ULRICH WALDNER
John Mertens Gefährte
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 1955
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/71/...
9 downloads
329 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ULRICH WALDNER
John Mertens Gefährte
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 1955
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/71/55) Umschlagzeichnung: Heinz Bammelt, Dessau Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30
Sie befanden sich schon auf dem Heimweg zum Blockhaus, als sie ihn sahen. Er schnürte vorsichtig durch die dunklen Tannen an der Schmalseite der Lichtung entlang; sein Fell glänzte wie von Silber übersponnen. Rene hatte das Tier als erster entdeckt: dieses Prachtexemplar eines Blaufuchses. Drei Tage waren sie bereits unterwegs; sie hatten die aufgestellten Fallen kontrolliert, ein gutes Luchsrevier ausgekundschaftet und neue Fallen gestellt. Nachts hatten sie bei 40 Grad Kälte im Freien geschlafen – auf einem Polster von Tannenzweigen – , nur einen Windschirm im Rücken, der die Wärme des Feuers zurückstrahlte, hatten gefroren und geschwitzt – und als einzige Beute zwei Baummarder und einen Skunk in den Fallen gefunden. Und jetzt, nur wenige Meilen vom Blockhaus entfernt, in dem Mary mit den beiden Kindern auf sie wartete, jetzt – sollten sie doch noch Glück haben? – lief ihnen ein Blaufuchs über den Weg, dessen Fell allein soviel wert war wie die Bälge von drei Dutzend Bisamratten. John Merten nahm die Kleinkaliberbüchse von der Schulter und strich an dem Stamm einer Weimutskiefer an. Vor ihm lag die Lichtung, ein langgestrecktes Rechteck bläulich schimmernden Schnees. In diesem Augenblick verschwand der Fuchs an der linken schmalen Seite in dichtem Brombeergestrüpp. Gleich darauf tauchte er wieder auf und trat auf die freie Schneefläche hinaus. Er verhoffte, indem er prüfend
den Wind durch die Nase zog, stand aber so ungünstig, daß John nicht zum Schuß kam; „Reinecke“ senkte beruhigt die Nase und schnürte schräg über die Lichtung der gegenüberliegenden Längsseite zu. Als er die Hälfte des Weges hinter sich hatte, krümmte John den Finger. Der kurze trockene Knall des Kleinkalibergewehrs flog über die Lichtung und wurde von den riesigen Douglastannen, die sie wie Wächter umstanden, verschluckt. Der Blaurock machte einen Satz zur Seite, rollte sich zusammen, als wollte er einen Purzelbaum schlagen, war wieder auf den Läufen und schnellte in langen Sprüngen dem schützenden Walde zu. Auf Johns Gesicht malten sich Enttäuschung und Ärger. „Es lag nicht an deinem Schuß“, sagte Rene, „gerade als es knallte, bewegte der Fuchs den Kopf; sonst hätte die Kugel getötet.“ „Du hast es gesehen?“ „Ja. Aber komm, wir müssen ihm nach, John!“ Am Anschuß fanden sie einige wenige kurze Haare, viel Schweiß, rote Flecke im Schnee. Sie brauchten nur der roten Spur zu folgen, die kreuz und quer durch den Wald führte, durch Unterholz, Dornen und Gestrüpp. In einem Tannendickicht, in dem sich der waidwunde Fuchs verborgen hatte, stöberten sie ihn auf. In mächtigen Sätzen floh er vor ihnen und entschwand ihren Blicken. Unerbittlich folgten die beiden Jäger seiner Spur. Selber vor Anstrengung keuchend, ließen sie ihm keine Ruhe und jagten ihn von Wundbett zu Wundbett, bis er nicht mehr weiter konnte und ihn ein Schlag mit dem
Kolben erlöste. „Er hat uns in Schweiß gebracht!“ sagte John und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Ja. – Fühl nur einmal sein Fell an!“ Rene strich darüber hin. „Es ist weich wie Gänsedaunen, ein besseres bekommst du in ganz Kanada nicht!“ „Ich werde es Mary schenken“, sagte John, „sie wird schöner aussehen als die englische Prinzessin!“ „Nicht deine Frau – Majorie sieht schöner aus als die Prinzessin!“ John sah auf ihn hinunter, wie er schnell und geschickt den Fuchs aus dem Balg schlug. Seltsam, dachte er, vor drei Jahren hat er sein Indianerdorf am Nelsonfluß verlassen und sich mir angeschlossen. Das macht so leicht kein Cree-Indianer! Sicherlich wollte er die Kinder nicht aus den Augen verlieren. Rene war fertig. Sie liefen weiter, John in den Fußtapfen Renes. Ihre Schneeschuhe, vorn aufwärts gebogene, durch Querleisten verbundene Weidenholzlatten von ovaler, nach hinten zugespitzter Form, waren mit ungegerbten Hirschlederstreifen bespannt und verhinderten das Einsinken in den Schnee. Rene schritt kräftig aus; das war ganz im Sinne Johns. Er freute sich auf das Blockhaus, auf Mary und die Kinder, auf das Essen, das in wenigen Stunden vor ihnen dampfen würde. Der Himmel, der während der letzten Tage ständig bezogen gewesen war, nahm eine gefährliche bleigraue Färbung an, weit im Norden lagerten dunkle Wolkenbänke. Der Schneesturm, der sich schon gestern angekündigt hatte und vor dessen Ausbruch sie im Block-
haus sein wollten, bereitete sich vor. Die Natur, die eben noch in ihrer blauweißen Einsamkeit zu schlafen schien, erwachte zu einem unheimlichen Leben. In dem fahlen Licht, das von dem plötzlich grauschimmernden Schnee ausging, wuchsen die Bäume zu gigantischen, furchterweckenden Riesen. Hin und wieder rutschten Schneemassen von den Zweigen, stürzten polternd zu Boden und brachen hartgefrorene Äste mit lautem Knall. Doppelt schwer lastete die darauf folgende Stille. „Werden wir es schaffen bis zum Blockhaus?“ Rene antwortete, ohne sich umzudrehen: „Vor heute abend bricht der Sturm nicht aus. Sieh nur die Wolken, und hier die trockenen Blätter…“ John sah zum Himmel hinauf und betrachtete dann die wenigen trockenen Blätter eines Erlengestrüpps; sie bewegten sich leicht, wie von unsichtbarer Hand berührt. „Möcht bloß wissen, in welcher Sprache sie zu ihm reden“, brummte John vor sich hin. „Aus dem Zittern eines Halmes liest er den Wetterbericht für die nächsten vierzehn Tage! Und was das Schönste ist – er stimmt haargenau!“ Schweigend schritten die Männer weiter. Sie überquerten das Eis eines schmalen Sees, dessen Schneedecke mit Wolfsspuren übersät war. Plötzlich – sie spurten den jenseitigen Hang entlang – stutzte Rene. Mit schnellem Griff zog er John zu sich heran. „Es riecht nach Bär!“ sagte er. Seine Augen leuchteten. Wortlos nahm er sein Gewehr von der Schulter. Sie standen an einem Windbruch. Der Sturm hatte im
vergangenen Herbst ein halbes Dutzend Bäume aus der Erde gerissen, und im Fallen hatten sie ebenso viele andere mitgenommen. Aus dem Gewirr von Stämmen und Zweigen ragte das Wurzelwerk einer uralten Weißtanne hervor. Die Grassoden, die noch daran hingen und die jetzt mit Schnee bedeckt waren, bildeten eine große schrägstehende Schutzwand. Ringsumher Gezweig und Gestrüpp. „Er schläft nicht“, sagte Rene, „er hat Hunger, der Winter dauert ihm zu lange. Sieh her, da – und dort!“ Johns geübtes Auge erkannte sofort frische Bruchstellen an den Zweigen. Obwohl der Schnee alle Spuren verweht hatte, diese konnte er nicht beseitigen: Der Bär war draußen gewesen, hatte vor einiger Zeit die Höhle verlassen. In Renes Händen brannte schon ein Stück harziger Rinde. Er näherte sich der Höhle von der Seite her und warf die qualmende Fackel in die schwarz gähnende Öffnung. John wartete, die schwere Remington-Büchse schußbereit, vor dem Eingang. Ein unwilliges Brummen ertönte. Er hat sie ausgedrückt, dachte John, oder sie ist gar nicht bis rein geflogen. So leicht geht er uns nicht auf den Leim! Das Brummen schwoll an, dann knackte es – und ein schwarzes Ungeheuer stürmte auf John zu. Erschrocken sprang er zurück, stolperte und stürzte über den hinter ihm schrägliegenden Baumstamm. Wie ein Turm stand der Bär. Rene schoß. Wütend fuhr das riesige Tier herum, warf sich auf den neuen
