KLEIN E
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
U N D K U L T U R K U N D L I C HE
HEFTE
KURTVFTHAKE
FREUND...
63 downloads
965 Views
494KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEIN E
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
U N D K U L T U R K U N D L I C HE
HEFTE
KURTVFTHAKE
FREUNDSCHAFT SIEBEN BITTE MELDEN! MIT
JOHN
GLENN
VERLAG
RINGS
UM DIE
SEBASTIAN
M U U N A ü • MÜ N C HE N
ERDE
L U X
I N N S B R U C K -BASEL
Die X-Zeit läuft Die Nacht ist sternklar, der Himmel samtblau. Nirgends eine \7olke, nicht einmal ein Dunstschleier. Es herrscht Windstille bis hinauf an die Grenze zur Stratosphäre — laut Wetterbericht des Leutnants John L. Meisenheimer, des Leiters der Wetterstation von Cap Canaveral. Alles okay, denken die Männer auf dem Raketenflugplatz, der sich über die flache, mit Korallen durchsetzte, weißsandige Landzunge hinzieht. Wie ein Dreieck ragt das Kap in den Atlantik, nicht weit von dem berühmten Badestrand entfernt, zwischen Jacksonville und Miami, an der Ostküste von Florida. Noch vor kurzem wucherten hier Gras, Mangroven und Zwergpalmen in tropischer Wildnis. Jetzt beherrschen Arbeitstürme, Starttische und Betonbunker das Gelände. Es wimmelt von Menschen und Kraftwagen, die über die Zementpiste rasen. Davon ist in der Dunkelheit freilich wenig zu sehen. Montagehallen, Radar- und Funkstationen, Startkontrollbunker, die Erzeugungsanlage für den flüssigen Sauerstoff, Antennen und Kinotheodoliten 1 hat die Nacht verschluckt. Für Sekunden geistern die Lichter eines Lastautos über Betonwände und Holzgitter. Alles, was seine Scheinwerfer anstrahlen, erscheint unheimlich vergrößert. Die Schatten der Arbeitstürme gleichen einer Meute drohender Ungeheuer. Riesengestalten aus Holz und Zement säumen die Straße. Jetzt flammen die Tiefstrahler auf. Während ein Licht nach dem anderen aufblitzt, erwacht der Platz zu gespenstischem Leben. Wie ein weißer Pfeil steht die Atlas-Rakete plötzlich im Flutlicht. Hoch ragt ihr glänzender Leib aus dem Starttisch. Der rot-weißgestreifte Arbeitsturm wirkt wie ein bizarres Filigran. In der Betonpyramide des Startkontrollbunkers öffnet sich die explosionssichere Tür. Fröstelnd treten ein paar Gestalten heraus, trampeln sich etwas Wärme in den Leib und gehen zur Pvakcte hinüber. Sie klettern bis in die Höhe des Geräteraums, betreten die Arbeitsbühne, entriegeln die Patentverschlüsse und bauen die mitgebrachten Apparate ein. Es ist der 21. Februar 1962. Noch weiß niemand, ob es ein historisches Datum wird. Bisher ist der Start immer wieder im letzten Augenblick verschoben wor1 Der Theodolit ist das wichtigste Winkelmeßgerät für große Entfernungen, das hier zur Messung des Startwinkels der Rakete benutzt wird. Sein Hauptteil besteht aus einem Fernrohr mit Fadenkreuz, deesen Bild beim Kinotheodoliten auf Filmstreifen festgehalten wird. 2
den. Mal war es ein Defekt an der Rakete, mal die schlechte Wetterlage, die bewirkte, daß die ,Operation Merkur' nicht stattfand. Die ,Operation Merkur' verfolgt ein dreifaches Ziel: Erstens soll eine bemannte Raumkapsel in eine Satellitenbahn um die Erde gebracht werden. Zweitens will man erforschen, wie sich ein Mensch in einem Raumschiff, in einer bisher nur wenig erforschten Umgebung zurechtfindet. Drittens sollen Kapsel und Insasse erfolgreich geborgen werden, das heißt, der Mann muß es überleben. Aus dem Platzlautsprecher dröhnt eine Stimme: „Startzeit 9 Uhr 45 morgens. Es ist X minus 360 Minuten. Zeit läuft!"
Ein Roboter erwacht Von den Arbeitsbühnen, wo Techniker und Wissenschaftler die allerletzten Prüfungen vornehmen, führen Telefonkabel bis in den Startkontrollbunker. In der Tiefe dieser Kommandostelle können Uhren, Manometer und Oszillographenschreiber — alle Instrumente, die sich in der Rakete befinden — direkt abgelesen werden. Gleichzeitig werden alle ermittelten Werte automatisch in den Zeitgenerator geleitet. Sein Elektronengehirn ist vorher mit dem genauen Zeitplan gefüttert worden, so daß es erfaßt, welche Werte jedes der abertausend Instrumente in jeder Sekunde der X-Zeit anzeigen muß. Solange alles nach Plan geht, leuchtet eine grüne Lampe. Rotes Licht flammt auf, sobald irgendwo in dem metallenen Organismus ein Zeiger nachhinkt. Immer mehr Männer füllen den Bunker: Soldaten und Zivilisten, die jetzt alle ganz bestimmte, vorher genau festgelegte Aufgaben zu erfüllen haben. Sie sitzen an Kontrollpulten und überwachen auf farbigen Fernsehschirmen, was draußen, auf dem Startplatz und auf den Arbeitsbühnen, geschieht. Sie telefonieren, geben Anweisungen, nehmen Meldungen auf und notieren Meßwerte. Elektrische und hydraulische Leitungen werden überprüft, Sender und Empfänger abgehört, Druck, Temperatur und Spannung gemessen. Immer mehr Stimmen schwirren durcheinander: „Hallo, Bill . . . Habe verstanden! Turbopumpen arbeiten einwandfrei!" „Okay, B o b . . . Kein Kurzschluß! Keine schadhafte Isolation!" Raketen sind Roboter, die durch Spulen, Widerstände, Röhren und Transistoren zum Leben erwachen. Motoren, Kreisel und Funk3
gerate sind die Sinnesorgane, elektrische Leitungen ihre Nervenstränge. Kommt es zum Kurzschluß, wird der Roboter verrückt. Das gleiche geschieht, wenn ein Kreisel ausfällt, eine Turbopumpe versagt, der Druck in einem Röhrensystem zu groß wird oder die explosive Treibstoffladung sich vorzeitig entzündet. Das alles haben die Männer von Cap Canaveral schon erlebt. Sie wissen von Starts, bei denen sich die Rakete, statt senkrecht emporzusteigen, sanft auf die Seite legte und horizontal über den Erdboden donnerte. Dann bleibt nur der Notbrennschluß, das heißt, die Rakete muß gesprengt werden, genauer gesagt: Die Pulverladung, die um die Treibstoffleitung der Rakete gelegt ist, wird durch ein Funkkommando der C-Station zur Explosion gebracht. Für den Mann in der Raumkapsel bedeutet das eine zusätzliche Gefahr. Im Falle eines Notbrennschlusses muß er vorher die Rettungsrakete zünden, die die Raumkapsel von dem übrigen Raketenkörper löst und in eine Höhe von 800 Metern befördert. Von dort bringt ein Fallschirm die Kabine zur Erde zurück. Vorausgesetzt, daß sich der Fallschirm öffnet. Das ist bei einer so geringen Höhe keineswegs sicher. Aber auch bei geöffnetem Fallschirm ist der Aufprall auf den Boden nicht ungefährlich. Lebensentscheidend für den Weltraumfahrer aber wird es sein, daß er im Augenblick des Starts das Lichtsignal erkennt und auf den Knopf für die Rettungsrakete drückt. Nicht nur der Astronaut, auch die Männer im Bunker sind auf diesen Tag vorbereitet. Sie tun das alles nicht zum erstenmal, sie haben es schon hundertmal gemacht, und sie verstehen ihre Sache. Mit aufgesetzten Kopfhörern, das Kehlkopfmikrophon vor der Brust, den X-Zeitplan in der Hand, geht Robert Moser, der Chef der Startmannschaft, aufgeregt im Bunker auf und ab. Drf Kurt Debus, der Leiter des Missile Firing Laboratory in der ABMA, zündet sich eine Beruhigungszigarette an. Ab und zu wirft er einen Blick auf die Kontrollampe. Es ist noch immer grünes Licht! Krafft A. Ehficke, der Chefkonstrukteur von Convair Astronautics der General Dynamics Corporation, der maßgeblich an der Entwicklung der Atlas-Rakete beteiligt ist, unterhält sich leise mit seinen Mitarbeitern. Das Summen der Stimmen vermischt sich mit dem rhythmischen Ticken der Meßgeräte. Jeder der Männer spürt seine Verantwortung, je weiter die Zeit fortschreitet. 4
Die Betonpyramide des Kontrollbunkers bietet dem Bodenpersonal sicheren Schutz. Und auf einmal rotes Licht! „Zeit steht!" tönt es aus dem Platzlautsprecher. Das bedeutet stop mitten im Zeitplan. Draußen, auf der Abschußrampe, schiebt Master-Sergeant Lipgcns seinen Aluminiumhelm in den Nacken. Er blickt nachdenklich an der Rakete empor: „Nanu? Der Vogel wird doch nicht rot werden?" Dr. Debus und seine Assistenten suchen fieberhaft nach der Fehlerquelle. Sie wirken wie Zwerge neben dem metallenen Riesen. Aber nach zehn Minuten haben sie den Grund der Störung entdeckt. Wieder leuchtet überall grünes Licht. Die Bildschirme schimmern orangen. Merkwürdige, bizarre Linien huschen über den Kathodenstrahl-Oszillographen 1 . Die Männer im Bunker atmen auf. „Zeit läuft!" verkündet der Platzlautsprecher. „Es ist X minus 240 Minuten!" 1 Oszillograph (Schwingungsschreiber) ist ein elektrisches Meßgerät zum Sichtbarmachen und Aufzeichnen schneller elektrischer Schwingungsvorgänge. Beim Kathodenstrahl-Oszillographen werden die Elektronenstrahlen einer Braunschen Röhre mit einer Linsenelektrode auf dem Leuchtschirm punktförmig abgebildet.
