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IN JEDES HAUS GEHÖRT DIESES WERK das ist das überzeugende Urteil von Presse und Rundfunk über die große, spannend geschriebene Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte" des Münchner Historikers Otto Zierer. Von ungeheurer Dramatik sind die Bände dieses neuartigen, erregenden Geschichtswerkes erfüllt. Hier sind nicht, wie in Lehrbüchern alter Art, die historischen Ereignisse mit trockener Sachlichkeit aneinandergereiht: die Vergangenheit wird vor dem Auge des Lesers in kulturgeschichtlichen Bildern zu neuem Leben erweckt. Menschen wie Du und ich schreiten über die wechselnde Bühne der Geschichte und lassen den Ablauf der Jahrhunderte, das Schauspiel vom Schicksal der Menschheit, ergriffen miterleben. Zierers „Bild der Jahrhunderte" ist ein Werk für die Menschen unserer Zeit, für die Erwachsenen wie für die Jugend.
DER
KAUF
LEICHT
G E M A C H T . . .
„Schüler, deren Eltern das Bild der Jahrhunderte zu Hause haben, sind die besten Geschichtskenner in meinen Klassen", schreibt ein bekannter Erzieher. Der Verlag hat die Beschaffung der Bücherreihe leicht gemacht. Um jeder Familie den Kauf dieses prächtig ausgestatteten Standardwerkes zu ermöglichen, werden günstige Zahlungserleichterungen eingeräumt. Das „Bild der Jahrhunderte" kann auf Wunsch bei sofortiger Lieferung ohne Anzahlung gegen folgende Monatsraten erworben werden: DM9,90 für die RotleinenAusgabe, DM 13,75 für die Lux-Luxus-Ausgabe. Das Werk besteht aus zwanzig Doppelbänden, dem Band 41/44 und dem Historischen Lexikon; es umfaßt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunstdrucktafeln, 500 Lexikonbilder und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enthält Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen und Zeittafeln.
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MAHATMA GANDHI Indiens
VERLAG
Weg zur Freiheit
SEBASTIAN
LUX
MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
Gandhi, sich auf seine Enkelin stützend, im Kreise seiner Jünger
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ls Mohandas Karamtsehand Gandhi, von seinen Anhängern allgemein Mahatma, die große Seele, genannt, an jenem Freitag zur Stunde des täglichen Gebets das Birla-House in Neu-Delhi verläßt, geht wie immer ein Raunen durch die Menge der Gläubigen, die tagtäglich zu vielen Hundert sein Haus umlagert. Um diese späte Nachmittagsstunde des 30. Januar 1948 weht ein erfrischender Seewind über die Hochebene und wirbelt den sonnendurchglühten Sand der indischen Erde in die Masse der geduldig Wartenden. ^^^^_ Für Sekunden schweigen die nackten oder elend gekleideten Gestalten mit den ausgemergelten Körpern; das Heulen und Schrillen ihrer Blasinstrumente verstummt; dann setzt plötzlich unbeschreiblicher Jubel ein. „Mahatma Gandhi — ki — ja! Sieg für Mahatma Gandhi!" rufen die heiseren Kehlen, während ihr angebeteter Meister, barfuß, nur mit dem weißen Lendentuch bekleidet, am Arm seiner Enkelin
durch die schmale Gasse der Gläubigen dem Pavillon zuschreitet, in dem er sein tägliches Gebet zu verrichten pflegt. Da —! Der Mahatma ersteigt eben die Stufen, als sich plötzlich ein Mann durch die Reihen der Gläubigen drängt und sich Gandhi zu Füßen wirft. Gandhis Enkelin will den Übereifrigen mit sanfter Gewalt.beiseite schieben, denn sie befürchtet, der Mahatma könne durch den. knienden Mann zu Fall kommen. Doch bevor sie seine Hand ergreifen kann, hat der Kniende sie zur Seite gestoßen, zieht einen Revolver und gibt einen Schuß auf Gandhi ab. Der Mahatma wird bleich und sucht mit den Händen nach einem Halt. Gleich darauf fallen zwei weitere Schüsse; und Gandhi bricht, ins Herz getroffen, auf der Stelle zusammen. Mit einer ergreifenden Gebärde hebt er noch einmal seine Hände, so, als wolle er beten und verzeihen. Dann schließen sich die gütigen Augen Mahatma Gandhis, der voll nimmermüder, opferbereiter Liebe für sein Volk und sein Land gelebt hat. Die große Seele ist zur letzten Wanderung aufgebrochen; über Indien und die Welt senkt sich tiefe Trauer.
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ls Mohandas Karamtschand Gandhi so jäh aus dem Leben gerissen wurde, stand er im 80. Lebensjahre. Er war geboren am 2. Oktober 1869 in Porbandar am Golf von Oman in der nordwestlichen Küstenlandschaft Gudseherat. Gandhi stammte aus einer reichen Familie; sowohl sein Vater wie auch sein Großvater waren Minister in dem kleinen Fürstentum seiner Heimatlandschaft. Seine Eltern gehörten der Jai-Sekte an, die ihre Anhänger zu der Lehre der Gewaltlosigkeit und der äußersten Hingabe erzog. Kaba Gandhi, der Vater, einstmals Ministerpräsident des kleinen autonomen indischen Staates Gudseherat, gab sein ganzes Vermögen in Almosen hin; die streng religiöse Mutter aber war wie eine „Heilige Elisabeth" unter den Hindus; fastend und opfernd teilte sie mit freier H a n d Almosen aus und pflegte die Kranken, wo immer sie ihrer ansichtig wurde. Bis zum Jahre 1882 leitete ein Brahmane, ein Hindupriester, Gandhis Erziehung; dann besuchte er die Universität in Ahmedabad, wo er hinduistische Religion und abendländische Religionsphilosophie studierte. Im gleichen Jahre wurde der 13jährige Mohandas vermählt. 3
Unter dem Verdeck der Postkutsche aber saß eine schmale Gestalt in hellem Reiseanzug und blickte mit erschrockenen Augen, die von Tränen verschleiert waren, auf den lärmenden Tumult vor sich, während das Herz vor Zorn bebte. „Warum laßt ihr euch das bieten?" wollte der einsame Passagier rufen. „Ihr seid doch Menschen wie alle anderen!" Aber die Stimme versagte ihm. Da war das grausige Schauspiel auch schon vorüber. Die Menge zerstreute sich, man lachte, unterhielt sich über den Zwischenfall oder vergaß ihn, Die W u t des Volkes war schon verrauscht. Langsam fuhr die Postkutsche wieder an und ratterte über den Platz, während der Postillon von neuem in sein Hörn blies. Der Mann mit den sanften braunen Augen unter dem Verdeck der Postkutsche war Mohandas Karamtschand Gandhi. U n d dies war sein Einzug in Pretoria.