Gegner und brach beim zweiten Knall zusammen. Mit einem Schuß in den weitgeöffneten Rachen hatte ihn der junge Indianer erlegt. Stöhnend versuchte John sich aufzurichten. Es gelang ihm aber nicht. Rene packte mit zu und hob ihn über den Stamm. John verzog das Gesicht; in seinem linken Fuß wühlte ein brennender Schmerz. „Gott sei Dank nicht gebrochen. Du hast Glück gehabt, nur eine Sehnenzerrung“, stellte Rene fest, nachdem er ihn untersucht hatte. „Aber der Fuß wird anschwellen. Ich muß dich nach Hause schleppen!“ Tatenlos mußte John zusehen, wie Rene Schnee auf den Körper des toten Bären häufte, um sein Steiffrieren zu verhindern, und wie er schließlich aus Schneeschuhen und Stöcken einen Schlitten fertigte, auf dem er John nach Hause ziehen wollte. Sie wechselten nur wenige Worte. Der Zwischenfall wurde gar nicht erwähnt; nur als John auf dem Schlitten lag, drehte sich Rene noch einmal um und sagte: „Bei der Bärenjagd darfst du niemals rückwärts gehen, auch nicht einen Schritt. Das hat mir mein Vater gesagt – der hat viele Bären erlegt.“ Dann zog er an. John lag rücklings auf dem niedrigen Schlitten; bei jedem Schütteln und jedem kleinen Stoß fuhren stechende Schmerzen durch den verletzten Fuß; die Kälte fraß sich durch Pelzwerk und ‘Wollzeug. Eben noch vom schnellen Lauf erhitzt, fror er jetzt entsetzlich. Er sagte nichts, schlug nur die Arme über der Brust zusammen, um das Blut in Bewegung zu halten. Der nächste Morgen kroch trübe und grau aus den
tiefhängenden Wolken. Aus dem Schornstein des Blockhauses quoll träger Rauch; er hing wie ein weißer Schleier in der unbewegten Schneeluft. Im Wohnraum saß Rene mit den beiden Kindern am Tisch. Er erzählte ihnen irgend etwas, während sie ihren Haferbrei löffelten. Mary kümmerte sich um John. „So ein großer Dummkopf!“ schimpfte sie leise mit ihm. „Seinen Kindern will er gute Ratschläge erteilen, und er selbst steht nachts auf, um Gehversuche zu machen!“ „Aber Mary! Du hast schon recht. Ich will ja auch vernünftig sein.“ Rene erhob sich. „Holst du den Bärenschinken?“ fragte John. „Es ist besser, du bleibst hier; das Barometer ist über Nacht noch weiter gefallen.“ „Der Sturm läßt sich Zeit, und in fünf Stunden bin ich wieder zurück.“ „Bitte, bleib, Rene“, bettelte der vierjährige Eddy, ein Steppke mit rotem Haarbusch und frecher Stupsnase. „Du hast uns versprochen, die Geschichte mit dem Bären noch einmal zu erzählen!“ Majorie, die ein Jahr älter war als ihr Bruder, verstellte ihm den Weg. „Nachher, ihr beiden, nachher! Jetzt muß ich den Bären holen.“ Es half nichts, Mary mußte erst einschreiten und Rene den Weg frei machen. Er zog die Riemen der Schneeschuhe fest und lief über die Lichtung. Bevor er in den Wald eintrat, drehte er sich noch einmal um und winkte zurück.
Im Blockhaus wurde es still. John schlief nach dem Essen sofort ein, die beiden Kinder spielten Bärenjagd. Es war eine ruhige, harmlose Bärenjagd; das Wetter nahm selbst ihnen die Lust zum Spielen. Mary hatte immer etwas zu tun. Sie sah ab und zu von ihrer Arbeit auf und blickte zu John hinüber. Gegen Mittag warf er sich unruhig hin und her und erwachte. „Mir ist kalt, Mary“, sagte er zähneklappernd, „und in der rechten Seite, da sticht es – ekelhaft.“ Mary deckte ihn zu und legte die Hand auf seine Stirn. „Du bist ganz heiß, du wirst Fieber haben. Wart, ich hol’ das Thermometer!“ Noch während das Thermometer in der Achselhöhle steckte, steigerten sich die Anfälle. „Schüttelfrost“, sagte Mary. Das Quecksilber zeigte 39,2. „Du hast dich sicher auf dem Schlitten erkältet. John… Was ist denn – hörst du mich nicht? John…“ Er antwortete nicht. Sein schwerer Körper wurde von den Fieberschauern hin und her geschüttelt. Er war kaum imstande, in einer ruhigen Minute die Fiebertabletten zu schlucken, die Mary ihm gab. Mit angstvoll aufgerissenen Augen schauten die Kinder auf ihren Vater. „Stirbt der Papa, Mutti?“ fragte Eddy. Mary schössen die Tränen in die Augen. „Red nicht so dummes Zeug“, sagte sie so ruhig wie möglich, „der Papa ist krank, und morgen wird er schon wieder gesund sein.“ Sie trug das Essen auf. „Setzt euch an den Tisch, und dann seid schön brav, ich muß mich um den Papa kümmern.“ Aber was konnte sie schon tun? Die Temperatur war inzwischen auf 40 Grad angestiegen. Plötzlich einset-
zender Schüttelfrost, hohes Fieber: Pneumonie ~ schwere Lungenentzündung! Wer konnte da überhaupt noch helfen? Der Arzt! – Ja, heute würde er helfen können! Heute gab es Penicillin! Vor zwölf Jahren war ihr Vater aus der Gießerei nach Hause gekommen und hatte sich, genau wie John, mit einer Lungenentzündung ins Bett gelegt. In vier Tagen war alles vorbei gewesen. Damals hatte es noch keine Rettung gegeben. Aber heute! Penicillin! John mußte Penicillin bekommen! Doch woher? Sie dachte an das letzte Kriegsjahr im Lazarett… Wie oft hatte sie Kochsalzlösung in die Ampullen mit den rotbraunen Schimmelpilzen gegossen. Wie oft hatte sie die Spritze gefüllt und Menschen gerettet. Und ihr eigener Mann… Himmel! Gab es für ihn keine Rettung? Ruhig bleiben, befahl sich Mary. Ruhig bleiben! In Blueport gibt es Penicillin, in Blueport ist der Arzt. – Aber Blueport, die nächste Stadt, war 300 Kilometer entfernt. Billy Smith! fiel ihr plötzlich ein. Die Handelsniederlassung der Hudson-Bay-Company! Bis dahin waren es nur 40 Kilometer. Es ist zu schaffen. Rene wird es schaffen! Wenn er bloß erst wieder hier wäre. Zwei Tage braucht er zur Station – eineinhalb Tag vielleicht nur. Er ist jung, stark – er ist Indianer. Er muß es schaffen! Die Kinder hatten keinen Appetit. Mary beschäftigte sich mit ihnen. John lag erschöpft in den Kissen und redete im Fieber verworren vor sich hin. Mary setzte sich wieder ans Bett. Ein trockener Husten quälte den Kranken. Der rostfarbene Auswurf be-
seitigte ihre letzten Zweifel an der Art der Krankheit. Obstsaft, erinnerte sie sich. Viel Flüssigkeit, Vitamin C. Im Lazarett hatte sie alles gehabt. Im Lazarett! Hier müßte sie es haben! Sie öffnete ein Glas mit Heidelbeeren und flößte John den Saft ein. Unerträglich langsam kroch die Zeit. Sie ertappte sich dabei, wie sie immer wieder aus dem kleinen, halbzugefrorenen Fenster spähte, über die Lichtung zum dunklen Waldrand hin, wo Rene auftauchen mußte. Doch es war ja erst kurz nach eins. Fragen, die sie immer wieder aus ihrem Denken verbannt hatte, drängten sich ihr auf, peinigten sie: Was ist, wenn Billy Smith kein Penicillin hat…? Er hat es! Er muß es haben! sagte sie sich. Jeder Händler der Hudson-Bay-Company hat es in seinem Arzneischrank. Wenn er es hat und nicht hergeben will…? John hatte einmal Streit mit ihm gehabt. Nein, nicht daran denken, so schlecht kann kein Mensch sein. Das wäre ja Mord! Das darf er nicht. Er muß es geben! Sie klammerte sich fest an dieses „Er muß es geben!“, wollte daran glauben, wiederholte es laut. Erschrocken sahen die Kinder auf. „Er wird helfen“, flüsterte sie noch einmal. Vergeblich, die Erinnerung an jenen Streit vor drei Jahren schlich sich aus allen Winkeln ihres Gedächtnisses heran, überfiel sie mit immer größerer Macht. „Die Hälfte wollte Billy zahlen“ – so hatte John damals erzählt – , „und ich sagte ihm: ,Entweder den vollen Preis, Billy, oder aus unserem Geschäft wird
nichts.’ ,Ich zahle dir das, was deine Felle wert sind!’ schrie er mich an. Und ich sagte ihm, daß er uns schon die ganzen Jahre hindurch übers Ohr gehauen hat und die Hälfte des Geldes für sich kassierte – nur weil er denkt, wir seien auf ihn angewiesen. ,Ich mache da nicht mehr mit’, sagte ich ihm. Da spuckte er auf mein schönstes Fell – auf den Silberfuchs! – und sagte, daß ich mich zum Teufel scheren solle… Rene sprang dann zwischen uns. Alle Achtung, der Junge hat Mut!“ O ja, Johns Worte hatten sich recht harmlos angehört – ein kleiner Streit, nichts von Bedeutung. Aber Mary hatte sofort geahnt, daß sich mehr dahinter verborgen hatte. John und Billy waren Todfeinde geworden, um so mehr, als ein Jäger nach dem anderen seinem Beispiel gefolgt war und seitdem den 300 km langen Weg nach Blueport mit dem Kanu zurücklegte, weil die dortige Handelszentrale der Company den doppelten Preis zahlte. Nein, niemals hätte er John mit Ausrüstungsstücken ausgeholfen oder hätte auch nur eine Patrone an ihn verkauft. John hatte ihm das Geschäft verdorben, und da gab es bei einem Mann wie Billy keinen Pardon, keine Ausnahme. Aber er mußte doch – er durfte doch nicht einfach… Es waren immer dieselben Fragen, dieselben Antworten. Das Grau des Tages wich dem Dunkel der Nacht. Die Petroleumlampe, die während der ganzen Zeit gebrannt hatte, wurde höher geschraubt. Geduldig hockten die Kinder auf ihren Platz am Fenster, hauchten die Scheiben frei und schauten nach Rene aus.
