Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 649 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Freiheit für Bars‐2‐ Bars von Peter Griese
Atlan ...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 649 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Freiheit für Bars‐2‐ Bars von Peter Griese
Atlan im Kampf mit dem Verbannten
Die Verwirklichung von Atlans Ziel, in den Sektor Varnhagher‐Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn ihm wurde die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten dieses Raumsektors. Doch Atlan gibt nicht auf! Um sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besorgen, scheut der Arkonide kein Risiko. Mit den Solanern folgt er einer Spur, die das Generationenschiff gegen Ende des Jahres 3807 Terrazeit schließlich nach Bars‐2‐Bars führt, die aus zwei miteinander verschmolzenen Galaxien bestehende Sterneninsel. Die Verhältnisse dort sind mehr als verwirrend. Doch die Solaner tun ihre Bestes, die Verhältnisse zu ordnen, indem sie die Völker der künstlichen Doppelgalaxis, die einander erbittert bekämpfen, zum Frieden bewegen und die Galaxien selbst wieder zu trennen versuchen. Inzwischen schreibt man an Bord der SOL den April des Jahres 3808, und Anti‐ES, der erbitterte Gegner Atlans und der Solaner, hat alles in seiner Macht Stehende aufgeboten, um den endgültigen Sieg zu erringen. Damit sind auf der Seite des Positiven alle Kräfte gefordert, denn es geht um die FREIHEIT FÜR BARS‐2‐BARS …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Er erlebt das Ende einer Superintelligenz. Tyari und Mjailam ‐ Atlans Gefährten im Entscheidungskampf. Tyar und Prezzar ‐ Die galaktischen Intelligenzen einigen sich. Anti‐ES ‐ Die Superintelligenz wird überrascht. Cara Doz ‐ Die Emotionautin gibt ihr Geheimnis preis. Parzelle ‐ Ein mysteriöser Beobachter.
1. Die drängende Stimme war von einem Augenblick zum anderen in seinem teilgelähmten Bewußtsein. Sie quälte ihn, forderte Aufmerksamkeit und Bereitschaft zum Zuhören. Sie kam aus einer nicht feststellbaren Richtung, und sie durchdrang alles, was ihn von seiner Galaxis trennte. Tyar schrie gepeinigt auf. Aber da war niemand, der ihn hören konnte. Er wand sich in seinen Fesseln. Er wollte zurückbrüllen, aber seine Stimme versagte, so wie sie fast immer seit dem Moment versagt hatte, da er in dieses Gefängnis gezwängt worden war. Irgendwo in seiner Nähe mußte »der andere« sein, jenes unbegreifliche Wesen, das sich Prezzar nannte, und dem ein ähnliches Schicksal widerfahren sein mußte wie ihm. Konnte es dieser urgewaltige Bursche sein, der da rief? Mit dem Rest seines freien Verstands beantwortete Tyar diese Frage sich selbst. Es war absolut auszuschließen, daß Prezzar ihn rief. Sie beide waren nicht nur gegensätzlich. Sie waren beide auch auf die gleiche Art und Weise Gefangene in einer kaum erklärlichen Situation. Sie wußten nicht einmal genau, wo sie waren. Bei den wenigen Kontakten, die zwischen Prezzar und ihm auf gedanklicher Ebene möglich gewesen waren, war jeder von ihnen der Ansicht gewesen, in seiner Galaxis, also in seinem »Körper« zu sein, die Begründung für diese Annahme war einfach. Ohne die unmittelbare Umgebung der heimischen Sterne und Planeten, der Kugelsternhaufen und
Kometen, der Asteroiden und intergalaktischen Staubwolken, der Gravitationsfelder und der magnetischen Strömungen, der hyperenergetischen Komponenten und normalenergetischen elektromagnetischen Wellen, war eine Existenz unmöglich. Einmal waren kleine und völlig fremde Wesen in ihrer Nähe gewesen. Sie hatten behauptet, Bars und Farynt, ihre Galaxien, seien miteinander verzahnt worden, so daß Bars auch Farynt und Farynt auch Bars sei. Vielleicht, so hatte sich Tyar damals gesagt, als er einen lichten Moment gehabt hatte, war dies die Erklärung dafür, daß er sich »zu Hause« fühlte – und Prezzar ebenfalls. Die unheimliche Stimme meldete sich wieder. Sie schmerzte, und das machte sie unverständlich. Außerdem wies Tyar jeden Kontakt weit von sich. Er kapselte sich dagegen ab, denn er wollte mit niemand sprechen. Tyar, die übergreifende galaktische Intelligenz der Sterneninsel Bars, kannte seine Einsamkeit, seine Isolation. Er hatte sich in einer Weise damit abgefunden, denn wer über Äonen zur Bewegungslosigkeit verdammt war, wer über eine Zeitspanne, die er längst nicht mehr messen konnte, in fast jeglicher Aktion gehindert wurde, der mußte wahnsinnig werden oder sich in sich selbst zurückziehen. Ein einziges Mal war der Unbekannte, der Prezzar und ihn in diese Fesseln geschmiedet hatte, unaufmerksam gewesen. Diese winzigen Augenblicke hatte Tyar damals genutzt, um sich zu wehren. Er hatte durch ein Kräftespiel, in das er unbewußt geraten war, Informationen über ein Wesen erhalten, das ihm vielleicht helfen konnte. Dieses Wesen war ein Gegner dessen, der ihn in dieser Gefangenschaft hielt. Aber es war zu weit von ihm entfernt gewesen, als daß er es hätte erreichen können. Dieses Wesen hieß Atlan, und auf ihn setzte Tyar seine Hoffnung. Um diesen in die Nähe seines Gefängnisses zu locken, hatte er mit letzter Kraft eine Bewohnerin von Bars so beeinflußt, daß sie Atlan sehr ähnlich wurde. Er hatte ihr den Namen Tyari gegeben und sie mit dem Drang ausgestattet, Atlan zu finden und nach Bars zu
