab...« »Eine Nachricht?« Die wohlgeformten Augenbrauen zogen sich zu einem Stirnrunzeln zusammen. »Darin bat er mich, nach London zurückzukehren. Er teilte mir mit, er werde weiterfahren, er könne mir nicht sagen, wohin. Mr. Halliwell hat sein Bestes getan, um mich zu überzeugen, zurückzufahren, und ich habe ihn in dem Glauben gelassen, daß ich wirklich zurückfahre, aber ich wußte, daß mein Mann in irgendeiner Gefahr schwebte! Ich wußte es!« Wieder knetete sie ihre Hände und betete, daß es nicht zu offensichtlich war, daß sie am ganzen Körper zitterte. »Warum waren Sie in Wien?« Er ging das Ganze in Gedanken durch und versuchte, die Teile zusammenzusetzen. Seit sie erriet, was hinter Ysidros undurchdringlicher Miene lag, fiel es ihr leicht, einen normalen menschlichen Gesichtsausdruck zu interpretieren. Sie riß die Augen auf. »Er hat nach mir geschickt.« Was könnte es sonst für einen Grund gegeben haben? schien ihr Tonfall zu fragen. Und als Karolyi erfreulich skeptisch
dreinschaute, erklärte sie: »Er hat telegrafiert und mir mitgeteilt, daß da einige medizinische Notizen seien, die analysiert werden müßten. Ich bin Ärztin, wissen Sie«, setzte sie hinzu, schob ihre Brille hoch und blickte so weltfremd und harmlos, wie sie nur konnte. »Ich forsche am Radcliffe-Krankenhaus.« »Und Ihr Fachgebiet ist welches?« »Seltene Blutkrankheiten.« Es war alles andere als das, aber das konnte Karolyi nicht wissen, außer er las medizinische Fachzeitschriften. Genau aus diesem Grund hätte man nach ihr geschickt, wenn es um Vampire ging. Offensichtlich las er sie nicht, denn ein verstehender Blick dämmerte in seinen Augen auf. »Ah ja.« »Doch als ich in Wien ankam, erzählte mir Mr. Halliwell, etwas Schreckliches sei geschehen, und Dr. Asher habe überstürzt die Stadt verlassen müssen, und er gab mir seine Nachricht, in der es hieß, ich solle nach London zurückkehren. Und ich wußte, daß er in irgendeiner Gefahr schweben mußte, besonders, nachdem Cousine Elizabeth mir erzählt hatte, daß er Geld von ihr geborgt hatte, um in aller Eile nach Konstantinopel zu fahren. Und jetzt sagen mir alle, daß er verschwunden ist, und ich weiß nicht, was ich tun soll! Oh, Baron Karolyi, wenn Sie etwas wissen, mir irgendwie helfen können...« Er sah verärgert aus, und das zu Recht, dachte sie, doch er verbarg es gut und tätschelte ihre Hände. »Beruhigen Sie sich, Mrs. Asher, so beruhigen Sie sich doch. Was haben Sie bisher über seinen Aufenthaltsort herausfinden können?« Das, dachte sie, war es, was er erfahren wollte. Dies, und wieviel sie selbst wußte. »Nichts!« jammerte sie. »Ich bin hierher zum Marktplatz gekommen, weil er, soviel ich weiß, hier in der Nähe verhaftet wurde. Ich dachte, vielleicht hätten einige Ladenbesitzer etwas gesehen oder wüßten etwas...« Sie nahm ihre Brille ab und zwinkerte aus feuchten Augen zu ihm hoch. »Prinz Razumovsky war so freundlich, mir seine Begleitung anzubieten, da er die Sprache versteht.« Karolyi rümpfte ganz leicht die Nase, und Lydia überlegte, daß Lady Clapham die amourösen Neigungen des Prinzen wahrscheinlich richtig eingeschätzt hatte, wenn Karolyi bereit war zu glauben, daß er hierherkommen würde, um eine Frau zu begleiten. »Hören Sie zu, Mrs. Asher«, sagte er, senkte düster die Stimme und beugte sich ein wenig hinunter, um ihr in die Augen zu sehen. »Seine Hoheit mag offiziell auf Seiten der Engländer stehen, aber glauben Sie mir, er ist kein Mann, dem man vertrauen kann. Was immer Sie erfahren sollten - selbst kleine Einzelheiten, selbst wenn Sie Ihnen lächerlich erscheinen -, lassen Sie es mich sofort wissen. Sie und ich können unsere Quellen zusammenlegen; gemeinsam können wir Ihren Mann finden.« Du meinst, du kannst die Schlupfwinkel des Meisters von Konstantinopel finden, dachte sie einen Augenblick später, als sie seinen wohlgeformten braunen Schultern nachsah. Bei Razumovskys Näherkommen war er in der Menge verschwunden. Auf jeden Fall, überlegte sie, während sie sich zittrig und dankbar ihrem Retter zuwandte, hatte sie sich nicht schlecht geschlagen. Bei ihrem ersten Besuch im Großen Bazar war sie in der Lage gewesen, nahezu ohne Vorbereitung einem fast völlig Fremden einen gewaltigen Bären aufzubinden. Als sie sich anschickten weiterzugehen, stand der Ladenbesitzer, der bis dahin in einer Ecke gesessen und Pantoffeln genäht hatte, auf, kam zu ihr herübergewatschelt und heftete ihr wortlos eine billige Sicherheitsnadel aus Messing an den Kragen, auf der eine blaue, mit einem Auge bemalte Glasperle steckte. Dann lächelte er, verbeugte sich und erklärte Razumovsky lang und breit etwas. »Gegen den bösen Blick«, sagte der Prinz, als er Lydia wegführte. In der Straße der Messingverkäufer gab es, neben unzähligen winzigen Werkstätten, wo alte Männer hämmerten und alles von Tellern und Schachteln bis zu riesigen Teekannen mit langen Tüllen und lebensgroßen Hirschen herstellten, vier Verkäufer von Feigenpaste, einen Mann, der aus einem gewaltigen Tonkrug auf einem Handkarren
Limonade ausschenkte, einen Mann, der Sesamkrokant verkaufte, und ein Regiment von Bettlern. Keinen Geschichtenerzähler. »Helm Musefir?« sagte der Besitzer des größten Ladens in der Gasse zur Antwort auf Razumovskys Frage. Er war ein kleiner Mann mit einem eisengrauen Bart, der ihm bis zur Taille hing. Er hatte die altmodische Kleidung trotz der Reformen nicht aufgegeben. Seine Pluderhosen waren von prächtiger Weite und Farbe, seine Schärpen mit Silberfransen besetzt, und seine Pantoffeln waren aus purpurrotem Maroquin-Leder und an der Spitze extravagant nach oben gebogen. Sein Turban war grün und wurde von einer riesigen Spange aus glänzendem Messing zusammengehalten, die über seinem braunen, gutmü tigen Gesicht leuchtete wie eine Werbung für seinen Laden. Während er sprach, ließ er eine Gebetsschnur durch die Finger gleiten. »Seit Montag ist er fort. Der Cousin meiner Frau hat einen Freund, der im Zimmer über ihm wohnt; er sagt, daß er nicht in seinen Räumen gewesen ist, weder er noch Izahk, der armenische Junge, der sich um ihn kümmert und Besorgungen für ihn macht.« »Könnte es einen Grund dafür gegeben haben?« fragte der Prinz. Als der Messingverkäufer zögerte, deutete Razumovsky auf Lydia und erklärte auf französisch, das die meisten der Verkäufer fließend zu sprechen schienen: »Diese gute Madame ist auf der Suche nach einer Nachricht, die der hakâwati shaîr vielleicht für sie gehabt hat, und jeder Hinweis auf Musefirs Aufenthaltsort wäre für sie von größtem Wert.« »Ah.« Der Ladenbesitzer verbeugte sich leicht, als Razumovsky das Wort Wert betonte. »Wahrhaftig, ich weiß es nicht. Würde die gute Dame so freundlich sein, etwas hiervon anzunehmen...« Er reichte ihr einen Messingteller mit türkischem Honig, Maßgrün und mit einem Zuckerschleier bestäubt. »Der Freund des Cousins meiner Frau ist auch ein Freund der Schwester des Hausbesitzers, und diese sagt, daß der hakâwati shaîr weder Schulden hatte noch mit der Miete im Rückstand war. Auch hätte der Onkel von Izahk, dem Jungen, der dasselbe Kaffeehaus besucht wie mein Schwager, es erwähnt, wenn der alte Mann krank gewesen wäre. Ich weiß es also nicht.« Natürlich, dachte Lydia und wischte sich den Puderzucker von den Fingern, während Seine Hoheit sie durch die von Menschen wimmelnden Gänge des Bazars zurückführte, hatte niemand James selbst gesehen oder bemerkt. Das war James' Art. Doch es entging ihr nicht, daß James, wenn er Samstag abend in Konstantinopel angekommen war, durchaus am Sonntag den hakâwati shaîr Helm Musefir aufgesucht haben konnte - dem letzten Tag, an dem der alte Geschichtenerzähler gesehen worden war.
SECHZEHN
Nach den verwirrenden Gerüchen und Farben des Großen Bazars schien Lydia die Teepause im Hotel Bristol, als sei sie durch eine Tür getreten und finde sich plötzlich in Südfrankreich wieder. Für Lydia wurde dieser Eindruck noch dadurch verstärkt, daß sie die alte Stadt nicht sehen konnte, obwohl das Bristol über eine exzellente Aussicht auf das Goldene Horn verfügte. Für sie endete die Welt einen Meter hinter Herrn Hindls breiten Schultern in einem lichtdurchflossenen, undurchschaubaren Meer, durch das weißgekleidete Kellner schwammen, deren Silbertabletts in der Sonne des Spätnachmittags wie seltsame Schätze glänzten. Frauen, die modische pastellfarbene Kleider trugen, plauderten bei Ceylontee und crème brûlée auf französisch und deutsch mit gut gekleideten Gentlemen. Ein kleines Orchester spielte Mendelssohn. Drei Kinder in Kniehosen und gestärkten weißen Hemden leckten Wassereis unter dem wohlwollenden Blick einer enggeschnürten Frau in einem Kleid aus schwarzem Wollstoff. Es war über alle Maßen erholsam. Lydia wußte, daß am Fuß des Hügels, auf dem Pera lag, die Armenier nach der harten Vergeltungsaktion gegen ihre Proteste verkohlte Balken und zerbrochenes Glas wegräumten. Männer wie Razumosvky und Karolyi schoben und rangelten im Hintergrund um Positionen, verkauften den Türken oder den Griechen oder den Arabern Waffen für ihre Vorbereitung auf einen Krieg, von dem jeder wußte, daß er kommen würde, und sagten sich, daß sie all das taten, um den Frieden zu bewahren. In jedem Haus in der Altstadt lebten Frauen in häßlichen kleinen Zimmern wie denen des Harems, hinter Gittern, die nicht nur die Blicke der Männer, sondern auch die Sonne selbst ausschlossen, und niemand erhob die Stimme, um für sie zu sprechen. Und unter dieser Oberfläche bewegten sich noch dunkle Schatten. »Vielleicht ist es nur die Tatsache, daß ich ein Neuling hier bin, die mir das Gefühl gibt, als sei ich nicht nur an einem anderen Ort, sondern auch in eine andere Zeit geraten.« Lydia zwinkerte aus ihren braunen Augen in das goldene Licht und nippte an ihrem Tee. Ihre zierlichen Finger steckten in Halbhandschuhen aus beigefarbener Spitze. »Manchmal scheint mir, daß es die kleinen und nicht die großen Dinge sind, durch die ein Land sich vom Alten zum Neuen verändert, wie das Osmanische Reich es gerade tut. Wie zum Beispiel Herde und Öfen zu kaufen, statt die Häuser mit Kohlebecken zu heizen...« Nach drei Tagen in dem Haus an der Rue Abydos wußte Lydia alles über Kohlebecken. »Ich vermute, es gibt immer noch Leute, die bei Ihnen mit Händen voll Gold bezahlen.« Hindl lachte leise und tief. »Ha ha, genau das, Frau Asher. Hier im geheimnisvollen Orient findet man die seltsamsten Dinge! Wissen Sie, kürzlich wurde ich gerufen, um mich mit einem reichen Mann zu beraten, der dem Hospital, das zur Sultan-Mehmed-Moschee gehört, Wasserleitungen spenden wollte...« Die folgende Geschichte nahm fünfzehn Minuten in Anspruch und hatte nicht das geringste mit Öfen, seltsamem Finanzgebaren oder möglichen Kriegen unter den Untoten der Stadt zu tun, aber dennoch fand Lydia sie faszinierend wegen des Gegensatzes zwischen dem Alten und dem Neuen. Abgesehen von den eher plumpen Versuchen ihres Gastgebers, humorvoll zu sein, und seinen häufigen Ratschlägen, was sie als europäische Dame zu tun und zu lassen habe, fiel es ihr nicht schwer, Herrn Hindl zuzuhören, wie er über sein Lieblingsthema sprach, vielleicht, weil ihre eigenen Interessen immer zum Technischen tendiert hatten. Zumindest war er ein Geschäftsmann mit Kontakten in einer der fremdartigsten und vielgestaltigsten Städte der Welt und kein einundzwanzigjähriger Aristokrat, dessen Welt mit der Jagd auf Jungfüchse im November begann und mit dem Ende der Moorhuhnjagd endete. Hindl brauchte nur wenig Anstoß, um ihr recht bereitwillig von seinen Kunden zu erzählen, von den manchmal merkwürdigen Zahlungsmethoden, die in einem Reich zu
finden sind, dessen Herrscher den Bau eines elektrischen Dynamos verboten hatte, weil das Wort zu sehr wie ›Dynamit‹ klang und vielleicht die Anarchisten ermutigen könnte ... und natürlich eine ganze Menge über die unterschiedliche Brennzeit von Weichkohle und Anthrazit und bestimmte Dampföfen, die man nur bei amerikanischen Herstellern, aber nicht aus Berlin beziehen konnte. »Ah, es ist eine seltsame Stadt, Frau Asher, eine seltsame Stadt!« Vorwurfsvoll schüttelte er seinen plumpen Finger. »Und keine Stadt, in der eine Dame allein umhergehen sollte! Ich hoffe, Sie sind keine dieser Suffragetten, von denen man soviel hört, die Hosen tragen und Zigaretten rauchen wollen und uns arme Männer zwingen, zu Hause zu bleiben und uns um die Babys zu kümmern, ha, ha!« Lydia, die weit eher James ein Kind anvertraut hätte als ihrer Freundin Josetta oder, Gott behüte, sich selbst, einfach aus Sorge um das Wohlergehen des armen Wurms, sah davon ab, das laut zu sagen. Statt dessen lenkte sie das Gespräch unauffällig zu Herrn Hindls Abenteuern zurück - was ihn ohnehin weit mehr interessierte. Nach einer Weile fragte sie mit ehrlichem Interesse: »Es gibt also einige Kunden, die überhaupt nicht persönlich auftreten? Die sich selbst dann noch weigern, Umgang mit Ungläubigen zu pflegen, wenn es um ihren eigenen Komfort geht?« »Meine liebste Frau Asher«, lachte Hindl leise, »es gibt Legionen davon!« Er goß ihr noch eine Tasse Tee ein. Zweimal hatten die Kellner schon heißes Wasser nachgefüllt, und einmal hatten sie dem Ofenvertreter einen zweiten Teller italienisches Eis gebracht. Hindl war ein gedrungener blonder Berliner von etwa fünfunddreißig Jahren, der seine Frau und zwei Söhne in Deutschland zurückgelassen hatte. Er war einer von ungefähr einem Dutzend Männer gewesen, die Einladungen ausgesprochen hatten; wie sie wußte, ohne daß einer von ihnen die geringste unschickliche Absicht gehabt hätte, einfach, weil sie ein neues Gesicht in einer relativ kleinen westlichen Gemeinde und - wenn sie ihre Brille nicht trug - einigermaßen hübsch war. Sie war froh gewesen, als Lady Clapham nach kurzer Überlegung erklärt hatte, es sei ›vollkommen in Ordnung‹, wenn sie Miss Potton nicht mitnahm; und noch froher, als die Frau des Attachés angeboten hatte, das Mädchen statt dessen zum Tee und Kartenspiel in die Botschaft einzuladen. Margaret hatte - typischerweise - die Einladung abgelehnt. »Frau Asher, wenn Sie etwas über unmögliche Kunden hören wollen, sollten Sie mit Jacob Zeittelstein reden. Also, er hat vielleicht einen exzentrischen Kunden! Riesiges altes Labyrinth von einem Palast, irgendwo in einem Gassengewirr im Herzen der Stadt, Kreditbriefe von wer weiß was für Gesellschaften und Firmen, kann nur unter bestimmten Bedingungen arbeiten, will sich bei Tageslicht überhaupt nicht mit ihm treffen, will ihn die Hälfte der Zeit unter überhaupt keinen Umständen treffen, sondern schickt diese ... diese Schlägertypen, die anscheinend nichts anderes können, als Türen aufzuhalten; will sich mit ihm weder freitags, samstags noch sonntags treffen, überlegt sich alles anders: reißen Sie das heraus, machen Sie es noch einmal, aber schnell, schnell, schnell...« Er lachte wieder und schlürfte seinen Tee. »Wenn der gute alte Jacob von dort kommt, rauft er sich die Haare und wünscht sich, er hätte nie etwas von Ammoniak-Kühlanlagen gehört.« »Kühlanlagen?« fragte Lydia. »Kühlung?« Ysidro lehnte sich ein wenig in seinem Stuhl zurück und zog das weiche Kaschmirplaid enger um die Schultern. Ein Reflex, dachte Lydia, übriggeblieben aus der Zeit, als er noch Körperwärme zu bewahren hatte. Sie fragte sich, ob der Reflex des Zitterns erhalten blieb. Wie wäre es, dachte sie unbehaglich, sich eines Körpers bewußt zu sein - und unfähig, das Bewußtsein zu verlieren -, der langsam von der Kälte des Todes verzehrt wurde? »Vielleicht will er Blut in Flaschen aufbewahren?« schlug Margaret vor. »Damit er es nicht ... von Menschen nehmen muß?«
»Wenn es eher der Tod des Opfers als das Blut selbst ist, was den Vampir ernährt, wäre gekühltes Blut sinnlos«, gab Lydia zurück und hätte sich dann am liebsten auf die Zunge gebissen, als Margaret rot anlief und Ysidro einen entschuldigenden Blick zuwarf, als wolle sie sagen: Beachte sie gar nicht, sie versteht es nicht. Der Vampir schien weder Lydias Fauxpas bemerkt zu haben noch Margarets Reaktion auf die mögliche Verletzung seiner Gefühle. »Man hat es versucht«, sagte er ruhig. »Mehr aus praktischen denn aus humanitären Gründen, muß ich zugeben. Wenn man Blut kühlt, gerinnt es noch schneller und verändert sich auch in seiner Zusammensetzung. Auf jeden Fall kann ich mir in einer Stadt, die von Hunden so wimmelt wie Konstantinopel, kaum vorstellen, daß jemand Blut zum Zweck bloßer physischer Ernährung lagert.« »Wissen Sie, ich habe mich schon gefragt...«, begann Lydia und unterbrach sich dann schnell, denn ihr wurde bewußt, daß ihre medizinische Neugier bezüglich des Themas, ob Ysidro sich von nichtmenschlichen Blutquellen nährte, vielleicht extrem taktlos war. Die gelben Augen berührten ihren Blick, nur einen winzigen Augenblick lang, doch das Wissen um ihre Frage, ihre Verwirrung und Scham hüpfte darin wie ein ironischer Stern. Aber er sagte nur: »Ich habe nie gehört, daß Kälte als solche den Untoten schaden oder sie bis in die Nacht weiterschlafen lassen kann. Die Vampire von St. Petersburg wohnen in Palästen, die im Winter leer stehen, während der größte Teil des Hofstaats nach Süden auf die Krim geht, und stehen auf, jagen und schlafen wie gewöhnlich. Es ist allerdings in der Zeit der Weißen Nächte«, fügte er hinzu und wandte sich mit derselben distanzierten Belustigung an Lydia, »nicht leicht, ein Untoter zu sein. Doch im Winter gehen sie von drei Uhr nachmittags an nach draußen, und der Schlaf überwältigt sie erst um acht oder neun am Morgen. Eine Kälte, die einen Lebenden töten würde, spüren sie nicht, obwohl es wahr ist, daß der Meister von Petersburg davon gesprochen hat, für immer auf die Krim zu ziehen, was mir verrät, daß er anfängt, müde zu werden, und daher den Schmerz der Kälte in den Gelenken spürt. Dennoch...« Er wandte ein wenig den Kopf, um die Berge von Büchern und Papieren zu betrachten, die auf dem Tisch um die Öllampen herum aufgestapelt waren. Madame Potoneros hatte sie auf Lydias Geheiß hereingebracht. Ein Botschaftsangestellter hatte das Material am späten Nachmittag abgeliefert, mit einer Notiz von Lady Clampham: Ich will nicht fragen,
wozu Sie sie brauchen, meine Liebe, aber wenn Sie irgend etwas herausfinden, das wir wissen sollten, geben Sie es bitte weiter. Die roten sind von der Osmanischen Bank; die grauen von der Deutschen Bank. Es tut mir leid, aber wir müssen sie am Morgen zurückhaben. Das wir amüsierte sie, weil es ihr endgültig klarmachte, wer in Wirklichkeit den Geheimdienst - soweit es ihn gab - in Konstantinopel leitete. »Es wird interessant sein festzustellen, wie tief die Klauen des Meisters der Stadt sich in das Fleisch des Reiches gegraben haben.« »Wenn wir den Bey finden.« »Oh, das werden wir.« Ysidro erhob sich und legte das Plaid beiseite, wobei er sein Gesicht vom Licht abwandte. Margaret trippelte fort, um seinen Umhang zu holen, als fürchte sie, Lydia werde diese Aufgabe an sich reißen, die sie als ihr Recht betrachtete. »Geld entwickelt ein Eigenleben, sobald es in die Adern dieses Körpers gedrungen ist, den man Finanzwesen nennt. Alle Meister der großen Städte sind sich dessen bewußt und gehen sicher, daß sie über große Summen verfügen, nicht verdeckt, aber getarnt als etwas anderes. Dazu sind sie die Meister. Ich möchte die Vermutung wagen, daß der Bey seit dem Armeecoup im Juli sein Vermögen der alten Art - versteckte Goldreserven, Investitionen in Landsitz - in einer der zeitgemäßeren Art verwandelt. Es ist sein Schutz vor dem Eindringling, wenn es einen Eindringling gibt, oder vor einem rebellischen Zögling. Sein Schutz vor den Umwälzungen unter den Lebenden.« »Und sein Herausforderer dürfte diese Kapitalbasis noch nicht haben.« »Ich bezweifle es. Die meisten Zöglinge erkennen die Notwendigkeit solcher unsichtbaren
Festungen nicht. Sie glauben, daß Unsterblichkeit allein genügt.« Als er nach dem Umhang griff, den Margaret ihm hinhielt, sah Lydia, daß der Goldring, den er trug, sich so um seinen Finger gedreht hatte, daß der Stein nach innen, zur Handfläche zeigte, so wie Ringe es tun, wenn das Fleisch sich durch Kälte, Alter oder Tod von ihnen zurückzieht. »Was mich angeht, werde ich Anthea und Charles verfolgen, so wie die Untoten die Verfolgung aufnehmen; in den Straßen lauschen, wo die Armen wohnen, und die Orte aufsuchen, die die Lebenden nicht betreten. Wenn James noch lebt, wie Karolyi gesagt hat, dann weil der Bey etwas von ihm will, und ich vermute, daß er ihn als Köder braucht, entweder für Charles oder für Anthea. Karolyi schachert noch und bietet an, was er zu verkaufen hat - die Unterstützung und den Beistand seiner Regierung in diesen unsicheren Zeiten - während er herauszubekommen versucht, was er sonst noch für sich herausschlagen kann.« »Aber warum...«, begann Lydia hilflos, und Ysidro schüttelte den Kopf. »Wir bewegen uns in einem Nebel, der nicht nur das Werk des Bey ist«, sagte er leise. »Es ist noch etwas anderes im Gange, bei dem es um mehr geht als um einen möglichen Herausforderer oder einen Eindringling. Vielleicht Verrat unter den Zöglingen des Bey oder ein außergewöhnlicher Eindringling. Jeder von uns muß auf seine Weise danach suchen. Es mag sein, daß Sie als Ärztin etwas über die Kälte und ihren Zusammenhang mit dem untoten Zustand herausfinden, das selbst die Untoten nicht wissen. Später können wir, wie die Gralsritter, die sich auf dem Wege treffen, unsere Informationen austauschen und sehen, ob jeder von uns beim anderen lesen kann und welche Schlüsse wir daraus gemeinsam ziehen können. Verlieren Sie nicht die Hoffnung.« »Nein«, sagte Lydia und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Nein. Wenigstens weiß ich, daß Janes am Leben ist - wenn Karolyi die Wahrheit gesagt hat. Obwohl mir aufgefallen ist, daß er sich gehütet hat zu sagen, wann er James gesehen hat. Es kann - nun - Tage hergewesen sein. Aber wir können wirklich nur unser Möglichstes tun.« »Eine Bemerkung, die der Weisen von Athen würdig ist«, sagte der Vampir ernst, streckte die Hand aus und zog Lydia näher zu sich heran. »Ein Wort unter vier Augen.« Lydia spürte Margarets Blick im Rücken, als sie ihm aus dem Eßzimmer auf den Treppenabsatz folgte. Er stand mit dem Rücken zum Nachtlicht, so daß nur dessen Widerschein seine Wangen und sein Kinn berührte und sein Haar in eine spinnenfeine Aura verwandelte. In seinen Umhang gehüllt, sah er aus wie der Tod auf dem Weg in die Oper; ihr fiel auf, daß seine Hände nicht ganz ruhig waren, als er seine Handschuhe anzog. »Sie haben mein Geheimnis ergründet«, sagte er. Seine leise Stimme drang aus dem Dunkel, und dahinter, wie die Spur seiner antiquierten Aussprache, entdeckte Lydia das Echo eines Lächelns. »Das Blut von Tieren gibt uns etwas Nahrung, obwohl es nicht wärmt, und ihr Tod ist nutzlos, wenn man den Hunger und das Bedürfnis des Geistes stillen will. Aber es wäre nicht recht, Margaret durch die Erkenntnis zu schockieren, daß der dunkle Held ihrer romantischen Träume gegenwärtig von Hundeblut lebt - und von was für Hunden! Ich wußte jedoch, daß Sie als Ärztin so lange von Neugier verzehrt würden, bis Sie es genau wußten.« Lydia lachte, und die Angst und Spannung, die sie seit dem Morgen im Bazar gespürt hatte, lösten sich. »Ich glaube, Sie sind einfach zu eitel, um es zuzugeben.« Sie lächelte, und Ysidro blieb stehen, eine Hand auf das Treppengeländer gelegt. »Natürlich bin ich eitel«, sagte er. »Alle Untoten sind eitel - zu eitel, um zuzugeben, daß auch wir sterben müssen wie gewöhnliche Menschen.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich dann zu ihr um, nahm noch einmal ihre Hand vorsichtig, um nicht in die Nähe des Silbers an ihrem Handgelenk zu kommen - und hob sie an die Lippen. Als er im Schatten der Treppe verschwand, sagte sie: »Seien Sie vorsichtig...«
Sie wußte nicht, ob er es gehört hatte. Als Lydia wieder ins Eßzimmer trat, schob Margaret die Blätter, in denen sie gelesen hatte, schnell in den Handarbeitskorb und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Sie hielt die Augen niedergeschlagen, doch Lydia spürte die Verdrossenheit, die in ihrem Schweigen, den Groll, der in der Haltung ihres Rückens in dem schlecht sitzenden Baumwollkleid lag. Sie zog einen Stapel voller Hauptbücher der Deutschen Bank zu sich, ließ aber den Bleistift und das Kanzelpapier, die daneben lagen, unberührt. Entschlossen, keinen neuen Streit mit ihr zu beginnen, fragte Lydia nur: »Sie wissen, wonach wir suchen?« »Neue Firmengründungen im Juli oder August, für die in Gold oder durch Landüberschreibungen gezahlt wurde. Summen, die monatlich oder einmal im Quartal an andere Firmen oder Banken überwiesen werden.« Sie sagte Lydias Anweisungen auf wie ein Schulmädchen, das eine verabscheute - und kaum verstandene - Lektion wiederkäut. »Suchen Sie nach einer Überweisung von zehntausend Mark oder zwölftausendfünfhundert Francs, an die zweite dieser Gesellschaften oder an eine neugegründete Firma, und zwar in der ersten Oktoberwoche, und wenn Sie die ›Zwanzigstes Jahrhundert - Gesellschaft für Kühlanlagen‹ oder einen dieser Namen entdecken...« sie schob ihr das Papier hinüber, das sie am Nachmittag von Razumovsky bekommen hatte, und auf dem die vier oder fünf Namen standen, unter denen der Kammerherr des Sultans Bestechungssummen annahm oder Geld wusch, »... streichen Sie sie bitte für mich an.« »Ich verstehe«, sagte Margaret schroff und ungeduldig und zog den Zettel zu sich heran, drehte ihn aber nicht einmal um. Lydia hatte den Mund schon halb geöffnet, um ihr Vorhaltungen zu machen, ließ es ihr aber durchgehen. Sie vermutete, daß sie ohnehin alles, was Margaret tat, noch einmal würde durchgehen müssen, aber wenn diese Hauptbücher am Morgen zurücksein mußten, hatten sie keine Zeit für eine Diskussion oder für einen von Margarets Wutanfällen, wenn sie ins Schlafzimmer stürmte und die Tür hinter sich zuschlug. Sie konnte das alles nicht allein durcharbeiten. Und was hätte sie auch sagen können? Der Traum stand ihr wieder vor Augen: Margaret, wie sie in den Ruinen des Schlosses auf einen Reiter wartete, der niemals kam. War Ysidro jetzt nicht einmal mehr in der Lage, ihr die leidenschaftlichen Traumerinnerungen einzugeben, die melodramatischen Romanzen, die sie an ihn gebunden hatten? Konnte er, fragte sie sich, nicht mehr in ihren Träumen auftreten, weil er darin als die skelettartige, beinahe insektenhafte Kreatur erscheinen würde, die mit dem Rücken zum Licht zu ihr gesprochen hatte? Wenn es das war, was Vampire in Spiegeln sahen, war es kein Wunder, daß sie ihnen aus dem Weg gingen und sie unter Verschluß hielten. Wenn es das war, was die Augen der Lebenden wahrnehmen würden, war es kein Wunder, daß die Vampire dafür sorgten, daß die Lebenden überhaupt nichts sahen - oder sich nicht erinnerten.
Alle Untoten sind eitel. »Kiria...« Stephania Potoneros erschien zögernd in der Tür und hielt ihr zwei steife, cremefarbene Umschläge hin. Der erste enthielt eine Nachricht mit dem Briefkopf der ›Zwanzigstes Jahrhundert Gesellschaft für Kühlanlagen‹ - Berlin, London, Konstantinopel -, sauber auf englisch getippt und von einem Sekretär unterzeichnet.
Mrs. Asher: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Herr Jacob Zeittelstein nicht in der Lage ist, für diese Woche einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren, da er sich zur Zeit in Berlin aufhält. Sobald er am nächsten Mittwoch nach Konstantinopel zurückkehrt, wird er sich natürlich gern bezüglich eines Treffens mit Ihnen in Verbindung setzen.
Hochachtungsvoll Avram Kostner Privatsekretär von Herrn Zeittelstein. Mittwoch! dachte Lydia entgeistert. Noch zwei Tage, bis er überhaupt in Konstantinopel war, ganz zu schweigen davon, wann er Zeit haben würde, sie zu treffen und ihre Fragen zu beantworten. Bis dahin konnte Jamie tot sein ... Jamie konnte jetzt schon tot sein. Meine liebste Madame, begann der Brief, in elegant unleserlicher französischer Handschrift.
Anscheinend haben wir den Geschichtenerzähler aufgetrieben, den Ihr Mann gesucht hat.
Mit Ihrer Erlaubnis schicke ich Ihnen morgen vormittag um zehn Uhr meinen Wagen,
obwohl es sicher gut wäre, wenn Sie sich darauf einstellten, ein Stück zu Fuß zu gehen.
Ihr ergebenster Diener
Razumovsky
»Ist es gestattet, eine Frage zu stellen, Effendi?« Asher rieb die Wange über die Steinplatte, auf der er lag, und zwinkerte sich den Schweiß aus den Augen. In der lautlosen, drückenden Hitze des kleinen hararet - desjenigen Raums in den Bädern, den die Römer das calderium, den heißen Raum, genannt hätten -, schien die Gestalt des Meisters von Konstantinopel, weiß wie der Marmor, aus dem alle Wände errichtet waren, auf verwirrende Weise aus dem Dampf aufzutauchen und wieder damit zu verschmelzen, so daß Asher die Hälfte der Zeit nicht ganz sicher war, ob er ihn überhaupt sah. »Es ist immer erlaubt zu fragen, Scheherazade.« Olumsiz' Stimme drang aus dem dunstigen Zwielicht, und in dem roten Glühen der Kohlepfannen in den Ecken erschienen seine Augen wie zwei Bernsteine. In seiner tiefen Stimme lag eine träumerische, hitzegesättigte Belustigung, als er den Spitznamen aussprach, eine Anspielung auf Ashers Interesse für alte Wörter und uralte Märchen selbst im Angesicht von Gefangenschaft und Lebensgefahr. »Es gäbe keine Weisheit auf der Welt, würden die Menschen keine Fragen stellen.« »Was habt Ihr mit dem Earl of Ernchester vor?« Es war beinahe Mitternacht. In der früh einbrechenden winterlichen Dämmerung hatten Zardalu und die anderen Zöglinge Asher zu einer riesigen ausgetrockneten Zisterne gebracht, die unter der Stadt lag wie eine säulenbestandene Höhle, ihm eine Blechlaterne in die Hand gegeben und ihn in diesen endlosen Wald von Säulen geschickt. »Verhalte dich, als suchtest du jemanden, Englis«,flüsterte der Eunuch mit seinem spöttischen Lächeln. »Sieh dich um - so -, leg die Hand auf dein Herz, als müßtest du den Schmerz der Liebe dämpfen.« Die anderen lachten, dieses dünne, metallische Zittern, das er schon in Wien gehört hatte, verschmolzen mit der Dunkelheit und ließen ihn allein. Also war er losgegangen, wie er über den Friedhof gegangen war, hatte die Laterne hochgehalten, und die Schatten der Säulen schwankten und tanzten in dem wandernden Licht. Die Säulen selbst hatten jeden nur möglichen Umfang: dünne ionische mit Kapitellen wie Rammböcke und schwere, unkannelierte dorische, ausgespült, wo das Wasser gestanden hatte. Zwischen ihnen lag tiefe Nacht, und der kalte Hauch des Luftzugs verriet ihm, daß der Ort mehr als einen Eingang hatte, den die Vampire benutzt hatten. Er dachte gerade daran, wie gut es war, daß die Kerze im Inneren der Laterne durch das Glas geschützt war, als die Flamme ausging, so plötzlich, als habe jemand ein Kerzenhütchen darüber gestülpt. Asher trat sofort einen Schritt zurück, stellte sich mit dem Rücken gegen die nächste Säule und verschloß sein Bewußtsein mit Gewalt vor der überwältigenden Leere, die ihn einhüllte. Er griff in die Tasche, wo er Zündhölzer aufbewahrte, in gewachste Seide
gehüllt, und seine Nase füllte sich mit dem Geruch von altem Blut und Friedhofserde.
Eine Hand schloß sich um seinen Arm wie eine Kralle; doch bevor er mit der Laterne, die
er in der anderen Hand hielt, ausholen, bevor er sich bewegen oder denken oder schreien
konnte, war die Hand, die ihn gepackt hatte, fort.
Da war eine Art Bewegung, der Hauch eines Raschelns im Dunkeln, und er zog die
Streichhölzer aus der Tasche und zündete mit zitternder Hand eines an.
