BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
FREMDE UNTER FREMDEN
von Michael Marcus Thurner Die irdischen Astronauten...
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BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
FREMDE UNTER FREMDEN
von Michael Marcus Thurner Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten und schließen sich mit dem Außerirdischen Darnok zusammen. Als sie von Erinjij-Raumschiffen gejagt werden, können sie mit knapper Not in den Aqua-Kubus flüchten. Dort finden sie ein Artefakt, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückzugehen scheint ein gewaltiges, rochenförmiges Raumschiff. Ihnen gelingt die Inbesitznahme, sie taufen es RUBIKON II. Mit diesem Schiff gelingt ihnen die Flucht aus dem Kubus. Die beiden gesundheitlich angeschlagenen GenTecs Jarvis und Resnick verschlug es jedoch gegen ihren Willen auf einen fremden Planeten. Von dort aus versuchten sie, wieder auf die RUBIKON II zurückzukehren. Doch abermals müssen sie feststellen, dass sie zum Spielball Obergeordneter Interessen geworden sind. Sie haben ihr Schicksal längst nicht mehr selbst in der Hand...
Weggefährten: Das Nichts Ich atmete Wasser.
Ich atmete Wasser, und ich sank wie ein Bleigewicht.
Nein, das stimmte nicht.
Denn Bleigewichte trudelten nicht, wie von mehreren Kraftvektoren hin und her gerissen, einmal
hierhin und einmal dahin.
Hätte ich die Möglichkeit gehabt, über all dies nachzudenken, hätte ich nichts von dem verstanden,
was während meiner Reise hinab in die Dunkelheit geschah.
Ein normales Zeitempfinden wurde durch den einzigen, zentralen Eindruck abgewürgt, der von mir
Besitz nahm - ich hatte Todesangst!
Resnick öffnete die runde Schleuse der Kapsel und strich sich mit der Hand über den kahlen Kopf.
Am liebsten hätte er das Tor gleich wieder geschlossen...
Die Welt vor seinen Augen bestand aus trockenem Sand, gleichmäßigem Wind und rötlichem
Licht. Es erwartete ihn und seinen Gefährten nicht, wie erhofft und herbeigebetet, das abstrakte und
nüchterne Innere der RUBIKON II.
»Willkommen in einer schönen, neuen Welt«, murmelte G.T. Jarvis hinter ihm.
Resnick drehte sich um und blickte an seinem Kameraden vorbei.
Das Innere der Kapsel mochte in Menschen ein Gefühl der Klaustrophobie erzeugen. Zumindest in
normalen Menschen.
Der Raum durchmaß knapp sieben Meter bei einer Höhe von vier Metern. Doch das eigentlich
Erschreckende, das wirklich Einengende, war die Ausstattung.
Das düstere Licht aus mehreren, geschickt verborgenen Quellen warf da und dort Schatten auf
Gerätschaften, die keinen ersichtlichen Existenzgrund hatten. Drei Sitzgelegenheiten standen im
Zentrum des Raumes. Sie waren ein wenig zu niedrig, ein wenig zu weich und viel zu warm.
Eine scharfe, nach Ammoniak riechende Duftnote belästigte ihren feinen Geruchssinn - manchmal
kaum, dann wiederum extrem störend.
Dicht an dicht stehende und aneinander gepresste Maschinen und... Dinge standen dort, wo sich Resnick mehr Ellbogenfreiheit gewünscht hätte, um vorsichtige Untersuchungen anzustellen. Dieser Raum, diese Kapsel - alles daran wirkte falsch! Noch falscher als das Innere der RUBIKON II.
»Ich denke, wir steigen aus und sehen uns um«, sagte Resnick.
Jarvis nickte.
Dies war kein gewöhnlicher Erkundungsgang.
Dies war mehr eine Flucht.
Der unbekannte Transportmechanismus der Kapsel hatte sie bereits einmal, vor wenigen Tagen, auf
einer anderen Welt abgesetzt. Es war die wahrscheinliche Ursprungswelt der Luuren gewesen.
Das Wie und Warum war den beiden GenTecs unklar, spielte aber auch keine übergeordnete Rolle.
Ihr logischer Verstand - und davon besaßen sie reichlich - schob solcherart quälende Gedanken
beiseite.
Natürlich besaßen Jarvis und er Gefühle wie Angst und Freude - doch den Luxus, diese auszuleben,
erlaubten sie sich nur zu passenden Gelegenheiten. Furcht wurde genutzt, um zu überleben - man
ergab sich ihr nicht und ließ sich von ihr lenken.
Rascheste Anpassung an die jeweilige Situation war eine jener unschätzbaren Fähigkeiten, die
ihnen Gen-Techniker und Gehirnchirurgen auf einer unendlich weit entfernten Erde appliziert
hatten.
Die Vaaren haben möglicherweise - beziehungsweise sehr wahrscheinlich! - die Luuren als Hilfsvolk für den Aqua-Kubus in einen Frondienst gezwungen, rekapitulierte Resnick in Gedanken das, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Es machte für die Erbauer der Transportkugeln, die wahrscheinlich eine übergeordnete Instanz im Aqua-Kubus gewesen waren, durchaus Sinn, die Luuren-Welt weiter unter Beobachtung zu halten. »Wozu diese Station hier wohl dient?«, fragte ihn Jarvis, der scheinbar seine Gedanken erraten
hatte. »Ist dies eine weitere Überwachungsstation für ein weiteres unterdrücktes Volk?«
Sie stiegen aus der Transportkugel und fanden sich auf einem kreisrunden Plateau wieder, drei
Meter hoch und mit einem Durchmesser von knapp zehn Metern. Die künstliche Erhebung war den
Witterungen der Welt ausgesetzt, auf der sie sich befanden.
Diesmal war es nicht so wie auf dem Heimatplaneten der Luuren, als sie sich im Inneren einer
größeren Empfangsstation wieder gefunden hatten.
»Möglich...«, antwortete Resnick nachdenklich. »Aber es ist anders hier, ganz anders.«
Ihre Stimmen erzeugten einen dumpfen Widerhall, sonst war außer dem leisen Pfeifen des Windes
nichts zu hören.
Sie blickten sich um.
Über ihnen, in einer Höhe von etwa fünfzig Metern, waberte eine blaue, geschlossene Decke aus
Dunst.
Da und dort wuchsen Kristalle aus dem sandigen Boden. Sie sahen aus wie kleine, kantige Kakteen.
Rund um sie herrschte karmesinrotes Licht, das aus dem Boden zu dringen schien. Rot und Blau
überlagerten sich am nahen Horizont und wurden zu Violett. Feiner, roter Flugsand, vom Wind
hoch gewirbelt, beeinträchtigte die Fernsicht zusätzlich. Die hohe Konzentration an schwebenden,
leicht reflektierenden Sandkörnern erschuf eine Blickmauer.
»Dieses Plateau ist alt und seit langem ungenutzt«, meinte Resnick.
»Ob es einen leichteren Weg nach unten gibt, als an der Wand nach unten zu klettern?«, fragte
Jarvis, und deutete auf den Rand des Plateaus. »Das ist ganz schön steil, und wir haben keine
Ausrüstung.« Er fuhr sich durch die kurz geschorenen Haare. Eine Geste, die er sich unbewusst von
John Cloud abgesehen hatte.
»Suchen wir«, entgegnete Resnick. Er wischte mit seinen Stiefeln den Sand beiseite und stampfte
heftig auf.
Das Geräusch war dumpf und voll. Der Boden bestand aus einer fugenlosen Metallplatte.
Sollte unter ihnen tatsächlich ein Hohlraum, eine Station, existieren, musste sie unter einer
meterdicken Metallschicht verborgen sein.
Gewissenhaft und methodisch marschierten sie nebeneinander auf und ab und schoben den Sand
großflächig beiseite. Beinahe mechanisch, mit gleichmäßigen Bewegungen, schaufelten sie ihn mit
Händen und Füßen über die stumpfe Kante hinab.
»Nichts«, sagte Resnick nach einer Weile. »Keine Fuge, kein Grat, keine Schweißnähte. Wenn ich
mich nicht sehr irre, handelt es sich lediglich um eine Landeplattform.«
Jarvis nickte zustimmend. Er legte nachdenklich den Kopf schief.
Resnick kannte diese Körperhaltung seines Freundes. Sie war Ausdruck zutiefst empfundener
Unsicherheit.
»Sollen wir hinabsteigen und uns weiter umsehen?«, fragte ihn Jarvis. »Oder versuchen wir unser
Glück erneut in der Kapsel?«
Resnick zögerte. Einerseits war er neugierig. Es machte auch Sinn, Informationen über die
geheimnisvollen Erbauer der Stationen und der RUBIKON zu sammeln.
Andererseits konnten sie sich nicht schon wieder stunden- oder gar tagelang damit aufhalten, neues
Terrain zu erforschen. Sie mussten zurück. Zurück zu Scobee und John Cloud.
Doch es gab einen wichtigen Punkt, den man nicht vergessen durfte.
»Heißt das, du weißt inzwischen, wie man die Kapsel bedient?«, erkundigte sich Resnick ironisch.
»Und du hast mir nichts davon gesagt?«
Mit diesem Einwand hatte er natürlich Recht, wie Jarvis zugeben musste. Die Kapsel hatte offenbar
einen eigenen Willen. Sogar die Passagiere suchte sie sich selbst aus. Er dachte mit einem
Schaudern daran zurück, wie sie das erste Mal hineingesogen wurden. Und auf dem Planeten der
Luuren war es genauso geschehen.
Nein, die beiden GenTecs hatten keinen Einfluss auf dieses Fortbewegungsmittel.
»Okay, ich hab nicht nachgedacht«, gab Jarvis zu. »Es scheint so, dass wir uns auch auf diesem
Planeten einmal umschauen sollen. Machen wir uns bereit. «
Er verschwand wieder in der Kapsel.
Einen Moment später fluchte er hemmungslos.
Alarmiert überwand Resnick eilig die wenigen Meter, die ihn von dem Eingang der Kapsel
trennten. »Was ist los?«
»Sie sind weg! Alle!«
Resnick ahnte bereits, was Jarvis meinte.
»Was?«, fragte er trotzdem.
»Die Waffen! Weder diese starken Laserstrahler noch die Granaten, von denen eine gereicht hat,
einen ganzen See zu verdampfen... Nichts!« Beunruhigt tastete Resnick die linke Seite des Anzuges
in Hüfthöhe ab, dort, wo er sein Überlebensmesser wusste. Erleichtert spürte er den
plastüberzogenen Griff zwischen seinen Fingern.
Jarvis hatte die Bewegung bemerkt und hielt plötzlich seine eigene Klinge in der Hand. »Genau,
das ist das Einzige, was wir noch haben.«Wieder fluchte er — und schnitt sich in den Oberarm.
Blut quoll hervor.
Resnick blickte seinen Gefährten verwirrt an. »Was...?«
Jarvis ignorierte ihn, wandte sich der Innenwand der Kapsel zu und schrieb mit seinem eigenen
Blut: G.T.
Als er seinen Finger wieder in die rote Flüssigkeit tauchen wollte, die aus dem Schnitt quoll, packte
Resnick ihn blitzschnell am Handgelenk.
»Spinnst du?«, wollte der Kahlköpfige wissen.
»Nur noch das: >was here<, und ich... «
Jarvis verstummte, als er eine harte Ohrfeige erhielt. Einen Moment starrte er sein Gegenüber an,
wollte etwas sagen.
Doch Resnick ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich
glauben, dass du als Kind die falschen Filme gesehen hast. Aber als vom Militär erzogenen Klon
wie ich ist das wohl kaum der Fall.« Einen Moment blickte er Jarvis wütend an. »Komm jetzt!«
Resnick zog seinen Gefährten hinter sich her aus der Kapsel.
Jarvis machte sich los.
»Schon gut!«, knurrte er. Dann ruhiger: »Du hast ja Recht...«
Der Abstieg war wesentlich leichter als erwartet. Nur einen Meter unter der Kante befanden sich
Löcher, die wie Eine Leiter genutzt werden konnten.
Wenig später erreichten sie den Boden, der aus rotem Sand bestand, und sie gingen schweigend los.
Nach wenigen Minuten sagte Jarvis leise: »Ich musste es tun. Wer auch immer jemals wieder die
Kapsel besteigt - er soll wissen, dass ich an Bord war.« Dann schwieg er, und sie schritten rascher
aus...
Weggefährten: Der Incus (1) Sein letzter Wirt hatte ihn außerordentlich gesättigt, und dennoch spürte der Incus bereits wieder sich ankündigenden Appetit. Auf seinem Heimatplaneten war er als Nahrungsphilosoph und Feinschmecker bekannt gewesen, der jedes Essen verweigerte, das auch nur um einen Hauch, um eine Nuance falsch roch. Die Auseinandersetzungen mit Bochelius, dem Starkoch seiner Heimatstadt, waren Legende gewesen. Hier hatte er sich den Luxus, schlecht schmeckende Nahrung zu verweigern, nie leisten können. Dafür war aber die Auswahl an Geschmacksrichtungen viel größer als auf seinem Heimatplaneten. Der Incus löste sich hastig und mit einem wohligen Schmatzen von seinem traurigerweise dahingeschiedenen Wirt. Er sprach ein höfliches Dankesgebet, das es seinem Opfer sicherlich leichter machen würde, im jenseitigen Reich seiner Wahl einen adäquaten Platz einzunehmen. Der Tod des Wirts bereitete ihm keine Sorgen, denn der Incus hatte eine neue Witterung aufgenommen. Zwei Wesen näherten sich. So, wie sie rochen, versprachen sie göttliche kulinarische Wonnen...
Resnick dachte darüber nach, wie sie hierher gekommen waren.
Sie hatten sich auf einer Mission zum Mars befunden, dem roten Planeten.
Dort sollten sie herausfinden, was mit der ersten, der verschollenen Marsexpedition geschehen war.
Doch von ihrem ursprünglichen Ziel waren sie wohl ein halbes Universum entfernt.
Das Einzige, was er mit ihrem aktuellen Aufenthaltsort gemeinsam hatte, war vermutlich der
allgegenwärtige rote Sand.
Resnick spuckte den widerwärtig schmeckenden Staub aus, der zwischen seinen Zähnen knirschte,
und brummte unwillig.
»Träumst du schon wieder?«, fragte Jarvis.
»Nein«, log Resnick. »Ich frage mich nur, wohin wir marschieren. Und ob es überhaupt sinnvoll
ist, dass wir uns von der Kapsel entfernen.«
»Dieses Thema haben wir bereits durchgekaut.«
»Und wenn sich die Mechanismen der Kapsel aktivieren, während wir hier umherziehen?«
»Dann wird das Ding zweifellos auf uns warten wie letztes Mal«, antwortete Jarvis lakonisch. »Die
Frage, der wir uns zwischenzeitlich mangels anderer Beschäftigung stellen können, ist: Warum
haben die unbekannten Erbauer gerade auf dieser Welt eine Station aufgebaut?«
Resnick massierte sich die Schläfen. Plötzlich hatte er Kopfschmerzen, und die wurden immer
stärker.
Aber ihnen beiden ging es in letzter Zeit immer schlechter. Dafür, dass sie optimierte Menschen
waren, war ihre Leistungsfähigkeit bedenklich gesunken.
Jarvis blieb plötzlich stehen.
Resnick prallte fast gegen seinen Rücken. »Was, zum Teufel, ist jetzt wieder los?« Er tat einen
Schritt beiseite.
»Das Licht«, murmelte Jarvis, und deutete auf den Boden der Ebene, die leicht nach unten abfiel.
Jetzt sah es auch Resnick.
Lange, parallel zueinander liegende Einschnitte zerfurchten den Boden vor ihnen wie mit einem
Lineal gezogen. Vielleicht einen halben Meter tief und maximal zwanzig Zentimeter breit.
Aus ihnen drang jener rötliche Schein, den sie für das natürliche Tageslicht des Planeten gehalten
hatten. Die undurchdringliche Dunstwolke oberhalb ihrer Köpfe reflektierte den Lichterschein
lediglich blau.
»Ich befürchte, wir müssen unsere Vorstellungen von der Welt, auf der wir uns befinden, ein wenig
korrigieren«, meinte Jarvis in jenem gestelzten Ton, in den er immer dann verfiel, wenn er unsicher
wurde.
Resnick nickte. »Wir befinden uns zweifellos in einer künstlich gefertigten Umgebung.«
»Du meinst, das alles hier«, Jarvis breitete die Arme aus, »ist von den Erbauern der Station
geschaffen worden? Das ist riesig! Was soll das sein? Eine Landebahn für Raumschiffe? Ackerland
für irgendwelches Alien-Getreide?«
Resnick zuckte mit den Schultern, nickte aber. »Möglich. Aber wir sehen ja nicht einmal den
Himmel. Möglicherweise befinden wir uns ja unter der Erde.«
»Klasse!«, murrte Jarvis ironisch. »Eine Hohlwelt.«
»Es wird Zeit, dass wir uns intensiver mit den Details beschäftigen«, beschloss Resnick.
Er bückte sich, nahm eine Hand voll Sand auf und ließ sie zwischen den Fingern zu Boden rinnen.
Er war fein gekörnt und fühlte sich fast wie Mehl an.
»Mal sehen...« Resnick aktivierte das »Labor« seines Anzugs.
Die Overalls hatte der Keelon Darnok für sie geschaffen. Sie übertrafen alles, was sich die
Menschheit ihrer Zeit erdacht hatte.
Spektralanalysen, mikroskopische Untersuchungen und selbst Teilchenanalysen konnten mit Hilfe
eines kleinen Faches vorgenommen werden.
Mit einem Spatel schaufelte er ein paar Körner in das Fach. Auf Knopfdruck legte sich eine Art
dünne, äußerst zähe Folie darüber. Die GenTecs hatten keine Ahnung, was es wirklich war. Darnok
hatte ihre Anzüge direkt aus dem Material seines kleinen Raumschiffs wachsen lassen, und sie
kannten nichts, was damit wirklich vergleichbar war.
Resnick drehte einen kleinen, nahezu unsichtbaren Schalter ein paar Grad nach links. Ein
schwaches Licht glühte auf.
Kleine Zeichen, für menschliche Augen fast zu klein, erschienen auf der Folie und formten endlos
lange Ketten an Symbolen, die auf dem mikrominiaturisierten Bildschirm rasend schnell nach oben
strömten.
Resnick wiederholte den Vorgang mehrere Male und nahm die jeweiligen Proben von weit
voneinander entfernten Stellen.
»Hoher Silizium-Anteil, wie erwartet«, murmelte er. »Eisen natürlich. Daher die rote Farbe.
Aluminium, Magnesium, Natrium und Schwefel gehören ebenfalls zu den Hauptbestandanteilen.
Ich sehe auch noch Reste von Kalium, Kalzium sowie von —Titan.«
»Interessant, aber dennoch nichts sagend. Rohstoffgewinnung wird sich für uns mangels Abnehmer
wohl nicht rentieren.« Da war er wieder, der staubtrockene Humor von Jarvis. »Kannst du eine
Altersbestimmung vornehmen?«, fuhr der muskulöse GenTec fort.
»Moment... ja. 4 bis 4,7 Milliarden Jahre. Keine erhöhte Radioaktivität, die uns gefährden könnte.«
Resnick verfluchte im Nachhinein seine Unvorsichtigkeit. Diese Primär-Untersuchungen hätte er
bereits beim Verlassen der Kapsel, sozusagen beim ersten Schritt nach draußen, vornehmen
müssen. »Wie sieht es mit der Luft aus?« Jarvis atmete tief ein.
»Ist okay«, entgegnete er ohne Anzeichen eines Lächelns.
Resnick schluckte hart. »Und? Weiter?«, fragte er mühsam beherrscht nach.
Jarvis blickte auf ein Display seines Anzugs. »Sauerstoffanteil zwanzig Prozent, Stickstoffanteil
siebenundsiebzig Prozent. Kohlendioxid ein, Argon eins Komma sechs Prozent. Der
vernachlässigbare Rest besteht wie auf der Erde aus Edelgasen. Alles in allem ähnelt die Atemluft
sehr der Erdatmosphäre auf eintausend Metern Höhe über dem Meeresspiegel. Der hohe Argon-
Gehalt lässt allerdings auf eine wesentlich höhere vulkanische Aktivität schließen, die
möglicherweise hier einmal geherrscht hat.«
»In einer künstlichen Umgebung?«
»Ich nehme an, dass die Erbauer notwendige Luftbestandteile zur Etablierung und
Aufrechterhaltung einer atembaren Atmosphäre von der Oberfläche in diese Räume herabgepumpt
haben. Da war jemand fleißig.«
»Für uns mag das alles nicht mehr nachvollziehbar sein«, entgegnete Resnick. »Aber wir waren
noch vor kurzem in einem Wasserwürfel von einer Lichtstunde Kantenlänge. Hierbei handelt es
sich wohl nur um eine weitere lösbare Aufgabe für die Hirten.«
Die Hirten...
Die GenTecs kannten kaum mehr als den Namen des Volkes, das höchstwahrscheinlich für all
diese großartigen Wunderwerke der Technik verantwortlich war, die sie in letzter Zeit gesehen
hatten.
Resnick verfluchte sie zum sicherlich bereits hundertsten Mal während der letzten Tage.
»Glaubst du, dass die Hirten auch so etwas wie Kunst und Kultur kannten?«, fragte er unvermittelt.
»Wie bitte?« Jarvis wirkte völlig überrascht. »Glaubst du tatsächlich, dass uns die Antwort auf
diese Frage weiterhilft?«
»Nein... ja, vielleicht doch«, sagte Resnick. »Ein Volk, das dermaßen erstaunliche technische
Höchstleistungen erbringen kann, müsste doch auf anderen Seiten wesentliche Defizite aufweisen.«
»Resnick, ich glaube, dass du lediglich nach etwas suchst. Nach einem Strohhalm. Irgendetwas,
womit du dich den Hirten überlegen fühlen kannst.«
Resnick spürte, wie er unter den stechenden Blicken des anderen rot wurde, und wehrte sich mit
einem bewussten Gedanken dagegen.
»Natürlich ist es ein Strohhalm, den ich suche«, erwiderte er schwach. »Aber ich denke, dass uns
jeder kleine Gedanke, jede kleine Idee, die wir entwickeln, weiterhelfen kann, diese unbekannten
Wesen zu verstehen.«
»Was soll uns das denn bei unserer Suche nach einer Fluchtmöglichkeit helfen?« Jarvis wurde
ungeduldig.
»Konzentrieren wir uns doch auf das Finden der Fakten, und nicht auf philosophische
Grundsatzfragen über die Kulturfreudigkeit der Hirten.«
»Falscher Gedanke, G.T.« Er rieb sich den feinen Sand aus den müden Augen. »Ist dir noch nie der
Gedanke gekommen, dass wir hier auf die Hirten treffen könnten? Dass dies hier vielleicht sogar
ihre Heimat ist...?«
Das Ende des Horizonts rückte einfach nicht näher. Immer und immer wieder verlängerten sich die
rötlichen Lichtfurchen in die Ferne.
Resnicks Augen ermüdeten unerwartet rasch von dem stetigen, angestrengten Ausschau halten nach
vorne.
»Ich hab's satt«, sagte er plötzlich und änderte die Marschrichtung. Er ging nach rechts.
Jarvis, der seine Führung kommentarlos anerkannt hatte, folgte ihm weiterhin auf dem Fuß.