Plötzlich erschien draußen ein mächtiger Bärenkopf. Eddy fiel vor Schreck in seinen Stuhl zurück. Majorie sprang auf und schrie: „Rene ist da! Er hat das Bärenfell!“ Als er das Zimmer betrat, stürzten sie sich mit Hallo auf den zottigen Pelz, der eisige Kälte ausströmte. Rene trat an das Bett Johns und erkannte auch ohne Marys Erklärungen, wie es um ihn bestellt war. „Geh zu Billy, Rene“, bat ihn Mary. „Er muß dir Penicillin geben, Vielleicht hat er den Streit schon vergessen. Er muß es dir geben, verstehst du, sonst…“ „Nicht zu Billy.“ John saß halb aufgerichtet im Bett, „Ich habe alles gehört – du gehst nicht…“ Ein Hustenanfall quälte ihn; mit unglaublicher Energie zwang er sich, weiterzusprechen, seine Stimme klang hohl und gedämpft. „Damals, nachdem schon alles vorbei war…“ – er hustete wieder – , „hat Billy mir noch gesagt: »Wenn deine ganze Ausrüstung hops gehen sollte… und wenn du selbst am Verrecken bist, nicht den kleinen Finger werde ich krumm machen, dich zu retten!’ – Geh nicht zu Billy…“, flüsterte er, „nicht zu diesem…“ Erschöpft hielt er inne, sank in die Kissen zurück. Mary und Rene sahen sich an. „Ich werde gehen“, sagte Rene, „Billy muß helfen, es ist seine Pflicht.“ Ein großes Stück Bärenfleisch dampfte auf dem Tisch. Rene schnitt davon herunter, aß, bis nichts mehr übrig war. Die Kinder schliefen längst, John phantasierte in Fieberträumen. Mit großen Augen verfolgte Mary, auf dem Bettrand sitzend, jede Bewegung Re-
nes. Wie er das Messer abwischte und einsteckte, die Felljacke anzog und die Pelzmütze aufsetzte. Ruhig und bedächtig geschah alles, und etwas von dieser Ruhe floß auch auf Mary über, erfüllte sie mit neuer Hoffnung. Das Gewehr, die Pelzhandschuhe… Nein, er würde nichts vergessen, auch nicht die Spritze, ohne die sie nichts anfangen konnte. „Vielleicht wartest du am besten auf das Postflugzeug; morgen müßte es kommen.“ Rene schüttelte den Kopf. „Der Sturm!“ Richtig, der Sturm! „Hab keine Angst, Mary, ich hole das Penicillin, Billy wird es mir geben, ganz gewiß!“ Er ging hinaus. Eine Welle kalter Luft strömte herein. Dann fiel die Tür ins Schloß, und Mary hörte die sich draußen schnell entfernenden Schritte. Jetzt war sie allein mit einem Herzen voller Hoffnung und Angst, und sie weinte zum ersten Male. Die Lichtung, auf die John das Blockhaus gebaut hatte, war auf allen Seiten von Hochwald umgeben. Im Norden stieg er die Berghänge hinan, dehnte sich weit nach Westen, senkte sich im Osten in gleichförmigen Wellen bis zu den Steinbarrieren der grauen Felsen und schob sich im Süden bis an die Felsenufer des Dawson-Flusses heran. Quer über die Lichtung, in südöstlicher Richtung, schlängelte sich in zahlreichen Windungen der Forellenbach, der sein Wasser in den Ausläufer des kleinen Bibersees ergoß; die starke Strömung ließ ihn selbst im tiefsten Winter nicht völlig zufrieren. Rene folgte ungefähr seinem Lauf, überschritt die
Eisdecke des Sees und hielt sich dann nach Osten. Der helle Schein, der von der Schneedecke ausging, genügte zu seiner Orientierung. Er lief ein gleichmäßiges, scharfes Tempo, Stunde um Stunde, ausdauernd, unermüdlich, mit langen, federnden Schritten. Mitternacht war schon vorüber. Über die kahlen Wipfel des Ahorns schob sich eine drohend aufgetürmte schwarze Wand: die schroffen Klippen der Grauen Felsen. In nordsüdlicher Richtung erstreckten sie sich zwischen Blockhaus und Handelsniederlassung. Rene umging ihre südlichen Ausläufer und wandte sich der Station zu, die im Nordosten, etwa auf gleicher Höhe mit dem Blockhaus, lag. Die Hälfte der Strecke hatte er hinter sich. Die Gegend wurde unwegsamer, schroffer. Hausgroße Gesteinsbrocken lagen umher. Die felsigen Ufer des Dawson-Flusses tauchten auf. Rene stapfte weiter, Schritt für Schritt, Meile für Meile. Der Fluß verlor sich in einem Gewirr kleiner Seen. Auf dem Eis tanzten schwarze Schatten auf und ab. Die Nacht war erfüllt vom Geheul hungriger Wölfe. Rene legte durchaus keinen Wert auf ihre Nähe. Das Gewehr in der Hand, wich er ihnen aus. Er verschärfte das Tempo und holte den Zeitverlust wieder auf. Auch jetzt lief er gleichmäßig, kraftvoll und sicher, wenn auch der Atem flog, das Herz hämmerte. Endlich erblickte er den Großen Kanu-See; die Bucht mit dem Stationsgebäude lag vor ihm. Freundlich und hell leuchteten die beiden Fenster an der Südfront des Hauses. Es mochte um die siebente Morgenstunde
sein. Langsam ging Rene auf das Haus zu. „Hudson-BayCompany“ stand in großen Buchstaben auf dem weißen Schild über der Tür. Die Stufen zur Veranda knarrten, als er hinaufschritt; es rührte sich nichts. Dicke Eisblumen bedeckten die Fenster; Billy heizte erst ein. Deutlich hörte er ihn hantieren, wie er in der Asche stocherte, Holz aufwarf und die Ofentür zuklappte. Rote Funken sprühten aus dem Schornstein. Rene klopfte. Klirrend flog das Schüreisen drinnen zu Boden. „Wer da?“ fragte Billys tiefe Stimme. „Rene. – Mach auf, Billy, es ist wichtig!“ Billy schien zu ahnen, daß irgend etwas Besonderes vorgefallen war: Man brauchte seine Hilfe, John Mertens brauchte sie, er sollte Ihn kennenlernen! Der Riegel wurde zurückgeschoben, der Schlüssel drehte sich im Schloß. In Pelzweste und Fellstiefeln, das großkarierte Hemd offen bis zur Brust, stand Billy in der Tür, an den Hüften den großkalibrigen Colt, den er ständig trug. „Was willst du mitten in der Nacht?“ „Es dürfte gegen Morgen sein, Billy. Wollen wir ins Haus gehen?“ „Bescheiden bist du gerade nicht, aber los, geh vor. Es ist mir auch zu kalt, mit dir hier draußen zu stehen,“ Doch bevor Rene den Fuß ins Zimmer setzen konnte, packte ihn Billy am Arm. „Dein Gewehr laß man hübsch draußen! Wer zu mir kommt, hat nichts zu fürchten.“ Rene lehnte die Büchse an einen Pfosten der Veranda und ging dann hinein. Breitbeinig pflanzte sich Billy vor ihm auf. „Also sag
schon, was du willst. John schickt dich nicht umsonst zu mir.“ „Ich wollte dich fragen, ob das Postflugzeug heute kommt.“ „Bist du wahnsinnig?“ Billy überlegte schnell, warum Rene gerade danach fragte. „Dumme Witze lasse ich nicht mit mir machen“, polterte er weiter, um Zeit zu gewinnen. „Klopft mitten in der Nacht an meine Tür und fragt, ob das Postflugzeug kommt!“ Vorsichtshalber beschloß er, eine falsche Auskunft zu geben. „Hast du keine Augen im Kopf? Jeden Augenblick können wir mit einem Schneesturm rechnen! Würdest du da vielleicht fliegen, he?“ Er hatte recht, mit dem Postflugzeug war nicht zu rechnen. Vergeblich war die Hoffnung auf den Arzt. Nur noch Billy konnte helfen. „Der Schneesturm hat zwar noch Zeit. Aber es stimmt schon, ein Flugzeug wird jetzt nicht mehr aufsteigen.“ „Du bist ein kluger Bursche! Doch nun sag mir endlich, was du eigentlich willst. Sonst schmeiß ich dich raus! Verstanden?“ „Hast du Penicillin in deiner Apotheke?“ „Aha, der Herr Mertens ist wohl ein bißchen krank geworden, was…?“ Billy genoß die Situation. Schade, daß John Mertens nicht selber gekommen war, er hätte diese Gelegenheit zu gern benutzt, ihn zappeln zu lassen; er hätte ihm schon gezeigt, was es heißt, sich gegen Billy Smith aufzulehnen, ihm das Geschäft zu verderben. Aber dieser Indianer würde ihm schon alles haarklein wiedererzählen. „… oder sind die Kinderchen nicht auf dem Posten, oder die verehrte Frau Mer-