Er war allein.
»Meine liebe Scheherazade.« Die Stimme klang plötzlich nahe. Asher blinzelte wieder in
den Dampf und sah, daß der Meister von Konstantinopel neben dem Marmortisch stand,
auf dem er lag, nackt bis auf ein Handtuch um die Lenden, wie der Bey selbst. »Dies sind
Angelegenheiten der Vampire, die die Lebenden nichts angehen. Tatsächlich bezweifle
ich, daß die Lebenden sie verstehen werden.«
»Sie gehen diejenigen etwas an, die weiter unter den Lebenden weilen möchten.« Asher
setzte sich auf, wobei ihm sein braunes Haar strähnig in die Augen fiel, und Mustafa, der
Bademeister, trat zurück. Asher vermutete, daß die lebenden Diener des Beys nicht taub
waren, doch es war ihm noch nie gelungen, einem von ihnen mehr als ein paar Worte zu
entlocken. Wenn sie ihm Essen brachten, wenn sie saubere Kleidung in sein Zimmer
legten oder ihn in die Bücherei oder in die Bäder eskortierten, beobachteten sie ihn mit
der unheimlichen Gleichmütigkeit von Wachhunden, so mißtrauisch, als sei er und nicht
sie selbst ein Diener der Nacht. »Habt Ihr Lady Ernchesters Wohnung durchsuchen
lassen, nachdem Ernchester abgereist war?«
»Meine Anweisung an Karolyi war, sie zu vernichten«, sagte der Bey kurzangebunden.
Seine Augen, deren Orange so grell war wie Anilinfarbstoff, glitzerten kalt. »Die Frau ist
seine Stärke. Man braucht kein Hexer zu sein oder Träume lesen zu können, um das im
Laufe einer einzigen Unterhaltung zu begreifen. In den achtzehn Monaten, die er hier als
Lebender geweilt hat, verging weder ein Tag, an dem er nicht von ihr sprach, noch eine
Nacht, in der sie nicht in seinen Träumen war. Als ich hörte, daß beide zu Untoten
gemacht worden waren, war mir sofort bewußt daß der Meister von London ein törichtes
Risiko eingegangen war, indem er unter seinen Zöglingen jemand duldete, der solche
Macht über Ernchesters Geist hatte wie sie.«
»Er war Euch also ungehorsam.«
»Dieser Madjar war so dumm zu glauben, er könne die Absichten der Untoten
durchkreuzen.« Unwillkürlich strich die linke Hand des Bey zärtlich über die seidenen
Bänder, die um den Griff seiner Silberwaffe geschlungen waren - Weißdornholz, nahm
Asher an, und gerade genug Seide, um einem Vampir, der so alt wie der Bey und ein
wenig abgehärtet gegen einige der Substanzen war, auf die das Fleisch von Vampiren
reagierte, kein Unbehagen zu bereiten. Am Hals trug er ein langes Messer in einer
Scheide aus Leder und Blei. Asher vermutete, daß die Klinge ebenfalls aus Silber war.
»War sie es, die ihn in Wien befreit und jene getötet hat, die dort abgestellt waren, sein
Gefängnis zu bewachen?«
Asher schüttelte den Kopf. »Das waren die Vampire von Wien. Karolyi hatte Ernchester
ein Opfer zugeführt, das er getötet hat.«
»Dummkopf.« Der Vampir wandte sein Gesicht ab, und Zorn stand in seinen Augen. Sein
hagerer Körper schien fast vollständig ohne Muskeln, das Haar auf seiner Brust und in
seinen Achselhöhlen war zu einem seltsamen Rotbraun ausgeblichen. Obwohl die Hitze
des hararet einen glitzernden Film über die bleiche Haut gelegt hatte, konnte Asher
keinen Schweißtropfen entdecken. »Der Mann ist gierig. Er sieht nur den Weg zu seiner
eigenen Macht, und nicht, daß es Anweisungen gibt, die ich aus Gründen erteilt habe, die
jenseits seines Verständnisses liegen. Und des deinen«, setzte er hinzu und sah ihn
wieder an.
»Warum gebt Ihr Euch dann mit ihm ab?«
»Ein Dummkopf ist der Mann, der bei einem Schiffbruch eine rettende Planke von sich stößt. Es ist unverschämt von ihm anzunehmen, daß ich tun würde, was mich sein christlicher Kaiser heißt. Aber in schwierigen Zeiten braucht man immer Macht und Verbündete.« »Und sind die Zeiten so schwierig?« fragte Asher ruhig. »Jagt Ihr deshalb so eifrig nach Lady Ernchester? Nicht nur, um den Earl zu kontrollieren, sondern, damit sie Karolyi nicht in die Hände fällt? Ihr wißt doch, daß er zu Euren Zöglingen gehen wird, falls er es nicht schon getan hat.« Ein Luftzug bewegte den Dampf. Der Vorhang aus besticktem Leder, der das hararet vom sogukluk, dem warmen Raum, trennte, wurde zur Seite geschoben. Dort stand der Diener Sayyed. Sein Kopf - kahlgeschoren wie der des Bey - glänzte vor Schweiß. »Da ist jemand, der Euch sehen möchte, Herr. Ein makanik.« Außer dem letzten Wort, das aus dem Persischen stammte, sprach er ein bäuerliches Türkisch. Es war der längste Satz, den Asher bisher von einem lebenden Diener gehört hatte. »Du mußt mich entschuldigen.« Der Meister von Konstantinopel verbeugte sich tief und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er inne und blickte zurück. »Kümmere dich nicht um die Angelegenheiten meiner Kinder, Scheherazade«, sagte der Bey, und die Riesenameise in ihrem Bernsteingefängnis am Ohr des Bey schien Asher zu beobachten. »Das ist nicht die Vorgehensweise eines klugen Mannes. Vertrau ihnen nicht. Sie werden dir Dinge versprechen - Flucht aus dem Palast, Sicherheit, sogar den Kuß, der das ewige Leben verleiht. Doch das sind alles Lügen. Sie sind alle Verräter. Sie sind eifersüchtig aufeinander und auf die Macht, von der jeder vermutet, daß der andere sie vielleicht besitzt; und vor allem sind sie eifersüchtig auf mich. Aber ich bin der Meister dieser Stadt. Diese Stadt gehört mir, und alle Dinge, die drin sind.« Er hielt seine silberne Waffe hoch, und die Klinge leuchtete sanft in dem gedämpften Glühen der Kohlebecken. »Und kümmere dich nicht um Ernchester. Auch dies ist ein Weg, der dir nur den Tod bringen wird.« Als er gegangen war, streckte Asher sich wieder auf dem Marmor aus und strich behutsam über den Verband um die Messerwunde zwischen seinen Rippen. Sie heilte gut; Mustafa hatte den Verband gewechselt, und während der Mann jetzt seine Muskeln knetete und klopfte, bis sie sich entspannten, streckte Asher seinen rechten Arm aus und besah ihn sich in dem schwachen Licht. Durch die Hitze hatten sich die Narben gerötet, die an der Vene entlang vom Handgelenk bis zum Ellenbogen verliefen, die Narben, die die Vampire von Paris hinterlassen hatten. Dazwischen malte sich der frische dunkle Fleck eines Blutergusses wie ein eingetrockneter Spritzer. Asher machte die Abdrücke von Fingern und einem Daumen aus und erinnerte sich an die Hand, die im Dunkel der Zisterne seinen Arm gequetscht hatte. Unter dem Verband stach es, als er sich bewegte, die andere Hand vorstreckte und sie über die Abdrücke legte. Die Hand war größer gewesen als seine eigene. Er erinnerte sich, daß Ernchesters Hände klein waren. Die Zöglinge waren sofort zu ihm zurückgekehrt, hatten ihm in der Stille der trockenen Zisterne die Augen verbunden und ihn ohne ein Wort zurück zum Haus der Oleander gebracht, genau wie sie ihn schon zweimal in den letzten Tagen von solchen verlassenen Orten, wo Anthea sich hätte verbergen können, zurückgebracht hatten. Sie hatten seinen Geist mit Leere erfüllt, als sie durch die Straße kamen, so daß er in dem achteckigen byzantinischen Vestibül, das in den Salon des Bey führte, erschrocken und schwindlig zu Bewußtsein gekommen war. Er vermutete inzwischen, daß Zardalu einen Fehler gemacht hatte und abgelenkt worden war, als sie nach jener ersten Expedition ins Haus zurückgekehrt waren. Nachdem sie Asher zum Haus der Oleander zurückgebracht hatten, waren Zardalu und
die anderen selbst auf Jagd gegangen, und sie waren immer noch fort, als Asher sich wieder in saubere Wäsche, graue Hosen aus zweiter Hand, eine rote Wollweste und einen abgetragenen und nicht ganz passenden Stambuler Mantel kleidete. Er begab sich durch die Korridore zurück zu seinem Zimmer, und Sayyed watschelte schweigend hinter ihm her. Inzwischen kannte er diesen Weg und wußte, wie der kleine Palast eines byzantinischen Prinzen mit einem von mehreren hans verbunden war, die seine Flügel darstellten. Zweimal war er an einer Tür vorbeigekommen, von der er vermutete, daß sie in eine spätgotische Krypta oder Kirche führte. Der Raum mit den Wandmalereien und der gefliesten Kuppel, in dem er Karolyi begegnet war, war eindeutig türkisch. Der Hof des alten han wurde von Messinglampen erhellt, die in einem Säulengang hingen, hinter dem die tiefen Schächte der ehemaligen Lagerhäuser im unteren Stockwerk lagen. In der Nische am Ende der offenen Galerie, zwei Stockwerke über ihm, brannte eine einzige Lampe. Auch in dem byzantinischen Vestibül brannten Lichter Asher konnte ihren Widerschein in dem Bogengang erkennen. Ein makanik, der den Todlosen Herrn sehen wollte. Etwas, das mit dem geheimen Experiment zusammenhing, diese seltsame Krypta tief unter dem Haus, aus der es nach Öl und Ammoniak stank. In der Nähe der alten Bäder, hatte Zardula gesagt. Im Haus der Oleander gab es keine Uhren, und die Stunden der Dunkelheit konnten jegliche Orientierung nehmen. Asher, der ein recht gutes Zeitgefühl hatte, schätzte, daß es kurz vor ein Uhr am Morgen war, als Sayyed den Schlüssel im Schloß drehte und davonschlurfte, und vermutete, daß er während der nächsten ein oder zwei Stunden relativ sicher sein würde. Kümmere dich nicht um Ernchester, hatte der Bey gesagt. Aber er verhandelte noch mit Karolyi. Mit Ausnahme des ausgetrockneten Beckens in der Mitte war der langgestreckte Boden ein verblichenes Moospolster von Teppichen, vier oder fünf Schichten dick. Unter diesen Teppichen hatte er die Dietriche verborgen, die er hergestellt hatte. Jetzt holte er sie. Der bronzene Leuchter, den er in einem der Intarsien-Wandschränke ganz offen neben seinem kleinen Bücherstapel aufbewahrte, hatte ihm nicht nur Draht für Dietriche geliefert, sondern auch eine Reihe Kerzen. Diese steckte er jetzt in seine Manteltasche. Das Schloß war ein sehr altes Banham-Modell, nur mit einer Zuhaltung, das vielleicht das beste auf dem Markt gewesen war, als es eingebaut wurde, doch das war vor mehr als hundert Jahren gewesen. Als er die Treppe zum Hof hinunterging, hörte er den Bey im Salon herumbrüllen und blieb verblüfft neben dem Gang zum Vestibül stehen, um zu lauschen. »Es sind jetzt drei Wochen, du Auswurf von Shaitans Hund!« Daß ein Vampir, und erst recht jemand, der so alt war wie Olumsiz Bey, seiner Wut nachgab, war noch nie dagewesen, und der leidenschaftliche Zorn, der sich in seiner tiefen Stimme Bahn brach, war furchterregend anzuhören. »Fünf Tage sind seit dem Maschinenschaden vergangen, und immer noch keine Nachricht von dem Mann! Ich sage dir, daß ich keinen Aufschub mehr dulden werde!« »Friede, M'sieu«, war eine gedämpftere - und verständlicherweise nervöse - Antwort zu vernehmen. »Er wird Mittwoch zurücksein. Bis Mittwoch ist es nicht mehr sehr lange...« Hin- und hergerissen zögerte Asher. Er spürte, daß das, was den Meister von Konstantinopel so in Rage bringen konnte, von höchster Wichtigkeit sein mußte, doch er wußte, daß er, wenn man ihn hier erwischte - und erst recht mit Dietrichen und Kerzen in den Taschen, - auf jeden Fall ein toter Mann war. Jeder einzelne seiner Instinkte befahl ihm zu bleiben. Aber wenn er den Ingenieur anschreit, dachte er trocken, während er wie ein Schatten vor dem Torbogen fortglitt, horcht er wenigstens nicht gerade nach mir ... Er dachte an den Bey, wie er ihn in anderen Nächten gesehen hatte, bewegungslos auf
dem Diwan seines säulenbestandenen Salons sitzend, die Silberwaffe über die Knie gelegt und die orangefarbenen Augen halb geschlossen, während er auf das Gewirr der Träume in der Stadt um ihn herum lauschte: Das Bild war beunruhigend. Und doch hören wir die Schritte der Arbeiter, hatte Zardula gesagt. Asher wußte, wenn der Bey darauf horchte, konnte er seine Schritte zumindest hören, solange er sich auf der Erdoberfläche bewegte. Der Weg, der zu den alten Bädern führt. In der Baukunst kamen und gingen die Moden, und das Haus der Oleander bestand aus mindestens fünf alten Gebäuden, verschmolzen zu einem monströsen Labyrinth dunkler Räume und verrottender Erinnerungen, doch Asher wußte, daß Wasserleitungen immer noch Wasserleitungen blieben. Das ausgeklügelte System von Rohren und Heizräumen, aus denen die türkischen Bäder bestanden - und vor ihnen die römischen - war nichts, das man leicht wieder aufbauen konnte. Wir riechen das naft, den alkol, den Gestank dessen, was er tut ... Seine Gedanken kehrten zu der in der Kehle würgenden, scharfen Luft der Krypta zurück. Ein Raum mit Holzboden, nach links über einen Hof, wo Gras zwischen Pflastersteinen wächst, die so dick wie Kanonenkugeln sind. Nach der ersten Treppe eine zweite ... Er nestelte an den Dietrichen in seiner Tasche und glitt durch das Haus der Oleander wie ein Geist. Der einsame Schein seiner Kerze flackerte über Gemächer mit bedruckten chinesischen Wandbehängen aus Seide, deren Farben kurz aufleuchteten; über Deckengewölbe, die in dem unverkennbaren dunklen Bronzeton von Gold, das im Schatten lag, glitzerten und schimmerten. Er kam durch ein achteckiges Gemach, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit roten Fliesen von der Farbe reifer Dattelpflaumen bedeckt war und der nur ein schwarz-weißes hölzernes Kaffeetischchen enthielt; durch einen Türbogen blickte man in einen Hof, der kleiner war als der Raum selbst und so überwuchert von Oleanderbüschen, daß man zwischen ihnen nur undeutlich den weißen Umriß einer Statue erkennen konnte. In der Nähe fand er den Raum, den er suchte: das kleine, prächtige Zimmer mit den bemalten Wänden und den blau-gelben Fliesen, dessen nackter Holzboden unter seinen Schritten vertraut klang. Von dort führte eine Tür in einen Hof, der lang und schmal und mit abgetretenen Steinblöcken, groß wie Brotlaibe, gepflastert war, zwischen denen brau nes Gras und Unkraut wucherten. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Kein Licht fiel auf die Fenster der niedrigen Gebäude, die den Hof auf zwei Seiten umgaben. Römisch, dachte Asher angesichts der schweren Rundbögen, der zerbrochenen Fragmente von Marmorverblendungen und der dicken kannelierten Säulen. Etwas, das wie die Rückwand eines weiteren han aussah, umschloß die dritte Seite des Hofs - er konnte gerade eben den Rand einer Kuppel vor dem mitternächtlichen Himmel erkennen -, und die roten und weißen Steine des türkischen Hauses bildeten die vierte. Unter dem Säulenportal war die Dunkelheit undurchdringlich. Die kleineren Pflastersteine waren uneben, vertraut. Beinahe hatte er das Gefühl, er könne die Kerze löschen, während er sich nach links wandte, fünfzehn Schritte über den Hof und durch die Tür ging, fünf Schritte und wieder links. Es war schwierig, diese Tür zu sehen, die im Schatten lag, obwohl sie sich inmitten einer Wand von verblichenen Fresken öffnete - noch merkwürdiger, daß er sich zweimal verzählte bei seinen Schritten, ging er so an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken. Um ihn herum brütete lauernd die Dunkelheit. Er wußte, sie konnte alles beherbergen. Oder nichts, sagte er sich. Oder gar nichts. Er stieg die Treppe hinunter. Hätte er sich nicht an eine weitere Treppe erinnert, wäre er umgekehrt, denn ihr Eingang lag verborgen in der Nische eines der flachen falschen Bogengänge in dem Raum, der sich als das Tepidarium der ursprünglichen römischen
Bäder des Hauses erwies. Ein kleiner Raum, mit Marmor verkleidet; sein flaches Becken schon lange ausgetrocknet. Im flachen Licht von Ashers Kerze schimmerten die Mosaiken auf dem Boden schwach; sie waren byzantinisch und wie die des achteckigen Vestibüls schon vor langer Zeit zerschlagen worden. Wie er sich erinnerte, war die zweite Treppe zwei- oder dreimal so tief wie die darüber. Wenn er ihnen jetzt begegnete - den heimkehrenden Zöglingen des Bey mit der Beute dieser Nacht -, gab es keine Möglichkeit zu entkommen. Er vermutete, daß die Krypta darunter ein Verlies gewesen war, oder ein Lagerraum für etwas, das wertvoller oder merkwürdiger gewesen war als Wein. Unter den niedrigen Ziegelgraten der Decke konnte er gerade noch aufrecht stehen. Die wenigen Räume, die zu seiner Rechten von dem kurzen Korridor abgingen, waren winzig und lagen unter dem Niveau des Bodens, der selbst zu einer mehrere Zoll tiefen Rinne ausgetreten war. Die Luft war - wie er sich erinnerte und wie Zardalu erzählt hatte - bitterkalt. Dastgah. Wissenschaftlicher Apparat. In der Bibliothek standen westliche wissenschaftliche Fachzeitschriften aus dem achtzehnten Jahrhundert. Abhandlungen in arabischer Sprache aus den Tagen, bevor die islamische Welt zur wissenschaftlichen Provinz geworden war. Was war es denn nun, fragte sich Asher, was der Meister von Konstantinopel sich von seinen westlichen Ingenieuren bauen ließ. Was so viel für ihn bedeutete, daß seine Verzögerung dabei solche Wut in ihm entfachte? Was er vor seinen eigenen Zöglingen versteckte? Der Schein der Kerze fiel auf etwas, das wie ein schimmernder Knochen im Schlund eines dunklen Bogengangs ruhte. Hier, dachte er. Der Ort, den der Bey verborgen hielt, verschleiert durch seinen Geist. Asher wußte, daß er am Ende des abschüssigen Korridors, der vor ihm lag, jene lange Steintreppe finden würde, die zu einer Tür nach draußen führte. Doch in einer Gabelung zur Linken sah er im Licht seiner erhobenen Kerzenflamme ein Gitter aus Silberstäben, und dahinter lag - was? Oder wer? Vor ihm erstreckte sich der Tunnel wie die Eingeweide der Nacht - zu seiner Linken, hinter den Silberstäben, die Schwärze stygischen Samts. Er fragte sich, wieviel Zeit er noch hatte. Er mußte es wissen. Vorsichtig bewegte er sich die kurze Abzweigung hinunter. Sein bleiches Kerzenlicht blinkte auf Wasserpfützen in dem unebenen Steinboden. Der Korridor war extrem schmal und beschrieb einen leichten Bogen; die Silberstäbe, die so stark angelaufen waren, daß sie außer um das Schloß herum, auch dort, wo der Bolzen in den Stein überging, beinahe schwarz waren, trennten ihn etwa drei Meter von der Stelle, an der die beiden Gänge zusammentrafen. Dahinter konnte Asher zwei Türbögen erkennen, die an der linken Wand lagen. In einem erspähte er das Schimmern eines Metallschlosses. Der Ammoniakgeruch war überwältigend; er mußte dagegen ankämpfen zu husten. Bald würden sie zurückkommen, Zardalu, die Kadine Baykus und die anderen, und ein neues Opfer mitbringen, um es durch das stockfinstere Haus zu jagen, bis sie es eingekreist hatten, und es nur noch weinte und schrie ... Selbst in seinem verschlossenen Zimmer im oberen Stockwerk hatte Asher die Stimme des armenischen Jungen noch lange gehört. Er wandte sich von dem Silbergitter ab, ging zurück in den Hauptkorridor, und nahm die Suche nach der Treppe, die nach draußen führte, wieder auf. Da war eine verschlossene Tür, die es sein mußte - wie die Türen oben verfehlte er sie zwei- oder dreimal und fand sie nur, indem er mit der Hand über den feuchten Mauerstein strich, bis das, was er irgendwie dreimal für einen Schatten gehalten hatte, sich plötzlich zu einem Türbogen auflöste. Dieser Beweis für die geistige Macht des
Meistervampirs verunsicherte ihn aufs äußerste. Sie mußten in jener Nacht die Tür hinter sich offengelassen haben, als sie ausgegangen waren - oder vielleicht war jemand den anderen vorausgegangen, um sie für sie zu öffnen. Auf jeden Fall war das Schloß ein neues Yale-Modell; ein Fall für einen Nachschlüssel und nicht für einen selbstgebastelten Stift aus Bronzedraht. Er kehrte zu dem Silbergitter zurück; sein Herz schlug jetzt schnell vor Sorge. Dieses Schloß wenigstens war von der altmodischen Art, vielleicht weil das weichere Metall dem Druck der kleineren Schlösser nicht standhielt. Er bewegte den Bronzedraht vorsichtig, denn er wußte, jeder Kratzer würde zu sehen sein. Selbst die Haltevorrichtungen und Nägel, die es im Mauerwerk hielten, waren aus Silber. Sie sind Verräter ..., hatte der Bey gesagt, und die Silberschneide seiner Hellebarde hatte im schwelenden Halbdunkel der Bäder geschimmert. Sie sind Verräter. Das Blut hämmerte in seinen Ohren, als er sich vorsichtig an der Wand entlang über die zerbrochenen Steinplatten tastete, zwischen denen Wasser stand. Ein nasser Fußabdruck würde das Todesurteil bedeuten. Der Korridor war mit Stroh und Sägemehl übersät, was das Vorankommen zu einer noch heikleren Sache machte, und die Kälte war arktisch. Er fragte sich, ob er es hören würde, wenn die Zöglinge zurückkehrten. Fragte sich, ob er es bemerken würde, sollte der Bey ihn aus dem Dunkel mit diesen ausgelaugten ockerfarbenen Augen beobachten. »Ernchester«,flüsterte er an der ersten der beiden Türen. Beide waren verschlossen. Überwürfe aus Silber oder, wahrscheinlicher, aus galvanisch versilbertem Stahl. Die Vorhängeschlösser waren mit Silber verkleidet, selbst die Bügel. Auf die Schraubenköpfe hatte man Lötsilber getropft. Die Schlösser waren neu - alles andere war in dem schwachen Licht der Kerze geschwärzt vom Alter. »Ernchester«,flüsterte er nochmals. Wieviel - wie weit - konnte der Todlose Herr hören? Nicht durch Erde, glaubte er. Nicht durch so viel Stein. »Ich bin es, Asher. Sind Sie dort? Anthea ist frei, sie ist hier in Konstantinopel...« Beinahe hätte er gesagt: Anthea lebt. Tief hinter der schweren Tür hörte er etwas: ein Stöhnen, einen Schrei, der ihm die Haare zu Berge stehen ließ - physische Qual, vermischt mit schwärzester, tiefster Verzweiflung. Die Hölle, dachte Asher. Solch einen Laut würde man hören, wenn man sein Ohr ans Schlüsselloch des Höllentors legte. »Können Sie mich hören? Verstehen Sie mich?« Die Antwort war Schweigen. Seine Hand zitterte, tastete an dem Schloß herum, halb vor Kälte, aber auch vor Unruhe, weil er wußte, daß er nur noch wenig Zeit hatte. »Ich komme wieder«, versprach er mit heiserer Stimme. »Ich hole Sie heraus...« Und Sie können sich dafür revanchieren, fügte er als grimmigen Nachgedanken hinzu, denn dann
werde ich Ihre Hilfe brauchen. Ein Luftzug, eine Bewegung, und sein Herz setzte aus, als habe man es mit einem Eiszapfen durchbohrt, und begann dann schnell und flach zu schlagen. Noch in dieser Schrecksekunde drückte er den Kerzendocht aus, wobei er Gott für den Gestank des Ammoniaks dankte, der den Rauch einer ausgewachsenen Feuersbrunst überdeckt hätte. Der selbst für die Untoten den Geruch seines lebenden Blutes übertünchte. Aus dem Dunkel des Korridors hinter dem Silbergitter hörte er stolpernde Schritte, und ein flehentliches Wispern: »Herr, seid freundlich - seid freundlich zu einem armen Mädchen...« Jemand kicherte in obszöner Belustigung. »Oh, der Herr, zu dem du gehst, wird freundlich sein.« Die Stimme hätte die Zardalus sein können. »Er ist der freundlichste Herr in der Stadt, sanft und großzügig ... das wirst du bald herausfinden, schöne Gazelle...« In der Dunkelheit war nichts zu sehen, es gab keine Möglichkeit zu erfahren, ob sie das leichte Schleifen der Tür in dem Silbergitter bemerkt hatten - er hatte sie hinter sich
zugezogen, und die geölten Scharniere hatten nicht gequietscht ... Er konnte nur warten, angestrengt lauschen und sich fragen, ob er als nächstes eine kalte Berührung in seinem Nacken spüren würde. Die taumelnden Schritte verklangen. Lange Zeit blieb er, wo er war, unbeweglich und schwindelnd von dem Gestank des Ammoniaks und der Kälte, die in seine Knochen drang, bis er sich schließlich an der Wand entlang zum Gitter und weiter nach draußen in den Korridor vortastete. Er fuhr zusammen, als das Türschloß hinter ihm klickte wie der Hammer des Weltuntergangs. Doch niemand hielt ihn auf. Nach einer Weile tastete er sich zur Treppe zurück, ein mühsamer, endloser Weg durch die Bäder - und er dankte dem Himmel, daß die Orientierung im Dunkeln eine Fähigkeit war, die ihn seit seinen Tagen als Spion nicht verlassen hatte -, und weiter nach oben zu dem grasüberwachsenen Hof, wo ihm das schwache Licht der Sterne besonders hell erschien. Während er durch den Hof schlich, hörte er aus dem Salon das silbrige Klirren lachender Vampire und die Stimme der jungen Frau, die um Gnade flehte. Als er seine Zimmertür hinter sich verriegelte und unter einer plötzlichen Welle nervösen Zitterns in die Knie sank, schien ihm, als dringe dieser Laut immer noch zu ihm - dies, und das Stöhnen des Gefangenen hinter der Tür der Krypta. Es verging viel Zeit, bis er es fertigbrachte, aufzustehen und zum Diwan zu taumeln. Dort lag er und zitterte wie in tödlichem Fieber, bis die Muezzins der Nourie Osmanie die spätwinterliche Morgendämmerung ausriefen.
SIEBZEHN
»Dachte ich mir doch, daß meine Bemerkung, wieviel die Nachricht Ihnen wert sein würde, Ergebnisse zeigte.« Prinz Razumovsky schlug mit seiner Reitpeitsche nach den beiden Kötern, die auf den Marmorstufen schliefen. Sie schlichen ein paar Fuß weiter und streckten sich dann wieder im Staub des Platzes aus, der einmal das Hippodrom gewesen war. Sie ließen die himbeerfarbenen Zungen heraushängen, die in merkwürdigem Kontrast zu ihrem wolfsähnlichen Fell standen, von dem Lydia auch ohne Brille sicher war, daß es von der Räude halb weggefressen war. In Konstantinopel gab es mehr Hunde - und, wie sie gestern nacht gesehen hatte, mehr Katzen - als in jeder Stadt, in der sie gewesen war. Während Prinz Razumovskys Kutsche sich behutsam durch die Straßen der Altstadt vorgearbeitet hatte, wo die hölzernen türkischen Häuser anscheinend spontan aus älteren Mauern hervorsprossen, waren die Hunde überall gewesen. Sie lagen im Schlamm oder an den ocker- oder rosafarbenen Stuckmauern. Die Katzen besetzten die vorspringenden Balkone, teilten sich die Simse dicht vergitterter Fenster mit den Geranientöpfen, oder sie lagen auf den Mauern und Spaliergittern winziger Cafés, wo die türkischen Männer unter dünnen Baldachinen kahler Weinranken Tee schlürften und redeten. »Irgend jemand kennt immer jemanden«, fuhr der Russe fort, und seine weißen Zähne blitzten unter dem goldbraunen strohigen Schnurrbart. »Der gute Messingverkäufer hat an jenem Abend im Café seinen Freunden von unseren Fragen erzählt, oder vielleicht hat ein Bettler uns gehört, oder der baklava- Verkäufer. Einer von ihnen kennt einen Straßen kehrer, dessen Schwester den hakâwati shaîr vom Sehen kennt, oder hat einen Cousin, der gehört hat, wie einer der Muezzine erwähnte, daß ein neuer hakâwati shaîr hier Stellung bezogen hat, oder eines der Kinder im Viertel hat zu einem anderen Kind davon gesprochen ... Ein syrischer Junge hat mir schließlich die Information gebracht.« »Was haben Sie ihm bezahlt?« Lydia griff nach dem kleinen Täschchen aus Silberlamé, das an ihrer Taille hing. »Ich kann nicht zulassen...« »Eine ganz und gar geringfügige Summe.« Seine Hoheit winkte ab. »Sie wird seine Familie zwei Monate lang ernähren - oder eines der Familienmitglieder zwei Tage lang mit Opium versorgen, wenn Ihnen das lieber ist.« Er streckte die Hand aus, um ihr über die Marmorschwelle der schmalen Tür zu helfen. Den ganzen Vormittag über hatte er sie behandelt, als sei sie aus zerbrechlichem Glas, anscheinend unter dem Eindruck, ihre verhärmten Augen und ihre Blässe seien das Ergebnis einer Nacht schlafloser Sorge um ihren Mann, und nicht einer Nacht, die sie damit verbracht hatte, beharrlich die Investorenlisten der zwei größten Banken der Stadt aus den letzten viereinhalb Monaten durchzukauen. Es gab mehr als zwanzig Firmen und Investoren, die den Kriterien zu entsprechen schienen. Nicht nur Vampire hatten im Juli erraten, daß ihnen der Wind ins Gesicht blies, und begonnen, Vermögenswerte weniger unsicher anzulegen, als es bei Immobilien und Gold der Fall war. Sie fragte sich, ob es möglich wäre, die Aufzeichnungen der ältestes Banken über einen längeren Zeitraum zu bekommen - seit wann gab es im Osmanischen Reich eigentlich Banken? - oder Listen von Haus- und Grundbesitzern, um festzustellen, wer verdächtig lange lebte, um dann sein Geld an ebenso langlebige Erben weiterzugeben. Die verschiedenen Namen, unter denen der Kammerherr des Palastes Geld wusch, tauchten wieder und wieder auf allen Konten auf - angesichts des all gemeinen Niveaus der Korruption in Konstantinopel war es beinahe unmöglich nachzuverfolgen, wieviel Geld auftauchte und wieder verschwand. Um fünf Uhr morgens hatte Lydia ein Dutzend Namen - von denen Margaret zwei in den Aufzeichnungen der Deutschen Bank vollständig entgangen waren. Margaret war schon lange eingeschlafen, den Kopf auf die Arme gelegt.
Lydia vermutete, daß sie, wenn sie nicht die Akten durchgegangen wäre, auf jeden Fall
die Nacht in schlafloser Sorge verbracht hätte, also war es nur gut gewesen, daß sie sich
mit Arbeit beschäftigt hatte.
»Sind Sie sicher, daß das in Ordnung ist?« fragte Margaret und lief vor Verlegenheit rot
an. »Es ist doch nicht erlaubt, oder?«
»Der Hof ist allgemein zugänglich«, sagte Razumovsky. »Aber es wäre vielleicht besser,
wenn Sie das Reden mir überlassen.«
Die Blaue Moschee war eine der größten in der Stadt, ein Ort, an dem immer Menschen
waren.
Und darauf erkannte Lydia einen Augenblick später, kam es an.
