David Leavitt
Gebrauchs Anweisung für
Florenz
Gebrauchsanweisung für Florenz
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David Leavitt
Gebrauchs Anweisung für
Florenz
Gebrauchsanweisung für Florenz
David Leavitt
Gebrauchsanweisung für Florenz Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel
Piper München Zürich
Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Florence, A Delicate Case« bei Bloomsbury in London
isbn 3-492-27519-2 © 2002 David Leavitt Deutsche Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München, 2003 Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
www.piper.de
Ich bin ein sehr kultivierter Mensch, zumindest erwartet die Welt nichts anderes von mir. Doch im Grunde meines Herzens halte ich Kultur nur für eine Beigabe des Lebens. John Addington Symonds in seinen Memoiren
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Florenz war schon immer ein beliebter Ort für Selbstmorde. Als wir im Sommer 1993 zum ersten Mal in die Stadt kamen, sprang ein junges Mädchen vom Glockenturm neben dem Duomo in den Tod. Als wir vorbeigingen, hing am Gerüst nur noch ein Tennisschuh. In der Zeitung La Nazione wurde berichtet, es sei eine Ausländerin, eine Touristin gewesen, was keine Überraschung war. Ein paar Monate vorher war ein entfernter Bekannter von uns, ein Schauspieler, dessen Karriere und Ehe in die Brüche gegangen waren, von Los Angeles eingeflogen, im Hotel Porta Rossa abgestiegen und hatte wenig später ein Röhrchen Antidepressiva geschluckt. Doch ihm wurde bloß furchtbar übel, und nach ein paar Tagen im Krankenhaus Santa Maria Nuova kehrte er zurück 7
nach Kalifornien und setzte sein erbärmliches Leben fort. 1953 hat sich angeblich der amerikanische Romancier John Horne Burns, Autor des Buches Die Galerie, in der Bar des Hotels Excelsior zu Tode getrunken. (Ernest Hemingway, einer von Burns’ Bewunderern, erzählte Robert Manning: »Es gab da einen Burschen, der hat ein großartiges Buch geschrieben und dann ein beschissenes Buch über eine Vorbereitungsschule, und dann hat er sich einfach zugrunde gerichtet.«) Die altehrwürdigen Florentiner Hotelzimmer scheinen mit ihren hohen Zimmerdekken, ihren Staubflocken, den an Messingglocken befestigten Türschlüsseln, die so schwer sind, daß sie einen auf den Grund des Arnos hinabziehen könnten, zu diesem Reiz beizutragen. Hier übertreibe ich – was leichtfällt in einer Stadt, die Pomp, Feierlichkeiten und Regatten so sehr liebt. Wir haben in Florenz einen Freund, einen ehemaligen Priesterschüler (kein Florentiner, er stammt aus Cosenza), der jedes Jahr zum carnevale ein reich mit Brokat besticktes liturgisches Gewand aus dem achtzehnten Jahrhundert anlegt, das er sich aus einem Kirchenschrank »ausleiht«, zu dem er als Organist einen Schlüssel hat. Wenn er durch die Straßen schreitet, als würde er eine religiöse Prozession anführen, stellt er die ganze baldanza und den Pomp Kardinal Richelieus oder des unerbittlichen Schnitters zur Schau. In Florenz scheint der Tod zugleich weniger furchterregend und glamouröser zu sein als an anderen Orten, vielleicht dank des Überflusses an gekreuzigten Christus8
figuren, viele davon aus dem Mittelalter, mit ihren schmerzverzerrten Gesichtern und blutenden Wunden. In der frisch restaurierten Kuppel der Kathedrale Santa Maria del Fiore (oder des Duomo, wie sie gemeinhin genannt wird) erheben sich Vasaris Visionen vom Himmel über einer übervölkerten Unterwelt, in der die reulosen Seelen schreckliche Qualen leiden. Die langwierigen Ermittlungen im Fall des »Ungeheuers von Florenz«, eines Serienmörders, der zwischen 1968 und 1985 sechzehn Menschen umbrachte, legen den Schluß nahe, daß das »Ungeheuer« in Diensten eines Satanskultes stand, zu dessen Mitgliedern einige der einflußreichsten Bürger der Stadt und auch Agenten des italienischen Geheimdienstes zählen. Kein Wunder, daß Hannibal Lecter beschloß herzuziehen! Von all denen, die über Florenz geschrieben haben, hat niemand die seltsame Morbidität der Stadt besser eingefangen als Walter Pater, der den Florentinern des fünfzehnten Jahrhunderts »den praktischen Schluß (zuschrieb), daß allein die Beschäftigung mit dem Gedanken an den Tod ehrenvoll und ein Zeichen großer Würde war … Wie oft und auf welch mannigfaltige Art hatten sie in ihren Straßen und Häusern erlebt, daß ein Leben dahingerafft wurde!« Es ist kein Zufall, daß ziemlich am Anfang von E. M. Forsters Zimmer mit Aussicht (1908), des berühmtesten in Florenz spielenden Romans, am hellichten Tag auf der Piazza della Signoria ein Mord begangen wird, den Lucy Honeychurch mit ansieht und bei dem sie als 9
Engländerin prompt in Ohnmacht fällt. Einige der Fotografien, die sie gerade bei Alinari gekauft hat, sind blutbefleckt, und George Emerson wirft sie in den Arno, nachdem er Lucy gerettet hat. Und doch bringt dieser Vorfall sie einander näher und verändert sie beide. »Denn irgendwas Gewaltiges ist passiert«, sagt George, »ich muß mich ihm stellen, ohne ganz durcheinanderzugeraten. Es ist ja nicht nur so, daß ein Mensch gestorben ist.« Nein, nicht nur. Aber andererseits, was genau ist dieses »Es«? Fast hundert Jahre nach Zimmer mit Aussicht kommen noch immer Touristen auf der Suche nach diesem »Es« nach Florenz; und nicht bloß die von Mary McCarthy verdammten »Barbarenhorden aus dem Norden«, die busweise in die Stadt strömen und dann wieder ausgespien werden wie Termiten aus einem eingestürzten Bau; nein, auch gesetzte, behutsame, belesene, äußerst ernsthafte Besucher, mit demselben lebhaften Interesse wie Lucy Honeychurch, »das wahre Florenz« zu betreten, die schwer greifbare Membran zu durchdringen, die das Touristenerlebnis von dem sogenannten – die Schwierigkeit, die richtigen Worte zu finden, liegt in der Unwirklichkeit des Gedankens begründet – »authentischen« Erlebnis trennt. Solche Besucher meiden um jeden Preis Restaurants mit englisch geschriebenen Speisekarten, obwohl das oft die besseren Restaurants sind. Fest entschlossen, um Touristenfallen einen großen Bogen zu machen, übernachten sie in bezaubernden, wenn 10
auch teuren Frühstückspensionen und haben nie einen Sprachführer dabei. Sie suchen in Florenz das, was George in Florenz sucht, was Pater in Florenz gesucht hat, was der junge Forster in Florenz gesucht hat: Das heißt, sie versuchen, in Florenz die flüchtige Vorstellung von persönlicher Erfüllung zu befriedigen, womit die Stadt schon immer in Verbindung gebracht wurde – trotz der Tatsache, daß vieles an Florenz das gegenteilige Bild nahelegt. Dem heutigen Besucher mag Florenz wechselweise geschäftig und geschmacklos vorkommen, in einigen Vierteln schroff abweisend und in anderen an die niedersten touristischen Triebe appellierend. Wenn man an einem warmen Frühlingsmorgen über die Piazza della Signoria schlendert, könnte man meinen, man habe eine kunsthistorische Disney World betreten, mit langen Schlangen vor den Uffizien und Michelangelos David (der Nachbildung) in der Rolle von Micky Maus. Wenn man jedoch »die ausgetretenen Pfade verläßt«, wie Lucy es mit der Schriftstellerin Eleanor Lavish zu tun versucht, bekommt man höchstwahrscheinlich nichts als steinerne Fassaden zu sehen. Viele Straßen sind so eng, daß man sich bei jedem normalen Auto, das durchfährt, an die Hauswand drücken muß wie eine verschreckte Katze. Wohin man sich auch wendet, überall sind die Türen so riesig, daß kleinere, menschengroße Türen hineingeschnitten werden mußten; es gibt sogar Türen mit Holzschnitzereien, die aussehen sollen, als wären sie aus Stein. Alle sind verschlossen – doch wenn sich eine von ihnen öffnet 11
und ein alter Schnauzer herauskommt und an der Leine seiner Contessa zerrt, während diese für den Bruchteil einer Sekunde mit ihrem Schlüssel hantiert, kann man einen Blick auf den Innenhof mit Brunnen erhaschen, der vom Duft der Zitronenbäume und Magnolien, des Pfeifenstrauchs und der üppigen Glyzinen erfüllt ist, die sich um die alten Eisenstäbe ranken. Dann schlägt die Tür krachend zu, und man ist wieder allein mit dem, was McCarthy die »strenge Fassade« der Gebäude genannt hat. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, zu einer flüchtig wahrgenommenen oder vielleicht nur erahnten, wunderbaren Party bewußt nicht eingeladen zu werden, gehört in Florenz schon immer zu den Erfahrungen eines Touristen – ausgeschlossen nicht bloß vom »wahren Florenz« der Florentiner, sondern auch von der exklusiven Welt der Gemeinde der eigenen Landsleute. Folglich versucht Hochwürden Eager Lucy Honeychurch zu verführen, indem er sich bereit erklärt, sie in die Ausländerkolonie einzuführen, den »Leuten, die nie mit dem Baedeker in der Hand herumliefen, die gelernt hatten, nach dem Lunch Siesta zu halten, die Exkursionen machten, von denen die Touristen in der Pension noch nie gehört hatten, und durch private Beziehungen Zugang zu Galerien hatten, die ihnen verschlossen waren«. Er vertraut Lucy an: »Die Touristen tun uns, die wir hier wohnen, manchmal richtig leid – daß sie wie ein Paket oder wie eine Ware herumgereicht werden, von Venedig nach Florenz, von Florenz nach Rom, und dabei 12
zusammengepfercht wohnen in Pensionen oder Hotels und überhaupt keine Ahnung haben von dem, was nicht im Baedeker steht, ausschließlich damit beschäftigt, etwas zu ›sehen‹ und dann ›abzuhaken‹ und anderswo hinzufahren.« Der in Florenz Wohnende spricht hier und anderswo mit naserümpfender Überheblichkeit. Aber man darf nicht vergessen, auch er oder sie war einmal ein Tourist; auch er oder sie kam irgendwann zum ersten Mal nach Florenz, verwirrt und unsicher und angewiesen auf einen Reiseführer – es sei denn, er oder sie ist zufällig hier geboren, wie John Singer Sargent, Harold Acton oder Florence Nightingale, doch auch in diesem Fall wurde die Erfahrung der Jungfräulichkeit nur eine Generation früher gemacht. Man darf Florenz nicht für eine einladende Stadt halten; sie wehrt den Neuankömmling mit einem Rippenstoß, einem frostigen Blick ab. Wenn man die Fassade des Duomo sorgfältig betrachtet, wird man rechts von der rechten Eingangstür einen Engel erkennen, der eine anstößige Geste macht – der rechte Arm angewinkelt und die Hand zur Faust geballt, die linke Hand auf dem Bizeps des rechten Arms: vaffanculo! Die Ankunft ist nur selten bequem. Am Flughafen ist der Wind so stark, daß die Flüge oft nach Pisa umgeleitet und die Passagiere mit Bussen ins Stadtzentrum gebracht werden müssen. Züge, die im Bahnhof Santa Maria Novella einlaufen (ein schönes Vermächtnis des faschistischen Atavismus), entlassen ihre menschliche Fracht in eine verwirrende Schar von 13
Pendlern, Taxifahrern, Hotelwerbern, Touristenführern, Zigeunern, dragueurs, Bettlern und verwirrten Touristen, die auf einem Haufen Koffer sitzen. Die Schlange bei den Taxis ist gewöhnlich lang; um zu Fuß in die Stadt zu gelangen, muß man eine von CDDiscountläden gesäumte Unterführung durchqueren, in der Drogenabhängige mit ihren ruhiggestellten Hunden kauern. Hotels sind meistens teuer und werden fast immer im voraus gebucht. Der Besucher, der ohne Reservierung nach Florenz kommt, muß Zurückweisungen, ja sogar manch peinliche Situation über sich ergehen lassen, wenn ihn ein Hotelier nach dem anderen weiterschickt – nicht ohne seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht zu haben, daß der Zimmersuchende nicht vorher angerufen hat –, bis er in einem der kleinen Hotels oder einer der Pensionen in der Nähe des Bahnhofs landet, die die Werber losschicken und anscheinend immer freie Zimmer haben: feuchte, überteuerte Räume mit Blick auf die nahe gelegenen Höfe oder lärmende Straßen. Die meisten Restaurants sind schlecht, und auch die guten richten zu ihrem eigenen Vergnügen Hindernisse auf. Cibreo, eins der berühmtesten Restaurants in der Stadt, ist in zwei Teile geteilt, ein teures ristorante und eine nicht so teure trattoria, wo man dieselben Mahlzeiten zum halben Preis bekommt. Aber in der Trattoria muß man auf Stühlen sitzen, die auch für den kräftigsten Rücken eine Herausforderung darstellen, muß sich mit wildfremden Menschen an winzige 14
Tische zwängen und im Zigarettenrauch nach Atem ringen. Serviert wird zuverlässig, man könnte sogar sagen unerbittlich, toskanische Küche. Es gibt keine Pasta; statt dessen besteht die Vorspeise gewöhnlich aus einer Bohnensuppe, als Erinnerung daran, daß die Toskaner in anderen Gegenden Italiens mangiafagioli genannt werden: Bohnenesser. Innereien nehmen auf der Speisekarte einen besonderen Platz ein. Die bekannteste Hauptspeise ist collo di pollo, gefüllter Hühnerhals. Aber im centro storico gibt es auch jede Menge Imbißstände, wo man Sandwiches mit Kutteln oder lampredotto kaufen kann, was eigentlich dasselbe ist und nur von einem der anderen Kuhmägen stammt. Das Brot ist ungesalzen. In der Cucina Fiorentina werden bevorzugt Innereien verwendet, was eine gehörige Portion Mumm erfordert. Lassen Sie mich fortfahren mit meiner Liste der Übel dieser Stadt, unter dem Vorbehalt, daß ihre angenehmen Seiten schon bald besungen werden. Das Wetter ist miserabel, da Florenz in der conca liegt, einem Becken, das sich zwischen zwei wichtigen Hügelketten erstreckt – dem Mugello im Norden und dem Chianti im Süden. Im Sommer wird es oft schwül, afoso; die Kinos, von denen ohnehin nur wenige mit einer Klimaanlage ausgestattet sind, schließen zu dieser Jahreszeit, und die wohlhabenderen Florentiner fahren zu ihren Sommerhäusern in Viareggio, Versilia oder Forte dei Marmi. Im Winter ist es nicht besser, denn der Wind schleppt in seinen eisigen Armen die verschiedensten exotischen und unbe15
kannten Grippeviren ein. Und doch wurde Florenz jahrelang als idealer Erholungsort betrachtet, gerühmt für sein gesundes Klima, mit dem Ergebnis, daß viele Tuberkulosekranke in der Hoffnung auf Genesung in die Stadt zogen. Die grausame Täuschung des fiebrig heißen Augusts und des bitterkalten Januars wurde denen, die in schlechter Gesundheit eintrafen und dann noch kränker wurden und starben, bestimmt bald bewußt. Einer von ihnen war Charles Kenneth Scott Moncrieff, heute hauptsächlich als Übersetzer von Proust bekannt, obwohl er auch das Rolandslied und Stendhal übersetzt hat. Wie viele andere, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nach Florenz auswanderten, war Scott Moncrieff in seinem Heimatland England immer ein Außenseiter gewesen. Mit achtzehn Jahren veröffentlichte er in der Abschlußnummer von New Field, der von ihm an der Winchester School herausgegebenen Literaturzeitschrift, »Evensong and Morwe Song« – von Paul Fussell als »eine mutige, unzüchtige Geschichte über Fellatio in der Pubertät« bezeichnet –, woraufhin er prompt von der Schule verwiesen wurde. Später wurde er an der Westfront am Fuß verwundet, und seitdem hinkte er. In London verkehrte er in denselben Kreisen wie die Uranian Poets (»verbunden in ihrer Bewunderung für Knaben«), machte mehrere Annäherungsversuche bei Wilfred Owen und war irgendwann mit Christopher Millard liiert, dem Sekretär von Robert Ross und ersten Bibliographen von Oscar Wilde. 16
Scott Moncrieff zog in den zwanziger Jahren nach Florenz. In Erlebnisse eines Buchhändlers schilderte G. Pino Orioli ihn als jemanden, »den ich als nicht besonders liebenswert bezeichnen würde; im Gegenteil, niemand war so schnell gekränkt wie er. Er fand immer einen Vorwand, um sich zu streiten, mit jedem seiner Freunde, doch der Streit dauerte nie lange, da er zu den Menschen gehörte, die ohne Freunde nicht leben können; ohne diesen Wesenszug hätte er sie alle für immer verloren.« Orioli schreibt Scott Moncrieffs schlechte Laune zumindest teilweise seiner Fußverletzung zu – die ihn nicht davon abhielt, lange Spaziergänge und sogar Wanderungen zu unternehmen. »Manchmal gingen wir in Viareggio in den Pinienwäldern spazieren«, erinnerte sich Orioli, »dort konnte ich sehen, wie er arbeitete.« In der linken Hand hielt er das französische Buch, das er übersetzte, und las ein paar Zeilen, unterbrach die Lektüre, um mit mir zu reden, zog dann ein Notizheft aus der Tasche, lehnte sich an eine Pinie und schrieb die paar Zeilen, die er gerade gelesen hatte, auf Englisch nieder. Dann begann er wieder mit der Lektüre, danach das Gespräch und schließlich die Übersetzung ins Englische. Als ich ihm sagte, daß meine ProustPhase vorüber sei und ich von Swann und dieser langweiligen Albertine die Nase gestrichen voll hätte, wurde er wütend. 17
Scott Moncrieff folgte einer weiteren anglo-florentinischen Tradition und konvertierte zum Katholizismus; seine große Hingabe verblüffte Orioli, der sich erinnerte, daß er ihn einmal mitten in der Christmette im bitterkalten Duomo von Pisa zurückließ und ihm sagte, »daß ich keine Lust hätte, mir eine Lungenentzündung zu holen. Danach sprach er kein Wort mehr mit mir. Als ich ihm später in Florenz begegnete, sagte er mir als erstes, ich sei ein Ketzer und werde in der Hölle schmoren.« Oriolis Antwort auf diese Drohung veranschaulicht die Es-kommt-wie’s-kommt-Haltung vieler italienischer Katholiken: Ein Kerl, der ein von einem Juden geschriebenes Buch über Sodom und Gomorra übersetzt, verdient es, in der Hölle zu schmoren, und wird das bestimmt auch tun, sofern er nicht bereut. Was mich betrifft, so kann mir das nicht passieren, denn wir sind seit den Anfängen des Katholizismus immer gute Katholiken gewesen und haben eine große Zahl von frommen Priestern in unserer Familie gehabt, nicht zu vergessen Kardinal Orioli, den Großonkel meines Vaters. Warte, bis du einen Kardinal in der Familie hast. Dann kannst du beginnen, die Leute in der Hölle schmoren zu lassen. Diese risposta brachte den armen Scott Moncrieff völlig aus der Fassung, wie Orioli vergnügt schließt, und 18
er mußte »sich fünf- oder sechsmal bekreuzigen, um ruhig zu bleiben«. Doch für den im Ausland lebenden Übersetzer, der bereits kränklich war, war das Leben nach dem Tode kein reines Wortgeplänkel. Er starb nämlich kurz darauf im Alter von vierzig Jahren. Ein Gedicht mit dem Titel »Frühes Altern«, das er ein paar Jahre vorher geschrieben hatte (vielleicht eine Antwort auf Matthew Arnolds pessimistisches »Altern«), liefert einen Epitaph nicht nur für ihn selbst, sondern für viele der kränklichen Engländer und Engländerinnen, die sich in Florenz niederließen: Doch jetzt, in grauer Jahreszeit, Bei klirrendem Frost und wirbelndem Wind, In der Verbannung ich Sicherheit Und Ruhe statt Wachstum find. Ruhe statt Wachstum. Norman Douglas, der Scott Moncrieff 1930 an seinem Sterbebett besuchte, schrieb, er sei »zu einem Affen geschrumpft und kaum noch wiederzuerkennen«. Orioli, der Douglas bei seinem Besuch begleitete, schrieb: »Er hielt ein Kruzifix und einen Rosenkranz in den Händen und trug eine Schnur mit frommen Medaillen um den Hals.« Es war der Augenblick, kurz bevor »die Farben dunkler wurden und ganz unbedeutend« – wie Wallace Stevens in einem anderen Gedicht schrieb, das den treffenden Titel »Tod eines Engländers in Florenz« trägt.