locken. Tyar wußte nicht, ob sich sein Plan wirklich in einen Erfolg umwandeln würde. Zu spärlich waren seine Möglichkeiten, das äußere Geschehen zu verfolgen. Wieder hämmerte die fremde Stimme in ihn hinein. Er spürte die Ungeduld des Unbekannten. Schließlich erwachte eine natürliche Neugier in ihm. Er öffnete einen Spalt seines Bewußtseins und ließ das Gehörte auf sich wirken. Den Sinn der Mitteilung verstand er auch jetzt nicht. Er interessierte ihn auch nicht, denn er wollte nur wissen, wer sich da erdreistet hatte, ihn auf so ungebührliche Weise zu belästigen. Es war nicht Prezzar. Es war nicht der, der für seine Gefangenschaft verantwortlich war, und auch nicht der, der sie übernommen hatte. Es war auch nicht Tyari, und es war nicht Atlan. Damit bestand kein Zweifel mehr daran, daß ein ihm vollkommen unbekanntes Wesen seine Gedanken an ihn richtete. Gegen Fremdes hatte er aber schon immer eine Abneigung gehabt, denn nur die Materie der Sterneninsel Bars, die ihn hervorgebracht hatte, war ihm angenehm. »Du stellst dich wieder stumm und taub, du Narr!« Das war Prezzar, der nun sprach. Mit gelindem Erstaunen registrierte Tyar, daß er diese Worte mit ungewohnter Deutlichkeit empfing. Normalerweise war seit Beginn der Gefangenschaft eine Kommunikation mit dem rüden Burschen unmöglich gewesen. Es hatte sich etwas verändert, folgerte er. Nicht nur ein Fremder ist aufgetaucht. Auch Prezzar kann plötzlich deutliche Mitteilungen machen. »Antworte!« herrschte ihn der mehr aus Instinkt bestehende Mitgefangene an. »Dein Schweigen führt dich in den Tod! Der Untergang ist nah. Spürst du das nicht, Unterentwickelter?« Aus den gelegentlichen Kontakten hatte sich Tyar ein Bild über Prezzar formen können. Dieser war froh, launisch, grob oder primitiv. Daher vermochte er auch nicht glauben, daß Prezzar etwas
Ähnliches war wie er selbst, das übergreifende Bewußtsein einer Sterneninsel. Seine beleidigenden Äußerungen prallten daher an ihm ab. Automatisch war damit verbunden, daß er Prezzars Worten auch inhaltlich kein Gehör schenkte. Er ließ ihn zetern und schimpfen, bis er wieder schwieg. Auch der Fremde machte sich nun nicht mehr bemerkbar. Tyar spürte aber (trotz der Fesseln und Abschirmungen!), daß etwas in der Nähe war. Dieses Etwas tastete sich weiter an ihn heran. Furcht empfand Tyar dabei nicht, denn mit der Möglichkeit eines persönlichen Endes rechnete er nicht. Er würde existieren, solange die Sterne von Bars strahlten. Er war uralt, so alt, daß er sich kaum noch zur Gänze an sein früheres Dasein erinnern konnte. Durch einen natürlichen Mechanismus war er als begreifende Intelligenz seiner Sterneninsel entstanden. Er war allgegenwärtig in jedem Staubkorn von Bars, in jedem Lebewesen, das sich irgendwo regte und bewegte. Sein Körper war Bars. Er war Bars. Er war diese Sterneninsel des Universums. Tyar zuckte zusammen, als er begriff, daß er in Träume der Vergangenheit zu versinken drohte. Die Realität war gänzlich anders. Er war ein Gefangener, ein Opfer, ein Willenloser. Er war eingeengt in eine unbegreifliche Fessel, die sein eigentliches Ich von Bars fast vollständig trennte. Er verstand nicht, warum ein mächtiges Wesen ihn in dieser Weise vergewaltigt hatte, denn er erkannte keinen logischen Sinn in dieser Tat. Die friedvollen Zeiten der fernen Vergangenheit waren lange vorbei. Sein derzeitiger Zustand war schon jetzt Vergangenheit, obwohl er unvermindert andauerte. Tyari, seine aus Verzweiflung geborene Schöpfung, war schon Vergangenheit. Der Bann der ewigen Fessel schnürte ihn schon so lange zusammen, daß die Bilder aus dem Davor zu verschwimmen begonnen hatten. Der rüde Prezzar hatte damals seine Tat verfolgen können. Der
Urinstinkt dieses fremden Wesens hatte schnell reagiert. Als Prezzar eine kleine Phase der geistigen Freiheit empfunden hatte, hatte er auch ein Geschöpf erzeugt, allerdings aus sich selbst heraus, also nichts Wirkliches. Mjailam hatte er es genannt, und Tyar hatte diesen Versuch mit einem Anflug von Belustigung zur Kenntnis genommen. Mjailam war so grobschlächtig geraten wie sein Erzeuger. Prompt hatte er sich auch auf Nimmerwiedersehen abgesetzt, als er sich seiner Existenz bewußt geworden war. Daß Prezzar bisweilen noch an ihn dachte, war für Tyar nur ein weiterer Beweis für dessen Primitivität. Zu einem eigenen Gedanken ist er unfähig, dachte Tyar, wenn er sich an Mjailam erinnerte. Prezzar kann nur kopieren, aber selbst das nur unvollkommen. Er verglich seinen Mitgefangenen mit einem wilden Tier. Mehr war er nicht, auch wenn er konzentrierte Gedanken ausschicken konnte. Eine Ansammlung der wilden Instinkte seines Herkunftsbereichs, eine Abscheulichkeit, sagte sich Tyar. Er fühlte plötzlich, wie sich die Fesseln etwas lockerten. Neue Impulse gelangten zu ihm. Sie kamen von draußen. Begierig nahm er sie in sich auf, obwohl sie verwirrend und unverständlich waren. So gewann er nur eine kleine Erkenntnis. Etwas veränderte sich tatsächlich. »Ich will dich warnen!« flüsterte eine Stimme. Sie war leise und behutsam, aber unter dem Wegfall der harten Fesseln konnte Tyar sie identifizieren. Es war der gleiche Fremde, der ihn zuvor bedrängt hatte. Jetzt jedoch konnte er sich leichter mitteilen. Noch zögerte er mit einer Antwort, denn es erschien ihm absurd, daß ihn jemand außer Prezzar überhaupt hören konnte. Nie hatte es während der ganzen Zeit der Gefangenschaft einen Kontakt nach draußen gegeben. »Ich muß dich warnen, Tyar!« Er wurde also tatsächlich angesprochen. Wieder vergingen mehrere Pulsschläge des Kosmos, in denen Tyar untätig blieb.