Und wiederum ging es voran, endlos, doch diesmal in einem seltsamen Rhythmus: sieben weit
ausholende Schritte, gefolgt von einem kleinen Sprung über eine der Lichtfurchen; wiederum
sieben Schritte, wiederum ein Sprung, diesmal mit dem anderen Bein voran...
Nach mehr als zweitausend Schritten hörte Resnick endlich zu zählen auf. Denn vor ihm schälte
sich eine Wand aus dem düsteren Licht.
Breit und massiv war sie, sodass sich ihre Dimensionen nach allen Seiten hin verloren.
Sie gingen ehrfürchtig näher.
»Offenbar wurde die Oberfläche so stark erhitzt, dass sie geschmolzen ist«, murmelte Resnick und
strich mit den Fingern über die Wand.
Jarvis blickte mit zusammengekniffenen Augen nach oben. »Sie ragt nahezu senkrecht hoch«, sagte
er.
»Du guckst nicht richtig hin!«, behauptete Resnick. »Ab der halben Höhe des sichtbaren Bereiches
kippt die Wand leicht nach innen, also in unsere Richtung. Weiter oben wird die Neigung immer
stärker. So, als ob wir uns in einer riesigen Kathedrale befänden...«
»...oder in einer gigantisch großen Höhle...«
»Gehen wir mal davon aus, dass es sich tatsächlich um eine Höhle handelt«, sagte Resnick, »sehe ich das positiv. Egal, wie groß der Hohlraum auch sein mag, in dem wir uns bewegen - er ist zumindest endlich.« Jarvis Blick zeigte, dass sich dieser nicht so leicht vom Zweckoptimismus anstecken ließ. »Ich nehme an, dass sich knapp oberhalb der Wolken- oder Nebelschicht die Decke der Höhle befindet. Diese Theorie würde auch den leichten Hall erklären. Auch das Fehlen jeglichen Einflusses von Regen und den stetigen, gleich stark wehenden Wind...« »Der wahrscheinlich von einer etwas überdimensionierten Klimaanlage stammt...«, warf Jarvis ein. »... das Fehlen von Flora und Fauna«, fuhr Resnick nachdenklich fort, »das alles spricht für die Vermutung.« »Das ist lediglich graue Theorie und für unser Ziel völlig irrelevant. Wir sollten nicht weiter Zeit verlieren und spekulieren. Wir sollten unseren Weg fortsetzen.« »Du hast Recht, G.T.« Resnick strich nochmals gedankenverloren über die völlig glatt wirkende Oberfläche der Wand. Sie schimmerte rotbraun, so wie fast alles in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie gingen weiter, nun wieder in die ursprüngliche Richtung. Eine Stunde verging, dann noch Eine, ohne dass sich etwas am Erscheinungsbild ihrer Umgebung änderte. Resnick hing seinen Gedanken nach Wer waren die Hirten? Was hatte sie dazu bewegt, in derart gewaltigen Dimensionen zu planen und zu bauen? Hatten sie den Aqua-Kubus nur erschaffen, weil sie es konnten? Oder gab es noch einen praktischen Grund dafür? Konnten diese Veränderungen ganzer Welten eigentlich noch nur mit technischer Überlegenheit erklärt werden? Resnick glaubte nicht daran.
Es musste auch etwas mit überlegenem geistigem Vorstellungsvermögen, mit visionärem Denken,
zu tun haben.
»Dort vorne ändert sich etwas«, sagte Jarvis.
Resnick hatte es bereits vor einigen Sekunden bemerkt und nickte. »Die Lichtfurche, die parallel
zur Wand verläuft, endet. Und die Wand macht gleichzeitig einen leichten Knick nach innen.
Anscheinend verengt sich der Hohlraum.«
Sie schwiegen erneut und wanderten mit weit ausholenden Schritten weiter.
Eine zweite, eine dritte Lichtfurche kam zu ihrem Ende nahe der Wand, an der sie sich entlang
bewegten.
Ein erneuter Knick nach innen wurde im hochragenden Gestein neben ihnen sichtbar.
»Wir nähern uns dem Flaschenhals der Höhle«, mutmaßte Jarvis. »Dem Ausgang.«
Resnick entgegnete nichts. Er wollte seinen Gefährten nicht auf die Möglichkeit hinweisen, dass
die Höhle möglicherweise nahezu rund war. Er wollte Jarvis' Optimismus nicht untergraben.
Doch nach einer halben Stunde Fußmarsch wurde es sichtbar: das Ende der Höhle.
Von der gegenüberliegenden Seite der Höhle wuchs ihnen ebenfalls eine Wand entgegen.
Alle Lichtfurchen endeten, bis auf eine, die einen flachen, sanften Anstieg hinaufführte und im
Ausgang mündete.
Wartete vor ihnen der Aufstieg ins Freie des unbekannten Planeten?
Etwas helleres Licht empfing sie dort oben, und etwas niedrigere Temperaturen.
Ungefähr fünfzehn Grad Celsius herrschen hier, vermutete Resnick.
Schließlich endete auch die letzte verbliebene Lichtfurche. Sie mussten einige wenige Meter in
zunehmendem Dämmerlicht auf sich nehmen, während vor ihnen der Ausgang weiter in die Höhe
wuchs.
Geschätzte sechsmal sechs Meter hoch und breit, dachte Resnick.
Ein breiter, ein wenig erhabener Steg aus marmorähnlichem Material begann und führte hinauf.
Resnicks Atmung wurde ein wenig rascher, der Puls schlug ein wenig stärker, und er ließ es
geschehen.
Jarvis überholte ihn mit gleichmäßigen Schritten und dennoch ungeduldig wirkend.
»Der Ausgang... «, murmelte Resnick.
Jarvis durchstieß mit seinen Händen einen dünnen, einer Membran ähnelnden Gazevorhang.
»... ist eigentlich ein Eingang«, beendete er den Satz seines Gefährten. Jarvis hatte Recht.
Vor ihnen zeigte sich das wahre Ausmaß der Höhle. Resnick setzte sich erschüttert nieder.
Weggefährten: Der Incus Hätte er so wie sein letztes Opfer Eine Zunge gehabt, hätte er sich damit vor Wollust über die Lippen geleckt. Die Temperatur begann zu sinken, so wie bei jedem Tagesrhythmuswechsel seit seiner Ankunft. Er hasste diese Kaltperioden, denn sie erschwerten ihm das Vorwärtskommen. Mühsam krabbelte und kletterte er weiter, von seinem hervorragenden Geruchsinstinkt geleitet. Er passte sich dabei automatisch farblich der Umgebung an. Eine schätzenswerte Funktion seines Körpers, die ihm die Beutejagd ungemein erleichterte. Auch wenn er nur selten in die Verlegenheit kam, einen anderen Grundton als Rot zu wählen... Da waren sie, die beiden feinen Leckerbissen! Zweibeiner, so wie er es erwartet hatte. Schlank sahen sie aus und durchtrainiert. Möglicherweise ein wenig zu sehnig und mit einem zu geringen Anteil an Fettstoffen. Doch er hatte Zeit. Vielleicht konnte er sie mästen und erst anschließend ganz verzehren. Manchmal wünschte er sich wirklich, Lippen und eine Zunge zu besitzen. Umso mehr, als ihm dann das Wasser im Mund zusammenlaufen könnte...
Unglaublich.
Resnick fand einfach kein anderes Wort für das, was er sah.
Jarvis hatte sich mittlerweile auf einen kantigen Felsbrocken neben ihm fallen lassen und atmete
ebenso schwer wie er.
Der Blick reichte weit, viel weiter, als es Resnick jemals auf der Erde möglich gewesen war zu
sehen, weil dort die Oberflächenkrümmung dazwischen gekommen wäre. Hier jedoch...
Es gab keinen Himmel, lediglich die bereits bekannte Wolkendecke. Die befand sich diesmal
allerdings in einer Höhe von mehreren Kilometern. Zu den Füßen der beiden GenTecs, am Ende
eines steilen Abhanges, den sie hinabblickten, breitete sich weites, sandiges Land aus.
»Dieses Tal hat... «, Jarvis hustete erstickt, »... mindestens einhundert Kilometer im Durchmesser.
Es ist in sich geschlossen. Dies ist das wahre Zentrum des Hohlraums.«
»Wenn es denn noch immer eine Höhle ist«, entgegnete Resnick schwach. »Schließlich sehen wir
keine Decke. Und die Größe mag täuschen. Es geht hier kaum ein Wind, die Luft ist frisch und
klar, die Atmosphäre ein wenig dünner als auf der Erde. Und du hast keinerlei Anhaltspunkt zum
Vergleich.«
»Du weißt, dass ich Recht habe. Die nächstgelegenen Tore, so wie das hier, bei dem wir sitzen,
sind links und rechts jeweils über einhundert Meter entfernt. Lass mich grob schätzen; zehn,
zwanzig...« Jarvis' Stimme wurden für mehrere Augenblicke zu einem verhaltenen Murmeln. Dann
sprach er betont nüchtern weiter: »Dreieinhalb- his viertausend Tore sind es. Jedes einzelne von
ihnen kann ich sehen, selbst...«
»...selbst mit deinem eingeschränkten Augenlicht«, vollendete Resnick, und sprach damit aus, was
den anderen seit geraumer Zeit plagen musste.
Jarvis zuckte kurz zusammen, doch er schwieg.
»Ich habe schon längst bemerkt, dass dein Sehvermögen nachlässt. Ich nehme an, es wird zum
Problem?«
»Es ist nicht nur das Sehen. Es sind auch die ständig stärker werdenden Kopfschmerzen und
Koordinationsprobleme«, sagte Jarvis leise.
»Und ich habe Orientierungsschwierigkeiten«, hielt Resnick dagegen. »Schwindelgefühle.
Magenschmerzen. Doch ich schlage vor, wir vertagen die Analyse unserer Probleme auf einen
anderen Zeitpunkt. Und an einen anderen Ort.«
Jarvis nickte ihm dankbar zu.
Sie, die GenTecs, waren darauf gezüchtet, nahezu Vollkommenheit zu besitzen. So war es sie seit
der Geburt gelehrt worden. Es war bitter, schmerzhaft vom Gegenteil überzeugt zu werden. Denn
irgendetwas stimmte nicht mit ihnen.
Wenn sie nur das Ergebnis von Darnoks Untersuchung kennen würden.
»Du hast Recht«, sagte Resnick, und lenkte damit ihre Gedanken zurück in wichtigere — in die
richtigen! — Bahnen. »Es werden an die viertausend Tore sein, die wir von hier aus sehen können.
Sie sind nebeneinander auf einer Ebene gereiht wie die Perlen einer Kette.«
»Viertausend Tore mit jeweils einem Hohlraum dahinter, der so riesig ist wie der, aus dem wir
soeben kommen?«
»Das ist anzunehmen«, stimmte Resnick zu. »Wir werden uns davon überzeugen müssen.«
»Das bedeutet möglicherweise auch viertausend Kugeln. Viertausend Sende- und
Empfangsstationen, über die wir diese - diese Hohlwelt wieder verlassen könnten.« Ein
Hoffnungsschimmer leuchtete in Jarvis' Augen auf.
Resnick schmerzte es, den Freund wieder auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen.
»Es mag sein, dass in jeder Höhle Eine Kugel auf uns wartet. Doch glaube ich nicht, dass sie auf
SESHA, die RUBIKON II, wo Scobee und John Cloud auf uns warten, ausgerichtet sind.«
»Du meinst also, wir müssen da hinab? Dorthin?« Jarvis deutete mit einem Arm auf das Zentrum des Hohlraums. Dorthin, wo ein Kaleidoskop aus blitzenden Lichtern das Gewicht der Decke zu tragen schien. »Ja«, entgegnete Resnick. »Ich spüre, dass wir dort die Antworten auf unsere Fragen erhalten. Bei diesem Lichterturm.«
Der Abstieg war lang und mühseliger, als sie erwartet hatten. Auch wenn die Hohlwelt und die
Ebene Aufgeräumtheit ausstrahlten, so entpuppten sich Geröllfelder, die von oben her klein und
unbedeutend ausgesehen hatten, als schier unüberwindbare Hindernisse.
»Als hätten Titanen mit Murmeln gespielt«, flüsterte Resnick ehrfürchtig und zog Jarvis hoch zu
sich, auf einen nahezu drei Meter hohen Felsbrocken.
Der Stein schwankte leicht, und verdächtiges Knirschen veranlasste sie beide, so rasch wie möglich
auf den nächstgelegenen Felsen zu springen. Ihre Finger waren bereits schorfig und blutig gerissen.
Die Handschuhe hatten sich als ungeeignet für die schwere Kletterarbeit erwiesen.
»Kurze Pause!«, keuchte Jarvis.
Resnick war nur all zu gerne bereit, dem Freund zu folgen. Hastig zupfte er das Ende eines dünnen
Schlauches aus dem Kragen seines Anzuges und nahm einen kräftigen Schluck Wasser.
»Nur noch ein paar größere Brocken, dann haben wir das Geröllfeld endlich überquert«, sagte er
erschöpft.
»Es wird auch Zeit. Es sind schon mehr als drei Stunden, die wir hier herumturnen.«
»Ich fühle mich müde. Nicht nur ausgelaugt, sondern todmüde«, setzte Resnick fort. »Der große
Brocken dort«, er deutete mit einer Hand auf einen Felsen, der an der Oberkante abgeflacht war
und auch sonst die annähernde Form eines Quaders besaß, »scheint mir ein guter Platz für eine Rast
zu sein.«
»Ein Ort ist so gut wie der andere«, sagte Jarvis. »Mir ist alles recht. Hauptsache, ich kann mich
ausruhen.«
Er schien wirklich am Ende seiner Kräfte zu sein.
»Dann komm«, sagte Resnick, und stemmte sich ächzend hoch.
Mühselig kletterten sie auf den Quader hinauf. Die Oberfläche war leidlich eben und bot genug
Platz für sie beide.
»Sollte nicht einer von uns Wache halten?«, fragte Jarvis und legte sich flach auf den Rücken. »So
ganz traue ich dem Frieden hier nicht.«
»Einverstanden«, antwortete Resnick. »Lass es uns ausknobeln, wer die erste Zwei-Stunden-
Schicht übernimmt.
Also: eins, zwei... Jarvis...? Was ist los mit dir?«
Der andere war bereits eingeschlafen.
Resnick gähnte. Nun gut, dann würde er eben mit... der Wache... beginn...
Weggefährten: Boreguir Sein Instinkt und ein Hauch fauligen Atems des Rattenähnlichen retteten ihn. Gerade noch
rechtzeitig rollte er beiseite, und der heftige Stoß des Gegners mit dem Messer fuhr ins Gestein.
Boreguir ließ Feofneer, sein Herzblut-Schwert, kreisen, sodass es schrill sang.
Es hatte Blutlust, Boreguir konnte das Verlangen der Klinge spüren.
Sein Gegner war reaktionsschnell und flink auf den Beinen. Der Rattenähnliche duckte sich unter
den Halbkreis, den Feofneer beschrieb, rollte nach hinten, und landete sofort wieder auf den drei
langen Hornzehen.
Boreguir stieß nach, schwang unermüdlich das Schwert, trieb den Gegner vor sich her. Hin zum
Wasser, hin zum Endlosen Fluss. Sein sehniger, kräftiger Körper bewegte sich in einem ewig
scheinenden Rhythmus.
Es schien unklar, ob der Arm das Schwert oder das Schwert den Arm bewegte.
Einerlei: Das Ziel war, den heimtückischen Meuchler zu töten, der sich während der Ruhezeit an
ihn herangemacht hatte.
Boreguir erkannte an seinem Gegner die Zeichen des kommenden Sieges. Unendlich viele
gewonnene Duelle hatten ihn gelehrt, dass ein hastiges Schnaufen des Gegners, ein Aufblitzen in
den Augen oder auch nur das Zittern eines einzelnen Barthaares seinen Triumph vorhersagten.
Er schloss die Augen, verinnerlichte nochmals den Todesstoß des Verrats und überließ Feofneer,
dem Schwert, den Rest.
Noch während Bruder Arm die letzten Kampfbewegungen vollzog, verschloss Boreguir Nasen- und
Ohrmuscheln und versteifte den Rücken. Ein dünner, feiner Ton entrang sich seiner Lunge,
steigerte sich zum Akkord und endete in einem wilden Schrei.
Es war vollbracht.
Boreguir öffnete die Augen.
Der Rattenähnliche stand vor ihm, mit dem Rücken zum Endlosen Fluss, mit weit aufgerissenen
Augen. Er war bereits tot.
Sein erstaunter Blick würde ihn ins jenseitige Reich begleiten.
Boreguir kniete nieder, sprach ein paar tröstende Worte zum Ruhme der verlorenen Seele seines
Gegners. Auch wenn der Angreifer tückisch und falsch gehandelt hatte - seine Seele verdiente
aufmunternde Worte.
Anschließend stand er auf und stieß die leblose, nun nur noch aus totem Fleisch bestehende
Körperhülle des Rattenähnlichen ins Wasser.
Boreguir drehte sich zu den wenigen anderen um, die am Ufer standen und saßen.
»Ist das Warnung genug?«, fragte er in die Runde. »Es ist nicht ratsam, mich zum Feind zu haben.«
Niemand antwortete ihm. Die Anwesenden senkten die Köpfe. Dann erhoben sich manche und
verließen ihre Raststätten, während andere sich erneut in ihren Fetzen und Decken vergruben.
Boreguir putzte Feofneer im roten Sand und steckte das Schwert ehrfurchtsvoll in die filigran
ziselierte Scheide. Er ging zurück zu seiner Schlafmulde, wühlte den Boden ein wenig auf, und
schloss schließlich mit einem wohligen Seufzen die Augen. Im selben Moment schlief er ein. Sein
Instinkt behütete ihn.
Etwas war anders, als Resnick erwachte.
Nein - nicht die Umgebung. Etwas an ihm - besser gesagt, in ihm - hatte sich grundlegend geändert.
Es war ein Unwohlsein, ein... Jucken.
Und noch ein wenig mehr.
Achselzuckend richtete er sich auf, reckte die steifen Glieder und weckte Jarvis.
»Wer...? .?Was... Sein Freund schreckte hoch. Dass der GenTec nicht sofort hellwach war, sagte
einiges aus über seine derzeitige Form.
»Alles in Ordnung. Wir haben nur mehr als acht Stunden am Stück geratzt.«
Ein irritierter Blick von Jarvis traf ihn. Das lag wahrscheinlich an der laschen Wortwahl, die
Resnicks Gefährte störte.
Womit dein Freund durchaus Recht hat, tönte es in Resnicks Kopf. Denn der Kluge verständigt sich mittels seiner Sprache, während der Dumme sich wegen seiner Sprache nicht verständigen kann. »Bitte?!«
Resnick hatte laut gesprochen, was Jarvis sichtlich erstaunt zur Kenntnis nahm.
»Seit wann führst du morgens Selbstgespräche?«, fragte er.
»Das ist immerhin ein Gesprächspartner mit Bildung und Intellekt, der noch dazu fantastisch
aussieht«, entgegnete Resnick müde lächelnd.
Ich freue mich, wieder einmal jemanden zu besitzen, der die positiven Qualitäten von Humor,
Sarkasmus und Zynismus zu schätzen weiß, warf die lautlose Stimme in seinen Gedanken unbeirrt
ein.
Resnick klopfte mit der flachen Hand seitlich gegen seinen kahlen Kopf, als könne er damit die
gespenstische Stimme vertreiben.
War dies ein Anzeichen für beginnenden Wahnsinn?
Keineswegs, mein Bester. Ich entschuldige mich, dass ich mich nicht sogleich vorgestellt habe. Mein Name ist... nun, das tut in mageren Zeiten wie diesen eigentlich nichts zur Sache. Nenne mich einfach nur Incus. Ein leises Lachen hallte durch Resnicks Kopf. >Magere Zeiten!< Ein originelles... Wie sagt ihr noch dazu? Ach ja, da finde ich den Begriff. Ein originelles Bonmot! Ich sollte wirklich einmal meine Memoiren niederschreiben lassen. Doch ich spüre, dass du nicht der Richtige dafür bist. Deine dichterische Ader ist zu wenig entwickelt. Was, zur Hölle, ging hier vor?
»G.T., hörst du auch diese Stimme?«
»Was meinst du? Welche Stimme? Hier ist weit und breit niemand zu sehen.« Argwöhnisch blickte
ihn Jarvis an.
Natürlich kann er mich nicht sehen, Dummerchen! Ich stecke doch an dir. Oder in dir, wenn dir
das, semantisch gesehen, lieber ist.
Resnick drehte sich zur Seite und konzentrierte sich. Er formulierte möglichst klare Gedanken. Was
bist du? Und wo bist du?
Ich bin der Incus, eines von vielen gestrandeten Wesen in dieser Hohlwelt. Ich habe dich, während
du geschlafen hast, in Besitz genommen. Ich bitte dich übrigens, in nächster Zeit regelmäßigen
Schlaf zu pflegen. Du solltest tunlichst auf deinen Körper achten, umso mehr, als ich davon zu
leben beabsichtige.
Resnick schluckte hart — was dem Incus keineswegs verborgen bleiben konnte.
Der GenTec nahm sich gezielt unter verstärkte Kontrolle.
Ich verstehe, klang erneut die gedankliche Stimme auf, du bist ein Wesen mit gesteuerten
genetischen Veränderungen. Beherrschung fällt dir leicht. Nun, damit können wir den ersten Akt
unserer Zweierbeziehung mit dem Titel: >Mein Besitz bekommt einen hysterischen Anfall<
übergehen und Klartext sprechen. Umso besser!
Resnick senkte seinen Puls auf ein Normalmaß und wiederholte den zweiten Teil seiner Frage: Wo
bist du?
Und der Incus sagte es ihm.
Weggefährten: Das Nichts Ich hatte alles vergessen. Meinen Namen, meine Herkunft, wie ich aussah... einfach alles. Schatten von Erinnerungen schwebten in den hintersten Bereichen meines Gehirns, und ich spürte, dass ich sie mit einem einfachen gedanklichen Befehl einfangen konnte, wenn es mir nur gelänge, mich zu konzentrieren. Doch irgendetwas hinderte mich am zusammenhängenden Denken.
Ich fühlte und wusste nur das Jetzt. Die Gegenwart.
Und die war nicht unbedingt erbaulich.
Ich steckte in einer Säule aus Wasser. Wasser, das säuerlich schmeckte. Wasser, das langsam und
schmerzhaft in meine Lungen hinab rann, mich ausfüllte, mich ertränkte.
Ich sehnte den Tod herbei.
Doch er wollte nicht kommen.
Die leicht bräunliche Flüssigkeit verfestigte sich um mich herum - und auch in mir. Sie hielt mich
in einem vagen Zustand zwischen Leben und Vergehen. Sie fixierte mich, schweißte mich ein wie
in einem Kitt aus durchsichtigem Kunstharz.
Ich stand aufrecht, so viel konnte ich spüren. Meine Augen - zwei? - waren geöffnet, doch sie
trockneten nicht aus. Sie erkannten jedoch lediglich vage Schatten meiner Umgebung - dunkle und
helle Flecken.
Sekunden und Minuten stand ich so da.
Aus den Minuten wurden in endloser Qual Jahre und Jahrzehnte.
