Betty Edwards
Garantiert zeichnen lernen Das Geheimnis der rechten Hirn-Hemisphäre und die Befreiung unserer schöpferischen Gestaltungskräfte Deutsch von Modeste zur Nedden Pferdekamp
Rowohlt Taschenbuch Verlag
Dank Für Anne und Brian Ich möchte all denen danken, die mir geduldig i gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Mein gilt Dr. J. William Bergquist, der mir mit wertv< und seiner selbstlosen Hilfsbereitschaft zur Sei Auch die folgenden Personen haben mich bei me stützt: Anne Bomeisler, Brian Bomeisler, John Farrell, Winifred Wasden, Kathryn Bomeisler, Lynn Tyner, Jeremy Tarcher, Janice Gallagher, John Brogna, meine Kollegen von der Venice High School, \ Trade-Technical College, von der California St Long Beach und von der University of California Auch meinen Schülern möchte ich an dieser St reichen Beiträge zu diesem Buch danken.
«Drawing on the Right Side of th Brain, A Course in Enhancing Creativity and Artistic Confidence» im VerlagJ. P. Tarcher, Inc., Los Angeles
Sonderausgabe Juni 2000 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juni 1998 Copyright © 1982 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Drawing on the Right Side of the Brain» Copyright © 1979 by Betty Edwards Alle deutschen Rchte vorbehalten Umschlaggestaltung Beate Becker Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 60694 '
Inhalt Vorwort 9 1 Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
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2. Sich selbst zum Ausdruck bringen: Die nonverbale Sprache der Kunst 33 3. Die zwei Hälften unseres Gehirns 39 4. Von links nach rechts, von rechts nach links: Die Erfahrung des Hinübergleitens 61 5. Zeichnen aus dem Gedächtnis: Ihr künstlerischer Werdegang 77 6. Die Umgehung des Symbolsystems: Wir zeichnen Ränder und Konturen
99
7. Raumformen wahrnehmen: Das Raum-Negativ wird zum Positiv
117
8. Ausdehnung in alle Richtungen: Perspektivisch zeichnen auf eine neue Art
137
9. Jeder Strich ist Teil des Ganzen: Richtige Proportionen 155 10. Von Angesicht zu Angesicht: Wir zeichnen Porträts 177 11. Vorstoß in die dritte Dimension: Wir sehen Licht und zeichnen Schatten 12. Das Zen des Zeichnens: Der Künstler in uns erwacht Anhang 223 Postskriptum 224 Glossar 230 Bibliographie 233
217
205
Vorwort Dieses Buch ist das Ergebnis einer zehnjährigen Suche nach einer neuen Methode des Kunstunterrichts für Menschen der verschiedensten Altersstufen und Berufe. Ich wollte, als ich mich auf die Suche begab, ein Rätsel lösen, das mir keine Ruhe ließ: Warum fiel es eigentlich der Mehrzahl meiner Schüler so schwer, zeichnen zu lernen, während es mir selbst stets leicht von der Hand gegangen war und großen Spaß gemacht hatte? Schon als Kind, mit acht, neun Jahren, konnte ich ganz anständig zeichnen. Ich war wohl eines von den wenigen Kindern, die das Glück hatten, auf jene besondere Art und Weise zu sehen, die zum Zeichnen befähigt. Ich kann mich noch genau entsinnen, wie ich als Kind, bevor ich etwas zeichnete, im stillen zu mir sagte, erst muß ich «so» machen. Dieses «So» habe ich nie genauer zu bestimmen versucht, doch ich wußte, daß ich den Gegenstand, den ich abzeichnen wollte, nur eine Zeitlang «anzuschauen» brauchte, bis dieses «So» eintrat. Dann ging es «wie von selbst». Natürlich wurde ich von allen, die meine Zeichenkünste sahen, bewundert und gelobt. «Großartig», sagten die Leute, «wie begabt Betty ist. Sie ist ein Naturtalent.» Wie alle Kinder fand ich es schön, für etwas Besonderes gehalten zu werden, und war ernsthaft in Gefahr, auch daran zu glauben. Doch im stillen empfand ich solches Lob als unangebracht. Zeichnen war doch so leicht — man brauchte ja nichts weiter zu tun, als die pinge auf jene besondere Weise anzuschauen. Jahre später, als ich zu unterrichten begann, versuchte ich, die Schüler mit meinen Ansichten über das Zeichnen vertraut zu machen. Doch wollte das nicht so recht funktionieren, und in einer Klasse mit etwa dreißig Schülern lernten zu meiner Verzweiflung immer nur einige wenigej richtig zu zeichnen. Angesichts dieser unbefriedigenden Ergebnisse begann ich, mich selbst beim Zeichnen zu beobachten; ich versuchte herausfinden, was ich eigentlich tat, sobald sich diese andere Sehweise in mir einstellte. Zugleich fing ich an, meine Schüler zu befragen. Auffallend war, daß die wenigen, die es zu etwas brachten, es nicht allmählich lernten; vielmehr kam der Durchbruch plötzlich. Ich nahm diese Schüler ins Verhör: «Was macht ihr jetzt beim Zeichnen anders als in der letzten Woche, als es noch nicht so gut ging?» Sie gaben mir fast alle dieselbe Antwort: Sie würden jetzt
Zschauen.Doch so viele Fragen ich ihnen n nicht in der Lage zu sein, mit Worten zu erändert hatte. ine neue Spur. Ich zeichnete beim Unterl meinen Schülern zu erklären, was ich taf imerk richtete und warum ich bestimmte mte Weise wiedergab und nicht anders, äufig, daß ich mitten im Satz steckenblieb Faden. Ihn wiederanzuknüpfen fiel mir eigentlich wollte ich es in solchen Augentlich. Doch riß ich mich schließlich zusamSatz fort — und mußte dann feststellen, daß ng zur Zeichnung verloren hatte; sie ermd machte mir Schwierigkeiten. Auf diese Ich konnte entweder sprechen oder zeichsugleich. über den Vorgang des Zeichnens ergaben h Zufall. Als sich meine Schüler einmal mit besonders abmühten, verteilte ich Reprohnung eines alten Meisters und schlug vor, ;u stellen und es umgekehrt abzuzeichnen, berraschung (der ihren wie der meinen) ere Zeichnungen zustande. Wie war das :gal, ob richtig oder falsch herum — blieben iber auch Fragen, ergaben sich aus dem den mit dem leeren Raum. Es stellte sich lülern wirklichkeitsgetreuere Zeichnungen nicht auf die Form konzentrierten, die sie ;rn auf den sie umgebenden leeren Raum, inem Rätsel. Warum sollte das Zeichnen der Zwischenräume zwischen den Gegenen Darstellung ihrer Umrisse führen? Ich eigenes Vorgehen beim Zeichnen nach, Hedenstellende Antwort auf diese Fragen, lemühte — es gelang mir nicht, das Prinzip : diese Beobachtungen in eine Ordnung n begann ich, eine ganze Reihe von Unter:reich der Gehirnforschung, insbesondere Hlirnspaltungs-Forschung zu lesen, die m ziger Jahren von dem Neurophysiologen dizin-Nobelpreisträger 1981) und seinen
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Vorwort
Mitarbeitern betrieben worden waren. Dieses Forscherteam hatte festgestellt, daß beide Gehirnhälften (Hemisphären) an der Steuerung der höheren kognitiven Funktionen des Menschen beteiligt sind und daß sie Informationen auf unterschiedliche Weise verarbeiten. Bei der Beschäftigung mit den Untersuchungen Sperrys kam mir unversehens die Idee, daß das zeichnerische Können eines Menschen in erster Linie von einer anderen Fähigkeit abhängen muß - der Fähigkeit nämlich, von der «normalen» Informationsverarbeitung zu einer ganz anderen Form des Umgehens mit optischen Wahrnehmungen überzuwechseln - von einer sprachlichen, analytischen Verarbeitung (in meinem Buch «LinksModus», «L-Modus» genannt) zu einer räumlichen, ganzheitlichen Verarbeitung (die ich als «Rechts-Modus», «R-Modus» bezeichne). Diese Erkenntnisse - ich werde sie im dritten Kapitel genauer darstellen - halfen mir, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum manche meiner Schüler leichter zeichnen lernten als andere. Von nun an, vor allem während der Arbeit an meiner Dissertation, war ich damit beschäftigt, die theoretischen Voraussetzungen meiner Grundthese zu formulieren und die Reihenfolge der Zeichenübungen festzusetzen, die den Aufbau dieses Buches bestimmt. Meine These lautet, daß sich der Mensch eine neue Art zu sehen anzueignen vermag, indem er bestimmte Funktionen seiner rechten Gehirnhälfte «anzapft», und daß er dadurch auf eine einfache Weise zeichnen lernen kann. Auf dieses Ziel hin ist die Reihenfolge der Übungen angelegt. Ich bin davon überzeugt, daß meine in diesem Buch modellhaft beschriebene Lehrmethode des Hinundherwechselns zwischen dem verbalen, logischen Denken und dem ganzheitlichen intuitiven Erfassen der Umwelt auch von anderen Lehrern und Forschern - sei es auf dem Gebiet der Kunst oder auch in anderen Fächern - übernommen und weiterentwickelt wird. Wie auch immer Wissenschaftler in zukünftigen leiten die strikte Trennungibestimmter Hirnfunktionen und ihre Zuordnung zu jeweils einer der beiden Hirn-Hemisphären beurteilen mögen - in der praktischen Arbeit mit Schülern unterschiedlichsten Niveaus hat sich meine Methode, die auf dieser Zuordnung basiert, als brauchbar und zuverlässig erwiesen. Mit Hilfe dieser Lehrmethode ist es mir gelungen, das Problem zu lösen, das der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war: wie man allen Teilnehmern eines Zeichenkurses das Zeichnen beibringen kann, und nicht nur einigen wenigen.
1 Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Das Zeichnen ist ein unbegreiflicher Vorgang. Es ist mit dem Sehen so eng verknüpft, daß beides kaum voneinander zu trennen ist. Die Fähigkeit zu zeichnen hängt von der Fähigkeit ab, mit den Augen des Künstlers zu sehen - eine Sehweise, die das Leben in . erstaunlicher Weise zu bereichern vermag. Einen Menschen in die Kunst des Zeichnens einzuführen ähnelt in vieler Hinsicht dem Versuch, Unterricht im Radfahren zu geben: Beides läßt sich mit Worten kaum beschreiben. Wenn Sie jemandem das Radfahren beibringen wollen, werden Sie vielleicht sagen: «Also, jetzt steig einfach auf, tritt immer feste auf die Pedale, halt die Balance, und ab geht's.» Natürlich haben Sie damit überhaupt nicht erklärt, wie man radfährt, und so werden Sie schließlich sagen: «Laß mich mal aufsteigen, ich werd's dir zeigen. Guck zu, wie ich es mache.» So ist es auch mit dem Zeichnen. Die meisten Zeichenlehrer und Verfasser von Zeichenlehrbüchern beschwören den Anfänger, seine «Sehweise zu verändern» und überhaupt erst einmal «sehen zu lernen». Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß sich diese Sehweise ebenso schwer beschreiben läßt wie das Balancehalten beim Radfahren, und oft enden die Erklärungsversuche des Lehrers damit, daß er sagt: «Sehen Sie sich dies als Vorbild an und probieren Sie einfach drauflos. Wenn Sie fleißig üben, werden Sie schon eines Tages dahinterkommen.» Während fast jeder radfahren lernt, gibt es viele, die mit dem Problem des Zeichnens nicht fertig werden. Genauer gesagt: Die meisten Menschen lernen es nie, bewußt genug zu sehen, um zeichnen zu können.
Zeichnen - eine magische Fähigkeit? Da anscheinend nur wenige Menschen von Natur aus die Fähigkeit besitzen, richtig zu sehen und zu zeichnen, werden Künstler oft für gottbegnadete Wesen gehalten. Vielen Menschen erscheint das Zeichnen als eine geheimnisvolle, jenseits des menschlichen Begriffsvermögens liegende Tätigkeit. Die Künstler selbst tun von sich aus im allgemeinen nur wenig, um diese Aura des Geheimnisvollen aufzulösen. Richten wir an einen Künstler, der naturalistisch zu zeichnen versteht, die Frage: «Wie machen Sie das nur, daß das, was Sie da zeichnen, so aussieht wie in Wirklichkeit?» (zum Beispiel ein Porträt oder eine Landschaft), so wird er womöglich antworten: «Tja, ich hab eben eine künstlerische Ader», oder «Weiß ich selber nicht. Ich fange einfach an, probier irgendwas aus und mach immer so weiter»,
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
oder er sagt: «Ich schau mir den Menschen an (oder die Landschaft), und was ich sehe, zeichne ich.» Die letzte Antwort wirkt logisch und freimütig. Doch näher betrachtet trägt sie keineswegs zur Klärung unserer Frage bei, sondern vielmehr zur Bestätigung des Eindrucks, daß Zeichnenkönnen eine unbegreifliche, magische Fähigkeit ist (Abb. 1). Die Auffassung, künstlerische Fähigkeiten seien ein Wunder, veranlaßt die Menschen zwar dazu, Künstler und ihre Werke zu bestaunen, doch sie trägt keineswegs dazu bei, die Menschen selbst zum Zeichnen zu ermutigen, und sie erschwert den Lehrern ihre Aufgabe, den Schülern den Zeichenvorgang zu erklären. So kommt es, daß sehr viele Menschen glauben, sie sollten sich lieber nicht zu einem Zeichenkursus anmelden, weil sie nicht zeichnen können. Ist Ihnen schon mal jemand begegnet, der nicht an einem Französischkurs teilnehmen wollte, weil er kein Wort Französisch versteht, oder jemand, der es nicht wagt, sich um eine Lehrstelle als Maurer zu bewerben, weil er keine Ahnung hat, wie man ein Haus baut?
Zeichnen kann man lehren und lernen Bald werden Sie die Entdeckung machen, daß jeder normale Mensch, der einigermaßen gute Augen hat und bei dem Augen und Hände aufeinander abgestimmt sind — der zum Beispiel imstande ist, eine Nadel einzufädeln oder einen Ball aufzufangen —, zeichnen lernen kann. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist die manuelle Geschicklichkeit keineswegs das Wichtigste beim Zeichnen. Verfügen Sie über eine leserliche Handschrift oder Druckschrift, dann reicht Ihre Fingerfertigkeit vollkommen aus, um zeichnen zu lernen. Auf die Hand, mit der Sie zeichnen, brauchen wir hier zunächst nicht weiter einzugehen, doch über das Auge können wir uns nicht gründlich genug unterhalten. Zeichnen zu lernen bedeutet mehr als die Aneignung einer gewissen handwerklichen Geschicklichkeit. Durch die Beschäftigung mit diesem Buch werden Sie sehen lernen. Das heißt, Sie werden lernen, mit optischen Eindrücken auf die dem Künstler eigene besondere Weise umzugehen. Diese unterscheidet sich von der Ihnen gewohnten Verarbeitung visueller Informationen: sie scheint von Ihnen zu verlangen, daß Sie Ihr Gehirn auf eine andere Weise betätigen als sonst. Es ist deshalb wichtig, daß Sie sich damit vertraut machen, wie Ihr Gehirn mit visuellen Informationen umgeht. Forschungen auf
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
dem Gebiet der Neurophysiologie haben in den letzten Jahren viele völlig neue Erkenntnisse über das menschliche Gehirn, dieses Wunder an Kapazität und Komplexität, zutage gefördert. Und eines der Dinge, die wir zu verstehen beginnen, ist, wie die besonderen Eigenschaften unseres Gehirns uns dazu befähigen, unsere Wahrnehmungen bildlich festzuhalten. Das Zeichnen und das Sehen
Das Geheimnis der zeichnerischen Gabe scheint zumindest teilweise in der Fähigkeit begründet zu sein, zu einer anderen Art des Sehens und Wahrnehmens überwechseln zu können. Gelingt es uns, auf jene besondere, Künstlern eigene Weise zu sehen, dann können wir auch
zeichnen. Das heißt jedoch nicht, daß die Zeichnungen großer Künstler wie Leonardo da Vinci oder Rembrandt auch nur den geringsten Teil der einzigartigen Kraft, die von ihnen ausgeht, einbüßten, nur weil wir die Vorgänge im Gehirn, die zu ihrer Erschaffung führten, etwas genauer kennen. Im Gegenteil, im Lichte wissenschaftlicher Forschung erscheinen solche Meisterwerke sogar noch bewundernswerter, weil sie auch den Betrachter dazu anregen können, sich die Wahrnehmungsweise des Künstlers — und sei es nur für Augenblicke — anzueignen. Wer wirklichkeitsgetreu zeichnen kann, ist noch lange kein Künstler! Doch die Grundlagen des Zeichnens kann jeder erlernen, dem es gelingt, seine Umwelt «mit den Augen des Künstlers» wahrzunehmen.
Die Sehweise des Künstlers Zeichnen ist wahrhaftig nicht schwer. Das Problem ist das Sehen oder, genauer ausgedrückt, das Überwechseln zu einer besonderen Sehweise. Im Augenblick werden Sie mir diese Behauptung vielleicht nicht glauben können. Sie meinen, Sie sähen die Dinge recht genau, und die Schwierigkeit bestehe darin, sie zu zeichnen. Doch das Gegenteil trifft zu - und deshalb habe ich die Übungen in diesem Buch mit dem Ziel entwickelt und zusammengestellt, Ihnen zu helfen, dieses geistige Umschalten zu vollziehen. Sie werden sich mit Hilfe der Übungen zwei Fähigkeiten aneignen, die beide von großem Nutzen für das Zeichnenlernen sind: Erstens werden Sie sich den Zugang zu Ihrer rechten Hirn-Hemisphäre bewußt und wissentlich eröffnen und dadurch in einen leicht veränderten Bewußtseinszustand gelangen können, und zweitens werden Sie auf Grund dessen lernen, Ihre Umwelt auf eine andere Art zu sehen.
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Viele Künstler machen die Beobachtung, daß sie die Gegenstände beim Zeichnen anders sehen und dabei eine leichte Veränderung ihres Bewußtseinszustandes empfinden. In diesem subjektiven Zustand fühlen sie sich geistig abwesend; sie sind «mit ihrer Arbeit eins». Sie erfassen und entdecken Beziehungen und Zusammenhänge, die ihnen im alltäglichen Leben entgangen waren. Sie verlieren jedes Zeitgefühl, ihre Gedanken lassen sich kaum noch in Worte kleiden. Sie sind vollkommen wach und konzentriert und dennoch entspannt und gelöst — ein Zustand, den sie als lustvolle, fast mystische Aktivierung des Geistes empfinden.
Auf den Bewußtseinszustand achten Der leicht veränderte, mit dem Gefühl des Abwesendseins verbundene Bewußtseinszustand, den fast alle beim Zeichnen, Malen oder Modellieren oder bei irgendeiner anderen kreativen, künstlerischen Tätigkeit empfinden, ist auch Ihnen vermutlich nicht ganz unbekannt. Auch Sie haben vielleicht schon einmal eine solche geringfügige Veränderung während einer ganz alltäglichen Handlung beobachtet. Dafür gibt es Beispiele genug: etwa das gelegentliche Hinübergleiten vom gewohnten Wachbewußtsein zum Tagtraum oder die «Selbstvergessenheit» bei der Lektüre eines Buches. Weitere Tätigkeiten, die unverkennbar ein Überwechseln in einen anderen Bewußtseinszustand hervorrufen, sind zum Beispiel Meditieren, Laufen, Handarbeit, Tippen, Musikhören und natürlich auch Zeichnen. Auch das Fahren auf der Autobahn kann zu einer geringfügig veränderten geistigen Verfassung führen, die mit dem Bewußtseinszustand während des Zeichnens einige Ähnlichkeit hat. Immerhin haben wir es auf der Autobahn mit optischen Wahrnehmungen zu tun, müssen wir doch die ständig sich verändernden Verhältnisse erfassen und verarbeiten und viele komplizierte Situationen innerhalb der gesamten Verkehrslage überblicken. Viele Leute stellen fest, daß sie während des Fahrens kreative Denkarbeit leisten, oft jedes Zeitgefühl verlieren und eine angenehme Gelöstheit verspüren. Vielleicht aktivieren diese geistigen a tigkeiten die gleichen Gehirnfunktionen, die wir auch beim Zeichnen benutzen. Wenn allerdings dichter Verkehr herrscht, venn wir es eilig haben oder wenn der Beifahrer ständig auf uns -inredet, stellt sich der andere Bewußtseinszustand nicht ein. Die r ünde dafür werde ich im dritten Kapitel erörtern.
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Der Schlüssel zum Zeichnenlernen ist also die Fähigkeit, sich selbst die Bedingungen zu schaffen, die den Übergang zu jenem anderen Modus der Informationsverarbeitung fordern —zu jenem leicht veränderten Bewußtseinszustand, der Sie in die Lage versetzt, klar, genau zu sehen. Wenn Sie diesen Zustand herbeiführen können, wird es Ihnen leichtfallen, mit dem Zeichenstift festzuhalten, was Sie sehen - auch dann, wenn Sie niemals Zeichenunterricht gehabt haben. Ist Ihnen diese besondere Art der Wahrnehmung und Verarbeitung optischer Eindrücke erst einmal vertraut, werden Sie ohne Schwierigkeiten in den anderen Bewußtseinszustand überwechseln können, wann immer Sie es wollen.
Schöpfen Sie aus Ihrem kreativen Selbst In meinen Augen verfügen Sie über das kreative Potential, Ihrem Selbst zeichnerisch Ausdruck zu verleihen. Mein Ziel ist, Sie mit den Mitteln zur Freisetzung dieses Potentials zu versehen, damit Sie sich bewußt Zugang zu Ihrer Intuition, Ihrer Erfindungsgabe und Vorstellungskraft verschaffen können -jenen Potentialen, die infolge unserer einseitig auf sprachliche Kommunikation, Wissenschaft und Technologie ausgerichteten Kultur und Erziehung weitgehend ungenutzt bleiben. Sie werden zwar durch die Beschäftigung mit diesem Buch zeichnen lernen, doch das ist für mich nur ein Mittel zum Zweck. Beim Zeichnenlernen werden Sie nämlich die Kräfte und Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte anzuzapfen beginnen, Sie werden anders zu sehen lernen und — wie der große Bildhauer Rodin es poetisch ausdrückte — zum Vertrauten der Natur; Ihr Auge wird aufgeschlossen für die schöne Sprache der Form, so daß es Ihnen leichtfällt, sich in dieser Sprache auszudrücken. Während des Zeichnens werden Sie tief in einen Bereich Ihres Geistes eintauchen, der durch das endlose Einerlei unseres Alltags so häufig verdeckt wird. Diese Erfahrung wird Ihnen helfen, die Dinge in ihrer Totalität neu wahrzunehmen und die ihnen zugrunde liegenden Strukturen und zahllose Möglichkeiten zu neuen Kombinationen zu erkennen. Mag das Zeichnen auch noch so viel Freude machen und als lohnende Beschäftigung empfunden werden, es ist doch nur ein Schlüssel, der die Tür zu anderen Zielen öffnet. Ich hoffe, daß sich Ihre kreativen Kräfte durch das sich erweiternde Bewußtsein Ihrer geistigen Fähigkeiten entfalten werden. Die Übungen in diesem Buch sollen Ihnen helfen, mehr Vertrauen zu gewinnen zu
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Ihren persönlichen Entscheidungen und zu Ihrer Fähigkeit, Probleme zu lösen. Das Kräftepotential der schöpferischen, imaginativen Hemisphäre ist nahezu unbegrenzt. Das Zeichnen ist nur ein \Veg, diese Kräfte kennenzulernen. Es zwingt Sie, sich selbst zu offenbaren. Indem wir uns dieses wahre Ziel vor Augen halten, wollen wir nun darangehen, den Schlüssel zu schmieden.
Ein Weg zur Kreativität Die Übungen und Anleitungen in diesem Buch sind für Menschen gedacht, die überhaupt nicht zeichnen können und glauben, sie hätten wenig oder gar kein Talent dazu, die es aber doch gern lernen möchten. Die Methode, die ich vermitteln will, unterscheidet sich insofern von den Verfahren anderer Zeichenlehrbücher, als die Übungen auf die Förderung von Fähigkeiten abzielen, über die Sie bereits verfügen und die Sie nur zu entdecken und zu erschließen brauchen. Jeder, der seine kreativen Kräfte - auf welchem Gebiet und zu welchem Zweck auch immer - besser nutzen und deshalb die Blockierung dieses Potentials lösen möchte, kann von den Übungen in diesem Buch profitieren. Auch Lehrern und Eltern können Theorie und Praxis meiner Methode hilfreiche Anregungen geben, die kindliche Kreativität zu fördern. Am Ende des Buches finden Sie ein kurzes Postskriptum, in dem ich einige allgemeine Vorschläge für die Übertragung meiner Methode auf den Unterricht mit Kindern mache. Mit einem weiteren Postskriptum wende ich mich an Kunststudenten. Dieses Buch basiert auf einem Kursus von neun Lektionen, den ich seit ungefähr fünf Jahren für Personen der verschiedensten Alters- und Berufsgruppen halte. Die meisten meiner Schüler bringen nur sehr geringe Vorkenntnisse mit und sind voller Zweifel, ob sie begabt genug sind, das Ziel des Kurses zu erreichen. Doch schon bald werden sie zuversichtlicher, und am Ende haben sie fast ausnahmslos eine Fähigkeit zu zeichnen entwickelt, die sie selbst überrascht und Ihnen das nötige Selbstvertrauen gibt, ihre schöpferischen Ausdruckskräfte in anderen Kursen oder durch selbständiges Arbeiten weiter zu schulen. verblüffend ist, jedenfalls bei der Mehrzahl der Schüler, das schnelle Tempo ihrer Fortschritte bei der Entfaltung ihres zeichnerischen Könnens. Wenn Menschen, die im Zeichnen ungeübt sind, lernen, zur künstlerischen Sehweise überzuwechseln — also
unu uic rvunst aes Kaaianrens
zum «R-Modus» (vgl. S. 56) —, dann sind sie meinen Erfahrungen zufolge auch imstande, sich ohne weitere Anleitung zeichnerisch weiterzubilden. Anders ausgedrückt: Sie können bereits zeichnen doch alte Sehgewohnheiten blockieren diese Fähigkeit in Ihnen Mit Hilfe der Übungen in diesem Buch können Sie diese Blockierung beseitigen. Durch die Übungen werden Sie bewußter wahrzunehmen lernen, auf welche Weise Ihr Denken funktioniert, genauer: wie Ihre beiden Gehirnhälften arbeiten - einzeln, gemeinsam oder einander entgegengesetzt. Wie den meisten meiner Schüler wird Ihnen Ihr Leben reicher erscheinen, weil Sie mehr und intensiver sehen. Wirklichkeitsgetreu
zeichnen
-
ein
Mittel
zum
Zweck
Die meisten Übungen, die Sie in diesem Buch finden, sind darauf ausgerichtet, Ihre Fähigkeit zum wirklichkeitsgetreuen (akademischen) Zeichnen zu fördern. Sie werden lernen, einen Gegenstand oder eine Person möglichst so mit dem Zeichenstift abzubilden, wie Sie sie vor sich sehen, wie sie Ihnen erscheinen. Damit will ich indes keineswegs andeuten, daß eine solche naturalistische Darstellung höher zu werten sei als andere Arten des künstlerischen Ausdrucks. In gewissem Sinne halte ich das Streben nach wirklichkeitsgetreuer Darstellung für eine Durchgangsphase, die ein Mensch zumeist bereits als Kind im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren hinter sich läßt, wenn seine schöpferischen Ausdrucksfähigkeiten - ein seltener Idealfall - von Eltern und Erziehern gefördert werden. Naturalistisch zeichnen zu können, ist in dreierlei Hinsicht eine wertvolle Gabe. Erstens wird man geschult, genau und gründlich hinzusehen. Zweitens gewinnt man Vertrauen in seine schöpferischen Fähigkeiten, die sich in den Augen vieler Laien allein in der Beherrschung der naturalistischen Zeichenkunst kundtun. Selbst Menschen, die in künstlerischen Berufen arbeiten-Kunstlehrer, Designer, Graphiker, aber auch Maler und Bildhauer -, nahmen an meinen Kursen teil und vertrauten mir an, daß sie es als Mangel empfanden, nicht naturgetreu zeichnen zu können. Um diesen Mangel zu verbergen, mußten sie sich bisweilen komplizierter, komischer und zugleich trauriger Strategien und Winkelzüge bedienen. Eine wirksame Hilfe, um diesem Dilemma zu entgehen, besteht darin, die blockierte Fähigkeit zum realistischen Zeichnen freizusetzen. Die in diesem Buch dargelegten Methoden können dazu beitragen, diese Blockierungen zu durchbrechen und Ihnen Mut zu machen, Ihr neu gewonnenes kreatives Potential auch in anderen Bereichen künstlerischen Schaffens, mit anderen Darstellungsformen und -mittein, zu
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
erproben. Drittens werden Sie lernen, zu einer neuen Art zu denken überzuwechseln, dem R-Modus, der Ihnen helfen wird, Probleme - welcher Art auch immer - auf eine kreative und klarsichtige Weise zu lösen. Warum Gesichter?
Eine Reihe von Übungen und Lernsequenzen in diesem Buch sollten Sie in die Lage versetzen, Porträts zu zeichnen, die Ihrem Modell gleichen. Lassen Sie mich erklären, weshalb ich der Meinung bin, daß Porträtzeichnen auch gerade für den Anfänger von Nutzen ist. Generell gilt: Jede Art zu zeichnen ist gleich schwer. Alle
Aufgaben haben den gleichen Schwierigkeitsgrad. Ob es sich um das Zeichnen von Stilleben, von Landschaften, Figuren, Gegenständen aller Art — auch imaginäre — oder um Porträts handelt, stets ist dasselbe Können und dieselbe Sehweise notwendig. Es ist immer der gleiche Vorgang: man sieht etwas «da draußen» (imaginäre Gegenstände werden mit dem geistigen Auge «gesehen»), und dann zeichnet man, was man sieht. Warum nun habe ich für bestimmte Übungszwecke das Porträtzeichnen ausgesucht? Aus dreierlei Gründen. Erstens: Viele Anfänger glauben, das Schwerste von allem sei, das Gesicht eines Menschen zu zeichnen. Wenn sie feststellen, daß sie durchaus imstande sind, ein Porträt zu zeichnen, fühlen sie sich ermutigt und machen schnellere Fortschritte. Ein zweiter Grund, wichtiger noch, ist der, daß die rechte Hemisphäre des Gehirns auf das Wiedererkennen von Gesichtern «spezialisiert» ist. Da wir ja gerade zur rechten Gehirnhälfte Zugang finden möchten, liegt es nahe, sich für einen Gegenstand zu entscheiden, mit dem umzugehen sie gewohnt ist. Und drittens sind Gesichter faszinierend. Erst wenn Sie einen Menschen zeichnen, werden Sie sein Gesicht wirklich wahrnehmen. Einer meiner Schüler sagte einmal: «Ehe ich zu zeichnen anfing, habe ich niemals ein Gesicht wirklich gesehen. Nun aber finde ich seltsamerweise jedes Gesicht schön.» Zeichenmaterial
Für die Übungen in diesem Buch brauchen Sie nur ganz einfaches Material: normales, saugfähiges Schreibmaschinenpapier (eine Sorte, die nicht zum Radieren geeignet ist, da Bleistiftstriche darauf leicht verschmieren) oder einen einfachen Zeichenblock. Ferner brauchen Sie einen Bleistift und einen Radiergummi. Am besten geeignet ist ein Bleistift Nummer 4B, dessen Mine weich ist und eine klare dunkle Linie zeichnet, doch ein gewöhnlicher Schreibstift Nummer 2 ist fast ebenso gut. Später werden Sie noch
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
anderes Material dazunehmen wollen — vielleicht Kohle oder einen Filzstift oder grau und braun getönte Zeichenstifte und so fort. Doch für die meisten Übungen reichen Papier, Bleistift und Radiergummi vollkommen aus. Immer nur ein Schritt auf einmal
Im Verlauf meiner Lehrtätigkeit habe ich mit den verschiedensten Schritt für Schritt aufeinander aufbauenden Übungen, Lernsequenzen und Übungskombinationen experimentiert. Die in diesem Buch aufgeführten Sequenzen haben sich in meinen Kursen als die erfolgreichsten erwiesen. In den ersten drei Kapiteln gebe ich einen Teil der Theorie wieder, die meiner Unterrichtsmethode zugrunde liegt, darunter eine kurze Darstellung neuester Erkenntnisse der Hirnforschung, die ich mir bei der Lösung des Problems, wie man Menschen auf eine einfache und effektive Weise das Zeichnen beibringen kann, zunutze gemacht habe. Wenn Sie im vierten Kapitel mit den Übungen beginnen, werden Sie bereits über ein Vorwissen verfügen, auf Grund dessen Sie erkennen können, wie ich diese Übungen entwickelt habe und warum sie zu den jeweils notwendigen Lernschritten führen. Die Übungsfolge ist so angelegt, daß man auf jeder Stufe Lernerfolge erzielt und Zugang zu jenem bereits beschriebenen neuen Modus der Informationsverarbeitung erhält. Es ist wichtig, daß bei diesem Lernprozeß die gewohnte Art zu denken so wenig wie möglich verunsichert wird. Deshalb bitte ich Sie, die Übungen in der hier festgelegten Reihenfolge durchzuführen. Ich habe die Zahl der Übungen, die ich Ihnen empfehle, auf ein Minimum beschränkt, doch wenn es Ihre Zeit erlaubt, zeichnen Sie mehr, als verlangt wird: Wählen Sie sich selbst Gegenstände aus und erfinden Sie eigene Übungen hinzu. Je mehr Sie aus eigenem Antrieb zeichnen, desto schneller werden Sie vorankommen. Zu diesem Zweck schlage ich in der Randspalte häufig Übungen vor, die die im Text gestellten Aufgaben ergänzen. Es ist bei den meisten Übungen wichtig, daß Sie die Anleitung ganz durchlesen, ehe Sie zu zeichnen beginnen, und sich auch die abgebildeten Zeichnungen anderer Schüler genau ansehen, wenn ich Ihnen dies empfehle. Noch ein Tip: Bewahren Sie alle Ihre Zeichnungen auf, damit Sie am Ende des Buches überblicken können, welche Fortschritte Sie gemacht haben. Definition der Fachausdrücke
Am Ende meines Buches finden Sie ein Glossar. Manche Begriffe werden schon im Text ausreichend erklärt. Im Glossar habe ich
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
deshalb vor allem Ausdrücke zusammengestellt, die ich vorher nicht so präzis definiert habe, zum Beispiel die Begriffe «Valeurs» oder «Komposition», die längst Eingang in unsere Umgangssprache gefunden haben, jedoch in der Terminologie der bildenden Künste bisweilen eine ganz andere Bedeutung haben. Daher empfehle ich, zunächst einen Blick auf das Glossar zu werfen, ehe Sie sich in den Text vertiefen.