Indische Obsthändler
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ie mehr in seinem Leben konnte Gandhi den Anblick vergessen, der sieh ihm bei seiner Ankunft in Pretoria geboten hatte; die Gestalt des geprügelten Inders stand immer wieder mahnend und aufrüttelnd vor seiner Seele. Seitdem hatte Gandhi viele ähnliche Szenen erlebt. Die Inder wurden in Südafrika wie die Schwarzen als zweitrangige Menschen betrachtet. 150 000 hatten sich im Lande niedergelassen, jedes Schiff brachte neue Ansiedler. So waren stärkste Gegensätze entstanden. Man fürchtete eine Überflutung durch die Fremden, fürchtete die Konkurrenz ihres großen Handels- und Geweibefleißes. Hinzu kam der Rassenhochmut vieler Europäer gegenüber den Asiaten. Wo immer sich ein Inder in der Öffentlichkeit zeigte, sah man in ihm einen Eindringling. Meist warf man ihn einfach hinaus; und da die Gesetze ihm nur ungenügenden Schutz boten, wurde er oft von wütenden Volksmassen verprügelt, getreten und dann ins Gefängnis geworfen oder zu Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilt. Es gab kein Recht für die Inder in Südafrika; sie waren vogelfrei. Auch Gandhi wurde davon nicht ausgenommen. Anfangs litt er sehr unter dieser menschenunwürdigen Behandlung, so daß er beschloß, Südafrika noch vor Ablauf der vereinbarten. Frist wieder zu verlassen. Doch dann traten jedesmal Szenen wie die auf dem Marktplatz von Pretoria mahnend und fordernd vor seine Seele; und er gab seine Absicht, abzureisen, wieder auf. Es erschien ihm als feige Flucht; und Gandhi war alles andere als feige. Auch fühlte er, daß er hier nötig war; denn die Inder, die in Südafrika lebten und zumeist der Kaste der Parias, der Unberührbaren, angehörten, waren außerstande, sich selbst zu schützen. Und als ihm schließlich zu Ohren kam, daß die Regierung ein Gesetz vorbereitete, das den Indern all ihre bürgerliehen Rechte entziehen sollte, da erwachte in Mohandas Karamtschand Gandhi etwas, das bisher ahnungslos in ihm geschlummert hatte; er fühlte plötzlich ungeheure, nie geahnte Kräfte in sich, so, als wäre ein Teil des Atma, jener unsterblichen Weltseele, auf ihn übergegangen, u n d er wußte im gleichen Augenblick, daß Brahma ihn dazu ausersehen hatte, das drohende Verhängnis von seinen Landsleuten abzuwenden. Als äußeres Zeichen seiner inneren Wandlung kleidete und nährte er sich von Stund an wie die Ärmsten seiner indischen Heimat; er gab seine Anwaltspraxis auf und verzichtete freiwillig auf die 5000 Pfund Jahreseinkommen. Mohandas Karamtschand Gandhi wurde zum Sprecher seiner 150 000 unterdrückten indischen Landsleute in Südafrika. 7
„Ich werde gegen niemanden schlechten Willens sein", rief er ihnen zu. „Aber ich werde mich keiner Ungerechtigkeit unterwerfen, von wem sie auch kommen möge. Ich werde die Lüge mit der Wahrheit bekämpfen und, indem ich der Lüge widerstehe, werde ich alle Leiden dieser Welt überwinden. Und sollte ich selbst mein Leben zum Opfer bringen müssen, so hoffe ich, daß ich immer bereit sein werde, es hinzugeben. Wenn ihr euch auf Satyagraha — die Kraft der Wahrheit, die Kraft der Liebe und der Gewaltlosigkeit —• verlaßt, braucht ihr vor nichts auf der Welt Furcht zu haben." Leidenschaftlicher Jubel folgte diesen Worten, die wie ein Programm waren. In diesem Augenblick war Mohandas Karamtschand Gandhi zum Kampf gegen die Unterdrückung angetreten. Zwanzig Jahre dauerte dieser Kampf um die Lebensrechte der Inder in Südafrika; zwanzig lange Jahre, während deren Gandhi ein asketisches Leben führte und in denen er Tag um Tag unermüdlich am Werk war, um das Los seiner unterdrückten Brüder zu verbessern. Barfuß, nur mit einem Lendentuch bekleidet, pilgerte er durch das südafrikanische Land und rief seine Landsleute auf, selbstbewußt zu werden, gegen jede Gewalttat zu protestieren und lieber Gefängnis und Tod zu erdulden, als sich dem Unrecht und der Ungerechtigkeit zu beugen. Aber er predigte einen gewaltlosen Kampf, indem er das Gewissen der Öffentlichkeit wachrüttelte und, wo man der Stimme der Entrechteten nicht Gehör gab, zum bürgerlichen Ungehorsam, zur Nichterfüllung der ungerecht empfundenen Anordnungen, aufrief. Er sah in solcher vollkommenen Gewaltlosigkeit überhaupt das einzige Heilmittel zur Befreiung der leidenden Menschheit. Er glaubte, daß er die Menschen auf solche Weise ohne Haß und ohne Blutvergießen von ihrer Lebensangst, ihren Qualen, ihrer Demütigung befreien und sie besser und glücklicher machen könne. Den Zwang bekämpfte er durch die Macht des Bcchtes und der Wahrheit — und nicht zuletzt durch die Kraft seiner Persönlichkeit. Gandhi pilgerte vom Tanganjika-See bis zum Nadelkap und vom Kubango bis zur Mündung des Sambesi. Die Sonne brannte unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel; seine Worte aber waren für die abgestumpften Sinne seiner indischen Brüder wie ein erfrischender Trunk nach langer, mühsamer Wanderung. Bald gab es unter den Indern in Südafrika nur noch das eine Wort: „Gandhi s a g t . . ." und das heißt dann soviel wie: „Die Wahrheit i s t . . ." „Die Freiheit ist keine Treibhauspflanze! Sie gedeiht nur ungehindert, ganz sich selbst überlassen, im Freien. Jede Beeinflussung
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aber schadet ihr: und wenn sie sieh natürlich entwickeln soll, dann darf sie in ihrer Nähe keinen Zwang dulden. Alle Menschen haben das gleiche Recht auf Freiheit." So führte Mohandas Karamtschand Gandhi seinen gewaltlosen Kampf für die Freiheit; und so trat er für die Gleichberechtigung ein. Das aber bedeutete, daß auch die Unfreiheit im Indertum selber beseitigt werden mußte; denn das überkommene Kastenwesen erniedrigte die Parias, die „Unberührbaren", die Angehörigen der untersten Schicht in Indien, fast zu Sklaven. Also mußten auch sie befreit werden. Wollte Gandhi aber eine Gleichstellung der Parias erreichen, so kam das einer religiösen Neuordnung gleich. Wer den „Unberührbaren" ungehindert Zutritt zum öffentlichen Leben gewährte, verstieß ganz und gar gegen die bestehenden Lehren des Hinduismus, der diese soziale Rangordnung und Zerklüftung zum Dogma erhoben hatte, während Gandhi leugnete, daß die „Unberührbarkeit" eine ursprüngliche Lehre des Hinduglaubens sei. So erkannte Gandhi schon frühzeitig, daß die Freiheit gegenüber den Weißen nicht zu erringen war, ohne die Reseitigung des schreienden Unrechtes, das Indien fünfzig Millionen seiner eigenen Landsleute seit Jahrhunderten angetan hatte. Er war so sehr von der Richtigkeit seiner Anschauungen durchdrungen, daß er beschloß, auch das Kastenwesen Indiens zu reformieren. Und dann kam der Tag, an dem für das südafrikanische Indertum ein erster Hoffnungsschimmer aufleuchtete. In einer Vorahnung des heraufkommenden Weltkrieges erklärte sich der führende südafrikanische Staatsmann General Smuts zu Reginn des Jahres 1914 bereit, mit Gandhi einen Vertrag abzuschließen, in dem die Rechte der Inder in Südafrika für alle Zeiten festgelegt wurden und vor allem die hohe menschenunwürdige Kopfsteuer für die indischen Siedler nicht mehr aufgeführt war. Mohandas Karamtschand Gandhi hatte in seinem Remühen um die Gleichberechtigung den ersten großen Sieg errungen. Doch in dieser Stunde wußte er längst, daß dieser Kampf nur ein Teil eines viel größeren war, daß er trotz allem erst am Anfang einer Entwicklung stand, die den Unabhängigkeitskampf Indiens in sich schloß. Das war fortan das große Ziel, dem er sein Leben widmen wollte. Und mit diesem Vorsatz im Herzen kehrte Mohandas Karamtschand_Gandhi im Jahre 1915 in seine indische Heimat zurück. Nun erst hatte der Kampf um Indiens Freiheit, der unlösbar mit Gandhis Namen verbunden ist, begonnen. 9
Indische Mutter
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it dem Ruf „Mahatma Gandhi — ki — ja! Sieg für Mahatma Gandhi!" wurde Mohandas Karamtschand Gandhi, den seine Anhänger n u n Mahatma, die große Seele, nannten, überall im indischen Land empfangen. Der erste Weltkrieg ging vorüber; das Jahr 1919 brach an. Seit vier Jahren war der unermüdliche Wanderprediger mit dem großen, kahlgeschorenen Kopf über dem schmalen, gebrechlichen Körper, dem die sanften braunen Augen hinter den dicken Gläsern der Nickelbrille und der breite, lächelnde, fast zahnlose Mund einen beinahe kindlichen Ausdruck verliehen, mit seinen Getreuen von Ort zu Ort gezogen, um seine indischen Brüder zum gewaltlosen Kampf um die Selbstverwaltung und die volkliche Erneuerung aufzurufen. „Mahatma Gandhi — ki — ja! Sieg für Mahatma Gandhi!" klangen die Stimmen der Gläubigen durch die heilige Stadt Benares. Das Gewühl auf den Straßen und Treppen, die an das heilige Wasser des Ganges hinabführten, glich einem Ameisengewimmel.