Resnick schimpfte unbeherrscht, während er sich in aller Eile den Anzug vom Leib riss. Jarvis starrte ihn an, als wäre sein Gefährte wahnsinnig geworden. Wusstest du, dass dieser Fluch, in dem du dein Gegenüber einlädst, deinen Darmauslass zu befeuchten, in mindestens einhundertvierundvierzig unterschiedlichen Kulturen Anwendung findet? In meiner alten Heimat gab es einen Nahrungsphilosophen, der alleine aus dieser Gemeinsamkeit schloss, dass alle Völker dieser Sterneninsel einen einzigen Ursprungsplaneten haben müssen... Der Incus hörte und hörte nicht auf zu plappern.
Endlich war es geschafft, und Resnick streifte den Anzug von sich ab.
Kannst du mich jetzt sehen?, klang die gedankliche Stimme erneut auf. Ja, er konnte es.
Quer über seinen muskulösen Bauch lag ein echsenartiges Lebewesen. Es musste federleicht sein,
denn er konnte das Gewicht kaum spüren.
Jarvis war einen Schritt zurückgewichen und fast über die Kante des Quaders abgestürzt. Seine
Augen waren weit aufgerissen.
Er muss wirklich erschrocken sein. Erschrockener als ich, dachte Resnick. Ich bitte doch, von Beleidigungen abzusehen, mein Bester! Mag sein, dass mein Teint aufgrund der miserablen Kost hierzulande nicht besonders vorteilhaft scheint. Doch ich kann dir sagen, dass ich auf meiner Heimatwelt als einer der begehrtesten Junggesellen galt. Verdammt, gab der denn nie Ruhe? Diese Zeit wird kommen, gedulde dich... »Beschreibe ihn mir genau«, sagte Resnick zu Jarvis.
Er konnte sich nicht weit genug vorbeugen, um den Incus genau zu betrachten.
»Durchsichtig, geleeartig«, sagte Jarvis, der sich gefasst hatte und nun vor ihm kniete. »Hunderte,
nein, tausende kleine verästelte Blutbahnen sind im gesamten Körper sichtbar. Dazu Eine Art
Knochengerüst, weiß und extrem schmal. Er ist zirka zwanzig Zentimeter lang, plus einen etwa
zehn Zentimeter langen Schwanz. Rudimentär ausgebildete Vorder- und Hinterbeine mit dünnen,
aber scharfen Krallen. Der Kopf wird zur Schnauze hin ganz flach. Drei Zähne, offensichtlich hohl,
haben sich im Bereich deines Blinddarms in den Körper gebohrt. Der Kopf ist als einziger
Körperteil undurchsichtig. Grundgütiger, was ist das Ding hässlich!«
Ich muss doch schon sehr bitten, ruf deinen Freund zur Raison, dachte der Incus empört. Ich beschwere mich auch nicht über den übermäßigen Talggehalt in der Oberhaut eurer Körper! Wie gesagt, auf meiner Heimatwelt pries man in Lobliedern die Zartheit meines Raffschwanzes, den eleganten Schwung und die Rundung meines Saugkörpers, den...
Resnick hörte nicht weiter zu. »Er hat gesagt, dass er ein Parasit sei. Er saugt mir mit den Hohlzähnen das Blut ab, reinigt es, und leitet es über einen Ausgang am Hinterteil des Rumpfes wieder zurück in meinen Körper. Aber er beraubt das Blut mancher seiner Bestandteile...« Moment mal, meldete sich der Incus erneut. Du kannst stolz auf mich sein! Ich habe die wissenschaftlichen Begriffe bereits aus deinem Wissenspool extrahiert, dieser grauen, mehrfach gefalteten Masse in deinem Kopf. Also, mal sehen, ob ich's zusammenbringe: Ich nehme dir die Lymphozyten, ein wenig Hämoglobin aus den roten Blutkörperchen, eine kleine Prise von den Thrombozyten, und einen bunten Cocktail aus Eiweißen, Fetten, Kochsalz und Traubenzucker. Gewürzt mit zart duftenden Botenstoffen und Fibrinogenen und mit ein wenig Wasser ergänzt, ergibt das einen vorzüglichen Nahrungsbrei. Resnick wiederholte für Jarvis die Informationen des Incus.
»Also wird allmählich dein Immunsystem zusammenbrechen«, fasste Jarvis zusammen. »Oder du
stirbst an Mangelerscheinungen, egal, wie viel Nahrung du zu dir nimmst. Oder du verblutest an
der kleinsten Wunde. Oder...«
»Danke, mein medizinisches Wissen ist genauso groß wie deines«, sagte Resnick genervt.
»Soll ich versuchen, den Symbionten vorsichtig zu entfernen?«, fragte Jarvis.
Ich halte das für keine gute Idee, mein Lieber, meldete sich der Incus erneut. Sein dünner,
transparenter Schweif peitschte plötzlich aggressiv auf und ab. Wir müssen uns für die nächste Zeit
arrangieren. Dies kann der Beginn einer wunderbaren, gegenseitig befriedigenden Partnerschaft
sein...
gegenseitig befriedigend?, hakte Resnick sofort nach.
Natürlich! Du gibst, 'and ich nehme. Aber bitte unterbrich mich nicht immer. Ich bin mitunter sehr
sensibel. Also nochmals: entweder eine befriedigende Partnerschaft oder...
...oder?
Oder eine Welt voll Pein.
Resnick blieb noch ein Moment für einen schwachen Aufschrei, dann explodierte der Schmerz, und
er sank bewusstlos zu Boden...
»...jetzt wach schon auf...«
Jarvis' von Besorgnis erfüllte Stimme erreichte ihn wie durch einen dicken Wattebausch, der sich
um seine Sinne gelegt hatte.
Sein Herz klopfte rasch und kräftig. Resnick meinte zu spüren, wie das Blut durch Venen und
Adern pulste.
So ist es, Freund. Ich kann meinen Körper mit den bescheidenen Fähigkeiten, die mir der Gott aller Liebhaber lukullischer Genüsse geschenkt hat, unter anderem als Umwälzpumpe deines Lebenssaftes verwenden. Eine leichte Erhöhung des Sauerstoffanteils, und es geht dir besser als jemals zuvor. Resnick ignorierte die mentale Stimme so weit es ihm möglich war und richtete sich unbeholfen
auf.
Vor seinen Augen tanzten bunte Sterne.
»Alles wieder in Ordnung?«, fragte Jarvis besorgt und stützte ihn an den Schultern.
»Es... geht. Es muss gehen.«
»Ich habe versucht, dieses glibberige Echsenwesen mit Gewalt von deinem Körper zu trennen«,
sagte Jarvis. »Doch es sitzt zu fest. Fast so, als ob es angeschweißt wäre. Es wäre mir
wahrscheinlich dennoch gelungen, wenn du nicht...«
»... wenn ich nicht was?«
»Wenn du dich nicht, sobald ich etwas kräftiger zugepackt habe, trotz deiner Bewusstlosigkeit
unter heftigen Schmerzkontraktionen gewunden hättest.«
Dein Freund ist auch allzu grob mit mir umgegangen, dachte der Incus an Resnicks Adresse. Ich
musste ihm begreiflich machen, dass du mein Eigentum bist.
Resnick schrie in Gedanken auf. Ich bin niemandes Eigentum!
Ja, ja, ja. Jetzt reg dich bitte nicht auf. Du zerstörst doch deinen ganzen guten Geschmack. Der
Incus seufzte. Sieh doch nach vorne, sieh die Welt positiv! Du bist das Labsal eines der
höchstentwickelten Lebewesen dieses Universums, eines Gourmets, eines Lebemannes, eines
Bonvivants, eines Nahrungsphilosophen, dessen Ruf an Kochherden ohne Zahl gerühmt wird...
Der mich langsam töten wird!
Mit welcher Begründung, so frage ich mich seit Jahrzehnten, nehmt ihr Imbisshappen euch das
Recht heraus, euch in den Mittelpunkt alles Seins zu stellen? Egal, ob zäher, dickblütiger
Fleischhappen oder kaltblütlerischer Zwischendurch-Blutriegel - ihr glaubt, dass sich die Welt nur
um euch dreht. Dass ihr die Spitze der Nahrungskette seid.
Auf meinem Heimatplaneten ist es auch so, entgegnete Resnick trotzig.
Aber nicht in dieser Hohlwelt. Nimm das gefälligst zur Kenntnis. Und jetzt setz dich in Bewegung.
Du benötigst die Zufuhr frischen Wassers, nicht dieses mehrmals gefilterte und geschmacksneutral
gehaltene Gesöff in deinem Anzug. Ich habe bereits einen metallenen Geschmack von dir in
meinem Körper. Pfui, widerlich!
Der Incus verzögerte seine Blutzirkulation ein wenig. Resnick verstand die mehr als offensichtliche
Drohung.
Wo finden wir Wasser?, fragte er resigniert.
Es gibt eine einzige Wasserstelle, und das ist der Endlose Fluss. Er befindet sich unten im Zentrum
der Ebene beim Kristallturm.
Also darum handelte es sich bei dem schmalen Lichterband, das sich bis in die Wolken erhob —
Kristalle, die das Licht brachen und reflektierten.
Jedenfalls hatte der Incus ihr Marschziel damit endgültig festgelegt, ob Resnick es wollte oder
nicht.
Resnick beschrieb Jarvis seine verzwickte Situation mit wenigen Worten. Der GenTec nahm die verzwickte Situation ohne sichtbare Gefühlserregung zur Kenntnis. »Glaubst du, dass wir den Incus überlisten können?«, fragte er lediglich. »Würde er aus deinem Körper flüchten, wenn du ihm Panik vorspiegeln würdest?« »Abgesehen davon, dass er jedes Wort unserer Unterhaltung mithören kann, erkennt er eine Lüge rascher als ich sie formulieren kann«, erwiderte Resnick. »Meine Gedanken sind seine Gedanken. Es handelt sich offensichtlich nicht nur um eine physische, sondern auch um eine psychische Verbindung. « Exactement, mon cher, dachte der Incus, um übergangslos das Thema zu wechseln. Eine sehr gefällige Sprache übrigens, dieses französisch. Du solltest deine Kenntnisse aber ein wenig auffrischen. Ihr Menschen seid wohl nicht für langfristiges Behalten von Gedächtnisinhalten ausgelegt. »Und wenn ich ihn töte?«, schlug Jarvis vor. »Einfach so? Ein kurzer Schlag mit einem Stein, und sein Körper bricht auseinander.« Resnick schwieg einen Moment. »Das ist wahrscheinlich für mich eine unangenehme Variante. Der Incus lässt dir ausrichten, dass er im unerwarteten Falle seines Ablebens Botenstoffe an seinen Wirt, also an mich, aussendet, die eine chemische Reaktion bewirken. Eine Art Blutvergiftung ist die Folge. Er meint, dass ich das Gefühl entwickeln würde, von innen her zu verbrennen. Danach würde ich ins Delirium fallen, tagelang, bis ich innerlich verfault bin.« Resnick überkletterte den letzten größeren Felsbrocken.
Mit Hilfe des Incus erreichten sie die Talsohle ohne weitere Probleme. Die kleine Echse sah mit
seinen Augen und dirigierte jeden seiner Schritte. Sie kannte wohl jeden Winkel der weiten,
sandigen Ebene, deren Ausdehnung von hier unten noch gewaltiger wirkte.
Resnicks Gedanken drehten sich im Kreis.
Alles in ihm wollte revoltieren, gegen die Beeinflussung durch das unheimliche Wesen ankämpfen.
Doch sein Verstand, der die Aussichtslosigkeit erkannt hatte, hinderte ihn an unüberlegten
Aktionen. Vielleicht kann ich ihn später, wenn er schläft, überlisten...
Diese Einstellung gefällt mir, mein wonniglicher Imbiss, ertönte sofort die amüsierte gedankliche
Stimme des Incus. Solange du an Widerstand und an Flucht denkst, bleibt dein Lebenswille intakt.
Dies verlängert deine Existenz — und du schmeckst gleichzeitig besser.
Wie lange habe ich deiner Meinung nach noch?, fragte Resnick ruhig. Er hatte die Auswirkungen
seiner Angst nahezu auf Null reduziert.
Schwer zu sagen. Es dauert seine Zeit, bis sechseinhalb Liter Blut von seinen leckeren Zutaten gereinigt sind. Sobald du verwässert bist und du dich schlecht fühlst, werde ich's kurz machen. Du hast einen leichten Tod vor dir, wenn du dich nicht unnötig gegen mich wehrst. Wie lange also?, hakte Resnick nach. Zehn bis zwölf Tage deiner Zeitrechnung, würde ich mal sagen. Du solltest allerdings besonders salzhaltige Nahrung zu dir nehmen. Ich kann dir bei der Suche gerne helfen... Später vielleicht. Es wäre mir recht, wenn du mir in der Zwischenzeit etwas über diese Hohlwelt erzählen könntest. Und der Incus breitete seine Geschichte vor ihm aus...
Weggefährten: der Incus Ich kam, so wie auch du und dein Begleiter, in einer jener Rettungskugeln hier an. Ja, ich gebe es zu, es war die verfluchte Neugierde, die mich auf meiner Heimatwelt Inshinn ins Innere der Transportkapsel trieb. Neugierde ist eine meiner wenigen kleinen Schwächen. Wie oft habe ich die Stunde verflucht, zu der ich - freilich ein wenig angeheitert vom Alkoholgehalt im Blut meines damaligen Besitzes - vom Weg abkam. Ich landete alsbald in einem jener unzugänglichen Sumpffelder, die sich zwischen den Städten Inshinns ausbreiten. Da lag es, das runde, graue Ding, halb versunken im Schlamm, aber ohne sichtbare Beschädigungen. Es leuchtete und pulsierte in einem ruhigen Rhythmus. Mein damaliger Besitz, ein hohlköpfiges, sechsbeiniges Fleischwesen mit einem etwas zu hohen Anteil an Kochsalz im Blut, galoppierte wie hypnotisiert darauf zu. Ich hätte es aufhalten sollen nein, müssen! -, doch ich gestehe, dass auch ich fasziniert von dem fremden Ding und seinen lockenden Stimmen war. Doch was soll's! Passiert ist passiert. Wir stiegen in die Kapsel, sie startete völlig unvermittelt, und ohne spürbaren Zeitverlust landeten wir in einer Nebenhöhle, ähnlich der, in der auch ihr angekommen seid. Du solltest mir dankbar sein, Resnick, das ich an und in dir bin. Denn ich kann dich auf das Kommende vorbereiten. Ich hingegen, damals naiv und unbedarft, musste mir meinen Platz in der Gesellschaft der Hohlwelt erst mühselig erkämpfen. Es bedurfte mehrerer Besitzwechsel, bis ich mir notwendiges Wissen angeeignet hatte, um meine Lebensumstände an die geänderte Situation anzupassen. Denk nur an die Qualen, die ich erlitt: Wurmwesen, Arachnoiden und sogar widerlich schmeckende Kriecher ohne erwähnenswertes Bewusstsein standen auf meiner Speisekarte. Doch ich kann sagen, dass ich es heute geschafft habe. Ich bin eines der am höchsten angesehenen Lebewesen hier.
Nun, vielleicht ist »hoch angesehen« nicht ganz die richtige Bezeichnung. Doch zumindest werde ich geachtet. Und gefürchtet. Ich sehe in deinen Gedanken, dass du eigentlich mehr über die Hohlwelt und ihre Geheimnisse wissen willst? Wie du und dein Freund bereits vermuteten, gibt es mehr als viertausend Landestellen für Transportkapseln. Sie sind rund um die tatsächliche Hohlwelt angeordnet, und sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Dies ist übrigens ein nettes Vergleichsbild aus deinem Bewusstsein, das mir zeigt, dass auch ihr Menschen eine rudimentär ausgeprägte Beziehung zu eurer Nahrung pflegt. Eier gelten in vielen Kulturen als ein Symbol der Vollkommenheit. Bei euch hingegen wird es eher als das, was es ist angesehen — als Nahrungsmittel. Ein sehr sympathischer Zug, wirklich. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, die Landehöhlen: Keiner, der hier gestrandet ist und den ich nahrungstechnisch kennen gelernt habe, konnte jemals ergründen, warum die Lichtfurchen in diesem düsteren Rot leuchten. Warum die Sicht in den Nebenhöhlen dermaßen begrenzt ist. Warum eine dünne Membran den Übergang zur Hohlwelt bildet. Doch eines steht unverrückbar fest: Noch niemals konnte eine der Kapseln dazu bewegt werden, den Rückflug an ihren Ausgangspunkt anzutreten. Du bist erschüttert? Ich sehe doch in deinen Gedanken, dass du mit Ähnlichem bereits gerechnet hast. Also, mach dir nichts vor! Dies ist die Endstation deines Lebens, von hier gibt es kein Entrinnen. Der Kristallturm? Natürlich ist er der größte Anziehungspunkt hier. Nicht nur, dass uns der Endlose Fluss, der um den Türm fließt, mit Wasser versorgt. Die kristallene Nadel ist auch unerreichbares Objekt der Begierde. Ja, du hast schon richtig verstanden. Ich sagte: um den Turm. Mach dir nur keine Hoffnung, dem Flusslauf folgen zu können und einen Ausgang aus der Hohlwelt zu finden. Du wirst schon sehen, was ich meine, sobald wir am Ufer des Endlosen Flusses angekommen sind. Du hast also bereits von den Hirten gehört? Es geht das Gerücht - normalerweise halte ich mich von Tratsch und Klatsch fern, aber dieser Mythos ist hier außerordentlich gefestigt -, dass die Hirten einem uralten Volk angehören und diese Hohlwelt als unterste Basis ihres Refugiums errichtet haben. Der Kristallturm ist der Einstieg zu den oberen Ebenen, wo sie möglicherweise leben und unsere vergeblichen Versuche, zu ihnen hinaufzugelangen, amüsiert beobachten. Welche Verschwendung an wertvollem und nahrhaftem Leben musste ich bereits mit ansehen! Dutzende haben bereits versucht, den Fluss zu durchqueren und den Turm zu besteigen. Alle haben es mit ihrem Leben bezahlt. Doch warum erzähle ich dir das alles? Nach etwas mehr als einem Tagesmarsch sind wir beim Kristallturm. Dann kannst du mit eigenen Augen sehen, was ich meine. Mittlerweile sollte ich ein kleines Schläfchen halten. Ich habe wohl zu üppig gefrühstückt. Aber dein Blut schmeckt einfach allzu lecker. Wecke mich bitte in drei, vier Stunden. Und komm ja nicht auf dumme Gedanken!
»Und mehr hat er nicht erzählt?«, fragte Jarvis. »Er ist ganz einfach eingeschlafen?«
»So ist es«, antwortete Resnick. Er wollte nicht über die schmerzhafte Intensität sprechen, die den
gedanklichen Impulsen des Echsenwesens innewohnten. Auch der Magen schmerzte immer mehr,
das Herz klopfte rascher als normal - und er war nicht in der Lage, den Rhythmus
runterzuregulieren.
»Was für andere Lebewesen erwarten uns hier in dieser Einöde?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Resnick gereizt.
Verausgabe dich nicht zu sehr, erklang es schläfrig in seinen Gedanken. Ich hasse Verschwendung.
Vor allem, wenn du Energie verschwendest, die eigentlich mir gehört.
Resnick erwiderte nichts. Er ließ den Incus nur die Wut spüren, die ihn erfüllte.
Doch das Echsenwesen war bereits wieder eingeschlafen.
Die Ebene zog sich scheinbar endlos dahin. Ab und zu passierten sie steinerne Monumente.
Resnick hielt sie für zu glatt und zu perfekt modelliert, um natürlich entstanden zu sein.
»Ich glaube, das sind alles Sinnbilder für Tore und Brücken«, sagte Resnick. »Sieh nur da: eine Art
Aquädukt. Und dort - ein weit gezogener Bogen, ähnlich wie es sie im >Arches National Park< in
Utah gibt. Und das muss die Andeutung einer Treppe sein...<<
»Deine Fantasie in allen Ehren«, unterbrach ihn Jarvis, »aber ich sehe nur Geröll. Für mich ergeben
diese Gesteinshaufen keinen Sinn.«
Resnick schwieg bedrückt. Jarvis' Hang zur Nüchternheit wurde immer ausgeprägter.
Es konnte durchaus sein, dass die Schwäche, die sie beide im Griff hielt, bereits auch Teile ihrer
Gehirne angegriffen hatte - und schädigte.
Er behielt diesen Gedanken für sich.
Der Kristallturm wollte und wollte nicht näher rücken. Sein hellblau reflektierender Schein, der die
Details des Bauwerks weitgehend verdeckte, erlaubte keine Rückschlüsse auf die Distanz, die sie
noch zu marschieren hatten.
War es denn ein Bauwerk? War es lediglich ein künstlerisches Objekt oder hatte es eine Funktion?
Konnte man den mündlichen Erzählungen glauben, die ihm der Incus weitervermittelt hatte? War
der Turm das Tor zu einer Basis der Hirten? Wenn ja - wie konnte er den Incus dann davon
überzeugen, dass er den Aufstieg versuchen wollte?
Weggefährten: Boreguir Jeder Morgen am Fuße des Kristallturms spiegelte eine Normalität wider, die es in Wirklichkeit
nicht gab.
Es war ein ungeschriebenes Gesetz der Hohlwelt, dass ein jedes Wesen, das in dieser unwirklichen
Welt lebte, früh morgens am Endlosen Fluss unbeschadet blieb.
Doch nach etwa einem Zwölfteltag endeten jegliche sozialen Gemeinsamkeiten, und es hieß
Fressen oder Gefressen werden.
Noch war es nicht so weit, und Boreguir beobachtete von seiner Schlafstätte aus das lebhafte
Treiben.
Geschnattere, Gezische und Gebelle ertönte von überall her. Tentakel wurden gereinigt,
Wassergötter in hohem Singsang verzweifelt angerufen, Wunden des Vortages versorgt. Da ein
kurzes Gespräch zweier alter Kampfgefährten, dort das Gewinsel eines verletzten Achtfüßlers, der
diesen Tag wohl nicht überleben würde. Und zwischen all den unterschiedlichen Wesen wuselten
die instinktbehafteten Bichistos umher.
Die meisten intelligenten Wesen sprachen Parsisch. Eine Gebrauchssprache, so einfach zu erlernen,
dass selbst die Primitivsten unter ihnen nach wenigen Tagen die Grundzüge des Wortschatzes intus
hatten.
Mehr als dreihundert Lebewesen waren zum Endlosen Fluss gekommen. Dreihundert von
insgesamt vielleicht vierhundert.
Boreguir beobachtete sie genau.
Seitdem er so wie alle anderen hier gestrandet war, vor mehr als zweihundertfünfzig
Tageswechseln, saß er hier und wartete.
Er bemühte sich, jedes einzelne der Wesen nach seinen Fähigkeiten einzuschätzen.
Ein kräftiger Vogelähnlicher, ein wenig größer als Boreguir selbst, krächzte bösartig und vertrieb
einen kleinen Nager, der sich unvorsichtigerweise zwischen seine langstieligen Laufbeine begeben
hatte.
Er wirkte stark, aber auch jähzornig und dumm. Er war mit Sicherheit nicht der Richtige für ihn.
Ein Vierbeiner mit grauer, fettiger Haut, deren Runzeln fast bis auf den Boden hinabreichten,
tauchte die vorgereckten Nüstern vorsichtig ins Wasser, nahm einen Mund voll Wasser zu sich und
zog sich dann mit unerwarteter Schnelligkeit vom Endlosen Fluss zurück.
Zu schwer. Und zu feige. Auch er war nicht der Richtige.