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Florenz ist die einzige Stadt in Europa, die mir einfällt, deren berühmte Bürger, zumindest in den letzten hundertfünfzig Jahren, fast alle Ausländer waren. Mit wem bringen wir die Stadt denn schließlich in Verbindung? Nun, zunächst mit Harold Acton, dessen Villa La Pietra kürzlich zum toskanischen Campus der New York University geworden ist. (Besser bekannt für seine gepflegte Konversation als für seine Bücher, soll er angeblich für die Figur des Anthony Blanche in Evelyn Waughs Wiedersehen in Brideshead Modell gestanden haben – ein »Schandfleck«, den er später lange zu tilgen versuchte.) Forster fällt einem ein, obwohl er, als junger Mann, nur fünf Wochen in Florenz verbrachte. Dann noch der große Kunsthistoriker Bernard Berenson (seine Villa I Tatti in der Via Vincigliata gehört jetzt Harvard). Inzwischen haben an die fünfundzwanzig amerikanische Universitäten einen Campus in Florenz, mit dem Ergebnis, daß es in der Stadt von amerikanischen Collegestudenten nur so wimmelt. Es gibt eine amerikanische Bäckerei mit dem Namen Carly’s und eine amerikanische Bar, The Red Garter. Filme werden in versione originale mit Untertiteln gezeigt, was anderswo in Italien noch immer eine Seltenheit ist. In Florenz begegnet man oft Amerikanerinnen, die während des Studiums herkamen und sich in einen Florentiner verliebten und ihn heirateten, darunter auch meine Stiefschwester Leslie Blumen. Während eines Auslandssemesters lernte sie Marcello kennen, mit dem sie ein paar Jahre lang in einer Wohnung in der Via delle Belle Donne 20
lebte. Nach der Hochzeit zogen sie nach Washington, D. C. wo Leslie einen Laden für florentinisches Papier eröffnete. Doch gemeinhin bleiben Amerikanerinnen, die einen Florentiner heiraten, in der Toskana. Ein Beispiel dafür ist unsere Freundin Emily Rosner, die jetzt gemeinsam mit ihrem Mann Maurizio in Florenz eine Buchhandlung namens Paperback Exchange in der Via Fiesolana führt. Ihre Söhne, die beide Sprachen perfekt beherrschen, stehen in scharfem Gegensatz zu den Sprößlingen der ersten Anglo-Florentiner, deren Erziehung gewöhnlich toskanischen Frauen überlassen wurde. Wegen des Akzents, den sie von ihren Kindermädchen aufschnappten, wurden diese Kinder »Anglo-Becero« – »Anglo-Bauerntrampel« – genannt. Aber der Florentiner Adel stellte auch oft britische Kindermädchen ein, und dann sprachen die Kinder irgendwann Cockney-Englisch. Italienern zufolge sprechen die Toskaner das reinste, wenn nicht sogar das schönste Italienisch. (Das Ideal ist »una lingua toscana in una bocca romana« – eine toskanische Zunge in einem römischen Mund.) Vielleicht ist das auch der Grund dafür, daß es in der Stadt so viele Sprachschulen gibt, die zumeist nach berühmten Gestalten der Renaissance, wie Dante oder Michelangelo, benannt sind. Mark und ich haben am British Institute Italienisch gelernt, das Acton mit seiner Freundin Joan Haslip, der Biographin, in den dreißiger Jahren gegründet hat. Dort waren die meisten unserer Mitschüler Engländer, größtenteils 21
Jugendliche, die nach Oxford oder Cambridge gehen wollten. Eins von den Mädchen, dessen Eltern ein Haus im Chianti besaßen, beklagte sich, daß sie, wenn sie sich mit »den Bauern« unterhalten wolle, deren Antworten nicht verstehe, »denn sie haben keine Zähne«. Was sie tatsächlich gehört haben könnte, war das berühmte gehauchte »C« von Florenz, das zum Beispiel das Wort casa (Haus) in »hasa« verwandelt. In anderen Gegenden Italiens macht man sich gern einen Spaß daraus, in der Bar einen Florentiner anzusprechen und ihn zu bitten, »eine Coca-Cola mit kurzem Strohhalm« zu bestellen. (Una Hoha-Hola hon una hannuccia horta.) Aber wie es so schön heißt, am besten lernt man eine Sprache im Bett, und deshalb sprechen die meisten Amerikanerinnen, die wir in Florenz kennen, ein fehlerloses toskanisches Italienisch, bis hin zum gehauchten »C«. Viele von ihnen leben in großen Wohnungen oder in Bauernhäusern oben in den Bergen, zwanzig Minuten außerhalb der Stadt – etwas völlig anderes als die Pensionen, in denen sie während ihrer Studentenzeit wohnten. Doch diese Pensionen florieren immer noch, und jedes Jahr strömen mehr Studenten in die Stadt, von denen einige schließlich für den Rest ihres Lebens bleiben. Sie verleihen der Stadt eine Atmosphäre, die der einer amerikanischen Universitätsstadt ähnelt. Vielleicht erfreut sich deshalb die Pizza hier so großer Beliebtheit, obwohl dieses Gericht eigentlich aus Neapel stammt. Eines Nachmittags saßen wir in der Yellow Bar, einer riesigen Piz22
zeria in der Via del Proconsolo, mit einer Amerikanerin in den Vierzigern und einem über siebzig Jahre alten Römer am selben Tisch. Es stellte sich heraus, daß sie Chefdesignerin bei Ferragamo war und er vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren die allererste Pizzeria in Florenz eröffnet hatte. So etwas kann einem hier ganz leicht passieren, und wenn ich voller Überraschung davon berichte, dann nur deshalb, weil sich das Ganze nicht in der schicken Trattoria delle Belle Donne oder im Cibreo, sondern in der Yellow Bar mit den Buffalo-Bill-Postern, der in Englisch geschriebenen Speisekarte und den Hotelwerbern abspielte, die jeden Nachmittag scharenweise ins Stadtzentrum geschickt werden, um Flugblätter zu verteilen: kurz gesagt, in einem dieser »Touristen-Restaurants«, um die ich in den frühen achtziger Jahren, als ich die Stadt als Student besuchte, einen großen Bogen gemacht hätte. Und doch haben wir in der Yellow Bar auch einmal Franz Brüggen gesehen, den Dirigenten des Orchesters des achtzehnten Jahrhunderts, der dort nach einem Konzert im Teatro della Pergola eine Pizza aß, oft auch die sinnlich schönen Gebrüder Romeo, Inhaber eines Ladens für Bürobedarf in der Via della Condotta, deren funkelnde Augen manchen Kunsthistoriker veranlaßt haben, zwanzig Minuten für die Wahl eines Bleistifts aufzuwenden; und manchmal sehen wir dort – nach all den Jahren immer noch gutaussehend, mit dickem, angegrauten Haar – den Schauspieler, der in dem Merchant-Ivory-Film Zimmer mit Aussicht den Kutscher gespielt hat, der 23
Lucy in die Veilchen schickt, wo sie von George Emerson geküßt wird. Phaeton – wie Forster diesen Kutscher nannte – hat jetzt einen Souvenirladen in der Via del Proconsolo. Er ist Stammgast in der Yellow Bar und sitzt gewöhnlich in einer Ecknische, oft in Begleitung einer schönen Japanerin, die vielleicht nach Italien gekommen ist, um ihn zu verführen, nachdem ihr an einem Winternachmittag auf der Leinwand eines Kinos in Osaka, in das sie sich vor dem Regen geflüchtet hatte, ihr Schicksal deutlich vor Augen geführt wurde … Nein, wahrscheinlich stimmt das nicht. Und doch läßt man sich in Florenz leicht zu den kitschigsten Spekulationen und Phantasien hinreißen. Florenz ist in keinerlei Hinsicht eine »große« Stadt, und das hat schon immer einen Teil ihres Reizes ausgemacht. In Rom ist man auf Busse angewiesen, in Paris auf die Metro oder auf Taxis. In Florenz kann man fast überall zu Fuß hingehen, selbst in die ländliche Umgebung, die gleich hinter der Festung Belvedere am Ende der Costa San Giorgio beginnt. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, man kann überall zu Fuß hingehen, wenn man in der Gegend aufbricht, die von Henry James als »das kompakte, umgürtete Häusermeer, dessen Mittelpunkt die uralte Piazza della Signoria [ist]«, bezeichnet wurde. Als James das im Jahre 1873 schrieb, beklagte er bereits die »Erweiterung« dieses Häusermeers »unter den Händen unternehmungslustiger Verwaltungsbeamter 24
zu einem, wie böse Stimmen sagen, ausgefransten Organismus vom Typ Chicagos; einem dieser Orte, dem man, weil er keine ausgewogenen Proportionen hat, die Würde eines Zentrums nicht länger zusprechen kann«. Es würde James wohl nicht gefallen, wenn er sehen könnte, daß die Erweiterung hundertdreißig Jahre später noch weiter fortgeschritten ist, daß die jüngste Blüte dieser Bestrebungen der Bau einer Straßenbahn ist, die das Stadtzentrum mit der Vorstadt Scandicci verbinden soll, wo früher die Schriftstellerin Ouida lebte und das jetzt eine Ansammlung häßlicher Wohnblocks ist. Der kultivierte Tourist würde wohl kaum mit so einer Straßenbahn fahren; in der Regel zieht es ihn in heilsamere Gegenden, ins Chianti zum Beispiel oder nach Fiesole oder Settignano, wo Michelangelo aufgewachsen ist. Denn der Tourist ist trotz all seiner Beteuerungen, daß er das »wahre Florenz« sehen wolle, nicht an den Auswucherungen des Stadtgebiets interessiert; er ist an einer Sache interessiert, die Bernard Berenson »Kognoszieren« nannte und bei der es um die Entdeckung ungeahnter Wunder geht. (Das Wort ist abgeleitet von dem italienischen Verb conoscere, »kennen«.) Wenn schon nicht mit fotografischen Beweisen, so will er doch zumindest in dem Wissen zurückkehren, alle Wunder genossen zu haben, die Florenz zu bieten hat – als ob das im Laufe eines Menschenlebens möglich wäre. Und was für Wunder es zu sehen gibt! Erstaunlicherweise beherbergt Florenz fast ein Fünftel aller 25
Kunstschätze dieser Welt. Ein Fünftel! Eine sorgfältige Besichtigungstour in Florenz umfaßt Architektur, Bildhauerei und Malerei, sowohl große Museen (den Bargello und die Uffizien) als auch kleine (das Stibbert und das Horne), öffentliche Gebäude, Paläste und unzählige Kirchen, Botticellis und Leonardos und Michelangelos und Giottos und Masaccios und Beato Angelicos und Gozzolis und Pontormos und Donatellos … Und auch wenn man all das zu sehen bekommt, auch wenn man ein Jahr oder fünf Jahre in Florenz bleibt, wird es immer etwas geben, das einem entgangen ist, zum Beispiel eine abgelegene Kirche, die nur den Kennern des Kognoszierens bekannt ist und von der man erst am Abend der Abreise erfährt. Im neunzehnten Jahrhundert weilten Reisende gewöhnlich einen oder sogar mehrere Monate in Florenz und konnten es geruhsamer angehen lassen und sich zwischen ihren Kunststreifzügen immer wieder beim Tee, beim Einkaufen oder bei gesellschaftlichen Ereignissen entspannen. (William Dean Howells schildert in seinem Roman Indian Summer aus dem Jahre 1886 so eine »Saison« in Florenz.) Als Clara Schumann 1880 nach Florenz kam, schrieb ihre Gastgeberin Lisl von Herzogenberg an Brahms, daß mehr Zeit nötig sei, um die Stadt richtig kennenzulernen, »als ihr Rundreisebillett – schreckliche Erfindung – zuläßt …«. Und doch deutet ihre Reaktion auf das, was sie sah, daraufhin, daß Madame Schumann für das Rundreisebillett dankbar gewesen sein konnte:
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Es ist mehrmals vorgekommen, daß wir sie, auf ihrem Hocker sitzend, vor einem Signorelli oder einem Verrocchio fanden, und daß sie sehr besorgt aussah und sich in banger Begeisterung die Hände rieb – sie wollte sich weder in ihre Gefühle hineinsteigern, noch wollte sie zulassen, daß ihr Innerstes, das so leicht zu erschüttern ist, aufgewühlt wird. Bald darauf wurde das Rundreisebillett natürlich von noch schrecklicheren Erfindungen abgelöst, zum Beispiel Linienflügen; während das Reisen bequemer wurde, verkürzte sich die durchschnittliche Verweildauer in Florenz, und heute sieht man sich die Stadt gewöhnlich in ein paar Tagen oder sogar in ein paar Stunden an. Das Ergebnis ist eine noch größere Reizüberflutung als bei Madame Schumann. Bis 1989 hatte die Psychiaterin Graziella Magherini, die in dem Krankenhaus Santa Maria Nuova arbeitete, so viele Fälle von Ausländern gehabt, die buchstäblich unter der Last der vielen Kunst zusammenbrachen, daß sie dieses Phänomen »Stendhal-Syndrom« nannte, wegen einer Passage im Tagebuch des Schriftstellers, in der er sich erinnerte, daß er 1817 bei einer Besichtigung der Basilika von Santa Croce plötzlich Herzklopfen und ein starkes Schwindelgefühl verspürt hatte. »Ich befand mich in einer Art von Ekstase bei dem Gedanken, in Florenz und den Gräbern so vieler Großen so nahe zu sein. Ich war in Bewunderung der erhabenen Schönheit versunken; ich sah sie aus nächster Nähe 27
und berührte sie fast. Ich war auf dem Punkt der Begeisterung angelangt, wo sich die himmlischen Empfindungen, wie sie die Kunst bietet, mit leidenschaftlichen Gefühlen gatten. Als ich die Kirche verließ, klopfte mir das Herz; […] mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen.« Es ist leicht zu verstehen, wie er sich fühlte. Besonders für diejenigen von uns, die Prosaischeres gewohnt sind, ist die Tatsache, daß das Alte, das Schöne und das Historische fast jeder Facette des alltäglichen Lebens innewohnen, etwas gewöhnungsbedürftig. Als Mark und ich beispielsweise Anfang der neunziger Jahre nach Florenz zogen, mieteten wir eine Wohnung in einem palazzo in der Via dei Neri, wo in der Eingangshalle eine Merkur-Statue stand; auf einer Plakette an der Fassade des Gebäudes stand, daß im Jahre 1594 Ottavio Rinuccini – »letterato illustre e gentile poeta« – hier La Dafne, eine »idyllische Fabel«, geschrieben hatte, die von Jacopo Corsi und Jacopo Peri bald darauf zur weltweit ersten Oper umgestaltet wurde. Unter solchen Umständen kann einem die Realität wie ein Reiseführer vorkommen, und der Blick von einer Terrasse, der neben unzähligen Dächern und grünen Kupferkuppeln auch die Kirche San Miniato al Monte, die Festung Belvedere und die Hügel des Chianti auf der anderen Seite des Flusses einschließt, mag einem wie eine Ansichtskarte erscheinen. Er hört auf, einem etwas zu bedeuten – oder vielleicht sollte ich eher sagen, man hört auf, ihm etwas zu bedeuten. So ein Blick ist wirklich ehrfurchtgebie28
tend, überwältigend … In Florenz läßt jedes Adjektiv im Zusammenhang mit einem Blick auf Ohnmacht, auf Unterwerfung schließen. Es gibt Augenblicke, besonders abends, in denen mich die Überquerung der Piazza della Signoria völlig sprachlos macht; aber meistens nehme ich die Piazza kaum wahr, so sehr bin ich mit meinen Gedanken beschäftigt oder mit dem Gespräch, das ich gerade führe, oder damit, mir einen Weg durch die zahllosen Touristengruppen zu bahnen, die diesen Teil der Stadt im Frühling bevölkern und sich mit der Unbeirrbarkeit eines Fischschwarms oder einer Schar Zugvögel bewegen, an ihrer Spitze eine Führerin mit einem Stock, an dem ein bunter Schal befestigt ist, der sie von all den anderen unterscheidet. In solchen Momenten beneide ich jeden Neuankömmling um seinen oder ihren ersten Blick auf die Piazza, besonders frühmorgens, wenn der Platz noch menschenleer ist, abgesehen von den beiden dösenden carabinieri, die seit dem Bombenanschlag auf die Uffizien vor knapp zehn Jahren die Nacht in ihrem Streifenwagen vor der Loggia dei Lanzi verbringen. Wenn die beste Zeit für einen Blick auf die Piazza frühmorgens ist, kurz nach Tagesanbruch, so kommt man am besten von der Flußseite her: Man geht den Lungarno Archibusieri entlang, biegt rechts ab und plötzlich, am Ende des langen Uffizien-Ganges, liegt sie wie eine geöffnete Zange vor einem: man ist da. Man steht demütig in der Mitte der Welt. Die Piazza mustert einen. Wie in der Pensione Simi (wo Forster 29
1901 gewohnt hat) gibt es auch hier ständige Bewohner. Neben dem Palazzo Vecchio wird Neptun in einem Springbrunnen durchnäßt, der meistens abgestellt ist. Die Nachbildung des David steht grübelnd da, bis in die langen Fingerspitzen voll Eros. Herkules hämmert auf den besiegten Cacus ein. Nur wenige Orte auf der Welt sind so sehr mit historischen Ereignissen besetzt. Schließlich verbrannte auf dieser Piazza Savonarola die Welteitelkeit, und auch er wurde dort verbrannt. (Ein in den Boden eingebettetes Medaillon bezeichnet die genaue Stelle.) Cellini enthüllte auf dem Platz seinen bronzenen Perseus. Michelangelos David wurde hier aufgestellt, ein paar Hundert Jahre später aber auf provisorischen Eisenbahnschienen zur Accademia transportiert. Queen Victoria fuhr in einer Kutsche über die Piazza. Hier gab es Aufstände, es wurde jede Menge Blut vergossen, und auf dem Balkon des Palazzo Vecchio schüttelte Hitler 1938 zum Gesang der Schwarzhemden Mussolini die Hand. Heute sind Neptuns Waden von grünen Algen überzogen. Die Algen sind der Fußpilz der Geschichte. Die Piazza ist der Duschraum der Jahrhunderte, wo sich Götter und Helden nackt zur Schau stellen, ihre riesigen Genitalien zeigen, sich ihrer Siege rühmen und ihre Trophäen vorführen. Es ist kein Ort für Frauen. Die in den Statuen dargestellten Frauen sind lauernde Gespenster männlicher Hysterie oder männlichen Verlangens. Polyxena und die vergewaltigten Sabinerinnen sind zu Stein gewordene sexuelle Prahlerei. Judith, die Holofernes umklam30
mert, um ihm den Kopf abzuschneiden, ist steingewordene sexuelle Angst. Als wären es mütterliche Ratschläge, fristet eine Reihe von Tugenden ihr Dasein unbeachtet im Schatten der Loggia. Ein Zwitterwesen, halb Frau, halb Baum, ist das Pin-up-Girl der Piazza. Ihr schwarzes Feigenblatt zieht wie ein Fluchtpunkt die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, ihre Flucht vor der Fleischeslust stimuliert erst, was sie abzuwehren sucht. Nachts wird dieser Eindruck noch verstärkt. Die Fackeln am Palazzo Vecchio verleihen den Steinen einen strahlenden Glanz, als hätte das Licht sie geschmolzen. Um diese Uhrzeit genügt der Anblick von Neptun, seine schlüpfrige weiße Nässe, um einem den Mund wäßrig zu machen. Man betrachtet ihn und begreift endlich, warum die Bildhauer sich an den Blöcken aus weißem Carrara-Marmor abmühten. Man würde am liebsten die Schuhe ausziehen, durch den Brunnen waten und mit den Fingernägeln an den grünen Algen auf seinem Körper kratzen.
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Das Versprechen eines Schicksals, das auf einer Seite ans Erotische und auf der anderen ans Künstlerische grenzt, haftete Florenz in der Vorstellung des Ausländers wohl schon immer an und lockte ihn nicht nur in die Stadt, damit er sich als größer erleben, sondern auch, damit er größer sein oder werden konnte, als er in Wirklichkeit war. Oder vielleicht sollte man besser sagen, daß er hoffte, in Florenz eine ihm innewohnende Eigenschaft zu entdecken, die er in der erdrükkenden Atmosphäre seiner Heimat nicht zum Ausdruck bringen konnte. Pater schrieb über den großen deutschen Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann: »In seinen abenteuerlichen Reiseplänen … die ihm fortwährend durch den Kopf gingen, herrscht eher ein wehmütiges Gefühl von etwas Verlorenem, 33
das man wiedergewinnen müsse, als die Absicht, etwas Neues zu entdecken.« Das Wort »er« im letzten Absatz benutze ich übrigens mit Absicht: Er soll in diesem Falle nicht »er oder sie« (bzw. »er und sie«) bedeuten, da Männer und Frauen historisch gesehen in Florenz anscheinend unterschiedliche Dinge suchten und bei ihrer Abreise (falls sie wieder abreisten) unterschiedliche Dinge mitnahmen. Man denke an die Lawrences, David und Frieda, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg hier weilten. Bei der Beschreibung der Piazza della Signoria in seinem 1922 erschienenen Roman Aaron’s Rod stellt Lawrence’ Hauptfigur fest, daß es dort »von Männern wimmelt: alles, alles bloß Männer … bloß Männer! Männer! Trotz allem eine Stadt voller Männer.« Er bringt dem David eine Hymne im Stil von Walt Whitman dar: »Weiß und entblößt im Nassen, weiß vor dem dunklen, warm-dunklen Felsen des Gebäudes – und in der Nähe die schweren nackten Männer Bandinellis …« Wie zu erwarten, hatte Frieda einen anderen Blick auf das Ganze; zwar pflichtete sie ihrem Mann bei, daß Florenz »eine Männerstadt« sei (Mary McCarthy nannte es »eine männliche Stadt«), doch sie beklagte sich auch, daß es ihr vorkam »wie [Mrs. Gaskells Roman] ›Cranford‹, allerdings das ›Cranford‹ eines Mannes. Und die Lasterhaftigkeit dort wirkte wie die heimliche Freude alter Jungfern an der Lasterhaftigkeit. Verdorbenheit finde ich weder interessant noch beängstigend, sondern bloß langweilig.« 34
Diese Langweiligkeit, die auch heute noch Bestand hat, ist das Gegenstück zur Paterschen Sehnsucht und führt oft zu Bosheiten und Klagen, besonders auf den Abendgesellschaften der Ausländer, wo kein italienischer Akzent zu hören ist und sich die Gespräche zwangsläufig um italienische Ineffizienz, italienische Bürokratie, italienische Inflexibilität drehen … was bis zu einem gewissen Grad verständlich ist, da der Umgang mit einer so komplizierten und traditionsgebundenen Kultur wie der italienischen frustrierend sein kann und das Mitgefühl eines Landsmannes natürlich Trost spendet. Und doch kommt bei diesen Abendgesellschaften oft der Moment, an dem ich am liebsten die Hände in die Luft werfen und sagen würde: »Tja, wenn Sie es hier so abscheulich finden, warum reisen Sie dann nicht ab?« So war es auch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als Florenz den (von seinen englischen Einwohnern verbreiteten) Ruf hatte, in Walter Savage Landors Worten »die schmutzigste Hauptstadt Europas« zu sein. Der Russe Nazar Litrow, der Tschaikowsky 1890 als Diener nach Florenz begleitete, schrieb in seinem Tagebuch: »An fast allen Gebäuden kann man ohne große Umstände auf der Straße sein Wasser lassen, weder Frauen noch Mädchen kümmern sich darum …« Litrows Ton ist erfrischend wertfrei; doch der englische Maler William Holman Hunt brachte seinen Ekel und seine Empörung über den »Gestank« der Stadt zum Ausdruck:
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Was soll man von einem fünfzehn-, sechzehnjährigen Jungen halten, der sonntags um ein Uhr bei strahlendem Sonnenschein, sagen wir mal, auf der Kensington Gore die Hose herunterläßt, um einem dringenden Bedürfnis nachzukommen, und dann sein Geschäft macht, während er mit sieben oder acht teils zwei Jahre älteren Freunden, die in zwei, drei Metern Abstand einen Kreis um ihn bilden, weiter Kopf oder Wappen spielt? Und was von einem äußerst respektablen alten Herrn …, der bei der Duke-of-York-Säule die Straße überquert und zum gleichen Zweck seine schwarze Hose herunterläßt? Mit dem rhetorischen Mittel, die anstößige Szene in sein Heimatland zu verlegen, weicht Holman Hunt der Frage aus, warum er und dreißigtausend weitere Engländer überhaupt in Florenz lebten. Außerdem (zu dieser Bemerkung fühlt sich der homosexuelle Autor verpflichtet) diente es gewöhnlich einem ganz anderen Zweck als dem von Holman Hunt genannten, wenn Jungs auf der Straße, egal ob auf der Piazza della Signoria oder der Kensington Gore, ihre Hose herunterließen. Die florentinische Lockerheit der Sitten muß den Engländern gut gefallen haben, sonst wären sie nicht in so großer Zahl in die Stadt gekommen. Die herrischste und chauvinistischste englische Stimme am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war zweifellos die von John Ruskin, dem die Einrichtung 36
eines Droschkenstands am Fuß des Glockenturms einen Vorwand bot, um über den vermeintlich erbärmlichen Umgang der Stadt mit ihren Kunstschätzen zu wettern. Neben vielem anderen beklagte Ruskin, daß es »die Pferdedroschken mit dem wie auf einem Bauernhof verstreuten Heu und dem vielfältigen Gestank der Pferdeäpfel« unmöglich machten, »sich einen Augenblick lang neben den Campanile zu stellen … in Florenz kümmert sich kein Mensch darum, wie die Werke der alten Künstler aussehen«. Als der junge Henry James in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts über »die so außerordentlich bedeutsame florentinische Frage« schreibt, sie sei »heute in vielen Journalen ein Schlachtfeld, bei dem praktisch ganz Italien auf der einen Seite steht und ganz England, Amerika und Deutschland auf der anderen Seite …«, dachte er dabei vermutlich an Ruskin: Die kleine schatzreiche Stadt ist ein wirklich heikler Fall – vielleicht noch heikler als alles andere auf der Welt, abgesehen davon, daß wir uns anmaßen, den Italienern einzureden, daß sie mit ihrem Eigentum nicht tun dürfen, was sie wollen. Das dürfen sie in jeder Hinsicht, so daß ich mir keinen glücklichen Ausgang des Streites vorstellen kann. Es wird wohl mehr Feingefühl erfordern, als wir gemeinsam überhaupt aufbringen können, um sie davon zu überzeugen, daß ihr Eigentum durch eine geniale Logik vielmehr unser Eigentum ist. 37
Obwohl James Ruskin beipflichtete: »Ein Droschkenstand ist sehr häßlich und schmutzig, und Giottos Turm sollte damit nichts zu tun haben«, meinte er: »Ein Mißklang ist so schlimm wie der andere, der Unterschied zwischen der beharrlich schlechten Laune des Autors und der Unangemessenheit von Pferdekübeln und Heubündeln ist nicht besonders groß.« Doch am meisten störte James an Ruskins »bösartigem und irrsinnigem« Traktat, daß es darin um die Idee des Irrtums ging. »Eine Ruhepause für jegliche Unerbittlichkeit ist das Gesetz des Ortes«, notierte er in einem Paterschen Moment. »Hier stehen sich nicht Schändlichkeit und Rechtschaffenheit gegenüber, sondern bloß verschiedene Temperamente, verschiedene Formen der Neugier.« Für James ist Ruskin ein pedantischer Geistlicher oder Schulmeister, ein Vorläufer von Forsters Hochwürden Eager, der mit seiner Herde eine theologisch-kunsthistorische Führung durch die Stadt macht. »Eigentlich ist nichts so komisch«, schrieb James, »wie die bekannte Schärfe im Stil des Autors und die pädagogische Manier, in der er seine unglücklichen Schüler herumstößt und herumzerrt, sie mit dem Kopf auf etwas stößt, ihnen auf die Finger klopft, sie in die Ecke schickt und Bibeltexte abschreiben läßt.« Das ist Hochwürden Eager, wie er leibt und lebt: Er will seinen Gemeindemitgliedern beibringen, »wie sie Giotto zu würdigen hätten – jedenfalls nicht nach greifbaren Werten, sondern nach geistigen Maßstä38
ben«. Für Hochwürden Eager liegt die Bedeutung von Santa Croce weder in ihrer Schönheit noch in ihrem Status als »Pantheon« der ruhmreichen Toten von Florenz (Machiavelli, Michelangelo, Rossini), sondern darin, daß sie »das Werk mittelalterlicher Inbrunst ist, wie sie waltete, ehe der verderbliche Einfluß der Renaissance einsetzte«. In dieser Hinsicht verkörpert er den Hang der Engländer, das zu preisen, was Pater die »rohe Kraft« des Mittelalters nannte, und die Neuerungen der Renaissance schlechtzumachen. Für Forster ist Ästhetik verschlüsselte Politik, und bei Hochwürden Eagers langweiliger Lobrede auf Giotto hört man heraus, wie der Parlamentarier Henry Labouchère im Fall Oscar Wildes »die Unzulänglichkeit der strengsten Strafe, die die Gesetze dafür bereithalten«, beklagt. Man hört auch die Kritiker und Kuraten heraus, die Paters Buch Die Renaissance bei seiner Veröffentlichung angriffen, den Autor der Unsittlichkeit und Anti-Religiosität bezichtigten und ihm vorwarfen, er führe »geringere Geister« in die Höhle des Irrtums. Sogar ein so scharfer Verstand wie der von George Eliot verwarf das Buch als »völlig giftig in seinen falschen Grundsätzen der Kritik und seiner falschen Vorstellung vom Leben«, und Pater machte aus Feigheit einen Rückzieher, strich das berühmte »Resümee« aus der zweiten Auflage und fügte es erst 1888 wieder ein. (Er schrieb, er habe sich Sorgen gemacht, »… sie könnten möglicherweise einige jugendliche Gemüter zu verkehrten Schlüssen verleiten. Im Ganzen hielt ich es für besser, hier das 39
Wesentliche mit geringfügigen Abweichungen, die meinen ursprünglichen Ideengang noch deutlicher veranschaulichen, wiederzugeben.«) Die Gefahr, die nach Ansicht der Kritiker von dem Buch Die Renaissance ausging, lag darin, daß Pater für sinnliche Erfahrungen eintrat, was beispielsweise der Reverend John Wordsworth so verstand, als würde Pater vorschlagen, »daß keine festen religiösen oder moralischen Grundsätze als sicher betrachtet werden können, daß das einzige, wofür es sich zu leben lohnt, der Genuß des Augenblicks ist und daß die Seele beim Tod voraussichtlich in einzelne Elemente zerfällt, die sich nie wieder vereinigen«. Pater zeigte tatsächlich nur wenig Interesse für das Leben nach dem Tode; sein Hauptinteresse galt der Wahrnehmung, wie folgendes Credo belegt: »Nicht die Frucht der Erfahrung, sondern die Erfahrung selbst ist der Endzweck.« Im Gegensatz dazu waren Fortschritt, Ausdehnung und Weltreich die Losungsworte der Viktorianer, die er vielleicht meinte, als er schrieb, im Mittelalter sei »die Vernichtung des Sinnlichen, seine Achtung, das Interesse am Asketischen (…) bereits nachweisbar«. Es widersprach dem viktorianischen Credo der Selbstdisziplin und Selbstverleugnung, daß Pater in Die Renaissance, bewußt oder unabsichtlich, dagegen zu Felde zog, nicht offen, sondern eher indem er das Gegenteil pries: »Eine Erregung, ein Reiz auf die Sinne, seltsame Farben und Töne, ein feiner neuer Duft, ein Werk von Künstlerhand oder ein Zug im 40