Razumovsky führte sie - Lydia war sich peinlich ihres westlichen Gewands und des
hauchfeinen Vorwands eines Schleiers bewußt, der von ihrem modischen Hut herabhing
- zur nördlichen Mauer des Hofs, wo das winterliche Licht auf die Männer an der Kolonnade fiel; ein Bärtiger verkaufte auf einer Decke bunte Schnüre mit Gebetsperlen; ein anderer saß im Schneidersitz hinter etwas, das aussah wie ein kleines Schreibpult, komplett mit einem Tintenfaß aus Messing, Schreibmappe und Sandbüchse. Auch der unvermeidliche Schuhputzer-Junge mit seinem kleinen messingbeschlagenen Kasten war da. Zwei zerlumpte Männer, die an dem kleinen Marmorpavillon in der Mitte des Hofs saßen und ihre Gebetsperlen durch die Finger gleiten ließen, warfen den vorübergehenden Frauen finstere Blicke zu, doch keiner von ihnen sagte etwas. Der Mann, den sie suchten, saß auf einem abgeschabten Teppich neben dem Stand des Gebetsperlenverkäufers. Er unterhielt sich mit einem schmalen ältlichen Mann in weißem Gewand und gelbem Turban, blickte aber auf, als Razumovsky näher kam. Lydia hatte den Eindruck einer riesigen Hakennase, eines zerzausten, schmutzigen weißen Barts und eines grünen Farbklecks von einem Turban, und, als sie die Augen niederschlug, von schmierigen, verhornten Zehennägeln wie Bärenklauen, die unter dem Gewand hervorschauten. Er war zerlumpt, und seine Kleidung roch nach Schmutz und Schweiß; die Welle von Zorn und Mißtrauen, die er ausstrahlte, traf sie ins Gesicht wie ein Hitzeschwall. »Qabîh ... qabîh...«, brummte er grimmig und warf einen bösen Blick zu ihr hinauf, und dann an ihr vorbei auf Margaret. »Qabhât...« Darauf wandte er das Gesicht ab und setzte in grobem Französisch hinzu: »Eine unverschleierte Frau ist verabscheuungswürdig in den Augen Gottes.« »Maître conteur.« Lydia verbeugte sich tief. »Bitte vergebt mir. Belegt Ihr mich mit schlimmen Namen, weil ich den Schleier trage, den mein Gatte mir gegeben hat?« Sie berührte den dünnen Netzschleier ihres grünen Tafthuts. »Tadelt Ihr mich, weil ich mich so kleide und mein Haar so trage, wie mein Gatte mich geschmückt sehen möchte?« Der Mann mit dem gelben Turban war taktvoll beiseite getreten und hatte Lydia, Razumovsky und Margaret mit dem alten hakâwati shaîr allein gelassen. Lydia kniete auf den Marmorplatten des Hofs der Moschee nieder und überlegte dabei, daß das flaschengrüne Kleid ohnehin gereinigt werden mußte, nachdem es die ganze Reise von Oxford hierher hinter sich hatte. »Und wenn mein Gatte verschwunden ist«, fuhr sie auf französisch fort, dem der Alte anscheinend folgen konnte, »und ich weiß, daß er in Gefahr ist, bin ich dann unrein, weil ich versuche, ihm zu helfen?« Ich wünschte, Ysidro könnte mich jetzt hören, dachte sie. Die schwarzen Augen glitzerten wie Kohlebröckchen. Sie konnte die dunkle Linie seines heruntergezogenen Mundes erkennen und hörte den Zorn in seiner Stimme, als er antwortete, doch an der Haltung seiner Schultern, daran, wie er vor ihr zurückwich und einen flüchtigen Augenblick lang an Razumovsky vorbei zum Hoftor schaute, sah sie, daß er Angst hatte. »Ihr seid die Frau des braungewandeten Inglieezee, des Mannes, der all die Fragen über den Todlosen Herrn gestellt hat.«
Lydia nickte. Sie fragte sich, wie nahe Razumovsky hinter ihr stand und wieviel er hörte. »Das bin ich.« »Er war ein Dummkopf«, versetzte der alte Geschichtenerzähler. »Die Wohnstätte des Wafat Sahib zu suchen ist die Tat eines Dummkopfes, und das Schicksal eines Dummkopfes hat ihn ereilt.« »Habt Ihr es ihm gesagt?« Der Alte sah weg. »Ich habe ihm nichts erzählt«, sagte er scharf, und Lydia wußte, daß er log. James hatte ihm wahrscheinlich Geld angeboten. Den Füßen nach zu urteilen und der rauhen Gesichtshaut, typisch für Pellagra, war er zweifellos entsetzlich arm. »Es war mein Junge Izahk«, fuhr der Geschichtenerzähler zu schnell fort. »Ein diskreter Junge; einer, von dem ich dachte, er sei zu schlau, um sich erwischen zu lassen. Doch als er in jener Nacht nicht zurückkam, wußte ich, er hatte das Verbotene getan: er hatte über den Wafat Sahib gesprochen, und dieser Herr ist kein Herr, der solches Geschwätz hin nimmt.« Er zog die schwarzen Augen zusammen und senkte seine Stimme, die beinahe ein Flüsterton gewesen war, noch weiter, so daß Lydia nah an ihn heranrücken mußte, in die Reichweite seines Atems, der nach starkem Kaffee und verfaulten Zähnen roch. »Der Wafat Sahib ist schon lange vor der Zeit meines Großvaters der Herr in dieser Stadt gewesen. Er weiß, was in den Straßen über ihn gesprochen wird, selbst bei Tageslicht. Schon, daß der Ingliezee mir diese Fragen gestellt, mir Geld angeboten hat - das ich natürlich nicht angerührt habe«, setzte er laut hinzu, »hat mir angst gemacht. Also bin ich hierhergekommen, wo die Männer, die ihm dienen, mich nicht sehen können. Nun erzählt man mir, daß die hortlak, die afrit und die gola zwischen den Gräbern außerhalb der Stadt gesehen worden sind, wie sie beim Grab von Hasim al-Bayad unter den Zypressen umhergehen, Reisenden auflauern, die spät auf der Straße unterwegs sind, und sie in der Dunkelheit töten.« Ysidro? überlegte Lydia, die eines der Wörter als den türkischen Ausdruck für Vampir erkannt hatte. Oder war Ysidro bei seinen Nachforschungen etwas entgangen, irgendein Hinweis? War er von dem alles verhüllenden Schimmer eines vampirischen Geistes getäuscht worden? Es war logisch, dachte sie, daß derjenige, der Olumsiz Beys Macht herausforderte, sein Unwesen an den Gräben trieb, die außerhalb der Stadtmauern lagen. »Wo ist dieses Grab?« fragte sie. Sie senkte die Stimme und hoffte, daß Razumovsky sie nicht hörte. »Ihr seid ein Dummkopf!« Der hakâwati shaîr warf die Arme hoch, und aus seinen pechschwarzen Augen sprühte plötzlicher Zorn. »Genau wie Euer Gatte! Geht fort und stellt keine Fragen mehr, auf daß sein Schicksal nicht auch über Euch komme!« »Ich will ja nicht bei Nacht dorthin gehen...«, begann Lydia zu argumentieren, doch der Alte stürzte sich auf sie und ging mit seinen knotigen Krallenhänden auf sie los. »Geht! Verschwindet hier! Ich sage Euch, daß Euer Gatte ein toter Mann ist!« Verblüfft über seinen Ausbruch stolperte sie rückwärts, und Razumovsky fing sie auf; sie hörte, wie Margaret erschrocken aufquietschte. »Geh mir aus den Augen, du ungläubige Hure!« schrie der alte Mann. »Wie kannst du es wagen, diesen heiligen Ort zu entweihen, indem du deinen Fuß darauf setzt?« »Wirklich, ich...« »Kommen Sie«, sagte der Prinz leise und zog sie zum Tor. »Hier können Sie nichts weiter erfahren.« »Das will ich meinen«, gab Lydia zurück. Sie schwankte zwischen einem Gefühl von Kränkung und dem mit Entsetzen gemischten Wunsch, zu dem alten Geschichtenerzähler zurückzugehen und zu versuchen, mehr zu erfahren. Da war etwas, das Ysidro auf dem Friedhof nicht gesehen hatte ... Oder etwas, das nach seinem Besuch dort geschehen war? Sie blickte über die Schulter zurück und sah, wie der hakâwati shaîr seine Beleidigungen dem Perlenverkäufer zuschrie: und obwohl er auf diese Entfernung wenig mehr war als eine um sich schlagende braune Lumpenpuppe, war sie ganz sicher, daß er
auf sie zeigte. Mit einemmal stiegen ihr Tränen in die Augen, geboren aus Müdigkeit und Enttäuschung und der Kränkung darüber, geschmäht zu werden, obwohl sie nichts verbrochen hatte. »Vergeben Sie ihm, Madame.« Das war der Mann mit dem gelben Turban, der sie im blauen Marmorschatten des Säulengangs neben dem Tor erwartete. Er trat auf sie zu und verbeugte sich, und doch hatte Lydia den Eindruck, daß er ein Mann von einiger Bedeutung war. »Er ist ein alter Mann und glaubt, daß jene, die sich nicht so kleiden, essen oder sprechen, wie es seine Eltern getan haben, von irgendeinem fremden Gott geschaffen worden sind, der der Menschheit übelwill.« Lydia blieb stehen und blinzelte zu ihm auf. Die dunklen Augen über dem ergrauenden Bart waren klar und freundlich, und er war nicht so alt, wie sie gedacht hatte. Seine Gewänder rochen nach Tabak, Essen und Seife. »Es tut mir leid, wenn ich ... wenn ich etwas Falsches gesagt habe. Ich habe es wirklich nicht böse gemeint.« »Er ist ein Mann, der sehr viel Angst hat, hamam, und verängstigte Männer brausen leicht auf. Er behauptet, von Dämonen verfolgt zu werden, die in dieser Stadt leben, und weigert sich, allein zu bleiben, selbst zum Schlafen. Er schläft auf dem Boden in der Suppenküche. Urteilen Sie nicht zu hart über ihn. Für ihn sind diese Geister real.« »Nein«, sagte Lydia und erinnerte sich an die abgrundtiefe Finsternis in den Straßen nach Einbruch der Dunkelheit. Vergangene Nacht hatte sie in unruhigem Schlaf, von etwas geträumt, das am Haus vorbeigegangen war. Es hatte unter dem Balkon gesungen, eine hohe, dünne, tonlose Klage, die niemand außer ihr hören konnte. Sie war aufgestanden später vermutete sie, daß sie nur geträumt hatte, sie sei aufgestanden - und halbblind zu den schweren Gittern gestolpert, die auf die Straße hinausgingen. Doch sie hatte nichts gesehen, oder vielleicht nur eine Bewegung im Dunkel unter ihr. Margaret hatte sich im Schlaf umgedreht und geseufzt. »Er hat von einem ... gola gesprochen, der im Grabmal von jemandem namens Hasim al-Bayad wohnt.« Sie sprach die Wörter sorgfältig aus und dankte dem Himmel dafür, daß James seit zehn Jahren in seiner ruhigen Art immer wieder die Wichtigkeit korrekter Lautbildung hervorgehoben hatte. Der heilige Mann runzelte ein wenig verwirrt die Stirn und meinte dann: »In Westafrika in Marokko und Algerien - versteht man unter einem gola eine Art Teufelin, die an verlassenen Orten wohnt, mit Hufen wie ein Ziegenbock und dem Gesicht einer schönen Frau. Sie lockt Reisende von der Straße, trinkt ihr Blut und ißt ihr Fleisch.« »Eine Frau.« Lydia wiederholte die Worte. Anthea Farren. Und sie würde wissen, was aus James geworden war. Er nickte. »Hasim al-Bayad war einmal der Imam dieser Moschee...« Seine kleine Handbewegung schien das ganze elegante, gewichtslose Steinensemble zu umfassen, das über ihnen aufragte. »Das ist viele Generationen her. Ein guter Mann, dessen Grab in früheren Zeiten verehrt wurde. Heute wird es von fast niemandem mehr aufgesucht, denn es liegt in einiger Entfernung vom Adrianopel - Tor, um einiges nördlich der Hauptstraße. Man kann es an den Überresten eines eisernen Zauns erkennen, der es einst umgab, aber fast völlig zerfallen ist; doch das Grab steht noch. Aber wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, hamam - wenn Ihnen Ihre Seele lieb ist -, dann gehen Sie nicht allein an diesen Ort, und schon gar nicht, nachdem die Sonne den Himmel verlassen hat.« Als Lydia in diese dunklen, besorgten Augen sah, kam es ihr nicht einmal merkwürdig vor, daß er seine Warnung eher an sie richtete als an den Mann, der eindeutig die Rolle ihres Beschützers innehatte. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, das tue ich nicht. Ich verspreche es.« Sie wandte sich zum Gehen, indem sie wieder Razumovskys Arm nahm, dann drehte sie sich spontan um. »Ist es gestattet«, fragte sie zögernd, »Gebete zu ... zu kaufen, um jemandem zu helfen? Jemandem, der in Schwierigkeiten ist? Er ist aber kein Mohammedaner«, setzte sie entschuldigend hinzu, und der Mann mit dem gelben Turban lächelte.
»Es gibt kein größeres Wunder auf der Welt als den Regen«, sagte er. »Und schon der Prophet Jesus hat darauf hingewiesen, daß er gleichermaßen auf die Köpfe der Gerechten und der Ungerechten fällt. Geben Sie Ihr Almosen dem nächsten Bettler, dem Sie begegnen. Ich werde für Ihren Freund beten.« »Ich danke Ihnen«, sagte Lydia. Euer Gatte ist ein toter Mann. Es fiel ihr schwer, sich auf dem Rückweg zur Kutsche mit dem Prinzen zu unterhalten. Da der Prinz an diesem Nachmittag Pflichten beim Konsulat hatte, war es ihm, wie er sagte, nicht möglich, Lydia und Margaret auf einer Rundfahrt über die Friedhöfe zu begleiten, doch er bestand darauf, daß sie die Kutsche mit dem Lakaien nahmen: »Diese Tölpel würden doch nur den ganzen Nachmittag in irgendeinem Café am Paradeplatz her umsitzen und Domino spielen, während ich beim Verkehrsminister zu tun habe«, sagte er, während er beim Mittagessen seinen Tee schlürfte. »Da ist es schon besser, wenn die Damen sich ihrer bedienen, vorausgesetzt, Sie kommen mich abholen, wenn Sie fertig sind.« Mittagessen, das bedeutete das Bahnhofsrestaurant, dessen Fensterbögen mit den kunstvollen Säulen auf das ungepflegte Gras des Platzes hinausgingen. Nicht eben elegant, aber der einzige Ort außer in Pera, an dem man europäische Gerichte bekam, und Margaret hatte sich rundheraus geweigert, gefüllte Weinblätter oder aufgespießte Stücke Lammfleisch anzurühren. Lydia protestierte ein wenig ob der Großzügigkeit des Prinzen, dann dankte sie ihm überschwenglich, legte beide glacébehandschuhten Hände auf sein Handgelenk und wünschte, sie sähe hübscher aus. Ihre Augen fühlten sich immer noch geschwollen und empfindlich an, obwohl sie heute morgen Eis aufgelegt hatte. Das Allheilmittel ihrer Tante Lavinia waren Blutegel gewesen - angesetzt von der Prozeduren dieser Art mißbilligenden Tante Harriet oder Lydia selbst, die noch vor Jahren keinerlei Vorbehalte gehabt hatte, die Kreaturen anzurühren - doch Lydia hatte, obwohl sie geübt in ihrer Anwendung war, in den letzten paar Jahren zu viel über die Theorie der Krankheitskeime gelernt, um heute leichtherzig zu einem solchen Mittel zu greifen. Und gewiß zu viel, um irgend etwas anzuwenden, das sie in Konstantinopel gekauft hatte, ganz gleich, wer es für ›sauber‹ erklärte. Und sie würde noch schlimmer aussehen, überlegte sie, sobald sie ihre Brille aufsetzte. Es war eigentlich ganz gut, daß Razumovsky sie beide nicht auf dem nächsten Abschnitt ihrer Suche begleiten konnte. Wie der heilige Mann vorhergesagt hatte, lag das Grab des Hasim-al-Bayad ein ordentliches Stück nördlich der staubbedeckten Straße, die zu den Hügeln Thrakiens führte, und Lydia mußte sich vorsichtig einen Weg durch die bizarren, verkümmerten Wege spitzer Grabstellen bahnen. Margaret und einer der stämmigen Lakaien Seiner Hoheit folgten ihr. Sie war froh über die Begleitung des Dieners. Näher am Tor hatte sie Betende gesehen, einzelne oder in kleinen Gruppen, fast immer gekleidet in die traditionellen türkischen Gewänder aus Pluderhosen, Tunika und Turban, die im Gras vor den steinernen turbes und den niedrigen Dächern knieten. Doch so weit draußen, zwischen Gruppen wettergegerbter Zypressen und kahler Platanen, war kein Mensch zu sehen, nur die Grabsteine ragten aus dem Unkraut wie zerspaltene Knochen aus einem schlimmen Splitterbruch. Selbst die Erde unter ihren Füßen war von Splittern und Bruchstücken übersät. Margaret klagte ohne Unterlaß über den unebenen Boden, den trostlosen Ort und die Nutzlosigkeit ihrer Mission. »Ysidro hat gesagt, er habe hier nichts gesehen«, protestierte sie und blieb zum zehnten Mal stehen, um sich demonstrativ den ›verstauchten‹ Knöchel zu reiben, von dem Lydia wußte, daß er ihr Gewicht nicht hätte tragen können, wäre er wirklich verstaucht gewesen. »Ysidro muß es doch wissen.« Vielleicht, dachte Lydia. Doch Ysidro hatte selbst zugegeben, daß seine Wahrnehmungen nicht mehr so genau waren wie früher. Außerdem bestand immer die Möglichkeit, daß
der Vampirschleier stärker und subtiler war, als er vermutet hatte, daß er seine eigene Existenz verbarg, genauso, wie er sein Haus in London vor ihrem Bewußtsein verborgen hatte, während sie dreimal daran vorbeigegangen war, bis sie es endlich wahrnahm. Ob sie nun heute etwas an Al-Bayads Grab fand oder nicht, sie würde ihm von diesem Ort erzählen und ihn bitten, ihn sich näher anzusehen. Vor den wechselnden Farben des Himmels schimmerten die hohen Kuppeln der Stadt; hier, weit von der Straße entfernt, erschien die Stille ihr keineswegs friedlich, sondern erdrückte sie mit dem Gefühl, als lauere, als lausche etwas. Der kurze Herbsttag verblaßte bereits. Ich habe Ihren Mann gesehen ... hatte Karolyi gesagt. Wenn er die Wahrheit gesagt hatte. Und der hakâwati shaîr: Euer Gatte ist ein toter Mann. Heute morgen war eine Nachricht von Karolyi gekommen, in der er sie bat, mit ihm zu Mittag zu essen. Lady Clapham hatte natürlich keinen Grund gesehen, ihm vorzuenthalten, wo sie logierte. Sie fragte sich, ob sie gehen und sehen sollte, was sie noch von ihm erfahren könnte, doch jeder Instinkt, den sie besaß, schrie ihr zu, sich von dem Mann soweit entfernt zu halten wie möglich. Sie war ein Neuling und nicht in der Lage, ihn in einem Spiel auszustechen, das er seit Jahren spielte. Aber was ist, wenn Zeittelstein morgen nicht zurückkommt? dachte sie schwach und hilflos. Und wenn das, was er mir erzählt, mir nicht weiterhilft? Das Gefühl, das Leben ihres Mannes in ihren Händen zu halten, nicht zu wissen, ob jede ihrer Handlungen ihn retten oder zum Tode verurteilen würde, war schrecklich. Vielleicht, wenn sie bei Karolyi sehr vorsichtig war ... Ein Mann rief ihr etwas zu, weit entfernt, an der Straße. Da sie die Brille trug, sah sie kristallklar, wie er warnend die Arme schwenkte, doch er wollte nicht näher kommen. Sie blickte wieder nach vorn und entdeckte das grauweiße Rechteck des turbe, umgeben von einigen unheimlich wirkenden Bruchstücken eines verrosteten Zauns. Um den Marmor herum wucherte dichtes Unkraut, das verschwörerisch im Wind flüsterte. Als sie näher heranging, nahm sie den Geruch von Blut wahr, dünn, aber durchdringend; obwohl es kalt war, erhob sich brummend ein Fliegenschwarm von einem beinahe schwarzen Fleck auf einer zerbrochenen Grabplatte in der Nähe. Lydia erschauerte. Es hätte, nahm sie an, genausogut von einem Hund sein können. Margaret schrie: »Oh! Wie ekelhaft!« und Nikolai, der Lakai, sagte: »Madame, kommen weg. Ist nicht gut hier. Nicht gut.« Lydia legte die Hände auf das Grab. Rund um die schwere Platte waren frische Kratzer im Stein zu sehen, und helle Marmorsplitter lagen zwischen den langen Gräsern. Sie kniete nieder und nahm einen Fleck in Augenschein, der genau unter dem Rand der Abdeckung lag; sie vermutete, daß es sich ebenfalls um eingetrocknetes Blut handelte. Aber all dies kam ihr erst später zu Bewußtsein. Sobald sie den Marmor berührte, wußte sie es. Er ist hier, dachte sie. Der Marmor unter ihren Fingerspitzen war kalt. Er ist hier. Wenn sie stillstand, wenn sie lauschte, wenn sie die Augen schloß und langsam atmete, ihren Geist öffnete, konnte sie ihn hören ... Schnell trat sie zurück und stieß beinahe mit Margaret zusammen, die hinter sie getreten war und etwas gesagt hatte. Für gewöhnlich wissen wir Bescheid, wenn sie Verdacht schöpfen, hatte Ysidro einmal James gegenüber zu dem Thema von Möchtegernvampirjägern gesagt. Wir sehen es,
wenn sie herumschnüffeln ... Sie fragte sich jetzt, ob er die Nachtstunden gemeint hatte oder den Tag, wenn die Vampire in den Schlaf des Todes versunken dalagen. Hatten Vampire Träume?
»Wie ich schon sagte: können wir jetzt gehen?« wiederholte Margaret verdrossen. »Wenn Ysidro hier nichts gesehen hat...« Ein Gedankenbild durchzuckte Lydias Bewußtsein - sie wußte nicht woher - von einem dunklen Gesicht, daß nicht weit entfernt in der Finsternis lag. Von Schlaf, der nicht wirklich Schlaf war. Von jemandem oder etwas, das in seinen Träumen ihren Namen kannte. »Ja«, sagte sie schnell. »Lassen Sie uns gehen.« Als sie sich abwandte, fiel ihr etwas ins Auge, das rotglitzernd im hohen Gras lag. Sie wollte nicht noch einmal in die Nähe des Grabes gehen, doch sie zwang sich dazu und sah, daß das Unkraut an dieser Seite niedergetreten worden war. In dem grauen Staub fand sie den Abdruck eines westlichen Männerschuhs mit seinen scharfen Umrissen. Ziemlich frisch, dachte sie. Merkwürdig frisch für einen Ort, der in letzter Zeit den Ruf erworben hatte, daß dort die hortlak spukten. Als sie im Gras kniete und nach weiteren Spuren Ausschau hielt, sah sie den glänzenden Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Es war die Krawattennadel eines Mannes in Form eines Greifs mit einem einzigen rubinroten Auge. »Mein verehrtester Asher Sahib.« Aus dem Nichts erschien in dem Bogengang vor ihm ein Schatten, beinahe unsichtbar im dunklen Hof des alten han; eine eckige Gestalt, und das Schimmern von viel zuviel Juwelen. Im selben Augenblick, als Asher stehenblieb und sein Herz sich ihm in der Brust zusammenzog, glitten von hinten Arme um seine Taille, und der dünne, harte Körper von Jamila Baykus preßte sich an seinen Rücken wie der stählerne Mechanismus einer tödlichen Falle. Der Gestank des Bluts aus ihrem edelsteindurchflochtenen Haar mischte sich mit den Schwaden von Zardalus Patchouliduft. »Sie haben unser Fest überstürzt verlassen.« »Ich habe einen schwachen Magen.« »Tss, tss.« Der Eunuch machte fast eine Liebkosung aus dem Wort. »Es ist vielleicht schade um einen schönen jungen Mann wie den von letzter Woche, oder um dieses kleine Bettlermädchen, von dem ich zugebe, daß es hübsch war ... Aber diese häßliche alte Großmutter? Ich schwöre Ihnen, sie hat noch die ganze Zeit geschimpft, man hätte sie auf dem Markt um Oliven für zwei Piaster betrogen. Also wirklich, wie kann man mit so etwas Mitleid haben?« Asher wandte sich ab und wollte gehen, doch die Arme um seine Taille hielten ihn fest, obwohl sie so dünn waren wie die eines Kindes. Er wußte, daß er ihren Griff nicht abschütteln konnte, so sehr er auch dagegen ankämpfte. Zardalu trat in den Säulengang und legte die Hände auf Ashers Schultern. Die geschlitzten Augen unter den geschminkten Lidern glitzerten im entfernten Schein der Lampe, die an der Treppe stand. Es gab kein anderes Licht im Hof, und Sayyed, der wie üblich an Ashers Fersen gehangen hatte, war beim ersten Laut von Zardalus Stimme verschwunden. »Olumsiz Bey hat das Anwesen nicht verlassen«, sagte der Eunuch leise. Sein Vampirflüstern war nicht lauter als das Rascheln eines Seidenvorhangs in einer – beinahe - windstillen Nacht. »Oder?« »Ich weiß es nicht.« »Dies ist die achte Nacht, in der er sich seine Beute von uns bringen läßt.« Winzige Brüste und spitze Hüftknochen rieben sich an seinem Rücken und seinem Gesäß, als die Kadine Baykus sich auf Zehenspitzen erhob, so daß ihre Lippen über seinen Nacken strichen. Sie waren warm. »Diese anderen Vampire...« »Welche anderen Vampire?« »Das ist wohl kaum etwas, das die Lebenden angeht«, murmelte Zardalu und rückte näher, »was für andere Vampire dies sind. Die Frau, die wir in den Gräbern und Zisternen
suchen - der Mann, nach dem wir Ausschau halten sollen...« »Was für ein Mann? Seit wann?« »Kommt es darauf an, seit wann?« Die blauen Augen glitzerten seltsam im Widerschein des Lichts. »Ich sehe schon, daß es das tut. Warum kommt es darauf an? Was verrät es dir, du Kluger? Warum fürchtet er sie? Der Malik von Stambul, der Wafat Sahib, der Todlose Herr, der diese Stadt regiert hat ... Er könnte sie zerquetschen wie Fliegen unter seinem Daumennagel. So.« Die langen Hände schlossen sich um Ashers Schultern, und der Druck der Daumen grub sich in das Schlüsselbein wie ein Zahnrad; Asher biß die Zähne zusammen gegen den blendenden, stechenden Schmerz und hielt seinen Blick weiter auf die Augen des Vampirs geheftet, der vor ihm stand. »Diese fremde Maschine, erbaut von diesen Ungläubigen ... Was ist es? Wer ist es, den er dort unten gefangenhält und der in den dunklen Stunden der Nacht stöhnt und schreit?« »Frag ihn doch.« Ihm war unmöglich, seine Stimme unbewegt zu halten; die Daumen aus Stahl hatten die Nerven gefunden, die sie suchten, und Asher mußte darum kämpfen, daß ihm nicht schwarz vor Augen wurde, daß sein Bewußtsein nicht in der Dunkelheit des Schmerzes versank. »Ich frage dich.« »Ich weiß es nicht.« Der Druck ließ nach; Zardalu trat zurück, doch seine Hände blieben, wo sie waren. Asher atmete schwer, und kalter Schweiß floß über seine Wangen, obwohl die Nacht frisch war. »Aber du bist nachsehen gegangen?« Asher brachte es fertig, den Kopf zu schütteln, und fragte sich, ob sie ihn gesehen hatten, als er letzte Nacht durch den Bogengang gekommen war, oder ob sie sein Blut gerochen hatten. Er fragte sich, ob sie es Olumsiz Bey gesagt hatten. Allerdings bezweifelte er, daß er noch am Leben wäre, hätte der Meister von Konstantinopel es erfahren. Zardalu grinste wie ein Gummiteufel. »Für einen Mann, der in der Stadt umhergegangen ist und die Geschichtenerzähler nach Häusern mit dem Ruf des Unheimlichen ausgefragt hat, zeigst du einen enttäuschenden Mangel an Neugierde. Weißt du, daß Olumsiz Bey einen Bund silberner Schlüssel in einem Geheimfach unter dem Kaffeetisch in dem Zimmer mit den roten Kacheln aufbewahrt? Nicht? Ein seltsamer Besitz für einen Vampir, meinst du nicht?« »Nichts, das er leicht benutzen könnte«, stimmte Asher zu. Jamila Baykus bewegte sich, versuchte, ihn mit sich zu ziehen, und er stemmte sich mit den Füßen gegen die geborstenen Fliesen. »Nichts, das ich unter irgendwelchen Umständen gebrauchen würde. Mir ist mein Leben lieb.« »Dein Leben?« Die blauen Augen weiteten sich. Das silbrige Vampirlachen zitterte in der Luft. »Dein Leben? Dein Leben endet hier in diesem Hof, wenn das mein Wille ist.« »Du würdest dich gegen ihn stellen?« Dunkelheit wirbelte am Rand seines Geists, entleerte sein Bewußtsein, verwirrte seine Gedanken, als bewege er sich in einem erstickenden Traum. Mit aller Kraft wappnete er sich dagegen, dachte an nichts, stellte sich eiserne Türen vor, die die Dunkelheit aussperrten, Sonnenlicht, das sie wegbrannte. Von weither spürte er, daß Zardalus Hände seine Kehle hinaufglitten, hörte, wie der Vampir sagte: »Es wird ihn nicht erfreuen, doch deshalb wirst du nicht weniger tot sein, Englis.« Er glaubte, daß sie ihn fortschleppten und streckte die Hand aus, um sich an dem Türpfosten festzuhalten, als sie ihn in die nach Staub riechende Dunkelheit einer der alten Lagerhallen zerrten. Es war, als kämpfe er in einem Traum gegen das betäubende Gewicht des Nichts, das sein Bewußtsein erfüllte. Wenn er nur für einen Augenblick freikommen könnte ... Dann wurde er beiseite geschleudert und schlug gegen die Wand, als habe ihn eine Eisenbahnschiene an den Kopf getroffen, und sein Geist klärte sich, als sei Glas zersprungen. In dem Widerschein der Lampe sah er Zardalu, der Länge nach hingestürzt,
ein Bündel von Gliedmaßen, gehüllt in paillettenbesetzte Seide im Wert von hundert Pfund; und die Kadine Baykus wich zurück, mit offenem Mund fauchend. Ihre Augen glitzerten rot wie Rattenaugen. In einem Wirbel perlmuttschimmernder Roben stand Olumsiz Bey über dem Tscherkessen, und die Silberklinge seiner Hellebarde war kalt wie eine Mondsichel. Sein kahles Haupt schwang hin und her wie das eines wildgewordenen Hundes. An seinem Mund und seinen Kleidern klebte Blut. Zardalu rollte sich schnell auf die Füße, sein Gesicht verzerrt zu etwas, das Asher noch nie außerhalb eines Horror-Panoptikums gesehen hatte, und die Fänge glitzerten in dem aufgerissenen Mund. Doch im nächsten Augenblick zuckte der jüngere Vampir zurück und wandte sich ab, barg sein Gesicht vor dem wütenden Blick des Meistervampirs in den Händen, und Asher spürte - erriet - fühlte - eine Andeutung der schneidenden Todespein, ausgelöst durch Olumsiz Beys Willenskraft. Zardalu stieß einen Laut hervor, dünn wie der von Wasser, das aus einem beinahe trockenen Putzlappen gewrungen wird. Sein Körper krümmte sich wieder und wieder, die Knie knickten ein, die Hände öffneten sich, die Finger streckten sich, und während er immer noch versuchte, sein Gesicht zu bedecken, sanken die Arme herab wie die Arme einer zerbrochenen Puppe. Leise wisperte der Meistervampir: »Sei nicht arrogant, kleiner Pfirsich.« Asher, der gegen die Steine der Innenmauer gesunken war, war nicht einmal sicher, ob er die Worte wirklich gehört hatte, er hätte nicht sagen können, in welcher Sprache sie gesprochen worden waren. Leichtfüßig wie eine riesige Katze trat Olumsiz Bey auf die zerknüllte, bunte Gestalt des Eunuchen zu, und das schwache Licht der Lampe flackerte auf seinen ausgestreckten Klauen, die elegant die Hellebarde hielten. »Ist das der kleine Pfirsich, der in meinen Armen geweint hat, als er sein Leben aufgab? Der kleine Pfirsich, der zu den Sklavenmeistern sagte, als sie kamen, um ihn zu kastrieren...« Nein ... Er stieß es nicht einmal als Wort hervor, es war nur ein Laut. »Ich erinnere mich, weißt du.« Die tiefe Stimme perlte über die Worte wie Wasser über Steine, und sie war stärker als die Steine. »Du hast all diese Erinnerungen in meine Hände gelegt, deinen Geist, deine Begierden - erinnerst du dich an Parvin, deine Schwester Parvin? Und ich habe sie noch in meinem Besitz.« Er kauerte über seinem Zögling, seine silberblauen Gewänder legten sich über die fröhlichen, formlosen Sei denwolken, und das Silber der Klinge schwebte über dem entblößten gebeugten Nacken. Es war unmöglich, dachte Asher, daß er die Stimme des Meistervampirs immer noch hörte. »Erinnerst du dich daran, wie Kizlir Aga dich berührt hat? Du warst zwölf, und du hast ihn gehaßt, und doch hat dein ganzer Körper reagiert...« Seine große Hand hielt mit Leichtigkeit Zardalus wild um sich schlagende Klauen nieder, und mit dem Schaft seiner Hellebarde drückte er den Eindringling wieder runter und preßte ihn auf den Marmor. Er saß rittlings auf ihm und flüsterte auf ihn ein, ein Akt, furchtbarer als Liebe oder Vergewaltigung, ein Akt schrecklicher Inbesitznahme, in dem er jede Erinnerung, jedes Gefühl, die geheimsten Ängste und Begierden hervorzerrte. Es verleiht eine furchtbare Macht, hatte Ysidro einmal mit dieser durch die Zeit abgeschliffenen Stimme zu ihm gesagt, die nicht erkennen ließ, ob ihm je so etwas zugestoßen war, ob jemand solch entsetzliches Wissen über sein Herz irgendwann einmal besessen hatte. Zardalu hatte begonnen, Laute hervorzustoßen. Lautlos, angeekelt kroch Asher durch die Schatten zurück, um endlich die lange Treppe hinaufzusteigen. Als er zurückschaute, sah er in dem erleuchteten Rahmen des Bogengangs zum Vestibül, daß der brutale Habib und sein einäugiger Janitscharenfreund Haralpos mit der Leiche der alten Frau, die sie dem Todlosen Herrn zum Abendessen gebracht hatten, unter dem Kreischen Pelageyas und dem Lachen der Baykus eine burleske Liebesszene aufführten.
Doch es war das Flüstern des Meistervampirs und nicht die anderen, laueren Geräusche, das Asher die dunklen Treppen hinaufzufolgen schien.