»Öffne deine Gedanken, Tyar!« wisperte es weiter in ihm. »Nur wenn du die Gefahr siehst, die auf dich und Prezzar zukommt, kannst du ihr vielleicht noch begegnen.« Er kannte die Verzweiflung und die Isolation, aber er kannte keine Furcht. Mehr als die ewige Gefangenschaft konnte ihm niemand antun. Wovor sollte er also gewarnt werden? »Ich möchte einmal so dumm sein wie du!« brüllte Prezzar dazwischen. Auch seine Mentalstimme klang jetzt deutlicher denn je. »Die Dinge beginnen sich zu verändern, und du willst es nicht wahrhaben, du Ausgeburt der Stumpfsinnigkeit!« Er sah wieder von einer gezielten Antwort ab, aber er gestand sich ein, daß tatsächlich eine Veränderung eingetreten war. Er besaß zwei Gesprächspartner, Prezzar und den Fremden. Da er immer besonnen und weise reagiert hatte, versuchte er auch jetzt, sich ein genaueres Bild zu machen. Die gelockerten Fesseln erlaubten es ihm zwar auch jetzt nicht, sein zusammengeballtes Bewußtsein zu bewegen oder gar von diesem Ort des ewigen Schreckens zu fliehen, aber er konnte vielleicht ein wenig nach draußen tasten. Ganz behutsam streckte er einen Fühler aus und versuchte damit zu verstehen, wer der Fremde war. Er war irgendwo in der näheren Umgebung, aber er ließ sich nicht lokalisieren. Tyar versuchte ihn zu erfassen und sein Ich zu begreifen. Ein paar winzige und symbolhafte Fetzen gerieten in seine Fänge. Er entzifferte mühsam das erste Fragment dieses Gedankens und kam zu dem Schluß, daß er »C« lautete. Was das bedeutete, wußte er nicht. Von dem Rest war nur ein weiteres, etwas größeres Bruchstück deutlich. Es klang »RA«. Was dazwischen und dahinter lag, war eine Überlegung verschiedener Symbole. Das Gemenge war so dicht, daß Tyar es nicht auflösen konnte. »C‐RA!« formulierte er einen ersten gezielten Gedanken. »Was willst du von mir?« »Beim nächsten Versuch einer Kontaktaufnahme antwortest du gefälligst etwas schneller, Tyar«, antwortete C‐RA frech und mit
gänzlich anderer Stimme. »Es könnte sonst sein, daß du dein Dasein schnell beenden mußt.« »Du drohst mir? Das ist lächerlich. Ich bin zwar bewegungsunfähig, und ich kann auch nicht auf meinen Körper wirken, aber das besagt nichts.« »Ich will mich nicht mit dir streiten.« C‐RA lachte. »Ich will dir helfen. Du mußt die augenblickliche Situation nutzen, denn lange kann ich deine Fesseln nicht lockern. Beobachte deine Umgebung! Vertraue nicht allein auf Tyari oder Atlan, so wie Prezzar sich nicht vorbehaltlos auf Mjailam abstützen kann. Er und du, ihr müßt selbst etwas tun, sonst …« Der Fremde, den er in Ermangelung eines besseren Namens C‐RA genannt hatte, und der dies offensichtlich akzeptiert hatte, schwieg unvermutet. Die Bande der Fesseln zogen sich augenblicklich wieder enger zusammen. Sie erreichten aber nicht die frühere Festigkeit. »C‐RA!« rief Tyar. »Sprich weiter! Was ist wirklich geschehen?« Er bekam keine Antwort, aber wenig später vernahm er einen Grunzlaut, mit dem sich Prezzar meldete. »Er ist weg, du Held!« Seine Stimme triefte vor Hohn. »Hast du das nicht kapiert?« »Ich beabsichtige nicht, mit dir zu sprechen«, lehnte Tyar schroff ab. »Du sprichst doch schon mit mir.« Wieder grunzte Prezzar wie ein zorniges Tier. »Und wenn du bemerkt hast, was da draußen geschieht, wirst du es wieder tun, du Narr. Die Zeit ist knapp, aber ich will warten, bis du zur richtigen Einsicht gekommen bist. Vielleicht findest du dich dann auch damit ab, daß mein urwüchsiger Farynt‐Instinkt deinem intelligenten Gehabe in mancher Hinsicht überlegen ist.« Tyar zog es vor zu schweigen. Er kapselte sich in seiner Enge ab und dachte nach. Dann tastete er vorsichtig nach den ewigen Fesseln und schob seine Fühler durch die winzigen Löcher nach
draußen, die seit C‐RAS Auftauchen entstanden waren. Er spürte seit Äonen wieder etwas von dem Hauch seines wahren Ichs, etwas von Bars. Mit freudigen Empfindungen nahm er die wenigen und winzigen Regungen in sich auf. Zufällig berührte er ein paar Körper in seiner Nähe. Er ließ sie nur kurz auf sich wirken. Dann zuckte er unter einem gewaltigen Schmerz zusammen und brach jeden Kontakt nach draußen ab. Seine Gedanken wirbelten durcheinander und fanden keinen Weg mehr zur Besinnung. Etwas Unfaßbares bahnte sich an. Dort draußen war etwas, was es nicht geben konnte. Es war etwas, das nur ein Ziel kannte, nämlich ihn zu töten. Das Entsetzliche daran war, daß Tyar gespürt hatte, daß es diesem Etwas tatsächlich möglich war, das Vorhaben durchzuführen. Sein ganzes Bild über sich selbst brach zusammen. Zurück blieb ein wimmerndes Knäuel aus Gedanken und Materieresten, die sich in ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung aneinanderklammerten. Wenige hundert Meter von Tyar entfernt regte sich das Instinktbewußtsein Prezzars in den gleichen Empfindungen. Das Produkt Farynts war nicht weniger betroffen, denn es sah auch keinen Ausweg. Seine reinen Intellektanteile waren gelähmt, aber sein überragender Instinkt arbeitete unbeirrt weiter. Der Instinkt war es auch, der in diesem Augenblick die Erkenntnis gewann, daß Tyar kein Gegenspieler oder Feind sein konnte, wie er es bislang als selbstverständlich angenommen hatte. Die plötzlich existierende Not, die Todesangst und der Existenzwille entwickelten ein neues Gefühl. Tyar war ein Leidensgenosse, ein Gefährte, dem man helfen mußte. Allerdings ließen sich diese Vorstellungen nicht in Wirklichkeit verwandeln. Und so schwieg auch Prezzar. 2.
Die letzten Zweifel waren ausgeräumt. Das gewaltige Ding, das sich der SOL näherte, war Wöbbeking‐NarʹBon, das mächtige Wesen, das aus dem winzigen positiven Kern der Superintelligenz Anti‐ES hervorgegangen war. Ich wußte nicht, ob ich mich über das Erscheinen unseres Freundes freuen konnte und durfte, denn zu deutlich erinnerte ich mich noch an die Warnung, die aus Wöbbekings Worten gesprochen hatte. Er würde sich den Geschehnissen in Bars‐2‐Bars nicht mehr länger entziehen können. Er mußte sich zeigen und stellen. Aus all dem hatte eine tiefe Niedergeschlagenheit gesprochen. Das konnte ich trotz der Teilerfolge, die wir errungen hatten, nicht vergessen. Wir hatten die Kerntruppe des Arsenals, der rekrutierten Hilfstruppe von Anti‐ES, nicht nur zerschlagen, sondern auch für uns wiedergewinnen können. Vor allem Tyari und Mjailam waren nun von jedem Zwang der Penetranz befreit und an Bord der SOL. Damit waren die Sprößlinge der übergreifenden galaktischen Geisteskomponenten Tyar und Prezzar beide auf meiner Seite. Wöbbekings Verhalten, sein Versteckspiel und seine nie ganz eindeutigen Mitteilungen konnte ich nun leicht in eine verständliche Sprache übertragen. Das Ergebnis war nicht gerade ermutigend. Aus den Ereignissen in der Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars hatte ich erfahren, welches Ziel Anti‐ES wirklich verfolgte und welche Hindernisse es dabei aus dem Wegräumen mußte. Daß es seine persönliche Freiheit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln anstrebte, wußte ich aus den Reinkarnationserlebnissen. Daß es für diese Freiheit und seine zukünftigen Pläne komplett sein mußte, war mir auch seit längerer Zeit klar. Die Bemühungen der negativen Superintelligenz zielten also zunächst auf die Rückgewinnung und Wiedereinverleibung von Wöbbeking. Daß sich dieser im Lauf der Zeit zumindest äußerlich wesentlich verändert hatte, schien dabei keine Bedeutung zu besitzen. Anti‐ES zog also seit langem die Fäden, um Wöbbeking‐NarʹBon