Schrille Töne von Blasinstrumenten wetteiferten mit dem Lärm der Menge, die verzückt betend und singend zum Fluß hinunterstieg. An den Wegrändern drängten sich Abertausende von Pilgern, völlig nackte, zu Skeletten abgemagerte und mit Asche bedeckte Fakire, jammernde Kranke und zudringliche Bettler; und dazwischen junge Frauen, kahlgeschorene Witwen und unzählige Kinder. Unaufhörlich lärmte das Läuten zahlloser Glocken und das Dröhnen schriller Trompeten. Doch mit einem Schlage waren alle diese Laute verstummt. „Mahatma Gandhi — ki — ja! Sieg für Mahatma Gandhi!" gellte es über den heiligen Fluß. Und die Hände, die eben noch vor den Götterbildern Butter und Öl geopfert oder den heiligen Kühen Blumen vorgeworfen hatten, hielten jäh in ihrer Bewegung inne. Das geschäftige Treiben, das an den Brunnen herrschte, erstarrte. Nur die heiligen Affen schrien und tobten um die Plätze der Fakire, die dort seit Jahrzehnten auf ihren Nägelbrettern lagen; während es immer von neuem durch die .abertausendköpfige Menge brauste: „Heil Mahatma Gandhi! Mahatma Gandhi — ki — ja!" Und Mahatma Gandhi sprach also zu den aufhorchenden Gläubigen: „Ich begehre nichts anderes zu sein als ein einfacher Arbeiter, ein schlichter Diener Indiens und der Menschheit. Ich habe nicht den Wunsch, eine Sekte zu gründen: dazu bin ich nicht ehrgeizig genug. Ich predige auch keine neuen Wahrheiten. Ich versuche vielmehr die' alte Wahrheit zu vertreten und zu befolgen, wie ich sie erkannt habe. Doch werfe ich ein neues Licht auf viele alte Wahrheiten, indem ich die Sache der Parias fördere; 4 e n n das Gesetz der vollkommenen, ajles und alle umfassenden Liebe ist das Gesetz meines Lebens. Aber ich will die Erfüllung dieses letzten und höchsten Gesetzes der Befreiung der Parias nicht mit den politischen Maßnahmen verknüpfen, die ich erstrebe, denn das hieße, sich von vornherein einer Niederlage ausliefern. Außerdem wäre es unvernünftig, zu erwarten, daß sich die Massen schon heute alle diesem Gesetz unterwerfen. Ich bin kein Utopist; ich behaupte vielmehr, ein praktischer Idealist zu sein. Ich weiß, daß die Gewaltlosigkeit der Gewalt ebenso überlegen ist wie das Verzeihen dem Strafen. Das Verzeihen aber ist die Zierde des Kriegers. Und sich des Strafens zu enthalten, wenn die Macht zur Bestrafung wirklich vorhanden ist, das ist Verzeihen. Nur von Seiten einer ohnmächtigen Kreatur ist die Verzeihung wertlos. Indien aber ist nach meiner Ansicht nicht ohnmächtig!" 11
Da brandete lauter Jubel auf, und aus abertausend Kehlen klang es durch die heilige Stadt: „Heil Mahatma Gandhi! Mahatma Gandhi — ki — ja!" Und der Wind trug es fort über den heiligen Fluß, bis zu den Grenzen und über den Ozean hinweg in alle Länder der weißen Herren.
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ahatma Gandhis Anhänger waren vor allem die Armen; und sie zählten nach Millionen. Im Norden des Landes aber wohnten die andern, die Reichen; doch die hatten nicht teil an diesem Kampf, denn bei ihnen war Glück und Überfluß an allem. Sie lebten in zahllosen Fürstentümern, die sie als ihren eigenen Besitz betrachteten, und sie hatten ihren Frieden mit den Briten gemacht. Als am. 1. Januar 1877 unter dem hellen Geschmetter der Fanlaren und dem dumpfen Geknatter der Artilleriesalven auf einer in Gold, Blau, Rot und Weiß verwandelten Wiese bei Delhi die Königin Victoria von England zur ersten Kaiserin von Indien ausgerufen worden war, da waren Ihre Hoheiten, die Maharadschas, die ersten Gratulanten gewesen und hatten der neuen Kaiserin mit einem lauten: „Shaw en Shaw Padishaw!" gehuldigt. Seitdem herrschten die Maharadschas ungehindert mit mittelalterlicher Despotie und orientalischer Pracht in ihren verzauberten Reichen und in märchenhaften Palästen. Ihre Würde zählte nach den Salutschüssen, die bei ihrem Erscheinen abgefeuert wurden. Das, was sie bei solchen Anlässen trugen, war Millionen wert, denn in ihren Turbanen flimmerten kostbare Juwelen, und die Sterne auf den Generalsepauletten ihre Khakiuniformen waren aus purem Gold; selbst ihre Pferde gingen mit Diamanten behängt. So gab es in Indien unsäglich Reiche upd unsäglich Arme; aber die Armen waren weit in der Mehrzahl. Doch das war nicht der einzige Gegensatz in jenem tropischen Lande. Nicht minder stark war die religiöse Zerklüftung. Da waren Hindus und Moslems, Buddhisten und1 Sikhs, die einander bekämpften und deren Bruderkampf es den Europäern leicht gemacht hatte, das Land zu erobern und besetzt zu halten; und da waren die Dschainas und die Anhänger der Jai-Sekte und alle übrigen Sekten; und jede von ihnen schwur fanatisch auf die Richtigkeit ihrer Lehre; die politischen Parteien aber waren nichts anderes als Ausdruck dieser religiösen Zerrissenheit. Bei den Hindus gab es außerdem noch die Kasten, die Kaste der geistlichen Gewalt, die Kaste der weltlichen Gewalt, die Kaste der 12
Handel- und Ackerbautreibenden und die Kaste der Handarbeiter. Eine Gleichheit aller Hindus war, wie man glaubte, durch ein göttliches Gebot unmöglich gemacht, die Parias, die „Unberührbaren", standen außerhalb aller Kasten; sie waren die Ausgestoßenen, die von den übrigen verachtet wurden. Ihnen war der Zutritt zu den Tempeln verboten; ihre Dörfer lagen abseits von den anderen, und ihren Kindern wurden in den Schulen die hintersten Plätze zugewiesen. Nie aber durfte ein Paria einen Kastenhindu berühren. Zu manchen Zeiten durfte nicht einmal sein Schatten den Edelhindu erreichen; und geschah es einmal durch Zufall, so war das ein strafbares Vergehen. Trat ein Paria zur Zeit der Speisezubereitung in eine Küche, so galt die Nahrung als verunreinigt und wurde beseitigt. Selbst der Postbote weigerte sich, den Parias Briefe auszuhändigen; in die Postbüros mußten die Parias ihr Geld von weitem hineinwerfen, und auch die Postsachen und Briefmarken wurden ihnen nicht ausgehändigt, sondern zugeworfen. Die Brahmanen, die Angehörigen der Priesterklasse, scheuten sich jedoch keineswegs, Geld von den „Unberührbaren" entgegenzunehmen; je größer der Betrag war, desto geringer erschien ihnen die Verunreinigung. So lagen die Verhältnisse in Indien, und so waren die Menschen, die darin wohnten; sie waren arm und reich, gut oder böse, vornehm und gering, so wie anderswo auch, aber sie hatten sich ungeheuer entfremdet. Die Freiheit — die staatsbürgerliche wie auch die persönliche — war nur einer bestimmten Gruppe gegeben. Menschen, die von Natur aus zusammengehörten und die einander brüderlich zugetan sein sollten, waren durch Geburt, Stand, Religion und aberhundert Sekten in viele, viele Gruppen gespalten, die sich in endlosen Kämpfen befehdeten. Sie alle wollte Mahatma Gandhi in einem großen Vaterlande frei und glücklich sehen; und so trat er für einen von Aberglauben und Kastenkult geläuterten, vergeistigten Hinduismus ein, der auch die Parias in seine Gemeinschaft aufnahm, um über die so gewonnene innere Einigkeit zu der äußeren Freiheit zu gelangen. Aber die meisten der Inder dachten nur an die Selbsterlösung des einzelnen, wie sie vor zweieinhalb Jahrtausenden Buddha gelehrt hatte,*) und träumten vom Nirvana, einer anderen, fernen Welt, in der ihre Seele, für ewig von Schmerz und Qual befreit, in höchster Glückseligkeit ausruhen konnte; so bekümmerte sie ihrer Mitmenschen Erdenleid kaum. Eigener Schmerz und eigenes Leid *) Vergleiche hierzu tux-Lesebogen 101 „Buddha der Erleuchtete"
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waren ihnen jedoch willkommen, denn sie versprachen ihnen nach ihrem Tode ein Leben um so größeren Glücks. Doch Mahatma Gandhi rüttelte seine Brüder aus ihren Träumen auf. Dabei hatte er nicht das geringste Verlangen, irgendein Wesen zu sich und seiner Anschauung herüberzuziehen, das er nicht zuvor auch in seiner Vernunft überzeugt hatte. Nur vor einem hatte Gandhi Angst; daß nämlich seine Bewegung zur Gewalt oder zur Vorläuferin der Gewalt werden könnte; und er wollte gern alle Demütigungen und Qualen, ja, die vollständige Verstoßung und sogar den Tod erleiden, wenn er damit Terror und Krieg verhindern konnte. So rief er seinen indischen Brüdern immer wieder mahnend zu: „Ich entschuldige keine böse Tat, was immer es auch für eine sei!" Und solches predigend, wanderte Mahatma Gandhi unermüdlich durch Indien; vorbei an den halbzerfallenen, fensterlosen Lehmhütten der Bauern, vorbei an den fruchtbaren Feldern, die noch mit dem Holzpflug bearbeitet wurden, vorbei an der unendlichen Vielzahl und Vielgestalt der Tempel und Moscheen, den sichtbaren Zeichen der religiösen Spaltung, und vorbei auch an den märchenhaften Palästen in den Fürstenstaaten. Gandhi weilte dort, wo Seuche und Hunger waren; er litt und fastete mit den Darbenden, und allen rief er beschwörend zu: „Seid euch einander zugetan! Seid einig!" Und die Zahl seiner Anhänger, die in ihm einen Heiligen sahen, wuchs ins Unermeßliche. Als das Jahr 1919 zu Ende ging, war Mahatma Gandhi Präsident des Allindischen Nationalkongresses, der großen Bruderschaft der 255 Millionen Hindus, die sich der Idee der indischen Selbstregierung ohne Vorbehalt verschworen hatten. Mit der Kongreßpartei war die Mohammedanerpartei, die rund 92 Millionen Moslems in Nordost- und Nordwestindien vertrat, in diesem Zeitpunkt noch eng verbunden. Audi in den Reihen der Mohammedaner wurde Gandhi als der große religiöse und politische Führer Indiens verehrt.