Gesicht unseres Freundes.« Er äußert sich beifällig übers Spielen: »Die überraschende Glückseligkeit dessen, was uns als der unbedeutendste Teil unserer Zeit erscheinen mag; nicht nur weil man beim Spiel oft die besten Kräfte einsetzt, sondern auch, weil sich in solchen Momenten die Spannung unserer alltäglichen sklavischen Achtsamkeit löst, die unbeschwerteren Kräfte in den äußeren Dingen ungehindert in uns einfließen und uns beherrschen können.« Wie diese Passage zeigt, schreckt Pater auch nicht vor einer unverhüllt erotischen Sprache zurück, selbst wenn er in Die Renaissance jede direkte Bemerkung über Sexualität vermeidet. Statt dessen erfüllt die Sprache diese Aufgabe, und wenn er in seiner berühmtesten Formulierung den Erfolg im Leben als etwas schildert, wobei man »immer wie diese starke, edelsteingleiche Flamme [brennt], … sich immer auf diesem Höhepunkt [hält] …«, bringt er schließlich die eindeutigen Enttäuschungen zum Ausdruck, die wir inzwischen als bestimmend für seine Epoche betrachten. Eine schamlose Epoche giert nach spektakulären Gesten, doch damals erweckte schon die Beschwörung von David, Jonathan oder »den Griechen« – ja, allein das Aussprechen des Wortes »hellenisch« – die Aussicht auf ein Leben, frei von der strengen Prüderie des viktorianischen Zeitalters. Das hatte zur Folge, daß dem Wort »ästhetisch« allmählich anzügliche oder unanständige Nebenbedeutungen unterstellt wurden. Im Jahre 1903 sorgte sich Rollo St Clair Talboys, der Hauslehrer von Ronald Firbank, darum, daß sein 41
kleiner Schützling kein Opfer des »Kults der lila Orchidee« und kein »Pariser Weltmann der de Goncourtschen Schule« wurde, »ein Sklave der Sinne – von Kopf bis Fuß ein gefühlsbestimmter Bonvivant«. Firbank wurde trotzdem einer, und was noch schlimmer war: In seinen späteren Schriften sehen wir Paters Gedanken nicht so sehr in voller Blüte, sondern eher in dem Stadium, in dem sich die Blütenblätter braun färben und der berauschende Aprikosenduft einem mulschigen, süßlich-faulen Gestank Platz gemacht hat. Von Firbank später mehr. Denn jetzt wollen wir uns einer weiteren englischen Schriftstellerin zuwenden, die sich in Florenz niederließ, der Romanautorin Louisa Ramé, besser bekannt unter dem Namen Ouida. 1839 als Tochter eines Franzosen und einer Engländerin in dem Dorf Bury St Edmunds geboren, begann Ouida früh mit dem Schreiben und wählte als nom de plume eine in ihre Kindheit zurückreichende Verballhornung ihres eigenen Namens. Profit und Popularität stellten sich rasch ein, zum Teil dank der Geschwindigkeit, mit der sie ihre schwülstigen Kitschromane herunterschrieb, die Titel trugen wie Granville de Vigne, Idalia, Pascarel, In Maremma, Two Little Wooden Shoes oder A Dog of Plunders (sie liebte Hunde über alles). Weder schön noch elegant, führte Ouida dennoch ein teures und extravagantes Leben, bestellte ihre Kleider größtenteils bei Worth und gab 42
Partys in ihrer Suite im Langham Hotel in London. Sie hielt sich für waghalsig; auf diesen Partys wurde manchmal ein Schild aufgehängt mit der Aufschrift Moralvorstellungen und Regenschirme sind an der Tür abzugeben. Anfang der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zog sie – zumindest teilweise dadurch bedingt, daß sie an chronischer Bronchitis litt – mit ihrer Mutter nach Florenz, mietete die Villa Farinola in Scandicci (heute könnte sie mit der Straßenbahn in die Stadt fahren) und warf sich mit großem Elan ins Gesellschaftsleben der anglo-florentinischen Kolonie, die damals seit ungefähr dreißig Jahren bestand. Obwohl englische Schriftsteller schon jahrhundertelang nach Florenz reisten – u. a. John Evelyn, Milton, Boswell, Byron und die Shelleys –, hatte sich die Gemeinde erst in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts richtig verwurzelt, als Fanny Trollope in dem Villino Trollope an der Piazza Maria Antonia (jetzt Piazza dell’Indipendenza) die erste anglo-florentinische Dynastie (und den ersten literarischen Salon) gegründet hatte. Ihr Sohn Thomas setzte die Tradition fort, zuerst im Villino, dann in der Villa Ricorboli hinter der Porta San Niccolò. Bald tauchten die Brownings auf und ließen sich in der Casa Guidi in der Nähe des Palazzo Pitti nieder; inzwischen war Florenz als Zuflucht für ausländische Intellektuelle bekannt. »Ville toute Anglaise«, sagten die Brüder Jules und Edmond Goncourt 1855 über die Stadt, »wo die Paläste fast so trostlos und schwarz sind wie in London und wo alles die Engländer anzulä43
cheln scheint …«. Als Ouida dort eintraf (sie war zweiunddreißig), waren dreißigtausend der zweihunderttausend Einwohner von Florenz Engländer oder Amerikaner. Ouida hatte anscheinend beschlossen, sich unbedingt in Florenz zu verlieben. Als Liebhaber wählte sie den Marchese della Stufa, der in Scandicci in ihrer Nähe wohnte, in einem Haus namens Castagnolo. Der unverheiratete Marchese stammte aus altem Florentiner Adel, er war Kämmerer König Umbertos und ein Grundbesitzer, der sowohl seinen landwirtschaftlichen als auch seinen gesellschaftlichen Pflichten mit äußerstem Ernst nachkam. Ein paar Jahre zuvor war er in Begleitung eines Engländers namens Dr. Clement nach Burma gereist, um die Möglichkeiten für den Bau einer Eisenbahnlinie von Mandalay nach Rangun zu prüfen, doch aus dem Projekt war nichts geworden, und er war nach Florenz zurückgekehrt, wo er jetzt nicht nur Ouidas Begleiter war, sondern auch der von Janet Ross, der Frau, die ihre Rivalin werden sollte. Im Lauf der Jahre ist viel über Janet Ross geschrieben worden, und nach allem, was ich gelesen habe, habe ich eine starke Abneigung gegen diese Frau entwickelt. Sie war zweifellos raffinierter und auch intelligenter als Ouida, doch sie konnte keine Hunde ausstehen und war offenbar eifrig darauf bedacht, als »furchterregend« zu gelten. Selbst ihre Nichte Lina Waterfield und ihre Großnichte Kinta Beevor – die beide ihre Erinnerungen an das anglo-florentinische 44
Leben niederschrieben – fanden sie anscheinend einschüchternd und gemein. Auch Mrs. Ross war Autorin zahlreicher Bücher, darunter Old Florence and Modern Tuscany und das 1899 erschienene Leaves from Our Tuscan Kitchen (eins der ersten italienischen Kochbücher, die in England veröffentlicht wurden, und – wenn man die Anweisung, Spaghetti »fast zwanzig Minuten« zu kochen, als Beispiel nimmt – stark auf den viktorianischen Geschmack ausgerichtet, es sei denn, Pasta war damals wesentlich dicker), und sie hielt zuerst in Castagnolo Hof, das sie von dem Marchese mietete, und dann in Poggio Gherardo in der Nähe von Settignano, einer der Villen, in denen sich die Geschichtenerzähler in Boccaccios Dekameron versammeln. Hier stellte sie nach einem Geheimrezept, das sie angeblich von den letzten Medici erhalten hatte, einen berühmten Wermut her und verkaufte ihn in den Army & Navy Stores in London. Ihr Mann Henry Ross war Bankier, aber sie scheint nicht viel mit ihm zu tun gehabt und zumindest bei offiziellen Anlässen die Gesellschaft ihres Vermieters vorgezogen zu haben. Damals wie heute mußten sich Frauen in der Kolonie, deren Ehemänner nicht gern ausgingen, mit homosexuellen »Begleitern« – einer Spielart des Florentiner cicisbeo – zufriedengeben, und das war höchstwahrscheinlich auch die Art von Beziehung, die Mrs. Ross mit dem Marchese unterhielt, als Ouida auf der Bildfläche erschien. Arme Ouida! Sie begriff es einfach nicht. Auch wenn sie sich für keck, ja sogar dreist hielt, war sie im 45
Vergleich zu den Anglo-Florentinern ziemlich naiv. Als der Marchese es ablehnte, als Beweis seiner Treue zu ihr die Freundschaft mit Mrs. Ross zu beenden, sah sie es als erwiesen an, daß die beiden eine Affäre hatten, und aus Rache schrieb sie rasch Friendship, einen kitschigen Schlüsselroman, in dem der Marchese der schneidige Prinz Ioris ist, sie selbst das an Tuberkulose erkrankte, unschuldige Mädchen Etoile und Mrs. Ross die boshafte mondäne Lady Joan Challoner, die den gutmütigen Prinzen erpreßt, um sich seine Treue zu sichern. Um einer Verleumdungsklage vorzubeugen, verlegte Ouida die Handlung von Florenz nach Rom, wobei die flache campagna nur ein schwacher Ersatz für die Landschaft rings um Scandicci war. Mrs. Ross war empört. Schon bald ging das Gerücht, sie habe versucht, Ouida auf der Via Tornabuoni mit einer Reitgerte auszupeitschen, und Ouida habe in ihrer Villa auf Mrs. Ross geschossen. All das ist Unsinn; sicher ist bloß, daß Mrs. Ross wegen dieser Sache einen unbändigen Groll gegen Ouida hegte. Zudem soll sie noch Jahre nach Ouidas Tod in Viareggio, wo diese bettelarm und vergessen gelebt und obendrein gehungert hatte, damit sie ihre vielen Hunde füttern konnte, in ihrem Bad ein Exemplar von Friendship als Toilettenpapier benutzt haben. Ouida ist typisch für die Mittelmäßigkeit, die sich in letzter Zeit von Florenz angezogen fühlte. Die besseren Schriftsteller (Forster, James) kamen früh und reisten dann wieder ab, oder sie kamen, wenn sie schon berühmt waren (Browning, Landor). Auch 46
wenn die Stadt Aldous Huxley anfangs gefiel, ließ seine Begeisterung rasch nach, und er zog mit seiner Familie nach Rom. (In einem Brief an seinen Bruder schrieb er: »Nach einer drittklassigen Provinzstadt voll englischer Sodomisten und Lesbierinnen mittleren Alters, und nichts anderes ist Florenz, dürfte eine richtige Weltstadt aufregend werden.«) In seinen italienischen Tagebüchern ignoriert Goethe Florenz geradezu und schreibt bloß: Die Stadt hatte ich eiligst durchlaufen, den Dom, das Baptisterium. Hier tut sich wieder eine ganz neue, mir unbekannte Welt auf, an der ich nicht verweilen will. Der Garten Boboli liegt köstlich. Ich eilte so schnell heraus als hinein. Obwohl Goethe nicht näher erläutert, was ihn dazu trieb, so überstürzt weiterzureisen, schwebt ein spürbares Unbehagen über diesem Abschnitt. Und er ist auch nicht der einzige Schriftsteller, dessen Fähigkeiten, etwas zu beschreiben, von der dunkleren Seite der Stadt außer Kraft gesetzt werden. Auch James rang nach Worten, als er Florenz zu schildern versuchte: »Eine Art feierliches Leuchten – ein harmonisches Zusammenspiel heller Farbtöne – das ich kaum beschreiben kann.« Viele Jahre später nannte Firbank Florenz »eine ziemlich düstere Stadt« und lästerte durch die Stimme der Gräfin Yvorra in The Flower Beneath the Foot über den Blick auf den Fluß, auf den sich Lucy Honeychurch so gefreut hatte: 47
Ach, und zu meinem Bedauern blieb auch Florenz weit hinter den Erwartungen zurück!!! Mein Fenster ging auf den Arno hinaus, und so konnte ich ihn betrachten … Da habe ich mitunter seltsame Dinge gesehen! Mein Lämmchen, ich möchte nicht dein Ohr beleidigen mit der Aufzählung all der Schamlosigkeiten, die sich dort abspielten; es genügt zu sagen, daß die Atmosphäre der Stadt mich dazu trieb, nach Rom zu flüchten, wo ich im Schatten des Petersdoms meine Erschütterung allmählich überwand. Der letzte Halbsatz könnte ebenfalls eine leichte Anspielung auf Zimmer mit Aussicht sein, da Charlotte Bartlett in dem Roman mit Lucy nach Rom flüchtet, um das Mädchen vor dem schädlichen Einfluß George Emersons zu bewahren. In beiden Büchern bietet sich Rom – die Hauptstadt, in der zwischen katholischer Frömmigkeit und heidnischer Pracht eine so prekäre Beziehung besteht – als Gegenmittel für die Verfallserscheinungen von Florenz an, als ein Ort, an dem man sich erholen und Absolution finden kann. Doch die Arznei bleibt in beiden Fällen wirkungslos, denn – in Forsters Worten – »die Gefährtin, die keinerlei Geistesverwandtschaft mit der mittelalterlichen Welt aufweist, ist in der klassischen hoffnungslos verloren«. Florenz mit seinen dunklen Gassen, seiner Todesverehrung und seinen sexuellen Geheimnissen trägt letztlich nicht nur für Lucy, sondern auch für Isabel Archer den Sieg davon, deren 48
Verführung in der Toskana nur zum Bankrott der Ehe in Rom führt, die bei Bildnis einer Dame im Mittelpunkt steht. Was die Schriftsteller betrifft, die in Florenz geblieben sind, so schrieben sie zumeist über Florenz und sich selbst: literarische Reiseführer, Kunstgeschichte, Geschichte, Schlüsselromane und natürlich immer wieder Memoiren. Gartenkunst in Verbindung mit Klatsch ist das klassische Rezept für anglo-florentinische Lebenserinnerungen, und gewöhnlich geht das Ganze irgendwann in eine Aufzählung der berühmten Persönlichkeiten über, die man gesehen oder mit denen man sich unterhalten hat. Acton schreibt in Memoirs of an Aesthete: In Florenz wimmelte es von Schriftstellern, denen man unweigerlich in der Via Tornabuoni begegnete; D. H. Lawrence mit seiner rubensschen Ehefrau und seinem Einkaufsnetz nach dem Marktbesuch; Norman Douglas, der auf dem Stummel einer Toscano herumkaute; Ronald Firbank, der in einem Blumenladen verschwand; Aldous Huxley, der beteuerte, daß in Florenz ›die Aussicht überall schön und nur der Mensch abstoßend ist‹; Scott Moncrieff, der im New Witness immer wieder plumpe Angriffe gegen die Sitwells richtete – beim Essen bei Betti, beim Tratschen in Oriolis Buchladen, bei einem Wermut im Casone, nirgends konnte man ihnen in der Stadt aus dem Weg gehen … 49
Actons Prosa ist zugleich träge und auflistend, so nüchtern wie die Welt, die sie zu porträtieren versucht. Wenn er in den zwanziger Jahren der Schreiber von Florenz war, dann war er auch die Verkörperung der Stadt und förderte auf der anderen Seite des Ärmelkanals ihr Bild als Shelleysches »Paradies der Verbannten«. Als sich dem jungen Evelyn Waugh (Actons Liebhaber in Oxford) die Möglichkeit bot, Scott Moncrieffs Sekretär zu werden, geriet er ins Träumen: In seiner Vorstellung »trank [er] unter Olivenbäumen Chianti und lauschte den Diskussionen der schändlichsten Verbannten in ganz Europa«. (Letztlich bekam er die Stelle doch nicht.) Gleichermaßen beschrieb der junge Jocelyn Brooke in einem Porträt von »Miss Wimpole«, erschienen in Private View (1954), eine Kolonie, die, zumindest in England, mit Unziemlichkeit gleichgesetzt wurde: Mit gedämpfter Stimme ließ man dunkle Andeutungen fallen: Mrs. Soundso hatte sich anscheinend mit Mr. Watson in Florenz getroffen und es hieß … O ja, es war in der englischen Kolonie in aller Munde … Ja, die Unglückliche hatte es nämlich ganz offen zugegeben … Und die arme Miss Shute – so begabt – sie kann einem wirklich leid tun … O nein, ganz ohne Zweifel – Mrs. Bellingham hat nämlich gesehen, wie sie aus dem Red Lion kam … Sehr bedauerlich – aber nach so einem Vorfall kann man sie natürlich schwerlich einladen, oder? 50
Die Realität war wesentlich langweiliger. Obwohl es jede Menge Feindschaften gab, waren eher kleine Streitereien an der Tagesordnung, keine Shakespeareschen Dramen. (Ein Beispiel dafür ist Vernon Lees lange Fehde mit Berenson, nachdem er sie des Plagiats bezichtigt hatte.) Das Bohèmeleben der Anglo-Florentiner war zudem deutlich beschnitten. In England hatte ihnen gesellschaftliche Ächtung oder sogar Verhaftung und Gefängnis gedroht. In Italien bestand diese Bedrohung nicht, doch statt sich ihrer Freiheit zu erfreuen, schufen sie sich eine Gesellschaft, die so künstlich war wie das »Miniaturschloß«, das Lord Richard Vermont in Osbert Sitwells Gedicht »Milordo Inglese« erbaut, komplett mit »Miniatur«-Palastintrigen. (Auf Sitwells Gedichte kommen wir später zurück. Vorläufig genügt es zu sagen, daß ihnen der Geruch äußerster Erschöpfung anhaftet – der Geruch von Kindern, die sich dagegen sträuben, daß die Abenddämmerung sie beim Spielen unterbricht.) Letztlich zeichnete sich die Gemeinschaft nicht so sehr durch Schamlosigkeit, als vielmehr durch Boshaftigkeit aus. In einer Rezension von Friendship im Atlantic Monthly beklagte Harriet Waters Preston die »Frivolität und Verantwortungslosigkeit [innerhalb der Kolonie], die Armseligkeit, sowohl moralisch als auch finanziell, die große Unterwürfigkeit gegenüber Höhergestellten und die lästigen Schmarotzer, Speichellecker und Wichtigtuer …«. Es wurde ermüdend, exzentrisch zu sein. »Da war ein gewisser Marchese 51
Fioravanti, ein leidenschaftlicher Anglophiler, der Partys gab, auf denen die Gäste schottische Reels tanzten«, schreibt Caroline Moorehead in ihrer gelungenen Biographie der Schriftstellerin Iris Origo. Der Marchese hielt sich in einem Teich auch ein Krokodil als Haustier, »mit einem Netz bedeckt, damit es nicht entwischen konnte, und von vier Männern auf einer Trage in den Keller getragen, sobald es die ersten Anzeichen für den bevorstehenden Winterschlaf zeigte«. Als das Krokodil starb, veranstaltete der Marchese »zu seinen Ehren ein richtiges Begräbnis und verdächtigte für den Rest seines Lebens seine Mutter, das Tier umgebracht zu haben«. John Singer Sargent, obschon in Florenz geboren, erzählte Acton, er könne dort nicht malen. »Der schöpferische Künstler, der um den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit ringt, muß sich am Ende von so viel Schönheit überwältigt fühlen«, schrieb Acton (der es wissen mußte), »niedergedrückt wie Atlas, die ganze Welt der Kunst auf den Schultern. Wo überall ein außerordentlicher Geschmack herrscht, wo man überall von Meisterwerken umgeben ist, verliert man seine Entschlußkraft in einem Schleier des Staunens. Alle Bemühungen erscheinen unbedeutend. Man fragt sich: Was hat es für einen Sinn?« Andererseits blüht der Hobbykünstler in solch einer Atmosphäre auf; wie Acton über die Generation seiner Eltern sagte: »Sie schrieben, sie malten, sie komponierten, sie sammelten …« Als Mary McCarthy Ende der fünfziger Jahre nach Florenz kam, hatte sie 52
nur wenig Nachsicht mit der Ausländerkolonie der Stadt, der sie den Vorwurf machte, »von Florenz ein völlig falsches Bild [zu verbreiten] … in Florenz ein kostbares Stückchen Altertum« zu sehen. »Alte Jungfern und Junggesellen – pensionierte Bibliothekare und Gouvernanten, Amateurmaler, Amateurbildhauer, Amateurdichter, kurz, Amateure und Dilettanten aller Art ›verliebten sich in Florenz‹ und ließen sich dort nieder.« Für Mary McCarthy war Colonel G. F. Young, selbsternannter Anwalt der Medici und Autor eines »verworrenen, mehrfach aufgelegten Werkes, in dem er zu beweisen versucht, die Medici seien von demokratischen Geschichtsschreibern falsch dargestellt worden«, typisch für die anglo-amerikanischen Besucher, die »Florenz sozusagen enteigneten, indem sie Villen in Fiesole oder Bellosguardo in Besitz nahmen, die toskanische Flora studierten, Gruselgeschichten von Altarschreinen sammelten, ihre Hunde auf dem Friedhof der protestantischen Episkopalkirche begruben und außer ihrer Dienerschaft kaum einen Florentiner kannten«. Kein Wunder, daß sich der Kunsthistoriker John Pope-Hennessy Jahre später über ihre »bissige Schreibmaschine« beklagte! Ihr Blick auf die AngloFlorentiner ist typisch für die ungemilderte Schroffheit, die Florenz kennzeichnet; wenn Acton in Memoirs of an Aesthete der vollkommen Eingeweihte ist, dann ist McCarthy die vollkommen Außenstehende, entschlossen, Anspruch auf die Stadt zu erhe53
ben, indem sie sie belagert. Und doch, wenn ihr Buch dazu dienen sollte, den Leser spüren zu lassen, daß sie die Stadt, über die sie schrieb, nicht besonders mochte, dann lag das vielleicht daran – wie ihre Biographin Frances Kiernan meinte –, daß die Stadt sie nicht mochte. Berenson zog sie auf, und ihr Führer Roberto Papi erwies sich nicht als der cavaliere servente, den sie sich erhofft hatte. Wie Cristina Rucellai zu Kiernan sagte: »Sie kann nicht positiv sein, weil ihre Erfahrungen nicht positiv waren.« Letztlich ist Florenz trotz des immer wieder aufblitzenden Zaubers und Scharfsinns bloß der cri de cœur eines weiteren Touristen, der sich ausgeschlossen fühlte. Andererseits ist ein bißchen unsicheres amerikanisches Gepolter vielleicht genau das richtige, um die jahrzehntelange Heuchelei zu durchbrechen, und wir müssen McCarthy dankbar sein, daß sie den Mut aufbrachte, das Bild der Ausländerkolonie von Florenz als »aus Büchern gesogen, synthetisch, schwärmerisch, unvollständig, zu ästhetisch und vor allem zu besitzergreifend« zu bezeichnen. Wenn sie die »Affenliebe« beklagt, die die ausländischen Einwohner dazu treibt, »unser Florenz« oder »mein Florenz« zu sagen, hallt darin James’ Schmähschrift gegen Ruskin aus dem vorangegangenen Jahrhundert nach. Was Florenz auch sein mag, sagt McCarthy, es ist kein »kostbares Stückchen Altertum. Das kann Florenz niemals gewesen sein, solange es die Stadt gibt.« Man kann sich vorstellen, wie sie auf die englischen Gärten reagiert hätte, die der Stolz der ersten Anglo54
Florentiner waren und in denen, wie Moorehead schreibt, Olivenbäume und Weinberge »durch Rasenflächen und schattige Laubbäume ersetzt, in Staudenrabatten Iris, Krokusse, Pfingstrosen und Narzissen gepflanzt, Wälder und Sträucher gelichtet und steile, mit Bruchsteinniauern eingefaßte Terrassen mit Rosen bedeckt wurden: ›Lady Banks‹, ›Irene Watts‹ und ›Madame Metral‹«. James Lord zufolge stellte Harold Actons Vater Arthur, nachdem er die Villa La Pietra gekauft hatte (benannt nach einer Steinsäule, die die Entfernung vom alten Stadttor anzeigte), als erstes den alten Garten wieder her, der im neunzehnten Jahrhundert nach englischem Vorbild verändert worden war. Wie Edith Wharton (die den Ausdruck prägte) verachtete Acton senior »Blumen-Lieblichkeit« und fand Gärten schöner, die die Renaissancetradition neu interpretierten. Der Garten der italienischen Renaissance war eine Erzählung, deren einzelne Bestandteile – Brunnen, Hecken und Statuen – gemeinsam einem Thema untergeordnet waren: die Villa d’Este in Tivoli beschrieb zum Beispiel die Arbeiten des Herkules, während bei der Villa Lante in Bagnaia, erbaut für Kardinal Gambara, den Bischof von Viterbo, damit gespielt wurde, daß sein Name dem Wort Krebs (gambero) ähnelte, und bei der Gestaltung des Gartens zahlreiche Krebsmotive verwendet wurden. Giochi d’acqua – Brunnen mit versteckten Öffnungen, aus denen die Beine nichtsahnender Besucher bespritzt wurden – waren in diesen Gärten häufig anzutreffen, genauso 55
wie Wasserläufe, Wasserorgeln, »Wassertische«, die bei den Mahlzeiten al fresco gedeckt wurden, und Statuen von skurrilen Ungeheuern wie Giambolognas berühmte Appennino-Statue im Garten der Villa Demidoff in Pratolino, oberhalb von Florenz. Der Geist des Renaissancegartens unterschied sich völlig von dem des englischen Gartens, dessen Gestalter in Florenz nicht nur mit der italienischen Tradition ringen mußte, sondern auch mit Klima und Boden, die für britische Pflanzen kaum ungünstiger hätten sein können. Georgina Grahames 1902 erschienene Memoiren In a Tuscan Garden haben etwas von diesem chauvinistischen Dilettantismus, der McCarthy (und Wharton) auf die Palme brachte. Solche Memoiren riechen nach Kolonialismus – Kampferöl, durch das beharrlich der unauslöschliche Duft von Knoblauch, Basilikum und Tomaten dringt, die an einem Sommernachmittag in einer Schüssel voller Olivenöl eingelegt werden. Auch das Essen war für die Anglo-Florentiner ein großes Problem. Seltsamerweise mißtrauten viele der Engländer, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Florenz zogen, der italienischen Küche oder verschmähten sie. Spaghetti – Forsters »köstliche schlüpfrige Würmer« – machten ihnen angst, denn es erforderte jahrelange Übung, diese formvollendet zu verspeisen. Auch wenn Ross’ Leaves from Our Tuscan Kitchen heute seltsam altmodisch erscheint, war es durch das Gewicht, das sie darin auf frisches Gemüse legt, im fleischessenden England Ende des neunzehn56
ten Jahrhunderts ein geradezu subversives Buch. Bereits 1614 hatte Giacomo Castelvetro, ein in England lebender Venezianer, eine gewisse Grobschlächtigkeit der Engländer bei der Zubereitung von Salaten beklagt: »Ihr Engländer seid noch schlimmer [als ›die Deutschen und andere ungeschliffene Völker‹]«, schrieb er: … nachdem ihr den Salat, weiß der Himmel, wie, gewaschen habt, gießt ihr als erstes den Essig in die Schüssel, so viel, daß es für ein Fußbad des Riesen Morgante ausreichen würde, und serviert den Salat ungemischt, ohne Öl und Salz, die man bei Tisch hinzufügen muß. Inzwischen sind einige Salatblätter so mit Essig durchtränkt, daß sie kein Öl mehr aufnehmen können, während die restlichen ganz trocken und nur noch als Hühnerfutter zu gebrauchen sind. Im Gegensatz dazu waren die Toskaner schon immer große Gemüseesser: Auberginen, Zucchini, Hülsenfrüchte, Spinat, Borretsch, Rucola und der berühmte toskanische »Schwarzkohl«, der als Grundlage für die als ribollita bekannte Florentiner Suppe dient. Castelvetro zufolge ist die zentrale Bedeutung von Gemüse für die italienische Küche teilweise dem Umstand zuzuschreiben, daß »Italien trotz seiner Schönheit nicht so reichlich mit Fleisch gesegnet ist wie Frankreich oder diese fruchtbare Insel und wir uns deshalb etwas anderes einfallen lassen müssen, um unsere 57
große Bevölkerung ernähren zu können«. Als weiteren Grund gibt er an, daß »bei der Hitze, die fast neun Monate im Jahr herrscht, Fleisch ziemlich abstoßend aussieht, insbesondere Rindfleisch, das man bei solchen Temperaturen kaum anschauen, geschweige denn essen kann«. Wenn Florenz inzwischen für seine riesigen Steaks (bistecche alla Fiorentina) und seine dicken Scheiben Schweinebraten (arista, ein Name, der, wie Norman Douglas sagt, von dem griechischen Wort für »ausgezeichnet« abstammt) ebenso berühmt ist wie für sein Gemüse, dann ist das größtenteils den heutigen Kühlmöglichkeiten zu verdanken. Und doch ist Gemüse weiterhin der Hauptbestandteil der Florentiner Küche: sautierter Chicoree mit Peperoni und Knoblauch, weiße Bohnen lauwarm serviert mit frischem Olivenöl und Pfeffer, Kardonen (cardi) mit Käse überbacken in weißer Soße, nicht zu vergessen die berühmten Suppen der Stadt: pappa al pomodoro, eine einfache, mit Brot angedickte Tomatensuppe, und ribollita – wörtlich »aufgewärmt«, da das Gericht normalerweise aus den Resten einer früheren Mahlzeit zubereitet wurde. Eine gute ribollita wird aus Bohnen, Möhren, Zwiebeln, Wirsing, rotem Paprika und den Blättern des toskanischen Schwarzkohls zubereitet, das Ganze, wie bei der pappa al pomodoro, angedickt mit altbackenem ungesalzenen Brot. Diese Suppe ist ein solcher Mythos, daß bei Cocco Lezzone, einer Florentiner trattoria, in der Prinz Charles angeblich gern ißt, eine Anmerkung in der Speisekarte die Gäste dar58
auf hinweist, daß »das Klingeln des Handys die Zubereitung der ribollita beeinträchtigen« könne. Natürlich aßen nur wenige der ersten Anglo-Florentiner ribollita oder etwas anderes Italienisches: Sie verließen sich lieber darauf, daß die britischen Läden sie mit den Nahrungsmitteln versorgten, die man benötigte, um die Gerichte aus der Heimat annähernd zubereiten zu können. Bei Lord Acton war der Tee am Spätnachmittag mit den berühmten dünnen Sandwiches das übliche gesellschaftliche Vergnügen. Auch heute findet man in Florenz noch mühelos TwiningsTee, Walker’s Shortbread und Marmite, da sich die Ladeninhaber bemühen, dem Heimweh der in der Stadt lebenden Engländer gerecht zu werden – einem Heimweh, das manchmal schon an Fremdenfeindlichkeit zu grenzen scheint. Auch ihre Einstellung zu Hunden ließ sie mit den Italienern in Konflikt geraten, die ihre Hunde noch heute eher wie Arbeits- als wie Haustiere behandeln. Die Anglo-Florentiner könnten tatsächlich die Vorstellung vom cane di compania (dem Hund als Gefährten) in Italien eingeführt haben. Lady Paget, Vernon Lees Mutter, behauptete, sie habe sich in Florenz niedergelassen, weil die britischen Quarantänevorschriften ihr nicht erlaubt hätten, ihren geliebten Dackel nach England mitzunehmen. (Sie fertigte auch ihre Schuhe selbst an.) Ouida besaß Dutzende von Hunden, die sie angeblich mit Hummer, petits-fours und Sahne aus Teetassen in Capodimonte fütterte. In einer anderen Version ihrer Fehde mit Janet Ross, verbreitet 59
von Moorehead, stehen die Hunde im Mittelpunkt des Konflikts; als einer der Hunde ihren Sohn biß, ließ Ross ihn verprügeln, was Ouida veranlaßte, Lady Joan Challoner aus Rache als Hundehasserin darzustellen. Florenz ist nach italienischen Maßstäben eine außergewöhnlich hundefreundliche Stadt. Als wir dort lebten, begegneten wir oft einer Verrückten, die einen weißen Mantel über ihrem Nachthemd trug und jeden Tag morgens und abends auf der Piazza della Signoria vier Hunde an vier Leinen ausführte: kleine, nervöse Promenadenmischungen, einer schwarz, einer scheckig, einer von der Farbe ungewaschener Bettlaken und einer rosa, mit rosa Nase und Unterbiß. Jedem Fremden, der den Hunden im Vorbeigehen den Kopf tätschelte oder ihnen auch bloß zulächelte, versuchte die Frau einen von ihnen zu schenken, doch sie schien nie einen Abnehmer zu finden. Sie zerrte sie jedesmal eine Weile herum und ließ sie dann urplötzlich los; in großen Sprüngen verteilten sich die Hunde über die Piazza wie die gespreizten Finger einer Hand, ritten auf der Woge von Erinnerungen an Rennen, in denen sie mit Leoparden umhertollten, deren Flecke wie winzige fleur-de-lis geformt waren, zwischen den Beinen von Rittern (einer lila, einer weiß) herumwuselten oder an Bäume pinkelten, deren Laub sich stufig erhob wie die aufgeschichteten Metallplatten, auf denen in italienischen Bahnhofsbars, von einem feinen Sprühregen befeuchtet, Kokosnußstücke ausliegen. Solche wilden kleinen 60
Hunde, die es in Florenz schon immer gegeben hat, kann man auf Benozzo Gozzolis Fresken im Palazzo Medici-Riccardi sowie in zahlreichen Verkündigungs-, Abendmahls- oder Schlachtszenen finden. Aber die Engländer schlossen sie ins Herz. Vielleicht ist diese Verrückte Ouidas Geist.