anzulocken. In Xiinx‐Markant war er fast am Ziel gewesen. Nur durch das unkontrollierte Eingreifen unserer Emotionautin Cara Doz war Wöbbeking dort der vorbereiteten Falle noch einmal entgangen. Der Haß auf die SOL und auf mich mußte für Anti‐ES dadurch nur noch größer geworden sein. So bestand für mich kein Zweifel daran, daß es plante, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Und das sah so aus: Es würde die SOL endgültig an den Rand des Untergangs bringen, um Wöbbeking an einen Ort zu locken, wo es sich seiner bemächtigen konnte. Daß Anti‐ES an Macht dem Riesenei überlegen war, hatte dieses selbst gesagt. Selbst wenn Hayes und ich die SOL aus allem herausgehalten hätten, hätte uns Anti‐ES aus puren Rachegedanken oder aus der Furcht, wir könnten ihm noch einmal einen Streich spielen, vernichten lassen. Insofern war der doppelte Plan der verbannten Superintelligenz für uns ein Stück Lebensverlängerung. Anti‐ES spielte mit uns wie mit einem Fisch an der Angel, um mit diesem Fischlein, der SOL, ein noch größeres, nämlich Wöbbeking, einzufangen. Es war niederschmetternd, diese Einsicht einzugestehen, denn schließlich waren rund 100.000 Solaner davon betroffen. Es war noch niederschmetternder, Wöbbekings Resignation zu erleben. Er war das eigentliche Opfer, und dieses hatte sich nun praktisch aufgegeben. Nichts anderes konnte das Erscheinen des riesigen Gasballs bedeuten, in dessen Mitte das vergleichsweise kleine Ei aus Jenseitsmaterie durch den Raum glitt. Eigentlich konnte ich mir das weitere Geschehen recht genau ausrechnen. Das Junk‐System, an dessen Rand wir nun standen und in dem wir so etwas wie den Hauptnabel, der Verbindungsstelle zwischen Bars‐2‐Bars und der Namenlosen Zone, vermuteten, stellte in noch unbekannter Form die neuerliche Falle für Wöbbeking‐ NarʹBon dar. Hier würde die Entscheidung zwischen ihm und Anti‐ ES fallen. Wie sie aussehen würde, war klar, denn der merkwürdige Unnahbare namens Parzelle hatte mir verraten, daß Anti‐ES für 100
Stunden die völlige Freiheit aus der Verbannung erhalten würde. Der Sinn dieser Maßnahme, die nur von den Kosmokraten veranlaßt worden sein konnte, war mir weiterhin schleierhaft. Die gesetzte Frist erlaubte aber nur den logischen Schluß, daß hier die Entscheidung fallen mußte. Was hält dich hier also noch? drängte der Logiksektor. Du weißt, daß die SOL und du die Opfer dieses Geschehens sein werden. Ich gab ihm keine direkte Antwort, denn meine Gefühle konnte ich dem Extrasinn schlecht erklären. Es war nicht nur der Auftrag der Kosmokraten, der mich in Besitz genommen hatte, und der in verallgemeinerter Form lautete, mich stets für die positiven Kräfte des Universums einzusetzen. Es war auch mein eigener und ganz persönlicher Wille, so zu handeln. Und es war Tyari, die ich mehr liebte, als ich je eine Frau geliebt hatte. Sie wollte in die Nähe der geheimnisvollen Junk‐Station, und ich wollte nicht von ihrer Seite weichen. Daß sie dabei nur einem Antrieb folgte, für den letztlich nur Tyar selbst verantwortlich sein konnte, spielte bei meinen Gefühlen keine Rolle. Sie war da! Und dort wollte sie hin! Einmal hatte ich sie auf Anterf gehen lassen, weil ich mir meiner Gefühle nicht sicher gewesen war. Das war jetzt anders. Ich würde ihr folgen, und sei es in die Hölle selbst. Und es gab noch einen anderen Grund. Anti‐ES war für mich identisch mit den Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst. Dahinter verbarg sich ganz konkret der Auftrag der Kosmokraten. Ich hatte diese Daten verloren, also mußte ich sie wieder in meinen Besitz bringen. Du verhältst dich ziemlich egoistisch und rücksichtslos gegenüber den Solanern, warnte der Extrasinn. Du benutzt sie, um deine Ziele zu erreichen. Nach dem, was sie wollen, hast du schon lange nicht mehr gefragt. Hast du je daran gedacht, daß du eines Tages dafür die Quittung bekommen könntest? Ich biß die Zähne zusammen, denn diesen Vorwurf konnte ich
nicht ohne weiteres von mir weisen. »Sie haben eine große Begeisterung entwickelt«, entgegnete ich dann kaum hörbar. Der Logiksektor konnte mich auch ohne gesprochenes Wort verstehen, aber ich wollte mich selbst reden hören. »Sie folgten mir freiwillig. Ich habe sie nicht gezwungen.« Sie hatten gar keine andere Wahl! Du hast sie aus dem Chaos der Diktatur der SOLAG herausgeführt und diese Situation des Aufatmens und der Anerkennung genutzt, um die Solaner in eine viel gefährlichere Lage zu bringen. Ich war froh, daß mich in diesem Augenblick Breckcrown Hayes rief und ich mir so eine Antwort ersparen konnte. Der High Sideryt winkte mich an den Dreifachbildschirm, auf dem die Ortungsergebnisse koordiniert wurden. Breck wirkte ruhig und gefaßt, obwohl ihm die Strapazen der letzten Wochen überdeutlich anzusehen waren. Er schien um Jahre gealtert zu sein. Er lenkte meine Aufmerksamkeit zuerst auf die rein optische Bilddarstellung. »Diese relativ kleine rote Sonne ist Junk«, erläuterte er. »Der helle Fleck dahinter ist Wöbbeking‐NarʹBon. Er nähert sich nun dem System mit etwa einem Zehntel Lichtgeschwindigkeit. Die Berechnungen haben ergeben, daß er mit Sicherheit noch innerhalb der 100 Stunden hier sein wird, von denen dein Freund Parzelle gesprochen hat.« »Parzelle ist nicht mein Freund«, antwortete ich unwirsch, »Ich kenne ihn nicht besser als du oder jeder andere. Und ich weiß nicht, was er will oder wer er ist.« »Egal.« Breck winkte ab. »Junk gehört eindeutig zu Bars, steht aber rund 13.000 Lichtjahre vom Zentrum dieser Galaxis entfernt und somit recht genau an einer Randposition, wo sich Bars und Farynt berühren.« »Warum betonst du das? Es gibt unzählige Punkte in Bars‐2‐Bars, die zugleich am Rand von Bars und am Rand von Farynt liegen.« »SENECA sieht darin etwas Besonderes, denn kein Stern hat eine
so genaue Position an der räumlichen Schnittlinie. Er sieht darin einen weiteren Beweis dafür, daß hier der Hauptnabel liegen muß.« »Was gibt es weiter Interessantes?« drängte ich. »Junk besitzt drei Planeten, die alle eng beieinander um ihr Muttergestirn kreisen. Sie sind sich auch alle sehr ähnlich. Ihre Durchmesser liegen zwischen 7 500 und 8 800 Kilometern. Sie sind alle unbewohnt, obwohl sie eine dünne und sicher für kurze Zeit ohne Hilfsmittel atembare Atmosphäre besitzen. Wir haben sie Junk I bis III getauft.« »Bekannt.« Diesmal winkte ich ab. »Wenn hier etwas Besonderes sein sollte, dann muß es aus den Energiemessungen erkennbar sein.« »Das scheint der Fall zu sein.« Hayes deutete auf eine künstliche Markierung auf der Oberfläche der roten Sonne. »Hier tauchte die ARSENALJYK II in die Sonnenkorona ein.« Nun deutete er auf das Ortungsbild der Energiereflektoren. »Es gibt ein paar unregelmäßige Stellen im Energiespektrum von Junk. Wir haben sie genau vermessen. Optisch ist gar nichts zu erkennen, aber hier siehst du die leichten Verfärbungen, die von einem etwas geringeren Energieausstoß herrühren.« »Jeder Stern besitzt unterschiedliche Aktivitätsherde auf seiner Oberfläche«, wehrte ich ab. »Das hat nichts zu bedeuten.« Laß Breck doch wenigstens ausreden, fuhr der Logiksektor hart dazwischen. Deine Unzufriedenheit und deine Nervosität brauchst du ja nicht gerade an ihm austoben. Ich lenkte ein und entschuldigte mich mit einem verlegenen und sicher gequält wirkenden Lächeln. Hayes übersah meine Geste absichtlich. »Die Energieniveaus sind charakteristisch für eine künstliche Ursache«, fuhr er fort. »Der Abfall ist an allen vier Punkten exakt gleich groß.« »Aha. Du meinst also, daß etwas in der Sonne steckt?« »SENECA meint es«, entgegnete der High Sideryt. »Er besitzt
