Gefangen in der Zeit Version: v1.0
Als ich erwache, spüre ich, daß sich etwas verändert hat. Mein erster Blick gilt Mi...
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Gefangen in der Zeit Version: v1.0
Als ich erwache, spüre ich, daß sich etwas verändert hat. Mein erster Blick gilt Mitsou, aber der Sarg, in dem sie liegen müßte, ist leer. Ich spüre, wie der Boden des Wagg ons unter meinem Körper leicht vibriert und jede einzelne Bahnschwelle eine leichte Erschütterung auslöst. Ich befinde mich im Gepäckwagen. Meine Augen haben sich längst an die ewige Dunkelheit gewöhnt. Ich kenne jeden Winkel und den Inhalt aller hier aufbewahrten Ge päckstücke. In den Nächten habe ich mir oft einen Spaß daraus gemacht, sie zu öffnen und ihren Inhalt zu erfor schen. Es war ein netter Zeitvertreib zwischen den Lie besspielen in Mitsous Armen.
Was bisher geschah Für Robert Craven, einen uralten Hexer, befreit Lilith die Vampirin Fee aus der Gewalt rumänischer Blutsauger. Fees Biß kann Leben verlängern – doch sie hat den Verstand verloren. Craven verspricht, sich um sie zu kümmern. Er ver schafft Lilith und Beth eine neue Existenz in Tokio. Dort löst Lilith beinahe einen Krieg zwischen Vampiren und Werwölfen aus. Die Wölfin Nona, Land rus Geliebte, kann die Fehde verhindern. Dabei droht sie Lilith zu enttarnen, wird aber kurz davor vom Geist eines Magiers, den sie einst verriet und tötete, aufgespürt und schwerverletzt. Im letzten Moment kann ihr Mentor, der Guru Chiyoda, sie retten und den Magier vernichten. Er versetzt Nona in einen Heil schlaf – Lilith ist für’s erste wieder sicher … Nachdem sie ein von Vampiren initiiertes Satanistentreffen in Rumänien un terwandert und gesprengt hat, besucht Lilith das Dorf, das sie wenige Wochen zuvor von einer Vampirsippe befreite. Eine Dienerkreatur, ein Mädchen na mens Laila, hat überlebt und terrorisiert nun das Dorf. Als Lilith sie aufspürt, hat sich die Kreatur mit einem Artefakt der Sippe bewaffnet: ein Schlangenstab mit magischen Eigenschaften. Als Lilith ihn berührt, erlebt sie die blutrünstige Vision einer »Dunklen Arche« – ohne viel mit dem Begriff anfangen zu können. Sie tötet Laila und kehrt mit dem Artefakt nach Japan zurück. Kurze Zeit später bittet der Geist einer schwangeren Vampirin, sozusagen eine Vorgängerin von Creanna, Lilith um Hilfe. Sie wurde von Landru einst an ein Grab gebannt, am Leben erhalten von der Seele des halb menschlichen Kin des, das nie zur Welt kam. Wieder erfährt Lilith Einzelheiten über das LICHT, das auch hinter ihrer eigenen Existenz zu stecken scheint, bevor sie die Leiden de erlöst. Beth hat den Schlangenstab unterdessen eigenmächtig dem Sammler Tomaso zukommen lassen, der seine Herkunft bestimmen soll. Doch die Magie des Sta bes zwingt den Mann, das Opferinstrument zu benutzen: Er mordet und stiehlt die Herzen der Leichen. Bevor Lilith den Sammler stoppen kann, sind die To kioter Vampire auf ihn aufmerksam geworden. Zwar kann Lilith das Artefakt wieder an sich nehmen, doch Tomaso fällt in die Hände der Vampire …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter des Menschen Sean Lancaster und der Vampirin Crean na. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – Ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vam pirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Der Scout – Ein magisches Tattoo in Liliths linker Hand, das sie vom Körper lösen und durch dessen Augen sie sehen kann. Doch was man dem Scout zu fügt, spürt auch sie. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lilien kelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestoh len wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Ge burt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Men schen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalistin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf gegen die Vampire. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Um einen neuen Vampir zu schaffen, muß ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trin ken. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser ihm nicht ebenbürtig, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedin gungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Ich spüre, wie meine Besorgnis wächst, weil Mitsou nicht dort liegt, wo sie liegen sollte. Es ist ein besorgniserregendes Zeichen dafür, daß meine Macht Risse bekommen hat. Ich versuche meine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bekommen. Viel leicht ist Mitsou ja vor mir aufgewacht, denke ich. Vielleicht hat sich ein winziges Rädchen, das unser aller Schicksal seit Ewigkeiten beeinflußt, diesmal anders gedreht. Aber wie auch immer: Sie ist fort! Sie ist vor mir, ihrem Herrn und Meister, dem sie ihr immer wiederkehrendes Dasein ver dankt, geflüchtet! Dann beginne ich nachzudenken, und ein wilder Zorn erfaßt mich. Was, wenn auch die anderen alle vor mir erwacht sind? Wenn sie sich alle gegen mich verschworen haben? Wenn gar das wunderbare, sich stets im Kreis drehende Rad meiner Existenz aus dem Takt geraten ist? Vorsichtig öffne ich die Verbindungstür, die in das kleine Abteil führt, wo sich normalerweise die Zugbegleiter aufhalten. Auch diesmal. Alles ist unverändert. Ich atme beruhigt auf und gehe weiter. Die Männer bemerken mich nicht, spüren nicht einmal meine An wesenheit. Auch dies ist geblieben wie immer. Zögernd öffne ich weitere Türen, durchforste die Waggons, einen nach dem anderen. Die Reisenden hocken dichtgedrängt in den Abteilen. Die Gänge sind verwaist. Der rote Schein der leicht schaukelnden Lampions wirft trügeri sche Schatten, vor denen ich mehr als einmal zurückzucke. Ich selbst werfe keinen Schatten. Und doch bin ich das einzige lebende Wesen in diesem Zug, der durch die Dunkelheit dahinrast. Der einzige, der sich seiner eige nen, immer wiederkehrenden Existenz bewußt ist. Ein Gott! Ist es vermessen, mich mit ihm zu vergleichen, oder ist es nicht in Wirk lichkeit legitim? Beide sind wir Schöpfer, und beide sind wir allmächtig. Auch Mitsou wird meine Macht zu spüren bekommen, wenn ich sie erst
einmal gefunden habe. Dennoch grüble ich darüber nach, wo sie sein könn te und welchen Grund sie hätte, vor mir davonzulaufen. Ich erreiche den Speisewagen. Hier herrscht emsige Betriebsamkeit, aber keiner der Gäste oder Bediensteten nimmt Notiz von mir. Auch für sie bin ich unsichtbar. Der Geruch von gebratenem Fisch und anderen erlesenen Köstlichkeiten steigt mir in die Nase, doch ich ignoriere ihn. Ich kann keine Ruhe finden, bevor ich nicht um Mitsous Schicksal weiß. Ich lasse den Speisewagen hinter mir, während mit jedem Schritt der Glaube an meine Allmacht zerrinnt und meine Verunsicherung wächst. Ich stelle mir vor, wie Mitsou vor mir erscheint, ihr Körper sich mir ent gegenreckt und ihre sinnlichen roten Lippen sich auf meinen Mund pres sen – aber es bleibt bei der Vorstellung. Das, was sonst immer gelang, die Manifestation meines Willens, verpufft wirkungslos. Etwas hat sich verändert. Etwas hat den Rhythmus ewiger Wiederkehr durchbrochen. Ich beschleunige meine Schritte, während ich hastige Blicke in die Abteile werfe. Trotz all der Menschen, die darin sitzen, bin ich allein. Allein in diesem durch die Dunkelheit rasenden Zug, der seinem Verhängnis entge genstrebt. Die Waggons der Ersten Klasse liegen vor mir, als ich plötzlich Schritte höre. Mitsou! denke ich, aber gleichzeitig spüre ich, daß sie es nicht ist. Meine Vorsicht läßt mich rasch in ein leeres Abteil eintreten und hinter den Vorhängen verborgen Ausschau halten. Die Schritte kommen zögernd näher, verhalten kurz vor meinem Abteil und entfernen sich weiter. Es ist nicht Mitsou gewesen, die dort draußen vorbeiging. Es war eine Fremde, die ich nie zuvor gesehen habe. Unmöglich! Schleichend, mit geschmeidigen Bewegungen, folge ich der jungen, schwarzhaarigen Frau im roten Gewand …
* Selbst die Nacht war von Licht erfüllt, so als wollte ihr der Moloch Stadt beweisen, daß er sich niemals zur Ruhe legte. Auch um diese späte Stunde waren Tokios Straßen noch voll von lärmendem Ver kehr, die breiten Bürgersteige und schmalen verwinkelten Gassen von Menschen übersät. Der Lichterzauber, der sich unter Lilith ent faltete, wirkte wie ein gigantischer blinkender Sternenhimmel. Dort unten pulsierte das Leben, und einen Moment lang berausch te sie sich nur an diesem Anblick, während sie alles vergaß und sich ganz ihren Gefühlen und Instinkten hingab. Lilith war eins mit dem Himmel, und sie verschmolz mit dem Atem der Nacht, auf dem sie mit ledrigen Schwingen ritt. Sie hatte die Gestalt einer Fledermaus angenommen – nicht nur, weil sie so viel schneller vorankam, sondern weil sie dieses Gefühl des schwerelosen Dahingleitens gesucht hatte. Mit ihren scharfen Augen suchte sie tief unter sich nach einem Be gleiter für die Nacht, während sie langsam Richtung Erde flatterte. Sie war zuversichtlich, daß diese pulsierende Stadt ihr heute etwas Besonderes bieten würde. Jemanden, der nicht nur ihren Durst stillen, sondern sie auch in anderer Hinsicht ganz und gar befriedigen würde. Von einem Moment zum anderen verflog das Hochgefühl, als ihre vampirischen Sinne anschlugen. Sie wußte nicht, was es war, aber irgend etwas buhlte um ihre Aufmerksamkeit. Sie flog niedriger und landete schließlich neben der Treppe eines U-Bahn-Schachts. In diesem Bezirk waren nur wenige Passanten unterwegs. Lilith verge wisserte sich, daß niemand sie beobachtete, und verwandelte sich rasch in ihre humanoide Gestalt zurück. Der Symbiont floß über ih ren Körper und gaukelte ein unauffälliges, knielanges Kleid vor.
Irgend etwas an diesen in die Tiefe führenden Treppen zog Lilith fast magisch an. Es war eine eher verwahrloste Gegend, in der sie gelandet war, untypisch für die sonst so reinlichen Straßen Tokios. Hinter den Fenstern der heruntergekommenen Häuser registrierte sie kaum einen Lichtschein. Hier war alles dem Verfall preisgege ben. In einigen der Hausnischen lagen verwahrloste Gestalten und schliefen ihren Rausch aus. Aber auch die Passanten, die sich hier aufhielten, waren alles an dere als die erhofften Begleiter, die sich Lilith für die Nacht ge wünscht hatte. Finstere, nicht gerade vertrauensselige Gestalten, die ihr den einen oder anderen zudringlichen, aber auch verwunderten Blick zuwarfen. Es war wohl nicht alltäglich, daß sich eine Frau wie Lilith nachts in diesem Bezirk aufhielt. Über die Straße hinweg sah Lilith, daß eine Gruppe Jugendlicher sie ins Visier genommen hatte. Einer der Halbstarken stupste einen anderen feixend an, und zwei von ihnen begannen mit wiegenden Schritten die Straße zu überqueren. »Hallo!« rief ihr ein pickelgesichtiger, höchstens sechzehnjähriger Jüngling zu. Seine Züge spiegelten bereits die Grausamkeit des Stra ßenlebens wider. »Wie wär’s mit uns beiden? Wir haben eine Menge Spaß zu verschenken.« Lilith bedachte ihn mit einem eher mitleidigen Blick und schenkte sich eine Antwort. Kein Bedarf! Sie zwang den beiden ihren Willen auf. Die Jugendli chen drehten sich abrupt um und wankten mit starren Schritten zu ihren Kumpanen zurück, die sie besorgt in Empfang nahmen. Lilith wandte sich wieder dem U-Bahn-Eingang zu und horchte mit ihren vampirischen Sinnen. Ein seltsames Gefühl überkam sie – keine Ahnung von Gefahr,
eher so etwas wie … Sehnsucht? Sie konnte es nicht einordnen. Aber wenn sie länger hier stehenblieb, würde sie nur noch mehr Auf merksamkeit auf sich ziehen. Nach kurzem Zögern ging sie langsam die Stufen hinab. Es war seltsam still hier unten. Das klackende Geräusch ihrer Absätze war das einzige, was zu hören war. Die kahlen, nur mit beunruhigenden Graffiti beschmierten Wände der Gänge erzeugten ein Gefühl der Verlassenheit in ihr. Lilith ließ sich ganz von ihrem Instinkt leiten, während sie in einen weiteren Gang einbog und sich schließlich auf einem Bahnsteig wie derfand. Das Gefühl, daß hier unten irgend etwas auf sie wartete, wurde fast übermächtig. Es ging auf Mitternacht zu. Eher beiläufig schaute Lilith auf die Zeiger der elektronisch gesteuerten Bahnhofsuhr. Beiläufig insofern, da die Uhrzeit nicht von Bedeutung war: Die nächste Bahn würde nicht lange auf sich warten lassen. Die U-Bahnzüge verkehrten selbst um diese Zeit auch an den abgelegeneren Stationen im ra schen Takt, um den Herzschlag der Zwölf-Millionen-EinwohnerMetropole am Leben zu erhalten. »Am Leben zu erhalten« war der richtige Ausdruck, denn das dicht verzweigte U-Bahnnetz von Tokio erinnerte Lilith tatsächlich an ein kompliziertes Geflecht aus Adern und Venen, in denen das Leben geradezu pulsierte. Wenigstens war das überall sonst der Fall. Hier unten jedoch war alles still. Totenstill, dachte sie. Der Bahnsteig war menschenleer. Zunächst hatte Lilith dies als ganz normal empfunden, aber nun fiel ihr die ungewohnte Realität der menschenleeren Station um so mehr auf. Selbst in dieser herun tergekommenen Gegend mußte doch mehr los sein! Und wenn es nur einige Obdachlose gewesen wären, die sich statt in den Häuser
nischen hier unten ein warmes Plätzchen gesichert hätten. Diese Station war leblos, tot, ohne Leben, sowohl im wahrsten Sinne des Wortes als auch in übertragener Bedeutung. Irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Innerlich fröstelnd verschränkte Li lith die Arme und zog instinktiv die Schultern hoch. Die kalten Ka cheln des Bahnsteigs erinnerten Sie an ein Leichenschauhaus, und die gelben, mit japanischen Schriftzeichen versehenen Leuchttafeln, auf denen der Name der Station stand, wirkten plötzlich wie kalli graphische, verschlüsselte Grabinschriften auf sie. Die sanfte Wöl bung der grünlich schimmernden Wände und die kalten Reihen der gleißenden Neonleuchten ließen sie an das Innere eines Walfisches denken. Eines Walfisches, dessen endloser Schlund nur zum Teil sichtbar war und der sich in den schwarzen Eingeweiden der Tun nelöffnungen ins Endlose fortsetzte. Mehr noch als die menschenleere Station verursachte der Anblick der schwarzen Tunnelöffnungen eine ungewohnte Beklommenheit in ihr. Sie vermochte ohne Probleme im Dunkeln zu sehen, wenn auch alles in einen rötlichen Schleier getaucht war. Sie hatte als Halbvampirin eine andere Beziehung zu Nacht und Dunkelheit als normale Menschen. Und dennoch ging von der Schwärze in den Tunneln etwas aus, das ihr nicht gefiel. Sie spürte geradezu die Ge fahr. Vielleicht war es das beste, umzukehren. Sie konnte sich wieder ihren nächtlichen Freuden hingeben und die merkwürdige Atmo sphäre hier unten einfach hinter sich lassen. Zielstrebig setzte sie sich in Bewegung. Wieder fiel ihr auf, wie un gewöhnlich laut die Absätze ihrer vom Symbionten nachgebildeten Schuhe auf den Bodenkacheln klackten und das Geräusch ein hal lendes Echo zurückwarf. Es war nach wie vor das einzige Geräusch, das Lilith vernahm. Mehr denn je hatte sie das Gefühl, das einzige lebende Wesen hier unten in der U-Bahn-Röhre zu sein.
Und dennoch fühlte sie sich beobachtet! Sie hatte das Gefühl, daß unsichtbare Augen jede ihrer Bewegungen verfolgten. Trotzdem be mühte sie sich, ihren Gang normal wirken zu lassen – es sollte nicht nach Flucht aussehen. Was immer hier nicht stimmte, sie konnte es später noch immer herausfinden – nach ihren Regeln. Bis zu den Treppen, die zum Ausgang führten, waren es nur weni ge Schritte. Trotzdem kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, als sie end lich die Stufen nach oben erklomm. Dann erstarrte sie: Dort, wo der Ausgang gewesen war, erhob sich ein seltsames Gebilde. Es war eine Wand wie aus … fließendem Glas. Anders wußte Lilith diese Erscheinung nicht zu beschreiben. Wie ein Wasserfall aus Millionen glitzernden, winzig kleinen Glas körnchen. Sie gleißten in dem Neonlicht, als wären sie messerscharf. Lilith kniff geblendet die Augen zusammen. Sie streckte die Arme aus und tastete sich vor. Ihre Finger tauchten in die flirrende Wand ein – und mit einem Aufschrei zog sie sie zurück. Diese Barriere war messerscharf! Ihre Finger bluteten zwar nur leicht, und die Wunden würden sich innerhalb weniger Minuten schließen. Aber sie hatte eine deutliche Warnung erhalten, was pas sieren würde, wenn sie versuchen sollte, die Wand zu durchqueren. Und sie hatte keine Ahnung, wie tief die Barriere war … Sie saß in der Falle! Als sie sich umdrehte, erwartete sie eine weitere Überraschung. Die Treppe hatte sich verändert. Sie war nun erschreckend steil. Außerdem war der Treppenabgang geradezu klaustrophobisch schmal geworden. Wenn Lilith beide Ellenbogen abwinkelte, stieß sie links und rechts an. Statt der weißen Fliesen bedeckten jetzt schmutzigbraune die Wände und erinnerten sie mehr denn je an die blutverschmierten Kacheln einer Metzgerei. Unter ihren Füßen spürte sie ein leichtes Vibrieren, als würde sich
von irgendwoher etwas nähern. Keine U-Bahn – die Vibrationen wa ren irgendwie … anders. Stärker, gewaltiger, wie ein nahendes Erd beben. Lilith hatte das Gefühl, daß sie an Heftigkeit zunahmen, je tiefer sie hinabstieg. Die Treppe nahm einfach kein Ende – als führte sie ins Nichts. Und immer mehr hatte Lilith den unbestimmten Verdacht, als wür de am Ende der Stufen etwas warten. Auf sie ganz persönlich. Plötzlich hatte sie das Empfinden, die Stufen unter ihren Sohlen würden sich verändern, weicher und nachgiebiger werden. So als trete sie nicht auf steinernen Untergrund, sondern auf eine gummi ähnliche Substanz. Oder auf etwas Organisches! Es fühlte sich fast an wie Fleisch! Ent setzt sah sie, wie sich vor ihren Augen die Treppe und die Wände abermals zu verändern begannen. Wie sie tatsächlich zu einer leben den Masse wurden, in der sogar fette rote Adern pulsierten. Als be fände sie sich in einem riesigen Schlund, und als würde ihr Ver gleich mit dem Inneren eines Walfisch plötzlich Wirklichkeit. Gleichzeitig wußte sie, daß dies nicht die Realität sein konnte. Es gab keine Treppenabgänge, die sich plötzlich als endlos lange Schlünde entpuppten. Irgend etwas – irgendwer? – wollte sie mit die ser furchteinflößenden Manipulation der Wirklichkeit in Angst und Schrecken versetzen. Oder ihr klarmachen, daß sie keine andere Chance hatte, als zu gehorchen … Sie konzentrierte sich wieder auf die Stufen. Konzentrierte sich darauf, wie Stufen wirklich aussahen. Wie sie sich anfühlen mußten. Hart statt weich. Abfedernd statt nachgebend. Kalt statt warm. Um ihre Gedanken zu konzentrieren, begann sie die Stufen zu zählen. Als sie bei einhundert angelangt war, spürte Lilith, wie die fremde Magie langsam an Einfluß verlor. Die Stufen begannen sich zurück
zuverwandeln, in das, was sie eigentlich waren: toter, lebloser Stein. Dann war die Treppe unvermittelt zu Ende. Lilith stand wieder auf dem U-Bahnhof. Verwundert schaute sie sich um. Das Vibrieren war jetzt ganz stark zu spüren. Und es hatte seinen Ursprung in ei nem der Tunnel. Langsam setzte sich Lilith in Bewegung – in Richtung des gegen überliegenden Tunnels, aus dem keine Geräusche zu vernehmen waren. Sie achtete darauf, sich nicht über die gelben Begrenzungsli nien der Bahnsteigkante zu begeben – was immer sich dort in dem anderen Tunnel ankündigte, es würde sie in wenigen Augenblicken erreichen. Sie begann zu laufen, obwohl sie wußte, daß es nicht nur zu spät sein würde, sondern ganz schlicht und einfach sinnlos. Das Vibrieren ließ den Boden nun stärker erzittern. Was auch im mer aus dem Tunnel herausschießen würde, es schien nicht konstru iert zu sein für diese Welt. Lilith spürte, wie der Boden unter ihren Füßen geradezu erbebte, so als würde er sich gegen das, was dort näherkam, aufbäumen. Es war keine Einbildung. Selbst die Schienen rissen aus ihren Ver ankerungen, schnellten empor, als hätten sie sich plötzlich in zün gelnde Schlangen verwandelt. Der Boden und die Wände schwank ten wie bei einem Erdbeben. Die U-Bahn-Röhre kam Lilith plötzlich vor wie ein zu enges Korsett, durch das sich unerbittlich ein viel zu massiger Körper zwängte. Schließlich konnte sie sich auf dem schwankenden Boden nicht mehr aufrecht halten. Sie ging in die Knie und stützte sich mit bei den Armen ab, um nicht auf die Schienen geschleudert zu werden. Aus dem Tunnel drang ein anschwellendes, durchdringendes Krei schen, das von den kalten, gebogenen Fliesenwänden widerhallte und dadurch noch ohrenbetäubender wurde. Dann brach es aus dem Tunnel hervor. Der Geruch von erhitztem
Stahl und beißendem Rauch erfüllte die Station. Mit kreischenden Bremsen kam das Ungetüm schnaubend zum Stehen. Lilith glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Es war ein Zug! Keine U-Bahn, sondern ein fauchendes, tonnen schweres Dampfroß-Ungetüm, das einer längst vergangenen Epoche anzugehören schien. Die Lok war von wogenden weißen Wasser dampf-Schwaden umgeben, die sie wie eine wabernde Nebelwand einhüllten. Als die Nebel wichen, erkannte Lilith, daß der Stahl von einer glitzernden Schicht wie von schwarzem, von klirrendem Frost eingehülltem Kohlenstaub bedeckt war. Das Kreischen der Bremsen warf noch immer letzte Echos. Lilith versuchte in dem Führerhaus etwas zu erkennen, aber selbst die Scheiben waren von der glitzernden Schwärze bedeckt. Ein letztes Zischen, das Lilith wie das Todesächzen eines urzeitlichen Sauriers schien, dann herrschte Stille. Eine geradezu unwirkliche Stille. Jetzt erst nahm Lilith die Waggons wahr. Es schienen ihr unend lich viele zu sein. Hinter den Fensterscheiben der Abteile war nie mand zu sehen, und es stieg auch kein Reisender aus. Noch nicht einmal die Türen wurden geöffnet. Wie ein uraltes Relikt, überzogen von der Patina der Zeiten und Dimensionen, lag das Ungetüm re gungslos und wie tot. Es schien, als wartete der Zug nur darauf, daß jemand zustieg, um ihn wieder zu neuem Leben zu erwecken. Auf sie!