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m Schatten der überhängenden Dächer und der vorspringenden balkonartigen Anbauten zog sich zu beiden Seiten eine vieltausendköpfige Menge jene gerade breite Straße entlang, die von Norden her in das eigentliche Bombay führt. Hindus aus der weitesten Umgebung säumten diese via triumphalis; ihr aufgeregtes Schwatzen erfüllte wie ein feines Brausen die Stadt. Neben den großen, mageren Hindus fielen vor allem die gravitätischen Gestalten der Perser in der Menge auf. In weißen, wallen14
den Talaren und ebenso weißen Turbanen blickten ernste Araber mit Verachtung auf alle Ungläubigen herab; daneben bemerkte man emsige Chinesen in blauen Gewändern u n d mit langen Zöpfen im Nacken, außerdem Neger in der Kleidung von Gentlemens und Seefahrern. Sie alle hatte die Neugier hierhergetrieben. Dazu kamen hier und da Gruppen von Weißen, Holländern, Engländern und Portugiesen, die das Schauspiel ebenfalls angelockt hatte. Und es mußte schon ein besonderes Ereignis sein, das die sonst so trägen Hindus von Bombay in Begeisterung versetzte. Noch waren alle Blicke erwartungsvoll in die Ferne gerichtet; auf der Straße bewegten sich Trägergruppen von Eingeborenen, die Bambussessel geschultert hatten und reiche Geschäftsleute trugen. Ab und zu fuhr eine gelbe oder braune Lady in einer eleganten offenen Karosse vorüber. Aber da hörte man plötzlich von weit draußen schrille Trompetensignale und dann von fernher und immer näherkommend laute Rufe, die sich in den Hindumassen zu beiden Seiten der Straße fortsetzten; „Heil, Mahatma Gandhi — ki — ja!" Und endlieh wurde auf der breiten, schnurgeraden Fahrbahn an der Spitze seiner Getreuen Mahatma Gandhi sichtbar und schritt barfuß, in der H a n d einen Wanderstab, mit einem kindlichen Lächeln auf den Lippen durch die jubelnde Menge. Die Begeisterung begleitete ihn, während er einherschritt; unaufhörlich wiederholte sich der Gruß; „Mahatma Gandhi — ki — ja!" Und die Rufe hallten von den Häuserwänden; und der Wind trug sie bis zum Hafen hin, der nun, mit seinem Wald von Masten, vor den Augen der Einziehenden sichtbar wurde. Hinter Mahatma, der großen Seele, schritten seine Freunde und Jünger: Jawaharlal Nehru, Abbas Tyabji, Vallabhai Patel und der getreue Sarojini Naidu, dann Pandit Khare und Chakravarti Rajagopalachariar, der Gandhis jungindisehe Zeitung leitete. Ferner der Moslemführer Mohammed Ali Jinnah, der Führer der panislamischen Kalifatbewegung Maulana Mohammed Ali und Sir Tej Bahadur Sapru, der Führer der liberalen Partei in Indien. Sie alle waren nach Bombay gekommen, um an dem Allindischen Nationalkongreß teilzunehmen, der sich alljährlich mit der Verwirklichung der Selbstregierung befaßte. Auf diesem Kongreß in Bombay rief Mahatma Gandhi zu seinem „Non-cooperation-Feldzug" auf, zur Ablehnung der politischen und 15
wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Europäern, die in der Verweigerung des Steuer- und Heeresdienstes, im Fernbleiben von öffentlichen Ämtern, im Ablegen der englischen Titel und im Boykott der englischen Waren ihren sichtbaren Ausdruck finden sollte. Damit war der erste große Schritt zum passiven Widerstand getan. Doch schon schieden sich die Geister, und es zeigte sich die Uneinigkeit im eigenen Lager: Sir Tej Bahadur Sapru, der Führer der indischen liberalen Partei, sah Indiens künftiges Wohl in einer engen Zusammenarbeit mit den Fremden; er verließ den Kongreß. Er war von nun an ein erbitterter Gegner Gandhis; und noch viele sollten im weiteren Verlauf seines Kampfes seinem Beispiel folgen. Aber der passive Widerstand hatte begonnen; und Mahatma Gandhi wurde die beherrschende Gestalt in diesem gewaltlosen Kampf um die nationale Unabhängigkeit.
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n diesem Kampf spielte die Tscharka, das Spinnrad, eine bedeutende Rolle. Nur die Tscharka konnte nach Gandhis Ansicht Millionen Inder auf die Dauer vor dem Hungertod bewahren. Aus diesem Grunde war Gandhi gegen eine Industrialisierung und Verstädterung Indiens; die Tscharka war in seinen Augen das Heimarbeitsgerät des indischen Dorfes und die symbolische Warnung vor der Maschine, der Großindustrie und dem fremden Import. Die Heimarbeit mit der Tscharka sollte das indische Volksleben erhalten und für den wirtschaftlichen Aufschwung Indiens den Grund legen, indem sie den Ärmsten der Bevölkerung das Geld für den täglichen Lebensunterhalt sicherstellte und den Bauern neben dem Erträgnis ihrer Landarbeit einen Nebenverdienst verschaffte. So gehörte die Tscharka gewissermaßen zu Gandhis Wirtschaftsprogramm; er hatte sich selbst geschworen, täglich 200 Yards zu spinnen; und er war ständig darauf bedacht, dieses Gelübde selbst an den Tagen härtester Arbeit zu halten. Aus diesem Grunde führte Gandhi die Tscharka bei all seinen Wanderungen mit sich, und selbst bei den wichtigsten Unterredungen in seinem Hause pflegte er an der Tscharka zu sitzen. Auch sonst tat Mahatma Gandhi alles, um seinen Lehren durch die Tat Nachdruck zu verleihen. So hatte er in die Heirat seiner Begleiterin Sarojini Naidu mit dem aus niederer Kaste stammenden Arzt Dr. Naidu eingewilligt und dessen Sohn, der nur der Kaste der Vaisyas, der Händler, angehörte, mit einer Brahmanentochter, der Tochter seines Freundes Chakravarti Rajagopalachariar, verheiratet. Heiraten zwischen Angehörigen verschiedener Kasten 10
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waren für die Hindus bis dahin unmöglich gewesen und erregten daher ungeheures Aufsehen. Auf diese Weise trug Gandhi dazu bei, alte Vorurteile zu beseitigen. Sein Leben war ganz asketisch; seine Begleiterin, Frau Kasturbai, mußte ihre ganze Überredungskunst aufwenden, um ihn davon zu überzeugen, daß sein Schwur, neben Fleisch und anderen tierischen Produkten keine Kuhmilch zu genießen, sich nicht unbedingt auch auf Ziegenmilch beziehen müsse. Seitdem gab es im Hause Gandhis eine Ziege, die oft während wichtiger Unterredungen an völlig unpassender Stelle in ein lautes Meckern ausbrach, was dem Mahatma jedesmal ein leichtes Lächeln entlockte. Unter seinen Freunden und Jüngern, die zumeist in einfachen weißgetünchten Kammern in den Gebäuden um den viereckigen Hof