Zeichnungen vor Kursusbeginn: Der Beweis Ihrer künstlerischen Fähigkeiten Ehe Sie weiterlesen, möchte ich Sie nun bitten, vier Zeichnungen anzufertigen, die den Stand Ihres zeichnerischen Könnens demonstrieren, bevor Sie von der im folgenden dargelegten Theorie «infiziert» werden. Anfängern ist diese Bitte meist recht unangenehm: Sie werden noch befangener, als sie es sowieso schon sind. Doch wenn Sie ihr jetzt folgen, werden Sie bei der ersten Aufgabe im vierten Kapitel zuversichtlicher sein, daß Sie wirklich zeichnen lernen können, und Sie werden eine größere Bereitschaft spüren, sich auf die Übungen einzulassen. Viele meiner Schüler waren im nachhinein froh, daß sie diese ersten Zeichnungen angefertigt hatten. Sie waren für sie eine große Hilfe, die Entwicklung ihres zeichnerischen Könnens abzuschätzen. Sobald sie nämlich Fortschritte machen, werden sie anscheinend von Gedächtnisschwund befallen. Sie vergessen, wie ihre Zeichnungen aussahen, ehe sie mit dem Kursus begannen. Und mit dem Fortschritt wächst auch ihre Kritik gegenüber den eigenen Werken. Sie sind nie ganz zufrieden. Die «Vorher»Zeichnungen liefern einen recht zuverlässigen Maßstab für Ihre Fortschritte. Bewahren Sie alle Ihre Zeichnungen auf. Später werden wir sie wieder betrachten und sehen, wie Sie Ihre Fähigkeit zu zeichnen weiterentwickelt haben.
Die ersten vier Zeichnungen Nehmen Sie Bleistift und Papier, i jede Zeichnung dürfen Sie zehn, f zehn, zwanzig Minuten oder läng verwenden, je nach Wunsch. Verj sen Sie nicht, Ihre Zeichnungen n einem Datum zu versehen. Erste Aufgabe: Zeichnen Sie einen Menschen. Wichtig ist, daß Sie be dieser Übung keine Vorlage, kein dell zum Abzeichnen verwenden. Zweite Aufgabe: Zeichnen Sie den Kopf eines Menschen ab — zum Bi spiel während er schläft oder vor c Fernsehgerät sitzt. Sie können siel auch vor einen Spiegel setzen und Ihr eigenes Gesicht zeichnen. Ben zen Sie keine Fotografie als Vorlai Dritte Aufgabe: Zeichnen Sie Ihre < gene Hand! Die Haltung ist beliet Sind Sie Rechtshänder, zeichnen ! Ihre linke, sind Sie Linkshänder, zeichnen Sie Ihre rechte Hand ab Vierte Aufgabe: Stellen Sie einen St vor sich hin, und zeichnen Sie ihn Benutzen Sie keine Fotografie als Vorlage!
Zeichnungen meiner Schüler vor und nach dem Kursus
Wenn Sie fertig sind: Schreiben Sie
Nun möchte ich Ihnen gern einige Zeichnungen meiner Schüler vorlegen, die typische Veränderungen ihres zeichnerischen Könnens während des etwa zwei Monate laufenden Kurses erkennen lassen. Die meisten Schüler, deren Zeichnungen auf den folgenden drei Seiten abgebildet sind, nahmen an einem Neun-Wochen-
die Rückseite jedes Blattes eine ku Bewertung — was Ihnen an Ihrer Zeichnung gefällt und was.nicht. Diese Bemerkungen werden in ein gen Wochen, wenn Sie alle Übung hinter sich gebracht haben, von gr ßem Interesse für Sie sein.
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
/.eicnnen und die Kunst des Radfahrens
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Kursus teil. Sie zeichneten einmal wöchentlich drei Unterrichtsstunden lang unter meiner Anleitung und bekamen in etwa die gleichen Aufgaben gestellt, die Sie in diesem Buch finden. Die «Vorher»- und «Nachher»-Zeichnungen sollen deutlich machen, daß sich sowohl die Sehweise der Kursusteilnehmer als auch ihre zeichnerischen Fähigkeiten drastisch veränderten. Der Unterschied ist so auffällig, daß man meinen könnte, die Zeichnungen stammten jeweils von zwei verschiedenen Personen. Bewußt wahrzunehmen — das ist die Grundfähigkeit, die sich die Teilnehmer im Verlauf des Kurses aneignen. Die deutliche Verbesserung ihres zeichnerischen Könnens spiegelt eigentlich nur die rasche Entfaltung ihrer Beobachtungsgabe, ihre Fähigkeit, genau hinzusehen, wider. Betrachten Sie die Zeichnungen unter diesem Aspekt - als einen sichtbaren Beweis für die Verfeinerung der Wahrnehmungsfähigkeit.
Machen Sie sich mit dem Zeichenpapier vertraut Nichts wirkt einschüchternder auf einen Anfänger, aber auch auf viele erfahrene Künstler, als weißes, unberührtes Zeichenpapier. Eine Möglichkeit, diese Hemmung zu überwinden, besteht darin, einfach munter draufloszuzeichnen. Damit Sie sich an das Zeichenmaterial gewöhnen und Ihre Scheu vor dem leeren Papier verlieren, empfehle ich Ihnen die folgenden Übungen. Sie dienen zugleich auch zur Erholung von Ihren ersten Zeichenversuchen und zur Lockerung der Hand. Legen Sie einen weißen Bogen vor sich hin, und nehmen Sie einen Bleistift zur Hand. Ziehen Sie, beginnend an einem Rand des Blattes, freihändig eine deutliche Linie, ziehen Sie sie immer weiter, um alle vier Ecken herum, wo Sie sie ein wenig abrunden. Nehmen Sie den Bleistift nicht vom Papier! Überziehen Sie nun allmählich das Blatt zunächst mit senkrechten, dann mit waagerechten Linien (Abb. 2). Achten Sie dabei immer auf den Abstand der Linie zum Blattrand und zu den daneben verlaufenden Linien. Führen Sie den Stift noch einmal über einige Linien zurück, so daß diese dunkler erscheinen, betont werden. Spielen Sie mit den auf diese Weise entstehenden Mustern. Denken Sie sich, während Sie weiterzeichnen, Bewegungen für Ihre Hand aus, die den Stift führt, und machen Sie sich bewußt, daß Sie die Linie erschaffen und daß die Linien, das Papier und die Formen, die Sie da zeichnen, Sie auf eine ganz natürliche Weise zu Ihrer nächsten Bewegung hinführen.
Abb. 2
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Nehmen Sie ein neues Blatt Papier, und spielen Sie auf dieselbe Weise mit diagonalen, aber zugleich auch — wie bei der ersten Übung- mit senkrechten und waagerechten Linien, die die Ränder des Bogens betonen (Abb. 3). Dann machen Sie auf jeweils neuen Blättern die gleichen Versuche mit Kreisen und mit Karos oder Rhomben. Und zum Schluß zeichnen Sie irgendwelche Linien, wie sie Ihnen gerade in den Sinn kommen. Die Zeichnung des großen französischen Malers Eugene Delacroix (Abb. 4) soll Ihnen die Ausdruckskraft spielerischer Linien demonstrieren.
Abb. 4:
. Nach einer Lithographie von Eugene Delacroix. Das kapriziöse Spiel der Linien fugt sich hier zum Bild. Mit freundlicher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art, Harris Brisbane Dick Fund, 1928.
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Zusammenfassung Ich habe Sie mit der grundlegenden Prämisse dieses Buches bekannt gemacht: daß Zeichnen eine Fähigkeit ist, die man lehren und lernen kann und die in zweifacher Hinsicht sehr nützlich sein kann. Indem Sie sich Zugang zu dem Teil Ihres Gehirns verschaffen, der die schöpferischen, intuitiven Geisteskräfte steuert, eignen Sie sich eine Grundvoraussetzung der Zeichenkunst an: die Fähigkeit, aufs Papier zu bannen, was Sie vor Ihren Augen sehen. Zweitens: Wenn Sie nach der in diesem Buch dargestellten Methode zeichnen lernen, werden Sie die Fähigkeit erwerben, auch in anderen Bereichen Ihres Lebens schöpferischer zu sein. Wie weit Sie Ihre Fähigkeiten nach Abschluß dieses Kurses weiterentwickeln, wird von anderen Faktoren — von Ihrer Energie und Wißbegier zum Beispiel - abhängen. Doch das Wichtigste immer zuerst! Das schöpferische Potential ist jedenfalls vorhanden - ein Keim, den wir zum Wachsen bringen wollen. Vielleicht ist es ein Trost für uns zu wissen, daß auch ein Shakespeare mit dem Schreiben einfacher Sätze beginnen, daß auch ein Beethoven Tonleitern üben und daß — wie auf den Abbildungen 5 und 6 zu sehen ist — auch ein van Gogh zeichnen lernen mußte. Nur in den letzten zehn Jahren vor seinem frühen Tod, vom siebenundzwanzigsten bis zum siebenunddreißigsten Lebensjahr, schuf van Gogh seine Kunstwerke. Während der ersten zwei Jahre dieser Dekade hat er nur gezeichnet — er brachte es sich selbst bei. An seiner Zeichnung
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Abb. 5: Vincent van Gogh (1853-1890):
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
AM. 6: Vincent van Gogh: (Trauernde) (1882). Mit freundlicher Genehmigung des Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo.
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2 Sich selbst zum Ausdruck bringen: Die nonverbale Sprache der Kunst
Die nonverbale Sprache der Kunst
Dieses Buch soll Ihnen einen Weg zeigen, wie Sie die grundlegenden Fähigkeiten des Sehens und Zeichnens erwerben können. Ich habe jedoch nicht die Absicht, einen «Leitfaden für jedermann» zu schreiben mit dem Thema «Wie bringe ich am besten meine Persönlichkeit zum Ausdruck?». Ich möchte Ihnen lediglich helfen, sich von stereotypen Formen des Sich-selbst-zum-AusdruckBringens zu befreien. Dieser Lernprozeß wiederum kann Ihnen den Weg zum individuellen Ausdruck Ihrer selbst öffnen — zu Ihrem eigenen persönlichen Zeichenstil. Betrachten wir einmal unsere Handschrift als zeichnerische Ausdrucksform: Wir entdecken, daß wir bereits in der Lage sind, unsere Persönlichkeit durch ein zeichnerisches Mittel zum Ausdruck zu bringen - und zwar mit Hilfe eines Grundelements der Kunst: der Linie. Schreiben Sie Ihren Namenszug auf ein Blatt Papier. Versuchen Sie nun, Ihre Unterschrift zu «sehen»: Sie erblicken eine Zeichnung vor sich, die Sie selbst geschaffen haben. Freilich, sie ist geprägt von den kulturellen Einflüssen Ihrer Umwelt. Doch welche künstlerischen Schöpfungen unterliegen nicht solchen Einflüssen? Jedesmal wenn Sie Ihren Namen schreiben, geben Sie sich selbst mit den vielfach geschwungenen Linien der Unterschrift einen ganz persönlichen Ausdruck. Auch in dem Skizzenblatt Picassos (Abb. 7) ist die Linie das Grundelement, das der Künstler hier verwendet, um eine Zeichnung zu «schreiben». Wenn Sie Ihren Namenszug viele Male übereinander «zeichnen», wird er ebenso Ausdruck Ihrer selbst, wie Picassos Linien Ausdruck Picassos sind. Die Linien können also «gelesen» werden, weil Sie sich beim Schreiben Ihres Namens der nonverbalen Sprache der Kunst bedienen. Versuchen wir einmal, das folgende System von Linien zu lesen. Und nun sagen Sie mir, was für ein Mensch das ist.
Vermutlich werden Sie meinem Eindruck zustimmen können, daß Dale G. Smith ein eher extravertierter als introvertierter Mensch ist, zumindest dem Anschein nach leicht aus sich herauskommt, gesprächig ist, ja sich bisweilen sogar theatralisch gibt.
Die nonverbale Sprache der Kunst
Abb. y: <Skizzenblatt> von Pablo Picasso (1881—1973). Mit freundlicher Genehmigung des Museum of Fine Arts, Boston, The Arthur Mason Knapp Fund.
Freilich, es ist möglich, daß diese Annahmen falsch sind. Worauf es jedoch ankommt, ist, daß die meisten Menschen dies dem nonverbalen Ausdruck des Namenszuges entnehmen würden, weil es das ist, was Dale G. Smith (ohne Worte) in ihm mitteilt. Sehen wir uns nun andere Unterschriften an.
Die nonverbale Sprache der Kunst
Bei der ersten der drei Unterschriften würden Sie vermutlich den Eindruck haben, daß es sich um einen konservativen, ruhigen, zuverlässigen, wahrscheinlich nicht sehr risikofreudigen Typ handelt. Und wie steht es mit den anderen beiden Dale G. Smith? Lassen Sie diesmal die nonverbale Sprache der beiden Unterschriften auf sich wirken, ohne die Informationen, die sie Ihnen vermitteln, in Worte zu fassen. Nun betrachten Sie Ihren eigenen Namenszug und lassen Sie sich, wie bei den vorigen Unterschriften, von seiner nonverbalen Botschaft ansprechen. Schreiben Sie Ihren Namen auf dreierlei verschiedene Weise, und lassen Sie die Botschaft jeder dieser drei Unterschriften auf sich wirken. Nun vergegenwärtigen Sie sich, wie unterschiedlich Sie auf die Namenszüge reagiert haben. Halten Sie sich vor Augen, daß die «Zeichnungen» auf der verbalen Ebene immer dieselbe Information vermittelten: Ihren Namen. Worauf aber haben Sie dann eigentlich reagiert? Sie sahen und empfanden die individuellen Eigenarten jeder «gezeichneten» Linie beziehungsweise Linienanordnung. Sie reagierten gefühlsmäßig auf den Schwung der Schrift, auf Größe und Abstand der einzelnen Zeichen, auf eine durch Druckstärke und Anspannung beziehungsweise durch eine kraftlose, weichliche Linienführung gekennzeichnete Schrift, auf die einheitliche beziehungsweise unregelmäßige Schriftlage — kurz: auf den Schriftzug als Ganzes sowie auf alle seine einzelnen Elemente zugleich. Der Schriftzug eines Menschen ist ein so einmaliger individueller Ausdruck des Schreibers, daß er juristisch als allein dieser einen Person «eigen» anerkannt wird. Ihr Namenszug dient jedoch nicht nur dazu, Ihre Identität festzustellen oder zu beweisen. Er bringt vielmehr Sie selbst, Ihre Individualität und Ihre Kreativität zum Ausdruck. Ihre Unterschrift ist eine wahrheitsgetreue Aussage Ihrer selbst. In diesem Sinne beherrschen Sie bereits die nonverbale Sprache der Kunst: Sie verwenden die Linie, den Strich — Grundelemente jeder Zeichnung — auf eine Ihnen eigentümliche ausdrucksvolle Weise. Links oben: Torii Kiyotada (schuf zwischen 1723 und 1750): (Tanzender Schauspieler). Darunter: Torii Kiyonobu (1664-1729): (ca. 1708). Mit freundlicher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art, Harris Brisbane Dick Fund, 1949. Die Linienführung bringt in diesen japanischen Holzschnitten zwei verschiedene Arten des Tanzes zum Ausdruck. Versuchen Sie, sich diese Tänze bildlich vorzustellen. Können Sie vielleicht sogar die Musik hören, nach der die Figuren tanzen? Versuchen Sie sich vor Augen zu fuhren, wie die charakteristische Anordnung der Linien die Eigenart der Musik wiedergibt und Ihre Reaktion auf die Zeichnung bestimmt.
Die nonverbale Sprache der Kunst
In den folgenden Kapiteln werden wir daher nicht bei dem verweilen, was Sie schon können. Statt dessen ist es mein Ziel, Sie so sehen zu lehren, daß Sie mit den Strichen und Linien, durch die Sie sich selbst auf eine ganz individuelle Weise zum Ausdruck bringen, das zeichnen können, was Sie wahrnehmen.
Die Zeichnung - Spiegel und Ausdruck der Künstlerpersönlichkeit In einer Zeichnung bilden Sie nicht nur die von Ihnen wahrgenommene Außenwelt ab, sondern immer auch zugleich sich selbst. Und je deutlicher Sie Ihre Umwelt wahrzunehmen und das Wahrgenommene zu zeichnen vermögen, desto deutlicher — so paradox es klingt — kann der Betrachter Ihrer Zeichnungen Sie erkennen, und desto mehr erfahren Sie über sich selbst. Daher ist jede Zeichnung zugleich auch Metapher, bildlicher Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers, der sie geschaffen hat. Da unsere Übungen sich auf die Erweiterung Ihrer Wahrnehmungsfähigkeit konzentrieren sollen, wird Ihr persönlicher Stil — Ihre einmalige Art zu zeichnen — unangetastet bleiben. In dem Maße, wie Ihre Fähigkeit zu sehen zunimmt, wächst auch Ihre Fähigkeit zu zeichnen, was Sie sehen, und Sie werden beobachten, wie sich Ihr Stil von selbst zu entwickeln beginnt. Hegen und pflegen Sie ihn, ist er doch Ausdruck Ihrer Person. Wie der Zen-Meister in der Kunst des Bogenschießens sind Sie beim Zeichnen selbst Ihr Ziel.
Abb. 8: <Winterlandschaft> (um 164g) von Rembrandt van Rijn (1606—1669). Mit freundlicher Genehmigung des Fogg Art Museum. Rembrandt zeichnete diese kleine Skizze mit den flüchtigen Strichen eines Kalligraphen. Bei der Betrachtung der Zeichnung spüren wir, wie der Künstler die Landschaft wahrgenommen hat und wie er emotional auf ihre Ruhe und Stille reagiert.
3 Die zwei Hälften unseres Gehirns
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Ein Mensch ist kreativ, wenn er imstande ist, die ihm unmittelbar zufließenden Informationen - die gewohnten Sinneseindrücke auf eine neue Weise zu verarbeiten. Ein Schriftsteller verwendet Worte, ein Musiker Noten, der bildende Künstler setzt optische Wahrnehmungen um, und alle müssen sie über das in ihrer Kunst jeweils notwendige handwerkliche und technische Geschick verfügen. Doch das allein macht noch keine kreative Persönlichkeit aus. Sie sieht intuitiv immer neue Möglichkeiten, die alltäglichen Gegebenheiten in eine neue, schöpferische, die pure Faktizität transzendierende Sprache umzuwandeln. Schon immer haben schöpferische Naturen zwischen der Wahrnehmung ihrer Umwelt und der kreativen Umsetzung dieser Wahrnehmungen unterschieden. Die neuesten Entdeckungen der Hirnforscher erhellen diesen zweifachen Vorgang in den letzten Jahren mehr und mehr. Es ist für die Freisetzung Ihres kreativen Potentials wichtig, daß Sie sich mit den beiden Hälften des Gehirns vertraut machen. In diesem Kapitel möchte ich von jüngsten Untersuchungsergebnissen der Hirnforschung berichten, die unser theoretisches Wissen über das menschliche Bewußtsein um gänzlich neuartige Erkenntnisse erweitert haben. Diese neuen Entdeckungen lassen sich unmittelbar auf unser Vorhaben, die Freisetzung kreativer Kräfte, anwenden.
Wir lernen beide Hälften unseres Gehirns kennen Von oben gesehen ähnelt das menschliche Gehirn den zwei Hälften einer Walnuß. Es sind zwei gleich aussehende, gewundene und gefurchte, abgerundete Hälften, die in der Mitte des aus ihnen bestehenden Ganzen miteinander verbunden sind (Abb. 9). Diese beiden Hälften nennt man «linke Hemisphäre» und «rechte Hemisphäre». Das Nervensystem ist kreuzweise mit dem Gehirn verbunden, so daß die linke Hemisphäre die rechte Körperhälfte und umgekehrt die rechte Hemisphäre die linke Körperhälfte steuert. Erleiden Sie einen Schlaganfall oder einen Hirnschaden, der die linke Hemisphäre in Mitleidenschaft zieht, so wird sich das auf Ihre rechte Körperhälfte auswirken und umgekehrt. Auf Grund dieser kreuzweisen Verbindung der Nervenbahnen mit dem Gehirn wird die linke Hand von der rechten Hemisphäre, die rechte Hand von der linken Hemisphäre gelenkt (vgl. Abb. 10).
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Abb. 10: Die linke Hand ist mit der rechten Gehirnhälfte, die rechte Hand mit der linken Gehirnhälfte verbunden.
Das doppelte Gehirn Bei Tieren gleichen sich die Hirn-Hemisphären. Die funktionale Verbindung zwischen Gehirn- und Körperhälfte verläuft symmetrisch. Die menschlichen Hirn-Hemisphären entwickeln sich hinsichtlich ihrer funktionalen Zuordnung zu den Körperhälften asymmetrisch. Der auffallendste Ausdruck der asymmetrischen Entwicklung bestimmter Nervenzentren des menschlichen Gehirns ist die Rechts- beziehungsweise Linkshändigkeit. Bereits seit etwa hundertfünfzig Jahre"h ist der Wissenschaft bekannt, daß das Sprachzentrum und alle mit ihm verbundenen Fähigkeiten und Funktionen bei den allermeisten Menschen - bei etwa 98 Prozent der Rechtshänder und etwa zwei Dritteln der Linkshänder - in der linken Hemisphäre liegt. Diese Erkenntnis hatte man hauptsächlich aus der Beobachtung der Auswirkungen von Hirnverletzungen gewonnen. Es fiel zum Beispiel auf, daß Verletzungen der linken Hemisphäre weit häufiger den Verlust der Sprechfähigkeit zur Folge hatten als eine ebenso schwerwiegende Schädigung der rechten Hemisphäre. Da Sprache und Sprechen so eng mit dem Denken, dem Verstand und den höheren geistigen Funktionen, durch die sich Men-
Die zwei Hälften unseres Gehirns
sehen grundsätzlich von den anderen Geschöpfen unseres Planeten unterscheiden, verbunden sind, hielten die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts die linke Hemisphäre für die dominante und gaben ihr die Zusatzbezeichnung major; die rechte hingegen hielten sie für untergeordnet und klassifizierten sie als minor. Nach der bis in die jüngste Zeit allgemein vorherrschenden Ansicht war die rechte Gehirnhälfte weniger entwickelt und ausgebildet als die linke, ein stummer Zwilling mit geringwertigeren Fähigkeiten, der von der linken Hemisphäre gelenkt und «mitgeschleppt» wurde. Schon seit langem konzentrierte sich die Forschung der Neurophysiologen auf die noch unbekannten Funktionen eines aus Millionen von Nervenfasern bestehenden Stranges, der die beiden Hemisphären miteinander verbindet. Diese Verbindung wird Corpus callosum oder Balken genannt (vgl. Abb. 11). Die auffallende Größe dieses Stranges, die ungeheure Zahl von Nervenfasern, aus denen er zusammengesetzt ist, und die Tatsache, daß er als das einzige Bindeglied zwischen den beiden Hemisphären fungiert, legten den Schluß nahe, daß es sich um ein wichtiges Teil des Gehirns handelt. Doch zum Erstaunen der Wissenschaftler stellte sich heraus, daß der Balken vollständig durchtrennt werden konnte, ohne daß sich irgendwelche bedeutsamen Folgen zeigten. Durch eine Reihe von Tierversuchen, die vor allem im California
Abb. 11: Graphische Darstellung einer Hälfte des menschlichen Gehirns mit dem Corpus callosum (Balken) und den dazugehörigen Verbindungsbahnen.
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Institute of Technology von dem Neurophysiologen Roger W. Sperry, seinen Schülern Ronald Myers, Golwyn Trevarthen und anderen in den fünfziger Jahren durchgeführt wurden, stellte man fest, daß eine der Hauptfunktionen des Corpus callosum darin besteht, die Kommunikation zwischen den beiden Hemisphären zu gewährleisten und im Gedächtnis gespeicherte Informationen und erlerntes Wissen zu übermitteln. Darüber hinaus zeigte sich, daß die beiden Hemisphären nach einer Kommissurotomie, der Durchtrennung des Balkens, unabhängig voneinander weiter funktionierten — eine Entdeckung, auf Grund derer man wenigstens zum Teil las Ausbleiben jeglicher Auswirkung der Operation auf das Verlalten und die Körperfunktionen erklären konnte. In den sechziger Jahren begann man, ähnliche Untersuchungen bei Patienten in neurochirurgischen Abteilungen durchzuführen. Diese Forschungen führten zu gänzlich neuen Erkenntnissen über die Funktionen des Corpus callosum. Sie zwangen die Wissenschaftler zu einer Revision ihrer Auffassungen über die Fähigkeiten der Hirn-Hemisphären: Beide Gehirnhälften sind an hochentwickelten kognitiven Prozessen beteiligt, wobei beide auf unterschiedliche', höchst komplexe Denkmodi «spezialisiert» sind, die sich gegenseitig ergänzen. Da sich aus dieser gewandelten Sicht für Erziehung und Bildung im allgemeinen und für das Zeichnenlernen im besonderen wichtige Folgerungen ergeben, möchte ich hier kurz auf die Erkenntnisse der sogenannten Split-brain-Forschung eingehen, die ebenfalls im wesentlichen von Sperry und seinen Schülern, vor allem Michael Gazzaniga, Jerre Levy, Colwyn Trevarthen und Robert Nebes, durchgeführt wurden. Sie konzentrierten ihr Forschungsinteresse auf eine kleine Probandengruppe - auf jene Menschen, die unter der Bezeichnung «Split-brain-Patienten» in die Medizingeschichte eingegangen sind. Es waren Epileptiker, die unter so schweren Anfällen litten, daß beide Gehirnhälften stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Wenn alle anderen Mittel versagten, führten die Ärzte Phillip Vogel und Joseph Bogen an diesen Patienten eine Operation durch, bei der sie das Corpus callosum und die dazugehörigen Kommissuren, die Querverbindungen zwischen den beiden Hemisphären, durchtrennten. Auf diese Weise wollten sie verhindern, daß der von einer Gehirnhälfte ausgehende Anfall auch auf die andere übergeht und damit den Epileptiker vollkommen handlungsunfähig macht. Die Operation führte tatsächlich zu dem erhofften Erfolg: Es gelang, die Anfälle unter Kontrolle zu bringen. Die Patienten wurden wieder gesund. Trotz seiner Ra-
«Die wichtigste Erkenntnis, die si herauszukristallisieren scheint, is daß es anscheinend zwei Denkwf gibt die verbale und die nonvei bale —, die weitgehend getrennt \ einander von der linken und der ten Hemisphäre repräsentiert we den. Unser Bildungssystem wie a unsere Wissenschaft allgemein n« dazu, die nonverbale Form der I ligenz zu vernachlässigen. Das h; zur Folge, daß die rechte Gehirn hälfte seitens unserer Gesellschaf kriminiert wird.» Roger W. Sperry .
Die zwei Hälften unseres Gehirns
dikalität wirkte sich dieser Eingriff nur geringfügig auf das äußere Erscheinungsbild der Patienten, auf ihre Lebensart und ihre Körperbeherrschung aus, und bei unsystematischer Beobachtung schien es, als habe sich ihr Alltagsverhalten kaum verändert. Sperry und seine Mitarbeiter setzten ihre Untersuchungen an den Split-brain-Patienten mit einer Reihe von sorgfältig vorbereiteten, eigens zu diesem Zweck entwickelten Tests fort. Es gelang ihnen, die verschiedenen, voneinander getrennten Funktionen der beiden Hemisphären aufzudecken. Zu ihrer eigenen Überraschung konnten sie beweisen, daß jede Gehirnhälfte in gewissem Sinne ihr eigenes Bild von der Realität wahrnimmt. Die linke, Denken und Sprechen steuernde Hemisphäre dominierte bei den operierten Personen zumeist ebenso deutlich wie bei Menschen mit intaktem Gehirn. Als die Wissenschaftler jedoch die abgetrennte rechte Hemisphäre testeten, zeigte sich, daß auch sie auf Sinneswahrnehmungen und Gefühle reagiert und — auf ihre Weise — Informationen verarbeitet. In unserem eigenen intakten Gehirn mit einem unversehrten Corpus callosum werden die beiden unterschiedlichen Wahrnehmungen durch die Kommunikation zwischen den Hemisphären so vermischt und aufeinander abgestimmt, daß uns das Empfinden, eine einzige Person zu sein, erhalten bleibt. Doch die Wissenschaftler gaben sich nicht mit der Beobachtung zufrieden, daß durch den chirurgischen Eingriff eine Trennung zwischen dem rechts- und dem linkshemisphärischen geistigen Erleben hervorgerufen wird. Sie gingen darüber hinaus der Frage nach, welche Unterschiede hinsichtlich der Art der Informationsverarbeitung zwischen den beiden Hemisphären bestehen. Die Untersuchungen ergaben, daß die linke Hemisphäre verbal und analytisch, die rechte hingegen auf eine nonverbale, ganzheitliche Weise mit Sinneswahrnehmungen umgeht. Außerdem konnte Jerre Levy im Verlauf der Vorarbeiten zu ihrer Dissertation nachweisen, daß die Verarbeitung der rechten Hirnhälfte blitzschnell in einer komplexen, ganze Strukturen räumlich-bildlich aufnehmenden Weise abläuft - ein Modus, der sich zwar von dem der linken Gehirnhälfte grundlegend unterscheidet, ihr jedoch hinsichtlich seiner Komplexität durchaus gleichwertig ist. Darüber hinaus stieß Jerre Levy auf Anzeichen dafür, daß sich die beiden Verarbeitungsweisen leicht gegenseitig überlagern und stören und dadurch ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Sie stellte die These zur Diskussion, daß diese Neigung zur gegenseitigen Behinderung ein möglicher Grund dafür sei, daß sich im Laufe der Evolution die Asymmetrie des menschlichen Gehirns
Die /wei Hälften unseres Gehirns
entwickelt habe - als ein Mittel, jede der beiden Verarbeitungsweisen auf ihre jeweilige Hemisphäre zu beschränken. Auf Grund der Ergebnisse der Hirnspaltungsforschung setzte sich allmählich die Auffassung durch, daß beide Hemisphären über hochentwickelte Formen der kognitiven Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen verfügen, die — bei aller Unterschiedlichkeit — beide zum Denken und verständigen Urteilen, zu komplexen geistigen Leistungen befähigt sind. In den letzten Jahren seit der ersten Veröffentlichung von Levy und Sperry im Jahre 1968 — haben Wissenschaftler eine Fülle von Beweisen zusammengetragen, die diese Erkenntnisse und Hypothesen belegen und zeigen, daß sie nicht nur für Patienten mit einem Gehirnschaden zutreffen, sondern, wichtiger noch, ebenso für Menschen, deren Gehirn normal funktioniert. Durch die Schilderung einiger eigens für die operierten Patienten entwickelten Tests möchte ich verdeutlichen, wie jede Hemisphäre unabhängig von der anderen «ihre» Realität erfaßt und aufweiche besondere Weise jede die Wahrnehmungen verarbeitet. Bei einem Test würden zum Beispiel für einen Moment zwei Bilder nebeneinander auf eine Leinwand projiziert. Der Blick der Versuchsperson - einer der Split-brain-Patienten - war genau auf einen Punkt in der Mitte zwischen den beiden Bildern fixiert. Dadurch wurde verhindert, daß der Patient die Bilder mit beiden Augen «abtasten» konnte. Auf diese Weise empfing jede Hemisphäre ein anderes Bild. Auf der linken Seite des Schirms war ein Löffel zu sehen, auf der rechten ein Messer (vgl. Abb. 12). Als man den Patienten hinterher befragte, gab er zwei verschiedene Antworten: Auf die Bitte hin, den Gegenstand, der auf der Leinwand erschienen war, zu nennen, gab die sprachkundige linke Hemisphäre, die sich ihrer Sache ganz sicher war, dem Patienten die Antwort ein: «Ich hab ein Messer gesehen.» Vor der Versuchsperson war ein Vorhang angebracht, hinter dem verborgen auf einem Tisch verschiedene Gegenstände lagen, darunter auch ein Messer und ein Löffel. Der Patient wurde nun aufgefordert, mit der linken Hand (rechte Hemisphäre) hinter den Vorhang zu greifen und den Gegenstand auszuwählen, dessen Bild auf dem Schirm erschienen war. Daraufhin griff der Patient den Löffel heraus. Als er gebeten wurde, den Gegenstand, den er — hinter dem Vorhang — in der Hand hielt, zu benennen, schien er einen Moment lang verwirrt zu sein, sagte dann jedoch: «Ein Messer.» Die rechte Hemisphäre, die wußte, daß die Antwort falsch war, aber nicht über die sprachlichen Mittel verfügte, um die linke Hemisphäre zu korrigieren, griff in den Dialog ein, indem sie den
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Abb. 12: Skizze der Testanordnung zur Feststellung der Assoziationen von Split-brain-Patienten auf optische Wahrnehmungen und Tastempfindungen. Nach Michael S. Gazzaniga, .