* Es war wie ein Zwang, der sie sich vom Boden erheben und sich langsam dem Zug nähern ließ. Liliths Anspannung wuchs mit je
dem Schritt. Eigentlich hätte der Zug Hitze oder wenigstens Wärme ausstrahlen müssen, aber sie spürte im Gegenteil nur eine arktische Kälte, die von ihm ausging. Plötzlich durchbrach ein metallisches Knarren die unheimliche Stille, die sich über die Station gelegt hatte. Als sich Lilith alarmiert umblickte, sah sie, daß sich nur wenige Meter entfernt eine der Wag gontüren geöffnet hatte. Hinter den blinden Türfenstern glaubte sie für einen Sekundenbruchteil das Gesicht einer bleichen Frau zu se hen, bevor es wieder im Dunkel des Wagens verschwand. Lilith näherte sich zögerlich der offenen Tür und blickte hinein. Dabei wurde ihr bewußt, wie unendlich alt und ungewöhnlich nicht nur die Lok, sondern auch die Waggons waren – als stammten sie aus einer ganz anderen, längst vergangenen Epoche. Schließlich setzte sie einen Fuß auf das Trittbrett und zog sich am Türknauf hoch. Er fühlte sich in ihrer Hand an wie ein Klumpen Eis. Ein Schwall rauchiger Wärme quoll ihr entgegen. Im Gegensatz zu der äußeren Hülle schien es im Inneren des Zuges gemütlich warm zu sein. Sie gab sich einen letzten Ruck, stieg ein und fand sich in einem ganz normalen, wenn auch altertümlichen Waggon wieder. Wenn überhaupt, so hätte sie so etwas höchstens in einem Museum erwar tet. Dennoch strömte er eine eigentümliche Authentizität aus. Der schmale Gang, in dem sie sich befand, war mit kostbar wirkenden Holzvertäfelungen verkleidet und mit kunstvollen Motivschnitzerei en und Ornamenten verziert. Lüsterartige, vergoldete Lampen tru gen zum luxuriösen Ambiente bei, während rote, mit japanischen Schriftzeichen versehene Lampions zusätzlich für Beleuchtung sorg ten. Vom Gang aus führten Schiebetüren in die einzelnen Abteile. Als wäre eine merkwürdige Art von Bann gebrochen, vernahm Li lith jetzt auch Geräusche und Gesprächsfetzen. Sie schaute durch einen Gardinenschlitz in das links von ihr liegende erste Abteil hin
ein. Obwohl sie den Anblick in irgendeinem Winkel ihres Instinkts erwartet hatte, verstärkte er ihr Unbehagen beträchtlich: Obwohl der Zug von draußen vollkommen verlassen gewirkt hat te, hielten sich in den Abteilen Reisende auf, die, wie der Zug selbst, einer anderen Zeit zu entstammen Schienen. Fast war es Lilith, als hätte sie es mit Schauspielern zu tun, die sich für eine besondere NôAufführung kostümiert hatten. Aber daß dies alles andere als ein Schauspiel war, war ihr längst klar geworden. »Kommen Sie doch herein!« sagte plötzlich eine Stimme. Lilith zuckte zusammen. Ihr war nicht bewußt gewesen, daß man sie be merkt hatte. »Kommen Sie herein, hier sind noch zwei Plätze frei.« Lilith zögerte, der freundlich klingenden Einladung zu folgen. Eine kleine gehässige Stimme in ihren Gedanken flüsterte ihr zu, daß es genau dieser Schritt sein würde, der sie unwiderruflich ins Verderben führte. Da spürte sie plötzlich, daß der Zug langsam an fuhr. Nun war es so oder so zu spät, auszusteigen.
* Als sie das Abteil betrat, wandten sich ihr alle Köpfe zu. »Wenn Sie so freundlich wären, die Tür hinter sich zu schließen, wären wir Ihnen sehr verbunden«, sagte die Stimme, die sie zum Eintreten animiert hatte. Sie gehörte einem jungen sympathischen Japaner, der genau wie die anderen Reisenden seltsam antiquiert ge wandet war. Sein Englisch klang ebenfalls seltsam altertümlich, wenngleich dies auch an seinem Akzent liegen mochte. »Gestatten: Mein Name ist Nakazato Maun.« Der junge Mann deutete eine Verbeugung an.
Auch die anderen Reisenden nickten ihr zur Begrüßung zu. Außer dem jungen Japaner befanden sich noch ein weiterer jüngerer Mann, ein junges, höchstens siebzehnjähriges Mädchen und eine ältere Frau in dem Abteil. Die beiden Männer sahen sich so ähnlich, daß Lilith sie für Brüder hielt, während die Frauen Mutter und Tochter sein konnten. Lilith beschloß, vorerst das Spiel mitzuspielen. Sie grüßte höflich auf japanisch und stellte sich vor. Was auch immer hier vor sich ging, diese Leute schienen ihre Rollen perfekt zu beherrschen. Und noch jemand schien dieser Ansicht zu sein: Als Lilith an sich herabschaute, sah sie, daß sie statt des engen, knielangen Kleides von vorhin nun ein bis zum Boden reichendes rotes Gewand mit kostbar wirkenden Stickereien trug. Der Symbiont hatte auf die au ßergewöhnliche Situation erstaunlich rasch reagiert. Natürlich sah sie nicht wie eine Japanerin aus – deshalb hatte der junge Mann sie vorhin auch auf englisch begrüßt. Allein ihre Größe und ihre Körpermaße, die jeden normal veranlagten Mann auf ande re Gedanken brachte, unterschieden sich von denen der eher zierli chen Japanerinnen beträchtlich. Ganz zu schweigen von ihren Ge sichtszügen. Aber offensichtlich schien sich keiner der Reisenden daran zu stören, daß sie ein japanisches Gewand trug. Lilith warf derlei überflüssige Gedanken über Bord und konzen trierte sich ganz darauf, mit der merkwürdigen Situation umzuge hen. Lächelnd nahm sie auf dem noch freien Sitz Platz. »Sie haben kein Gepäck?« fragte der junge Mann, der sich ihr als Nakazato vorgestellt hatte. »Nein, ich … ich steige an der nächsten Station wieder aus.« Der Mann lachte schallend. Auch die anderen Reisenden fielen nach und nach in das Gelächter ein, so als hätte sie einen Witz ge macht, den nur sie selbst nicht verstand.
Als das Gelächter verstummte, sagte Lilith: »Vielleicht würden Sie mich aufklären, was daran so erheiternd ist.« »Oh, ganz einfach«, schaltete sich die ältere, etwa fünfzigjährige Japanerin ein. »Die nächste Station ist Kyoto. Wir werden es nicht vor dem Morgengrauen erreichen. Sie sind in den falschen Zug ge stiegen, kann das sein?« Lilith machte ein ratloses Gesicht. Vielleicht würde sie herausbe kommen, was hier gespielt wurde, wenn sie ihre Ahnungslosigkeit offen zugab. »Ich … ich weiß nicht«, sagte sie. Die anderen Reisenden sahen sie fragend an. »Kyoto …«, murmelte Lilith. »Die Hauptstadt des Frie dens, die kaiserliche Residenz …« Ihre Mitreisenden nickten, aber Lilith schaute an ihnen vorbei und spürte plötzlich einen Kloß im Hals, als sie aus dem Fenster blickte. Dort draußen offenbarte sich ein weiteres Zeichen dafür, daß die Realität eine andere geworden war. Statt der Schwärze des Tunnels sah sie auf eine seltsam anachro nistische Stadtlandschaft mit altertümlichen Tempeln, Pagodendä chern und geduckten Holzbauten, die im Schein einer orangefarbe nen, untergehenden Sonne in ein unwirkliches Licht getaucht wur den. Vergeblich hielt Lilith nach den modernen Hochhäusern Aus schau, die normalerweise Tokios Stadtbild an dieser Stelle verschan delten und prägten. Was dort am Fenster fast ein wenig majestätisch vorüberzog, kam ihr dennoch nur zu bekannt vor. Sie hatte sich mit der Stadtgeschichte Tokios beiläufig vertraut gemacht und genü gend alte Fotografien und Gemälde gesehen, um zu erkennen, was sich ihr dort offenbarte. Dort draußen lag nach wie vor eine Stadt namens Tokio. Aber so, wie sie vielleicht im letzten Jahrhundert ausgesehen hatte! Im nächsten Augenblick erlangte sie endgültige Gewißheit, als ihr
Blick auf das Titelblatt einer Tageszeitung fiel, die achtlos auf dem weiteren leeren Platz neben ihr lag. Die japanischen Kanji-, Hiragana- und Katakano-Schriften darauf sagten ihr genausoviel wie alle anderen Sprachen und Schriften die ser Welt. Es war Teil ihres Erbes, daß sie sich in sämtlichen Sprachen mühelos unterhalten und sie auch verstehen konnte. Aber die Schlagzeilen interessierten sie kaum. Ihr Blick hing wie gebannt an dem Datum, das darüber prangte: 23. April 1896 Jetzt wußte sie, wo sie sich befand. Exakt einhundert Jahre in der Vergangenheit. Als sie den Blick hob, zog noch immer die altertümliche Stadtland schaft draußen vor dem Fenster vorbei. Die zuvor orangefarbene Sonne war innerhalb weniger Augenblicke in ein noch tieferes Rot übergegangen, so daß die Dächer der Häuser wie in Blut getaucht wirkten. Die Sonne schien tatsächlich viel schneller zu wandern als norma lerweise. Fast glaubte Lilith, ihren Lauf wie in einer Zeitrafferauf nahme verfolgen zu können – als wäre die Zeit selbst in Unordnung geraten und spiele nun verrückt. Außerhalb des Zuges schien sie viel schneller zu vergehen als innerhalb des Abteils. Aber es war nicht nur die Zeit, die Lilith Sorgen bereitete. Etwas anderes beunruhigte sie noch mehr: Sie spürte ihren wachsenden Blutdurst, so als wäre die Zeit auch in ihrem Körper schneller ver strichen. Aber noch war ihr Hungergefühl längst nicht so übermächtig, daß sie es nicht unter Kontrolle gehabt hätte. Dennoch, sie spürte, daß sie nicht unbegrenzt Zeit hatte, sich mit der Situation vertraut zu machen – sie war zum Handeln gezwungen. »Ich glaube, ich werde mich erst noch ein wenig im Zug
umsehen«, sagte sie und erhob sich. Es war ihr egal, was ihre Mitrei senden von ihr dachten. Mochten sie sie für eine Verrückte halten – es gab Wichtigeres. »Wenn Sie möchten, begleite ich Sie!« erbot sich Nakazato. »Wir könnten im Salonwagen gemeinsam einen Sake zu uns nehmen …« Lilith wunderte sich über seine Forschheit. Offensichtlich waren die früheren Japaner, was das weibliche Geschlecht anging, weit mutiger als ihre Landsleute des zwanzigsten Jahrhunderts. Oder der junge Mann hatte längere Zeit im Ausland gelebt, was auch erklären würde, warum er die englische Sprache beherrschte. Normalerweise hätte Lilith die Einladung nicht ausgeschlagen. Nakazato war ein gutaussehender Mann, und sein Körper hätte ihr unter anderen Umständen sicherlich einige Freuden bereiten kön nen – aber dazu mochte später immer noch Zeit sein. »Vielleicht komme ich noch auf Ihre Einladung zurück«, sagte sie und schenkte dem Japaner ein freundliches Lächeln. Damit verließ sie das Abteil. Diesmal kam ihr der Gang vor den Abteilen noch gespenstischer vor. Die roten Lampions schaukelten leicht, als würden unsichtbare Geisterhände sie in Schwingungen versetzen. Das ebenfalls blutrote Sonnenlicht, das gedämpft hereindrang, trug zu der immer unwirk licher werdenden Atmosphäre bei. Die Lampions schaukelten hefti ger, als der Zug nun immer mehr an Fahrt gewann. Unmißverständ lich gaben die Schienen alle fünfundzwanzig Meter rumpelnd zu verstehen, daß sie, anders als die verschweißten Schienenstränge der Neuzeit, jede für sich eigenständig waren. Das Ruckeln, Schaukeln und Schwanken, vor allem in den Kurven, erinnerte Lilith mehr an eine altertümliche Fahrt mit der Kutsche über holprige Waldwege. Im Vorübergehen schaute sie in die anderen Abteile. Zumeist be fanden sich Japaner darin, und alle waren sie auf die gleiche Weise
altertümlich gekleidet. Sie sah auch einige Europäer, und auch diese trugen die Mode eines vergangenen Jahrhunderts. Mehr noch als bei den Japanern kam ihr bei diesem Anblick die Absurdität der Situati on zu Bewußtsein. Diese Menschen schienen wirklich real zu sein, während sie, Lilith, sich zunehmend wie ein Fremdkörper fühlte. Nicht diese Menschen waren Gespenster, sondern sie selbst. Die Vergangenheit war Wirklichkeit, während sie das Gespenst aus der Zukunft verkörperte … Rastlos ging Lilith weiter. Die Anzahl der Waggons kam ihr end los vor, als hätte sich auch in diesem Punkt die Realität unmerklich verschoben. Sie kämpfte gegen den Drang an, einfach umzukehren und in die scheinbare Sicherheit des ersten Abteils zurückzukehren. Schließlich erreichte sie den Speisewagen. Er war ebenso luxuriös ausgestattet wie die Gänge und Abteile. Die Tische waren sämtlich besetzt. Offensichtlich mangelte es den Reisenden nicht an Appetit. Manche lächelten ihr höflich zu – vor allem männliche Passagiere –, aber alles in allem schien sie auch hier nicht weiter aufzufallen. Man hielt sie für eine ganz gewöhnliche Mitreisende. Lilith beeilte sich, den Speisewagen hinter sich zu lassen. Sie dach te dabei an ihren eigenen Hunger, der nicht so einfach zu befriedi gen sein würde … Nach dem Speisewagen folgten die Schlafwaggons. Im Vorüberge hen sah Lilith, daß die meisten Schlafabteile ebenfalls belegt waren. Hinter den Fenstern war die Sonne inzwischen untergegangen. Es war innerhalb kurzer Zeit stockdunkel draußen geworden – so als hätte ihre Expedition bereits Stunden gedauert. Und doch waren es nur wenige Minuten gewesen. Als sie den Türgriff zum nächsten Waggon umfaßte, zögerte Lilith plötzlich. Der plötzliche Gedanke, in eine Falle zu laufen, die jeden Moment zuschnappen konnte, versetzte ihre Nerven in eine fast un
erträgliche Spannung. Ihr Instinkt zwang sie, stehenzubleiben. Sie verharrte und lausch te, aber die Geräusche des fahrenden Zuges übertönten alle anderen Laute. Sie hatte das Gefühl, als wollte etwas sie aufhalten und zur augenblicklichen Umkehr bewegen. Es war mehr als ein Instinkt – es war wie eine unsichtbare Hand, die sich auf ihre Schulter legte und sie zurückzerren wollte. Sie berührte das Kleid, in das sich ihr Symbiont verwandelt hatte. Steckte er hinter dieser Beeinflussung? Aber sie empfing keine Ant wort von ihm. Noch immer hielt sie mit der einen Hand den Türknauf umfaßt. Nein, sie würde sich nicht von ihrer Absicht abbringen lassen. Ent schlossen stieß sie die Tür auf – – und zuckte fast augenblicklich zurück. GEFAHR! Sie spürte das Unheil, das irgendwo in den hinteren Waggons lau erte, wie einen schmerzhaften Stich: Vampire! Ganz in der Nähe! Rasch schloß sie die Tür wieder und wich ein paar Schritte in den Gang zurück. Sie hoffte, daß es noch nicht zu spät war und die Vam pire ihrerseits ihre Anwesenheit nicht bemerkt hatten. War dies der Schlüssel zu den bizarren Geschehnissen? Das ver bindende Glied zwischen ihr selbst und diesem Geisterzug? Aber wie paßte die Zeitdifferenz dazu? Nicht einmal Landru hatte die Macht, die Zeit nach seinen Wünschen zu knechten. Mehr denn je schien ihr der Zug wie eine einzige riesige Falle, aus der es kein Entkommen gab. Nicht für sie – und auch nicht für die vielen Menschen, die arglos in den Abteilen saßen oder bereits in ih ren Kojen schliefen. Sie mußte sie warnen!
Langsam zog sie sich weiter zurück. Ihr Blick fiel auf eine alter tümliche Apparatur, die in Reichweite an der Wand installiert war. Die Notbremse! Ihre Hand zuckte vor und ergriff den Hebel, um ihn herunterzuziehen. Es ging mühelos. Zu mühelos. Nicht die geringste Bremswirkung war zu spüren. Entweder hatten die Vampire Vorsorge getragen, daß ihnen niemand auf diese Weise ins Handwerk pfuschen konnte, oder es war etwas anderes im Spiel. Plötzlich sah Lilith, wie sich die Tür, die sie gerade noch vorsichtig wieder geschlossen hatte, langsam öffnete. Obwohl es kein Vampir sein konnte, denn dessen Annäherung hätte sie gespürt, hielt sie vor Anspannung den Atem an – und atmete erleichtert auf, als sie die Uniform eines Schaffners erkannte. »Schließen Sie die Tür, schnell!« rief ihm Lilith leise zu. Jetzt erst fiel ihr sein abwesender Gesichtsausdruck auf. Der Zugbegleiter schien sie gar nicht zu hören. Er ging weiter, ohne sie zu beachten. In seiner Hand hielt er eine Zange. »Sie müssen unbedingt den Zug anhalten!« beschwor Lilith den Mann. »Hören Sie mich? Alle Reisenden sind in großer Gefahr!« Der uniformierte Zugbegleiter ging teilnahmslos an ihr vorbei bis zum Ende des Waggons, reckte sich nach dem Draht der Notbremse – und zerschnitt ihn mit der Zange. Da war etwas Rotes an seinem Kragen. Lilith erstarrte. Es war Blut – Blut aus zwei kleinen, wie mit Nadeln gestochenen Wunden an seinem Hals. Der Schaffner war zu einer Dienerkreatur gemacht worden – mit dem Auftrag, die Notbremsen zu zerstören! Im diesem Moment ertönten plötzlich entsetzliche Schreie aus dem hinteren Zugteil. Die Blutsauger hatten mit ihrer Jagd begonnen! Yami lag allein in ihrer Schlafkoje und lauschte dem ungleichmäßi
gen Rattern des Zuges. Aber das war es nicht, was sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Es waren die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen und ein ganz gewisses Verlangen in ihrem Körper auslösten. Sie und Tomimoto hatten sich immer wieder heimliche Blicke zu geworfen. Vor allen Dingen Tomimotos Blicke waren dabei immer begehrlicher geworden, so daß Yami unruhig auf ihrem Platz hin und her gerutscht war. Sie war zwar erst vor dem letzten Kirschblü tenfest siebzehn geworden, aber sie wußte, wie sie auf Männer wirk te. Wie ein Unschuldsengel mit sanft geschwungenen Augenbrauen und langen Wimpern, die ihre glutvollen Blicke in Schatten tauchen und verbergen mochten, wenn sie es wollte. Aber sie beherrschte ebenso die Kunst, die Männer in der schwarzen Tiefe ihrer Man delaugen versinken zu lassen. Natürlich hatten sie »Konversation« geführt, daher wußte sie auch seinen Namen, aber weder hatten ihre Tante sie, noch Tomimotos Bruder Nakazato ihn aus den Augen gelassen. Sie hatte nur erfah ren, daß sich in Kyoto die Pforten eines buddhistischen Klosters eine ganze Weile hinter Tomimoto schließen würden. Auch Yami würde sich mit ihrer Tante eine Weile in Kyoto aufhal ten, aber Tomimoto und sie würden keine Chance haben, sich zu be gegnen. Die Mauern eines buddhistischen Klosters waren unüber windlicher als die eines Gefängnisses. Und dennoch hatten ihr To mimotos Augen zugeflüstert, daß er einen Weg finden würde … Ihre heißen Blicke, die sie untereinander ausgetauscht hatten, wa ren nur durch einen Zwischenfall kurz unterbrochen worden. Aber die schöne schwarzhaarige Frau, die in ihr Abteil gekommen war, hatte sich schon kurz darauf wieder verabschiedet und war nicht wieder zurückgekehrt. Sie war offensichtlich eine Europäerin gewesen, hatte aber das Ge wand einer Taju getragen. Ihr Kleid und die Tatsache, daß Tomimo tos Bruder den Reizen dieser Frau ganz offensichtlich Tribut zollte,
hatte kurz eine ganz bestimmte Hoffnung in ihr aufkeimen lassen. Aber bevor Tomimoto seinen Aufpasser vielleicht losgeworden wäre, hatte die Frau das Abteil schon wieder verlassen. Das war vor Stunden gewesen, und obwohl Yami immer wieder, auch im Speise wagen, nach der geheimnisvollen Fremden Ausschau gehalten hat te, hatte sie sie nicht wiedergesehen. Schade, dachte sie. Ich hätte mich mit ihr so gerne darüber unterhalten, wie es ist, als Taju zu dienen. Bei diesem Gedanken spürte sie mehr denn je, wie ihr Körper Hit ze fing. Eine Taju ging dem geachteten Gewerbe der Prostitution nach, und diese hatte sozusagen Tradition. Japans Kultur war aufs engste mit der Welt des Yoshiwara, des Vergnügungsviertels, verbunden. Schriftsteller, Maler, Schauspieler und Musiker verkehrten in der offiziell stets verachteten, privat aber durchaus geschätzten »schwebenden Welt«. Die Welt der Prostituierten war streng hierarchisch organisiert. Zwischen der Taju, der höchsten Kurtisane, und der Joru oder Yuma, einem gewöhnlichen Freudenmädchen, das in den öffentlichen Bä dern arbeitete, gab es die verschiedensten Ränge. Yamis Hände wanderten an ihrem Körper herab, bis sie das Drei eck zwischen ihren Schenkeln mit ihren Fingern erreicht hatte. Sie verharrte dort, lauschte, aber außer den mehr oder minder regelmä ßigen Atemzügen der anderen Frauen in den Schlafkabinen hörte sie nichts. Ihre Tante lag gleich in der Kabine unter ihr und schnarchte leicht. Yamis Hand wanderte noch ein Stückchen weiter, bis sie die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen fühlte. Sie dachte an Tomimoto und spürte, wie sich bei dieser Vorstellung ihre Brustwarzen noch steiler aufrichteten. Mühsam unterdrückte sie ein Stöhnen. Mit aller Kraft stellte sie sich vor, wie er ihr gegenüber gesessen und sie mit
den Blicken förmlich ausgezogen hatte. KOMM! dachte sie. KOMM! Wenn er ihren Ruf doch nur erhörte! In dieser Nacht wäre sie zu allem bereit. Mit dem Zeigefinger fuhr sie sanft über das Zentrum ihrer Lust. Sie war noch nie mit einem Mann zusammengewesen, aber sie hatte sich schon oft mit eigener Geschicklichkeit Wonnen der Lust bereitet. Aber noch nie hatte sie sich so sehr einen Mann herbeigesehnt wie heute. Als würden ihre Gedanken erhört, vernahm sie plötzlich die leise schleichenden Schritte, die vom Gang her zu ihr drangen. Ihre Hand verharrte in ihrem Schoß, und gespannt hielt sie den Atem an. Die Schritte kamen näher. Sie hatten unzweifelhaft etwas Heimliches an sich. Und sie näherten sich ihrer Schlafkoje. Tomimoto! dachte sie erregt. Er mußte ihre geheimsten Gedanken gespürt haben. Aber woher konnte er wissen, in welcher Koje sie lag? Vielleicht hatte er einen der Zugbegleiter bestochen … Es war zu dunkel, als daß sie irgend etwas hätte erkennen können. Der Vorhang wurde vorsichtig beiseite geschoben, und dann spürte sie die tastende Hand, die nach ihr griff. Yami drückte sie, als Zeichen, daß sie verstanden und ihn bereits erwartet hatte. Dann schob sich ein Körper in ihre Koje und drückte sie sanft bei seite. Noch immer gab sich der nächtliche Besucher mit keinem Wort zu erkennen. Aber es mußte Tomimoto sein! Yamis tastende Hände fühlten unter dem Gewand einen durchtrainierten, aber selt sam kalten Körper, als hätte er seit Stunden draußen im Fahrtwind ausgeharrt. Nun, sie würde ihn schon zu wärmen wissen. Sie fuhr mit ihren Fingern die Muskulatur seiner Arme und seiner Brust entlang, wäh rend ihr Besucher einen Moment fast regungslos dalag und die Zärt lichkeiten entgegennahm.