Ein Zweibeiner, schlank, mit bunten Stofftüchern um den Leib gewickelt, kochte ein karges Mahl
in einer rostigen Dose. Er wirkte ruhig und überlegen. Als ob ihn das Treiben der Umgebung nichts
anginge.
War er geeignet? Boreguir zögerte. Er hatte den Hageren schon öfters gesehen. Er kehrte jeden
Morgen zur gleichen Stelle zurück, um dort sein Frühstück einzunehmen. Niemand kümmerte sich
um ihn, ja, die anderen schienen geradezu penetrant einen Abstand von mehreren Körperlängen zu
halten.
Boreguir stand auf und gürtete sein Schwert Feofneer. Achtlos ließ er den kärglichen Rest seiner
Ausrüstung zurück. Zu dieser Zeit waren keine Diebe unterwegs. Außerdem hatte er sich bereits
ausreichend Respekt verschafft. Sie alle kannten seine Schnelligkeit.
Er ging auf das dürre Wesen zu, das unbekümmert seine Fleischsuppe löffelte. Man machte
Boreguir bereitwillig und respektvoll Platz.
Noch zehn Schritte waren es zu seinem Ziel. Er zögerte. Bösartiger, betäubender Geruch breitete
sich mit einem Mal aus.
Boreguir zwang sich weiterzugehen. Der Hagere drehte sich behäbig zu ihm um, öffnete den
großen Mund. Sein Kiefer renkte sich mit einem lauten Klackern aus. Der untere Teil fiel scheinbar
haltlos eine halbe Armbreite hinab und hing dort, nur von runzeligen Hautfetzen gehalten.
»Ho, Freund«, sagte der Dürre. »Es freut mich, endlich wieder einmal mit jemandem zu sprechen.
Setz dich zu mir! Aber wo läufst du denn hin?«
Boreguir hielt es nicht mehr aus. Die Ausdünstungen des anderen waren so intensiv geworden, dass
sich seine Füße einfach wegbewegten. Er konnte keinen Einfluss darauf nehmen.
Ein Schwall von Fäulnis war über ihn hinweggeschwappt, sobald der Hagere seinen Mund
ausgerenkt hatte.
Fäulnis. Verderbtheit. Verfall.
All das hatte er in diesen wenigen Momenten gerochen. Und noch vielmehr. Etwas, das in ihm
Todesängste auslöste.
Unterdrücktes Gelächter und Gekichere begleitete ihn auf seinem Weg zurück zu seinem Lager.
Die älteren Bewohner der Hohlwelt kannten den grauen Stinker wohl.
Boreguir hatte sich erheblich blamiert, und er ärgerte sich.
Respekt war verloren gegangen. Respekt, den er nur durch Kampfesleistungen wieder hervorrufen
konnte.
Ein weiterer Morgen war vertan. Auch heute würde er keinen Kampfgefährten mehr finden.
Je mehr sie sich dem Kristallturm näherten, desto wuchtiger und erdrückender wirkte er. Abertausende glatt geschliffene Facetten gaben dem Gebilde eine optische Unruhe. An manchen Stellen entdeckten die beiden GenTecs, je näher sie kamen, Vorsprünge, vielleicht einen Meter breit. Und der Turm schien zu - arbeiten! Kam es Resnick nur so vor, oder änderte sich sein Aussehen? War es wirklich so, dass an dieser Stelle ein Stückchen einfach verschwand, und an einer anderen eine neue Spitze aus dem Nichts entstand? Oder täuschten ihn nur seine Augen? Bekam er ähnliche Probleme mit seinem Sehvermögen wie Jarvis?
»Seltsam«, sagte er, »geschliffene Kristalle erweckten in mir bislang immer das Gefühl von
Zartheit und Zerbrechlichkeit. Sie wirkten stets beruhigend. Aber dieses Unding da... Es strahlt
Bedrohlichkeit aus. Als könnten jederzeit Splitter herab brechen und mich in Stücke zerschneiden.«
»Ein Kristall ist nichts«, brummte Jarvis. »Nur tote Masse.«
Dein Begleiter wirkt ein wenig nüchtern, das muss ich schon sagen. Wie hältst du es nur mit ihm
aus? Tu mir bitte den Gefallen und spanne die Bauchmuskeln nicht zu sehr an, während ich esse.
Er ist mein Freund, dachte Resnick an die Adresse des Incus.
Er ignorierte das Ziehen und die Schmerzen im Bereich um seinen Bauchnabel und bemühte sich,
die Anspannung in seiner Muskulatur zu lockern. Bitten, die der Incus aussprach, wurden sonst nur
allzu rasch zu Befehlen.
Freundschaft, soso. Ein interessantes Konzept, dem ich schon bei diversen Mahlzeiten begegnet bin. Auf meiner Heimat, Inshinn, gibt es das nicht. Man isst, man paart sich bei Gelegenheit, und man isst weiter. So, wie ich es sehe, ist Freundschaft etwas, das zu sehr vom wahren Wert der Existenz ablenkt. Der da wäre?, fragte Resnick ohne nachhaltiges Interesse. Die Liebe zu sich selbst, natürlich! Ein gesunder Egoismus bestimmt doch unser Leben in Wirklichkeit. >Friss, oder stirb!<, sagt ihr Menschen dazu. Eine Redensart, die perfekt auf mich zugeschnitten ist, haha. Und darauf bist du auch noch stolz? Natürlich! Ich gebe offen zu, dass ich in erster, zweiter und dritter Linie an mich selbst denke, während du und dein Begleiter euch hinter Floskeln wie Freundschaft, Brüderlichkeit und Gemeinsamkeit versteckt. Doch sag einmal die Wahrheit: Wenn du die Wahl gehabt hättest, zu entscheiden, wen von euch beiden ich hätte anmelken sollen... Wie hättest du dich entschieden? Ich... vielleicht... na ja... Na, siehst du! Doch lassen wir die Diskussion. Langsam erreichen wir die unmittelbare Umgebung des Kristallturms. Es wird Zeit, dass ihr eure Aufmerksamkeit erhöht. Es kann hier mitunter ganz schön gefährlich zugehen. Das sanfte Rauschen, das sich unmerklich in Resnicks Hören verankert hatte, wurde lauter.
Der Ewige Fluss..., dachte der Incus.
»Wasser«, murmelte Jarvis, und benetzte instinktiv die ausgetrockneten, aufgesprungenen Lippen.
Resnicks Partner schonte die Vorräte seines Anzugs, während der Incus sein Opfer zur
regelmäßigen Flüssigkeitsaufnahme gezwungen hatte.
»Um diese Uhrzeit soll es um den Kristallturm ruhig sein«, sagte Resnick und gab damit das
Wissen des kleinen Echsenähnlichen weiter. »Aber es ist besser, wenn wir uns dem Fluss nur
vorsichtig nähern. Mehrere andere gestrandete Lebewesen warten hier, um unvorsichtigen
Schicksalsgenossen aufzulauern.«
»Gibt dir dein Parasit auch Antworten auf die Fragen nach dem Warum? Warum hier jeder den
anderen bekriegt?«
»Um seinen Platz möglichst weit oben an der Spitze der Nahrungskette zu behaupten.«
»Du meinst...«
»Ja.« Resnick hatte keine Lust, auch noch über dieses Thema zu reden. Die eindringlichen,
anschaulichen Schilderungen des Incus lagen ihm ohnehin schwer im Magen.
Doch Jarvis hakte erbarmungslos nach. »Sind die bedauernswerten Opfer, die von Zeit zu Zeit
wegen ihrer Unvorsichtigkeit erlegt werden, die einzige Nahrungsquelle? Ich kann mir nicht
vorstellen, dass eine Zivilisation, und sei sie noch so klein, sich auf Dauer von Wasser und...
Jagdopfern ernähren kann.«
Ich habe mich einmal an einem halb gegarten Opfer einer Jagdgesellschaft versucht, warf der
Incus völlig unvermittelt ein. Du hättest ihn vielleicht als >Medium durch< bezeichnet. Ich kann
einfach nicht nachvollziehen, was ihr großen Fleischfresser an Gebratenem so findet. Das Blut war
bereits gestockt und ich konnte nur mit äußerster Mühe ein paar wenige Tropfen aus ihm
absaugen...
Resnick wurde übel, und er ließ sich in den Sand fallen.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Jarvis. Besorgnis klang in seiner Stimme durch.
»Ja... ja«, antwortete der Glatzköpfige. »Es fällt mir manchmal schwer, mit meinem... Symbionten
umzugehen. Seine Bilder sind mitunter so kräftig, dass sie meine eigenen Gedanken überlagern.
Und wenn du auf einmal siehst, mit welcher Lust der Incus Nahrungsaufnahme betrachtet... Es ist
einfach widerlich!«
Die Echse schwieg zu den Worten. Lediglich ihr kleiner Schweif peitschte einige Male auf seiner
Bauchdecke auf und nieder.
Jarvis sagte nichts und half seinem Gefährten stattdessen auf die Beine. Sie marschierten weiter.
Bleibt vorsichtig, mahnte der Incus noch einmal.
Ein verhaltenes Rascheln ertönte plötzlich.
Resnick stemmte sich breitbeinig in den Boden, alarmbereit, kontrollierte den Atem und sah sich
um.
Jarvis, der ebenso rasch auf das Geräusch reagierte, deutete auf eine Bodenwelle wenige
Körperlängen vor ihnen. Das Gelände fiel dort abrupt mehrere Meter ab und entzog das dahinter
liegende Gebiet ihren Blicken.
Mit wenigen Handzeichen einigten sie sich auf eine Vorgehensweise.
Sie trennten sich.
Jarvis schlich sich von links, Resnick von rechts an die Geräuschquelle an. Sie nutzten mehrere
breite Felsplatten im steiniger werdenden Gelände und vermieden jegliche Geräuschentwicklung.
Resnick zog sich mit einem kraftvollen Armzug auf einen etwas wackeligen Brocken, der über die
Bodenwelle hinausragte. Langsam schob er den Kopf vor und blickte nach unten.
Die schabenden Geräusche waren weiterhin zu hören, doch sehen konnte er nichts... Moment! Ein
Etwas, metallisch rot glänzend, huschte mit irrwitziger Geschwindigkeit zwischen Steinen und
Felsen hin und her. Es verharrte auf einmal, wie versteinert, und passte sich dabei der Umgebung
fast perfekt an.
Ein Bichisto, meldete sich der Incus.
War da Erleichterung, die in der Botschaft des Echsenwesens mitschwang? Spürte es etwa...
Angst?
Der Incus ging nicht auf die provokanten Gedanken seines Trägers ein, sondern erklärte
stattdessen: Die Bichistos sind die einzigen Wesen, die es bislang geschafft haben, sich perfekt auf
die Bedingungen in der Hohlwelt einzustellen. Einige wenige von ihnen sind erst vor dreißig,
vierzig Jahren deiner Zeitrechnung mit einer der Kapseln hierher gelangt. Seit damals haben sie
sich immens vermehrt.
»Die sehen ja wie überdimensionale Käfer aus«, murmelte Resnick und signalisierte Jarvis, dass er
seine lauernde Position verlassen konnte. Dann richtete er sich selbst auf.
Der Bichisto schrak hoch, richtete sich abwehrbereit auf vier chitingepanzerten Hinterbeinen auf
und trippelte schließlich davon. Er war so schnell, dass die Bewegungen seiner Glieder für Resnick
optisch nicht mehr zu verfolgen waren. Nach wenigen Momenten war er aus ihrem Gesichtsfeld
verschwunden.
»Das sind Bichistos«, gab Resnick weiter, was ihm der Incus einflüsterte. »Sie sind friedlich und
ängstlich. Doch alle zehn Tage werden sie unruhig, sammeln sich an einer Stelle nahe des
Kristallturmes und paaren sich. Sie verfallen dabei in Raserei, und man sollte ihnen dann nicht zu
nahe kommen. Der Incus meint, dass es bald wieder so weit sein müsste.«
»Sollen wir deswegen den Marsch zum Kristallturm unterbrechen und warten, bis die Orgie
vorüber ist?«, fragte Jarvis.
Nein, keineswegs. Sag das deinem Freund, meinte der Incus. Ich kann genau abschätzen, wann es für mich - ich meine, für uns - gefährlich wird. Die große Versammlung der Bichistos bringt auch Vorteile für euch. Vorteile?, fragte Resnick laut, während Jarvis sein stilles Zwiegespräch argwöhnisch beobachtete.
Proteine und Eiweiß für euch, meine Freunde! Bichistos sind die Hauptnahrungsquelle für euch Fleischfresser. Ich habe mir sagen lassen, dass unter der Chitinhülle und einer dicken Trennschicht schleimiger Flüssigkeit zartes, weiches Fleisch liegt. Also voran, mein Lieber! Es wird Zeit, dass du wieder zu Kräften kommst. Oder willst du mich darben lassen? Ein kurzer, offensichtlich als Ermunterung gedachter Schmerz in der Nierengegend ließ Resnick zusammenzucken, und er beeilte sich, den Marsch wieder aufzunehmen.
Weggefährten: Boreguir Das Licht des Kristallturms flackerte kurz.
Es blinkte in regelmäßigen Abständen um einen Deut heller auf, um nach wenigen Momenten
wieder auf das gleiche Niveau von Helligkeit, den gleichen Abklatsch von Licht zu sinken, den
seine empfindlichen Augen mittlerweile gewohnt waren.
Fünfundzwanzig dieser rätselhaften Schwankungen markierten für die Wesen, die am Kristallturm
und dem Endlosen Fluss lebten, das Vergehen eines weiteren Tages.
Ein Tageszyklus ging zu Ende. Ein Tag der vergeblichen Hoffnung für Boreguir, den Kämpfer.
Bichistos, grün, gelb und rot schimmernd, drängten in verstärktem Maße Richtung Fluss. Sie
tänzelten unruhig und nervös umher - irritiert, suchend.
War es wieder so weit für ihr Paarungsritual?
Wenn ja, dann musste er sich in Acht nehmen. Selbst er...
Plötzlich nahm er Witterung auf. Noch jemand näherte sich dem Kristallturm.
Boreguir roch Stärke. Selbstbewusstsein, fast Überheblichkeit, Kraft, Geschwindigkeit - und noch
viele kleine, unbestimmbare Düfte, die ihn unsicher machten.
Er sprang hoch. In einer einzigen, fließenden Bewegung zog er Feofneer aus der Scheide, ohne dass
er darüber nachdachte.
Zwei Gestalten näherten sich seinem Lager am Endlosen Fluss. Sie waren etwas größer als er,
etwas kräftiger und bewegten sich langsam, nachgerade plump.
Enttäuscht wollte er das Schwert zurückschieben.
Hatte er sich geirrt? Diese jammerhaften Gestalten konnten doch keine wahre Herausforderung für
seine Kräfte sein!
Doch sein Kampfinstinkt irrte sich nicht. Nie! Dies waren wahre Gegner!
Er riss das Herzblut-Schwert hoch, machte die Gegner mit einem lauten Schrei auf sich
aufmerksam, und rannte ihnen entgegen.
»Was, zum Henker...«
Resnick blickte auf das Geschöpf, das einen markerschütternden Schrei von sich gegeben hatte und
nun auf sie zurannte.
Fasziniert beobachtete er den Katzenähnlichen mit dem schlanken Körper, dessen
Bewegungsapparat in einer derartig fließenden Perfektion funktionierte, wie er es noch niemals
zuvor beobachtet hatte.
Als sich Resnick endlich aus seiner Starre löste, war es fast schon zu spät.
Das Kraftbündel aus Fleisch, Sehnen und Haarbüscheln war beinahe heran, ein schartiges Schwert
zu einem gewaltigen Schlag erhoben.
Jarvis hatte rascher als er reagiert. Er riss sein Messer aus der Scheide - und sackte stöhnend, die
Hände gegen seine Schläfen pressend, auf die Knie.
Resnick blieb kein Moment Zeit zum Überlegen. Er warf sich flach nach vorne, in die
Sprungrichtung des Katzenwesens.
Der Schwung und die wahnwitzige Geschwindigkeit trieb den Gegner über ihn hinweg.
Boreguir, der Wahnsinnige, ächzte der Incus in seinen Gedanken.
Hast du mir vielleicht etwas Wichtiges verschwiegen?, fragte Resnick den Parasiten.
Doch er hatte keine Zeit, die gedachte Antwort des Echsenwesens zu verarbeiten. Er musste sich
auf den Katzenähnlichen konzentrieren.
Dieser hatte sich bereits während des Sprunges wieder in seine Richtung gedreht. Er stand nun
geduckt da, lauernd, und starrte ihn mit wasserblauen, bösartig glitzernden Augen an. Wie um seine
Überlegenheit zu demonstrieren, ließ er das Schwert mit eleganten Bewegungen kreisen. Schneller,
immer schneller werdend, bis sich die Bewegungen des Stahls in den vielfältigen Reflexionen des
Lichtes des Kristallturms verloren.
Resnick spürte, dass die nächste Attacke unmittelbar bevorstand.
In der Zehntelsekunde, bevor sich der Felide auf ihn stürzte, stieß er sich ab, unterlief das Schwert
und rammte den Gegner mit aller Wucht seiner fünfundachtzig Kilogramm die Schulter in den
Magen.
Zumindest wollte er das.
Denn dort, wo Boreguir soeben gestanden hatte, war nichts mehr.
Verdammt, ist dieser Bursche schnell!, dachte Resnick. Er taumelte vorwärts, unfähig, den eigenen
Körper abzubremsen.
Instinktiv ließ er sich zu Boden fallen und spürte das Singen des Schwertes nur Zentimeter über
seinem Schädel.
Er rollte sich ab, sprang auf die Beine und lief davon, ohne sich umzusehen und so rasch er konnte.
Es blieb keine Zeit zur Gegenwehr, geschweige denn, zu einer Gegenattacke.
Komm schon, G.T.! Das ist jetzt nicht der richtige Moment, um schlappzumachen! Er konnte die Hilfe seines Freundes mehr als gebrauchen.
Resnick verließ sich auf seinen Instinkt, ohne sich umzudrehen. Er spürte, dass Boreguir weiterhin
hinter ihm herhetzte und ihn aus unbestimmten Gründen um einen Kopf kürzer machen wollte.
Nur, um für die nächsten Tage genügend Frischfleisch auf dem Diätplan stehen zu haben? Resnick
wollte nicht an diese einfache Schlussfolgerung glauben, und der Incus schwieg hartnäckig.
Resnick schlug einen abrupten Haken nach links, lief direkt auf eine einsam stehende Felsnadel zu,
täuschte kurz davor mit tänzelnden Schritten nach rechts und links an.
Völlig unvermittelt sprang er den Fels mit den Beinen voraus an, machte scheinbar gegen die
Gesetze der Physik drei Schritte aufwärts, stieß sich mit aller Kraft ab, schlug in mehr als drei
Metern Höhe einen Salto rückwärts und landete leichtfüßig im Rücken des verdutzten Verfolgers.
»So!«, brüllte Resnick, und schlug Boreguir wuchtig mit beiden Armen gegen die Schultern.
Der Felide taumelte vorwärts, wohl mehr überrascht als tatsächlich verletzt, und prallte gegen die
Felsnadel.
Doch er fing sich schnell, der machtvolle Hieb zeigte keinerlei weitere Auswirkungen.
Im Gegenteil!
Noch bevor Resnick kräftig durchatmen konnte, ging sein Gegner erneut zum Angriff über. Wieder
diese unglaublich raschen, beherrschten Bewegungen, wieder das blitzende, kreisende Schwert...
Diese Augen... kristallklare, hasserfüllte Augen, war alles, was der GenTec denken konnte.
Im nächsten Moment war Boreguir erneut heran, und Resnick blieb zum wiederholten Male nur die
Defensive, die Flucht.
Die Augen sind seine Schwachstelle, schoss es Resnick plötzlich durch den Kopf. Er ließ sich
fallen, griff in den Sand, nahm eine Hand voll auf und schleuderte sie nach hinten.
Ein zorniger, überraschter Aufschrei bewies ihm, dass er sein Ziel erreicht hatte. Genau in die
ungeschützten Sehorgane des feliden Kriegers!
Resnick sah Jarvis - noch immer mit gepeinigtem Gesichtsausdruck - mit weiten, ausholenden
Schritten entschlossen heranjagen. Er hatte sich erholt. Endlich!
Nur zu zweit hatten sie eine realistische Chance gegen den entfesselten Boreguir.
»Du von links, ich von rechts«, rief er dem Freund zu. Ohne sich umzudrehen, ohne zu wissen, ob
ihn Jarvis verstanden hatte, zog er seine einzige Waffe, das Überlebensmesser, aus der Seitenlasche
des Anzugs und griff den desorientierten Boreguir an.
Es ging um Leben und Tod. Hatte er ursprünglich vorgehabt, eine passive Haltung einzunehmen
und die Angriffsgelüste des Feliden lediglich abzuwehren, so erkannte er nun, dass er den anderen
töten musste. Aus Selbstschutz.
Eigentlich zu meinem Schutz, mein Bester!, meldete sich der Incus zu Wort, wieder einmal völlig
deplaziert.
Der Katzenähnliche war zurückgewichen, rieb sich mit einer Hand die Augen und ließ mit der
anderen das Schwert in Form einer Acht kreisen.
Auf und ab, hin und her. Blitzschnell, sodass kein Durchkommen mit den wesentlich kürzeren
Stichwaffen möglich schien.
Auch Jarvis war mittlerweile so nahe wie möglich an ihren gemeinsamen Gegner herangekommen.
»Angriff von beiden Seiten«, keuchte Resnick, und zählte rasch herunter: »Drei, zwei, eins!«
Beide sprangen sie gemeinsam vor,
beide stachen sie gemeinsam zu. Und gemeinsam verfehlten sie. Boreguir besaß offenbar
unfehlbaren Instinkt.
War es der Luftzug gewesen? Leichteste Erschütterungen des Erdreiches durch ihre Schritte? Ihr
Herzschlag, ihr Puls, die er gehört hatte?
Einerlei.
Boreguir war schneller als sie, trotz seiner Blindheit.
Jarvis schrie überrascht auf, als ihm das Messer aus der Hand geprellt wurde. Resnick hielt sich
schmerzerfüllt die klaffende Wunde am Halsansatz, aus der sofort hellrotes Blut schoss.
Kein Grund zur Beunruhigung, vermittelte ihm der Incus. Das ist nur ein Kratzer. Die Haut ist
auseinander geplatzt. Es wäre nur schade, wenn du zu viel von deinem köstlichen Blut verlieren
würdest.
War es die Wut auf den überlegenen Gegner oder die auf den Parasiten, die ihn nochmals angreifen
ließ? Resnick warf sich nach vorne, zwischen den kreisförmigen Schwerthieben hindurch, und
erwischte diesmal den blitzschnellen Feliden auf dem falschen Fuß. Er umklammerte Boreguir mit
stahlhartem Griff um die Leibesmitte und drückte ihm die Arme an den Körper. Dessen Schwert
war somit nutzlos geworden.
Er hatte ihn!
Aber für wie lange?
Unter seinen Händen spannten sich Muskelpakete erneut an, pumpten sich immer mehr auf.
Resnick wusste und spürte, dass er Boreguir nicht lange würde halten können.
Da war Jarvis heran. Mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck hieb er dem Feliden mit beiden
Fäusten kräftig ins Gesicht.
Einmal.
Noch einmal.
Und noch einmal.
Boreguir ging mit den Schlägen mit und steckte sie wie ein Profiboxer weg. Währenddessen ließ er
keinen Moment in seinen Bemühungen nach, sich aus Resnicks Umklammerung zu befreien.