Warum Florenz? Warum nicht Paris, New York, Berlin, Neapel, Wien? Die selbstverherrlichende Antwort (die die Anglo-Florentiner zudem ins rechte Licht rückt) lautet erneut, daß sie um der Kunst willen kamen. Für das Bild, das sie von sich verbreiten wollten, war eine strikte gelehrte Askese anscheinend äußerst wichtig, und Forster fängt das perfekt ein, wenn er Hochwürden Eager Lucy die Bewohner der Villen beschreiben läßt, an denen sie auf ihrer Fahrt in die Hügel vorbeikommen. »Lady Helen Laverstock arbeitet im Moment sehr fleißig über Fra Angelico«, erzählt er ihr. »Erwähnen tue ich ihren Namen nur, weil wir gerade an ihrer Villa vorüberfahren – dort, linker Hand. Nein, sehen können Sie sie nur, wenn Sie stehen – nicht, bleiben Sie sitzen, sonst fallen Sie noch!« Ein anderer Bewohner hat Monographien für die Reihe »Mittelalterliche Seitenpfade« geschrieben. Wieder ein anderer »arbeitet im Augenblick über Gemistos Plethon«. Erwartungsgemäß übersetzte Harold Acton Gian Gastone, und Vernon Lee schrieb eine Abhandlung mit dem Titel Euphorion; being Studies of the Antique and Medieval in the Renaissance. Diese Werke soll61
ten den Menschen zu Hause den Eindruck vermitteln, daß die Autoren einen Grund hatten, in Florenz zu leben. Sie lenkten die Aufmerksamkeit auch von dem wahren Grund ab, warum so viele von ihnen sich dort niedergelassen hatten: Bis in die siebziger Jahre hinein war Florenz erstaunlich, man könnte sogar sagen unglaublich billig. »Es gibt unzählige Villen«, schrieb James 1877, die meisten davon »ungewöhnlich preiswert zu vermieten (viele auch zu verkaufen); man kann einen Turm und einen Garten, eine Kapelle und ein Haus mit dreißig Fenstern schon für fünfhundert Dollar im Jahr haben«. Im folgenden fragt er sich, ob »das trostlose Aussehen dieser großen Häuser zum Teil« darauf zurückzuführen ist, daß sie »ausgedient haben. Ihre außergewöhnliche Größe und Wuchtigkeit sprechen ihrem augenblicklichen Schicksal Hohn. Sie wurden nicht mit so dicken Wänden und tiefen Leibungen, so stabilen Treppen und so vielen Steinen erbaut, bloß um englischen oder amerikanischen Familien als preisgünstige Winterresidenz zu dienen.« Einige der Häuser wurden an »verarmte Damen von Stand« vermietet. Orioli erinnert sich an eine von ihnen, »eine alte Frau namens Miss Lade«, die mit ihrem Hund allein lebte und »Kostümbälle gab, an deren Ende eine kalte Consommé zum Abendessen gereicht wurde, die wie alte Malerfarbe schmeckte. Trotz ihres Alters verkleidete sie sich bei solchen Anlässen stets als Carmen – vermutlich war es das einzige Kostüm, das sie noch besaß und das noch aus ihrer Jugendzeit stammte. Eines Tages fand man sie 62
erstickt im Bett, mit ihrem toten Hund neben sich. Sie hatte vergeblich versucht, eine undichte Gasleitung eigenhändig zu reparieren.« Obwohl die meisten Bewohner der Kolonie Engländer waren, gab es auch viele Polen, Franzosen, Deutsche und Russen. Letztere Gruppe machte einen besonders nachhaltigen Eindruck auf den jungen Acton, der sich später an »ihre Kirche mit den funkelnden Zwiebeltürmen in der Nähe des Viale Milton« erinnerte. Oft kamen russische Großfürsten und -fürstinnen zu Besuch und auch bedeutende russische Künstler. In den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts weilte der in Odessa geborene Pianist Wladimir de Pachmann in Florenz und studierte zusammen mit Vera Kologrivoff Rubio, die mit dem Florentiner Maler Luigi Rubio verheiratet war. 1890 komponierte Tschaikowski in einem Hotelzimmer mit Blick auf den Arno seine Oper Pique Dame. Der Schriftsteller Michail Kusmin verbrachte nicht nur einige Zeit in Florenz, sondern ließ auch einen Teil seines 1906 erschienenen Romans Flügel dort spielen. An einer Stelle des Buches vertraut er seine Hauptfigur Wanja der Führung eines toskanischen Monsignores an, der ihm die vielen Gesellschaftsschichten und wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt enthüllt: Da gab es vor dem Bankrott stehende Marchesen, Grafen, die in vernachlässigten Palästen wohnten, Karten spielten und sich mit ihren Lakaien um das Spiel zankten; da gab es Inge63
nieure und Ärzte, Kaufleute, die einfach, nach alter Art, haushälterisch und zurückgezogen lebten; debütierende Musiker, die nach Puccinis Ruhm strebten und ihn mit bartlosen, dicken Gesichtern und Krawatten zu kopieren versuchten; ferner war da ein feister, wichtiger und wohlwollender persischer Konsul, der mit sechs Nichten unterhalb von San Miniato lebte; Apotheker; Jünglinge, die als Laufburschen fungierten; zum Katholizismus bekehrte Engländerinnen und schließlich auch noch Mme. Monier, eine Ästhetin und Künstlerin, die mit einer ganzen Gesellschaft von Gästen in Fiesole eine mit zarten Frühlingsallegorien ausgemalte Villa bewohnte, von der man einen Ausblick auf Florenz und das Arnotal genoß. Mme. Monier war immer heiter, klein von Wuchs, schwatzhaft, rothaarig und schrecklich häßlich. Kusmins Darstellung mit ihrer Auflistung von »Typen«, dem Vertrauen auf Semikolons, dem leichten Anflug von homosexueller Halbwelt, ist recht typisch für die damalige Zeit, und doch wird darin auch die Vielfalt und Fülle von Charakteren angedeutet, die in Florenz zu finden sind. Es gibt zwar gesellschaftliche Schranken, doch bei Ausländern scheinen sie zu fallen, so daß Wanja sich so mühelos von den Häusern des Adels zu denen der Mittelklasse und denen der Künstler und »Laufburschen« begeben kann, wie das zu Hause undenkbar wäre. (Daß der 64
Monsignore gegen die Klassenunterschiede gefeit ist, liegt an seinem Amt; ein gewöhnlicher Italiener hätte eine solche Wallfahrt nicht unternehmen können.) Was die englischen Ladys betrifft, »die zum Katholizismus bekehrt waren«, so ist ihre Anwesenheit vielleicht das Erwähnenswerteste. Schon vor dem Ansturm war die Florentiner Gesellschaft mit ihrem festverwurzelten Adel und Klassenbewußtsein im Ton ausgesprochen englisch, besonders wenn man die Stadt mit Rom oder Mailand verglich. Wie Acton schreibt, hatten viele der alteingesessenen Florentiner Familien »angelsächsische Verästelungen«, was die Engländer angezogen haben könnte. »Sie schlugen in den Weinbergen Wurzeln und wurden ein Teil der Landschaft«, schreibt er weiter. »Im klaren Licht der Toskana gedieh ihr exzentrisches Verhalten prächtig.« In Der Garten im Himmel. Eine Kindheit in der Toskana schreibt Kinta Beevor, die in Florenz aufwuchs, daß die Stadt eine »Flucht vor der engstirnigen Förmlichkeit und dem geheuchelten Respekt im eigenen Land« bot; doch die Atmosphäre der Heimat fand hier auch ihre Wiederholung, da die vielgepriesene Toleranz in der Gegend in eine Gesellschaftsordnung eingebettet war, die ebenso engstirnig war wie die Englands. In Florenz mußten wohlhabende Kaufleute selbst bei mittellosen Adligen die formale Anrede »Loro« benutzen. Forster fand es amüsant, wie kompliziert die Etikette bei einem Briefwechsel war, und in Engel und Narren beschreibt er einen Brief, den ein junger Toskaner einigen Engländern schickt: 65
Gino schrieb in seiner eigenen Sprache, aber die Rechtsanwälte hatten eine umständliche englische Übersetzung mitgeschickt, in der »Pregiatissima Signora« mit »Höchst preiswürdige gnädige Frau« wiedergegeben war und jedes feinfühlige Kompliment und jeder Superlativ – Superlative sind feinfühlig im Italienischen – einen Ochsen umgeworfen hätte. Als jemand, der vielleicht ein feineres Gespür für die Nuancen einer Welt hatte, in der er nur fünf Wochen weilte, als viele von denen, die ihr ganzes Leben in dieser Welt verbrachten, wußte Forster das »Heikle« der toskanischen Gesellschaft zu schätzen, die über die Veränderungen lächelte, gegen die England damals Dämme errichtete. Dieses Lächeln war feinsinnig und doppeldeutig wie das der Mona Lisa, dennoch war es ein Lächeln. In Florenz konnte man sich mit einem anderen in der Stadt lebenden Ausländer im Doney’s oder im La Giocosa unterhaken, einen feierlichen Ball im palazzo eines Frescobaldi besuchen und dann um Mitternacht zur Loggia dei Lanzi schlendern, wo immer irgendwelche Jungs herumlungerten, die für Geld oder Zigaretten ihren Körper feilboten. Was fehlte, war die Bedrohung – sei es durch Erpresser oder die Polizei. Firbank fing die gespaltene Persönlichkeit der Stadt in einer Beschreibung der imaginären karibischen Hauptstadt Cuna-Cuna in Sorrow in Sunlight (1924) perfekt ein;
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Hinter der Alameda, in dem schicken Vorort Faranaka, lebte eine einflußreiche und wohlhabende Dame – die Witwe des Erfinders von Sunflower Piquant. Das veto von Madame Ruis, absolute Herrin über die cunanische Gesellschaft und überdies Besitzerin eines beträchtlichen Teils der Stadt, hatte schon öfter den Selbstmord eines sozialen Aufsteigers zur Folge gehabt. Unglücklich, wehmütig, hochmütig, selbstsüchtig, immer kurz davor, Cuna-Cuna zu verlassen und nie mehr zurückzukehren, sich jedoch nie vom Fleck rührend, weil sie ihre Märchenvilla viel zu sehr liebte, tröstete sich Madame Ruis, während sie sich nach der großen, weiten Welt sehnte, damit, aus der Ferne zu beobachten, wie die europäische Gesellschaft unaufhaltsam vor die Hunde ging. Da sie Kunstliebhaberin und äußerst musikalisch war (manch eine waghalsige Inszenierung an der Oper verdankte ihr, daß sie zur Aufführung kam), hatte sie trotz ihrer Ichbezogenheit viel getan, um die bezaubernde Stadt, die sie zu ihrem Vergnügen oft heftig beschimpfte, noch prächtiger zu gestalten. In Cuna-Cuna stellt auch »die große Zahl ungeeigneter junger Männer und eingefleischter Junggesellen« für Mütter, die für ihre Töchter einen Mann suchen, »ein stetiges Ärgernis« dar.
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Der Ruf von Florenz als Brutstätte der Sodomie reicht weit zurück. Schon Anfang des achtzehnten Jahrhunderts erwähnt H. Montgomery Hyde (ein Cousin von Henry James), daß ein anonymes Werk mit dem Titel Gewichtige Gründe für die Ausbreitung der Sodomie in England »Frauen für die Zunahme der Homosexualität sowie für geckenhafte Kleider, europäische Sitten, Teetrinken und italienische Opern« verantwortlich machte; außerdem wird festgestellt, »daß Sodomie in Italien als Bagatelle betrachtet wird, denn der Fremde wird, kaum daß er in Rom angekommen ist, von Kupplern bestürmt, die ihn fragen, ob er eine Frau oder einen jungen Mann haben wolle«. Eine Flugschrift aus dem Jahre 1749 mit dem Titel Erntedankfest des Satans oder Der gegenwärtige Stand 69
von Hurerei, Ehebruch, Blutschande, Kuppelei, Zuhältern und Sodomie … und anderer satanischer Werke, Tag für lag propagiert in diesem frommen protestantischen Königreich nannte die Dinge beim Namen und bezeichnete Italien als »Mutter und Amme der Sodomie«. Zweifellos bewirkten solche Schmähschriften das Gegenteil dessen, was ihre Autoren beabsichtigt hatten; wenn sie Italien herabsetzten, erhöhten sie in Wirklichkeit für homosexuelle Engländer, die aus ihrer Heimat fliehen mußten, den Reiz des Landes. Neben anderen verbrachte auch George Nassau Clavering-Cowper, der dritte Earl Cowper – Fürst des Heiligen Römischen Reiches und bekannter Kunstsammler, den die Zeitung The World posthum bezichtigte, er habe sich »der Praxis und dem Gebrauch der verwerflichsten und unmännlichsten Laster und Ausschweifungen« hingegeben –, den größten Teil seines Lebens in Florenz, wo er 1789 starb. 1797 floh der Reverend John Fenwick, Vikar von Byall, zuerst nach Frankreich und dann nach Neapel, nachdem gegen ihn Haftbefehl erlassen worden war, weil er beschuldigt wurde, über einen Mann namens Harper hergefallen zu sein, der aus einem Bibliotheksfenster springen mußte, um ihm zu entrinnen. 1809 ließ sich George Ferrers, Earl of Leicester, der von seinem Vater enterbt worden war, nachdem seine Affare mit einem Kellner namens Neri (ein Florentiner Name) ans Licht gekommen war, in der Villa Rostan in Pegli bei Genua nieder. 1841 floh der Parlamentarier William John Bankes, der, wie Hyde schreibt, ein paar 70
Jahre vorher beschuldigt worden war, er habe »in einer öffentlichen Toilette vor dem Westminster Abbey an einem Soldaten unzüchtige Handlungen vorgenommen«, nach Venedig, nachdem er ein zweites Mal verklagt worden war, weil »er sich in einem Londoner Park unsittlich entblößt« hatte. Schon vor der Übernahme des Code Napoléon – der, im Gegensatz zu englischem Recht, Wert darauf legte, Sodomie nicht unter Strafe zu stellen – war Florenz gegenüber Homosexuellen außergewöhnlich nachsichtig. Sodomie, wenn nicht gar Homosexualität im modernen Sinn, war spätestens seit dem vierzehnten Jahrhundert ein charakteristischer Bestandteil des Stadtlebens, und damals waren erotische Beziehungen zwischen Männern und Jungen so geläufig, daß ein spezielles Tribunal, die sogenannte »Behörde der Nacht«, eingerichtet werden mußte, um mit der Angelegenheit fertig zu werden. In Verbotene Freundschaften: Sodomie und männliche Kultur im Florenz der Renaissance beschreibt der Historiker Michael Rocke eine Gesellschaft, in der Sex zwischen Männern und Jungen toleriert wurde, solange der passive Partner jünger als achtzehn war. Andererseits fand man ältere Männer, die die passive Rolle übernahmen, ungeheuerlich, und sie wurden häufig öffentlich hingerichtet oder verstümmelt, wobei ihnen die Ohren oder die Nase abgeschnitten wurde. Der Ponte Vecchio, damals die Domäne der Metzger (heute ist sie die Domäne der Goldschmiede), war ein Schlachtfeld der Lüste, ein Gang, den sich kein Junge entlang71
wagte, aus Furcht, daß »ihm seine Mütze gestohlen wurde«. Anfang des sechzehnten Jahrhunderts definierte ein deutsches Wörterbuch »Florenzer« als »Sodomist« und das Verb »florenzen« als »Sodomie treiben«. Der Doppelstatus der Stadt als Hauptstadt großer Kunst und als Zufluchtsort für freizügiges Sexualverhalten machte sie zu einem besonders reizvollen Reiseziel für homosexuelle Künstler und Gelehrte. Einer der ersten, die dorthin reisten, war Winckelmann, was Thema eines langen Kapitels in Die Renaissance ist. »Im deutschen Gemüt«, so zitiert Pater dort Madame de Staël, »sind oft noch Spuren jener Liebe zur Sonne, jener Müdigkeit des Nordens (cette fatigue du Nord), welche ehedem die nordischen Völker in die Länder des Südens trieb. Ein heiterer Himmel erzeugt oft sehnsüchtige Gefühle nicht unähnlich der Liebe zum Vaterland.« (Viele Jahre später reagierte die junge Sybille Bedford bei der Überquerung des Brennerpasses gleichermaßen »mit der regen Freude eines im Norden geborenen und von dort kommenden Menschen … der zum ersten Mal den Himmel und das Licht des Südens an einem Septembermorgen erblickt«.) Aber was suchten diese Deutschen, von denen Winckelmann nur einer der berühmtesten war? Kunst und Liebe, »die Ausübung von Sehen und Berühren«, leidenschaftliche Freundschaften, bei denen das Erotische mutigerweise nicht ausgeschlossen blieb. »Man kannte Gelehrte«, schrieb Madame de Staël über Winckelmann, »die man über diesen 72
Gegenstand wie Bücher zu Rat ziehen konnte, aber niemand hatte sich sozusagen zum Heiden gemacht, um in den Geist des Altertums einzudringen.« Pater fügt hinzu: »Daß Winkelmanns Neigung zum Hellenentum keine rein intellektuelle war, sondern daß darin auch die feineren Fäden seiner Gemütslage innig verwoben scheinen, geht aus der Tatsache seiner glühenden, romantischen Freundschaftsverhältnisse mit jungen Männern hervor. ›Ich habe‹, schreibt er, ›viele Jünglinge gekannt, schöner als Guidos Erzengel.‹« Leider erwies sich die letzte dieser Freundschaften als verhängnisvoll; 1768 beschloß Winckelmann, nach Deutschland zurückzufahren, reiste bis Regensburg, brach dann – voller Heimweh nach Italien – seinen Besuch ab und kehrte zurück nach Süden. Während er in Triest auf die Abfahrt seines Schiffes wartete, verkehrte er mit einem gutaussehenden Cafékellner, der ihn in seinem Hotelzimmer ausraubte und ermordete. Der Kellner war Florentiner und hieß ironischerweise Arcangeli. Die erste Auflage von Die Renaissance erschien 1873, als Ouida ihre größten Erfolge feierte und im Langham Hotel ziemlich unbeholfen versuchte, die Leute zu schockieren. Das war ein wichtiger Moment in der englischen Sozialgeschichte, zum einen gekennzeichnet durch eine zunehmende sexuelle Kühnheit seitens der Bürger und zum anderen durch den von der Regierung vorangetriebenen Versuch, als Schutzmaßnahme gegen die merkliche europäische Dekadenz 73
den Sodomie-Gesetzen Geltung zu verschaffen. Unter den ersten Opfern der daraus folgenden Spannungen war Lord Henry Somerset, der Zweitälteste Sohn des Duke of Beaufort (der Duke erfand das Badminton-Spiel, das nach seinem Landsitz benannt wurde) und erster der sogenannten Uranian Poets. Als ehemaliger Unterhausabgeordneter für Monmouthshire und Rechnungsprüfer Ihrer Majestät floh Lord Henry Ende der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts aus England nach Florenz, nachdem seine Frau Isabel ihn mit einem Jungen namens Harry Smith in flagrante delicto ertappt hatte. Da Lady Isabel ihre Gründe für die Trennung publik gemacht und sich damit über die viktorianische Verhaltensmaßregel der »weiblichen Zurückhaltung« hinweggesetzt hatte, war sie in der englischen Gesellschaft bald eine persona non grata. Sie wurde in der Heimat zu einem Paria, während Lord Henry die traurige Berühmtheit eines Verbannten genoß (vorausgesetzt, das ist das richtige Wort); er ist vermutlich der »freundliche Lord X«, von dem Acton sagt, er »mußte vor der Londoner Polizei flüchten, weil er ›ein zur falschen Zeit geborener Grieche‹ war …«. Etwa zehn Jahre später mußte auch Lord Henrys jüngster Bruder Arthur auf den Kontinent flüchten, weil er in den berühmten »Cleveland Street-Skandal« verwickelt war, bei dem die Polizei im Juli 1889 in der Nähe vom Piccadilly auf ein Homosexuellenbordell stieß, in dem junge Telegrammboten einer größtenteils adligen Kundschaft zu Diensten waren. (Angeblich war auch Prinz Albert 74
Victor oder »Prinz Eddy«, der Enkel von Queen Victoria und ihr mutmaßlicher Erbe, ein Kunde des Bordells; jedenfalls war er oft im Hundred Guineas Club zu Gast, einem Treffpunkt für Homosexuelle, wo er unter dem Namen »Victoria« bekannt war.) Besonders erdrückend war die Atmosphäre in England seit Inkrafttreten des Labouchère-Amendment – benannt nach dem Parlamentarier Henry Labouchère, der diese Gesetzesänderung verfaßt hatte, bald darauf selbst Mitglied der anglo-florentinischen Kolonie wurde und sich nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament in der Villa Cristina niederließ. (Die Tatsache, daß er und Lord Henry schließlich Seite an Seite lebten, ist ein weiterer Beweis dafür, wie ausgefallen Florenz war und daß es nicht den normalen Regeln gehorchte.) Im wesentlichen stellte die Gesetzesänderung »grob unsittliches Verhalten« zwischen erwachsenen Männern in der Öffentlichkeit oder im verborgenen unter Strafe und ahndete es mit bis zu zwei Jahren Gefängnis, mit oder ohne Zwangsarbeit. (Für die Verkupplung Minderjähriger war die Höchststrafe lebenslängliche Haft.) Vorher war lediglich Analverkehr – »buggery« in England und »sodomy« in Schottland – eine Straftat gewesen. Erstaunlicherweise war Labouchère weder ein religiöser Eiferer noch ein Konservativer; im Gegenteil, er war ein berühmter Radikaler, Herausgeber eines Skandalblatts namens Truth, gegen das ständig Verleumdungsprozesse geführt wurden. Sein Änderungsantrag kam als Anhang einer Gesetzesvorlage ins 75
Parlament, die die zunehmenden Syphiliserkrankungen unter Prostituierten eindämmen sollte, und wurde als Beitrag zur Lösung dieses Problems betrachtet. Bis dahin hatte man den »gefallenen Mädchen« die Schuld an den Krankheiten gegeben, die mit Prostitution in Verbindung gebracht wurden. Jetzt traten die Gesetzgeber auf Drängen sogenannter »Volksgesundheits«-Feministinnen dafür ein, daß die Männer, deretwegen diese Mädchen »gefallen« waren, anstelle der Mädchen zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Diesem Denken zufolge war Homosexualität nur die extremste Form, die männliche Verdorbenheit annehmen konnte; Männer, die sich miteinander »grob unsittlichem Verhalten« hingaben, wurden also nicht als »Verkehrte« eingestuft, sondern als Monstren der Fleischeslust, die darauf aus waren, junge unschuldige Mädchen zu verderben und miteinander die Betten anständiger Hotels zu beschmutzen. Mit anderen Worten, die sexuelle Lust war das Verbrechen, das bestraft werden mußte. Das Problem war natürlich, daß die polysexuellen Dämonen, auf die das Gesetz zielte, ausschließlich in den Köpfen viktorianischer Physiologen existierten. »Verkehrte« hingegen gab es in großer Zahl, und sie hatten letztlich am stärksten unter dem LabouchèreAmendment zu leiden, größtenteils wegen der Worte »in der Öffentlichkeit oder im verborgenen«, die Erpressern grünes Licht gaben und dazu führten, daß die Gesetzesänderung bald nur noch der »Erpresserfreibrief« genannt wurde. Durch die auf den neuen 76
gesetzlichen Bestimmungen beruhende Verhaftung Oscar Wildes im Jahre 1895 verfielen die Homosexuellen in Panik, und es kam zu dem ziemlich bizarren Exodus, den Frank Harris in seiner einfallsreichen Wilde-Biographie schildert: Alle Züge nach Dover waren überfüllt; auf allen Dampfern nach Calais wimmelte es von Adligen und Begüterten, die Paris oder sogar Nizza außerhalb der Saison einer Stadt wie London vorzogen, wo die Polizei so unerwartet heftig auftreten konnte … Es war ein Schock für ihre Voreingenommenheit, daß die Polizei in London vieles wußte, was sie nichts anging, und dieser grelle Lichtschein trieb die Lasterhaften in wilder Hast aus dem Land. Die meisten von ihnen landeten in Florenz, denn die Stadt war, wie Barbara Strachey in Remarkable Relations, ihren Memoiren, gespreizt formulierte, »damals der ideale Ort für unkonventionelle Angelsachsen. Lord Henry Somerset … hatte dort Zuflucht gefunden … und in der großen Auslandsgemeinde wimmelte es von ›Sapphistinnen‹, Exzentrikern und Leuten, deren eheliche Verhältnisse unüblich waren.« Das war keine Verallgemeinerung und auch keine Übertreibung. Zu den ansässigen Lesbierinnen gehörte vor allem Radclyffe Hall, Autorin des verbotenen Romans Quell der Einsamkeit, die mit ihrer Geliebten Una, Lady Troubridge, in Florenz lebte. 77
Dann war da noch die Reiseschriftstellerin Maud Cruttwell, die ausschließlich Männerkleider trug und einmal zu Mary Berenson sagte, »wie gut es ihr gefallen habe, hinter meinem Esel herzureiten, weil sie dachte, es sei ein weiblicher Hintern, und wie sehr es sie angeekelt habe, als sie herausfand, daß es ein ›maschio‹ war«. Die in Florenz geborene Violet Paget, bekannt unter dem Namen Vernon Lee, hatte immer kurzgeschnittenes Haar und trug wie Maud Cruttwell eine Krawatte. James beschrieb sie als »äußerst häßlich, streitlustig, widersprüchlich und launisch … eine wirklich hervorragende Rednerin mit Verstand – fast die einzige in Florenz«. Auch der deutsche Bildhauer Adolf von Hildebrand erinnert sich in einem Brief an einen langweiligen Abend, der durch ihre intellektuelle Schärfe belebt wurde: Während des Essens haben wir uns zwanglos unterhalten; dann saßen wir bis halb zwölf draußen neben dem kleinen Tor, und ich führte mit Vernon Lee ein langes Gespräch über das Wesen der Wahrheit. Sie war sehr angriffslustig und herrlich intelligent, und nach zwei Stunden gelang es ihr, für eben die Behauptung, die sie bekämpft hatte, den triumphalen Beweis zu erbringen … John Singer Sargent malte ein Porträt von ihr; ihre Schriften beeindruckten Pater, und sie unterhielt eine lange, wenn auch nicht konkurrenzfreie Freundschaft 78
mit Berenson, der mit seiner Frau Mary in I Tatti hofhielt. In der Villa gingen Besucher ein und aus, und zu den seltsamsten von ihnen gehörte der Dichter Michael Field, der kein Mann war, sondern zwei Frauen, Tante und Nichte namens Katharine Bradley und Edith Cooper, die von Ediths früher Kindheit bis zu ihrem Tod 1913 zusammenlebten. (Katharine starb ein Jahr später.) Mary Berenson schrieb über »die Mikes«, wie die beiden nicht gerade liebevoll genannt wurden: Sie halten sich für einen großen Dichter, im Augenblick nicht gewürdigt, aber in der nächsten Generation bestimmt berühmt und verehrt – und sie glauben, daß ihre Seelen vereinigt sind und daß es ihnen gut tut, zusammenzusein. Eigentlich ist der schwere Irrtum beider Theorien »auch für jemanden mit äußerst geringer Intelligenz offensichtlich« … (Eine Strophe aus ihren endlosen »Variationen auf Sappho« beweist das: Frauen, auf euch gerichtet ist mein Sinn; Männer veracht ich, zieh sie zu mir hin, doch ist für sie kein Platz in meinem Herz: Sanft wie im Tal der Fluß Sing ich euch meinen Liebesgruß; Zwischen uns ist kein Überdruß, keine Gefahr, kein Schmerz.) 79
Berensons Ehe mit Mary gehörte eher zu den »unüblicheren« in Florenz und schloß eine ziemlich offene ménage à trois ein, die durch seine Sekretärin Nicky Mariano vervollständigt wurde. Für heterosexuelle Mitglieder der Kolonie gab es anscheinend ebenso dringliche Gründe, in Italien zu leben. Auch die ehrenwerte Mrs. George Keppel, frühere Geliebte König Edwards VII. und Mutter einer weiteren Lesbierin, nämlich der Schriftstellerin Violet Trefusis, ließ sich mit ihrem duldsamen Mann in der Villa dell’Ombrellino in Bellosguardo nieder. (Was blieb ihr außer Florenz?) Lord Arthur Acton war ein begeisterter Amateurfotograf in der Tradition Baron von Gloedens, nur daß er Aktfotos von jungen Mädchen machte statt wie Gloeden (zumeist) von jungen Männern; wie sich der Schriftsteller Francis King in Yesterday Came Suddenly erinnert, »war er vor dem Ersten Weltkrieg in einen Skandal verwickelt gewesen, bei dem die Polizei von einer Mutter, die mit ihrem Schweigegeld unzufrieden war, den Wink bekommen hatte, daß er zusammen mit einem Lokalpolitiker in einem eigens zu diesem Zweck gemieteten Studio halbwüchsige Mädchen fotografierte«. Er hatte auch mit mehreren Florentinerinnen uneheliche Kinder, von denen ihn später eins auf die Hälfte seines Vermögens verklagte. Doch trotz all seiner Affären zeigte Arthur seinem Sohn gegenüber nur wenig Toleranz, und Harold durfte auch mit Ende Vierzig weder das Auto der Familie benutzen (er fuhr statt dessen mit dem Bus), noch bekam er einen eigenen Schlüssel für 80
die Villa; James Lord schreibt in »The Cost of the Villa«, daß Harold jedesmal, wenn er spät nachts nach Hause kam, an der Hauswand hinaufklettern und durch ein Fenster einsteigen mußte. Obwohl er heute hauptsächlich wegen seiner Memoiren und seiner Geschichte der Bourbonen von Neapel bekannt ist, schrieb Acton auch drei Romane – Humdrum, Peonies and Ponies und New Lamps for Old – sowie zahlreiche längst vergessene Erzählungen, darunter auch eine mit dem Titel »The Soul’s Gymnasium«. Darin versucht ein verrückter Alter in orangefarbenen Gewändern, junge Männer, die seinen Florentiner Garten besuchen, zu überreden, »ihre weltlichen Kleider abzulegen« und in den »Teich der Reinigung« zu tauchen. Der zweite dieser jungen Männer, ein Amerikaner namens Al Randy, hat seine Kleider schon einmal »abgelegt«, um nackt neben einer Kopie des David zu posieren, wobei sein Körper dem Vergleich durchaus standhielt. Daß Acton homosexuell war, war in Florenz ein offenes Geheimnis – was ihn nicht davon abhielt, mit einer Klage zu drohen, als er erfuhr, daß er in einer Biographie von Nancy Mitford »geoutet« werden sollte. (Vermutlich wollte er das Zartgefühl von Prinz Charles und Prinzessin Diana nicht verletzen, die kurz zuvor in La Pietra gewohnt hatten.) In zwei dikken Memoirenbänden gestand er an keiner Stelle seine eigene Homosexualität ein, obwohl er oft abstrakt über Homosexualität sprach – im ersten Band schreibt er zum Beispiel: »Man hörte ständig, daß ge81