Warum sagt er nichts? fragte sie sich irritiert. Warum gab er sich nicht flüsternd zu erkennen? Aber gleichzeitig spürte sie, wie sie der Gedanke, dies könnte jemand anderes sein, noch mehr erregte. Sie nahm seine Hand und führte sie kundig zwischen ihre Schenkel. Seine Finger wurden lebendig und drangen in sie ein. Sie unterdrückte nur mühsam ein Keuchen. Wenn ihre Tante unter ihr aufwachte, würde sie sie wahrscheinlich umbringen! Er spreizte ihre Beine und vergrub seinen Kopf in ihrer Hitze. Yami legte ihre heiße Hand zwischen seine Beine. Auch ihre Zunge glitt nun flink und mit viel Geschicklichkeit über seinen Körper und schmeckte seine Haut. Sie spürte, wie er erschauderte, während auch seine Zunge ihr höchste Wonnen bereitete. Sie hatte das Ge fühl, als würde sie seine hungrigen Hände am ganzen Körper gleichzeitig wahrnehmen … Kurz bevor sie seinen Höhepunkt kommen spürte, drehte sie sich geschickt herum und kniete über seinem Körper. Die Koje knarrte dabei bedenklich laut, so daß Yami einen Moment lang innehielt und lauschte, aber die Zuggeräusche waren so dominant, daß ihre Tante nichts gehört hatte. Sie umfaßte seinen Schaft, massierte ihn kurz und führte ihn dann in ihren engen, jungfräulichen Schoß. Sie hatte das Gefühl von bro delndem Honig, der ihr gesamtes Innerstes ausfüllte und sie in un gewohnte Ekstasen versetzte. Nun war es ihr egal, ob jemand sie hören würde. In dem Augen blick ihres Höhepunkts war sie in einer anderen Welt. Die Muskula tur ihres Schoßes war zu einem zuckenden Eigenleben erwacht, als würde er von tausend Zungen gleichzeitig massiert. Sie konnte ihre Schreie einfach nicht mehr zurückhalten. Es brach wie ein Vulkan aus ihr heraus. Von weit entfernt, wie unter einer Decke aus Watte, nahm sie auch
seine Schreie wahr. Die ganze Welt schien plötzlich nur aus Schreien zu bestehen … Gleichzeitig spürte sie einen brennenden Schmerz, der von ihren Brüsten ausging und ihre Ekstase im ersten Moment nur noch verdoppelte. Er hatte sie gebissen. Er hatte sie tatsächlich gebissen! Und nun saugte er an ihr, saugte ihr Blut … Und plötzlich begriff sie ihren fatalen Irrtum. Der Absturz aus der Ekstase war wie ein Eintauchen in einen Eiskübel. Die Schreie stammten nicht nur von ihr. Sie kamen von überall her und erfüllten den gesamten Schlafwagen. Und es waren auch keine Schreie der Lust, sondern des Entsetzens. Sie versuchte zu begreifen, was vor sich ging, doch gleichzeitig wurde ihr eigener Schmerz fast unerträglich. Sie schrie nun ebenfalls vor Angst und versuchte sich von dem unter ihr liegenden Körper zu befreien. Es war zwecklos, aber dennoch hämmerte sie mit aller Kraft, die ihre Lebensinstinkte in ihr noch wachriefen, auf den Kopf ihres Geg ners ein. Dann spürte sie weitere Hände, die nach ihr griffen. Ein neuer, stechender Schmerz, diesmal in ihrem Rücken, ließ sie fast ohnmächtig werden. Sie hatte das Gefühl, als würde jemand spitze Nadeln in ihr Rückgrat bohren. Spitz waren sie in der Tat. Nur daß es keine Nadeln, sondern lan ge, gebogene Zähne waren, die sich in das weiße Fleisch ihres Rückens versenkten …
* Vergangenheit Mein Name ist Schatten. Im Laufe meines Lebens hörte ich auf viele
Namen, aber Schatten gefällt mir am besten. Wie alle meine Namen habe ich mir auch Schatten nicht selbst ausgesucht. Er stammt von meinem Herrn, dem weitgereisten Kakuzo Okara. Er ist ein kahl köpfiger Riese mit derben Gesichtszügen und einem ebensolchen Körper. Doch als hätte Mutter Natur ein Einsehen gehabt, schenkte sie ihm als Ausgleich für sein furchteinflößendes Äußeres eine Fein heit der Sinne, wie ich es noch bei keinem Menschen erlebt habe. Okara lernte mich kennen, als ich in einem kleinen chinesischen Wanderzirkus unter dem Namen Der Chamäleonmann auftrat, und er erkannte sogleich, daß wir füreinander wie geschaffen waren. Nach der Vorstellung, in der er zum erstenmal meines Talentes an sichtig wurde, nahm er mich beiseite. »Du bist ein Mann mit großen Fähigkeiten«, schmeichelte er mir, doch hinter der Schmeichelei steckte zugleich ehrliche Bewunde rung. »Doch du vergeudest dein erstaunliches Talent, indem du es hier öffentlich zur Belustigung der Leute zur Schau stellst.« Ich lachte bitter. »Haben Sie eine andere Idee, nicht zu verhungern und trotzdem nicht kriminell zu werden? Glauben Sie, mir macht es Spaß, meine körperliche Deformation, die ich keineswegs als Talent bezeichnen würde, vor den Leuten auszubreiten?« Ich mußte daran denken, wie ich jeden Abend als Der Chamäleon mann angekündigt wurde. Zunächst konnten sich die Zuschauer darunter nichts vorstellen. Vielleicht dachten sie an eine Mißgeburt mit gezacktem Rücken oder echsenhaftem Schwanz. In unserem kleinen Zirkus gab es viele seltsame Leute, die allein ihr merkwürdi ges Aussehen zur Schau stellten. Ich gehörte nicht dazu. Wenn ich in meinem einfachen, schmucklosen Gewand und meiner Maske, die einen Chamäleonkopf zeigte, die Bühne betrat, konnte ich jedesmal ein Raunen der Enttäuschung vernehmen – wenn man mich über haupt bewußt wahrnahm und nicht bloß für einen Statisten hielt. »Meine Damen und Herren«, pflegte der Zirkusdirektor zu rufen.
»Der Chamäleonmann wird Ihnen nun seine unvergleichliche Kunst präsentieren. Schließen Sie die Augen …« Er wartete einen Moment, um dem Publikum die Gelegenheit zu geben, seiner Aufforderung nachzukommen, während ich die Maske abwarf und rasch mein Ge wand auszog und es zu Boden gleiten ließ. Natürlich gab es immer Leute im Publikum, die die Augen geöffnet hielten oder unter nur halb geschlossenen Lidern blinzelten. Doch die meisten Zuschauer schlossen die Augen tatsächlich. Für sie war die Überraschung am größten, wenn der Zirkusdirektor nach ein, zwei Sekunden fortfuhr: »… und nun öffnen Sie Ihre Augen wieder und staunen Sie: Wie Sie sehen, sehen Sie nichts!« Für die meisten Zuschauer war ich tatsächlich unsichtbar gewor den. Mein Körper hatte sich dem Sandboden der Manege vollkom men angepaßt. Wie bei einem richtigen Chamäleon war ich natür lich nicht wirklich unsichtbar. Wenn man ganz genau hinschaute, enthüllten sich dem aufmerksamen Betrachter nach und nach meine Körperkonturen. Der Zirkusdirektor trat neben meine hingeduckte Gestalt und zeichnete mit dem Stock meine Konturen nach, so daß die Zuschau er wußten, wohin sie ihre Blicke lenken sollten. Nach und nach er füllte ein immer stärker werdendes Raunen das Zirkusrund, als sich die Augen der Zuschauer an die Situation gewöhnt und mich in meiner Camouflage entdeckt hatten, und ein lang andauernder Ap plaus erfüllte die Manege, während ich mich in meiner Scham nur noch stärker am Boden krümmte. Für mich bedeutete jeder Auftritt eine Qual. Es war kein körperli cher Schmerz, denn die Verwandlung geschah wie von selbst. Es war die psychische Qual, die Demütigung, die ich jedesmal aufs neue erfuhr, wenn ich meine körperliche Mißbildung so zur Schau stellen mußte. Mein Auftritt wurde zudem, je erfolgreicher ich als Der Chamäleon
mann wurde, immer mehr in die Länge gezogen. Zur Freude des Pu blikums und zu meinem Mißfallen. Ich mußte vor den verschiedens ten Hintergründen meine vom Zirkusdirektor annoncierte Kunst herauskehren. Die Hintergründe reichten von einer roten Samtwand bis zu einer akribisch hingetuschten Tempelszene: Wann immer ich meinen Körper vor diese Wände platzierte, verschmolz ich mit ih nen auf für das Publikum so wunderbare Weise. Am demütigendsten waren jedoch die Sondervorstellungen, die zu abendlicher Stunde vor einem kleinen erlauchten und vor allen Dingen zahlungskräftigen Kreis stattfanden. Die Flüsterpropaganda funktionierte perfekt. Wo immer wir auftraten, gab es eine dekaden te Schicht, für die wir ein ganz spezielles Programm bereithielten. Die abendliche Perversitätenshow, die dort zum Vergnügen der Zu schauer stattfand, brachte mich jedesmal fast zum Erbrechen. Aber am schlimmsten war mein eigener Auftritt. Er ließ mich die Erbärm lichkeit meines Schicksals nur noch eindringlicher empfinden. Allabendlich betrat ich kopfgebeugt die kleine, provisorisch herge richtete Bühne, während ich die Blicke der im Dunkeln sitzenden, geilen Zuschauer wie Nadelstiche spürte. »Und nun entspannen Sie sich, mein erlauchtes Publikum«, sagte der Zirkusdirektor. Er brauchte nicht zu schreien. Im Gegensatz zum Nachmittag war der Kreis fast intim zu nennen. »Der Chamä leonmann und seine Geliebte werden Ihnen nun ein ganz besonde res Schauspiel präsentieren …« Der Applaus war nur spärlich, während ich mich verbeugte und dankbar war für die Maske, die ich trug. Dann betrat Mitsou die Bühne. Sie war die schönste Frau, die meine Augen je erblickt hat ten. Ich liebte sie, aber ihr Herz blieb mir gegenüber kalt wie Eis. Wahrscheinlich verachtete sie mich für das, was ich tat, ebensosehr wie ich mich selbst verachtete. Mitsou öffnete ihr Gewand und streifte es ab wie eine lästige Haut.
Die Schönheit ihres alabasterweißen Körpers ließ mich jedesmal den Atem anhalten. Die vollendeten Wölbungen ihrer Brüste, Hüften und Schenkel ließen jeden Mann erschauern. Vor allen Dingen die vollen Brüste sandten ihre Botschaft aus, sie zu berühren und sanft zu kneten. Mitsous Blick jedoch wirkte stets verschleiert und seltsam nach in nen gekehrt. Ja, sie war bereit, ihren Leib zur Schau zu stellen, aber ansonsten offenbarte sie nichts von sich. Ich trat vor sie, und wir be wegten unsere Körper in einem einstudierten Ritual. Für die Zu schauer war es verblüffend, wie sich mein wandelbarer Körper dem ihren anglich, mit ihren Rundungen scheinbar verschmolz, bis wir nur noch ein einziger perfekter Frauenkörper schienen. Wir verharrten in unseren Bewegungen und ließen die Zuschauer sich von diesem staunenden Anblick erholen. Dann bog Mitsou ih ren Körper nach hinten und ließ sich schließlich fallen; ihre Starre wich wiegenden Bewegungen, ihr Körper hob und senkte sich, als würde ihr Schoß mein aufgerichtetes Glied empfangen wollen. Mit langsamen, zielgerichteten Bewegungen hob ich ihr Becken an und brachte ihren Körper in die richtige Stellung. Und während die Erre gung der Zuschauer fast körperlich zu spüren war, steigerte sich der Rhythmus unserer beider Leiber. Während mein Glied fast zu plat zen drohte vor Erregung, spielten wir einen vollendeten Höhe punkt. Denn natürlich war alles nur Spiel. Mitsous Heiligstes blieb mir stets verwehrt, und das machte mir die Erbärmlichkeit meines Parts, den ich in diesem Spiel innehatte, nur noch bewußter. Danach war nur mein Auftritt beendet; für Mitsou dagegen war es nur der Auftakt. Ich wußte nicht, welches seltsame Abkommen sie mit dem Zirkusdirektor getroffen hatte, aber ich sah sie nach der Vorstellung stets mit einem ausgewählten Zuschauer in irgendei nem Wagen verschwinden. Es zerbrach mir jedesmal noch mehr das
Herz – bis zu dem Abend, an dem ich herausfand, was sie mit den Männern wirklich anstellte. Vorsichtig schlich ich Mitsou und ihrem Freier hinterher. Der Mond war hinter schwarzen Wolkenbänken verschwunden, und ich drückte mich eng in die Schatten der Wagen, um nicht entdeckt zu werden. Mein Körper nahm die Farben der Nacht an. Mitsou ging scheinbar unbeteiligt voran, während der Mann hinter ihr herstol perte und es offensichtlich nicht erwarten konnte, denn mehr als einmal grapschte er mit seinen feisten Händen nach ihrem verführe rischen Hinterteil. Es handelte sich bei dem Freier um einen beleib ten Japaner, dessen Gewand ihn als hohen Beamten der Stadtregie rung auswies. Vielleicht war das ein Teil des Abkommens, dachte ich, denn die Auftrittsgenehmigungen waren nicht so ohne weiteres zu bekommen. Vielleicht pflegte der Zirkusdirektor die Stadtoberen auf diese Weise zu bestechen. Und Mitsou spielte sein schmutziges Spiel mit – oder er zwang sie dazu. Als die beiden in dem mit bunten Drachen bemalten Zirkuswagen verschwunden waren, wartete ich noch eine Weile, bevor ich näher schlich. Vorsichtig drückte ich meinen Körper an der Bretterwand des Wagens hoch, bis meine Augen das Fenster erreicht hatten. Im Wageninnern hatte Mitsou inzwischen eine Laterne entzündet, deren Schein alles in ein verführerisches rotes Licht getaucht hatte. Dann ließ sie ihr Gewand zu Boden gleiten und präsentierte dem Freier ihren erregenden Körper. Mir selbst stockte der Atem, so fas zinierend empfand ich dieses Schauspiel. Bislang war ich nur selbst Teil des Spiels gewesen, nun empfand ich zum erstenmal die gehei men Wonnen des Zuschauers. Mitsou wandte mir ihren Rücken zu, eine Ansicht, die ich fast noch erregender fand, als sie von vorne zu betrachten. Ihr Freier nestelte mit fahrigen Bewegungen am Gürtel seines eige nen Gewandes, bis auch er schließlich nackt dastand. Sein Körper
war aufgedunsen und fettleibig, sein Glied hing klein und faltig an ihm herunter; wahrlich kein schöner Anblick. Mitsou jedoch schien es nichts auszumachen. Sie näherte sich ihm mit aufreizender Laszi vität und drückte sich an ihn. Ich sah, wie sie ihn mit geschickten Bewegungen dirigierte, so daß er schließlich mit seinem gesamten Gewicht auf ihr lag und sein Glied in ihren Schoß führte – die Pforte zu einem Paradies, das mir bisher stets verwehrt worden war. Das Liebesspiel währte nur einige Sekunden – der Dickleibige schien so erregt, daß er fast augenblicklich zum Höhepunkt kam. Sein Körper zuckte unkontrolliert, während Mitsou in ihren Bewe gungen innehielt. Da die beiden am Boden lagen, hatte ich Mühe, sie durch das Fenster zu beobachten, doch ich wagte es nicht, meinen Kopf auch nur einen Zentimeter höher zu bewegen. Auch so schon hatte ich das Gefühl, daß Mitsou mich jeden Moment einfach bemer ken mußte. Aber dann erstarrte ich. Ich sah, wie Mitsou ihre Lippen an den Hals des Fettleibigen drückte. Zunächst dachte ich, daß sie ihn küs sen wollte. Aber sie hing wie ein Blutegel an seinem Hals – und saugte. Ich sah deutlich, wie ein kleines rotes Rinnsal an seinem Hals hinablief. Mitsou hielt inne und leckte ihn genüßlich ab. Dabei sah ich ihre Zähne. Es waren die spitzen Fangzähne eines Vampirs … Mitsou hatte den Kopf gedreht und schaute in meine Richtung. Ir gendwie mußte sie spüren, daß ich sie von dort draußen heimlich beobachtete, obwohl mein Körper den Hintergrund der Nacht ange nommen hatte. Sie sah mich und lächelte in meine Richtung. Ihr Mund war blut verschmiert, aber ich fand ihn plötzlich erregender denn je. Dann drehte sie sich wieder um, so als wäre ich völlig unwichtig, und schlug erneut ihre Zähne in den Hals ihres Opfers, das nun
schlaff und willenlos in ihren Armen lag. Von nun an war ich ihr Verbündeter. Nein, mein Wissen um ihre dunkle Seite machte mein Leben nicht angenehmer, sondern nur noch schlimmer. Mit keinem Wort gab sie mir zu verstehen, daß ir gend etwas zwischen uns anders geworden war. Unsere nächtlichen Vorstellungen waren noch immer nur angedeutete Liebesakte der Vereinigung, und unsere Blicke begegneten sich nie. Und während ich nun Abend für Abend hinter ihr und einem Frei er nachschlich, um sie bei ihrem ebenso erregenden wie abstoßen den Treiben zu beobachten, in dem Wissen, daß sie es sehr wohl wußte – und billigte! –, wurde mir immer klarer, daß es nur eine Möglichkeit für mich gab, mein Seelenheil wiederzufinden. Ich mußte fort. Ich haßte es, der Chamäleonmann zu sein, aber ich hatte keine andere Wahl, als diese Rolle jeden Tag aufs neue zu spie len. Wohin hätte ich laufen, wem mich anvertrauen sollen? Ich war verzweifelt und spielte mit dem Gedanken, mir das Leben zu nehmen – bis zu dem Tag, an dem Okara mich ansprach und ich sein Diener wurde.
* Die Schreie der Opfer erfüllten den Zug. Lilith hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Sie war selbst nicht zimperlich, was den Tod anbelangte, aber es war ein Unterschied, ob es sich um wehrlose Menschen oder um Gegner handelte. Sie spürte den Impuls, loszu stürmen und den Menschen zu Hilfe zu eilen – aber gleichzeitig wußte sie nur zu gut, daß es ihr Verderben bedeuten würde. Dort hinten im Zug mußte sich eine ganze Horde Vampire befin den – vielleicht zehn, vielleicht zwanzig. Sie hatten sich in diesen
Zug eingenistet wie die Maden. Nein, Lilith war überzeugt, daß sie nicht helfen konnte – es würde ihr sicheres Verderben sein. Sie muß te eine Möglichkeit finden, zu verschwinden. Sie lief zurück, vorbei an den Abteilen, in denen noch immer ah nungslos die Menschen saßen. Bis hierher waren die Schreie noch nicht gedrungen. Die meisten Reisenden schliefen. Nicht alle hatten einen Platz im Schlafwagen gebucht. Vielleicht würden sich die Vampire auch mit den Opfern im hinteren Teil des Zuges zufrieden geben, dachte Lilith, obwohl sie diese Hoffnung nicht wirklich heg te. Wenn die Vampire erst einmal im Blutrausch waren, würden sie hemmungslos ihrer Begierde verfallen. Wie eine Meute wilder Hun de würden sie einen nach dem anderen töten – aus purer Lust dar an. Nein, es wäre töricht, auf Schonung zu hoffen. Endlich erreichte Lilith das Abteil, in dem sie zuerst Platz genom men hatte. Es war leer. Nakazato, sein Bruder Tomimoto, die ältere Japanerin und das junge Mädchen – alle waren verschwunden. Lilith wunderte sich nur einen Augenblick darüber. Sie waren ihr nicht entgegengekommen, also mußten sie in die andere Richtung gegangen sein. Vielleicht gab es auch dort noch weitere Speise- oder Schlafwagen. Lilith öffnete das Abteil, schlüpfte hinein und zog die Tür rasch wieder hinter sich zu. Sie war zwar auch hier nicht sicher, aber zu mindest hatte sie eine kleine Galgenfrist, die ihr Zeit zum Überlegen gab. Die Fenster! Natürlich, sie konnte durch eines der Fenster flüchten! Draußen war nichts außer einer tiefen Dunkelheit zu sehen. Obwohl nicht viel Zeit vergangen war, herrschte inzwischen finstere Nacht. Der Hebel des Fensters klemmte, aber er bereitete ihr nicht viel Schwierigkeiten. Sie drückte das Fenster herunter, während die Fahrgeräusche des dahinrasenden Zuges immer lauter wurden.