Dieses Wesen war eine einzige Kampfmaschine, und niemals würden sie es besiegen können!
Die Erkenntnis war mit einem Mal da, stand eingebrannt in Resnicks Denken. Sie ließ ihn für einen
Moment, einen winzigen, kurzen Augenblick zögern, als er spürte, wie Boreguir seinen
Gegenangriff startete.
Vielleicht hätte er es verhindern können, dass der Katzenähnliche frei kam, wenn er nicht in seinen
Gedanken abgelenkt gewesen wäre.
Wahrscheinlich aber nicht.
Boreguir wischte seine Arme explosionsartig beiseite, trat Jarvis mit voller Wucht in den Magen.
Beinahe desinteressiert drehte er sich dann um und versetzte Resnick mit dem Knauf des Schwertes
einen wuchtigen Schlag gegen die Stirn.
Resnick sank zu Boden, aus mehreren Wunden blutend und geschlagen. Er... Nein, sie hatten ihren
Meister gefunden.
Es war vorbei.
Er benötigte einige wenige Augenblicke, um mit der Welt seinen Frieden zu schließen. Er empfand
leichtes Bedauern über die so kurze Zeit, die ihm gegeben gewesen war.
Er freute sich über das maßlose Entsetzen in den Gedanken des Incus und erwartete den Todesstoß.
Doch der Tod kam nicht...
Resnick blickte hoch.
Boreguir stand mit geneigtem Kopf vor ihm. Das Schwert lag im Staub.
Der Katzenähnliche sagte: »Ich danke euch für den Geschmack dieses Kampfes. Ihr seid mehr als
würdig. Ich möchte euch meine Freundschaft schenken und bitte euch, sie anzunehmen.«
Resnick war völlig verdutzt und ergriff die dargebotene Hand. Sie fühlte sich rau und schartig an,
nicht so weich wie die Pfote eines Katers.
Was für lächerliche Gedanken er hatte! Resnick schob es auf seine augenblickliche Verwirrung.
Er sah hinüber zu Jarvis, der sich wie er soeben aufrichtete und den roten Staub von der Uniform
wischte. Die geprellte rechte Hand hing leblos hinab wie gelähmt.
Warum bin ich nicht tot? Warum besiegt mich Boreguir, um mir anschließend die Freundschaft anzubieten? Warum kann ich ihn verstehen? Liegt das an Darnoks Sprachchip, fragte sich Resnick. Er fühlte sich überfordert. Ich sagte dir bereits, dass Boreguir wahnsinnig ist, meldete sich der Incus aus den Tiefen seiner Gedanken zurück. Er kämpfte bereits mit vielen der hier Gestrandeten. Nicht mit allen, beileibe nicht. Keiner weiß, nach welchem Verfahren er die Gegner auswählt. Manche tötet er, manche lässt er einfach besiegt im Staub liegen. So etwas wie Verwunderung klang in den Gedanken des Incus durch. Er hat allerdings noch nie jemandem die Freundschaft angeboten... Welche Sprache spricht er? Er redet Parsisch, die Gebrauchssprache der Hohlwelt. Deine Vermutung war korrekt. Zwei der Sprachen, die dieser Chip in deinem Kopf beherrscht, beinhalten wesentliche Elemente des Parsiens. Kein Wunder also, dass du ihn verstehst. Resnick gab es nur ungern zu, aber der Incus lieferte ihm immer wieder wertvolle Informationen,
die ihm und Jarvis zugute kamen. Die Zusammenarbeit - wenn man sie streng nüchtern betrachtet
als solche sehen wollte - erfüllte ihre Zwecke.
Doch nur so lange, bis du ausgelutscht bist, warf der Incus hämisch ein. Aber danke für das
Kompliment. Es ist schön, von seinem Besitz geschätzt zu werden.
Die Konversation, die in seinem Inneren abgelaufen war, hatte nur ein, zwei Sekunden in Anspruch
genommen.
Resnick sagte laut in Parsisch, mit Unterstützung des Incus: »Ich nehme dein Freundschaftsangebot
an und bitte, dich als unseren Freund zu betrachten.«
Die Augen Boreguirs glühten noch intensiver auf, verwandelten sich in ein alles verbrennendes,
blaues Feuer. Resnick hatte offensichtlich die richtigen Worte gewählt und den Respekt des
anderen gewonnen. Der Felide winkte ihnen beiden, ihm zu folgen.
Es ging immer näher an den Kristallturm, dessen blau schimmernder Basisstumpf immer
eindrucksvoller, immer mächtiger wurde. Er musste einen Durchmesser von mehr als zwanzig
Meter haben! Sein Fundament befand sich in einer Bodenmulde, die nicht ganz einsichtig war.
Zur Spitze hin, die in einer Höhe von mehreren tausend Metern in der geschlossenen Wolkendecke
verschwand, wurde der Turm schmaler. Geheimnisvolle, fein gemaserte Entladungsblitze wurden
knapp unterhalb der Wolkenschicht sichtbar.
Sie hörten das Gischten von Wasser. Um den Turm staute sich wohl der Ewige Fluss, auch wenn er
von ihrer Position noch nicht zu sehen war.
Doch Resnick kümmerte sich im Moment weniger um die Umgebung als um ihren neuen Freund.
Er betrachtete Boreguir genauer, während sie zu seinem Lager marschierten.
Er mochte ein Meter fünfundsiebzig groß sein, war schlank, aber nicht dürr. Sein samtenes Fell war
dunkelgrau, die feinen Haarspitzen glänzten silbern in den Lichtreflexen des Kristallturms.
Eine weite, grau gefärbte Hose umschlotterte seine Beine. Um die Brust trug er eine Art Harnisch,
der auf dem Rücken von zwei Bändern zusammengehalten wurde. Der buckelige Rücken war nackt
- und ohne Fell. Zahllose kreisrunde, tiefschwarze Löcher zeugten von offenbar rituellen Narben in der ledrig wirkenden Haut. Boreguir hatte kein Schuhwerk. Seine Füße wirkten fast menschlich, hatten aber vier überlange, schwarzgraue Krallenzehen. Auch die Hände, deren Ballen hellgrau waren, endeten in vier grazilen Fingern. Welche Kraft diesen Gliedern tatsächlich innewohnte, hatten Resnick und Jarvis bereits erleben müssen. Resnick musterte das Gesicht. Es wurde von den Augen dominiert, die für seinen Geschmack ein wenig zu weit oben im Kopf und zu nahe beieinander lagen. Das Riechorgan darunter - zumindest hielt er es dafür - bestand aus vier parallel zueinander stehenden Lamellen, fast weiß, die beim Einund Ausatmen leise knisterten. Der Mund war dünnlippig und überbreit und von zarten, fast unsichtbaren Barthaar-Büscheln bedeckt. Fellbewachsene Ohren ragten seitlich vom Kopf spitz in die Höhe und drehten sich permanent hin und her wie sensible Antennen einer Radaranlage. Ein Haarschopf, ähnlich einem Irokesen-Schnitt, gab dem Kopf zusätzlich eine exotische Note. Du erwähnst Boreguir gegenüber mit keinem Wort, dass ich an dir hänge, befahl der Incus Resnick. Und du wirst auch deinen Freund informieren, dass er seinen Mund zu halten hat. Versuche ja kein falsches Spiel! Du hast noch keine Ahnung, welche Schmerzen ich verursachen kann. Ich kann all deine Versuche, die Verbindungen zu den Synapsen zu kappen, unterbinden. Schmerz, mein Lieber, ist etwas, das ich bei diversen Mahlzeiten gründlich erforscht habe. Du hast Angst vor dem Katzenmenschen!, stellte Resnick fest - nicht ohne Befriedigung. Er ging nicht näher auf die offenen Drohungen seines Symbionten ein. Sie erreichten Boreguirs Lager. Es bestand aus ausgebreiteten Tüchern, die den allgegenwärtigen Sand auf einer Fläche von wenigen Quadratmetern fernhielten. Eine weiße Plane, die über zwei Metallstecken gespannt war, sorgte für eine kleine, eng begrenzte Zone der Intimität. Der Incus ließ Resnick die Nase rümpfen. Hier stinkt's, konstatierte er. Es riecht lediglich anders, als ich es gewohnt bin. Du musst ja nicht auf meine Sinnesorgane zurückgreifen. Ich bin es gewohnt, mit den Sinnen meines Besitzes zu empfinden. Sie hockten sich nieder. Boreguirs Haltung blieb steif und nicht so, wie man es sich von einem Katzenabkömmling vorstellte. Jarvis suchte den Augenkontakt zu Resnick, und der nickte fast unmerklich. Es wurde Zeit, ein paar Fragen zu stellen. »Wir freuen uns natürlich, deine Freundschaft gewonnen zu haben«, begann Jarvis. »Doch du wirst verstehen, dass wir den Sinn dieses... Kampfrituals nicht ganz begreifen konnten.« Der Körper des Feliden versteifte sich noch ein wenig mehr. Resnick befürchtete bereits, dass diese wenigen Worte das aufgebaute gegenseitige Einvernehmen wieder zerstört hätten. Doch nach wenigen Sekunden sagte Boreguir mit seltsam schnarrender, vibrierender Stimme: »Ich bin Krieger. Ich gehorche dem Ehrenkodex meiner Heimat. Die Mitglieder der kämpfenden Klasse bleiben unter ihresgleichen und geben sich nicht mit Schwächlingen oder Feiglingen ab.« Er
schwieg kurz, und setzte dann hinzu: »Auch ihr seid erfahrene Kämpfer. Die einzigen Krieger mit
Wert, denen ich bislang in dieser Höhle begegnet bin.«
Er grub eine kleine Kiste aus dem Sandboden, die aus zwei zusammengeklappten, grünmetallisch
schillernden Chitinschalen der Bichistos bestand.
»Nahrung«, sagte er, und pickte mehrere dunkel geräucherte Fleischstücke heraus. Er verteilte den
Großteil an Resnick und Jarvis und nahm sich erst dann seinen Teil.
Resnick widerstand der Versuchung, das Fleisch erst durch den Anzug analysieren zu lassen,
sondern tat einen vorsichtigen Biss. Das Fleisch schmeckte tranig und war zäh, war aber genießbar.
Zumindest solange er nicht daran dachte, dass er Innereien eines käferähnlichen Wesens zu sich
nahm.
Iss nur, iss nur, lobte ihn der Incus. Nimm auch Jarvis seinen Teil weg. Du benötigst dringend
Energiezufuhr, um mich zu ernähren.
Resnick reagierte zornig. Du bist wirklich das egoistischste Wesen, das mir je über den Weg
gelaufen ist! Doch diesmal werde ich dir nicht gehorchen.
Boreguir würde wittern, das etwas nicht stimmt, wenn ich meinem Freund, meinem Kampfpartner,
Nahrung wegnehmen würde. Das widerspräche seiner Vorstellung von Ethik auf allen Linien.
Der Incus blieb eine Zeit lang ruhig. Schließlich entgegnete er: Du hast Recht. Es wäre nicht
ratsam, dem Feliden gegenüber Misstrauen zu erwecken. Doch dein Ton gefällt mir ganz und gar
nicht. Darüber werden wir uns später noch ernsthaft unterhalten.
Die offene Drohung jagte eine Gänsehaut über Resnicks Rücken. Oder war es gar der Incus selbst, der ihm den kalten Schauder bescherte? Wie weit konnte das Echsenwesen Einfluss auf seinen Körperhaushalt nehmen? »Krieger suchen die Freiheit«, sagte Boreguir unterdessen und rülpste laut. »Krieger benötigen die Freiheit. Sie leiden unter Bindungen und Einschränkungen.« Unruhig schabte er mit dem schartigen Rücken über ein aufrecht stehendes Plastikpaneel, das offenbar einmal Teil einer Wandverkleidung gewesen war. Ein dumpfes, scharrendes Geräusch erklang. »Krieger benötigen Freiheit, um atmen und leben zu können.« Resnick blickte Boreguir in die Augen. Und das erste Mal erkannte er in den kalt glühenden Steinen die tiefe Verzweiflung, die in dem Katzenmenschen saß. Resnick glaubte plötzlich zu wissen, was Boreguir von ihnen erwartete. »Krieger suchen immer einen Weg, um aus ihrem Gefängnis zu entkommen«, sagte er vorsichtig. »Auch wenn sie dabei den Tod finden.« Ruckartig schreckte der Felide hoch. Er strahlte von einem Moment zum anderen ungeheure, nur mühsam beherrschte Energie aus. »So ist es, Freund. Krieger sind mit dem Tod auf Du und Du. Er ängstigt sie nicht, er ist der Freund, den sie dankbar umarmen, wenn der eine Moment kommt.« Er zog seine Klinge blank. »Bei Feofneer, meinem Herzblut-Schwert, schwöre ich, dass ich den Schwarzen Freund willkommen heiße, wenn ich ihm begegne. Doch der Tod ist nur ehrenhaft während der Suche nach Freiheit. Deswegen werde ich mit euch gemeinsam versuchen, den Kristallturm zu bezwingen.«
Boreguir schlief ruhig, und auch der Incus schien ein kleines Verdauungsnickerchen zu halten.
Jarvis hatte sich angeboten, die erste Wache zu übernehmen. Auch wenn dies unnötig war, denn die
Instinkte des Feliden würden im Gefahrenfall viel rascher einsetzen als die GenTecs reagieren
konnten.
Resnick setzte sich leise zu seinem Partner. Ein paar metallisch schimmernde Schatten huschten hin
und her, gruben sich durch den Sand. Immer mehr Bichistos näherten sich dem Endlosen Fluss.
Außer einem faltigen Humanoiden, der in völligem Frieden abseits von ihnen saß und meditierte,
war derzeit kein anderes Lebewesen zu sehen.
Boreguir hatte sie gewarnt, mit dem Alten Kontakt aufzunehmen und nebulös von einer
»gewaltigen Bedrohung« gesprochen.
»Was hältst du von unserem Katzenfreund?«, flüsterte Resnick.
»Er ist an einen Ehrenkodex gebunden und würde eher sein Leben hingeben, als diesen Kodex zu
verletzen.«
»Wir können ihm also vertrauen?«
»Hundertprozentig. Als Partner für eine mögliche Flucht von dieser Hohlwelt hätten wir keinen
besseren Mann finden können. Er hat sich anscheinend schon lange den Kopf darüber zerbrochen,
wie er den Kristallturm bezwingen kann, doch bislang niemanden gefunden, den er als
gleichberechtigt anerkannt hatte.«
»Er hat uns besiegt. Beide, gleichzeitig. Mich wundert, dass er uns als Krieger seiner Klasse sieht.«
»Offenbar zog er unsere schlechtere Bewaffnung ins Kalkül. Es reichte für ihn, dass wir ihm und
seinem Schwert über eine gewisse Zeitspanne hinweg Paroli bieten konnten.«
»Mag sein«, brummelte Resnick, »doch das spielt im Prinzip jetzt keine Rolle. Die Frage ist
vielmehr: Wollen wir überhaupt über den Kristallturm flüchten? Ist dies eine realistische Chance,
von hier zu entkommen? Wäre es nicht doch ratsamer, eine Transportkugel nach der anderen zu
inspizieren? Vielleicht gibt es eine, die wir steuern können?«
»Du hast selbst gesagt, dass der Incus wüsste, dass hier die Endstation für alle Transporter wäre.«
»Die Echse kann sich irren. Oder sie lügt.«
»Warum sollte sie? Glaubst du nicht, dass sie - so wie wir alle - von hier entkommen will? Oder
hast du gesteigertes Interesse daran, dich für den Rest deines Lebens von Käferinnereien und
Wasser zu ernähren?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Resnick. Sein Freund kehrte jetzt, wo sich die Dinge in
Bewegung setzten, zu seiner üblichen Willensstärke und Tatkraft zurück. »Doch wir haben uns
noch nicht einmal einen Überblick über das Terrain geschaffen, auf dem wir uns bewegen.
Vielleicht gibt es ganz andere Möglichkeiten, von hier zu entkommen. «
»Boreguir hat einen Plan. Einen sehr guten, wie er sagt. Wir sollten ihn uns morgen anhören.«
»Der Incus hat auch noch nicht gesagt, was er von einer Flucht hält. Wenn er dagegen ist, wenn er
hier bleiben will, habe ich keine Chance.«
Jarvis ' braune Augen ruhten auf ihm.
»Dann werden wir ihn davon überzeugen müssen!«, sagte er fest.
Resnick nickte langsam und wenig zuversichtlich. Er wandte sich ab und kroch zurück unter den
hellen Baldachin.
Wie sollten sie dieses verfluchte, egozentrische Echsenwesen von irgendetwas überzeugen können?
Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte nach...
Weggefährten: Das Nichts Ich blickte durch die milchige, leicht bräunlich gefärbte Flüssigkeit starr geradeaus. Immer in die
gleiche Richtung, denn ich konnte mich ja nicht bewegen.
Mein Leben, meine Existenz, war eingeschränkt auf vage Denkprozesse und das eng umrissene und
dennoch verschwommene Gesichtsfeld.
Eine Sekunde war wie ein Tag, und jeder Tag brachte mich näher an den Wahnsinn.
Als sich dann tatsächlich etwas änderte, dauerte es unendlich lange, bis die Erkenntnis
tröpfchenweise in mein Denken einsickerte.
Etwas vor meinen Augen bewegte sich. Gestalten. Zwei Beine. Zwei Arme. Groß.
Sah ich genauso aus?
Würden sie mir helfen? Mich befreien?
Unendlich weit weg und verzerrt vermeinte ich, eine Sprache zu vernehmen. Eine Sprache, die mir
unbekannt war.
Sie wandten sich mir zu, sahen mich an. Ihre Gesichter waren leere, gestaltlose Flächen und durch
den Kunstharz, in dem ich gefangen war, nicht zu erkennen.
Wir fragen. Du antwortest, erklang plötzlich eine nüchterne Stimme in meinem Kopf. Sie war
wuchtig, gewaltig.
Ich hatte keine Kraft, um Widerstand zu leisten.
Wie ist dein Name?, brüllte, tobte, schrie die Stimme in mir.
Ich heiße... ich... ich... Ich wusste es nicht.
Woher kommst du?, wühlte, bohrte, trampelte die Stimme.
Aus... von ... mit...
Weg. Alle Erinnerungen waren weg. Ich wusste nicht einmal mehr, dass ich Erinnerungen besessen
hatte, so leer war mein Kopf.
Er hat den Transport und die Konservation nicht verkraftet. Wir müssen die Informationen extrahieren. Die Stimme schwieg, und ein immer breiter werdender Schmerz bohrte sich in mein Denken.
Brennendes, weißes Licht zerstörte alles in mir.
Und ich konnte nicht einmal schreien.
Ich konnte nur geradeaus blicken.
Boreguir hatte die beiden GenTecs über die leichte Schwankung in der Stärke des Lichtes
informiert, die alle fünfundzwanzig Stunden auftrat.
Dennoch kam es überraschend, als sich kurz nach einem neuerlichen Flackern, das durch einen
Schatten im Inneren des Kristallturms verursacht zu werden schien, hunderte Fremdwesen rund um
ihren Lagerplatz tummelten.
Resnick streckte sich und beobachtete interessiert, wie Boreguir mit Dehn- und
Konzentrationsübungen den neuen Tag begann. Die Gelenkigkeit des Feliden war beeindruckend.
Anschließen baten sie Boreguir, sie an den Fluss zu begleiten.
Wir müssen reden, meinte Resnick während des kurzen Marsches an die Adresse des Incus.
Es reicht wohl, wenn du konzentriert denkst, kam die amüsierte Antwort des kleinen Echsenwesens.
Es regte sich auf seiner Bauchdecke, wuselte mit seinen vier nur schwach ausgeprägten Beinchen
hin und her. Doch deine Gedanken sind ohnehin ein offenes Buch für mich. Ich weiß, was du willst.
Und ich sage nein!
Willst du tatsächlich bis ans Ende deiner Tage in diesem Drecksloch vor dich hin vegetieren?
Das Wort >Vegetieren< ist genau genommen eine Beleidigung für einen Feinschmecker wie mich.
Aber um auf deine Frage zu antworten: Ich finde die Situation nicht so unangenehm. Es gibt
zumeist ausreichend zu essen, ich finde Muße, mich mit meinem jeweiligen Besitz zu unterhalten...
Hast du keine Lust, deine Heimatwelt wieder zu sehen? Oder mit Artgenossen zu sprechen, dich zu
paaren? Oder...
Bäh! Paarungsrituale sind anstrengend und halten von den Mahlzeiten ab. Spar dir eine weitere
Argumentation, mein Bester! Ich habe bereits in deinen Gedanken gelesen, wie du mir den Aufstieg
über den Kristallturm schmackhaft machen willst. Doch ich bin, wie ich vielleicht schon ein- oder
zweimal erwähnt habe, in erster Linie ein Egoist - und auch sehr vorsichtig. Ich habe etwas
dagegen, wenn sich mein Essen in den sicheren Tod stürzt. Denn bislang sind noch alle Versuche,
den Endlosen Fluss zu durchqueren und den Kristallturm zu besteigen, kläglich gescheitert.
Boreguir hat offensichtlich einen Plan...
Das ist der Plan eines Wahnsinnigen. Aus der Verzweiflung geboren. Ein Wesen mit Ehre kann nur
eine geisteskranke Fehlentwicklung der Natur sein.
Ich bitte dich nur, dir den Plan anzuhören. Bist du nicht neugierig? Wenigstens ein klein wenig? Hör dir von mir aus das Gequassel dieses Fellknäuels an. Doch ich sage von vornherein nein zu seinen Ideen. Neugierde gebiert immer Gefahr. Und verkrampfe gefälligst beim Gehen nicht so sehr. Ich bekomme sonst Durchblutungsstörungen beim Frühstück. Resnick seufzte. Boreguir hatte sie über einen ausgetretenen Trampelpfad hinab zum Endlosen Fluss geleitet. Zum ersten Mal geriet das leicht grünlich schimmernde Gewässer vollends in ihr Gesichtsfeld - der Lebensquell für all die Wesen, die es in die Hohlwelt verschlagen hatte. Überraschung!, murmelte der Incus. Resnick war nicht all zu leicht zu erschüttern. Doch nichts und niemand hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet: Die Basis des Kristallturms war absolut gleich- und regelmäßig gestaltet, in die Form eines Fünfecks gepresst. Um ihn herum schwappte das Wasser des Flusses, der den Beinamen >Endlos< mehr als verdiente. Denn seine Strömung folgte den Außenlinien eines Pentagramms. Und mündete somit immer wieder in sich selbst.