5
Die Spannung wächst Über den betonierten Startplatz rollen Tankwagen mit Kerosin' und flüssigem Sauerstoff2. Dampf wallt von den riesigen Kesseln und legt sich wie ein Schleier um das Licht der Scheinwerfer. Männer in weißen Plastikanzügen, mit Gummihandschuhen und Helmen aus Plexiglas, pumpen den Treibstoff in die Tanks der Atlas-Rakete. Sie geistern wie Schemen durch die Dampfwolken, die sie einhüllen. Durch die dicken grünen Sehschlitze des Startkontrollbunkers wirkt es wie eine gespenstische Pantomime. In dem Raum herrscht atemlose Stille. Verstummt ist die Stimme des Testleiters, der aus einer Liste alle Bauelemente der Rakete vorgelesen hat. Verstummt sind die Männer, die die 36 000 Einzelteile der Atlas überprüft haben. Robert Moser raucht eine Beruhigungszigarette. Mitten in die Stille dröhnt wieder der Lautsprecher: „Zeit steht!" Draußen, an der Rakete, tropft Kerosin herab. Die Männer vom Missile Firing Laboratory gehen auf die Fehlersuche. „Kein Leck!" meldet Dr. Debus. „Nur ein Überschuß vom Betanken!" Die Zeit läuft wieder. Techniker McNabb hat seinen grünen Sicherheitshelm heruntergenommen, auf dessen Wölbung alle Raketen aufgemalt sind, die er starten sah — je nach ihrem Erfolg mit einem Feuerschein oder von einer Rauchwolke umgeben. „Hier kommt die Atlas hin!" erklärt er und deutet auf die oberste Helmkuppe, wo noch ein Fleckchen frei ist. „Fragt sich nur, ob mit einem Feuerschein oder einer Rauchwolke." „Was meint ihr — wird der Vogel rot oder grün?" Joe Miller empfängt für seine mißliche Frage nur vorwurfsvolle Blicke. Aber er kümmert sich nicht um den Ärger der Kameraden und sieht fragend in die Runde: „Wollen wir wetten?" „Beschrei es .nicht, Joe!" Ingenieur Johnson macht ein verdrieß1 Die im Erdöl enthaltenen Leuchtölanteile, die bei Normaldruck zwischen 200 und 275 Grad Celsius sieden. Zusammen mit flüssigem Sauerstoff bilden sie den Treibstoff der Atlas-Rakete. 8 Der flüssige, auf 183 Grad Celsius abgekühlte Sauerstoff unterscheidet sich wesentlich von dem Sauerstoff, den wir atmen. Er verbrennt die Haut, zerstört viele Metalle und verdunstet so rasch, daß man ihn erst kurz vor dem Start einfüllen kann.
6
liches Gesicht. Wie viele Männer in Cap Canaveral ist er ein wenig abergläubisch. „Wüßte nicht, was schiefgehen könnte!" Joe Miller lächelt unschuldig. „Du hast doch deinen Cowboy-Anzug an, Bill!" Bill Johnson glaubt, daß ein Raketenstart nur gelingt, wenn er seinen Cowboy-Anzug trägt. Das ist seine feste Überzeugung seit dem ersten Start, damals in White Sands in der neumexikanischen Wüste. „Nanu?" wundert sich McNabb. „Donald hat heute noch gar keine Orangen verteilt?" Auch die Beruhigungsorangen gehören zum Zeremoniell. „Noch 'ne Menge Zeit dazu!" sagt Bill Johnson. „Noch fast genau eine Stunde bis zum Start!" Die Männer starren auf die Kontrolluhren, deren Sekundenzeiger zitternd weiterspringen. Die Spannung wächst von Sekunde zu Sekunde...
Die letzten Minuten Oberstleutnant John Herschel Glenn, der Mann, der in wenigen Minuten in den Weltraum fliegen wird, befindet sich bereits in der druckfest verriegelten Raumkapsel „Freundschaft 7". Er liegt auf einer Couch aus Fiberglas, die man nach seinen Körperformen schmiegsam gerundet hat. Glenn trägt einen Druckanzug aus hellem, silberglänzendem Kunststoff. Den Kopf schützt ein Aluminiumhelm. Das Visier ist aus Plexiglas. Er atmet ein Gemisch aus Sauerstoff und Helium. Dafür sorgen nicht nur die Sauerstofftanks, sondern auch die Chlorella-Algen 1 , die in der Raumkapsel verteilt sind. Aus dem Kopfhörer in seinem Helm tönt die Stimme von Donald Kent Slayton: „Hallo, Raumkapsel .. . Hallo, John . . . " „Hier Raumkapsel .Freundschaft 7!' " meldet sich Glenn. „Hier Zentrale!" antwortet der Kopfhörer. „Wie ist die Verständigung?" „Ausgezeichnet!" sagt Glenn. „Alles in bester Ordnung!" 1 Die Chlorella-Alge nimmt das vom Menschen ausgeatmete Kohlendioxyd auf. Sie verarbeitet den im COs enthaltenen Kohlenstoff zu Stärke. Dabei werden die zwei Teile Sauerstoff frei. In einer Stunde produziert eine Chlorella-Alge 50mal soviel Sauerstoff wie sie selbst wiegt. 2,5 Kilogramm Chlorella-Algen reichen aus, um einen Menschen mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff zu versorgen.
7
Auf dem Armaturenbrett aus Schaumgummi flammen Lampen auf. Zeiger zucken über Zifferblätter, Quecksilbersäulen steigen an Meßzahlen entlang. Jeder seiner Herzschläge, jedes Kubikmeter Sauerstoff, das er einatmet, jedes Molekül Kohlendioxyd, das seinen Körper verläßt, sein Atemtempo, seine Schweißabsonderung, die Temperatur an den Handgelenken und an der Stirn — alles wird von den elektronischen Instrumenten gemessen und in den Kontrollraum gemeldet. Auch daran hat sich John Herschel Glenn gewöhnt. Er befindet sich nicht zum erstenmal in dieser Kabine; er kennt sich darin aus wie in der Küche daheim. Jedes Instrument auf dem Armaturenbrett ist ihm vertraut. Ohne nachzudenken greift er jeden Hebel — auch im Dunkeln. Was er bei Meteoriteneinschlägen tun muß, wie man Filter auswechselt und Ventilatorschäden beseitigt — all das hat er bereits auf der Erde durchexerziert. Denn niemand wird ihm helfen in der druckfest verriegelten Raumkapsel, in dieser kegelstumpfförmigen Kabine von 2,80 Meter Höhe und einer Grundfläche von 1,85 Meter Durchmesser, die innen und außen mit einem 0,3 Millimeter starken Blech aus Titan verkleidet ist. Die Außenfläche ist gewellt, um die Stabilität zu erhöhen. John Herschel Glenn beobachtet Druckmesser, Zeiger und Zifferblätter. Er mißt Temperatur, Feuchtigkeit und den Kohlendioxydgehalt der Luft. Dank der Klimaanlage beträgt die Temperatur in der Kabine 22 Grad. Die Luftfeuchtigkeit ist minimal, der Kohlendioxydgehalt gleich null. Aus dem Kopfhörer tönt die Stimme von Robert Moser: „Es ist X minus dreißig Minuten!" John Herschel Glenn steht an der Schwelle zu dem großen Raumabenteuer. Er starrt auf das grüne Licht vor seinen Augen . ..