Dann erstarrte Lilith abermals. Die nächtliche Schwärze schien nur eine Art von Projektion auf den Fensterscheiben zu sein. Dort drau ßen lauerte etwas ganz anderes. Es war das gleiche seltsame Gebil de, das sie daran gehindert hatte, aus der U-Bahn-Station zu flüch ten: eine merkwürdige Wand aus fließendem Glas, die aus einem Wasserfall von Millionen glitzernden, winzig kleinen Glaskörnchen zu bestehen schien. Eine tödliche Barriere. Diesmal beging Lilith nicht den Fehler, die Arme auszustrecken und die Hände in die flirrende Wand einzutauchen. Rasch schloß sie das Fenster wieder und stellte zu ihrer eigenen Verwunderung fest, daß die Wand hinter den Scheiben tatsächlich nicht mehr zu sehen war. Die Illusion war perfekt – es schien, als herrsche draußen tat sächlich nichts als Dunkelheit. Unwillkürlich fragte sie sich, ob das alte Tokio, das sie bei der Ab fahrt des Zuges so in Erstaunen versetzt hatte, auch nur eine Projek tion gewesen war. Um sie von dem abzulenken, das dort draußen wirklich lauerte … Zumindest hatte sie sich jetzt davon überzeugt, daß ihr der Flucht weg durch die Fenster verwehrt wurde. Es war eine Magie, die sie nicht begriff und die sie auch den Vampiren nicht zutraute. Eine magische Wand wäre auch völlig sinnlos gewesen, weil keiner der normalen Menschen auf die Idee gekommen wäre, sich aus dem fah renden Zug zu stürzen. Es schien Lilith, als wäre die Barriere allein dazu bestimmt, sie aufzuhalten. Aber wer konnte denn ahnen, daß sie sich im Zug aufhielt? Da spürte sie plötzlich einen weiteren Impuls. Er stammte von ei nem sich nähernden Vampir – und er kam aus dem vorderen Be reich des Zuges! Jetzt saß sie wirklich in der Falle. Welche Möglichkeiten blieben ihr? Sie konnte versuchen, sich woanders zu verstecken, oder sie konnte den Kampf aufnehmen. So oder so würde sie irgendwann
den Kürzeren ziehen. Also entschloß sie sich, zu warten und das Beste aus der Situation zu machen. Sie setzte sich hin, lehnte sich in die Polster und versuchte zu ent spannen. Dann gab sie dem Symbionten zu verstehen, daß er sich umgestalten sollte – in ein provokatives, rot-schwarzes Kostüm, das ihre Reize vollendet betonte. Es schien nervenzermürbend lange zu dauern, bis sie draußen Schritte hörte. Die Sekunden dehnten sich endlos, als hätte sich die Zeit endgültig gegen sie verschworen. Natürlich nahm auch der Vampir sie wahr. Vor dem Abteil ver stummten die Schritte, und für einige Momente waren nur die Ge räusche des dahinrasenden Zuges zu vernehmen. Lilith spürte, wie ihr langsamer Herzschlag sich unmerklich be schleunigte und ihr Blut in Wallung geriet. Ihr natürlicher Verteidi gungsinstinkt war erwacht. Ihre Eckzähne begannen wie von selbst gegen ihre Lippen zu pochen, und ihre Nägel krümmten sich un merklich. Aber sie beherrschte sich. Nein, sie durfte ihm nicht jetzt schon ihr wahres Gesicht zeigen. Der Vorhang vor den Abteiltüren wurde beiseite geschoben und enthüllte einen schwarzen Schatten. Ein bohrender Blick aus blutro ten Augen traf Lilith wie ein Messerstich. Sie erwiderte den Blick ohne Furcht und ließ ihre kleine rote Zunge über die vollen Lippen huschen, sich ihrer Ausstrahlung wohl bewußt. Der Vampir zog die Tür mit einem Ruck auf und blieb im Rahmen stehen. Die Neugierde, mit der Lilith ihn maß, war nicht einmal ge spielt. Dieser Blutsauger strahlte etwas aus, das sie faszinierte. Er war für einen Japaner ungewöhnlich groß und muskulös. Selbst un ter seinem weiten Gewand, das in der Mitte mit einem verzierten Gürtel gebunden war, war die Stärke seines gutgebauten und mus
kulösen Körpers zu erahnen. Die schwarzen Haare trug er wie ein Samurai schulterlang zu ei nem Pferdeschwanz gebunden. Seine Gesichtszüge waren trotz aller Härte von einer erstaunlichen Feinheit. Dieser Vampir strahlte eine Männlichkeit und Einfühlsamkeit aus, die Liliths Vorsatz, ihn mit ihren weiblichen Waffen zu schlagen, nur noch stärker werden ließ. In den Augen des Vampirs mischten sich Überraschung und Ver langen. Ungeniert ließ er seine Blicke über Liliths Körper wandern. Nur einen Moment lang verweilte er auf ihrem Gesicht, dann taxier te er ihren schlanken Hals und die wohlgeformten Brüste. Lilith hatte keine Mühe, ihre Rolle zu spielen. Mit begehrlichem Blick fixierte sie die Stelle, wo sich unter seinem Gewand das Zen trum seiner Männlichkeit zu regen begann. »Du bist eine Blutsschwester!« hörte sie ihn sagen. »Wo kommst du her? Was machst du hier?« »Ist das alles, was dich interessiert?« gab sie zurück, während sie sich in ihrem Sitz aufreizend rekelte. »Steht dir nicht der Sinn nach etwas … Vergnügen?« Sie schob ihr Becken leicht vor und öffnete ihre Schenkel. Der Symbiont hatte darauf verzichtet, Unterwäsche auszubilden. Der Blick auf ihr dunkles Schamhaar ließ den Vampir kirre wer den. Allzu deutlich war ihm anzusehen, womit seine Gedanken sich beschäftigten. Aber noch schien sein Instinkt ihn zu warnen. »Ich brauche deine Einladung nicht, Hure«, sagte er rauh. »Ich nehme mir, was ich möchte. Und deine verführerische Larve ist nur ein Teil dessen, was mich an dir reizt. Wer bist du?« Lilith setzte ihr geheimnisvollstes Lächeln auf. »Finde es heraus!« forderte sie ihn auf. Der Vampir trat tatsächlich näher. Weit entfernte Schreie waren durch das Rumpeln des Zuges zu hören. Die anderen Vampire ka
men allmählich näher! Lilith ließ sich ihre Sorge nicht anmerken. Unverwandt fixierte sie die Stelle, an der sich seine Männlichkeit unter dem Stoff abzeichnete. »Schau mich an!« verlangte der Vampir. Lilith hob zögernd den Blick. Als sie dem seinen begegnete, zuckte sie innerlich zusammen. Ihre Blicke waren ein Kräftemessen. Sie trafen wie blitzende Klingen aufeinander – und brachten kein Ergebnis. Keiner von ihnen ge wann einen Vorteil. Als sie sich nach einer schieren Ewigkeit wieder voneinander lösten, war keiner von beiden mit dem Ergebnis zufrie den. Trotzdem spielte Lilith ihre Rolle weiter. »Nun? Bist du jetzt zufrieden?« fragte sie. »Habe ich dein Mißtrau en zerstreuen können?« Sie spürte deutlich, daß dies nicht der Fall war. Die nächsten Wor te ihres Gegenübers bestätigten es. »Du kommst mit mir!« befahl er – nicht ohne Bedauern in der Stimme. Aber das Mißtrauen war stärker als seine Gier. »Die Sippe soll entscheiden, was mit dir geschieht.« Er bleckte die Zähne. Lilith sah, daß sich seine Eckzähne in gewal tige, weiß blitzende Hauer verwandelt hatten. Seine Finger krümm ten sich, und Lilith konnte beobachten, wie die Nägel zu messer scharfen Krallen wuchsen. Ihr blieb keine Zeit mehr – und keine andere Möglichkeit. Sie mußte sich ihm stellen, ihn angreifen. Gleichzeitig wußte sie aber, daß sie ihn nicht töten durfte. Sein Todesimpuls würde die anderen warnen und auf ihre Fährte locken. Lilith zögerte nicht länger. Mit einem Fauchen warf sie sich dem Vampir entgegen, den Kopf gesenkt und auf seinen Unterleib ge zielt, um ihn an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen. Aber ihr Gegner war schneller, als sie gedacht hatte. Ihr Kopf traf auf keinen Widerstand. Vom eigenen Schwung getragen stürzte sie
haltlos nach vorn und prallte gegen die halb geöffnete Tür des Ab teils. Ein scharfer Schmerz blühte in ihrer Schulter auf und trieb Tränen – ein lästiger Teil ihres menschlichen Erbes – in ihre Augen. Lilith rang den Schmerz nieder. Wenn sie jetzt Schwäche zeigte, war sie verloren. Durch den Angriff hatte sie sich demaskiert. Mit einem heiseren Schrei kam sie wieder auf die Beine und schnellte herum. Sie hatte erwartet, den Vampir in der gleichen Sekunde abwehren zu müssen – aber er stand nur da und schien sich seit ihrer Attacke gar nicht bewegt zu haben. Seltsam, daß sie ihn in dieser Haltung nicht getroffen hatte. Im ersten Moment glaubte Lilith, die Zeit selbst sei eingefroren; vielleicht als Ausgleich dafür, daß sie zuvor schneller abgelaufen war als normal. Aber das stimmte nicht. Ein Schock schien den Vampir auf die Stelle zu bannen. Er starrte nach unten, auf seine Schenkel, und schüttelte fassungslos den Kopf. Worüber, konnte Lilith von ihrer Position aus nicht sehen. Egal. Ihr konnte es nur recht sein, gab es ihr doch die dringend be nötigte Zeit. Ihr Entschluß stand fest. Sie warf sich herum und wählte die Flucht. Die Richtung war klar – ihr blieb nur diese Chance: auf die anderen Vampire zu! Sie hörte die Schreie der Opfer in den anderen Abteilen. Die Blut sauger wüteten wie eine Horde wilder Hunde unter den Zuggästen. Sie hatten sich in einen kollektiven Blutrausch gesteigert, der erst wieder versiegen würde, wenn der letzte Hauch von Leben erlo schen und der letzte Blutstropfen ausgesaugt worden war. Lilith war noch keine zehn Meter weit gekommen, als hinter ihr die Tür des Abteils splitterte. Der Vampir hatte seine Überraschung
offensichtlich überwunden, und die Wut über sein Versagen machte ihn noch gefährlicher, als er ohnehin schon war. Und schneller. Mit fast raubtierhaften Sprüngen setzte er ihr nach. Lilith forcierte ihr Tempo. Nach zwei weiteren Personenwaggons erreichte sie die Schlafabteile. Mit einem Blick sah sie, daß um sie herum nur noch Tote lagen. Die Vampire hatten sie aus ihren Betten gezerrt und schrecklich zu gerichtet. Kein einziger würde sich als Dienerkreatur wieder erhe ben – die Vampire hatten ihnen allen das Genick gebrochen. Die Matratzen und Bettbezüge waren aus den Kojen herausgezerrt worden, und überall lag Handgepäck auf dem Boden herum. Lam pen hingen heruntergerissen nur noch halb in ihren Verankerungen. Gehetzt sah Lilith sich um. Deutlich spürte sie die Anwesenheit weiterer Blutsauger – und das war auch ihre einzige Chance, sich zu verbergen. Wäre sie in den vorderen Teil des Zuges gelaufen, hätte ihr Verfolger keine Schwierigkeiten gehabt, sie aufzuspüren. Aber hier, in der Nähe seiner Brüder und Schwestern, war sie ein Vampir unter vielen. Sie ließ sich zu Boden gleiten und rutschte unter eine der halb her ausgerissenen Kojen. Ein junger Mann mit zerrissener Kehle diente ihr als Sichtschutz. Sie roch seinen noch warmen, erst vor wenigen Minuten erschlafften Leib, und ihr Hunger machte sich mehr denn je bemerkbar. Aber sie beherrschte sich. Jetzt war nicht die Zeit dafür. Später würde sich gewiß eine Gelegenheit ergeben, ihren Hunger endlich zu stillen. Ihr Verfolger kam mit polternden Schritten heran. Lilith hielt den Atem an, als seine Stiefel in ihrem Blickfeld auftauchten. Er ging nun langsamer, wie ein Panther kurz vor dem Sprung. Wahrschein
lich ahnte er, daß sie sich hier irgendwo befand. Nur wußte er nicht, ob sie sich nur versteckte oder auf ihn lauerte. Vor Liliths Versteck verharrten seine Schritte für einen Moment, während Lilith innerlich gefror. Der nächste Schritt würde darüber entscheiden, ob er wußte, daß sie hier lag, oder nicht. Gleich mußte er sich bücken und … Aber dann drehte er sich plötzlich herum und schien auf etwas zu lauschen – auf etwas, das außerhalb Liliths Wahrnehmung lag. Ihre Sinne waren zu sehr auf den Vampir fixiert, als daß sie auf etwas an deres geachtet hätte. Aber nun fiel es auch ihr auf. Der Zug war viel schneller gewor den. Er schien sich in seinem Schienenbett förmlich aufzubäumen, während er immer mehr an Fahrt gewann. Lilith spürte, wie der Wagen zu schwanken begann. Die Fahrtge räusche steigerten sich zu einem ohrenbetäubenden, kreischenden Crescendo. Bei jeder neuen Schwelle vollführte der Wagen einen re gelrechten Sprung, und der Boden unter Liliths Körper vibrierte fast schmerzhaft. Aber als würde ein durchgedrehter Heizer pausenlos Kohlen in einen ohnehin schon glühenden Kessel schaufeln und ein ebenso dem Wahnsinn verfallener Zugführer ihn zu noch mehr Hast antrei ben, steigerte der Zug weiter seine Geschwindigkeit. Lilith hörte den Vampir fluchen, dann verschwanden seine Stiefel aus ihrem Blickfeld, als er mit polternden Schritten in die Richtung lief, aus der er gekommen war. Zumindest diese Gefahr schien fürs erste gebannt. Aber Lilith kam nicht dazu, sich darüber zu freuen. Die wahnsinnige Geschwindig keit des Zuges ließ ihren Körper erbeben. Lose Gegenstände und selbst die Leichen hüpften im Rhythmus der Schienenstränge. Als wären die Toten zum Leben erwacht oder hingen an unsichtbaren
Fäden, die ein verrückter Puppenspieler auf groteske Weise bedien te, um einen abartigen Totentanz zu zelebrieren. Lilith kroch unter der Schlafkoje hervor. Rasch vergewisserte sie sich, daß der Vampir wirklich verschwunden war. Der Zug schwankte bedenklich hin und her, während sie sich zum nächstlie genden Fenster vorkämpfte. Sie wußte nicht, ob das, was sie dort durch die Scheiben sah, Wirk lichkeit oder nur ein weiteres Trugbild war, hinter dem die Wand aus flirrendem Glas lauerte: Im Schein der aufgehenden Sonne erblickte sie eine breite Schlucht, die der Zug gerade überquerte. Tief unter sich gewahrte sie einen reißenden Fluß, der von hier oben aus wie ein winziger Bach wirkte. Die Brücke, auf der der Zug dahinraste, war so schmal, daß sie vom Fenster aus direkt in die Tiefe blicken konnte. Das Band der Brücke verlief in einer leichten Kurve – und plötz lich erkannte Lilith mit grausamer Gewißheit, was geschehen wür de. Die Geschwindigkeit des Zuges war viel zu hoch, als daß er die se Biegung hätte meistern können … Und Lilith konnte nichts unternehmen. Zum bloßen Zuschauen verdammt stand sie am Fenster und sah hinaus, während sich ihre Fingernägel so fest in das Holz eines Haltegriffes bohrten, daß Blut aus dem Nagelbett sickerte. Sie wünschte sich, das Verderben nicht mitansehen zu müssen, aber sie konnte den Blick nicht wenden. Der Zug schwankte immer stärker. Die Schienen, der Belastung nicht gewachsen, lösten sich aus den Verankerungen. Und dann ging alles ganz schnell. Mit einem fast wütend klingen den Zischen und einem letzten gewaltigen Ruck brach der Zug aus den Schienen und stürzte in die Schlucht. Für Sekunden war die Schwerkraft aufgehoben, als die Wagen Hunderte Meter tief hinabstürzten. Himmel und Felswände zogen
in schneller Folge an den Fenstern vorbei. Irgendwo klang das Krei schen von Metall auf. Holz splitterte. Dann war den Boden der Schlucht heran. Lilith glaubte noch zu spüren, wie ihr Körper in loderndes Feuer getaucht, verbrannt, zerfetzt und über den Gang verteilt wurde, wie jeder einzelne Knochen in tausend Splitter zu zerbrechen schien. Eine nie gekannte Dunkelheit nahm sie auf, blitzartig erhellt von der gewaltigen Explosion, als der Zug aufprallte und in einem alles aus löschenden Feuerball verging. Dann kam das Nichts über Lilith. Das Verlöschen. Der Tod …
* Vergangenheit Es war sechs Uhr morgens. Auf dem Bahnhof war es bitterkalt. Ich stand neben der Kiste, die wie ein Sarg aussah und deren Inhalt mir nicht bekannt war. Aber wie in allen Dingen, so vertraute ich mei nem Herrn, Kakuzo Okara, auch diesmal bedingungslos. Der Kyoto-Express stand abfahrbereit auf dem Bahnhof. Er erin nerte mich an einen fauchenden Drachen, der beim geringsten An laß Feuer und Rauch spucken würde. Auch seine Länge, mit all den Personen-, Schlaf-, Speise- und Gepäckwagen, hatte etwas Lindwur martiges an sich. Es war das erstemal, daß ich überhaupt mit so einem Ungetüm rei sen sollte. Allein wäre ich nie auf die Idee gekommen, aber wie ich schon sagte: Ich vertraute Okara, meinem Meister, auch in dieser
Hinsicht. Er würde schon wissen, warum er nicht mit einer Kutsche fuhr, sondern sich diesem neumodischen Monster anvertraute. Ich wartete bereits seit einer Stunde auf ihn. In seinem Auftrag hatte ich die Kiste beim Bahnhofsspediteur abgeholt und mit Hilfe dreier herumlungernder Gepäckträger zum Bahnsteig gehievt. Sie hatten die Kiste gleich in den Gepäckwagen tragen wollen, aber ich hatte sie davon abgehalten. Mein Auftrag lautete, mit der Kiste auf dem Bahnsteig auf Okara zu warten. Jede weitere Eigenmächtigkeit hätte ich als respektlos empfunden. Okara gebührte meine lebenslange Dankbarkeit, seitdem er mich vom Chamäleonmann zu einem – seinem – Schatten erkoren hatte. Es war nun fünf Jahre her, seitdem ich in seine Dienste getreten war – und wieviel war seitdem geschehen! Vielleicht sollte ich zunächst einmal von Okara und nicht von mir sprechen. Wie er aussah, ein glatzköpfiger Riese, beschrieb ich schon. Aber sein Äußeres, das erfuhr ich bald, war nur eine Tarnung für sein vollkommenes Innere. Wie überhaupt vieles an ihm selbst und an den Taten, die er vollbrachte, scheinbar Widersprüchliches vereinbarte. Ja, wenn man so wollte, so war Okara ein Meister des Widersprüchlichen. Daneben war er ein Meister dessen, was die Unwissenden »das Okkulte« nennen. Zusammen mit seinem fernöstlichen Wissen, das er mit all den verborgenen Feinheiten seinen Zuhörern immer wie der aufs neue vermittelte, war er eine faszinierende Persönlichkeit. Er hatte mir erzählt, daß er früher an der Kaiserlichen Universität von Tokio studiert und später auch gelehrt hatte, aber das weltliche Wissen war ihm bald zu banal geworden. Nebenher studierte er bei einem chinesischen Schwarzmagier die geheimen Lehren des Ok kulten. Seinem Fleiß und seiner Begabung hatte er es zu verdanken,
daß er Sekretär im Außenhandelsministerium wurde und in dieser Funktion die ganze westliche Welt kennenlernte. Und von jeder sei ner Reisen kam er, gerade was das verborgene Wissen anging, reifer und weiser zurück als zuvor. Schließlich verlegte sich Okara ganz auf seine okkulte Begabung, verschmähte aber niemals die weltli chen Genüsse, so daß er den Balanceakt einging und sein Wissen denjenigen zur Verfügung stellte, die dafür zu zahlen bereit waren. Okara nahm mich in seine Lehre. Am Anfang hatte ich die Hoff nung, daß er vielleicht ein Mittel kannte, das mich von meiner selt samen Veranlagung befreien würde, aber das Gegenteil war der Fall. Okara redete mir nicht nur aus, eine Mißgeburt zu sein, er för derte sogar noch mein Talent der Verwandlung und Anpassung. »Dein Körper ist ein Wunder«, sprach er. »Ein Wunder, das wir zu ehren und zu fördern haben. Vor allen Dingen darf deine Fähigkeit nicht auf den Körper beschränkt bleiben. Selbst wenn du dich per fekt deiner Umgebung anpaßt – auch die schwächsten Augen haben noch Hände, von anderen Sinnen ganz zu schweigen. Du mußt ler nen, auch deinen Geist der Umgebung anzupassen. Dann erst wird dich niemand mehr erspüren. Wenn du auf einer Wiese stehst, dann sei ein Stück von ihr – mit jeder einzelnen Faser deines Körpers und deiner Sinne.« Was Okara vorschwebte, war die Perfektion der Verwandlung. Ein Menschheitstraum, wenn man so will: Okara vollführte an mir die Kunst, sich unsichtbar zu machen. Natürlich verstand er es auch in diesem Punkte, seine okkulten Neigungen mit den praktischen zu vereinen: Ich war sein Schatten und als solcher zu vielen Einsätzen, wo besondere Fähigkeiten ge fragt waren, geradezu prädestiniert. Beispielsweise wenn es darum ging, geheime Gespräche zu belauschen oder Verschwörungen auf zudecken, war ich der perfekte Diener für ihn. Aber ich fühlte mich buchstäblich wohl in meiner Haut. Er ver
langte nie von mir, mich vor anderen Leuten zu präsentieren, im Ge genteil, er förderte jeden Tag mehr mein Talent, im Verborgenen zu leben. Gleichzeitig jedoch brachte ich es unter seiner Anleitung tat sächlich fertig, daß sich mein Körper nicht verwandelte, wenn ich es nicht wollte. Aber es war merkwürdig: Das, was ich mir immer ge wünscht hatte, war eher nebensächlich geworden. Ich wollte mich nicht mehr in der Welt der Menschen wie jeder andere bewegen; ich liebte es, unter ihnen im Verborgenen zu leben. Als ich an jenem frühen Abend auf dem Bahnhof stand, hatte mei ne Haut die Farbe eines normalen Menschen angenommen, aber ich spürte, daß es mir immer schwerer fiel, diese Tarnung – oder viel mehr Anti-Tarnung – aufrechtzuerhalten, je länger ich auf Okara wartete. Vielleicht hätte ich doch die Kiste in den Gepäckwagen tra gen lassen und auf unsichtbare Weise schon den Zug betreten sol len. Wo Okara nur so lange blieb! Ich schaute nervös auf die Bahnhof suhr und registrierte, daß der Zug in zehn Minuten abfahren würde. Aber so war es immer, solange ich an meine Zeit mit meinem Meister zurückdachte: Seine Wege waren für mich labyrinthische Rätsel, und seine Gedankengänge waren selten nachvollziehbar für jemanden wie mich, der nie eine Schule besucht hatte. Aber endlich sah ich ihn kommen. Obwohl der Zug gleich abfah ren würde, hatte er es nicht nötig, seine Schritte zu beschleunigen. Würdevoll kam er näher, eine massige Gestalt in wehendem Um hang, der seine Körperfülle noch mehr betonte. Hinter ihm folgte ein Gepäckträger, der unter der Last der Koffer fast zusammen brach. »Ah, da bist du ja schon, mein lieber Schatten!« begrüßte er mich mit seinem lauten, aber dennoch wohltönenden Organ. »Wie ich sehe, ist alles glatt gegangen. Du hast unser wertvolles Gut hierher gebracht.«
Ich nickte ihm zur Begrüßung ergeben zu. »Soll ich es in den Ge päckwagen tragen, Meister? Wie Ihr seht, wird der Zug bald abfah ren.« Okara nickte. »Ja, ich glaube, dort wird es gut aufgehoben sein – zusammen mit den anderen Gepäckstücken …« Er winkte den Ge päckträger heran. »Schaffen Sie dies alles in den Gepäckwagen«, be fahl er, »… und wir, mein lieber Schatten, werden uns jetzt in unser Abteil begeben. Hast du die Karten?« Ich nickte. Ich hatte mich bereits bei meiner Ankunft darum ge kümmert, die Fahrkarten nach Kyoto zu lösen. »Soll ich nicht lieber selbst dafür sorgen, daß die Kiste wohlbehal ten verstaut wird?« fragte ich ihn. »Außerdem ist sie für den Träger allein zu schwer.« Okara nickte. An diesem Morgen schien er mir zerstreuter als sonst. »Ja, so ist es vielleicht noch besser.« Ich hievte die Kiste an einer Seite hoch und zog sie hinter mir her. Sie war selbst für mich schwer wie Blei. Ich will mich nicht brüsten, aber ich verfüge über größere Körperkräfte, als man meiner hoch aufgeschossenen, ausgemergelt erscheinenden Gestalt zutrauen mag. Die Kiste, die zuvor von drei Gepäckträgern nur mit Mühe hierher transportiert worden war, konnte ich auch allein tragen. Ich hatte es nur deshalb zuvor nicht getan, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Mehr denn je hatte ich das Gefühl, daß die Kiste einem Sarg ähnli cher war als einem Gepäckbehälter. Sie war mannsgroß und aus ein fachem Pinienholz roh zusammengezimmert, der Deckel mit Eisen ketten und zwei riesigen Schlössern gesichert, so daß selbst ein ge schickter Schlosser Schwierigkeiten gehabt hätte, seine Neugier zu befriedigen. Einen Moment lang war mir Okaras erste Anweisung, mit ihm das
Abteil zu inspizieren und die Kiste unbewacht in den Gepäckwagen schaffen zu lassen, allzu sorglos vorgekommen. Aber wie immer hatte ich nicht richtig nachgedacht. Die Kiste würde niemand so ein fach stehlen können – eben weil sie viel zu schwer war. Und zu öff nen war sie nur mit den Schlüsseln, die Okara bei sich trug. Als ich den Gepäckwagen erreichte, war es bereits höchste Zeit. Ich sah den Zugbegleiter hastig winken, während ich mich abmühte, die Kiste die schmalen Stufen zum Gepäckwagen hinaufzuschieben. Dann hatte ich es geschafft. Ich sprang hinterher und schlug die Tür hinter mir zu, Draußen er klang ein gellender Pfiff, und ich spürte, wie sich der Zug mit einem Ruck langsam in Bewegung setzte. Dann wandte ich mich wieder der Kiste zu und hievte sie an einen freien Platz. Im Gepäckwagen war es klaustrophobisch eng, es war kaum mehr Platz vorhanden. Dann hatte ich es geschafft. Ich starrte sinnierend auf die Kiste, und einen Moment lang kam tatsächlich der frevelhafte Gedanke in mir hoch, ihren Inhalt zu erforschen. Natürlich hätte ich nie gewagt, mich an den Schlössern zu vergreifen, aber ich kniete mich auf die Kiste nieder, senkte meinen Kopf und preßte mein Ohr gegen den hölzernen Deckel. Ich glaubte ein Schnaufen zu hören, und ein rhythmisches, po chendes Geräusch, aber ich war mir nicht sicher, ob es nicht doch meine eigenen Atemzüge und mein eigener Herzschlag waren, die ich da vernahm. Es war merkwürdig, ich erkannte mich selbst kaum wieder, aber ich verspürte, etwas, von dem ich seit Jahren befreit zu sein glaubte: Neugier. Es hatte die gleiche starke Anziehungskraft wie damals, als ich das erstemal Mitsou und ihrem Freier hinterher geschlichen war, um zu sehen, was die beiden treiben würden. Den gleichen Zwang spürte ich angesichts dieser Kiste. Ich mußte einfach wissen, was in ihr verborgen lag. Zugleich wurde mir die Tragweite und Ungeheuerlichkeit meiner Neugierde bewußt. Es
käme einem Verrat an meinem Meister gleich, wenn ich ohne sein Wissen und seine Absicht eigenmächtig handelte. Augenblicklich löste ich mein Ohr wieder vom Holz und setzte mich auf. Nein, ich durfte nicht auf diese Weise handeln. Vielleicht würde mir Okara ja von sich aus erzählen, was es mit dieser Kiste auf sich hatte. Ich erhob mich, verspürte aber nach wie vor diese fast unbezwing bare Neugier. Es war, als würde mich etwas mit der Kiste verbinden – ein dunkles Geheimnis, das ich nur zu enträtseln imstande wäre, wenn ich die Schlösser brach und den Deckel lüftete. Es war wie Magie. Es kostete mich große Anstrengung, mich von der Kiste fort zu be wegen. Steckte etwa Okara dahinter? Hatte er vielleicht diese Falle der Neugier geschaffen, um mich auf die Probe zu stellen? Mir wurde bewußt, daß ich noch immer die weiße Haut eines ganz normalen Menschen trug. Augenblicklich ließ ich diese Maske fallen, und mein Körper verschmolz mit der Umgebung, so daß selbst ein heimlicher Beobachter nur noch mein Gewand wahrneh men konnte. Zugleich bündelte ich meine Sinne zu einem winzigen, kaum mehr wahrnehmbaren Punkt und spürte, wie mein Herz schlag und mein Atem fast aussetzten. In diesem Zustand fühlte ich mich seltsam leicht und euphorisch. Es war ein ungeheures Machtgefühl, das mich durchströmte. Nicht die Macht über die Menschen, sondern über die Realität an sich, die ich auf diese Weise überlistete. Ich fühlte mich wie mein eigener Gott. Die Verwandlung bewirkte genau das, was ich mir erhofft hatte: Die Magie der Neugierde verpuffte plötzlich. Wenn es Magie gewe sen war, so hatte sie nun keinen Angriffspunkt mehr. Und wenn es nur meine natürliche Neugier gewesen war, so war auch diese ge bannt.