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Patienten veranlaßte, stumm den Kopf zu schütteln. Daraufhin wunderte sich die linke Hemisphäre laut: «Warum schüttele ich denn den Kopf?» Bei einem anderen Test, der zeigte, daß sich die rechte Hemisphäre besser auf Probleme der räumlichen Anordnung versteht, gab man einem männlichen Patienten verschiedene Holzstücke in die Hand, die er zu einer bestimmten Form zusammensetzen sollte. Seine Versuche, diese Aufgabe mit der rechten Hand (linke Hemisphäre) zu lösen, mißlangen wieder und wieder. Seine rechte Hemisphäre versuchte ständig, ihm dabei zu helfen — mit der linken Hand, die immer wieder eingreifen wollte. Die rechte Hand schlug nach ihr, als ob sie sie verscheuchen wollte, doch sie ließ sich von ihren Annäherungsversuchen nicht abhalten. Schließlich blieb dem Patienten nichts anderes übrig, als sich auf seine linke Hand draufzusetzen, um sie von den Holzstückchen fernzuhalten. Als die Wissenschaftler dem Probanden schließlich vorschlugen, es mit beiden Händen zu versuchen, mußte die im Umgang mit räumlichen Strukturen äußerst «gewandte» Linke die in dieser Hinsicht «unbegabte» Rechte beiseite schieben, damit sie ihr nicht in die Quere kam. Ein wichtiges Ergebnis dieser in den vergangenen fünfzehn Jahren durchgeführten Untersuchungen ist die Erkenntnis, daß wir — unbeschadet unseres Empfindens, eine Person zu sein — mit einem Gehirnpaar ausgestattet sind und daß jede der beiden Hälften ihr eigenes Erkenntnisvermögen, ihr eigenes Wissen, ihre eigene Wahrnehmungsweise besitzt. Mit anderen Worten: In jedem von uns existieren zwei geistige Welten, zwei verschiedene Bewußtseinsformen, die sich durch einen Strang aus Millionen von Nervenfasern einander vermitteln und ergänzen. Wir haben erfahren, daß die beiden Hemisphären auf die verschiedenste Weise zusammenzuarbeiten vermögen, bisweilen in der Form, daß jede Hälfte ihre speziellen Fähigkeiten beisteuert und den für ihren Modus der Informationsverarbeitung geeigneten Teil der Aufgabe übernimmt. Ein andermal kann eine Hemisphäre allein arbeiten, wobei die eine Hälfte «ein-», die andere mehr oder weniger «ausgeschaltet» ist. Und es scheint, daß die Hemisphären auch in Widerstreit geraten können — und zwar dann, wenn die eine Hälfte eine Aufgabe auszuführen versucht, von der die andere «weiß», daß sie sie besser zu lösen versteht. Darüber hinaus könnte es sein, daß jede Hemisphäre eine Möglichkeit hat, der anderen bestimmte Kenntnisse vorzuenthalten, und es ist durchaus möglich, daß — wie es in einer Redensart heißt - die rechte Hand wirklich nicht weiß, was die linke tut.
Die zwei Hälften unseres Gehirns Die doppelte Realität der Split-brain-Patienten
Doch was hat dies alles, werden Sie fragen, mit dem Zeichnenlernen zu tun? Neuere Forschungen über die Funktionen der HirnHemisphären lassen daraufschließen, daß Ihr zeichnerisches Vermögen davon abhängt, ob Sie Zugang zu den Fähigkeiten der durch unsere Erziehung in eine untergeordnete Rolle gedrängten rechten Gehirnhälfte haben - ob Sie in der Lage sind, die dominante, verbale linke Hemisphäre «aus-» und die rechte «einzuschalten». Wie soll einem das helfen, zeichnen zu lernen? werden Sie fragen. Es sieht so aus, als ob das rechte Hirn visuelle Informationen auf die Weise aufnimmt und verarbeitet, die notwendig ist, um sehen und zeichnen zu können, während das linke Hirn die Außenwelt auf eine Weise wahrnimmt, die dem Zeichnenkönnen zuwiderläuft.
Die Sprache gibt Aufschluß Unter den Gesichtspunkten, die ich in den vorangegangenen Abschnitten erläutert habe, fällt es uns leicht, Beweise dafür zu finden, daß die Menschen schon immer ein Gespür für die Unterschiedlichkeit der beiden Hirnhälften gehabt haben. Das geht aus unserer Sprache hervor. Sie enthält zahlreiche Wörter und Redewendungen, die zum Beispiel der linken und der rechten Körperhälfte charakteristische Eigenschaften zusprechen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Die Wörter «rechts» und «links» bezeichnen nicht nur verschiedene Richtungen oder Seiten, sondern werden zugleich auch häufig als qualitative Wertungen verwendet. Wir sprechen von «linkischem» Verhalten, vom «rechten» Lebenswandel und so weiter. Übertragen wir diese Wertungen auf die Gehirnhälften, so schneidet —entsprechend der linken Körperhälfte, der linken Hand usw. — die rechte Hemisphäre bei diesen Sprachassoziationen schlechter ab. Sprache
und
Sitten
bringen
unsere
Vorurteile
zum
Ausdruck
Unsere Sprache und unser Denken sind mit Wörtern und Redewendungen durchsetzt, die unsere Auffassungen über «links» und «rechts» kundtun. Das Rechte (also der linken Hemisphäre Zugeordnete) wird mit «gut, gerecht, moralisch, richtig» verbunden. Alles, was «links» ist (und damit der rechten Hemisphäre entspricht), löst Vorstellungen von Anarchie und unkontrollierten Gefühlen aus und ist daher schlecht, unmoralisch, gefährlich. Das uralte Vorurteil gegen die linke Hand und damit gegen die rechte Hemisphäre hat sich bis in jüngste Zeit erhalten und ver-
«Nasreddin unterhielt sich bei her einbrechender Dunkelheit mit ein* Freund. , sa der Mann, <es ist schon dunkel. Gleich zu deiner Linken liegt eine » Idries Shah
Die zwei Hälften unseres Gehirns
anlaßte Eltern und Lehrer dazu, linkshändige Kinder zur Benutzung ihrer rechten Hand beim Schreiben, Essen usw. zu zwingen — eine Praxis, die oft Probleme verursachte, die dem Kind selbst als Erwachsenem noch zu schaffen machten. Seit Menschengedenken und in fast allen Sprachen gibt es diese Nebenbedeutungen: gut für die rechte Hand beziehungsweise linke Hemisphäre und schlecht für die linke Hand beziehungsweise rechte Hemisphäre. Das lateinische Wort für links heißt «sinister», was auch «schlecht», «finster», «unheilvoll» bedeutet. Das lateinische Wort für rechts hingegen ist «dexter», aus dem sich zum Beispiel das englische Wort «dexterity» herleitet, was soviel wie «Geschicklichkeit» und «Erfahrenheit» bedeutet. Das französische Wort für «links» lautet «gauche», was dem englischen «awkward», zu deutsch «ungeschickt», «tölpelhaft» oder sogar «mißlich» entspricht und aus dem sich auch das Wort «gawky» gleich «einfältig», «dumm» herleitet. Und «rechts» heißt auf Französisch «droit», was wiederum auch in der Bedeutung von «gut», «gerecht», «richtig» verwendet wird. Das englische «left» kommt vom angelsächsischen «lyft», was «schwach» oder «wertlos» bedeutet, und tatsächlich ist die linke Hand bei den meisten Rechtshändern schwächer. Doch begriff das Wort ursprünglich noch den Mangel an moralischer Stärke ein. Daß man dem Wort «links» einen geringschätzigen Beiklang verlieh, mag ein Vorurteil der Mehrheit der Rechtshänder gegenüber einer Minderheit widerspiegeln, die anders - eben linkshändig- war. Der gleichen Tendenz folgend, bedeutet das angelsächsische Wort für «rechts», «reht» (oder «riht»), auch «rechtschaffen» oder «gerecht». Aus diesem «reht» und dem ihm analogen lateinischen Wort «rectus» leitete sich das englische «correct» her, das den deutschen Wörtern «korrekt» und «richtig» entspricht. Diese Vorstellungen wirken sich auch auf unser politisches Denken aus. Die Rechte begeistert sich für nationale Stärke, ist konservativ und widersetzt sich dem sozialen Wandel. Die Linke dagegen strebt nach Autonomie für den einzelnen und nach Veränderung, oft einer radikalen. Im Extrem neigt die politische Rechte zum Faschismus, die politische Linke dagegen zur Anarchie. Kulturellen Bräuchen und Anstandsregeln zufolge gebührt dem ranghöchsten Gast bei einem formellen Essen der Ehrenplatz zur Rechten des Gastgebers. Bei einer Trauung steht der Bräutigam rechts, die Braut links — eine Sitte, die auf eine nonverbale Weise die Unterschiede im sozialen Status von Mann und Frau zum Ausdruck bringt. Wir geben uns die rechte Hand; es würde uns seltsam vorkommen, wenn wir uns die linke schüttelten.
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Das Wörterbuch der Synonyme führt unter «linkshändig» die «falsche Hand», «linkisch», «ungewandt», das engliche Wörterbuch aber auch «unaufrichtig» und «boshaft» an. Unter «rechtshändig» finden wir die «schöne Hand», für «rechts» im Englischen «zuverlässig» und «unentbehrlich». Hierbei sollten wir uns vor Augen halten, daß all diese Ausdrücke entstanden, als sich die Sprache einst in der linken Gehirnhälfte des Menschen zu entwickeln begann. Die linke Hemisphäre machte die rechte schlecht! Und die rechte — das Opfer dieser Diskriminierung — war sprachlos und nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren.
Zwei Erkenntnisweisen Doch darüber hinaus haben auch Weise, Philosophen und Wissenschaftler der verschiedensten Zeiten und Kulturen das Prinzip des Dualismus — der «Zweiseitigkeit» — alles Irdischen als gegeben betrachtet. Dieser Auffassung liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch über zwei verschiedene, parallele «Erkenntnisweisen» verfügt. Vermutlich ist Ihnen dieses dualistische Prinzip bereits vertraut. Wie die Begriffe «rechts» und «links» ist es in unsere Sprachen und Kulturen eingebettet. Die Hauptgegensätze bestehen für uns zwischen Denken und Fühlen, zwischen Intellekt und Intuition, objektiver Analyse und subjektiver Erkenntnis. Sozialwissenschaftler behaupten, daß die Menschen eine Frage zwar meist auf ihre guten und schlechten Seiten hin prüfen, sie dann aber doch nach ihrem Gefühl zu beurteilen pflegen. Die Geschichte der Wissenschaften kennt zahlreiche Fälle, in denen Forscher sich lange mit einem Problem herumschlugen, bis ihnen die Lösung schließlich im Traum in bildlicher Form erschien und von ihnen intuitiv erfaßt wurde. Der berühmte französische Mathematiker und Physiker Henri Poincare hat diesen Vorgang einmal sehr lebendig beschrieben (vgl. S. 50). Manchmal denken wir während eines Gespräches oder nachdem wir einen Menschen kennengelernt haben: «Was er (sie) sagt, hört sich richtig an, doch ein inneres Gefühl rät mir, ihm (ihr) nicht zu trauen.» Oder: «Ich kann zwar nicht sagen, woran es liegt, aber irgend etwas an diesem Menschen gefallt mir (gefällt mir nicht).» Solche Feststellungen beruhen auf unwillkürlichen, intuitiven Beobachtungen - beide Gehirnhälften sind dabei in Aktion, verarbeiten jedoch ein und dieselbe Information auf unterschiedliche Weise.
Parallele Erkenntnisweisen Verstand intuitives Erfassen konvergent divergent digital analog sekundär primär abstrakt konkret zielgerichtet freischweifend propositional imaginativ analytisch relational linear nichtlinear rational intuitiv sequentielles multiples Erfassen Erfassen analytisch ganzheitlich objektiv subjektiv sukzessiv simultan Joseph E. Bogen <Some Educational Aspects qf H i h Specialization>
Der Dualismus von Yin und Yang Yin
Tang
weiblich negativ Mond Dunkelheit nachgiebig linke Seite warm Herbst Winter unbewußt rechtes Hirn Gefühl Emotion
männlich positiv Sonne Licht aggressiv rechte Seite kalt Frühling Sommer bewußt linkes Hirn Verstand Vernunft
(I Ging> (<Buch der Wandlungen)
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Zwei Arten der Informationsverarbeitung Unterhalb unserer Schädeldecke befindet sich also ein Hirnpaar mit zwei verschiedenartigen Erkenntnisweisen. Dieser «Doppelexistenz» und den unterscheidbaren Eigenschaften der beiden Hälften liegt eindeutig eine physiologische Basis zugrunde. Da das Corpus callosum, der verbindende Nervenstrang, in einem unversehrten Gehirn seine Funktionen unbeeintrachtigt erfüllt, werden die Konflikte zwischen den Hemisphären, wie sie sich bei den erwähnten Tests an Menschen mit durchtrenntem Balken zeigen, von einem Gesunden nur selten bewußt erfahren. Wenn auch jede der Hemisphären die gleichen Sinneswahrnehmungen speichert, so können sie sie doch auf unterschiedliche Weise verarbeiten. Entweder teilen sich die beiden Hemisphären diese Aufgabe - wobei jede den Teil der in den Wahrnehmungen vermittelten Informationen verarbeitet, der ihrem spezifischen Modus entspricht —, oder eine der Hemisphären, oft die dominante linke, reißt die Führung an sich und hindert die andere Hälfte daran, aktiv zu werden. Die linke Hemisphäre analysiert, abstrahiert, zählt, mißt Zeit, plant schrittweise Operationen, formt in Sprache um und macht rationale, logisch begründete Feststellungen. Zum Beispiel: «Angenommen, wir haben die drei Größen a, b und c, und a ist größer als b und b größer als c, dann ist a notwendigerweise auch größer als c.» Eine solche Implikation veranschaulicht den Modus der linken Hemisphäre: Sie geht analytisch, verbal, rechnerisch, folgerichtig, linear und objektiv vor. Wir verfügen jedoch noch über eine andere Erkenntnisweise den Modus der rechten Hemisphäre. Durch ihn «sehen» wir Dinge, die imaginär sind, also nur vor unserem «geistigen Auge» existieren, und Dinge, die tatsächlich vorhanden sind oder waren und die wir uns mit Hilfe des R-Modus in unsere Erinnerung zurückrufen. (Können Sie mir zum Beispiel auf Anhieb sagen, wie Ihre Eingangstür aussieht?) Wir sehen, wie die Dinge im Raum existieren und wie sich ihre Teile zu einem Ganzen zusammenfügen. Wenn wir uns der rechten Hemisphäre bedienen, können wir Bilder verstehen, träumen, neue Ideenverbindungen herstellen. Wenn etwas zu komplex ist, um es zu beschreiben, werden wir es mit Hilfe von Gesten mitteilen: Versuchen Sie mal, eine Wendeltreppe zu beschreiben, ohne eine Spirale in die Luft zu zeichnen. Machen wir von dieser rechten Hemisphäre Gebrauch, sind wir auch fähig, Bilder von unseren Wahrnehmungen zu zeichnen.
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Der «Ich hab's»-Effekt
Wenn wir unsere Sinneseindrücke mit Hilfe der rechten Hemisphäre verarbeiten, bedienen wir uns also der Intuition; unsere Einsichten erfolgen plötzlich. Es gibt Augenblicke, in denen es uns «wie Schuppen von den Augen fällt», in denen sich «alles von selbst zusammenfügt», obwohl es uns nicht gelungen war, die einzelnen Teile in eine logische Ordnung zu bringen und in dieser Ordnung zu begreifen. «Ich hab's!» — «Jetzt ist's mir klar!» rufen wir in solchen Momenten aus. Das klassische Beispiel für diesen Vorgang ist Archimedes' freudiger Ausruf «heureka!» («Ich hab's gefunden»). Der Überlieferung zufolge war ihm beim Baden blitzartig eine Erkenntnis gekommen, die ihm die Formulierung des berühmten Archimedischen Prinzips ermöglichte. Dies ist ein typisches Beispiel für die Verfahrensweise der rechten Hemisphäre. Der R-Modus (und zugleich «linkshändige Modus») ist ein intuitives, subjektives, relationales, ganzheitliches, zeitloses Erfassen. Er wird in unserer westlichen Kultur weitgehend mißachtet und ig»oriert. So ist zum Beispiel unser ganzes Bildungswesen allein auf die Förderung der sprachlichen, rationalen, zeitgemäßen linken Hemisphäre ausgerichtet. Das halbe Hirn eines jeden Schulkindes bleibt buchstäblich ungenutzt.
Die Zweigeteiltheit unseres Hirns scheint von schöpferischen Mensche bisweilen intuitiv erfaßt zu werden. Rudyard Kipling zum Beispiel schrieb schon vor mehr als fünfzig Jahren die folgenden Gedichtzeilen: «Ich danke dem Boden, der mich gebar, Und dem Leben, das mich genährt, Doch am meisten Allah, der meinen Kopf Zwei verschiedene Seiten beschert. Lieber verlöre ich Hemd und Schuh Und Freunde und Tabak und Topf Als nur für einen Augenblick Eine Seite von meinem Kopf.» Rudyard Kipling
«Mich den Vierzig nähernd, hatte ii einen seltsamen Traum, in dem ich d Bedeutung dessen, was in vergeudet Zeit zerstörerisch wirkt, beinahe erfaßte und seine Wesensart verstand. Cyril Connolly (Pseudonym Palinuris)
Ein ganzes Gehirn ist besser als ein halbes Im herkömmlichen Schulunterricht mit seinen vor allem auf den sicheren Umgang mit Wörtern und Zahlen ausgerichteten Lernsequenzen - so, wie Sie und ich ihn hinter uns gebracht haben fehlen alle Voraussetzungen, um den Gebrauch der rechten^Hemisphäre zu fördern. Sie ist nun einmal in sprachlicher Hinsicht nicht gerade leicht zu überprüfen und unter Kontrolle zu bringen. Mit ihr läßt sich nicht argumentieren. Sie ist nicht dazu zu bewegen, logische Behauptungen aufzustellen. Sie ist, bildlich gesprochen, ein «Linkshänder» mit sämtlichen Nebenbedeutungen dieser Bezeichnung. Ferner hat sie nicht viel Sinn für Systematik. Sie fängt einfach irgendwo an oder mit allem zugleich. Zudem hat die rechte Hemisphäre kein Zeitgefühl und scheint nicht zu begreifen, was «Zeitverschwendung» ist (die gute, vernünftige linke Hemisphäre weiß das hingegen sehr genau). Sie ist auch nicht gut im Kategorisieren und Benennen. Sie scheint die Dinge einfach so zu nehmen, wie und was sie gerade sind, in ihrer ganzen faszinierenden Komplexität. Auch im Analysieren und
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Abstrahieren deutlich erkennbarer Merkmale ist sie völlig untalentiert. Obwohl sich die Erzieher heute zunehmend der Bedeutung des intuitiven und schöpferischen Denkens bewußt zu werden beginnen, sind Unterricht und Lehrpläne weiterhin im wesentlichen auf die Ausbildung der linkshemisphärischen Fähigkeiten zugeschnitten. Der Unterricht ist in aufeinanderfolgende Lernschritte strukturiert, die der Schüler nachvollziehen muß, um schließlich zum erwünschten Lernziel zu gelangen. Das tägliche Einmaleins der Schüler, die Voraussetzung des Lernerfolgs, sind Wort und Zahl — Lesen, Schreiben, Rechnen. Stundenpläne sind einzuhalten. Die Schüler sitzen in Reih und Glied. Im Abrufen der gleichen — erwarteten — Antworten wird ihr Denken in einander ähnliche begrenzte Bahnen gelenkt. Die Lehrer verteilen Noten. Und jeder spürt, daß an der ganzen Sache etwas faul ist. Die rechte Hirn-Hemisphäre —die des Träumers, des Künstlers, des Schöpfers und Erfinders —: In unserem Unterrichtssystem ist sie verloren; sie durchläuft diesen Unterricht weitgehend ununterrichtet. Wir mögen im Lehrplan ein paar Stunden Kunstunterricht, ein paar Stunden «Werken», ein wenig Musikunterricht und vielleicht etwas, das «kreatives Schreiben» genannt wird, aufgeführt finden; doch ist es höchst unwahrscheinlich, daß wir irgendwo auf Unterrichtspläne stoßen, die das Ziel haben, die Phantasie, die Fähigkeit, sich etwas bildlich vorzustellen, das Gefühl für räumliche Strukturen, das Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen im allgemeinen, kreatives, intuitives, erfinderisches Denken und Handeln zu fördern. Dennoch legen die Erzieher Wert auf solche Fähigkeiten. Vermutlich glauben sie, daß Schüler und Studenten durch die Ausbildung ihrer verbalen, analytischen Fähigkeiten ganz von selbst auch ihre Phantasie, ihre intuitiven Kräfte und ihre Fähigkeit, die Welt bewußt und umfassend wahrzunehmen, entfalten. Zum Glück finden diese Anlagen häufig Wege, sich trotz der Lehrpläne zu entwickeln. Ein dreifach Hoch auf die Überlebensfähigkeit der rechten Hemisphäre! Doch ist unsere Kultur so nachdrücklich darauf ausgerichtet, die Fähigkeiten der linken Gehirnhälfte zu belohnen, daß so mancher einen Großteil der von der rechten Hemisphäre gesteuerten Fähigkeiten einbüßt. Jerre Levy hat einmal - nur halb im Scherz - eine Zukunft ausgemalt, in der die herkömmliche wissenschaftliche Ausbildung an den Hochschulen die rechte Hemisphäre vollkommen zerstört haben werde. Natürlich sind wir uns der Auswirkung eines unzureichenden Trainings im Lesen, Sprechen, Schreiben und Rechnen be-
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wußt. Die linke, für das Denken und Sprechen «zuständige» Hemisphäre scheint nie wieder vollends aufholen zu können, was sie einmal versäumt hat — eine Tatsache, die sich als schweres Handicap im Leben eines Menschen auswirken kann. Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit der rechten Hemisphäre, die so gut wie gar nicht trainiert wird? Nachdem die Neurologie eine begriffliche Basis für das Training der rechten Hemisphäre geschaffen hat, könnten wir jetzt darangehen, einen Lehrplan zu entwickeln, der die Förderung aller Gehirnfunktionen anstrebt. Sicher würde ein Schwerpunkt dieses Lehrplans ein neuer Zeichenunterricht sein - als effizientes Mittel, uns die Fähigkeiten der rechten Hemisphäre zu erschließen.
Bildliche Vorstellung in rechter Manier Eine der wunderbarsten Fähigkeiten der rechten Hirn-Hemisphäre ist die Vorstellungskraft — die Fähigkeit, ein imaginäres Bild vor dem geistigen Auge zu sehen. Das Gehirn hat die Kraft, ein Bild heraufzubeschwören und es dann «anzusehen», es zu «erblicken», als wäre es real. Die Fachausdrücke für diese Fähigkeit, Visualisation und Imagination, bedeuten fast das gleiche. Dennoch beinhaltet der Ausdruck Visualisieren für mich Bewegung, Imaginieren hingegen ist in meinen Augen das Sichvorstellen eines unbewegten Bildes.
Beide Vorgänge, das Visualisieren wie das Imaginieren, sind wesentliche Komponenten des Zeichnens. Der Künstler sieht den Gegenstand oder die Person an, die er zeichnen will, «nimmt» ein geistiges Bild von seinem Objekt «auf», hält dieses Bild in seinem Gedächtnis fest und beginnt zu zeichnen, den Blick auf das Papier geheftet. Nach einer Weile wirft er wieder einen Blick auf das Modell, um das Bild erneut «festzuhalten», dann fährt er mit dem Zeichnen fort, und so weiter. Um diese Fähigkeit der rechten Gehirnhälfte zu demonstrieren, habe ich ein paar kurze Vorübungen entwickelt, die Ihnen die Vorstellungskraft als Mittel zum Verstehen und Erinnern komplexer Inhalte und Informationen verdeutlichen sollen. Zur Vereinfachung der Terminologie bediene ich mich das ganze Buch hindurch der Abkürzungen «L-Modus» und «R-Modus». Beim Imaginieren wird Ihnen aufgehen, was damit gemeint ist. Zuerst machen Sie sich ein geistiges Bild (ein «Foto») von den folgenden Schriftzeichen:
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Der L-Modus ist der «rechtshändige» Modus der linken Hemisphäre. Das L ist fest und aufrecht stehend, leicht erfaßbar, gerade, korrekt, kantig, phantasielos, kraftvoll.
Der R-Modus ist der «linkshändige» Modus der rechten Hemisphäre. Das R ist schräg gestellt, geschwungen, biegsam, in seinen überraschenden Kurven und Bögen verspielter, komplexer, phantasievoller.
Mit diesen beiden «Schriftbildern» möchte ich Ihnen die beiden verschiedenen Bewußtseinszustände veranschaulichen, bei denen jeweils die eine oder die andere Art der Informationsverarbeitung das Übergewicht zu haben scheint. Bei allen unseren Tätigkeiten benutzt das Gehirn beide Hemisphären zugleich, wobei zuweilen die eine, zuweilen die andere die «Führung» übernimmt. Manchmal wirken auch beide zu gleichen Teilen an der Lösung einer Aufgabe mit. Die Eigenschaften und Funktionen, die ihnen gemeinhin zugeordnet werden, habe ich in dem Kasten auf Seite 56 noch einmal zusammengefaßt. Bitte sehen Sie sich diese Übersicht genau an. Haben Sie sich diese beiden Modi fest eingeprägt, wird es Ihnen leichter fallen, die Anleitungen in den nächsten Kapiteln zu verstehen. Führen Sie deshalb die folgenden Imaginations-Übungen sorgfältig durch. 1. Stellen Sie sich das wuchtige, dicke L, seine geraden Seiten und seinen rechten Winkel vor. Sehen Sie es vor Ihrem geistigen Auge. Vergrößern Sie das Bild, und fügen Sie von sich aus eine weitere Form hinzu, damit Sie einen Größenvergleich ziehen können. Stellen Sie sich das L als Pyramide oder als Wolkenkratzer vor. Sehen Sie das L nun in Farbe vor sich, ganz gleich in welcher. Als nächstes fügen Sie dem L auf eine beliebige Weise Dinge hinzu, die für den Stil des L-Modus charakteristisch sind: Wörter, Zahlen, Zeitangaben, mathematische Gleichungen, Diagramme, Landkarten, Bücher, eventuell auch Bilder von Mathematikern, Juristen, Wissenschaftlern, Buchhaltern — ganz nach
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Ihrer Wahl. Sie werden sich die Bilder länger und genauer merken, wenn Sie sie selbst zusammengestellt haben. Sehr wichtig ist: Lokalisieren Sie den Sitz des L-Modus, indem Sie Ihre Hand (ganz gleich welche) an die linke Seite Ihres Kopfes legen. Jetzt lassen Sie Ihr Vorstellungsbild vom L-Modus zusammenschrumpfen und stellen sich vor, Sie legten es in Ihre linke Hirnhälfte. 2. Jetzt stellen Sie sich das geschwungene R vor. Versuchen Sie, es mit seinen vielfachen Windungen vor sich zu sehen. Wenn Sie wollen, können Sie es vergrößern oder verkleinern. Dann fügen Sie einige für den Stil der rechten Hemisphäre typischen Tätigkeiten in Ihr Vorstellungsbild ein: Stellen Sie sich Leute beim Malen, Zeichnen, Musizieren, Modellieren, Träumen vor, die dabei jedes Zeitgefühl verlieren. Da sich diese Tätigkeiten nicht so klar umrissen festlegen lassen (typisch L-Modus!), mag dies Ihre Vorstellungskraft auf eine harte Probe stellen. Wie soll man sich zum Beispiel Nicht-Zeit vorstellen? Vielleicht frei nach Art des surrealistischen Malers Dali: als eine Uhr ohne Zifferblatt. Wie soll man sich analoge — einander gleichende oder ähnliche — Dinge vorstellen? Und wie imaginiert man den «Ich hab's»-Effekt? Lassen Sie sich Zeit. Wenn Sie Ihr Vorstellungsbild vom R-Modus richtig vor sich sehen, legen Sie Ihre Hand an die rechte Seite Ihres Kopfes und stellen Sie sich wieder den zusammenschrumpfenden R-Modus vor, der in Ihrer rechten Hirnhälfte Platz findet. Nun lassen Sie die beiden Bilder von einer Seite zur anderen wechseln. Kreative Mathematiker, Wissenschaftler und andere Denker können sich über den Corpus callosum hinweg bewußt Zugang zum R-Modus verschaffen, um mit Hilfe von Imagination und Traum zu neuen Einfällen und Ideen zu gelangen. / Umgekehrt sind Künstler und musisch begabte Menschen in der Lage, zum L-Modus überzuwechseln, wenn sie ästhetischkünstlerische Probleme analysieren wollen. 3. Wiederholen Sie dies mehrmals, bis Sie merken, wie Sie von einem Bild zum anderen schalten, von der linken Gehirnhälfte mit Ihrem Bild vom L-Modus zur rechten Hälfte mit Ihrem Bild vom R-Modus und zurück. Diese Übung wird Ihnen beim Zeichnen zustatten kommen, bei dem Sie ja auch dieses geistige Überwechseln zum R-Modus vollziehen müssen.
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L- und R-Modus: Typische Eigenschaften und Funktionen im Vergleich
Verbal: Gebraucht Wörter zur Bezeich-
Nonverbal: Innewerden der Dinge, äu-
nung, Beschreibung und Definition.
ßerst geringer Bezug zu sprachlichem Ausdruck. Synthetisch: Wahrnehmungen werden zu einem Ganzen zusammengefügt.
Analytisch: Wahrnehmungen werden Schritt für Schritt und Teil um Teil zergliedert. Symbolisch: Benutzt Symbole, die für etwas anderes stehen, zum Beispiel das Zeichen <■> für Auge, das Zeichen + für die Addition. Abstrakt: Wählt einen kleinen Teil der in einer Wahrnehmung enthaltenen Information aus und benutzt ihn zur Widergabe des wahrgenommenen Ganzen. Zeitlich: Achtet auf Zeit und Reihenfolge; macht stets eins nach dem anderen. R ti desl Verstandes Zi ht S hl auf ßf lder Grundlage it Hilfe von Fakten. Digital: Rechnerische Verwendung von Zahlen. Logisch: Zieht Schlußfolgerungen auf der Basis logischer Gesetze: Eins folgt in logischer Ordnung aus dem anderen, zum Beispiel ein mathematischer Lehrsatz oder eine unumstößliche Beweisführung. Linear: Verkettet Gedanken — aus einem folgt immer direkt der nächste —, was zu konvergenten Schlüssen führen kann.
Konkret: Bezieht sich auf die Dinge in ihrem jeweils gegenwärtigen Zustand. Analog: Entdeckt Übereinstimmungen und versteht bildliche Zusammenhänge. Nichtzeitlich: Ohne Zeitgefühl. Nichtrational: Bedarf keiner rationalen oder faktischen Basis; ist bereit, auf eine Entscheidung oder Beurteilung zu verzichten. Räumlich: Erschaut Dinge in ihrem Verhältnis zu anderen Dingen und Teile in ihrem Verhältnis zum Ganzen. Intuitiv: Schließt vorhandene Lücken. Erschaut Systeme, Modelle oder Bilder durch plötzliche Eingebung.
Ganzheitlich: Erfaßt etwas auf einmal und als Ganzes, nimmt durchgehende Muster und Strukturen wahr, was oft zu divergierenden Schlüssen führt.
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Wir stellen uns die Verbindungen zwischen Gehirn- und Körperhälften vor 1. Stellen Sie sich vor, zwischen Ihrer linken Hemisphäre und Ihrer rechten Körperhälfte bestünden Verbindungsbahnen: Drähte, elektrischer Strom - was immer Sie wollen. Nun geben Sie diesen Verbindungsbahnen eine Farbe — sagen wir Blau oder Rot — und stellen sich vor, wie sie sich, von der linken Seite des Gehirns ausgehend, in alle Teile Ihrer rechten Körperhälfte erstrecken. 2. Wechseln Sie auf die andere Seite über. Stellen Sie sich die Bahnen, die Ihre rechte Gehirnhälfte mit Ihrer linken Körperseite verbinden, in einer anderen Farbe vor, vielleicht Grün oder Gelb. 3. Nun stellen Sie sich das Gesamtsystem der über Kreuz verlaufenden Verbindungen vor.
Der verzauberte Webstuhl * Ein bekanntes «Wort-Bild» für das Gehirn stammt von dem englischen Wissenschaftler Sir Charles Sharrington: Das Gehirn sei «ein verzauberter Webstuhl, auf dem Millionen von blitzenden Schiffchen ein sich immer wieder auflösendes Muster weben, ein stets bedeutungsvolles Muster, aber nie von Dauer . . .» 1. Stellen Sie sich den Zauberwebstuhl bildlich vor, mit seinen Milliarden von blitzenden Schiffchen, die sich einen Moment lang in einem Teil Ihres Gehirns vereinigen, dann wieder verlöschen, dann zu einem anderen Teil hinüberströmen in ewig wechselndem Muster: ständig aufblitzend und wieder verlöschend. 2. Nun stellen Sie sich vor, Sie könnten das Muster bestimmen und die zahllosen blitzenden Schiffchen dazu veranlassen, sich an einer Stelle zu sammeln, sich dann wieder aufzulösen und an einer anderen Stelle erneut zu vereinigen, und zwar erst auf der einen, dann auf der anderen Seite Ihres Gehirns. Stellen Sie sich weiter vor, dieses Zusammenziehen der Schiffchen verursache eine kaum wahrnehmbare physische Empfindung in Ihrem Gehirn, einen leichten Druck, eine winzige Gewichtsverlagerung, eine minimale Erwärmung oder Abkühlung oder einen schwachen summenden Ton. Wir sehen dem Webstuhl zu
Psychologen haben entdeckt, daß viele Menschen imstande zu sein scheinen, aus sich «herauszutreten» und sich ihrer wechselnden Geisteszustände bewußt zu werden, als sähen sie ihrem Gehirn bei
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In seinem Buch über wechselnde Bewußtseinszustände schreibt der Psychologe Charles T. Tart: «Viele Meditations-Schulen vertreten den Standpunkt, daß . . . der Mensch einen besitzt (oder entwickeln kann), der das persönliche Verhalten mit einem hohen Grad an Objektivität betrachtet. Da dieser (Beobachten seinem Wesen nach die reine Aufmerksamkeit und Bewußtheit ist, hat er selbst keine individuellen Merkmale.» Manche Menschen, die einen ziemlich gut entwickelten «Beobachter» zu haben glauben, meinen, «daß dieser (Beobachter) fortgesetzt in Aktion sei, nicht nur während eines besonderen, diskreten Bewußtseinszustandes, sondern auch während des Übergangs zwischen zwei oder mehreren solcher diskreten Zustände.»
der Arbeit zu. Die vorangegangenen Imaginationsübungen werden Ihnen zusammen mit einigen der folgenden Zeichenübungen helfen, die Rolle dieses heimlichen «Beobachters» einzuüben und somit auf bewußterer Ebene des sanften Hinundherwechselns zwischen den Bewußtseinszuständen gewahr zu werden. Dies wiederum wird Ihnen helfen, den R-Modus «einzuschalten».