ACHTZEHN
Wieder träumte sie von dem alten Serail, davon, wie sie durch seine engen, lichtlosen Zellen wanderte, in einer Hand ein Hauptbuch, in der anderen eine Laterne. Einer der Räume war mit Eis gefüllt gewesen, und als sie die Laterne emporgehalten hatte, hatte sie Jamie gesehen, eingefroren in einen Eisblock, wie eine Fliege, die in Bernstein gefangen war. Es hätte komisch oder absurd sein können, doch das war nicht der Fall. Seine Augen waren offen, eingesunken wie die Augen der Leichen, die das Armenhaus ihnen schickte, und sie sah Blut an seinem Hals, das den offenen Kragen seines Hemdes befleckte. Als sie die Laterne hob, blitzte das Eis wie blaue Diamanten, und seine Augen schienen sich zu bewegen, doch sie wußte, daß er tot war. Ihr Herz zog sich zusammen, hämmerte in ihrer Brust. Welche Pein zu wissen, daß er tot war und daß sie allein nach Hause zurückkehren mußte! Es war ihre Schuld. Sie war nicht schnell genug gekommen, nicht klug genug, nicht tapfer genug gewesen ... Sie hatte versagt, wie sie ihr ganzes Leben lang ein Versager gewesen war. Sie lehnte das Hauptbuch an den Eisblock und versuchte verzweifelt, seinen Namen darin zu finden, doch die Kälte in dem Raum ließ ihre Hände so heftig zittern, daß sie nicht lesen konnte. Er kann nicht tot sein, dachte sie panisch, es kann nicht sein. Er ist im Eis eingefroren, doch das Eis wird ihn am Leben erhalten ... Keuchend wachte sie auf, mit bitterkalten Händen und Füßen. Aus dem Nebenzimmer hörte sie, wie Margaret sagte: »Du hattest dort nichts gefunden, aber sie hat darauf bestanden, trotzdem hinzugehen! Als ob sie mehr davon verstünde als du! Nur weil sie diesen gräßlichen Doktortitel hat und Leichen aufschneidet - mich schüttelt es schon bei dem bloßen Gedanken -, glaubt sie, daß sie alles weiß! Und sie wollte nicht einmal anhalten, als ich mir den Fuß verstaucht habe...« Margarets empörte Stimme hatte einen schrillen Unterton, den Lydia als Nervosität erkannte. Ysidro, dachte sie. Einen Augenblick später erwiderte die kühle Stimme des Vampirs: »Nun, sie ist besorgt um ihren Gatten, und vielleicht hat sie darum nicht an deine Bequemlichkeit gedacht, Margharita? Du erinnerst dich nicht zufällig, welcher Friedhof es gewesen ist? Ich möchte sie auf keinen Fall wecken.« »Ähem ... ich kann mich nicht erinnern ... Wir sind in Prinz Razumovskys Kutsche hingefahren, nachdem wir diese schmutzige Moschee besucht hatten, wo sie mit einem gräßlichen alten Mann gesprochen hat. Und überhaupt, wenn du nichts gesehen hast, als du dort warst...« Lydia tastete nach ihrer Brille, die auf dem Bett neben ihr lag, strich sich das Haar zurück und legte sich den Schal um die Schultern. Zerzaust, knittrig und leicht desorientiert trat sie aus dem Schlafzimmer und fragte sich, wie spät es wohl war. Ysidro sprang sofort auf und verneigte sich. »Mistress.« Das Zimmer roch nach Lamm und Zwiebeln. Ein leerer Teller aus sehr feinem rotglasierten hiesigen Steingut stand da, und daneben lag Besteck aus Horn und Stahl. Krümel und Spritzer auf der anderen Seite des Tisches wiesen darauf hin, daß Margaret gegessen hatte. Lydia schüttelte den Kopf und sagte: »Später, danke«, als Ysidro zur Anrichte ging. »Dann wenigstens etwas Wein?« Doch seine eigene Hand war zu unruhig, um das Glas zu halten. Margaret nahm es ihm schnell ab und goß die tiefrote Flüssigkeit ein, die im Licht der Messinglampe wie Blut aussah. Ysidro schlug die Serviette von dem Korb auf dem Tisch zurück und riß ein Stück von dem Brot darin ab. »Tunken Sie es in Wein«, schlug er vor, während er es ihr reichte. »Eine umherziehende Dirne kann ich noch ertragen, aber auf keinen Fall eine betrunkene umherziehende Dirne.«
Und Lydia warf ihm ein schnelles, zittriges Grinsen zu. Er setzte sich auf eine Ecke des Tisches. »Wie Margharita sagt, haben Sie einen erlebnisreichen Tag hinter sich.« Lydia gab ihm einen kurzen Abriß dessen, was sich in der Blauen Moschee ereignet hatte, wie sie das turbe und die Krawattennadel gefunden hatten. »Ich hatte das ganz bestimmte Gefühl, daß er da war und lauschte«, sagte sie. »Ich weiß, Sie haben gesagt, daß Vampire bei Tag schlafen und nicht aufgeweckt werden können, aber ... hätte er mich im Traum hören - mich sehen - können? Haben Vampire Träume?« »Ja und nein«, erwiderte Ysidro und streckte seine Hand nach der Krawattennadel aus. »Schlaf ist nur ein Ausdruck, den wir für das gebrauchen, das mit uns geschieht, wenn die Sonne am Himmel steht. Ich kenne keinen anderen. Träume...« Er hielt inne, schüttelte dann, sehr leicht, den Kopf und drehte den kleinen goldenen Greif in seinen Händen. »Ich bezweifle nicht, daß Sie einen der Schlafplätze des Eindringlings, des Neuankömmlings, gefunden haben«, sagte er nach einer Weile. »Und da er Sie im Schlaf gespürt hat, bin ich sicher, daß er nie wieder in diesem Grab ruhen wird. Dennoch ist es einen Besuch wert, um vielleicht herauszufinden, was mir entgangen ist. Er hat große Macht, und es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß er meinen Geist, meine Wahrnehmungen, von sich ablenken konnte ... Und es steht außer Frage, daß Anthea jeden Ort meiden wird, den er bei Nacht mit seiner Präsenz beherrscht. Es ist kein Zufall, daß er sich auf den Friedhöfen aufhält, so daß alles Kommen und Gehen aus der Stadt an ihm vorbeizieht und in Gefahr ist, in seinen Bann zu geraten. Anthea zumindest wird, da sie mit Ihrem Gatten im Zug gekommen ist, seine Anwesenheit gespürt und darauf geachtet haben, ihm aus dem Weg zu gehen. Charles...« Er schüttelte den Kopf. »Er spielt ein gefährliches Spiel, dieser Karolyi.« Er ließ die Nadel mit dem Greif in seine Westentasche gleiten und stand auf, um ihr einen Honigtopf von der Anrichte zu holen und ihn neben das Brot zu stellen. »Er versteht immer noch nicht, was er da umwirbt. Stellt er sich vor, diesen Eindringling mit nach Wien zu nehmen und ihn diesen trägen Kleingeistern in der Hofburg vorzustellen? Der Meister von Wien wird ihn sicherlich vernichten, so wie er versucht hat, Ernchester zu vernichten. Oder glaubt er, daß er ihn zum Meister von Konstantinopel machen, hier ein Bündnis schmieden kann?« »Wäre er dazu in der Lage?« fragte sie überrascht. »Vielleicht, wenn er den Schlupfwinkel des Meisters finden kann.« Die schmalen Brauen zogen sich zusammen, und sein Blick wanderte zu dem Stapel von Notizen und Bleistiften auf der anderen Seite der Tischlampen. »Und was hat Ihre Suche ergeben?« »Daß eine Menge reicher alter Türken, die ihr Geld in Gold und Landbesitz angelegt hatten, alle gegen Juli dieses Jahres dieselbe Idee hatten.« Sie seufzte verlegen und schob ihre Brille hoch. »Ich habe eine ellenlange Liste von Firmen, die alle um die gleiche Zeit gegründet wurden und anscheinend keine Existenzberechtigung haben. Außerdem weiß ich von Herrn Hindl, daß der Bey für seine Kühlanlage bar bezahlt hat.« »Wohl wahr.« Ysidro hob den Deckel des Honigtopfes, holte einen Löffel voll heraus und ließ den Honig als schimmernde Bernsteinsäule wieder hinabrinnen. »Doch kurzfristig hätte er einen Bankwechsel ausgestellt. Ich glaube, ein Billett für den Orientexpreß kostet zwanzig Pfund. Noch zwei Pfund für die Reise nach London, zuzüglich der Ausgaben für Hotels und Mahlzeiten ... alles in allem vielleicht sechzig Pfund? Finden Sie einen Wechsel über eine solche Summe, ausgestellt auf jemandem mit einem ungarischen Namen. Selbst, wenn er inkognito reist, wird ein Adliger für gewöhnlich den Namen eines seiner geringeren Titel benutzen. Die von Karolyi sind Leukovina, Feketelo und Mariaswalther, wenn ich mich richtig auf die Stammbäume besinne. Ich vermute, daß er sich eines davon bedient hat.« Ysidro deckte den Honig wieder zu und stand auf; Margaret sprang hoch, um seinen Umhang zu holen, der wie ein dickes schwarzen Leichentuch über einem Stuhl in der Nähe lag.
Sie fragte munter: »Kommst du heute nacht noch zurück?« Ysidro schien in Schweigen zu verfallen und betrachtete sie aus Augen, die im Lampenlicht so golden aussahen wie der Honig. »Meine Besorgung sollte nicht allzuviel Zeit in Anspruch nehmen.« Er zog die Handschuhe an und reichte Lydia eine Hand. »Es ist wahr, die Toten reisen schnell.« Noch immer war es unmöglich, ihn zu sehen, wie er einen Raum verließ. »Ehrlich gesagt, ich habe mich schon immer gefragt, wie sie das anstellen«, bemerkte Lydia, während sie Honig auf ein Stück Brot löffelte. »Und wenn man bedenkt, was für ein Aufhebens er darum gemacht hat, bei Tag zu reisen...« Doch zur Antwort erhielt sie nur das Zuschlagen der Schlafzimmertür. Einen Moment lang überlegte Lydia, ob sie klopfen und fragen sollte, an welcher realen oder eingebildeten Kränkung Margaret nun wieder litt. Doch das würde nur einen weiteren hysterischen Anfall hervorrufen, noch einen unzusammenhängenden, romantischen Wortschwall über das ewige Band, das über den Tod hinausreichte, und sie fühlte sich einfach zu müde, um sich dem auszusetzen. Margaret hatte gestern Lydias Angebot, sie in die Feinheiten der kosmetischen Kunst einzuführen, kühl zurückgewiesen. Lydia war immer noch unsicher, ob Margaret ihr die Tatsache übelnahm, daß Ysidro nicht mehr in ihren Träumen war, daß sie Hinweise gefunden hatte, wo sie Ysidro entgangen waren, oder ob es sich um ein ganz anderes Vergehen handelte. Und eigentlich, dachte sie mit einer Regung alten Zorns, war es genauso Ysidros Schuld wie die Margarets. Tatsächlich eher seine, da er diese ganz dumme Komödie aus romantischer Liebe, Begehren und Lügen ins Leben gerufen hatte. Angewidert schob sie die Sorge von sich, die sie seinetwegen empfunden hatte, und schaufelte Lamm und gefüllte Auberginen auf ihren Teller. Müde verfluchte sie Ysidro für seine Anordnung, daß die Frauen aus Sicherheitsgründen das Schlafzimmer und das Bett teilen sollten. Heute nacht freute sie sich ganz und gar nicht darauf. Nachdem sie gegessen hatte, fühlte sie sich besser. Sie breitete ihre Papiere wieder aus, notierte die Namen, die Ysidro erwähnt hatte, und suchte sie auf den Listen der Wechsel, die Ende Oktober eingelöst worden waren, doch es war schwierig, mit den Gedanken bei der Arbeit zu bleiben. Sie war wütend auf Ysidro und, das wurde ihr klar, verletzt. Desillusioniert. Doch welche Illusion hatte sie gehegt, fragte sie sich, derer sie sich jetzt beraubt fühlen sollte? Die Illusion, daß sich hinter diesen ausgebleichten Kristallaugen immer noch das Lächeln eines lebenden Mannes verbarg? Don Simon Yavier Christian Morado de la Cadena-Ysidro war seit 1558 tot. Sie erinnerte sich an die Bücher auf der Truhe in seinem Salon. Ein Toter mochte medizinische Fachzeitschriften lesen und mathematische Texte oder Bände über Logik. Aber würde ein toter Mann die Geschichten von der Schildkröte, der kleinen Ratte und dem Maulwurf lesen? Sie nahm die Brille ab und barg die Stirn in ihren Händen. Und warum sollte es sie interessieren, ob er innerlich tot oder lebendig war? Auf der Straße unter ihr begannen die Hunde zu kläffen. Lydia hob überrascht den Kopf und sah auf die Uhr. Es war fast drei. Hatte sie seit Margarets beleidigtem Abgang geschlafen? Unten auf der Straße hämmerte jemand an das äußere Tor. »Hamam, hamam!« rief eine Stimme, die ihr vage vertraut vorkam, obwohl sie nicht hätte sagen können, woher. »Hamam, es ist Euer Gatte! Euer Gatte!« Sie fuhr hoch und rannte zu dem Fenster, das zur Straße ging. Sie schob die Knoblauchtöpfe und die wilden Rosen beiseite, die dort hingen, und hakte das schwere Gitter auf; unten konnte sie ein Knäuel undeutlicher Umrisse im verschwommenen Licht einer Laterne ausmachen. »Wo ist er?«
»Euer Gatte!« schrie der Mann unten. »Sucht Euch, sagt er.« Der hakâwati shaîr, dachte sie. Der Mann mit dem gelben Turban. Sie riß die Lampe vom Tisch, hielt gerade lang genug inne, um sich als Vorsichtsmaßnahme ihr Silbermesser zu greifen, und rannte dann nach unten. Sie würden Geld haben wollen, dachte sie, während sie durch die Tür nach draußen in die Ausfahrt trat. Das Licht warf riesige Schatten an das Dachgewölbe der Durchfahrt, und sie dachte: Lieber Himmel, nach
allem, was ich weiß, könnten es Diebe sein ... Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um das Türchen des Gucklochs im Haupttor aufzuschieben, und versuchte die Lampe so zu halten, daß das Licht die Gesichter derer, die draußen standen, erhellte. Auf der Straße war niemand. Hinter ihr schlug die Haustür zu. Lydia fuhr herum, und ihr stockte der Atem - ein einziger Blick zeigte ihr, daß sowohl das Haupttor nach draußen als auch die kleine Pforte fest verschlossen und verriegelt waren. Die Stille schien plötzlich furchtbar lebendig. Kalt vor Schrecken ging sie mit großen Schritten zurück zur Tür und zog das silberne Tafelmesser aus dem Gürtel ... Die Lampe in ihrer Hand verlosch. Instinktiv drückte sie sich sofort flach an die Mauer. Schatten bewegten sich in dem dunklen Torbogen, wo die Auffahrt in den kleinen Hof führte, wo abgefallene Granatapfelblätter im dünnen Mondlicht aussahen wie Blutstropfen; sie warf die Lampe mit aller Kraft in diese Richtung und hörte, wie sie etwas Weiches traf und dann auf dem Pflaster zersplitterte. In diesem Augenblick stürzte sie zur Tür, rüttelte an der Klinke und spürte das schwere Rucken des Riegels. Sie wirbelte herum und stach auf den Schatten ein, den sie plötzlich neben sich mehr fühlte als sah. Sie stach zu, spürte, wie er nachgab und sich vor ihr abwandte. Einen Augenblick lang legte sich ein vernichtender Druck um ihr Handgelenk, eine entsetzlich starke Hand schloß sich um ihre Kehle, und aus einem seltsamen, unklaren Traumzustand heraus, sah sie direkt vor sich ein Gesicht: weich, voll, olivfarbener Teint und Fangzähne, die hinter einem dicken Schnurrbart glänzten. Dann schrie er »Orospu!« und riß seine Hand fort. Wieder griff sie sein Gesicht an, denn sie wußte, sie durfte ihn nicht so nah herankommen lassen, daß er sie beim Ellbogen, der Taille oder irgendwo fassen konnte, wo sie Silber trug. Sie versuchte zu schreien, doch der Schrei kam gepreßt und leise heraus, wie das Wimmern eines träumenden Kindes; durch ihre Gedanken zuckte die Vorstellung, sich von ihm packen zu lassen, spüren zu wollen, wie diese eisernen Arme sie umfingen und sie fest an diese stählerne Brust preßten. Sie stach wieder auf sein Gesicht ein und fluchte, als seine Hände sie oberhalb der Ellbogen bei den Armen packten, stieß das übelste Wort hervor, daß sie je von den Totengräbern gehört hatte, die die Leichen zum Sezieren ins Krankenhaus brachten, und fühlte, wie die Klauen ihr durch die Ärmel hindurch die Arme aufrissen. Sie trat und schlug und fluchte in das Gesicht hinein, das sie jetzt wie durch die verzerrte Dunkelheit eines Traums wahrnahm. Es waren zwei, dachte sie, während sie in blinder Panik um sich hackte und sich unter einem Griff jenes Teufels wand. Zwei von ihnen, zwei Gesichter in den fleckigen Schatten des Mondlichts ... Dann war sie allein. Sie lehnte sich an die Stuckwand, und das Messer zitterte in ihrer Hand. Ihre Ärmel waren zerrissen, und das Blut fühlte sich erschreckend heiß auf ihrer Haut an, die jede Minute kälter zu werden schien. Ich darf nicht in einen Schockzustand geraten, dachte sie wie aus großer Distanz. Ich darf
nicht zulassen, daß ich ... »Madonna...« Etwas Dunkles trat aus der noch tieferen Dunkelheit hinter ihr, ein
Schimmern von Augen und bleiches Haar wie Rauch. Sie hatte nicht gehört, wie sich das Tor geöffnet oder geschlossen hatte. Kalte Hände ergriffen ihre Arme, eisig trotz der Kälte, die sich durch ihren Körper auszubreiten schien. Sie schluchzte etwas, sie wußte nicht, was, und vergrub ihr Gesicht in dem feuchten Wollstoff eines Umhangs, der nach Tau und Friedhof roch, als könne sein Gesicht sie vor dem braunen Gesicht mit den Fangzähnen beschützen, das ihr so nahe gekommen war. Sie konnte nicht atmen und spürte kaum die kalten, behandschuhten Hände, die ihr das Haar aus dem Gesicht strichen und ihren Hals berührten. »Sind Sie verletzt?« Die Worte hatten keine Bedeutung für sie. War sie verletzt? fragte sie sich. Einen Moment trieb sie gewichtslos gegen ihn, nahm, so schien es, das Skelett im Inneren seiner Kleidung wahr, wie den Tod in seinem Leinentuch ... nahm fast nichts anderes mehr wahr. Sie hörte, wie er ihren Namen sagte, oder glaubte es zu hören, und als sie aufblickte, sah sie, unerreichbar weit fort, das Gesicht eines lebenden Mannes. Er rief wieder ihren Namen, und aufgewühlt, orientierungslos, aber wieder lebendig, keuchte sie und trat so schnell von ihm fort, daß er sie am Ellbogen fassen konnte, damit sie nicht stürzte. »Es tut mir leid«, brachte sie heraus. Sie sah sich im Hof um. Alles schien sehr weit entfernt und seltsam, als habe all das nichts mit ihr zu tun. Schock, diagnostizierte sie. Das Silbermesser lag auf dem Boden zu ihren Füßen, die zerschmetterte Lampe unter dem Granatapfelbaum. Sie fragte sich, was es kosten würde, sie zu ersetzen. »Ich wollte nicht...« »Sind Sie verletzt?« Seine Handschuhe glänzten von dem Blut aus den Krallenhieben an ihren Armen, doch sie wußte, daß er etwas anderes meinte. »Nein.« »Sind Sie sicher?« Sie nickte und betastete ihre Kehle. Sie hatte ihren hohen Kragen aufgeknöpft, bevor sie sich hingelegt hatte, aber die Silberketten waren noch da und lagen auf ihrer unberührten Haut. Sie bückte sich, um das Messer aufzuheben, und fiel beinahe; er hob sie auf die Arme, als wäre sie ein Kind, sprengte mit einem einzigen heftigen Tritt den Türriegel und trug sie hinein. »Sie sind durchgefroren.« Er setzte sie auf einen Stuhl in der kleinen unteren Halle, schloß die Tür wieder und schob einen zweiten Stuhl unter den Riegel, um sie geschlossen zu halten. Dann wandte er sich wieder zu ihr um und hüllte sie in das Sargtuch seines Umhangs. »Und Sie haben Angst.« Erst jetzt nahm sie die Angst wahr, die sie spürte; während des Kampfes selbst hatte sie nicht allzuviel empfunden. Sie fragte sich, warum. In dem Lichtschein der Lampe auf dem Treppenabsatz sah er auf seine Hände, die von Leder und Blut bedeckt waren. Mit einer schnellen Bewegung zog er die Handschuhe herunter, warf sie auf die Treppe und verschwand durch die dunkle Tür in der Küche. Einige Augenblicke später kehrte er ohne seinen Mantel zurück und trug eine Tonschale mit Wasser und noch eine Lampe, was Lydia zutiefst beruhigend fand. Er setzte die Lampe auf den Tisch der Halle ab, dann hielt er am Fuß der Treppe inne, um zu lauschen, und aus irgendeinem Grund erinnerte sich Lydia daran, wie er, in seinem weißen Gewand und barfuß, Pferdefleisch für seine Katzen aus dem Papier genommen hatte. »Sie ist in Sicherheit«, sagte er mit sehr leiser Stimme. »Sie sind nicht im Haus gewesen. Ich bitte um Vergebung wegen des Wassers. Der Kessel ist schon lange kalt.« Lydia hätte gern gewußt, was er aus Margarets Atmung herausgehört hatte: das friedliche Schniefen des Schlafs oder das schnelle, dünne, stoßweise Atmen aus Schuld und Angst und entsetzlich widersprüchlichen Gefühlen? Sie blickte zum Türriegel hinüber, doch selbst, wenn der Schein der einzigen Lampe heller gewesen wäre, so hätte sie unmöglich erkennen können, ob jemand den Riegel hinter ihr zugeschoben hatte oder ob die Tür einfach zugefallen war.
Ysidro schlug den Umhang von ihren Armen zurück, riß die Reste des Ärmels mit einer einzigen kleinen Handbewegung ab und holte einen Schwamm aus der Schale, die Wunden waren wenig mehr als Kratzer, brannten aber furchtbar. Lydia zuckte zusammen, denn das Wasser war, wie Ysidro angedeutet hatte, eiskalt. »Ich habe einen Eindringling gesehen«, sagte sie und biß die Zähne zusammen. Zu ihrem eigenen großen Ärger hatte sie wieder zu zittern begonnen und konnte anscheinend nicht aufhören. Mit grimmiger Anstrengung hielt sie ihre Stimme ruhig. Eine hysterische Frau war das letzte, was sie beide jetzt brauchen konnten. Außerdem wollte er sicherlich schnell die Information haben. »Er ist Türke, glaube ich, ich ... ich konnte ihn nicht deutlich sehen. Lassen Sie nur«, setzte sie schnell hinzu, als ihr klarwurde, wie irritierend der Geruch von Blut für ihn sein mußte, »ich mache das schon. In der Speisekammer ist etwas Brandy...« Er hatte auch Servietten mitgebracht, doch sie war nicht in der Lage, sich damit selbst die Arme zu verbinden, und so mußte sie doch warten, bis er zurückkam. »Es waren zwei«, fuhr sie fort, während er die Bandagen feststeckte. Seine weißen Finger waren sanft und schnell und eisig wie die Hand des Todes. »Ich glaube ... ich habe den anderen nicht genau gesehen, aber ich glaube nicht, daß er Türke war.« »War er ein Vampir?« Daran hatte sie nicht gedacht. »Ich ... ich weiß es nicht.« Ihre Stimmen hallten seltsam im Treppenhaus; ihre monströsen Schatten hingen über ihnen. Ysidro ging wieder und brachte die Schlüssel und den Schwamm hinaus. Als er zurückkehrte, umschloß er mit den Händen eine Tasse Tee, deren Duft sanft und neutral war wie Sonnenlicht auf Gras. »Sie ... sie haben mich von der Straße aus gerufen ... Jedenfalls habe ich geglaubt, daß mich jemand von der Straße ruft. Sie sagten, Jamie brauche mich.« »Ich bezweifle, daß überhaupt jemand auf der Straße war«, sagte Ysidro leise. »Er wird am Grab ein wenig von Ihrem Geist gespürt haben, und mit dem Wenigen konnte er Sie darüber täuschen, was Sie im Dunkel gesehen haben. Sie hatten recht, das turbe Al-Bayads war einer seiner Schlafplätze ... Er wird noch andere haben.« »Aber Sie haben keine Spur von Anthea oder Ernchester gefunden?« »Nichts.« Er ging zum Dielentisch und hielt einen Augenblick die Hand an die Flamme der Lampe, die dort stand, um sie zu wärmen. Das Feuer, das in dem kleinen Kolben aus rotem Glas flackerte, warf ein Zerrbild gesunder Sonnenbräune über seine Finger, sein Haar und die schädelartige Struktur seines nicht mehr menschlichen Gesichts. »Wie er wird sie ihren Schlafplatz Nacht für Nacht wechseln, und sein Bann wird seine Wirkung auch auf ihren Geist ausüben und vor dem Meister von Konstantinopel verbergen - und vor mir. Wenn Ihr Mann noch lebt, dann nur, weil der Meister von Konstantinopel versucht, ihn als Köder zu benutzen, um sie in die Falle zu locken, denn er fürchtet sie, ebenso wie Grippen.« »Grippen?« fragte Lydia. »Ist er nicht Antheas Meister, so wie er der von Ernchester ist?« »Man hat schon gehört, daß Zöglinge sich gegen die wenden, die sie gemacht haben.« Er betrachtete seinen Handrücken. Das Licht schien durch seine Finger zu scheinen wie durch Pergament und ließ spinnenfeine Knochen erkennen. »Es bedarf großer Kraft und großen Zorns ... aber schließlich ist Anthea stark. Er hat ihr immer mißtraut, wie alle Meister ihrer Brut mißtrauen; und zwischen Anthea und Grippen hat schon immer ein äußerst labiles Gleichgewicht aus Mißtrauen, Macht und Haß geherrscht. Ich vermute, daß er sie nicht zum Vampir gemacht hätte, hätte er nicht geglaubt, Charles bei ihrem Tod, die immer noch sterblich war, zu verlieren.« »Also sind sie nicht ... sie sind nicht gleichzeitig zu Vampiren gemacht worden.« »Nein. Charles war vierzig und Anthea dreiunddreißig, als Grippen Charles genommen hat. Anthea war über dreißig Jahre Witwe. Sie war schon alt, als Charles sie endlich holen kam - oder Grippen dazu brachte, sie zu holen. Sie haßte Grippen dafür, daß er die
Macht eines Meisters über sie ausübte, doch ihr war klar, daß dies das Tor war, das sie
durchschreiten mußte, wenn sie wieder mit Charles zusammensein wollte. Es ist ... eine
ziemlich traurige Geschichte. Wollen Sie noch mehr hören?«
Sie schüttelte den Kopf. Als er ihr die Tasse abnahm, sah sie, wie seine Kleidung auf ihm
hing, als sei nichts darin außer Knochen. Die zurückgeschlagenen Manschetten seines
Hemdes enthüllten die Knochen des Handgelenks, die wie Haselnüsse knotig unter
milchigweißer Haut lagen.
»Danke«, sagte sie leise.
Er machte eine Bewegung, als wolle er ihre Hand nehmen, dann zog er sich zurück.
Lange sahen sie sich in die Augen, und sie dachte widersinnigerweise: Es gibt noch
etwas zu sagen.
Er war es, der den Blick abwandte. Einen Moment blieb er bewegungslos, dann wandte er
sich vollständig um und schaute zur Tür. »Ich werde bis kurz vor der Morgendämmerung
hierbleiben, obwohl ich bezweifle, daß er zurückkommt. Morgen kann der Riegel an der
Tür repariert werden, und man kann solche Dinge um die Türschwellen und die Fenster
auslegen, an denen er nicht vorbeikommt. Zweifellos hat er von Karolyi erfahren, daß Sie
hier sind, und wollte sie unter seinen Einfluß bringen - um Sie zu zwingen, ihm das zu
sagen, was Karolyi versucht hat, aus Ihnen herauszulocken - wenn Sie es denn wissen.«
Lydia zitterte und dachte an den langen Weg die Treppe hoch zum Schlafzimmer. Selbst
Margarets Anwesenheit im Bett schien ihr jetzt willkommen.
Ysidro neigte den Kopf ein wenig und lauschte. »Sie schläft jetzt.« Er setzte zum
Weitersprechen an, dann schwieg er, als habe er, wie Lydia im Augenblick, nicht den
Wunsch, das Thema Margaret, und die Tatsache, wie er Margaret benutzte, zwischen
ihnen aufzubringen.
Da ist noch etwas, dachte Lydia wieder, als sie beisammen standen und einander im Licht
der Lampe ansahen. Doch Ysidro wandte sich ab, ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf dem
er gesessen hatte, und verschränkte seine knochigen Arme in dem Hemd, das zu groß für
ihn schien. Lydia ließ den Umhang von ihren Schultern gleiten, und als er ihn nahm, ging
sie langsam die Treppe hinauf.
Wie Ysidro gesagt hatte, schlief Margaret. Sie hatte ihr Korsett geöffnet und die Nadeln
aus dem Haar gezogen, doch sie war immer noch angezogen, als sei sie unglücklich
zusammengesunken und auf der Bettdecke eingeschlafen. Im Licht der Nachttischlampe
war ihr Gesicht angespannt, als träume sie schlecht. Lydias Hände zitterten, als sie ihr
zerrissenes Kleid aufknöpfte, denn langsam setzte die Reaktion auf das Geschehene ein.
Sie hatte nicht die Absicht, die Lampe neben dem Bett zu löschen, doch sie war so hell,
daß sie im Schlaf gestört hätte. Als sie um das Bett herum zur Lampe ging, sah sie ein
halbes Dutzend Seiten, die auf dem Boden um Margarets Korb mit den gehäkelten Rosen
verstreut lagen.
Sie waren unordentlich hingefallen, als habe sie sie gelesen. Als Lydia sie aufhob,
erkannte sie die Handschrift, präzise und schwarz und, obwohl die Tinte eindeutig neu
war, mit nichts zu vergleichen, das man seit den Tagen von Königin Elisabeth gesehen
hatte.
Es waren Sonette.
Über die Dunkelheit. Über Spiegel. Über unberührte Straßen, die sich endlos in die Nacht
erstreckten. Eins davon hatte Margaret mehrmals durchgerissen. Lydia mußte es auf den
Nachttisch legen, um die Teile wieder zusammenzufügen.
Und sie verstand.
Wie Blut auf Marmor - Rosenblütenblatt Wie Kupferdunkel auf des Löwen Fang;
Wie warmes Licht ist Wein, den frisch man trank.
Im Wein ist Traum, doch Blut das Leben hat.
Nur Blut vertreibt von Fleisch zu Fleisch den Schmerz,
Heiß der Rubin, der Geist erweckt und Leben,
Was kann dem Hunger Lind'rung geben
Als Feuerblut aus einem lebend' Herz?
Ich hab' ein Licht geseh'n, das Adern nicht umschließen In klugen Augen, Lächeln, der Verzweiflung bar.
Nur Farb' und Hitze mehr als Blut spür'n ließen
Und Ros' und Kupfer ruh'n auf Wangen, Lippen, Haar.
Doch Fleisch, das Feuer nicht erwärmen will,
Strebt nur nach Blut, sonst schweigt es ewig still
Die Papiere waren gefalzt, als seien sie kleingefaltet worden - im Häkelkorb verborgen,
dachte sie, oder in Margarets Reisetasche. Sie hätte gern gewußt, wann Margaret sie
gefunden und eingesteckt hatte.
Sie legte sie zurück auf den Boden, wo sie gewesen waren, und drehte das Licht herunter.
NEUNZEHN
Ein seltsamer Besitz für einen Vampir. Zwei silberne Schlüssel, die bis hin zum Griff genaue Repliken englischer Yale-Schlüssel waren. Asher starrte sie lange an, wie sie in dem verborgenen Schacht im Boden des rotgekachelten Kaffeezimmers lagen. Einheimische Arbeit. Wahrscheinlich hatte man gerade so viel Bronze zugesetzt, daß sie sich in einem Schloß nicht verbogen. Er wog sie in den Händen. Selbst mit Handschuhen würde ein Vampir Schwierigkeiten haben, sie lange genug zu halten, um sie zu benutzen. Außer jemandem, der so alt war wie der Meister der Stadt, der wie er in der Lage war, den Weißdornschaft seiner Hellebarde zu fassen und das Silbermesser in seiner dicken Scheide um den Hals zu tragen. Ashers Herz klopfte heftig, als er sie in seine Rocktasche gleiten ließ. Während er die Abdeckung aus Fliesen wieder über den Schacht schob und den schwarz-weißen Tisch an seinen Platz zurückstellte, schienen die Schatten, die seine einzige Kerze warf, in einer furchtbaren, lauernden Stille näher zu rücken. Es war, als stünde der Meister von Konstantinopel direkt vor der Tür. Er wußte, daß dies nicht der Fall war. Olumsiz Bey traf sich heute nacht mit einem seiner Geschäftsleute. Er selbst hatte Asher nach dem Abendessen in seine Galerie zurückbegleitet und eingeschlossen. »Ich muß mich für gestern nacht entschuldigen«, hatte der Vampir gesagt, »wegen Zardalu. Wie die meisten Palasteunuchen ist er verräterisch und unverschämt. Er brauchte eine ordentliche Tracht Prügel, damit er sich an seine Liebe zu mir erinnert.« Die bernsteinfarbenen Augen zogen sich zusammen, während sie Ashers Gesicht studierten. In dem unruhigen Flackern der durchbrochenen Lampe hatte es ausgesehen, als sei der Meister von Konstantinopel ganz und gar aus Bernstein geschmiedet: die blasse Haut war harzfarben; die plissierten Seidenhosen, die Tunika, die er darüber trug, die Weste und die Schärpe leuchteten in allen warmen Schattierungen von Feuer, Honig und Ringelblume; und sein pelzverbrämtes Gewand war mit schimmernden Goldplättchen besetzt. Der Bernsteinbrocken, der an seinem Ohrläppchen baumelte, fing das Licht ein wie ein unheimliches drittes Auge. »Ich hoffe, du verstehst, daß er ein Lügner ist«, fuhr Olumsiz Bey fort. »Er gibt nur dann eine Information, wenn er weiß, daß er damit Beute machen kann.« »Er hat mir in der Tat eine Reihe seltsamer Dinge über dieses Haus erzählt.« Asher verschränkte die Arme und erwiderte den Blick; selbst in seinen eigenen Gedanken existierten die Dietriche unter den Teppichen nicht. »Zweimal hat er mir den Weg nach draußen verraten.« Dies war eine Lüge. Er wollte sehen, was der Meister sagen würde. Olumsiz Beys Brauen bogen sich in der Mitte, und der harte Mund verzog sich zu einem Lachen. »Ich bemerke, daß du nicht auf die Suche gegangen bist. Es wäre schwierig gewesen, Sayyed zu überwältigen.« »Das zweite Mal hat er es mir auf andere Weise verraten«, sagte Asher. »Ich habe gehört, wie sie über die Spiele gesprochen haben, die sie mit ihrer Beute spielen, indem sie sie hier durch die Finsternis jagen; ich habe diese armen Jungen und Mädchen schreien hören.« Diesmal bog er die Winkel der farblosen Lippen, und Asher dachte: Also war er nicht gewöhnt, sich seine Beute von den anderen bringen zu lassen. Es war etwas Neues. Zardalu hatte recht. Etwas hielt ihn in diesem Haus. Ernchester? fragte er sich jetzt, während er vorsichtig an den Mauern des römischen Hofs entlang voranschlich, damit er keine Spuren in dem wuchernden Gras hinterließ. Es ergab keinen Sinn. Warum hatte er jetzt nach Ernchester geschickt, warum nicht vor
einem Jahr oder vor hundert Jahren? Warum nicht im Juli, als das Regime des Sultans gestürzt worden war? Wenn er ihn um Hilfe gegen den Eindringling bitten wollte, von dem Zardalu sprach, warum sollte er ihn in der Krypta einsperren? Vielleicht hungerte er, gewiß litt er Schmerzen - seine Klagen waren Schreie der entsetzlichsten Qual gewesen. Rache? Asher zitterte und tastete sich auf der alten Veranda von einer Säule zur anderen vor; er hatte seine Kerze ausgeblasen. Der rächende Arm des Beys würde lang sein. Aber so lang, daß er den alten Grafen aus seinem verfaulenden Stadthaus in London, aus seinem langsam zerfallenden Leben in die Stadt zurückholte, in der er als Lebender achtzehn Monate verbracht hatte? Womit mochte Ernchester das verdient haben, nach fast zweihundertfünfzig Jahren? Und was hatte der Eindringling mit all dem zu tun? Was war mit der Maschine, die der Bey bauen ließ? Oder mit dem Eis, das Asher gesehen hatte, wie es auf dem Boden hinter dem Silbergitter schmolz? Im hintersten Winkel seiner Gedanken fragte er sich, ob die Rache gar nicht Ernchester galt, sondern vielmehr Anthea. »Er ist nicht in diesem Zug«, hatte Anthea gesagt, als sie in sein Abteil zurückkehrte, während die flachen Landstriche Ungarns im Dunkeln vorüberflogen. Erschöpft, am Rande der Übelkeit durch den Kaffee, den der Schlafwagenschaffner gebracht hatte, mit schmerzendem Kopf, der bei jedem Klappern der gutgefederten Räder vibrierte, als seien sie an eine infernalische Maschine in seinem Kopf gekettet, hatte Asher zugesehen, wie sie den langen Schal mit den schwarzen Fransen abgestreift und den getupften Gazeschleier wieder angelegt hatte. Ihm schien sie unbeschreiblich schön, wie sie auf die flüssige Tinte des Fensterglases starrte. Das Licht in ihrem Abteil war das einzige, das auf der ganzen Länge des Orientexpresses brannte, und dann und wann warf es falsche Feuerfäden über das windbewegte Gras neben dem Gleis. Nicht einmal der Mond stand mehr am Himmel. »Gut.« Asher legte das Buch beiseite, das er versucht hatte zu lesen, eine wahrhaft erschröckliche Erzählung von Liebe und Leid im Rom zur Zeit Neros; und gleichzeitig versuchte er, die in ihm aufwallenden Regungen von Beschützenwollen und Begehren fortzuschieben. Betont beiläufig sagte er: »Das bedeutet, daß wir jede Chance haben, Konstantinopel vor ihm zu erreichen. ›Die Toten reisen schnell‹, sagte Goethe - aber wenige Dinge reisen schneller als der Orientexpreß. Wenn er Wien auf irgendeinem anderen Weg verlassen hat, sogar wenn er sofort, nachdem er aus dem Sanatorium entkommen war, einen anderen Zug genommen hat, ist er immer noch einen Tag hinter uns. Würden Sie es wahrnehmen, wenn er die Stadt erreicht?« »Ich ... weiß es nicht.« Sie drehte die Perlknöpfe ihres Handschuhs in den Fingern, ein wunderschöner Geist in einem blau-violetten Seidenkleid. Er erinnerte sich an das mondlichtbleiche Vampirmädchen in den Wäldern vor dem Sanatorium und erkannte diese furchtbare warme Woge des Begehrens als das, was es war - das Lockmittel für die Beute. Es war kaum zu spüren, und doch war es da. Er wollte sie. »Ich weiß nicht, was für Absprachen er mit diesem Olumsiz Bey getroffen hat«, fuhr sie einen Moment später fort. »Ich habe in den Reiseführer gesehen. In der Stadt gibt es kleinere Bahnhöfe, bevor man den Hauptbahnhof erreicht, und dieser ... dieser Bey, dieser Meister ... hat vielleicht geplant, ihn auf einem anderen zu treffen. Ich weiß nicht, ob es sicher für mich ist, den Hauptbahnhof die Nacht über zu beobachten. Vielleicht kommt er überhaupt nicht mit dem Zug in die Stadt. Charles hat Zügen nie getraut, ebensowenig wie die Londoner Untergrundbahn, er hat sie nie gemocht und ist nie damit gefahren. Und die Stadt selbst, ihre Geräusche und Düfte, werden ... anders sein.« Sie verstummte. Ihre Finger in den Spitzenhandschuhen ruhten immer noch auf dem purpurfarbenen Plüschvorhang, und ihre Augen blickten unverwandt in die Nacht hinaus. Sie sah die Nacht mit den Augen der Nacht. »Selbst Paris ist anders als London«, sagte sie schließlich, als spreche sie zu sich selbst.