X minus Null „Hallo ,Freundschaft T ... Hallo, John .. .", ruft Donald Kent Slayton in das Sprechfunkgerät, das ihn mit der Raumkapsel verbindet. „Achtung! Generalprobe!" Slayton sitzt an einem der sechs Kontrollpulte in der Zentrale. Zusammen mit seinen Kameraden hat er die gleiche Ausbildung wie John Herschel Glenn erhalten. Er wäre an Glenns Stelle ins All gestartet — wenn das Los ihn dazu bestimmt hätte. 8
Jetzt ist er für die Funkverbindung mit der Raumkapsel und für die Navigation verantwortlich. „Steuerkontrolle!" befiehlt er. „Hebel für Rückfeuer-Raketen auslösen .. . Sprechfunk auf Dauerfrequenz schalten... Auf Notfrequenz gehen . . ." Noch einmal werden alle Handgriffe geübt, die allerletzten -Kontrollen vorgenommen. Walter Marty Schirra läßt keinen Blick von den Meßgeräten, die Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Kohlendioxydgehalt in der Raumkapsel anzeigen. Zusammen mit Scott Carpenter, der Glenn drei Monate später in den Weltraum folgen wird, ist er für die UmweltKontrolle verantwortlich. Leroy Gordon Cooper beobachtet, was mit der Rakete geschieht; er wird den Astronauten rechtzeitig warnen, falls beim Start etwas nicht klappt. Draußen hüllen weiße Dampf wölken die Atlas ein: Flüssiger Sauerstoff entweicht durch die Überdruckventile. „Auffüllen!" kommandiert Moser. Dann ruft er die einzelnen Stationen an. Alles klar!
9
Der Montageraum rollt auf Schienen zur Seite. Die Rakete ist auf sich allein angewiesen. Die letzten Arbeiter räumen die Abschußrampe. Rund um den Flugplatz steigen orangerote Warnballons empor. Sirenen heulen auf. Die Männer vom Fernsehen, die den Start unmittelbar — life — auf die Bildschirme übertragen, prüfen noch einmal ihre Kameraeinstellungen. Noch fünf Minuten bis zum Start! Im Bunker werden die Lichter dunkler, damit die Männer besser beobachten können, was draußen geschieht. X minus 5 Minuten: Das Doppler-Funkgerät für die Geschwindigkeitsmessung wird in Betrieb gesetzt, aber die elektrische Kraft wird noch immer von außen durch ein Kabel zu der Rakete geleitet. X minus 4 Minuten: Ströme von Kühlwasser ergießen sich über die metallenen „Ofenschirme", die die Rakete vor der Hitze der Abgase schützen sollen. X minus 3 Minuten: Das Doppler-Funkgerät wird auf die elektrischen Batterien in der Rakete umgeschaltet, der Notbrennschlußempfänger ist angeschlossen. X minus 2 Minuten: Auch das letzte menschliche Wesen ist aus der Umgebung der Rakete verschwunden und irgendwo in Deckung gegangen. X minus 1 Minute: Der Testleiter drückt den schwarzen Knopf. Das ist sein letzter Handgriff. Von nun an laufen alle weiteren Startmanöver automatisch ab. Nur für den Fall, daß etwas schiefgeht, bleibt der rote Knopf, der alle Aggregate der Rakete stilllegt. Grünes Licht! Noch immer! Im Bunker könnte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so still ist es. Robert Moser zählt die letzte Minute aus: „Noch zehn Sekunden . . . neun . . . acht. .. sieben . . . sechs . . . fünf . . . vier . . . drei . . . zwo . . . eins . .. null . , , " Ein 'Zittern läuft durch den Raketenleib. Ein Grollen, dann ein Erdbebendonnern. „Zündung!" kommandiert Moser. Das Heck der Rakete ist plötzlich in eine Dampfwolke gehüllt. Ein Flammenstrah! schlägt aus dem Düsenmaul, wächst zum orangefarbenen Feuerball, wird riesengroß und strahlend weiß. Der Treibstoff hat gezündet, die Motoren beginnen zu arbeiten. 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.07 08:31:49 +01'00'
Aber noch halten stählerne Arme den Koloß am Boden fest, bis die Energien auf „Volldampf" sind. Es ist das Spiel einiger Sekunden. „Start!" befiehlt Moser. Langsam hebt sich der Riese vom Starttisch. Für einen Augenblick scheint er bewegungslos in der Luft zu schweben. Dann reißt eine gewaltige Kraft die Rakete nach oben. In eine gelbe Flammensäule gehüllt, steigt sie fast senkrecht empor, wird schneller und schneller und ist nach fünfundfünfzig Sekunden den Blicken entschwunden. „Neigung 43!" atmet Moser auf. „Rakete kommt gut weg!" Im Bunker stehen die Männer vor dem Doppler-Funkgerät. Sie beobachten die Schreibfeder, die die Geschwindigkeit der Rakete auf das Diagrammpapier überträgt, und lauschen dem Tortsignal. Insgeheim zählen sie die Sekunden mit.
Aufbau einer Trägerrakete mit der Raumkapsel (Raumkabine) und der Rettungsrakete an der Spitze. 11
„Kurswechsel auf Nordost!" meldet Moser. „Höhe der Rakete neuntausend Meter. Entfernung von der Erde acht Kilometer!" Plötzlich ist das Tonsignal weg. Das ist meist der Anfang vom Ende. Durch den Bunker geht ein bestürztes Raunen. „Sieht schlecht aus!" sagt Techniker McNabb. Master-Sergeant Lipgens greift zum.Telefon, das mit der Zentrale verbindet. „Hallo .. .", schreit er in den Apparat. „Haben das Signal verloren'"
Start ins All John Herschel Glenn hat der zählenden Stimme im Kopfhörer gelauscht: „Noch zehn Sekunden . . . neun . .. acht.. . sieben . . ." Sein Körper ist leicht nach vorn geneigt, die Beine sind angewinkelt, die Oberschenkel liegen parallel, die Unterschenkel quer zur Beschleunigungsrichtung. Seine Hand umklammert den Druckknopf, der die Rettungsrakete auslöst — den Angsthebel, wie ihn die Astronauten nennen. Seine Augen sind starr auf das grüne Licht gerichtet. Er spürt, wie die Rakete zündet, wie die gewaltigen Kräfte unter ihm wach werden. Ein Donnerschlag läßt die Kabine erzittern, wie unter den Schlägen eines riesigen Preßlufthammers. Dann spürt er die grausige Gewalt der Beschleunigung. Sie drückt ihn in seinen Sitz, sie legt sich wie ein Alpdruck auf seine Brust, sie nimmt ihm den Atem und treibt ihm das Blut aus dem Gehirn. Das Bild vor seinen Augen verschwimmt. Das grüne Licht versinkt hinter einem grauen Schleier. Unter dem Druck der glühenden Gase steigert sich die Geschwindigkeit von Sekunde zu Sekunde. Die Beschleunigung wird fast unerträglich. Sie zerpflügt ihm das Gesicht, sie zieht seine Wangen nach den Ohren, reißt an den Mundwinkeln, verzerrt seine Lippen. Er sieht weder Zeiger noch Zifferblätter. Er würde sie auch nicht sehen,' wenn sie groß wie Turmuhren wären. Die Optik seiner Augen ist verstellt, seine Lider sind zu verkrampften Spalten zusammengezogen. Er ist an seinen Liegesitz gebannt wie ein Gelähmter. Er spürt einen stechenden Schmerz in der Brust. Sein Pulsschlag hat sich verdoppelt. Der Atem geht schwer und keuchend. Er sitzt in einem ins All jagenden Teufelsgefährt, dessen Geschwindigkeit stetig zunimmt. 12
In seinem Kopfhörer dröhnt die Stimme Mosers: „Es ist X plus hundertzwanzig Sekunden .. . Höhe fünfzig Kilometer!" John Herschel Glenn atmet auf. Er befindet sich bereits über dem Atlantik, jetzt würde die Kapsel auf dem Wasser landen — wenn er auf den Angsthebel drückte. Mitten in seine wieder klar gewordene Überlegung dröhnt erneut die Stimme von Cap Canaveral: „Es ist X plus hundertachtzig Sekunden!" Seit dem Start sind also genau drei Minuten vergangen. Die Weltraumkapsel hat eine Höhe von 80 Kilometern erreicht. Plötzlich herrscht Stille. Kein Schwanken mehr, kein Zittern, nichts! „Erste Stufe — weg!" meldet Moser. Jetzt ist John Herschel Glenn zum erstenmal schwerelos. Allerdings nur so lange, bis die zweite Stufe der Rakete zündet. Er zählt in Gedanken die Sekunden mit. Dann trifft ihn ein Schlag wie von einer Riesenfaust...