tens?“ Rene schwieg. „Nun sag schon, für wen willst du denn das Penicillin?“ „John ist krank. Er hat Lungenentzündung, und Mary sagt, nur Penicillin kann ihn noch retten. Du hast doch Penicillin, Billy, du kannst ihn doch nicht einfach sterben lassen!“ „Was ich kann und nicht kann, überlaß gefälligst mir! Lungenentzündung hat er also? Soso! Und ich soll Penicillin geben, was?“ „Du mußt, Billy. Du hast es in deiner Apotheke; wer sollte sonst helfen?“ „Ja,, wer sollte sonst helfen? Ich hab’ es in meiner Apotheke, gewiß. – Hier…!“ schrie er plötzlich, holte einen Schlüssel hervor und lief zum Wandschrank. „Hier!“ Er schloß ihn auf, riß einige Ampullenkartons hervor und hielt sie Rene, der ihm gefolgt war, vor die Nase. „Pulmo 500! Merk dir den Namen! Das beste Mittel gegen Lungenentzündung – ein Spezialpenicillin, wenn du davon etwas verstehst! Zwei, vier, zehn Kartons, und hier noch mehr! Ein Vorrat für alle Fälle, verstehst du? Für alle – nur nicht für den Fall John Mertens!“ Es war heraus. Voller Genugtuung stellte Billy die Kartons wieder in ihr Fach. „Billy! Überleg, was du tust. Ein Menschenleben.“ Er packte ihn an der Schulter, hielt ihn zurück. „Ich pfeif was auf ein Menschenleben. Nur wer bei mir kauft und verkauft, hat Anspruch auf Hilfe. – Laß los, sag’ ich dir!“ „Das ist ja Mord!“
„Loslassen, sag’ ich!“ „Nicht eher, bis du…“ Ein schwerer Schlag vor die Brust ließ Rene zurücktaumeln. „Raus! Raus mit dir!“ Billy hatte den Wandschrank abgeschlossen und kam langsam auf den Indianer zu. Dieser blieb stehen und rührte sich nicht, nur in seinen Augen blitzte es gefährlich auf. Billy schlug mit der Faust nach ihm. Er schlug ins Leere, und im nächsten Augenblick rangen beide miteinander. Rene war der Stärkere. Ein wuchtiger Stoß, und Billy flog in eine Ecke des Zimmers. Ehe Rene es verhindern konnte, hatte der Händler den schweren Colt aus der Hüfttasche gerissen. Gedankenschnell war Rene wieder bei ihm, faßte den Arm, drückte ihn zur Seite. Sie torkelten im Zimmer hin und her. Plötzlich löste sich ein Schuß. Aufschreiend ließ Billy den Revolver fallen. In der Hitze des Kampfes hatte er die Nerven verloren und abgedrückt, als sein linker Arm vor der Mündung gewesen war. Totenbleich starrte er auf das rinnende Blut. Es war ein glatter Oberarmdurchschuß. Ohne ein Wort zu sagen, verband Rene die Wunde. Billy ließ es geschehen, und er schwieg auch, als der Indianer den Schlüssel nahm, den Wandschrank öffnete, zwei Kartons mit Penicillinampullen und eine Rekordspritze in die Tasche steckte, ihm den Schlüssel wieder auf den Tisch legte und hinausging. Als es hell wurde, saß Billy Smith am Tisch, den verwundeten Arm in der Schlinge, die Rene ihm umgelegt hatte. Er saß und wartete. Zufrieden schaute er sich im Zimmer um.
Kisten und Kasten waren umgekippt, Bilder von den Wänden gerissen, der Inhalt der Schränke wahllos umhergeschleudert, die Falltür zum Keller sperrangelweit offen – es sah aus, als hätte hier eine Horde wilder Schweine gewütet. Auf einem Stuhl stand die Kasse der Handelsniederlassung, gewaltsam geöffnet; nicht ein einziger Dollar befand sich mehr darin. Daneben lag ein kurzes Brecheisen. Billy saß und wartete. Gegen elf ertönte Motorengebrumm, ganz schwach, noch weit entfernt. Hastig sprang er auf, lief vor die Tür. Das Brummen wurde lauter, über den Wipfeln erschien das Postflugzeug. Es kam also! Trotz des drohenden Schneesturms! Er hatte richtig kalkuliert. Mit dem rechten Arm winkte er wie besessen; der Pilot flog einen Kreis um das Stationsgebäude und setzte zur Landung an. Die Schneekufen rutschten über das Eis des Großen Kanu-Sees. Zwanzig Minuten später nahm die Maschine Kurs auf Blueport. Das verwüstete Zimmer, Billys Verwundung und sein aufregender Bericht hatten genügt: Der Pilot glaubte, bei der Aufklärung eines Raubüberfalles behilflich zu sein. Etwa vier Stunden später dröhnte der Motor wieder über dem stillen See. Das Flugzeug glitt bis an den Rand der Bucht. Ein Mann in schwarzer Pelzkleidung sprang auf das Eis und eilte auf Billy zu. Die Maschine wendete. Die schwarze Sturmwand, die
bedeutend näher gerückt war, trieb den Piloten zur Eile an. Billy saß dem pelzbekleideten Mann, der sich als David Mackenzie, Sergeant der Nordwestpolizei, zu erkennen gegeben hatte, gegenüber und berichtete: „Gegen sieben Uhr etwa, ich legte gerade Holz auf den Ofen, draußen war es stockdunkel, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Ich dachte: Nanu, was ist denn da los? Noch einmal mein Name! Es hörte sich an, als riefe jemand, der erschöpft zusammengebrochen war. Ich wollte vor die Tür gehen, sehen, was es gibt. Drinnen brannte natürlich die Lampe! Wie ich so in der Tür stehe und eine feine Zielscheibe abgebe, knallt es, und ich bekomme einen Schlag gegen den linken Oberarm. In demselben Augenblick lasse ich mich fallen. So ein Hund, denke ich und rolle mich halb auf den Bauch, damit der Kerl nicht sieht, daß es nur eine leichte Schramme ist.“ Des Sergeanten kalte graue Augen musterten den Blutfleck vor der Tür. „Da lag ich also“, fuhr Billy fort, „und stellte mich tot. Dann kam der Bursche, beugte sich über mich, sah das Blut am Boden Und mußte gedacht haben: Der hat genug. Naja, und alles weitere sehen Sie ja. 6329 Dollar waren in der Kasse – und 25 Cent, die hat er gnädigerweise drin gelassen.“ „Und es war der Indianer?“ „So wahr ich hier sitze! Dieser rothäutige Hund! Ich habe ihn genau erkannt!“ David Mackenzie erhob sich. Er war von untersetzter, stämmiger Gestalt, etwa Mitte Dreißig. Seine Felljacke
hatte er halb geöffnet, darunter leuchtete knallrot der Uniformrock der kanadischen Nordwestpolizei. „Ist das der Einschuß?“ fragte er und beugte sich über ein kleines Loch in der Wand, die der Tür gegenüber lag. Billy kam neugierig näher. „Ja natürlich“, sagte er, „das muß die Kugel sein! So stand ich in der Tür“ – er machte es vor – „… der Schuß ging durch den Oberarm – kein Zweifel, das ist sie! Daß ich nicht eher darauf gekommen bin!“ Der Sergeant steckte den Bleistift in den Schußkanal. Smith hatte recht, die Kugel mußte durch die offene Tür geflogen sein. Mit seinem Jagdmesser schnitt er sie heraus. „Haben Sie zufällig gesehen, was für ein Gewehr der Indianer hatte?“ „Ja, ich glaube, es war eine Remington!“ David Mackenzie wog die Kugel auf der Hand; über der Bank in der Ecke hing eine Remingtonbüchse – aber warum sollte Billy Smith ein anderes Modell bevorzugen? „Gut“, sagte er, „morgen früh hole ich mir den Jungen.“ „Noch eins, Sergeant. Ich wette meinen Kopf, daß der Mertens hinter dem Indianer steckt! Mit ihm hatte ich mal vor drei Jahren eine Auseinandersetzung. Seitdem haßt mich der Kerl wie die Pest. Ich wette, sag ich Ihnen…“ „Wetten Sie lieber nicht so schnell. Ich glaube, die Roten machen solche Sachen lieber allein!“ Billy war ein bißchen zu voreilig gewesen. Aber laß nur, dachte er, ich werde diesen Sergeanten schon noch überzeugen, und er holte eine Flasche Selbstgebrann-
♦
