Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 562 Die Landschaft im Nichts
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 562 Die Landschaft im Nichts
Gefahrenstufe eins von Falk-Ingo Klee Der Kampf SOL gegen SOL entbrennt Mehr als 200 Jahre lang war die SOL, das Fernraumschiff von Terra, auf seiner ziellosen Reise durch die Tiefen des Alls isoliert gewesen, bis Atlan in Kontakt mit dem Schiff kommt. Die Kosmokraten haben den Arkoniden entlassen, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Juli des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, das er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und die Solaner haben in dieser Zeit viele Konflikte mit Gegnern von innen und außen mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, hat längst eine Normalisierung des Lebens an Bord stattgefunden. Allerdings sorgen unerwartete Ereignisse immer wieder für Unruhe. So geschieht es auch auf dem weiteren Weg zur Kugelgalaxis Ploohnei, als die SOL in ein Mini-Universum verschlagen wird, das die »Landschaft im Nichts« enthält. Während Atlan sich an die Untersuchung dieses mysteriösen Materiebrockens macht, herrscht auf dem Mutterschiff GEFAHRENSTUFE EINS …
Die Hauptpersonen des Romans: Breckcrown Hayes - Der High Sideryt nimmt den Kampf gegen die Doppel-SOL auf. Insider - Der Extra unterstützt die Paradiso-Nirwana-Bewegung. Atlan - Der Arkonide unterwegs in der »Landschaft im Nichts«. Sanny, Hage Nockemann und Vorlan Brick - Atlans Begleiter. Rik Sörensen - Großadministrator von Metallstadt.
1. War da nicht etwas – ein Geräusch? Nein, da war nichts – nichts außer dem Wispern der Unendlichkeit und dem Raunen der Ewigkeit. Und doch: Jemand schien zu flüstern – nicht akustisch, nein, geistig. Ein Gedanke entstand, wurde zu einem Impuls, kräftig genug, um Raum und Zeit zu überwinden, doch nur ein Wesen konnte die Botschaft empfangen, denn es war eine Kreatur des Denkenden … »Du hast einen großen Fehler begangen, Schalter, indem du voreilig und inkonsequent gehandelt hast.« Der Tadel war unüberhörbar. »Es ist deine Schuld, daß sich der erwartete Erfolg noch nicht eingestellt hat.« »Ich gelobe Besserung, Herr«, gab das Geschöpf des Denkenden geistig zurück, »doch was hätte ich tun sollen?« »Du sollst von den Möglichkeiten, über die du dank meiner Macht verfügst, besseren Gebrauch machen. Nichts ist für diese Lebewesen unglaubwürdiger, als wenn ihnen das Paradies versprochen wird, du aber zugleich versuchst, einige der Ihren zu töten. Verstehst, du das, Schalter?« »Ja, Herr«, lautete die demütige Antwort. »Ich weiß, daß es für das, was ich getan habe, keine Entschuldigung gibt, dennoch möchte ich als dein unterwürfiger Diener erwähnen, daß der Plan nur funktionieren kann, wenn dieser Atlan ausgeschaltet wird.« »Lassen wir das. Ich habe mittlerweile eine wirksamere
Maßnahme eingeleitet, und dir, Schalter, obliegt es, dafür zu sorgen, deine ganze Kraft einzusetzen, daß alles zu meiner Zufriedenheit verläuft.« »Gewiß, Herr«, dienerte das Geschöpf gedanklich. »Bitte halte mich nicht für anmaßend, aber meine Unterstützung wäre wirksamer, wenn du mich in Einzelheiten einweihen könntest.« Es entstand eine kurze Pause, in der der Denker zu überlegen schien, dann kam die geistige Antwort. »Als mein Werkzeug würden dich Details überfordern, dennoch will ich dir einen Hinweis geben. Achte auf die SOL.« »Warum betonst du das so merkwürdig, Herr? Was hast du vor? Was soll ich tun?« »Warte es ab.« Nach dieser mysteriösen Andeutung schwieg die geistige Stimme. Ein wenig verwirrt versuchte das »Schalter« genannte Wesen zu ergründen, was der Denkende wohl gemeint hatte.
* Es war noch nicht lange her, daß die Korvette SZ-2-11 mit dem Eigennamen FRESH geortet hatte, daß die SOL sich im Anflug auf die Landschaft im Nichts befand. Das hatte bei allen Beteiligten Verwunderung ausgelöst. Während eines Funkgesprächs vor knapp vier Stunden – man schrieb den 20. Juli 3792 – hatte Hayes, der neue High Sideryt, keinen Zweifel daran gelassen, daß er erst konkrete Daten haben wollte, bevor er den Hantelraumer einer möglichen Gefahr aussetzte, die von diesem merkwürdigen Raumkörper ausgehen konnte. Und nun näherte sich die SOL doch der Landschaft im Nichts, ohne zuvor den Erkundungstrupp informiert zu haben. Vergeblich hatte Atlan versucht, mit dem Fernraumer Verbindung aufzunehmen. Daraufhin war er zusammen mit Sanny und Hage
Nockemann von Bord gegangen, während Vorlan Brick und Curie von Herling mit dem Beiboot gestartet waren. Das tragbare Funkgerät des Arkoniden sprach an. Die FRESH, die jetzt in zehn Kilometer Höhe über dem Kristallsee stand, meldete sich. Klar und deutlich drang die Stimme der Stabsspezialistin van Herling aus dem Empfänger. »Die SOL ist inzwischen auch ohne Vergrößerung optisch auszumachen. Ihr müßt sie bald ebenfalls sehen können.« »Habt ihr Kontakt zum Schiff bekommen?« »Nein, alle Anrufe bleiben unbeantwortet.« »Danke. Ende.« Vergeblich versuchte der Unsterbliche zu ergründen, was das zu bedeuten hatte. Warum tat Hayes so geheimnisvoll, wo doch ein solcher Gigant von einem Gegner leicht auszumachen war? Hatte er vielleicht durch Fernortung etwas entdeckt, was der SZ-2-11 entgangen war? »Seht doch, die SOL!« rief Nockemann aufgeregt. Nahezu gleichzeitig blickten Atlan und die Moolatin nach oben. Kein Zweifel, es war der mächtige Hantelraumer, der da über der Landschaft im Nichts schwebte. Kurz entschlossen nahm der Arkonide sein Funkgerät in Betrieb und rief Hayes. Fast zwei Minuten lang versuchte er, Kontakt zu bekommen, doch die SOL meldete sich nicht. Eine düstere Ahnung beschlich ihn. Etwas konnte da nicht stimmen. Nachdenklich schaltete er ab. Es könnte diese andere SOL sein, die schon mehrfach beobachtet wurde, deren Existenz aber bisher nicht erklärt werden konnte, kommentierte sein Extrasinn. »Eine ziemlich kühne Hypothese«, formulierte Atlan gedanklich. »Wie du weißt, befinden wir uns in einer Art Mini-Universum, für das nicht einmal SENECA eine Erklärung hat. Wie sollte da diese Parallel-SOL ausgerechnet in diesen Sektor kommen?« Der Logiksektor meldete sich nicht mehr; das bestärkte den Arkoniden in seiner Ansicht. Einen solchen Zufall, daß diese
Doppel-SOL ausgerechnet hier und jetzt auftauchte, konnte es nicht geben, zumal es auch keinen Sinn ergab. Nein, wesentlich wahrscheinlicher war da schon, daß Hayes einen bestimmten Plan verfolgte und sich aus taktischen Gründen in Schweigen hüllte. Zu gern hätte er gewußt, was Breckcrown vorhatte, doch er mußte sich mit der Rolle des Beobachters begnügen. Er blickte in die Richtung, in der die korbförmigen Hütten der Libellenmenschen standen. Als die kleinen Raumfahrzeuge landeten, waren sie zur Begrüßung herbeigeeilt, die deutlich sichtbare SOL ignorierten sie. Hatte das etwas zu bedeuten? »Ist unsere SOL nicht ein gewaltiges Schiff?« fragte Hage Nockemann stolz. Sanny, die Paramathematikerin, nickte beeindruckt. Für sie, die nicht größer war als siebenundvierzig Zentimeter, war ohnehin alles riesig, was die Solaner und ihre Geräte betraf. Blicklos starrte Atlan auf den hoch über ihnen stehenden Koloß. Er hätte einiges darum gegeben, jetzt Bjo Breiskoll an seiner Seite zu haben, um durch den Telepathen zu erfahren, was Hayes bewogen hatte, seine Zurückhaltung aufzugeben, doch der Katzer hatte sich strikt geweigert, auch nur einen Fuß auf dieses Teufelsgebilde zu setzen, wie er es genannt hatte. Gab es wirklich eine Gefahr, in der sie schwebten? Hatte Bjo etwas geespert? War die SOL gekommen, um sie vor etwas zu retten, von dem sie keine Ahnung hatten? In diesem Zusammenhang erinnerte er sich an die Warnung vor einem gewissen Schalter, die der geheimnisvolle Chybrain Sanny übermittelt hatte. Es war das zweite Mal gewesen, daß er vor dem Schalter gewarnt worden war; das erste Mal hatte er diesen Begriff bei seiner unwirklichen Begegnung mit dem Materielosen gehört. Und dann: Der Katzer hatte vor Unheil gewarnt, Tdibmufs sprach von einer bösen Macht. Gab es da einen Zusammenhang? Bevor er weitere Überlegungen dazu anstellen konnte, wurde der Arkonide jäh aus seinen Gedanken gerissen. Bei der SOL blitzte es
auf. Ein greller Energiestrahl raste auf die ungeschützte FRESH zu. Entsetzt schrie Sanny auf.
* »Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl.« Vorlan Brick, zusammen mit seinem Zwillingsbruder Uster Chefpilot im Mittelteil der SOL und Stabsspezialist wie Curie von Herling, ging unruhig in der Zentrale der SZ-2-11 auf und ab. »Mir gefällt nicht, daß die SOL gar nichts von sich hören läßt. Warum haben sie nicht wenigstens einen Rafferimpuls abgestrahlt, damit wir wissen, was sie vorhaben?« »Mir behagt das ebenfalls nicht, aber wir können nichts tun.« Die Frau stand vor dem Bildschirm und betrachtete nachdenklich das Abbild des Hantelraumers. »Was mag Breckcrown bewogen haben, mit der kompletten SOL hier aufzutauchen?« »Wenn ich das wüßte …« Der dunkelhäutige Solaner ließ sich mit kantigen Bewegungen im Sessel des Piloten nieder und fuhr spielerisch über die Schalter. »Ich wäre jetzt lieber an Stelle des Kleinen, der hat wenigstens klare Anweisungen«, brummte Vorlan Brick. Der Kleine – das war sein Bruder. Beide waren eineiige Zwillinge, aber unterschiedlich groß. Während Vorlan immerhin 1,86 m maß, war Uster nur einhundertvierundsechzig Zentimeter groß. Als beide noch Kinder waren, hatte man bei Uster eine Störung der Hypophyse diagnostiziert, die das Wachstum steuert, doch aufgrund fehlender Rohstoffe hatte man damals keine entsprechende Medizin herstellen können, so daß ihm jetzt einige Zentimeter fehlten; seinem Selbstbewußtsein hatte das aber keinen Abbruch getan. Wann immer die beiden zusammen waren, zogen sie sich gegenseitig mit dem Größenunterschied auf. »Wir werden bald wissen, was man auf der SOL plant«, meinte die ehemalige Magnidin.
Als hätte sie damit ein Stichwort geliefert, blitzte es drüben bei dem Hantelraumer auf. Fassungslos, unfähig, sich zu bewegen, starrte die Frau auf den Schirm. »Als wenn ich es geahnt hätte«, knurrte Brick. Anders als Curie van Herling reagierte er sofort und legte dabei eine Kaltblütigkeit an den Tag, als befände er sich im Simulator. Mit fliegenden Fingern nahm er in rascher Folge verschiedene Schaltungen vor, fuhr die Energieversorgung auf Vollast und aktivierte die Schirmfelder. Das nervtötende Geheul der überlasteten Aggregate und der akustischen Warnanlagen überhörte er geflissentlich und beachtete auch nicht die Batterien roter Lämpchen; letztendlich war es egal, ob ein Treffer die FRESH zur Explosion brachte oder die eigene Maschinerie. »Festhalten!« brüllte der Pilot. Mit einem Alarmstart versuchte, er das Schiff von der Stelle förmlich wegzukatapultieren, was aber infolge der Masseträgheit und der winzigen Zeitspanne nur unvollkommen gelang. In das Tosen und Toben der Triebwerke, das Wimmern der Sirenen und das Jaulen der überlasteten Andruckneutralisatoren mischte sich das Ächzen strapazierten Materials, das von der Einschlagwucht einer Energiesalve übertönt würde. Die Schiffszelle dröhnte wie eine riesige Glocke. Als hätte eine Riesenfaust die Korvette gepackt, wurde der Raumer durchgerüttelt und zur Seite geschleudert. Die kinetische Energie war so groß, daß weniger stabile Halterungen zerbrachen und Geräte aus ihren Verankerungen gerissen wurden. Curie van Herling hatte sich nicht auf den Beinen halten können und war gegen einen Sitz geschleudert worden. Obwohl ihr der Aufprall fast das Bewußtsein raubte, waren ihre Reflexe so ausgeprägt, daß es ihr gelang, sich festzukrallen. Entladungen von unvorstellbarer Stärke tobten durch die Schirmfelder, erzeugten verwirrende Farbspiele und brachten sie an einigen Stellen zum Flackern. Kurzfristig erlosch die Beleuchtung,
verschiedene Anzeigen fielen aus, als sämtliche Energie auf die Primärverbraucher geschaltet wurde. Die wabernde Lohe, in die das Beiboot gehüllt war, wurde blasser, das infernalische Heulen verlor an Intensität. Wie eine abgefeuerte Kanonenkugel raste die FRESH in zehn Kilometer Höhe über die Landschaft im Nichts, von dem Hantelraumer weg. Auch jetzt noch leuchteten ihre Schirme, allerdings diesmal durch die Reibung der Atmosphäre. »Das war verdammt knapp«, keuchte Brick. Sein dunkles Gesicht war vor Anspannung verzerrt, feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Stöhnend rappelte sich die Solanerin auf und ließ sich in einen Sessel neben dem Piloten fallen. Sie war leichenblaß, ihre Augen waren weit aufgerissen. »Was mag auf der SOL vorgefallen sein?« flüsterte sie tonlos. »Warum läßt Breckcrown auf uns schießen?« »Eine gute Frage, auf die ich leider keine Antwort weiß«, gab der Mann zurück. Er knirschte mit den Zähnen. »Ich hätte nicht übel Lust, diesen Idioten da drüben ebenfalls einen Schuß vor den Bug zu setzen.« »Das kannst du nicht machen, Vorlan«, sagte die Stabsspezialistin beschwörend. Der Pilot drosselte die Kapazität der Meiler, bis die Warnlichter nach und nach erloschen. Er lächelte freudlos. »Keine Sorge, Curie, ich lasse mich nicht zu einer Unbesonnenheit hinreißen, zumal unser Schiffchen der SOL hoffnungslos unterlegen ist. Ich werde …« Was er wollte, blieb unausgesprochen. »Aufpassen, der Tanz geht weiter!« Wieder blitzte es bei der SOL auf. Geistesgegenwärtig schaltete Brick auf Schubumkehr und zwang die SZ-2-11 in einem brutalen Manöver nach unten. Erneut verwandelte sich die Zentrale in ein akustisches Inferno, Vibrationen durchliefen das Schiff. Gequält
stöhnte die Frau auf. Dem Piloten rauschte das Blut in den Ohren, seine schweißnassen Hände verkrampften sich. Wie hypnotisiert starrte er auf die Anzeigen, dann stieß er geräuschvoll die Luft aus. Dank seiner Reaktionsschnelligkeit hatte er noch einmal das Kunststück fertiggebracht, den Raumer aus der Schußlinie zu bringen. Die vernichtende Salve strich knapp über die FRESH hinweg. »Sie meinen es ernst, Vorlan. Sie wollen uns vernichten.« »Es sieht so aus – wodurch unsere Lage sehr ungemütlich wird«, sagte der Dunkelhäutige sarkastisch. »Unsere einzige Chance besteht darin, zu versuchen, diesen Himmelskörper zwischen uns und die SOL zu bringen.« Curie von Herling blickte ihren Begleiter skeptisch an. »Glaubst du, du schaffst es?« »Wenn wir vorher nicht getroffen werden – ja. Ein solches Riesenschiff ist wesentlich unbeweglicher als eine Korvette.« Trotz der tödlichen Gefahr, in der sie sich befanden, brachte er noch ein Grinsen zustande. »Außerdem kann ich dem Kleinen dann endlich einmal beweisen, wer von uns der bessere Pilot ist.« Die Frau schwieg. In einer Situation wie dieser hatte sie keinen Sinn für Humor. Vorlan Brick war das nur recht, denn so konnte er sich voll und ganz auf die Steuerung konzentrieren. In einer engen Parabel brachte er das Schiff auf die ursprüngliche Höhe, schlug dann aber keinen geraden Kurs ein, sondern ließ die FRESH mit vierfacher Schallgeschwindigkeit mal im Zickzack fliegen, mal auf- und abtanzen wie einen Stein auf dem Wasser. Um das Zielen zusätzlich zu erschweren, baute er willkürlich Figuren ein, vollführte Loopings, ließ den Raumer die auszurechnende Bahn plötzlich unterbrechen und zwang ihn in eine Richtung, die allen Gesetzen der Logik widersprach. Mittlerweile hatte die SOL ebenfalls Fahrt aufgenommen und war dazu übergegangen, mit etlichen Geschützen im Takt zu feuern,
wodurch eine größere Streuung erreicht wurde. Der Solaner fuhr sich mit der Linken über die verschwitzte Stirn. »Allmählich wird's brenzlig.« »Warum erhöhst du nicht die Geschwindigkeit?« »Weil ich dann nicht mehr so schnell ausweichen kann«, knurrte Brick. Kaum, daß er ausgesprochen hatte, wurde das Schiff von einem Schlag getroffen, der es bis in seine Grundfesten erbeben ließ. Ein unheilvolles Knirschen und Knacken war zu hören. Trotz der Filter erfüllte gleißende Helligkeit den Raum, mischte sich mit dem aufgeregten Flackern ganzer Batterien von Warmlämpchen. Die SZ2-11 hatte erneut einen Streifschuß erhalten. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie und die tapfere kleine Besatzung endgültig das Schicksal ereilte, denn ein Schiffchen von sechzig Metern Durchmesser hatte gegen einen Koloß wie die SOL keine Chance.