Die zweite Stufe „Signal bei uns gut hörbar!" erklärt Alan Bartlett Shepard am Telefon in der Zentrale. Helle Pfeiftöne erfüllen den Raum. An den Kontrollpulten glühen Lampen auf. Bildschirme schimmern in grünlich fluoreszierendem Licht. Morseapparate summen. Die elektronischen Rechenmaschinen ticken. Unaufhörlich werden Meßwerte verarbeitet, sie kommen von den Beobachtungsstationen, die draußen auf Dächer und Betonsockel montiert sind. Wie Karussells drehen sich die parabolspiegelförmigen und spiralartigen Sende- und Empfangsantennen. Bündel von Dipolstäben, Kinotheodolite und Teleskope sind auf die Rakete gerichtet, Radarstrahlen zucken ins All. Radargeräte sind Scheinwerfer, die unsichtbare elektromagnetische Strahlen auf ein Ziel werfen und die zurückgespiegelte Energie wieder aufnehmen. Diese Rückstrahlung ist bei hundert und mehr Kilometern Entfernung relativ gering, so daß die Rakete mit einem Antwortsender ausgerüstet ist, der bei jedem eintreffenden Radarstrahl seinerseits einen Funkimpuls ausstrahlt. Aus der Kombination dieser Messungen kann man die Position 13
der Rakete in jedem Augenblick genau berechnen. Höhe und Entfernung lassen sich laufend auf dem Meßstreifen der elektronischen Rechenmaschine ablesen. Der Geschwindigkeitsmesser arbeitet nach dem Doppler-Effekt; das heißt nach der Erkenntnis, daß Schallwellen ihre Wellenlänge verändern, wenn sich das Geräusch von uns entfernt. Dasselbe gilt auch für Licht- und Funkwellen. Während des ganzen Fluges schickt ein Sender in der Rakete Funkstrahlen zur Erde, deren Wellenlänge im gleichen Maße zunimmt, wie sich die Rakete entfernt. Durch ein System verschiedener, genau aufeinander abgestimmte; Antennen werden diese Funkstrahlen aufgefangen und auf den Oszillographen übertragen, der die Geschwindigkeit durch eine Schreibfeder auf dem Diagrammpapier registriert. Donald Kent Slayton blickt beharrlich auf die geometrischen Linien des Meßstreifens. Scott Carpenter läßt keinen Blick von dem Blutdruckmesser. John Herschel Glenn lebt, solange der Zeiger ausschlägt. Der Pulsschlag hat sich verdoppelt. Das Herz arbeitet unregelmäßig. Viel zu früh pumpen die Muskeln das Blut aus den Kammern. Ihm ist, als hörte er Glenns keuchenden Atem. Aber kein Laut kommt aus dem Sprechfunk. Nur die Meßgeräte ticken. „Zweite Stufe gezündet!" meldet Robert Moser. Drei bange Minuten folgen. Die Rakete steigt bis in eine Höhe von 160 Kilometern. Seit dem Start sind 360 Sekunden vergangen. „Zweite Stufe — weg!" verkündet Moser. Die Rakete hat ihre Gipfelhöhe erreicht! Im Bunker fallen sich die Männer in die Arme, wünschen sich Glück, schlagen sich lachend auf die Schultern und machen das V-Zeichen. Das heißt Victory! Sieg! „Hallo, Raumkapsel.. .", schreit Donald Kent Slayton in das Sprechfunkgerät. „ .Freundschaft 7', bitte melden . . ." „Hier .Freundschaft 7 ! ' " tönt es klar und deutlich aus dem Lautsprecher. Kaum zu glauben, daß diese Stimme aus dem Weltall kommt. „Achtung! Lageänderung!" befiehlt Slayton.
14
Entscheidende Sekunden John Herschel Glenn ist schwerelos! Plötzlich gibt es kein Oben und kein Unten mehr. Der übermenschliche Druck ist gewichen. Ihm ist, als stürze er in einen gähnenden Abgrund. Seine Gleichgewichtsorgane versagen. Die Sinneshärchen in seinem Gehörgang sind ausgeschaltet. Er weiß nicht, ob er aufrecht oder auf dem Kopf steht. Er glaubt zu ersticken. Angst überfällt ihn, daß er bereits zuviel Zeit verloren hat. Sein Blick irrt zum Chronometer. Seit dem Kommando von Slayton sind genau zehn Sekunden vergangen. Ihm erscheint es wie eine Ewigkeit. Jede Sekunde ist jetzt wichtig. Für John Herschel Glenn beginnt eines der schwierigsten Steuermanöver. Er muß die Raumkapsel so drehen, daß die breite Grundfläche in Flugrichtung zeigt. Das geschieht durch kleine, rund um die Außenhaut verteilte Düsen, die Wasserstoff-Superoxyd abblasen, sobald der Steuerhebel bewegt wird. John Herschel Glenn hat dieses Manöver auf dem Satellitentrainer geübt; nicht einmal, sondern hundertmal, zuletzt mit verbundenen Augen. Um die Raumkapsel in eine Kreisbahn zu lenken, sind Richtungskorrekturen in allen drei Freiheitsgraden 1 nötig. Es ist ein Balanceakt, der einem Artisten Ehre machen würde. John Herschel Glenn tastet nach dem Steuerhebel. Bereits der geringste Anstoß genügt, um die gewichtslose Kapsel um eine ihrer drei Achsen zu drehen, je nachdem, welche Düse er auslöst. Die Kabine schwankt. Sie schlingert wie ein Schiff im Sturm und dreht sich wie ein Kreisel. Sie scheint überhaupt nicht mehr stillstehen zu wollen. Plötzlich spürt er sein Gleichgewicht wieder 2 . Die Sinneshärchen in seinem Gehörgang sind doppelt so empfindlich, die Reize, die sie an das Gehirn leiten, doppelt so stark, alle 1 Jede der unabhängigen Koordinaten, durch die die Lage eines physikalischen Systems festgelegt wird. Ein Massenpunkt hat 3 Translations-Freiheitsgrade, d. h. die drei unabhängigen Raumrichtungen, in2 denen er verschoben werden kann. In dem Augenblick, wo die Kaumkapsel die Lage, in der sie in den gewichtlosen Zustand eingetreten ist, verändert.
15
Start der Rakete, Abtrennung der Raumkapsel und Phasen der Rückkehr. Reaktionen der Organe übertrieben, sobald sich die Raumkapsel zu drehen beginnt. John Herschel Glenn keucht. Sein Herz klopft zum Zerspringen. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Seine Hände werden feucht. Es flimmert ihm vor den Augen. Er weiß, daß er sich jetzt nicht irren darf. Der neue Kurs muß stimmen, bis auf ein Grad genau sein — wenn er die Erde wieder lebend erreichen will. Endlich hat er es geschafft! Jetzt braucht er nur noch die Geschwindigkeit zu erhöhen, damit die Raumkapsel auf ihrer Kreisbahn bleibt. Auf einmal spürt er wieder die Angst, daß schon viel zuviel Zeit vergangen sein könnte. Wieder ein besorgter Blick auf das Chronometer! Kaum zu glauben, aber das ganze Steuermanövef hat nicht länger als eine Minute gedauert. 17
John Herschel Glenn zögert einen Moment, dann drückt er auf den Knopf, der die Beschleunigungsraketen zündet. Er spürt nichts von der gewaltigen Beschleunigung. Nur die Meßinstrumente verraten ihm, daß die Geschwindigkeit stetig wächst. Seine Augen bleiben auf das Tachometer gerichtet. Die Beschleunigungsraketen brennen genau 15 Sekunden, dann ist die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 27 300 Kilometern in der Stunde erreicht. John Herschel Glenn drückt auf die Taste seines Sprechfunkgerätes. Er meldet: „Positionsänderung durchgeführt!" „Gratuliere!" sagt die Stimme in seinem Kopfhörer. Es ist 9 Uhr 55. Die Raumkapsel bewegt sich auf einer Kreisbahn, die den Äquator in einem Winkel von 30 Grad schneidet. Ihr südlichster Punkt ist Pcrth an der Westküste von Australien, ihr nördlichster sind die Bermuda-Inseln . . .