ten Schnaps aus dem Keller. Mary hatte den Docht der Petroleumlampe heruntergeschraubt. Aus der Aschenklappe des Ofens fiel rot der Schein des herabgebrannten Feuers; er tanzte an den Pfosten des Bettes auf und ab und erfüllte die halbdunkle Stube mit gespenstischem Leben. Es wurde empfindlich kühl im Zimmer. Mary achtete nicht darauf. Seit zwei Stunden hatte sie kein Holz mehr nachgelegt. Sie saß, lauschte auf die hastigen Atemzüge Johns und sah dem Spiel der Flammen zu, das immer unregelmäßiger wurde, immer schwächer. Wie lange noch… wie lange? fragte sie. Knisternd brach ein Scheit in sich zusammen. Hellrot zuckten die Flammen in schneller Folge über das braune Holz des Bettes, liefen darüber hinweg, verschwanden. Der Kranke stöhnte auf. Mein Gott! War es schon so weit? Nein, da waren sie wieder – die Flammen und die Atemzüge, aber sie flackerten, als wollten sie jede Sekunde verlöschen. Die ersten Windstöße des aufkommenden Sturmes fegten um das Haus. Es war zu spät – alles war zu spät! Bis Mittag hatte sie noch gehofft, das Flugzeug würde kommen, der Arzt… Es kam nicht. Dann hatte sie gebetet, der Schneesturm möge warten, bis Rene wieder zurück ist. Wie zum Hohn schob sich die dunkle Wand im Norden immer näher heran, stetig und unaufhaltsam. Rene würde in den Schneesturm geraten… Zu spät! Zu spät für John! Vielleicht auch für Rene! Ihre Augen
brannten, sie spürte keinen Hunger, keinen Durst. Wieder fegte ein Windstoß heran, rüttelte am Dach, an der Tür, klapperte und klopfte. Jetzt war er drüben am Wald; das Klopfen blieb, es bummerte jemand an die Tür. „Rene!“ Sie sprang auf, öffnete, fiel dem Eintretenden um den Hals und schluchzte vor Freude. „Rene! Du hast es geschafft! Ich wußte, daß du es schaffen würdest!“ Verlegen zog der Indianer die Tür hinter sich zu. Er wußte nicht, was er anfangen sollte. Mary hing ihm am Hals, behutsam strich er ihr übers Haar. „Ich habe Penicillin“, sagte er, „Billy hat es mir gegeben.“ Wirklich und wahrhaftig: Mary gab ihm einen Kuß. „Wo hast du es?“ fragte sie, lief zur Lampe, schraubte sie hoch. Verwirrt griff er in die Tasche, holte die Kartons hervor, die Spritze. „Du bist ein Prachtkerl, Rene! Jetzt wird alles gut.“ Holz flog auf das Feuer, daß es hell aufloderte; heißes Wasser hatte während der ganzen Zeit auf dem eisernen Ofen gestanden, jetzt begann es sprudelnd zu kochen, „Die Spritze!“ Rene reichte sie ihr und sah erstaunt, wie ruhig und sicher sie damit umging. Die Spritze wurde ausgekocht. Ein kurzer Feilenstrich – und mit leichtem Knacken brach der Hals der ersten Ampulle. John fühlte nicht die Nadel, die ihm ins Fleisch drang. Draußen brach der Sturm mit voller Gewalt los. Als er mit orkanartiger Stärke um das Haus tobte, es wegzu-
reißen drohte, wurden die Atemzüge des Kranken ruhiger, legte sich das Fieber. Mary stand auf, um die nächste Injektion vorzubereiten. „Komm, Rene“, sagte sie und blieb vor ihm stehen, „du hast genug getan, du hast ihn gerettet. Was jetzt zu tun übrigbleibt, werde ich schon machen. Geh, iß ordentlich, und dann leg dich schlafen.“ Rene, der noch immer über das Wunder dieser plötzlichen Besserung nachsann, erhob sich und ging hinaus. Die ganze Nacht hindurch tobte der Sturm; auch der heraufdämmernde Tag brachte nur ein geringes Nachlassen seiner Gewalt. John schlief sich gesund an diesem Tage. Er hörte nichts und sah nichts; Mary hatte Mühe, ihm um die Mittagszeit einige Löffel Brei einzuflößen. Der Tag verging, und mit Einbruch der Dunkelheit nahm der Sturm an Stärke zu. Wieder ächzte und stöhnte das Haus unter den wütenden Schlägen des Nordost. Mary war nicht ängstlich, sie wußte, daß die Balken fest gefügt, das Dach sicher verankert war. Als es jedoch um die neunte Abendstunde heftig gegen die Tür bummerte, fuhr sie erschrocken auf und ließ die Wolldecken, mit denen sie ein Lager neben Johns Bett richten wollte, zu Boden fallen. Unwillkürlich sah sie zu Rene hinüber, der am Tisch saß und einen Schneereifen flickte. Wer wollte etwas von ihnen – um diese Zeit, bei diesem Wetter? Rene legte die Arbeit hin und ging zur Tür. Wieder klopfte es. Er öffnete. Eine in Pelz gehüllte, dick eingeschneite Gestalt schob ihn zurück ins Innere des
Zimmers. Der Fremde schloß die Tür, schüttelte den Schnee aus dem schwarzen Pelz, und bevor er seinen „guten Abend“ wünschen konnte, hatte Mary den Nordwestpolizisten in ihm erkannt. Rene! fuhr es ihr durch den Kopf. Er hat Billy erschossen! Ihre Augen weiteten sich in maßlosem Schrecken. Sie hatte nicht glauben wollen, daß alles so glatt gegangen war mit dem Penicillin; aber sie hatte vermieden, Rene zu fragen, aus Angst, eine furchtbare Wahrheit zu hören. Nun war es also so weit. „Es tut mir leid, Mrs. Mertens“, sagte David Mackenzie, „aber ich habe einige Fragen an Ihren Indianer zu richten. – Wo warst du gestern morgen, so um sechs, sieben Uhr?“ „Ich war auf der Handelsstation“, antwortete Rene\, „Gut, du bist wenigstens vernünftig.“ Ein kurzes Klicken, und Renes Hände waren mit Handschellen gefesselt. Jetzt erst fand Mary ihre Sprache wieder. Aber was half alles Flehen, was half Renes Aussage, seine Beteuerung, unschuldig zu sein. „Es wird sich herausstellen, ob er schuldig ist oder nicht“, sagte David Mackenzie, und das „Schuldig“ stand dabei für ihn so fest wie das Amen in der Kirche. Rene sagte nichts mehr. Auch Mary sah ein, daß alle weiteren Versuche, den Sergeanten umzustimmen, zwecklos waren. Nachdem er gegessen und zwei große Tassen Tee hinuntergespült hatte, fühlte er sich nach den Strapazen des langen Marsches neu belebt. „Komm“, forderte er den Indianer auf, „mach dich
fertig!“ Bis Rene die Hirschlederjoppe, Pelzjacke, Mokassins und Schneereifen angelegt hatte, nahm er ihm die Handschellen ab. „Sparen Sie sich die Fesseln“, sagte Rene, „ich laufe nicht davon.“ „Das könnte dir so passen, mein Junge!“ Wieder machte es „Klick“, und David Mackenzie führte ihn gefesselt zur Tür. Ein heftiger Schneesturm empfing sie. Nadelscharfe Eiskristalle trieb der Nordost vor sich her. Die Haut auf Nase und Wangen brannte wie Feuer unter ihren Stichen. Rene ging voran, der Sergeant folgte, das Gewehr im Arm. „Wo willst du hin?“ überschrie Mackenzie das Heulen des Windes. Rene hatte, wie üblich, den Weg entlang des Baches eingeschlagen. Er drehte sich um. „Da geht es lang!“ Mit dem Gewehr stieß ihn der Sergeant nach Osten. Nun gut, sie würden einen Umweg machen. Rene erwiderte nichts und stapfte weiter in der angegebenen Richtung. Der Sturm verstärkte sich. Er jaulte in den Lüften, brauste heran wie die wilde Jagd, versuchte die beiden Männer unter gellendem Heulen zu Boden zu schmettern und brach plötzlich ab, um überzugehen in hohles Sausen, das anschwoll zu neuem ohrenbetäubendem Gekreisch. So schlimm hatte es sich David Mackenzie nicht vorgestellt. Er spürte, daß die Spannkraft so schnell verging wie sie gekommen war. Jeder Schritt kostete Kraft und Energie. Er atmete auf, als sie unvermittelt vor den aufragenden Tannen des Hochwal-
des standen. Die Bäume boten ihnen Schutz. Über ihnen vollführte der Sturm ein Höllenkonzert, zerrte und riß an den Wipfeln, daß sie sich knarrend bogen, aber er drang nur mit halber Kraft durch das dichte Gezweig herab auf den Boden. Dieser Boden war nicht glatt, abgerissene Äste hinderten das Vorwärtskommen, entwurzelte Bäume mußten mühsam überstiegen oder umgangen werden. Der Sergeant fühlte seine Glieder vor Müdigkeit schwer wie Blei werden. Er verwünschte seinen Entschluß, in dieser Nacht den Rückweg anzutreten; doch es half nichts, keuchend, mit jagenden Pulsen, mußte er sich weiterschleppen. Krampfhaft hielten seine Hände das Gewehr umspannt, hefteten sich seine Augen auf die dunkle Gestalt, die vor ihm herschritt, sicher und gewandt, trotz der gefesselten Hände. Mit allen seinen Sinnen klammerte sich der Sergeant an das Gewehr. Was, wenn der Indianer plötzlich zur Seite sprang und sich dann von hinten an ihn heranschlich? Es durfte nicht dazu kommen, seine Kugel mußte schneller sein! Und die vor Kälte erstarrten Finger am Gewehrschaft, stolpernd, sich wieder aufraffend, mit vor Anstrengung brennenden Augen folgte David Mackenzie seinem Gefangenen. Sie erreichten den jenseitigen Waldrand. Eine freie Fläche tat sich vor ihnen auf, und mit voller, ungehinderter Kraft jagte der Sturm heran. Er sprang ihnen ins Gesicht, preßte ihnen die Luft aus den Lungen und drohte sie umzuwerfen; sie mußten sich mit gespannten Muskeln schräg gegen ihn stemmen. Es war sinn-