* Als die SOL zu feuern begann, hatte Atlan nicht eine Sekunde gezögert. »In Deckung!« schrie er. Mit einem Satz war er bei Sanny, riß die zierliche Moolatin an sich und brachte sich mit ihr hinter einer Bodenerhebung in Sicherheit. Nockemann, der anfangs ziemlich perplex war, ließ sich einfach zu Boden fallen und bedeckte den Kopf mit den Händen. Der Arkonide hatte sich schützend über die Paramathematikerin geworfen, war aber zugleich kaltblütig genug, sich eine Stelle auszusuchen, an der die Büsche so licht waren, daß er beobachten konnte, was sich da oben abspielte. Alles geschah rasend schnell. Kaum, daß sich die FRESH in ihre Schutzschirme gehüllt hatte, bewegte sie sich zur Seite, doch das konnte auch eine
Sinnestäuschung sein. Schon stand da, wo sich die Korvette befand, ein leuchtender Glutball am Himmel, der die Sonne verblassen ließ. Hoffen und Bangen zugleich erfüllten den Arkoniden. Vorlan hatte unglaublich schnell reagiert. Möglicherweise hatte er es noch geschafft … Er hat es geschafft! Ja, es war ihm tatsächlich gelungen, den überfallartigen Angriff abzuwehren, denn der Glutball breitete sich nicht aus, wie das bei einer Explosion der Fall war, im Gegenteil, aus dieser Hölle tauchte die SZ-2-11 auf wie ein Phönix aus der Asche. Mit steigender Geschwindigkeit entfernte sie sich von der SOL, und es hatte den Anschein, daß ihre Schutzschirme unversehrt waren. Atlan bemerkte nicht, daß seine Augen tränten – ein deutliches Anzeichen seiner Erregung –, er fühlte Zorn in sich aufsteigen. Was dachte sich Hayes eigentlich dabei, ein Beiboot unter Beschuß zu nehmen? Der Arkonide rollte sich zur Seite und sprang auf. Obwohl er sah, daß Sanny ziemlich konfus war, ließ er sie unbeachtet und nahm stattdessen sein Funkgerät in Betrieb. »Hier ist Atlan! Ich rufe die SOL! SOL, hört ihr mich? Meldet euch!« Als der Wissenschaftler hörte, daß Atlan die SOL anfunkte, riskierte er es, den Kopf zu heben, warf aber einen mißtrauischen Blick nach oben, bevor er sich dazu entschloß, aufzustehen. Wie es im Augenblick aussah, mußten sie nicht damit rechnen, von herabregnenden Trümmerstücken getroffen zu werden, obwohl die FRESH erneut attackiert wurde und sich nur durch gewagte Ausweichmanöver retten konnte. »Was bedeutet das?« fragte die Kleine verwirrt. »Ich fürchte, das könnte dir noch nicht einmal Blödel beantworten«, seufzte Nockemann. »Ich kann mir jedenfalls keinen Reim darauf machen, es sei denn, vom High Sideryt wären wieder Duplikate aufgetaucht, was aber nach dem Gesetz der
Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist.« Mit einem Blick bedeutete ihm der Unsterbliche zu schweigen. Ergeben zuckte der Solaner die Schultern und ging zu der Moolatin. Bevor er sie erreichte, blieb er stehen und drehte sich abrupt um. »Richte Hayes aus, daß ich mißbillige, was er da tut. Es zeugt von einem verdammt schlechten Charakter, die eigenen Leute als Zielscheibe zu benutzen.« »Halte endlich den Mund!« sagte Atlan ungnädig und beschäftigte sich wieder mit dem Funkgerät. Unwillkürlich zog Nockemann den Kopf ein. Er konnte sich nicht erinnern, den Arkoniden je zuvor so aufgebracht gesehen zu haben. »Hier … die SOL. Wir hören … Atlan. Was … es?« drang es verzerrt aus dem Empfänger. »Das wurde auch langsam Zeit«, sagte der Aktivatorträger wütend. »Ich will den High Sideryt sprechen.« »Du … schlecht zu verstehen, die Sendung … gestört. Wen … du sprechen?« »Breckcrown Hayes, und zwar sofort!« Warum bist du so ungehalten! erkundigte sich sein Extrasinn. »Das ist die dümmste Frage, die du mir je gestellt hast«, erregte sich der Arkonide gedanklich. Du bist außer dir, und das trübt den Verstand. Dein Funkgerät reicht knapp fünfzig Lichtminuten weit. »Und?« Du kannst die SOL sehen, doch du hast Schwierigkeiten mit der Verständigung. Findest du das plausibel? Auf einmal fiel es dem Aktivatorträger wie Schuppen von den Augen. Ein ungeheuerlicher Gedanke kam ihm. »Du meinst?« Ja, so muß es sein. Die SOL, die hier über der Landschaft im Nichts aufgetaucht ist, kann nur diese Geister-SOL sein, die schon mehrfach beobachtet wurde. Oder hast du ernsthaft damit gerechnet, daß der neue High Sideryt es darauf anlegt, andere Solaner zu töten, um einer schäbigen
Tradition zu folgen? Das Funkgerät sprach erneut an und enthob den Arkoniden einer Antwort. »Hier ist Breckcrown … Was … es, Atlan?« »Wo befindest du dich derzeit mit der SOL?« »An … alten Position. Warum … du?« »Du hast also den Standort nicht verändert?« »Ich … den Sinn nicht,… Sendung kommt nur schlecht verständlich … Kannst du … wiederholen?« Atlan tat es und fügte zugleich die Frage an, was man auf der SOL mittlerweile unternommen hatte. »Nichts. Wir befinden … an alter Position und warten auf … Bericht. Das … doch abgesprochen.« »Gewiß, aber mittlerweile hat sich hier etwas ergeben, was die Anwesenheit der SOL erfordert. Diese Parallel-SOL ist über der Landschaft im Nichts aufgetaucht und legt es darauf an, die FRESH zu vernichten. Du mußt uns helfen, Breckcrown – sofort. Vorlan ist zwar ein guter Pilot, aber einem solchen Giganten wie der SOL ist eine Korvette hoffnungslos unterlegen.« »Wir … so schnell … möglich.« »Danke, Breckcrown.« Der Arkonide schaltete das Funkgerät ab und wandte sich seinen Begleitern zu, die mitgehört hatten. Sanny blickte Atlan aus großen Augen fragend an, während Nockemann einfach dastand, sich unbehaglich am Kinn kratzte und keinen sonderlich intelligenten Eindruck machte. »Bei allen Raumgeistern«, platzte er plötzlich heraus. »Wie bist du darauf gekommen, daß es die Parallel-SOL ist?« »Das ist im Augenblick nicht von Belang«, wehrte der Arkonide weitere Fragen ab und hielt Ausschau nach der FRESH. Die Korvette war nicht mehr auszumachen, und auch die GeisterSOL verschwand am Horizont, lediglich ein Überschallknall und Luftturbulenzen zeugten davon, daß die drei nicht einem Spuk zum
Opfer gefallen waren. »Hoffentlich schafft Vorlan es«, sagte die Moolatin bedrückt. »Wenn einer das Kunststück fertigbringt, sich wenigstens kurzfristig gegen einen solchen Giganten wie die SOL halten zu können, dann ist es einer der Brick-Brüder«, sagte der Aktivatorträger überzeugt. »Die Frage ist nur, ob Hayes so rechtzeitig hier eintrifft, daß noch etwas zu retten ist.« Der Wissenschaftler blickte sich unbehaglich um. Sie besaßen keinen beweglichen Untersatz mehr, beide Space-Jets waren vernichtet worden. »Wir können der FRESH nicht helfen. Sollen wir uns zum Dorf der Libellenmenschen begeben?« Atlan schüttelte den Kopf. »Was hätte das für einen Sinn?« »Worauf willst du warten?« antwortete Hage Nockemann mit einer Gegenfrage. »Ein Platz ist so gut oder so schlecht wie der andere.« »Eben!« »Ich will dir nicht zu nahe treten, aber jetzt erinnerst du mich an Blödel«, brummte der Solaner gekränkt. »Der muß auch immer das letzte Wort haben.« Daß Nockemann nicht wirklich getroffen war, zeigte sich an dem verklärten Gesichtsausdruck. Er verriet zugleich deutlich, wie sehr der Galakto-Genetiker sich innerlich mit der wissenschaftlichen Positronik verbunden fühlte, die er abfällig »Blödel« nannte, dabei hätte er nie öffentlich zugegeben, daß ihm der Rechner fehlte. Beide – Mensch und Maschine – hatten eine Beziehung zueinander entwickelt, die weit über das hinausging, was man gemeinhin von einem Wissenschaftler und seiner Elektronik erwartete. Blödel – das war für Hage nicht einfach eine Kombination von Chips, Schaltkreisen und Speichern, sondern ein Gesprächspartner, ein Wesen, förmlich ein Freund. Hätte man ihn allerdings darauf angesprochen, hätte er das mit Vehemenz als Unterstellung
bestritten. »Es freut mich, daß du mir einen solchen Status einräumst«, sagte Atlan und mußte unwillkürlich lächeln. »Allerdings kann ich dir nicht versprechen, Blödel völlig zu ersetzen. Mir fehlt da ein bißchen die Erfahrung als positronisches Pendant.« Mißtrauisch beäugte Nockemann den anderen, dann beklagte er sich: »Du machst dich über mich lustig.« »Nichts läge mir ferner, Hage. Oder nimmst du mir einen kleinen Scherz übel?« Der Wissenschaftler zog die Stirn kraus, dann lachte er. »Nein, Blödel ist nämlich manchmal auch ein Spaßvogel, mitunter sogar ein arger Schelm.« Atlan zwang sich zu einem säuerlichen Lächeln. So wörtlich hatte er es nun wirklich nicht gemeint. Demonstrativ ging er einige Schritte zur Seite und suchte den Himmel mit den Augen ab. Das kleine Pelzwesen trat an seine Seite. »Glaubst du, daß man uns auch töten will wie Curie, Vorlan und die anderen an Bord der FRESH?« »Zumindest im Augenblick gibt es keine Anzeichen dafür, Sanny.« Beruhigend legte der Unsterbliche seine Hände auf die Schultern der Moolatin. »Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die echte SOL hier ist. Du hast es selbst gehört.« »Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage«, zitierte Nockemann, der den beiden gefolgt war und die Unterhaltung mitbekommen hatte. »Das ist von Shakespeare.« Der Wissenschaftler strahlte Atlan an, als hätte der ihm soeben den Stein der Weisen vermacht. »Ich gehe jede Wette ein, daß kaum jemand an Bord der SOL das gewußt hätte – bis auf Blödel natürlich. Allmählich glaube ich tatsächlich an eine gewisse Affinität zwischen euch.«
Der Arkonide blickte sein Gegenüber befremdet an. »Vergiß es.« »Bist du etwa eingeschnappt?« »Nein, aber mir ist gerade eingefallen, daß ich völlig andere Schaltkreise besitze als eine Positronik.« »Seht doch – die FRESH! Sie existiert noch!« Der Ausruf Sannys unterbrach das Geplänkel der beiden Männer. Tatsächlich zeichnete sich am Horizont ein leuchtender Punkt ab, der rasch größer wurde. Ein zweiter, wesentlich größerer Körper folgte ihm, doch er begnügte sich nicht damit, sondern feuerte auf das vergleichsweise winzige Objekt. Unwillkürlich hielt die kleine Gruppe den Atem an, als eine Salve die Kugel am oberen Pol traf und ihre Schirme aufleuchten ließ. Wie ein Geschoß stürzte die Korvette nach unten. Schon befürchteten die drei, daß das Beiboot getroffen war und auf dem Boden zerschellen würde, als es wenige hundert Meter über der Oberfläche abgefangen wurde und sich nach einer rasanten Kurve spiralig nach oben schraubte. Ein schaurig klingendes Orgeln erfüllte die Luft. Wieder feuerte die Parallel-SOL. Brick hatte es nicht bei dem Aufstieg belassen, sondern den Raumer in eine Parabel gezwungen, die das Material bis an die Grenzen seiner Festigkeit belastete. Dieses gewagte Manöver bewahrte die SZ-2-11 zwar vor einem Volltreffer, doch die Schirmfelder waren der auftreffenden Restenergie des Beschusses nicht gewachsen und brachen zusammen. Nockemann gab einen erstickten Laut von sich und wandte sich ab. Unzweifelhaft bedeutete der nächste Treffer das Ende der nun ungeschützten FRESH und ihrer kleinen Besatzung; er, der sich dem Leben verschrieben hatte als Wissenschaftler, konnte und wollte es nicht mit ansehen. Mit unbewegtem Gesicht blickte Atlan nach oben. Seine Miene verriet nicht, was er dachte, aber trotz seines mehr als
zehntausendjährigen Lebens, in dessen Verlauf er den Tod vieler Individuen miterlebt hatte, war er innerlich nicht weniger aufgewühlt als der Galakto-Genetiker. Curie und Vorlan waren nicht seine Freunde wie etwa Perry Rhodan, sie standen ihm persönlich nicht so nahe, aber es war immer wieder schmerzhaft und deprimierend zugleich, hilflos zusehen zu müssen, wie Intelligenzen einfach vernichtet wurden. Es konnte doch nicht der Sinn des Lebens sein, daß sich hochstehende Wesen gegenseitig töteten. Ein Raubtier, das eine Beute riß, tat das nicht, weil es grausam war, sondern weil es überleben wollte, aber warum gab es so etwas wie Krieg oder jetzt diese Jagd auf die Korvette, bei der das Ende feststand? Wem konnte ein Schiffchen wie die FRESH gefährlich werden? Der Geister-SOL bestimmt nicht. Was veranlaßte die Geschöpfe an Bord der Hantelraumer-Kopie dazu, das Beiboot zu vernichten? Woher kam die zweite SOL überhaupt? Du hast die Super-Intelligenzen vergessen, erinnerte der Logiksektor. Und Hidden-X. »Meinst du, daß der, der hinter dieser Doppel-SOL steckt, Angst vor einer Korvette hat?« gab der Weißhaarige bitter zurück. Sicherlich nicht, aber es könnte ein wichtiger Schachzug in der Auseinandersetzung sein. Atlan gab sich damit zufrieden. Es war müßig, sich den Kopf weiter darüber zu zerbrechen. Der Aktivatorträger richtete den Blick wieder zum Himmel. Mit tollkühnen Manövern war es Vorlan bis jetzt gelungen, die FRESH vor der Vernichtung zu bewahren, aber man mußte kein Hellseher sein, um zu erkennen, daß die Lage für Brick absolut hoffnungslos war. »Atlan, ich habe eben berechnet, wie die Korvette sich retten kann«, rief Sanny plötzlich. Elektrisiert fuhr der Arkonide herum. »Was ist es? Sage es mir – schnell!«
Noch während er sprach, nahm er das kleine Funkgerät und schaltete es ein. »Die FRESH kann der Geister-SOL nur entkommen, wenn sie hier auf der Landschaft im Nichts landet.« »Curie, Vorlan, hier ist Atlan!« Hastig gab er durch, was die Paramathematikerin ermittelt hatte. Er hatte keinerlei Bedenken, die Botschaft zu übermitteln, denn zu oft schon hatte die Moolatin ihre besonderen Fähigkeiten unter Beweis gestellt. »Beeilt euch, ehe es zu spät ist.« Curie van Herling, die den Anruf entgegengenommen hatte, bestätigte knapp. Ihre Stimme klang gepreßt. Wahrscheinlich hatte sie nicht mehr damit gerechnet, daß es noch eine Möglichkeit geben konnte, mit heiler Haut davonzukommen. Der Pilot reagierte augenblicklich. Die SZ-2-11 stürzte wie ein Stein nach unten, wurde abgefangen, geriet ins Trudeln, schoß im spitzen Winkel nach rechts weg und kehrte im weiten Bogen zurück. Wieder hatte Brick das Glück des Tüchtigen. Eine Salve strich knapp zweihundert Meter über das Beiboot hinweg, der nächste Schuß verfehlte sein Ziel ebenfalls, weil Vorlan eine nicht vorhersehbare Spirale flog. Mittlerweile betrug der Abstand zur Oberfläche nicht mehr als einen Kilometer. Nochmals spielte der Solaner sein ganzes Können aus, dann setzte er alles auf eine Karte und ließ den Raumer unter Einsatz der Triebwerke einfach »durchsacken«. Ein orkanartiger Sturm und brüllende Turbulenzen rissen die kleine Gruppe fast von den Beinen, als Brick den Fall mittels Schubumkehr und Antigraveinsatz abfing; dabei brachte er außerdem noch das Kunststück fertig, nahe Atlans Standort zu landen. Verständlicherweise hatten die drei nur Augen für die Korvette und waren unendlich erleichtert, als sie unversehrt aufsetzte. Es war der Arkonide, der als erster registrierte, daß die Doppel-SOL
während der letzten Flugphase nicht mehr auf die FRESH geschossen hatte. Als er emporblickte, erkannte er auch den Grund dafür: Die andere, die echte SOL war aufgetaucht. Sanny und Nockemann folgten seinem Blick, ihr Mienenspiel veränderte sich. Die Anspannung, verursacht durch die Angst um die Gefährten, wich aus ihren Gesichtern, sie wirkten gelöst, freudig erregt, zugleich zeigte sich aber auch ein Zug von Beklemmung. Was kam nun? Verschwand die Doppel-SOL, oder kam es zu einem Titanenkampf? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Blindwütig und mit geballter Feuerkraft griff das Geisterschiff an, vermochte der echten SOL jedoch nichts anzuhaben, da diese mit aktivierten Schirmfeldern über der Landschaft im Nichts aufgetaucht war. Der solanische Raumer erwiderte die Salven, hatte aber ebensowenig Erfolg wie der Gegner, denn auch dieser operierte mit allen Defensivsystemen. Ein wilder Schlagabtausch entbrannte, der sich wie Wetterleuchten über das Firmament zog. Unvorstellbare Energien wurden dabei freigesetzt. Atlan beobachtete das Duell der Giganten mit gemischten Gefühlen. Ihm behagte diese Auseinandersetzung überhaupt nicht. Nicht, daß er fürchtete, daß die reguläre SOL unterliegen könnte, nein, ihm bereitete Unbehagen, daß der Hantelraumer über der Landschaft im Nichts präsent sein mußte, um den anderen Raumer in Schach zu halten. Die angestrebte Erkundung der Scheibenwelt ohne Gefährdung der Solaner und ihrer Basis war damit hinfällig geworden. Das könnte Absicht sein! meldete sich der Extrasinn. In diesem Augenblick geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Ein grün leuchtender Energieschirm baute sich auf, der die Landschaft im Nichts, ihre Bewohner und die gelandete FRESH vom Kampfgeschehen abschirmte. Verwundert blickte Nockemann den Arkoniden an. »Dieses Gebilde wird immer geheimnisvoller. Habt ihr geglaubt,
daß sich diese Scheibenwelt selbst schützen kann und damit auch uns?« Ernst erwiderte Atlan: »Es ist eine Frage der Definition, Hage.« »Was meinst du damit?« »Wir sind von der SOL abgeschnitten.« Betroffen zwirbelte der Wissenschaftler seinen Schnauzbart. Daran hatte er nicht gedacht.
2. Breckcrown Hayes fühlte sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Daß er sich mit der SOL in unmittelbare Nähe der Landschaft im Nichts begeben mußte, behagte ihm nicht. Breiskoll hatte energisch davor gewarnt, konnte allerdings keine stichhaltige Begründung dafür liefern, was zur eigenen Verunsicherung noch beitrug. Dennoch hatte er keinen Moment gezögert, der Korvette zu Hilfe zu eilen, denn nicht nur das Leben der Beiboot-Besatzung stand auf dem Spiel, sondern auch das von Atlan und seinen Begleitern. Für ihn und die Stabsspezialisten, die sich ebenfalls in der Zentrale aufhielten, war es ein komisches Gefühl, quasi das eigene Schiff auf dem Bildschirm zu sehen. Wie angestellte Messungen ergeben hatten, entsprach die Kopie bis auf den Millimeter genau dem Original. Vorsorglich hatte Hayes Alarm auslösen lassen, so daß sich bei der Annäherung an die Scheibenwelt jeder auf seinem Posten befand. Daß diese Vorsichtsmaßnahme durchaus berechtigt war, zeigte sich, als die Geister-SOL überraschend angriff. Die Schirmfeldbelastung schnellte auf sechzig Prozent hoch, gleich darauf feuerte der solanische Raumer zurück. Gallatan Herts, der ehemalige Magnide und jetzige Stabsspezialist, der als Leiter der Hauptzentrale im Mittelteil fungierte, blickte
gebannt auf die Anzeigen, dann fuhr er sich unwillig übers Gesicht. Rasch nahm er verschiedene Schaltungen vor, dann drehte er seinen Sessel und blickte stirnrunzelnd zu Kölsch hinüber. »He, Wajsto, was ist mit deinen Leuten los? Warum sind drei der Impulsgeschütz-Kuppeln nicht bemannt?« Auf dem Gesicht des Solaners, der mittlerweile Kommandant der SZ-1 war, zeichneten sich Unglauben und Überraschung ab. »Das ist unmöglich. Ich habe die Klarmeldungen aller Abteilungen meiner Einheit selbst entgegengenommen. Du mußt dich irren.« »Ich kann dir versichern, daß das nicht der Fall ist und ich mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte befinde. Wie ich bereits überprüft habe, liegt kein Defekt der betreffenden Waffen vor, dennoch wurden die drei Impulsgeschütze nicht eingesetzt. Wie erklärst du dir das?« Verwirrt sah Kölsch Ursula Grown an, die Cheftechnikerin der SZ1. »Irgend etwas muß da vorgefallen sein. Einige der Männer und Frauen kenne ich persönlich – sie sind absolut zuverlässig. Ich werde Selim Natara fragen, was los ist.« Die Solanerin nahm den Interkom in Betrieb und wählte bereits den entsprechenden Anschlußcode, als sie ein Ausruf Herts' innehalten ließ. »Was ist denn nun schon wieder?« erkundigte sie sich ärgerlich. »Fünf weitere Ausfälle – zwei Transformzwillingskanonen auf der SZ-1 und drei weitere Impulsgeschütze auf der SZ-2.« »Das kann nicht sein«, entfuhr es Brooklyn, die diesmal als Kommandantin der anderen Kugel ebenfalls betroffen war. »Da kann etwas mit den Instrumenten nicht stimmen. Für meine Leute lege ich die Hand ins Feuer.« »Laß das, du wirst dich dabei verbrennen«, knurrte der Verwachsene. »Mittlerweile sind neun Offensivsysteme inaktiv. Korrektur: Dreizehn.« Der High Sideryt hatte alles mitbekommen. Sein Gesicht nahm
einen besorgten Ausdruck an. »Ihr müßt euch augenblicklich darum kümmern«, sagte er, den Kommandanten der beiden Teileinheiten zugewandt. »Wir können es uns nicht leisten, unsere eigene Position derart zu schwächen, denn ich glaube, daß die Parallel-SOL von gleicher Qualität ist wie unser Schiff.« Als niemand widersprach, fuhr er fort: »Lyta, du nimmst bitte Kontakt mit SENECA auf. Ich möchte wissen, was er von der Sache hält.« In diesem Augenblick durchlief ein fast unmerkliches Zittern den Hantelraumer, während die Anzeigen der Schutzschirme für eine Sekunde über die Neunzig-Prozent-Marke kletterten. Die Salve der SOL als Gegenschlag nahm sich dagegen vergleichsweise mickrig aus. Siebenundzwanzig Geschütze schwiegen inzwischen, und die Zahl stieg weiter.
* Die Kontrollen leuchteten in sattem Grün, was besagte, daß die automatische Zieleinrichtung das Objekt erfaßt hatte und das Geschütz für den nächsten Einsatz bereit war. »Worauf wartest du denn noch? Mehr als die Freigabe der Elektronik kannst du nicht erwarten.« Mante Likol antwortete nicht. Wie erstarrt saß sie in ihrem Sessel und blickte geistesabwesend auf das grüne Licht. Dann, als erwachte sie aus einem Traum, beugte sie sich vor, hob wie eine Marionette den rechten Arm und bewegte ihn auf den Auslösekontakt zu. Fast schien es, als würde sie das deutliche Überwindung kosten; der Bewegungsablauf war nicht flüssig wie sonst, sondern langsam und abrupt. Als die Frau nur noch den Zeigefinger ausstrecken mußte, um die Waffe auszulösen, verhielt sie. »Ist etwas mit dir?« erkundigte sich Selim Natara besorgt, der an einem seitlich versetzten Schaltpult saß.