wisse Männer in Florenz schwul waren, aber das tat ihrer Popularität keinen Abbruch: ganz im Gegenteil! Je schwuler, desto beliebter.« Bezeichnenderweise ist der Gegenstand dieser Bemerkung nicht er selbst oder einer seiner Liebhaber, sondern ein Fremder, den eine Begleiterin von fern erblickt und als Schwulen erkennt. »Aber worin liegt dieses Schwulsein?« fragt Acton heuchlerisch. Ich mußte es herausfinden. In dem Versuch, das Problem zu lösen, starrte ich den jungen Mann an, bis er vor Verlegenheit errötete. »Aber ich kann nichts Schwules an ihm entdecken«, rief ich und erhielt zur Antwort, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, was mich zu weiteren Überlegungen führte. Dadurch kam ich zu dem Schluß, daß er besser aussah, als es für einen Mann üblich war; damit konnte es etwas zu tun haben. Aber war es seine Schuld, daß er lockiges Haar und einen rosigweißen Teint hatte? Wenn er kahl geschoren wäre und einen Bart trüge, würde er natürlich männlicher aussehen, aber wäre das nicht ziemlich gekünstelt? Abgesehen davon, daß Acton wahrlich nicht gut aussah, könnte man meinen, daß er hier von sich selbst sprach; alles andere als ein unbedeutendes »Problem, das zu lösen war«, war Schwulsein für ihn ein Dilemma, das eine immer kompliziertere Vermei82
dungsstrategie erforderte – wie die Übertragung der Homosexualität in den Memoiren auf eine ferne (und »ungefährliche«) dritte Person oder wie die Bemerkung anläßlich der gescheiterten Ehen von einigen seiner Freunde: »Da kann ich mich ja beglückwünschen, daß ich Junggeselle bin.« (»Als hätte er sich nach nüchterner Überlegung so entschieden!« schrieb James Lord spöttisch.) Im Zweiten Weltkrieg hatte man Acton in Peking, wo er seine Jugend verbrachte hatte, wegen eines Berichts, in dem behauptet wurde, sein dortiges Benehmen sei ungebührlich gewesen, einen Posten verweigert. Der Ärger über diese »Verleumdung« war auch 1968 noch nicht verraucht, und in der Einleitung zu More Memoirs of an Aesthete bezeichnet Acton den Verfasser der Denunziation als »einen androgynen Schwachkopf aus dem Außenministerium. Er war wütend auf meinen unabhängigen Lebensstil wie die ewig im Gras kriechende Schlange, wie der neidische Philister«. Lord analysiert diese Stelle und weist daraufhin, daß das Wort »androgyn« im allgemeinen Sprachgebrauch etwas Weibisches hat. »Wie konnte Harold nur so unbesonnen sein, seinem Ankläger einen Wesenszug zuzuschreiben, der bereits bei der Anklage gegen ihn selbst eine bedeutende Rolle gespielt haben muß?« fragt Lord. »Hat er wirklich gedacht, daß niemand Bescheid weiß?« Das ist kaum vorstellbar, ebensowenig wie es vorstellbar ist, daß Pino Orioli wirklich geglaubt hat, irgend jemanden täuschen zu können, wenn er in Erlebnisse eines Buchhändlers einen Streit schildert, der 83
zwischen ihm und seinem Partner Davis entbrannte, als sie sich in dasselbe »Geschöpf« verliebten – ein »Geschöpf«, dessen Geschlecht in einer langen Passage nirgends genannt wird. (Das Italienische mit seinen schwer greifbaren Artikeln ist noch geeigneter als das Englische für diese spielerische Vernebelung des Geschlechts.) Doch wenn Orioli den Überfluß an »Geoffreys« beklagt, die »allein oder paarweise« durch Florenz streifen, legt er keine derartige Zurückhaltung an den Tag, da er diesmal nicht mit einbezogen ist: Nicht alle von ihnen heißen Geoffrey, doch die meisten tragen diesen Namen, der irgendwie perfekt zu ihnen paßt. Der Name beschwört für mich das Bild eines jungen Burschen herauf, der im allgemeinen auf eine englische Universität geht, im allgemeinen in seinem eigenen Wagen oder dem eines Freundes kommt, im allgemeinen etwas Feminines hat; der immer gut gekleidet, immer reich und immer knauserig ist … Dekorative, aber ziemlich hohlköpfige Jungs, die obendrein recht lästig sind. (Es ging in dieselbe Richtung, wenn in Jocelyn Brookes »Gerald Brockhurst« eine der Figuren sagt, in Romanen wie auch im Leben seien »Geralds« fast immer sportlich und heterosexuell: »Es gibt einen bei E. M. Forster und noch einen bei Lawrence – du weißt schon, den Mann in Liebende Frauen – und in der Schule habe ich mal einen Roman von Gilbert 84
Frankau gelesen, der Gerald Cranston’s Lady hieß; die Hauptfigur war vom selben Schlag, unheimlich kernig und militärisch, mit einem Schnurrbart.«) Für Orioli und Acton war es ein großer Unterschied, ob sie das leicht peinliche Benehmen eines Ausländers beobachteten oder über sich selbst sprachen. Orioli kann sich an eine Gruppe von Deutschen erinnern, die »sich im Café Gambrinus, das damals groß in Mode war, jeden Nachmittag an einem bestimmten Tisch versammelten – zufällig war es ein viereckiger und kein runder Tisch … Im Vorbeigehen konnte man hören, wie der eine oder andere etwas Nettes über Donatello oder Dante, über Michelangelo, Bruno oder Benvenuto sagte. Wenn man sich an einen Tisch in der Nähe setzte, um mitzuhören, worüber sie sprachen, stellte man rasch fest, daß sie nicht die Vorzüge jener berühmten Italiener aus längst vergangenen Tagen verglichen, sondern die der bestaussehenden Jungs in der Stadt, die dieselben Namen trugen.« Natürlich ist die Behauptung, daß Orioli sich bloß »an einen Tisch in der Nähe setzte, um [das Gespräch] mitzuhören«, genauso glaubwürdig wie die von Proust in Die wiedergefundene Zeit, daß er durch Zufall in ein Homosexuellenbordell geriet, als er in ein Hotel gehen wollte, um sich auszuruhen. Viel wahrscheinlicher ist, daß Orioli mit den Deutschen zusammensaß und sich an ihrem Gespräch beteiligte, ebenso entzückt von den Jungs mit den Namen der Künstler wie die anderen am Tisch. 85
Zu den am stärksten verwurzelten Mitgliedern der homosexuellen Gemeinschaft vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Florenz gehörte Lord Henry Somerset, der sich – nach seiner Flucht aus England – in der Via Guido Monaco Nr. 1 niederließ, unweit vom Bahnhof Santa Maria Novella. In der Zeit vor dem Sündenfall war Lord Somerset keiner großen Beschäftigung nachgegangen; doch jetzt erlangte er eine gewisse Berühmtheit als Liedtexter (»All Through the Night«, »The First Spring Day«, »Where’er You Go« usw.). Er war auch Autor des schmalen Gedichtbandes Songs of Adieu (1889), zu dem er durch seine große Liebe Harry Smith inspiriert wurde, der 1902 in Neuseeland starb. Hier folgt eins dieser Gedichte, das den Titel »Exil« trägt: O bete für mich! Der weinend dasteht, die Heimat ist weit Meine Jugend verdunkelt für alle Zeit – O bete für mich! Bete für den, der beraubt aller Wonnen, Bete für das Leben, das ihm zerronnen, Noch ehe es richtig begonnen – O bete für mich! O denk an mich! Ich hab dir all meine Liebe gegeben, Du sagtest, wir würden immer zusammenleben – O denk an mich! Denk dann an die Jahre, die schönen, 86
Denk an all meine bitteren Tränen, Den quälenden Zweifel, die schrecklichen Tränen – O denk an mich! Ja, mein Geliebter, zu jeder Tageszeit, Denk ich an dich in weinendem Gebet Und spür, wie durch die Tränen Freud Aus der Erinnerung herüberweht. Wir sind getrennt für alle Zeit, Uns bleibt nichts außer unserm Leid. Oscar Wilde, der die Songs of Adieu in der Pall Mall Gazette vom 30. März 1889 besprach, schloß mit dem Satz: »Er hat nichts zu sagen und tut das auch«; eine geistreiche Bemerkung, die Somerset nicht davon abhielt, Wilde zu bewirten, als dieser 1894 nach Florenz kam, um Lord Alfred Douglas zu besuchen. »Podge«, wie Somerset genannt wurde, war ein ebenso tragikomischer Exzentriker wie die Hauptfigur aus »The Soul’s Gymnasium«. Osbert Sitwell, der mit dem Gedenken an anglo-florentinische Dinosaurier gewissermaßen Karriere machte, porträtierte ihn als »Milordo Inglese« in einem der Gedichte, zu denen auch »Auf dem Kontinent«, der dritte Teil seiner 1958 erschienenen Sammlung Poems about People, or England Reclaimed gehört. Darin heißt Podge »Lord Richard Vermont«, den »ein nebulöser, doch vertrauter Skandal / Sanft über den Kanal … geweht hatte, / Den er nie mehr überquerte«.
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So war im Alter von siebenundzwanzig Eine hoffnungsvolle Karriere beendet, Und in den dreißig, vierzig Jahren, die verstrichen, Schlug er die Zeit tot – zumindest dachte das Lord Richard, Doch in Wirklichkeit ist Zeittotschlagen Nur die Bezeichnung für eine der vielfältigen Arten, Auf die die Zeit uns tötet. Lord Richards Haus – »ein Miniaturschloß aus Putz / Farbig und durch Linien unterteilt, damit es wirkt wie roter Backstein« – ist durch eine Tür gesichert, die »zehnfach verriegelt war, / Und erst aufgesperrt wurde, wenn ein Bedienter / Das Gesicht des Besuchers und den Horizont / Durch einen Schlitz in der Tür betrachtet hatte«: Wenn man eintreten durfte, verlor man sich sogleich in einem dunkel schimmernden Wald Aus goldenen Säulen: ein Paradies für einen Herold; Es gab dort viele kleine Zimmer voller Wappen: Aber auch wenn es ein raffinierter, verwirrender Wald war, tausendfach gespiegelt, War es doch Kunsthandwerk und keine Kunst; Es gab ein Zimmer, mit Kupferplatten ausgekleidet, Das rosarot erstrahlte, wenn das Licht anging, Und dann noch eins, in dem die Wände Aus durchsichtigem Glas bestanden – 88
Ich dachte, es sollte ihn vielleicht daran erinnern, nicht mit Steinen zu werfen, Doch er sagte: »Mein Lieber, ich wollte sehen, wie es ist, In einem Zimmer ohne Wände zu wohnen.« Sitwells Skizze – abgesehen von einem kleinen Bündel Briefe das bedeutendste Porträt Lord Somersets, das noch erhalten ist – endet damit, daß Lord Richard als alter Mann in einem Badezimmer in der obersten Etage seines Schlosses Gäste empfängt und ihnen Kaffee statt Tee einschenkt, »›denn Tee‹, sagte er, während er den Kaffee eingoß, / ›Ist an all den scheußlichen Klatschgeschichten schuld, / die in englischen Wohnzimmern erzählt werden‹«. Die letzten Zeilen des Gedichts betonen die leicht wehmütige Unwirklichkeit dieser letzten Tage und beschreiben das wenige, das von Lord Richards »einsamer Pracht« noch übrig ist, als »Flügel aus Staub / die ein leeres Miniaturschloß / Mit fleckigen Wanden / In einem von Glyzinen erdrosselten Vorort umfangen«. Lord Richards Versuch, in Florenz »ein Zimmer ohne Wände« zu erschaffen, scheitert letztlich, weil er Künstlichkeit mit Kunst, Launen mit Erfindungsgabe verwechselt hat. Das war ein häufiger Fehler der Anglo-Florentiner und einer der Hauptgründe dafür, daß so viele von ihnen in Mittelmäßigkeit versanken. Wie Edward Prime-Stevenson in seiner SubkulturStudie The Intersexes schreibt, hat die sexuelle Freiheit, 89
die die homosexuellen Emigranten in Italien genossen, »anscheinend ganz oft ihre geistige und künstlerische Betätigung und ihren Ehrgeiz untergraben. Sie verwandeln sich in notorische Nichtstuer und ›Bummelanten‹, degeneriert im Willen, in der Entschlußkraft und sogar in den zwischengeschlechtlichen Beziehungen. Sie tun nichts und leisten nichts, obwohl sie ständig von Betätigung und Leistung reden; und bald verfallen sie in völlige Untätigkeit, und ihre wertvolle Begabung scheint sich in Luft aufzulösen. Wenn sie ihre Freiheit erlangt haben, richtet die Erleichterung sie zugrunde.« »Mr. Algernon Petre«, ein weiteres Porträt Sitwells, handelt von Reggie Temple, einem Mitglied der Kolonie, das oft mit dem Schriftsteller Reggie Turner verwechselt wird, so wie Algy Petre in dem Gedicht oft mit dem Schriftsteller Algy Braithwaite verwechselt wird. »Schachteln«, der dritte Teil des Gedichts, widmet sich Temples / Petres Begabung für die Anfertigung kleiner dekorativer objets: Vollkommen Furchtlos Angesichts der riesigen Figuren, Die ihre Schatten hier auf seinen Weg warfen – So daß er jeden Morgen vor der Arbeit Gewissermaßen die Geister Leonardos und Michelangelos Aus seinem großen Studio fegen mußte – Lebte Algy Petre mehr als fünfzig Jahre hier 90
Und malte das immergleiche, hochglänzende Porträt Königin Marie Antoinettes auf die Deckel Winziger, runder Schachteln, Die er später lackierte. Ohne Leonardo Beachtung zu schenken, blickt Algy Petre auf die Zeit Verrocchios zurück, auf »die Perfektion«, um es mit Paters Worten zu sagen (die hier nachhallen), »des alten Florentiner Stils der Miniaturmalerei, wo geduldig jedes einzelne Blatt an den Bäumen und jede einzelne Blume im Gras aufgetragen wurde …«. In Sitwells Resümee wird Temple / Petre als jemand porträtiert, der sich ein Leben lang »einer Arbeitsweise bediente / Die, bevor er sie wiederentdeckte, / Glücklicherweise längst vergessen war«: Er malte das Porträt eines Menschen, den er nie gesehen hatte, Bis es auch für ihn Zeit war, In einer Schachtel zu liegen, die er nicht bemalt hatte, Vergraben unter einer Zypresse. Man könnte sagen, seine Schachteln – kostbar und sinnlos zugleich – symbolisieren die Kolonie, so wie Algy Petre ihren Geist verkörpert. Es fällt ihm verdächtig leicht, die Geister der Großen zu vertreiben. Er ist ein Amateur, doch im Gegensatz zu Lord Richard Vermont, der ein Zimmer ohne Wände erschaffen will, schließt er sich ein: entgegengesetzte 91
Vorgehensweisen, die dasselbe Schicksal nach sich ziehen. Sitwell nahm in seine Sammlung auch ein poemeà-clef über Reginald Turner auf, einen erfolglosen Schriftsteller, aber vielgeliebten Mann, der ein vertrauter Freund Oscar Wildes war (er saß an Wildes Sterbebett). Darin wird Turner als Braithwaite porträtiert »ein Freund Wildes und Whistlers«, der »viele Jahre im Ausland gelebt hatte / Und mit wenig Geld weit gekommen war«. Es ist kein freundliches Gedicht: Wenn er lachte – was oft geschah – Legte sich sein häßliches, blasses Gesicht In tausend Falten Und seine Augen, diese traurigen Kornblumen, Blinzelten und zwinkerten und tränten. Obwohl er fast genauso viele Bücher geschrieben hat wie Ouida – u. a. Castles in Kensington, Count Florio and Phyllis K. und Samson Unshorn –, ist Turner vielleicht in erster Linie durch eine geistreiche Bemerkung in Erinnerung geblieben: Als W. Somerset Maugham darüber klagte, er könne nirgends eine Erstausgabe seiner Romane finden, erwiderte er: »Tatsächlich? Ich kann von meinen nirgends eine zweite Auflage finden.« (Maugham kam damals nicht zufällig oft nach Florenz, gewöhnlich in Begleitung seines Sekretärs Gerald Haxton.) Wie Acton war auch Turner das für viele Anglo-Florentiner typische Los 92
beschieden, daß man sich besser an ihn erinnerte wegen der Leute, die er gekannt hatte, als wegen seiner eigenen Leistungen. In dieser Hinsicht war seine Beziehung zu Wilde für ihn ein stetes Ärgernis. Acton erinnert sich, wie der französische Schriftsteller André Germain Turner einmal in Verlegenheit brachte, »indem er seine Hand ergriff und sie umklammerte, während er mit schriller Stimme sagte: ›Ai-je bien l’honneur de parler avec le grand ami d’Oscar Wilde? Monsieur, permettez-moi de vous embrasser.‹« (Habe ich die Ehre, mit dem guten Freund Oscar Wildes zu sprechen? Mein Herr, erlaubt mir, Euch zu umarmen.) Ein anderes Mal »kam Ronald Firbank, bei dessen Stimme Reggie schon zusammenzuckte, aus einem Blumenladen gestürzt und bedeckte ihn von Kopf bis Fuß mit Lilien«. Turner war ein enger Freund von Norman Douglas, den Sitwell in einem seiner Gedichte »Donald McDougall« nannte. Douglas verbrachte einen großen Teil seiner Zeit auf Capri, das für Florenz damals denselben Status hatte wie Fire Island heute für New York. Wie Compton McKenzie, der Gründer von The Gramophone, schrieb er einen Roman – South Wind –, der in der Auslandsgemeinde von Capri spielte. (McKenzies Roman hieß Vestal Fire.) Unter dem Pseudonym »Pilaf Bey« veröffentlichte Douglas auch eine Sammlung aphrodisischer Rezepte mit dem Titel Venus in the Kitchen, zu der Graham Greene die Einleitung schrieb. Über Douglas’ dunkles Sexualleben gibt es viele 93
versteckte Andeutungen. In The Ant Colony, Francis Kings geschwätzigem Roman über Florenz, erinnert sich ein Italiener namens Franco, wie Douglas »ein paar halbwüchsige Schuljungs, darunter auch Franco«, um sich versammelte, während er »einen jämmerlich niedrigen Geldschein [hochhielt], den der Junge bekommen sollte, dem es in einem immer ungestümeren Wettbewerb gelang, als erster zu kommen«. Acton schilderte James Lord die Wanderungen, die er im Chianti manchmal mit Scott Moncrieff und Douglas unternahm, »der sich nicht davon abhalten ließ, in jedem Dorf, durch das sie kamen, kleine Jungs zu betatschen«. Diese Gewohnheit holte den älteren Schriftsteller zur Zeit des Faschismus schließlich ein, denn nachdem er sich mit einem zwölfjährigen Jungen eingelassen hatte, wurde er aus Florenz vertrieben. Obwohl Acton, in dem parteiischen Versuch, den Ruf seines Freundes (oder vielleicht seinen eigenen) zu schützen, die Begebenheit in seinen Memoiren erwähnte, verwandelte er den Jungen in ein Mädchen, womit er Compton McKenzie die Gelegenheit gab, eine geistreiche Bemerkung zu machen: »Am Ende wenden sie sich alle kleinen Mädchen zu.« Ronald Firbanks Überspanntheiten haben für viele Leser den wahren Reiz seines Werkes zusammengefaßt. Für den Maler Duncan Grant war er »ein eleganter Grashüpfer in Glacéhandschuhen und -stiefeln«; für Carl Van Vechten, seinen Freund und Fürsprecher, 94
ein »Aubrey Beardsley in einem Rolls-Royce«, ein »Jean Cocteau im Savoy«. Auch Firbank beteiligte sich an dem Kult um seine eigene Person und beklagte sich in einem Brief an Van Vechten, daß Kritiken ihm das Gefühl gäben, »eine Flasche Prohibitionswhisky und nicht der Veuve Cliquot (1886), Spezialabfüllung« zu sein, für den er sich hielt. In seinem Buch Noble Essences erinnert sich Osbert Sitwell, daß er und sein Bruder Sachaverell ihm »im April und Mai, wenn [Firbank] in einer Villa nahe Florenz wohnte, die früher dem Schweizer Maler Böcklin gehört hatte«, oft in der Via Tornabuoni begegneten, wo er »unter einer Last von gekauften Blumen wankte und auf der Suche nach einem Taxi, das ihn nach Hause bringen würde, den Kopf hilflos in alle Richtungen wendete …«. Schon in Actons Schilderung der Begegnung zwischen Firbank und Reggie Turner, der ihn nicht ausstehen konnte, spielen Blumen eine bedeutende Rolle. »Obwohl Firbank zurückgezogen lebte«, schreibt Acton weiter, und nur mit wenigen ausgewählten Zeitzeugen aus den neunziger Jahren hin und wieder verkehrte, die nicht wußten, was sie von ihm halten sollten, hat niemand das Aroma des florentinischen Klatsches so gut zum Ausdruck gebracht wie er. Durch seine ansehnlichen Trinkgelder machte er sich bei den Kellnern im Betti beliebt. Er bestellte absichtlich Obst, für das nicht die richtige Jahreszeit war, saß da und betrachtete es 95
wie ein verzückter Heiliger auf einem Gemälde von El Greco. Mitten im Winter hielt er Muskatellertrauben gegen das Licht und betrachtete sie zärtlich, während er ein Glas Wein nach dem anderen trank. Im Essen stocherte er nur herum, als würde er sich davor ekeln. Kurz, Firbank war die perfekte Verkörperung der Dekadenz zur Zeit des fin de siècle, und der Stil, den er vervollkommnete – gekennzeichnet durch eine selbstbetrachtete Koketterie, die ein Widerhall der verletzenden Umgangsformen in Florenz war –, ist der radikalste Ausdruck der Bewegung, die Wilde (und in geringerem Maße Beardsley) einige Jahrzehnte zuvor ins Leben gerufen hatten. Die Verbindung zwischen Firbank und Wilde ist zudem nicht nur literarischer Natur. In seiner Jugend war Firbank lange mit Lord Alfred Douglas und Wildes Sohn Vyvyan Holland befreundet, an dessen Feier zum einundzwanzigsten Geburtstag er teilnahm, genau wie Henry James. (Seiner Biographin Miriam Benkowitz zufolge schnitt Firbank Holland später »wegen dessen Freude über eine Reihe von Prozessen, die Douglas verlor«.) Indem er den Wildeschen Ton verwendete, der auch der Ton der Kaffeehausgespräche bei Doney’s war, gelang es Firbank, nicht nur die anglo-florentinische Selbstdarstellung, sondern auch die englische Geisteshaltung im allgemeinen lächerlich zu machen. Von all seinen Romanen ist The Flower Beneath the 96
Foot, den er größtenteils schrieb, als er in der Villa I Lecci in der Via Benedeto di Maiano 15 in Fiesole zur Miete wohnte, am stärksten von Florenz beeinflußt. »Mein Buch wäre ganz anders ausgefallen, wenn ich nach Wien gegangen wäre«, schrieb er seiner Mutter, »denn die Umgebung, in der man lebt, fließt natürlich in das Geschriebene ein. Wahrscheinlich wäre es geistreicher & respektloser geworden, aber nicht so gut wie das gesetzte Werk, das ich hier schaffen will.« Er fand seinen Stil in dem Roman »vulgär, zynisch & ›schauerlich‹, aber natürlich auch hier und da schön für denjenigen, der sehen kann«. Er glaubte, solch ein Werk müsse »dummen Menschen Unbehagen [bereiten], denn es ist ungestüm, witzig & unerbittlich«. Es dürfte niemanden überraschen, daß The Flower Beneath the Foot ein roman-à-clef ist. Für die habitués des fiktiven Pisuerga, wo der Roman spielt, entwarf Firbank eine Art Spickzettel, den er seiner Mutter schickte: »Prinzessin Elsie« = Prinzessin Mary. »Mrs. Eiswasser« = Mrs. Harold Nicolson. »Eddy« = Evan Morgan – und natürlich sind »King Geo« & »Queen Glory« der König & die Königin. Die englische Botschafterin ist Mrs. Roscoe & Lady Nicolson nachempfunden … Die Journalistin muß »Eve« vom Tatler sein oder eine von den anderen wichtigtuerischen Plappertanten, die für diese Zeitschrift schreiben. 97
Prinzessin Mary weilte gerade in den Flitterwochen in Fiesole, als Firbank The Flower Beneath the Foot schrieb. Andere Anspielungen werden im Laufe des Romans erkennbar. Madame Machmichfeucht, die Inhaberin einer Bar wie Doney’s, sehnt sich vor allem danach, in den feineren Kreisen zu verkehren; ihre »Religion, ihr unbarmherziger Gott, war der Chic: der Gott Chic«. Sogar die Metaphern Madame Machmichfeuchts spiegeln die geographische Lage von Florenz: »Zugegeben, wir leben im Tal«, sagt sie zu einer Herzogin. »Aber ich habe viel Sinn für die Hügel!« In dem Buch wimmelt es von sprechenden Namen. Allein bei einer Unterhaltung kommen die Namen »Schmallipp und Marienkäfer, Haarig und Flaumig, Starkbein und Löffelente, Storchenbein und Unsere Liebe Frau von den Pelzen« vor. Bei einer anderen Gelegenheit sagt der König von Pisuerga, als man ihm bei einem Bankett mitteilt, daß es in dem imaginären Land Datumnien kein Porzellan gibt: »Mein Erstaunen wäre nicht größer … wenn Sie mir sagen würden, im Ritz gäbe es Flöhe.« Diese zufällige Bemerkung, mißverstanden von Lady Wichtig, der britischen Botschafterin, wird Gegenstand wilder Gerüchte und endet schließlich in einer Verleumdungsklage der Eigentümer des Ritz gegen sie. Seine beißendste Parodie spart sich Firbank für den Ästheten »Eddy« Monteith auf, den Sohn von Lord Intrigant, eine Figur, die seinem früheren Busenfreund Evan Morgan nachempfunden ist. 1920 hatten sich die beiden wegen Firbanks Theaterstück The 98
Princess Zoubaroff zerstritten, das er Morgan widmen wollte. Zunächst nahm Morgan das Angebot seines Freundes dankbar an; aber kurz vor der Publikation überlegte er es sich anders und drohte damit, Firbanks Verleger Grant Richards zu verklagen, falls er die Widmung nicht streiche. (Man fühlt sich an James’ entrüsteten Protest erinnert, als Forest Reid ihm The Garden God widmete.) Als Firbank The Flower Beneath the Foot schrieb, hegte er ohne Zweifel noch einen Groll, da er sich über Morgans »ästhetische« Neigungen lustig macht: Während er inmitten der sich auflösenden Badekristalle lag und sein Diener ihn geschickt wusch, fiel er in eine Art Koma, süß wie eine religiöse Verzückung. Unter den rhythmischen Bewegungen des Schwammes, parfümiert mit Kiki, verwandelte er sich in den heiligen Sebastian, und als das Wasser sich trübte und die Kristalle sich durch den Dampf in Luft auflösten, war er plötzlich Teresa … und höchstwahrscheinlich hätte er sich noch in die Jungfrau Maria verwandelt, wenn das Wasser nicht langsam kalt geworden wäre. Eddy ist der Autor eines Bandes Jugendwerke, der solche Werke enthält wie »Verse an Doris: geschrieben unter dem Einfluß von Wein, Sonne und Fieber«, »Ode an Swinburne«, »Traurige Tamarisken«, »Ramsch«, »Obszöne Finger«, »Man nennt mich Lily!!« und 99
»Land Tizians! Land Verdis! O Italien!«. Später, obendrein in einer Fußnote, stirbt Eddy während einer archäologischen Ausgrabung in der Nähe von Sodom: »der Schock, den er erlitt, als er beim Verfassen eines Sonetts einem Schakal begegnete, war zu viel für ihn … Ach, welch trauriges und dunkles Ende!« Eine weitere interessante Figur in The Flower Beneath the Foot ist Graf Kabinett, ein »»gefallenen Minister der Krone, der nach St. Helena verbannt wurde«. Obwohl nirgends gesagt wird, worum es bei dem Skandal ging, und sein Name auch nicht in dem »Who’s Who« des Romans steht, das Firbank seiner Mutter schickte, erinnert Graf Kabinetts Verbannung stark an das Schicksal Lord Henry Somersets. Als die selbstgerechte Gräfin von Tolga in ein Boot steigt, um »den geschmeichelten Verbannten aufzuscheuchen«, bringt sie als Geschenk »einen Korb wohlgeformter, frischer Pfirsiche, eine kleine ›Erika‹ und die erotischen Gedichte eines dichtenden Schuljungen [mit], gebunden in Halbfranz mit geschmackvoller Prägung, nennenswert wohl hauptsächlich wegen der Vignette des Autors auf dem Titelblatt«. Graf Kabinett lebt allein auf seiner Insel, abgesehen von seinem »nützlichen« Sekretär Peter Passer, über den Firbank sagt, er sei »vielleicht eher ein Kammerdiener als ein Sekretär und noch eher ein Laufbursche«. Nach Firbanks Darstellung meldete sich der »Chorknabe des Blauen Jesus« in dem Augenblick freiwillig, dem »gefallenen Staatsmann ins Exil [zu folgen], als die Behörden von 100
Pisuerga genaue Nachforschungen über verschiedene Gegenstände anstellten, die aus dem Domschatz verschwunden waren …« (vielleicht ein paar liturgische Gewänder aus dem achtzehnten Jahrhundert, in denen der junge Peter, gekleidet wie Kardinal Richelieu, herumlief?). Firbanks Schilderung der beiden gehört zu den Höhepunkten seiner Prosa. Als Graf Kabinett aus dem offenen Fenster angelt, fängt er zu seiner Überraschung »einen erlesenen malvenfarbigen Fisch mit knallroten Flecken«, bei dessen Anblick er unwillkürlich über »die Geheimnisse der Tiefe und der ausgeklügelten Vielfalt, die es in der Natur gibt«, nachdenken muß. »Inmitten der eher konventionellen Arten, die in dem See vorkamen, wie Karpfen, Kabeljaus, Schleien, Aale, Sprotten, Krabben usw. hatte dieser außergewöhnliche Fisch wohl manche Unannehmlichkeiten erduldet … Und mit stoischem Lächeln rief sich der Graf seine eigenen Erlebnisse ins Gedächtnis.« Wie Wilde ist der »erlesene Fisch« trotz Elend und Gefangenschaft stoisch und schön. So wie Firbank die Insel beschreibt, auf die der Graf verbannt wurde, ist sie in ihrer ruhigen (und mediterranen) Schönheit geradezu paradiesisch. Wenn er nicht »Boot fuhr oder las oder seine Schwäne fütterte, war es für den erfahrenen viveur vielleicht der liebste Zeitvertreib, sich anzuschauen, wie Peter am Ende der Terrasse ins Wasser sprang«.