Vergleichsdaten von vielen Sternen, und wenn er das behauptet, dann …« »… muß es stimmen«, beendete ich. »Mehr noch Atlan.« Hayes nahm eine Schaltung vor, durch die die Markierung der optischen Darstellung auf die Energieortung übertragen wurde. »Die ARSENALJYK II versank genau an der Stelle, die in der Mitte zwischen den vier Herden mit gesenktem Energieausstoß liegt. Das muß etwas bedeuten.« Sie hat von Anti‐ES einen anderen Auftrag bekommen, folgerte der Logiksektor. Die SOL ist im Augenblick zweitrangig. »Du hast manchmal eine schreckliche Art«, gab ich lautlos zurück, »einem die eigene Bedeutung klar zu machen. Welchen Auftrag könnte die ARSENALJYK im Innern einer Sonne zu erledigen haben?« Es gibt mehrere Möglichkeiten. Es kann der Vorbereitung der Falle für Wöbbeking dienen. Es kann sein, daß das Schiff dort neue und noch unbekannte Helfer oder Energien an Bord nimmt. Es kann aber auch sein, daß es dort etwas zerstören will. Ich wußte, was der Extrasinn meinte. Er wagte es nicht direkt auszusprechen, weil ihm der letzte Beweis fehlte. Durch Parzelles Worte wußte ich aber, daß Tyar und Prezzar noch jetzt existierten. Ich besaß keine Vorstellung davon, wie diese übergreifenden galaktischen Intelligenzen aussehen würden, aber sie waren da. Also lag der Schluß nahe, daß die ARSENALJYK II nach ihnen suchte. Ein anderes Gewicht in dieser Auseinandersetzung gab es nicht, denn Wöbbeking‐NarʹBon war zur Stelle, außerdem hatten die befreiten ehemaligen Arsenalmitglieder übereinstimmend erklärt, daß die Penetranz das Ziel verfolgte, Prezzar und Tyar zu vernichten. Wir vermuteten sicher nicht zu Unrecht, daß Anti‐ES dadurch die Stabilität von Bars‐2‐Bars endgültig sichern wollte. Nur die beiden übergreifenden Wesen dieser Galaxien wären vielleicht noch in der Lage, die unfreiwillige Verzahnung von Bars und Farynt wieder aufzulösen.
Auch war uns bekannt, daß dies im Junk‐System geschehen sollte, und daß wir dieses durch die heimliche Verfolgung der ARSENALJYK II erreicht hatten – dank Blödels verstecktem Impuls‐ Hypersender –, daran zweifelte auch niemand. Es ging also um die beiden unbekannten Faktoren Prezzar und Tyar! Das Schweigen des Extrasinns war für mich eine Bestätigung. Leider konnte ich aber meine anderen Gedanken nicht vor ihm geheimhalten. Tyari war geradezu besessen, Tyar zu helfen. Und Mjailam erging es nicht anders. Ich aber fragte mich, was aus der geliebten Frau werden würde, wenn wir tatsächlich Tyar »befreien« könnten. Würde sie sich dann auflösen? Oder einfach verschwinden? Oder wieder zu dem Wesen werden, aus dem sie entstanden war? Mich beschlichen dunkle Ahnungen, die letztendlich einer Lähmung annähernd glichen. Ich wollte einerseits an Tyaris Seite für alles Positive kämpfen, andererseits aber nicht das Risiko eingehen, sie zu verlieren. Ich hatte schon zu viele Verluste hinnehmen müssen, seit Buhrlos mich an Bord der SOL gebracht hatten. Deine Spekulationen sind überflüssig, unterbrach mich der Logiksektor hart. Denke an Parzelles Worte. Danach spricht das Kräfteverhältnis gegen dich. Wenn Tyari untergeht, ist auch deine letzte Stunde gekommen. Ich konnte dieser Logik unter dem Ansturm meiner Gefühle nicht folgen. Wieder war es Breckcrown Hayes, der mich aus dieser unangenehmen Situation rettete. »Wir müssen näher an Junk heran«, erklärte der High Sideryt. Die Narben in seinem Gesicht leuchteten feuerrot vor Erregung. »Dann bekommen wir bessere Ortungsergebnisse, und dann wissen wir vielleicht, was sich dort in der Sonne verbirgt.« »Tyar und Prezzar«, sagte ich dumpf. Tyari, die schweigend neben Mjailam stand und vor Aufregung zitterte, warf mir einen
zustimmenden Blick zu. »Sollen wir nun folgen oder nicht?« drängte Hayes. »Es ist nicht ungefährlich«, wehrte ich vorsichtig ab, denn die Worte des Logiksektors über mein rücksichtsloses Umgehen mit den Solanern hallten noch in mir nach. »Wir haben ausreichende Erfahrungen mit dem Partikelstromwerfer der ARSENALJYK gemacht.« »Das Schiff ist tief in die äußeren Schichten von Junk eingedrungen«, meinte Hayes zuversichtlich. »Selbst Blödels Kleinsender ist nicht mehr aufzunehmen, weil die energetischen Störfelder ihn überlagern. Von der ARSENALJYK droht uns im Augenblick keine Gefahr.« Ich gab mein Einverständnis und wunderte mich, daß Breck plötzlich der treibende Faktor war. Vielleicht besaß er soviel Weitblick, daß er sich in meine innere Lage versetzen konnte und mir die Entscheidung nehmen wollte. Ich empfand eine tiefe Dankbarkeit für diesen Mann. Wenig später streifte sich Cara Doz ihr SERT‐Band über die Stirn und setzte die SOL in Bewegung. Ziel der Linearetappe war eine Umlaufbahn um Junk, die dicht innerhalb des ersten Planeten lag. Die Beklemmung wich nicht von mir, als das Schiff in den Zwischenraum tauchte und die vertrauten Geräusche der mächtigen Antriebe durch die Terkonitstahlwände an meine Ohren drangen, Ich beruhigte mich erst ein wenig, als ich Tyaris Hand spürte, die sich auf meine Schulter legte. * »Die Zeit verstreicht nutzlos, weil du ein erbärmlicher Feigling bist!« dröhnten Prezzars Worte durch das diffuse Nichts. »Ich habe mir angesehen, was dort draußen ist. Ich akzeptiere es als bittere Wahrheit, gegen die ich ohne dich und den unbekannten Warner
nichts ausrichten kann. Wach endlich auf, Kreatur von Bars!« Tyar wand sich in seinen Fesseln. »Gemeinsam sind wir nicht stärker als allein«, stieß er schließlich hervor. »Ein Irrtum, Minderwertiger.« Prezzar ließ sich nicht beirren. »Meine instinktiven Ahnungen und dein Verstand müßten gemeinsam wenigstens in der Lage sein, den Feind zu erkennen und zu identifizieren.« »Was würde das nützen?« klagte die Intelligenz von Bars. »Nur wer seinen Gegner kennt, der kann auch seine schwachen Stellen ausmachen. Verstehst du das nicht? Hat dir die Gefangenschaft so zugesetzt, daß deine Intelligenz durch diese Sonne aus dir geblasen wurde?« »Welcher Sonne?« »Die Mächte des Jenseits stehen mir bei!« empörte sich Prezzar in wilden Gedanken. »Du mußt blind sein. Wir befinden uns im Innern eines Sternes. Das habe ich bei der ersten Berührung mit dem Draußen ohne Schwierigkeiten festgestellt. Es hat mich dabei maßlos geärgert, daß es sich um eine Sonne aus deiner Sterneninsel handelt. Sie wird Junk genannt, und sie ist eine von den schäbigen Kleinsonnen, an denen du deine Kräfte verschwendet hast.« »Junk ist ein System ohne Leben«, antwortete Tyar noch benommen. »Ich wüßte nicht, warum wir hier sein sollten.« »Da stimme ich dir ausnahmsweise einmal zu. Wir wissen beide nicht, warum wir hier sind, weil wir nie eine Möglichkeit hatten, uns nach draußen zu tasten. Jetzt aber hat der Fremde mit der flüsternden Stimme Löcher in Fesseln gebohrt. Wir können um uns tasten, und wir sollten es gemeinsam tun.« Da Tyar nicht antwortete, fuhr Prezzar fort: »Ich weiß, daß ich für deinen Geschmack zu roh und ungehobelt bin. Das täuscht dich aber nur über meine wahren Kräfte hinweg. Ich bin es, der dir die Hand reicht.« »Weil du mich brauchst«, stellte Tyar fest.