»In London weiß ich, wenn ein Polizist zwei Meilen im Umkreis eines unserer Häuser von seinem gewohnten Weg abweicht. Ich könnte Charles finden, und wenn er im tiefsten Keller schliefe, durch die dunkelste Seitengasse ginge, ob er auf den Stufen von St. Paul oder in den Lagerhäusern von Whitechapel jagte - wenn ich Zeit hätte. Wien war anders, ein Chaos, ein Spiel ohne Regeln. Konstantinopel...« Sie schüttelte den Kopf, doch Asher hörte, daß ihre Stimme nicht vor Furcht, sondern vor Erregung und Freude vibrierte. »Es ist seltsam«, sprach sie weiter, so leise, daß ihre Stimme kaum noch hörbar war. »Ich sollte entsetzt sein. Außerhalb von London bin ich eine Schnecke, die ihr Haus verloren hat, ein Kaninchen, das seinen Bau nicht mehr findet. Und doch ist alles, was ich spüre, Freude. Die Lichter des Pont d'Alexandre in Paris, als befinde man sich im Innern eines Sterns; all die Stimmen, die Musik und die Düfte von Wien, die mich trunken gemacht haben, als ich den Ring entlangging. Ich weiß, ich hätte innerhalb von Sekunden vernichtet werden können, doch ich hatte nur den Wunsch zu tanzen, zu lachen, meinen Hut abzunehmen und ihn an seinem Schleier herumzuwirbeln, einfach, weil ich ... einfach, weil ich woanders war. Etwas Neues sah, etwas Wundervolles, das ich nie zuvor gesehen hatte. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können.« »Vielleicht nicht ganz«, sagte Asher. »Ich bin noch niemals tot gewesen.« »Das bedeutet es, am Leben zu sein, nicht wahr?« Sie wandte sich zu ihm und griff nach oben, um die mit Jettsteinen besetzten Stahlnadeln herauszuziehen, die ihren Hut auf dem zusammengesteckten rabenschwarzen Universum ihres Haars hielten. Asher nickte. Jetzt verstand er etwas anderes an ihr, und das Begehren, das er spürte, trat zurück und verwandelte sich in Mitleid. »Sie wollten niemals Vampir werden, oder?« Sie zögerte. Ihr Hut war wie ein dunkler, üppiger Blumenstrauß in ihren Händen. »O schon«, sagte sie. »Diese Verschärfung, die Vertiefung, die Bereicherung der Sinne ... man trinkt in der Farbe von Seide oder dem Duft von Kaffee, oder dem Schluchzen der Geigen weit weg in der Nacht. Oder dem Geruch von Blut, von Schweiß, von menschlicher Angst. Es ist das ganze Universum, wie es kein Sterblicher erlebt, außer vielleicht ein kleines Kind. Das ist das Leben. Und mehr als alles andere wollte ich Charles nicht verlassen, niemals. Sobald ich einmal damit begonnen hatte, wollte ich es, gierte danach, wie ein Trinker nach Branntwein giert.« Ihre Lippen verzogen sich bedauernd; sie waren blaß, stellte Asher automatisch fest. Nachdem Anthea ihn aus ihrem Sarg gelassen hatte, waren sie zum Zug geeilt, den sie in letzter Minute erreicht hatten. »Ich nehme an, Menschen werden Vampire, weil sie das Leben wollen; sie wollen ein Leben, das nicht endet, nicht einmal schal wird wie das Leben der Alten.« Sie strich über die Straußenfedern ihres Huts, wickelte sie um ihre Finger und wich seinem Blick aus. »Aber tot zu sein, bedeutet ... statisch zu werden. Und genau das werden wir alle. Wir rei sen nicht, weil es gefährlich ist. Wir mauern uns in unseren Häusern ein, unseren Krypten, unseren geheimen Lebensgewohnheiten, denn wenn wir während der Stunden des Tageslichts schlafen, sind wir wie betäubt. Wir umgeben uns mit Schlössern und Fallen und Dingen, die wir kontrollieren können, und zerstören das, was wir nicht kontrollieren. Wir werden zu Toten. So zu reisen...« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Alles Neue bedeutet Gefahr, Todesgefahr - und vielleicht ist Todesgefahr eine Definition für das Leben. Manchmal habe ich das Gefühl, ich werde niemals wieder nach London zurückkehren.« Asher dachte an Cramer, der einer der Besten geworden wäre, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen; ihr Gesicht war von ernster Schönheit. Er wußte, das, was das mondscheinfarbene Mädchen versucht hatte, ihm in der gefleckten Stille des Wienerwalds anzutun, hatte diese Frau mit Tausenden von Männern in den Straßen und Gassen von London getan: sie dazu gebracht, sie zu lieben, sie zu begehren, zu
brauchen, mit einer Sehnsucht, die sie ohne zu denken, zum Tode verurteilt, in ihre Arme führte. Er erinnerte sich an Fairport, wie er kläglich geschrien hatte, als die Vampirfrauen ihm die Kleider heruntergezogen und mit kleinen Schnitten, die nicht sofort töten würden, seine Venen zerrissen hatten; sein Entsetzen und seine Verzweiflung ebenso wie seinen Tod getrunken hatten. Fairport, der nur hatte leben wollen wie ein normaler Mensch. Und doch streckte Asher die Hand aus und berührte die langen, kräftigen Finger. »Danke, daß Sie mit mir gekommen sind«, sagte er ruhig. »Danke, daß Sie ... daß Sie dafür sorgen, daß mir nichts zustößt.«
Ich habe das Gefühl, ich werde niemals wieder nach London zurückkehren. Als er allein im dunklen Herzen der Krypta stand, fühlte Asher, daß sich die Angst, er werde Lydia nie wiedersehen, wie ein Messer in sein Herz senkte. In seiner langgestreckten Gefängniszelle, während er den Rufen der Muezzine lauschte, die den Sonnenuntergang ausriefen, dem unaufhörlichen Gezänk der Möwen, dem Vorbeihuschen von Vampirschritten in den Labyrinthen unter ihm, das wie das Flüstern des Windes war, hatte er oft an sie gedacht. Auf seltsame Weise war er froh, daß, wenn es so kommen sollte - wenn er im Haus der Oleander sterben würde -, er es an jenem regnerischen Morgen nicht gewußt hatte, als er nur der seelischen Qual des Begräbnisses seines Cousins entgegengesehen hatte und den abstoßenden Szenen verwandtschaftlicher Gier, die mit Sicherheit folgen würden. Dann wäre er ernst gewesen, dachte er, und sein Ernst hätte die Kissenschlacht am Morgen seiner Abreise vollständig verdorben, und das Lachen und Gerangel zwischen Spitze und Küssen und verirrten medizinischen Fachzeitschriften. Sieben Jahre. Es hätten mehr sein sollen. Vielleicht war sie ihm bis Wien auf der Spur geblieben, doch Anthea hatte sie beide in den Zug geschmuggelt und es war unmöglich, daß jemand von Halliwells Abteilung, der Staatspolizei oder der Kundschaftsstelle sie hatte einsteigen sehen. Schmal, sachlich und begabt mit einer feenhaften Schönheit, die sie sich selbst verboten hatte zu sehen ... Seine Seele schmerzte, plötzlich und verzweifelt, vor Sehnsucht, sie noch einmal zu sehen, bevor er starb. Nur dies, wenn nichts anderes möglich sein sollte ... Er fragte sich, ob sie, wenn sie seine Kontakte in Wien überprüfte, irgendwie auf Françoise stoßen würde ... Die angelaufenen Silberdrähte schimmerten schwach im Licht der Kerze und schienen selbst in dem tröstlichen gelben Schein kalt. Asher setzte die Kerze, deren Ende mit einer aus einem Buch ausgerissenen Papierscheibe geschützt war, um verräterischen Wachstropfen vorzubeugen, vorsichtig auf eine Querstrebe, während er sich sorgfältig mit den gedrehten Bronzedrähten seines selbstgebastelten Dietrichs an die Arbeit machte. Die Kälte der Novembernacht, die Massen des hier aufgetürmten Eises und ... die Angst machten es ihm schwer, die Hände ruhig zu halten. Die Stille machte die Dunkelheit noch dunkler, und der Gestank von Ammoniak würgte ihn in der Kehle. Die silbernen Türangeln quietschten nicht. Er trat in den niedrigen Korridor und schob sich an Pfützen, Sägemehl und Stroh vorbei. Wieso Eis? Absurderweise erinnerte er sich an etwas, das der Vampir Ysidro ihm einmal erzählt hatte, nämlich daß alternde Vampire Kälte nicht vertrugen. All dies hatte doch sicher nicht nur den Zweck, es einem alten Feind ungemütlich zu machen? Er fragte sich, ob Ernchester, wenn er den Vampirgrafen ein zweites Mal befreite, überhaupt mit ihm zusammen fliehen würde, oder ob er ihn, wie in Wien, einfach freilassen und sich an den türkischen Meister halten würde, der ihn gerufen hatte. Warum? Die zweite Tür des Korridors öffnete sich, und vor Asher lag wie schon vermutet, ein enger Dschungel aus Drähten und Rohren und Tanks. Der beißende Gestank von
Ammoniak hing ätzend in der Luft. In dem schwachen Lichtschein waren auf einer Kiste die Worte ›Zwanzigstes Jahrhundert - Gesellschaft für Kühlanlagen‹ zu lesen. Gefrierkästen, eine Absaugpumpe, Schläuche, die herabhingen wie obszöne Innereien aus Gummi. Glasflaschen mit giftigem Ammoniakgas schimmerten wie monströse Eier. Obwohl der Boden des Korridors naß gewesen war, gab es hier drinnen keine Spuren, kein Stroh, kein Sägemehl. Nachdem er einmal die Installation eines neuen Ofens in einem der Hörsäle des New College miterlebt hatte, vermutete Asher, daß irgendein Teil oder ein Ventil defekt war und daß man es aus Berlin kommen ließ. Fünf Tage seit dem Maschinenschaden, hatte der Bey geschrien, und immer noch keine
Nachricht ... Er zog die Tür zu, schloß sie ab und wischte mit seinem Taschentuch über den silbernen Türgriff. Die Klinke der zweiten Tür war wie aus Eis. Das Schloß öffnete sich mit einem Geräusch wie von Hämmern, die Sargnägel einschlugen. Von drinnen wurde es von einem tiefen, ekelerregenden Stöhnen erwidert, wie aus den Tiefen eines Grabs. Der Gestank, der Asher überrollte, als er die Tür nach innen aufstieß, blendete ihn beinahe. Er schloß die Augen und wandte das Gesicht ab. Dummkopf ..., dachte er im nächsten Augenblick. Und dann: Wenn es trotz der Kälte hier drin so schlimm ist ... Sein Atem war wie eine Wolke im schwachen Kerzenschein; der Rauhreif an den Steinwänden glitzerte wie das Eis, das die Krypta beinahe ausfüllte. Doch das alles trat in den Hintergrund vor der dunklen Kreatur, die durch die schmutzige Schicht aus halbgefrorenem Sägemehl und Stroh auf dem Boden auf ihn zukroch - und er verstand, was es war und was es bedeutete. Als er in das Gesicht hinabstarrte - in das, was von einem Gesicht übrig war -, wußte er alles, nur nicht, wo Ernchester war, doch, selbst das konnte er jetzt fast erraten. Dann schnürte der vernichtende Griff einer fleischigen Hand ihm den Atem ab, und er wurde mit solchem Schwung rücklings durch die Tür geschleudert, daß sich seine Füße vom Boden lösten. Er hatte gerade noch Zeit, den Kopf einzuziehen, ehe er gegen die Wand des Korridors krachte; er wurde nicht dagegengeworfen, wie zuvor, als Olumsiz Bey ihn weggeschleudert hatte, sondern mit einer Kraft an die Wand geschmettert, die ihm die Rippen hätte brechen können. Er schrie auf - jedenfalls dachte er, er hätte aufgeschrien -, als die Knochen in ihm brachen. Sein Bewußtsein erstickte in Dunkelheit, der Atem wurde aus ihm herausgepreßt und schien nicht zurückkehren zu können. Ein zweites Mal schlug er gegen die Wand, und sein linkes Schulterblatt wurde von einem Schmerz durchzuckt, als sei es von einer Axt getroffen worden. Und die ganze Zeit über schrie eine Stimme auf ihn ein, schrie Flüche auf persisch und arabisch und türkisch, die ihm durch seine immer verzweifelteren Anstrengungen zu atmen unverständlich blieben ... Er wußte nicht, in welcher Sprache, aber er glaubte, daß die Stimme schrie: »Ist es das, was du wolltest? Ist es das, was du gesucht hast?«, und eine Hand drehte seinen Kopf herum. Der Druck auf die Wirbelsäule war unerträglich, das eisige Wasser auf dem Boden, in dem er lag, durchnäßte ihn. »Ist es das, was du zu sehen wünschtest?« Doch er konnte nichts sehen, denn die Kerze war auf den nassen Boden der Krypta gefallen, nichts außer vor seinem inneren Auge das verzerrte Gesicht des Wesens in der Krypta. Klauen schlitzten seinen Ärmel von der Schulter bis zum Saum auf, während sich ein Knie in seinen Rücken bohrte und ein furchtbares Gewicht ihn auf einem Stein festnagelte. Seine Nackenwirbel krachten unter der Hand Olumsiz Beys, die sich unversöhnlich in sein Fleisch hineingrub. Sein Arm wurde bis zum Handgelenk aufgerissen, das Blut brannte heiß auf seiner plötzlich kalten Haut, und die ganze Zeit wuchs der Gestank um ihn herum, näherte sich ihm in immer heftigeren, gräßlichen Wellen, während etwas mit einem schleimigen Geräusch gegen die nahe gelegene Wand fiel und sich mit einem furchtbaren, gepreßten Stöhnen durch die Pfützen auf dem Boden
schleppte. Etwas tastete an seinem Arm herum, scharfe Zähne, von etwas Schlüpfrigem und Klebrigem umgeben; er hörte, wie der Vampir flüsterte: »Trink. Trink, mein Kätzchen, mein Kind, mein Geliebter ... trink...« Etwas, das ihm wie eine Hand schien - oder etwas, das einmal eine Hand gewesen war -, fühlte haltsuchend an seinem Arm entlang. Dann wich das Ding mit einem würgenden Laut zurück, schwankte, kroch unter entsetzlichen Geräuschen wieder zur Tür der Krypta zurück und begann sich zu übergeben. Asher vermutete später, daß es vor allem das Nachlassen des Drucks auf seinem Nacken und sein Rückgrat gewesen war, was ihn endlich ohnmächtig hatte werden lassen. Er glaubte nicht, daß er länger als eine oder zwei Minuten bewußtlos gewesen war; der stechende Schmerz einer Aderpresse an seinem Arm holte ihn in dieselbe tintenschwarze Dunkelheit zurück, in das eisige Wasser, das durch seine Kleidung an seine Haut drang, in die flaue Schwäche durch den Blutverlust. Der kupfrige Geruch seines eigenen Bluts war noch das am wenigsten Schreckliche, das er roch. Die Kälte hatte ein wenig nachgelassen. Die Tür der Krypta war geschlossen. Sein Körper schmerzte, wenn er vorsichtig Atem holte, und er sagte leise: »Also deswegen wolltet Ihr Ernchester.« »Du weißt nichts von diesen Dingen.« Die Stimme des Meisters klang schrill, zersplittert und dünn. Seine Hände zerrten an der Aderpresse, als wolle er den Arm abreißen, den er gerade abband. »Ich weiß, daß Ihr gegen einen Eindringling in Euer Territorium kämpft. Ich weiß, daß Ihr keinem der Zöglinge traut, die Euch geblieben sind ... und ich weiß jetzt, daß Ihr die Fähigkeit verloren habt, neue zu machen.« Nägel gruben sich in seine Arme und zerrten an dem tauben Fleisch. »Das ist es, nicht wahr? Ihr seid seit Jahren nicht mehr in der Lage, einen Zögling zu machen. Nur sechs Vampire für eine der größten Städte Europas? Wo es die Regierung nicht einmal interessiert, ob Ihr tötet, solange es Armenier, Juden und Arme sind? Selbst Eure Zöglinge hatten angefangen, darüber zu reden, daß Ihr sehr wählerisch geworden wart, wenn es darum ging, neue zu machen, um die zu ersetzen, die vernichtet worden waren. Aber als der Eindringling kam, mußtet Ihr den Versuch machen. Und als Ihr gesehen habt, daß es nicht funktionierte - daß Ihr den Geist des Zöglings über den Tod des Körpers hinaus am Leben halten, nicht aber den Körper selbst retten konntet -, da habt Ihr Eure Kontakte zu den Verbündeten des alten Sultans genutzt, um nach dem neuen Vampir zu schicken, von dem Ihr wußtet, daß Ihr ihn kontrollieren konntet, dem einen, von dem Ihr wußtet, daß seine Zöglinge Euer sein, unter Eurer Macht stehen würden...« Die Hand schloß sich wieder um seinen Hals. Diesmal würgte sie ihn nicht, die klauenartigen Nägel gruben sich vielmehr wie Wolfszähne unter das Bündel von Nerven, Sehnen und Blutgefäßen unterhalb seines Ohrs. Das harte Knie bohrte sich in seine Brust, wie die kleine, stumpfe Spitze eines Rammbocks. Olumsiz Bey sagte sehr leise: »Ich ... könnte ... dich ... töten.« »Wenn Ihr mich nicht als Köder brauchtet«, sagte er, kaum zu einem Flüstern fähig unter den bohrenden Klauen. »Als Köder, um Anthea in die Falle zu locken, und als Köder für den Grafen. Falls Ernchester nicht schon auf Seiten des Eindringlings ist.« Die Hand ließ seine Kehle los. Nasse Seide streifte über seine Wangen und seinen bloßen Arm, als der Vampir aufstand. Dann trat Olumsiz Bey ihn wieder und wieder, wie mit gezielten Hammerschlägen, wie ein Mann, der einen Felsen zerschmettert, und sehr bald verlor Asher wieder das Bewußtsein.
ZWANZIG
»Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammad ist Sein Prophet.« Die Stimme des
Muezzin drang in den schweren Nebel von Ashers Träumen ein wie Golddraht. »Kommt
zum Gebet. Kommt zum Gebet.«
Anthea, dachte Asher, versuchte zu Bewußtsein zu kommen und glitt dann zurück in die
samtenen Abgründe der Bewußtlosigkeit. Er konnte sie im Zug sehen; ihr Profil war eine
milchweiße Küste vor dem schwarzen Fenster. »Ernchester hat Zügen nie getraut«, sagte
sie, und dann verwandelten sich ihr bleiches Gesicht und ihre weißen Hände in die mar
mornen Knochen der Grabstellen vor dem Adrianopel-Tor, und das Dunkel ihres Kleides
und ihres Haars in die schwarze Kälte der Nacht.
In zartem Mondlicht sah er einen Mann gehen. Klein und gebeugt in seiner altmodischen
Kleidung, bewegte er sich doch mit der huschenden Leichtfüßigkeit eines Vampirs von
einem Grabstein zum anderen. Im offenen Gelände blieb er abrupt stehen, als halte er
den Atem an. Asher spürte die Gegenwart des Schattens, ohne ihn zu sehen, doch in
seinem Traum schien es ihm, als röche er wieder die abstoßende Mischung aus Blut und
Moder, die ihn in der Dunkelheit der ausgetrockneten Zisterne überwältigt hatte.
Ernchester machte eine Bewegung, wandte sich um wie zur Flucht, doch als er sich
umdrehte, war der Schatten vor ihm.
Die Luft war von Vampirlachen erfüllt.
Meinst du, er hat diesem Mann jetzt seine Gunst entzogen, und er ist unser?
Die Stimme schob sich in die verblassenden Szenen seines Traums, als habe der Wind
die Worte gesprochen, doch er wußte, was es war.
Panikerfüllt kämpfte er darum, aufzuwachen, kämpfte sich aus dem Abgrund zurück.
»Wenn er ihn tot sehen wollte, wäre er tot und nicht hier«, brummte die Stimme, die er
als die des einäugigen Haralpos erkannte.
»Weck ihn auf«, kicherte die Kadine Baykus. »Weck ihn auf, und frag ihn.«
Wach auf! schrie er sich zu. Wach auf, sie stehen alle um dein Bett herum! Der Schlaf lag
wie ein samtenes Kissen über seinem Gesicht. Vielleicht erkannte sein Körper, daß er
Schmerzen haben würde, wenn er aufwachte.
»Vielleicht sollte man ihn wachküssen«, sagte Pelageya mit ihrer tiefen Stimme, »wie
Dornröschen?« Etwas, das Fingernägel hätten sein können, zog eine Spur über die bloße
Haut seiner Brust.
Das Flüstern verwischte sich, floß ineinander. Er glaubte, den schwachen goldenen
Umriß der offenen Tür zum Korridor draußen zu sehen, das unterseeische Flackern der
durchbrochenen Messinglampen, doch die Vampire konnte er nicht erkennen. Nur das
rote Glühen ihrer Augen.
»Vielleicht weiß er, wohin der Bey gegangen ist?«
»Wie kommst du darauf?«
»Jemand muß ihn hierhergebracht haben...«
»Wir müssen ihn finden...«
»Und was sollen wir ihm erzählen?« wollte Zardalu verächtlich wissen. »Daß man
irgendeinen wertlosen armenischen Hund mit aufgeschlitzter Kehle gefunden hat?«
»Ausgeblutet...«
»In einer Kirche...«
»Der Mann war ein Priester...«
»Dann hatte er es verdient, wer auch immer es ihm angetan hat.«
»Er ist nicht der einzige gewesen. Da war der alte Feigenverkäufer im Koum Kapou...«
»Er wird langsam unverschämt, unser Schattenwolf.« Zardalu sprach den Namen auf
türkisch aus: »Gölge Kurt«, und die Worte klangen im Strom seines höfischen Osmanli
hart und guttural. »Nun muß unser Bey dieses dumme Versteckspiel beenden, muß
wieder durch die Nacht streifen und aufhören, sich hier mit seinem dastgah und seinen
ungläubigen almanya zu verkriechen.«
»Und wenn er es nicht tut?«
»Diese Art des Tötens ist dumm und sinnlos, seine Opfer so liegenzulassen, daß man
darüber stolpert. Kein Wunder, daß der Bey uns angewiesen hat, diesen Eindringling
Gölge Kurt zu finden, ihn zu töten...«
»Was erwartest du von einem Bauern, der sich für einen Soldaten hält, weil ein anderer
aufmüpfiger Bauer ihm ein Gewehr in die Hand gedrückt hat?«
»Wir müssen den Bey finden...«
»... ihn finden...«
Er wußte nicht, ob sie jemals wirklich tot gewesen waren. Ihm schien, daß er irgendwie
erschrocken aufwachte und das Gemach leer vorfand. Die Tür stand noch offen, ein
goldener Umriß, und auf den verputzten Wänden zitterten die Lichtmuster der Lampe
immer noch wie ein geisterhafter Schal.
Du weißt nichts von dieser Sache, hatte Olumsiz Bey gesagt.
Und Charles: Ich liebe sie bis zum Tode, und darüber hinaus.
Er glaubte zu wissen, wo Olumsiz Bey zu finden war, und sein Herz krampfte sich
zusammen, krank vor Schock und Mitleid.
»Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammad ist Sein Prophet.« Die Stimme des
Muezzin hallte gedämpft durch die Fenstergitter, als der bis ins Kitschige überhöhte,
großartige Sonnenuntergang von Konstantinopel im Westen sein Leben aushauchte.
Sie konnte die Hände kaum ruhig halten, daher war es nicht leicht, ihrer Frisur eine
angemessene Symmetrie zu verleihen. Und ohnehin, dachte Lydia und richtete ihre
Gedanken auf das, was sie gerade tat, als sei es eine Sektion - mit einer Art kühler,
forschender Bedachtsamkeit -, ohnehin hatte ihr Haar noch nie die modischen Locken
angenommen, die für eine Frisur à la greque notwendig waren. In ihrem derzeitigen
Geisteszustand konnte sie von Glück reden, wenn sie nicht die Hälfte mit dem Brenneisen
versengte.
Sie versuchte, den Umschlag mit dem Siegel der Habsburger nicht anzusehen, der auf
dem Tisch neben ihr lag.
Nicht, daß das nötig gewesen wäre. Sie kannte jedes Wort der wenigen Zeilen, die darin
geschrieben standen.
Wenn Sie das Leben Ihres Mannes retten wollen, treffen Sie mich heute um drei Uhr an der Verbrannten Säule. Jemand, der Ihnen nahesteht, ist ein Diener des Bey - erzählen Sie niemandem davon, aber wenn Sie nicht kommen, wird Ihr Mann vor dem Morgengrauen tot sein. Vertrauen Sie mir. Karolyi. Vertrauen Sie mir. Lydia hatte die Verbrannte Säule vor zwei Tagen gesehen, als Razumovsky nach dem Ausflug in den Bazar einen Umweg dorthin gemacht hatte. Ein massives Monument aus byzantinischem Porphyr, die Bronzereiter geschwärzt von uraltem Rauch. Sie stand im Mittelpunkt des alten Marktviertels, eines Labyrinths aus Höfen, Gassen, Lagerhäusern und zerfallenen, nicht mehr benutzten Badehäusern im ältesten Teil der Stadt. Das war genau der Ort, den man für eine Entführung wählen würde, wollte man das Opfer an sich reißen und in aller Ruhe chloroformieren. Als die Nachricht heute morgen gekommen war, war ihr erster Gedanke gewesen: Für wie dumm hält er mich eigentlich? Er mußte erkannt haben, überlegte sie, daß sie ihm nicht von Nutzen sein würde und daß sie in der Lage war, seine Pläne zu durchkreuzen. Das sichere Empfinden, daß sie recht hatte, hatte es jedoch nicht leichter gemacht, beim
Tee mit Lady Clapham zu hören, wie die Uhr der Botschaft drei schlug. Und wenn Herr Jacob Zeittelstein heute abend nicht auf dem Empfang bei Herrn Hindls türkischem Partner war - wenn er nicht, wie erwartet, heute nachmittag aus Berlin zurückgekehrt war -, wußte sie nicht, was sie tun würde. Es war Mittwoch abend. James war seit einer Woche verschwunden. Sie schloß die Augen, und ihre Hände zitterten so sehr, daß sie sie senken mußte. Das Eisen kühlte in ihrer Hand ab. Lieber Gott, mach, daß ich ihn finde, betete sie. Lieber
Gott, zeig mir eine andere Spur, wenn diese ins Leere führt. Eis, dachte sie sofort. Es schien, als höre sie Razumovsky, wie er im Lärm des Großen Bazars gesagt hatte: Irgend jemand weiß immer etwas ... Wenn Herr Zeittelstein nach Berlin gefahren war, um ein Ersatzteil für die Kühlanlage zu holen, war zu vermuten, daß Olumsiz Bey Eis kaufte. Vielleicht würde es ein paar Tage dauern, das nachzuprüfen ... Ein paar Tage kann ich mir nicht leisten! dachte sie verzweifelt. Jamie kann sich diese
Tage nicht leisten! Da war das Geräusch hinter ihr. Sie riß die Augen auf, und Panik verstärkt durch zu wenig Schlaf, überflutete sie ... Der Spiegel warf ein Bild Margarets zurück, die zögernd in der Tür hinter ihr stand und in das durch die Gitter fallende Licht des Sonnenuntergangs blinzelte. Lydias Magen krampfte sich vor Zorn und Angst zusammen. Ich glaube nicht, daß ich noch eine Szene ertragen kann, dachte sie entsetzt. Sie schob ihre Brille hoch und wandte sich auf dem Stuhl um. Ihr rotes Haar rann wie ein unordentlicher Fluß über ihre milchweißen Schultern. Sie wußte, sie sollte etwas Neutrales sagen, auf keinen Fall etwas, das einen Streit hervorrief: Hallo, Margaret, oder:
Haben Sie gefunden, was Sie bei Ihrem Einkaufsbummel heute morgen gesucht haben? Als Lydia aufgewacht war, war die Gouvernante fortgewesen. Doch sie fühlte sich zu müde, um die Worte hervorzubringen. Sie schaute nur, und Margaret beschäftigte sich einige Minuten damit, den Spitzenbesatz ihrer Handschuhe glattzustreichen, als sei dies die wichtigste Aufgabe des Tages. Dann blickte Margaret auf. »Mrs. Asher - Lydia - es ... es tut mir leid.« Seit sie fünf Jahre gewesen war, hatte man Lydia darauf gedrillt, zu lächeln und zu sagen: Schon gut. Ihre Oberarme waren über und über mit Pflastern und Verbänden bedeckt. Sie hatte Dr. Manzetti - und Lady Clapham, die ihr den Arzt empfohlen hatte und sie heute morgen zu ihm begleitet hatte - erzählt, sie sei von Hunden angefallen worden. Auf ihrem hervorstehenden Schlüsselbein und ihren Handknöcheln fühlten sich die Silberketten, die ihr das Leben gerettet hatten, schwer und kalt an. Lydia konnte nicht einmal fragen Warum? Das Sonett, das sie gefunden hatte, war der Schlüssel. Sie hatte den größten Teil der Nacht wachgelegen und nachgedacht, und ihr war bewußt geworden, daß die Erinnerung an jene Zeiten ihr Herz immer noch in einem Gefühl, das sie nicht definieren konnte, schneller schlagen ließ. Ganz anders als das, was sie für James empfand. All ihre Furcht vor Ysidro war zurückgekehrt und in seltsam verwan delten Wellen über ihr zusammengeschlagen. Ganz anders als das, was sie kannte oder jemals kennengelernt hatte. Untröstlich und still starrte Margaret sie mit Tränen in den blauen Augen an. Lydia spürte den Zorn hinter ihrer ruhigen Haltung. »Sie haben Angst um ihn«, sagte sie vorsichtig, »und Sie wollen ihm helfen. Sie haben Angst, daß er wegen des Versprechens, das er mir gegeben hat, sterben wird.« Margaret lief rot an und sah wieder auf ihre Handschuhe hinunter; unter ihren dicken Brillengläsern quollen langsam Tränen hervor. Diese Frau hatte versucht, sie zu töten, dachte Lydia matt. Warum schonte sie sie? Auch darauf kannte sie die Antwort. Denn Margaret hatte nicht nur wegen des Sonetts