Inder an derTscharka, dem Spinnrad, dem Gerät, das Gandhi in den Dörfern und Städten Indiens volkstümlich gemacht hat. Die Tscharka war das Sinnbild der indischen Freiheitsbewegung. Mit ihrer Hilfe suchte Gandhi Indien von der ausländischen Tucheinfuhr unabhängig zu machen und die fortschreitende Verstädterung der indischen Bevölkerung aufzuhalten
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seines Hauses wohnten und den größten Teil des Tages in Gandhis Gesellschaft verbrachten, nahmen zwei eine besondere Stellung ein: Jawaharlal Nehm, der später Gandhis Nachfolger in der Kongreßpartei wurde, und Chakravarti Rajagopalachariar, der hernach der erste indische Generalgouverneur werden sollte. Jawaharlal Nehru, der einer alten Brahmanenfamilie entstammte, war 20 Jahre jünger als Gandhi. Er hatte eine ausgezeichnete europäische Bildung genossen und die Universitäten Oxford und Cambridge besucht. Wie Gandhi war auch der Hindu Nehru zunächst in seiner Kleidung u n d in seinen Interessen ganz Abendländer gewesen. Man sagte, daß im britischen Parlament wohl nur zwanzig Männer ein so reines Englisch gesprochen hätten wie er. Als Nehru dann im Jahre 1913 nach Indien zurückgekehrt war, war er seinem Volk sehr fremd geworden. Aber die stürmischen Jahre 1919 und 1920, Gandhis erster Kreuzzug des „Zivilen Ungehorsams", hatten ihn völlig verwandelt. Er war erschüttert über die schlechten Lebensverhältnisse und die Gleichgültigkeit seiner Landsleute; von diesem Augenblick an war seine Leidenschaft für die Freiheit Indiens erwacht; er wurde der unzertrennliche Freund Gandhis. Wie Nehru war auch der andere ständige Gefährte Gandhis, Chakravarti Rajagopalachariar, Mitglied der höchsten Kaste der Brahmanen. Und wie der Mahatma hatte auch er als Rechtsanwalt begonnen. Er war dabei gewesen, als Gandhi nach dem ersten Weltkrieg seine Satyagraha-Bewegung des gewaltlosen Widerstandes begonnen hatte, er leitete jahrelang für Gandhi dessen jungindische Zeitung, und er war nun seit kurzem Generalsekretär des Allindischen Nationalkongresses. So hatten sich sowohl Nehru wie auch Rajagopalachariar in kürzester Zeit neben Gandhi zu den führenden und volkstümlichsten Mitgliedern der Kongreßpartei entwickelt. Aber noch im angehen' den Mannesalter hatten es beide als strenggläubige Brahmanen abgelehnt, mit den Unberührbaren zu verkehren, bis sich schließlich auch das unter Gandhis Einfluß änderte; denn auch sie erkannten bald, daß das Kastenwesen in vielen Beziehungen überholt und schädlich war. So waren sie auch in diesem Punkte mit Mahatma Gandhi verbunden; und es verging kein Tag, den sie nicht in seiner Nähe verbracht hätten. Mahatma Gandhi pflegte seine Freunde und Jünger schon morgens frühzeitig um sich zu versammeln. Dann aß er in ihrer Gesellschaft eine Zwiebelsuppe. Nach dem Frühstück kamen die Besucher. Oft hatten sie stundenlang vor der T ü r zu Gandhis Zimmer gewartet. 18 —:
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Gandhi und sein ständiger Gefährte ]awaharlal Nehru
Meist waren es Frauen und Kinder, die gläubig und voll Verehrung zu dem Meister aufblickten, der für sie als ein Heiliger galt. Mit gekreuzten, nackten Beinen auf einem flachen Kissen sitzend, den Oberkörper unbekleidet, am Lendentuch eine mit Schnur befestigte Nickeluhr und vor sich das Spinnrad, so pflegte Gandhi seine Besucher zu empfangen. Er unterbrach für einen Augenblick seine Arbeit und reichte ihnen die Hand zur Begrüßung.- Dann begann eine herzliche und höfliche Unterhaltung, die je nachdem in englischer Sprache oder in dem heimatlichen Cujratti-Dialekt geführt wurde. Später brachte ein junger Inder das Rasierbecken. Das war das Zeichen zum Aufbruch für die Besucher. Dann besprach Gandhi mit seinen Freunden und Jüngern die Fragen des Tages. Um elf Uhr zögen sich die Gefährten zurück, denn Gandhi legte zur Mittagszeit eine Ruhepause ein. Das Abendessen nahm er, nachdem der Nachmittag ebenso wie der Morgen vergangen war, mit seinen Freunden in einem Speisesaal 19
ein. Zu diesem Zweck ging Gandhi täglich gegen achtzehn Uhr über den Hof seines Hauses, wo er jedesmal, besonders aber, wenn ein großes Ereignis bevorstand, von unzähligen Verehrern begrüßt wurde. Gandhi schritt in solchen Stunden mit fröhlichem Lächeln durch die Gasse der Gläubigen, die immer wieder in lauten Beifall ausbrachen. Die Freudenrufe gingen allmählich in aufgeregtes Schwatzen über, bis die Menge bei Einbruch der Dunkelheit den Hof verließ. Die heraufkommende Nacht fand Gandhi im Verein mit seinen Jüngern in seinem Zimmer. Ein letzter Schimmer des verlöschenden Tages drang durch das kleine vergitterte Fenster und ließ die weißgetünchten Wände im Dämmerlicht noch einmal unwirklich aufleuchten. Sonst war es ganz dunkel im Raum. Auf einmal erklang eine Gitarre; und der Barde sang sein Lied dazu. Und die Anwesenden wiederholten leise die monotone Melodie: „Sitaram . . . sitaram . . sitaram . . ." Darüber wurde es völlig Nacht.
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o verging das Jahr 1920; und noch immer rief Mahatma Gandhi zum passiven Widerstand auf. Unermüdlich zog er durch die Provinzen; als dann aber die großen Flüsse über ihre Ufer traten und das Land ringsum überschwemmten, da war Mahatma Gandhi einer der ersten an den Unglücksstätten, tröstete die Bewohner und richtete sie auf. Auch in solchen Naturereignissen sah er die Äußerung einer höheren Ordnung; die indischen Flüsse befruchteten, indem sie über die Ufer.traten, mit ihren Schlammassen die Äcker, ähnlich wie es der Nil in der großen Oase Ägypten tat. Den Bewohnern der betroffenen Landschaften wurde bei solchen Katastrophen am Ende oft vielmals wiedergegeben, was sie verloren hatten. Deshalb mahnte Gandhi auch in solch schweren Stunden immer wieder zum Selbstvertrauen und zur zupackenden Selbsthilfe. Zu Beginn des Jahres 1921 trennte sich Mohammed Ali Jinnah, der Führer der Mohammedaner, von Gandhi und der Kongreßpartei. Er blieb von nun an politisch völlig im Hintergrund und wartete, bis seine Stunde kommen würde. Und seine Stunde kam. Aber noch war es nicht soweit. Mahatma Gandhi aber zog weiter durch die indischen Dörfer und Städte und verkündete den passiven Widerstand gegen die fremde Oberhoheit, unermüdlich und in festem Vertrauen auf die Zukunft. Doch da geschah etwas Unerwartetes! Mahatma Gandhi wurde ver haftet und zusammen mit Jawaharlal Nehru ins Gefängnis geworfen.