Charles T. Tart
«Das Schlimmste, was man beim Schreiben von Prosa tun kann, ist, sich den Worten zu unterwerfen. Denkt man an einen konkreten Gegenstand, denkt man nicht in Worten; will man dann aber beschreiben, was man sich bildlich vorgestellt hat, muß man erst lange herumsuchen, bis man die Worte findet, die man für treffend hält. Denkt man an etwas Abstraktes, wird man eher dazu neigen, von Anfang an Worte zu benutzen, und dann — es sei denn, man versucht, es bewußt zu verhindern - wird der jeweilige Jargon durchbrechen und die Sache für einen erledigen, auf Kosten des Sinnes, den sie verdunkelt oder gar entstellt. Vielleicht sollte man auf die Benutzung von Worten so lange wie möglich verzichten und sich über den Sinn zunächst, so gut man kann, mit Hilfe von Bildern und Empfindungen klarwerden.» George Orwell
Voraussetzungen für das Umschalten Anhand der Übungen im nächsten Kapitel werden Sie das Überwechseln vom L- zum R-Modus trainieren können. Diesen Übungen liegt die Annahme zugrunde, daß es von der Art der Aufgabe abhängt, welche der Hemisphären ihre Ausführung «übernimmt» und kraft dieser «Führungsposition» die andere Hemisphäre daran hindert, aktiv zu werden. Wie bereits erwähnt, nehmen viele Wissenschaftler an, daß die Hemisphären entweder in der Form wechselweise tätig werden, daß das «Einschalten» der einen Hemisphäre das «Ausschalten» der anderen verursacht, oder beide sind «eingeschaltet», aber eine von ihnen dominiert und bestimmt das Handeln (das sichtbare Verhalten) des Individuums. Die Frage lautet nun: Welche Faktoren entscheiden darüber, welche der Hemisphären «eingeschaltet» wird beziehungsweise die führende Rolle übernimmt? Auf Grund von Tierversuchen, Untersuchungen an Splitbrain-Patienten und an Menschen mit einem gesunden Gehirn nehmen die Wissenschaftler an, daß die Frage, welche Hemisphäre eine Handlung jeweils lenkt, durch zwei Faktoren entschieden wird: zum einen durch die Schnelligkeit (Welche Hemisphäre findet am raschesten Zugang zu der Aufgabe?), zum anderen durch die Motivation (Welche der Hemisphären interessiert sich am meisten für die Aufgabe oder mag sie am liebsten?). Da das Abzeichnen einer wahrgenommenen Form weitgehend in den Funktionsbereich der rechten Gehirnhälfte fällt, müssen wir die linke Hemisphäre davon abhalten, sich einzumischen. Unser Problem ist nur, daß die linke Hemisphäre dominant und blitzschnell ist und dazu neigt, mit Wörtern und Symbolen «herbeizustürzen» und sogar Aufgaben an sich zu reißen, die ihr eigentlich gar nicht liegen. Sie spielt sich gern als Chef auf und ist darauf bedacht, keine Aufgaben an ihren «tumben» Partner abzutreten, es sei denn, sie hat keine Lust, sich um sie zu kümmern — entweder weil die Arbeit zuviel Zeit in Anspruch nehmen würde oder zu umständlich ist oder einfach, weil die linke Hemisphäre
Die zwei Hälften unseres Gehirns
nicht fähig ist, sie auszuführen. Und genau das ist es, was wir brauchen: Aufgaben, die die dominante linke Gehirnhälfte von sich weisen wird. Die folgenden Übungen sind so angelegt, daß sie das Gehirn vor eine Aufgabe stellen, die die linke Hemisphäre nicht erfüllen will oder nicht zu erfüllen vermag. Links- und Rechtshändigkeit
Ehe wir nun mit den Zeichenübungen beginnen, möchte ich noch die Frage zu beantworten versuchen, wie sich Linkshändigkeit auf das Zeichnen und auf die Tätigkeit der Hemisphären auswirkt. Eines scheint klar zu sein: daß in den westlichen Nationen etwa fünf bis zwölf Prozent der Bevölkerung ausgeprägte Linkshänder sind. Dies scheint auch für die meisten anderen Kulturen zuzutreffen, doch gibt es Hinweise darauf, daß in vor- und frühgeschichtlichen Kulturen die Rechtshändigkeit weit weniger deutlich überwog. Früher hat man geglaubt, daß bei Linkshändern die Organisation des Gehirns einfach umgekehrt sei wie bei Rechtshändern: da die verbalen Funktionen (Sprache, Schrift usw.) bei Rechtshändern von der linken Hemisphäre ausgehen, nahm man an, daß sich bei Linkshändern das Sprachzentrum in der rechten Hemisphäre befände. Doch neuere Forschungen haben ergeben, daß die verbalen Funktionen bei der Mehrzahl der Linkshänder ebenfalls von der linken Hemisphäre gesteuert werden. Eine Ausnahme bilden jene Linkshänder, deren Mütter schon linkshändig waren; bei ihnen übernimmt
möglicherweise die rechte Hemisphäre verbale Funktionen. Ob die Linkshändigkeit den Zugang zu Funktionen der rechten Hemisphäre — zum Beispiel zum Zeichnen — erleichtert, ist noch ungeklärt. Eine Frage jedoch — sie wird mir oft in den Kursen gestellt — scheint eindeutig verneint werden zu können: ob der Rechtshänder die Kräfte der rechten Hirnhälfte «anzapfen» kann, wenn er beim Zeichnen die linke Hand benutzt. Die Schwierigkeit, die manche Menschen daran hindert, zeichnen zu lernen, besteht darin, daß sie nicht fähig sind zu sehen. Dieses Problem verschwindet nicht einfach, indem man die andere Hand benutzt; dadurch wird die Zeichnung höchstens noch ungeschickter. Ein Mensch mit zeichnerischem Geschick kann auch dann zeichnen, wenn er den Bleistift mit den Zähnen oder zwischen den Zehen festhalten muß — weil er zu sehen gelernt hat. Meine Anleitungen in den folgenden Kapiteln richte ich an Rechtshänder. Sie gelten jedoch in gleicher Weise für Linkshänder, ausgenommen jene, deren Mütter bereits linkshändig waren. Diese wenigen bitte ich, die Angaben, die die Hemisphärenfunktionen betreffen, einfach umzukehren.
4 Von links nach rechts, von rechts nach links: Die Erfahrung des Hinübergleitens
Die Erfahrung des Hinübergleitens
Eine wahrgenommene Form abzuzeichnen ist weitgehend Sache der rechten Hemisphäre. Dies ist inzwischen empirisch überprüft und belegt worden. Wie schon erwähnt, lassen wir beim Zeichnen einer wahrgenommenen Form den L-Modus weitgehend «aus-» und den R-Modus «angeschaltet», was einen leicht veränderten subjektiven Zustand hervorruft — den Zustand, in dem die rechte Hemisphäre «führt». Von diesem typischen Zustand sprechen auch die Künstler: von intensiver «Hingabe» an die Arbeit, vom Verlust des Zeitgefühls, von der Unfähigkeit, zu sprechen oder gesprochene Worte anderer aufzunehmen, von einem Gefühl der Zuversicht, vom Vergessen aller Ängste, von tiefer Aufmerksamkeit für Umrisse, Zwischenräume und Formen, die namenlos bleiben. Es ist wichtig, daß Sie dieses Überwechseln vom einen Modus zum anderen bewußt erleben. Wenn Sie die Voraussetzungen für dieses geistige Umschalten schaffen und den dadurch hervorgerufenen winzigen Unterschied im Fühlen spüren, werden Sie diesen Zustand bald erkennen und fördern können.
Vasen und Gesichter: Eine Übung für unser zweigeteiltes Gehirn Die folgenden Übungen sollen Ihnen helfen, von Ihrem dominanten L-Modus auf Ihren unterdrückten R-Modus umzuschalten. Ich könnte damit fortfahren, dieses Umschalten wieder und wieder zu beschreiben, doch nur Sie selbst können es wirklich erfahren. «Wenn du anfängst zu fragen, was Jazz ist», hat Fats Waller einmal gesagt, «wirst du es niemals begreifen.» Vasen-Gesichter (i)
Vermutlich haben Sie sich diese Zeichnung mit der auf dem Grundprinzip des Vexierbildes beruhenden optischen Täuschung der Vasen-Gesichter schon angesehen: Betrachtet man sie auf eine bestimmte Weise, sieht man zwei Gesichter im Profil. Schauen Sie sie länger an, scheinen sie sich zu verwandeln; sie bilden die Umrisse einer Vase (vgl. Abb. 13). Ehe Sie zu zeichnen beginnen: Lesen Sie erst alle Anweisungen für die Übung durch. 1. Zeichnen Sie auf die linke Seite Ihres Bogens das Profil eines Gesichtes, das zur Mitte blickt (Abb. 15). Sind Sie Linkshänder, zeichnen Sie das Profil auf die rechte Seite, ebenfalls zur Mitte blickend (Abb. 14). Wenn Sie wollen, denken Sie sich selbst ein Profil aus. Es scheint für das Zeichnenlernen sehr hilfreich zu sein,
Die Erfahrung des Hinübergleitens
wenn Sie Ihre eigenen, im Gedächtnis gespeicherten Symbole für ein menschliches Profil verwenden. 2. Als nächstes ziehen Sie, ausgehend vom oberen und vom unteren Ende Ihrer Profilzeichnung, zwei gerade waagerechte Linien: den Rand und den Boden der Vase (Abb. 14 und 15). 3. Nun ziehen Sie die Linie des Profils mit dem Bleistift noch einmal nach. Während der Bleistift über die Züge gleitet, nennen Sie sie im stillen beim Namen: Stirn, Nase, Lippen, Kinn, Hals. Wiederholen Sie dies mindestens einmal. Das Benennen symbolischer Formen ist eine Funktion des L-Modus. 4. Als nächstes zeichnen Sie auf der anderen Hälfte des Blattes eine analog zur ersten, aber umgekehrt verlaufende zweite Profillinie. Ziehen Sie auch diese Linie von oben nach unten. Dadurch vervollständigen Sie die Vase. Das zweite Profil sollte nach Möglichkeit dem ersten in den Proportionen genau entsprechen, so daß die Vase symmetrisch wird. (Werfen Sie noch einmal einen Blick auf die Abbildung 13.) Achten Sie auf die leisen Signale, die darauf hindeuten, daß Sie von einem Modus auf den anderen umschalten. Es ist möglich, daß Sie beim Zeichnen des zweiten Profils an bestimmten Stellen einen inneren Konflikt spüren. Beobachten Sie sich dabei, und achten Sie darauf, wie Sie das Problem lösen. Sie werden feststellen, daß Sie das zweite Profil auf eine
Abb. 15: Für Rech shänd er
andere Weise zustande bringen. Das ist die ^eichenmethode des R-Mo-
dus. Bevor Sie nun weiterlesen, führen Sie bitte diese Übung durch. Wenn Sie fertig sind: Denken Sie darüber nach, wie Sie die Vasen-Gesichter-Zeichnung zustande gebracht haben. Das erste Profil haben Sie höchstwahrscheinlich ziemlich schnell gezeichnet und auch schnell während des Benennens der einzelnen Teile l nachgezogen. Dies war ein Vorgehen nach dem L-Modus: Sie haben aus der Erinnerung symbolische Formen gezeichnet und sie benannt.
Beim Zeichnen des zweiten Profils, bei dem sich die Umrisse einer Vase ergaben, haben Sie vielleicht — wie ich es angekündigt habe — einen inneren Konflikt, eine leichte Verwirrung gespürt. Um die' Zeichnung von der Vase zu vollenden, mußten Sie bei der zweiten Profillinie anders vorgehen. Vielleicht haben Sie dabei gar nicht mehr das Gefühl gehabt, ein Profil zu zeichnen, und sich dabei ertappt, daß Sie zwischen den beiden Profilen hin und her guckten und die Winkel, die vorspringenden und zurückweichen- den Kurven und die Länge der einzelnen Linienabschnitte in ihrem Verhältnis zu den gegenüberliegenden Umrissen verglichen, die nun unbenannt und unbenennbar waren. Anders ausgedrückt: Sie
«[Es] drängte sich dessen Richtigkeit schütten geblieber daß unser normale sein — unsei ration wie wir es nennen bestimmte Art von und daß um dassel tielle Bewußtseinsf ganz andersartig u durch ganz dünne sind. Wir können c hen, ohne ihr Das« wenn nur das nötii wendet wird, so ze leisesten Berührun lichkeit: bestimmte Lebens, die aller V nach eine - uns fre Bedeutung und W haben.» William James
Die Erfahrung des Hinübergleitens
haben die Linie beim Zeichnen ständig korrigiert und darauf geachtet, wo Sie mit dem Stift entlangglitten und wie die Linie weiterge-
führt werden mußte. Sie haben sich am Zwischenraum zwischen dem ersten Profil und dessen entstehender Umkehrung orientiert.
Wir zeichnen nach der «Navigationsmethode» des R-Modus Beim ersten Profil sind Sie — wie der europäische Seemann — nach dem L-Modus vorgegangen: Sie haben Abschnitt für Abschnitt geplant, berechnet, beim Namen genannt. Beim Zeichnen des zweiten Profils hingegen sind Sie — wie der Südseeinsulaner — nach dem R-Modus verfahren: Sie haben sich am Raum orientiert, um den «Kurs» Ihrer Linie zu ermitteln. Vielleicht haben Sie auch beim Zeichnen des zweiten Profils versucht, die einzelnen Teile zu benennen, und dabei eine leichte Verwirrung gespürt. Es ging besser, wenn Sie nicht daran dachten, daß Sie ein Gesicht zeichneten. Es war leichter, sich nach den Umrissen des Raums zwischen den
beiden Profilen zu richten. Anders ausgedrückt: Das Zeichnen ist Ihnen wahrscheinlich leichtergefallen, wenn Sie überhaupt nicht denken mußten, jedenfalls nicht in Worten. Wenn Sie beim Zeichnen nach dem R-Modus dennoch in Worten denken, dann beschränken Sie sich nur auf Fragen wie: «Wo setzt dieser Bogen an?» — «Wie groß ist der Winkel im Vergleich zum Rand des Bogens?» - «Wie lang ist diese Linie im Vergleich zu jener?» «Wie weit ist dieser Punkt vom oberen und vom unteren Rand meines Blattes entfernt?» Diese Fragen entsprechen dem R-Modus: Sie beziehen sich auf den Raum und die Größenverhältnisse und beruhen auf dem Vergleich. Denken Sie immer daran: Die einzelnen Teile werden nicht benannt. Weder werden Feststellungen getroffen, noch Schlüsse gezogen wie: «Das Kinn muß sich ebensoweit vorwölben wie die Nase» oder: «Nasen sind auf eine bestimmte Weise geformt.» Denken Sie bei der nächsten Übung an die nichtsprachlichen, die Verhältnisse betreffenden Faktoren. Mischt sich Ihre linke Hemisphäre mit verbalen Äußerungen ein, versuchen Sie, sie zum Schweigen zu bringen. Ihr verborgener Beobachter kann zu ihr sagen: «Halte dich da bitte raus. Die andere Hälfte wird mit dieser Aufgabe gut fertig. Bald wenden wir uns dir wieder zu.» (Dies mag sonderbar klingen, doch es ist notwendig, weil die linke Hemisphäre nicht daran gewöhnt ist, ausgeschlossen zu werden. Daher muß man sie gewissermaßen beschwichtigen.)
Die Erfahrung des Hinubergleitens
Vasen-Gesichter (2) Die Barockvase und das Monstergesicht
Sie sollen nun eine zweite Vasen-Gesichter-Zeichnung anfertigen. Lesen Sie auch diesmal die Anweisungen genau durch, bevor Sie beginnen. 1. Zeichnen Sie — als Rechtshänder auf die linke, als Linkshänder auf die rechte Seite des Blattes — ein Profil. Diesmal zeichnen Sie das abwegigste Profil, das Sie sich nur vorstellen können - eine Hexe, einen Dämon, ein Monster. Wieder zählen Sie die einzelnen Teile des Gesichts von oben nach unten beim Zeichnen auf, ebenso alle «Ausschmückungen» wie Falten, Warzen, Doppelkinn usw. Die Abbildungen 16 und 17 liefern Ihnen ein Beispiel dafür, doch erfinden Sie möglichst ein eigenes Profil. 2. Wenn Sie mit diesem ersten Profil fertig sind, fügen Sie oben und unten waagerechte Linien an, so daß sich Boden und Rand einer Vase ergeben. 3. Nun zeichnen Sie wie bei der ersten Übung ein entsprechendes umgekehrtes Profil. Und schon ist die Vase fertig — diesmal ist es eine Barockva.se.
Wie bei der vorangegangenen Übung ist das erste Monsterprofil nach dem R-Modus entstanden; Sie zeichneten symbolische Formen, die ein Gesicht bilden. Zumal bei diesen komplizierten Vasen-Gesichtern kann man das zweite Profil am besten — vielleicht sogar überhaupt nur — zustande kriegen, indem man zum R-Modus überwechselt. Es ist die Kompliziertheit der Form, die Sie zum Umschalten auf den R-Modus zwingt. Es kommt bei dieser Übung
nicht auf die Vollkommenheit Ihrer Zeichnung an. Wichtig ist vielmehr, daß Sie versuchen, dieses Hinüberwechseln zu spüren. Versuchen Sie, sich der Verschiedenheit der Modi bewußt zu werden. Wenn es Ihnen gelingt, das Umschalten wahrzunehmen, haben Sie den ersten wichtigen Lernschritt zu unserem Ziel hin vollzogen, das in der Fähigkeit zur bewußten, willentlichen Entschei-
dung darüber besteht, welche Seite Ihres Gehirns Sie bei einer bestimmten Aufgabe jeweils aktivieren wollen. Wenn wir uns bemühen, eine Form mit Hilfe des L-Modus abzuzeichnen, so entspricht das dem Versuch, mit dem Fuß einen Faden durch ein Nadelöhr zu ziehen. Es funktioniert nicht. Was Sie lernen müssen, ist, die linke Hemisphäre «auszuschalten» und die rechte zu aktivieren. Dazu müssen Sie die Blockierung der rechten beseitigen oder, wie Aldous Huxley es ausdrückte, «die Tür in der Mauer» öffnen. Die nächste Übung soll Ihnen ein noch vollständigeres Umschalten auf den R-Modus ermöglichen.
Abb. ly: Für Rechtshänder.
Die Erfahrung des Hinübergleitens
Auf den Kopf gestellt: So schaltet man auf den R-Modus um Vertraute Dinge sehen ganz anders aus, wenn man sie auf den Kopf stellt. Automatisch schreiben wir den Dingen, die wir wahrnehmen, ein Oben, ein Unten und mehrere Seiten - links, rechts, vorne, hinten usw. — zu, und wir gehen davon aus, daß wir die Dinge immer auf diese gewohnte Weise sehen: mit der oberen Seite nach oben. Denn auf Grund des «richtigen» Obens und Untens sind wir in der Lage, bekannte Dinge wiederzuerkennen, zu benennen und durch Vergleich mit unseren gespeicherten Erinnerungen und Vorstellungen zu kategorisieren.
Abb. 18:
Die Erfahrung des Hinübergleitens
Steht ein Bild auf dem Kopf, stimmen unsere optischen Anhaltspunkte nicht mehr. Die Botschaft wird verfremdet, das Hirn verwirrt. Wir sehen Formen und Flächen aus Licht und Schatten. Wir werden es nicht gerade ablehnen, auf den Kopf gestellte Bilder zu betrachten — nur darf man uns nicht auffordern, zu identifizieren, was wir sehen. Diese Aufgabe brächte uns zur Verzweiflung: Auf den Kopf gestellt, sind selbst sehr bekannte Gesichter kaum wiederzuerkennen. Wer ist zum Beispiel der berühmte Amerikaner auf dem Foto (Abb. 18)? Erkennen Sie ihn sofort? Vermutlich mußten Sie erst das Foto - wenigstens im Geist um 180 Grad drehen, um zu sehen, daß es John F. Kennedy darstellt. Selbst nachdem Sie wissen, um wen es sich handelt, wirkt das Gesicht noch immer fremd. Alle Bilder und Gemälde sind schwer zu erkennen, wenn sie um 180 Grad gedreht werden (vgl. Abb. 19 und 20). Selbst Ihre eigene Handschrift wird, auf den Kopf gestellt, für Sie kaum zu lesen sein, obwohl Sie sie doch seit Jahrzehnten kennen. Um dies nachzuprüfen, suchen Sie sich einen alten Einkaufszettel oder einen alten Brief heraus, drehen ihn «verkehrt herum» und versuchen ihn so zu entziffern. Eine komplizierte Zeichnung wie die von Tiepolo (Abb. 20) ist, wenn man sie auf den Kopf dreht, kaum zu enträtseln. Das (linke) Gehirn muß hier einfach «passen».
Abb. 19: Fälscher pflegen beim K pieren von Unterschriften das Oi nal auf den Kopf zu drehen, um < Form der Buchstaben exakter wa nehmen zu können.
Wir drehen ein Bild auf den Kopf und zeichnen es ab Diese Lücke in den Fähigkeiten der linken Hemisphäre wollen wir nutzen, um dem R-Modus die Chance zu geben, für eine Weile die dominierende Rolle zu übernehmen. Das auf Seite 68 abgebildete Porträt des Komponisten Igor Strawinsky, das Picasso 1920 gezeichnet hat, steht auf dem Kopf. Ihre Aufgabe besteht nun darin, diese umgedrehte Zeichnung zu kopieren, das heißt von oben nach unten — so, wie sie hier abgebildet ist - abzuzeichnen. Mit anderen Worten: Sie sollen die PicassoZeichnung genau so kopieren, wie Sie sie sehen. Ehe Sie anfangen: Lesen Sie zunächst die folgenden Instruktionen. 1. Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, wo niemand Sie stören wird. Sie können während dieser Übung Musik hören, wenn Sie wollen. Wenn Sie in den R-Modus umschalten, werden Sie die
Abb. 20: von
vanni Battista Tiepolo (1696—17' Mit freundlicher Genehmigung c Art Institute of Chicago, Joseph Helen Regenstein Collection.
Die Erfahrung des Hinübergleitens
Abb. si: Pablo Picasso (1881—1973): (Portrat von Igor Strawinskj», aus dem Jahre 1920. Privatbesitz.
Musik nicht mehr bewußt wahrnehmen. Führen Sie die Zeichnung in einem Durchgang zu Ende und lassen Sie sich dafür mindestens dreißig bis vierzig Minuten Zeit. Stellen Sie sich einen Wecker oder eine Stoppuhr, wenn Sie wollen, damit Sie nicht an die Zeit zu denken brauchen (was ja eine Funktion des L-Modus ist). Und wichtiger noch: Drehen Sie Ihr Bild erst richtig herum, wenn
Sie fertig sind. Sie würden sonst einen «Rückfall» in den L-Modus erleiden, was wir ja gerade vermeiden wollen. 2. Betrachten Sie eine Minute lang die auf dem Kopfstehende Zeichnung (Abb. 21). Sehen Sie sich die Umrisse, die Winkel und
Die Erfahrung des Hinübergleitens
Linien an. Sie werden feststellen, daß alle Linien zusammentreffen: Wo eine Linie aufhört, fängt eine andere an. Die Linien bilden untereinander und zu den Rändern des Blattes bestimmte Winkel. Gebogene Linien grenzen genau bestimmte Leer- und Zwischenräume ab. In der Tat ergeben sich aus den Linien die Umrisse der Zwischenräume. Achten Sie auf die Formen der Leerräume, die durch die Linien eingeschlossen werden. 3. Beginnen Sie oben mit dem Abzeichnen (vgl. Abb. 22), und kopieren Sie jede einzelne Linie, gehen Sie von einer Linie zur angrenzenden weiter, und fügen Sie das Ganze wie ein Puzzle zusammen. Versuchen Sie keinesfalls, die einzelnen Teile zu benennen. Das ist nicht nötig - im Gegenteil: stoßen Sie auf Teile, die Sie vielleicht benennen könnten, zum Beispiel die H-ä-n-d-e oder das G-e-s-i-c-h-t (Achtung: Wir nennen die Dinge nicht beim Namen!), dann konzentrieren Sie sich weiterhin allein auf formale Kriterien: «Diese Linie formt sich zu einem Bogen - eine zweite Linie verläuft quer zur ersten - beide zusammen bilden die Umrisse jener kleinen Form» usw. Ich wiederhole: Denken Sie nicht daran, was diese Formen bedeuten sollen, verzichten Sie auf alle Bemühungen, die einzelnen Teile zu erkennen und zu benennen. 4. Beginnen Sie jetzt mit dem Abzeichnen. Arbeiten Sie sich langsam vor - von einer Linie zur anderen, von einem Teil zum angrenzenden Teil. 5. Haben Sie erst einmal begonnen, werden Sie entdecken, wie interessant es ist, dem Gefüge der Linien zu folgen. Mit der Zeit je mehr Sie sich ins Zeichnen versenken - wird sich Ihr L-Modus von selbst ausschalten (auf den Kopf gestellte Bilder abzuzeichnen gehört nicht zu den Aufgaben, die die linke Hemisphäre bereitwillig übernimmt; die Sache geht ihr zu langsam, und es ist alles so schwer zu erkennen). Jetzt hat sich Ihr R-Modus eingeschaltet. Bedenken Sie, daß Sie beim Zeichnen über nichts anderes Bescheid zu wissen brauchen als über das Bild, das Sie unmittelbar vor Augen haben. Es enthält für Sie alle Informationen, die Sie benötigen - und das erleichtert Ihnen die Sache. Komplizieren Sie die Dinge nicht. Es ist tatsächlich so einfach. Wenn Sie fertig sind: Wenn Sie Ihre Zeichnung nach Beendigung der Übung richtig herum drehen, werden Sie vermutlich überrascht sein, wie gut sie gelungen ist. Sehen Sie sich die auf eine ähnliche Weise (bei einem kontrollierten Experiment mit College-Studenten, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden) entstandenen Zeichnungen an (Abb. 23). Die Zeichnungen links lassen das zeichnerische Geschick zur Zeit des Experiments erken-
Abb. 22: Das Abzeichnen eines auf den Kopf gedrehten Bildes erzwingt das Umschalten vom L- auf den R-Modus.
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Die Erfahrung des Hinübergleitens
Sehen Sie sich die Zeichnungen in der rechten Spalte der Abbildung 23 an. Die Studenten A und B kopierten die Picasso-Zeichnung richtig herum. Wie Sie sehen, sind ihre Zeichnungen keineswegs besser als die von C und D, und sie weisen die gleichen stereotypen symbolischen Formen auf wie ihre zum Vergleich in der linken Spalte abgebildeten, freihändig gezeichneten Figuren. An der Kopie des Studenten B wird erkennbar, welche Verwirrung der verkürzte Stuhl und Strawinskys übergeschlagenes Bein ausgelöst haben. Die Studenten C und D dagegen, die etwa das gleiche zeichnerische Geschick besaßen, kopierten die PicassoZeichnung umgekehrt, auf dem Kopfste-
hend. Die Abbildungen zeigen das Ergebnis: Überraschenderweise lassen die Kopien des auf den Kopf gestellten Bildes eine viel präzisere Wahrnehmung erkennen. Sie scheinen von einem geübteren Zeichner angefertigt worden zu sein. Wie läßt sich das erklären? Dieses Phänomen widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Auch Sie würden wahrscheinlich nicht ohne weiteres glauben können, daß eine auf den Kopf gestellte Figur weit besser zu beobachten und zu zeichnen ist als «richtig herum» auf normale Weise. Die Linien bleiben die gleichen. Daß man die Picasso-Zeichnung auf den Kopf stellte, veränderte die Linien überhaupt nicht und machte sie auch nicht leichter zu zeichnen. Auch hatten die beiden Studenten nicht schlagartig mehr «Talent».
Abb. 23: Ergebnisse der Übung «Zeichnen Sie einen Menschen»
Strawinsky
Die Erfahrung des Hinübergleitens
nen. (Die Studenten wurden aufgefordert, irgendeinen Bekannten aus dem Gedächtnis zu zeichnen.) Wie Sie sehen, befinden sich alle auf dem Niveau von Zehn- bis Zwölfjährigen, was bei Erwachsenen unserer Kultur, deren zeichnerische Fähigkeiten nicht ausgebildet worden sind, als Normalfall betrachtet werden muß. Das linke Hirn im «Aus»
Die vorangegangene Übung hat die linke Gehirnhälfte aus dem Rennen geschlagen. Wo kam plötzlich dieses zeichnerische Können her, wo man doch sie, die allwissende linke Hemisphäre, vom Spielplatz gewiesen hatte? Da sie jeden bewundert, der seine Sache gut macht, muß sie nun in Erwägung ziehen, daß die geringgeschätzte rechte Hemisphäre «gut im Zeichnen» ist. Im Ernst - eine plausible Erklärung für dieses der Logik widersprechende Resultat liefert die Vermutung, daß die linke Hemisphäre die Verarbeitung des auf dem. Kopf stehenden Bildes ablehnte. Vermutlich schaltete sie — verwirrt und blockiert durch das ihr ungewohnte Bild und damit außerstande, es zu benennen oder in ihre Symbolsprache umzuwandeln — einfach ab, und so ging diese Aufgabe an die rechte Hemisphäre über. Und das war gut! Denn die rechte Gehirnhälfte ist für die Ausführung zeichnerischer Aufgaben
wie geschaffen. Sie ist darauf «spezialisiert» und empfindet solche Aufgaben daher nicht als schwer. Es macht ihr Spaß, sie zu lösen.
Bewußtes Umschalten lernen Zwei wichtige Fortschritte lassen sich als Erfolg der vorangegangenen Übung erkennen. Erstens ist es Ihnen jetzt möglich, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie Ihnen zumute war, nachdem Sie auf die Funktionen der rechten Gehirnhälfte umgeschaltet hatten. Der Bewußtseinszustand des R-Modus ist anders beschaffen als der des L-Modus. Diese Unterschiede kann man jedoch erst wahrnehmen, nachdem man das Umschalten selbst erfahren hat. Seltsamerweise sind wir nicht in der Lage, den Augenblick des Überwechseins von einem Bewußtseinszustand in den anderen wahrzunehmen. Wir merken zwar zum Beispiel, wie wir vollkommen wach und wenig später in einen Tagtraum versunken sind, doch der Moment des Umschaltens selbst entgeht uns. Die Unterschiede zwischen den beiden Bewußtseinszuständen hingegen können wir sehr wohl erkennen, nachdem wir sie selbst erlebt haben. Dies wird uns helfen, das Umschalten bewußter zu steuern. Und das ist ja eines unserer wichtigsten Ziele.
Die Erfahrung des Hinübergleitens
Lewis Carroll
Der zweite Gewinn aus dieser Übung ist die Erfahrung, daß das Umschalten auf den R-Modus Sie befähigt, mit den Augen eines Künstlers zu sehen - und nun auch zu zeichnen, was sie wahrnehmen. Es versteht sich von selbst, daß wir die Dinge, die wir zeichnen wollen, nicht immer auf den Kopf stellen können. Ihre Modelle werden nicht für Sie Kopfstand machen, noch wird die Landschaft das Unterste zuoberst oder ihr Inneres nach außen kehren. Deshalb sollen Sie lernen, wie Sie auch beim Abzeichnen von Dingen und Personen umschalten können, die «richtig herum» stehen. Sie werden sich eine künstlerische Sehweise aneignen,
Die Erfahrung des Hinübergleitens
indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Wahrnehmungen richten, die die linke Gehirnhälfte nicht verarbeiten will oder kann. Mit anderen Worten: Sie sollten versuchen, Ihrem Gehirn so oft wie möglich Aufgaben zu präsentieren, die die linke Hemisphäre ablehnt, und so der rechten die Chance geben, mit ihren zeichnerischen Fähigkeiten einzuspringen.