Funkspruch aus dem All Wie Augen starren die riesigen Schüssclantennen des Beobachtungsschiffes in den Himmel. Laut Logbuch befindet sich die „American Mariner" seit 24 Stunden auf dem befohlenen Standort. Position: 23,4 Grad nördliche Breite, 78,1 Grad westliche Länge. Sie ist eine der schwimmenden Meßstationen, die die Funksignale der Raumkapsel auffangen und direkt nach Washington an die elektronische Großrechenanlage weiterleiten. Um 9 Uhr 59 werden die Oszillographen lebendig. Grüne Blitze zucken über die Bildschirme, bizarre Kurven und Zickzacklinien jagen einander. Ein heller Pfeifton dringt durch den Meßrauin, das Zeichen, daß sich die Raumkapsel direkt über dem Schiff befindet. In der Funkstation drückt Terry Wood auf die Taste des Sprechfunkgerätes: „Hier Beobachtungsschiff ,American Mariner'.. . Wir haben Ihre Signale gut empfangen . . ." Nach vierzehn Sekunden ist alles vorbei. „Toll, was?" Terry Wood blickt über die Schulter in den Meßraum. „Prima!" lacht Alessandro Urbano. „Ein großer Erfolg!" Trotz der amerikanischen Staatsbürgerschaft kann er seine italienische Ab18
stammung nicht verleugnen. Seine Zähne leuchten wie auf eine Zahnpasta-Plakat. Er steht auf und stellt sich in die Tür zur Funkbude. Er sieht den Funker fragend an: „Bist du sicher, daß der Mann in der Raumkapsel lebt?" . „Du kannst dich gleich selber davon überzeugen!" erklärt der Funker. „Sein erster Funkspruch ist jetzt fällig!" Terry Wood schaltet das Sprechfunkgerät auf den Läutsprecher. Dann hören sie die Stimme von Glenn: „10 Uhr Bordzeit: Unter mir liegt A f r i k a . . . Ich sehe das Relief der südlichen Sahara . . . Ich sehe den Urwaldstreifen des Kongo . . . Aber es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe. .. Vielleicht läßt es sich am besten mit dem Wort .verwaschen' beschreiben . .. Ja, es ist, als ob alle Farbe herausgewaschen wäre . . . Kaum etwas zu erkennen . . . außer Seen und Flüssen . .. Die sind sehr deutlich . . . Jetzt taucht bereits der Indische Ozean am Horizont auf . . . ein dunkler, schwarzblauer See . . ." Die Stimme im Lautsprecher verstummt. Terry Wood schaltet das Funkgerät aus. Dann dreht er sich zu dem Italiener um. „He .. . Alessandro! Was sagst du jetzt?" „O mama mia!" stöhnt Alessandro Urbano. „Du hast recht! Der Mann lebt!"
Auf See Alarm . Auf dem Flugzeugträger „Randolph" heulen die Sirenen. Die Alarmklingeln schrillen über sämtliche Decks. „Alarm!" schreit der Wachoffizier in das Mikrophon der. Lautsprecheranlage. „Klar Schiff zum Gefecht! Alle Mann auf Station! Pfeifen und Lunten aus! Alle Boote klar zum Ablegen! Klar zum Ankerhieven!" Das Schiff gleicht einem aufgeschreckten Ameisenhaufen. Offiziere, Matrosen und Flieger rennen nach oben, unten, nach vorn, achtern, Backbord und Steuerbord. Auf der Brücke schrillen die Telefone. Immer mehr Klarmeldungen laufen ein. Nicht nur von den Gefechtsstationen der „Randolph", auch von den Kreuzern, die zu dem Flottenverband „zb V I " gehören. Der Kommandant begibt sich auf die Brücke. „Schiff klar zum Gefecht!" meldet der Offizier vom Brückendienst. 19
„Danke!" Der Kapitän legt grüßend die Hand an die Mütze. Dann tritt er vor das Mikrophon der Lautsprecheranlage. „Kommandant an alle . . .", verkündet er. „Um 9 Uhr 47 wurde von Cap Canaveral der erste bemannte Satellit ins Weltall geschossen. Wir haben die Aufgabe, die Raumkapsel aus dem Meer ZU bergen!" —
Über dem Pazifik John Herschel Glenn blickt durch das Periskop. „10 Uhr 30 Bordzeit", meldet er nach unten. „Ich befinde mich über Australien. . . Ich sehe, wie sich die Nacht über eine unendliche Einöde s e n k t . . . War der kürzeste Tag, den ich erlebt habe . .. Ich sehe S t e r n e . . . lauter Sterne . . . Sie sind von unwahrscheinlicher K l a r h e i t . . . Sie flackern und zittern n i c h t . . . Sie stehen regungslos am Firmament. . . groß . . . leuchtend . .. unerhört schön . . ." Das Periskop hat einen Blickwinkel von 190 Grad 1 . Das heißt, Glenn kann einen Ausschnitt von 3000 Kilometer Durchmesser überblicken. Der Horizont ist deutlich gekrümmt. Er sieht, wie sich die Erde unter ihm dreht. Ihm ist, als stünde er still in der Luft — obgleich er sich mit fünfundzwanzigfacher Schallgeschwindigkeit bewegt. Jetzt befindet er sich bereits 45 Minuten im All. Erst 45 Minuten! denkt er. Die Sekunden werden zu Ewigkeiten. Nichts unterbricht die beklemmende Stille. Plötzlich hört er eine Stimme, die Stimme von Leroy Gordon Cooper: „Hallo . . . ,Freundschaft 7' . . . LIallo, John . . ." „Hier ,Freundschaft 7' . . ." meldet sich Glenn. „Verstehe Sie laut und deutlich." „Okay, John! Hören sich gut an!" „Alle Systeme noch in Ordnung, habe nicht die geringsten Schwierigkeiten. Kontrollgeräte arbeiten gut!" meldet der Astronaut. „Hätten Sie irgendwelche Erdbeobachtungen?" fragt die Stimme von der Erde. „Das einzig Ungewöhnliche, das ich gesehen habe, war etwas, das aussah wie eine Nebeldecke", berichtet Glenn. „Sie lag ziemlich 1 Wenn Glenn sich beispielsweise über Berlin befände, würde er im Westen die Biskaya, im Osten die Ukraine, im Norden die norwegische Küste bis zum Polarkreis und im Süden das Mittelmeer bis zur Südspitze Sardiniens sehen. 20
hoch, in etwa sieben bis acht Grad über dem Horizont auf der Nachtseite. Ich konnte durch diese Decke die Sterne am Horizont hinuntersinken sehen." „Sonst keine Beobachtungen?" „Hinter Afrika hatte ich eine große Wolkendecke. Sie ist jetzt beträchtlich dünner geworden, obwohl ich nichts eindeutig erkerinen kann. Hier ist jetzt viel Mondlicht, das von den Wolken reflektiert wird .. ." „Vielleicht können Sie in Kürze ein paar Lichter erkennen? Auf der rechten Seite!"
Die westafrikanische Küste und ein Teil des Atlantik, aus 260 km Höhe gesehen. 21
John Herschel Glenn öffnet den Sehschlitz. „Noch ist nichts zu sehen . ..", meldet er. „Bis auf ein paar Sternbilder. Die kann ich jetzt besser erkennen als kurz hinter Afrika!" „Eben noch über Afrika und jetzt schon über Australien!" Leroy Gordon Cooper lacht heiser auf. „Die Zeit vergeht schnell, was?" „Jetzt sehe ich etwas! Ein großes Lichtermeer . .. offenbar genau an der Küste. Und ein sehr helles Licht, genau südlich davon!" „Das sind Perth und Rockongham!" erklärt die Stimme in seinem Kopfhörer. „Ich sehe immer mehr Lichter!" berichtet Glenn. „Jetzt eins genau unter mir. Es ist ganz deutlich zu erkennen!" „Alles okay, John?" erkundigt sich Cooper. „Alles okay! Nicht die geringsten Krankheitsanzeichen. Keinerlei Übelkeit, kein Unbehagen, nichts! Läuft alles ausgezeichnet . . ." „In Ordnung! Wir erwarten Ihren nächsten Bericht um elf Uhr!" Dort, wo die Stimme herkommt, ist Florida, ist jetzt heller Tag. In Australien ist es Nacht. Und auf dem Pazifik . .. John Herschel Glenn blickt durch das Periskop. Das Wasser ist wie schwarze Tinte. Allmählich nähert sich die Raumkapsel der mexikanischen Küste. Plötzlich schreckt der Astronaut auf. Er traut seinen Augen nicht Das kann doch nicht wahr sein! So etwas gibt es doch nicht! Ungläubig starrt er auf die Linse vor seinen Augen. Dann drückt er auf die Taste seines Sprechfunkgerätes . . .