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Ein Schrei der Empörung ging durch Indien. Vier lange Jahre verbrachte Mahatma Gandhi im Cefängnis; dann erst, im Jahre 1924, wurde er freigelassen. Sofort nahm er seine rastlose Tätigkeit wieder auf und zog wieder unermüdlich von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt. Nach wie vor weckte er das Selbstgefühl des Indertums; seine Worte waren noch eindringlicher als zuvor. Im weiten Land, in den elenden Hütten der Armen, herrschten nach wie vor Hunger und Not. Und sie hatten keine Möglichkeit, diesen Zustand zu ändern. Zwar war eine indische Volksvertretung geschaffen worden; aber selbst für die Zulassung zu denTarlamentswahlen war ein bestimmtes Vermögen oder Einkommen Voraussetzung. Die mittleren und unteren Volksklassen waren deshalb ohne Einfluß im politischen Leben. Von den 144 Mitgliedern des Parlamentes wurden vierzig von der britisch-kaiserlichen Regierung ernannt, während die übrigen in den einzelnen Provinzen gewählt wurden. Auch diese Parlamentsmitglieder gehörten fast ausschließlich einer kleinen, aber einflußreichen Klasse an, die sich wohl die Form, nicht aber den Geist des demokratisch-parlamentarischen Lebens Großbritanniens angeeignet hatte. Ihre Aufgabe bestand darin, über Finanzen, Zivilgesetzgebung, Zölle, Währung und öffentliche Schulden zu beraten und abzustimmen. Doch war die Regierung nicht an die Entscheidung des Parlamentes gebunden, und jedes abgelehnte Gesetz konnte durch das Vetorecht des Vizekönigs, des Vertreters der englischen Krone, als gültig erklärt werden. Die Parlamentssitzung begann gewöhnlich um elf Uhr. Zu diesem Zeitpunkt öffnete sich die Tür hinter dem Präsidentensitz, und der Vorsitzende der Gesetzgebenden Versammlung erschien in weißem Kleide mit einem schwarzen, bis zu den Knien reichenden Überwurf, auf dem Kopf trug er eine gekräuselte Perücke. Dann verneigte er sich stumm nach rechts, zur Mitte und nach links; und die anwesenden Mitglieder des Hauses erwiderten den Gruß stehend. „Wie in einem Shakespeare-Drama!" flüsterte Walt Sherman von der „NewYorkHeraldTribune", der sich für einige Monate studienhalber in Indien aufhielt, seinem Kollegen von der „Times of India" zu. Der nickte lächelnd. Unterdessen hatte die Sitzung, die in englischer Sprache geführt wurde, begonnen. Walt Sherman ließ seine Blicke neugierig durch den Raum schweifen. Die Galerien der Zuhörer waren mit Frauen, Indern im Khaddar und in europäischer Kleidung, Burmesinnen, 21
englischen Offizieren in Zivil und amerikanischen Touristen besetzt. Während der Sitzung herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Walt Sherman betrachtete interessiert die Vorgänge unten im Saal. Rechts vom Präsidenten saßen die englischen Regierungsbeamten, die höflich oder gelangweilt zuhörten und sich gelegentlich Notizen machten. Manche von ihnen blätterten in Akten. Aus allen Parteien meldeten sich die Redner zum Wort; aber die Debatten blieben zumeist ohne praktische Bedeutung. Später, als sie gemeinsam das Parlamentsgebäude verließen, sagte Walt Sherman zu seinem Kollegen von der „Times of India": „Weiß Gott, diese Inder singen immer in den höchsten Tönen, und sie reden in einer überschwenglichen Sprache; allein mir scheint, sie wünschen gar nicht, die Ansicht der Millionen von Menschen in Betracht zu ziehen, die außerhalb des Parlaments sind!" „Ja", nickte der Kollege von der „Times of India", „so sind nun mal die Inder! Sie träumen alle zuviel. Daneben wissen die meisten von ihnen nicht einmal, was sie wirklich wollen." Das war die Situation bis zu Beginn des Jahres 1930.
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u dieser Zeit bereitete Mahatma Gandhi seinen zweiten, großen Schritt zur Verwirklichung seines Programms vor, das die Erringung der Selbstverwaltung und Selbstregierung Indiens durch die Inder umfaßte. Hatte er anfangs die Verbrüderung aller Inder als nächstes und dringendstes Ziel angesehen, das später zwangsläufig zur Verwirklichung ihrer Forderung auf einen selbständigen indischen Staat führen mußte, so war er nun bereit, zuerst Indien die ihm zustehenden, zugesicherten und immer wieder versprochenen Rechte auf Unabhängigkeit zu erkämpfen. Zu diesem Zweck schrieb er am 2. März 1930 einen umfassenden Brief an den britischen Vizekönig Lord Irwin. In jenen Tagen bereits war Mirabehn, die eigentlich Miß Slade hieß und Sie Tochter eines britischen Admirals war, Mahatmas ständige Begleiterin geworden. Sie hatte sich so für Gandhis Ideen begeistert, daß sie zur völligen Inderin geworden war. Durch sie hatte auch Reginald Reynolds, ein junger Engländer, Gandhi kennengelernt. Auch er begeisterte sich, wenn auch nur vorübergehend, für dessen Lehre, und er war es auch, der Gandhis Brief am 6. März 1930 dem britischen Vizekönig Lord Irwin übergab. Darin hieß es unter anderem: 22
„Bevor ich mich auf die öffentliche Gehorsamsverweigerung einlasse und damit eine Verantwortung übernehme, möchte ich an Sie herantreten, um einen Ausweg zu finden . . . Obgleich ich die britische Herrschaft als ein Verhängnis betrachte, glaube ich doch nicht, daß die Engländer im allgemeinen böser sind, als irgendein anderes Volk. Viele Engländer darf ich persönlich zu meinen Freunden zählen. Dennoch hat die britische Regierung vermittels eines Systems fortschreitender Ausnutzung und mit verhängnisvollen Ausgaben für militärische Zwecke die stummen Millionen der Armut preisgegeben . . . Deshalb muß nicht nur die Landsteuer erheblich herabgesetzt, sondern das ganze Einkommensystem muß in einer Weise revidiert werden, die in erster Linie das Wohl des Pächters fördert . . . Selbst das Salz, das er zum Leben braucht, wird in einer solchen Weise besteuert, daß die Bürde am schwersten auf den armen Pächter fällt. Salz ist aber das einzige Produkt, von dem er eine größere Menge verbraucht als der Reiche . . . Auch die stattlichen Einkünfte aus Alkohol und Rauschgiften werden zum großen Teil aus den Taschen der Armen bezahlt . . . Die Darstellung des Ruins Indiens wäre aber nicht vollständig, wenn ich nicht auf die Schulden verweisen würde, die man im Namen unseres Landes gemacht hat . . . Nehmen Sie zum Beispiel Ihr eigenes Gehalt als Vizekönig. Es beträgt im Monat über 21 000 Rupien, wozu noch eine Anzahl indirekter Zulagen kommen. Der britische Premier erhält im Jahr 5000 Pfund, das sind monatlich 5400 Rupien. Sie aber beziehen als Vizekönig täglich 700 Rupien, während das Durchschnittseinkommen der indischen Bevölkerung etwas weniger als zwei Anna beträgt, wobei erst sechzehn Anna einer Rupie gleichkommen . . . Ich habe ein persönliches Beispiel herangezogen, um Ihnen eine schmerzliche Wahrheit so eindringlich wie'möglich nahezulegen. Vor Ihnen als Mensch habe ich eine viel zu hohe Achtung, als daß ich Ihre Gefühle damit verletzen möchte . . ." Dann schloß Mahatma Gandhi mit der Erklärung, daß er, falls seine Forderungen kein Gehör finden würden, mit einigen Mitarbeitern seines Kollegiums' am 11. März einen Schritt unternehmen werde, um die Gesetze über das britische Salzmonopol, die er als die ungerechtesten von allen hielt, öffentlich zu verletzen. Der Vizekönig bestätigte den Empfang des Schreibens und Wies darauf hin, daß das von Gandhi geplante Unternehmen eine Gefährdung des Friedens bedeuten würde. 23
Am 7. MUTZ 1930 wurde plötzlich Vallabhai Patel, der Mann, der alle Unternehmungen Gandhis zu organisieren pflegte, verhaftet. Dann blieb es still. Am 12. März aber trat Mahatma Gandhi, wie angekündigt, seinen Marsch zur Küste an. Er sollte vier Wochen dauern. Gandhi und seine Begleiter wollten das Salz unter Umgehung des britischen Monopols demonstrativ aus dem Meer gewinnen, um so öffentlich gegen die hohe Salzsteuer zu protestieren. In den frühen Morgenstunden des 12. März war eine Flut von Wagen, Autos und Menschen von Ahmedabad nach dem Aschram in Sabarmati unterwegs, während eine vieltausendköpfige Menge an den Straßen wartete. Endlich, gegen halb sieben Uhr, wurde Gandhi an der Spitze seiner neunundsiebzig Auserwählten sichtbar, und wie stets brandete es aus vieltausend Herzen auf: „Mahatma Gandhi — ki — ja! Sieg für Mahatma Gandhi!" Unterdessen kam der Zug der Pilger immer näher. Voran schritt, in indischer Frauentracht, mit Sandalen an den Füßen, Mirabehn, an jeder Hand ein kleines Kind. Ihr folgten zwei ergraute Männer. Dann kam barfuß, mit dem Lendentuch bekleidet, in der Hand seinen Wanderstab, Gandhi. Ihm zur Seite schritt Abbas Tyabji. Dann folgten Gandhis Gattin, deren Nichte und Reginald Reynolds, der junge Engländer. Und denen schlössen sich in kurzem Abstand die übrigen an. Nach einer Stunde kehrten die Frauen mit den Kindern um. Mahatma Gandhi aber schritt unbeirrt und trotz seiner einundsechzig Jahre wie ein Jüngling seinen Auserwählten auf dem beschwerlichen W e g voran. Und am Straßenrand standen die Reporter und Filmoperateure, um dieses einmalige Schauspiel für die Nachwelt festzuhalten. Vor den Eingängen der Dörfer aber harrten überall die Massen der Gläubigen und ekstatischer Jubel begrüßte jedesmal den unermüdlichen Kämpfer für die Freiheit Indiens, sooft er eine Ansiedlung erreichte. Fröhlich lächelnd zog Mahatma Gandhi an der Spitze seiner Auserwählten furchtlos seine Straße, dem fernen Ziel, dem Meere, zu, mit dem er die Freiheit Indiens meinte.