Resnick bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Der Zickzackkurs der Flussströmung war mit logischem Verstand nicht nachzuvollziehen. Das Wasser floss in fünf breiten Spitzen weit ins sandige Umfeld hinaus und kehrte in unmöglich spitzem Winkel wieder zur Basis des Turms zurück. An fünf Knotenpunkten, jeweils mehr als zehn Meter breit, trafen Wasserströmungen aus zwei Richtungen aufeinander. Breite Wirbel, die vielleicht eineinhalb Meter tief waren, tosten laut in diesen Knotenpunkten. Doch sonst folgte das Wasser ruhig seinem vorgezeichneten Kurs - und mündete schließlich wieder in sich selbst. An die zehn unterschiedliche Wesen, darunter zwei Insektenabkömmlinge, drei Reptiloide und eine offenbar pflanzliche Intelligenz, vollzogen am Ufer pseudoreligiöse Rituale. Jeder von ihnen betete auf individuelle Weise die Götter des Endlosen Flusses an — beziehungsweise jene Wesen, die ihn geschaffen hatten. Das sind Primitivlinge, allesamt, sagte der Incus abfällig. Kleingeister mit vernachlässigbarem Intellekt - die wahrscheinlich nicht einmal besonders gut munden. Und dennoch sind sie wahrscheinlich glücklicher als ich und du, entgegnete Resnick. Für sie sind die Erschaffer des Turms und des Endlosen Flusses Götter, die über ihr Leben bestimmen. Sie akzeptieren und fügen sich in ihr Schicksal, ohne nach dem Warum zu fragen. Für mich hingegen sind die Hirten - oder wer auch immer dies hier geschaffen hat - unglaubliche Wesen, deren Fähigkeiten und Können mir bloße Angst einjagen. Und wie ist es bei dir? Wärst du nicht unendlich froh, aus dem Einflussbereich dieser Mächte entkommen zu können? Dies ist ein etwas plumper Versuch, mich zur Flucht zu verleiten. Findest du nicht auch? Resnick fluchte still in sich hinein. Der Incus hatte Zugriff auf alle seine Empfindungen und Regungen. Der GenTec konnte nichts vor der winzigen Echse geheim halten - er hingegen wusste nicht, was sein Symbiont wirklich dachte. Boreguir sagte lakonisch: »Das Wasser ist falsch. Auch der Turm ist falsch. Dies haben keine Götter gebaut, denn Götterwerke kann man an ihrer Vollkommenheit erkennen. Dies jedoch ist obszön und schmerzt meinen Augen. Es ist von fehlgeleiteten Wesen gefertigt. Und Lebewesen, egal, wie mächtig sie auch sind, kann man im Kampf besiegen. Oder beim Versuch sterben. « Damit war für ihn alles gesagt. Mit dieser einfachen und dennoch pragmatischen Einstellung hatte er Resnick und Jarvis einen tiefen Einblick in seine Lebenseinstellung gewährt. Das hörte sich ja gar nicht so verrückt an, ließ sich der Incus vernehmen. Das Treiben am Fluss hatte mittlerweile einen neuen Höhepunkt erreicht. Mehr als dreihundert Lebewesen aller Art waren versammelt. Kaum einer glich dem anderen: ein mehrbeiniges Beuteltier, eine Art Laufvogel mit Pferdekopf, zwei Rattenähnliche, ein Schneckenwesen, das
lange, glitzernde Podien nachzog, ein Medusengeschöpf mit vier rudimentär ausgebildeten Köpfen - dies waren Geschöpfe, die noch gewisse Assoziationen in Resnick auslösten und vom Verstand
einsortiert werden konnten.
Doch was sollte er von wandelnden Steinen denken, die alle paar Sekunden gelb strahlende
Leuchterscheinungen in die Luft bliesen? Oder von einem asymmetrisch gewachsenen Wesen mit
borkiger Haut, das ständig seine Größe änderte?
Viele von diesen Geschöpfen, vielleicht die Hälfte oder gar mehr, waren sichtlich instinktgesteuert.
Manche erledigten mit größter Vorsicht ihre tägliche Morgentoilette, als fürchteten sie das Wasser.
Resnick hatte mittlerweile erfahren, dass die ersten zwei Stunden eines neuen Morgens des sonst so
auf Fressen-und-Gefressen-Werden ausgerichteten Lebens friedlich verliefen.
»Warum gibt es eigentlich keine Verständigung zwischen den Gestrandeten?«, fragte Jarvis, als
hätte er Resnicks Gedanken erraten.
»Wir sind zu verschieden«, antwortete Boreguir knapp.
Es gibt keine Volksgruppe, die aus mehr als zwei Mitgliedern besteht, fügte der Incus hinzu. Die
voll automatisierten Transportkugeln, die uns alle hierher gebracht haben, sind offenbar gestartet,
nachdem sie ein oder zwei >Intelligenzmuster< eines Planeten aufgelesen haben. Ich habe auch
noch nie gehört, dass es hier Nachwuchs gegeben hätte - außer bei den Bichistos.
Wäre nicht gerade dies das beste Argument für eine Zusammenarbeit?, hakte Resnick in Gedanken
nach.
Kannst du dir vorstellen, dass Boreguir und ich eine gemeinsame Gesprächsbasis finden?, fragte der Incus belustigt zurück. Denk doch nur an eure Erlebnisse mit den - warte mal, ich muss kurz in deinem Kopf nachwühlen - ach ja, hier! - mit den Nargen. Oder mit den Vaaren und Luuren. Hat es mit denen auf Anhieb eine funktionierende Art der Verständigung gegeben? Oder denke an Darnok! Apropos: Schade, dass der nicht hier ist. Deinen Erinnerungen nach hätte dieses Zeitwesen ganz schön was zum Lutschen und Knabbern hergegeben. Kannst du immer nur ans Essen denken?, fragte Resnick zornig. Ja. An was denn sonst? An kindische Fluchtpläne? Der GenTec schwieg.
Boreguir hatte sie mittlerweile direkt ans Ufer des Endlosen Flusses hinabgeführt. Sie standen vor
einem der fünf Knotenpunkte. Der Basisstumpf des Kristallturms war maximal zwölf Meter von
ihnen entfernt.
Ohne Vorwarnung zog der Felide sein Schwert, das den Namen Feofneer trug, und hieb kurz,
beinahe beiläufig, ins Wasser.
Eine fünfzig Zentimeter lange, grüne Alge hing über der Breitseite des
Schwertes, als er es wieder aus dem Fluss zog.
»Sie werden Dankois genannt. Nicht anfassen, Freund!«, warnte er Jarvis, der die Wasserpflanze
begutachten wollte. »Sie verursachen Schmerzen. Sie haben feine Widerhaken und vergiften dein
Blut. Fünf oder sechs, um den Leib gewickelt, töten dich.«
Das ist eine Arbeit, die ich hingegen alleine erledige, dachte der Incus gut gelaunt.
Resnick hätte ihn am liebsten... am liebsten...
»Deswegen hat bislang kein Fluchtversuch geklappt?«, fragte Jarvis den Feliden.
»Deswegen - und weil es gute Kletterer benötigt. Der erste brauchbare Vorsprung liegt in einer
Höhe von zwei Mannslängen. Siehst du ihn? Dort, halblinks.« Boreguir deutete mit dem Schwert
auf die Stelle.
»Ja. Und das größte Hindernis für Eine gemeinsame Flucht ist wohl, dass keiner hier dem anderen
vertraut?«, fragte Resnick.
»Ja«, antwortete Boreguir. »Doch ich vertraue euch. Bis in den Tod.«
»Mhm... danke. Doch wie hast du dir vorgestellt, den Fluss zu durchqueren? So, wie ich das sehe,
ist das Wasser überall mehrere Meter tief.« Resnick ging ein paar Schritte auf und ab. »Diese
Dankoi-Algen wachsen im gesamten Fluss, stimmt's? Dicht an dicht. Da gibt es kein
Vorbeikommen. Und auf der anderen Seite findet man keinen Halt am Kristall. Die Basis des
Turms ist im Wasser verankert. Ich sehe keine Möglichkeit, sich hochzuziehen...«
»Ich sagte, dass ich einen Plan habe«, schnurrte Boreguir, und seine Augen leuchteten tiefblau.
»Wann und wie?«, fragte Jarvis knapp.
»Heute. In wenigen Stunden. Das Wie ist allerdings ein wenig... riskant.« Der Felide erklärte es den
GenTecs.
Es war nicht riskant - es war hochgradig verrückt.
Und der Incus würde es niemals zulassen.
Jarvis hielt den Plan für durchführbar. Er war logisch, konsequent durchdacht, und er ging von einer Summe von Wahrscheinlichkeiten aus, die ihnen nach seinen Schätzungen eine Chance von mehr als fünfzig Prozent ließen. Sorgenvoll betrachtete er Resnick. Dieser sah schlecht aus. Die Wangen waren eingefallen; ein leicht bläulicher Bartschatten überdeckte den ungesund wirkenden Teint. Flecken - Altersflecken? - zeigten sich an den Schläfen und seitlich davon. War dies bereits die Folge des Parasitentums des kleinen Echsenwesens, oder einfach die äußeren Anzeichen eines weiteren, schleichenden Schwächeanfalls? Sah er, Jarvis, etwa ähnlich aus? Er kniff die Augen zusammen, um die Umgebung besser erkennen zu können. Seine Fehlsichtigkeit wurde immer ausgeprägter. »Boreguir«, sagte er, »ich möchte dich bitten, mit der Ausführung deines Plans bis zum Beginn des nächsten Zyklus der Bichistos zu warten.« Der Katzenhafte blickte ihn argwöhnisch an, Resnick mehr oder minder überrascht. »Sieh das bitte nicht als Zögern an«, fuhr Jarvis hastig an die Adresse Boreguirs fort, »sondern als Notwendigkeit für eine bessere Planung. Für mehr Beobachtungen und damit wir uns besser an das ungewohnte Umfeld gewöhnen können. Mein Freund und ich haben zudem Möglichkeiten, die Flucht leichter zu gestalten, wenn wir die Zeit für Überlegungen haben«, fügte er geheimnisvoll hinzu. Boreguir war stocksteif geworden und hielt die glühenden Augen zu engen Schlitzen zusammengekniffen. Unangenehmes Schweigen entstand. Langes, unangenehmes Schweigen.. . Schließlich entspannte sich der Felide und sagte leise: »Gut. Bis zum nächsten Zyklusende der Bichistos.« Er drehte ihnen den Rücken zu und ging davon, sichtlich enttäuscht. Ein jeder Tag, den er in Gefangenschaft in der Hohlwelt verbringen musste, war eine Höllenqual für den Katzenähnlichen, das sah man ihm an. »Danke für den Aufschub«, sagte Resnick zu ihm, und hielt sich den Leib. »Der Incus hat bereits gehörig Druck gemacht. Er will unter allen Umständen verhindern, dass wir die Hohlwelt verlassen.« Er hustete und würgte dann hervor: »Er lässt dir ausrichten, dass er zufrieden mit dir ist. Innerhalb dieser zehn Tage wird er mich«, Resnick schluckte, »auslutschen... Und dann wärst du frei, zu tun, was du für richtig hältst.« »Sag diesem verdammten Incus, dass ich genau weiß, wen er sich als nächstes Opfer fangen will: mich. Und dass ich das zu verhindern wissen werde.« Jarvis zögerte. »Nur Mut, Resnick, wir werden einen Weg finden, um dich vom Incus zu befreien. Und dann werde ich diesem Mistvieh den Hals umdrehen. Das schwöre ich dir.«
»Wir möchten uns das Zyklusende der Bichistos genau ansehen, Boreguir«, sagte Jarvis. »Damit wir beim nächsten Mal darauf vorbereitet sind.« Der Katzenähnliche zögerte. Er war offensichtlich irritiert. Sein ausgeprägtes Ehrgefühl erlaubte wenig Spielraum, wenn es um Kompromisse ging. Schließlich nickte er schwach und steckte das Schwert Feofneer, das er fest umklammert hielt, zurück in die Scheide. Er bedeutete den GenTecs, ihm zu folgen. Es ging wieder den schmalen, ausgetretenen Weg hinab zum Flussufer. Nur noch wenige Lebewesen waren nun zu sehen. Die friedliche Zeit, in der ein jeder seinen täglichen Geschäften nachgehen konnte, war längst vorüber. Nur der Alte mit den vielen Falten und drei oder vier düstere Gestalten, die auf Beute lauerten, waren zu entdecken. Doch als sie den bedrohlich wirkenden Boreguir nahen sahen, zogen sie sich tief in die Schatten der Felsen zurück. »Es ist ratsam, den Bichistos jetzt aus dem Weg zu gehen«, sagte der Katzenhafte. »Während des Endes des Zyklus entwickeln sie eine besondere Aggressivität.« Neben ihnen raschelte es, und Resnick zuckte zusammen. Eines der käferähnlichen Wesen wühlte sich aus dem Sand. Feine, lange Fühler zuckten ortend umher. Dann befreite sich das Tier und huschte auf seinen Beinen hinab in Richtung Wasser. Sein Chitinpanzer besaß Eine grün leuchtende Färbung. »Seht ihr die besonders große Mulde dort unten? Links, gleich neben dem Wasserwirbel? Seit ich hier gestrandet bin, nutzen sie immer denselben Ort.« »Was hat es mit diesem Zyklusende auf sich?«, fragte Jarvis und strengte sich an, die angegebene Stelle ausfindig machen zu können. »Ich habe sie schon mehrmals bei ihrem Treiben aus sicherer Entfernung beobachtet«, antwortete Boreguir. »Sie paaren sich rund um die Mulde und in ihr. Ein Rausch erfasst sie, der durch nichts zu durchbrechen ist. Die Weibchen, erkennbar an dem grünmetallisch schillernden Rücken, legen wenige Stunden später ihre Eier in die tiefste Stelle der Senke. Die ältesten Tiere, vielleicht vier oder fünf Zyklen alt, verausgaben sich bei der Vereinigung vollends und verenden an Ort und Stelle. Die Mütter schleppen die toten Artgenossen in die Mulde und brechen die Panzer auf. Einen Tag später schlüpfen die Neugeborenen und ernähren sich von ihren Altvorderen. Einen weiteren Tag später verlassen sie die Mulde. Nichts bleibt von den Alten über. Gar nichts.« »Also Kannibalismus«, sagte Jarvis bewusst nüchtern. Er konnte dabei nicht verhindern, dass ihm ein kalter Schauder über den Rücken rann. »Ich nenne es den Kreislauf des Lebens«, versetzte Boreguir ungerührt. Immer mehr der Käfer strömten herbei, aus allen Richtungen. Hunderte, Tausende. Lautes Gebrumme, heftiges Klackern und die Reibgeräusche aneinander schabender Chitinpanzer füllten die Luft. »Es dauert nicht lange, vielleicht eine Zeiteinheit, dann ist der ganze Spuk vorüber«, rief Boreguir über den Lärm hinweg. »Doch in dieser Zeit wird sie nichts von der Paarung abhalten, nicht einmal der schrecklichste Feind. Sie beißen alles, was ihnen zu nahe kommt. Nehmt euch vor ihnen in Acht!« »Ich möchte trotzdem noch näher heran«, schrie Jarvis. Boreguir sah ihn mit einem seltsamen Aufleuchten in den blauen Augen an. Er nickte kurz, fast unmerklich, und führte die beiden GenTecs auf einen schmalen Felsen, der knapp über der großen Mulde thronte. »Geht nicht noch näher!«, riet er. Das reicht für meine Zwecke, dachte Jarvis, und beobachtete das weitere Geschehen. Der Lärmpegel erreichte unerträgliche Ausmaße. Wer hätte gedacht, dass diese so harmlos anmutenden Tierchen eine derartige Aggressivität entwickeln würden?
Jarvis schätzte, dass es zehn- bis zwanzigtausend Bichistos waren, die hektisch und scheinbar
orientierungslos in mehreren Schichten übereinander krochen. Nahezu einhundert Quadratmeter
nahmen sie ein. Sie sahen wie eine kompakte, schillernde Masse aus.
Jetzt, dachte er, und hieb Resnick mit einem gezielten Handkantenschlag in den Nacken.
Sein Freund klappte auf der Stelle besinnungslos zusammen, und Jarvis fing ihn auf.
Boreguir hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt und betrachtete das Geschehen
teilnahmslos, offensichtlich völlig verwirrt.
»Keine Erklärungen jetzt, mein Freund«, sagte Jarvis hastig. »Wir führen deinen Plan sofort aus."
Der Katzenartige zögerte, die Hand am Schwert.
»Vertrau mir! Bitte!«, flehte Jarvis. Es ging jetzt um jede Sekunde! »Wir haben nur diese eine
Chance.«
Der Schwertarm wanderte langsam, zögernd nach oben, die Waffe fest umklammert.
»Sind wir nicht Kampfesbrüder, Boreguir? Bis in den Tod?«, drängte Jarvis verzweifelt. »Vertraue
mir, so wie ich dir vertraue!« Das waren die richtigen Worte, er konnte es sehen.
»Schnell, beginne mit deinem Plan. Jetzt!«, fuhr er rasch fort. »Ich trage meinen Freund.«
Boreguir schob Feofneer zurück in die Scheide und setzte sich in Bewegung, mit jedem Schritt
selbstsicherer und zielbewusster werdend.
»Ich bete zu allen Göttern, dass ich das Richtige mache«, murmelte Jarvis, und schulterte seinen
Freund, den er soeben einem sicher scheinenden Tod ausgesetzt hatte.
Boreguir lief hinab zum Flussufer. Lediglich ein schmaler Streifen war übrig geblieben zwischen
dem Wasser und der wogenden Masse der kopulierenden Bichistos.
Mit bloßen Händen langte der Katzenhafte in das Gewirr aus Chitinleibern, knackenden Beinen und
sirrenden Fühlern. Er griff gezielt nach jenen Bichistos mit einem grünen Rücken - und warf sie
nahe dem Wirbel ins Wasser - einen nach dem anderen.
Zehn. Zwanzig. Jarvis eilte heran und griff ebenfalls in das Schwarz der Leiber.
Dreißig. Fünfzig Bichistos.
Die Arme wurden schwer.
Siebzig. Achtzig.
Wann reagieren diese Viecher bloß! Schiere Verzweiflung packte den GenTec.
Neunzig. Hundert.
Ein Schmerz durchfuhr seinen Fußknöchel, und Jarvis war fast glücklich darüber. Endlich! Einer
der männlichen Bichistos hatte sich an seinem Bein festgeklammert, drückte mit den geraffelten
Vorderbeinen zu.
Kräftiger als Jarvis es erwartet hätte. Er spürte es selbst durch den schweren Stoff seines Anzugs.
»Zurück«, rief ihm Boreguir über den Lärm hinweg zu.
Jarvis tat einen Schritt nach hinten, hob Resnick, der mittlerweile vollends von den Leibern der
Bichistos bedeckt war, hoch, und wich bis an den Rand des Flusses zurück.
Der Wasserwirbel hinter ihnen war mittlerweile gefüllt mit Chitinleibern. Die weiblichen Käfer
wehrten sich mit Leibeskräften gegen das Ertrinken.
Die Färbung des Wassers änderte sich, wurde dunkelgrün.
Vor ihnen begann sich die schwarze Masse der Bichistos als Ganzes zu bewegen. Manche auf sie
zu, manche an ihnen vorbei - aber alle hinein ins Wasser.
Boreguir hieb mit wahnwitzig schnellen Bewegungen auf alles, was ihm zu nahe kam, wischte die
Käfer dutzendfach beiseite. Und dennoch war abzusehen, dass er den Kampf nicht gewinnen
konnte. Zu erdrückend war die Obermacht.
Wie würden sich die Bichistos entscheiden? Den Feind töten, den sie vielleicht instinktiv als
solchen registrierten, oder würden sie sich den Artgenossen, den Arterhaltern, hinterher in die
Fluten stürzen?
Jarvis tat, was er konnte. Er trat und hieb nach allem, was auf ihn zukrabbelte, den nach wie vor
bewusstlosen Resnick auf den Schultern.
»Zwei Schritte... zur Seite«, keuchte er, und deutete nach rechts. Weg, er wollte nur weg von der
Mitte des Stroms nachstürzender Bichistos.
Es gelang! Zwei Schritte zur Seite, und sie gerieten aus der Hauptstoßrichtung der
instinktbedingten Angriffe der Käfer.
Diese achteten nicht mehr auf sie. Stattdessen stürzten sie in stumpfer Verzweiflung ins Wasser,
den Artgenossen hinterher wie die Lemminge.
Tausende mussten es mittlerweile sein, die im Wasser trieben. Manche trudelten hilflos in einem
abstrusen Zickzackkurs den Endlosen Fluss entlang. Viele hingen in den langen, klebrigen Armen
grüner Algen, die brodelnd und zischelnd an die Oberfläche empor geschwemmt worden waren und
reiche Ernte hielten. Die meisten jedoch wirbelten im metertiefen Strudel, aneinander hängend,
ineinander verkeilt und verklumpt. Selbst im Tode umklammerten sie sich.
Zehntausend oder mehr waren es nun, die im Wasser ihr Leben ließen.
»Es klappt! Sieh nur«, rief Boreguir. Selbst in dieser heiklen Situation behielt er krampfhaft seine
gerade Haltung und hieb stoisch nach links und rechts. Feofneer, das Herzblut-Schwert, bekam
heute eine Menge zu tun.
Jarvis schielte mit einem Auge nach hinten.
Tatsächlich!
Der Klumpen der treibenden Bichistos war so groß und breit geworden, dass er die gesamte
Flussbreite einnahm. Ein Damm aus Leibern entstand!
Und immer noch strömten Käfer nach...
»Uns bleibt nicht viel Zeit, Freund«, keuchte Jarvis. Er zertrat einen rot schillernden Bichisto und
schüttelte drei andere von seinem Anzug. Er war über und über von einer schleimigen, blutigen
Masse bedeckt.
»Ich gebe das Kommando«, rief Boreguir, und ließ das Schwert weiter kreisen. Auch an ihm
klebten die Tiere, auch er war kaum noch zu erkennen unter der dicken Kruste.
Rasend schnell staute sich das Wasser des Endlosen Flusses und drang über die Ufer. Der kritische
Moment war erreicht. Sie hatten nur ein kleines Zeitfenster für ihren waghalsigen Versuch...
»Jetzt«, schrie Boreguir und wirbelte herum. Er sprang ins Wasser, sank kaum zwanzig Zentimeter
tief ein. Der Felide hüpfte mit wenigen, weiten Schritten über die ineinander verkeilten und
verknoteten Leiber der Käfer. Dabei missachtete er die Strömung, die mit rasender Gewalt den
lebenden Staudamm hinwegzuschwemmen drohte...
Jarvis folgte ihm ins Wasser. Er war nahezu am Ende seiner Kräfte. Alles verschwamm vor seinen
Augen. Die Last des Freundes auf seinen Schultern wurde immer schwerer.
Gleichzeitig mit ihm stürzten sich weitere Hundertschaften der Käfer in die Fluten und klammerten
sich im Moment des Sterbens aneinander.
Chitinkörper zerknackten unter Jarvis' schweren Schritten, und er sank unter dem Gewicht des
Bewusstlosen nahezu einen halben Meter ins Wasser ein.
Er würde es nicht schaffen - die Strömung war zu stark. Der Damm würde brechen, ihn
hinwegschwemmen...
Boreguir stand mit einem Mal vor ihm. Er war zurückgekehrt, reichte ihm die Hand und riss ihn
mit sich.
Noch drei Meter artistischer Balanceakte auf den glitschigen Körpern der Bichistos, dann war es
geschafft.
Sie standen an der Basis des Kristallturms!
Der Damm gab der Urgewalt des grünlich gefärbten Wassers in der Mitte nach, und laut tosend
stürzten die Fluten über die toten Käfer hinweg. Die eine Seite des Dammes hielt noch; dort, wo sie
standen und verzweifelt balancierten.
»Hinauf mit dir«, stöhnte Jarvis, und reichte Boreguir blindlings die Hand.
Er konnte vor Schwäche kaum noch die Umrisse des anderen erkennen.
Boreguir zog sich an seinem Arm hoch, stieg auf die Schultern und ohne große Umschweife auf
seinen Kopf.