die Tür hinter ihr verschlossen, sondern auch weil sie Lydia Willoughby, eine reiche Erbin, war; wegen all der Sonette, die niemand jemals für die Margaret Pottons dieser Welt schreiben würden. »Es tut mir so leid«, flüsterte Margaret. »Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist...« Sie wandte sich zur Flucht, doch dann hielt sie inne und drehte sich um. Mit gesenktem Kopf stand sie da und erwartete ihre Strafe. Einen Augenblick lang fragte Lydia sich, ob der Eindringling - dieses viehische Gesicht, von dem sie die wenigen Male, die sie letzte Nacht tatsächlich die Augen geschlossen hatte, jedesmal hämisch angegrinst worden war, der Urheber von Margarets Eifersucht war, so wie er über sie selbst die Apathie geworfen hatte, die ihre Schreie erstickt hatte. Sie glaubte es nicht. Doch sie vermutete, daß Ysidro unter ähnlichen Umständen so etwas getan hätte. Und sie erschauerte. Sie wollte nicht an Ysidro denken, an das Picquet-Spiel im Zug oder an bloße weiße Füße, die vor ihr die feuchte Steintreppe hinaufstiegen ... »Es ist schon gut«, sagte sie. Margaret sah beiseite und begann zu weinen. Verdammt, dachte Lydia; sie wußte, daß sie Trost zu spenden hatte, obwohl sie selbst erschöpft und bekümmert war und sich fragte, ob sie heute nachmittag James' Leben in den Wind geschrieben hatte, indem sie Karolyis Nachricht als Lüge eingeschätzt hatte, sich fragte, was sie tun würde, wenn Zeittelstein nicht bei dem Empfang war, und wie sie ihn am besten für sich einnehmen könnte, falls er dort war ... Und hinter all dem war sie sich bewußt, daß sie sich gegen ihren Willen zu dem verblaßten Gespenst hingezogen fühlte, das in seiner Unsterblichkeit gefangen war wie eine Gottesanbeterin in Bernstein. »Sind Sie ganz sicher, daß Sie in Ordnung sind, meine Liebe?« Lady Clapham berührte Lydia am Handgelenk, als sie in der Tür von Monsieur Demercis Stadtpalast hoch über dem dunklen Marmara-Meer einen Augenblick stehenblieben. Lydia nickte, obwohl sie sich erschöpft fühlte. Gern wäre sie zu Hause geblieben, wie Margaret, die nach den Geschehnissen der vergangenen Nacht Kopfschmerzen vorgeschützt hatte. Unter den langen Glacéhandschuhen und den üppigen Spitzenärmeln ihres spinatgrünen Kleides schmerzten ihre bandagierten Arme. Während sie in die blen dende Helligkeit des elektrisch beleuchteten Empfangssaals blinzelte, betete sie nur darum, daß sie inmitten des wirbelnden Regenbogens von Männern und Frauen nicht auf Ignace Karolyi treffen würde. »Ich könnte ein wenig Champagner gebrauchen«, gestand sie, als zwei schlanke, dunkelhäutige Diener, zu denen die westlich geschneiderte Livree und die gepuderten Perücken nicht zu passen schienen, sie durch den gekachelten Flur zu ihrem Gastgeber führten. »Was Sie brauchen, ist ein Brandy«, gab Lady Clapham zurück. »Ich werde sehen, was ich auftreiben kann.« Ihr Gastgeber war ein an der Sorbonne ausgebildeter Türke in tadelloser Abendkleidung. Sein grimmiger schwarzer Schnurrbart rief in Lydias Gedanken die unangenehme Erinnerung an das dunkle Gesicht mit den glitzernden Fangzähnen wach, das ihr vergangene Nacht so nahe gekommen war. Seine Frau, eine jüngere Tochter aus verarmtem schlesischen Adel, erinnerte Lydia an ein wohlerzogenes Kaninchen in einem gelben Satinkleid. Sie war wahrscheinlich verantwortlich für die lächerliche, dem achtzehnten Jahrhundert nachempfundene Livree der Diener, und vielleicht auch für die elektrischen Leuchter, das bonbonrosafarbene Glas in den venezianischen Spiegelrahmen, die mit Troddeln besetzten himbeerfarbenen Vorhänge und die weiß-goldenen Louis-XVI-Stühle. Herr Hindl begrüßte sie und brachte sogleich seine Besorgnis zum Ausdruck: Die schöne Frau Asher sehe nicht wohl aus, er hoffe, sie sei nicht indisponiert. Das komme alles von diesen langweiligen Gesprächen über Geschäftliches und von den Ausflügen in die Altstadt; natürlich, bei der zarteren
Konstitution einer Frau ... Es war nur die Sorge um ihren Gatten, den sie in Konstantinopel hätte treffen sollen und von dem man nichts gehört hatte. Lydia klappte ihren paillettenbesetzten Fächer aus Chantillyspitze aus und versuchte, einen Anschein interessanter Blässe zu erwecken, ohne verhärmt auszusehen. Sie hatte gehofft, Herr Zeittelstein sei vielleicht heute abend hier. Nach dem, was ihr Gatte gesagt hatte, dachte sie, daß er und der geehrte Herr vielleicht einen gemeinsamen Kunden hätten und sie möglicherweise von ihm etwas erfahren könne ... Sicherlich! Natürlich! In der Tat! Jacob war erst heute nachmittag aus Berlin zurückgekehrt, er war nicht mehr auf dem laufenden, doch er wäre hocherfreut, ihr auf jede mögliche Weise behilflich zu sein ... Und so war es auch. Jacob Zeittelstein war ein jugendlich wirkender, kräftig gebauter Mann, der trotz seines Abendanzugs mehr wie ein Rohrleger aussah als wie der Repräsentant seiner Firma für das Osmanische Reich. Er hörte Herrn Hindls Vorstellung auf Lydias Erklärungen mit der Miene eines Menschen zu, der niemals Namen, Gesichter oder Umstände vergißt und alle Informationen aus dem Ärmel über seinen kräftigen Händen schüttelt. »Sehen Sie, mein Mann hat erwähnt, daß er in Verbindung zur Dardanellen-Landgesellschaft stand«, erklärte Lydia und nannte die Firma, von deren Bankkonto am 26. Oktober ein beglaubigter Scheck über achtzig Pfund an einen Freiherrn Fetekelo ausgezahlt worden war. Razumovsky zufolge hatte Ignace Karolyi am Tag danach Konstantinopel überstürzt und unter mysteriösen Umständen verlassen. Erst heute nachmittag war sie endlich darauf gestoßen. »Er sagte, er werde hier in Konstantinopel mit jemandem von dieser Gesellschaft zusammentreffen, und ich habe mich gefragt ... Es ist absurd«, setzte sie hinzu und ließ leicht den Kopf hängen. »Und doch kann ich nicht anders, ich frage mich, ob Sie vielleicht etwas von ihm gehört haben...« Hilflos schlug sie die Augen zu Zeittelstein auf. »Dardanellen-Land?« Zeittelsteins Augenbrauen zuckten hoch. »Der mysteriöse Herr Fiddat?« »Ich glaube, das war der Name.« Lydia trank einen winzigen Schluck von Monsieur Demercis ausgezeichneten Champagner. »Also gehören sie tatsächlich zu Ihren Kunden?« »Ha, ha!« trompetete Herr Hindl. »Sie kommt hinter alles, diese kluge kleine Lady!« »Er«, sagte Zeittelstein mit ratloser Miene. »Nicht sie. Soweit ich feststellen konnte, besteht die Dardanellen-Landgesellschaft nur auf dem Papier. In der Tat ziemlich typisch. Alles, was diese Gesellschaften tun, ist, ihren Gründern Geld auszuzahlen. Fiddat...« Er schüttelte den Kopf. Lydia fühlte sich, als habe sie - nicht durch Glück, sondern ausschließlich mit ruhigem Auge und ruhiger Hand - einen Pfeil sauber ins Schwarze geschossen. Sie riß die Augen auf. »Was ist so mysteriös an ihm?« »Alles. Außerordentlich.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin in seinem Auftrag in Berlin gewesen. Nachdem er, offensichtlich von heute auf morgen, beschlossen hatte, eine Kühlanlage in der römischen Krypta unter seinem Palast im Marktviertel installieren zu lassen, mußte er sie unbedingt jetzt und sofort haben. Als sich herausstellte, daß das Ventil an der Ammoniakpumpe beim Versand beschädigt worden war, wollte er nicht wie jeder normale Mensch darauf warten, per Expreß ein neues aus Berlin schicken zu lassen. Nein. Fünftausend Francs hat er mir bezahlt - fast zweihundert Pfund! -, damit ich persönlich nach Berlin zurückfuhr, und das noch an dem Tag, an dem festgestellt worden war, daß das Ventil beschädigt war, auf der schnellstmöglichen Route. Er ist sogar für die geschäftlichen Einbußen aufgekommen, die ich dadurch hier in der Stadt erlitten habe.« »Sie sind sehr reich, diese Türken«, warf Hindl salbungsvoll ein. »Unrechtmäßig erworben, möchte ich wetten, zumindest bei einigen. Sie müssen wissen, meine liebe Frau Asher, daß Kühlung durch die Kompression von Ammoniakgas zustande kommt
viel besser als das alte System mit Schwefeldioxid. Schwefeldioxid - das ist eine chemische Verbindung - hat die unangenehme Angewohnheit, Korrosion hervorzurufen und die Maschine aufzufressen, in der es aufbewahrt wird. Ha, ha!« »Wirklich?« Lydia ließ ihm ihr strahlendstes Lächeln zuteil werden und berechnete die Drehung ihres Kopfes zurück zu Zeittelstein so genau, daß sie weitere Erläuterungen abschnitt mit einem: »Und war er erfreut, sein Ventil zu bekommen?« Zeittelstein schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher, Frau Asher. Heute nachmittag habe ich nur einen Stapel hysterischer Botschaften von seinem Agenten vorgefunden ... Hat Ihr Gatte Herrn Fiddat jemals selbst zu Gesicht bekommen, Frau Asher?« Lydia schüttelte den Kopf. »Ich dachte, es gäbe vielleicht eine Art Verbot für Mohammedaner, persönlichen Umgang mit Christen zu pflegen - nicht für gewöhnliche Mohammedaner, meine ich, aber er könnte ja irgendeiner - irgendeiner merkwürdigen Sekte von Derwischen angehören.« »Ich habe noch nie von solchen Derwischen gehört«, warf Hindl ein, während er sauber die Hors d'oeuvres von dem Silbertablett abräumte, das ein Diener ihm anbot. Er grinste Zeittelstein zu. »Nicht, daß du irgend etwas davon verstehen würdest, ha, ha.« Zeittelstein grinste zurück. »Nun, soviel ich weiß, hat es jedenfalls seit dreizehnhundert Jahren für keinen Mohammedaner ein Problem dargestellt, Geschäfte mit einem Juden zu machen.« Sein Lächeln verschwand, und seine dunklen, klugen Augen wurden nachdenklich. »Ich kann nur soviel sagen, daß sein Agent furchtbare Angst vor ihm hat. Ich selbst habe den Verdacht - und ich kann nicht genau sagen, wie ich darauf komme -, daß Fiddat leprös ist.« »Wie außerordentlich!« sagte Lydia, und alles an ihren Gesten, ihrer Stimme und der Neigung ihres Kopfes bat ihn: Bitte sprechen Sie weiter. »Ich kenne niemanden, der ihn je gesehen hat«, fuhr Zeittelstein fort und blickte, Bestätigung heischend, zu Hindl hinüber. Hindl legte die Hand an den Nasenflügel. »Ziemlich geheimnisvoller Bursche.« Er wandte sich um, um den Blick des Gastgebers auf sich zu lenken. Gehorsam kam Monsieur Demerci herübergeschlendert und blieb dann und wann stehen, um dem einen oder anderen seiner Gäste zuzulächeln oder mit ihm zu sprechen. »Ja'far, du bist doch Herrn Fiddat noch nie persönlich begegnet, nicht wahr? Oder hast du seinen Palast besucht?« »Oh, ich bin im Haus der Oleander gewesen«, meinte Zeittelstein. »Ich habe zehn Tage lang den größten Teil meiner Zeit damit verbracht, diesen elenden Kompressor zu installieren - brr, ist dieses Gewölbe kalt! Aber immer wurde ich an der Tür von Dienern in Empfang genommen und von ihnen in die Krypta hinuntergeführt ... Sie blieben stehen und sahen mir bei der Arbeit zu.« »Wie Hassan Buz sagt - der Eishändler, wissen Sie, Madame«, sagte Demerci mit einer höflichen Verbeugung, die ihn weniger wie einen türkischen Kosaren und mehr wie einen ehemaligen Soldaten aussehen ließ, der zu Geld gekommen ist, »geht es seinen Männern genauso, wenn sie ihre Waren ausliefern. Das Zeug wird in den Korridoren gestapelt jedesmal eine halbe Tonne -, und die Diener bezahlen sie und schicken sie fort. Hassan muß seinen Leuten das Doppelte zahlen. Sie sagen, daß das Haus verflucht ist.« »Und wo ist das Haus?« fragte Lydia. Ein Diener erschien zwischen den Säulen mit den schweren Reliefs, die den Empfangssaal abtrennten, und lenkte diskret die Aufmerksamkeit auf sich; Demerci entschuldigte sich mit einer weiteren Verbeugung und ging, um mit dem Mann zu sprechen, während Zeittelstein sagte: »Es liegt in dem ganz alten Teil der Stadt, zwischen dem Paradeplatz und der alten hohen Pforte, in der Nähe des Bazars. Wenn Sie von der Valide-Han-Karawanserei aus die Tchakmakajitar-Gasse entlanggehen, ist es die dritte Abzweigung hügelaufwärts. Das Haus selbst besteht aus mindestens drei alten hans und verzweigt sich überall, doch die Tür, durch die ich gehe, befindet sich dort. Sie müßten
um die Außenmauern herumgehen, um den Haupteingang zu finden, wenn Sie mit Herrn Fiddat zu sprechen wünschen, aber ich persönlich«, setzte er hinzu, »würde nicht ohne Begleitung dort hingehen ... und damit meine ich nicht Lady Clapham.« »O nein«, sagte Lydia zustimmend. Ihr Herz schlug schnell. »Gütiger Himmel, nein!« rief Herr Hindl empört. »Eine europäische Dame in diesem Teil der Stadt?« Morgen, dachte sie und sah sich schnell nach dem russischen Prinzen um. Mit Razumovsky und einer Reihe kräftiger Lakaien aus der russischen Botschaft ... Gott, hoffentlich war Karolyis Nachricht nicht echt gewesen! Sie war erlogen, sie mußte erlogen sein, und diese Sache mit Jemand, der Ihnen nahesteht, ist ein Feind war, wie James ihr erzählt hatte, einer der ältesten Tricks aus dem Repertoire. Sie überlegte, ob sie vielleicht bis zum Dunkelwerden warten sollte, um Ysidro mitzunehmen, doch ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, daß es, selbst wenn Ysidro im Vollbesitz seiner Kraft war, weit sicherer sein würde, ein Vampirnest bei Tageslicht zu betreten als bei Nacht. Außerdem mochte Ysidro sich weigern, an einer eventuellen Erstürmung teilzunehmen. Demerci kam zurückgeschlendert und sah besorgt aus. »Nur eine Warnung«, sagte er ruhig. »Heute abend ist es im Armenviertel wieder unruhig. Wenn Sie zurückfahren, werden Sie vielleicht lieber durch die Mahmoudie und das Bab Ali Djaddessi fahren als durch das Bajazid-Viertel.« Hindl machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sie werden doch nicht wieder die Armee rufen, oder?« »Ich bin nicht sicher. Bis jetzt ist es nicht dazu gekommen. Aber es hat einige recht ... seltsame ... Todesfälle gegeben, und es braucht nicht viel, um den Aufruhr wieder aufflammen zu lassen.« Er verbeugte sich wieder vor Lydia. »Es klingt lächerlich schwach von mir, Madame, wenn ich Sie bitte, die Taten der Armee und der Regierung nicht mei nem Volk anzulasten. Wir sind keine Barbaren, trotz allem, was Sie denken müssen. Es gibt Tausende, Zehntausende von uns, die entsetzt darüber sind, was die Armee den Armeniern und den Griechen in dieser Stadt antut. Es ist ein schrecklicher Fehler, die Gewehre von morgen in die Hände der Unwissenden von gestern zu legen.« Die meisten Menschen auf dem Empfang schienen wenig besorgt über mögliche weitere Aufstände, als seien solche Dinge vollkommen belanglos für sie: Herr Hindl versuchte sich in einigen Scherzen darüber, was einem in fernen Landen begegnen konnte. Lydia fragte sich, ob es daran lag, daß sie seit Juli schon so viele Aufstände erlebt hatten, daß sie zumeist in Pera lebten oder daß sie so beschäftigt damit waren, Eisenbahnaktien, Armeestiefel oder Rohrleitungen zu verkaufen wie sie selbst unter normalen Umständen damit, die Auswirkungen von Pankreassekretionen zu isolieren. Eine oder zwei Ehefrauen von Botschaftsangehörigen ließen ihre Wagen früh vorfahren, doch Lady Clapham sagte nur: »Unsinn. Besser spät als früh. Bis das Abendessen vorüber ist, werden sie alle ins Bett gegangen sein, und wir werden direkt auf die Brücke fahren können und es nicht nötig haben, den weiten Umweg zu machen.« Wahrscheinlich hat sie recht, dachte Lydia. Auf jeden Fall war Prinz Razumovsky - der einen sehr russischen Zeitbegriff hatte - noch nicht eingetroffen, und obwohl sie müde war, mußte sie noch heute abend mit ihm sprechen. Lydia hatte den Eindruck, daß, wenn sie zu Sir Burnwell gehen und ihn um Hilfe dabei bitten würde, sich gewaltsam Zugang zu einem alten Palast in Stambul zu verschaffen, um etwas über Jamies Verbleib zu erfahren, das Ergebnis eher eine Reihe höflicher Briefe an die Dardanellen-Landgesellschaft sein würde als das prompte Angebot von ein paar mit Keulen bewaffneten Kosaken. Also wartete sie. Sie war so aufgedreht, daß sie in dem Hummeraspik und dem Schneehuhn in grüner Pfeffersauce nur herumstocherte. Rechts und links von ihr warfen die Herren Hindl und Zeittelstein einander Bemerkungen über die Elektra von Strauss zu
und über die neuesten delikaten Einzelheiten des Skandals um den Bruder des Kaisers und einen Wiener Masseur. Nach dem Abendessen wurde getanzt, und Lydia ließ zu, daß Herr Zeittelstein sie in einen Walzer zog. Sie tanzte einen munteren Schottischen mit dem Pfarrer der amerikanisch-lutherischen Mission in Galata, während sie gleichzeitig lauschte und nach der prächtigen grünen Uniform Seiner Hoheit ausschaute, oder der pantherähnlichen Grazie, an der sie Karolyi selbst ohne Brille erkennen würde. Sie war ein wenig besorgt gewesen, daß sie Margaret nur mit Madame Potoneros und ihrer Tochter in der Rue Abydos zurückgelassen hatte, obwohl sie vermutete, daß, wenn sie selbst nicht dort war, weder Karolyi noch seine vampirischen Freunde - Freunde? auch nur versuchen würden, ins Haus zu gelangen. Auf jeden Fall war der Riegel an der Eingangstür repariert und der am Küchentrakt durch ein neues, stabileres Schloß verstärkt worden, und an jedem Fenster hingen Knoblauch und Weißdorn. »Ich kann jeden rufen, dem ich einmal in die Augen gesehen habe«, hatte Ysidro einmal während eines langen Picquet-Spiels im Zug zu ihr gesagt - sie hatten über Dracula diskutiert. »Jemanden zu mir zu rufen, der mir fremd ist, ihn dazu zu bringen, das Silber fortzunehmen, falls er es trägt, oder den Knoblauch oder irgend etwas von den anderen Blumen und Hölzern, die unser Fleisch versengen und Blasen werfen lassen - ist weitaus schwieriger.« Lydia erschauerte und fragte sich, ob der türkische Vampir, der Eindringling von gestern nacht, sie hätte dazu bringen können, ihre Silberkette abzunehmen, hätte er sie in einer vorausgehenden Nacht auf der Straße angesprochen oder ihr im Traum zugeflüstert. Sie hatte Margaret vor Karolyi gewarnt und den beiden Haushälterinnen die Anweisung erteilt, bis zum Morgengrauen zu bleiben. Da Margaret sich mit rotfleckigem Gesicht und zusammengepreßten Lippen geweigert hatte, sie heute abend zu begleiten, hatte sie sich damit beruhigt, daß das alles war, was sie hatte tun können. Lydia stand neben dem Fenster mit den schweren Vorhängen, von dem aus man über die römischen Wälle aufs Meer blickte, und hielt unter den zuletzt im Saal Eingetroffenen Ausschau nach der hochgewachsenen Gestalt Razumovskys - und selbst zu dieser späten Stunde kamen immer noch Gruppen von Botschaftsangehörigen und Mitglieder der neuen Regierung an. Da berührte eine alte Hand ihren Ellbogen, und eine Stimme wie ein Windhauch flüsterte in ihr Ohr: »Mistress?« Vor wenigen Stunden noch hatte sie sich an das Sonett erinnert und nicht gewußt, wie sie mit ihm reden sollte, war nicht einmal sicher gewesen, ob sie je wieder mit ihm sprechen wollte. Doch in dem harten elektrischen Licht der Leuchter trug er sein fremdartiges Vampirgesicht. Es war das Gesicht, das ihm der Spiegel zeigen mußte - ein Totenschädel mit hohlen Augen und hervortretenden Knochen unter dem langen Haargespinst - und mit dem sie leichter umgehen konnte als mit der quälenden Illusion, daß sich irgendwo in diesen schwefelfarbenen Augen noch etwas von einem Lebenden verbarg. Unter seinem Umhang trug er einen Abendanzug. Sie hätte ihn beinahe gefragt, ob er seine Sichel und sein Stundenglas an der Tür gelassen hatte, als sie den Ausdruck seiner Augen sah. »Sie ziehen zum Haus von Olumsiz Bey«, sagte er leise. »Aufständische Armenier, Hunderte, die nach seinem Blut schreien...« »Wer...? Woher wissen Sie...?« Dann sagte sie. »Die Eisträger«, und sie wußte sofort, daß es wahr war. »Natürlich, sie wissen es.« »Und die Geschichtenerzähler.« Ysidro nahm ihre Hand und zog sie, unsichtbar für die anderen, zur Tür des Speiseraums, durch die Küchen und zur Hintertreppe. »Und die Bettler, die bei Nacht die Schatten vorüberziehen sehen. Sie wissen es alle. Aber sie hatten Angst, bis die Wut und der Haß angesichts des Mords an ihrem Priester endlich stärker waren als ihre Furcht. Ziehen Sie das an.« Sie hielt die Falten des schwarzen Umhangs fest und folgte ihm an den Dienern vorbei,
die die Teller wuschen, vorbei an den Küchenjungen, die noch mehr Eis für den Champagner hinaufbrachten ... vorbei an den Lakaien und Kutschern, die sich am Feuer im Hof vor den Ställen wärmten und besorgt auf das Auf und Ab der Stimmen hinter den Dächern und die gelegentlichen Salven von Gewehrfeuer lauschten. »Was ist geschehen?« In einer Gasse blieb sie stehen und wühlte ihre Brille aus dem Futteral, das sie in ihrem Gürteltäschchen trug - alles war plötzlich klar zu erkennen, beinahe angsteinflößender als die tröstliche traumhafte Verschwommenheit. »Ein Priester ist getötet worden. Und dann ein alter Mann, ein harmloser Verkäufer von Feigenmark, der Almosen gab und mehr Enkel hatte als König David. Morde von Vampiren, unbekümmert, geplant. Damit man sie findet, damit die Menschen in Wut geraten.« In den engen Gassen hinter Demercis Haus, steinig und steil wie Treppen, klangen die Stimmen beängstigend nahe. Feuerschein wurde von Holz und Stuck, von fleckigen und unkrautüberwucherten Mauern zurückgeworfen. Lydia dachte: Wenn sie mich finden,
werden sie mich allein schon deswegen angreifen, weil ich Europäerin bin ... Es war sehr schwierig, über diese Tatsache, diese Angst hinaus weiterzudenken. »Karolyi«, sagte sie. »Karolyi und der Eindringling. Nachdem ich nicht mitspielen wollte. Sie brauchen nur dem Mob zu folgen und ihn ihre Arbeit für sich tun zu lassen.« Durch eine Lücke zwischen den Häusern sah sie im Licht der Fackeln einen Mann, der auf dem Kutschbock eines umgestürzten Wagens stand - in schwarze Gewänder gekleidet, mit einem wallenden grauen Bart, schwenkte er ein Kruzifix. Überall um ihn herum erhoben Männer blitzende Klingen, Keulen, die geschärften spitzen Werkzeuge der Markt händler. Frauenstimmen kreischten wie Harpyien. »Und Teil dieser Arbeit«, sagte ihr jene kühle, desinteressierte Stimme ins Ohr, »wird es sein, James und jeden anderen zu töten, den sie im Palast des Bey finden. Wenn Charles oder Anthea dort sein sollten, sind sie wahrscheinlich eingesperrt und nicht in der Lage zu fliehen. Ist Ihr Erbauer von Kühlanlagen eben unter denen im Salon gewesen?« Als sie stolperte, umfaßte er sie wieder am Ellbogen und führte sie durch einen Gang zwischen zwei Häusern, wo schlammiger Schmutz an ihren Schuhen saugte. »Neben der Tchakmakajitar-Gasse, in der Nähe des Valide Han, sagte er. Die dritte Abzweigung hügelaufwärts...« »Ich habe es gesehen«, sagte Ysidro. »Es war eines von vielen Häusern, die ich in Verdacht hatte, aber ich habe es nicht gewagt, nahe genug heranzugehen, um mir Sicherheit zu verschaffen.« Schmale Scherben aus Mondschein schienen auf seine Hemdbrust, seine Manschetten, sein Gesicht, Weiß auf Schwarz, und verstärkten in Lydia den Eindruck, von einem Skelett durch die unhygienischen Straßen der Hölle gehetzt zu werden. »Wenn wir Glück haben, können wir vor dem Mob dort sein und - wenn James wirklich noch am Leben ist - bevor der Bey beschließt, ihn zu töten, damit er sein Schweigen wahrt.«
EINUNDZWANZIG Asher wußte, er mußte fliehen, oder er würde sterben. Vor Stunden war er von Gewehrschüssen auf den Straßen geweckt worden, hatte dagelegen und gelauscht, während die Laute schreckensgepeitschter Wut, das ziellose Geheul der Gewalt, abebbten und dann aufflammten wie das verdrossene Genörgel eines Betrunkenen, der wieder und wieder auf die Quelle seines Zorns zurückkommt. Es mußte tiefe Nacht sein, wahrscheinlich waren es nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung, als er sie auf das Haus zukommen hörte. Selbst bei den Aufständen in Tientsin, dem Schlimmsten, das er bisher erlebt hatte, war dies die Zeit gewesen, in der Ruhe eingekehrt war. Irgend etwas, irgend jemand, stiftete sie an, stachelte sie von neuem auf, wenn sie müde wurden. Und dann konnte er zum ersten Mal in dem verwischten Gewirr von Schreien Worte ausmachen, die er kannte.
Vlokslak. Hortolak. Ordog. Sie kamen, um das Haus der Oleander niederzubrennen. Die Vampire werden fliehen, dachte er.
Olumsiz Bey wird mich eher töten, als zulassen, daß ich anderen erzähle, was ich gesehen habe. Das fleckige Licht der Lampe an der Treppe umriß immer noch die offene Tür. Der bloße Gedanke daran, aufzustehen, entsetzte ihn. Schon wenn er atmete, war es, als werde ihm eine Axt in die Seite geschlagen. Er schob sich vorsichtig vom Diwan und brachte es fertig, sich auf die Füße zu stellen - in seinem Schmerz war er froh darüber, daß ein türkischer Diwan nicht einmal so hoch war wie ein durchschnittlicher Melksche mel. Unter seinen bloßen Füßen war der Boden eisig, und ein kalter Luftzug umspielte seine Knöchel und bewegte das lange Baumwollkleid, das ihm jemand angezogen hatte, als sie ihn nach oben gebracht hatten. Ein Stück weiter auf dem Diwan fand er seine Kleider und zog sich im Sitzen an. Bei den Stiefeln war es am schlimmsten. Als er sie anzog, schmerzte sein bandagierter Arm, und der stechende Schmerz in seinen gebrochenen Rippen nahm ihm den Atem, doch er kannte die Straßen von Konstantinopel und wußte, daß er die Stiefel brauchen würde. Zu seiner größten Verwunderung schaffte er es, bis zur Tür zu gehen. Aus dem Haus unter ihm war kein Laut zu hören. Vielleicht würden sie auf der anderen Seite durchbrechen, durch die Krypta, wo das Eis angeliefert wurde. Wenn er in der Krypta auf sie traf, würden sie ihn sehr wahrscheinlich kurzerhand umbringen, bevor sie erkannten, daß er selbst kein Vampir war. Als er die Treppe hinabstieg, wurde ihm schwindlig, doch er fiel nicht. Das Ding in der Krypta war nicht in der Lage gewesen, viel von seinem Blut zu trinken, obwohl er einiges verloren hatte. Er spürte einen rasenden Durst. Der Lärm des Mobs drang nicht bis hierher in den Hof, und es war schwer, nicht auf die Stimme im Hintergrund seines Bewußtseins zu achten, die argumentierte, daß er doch gewiß Zeit hatte, sich auf dieses gemütliche Pflaster zu legen und ein wenig auszuruhen ... Er nahm die Nachtlampe aus ihrer Nische und ging weiter. Im türkischen Teil des Hauses klang das wütende Geschrei des Mobs näher, eine schwere Meereswoge, die vor nichts haltmachen würde. Der geflieste Raum. Der überwucherte Hof. Die römischen Bäder. Die lange Treppe und der Gestank nach Ammoniak, feuchtem Ziegelstein ... Nach Verwesung. In dem leopardenfleckigen Glühen der Lampe erschien plötzlich eine dunkle Gestalt. Das Licht schimmerte in den gelben Kristallaugen und auf der Silberklinge der Hellebarde, und Asher lehnte sich schwer atmend gegen die Wand und wußte, er hatte verloren.