los, hier weiterzulaufen; die Sumpfniederungen zogen sich meilenweit hin, bis an den Rand der Grauen Felsen. Rene drehte sich um. Der Sergeant hob das Gewehr. Ohne darauf zu achten, führte Rene die Hände an den Mund, und sie als Schalltrichter benutzend, versuchte er den Orkan zu überbrüllen. „Umkehren!“ schrie er, und noch einmal: „Umkehren!“ Ein Stoß mit dem Gewehrlauf war die Antwort. David Mackenzie wollte nicht umkehren, er wollte nicht wahrhaben, daß seine Kräfte zu Ende gingen; er hatte mehr als einen Sturm erlebt und überstanden, er wollte auch diesen überstehen, und so legte er in den Stoß, mit dem er Rene vorantrieb, so viel Nachdruck, daß es sowohl für den Indianer als auch für ihn kein Zurück mehr gab. Harmlos erschien jetzt alles, was vorher gewesen war; hier verlangte jeder Meter Raumgewinn dem Körper das Äußerste ab, und mit unendlicher Zähigkeit arbeitete sich Rene Schritt für Schritt auf der weiten, weißschimmernden Fläche vor, die in einer unbestimmten Ferne mit dem Schwarz der Nacht zusammenfloß. Immer neue Schneeböen jagten heran, aus dem Nichts geboren, aus dieser Ferne, die ebensogut Nähe sein konnte. Dicke Eiskrusten bildeten sich auf Schal und Pelz, die Augen waren vom Schnee verklebt, der sich in Brauen und Wimpern gefangen hatte. Rene wischte ihn fort, rieb Nase und Wangen mit den gefühllosen Händen, um Erfrierungen zu vermeiden. Ehe er es verhindern konnte, versank er plötzlich bis zu den Hüften in einer Schneewehe. Die Muskeln schmerzten,
Schneemassen flogen ihm ins Gesicht. Er verlor den Halt, griff mit den gefesselten Händen ins Leere, fiel zur Seite und blieb liegen. Er lag im Schnee, müde, erschöpft; es war so schön zu liegen! Der Schnee war nicht mehr kalt, er war warm, und er würde ihn zudecken – wenn er liegenbliebe… Doch Rene raffte sich auf, wühlte und stemmte sich durch den Schnee, stand wieder auf den Beinen und sah sich um. Schwarze Nacht um ihn, heulender Sturm und fliegende Eiskristalle. Der Sergeant war nicht zu sehen, von der Nacht verschluckt oder von einer heranjagenden Schneewand begraben. Rene lief zurück, weit nach vorn gebeugt, strauchelte. Die Fesseln hinderten ihn; wie sollte er Gleichgewicht halten in diesem Hexenkessel? Sein Fuß stieß an einen Körper; er bückte sich, fiel darüber und fegte mit den Händen den Schnee beiseite, dann packte er den Sergeanten am Genick, zerrte ihn hoch. „Loslassen!“ schrie der ihn an. „Laß mich liegen, verdammter Hund!“ Der Wind fetzte ihm die Worte von den Lippen. „Wir müssen weiter! Los! Laufen!“ Unbarmherzig schüttelte er den Erschöpften, stieß ihm den Kopf ins Gesicht, Der Schmerz brachte ihn wieder zu sich. Rene hielt ihm die Handschellen vor die Augen. „Aufmachen!“ befahl er. David Mackenzie gehorchte. Vor Kälte und Schwäche zitternd, suchte er den Schlüssel, fand ihn und reichte ihn dem Indianer. Die Fesseln fielen, aufatmend rieb sich Rene die
Handgelenke. Schon wieder lag der Sergeant im Schnee. Der Indianer stellte ihn auf die Füße, band ihn mit einem Lederriemen an seinem eigenen Körper fest, schleifte ihn nach. Weiter, immer weiter, nur nicht umsinken und liegenbleiben! Um wieviel leichter war es jetzt, da die Hände frei waren! Sie stützten und zogen den Taumelnden hinterher. Wie ein Gespenst stand dieser plötzlich an seiner Seite. Unter der verschneiten Pelzmütze und den schneeverkrusteten buschigen Brauen blickten irr seine grauen Augen, ein verzerrter Mund schob sich an sein Ohr: „Umkehren! Zurück ins Blockhaus!“ schrie der Sergeant mit krächzender Stimme. Rene schüttelte den Kopf: „Wir müssen durch, bis zu den Felsen!“ David Mackenzie mußte ihm folgen; er fiel, raffte sich auf, und immer wieder war der Lederriemen da, der ihn vorwärtsriß, der ihn daran hinderte, liegenzubleiben, einzuschlafen. Er ließ sich fallen, verfluchte den Sturm und den Lederriemen, verfluchte Gott und die Welt und den, der ihn retten wollte. Rene zerrte ihn hoch. Eine dichte Schneewolke hüllte sie in einen undurchsichtigen Schleier. Als sie vorüber war, hatte der Sergeant die Büchse in der Hand. Rene warf sich in den Schnee, und der Schuß ging über ihn hinweg. Dann packte er Mackenzie, entwand ihm die Büchse und zerschnitt mit seinem eigenen Jagdmesser den Lederriemen. Er wandte sich um und ließ den Polizisten im Schnee zurück. Die Todesangst war stärker als Müdigkeit und
Schwäche, der Kampf um die Büchse hatte den Sergeanten wach gemacht. Das war kein ruhiges Einschlafen mehr, kein wohliges Hinüberschlummern, das war ein plötzliches Hineinstoßen in den Tod! Er hatte Angst vor ihm und wollte nicht mehr liegenbleiben. Er wußte nicht, woher er die Kraft nahm aufzuspringen, er wußte nur, daß es um sein Leben ging, und er stürzte Rene nach, fiel hin, umklammerte dessen Füße, heulte und betete durcheinander, schwor für ihn auszusagen, ihn laufen zu lassen, wenn er ihn nur nicht zurücklasse. Rene verstand kein Wort, aber er nahm die beiden Enden des zerschnittenen Riemens, band sie zusammen und kämpfte weiter gegen den Sturm. David Mackenzie verlor das letzte Gefühl für Zeit und Raum. Ihn kümmerte nicht das Gewehr, das Rene jetzt auf dem Rücken trug, nicht, daß er ausgezogen war, einen Raubmörder zu verhaften – nur der nächste Schritt hatte Platz in seinem Denken und der Lederriemen, der ihn mit Rene verband. Dieser Lederriemen war das Leben für ihn, das herrliche, in allen Farben schillernde, verlockende Leben, das zu schade war, von diesem Schneesturm ausgeblasen zu werden. Noch nie hatte er so an seinem Leben gehangen wie in dieser Stunde. Mit dem letzten Rest der Zähigkeit, die ihn bisher so viele Strapazen hatte überwinden lassen, hielt er sich aufrecht. Einzelne Sträucher tauchten auf, die ersten zerzausten Kiefern, und dann standen sie vor der dunklen Masse des Felsmassivs. Eine Felsenhöhle nahm sie schützend auf. Mehr tot als lebendig sank der Sergeant zu Boden, er war unfä-