Jarvis spürte für einen Moment die vier hornhäutigen Zehen, spürte die Anspannung und den Ruck,
mit dem sich der Katzenartige abstieß.
Die Oberschenkel des GenTecs zitterten unter der Last des dreifachen Körpergewichtes - doch er
blieb stehen.
Zwei Sekunden wurden zur Ewigkeit. Die Käfermasse unter ihm drohte vollends abzubröckeln und
vom Endlosen Fluss weggespült zu werden.
»Reich ihn mir rauf! Rasch!«
Jarvis war zu müde, um nach oben zu sehen. Er packte Resnick mit den Armen, stemmte ihn hoch,
so hoch er konnte - und fühlte mit einem Mal, wie das Gewicht verschwand.
Doch rasch kehrten die Schmerzen in Arme und Beine zurück.
Die letzten Reste der Bichisto-Masse wurden vom Fluss davongetragen. Er spürte, wie der
Widerstand unter ihm nachgab. Spürte, wie gierige, glitschige Dankoi-Algen nach seinen Beinen
tasteten.
»Spring!«, hörte er eine Stimme von oberhalb.
Jarvis stieß sich ab.
Seine Rechte fuhr ins Leere, die Linke erfasste eine Pranke, deren Nägel sich tief in das Fleisch
seines Unterarmes gruben.
Die Kralle zitterte stark, doch sie hielt ihn fest und zog ihn hoch.
Dann wurden die roten und weißen Punkte vor seinen Augen zu einer einzigen, festen Masse, und
Jarvis fiel schwer nach hinten.
Weggefährten: Das Nichts Ich lernte, Schmerz in jeglicher Form zu ertragen.
Die schemenhaften Gestalten kehrten wieder, in Abständen von unschätzbaren Ewigkeiten.
Sie stellten ihre unsinnigen Fragen, die keine Bedeutung für mich besaßen.
Es schien mir, als ob sie sich auf eine unheimliche Art über meine Hilflosigkeit amüsierten. So, wie
sich ein Gott über die vergeblichen Versuche eines Sterblichen amüsieren musste, der dem Nahen
des Todes entkommen wollte.
Ich wünschte nichts mehr, als einmal blinzeln oder meine Augen verschließen zu können.
Und ich begann, mich darauf zu freuen, neuerlichen Schmerz empfangen zu dürfen. Ich sehnte den
Besuch der Schemen herbei, ich gierte danach, dass sie in meinen Kopf eindrangen und
fürchterliche Dinge mit meinem Verstand taten.
Denn alles war besser als dieser Zustand des Scheintods.
Vielleicht, so dachte ich, würde ich einmal Glück haben. Die Schemen würden sich in meiner
Aufnahmebereitschaft für den Schmerz verrechnen, und ich durfte sterben.
Doch es kam nicht so weit. Denn irgendwann wurden die Besuche seltener und hörten schließlich
ganz auf.
Ich stand da, durfte nicht blinzeln, durfte nicht atmen, durfte mich nicht bewegen, und durfte nicht
sterben.
Ich wurde zum Nichts.
Jarvis würgte Schleim hoch und drehte sich zur Seite.
Boreguir stand neben ihm und befreite seine zerrissene Hose und sein Fell vom gröbsten Unrat.
Es konnten höchstens Minuten, wenn
nicht gar nur Sekunden vergangen sein. Der Katzenähnliche blickte ihn an. »Erkläre mir deinen
Sinneswandel!«,
forderte er steif.
»Später. Bitte«, entgegnete Jarvis.
Er wandte sich Resnick zu, der zusammengekrümmt neben ihm lag.
Die Augen des Kahlköpfigen starrten blicklos in den Himmel, als sei der GenTec tot. Doch
Resnicks Körper zuckte konvulsivisch, und der Mund bewegte sich.
Jarvis sammelte seine Gedanken, atmete dreimal tief durch und brachte sein Ohr dicht an die
Lippen seines Gefährten. Die nächsten Sekunden würden über dessen Schicksal entscheiden.
...ich töte mein Essen, ich töte ihn...«, hörte Jarvis eine hohle, verzerrte Stimme, die nicht die
Resnicks war.
Der Incus sprach aus dem bewusstlosen Körper des GenTecs!
Und nicht nur das. Er ließ ihn hin und her fliegen wie eine hilflose Puppe, deren Glieder schlaff
herabhingen. Die Mitte des Leibes bog sich zu einem Hohlkreuz durch, sodass Jarvis fürchtete, das
Rückgrat könnte jeden Moment brechen.
Der Incus wütete und tobte, krümmte mit seinem Willen den Körper Resnicks in die absurdesten
Positionen.
»Hör auf ! «, schrie Jarvis, und legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Freund.
Boreguir stand daneben und betrachtete das Geschehen verständnislos. Jarvis konnte es ihm nicht
verübeln. Auch er begriff keineswegs, wie das kleine Echsenwesen Gewalt nicht nur über den
Geist, sondern auch über Resnicks Leib hatte gewinnen können.
»Wir sind bereits auf dem Kristallturm«, fuhr Jarvis hastig in Parsisch fort. Er bemühte sich
weiterhin, den sich epileptisch aufbäumenden Resnick ruhig zu halten. »Es gibt kein Zurück mehr,
Incus. Du kannst Resnick nicht zwingen, ins Wasser des Endlosen Flusses zu springen— es wäre
dein sicherer Tod. Die Fressalgen warten doch nur auf ein weiteres Opfer.«
Der Incus antwortete nicht und ließ den Körper seines Wirtes weitertoben.
»Incus?«, mischte sich Boreguir ein. »Der kleine Seelenfresser? Jetzt verstehe ich!« Er kam näher
und lehnte sich schwer auf die Arme des Bewusstlosen. »Ich habe von dir gehört, kleine Echse, und
nur das Schlechteste. Ich habe mehrere deiner Opfer gesehen. Hinterrücks angefallen hast du sie,
um sie auszusaugen und nur noch bloße, ausgetrocknete Hüllen ohne Seele zurückgelassen. Du
führst das Leben des Arglistigen.« Er zog Feofneer und hielt es lauernd von sich.
»Warte!«, rief Jarvis.
»Es ehrt dich, dass du deinen Freund schützen willst. Doch der Tod, den ich ihm geben werde, ist
tausendmal bedeutsamer als die Existenz als Sklave dieses Parasiten.«
»Incus, höre mir gut zu«, stieß Jarvis hektisch hervor, »du weißt, dass es Boreguir Ernst meint. Ich
werde dich nicht länger vor ihm schützen — wenn du nicht sofort meinen Freund frei lässt.« Er hob
die Hand und bedeutete Boreguir verzweifelt, noch zu warten. »Verlässt du ihn aber, garantiere ich
dir, dass wir dich leben lassen.«
Jarvis blickte zu Boreguir. Der zögerte zuerst, murmelte aber schließlich: »Ja«.
Pause.
Dann erklang höhnisches Gelächter. Mit dem schrecklich verzogenen Mund Resnicks, der trotz
seiner offensichtlichen Apathie Höllenqualen leiden musste.
»Oh, ihr widert mich an mit euren schönen Worten von Treue, Freundschaft und Ehrgefühl!«, sagte
der Incus aus Resnicks Mund. »Sei vorsichtig, Jarvis, denn sonst glaubst du bald selbst an die
Lügen, die du erzählst. Du weißt genau, dass ich einen Wirt benötige, um leben zu können. Stellst
du dich freiwillig zur Verfügung? Du und dein stolzer Freund, ihr seid Einfaltspinsel, habt keine Ahnung vom Leben und seinen wahren Werten. Ihr versteckt euch lieber hinter hohlen, nichts sagenden Phrasen.« Resnicks Körper zog sich zu einer embryonalen Stellung zusammen. Jarvis konnte mit all seiner Kraft nichts dagegen unternehmen. »Doch was wollt ihr eigentlich gegen mich ausrichten?«, fuhr der Incus fort. »Bei all deiner Treue und edlen Werten wirst du deinen Freund nicht töten. Nicht wahr, Jarvis?« Der GenTec bemühte sich, Ruhe zu bewahren. »Willst du es darauf ankommen lassen? Ich glaube nicht. Dazu hängst du viel zu sehr am Leben. Lass Resnick frei!« Der Incus ließ Resnick nochmals lachen. »Natürlich habe ich Angst vor dem Tod, wo es doch noch so viel zu essen und zu schmecken gäbe. Aber wie du weißt, bin ich Egoist. Ich nehme keine Rücksicht auf andere. Wenn ich sterben muss, werde ich mit dem größten Vergnügen meinen Wirt mit in den Tod reißen.« Ja. Das würde dem Charakter des Incus entsprechen. Oh, wie Jarvis diese winzige Zwergechse hasste! Nur kein Gefühl zeigen, sagte sich Jarvis, besonders nicht in dieser heiklen Situation. Der Incus fuhr fort: »So, wie ich das sehe, befinden wir uns in einer Pattsituation. Gut, ihr habt mich überlistet und gezwungen, mit dem Wirtskörper gegen meinen Willen den Kristallturm zu besteigen. Ich kann nicht mehr zurück in meine Jagdgründe. Es gibt nur noch den Weg nach oben. Aber ich werde den Platz an deinem Freund sicherlich nicht freiwillig verlassen. Wenn, dann nur mit einem — wie sagt ihr Menschen? — mit einem Paukenschlag. Wir müssen uns also einigen.« »Wir müssen uns also einigen«, echote Jarvis schwach. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und bemühte sich vergeblich, seine Sehschwäche mit einem unkontrollierten Kopfschütteln zu vertreiben. »Ist es das wert, Jarvis?«, fragte Boreguir. Seine Augen funkelten. »Willst du diese seelenlose Kreatur mit in die Freiheit nehmen? Dein Freund, so wie er da liegt, ist bereits des Todes. Der Incus hat ihn gepackt und wird ihn unter keinen Umständen mehr loslassen. Ich sage dir: Töten wir ihn! Es ist besser.« »Nein«, widersprach Jarvis heftig. »Solange auch nur der geringste Hauch einer Chance da ist, dass wir Resnick befreien können, werden wir nichts unternehmen.« Er rappelte sich hoch und öffnete Resnicks Anzug, legte den Parasiten frei. Der Incus stank. War dies ein Zeichen von Angst? Ein letztes Mal bewegten sich Resnicks Lippen in einem Gesicht, das blau und rot war, als ob es mit Fäusten malträtiert worden wäre. »Bete zu den Göttern deiner Wahl, dass der Weg über den Kristallturm dir tatsächlich die Freiheit bringt, Jarvis. Denn sonst, da kannst du dir sicher sein, wirst du einen schmerzhaften Tod erleiden. Du kannst nicht immer wach sein. In einem unerwarteten Moment werde ich in deinen Anzug schlüpfen und genüsslich das Leben aus dir trinken.« Die Verkrampfung in Resnicks Körper löste sich, er senkte die Lider, und tiefe Atemzüge zeigten an, dass der GenTec nun ruhig schlief. Der Incus hatte die direkte Kontrolle über den bewusstlosen Körper abgegeben - doch von dem Menschen gelöst hatte er sich nicht. Wenige Meter unter ihnen folgte der Endlose Fluss seinem irrwitzigen Kurs, kreuz und quer. Hunderte, Tausende Chitinschalen trieben an der schäumenden Oberfläche. Doch selbst diese wurden nach und nach von den gierigen Dankoi-Algen eingefangen und verzehrt. Ein paar Dutzend Lebewesen aller Art hatten sich am Flussufer versammelt und blickten zu den beiden GenTecs hinauf. Einige wenige jubelten und winkten mit Armen, Scheren, Podien und Fühlern. Andere schrien und fluchten und drohten mit der Wut ihrer Götter, wenn sie sie nicht ebenfalls nach oben mitnähmen in die mögliche Freiheit. Doch die meisten sahen einfach nur stumpf zu ihnen hoch, um sich nach einiger Zeit resignierend abzuwenden. Für sie ging das Leben weiter. Und es würde ein wenig schwerer sein ab heute. Denn die Bichistos waren nahezu ausgerottet. Hundert, vielleicht hundertfünfzig, hatten den Exitus ihrer Gattung
überlebt und liefen nun orientierungslos am Ufer entlang. Es würde mehrere Zyklen der
Käferartigen bedürfen, bis sie wieder ausreichend Nahrung für die Gestrandeten liefern konnten.
Hatten sie das Richtige getan?
Die Wahrscheinlichkeit, diesen ersten Schritt zu überleben, hatte Jarvis auf knapp fünfzig Prozent
geschätzt.
Doch der Aufstieg ins Unbekannte, der nun auf sie zukam, entzog sich jeder Berechnung.
Resnick sagte kein Wort, als er erwachte, ging auf keine der Fragen ein. Er hatte Schmerzen, das sah Jarvis klar und deutlich. Nur taumelnd hielt er sich anfänglich aufrecht. Doch mit jedem Schritt, den sie taten, besserte sich der Zustand des GenTec ein wenig. Schweigend ging es aufwärts. Ein kleiner Trampelpfad, der meist leicht über die Wand des Kristallturms hinausragte, führte in schmalen Serpentinen aufwärts. Da und dort war der Steg zerstört und unterbrochen. War das mit Absicht geschehen, oder war er einfach nur angenagt vom Zahn der Zeit? Doch darüber dachten sie nicht weiter nach. Es war ohnehin schwierig genug, das Gleichgewicht zu halten und nur mit Hilfe eines einzigen geflochtenen Seiles von sechs, sieben Metern Länge die vielfältigen Hindernisse zu überbrücken. Boreguir hatte das Seil aus getrockneten Algen gedreht. Mit einem improvisierten Kanister, bestehend aus zwei zueinander geklappten und miteinander verbundenen Bichisto-Chitinschalen, transportierte er wertvolle Nahrung sowie Trinkwasser. Grelles, blaues Licht blendete sie immer wieder unerwartet. Es drang aus dem Inneren des Kristallturmes, war jedoch nach wie vor unbestimmbar. Manche Facetten, die von unten so schmal und fragil gewirkt hatten, entpuppten sich nun als Flächen von mehreren Quadratmetern. In dünnen Rinnsalen tröpfelte Wasser hinab und fütterte den Endlosen Fluss. Wasserlachen, die sich da und dort auf dem Pfad gebildet hatten, machten den ohnehin glatten Boden noch rutschiger. Kleine Kristallauswüchse halfen ihnen von Zeit zu Zeit. Sie ragten wie schillernde Warzen seitlich aus dem Turm und boten einen leidlich sicheren Halt für eine kurze Pause. Trotz aller Probleme ging der Aufstieg relativ rasch vonstatten. Ihre Oberschenkel brannten bald vom stetigen Bergauf, doch mit einem Ziel vor Augen ließen sich die Schmerzen ertragen. Die vermeintliche Decke der Höhle, jener unheimliche Nebelvorhang, rückte näher, während der Endlose Fluss unter ihnen zu einem dünnen Strich verkam. Fünfmal bereits hatte ein kurzes Blinken in der Lichtintensität den Beginn einer neuen Zeiteinheit angezeigt. Sie variierte im übrigen nur um eine knappe Minute von jenem Stundenmaß, das auf der Erde Anwendung fand. »Halbzeit«, rief Jarvis, und ließ sich zu Boden sacken. Der glatte Pfad war hier knappe sechzig Zentimeter breit. Seine Beine baumelten über dem Abgrund. Er war so wie alle GenTecs schwindelfrei. Kein Windzug war zu spüren. Temperatur und Luftdruck hatten sich nicht geändert im Vergleich zur Ebene der Hohlwelt, von der sie gekommen waren. Jarvis schauderte. Das grandiose Wissen und die technische Selbstverständlichkeit der Architekten dieser künstlichen Welt faszinierten und ängstigten ihn zugleich. Boreguir hockte sich neben ihm nieder. Der Felide ließ keinerlei Anzeichen von Müdigkeit erkennen. Er hatte die gefährlichsten Hindernisse mit bewundernswertem Mut und Können überwunden. Sein trittsicherer und dennoch anmutig wirkender Schleichgang rang Jarvis gehörigen Respekt ab. Dieses Wesen fürchtete weder Tod noch Teufel. Resnick saß ein wenig abseits und schwieg. Er hatte Schmerzen, das war klar ersichtlich. Doch es musste mehr als das sein, was den Freund plagte. Doch nur Resnick und der Incus wussten, was zwischen ihnen vorging.
Boreguir verteilte ein paar Bissen getrockneten Bichisto-Fleisches an ihn und Resnick und forderte sie dann auf, rasch weiterzugehen. Man sah ihm an, dass er sich mit jeder Faser seines Körpers nach Freiheit sehnte. Doch wartete jenseits der näher rückenden Wolkendecke tatsächlich der Ausgang aus diesem Albtraum?
Die Wolkendecke war zum Greifen nahe - vielleicht noch dreißig, vierzig Meter oberhalb ihres
Standortes -, als Jarvis erstmals das Kreischen hörte. Das Geräusch ging durch Mark und Bein. Es
klang, als ob jemand mit einem Eisennagel über eine Glasscheibe kratzte.
»Vögel«, murmelte Boreguir.
Der Felide tastete instinktiv nach dem Schwertgriff. Alles, was hier oben lebte, musste als Feind
betrachtet werden.
Eine jede Umkreisung des nur noch zehn Meter durchmessenden Kristallturms, die sie höher
hinaufführte, ließ Jarvis die ungeheuren Ausmaße der Höhle deutlicher bewusst werden. Er wollte
sich nicht zu sehr von dem Ausblick ablenken lassen. Ein falscher Tritt bedeutete den sicheren Tod
durch einen Sturz über vier Kilometer in die Tiefe.
Ich hätte mehr als zwei Minuten Zeit, um über mein Leben nachzudenken, bevor ich auf dem Boden
aufschlage, dachte Jarvis.
»Vorsicht«, rief Boreguir, als Jarvis leicht wegrutschte. Der Katzenähnliche ging vor ihm und
musste Augen im Rücken haben, dass er seinen Fehltritt bemerkt hatte!
Das ist der nackte Instinkt, sagte sich der GenTec, und hielt sich mühsam an einer vorspringenden
Kristallwarze fest.
Resnick ging ein paar Schritte hinter ihm. Er redete kaum und starrte meist bloß teilnahmslos vor
sich hin.
Feiner, unangenehm kühler Nebel legte sich über sie. Seine Feuchtigkeit drang
durch die Anzüge und ließ sie frösteln. Sie hatten die Wolkendecke erreicht! Das Ende des
Aufstiegs lag in unmittelbarer Reichweite - oder?
Erneut erklang ein misstönendes Kreischen.
»Achtung!«, rief Boreguir nach hinten, »ich rieche Gefahr.«
Jarvis hörte, wie der Felide das Herzblut-Schwert aus der Scheide zog. Sehen konnte er im Nebel
lediglich die vagen Umrisse des Kriegers.
Und noch etwas, einen Schatten... »Duckt euch!«, rief er.
Boreguir vor ihm gehorchte und ließ sich fallen.
Ein schmaler, zierlicher Schemen tauchte auf und zischte haarscharf über sie hinweg.
Ein weiterer näherte sich, empört kreischend, flatterte hektisch über ihnen, stieß mit spitzem
Schnabel auf den Katzenähnlichen hinab.
Im nächsten Augenblick jagte eine ganze Wolke der Vögel heran, vielleicht fünfzig oder mehr, und
hackte auf die Abenteurer ein.
Deren Kleidung bildete kaum einen ausreichenden Schutz gegen die Vögel, wenn die Anzüge des
Keelons, die die GenTecs trugen, auch wesentlich robuster waren als der einfache Stoff, der
Boreguir bedeckte.
Jarvis stutzte. Das sind Kristallvögel!
Der GenTec erhaschte nur vage Eindrücke von den Flugwesen. Sie glänzten blassblau. Ihre
messerscharfen Konturen waren kaum zu erkennen, der Flügelschlag verschwamm in ihrer
Geschwindigkeit. Kräftige, weiße Schnäbel hackten erbarmungslos auf sie ein.
»Vorwärts!«, schrie Jarvis und stieß Boreguir an. »Weg von hier! Weiter hinauf!«
Er sprang auf und setzte sich an die Spitze. Dabei schwang er das Überlebensmesser vor sich hin
und her, doch mehr als einen Zufallstreffer da und dort konnte er nicht landen. Immerhin - sobald
einer der Vögel getroffen war, zersprang er in tausende Bruchstücke, die wie Schneeflocken in den
Nebel hinab sanken.
Die erregten Kristallvögel schrien, immer wilder wurden sie.
Jarvis spürte die Wucht der Schnäbel durch den Overall, und er wollte gar nicht daran denken, was
sie gerade mit Boreguir anstellten, dessen Kleidung nur noch aus Fetzen bestand.
»Schneller! Schneller! «, trieb er den Feliden und Resnick an, die er hinter sich wusste.
Er hörte Feofneer, das Herzblut-Schwert, ein Lied singen.
»Es wird heller. Der Nebel lichtet sich«, rief Jarvis bei voll aufgedrehten Außenlautsprechern.
Hoffentlich bewahrheitete sich seine Vermutung. Nein - seine Hoffnung!
Dann war er durch, die letzten Nebelschwaden lösten sich auf und blieben hinter ihm - und damit
auch die Kristallvögel.
Seine Annahme hatte sich bewahrheitet: Die Tiere - wenn es denn welche waren, und keine
künstlich geschaffenen Wächter - nutzten lediglich die dünne Nebelschicht als ihren Lebensraum.
Trotz seiner physischen Konstitution, die trotz aller Schwächeanfälle immer noch besser war als die
der meisten normal geborenen Menschen, fühlte sich Jarvis erschöpft. Er klammerte sich an einen
Kristallvorsprung und ließ sich einfach zu Boden sacken.
Hinter ihm taumelte, nein, kroch Boreguir aus dem Nebel. Das Schwert fiel aus seiner kraftlosen
Hand, und auch er blieb völlig ausgepumpt auf dem schmalen Grat liegen.
»Das war knapp, Freund«, sagte der Katzenähnliche und wischte sich hellrotes Blut von Stirn und
Brust. Seine Haut war an zahllosen Stellen aufgekratzt. Doch die Verletzungen schienen auf den
ersten Blick nur oberflächlicher Natur zu sein.
Wo war Resnick?
Verdammt, warum kommt er nicht? Ich hätte ihn nicht hinter mir lassen dürfen - nicht, nachdem der Incus ihn derart malträtiert hat. Weitere Sekunden verrannen, in denen er langsam wieder zu Atem kam - und in denen seine Sorge
immer mehr anwuchs.
Wo war Resnick?
Endlich teilte sich der Nebel, und der GenTec kam den steilen, engen Weg hinauf. Aufrecht, fast
steif. Jarvis war, als ob der andere GenTec hinaufschwebte wie ein Unberührbarer.
Unfassbar.
Die Kristallvögel umflatterten, berührten ihn aber nicht, und blieben schließlich zurück. Es schien,
als ob sie kein Leben mehr in Resnick erfassen konnten.
War es so? War Resnick bereits tot, und hielt ihn nur noch der Incus am Leben?
Nein. Unmöglich. So weit konnte der Einfluss des Echsenwesens nicht gehen.
»Geht es weiter?«, fragte Resnick mit nüchterner, kalter Stimme.
»Ja... ja«, stieß Jarvis hervor.
Er war zu müde, um nachzudenken. Außerdem war das Ziel in greifbarer Reichweite. Über ihnen,
nur noch 50 Höhenmeter entfernt, endete der Kristallturm - viereinhalb Kilometer über dem
Erdboden der Hohlwelt! - in einem schmalen Plateau.