Er hatte nicht einmal die Kraft, sich umzudrehen und zu fliehen; der Bey würde ihn niederreißen wie ein Jagdhund ein verkrüppeltes Rehkitz. Wenn er die Lampe nach ihm warf, würde ihm das ein paar Sekunden einbringen, aber ... »Gott hat dich geschickt«, sagte der Vampir leise. »Hilf mir. Ich flehe dich an.« Er trat auf Asher zu und streckte ihm die Hand mit den Stahlklauen und blitzenden Juwelen entgegen. »Die anderen sind geflohen. Ich muß ihn irgendwohin bringen, wo der Mob ihn nicht findet, muß genug Eis dorthin schaffen, damit er die Nacht überlebt.« Als Asher die Lampe schwenkte, konnte er in dem Korridor hinter dem Bey das feuchte, diamantene Glitzern von Eis erkennen, das in ein großes Öltuch gewickelt war. Berge von Eis, weit mehr, als ein Lebender tragen konnte. Er konnte nicht gleichzeitig das Eis und einen Körper diese gewundenen Treppen hinauftragen. »Bitte«, sagte der Bey. »Danach kannst du tun, was du willst. Ich habe die Schlüssel zu den Außentüren, du bist frei zu gehen. Ich schwöre es bei meiner Ehre, beim Propheten. Aber hilf mir, ihn in Sicherheit zu bringen. Bitte.« Asher stellte die Lampe ab. »Kann er überhaupt gehen?« Der Bey trat vor, und in der Haltung seiner Schultern, dem Winkel, in dem er den kahlgeschorenen Kopf trug, löste sich ein wenig von der furchtbaren Anspannung. Seine schlangenfarbenen Augen schienen plötzlich alt, erfüllt von der Müdigkeit ungezählter einsamer Jahre. »Ich glaube schon, wenn man ihn stützt. Wir wiegen nicht so viel wie lebendes Fleisch.« Als sie sich zwischen den Eisblöcken und der Mauer auf das Silbergitter zuschoben, das den Korridor zur Krypta bewachte, berührte Asher den Bey am Arm und hielt ihn zurück. Hier hatten sie sich zum letzten Mal Auge in Auge gegenübergestanden, und die Klauen des Bey hatten sich tief in seinen Hals gegraben. Bei jedem Wort, das er sprach, pochten diese Wunden, die notdürftig mit Heftpflastern verbunden waren. »Ihr wißt, daß Euch das nichts nützen wird.« Er sagte es nicht triumphierend, sondern mit einer Art sachlichen Mitgefühls, denn für die Kreatur hinter den Gitterstäben bestand eindeutig keine Hoffnung mehr, selbst wenn sich durch irgendein Wunder Ernchester oder ein anderer Vampir fand, der ihren Übergang in den Vampirzustand vollenden konnte. Fast schon erwartete er denselben Zorn, der ihn wenige Stunden zuvor beinahe getötet hätte, doch der Bey schüttelte nur den Kopf. »Wenn er die Nacht übersteht«, murmelte er, »wenn er noch einen weiteren Tag durchhält ... Die ... Verwandlung ... des Körpers ist, wenn sie stattfindet, nichts weniger als wundersam. Ich habe gesehen, wie verhutzelte alte Vetteln die Schönheit ihrer Jugend wiedererlangten, sobald sie über die Kraft des Vampirgeistes verfügten. Das Fleisch nimmt wieder die Form an, die es im Geist hat. Und auf jeden Fall«, setzte er noch leiser hinzu, »kann ich ihn nicht verlassen, auch wenn das, was du sagst, wahr sein sollte. Er ist ... mir teuer.« Der Körper, den der Bey aus der Krypta trug, war in eine Art Leichentuch aus geölter Seide gehüllt, darüber lag ein Öltuch. Trotzdem stank er, ein schlaffes, schmutziges Ding in den Armen des hochgewachsenen Vampirs. Zwischen den Verbänden schimmerten seine feuchten schwarzen Locken, und von seinen herabbaumelnden Fingern tropfte eine bräunliche Flüssigkeit. Als der Bey ihn neben sich auf die Füße stellte, zuckte Asher zurück und erinnerte sich, wie die schleimigen Lippen über seinen Arm getastet hatten; er krümmte sich, als der Bey einen schlaffen Arm über seine Schulter legte. Dann rollte der bandagierte Kopf wie der eines Betrunkenen, und die schweren Lider, die im Halbdunkel beinahe schwarz wirkten, hoben sich und enthüllten dunkle Augen, in denen Todesangst, Entsetzen und das dumpfe Flehen um Erlösung standen. Das Ding lebte. »Er war so schön«, flüsterte Olumsiz Bey. Er beugte sich hinüber und nahm die Ecken des Öltuchs, das das Eis einhüllte. Um das Ding aus der Krypta zu tragen, hatte er seine
silberne Hellebarde abgelegt, das erste Mal, daß Asher gesehen hatte, wie er sie aus der Hand gab. Nun schob er sie unter den Knoten in den Öltüchern durch. Es mußten mehrere hundert Pfund Eis sein, doch er hob es mit Leichtigkeit hoch, denn nur seine Sperrigkeit hatte ihn daran gehindert, sowohl das Eis als auch den Jungen zu tragen, der sich jetzt trunken schwankend auf Ashers Schultern stützte. Der Geruch war erstickend, und er versuchte, nicht über die Beschaffenheit des Arms nachzudenken, der so verzweifelt seinen Nacken umklammerte. Mit seinen gebrochenen Rippen, die in seinem Innern stachen wie zersplitterter Bambus, konnte er sich selbst kaum auf den Beinen halten. »Schön war er«, sagte der Bey, »und noch schöner in seinem Herzen. Er brannte wie Feuer, mein Khalil. Ein junger Krieger, und mir bis zum Grunde seiner Seele ergeben.« Es war, als habe er Ashers Gedanken gehört: Und Ihr habt ihn so belohnt? Weil Asher ihn nicht ausgesprochen hatte, hatte auch kein Zorn in der ruhigen Antwort des Vampirs gelegen. »Er hätte einer meiner lebenden Diener sein sollen, hier in diesem Haus. So hatte ich es geplant.« Das Geschrei des Mobs war jetzt sehr nahe, und der Himmel über dem hohen türkischen Dach - für gewöhnlich so dunkel - glühte jetzt im Schein der Fackeln. Rauch und Wut erhitzten die Luft. »Es war hart für mich. Ich wollte ihn so machen, wie ich bin, ihn für immer in seiner strahlenden Jugend bei mir behalten. Doch ich wußte, daß mir das nicht mehr möglich war. Als vor fünfzig, sechzig Jahren, zur Zeit von Abdul Mezid, mein Freund Tinnin getötet wurde, habe ich versucht, einen Zögling zu machen. Obwohl der Geist dieses Jungen über den Tod seines Körpers hinaus lebendig blieb, eine brennende Flamme in meinem Bewußtsein, kam es zu keiner Veränderung, keiner Verwandlung im Fleisch selbst, als ich diese Flamme in den Körper zurückgab. Der Zögling lag da und verfaulte, bis ich ihm gnädig den Kopf abschlug. Dies war mir zuvor ... einmal, vielleicht zweimal passiert. Doch danach war alles gut. Diesmal - nach Tinnin - ist die Kraft nicht zurückgekehrt.« Er lachte lautlos, bitter, eine große Gestalt in Gewändern, die in dem unsteten Licht gefleckt schienen wie Tierfell. In den Juwelen, die er trug, spiegelte sich feurig der rötliche Schein des Himmels, und die Reflexe brachen sich in dem Eis, das er schleppte wie Sisyphus, dem übermütige Götter einen monströsen Edelstein aufgebürdet haben. »Seitdem habe ich es drei-, vielleicht viermal versucht, und ich wußte, daß es wenig Hoffnung gab, Khalil hinüber in den Vampirzustand zu bringen. Und ich wußte, so spottete Gott über mich: als ich den Einen fand, dem ich trauen konnte, den Einen, der mir helfen konnte, da hatte ich meine Gabe der dunklen Unsterblichkeit an solche wie Zardalu und die Kadine Baykus verschleudert, und diese Spinnenhexe Zenaida, die im alten Harem jagt, nur weil ich jene brauchte, um ihnen Befehle zu erteilen. Und dann ist der Eindringling gekommen.« Das schlimmste war die Treppe zum Hof des alten han. War es zuvor still gewesen, so war das Geschrei jetzt deutlich zu hören, und Schwaden beißenden Rauchs wirbelten in der Luft. Asher ließ die Lampe in ihrer Nische zurück. Seine Verletzungen schmerzten ihn, während er darum kämpfte, der verhüllten Gestalt die langen Treppen hinaufzuhelfen, hinter sich den Bey mit seiner riesigen, sperrigen Last tropfenden Eises. »Gölge Kurt«, sagte die leise Stimme des Bey, beinahe, als flüstere er Asher ins Ohr, während Khalil unter den Bandagen leise, abgerissene Schmerzenslaute hervorstieß. »Der Schattenwolf. Gott weiß, woher er gekommen oder wie er Vampir geworden ist. Zweifellos irgendeine griechische Hexe, der er später entkam ... Aber er ist Türke und gehört zu den Jungtürken, diesen Bauern aus dem Hochland, denen man Gewehre gegeben hat und die Illusion zu herrschen. Ich habe ihn zum ersten Mal nach dem Staatsbesuch gesehen, als die ganze Stadt ein Durcheinander war. Er hatte bereits einen Zögling gemacht - so leicht, als würde er ausspucken -, um meine Macht
herauszufordern. Den Zögling habe ich getötet - aber ihn konnte ich nicht töten. Und danach hatte ich keine andere Wahl.« Sie erreichten das langgestreckte Gemach im Obergeschoß. Asher sank, die Hand in die Seite gepreßt auf den Diwan, den eingewickelten lebenden Leichnam in seinem Bahrtuch neben sich. Während der Bey die Ölhaut öffnete und das Eis herunterpoltern ließ, so daß es das trockene Fischbassin füllte, klammerte sich Khalil an Asher, als suche er verzweifelt den Trost durch die Berührung eines Lebenden. Stinkend, verfaulend, entsetzlich in seinen Bandagen, doch Asher konnte ihn nicht fortstoßen. Der Bey kam zurück, hob den Körper des Jungen sanft auf und trug ihn zu dem Eis. Als er sie in dem zitternden Schein der Lampen beobachtete, die an den Wänden hingen, fragte Asher sich bitter, wie viele Menschen sich des Satzes Ich hatte keine andere Wahl bedienten, wenn sie ihren Willen bekommen wollten - selbst wenn sie denen, die sie liebten, so etwas antaten. Ernchester, als er Cramer tötete. Mit Sicherheit Karolyi, falls er überhaupt etwas dachte. Er selbst. Olumsiz Bey kniete auf den Stufen des Bassins und hielt das verwesende Etwas, das einmal die Hand des Jungen gewesen war. »Also habt Ihr versucht, ihn zum Vampir zu machen«, sagte Asher ruhig. »Obwohl Ihr es wußtet.« Der Bey ruckte, einmal nur. »Und als Ihr gesehen habt, daß obwohl sein Geist überlebte, sein Körper zu faulen begann, habt Ihr nach Ernchester geschickt.« »Ich konnte ihn beherrschen«, sagte der Bey einfach. »Ich kannte ihn. Ich wußte, daß er schwach war. Er konnte Zöglinge machen, aber er hatte nicht die Kraft, ihnen zu gebieten. Sobald er erst einmal von dieser seiner Frau weg war...« »Die ihn liebt«, sagte Asher. »Der viel an ihm liegt, wie Euch an Khalil.« Der Bey sah nicht einmal auf, nahm den Blick nicht von seinem Freund; er schüttelte nur den Kopf, eine schwere, animalische Bewegung, ungeduldig und irritiert, als verstehe er wahrhaftig nicht, was Asher sagte. »Frauen lieben nicht. Nicht wie Männer. Nicht so, wie ein Mann jemanden liebt, den er sich unter allen Seelen des Universums als Sohn erwählt hat. Keine Liebe ist wie diese.« Nein, dachte Asher. Ein Vampir war stolz bis zum Ende, selbst was die Natur seiner Liebe anging. Der Bey machte keinen Versuch, sich zu rechtfertigen. Seine Liebe war einzigartig, und weil sie das war - weil es seine Liebe war - rechtfertigte sie alles. Er fuhr fort: »Doch ohne die Macht des Sultans mußte ich jede Hilfe suchen, die ich bekommen konnte. Karolyi, ein Wilder trotz seiner zivilisierten Manieren. Ein madjarischer Hunne. Ich glaube, er vermutete schon, was ich bin, bevor ich um seine Hilfe schickte. Ich glaube, er hatte sich bereits Gedanken darüber gemacht, wie er sich - im Namen seines Landes - der Untoten bedienen könnte.« Er beugte sich hinunter, um die Stirn des Jungen zu berühren, der jetzt unbeweglich in seinem Bett aus Eis lag. Die großen, ungleichen Blöcke waren alt und trocken, klar und glatt; sie fingen das schwache bernsteinfarbene Licht ein wie monströse Diamanten und brachen es zu einem wilden Regenbogen, der über die Wände zuckte - eine Bahre aus Edelstein. »Ich war in der Lage, Gölge Kurt eine Weile in Schach zu halten - ich glaube, alles wäre gutgegangen, hätte Karolyi nicht beschlossen, seine Chance so gut wie möglich zu nutzen, und versucht, Ernchester in den Dienst seines Landes zu zwingen.« Seine Augen in den dunklen Höhlen waren wie verglimmende Kohlen eines alten Zorns. »Land. Wir Untoten sind einmal Menschen gewesen. Unsere Sünden sind menschliche Sünden. Millionenfach vergrößert, aber menschlich. Diese Länder, diese Nationen - sie sind nicht
menschlich. Ihnen ist es gleich, was sie sich zunutze machen, solange es ihnen dient. Es ist ihnen gleich, was sie tun, und ihre Sünden liegen weit jenseits der unseren, sind im wahrsten Sinne des Wortes anderer Natur. Du hast ihnen gedient. Karolyi hat mir das gesagt, Karolyi, der innen hohl ist. In ihm ist nichts, weil dieses Land von ihm verlangt, daß er ein Nichts ist. Du weißt es.« »Ja«, sagte Asher und erinnerte sich wieder. »Ich weiß.« Der Bey schüttelte den Kopf. »Und so hat Karolyi mich hingehalten. Und Gölge Kurt war in der Lage, sein Territorium zu vergrößern, die Stadt ein wenig besser kennenzulernen. Ich fürchte, als Ernchester versuchte, in die Stadt zu kommen, um meinem Ruf zu folgen, hat Gölge Kurt ihn erwartet und zum Gefangenen, zum Sklaven gemacht. Ich dachte, wenn ich durch dich die Frau in die Falle locken könnte, könnte ich Ernchester zu mir ziehen ... Oder schlimmstenfalls sie benutzen, um Khalil vollständig zu machen. Doch so ist es nicht gekommen. Und jetzt ist es vorbei.« Schreie erklangen im Hof und hallten in verschiedensten Teilen des Hauses wider. In den Fenstern, die jede der flachen Kuppeln umgaben, war der Himmel rot wie ein Tuch, das man benutzt hat, um Blut aufzuwischen. Der Bey griff in sein Gewand und warf Asher etwas zu, das im Flug aufleuchtete. Es war ein Schlüssel. »Geh«, sagte er. »Es ist nicht mehr lang bis zum ersten Tageslicht. Bis dahin werden sie fort sein, und hierher werden sie nicht kommen. Sie werden nicht einmal erkennen, daß da eine Treppe ist, selbst wenn sie an ihrem Fuß stehen und hinaufblicken. Soviel Macht habe ich immer noch.« Er dachte einen Moment nach, dann nahm er die Hellebarde und schob sie Asher über den Boden zu. Die silberne Klinge blitzte. »Du magst noch auf einen von ihnen treffen«, setzte er hinzu. »Wenn es Gölge Kurt ist, töte ihn. Nicht meinetwegen. Er ist ein Mann von der neuen Art, der versuchen wird, Macht von jedem Land zu erkaufen, von dem er glaubt, daß es sie ihm geben wird. Und er wird sie zu allen Bedingungen kaufen, die sie stellen. Er ist wie dein Karolyi. Ich wollte nur einen Zögling. Sie werden Hunderte wollen, die ihnen treu ergeben sind. Und wo dies enden wird, daran wünsche ich nicht zu denken.« Er schüttelte den schweren Kopf und wandte sich wieder dem jungen auf dem Eis zu. Seine Stimme war so leise, daß sie fast unhörbar war, wie das Murmeln eines verblassenden Gespenstes. »Und - danke, Scheherazade. Ich danke dir für deine Hilfe.« Asher blieb einen Augenblick an der Tür stehen und stürzte sich auf die silberne Hellbarde. Er zitterte, denn er hatte seinen nach Tod stinkenden Rock ausgezogen, und nur die durchdringende Kälte hinderte ihn daran, auch sein Hemd abzuwerfen. Wie viele hatte der Bey getötet? fragte er sich, während er zu der goldgewandeten Gestalt blickte, die neben dem mitleiderregenden verhüllten Wesen auf einem juwelenbesetzten Scheiterhaufen aus Eis kauerte. Sicherlich so viele wie ein Krieg. Karolyi würde sich auf dieselbe Weise rechtfertigen - so wie er selbst, Asher, sich immer wieder gerechtfertigt hatte. Damals hatte er vielleicht sogar recht gehabt. Unter Schmerzen, die Hellebarde als Stütze umklammert, schleppte Asher sich die langen Treppen hinunter. Im Hof war der Lärm lauter und hallte in den Bogengängen, die zum byzantinischen Teil des Hauses führten. Schreie, das Klirren von wertvollen Gegenständen, die zerschmettert wurden, das dumpfe Stampfen zahlloser Füße. Rauch rollte herein, brannte in seinen Augen und zog sich im Licht zusammen - zu viel, zu dick, als daß es nur von Fackeln stammen konnte. Irgendein Flügel des Hauses mußte in Flammen stehen. Mit zitternden Knien lehnte Asher sich an die Säule am Fuß der Treppe und fragte sich, ob er genug Kraft hätte, um es den Säulengang hinunter, durch den überwucherten Hof und durch die Krypta zu schaffen ... Und nach Hause, dachte er. Wenn Gölge Kurt Meister von Konstantinopel wurde - und Asher wußte, daß es über
seine Kräfte ging, ihn jetzt noch aufzuhalten -, war es nur eine Frage der Zeit, bis Karolyi oder irgendein Jungtürke, der ebenso eifrig auf den Triumph seines Landes bedacht war, ihn überzeugte, eine Waffe des Staates zu werden. Und dann würde in der Tat ein neues Zeitalter anbrechen. Er würde es Clapham erzählen, obwohl er wußte, Clapham würde ihm nicht glauben. Selbst die ehrfurchtgebietende Lady Clapham würde es für den Wahnsinn des Deliriums halten. Man mußte damit geboren, damit aufgewachsen sein wie Karolyi, um es schnell zu glauben ... schnell genug. Razumovsky würde ihm glauben, und Razumovsky würde ihm helfen, nach Hause zu kommen ... aber Razumovsky würde einen Handel mit Karolyi abschließen und nehmen, was er bekommen konnte. Bulgarien für euch - Indien für uns. Und die Infektion würde sich ausbreiten. Etwas Dunkles hastete durch den Bogengang in den Hof und wandte sich geradewegs zur Treppe. Es blieb vor ihm stehen, dunkle Augen leuchteten im Licht der Lampe, und Asher erkannte zu spät, wer das war. Er war groß, hatte das schwarze Haar und die gebogene Nase eines Türken, einen wilden, struppigen Schnurrbart ... die Augen waren die eines Wolfs. All dies sah er in weniger als einer Sekunde: Asher hatte nicht einmal die Zeit, die Hellebarde als Waffe zu erheben, da schleuderte der Vampir ihn schon zur Seite. Der Schlag gegen die Wand war wie ein Schwerthieb in die Seite. Der Atem verließ ihn und wollte nicht wiederkehren, und als er die Augen wieder öffnete, war der Vampir schon halb die Treppe hinauf, geschmeidig und lautlos wie ein Löwe in seiner zerrissenen, zerlumpten Khakiuniform. Asher dachte grimmig Ich muß ihm nach ..., doch er wußte, er war nicht in der Lage, ihn einzuholen oder sich mehr als einen Schritt ohne Qualen zu bewegen. Und Gölge Kurt war nicht allein. Asher hatte Vampire hasten sehen - unheimlich in ihrer Schwerelosigkeit und ohne einen Laut -, und er wußte, daß die zweite dunkle Gestalt, die hereinhuschte wie Rauch und Knochen, ebenfalls ein Vampir war. Nicht bevor er erkannte, daß es Ysidro war - Ysidro? -, fiel der Vampir von London, hager, ausgezehrt und gespenstisch, Gölge Kurt wie ein stummer Falke mit einem Klauenhieb gegen seine Kehle an, der ihn hätte verbluten lassen, hätte dieser ihn nicht kommen hören und sich im letzten Augenblick umgewandt, um dem Angriff zu begegnen. Die beiden fielen eng umklammert auf die Stufen und hieben mit klauenartigen Fingernägeln aufeinander ein; und Sekunden später erschien ein dritter Vampir aus dem Dunkel und sprang die Stufen hinauf. Ihn erkannte Asher sofort, obwohl er sich auf seltsame Weise noch mehr verändert zu haben schien als Ysidro. Als sie zuletzt im Feuer schein des brennenden Sanatoriums im Wienerwald miteinander gesprochen hatten, war Ernchester zwar von Unentschlossenheit und Kummer zerrissen, aber ein feiner Mann gewesen. Jetzt war sein Gesicht leer, verblichen wie die Lumpen seines alten schwarzen Mantels und seiner staubigen Hosen, und seine blauen Augen waren wie schmutzige Glasstückchen. Er packte Ysidro bei den Armen, zog ihn an sich und hielt ihn fest, während Gölge Kurt ein langes Soldatenmesser aus dem Gürtel riß. Ysidro erlitt einen Schnitt über die Brust, bevor er die Klinge beiseite trat, und einen weiteren übers Gesicht, erst dann glitt er knochenlos aus Ernchesters Griff und krümmte sich ... Der Knall einer Pistole dröhnte zwischen den Mauern auf, die den Hof umgaben. Ernchester und Gölge Kurt standen bewegungslos da, und zwischen ihnen sank Ysidro auf die Stufen wie eine zerbrochene Puppe. Ignace Karolyi trat aus dem Säulengang auf der anderen Hofseite. »Geht«, sagte er. Er hatte eine Armeepistole in der Hand, deren Lauf rauchte. »Ich mache mit ihm Schluß.« Er sprach deutsch. »Er verstellt sich.« Gölge sah auf das zerknitterte schwarzweiße Bündel am Fuß der Treppe hinab. Auf seinem Gesicht und seinem Hals, dort wo Ysidros Klauen sie aufgerissen hatten, glänzte Blut, doch er schwitzte nicht, er atmete nicht schwer - in der Tat atmete er überhaupt nicht. »Ich habe noch nie gesehen, daß eine Kugel einen von uns
aufhält.« Karolyi grinste. »Mein lieber Kurt, haben Sie noch nie von Silberkugeln gehört? Sie sind ein Allheilmittel gegen alles Böse. Wenn Sie für uns arbeiten, werden Sie sich davor in acht nehmen müssen.« Gölge Kurts dunkle Augen glitzerten bei dem letzten Satz mißtrauisch, doch er brachte ein Lächeln hervor - ein Dämon, der ein Lächeln für den menschlichen Gebrauch fabriziert. »Und wenn schon. Sharl...« Charles Farren, dritter Earl von Ernchester, war die Treppe heruntergekommen und kniete neben Ysidros Körper, die Hand auf den Mund gepreßt. »Simon«, flüsterte er halb ungläubig, und da wußte Asher, der immer noch in dem ihn verbergenden Schatten des Lagerhauses lehnte, daß es wahr war. Es war, auf irgendeine Weise, Ysidro. »Simon...« »Komm.« Gölge Kurt wandte sich halb um; und Asher erinnerte sich, wie Olumsiz Bey in jener Nacht im Garten zu Zardalu gesprochen hatte. Ernchester blickte auf, und sein Gesicht kämpfte darum, wieder einen Ausdruck, irgendein Zeichen von Leben anzunehmen. Der Geruch von Blut hing übelerregend in der Luft. »Dieser Mann...«, sagte er zögernd. »Komm.« Er berührte ihn nicht, machte keine Bewegung, doch Ernchester zuckte zusammen. Vampire weisen im allgemeinen kein Zeichen des Alterns auf, doch Ernchesters Gesicht, dachte Asher, war gefurcht und ausgezehrt durch das Gewicht von Jahrhunderten der Unsterblichkeit, während derer er niemals, nicht einen Augenblick frei gewesen war. Er erhob sich und folgte ihm. Die beiden Vampire glitten die Treppe hinauf wie Schatten. Karolyi überquerte den Hof und spannte im Gehen die Pistole. Aus den Schatten des Lagerhauses, wo Asher stand, waren es drei lange Schritte bis zum Fuß der Treppe, zu weit für ihn, um auf dem Weg dorthin nicht selbst eine Kugel in die Brust zu bekommen. Aber der Schlüssel lag in seiner Hand, und er schickte sich an, ihn zu werfen, als Ablen kung, um Zeit für den Sprung zu gewinnen. Da rief eine Stimme aus dem Gang, der ins Haus führte. »Mr. Karolyi!« und Karolyi drehte sich überrascht um. Hätte Asher nicht siebzehn Jahre im Geheimdienst Ihrer Majestät verbracht und immer mit dem absolut Unerwarteten gerechnet, hätte er in einer Mischung aus Verblüffung, Schock und Entsetzen gedacht Lydia??? ... und den Sekundenbruchteil verstreichen lassen, den ihr Ablenkungsmanöver ihm einbrachte. Er wußte, daß es Lydias Stimme war, noch während er sich mit zwei schnellen Schritten bewegte und mit der Silberklinge der Hellebarde nach Karolyis Nacken schlug. Der Österreicher wirbelte herum, seine Kugel schlug in den rosafarbenen Putz des Torbogens ein, durch den Asher auf ihn zukam, und Asher drehte die Hellebarde und versetzte Karolyi mit dem Schaft einen Schlag gegen die Schläfe. Karolyi prallte zurück, ließ die Waffe fallen und griff nach dem Stiel der Hellebarde. Die beiden Männer rangen miteinander, und jemand - eindeutig und unverkennbar Lydia - stürzte aus dem Salon, in der Hand einen hohen bronzenen Kerzenleuchter, dessen schweren Fuß sie Karolyi in den Rücken schmetterte. Karolyi würgte, taumelte; Asher trat ihm hart in den Leib, schleuderte ihn fort, dann bückte er sich und ergriff die Pistole, die auf dem Boden lag - im selben Moment sprang Lydia zurück und stand schwer atmend da, rotes Haar überall, wie eine zerzauste Meerjungfrau in einem zerrissenen grünen Kleid und Opernhandschuhen, ihr Hals eine Schatzkammer von Silber und Perlen. Karolyi wich zurück, mit erhobenen Händen, und keuchte. »Mein lieber Dr. Asher.« Im Feuerschein aus den Fenstern des byzantinischen Flügels war alles im Hof grell und deutlich zu sehen. »Sie können mich nicht erschießen, das wissen Sie doch.« In seinen Augen, seiner Stimme lag Ironie, beinahe Belustigung; dasselbe Glitzern war in seinen Augen gewesen, als er Asher gegrüßt hatte, damals, als er in Wien ins Gefängnis abgeführt worden war. Es war ein Spiel. Das Große Spiel.
Seine Kleidung war grob, die Kleider eines Arbeiters, bespritzt mit Schlamm und Blut. Das dunkle Haar hing ihm in die Augen. Doch seine Erscheinung, so oder in seiner prächtigen Husarenuniform, war immer nur eine Tarnung gewesen. Innen hohl, wie der Bey gesagt hatte. »Die Ahnungslosen haben die Kühlspulen in der Krypta zerbrochen«, sagte er. »Ich habe gehört, wie sie hinter mir erstickt sind. Da unten ist alles randvoll mit Ammoniakgas, und es breitet sich aus. Ich kenne einen anderen Weg nach draußen.« »Stimmt das?« fragte Asher. Lydia nickte. Sie stand ein gutes Stück von ihnen entfernt in der Mitte des Hofs, der Feuerschein warf messing- und zinnoberfarbene Reflexe auf ihr Haar, und ihre Brillengläser waren Flammenkreise. »Wir waren direkt hinter ihnen, Ysidro und ich. Er hat mein Gesicht mit seinem Umhang bedeckt...« Sie blickte zu dem stillen, blutenden Bündel am Fuß der Treppe, sagte aber nichts weiter. »Ohne mich kommen Sie niemals hier heraus.« Karolyi senkte die Hände ein wenig. »Tatsächlich sehen Sie aus, als seien Sie kaum in der Lage, irgendwo hinzugehen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Sie haben schon zwei der Diener des Bey getötet. Sie werden denken, daß Sie einer von denen sind.« »Und Sie sind das nicht?« Er riß amüsiert die Augen auf. »Wer, ich? Sie müßten mich eigentlich besser kennen.« »Er hat den Aufstand angezettelt«, sagte Lydia ruhig. »Er und der Eindringling.« »Ach, Unsinn, Madame, die Armenier juckt es seit Tagen, wieder mit den Kämpfen anzufangen.« Er wandte sich mit einem bedeutungslosen Grinsen wieder an Asher. »Sie sehen, es ist eine Pattsituation. Und es wäre besser, wenn Sie sich bald entscheiden, denn in ein paar Minuten werden Sie ohnmächtig werden, und das wäre im Moment vielleicht eine schlechte Idee. Wenigstens kann ich sie - und was wichtiger ist, Ihre Frau lebend hier herausbringen.« Er hatte recht, überlegte Asher. Jede Bewegung war ein Schwertstich in seinen Rippen, und er konnte spüren, wie seine Hände und Füße kalt wurden. Gott wußte, was der Mob Lydia antun würde... »Kommen Sie schon.« Karolyi streckte die Hand aus. »Ein Bündnis auf Zeit, offensiv und defensiv. Nationen tun das ständig. Sie können mir nicht erzählen, ich hätte irgend etwas getan, das Sie nicht selbst getan hätten. Sie hätten genau das getan, was ich getan habe, und aus genau den gleichen Gründen.« »Ja«, sagte Asher und sah wieder die Hure in Paris vor sich und den Bettler in der Gasse, denen er nicht geholfen hatte. Cramer, wie er lachend vorschlug, nach Notre Dame zu gehen und ein Kruzifix zu holen. Die Leiche seines tschechischen Führers vor all den Jahren in den Dinarischen Alpen. Fairport, sterbend im Schein des brennenden Sanatoriums, und der letzte, verblüffte, verständnislose Blick in den Augen von Jan van der Platz. Er fühlte sich seltsam entfernt von sich selbst, und seine Welt war zusammengeschrumpft auf das attraktive Gesicht, das er - vor beinahe drei Wochen schon? - am Bahnhof Charing Cross erblickt hatte. »Das hätte ich. Deshalb bin ich ausgestiegen.« Und er schoß Karolyi eine Kugel durch den Kopf. Übergangslos, so schien es, war Lydia da und stützte ihn, indem sie unter seinen Armen hindurchgriff - der stechende Schmerz in seinen Rippen holte ihn aus einem Augenblick der Bewußtlosigkeit zurück. Er drückte sie krampfhaft an sich, preßte sein Gesicht an ihre Wange. »Lydia...« »Mein Gott, Jamie...« Es schien absurd zu fragen, wie sie ihn aufgespürt hatte. Ysidro, dachte er und wandte sich um. Im selben Moment machte sie sich von ihm los und lief zu dem Vampir, der auf dem blutigen Pflaster lag wie ein zerschmetterter Kinderdrachen.
»Simon...« Die Hand des Skeletts bewegte sich und umklammerte die ihre. »Gehen Sie ihnen nach.« »Sie...« »Ich komme zurecht.« Sie riß den Rock seines schwarzen Abendanzugs beiseite. Das weiße Hemd, das zum Vorschein kam, war vor Blut beinahe ebenso dunkel »Machen Sie sich nicht lächerlich, Sie können nicht...« »Die Kugel ist durchgegangen ... Ich werde eine Zeitlang krank sein ... das Silber ... brennt...« Er hob den Kopf, und sein langes Haar fiel blutverkrustet zurück. So, dachte Asher entsetzt, hatte er allerdings nicht ausgesehen, als sie vor einem Jahr auseinandergegangen waren. »Gehen Sie.« Er preßte die Hand in die Seite, und Blut quoll zwischen seinen Spinnenfingern hervor. »Sie müssen beide sterben. Der Mann und der Untote, mit dem er seinen Handel geschlossen hatte. Das ist ihr Teil des Paktes, Mistress«, setzte er noch leiser hinzu. »Deswegen bin ich mit Ihnen hergekommen.« Asher lehnte sich an einen Torbogen und überprüfte die Kammer des Revolvers. Noch vier Kugeln, alle aus Silber. Er wollte schon sagen Bleib bei ihm, doch dann krachte es in dem Gang zum Haus, und neuer Rauch und fluchende Stimmen machten sich breit. Geifernder Wahnsinn lag in der Luft. Statt dessen sagte er: »Bleib hinter mir.« Doch es war Lydia, die ihm die Treppen hinaufhalf. Die Galerie stank nach Fäulnis und Blut wie ein Schlachthof. Die Tür stand offen, und Asher trat schnell hindurch, die Waffe im Anschlag. Mit der anderen Hand klammerte er sich fest an Lydias Schulter, um sich zu stützen. In dem langgestreckten Raum war es still. Die wenigen Lampen warfen riesige Schatten; ihr Licht erhellte schwarze Seen von Blut. Es tränkte die Teppichschichten, rann die gefliesten Stufen hinab, um sich mit dem schmelzenden Eis zu mischen, war an den Wänden, den Säulen, auf dem Diwan verspritzt. Asher tat einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Ihm war übel, sein Herz hämmerte. In der schweren Dunkelheit machte er Umrisse aus, die zerbrochenen Überreste des Kampfes. Das Wesen, das dalag wie ein getöteter Drache, an dem Blut und Edelsteine glitzerten, war Olumsiz Bey. Es war zu dunkel, um alles genau zu erkennen, doch es sah aus, als sei der größte Teil seiner Kehle herausgerissen worden, und seine Eingeweide waren über die zerrissenen Seidengewänder verstreut. Es mochte eine Täuschung durch die Kerzenflamme sein, doch Asher glaubte zu sehen, daß jene orangefarbenen Augen sich bewegten. Neben ihm lag eine zerschmetterte Gestalt in einem schwarzen Rock. Die Wunden in seinem Körper warfen Blasen und wurden schwarz, wo das Silber sie verbrannt hatte, das kurze blonde Haar war schleimverklebt. Asher sagte leise: »Charles...« Und Ernchester bewegte sich, zuckend, verzweifelt, unfähig, sich zu erheben oder zu sprechen, warnend schoß seine Hand vor. Asher drehte sich um, warf sich gegen die Mauer und feuerte auf den Schatten, der sich aus dem tieferen Dunkel neben der Tür heraus auf ihn warf. Er feuerte nochmals, und Schwärze senkte sich über sein Bewußtsein. Er konnte nichts mehr sehen, und dann kam der Schmerz in der Seite, den Schultern, dem Nacken. Er brach zusammen, und jemand - Lydia - zog ihn zurück und lehnte ihn gegen eine Säule am Ende der Halle. Als sein Kopf wieder klar wurde, sah er, daß Gölge Kurt fortging, auf die zerschmetterten und blutigen Gestalten von Ernchester und Olumsiz Bey zu. Er bewegte sich gemächlich, ohne die fließende, geisterhafte Leichtigkeit Ysidros. Asher vermutete, daß er noch nicht lange Vampir war. Lydia riß einen ihrer Handschuhe herunter und fingerte an dem Gewirr von Silber und Perlen, das um ihren Hals lag. »Zieh das an.« Sie drückte ihm einige Ketten in die Hand. Asher erkannte, daß Gölge Kurt zwischen ihnen und der weit entfernten Tür stand.
Asher gehorchte, obwohl er wußte, daß es ihm nichts nützen würde. Olumsiz Bey bewegte sich. Gölge Kurt preßte den Lauf von Karolyis Pistole an den Kopf des älteren Vampirs und feuerte. In dem langgestreckten Raum hallte der Schuß wie Kanonendonner. In der Eisgrube schrie der Junge Khalil auf, ein entsetzter Laut; der Türke wandte sich um und feuerte von dort, wo er stand, auf ihn. Der Körper bäumte sich auf und lag still. Das Licht der Lampen glitzerte auf Gölge Kurts Lächeln. »Ich denke, ich sollte euch meinem Freund geben.« Er stieß Ernchester mit dem Fuß an. »Wir sind verletzt, und durch den Gestank des Todes werden wir uns besser fühlen. Aber ich glaube, er ist durch das Silber des Messers, das in seinen Wunden brennt, zu schwer verletzt. Also nehme ich euch beide einfach selbst.« Sein Grinsen wurde breiter, dann warf er den Kopf zurück und lachte. Das Blut aus Ysidros Klauenhieben lief dunkel über sein Gesicht. »Ich halte ihn auf«, sagte Asher sehr leise. »Du rennst zur Tür.« Sie mußte wissen, daß es hoffnungslos war, denn sie nickte. Die Seide raschelte, als sie ihren Rock raffte. »Ich liebe dich, Jamie.« Die Tür am anderen Ende des Gemachs schloß sich mit einem Laut, als werde eine Grabplatte zugeschoben. Der Schatten, der im Türrahmen stand, bewegte sich und drehte den altmodischen Schlüssel um. Kerzenlicht flackerte auf der geschwungenen Klinge der Silberhellebarde. Gölge Kurt wandte den Kopf. Sie stand da wie eine Hexe, wie eine Kreatur, die wahrhaft aus einem namenlosen Grab auferstanden war, schmutzig in ihrem zerlumpten leuchtendblauen Kleid. Blut klebte in dem gelockten rabenschwarzen Meer ihres Haars. In den blauen Augen stand die unheimliche Klarheit, die man manchmal auf der anderen Seite des Wahnsinns findet: sie waren ruhig, aber es waren auch die eines Dämons. An ihrem Mund und den Armen von den Händen bis zu dem Ellenbogen klebte Blut, doch das Gold ihres Eherings schimmerte hindurch. Gölge Kurt richtete die Waffe auf sie und feuerte, doch noch bevor der Hahn harmlos auf die leere Kammer klickte, war sie auf ihn zugestürmt und hatte ihm mit einem wütenden Streich der Silberhellebarde die Hand mit der Waffe am Gelenk abgeschlagen. Der Vampir schrie auf, als Blut aus den durchtrennten Arterien spritzte. Er stürzte sich auf sie, wurde aber mit Hieben auf sein Gesicht und seine Brust zurückgetrieben, er umklammerte, betastete die Wunden, die durch das Silber Blasen warfen und brannten. »Orospu!« kreischte er mit unmenschlicher Wut in den Augen. »Ungläubige Hure!« Sie drang auf ihn ein, schlug mit der Silberwaffe zu, schlitzte seine Beine, seine Füße, seine Schenkel auf. Als er versuchte, die Lampennischen hinaufzuklettern, um von dort aus zu den Fenstern in der Kuppel zu springen, hieb sie ihm die Kniekehlen durch, so daß er schreiend zurückfiel. Und die ganze Zeit über änderte sich ihr Gesichtsausdruck nicht, und aus den leeren Dämonenaugen rannen ohne Unterlaß die Tränen. Erst als sie ihn in eine Ecke getrieben hatte, wo das Blut, das aus seinen Wunden schoß, ihre Röcke, die Wände und den Boden bespritzte, hielt sie inne und sah ihn aus einem inneren Frieden heraus an, der jenseits von Mitleid oder Haß lag. »Du hast ihn getötet«, sagte sie leise und beinahe sanft. »Du hast zugelassen, daß er die ganze Wahrheit des Kampfes erlitten hat, du hast ihn den Meister zerstören lassen, an dessen Stelle du zu treten hofftest. Aus ihm hast du dir nicht mehr gemacht als er, dieser Bey, dieser ... dieser Meister. Es wird sehr bald Tag werden«, sagte sie. Gölge Kurt machte eine Bewegung, als wolle er sich auf sie stürzen, doch mit seinen durchtrennten Kniesehnen konnte er sich nur auf allen vieren winden, während das Blut um ihn spritzte wie dicker, stinkender Regen. Sie stand außerhalb seiner Reichweite und sah auf ihn hinab. Ohne den Kopf zu drehen, sagte sie: »Charles?« Da rührte sich die zerbrochene Gestalt, die neben Olumsiz Bey auf den blutgetränkten
Teppichen lag; sie bewegte sich und streckte eine Hand nach ihr aus. Asher glaubte, eine Stimme flüstern zu hören, nicht lauter als das Scharren einen Blatts, das über einen Marmorboden weht: »Geliebte...« »Liebster«, antwortete sie und ihre Stimme bebte ein wenig. Sie ließ Gölge Kurt nicht aus den Augen. »Du hast dies Leben nie gewollt, nicht wahr?« fragte sie leise. »Wolltest nicht so weitermachen, weder tot noch lebendig...« »Weiß ... nicht.« Ernchester bewegte wieder die Hand, versuchte, den Kopf zu heben. Im flackernden Kerzenlicht konnte man sehen, daß seine Kehle beinahe bis zur Luftröhre aufgeschlitzt war. Asher war nicht einmal sicher, ob der sterbende Vampir wirklich in der Lage war, einen Laut hervorzubringen. »Weiß ... nicht ... mehr, was ich wollte. Nur, daß ich dich nicht verlassen wollte.« »Und ich dich nicht, und nicht dies Leben«, erwiderte sie. »Nicht, wenn deine Liebe Teil dieses Lebens war, ganz gleich, was es meine Seele kostet. Nächte und Nächte, in denen ich tötete, um nicht zu sterben ... und du hast getötet, damit du hier bei mir bleiben konntest. War es nicht so?« »Ich habe meine Wahl getroffen...« Sie ging rückwärts, um an seiner Seite niederzuknien, obwohl sie immer noch den Schattenwolf beobachtete, der auf dem Boden verblutete. In der einen Hand hielt sie noch die Silberwaffe des Meisters, die andere senkte sich hinab, um das ergrauende Haar zu berühren. »Ich verstehe«, sagte sie. »Wir alle treffen unsere Wahl. Und sehr bald wird es für uns beide Zeit sein zu gehen.« Gölge Kurt, die schwarzen Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, schrie auf sie ein, wütete, verfluchte sie auf deutsch und türkisch und französisch, und sie hörte mit versteinertem Gesicht zu. »Ich war es nicht, der ihn hierhergebracht hat«, rief der Vampir. »Ich war es nicht, der ihn so zugerichtet hat...« »Du warst es, der ihn zwischen den Gräbern erwartet hat«, sagte Anthea. »Du hast ihn benutzt, seinen Geist kontrolliert, weil er ist, wie er ist, schwach ... Glaubst du, ich habe es nicht wahrgenommen, als ich mich in den Zisternen und Katakomben dieser Stadt versteckt hielt, während ihr beiden durch ihre Straßen gegangen seid, um Krieg gegen Olumsiz Bey zu führen? Glaubst du, ich hätte nicht in meinen Träumen gespürt, daß du seinen Geist bedeckt und verborgen hast, damit er nicht einmal erfahren konnte, daß ich ihm gefolgt war und ihn suchte? Dich zu töten ist gar nichts.« Das gelbliche Licht umriß ihr Gesicht und die Klinge der Hellebarde, von der Blut tropfte. Von draußen war jetzt kein Laut zu hören, und die Fenster über ihnen waren im Dunkel als aschgraue Rechtecke zu erkennen. »Jede Nacht habe ich getötet, um am Leben zu bleiben. Habe ihm Opfer gebracht, die er töten konnte, wenn er des Lebens, das er führte, so überdrüssig war, daß er nicht einmal ausgehen konnte, um sie sich selbst zu suchen. Alles, weil Grippen ihn wollte - und Olumsiz Bey ihn wollte - und du ihn wolltest, um ihn vom Bey fernzuhalten. Alles, was du wolltest, war Ruhe, Charles.« Charles schüttelte den Kopf und ließ ihre Hand nicht los. »Nein«, flüsterte er. »Ich wollte dich.« Es war Gölge Kurt, dessen Fleisch sich zuerst entzündete. Die Haut verzog sich, warf Blasen und wurde schwarz, während er schreiend auf die Tür zukroch und Anthea wieder und wieder mit der silbernen Hellebarde auf ihn einschlug, bis er sich kreischend in die Ecke zurückzog, wo das Feuer ihn ergriff. Es schwoll von innen heraus an, nicht als helle Flamme, sondern in dichten blauen Feuerwogen. Er sank zu Boden und hörte sehr bald auf, sich zu bewegen, obwohl er noch eine Weile weiterschrie. Inzwischen brannte auch Olumsiz Bey. Asher vernahm keinen Laut von ihm. Vielleicht war er tot, vielleicht nur in den Vampirschlaf gefallen, der mit dem Tageslicht einsetzte, so daß er gnädigerweise nichts von dem Ende seines langen Unlebens bemerkte.
Anthea, der derselbe Schlaf die Lider schwer machte, legte die Waffe, die sie trug, ab, kniete neben dem Mann nieder, den sie geliebt hatte, und zog ihn hoch in ihre Arme. Sie hatten die Lippen fest aufeinander gepreßt, als das Feuer sie ergriff, und sie umklammerten einander noch fester, bis sich hinter den Hitzeschleiern selbst ihre Knochen ineinander verkeilten. Lydia sah bis zum Ende zu, während Asher das Gesicht an ihrer Schulter vergrub. Die erstickende Hitze drang auf ihn ein, der Gestank verbrennenden Fleischs würgte ihn, und er war blind vor Tränen.