Trotzig schüttelte die Waffentechnikerin den Kopf. Sie wollte nicht zugeben, daß da etwas in ihr war, das sie an dem hindern wollte, was eigentlich ihre Aufgabe war. Mit zusammengebissenen Zähnen und unter Aufbietung aller Willenskraft versuchte sie, den Auslöser zu betätigen, doch sie konnte es nicht. Sie versteifte sich innerlich, ihre Muskeln verkrampften sich. Wie hypnotisiert starrte sie auf das grüne Licht, den Kontakt und ihre Hand, die aus unerklärlichen Gründen den vom Gehirn ausgehenden Befehlen widerstand. Mante Likol begann, am ganzen Körper zu zittern, kalter Schweiß brach ihr aus. Kraftlos fiel ihre Hand auf die Konsole. »Ich kann es nicht, Selim!« stieß sie verzweifelt hervor. »Ich bringe es einfach nicht fertig, auf die SOL zu schießen.« »Aber das ist doch nicht die SOL -nicht unsere SOL, Mante. Du und ich – wir sind hier, hier auf der echten SOL.« Die Augen der Frau schimmerten feucht. »Und was ist, wenn es uns auch auf der Geister-SOL gibt? Dich mich, eben uns alle?« »Das sind doch Hirngespinste«, erwiderte Natara heftiger als beabsichtigt. »Die falsche SOL hat uns angegriffen, und wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, unsere Heimat zu verteidigen. Siehst du das nicht ein?« »Doch, aber ich kann es trotzdem nicht.« »Du mußt es tun, Mante. Du darfst die SOL und ihre Bevölkerung nicht in Gefahr bringen. Versuche es noch einmal.« Die geradezu beschwörenden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Mante Likol hob die Hand und tastete entschlossen nach dem Kontakt, verhielt aber dann mitten in der Bewegung. Ihr kam es vor, als wären die Nervenbahnen zur rechten Extremität auf einmal gekappt worden, der Arm gehorchte ihr nicht mehr. Dann war dieses Gefühl auf einmal weg, doch nun wehrte sich ihr Innerstes dagegen, das Geschütz auszulösen. Es war ihr, als würde sie die Waffe auf sich selbst gerichtet sehen. Mit bleichem Gesicht blickte
sie den schlitzäugigen Mann an. »Es hat keinen Zweck, Selim. Es ist, als hätte ich eine geistige Sperre, die es mir verbietet, zu feuern.« »Laß mich an deinen Platz.« Bereitwillig stand die Frau auf und überließ dem Solaner ihren Sitz vor den Kontrollen. Selbstbewußt setzte sich Natara in den Sessel. Schon wollte er den Auslöser betätigen, als er nachdenklich wurde. Hatte er überhaupt das Recht, auf die Parallel-SOL zu schießen? Vernichtete man etwas, das wie die eigene Heimat aussah? Unwillig über sich selbst gab er sich innerlich einen Ruck und beugte sich vor. Mehr denn je war er entschlossen, seine Pflicht zu erfüllen beziehungsweise das zu tun, was man von Mante und ihm erwartete. Sein Versuch mißlang. Deutlich spürte er, daß es einen inneren Widerstand gab, dem er nichts entgegensetzen konnte. Sein zweites Ich weigerte sich standhaft, daß er aktiv wurde. Aber es ist gegen alle Logik, versuchte er sich selbst einzureden, es ist nicht die SOL, sondern ein Geisterschiff – ein Duplikat, das unmöglich von Solanern bevölkert sein kann! Ich will das Geschütz einsetzen! Ich muß es tun! Er konnte es nicht. So sehr er sich auch mühte – nicht nur der Körper versagte seinen Dienst, auch sein Geist wehrte sich gegen das, was er vorhatte; es war so, wie Mante gesagt hatte – eine innere Sperre verhinderte das. »Ich kann es auch nicht«, stammelte Natara fassungslos. »Mante, was ist mit uns los?« Die Frau hatte sich erstaunlich schnell damit abgefunden, daß sie ihre Aufgabe nicht erfüllen konnte. Gelassen, fast heiter sagte sie: »Weißt du, es hat mir von Anfang an widerstrebt, daß uns befohlen wurde, die andere SOL unter Feuer zu nehmen. Du glaubst nicht, welche Überwindung es mich gekostet hat, das Impulsgeschütz einmal einzusetzen. Ich bin direkt froh, daß ich es
trotz aller Willensanstrengung nicht mehr kann.« Sie strahlte. »Die Waffentechnikerin Mante Likol quittiert damit in dieser Auseinandersetzung ihren Dienst.« »Das hört dein Kommandant aber gar nicht gern!« grollte Kölsch. Unbemerkt von den beiden war er eingetreten, wobei er den letzten Satz noch mitbekommen hatte. Barsch befahl er: »Du scherst dich zurück an deinen Platz, sonst erwarten dich disziplinarische Maßnahmen.« Das unerwartete Auftauchen des Stabsspezialisten ließ die beiden erschreckt herumfahren. Ohne ein Wort zu sagen, stand der dunkelhaarige Mann mit den asiatischen Zügen auf, doch die Frau machte keine Anstalten, der Anordnung Folge zu leisten. Das zierliche Persönchen, das einen Kopf kleiner war als ihr Kommandant, stellte sich vor Kölsch und blickte ihn herausfordernd an. »Es hat wenig Zweck, daß du dich so engagierst. Selim und ich können unsere Aufgabe nicht erfüllen – es geht nicht. Genausogut könntest du uns befehlen, daß wir fliegen sollen – wir könnten es auch nicht.« »Hört zu, ihr beiden! Jeder, der hier an Bord dieses Raumschiffs lebt, sollte mich gut genug kennen, um zu wissen, daß ich keinen derartigen Unsinn von jemandem verlange.« Der ehemalige Magnide stieß geräuschvoll die Luft aus. »Alles, was ihr zu tun habt, ist, das Geschütz zu bedienen. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt, oder?« »Natürlich nicht, nur …« »Nur?« dehnte Kölsch. »Es läßt sich schlecht erklären und ist logisch auch nicht zu erfassen.« Es war Natara anzumerken, wie unbehaglich er sich fühlte und daß er förmlich nach Worten rang. »Wir können es wirklich nicht, obwohl wir es wollen. Es ist, als besäßen wir eine innere Sperre, die das verhindert.« »Eine innere Sperre?« echote Wajsto Kölsch. »Ich höre wohl nicht
recht.« Mit raumgreifenden Schritten ging er zum Pult der Waffentechnikerin und betätigte den Feuerknopf. »Ist euch das Demonstration genug, oder muß ich auch noch den Bewegungsablauf erklären?« »Was du uns gezeigt hast, kannten wir bereits und haben es auch bereits unzählige Male vollzogen, dennoch ist es uns in diesem speziellen Fall nicht möglich, das nachzuvollziehen«, sagte Mante Likol. »Unser Gegner ist die SOL.« »Es ist nicht die SOL, sondern ein Duplikat. Habt ihr das vergessen?« »Nein, es ist uns bewußt, dennoch kommen wir nicht dagegen an.« Natara zuckte hilflos die Schultern. »Ich habe vor einiger Zeit einmal den Vortrag eines Zoologen gehört. Er sprach davon, daß gewisse Tierarten eine natürliche Beißhemmung gegenüber Artgenossen haben. In einer solchen Situation scheinen wir uns zu befinden.« »Aber das ist doch Unsinn«, erregte sich Kölsch. »Wo bleibt denn da die Beißhemmung der anderen Seite? Die hat keine Skrupel und legt es darauf an, uns zu vernichten.« Mit verschränkten Armen ging er einige Schritte auf und ab. »Anscheinend verkennt ihr die Lage«, schnaubte der Kommandant der SZ-1. »Das hier ist kein Spiel, sondern bitterer Ernst, und unser Gegner ist die Geister-SOL, uns also ebenbürtig. Um nicht zu unterliegen, müssen wir uns verteidigen. Wenn ihr euch weigert, eure Pflicht zu erfüllen, dann ist das Meuterei, denn die Existenz der SOL, die die Heimat von hunderttausend Lebewesen ist, hat Vorrang vor persönlichen Bedenken. Ich erwarte eine präzise Antwort auf die folgende Frage: Nehmt ihr eure Arbeit wieder auf, oder muß ich euch festsetzen lassen?« Selim Natara und Mante Likol verständigten sich mit Blicken, dann nahm die Waffentechnikerin in ihrem Sessel Platz. Sie verstellte sich keineswegs, als sie versuchte, den Kontakt
auszulösen, sondern gab sich alle Mühe, das zu bewerkstelligen, scheiterte aber wieder an ihrer inneren Sperre. Kölsch, der sie aufmerksam beobachtet hatte, war objektiv genug, um zu erkennen, daß die Frau nicht schauspielerte, sondern die Wahrheit gesagt hatte. Niemand konnte sich auf Wunsch verkrampfen, zittern und Schweiß auf seine Stirn zaubern. »Es ist genug. Jetzt du, Selim.« Gehorsam ließ sich der Solaner in dem Sitz nieder. Er zeigte die gleichen Symptome wie die Frau, als er den Auslöser betätigen wollte. »Ihr habt mich überzeugt. Begebt euch in eure Quartiere, ich schicke eine Ablösung.« Mit diesen Worten verließ Kölsch den Raum. Er war nachdenklich geworden. Ohne Zweifel hatten die beiden Hemmungen, die fast einer Selbstaufgabe gleichkamen, aber konnte allein das Bewußtsein dazu ausreichen, daß der Gegner eine zweite SOL war? Oder war da noch etwas anderes im Spiel? Er lauschte in sich hinein. Subjektiv gesehen, fühlte er sich wie immer, und ihm war es auch nicht schwergefallen, die Waffe auszulösen. Was unterschied ihn von Natara und Likol? Bis auf die größeren Machtbefugnisse nichts, denn sie alle waren weder Buhrlos noch Extras, sondern Solaner. Warum empfanden sie dann nicht gleich? Schließlich war es nicht die erste bewaffnete Auseinandersetzung, in die die SOL verwickelt war, und immer hatten die beiden anstandslos ihre Pflicht getan. Kölsch sah ein, daß das Grübeln zu nichts führte, er war mit seinem Latein am Ende, also beschloß er, nach der Rückkehr in die Zentrale mit den anderen und Hayes darüber zu sprechen; vielleicht wußten sie einen Rat, vielleicht konnte SENECA helfen. Bevor er ins Mittelteil zurückkehrte, kontrollierte er noch drei weitere Stationen. Es konnte ihn nicht mehr überraschen, daß zwei Teams die gleichen Symptome zeigten wie Natara und Likol und praktisch nicht mehr einsatzfähig waren. Das andere Gespann tat
zwar, was von ihm verlangt wurde, doch es war offensichtlich, welche Selbstüberwindung es die beiden Männer kostete, die Waffe einzusetzen. Vor seinem geistigen Auge tauchte eine schreckliche Vision auf. Alle Waffenkuppeln und Feuerleitstände waren bemannt, doch es war nur eine Farce, denn niemand setzte die Geschütze ein. Der fast unbezwingbare Gigant, mit seinen insgesamt dreihundertsiebzig Transformzwillingskanonen, seinen dreihundertfünfzig Impulsgeschützen und den zweihundertdreißig Desintegratorgeschützen eine fliegende Festung, war auf einmal hilflos wie ein Wrack. Gewiß, es blieben noch die Defensivsysteme wie HÜ- und Paratronschirme, aber gegen einen gleichstarken Gegner war das kein wirksamer Schutz – zumindest nicht auf die Dauer. Die Bilder verschwanden, doch die düsteren Gedanken blieben. Der Mann hatte auf einmal das Gefühl, daß es unerträglich heiß war und der Sauerstoff knapp wurde. Mit zwei Fingern öffnete er den Halsverschluß seiner Kombination, dann atmete er tief durch und begann zu laufen. Er hatte es auf einmal eilig, in die Zentrale zurückzugelangen.
* So schnell, wie Wajsto Kölsch sich das gedacht hatte, kam er nicht in die Kommandostelle zurück. Als er in den Gang einbog, der zur Zentrale führte, traf er auf einen Pulk von etwa zweihundert Menschen aller Altersklassen. Sie standen beisammen und diskutierten, etliche hatten großformatige 3-D-Bilder dabei, die sie herumreichten. Was sie zeigten, konnte der Stabsspezialist aus dieser Entfernung nicht erkennen. Als er sich näherte, wurde die Gruppe auf ihn aufmerksam;
natürlich wurde er sofort erkannt. Diejenigen, die die Bilder gerade in der Hand hatten, hoben sie über ihre Köpfe und zeigten sie der Menge. Nun sah auch Kölsch, was sie abbildeten: Es war die paradiesische Landschaft im Nichts. Verschiedene Ausschnitte waren zu sehen, so etwa kleine Seen, umrahmt von üppiger Vegetation oder das Alpenin-Gebirge, dessen majestätische Gipfel vom ewigen Eis bedeckt waren. Vereinzelte Rufe wurden laut, die zu regelrechten Sprechchören wurden: »Wir wollen zum Paradiso nirwana! Wir wollen zum Paradiso nirwana!« Der Kommandant der SZ-1 verlangsamte seine Schritte. Nicht, daß er sich vor den Leuten gefürchtet hätte, nein, er überlegte, wie er es anstellen konnte, sie zu beruhigen und von ihrer fixen Idee abzubringen. Die SOL befand sich ohnehin schon in einer prekären Situation; wenn eine solche Bewegung wie diese um sich griff und Zulauf fand, war das Schicksal des Raumers endgültig besiegelt. Eine schwergewichtige Frau negroider Abstammung zog zwei dunkelhäutige Kinder nach vorn und verstellte Kölsch den Weg. »Glaubst du an glückliche Umstände, Kommandant?« »Wie man es nimmt. Worauf willst du hinaus?« »Nun, für uns ist es ein gutes Omen, daß wir dich hier angetroffen haben, denn wir wollten jemanden von der Schiffsführung sprechen.« »Wozu?« Natürlich wußte Kölsch, welches Anliegen die Menge hatte, aber er wollte Zeit gewinnen, um die richtigen Argumente parat zu haben. »Siehst du diese beiden Kinder?« Sie schob die kleinen Mädchen, die zwischen sechs und zehn Jahre alt sein mochten, noch ein Stück nach vorn. »Fita und Pollest haben noch nie unter den Strahlen einer echten Sonne gespielt, nie die Luft einer Welt geatmet, noch nie eine echte Blume gesehen. Sie wollen dort aufwachsen, wo es Pflanzen
gibt, Berge und Seen. Verstehst du das?« »Warum schiebst du die Kinder vor? Ihr seid es doch in Wirklichkeit, die auf die Scheibenwelt wollen.« »Ja, wir wollen es, doch nicht nur um unserer selbst willen, sondern um unseren Kindern ein Leben in einer natürlichen Umgebung und ohne Zwang und Enge zu ermöglichen.« Die Frau leckte sich über die wulstigen Lippen. »Wir verlangen, auf Paradiso nirwana abgesetzt zu werden.« »Jawohl, das verlangen wir!« hallte es aus der Menge unter lautem Beifall zurück, und erneut erklang es im Chor: »Wir wollen zum Paradiso nirwana!« »Ich kann euch nachfühlen, was ihr beim Anblick der Bilder der Landschaft im Nichts empfindet«, log der ehemalige Magnide unverfroren, »aber im Augenblick ist euer Wunsch nicht erfüllbar. Wie ihr wißt, hat uns diese mysteriöse Parallel-SOL in eine bewaffnete Auseinandersetzung verwickelt, und aufgrund verschiedener Ausfälle stehen unsere Chancen derzeit nicht sonderlich gut.« »Was kümmert uns euer Kampf mit der Geister-SOL?« rief jemand aus den hinteren Reihen. »Wir wollen nicht kämpfen, wir wollen Frieden. Bringt uns zum Paradiso nirwana!« »Wir wollen zum Paradiso nirwana!« klang es aus Dutzenden von Kehlen, begleitet von rhythmischem Händeklatschen, während im Takt die bunten 3-D-Bilder hochgehoben wurden. Kölsch wartete, bis die Begeisterung ein wenig abebbte, dann hob er beschwichtigend die Hände. »Versteht ihr denn nicht, daß wir jetzt kein Beiboot ausschleusen können? Es würde sofort vernichtet werden.« »Wir haben nichts zu befürchten, denn wir wollen keinen Krieg.« Wajsto Kölsch sah ein, daß die Versammelten sich so in ihre Idee verbohrt hatten, daß sie logischen Argumenten nicht mehr zugänglich waren. Da ihm zudem die Zeit unter den Nägeln brannte, beschloß er, die fruchtlose Diskussion zu beenden.
»Ich werde eure Sache dem High Sideryt vortragen. Geht jetzt zurück an eure Plätze und wartet seine Entscheidung ab.« Mit diesen Worten wandte der Mann sich ab und begann, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Murrend wichen die Leute zurück, einige hielten ihm die Bilder hin, doch niemand versuchte, ihn gewaltsam aufzuhalten. Fast hatte er den Pulk hinter sich gelassen, als das Licht für ein paar Sekunden zu flackern begann, irgendwo wimmerte eine Alarmsirene, die aber gleich wieder verstummte. Ein alter Mann packte Kölsch an der Schulter und hielt ihn an der Kombination fest. »Verstehst du jetzt, was wir meinen? Wir wollen in Frieden leben ohne Zwietracht, Haß und Tod, aber das ist hier im Schiff nicht möglich. Du und deine Gesinnungsgenossen in der Schiffsführung, ihr seid Militaristen«, zischte er böse. »Ihr sucht nicht den Frieden, sondern die Konfrontation. Ihr wollt den Kampf, aber wir nicht. Es lebe das Paradiso nirwana!« Unwillig riß sich der Stabsspezialist los und ging weiter, als hätte er nichts gehört. In seinen Augen war der Mann ein armer Irrer, ein Verführter, der zwischen Wunsch und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnte. Für die Friedenssehnsucht der Menschen brachte er Verständnis auf, nicht aber für diesen fast an Sektierertum grenzenden absoluten Anspruch, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein; Realität, Fakten, Mythen, Hirngespinste und Halbwahrheiten wurde so lange und so bunt gemischt, bis ein ballastfreier Gedankenbrei entstand, den naive und unkritische Gemüter gierig in sich aufnahmen. Aus der Vergangenheit wußte er, daß es an Bord der SOL genügend schlichte Gemüter gab, die sich einer solchen Bewegung nur allzugern anschlossen. In diesem Zusammenhang kam ihm Collinia Brackfaust in den Sinn, und plötzlich hatte er wieder so etwas wie eine Vision. Er sah Bilder von Menschenmassen, die sich zusammenrotteten,
durch das Schiff zogen und verlangten, auf der Landschaft im Nichts abgesetzt zu werden. Ihre Arbeitsplätze waren verwaist, ihre Aufgaben blieben unerledigt liegen; dieses Desinteresse mußte zu katastrophalen Zuständen führen. Und dann sah er die Waffentechniker; sie blieben an ihren Plätzen, doch sie konnten ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen, weil sie diese innere Sperre hatten. Draußen die Doppel-SOL, drinnen das Chaos – damit war das Schicksal der SOL endgültig besiegelt. Kölsch hatte auf einmal Angst vor der Zukunft.
* War da nicht etwas – ein Geräusch? Nein, da war nichts, nichts außer dem Wispern der Unendlichkeit und dem Raunen der Ewigkeit. Und doch: Jemand schien zu flüstern – nicht akustisch, nein, geistig. Ein Gedanke entstand, wurde zu einem Impuls, kräftig genug, um Raum und Zeit zu überwinden, doch nur ein Wesen konnte die Botschaft empfangen, denn es war eine Kreatur des Denkenden … »Deine Arbeit ist nicht sonderlich effektiv, Schalter. Ich verlange stärkere Unterstützung von dir.« »Ich tue, was ich kann, Herr«, gab das Geschöpf unterwürfig zurück. »Mag sein, aber was du tust, ist nicht sinnvoll genug.« Eine gedankliche Erwiderung blieb aus. Der Diener des Denkenden schwieg verwirrt. »Ich erkenne, daß du wirksamer eingreifen kannst, wenn du meine Ziele kennst. Bist du bereit?« »Ja, Herr!« kam es demütig zurück. »Es geht mir darum, die SOL zu gewinnen, um sie mit meinen Baumeistern zu bemannen. Verstehst du das, Schalter?«
»Gewiß, Herr.« »Aus diesem Grund müssen die Solaner von Bord. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie sich auf der Landschaft im Nichts befinden. Ist das der Fall, sind sie für alle Zeiten beseitigt, denn ich werde die Landschaft im Nichts einfach abschalten lassen.« »Ein genialer Plan, ARCHITEKT.« Ein schmerzhafter Impuls traf das Geschöpf. »Gnade, Herr«, wimmerte es geistig. »Du hast mich sehr böse gemacht, Schalter. Unter Androhung von Strafe verbiete ich dir, diesen Namen auch nur noch einmal zu erwähnen.« »Es wird nicht wieder geschehen«, kam es demütig zurück. »Aber wie soll ich dich nennen, Herr?« Die geistige Stimme schwieg.
* Es stand nicht sonderlich gut um die SOL. Brooklyn hatte die gleichen Beobachtungen gemacht wie Kölsch, was den Ausfall der Waffentechniker betraf. Der Einsatz von Ersatzmannschaften hatte sich als ein Schlag ins Wasser entpuppt, denn die neuen Teams waren von dieser inneren Sperre genauso betroffen. Mittlerweile konnte ein Drittel der Geschütze nicht mehr eingesetzt werden. Ein weiteres Handikap ergab sich durch die »Paradiso-nirwanaBewegung«, die sich wie eine Seuche ausbreitete. In Scharen verließen Astronomen, Wissenschaftler, Ortungstechniker, Feuerleitoffiziere und andere qualifizierte Spezialisten ihren Posten, um für eine Landung auf der Landschaft im Nichts zu demonstrieren, obwohl das zur Zeit völlig unmöglich war. Nicht nur Hayes, sondern auch den Stabsspezialisten bereitete diese Entwicklung Kopfzerbrechen und große Sorgen. Immer deutlicher wurde die Unterlegenheit der SOL im Kampf gegen die
Kopie. Daß das Geisterschiff seine Vorteile bis jetzt noch nicht deutlicher umsetzen konnte, war vor allem SENECA und Uster Brick zu verdanken. Gar manche schwierige Situation hatte die Biopositronik im Zusammenspiel mit dem brillanten Piloten gemeistert. Auch sonst stand SENECA loyal hinter dem High Sideryt und der Schiffsführung. Aus eigenem Antrieb hatte er über InterkomRundspruch einen Appell an alle Solaner gerichtet, in dieser schwierigen Situation zusammenzustehen und sich nicht davon beirren zu lassen, daß der Angreifer eine zweite SOL war. Im Dialog mit Lyta Kunduran hatte die Biopositronik selbst zum Ausdruck gebracht, daß sie sich von diesem Aufruf nicht viel versprach, denn selbst die zu Rate gezogenen Psychologen wußten kein Mittel gegen die scheinbar beeinflußten Menschen. Hayes' Hoffnung, daß SENECAS Autorität und seine eindeutige Stellungnahme den Trend wenigstens stoppen könnte, hatte sich nicht erfüllt. In dieser Phase der Niedergeschlagenheit hatten die Ortungsanlagen mehrmals ein Phänomen aufgezeichnet, das zu jeder anderen Zeit sicherlich mit großem Hallo aufgenommen worden wäre, jetzt aber nicht die Beachtung fand, die ihm gebührte. Der Kampf der Giganten über der Landschaft im Nichts fand in einem unwirklichen, allen bisherigen Erkenntnissen widersprechenden Mini-All statt. Daß das normale Universum noch existierte, zeigte sich bei sehr starken Energieentladungen oder auch dann, wenn ein Schutzschirm extrem belastet wurde. Für Sekundenbruchteile, manchmal sogar länger, tauchten die bekannten Echos des Weltraums auf, man konnte Sterne beobachten und sogar eine Galaxis, in deren Nähe man sich zu befinden schien. Diese Galaxis wurde eindeutig als Pers-Mohandot beziehungsweise Ploohnei identifiziert. So befreiend die Erkenntnis auch war, daß die SOL nicht in ein unwirkliches Nichts verschlagen worden war – anfangen konnte
man einstweilen nichts damit. Auf unerklärliche Weise war der Raumer vom echten Universum abgeschlossen. Breckcrown Hayes hatte alle Stabsspezialisten um sich versammelt, doch der Dialog, den er sich gewünscht und erhofft hatte, kam nicht zustande. Jeder grübelte, suchte verzweifelt nach einem Ausweg, doch so sehr sie sich auch das Hirn zermarterten – niemand hatte einen oder gar den rettenden Gedanken. Der Interkom-Anschluß sprach an. Die Frau, die den Anruf entgegennahm, lauschte kurz, dann rief sie: »High Sideryt, es ist für dich!« Hayes, der eine neue Hiobsbotschaft erwartete, winkte griesgrämig ab. »Es ist Bora St. Felix.« Das von SOL-Würmern zerfressene Gesicht des Mannes erhellte sich ein wenig. Rasch stand er auf und ging hinüber zum Aufnahmegerät. »Ich hoffe, du hast nicht auch noch schlechte Nachrichten für mich, Bora.« »Nein, ich denke nicht.« Die exotisch wirkende Gläserne versuchte ein Lächeln, wurde aber sogleich wieder ernst. »Ich habe gehört, welche neuerlichen Schwierigkeiten es gibt, und daß es um die SOL, die doch unsere Heimat ist, nicht sonderlich gut bestellt ist.« »Das stimmt. Ein Großteil der Waffentechniker ist nicht in der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen. Hinzu kommt diese ›Paradisonirwana-Bewegung‹, die ebenfalls dafür verantwortlich ist, daß wir ins Hintertreffen geraten. Weder die Psychologen noch SENECA können sich auf dieses merkwürdige Verhalten einen Reim machen.« »Es scheint ein Phänomen zu sein, das nur die eigentlichen Solaner betrifft«, meinte die Frau. »Kein einziger Buhrlo ist davon betroffen.« »Interessant.« »Ja, aber das ist nicht der Grund meines Anrufs. Du weißt, daß wir
Buhrlos keine Kämpfernaturen sind und uns für Schlachten kaum begeistern lassen.« Als Hayes nickte, fuhr die Gläserne fort: »Uns ist bewußt, daß wir nur eine Minderheit sind, wahrscheinlich aber sind wir die Gruppe, die am stärksten an der SOL hängt. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, alles zu tun, um dich und die Schiffsführung zu unterstützen in dem Bemühen, die SOL zu retten und zu erhalten. Du kannst über uns verfügen – wir werden unsere Frau und unseren Mann stehen.« »Ich danke dir und deinen Freunden, Bora«, sagte der High Sideryt gerührt. »Es tut gut, zu wissen, so entschlossene Freunde auf seiner Seite zu haben.« »Vergiß nicht, daß wir nur eine Minorität sind von nicht einmal fünf Prozent Bevölkerungsanteil«, erinnerte die Sprecherin der Weltraumgeborenen und schaltete ab. Nachdenklich ging Hayes zu seinem Platz zurück. Kaum, daß er sich gesetzt hatte, stand Insider auf. Der Extra, der sich bis auf seine vier Arme und die grüne Haut durch nichts von einem Menschen unterschied, richtete sich zu seiner vollen Größe von einhundertsechsundsechzig Zentimetern auf und rief: »Patsch-uuh!« v Jeder in der Runde wußte, was das Wesen mit dem richtigen Namen Zwzwko, das fast einen Translator ersetzen konnte, damit meinte – es war eine eindeutige Verneinung. »Was hast du denn auf einmal?« erkundigte sich Kölsch. »Ich kann die Solaner verstehen, die sich nach der Landschaft im Nichts fast verzehren. Es ist eine herrliche Welt, die nur auf uns gewartet hat. Ich werde alle, die es wollen, dorthin führen.« »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, Insider? Wie kommst ausgerechnet du dazu, dich zum Fürsprecher dieser Traumtänzer zu machen?« Brooklyns Erregung war verständlich. Nicht nur, daß sie es war, die den Extra quasi »entdeckt« hatte, er war auch ihr Stellvertreter, zumindest inoffiziell. »Seht ihr denn nicht die Schönheiten da unten, die nur darauf
warten, von uns in Besitz genommen zu werden? Seid ihr so abgestumpft, daß euch Natur und Freiheit nichts mehr bedeuten? Was geht in euren Köpfen vor? Warum wehrt ihr euch gegen die Stimme eures Herzens?« »Du bist Stabsspezialist, Insider, und du hast hier – nicht auf dieser Scheibenwelt – eine Aufgabe zu erfüllen. Willst du vor der Verantwortung fliehen?« »Darum geht es nicht. Ihr seid nur wenige, die Sehnsüchtigen viele. Ich werde sie unterstützen.« Bevor jemand den Extra zurückhalten konnte, eilte er mit der ihm eigenen Schnelligkeit davon und verließ die Zentrale. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte Herts und blickte die Kommandantin der SZ-2 vorwurfsvoll an. »Was hätte ich tun sollen? Ihn mit Gewalt daran hindern, ihn festsetzen lassen sollen, vielleicht gar niederschießen?« Die Frau funkelte den Verwachsenen an. »Weder du noch die anderen können mir einen Vorwurf daraus machen, daß Insider sich auf einmal so merkwürdig verhält. Alle in dieser Runde haben ihn bis jetzt als loyalen Mitarbeiter und Kollegen geschätzt. Wer konnte denn ahnen, daß er auf einmal verrückt spielt?« »Laß es gut sein«, meinte Hayes beschwichtigend. »Es führt zu nichts, wenn wir uns gegenseitig in die Haare geraten. Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern.« »Willst du denn tatenlos zusehen, wie Insider weitere Unruhe stiftet und die Leute aufwiegelt?« erkundigte sich Ursula Grown ungehalten. »Nein. Ich werde Bjo Breiskoll bitten, uns zu helfen.« »Aber du hast seine Warnungen in den Wind geschlagen. Bist du sicher, daß er uns unterstützt?« Breckcrown Hayes erhob sich und zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. »Ich hoffe es, Wajsto. Schließlich sitzen wir alle in einem Boot.« Gallatan Herts lachte meckernd.