Plus 90 Minuten Die roten und grünen Signallampen blitzen. Das Relais summt. Im Lautsprecher ist ein leises Brodeln. Einen Augenblick herrscht Stille im Funkraum. Dann hören sie wieder die Stimme aus dem All: „Elf Uhr Bordzeit: Ich nähere mich der Küste von Mexiko . . . Ich habe zum zweitenmal an diesem Tage die Sonne aufgehen sehen . . . Ich sah grüne Sonnenstrahlen . . . Ich habe noch nie grünes Sonnenlicht gesehen, aber ich irre mich nicht — die Strahlen waren wirklich grün. . . Daneben alle Schattierungen von Blau, Violett und Purpur . . .' Das kann doch nicht wahr sein . . . So etwas gibt es doch nicht! Aber es ist keine Täuschung! Ich habe das grüne Licht wirklich gesehen . . . " „An einem Tag viermal die Sonne aufgehen sehen! Man könnte ihn darum beneiden!" sagt Terry Wood. Alessandro Urbano schüttelt den Kopf. „Mochte nicht mit ihm tauschen! Um keinen Preis der Welt!" 22
„Hast recht!" nickt der Funker. „Wer weiß, was ihm noch alles bevorsteht!" Nicht nur auf der „American Mariner", überall sind jetzt die Funkgeräte auf die Wellenlänge von 108 Megahertz eingestellt, überall in den Beobachtungsstationen: in Olifantsfontien in Südafrika, im Naini-Tal in Indien, in Woomera in Australien, in Mitaka in Japan und in Haleakala auf Hawaii. Und natürlich in Cap Canaveral! Es ist 11 Uhr 16, als sich die Raumkapsel genau über dem Startort Cap Canaveral befindet. „Hallo . . . ,Freundschaft T • . .", schreit Donald Kent Slayton in sein Sprechfunkgerät. „Hallo, John .. ." „Hier ,Freundschaft 7!' " tönt es zurück. Slayton meldet: „Ihre Geschwindigkeit beträgt 27 300 Kilometer in der Stunde, Ihre Umlaufzeit 89 Minuten und 34,3 Sekunden, Ihre Höhe 160 Kilometer . . ." „Verstanden!" „Wünsche Ihnen weiterhin Hals- und Beinbruch!" Jetzt muß John Herschel Glenn noch zweimal um die Erde. Im Augenblick kann eigentlich gar nichts passieren. Die Raumkapsel bewegt sich mit der Präzision eines Uhrwerks. Aber um 11 Uhr 30 warten die Männer in der Zentrale vergeblich darauf, daß sich John Herschel Glenn wieder m e l d e t . . .
Defekt an der Steuerung „Hallo . . . ,Freundschaft 7'! Hallo . .. ,Freundsch?.ft 7 ' . . . " , kommt es aus dem Kopfhörer im Helm, „bitte melden! Bitte melden . . ." John Herschel Glenn schreckt auf. „Hier ,Freundschaft 7'!" meldet er sich. Seine Stimme klingt müde. Das Sprechen fällt ihm plötzlich schwer. Das kommt von der Anstrengung der letzten Minuten. „Alles in Ordnung, John?" erkundigt sich Slayton. „J-ja!" sagt Glenn. „Das heißt, habe Schwierigkeiten mit dem Kurshalten. Die automatische Stabilisierung scheint defekt!" „Berichten Sie!" , Mußte die halbautomatische Steuerung einschalten!" erklärt Glenn die Sachlage. „Um gerfauer lenken zu können. Es fing an, als ich Guayamas erreichte. Die Kapsel scheint in der Sekunde einen Grad nach rechts abzuweichen, bis auf etwa 20 Grad, schwingt dann zurück auf Null und wieder bis 20 Grad und zurück. Ich steuere 23
jetzt mit der Hand. Ich glaube, ich bekomme Schub links, bis Schubkorrektur rechts einsetzt!" „Empfehle, bei halbautomatischer Steuerung zu bleiben!" rät Slayton. „Verstanden! Bleibe bei halbautomatischer Steuerung!" „Sonst etwas Neues?" „Außer der Schwierigkeit mit der Steuerung nichts! Alles in Ordnung! Kabinendruck ist 55 und hält sich gut. Lufttemperatur Kabine 35 Grad Celsius, 20 Grad im Anzug . . . Es macht keine Mühe, mit der Hand zu steuern! Im Gegenteil . . ." „Moment!" sagt die Stimme von der Erde. „Wir rechnen gerade aus, ob der Brennstoffvorrat, den Sie zum Steuern benötigen, noch für die dritte Umkreisung reicht!" Auch die Steuermanöver haben die Astronauten vorher im Flugsimulator auf der Erde geübt. Bei der Handsteuerung gibt es zwei Möglichkeiten: entweder mit Kraftverstärkung oder mit Muskelkraft. Bei der Steuerung mit Kraftverstärkung wird die Steuerkraft durch kleine Hilfsmotoren ausgelöst, die mit Brennstoff betrieben werden. Vorausgesetzt, daß genügend Vorrat vorhanden ist. Erregt wartet John Herschel Glenn auf das Ergebnis der Brennstoffberechnung. Endlich wieder die Stimme von Donald Kent Slayton: „Go on, John! Alles klar für dritte Umkreisung! "
Ein ungelöstes Rätsel John Herschel Glenn fliegt zum zweitenmal mitten durch die gelblichgrünen Lichtflecke. Sie scheinen aus der Sonne zu fließen, schweben wie Leuchtkäfer zu beiden Seiten der Kapsel und verschwinden in der Dämmerung des Weltalls: abertausend winzige Lichtpünktchen, die hell aufleuchten und nach wenigen Minuten verglühen. Gelegentlich kommt eines der Lichtpünktchen so dicht an das Fenster heran, daß es in den Schatten der Kapsel gerät. Dann sieht es aus wie ein sehr kleines weißes Partikelchen von Stecknadelgröße. Alles in allem dauert die Erscheinung nicht länger als vier Minuten, vom ersten Lichtschimmer der Sonne an. Zunächst glaubt der Astronaut in die Wolken von Kupfernadeln geraten zu sein, welche die Airforce kürzlich über den Himmel verstreut hat. Dann macht er die Steuerdüsen dafür verantwortlich. 24
Bekanntlich zersetzt sich das Wasserstoffsuperoxyd, das die Steuerdüsen ausstoßen, draußen in Wasserstoff und Sauerstoff. Dazu tritt es unter sehr starkem Wärmedruck aus. Es wäre also möglich, daß sich dieser Wasserdampf in kleine Schneeflocken verwandelt In der Praxis aber erweisen sich beide Theorien als falsch. Die Erscheinung ist und bleibt rätselhaft. Auch Titow hat sie gesehen, und auch Scott Carpenter wird über sie verblüfft sein. Knapp fünfzig Minuten später sieht John Herschel. Glenn die Sonne wieder untergehen. Für ihn ist es das eindrucksvollste Erlebnis des ganzen Fluges. Er kann sich nicht sattsehen an den wunderbar gefärbten Schleifen und Farbenstreifen, die sich von .der Sonne aus über den ganzen Horizont erstrecken. Das alles bleibt fünf Minuten klar erkennbar. Natürlich hat er es im Film festgehalten. Als er dabei einmal schnell einen Schalter betätigen muß, stellt er die Kamera einfach zum Schweben mitten in den Raum.