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m 5. Mai wurde Mahatma Gandhi ganz überraschend festgenommen. Mitten in der Nacht blitzten Blendlaternen auf. Das Lager war von Polizei umzingelt. 24
Der Mahatma, der von dem Lärm erwacht war, fragte, ob man ihn suche, Die Polizisten bejahten und erklärten ihn für verhaftet. Das war kurz nach Mitternacht. „Darf ich wissen, warum ich verhaftet werde ?" wollte Gandhi wissen. Der Polizeioffizier erwiderte, er habe den schriftlichen Befehl dazu erhalten. Dann las er den Haftbefehl vor. Der Mahatma dankte und beendete ruhig seine letzten Vorbereitungen. Darauf bat er Pandit Khare, noch einmal die berühmte Hymne zu singen, mit der sie den Marsch begonnen hatten. Khare erfüllte ihm die Bitte. Feierlich klang die- wundersame Melodie durch die Stille der Nacht, und Gandhi lauschte ihr andächtig mit vornübergeneigtem Haupt. Dann verabschiedete er sich von allen und ließ sich ohne Widerstand abführen. Abbas Tyabji teilte das Los mit ihm. Nun übernahm Frau Sarojini Naidu die Führung; sie rief zum Angriff auf die staatlichen Salzlager auf. Aber auch sie wurde verhaftet und neun Monate im Yeravada-Gefängnis bei Poona interniert. Dort war sie wieder mit Mahatma Gandhi vereint. Als sich endlich die Gefängnistore für Mahatma Gandhi wieder öffneten, begann er von neuem für die Freiheit Indiens zu leben. Wie viele Jahre hatte er deswegen schon im Gefängnis verbracht, und wie viele Male hatte er um der Freiheit willen sein großes, oft wochenlanges Hungern begonnen! Er hatte Reichtum, Lebensglück und Gesundheit geopfert, um dem Ziele näherzukommen, und er würde jederzeit auch sein Leben für seine Aufgabe hingegeben haben. Niemals sprach aus ihm Haß gegen die Engländer oder Europäer. Wie zu Beginn seines Kampfes blieb er auch jetzt dem Prinzip der Gewaltlosigkeit und der Bruderliebe treu. Sein Ausspruch: „Solange, ein Mensch sich nicht aus eigenem freiem Willen an die letzte Stelle unter seinen Mitgeschöpfen stellt, ist kein Heil für ihn!" zeigt, welch große Gedanken seine opferbereite Seele bewegten. Nur so ist es zu verstehen, daß er niemals auch nur einen Augenblick an einen Aufstand mit Waffengewalt gedacht hat und daß er immer wieder zu Verhandlungen bereit war, obgleich er doch gerade durch die Weißen viele persönliche Kränkungen erfahren hatte. Seine Person galt in seinen Augen nichts, Indien war alles. Daher nahm er jede Möglichkeit zu einer friedlichen Lösung seiner Aufgabe wahr, und darum war er auch jetzt, kaum, daß er das Gefängnis verlassen hatte, bereit, sich Ende August 1931 mit den Engländern in London zu einer Konferenz an den grünen Tisch zu setzen. 25
Steinbild der „heiligen Kuh" Indiens
Auf dieser Reise nach London machte er einem Paßbeamten folgende Angaben über seine Person: „Beruf?" „Armer Bettler." „Vermögen?" ' „Sechs weiße Hosen, zehn Liter Ziegenmilch und der Weltruhm, der nichts wert ist." So kam oft ganz plötzlich Gandhis Humor zum Durchbruch. Dann ging er mit Lendenschurz und Sandalen durch die Straßen von London. Sogar der König empfing ihn in diesem Aufzug. Und als ihn beim Verlassen des Buckingham-Palastes die Journalisten fragten, ob ihm Seine Majestät Hoffnungen gemacht habe, da sagte Gandhi: „Der König kann keine Hoffnungen geben. Das kann nur Gott!" • 26
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as greifbare Ergebnis der Konferenz in London aber war die Abschaffung der Salzsteuer in Indien. Mahatma Gandhi hatte nach siebzehn Jahren unermüdlichen Kampfes den ersten sichtbaren Erfolg errungen. Nach seiner Rückkehr nach Indien zog sich Mahatma Gandhi aus dem öffentlichen Leben zurück und ernannte Jawaharlal Nehru zu seinem Nachfolger in der Kongreßpartei. Dennoch blieb Gandhi auch weiterhin die Seele, des passiven Widerstandes gegen die Engländer, denn die Führer der Kongreßpartei richteten sich in allem nach seinen Anweisungen, und vor den großen Ereignissen holten sie stets seinen Rat ein. Bei Naturkatastrophen ging Gandhi auch jetzt noch in die betroffenen Gebiete, und seine Worte richteten die unglücklichen Bewohner wieder auf. Er war es auch, der den Bruderkrieg zwischen Hindus und Moslems durch sein bloßes Erscheinen im Keime erstickte. Sooft im Lande Unruhen ausbrachen, ließ der Mahatma, die große Seele, seine beschwörende Stimme erschallen. Und die Millionen hörten auf ihn. Wirkliche Gegner hatte Gandhi kaum; zwar waren vor allem die Moslems und dann viele Hindus der höheren Stände Gegner seiner Lehre, seine Person aber stand bei allen in hohem Ansehen. Und nannte Mahatma Gandhi auch nur etwas selbstgesponnene Wäsche, eine Decke, die vernickelte Taschenuhr, die Handspindel und ein paar Bücher sein eigen, so konnte es doch Börsenstiirze und Kabinettskrisen geben, wenn er einmal statt seiner gewohnten Mahlzeit — Ziegenmilchquark, Datteln, Rosinen, Brot, Gemüse und Mandelpaste — fastend nur Obstsaft zu sich nahm und Millionen es ihm gleichtaten. Das Fasten und der passive Widerstand waren die Kampfmittel, mit denen er schließlich den Sieg erringen sollte. Noch aber wartete er gläubigen Herzens auf diese Stunde. Und die Jahre eilten im schnellen Fluge dahin. Im März 1947 wurde Lord Louis Mountbatten, ein Vetter des englischen Königs, Vizekönig von Indien; und zu gleicher Zeit erklärte die englische Regierung, daß sie sich nach Ablauf von weiteren fünfzehn Monaten ganz aus Indien zurückziehen werde. Damit hatte Mahatma Gandhi mit seinem gewaltlosen Kampf nach zweiunddreißig Jahren den Sieg errungen. Endlich winkte Indien die Freiheit. Aber noch immer gab es im Lande unüberbrückbare Gegensätze.