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Wenn der Graf ab und zu – doch inzwischen immer öfter – von einem Band altgriechischer Dichtung aufblickte, war es schön zu sehen, wie der junge Bursche, nackt wie eine Statue über den gespaltenen Wellenbrecher tänzelte, blitzschnell die Arme ausstreckte und den Flugköpfer oder den Backsadilla sprang; wenn er horte, wie der Junge mit seiner klaren Altstimme im Wasser sang – von Kyries und Chorälen konnte er gar nicht genug bekommen –, war der alte Mann oft zu Tränen gerührt. Oft kamen sogar die Schwäne angeschwommen, um zu lauschen, und zeigten durch ihre betörten oder entrückten Halsbewegungen (die dem Verbannten die Verzückung gewisser Sängerinnen oder »Künstlerinnen« in Konzertsälen oder in der Oper aus früheren Zeiten ins Gedächtnis riefen) ihre stumme Dankbarkeit, ihre ergriffene Freude … Einer der »seltsam prachtvollen« Schwäne, die der Graf abgöttisch liebt, hackt mit dem Schnabel nach Peter, »ohne Zweifel aus Neid auf die Anmut des Jungen«. Der Junge, »nackt wie eine Statue«, ist in seiner Nacktheit der Inbegriff des Künstlichen. Für den Grafen wie für Baron von Gloeden rechtfertigt der Klassizismus schöne Pornographie, so wie in The Garden God, dem 1905 erschienenen Roman, von dem James nicht wollte, daß er ihm gewidmet wurde, ein Junge namens Graham seinen Freund Harold als Faun, Spinario, Adorante und jugendlichen Dionysos mit einem 102
Gesicht »wie dem von Leonardos Bacchus« posieren läßt. Erneut sind wir in Florenz. Am Ende von The Flower Beneath the Foot verfällt Firbank in eine Proustsche Meditation über die Abenddämmerung, in der sich Spuren Wildescher Widersprüchlichkeit finden. »Mit welchem Taktgefühl«, schreibt er, »in bestimmten Ländern die Dunkelheit hereinbricht, und wie diskret das Tageslicht erlischt.« Diese düsterer und düsterer, dunkler und heller werdende Dämmerung des Nordens, so beunruhigend in ihrer Verspieltheit, war in Pisuerga völlig unbekannt. Dort folgte die Nacht dem Tag, als ginge es ums Ganze. Kein Verweilen, kein arktisches Feingefühl! Nichts, das an eine Ziehharmonika erinnert … Die Nacht folgte der Sonne dicht auf den Fersen. Und der Grund für ihre Eile; die Anziehungskraft der Sonne? Die Ungeduld, sie zu beerben? Eine Antwort auf solche Rätsel findet sich bestimmt in den wissenschaftlichen Theorien über die Zeit und die Relativität. Statt auf die Kälte des Nordens aufmerksam zu machen oder die harten Winter dort als Metapher für intolerante Moralvorstellungen heranzuziehen, betont Firbank an dieser Stelle die »Verspieltheit« der nördlichen Dämmerung; bei ihm wird sogar die Kälte mit »arktischem Feingefühl« umhüllt. Doch im Süden 103
ist der Sonnenuntergang so schroff, so grob wie eine italienische Bäuerin beim Schlachten eines Huhns. Die Nacht verfolgt den Tag, »als ginge es ums Ganze« (so wie auch Graf Kabinett verfolgt wurde), sie sorgt dafür, daß auf seinem Inselparadies das Licht ausgeschaltet wird, und ruft uns ins Gedächtnis, daß die Verbannung, und sei es auch in den schönsten aller Gulags, stets einen bitteren Beigeschmack hat. Alle großen Schriftsteller gestalten Erfahrung letztlich eher um, als sie niederzuschreiben. Anders als Acton, der eigentlich nur die alten Klatschgeschichten wiederkäut, oder Sitwell, der daraus eine Salonkomödie macht, überführte Firbank die Florentiner Vorliebe für schelmischen Humor und gesellschaftliche Boshaftigkeit in ein einzigartiges literarisches Konzept. Als scharfsinniger Geschichtsschreiber der nach Südeuropa (und anderswohin) ausgewanderten Engländer war er auch der bedeutendste Verfechter eines literarischen Stils, dessen Einfluß weitreichend ist und sich nicht nur in den feinsinnigen Satiren Muriel Sparks und David Lodges zeigt (die beide in der Toskana leben), sondern auch in einer langen Tradition von homosexuell ausgerichteter Literatur, deren Vertreter, von Alfred Chester bis Edmund White, ihm viel verdanken (und das mitunter auch bestätigen). In dieser Hinsicht rechtfertigt er auch die unbedeutenderen anglo-florentinischen Schriftsteller, von denen die meisten ebenso in Vergessenheit geraten sind wie sein eigenes, von Unkraut überwuchertes Grab in Rom. 104
Auch wenn künftige Generationen von Lesern seinen Namen wohl nicht mehr kennen werden, werden sie in den Büchern der Schriftsteller, für die er wichtig war, und der Schriftsteller, für die diese wichtig waren, die feinen Auswirkungen seines Witzes spüren.
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Kein Werk in der Geschichte der westlichen Kunst, vielleicht mit Ausnahme der Mona Lisa, wurde so oft reproduziert wie Michelangelos David. Besonders in Florenz wird die Zahl seiner Doppelgänger immer größer – da sind Luigi Arighettis Marmorkopie auf der Piazza della Signoria, Clemente Papis Bronzekopie auf dem Piazzale Michelangelo, ganz zu schweigen von den in Massenproduktion hergestellten Nachbildungen aus Gips, Plastik, Messing und sogar Onyx (ein schwarzer David), die in den Souvenirläden der Stadt verkauft werden, von denen einer »Davids Laden« heißt. Eine Kopie der Statue hält Wache vor der Schwulensauna der Stadt, wie auch vor vielen anderen Schwulensaunas in Europa. Vor dem Palazzo Vecchio bieten die Ansichtskarten Verkäufer jede nur denkbare 107
Ansicht des David feil, dazu noch Schürzen, die mit seinem Torso bedruckt sind, Unterwäsche, auf der sein Unterleib prangt, Ansichtskarten, auf denen er unter der Überschrift »Vorher und nachher« dem fetten Bacchus aus den Boboli-Gärten gegenübergestellt wird, und, vielleicht das Geschmackloseste von allem, Großaufnahmen seiner Genitalien, mit einer auf dem Schamhaar sitzenden Sonnenbrille und den am oberen Rand stehenden Worten »WOW! FLORENZ!«. Vor zwei Jahren hat mir mein Bruder zum Geburtstag eine mit einem Magneten ausgestattete David-Puppe aus Pappe geschenkt, deren vielfältige Garderobe (kurze Badehose, Smokingjacke, Tank Top und Shorts) eher einem in der Stadt lebenden Homosexuellen aus den frühen achtziger Jahren angestanden hätte als einer biblischen Figur oder einem athletischen Florentiner Jüngling gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Vulgarisierungen wie Marcel Duchamps berühmter Schnurrbart für Mona Lisa deuten daraufhin, daß die Erhabenheit großer Kunstwerke Unbehagen auslöst, den Wunsch, ihre Intensität zu mindern, indem man die Werke verunstaltet oder ins Lächerliche zieht. Zugleich bezeugen sie die sinnliche Kraft der Statue, die Körperlichkeit, der Pater Ausdruck verlieh, als er schrieb, daß Michelangelo »die Steinbrüche von Carrara [liebte], jene seltsamen grauen Wände, die sogar bei heller Mittagszeit in der ganzen Gegend, wo sie sichtbar sind, etwas von der Feierlichkeit eines stillen Abends verbreiten. Hier wanderte Michelangelo manchmal monatelang 108
umher, bis schließlich ihre bleichen, aschgrauen Farbschatten in seine eigene Malerei übergingen; und an der Krone auf des jungen Davids Haupt ist noch ein Stückchen unbehauenen Steins geblieben, als ob dies Stück als einziges Verbindungsglied mit dem Orte, woher es stammt, unberührt bleiben sollte.« Wenn ich die Reproduktion vom Gesicht des David auf einem Mouse pad betrachte, das ich neulich im Museum der Opera del Duomo gekauft habe, sehe ich inzwischen das »Stückchen«, von dem Pater spricht. Davids Gesichtsausdruck ist zugleich mürrisch und unsicher, als wollte er die Heldentat mit der Schleuder, deretwegen man sich an ihn erinnern wird, in Frage stellen. Mark findet, daß sich dieser leicht reumütige Blick auf den Reproduktionen fast in Grobheit verwandelt und das Gesicht eher verhärmt und bösartig aussieht. Der echte David hingegen hat etwas seltsam Zartes, ja Zerbrechliches, dessen Ursprung paradoxerweise in seiner enormen Größe liegt. Die Vorgeschichte des David ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Der fünf Meter hohe Steinblock, aus dem er gemeißelt wurde, war 1464 ursprünglich für die Opera del Duomo gebrochen worden, wurde aber nicht benutzt, weil der Bildhauer, der ihn bearbeitet hatte, den Worten eines Zeitgenossen von Michelangelo zufolge, »mit seiner Kunst nur unzureichend vertraut war«. Einige Jahre später wollte der Bildhauer Andrea Sansovino die Kommission der Opera del Duomo davon überzeugen, ihn daran arbeiten zu lassen; doch nur Michelangelo machte ein 109
Angebot, bei dem keine anderen Steinstücke hinzugefügt werden mußten, und deshalb gab man den Marmorblock ihm. (Tatsächlich liegt es an der Genauigkeit, mit der Michelangelo den Steinblock behandelte, daß das Stückchen unbehauener Stein auf dem Kopf des David blieb.) »Beim David zeigte Michelangelo zum ersten Mal jene terribilità, jene den Geist zum Erbeben bringende, ehrfurchtgebietende Kraft, die ihn später so berühmt machte«, schrieb John Addington Symonds in seiner Biographie des Künstlers: Die Statue beeindruckt nicht allein durch ihre Größe und Erhabenheit und Kraft, sondern auch durch etwas Ungestümes in der Konzeption Vielleicht wollte sich Michelangelo streng an die biblische Vorlage halten und befaßte sich deshalb mit einem Jungen, dessen Körper noch nicht voll entwickelt war. Der David ist, offen gestanden, ein riesiger Tolpatsch. [Theophile Gautier hat geschrieben, er sehe aus wie »ein Lastenträger«.] Sein Körper kann in der Breite des Brustkorbs, dem Umfang des Bauches und der allgemeinen Stämmigkeit nicht mit den riesigen Händen und Füßen und dem wuchtigen Kopf mithalten. Wir spüren, daß ihm noch mindestens zwei Jahre fehlen, um ein voll entwickelter Mann zu werden und aus der Pubertät zur Kraft und Schönheit eines Erwachsenen heranzureifen. Diese genaue Wiedergabe der Unvollkom110
menheiten des Modells in einem bestimmten Stadium des körperlichen Wachstums ist sehr bemerkenswert und bei einer Statue, die mehr als drei Meter mißt, nicht immer anmutig. Donatello und Verrocchio hatten ihre Davids auf dieselbe realistische Manier bearbeitet, doch ihre Statuen waren viel kleiner und aus Bronze. Ich betone das, weil die Michelangelo-Forschung die große Wahrhaftigkeit und den Naturalismus am Anfang seiner Laufbahn gern übersehen hat. Als die Statue 1504 fertiggestellt wurde, wollte Botticelli sie in der Loggia dei Lanzi aufstellen; andere sprachen sich für den Duomo aus. Am Ende wurde jedoch beschlossen, daß der David vor dem Palazzo Vecchio stehen sollte. Es war keine leichte Aufgabe, ihn dorthin zu bringen. Als erstes mußten die Mauern der Opera del Duomo niedergerissen werden. Der David »kam nur langsam voran«, schrieb Luca Landucci in seinem Tagebuch, »denn er war in aufrechter Haltung befestigt und frei schwebend aufgehängt, damit er mit den Füßen nicht den Boden berührte«. Der Umzug dauerte vier Tage, und vierzig Männer waren daran beteiligt. Fast vier Jahrhunderte lang führte der David dann auf der Piazza ein ziemlich ruhiges Leben, abgesehen von einem Unglückstag im Jahre 1527, wo sein linker Arm bei Unruhen zerbrach. Der Vorfall beweist erneut, daß etwas Massiges außergewöhnlich zerbrech111
lich sein kann. Auch das schlechte Wetter forderte seinen Tribut, und um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als Italien vereinigt wurde und Florenz sich auf seine kurze Glanzzeit als Hauptstadt vorbereitete, begannen Kunsthistoriker, Restauratoren und Politiker daraufhinzuweisen, daß für den David ein neuer Standort gefunden werden mußte. 1852 stimmte eine Kommission, die einberufen worden war, um »von den Gefahren [zu berichten], die den David bedrohten, und von den Maßnahmen, die ergriffen werden mußten, um zu verhindern, daß er zerfällt«, einstimmig dafür, die Statue umzusiedeln, doch man konnte sich nicht auf einen Standort einigen. Die Loggia des alten Marktes wurde vorgeschlagen, ebenso wie die Loggia dei Lanzi (schon wieder) und die Loggia degli Uffizi, aber wegen des fehlenden Lichts oder der Befürchtung, daß die Statue der »Zerstörung durch die niederen Schichten« ausgesetzt sein würde, wurden alle drei Vorschläge abgelehnt; dasselbe galt für die Medici-Kapelle und den Bargello. Ende der sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts kam eine andere Kommission zu dem Schluß, daß die einzige Möglichkeit, »der wunderbarsten Statue der Neuzeit« eine »Zuflucht« zu geben, darin bestand, allein zu diesem Zweck einen Tempel zu errichten. Diese »Tribüne« sollte von dem Architekten Antonio di Fabris als Anbau an die Accademia di Belle Arti entworfen werden; weil man noch wußte, was sich 1504 zugetragen hatte, hielt die Kommission es für klug, die Statue schon vor Beginn der Bauarbeiten zu ihrem neuen 112
Standort zu bringen, damit diesmal keine Mauern abgerissen werden mußten. Der Umzug wurde sorgfältig geplant. Als erstes verlegten Arbeiter im Sommer 1873 auf der Piazza della Signoria Eisenbahngleise. Die Schienen bogen rechts in die Via de Calzaiuoli, führten um den Duomo herum und bogen dann scharf nach links, auf die Via del Cocomero (Wassermelonenstraße, später umbenannt in Via Ricasoli), bevor sie die Endstation an der Accademia erreichten. Sobald die Bahnstrecke fertiggestellt war, wurde der David von seinem Sockel gehoben und in eine Art Straßenbahnwagen heruntergelassen, dessen Holzgerüst ihn in der Luft hielt, damit seine Füße nicht den Boden berührten. Am 30. Juli trat er schließlich die Reise zu seinem neuen Standort an – eine Reise, die sieben Tage dauerte, obwohl man die Entfernung zu Fuß in zehn oder fünfzehn Minuten zurücklegen konnte. Auf einer der wenigen Abbildungen von dem Umzug, einem Druck, der im Januar 1874 in der Nuova Illustrazione Universale veröffentlicht wurde, ist nur die obere Hälfte des Torsos über den Holzwänden des Wagens zu erkennen. Seine berühmte Pose – der Kopf zur Seite gedreht, der Blick zaghaft über die linke Schulter gerichtet – bekommt auf diesem Bild ein neues Pathos, als würde er mit großer Sorge betrachten, wie das einzige Zuhause, das er je gekannt hat, allmählich entschwindet. Nicht alle waren über den Umzug glücklich. »Michelangelos David steht nicht mehr auf der Piazza 113
della Signoria!!«, klagte am 1. August 1873 ein ungenannter Journalist im Giornale Artistico. »Er wurde einbalsamiert und war in einem neuen Vehikel aus Holz und Eisen auf dem Weg zu seiner Beerdigung auf dem Kunstfriedhof zu sehen, der gemeinhin Accademia di Belle Arti genannt wird.« Eine Karikatur aus derselben Zeit zeigt, wie sich der David aus seinem Kasten beugt, um sich mit den geckenhaften, hütetragenden Männern zu streiten, die vermutlich für seinen Abtransport verantwortlich sind. Ein Brief an den Bildungsminister beklagt den »entwürdigenden« Wagen, in dem der David eingeschlossen war – als wären der Wind und der Regen, die seinen Marmorkörper langsam zerfraßen, nicht viel entwürdigender gewesen. Und obwohl die Phrasendrescherei allmählich aufhörte, sobald der David wohlbehalten in der Accademia untergebracht war, blieb der Ärger über die Lücke auf dem Platz bestehen, was dazu führte, daß im Jahre 1910 (in Florenz geht alles etwas langsamer) die Marmorkopie aufgestellt wurde, die heute viele Touristen unbekümmert für die echte Statue halten. Wer klüger ist, bietet natürlich den langen Schlangen vor der Accademia die Stirn, um den David in seiner wahren, unnachahmlichen Schönheit zu sehen. Da er jetzt auf einer »Tribüne« steht, könnte man erwarten, daß er einen arroganten Gesichtsausdruck bekommen hat, doch in Wirklichkeit – und trotz der veränderten Umstände – scheint seine Verletzlichkeit im Lauf der Jahre nur noch größer geworden zu sein. Vielleicht liegt das an seinem hohen Alter, an nach114
klingenden Schmerzen im linken Arm oder im zweiten Zeh seines linken Fußes, der 1991 mutwillig abgebrochen wurde. Wenn man sich solche Beweggründe ausdenkt, geht man davon aus, daß die Statue eine Persönlichkeit hat, die von der biblischen Figur, die sie darstellt, oder sogar von dem Marmor, aus dem sie gemeißelt wurde, unabhängig ist; man geht davon aus, daß die Statue ein Bewußtsein hat. Und wie könnte so ein Bewußtsein – beladen und zerbrechlich zugleich – möglicherweise aussehen? Was für ein Erinnerungsvermögen würde der Stein haben? Das bleibt unserer Vorstellung überlassen. Wie die meisten Leute, kam ich beim ersten Mal wegen der Kunstschätze nach Florenz. Dieser erste Besuch im Jahre 1982 dauerte vier Tage und kam einem völligen Eintauchen in das künstlerische Erbe der Stadt gleich, einem schwindelerregenden Wechsel zwischen Hitze und Kälte, sonnenüberfluteten Piazzas und Kirchen, in denen es so dunkel war, daß es mehrere Minuten dauerte, bis sich meine Augen daran gewöhnt hatten. Als die vier Tage vorbei waren, hatte ich so gut wie alles gesehen, was mein Kunstgeschichtsprofessor mir empfohlen hatte; ich hatte mir Dutzende von Fresken und Altarbildern angesehen und mehrere Stunden in den langen Gängen der Uffizien verbracht; ich war die steilen Wege der BoboliGärten hinaufgestiegen, die opernhafte Treppe, die zur Laurenzianischen Bibliothek führt (entworfen von Michelangelo), und die Wendeltreppe, die zum Dach 115
des Duomo führt. Und wie habe ich mich gefühlt? Ungehalten, unzufrieden, unzulänglich. StendhalSyndrom: Der in Florenz vorhandene Reichtum an wunderbarer Kunst brachte mich so aus dem Gleichgewicht, daß ich am Ende meines Besuchs beschloß, meinen Sommerurlaub abzubrechen und nach Palo Alto zurückzufliegen, getrieben von der Sehnsucht nach den amerikanischen Banalitäten, die mir das Gefühl dafür zurückgeben sollten, wer ich war. In Florenz zu leben ist natürlich etwas ganz anderes; dann sieht man sich so gut wie nie Kunstwerke an, es sei denn, ein Freund oder Verwandter kommt zufällig zu Besuch. Man kann sich nur schwer vorstellen, daß Ouida und Janet Ross und die anderen Anglo-Florentiner regelmäßige Ausflüge in den Palazzo Pitti unternahmen; sie waren zu sehr damit beschäftigt, zu tratschen und sich zu streiten. Ebenso bleibt das Leben eines heute in Florenz lebenden Ausländers, obwohl ein beharrliches, wenn auch nicht deutlich artikuliertes Wissen um die Nähe der Kunst ständig darauf einwirkt, dem Erbe, das ihn anfangs hergelockt hat, seltsam entrückt, um nicht zu sagen, er ist dagegen immun. Nicht, daß sich die Kunst für ihn in nichts auflöst; sie bleibt bloß am Rand seiner Vorstellung und wartet auf den Tag, an dem irgend etwas – das richtige Wetter, keine Schlange vor dem Gebäude – ihn dazu veranlaßt, spontan der Kirche Santa Maria del Carmine oder San Marco oder dem Palazzo Medici-Riccardi einen Besuch abzustatten … Natürlich vergißt er, daß Kunstwerke nicht unver116
gänglich sind. Sie sind auch nicht gegen Katastrophen gefeit, egal ob menschengemacht oder naturgegeben. 1993 zerstörte eine Bombe einen Teil der Uffizien. Im April desselben Jahres hatten wir, um uns in Florenz eine Wohnung zu suchen, in der Pensione Quisisana e Ponte Vecchio gewohnt, wo Zimmer mit Aussicht zum Teil gedreht worden ist. Das war eine sehr altmodische Pension in den oberen Stockwerken eines palazzo mit Blick auf den Arno, nur ein paar Häuser von den Uffizien entfernt. Es gab dort eine heruntergekommene, wenn auch ziemlich imposante Eingangshalle, in der gewöhnlich eine alte Frau, vermutlich die Mutter oder Großmutter der Inhaberin, saß und dem Fernseher, der ständig lief, kaum Beachtung schenkte. Um zu unserem Zimmer zu gelangen, mußten wir mehrere kurze Treppen bewältigen (auf und ab) und drei Flure von unterschiedlicher Breite und einen salone mit weißem Fußboden und einem Klavier durchqueren; wie Forster 1958 in seinem Nachwort zu Zimmer mit Aussicht schrieb, trugen die Häuser an diesem Abschnitt des Lungarno neue Hausnummern und waren »renoviert und umgemodelt worden«, manche der Fassaden hatte man verlängert, andere waren zusammengeschrumpft, und es war »unmöglich festzustellen, welches Zimmer vor einem halben Jahrhundert romantisch war«. Ich weiß noch, daß wir ein Konzert der russischen Pianistin Bella Dawidowitsch in der Kirche von Santo Stefano besuchten und sie am nächsten Morgen zufällig beim Frühstück trafen; auch sie wohnte im Quisisana 117
e Ponte Vecchio, und als wir sie beglückwünschten, zog sie den rechten Handschuh aus und reichte uns die Hand: eine Erinnerung daran, daß noch bis vor kurzem die meisten Frauen Handschuhe getragen hatten. Jedenfalls regnete es oft während unseres Aufenthalts. (Pino Oriolo spottete darüber, daß der bekanntermaßen herrliche Frühling in der Toskana oft nur aus einer Reihe von verregneten Nachmittagen besteht.) Wir fanden eine Wohnung, flogen wieder nach Hause und wollten Anfang Juli zurückkehren. Als ich am Abend des 27. Mai in Amerika den Fernseher einschaltete, erfuhr ich, daß vor den Uffizien eine Autobombe explodiert war, die drei Gemälde zerstört, dreißig weitere Kunstwerke beschädigt und das Museum und viele der umstehenden Gebäude, darunter auch das, in dem das Quisisana e Ponte Vecchio untergebracht war, in Mitleidenschaft gezogen hatte. Die Pension wurde geschlossen und nicht wieder eröffnet. In den ersten Monaten in Florenz – im Spätsommer und Herbst 1993 – gingen wir oft zum Chiasso dei Baroncelli, um durch ein knorriges, mit rotweißem Band abgesperrtes Gerüst hindurch die Schutthaufen voller Metall und Plastik zu betrachten, die die Bombe hinterlassen hatte. In Straßen wie diesen hatte sich Lucy Honeychurch mit Miss Lavish verlaufen; jetzt waren es ausgebeutete Steinbrüche, die an jene erinnerten, durch die Michelangelo gestreift war. Die Verwüstung war so groß, daß einem die Fotos des 118
Lungarno und der Via Por Santa Maria nach der Bombardierung durch die Deutschen im Sommer 1945 in Erinnerung gerufen wurden – doch damals waren zumindest keine großen Kunstwerke zerstört worden. Bereits 1940 hatte die faschistische Regierung mit erschreckendem Weitblick begonnen, für den Fall, daß Krieg ausbrach, Schutzmaßnahmen zu treffen, und hatte einige Statuen umhüllt und andere zusammen mit den Bronzetüren des Baptisteriums in einen Betonbunker in den Boboli-Gärten gebracht. In der Accademia wurden die Michelangelos mit Backsteinen ummauert. Viele Gemälde der Stadt wurden aus Florenz weggeschafft und in einigen der prachtvolleren Villen auf dem Lande untergebracht, zum Beispiel in Montagnana, Poppiano und dem Castello Montegufoni, das Sir George Sitwell, dem Vater von Osbert Sitwell, gehörte. In Laughter in the Next Room, dem vierten Band seiner Memoiren mit dem Titel Left Hand, Right Hand!, schreibt Sitwell, daß Montegufoni ausgewählt wurde, weil es in einer abgelegenen Gegend liegt, aber hauptsächlich, weil die Türen und Fenster der wichtigen Zimmer so groß waren, daß man die größten Bilder hinein- und hinaustragen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sie zu beschädigen … hier, wo für ein paar Tage ganz in der Nähe die am heftigsten umkämpften Teile der Frontlinie liegen würden, war die ungewöhnlichste aller Gesellschaften versammelt … als am 18. Novem119
ber [1942] die ersten Kunstwerke eintrafen, befanden sich darunter Uccellos Schlacht von San Romano, die Thronende Madonna von Cimabue, die berühmte Madonna von Giotto und Botticellis Frühling. Für die ungeheure Summe von siebzehn Lire am Tag erhielt Guido Masti, Sir George Sitwells Diener, die Aufgabe, Kunstwerke zu schützen, deren Wert damals auf dreihundertzwanzig Millionen Dollar geschätzt wurde. Und doch war er auf dem Schloß alles andere als allein. 1943 überquerte Cesare Fasola, der damalige Kustos der Uffizien, angeblich die Kampflinie bei Montegufoni, um die Gemälde, die er liebte, zu schützen. Noch surrealistischer war es, daß ungefähr zweitausend Flüchtlinge »aus so weit entfernten Städten wie Empoli und Castel Fiorentino in die Keller und Verliese schwärmten: denn der frühere Ruf Montegufonis als Festung war in den Köpfen der Menschen wiederaufgelebt«. Zehn, vierzehn Tage lang bevölkerten diese beiden Gruppen das Schloß: die dicht zusammengedrängten Obdachlosen und von schrecklicher Angst Gepeinigten unten in der Dunkelheit, wo es zumindest relativ sicher war, und oben im Erdgeschoß, in großer Gefahr, Hunderte von weltberühmten Gemälden, an die gestrichenen Wände der prächtigen Zimmer und Hallen gelehnt … Dann kamen die Deutschen, besetz120