»Boot ist gut – wirklich treffend.« »Und was erheitert dich dann so?« Übergangslos wurde der ehemalige Magnide ernst. »Wir haben einen Kapitän, aber keine Mannschaft mehr, die rudert. Findest du das nicht auch fatal?« Der High Sideryt zog es vor, zu schweigen. Es genügte, wenn andere ihre Ängste projizierten.
* Durch ihre stark verminderte Feuerkraft und den Ausfall eines Teiles der Besatzung gelang es der SOL nicht, die Kopie auf Distanz zu halten; es war abzusehen, wann der Hantelraumer endgültig unterlag. Die oft angewandte taktische Variante, Beiboote auszuschleusen und so doch noch einen Sieg zu erringen, war diesmal nicht durchführbar. Nur ein Teil der Piloten und der Mannschaften war verfügbar, Schleusenpersonal und andere dringend erforderliche Spezialisten hatten sich abgesetzt, während die Waffentechniker sich von vornherein weigerten, an Bord zu gehen. Ganz anders dagegen die Geister-SOL. Sie spielte ihre volle Stärke aus. Hunderte von Leichten Kreuzern, Korvetten und Space-Jets umschwirrten den solanischen Raumer wie Motten das Licht und brachten ihn eins ums andere Mal in arge Bedrängnis. Damit nicht genug, drittelte sich das Duplikat und griff unablässig feuernd von drei Seiten an, unterstützt von den quirligen Beibooten. Längst war die SOL zu einer Art zweiten Sonne geworden. Gewaltige Energieentladungen tobten durch ihre Schirmfelder, deren Belastung ständig über der Rotmarke lag; mehrfach stiegen die Spitzen sogar neunzig Prozent über den zulässigen Maximalwert. 25,6 Billionen Megawatt vermochten die Reaktoren und
Kraftwerke der SOL zu leisten, im extremen Notfall sogar für fünfundvierzig Sekunden die doppelte Menge, aber irgendwann war auch die Kapazität einer solch unerhört leistungsfähigen Maschinerie erschöpft. Brachen die Schutzschirme aber erst einmal zusammen, war nichts mehr zu retten. Daß der Hantelraumer nicht schon längst verloren hatte, war einzig und allein SENECA und Brick zu verdanken, die beide hervorragend zusammenarbeiteten und den Gegner mit überraschenden Manövern mehr als einmal verblüfft hatten. Nun, da sich die Parallel-SOL gedrittelt hatte und eine Zangenbewegung ausführte, ließ sich die Unterlegenheit auch nicht mehr durch Steuerkünste egalisieren. Schweren Herzens entschloß sich Hayes, die FRESH einstweilen zurückzulassen, um wenigstens die SOL zu retten; in einem Fall wie diesem waren die Prioritäten eindeutig – das Leben von hunderttausend Menschen und der Erhalt ihrer Heimat hatte Vorrang. Er vermied es, jemanden anzusehen, als er den Befehl zum Rückzug gab. Ziel war die Sonne Einauge, von den begeisterten Solanern Super genannt, in deren Korona man sich verbergen wollte. Bevor der Gigant die Flucht ergriff, setzte Breckcrown Hayes noch einen kurzen Funkspruch an Atlan ab und schilderte ihm, was sich ereignet hatte und wie es um die SOL stand. Mit dem Eintauchen in die Sonnenkorona riß die Verbindung ab. Mittlerweile hatte Breiskoll damit begonnen, Insider aufzuspüren.
3. Atlan und seine Begleiter waren an Bord der Korvette gegangen. Vorlan Brick, Curie van Herling und die anderen bedankten sich überschwenglich bei Sanny, denn sie hatten nicht mehr damit
gerechnet, mit dem Leben davonzukommen. Der Moolatin war das sichtlich peinlich; sie mochte es nicht, wenn man von ihr und ihren besonderen Fähigkeiten soviel Aufhebens machte. Der Arkonide, der sich bewußt im Hintergrund hielt, konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren, als Sanny sich hilfesuchend nach ihm umsah. »Nachdem ihr Sanny nun gründlich in Verlegenheit gebracht habt, sollten wir allmählich wieder zur Tagesordnung übergehen.« »Was hast du vor?« erkundigte sich die Stabsspezialistin. »Es interessiert mich zum Beispiel, welche Struktur dieser Energieschirm hat, der sich über uns wölbt.« »Der Farbe nach gleicht er unseren HÜ-Schirmen«, meinte Nockemann. »Auf diesen Eindruck möchte ich mich aus verständlichen Gründen nicht verlassen.« »Willst du die Landschaft im Nichts verlassen?« »Wenn es möglich ist – ja. Ich halte es für unsere Pflicht, der SOL in dieser Auseinandersetzung beizustehen, denn schließlich hat Hayes ein ziemliches Risiko auf sich genommen, um uns zu retten.« »Ganz meine Meinung«, stimmte der Pilot zu, und auch die anderen nickten beifällig. Curie van Herling, die in der SOL als Chefin des Funk- und Ortungs- Personals fungierte, kümmerte sich selbst um die erforderlichen Daten, während sich das restliche Personal unter dem Kommando Bricks an einem Check-up beteiligte, um eventuelle Beschädigungen festzustellen. »Bis auf die Schirmfeldprojektoren ist alles intakt«, freute sich Vorlan Brick. »Läßt sich der Schaden mit Bordmitteln beheben?« fragte Atlan. »Ja, wir haben unwahrscheinliches Glück gehabt, es sind nur relativ leicht auszuwechselnde Schalteinheiten zerstört worden. In einer halben Stunde haben wir den Defekt beseitigt, dann ist die FRESH wieder voll einsatzfähig.«
Der Unsterbliche nickte zufrieden. Wenn nun Curie auch noch zu einem positiven Ergebnis kam, stand einem Einsatz nichts mehr im Wege. Die vorgesehene Erkundung der Scheibenwelt hatte er einstweilen zurückgestellt. Im Augenblick war es wichtiger, den solanischen Raumer zu unterstützen. Nockemann, der von einem Raumschiff nichts verstand, kam sich ziemlich überflüssig vor; mal sah er diesem über die Schulter, mal jenem. Als er merkte, daß er jedem nur im Weg stand, suchte er einen Sessel auf und beschäftigte sich griesgrämig damit, seinen Bart zu zwirbeln. »Der Schutzschirm dürfte uns keine Schwierigkeiten bereiten«, meldete die Solanerin endlich. »Gut. Vorlan, wie sieht es bei dir aus?« »Wir sind gleich fertig.« Schon vier Minuten später konnte der Pilot Vollzug melden. Mittels ihrer Antigravs hob die SZ-2-11 vom Boden ab.
* War da nicht etwas – ein Geräusch? Nein, da war nichts, nichts außer dem Wispern der Unendlichkeit und dem Raunen der Ewigkeit. Und doch: Jemand schien zu flüstern -nicht akustisch, nein, geistig. Ein Gedanke entstand, wurde zu einem Impuls, kräftig genug, um Raum und Zeit zu überwinden, doch nur ein Wesen konnte die Botschaft empfangen, denn es war eine Kreatur des Denkenden … »Schalter, warum tust du nichts?« Der Vorwurf war unüberhörbar. »Ich verstehe nicht, Herr«, kam es demütig zurück. »Was soll ich tun?« »Keiner, der einmal das Paradiso nirwana betreten hat, darf dieses Land wieder verlassen. Verstehst du meinen Befehl, Schalter?« »Ja, Herr.«
»Warum schaltest du dann nicht?« fragte der Denkende ungehalten. »Ich werde schalten«, dienerte das Geschöpf geistig.
* Gebannt blickten alle auf die Anzeigen. Der grüne Energieschirm kam rasend schnell näher. Noch ein paar Sekunden … »Köpfe einziehen, wir brechen durch«, rief der Pilot gutgelaunt. Kaum, daß er ausgesprochen hatte, stieß Curie van Herling einen Warnruf aus. Ohne erkennbaren Übergang hatte sich das Grün der energetischen Kuppel auf einmal in Rot verwandelt – und mit der Farbe hatte sich auch die Struktur geändert. Brick hatte das mit einem Blick erkannt. Mit einem materialzermürbenden Gewaltmanöver versuchte er, die Korvette abzubremsen und ihren Kurs zu ändern. Bedingt durch die brutale Steuerkorrektur schüttelte sich der Raumer und bockte wie ein keilendes Pferd. Unheilvolles Ächzen und Knacken breitete sich aus, wurde überlagert vom Tosen der überlasteten Aggregate. Das auf- und abschwellende Jaulen von Sirenen erfüllte das Schiff, knallend schlugen die Sicherheitsschotte zu. Und dann bekam die FRESH Kontakt mit dem Energieschirm. Abrupt, als wäre sie vor eine massive Wand geprallt, wurde die kinetische Energie in Bruchteilen von Sekunden aufgezehrt, dann wurde sie zurückgeschleudert wie ein Pingpong-Ball. Dem furchtbaren Schlag folgte ein explosionsartiger Knall, der in seiner Intensität jedes andere Geräusch an Phonstärke übertraf. Streben knickten wie morsche Hölzer, Wände und Decken zeigten Risse, Versorgungsleitungen platzten. Schalteinheiten und Instrumentenkonsolen wurden aus ihren Verankerungen gerissen und wie welke Blätter davongewirbelt. Irgend etwas explodierte,
Flammen züngelten an einem Verteiler empor, Rauch breitete sich aus, es roch nach Ozon. Die Andruckneutralisatoren waren durch den Aufprall überfordert, Belastungen von mehreren g schlugen durch. Wie leblose Puppen wurden die Männer Und Frauen in ihren Sesseln hin und her geworfen und in die Sicherheitsgurte gepreßt. Halb besinnungslos, mit stierem Blick und heftig nach Luft ringend, lagen sie in ihren Sitzen. Dank seines Zellaktivators überstand Atlan die Belastung als erster. Mit einem Blick erfaßte er die Situation. Automaten und Feuerlöschrobots waren bereits dabei, weitere Schäden zu verhindern, nur um die FRESH kümmerte sich niemand. Sie raste führerlos dahin, denn Brick hockte zusammengesunken in seinem Sessel. Mit fliegenden Fingern schnallte der Arkonide sich los und rannte zum Steuerpult. Sein Eingreifen erfolgte wirklich im allerletzten Moment. Der Raumer befand sich nur noch dreihundert Meter über der Landschaft im Nichts und trudelte mit steigender Geschwindigkeit der Oberfläche entgegen. Wieder wurde die Korvette einer ungeheuren Materialprobe ausgesetzt, als Atlan mittels Antigravfeldern und der Triebwerke den Fall abzubremsen versuchte und gleichzeitig eine Kurskorrektur einleitete. Bange Sekunden folgten. Schon wollte er aufatmen, weil es so aussah, daß er es geschafft hatte, als das Schiff zu rucken und zu schlingern begann. Kurzfristig setzten die Antigravs aus, und auch der Antrieb arbeitete unregelmäßig. Mit kurzen Korrekturschüben brachte er es fertig, die SZ-2-11 in der Luft zu halten. Endlich gelang es ihm, Schwerkraft und Fallgeschwindigkeit soweit zu egalisieren, daß er landen konnte. Unweit der Stelle, von der die FRESH gestartet war, setzte er den Raumer unsanft auf. Das war knapp! meldete sein Logiksektor. Eine wahrhaft teuflische Idee, einen harmlos wirkenden Energieschirm in letzter Sekunde so
umzustrukturieren, daß er wie Terkonit wirkt. »Ja, du hast recht«, gab er gedanklich zurück. »Wir haben es nur meinem Zellaktivator zu verdanken, daß die Korvette noch existiert und niemand getötet wurde.« Das war binnen kurzer Zeit bereits der zweite Anschlag auf dein Leben. Jemand scheint ein großes Interesse daran zu haben, daß die Landschaft im Nichts zu deinem Grab wird. »Ich werde auf der Hut sein«, versprach Atlan und wandte sich Sanny zu, die am zerbrechlichsten wirkte und seiner Meinung nach am meisten der Hilfe bedurfte. Mit großen Augen blickte sie den Mann an. »Bist du verletzt? Hast du Schmerzen?« Die Paramathematikerin verneinte stumm. Deutlich war ihr anzumerken, wie sehr sie noch unter dem Eindruck des Geschehens stand. Der Arkonide befahl einige Medos in die Zentrale und kümmerte sich dann um die anderen. Mittlerweile waren sie wieder geistig rege, und bis auf einige Prellungen waren alle wohlauf. »Bei allen Raumgeistern«, polterte Nockemann los, nachdem er die Gurte seines Sessels gelöst hatte, »ein so gefährliches Pflaster wie diese Scheibenwelt ist mir noch nicht untergekommen. Wenn ich Blödel erzähle, daß ich zweimal abgestürzt bin und jedesmal wie durch ein Wunder überlebt habe, glaubt der mir kein Wort.« »Jedenfalls war es kein Zufall, daß der Schirm sich erst umwandelte, als die FRESH nicht mehr ausweichen konnte«, knurrte Brick und fuhr sich über die verspannten Halsmuskeln. »Das ist auch meine Meinung«, sagte Curie van Herling aufgebracht. »So heimtückisch kann kein Zufall sein.« Erregte Diskussionen flammten auf, an denen sich Atlan jedoch nicht beteiligte. Bewußt hielt er sich zurück und wartete geduldig ab, bis alle den ersten Schock überwunden hatten. »Ich glaube, es wäre zweckmäßig, zuerst einmal die Schäden zu begutachten.«
Die beiden Stabsspezialisten stimmten zu. Gemeinsam mit dem Arkoniden begannen sie einen Rundgang durch das Schiff. Gerade, als sie den Shift-Hangar inspizierten, wurde der Aktivatorträger ausgerufen. Über Interkom setzte er sich mit der Zentrale in Verbindung und erfuhr, daß Hayes mit ihm sprechen wollte. Atlan ließ eine Verbindung schalten und erfuhr von Breckcrown, was sich inzwischen auf der SOL zugetragen hatte und daß das Schiff fliehen mußte. »Das sind wahrlich keine rosigen Aussichten.« »Wir melden …« Damit riß der Funkkontakt ab. Da seine Begleiter mitgehört hatten, erübrigte sich, daß der Arkonide den Inhalt des Gesprächs wiedergeben mußte. Curie und Vorlan machten betretene Gesichter. »Nun gut, wir sind auf uns allein gestellt, aber waren wir das nicht schon, als wir diese Exkursion starteten?« versuchte der Unsterbliche den beiden Mut zu machen. »Insofern hat sich an unserer Situation doch nichts Wesentliches verändert.« »Eine Kleinigkeit hast du übersehen – die FRESH hat einiges abbekommen und kann so nicht wieder starten.« »Du hast die Shifts vergessen, Vorlan«, erinnerte Atlan. »Ganz so schlimm sieht es also nicht aus.« »Ich schätze, daß wir ohne Unterstützung der SOL etwa drei Tage brauchen werden, um die Korvette instand zu setzen.« Nachdenklich folgte der Arkonide den beiden zurück in die Zentrale. Er gab sich keinen Illusionen hin; so gering, wie er es hatte verlauten lassen, waren die Probleme keineswegs. Man war von der SOL abgeschnitten und besaß kaum Informationen. Alles war unklar und rätselhaft. Wer oder was hatte den Energieschirm aktiviert und ihn dann mit teuflischer Präzision so umstrukturiert, daß der Raumer um ein Haar vernichtet worden wäre? Wem lag daran, sie zu töten? Das waren Fragen, die sich nur beantworten ließen, wenn er mehr wußte, also beschloß er, die Landschaft im Nichts gründlicher zu
erforschen. Als sie die Kommandokanzel betraten, machte sie eine Technikerin auf die Ortungsanlagen aufmerksam. Deutlich konnte man verfolgen, wie die Geister-SOL um die Sonne Super kreiste, dann verschwanden alle Ortungsechos plötzlich. »Höchst sonderbar«, brummte Brick. »Was mag das zu bedeuten haben?« Niemand antwortete ihm. »Na, gut, lassen wir das und beginnen wir mit den Reparaturen.« »Nicht so eilig, Vorlan. Ich habe die Absicht, diese Welt ein wenig zu erkunden; mich interessiert besonders die Zone im Nebel. Ich schlage vor, wir rüsten zwei Shifts aus, die mir für diese Landschaft am geeignetsten erscheinen. Während wir unterwegs sind, kann sich die übrige Besatzung um die Behebung der Schäden kümmern.« Atlans Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Mit vereinten Kräften ging man daran, die Flugpanzer mit allerlei Dingen zu beladen, die bei der bevorstehenden Exkursion nützlich sein konnten.
* Atlan hatte zwei Mannschaften zusammengestellt. Die eine bestand aus ihm selbst, Sanny und Hage Nockemann sowie Brick als Pilot, die andere rekrutierte sich aus zwei Frauen und zwei Männern von der Korvette. Da war Ursa Mastort, eine bärenstarke Solanerin von fünfzig Jahren; mit ihrem massigen Körper und dem feisten, stets grimmigen Gesicht wirkte sie auf ihre Umwelt wie eine gereizte Bulldogge, dabei war sie keineswegs cholerisch, sondern nur sehr bestimmend. Die zweite Frau war das krasse Gegenteil von Ursa. Folia Antes war ein zierliches Persönchen von achtundzwanzig Jahren, dazu
ausgesprochen hübsch. Ihre weichen Züge mit den ausdrucksvollen braunen Augen ließen sie immer ein bißchen verträumt erscheinen. Mit von der Partie war auch ihr Ehepartner. Der dunkelhäutige Herster Antes war zwei Jahre älter als seine Gefährtin. Sein Körper war schlank und sehnig, er wirkte geschmeidig und durchtrainiert. Wo er auftauchte, verbreitete er gute Laune und vermochte selbst unangenehmen Dingen noch eine gute Seite abzugewinnen. Pilot des zweiten Flugpanzers war Wallbert Verhye. Der achtundvierzigjährige Mann war von kräftiger Statur, fast untersetzt. Er war ein ruhiger, schweigsamer Typ, der sich durch Umsicht und Besonnenheit auszeichnete. Aufgrund seiner Wortkargheit wurde er zu Unrecht oft für mürrisch gehalten. Beide Shifts waren startbereit. Während sich die zweite Besatzung bereits komplett an Bord begeben hatte, ging Atlan in Begleitung Sannys noch einmal nach draußen, um mit Curie van Herling die letzten Einzelheiten zu besprechen. Gerade, als er sich anschickte, zurückzukehren, tauchte eine zehn Meter durchmessende Kugel auf und landete neben der FRESH. Zwei völlig unterschiedliche Wesen entstiegen ihr. Das erste Wesen war ein Humanoide, der von einem Menschen nicht zu unterscheiden war. Er mochte etwa achtzig Jahre alt sein, hatte graue Haare und gütige Augen, die Vertrauen ausstrahlten. Die 1,83 Meter große Gestalt wirkte gebrechlich, die Bewegungen waren langsam und gesetzt. Bekleidet war der Mann mit einer alten, zerschlissenen Kombination, die denen ähnelte, wie sie früher die Terraner getragen hatten. Das zweite Geschöpf von 1,77 Meter Größe war unzweideutig ein Roboter. Ihm fehlte der linke Arm, Rost bedeckte einen Teil der Körperverkleidung; bei jeder Bewegung knarrten die Gelenke. Der Metallautomat machte einen völlig veralteten Eindruck. »Tdibmufs und Gammler!« sagte der Arkonide überrascht. »Was führt euch denn hierher?« »Wir kamen zufällig hier vorbei, und da wollten wir schnell mal
guten Tag sagen und euch fragen, ob ihr euch hier wohl fühlt«, lächelte der Alte. Er nickte freundlich. »Wie ich sehe, bereitet ihr euch auf einen Ausflug vor?« »Ganz recht, Tdibmufs.« »Tdibmufs käme nie auf den Gedanken, mit mir ein Picknick zu machen«, beklagte sich Gammler mit seiner knarrenden Stimme. »Aber Gammler, als Roboter hättest du doch sowieso nichts davon«, tadelte der Mann. Er wandte sich wieder dem Arkoniden zu. »Seht euch ruhig auf dieser paradiesischen Welt um. Ihr werdet nur Freunde treffen, denn die bösen Mächte sind auf dem Rückzug.« »Was sind die bösen Mächte? Etwa die Geister-SOL, die kürzlich hier aufgetaucht ist und versucht hat, die FRESH zu vernichten?« »Es tut mir leid, aber davon weiß ich nichts. Vielleicht war sie ein letztes Produkt der bösen Mächte«, vermutete er leutselig. »Was weißt du über die bösen Mächte?« hakte Atlan nach. »Nicht mehr, als ich dir bereits gesagt habe.« Diese Antwort befriedigte den Arkoniden keinesfalls, aber er sah ein, daß er so nicht weiterkam – wahrscheinlich wußte der Alte wirklich nicht mehr. Es gab auch keinen Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln, denn schließlich hatten sie es nur dem Eingreifen Tdibmufs' zu verdanken, daß sie beim Abschuß der Space-Jet nicht ums Leben gekommen waren. »Warum sprechen hier eigentlich alle Wesen Interkosmo, also die Sprache der Solaner?« stellte der Aktivatorträger die Frage, die er schon bei der ersten Begegnung mit Tdibmufs gestellt hatte. »Es gehört zur Gastfreundschaft der Landschaft im Nichts«, entgegnete der Alte lächelnd und gab damit eine neue Version zum Besten. »Dieses Paradies ist nur vorhanden, um den Solanern eine friedliche Zukunft zu bescheren.« Mit einer linkisch wirkenden Gebärde überreichte Gammler Atlan eine frisch gepflückte Blume und verbeugte sich. »Bitte, für die Dame des Hauses.«
Verblüfft reichte der Aktivatorträger die Blüte an Sanny weiter. »Kleine Gabe als Zeichen der Gastfreundschaft.« »Wir müssen jetzt weiter. Komm, Gammler.« Der Alte wandte sich noch einmal um und winkte. »Laßt es euch gutgehen. Und denkt daran: Ihr habt nur Freunde hier.« »Küßchen!« rief der Roboter und schlenkerte verabschiedend mit seinem einen Arm. Grübelnd blickte der Arkonide dem ungleichen Paar nach. Als die Transportkugel abgehoben hatte und sich rasch entfernte, meinte Sanny: »Ist dir nichts aufgefallen?« »Wenn du Gammler meinst – ja. Seine Positronik scheint nicht mehr richtig zu funktionieren, sonst würde er nicht so albern sein.« »Nein, um den Roboter geht es nicht, Tdibmufs ist mir verdächtig.« »Ich kann an dem Alten nichts Böses entdecken. Er ist stets freundlich und hat uns ja immerhin auch das Leben gerettet. Das hätte er bestimmt nicht getan, wenn er etwas gegen uns im Schilde führen würde.« »Trotzdem muß ich dich vor ihm warnen«, sagte die Moolatin eindringlich. »Warum bist du denn so mißtrauisch, Sanny?« »Weil ich Tdibmufs nicht berechnen kann.« Es wird Zeit, daß du endlich Klarheit über die Landschaft im Nichts gewinnst, meldete sich der Extrasinn. »Ja, du hast recht«, gab Atlan gedanklich zurück. »Was wir brauchen, um das Wesen dieser Welt zu erkennen, sind Fakten.« Worauf wartest du dann noch? Der Arkonide faßte die Paramathematikerin am Arm und führte sie in das Schiff zurück. Kurz darauf starteten die beiden Shifts und schlugen einen nordwestlichen Kurs ein. Seitlich versetzt überflogen sie die herrliche Landschaft der Scheibenwelt und hielten mit großer
Geschwindigkeit auf die Zone im Nebel zu. Per Funk hielten sie untereinander und mit der SZ-2-11 Kontakt. Die Flugpanzer befanden sich noch nicht einmal eine Viertelstunde in der Luft, als der Energieschirm über der Landschaft im Nichts erlosch.