»Nicht mehr und nicht weniger als du mich. Es sei denn, du gehst freiwillig in den Untergang und überläßt Bars dem Wesen, das uns hier in Gefangenschaft hält.« Statt einer Antwort tastete die Intelligenz von Bars nach einer der brüchigen Stellen in dem Gespinst aus Fesseln. Der unsichtbare Arm glitt durch das Sonnenplasma und fand eine zweite Öffnung, die in das Gefängnis Prezzars führte. Die Berührung der beiden Wesen war sanft und vorsichtig. »Überzeugt hast du mich nicht«, erklärte Tyar. »Aber vielleicht ist es wirklich besser, überhaupt etwas zu versuchen, als vor sich hin zu dämmern.« »Sehr vernünftig, mein alter neuer Freund.« Prezzar stieß ein Lachen aus. »Versuchen wir gemeinsam unsere Umgebung zu sondieren. Aber bitte zucke nicht wieder zurück, wenn du den Ekel des Todes und der Vernichtung spürst.« Sie schwiegen, während ihr gemeinsamer geistiger Fühler den Weg nach draußen suchte. Prezzar sammelte die Eindrücke, sondierte sie und gab sie an Tyar weiter, der sie analysierte. So verstrich die Zeit, in der sich neues Wissen in Tyar sammelte. Schließlich gelangte der tastende Arm an die Oberfläche der roten Sonne Junk. Die beiden freiwillig miteinander verbundenen Intelligenzen nahmen das auf, was durch die Konstellation Bars‐2‐ Bars dargestellt wurde. Es waren schreckliche Momente für Tyar. Er wand sich, und als er sich in sein Gefängnis zurückziehen wollte, verwehrte ihm Prezzar diesen Wunsch nicht. Die innere und nur lose Verbindung zwischen den beiden blieb bestehen. Das reichte aus, um weiter Gedanken auszutauschen. Prezzar wartete geduldig, bis sein neuer Partner sich meldete. »Die Dinge, die geschehen sind, die vor Äonen begannen und jetzt noch dort draußen wirken, sind abscheulicher, als ich es mir in den verrücktesten Träumen je ausgemalt habe«, stöhnte die Intelligenz der Sterneninsel Bars. »Und das, was im Innern von Junk sich nähert, ist widerwärtiger und gemeiner, als mein Tod es sein
könnte.« »Drücke dich deutlicher aus«, verlangte Prezzar. »Ich besitze nicht die Fähigkeiten wie du. Was mich abstößt, ist, daß dort draußen Bars‐2‐Bars ist und nicht Farynt‐2‐Farynt.« »Eine völlig unbedeutende Nebensächlichkeit, die wohl nur auf einem Zufall beruht.« Tyar stieß trotz des Ernstes der Lage ein Lachen aus. Es klang aber weniger so, als ob er sich amüsiere und mehr wie tiefe Verzweiflung. »Tatsache ist, daß unsere beiden Sterneninseln gewaltsam ineinandergefügt wurden. Gleichzeitig wurden wir in diese Verbannung gesteckt. Klar ist zum Teil auch, warum dieses gewaltige Unternehmen gestartet wurde. Das Kreuz aus Farynt und Bars dient dazu, eine elementare Voraussetzung zu schaffen, nämlich Übergänge in einen anderen Raum zu erzeugen. Unsere geistige Komponente spielte dabei eine entscheidende Rolle, denn kosmische Kräfte wirken mit, die auch ich nicht verstehen kann.« »Warum sollen wir dann aber jetzt getötet werden?« staunte Prezzar. »Das Wesen, das jetzt Bars‐2‐Bars beherrscht, benötigt die Übergänge, die man Nabel nennt, in Kürze nicht mehr. Es wird Anti‐ ES genannt, und es ist der negative geistige Ausfluß eines Volkes, das man Terraner nennt.« »Ich kenne keine Terraner.« »Ich auch nicht. Die Terraner stammen weder aus Bars noch aus Farynt. Aber auch das ist nicht wirklich von Bedeutung. Die Erkenntnis, daß unser wirklicher Gegner ein überstarkes Wesen ist, das aus dem Raum heraus agiert, in den die Nabel führen, ist von Bedeutung. Anti‐ES hat das Schiff mit seiner Ausgeburt, der Penetranz, und der Vernichtungswaffe geschickt, um uns zu beseitigen. Das ist das Grauen, das wir verspürt haben.« »Ich höre deine Worte, mein Freund Tyar, aber ich verstehe sie inhaltlich nicht. Warum will dieses Anti‐ES uns töten, wenn es sich dadurch zwangsläufig seiner Nabel beraubt?«
»Das scheint ein Widerspruch zu sein«, entgegnete Tyar. »Es ist aber keiner. Mit der Zerstörung des letzten Nabels ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Anti‐ES vollständig in Bars und Farynt sein wird. So sieht es die Penetranz, und ihre Gedanken sind die ihres Herrn in der Namenlosen Zone. Anti‐ES beabsichtigt, nicht mehr an diesen Ort zurückzukehren. Es will seine böse Macht in unserem Universum ausbreiten. Und dafür braucht es uns bestimmt nicht.« Nun war es Prezzar, der aufstöhnte. 3. Die SOL bewegte sich seit einer halben Stunde auf der vorgesehenen Parkbahn um Junk, etwa 225.000 Kilometer innerhalb der Umlaufellipse von Junk I. Da sie dabei fast zehnmal so schnell war wie der kleinere Planet, würde sie in Kürze in dessen Nähe geraten. Eine Korvette mit technischen Spezialgeräten war ausgeschleust worden, um gemeinsam mit dem Mutterschiff hochgenaue Kurzpeilungen durchführen zu können. Es ging dabei einzig und allein um die seltsamen Objekte, die wir im Innern von Junk vermuteten und um den Aufenthaltsort der ARSENALJYK II. Da die Routinearbeit viel Zeit benötigte und ich die Spezialisten durch meine Anwesenheit nicht stören wollte, verließ ich die Zentrale. Auch Breckcrown Hayes hatte sich in die Klause begeben, und Cara Doz ließ sich bei diesem einfachen Routineflug durch andere Piloten und SENECA vertreten. Sie wirkte seit Tagen so ernst wie nie zuvor. Wahrscheinlich setzten ihr die rätselhaften Erlebnisse zu, bei denen sie ums Leben gekommen war und doch wieder nicht. Eine Erklärung hatten wir nicht bekommen. Erwartungsgemäß blieb Tyari bei Mjailam. Die beiden steckten nun wieder unter einer Decke. Da ich das nur zu gut verstehen konnte, empfand ich Verständnis statt Eifersucht. Tyari war nicht völlig frei für mich, auch wenn sie mich liebte. Sie war in