Ein Rückblick auf die R-Modus-Erfahrungen Es kann eine große Hilfe für Sie sein, wenn Sie sich noch einmal Ihre gefühlsmäßigen Erfahrungen während des eingeschalteten R-Modus vergegenwärtigen. Blicken Sie zurück. Das Umschalten ist Ihnen schon mehrmals gelungen- bei Ihren Vasen-Gesichtern und beim Abzeichnen des Strawinsky-Porträts. Als die rechte Hirn-Hemisphäre aktiv wurde, merkten Sie nicht oder kaum, wie die Zeit verging. Sie hatten das^Zeitgefühl verloren und stellten erst nach der Übung fest, wie lange Sie gebraucht hatten, um die Zeichnung anzufertigen. Und wenn Menschen in Ihrer Nähe waren, konnten Sie ihnen zuhören? Wollten Sie überhaupt verstehen, was sie sagten? Sie mögen ihre Stimmen gehört haben, aber die Bedeutung ihrer Worte war Ihnen wahrscheinlich vollkommen gleichgültig. Und haben Sie gespürt, wie aufmerksam und doch entspannt Sie sich fühlten, was für eine Zuversicht, was für ein Interesse in Ihnen wach war? So oder ähnlich haben jedenfalls die meisten meiner Schüler die Wirkungen des R-Modus beschrieben, und diese Charakterisierungen stimmen mit meinen eigenen Erfahrungen und mit den Schilderungen bekannter Künstler überein. Ein Maler erzählte mir einmal: «Wenn ich so richtig am Arbeiten bin - das ist für mich eine Erfahrung, die sich mit nichts anderem vergleichen läßt. Ich fühle mich eins mit der Arbeit: Maler und Malen, sie sind eins. Ich spüre eine tiefe Erregung und bin doch ruhig, ich bin in Hochstimmung und habe mich doch ganz unter Kontrolle. Das ist kein Glücksgefühl mehr, das ist fast schon Seligkeit.» Nach dem R-Modus zu arbeiten ist eine schöne Erfahrung, und es läßt sich gut zeichnen unter der Leitung der rechten Hemisphäre. Darüber hinaus befreit Sie das Umschalten auf den R-Modus eine Zeitlang von der Herrschaft des sprach- und symoolbesessenen L-Modus. Den meisten ist diese zeitweilige Loslosung sehr willkommen. Die Freude, die Sie empfinden, mag darauf beruhen, daß Sie die linke Hemisphäre zur Abwechslung ma -l zum Schweigen gebracht haben, daß Sie endlich einmal nicht
«Ich weiß nur zu gut, daß es mir nun in glücklichen Augenblicken gelingt, mich in meiner Arbeit zu verlieren. Maler und Dichter spüren genau, daß ihr wahres unwandelbares Wesen jenem unsichtbaren Reich entstammt, das ihnen ein Bild der ewige Wirklichkeit vermittelt . . . Ich habe das Gefühl, als ob ich nicht in der Ze existiere, als ob vielmehr die Zeit in mir existiere. Ich bin mir auch darüber klar, daß es mir nicht gegeben ist, das Rätsel der Kunst vollständig zu lösen. Nichtsdestoweniger gelang! ich fast zu dem Glauben, daß ich im Begriff bin, mit meinen Händen das Göttliche zu berühren.» Carlo Carrä
Die Erfahrung des Hinübergleitcns
Abb. 24: (um 1535). Mit freundlicher Genehmigung des Fogg Art Museum, Harvard University, Mr. E. Schroeder and Coburn Fund.
Unsere Köpfe frei zu machen von allen Gedanken und in die Leere einen anderen, uns weit überragenden Geist einströmen zu lassen heißt, unser Bewußtsein auf einen Bereich auszudehnen, der dem herkömmlichen rationalen Denken unzugänglich ist.» Edward Hill
auf ihr Geplapper hören müssen. Dasselbe Bedürfnis, den L-Modus abzuschalten, liegt zumindest teilweise auch den jahrtausendealten Praktiken der Meditation und anderen Methoden zur Herbeiführung veränderter Bewußtseinszustände wie Fasten, Drogen- und Alkoholgenuß zugrunde. Das Zeichnen nach dem R-Modus führt zu einer Veränderung der Bewußtseinslage, die Stunden andauern kann und uns zutiefst beglückt. Bevor Sie weiterlesen, fertigen Sie bitte mindestens noch zwei weitere Zeichnungen nach einer auf den Kopf gestellten Vorlage an. Sie können dazu die Abbildung 24 benutzen, aber auch Zeichnungen nach dem eigenen Geschmack auswählen. Versu-
Die Erfahrung des Hinübergleitens
chen Sie dabei stets, die mit dem Umschalten auf den R-Modus verbundenen Gefühle bewußt zu empfinden, damit Sie mit ihnen vertraut werden. Erinnern Sie sich Ihrer Kinderzeichnungen Im nächsten Kapitel werden wir auf Ihre künstlerische Entwicklung in der Kindheit zurückblicken. Die Malerei der Kinder ist eine Phase, die eng mit entwicklungsbedingten Veränderungen des Gehirns verbunden ist. In den ersten Jahren der Kindheit sind die Hirn-Hemisphären noch nicht auf gesonderte Funktionen spezialisiert. Die Verteilung spezieller Funktionen auf die eine oder andere Gehirnhälfte — die Lateralisierung — geht beim Kind nur allmählich vor sich. Erst im Alter von etwa zehn Jahren ist die Lateralisierung vollständig ausgebildet. Dieser Moment fällt mit einer Periode zusammen, in der das Kind beim Zeichnen ständig in Konflikte gerät: Sein Symbolsystem scheint in dieser Entwicklungsphase die Oberhand über die Wahrnehmung zu gewinnen und die erscheinungsgetreue Abbildung der Wahrnehmungen zu behindern. Die Vermutung liegt nahe, daß der Konflikt dadurch entsteht, daß die Kinder die «falsche» Gehirnhälfte — die linket— zur Lösung einer Aufgabe benutzen, für die eigentlich das rechte Hirn «zuständig» ist. Vielleicht gelingt es ihnen einfach nicht, sich einen eigenen Zugang zur rechten Hemisphäre zu verschaffen. Darüber hinaus behauptet die sprachlich orientierte linke Hemisphäre in diesem Alter bereits ihre dominierende Rolle. Dadurch wird die Lage noch komplizierter, denn das Benennen von Gegenständen und ihre Darstellung durch festgelegte Symbole erhalten Vorrang vor der ganzheitlichen räumlichen Wahrnehmung. Aus verschiedenen Gründen ist es wichtig, daß Sie mit mir auf die Entwicklung Ihrer Kinderzeichnungen vom Kleinkindalter an zurückschauen - damit Sie sich die wachsende Kompliziertheit der Zeichnungen bei Herannahen der Jugendjahre vergegenwärtigen, damit Sie sich die Diskrepanz zwischen Ihren Wahrnehmungen und Ihrem zeichnerischen Können ins Gedächtnis zurückrufen, damit Sie Ihre Kinderzeichnungen mit weniger kritischen Augen als noch in diesem Moment betrachten und damit Sie schließlich die Symbolik Ihrer Kindheit hinter sich lassen und hinsichtlich der gestalterischen Wiedergabe optischer Eindrücke das Niveau eines Erwachsenen erreichen, indem Sie sich des geeigneten Modus — des «rechten» Modus — beim Zeichnen bedienen.
5 Zeichnen aus dem Gedächtnis: Ihr künstlerischer Werdegang
Ihr künstlerischer Werdegang
Die meisten Erwachsenen der westlichen Kulturen gelangen in ihrer künstlerischen Entwicklung nie über das Niveau hinaus, das sie als Neun- bis Zehnjährige erreicht hatten. Nahezu alle geistigen und körperlichen Fähigkeiten entwickeln und verändern sich im Laufe der Jahre, in denen ein Kind erwachsen wird — zum Beispiel die Sprache und die Handschrift. Die Entwicklung der zeichnerischen Fähigkeiten jedoch scheint für die meisten Menschen schon in frühen Jahren beendet zu sein. In unserer Kultur zeichnen Kinder eben wie Kinder, doch die meisten Erwachsenen zeichnen gleichfalls wie Kinder, unabhängig davon, welche Fähigkeiten sie auf anderen Gebieten, in anderen Lebensbereichen ausgebildet haben. Die folgenden Zeichnungen (Abb. 25 und 26) verdeutlichen dieses Verharren auf einem kindlichen Darstellungsniveau. Sie stammen von einem außerordentlich klugen jungen Mann, der zur Zeit ihrer Entstehung an seiner Doktorarbeit schrieb.
Abb. 25
Abb. 26
Ich sah dem Mann zu, als er diese Zeichnungen anfertigte, beobachtete, wie er auf die Vorlage schaute, ein paar Striche zog, sie wieder wegradierte und es noch einmal versuchte, etwa zwanzig Minuten lang. Allmählich wurde er unruhig, wirkte angespannt und frustriert. Hinterher berichtete er, daß er seine Zeichnungen abscheulich fände und daß ihm das Zeichnen überhaupt verhaßt sei. Wollten wir diese Unfähigkeit klassifizieren — wie zum Beispiel Pädagogen Leseschwierigkeiten als «Dyslexie» bezeichnen -, könnten wir sie «Dyspiktorie» oder «Dysartistie» nennen. Doch bislang ist noch niemand auf diese Idee gekommen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn das Zeichnen gehört — im Gegensatz zum Lesen und Schreiben — in unserer Kultur nun einmal nicht zu den lebenswichtigen Fähigkeiten. Daher scheint es kaum jeman-
Ihr künstlerischer Werdegang
den zu stören, daß so viele Erwachsene nur Kinderzeichnungen zustande bringen und daß die meisten Kinder mit neun oder zehn Jahren das Zeichnen einfach aufgeben. Aus diesen Kindern werden dann später Erwachsene, die behaupten, sie hätten überhaupt kein Talent zum Zeichnen und könnten noch nicht einmal einen graden Strich ziehen. Doch geben diese Erwachsenen dann oft zu, daß sie gern zeichnen gelernt hätten — um endlich die Schwierigkeiten beim Zeichnen zu überwinden, die ihnen in ihrer Kindheit so arg zu schaffen gemacht hätten. Sie glaubten, mit dem Zeichnen aufhören zu müssen, weil sie das Gefühl hatten, daß sie es ja doch nie lernen würden. Die Folge dieses frühen Abbruchs der künstlerischen Entwicklung ist, daß sehr tüchtige und selbstsichere Erwachsene plötzlich verlegen, unsicher und ängstlich werden, wenn man sie auffordert, einen Menschen oder nur ein Gesicht zu zeichnen. In solchen Situationen heißt es dann oft: «Brauch ich gar nicht erst zu versuchen kann ich sowieso nicht. Dabei kommen doch nur Kinderzeichnungen heraus.» Oder: «Ich mag nicht zeichnen. Ich komme mir dabei so dumm vor.» Ähnliches werden vielleicht auch Sie empfunden haben, als Sie bei den Vorübungen die ersten vier Zeichnungen anfertigen sollten. ^
Die kritische Phase Zu Beginn der Reifezeit geraten Kinder in eine gestalterische Krise - in einen Konflikt zwischen ihrer ständig komplexer werdenden Wahrnehmung der Welt ringsum und ihrem zeichnerischen Können. Im Alter von neun bis elfjahren etwa haben die meisten Kinder eine ausgeprägte Vorliebe für möglichst wirklichkeitsgetreues Zeichnen und Malen. Sie beginnen in dieser Hinsicht sehr selbstkritisch zu werden und zeichnen bestimmte Lieblingssujets wieder und wieder, um ihrem Idealbild möglichst nahe zu kommen. Alles, was nicht absolut «wie in Wirklichkeit» aussieht, halten sie für mißlungen. Vielleicht können Sie sich entsinnen, wie Sie selbst in jenem Alter versuchten, die Dinge «richtig» zu zeichnen, und wie enttäuscht Sie waren, wenn es Ihnen nicht gelang. Zeichnungen, auf die Sie vorher stolz gewesen wären, schienen Ihnen nun hoffnungslos unzulänglich und beschämend. So haben Sie wahrscheinlich - wie viele andere Kinder auch - nach einigen Versuchen und kritischen Blicken auf die Ergebnisse gesagt: «Schreck-
Ihr künstlerischer Werdegang
lieh! Ich habe kein Talent. Es hat mir sowieso nicht viel Spaß gemacht - besser, ich lasse es jetzt ganz.» Leider gibt es noch einen anderen Grund, der Kinder sehr häufig dazu veranlaßt, das Zeichnen und Malen aufzugeben: die abfälligen oder spöttischen Bemerkungen gedankenloser Erwachsener über die kindlichen Kunstprodukte. Viele Erwachsene haben mir erzählt, wie sich in ihrer Kindheit ältere Leute über ihre zeichnerischen Bemühungen lustig gemacht hatten, was ihnen noch schmerzhaft deutlich in Erinnerung* war. Leider suchen Kinder die Ursache für ihren Schmerz oft in ihrer vermeintlichen Unzulänglichkeit anstatt in der unbedachten Kritik. Um ihr noch ungefestigtes Ich vor weiterem Schaden zu schützen, reagieren sie verständlicherweise meist defensiv. Nur selten unternehmen sie je wieder den Versuch, zeichnen zu lernen.
Kunstunterricht in der Schule Selbst einfühlsame Lehrer, die sich über ungerechte Kritik an den Zeichnungen der Kinder entrüsten und ihnen wirklich helfen wollen, fühlen sich dann doch oft entmutigt durch die in diesem Alter bevorzugte Art zu zeichnen: mit Details überladene, komplizierte Bilder, angestrengte Bemühungen um eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe, endlose Wiederholung der Lieblingsthemen wie Rennwagen und dergleichen. Die Lehrer erinnern sich der Freiheit und des bezaubernden Reizes, den die Zeichnungen des Kindes hatten, als es noch jünger war, und fragen sich, was da passiert sein mag. Sie bedauern, was sie für «Verklemmtheit» und «Mangel an Kreativität» halten. Oft entwickeln sich die Schüler selbst zu ihren unerbittlichsten Kritikern. Infolgedessen nehmen die Pädagogen ihre Zuflucht zu mehr handwerklichen Aufgaben - Papiermosaiken, Collagen, Schnurbilder und ähnliche Übungen im Umgang mit vorgefundenem Material-, die ihnen verläßlicher erscheinen und den Schülern weniger Qualen bereiten. Die Folge ist, daß die Mehrzahl der Schüler der Unter- und Mittelstufe nie zeichnen lernt. Ihre Selbstkritik verfestigt sich, und nur sehr wenige unternehmen später noch einmal einen Versuch, ihre zeichnerischen Fähigkeiten auszubilden. Wie der bereits erwähnte Doktorand bilden sie ihr Können in den verschiedensten Gebieten aus; bittet man sie indes, einen Menschen zu zeichnen, so entstehen die gleichen kindlichen Darstellungen, an denen sie bereits im Alter von zehn Jahren verzweifelt waren.
Ihr künstlerischer Werdegang
Vom Kleinkindstadium bis zur Reifezeit Für die Mehrzahl meiner Schüler hat es sich als große Hilfe erwiesen, sich an die Kinderjahre zu erinnern und sich vor Augen zu halten, wie sich ihre bildlichen Vorstellungen beim Zeichnen vom Kleinkindalter bis zur Reifezeit entwickelten. Haben sie erst einmal erfaßt, wie das Symbolsystem ihrer Kinderzeichnungen zustande kam, scheinen sie ihre künstlerischen Fähigkeiten leichter freisetzen und sich ein dem Erwachsenenalter angemessenes Darstellungsvermögen aneignen zu können.
81 «Die Kritzeleien des Kleinkindes lassen deutlich erkennen, wie sehr es sich den Empfindungen während der ziellosen Bewegungen seiner Hand hingibt, die mit dem Stift über die Zeichenfläche gleitet und dabei eine Linie hinterläßt. Schon allein dies muß ihm wie ein Zauber vorkommen.» Edward Hill
Das Kritzelstadium
Schon mit etwa anderthalb Jahren haben Sie Striche auf ein Blatt Papier gemacht, wenn Sie einen Stift in die Hand bekamen. Sie haben diese Striche aus eigenem Antrieb gezogen. Schwerlich können wir uns das Erstaunen eines Kindes vorstellen, wenn es einen Strich unter dem Stift hervorkommen sieht, eine Linie, deren Verlaufes selbst lenken kann. Sie und ich, wir alle haben diese Erfahrung einmal gemacht. Nach den ersten Versuchen werden Sie vermutlich voller Entzücken jede Ihnen zugängliche Fläche bekritzelt haben, einschließlich der Lieblingsbücher Ihrer Eltern und der Schlafzimmertapeten. Zuerst war Ihr Gekritzel ein ganz ungezieltes Herumfahren mit dem Stift (vgl. Abb. 27). Doch bald begann es, bestimmte Formen anzunehmen. Eine der grundlegenden Kritzelbewegungen ist die kreisförmige, die sich wahrscheinlich automatisch aus dem Zusammenwirken von Schulter, Arm, Handgelenk, Hand und Fingern ergibt. Die kreisförmige Bewegung ist eine natürliche Bewegung — natürlicher zum Beispiel als die Armbewegungen, die zum Zeichnen eines Vierecks notwendig sind. Das Stadium der Symbolik
Nach einigen Tagen oder Wochen machen Kleinkinder- anscheinend alle Menschenkinder — die grundlegende künstlerische Entdeckung: Man kann alles, was man in seiner Umgebung sieht, durch ein
gezeichnetes Symbol abbilden. Das Kind zeichnet ein kreisförmiges Gebilde, betrachtet es, fügt zwei Zeichen als Augen hinzu, weist auf die Zeichnung und sagt: «Mami» oder «Papi» oder «das bin ich» oder «mein Hund» oder was auch immer. Auf diese Weise haben wir alle den einzigartigen Erkenntnissprung vollzogen, der die Grundlage aller Kunst bildet, von den prähistorischen Höhlenzeichnungen bis hin zu den Gemälden eines Leonardo da Vinci, eines Rembrandt, eines Picasso.
Abb. 27: Kritzelzeichnung eines Zweieinhalbjährigen.
Ihr künstlerischer Werdegang
Abb. 2g: Achten Sie darauf, wie sich die Formen bei allen Figuren gleichen, sogar bei der Katze. Das kleine Hand-Symbol dient auch zur Darstellung der Katzenpfoten.
Entzückt versieht das Kind seine Kreise erst mit Augen und Mund, dann mit Strichen, die Arme und Beine, später auch Finger darstellen sollen (Abb. 28). Dieser symmetrische, kreisförmige Umriß ist eine von allen Kindern auf der Welt benutzte Grundform. Sie kann — mit geringfügigen Variationen — fast alles darstellen: eine Katze, die Sonne, eine Qualle, einen Elefanten, eine Blume, eine Knospe. Als Sie ein kleines Kind waren, stellte das Bild dar, was immer Sie wollten, wenn Sie auch vermutlich rührende, äußerst feine Veränderungen an der Grundform vornahmen, um Ihre Vorstellung auch richtig zu vermitteln. Allmählich, etwa im Alter von dreieinhalb Jahren, werden die Darstellungen des Kindes komplexer. Sie spiegeln das wachsende Bewußtsein und die sich verfeinernde Wahrnehmung der Umwelt wider. Dem Kopf wird nun ein Körper angefügt, mag er auch kleiner sein als der Kopf. Die Arme wachsen manchmal noch aus dem Kopf heraus, meist aber schon aus dem Körper — bisweilen zunächst unterhalb der Taille. Die Beine werden an den Körper angehängt. Im Alter von vier Jahren wird sich das Kind vieler Einzelheiten der Kleidung bewußt; auf den Zeichnungen erscheinen Knöpfe und Reißverschlüsse. Am Ende der Arme und Hände tauchen Finger auf, am Ende der Beine und Füße Zehen. Ihre Zahl variiert je nach Phantasie. Ich habe bis zu 31 Finger an einer Hand gezählt. Manche Hände oder Füße dagegen müssen mit einem Finger oder einem Zeh auskommen (vgl. Abb. 28).
Ihr künstlerischer Werdegang
83
Obwohl Kinderzeichnungen sich in vieler Hinsicht ähneln, erwirbt sich doch jedes Kind durch ständiges Probieren und Korrigieren («trial and error») eine eigene, von ihm bevorzugte Darstellungsform, die es allmählich verfeinert. Kinder werden nicht müde, ihre Lieblingsbilder immer wieder zu zeichnen. Sie prägen sie sich auf diese Weise ein und fügen ihnen im Laufe der Zeit immer mehr Einzelheiten hinzu. Durch diese Lieblingsdarstellungen verfestigen sich bestimmte Bildelemente im Gedächtnis, die sich über Jahre hinweg als außerordentlich beständig erweisen (vgl. Abb. 29). Bilder, die Geschichten erzählen
Mit etwa vier bis fünf Jahren beginnt das Kind, in seinen Zeichnungen Geschichten zu erzählen und Probleme zu verarbeiten, wobei es kleine, aber auch schon gröbere Veränderungen der Grundformen entwickelt, um die gewünschte Bedeutung zum Ausdruck zu bringen. Zum Beispiel hat der junge Künstler, von dem die Zeichnung auf Abb. 30 stammt, den Arm, der den Schirm hält, im Vergleich zum anderen Arm riesengroß gemacht: der Arm mit dem Schirm ist das, worauf es ihm ankommt. Ein anderes Beispiel für die Art und Weise, wie Kinder in ihren Zeichnungen Gefühle ausdrücken, ist das auf dieser Seite in seinen Entstehungsphasen gezeigte Familienbild eines schüchternen Fünfjährigen, der anscheinend von morgens bis abends von seiner älteren Schwester herumkommandiert wird. Selbst Picasso hätte eine Empfindung kaum stärker zum Ausdruck bringen können. Nachdem das Kind seine Gefühle für seine Schwester gezeichnet, den gestaltlosen Empfindungen Gestalt gegeben hatte, wird es wohl in der Lage gewesen sein, sich besser gegen seine übermächtige Schwester zu wehren.
Unter Anwendung der gleichen Grundform, mit nur geringfügigen » Wanderungen - langes Haar und Kleid -, zeichnete er daneben seine Mutter.
Dann fügte er noch den Vater hinzu, der kahl ist und eine Brille trägt.
Abb. 30
Seine symbolische Grundform für eine Figur benutzend, zeichnete der Fünfjährige zunächst sich selbst.
Zum Schluß zeichnete er seine Schwester - mit gewaltigen Zähnen.
Ihr künstlerischer Werdegang
Die Landschaft
Im Alter von etwa fünf bis sechs Jahren haben Kinder bereits eine Reihe von Landschaftssymbolen entwickelt. Auch hier entscheidet sich das Kind nach einer Probierphase meist für eine einzige Landschaftsversion, die es ständig wiederholt. Vielleicht können Sie sich noch an die Landschaft erinnern, die Sie mit fünf oder sechs Jahren gezeichnet haben. Woraus setzte sich diese Landschaft zusammen? Zunächst einmal aus Himmel und Erde. Da das Kind in Symbolen denkt, weiß es, daß der Boden unten und der Himmel oben ist. Daher ist der untere Rand des Blattes der Boden, der obere der Himmel (vgl. Abb. 31). Wenn Kinder mit Farbe arbeiten, heben sie diese Unterscheidung hervor, indem sie einen zumeist grünen Strich entlang des unteren Randes und einen blauen entlang des oberen Randes malen. Die meisten Kinderlandschaften enthalten die gleiche HausVersion. Versuchen Sie einmal, sich zu entsinnen, welche Art von Haus Sie gezeichnet haben. Hatte es Fenster? Mit Vorhängen? Und was noch? Wie war die Tür, hatte sie einen Türgriff? Natürlich, denn nur so kommt man in das Haus hinein. Ich habe noch nie eine
Kinderzeichnung von einem Haus gesehen, an dem ein Türgriff fehlt. Vielleicht erinnern Sie sich jetzt langsam an die übrige Landschaft: an die Sonne (war sie viereckig oder rund, gingen Strahlen von ihr aus?), an die Wolken, den Schornstein, die Blumen, den Baum (hatte er Äste, Blätter?), den Fluß, die Berge. Was gab es da noch? Einen Weg, der in die Landschaft oder zum Haus führte? Einen Zaun? Oder Vögel? Ehe Sie nun weiterlesen, nehmen Sie bitte ein Blatt Papier und versuchen Sie, Ihre Kinder-Landschaft aus der Erinnerung nachzuzeichnen. Versehen Sie das Ergebnis mit einer Bezeichnung wie: «Landschaftszeichnung aus meiner Kindheit, aus dem Gedächtnis wiedergegeben». Möglicherweise erinnern Sie sich Ihrer Kinder-Landschaft als ganzes Bild mit überraschender Deutlichkeit, mit all ihren einzelnen Elementen; oder aber sie taucht erst allmählich wieder in Ihrer Erinnerung auf, wenn Sie zu zeichnen beginnen. Versuchen Sie sich während dieser Übung daran zu erinnern, welche Freude Ihnen das Zeichnen als Kind gemacht hat, welche Befriedigung ausging von dem Gelingen eines jeden Symbols und von dem Gefühl, daß jedes Symbol innerhalb der Zeichnung seinen rechten Platz erhielt. Erinnern Sie sich daran, daß nichts ausgelassen werden durfte, und an Ihr Empfinden, daß das Bild
Ihr künstlerischer Werdegang
Abb. 32
Abb. 33
fertig war, wenn Sie allen Symbolen ihren Platz zugewiesen hatten. Wenn Sie sich im Moment nicht mehr an Ihre Kinder-Landschaft erinnern können, machen Sie sich keine Sorgen. Vielleicht fällt sie Ihnen später wieder ein. Wenn nicht, ist das wahrscheinlich ganz einfach ein Zeichen dafür, daß Sie den Zugang zu dieser Erinnerung aus irgendeinem Grund gesperrt haben. Etwa zehn Prozent meiner Schüler sind gewöhnlich nicht in der Lage, sich ihrer Kinderzeichnungen zu erinnern. Bevor es weitergeht, wollen wir einen Moment lang innehalten, um einige von Erwachsenen aus der Erinnerung wiedergegebene Kinderzeichnungen zu betrachten. Als erstes werden Sie bemerken, daß alle Landschaften sehr persönlich gestaltete Bilder sind, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Achten Sie auch auf die Komposition (die Art und Weise, wie die Elemente eines Bildes auf der gegebenen Fläche zusammengefügt beziehungsweise verteilt sind): sie scheint genau richtig in dem Sinne zu sein, daß kein einziges Element hinzugefügt oder entfernt werden kann, ohne das Gleichgewicht des Ganzen zu stören. Die Abbildungen 32 und 33 sollen Ihnen dies veranschaulichen. Vergleichen Sie die beiden Zeichnungen und sehen Sie, was geschieht, wenn man eine Form (in diesem Fall den Baum) wegnimmt. Probieren Sie dies selbst an ihren erinnerten Landschaften aus, indem Siejeweils ein Element der Zeichnung mit der Hand oder mit einem Stück Papier abdecken. Sie werden feststellen: Das Gleichgewicht des Bildes ist dadurch zerstört.
Kinder scheinen zunächst mit einem stark entwickelten Sinn für Komposition ausgestattet zu sein, den sie jedö^h meist in der Jugend verlieren und den sie sich später erst wieder mühsam aneignen müssen. Der Grund dafür besteht meiner Meinung nach darin, daß ältere Kinder ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Dinge in einem undifferenzierten Raum richten, während sich das Kleinkind eine in sich ruhende, von den vier Rändern des Blattes begrenzte Vorstellungswelt schafft. Dagegen scheinen für ältere Kinder die Ränder des Blattes kaum zu existieren, so wie es auch im offenen realen Raum keine Begrenzungen gibt.
86 Abb. 34: Landschaftszeichnung eines Sechsjährigen. Das Haus steht sehr weit vorn. Der untere Rand des Blattes dient gleichzeitig als Boden. Für ein Kind scheint jedes Teil der Fläche eine symbolische Bedeutung zu haben: Der leere Raum stellt Luft dar, in die Rauch aufsteigt, durch die Sonnenstrahlen dringen und Vögel fliegen.
ibb. 35: Landschaftszeichnung eines Sechsjährigen. Hier liegt das Haus veiter hinten und wird von einem Regenbogen umschlossen. Es strahlt ine große Selbstzufriedenheit aus.
Ihr künstlerischer Werdegang
Ihr künstlerischer Werdegang
Die Abbildungen 34 bis 36 zeigen einige andere charakteristische Merkmale kindlicher Landschaftszeichnungen. Nachdem Sie sich diese Beispiele angesehen haben, betrachten Sie Ihre eigene Kinder-Landschaft. Beachten Sie die Komposition. Achten Sie auf den Abstand zwischen den einzelnen Bild teilen, der ein wichtiger Aspekt der Komposition ist. Versuchen Sie zu beschreiben, was das Haus für Sie ausdrückt - zunächst im stillen ohne Worte, dann in einigen gesprochenen oder geschriebenen Sätzen. Decken Sie ein Element ab, und stellen Sie fest, wie sich das auf die Komposition auswirkt. Erinnern Sie sich daran, wie Ihnen eben beim Zeichnen der Kinder-Landschaft zumute war. Fühlten Sie sich nicht absolut sicher bei der Entscheidung, wohin jedes Teil gehörte? Haben Sie nicht für jedes Element ein in sich vollkommenes Symbol gefunden, das genau zu den anderen Symbolen
Ihr künstlerischer Werdegang
paßte? Vielleicht haben Sie sogar die gleiche Befriedigung gespürt, die Sie als Kind empfanden, wenn alle Formen den rechten Platz hatten und somit das Bild fertig war. Die Stufe der Komplexität
Nun bitte ich Sie, sich in die Phase Ihrer kindlichen Entwicklung hineinzuversetzen, die der eben geschilderten folgt. Möglicherweise können Sie sich noch an einige der Zeichnungen erinnern, die Sie als neun- und zehnjähriges Kind angefertigt haben — etwa in der dritten, vierten oder fünften Klasse. In dieser Phase bemühen sich die Kinder beim Zeichnen zunehmend um die Darstellung von Details in der Hoffnung, auf diese Weise eine möglichst erscheinungsgetreue Abbildung des Gesehenen zu erreichen. Dieser «Naturalismus» ist jetzt ein Ideal, das ihnen sehr imponiert. Sie achten immer weniger auf die Komposition, die Formen werden fast auf gut Glück auf der Fläche verteilt. Das Aussehen der Dinge wird für das Kind offensichtlich wichtiger als ihre Placierung auf dem Zeichenblatt. Besondere Aufmerksamkeit widmet es den Details seiner Formen. Durchweg werden die Zeichnungen älterer Kinder komplexer, zugleich aber deuten sie auf eine geringere Sicherheit hin als die Landschaftszeichnungen der frühen Kindheit. Etwa in diesem Alter kann man auch die ersten geschlechtsspezifischen Unterschiede von Kinderzeichnungen feststellen. Wahrscheinlich sind es die Wirkungen kultureller Einflüsse, die hierin zum Ausdruck kommen. Jungen zeichnen nun mit Vorliebe Autos - vor allem Rennwagen -, Schiffe, Flugzeuge, Kriegsszenen mit Bombern und Panzern und Raketen, fiktive und historische Heldengestalten — bärtige Piraten, Fernsehstars, Bergsteiger, Tiefseetaucher, Supermänner. Auffällig ist auch die Verwendung von Blockbuchstaben, insbesondere Monogrammen. Bestimmte seltsame Phantasien, zum Beispiel (ein Prachtexemplar!) ein Augapfel mit eingestochenem Degen und Blutpfützen, scheinen eine besondere Anziehungskraft auszuüben. Mädchen hingegen bevorzugen harmlosere Themen: Vasen mit Blumen, Wasserfälle, Berge, die sich in stillen Seen spiegeln, hübsche Mädchen, die rennen oder im Gras sitzen, Mannequins mit unglaublich langen Augenwimpern, mit schicken Frisuren, Wespentaillen und winzigen Füßen, die Hände auf dem Rücken, weil Hände «so schwer zu zeichnen» sind. Die Abbildungen 37 bis 40 sollen hier als Beispiele für diese Zeichnungen aus der beginnenden Adoleszenz dienen; zu ihnen gehört auch eine Comic-Zeichnung. Comics werden von Jungen
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Ihr künstlerischer Werdegang
89 Abb. 38: Komplexe Zeichnung eines Zehnjährigen — ein Beispiel für jene Art von Zeichnungen, die viele Lehrer als unschöpferisch verurteilen. Diejungen Künstler strengen sich jedoch sehr an, Bilder dieser Art so detailliert und vollkommen wie möglich zu gestalten. Sie erproben dabei die unterschiedlichsten Symbole und Darstellungsformen. Achten Sie auf die geduldige Wiederholung des Symbols für «Gesicht in der Menge». Doch wird das Kind sehr bald auf dieses Symbol verzichten, weil es ihm hoffnungslos unzureichend erscheint.
Abb. 3g: Komplexe Zeichnung einer Neunjährigen. Durchsichtigkeit - Ge-
genstände unter Wasser oder durch Glasfenster gesehen, oder, wie in dieser Zeichnung, in durchsichtigen Vasen — das ist ein immer wiederkehrendes Lieblingsthema in Kinderzeichnungen aus dieser Phase. Obwohl man hieran die verschiedensten psychologischen Hypothesen anknüpfen könnte, ist es doch viel wahrscheinlicher, daß diejungen Künstler an diesem Motiv ausprobieren wollen, ob sie es schaffen, eine Zeichnung zustande zu bringen, auf der alles «wie in echt» aussieht. Abb. /jo: Komplexe Zeichnung eines Zehnjährigen. Die Comic-Zeichnung ist eine sehr beliebte Kunstform unter Heranwachsenden dieses Alters. Die Kunstpädagogin Miriam Lindstrom schreibt, daß das Geschmacksniveau bei Kindern dieser Altersstufe allgemein recht niedrig ist.