hig, ein Wort zu sprechen. Rene machte Feuer, trockenes Holz lag in genügender Menge umher, und die Wärme, der vertraute Schein des Feuers ließen auch in David Mackenzie die verlorengegangenen Lebensgeister wieder erwachen. Rene verschwand; er holte aus einer Nebenhöhle, die er und John als Notunterkunft für ihre Jagdzüge eingerichtet hatten, einen eisernen Kessel und einen Beutel mit Pemmikan. Bald darauf kochte das Schneewasser im Kessel, eine Handvoll Pemmikan, pulverisiertes, mit Fett und Kräutern vermischtes Trockenfleisch, flog hinein, und kurze Zeit später schlürften beide aus hölzernen Löffeln den brühheißen Trank. Er belebte und stärkte auf wunderbare Weise. David Mackenzie holte Tabak hervor, reichte den Beutel zuerst Rene. Sie rauchten schweigend. Der Schein des Feuers reichte bis zum Höhleneingang, rotleuchtende Schneeflocken wirbelten durch den abziehenden Rauch, vor einem nachtschwarzen Hintergrund. Es hätte nicht lange gedauert – zehn Minuten, eine Viertelstunde – und sie hätten mich zugedeckt, dachte der Sergeant. Daß ich hier sitze, verdanke ich dem da. Er sah Rene an, der, vor dem Feuer hockend, die Handflächen über die Glut hielt. Es war eine verteufelte Geschichte, in die er hineingeraten war. Wenn der Indianer den Raubüberfall begangen hatte, würde er zweifellos besser getan haben, mich liegenzulassen, sagte er sich, einfacher hätt’ er’s gar nicht haben können! Aber das hat er nicht getan, überlegte er weiter, also ist er entweder verrückt – so
sieht er mir aber nicht aus! – oder er ist wirklich unschuldig! Teufel noch eins! Er muß es sein, sonst hätte er mich gewiß nicht mitgeschleift! David Mackenzie mußte wohl annehmen, daß es so war, sämtliche Tatsachen sprachen dafür, aber er gab sich nicht zufrieden mit dieser Lösung, sie war zu einfach. Auch dachte er weiter: Was würde sich daraus ergeben, wenn er die Rothaut als Unschuldslamm hinstellte! Verflucht! Dann müßte Billy Smith gelogen haben! Als gründlicher Mann ging er auch diesem Gedanken nach, und er hielt ihn durchaus nicht für unmöglich. Doch Billy Smith war nicht irgendwer! Hinter ihm stand unsichtbar die Hudson-Bay-Company, und die unumgrenzte Macht dieser Handelsgesellschaft mochte David Mackenzie, den kleinen Sergeanten der Nordwestpolizei bewogen haben, den Verdacht gegen Billy Smith schleunigst fallenzulassen. Plötzlich kam ihm wie eine Erleuchtung die Erkenntnis, daß der Indianer etwas ganz anderes mit seiner Rettung bezweckt haben konnte: Bewies er nicht auf diese Art am besten seine Unschuld? War es nicht ein ganz raffiniertes Gaunerstückchen, den edlen Samariter zu spielen, zu sagen: Seht her, das habe ich getan! Hätte ich es getan, wenn ich schuldig wäre? Oh, man mußte auf der Hut sein und jedes Ding von zwei Seiten betrachten. Der Sergeant fühlte sich erleichtert, hatte er doch dieses schwierige Kapitel zu einem guten Abschluß gebracht. Er stand auf und nahm den Beutel Pemmikan, der ne-
ben dem Kessel lag. Er dachte nicht im entferntesten daran, einen Diebstahl zu begehen, er hatte ganz einfach Hunger und wollte etwas essen. Als er mit den Fingern hineingriff, richtete sich Rene, der zusammengerollt, scheinbar schlafend, neben dem Feuer gelegen hatte, auf. Starr waren seine Augen auf den Sergeanten gerichtet, und die Hand, die den Beutel hielt, begann zu zittern. Noch saß Mackenzie das Grauen des Sturmes im Nacken, noch hörte er ihn draußen vor der Höhle tosen – und die Hand öffnete sich wie unter einem Zwang. Der Beutel fiel in die Flammen. Zischend schmolz das Fett in der Glut… Der letzte Vorrat an Lebensmitteln war vernichtet, vertan die Möglichkeit, das Ende des Unwetters hier abzuwarten. Bei Tagesanbruch rüsteten sie zum Weitermarsch. Rene, der den Verlust des Fleischkonzentrats wortlos hingenommen hatte, bestand darauf. Widerstandslos, das Gewehr auf dem Rücken, folgte ihm der Sergeant. In ihrer augenblicklichen Lage blieb ihnen keine andere Wahl: Sie mußten die Grauen Felsen überqueren; denn der zeitraubende Umweg um die Südspitze hätte auch Rene die letzten Kräfte gekostet, und wahrscheinlich wären sie nie zur rettenden Station gelangt. Der Aufstieg in dem zerklüfteten Westhang bereitete keine allzu großen Schwierigkeiten; an der steil abfallenden Ostwand dagegen gab es nur winzige Felsvorsprünge. Der Nordost fuhr fauchend und heulend über das glatte Gestein, ließ das Blut in Händen und Füßen erstarren und drohte sie jeden Augenblick aus der Wand zu wer-
fen. David Mackenzie konnte nicht mehr weiter. Er stand auf einem Vorsprang, eng an den Felsen gepreßt. Seine Finger hatten nicht mehr die Kraft, den schweren Körper zu halten. Rene schlang ihm ein Seil um die Brust, das er aus der Höhle mitgenommen hatte, und ließ ihn daran hinunter. Langsam, Zoll für Zoll glitt Mackenzie am Fels entlang in den Abgrund. Bislang hatte er vermieden, in die Tiefe zu schauen, aber jetzt, am Seil hängend, blickte er hinab. Und mit dem Schwindel, der ihn ergriff, überkam ihn von neuem ein Angstgefühl, furchtbarer noch als das in der Schneewüste. Über sich sah er das unbewegte Gesicht und die Schultern des Indianers, der das Seil durch seine Hände gleiten ließ, das Seil, an dem er hing – er, David Mackenzie, der diesen Indianer dem Todesmechanismus des Gesetzes überliefern wollte! Jede Sekunde glaubte er, das Gesicht müsse sich zu einer Grimasse verziehen, die Hände müßten loslassen, und er schloß die Augen bei dem Gedanken an den gähnenden Abgrund. Er wartete geradezu auf diesen Moment und erschrak, als er Halt unter den Füßen verspürte. Von Vorsprung zu Vorsprung wurde er abgeseilt, und jedesmal durchlebte er das Grauen einer entsetzlichen Folter. Eine raffiniert ausgedachte Folter, so schien es ihm, wandte der Indianer an, eine Folter, an deren Schluß – nachdem sie scheinbar glücklich überstanden – ein teuflisches Hohngelächter und der Tod zwischen den Felsen lauerte. Als der Sergeant unversehrt den Fuß der Felswand erreicht hatte, sackte er zusammen. Mehr als die körper-
liche Anstrengung hatten ihn die ausgestandenen seelischen Qualen, die Furcht und das Grauen erschöpft. Rene hatte Übermenschliches geleistet, auch er war kaum mehr in der Lage, sich aufrecht zu halten. Der Abstieg an den schroffen Felsen hatte ihm das Letzte abverlangt. David Mackenzie öffnete die Augen; den Rücken gegen den Fels gestemmt, schob er sich hoch und stierte Rene mit mißtrauischem, stechendem Blick an. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken. Einer schälte sich heraus aus den vielen, kreiste allein weiter, langsam zuerst, dann immer schneller: Er hätte loslassen können! Er hätte doch loslassen können! Der Sergeant riß sich zusammen. Die Zusammenhänge erschienen ihm jetzt klar und logisch. Zum ersten Male empfand er eine tiefe Dankbarkeit diesem bronzehäutigen jungen Burschen gegenüber. Und aus diesem Gefühl heraus brüllte er ihn plötzlich an: „Hau ab, du Satanskerl! Verschwinde!“ Erstaunt blickte Rene auf. „Hörst du nicht? Du sollst verschwinden! Ich will dich nicht mehr sehen!“ Rene schwieg. David Mackenzie langte nach dem Gewehr auf dem Rücken und richtete es von der Hüfte aus auf den Indianer: „Ich will dich nicht ins Gefängnis bringen! Verstehst du nun? Du sollst laufen, weg, in die Wälder!“ Rene blieb stehen. „Ich bin unschuldig“, sagte er, „warum soll ich fliehen?“ Der Sergeant wußte nicht, was er sagen sollte. Er hängte das Gewehr wieder über die Schulter und ver-