4. Was von weitem wie dichter Nebel gewirkt hatte, stellte sich aus der Nähe als dünner Dunst heraus, der eine ausgedehnte Ortschaft verbarg. Nach oberflächlichen Schätzungen bot die Ansiedlung etwa zehntausend Wesen Unterkunft. Anders als in den Dörfern, die sonst von der Scheibenwelt bekannt waren und von denen man auch während des Fluges einige beobachtet hatte, gab es hier ausgedehnte Fabrikanlagen und Produktionsstätten. Atlan vermutete, daß es sich hier um das einzige Industriegebiet der Landschaft im Nichts handelte. Starke Energieemissionen ließen ferner den Schluß zu, daß dort Anlagen arbeiteten, die nicht allein der städtischen Versorgung dienten, sondern darüber hinaus überregionale Bedeutung haben mußten. Wahrscheinlich war der mittlerweile nicht mehr existierende Schutzschirm von hier aufgebaut und versorgt worden. Auf den ersten Blick hätte man vermuten können, sich über einer terranischen Stadt Anfang des 21. Jahrhunderts zu befinden. Hochhäuser und gewaltige Gebäudekomplexe, Wohnmaschinen und klotzige Fertigungsanlagen säumten die Straßen, Gleitfahrzeuge aller Art bevölkerten die Fahrbahnen und den innerstädtischen Luftraum. Nur – und das veranlaßte die Männer und Frauen von der SOL, spontan den Namen »Metallstadt« zu prägen – fast alles bestand zu annähernd einhundert Prozent aus Metall, vornehmlich aus Eisen. Dieser verblüffenden Feststellung folgte gleich darauf eine
neuerliche, noch weit ungewöhnlichere Entdeckung. Die Bewohner von Metallstadt waren völlig menschenähnlich; durch nichts unterschieden sie sich in Gestalt und Körperbau von einem Solaner oder Terraner – bis auf einen gravierenden Punkt: Ihre Haut wirkte metallisch, sie sahen aus wie stählerne Menschen – Metallmenschen. »Das ist ja geradezu unglaublich«, ereifert sich Hage Nockemann. »Menschen aus Metall! Davon muß ich mir unbedingt eine Gewebeprobe mitnehmen und auf der SOL analysieren!« Brick grinste. »Eine Schwierigkeit ergibt sich dabei allerdings, Hage.« »Welche?« »Was sagst du einem solchen Metallmenschen, wenn du ihn mit der Eisensäge bearbeitest oder einen Stahlbohrer ansetzt?« Der Wissenschaftler schnappte nach Luft, setzte zu einer Erwiderung an, unterließ es dann aber und begnügte sich mit einer verächtlichen Handbewegung. Atlan wandte sich ab; er hatte Mühe, seine Heiterkeit zu unterdrücken. »Wo soll ich landen?« »Warte noch ein wenig, Vorlan, ich möchte mir Metallstadt erst etwas näher ansehen, und von hier oben haben wir den besten Überblick.« Der Pilot bestätigte und gab die Order an den anderen Flugpanzer weiter. Unterdessen hatte der Arkonide auf Ausschnittvergrößerung geschaltet und studierte Details, die ihnen vielleicht später nützlich sein konnten. Die Stadt sah nicht so aus, als wäre sie auf dem Reißbrett entstanden, sondern organisch gewachsen. Das zeigte sich zum einen an den Straßen, die keineswegs rechtwinklig verliefen, sondern sich manchmal wie Flußläufe durch die Häuserblocks wanden, und zum anderen an den Industrieansiedlungen, die primär an der Peripherie von Metallstadt lagen. Die Architektur war einfallslos und zweckmäßig; Würfel und
Quader ohne Schnörkel oder Verzierungen beherrschten das Stadtbild. Die Fronten der Häuser zeigten die Farbe ihres Baumaterials; Grautöne herrschten vor, nur hier und da gab es einen kupferfarbenen oder silbrigen Tupfer, wenn anstelle von Eisen und Stahl Kupfer, Blei, Chrom oder Aluminium verwendet worden war. Erstaunlich war, daß sich nirgendwo Rost zeigte. Kein einziges Gebäude wirkte verwittert, zerfressen oder zeigte Ansätze von Oxydation. Im Gegensatz zu dem Grau in Grau der Bauten wirkte die Kleidung der Metallmenschen weniger trist, sondern fast farbenfroh. Die zweckmäßigen Anzüge, die entfernt an die Kombinationen terranischer Raumfahrer erinnerten und durchweg uni waren, wiesen alle Töne zwischen Ocker über Rot und Grün bis Blau auf, allerdings waren die Farben nicht grell, sondern eher gedeckt. Ein von grau-blauen Metallplatten bedeckter Platz wanderte ins Bild, der wahrscheinlich als Gleiterlandeplatz diente und den Shifts eine ausgezeichnete Landemöglichkeit bot. »Versuche, dort unten aufzusetzen, Vorlan.« »Kein Problem«, gab der Pilot zurück, während Sanny über Funk die Anweisung an Wallbert Verhye weitergab. Langsam, um die Bewohner von Metallstadt nicht zu erschrecken, sanken die Vielzweckfahrzeuge nach unten; dabei machte Atlan, der den Bildschirm nicht aus den Augen gelassen hatte, eine mehr oder minder zufällige Beobachtung. Eine aus vier Personen bestehende Gruppe mit uniformähnlicher Kleidung aus stahlblauem Material hatte einen Metallmann in ihre Mitte genommen und schaffte den sich Sträubenden gewaltsam weg. Passanten, die sich in der Nähe aufhielten, beachteten das Spektakel nicht oder sahen geflissentlich weg. Die vier, die auf den Arkoniden den Eindruck von Polizisten machten, schleppten den Metallenen zu einem vierstöckigen Gebäude ganz in der Nähe. Abgesehen davon, daß das Haus
inmitten der Hochhäuser fast eine Anachronismus war, unterschied es sich auch durch seine Fassade aus Chrom oder Nickel deutlich von den anderen Bauwerken in der näheren Umgebung. Du bist soeben Zeuge einer Verhaftung geworden! erkannte der Extrasinn. Da es in Metallstadt Sicherheitskräfte gibt, die für Recht und Ordnung sorgen, scheint auch auf der Landschaft im Nichts nicht alles eitel Sonnenschein zu sein. »Das kann uns nur recht sein«, erwiderte Atlan lautlos. »Auf diese Weise erfahren wir möglicherweise einige interessante Dinge, die uns sonst verborgen blieben würden.« Sei vorsichtig1, mahnte der Logiksektor. Mit einem sanften, kaum merklichen Ruck setzte der Flugpanzer auf, Shift 2 landete direkt daneben. Wie die Optiken zeigten, hatten sich draußen etwa zwei Dutzend Metallmenschen versammelt. Sie wirkten keineswegs feinselig, sondern machten eher den Eindruck eines Empfangskomitees. Der Arkonide hatte keine Bedenken, mit allen seinen Leuten auszusteigen und die Fahrzeuge zwar verschlossen, aber unbewacht sich selbst zu überlassen. Für alle Fälle nahm er ein Funkgerät mit. An der Spitze der kleinen Gruppe ging er auf die Delegation zu. Auf der anderen Seite lösten sich drei Männer aus der Formation und schritten den Ankömmlingen entgegen. Aus der Nähe zeigte sich, daß die Metallmenschen keineswegs Roboter waren, für die man sie durchaus halten konnte, sondern wirkliche Lebewesen. »Herzlich willkommen in unserer Stadt«, begrüßte sie ein hochaufgeschossener, hagerer Mann in Interkosmo. Überschwenglich, als handelte es sich um persönliche Freunde, die er lange nicht gesehen hatte, schüttelte er jedem die Hand und stellte dann sich und seine Begleiter vor. »Das sind die Administratoren Fei und Sam Benner.« Die beiden wohlbeleibten, ein wenig kurzatmigen Metallmenschen, bei denen es sich aufgrund der Ähnlichkeit zweifellos um Brüder handeln mußte, nickten freundlich. »Mein Name ist Rik Sörensen, ich bin der
Großadministrator dieser Stadt.« Die Ausdrücke, überhaupt der ganze Ort erinnern mich sehr an das Terra von früher. Atlan bejahte gedanklich und nannte dann die Namen seiner Crew, bevor er sich selbst vorstellte. »Wie heißt diese Stadt?« erkundigte sich der Arkonide höflich. »Wie nennt ihr sie?« fragte Sörensen lächelnd. »Metallstadt.« »Dann wollen wir es bei diesem Namen belassen. Ich hoffe, ihr fühlt euch hier wohl. Wenn ihr die industriellen Anlagen besichtigen wollt, führen wir euch gern und zeigen euch alles, doch wenn euch Metallstadt nicht gefällt, dann nehmen wir es euch nicht übel, wenn ihr wieder abfliegt und euch einen anderen Flecken auf der Landschaft im Nichts sucht, der euch mehr zusagt. Die Hauptsache ist, daß ihr Freude und Vergnügen an dieser schönen Welt findet.« »Nein, nein, wir haben nicht die Absicht, gleich wieder zu verschwinden«, sagte der Unsterbliche schnell. »Wenn das so ist, habt ihr sicher gegen eine kleine Erfrischung nichts einzuwenden«, meinte der Großadministrator liebenswürdig. »Gleich gegenüber ist ein Hotel. Sofern es euch recht ist, können wir hinübergehen – ihr könnt dort auch wohnen, solange es euch bliebt.« Atlan war einverstanden und nahm die Gastfreundschaft an. Unter Führung der Metallmenschen gelangten sie zu einem vielstöckigen Hochhaus, in dessen drei unteren Etagen ein Restaurant und die Gästezimmer untergebracht waren. Wie die Gebäude und die Straßen bestand auch das Mobiliar und die übrige Einrichtung fast ausschließlich aus Metall, vornehmlich aus Eisen und seinen Veredelungsprodukten. Alles strahlte einen Hauch von Vornehmheit aus, wenngleich den Solanern die Umgebung auch antiquiert vorkommen mußte; mehr denn je fühlte sich der Unsterbliche in die Zeit zurückversetzt, als
Terra nach den Sternen griff. Die Metallmenschen gaben sich alle Mühe, ihren Gästen den Aufenthalt in Metallstadt so angenehm wie möglich zu machen. Sörensen ließ einen Imbiß zurechtmachen und bewirtete die ShiftBesatzungen mit einem angenehm säuerlich schmeckenden Getränk. Er und die anderen Honoratioren in seiner Begleitung, die ebenfalls nur Interkosmo sprachen, waren die Liebenswürdigkeit in Person. Nachdem Atlan für seine Begriffe genügend Höflichkeiten ausgetauscht hatte, kam er auf sein eigentliches Anliegen, nämlich Informationen zu sammeln. »Wie lange lebt ihr schon in dieser Stadt?« »Schon ewig.« Obwohl ihn die Antwort keineswegs befriedigte, ließ sich der Arkonide nichts anmerken und forschte weiter. »Du hast uns vorhin angeboten, daß wir Metallstadt verlassen und woanders hinfliegen können, wenn es uns hier nicht gefällt, Rik. Wo würde es dir auf der Landschaft im Nichts am besten gefallen?« »Natürlich hier«, gab der Metallmann freundlich zurück. »Das ist klar, denn sonst wärst du sicherlich schon fortgezogen. Nein, ich meine, welcher Ort oder welche Gegend würde dir sonst noch zusagen?« »Ich weiß es wirklich nicht«, meinte Sörensen bedauernd. »Und ihr, Fei und Sam? Was sagt ihr?« »Mehr als der Großadministrator können wir auch nicht dazu äußern.« Die Brüder lächelten verbindlich. »Niemand von uns hat Metallstadt je verlassen.« Die Antwort überraschte Atlan. Vorsichtig erkundigte er sich: »Aber ihr könntet es, wenn ihr es wolltet?« »Gewiß. Jeder von uns ist frei und kann tun, was ihm beliebt.« Irgend etwas stimmt da nicht! warnte der Logiksektor. »Kennt ihr jemanden namens Tdibmufs?« »Nein, leider nicht.« »Oder einen Schalter?«
»Davon haben wir ebenfalls noch nie gehört.« Der Großadministrator machte ein unglückliches Gesicht. »Wir bedauern es wirklich außerordentlich, daß wir euch nicht behilflich sein können.« Der Arkonide ließ sich nicht so schnell entmutigen. »Was wißt ihr von den Vorgängen um die Landschaft im Nichts?« »Entschuldige, aber ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst, Atlan.« »Nun, ich denke da zum Beispiel an den Energieschirm, der diese Welt kürzlich überspannt hat.« Sörensen blickte die Benners an, die beide stumm den Kopf schüttelten. »Davon ist uns nichts bekannt. Wenn sich etwas Derartiges ereignet hätte, hätte ich es als Großadministrator zuerst erfahren, dessen bin ich ganz sicher.« Der Metallmann wirkte betroffen. »Sicherlich haltet ihr uns nun für schlechte Gastgeber, weil wir eure Fragen nicht beantworten konnten.« »Mache dir keine unnötigen Sorgen, Rik, es war nicht so wichtig«, versuchte der Unsterbliche abzuschwächen, obwohl er in Wirklichkeit ganz anders darüber dachte. »Es freut mich, das zu hören.« Rik Sörensen strahlte, als wäre ihm ein wertvolles Geschenk gemacht worden. »Kann ich dann davon ausgehen, daß ihr in Metallstadt bleibt?« »Ja, das kannst du.« »Das freut mich wirklich.« Der Metallmann erhob sich. »Sicherlich wollt ihr jetzt ein wenig ausruhen. Ich habe euch einige Zimmer herrichten lassen und dem Hauspersonal aufgetragen, daß euch jeder Wunsch erfüllt wird. Wenn ihr ein besonderes Anliegen habt wie beispielsweise eine Besichtigung oder mich sprechen wollt, braucht ihr nur dem Portier Bescheid zu sagen. Ich will, daß ihr euch bei uns wohl fühlt und alle Annehmlichkeiten genießen könnt, die wir zu bieten haben.« »Vielen Dank für alles.«
»Ich habe euch zu danken.« Die Delegation verabschiedete sich überschwenglich. »Und vergeßt nicht: Wir sind stets für euch da«, rief Sörensen im Hinausgehen. »Wirklich freundliche Leute«, meinte Ursa Mastort. Ihre Stimme klang für eine Frau einige Oktaven zu tief. »Vor allem dieser Rik Sörensen ist ein netter Bursche.« »Mir gefällt die ganze Sache nicht«, widersprach Atlan. »Meiner Ansicht nach muß die Energiekuppel von hier aus aufgebaut worden sein, doch selbst wenn das nicht der Fall wäre – den grünen Schirm hätte man auf jeden Fall sehen müssen – trotz des Dunstes über Metallstadt.« »Du meinst, man verheimlicht uns etwas?« »Ganz recht, Vorlan.« »Wie ich dich kenne, wirst du etwas dagegen unternehmen. Was hast du vor?« »Seht euch um, ob dieses Gebäude einen zweiten Ausgang hat, vielleicht eine Feuerleiter oder einen Lieferanteneingang. Wenn das der Fall ist, geht ihr auf eure Zimmer und sagt dem Personal, daß ihr ungestört bleiben wollt.« Der Arkonide blickte auf sein Armbandchronometer. »In einer knappen Stunde ist es draußen dunkel. Ihr schleicht euch dann aus dem Hotel und seht euch mal ein wenig in Metallstadt um; vielleicht findet ihr etwas, was für uns interessant ist. Vorlan und Wallbert, ihr übernehmt das Kommando und bildet zwei Trupps, aber seid vorsichtig.« »Und was ist mit dir?« , »Ich werde hierbleiben, Sanny und du, Hage, ebenfalls. Es wäre zu auffällig, wenn wir alle auf einmal verschwinden. Außerdem hoffe ich, von den Gästen etwas zu erfahren, was uns nützlich sein kann und weiterhilft.« Er gab den Männern und Frauen noch einige Verhaltensregeln mit auf den Weg, dann verschwanden die ersten, um sich angeblich zurückzuziehen. Schließlich saßen der Arkonide, Sanny und Nockemann allein am Tisch.
Unauffällig beobachteten sie das Treiben ringsherum, konnten aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Nichts unterschied sich vom üblichen Betrieb in einem Gasthaus höheren Standards, alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen. Mit einigen Metallmenschen kamen sie ins Gespräch. Alle waren übertrieben höflich und freundlich, doch außer Banalitäten und ausweichenden Floskeln gaben die Stadtbewohner nichts von sich. Dann, als sie wieder unter sich waren und Atlan sicher war, nicht belauscht zu werden, fragte er leise: »Welchen Eindruck habt ihr gewonnen?« Nockemann kratzte sich erst am Kopf und zwirbelte dann nachdenklich seine Bartspitzen. »Die Leute sind sehr zuvorkommend, aber für meinen Geschmack zu unverbindlich.« Er blickte Sanny an. »Was meinst du?« »Da pflichte ich dir bei.« Der Wissenschaftler lächelte geschmeichelt. Die Zustimmung der Paramathematikerin beflügelte ihn förmlich. »Wenn ich mir vorstelle, daß die Rollen vertauscht wären und wir die Metallmenschen mit dem gleichen Überschwang an Bord der SOL empfangen würden, wie sie es hier mit uns getan haben, würde ich mir selbst komisch vorkommen.« Er gestikulierte heftig. »Was sind das für Freunde, die konkrete Fragen mit Phrasen und stereotypen Redewendungen beantworten?« »Bleib ruhig, Hage, die anderen werden schon auf uns aufmerksam«, raunte der Arkonide und setzte gleichzeitig eine heitere Miene auf. »Lächeln!« Nockemann verstand nicht auf Anhieb, was Atlan meinte, doch Sanny war geistesgegenwärtig genug, um die Situation zu retten. »Das war wirklich ein ausgezeichneter Witz, Hage«, sagte sie lauter, als es die Verständigung untereinander eigentlich erforderte. »Den muß ich mir merken.« Der Genetiker begriff, was die beiden anderen bezweckten, war aber zugleich ein wenig verstimmt. Seine angedeutete Heiterkeit
geriet zur Grimasse. Zähflüssig wie Sirup schleppten sich die Minuten und Stunden dahin. Die Unterhaltung der drei untereinander war zunehmend verflacht. Mittlerweile ging es bereits auf Mitternacht zu; der Wissenschaftler gähnte verstohlen und blickte immer öfter auf die Uhr. Der neue Tag auf der Landschaft im Nichts war bereits eine halbe Stunde alt, als Brick endlich auftauchte. Er kam die Treppe herunter, so daß es für einen unbeteiligten Beobachter aussah, als käme er aus seinem Zimmer. Kaum, daß er sich an Atlans Tisch niedergelassen hatte, tauchte sofort ein Kellner auf, der ihn nach seinen Wünschen fragte. Als der Metallmann die Bestellung aufgenommen und sich entfernt hatte, fragte Atlan gespannt: »Nun, Vorlan?« »Keine konkreten Ergebnisse, die Aktion war ein Fehlschlag. Die einzige Beobachtung hat Folia Antes gemacht. Sie behauptet, in einer Seitenstraße kurz den Roboter Gammler gesehen zu haben, aber die anderen können das nicht bestätigen.« Der Ober servierte das Gewünschte und verschwand mit einem gutgemeinten »Sehr zum Wohl!« wieder. »Ich habe ebenfalls nichts in Erfahrung bringen können. Diese Stadt und ihre Bewohner scheinen eine harte Nuß zu sein.« »Kein Wunder, schließlich ist hier alles aus Metall«, kalauerte Nockemann. Der Arkonide warf ihm einen verweisenden Blick zu und erhob sich. »Ich werde auf mein Zimmer gehen und Curie anfunken. Vielleicht hat sich dort oder mit der SOL etwas getan, was wir wissen sollten.« Er nickte grüßend und entfernte sich. Da seine Unterkunft im ersten Stock lag, verzichtete er darauf, den Lift zu nehmen und stieg die wenigen Stufen empor. Als er den Flur betrat, kam ein
dienstbarer Geist eilfertig herbeigelaufen und führte ihn zu seinem Zimmer. Sorgfältig verschloß Atlan die Tür hinter sich, dann nahm er sein Funkgerät in Betrieb. »Atlan an SZ-2-11. Kommen!« Nur ein Rauschen drang aus dem Empfänger. »Hier Atlan. Curie, melde dich!« Eine Antwort blieb aus, nur Knistern und Prasseln war zu hören. Atlan vergewisserte sich, daß sein Gerät in Ordnung war und versuchte es nochmals – wieder ohne Erfolg. Er hatte das untrügliche Gefühl, daß sich da etwas zusammenbraute. Sein Logiksektor bestätigte ihn in seiner bösen Ahnung. Das sieht nach Gefahr aus. Du mußt handeln, bevor es zu spät ist! Der Arkonide verlor keine Zeit. Ohne lange zu überlegen, eilte er nach nebenan, wo sich Wallbert Verhye aufhielt. »Du mußt mit deiner Shift-Besatzung sofort von hier verschwinden und zur FRESH zurückkehren. Es ist wichtig, daß Curie und möglicherweise auch der High Sideryt erfährt, wie es hier aussieht.« Mit knappen Worten berichtete Atlan von seinem vergeblichen Bemühen, die Korvette zu erreichen. »Alarmiere die anderen – und beeilt euch. Mein Instinkt sagt mir, daß ihr nicht viel Zeit habt.« »Und was ist mit euch? Wir können euch doch nicht einfach im Stich lassen!« »Das laß nur meine Sorge sein, wir werden uns schon durchbeißen. Und nun ab mit dir, bevor es zu spät ist.«
* War da nicht ein Geräusch? Nein, da war nichts außer dem Wispern der Unendlichkeit und dem Raunen der Ewigkeit. Und doch:
Jemand schien zu flüstern – nicht akustisch, nein, geistig. Ein Gedanke entstand, wurde zu einem Impuls, kräftig genug, um Raum und Zeit zu überwinden, doch nur ein Wesen konnte die Botschaft empfangen, denn es war eine Kreatur des Denkenden … »Schalter, hörst du mich?« »Gewiß, Herr.« »Ich habe eine neue Aufgabe für dich.« »Was soll ich tun, Herr?« kam es ergeben zurück. »Ich will, daß die Gäste in der Metallstadt isoliert werden. Verstehst du das, Schalter?« »Ja, Herr, allerdings habe ich gewisse Bedenken – ganz untertänigst natürlich.« Das Geschöpf des Denkenden empfing ein homerisches Gelächter, das sogleich wieder abbrach. »Du wirst anmaßend, Schalter.« »Ganz gewiß nicht, Herr. Niemand weiß besser als du, daß ich meine ganze bescheidene Kraft in den Dienst der Sache stelle«, dachte das Geschöpf. »Bescheiden ist das richtige Wort«, war die ungnädige Antwort. »Gestatte deinem Diener dennoch, Zweifel zu äußern, ob die Isolierung die richtige Maßnahme ist.« »Was erdreistest du dich eigentlich, Schalter?« Dem zornigen Ausbruch folgte ein schmerzhafter geistiger Impuls. »Bitte strafe mich nicht schon wieder, Herr«, jammerte das Geschöpf. »Du weißt, daß ich stets tue, was du verlangst.« Als eine geistige Erwiderung ausblieb, fragte es gedanklich: »Herr, wie soll ich dich nennen? Welchen Namen willst du hören?« Die Frage verhallte ungehört, denn der Denkende schwieg.