ten das Castello und vertrieben die Flüchtlinge. Sie wohnten oben in den Zimmern und drohten oft damit, die Gemälde zu zerstören, doch irgendwie gelang es Professor Fasola und Guido Masti immer wieder, sie davon abzuhalten. Als der deutsche General beim Betreten des Schlosses die Drohung ausgestoßen hatte, die großen Leinwände seien ihm im Weg und sollten verbrannt werden, sagte Guido zu ihm, wie es nur ein Italiener mit der natürlichen Redegewandtheit seines Volkes fertigbrachte: »Diese Gemälde gehören nicht einem einzigen Volk, sondern der ganzen Welt.« Bemerkenswerterweise wurde kaum eins der Kunstwerke, die in Montegufoni untergebracht waren, beschädigt; eine Ausnahme bildete ein rundes Gemälde von Ghirlandaio, das die Deutschen als Tischplatte benutzten und das infolgedessen vom Wein, Essen und Kaffee ganz fleckig und von den Messern zerkratzt war. In seinen Memoiren mit dem Titel The Art of Adventure erinnerte sich Eric Linklater später, wie er kurz nach der Flucht der Deutschen mit dem BBCKriegskorrespondenten Wynford Vaughan-Thomas nach Montegufoni kam. »Ein paar Flüchtlinge hatten in dem Castello übernachtet«, schrieb er; »… freudig sahen sie, wie überrascht wir waren, und jubelten uns lauthals zu, und ein paar Männer öffneten geräuschvoll die Fensterläden … Vaughan-Thomas rief: ›Uccello!‹« 121
Im selben Moment schrie ich: »Giotto!« Einen Augenblick lang standen wir völlig regungslos da, von Verwunderung und Freude erfüllt … Wir gingen näher heran, und die Flüchtlinge umringten uns und riefen voller Stolz: »E vero, è vero! Uccello! Giotto! Molto bello, molto antico!« … Dann hörte ich ein Stimmengewirr, einen schrillen Freudenschrei und Vaughan-Thomas rief »Botticelli!«, als würde er auf einer Fuchsjagd beim Erscheinen des Fuchses von einem Hügel herabrufen. Ich lief hin, um zu sehen, was sie entdeckt hatten, und stand plötzlich vor dem Gemälde Der Frühling. Für Ausländer, die in Italien lebten, waren die Jahre vor dem Krieg schwer zu ertragen gewesen. Als Folge von Mussolinis Machtergreifung und der Invasion in Abessinien zeigte sich bei den Italienern ein unerwarteter Hang zu Intoleranz und Nationalismus, und die Schriftstellerin Sybille Bedford – damals noch als Halbwüchsige in Italien – machte folgende scharfe Beobachtung: Wenn ihre Herrscher zu grausam zu ihnen sind, ducken sie sich, ziehen sich zurück in persönliche Beziehungen, Familienbeziehungen – dort trifft man auf anständiges Benehmen, Treue und Ehre ebenso wie Ausdauer und Courage. Draußen in der Politik sind Opportunisten und Angeber, trickreich, wenn sie aufrichtig sein soll122
ten, voll leerer Worte, wenn sie nach Hause gehen und nachdenken sollten, und sie haben nicht gelernt, Kompromisse zu schließen, ohne Verrat zu begehen. Unter Mussolini gab es bestimmt kaum Kompromisse. Neben anderen drakonischen Reformen, die durch Il Duce eingeführt wurden, kam es zur Streichung von Fremdwörtern aus dem nationalen Wortschatz. »Autista ersetzte Chauffeur«, erinnerte sich Acton, »albergo Hotel, und die Hälfte der Hotels in Italien mußten nach faschistischer Manier umgetauft werden, all die Eden Parks und Eden Palaces … und außerdem die zahllosen Albions, Bristols und Britannias …« In einem italienischen »His Master’s Voice«-Katalog (»La Voce del Padrone«) aus jener Zeit werden Aufnahmen von »Wladimiro Horowitz« und »Sergio Rachmaninoff« angeboten sowie Kompositionen von »Luigi Beethoven«, »Wolfgango Mozart« und »Francesco Schubert«. Wie vorauszusehen hatte solch eine Fremdenfeindlichkeit in Florenz mit seinen »English Tea Rooms« und »Old England«-Läden leichtes Spiel. Nun wurden die Hauswände »mit Parolen vollgekritzelt, die uns daran erinnern sollten, daß ›La Guerra e bella‹ (Krieg schön ist)«, während das künstliche Hochtreiben der lira die Einkünfte alter Engländerinnen halbierte, die ohnehin schon von der Hand in den Mund lebten. Früher hatten Acton die »tollen Gigolos« beeindruckt, die die Via Tornabuoni entlangfuhren, »sich zur Schau stellten, auf den Geh123
steig [strömten], jedem Rock hinterherstarrten und sich so laut darüber ausließen, daß jeder es hören konnte«. Jetzt begeisterten sich diese »arbeitslosen Narzisse« genauso stark für die Schwarzhemden, wie sie es vorher für Blumen im Knopfloch, Pomade und Gamaschen getan hatten. Ausländer, zu denen man früher Beziehungen gepflegt hatte, waren jetzt persone non grate. Sogar Actons Mutter Hortense wurde eines Nachmittags verhaftet, unter dem Vorwand, daß es ein Problem mit ihrem Paß gab. Drei Tage und drei Nächte lang war die alte Mrs. Acton »in einem dünnen Sommerkleid und nicht einmal mit einer Zahnbürste ausgestattet inmitten von Prostituierten und anderen Frauen mit schlechtem Ruf eingesperrt …« Außer dem unverschämten Brief einer Faschistin, der Frau eines Kunstkritikers, in dem stand, sie habe nur das bekommen, was sie verdient habe, und man hätte sie viel schlechter behandeln können, mit der Parole »Il Duce ha sempre ragione« (»Der Führer hat immer recht«), an ihre verschnörkelte Unterschrift angehängt, erhielt sie keinerlei Nachricht von draußen. Als das Dienstmädchen meiner Mutter einen einflußreichen Freund telefonisch um Hilfe bat, fauchte er sie an: »Begreifst du nicht, daß wir uns im Krieg befinden und daß Mrs. Acton eine feindliche Ausländerin ist?« Dieser hohe Beamte war fünfundzwanzig Jahre lang häufig bei uns zu Gast gewesen. 124
Als Nachsatz dieser Geschichte merkt James Lord etwas an, das Acton, bella figura zuliebe, weggelassen hat: Das Problem mit Hortense Actons Paß war nämlich keine Erfindung; sie hatte »ihr Geburtsdatum [geändert], um für zehn Jahre jünger gehalten zu werden. Warum es ihr etwas ausgemacht haben soll, daß Zollbeamte und Grenzpolizei ihr Alter kennen, ist ein Rätsel, doch ein ganz wichtiger Anhaltspunkt dürfte die Eitelkeit und Arroganz der fraglichen Dame sein. Einen Paß zu fälschen, und sei es auch aus einem so geringfügigen Grund, kann als ernste Angelegenheit betrachtet werden …« Sobald sie aus dem Gefängnis entlassen worden war, verließ Mrs. Acton das Land und begab sich in die Schweiz. Schließlich brach der Krieg aus; inzwischen waren alle außer den am stärksten verwurzelten Koloniebewohnern vernünftigerweise aus Italien geflohen, doch einige weigerten sich, ihre Häuser aufzugeben, vor allem der Jude Bernard Berenson, der sich schließlich auf dem Lande verstecken mußte. In seinem autobiographischen Film Tee mit Mussolini porträtiert der Regisseur Franco Zeffirelli eine Gruppe älterer englischer Damen – die Art Frauen, auf die unweigerlich das Adjektiv »unbeugsam« Anwendung findet –, die auch nach der Kriegserklärung in Florenz ausharren und folglich vom Militär in ein provisorisches Gefängnis in das in den Hügeln liegende San Gimignano geschickt werden. Der Höhepunkt des Films, eine Szene, in der Judi Dench, Maggie Smith und 125
Joan Plowright sich buchstäblich zwischen die berühmten mittelalterlichen Türme des Ortes und die Deutschen stellen, die die Türme bombardieren wollen – und so die Kunst vor der Geschichte retten –, sorgt für eine Theatralik, die an einige der großen Ausschweifungen erinnert, die sich Zeffirelli in seiner Karriere als Opernregisseur zuschulden kommen ließ; doch diese Erfindung betont die starke Hingabe der Koloniebewohner an das Land, das sie liebten – und von dem sie glaubten, es liebe sie ebenfalls. Am Ende waren die Brücken über den Arno der größte Verlust, einige davon Hunderte von Jahren alt und alle, mit Ausnahme des Ponte Vecchio, am 4. August 1944 von den Deutschen in die Luft gesprengt. Zuvor hatte der Schweizer Konsul Karl Steinhauslin (nach dem heute eine Florentiner Bank benannt ist) die Deutschen vergeblich gebeten, die Statuen der Vier Jahreszeiten auf dem Ponte Santa Trinità zu verschonen. Nach der Befreiung suchten Taucher den Grund des Arno nach den Statuen ab, während schon Soldaten des rein schwarzen 387. Amerikanischen Pionierbataillons aus Holz und Stahl Behelfsbrücken bauten, um die beiden Hälften der geteilten Stadt wieder miteinander zu verbinden. Schließlich wurden alle vier Jahreszeiten gefunden, nur nicht der Kopf des Frühlings, und Mary McCarthy schreibt in Florenz, daß das Gerücht umging, »diesen Kopf habe ein amerikanischer Negersoldat im Lärm und Durcheinander der letzten Kriegswochen fortgeschleppt«. Überall in der Stadt wurden Plakate mit 126
einem Foto der Statue aufgehängt, auf dem die Frage »HABEN SIE DIESE FRAU GESEHEN?« stand und für deren unversehrte Rückkehr eine Belohnung von dreitausend Dollar ausgesetzt wurde. Doch der Kopf tauchte nicht wieder auf, und im Jahre 1958, als mit genauen Nachbildungen der Werkzeuge aus dem sechzehnten Jahrhundert eine exakte Nachbildung der Brücke gebaut worden war, blieb den Behörden nichts anderes übrig, als den kopflosen Frühling wieder an seiner alten Position in der nordöstlichen Ecke der Brücke aufzustellen. (Erst drei Jahre später tauchte der Kopf bei Arbeiten am Ponte Vecchio wieder auf; er war nicht, wie es in Gerüchten geheißen hatte, nach Harlem oder Neuseeland geschmuggelt oder in den Boboli-Gärten vergraben worden, sondern hatte die ganze Zeit auf dem Grund des Flusses gelegen.) Obwohl alle von den Deutschen zerstörten Brükken heute wieder aufgebaut sind, wurden nicht alle Behelfsbrücken abgerissen; am Stadtrand von Florenz gibt es eine in der Nähe von Galuzzo, die wir jedesmal überqueren, wenn wir aufs Land fahren. Die Holzbretter machen großen Lärm, wenn die Räder des Wagens darüberrollen; ein paar Sekunden lang spüren wir ein besorgniserregendes Beben … und dann sind wir wieder auf festem Boden. Dabei denke ich jedesmal kurz an die Befreiung, die ich nicht miterleben konnte, an oft Erzähltes – amerikanische Soldaten schenken Kindern Kaugummi – und auch an das, was nicht erzählt wird: daß die schwarzen 127
ten des 387. Pionierbataillons wegen ihrer Rassenzugehörigkeit nicht an den Kämpfen teilnehmen durften und sich dann um die mühevolle Aufgabe kümmerten, die geteilte Stadt wieder zu verbinden. Man weiß nur wenig über sie, und doch haben sie ebensoviel zur Rettung von Florenz beigetragen wie alle anderen Ausländer, egal ob Berenson, Henry James oder Zeffirellis theatralische alte Engländerinnen. Bleibt zu wünschen, daß ihre Geschichte eines Tages in vollem Umfang erzählt wird.
Eine an einem Fluß gelegene Stadt ist von Natur aus eine doppelte Stadt, und in dieser Hinsicht ist Florenz verwandt mit Paris, Rom und Budapest; das heißt, in Florenz gibt es keine zwei gleichen Seiten, sondern eine Hauptseite und eine »andere« Seite: so wie Rom sein Travestere, Paris sein rive gauche und Buda sein Pest hat, hat Florenz das Oltr’arno – wörtlich »jenseits des Arno« –, ein ärmeres Gebiet mit kleineren Häusern, wo Schriftsteller und Drogenabhängige leben und das an die ländliche Umgebung grenzt. Das Herz des Oltr’arno ist die Piazza Santo Spirito, die – trotz der recht großen Entfernung zur Universität, die auf der Hauptseite des Arno, der namenlosen Seite, liegt, nicht weit von der Piazza Santissima Annunziata – mit ihren Secondhandläden und Studentenbars dem Quartier Latin von Paris ähnlicher ist als irgendein anderer Teil von Florenz. Hier versammeln sich einmal im Monat, an einem Sonntag, die Biobauern aus dem 128
Mugello und dem Chianti – viele von ihnen Ex-Hippies, die ihre Jugend in diesen Bars verbracht haben – um einen Markt abzuhalten, auf dem sie Honig und Bienenwachskerzen, selbstgemachte Marmelade, Vollkornbrot, Kleider und Lederartikel sowie nicht besonders gut aussehendes, aber schmackhaftes Gemüse verkaufen. Im Gegensatz zum Duomo und Santa Croce, deren strenge Fassaden in der kurzen Zeit hergerichtet wurden, als Florenz Hauptstadt war, hat die Kirche von Santo Spirito eine schlichte, schmucklose Vorderfront, die auf die Askese früherer Jahrhunderte hindeutet. 1980 beschloß eine Künstlerkooperative unter der Führung von Mario Mariotti, diesem Mißstand abzuhelfen, indem man alle möglichen Entwürfe für eine neue Fassade auf Santo Spirito projizierte, darunter ein Spiegelei (Gianni Melotti), ein Plattenalbum mit Nipper drauf, dem Emblem von »His Master’s Voice« (Gesù Moctezuma), Packpapier (natürlich Christo) und – die witzigste Idee – das Innere der Kirche (Marianna Gagliardi). Junge Ausländer haben das Oltr’arno schon immer geliebt. Sogar der biedere Henry James wohnte, als er in jungen Jahren Florenz besuchte, nicht weit vom Ponte Vecchio auf der Oltr’arno-Seite. »Mein Zimmer in dem Gasthaus lag zum Fluß hin und war den ganzen Tag sonnendurchflutet«, schrieb er. An den Wänden hing eine lächerliche orangefarbene Tapete; unten floß der Arno, der von einer ähnlichen Farbe war; und am anderen Ufer er129
hob sich eine Reihe von fahlen, sehr alten Hausern, die vorragten und sich über den Fluß wölbten. (Es hat den Anschein, als würde ich von ihren Fassaden sprechen; doch ich sah nur ihre schäbige Rückseite, die dem heiteren Flimmern des Flusses zugewandt war, während die Vorderfront für immer im tiefen, feuchten Schatten einer engen mittelalterlichen Straße stand.) All das »leuchtende Gelb« gehörte für James zu »der unbeschreiblichen, bezaubernden Farbe, die Florenz stets zu tragen scheint, wenn man es vom Fluß aus und von den Brücken und Anlegestellen betrachtet«. Er schreibt von dem »silbrigen Gelb« des Arno, und Acton beschreibt sein Wasser als »warmes Gelb im Abendlicht; wäre es nicht ganz so schmutzig, könnte man es für Orvieto-Wein halten«. Auf Bildern vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts sind Kinder und junge Männer zu sehen, die im Fluß angeln oder von den Brücken springen, um darin zu schwimmen. Alles längst vorbei: Heute gleiten zwar noch Kanus und Skiffs übers Wasser, aber niemand würde es wagen, in den Arno zu springen; und ein gesundheitsbewußter Mensch würde auch keinen Fisch essen, der dort gefangen wurde. An den heißesten Sommertagen sinkt der Pegelstand, der Fluß fließt nur noch träge, wird schlammiggrün (ich habe ihn noch nie gelb erlebt) und fängt an zu stinken. Mäuse und Ratten huschen durch das seichte Wasser, und in der feuchtwarmen Luft fliegen Fledermäuse. (»Guarda, es 130
ist so romantisch, mit dem Vollmond und den im Fluß schwimmenden Mäusen!« schwadroniert unser Freund aus Cosenza, derjenige, der sich gern kleidet wie Kardinal Richelieu.) Und im Winter, wenn viel Regen fällt, hat der Arno die Farbe von Cappuccino; dann ist er ein reißender Strom, der von seiner Quelle im Mugello Eichen- und Kastanienzweige mit sich führt. Hochwasser ist eine stetige Bedrohung. Obwohl der Arno im Lauf der Jahrhunderte schon oft über die Ufer getreten ist, haben die schlimmsten Überschwemmungen in Abständen von hundert Jahren stattgefunden, gewöhnlich in Jahren mit mehreren gleichen Ziffern: 1333, 1466, 1557, 1844, 1966. (Die abergläubischen Florentiner rechnen in 2055 oder 2077 mit einer weiteren verheerenden alluvione.) Zu diesen Überschwemmungen kann es ohne Vorwarnung kommen. Das Hochwasser vom 4. November 1966 begann am vorhergehenden Abend als starker Regen und wurde erst in den frühen Morgenstunden bedrohlich. Um zwei Uhr nachts eilten die Inhaber einiger Schmuckgeschäfte auf dem Ponte Vecchio, die von dem Nachtwächter auf der Brücke alarmiert worden waren, in ihre Läden, um von ihren Waren zu retten, was noch zu retten war. Obwohl die alte Brücke schon andere Überschwemmungen und sogar den Krieg überstanden hatte, machte man sich Sorgen, daß sie einstürzen konnte. Ein Ladeninhaber erinnerte sich später, daß ein Fiat 1100 gegen sein Ladenfenster geprallt war. 131
Bei der Überschwemmung wurden über 15 000 Autos demoliert. 1966 legte der Florentiner Durchschnittsbürger viel Wert darauf, ein Auto zu besitzen – und sei es nur ein winziger kürbisgelber Fiat 500 –, und vielleicht hat der Fernsehfilm, der direkt nach der Katastrophe gedreht wurde, deshalb die seltsame Obsession, Kirchen und Denkmäler links liegenzulassen und statt dessen von einem Auto zum nächsten zu schwenken: umgekippt, auf dem Wasser treibend, schlammverschmiert, ölverschmiert. Dieser Dokumentarfilm hat etwas Begräbnishaftes, die Bilder der demolierten Autos rufen die Fotos der Toten in Erinnerung, die man in Italien auf den Grabsteinen anbringt. Den Schäden an den Kunstwerken wurde nicht soviel Aufmerksamkeit zuteil, obwohl sie viel schwerwiegendere Folgen hatten, denn ein Auto ist zu ersetzen, Renaissancefresken jedoch nicht. Eine von der UNESCO aufgestellte Liste macht erschreckend deutlich, wieviel genau beschädigt wurde: 321 Gemälde auf Holz, 413 auf Leinwand, 11 Freskenzyklen, 70 einzelne Fresken (insgesamt eine Fläche von etwa 3 000 Quadratmetern), 14 Skulpturengruppen, 144 einzelne Skulpturen (darunter mehrere von Michelangelo), 22 davon aus Holz: alles in allem fast tausend Werke von großer historischer Bedeutung. Das tosende Wasser, das im Duomo eine Höhe von knapp sechs Metern erreichte, riß die Bronzetüren am Baptisterium ab. Als das Wasser wieder gesunken war, blieb eine schleimige, ätzende Mischung aus Heizöl und Schlamm 132
zurück, die stellenweise über einen Meter hoch war; in dieser melma wurden am nächsten Tag mehrere von Ghibertis Bronzetafeln gefunden. Mitunter waren die Auswirkungen der melma geradezu theatralisch. Wie Guido Gerosa schrieb, war Donatellos Statue der Maria Magdalena nach der Überschwemmung »in eine Maske aus Schlamm verwandelt … Das gräßliche schmierige Dieselöl, das in ihrem langen, locker herabfallenden Haar klebte, schien die dramatische Verzweiflung in ihrem Blick seltsamerweise noch zu verstärken.« Für Cimabues berühmtes Kruzifix in Santa Croce galt das nicht, es war in kleine Stücke zerbrochen. Auch waren die Gemälde nicht das einzig Wertvolle, das in Mitleidenschaft gezogen war. Ein Foto, das im Teatro Comunale aufgenommen wurde, zeigt einen Steinway-Flügel, verquollen und dreckverkrustet. In der Biblioteca Nazionale hatten sich über 700 000 seltene Bücher und Handschriften sowie die Zeitungs- und Zeitschriftensammlung, die alle in einem Keller lagerten, voll Wasser gesogen. Besonders deshalb wurden die Florentiner Behörden scharf kritisiert, deren Entscheidung, die Bibliothek direkt am Flußufer zu errichten (eine unglaublich ungeschützte Lage) und obendrein die Raritäten im Kellergeschoß unterzubringen, bei Italienern und auch bei Ausländern jetzt Erstaunen und Empörung hervorrief. Erstmals seit Ruskin gegen die Einrichtung eines Droschkenstands vor dem Glockenturm protestiert hatte, wurde James’ »florentinische Frage« – die Frage, ob man den Flo133
rentinern ihr eigenes Erbe anvertrauen konnte – lautstark wieder aufgegriffen. In London richtete Sir Ashley Clarke rasch den Italian Art and Archives Rescue Fund ein, und unter seiner Schirmherrschaft wurden der Restaurator Nicolai Rubinstein und der Kunsthistoriker John Pope-Hennessy nach Florenz geschickt, um den Schaden zu schätzen. Pope-Hennessy erinnerte sich später, wie er im Mittelschiff von Santa Croce Donatellos Annunziazione dei Cavalcanti fand, »ölverschmiert bis zu den Knien der Jungfrau Maria«. Zusätzlich zu Santa Croce hatten auch die Klöster von Santa Maria Novella und der Ognissanti bis zu einer Hohe von vier Metern unter Wasser gestanden. Es gab Schäden in der Casa Buonarroti und im Museo Horne, im Museum für Wissenschaftsgeschichte, im Archäologischen Museum, im Bargello und in den Restaurationswerkstätten im Erdgeschoß der Uffizien. Noch während sich das italienische Fernsehen zwanghaft auf demolierte Autos konzentrierte, wurden sowohl in Italien als auch im Ausland erste Rettungstrupps gebildet. Die größtenteils jungen Männer und Frauen, die zu Tausenden nach Florenz kamen, um sich freiwillig an den Aufräumungsarbeiten zu beteiligen, wurden später angeli dei fango oder »Schlammengel« getauft. (Unter ihnen befand sich auch der Pianist Swjatoslaw Richter.) Senator Edward Kennedy, der in Genf weilte, als es zu der Überschwemmung kam, erinnerte sich, daß er an jenem Tag nach Florenz flog. Als er gegen fünf Uhr nachmittags in der 134
Biblioteca eintraf, sah er, wie dort Unmengen von Studenten bis zur Taille im Wasser standen und bei Kerzenlicht arbeiteten. »Sie hatten eine Kette gebildet, um die Bücher weiterzureichen«, schrieb er, »damit sie vor dem Wasser gerettet, dann in Sicherheit gebracht und mit Konservierungsmitteln behandelt werden konnten.« Überall, wo ich in dem großen Hauptlesesaal hinblickte, waren Hunderte von jungen Leuten, die alle gekommen waren, um zu helfen. Es war, als wüßten sie, daß die Überschwemmung der Bibliothek ihre Seelen gefährdete. Ich fand es unglaublich ermutigend, die jüngere Generation in diesem energischen Bemühen vereint zu sehen … Als ich in das Flugzeug stieg, das mich nach Genf zurückbrachte, zitterte ich immer noch, aber ich konnte nicht aufhören, an die eindrucksvolle Feierlichkeit jener Szene zu denken – an all die Studenten, die sich, unbeirrt von der beißenden Kälte und dem schlammigen Wasser, ruhig darauf konzentrierten, im flakkernden Kerzenschein Bücher zu retten. Das werde ich nie vergessen. 1996, zum dreißigsten Jahrestag der Überschwemmung, unternahm die italienische Umweltschutzorganisation Legambiente den Versuch, die Schlammengel übers Internet ausfindig zu machen und nach Florenz einzuladen. Es wurden Augenzeugenberichte 135
erbeten, die man heute voll demütiger Bewunderung liest. Marika Spence Sales, damals Studentin an der McGill University in Montreal, schrieb, sie sei nach der Überschwemmung zusammen mit vierzehn Kommilitonen aus eigener Initiative nach Florenz gereist. Nach ihrer Ankunft seien sie zur Biblioteca Nazionale geschickt worden. »Wir haben 7–8 Stunden am Tag in einem Kettensystem gearbeitet«, schreibt sie, »und saugfähiges Papier in die nassen Bücher gelegt. Wir sind drei Monate in der Nationalbibliothek geblieben. Wir erhielten Essen und eine Unterkunft, und mittags aßen wir in der Kantine der Stadtverwaltung eine warme Mahlzeit. In der Bibliothek war es sehr kalt. Die Universität schickte uns Pakete mit Gummistiefeln und warmer Kleidung … Und unsere Familien schickten uns unverderbliche Lebensmittel wie Milchpulver und Dosenmahlzeiten.« Spence Sales lernte in Florenz ihren zukünftigen Mann kennen und blieb in Italien. Das gilt auch für Susan Glasspool, die frisch aus England eingetroffen war, um an der Akademie der schönen Künste zu studieren, als das Hochwasser kam. »Ich wohnte in Trespiano bei Florenz«, erinnerte sie sich, »und am Morgen der Überschwemmung hatte ein Erdrutsch in der Nähe des Hauses die Straße blockiert. Uns war nicht klar, daß es eine Überschwemmung gegeben hatte, und wir dachten, das schlechte Wetter sei daran schuld, daß es weder Strom noch Wasser gab und das Telefon nicht funktionierte. Meine Vermieterin hatte 136