Ich warf der Kiste noch einen letzten Blick zu, diesmal aber einen rational abschätzenden, taxierenden Blick. Nein, ich war nicht mehr neugierig – aber dennoch hätte ich gern gewußt, was in ihr lag. Und in der Klarheit meines Zustandes erkannte ich, daß ich es erfahren würde. So oder so. Dann legte ich meine Kleidung ab, die als einzige meinen jetzigen Zustand verraten konnte, und verschnürte sie zu einem kleinen Bündel, das ich, dicht an den Körper gepreßt, leicht vor Blicken ver bergen konnte. Meine Vorsicht erwies sich als richtig. Als ich die Verbindungstür zum nächsten Wagen öffnete, sah ich, daß ich in der engen Kabine der Zugbegleiter gelandet war. Einer der Männer blickte an mir vor bei und runzelte die Stirn. Offensichtlich wunderte er sich darüber, daß die Tür von selbst aufgegangen war. Ich beeilte mich, an ihm vorbeizuhuschen und die nächsten Abteile zu durchstreifen. Es konnte nicht schaden, sich ein wenig umzusehen. Okara liebte es, wenn ich ihm von unserer Umgebung stets eine genaue Beschrei bung gab. Sagte ich schon, daß Okara blind war?
* Die nächsten Wagen waren der zweiten Klasse vorbehalten. Die Rei senden drückten sich auf schmalen Sitzbänken, während sich das Gepäck in den Gittern über ihren Köpfen bedrohlich stapelte. Der Gepäckwagen war nur für die Besserbetuchten bestimmt. Ich kämpfte mich durch die Enge, während ich mich mehr denn je über die Eigenschaft meiner Landsleute wunderte, auch die
schlimmsten Zustände mit stoischer Gelassenheit zu ertragen. Die Waggons der zweiten Klasse erinnerten mich eher an vollgepferchte Schweineställe, aber die Leute saßen dicht zusammengepreßt und klagten nicht im geringsten darüber. Insgesamt zählte ich drei Wagen in dieser Klasse, die alle vollbe setzt waren. Vor der Verbindungstür zum nächsten Waggon hatte sich ein Schaffner postiert. Mich erinnerte er mit seinem grimmigen Gesichtsausdruck eher an einen Wächter. Wahrscheinlich übte er diese Funktion auch aus. Ich huschte an ihm vorbei und bemerkte eine leichte Irritation in seinen Gesichtszügen, aber er registrierte mich nicht. Dann öffnete ich die Tür hinter ihm und fand mich auf einer zugigen Plattform wieder, von der aus eine weitere Tür in die Schlafabteile der ersten Klasse führte. Um diese Uhrzeit, am späten Nachmittag, lagen die meisten der Reisenden, die sich eine zusätzliche Schlafkoje oder gar ein ganzes Abteil leisten konnten, noch nicht in ihren Betten. Die meisten der Kojen waren verlassen und leer. Aber nicht alle. Okara hatte mich gelehrt, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu erspüren, das Nicht-Alltägliche im Alltäglichen, die Abweichung von der Norm. Ich hatte unter seiner Anleitung ein bemerkenswer tes Gespür für die Wirklichkeit, die hinter irgendwelchen Fassaden lauerte, entwickelt. Und deshalb fiel es mir auf, daß eine nicht unbe trächtliche Anzahl der Schlafkojen schon zu dieser Nachmittags stunde besetzt war. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich meiner Entdeckung eine Bedeutung beimessen oder ihr auf den Grund gehen sollte, aber ich entschied mich dagegen. Es war nicht meine Art, auf eigene Faust zu handeln, ohne Okaras schützende Hand über mir zu wissen. Also ging ich weiter und gelangte nach einer Weile in den Speisewagen. Der Unterschied zwischen den hier Speisenden und den Menschen
in den hinteren Waggons war beträchtlich. Hier waren alle elegant gekleidet und unterhielten sich auf eine gebildet klingende Weise. Auch an ihnen huschte ich vorbei, bis ich schließlich die ErsteKlasse-Wagen erreichte. Im Vorübergehen spähte ich in einige der Abteile hinein, bis ich schließlich Okara fand. Er hob kurz den Kopf, als ich eintrat. »Ah, da bist du ja«, sagte er, leicht tadelnd. »Ich habe mich schon gefragt, wo du so lange bleibst.« Trotz seiner Blindheit gehörte er zu den wenigen Menschen, die meine Anwesenheit sofort spürten, auch wenn ich meine Gedanken noch so sehr nach innen kehrte. Es hatte mich immer gewundert, was der blinde Okara überhaupt damals in der Vorstellung, in der ich als Chamäleonmann aufgetreten war, gesucht hatte. Und wie er die Kunst meiner Verwandlung überhaupt wahrnehmen konnte, um sie entsprechend würdigen zu können. Er hatte mir nie eine Antwort darauf gegeben. »Verzeiht, Meister«, sagte ich, »aber der Zug ist lang, und ich hielt es für klug, mich ausgiebig umzusehen.« Ich erzählte ihm kurz die Anordnung der Wagen und kam auch darauf zu sprechen, daß in ei nem der Schlafwagen ungewöhnlich viele Kojen bereits belegt wa ren. Okara hatte mich gelehrt, auch scheinbar unwichtige Details zu beachten und sie ihm, ungeachtet meiner eigenen Einschätzung ih rer Wichtigkeit, wiederzugeben. Welche Schlüsse er aus meinen Be obachtungen zog, hatte mich stets aufs neue verblüfft. »Gab es sonst noch etwas, was dich aufgehalten hat?« fragte er lä chelnd. Ich wußte, auf was er anspielte, und daß ich ihm wie immer nichts vormachen konnte. »Der Inhalt der Kiste war dabei, mein Interesse zu erregen«, gab ich zu. »Ah ja«, lächelte Okara. »Sehr geschickt, wie du dich ausdrückst.
Aber sagen wir es etwas deutlicher: Du warst neugierig, welchen In halt die Kiste birgt, und hättest gerne nachgeschaut.« »So ist es, Meister.« »Ich werde es nicht vor dir verborgen halten, glaube mir, mein lie ber Schatten, aber ich halte es für noch zu früh, mit dir darüber zu sprechen …« Ich kleidete mich wieder an und setzte mich ihm gegenüber. Drau ßen vor dem Fenster tauchte eine orangefarbene Sonne die Vororte von Tokio in ein geisterhaftes Licht. Nicht mehr lange, und sie wür de untergehen. Der eintönige Rhythmus des Zuges würde mich wohl bald einschlafen lassen, und morgen früh würden wir Kyoto erreichen. Vielleicht würde ich dann erfahren, was in der Kiste war, wenngleich meine Neugier inzwischen tatsächlich abgeflaut war. Ich wurde in meinen Gedanken gestört, als die Tür zum Abteil aufgerissen wurde und ein Schaffner hereinkam. Mit ausgestreckter Hand verlangte er die Fahrkarten zu sehen. Okara reichte sie ihm, damit der Schaffner sie lochen konnte. Ob wohl ich bei seinem Eintreten automatisch eine normale Hautfarbe angenommen hatte, schien er einen Moment lang verdutzt darüber, daß mein Meister ihm zwei Karten reichte. Er spähte in unser Abteil und nahm meine Person erst nach einiger Verzögerung wahr. Es war tatsächlich so, daß ich, auch wenn ich sichtbar war, in meiner Unscheinbarkeit kaum bemerkt wurde. »Ach so, Sie sind ja zu zweit«, sagte der Schaffner. »Ja, die Karten sind in Ordnung. Dann wünsche ich Ihnen noch eine schöne Reise bis Kyoto.« Er wollte sich bereits wieder abwenden, als ihn ein Ruf Okaras zu rückhielt. »Ziemlich voll, der Zug, nicht wahr?« Der Schaffner nickte. »Ja, ich habe viel zu tun und muß gleich wei ter …« Er schaute auf Okaras Hand, in der plötzlich ein Geldschein
lag. Mit einem automatischen Reflex griff der Schaffner danach und steckte den Schein mit wohlgeübter Geste in seine Uniformtasche. »Ah – wenn ich noch etwas für Sie tun kann?« fragte er dienstbeflis sen. »Mein Diener und ich haben leider kein Schlafabteil mehr bekom men«, sagte Okara. »Es hieß, daß alles besetzt sei, doch ich bin ein alter Mann, der der Ruhe und einiger Bequemlichkeit bedarf, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Der Schaffner nickte. Verschwörerisch hielt er den Zeigefinger vor den Mund und schloß die Abteiltür, damit wir unter uns waren. »Ich habe großes Verständnis für Ihren Wunsch und würde ihn auch gern erfüllen«, erklärte er, »aber unsere Schlafkojen sind dies mal ungewöhnlich begehrt. Tatsächlich sind sämtliche Liegeplätze ausgebucht.« Seltsam, augenblicklich mußte ich wieder an meine Entdeckung denken, die ich bei meinem Durchgang durch die Schlafwagen ge macht hatte. »Da kann man natürlich nichts machen«, sagte Okara. »Aber viel leicht wird ja doch noch ein Platz frei?« »Ich fürchte, nicht. Wie Sie wissen, halten wir vor Kyoto nicht mehr, also wird auch kein Bett frei. Viele der Reisenden steigen in Kyoto aus, aber auch Sie reisen ja nur bis dahin.« Ich sah, wie Okara ihm trotz des negativen Bescheids einen weite ren Schein zusteckte. »Also gut, da ist wohl nichts zu machen«, sagte er. »Trotzdem hat ein Punkt Ihrer Ausführungen meine angeborene Neugier geweckt: Warum sind sämtliche Schlafkojen ausgebucht?« Der Schaffner beugte sich zu Okara hinunter und senkte seine Stimme noch mehr. »Sie haben da wirklich einen interessanten Punkt angeschnitten«,
sagte er. »Also, wenn Sie mich fragen, ich bin froh, daß ich meinen Dienst nicht im Schlafwagen verrichten muß!« »So? Aber warum denn?« hakte Okara nach. »Ich weiß nur soviel, daß irgendwo hinter Narita der Zug außer planmäßig angehalten hat. Ich habe sofort nach dem Rechten sehen wollen, aber meine Kollegen haben mich beruhigt. Sie müssen wis sen, daß ich erst seit einem Monat meinen Dienst verrichte und über manche Gepflogenheiten noch nicht im Bilde bin …« Zumindest eine Gepflogenheit hat er sich schnell zu eigen ge macht, dachte ich in Gedanken an das Geld, das er mit routinierter Geschicklichkeit angenommen hatte. Aber ich sagte natürlich nichts und hörte dem Schaffner weiter zu. »Was haben Sie gesehen?« bohrte Okara. Seine Frage klang beina he beiläufig, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß ihn die Antwort des Schaffners aufs äußerste interessierte. »Ungefähr zwanzig Leute betraten den Zug, vorwiegend Männer, aber es waren auch Frauen unter ihnen. Sie kamen mir alle merk würdig bleich vor, wie gepudert, wenn Sie verstehen, was ich mei ne. Es war eigentümlich, wie schnell sie in den Zug huschten. Da nach sind sie sofort in ihre Schlafabteile verschwunden. Sehr myste riös, das Ganze …« »Haben Sie versucht, etwas aus Ihren Kollegen herauszubekom men?« fragte Okara. »Natürlich. Aber auch das war seltsam: Als ich den Schlafwagen schaffner auf die merkwürdigen Reisenden ansprach, tat er so, als wüßte er gar nichts von ihnen. Als hätte er jede Erinnerung an sie verloren …« »Nun, Ihre Entdeckung ist sehr interessant«, sagte Okara. »Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft. Halten Sie weiterhin Ihre Ohren of fen, und wenn Ihnen etwas Außergewöhnliches auffällt, dann teilen
Sie es mir mit. Es lohnt sich!« Der Schaffner sah ihn dankbar an. Wahrscheinlich war er froh, überhaupt mit jemandem darüber gesprochen zu haben, der ihm so verständnisvoll zuhörte. Die Aussicht auf weitere Einnahmen wür de seinen Willen zur Zusammenarbeit sicherlich noch verstärken. »Ich werde Augen und Ohren offenhalten«, versprach er und ver abschiedete sich von uns. Nachdem er gegangen war, sah mich Okara mit seinen blinden Augen an. »Nun, mein Schatten, was hältst du davon?« Ich überlegte einen Moment, dann antwortete ich mit Bedacht: »Es klingt sehr ominös. Verratet Ihr mir, warum Ihr ein solches Interesse daran habt? War es wirklich nur Euer Wunsch nach einer bequemen Schlafstätte?« Er lächelte schlau. »Aber nein. Doch als du mir von den belegten Kojen berichtet hast, vermutete ich gleich, daß ein Geheimnis dahin tersteckt. Jetzt habe ich Gewißheit.« Seine Miene wurde ernst. »Was ist es?« fragte ich atemlos. »Vampire«, antwortete er nur.
* Ich zuckte zusammen. Seitdem ich den Zirkus verlassen hatte, war ich bemüht gewesen zu verdrängen, was ich über Mitsou herausge funden hatte. Tatsächlich war es mir mehr oder weniger gelungen. Bis jetzt. Mitsou hatte mir vor Augen geführt, daß Vampire völlig anders
waren, als wir sie uns nach den überlieferten Legenden vorstellten. Sie waren keine unansehnlichen, fürchterlich anzuschauenden To ten, die nachts aus ihren Gräbern krochen. Sie bewegten sich unerkannt unter uns. Und sie tranken unser Blut. »Vampire?« fragte ich dennoch. »Wie kommt Ihr darauf, Meister?« »Du weißt sehr gut, daß es sie gibt«, erinnerte er mich an die düs terste Zeit meines Lebens. »Du selbst hast mir von Mitsou erzählt, und seit damals habe ich immer wieder Anzeichen dafür entdeckt, daß die Vampire nicht nur dem Volksglauben entspringen. Was weißt du über sie?« Ich dachte kurz darüber nach, was ich aus Berichten und Legen den wußte. »Es sind lebende Tote, unsterbliche Geschöpfe der Nacht …« »Nur der Nacht?« unterbrach mich Okara. »Erinnere dich an Mit sou, und du weißt über sie Bescheid. Nein, Vampire können durch aus auch am Tage umherwandeln. Allerdings schwächt sie das Son nenlicht, und sie ziehen es vor, im Dunkeln zu agieren. Sie schlafen in Särgen, die mit ihrer Heimaterde gefüllt sind, und sie können ihre Gestalt verändern – sich als Fledermaus durch die nächtlichen Wol ken schwingen oder als Wolf die menschliche Beute reißen.« »Woher habt Ihr Euer Wissen, Meister?« fragte ich verwundert. Er zögerte einen Moment, ob er mir die Wahrheit einschenken sollte, dann aber antwortete er: »Mein Wissen liegt in der Kiste ver borgen, die du im Gepäckraum deponiert hast und die wir im Auf trag einer hochgestellten Person sicher nach Kyoto zu transportieren haben. Aber ich fürchte, wir haben unsere Gegner unterschätzt. Wenn es stimmt, was der Schaffner erzählt hat …« Er schwieg be deutungsvoll, während ich mir noch immer keinen rechten Reim auf alles machen konnte.