*
Atlan, Sanny und Brick begleiteten die Crew von Shift 2 zu ihrem Fahrzeug, Nockemann blieb im Hotel zurück. Sofern sie überwacht wurden, konnte so niemand auf den Gedanken kommen, daß die Solaner fliehen wollten, denn einer der Ihren blieb ja zurück. Der Arkonide und seine Begleiter hatten es aus erklärlichen Gründen eilig, ließen es aber dennoch an der gebotenen Vorsicht nicht fehlen. Sie paßten einen günstigen Moment ab und gelangten ungesehen durch den Hinterausgang ins Freie. Wie Schemen huschten sie davon. Atlan war ein alter Fuchs, der es nicht zuletzt seiner Erfahrung und seinem gesunden Mißtrauen zu verdanken hatte, daß er mehr als zehntausend Jahre alt geworden war; auch der Zellaktivator vermochte ihn nicht vor einem gewaltsamen Tod zu bewahren. Mehrmals vergewisserte er sich, daß sie nicht verfolgt wurden, dennoch war eine, wie auch immer geartete Überwachung nicht völlig auszuschließen. Er gab daher die Anordnung, daß sich alle im Schatten halten sollten, und wählte schwach beleuchtete Nebenstraßen, die zwar einen Umweg bedeuteten, einem heimlichen Beobachter aber nicht das Ziel verrieten und zur Irreführung dienten. Dank seines photographischen Gedächtnisses bereitete es ihm keine Mühe, sich zurechtzufinden und auch den Parkplatz wiederzufinden. Die Shifts waren unbewacht. Atlan traute dem Frieden nicht ganz und beobachtete eine Weile, danach ließ er die Solaner ausschwärmen. Wider Erwarten blieben sie unbehelligt und stießen auf keinerlei Hindernisse, worauf er der Mannschaft befahl, an Bord zu gehen. Ungehindert konnte der Flugpanzer starten. Verhye hielt sich nicht damit auf, erst große Höhe zu gewinnen, sondern steuerte das Vielzweckfahrzeug knapp über die Dächer hinweg auf die Peripherie der Stadt zu. Wie richtig diese Maßnahme war, zeigte sich, als der Shift die Außenbezirke gerade hinter sich gelassen hatte. Ein roter
Energieschirm baute sich auf, der Metallstadt hermetisch abschloß. »Wallbert hat es gerade noch geschafft«, sagte Sanny. »Das war wirklich in letzter Sekunde.« »Jemandem scheint daran gelegen zu sein, uns hier festzuhalten«, meinte Vorlan Brick. »Dagegen werden wir etwas unternehmen«, versprach der Arkonide mit grimmiger Miene. Mit wenigen Sätzen berichtete er von der Verhaftung eines Metallmanns, die er vor der Landung beobachtet hatte. »Wir werden diesen Mann befreien. Wenn wir ihm versprechen, ihm zu helfen, wird er uns bestimmt einige Auskünfte geben, die uns von Nutzen sind.« Die beiden anderen waren damit einverstanden. Im Schutz der Dunkelheit schlichen sie zu dem markanten Gebäude, das als Gefängnis zu dienen schien. Zwei Uniformierte hielten sich in einer Wachstube auf. Sie staunten nicht schlecht, als Atlan mit seinen beiden Begleitern auftauchte und verlangte, den Inhaftierten zu sprechen, der am Vortag festgesetzt worden war. »Diesen Wunsch können wir euch leider nicht erfüllen«, lehnte der Ältere der beiden höflich, aber bestimmt ab. »Dann holen wir ihn uns eben. Los, Vorlan!« Bevor die Metallmenschen sich's versahen, drangen die Männer auf sie ein. Ein heftiger Kampf entbrannte, denn die Ordnungshüter wehrten sich verbissen. »Was fällt euch ein, meine Freunde zu schlagen?« rief Sanny erzürnt. »Habt ihr vergessen, daß alles und jeder auf der Landschaft im Nichts uns und den Solanern zu dienen hat?« Verblüfft hielten die beiden inne. Diesen Augenblick der Verwirrung nutzten Atlan und Brick, um die Uniformierten zu überwältigen. Sie fesselten die Metallmenschen mit ihren eigenen Handschellen und ketteten sie an den schweren Stahlschreibtisch, nahmen ihnen einen Schlüsselbund ab und begaben sich in den
rückwärtigen Teil des Gebäudes. Es gab drei Zellen, doch nur eine war belegt. Als der Arkonide die Tür aufschloß und der Gefangene herausspazierte, staunten die drei nicht schlecht. Der Metallmann, der da vor ihnen stand, war bis auf die stählern wirkende Haut ein exaktes Ebenbild Hage Nockemanns. »Wer seid ihr?« »Solaner. Wir wollen dir helfen.« »Warum?« »Die Fragen heben wir uns für später auf. Los, komm, wir müssen von hier verschwinden, bevor man Alarm schlägt.« Atlan schob den Befreiten vor sich her, der es widerspruchslos mit sich geschehen ließ. Nach kurzem Suchen fanden sie einen rückwärtigen Ausgang, der in eine spärlich beleuchtete Seitenstraße führte. Unangefochten tauchten sie in der Dunkelheit unter. Nachdem sie einige Distanz zwischen sich und das Gefängnis gebracht hatten, hielt Atlan an. »So, mein Lieber, nachdem du dich bisher als ausgesprochen wortkarg erwiesen hast, möchten wir gern wissen, wer du bist.« »Ich heiße Hage Nockemann, doch das sagt euch bestimmt nichts.« »Wir haben auch einen Hage Nockemann, mit dem du eine geradezu frappierende Ähnlichkeit hast«, entfuhr es dem Piloten. Der Metallmann ging nicht darauf ein. »Ich bin ein Fehlprodukt. So etwas wie mich darf es nicht geben, deshalb hat man mich isoliert, bis der Schalter Zeit findet, um mich abzuschalten.« Die drei warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Endlich hatten sie jemanden gefunden, der anscheinend mehr über den ominösen Schalter wußte und sogar bereit war, darüber zu reden. »Du mußt uns alles erzählen, was du weißt, Hage, aber nicht hier. Wir werden uns im Hotel unterhalten.« Auf Umwegen, um nicht gesehen zu werden, gelangten sie zu
ihrer Unterkunft zurück. Heimlich wie Diebe benutzten sie den Hintereingang und schafften es, ungesehen in Atlans Zimmer zu kommen. Nockemann erwartete sie bereits voller Ungeduld. Als er sein Ebenbild erblickte, war er nicht weniger perplex als die anderen zuvor. Seine Verwunderung wuchs noch, als er erfuhr, daß der Metallmensch auch den gleichen Namen hatte wie er. Gar zu gern hätte er dem späten Besucher eine Gewebeprobe entnommen, traute sich allerdings angesichts der Umstände nicht, diesen Wunsch vorzubringen. »Möchtest du etwas essen oder trinken?« fragte der Arkonide, nachdem er sich und die anderen vorgestellt hatte. »Wozu? Ich rechne ständig mit meiner Auslöschung«, gab der Metallmann gleichgültig zurück. »Hör zu, ich kann dein Leben retten, wenn ich alles über die Landschaft im Nichts weiß und die Kräfte, die im Hintergrund wirken. Es gibt diese Kräfte doch, Hage, nicht wahr?« Desinteressiert blickte der stählern wirkende Nockemann sein Gegenüber an. »Für mich hat nichts mehr Bedeutung, denn der Schalter wird mich abschalten. Ich bin ein Fehlprodukt.« »Nun sei doch nicht so lethargisch«, versuchte der Aktivatorträger den Metallmenschen aufzurütteln. »Du mußt uns helfen, damit wir dir helfen können. Was weißt du über den Schalter? Sage es uns!« Der Metallmensch schüttelte den Kopf. Im gleichen Augenblick machten die Moolatin und die drei Männer eine makabre Entdeckung: Ihr Besucher begann, sich von den Füßen her aufzulösen. Dieser Vorgang spielte sich mit gespenstischer Lautlosigkeit ab; es war, als verschwände der Körper, seine Materie, einfach im Nichts. Entsetzt, unfähig, etwas zu sagen, starrten die vier auf das grausige Schauspiel, das da vor ihren Augen ablief. Schon waren die Beine nicht mehr sichtbar, und allen Gesetzen der Schwerkraft zum
Trotz schwebte der Rumpf mit dem Kopf und den Armen in der Luft. Der Leib verschwand, ebenso die Arme, schon griff die Auflösung auf den Schädel über. Das Gesicht des Metallmenschen verzerrte sich. »Hütet euch vor dem Schalter, er bestimmt alles«, stieß er hervor. »Laßt euch nicht blenden von dem, was ihr hört und seht. Sucht den Zentralkegel – nur dort findet ihr die Lösung.« Der Kopf verging, Hage Nockemann aus Metallstadt hatte sich endgültig aufgelöst, »war vom Schalter abgeschaltet worden«, wie er sich ausgedrückt hatte. Obwohl alle noch ziemlich unter dem Eindruck des Geschehens standen und die warnenden Worte noch deutlich im Ohr hatten, blieb zum Nachdenken keine Zeit. Im Haus war Gepolter zu hören. Eine dunkle Ahnung erfüllte Atlan. Mit wenigen Schritten war er bei der Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Mehrere Uniformierte kamen die Treppe hoch. Über ihre Absichten konnten angesichts der gezogenen Schlagstöcke keine Zweifel aufkommen, und wen sie suchten, lag ebenfalls klar auf der Hand. »Wir müssen fliehen!« rief Atlan.
5. Auf unerklärliche Weise waren die Echos der Geister-SOL von den Ortungsanlagen total verschwunden; auch die ausgeschleusten Sonden vermochten keine Spur von ihr zu entdecken. So unerklärlich das auch war – die Schiffsführung hatte andere Probleme. Wie es aussah, bestand zwar im Augenblick keine äußere Bedrohung mehr, aber die Sorgen waren damit keinen Deut geringer geworden – es gärte und brodelte im Schiff. Insider, der sich zum Führer der »Paradiso-nirwana-Bewegung«
gemacht hatte, hatte eine regelrechte Revolte angezettelt. Mit Parolen wie »für den Frieden und eine sichere Zukunft – Landung auf der Landschaft im Nichts« und »Solaner, euer Glück liegt im Paradiso nirwana«, verstand er es geschickt, die Massen zu mobilisieren und sich zugleich unauffällig im Hintergrund zu halten. Zehntausende waren inzwischen bereit, dem Ruf zu folgen, die paradiesische Scheibenwelt friedlich zu erobern. Die Aussicht, sich schon bald auf der Landschaft im Nichts niederlassen zu können, hielt die Betroffenen davon ab, weiterhin wie gewohnt ihren Dienst zu verrichten. Sie diskutierten und demonstrierten, standen mit Gleichgesinnten zusammen und malten sich gemeinsam ihre Zukunft in rosigen Farben aus. Was machte es schon, daß sich chaotische Zustände in der SOL ausbreiteten, wo man sie ja nicht mehr benötigte? Der Hantelraumer – das war auf einmal nicht mehr ihre Heimat, sondern einfach ein Raumschiff, ein Vehikel, das einzig und allein nur noch dem Zweck diente, sie alle zum Paradiso nirwana zu bringen – ihrer neuen und wirklichen Heimat. Verschwunden war die Aversion gegen das Leben auf einem Himmelskörper und der Aufenthalt im Freien, schließlich lockte das Paradies, wo Wunschträume wahr wurden. Diejenigen, die noch nicht den Verlockungen der Landschaft im Nichts erlegen waren – allen voran die Buhrlos –, mühten sich nach Kräften, den üblichen Ablauf innerhalb der SOL aufrechtzuerhalten, waren damit aber hoffnungslos überfordert. Der Ausfall eines Großteils der Mannschaft ließ sich nicht kompensieren. Weder Hayes noch SENECA hatten bisher einen Ausweg gefunden, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen.
* Vergeblich hatte Bjo Breiskoll bisher versucht, Insider mittels seiner
Psi-Fähigkeit aufzuspüren, dafür wurde ihm immer deutlicher bewußt, daß die Solaner beeinflußt wurden. Das galt nicht nur für die Anhänger, die Insider um sich scharte, sondern im gleichen Maß für die Männer und Frauen, die nicht mehr kämpfen konnten oder wollten. Diese Erkenntnis beunruhigte ihn nicht weniger als die Tatsache, daß der Extra anscheinend spurlos verschwunden war, gleichzeitig aber aus dem Verborgenen heraus seine verderblichen Aktivitäten entfaltete. Ruhe- und ziellos durchstreifte der Katzer die Decks und Gänge der SOL, immer in der Hoffnung, Insider doch noch zu finden, der ihm auf einmal nicht mehr ganz geheuer war. Hilfe von den Beeinflußten konnte er nicht erwarten, und diejenigen, die mit der »Paradiso-nirwana-Bewegung« nicht symphatisierten, wußten naturgemäß nichts über den Aufenthaltsort des Gesuchten. Espernd und mit angespannten Sinnen bewegte Breiskoll sich durch einen breiten Gang im oberen Teil der SZ-1, der zu den wissenschaftlichen Abteilungen führte. Plötzlich zuckte er unmerklich zusammen. Obwohl er sich auf den verschwundenen Stabsspezialisten konzentriert hatte, empfing er deutlich die Ausstrahlungen einer tausendköpfigen Menge, die sich auf ihn zubewegte. Nur ein Gedanke hatte in ihren Hirnen Platz: Wir wollen zum Paradiso nirwana. Der Katzer verzog das Gesicht. Ihm war nichts daran gelegen, sich von diesen Leuten, die für kein Argument mehr zugänglich waren, in eine Diskussion verwickeln zu lassen. Vor ihm tauchte eine Abzweigung auf. Er beschleunigte seine Schritte und bog in einen Korridor ein, der in die äußeren Bezirke führte. Mittels seiner parapsychischen Sinne erfaßte er, daß der Flur vor ihm menschenleer war, doch dann blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Keine zehn Meter von ihm entfernt stand Insider. Warum hatte er ihn nicht espern können? Der Extra, der zu ahnen schien, wie verwirrt der andere war,
grinste frech, dann huschte er mit der ihm eigenen Schnelligkeit auf eine Nische zu. Der Katzer hatte sich bereits wieder von seiner Überraschung erholt und spurtete hinterher. Nur wenige Sekunden nach dem Verfolgten erreichte er die Einbuchtung. Innerlich triumphierte er über Insiders scheinbare Dummheit, denn aus der Nische gab es kein Entkommen. Wer aber beschreibt sein Erstaunen, als er die Einbuchtung gähnend leer vorfand. Verdattert starrte er auf die mannshohe Öffnung, wobei er keinen sonderlich intelligenten Eindruck machte. Hatten ihm seine Sinne einen Streich gespielt? War er hinter einem Phantom hergerannt? Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Er war ganz sicher, daß es sich um Insider gehandelt hatte, aber niemand konnte sich plötzlich in Luft auflösen – es sei denn, ein Teleporter, und das war der Extra nicht. Hatte er sich also versteckt, gab es einen geheimen Gang oder einen getarnten Durchlaß? Rasch untersuchte er die Nische und klopfte sie ab. Nein, da war nichts dergleichen, alles war massiv und stabil; nichts deutete auf einen Hohlraum hin. Nachdenklich betrachtete er die Einbuchtung. Er hatte Insider geistig nicht erfassen können- und dann war er förmlich vor seinen Augen verschwunden, als hätte ihn die Wandverkleidung verschluckt. Eine solche Anhäufung von Unmöglichkeiten gab es nicht. Klarer als je zuvor empfand der Katzer, daß mit dem Extra etwas nicht stimmen konnte, doch er würde das Geheimnis lüften – um jeden Preis. Entschlossen machte er kehrt. Vielleicht erhielt er einige wichtige Aufschlüsse, wenn er der Unterkunft Insiders einen Besuch abstattete.
*
In der Kabine herrschte drangvolle Enge. Vierundzwanzig meist jüngere Männer und Frauen saßen, hockten und lagen in den Sesseln, auf dem Bett und dem Boden. Sie lauschten einer Solanerin, die mit untergeschlagenen Beinen auf dem Tisch kauerte. Die Sprecherin war fünfunddreißig Jahre alt. Sie trug eine enge Kombination, die die Vorzüge ihrer Figur deutlich unterstrich. Sie war schlank und sportlich; nußbraunes gewelltes Haar, das bis zu den Schultern reichte, umrahmte ein ebenmäßiges, makelloses Gesicht. Man hätte die mandeläugige Frau schön nennen können, wenn da nicht dieser hochmütige Zug gewesen wäre, der sie kalt, unnahbar und herzlos erscheinen ließ. Mogi Loftis – so lautete ihr Name – war eine Vystidin gewesen, die sich zu Zeiten Deccons durch Mitleidlosigkeit und unnachgiebige Härte ausgezeichnet hatte. Oft trauerte sie den vergangenen Zeiten nach, als die SOLAG noch eisern durchgreifen konnte und die Jagd auf die nun »Bordmutanten« genannten Monster erlaubt war, doch im Augenblick beschäftigte sie sich mit ganz anderen Gedanken. Drehund Angelpunkt ihres Sinnens und Trachtens war die Landschaft im Nichts – und wie sie so schnell wie möglich erreicht werden konnte. »Ihr kennt jetzt also den Plan. Wenn ihr euch genau an meine Anweisungen haltet, werden wir in wenigen Stunden im Paradiso nirwana sein«, rief sie mit glänzenden Augen. Verzückung spiegelte sich auf den Gesichtern der Anwesenden. Sie applaudierten begeistert. Die Frau stand auf und ging zu einem Einbauschrank. »Hier sind Waffen. Mehr als diese zwei Paralysatoren und die vier Vibratormesser habe ich leider nicht auftreiben können, sonst wäre ich aufgefallen.« Sie verteilte die Waffen und deutete auf den in einer Halterung steckenden Strahler. »Der ist für alle Fälle. Da das meine Dienstwaffe ist, werde ich ihn selbst behalten.« »Glaubst du, wir müssen uns einen Weg freischießen?« erkundigte
sich Fersil Rock, der üblicherweise einen Leichten Kreuzer steuerte. »Nicht, wenn ihr tut, was ich euch gesagt habe, obwohl sich das nicht ganz ausschließen läßt, denn es gibt unglaublich dumme Zufälle.« Sie lächelte gewinnend. »Allerdings bist du davon ohnehin nicht betroffen, Fersil. Als unser Pilot hältst du dich im Hintergrund, denn du bist unersetzlich.« »Wir wollen zum Paradiso nirwana!« rief jemand, und unter frenetischem Jubel fielen die anderen ein: »Wir wollen zum Paradiso nirwana!« Mogi Loftis wartete, bis die Begeisterung abebbte. »Geht jetzt, ihr wißt alle, was ihr zu tun habt.« Nacheinander, um nicht aufzufallen, verließen die zwei Dutzend Personen die Unterkunft. Die Frau wartete noch ein paar Minuten, dann ging sie auch. Mit einem raschen Blick vergewisserte sie sich, daß sie unbeobachtet war, dann steuerte sie zielstrebig auf einen Antigravlift zu, ließ sich nach oben tragen und wechselte nach dem Ausstieg ins abwärtsführende Feld. Zwei Decks tiefer verließ sie den Schacht erneut und lief scheinbar ziellos durch die Gänge des Mittelteils. Erst als sie sicher war, einen möglichen Verfolger endgültig abgeschüttelt zu haben, betrat sie den Korridor, der zu einem Korvetten-Hangar führte. »Alles in Ordnung«, rief die Solanerin halblaut. Das war für ihre Leute das verabredete Zeichen. Sie hatten sich in Nischen und Abzweigungen verborgen und huschten nun lautlos wie Schemen heran. Während Mogi Loftis sich dem Schott näherte, verteilten sie sich, um sicherzustellen, daß die Frau nicht überrascht wurde. Dank ihrer ehemaligen Stellung als Vystidin verfügte Mogi über einen Kodegeber, der es ihr ermöglichte, das massive Tor zu öffnen, ohne Alarm auszulösen. Als das Portal zurückglitt, hätte die Frau am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen. Unbewacht standen die Beiboote in der
gewaltigen Halle und warteten nur darauf, in Betrieb genommen zu werden. Beinahe liebevoll betrachtete sie die sechzig Meter durchmessenden Raumer. Einer von ihnen würde sie zu der Landschaft im Nichts bringen, dem Ziel ihrer Wünsche, einem Hort der Freiheit und des ewigen Friedens. Angesichts der so dicht bevorstehenden Erfüllung all ihrer Träume mußte sie an sich halten, um nicht übermütig zu werden. War es ihre exakte Planung gewesen, oder war es wirklich so einfach, sich einer Korvette zu bemächtigen? Mit dem ihr eigenen Selbstverständnis entschied sie sich für ersteres. Die Solanerin drehte sich um und winkte den anderen. Eilfertig kamen sie herbeigelaufen. Die meisten konnten es nicht fassen, daß alles bisher so reibungslos verlaufen war. »Paradiso nirwana, wir kommen!« rief eine Frau enthusiastisch. »Halt den Mund, du Idiotin!« fauchte Mogi Loftis. »Mit deinem Geschrei hetzt du uns noch die ganze Bande auf den Hals.« Betroffen schwieg die Solanerin. »Los, wir nehmen das Schiff gleich links. Beeilt euch – und seid leise!« Drängelnd und schiebend, als könnten sie es kaum erwarten, endlich an Bord zu kommen, passierten die Männer und Frauen den Durchlaß. Normalerweise hätte Mogi Loftis für ein derartig pöbelhaftes Verhalten nur Verachtung übrig gehabt, doch der Wunsch, der sie alle beseelte, ließ sie großzügig über das Gerangel hinwegsehen. Sie war eine Gleiche unter Gleichen, fühlte sich aber zugleich als eine Art Feldherr. »Wartet!« herrschte sie die Leute an, als sich die ersten anschickten, ins Innere der Raumers zu gelangen. »Du hast kein Recht, uns das zu verbieten«, behauptete ein Ingenieur. »Schrei nur noch ein wenig mehr herum, du Dummkopf, oder
informiere am besten gleich die Zentrale über Interkom, daß wir eine Korvette entwenden wollen« »Das ist nicht mehr nötig«, sagte eine eindeutig sympathische Stimme. Mogi Loftis fuhr herum. »Dieser verdammte Hayes hat uns reingelegt. Los, ins Schiff, ich halte den Robot auf.« In die Menge kam Bewegung. Jeder versuchte, als erster an Bord der Korvette zu gelangen, was zu einem ziemlichen Durcheinander führte. Ganz anders dagegen die Frau; sie behielt einen klaren Kopf und bewies, daß sie nichts von dem verlernt hatte, was man ihr als Vystidin beigebracht hatte. Mit katzengleicher Gewandheit sprang sie hinter einen Aufbau und eröffnete sofort das Feuer auf den Automaten. Es gelang ihm, blitzschnell auszuweichen und seinen Standort so zu verändern, daß Mogi Loftis ihn nicht mehr treffen konnte. Sie stieß einen derben Fluch aus, der selbst hartgesottenen Raumfahrern die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. Wütend nahm sie die Deckung des Robots unter Beschuß, ohne jedoch etwas anderes, als unnötige Zerstörung zu erreichen. Lauernd sah sie sich nach einer Ausweichmöglichkeit um, sie überlegte fieberhaft. Es mußte ihr gelingen, die Maschine zu vernichten, sonst hatte sie keine Chance, an Bord zu gelangen. Mit den Augen maß sie die Entfernung zu dem Raumschiff. Es war etwa siebzig Meter entfernt, eine Distanz, die sie im Spurt in weniger als zehn Sekunden überwinden konnte. Das war nicht viel Zeit, aber für die Positronik des Automaten fast schon eine kleine Ewigkeit. Die anderen waren mittlerweile alle im Schiff verschwunden. Verächtlich verzog sie das Gesicht. Die zwei Dutzend Männer und Frauen waren wirklich Idioten. Warum kam niemand darauf, damit zu drohen, das Bordgeschütz
zu benutzen, wenn der Robot nicht aufgab? Sie sah ein, daß sie auf sich allein gestellt war, zugleich wurde die Sehnsucht nach dem Paradiso nirwana übermächtig in ihr. Mit jeder Faser ihres Herzens sträubte sie sich dagegen, so kurz vor der Erfüllung ihres Traums aufzugeben. Den Luxus, Gefühle zu haben, hatte sich Mogi Loftis nie geleistet; nun, wo die Emotionen sie mit Macht packten, war das eine neue Erfahrung für sie, die sie unvorsichtig machte. Sie riskierte einen Ausfall. Für einige Sekunden nahm sie den Standort der Maschine unter Beschuß, ohne ihr jedoch etwas anhaben zu können, dann sprang sie auf und hechtete zur Seite weg. Sofort kam sie wieder auf die Beine, doch da spürte sie einen harten Gegenstand in ihrem Rücken. »Laß die Waffe fallen«, schnarrte es. Von ihr unbemerkt hatte sich ein anderer Robot ihr von hinten genähert. »Du hast verloren.« Gift und Galle spuckend, schleuderte sie den Strahler von sich. »Fersil! Drohe ihnen mit den Transformkanonen!« schrie sie. »Das wird nicht mehr nötig sein.« Die Solanerin schluckte heftig. In ohnmächtigen Zorn mußte sie mitansehen, wie die Gruppe die geenterte Korvette in langer Reihe verließ, begleitet von mehreren Automaten mit angeschlagenen Waffenarmen. Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. »Ich werde Hayes umbringen, so wahr ich Mogi Loftis heiße!« Sie ballte ihre Fäuste. »Mit meinen eigenen Händen werde ich ihn umbringen, diesen Bastard.« »Der High Sideryt weiß weder von euerer Aktion noch von unserem Einsatz.« »Du lügst!« rief sie entnervt. »Wer sonst sollte euch geschickt haben?« »SENECA!« Schluchzend schlug die ehemalige Vystidin die Hände vor das Gesicht. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit, daß die Biopositronik ihren Plan durchkreuzen könnte.