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und von Mädchen gezeichnet und sind hoch angesehen. Ich glaube, sie üben auf Kinder dieser Altersstufe deshalb eine besonders große Anziehungskraft aus, weil in ihnen vertraute Symbolformen in hochentwickelter Manier verwendet werden, was den Heranwachsenden hilft, den Gedanken von sich zu weisen, daß ihre Zeichnungen «kindisch» sind. Die «realistische» Phase
Etwa im Alter von zehn bis elf Jahren sind die Kinder vollständig von der Leidenschaft für realitätsnahe Darstellungen (vgl. Abb. 41 und 42) ergriffen. Wenn sie meinen, ihre Zeichnungen «stimmen nicht richtig» - was bedeutet, daß sie ihnen nicht wirklichkeitsgetreu genug erscheinen -, verlieren Kinder oft den Mut und
Abb. 41: Wirklichkeitsnahe Darstellung eines Zwölfjährigen. Zehn- bis zwölfjährige Kinder suchen nach Wegen, die Dinge so wiederzugeben, daß sie «wie in Wirklichkeit aussehen». Besondere Anziehungskraft üben figürliche Darstellungen auf sie aus. In dieser Zeichnung wurden Symbole einer früheren Phase in die neue Wahrnehmungsweise eingepaßt. Beachten Sie das von vorn gesehene Auge in der Darstellung des Profils und die Tatsache, daß das Wissen des Kindes um die Form einer Stuhllehne es nicht daran gehindert hat, sie in der Seitenansicht zu zeichnen.
Abb. 42: Wirklichkeitsnahe Zeichnung eines Zwölfjährigen. In dieser Altersstufe geben sich die Kinder die allergrößte Mühe, erscheinungsgetreue Darstellungen zustande zu bringen. Das Bewußtsein für die Fläche und ihre Begrenzung durch den Rand verblaßt. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich hier auf einzelne, zusammenhanglose Formen, die auf gut Glück willkürlich auf der Fläche verteilt werden. Jedes Teil hat eine Funktion für sich. Kompositionelle Gesichtspunkte sind unberücksichtigt geblieben.
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bitten ihre Lehrer um Hilfe. Dann erhalten sie vielleicht die Antwort: «Du mußt eben ganz genau hinsehen», doch eine solche Aufforderung hilft ihnen kaum weiter; denn Kinder wissen nicht, was sie sich genau ansehen sollen. Ich möchte das an Hand eines Beispiels verdeutlichen. Nehmen wir an, ein zehnjähriges Kind hat sich vorgenommen, einen Würfel zu zeichnen, vielleicht einen dreidimensionalen Holzklotz. Damit der Würfel möglichst «wie in Wirklichkeit» aussieht, versucht es, ihn aus einem Winkel zu zeichnen, der zwei oder drei seiner Seiten erkennen läßt — also nicht direkt von vorn, denn dann würde der Würfel aussehen wie eine quadratische Fläche. Um diesen Plan in die Tat umzusetzen, muß das Kind die aus seiner Perspektive recht seltsam gewinkelten Formen nach ihrem Erscheinungsbild zeichnen - das heißt: genau so, wie das Bild auf die Netzhaut trifft. Diese Formen jedoch sind nicht quadratisch. Das
Kind muß also sein Wissen, daß der Würfel quadratisch ist, unterdrücken und Formen zeichnen, die ihm «komisch» vorkommen. Der Würfel, den es zeichnet, wird nur dann wie ein Würfel aussehen, wenn er sich aus nichtquadratischen, Formen zusammensetzt. Mit anderen Worten: Das Kind muß ein Paradoxon, einen an sich unlogischen Umsetzungsprozeß akzeptieren, der seinem rationalen Verständnis zuwiderläuft. (Vielleicht erklärt dies zum Teil Picassos Bemerkung, daß die Malerei eine Lüge sei, die die Wahrheit ausdrücke.) Wenn das Wissen des Schülers um die wirkliche Form des Würfels die Oberhand über seine optische Wahrnehmung gewinnt, dann kommt es zu «falschen» Darstellungen. Zeichenaufgaben, bei denen es diese Art von Gestaltungsproblemen zu bewältigen gibt, bringen Heranwachsende zur Verzweiflung (vgl. Abb. 43). Da Schüler wissen, daß Würfel rechtwinklige Ecken haben, beginnen sie ihre Darstellung eines Würfels gewöhnlich mit einem rechten Winkel. Da sie wissen, daß der Würfel auf einer glatten Fläche ruht, ziehen sie an seiner Unterseite eine gerade Linie. Beim Weiterzeichnen häufen sich ihre Fehler, und so werden sie immer verwirrter. Obwohl ein Experte und erfahrener Betrachter von Kunstwerken, der mit Bildern des Kubismus und der abstrakten Kunst vertraut ist, die «falschen» Zeichnungen (Abb. 43) vielleicht interessanter findet als die «richtigen» auf Abb. 44 (dies gilt sicher iür viele in diesem Buch abgebildete Kinder- und Anfängerzeichnungen, die der «wahre Künstler» als «wahre Kunst» bejubeln ma g)> ist es für einen jungen Schüler unfaßbar, wenn man seine
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Abb. 43: «Falsche» Darstellungen eines Würfels (Schülerzeichnungen).
«falschen» Darstellungen lobt. Das Kind wollte ja den Würfel so «wirklich» wie möglich darstellen. Daher ist diese Zeichnung in seinen Augen mißlungen. Eine positive Beurteilung erschiene ihm ebenso absurd wie der Versuch, die Behauptung, daß «zwei und zwei gleich fünf» sei, als eine beifallswürdige, schöpferische Lösung zu werten. Aus solchen «falschen» Darstellungen beim Zeichnen eines Würfels wird so mancher Schüler seine Konsequenz ziehen. «Ich kann nun mal nicht zeichnen», wird er sagen. Doch das Gegenteil ist wahr: Er kann sehr wohl zeichnen. Seine gezeichneten Formen verraten, daß er hinsichtlich seiner manuellen Geschicklichkeit durchaus zum Zeichnen befähigt ist. Die Schwierigkeit besteht darin, daß sein Wissen, das in anderen Verwendungszusammenhängen von großem Nutzen ist, ihn daran hindert, die Dinge so zu sehen, wie sie ihm erscheinen. Bisweilen versucht der Lehrer, das Problem zu lösen, indem er den Schülern zeigt, wie sie es machen müssen — indem er es ihnen vorzeichnet. Das Vorzeichnen ist eine altehrwürdige Methode des Kunstunterrichts, die auch funktioniert, vorausgesetzt, der Lehrer kann gut zeichnen und besitzt genügend Selbstvertrauen, um vor der Klasse sein zeichnerisches Können zu demonstrieren.
Abb. 44: «Richtige» Darstellungen eines Würfels.
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Unglücklicherweise haben Lehrer in dieser Hinsicht oft ein ebenso roßes Gefühl von Unzulänglichkeit wie die Kinder, denen sie das wirklichkeitsgetreue Zeichnen beibringen wollen. Viele Lehrer sind der Meinung, daß Kinder in diesem Alter freier in ihrem Schaffen und weniger um realitätsnahe Darstellung bemüht sein sollten. Doch sosehr auch manche Lehrer das Beharren ihrer Schüler auf diesem naturalistischen Ideal beklagen die Kinder selbst sind in dieser Hinsicht unnachgiebig. Sie wollen wirklichkeitsgetreue Abbildungen schaffen oder aber das Zeichnen für immer aufgeben. Sie wollen, daß ihre Zeichnungen dem entsprechen, was sie sehen, und sie wollen wissen, wie man das macht. Meiner Meinung nach neigen Kinder dieser Altersstufen zum Realismus (der für sie natürlich eine ganz andere Bedeutung als der kunsttheoretische Begriff «Realismus» hat), weil sie sich bemühen, sehen zu lernen. Und sie sind bereit, sehr viel Energie und Anstrengung zu investieren, wenn die Ergebnisse ermutigend sind. Nur
wenige Kinder haben das Glück, das Geheimnis durch Zufall zu entdecken: nämlich, wie man die Dinge außeine andere Weise — durch «Einschalten» des R-Modus — sieht. Wie ich bereits im Vorwort
erwähnt habe, glaube ich, daß ich zu den Kindern gehörte, denen dieser Wahrnehmungsvorgang in den Schoß fällt. Doch die meisten Kinder müssen das «Umschalten» erst lernen. Glücklicherweise sind wir heute im Begriff, neue Unterrichtsmethoden zu entwickeln, die auf den Ergebnissen der modernen Gehirnforschung basieren. Sie werden die Lehrer in die Lage versetzen, das Verlangen der Kinder nach einer Ausbildung ihres Wahrnehmungsvermögens und ihres zeichnerischen Könnens zu befriedigen.
Das Symbolsystem des Kindes prägt die Sehweise des Erwachsenen rücken wir dem eigentlichen Problem und seiner Lösung langsam näher. Die naheliegende Frage lautet: Was hindert einen Menschen daran, die Dinge so genau anzusehen, daß er sie zeichnen kann? Teil können wir diese Frage durch den Hinweis darauf beantworten, daß wir von Kindheit an gelernt haben, die Dinge als Wörter, als Begriffe zu erfassen und in unser Sprachsystem einzufügen: Wir benennen sie und eignen uns ein faktisches Wissen über sie an. Die dominante linke Hemisphäre ist nicht an der
Ihr künstlerischer Werdegang Sobald das Kind mehr als ein Gekitzel zustande bringt, im Alter von drei bis vier Jahren, erhalten die Dinge ihren Namen, und im Geist des Kindes beginnt die Bildung der Begriffe, und das ist es: an Stelle der konkreten Bilder treten die Begriffe, das sprachlich formulierte begriffliche Wissen beherrscht sein Gedächtnis und sein zeichnerisches Werk . . . Die Zeichnungen des Kindes sind in gewissem Sinne graphische Erzählungen . . . Je mehr die Herrschaft der Sprache, die den menschlichen Geist nach ihren Bedürfnissen modelt . . . die Oberhand gewinnt, gibt es seine natürlichen Zeichenversuche auf. . . die Sprache hat das Zeichnen erst verrdorben und dann verschluckt.»
ganzen Vielfalt der Informationen interessiert, die in unseren Wahrnehmungen enthalten sind. Sie möchte nur gerade so viel von den Dingen wissen, daß sie sie zu erkennen und zu kategorisieren vermag. Sie hat gelernt, einen raschen Blick auf das Objekt zu werfen und festzustellen: «Richtig, das ist ein Stuhl (oder ein Schirm, ein Vogel, ein Baum, ein Hund usw.).» Da unser Gehirn die meiste Zeit mit hereinströmenden Informationen überfüttert wird, scheint eine seiner Funktionen darin zu bestehen, einen großen Teil der Wahrnehmungsvielfalt auszufiltern. Dies ist notwendig, damit wir unser Denken auf bestimmte Dinge konzentrieren können. Allgemein betrachtet, ist dieser Filter eine sehr wichtige, nützliche Einrichtung. Doch das Zeichnen erfordert ein langes, gründliches Hinsehen, bei dem eine große Zahl von Einzelheiten wahrgenommen, so viele Informationen wie möglich ge-
Karl Bühler Grundriß der geistigen Entwicklung des Kindes-
Abb. 45: Studie zum (Heiligen Hieronymus> (1521) von Albrecht Dürer.
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neichert werden — im Idealfall alle. Die Abbildung 45 zeigt einen Versuch Dürers, dieses Ideal zu verwirklichen. Die linke Hemisphäre bringt nicht die Geduld für eine solche detaillierte Wahrnehmung auf. Sie macht es sich in dieser Hinsicht leicht und versucht, ihre Kollegin zur Rechten von ihren Ansichten zu überzeugen: «Es ist ein Stuhl, und damit basta. Mehr brauchen wir doch gar nicht zu wissen. Gib dich bloß nicht so lange mit diesem bescheuerten Stuhl ab — du verdirbst dir ja die Augen. Hier hab ich ein fertiges Symbol für dich. Wenn du willst, kannst du ja noch ein paar Details hinzufügen, aber laß mich bitte mit diesem ganzen verdammten Sehkram zufrieden.» Woher stammen diese Symbole? Sie sind in den Jahren der Kinderzeichnungen entstanden. Jeder Mensch entwickelt in dieser Zeit ein Symbolsystem. Die Symbole prägen sich dem Gedächtnis ein und können somit jederzeit abgerufen werden — was auch bei Ihnen geschah, als Sie Ihre Kinder-Landschaft zeichneten. Ebenso stehen Symbole auf Abruf bereit, wenn Sie zum Beispiel ein Gesicht zeichnen. Das tüchtige linke Hirn sagt dann: «Augen — kein Problem. Hier hab ich das Symbol für Augen, das du schon immer benutzt hast. Und eine Nase? Schau hin, so macht man's.» Mund, Haare, Wimpern? Für alles steht ein fertiges Bildsymbol bereit. Um es zusammenzufassen: Erwachsene, die zeichnen lernen wollen, sind gewöhnlich nicht in der Lage, wirklich zu sehen, was sich vor ihren Augen abspielt ~ sie nehmen ihre Umwelt nicht auf die besondere Weise wahr, die allein sie zum Zeichnen befähigt. Sie registrieren, was sie erblicken, und übersetzen diese Wahrnehmung dann auf der Stelle in Wörter und Bildsymbole, die vorwiegend auf dem in ihrer Kindheit entwickelten Symbolsystem und auf ihrem Wissen über das wahrgenommene Objekt beruhen. Wie können wir diese Schwierigkeit überwinden? Der Psychologe Robert Ornstein meint, der Künstler müsse die Dinge «spiegeln», wenn er sie zeichnen wolle, sie also genau so wahrnehmen, wie sie sind. Wenn Sie dieser Prämisse folgen, so müssen Sie Ihren dominanten L-Modus — die sprachlichen Kategorisierungsmechanismen — «abschalten» und den R-Modus «einschalten». So lernen Sie, mit den Augen eines Künstlers zu sehen.
Wieder lautet die Schlüsselfrage: Wie bringt man dieses Umschalten zustande? Wie bereits im vierten Kapitel dargelegt, scheint dies am besten zu gelingen, wenn man das Gehirn vor Aufgaben stellt, mit denen die linke Hemisphäre weder umgehen kann noch will. Mit einer Reihe solcher Aufgaben haben Sie es schon zu tun gehabt: das Vasen-Gesichter-Zeichnen und das Um-
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«Kunst ist eine Art äußerst feinen Bewußtseins . . . bedeutet Einssein, in Übereinstimmung mit seinem Gegenstand sein . . . Das Bild muß ganz aus dem Innern des Künstlers kommen . . . Das ist das Vorstellungsbild, das im Bewußtsein lebendig ist, lebendig wie eine Vision, doch unbekannt.»
gekehrt-herum-Abzeichnen. Und bis zu einem gewissen Grade haben Sie ja den anderen Bewußtseinszustand bei «eingeschaltetem» R-Modus bereits bewußt erlebt und auch wiedererkannt. Vielleicht haben Sie dabei schon festgestellt, daß Sie in diesem Zustand fähig sind, genauer hinzusehen. Wenn Sie an Ihre neuen Zeichenerfahrungen seit Beginn der Lektüre dieses Buches und an Ihr Erleben leicht veränderter Bewußtseinsstände zurückdenken, die Sie vielleicht auch bei anderen Tätigkeiten (beim Fahren auf der Autobahn, beim Lesen usw.) bewußt empfunden haben, dann versuchen Sie sich die charakteristischen Merkmale dieses Zustandes zu vergegenwärtigen. Es ist wichtig, daß Sie Ihren verborgenen Beobachter noch intensiver ausbilden und sich so langsam die Fähigkeit aneignen, diesen Zustand zu erkennen. Ich möchte an dieser Stelle ein letztes Mal die Charakteristika des R-Modus aufzählen. Zunächst einmal verlieren Sie das Gefühl für Zeit. Sie werden sich des Vergehens der Zeit nicht im Sinne der Uhrzeit bewußt. Zweitens widmen Sie Worten, die man an Sie richtet, keine Aufmerksamkeit. Sie mögen sie hören, können ihren Sinn jedoch nicht aufnehmen. Wenn jemand Sie anspricht, haben Sie das Gefühl, Sie müßten sich sehr anstrengen, um wieder umzuschalten, wieder in Worten zu denken und zu antworten. Zudem erscheint Ihnen alles, was Sie tun, enorm interessant. Sie sind aufmerksam und konzentriert bei der Sache und fühlen sich «eins» mit den Dingen, auf die Sie sich konzentrieren. Sie sind voller Energie, dabei ganz ruhig, aktiv und angstfrei. Sie spüren ein großes Selbstvertrauen und die Zuversicht, daß es Ihnen gelingen wird, die Aufgabe, mit der Sie beschäftigt sind, gut auszuführen. Sie denken nicht in Worten, sondern in Bildern, und zumal beim Zeichnen wird Ihr Denken von dem Objekt Ihrer Wahrnehmung «gefesselt». Es ist ein höchst angenehmer Zustand. Wenn Sie ihn verlassen, sind Sie nicht ermüdet, sondern erfrischt. Wir stehen nun also vor der Aufgabe, diesen Zustand klarer erkennen und bewußter lenken zu lernen. Die Übungen im nächsten Kapitel sollen Sie tiefer in ihn hineinführen. Unser Ziel ist, Ihrem Beobachter den Rücken zu stärken. Zugleich soll Ihre Fähigkeit, das Umschalten zu steuern, gefördert werden. Auf diese Weise lernen Sie, sich bewußt und absichtlich in einen Zustand zu versetzen, in dem sich dieses Hinübergleiten in den R-Modus wie von selbst vollzieht.
D. H. Lawrence
«Die Entwicklung eines inneren Beobachters kann einem Menschen die Wahrnehmung unterschiedlicher Identitätszustände ermöglichen. Auch ein äußerer Beobachter ist in der Lage, von seinen Wahrnehmungen auf solche verschiedenen Identitätszustände zu schließen. Doch ein Mensch, der diese BeobachterFunktion nicht besonders gut entwickelt hat, wird niemals etwas von den vielen Übergängen von einem Identitätszustand in den anderen bemerken.» Charles T. Tart (Alternative States of Consciousness>
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Einen ähnlichen Übergang schildert Lewis Carroll in seinem Buch
schön das wäre, wenn wir in das Spiegelhaus hinüber könnten! Sicherlich gibt es dort, ach! so herrliche Dinge zu sehen! Tun wir doch so, als ob aus dem Glas ein weicher Schleier geworden wäre, daß man hindurchsteigen könnte. Aber es wird ja tatsächlich zu einer Art Nebel! Da kann man mit Leichtigkeit durch . . .»
6 Die Umgehung des Symbolsystems: Wir zeichnen Ränder und Konturen
Wir zeichnen Ränder und Konturen
Wir haben auf unsere Kinderzeichnungen und auf die Entwicklung einer Reihe von Bildsymbolen zurückgeblickt, die die Sprache unserer Kinderzeichnungen bestimmten. Diese Entwicklung verlief parallel zu der Herausbildung anderer Symbolsysteme, wie Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen. Während diese und andere Symbolsysteme eine nützliche Grundlage für die spätere Entwicklung verbaler und rechnerischer Fähigkeiten bilden, scheinen die zeichnerischen Symbole der Kinderzeit die spätere künstlerische Entwicklung eher zu behindern. Das zentrale Problem beim Unterricht im naturgetreuen Zeichnen besteht also vom zehnten Lebensjahr an darin, daß die linke Hemisphäre hartnäckig darauf besteht, von ihren im Gedächtnis gespeicherten Symbolen beim Zeichnen auch dann Gebrauch zu machen, wenn sie für die Aufgabe nicht mehr geeignet sind. In gewissem Sinne «denkt» das linke Hirn unglücklicherweise immer noch, es könne zeichnen, lange nachdem die Fähigkeit zur Verarbeitung von Informationen, die räumliche Strukturen und Relationen zwischen Dingen betreffen, in das rechte Hirn verlagert worden ist. Sieht sich die linke Hemisphäre mit einer Zeichenaufgabe konfrontiert, stürzt sie sich mit ihren an die Sprache gebundenen Symbolen darauf; und ironischerweise ist gerade sie zu abfälligen Bemerkungen nur allzu bereit, wenn die Zeichnung nachher kindlich oder naiv wirkt. In den vorigen Kapiteln habe ich zu zeigen versucht, daß man ganz leicht die dominante linke Hemisphäre «ab-» und statt dessen die rechte «anschalten» kann, wenn man sich eine Aufgabe stellt, die die linke Gehirnhälfte weder erfüllen kann noch mag. Nach den Vasen-Gesichtern und dem Abzeichnen einer auf den Kopf gedrehten Vorlage, werden wir uns nun einer noch drastischeren Methode bedienen, um den L-Modus «matt zu setzen» und uns den Zugang zum R-Modus zu erschließen. Dieses Verfahren ist das «reine Konturenzeichnen». Ihrer linken Hemisphäre wird es vermutlich ein Greuel sein. Der Kunstpädagoge Kimon Nicolaides hat das reine Konturenzeichnen in seinem 1941 erschienenen Buch < The Natural Way to Draw> zu einer Unterrichtsmethode ausgearbeitet, die von zahllosen Kunsterziehern in den USA aufgegriffen wurde. Auf Grund der Ergebnisse der modernen Gehirnforschung können wir uns heute erklären, warum diese Methode so außerordentlich erfolgreich ist. Nicolaides glaubte damals offensichtlich, die Effektivität seines Verfahrens beruhe darauf, daß die Schüler veranlaßt würden, beim Zeichnen von zwei Sinnen Gebrauch zu machen: vom Sehen und vom Tastsinn. Er empfahl ihnen, sich bei der Arbeit vorzustellen,
Wir zeichnen Ränder und Konturen
Haß sie die Formen während des Zeichnens abtasten. Da wir inzwischen wissen, wie das Gehirn seine Arbeitslast auf seine zwei Hälften verteilt, scheint mir die Wirksamkeit dieser Methode eher in einer anderen Ursache begründet zu liegen: Die linke Hemisphäre sperrt sich gegen das langsame, überaus sorgfältige, vielschichtige Erfassen räumlicher Strukturen und läßt deshalb die Verarbeitung dieser Wahrnehmungen nach dem R-Modus gern zu. Kurzum, das genaue Nachzeichnen von Konturen entspricht nicht der Arbeitsweise der linken, wohl aber der der rechten Gehirnhälfte, was uns sehr gelegen kommt. Bevor ich nun diese Methode beschreibe, möchte ich die Bedeutung einiger Begriffe klären. Unter Kontur verstehe ich die Begrenzung einer Form, so wie wir sie wahrnehmen. Die Methode des Konturenzeichnens, die ich Ihnen vorstellen will, erfordert insofern eine besonders genaue, intensive Beobachtung, als Sie die Ränder «blind» zeichnen sollen, das heißt ohne beim Zeichnen aufs Blatt zu schauen. Ein Rand entsteht dort, wo zwei Dinge aneinandergrenzen. Betrachten Sie Ihre Hand: Überall dort, wo sie von Luft umgeben ist (die in einer Zeichnung als Hintergrund oder Zwischenraum erscheint), aber auch an den Stellen, wo Fingernagel und Haut aneinandergrenzen oder zwei Hautfalten eine Runzel bilden usw., ergibt sich ein Rand, eine Begrenzung. Diese gemeinsame Grenze von zwei nebeneinanderliegenden Formen kann mit einer einzigen Linie dargestellt werden: der sogenannten Kontur- oder Umrißlinie. (Mit den Rändern werden wir im nächsten Kapitel aufs neue zu tun bekommen.) Diese Vorstellung von der gemeinsamen Begrenzung ist ein fundamentales Element, ja vielleicht das wichtigste Prinzip der bildenden Kunst, da sie mit der inneren Geschlossenheit eines Bildes, mit seiner Einheit zusammenhängt. Diese Einheit kommt zustande, wenn alle Teile einer Komposition ineinandergefügt ein zusammenhängendes Ganzes ergeben, wobei ein jedes sein eigenes Gewicht in die Ganzheit des Bildes einbringt. Übung zum Erfassen von Rändern Damit Sie sich die Vorstellung von den durch gemeinsame Ränder miteinander verbundenen Formen und Zwischenräumen fest einprägen, empfehle ich Ihnen die folgenden Übungen. Mit ihrer Hilfe können Sie Ihre Fähigkeit trainieren, Ränder, Begrenzungen von Formen zu sehen und sich vorzustellen.
«Sehen allein reicht. . . nicht aus. Man muß in einen anregenden, lebhaften, physischen Kontakt mit dem Gegenstand treten, den man zeichnet, mit Hilfe so vieler Sinne wie möglich — vor allem mit dem Tastsinn.» Kimon Nicolaides < The Jiatural Way lo Draw>
Wir zeichnen Ränder und Konturen
1. Stellen Sie sich die verstreut herumliegenden Einzelteile — etwa sechs bis acht — eines Puzzles für Kinder vor. Die Stücke lassen sich zu einem Bild zusammenfügen, das ein Segelboot auf einem See zeigt. Stellen Sie sich weiter vor, daß jedes Puzzle-Teil immer nur einen Gegenstand abbildet, und zwar genau mit den Umrissen, in denen er im Gesamtbild erscheint. Ein weißes Stück stellt das Segel dar, ein rotes Stück das Boot usw. Denken Sie sich die übrigen Teile nach Belieben aus — das Ufer, einen Bootssteg, eine Wolke oder etwas Ähnliches. 2. Nun passen Sie die Stücke in Ihrer Vorstellung ineinander. Sehen Sie, wie immer zwei Ränder aneinandergrenzen und eine einzige Linie bilden (natürlich muß das Puzzle Präzisionsarbeit sein). Diese jeweils zwei Formen gemeinsamen Grenzen bilden Umrisse oder Konturen. Alle Stücke zusammen — Raum (Himmel und Wasser) und Formen (Boot, Segel, Ufer etc.) — ergeben das Puzzle-Bild. 3. Als nächstes betrachten Sie bitte Ihre Hand und schließen dabei ein Auge, um eine plastische, räumliche Wahrnehmung zu verhindern. Was Sie sehen, wirkt jetzt flächig. Stellen Sie sich Ihre Hand mit dem sie umgebenden Raum als Puzzle vor. Achten Sie darauf, wie die Zwischenräume zwischen den Fingern und die Finger selbst, wie der Fingernagel und die ihn umgebende Haut, wie zwei Hautpartien an den Falten jeweils gemeinsame Ränder bilden. Das aus Formen und Zwischenräumen bestehende Ganze des Bildes ist wie ein Puzzle zusammengefügt. 4. Nun richten Sie Ihren Blick auf irgendeine der zahlreichen Randlinien, aus denen sich Ihr Bild von Ihrer Hand zusammensetzt. Stellen Sie sich vor, daß Sie diesen Rand in Gestalt einer einzigen präzisen Linie langsam auf einem Stück Papier nachzeichnen. Während Ihr Blick langsam an der gewählten Randlinie entlanggleitet, stellen Sie sich vor, daß sie im selben Moment — wie von einem Zauberseismographen — gezeichnet wird.
«Blindes» Konturenzeichnen als Weg zur Umgehung des Symbolsystems In meinen Kursen führe ich das «blinde» Konturenzeichnen an einem Beispiel vor und beschreibe dabei, wie man es machen soll - wenn es mir gelingt, weiterzureden (eine Funktion des L-Modus) und gleichzeitig beim Zeichnen meine rechte Gehirnhälfte einzusetzen. Meistens geht das zunächst gut, doch nach etwa fünf Minuten gerate ich mitten im Satz ins Stocken. Doch glücklicher-
Wir zeichnen Ränder und Konturen
weise haben meine Schüler bis dahin zumeist schon erfaßt, was ich ihnen zeigen wollte. Im Anschluß an diese Erläuterungen zeige ich den Kursteilnehmern Beispiele für Konturenzeichnungen, die von früheren Schülern stammen. Bevor Sie beginnen: Damit Sie sich Startbedingungen schaffen, die mit der Ausgangssituation in meinen Kursen weitgehend identisch sind, versäumen Sie nicht, den folgenden Anleitungstext genau zu lesen und die Schülerzeichnungen (S. 108 f) eingehend zu betrachten. 1. Suchen Sie sich einen Platz, wo Sie mindestens zwanzig Minuten lang ungestört sein werden. 2. Stellen Sie sich, wenn Sie wollen, einen Wecker, so daß Sie nicht auf die Zeit zu achten brauchen. Wenn Sie jedoch viel Zeit haben und es Ihnen gleich ist, wie lange Sie mit der Durchführung der Übung beschäftigt sind, verzichten Sie auf einen Zeitmesser. 3. Legen Sie einen Bogen Papier auf den Tisch, und befestigen Sie ihn mit Klebstreifen. Das Festkleben ist notwendig, damit der Bogen beim Zeichnen nicht hin und her rutscht. 4. Sie sollen nun Ihre eigene Hand zeichnen - wenn Sie Rechtshänder sind, Ihre linke, sind Sie Linkshänder, Ihre rechte. Setzen Sie sich so hin, daß sich Ihre Zeichenhand ungehindert auf dem Papier bewegen kann. 5. Jetzt wenden Sie Ihr Gesicht vom Papier und dem Zeichenstift ab und blicken auf die Hand, die Sie abzeichnen wollen. Halten Sie diese Hand bequem und stützen Sie sie irgendwie auf, denn Sie werden in dieser Stellung eine ganze Weile verharren müssen. Sie sollen Ihre Hand zeichnen, ohne daß es Ihnen möglich ist, zu sehen, was Sie zeichnen (vgl. Abb. 46). Dieses Wegsehen ist aus mehreren Gründen wichtig: Erstens konzentrieren Sie dadurch Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die visuellen Informationen, die das Anschauen Ihrer Hand erbringt. Zweitens lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit von der Zeichnung selbst ab und verhindern dadurch, daß sich Ihre alten, in der Kindheit entwickelten und gespeicherten Symbolmuster — «so zeichnet man eine Hand» — plötzlich selbständig machen. Sie wollen nur das zeichnen, was Sie (mit Hilfe des R-Modus) sehen, und nicht, was Sie (auf Grund des L-Modus) wissen. Sich ganz abzuwenden ist notwendig, da der Impuls, beim Zeichnen auf das Papier zu sehen, zuerst überwältigend stark ist. Wenn Sie in der - sicher bequemeren - normalen Haltung zeichnen, werden Sie - gegen alle guten Vorsätze verstoßend — wahrscheinlich doch irgendwann einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln riskieren, und das würde den L-Modus reaktivieren und damit den Zweck der Übung zunichte machen.
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Wir zeichnen Ränder und Konturen
A. 46: Abgewandte Haltung beim «blinden» Konturenzeichnen.
6. Fixieren Sie in dieser abgewandten Haltung den Blick auf eine bestimmte Stelle Ihrer Hand, und nehmen Sie eine Randlinie aufs Korn. Gleichzeitig setzen Sie die Spitze Ihres Stiftes aufs Papier (irgendwohin mit einem ausreichenden Abstand vom Bogenrand). 7. Ganz langsam, Millimeter um Millimeter, lassen Sie Ihren Blick an der gewählten Randlinie entlanggleiten; beachten Sie dabei auch die winzigsten Abweichungen und Biegungen der Linie. Im gleichen
langsamen Tempo bewegen Sie Ihren Bleistift über das Papier und verzeichnen dabei alle Abweichungen oder Biegungen der Randlinie, die Sie zur selben Zeit mit den Augen wahrnehmen. Vertrauen Sie darauf, daß die Informationen über den beobachteten Gegenstand (in diesem Fall Ihre Hand) bis in alle Einzelheiten von Ihnen optisch wahrgenommen und gleichzeitig vom Stift aufgezeichnet werden. Er registriertjedes Detail, das Sie im Augenblick beobachten.
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8. Schauen Sie auf keinen Fall auf das Papier. Bleiben Sie in der Position sitzen, die Sie zu Beginn der Übung eingenommen haben. Während Sie Ihre Hand ansehen, ziehen Sie jeweils Abschnitt für Abschnitt die Ränder nach, die Ihnen in den Blick geraten. Ihre Augen werden wie Ihr Stift Stück um Stück jede Veränderung der Konturen vermerken. Zugleich versuchen Sie sich bewußt zu machen, in welchem Verhältnis die Kontur, die Sie gerade zeichnen, zu dem sich aus dem komplizierten Linienspiel ergebenden Ganzen steht. Sie mögen Außen- oder Innenkonturen zeichnen oder zwischen ihnen hin und her wechseln. Machen Sie sich keine Sorgen über die Frage, ob Ihre Zeichnung nachher auch wirklich wie eine Hand aussieht. Wahrscheinlich nicht, da Sie ja die Proportionen nicht überprüfen können. Dadurch, daß Sie Ihre Wahrnehmung auf jeweils nur ganz kleine Teilchen beschränken, lernen Sie, die Dinge genau so zu sehen, wie
Krishnamurh: «Wo also beginnt die Welt? Beginnt sie, wo das Denken aufhört? Haben Sie jemals versucht, mit Denken aufzuhören?» Fragesteller: «Wie macht man das?» Knshnamurti: «Ich weiß es nicht, aber haben Sie es jemals versucht? Zunächst einmal: Wer ist das Wesen, das dem Denken Einhalt zu gebieten sucht?»
sie sind.
g. Passen Sie die Bewegungen Ihres Stiftes genau den Bewegungen Ihrer Augen an. Die Augen oder der Zeichenstift könnten versuchen, Ihnen «davonzulaufen». Solche «Fluchtversuche» dürfen Sie nicht zulassen. Zeichnen Sie alles, was Sie irgendwo an den Konturen wahrnehmen, im gleichen Augenblick auf, ohne auf das Papier zu sehen. Halten Sie beim Zeichnen nicht inne, sondern fahren Sie in langsamem, gleichmäßigem Tempo fort. Zunächst fühlen Sie sich vielleicht ein wenig unbehaglich — manche Schüler klagen über plötzlich auftauchende Kopfschmerzen oder Angstgefühle. Meiner Meinung nach treten derartige Beschwerden immer dann auf, wenn die linke Hemisphäre ihre dominante Rolle ernsthaft gefährdet sieht. In solchen Momenten fühlt sie sich vielleicht schmählich behandelt. Wenn Sie das komplizierte Gewirr der Linien Ihrer Hand in einem derart langsamen Tempo verfolgen, gehen die Leitungs- und Kontrollfunktionen für eine lange Zeit an die rechte Gehirnhälfte über. Deshalb reagiert die linke Hemisphäre ausgesprochen ungnädig: «Höre sofort mit diesem dummen Zeug auf! So genau brauchen wir uns die Dinge nicht anzusehen. Ich habe sie doch bereits alle für dich benannt, selbst diese mickrigen kleinen Falten. Nun sei vernünftig, und laß uns etwas anderes machen, das nicht so langweilig ist. Aber wenn du nicht auf mich hören willst, werde ich dir anständige Kopfschmerzen bereiten.» Ignorieren Sie diese Beschwerde. Halten Sie einfach durch. Während Sie weiterzeichnen, werden die Proteste der linken Gehirnhälfte allmählich verstummen, und in Ihnen wird es ganz still. Sie werden entdecken, daß Sie diese wunderliche Komplexität des
Fragesteller: «Der Denker.»