Die Erdumrundung Ist geglückt — die Kapsel wird geborgen. 25
Die Kamera loslassen, den Schalter bedienen und dann die KaT mera wieder ergreifen, erscheint ihm ganz selbstverständlich. So schnell hat er sich an die Schwerelosigkeit gewöhnt. Nur, als er einen neuen Film einlegen will, passiert ihm ein Mißgeschick. Die Filmkapsel gleitet ihm durch die Finger. Er will danach greifen, stößt sie aber nur an. Sie fliegt davon — hinter das Instrumentenbrett. Das ist das letzte, was er von ihr sieht. Die Nahrung, die der Astronaut zu sich nimmt, erhält er aus einer Tube; das heißt, er kann den Speisebrei aus der Tube direkt in den Mund drücken. Auch das hat er bereits im Flugzeug im Zustand der Schwerelosigkeit geübt. Es scheint, als gäbe es keine Schwierigkeiten. Die einzige Gefahr, der Defekt an der Steuerung, ist gebannt. Dafür rückt der Augenblick immer näher, wo John Herschel Glenn die Raumkapsel wieder zur Erde steuern muß . ..
Noch 20000 Kilometer Während er scharf auf die Instrumente blickt, spürt John Herschel Glenn die Stille fast körperlich. Ein Schleier legt sich über Zeiger und Zifferblätter. Er möchte am liebsten schlafen. Die Erregung der letzten Stunden, die dauernde Anspannung, all das macht sich bemerkbar, jetzt, wo fast alles wie von selbst abläuft. John Herschel Glenn schreckt auf. Er muß einen Augenblick eingenickt sein. War es wirklich nur ein Augenblick? Er spürt, wie ihn von neuem Angst überfällt. Angespannt starrt er auf die Zeiger der Uhr. In seinem Kopfhörer ist eine Stimme, die Stimme von Donald Kent Slayton: „Hallo . .. ,Freundschaft 7 ' . . . Hallo, John . . . " „Hier Raumkapsel ,Freundschaft 71' " meldet sich Glenn. „Achtung! Lageänderung! In einundzwanzig Minuten werden Sie das Kommando zum Landemanöver erhalten!" „Verstanden!" „Ihre Bremsraketen werden auf das Kommando .Achtung!' automatisch gezündet. Zählen Sie nach diesem Kommando bis zwölf!" „Bis zwölf!" „Ja, bis zwölf! Dann erfolgt Zündung. Ihr Standort zu diesem Zeitpunkt wird zweihundert Kilometer vor der Westküste sein. Höhe einhundertsechzig Kilometer . . ." Dann muß John Herschel Glenn die Raumkapsel wieder in die Normallage zurückdrehen, das heißt: Rücken zur Flugrichtung, Ge26
sieht nach oben. Es ist die gleiche wie beim Start. Dabei muß er darauf achten, daß die Kapsel genau mit dem Hitzeschild in die Erdatmosphäre taucht, sonst verglüht sie. Das wäre das Ende — nicht nur für die Raumkapsel, auch für ihn. Noch achtzehn Minuten! denkt er. Nur noch achtzehn Minuten . . . Jetzt sind es sogar nur noch fünfzehn. Plötzlich scheinen die Minuten zu fliegen. Im Nu ist die Zeit um. Der Astronaut schluckt ein paar von den grünen Algen-Tabletten. Sie stillen nicht nur den Hunger, sie liefern auch zusätzlich Sauerstoff. Er blickt zum letztenmal durch das Periskop. Die Nacht ist wieder dem Tag gewichen. Die Sonne ist unendlich weiß und grell. Dagegen wirkt der Himmel samtsdiwarz. Aber die schlohweißen, völlig ebenen Wolkenplatten unter ihm strahlen das Sonnenlicht grell zurück. Auf einmal leuchtet die rote Warnlampe auf. „Hallo .. . ,Freundschaft 7' . .. Hallo, John . . .", meldet sich Slayton. „Können Sie mich hören?" „Ja . . . ich höre!" „Unsere Instrumente zeigen an, daß sich der Hitzeschild gelockert hat. Sie dürfen auf keinen Fall die Hülsen der Rückstoßraketen abwerfen!" „Habe verstanden! Hülsen der Rückstoßraketen nicht abwerfen!" „Nein . . . nicht abwerfen, sondern abbrennen lassen!" bestätigt Slayton. „Wir hoffen, daß beim Wiedereintritt in die Atmosphäre die Luftkräfte stark genug sind, den Hitzeschild fest gegen die Kapsel zu drücken." „Okay! Alles klar!" Glenn hat keine Zeit, über seine Lage nachzudenken. Er muß sich auf das Landemanöver konzentrieren. Jetzt wird es sich zeigen, ob die Berechnungen der Wärmetechniker und Metallurgen stimmen, ob es richtig war, Beryllium für den Hitzesdiild zu wählen. Dank der Isolierung soll die Temperatur im Innern der Kabine höchstens 54 Grad Celsius erreichen — vorausgesetzt, daß die Raumkapsel genau mit dem Hitzeschild voran in die dichtere Atmosphäre taucht. „Achtung!" befiehlt die Stimme in seinem Kopfhörer. John Herschel Glenn greift nach dem Steuerhebel. Er hat jetzt !»enau zwölf Sekunden Zeit, um die Raumkapsel in die richtige Lage zu drehen. In Gedanken zählt er mit: 27
Acht. . . neun . . . zehn . . . elf . . . zwölf! „Zündung!" dröhnt es im Hörer. John Herschel Glenn hält den Atem an. Sein Körper springt gegen die Gurte, die ihn an seinen Liegesitz fesseln. Sein Gesicht wird gegen den Kopfschutz gepreßt. Eine Gewalt treibt ihm das Blut aus den Augen und verzerrt seine Züge. Er kann sich nicht mehr bewegen. Auch das Atmen fällt ihm schwer. Er glaubt zu ersticken. Es ist genauso wie beim Start — nur viel schlimmer . . .
Bange Minuten Aus dem Lautsprecher in der Zentrale ein Keuchen, dann die Stimme von Glenn: heiser, verzerrt, kaum verständlich: „Verspüre Schlag an der Außenwand . . . Fingergroße Stücke der zerfetzten Bremsrakete zischen an meinem Fenster vorbei. .. Ich sehe ein helles, orangefarbenes Licht! Es wird immer heller! Junge, Junge, ein richtiger Feuerball! Ich —" Die Stimme bricht ab. „Hallo . . . ,Freundschaft T ... Hallo, John . . .", ruft Slayton in das Sprechfunkgerät. Aber er erhält keine Antwort. Der Mann in der Raumkapsel schweigt. Alle Blicke richten sich auf das Doppler-Meßgerät. Solange es Höhe und Geschwindigkeit registriert, solange kann die Raumkapsel nicht verglüht sein. Aber die Gefahr wächst von Sekunde zu Sekunde. Mit jedem Kilometer, den die Kapsel an Höhe verliert, verdichtet sich die Atmosphäre. In 100 Kilometer Höhe beträgt die Luftdichte nur den millionsten Teil des Wertes in Meereshöhe; das heißt, wenn eine Raumeinheit in Meereshöhe eine Million Moleküle enthält, dann befindet sich dort oben nur ein einziges. In 90 Kilometer Höhe sind es 10 Moleküle pro Raumeinheit, in 80 Kilometer Höhe 50 und in 70 Kilometer Höhe bereits 100 Moleküle. Aber schon eine ganz geringe Luftdichte übt bei der gewaltigen Geschwindigkeit eine fühlbare Bremswirkung aus. Und wo gebremst wird, entsteht Wärme. Während Geschwindigkeit und Höhe der Raumkapsel beständig abnehmen, wächst die Temperatur an der Außenhaut in beängstigendem Maße. Slayton gibt laufend die genauen Werte bekannt: „Höhe siebzig Kilometer — Geschwindigkeit sechstausend Meter 28
pro Sekunde — Temperatur an der Außenhaut eintausendvierhundert Grad Celsius..." Scott Carpenter läßt keinen Blick von dem Thermometer, das die Temperatur im Innern der Kabine anzeigt. Sie steigt langsam, aber stetig. Die Quecksilbersäule klettert bis auf 53,4 Grad Celsius. Slayton: „Höhe sechzig Kilometer — Geschwindigkeit dreitausenddreihundert Meter pro Sekunde — Temperatur an der Außenhaut eintausendeinhundert Grad Celsius . .." Also nimmt jetzt auch die Temperatur ab. Dafür hat die Bremsbeschleunigung mit der achtfachen Erdbeschleunigung ihren Höchstwert erreicht. Um 14 Uhr 32, das heißt 10 Minuten nach Abfeuern der Bremsraketen, befindet sich die Raumkapsel nur noch in 40 Kilometer Höhe. Bisher glich ihr Fall einer flachen, weiten Kurve. Jetzt fällt sie fast senkrecht. Fallgeschwindigkeit: 350 Meter pro Sekunde . ..