Paradiso nirwana war auf einmal in weite Ferne gerückt.
* War da nicht etwas – ein Geräusch? Nein, da war nichts, nichts außer dem Wispern der Unendlichkeit und dem Raunen der Ewigkeit. Und doch: Jemand schien zu flüstern – nicht akustisch, nein, geistig. Ein Gedanke entstand, wurde zu einem Impuls, kräftig genug, um Raum und Zeit zu überwinden, doch nur ein Wesen konnte die Botschaft empfangen, denn es war eine Kreatur des Denkenden … »Ich bin wütend wie selten, Schalter. Warum wird die SOL nicht gefunden? Wie war es möglich, daß sie sich dem Angriff so früh entziehen konnte?« »Ich weiß es nicht, Herr«, kam es demütig, direkt ängstlich zurück. »Natürlich, du weißt es nicht«, höhnte der Denkende. »Du bist unfähig, Schalter, hörst du?« »Ja, Herr.« »Aber ich brauche die SOL. Ich will sie haben.« »Darf ich einen Vorschlag machen, Herr?« fragte das Geschöpf unterwürfig. »Du darfst.« »Wenn die Sonne Super abgeschaltet wird, muß die SOL zwangsläufig wieder zum Vorschein kommen.« »Das ist völliger Unsinn, Schalter. In diesem Fall wären die Solaner gewarnt, und der Plan ließe sich nicht mehr verwirklichen.« »Was willst du jetzt tun, Herr?« Die geistige Stimme schwieg. »Herr, so sage mir wenigstens deinen Namen!« Der Denkende meldete sich nicht mehr.
* Bjo Breiskoll hatte sich einen Strahler besorgt und stand vor der Kabine Insiders. Wie nicht anders zu erwarten, war die Tür verschlossen. Ohne zu zögern, hob er die Waffe und zielte auf das positronische Schloß. Ein kurzer Feuerstoß zerstörte die Verriegelung. Mit der gebotenen Vorsicht, den Strahler im Anschlag, trat der Katzer über die Schwelle. Rasch sah er sich um. Es war niemand da. Geschmeidig huschte er in das Zimmer. Es unterschied sich nicht von anderen Wohnräumen, allerdings spürte der Telepath deutlich den Einfluß einer unbekannten Strahlung. Konzentriert versuchte Bjo, etwas herauszufiltern, eine Botschaft, einen Befehl, aber es gelang ihm nicht. Es war so etwas wie eine Art geistiges Gemurmel, Worte oder gar Sätze waren nicht herauszuhören. »Also habe ich doch recht gehabt«, murmelte er. »Mit Insider stimmt etwas nicht.« Ohne die Waffe aus der Hand zu legen, machte er sich daran, die Kabine zu untersuchen, wobei er sich von der Intensität der Strahlung leiten ließ. Schon nach wenigen Minuten hatte er die Quelle lokalisiert. Probehalber veränderte er seinen Standort noch mehrmals, dann war er absolut sicher, daß die Strahlung von einer Wand ausging. Nun war es unmöglich, daß eine Wand in der SOL derartige Impulse freisetzte, also mußte sie präpariert worden sein. Nachdem der Katzer vergeblich nach irgendwelchen Sonden oder Sendern gesucht hatte, begann er, die Kabinenverkleidung an der besagten Stelle abzuklopfen. Sie klang hohl. Es bereitete ihm keine sonderliche Mühe, die Abdeckung abzumontieren. Zum Vorschein kam ein zwei Meter hoher Parabolspiegel, der mit voller Wucht, aber undefinierbar strahlte. »Das also ist Insiders Geheimnis.«
Der unbestimmte Verdacht, den er gehegt hatte, nahm feste Formen an. Interessiert betrachtete er das Gebilde, ohne allerdings daraus schlau zu werden. Die Technik war fremdartig und ihm völlig unbekannt. Das einzige, was er herausfand, war das Material, aus dem der Spiegel bestand: Es war eindeutig Nickel, wahrscheinlich in seiner reinsten Form. Entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten, trat Breiskoll einige Schritte zurück und brachte die Waffe in Anschlag. Bevor er sie auslösen konnte, registrierte er eine Bewegung neben sich. Keine zwei Schritte entfernt stand Insider. »Dieser Parabolspiegel erinnert mich an den Planeten Unheil im System der Sonne Glutauge«, sagte der Katzer langsam und drehte den Kopf. »Wer bist du wirklich, Insider?« Der Extra blickte sein Gegenüber mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. Plötzlich, ohne erkennbaren Ansatz, sprang er auf den Telepathen zu und versuchte, ihm den Strahler zu entreißen. Breiskoll wurde durch den Angriff völlig überrascht und geriet ins Stolpern, besaß aber derart ausgeprägte Reflexe, daß er die Waffe eisern umklammert hielt. Blitzartig fuhr der Grüne seinem Gegner mit zwei Händen an die Kehle, während seine beiden anderen Hände versuchten, dem anderen den Strahler zu entwinden. Als der Katzer den Würgegriff spürte, zog er sein Knie an und rammte es Insider in die Magengrube. Für einige Sekunden bekam er Luft, dann setzte der Extra wieder nach. Einen Handkantenschlag, den Bjo anbringen konnte, nahm sein Widersacher hin, ohne Wirkung zu zeigen. Der Kampf wurde von beiden mit erbitterter Kompromißlosigkeit geführt, denn der Telepath spürte deutlich, daß Insider ihn töten wollte. Unterlag er, war sein Schicksal besiegelt. Zunehmend wurde Breiskoll in die Defensive gedrängt, denn der
andere griff ungestüm an. Dabei kam ihm seine Schnelligkeit ebenso zugute wie der Umstand, daß er mit vier Händen deutlich im Vorteil war. Bjo hatte es nur seiner katzengleichen Gewandheit zu verdanken, daß er noch nicht besiegt worden war; ein anderer als er hätte gegen den Extra nicht die geringste Chance gehabt. Wieder wurde dem Katzer die Luft knapp. Er versetzte seinem Gegner einen Tritt vor das Schienbein und ließ sich einfach nach hinten fallen. Der Grüne, der sich an ihm festgeklammert hatte, machte die Bewegung mit, lockerte aber den Griff am Hals, um den Sturz aufzufangen. Ein Bündel aus Leibern rollte über den Boden. Mit aller Kraft schlug Breiskoll die Hand des anderen, die den Strahler umklammerte, gegen ein Tischbein. Wie er erwartet hatte, ließ Insider für Sekundenbruchteile los. Diese Gelegenheit nahm Bjo wahr, um auf den Spiegel zu feuern. Zwar gelang es ihm nicht, ihn zu zerstören, doch er wurde teilweise beschädigt. Mit dem Extra ging eine seltsame Veränderung vor sich. Die Hand, die erneut nach der Waffe greifen wollte, war plötzlich verschwunden. Zum Triumphieren blieb dem Katzer keine Zeit, denn unbeeindruckt griff Insider erneut an. Bjo, der nun wußte, wie er seinen Gegner am besten treffen konnte, konzentrierte sich mehr auf den Strahler. Verbissen kämpfte er um jeden Millimeter Bewegungsfreiheit seiner Rechten. Erneut gelang es ihm, einen Schuß abzugeben, doch im letzten Augenblick drückte der Grüne seine Hand zur Seite. Der energetische Strahl fuhr in den Boden und verdampfte einen Teil des Belags. Insider war es gelungen, seinen Kontrahenten in die Rückenlage zu bringen. Wie ein großer grüner Gnom hockte er auf der Brust Bjos und traktierte diesen mit Fäusten. Reflexhaft griff der Katzer mit der Linken nach dem Kopf seines Peinigers, preßte ihn nach hinten, stemmte sich gleichzeitig mit den Schultern hoch und warf sich herum. Mit seinen drei noch verbliebenen Händen krallte der Extra sich fest. Diesen Augenblick
nutzte Bjo. Noch aus der Drehung heraus schoß er und erzielte einen weiteren Treffer am Spiegel. Auch Insider zeigte Wirkung. Ein Bein, zwei weitere Arme und der Kopf lösten sich in Nichts auf. Breiskolls Hoffnung, daß das, was von dem Extra noch übrig geblieben war, nun aufgegeben würde, erfüllte sich nicht. Ungestüm griff der kopflose, einbeinige und einarmige Rumpf an. Seiner Schnelligkeit und der Mehrzahl seiner Extremitäten beraubt, hätte Insider allenfalls noch einen untrainierten Solaner in Verlegenheit bringen können – für den Katzer war er kein Gegner mehr. Mit einer kraftvollen Bewegung schleuderte Bjo den Torso von sich und schoß gezielt auf den Spiegel. Mit mehreren kurzen Feuerstößen zerstrahlte er seine Reste. Wie er erwartet hatte, löste sich Insider völlig auf und verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Im gleichen Augenblick erlosch auch die mysteriöse Strahlung. Mit einem solch durchschlagenden Erfolg hatte Bjo nicht gerechnet. Erschöpft und ausgelaugt, zugleich aber auch glücklich und erleichtert, ließ er sich in einen Sessel sinken. Ein paar Minuten blieb er so einfach sitzen, dann stand er auf und rief über Interkom in der Zentrale an. Stichwortartig informierte er Hayes. »Die Tat, die du vollbracht hast, hat eine noch größere Wirkung, als du gedacht hast, Bjo. Vor wenigen Augenblicken habe ich verschiedene Meldungen aus allen drei Schiffsteilen erhalten. Nicht nur unsere Paradies-Sucher sind wieder normal, sondern auch unsere Waffentechniker sind wieder voll einsatzfähig«, freute sich der High Sideryt. »Ein paar liegengebliebene Dinge sind noch aufzuarbeiten, dann herrschen an Bord der SOL wieder normale Zustände.« »Wie sagt ein altes terranisches Sprichwort? Kleine Ursache, große Wirkung.« Breiskoll lächelte, wurde aber sogleich wieder ernst.
»Hast du mittlerweile etwas von Atlan und der FRESH gehört?« Breckcrown Hayes' Gesicht verdunkelte sich. »Nein, Bjo. Du bist nicht der einzige, der sich deshalb Sorgen macht.«
6. »Los, Hage und Vorlan, faßt mit an!« sagte Atlan. Mit vereinten Kräften rückten sie einen schweren Metallschrank vor die Tür. »Ich hoffe, das wird sie eine Weile aufhalten. Wir nehmen die Feuerleiter. Vorlan, du gehst zuerst, ich bilde die Nachhut.« »Und wenn sie draußen auf uns warten, sitzen wir in der Falle«, brummte Nockemann. »Wenn ich es mir recht überlege, war es ein ziemlicher Fehler, mein Ebenbild aus dem Gefängnis zu befreien.« »Er war der einzige, von dem wir etwas erfahren haben«, hielt ihm der Arkonide entgegen. »Die Luft ist rein«, raunte Brick, der sich mittlerweile aus dem Fenster geschwungen hatte und auf der außen angebrachten Plattform stand. »Hage, hilf Sanny hinaus.« Obwohl der Genetiker nicht der Kräftigste war, bereitete es ihm keine Mühe, die puppengroße Moolatin nach draußen zu heben, wo der Pilot sie in Empfang nahm. Jemand pochte heftig an die Tür. »Aufmachen!« rief eine befehlsgewohnte Stimme. »Beeil dich!« zischte Atlan. Umständlich kletterte Nockemann auf das Fenstersims und stützte sich auf Brick, bevor er den Sprung auf den nur einen halben Meter tiefer liegenden Metallrost wagte, der von einem eisernen Geländer umgeben war. Mit einem Satz folgte der Aktivatorträger. Er deutete nach oben. »Wahrscheinlich erwartet man uns unten. Wir überwinden einige
Stockwerke und kehren dann ins Hotel zurück.« Brick nickte zustimmend. Da der Abstand zwischen den einzelnen Stufen für Sannys kurze Beinchen zu groß war, setzte er sich die Kleine kurzerhand auf die Schulter und stieg voran. Aus dem Zimmer war dumpfes Gepolter zu hören. Zweifellos waren die Polizisten auf das Hindernis gestoßen und versuchten nun, sich gewaltsam Einlaß zu verschaffen. Atlan hoffte, daß sie so lange aufgehalten wurden, bis sie wieder im Gebäude verschwunden waren. »Sie sind durchs Fenster«, war von unten zu hören. »Stopp!« zischte der Unsterbliche. »Preßt euch an die Wand!« Abrupt blieben die beiden anderen stehen und schmiegten sich eng an die Fassade, so daß ihre Umrisse mit der düsteren Front verschmolzen. Als sich ein Metallmensch aus dem Zimmer nach draußen beugte, das ihnen bis vor wenigen Minuten noch als Unterkunft gedient hatte, hielten sie unwillkürlich den Atem an. »Siehst du sie?« »Nein, es ist zu dunkel«, brummte derjenige, der hinausgespäht hatte. Der Oberkörper des Mannes, der sich als dunkle Silhouette gegen das erleuchtete Rechteck des Fensters deutlich abgehoben hatte, verschwand wieder nach drinnen. »Los, weiter! Schnell!« Zwei Stufen auf einmal nehmend, stiegen die drei weiter empor, vorbei an düsteren Fensterflächen, die sich kaum von der metallenen Außenhaut des Hochhauses abhoben. Atlans Hoffnung, ein geöffnetes Fenster zu finden, erfüllte sich nicht. Als sie drei Etagen überwunden hatten, flammte unter ihnen ein starker Scheinwerfer auf. Wie ein leuchtender Finger tastete er sich an der Fassade empor und riß sie förmlich aus der schützenden Dunkelheit heraus. Geblendet schlossen sie die Augen. Der Arkonide stieß eine Verwünschung aus. Ihr müßt zurück in das Gebäude, verlangte sein Extrahirn
kategorisch. Hier draußen seid ihr lebende Zielscheiben! Ohne lange zu überlegen, griff der Unsterbliche nach seinem Strahler und schlug mit dem Kolben ein Scheibe ein. Das Splittern und Klirren des zerbrechenden Glases zerriß die nächtliche Stille wie Explosionsdonner und klang so unnatürlich laut, daß Atlan befürchtete, ganz Metallstadt aus dem Schlaf gerissen zu haben. Brick, der die Absicht sofort erkannt hatte, schwang sich mit Sanny durch die gewaltsam geschaffene Öffnung; damit waren die beiden wenigstens vorerst in Sicherheit, nur Nockemann zögerte. Erst als ihm der Arkonide einen Rippenstoß versetzte, folgte er dem Piloten; Atlan machte den Abschluß. Drinnen war es stockfinster. Mit Händen und Füßen tastend, tappten die Männer vorwärts, und eins ums andere Mal bewies Gerumpel und Gepolter, untermalt von Schimpfworten, daß ein Körperteil trotz aller Vorsicht Kontakt mit harten Gegenständen gehabt hatte. »Haltet euch geradeaus«, raunte der Weißhaarige. »Wir müssen auf die gegenüberliegende Wand stoßen und dann den Raum systematisch nach einem Durchlaß absuchen.« »Du hast gut reden«, jammerte der Wissenschaftler. »Mein Körper ist nur noch eine einzige Prellung.« »Warum beklagst du dich, Hage? Du hast doch an deinem Ebenbild gesehen, wie schick eine bläulich schimmernde Haut ist«, feixte der Pilot. Der Galakto-Genetiker schwieg verbittert und nahm sich vor, es Brick bei passender Gelegenheit heimzuzahlen. In seinem Grimm schritt er schneller aus und prallte prompt gegen eine Strebe, wobei er sich eine Beule über dem linken Auge zuzog. Mit einem klassischen Zitat machte er sich Luft. »Bitte nimm dich zusammen, Hage!« mahnte Atlan. Es scheint sich um einen Lagerraum zu handeln, erkannte der Logiksektor. Gedanklich stimmte Atlan zu. Er hatte Kisten und Kartons erfühlt,
aber auch Gestelle und Regale, in denen Waren gelagert waren. Wie nicht anders zu erwarten war, fühlte sich alles kalt und metallisch an. »Ich bin auf eine Wand gestoßen!« meldete Vorlan Brick. Akustisch orientierten sich der Arkonide und Nockemann. Als sie auf den Solaner trafen, gingen sie gemeinsam daran, einen Durchlaß zu suchen. Bricks tastende Hände erfühlten eine Tür. Sie war verschlossen, doch das war kein ernsthaftes Hindernis. »Kommt her, hier ist ein Ausgang!« rief er halblaut. »Bleibt hinter mir, ich muß das Schloß zerstören.« Ein greller Energiestrahl zuckte auf die Tür zu und tauchte einen Teils des Raums für Sekundenbruchteile in ein fahles Leuchten. Brick steckte den Strahler wieder weg und probierte vorsichtig; die Tür ließ sich öffnen. Der Gang draußen war unbelebt; einige wenige Leuchtröhren verbreiteten spärliche Helligkeit. Wie Schemen huschten die drei Männer auf den Flur hinaus. Atlan legte warnend den Finger auf den Mund und lauschte. Von der Treppe her hörte man das Getrappel schwerer Stiefel. Fieberhaft suchte der Arkonide nach einem Ausweg. Die Feuerleiter schied als Fluchtweg aus, ebenfalls die Treppe. Blieb noch der Lift, doch eine solche Kabine war die perfekte Falle. Und die Flucht nach oben? Sie endet spätestens auf dem Dach. Eure einzige Chance besteht darin, euch zu verbergen und die Metallmenschen in einen Hinterhalt zu locken, meldete sich der Extrasinn. »Es scheint wirklich die einzige Lösung zu sein«, gab Atlan lautlos zurück. Er winkte den anderen und schlich davon, in Richtung Treppenhaus. An jeder Tür, an der er vorbeikam, rüttelte er, hatte allerdings keinen Erfolg. Schon konnte man deutlich die Stimmen der Polizisten unterscheiden, die sich diesem Stockwerk näherten, als er doch noch
Glück hatte. Schnell schlüpften sie in das dahinterliegende Zimmer und schlossen die Tür hinter sich. Der Raum war ein langer, sackartiger Schlauch. Von draußen fiel ein schwacher Lichtschein durch das winzige Fenster. Undeutlich zeichneten sich die Umrisse von Reinigungsgeräten ab, es roch nach Putz- und Desinfektionsmitteln. Nockemann rümpfte die Nase. Mit Gesten bedeutete der Aktivatorträger Vorlan, Sanny abzusetzen, dann zog er die drei zu sich heran und ging in die Hocke. Die anderen taten es ihm nach und steckten die Köpfe zusammen. Flüsternd erläuterte Atlan seinen Plan. Auf dem Korridor schien mittlerweile ziemlicher Betrieb zu herrschen. Man hörte Rufe und Kommandos, Schritte hasteten vorbei. »Hier sind sie eingestiegen. Die Tür ist aufgebrochen!« Die vier verhielten sich mucksmäuschenstill und lauschten angestrengt. Mehrere Personen näherten sich ihrem Versteck. »Sie müssen sich irgendwo verborgen halten. Zehn Mann gehen nach oben, der Rest durchsucht alle Zimmer dieses Stockwerks. Nel und Saman, ihr bewacht die Treppe, Bolter, du bleibst beim Lift.« Die Schritte entfernten sich, in einiger Entfernung klappten Türen, dann wurde es ruhig. »Ich glaube, jetzt können wir es riskieren«, raunte der Arkonide und stieß einen metallenen Eimer um. Sanny zuckte erschreckt zusammen, als lautes Geschepper die Kammer erfüllte. Die Reaktion zeigte sich sofort. »He, Miles, hast du das gehört? Sie müssen hier sein – hinter dieser Tür.« »Ich komme.« »Sage zuerst dem Chef Bescheid.« »Unsinn, wir sehen uns das erst einmal an. Wenn du dich getäuscht hast, stehen wir nämlich dumm da.« »Also gut.« Deutlich war zu hören, wie zwei Personen auf den Raum
zukamen. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, der Schatten eines Mannes fiel in die Kammer, dann blitzte eine Stablampe auf. Ein scharf abgegrenzter Lichtkegel durchschnitt die diffuse Finsternis. Wo immer er auftrat, riß er die Gegenstände brutal ans Licht. Einige Sekunden lang blieb der grelle Strahl auf mehreren großvolumigen Behältern haften. Sanny und Nockemann, die dahinter Schutz gefunden hatten, hielten unwillkürlich den Atem an. Schon glaubten sie sich entdeckt, als das Licht weiterwanderte. Die Umrisse des anderen Polizisten tauchten hinter dem ersten auf, eine zweite Lampe wurde eingeschaltet. »Hast du etwas entdeckt?« »Noch nicht. Bleibe du hier vorne, ich sehe mich mal im hinteren Teil um.« Mit gezogenem Schlagstock in der einen und dem Scheinwerfer in der anderen Hand bewegte sich der Uniformierte langsam von der Tür weg. Darauf hatten Atlan und Brick, die beide eng an die Wand gepreßt neben dem Durchlaß lauerten, nur gewartet. Der Arkonide sprang zur Seite, Vorlan schnellte sich nach vorn, tiefer in den Raum hinein. Der Posten an der Tür war so überrascht, daß er noch nicht einmal eine Abwehrreaktion zeigen konnte. Mit einem gezielten Fausthieb schickte Atlan ihn zu Boden. Ein Geräusch ließ den anderen herumfahren. Ihm erging es nicht besser als seinem Kameraden. Bevor er wußte, wie ihm geschah, war der Solaner heran. Ein einziger Schlag mit dem Kolben des Strahlers ließ ihn ächzend zusammenbrechen. »Schnell jetzt!« Nockemann eilte zur Tür und schloß sie bis auf einen schmalen Spalt. Ihm oblag es, den Gang zu beobachten, damit sie nicht überrascht wurden, während sich die beiden anderen Männer daranmachten, den Metallmenschen die Uniformen auszuziehen; Sanny machte sich nützlich, indem sie leuchtete. »Licht aus!« zischte Hage.