Knshnamurti: «Es ist ein anderes Denken, nicht wahr? Das Denken versucht sich selbst Einhalt zu gebieten, und so kommt es zum Kampf zwischen Denker und Denken . . . Das Denken sagt:
Wir zeichnen Ränder und Konturen
Dinges, das Sie da vor sich sehen, immer mehr fasziniert, und Sie werden den Wunsch haben, immer noch tiefer in diese Linienund Formenvielfalt vorzudringen. Geben Sie diesem Wunsch nach. Sie haben nichts zu befürchten und brauchen sich nicht zu beunruhigen. Auf jeden Fall wird Ihre Zeichnung die Tiefe Ihrer Wahrnehmung auf eine schöne Weise wiedergeben. Es geht uns nicht darum, ob das, was dabei herauskommt, tatsächlich aussieht wie eine Hand. Uns geht es um die Aufzeichnung Ihrer Wahrnehmungen. Wenn Sie fertig sind: Denken Sie nun daran zurück, wie Sie sich zu Beginn der Übung gefühlt haben und wie Ihnen dann später, als Sie tief in die Arbeit versunken waren, zumute war. Was haben Sie empfunden? Hatten Sie nicht jedes Gefühl für den Ablauf der Zeit verloren? Waren Sie nicht fasziniert von dem, was Sie sahen? Wenn Sie in diesen Zustand zurückkehren, werden Sie ihn wiedererkennen? Bei den meisten Menschen ruft das «blinde» Konturenzeichnen vor allen anderen Übungen das weitgehendste «Umschalten», die tiefste Versenkung in den Bewußtseinszustand des R-Modus hervor. Der L-Modus ist während dieser Übung vom Zeichenvorgang abgeschnitten — und damit auch vom visuellen «Input», das eine Benennung, Kategorisierung und Umsetzung in Symbole gestatten würde. Die linke Hemisphäre wird gezwungen, sich auf etwas zu konzentrieren, was sie als ein unzumutbares Zuviel an Informationen empfindet. Sie fühlt sich zurückgewiesen, ihre Rivalin übernimmt den Job. Die Tatsache, daß das Zeichnen so langsam vonstatten geht, scheint den L-Modus mehr und mehr zu neutralisieren und «auszuschalten». Das Konturenzeichnen überhaupt hat sich als ein derartig wirksames Mittel erwiesen, das Gehirn zum «Umschalten» zu zwingen, daß viele Künstler routinemäßig ihre Arbeit zumindest mit einer kurzen Vorübung nach dieser Methode beginnen. Haben Sie bei dieser eben durchgeführten Zeichenübung das Umschalten auf den R-Modus noch nicht gespürt, so seien Sie geduldig mit sich selbst. Bei manchen Menschen ist die linke Hemisphäre sehr hartnäckig, oder sie hat Angst, ihre Leitungsund Kontrollfunktionen ganz an die rechte abtreten zu müssen. Sie sollten sie daher beruhigen. Reden Sie ihr gut zu. Sie wollten ja gar nicht ganz auf sie verzichten, Sie wollten nur etwas ausprobieren. Allmählich wird die linke Hemisphäre das Hinübergleiten in den R-Modus zulassen. Machen Sie ihr aber unmißverständlich
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klar, daß Sie ihr nicht gestatten werden, Ihre Konturenzeichnung lächerlich zu machen, sie zu kritisieren und damit Ihren Gewinn zu schmälern. Zur Zeit wollen wir ihre Kritik noch nicht hören. Bald jedoch werden wir auch ihr Urteil beim Zeichnen hinzuziehen, und dann werden Sie besser zeichnen können als je zuvor. Schülerzeichnungen -Zeugnisse eines anderen Bewußtseinszustandes Auf den Seiten 108 und 109 finden Sie einige Konturenzeichnungen abgebildet, die von Schülern in meinen Kursen angefertigt worden sind. Was für wunderbare «Gravuren» sind dabei herausgekommen! Daß einige der Zeichnungen mehr, andere weniger einer Hand gleichen, spielt hier keine Rolle. Um die erscheinungsgetreue Gestaltung werden wir uns erst in der nächsten Übung, dem «modifizierten Konturenzeichnen», kümmern. Beim «blinden» Konturenzeichnen geht es uns um Güte und Charakter der einzelnen Striche. Diese lebendigen Hieroglyphen sind Aufzeichnungen von Wahrnehmungen. Nirgends entdecken wir
eine Spur von dem glatten, flotten, stereotypen Strich, der bei der unbekümmerten, auf die Umsetzung des Wahrgenommenen in fertige Symbole abzielenden Verarbeitung nach dem L-Modus entsteht. Statt dessen sehen wir eine Vielfalt von tiefgründigen Strichen vor uns, empfindsame Reaktionen auf das unverstellt, unverfälscht vor den Zeichnenden Liegende, auf die Dinge in ihrem So-Sein. Blinde Schwimmer, die gesehen haben — und sehend zeichneten. Diese Bilder halte ich für Visualisierungen des Bewußtseinszustandes, in den der Zeichnende hinüberwechselt, wenn der R-Modus «eingeschaltet» ist. Als eine meiner Freundinnen, die Schriftstellerin Judi Marks, das erste Mal eine solche Konturenzeichnung zu sehen bekam, sagte sie spontan: «Keiner würde so eine Zeichnung unter Einfluß der linken Hemisphäre zustande bringen!» Fertigen Sie nun weitere Konturenzeichnungen nach der geschilderten Methode an. Natürlich können Sie diese Übung abbrechen, wann immer Ihnen danach zumute ist, doch versuchen' Sie, wenigstens dreißig Minuten lang zu zeichnen, ohne innezuhalten oder auf Ihre Zeichnung zu blicken. Wenn Sie ein Umschalten auf den R-Modus deutlich bemerken, können Sie weiterzeichnen und immer weiter, eine Stunde und mehr.
In seinem Buch
nehmung) beschreibt Aldous Huxley, auf welche Weise sich das Meskalin auf seine Wahrnehmung alltäglicher Dinge, zum Beispiel der Falten seiner grauen Flanellhose, ausgewirkt hat: «Für den Künstler wie für den Meskalinnehmenden sind Faltenwürfe lebendige Hieroglyphen, die auf eine besonders ausdrucksvolle Weise das unergründliche Geheimnis des reinen Seins versinnbildlichen . . . die Falten meiner grauen Flanellhose [waren] mit geladen.» An einer anderen Stelle schreibt Huxley: «Die Fähigkeit, das, was wir übrigen nur unter dem Einfluß von Meskalin sehen, allezeit zu sehen, ist dem Künstler angeboren.»
Wir zeichnen Ränder und Konturen
Schülerzeichnungen: Ergebnisse des «blinden» Konturenzeichnens.
Modifiziertes Konturenzeichnen Ergänzende Übungen 6a. Nehmen Sie eine Blume mit einer möglichst komplizierten Linien- und Formenvielfalt in die Hand, zum Beispiel eine Iris, eine Chrysantheme, eine Rose oder eine Geranie. Betrachten Sie sie genau. Dann zeichnen Sie sie ab, ohne auf das Zeichenblatt zu sehen. Folgen Sie dabei der Anleitung für das «blinde» Konturenzeichnen. Nehmen Sie sich für diese Übung mindestens dreißig Minuten Zeit.
Nachdem Sie gelernt haben, wie Sie sich Zugang zur rechten Hälfte Ihres Gehirns verschaffen — wie Sie die Pforten der Wahrnehmung öffnen -, beginnen Sie, mit den Augen des Künstlers zu sehen. Wenn Sie sich darüber hinaus mit der Methode des «modifizierten Konturenzeichnens» vertraut gemacht haben, werden Sie fast schon in der Lage sein, ein wirklichkeitsgetreues Bild zu zeichnen. Doch ehe wir mit dieser neuen Übung beginnen, möchte ich Ihnen empfehlen, die nebenstehenden Übungen 6a, b und c durchzuführen. Überspringen Sie sie nicht. Sie helfen Ihnen, die Erfahrung des Umschaltens zu vertiefen. Der R-Modus-Zustand soll Ihnen angenehm und vertraut werden. Dann wird Ihnen der Übergang zum modifizierten Konturenzeichnen leichter fallen.
Wir zeichnen Ränder und Konturen Beth Glick
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Judy
Schülerzeichnungen: Ergebnisse des «blinden» Konturenzeichnens.
Das modifizierte Konturenzeichnen gleicht dem reinen Konturenzeichnen - mit dem einzigen Unterschied, daß Sie dabei hin und wieder auf Ihre Zeichnung blicken dürfen — aber nur dann, wenn es darum geht, Größen-, Längen- und Winkelverhältnisse festzulegen. Sie werden lernen, zur Überprüfung von Linienverlauf, Proportionen usw. kurze Blicke auf Ihre Zeichnung zu werfen und zugleich die langsame, intensive Beobachtung fortzusetzen, die den R-Modus-Zustand herbeigeführt hat und aufrechterhält. Bevor Sie beginnen: Lesen Sie den ganzen Anleitungstext. 1. Sorgen Sie dafür, daß Sie mindestens eine halbe Stunde lang ungestört bleiben.
6b. Zeichnen Sie jetzt irgendeinen Naturgegenstand (keinen Menschen, kein Tier!), z. B. eine Muschel, einen Felsen oder ein Stück Treibholz. Suchen Sie sich wieder ein kompliziertes Objekt aus. Gehen Sie genauso vor wie bei der vorigen Übung. Schauen Sie nicht auf Ihr Zeichenblatt. Nehmen Sie sich mindestens dreißig Minuten Zeit. 6c. Knüllen Sie ein Stück Papier zusammen und zeichnen Sie es ab, wieder ohne auf Ihren Bogen zu sehen. Wenn möglich, nehmen Sie sich eine Stunde Zeit für diese Übung.
Wir zeichnen Ränder und Konturen
2. Setzen Sie sich bequem an einen Tisch, diesmal in der üblichen Haltung (vgl. Abb. 47). Wieder befestigen Sie das Papier mit Klebstreifen auf dem Tisch, damit es nicht rutschen kann. Wie in der vorigen Übung sollen Sie Ihre eigene Hand zeichnen. Machen Sie aus Ihrer Hand eine möglichst komplizierte Form mit gekreuzten, gebogenen oder gespreizten Fingern, was immer Sie wollen. Eine schwierige Stellung der Hand dient unseren Zwecken besser als eine einfache, offene, denn die rechte Hemisphäre scheint komplizierte Aufgaben zu bevorzugen. 3. Achten Sie darauf, daß Sie weder die Stellung Ihrer Hand noch Ihre Kopfhaltung verändern, wenn Sie einmal mit dem Abzeichnen angefangen haben. Behalten Sie die von Ihnen gewählte Kopfhaltung bei, versuchen Sie nicht, Teile Ihrer Hand zu sehen, die Ihnen aus Ihrem Blickwinkel verborgen bleiben. Wir brauchen nur eine einfache Ansicht von der Hand, keine mehrfache; sie würde Ihre Zeichnung verderben. 4. Fixieren Sie Ihren Blick auf die Hand. Das ist die beste Vorbereitung, weil es das «Umschalten» auf den R-Modus in Gang setzt. Stellen Sie sich vor, daß in unmittelbarer Nähe der Hand
Abb. 47: Die Haltung beim modifizierten Konturenzeichnen gleicht der üblichen Haltung beim Zeichnen.
Wir zeichnen Ränder und Konturen
eine senkrechte und eine waagerechte Linie verläuft. Beobachten Sie in welchem Verhältnis ein beliebiger durch die Linien der Hand gebildeter Winkel entweder zur Senkrechten oder zur Waagerechten steht. Nun blicken Sie auf Ihren Zeichenbogen und stellen sich vor, der Winkel wäre bereits darauf gezeichnet. Dann wählen Sie sich einen Zwischenraum aus — zum Beispiel zwischen zwei Fingern. Schauen Sie sich ihn so lange intensiv an, bis Sie seine Ränder genau sehen - dort, wo er an die Finger grenzt. Versuchen Sie zu spüren, wie Sie in Ihrem Innern auf den R-Modus überwechseln. 5. Heften Sie Ihren Blick an irgendeiner Stelle fest auf eine Kontur. Überprüfen Sie den Winkel, den die Kontur hier zu den vorgestellten Senkrechten und Waagerechten bildet. Während Ihr Blick langsam die Kontur entlanggleitet, zeichnet Ihr Stift sie in dem gleichen langsamen Tempo auf das Papier. Nehmen Sie sich dann die
nächstliegende Kontur vor. Zeichnen Sie nicht erst den ganzen Umriß der Hand, und dann die innen liegenden Formen. Es ist viel leichter, von einer Form zur jeweils angrenzenden überzugehen. Wie beim reinen Konturenzeichnen wird Ihr Stift auch hier alle Ränder registrieren, wird auch die geringsten Richtungsänderungen und Biegungen der Umrißlinie verzeichnen. Dies geht stumm vor sich. Sprechen Sie nicht mit sich selbst. Nennen Sie die Teile, die Sie gerade zeichnen, nicht beim Namen. Sie setzen sich ausschließlich
mit den visuellen Informationen auseinander; Worte sind dabei unnütz- Alle logischen Unterscheidungsversuche sind überflüssig, denn alle Informationen, die Sie brauchen, können Sie direkt mit den Augen wahrnehmen. Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie sehen, empfinden Sie wortlos, wie lang oder wie breit ein Teil im Verhältnis zu dem anderen ist, den sie gerade gezeichnet haben, wie klein oder wie groß ein Winkel im Vergleich zu einem anderen ist und wo eine neue Kontur aus einer anderen, soeben gezeichneten hervorzugehen scheint. 6. Blicken Sie nur auf das Papier, wenn Sie die Position eines bestimmten Punkts feststellen oder eine Proportion überprüfen wollen. Etwa neunzig Prozent der Zeit sollten Sie Ihre Augen auf den Gegenstand richten, den Sie zeichnen - fast genauso wie beim reinen Konturenzeichnen. 7- Wenn Sie bei den F-i-n-g-e-r-n-ä-g-e-1-n angelangt sind (denken Sie daran, daß wir die Dinge nicht beim Namen nennen), zeichnen Sie die Formen, die an die Nägel grenzen — nicht die iN| agel selbst. Auf diese Weise werden Sie vermeiden, irgendwelche Symbole aus Ihrer Kindheit auszugraben. Denn das linke Hirn tnnt keine Bezeichnung für Formen, die Fingernägel umgeben.
In einem Gespräch erzählte mir Professor Elliot Elgart, der Leiter des Kunstinstituts der California University in Los Angeles, er habe des öfteren beobachtet, daß Anfanger, die zum erstenmal ein liegendes Modell abzeichnen, den Kopf ganz weit zur Seite beugten. Warum? Weil sie das Modell in aufrechter Stellung sehen wollten — so wie sie es gewohnt waren.
Wir zeichnen Ränder und Konturen
Gehen Sie überhaupt jedesmal, wenn Sie mit irgendeinem Teil Schwierigkeiten haben, zum angrenzenden Umriß beziehungsweise Zwischenraum über, der mit dem schwierigen Teil die gemeinsame Randlinie bildet, die Sie zeichnen wollen. 8. Denken Sie noch einmal daran, daß sich alles, was Sie über Ihre Hand zu wissen brauchen, um sie abzuzeichnen — alle erforderlichen visuellen Informationen —, unmittelbar vor Ihren Augen befindet. Ihre Aufgabe besteht einfach darin, Ihre Wahrnehmungen zu Papier zu bringen, so wie Sie sie sehen - mit Strichen, die Aufzeichnungen Ihrer Wahrnehmungen sind. Dazu ist das Denken
nicht erforderlich. Sie brauchen lediglich zu empfinden, zu beobachten und aufzuzeichnen, was Sie sehen. So wird Ihnen das Zeichnen nicht schwerfallen. Sie werden zuversichtlich, entspannt, vollkommen mit der Sache beschäftigt sein. Es wird Sie faszinieren, wie sich alle Teile, wie bei einem Puzzle, ineinanderfügen. Beginnen Sie nun zu zeichnen. Innerhalb weniger Minuten werden Sie in den R-Modus-Zustand übergewechselt sein. Doch Sie brauchen nicht daran zu denken. Sie haben günstige Bedingungen für dieses Umschalten geschaffen, und es wird sich mühelos von selbst vollziehen. Das modifizierte Konturenzeichnen ist, wie die anderen Übungen, eine Aufgabe, die das linke Hirn zurückweisen wird, wodurch Ihnen der Zugang zum Modus der rechten Hemisphäre offensteht. Wenn Sie fertig sind: Lassen Sie vor Ihrem Geist noch einmal Revue passieren, wie Sie beim Zeichnen verfahren sind, wie es sich anfühlte, im Bewußtseinszustand des R-Modus zu sein, wie Sie in diesen Zustand hinüberglitten, nachdem Sie absichtlich die Bedingungen für das «Umschalten» geschaffen hatten. Ihre erste Zeichnung mag einige Fehlwahrnehmungen hinsichtlich der Proportionen und der Winkelverhältnisse bloßlegen. Die Übungen im nächsten Kapitel werden Ihnen helfen, mit ■ Problemen der Proportion fertig zu werden. Das Zeichnen ähnelt in dieser Phase dem Lernprozeß eines Fahrschülers. Zuerst machen Sie sich mit den einzelnen Vorgängen vertraut: Gas geben, Bremsen, Blinker betätigen, auf Autos achten, die vor, hinter und neben einem fahren. Im Laufe der Zeit lernen Sie, alle diese Handlungen zu verbinden. Beim ersten Versuch fällt es Ihnen schwerer als beim zweiten, bei der dritten Fahrt geht es schon leichter als bei der zweiten. Bald haben Sie alle Tätigkeiten und Fähigkeiten zu einem Ganzen integriert. So ähnlich ist es auch mit dem Zeichnen. Es ist ein ganzheitliches Tun, bei dem man eine Reihe von Vorgängen, Verfahren,
Wir zeichnen Ränder und Konturen
Bewegungen zu koordinieren hat. Binnen kurzem wird diese Verfahrensweise ebenso automatisch ablaufen wie Gas geben oder Bremsen oder Blinken. Damit Sie noch mehr praktische Erfahrungen sammeln und ein größeres Selbstvertrauen gewinnen, sollten Sie sorgsam die Übungen 6d bis 6g auf Seite 115 ausführen. Ehe Sie damit beginnen, versuchen Sie sich immer die Bedingungen zu schaffen, die den Übergang in den Bewußtseinszustand des R-Modus erleichtern. Besonders wichtig dabei ist, Vorsorge zu treffen, daß Sie nicht gestört werden. Schülerarbeiten: Ergebnisse des modifizierten Konturenzeichnens Wenn Sie sich die folgenden Schülerarbeiten ansehen, werden Sie den Eindruck haben, daß die Hände von Personen gezeichnet worden sind, die beträchtliche Übung im Zeichnen haben. Die Hände wirken dreidimensional, plastisch, echt. Sie scheinen aus Haut und Knochen, Fleisch und Muskeln zu bestehen. Auch ganz feine Einzelheiten sind wiedergegeben, zum Beispiel der Druck eines Fingers auf den anderen, die Spannung gewisser Muskeln und die Struktur der Haut.
Der nächste Schritt: Die linke Hemisphäre wird mit dem leeren Raum überlistet Mittlerweile haben wir also einige Lücken in den Fähigkeiten der linken Hemisphäre entdeckt: Sie hat Probleme, Bilder widerzuspiegeln (beim Zeichnen der Vasen-Gesichter); sie kann mit auf den Kopf gestellten Bildern nichts anfangen (wie beim Strawinsky-Porträt); sie verweigert eine langsame, sorgfältige Verarbeitung komplexer Wahrnehmungen (wie beim «blinden» und beim modifizierten Konturenzeichnen). Wir machen uns ihre Schwächen zunutze, um der rechten Hemisphäre die Chance zu geben, visuelle Informationen ohne Einmischung der dominanten linken zu verarbeiten. Im nächsten Kapitel sollen Sie das am Ende Ihrer Kindheit verlorengegangene intuitive Gefühl für Komposition, für das Zusammenfügen von Räumen und Formen zu einer Einheit, zurückgewinnen. Das Schwergewicht wird daher auf dem Umgang mit dem negativen (leeren) Raum liegen.
Wir zeichnen Ränder und Konturen
Schülerarbeiten: Ergebnisse des modifizierten Konturenzeichnens.
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Wir zeichnen Ränder und Konturen Ergänzende Übungen
Bevor Sie beginnen: Zeichnen Sie fünf
bis zehn Minuten lang irgendeinen formenreichen Gegenstand nach dem Verfahren des «blinden» Konturenzeichnens. Auf diese Weise bereiten Sie das Umschalten auf den R-Modus vor. Die folgenden vier Übungen sollen nach dem Verfahren des modifizierten Konturenzeichnens durchgeführt
Abb. 50 Nora Thomas Abb. 49 Georgette Zuleski
werden. 6d. Zeichnen Sie einen Tannenzapfen ab. Sehen Sie sich vorher die Zeichnung von Martha Kalivas (Abb. 48) als Beispiel an. 6e. Zeichnen Sie eine Papiertüte ab. Es ist egal, in welchem Zustand sie sich befindet und ob sie steht oder liegt usw. (vgl. Abb. 49). 6f. Zeichnen Sie irgendein Küchengerät ab, zum Beispiel einen Quirl, einen Korkenzieher oder einen Büchsenöffner. Denken Sie daran, daß die rechte Hemisphäre komplizierte Gegenstände vorzuziehen scheint (vgl. Abb. 50). 6g . Zeichnen Sie Ihren Fuß ab, mit oder ohne Schuh (vgl. Abb. 51). (Wenn Sie Ihr Knie so, wie Sie es beim Blick auf den Fuß sehen, mit zeichnen, beachten Sie seine Größe im Verhältnis zur Größe des Fußes.) Wenn Sie fertig sind: Betrachten Sie
• 48 Martha Kalivas
Abb. 5/ Charlotte Doctor
Ihre R-Modus-Zeichnungen. Beachten Sie, welche Stellen erkennen lassen, daß Sie von ihnen während des Zeichnens besonders «gefesselt» waren. Dies spiegelt sich in der «Genauigkeit» Ihrer Wahrnehmungen wider. Versuchen Sie sich den Bewußtseinszustand zu vergegenwärtigen, in dem Sie sich befanden, als Sie diese Stelle gezeichnet haben.
7 Raumformen wahrnehmen: Das Raum-Negativ wird zum Positiv
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Das Raum-Negativ wird zum Positiv
Mit dem Ausdruck Komposition ist in unserem Zusammenhang die Anordnung der Elemente (oder Komponenten) einer Zeichnung (eines Gemäldes usw.) gemeint. Hauptelemente der Komposition sind unter anderem die positive Form (Gegenstände oder Personen) , der negative (leere) Raum sowie Form und Format der Bildfläche, die Länge und Breite der Zeichenblattränder. Die Komposition eines Werkes erschafft der bildende Künstler also, indem er positive Formen und den negativen Raum innerhalb des Bildformats ineinanderpaßt. Das Format bestimmt die Komposition. Anders ausgedrückt: Die
Form der Bildfläche, beim Zeichnen gewöhnlich ein rechteckiger Bogen Papier, beeinflußt weitgehend die Verteilung der Formen und des Leerraums innerhalb des Bildrandes (der Ränder der jeweiligen Fläche). Um sich dies klarzumachen, schalten Sie bitte auf den R-Modus um und stellen sich einen Baum vor, vielleicht eine Eiche oder eine Kiefer. Nun versuchen Sie, diesen einen Baum nacheinander in jedes der nebenstehenden Formate (Abb. 52) einzusetzen. Sie werden feststellen, daß Sie automatisch die Umrisse des Baumes beziehungsweise des ihn umgebenden leeren Raumes bei jedem Format verändern wollen. Versuchen Sie trotzdem, wirklich die gleichen Umrisse in jedes Format einzupassen. Sie werden feststellen, daß eine Form, die zum einen Format paßt, bei einem anderen falsch wirkt. Ein Künstler ist sich der Bedeutung des Formats vollauf bewußt. Anfänger im Zeichnen und Malen hingegen berücksichtigen die Begrenzungen der Bildfläche meistens zuwenig. Sie richten ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf die Personen oder Objekte, die sie gerade abzeichnen. Die Ränder des Blattes scheinen für sie nicht zu existieren. Diese mangelnde Beachtung der Zeichenblattränder, die sowohl den leeren Raum als auch die Formen auf der Zeichenfläche begrenzen, verursacht fast allen Anfängern erhebliche Schwierigkeiten. Das größte Problem ergibt sich, wenn es einem mißlingt, Form und Raum, die beiden Grundkomponenten eines Bildes, in Einklang zu bringen. Abb. 52: Einige Bildformate.
Kinder haben ein sicheres Gefühl für Komposition «Sie können niemals das Innere einer Tasse ohne die Außenseite benutzen. Innen und Außen gehören zusammen. Sie sind eins.» Alan Watts
Im fünften Kapitel haben wir festgestellt, daß Kleinkinder ein tiefes Verständnis für die Bedeutung des Bildformats besitzen. Ihr Bewußtsein für die Bildgrenzen bestimmt die Art und Weise, in der sie Formen im vorgegebenen Raum verteilen. Kindern gelin-
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Das Raum-Negativ wird zum Positiv
Abb. 53: (1933) vonjoan Miro. Mit freundlicher Genehmigung des Art Institute of Chicago.
Abb. 54
gen oft nahezu einwandfreie Kompositionen. Die Bildkomposition, die die hier abgebildete Zeichnung eines Sechsjährigen (Abb. 54) auszeichnet, hält einem Vergleich mit der Komposition eines Bildes von Joan Miro (Abb. 53) recht gut stand. Wie bereits erwähnt, läßt diese Fähigkeit unglücklicherweise nach, wenn die Kinder sich der Adoleszenz nähern. Der Grund für diese Entwicklung ist vermutlich die zunehmende Herrschaft der linken Hemisphäre und deren Hang zum Definieren, Benennen und Kategorisieren. Das Interesse für die einzelnen Dinge scheint an die Stelle der weitgehend ganzheitlichen Weltsicht des kleineren Kindes zu treten, für das alles gleich wichtig ist, einschließlich der negativen Räume: des Himmels, des Bodens und der alles umgebenden Luft. Gewöhnlich bedarf es eines jahrelangen Trainings, um Erwachsene, die zeichnen lernen wollen, davon zu überzeugen, daß die negativen Räume innerhalb des Bildgefüges das gleiche Gewicht haben und genauso sorgfältig berücksichtigt werden müssen wie die positiven Formen. Das ist ein Prinzip, das Künstlern sehr geläufig ist. Anfänger dagegen pflegen zunächst ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Personen oder Formen, die sie zeichnen wollen, zu verwenden und dann erst sozusagen «den Hintergrund auszufüllen». Auf die Gefahr hin, daß Sie es mir im Augenblick noch nicht glauben, behaupte ich,
James Lord berichtet, wie der berühmte Bildhauer, Maler und Zeichner Alberto Giacometti auf den leeren Raum reagierte: «Er fing aufs neue zu malen an, doch nach einigen Minuten wandte er sich um und blickte auf die Stelle, wo die Büste gestanden hatte, als wolle er noch einmal einen Blick auf sie werfen. rief er. Ich erinnerte ihn daran, daß Diego sie fortgenommen hatte. <Ja>, sagte er, «aber ich dachte, sie ist noch da. Ich hab hingeguckt und plötzlich die Leere gesehen. Ich hab sie wirklich gesehen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß mir das passiert.)» James Lord
«Nichts ist wirklicher als nichts.» Samuel Beckett <Malone stirbt)
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Das Raum-Negativ wird zum Positiv
Abb. 55: von Henri de
daß sich die Formen von selbst ergeben, wenn der leere Raum von Anfang an in die Komposition einbezogen wird. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erläutern. Die Zitate des Schriftstellers Samuel Beckett und des ZenPhilosophen Alan Watts fassen das Prinzip in komprimierter Form zusammen. In der Kunst, sagt Beckett, ist das Nichts (der
Toulouse-Lautrec (1864-1901). Mit freundlicher Genehmigung des Cleveland Museum of Art, Mr. and Mrs. Charles G. Prasse Collection. «Der Ausdruck steckt für mich nicht etwa in der Leidenschaft, die auf einem Gesicht losbricht oder sich durch eine heftige Bewegung kundgibt. Er ist vielmehr in der ganzen Anordnung meines Bildes: der Raum, den die Körper einnehmen, die leeren Partien um sie, die Proportionen: dies alles hat seinen Teil daran.» Henri Matisse (Notizen eines Malerst
leere Raum) real. Das Innen und das Außen sind eins, schreibt Alan
Watts. Im vorigen Kapitel habe ich darzustellen versucht, daß sich die Gegenstände und der sie umgebende Raum zusammenfügen wie die Teile eines Puzzles. Jedes einzelne Teil ist gleich wichtig, und nur, wenn man sie alle ineinanderfügt, füllen sie die Fläche innerhalb der Zeichenblattränder — das vorgegebene Format — restlos aus. Sehen Sie sich zur Verdeutlichung dieses Grundsatzes an, wie sich Raum und Form in der Zeichnung von Henri de ToulouseLautrec (Abb. 55), in dem Stilleben von Paul Cezanne (Abb. 56) und in der Aktzeichnung von Albrecht Dürer (Abb. 57) zusammenfügen.
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
121 Abb. 56: < Tulpen und Äpfeb von Paul
Cezanne (1839—1906). Mit freundlicher Genehmigung des Art Institute of Chicago. Indem Cezanne die Formen den Bildrand berühren läßt, begrenzt er den negativen Raum und teilt ihn auf. Die auf diese Weise entstandenen negativen Formen tragen zum Reiz des Bildes und zum Gleichgewicht der Komposition ebensoviel bei wie die positiven Formen.
Wenn der leere Raum Gestalt annimmt In der folgenden Übung wollen wir uns eine andere Schwäche des L-Modus zunutze machen: Die linke Hemisphäre kann nicht gut mit dem leeren Raum umgehen. Es fällt ihr schwer, ihn zu benennen und zu definieren. Die Kategorien und vorgefertigten Symbole, über die sie verfügt, passen nicht so recht auf ihn. Der leere Raum scheint die linke Hemisphäre sogar zu langweilen; sie lehnt es ab, sich mit ihm zu beschäftigen. So fällt diese Aufgabe dem rechten Hirn zu — und das kommt uns sehr gelegen. Die linke Hemisphäre scheint den leeren Raum nicht zu beachten. Die rechte Hemisphäre dagegen findet alle Gegenstände und K-äume interessant — egal, ob sie bekannt sind oder unbekannt, ob sie benannt werden können oder nicht. Je unvertrauter und komplizierter eine über das Auge vermittelte Information ist, desto neugieriger wird sie. Das müssen wir ausprobieren! Um den L-Modus nicht gleich zu verstimmen, fangen wir mit einigen Gegenständen an.
Abb. 57: (Weiblicher Akt mit Stock von
Albrecht Dürer (1471-1528). Mit freundlicher Genehmigung der National Gallery of Canada (Ottawa). Auch der negative Raum, der die Figur umgibt, ist in seinen Ausmaßen und seiner Anordnung sehr abwechslungsreich gestaltet.
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
Wenn der leere Raum Gestalt annimmt In der folgenden Übung wollen wir uns eine andere Schwäche des L-Modus zunutze machen: Die linke Hemisphäre kann nicht gut mit dem leeren Raum umgehen. Es fällt ihr schwer, ihn zu benennen und zu definieren. Die Kategorien und vorgefertigten Symbole, über die sie verfügt, passen nicht so recht auf ihn. Der leere Raum scheint die linke Hemisphäre sogar zu langweilen; sie lehnt es ab, sich mit ihm zu beschäftigen. So fällt diese Aufgabe dem rechten Hirn zu - und das kommt uns sehr gelegen. Die linke Hemisphäre scheint den leeren Raum nicht zu beachten. Die rechte Hemisphäre dagegen findet alle Gegenstände und Räume interessant — egal, ob sie bekannt sind oder unbekannt, ob sie benannt werden können oder nicht. Je unvertrauter und komplizierter eine über das Auge vermittelte Information ist, desto neugieriger wird sie. Das müssen wir ausprobieren! Um den L-Modus nicht gleich zu verstimmen, fangen wir mit einigen Gegenständen an.
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Abb. 58
Wolle man eine Dichtung verstehen, müsse man - schreibt der Dichter John Keats - bereit sein, sich in eine bestimmte Verfassung zu versetzen. Er nannte sie die «negative Capability», die «Fähigkeit zum Negativen», die er als Fähigkeit des Menschen definiert, «in Ungewißheiten, Rätseln und Zweifeln zu verweilen, ohne nervöses Verlangen nach Tat und Ursache». Helmut Viebrock <John Keats>
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
Abb.