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"• Unzählige Konferenzen folgten; und nach endlosen Verhandlungen formulierten die Vertreter der großen politischen Gruppen ihre Forderungen. Pandit Nehm, der Führer der Kongreßpartei, verlangte für die 255 Millionen Hindus völlige Selbständigkeit und eine zentrale Regierung für ganz Indien, in der die Hindus die Mehrheit hätten. Mohammed Ali Jinnah, der sich 1921 von Gandhi und der Kongreßpartei getrennt hatte, forderte für die 92 Millionen Moslems einen besonderen Moslemstaat Pakistan. Und Mohammed Hamid-UIlah Khan Bahadur, Fürst von Ghopal, vertrat den Gedanken einer Zusammenfassung der indischen Fürstentümer zu einem dritten indischen Staate mit Namen Radschistan. Aber sein Plan scheiterte an der Unentschlossenheit der übrigen Fürsten, und der Nabob legte mit der ihm eigenen Konsequenz seinen Vorsitz bei der Fürstenkammer nieder. Indien war und blieb clas L\»nd der Gegensätze und der ungeheupin-Vv'idersjjirüehe. Von neuem flammten überall Unruhen auf. Da war es wieder Mahatma Gandhi, der beschwichtigend und zuredend durch die Aufstandsgebiete reiste. Daneben hatte er lange Unterredungen mit dem Vizekönig. Mahatma Gandhi war der einzige, der in dieser Stunde noch nicht an eine Teilung Indiens in einen hinduistischen und einen mohammedanischen Staat, in Hindustan und Pakistan, glaubte. Doch selbst Pandit N e h m sah die Aufrechterhaltung des Friedens in Indien einzig und allein in dieser Teilung, denn Mohammed Ali Jinnah forderte nach wie vor einen eigenen Moslemstaat Pakistan im Nordwesten und Nordosten des Landes. So hieß die Alternative: entweder Bürgerkrieg oder Teilung. Auch die Bekanntgabe des Termins für die Übergabe der englischen Verwaltung in.indische Hände brachte keine Entspannung der Lage. Im Gegenteil, der Bruderkrieg, der in den letzten Monaten Tausende von unschuldigen Menschenleben gekostet hatte, forderte täglich neue Opfer. So kam der 15. August 1947, der Tag der indischen Freiheit, heran. Die 200jährige englische Herrschaft in Indien ging in einer Symphonie donnernder Salutschüsse, heulender Sirenen, dumpf dröhnender Tempelglocken und krachender Feuerwerkskörper zu Ende. Der Union Jack wurde von den Fahnenmasten heruntergeholt; dafür wurde in Neu-Delhi unter dem Jubel der vielhunderttausend Hindus die gelb-weiß-grüne Flagge des neuen souveränen Indiens gehißt. In dem 1200 Kilometer entfernten Karatschi ging zu gleicher 2S
Zeit die grün-weiße Flagge Pakistans mit Stern und Halbmond unter dem Beifall turbantragender Moslems hoch. „Ja hind! — Lang lebe Indien!" schallte es aus unzähligen Hindukehlen in Neu-Delhi. „Pakistan Zandabab!" riefen die Moslemscharen in Karatschi. Während Hindus und Moslems diesen Tag mit lautem Jubel feierten und die lärmenden Massen durch die festlich geschmückten Städte zogen, saß Mahatma Gandhi, der Mann, der sein ganzes Leben der Verwirklichung der indischen Freiheit geweiht hatte, allein mit wenigen Freunden im Birla-House und lauschte mit Wehmut dem fernen Festtrubel, denn seine Seele ahnte die heraufkommenden Schrecken, die aus der Teilung Indiens hervorbrechen sollten. Am 2. Oktober 1947, dem 78. Geburtstag Gandhis, erreichten die blutigen Wirren ihren Höhepunkt. Gandhis Ahnungen waren nur zu schnell Wahrheit geworden. Dabei hatten die Regierungen von Indien und Pakistan alles getan, um dieses Morden zu verhindern. Sie waren bereit gewesen, die vorhandenen Gegensätze durch den Austausch der in ihren Ländern lebenden religiösen Minderheiten auszugleichen. Doch immer von neuem brach sieh der religiöse Fanatismus Bahn. Hauptschauplatz dieser grausamen Tragödie war der Pandschab, die Nordwestprovinz. Hier wurden Flüchtlingskolonnen, die dem Terror entfliehen wollten, von wilden Horden überfallen, und Rasende beider Religionen mordeten ohne Unterschied Männer, Frauen und Kinder. Und wieder erhob Mahatma Gandhi seine beschwörende Stimme und gebot diesem entsetzlichen Morden Einhalt. Und wirklich •— wie einst in Südafrika, so ging auch jetzt in Indien das Wort von Mund zu Mund: „Gandhi ist die Wahrheit!" Das Morden im Pandschab hörte auf. Aber nun kam es in Kaschmir zu Unruhen. Unter Palmen und Hibiskusblüten bereitete sich hier der Aufstand vor. Als Hari Singh, der hinduistische M a h a r a dscha von Kaschmir, sein Land über die Köpfe seiner mohammedanischen Untertanen hinweg der Indischen Union einverleiben wollte, wurden die schwelenden Unruhen unter Führung von Mohammed Anwars zur offenen Rebellion. Wieder war es Mahatma Gandhi, der zu vermitteln versuchte. Und als alles nichts half, begann er zu fasten. Er fastete fünf Tage, dann fanden sich über hundert mohammedanische und hinduistische Politiker, die ihm schwuren, fortan unermüdlich für den Frieden und die Vereinigung beider Glaubensrichtungen und Staaten zu kämpfen. 29
Das geschah am 10. Januar 1948. . / Am 20. Januar wurde auf Gandhi ein Bombenattentat verübt. V / Am 29. Januar aber sagte der Mahatma zu seiner Enkelin: ' „Wir leben in einer seltsamen Welt. Wer weiß, wie lange ich | noch zu leben habe!" Und zu einem Freund sagte er um die gleiche Zeit: „Mach dir um mich keine Sorge! Was auch immer geschieht, i io ist es doch kein Grund zur Trauer. W e n n ich falle mit dem' tarnen Gottes auf den Lippen und Vergebung für den Attentäter im Herzen, dann wird es ein glücklicher Tod sein!" / Am 3"0. Januar 1948 wurde Mahatma Gandhi durch drei Revolverschüsse getötet. /
* Gandhi ist tot! • Diese Nachricht geht wie ein Erschrecken rings um den Erdball. Als die Todeskunde die anderen Erdteile erreicht, ist Gandhis Mörder Nathuran Vinayak Godse, Redakteur der in Poona erscheinenden radikalen Hinduzeitung „Die Nation", bereits verhaftet. Er gehört der politischen Hindu-Organisation „Mahasabha" an, die für eine kriegerische Auseinandersetzung mit dem mohammedanischen Pakistan, für die Unterdrückung der Mohammedaner in Indien und für die Wiederherstellung des Hindu-Kastenwesens in seiner strengsten Form eintritt. Aus diesen Gründen war ihnen Gandhi, der für die Verbrüderung aller Inder und die persönliche Freiheit der Parias kämpfte, im Wege. Es ist ein tragisches Geschick, daß gerade er, der sein Leben lang für die Gewaltlosigkeit eingetreten ist, der Gewalt zum Opfer fällt. So hat J- B. Shaw nur zu recht, wenn er sagt: „Dieser Mord zeigt, wie gefährlich es ist, zu gut zu sein!" Während aus allen Teilen der Welt Beileidstelegramme eintreffen, ist der im Birla-House in Neu-Delhi aufgebahrte Mahatma, der Zeit seines Lebens die Menschenliebe gepredigt hatte, Anlaß zu neuem Terror. In Bombay greift gleich nach dem Bekanntwerden des Mordes die erzürnte Menge die Wohnungen bekannter Mitglieder der politischen Hindu-Organisation „Mahasabha" an. In Kalkutta versuchen Fanatiker, das Haus des Industrieministers Phasad Mookerjee, der früher Präsident der „Mahasabha" war, zu stürmen. Und in Poona wird das Büro der Mahasabha-Zeitung „Kai" von der erzürnten Volksmenge niedergebrannt. Dann senkt sich die Nacht über Indien und gebietet dem Terror Einhalt. Die Angehörigen und Freunde Gandhis beginnen im Innern des Birla-Houses mit dem Sansaskar, der ergreifenden Totenfeier. 30
Zu dieser Stunde ist der Tote auf der Terrasse aufgebahrt. Scheinwerfer beleuchten den in weißes Linnen gehüllten Leichnam. Das Todeshaus selbst liegt in völliger Dunkelheit. Am nächsten Morgen aber öffnen sich seine Tore, um den viele Kilometer langen Trauerzug einzulassen, der dem großen Toten die letzte Ehre erweisen will. In den Straßen, die der Leichenzug passieren wird, steht eine vieltausendköpfige Menge und verharrt in ehrfürchtigem Schweigen. Als Gandhis Leichnam aus dem Birla-House getragen wird, erschallen Trompetenstöße, und zum letztenmal bricht die Menge der Gläubigen in ein brausendes „Mahatma Gandhi — ki — ja!" aus, aber es ist Wehklagen und unendliche Trauer in diesem Abschiedsruf. Unmittelbar hinter der Bahre schreitet Gandhis Sohn Devadas und zur Seite Jawaharlal Nehru. Angehörige der indischen Armee haben die Zugtiere ausgespannt und ziehen selber den Leichenwagen. Den Schluß bildet der lange Zug der Trauergemeinde. So geht es in feierlichem Schweigen durch die Straßen NeuDelhis. Blumen werden auf Gandhis Wagen geworfen, und dann bricht es nochmals wie ein schmerzlicher Aufschrei aus den abertausend Herzen der Hindus, die an den Straßen stehen: „Sieg für Mahatma Gandhi!" Dann hat der Leichenzug das Ufer des Jumma-Flusses erreicht, und die Bahre wird auf einen Holzstoß aus Sandelholz gestellt. Hoch am Himmel ziehen Flugzeuge der indischen Luftwaffe ihre Bahn, und ein Meer von Blumen rieselt auf die Verbrennungsstätte. Jawaharlal Nehru geht zur Bahre, kniet und küßt Gandhis Füße. Dann entzündet Devadas, der Sohn des Mahatma, den Holzstoß. Jäh lodern die Flammen auf; und während das laute Schluchzen der Masse in das Prasseln des Feuers tönt, versinkt der Leichnam in einer Wolke von Weihrauch und Kampfer. Als das, was sterblich an Mahatma, der großen Seele, war, zu Asche verbrannt ist, wird es dem Ganges übergeben. Und der heilige Fluß singt leise sein Trauerlied . . .
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