rätselhafter Weise ein Zögling Tyars. Und bevor sie die Aufgabe, die ihr dort gestellt worden war, nicht erfüllt hatte, würde es für uns beide keine andauernde Verbindung geben können. Ich suchte eine wenig bewohnte Zone zwischen SOL‐City, meinem ständigen Quartier, und dem Ringwulst des Mittelteils auf, denn ich wollte mit meinen Gedanken allein sein. Der Extrasinn respektierte mein Begehren und schwieg. So rätselte ich über die Bedeutung der jüngsten Ereignisse, ohne zu einem konkreten Ergebnis zu kommen. Ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, daß die Zeit schneller verstrich und daß sich anderenorts bereits Dinge ereigneten, die das hauchdünne Blatt unserer Existenz mehr und mehr zu unseren Ungunsten wendeten. Vergebens versuchte ich, die wahren Absichten der Kosmokraten zu erkennen oder mich an die Zeit zu erinnern, die ich bei ihnen verbracht hatte. Da war nichts in meinem Kopf! Es war keine Sperre, es war nichts. Ich dachte an Perry Rhodan und die Erde, und ich fragte mich, ob die Dinge, die ich durchstehen mußte, wirklich letzten Endes der Menschheit dienen würden. Anti‐ES war ein erklärter Feind der Terraner; das hatte die Vergangenheit eindeutig bewiesen. Es hatte vor seiner Verbannung in die Namenlose Zone die Menschheit an den Rand des Untergangs gebracht. Und es würde das wieder versuchen, wenn sich die Gelegenheit dazu böte. Unter diesem Aspekt sah ich auch meine augenblicklichen Aktivitäten. Das drohende Unheil, das von der negativen Superintelligenz ausging, mußte insbesondere von meinen Freunden auf Terra abgewendet werden. Dabei war es bedeutungslos, daß man dort noch nichts von der Gefahr wissen konnte, die sich außerhalb der Mächtigkeitsballungen von ES und Seth‐Apophis bildete. Ich versuchte mir vorzustellen, was geschehen würde, wenn Anti‐ ES als Sieger aus dem Machtkampf hervorgehen würde. Es würde stärker sein denn je, denn es könnte in dem Bewußtsein handeln, die Pläne der Hohen Mächte, wie es die Kosmokraten nannten,
durchkreuzt zu haben. Ob es dann Perry Rhodan und seinen Getreuen noch einmal gelingen würde, diesen Widersacher zu vertreiben? Ich hatte Zweifel, obwohl ich über die derzeitige Situation in der Milchstraße nur unzureichend informiert war. Daß sich dort aber eine Auseinandersetzung größeren Ausmaßes anbahnte, war klar. ES würde wahrscheinlich so sehr beschäftigt sein, daß es kaum noch gegen einen weiteren Feind bestehen könnte. Vier Wartungsroboter kreuzten meinen Weg. Sie nahmen keine Notiz von mir. Nur der ehemalige Ferrate, der den Trupp befehligte, grüßte mich sehr freundlich. Sie sind also nicht alle gegen dich, dachte ich. Der Extrasinn zog es vor, auch hierzu zu schweigen. Etwas überraschend kam mir Cara Doz entgegen. Die Art, wie sie ihre Arme um den Körper geschlungen hatte, verriet mir, daß sie auch in einer Phase tiefer Nachdenklichkeit war. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet. Da ihr langes einteiliges Gewand die Füße bedeckte, hatte ich den Eindruck, daß sie mehr schwebte als schritt. »So nachdenklich?« sprach ich sie an und versuchte zu lächeln. Sie blieb stehen und hob den Kopf. Ihr Blick war ausdruckslos. Dann machte sie eine undefinierbare Handbewegung und zuckte mit den Schultern. »Hast du Angst?« fragte ich weiter. »Angst? Nein. Es ist etwas anderes.« »Was, Cara?« »Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüßte.« »Also ein unbestimmtes Gefühl?« »Vielleicht. Hast du schon einmal wochenlang deine besten Freunde belogen und dabei geglaubt, daß du etwas Richtiges tust?« Ich verstand den Sinn der Frage nicht, und das sagte ich ihr. »Besonders schlimm wird es«, fuhr sie rätselhaft fort, »wenn man dann plötzlich merkt, daß man nichts weiter ist als ein Egoist, der seine eigenen Pläne unter allen Umständen verwirklicht sehen will.«
»Von wem sprichst du? Von dir?« »Eigentlich nicht.« Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Andererseits aber doch.« Ich schüttelte den Kopf. »Die einhundert Stunden«, sagte sie weiter, ohne meine Verwirrung zu beachten, »die Anti‐ES gegeben worden sind, werden ablaufen. Danach werde ich dir sagen, was mich bedrückt.« »Du sprichst in Rätseln.« Es war ungewöhnlich für Cara, daß sie sich um Dinge wie Anti‐ES Gedanken machte. Ich konnte mich nicht erinnern, sie je so reden gehört zu haben. Normalerweise äußerte sie sich nie zum aktuellen Geschehen und kümmerte sich nur um ihre Aufgabe als Chefpilotin. »Es wäre sicher besser, wenn du mir jetzt sagen würdest, was dich bedrückt. Jeder Hinweis kann uns helfen.« »Ich werde dir sagen, was mich nicht bedrückt, Atlan.« »Ich höre.« Genau in diesem Moment sprach mein Armbandinterkom an. Es war die Hauptzentrale. Gallatan Herts erschien auf dem kleinen Bildschirm. »Es gibt Neuigkeiten, Atlan, die dich interessieren werden. Unsere Ortungen waren erfolgreich. Im Innern von Junk gibt es vier künstliche Gebilde. Sie haben in etwa Kugelform, und jede besitzt einen Durchmesser von fast zehn Kilometern. Die ARSENALJYK II befindet sich auf einem Kurs zu diesen Stationen. Sie kommt nur sehr langsam voran, denn sie muß sich gegen die Gewalten des Sonnenplasmas bewegen. In etwa einer Stunde dürfte sie aber am Ziel sein. SENECA spekuliert mit einem Angriff der ARSENALJYK auf die Kugeln. Er meint, nur dort können Tyar und Prezzar festgehalten werden.« Herts brach plötzlich ab. Dann hielt er eine Folie in der Hand und schüttelte verwundert den Kopf. »Noch etwas, Atlan. Soeben hat die Energieauswertung eindeutige Anzeichen dafür geliefert, daß im Junk‐System ein Nabel zur Namenlosen Zone entsteht. Der Ort des Nabels liegt zwischen den