Die Spitze des Turmes.
Und nur noch 50 weitere Meter höher erstreckte sich eine schier endlose Felsdecke. Endlich hatten
sie die Bestätigung für ihre Vermutung, dass sie sich unter der Erde befanden.
Jarvis schluckte.
Dieser Anblick genügte auch bei jemanden, der sonst nicht unter Klaustrophobie litt, um
Angstzustände auszulösen.
Der GenTec regelte seinen Adrenalinausstoß herunter und raffte sich auf für den Endspurt...
Es legte sich ihnen kein weiteres Hindernis in den Weg, bis sie die Spitze des Turms erreicht
hatten.
Von hier führte eine schmale steile Brücke zu einem breiten Portal, das in die Höhlendecke
eingelassen worden war.
Ein dünnes Rinnsal drang unter dem wuchtigen, aber fein ziselierten Tor hervor. Es floss über die
Brücke und verteilte sich auf mehrere Spalten, die über die scharfgratige Kante hinabrannen und so
den Endlosen Fluss weit unter ihnen fütterten.
»Diese Bilder sind...« Boreguir schüttelte sich und deutete mit dem gezückten Schwert auf die
Muster der geschlossenen Torflügel.
Jarvis begutachtete die Verzierungen näher.
Es waren keine erkennbaren Bilder, sondern lediglich irgendwelche Symbole, die der GenTec nicht
zu deuten vermochte. Sie schienen auf unbestimmbare Weise die Wirklichkeit zu verzerren. Es war
ähnlich wie bei einem Spiegelkabinett - und doch wieder ganz anders.
Auch Jarvis überlief ein kalter Schauer.
Er blickte den Feliden an. Fell und Barthaare standen ihm nach allen Richtungen weg.
Offensichtlich ein Zeichen der Anspannung.
Eine weitere Besonderheit des Portals wurde Jarvis erst bewusst, als Resnick hinter dem Torbogen
wieder hervortrat. Der GenTec hatte es einmal umrundet.
Das Portal stand mitten auf der Turmspitze - und versperrte den Zugang zu nichts.
Man konnte einfach außen herumgehen!
Boreguir wirkte ebenso verwirrt wie die GenTecs. Mit der Spitze seines Schwerts drückte er das
Tor vorsichtig nach innen.
Langsam und behäbig schwangen die Flügel auf. Sie quietschten leise, obwohl keine Angeln zu
sehen waren. Trotzdem deutete Jarvis die Geräusche als Alterserscheinungen. Das Portal war wohl
schon lange nicht mehr genutzt worden.
Plötzlich: Dunkelheit.
Allumfassende Dunkelheit.
Das Licht im gesamten Hohlraum schien schlagartig erloschen zu sein.
Instinktiv griff Jarvis nach Resnick und Boreguir, nur um sicher zu sein, dass sie noch da waren.
Plötzlich bildete sich ein kleiner, rötlicher Lichtpunkt vor ihm auf der anderen Seite des Portals.
Das Licht wurde stärker, greller, schmerzte kurz in seinen Augen, bis er sich an die Intensität
gewöhnt hatte.
Ein Gang wurde sichtbar, ein Gang aus geschliffenem Glas, von blau schimmernden Kristallen
überwachsen. Vielleicht einhundert Meter voraus endete er an einem weiteren Tor, das zu einem
frei schwebenden Gebilde gehörte.
Ein Schloss, das aus sich heraus leuchtet, dachte Jarvis. Mit hunderten feinen, filigranen Türmen, Vorsprüngen und Erkern, mit Zinnen, Scharten und Wehrgängen. Ich bin mir sicher, dass es auch ein Verlies und eine Folterkammer gibt. Das Gebäude war atemberaubend in seiner Konzeption. Wunderschön anzusehen - und dennoch
abstoßend in seiner verwirrenden Vielfältigkeit.
Das Werk eines Verrückten.
Boreguir rührte sich als Erster und. betrat den Gang, den es eigentlich gar nicht geben durfte.
Ist das eine Art Transmitter?, überlegte Jarvis und folgte dem Feliden.
Mit jedem Schritt erklang ein dröhnender Ton, und nach wenigen Metern erklang eine eigenartige,
berührende Melodie. Sie erzählte von Wildheit, von Stolz, von Tapferkeit. Aber auch von
Freundschaft und von Treue - und von Tod...
Jarvis konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie sie das zweite Tor öffneten und das
Schloss betraten. Mehrere Minuten fehlten ihm - und auch den anderen - in der Erinnerung.
»Illusionen, alles nur Illusionen«, murmelte Jarvis.
Sie durchwanderten das Schloss, stets wachsam und mit weit geöffneten Sinnen.
Die Schönheit, die das schwebende Gespinst aus Kristall und Glas da und dort verbreitete, konnte
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich im Hause eines mächtigen Feindes befanden.
Sie entdeckten Geräte unbekannter Funktion, die in ihrem Aussehen an Funde in den Lagerhallen
der RUBIKON II erinnerten.
Und sie fühlten sich hilflos, tapsten umher wie kleine Ameisen, die verzweifelt danach trachteten,
nicht entdeckt und zertrampelt zu werden. Die Macht, die ihnen hier beinahe beiläufig demonstriert
wurde, drückte auf ihre Schultern.
Auch Boreguir glitt nicht mehr mit dem ihm eigenen eleganten Schritt dahin - er schlich nur noch.
Angstvoll, um ja keine Geräusche zu verursachen, die auf sie aufmerksam machen konnten.
»Resnick?«, fragte Jarvis besorgt. Es tat ihm gut, wieder einmal seine eigene Stimme
wahrzunehmen.
»Ich höre dich«, antwortete der andere GenTec leise.
»Was ist mit dem Incus? Was hat er vor? Wie fühlst du dich?« Dutzende Dinge fielen Jarvis ein,
die er sagen wollte und die seine Besorgnis ausdrücken sollten.
Doch Resnick antwortete kalt, klirrend kalt: »Der Incus nährt sich an mir. Er stiehlt mir mein
Leben. Er sammelt Kraft für später, soll ich dir ausrichten. Ich weiß nicht, was er vorhat. Ich fühle
mich... « Er verstummte, taumelte - was mehr sagte als alle Worte der Welt.
»Da vorne«, zischte Boreguir plötzlich.
Der schmale, gläserne Gang, den sie sich entlang bewegten, wurde allmählich breiter — und
mündete in einer domartigen Halle.
»Das ist wieder eine Illusion«, murmelte Boreguir, »diese Halle ist viel zu groß für das Schloss.«
»Oder die geheimnisvollen Erbauer besitzen die Macht, mit den Dimensionen spielen zu können«,
erwiderte Jarvis.
Er bemühte sich, die Ehrfurcht, die er empfand, aus seiner Stimme zu bannen. Er dachte zurück an
die kurze Zeit, die er an Bord der RUBIKON II verbracht hatte. Auch damals war es ihm und
Resnick so vorgekommen, als ob die Größenverhältnisse nicht zueinander gepasst hätten.
Die sieben Hirten... Alles sprach dafür, dass diese geheimnisvollen Wesenheiten für all dies hier
verantwortlich waren.
Ein holographisches Bild entstand im Zentrum des Raumes.
Jarvis blieb stehen, stocksteif, auf alles gefasst. Auch die beiden anderen rührten sich nicht von der
Stelle.
Die Holographie wirkte überdimensional und ließ keinen Raum für Spekulationen über die
tatsächliche Größe des Wesens.
Denn nichts anderes als das war es: Ein humanoides Wesen, mit einer merkwürdigen, dünnhäutigen
Membran statt eines Mundes. Augen waren in dem knöchernen Gesicht nicht zu entdecken. Durch
den schlanken Hals wirkte die wuchtige Rüstung, die es trug, noch massiver.
»Kantrattan tar«, sagte das Geschöpf. Der Ton war schneidend, befehlsgewohnt und machtbewusst.
Es zeigte mit einer gepanzerten Klaue in ihre Richtung. Die Mundmembran vibrierte. »Pest anil...«
Die Übertragung brach überraschend ab - und begann nach kurzem von neuem.
»Eine Aufzeichnung«, flüsterte Jarvis. »Eine defekte Aufzeichnung.«
Er hatte Angst, in der Gegenwart des Wesens lauter zu werden. Auch wenn es sich nur um ein
Hologramm handelte, das mit ihnen sprach.
Boreguirs Fell stand nach allen Richtungen von seinem Körper.
Kurz dachte Jarvis darüber nach, aus welcher Entwicklungsstufe der Felide wohl stammen mochte.
War dies für ihn, der mit dem Stahl des Schwertes aufgewachsen war, nicht alles viel zu viel? Oder
war es einfach Götterwerk, das er hier sah, so abgehoben, dass er es akzeptierte und nicht länger
darüber nachdachte?
Jarvis wusste so wenig über den Katzenähnlichen, der ihnen den Weg hierher gezeigt und sich dabei als guter Freund und Partner erwiesen hatte. Er war einer, der bereitwillig gab und teilte, ohne Gegenleistungen zu fordern. Die Aufzeichnung lief vier Mal ab, bevor Jarvis und die anderen sich trauten, die Domhalle zu betreten. Dies war, dies musste die Zentrale des Gebäudes sein. Was auch immer für Funktionen hier geregelt wurden - dies war das Zentrum der Macht, und nur hier würden sie einen Fluchtweg aus ihrer Gefangenschaft finden. Sie konnten nur hoffen, dass das machtvolle Wesen, dessen Aufzeichnung sie immer wieder vorgespielt bekamen, nicht zu Hause war.
Es geschah alles blitzschnell und völlig überraschend.
Der Incus öffnete ihm seine Sinne, ließ ihn einige Sachen wissen - und verließ seinen Körper!
Resnick wusste nicht, wie ihm geschah. Er fühlte sich wie von einer tonnenschweren Last befreit.
Da huschte der Incus bereits bei seinem Kragen hinaus. Nur kurz berührte er ihn am Kinn mit
seiner Ekel erregenden, pfirsichglatten Haut - und vorbei war es.
Die Echse bewegte sich so rasch, dass Resnick ihr kaum mit Blicken folgen konnte. Fasziniert,
trotz seiner Schmerzen, hockte er da und fragte sich, was der Incus vorhatte.
Resnicks Gedanken waren schwerfällig, wie betäubt. Er wusste, er sollte handeln, doch der
Warnschrei blieb ihm im Hals stecken.
Der Incus huschte auf Boreguir zu!
Boreguir, wollte Resnick schreien, Vorsicht!
Doch nur ein unartikuliertes Stöhnen drang über seine Lippen.
Der Felide besaß einen unwahrscheinlich stark ausgeprägten sechsten Sinn für Gefahr. Er zog das
Schwert, und bevor er noch sah, was auf ihn zukam, schlug er bereits zu.
Daneben...
Es ist so schnell, dieses kleine Monster, das sich von meinem Blut, meinen Träumen und meinen Gedanken ernährt hat. Jetzt wird es dich in Besitz nehmen, Boreguir. Und das nur, weil ich... weil ich... Der Incus sprang auf das Bein des Katzenähnlichen, kletterte mit seinen spitzen Beinchen
spiralförmig hinauf.
Boreguir hatte das Schwert fallen gelassen und hieb nun mit der flachen Hand nach der Echse wie
nach einer Mücke. Doch er verfehlte sie erneut.
Der Incus erreichte die Hüfte, wollte sich festsetzen - und damit das Schicksal Boreguirs besiegeln.
Noch einmal musste der Incus der Hand des Feliden ausweichen und flüchtete auf dessen Rücken,
wo ihn Boreguir nicht erreichen konnte.
Jarvis stand daneben, fasziniert, völlig überrascht, während Boreguir einen Veitstanz aufführte.
Nicht mehr als drei Sekunden waren vergangen, seit das Echsenwesen Resnick verlassen hatte.
Der Incus lauerte auf seine Chance, ließ sich nicht abschütteln.
Er täuschte an, kletterte weiter den Rücken hinauf. Er erreichte die nackte Stelle zwischen
Boreguirs Schultern, um sich an dessen Hals vorbei und über die Brust von oben in den
Schutzpanzer des Feliden zu schwindeln.
Es knirschte hässlich, ein schrilles Quieken ertönte - und es war vorbei.
Boreguir hatte seine Stacheln ausgefahren.
Denn das, was die GenTecs als katzenähnliches Wesen angesehen hatten, besaß eine weit größere
Ähnlichkeit zum irdischen Stacheltier.
Das, was wie grobe Hautporen auf dem ledrig wirkenden Rücken ausgesehen hatte, waren in
Wirklichkeit jene Löcher, aus denen soeben hunderte spitze, rot glänzende Stachel ausgefahren
waren.
Sie hatten den Incus dutzendfach durchbohrt.
Rotes Blut - Resnicks Blut - tropfte schwer von Boreguirs Rücken zu Boden.
»Die letzten Stunden waren ein Albtraum«, erzählte Resnick seinen Begleitern. »Der Incus bombardierte mich ständig mit seinen bösartigen Gedanken und versuchte, meine Sinne zu verwirren. Er trachtete danach, mehr und mehr die Kontrolle über den Körper zu gewinnen. Ich wehrte mich, konnte mich aber euch nicht mitteilen. Ich... Es war einfach grauenhaft.« Resnick schüttelte sich. Er besaß nach wie vor nicht die Kraft, sich aufzurichten. Der Incus hatte während des Aufstiegs alles, was er an Energie besaß, in sich aufgesogen. Jarvis betrachtete ihn sorgenvoll, während Boreguir unruhig umherblickte. Der Incus steckte nach wie vor in seinem Stachelgewand. Er trug ihn wie eine Trophäe mit sich. »Aber warum hat er dich verlassen?«, fragte Jarvis. »Ich dachte, dass er sein Opfer nie loslässt, bis er es vom letzten Rest an Mineralien, Salzen und Spurstoffen befreit hat?« »So ist es normalerweise«, antwortete Resnick. Er war zu müde, um über das nachzudenken, was er nun sagte. »Der Incus fand keinen Geschmack mehr an mir. Er sagte, ich wäre dem Tode geweiht, und er wollte einfach nicht mit mir sterben. Er hat erkannt, dass meine Körperfunktionen nachlassen und versagen. Meine Uhr läuft ab... «
»Wie lange noch?«, fragte Jarvis. Nur ein leichtes, nervöses Zucken mit den Augen zeigte, dass er
angespannt war. Noch angespannter als sonst.
»Minuten, Stunden oder Tage - was spielt es für eine Rolle?«, entgegnete Resnick bitter. »Es ist ein
Schicksal, das wahrscheinlich uns beide trifft. Höre auf dein Inneres, und du wirst bemerken, dass
auch dein Körpersystem langsam zusammenbricht. Oder wie willst du sonst die ständigen
Kopfschmerzen und das versagende Augenlicht erklären?« Jarvis schwieg.
Sie hatten es beide schon vor einiger Zeit erkannt, doch immer weit von sich geschoben.
Nun war es Gewissheit - zumindest für Resnick.
Doch noch war es nicht so weit, und es gab Einiges zu tun.
Zielsicher steuerte Resnick auf eine breite, glatt verkleidete Seitenwand des Domes zu.
»Was tust du da?«, fragte Jarvis misstrauisch. Er wollte anscheinend nicht glauben, dass er bereits
wieder völlig frei von der Beeinflussung durch den Incus war.
Und in gewissem Sinne hatte Jarvis auch Recht. Der Incus hatte seinem Gefährten Wissen
hinterlassen.
Wissen, dass die kleine Echse eigentlich gar nicht besitzen durfte...
»Der Incus war nicht nur ein Schmarotzer, der auf Kosten anderer lebte«, sagte Resnick bedächtig,
während er sich suchend umsah. »Er besaß auch einen speziellen Auftrag von den Herren des
Kristallturms. Er hatte darüber zu wachen, dass all zu aufmüpfige Gäste des Zoos der Hohlwelt,
wie er es nannte, nicht auf die Idee kamen, den Kristallturm zu besteigen.«
Es war nicht leicht, Jarvis zu überraschen - doch diesmal war es ihm gelungen.
»Der Incus kennt - ich meine, kannte - die Hirten?«, stotterte er. »Er arbeitete für sie?«
»Er hat sie nie persönlich gesehen. Doch er war schon einige Male hier, um Anweisungen von dem
Wesen in der Holographie entgegen zu nehmen. Damals, als die Übertragung noch nicht defekt
war.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Boreguir argwöhnisch.
»Der Incus hat es mir in dem Moment mitgeteilt, als er mich verließ. In seiner grenzenlosen
Überheblichkeit dachte er sich das als besondere Demütigung für mich aus. Er gab mir Wissen, das
wir unbedingt benötigen, um von hier zu verschwinden - und gleichzeitig teilte er mir mit, dass ich
bald sterben würde.«
»Was für Wissen?« Jarvis wurde immer aufgeregter.
Triumphierend sah Resnick hoch und strich mit der Handfläche über ein kleines, unauffälliges
Feld, das sich im Farbton nur geringfügig von der übrigen Fläche der Seitenverkleidung
unterschied.
»Dieses Wissen«, sagte er nur.
Das riesige Paneel verschwand wie in Luft aufgelöst und machte einem schmalen, aber zwanzig
Meter tiefen Raum Platz.
An der rechten Seite standen kompakte technische Geräte, deren Bedienungsflächen bunt
leuchteten und augenscheinlich aktiviert waren. Links standen reihenweise Container, die mit
bernsteinfarbener Flüssigkeit gefüllt waren.
Wie in Trance ging Resnick auf das zentrale Gerät zu. Jarvis und Boreguir blieben hinter ihm
zurück.
Das Pult erschien ihm unangenehm hoch. Die Erbauer mussten ein gutes Stück größer als
Menschen sein.
Mehrere Tastflächen leuchteten in merkwürdigem Rhythmus, während andere leichten, gezielten
Geruch absonderten. Resnick suchte kurz nach dem richtigen Feld und aktivierte es.
Beziehungsweise deaktivierte es.
Denn mit einem Mal erloschen alle Illusionen. Das Schloss, in dem sie sich befanden, verschwand,
und die wahre Decke der Hohlwelt wurde sichtbar.
Sie bestand aus Wasser.
Aus grünem Wasser, gepresst und gefangen in Glas oder einem unsichtbaren Kraftfeld.
Auch der Kristallturm wurde zu dem, was er eigentlich war: eine rostrote, bizarr geschwungene
Metallkonstruktion, an der Wasser behäbig nach unten rann.
Mehrere Holoschirme sprangen an. Sie zeigten die Festung, wie sie wirklich aussah, die Hohlwelt,
den Planeten, in dem sie sich befanden, und sie zeigten das Planetensystem.
Resnick freute sich diebisch, dass er Jarvis mit den nächsten Sätzen die Überraschung seines
Lebens bereiten konnte.
Würde dies die letzte, große Freude seiner Existenz sein?
»Die Festung ist tatsächlich eine Station der Hirten«, sagte er. »Die Hohlwelt ist komplett von einer
dicken Wasserschicht umgeben.« Resnick schwieg einen theatralischen Moment. »Und der Planet,
in dem wir uns befinden, ist der Mars!«
Stille.
Erst nach mehr als einer Minute atmete Jarvis aus.
»Der rote Sand«, murmelte er. Er war blass geworden. »Die Gesteinsuntersuchungen, die Konsistenz der Luft, der 25-Stunden-Rhythmus - das alles waren deutliche Hinweise! Und wir haben sie nicht erkannt!«
»Wir konnten sie nicht erkennen, G.T.«, sagte Resnick ein wenig müde. »Wer rechnete schon damit, dass es uns zurück in das eigene Sonnensystem verschlagen würde?«
Boreguir stand teilnahmslos da, das Schwert in der Hand, den Incus nach wie vor in den Stacheln seines Rückens aufgespießt.
»Ihr kennt... diesen Planeten?«, fragte er ungläubig - und ein wenig misstrauisch.
»Wir stammen von der Nachbarwelt«, antwortete Jarvis mit zitternder Stimme, und kümmerte sich
dann nicht mehr weiter um Boreguir.
»Wir sind da, wo wir ursprünglich hinwollten, Resnick, wohin uns unsere ursprüngliche Mission
mit der RUBIKON hatte führen sollen!«
»Ja. Es war bloß ein winziger Umweg, den wir genommen haben«, antwortete Resnick mit einem
kleinen Lächeln. Übergangslos wurde er ernst. »Der Incus hat auch einen Gedanken hinterlassen,
wie sich die Funksprechanlage bedienen lässt. Ich vermute stark, dass dies nicht in seiner Absicht
lag.«
Jarvis kniff die Augen zusammen. »Was hat dieses Echsenwesen noch alles gewusst? Was hätte es
uns alles über die Hirten sagen und erzählen können?«
»Nicht viel, vermute ich. Der Incus verdingte sich als bereitwilliger Diener seiner Herren, der
lukullische Spezialitäten von mehreren hundert Planeten kosten durfte und zusätzlich als eine Art...
Zoowächter arbeitete. Da und dort hat er sich unerlaubt ein wenig Wissen über die Hirten
angeeignet — aber das war's auch schon.«
Resnick drehte sich wieder um und blickte auf ein Hologramm, das die Umgebung des Turms
zeigte.
Dort unten wurde die Illusion vom prächtig glitzernden Kristallturm weiterhin aufrechterhalten,
und mehr als vierhundert armselige Lebewesen kämpften wie jeden Tag um ihre Existenz.
Gedankenverloren fuhr Resnick über ein weiteres Tastfeld, zog einen großen Halbkreis mit dem
Zeigefinger und sagte dann: »Der Mars ruft die Erde, bitte kommen! Hier spricht GT-Resnick,
Überlebender der zweiten Mars-Mission...«
»Resnick!«
»Stör mich jetzt nicht! Ich habe alle Mühe, die Gedanken des Incus zu rekonstruieren und das
Funkgerät auf die Erde auszurichten...«
»Das hier ist momentan wichtiger! Komm her!«
»Was soll wichtiger sein als die Rückkehr zur Erde?« Er seufzte und drehte sich um. »Also, was
gibt's?«
Jarvis stand vor einem der bernsteinfarbenen Container und starrte angestrengt hinein. Dann drehte
er sich um, noch blasser als zuvor. »Da sind Lebewesen drinnen. Konserviert.«
Resnick trat näher. Er hatte bereits genug Sensationen für heute gesehen, und der Anblick
tiefgefrorener Leichen war nichts, was ihn noch zusätzlich erschüttern konnte. »Schön und gut,
aber eigentlich interessiert mich unser eigenes Schicksal viel mehr als das irgendwelcher Trophäen
der Hirten. o
Jarvis, der sonst so kühle Jarvis, rüttelte ihn an den Schultern und stieß ihn vorwärts, auf einen
Container zu. »Dann sieh einmal hier durch! Und sag mir, dass ich mich täusche! Sag mir, dass das
kein Mensch ist! Sag mir, dass das nicht Nathan Cloud ist!«
Epilog: Das Nichts Träge. Alles träge. Ich hatte bereits alles gedacht, was es zu denken gab. Ich war ein Nichts, reduziert auf verschwommenes Sehen und zäh tropfende Gedanken. Etwas änderte sich nach eintausend Ewigkeiten. Gestalten traten in mein Blickfeld. Sie sprachen. Sie sprachen... englisch? Grundgütiger, dachte ich, bitte tötet mich endlich! Tötet mich! Bitte!
ENDE
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