»Meister«, fragte ich, »wenn es stimmt, daß diese Vampire an dem Inhalt der Kiste interessiert sind, dann frage ich mich, ob es klug war, diese im Gepäckwagen zu deponieren, ohne daß einer von uns sie bewacht.« »Genau darüber mache ich mir auch schon die ganze Zeit Gedan ken«, sagte Okara düster. Plötzlich kam mir ein Einfall. »Ich werde zurückgehen und die Kiste bewachen. Außerdem könnte ich herausfinden, was es mit den Leuten in den Kojen auf sich hat …« Okara schien kurz zu überlegen. »Nein«, sagte er dann. »Es ist viel zu gefährlich. Wir werden beide gehen.« Mein Meister erhob sich. Er war zwar blind, aber er schien andere Sinne zur Verfügung zu haben als normale Menschen. Mit fast schlafwandlerischer Sicherheit öffnete er die Tür und ging voran, hinaus in den Gang. Draußen war niemand zu sehen. Die rötlichen Lampions, die den Gang beleuchteten, schaukelten leicht im Rhythmus des Zuges und schufen eine seltsam unwirkliche Atmosphäre. Ich streifte die Klei der ab und nahm wieder meine Tarnfärbung an, während ich Okara folgte. Es waren nun mehr Abteile als zuvor leer, weil sich etliche Reisen de in den Speisewagen begeben oder bereits ihre Schlafkojen aufge sucht hatten. Der Gedanke, selbst in einer zu liegen, während neben mir ein Vampir nur darauf lauerte, daß ich einschlafen würde, be scherte mir eine Gänsehaut. Der Anblick der Reisenden im Speisewagen, die ihre Mahlzeit zu sich nahmen, ließ auch mich daran denken, daß ich seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Aber es gab jetzt Wichtigeres zu tun … Wir erreichten den ersten Schlafwagen. Hier war Geschäftigkeit
eingekehrt, da sich einige Reisende zur Ruhe begaben. Ich schnapp te ein paar Gesprächsfetzen auf, aber viel mehr galt mein Augen merk den vielen Schlafkabinen, deren Vorhänge wie bei meinem ersten Durchgang zugegezogen waren und hinter denen eine fast lauernde Stille lag. Was würde passieren, wenn ich einen der Vor hänge einfach beiseite schob? Einen Moment lang spielte ich tatsäch lich mit dem Gedanken, aber ich glaubte nicht, daß er die Billigung meines Meisters gefunden hätte. Also folgte ich ihm weiter. Er selbst schien es sehr eilig zu haben, die Schlafwagen hinter sich zu lassen. Bevor wir die Plattform er reichten, die zu den Zweite-Klasse-Wagen führte, schaute ich noch einmal zurück. Der Anblick ließ mein Herz einen Schlag lang aussetzen: Aus einer der Schlafkojen blickte mir, halb verborgen von einem beiseitege schobenen Vorhang, ein kalkweißes Antlitz entgegen, in dessen Zü gen sich eine gnadenlose Grausamkeit spiegelte. Einen Moment lang glaubte ich, der Blick aus den kalten, nachtschwarzen Pupillen gelte mir, und ein eiskalter Schecken durchfuhr mich. Aber dann glitt der Blick der grausamen Kreatur weiter, ohne mich zu fixieren. Trotzdem schlug mir das Herz bis zum Halse. Mehr denn je glaubte ich, daß Okara recht hatte mit seiner Vermu tung: Die Wesen, die in den Schlafkojen lagen, mußten Vampire sein! Ich beeilte mich, meinem Meister zu folgen. Kurz erzählte ich ihm von meiner neuen Beobachtung, was ihn veranlaßte, nur noch schneller vorwärtszustürmen. Die Frage, die auch mich bewegte, war: Wann würden die Vampi re über uns herfallen? Ich war nicht so naiv zu glauben, daß sie nur zu ihrer Belustigung diese Zugreise unternahmen. Wieder mußte ich an die Vergangenheit denken, an Mitsou und was sie mit den ah
nungslosen Männern angestellt hatte. Würde das gleiche Schicksal uns drohen? Wir hasteten an den Reisenden in den Zweite-Klasse-Wagen vor bei. Niemand sah mich, während meinem Meister erstaunte Blicke und auch der eine oder andere Fluch hinterhergeschleudert wurden, wenn er sich zu ungestüm den Weg bahnte. Schließlich erreichten wir das Aufenthaltsabteil der Zugbegleiter. Ein hünenhafter Uniformierter stellte sich uns in den Weg. »Halt!« befahl er meinem Meister. »Hier geht es nicht weiter. Dort hinten ist nur noch der Gepäckwagen.« Okara knurrte gefährlich. Ich glaubte schon, er wollte sich auf den Zugbegleiter stürzen, aber im letzten Moment bekam er sich wieder unter Kontrolle. »Ich weiß, daß es hier zum Gepäckwagen geht«, antwortete er mit mühsamer Geduld. »Eben deswegen möchte ich ja auch dort hin!« »Das ist während der Fahrt verboten«, sagte der Zugbegleiter stur. »Sie könnten ja auch etwas stehlen!« »Ich bin kein Dieb!« sagte Okara unwirsch. »Im Gegenteil, ich muß mich vergewissern, ob mit meinem Gepäck alles in Ordnung ist.« Wie hingezaubert steckte zwischen seinen Fingern plötzlich ein Geldschein. Der Zugbegleiter sah Okara skeptisch an, nahm aber zögernd den Schein entgegen. Dann schaute er sich um, ob niemand die Transak tion bemerkt hatte, und sagte, in einem letzten Versuch, seine Auto rität aufrecht zu erhalten: »Also gut, wenn Sie wirklich nur nach dem Rechten sehen wollen, werde ich eine Ausnahme gestatten. Aber ich werde mitkommen!« Okara drückte ihm einen weiteren Geldschein in die Hand, um ihn von diesem Vorhaben abzubringen, dann endlich hatten wir auch diese Barriere überwunden.
Im Gepäckwagen war es inzwischen stockdunkel geworden. Für Okara war es nicht von Belang, aber ich mußte mich mehr oder we niger auf meinen Tastsinn beschränken. Dabei dachte ich an das furchtbare Antlitz zurück. Was, wenn einer der Vampire bereits in dieser Finsternis lauerte? Meine Phantasie gaukelte mir schattenhaf te Bewegungen vor – und immer wieder das geisterhafte, entsetzli che Gesicht. Okara schien meine Nervosität zu spüren. »Ganz ruhig, Schatten«, sprach er mir Mut zu. »Wir sind unter uns. Ich würde es merken, wenn sich hier noch eine weitere Person aufhielte. Bleib dicht hinter mir!« Ich tat, wie mir geheißen, und folgte meinem Meister. Aber trotz seiner beruhigenden Worte war ich nervös wie selten zuvor. Was lag in der Kiste? Okara mußte inzwischen die Schlüssel ergriffen haben, denn ich hörte, wie er sich an den Schlössern zu schaffen machte. Ganz all mählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, so daß ich die schemenhaften Konturen der Kiste ausmachen konnte. Mit einem Klirren lösten sich die schweren Ketten und rasselten zu Boden. Okara ergriff mit beiden Händen den schweren Deckel und klappte ihn langsam nach oben. Das erste, das ich wahrnahm, war ein gleißendes Leuchten, wie von einem vom hellen Sonnenlicht angestrahlten Spiegel. Das zwei te war eine weibliche Stimme, die aufstöhnend sagte: »Na endlich! Ich dachte schon, ich würde hier in dieser Kiste ver dorren!« Dann schälte sich eine Person aus dem sargähnlichen Gebilde, die mir nur zu vertraut war. Mitsou!
* Ein Schwall rauchiger Wärme quoll Lilith entgegen. Im Gegensatz zu der äußeren Hülle schien es im Inneren des Zuges gemütlich warm zu sein. Sie gab sich einen letzten Ruck, stieg ein und fand sich in einem ganz normalen, wenn auch altertümlichen Waggon wieder. Wenn überhaupt, so hätte sie so etwas höchstens in einem Museum erwar tet. Dennoch strömte er eine eigentümliche Authentizität aus. Der schmale Gang, in dem sie sich befand, war mit kostbar wirkenden Holzvertäfelungen verkleidet und mit kunstvollen Motivschnitzerei en und Ornamenten verziert. Lüsterartige, vergoldete Lampen tru gen zum luxuriösen Ambiente bei, während rote, mit japanischen Schriftzeichen versehene Lampions zusätzlich für Beleuchtung sorg ten. Vom Gang aus führten Schiebetüren in die einzelnen Abteile. Sie hatte plötzlich das Gefühl, schon einmal in diesem Zug gewe sen zu sein. Irgendein Erinnerungsfetzen machte sich in ihren Ge danken bemerkbar, aber sie schob ihn beiseite. Sie schaute durch einen Gardinenschlitz in das links liegende, ers te Abteil hinein. Obwohl sie den Anblick in irgendeinem Winkel ih res Gehirns erwartet hatte, verstärkte er ihr Unbehagen beträchtlich: Die Reisenden, die sich in dem Abteil aufhielten, schienen wie der Zug selbst einer anderen Zeit zu entstammen. Fast war es Lilith, als hätte sie es mit Schauspielern zu tun, die sich für eine besondere NôAufführung kostümiert hatten. Aber daß dies alles andere als ein Schauspiel war, war ihr längst klar geworden. »Kommen Sie doch herein!« sagte plötzlich eine Stimme. Lilith zuckte zusammen. »Kommen Sie herein, hier sind noch zwei Plätze frei.« Auch die Stimme kam ihr bekannt vor. Irgendwo hatte sie sie
schon einmal gehört … Lilith zögerte, der freundlich klingenden Einladung zu folgen. Eine kleine gehässige Stimme in ihren Gedanken flüsterte ihr zu, daß es genau dieser Schritt sein würde, der sie unwiderruflich ins Verderben führte. Da spürte sie plötzlich, daß der Zug langsam an fuhr. Nun war es so oder so zu spät, auszusteigen. Als sie das Abteil betrat, wandten sich ihr alle Köpfe zu. »Wenn Sie so freundlich wären, die Tür hinter sich zu schließen, wären wir Ihnen sehr verbunden«, sagte die Stimme, die sie zum Eintreten animiert hatte. Sie gehörte einem jungen sympathischen Japaner, der genau wie die anderen Reisenden seltsam antiquiert ge wandet war. Sein Englisch klang ebenfalls seltsam altertümlich, wenngleich dies auch an seinem Akzent liegen mochte. »Gestatten: Mein Name ist Nakazato Maun.« Der junge Mann deutete eine Verbeugung an. Auch die anderen Reisenden nickten ihr zur Begrüßung zu. Außer dem jungen Japaner befanden sich noch ein weiterer jüngerer Mann, ein junges, höchstens siebzehnjähriges Mädchen und eine ältere Frau in dem Abteil. Die beiden Männer sahen sich so ähnlich, daß Lilith sie für Brüder hielt, während die Frauen Mutter und Tochter sein konnten. Lilith hatte plötzlich das Gefühl, sich in einem Theaterstück zu be finden, in dem auch sie nur eine vorgegebene Rolle spielte. Sie ver suchte sich zu erinnern, aber statt der Vergangenheit glaubte sie plötzlich in die Zukunft sehen zu können. In ihrem Innern spulte sich ein merkwürdiger Film ab, den sie nur in Bruchstücken begriff. Ihre Lippen murmelten automatisch einen Gruß, und sie stellte sich vor. Auch dies schien ihr nur Teil einer einstudierten Rolle zu sein, die sie perfekt beherrschte. Als Lilith an sich herabschaute, sah
sie, daß sie statt des engen, knielangen Kleides von vorhin nun ein bis zum Boden reichendes rotes Gewand mit kostbar wirkenden Sti ckereien trug. Der Symbiont hatte auf die außergewöhnliche Situati on erstaunlich rasch reagiert. Lilith versuchte, alle störenden Gedanken über Bord zu werfen und sich ganz darauf zu konzentrieren, mit der merkwürdigen Si tuation umzugehen. Lächelnd nahm sie auf dem noch freien Sitz Platz. »Sie haben kein Gepäck?« fragte der junge Mann, der sich ihr als Nakazato vorgestellt hatte. »Nein, ich … ich steige an der nächsten Station wieder aus.« Auch diese Worte kamen wie von selbst über ihre Lippen, ohne daß sie darüber nachgedacht hatte. Und plötzlich wußte sie auch, was als nächstes folgen würde: Der Mann lachte schallend. Auch die anderen Reisenden fielen nach und nach in das Gelächter ein, so als hätte sie einen Witz ge macht, den nur sie selbst nicht verstand. Als das Gelächter ver stummte, sagte Lilith: »Vielleicht würden Sie mich aufklären, was daran so erheiternd ist.« Warum frage ich das? dachte sie verzweifelt. Ich kenne die Fragen und die Antworten! Sie wußte genau, daß sich als nächstes die ältere Japa nerin in das Gespräch einschalten und ihr erklären würde, daß die nächste Station Kyoto war und sie wahrscheinlich in den falschen Zug gestiegen sei. Aber sie irrte sich. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte die Japanerin statt dessen. »Mein Gott, Sie zittern ja, mein armes Kind! Warten Sie, ich gebe Ihnen eine Decke!« Sie stand auf und wühlte in ihrem Gepäck, während auch die an deren Reisenden Lilith nun mit besorgten Blicken bedachten.
Merkwürdig, dachte Lilith. Ich habe eine ganz andere Erinnerung … Das Gefühl, zu wissen, was geschah, ohne daß es dann eintraf, war noch beklemmender als die Situation zuvor. Widerspruchslos ließ sie es geschehen, daß die Frau ihr eine Decke überwarf und sie ihr mütterlich an den Körper drückte. Lilith zitterte noch immer. »Brauchen Sie einen Arzt?« erkundigte sich der junge Mann na mens Nakazato. Lilith schüttelte hastig den Kopf und verneinte. Sie spürte, wie kraftlos sie war, und zugleich machte sich ihr Blutdurst immer stär ker bemerkbar, obwohl er noch nicht so dominant war, daß sie ihn nicht unter Kontrolle hatte. Trotzdem: Als sich Nakazato nun be sorgt zu ihr herüberbeugte und sie seine pochende Halsschlagader zum Greifen nah vor Augen hatte, ließ irgend etwas in ihrem Blick ihn instinktiv wieder zurückzucken. »Verzeihen Sie«, stammelte er. »Ich wollte nicht …« Für einen Moment lastete ein bedrückendes Schweigen in dem Abteil. Auch die anderen Reisenden schienen allmählich zu spüren, daß etwas mit der neuen Passagierin nicht stimmte. Lilith schloß die Augen und versuchte abermals, sich zu erinnern. Alles kam ihr wie ein Déjà-vu-Erlebnis vor. Etwas, das sie selbst be reits einmal durchlebt zu haben glaubte und dessen Fortgang ihr in verwirrenden Bildern immer bewußter wurde. Sie versuchte die Bil derflut in ihren Gedanken zu verlangsamen. Sie wußte nun wieder, was als nächstes kommen würde. Sie wür de aus dem Fenster schauen und … … draußen offenbarte sich die Sicht auf eine seltsam anachronisti sche Stadtlandschaft mit altertümlichen Tempeln, Pagodendächern und geduckten Holzbauten, die im Schein einer orangefarbenen, un tergehenden Sonne in ein unwirkliches Licht getaucht wurden. Liliths nächster Blick fiel auf das Titelblatt der Tageszeitung, die
achtlos auf dem leeren Platz neben ihr lag, aber sie wußte schon vor her, was ihr dabei ins Auge fallen würde. Die Datumsangabe: 23. April 1896 Die Bilder, die vor ihrem geistigen Auge abliefen, gewannen an Deutlichkeit. Sie sah sich durch die Gänge des Zuges laufen, ratlos, verwirrt. Verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern, was sie so er schreckt hatte. Dann bekam sie den Gedanken zu fassen: Vampire! Sie hatte sie gespürt, und etwas Schreckliches war geschehen. Dann war sie zurückgelaufen, zurück in dieses Abteil, das inzwi schen verlassen gewesen war … Immer klarer wurden ihre Erinnerungen. Und schrecklicher. Wei tere Bilder tanzten vor ihrem geistigen Auge. Sie sah, wie der Vam pir das Abteil betreten hatte und wie sie vor ihm geflüchtet war. Und dann – »Kann ich etwas für Sie tun? Wollen Sie etwas trinken?« durch brach die Stimme Nakazatos ihre Gedanken und riß sie in die Ge genwart zurück. Sie blinzelte und konzentrierte sich mit aller Macht. Trinken, ja. Der Durst wühlte in ihren Eingeweiden. Doch dieses spezielle Getränk würde ihr der stattliche Japaner wohl kaum frei willig geben. Noch immer warfen ihr die Mitreisenden besorgte und skeptische Blicke zu. Lilith wünschte sich, einen Moment lang allein mit Naka zato zu sein. Er war ein gutaussehender Mann, der ihr beides geben konnte, wonach ihr verlangte. Vor allen Dingen würde sein warmes Blut ihren ständig wachsenden Durst stillen. Sie wunderte sich selbst darüber, daß sie im Augenblick keine anderen Sorgen hatte, aber sie spürte, daß ihr Verlangen mit jedem Augenblick wuchs.
So als würde die Zeit viel rascher vergehen, als es den Anschein hatte … Sie hatte keine Wahl – sie konnte nicht länger in diesem Abteil bleiben. Irgendwann würde ihre Gier so stark werden, daß sie sich nicht mehr würde zurückhalten können. Sie mußte einen anderen Weg finden. Vielleicht fand sie in einem Abteil ein geeigneteres Op fer, einen alleinreisenden Passagier. Sie wußte, mit welchen Worten sie sich entschuldigen würde, und seltsamerweise schienen sich da mit die Realität und das, was sich in ihren Gedanken abgespult hat te, wieder zu vereinen: »Ich glaube, ich werde mich erst noch ein wenig im Zug umsehen«, sagte sie und erhob sich. Und auch Nakazatos Reaktion kannte sie im voraus: »Wenn Sie möchten, begleite ich Sie!« erbot er sich. »Wir könnten im Salonwagen gemeinsam einen Sake zu uns nehmen …« »Eine gute Idee!« sagte Lilith und schenkte Nakazato das verfüh rerischste Lächeln, zu dem sie noch imstande war. Zugleich jubelte sie insgeheim. In ihren Erinnerungen hatte sie Nakazato einen Korb gegeben – und war in ihr Verderben gelaufen. Nun hatte sie das Schicksal in der Hand. Nakazato erhob sich eilfertig und öffnete ihr die Tür. Er ging vor an, während Lilith ihm folgte. Der Gang vor den Abteilen war genauso gespenstisch wie in ihren Erinnerungen: Die roten Lampions schaukelten leicht, als würden unsichtbare Geisterhände sie in Schwingungen versetzen. Im Vorübergehen schaute sie in die anderen Abteile. Auch was sie dort erblickte, hatte sie genau so in ihren Gedanken bereits gesehen: Zumeist befanden sich Japaner darin, und alle waren sie auf die glei che Weise altertümlich gekleidet. Sie sah auch einige Europäer, und auch diese trugen die Mode eines vergangenen Jahrhunderts. Mehr
denn je kam sich Lilith wie ein Gespenst vor – auch das ein Gedan ke, der ihr so merkwürdig vertraut vorkam. Ja, sie hatte den gleichen Gedanken schon einmal gehabt, als sie diesen Gang durchquert und in die Abteile geschaut hatte. Nur – im Gegensatz zu ihren Erinnerungen hatte sie nun tatsächlich das Ge fühl, ein Gespenst zu sein. Nakazato öffnete die Tür zum Speisewagen. Die Tische waren bis auf einen alle besetzt. Nakazato steuerte darauf zu, während Lilith einen enttäuschten Laut von sich gab. »Ich dachte nicht, daß Sie es wirklich ernst meinen mit Ihrer Einla dung«, sagte sie. Als er sie verblüfft ansah, versuchte sie ihn zu hyp notisieren, hatte aber seltsamerweise keinen Erfolg damit. »Wie meinen Sie das?« fragte Nakazato. »Wollen Sie doch nichts mit mir trinken? War ich vielleicht zu forsch mit meiner Einladung?« »Nein, nein«, beruhigte sie ihn. »Es ist nur … eigentlich habe ich Appetit auf etwas anderes …« Da fiel endlich auch bei Nakazato der Groschen. »Sie … du meinst …?« Er vollendete den Satz nicht, sondern sah bedeutungsvoll auf ihr Gewand. Offensichtlich assoziierte er damit ganz gewisse Dinge. Lilith nickte. »Vielleicht finden wir irgendwo ein Abteil – ganz für uns allein, wenn du verstehst, was ich meine.« »Ich glaube, ich habe auf dem Weg hierher ein freies Abteil gese hen«, beeilte sich Nakazato zu versichern. Der Kellner, der ihnen entgegenkam, wurde von ihm mit einem Wink abgewiesen. Dieser Nakazato gefiel Lilith immer mehr. Er hatte nicht nur einen wunderbaren Körper, einen muskulösen Hals und eine rasche Auf fassungsgabe, sondern verfügte darüber hinaus noch über die nötige Portion Unverschämtheit, seine Wünsche schnell in die Tat umzu
setzen. An ihr sollte es nicht liegen. Sie vermochte sich immer weniger dem unwiderstehlichen Magnetismus seines Blutes zu entziehen. »Beeilen wir uns!« sagte Lilith. »Ich kann es kaum erwarten.« Nakazato interpretierte ihre drängende Aufforderung zwar in ei nem anderen Sinne, aber das Resultat war das gleiche: Wie der Wind stürmte er voran und spähte im Vorübergehen in die Abteile. Endlich schien er ein leeres gefunden zu haben: Lächelnd drehte er sich zu Lilith um. »Darf ich bitten, meine Königin?« Schwungvoll schob er die Ab teiltür auf, trat ein und schaute Lilith erwartungsvoll an. »Wie magst du es? Sollen wir es uns auf den Sitzen bequem machen? Aber gewiß beherrscht eine Taju wie du ja auch ganz andere Künste …« »Gewiß«, sagte sie geheimnisvoll, während sie sich umdrehte und sich auf allen vieren auf dem Boden niederließ. Es hatte den Vorteil, daß sie auf diese Weise neben ihrem Vergnügen auch noch die Ab teiltür im Auge behielt. Sie spürte, wie Nakazato von hinten an sie herantrat und ihr Gewand hochschob. Mit einem wohligen Seufzer gab sie ihm zu verstehen, daß sie genau das von ihm erwartet hatte. Und noch mehr … Viel mehr. Er kniete sich hinter ihr nieder und bedeckte ihr Hinterteil mit gie rigen Küssen. Sie spürte, wie es zwischen ihren Schenkeln zu ko chen begann und der Blutdurst dadurch fast verdrängt wurde. Ihn würde sie ebenfalls gleich stillen, aber erst war das andere Vergnü gen an der Reihe. Sie stöhnte auf, als er ihre Pobacken mit beiden Händen fester er griff. Lilith entspannte sich in Erwartung seiner Männlichkeit. Aber noch drang er nicht in sie ein. Statt dessen hob er Lilith von
hinten auf wie eine Feder, so daß sie nur von seinen starken Armen getragen in der Schwebe hing. Dann, endlich, gab er ihr, wonach sie verlangte. Mühelos drang sein mächtiger Pflock in das pochende Zentrum ihrer Lust und ließ sie darauf auf und ab tanzen. Neben dem Pochen ihres Schoßes spürte sie nun auch das Drän gen ihrer Zähne, die sanft gegen ihre Lippen stießen. Nakazato gab keuchende Laute von sich, während er dem Höhe punkt entgegenstrebte. Dies war der Moment zum Handeln. Er hat te sie noch immer aufgespießt, aber Lilith war geschickt genug, sich herumzudrehen, ohne sich von ihm zu lösen, ihre Arme um seine Schultern zu legen und sich zu seinem Hals emporzuziehen. Das heißt, sie wollte es. Statt dessen geschah etwas, das sie mit heißem Schrecken erfüllte und bestürzt aufschreien ließ. Ihre Arme legten sich um seine Schultern – und drangen ohne spürbaren Widerstand in seinen Körper ein! Sein Leib war für sie völlig substanzlos! Sie griff schlicht und ein fach durch ihn hindurch, während er sie entsetzt zu Boden fallen ließ. Wie ein Gespenst! fuhr es ihr wieder durch den Kopf. Nakazato sah sie zu Tode erschrocken an und taumelte nackt zu rück, während er mit den Fingern ein Zeichen formte, das die bösen Geister abwehren sollte. »Was … was bist du?« stammelte er entsetzt. Lilith war selbst viel zu erschrocken und aufgewühlt, als daß sie ihn hätte beruhigen können. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie wußte so wenig wie er, was geschehen war. Taumelnd kam sie auf die Beine, machte einen Schritt auf Nakaza
to zu, griff nach ihm, aber wieder war er nur Luft für sie. Nakazato wich panisch vor ihr zurück und vollführte eine abweh rende Bewegung. Sie spürte seine Hand auf ihrem Brustbein. Er konnte sie berühren! Nur für ihre Berührungen schien er körperlos zu sein. Erneut tastete sie nach ihm und sah, wie eine Gänsehaut seinen Körper an den Stellen überzog, wo sie widerstandslos in ihn ein drang. Er fröstelte. »Diese Kälte … Du … du bist eiskalt …«, flüsterte er. Ein neuer Schrecken durchzuckte Lilith, als sie sich der Folgen ih rer Entdeckung bewußt wurde. Wie sollte sie ihren ständig wach senden Blutdurst stillen, wenn sie nicht in der Lage war, ihre Zähne in sein Fleisch zu bohren? Wenn sein Blut ebenso substanzlos war? Sie wandte sich um und lief aus dem Abteil. Für einen Moment war sie völlig orientierungslos. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, vermischten sich mit Erinnerungen an eine Zukunft, die doch nicht in allen Punkten eintreffen würde. Hoffnungslosigkeit überkam sie. Was war das für eine bizarre Fal le, in die sie getappt war? Was hatten die Vampire damit zu tun? Kontrollierten sie diese vergangene Wirklichkeit? Und welche Rolle hatte sie selbst in diesem tödlichen Spiel inne? Lilith klammerte sich geradezu an den Gedanken, es herauszufin den. Was sonst blieb ihr noch zu tun? Abzuwarten, bis ihr Blutdurst so groß wurde, daß sie das Schicksal aller Vampire teilte: daß sie ra pide zu altern begänne, ihre Haut welk und faltig würde, bis sie schließlich ausgedorrt vor Schwäche starb? Nein! Noch war Leben in ihr! Sie würde nicht aufgeben! Lilith wandte sich in Fahrtrichtung und lief zur Spitze des Zuges. Vielleicht würde sie dort eine Antwort auf ihre Fragen finden.