fiel in seinen alten Zustand der Erschöpfung. Müde und apathisch stolperte er in Renes Fußstapfen durch den lockeren Neuschnee. Unvermutet schnell ließ der Sturm nach. Die schwarzen Wolken verschwanden, und leichter Schneefall setzte ein. Weich und sanft fielen die Flocken aus dem sich aufhellenden Himmel. Nach einigen Stunden angestrengten Marsches erreichten sie noch vor Einbruch der Dunkelheit die Station. Am nächsten Morgen strahlte die Sonne von einem makellos reinen Winterhimmel. In Millionen und aber Millionen zarter Schneekristalle brach sich das Licht. Die vom Winde glattgefegten Stellen auf dem Eis des großen Kanu-Sees blinkten wie verstreut liegende riesige Smaragdspiegel. Der Saum blauschimmernder Fichten und Tannen um ihn herum und die grauen Felsenklippen trugen glitzernde weiße Kappen. David Mackenzie frühstückte. Er schaute dabei aus dem Fenster und machte ein Gesicht, als wollte er allen Ernstes die verschneiten Wipfel am gegenüberliegenden Ufer des Sees zählen. Billy hatte es aufgegeben, ihn mit Fragen zu belästigen, der Sergeant tat so, als höre er nicht. Einigemale hatte er ihn ganz sonderbar angesehen, das erste Mal gestern bei der Ankunft, als er ihm die Wolldecken für den Indianer verweigern wollte. Der Mann schien nicht ganz richtig zu sein! Brachte den roten Halunken ohne Handschellen an, verlangte Essen für ihn und Decken für die Nacht! Ein Wunder, daß er ihn überhaupt in den vergitterten Lagerraum gesperrt hatte! Der Händler war mißtrauisch geworden. Heute mor-
gen hatte der Polizist dem Kerl eine Riesenportion Frühstück gebracht, und nun fraß er sich selbst schon seit einer halben Stunde an seinen Vorräten satt, ohne ein Wort zu sagen. Warum er bloß dauernd aus dem Fenster blickte? Ist er unterwegs etwa übergeschnappt? Der Sergeant schob den Stuhl zurück und begann im Zimmer auf und ab zu wandern, von der Tür zum Fenster in der Giebelwand und wieder zurück, pausenlos. Das Gleichmaß der Schritte machte Billy nervös. „Hören Sie endlich auf mit dem Hin- und Hergerenne!“ brummte er ärgerlich. Mackenzie blieb einen Augenblick vor ihm stehen. Er war kleiner als Billy; aber als er weiterging, wich ihm der Händler respektvoll aus. Eine Stunde verrann und noch eine. Der Sergeant lief hin und her, mit einer erschreckenden Ausdauer. In Billy begann langsam die Überzeugung zu reifen, es mit einem Verrückten zu tun zu haben, und mit solchen Männern mußte man vorsichtig umgehen! Er saß in einer Ecke und beobachtete ihn heimlich. Am Fenster blieb David Mackenzie plötzlich stehen, drehte sich mit einem Ruck um und kam geradewegs auf Billy zu. „Ich möchte mir mal Ihre Verwundung ansehen“, sagte er, „ich glaube, das könnte nichts…“ „Um mir das zu sagen, sind Sie so lange herumgerannt?“ polterte Billy dazwischen. „Ja“, sagte der Sergeant und sah dabei ganz ruhig aus. „Sie haben nicht das Recht…“, begann der Händler wütend, aber ein Blick ließ ihn verstummen. „Sie wissen genau, daß ich das Recht habe. Also bitte, zeigen Sie den Arm.“
Billy wurde aschfahl. „Die Unverschämtheit werden Sie mir bezahlen!“ zischelte er halblaut durch die Zähne. „Mich vor diesem roten Halunken da nebenan so zu blamieren! Überlegen Sie, was Sie tun!“ schrie er heiser, als der Sergeant seinen Arm aus der Schlinge löste und behutsam den Verband abzuwickeln begann. Die Wunde hatte sich schon geschlossen, aber David Mackenzie hätte nicht schon zehn Jahre im Dienste der Nordwestpolizei stehen dürfen, um nicht sofort zu erkennen, daß dieser Schuß aus nächster Nähe abgefeuert worden war. Auch war es unmöglich, daß eine kleine Gewehrkugel ein solches Loch reißen konnte. „Wollen Sie mir noch immer erzählen, daß der Indianer mit einem Gewehr auf Sie geschossen hat?“ Billy sah seinen Fehler ein, aber es war zu spät, noch länger nachzudenken, er konnte auch gar nicht mehr überlegen – eine rasende Wut beherrschte ihn, und er brüllte: „Sie sind ein Idiot! Der Kerl kann genausogut aus einem Revolver geschossen haben!“ Zwischen Zeigefinger und Daumen hielt ihm David Mackenzie die Kugel unter die Nase, die er aus der Wand hinter der Tür geschnitten hatte: „Kennen Sie das Ding hier?“ fragte er. „Ist das die Kugel, die der Indianer auf Sie abgefeuert hat, nachdem er Sie vor die Tür gelockt hatte? Sie scheint mir eher aus Ihrem eigenen Colt zu stammen! Wo haben Sie denn das Schießeisen?“ Billy sprang auf, er zitterte; aber ehe er einen Ton herausbringen konnte, legte ihm der Sergeant die Hand auf die Schulter: „Ich muß Sie verhaften“, sagte er, „tut mir leid, Mr. Smith! Wenn Sie mir noch sagen würden,
wo Sie den Colt und das Geld versteckt haben, wäre ich Ihnen dankbar.“ Der Händler fluchte nur. „Na schön, ich werde es auch allein finden. Aber machen Sie keine Dummheiten! – Wegen Ihrer Verwundung können Sie hier solange sitzen bleiben, bis das Flugzeug kommt.“ Der Sergeant holte Rene, der alles durch die Tür mit angehört hatte, aus dem Lagerraum. Dann durchsuchte er das Zimmer. Gründlich und mit großer Kenntnis ging er ans Werk. Billy Smith beobachtete ihn mit einem höhnischen Grinsen. Im Wohnraum war nichts zu finden. Der Sergeant hob die Falltür, die in den Keller führte, stieg die ersten Stufen der Treppe hinunter und blieb plötzlich stehen. Unter der Eckbank, hinter dem klobigen Tisch, war ihm etwas aufgefallen. Vorher hatte er es nicht sehen können, aber so, halb auf der Kellertreppe, den Kopf dicht über dem Fußboden, sah er in der Wandverschalung ein loses Brett. Dicht unter der Sitzbank ragte es ein Stück hervor. David Mackenzie überlegte nicht lange, er kletterte die Treppe wieder hinauf und schob sich auf dem Bauch unter die Bank. Rene lehnte neben dem Fenster an der Wand. Er hatte bemerkt, daß Billy Smith leicht zusammengefahren war, als der Sergeant auf der Treppe gezögert hatte. Billy blickte kurz zu ihm hin; aber der Indianer schien nur Augen und Ohren für David Mackenzie zu haben. Langsam fuhr die gesunde Rechte des Händlers in die Tasche. Als er sie herausriß, spannte sie sich um eine
kleine Pistole. Der Schuß, der gleich darauf krachte, ging wirkungslos in die Decke. In hohem Bogen flog die Pistole durch das Zimmer. Billy Smith starrte verblüfft auf Rene, der schon wieder an der Wand neben dem Fenster lehnte. Ruhig, als sei nichts geschehen, rutschte David Mackenzie unter der Bank hervor, in der einen Hand einen großkalibrigen Colt, in der anderen einen Lederbeutel. „Nehmen Sie den“, sagte er und hielt Billy Smith den Revolver unter die Nase. „Das hier“, er hielt den Lederbeutel hoch, „dürften wohl genau 6329 Dollar sein, ich glaube, wir brauchen nicht nachzuzählen.“ Gegen Mittag ertönte Motorengebrumm; über dem See tauchte das Postflugzeug auf; silbern glänzten Tragflächen und Rumpf in der Sonne. David Mackenzie erhob sich, strich den Uniformrock glatt und ging mit Rene vor die Tür. Das Flugzeug setzte zur Landung an, schwebte ein und fuhr in die Bucht. Der Schnee knirschte unter den Kufen. Als der Pilot herauskletterte, rief ihm der Sergeant zu, er solle auf ihn warten. Dann drückte er Rene die Hand. „Mach’s gut“, sagte er, „vielleicht sehen wir uns bald wieder!“ Aus dem vergitterten Lagerraum führte er Billy Smith zum Flugzeug und half ihm beim Einsteigen. Der Motor begann zu dröhnen, Schnee stäubte auf, immer schneller sauste die schwere Maschine über das Eis, hob ab, kreiste über der Bucht und ging auf Kurs. Rene sah ihr nach, bis sie im Blau der Ferne verschwunden war. Einige Tage später brachte ein Fallensteller die Nach-
richt in Johns Blockhaus, daß Billy Smith zu einer geringen Geldstrafe verurteilt worden sei – und soweit er gehört habe, hätte David Mackenzie, Sergeant der Nordwestpolizei, seine Entlassung eingereicht. „So mußte es kommen“, sagte John. „Aber ich habe keine Angst, der Mackenzie, der geht nicht unter; dafür werden wir schon sorgen. Und was Billy Smith betrifft, so denke ich, daß er sich überall sehen lassen darf, nur nicht bei uns in den Wäldern des Nordens,“