irgendwie erfahren, daß in Florenz etwas Schlimmes passiert war, und sie fragte mich, ob ich sie in die Stadt fahren könne, für den Fall, daß ihre Verwandten Hilfe benötigten.« Als sie eintrafen, fanden sie eine Stadt vor, die nahezu lahmgelegt war; Glasspool war vor allem erstaunt, daß der Ponte Vecchio, »der völlig mit Baumstämmen blockiert war«, immer noch stand. Ihr wurde rasch die Aufgabe übertragen, »die verschlammten Keller der Universität an der Piazza Brunelleschi zu reinigen oder beim Ausräumen der Archive in den Uffizien, der Akademie und anderer Teile der Universität zu helfen«. John Schofield, der nach der Überschwemmung auf eigene Kosten von London nach Florenz gekommen war, arbeitete zuerst im Museo dell’Opera del Duomo und dann in der Limonaia der Boboli-Gärten, die »zum kontrollierten Trocknen der vielen beschädigten Gemälde« umgebaut worden war. Unter der Aufsicht des Kunsthistorikers Ugo Baldini lernte Schofield, der später als Baurestaurator Karriere machte, »die Gemälde gegen gefährlichen vielfarbigen Schimmelbefall zu behandeln. Zuerst entfernte ich vorsichtig getrockneten Schlamm, und dann folgte die Fungizidbehandlung auf der Bildoberfläche – eine Aufgabe, die mir nicht einmal genug Zeit ließ, um die Uffizien zu besuchen!« Im allgemeinen begrüßten die Florentiner die Schlammengel ebenso herzlich wie die Befreiungstruppen, die nach Kriegsende in die Stadt marschiert 137
waren; manch einer betrachtete sie jedoch als Schmarotzer und Hippies. Amy Centers, eine Amerikanerin, die einen »lebendigen Reiseführer« für Florenz im Internet unterhält, beschreibt einen Studenten namens Mario, der bei dem Hochwasser noch im Teenageralter war und in der Nähe von Santa Croce wohnte. »’66 hatte Florenz die Hippie-Bewegung noch vor sich«, schreibt sie, »und die Masse der langhaarigen, tätowierten, grasrauchenden Teenager in Sandalen, Batikhemden und abgeschnittenen Jeans war für die Einheimischen ein Schock. Aus der ganzen Welt brachen Leute über die Stadt herein, um zu helfen, doch wie sich herausstellte, waren ihre wohltätigen Absichten fast alles, was sie hatten. Da sie kaum Geld und keine Unterkunft hatten, waren die Italiener gezwungen, sie zu beherbergen und mit Essen zu versorgen. Mario sagte, man habe ihm überall Brot angeboten, und er habe es angenommen, weil er nicht unhöflich erscheinen wollte. Wenn er abends nach Hause kam, warteten in seinem Wohnzimmer Berge von Brot auf ihn.« Und doch sollen die Studenten das letzte Wort haben, die, egal, wie sie sich anzogen und wieviel Brot sie aßen, nur aus einem einzigen Grund nach Florenz kamen: um zu helfen. 1966 verbrachte Catherine Williams aus Bradenton, Florida, ihr vorletztes Studienjahr auf dem Campus der Florida State University in Florenz, der gerade erst eröffnet worden war. Sie schrieb, der Tag vor der Überschwemmung war »naß und trist – ich hatte den Tag mit einer 138
Freundin in Fiesole verbracht und kam im Regen zurück ins Hotel. Am nächsten Morgen hörten wir, daß der Arno über die Ufer getreten war – das Wasser stieg bis zu unserer Straße [Via Aprile] und kam dann zum Stillstand – kein Licht, kein Wasser. Wir gingen auf Erkundungstour und stießen auf Autos, die sich um Laternenpfähle gewickelt hatten, auf dreckverkrustete Gebäude – Schlamm, überall Schlamm.« Im Lauf der nächsten Tage lernte Williams, sich die Zähne mit Sprudel zu putzen. Sie und ihre Kommilitonen stellten sich an, »um Wasser aus den Tanks der Armee zu bekommen, und verbrachten die Tage im Kellergeschoß der Bibliothek«, wo sie der berühmten Menschenkette angehörten, an die Senator Kennedy erinnerte. Als sie von dem Treffen der Legambiente erfuhr, schrieb sie: »Meinen zwanzigsten Geburtstag habe ich bei Hochwasser in Florenz verbracht. Da fällt mir für meinen Fünfzigsten kein passenderer Ort ein.«
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Als Mark und ich 1993 nach Florenz zogen, schlug eine Freundin vor, ich sollte für den New Yorker eine Kurzbiographie des kürzlich zum Ritter geschlagenen (und inzwischen steinalten) Sir Harold Acton schreiben. Ich vertröstete sie, ebenso wie die verschiedenen Kontaktpersonen, die mir anboten, mich mit Sir Harold bekannt zu machen, und im Februar des folgenden Jahres starb er. Eine verpaßte Gelegenheit – noch dazu durch mein eigenes Widerstreben. Und dennoch, um ehrlich zu sein, habe ich dieser verpaßten Gelegenheit nie nachgetrauert, genausowenig wie dem Umstand, daß ich Hugh Honour und John Fleming, zwei berühmte, in der Nähe von Lucca lebende Kunsthistoriker, nicht besucht habe, obwohl unzählige Bekannte mich ihnen vorstellen wollten; oder daß 141
ich die Einladung von Gil Cohen und Paul Gervais ausgeschlagen habe, zwei reichen Amerikanern, die man hinter ihrem Rücken (in homosexuellen Kreisen geht es gehässig zu) »Pill und Gil« nennt, ein Wochenende in ihrer Villa, ebenfalls in der Nähe von Lucca, zu verbringen; oder daß ich keine Privatführung durch die Paläste der verschiedenen Corsinis und Ruccelais und Frescobaldis, der Fürstinnen, Barone und marchesi, mitgemacht habe, denen seit unvordenklichen Zeiten oder zumindest seit Henry James der ganze Ehrgeiz der in Italien lebenden Amerikaner gilt … Weder Mark noch ich waren je daran interessiert, berühmte Persönlichkeiten oder Adlige kennenzulernen, bloß weil sie berühmt waren oder einen Adelstitel hatten. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns stark von den allermeisten Ausländern, die sich in Florenz niedergelassen haben und für die die Aufzählung erwähnenswerter Namen unter den Kategorien »kennengelernt«, »gegessen mit«, »Briefe erhalten von«, »zu einem Drink eingeladen von« und »geschlafen mit« eine wichtige und aufreibende Betätigung ist – ein Mittel gegen lange Winterabende und drükkende Sommernachmittage. Acton versinnbildlichte dieses Streben; obwohl er in hohem Alter selbst eine Ikone geworden war (wenn auch eine falsche), hatte er in seiner Jugend auch nur den salbenden Kuß der Berühmtheit gesucht und sein Leben, wie es manchmal schien, darauf ausgerichtet, etwas zu erleben, das er, wenn er älter war, in seinen Memoiren berichten konnte. »Die Gesellschaft«, die Schmeicheleien der 142
Emerald Cunards und Sybil Colefaxes dieser Welt verzückten ihn, und er verstieß gegen die Regel der Genauigkeit und Wahrheitsliebe, um sich des Beifalls dieser Leute gewiß zu sein. Kein Schriftsteller kann es sich leisten, so höflich zu sein, wenn er später nicht bloß als ein »Original« in Erinnerung bleiben will. Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, in einer kleinen Universitätsstadt, in der eine bei weitem nicht so einschüchternde Etikette herrschte wie in Actons Florenz, und über die sich meine Mutter, der jegliche Dummheit ein Greuel war, ohnehin bei jeder Gelegenheit hinwegsetzte. Durch und durch Amerikaner und auch selbst nicht mehr ganz unbekannt, kam ich nach Florenz, ohne zu wissen, wer Principessa Giorsiana Corsini war, geschweige denn, mir darüber Gedanken zu machen, wie ich es schaffen könnte, von ihr zum Essen eingeladen zu werden. Mark war genauso; wir betrachteten uns als die Söhne Forsters, und für Forster war »die Gesellschaft« nie so interessant gewesen wie für Acton oder James. Wir brannten eher darauf, das Florenz der Florentiner kennenzulernen, die Straßen und die Bars und die »authentischen« Restaurants. Wer interessierte sich schon dafür, zum Tee nach La Pietra eingeladen zu werden? Weshalb sollte man überhaupt »Tee« trinken, wenn man auch Cappuccino trinken konnte? Und so fuhren wir nie hinaus, aßen nie die berühmten dünnen Sandwiches und kamen nie in den Genuß einer Führung durch den Park, die Acton noch manchmal selbst machte. 143
Andere hingegen schon; bis zu seinem Tod fielen Besucher mit Beziehungen, Freunde von Freunden über La Pietra her, und sei es nur, um später sagen zu können, sie hätten dort Tee getrunken, sowohl die Villa als auch ihren legendären Besitzer gesehen, »konserviert – oder gefangengehalten – im Innern des Hauses«, wie James Lord schrieb, »wie ein prachtvoller prähistorischer Schmetterling in einem Bernstein«. Acton befürchtete, daß man sich einmal nur wegen der Villa an ihn erinnern würde und nicht wegen seiner Bücher, aber wie Lord schreibt, sind die Namen von Sammlern – von Besitzern – in unserem Gedächtnis nicht so langlebig wie die von Künstlern. Aber die traurige Ironie liegt darin, daß man sich auf die Dauer weder wegen seiner Werke noch wegen seiner Villa an Acton erinnern wird; wenn überhaupt, so wird man sich an ihn als Vorbild für Anthony Blanche in Wiedersehen in Brideshead erinnern; den Schandfleck, den er unbedingt tilgen wollte. Nach dieser Vorbemerkung bleibt zu sagen, daß wir in den ersten Jahren unserer Florentiner Idylle mit zwei Überlebenden der anglo-florentinischen Gesellschaft in Berührung gekommen sind, die inzwischen beide gestorben sind. Die erste von beiden war Joan Haslip. Obwohl sie seit ihrer Kindheit in Florenz gelebt hatte, hatte sie, wie viele Anglo-Florentiner, nie Italienisch gelernt, Ihre Mutter, die halb Österreicherin, halb Slawin war, war mit ihr und ihrer Schwester Lallie nach dem Tod ihres englischen Vaters George Ernest Haslip hergekommen. (Lallie heiratete 144
später Pifi Gomez, der unter Il Duce Bürgermeister von Florenz war.) Wir sind ihr nur einmal begegnet, als wir von Fausto Calderai – einem Möbelexperten und kleinen Rädchen in der Florentiner Gesellschaft – in das FünfSterne-Hotel Helvetia-Bristol kurzfristig zum Essen eingeladen wurden. Die Verfasserin zahlreicher Biographien, u. a. von Marie Antoinette, Madame Dubarry, Lucrezia Borgia, Katharina der Großen, Elisabeth von Österreich und Lady Hester Stanhope, war inzwischen Anfang Achtzig. Völlig mittellos – wie die meisten Anglo-Florentiner hatte sie kein Haus gekauft – lebte sie in einem kleinen Haus auf dem Grundstück ihrer Freundin Costanza Ricasoli-Romanelli, versorgt von Bediensteten, die so alt waren wie sie, und umgeben von geerbten Möbeln, für die sie einen Käufer zu finden hoffte, der ihr gestattete, sie bis zu ihrem Tod weiterzubenutzen. Während des Essens fragte Fausto sie, wie es ihr gehe. »Furchtbar«, sagte sie. »Meine beiden besten Freunde liegen im Sterben.« (Sie meinte Acton – der ihr in seinem Testament nichts hinterließ – und John Pope-Hennessy.) Haslip selbst hatte Arthritis und war fast blind, doch als Principessa Corsini, ebenfalls bei dem Essen zu Gast, fragte, ob sie mit einem Rollstuhl nicht besser zurechtkäme, wischte sie den Vorschlag mit derselben Handbewegung beiseite, mit der sie ständig ihr Haar aus der Stirn streifte – auch wenn es in Florenz von jungen Männern wimmelte, die sich an Histörchen berauschten und sie mit Freuden durch 145
die Stadt geschoben hätten. Schließlich war sie noch immer eine glänzende raconteuse, voll geheimer Anekdoten über die königliche Familie und geschmuggelte Smaragde. Ihr koketter Witz deutete daraufhin, wie die Via Tornabuoni in ihrer Jugend gewesen sein muß – damals, als die Straße mit Actons Worten »in ouidaeskem Zauber erstrahlt« war und sie den atemlosen Florenz-Roman Grandfather’s Steps (ihrer Schwester Lallie gewidmet) geschrieben hatte sowie das Gedicht Pfingstrosen und Magnolien, das in limitierter Auflage bei Centaur Booklets erschien und für das die folgenden Zeilen exemplarisch sind: Luigi, Gianni, Mario in Rosa und in Flieder, Sie sind alles, was zählt, man erliegt ihrem Charme immer wieder. Als Pope-Hennessys Freund Michael Mallon, dem Haslip ihre Bibliothek hinterließ, sie fragte, ob sie irgendwann wieder vorhabe, Prosa zu schreiben, sagte sie, das habe keinen Sinn: Niemand habe mehr Lust, Romane über die Oberschicht zu lesen. Doch sie schrieb weiter Biographien. Im HelvetiaBristol erkundigte sich jemand (vielleicht der französische Konsul), ob sie an etwas Neuem arbeite. »Ich schreibe über Napoleons Schwestern«, antwortete sie, »und sie benehmen sich genau wie die beiden Prinzessinnen des Königshauses.« (Das war, bevor die eine von ihnen bei einem Autounfall ums Leben 146
kam und die andere Sprecherin der Weight Watchers wurde.) Als Fausto ihr später (fälschlicherweise) erzählte, Mark sei Margaret Mitchells Enkel, wurde sie überschwenglich. »Das ist mein Lieblingsfilm«, sagte sie. »Sagen Sie mal, können Sie immer noch davon leben?« Als das Essen zu Ende war, sagte sie zu Fausto, sie habe die falsche Handtasche dabei, ihr Geld befinde sich in der anderen: ob er ihr ein Taxi besorgen könne. Haslips anderer enger Freund, Sir John Wyndham Pope-Hennessy (liebevoll »the Pope«, der Papst, genannt), starb in jenem Jahr an Halloween, was angesichts seiner legendären Unnahbarkeit seltsam passend wirkte; schließlich hatte er sich an die Identifizierung seines Bruders James im Leichenschauhaus – totgeschlagen von Strichjungen in einer Wohnung in Ladbroke Grove (ein weiterer Tod, der auf Ihr Konto geht, Labouchère!) – mit den folgenden Worten erinnert: »Ich war entsetzt über seinen verlebten, fast schon bösartigen Gesichtsausdruck. Es war, als würde man in einer Tragödie aus der Zeit Jakobs I. mitspielen.« Obwohl er seit vierzig Jahren den Sommer in der Stadt verbrachte, war Pope-Hennessy vergleichsweise ein Neuling in der Auslandsgemeinde von Florenz, da er sich erst 1986 dort niedergelassen hatte. (Vorher hatte er in New York gelebt, wo er als Berater der 147
Abteilung für europäische Malerei am Metropolitan Museum of Art fungierte, und davor in London, wo er zuerst Direktor des Victoria and Albert Museum und dann des British Museum war.) In Florenz mietete er eine riesige Wohnung im Palazzo Canigiani in der Via de’ Bardi, berühmt durch George Eliots Roman Romola. Mit ihrer herrlichen Loggia, von der man auf den Arno und Fiesole blickte, erinnerte die Wohnung an den großen Stil, die kultivierte Eleganz, an die sich die Anglo-Florentiner hundert Jahre vorher so rasch gewöhnt hatten: Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts kostete ein Schloß mitunter weniger als eine antike Majolika. Es gab dort mehrere »bedeutende« Gemälde und viele »bedeutende« Möbel, darunter auch ein runder Tisch aus Porphyr und Kirschholz, der uns ausgesprochen gut gefiel. Doch das Unvergeßlichste an der Wohnung war gar nicht besonders imposant: es handelte sich um ein seltsames kleines Fenster in einem der Flure, ein Fenster, das auf halber Höhe der Wand begann und bis zum Fußboden reichte, so daß man sich auf den Teppich setzen und die Füße im Freien baumeln lassen konnte. In seiner Zeit am Victoria and Albert Museum hatte Pope-Hennessy sich den Ruf erworben, ein strenger, wenn nicht sogar brutaler Mensch zu sein, doch diesen Wesenszug bekamen wir bei unseren Besuchen nur selten zu spüren. Inzwischen war er schwach und krank und schwang das Zepter nur noch beim Tee oder beim Essen. Bei diesen gesellschaftlichen Anlässen ging es immer sehr englisch zu, was 148
bei seinem Status als selbsternannter Exilant überraschend war. (Michael Mallon erzählte uns, PopeHennessy sei nach 1986 nur noch dreimal in London gewesen.) Egal, wie heiß es war, stets wurde heißer Tee – sowie exklusive Sandwiches und Kuchen – serviert. Wie in den meisten italienischen Wohnhäusern gab es keine Klimaanlage, aber nicht aus Gewohnheit, wie bei den Italienern, sondern weil sich eine Klimaanlage auf Kunstwerke und Möbel schädlich auswirkt. Die Gäste, meistens Engländer oder Amerikaner, gingen im Wohnzimmer umher, wo Rutilio Manettis Gemälde Madonna mit Kind und dem kleinen Johannes dem Täufer und der heiligen Katharina von Siena über dem Kamin hing, oder unterhielten sich im Eßzimmer, unter einer Ansicht des Genfer Sees von Simon Malgo; nach Pope-Hennessys Tod wurde dieses Gemälde bei Christie’s für 178 500 Dollar verkauft. In unserem achtzigjährigen Gastgeber konnte man nur schwerlich den grimmigen Verteidiger von »Wertvorstellungen« wiedererkennen, der so heftig mit Roy Strong, seinem Nachfolger am Victoria and Albert Museum, gestritten hatte, oder den Kritiker, der einmal behauptet hatte, Dinge würden ihm mehr bedeuten als Menschen, oder auch nur den legendären provocateur, der sich gegen Mary McCarthys beißenden Spott verwahrt hatte (ein Esel schimpft den anderen Langohr!). Dieser Wesenszug zeigte sich in unserem Beisein nur ein einziges Mal. Wir hatten uns gerade hingesetzt, um zu essen, als er ganz beiläufig er149
wähnte, daß Sir Stephen Spender und seine Frau vor kurzem bei ihm zu Gast gewesen seien. Pope-Hennessy wußte natürlich, daß Spender mich ein paar Monate vorher wegen eines meiner Romane verklagt hatte. »Ich bin vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der mit Spender und Leavitt in derselben Woche zu Mittag gegessen hat«, sagte er leise kichernd. Pope-Hennessys Totenmesse – wie Acton, Scott Moncrieff und viele andere Anglo-Florentiner war er zum Katholizismus konvertiert – fand in einer kleinen Kirche an der Piazza Santissima Annunziata statt (und nicht in der großen Kirche Santissima Annunziata, wo Florentiner Familien seit Generationen ihre Hochzeiten, Taufen und Firmungen feiern; das wäre zu bombastisch gewesen). Es kamen weniger Trauergäste, als wir erwartet hatten. Die Schriftstellerin Shirley Hazzard kam aus Neapel, wo ihr Mann Francis Steegmuller erst eine Woche zuvor gestorben war. Der Musikkritiker Andrew Porter flog aus London ein, Everett Fahy, der Direktor für europäische Malerei am Metropolitan Museum of Art, aus New York. Thekla Clark, eine schon lange in Florenz lebende Amerikanerin, die bald darauf eine Biographie ihrer Freunde W. H. Auden und Chester Kallman veröffentlichte, kam aus Bagno a Ripoli. Erwartungsgemäß waren mehrere Florentiner Adlige anwesend und auch mehrere junge (und nicht mehr ganz junge) Exemplare jener italienischen Homosexuellen, deren oberstes Bestreben es zu sein scheint, sich bei den Adligen beliebt zu machen. Jeglicher Blickkontakt wurde 150
beharrlich vermieden; es wurde eine Messe gelesen; ein paar Worte wurden gesagt. Danach bei Robiglio, einer guten pasticceria unweit der schlichten Kirche, hätte einem die Pracht von Florenz nicht ferner erscheinen können, obwohl der Duomo am Ende der Via dei Servi so beeindruckend aussah wie immer. Gespräche über städtische Probleme – Smog, Verkehr, Touristen – drangen durch den Kaffeeduft, zusammen mit dem Zigarettenrauch und dem stetigen Refrain: »Das ist das Ende einer Ära.« Denn Pope-Hennessys Tod war kurz auf den von Acton (im Februar) und den von Haslip (im Juli) gefolgt. Es war wirklich das Ende einer Ära: Im Laufe eines knappen Jahres hatte die berühmte anglo-florentinische Kolonie, mit der es hundertfünfzig Jahre lang immer wieder auf und ab gegangen war, ihre drei letzten Denkmäler verloren. Wenn ich die letzten Absätze noch einmal lese, überrascht es mich natürlich, wie sehr ich, ohne es zu wollen, in den Ton der anglo-florentinischen Biographen verfallen bin, über den ich vorher noch gelästert habe. Welche Namen habe ich zum Beispiel bei der Schilderung von Pope-Hennessys Beerdigung genannt? Diejenigen, die der Leser vielleicht kennt. Und warum schreibe ich überhaupt über Pope-Hennessy, wo ich ihm doch nur ein paarmal begegnet bin und genausogut über irgendwelche anderen Leute hätte schreiben können? Noch heute läßt sich der Fehler 151
der Kolonie, die Besessenheit von Titeln und Ruhm, im florentinischen Wasserglas kaum vermeiden; sie gehört so stark zum Blick, daß sie sozusagen durch die Glasscheibe dringt und ein Teil des Betrachters wird. Der Schlüssel zur Geschichte der Ausländer in Florenz liegt, wie der Schlüssel zu Florenz, in der Provinzialität der Stadt; früher hat sich hier viel ereignet, doch das ist lange her, und im Laufe von anderthalb Jahrhunderten hat sich Florenz immer mehr in ein Museum verwandelt, und die ausländischen Einwohner – von denen viele anfangs Beobachter waren – wurden immer mehr als Teil der Ausstellung betrachtet. »Statt in England einer ungewissen Zukunft ins Auge zu blicken«, schreibt James Lord, »floh [Acton] ans andere Ende der Welt … Und als es für eine prächtige und rückhaltlose Apotheose zu spät war, kletterte er über die Mauer auf der Rückseite der Villa, in der er schließlich eingesperrt sein würde wie die legendäre Gestalt, die man als Sir Harold Acton kennt.« Für diese legendäre Gestalt wie für die meisten Mitglieder der Kolonie brach Florenz sein Versprechen einer Freiheit, die in anderen Ländern unvorstellbar war, das Trugbild der Erfüllung (George Emersons schwer faßbares »Es«) rückte in weite Ferne, und das Paradies der Verbannten offenbarte sich als das, was es eigentlich war: das eleganteste, interessanteste und angenehmste aller Gefängnisse.
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Danksagung
Für die vielfältige Hilfe bei der Recherche und beim Schreiben dieses Buches schulde ich den folgenden Personen Dank: Mark Roberts von der British Institute Library in Florenz; Liz Calder, die diese wunderbare Reihe entworfen hat; Colin Dickerman und Edward Faulkner von Bloomsbury; Jin Auh, Rose Gaete und Andrew Wylie von der Wylie-Agentur; James Lord; und ganz besonders Edmund White, dessen Förderung und Unterstützung in all den Jahren mir wahrscheinlich wichtiger waren, als ihm bewußt ist. Dieses Buch konnte einzig und allein Mark Mitchell gewidmet werden, der anderen Hälfte des »Wir«, das auf einigen Seiten als Erzähler fungiert. Mark nahm 153
mich 1993 zum ersten Mal mit nach Florenz; er kannte sich in der Stadt bereits so gut aus, daß ich es wochenlang nicht lernte, mich in Florenz zu orientieren, denn es war viel leichter, ihm einfach zu folgen. Er zeigte mir Benozzo Gozzolis Fresko im Palazzo Medici-Riccardi und das Gebäude, in dem E. M. Forster gewohnt hatte. Er stellte mich dem ehemaligen Priesterschüler aus Cosenza vor, der sich gern in barocke liturgische Gewänder kleidete, und nötigte mich, Kutteln zu probieren. Später, als ich bereits schrieb, machte er mich auf alle möglichen Bücher aufmerksam, die mir sonst vielleicht entgangen wären, las geduldig mehrere Fassungen meines Textes und ließ mich von seinen großen Fertigkeiten als Lektor profitieren. Wenn ich behaupte, daß das schmale Bändchen ohne ihn wohl kaum das Licht der Welt erblickt hätte, so ist das nicht übertrieben.
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Florenz in der Literatur – Literatur über Florenz
Sybille Bedford, Zeitschatten. Ein autobiographischer Roman. Hamburg: Rowohlt, 1994 Kinta Beevor, Der Garten im Himmel. Eine Kindheit in der Toskana. München: Heyne, 2000 E. M. Forster, Zimmer mit Aussicht. München: btb, 1998 E. M. Forster, Engel und Narren. München: Gold mann, o. J. Henry James, Bildnis einer Dame. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995 Michail Kusmin, »Die Abenteuer des Aime Leboeuf«. Frühe Romane. Leipzig: Insel, 1986 Mary McCarthy, Florenz. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1983, 1995 Walter Pater, Die Renaissance. Studien in Kunst und Poe155
sie. Übers. u. hg. von Wilhelm Schlötermann. Leipzig: Eugen Diederichs, 1902 (1 1866) Stendhal, Reise in Italien. Rome/Naples et Florence en 1817, München: Eugen Diederichs, 1966 (1 1911) John Addington Symonds, The Life of Michelangelo Buonarroti. Based on Studies in the Archives of the Buo narroti Family at Florence. Philadelphia: Univ. of Pennsylvania Press, 2002 (1 1893)
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Zimmer mit Aussicht auf den Arno Florenz, Hauptstadt der Toscana, Heimat der bedeutendsten Kunstschätze: Seit Jahrhunderten zieht der Mythos Florenz Künstler und Schriftsteller magisch an. Auf den Spuren berühmter Florenzreisender wie Clara Schumann bis Henry James wandelt David Leavitt durch die Straßen einer Stadt, auf die die Welt voller Sehnsucht blickt.