Kurs Erde John Herschel Glenn liegt auf dem Rücken und visiert die Spitze seiner Kabine an. Kontrollampen und Zifferblätter schwimmen im Nebel. Wieder versinkt alles hinter einem schwarzen Vorhang. Er denkt nicht an gestern und nicht an morgen — auch nicht an den Tod. Er denkt: Einatmen — zwei, drei, vier, fünf — ausatmen! Er ist schon in vielen gefährlichen Situationen gewesen. Er hat erlebt, wie in Riesenhöhen der Motor zu brennen anfing. Kabinendächer sind ihm über dem Kopf weggeflogen. Er ist in schwärzester Nacht auf Flugzeugträgern gelandet. Nur jetzt nicht ohnmächtig werden, denkt er. Nur noch ein paar Minuten durchhalten! Er spürt, wie sich sein Gehirn gegen die Schädelknochen preßt. Der Schmerz ist so qualvoll, daß alles um ihn herum versinkt. Seine Augen brennen wie Feuer. Tief schneiden die Nylonriemen in seine Haut. Aber er bemerkt es nicht in dem Orkan, der ihn umtobt. Der schwarze Vorhang vor seinen Augen wird gelb. Auf einmal sieht er eine lachsfarbene Wand mit leuchtenden Linien: seine Augenlider mit den Adern, gegen die die Augäpfel drücken. Er blickt auf den Höhenmesser. Noch dreißig Kilometer! denkt er. Nur noch dreißig Kilometer... 29
14 Uhr 33: In der Zentrale meldet Slayton: „Höhe der Raumkapsel zwanzig Kilometer!" Virgil Ivan Grissom löst durch ein Funkkommando den kleinen Hiifsfallschirm aus, der den Hauptfallschirm Nummer eins öffnet. Der Hauptfallschirm Nummer eins ist ein ringförmiger Bänderfallschirm aus feinem Stahlnetz mit einem Durchmesser von 60 Metern. Dagegen beträgt der Durchmesser von Hauptfallschirm Nummer zwei nur knapp 20 Meter. Er öffnet sich, wenn die Raumkapsel nur noch drei Kilometer von der Erde entfernt ist. „Sinkgeschwindigkeit jetzt acht Meter pro Sekunde!" verkündet Slayton. Virgil Ivan Grissom überprüft laufend den Meßstreifen des Doppler-Funkgerätes. Scott Carpenter überwacht Atmung und Pulsschlag des Astronauten. Noch verläuft alles planmäßig. „Noch sechs Sekunden bis zur Landung!" meldet Slayton. In Gedanken zählen die Männer mit. Jetzt! denken sie. Jetzt ist sie auf dem Wasser aufgeschlagen! Aber ist dort, wo die Kapsel die Erdoberfläche berührt, wirklich Wasser? Noch wenige Augenblicke, dann werden sie es wissen. Der elektronische Sender der Raumkapsel strahlt jetzt pausenlos Funksignale aus, die von den Minitrack-Stationen aufgefangen und an die IBM 704 in Washington weitergeleitet werden. Die Rechenmaschine im Forschungsamt braucht nur den Bruchteil einer Sekunde, um danach den Landeort zu bestimmen. Alan Bartlett Shepard steht am Telefon, das sie mit dem Pentagon, dem Verteidigungsministerium, verbindet. „Ich wiederhole", sagt er: „Position der Raumkapsel 21,2 Grad nördliche Breite, 71,3 Grad westliche Länge — etwa hundert Kilometer östlich der Bahama-Insel Grand Turk . . , " In .der Zentrale jubeln die Männer laut auf. Ihre Freude kennt keine Grenzen. Sie vergessen, daß sich John Herschel Glenn noch nicht gemeldet hat. „Hallo . . . ,Freundschaft 7' . . .", nimmt Slayton Verbindung mit der Raumkapsel auf. „Hallo, John .. . bitte melden!" „Hier Raumkapsel ,Freundschaft 7 ' . . . " , tönt es klar und deutlich zurück. Die Männer in der Zentrale atmen auf. 30
„Mensch, John . . .", lacht Slayton. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht!" „Keine Angst! Alles okay!" „Warum haben Sie sich vorhin nicht gemeldet?" erkundigt sich Slayton. „Konnte nicht!" „Soll das heißen, daß Sie bewußtlos waren?" „Nein, nicht bewußtlos! Die Funkverbindung war unterbrochen!" erklärt Glenn. „Habe Sie auch nicht hören können!" Erst später findet dieses Rätsel eine Erklärung: Die Ionisierungsschicht, die sich bei Eintritt in die Erdatmosphäre rings um die Kapsel gebildet hat, läßt keine Radiowellen durch. In der Zentrale klingelt das Telefon. Alle Blicke richten sich auf Shepard, der den Hörer abnimmt. „Meldung von der ,Randolph'!" sagt er. Slayton wendet sich wieder an Glenn: „Nur noch wenige Minuten, John . . . Dann holen wir Sie 'raus!"
Der Flottenverband greift ein Der Flugzeugträger läuft mit voller Kraft direkt in den Wind. Seine beiden Hubschrauber haben Sicherheitsstellung auf der Steuerbordseite bezogen. Die Begleitkreuzer folgen achteraus. Aus dem Lautsprecher gellt die Stimme des Flugleiters vom Dienst: „Flugdeck klarmachen zum Katapultieren!" Die „Demons" fliegen nach Osten, allen voran die Maschine von Leutnant Fortune Morrow. Am blauen Himmel schwimmen nur wenige Lämmerwölkchen. Das Meer ist ein silberner Spiegel. Glatt und unbewegt liegt es vor den Augen des Piloten. Morrows „Demon" schießt wie ein Raubvogel in die Tiefe. Eine Insel taucht auf. Das Land bietet einen furchtbaren Anblick: Palmen, wie Streichhölzer geknickt, Plantagen verwüstet, der Strand übersdiwemmt, der Leuchtturm umgerissen und daneben zu einem einzigen Schrotthaufen gewordene Gebäude. Das ist das Werk des letzten Wirbelsturms! Plötzlich erscheint, weit voraus, mitten im Wasser ein glitzernder Punkt. Es blitzt und funkelt, als würden sich dort alle Sonnenstrahlen brechen. Die „Demon" beschreibt einen Bogen. Sie fliegt genau auf das glitzernde Ziel zu. 31
Fortune Morrow drückt auf die Taste seines Sprechfunkgerätes. Er meldet: „Raumkapsel gesichtet!" —
An Bord der „Randolph" 15 Uhr Ol: Über der Raumkapsel schwebt ein Hubschrauber. Von See nähert sich der Zerstörer „Noa". Kommandos ertönen. Die Bootsmannspfeife schrillt. Knarrend schwenkt der Ladekran aus. In vorbildlichem Manöver wird die Kapsel an Bord des Zerstörers gehievt. John Herschel Glenn wartet nicht, bis der Lukendeckel geöffnet wird, er sprengt kurzentschlossen den Notausstieg. Ein Hubschrauber bringt ihn zur „Randolph". An Deck des Flugzeugträgers steht der Kapitän mit sämtlichen Offizieren. Der Astronaut meldet: „Oberstleutnant Glenn aus dem Weltall zurück!" Der Kommandant legt grüßend die Hand an seine Mütze. „Gratuliere, Oberst! Großartig gemacht!" Er drückt Glenn fest die Hand. „Ganz Amerika ist stolz auf Sie!" Der Funkoffizier tritt vor. „Ein Funkspruch, Sir!" Der Kapitän überfliegt kurz den Inhalt, dann wendet er sich wieder an Glenn: „Der Präsident will Sie in Cap Canaveral besuchen! Er hat Ihnen außerdem die ,Legion of Merit' verliehen. Auch dazu meinen Glückwunsch, Oberst!" „Danke, Sir!" „Ich habe eben Ihre Familie am Fernsehschirm gesehen . . .", berichtet der Kapitän. „Sie machen alle einen glücklichen Eindruck!" John Herschel Glenn überkommt ein Gefühl der Erleichterung und der Freude. Ich lebe! denkt er. Ich bin lebend aus dem "Weltall zurückgekehrt , . . Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: USIS L u x - L e s e b o g e n 3 7 0 ( T e c h n i k ) H e f t p r e i s 3 0 PfgNatur- und kulturkundliehe Heitte — Bestellungen (vierteljfihrl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.