ZWEIUNDZWANZIG
Kurz darauf kam die Armee. Alles bewegte sich wie unter Schock, und während Lydia ihn die Treppe hinunter stützte, mit dem ganzen grimmigen Geschick von jemandem, der daran gewöhnt ist, Leichen zu bewegen, spürte Asher, wie er das Bewußtsein verlor und wiedererlangte, wie der Schmerz kam und ging, sich abwechselte mit unheimlichen beängstigenden Träumen. Er hatte fast erwartet, am Fuß der Treppe die verkohlten Überreste von Ysidros Körper zu finden, doch so war es nicht - oder die Wirklichkeit, in der es so war, war ganz eindeutig ein Traum. Nur Karolyis Leiche war da. Er lag in einer Blutlache, mit einem Loch in der Stirn und einem erstaunten Ausdruck in den Augen. »Ich hatte solche Angst, er würde es dir ausreden, ihn zu erschießen«, sagte sie. Sie half ihm, sich auf die unterste Stufe zu setzen und sank mit raschelnden Röcken neben ihn. Zitternd schob sie die Brille mit dem Zeigefinger hoch und sah sich blinzelnd um. »Ich meine, er hat heute nachmittag versucht, mich zu entführen, und wenn wir mit ihm gegangen wären, wären wir niemals lebendig hier herausgekommen.« Typisch Lydia, dachte er und fragte sich, wer sie vor Karolyi gewarnt hatte. Um sie herum war Ruhe eingekehrt. Der Bey hatte offensichtlich recht gehabt, daß die Aufständischen vor dem ersten Tageslicht fort sein würden. Asher hatte Mühe, sich vorzustellen, daß er diese Frau drei Wochen nicht gesehen hatte und daß sie zum letzten Mal in Oxford auf dem Bahnsteig miteinander gesprochen hatten. Er lehnte den Rücken gegen die Wand des Treppenhauses und fragte mit, wie er meinte, vernünftiger Stimme: »Was tust du eigentlich in Konstantinopel?« Bevor sie antworten konnte, verlor er wieder das Bewußtsein. Als er zu sich kam, war der Hof angefüllt mit zwei türkischen Armeeschwadronen, die sich um Karolyis Leiche drängten, murmelten und flüsterten. Ihr Hauptmann war ein Hochlandanatolier, der anscheinend stolz darauf war, daß er sowohl Französisch als auch Griechisch nur gebrochen sprach. Türkisch war für Asher, selbst wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte wäre, keine einfache Sprache, und er konnte nur wiederholen »Bilmiyorum ... bilmiyorum« und den Kopf schütteln, während der Hauptmann und seine Männer mit puritanischer Mißbilligung Lydias unverschleiertes Gesicht, ihre bloßen Schultern und ihr unbedecktes Haar betrachteten. Da Asher allerdings unzweideutig verletzt war, wurde aus den halb niedergebrannten Ruinen des byzantinischen Hauses ein Fensterladen geholt, und zwei Soldaten trugen ihn darauf durch die gewundenen Straßen zur Polizeipräfektur gegenüber der Hagia Sophia, gerade als die Muezzine den Sonnenaufgang ausriefen. Indem Lydia ihren Ehering hochhielt und sich weigerte, seine Hand loszulassen, überzeugte sie sie schließlich, daß sie seine Frau war, und überredete, sobald sie auf der Wache waren, den diensthabenden Polizisten, ihr zu erlauben, die britische Botschaft anzurufen. Nach dem Aufstand war jedoch die Vermittlung nicht besetzt. Sie wurden nicht in eine Zelle gebracht, sondern in einen stickigen Raum in einem der oberen Stockwerke, während man einen Boten suchte, der eine Nachricht hinüber nach Pera bringen konnte. Gegen Mittag kam ein türkischer Arzt, verband Ashers aufgerissenen rechten Arm neu, renkte seine Schulter ein und bandagierte ihm die Rippen. Dann bestäubte er alles mit Basilikumpulver und gab Asher Veronal und Novokain, während er die ganze Zeit über vor sich hin murmelte. Auf dem Weg nach draußen hielt er inne und studierte aufmerksam Lydias Gesicht. Dann öffnete er seine Tasche nochmals, um ihr ebenfalls ein leichtes Beruhigungsmittel zu mischen. Sie nahm es dankbar an, denn ihr war klar, daß die seltsame Distanz, die sie gegenüber den Ereignissen der Nacht empfand, nur das Ergebnis eines Schocks sein konnte. Ich habe es geschafft, dachte sie und blickte hinab auf das Gesicht des Mannes, der
neben ihr schlief - unrasiert, mit blauen Flecken übersät, sein Hals ein Muster von
Heftpflaster und getrocknetem Blut. Unter den Bartstoppeln war seine Haut entsetzlich
weiß.
Ich habe ihn gerettet. Nun, mehr oder weniger.
Ich habe ihn gefunden. Er ist nicht tot.
Ihr wurde klar, daß sie nicht wirklich damit gerechnet hatte, Erfolg zu haben, irgend etwas
richtig machen zu können, erst recht nicht das, was für ihr Glück am wichtigsten war.
Nicht, wenn sie es dabei mit etwas so Unberechenbarem zu tun bekam wie lebendigen
Menschen.
Das Glück, das sie erfüllte, kam ihr vor wie eine Seifenblase, als könne es ihr durch einen
unbesonnenen Atemzug genommen werden, doch er war hier bei ihr und ... er atmete.
Sie untersuchte die klaffenden Wunden an seinem Hals. Auf der dünnen Matratze auf
dem Boden schlief er so fest, daß er nicht aufwachte. Wie die älteren roten Narben sahen
sie aus wie Klauenhiebe, doch sie wirkten nicht ausgekaut und verquollen wie Wunden,
aus denen ein Vampir Blut gesaugt hat.
Erleichtert strich sie über sein Haar, die weißen Strähnen in seinem Schnurrbart, lehnte
sich dann an die Wand und brach aus einem ihr nicht ersichtlichen Grund in Tränen aus.
Danach schlief sie sehr schnell ein.
Etwa eine Stunde später brachte einer der Offiziere ihnen Brot, Honig, weißen Schafskäse
und Tee. Für Asher, der immer noch in tiefem Schlaf lag, brachte er türkisches Militärzeug
- seine Kleidung, die in der Ecke auf einem Haufen lag, war zerrissen und blutig und stank selbst für Lydias in Sektionsräumen abgehärtete Sinne unerträglich - und Hosen, Tunika, Weste, Yashmak, Schleier und Pantoffeln für eine Dame. »Von Ehefrau«, erklärte er mit einem schüchternen Lächeln. »Ehefrau sie sagen...« - er zeigte auf Lydias zerrissenes, blutverschmiertes Kleid - »...nicht gut. Besser.« Er hielt die Schleier hoch, lächelte noch einmal kurz - er sieht nicht einmal alt genug aus, um überhaupt eine Frau zu haben, dachte Lydia - und verabschiedete sich hastig. Sie hängte einen der Schleier über das Guckloch in der Tür und einen anderen über das Fenster und zog sich um, froh, aus dem blutverkrusteten Kleid herauszukommen, in dessen Falten noch der Geruch nach verkohltem Fleisch hing. In ihrem Entsetzen über das, was sie erlebt hatte, hätte sie das grüne Kleid am liebsten nie wiedergesehen, doch sie wußte, dieses Gefühl würde vergehen, und sie würde froh über die zahlreichen Proben von Vampirblut sein. Als sie sich wieder in die Ecke an Ashers Kopfende setzte außer einem Stuhl und der Matratze auf dem Boden enthielt das Zimmer kein Mobiliar -, fragte sie sich, ob sie die Behörden auf irgendeine Weise dazu bringen konnte, daß sie sie die Überreste der verbrannten Körper sehen ließen. Wahrscheinlich nicht, dachte sie. Nachdem sie geschlafen und gegessen hatte, fühlte sie sich besser, und trotz ihrer alptraumhaften Erinnerungen - blaues Feuer, verkohltes Fleisch, unmenschliche Schreie - stellte sie fest, daß sie wünschte, sie hätte ein Notizbuch dabei, und eine Uhr.
Ysidro ... Etwas Kaltes zog sich in ihrer Brust zusammen. War er in Sicherheit gelangt? In der Morgendämmerung waren die Aufständischen fortgewesen, doch er hatte nicht einmal stehen können. Und wohin in der Stadt konnte er gehen? Sie erinnerte sich an Gölge Kurts Worte über den Geschmack des Todes, der Heilung bringt. In den vom Aufruhr erschütterten Straßen hätte Ysidro nicht lange nach einem Opfer suchen müssen. Sie schloß die Augen und wollte sich nicht eingestehen, wie nahe sie daran war, den Mord an einem unschuldigen Menschen zu billigen. Wenn sie zurückschaute - und sich daran erinnerte, wie Ysidro auf der Treppe Gölge Kurt angefallen hatte wie ein wahnsinniger Wolf -, empfand sie ein ungeheures Erstaunen darüber, daß er auf ihr bloßes Wort hin darauf verzichtet hatte zu jagen.
Ihr Pakt war erfüllt.
Ernchester war tot. Karolyi hatte das Geheimnis der Vampire mit ins Leichenschauhaus
von Konstantinopel genommen.
Jamie lebte.
Wie ein Echo hörte sie das Flüstern einer Stimme in ihren Gedanken: Ich hab' ein Licht
geseh'n, das Adern nicht umschließen ...
Hatte er sich wirklich zu ihr hingezogen gefühlt wie zu einer wärmenden Flasche? Oder
war das nur ein literarischer Kunstgriff gewesen, um das heiße Rot von Feuer und Blut
mit dem Rot ihres Haars zu vergleichen?
Sie wußte es nicht. Sie wußte nicht, ob sie es wissen wollte. Wenn sie an ihn dachte,
spürte sie einen seltsamen Schmerz in ihrem Innern, eine dunkle Sehnsucht, mit der sie
nichts anzufangen wußte.
Sie fühlte sich nicht im geringsten an wie die Liebe und das Begehren, die es ihr
unmöglich gemacht hatten, sich ein Leben vorzustellen, in dem sie nicht in James' Armen
lag, wenn sie in der Nacht aufwachte.
Als Ysidro sie nach Gölge Kurts Überfall ins Haus getragen hatte ...
Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Neben ihrem Mann rollte sie sich zusammen,
nahm zum Schutz seine Hand und ließ sich in den Schlaf hinübergleiten.
Bei Sonnenuntergang erwachte Asher zu den Rufen der Muezzine der Hagia Sophia, die
die Gläubigen zum Gebet riefen. Sein panisches Hochfahren weckte Lydia; einen
Augenblick lang schloß er die Hand so fest um ihre Finger, daß die Knochen knackten.
»Ich hätte nicht geglaubt, daß ich dich finde.«
»Mich finden?« sagte Asher. Seine Stimme war rauh und heiser. »Hätte ich gewußt, daß
du mich suchst, hätte ich schon graue Haare!«
Lydia lachte etwas zittrig und strich über die Silberfäden in seinem braunen Haar. »Es tut
mir leid.« Sie schob ihre schweren roten Locken beiseite und tastete nach ihrer Brille, wie
um sicherzugehen, daß sie neben ihr auf dem Boden läge, doch sie setzte sie nicht auf.
»Ich hatte Angst, alles falsch zu machen, aber ich war so vorsichtig wie möglich. Ich habe
immer Silber getragen und eine Waffe bei mir gehabt und dafür gesorgt, daß stets
jemand wußte, wo ich war - na ja, meistens. Nicht, daß mir das in einigen Situationen
viel genützt hätte. Aber ich habe es versucht.«
»Du hast es gut gemacht.« Er legte seine gesunde Hand auf ihre Wange. »Aber ich habe
auch nie geglaubt, daß es anders sein könnte, bei allem, was du dir vornimmst.«
Lydia wollte protestieren, und er bedeckte ihre Lippen mit seinen.
Es klopfte an der Tür, und ein Mann rief in schlechtem Französisch: »Monsieur Ash?
Madame? Wir haben hier von der britischen Botschaft Sir Burnwell Clapham und eine
Dame, wollen Sie wegholen.«
Das Haus in der Rue Abydos war dunkel, als der Botschaftswagen Asher und Lydia vor
der Tür absetzte. »Ich nehme an, daß die arme Miss Potton immer noch nach Ihnen
sucht«, sagte Lady Clapham, als Lydia das Tor aufschloß. »Wir sind selbst erst gegen
Morgen zurückgekommen, weil wir nach Ihnen gesucht haben, einen Umweg gefahren
sind und unser Wagen von Aufständischen angegriffen wurde. Ungefähr um neun haben
wir einen Mann hinübergeschickt, und er sagte, das Haus sei verschlossen und ruhig,
also waren wir sicher, daß sie gerade das tat, was wir auch taten: alle Krankenhäuser in
der Stadt zu überprüfen. Erst gegen Abend haben wir angefangen, auf den
Polizeistationen nachzufragen.«
»Dann haben Sie die Nachricht nicht erhalten?« fragte Lydia. In ihren alles verhüllenden
schwarzen Gewändern fühlte sie sich, nachdem sie ihr Haar wieder aufgesteckt und sich
den Schmutz aus dem Gesicht gewaschen hatte, wie ein Schulmädchen, das sich
verkleidet hat. Asher, der in seiner Khakiuniform neben ihr stand, den Arm in der
Schlinge, wirkte wie ein Kriegsverwundeter. »Lieber Himmel, haben Sie eine geschickt?« Die Frau des Attachés schüttelte den Kopf. »Wir sind den ganzen Tag nicht in die Villa zurückgekommen, mein Kind. Wahrscheinlich finden wir sie unter der Tür - falls diese Halunken auf der Präfektur sich überhaupt die Mühe gemacht haben, sie zu schicken.« Der Wagen ratterte in die Dunkelheit davon. Lydia erschauerte. Das Haus wirkte kalt, unbewohnt. Zuerst dachte sie, Madame Potoneros und ihre Tochter seien an diesem Morgen gegangen, sobald Margaret es ihnen gestattet hatte, doch das Feuer in der Küche war nicht angezündet worden. Sie mußte schon irgendwann in der Nacht gegangen sein. Während sie ein Streichholz aus der Kommode in der Halle fischte, um die Lampe auf dem Tischchen anzuzünden, fragte Lydia sich besorgt, ob die Haushälterin in Pera oder auf der anderen Seite des Horns in Stambul wohnte. Der Aufstand hatte sich bis nach Galata ausgebreitet, wo die Armee ein Dutzend Armenier getötet hatte. Als sie den Hügel hinaufgekommen waren, waren Soldaten an den Straßenecken postiert gewesen. Der Hintereingang zur Küche war nicht verriegelt. Vielleicht waren sie auf diesem Weg geflohen, sobald sie den Kampflärm am Fuß des Hügels gehört hatten. »Ich hoffe, Margaret ist nichts geschehen.« Lydia hob die Lampe, als sie in die Eingangshalle zurückkehrte. »Sie ist wirklich nicht sehr klug und kennt sich hier überhaupt nicht aus. Ich mag gar nicht daran denken, daß sie versucht, mit einem türkischen Droschkenfahrer zu verhandeln oder...« Asher, der etwas untersucht hatte, das auf dem Tisch in der Halle aufgehäuft war, richtete sich auf. Es war ein Kranz aus Knoblauchknollen und Weißdorn. »Hier liegen vier oder fünf davon«, sagte er. »Und an den Fenstern hängt nichts.« »Vielleicht hat Madame Potoneros sie abgenommen«, sagte Lydia und spürte dabei eine kalte Übelkeit in ihrem Innern. »Vielleicht.« Sie sahen einander an, wandten sich dann gleichzeitig um und hasteten die Treppe hinauf. Lydia blieb wie versteinert in der Tür des Schlafzimmers stehen. Sie hielt die Lampe hoch erhoben, so daß das Licht hineinfiel und die offenen Fenster beleuchtete, die in der Ecke aufgehäuften schützenden Kränze und die reglose Gestalt, die auf dem Bett lag. Asher ging sofort zum Bett. Wie betäubt stellte Lydia die Lampe auf dem Frisiertisch ab und zündete mit einem Fidibus zwei kleinere Lampen an. In dem zusätzlichen Licht erschienen die Farben des Raums wärmer, doch das Dunkel in den Ecken konnte es nicht vertreiben. Die Frau auf dem Bett war Margaret. Aber daran hatte sie eigentlich keinen Zweifel gehegt. Asher berührte den Hals der Frau. Um die ausgekauten Bißspuren herum klebte ein wenig Blut, aber auch daran hatte Lydia nicht wirklich gezweifelt. Die wächserne Haut, die blaue Farbe der Lippen, der Finger und der bloßen Zehen, die unter dem weißen Flanellhemd hervorschauten, waren eindeutig. Lydia stellte die Lampe auf den Nachttisch neben Margarets Brille und streckte die Hand aus - wie Asher zuvor -, um den zerbissenen Hals, den kurzen, unschönen Kiefer zu berühren. Sie waren immer noch steinhart. Wäre Margaret zu Beginn der vergangenen Nacht gestorben und nicht kurz vor ihrem Ende, als es schon beinahe dämmerte, würde sich die Totenstarre jetzt bereits lösen. »Sie hat die Pflanzen selbst von den Fenstern genommen«, sagte sie leise. »Ysidro sagte ... ein Vampir könne einen Sterblichen dazu bewegen, wenn er ihm einmal in die Augen gesehen hätte.« Etwas brachte Lydia dazu, sich umzuschauen. Ein Geräusch an der Tür, dachte sie später, obwohl sie nicht hätte sagen können, was es war. Übergossen von dem goldenen Schein der Lampe stand Ysidro vor dem dunklen Hintergrund der Halle. Er sah seiner früheren Erscheinung wieder ähnlicher; sein Totenschädelgesicht war etwas fleischiger, und die dunklen Ringe des Schmerzes und
der Müdigkeit, die um seine Augen lagen, waren weniger tief, obwohl sich ein langer, blutloser Schnitt von Gölge Kurts Klauen von der Stirn aus über den Wangenknochen und das Kinn erstreckte und zwei weitere quer über die feinporige Haut seines Halses verliefen. Sie waren wie die Schnitte, die ein Bildhauer einer Wachsfigur versetzen mochte, auf die er einen plötzlichen Haß empfand: furchtbar, aber sauber und nicht haltend. Ysidro schien wieder gelassen in sich selbst zu ruhen, vollkommen wie ein Elfenbeinengel, als habe er nie in seinem Leben etwas fallenlassen, sich kraftlos an einen Türpfosten geklammert oder ein Gedicht geschrieben, in dem er eingestand, von einer Wärme zu träumen, die nicht aus gestohlenem Leben stammte. Als sei er nie etwas anderes gewesen als vollkommen und Herr seiner selbst. Lydia dachte: Er hat Nahrung zu sich genommen. Ihr ganzer Körper war ein einziger heftiger Schmerz. Nur dazu hat er sie noch gebraucht. Ihr Zorn explodierte, all das zurückgehaltene Entsetzen über Antheas Tod, all ihre melodramatischen Träume, die er Margaret geschickt und mit denen er Liebe in ihr geschürt hatte wie die Flammen, die das Fleisch der Vampire entzündete, und sie fiel über ihn her, schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, ging mit Fäusten auf seine Brust und Schultern los und bedachte ihn mit einem verzehrenden Haß, der tief in ihrer Seele etwas zu zerreißen schien. Nach einer Weile ergriff er ihre Handgelenke und hielt sie von sich weg. Seine gelben Augen unter dem blutleeren Schnitt waren unnahbar und blickten ausdruckslos in die ihren. »Sie können nicht verlangen, daß wir anders sind, als wir sind, Mistress«, sagte er mit einer Stimme, von der sie wußte, sie war so leise, daß nur sie sie hören konnte. »Weder die Lebenden noch die Toten.« Dann war er fort, und James war an ihrer Seite und umschlang sie mit seinem gesunden Arm. Lydia klammerte sich an ihn und weinte vor Erschöpfung und Schock und einem blendenden, bitteren Kummer über das, was sie verloren hatte.
Ich werde Sie finden, hatte Ysidro einmal zu ihm gesagt. Für uns, die wir in den Nächten jagen, wird das keine schwierige Aufgabe sein. Über den verschlungenen Ketten, dem spinnwebenüberzogenen Dickicht der Gegengewichte und den hängenden Lampen aus Silber, Gold und Straußeneiern stieg die Dunkelheit auf wie der Jubel uralter Geister, fast zweihundert Fuß hoch bis zu dem schäbigen bemalten Putz der Kuppel der Hagia Sophia. Unten hallten Ashers Schritte flüsternd bis in alle Winkel der Moschee, als wollten sie irgendein Geheimnis von der Größe einer Maus verraten. Nur wenige Lampen brannten. In ihrem Licht konnte er seinen Atem sehen. Er war zu Fuß aus Pera gekommen, die steilen Treppen der Yusek-Kalderim-Straße hinunter und über die Neue Brücke; durch enge Straßen vorbei an der Moschee der Sultanin und den groben grauen Granitbauten der neuen Verwaltung und den sanft ansteigenden Hügel zu diesem ältesten Bau hinauf. Ein römischer Kaiser hatte ihn errichtet, oder jedenfalls ein Mann, der sich für einen römischen Kaiser hielt - er und seine schöne, skandalumwitterte rothaarige Frau. Nach allem, was um ihn herum geschehen war, vernahm Asher immer noch ihre Namen in der lautlosen Musik der Säulen, den unhörbaren Baßrhythmus der Kuppeln. So wie er unter den Augen von Olumsiz Beys Zöglingen über die Friedhöfe und durch die Zisternen gewandert war, als Köder für dessen Falle, ging er auch jetzt einher. Wenn Ysidro ihn finden wollte, dachte er, dann würde er ihn hier finden. Charles Farren, Earl of Ernchester, mußte hier entlanggegangen sein. Als Lebender, vor zweihundertfünfzig Jahren - mit gekräuselter Perücke und höfisch gekleidet -, von der Frau träumend, die in England auf ihn wartete. Alles, was ich je gewollt habe ... und alles,
was ich jemals hatte. Ich wünschte, Sie hätten uns so gekannt, wie wir waren.
Er schloß die Augen; er wußte, daß er so nicht für sie empfinden durfte. Als er sie wieder öffnete, nahm er das geisterhafte Aufblitzen einer Bewegung in dem Dunkel der Säulenreihe in der Apsis wahr. Das bleiche Licht der Lampen fiel auf ein farbloses Haargespinst. Asher blieb, wo er war. Auf den staubigen Weiten der Teppiche erzeugten die Schritte des Vampirs keinen Laut. »Ich war nicht sicher, ob dies ein angemessener Platz wäre, um Sie zu treffen.« Die Echos von Ashers Stimme waren einsame Wassertropfen in der Unendlichkeit einer unterirdischen Höhle. »Doch in den Straßen fühlte ich mich nicht sicher, und es bestand immerhin die Möglichkeit, daß die anderen - die Zöglinge - einen Ort, den sie als heilig betrachteten, nicht betreten würden.« »Es gibt keinen Grund für sie, es nicht zu tun.« Er bewegte sich vorsichtig, offensichtlich unter Schmerzen, obwohl sein Gesicht ausdruckslos war; Asher wußte, daß Ysidro, was Silber anging, ein wenig zäher war als jüngere Vampire, doch er vermutete, daß Karolyis Kugel eine peinigende Spur von Verbrennungen und Blasen in seinem Innern hin terlassen hatte. Er fragte sich, wer wohl Ysidros Wunden verbunden hatte. »Solange nicht jemand Knoblauch, Silber oder eine andere uns feindliche Substanz um den Eingang herum ausgelegt hat, gibt es keine Einschränkungen, welches Gebäude wir betreten können. Weder Kreuze noch Halbmonde noch Hufeisen, die mit kaltem Eisen über der Tür genagelt worden sind, hindern uns mehr, als sie einen Lebenden hindern, auch müssen wir nicht darauf warten, daß man uns über eine Schwelle bittet, die wir noch nie überschritten haben.« Ysidro machte eine Handbewegung, das schwarze Glacéleder seines Handschuhs spinnengleich vor dem heißen Hemdsärmel. »Obwohl wir dazu neigen, heilige Orte zu meiden. Nicht weil Gott dort ist - denn es ist anzunehmen, daß Gott überall ist, etwas, das die Menschen auf ihren Schlachtfeldern, in ihren Schlafgemächern und Sitzungssälen zu vergessen scheinen -, sondern weil dort Männer und Frauen ohne die Schutzmauern zusammenkommen, die sie errichten, um ihre Gedanken voreinander zu verschließen. Wenn sie sich ihren verborgensten Träumen ergeben - der Liebe und dem Haß auf jene, die anders sind als sie - Nächstenliebe und Gewalt, miteinander verquickt, bringt das eine Melodie hervor, die an solchen Orten verharrt, selbst wenn sie leer sind. Träume wabern hier wie Weihrauchschwaden; der Geruch des Bluts, das hier vergossen wurde, dringt noch aus den Steinen. Viele von uns bemerken es kaum, doch ich finde es ... unangenehm.« Schweigen senkte sich wieder über sie wie der Mantel der Vampirkräfte: die Ablenkung der Aufmerksamkeit, das Blenden lebender Augen. All die Dinge, die jemand wie Ignace Karolyi - jemand wie Gölge Kurt - Lebenden verkauft hätte, die sich anschickten, einen Krieg zu führen. Und sie konnten es immer noch tun, dachte Asher müde. Es konnte immer noch geschehen. Doch das war etwas, wogegen er nichts mehr ausrichten konnte. Er hätte es wissen sollen, überlegte er bitter, bevor er in den Zug nach Paris gestiegen war. Diesmal hatte er es erfahren, diesmal hatte er sie aufhalten können ... Er hatte ein einziges Unkraut ausgerissen und wußte doch schon, daß die Saat überall in der Luft lag, auf der Suche nach fruchtbarem Boden. »Danke, daß Sie sie beschützt haben.« Ysidro wandte das Gesicht ab. »Sie haben eine sehr törichte Frau geheiratet, James«, sagte er leise. »Ich hätte besser daran getan, ihr beide Beine zu brechen und sie unter Bewachung einer Krankenschwester nach Oxford zurückzuschicken. Ich habe falsch und dumm gehandelt, denn wir alle fahren nach Hause zurück und lecken unsere Wunden, von denen ihre vielleicht die schwersten sind. Und hier wird sich nichts ändern.«
»Was besser so ist«, sagte Asher, »wenn man bedenkt, welche Veränderungen stattgefunden hätten, wäre Gölge Kurt Meister von Konstantinopel geworden. Diesmal haben wir gewonnen, wissen Sie.« Ysidros farblose Augen berührten ihn, ruhten auf ihm, ohne etwas von den Gedanken dahinter preiszugeben. Dann wandte er sich ab. »Dies ist nicht meine Angelegenheit. Die Toten sind die Toten.« »Sie werden sie vermissen«, sagte Asher, »nicht wahr? Anthea, meine ich.« Ysidro blickte zur Seite, ohne zu antworten. »Ich glaube nicht«, sagte Asher, »daß sie es bedauert hat.« Er hatte nicht angenommen, daß der Vampir ihm eine Antwort geben würde. Ysidro schwieg lange, dann sagte er: »Doch, das hat sie. Aber ich glaube nicht, daß sie lange ausgehalten hätte, nachdem er gegangen war.« Er hatte sie, dachte Asher, diese ganzen zweihundertfünfzig Jahre lang gekannt. Welten lagen in der Ruhe des Alabastergesichts und der bleichen champagnerfarbenen Augen verborgen. Fragen, die auf ewig unbeantwortet bleiben würden. »Sie haben das Potton-Mädchen nicht getötet, oder?« Ysidro sagte nichts. »Ich werde zu Lydia nicht darüber sprechen. Es waren noch andere Vampire in der Stadt, vielleicht welche, die ich im Haus der Oleander nicht gesehen habe. Ich weiß es nicht. Wenn schon die Arbeiter, Mechaniker und Bettler Lydias Nachforschungen mit dem Haus von Olumsiz Bey in Verbindung gebracht haben, dann müssen auch Vampire auf sie aufmerksam geworden sein. Die darauf gewartet haben, daß die Dienerinnen vor dem Lärm des Aufstands flohen. Die ihr vielleicht irgendwo, irgendwann in die Augen gesehen hatten und ihr in ihren Träumen befehlen konnten, ihnen die Fenster zu öffnen.« »Das Mädchen war eine dumme Gans«, sagte Ysidro. »Sie können Mistress Asher erzählen, daß ich dies gesagt habe.« »Vor vielen Jahren«, sagte Asher, »als ich in Wien war, liebte ich dort eine Frau, und sie liebte mich. Sie war klug und von großer Lauterkeit. Ich war ein Esel, öfter als zweimal mit ihr zu sprechen, denn ich hätte wissen müssen, wohin das führen würde. Doch nachdem wir uns zum zweiten Mal begegnet waren, war es zu spät. Als sie zu vermuten begann, daß ich ein Spion war, geschickt, um militärische Geheimnisse herauszufinden, die ihrem Land schaden, vielleicht ihre Freunde und Familienangehörigen bei der Armee töten würden, habe ich sie ... verraten. Ich habe Geld von ihr gestohlen, und es war ein Geheimnis, daß ich die Stadt mit der hirnlosesten und schönsten Halbweltdame verließ. Ich wußte, daß Françoise sich an ihren Zorn, ihren Schmerz halten würde, und mehr nicht. Sie war diese Art von Frau. Ich habe es nicht getan, um mich selbst und meine Kontaktleute zu schützen, sondern auch, damit sie sich klar von mir trennte, ohne Bedauern oder den Gedanken, daß das, was zwischen uns gewesen war, je wiedergutgemacht werden könnte.« Ysidro schwieg lange, die kalten Kristallaugen auf einen entfernten Punkt gerichtet, als könne er durch die Mauern in die Nacht hinaussehen, zurück bis nach London, das seit dem fünfundzwanzigsten - und letzten - Jahr seines menschlichen Lebens sein Schlupfwinkel und sein Zuhause gewesen war. »Sie sollten wissen, daß nie etwas zwischen uns gewesen ist.« »Ich weiß.« Sie hatte ihm nicht von den Sonetten erzählt, doch Asher hatte sie einschließlich des zerrissenen - in Miss Pottons Häkelkorb gefunden. Asher spürte wieder seine eigene drängende und widersinnige Leidenschaft für Anthea und für das Mondlicht-Mädchen im Wienerwald, das später mitgeholfen hatte, Fairports Adern auszusaugen. Er erinnerte sich an Lydias Stimme, als sie gesagt hatte Simon ... und er entsann sich auch des desillusionierten Schmerzes ihrer Tränen. Er wußte, sie würde sich erholen. Doch die Wunde ging tief. Der Vampir schüttelte den Kopf. »Das Leben ist für die Lebenden, James. Für die Toten
ist der Tod. Unsere Anziehungskraft ist unser Lockmittel. Auf diese Weise jagen wir. Es
hat nichts zu bedeuten.«
Asher dachte wieder an Anthea und wußte, daß Ysidro log.
Ysidro dachte noch einen weiteren Moment schweigend über die Angelegenheit nach
und fuhr dann fort: »Was Miss Potton betrifft, kann ich nicht sagen, daß ich sie am Ende
nicht getötet hätte, wie Lydia es von mir erwartete. Wahrhaftig, ich glaube nicht, daß es
ihr etwas ausgemacht hätte. Aber ich glaube, daß es eine Frau namens Zenaida war, eine
Konkubine, die in den verlassenen Teilen des alten Serails jagt, wohin heute nicht einmal
die Palastdiener mehr gehen. Zenaida hat sie dort gesehen - ich vermute, sie hat sie
vielleicht sogar dorthin gerufen, indem sie sich die Illusion zunutze machte, daß ich
wünschte, sie würde mir folgen. Danach habe ich ein- oder zweimal geglaubt, sie in der
Nähe des Hauses in der Rue Abydos zu sehen, aber zu dieser Zeit waren meine Sinne
nicht so scharf, daß ich hätte sicher sein können. Dies ist ein zweiter Grund, Mistress
Asher im unklaren darüber zu lassen, wie es dazu gekommen ist. Sie würde es als ihr
eigenes Werk ansehen. Ich hoffe doch, Sie haben sie nicht allein gelassen.«
Asher schüttelte den Kopf. »Lady Clapham und Prinz Razumovsky sind bei ihr. Ich habe
sie gebeten, bis zu meiner Rückkehr bei ihr zu bleiben. Ich habe ihnen erzählt, daß sie
unter Alpträumen leidet - nicht, daß Lydia jemals in ihrem Leben einen Alptraum gehabt
hätte.«
Die verunstaltete Elfenbeinmaske entspannte sich für einen Augenblick zu einem Lächeln.
»Werden Sie gut nach Hause kommen?«
»Der Tod findet immer einen Weg«, sagte Ysidro, »die Lebenden in seinen Dienst zu
stellen. Manche, wie der Todlose Herr, kaufen diesen Dienst, oder sie benutzen Haß, wie
Gölge Kurt, oder Liebe. Manchmal wissen die Lebenden nicht einmal, warum sie uns
dienen.«
Asher studierte die schmalen, rätselhaften Züge, das zerfurchte Schlachtfeld aus Fleisch
und blutleeren Narben. Wie Anthea, wie Ernchester war Ysidro ein Mörder und auch ihm
wäre recht geschehen, hätte das Tageslicht ihn in jenem Zimmer überfallen und verzehrt.
Die Tatsache, daß Ysidro seine seltsam verletzliche Unsterblichkeit aufs Spiel gesetzt
hatte, um ihm zu helfen - um Lydia zu retten -, war dabei eigentlich belanglos. Die
Tatsache, daß Ysidro Margaret Potton nicht getötet hatte, änderte nichts daran, daß er in
derselben Nacht jemand anderen getötet hatte - vielleicht mehrere andere, wenn er so
lange gefastet hatte, wie Lydia sagte.
»Manchmal wissen sie es.« Er streckte dem Vampir die Hand entgegen. »Sie wissen es ...
aber ich will verdammt sein, wenn sie es verstehen.«
Ysidro betrachtete Ashers Hand einen Augenblick lang mit leichter Überraschung und
erschien gekränkt, als sei dies zu vertraulich; dann lächelte er wie ein Mann, der sich an
seine eigenen Dummheiten erinnert, und gab den Händedruck sehr schnell, mit zwei
kalten Fingern, zurück.
»Darin sind sie nicht einzigartig.«
Und dann war er fort, mit der leichten, kurzen Bewußtseinsleere, die seinen lautlosen
Rückzug verbarg. Asher fand sich allein in der weiten Finsternis des alten Heiligtums
wieder. Nicht der Schimmer einer Bewegung zwischen den dunklen Säulen verriet, daß
irgendeine Seele, lebend oder tot, dort hindurchgegangen war.
So müd' der Nacht ersehnte ich den Tag ...
Und Jesus trug mich narrend in die Höh',
daß Königreiche ich vom Berge seh',
und wie die Erde schön im Lichte lag.
Ich sah 'nen Mann, zwei Frauen er belog;
Sah liebend Mütter Kinder brechen,
Und Priester nur vom Judenhasse sprechen,
Sah einen Bruder, der den Bruder noch betrog.
Ein Mann, ein Kind zu retten, er sich gab,
Ein Weib des Bettlers Schwären hat gepflegt,
Ein Junge folgt dem Kriegsruf bis ins Grab,
Wo doch sein König sich zu Huren legt.
Der Tod hat allen Tränen, Schmerz gebracht.
Ich stieg vom Berg und suchte meine Nacht.
Barbara Hambly hat in ihrem Leben viele Berufe ausgeübt: Universitätsdozentin, Modell, Kellnerin und technische Redakteurin; sie hat mit einem Graduiertenstipendium studiert, nachts als Verkäuferin in einem Schnapsladen gearbeitet, und sie war als Karatelehrerin tätig. Geboren in San Diego, wuchs sie in Südkalifornien auf, ein Semester verbrachte sie als Oberschülerin in New South Wales, Australien. Ihr Interesse an Fantasy wurde geweckt, als sie als Kind The Wizzard of Oz las, und es hat seitdem nicht nachgelassen. Während ihres Studiums an der Universität von Kalifornien in Riverside spezialisierte sie sich auf mittelalterliche Geschichte. In diesem Zusammenhang verbrachte sie ein Jahr an der Universität Bordeaux in Südfrankreich. In Riverside war sie als Assistentin tätig und schloß ihr Studium mit dem Mastertitel ab. An der Universität kam sie auch mit Karate in Berührung, erwarb 1978 den Schwarzen Gürtel und nahm an mehreren landesweiten Ausscheidungen teil. Heute lebt sie in Los Angeles.