Während sie den Gang entlangeilte, glaubte sie aus dem hinteren Teil des Zuges Schreie zu vernehmen. Also stimmten ihre »Erinne rungen« auch in diesem Punkt überein: die Vampire griffen vom hinteren Teil des Zuges aus an. In ihrem desolaten Zustand hatte Lilith nicht auf ihre warnenden Instinkte geachtet. Als sie die Zwischentür zu einem weiteren Wag gon aufriß, stand plötzlich ein Vampir vor ihr. Sie erinnerte sich an ihn: In ihrem »früheren Leben« hatte er sie in einem Abteil aufge spürt, und sie hatte ihn angegriffen. Die Szene stand jetzt wieder deutlich vor ihrem inneren Auge – auch der Schock, der ihn für Se kunden paralysiert hatte, als sie ihn angriff. »Damals« hatte sie sich keinen Reim darauf machen können – jetzt ahnte sie, was vorgefal len war. Er war noch riesiger und muskulöser, als sie ihn in Erinnerung hatte. Als er sie sah, fauchte er sie überrascht an. Obwohl sie zu wissen glaubte, was geschehen würde, blieb Lilith gar keine andere Wahl, als ihn anzugreifen. Wie eine Furie sprang sie ihn an, während er die Arme hochriß und sich seine Pranken in gefährliche Klauen verwandelten. Sie flog geradewegs durch ihn hindurch und landete hart auf dem Boden. Sie schrie vor Enttäuschung auf. Der Vampir war genau wie Nakazato Luft für sie! Aber sie nicht für ihn! Noch während sich Lilith am Boden wälzte, überwand der Vampir seine Überraschung. Sie spürte, wie er sie packte und sich seine mächtigen Arme wie Stahltrosse um ihren Körper schlossen. Sie schlug verzweifelt um sich, aber ihre Schläge gingen durch den Vampir hindurch. Er verstand nicht, was geschah, aber er hielt sie weiter fest. »Wer bist du?« herrschte er sie an. »Wo kommst du her?«
Lilith sparte sich eine Antwort. Hilflos wand sie sich in seinem Griff. »Nun gut, Blutsschwester«, fuhr der Vampir fort. Wie er das letzte Wort betonte, jagte es einen kalten Schauer über Liliths Rücken. »Ich befasse mich später mit dir. Jetzt werde ich dir erst einmal die Flügel stutzen!« Er zerrte sie in ein Abteil, in dem zwei tote Menschen lagen. Er hatte sie bestialisch umgebracht und sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihr Blut zu saugen. »Du hast Glück, daß ich gerade sehr beschäftigt bin«, sagte er höh nisch, »und meine Zeit nicht mit einer Verräterin wie dir verschwen den kann – wenigstens im Moment nicht …« »Was hast du mit mir vor?« fragte Lilith. Sie wußte, daß er sie nicht töten würde – der Kodex verbot es. Doch es gab Schlimmeres als den Tod. Zum Beispiel, in die Hände eines einfallsreichen Sadis ten zu fallen. Ihr menschliches Erbe machte sie für Schmerzen anfäl liger als vollblütige Vampire. »Ah, du kannst ja doch reden!« spottete ihr Gegenüber, während er sie brutal zu Boden preßte und sie mit blutigen Stoffresten, die er von den Körpern der Toten riß, geschickt zu fesseln begann. »Aber jetzt mußt du auf meine Antwort warten. Wie ich schon sagte: Ich bin in Eile. Aber ich verspreche dir, wiederzukommen. Ich werde schon herausfinden, was mit dir los ist. Und ich werde mir dabei Zeit nehmen – viel Zeit …« Er stopfte ihr einen blutigen Fetzen in den Mund – weniger, um sie am Schreien zu hindern, sondern als weiteren Akt der Demüti gung. Und der Pein. Lilith schmeckte das Blut in ihrem Mund, ohne es aufnehmen zu können, und augenblicklich machte sich ihr Blutdurst wieder als po
chender Schmerz bemerkbar. Der Vampir versetzte ihr noch einen Tritt, dann verließ er das Ab teil. Lilith wartete, und während sie hilflos am Boden lag, kamen wie der die Erinnerungen an die Zukunft. Sie wußte, was geschehen würde, noch bevor der Zug an Tempo gewann, schneller und schneller wurde, bis der Boden unter ihr tanzte und sich die Wagg ons kaum mehr auf den Schienen halten konnten. Gefaßt erwartete Lilith ihr Schicksal, während ihre Erinnerungen Realität wurden: Mit einem wütenden Zischen, das wie das Fauchen einer urzeitli chen Kreatur klang, brach der Zug aus den Schienen und stürzte in die Schlucht. Erneut glaubte Lilith zu spüren, wie ihr Körper in loderndes Feuer getaucht, verbrannt, zerfetzt und über den Gang verteilt wurde, wie jeder einzelne Knochen in tausend Splitter zu zerbrechen schien. Eine nie gekannte Dunkelheit nahm sie auf, blitzartig erhellt von der gewaltigen Explosion, als der Zug aufprallte und in einem alles aus löschenden Feuerball verging. Dann kam das Nichts über Lilith. Das Verlöschen. Und wieder der Tod …
* Der Tod begann mit einem Schwall warmer Luft, die ihr bei ihrem Eintritt aus dem Zug entgegenschlug. So ging es wieder von vorne los, wie ein nicht endenwollender Kreislauf, auf den sie nur unmerklich Einfluß hatte. Was immer sie
unternahm, das Ende war unausweichlich vorgegeben – wie ein Mahlstrom, dem man sich auf hundert verschiedenen Wegen nä hern konnte, der einen aber jedesmal mit tödlicher Sicherheit in sei nen Schlund zog. Es gab Variationen der Hölle, die sie vor dem Tod durchlebte, aber Lilith hatte keine Zeit, sie alle auszuprobieren. Denn neben ihren Er innerungen, die mit jedem Mal klarer geworden waren, gab es noch ein Rädchen, das nicht jedesmal beim Punkt Null begann: ihr Durst! Er verschlimmerte sich mit jedem neuen Erwachen. Sie hatte jedes Gefühl für Zeit längst verloren – Zeit war zu einem irritierenden Gebilde geworden, das völlig unabhängig von den Dingen, die sie subjektiv durchlebte, stattfand. Bald würde sie be ginnen, rapide zu altern. Sie spürte bereits, wie ihre Kräfte nach je dem neuen Tod ein wenig mehr schwanden. Irgendwie war es trotz allem ein beruhigender Gedanke. So würde sie zumindest nicht bis in alle Ewigkeit diese Hölle durchleben. Ir gendwann – schon bald! – hatte die Zeit keine Macht mehr über sie. Sie lachte bitter auf bei dem Gedanken. Ja, das Schicksal meinte es wirklich gut mit ihr …
* Sie wußte nicht zu sagen, das wievielte Mal es war, als sie aus der Dunkelheit erwachte. Ein Schwall rauchiger Wärme quoll ihr entgegen. Im Gegensatz zu der äußeren Hülle schien es im Inneren des Zuges gemütlich warm zu sein … Lilith stieg ein und ging den schmalen Korridor entlang, der mit kostbar wirkenden Holzvertäfelungen verkleidet war. Vom Gang
aus führten Schiebetüren in die einzelnen Abteile. Die Reisenden darin waren ihr inzwischen nur zu vertraut. Sie nahm alle ihre Kräf te zusammen, um nicht in Automatismus zu verfallen und das Ab teil zu betreten. »Kommen Sie doch herein!« sagte Nakazatos Stimme. »Kommen Sie herein, hier sind noch zwei Plätze frei.« Diesmal nicht! dachte sie grimmig. Diesmal würde sie die Kon frontation suchen! Auch wenn es die Gefahr barg, bis zu ihrem er neuten Tod Folter ertragen zu müssen. Die Vampire hielten sich hauptsächlich im hinteren Teil des Zuges auf. Dorthin hastete Lilith nun, während die Erinnerung an ihre letz ten Leben wie ein verwirrendes Kaleidoskop in ihrem Kopf umher wirbelte. Schließlich hatte sie die Schlafwagen erreicht. Sie spürte sofort die Anwesenheit der Vampire. Einen kurzen Moment zögerte sie noch, die »Höhle des Löwen« zu betreten. Aber ihr blieb keine Wahl. In dem hinteren Schlafwagen waren die Vorhänge der meisten Schlafkojen zugezogen. Entschlossen trat Lilith näher und streckte einen Arm vor, faßte einen der Vorhänge und wollte ihn gerade bei seite ziehen – als sich ihr von hinten ein Arm auf die Schulter legte. Sie erstarrte zu Eis. »Schwester?« sagte eine Stimme in ihrem Nacken. Sie fuhr herum – und stand einem Vampir gegenüber, dessen Anblick sie im ersten Augenblick zu Tode erschrecken ließ. Dann sah sie, daß sie sich getäuscht hatte. Ihr Gegenüber sah Landru nur ähnlich. Die gleichen aristokratischen Gesichtszüge, die gleichen silbergrauen Schläfen, die Haare zu einem Zopf gebunden – er trug sogar eine Narbe unter dem linken Auge, allerdings nicht in Form eines Kreuzes. Nein, es war nicht Landru. Dieser Vampir sah älter aus. Und noch
eine Spur gnadenloser. Lilith sah, daß die Vorhänge der meisten Schlafkojen beiseitege schoben wurden. Es waren fünfzehn Vampire, die einen Kreis um Lilith bildeten. »Wir dachten, wir wären die einzigen der Alten Rasse hier«, sagte der Vampir, der ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Er mußte der Anführer der Sippe sein. »Wo kommst du her? Und wer bist du?« Fragen, die sie schon mehr als einmal gehört hatte, seit sie in die sen Kreis aus Verzweiflung und Sterben geraten war. Aber diesmal würde ihre Antwort anders ausfallen. »Ich bin in Tokio zugestiegen«, antwortete Lilith wahrheitsgemäß, »und habe euch gleich gespürt. Ich war neugierig, wer ihr seid.« »Reist du allein?« fragte der Anführer. »Ja. Ich bin ohne meinen Clan hier«, gab Lilith zurück. Sie heuchel te Eifer vor. »Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich mich euch gerne anschließen.« Der alte Vampir sah sie mißtrauisch an, aber gleichzeitig spürte Li lith, wie er sie von oben bis unten taxierte. »Du trägst das Gewand einer Taju!« »Weil es mir Vergnügen macht, Vergnügen zu bereiten«, entgeg nete Lilith. »Du kannst dich gern davon überzeugen.« Der Anführer leckte sich die Lippen. Offensichtlich hatte Liliths forsche Art ihn überzeugt. »Also gut«, sagte er nach einer Weile. »Vielleicht können wir dich wirklich gebrauchen. Aber du wirst dich mir unterordnen, verstanden?« Lilith nickte ergeben. Offensichtlich dachte der Vampir in erster Linie an ihre »Unterordnung« auf einem anderen Gebiet, aber zum Glück schien er dies für einen späteren Zeitpunkt aufschieben zu
wollen. »Wir haben nicht allzu viel Zeit«, erklärte ihr der Anführer. »Dir kann ich es sagen: Wir sind auf der Jagd nach einem heiligen Relikt, das eine Abtrünnige unserem Clan entwendet hat. Wir wissen, daß es sich in diesem Zug befinden muß. Unser … Auftraggeber kann es kaum erwarten, es wieder in seinen Besitz zu bekommen. Und er kann sehr ungeduldig sein.« Lilith hatte sein Zögern wohl bemerkt. Sie fragte sich, wer dieser Auftraggeber wohl sein mochte. Aber eine andere Frage drängte sich in den Vordergrund. »Um was für ein Relikt handelt es sich?« erkundigte sie sich ge spannt. Konnte es vielleicht sein, daß ihre Gefangenschaft in diesem Zug damit zusammenhing? »Es hat die Form einer silbernen Rose. Sie ist einzigartig und si chert unserem Clan seine Vormachtstellung. Aber eigentlich hat dich das nicht zu interessieren. Schließe dich uns an und höre auf meine Befehle – alles weitere wird sich ergeben!« Lilith nickte, stellte aber dennoch eine weitere Frage: »Verrat mir: Wie sieht die Abtrünnige aus, nach der ihr sucht?« »Wir wissen es nicht, weil sie ihre Gestalt schon oft verändert hat. Außerdem ist sie nicht allein …« Er bleckte die Zähne und wandte sich den anderen Vampiren zu. »Wir haben genug geschwatzt!« entschied er. »Die Sonne ist unter gegangen. Beginnen wir mit unserer Arbeit! Und achtet darauf, daß die Opfer sich nicht mehr erheben können!« Die Vampire brachen auf, zum nächsten Schlafwagen, und Lilith schloß sich ihnen an. Dann begann das Blutbad. Die Vampire überraschten die Menschen im Schlaf. Die Reisenden waren ohne den Hauch einer Chance. Lilith spürte, wie angesichts
des blutigen Festmahls ihr eigener Durst schmerzhaft in den Einge weiden wühlte. Aber sie war außerstande, einen der Menschen zu beißen. Glücklicherweise achtete niemand mehr auf sie; die Vampire wa ren zu sehr mit ihrer Suche beschäftigt. Dabei ging es ihnen aber nicht nur um die Wiederbeschaffung des Reliktes – in erster Linie frönten sie zügellos ihrem Blutrausch. Die Schreie der Sterbenden gellten in Liliths Ohren, während sie, ebenfalls auf der Suche nach der Trägerin des Relikts, durch die Abteile eilte. Dabei machte sie eine weitere Entdeckung: Sie war außerstande, auch nur einen der Passagiere hypnotisch zu beeinflussen! Waren es sonst nur einige wenige, die sich dieser Kraft entziehen konnten, hier schien sie ihre Fähigkeit vollständig verloren zu haben. Sie hatte knapp ein Drittel der Abteile durchkämmt, als sie spürte, daß der Zug sich wieder beschleunigte. Bald würde es wieder so weit sein – er würde entgleisen und in die Schlucht stürzen. Aber sie wußte nun, wonach sie suchen mußte, und dieses Wissen würde sie in ihr »nächstes Leben« mitnehmen! Es gab wieder Hoffnung für sie – auch wenn diese durch nichts begründet war. Lilith wußte ja nicht einmal, ob das Relikt tatsäch lich für diese Zeitschleife, in der sie festsaß, verantwortlich war. Aber sie mußte nach jedem Strohhalm greifen. Bevor sie inmitten der mit köstlichem, pulsierendem Blut gefüllten Körper schlicht ver durstete …
* Vergangenheit
Ich hatte mich geirrt. Es konnte nicht Mitsou sein, die in dem Sarg lag, wenngleich die Frau erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Bild be saß, das in meiner Erinnerung schlummerte. Doch diese Frau war äl ter, viel älter. Die zahlreichen Furchen ihres Gesichts bildeten ein spinnennetzartiges Muster. Ihre eingefallenen Wangen und zer furchten Lippen hatten nichts mit jenem blühenden Wesen gemein, in das ich noch immer verliebt war. Um so härter trafen mich die Worte meines Meisters. »Ja, Schatten, sie ist es: Mitsou. Sie kam, genau wie du damals, freiwillig mit mir, als ich sie aufspürte.« Er verzog das Gesicht. »Nein, das stimmt nicht ganz. Nicht ich spürte sie auf; sie wandte sich an mich.« »Aber warum …« Mir versagte die Stimme. Ich war fassungslos und erschrocken von der Veränderung, die mit Mitsou vorgegangen war. »Sie bat mich um Hilfe«, fuhr Okara fort. »Vielleicht hast du dich schon damals gefragt, warum sie in einem Wanderzirkus die Lande bereiste, anstatt bei ihresgleichen zu leben. Nun, sie wird verfolgt, von ihrer eigenen Sippe.« »Verfolgt? Warum?« fragte ich atemlos und wandte mich an Mit sou. »Was hast du getan?« Ihre Augen schwammen in Traurigkeit, als sie antwortete. Auch ihre Stimme war alt und brüchig geworden und schmerzte mich mehr, als ein Messer ins Herz es vermocht hätte. »Ich stahl ein Relikt meiner Sippe«, sagte sie. »Eine furchtbare Waffe, die unvorstellbares Grauen entfesselt hätte, wäre sie nach den Plänen unseres Oberhauptes angewendet worden.« Sie schlug die Augen nieder. »Ich stahl sie, um einen Krieg zu verhindern.« »Seitdem ist sie auf der Flucht«, ergriff wieder Okara das Wort. »Und ich fürchte, jetzt hat ihre Sippe sie aufgespürt. Sie müssen ir
gendwie herausbekommen haben, daß wir nach Kyoto unterwegs sind. Ich war nicht vorsichtig genug.« Noch immer konnte ich meinen Blick nicht von jener Gestalt lösen, die Mitsou sein sollte. Meine Augen füllten sich mit Tränen, wäh rend mich Mitsou mit einem eigentümlich abwesenden Blick an schaute. »Ich weiß nicht, was die Vampire vorhaben«, ließ sich Okara ver nehmen, »aber vielleicht schaffen wir es, uns hier im Gepäckwagen zu verbarrikadieren.« Ich schüttelte den Kopf, und zum erstenmal, seit ich zurückdenken kann, wagte ich meinem Meister zu widersprechen. »Und wenn wir den Vampiren geben, was sie verlangen? Viel leicht werden sie uns dann in Frieden lassen.« Okara starrte mich entgeistert an. »Du bist wahnsinnig geworden! Hast du nicht verstanden? Das Relikt ist eine mächtige Waffe! Die Vampire dürfen sie nicht in die Hände bekommen. Und selbst wenn wir ihnen das Relikt überließen – sie würden uns trotzdem töten. Nein, ich habe andere Pläne. Es gibt Kreise in Kyoto, zu denen ich bereits Kontakt aufgenommen habe, die weitaus mehr mit dem Re likt anfangen können … Gib es mir!« Die letzten Worte hatte er an Mitsou gerichtet, die ihm wider spruchslos ein schwarz lackiertes, kostbar mit Intarsienschnitzereien verziertes Holzkästchen reichte. Ich spürte, daß sie unter Okaras Bann stand. Hatte er sie vielleicht doch gezwungen, mit ihm zu kommen? Sagte sie nur das, was er ihr eingegeben hatte? War er nur hinter dem Relikt hergewesen? Was hatte er alles hinter meinem Rücken getrieben, ohne daß ich es in meiner Einfalt mitbekommen hatte? Ich konnte, ich wollte es nicht glauben. Aber es gab einen Weg, die Wahrheit herauszufinden.
»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte ich. »Warum zerstört Ihr die Waffe nicht, bevor sie der Sippe in die Hände fallen kann?« Er stieß mich zurück und schaute mich mit einem verächtlichen Blick seiner blinden Augen an. »Was fällt dir ein, mir Ratschläge zu geben? Ich habe dich aus der Gosse aufgelesen. Dankst du mir auf diese Art dafür?« Er preßte das Lackkästchen fest an sich. »Ich habe bereits einen Preis dafür ausgehandelt. Es reicht, um mich zur Ruhe zu setzen. Glaubst du, ich habe Lust, mein ganzes Leben die Rätsel anderer Leute zu lösen? Ich habe es mir verdient – und wenn du an derer Meinung bist, wirst von jetzt an ohne meine Hilfe auskommen müssen. Dann brauche ich dich nämlich nicht mehr!« Er legte es darauf an, mich zu provozieren, in der Gewißheit, daß ich klein beigeben und mich zu ihm bekennen würde. Erst jetzt kam mir seine ganze arrogante Überheblichkeit richtig zu Bewußtsein – und ich traf meine Entscheidung. In seine blinden Augen trat blankes Entsetzen, als sich meine Hän de um seinen Hals legten und zudrückten. Meine Enttäuschung über seinen Verrat trübte meinen Verstand, während ich meinen Tränen hemmungslosen Lauf ließ. All seine Worte, die er mir in den vergangenen Jahren zugedacht hatte, waren mit dem Reif der Lüge bedeckt! Er hatte mich all die Jahre nur benutzt, damit ich sein will fähriger Diener war! Als er röchelnd unter meinen Händen starb, hörte ich von draußen einen schrecklichen Schrei. Ich ließ Okaras erschlafften Leib fallen, griff nach der Lackschatulle, aber ein Ruf Mitsous ließ mich innehal ten. Ich schaute sie an. Es graute mir, wie sie mich anstarrte, aber hin ter der verdorrten Maske erblickte ich die Mitsou von früher. Ihr Blick war wieder klar und frei. »Es gehört mir!« sagte sie mit krächzender Stimme. »Okara hatte
herausgefunden, daß ich das Relikt besaß, und mich mit falschen Versprechungen geblendet, mich ihm anzuvertrauen. Es gehört nie mandem außer mir.« Ich war hin und her gerissen zwischen dem, was ich selbst für richtig hielt, und ihrem Befehl. Aber schließlich fügte ich mich – ich war es gewohnt, zu gehorchen. Als ich ihr das Kästchen reichte, spürte ich plötzlich, daß der Zug schneller wurde, immer mehr an Fahrt gewann. »Jetzt komm zu mir!« befahl Mitsou. Ich trat näher an ihren Sarg heran, in dem sie noch immer aufrecht saß. »Ich habe dich immer gemocht«, sagte sie, während sie langsam ihr Gewand von den Schultern streifte. Ihr Körper war genauso un ansehnlich und faltig geworden wie ihr Gesicht. »Weißt du noch, damals im Zirkus?« fragte sie, während sie versuchte, ihrer Stimme einen verführerischen Klang zu geben. »Ich weiß, daß du mich be gehrt hast. Heute sollst du deine Erfüllung finden.« Es war weniger dieser faltige Körper, der mich abstieß, als viel mehr der falsche Ton in ihrer Stimme. »Nein!« sagte ich. »Ich habe einen anderen Menschen geliebt – und du auch. Ich bin nicht mehr der, der ich einst war …« »Komm her zu mir«, wiederholte sie, und diesmal konnte ich mich ihrem Befehl nicht entziehen. Ich spürte, wie ihr Wille nach meinen Gedanken griff und sich dort festhakte. Ich legte mich zu ihr in den Sarg, küßte ihr verrunzeltes Gesicht und spürte, wie sie unter meinen Händen erbebte. Ihr Mund wanderte gierig über mein Gesicht und meinen Hals entlang. Dann spürte ich den Schmerz. Ihre Zähne hatten sich in meinem Hals verbissen, und gierig saugte ihr Mund das hervor sprudelnde Blut.