Die Stablampen erloschen. Schwere Schritte näherten sich, kamen bedrohlich nahe und verhielten schließlich. »Wo sind Miles und Antes?« Die Antwort war nicht zu verstehen. »Wenn ihr sie seht, schickt sie zu mir.« Der Mann entfernte sich wieder. »Puh«, machte der Genetiker. Atlan und Brick, die den beiden Polizisten vorsichtshalber den Mund zugehalten hatten, arbeiteten schweigend weiter. Endlich hatten sie es geschafft. Rasch streiften sie die Anzüge über ihre eigenen Kombinationen und nahmen die Schlagstöcke sowie die Stablampen an sich. »Sonderlich elegant sehen wir nicht gerade aus«, meinte Brick und grinste. »Was bei mir zu eng ist, ist bei dir ein wenig zu weit geraten.« »Solange wir uns im Schatten halten, müßte es gehen. Hage, Sanny, es geht los.« Bereitwillig ließen sich die beiden »am Kragen« fassen und traten hinaus auf den Korridor. Gestikulierend und ziemlich unfreundlich – so sah es zumindest für einen zufälligen Beobachter aus – wurden sie von ihren »Häschern« zur Treppe dirigiert. »Hallo, wen habt ihr denn da gefangen?« Atlan schob sich die Mütze tiefer ins Gesicht und bemühte sich, außerhalb des Lichtkreises zu bleiben. »Zwei Solaner haben wir, die anderen sind noch flüchtig.« »Gut gemacht, Miles und Antes. Der Chef wird sich freuen. Weiß er schon Bescheid?« »Ja, wir sollen die beiden nach unten bringen.« »Ist in Ordnung, ihr könnt passieren.« Nicht nur Brick, auch dem Aktivatorträger fiel ein Stein vom Herzen. Nockemann, dem der kalte Schweiß auf der Stirn stand, wollte schneller ausschreiten und machen, daß er davonkam, doch der Arkonide hielt ihn zurück.
»Keine Hast«, raunte er. Würdig und gemessenen Schrittes, ganz Autorität und Amtsperson, stiegen die falschen Ordnungshüter mit ihren »Gefangenen« nach unten. Erst als sie zwei Treppenabsätze hinter sich gebracht hatten und von oben nicht mehr zu sehen waren, legte auch Atlan größere Eile an den Tag. »Noch so ein Streich, und ich muß mich in Medobehandlung begeben«, stöhnte der Wissenschaftler. Sein Gesicht war grau. »Ich wollte, ich hätte ein wenig von eurer Nerven« »Jetzt kein Wort mehr!« Atlan verlangsamte seine Schritte wieder. Sie hatten die untere Ebene erreicht. Unauffällig blickte der Arkonide sich um. Gäste waren keine mehr da, lediglich drei Uniformierte waren zu sehen, die den Vorderausgang bewachten. »Wir sollten hinten hinausgehen«, flüsterte der Pilot. »Nein, das wäre zu auffällig«, gab der Unsterbliche ebenso leise zurück. Angriff ist die beste Verteidigung! meldete sich sein Extrasinn. Du mußt die Flucht nach vorn antreten! Die Posten waren auf die kleine Gruppe aufmerksam geworden. Einer von ihnen verließ seine Position und kam auf die vier zu. »Ah, wie ich sehe, habt ihr zumindest einen Teilerfolg erzielen können.« Er nickte anerkennend. »Ihr könnt die beiden hier lassen. Ich kümmere mich um sie.« Atlan spürte, wie seine Begleiter unruhig wurden, doch er behielt auch in dieser kritischen Situation die Nerven. »Der Chef hat uns Anweisung gegeben, sie hinauszubringen.« »Habt euch wohl wieder mal wichtig gemacht, was?« Der Metallmensch musterte die vermeintlichen Kollegen abfällig. »Wie seht ihr überhaupt aus?« Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte der Arkonide, wie Bricks Rechte zum Schlagstock fuhr. Zweifellos glaubte er sich entdeckt, und obwohl Atlan der gleichen Ansicht war, fragte er kaltblütig:
»Wie sehen wir denn aus?« »Wie Schlampen. Betrachtet euch doch mal in einem Spiegel.« Der Pilot stieß hörbar die Luft aus; Nockemann, der der Anspannung nicht gewachsen war, stieß völlig unmotiviert ein schrilles Lachen aus. »Das Gelächter wird dir noch vergehen, Solaner«, sagte der Uniformierte unfreundlich und trat näher an die Gruppe heran, um den vermeintlichen Frechling genauer zu betrachten. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Grenzenloses Erstaunen zeichnete sich auf dem stählern wirkenden Antlitz ab. Ihr seid durchschaut! Die Starre des Polizisten wich. »Greift sie! Es sind die Gesuchten!« Nun gab es für den Arkoniden kein Halten mehr. Mit einer Handbewegung schob er Nockemann zur Seite, griff zum Schlagstock und streckte den Metallmenschen mit einem gezielten Hieb nieder. Die beiden anderen Ordnungshüter hatten endlich begriffen, daß etwas nicht stimmte. Gemeinsam stürmten sie los. Sie hatten ebenfalls ihre spiraligen Knüppel gezogen, grimmige Entschlossenheit spiegelte sich in ihren Gesichtern. Vorlan zeigte sich als ausgezeichneter Partner und Kampfgefährte, der mitzudenken verstand. Er hatte nicht gewartet, ob Atlan Erfolg hatte, sondern stürzte sich mit Vehemenz auf die Angreifer. Mit einem wuchtigen Schlag prellte er einem die Waffe aus der Hand, doch der andere war auf der Hut und setzte seinen Schlagstock als Fechtstab ein, wobei er einiges Geschick an den Tag legte. Brick, dieser für ihn archaischen Kunst der Verteidigung nicht mächtig, versuchte es mit wuchtigen Attacken, rannte dabei aber stets ins Leere und fing sich zudem einen schmerzhaften Treffer ein, der seine linke Schulter kurzfristig lähmte. Und dann war der Arkonide heran.
»Kümmere dich um den anderen!« rief er dem Piloten zu und drang auf den Polizisten ein. Atlan, der sich wie kaum ein anderer an Bord der SOL aufs Fechten verstand und schon vor mehr als zehntausend Jahren das Schwert geführt hatte, ließ sich auf nichts ein und machte kurzen Prozeß. Nach nicht einmal dreißig Sekunden lag sein Gegner bewußtlos am Boden. Brick, der seinen Kontrahenten mittlerweile ebenfalls besiegt hatte, trat heftig atmend neben ihn. »Das mußt du mir bei passender Gelegenheit mal beibringen«, keuchte er. Auf der Treppe war Getrappel zu hören, jemand rief etwas. »Zuerst einmal müssen wir von hier verschwinden. Kommt!« Der Aktivatorträger stürmte nach draußen, gefolgt von den anderen. Zu aller Erleichterung war niemand auf der Straße, der versuchte, sie aufzuhalten. Sanny, die Mühe gehabt hatte, mit ihren kurzen Beinchen Schritt zu halten, wurde von Atlan kurzerhand auf den Arm genommen, dann rannte er weiter und hielt auf eine Gasse zu, die nur von wenigen Lampen schwach erhellt wurde. Plötzlich stoppte er abrupt und verhielt im Schatten eines Gebäudes. Vorlan und Hage, die darauf nicht gefaßt waren, prallten gegen ihn. »Was ist denn nun schon wieder?« erkundigte sich Nockemann erbost. »Ist dir nicht aufgefallen, welches Geräusch wir auf dem metallenen Straßenbelag verursachen? Man braucht uns nicht einmal zu sehen und kann uns anhand der Akustik dennoch verfolgen.« »Also gut, dann schleichen wir eben, das ist mir sowieso lieber«, brummte der Galakto-Genetiker. »Die Frage ist nur, wohin schleichen wir?« »Natürlich zum Shift, Hage«, belehrte ihn der Stabsspezialist gönnerhaft. »Oder hast du etwas anderes vor, Atlan?« »Nein, allerdings sollten wir unser Ziel auf Umwegen ansteuern.
Es wäre unverantwortlich, wenn wir durch übertriebene Eile unsere Freiheit aufs Spiel setzen würden.« »Das leuchtet mir ein, aber glaubst du nicht, daß man den Flugpanzer bewacht?« »Es ist anzunehmen, Hage, aber sicher bin ich mir nicht. Nach meinem Eindruck sind die Metallmenschen recht dilettantisch vorgegangen.« »Das sagst du. Mein Bedarf an Aufregungen ist jedenfalls für die nächsten Jahre gedeckt.« »Weißt du, Atlan, ich habe mir natürlich ebenso wie du meine Gedanken gemacht«, meldete sich Brick zu Wort. »Ich gebe dir recht in dem, was du gesagt hast, möchte allerdings eine Einschränkung machen. Vielleicht hat man in Metallstadt andere Auffassungen als wir, wahrscheinlicher aber ist, daß man sich unser sicher ist. Was nützt es uns, aus dem Hotel entkommen zu sein, wenn es uns gleichzeitig verwehrt ist, die Stadt zu verlassen?« Er deutete nach oben. »Der rote Energieschirm hindert uns daran. Man rechnet damit, uns früher oder später zu fassen, und so wird es wohl auch sein.« »Dessen bin ich mir durchaus nicht sicher«, machte der Arkonide in Optimismus. »Zuerst aber müssen wir hier wegkommen.« Er zeigte nach hinten. Im Eingang des Hotels waren mehrere Metallmenschen aufgetaucht, die auszuschwärmen begannen. Auf leisen Sohlen stahl sich die Gruppe davon.
* Seit zehn Minuten hockten die vier hinter irgendwelchen Aufbauten am Rand des Platzes, auf dem sie den Shift abgestellt hatten, und beobachteten die Umgebung. Auf ihrem Weg hierher hatte es noch einmal einen dramatischen Zwischenfall gegeben. Sie waren von einer Patrouille überrascht
und sofort in ein Handgemenge verwickelt worden. Während sich die kleine Moolatin verbergen konnte, hatte man den GalaktoGenetiker gefangengenommen und sogleich fortgeschleppt. Erst als Brick und Atlan die Uniformierten überwältigt hatten, wobei es wieder einmal der Fechtkunst des Arkoniden zu verdanken war, daß sie nicht unterlagen, hatte man die Verfolgung aufnehmen und Hage befreien können. Noch vorsichtiger geworden, hatten sie dann ihren Weg fortgesetzt. »Ich glaube, wir können es wagen«, raunte Vorlan. »Wenn es hier Wachen gäbe, hätten wir sie bestimmt bemerkt.« »Einverstanden, doch zuvor entledigen wir uns unserer Verkleidung.« Rasch zogen die beiden Männer die Uniformen aus und ließen sie achtlos liegen. Atlan, der so kurz vor dem Ziel keinerlei Risiko mehr eingehen wollte, zog seinen Strahler; Brick tat es ihm nach. Mit einem Kodegeber hob er drahtlos die Sperre auf, die Unbefugten das Eindringen in den Flugpanzer verwehrte. »Ich gehe vor. Wenn man uns entgegen aller Erwartung doch auflauern sollte, gibst du mir Feuerschutz, Vorlan!« »Hals- und Beinbruch«, wünschte der dunkelhäutige Solaner, als der Aktivatorträger losrannte. Mit brennenden Augen verfolgten die Zurückgebliebenen seinen Sprint, doch alles ging gut. Unangefochten erreichte Atlan den Shift. Er wartete in der Schleuse, bis die anderen heran waren, dann eilten sie gemeinsam in die Steuerkanzel. Während sich der Pilot sofort hinter die Steuerkontrollen klemmte und den Antrieb aktivierte, ließ sich Atlan im Sitz des Waffentechnikers nieder. Schon hob das Fahrzeug im Schutz seiner Schirmfelder ab. Wie vor ihm Verhye, verzichtete auch Brick darauf, große Höhe zu gewinnen, sondern flog dicht über den Dächern der Stadt auf die Außenbezirke zu. »Von der Gastfreundschaft der Metallmenschen ist nicht viel
übriggeblieben«, meinte Atlan sarkastisch. »Fünf Gleiter verfolgen uns. Ich versuche es mal mit einem Warnschuß.« Ein greller Energiestrahl löste sich vom Shift und strich knapp über den ersten Flugkörper hinweg. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Statt abzudrehen, eröffneten die Metallmenschen ihrerseits das Feuer. Zwei Salven lagen daneben, eine dritte traf ihr Ziel, wurde jedoch vom Schutzschirm verkraftet. »Sehr wirksam ist das aber nicht, was unsere Freunde da zu bieten haben«, kommentierte Vorlan. »Wenn wir mehrere Treffer gleichzeitig erhalten, bricht unser Schirm zusammen«, widersprach Atlan. »Ein altes terranisches Sprichwort sagt: Viele Hunde sind des Hasen Tod. Und da ich nicht die Absicht habe, zu sterben, läßt es sich nicht vermeiden, daß wir uns unserer Haut wehren.« Der Arkonide wartete, bis die automatischen Zielerfassungen ein Objekt angepeilt hatten, dann betätigte er den Feuerknopf. Der Gleiter, der ihnen am nächsten war, verging in einer grellen Explosion, doch die anderen behielten ihren Kurs unbeirrt bei und schossen zurück. Der Flugpanzer erhielt zwei Treffer und wurde ordentlich durchgerüttelt. Die Belastungsanzeige der Schirmfeldaggregate schnellte bis knapp an die Rot-Marke hoch. »Allmählich wird es ungemütlich«, brummte der Pilot und riß das Vielzweckfahrzeug in eine enge Linkskurve. Durch das unerwartete Ausweichmanöver verfehlten drei Salven den Shift nur knapp. »Mach weiter so, Vorlan, das verschafft uns ein wenig Luft«, rief Atlan. Längst hatten sich die Zieloptiken wieder ausgerichtet. Er gab die bereitgestellte Energie frei. Wieder wurde ein Gleiter zerstört, gleich darauf ein dritter. »Allmählich sollten wir uns etwas einfallen lassen«, ließ sich Brick vernehmen, »schließlich ist es nicht unsere Absicht, ständig unter dieser roten Kuppel zu kreisen als Zielscheibe für die
Metallmenschen.« Mittlerweile war der Shift bis auf wenige Kilometer an den Metallstadt umschließenden Schutzschirm herangekommen. Seine rote Farbe wirkte wie eine einzige Drohung. »Sie drehen ab«, sagte Atlan erleichtert. »Wahrscheinlich haben sie eingesehen, daß wir ihnen überlegen sind.« »Vielleicht warten sie auch nur darauf, daß wir uns an diesem verdammten Schirm den Schädel einrennen«, knurrte der Pilot. »Oder ist schon jemand einer Lösung des Problems näher gekommen?« Das war wirklich eine harte Nuß. Jeder von ihnen wußte, welch verheerende Folgen es gehabt hatte, als die FRESH Kontakt mit dem energetischen Feld bekommen hatte. Ein vergleichsweise kleines Objekt wie der Flugpanzer würde einen solchen Zusammenprall nicht überstehen. »Ich hab's!« rief Sanny plötzlich. »Ich habe den Energieschirm berechnet. Er ist zu durchdringen.« »Und wie?« fragte Atlan überrascht. Die Paramathematikerin sagte es ihm. Der Arkonide hatte keine Zweifel, daß das stimmte, was die Kleine mit ihrer unerklärlichen Begabung herausgefunden hatte. Schon oft hatte sie ihre Umgebung mit Ergebnissen verblüfft, die rein rechnerisch nicht nachzuvollziehen waren, aber stets gestimmt hatten. »Du hast gehört, was Sanny gesagt hat, Vorlan. Bist Du bereit?« »Immer.« Der Solaner grinste. »Aus verständlichen Gründen hält mich hier nichts mehr, obwohl es anfangs fast nach Urlaub aussah. Mit der Befreiung von Hages Doppelgänger müssen wir den Metallmenschen ziemlich auf die Zehen getreten sein.« »Ich verwahre mich dagegen, daß ihr den weltweiten Clan der Nockemanns für eure Schwierigkeiten verantwortlich macht«, sagte der Wissenschaftler würdevoll. »Dieser rote Energieschirm entstand bereits, als Shift 2 abflog.« »Ich denke, es wäre besser, wenn wir den Disput verschieben und
uns darauf konzentrieren, erst einmal Sannys Berechnung in die Tat umzusetzen.« Der Galakto-Genetiker verzog zwar das Gesicht, schwieg aber widerspruchslos. In der kleinen Kabine wurde es still. Atlan richtete alle Waffen aus, dann hielt er mit sämtlicher verfügbarer Energie auf den Schirm. Gleißende Strahlenbahnen rasten auf die Kuppel zu und ließen sie lodern und aufglühen. Brick hatte die Geschwindigkeit gedrosselt und war bereit, sofort abzudrehen, wenn der erwartete Erfolg ausbleiben sollte. Wie gebannt blickten alle auf die Anzeigen, atemlose Spannung hatte die kleine Gruppe ergriffen, Sekunden dehnten sich zu Minuten. Es sah so aus, als ob Sanny sich zum erstenmal verrechnet hätte. Unvorstellbare Energien wurden freigesetzt, tobten gleich einem Gewitter mit grellen Blitzen und gewaltigen Entladungen durch die semitransparente Hülle, doch der Schirm hielt stand. »Ich kann den Shift nicht mehr lange auf Kurs halten, sonst wird der Abstand zu gering, um noch ausweichen zu können«, meldete Brick mit rauher Stimme und rasselte einige Daten herunter. Atlans Gesicht war starr und unbewegt. »Warte noch, Vorlan.« Salve auf Salve verließ die Geschütze des Flugpanzers. Längst liefen die Reaktoren auf Vollast, doch wie es den Anschein hatte, reichte das Potential des Shifts nicht aus, um wenigstens eine Instabilität der Kuppel zu erreichen. Sollte sich Sanny tatsächlich derart verrechnet haben? »Ein Strukturriß!« Mit einem Jubelschrei machten die Solaner ihrer inneren Anspannung Luft, nur die Moolatin saß einfach da und lächelte. Sie hatte nie an dem gezweifelt, was sie mit ihren Para-Sinnen ermittelt hatte. Der Energieschirm zeigte Wirkung, verlor an einer Stelle an Leuchtkraft, wurde transparent und instabil. Atlan feuerte weiter
Punktbeschuß, und dann entstand eine unregelmäßige Strukturlücke. Darauf hatte Brick gewartet. Er beschleunigte mit allem, was der Antrieb hergab. Mit steigender Geschwindigkeit hielt das klobige Gefährt auf die Öffnung zu. Nun war es nicht so, daß da einfach eine Art Tor entstanden war, nein, die Strukturlücke variierte ständig Form und Umfang, verformte sich wie der Körper einer Amöbe, wodurch sie nahezu unberechenbar wurde. Dennoch schaffte Vorlan es, den Shift hindurchzusteuern. Es war eine navigatorische Meisterleistung und bewies wieder einmal, daß er nicht umsonst einer der Chefpiloten der SOL war. »Geschafft!« Erschöpft, aber glücklich lehnte sich Brick in seinem Sessel zurück. »Wohin fliegen wir jetzt, Atlan?« »Natürlich zurück zur FRESH!« rief Nockemann. »Das halte ich nicht für klug«, widersprach der Arkonide. »Wir müssen damit rechnen, daß wir verfolgt werden. Nun ist es natürlich naheliegend, daß wir versuchen werden, so schnell wie möglich zur Korvette zurückzukehren.« »Ja, das liegt auf der Hand«, gab der Wissenschaftler unumwunden zu. »Ergo werden wir nicht das tun, was von uns erwartet wird, sondern etwas völlig anderes; außerdem haben wir unsere selbstgestellte Aufgabe, die Landschaft im Nichts näher zu erkunden, noch nicht erfüllt.« »Ich denke, wir sollten allmählich von hier verschwinden.« Der Pilot deutete auf den Bildschirm. »Der Morgen graut bereits. Wenn es hell geworden ist, können wir selbst ohne technische Hilfsmittel leicht ausgemacht werden.« »Gut. Ich bin dafür, daß wir das Alpenin-Gebirge ansteuern. Bestimmt gibt es dort Täler und Schluchten, in denen wir den Shift verbergen können und vor direkter Sicht geschützt sind.« Der Vorschlag des Aktivatorträgers fand allgemeine Zustimmung.
* Mit hoher Geschwindigkeit überflog der Flugpanzer die paradiesische Landschaft im Nichts und hielt in nordnordöstlicher Richtung auf das imposante Gebirgsmassiv zu. Inzwischen war die Sonne über der Scheibenwelt aufgegangen, aber Verfolger waren bis jetzt nicht auszumachen. Vergeblich hatte Atlan mehrmals versucht, mit dem anderen Shift, der SZ-2-11 und der SOL Kontakt aufzunehmen. So war nicht nur ungewiß, wie es dem Hantelraumer inzwischen ergangen war, sondern auch, ob Verhye die FRESH überhaupt erreicht hatte. Der Boden wurde zunehmend felsiger, gleichzeitig verlor die Vegetation an ihrer manchmal tropischen Üppigkeit. Zunehmend verdrängten braune und graue Töne das saftige Grün. Wie steinerne Wächter wuchsen am Horizont die schneebedeckten Gipfel der mächtigen Viertausender empor. Die Optiken erfaßten einen Einschnitt zwischen zwei steilen Hängen, der groß genug war, um den Shift aufzunehmen. Gleichzeitig bot eine überhängende Felswand Schutz vor neugierigen Blicken. »Ich glaube, das ist kein schlechter Platz, Vorlan.« Der Pilot nickte. Er verminderte das Tempo und ließ den Flugpanzer langsam auf den Boden der Schlucht absinken. Als er gelandet war, wurden alle überflüssigen Anlagen abgeschaltet, um die Ortungsgefahr so gering wie möglich zu halten. Um keine Überraschung zu erleben, wurde eine mit Kameras bestückte Spionsonde ausgefahren. Sie machte in rund fünfzig Kilometer Entfernung ein etwa sechshundertfünfzig Meter hohes Gebilde aus, das man schon beim Anflug auf die Landschaft im Nichts beobachtet hatte. Ob es sich dabei um den von dem Metallmenschen Nockemann
erwähnten Zentralkegel handelte, konnte Atlan einstweilen nur vermuten.
7. War da nicht ein Geräusch? Nein, da war nichts, nichts außer dem Wispern der Unendlichkeit und dem Raunen der Ewigkeit. Und doch: Jemand schien zu flüstern – nicht akustisch, nein, geistig. Ein Gedanke entstand, wurde zu einem Impuls, kräftig genug, um Raum und Zeit zu überwinden, doch nur ein Wesen konnte die Botschaft empfangen, denn es war eine Kreatur des Denkenden … »Du bist ein absoluter Versager, Schalter.« Der Zorn war unüberhörbar. »Nichts hat in meinem Sinn funktioniert. Das ist ausschließlich deine Schuld.« »Ich sehe ein, daß ich Fehler gemacht habe, Herr, und ich gelobe Besserung«, gab das Geschöpf des Denkenden reumütig zurück. »Aber ich könnte besser handeln, wenn ich deinen Namen kennen würde, Herr.« Die geistige Stimme ging nicht darauf ein. »Ich befehle den Einsatz der Feuermenschen, Schalter. Hast du das verstanden?« »Ja, Herr.« »Und wage es nicht, dich den Solanern in deinem wahren Wesen zu zeigen, Schalter.« »Ich werde tun, was du mir aufgetragen hast, Herr«, dienerte das Wesen gedanklich. »Nur eine Bitte habe ich noch, Herr. Wie soll ich dich nennen?« Es entstand eine kurze Pause. Schon fürchtete das Geschöpf, seinen Herrn verärgert zu haben, als sich die geistige Stimme des Denkenden wieder meldete. »Mein Name ist Hidden-X!«
ENDE
Während die SOL nach dem Kampf mit ihrem Duplikat, der Geister-Sol, den Ortungsschutz der Sonne »Super« oder »Einauge« aufsucht, woraufhin die Ex-Magnidin Brooklyn eine lebenswichtige Entdeckung macht, ist Atlan mit seinen Begleitern nach wie vor den Rätseln der Landschaft im Nichts auf der Spur. Der Arkonide stößt dabei auf DIE FEUERMENSCHEN … DIE FEUERMENSCHEN – das ist auch der Titel des nächsten AtlanBandes, der von Horst Hoffmann geschrieben wurde.