1. Zeichnen Sie einige große Formen auf ein Blatt Papier: zwei Seesterne, drei Pfeifen, Musikinstrumente, ein paar abstrakte Formen - was immer Ihnen einfällt. Das sind positive Formen. Betrachten Sie die Seesterne auf Abbildung 58. Achten Sie darauf, daß Ihre Formen - wie die Seesterne - zumindest an zwei Stellen den Bildrand berühren. Die die Seesterne umschließenden leeren Räume ergeben den negativen Raum. 2. Damit Sie sich die Vorstellung fest einprägen, daß die Teile des leeren Raumes einer Zeichnung ebenfalls als Formen zu betrachten sind, ziehen Sie bitte sorgfältig und aufmerksam die Umrisse der leeren Räume - einschließlich der Ze/ichenblattränder, durch die ja teilweise die negativen Räume/Formen entstehen ~ mit kräfti-
gen Strichen nach. Wiederholen Sie das mehrmals (vgl. Abb. 59). 3. Nun schauen Sie sich bitte eines dieser nachgezogenen Teile so lange konzentriert an, bis Sie es als eigenständige Form hervortreten sehen. Dazu brauchen Sie ein wenig Zeit, denn die linke Hemisphäre muß sich, wenn sie mit einer unbenannten Form konfrontiert wird, erst einen Augenblick besinnen, ob sie sie kennt oder nicht. Da sie den leeren Raum nicht in die ihr bekannten Dinge einzuordnen vermag, sagt sie schließlich zu ihrer Kollegin: «Ich weiß nicht, was das ist. Ich kann damit nichts anfangen, und wenn du da weiter so hinstarrst, mußt du damit fertig werden. Ich bin nicht daran interessiert.» Gut! Genau das haben wir uns gewünscht. Starren Sie nur unbeirrt weiter auf eines der Raumteile, und es wird sich für Sie als Form abzuzeichnen beginnen. 4. Schraffieren Sie die Teile des negativen Raums, so daß sie deutlich dunkler werden als die Formen (vgl. Abb. 60). So prägt sich Ihnen die Tatsache noch fester ein, daß die einzelnen Teile
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
Abb. 60
Abb. 61
des leeren Raums und der Raum insgesamt Formen sind. Fixieren Sie diese Formen noch einmal, eine nach der anderen, bis Sie sie wirklich als Formen wahrnehmen. 5. Nehmen Sie nun eine Schere zur Hand, und schneiden Sie die schraffierten negativen Teile Ihrer Zeichnung aus. Betrachten Sie die Formen dieser Ausschnitte. Drehen Sie sie in verschiedene Richtungen. Dann fügen Sie sie auf einem neuen Bogen, der nach Möglichkeit eine andere Farbe hat, mit Klebstoff wieder mit der nichtschrafFierten/>o.nta7; Form (es können auch mehrere Formen sein) zusammen. Da negative und positive Formen dort, wo sie aneinandergrenzen, dieselben Randlinien haben, würde sich die positive Form (des Seesterns) auch von selbst ergeben, wenn man nur die Teile des negativen Raums auf den neuen Papierbogen kleben würde (vgl. Abb. 61). Dieser Teil der Übung ist wichtig. Schon beim Konturenzeichnen haben Sie feststellen können, daß die positiven Formen und die negativen Räume gemeinsame Grenzen haben. Wenn Sie die einen zeichnen, haben Sie unversehens auch die anderen dargestellt. Probie-
ren Sie das im stillen noch einmal aus. Sehen Sie sich irgendeinen Gegenstand an - zum Beispiel die Schere, die Sie benutzt haben. VVenn Sie die Umrisse der beiden Löcher der Scherengriffe abzeichnen, ergeben die Ränder dieser negativen Räume zugleich die inneren Ränder der Scherengriffe. Eine Analogie
Ich möchte Ihnen dieses Prinzip noch auf andere Weise verdeutlichen. Sicherlich haben Sie im Kino oder im Fernsehen schon einnmal einen Zeichentrickfilm gesehen, in dem eine der Figuren
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
einen langen Gang hinunterrast, an dessen Ende durch eine geschlossene Tür kracht und in der Tür ein Loch hinterläßt, das den Umriß der Figur hat. Stellen Sie sich dieses scheinbare Paradoxon vor: daß die innere Umgrenzung der positiven Form der Tür Zugleich den Umriß einer negativen Form — der des von der Trickfilm-Figur hinterlassenen Loches - bildet. Mit anderen Worten: Das Loch - eine Leere, ein Nichts - und die feste Tür haben gemeinsame Ränder, und wenn Sie das eine abzeichnen, haben Sie zugleich das andere gezeichnet. Richten Sie nun Ihren Blick auf ein Möbelstück mit offenen Zwischenräumen - auf einen Schemel zum Beispiel oder auf einen Schaukelstuhl. Stellen Sie sich vor, daß der Stuhl (oder was immer Sie sich anschauen) plötzlich verschwunden ist, daß die Teile des negativen Raums jedoch, die ihn umgeben hatten, unverändert und greifbar zurückgeblieben sind. Behalten Sie diese Vorstellung im Sinn, und fixieren Sie nun einen der Zwischenräume, die am Stuhl (Abb. 62 und 63) durch Pfeile markiert sind. Lassen Sie Ihren Blick fest auf dieser Stelle ruhen, und warten Sie so lange, bis Sie den Zwischenraum als Form hervortreten sehen. Bitte denken Sie daran, daß dies ein oder zwei Minuten dauern wird. Die linke Hemisphäre erblickt den Zwischenraum vermutlich ebenfalls, stellt aber fest, daß diese Form für ihren Verarbeitungsstil ungeeignet ist, und läßt deshalb der rechten Hemisphäre den Vortritt. Üben Sie dieses Wahrnehmen der negativen Räume mehrere Male. Gehen Sie von einem Zwischenraum auf den anderen über, warten Sie, bis sich der Umriß des jeweiligen Zwischenraums abhebt,
bis Sie also den Zwischenraum als Form hervortreten sehen. Ich empfehle Ihnen, zusätzlich die Übung 7a (S. 126) durchzuführen, bevor Sie weiterlesen.
Benutzung eines Motivsuchers zur Wahl des Ausschnitts Nun wollen wir die Wahrnehmung des Ganzen - positive Form und negativen Raum — auf einen bestimmten Ausschnitt begrenzen. Wir nehmen dazu einen Motivsucher zu Hilfe. Diesen Motivsucher können wir leicht selber machen: 1. Schneiden Sie sich einen dünnen Karton zurecht (es kann auch starkes Papier sein), der das gleiche Format hat wie Ihr Zeichenbogen.
Das Raum-Negativ wird «um Positiv
2. Verbinden Sie die Ecken des Kartons durch zwei Diagonalen Durch den Schnittpunkt werden die Diagonalen in vier gleich lange Geraden aufgeteilt. Markieren Sie auf allen vier Geraden jeweils den Punkt, der 1,5 Zentimeter vom Schnittpunkt entfernt liegt. Wenn Sie diese vier Punkte durch zwei senkrechte und zwei waagerechte Linien verbinden, erhalten Sie ein Rechteck, dessen Proportionen dem Verhältnis der Seiten des Kartons und damit auch des Zeichenbogens entsprechen (vgl. Abb. 64). 3. Als nächstes schneiden Sie das kleine Rechteck aus. Halten Sie den Karton hoch, und vergleichen Sie die Form der ausgeschnittenen Öffnung mit der Form des Kartons. Wie Sie sehen, sind es zwei gleiche Formen, die sich nur hinsichtlich ihrer Größe unterscheiden. Diesen Karton mit dem Ausschnitt nennt man — wie beim Fotoapparat - Sucher. Er wird Ihnen helfen, den negativen Raum bewußter wahrzunehmen, indem er dem die Formen umgebenden Raum einen Rahmen — also Außenränder — gibt. 4. Nun halten Sie Ihren Sucher vor ein Auge, und schließen Sie das andere (oder halten Sie eine Hand davor). Sehen Sie sich durch die Öffnung den Stuhl an. Vielleicht müssen Sie den Sucher näher ans Auge heran oder weiter weg halten. Der Stuhl muß möglichst vollständig in dem durch den Ausschnitt gegebenen Rahmen zu sehen sein. Bewegen Sie den Sucher so lange hin und her, bis der Stuhl mindestens an zwei Stellen den Rand des Rahmens berührt (vgl. Abb. 66). 5. Nun fixieren Sie mit Ihrem Blick einen der negativen Räume, die den Stuhl umgeben. Warten Sie, bis Sie ihn als Form hervortreten sehen, so wie Sie es beim Seestern geübt haben. 6. Jetzt stellen Sie sich vor, daß der Stuhl verschwindet und daß - wie bei der von der Trickfilm-Figur durchstoßenen Tür — nur die negativen Räume als Form übrigbleiben. Was Sie in Ihrer Vorstellung sehen - den negativen leeren Raum -, werden Sie in Kürze
abzeichnen. Zunächst möchte ich jedoch weitere Beispiele anführen und dann zu erklären versuchen, warum diese Technik so gut funktioniert und ein so wertvolles Hilfsmittel beim Zeichnen ist. Verkehrte Welt: Wir zeichnen «etwas», indem wir «nichts» zeichnen Die Abbildungen 67 und 69 zeigen einen Stuhl und einen Roll-
tisch, auf dem ein Filmprojektor steht. Die Gegenstände sind nur im Umriß wiedergegeben. Dennoch sieht es beinahe so aus, als seien sie vollständig dargestellt, denn sie haben mit dem leeren Raum der sie umgibt, gemeinsame Randlinien. Zeichnet man die Umrisse dieses leeren Raumes ab, zeichnet man ungewollt auch den Gegenstand, und zwar mühelos. Und wenn man den Leerräumen
Das Raum-Negativ wird zum Positiv Ergänzende Übung: 7a. Üben Sie sich im Sehen des negativen Raums, indem Sie ein Foto aus einer Zeitschrift oder die Zeichnung eines alten Meisters wie die von Boucher (vgl. Abb. 65) auseinanderschneiden. Fügen Sie nur die Teile des negativen Raums wieder aneinander, und kleben Sie diese auf ein Blatt schwarzes Papier. Aus diesen Stücken des negativen Raums werden sich die Umrisse der Figur von selbst ergeben: Sie hat mit dem Raum gemeinsame Randlinien.
Abb. 65: Weiblicher Akt von Francois Boucher (1703 1770 . Mit freundlicher Genehmigung des Rijksmuseum, Amsterdam.
das gleiche kompositorische Gewicht zuerkennt wie den gegenständlichen Formen, dann ergibt sich zumeist aus irgendeinem Grund eine Zeichnung, die man sich gern anschaut. Das erwähnte kompositorische Problem ist damit gelöst: Indem wir jedes «Puzzle-Teil» innerhalb der begrenzenden Randlinien des Zeichenblattes gleichrangig behandeln, verbinden wir Formen und Raum zu einer kompositorischen Einheit.
Warum fällt uns das Zeichnen leichter, wenn wir die Umrisse des leeren Raums wiedergeben? Ich glaube, daß die linke Hemisphäre, die ja über keinen gleichwertigen Begriff, keine passende Kategorie für den negativen Raum verfügt, mit ihrem Wissen über die Gegenstände wegen der Konzentration des Zeichnenden auf den Leerraum nicht mehr in den Vorgang eingreift und dem rechten Hirn das Feld überläßt. Das Problem beim Zeichnen von Stühlen und Tischen und all den anderen Gegenständen, die wir noch zeichnen möchten, ist: Wir wissen zuviel über sie. Wir wissen,
daß Tischplatten flach und viereckig, oval oder rund sind, daß Tische gleich hohe Beine haben, daß der Sitz eines Stuhles meist flach oder leicht gewölbt ist, daß der Stuhlrücken etwa rechtwinklig zum Sitz angebracht ist usw. Macht sich nun der Anfänger daran, einen Stuhl oder einen Tisch zu zeichnen, steht ihm dieses gespeicherte sprachlich-analytische L-Modus-Wissen beim Wahrnehmen der visuellen Infor-
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
mationen im Wege. Sieht er den Stuhl oder den Tisch aus einem schrägen Blickwinkel, weist der Gegenstand unter Umständen keine der ihm zugeschriebenen Eigenschaften sichtbar auf: Tischecken verwandeln sich in schräge Winkel, runde Flächen in Ovale oder gar in grade Linien, die Tisch- beziehungsweise Stuhlbeine können drei oder sogar vier verschiedene Längen haben (vgl. Abb. 67). Daher versucht der Neuling, das Problem der Darstellung von Tischen und Stühlen usw. auf zweierlei Weise zu lösen. Er bedient sich zweier widersprüchlicher Informationssysteme und gerät dadurch in Konflikte. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal Ihre imaginäre Stuhl-Zeichnung. Vielleicht können Sie in ihr Hinweise auf Ihre eigenen Bemühungen entdecken, das, was Sie wissen, mit dem, was Sie sehen, in Einklang zu bringen. Wahrnehmungen im Widerstreit Die Zeichnungen vom Projektortisch (Abb. 68 und 69) sind inter-ssante, anschauliche Wiedergaben dieses Konfliktes und seiner ösung. Auf der ersten Zeichnung hatte der Schüler noch große Schwierigkeiten, sein gespeichertes Wissen —wie ein Projektor und der dazu gehörende Tisch «auszusehen haben» - mit dem, was er
Abb. 67
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sah, in Einklang zu bringen. Beachten Sie, daß die Beine des Tischchens alle gleich lang und daß die Räder durch ein Symbol dargestellt sind. Als er dann aber auf den R-Modus umschaltete, einen «Sucher» zu Hilfe nahm und nur die Umrisse des leeren Raums zeichnete, gelang ihm die Wiedergabe sehr viel besser. Die visuellen Informationen konnten offensichtlich ungehindert aufgenommen und auf die Zeichnung projiziert werden. Sie wirkt überzeugend und ungezwungen. Und so war es tatsächlich: Der Schüler hatte seine linke Hemisphäre «ausgetrickst» und zum Schweigen gebracht. Dabei sind die visuellen Informationen, die die Betrachtung des negativen Raumes erbringt, keinesfalls weniger komplex als die Eindrücke, die das Anschauen einer gegenständlichen Form vermittelt. Schließlich haben Raum und Form gemeinsame Grenzen. Doch indem wir unseren Blick auf den Raum fixieren, setzen wir ein Sehen nach dem R-Modus in Gang und wirken der Herrschaß des Abb. 6g Robert Dominguez
L-Modus entgegen. Anders ausgedrückt: Indem wir uns auf Informationen konzentrieren, die dem Arbeitsstil der linken Hemisphäre nicht entsprechen, schalten wir den dominanten L-Modus ab, und die Verarbeitung der optischen Wahrnehmungen wird von der für das Zeichnen zuständigen rechten Hemisphäre übernommen. Damit hat aller Widerstreit ein Ende, denn nach dem R-Modus kann das Gehirn Informationen über räumliche Strukturen und über Beziehungen zwischen Dingen im Raum viel leichter verarbeiten.
Es ist soweit: Zeichnen Sie einen Stuhl Sie sind jetzt in der Lage, selbst die Negativ-Zeichnung eines Stuhles anzufertigen. Bevor Sie beginnen: Lesen Sie die folgenden Anweisungen. 1. Suchen Sie sich einen zum Abzeichnen geeigneten Stuhl aus — einen wirklichen Stuhl, kein Foto. 2. Schauen Sie mit einem Auge — das andere soll geschlossen oder verdeckt sein — durch Ihren Sucher hindurch auf den Stuhl (vgl. Abb. 66). (Sieht man nur mit einem Auge, wirkt das Wahrgenommene flächig. Erst das binokulare Sehen — das Wahrnehmen mit zwei Augen zugleich -, bei dem zwei sich leicht überschneidende Bilder aufeinander projiziert werden, ermöglicht uns die räumliche, dreidimensionale Sicht.) Wenn es Ihnen unangenehm ist, nur mit einem Auge zu sehen, so können Sie ruhig das andere
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wieder öffnen. Doch ist es um einiges leichter, ein flaches, zweidimensionales Bild auf flache, zweidimensionale Zeichenbogen zu übertragen. Die meisten Künstler bedienen sich zumindest gelegentlich dieser Technik. \ 3. Richten Sie den Sucher so auf den Stuhl, daß dieser den Rand der Öffnung mindestens an zwei Stellen berührt. 4. Betrachten Sie diesen Ausschnitt eine Weile, so als wollten Sie ihn sich fest einprägen. 5. Nun schauen Sie auf Ihren Zeichenbogen. Stellen Sie sich vor, daß die Form des Stuhls auf dem Blatt erscheint, so wie Sie ihn durch den Sucher gesehen haben. _ 6. Sehen Sie wieder durch den Sucher. Fixieren Sie mit Ihrem Blick den negativen Raum an einer der Stuhlseiten. Warten Sie, bis Sie ihn als Form hervortreten sehen. Nun schauen Sie wieder auf den Zeichenbogen und stellen sich die Umrisse des Raums auf dem Papier vor. Denken Sie daran, daß die Ränder des Suchers den Rändern Ihres Bogens entsprechen. 7. Ihre Aufgabe ist es nun, lediglich die Teile des den Stuhl umgebenden leeren Raumes abzuzeichnen. Sie können mit den äußeren Raumteilen beginnen und dann zu den Zwischenräumen übergehen oder umgekehrt. Womit Sie anfangen, ist insofern unwichtig, als alle Formen wie die Stücke eines Puzzles zusammenpassen. Über den Stuhl selbst brauchen Sie sich gar keine Gedanken zu machen. Vergessen Sie ihn am besten. Und fragen Sie sich nicht, warum die Umrißlinie eines Raumteils in diese oder jene Richtung verläuft, warum sie hier eine scharfe Ecke bildet und sich dort sanft wölbt. Zeichnen Sie den Umriß einfach so ab, wie Sie ihn sehen. 8. Biegt die Umrißlinie um die Ecke, fragen Sie sich: «Welchen Winkel bildet sie im Verhältnis zum vertikalen Seitenrand des Suchers?» Wenn Sie dann von der entsprechenden Vertikalen am Rand Ihres Zeichenbogens ausgehen, können Sie den Winkel so, wie Sie ihn sehen, auf das Papier übertragen. Ich möchte versuchen, diesen wichtigen Punkt noch etwas anschaulicher darzustellen. Nehmen wir an, Sie sehen im Ausschnitt Ihres Suchers, daß der negative Raum einen eckigen Rand hat (vgl. Abb. 71). Auf Ihrem Zeichenpapier ziehen Sie diese Randlinie des Raumes in dem Winkel, den Sie durch den Sucher gesehen haben. Dabei orientieren Sie sich an den Rändern des Zeichenbogens (vgl. Abb. 72 und 73). Mit anderen Worten: Die Ränder Ihres Suchers und die Ränder Ihres Bogens stehen stellvertretend für «senkrecht» und «waagerecht» - Dimensionen, in denen Ihnen auch Ihre reale Wahrnehmungswelt erscheint.
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9. Schätzen Sie auf die gleiche Weise auch die Horizontallinien ab: In welchem Winkel verlaufen sie im Verhältnis zu den Horizontalen (zu den oberen und unteren waagerechten Begrenzungslinien Ihres Sichtfeldes und Ihres Zeichenbogens)? 10. Versuchen Sie wieder bewußt zu spüren, was Sie während des Zeichnens fühlen - ob Sie jedes Zeitgefühl verlieren, vom Bild «gefesselt», von der Schönheit des Wahrgenommenen tief ergriffen sind usw. Sie werden beim Zeichnen feststellen, daß der negative Raum Sie auf Grund seiner ungewöhnlichen, komplexen Struktur mehr und mehr zu interessieren beginnt. Wenn Sie beim Zeichnen auf irgendeine Schwierigkeit stoßen, dann fragen Sie sich: «Welche Form begrenzt diese Linie (in welchem Winkel verläuft sie, wie lang ist sie usw.)?» Warten Sie, bis sich Ihr R-Modus auf das Problem eingestellt hat. Und vergessen Sie nicht: Alles, was Sie beim Zeichnen wissen müssen, liegt vor Ihren Augen und ist Ihnen uneingeschränkt zugänglich. Wenn Sie fertig sind: Zur weiteren Förderung Ihrer Fähigkeit, mit dem leeren Raum umzugehen, empfehle ich Ihnen die Übungen 7b-f (Seite 133 f).
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Schülerarbeiten: Stühle, Sessel, Hocker Solche Negativzeichnungen finde ich außerondentlich reizvoll, selbst wenn es sich um ganz banale Gegenstände handelt. Der Grund für diesen Reiz liegt vielleicht darin, daß diese Art der zeichnerischen Darstellung die Einheit von positiven Formen und negativen Räumen bewußter werden läßt. Ein weiterer Grund ist vielleicht, daß dieses Vorgehen zu besonders interessanten Raumaufteilungen führt. Alle diese Schülerzeichnungen heben sich durch eine reizvolle Gliederung von Raum und Form hervor. Während Sie durch das Zeichnen bewußter zu sehen lernen, bilden Sie zugleich Ihre Fähigkeit aus, darstellerische Probleme zu erkennen und die Dinge in der rechten Perspektive zu sehen. Der perspektivischen Darstellung werden wir uns im folgenden Kapitel zuwenden.
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
1:
Wendy Pickercll
Ergänzende Übungen: 7b. Benutzen Sie Ihren Sucher, uVn den Ausschnitt einzurahmen. Zeich nen Sie den negativen Raum einer Pflanze, die einen möglichst kompli zierten Umriß haben sollte (vgl. Abb. 74).
Abb. J4 Ed Gonzales
134 7c. Benutzen Sie den Sucher, um den Rahmen genau festzulegen. Zeichnen Sie den negativen Raum eines Haushaltgeräts ab, zum Beispiel eines Schneebesens, eines Bügelbretts oder eines Büchsenöffners (vgl. Abb. 75). 7d. Zeichnen Sie den negativen Raum um einen Menschen auf einem Foto ab. Suchen Sie sich eine Gestalt aus, die gerade eine komplizierte Bewegung ausfuhrt, zum Beispiel einen Fußballspieler, eine Ballettänzerin oder einen Bauarbeiter. Kombinieren Sie diesmal beide Zeichenmethoden: Stellen Sie das Foto auf den Kopf und zeichnen Sie den leeren Raum ab. Die Ränder des Fotos entsprechen Ihrem Bildrahmen. Achten Sie darauf, daß die Proportionen Ihrer Zeichnung mit denen des Fotos übereinstimmen (vgl. Abb. 76). 7c Schauen Sie sich an, aufweiche Weise Winslow Homer den negativen Raum in seiner Zeichnung (vgl. Abb. 77) verwendet. Versuchen Sie, sie abzuzeichnen. 7f. Kopieren Sie die Zeichnung von Peter Paul Rubens (vgl. Abb. 78). Drehen Sie dazu die Abbildung auf den Kopf, und zeichnen Sie die negativen Räume ab. Drehen Sie dann die Zeichnung wieder richtig herum, und zeichnen Sie die Details innerhalb der Formen ab. Diese «schwierigen» verkürzten Formen lassen sich viel leichter wiedergeben, wenn Sie sich auf den leeren Raum konzentrieren, der die Formen umgibt.
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Abb. y6 Urba Dean Bury
Abb. 75 Fay Conn
Das Raum-Negativ wird zum Positiv
Abb yy:
Abb. y8: Arm- und Beinstudien von I (1577 1640). Mit freundlicher Gene] Boymans-Van Beunigen Museum, R
8 Ausdehnung in alle Richtungen: Perspektivisch zeichnen auf eine neue Art
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Perspektivisch zeichnen
Einer der ersten Schritte zur Lösung eines Problems besteht gewöhnlich darin, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und die Dinge «in die rechte Perspektive» zu rücken. Dazu bedarf es der Fähigkeit, die verschiedenen Aspekte eines Problems in ihrem wahren Verhältnis, das heißt in ihrer tatsächlichen Bedeutung, zu sehen. Um das perspektivische Zeichnen zu erlernen, bedarf es einer Fähigkeit, in der Sie sich schon geübt haben: die Dinge in der Außenwelt so wahrzunehmen, wie sie sind. Wir müssen unsere Vorurteile, unsere im Gedächtnis gespeicherten Klischees und Denkgewohnheiten ablegen. Wir müssen Fehldeutungen überwinden, die oft nur auf unserer Meinung darüber beruhen, wie etwas sein müßte, obwohl wir uns dieses «etwas» vor unseren Augen niemals wirklich genau angesehen haben. Jahrhundertelang haben Künstler nach Wegen gesucht, wie sich die dreidimensionale, räumliche Welt auf der zweidimensionalen Zeichen- oder Bildfläche darstellen läßt. Es sind in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche perspektivische Systeme entwickelt worden. Die Bezeichnung «Perspektive» leitet sich von dem lateinischen Wort perspicere her, was etwa «in die Weite blicken» bedeutet. Die Linearperspektive (oder Zentralperspektive) ist in der Renaissancezeit Von europäischen Künstlern zur Vollkommenheit ausgestaltet worden. Sie ist die uns vertrauteste Darstellungsform. Mit Hilfe der Linearperspektive vermochte der Künstler nun sichtbare Veränderungen von Linien und Formen so darzustellen, wie sie im dreidimensionalen Raum erscheinen.
Abb. 79: (1538) von Albrecht Dürer. Mit freund-
licher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art, New York. Stiftung von Felix M. Warburg, 1918.
Perspektivisch zeichnen
In anderen Kulturen — in der ägyptischen und orientalischen zum Beispiel — entwickelten Künstler eine Art gestufte Perspektive, bei der die räumliche Anordnung der Gegenstände und Figuren durch ihre Placierung zwischen dem oberen und dem unteren Bildrand dargestellt wurde. Nach diesem oft auch von Kindern angewandten System sind die am weitesten oben angeordneten Formen, unabhängig von ihrer Größe, als die am weitesten entfernt liegenden anzusehen. In neuerer Zeit haben die Künstler gegen die starren Konventionen hinsichtlich der_perspektivischen Gestaltung rebelliert und neue Systeme erfunden, in denen sie sich abstrakte räumliche Eigenschaften von Farbe, Struktur, Linien und Umrissen zunutze machen. Die traditionelle Perspektive der Renaissance-Kunst stimmt indes am genauesten mit der Wahrnehmungsweise der Menschen in unserer westlichen Kultur überein. Unserer Wahrnehmung zufolge scheinen parallele Linien am Horizont (in Augenhöhe des Betrachters) zusammenzulaufen, und Formen wirken um so kleiner, je weiter sie von uns entfernt sind. Aus diesem Grund wird eine naturgetreue Darstellung in hohem Maße durch diese beiden Prinzipien bestimmt. Der Holzschnitt von Albrecht Dürer (Abb. 79) kann uns dieses Wahrnehmungssystem veranschaulichen.
Dürers Zeichenschema Dürers Holzschnitt stellt einen Zeichner dar, der mit einer starren, gleichbleibenden Kopfhaltung (beachten Sie den seitlich vor seinem Gesicht stehenden Augenpunktmarkierer) an seinem Arbeitstisch sitzt und aufmerksam durch ein vor ihm aufgestelltes Drahtgitter schaut. Der Körper des liegenden Modells erscheint aus seiner Perspektive stark verkürzt. Die senkrechte Körperachse der Frau verläuft genau in Augenhöhe des Künstlers. Aus dieser Sicht erscheinen die am weitesten entfernten Körperteile (Kopf und Schultern) kleiner, als sie in Wirklichkeit sind, während die näher gelegenen Teile (Knie und Unterschenkel) größer wirken. Vor dem Zeichner auf dem Tisch liegt ein Bogen Papier, der dieselben Ausmaße hat wie das Drahtgitter und - entsprechend dem Muster des Gitters - mit parallelen, senkrechten und waagerechten Linien überzogen ist, die zahlreiche Quadrate bilden. Der Künstler beginnt nun zu zeichnen, was er durch das Quadratnetz erblickt. Er richtet auf seiner Zeichnung die Ecken und Rundungen der Linien und die Länge der einzelnenAbschnitte genau an den Horizontalen und Vertikalen des Netzes aus. So ergibt sich
Abb. 80: So ungefähr hat Dürers Zeichner die Frau gesehen.
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auf dem Papier die verkürzte Ansicht des Modells. Die sich dabei ergebenden Proportionen, Formen und Ausmaße werden im Widerspruch stehen zu dem, was der Künstler über Proportionen, Formen und Maße des menschlichen Körpers weiß. Doch nur wenn er die verzerrten Proportionen wiedergibt, die er wahrnimmt, wird seine Zeichnung erscheinungsgetreu wirken. Was hat Dürers Künstler durch dieses Gitternetz gesehen? Ich habe es zu skizzieren versucht (vgl. Abb. 80). Wenn Sie sich dieses Bild Teil für Teil ansehen, werden Sie schnell feststellen, daß die meisten Formen der liegenden Figur nicht den uns bekannten menschlichen Körperformen entsprechen. Wenn wir es jedoch als ein Ganzes betrachten, deuten wir die gezeichneten Linien als eine von einem bestimmten Blickpunkt aus wahrgenommene, dreidimensionale, liegende Gestalt. Die Verzerrungen nehmen wir gar nicht zur Kenntnis, weil wir das, was wir erblicken, im Geist dem anpassen, was wir wissen. Die Schwierigkeiten, die uns das Zeichnen verkürzter Formen bereitet, rühren nun daher, daß diese geistige Anpassung des optisch Wahrgenommenen sich zunächst hemmend auswirkt, und so zeichnen wir, was wir wissen, und nicht, was wir sehen. Das zu verhindern war der Zweck der von Dürer dargestellten (und auch selbst verwendeten) Vorrichtung: Indem der Künstler durch das Gitternetz blickt und sich und seinen Blickpunkt starr beibehält, zwingt er sich dazu, die Form genau so wiederzugeben, wie er sie sieht — mit all ihren «falschen» Proportionen. Die große Leistung der Renaissance-Perspektive besteht also darin, daß sie den Künstlern eine Methode zur Ausschaltung ihres Wissens von den Dingen geliefert hat und es ihnen ermöglichte, Formen so darzustellen, wie sie dem Auge erscheinen — einschließlich der durch den Blickpunkt des Betrachters beeinflußten optischen Verzerrungen. Dieses Verfahren funktionierte ausgezeichnet. Es war «die» Lösung des Problems, wie die Illusion der räumlichen Tiefe auf der zweidimensionalen Bildfläche erzeugt werden könne — eine Neuschöpfung der sichtbaren Welt. Dürers einfache Vorrichtung zog die Entwicklung eines komplizierten, geradezu mathematischen Systems nach sich, das uns in die Lage versetzt, den geistigen Widerstand gegen die optische Verzerrung der Dinge zu überwinden und erscheinungsgetreue Darstellungen hervorzubringen. Doch brachte dieses Verfahren auch Probleme mit sich. Die getreue Projektion der Linearperspektive setzt die Einhaltung eines festen Standpunktes, das Verharren auf einem einmal ein-
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genommenen Blickwinkel voraus, und Künstler pflegen beim Arbeiten ihre Augen eben nicht starr auf einen Punkt gerichtet zu halten. Zudem kann eine strikte Anwendung der perspektivischen Regeln zu recht langweiligen, leblosen Ergebnissen führen. Doch das schwerwiegendste Problem im Umgang mit der Linearperspektive besteht darin, daß sie so ausgeprägt «linkslastig» ist. Beim Vorgehen nach diesen Regeln ist der Verarbeitungsmodus der linken Hemisphäre eingeschaltet, das analytische, rechnerische, logische, theoretische Denken. Hier geht es um Fluchtpunkt und Horizontlinie (vgl. Abb. 81), um perspektivische Darstellungen von Kreisen und Ellipsen und so fort. Das Verfahren ist umständlich und mühsam, der genaue Gegensatz zum künstlerischen R-Modus und dessen ebenso bizarren wie ernsthaften, tranceartigen Wesen. Doch hat man die Regeln der perspektivischen Darstellung erst einmal in ihren Grundzügen erfaßt, braucht man sie zum Glück nicht mehr zu beachten. Wenn Sie erst einmal in der Lage sind, in der von mir immer wieder so nachdrücklich erwähnten Weise zu sehen, brauchen Sie sich um die Perspektive nicht zu kümmern.
Der Kunstprofessor Graham Collie schreibt, in der Kunst der Frühren; sance sei die Perspektive auf eine se schöpferische und phantasievolle Weise angewandt worden und hab ein intensiveres Raumgefühl vermi telt. Er fährt fort: «So wirkungsvoll die Perspektive auch sein mag, ist s doch für die natürliche Sehweise d< Künstlers tödlich, sobald sie, als Sy stem akzeptiert, zum Dogma gewo den ist.»
Das Visieren: Winkelbestimmung mit Hilfe der Zeichenblattränder
Abb.87: Eine klassische perspektivische Darstellung. Beachten Sie, daß die vertikalen Linien vertikal bleiben und daß die horizontalen Randlinien im Fluchtpunkt auf de Horizontlinie zusammentreffen (di stets in Augenhöhe des Zeichners v läuft). Das ist, in nuce, die Ein-
Die meisten Künstler machen heute, selbst wenn sie naturalistisch zeichnen oder malen, kaum noch Gebrauch von perspektivischen Systemen. Die durch die räumliche Anordnung hervorgerufene Verzerrung der Formen wird von ihnen optisch erfaßt: Sie zeichnen nach Augenmaß, sie gehen also nicht nach einem vorgegebenen starren Regelsystem vor, sondern nach einer bestimmten methodischen Art zu sehen. Diese nenne ich Visieren. Mit Hilfe des Visierens kann man die Verhältnisse messen, in denen Winkel, Punkte, Formen und Räume zueinander stehen. Beim Visieren mißt der Künstler die Perspektive mit dem Auge; es ist ein unmittelbares optisches Wahrnehmen visueller Informationen, die vom Künstler unverändert in die Zeichnung umgesetzt werden. Für das Peilen brauchen wir keine Reißschiene, kein Lineal, keine Dreiecke oder Winkelmesser - nur Papier und Bleistift müssen zur Hand sein. Die einzige Bedingung, die darüber hinaus noch erfüllt sein muß, ist ein L-Modus, der sich nicht einmischt und auch nicht protestiert, wenn Sie die Dinge so wiedergeben, wie sie wirklich aussehen, und nicht statt dessen das zeichnen, was Sie von ihnen wissen.
Graham Collier