Ich fühlte eine eigenartige Taubheit, die einem erlösenden Schwe bezustand nahekam. Mitsou gab mir, wonach ich mich immer ge sehnt hatte. Und ich war bereit, ihr jeden Preis dafür zu zahlen. Nur undeutlich bekam ich mit, wie ihre welke Haut sich straffte. Sie wurde nicht jünger, und doch gewann ihr Körper einen Teil seiner Frische zurück – als hätte ein geschickter Chirurg die alte Haut neu gespannt und zumindest einen optischen Sieg über das Alter errun gen. Meine nächste Empfindung war, daß der Zug sich in seinem Schie nenbett aufbäumte, bis der Wagen zu schwanken begann, als würde er im nächsten Moment entgleisen. Die Fahrtgeräusche steigerten sich in meinen Ohren zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Es war mir egal. Das einzige, das zählte, war, daß ich in Mitsous Armen lag, während sie das Leben aus mir heraussaugte und sich selbst einverleibte. Und doch starb ich nicht durch ihren Biß. Plötzlich explodierte vor meinen Augen ein gewaltiger Feuerball, der meinen Geist in ein nie gekanntes Dunkel riß. Ich nahm es dankbar an. Als ich erwachte, wußte ich, daß ich nicht mehr unter den Leben den weilte. Aber ich war auch nicht tot. Der Tod hatte mich einfach vergessen – als ob ich auch für ihn, wie für alle anderen Menschen, unsichtbar gewesen wäre! Im Augenblick der Explosion mußte sich mein Körper in etwas verwandelt haben, das jenseits von Tod und Leben existierte. Ich konnte mich bewegen, und in der Dunkelheit neben mir hörte ich ein weiteres Geräusch. Ich war nicht allein! Mitsou! Ich tastete nach ihrem Körper und fühlte auch ihre su chende Hand. Wir klammerten uns aneinander, und ich spürte, daß sie wieder so war, wie ich sie damals im Zirkus geliebt hatte. Das
Alter war nun gänzlich von ihr abgefallen! Eine Art Rausch erfaßte mich, als ich begriff, daß sie nun mein Ge schöpf war. Erschaffen aus der Macht meiner Begierde und meines Geistes. Ich war Herr über Leben und Tod, Erblühen und Vergehen. Ich war … Gott! Mein Verlangen nach ihr wuchs ins Unermeßliche. Ich stieg aus ih rem Sarg und befahl ihr, sich auf einige Tuchballen zu legen, die hier gestapelt waren. Sie gehorchte und spreizte auch bereitwillig die Schenkel, kaum daß ich nur den Gedanken daran formuliert hatte. Ich liebte sie wie von Sinnen, bis der Zug schneller und schneller wurde und irgendwann alles wieder in einem feurigen Blitz ver ging. … aus dem ich erwachte – immer wieder, wieder und wieder, wie in einem ewigen Kreislauf. Es kam vor, daß ich den Ablauf des Geschehens veränderte, indem ich wie ein unsichtbares Gespenst durch den dahinrasenden Zug glitt und mir mit irgendwelchen Dingen die Zeit vertrieb. Nur eines blieb sich immer gleich: der Augenblick meines Todes. Es gelang mir nicht, diese Konstante zu durchbrechen. Mir blieben nur wenige Stunden in meinem Königreich, bis alles wieder von vorn begann. Doch das störte mich nicht. Meist genügte es mir, wenn Mitsou da war. Es war ein immerwährendes Paradies, wie ich es mir nie zu er träumen gewagt hätte. Die Kraft meiner Liebe war es, die dem Feu erball trotzte und mich jedesmal wieder die glückselige Vereinigung mit Mitsou erleben ließ. Bis zu jenem Augenblick, als ich aufwachte und Mitsou nicht wie sonst neben mir lag. Und als ich in einem der Abteile jene fremde Frau erblickte, der ich nun nachschleiche. Was will sie hier? Woher kommt sie?
* Lilith schaute sich um. Sie hatte plötzlich das unbestimmbare Ge fühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Dennoch ließ sie sich nicht beirren. Die Zeit, die ihr zur Verfügung stand, würde bald wieder zerronnen sein. Wieder hatte sie sich den Vampiren offenbart und sich ihnen ange schlossen. Doch obwohl sie diesmal die Abteile ausließ, die sie be reits in ihrem letzten Leben durchsucht hatte, fand sie keine Spur der silbernen Rose, nach der die Vampire fahndeten. Befand sich das Kleinod wirklich in diesem Zug …? Schließlich kam Lilith bei der Lokomotive an. Auch ihr wollte sie einen Besuch abstatten. Doch als sie den vordersten Waggon durch querte, stellte sich ihr ein Vampir in den Weg. »Halt! Hier darfst du nicht durch!« befahl er mit donnernder Stim me. Sein tumbes Gesicht und seine Muskelmassen machten deutlich, warum der Anführer der Vampire gerade ihn für diesen Job abge stellt hatte: Ein typischer Befehlsempfänger, der sich stur an seinen Auftrag halten würde und an dessen Pranken niemand vorbeikam. Erst recht nicht Lilith, die nicht einmal in der Lage war, ihn – im wahrsten Sinne des Wortes – anzugreifen. Wohl oder übel mußte sie umkehren. Wo sollte sie jetzt noch su chen? Da durchzuckte sie plötzlich ein Gedanke: Die Vampire vermute ten das Relikt bei einem der Reisenden. Was aber, wenn es irgend wo anders verstaut war? Zum Beispiel im Gepäckwagen. Mit eiligen Schritten strebte sie wieder zum Ende des Zuges, vor
bei an panisch fliehenden Menschen, die doch keine Zuflucht finden würden, vorbei an Hunderten Reisenden, die mit gebrochenem Ge nick und ausgebluteten Körpern in den Gängen und Abteilen lagen, vorbei an den entfesselten Blutsaugern, die inzwischen die Mitte des Zuges erreicht hatten. Endlich erreichte sie den Gepäckwagen. Gerade wollte sie die Tür aufziehen, als ein Ruf sie erstarren ließ: »Nein!« Sie fuhr herum. Im ersten Augenblick sah sie gar nichts. Erst all mählich nahmen ihre Augen eine Art wabernden Schatten wahr, der mit dem Hintergrund fast verschmolz. Es war ein Mensch, aber er war so gut wie unsichtbar. »Wer bist du?« fragte Lilith. Der Schemen glitt näher heran, blieb aber stumm. Lilith streckte ihre Rechte aus – und stieß auf Widerstand! Sie konnte ihn berühren! Dieser gestaltlose Schemen schien realer zu sein als all die lebendig wirkenden Menschen im Zug! Ihr kam ein aberwitziger Gedanke. Wenn ihr Gegenüber Substanz besaß, vielleicht konnte sie ihn dann auch hypnotisch beeinflussen! Seine Augen sah Lilith nicht; sie konnte nur erahnen, wo der Kopf dieses mysteriösen Wesens saß. Und es genügte ja auch, wenn der Schemen ihre Augen sah. Sie konzentrierte sich auf ihn. »Sag mir deinen Namen!« befahl sie. Und diesmal erhielt sie Antwort! Es schien zu funktionieren! »Mein Name ist Schatten.« »Was tust du hier? Weißt du, was mit diesem Zug geschieht?« er kundigte sich Lilith weiter. Und was sie kaum erhofft hatte, erfüllte sich: Der Schemen erzählte ihr seine Geschichte …
* Als er geendet hatte, konnte Lilith es kaum glauben. Aber es schien tatsächlich so zu sein: Diese seltsame Kreatur war aufgrund ihrer wundersamen Verwandlungsfähigkeit vom Tod schlicht vergessen worden! In der gleichen Sekunde, in der der Zug explodiert war, mußten Schattens Körper und Geist zu einer neuen Daseinsform verschmolzen sein. Er war eins geworden mit dem Feuer und dem Verderben … und zum Auslöser für den ständigen Kreislauf, in dem sich das Unglück nun wiederholte. Der Tod ließ sich nicht betrügen. Oder war es die Macht des Re likts, die dieses Wesen immer wieder neu erstehen ließ? Lilith grübelte nicht weiter darüber nach. Jetzt war nur noch eines wichtig: Sie mußte diesem Spuk ein Ende bereiten. »Führe mich zu der Rose!« befahl sie, und das Wesen namens Schatten ging gehorsam voran, in den Gepäckwagen hinein und zu einer Kiste, die große Ähnlichkeit mit einem Sarg aufwies. »Dort ist es, Herrin!« Lilith sah die Lackschatulle sofort. Sie war nicht größer als zwei übereinandergelegte Zigarettenschachteln. Und darin sollte eine mächtige Waffe liegen? Lilith wollte schon nach dem Kästchen greifen, als ihr plötzlich be wußt wurde, daß es gefährlich sein könnte, es zu öffnen. Zu wenig wußte sie über die Art und Wirkung der Waffe. »Öffne du es für mich!« befahl sie, und Schatten kam ihrem Befehl augenblicklich nach. Ein gleißendes Licht vertrieb die Dunkelheit. Lilith schlug ihre Hände vor die Augen. Was immer dort in dem Kästchen ruhte, es
war unmöglich für sie, es anzublicken. Schatten dagegen schien das Licht nichts auszumachen, denn er stand unbeweglich da. In dem gleißenden Glanz konnte sie seine Konturen nun deutlich ausma chen. »Was siehst du?« fragte Lilith. »Eine Rose«, antwortete er. »Eine silberne Rose.« Die Gestalt gewordene Magie war für ihn also sichtbar, während Lilith nur die Wirkung spürte. Die Kraft der Rose mußte gewaltig sein. Der Waggon schwankte, und Lilith erkannte mit Schrecken, daß die Zeit erneut abgelaufen war. Ihr blieben nur noch Sekunden! »Rasch! Nimm die Rose heraus und lege sie auf den Boden!« be fahl sie Schatten und sah, daß er widerspruchslos gehorchte. »Und nun zertrete sie!« Der Schemen hob ein Bein – und senkte den Fuß auf das Licht am Boden hinab. Ein Splittern wie von Glas war zu hören. Das Licht erlosch; von ei nem Moment auf den anderen stürzte die Dunkelheit zurück in den Gepäckraum. Lilith konnte nicht benennen, was sie erwartet hatte – einen Don nerschlag, die plötzliche Rückkehr in die Realität und Gegenwart … aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen kreischte der Schienenstahl unter dem Zug, und der Waggon kippte zur Seite. Nichts hatte sich geändert! Einem schier endlosen Fall folgte die flammende Explosion. Und – wie ein alter Bekannter – der Tod …
* Feurige Lichter tanzten vor Liliths Augen. Aber es waren nicht die Gedankenbilder der Explosion, sondern etwas ungleich Banaleres – und Tödlicheres. Ihr Durst. Wieder hatte der Kreislauf von vorn begonnen, aber diesmal stand Liliths Ziel fest: der Waggon am Ende des Zuges, in dem das Ge päck aufbewahrt wurde. Auf diesem Weg mußte sie erneut an den Vampiren vorbei, was es notwenig machte, sich noch einmal mit ih nen zu verbünden. Für Lilith war es fast schon ein Ritual, kannte sie doch die Reaktionen der Blutsauger schon im voraus. Als sie loszogen, um ihr blutiges Werk zu verrichten, strebte Lilith weiter in Richtung Gepäckwagen. Minutenlang befürchtete sie, dies mal nicht auf Schatten zu treffen, doch ihre Sorge erwies sich als un begründet. Auch er, der Schöpfer dieser bizarren Zeitschleife, ge horchte ihren immer wiederkehrenden Rhythmen. Lilith hatte keine Schwierigkeiten, ihn erneut unter ihren Bann zu zwingen. Doch diesmal verzichtete sie darauf, ihn die Rose zerstö ren zu lassen. Sie verfolgte einen anderen Plan. »Geh voran!« befahl Lilith. Schatten tat, wie ihm geheißen, die Schatulle mit der silbernen Rose in Händen. Ihr Wille lenkte ihn. Sie betraten das Zweite-Klasse-Abteil. Hier hatten die Vampire ihre ersten Opfer gefunden. Die Passagiere hatten so dichtgedrängt gesessen, daß jede Flucht von vornherein vereitelt worden war. Ihre Leichen stapelten sich zu Dutzenden zwischen den Sitzen. Lilith empfand kaum noch eine Regung bei dem schrecklichen An blick. Die immer wiederkehrenden Greuel hatten sie abgestumpft, und der wütende Schmerz in ihren Eingeweiden tat ein übrigens, al
les außer ihrem Blutdurst in den Hintergrund rücken zu lassen. Sie ließ Schatten weiter vorangehen, und sie erreichten den Speise wagen. Hier war der ungleiche Kampf in vollem Gange. Lilith trieb Schatten zur Eile an. In seiner Tarnung war er sowohl für Menschen als auch für Vampire so gut wie unsichtbar. Er barg das Kästchen in seinen Händen und schirmte es so zusätzlich gegen eine Entde ckung ab. Dann waren sie hindurch. Daß keiner der Vampire sie oder das Relikt bemerkt hatte, erschien Lilith fast wie ein Wunder. Sie erreichten den letzten Waggon vor der Lokomotive. Er war leer bis auf den einzelnen Vampir, der Lilith schon einmal den Durch gang verwehrt hatte. Diesmal sollte es anders verlaufen. Lilith befahl Schatten, das lackierte Kästchen zu öffnen. Fauchend wich der Vampir zurück, als die gleißende Helligkeit des Relikts in seine Augen stach. Er schlug die Hände vors Gesicht, aber es war zu spät. Schatten hatte ihn erreicht und berührte ihn mit der Schatulle. Was auch immer darin ruhte, es hatte eine verheerende Wirkung auf Vampire. Ein Blitz hüllte den Wächter einen Moment lang wie in einem flammenden Käfig ein, während der Vampir vor Grauen und Schmerz um sein Leben schrie. Fast verspürte Lilith so etwas wie Mitleid mit ihm. Einen Augenblick später war nichts als ein Häuf chen Asche von ihm übrig. Schaudernd ließ Lilith Schatten weitergehen. Die Zeit verrann ihr unter den Nägeln, das spürte sie. Aber sie ahnte auch, daß sie noch nie so nah daran gewesen war, das Rätsel zu lösen und die Vergan genheit endgültig zu begraben. Hinter der nächsten Verbindungstür befand sich die Lokomotive. Sie traten auf die freie Plattform hinaus, und der Fahrtwind peitsch
te ihnen ins Gesicht. Um sie herum waberte die Wand aus flirren dem Glas und spannte einen Tunnel aus Licht vom Waggon zur Lo komotive hinüber. Unter dem Gitter der Plattform konnte Lilith die dahinrasenden Schwellen sehen; ein schattenhaftes, rhythmisches Pulsieren, das eine fast hypnotische Wirkung auf sie ausübte. Der Eindruck verflog, als sie plötzlich die Anwesenheit eines wei teren Vampirs spürte. Er mußte vorne in der Lok sein! Lilith befahl Schatten, als erster zu springen. Es war ein gewagtes Manöver, die Kluft zwischen dem Waggon und der Lokomotive bei rasender Fahrt zu überbrücken, aber Schatten gelang es mühelos. Li lith sprang ihm hinterher. »Warte hier!« zischte sie ihrem schemenhaften Begleiter zu, der augenblicklich in seiner Stellung verharrte. Lilith zog sich vorsichtig auf den Kohlentender hinauf. Von dort aus konnte sie beobachten, was im Führerstand der Lok vor sich ging. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Ein Vampir rang mit dem Lokomotivführer. Doch trotz seiner ge waltigen Körperkräfte hatte er Mühe, sein Opfer zu bezwingen. Kein Wunder, denn der Lokführer war ein Hüne von einem Mann und schien über Bärenkräfte zu verfügen. Lilith sah, wie sich sein bärtiges Gesicht vor Anstrengung verzerrte, als er die Angriffe des Vampirs mit brachialer Gewalt abwehrte. Letztlich mußte er aber doch unterliegen, denn im Gegensatz zu ihm kannte der Vampir keine Erschöpfung. Im nächsten Moment schon war es soweit: Der Vampir täuschte einen Ausfall vor und wich blitzschnell zur Seite. Seine zur tödli chen Klaue mutierte Hand zuckte auf die Kehle des Hünen zu – und riß sie in voller Breite auf. Blut sprudelte aus der klaffenden Hals wunde. Doch immer noch war der Lokführer nicht geschlagen! Mit einem
letzten verzweifelten Hieb traf er den Kopf des Blutsaugers. Der Vampir, seines Sieges schon gewiß, taumelte haltlos zur Seite, verlor das Gleichgewicht und stürzte aufschreiend in die vorbeihu schende Dunkelheit. Gleichzeitig beschleunigte der Zug mit einem plötzlichen Ruck seine Fahrt. Lilith sah, daß der tödlich verwundete Lokführer über den Schal tern und Hebeln zusammengebrochen war. Offensichtlich hatte er dabei einen Mechanismus in Gang gesetzt, der das Feuer im Kessel weiter anheizte. Rasch sprang sie in den Führerstand hinunter und zerrte den Lok führer zur Seite. Vielmehr – sie wollte es. Ihre Finger griffen wieder ins Leere, gingen durch den substanzlo sen Leib des Hünen hindurch. Lilith schrie vor Enttäuschung auf. Durch die Fenster der Lok sah sie etwa eine halbe Meile voraus die Schlucht auftauchen. Bald würde der Zug abermals entgleisen – und wieder würde alles vergeblich gewesen sein. Da fiel ihr Schatten ein. Für ihn war der Lokführer nicht körperlos – er würde ihn von den Hebeln wegzerren können! In rasender Hast kletterte sie die Leiter zum Tender hinauf und er hob sich über die hier gelagerten Kohlen. Ihr blieb keine Zeit, den Weg zurückzulegen. »Schatten!« schrie sie gegen den reißenden Fahrtwind an. »Komm her zu mir!« Da schloß sich etwas wie eine Eisenzwinge um ihr linkes Bein. Noch bevor sie reagieren konnte, wurde sie mit einem gewaltigen Ruck von der Leiter gerissen und auf den Boden des Führerhauses geschleudert. Über ihr stand der Lokführer – doch er war kein Mensch mehr.
Zähnefletschend blickte er auf Lilith herab. Seine Eckzähne waren die eines Vampirs. Er war zu einer Dienerkreatur geworden! Offen bar hatte der Angreifer ihn mit dem Keim infiziert, noch bevor er sich so vehement zur Wehr setzen konnte. Und nun stürzte er sich brüllend auf Lilith. Selbst wenn sie ihn hätte berühren können – seine bloßen Körperkräfte hätten sie zer malmt. Ihr blieb nur ihre Wendigkeit. Sie rollte sich zur Seite und entkam um Haaresbreite seinen zu greifenden Klauen. In nächsten Moment war sie auf den Beinen. Der Weg zu den Hebeln war frei, aber ihr blieben nur noch Sekun den. Sie spürte, wie der Zug bereits in den Schienen schlingerte und der Boden unter ihren Füßen vibrierte. In wenigen Augenblicken würde er die Kurve erreichen, die ihn endgültig zum Ausbrechen bringen würde … Hektisch betätigte Lilith einige der Hebel – und hatte Glück. Ein ohrenbetäubendes Quietschen verriet ihr, daß sie den Bremshebel erwischt haben mußte. Kreischend verlangsamte der Zug sein Tem po, kippte aber gleichzeitig zur Seite, so daß Lilith einen Augenblick lang glaubte, er würde doch noch in die Schlucht stürzen, fing sich dann aber im letzten Moment und sank sicher in sein Schienenbett zurück. Sie hatte es geschafft! Die Erleichterung überrollte sie wie eine Woge des Glücks. Da legten sich von hinten die Hände der Dienerkreatur um ihren Hals und drückten erbarmungslos zu! Lilith schlug wild um sich und traf doch keinen Widerstand, spür te, wie ihre Sinne schwanden, und nahm gleichzeitig wie durch einen Nebel wahr, daß der Zug tatsächlich allmählich langsamer wurde. Sie hatte die Zeitschleife durchbrochen, doch sie würde den Tri
umph nicht mehr erleben! Die Schwärze vor ihren Augen wich ei nem blutigen Nebel, als die Dienerkreatur ihre Klauen tief in ihr Fleisch drückte. Dann kam der Zug vollends zum Stillstand.
* Der Tod. Diesmal mußte es der Tod sein. Lilith stürzte und schlug hart auf dem Boden auf. Der Schmerz durchzuckte ihren ganzen Körper. Nur langsam wurde ihr bewußt, daß sie die Klauen nicht mehr um ihren Hals spürte. Erst als der blutige Nebel allmählich wich, sickerte die Erkenntnis vollends in ihren Verstand. Als sie die Augen aufschlug, lag sie auf rostigen Schienen. Das zwischen den Schwellen wuchernde Gras verriet ihr, daß hier schon lange kein Zug mehr gefahren war. Als sie zurückschaute, sah sie die Brücke im bleichen Licht des Mondes. Einst mochte sie ein sicherer Weg über die Schlucht gewe sen sein – jetzt waren ihre stellenweise morschen Pfeiler längst ein gebrochen und moderten vor sich hin, wie das Skelett eines Sauriers, der sich nie wieder erheben würde … Sie war wieder in der Gegenwart. Was immer geschehen war – es war vorüber. Rätselhaft blieb, was sie in den Zug und genau einhundert Jahre in die Vergangenheit gelockt hatte – und warum. Hatte die Zeit selbst versucht, sich aus ihrer Anomalie zu befreien? Hatte der Tod eine Verbündete gesucht, ein Wesen, das beide Welten in sich vereinte, um endlich das Opfer zu erlangen, das sich so lange seinem Zugriff entzog? Oder hatte die Vampirin Mitsou sich einer verwandten Seele be
dient, um das Joch zu durchbrechen, das Schatten über sie gelegt hatte? Schwach erinnerte sich Lilith daran, wie das Grauen in der UBahn-Station in Tokio begonnen hatte. Eine junge Frau hatte die Waggontür für sie geöffnet und war danach spurlos verschwunden. Mitsou? Es war müßig, sich in Spekulationen zu verlieren. Ein qualvolles Ziehen in der Magengrube, das die Schmerzen des Sturzes noch übertraf, holte Lilith in die Wirklichkeit zurück. Sie mußte ihren Durst stillen, jetzt sofort, bevor sie zu schwach war, ein Opfer in ihren Bann zu bringen. Stöhnend erhob sie sich von den Bahnschwellen und trat an den Rand der Schlucht. Tief unter ihr lag ein weites Tal. Die Lichter eines Dorfes kämpften gegen die Dunkelheit an, winzig klein und verlo ren von hier oben aus gesehen. Für Lilith waren sie der Wegweiser zum Leben. Sie trat über den Rand hinaus und ließ sich in die Tiefe fallen. Der Sturz währte nur wenige Sekunden, dann fingen ledrige Schwingen ihn ab. Bald würde sie ihren Durst stillen können. ENDE
Lilith Opfer von Adrian Doyle Nick Czerkasny war Taxifahrer in Sydney, Australien. Ein nicht ge rade aufregender Job. Nur einmal, vor anderthalb Jahren, war etwas Bizarres geschehen. Eine bildhübsche junge Frau hatte ihn erst in seinem Taxi verführt – und dann in den Hals gebissen, ganz wie ein Vampir aus einem dieser Gruselfilme. Nick war der offensichtlich Verrückten entkommen: die Wunde war rasch verheilt. Inzwischen dachte er kaum noch an den Vorfall. Bis heute. Die Adresse, zu der er gerufen wurde, weckte unange nehme Assoziationen. Zur Paddington Street hatte damals auch die junge Frau gewollt. Und wieder geschah etwas, das Nick sein ganzes Leben lang nicht vergessen sollte. Und darüber hinaus. Er war das erste Opfer – aber längst nicht das letzte …