Umlaufbahnen von Junk I und II. Außerdem sind energetische Streustrahlungen aufgetreten, die von den drei Planeten kommen. Sie scheinen alle etwas mit dem Nabel zu tun haben.« »Ich bin gleich in der Zentrale«, antwortete ich rasch. »Dann sehe ich mir das an. Seid wachsam, denn wir wissen nicht, was durch den Nabel kommen wird.« Du weißt es, erklärte der Logiksektor. Warum gibst du es nicht zu? Anti‐ES! antwortete ich lautlos. Dann wandte ich mich wieder Cara zu, die unbeweglich wie eine Statue neben mir stand. »Du wolltest mir etwas sagen, Cara? Leider wurden wir unterbrochen, und außerdem muß ich gleich in die Zentrale.« »Du hast keinen Grund zur Eile«, behauptete sie. »Noch ist es nicht soweit.« »Was ist nicht soweit?.« Ich zog die Stirn kraus, denn die Emotionautin wurde mir immer unheimlicher. Wußte sie mehr, als sie zugab? Natürlich, erklärte mir der Extrasinn. »Ich wollte dir sagen, was mich nicht bedrückt, Atlan. Es sollte dich auch nicht bedrücken, hörst du? Es soll dich nicht hindern, das zu tun, was du für angebracht hältst oder was dir die weitere Entwicklung aufzwingt. Hast du das verstanden?« Ihre leise Stimme hatte einen durchdringenden Unterton bekommen, den ich an ihr noch nie bemerkt hatte. »Ich habe dich sehr gut verstanden, Cara! Um was geht es also?« »Ich werde in zwei Minuten sterben, Atlan. Und diesmal ist es endgültig. Du wirst meinen Tod nicht als Last empfinden. Das darfst du nicht. Du kannst aber nichts dagegen unternehmen. Es ist der Lauf der Dinge.« »Du bist verrückt!« platzte ich heraus. Sie gab mir keine Antwort, deutete aber auf mein Armbandinterkom. Bevor ich fragen konnte, was diese Geste zu bedeuten habe, erhellte sich der kleine Bildschirm mit dem
charakteristischen Meldeton. »Hauptzentrale hier«, sprudelte Herts heraus. »Alarm! Die ARSENALJYK hat uns getäuscht. Sie hat ihre Beiboote, die Aufklärer und Raumjäger schon vor Stunden ausgeschleust und am Außenrand von Junk versteckt. Jetzt erfolgt ein massierter Angriff. Wir brauchen Cara. Sofort!« »Wir kommen«, antwortete ich schnell. »Sie ist hier bei mir.« Für einen Moment vergaß ich die rätselhaften Worte der Emotionautin. Ich nahm ihre Hand und rannte den Weg zurück zur nächsten internen Transmitterstation. Schon heulten die Alarmsirenen durch die SOL. Cara folgte mir bereitwillig. Wir liefen an den Wartungsrobotern und dem Solaner vorbei, als es geschah. Heftige Detonationen drangen an meine Ohren. Vor mir brach ein Seitengang auf, und eine glühende Flammenbahn fraß sich in das Metall der SOL. Unmittelbar darauf erfolgte ein zweiter Treffer. Da ich mich fast an der Außenhaut des Mittelteils befand, war die Wirkung verheerend. Der ehemalige Ferrate brüllte seinen Robotern etwas zu. Ich verstand in dem Getöse nur das Wort »Schirmfelder«, dann schlug es erneut dicht neben mir ein. Die Glutwolke fegte mich zur Seite. Während ich mit dem Rücken gegen eine Seitenverkleidung prallte, konnte ich beobachten, wie ein weiterer Flammenstrahl Cara traf. Ihr Schrei dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann war von ihr fast nichts mehr übrig. Kräftige Hände packten mich. Es war der Solaner des Wartungstrupps. Er zerrte mich zur Seite. Grüne Energiefelder bauten sich um uns herum auf. Das mußten die Roboter sein, die so für einen notdürftigen Schutz sorgten. Der letzte Feuerstoß, den ich wahrnahm, prallte auf die Schirmfelder. Er wirbelte die Roboter, den Solaner und mich durcheinander. Dann spürte ich am Kopf einen beißenden Schmerz und versank in Bewußtlosigkeit.
* »… über eine halbe Stunde besinnungslos.« Die Stimme dröhnte wie ein Donnerschlag in meinem Kopf. »Ungewöhnlich bei seinem Zellaktivator. Sein Gehirn muß ganz schön durchgeschüttelt worden sein.« Ich schlug die Augen auf und blickte auf Hage Nockemann und dessen Roboter Blödel. »Er ist wieder da!« lachte die Gestalt aus Blech und Plastik. Meine erste Sorge galt nicht meinem körperlichen Zustand, sondern der SOL. Die Schmerzen an meinem Kopf ließen außerdem schnell nach, und auch die Stimmen der Umherstehenden normalisierten sich wieder. Da ich keine anderen Geräusche vernahm und auch die SOL keine Fahrt zu machen schien, beruhigte ich mich bald. Vorsichtig richtete ich mich von der Liege auf, auf die man mich gelegt hatte. Ich befand mich in einem Nebenraum der Hauptzentrale. Der Eingang war offen, und ich konnte Uster Brick sehen, der im Kontursessel des Piloten saß. Erst jetzt fiel mir mit Entsetzen ein, was mit Cara Doz geschehen war. Ich betastete meinen Schädel und spürte einen dünnen Verband, der sich von der rechten Schläfe bis zum Hinterkopf zog. Blödel verfolgte die Bewegung und sagte: »Ein Verband schien uns sicherer zu sein. Du hast geblutet wie ein … na ja, du weißt schon.« »Was ist geschehen?« wollte ich wissen. Der kleine Herts tauchte im Eingang auf. Seine Gesichtszüge waren noch verkniffener als sonst. »Du hast eine ganze Portion Glück gehabt, Atlan«, sagte er. »Und einen guten Helfer, der schnell geschaltet hat. Hätte Zui Miunk seine Wartungsroboter nicht richtig dirigiert, wäre es dir so
ergangen wie der armen Cara.« »Sie ist tot?« Es war mehr eine Feststellung aus meinem Mund als eine Frage, denn niemand wußte besser als ich, was geschehen war. Gallatan nickte nur. Ich dachte an Caras letzte Worte und versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. So rätselhaft, wie sie in den letzten Wochen gewesen war, so rätselhaft waren auch die Umstände ihres Todes. Hatte sie einfach eine Ahnung gehabt, oder verbarg sich mehr hinter diesem eigentümlichen Verhalten und den hellseherischen Äußerungen? Da ich wohl nie eine Antwort auf diese Frage bekommen würde, beschloß ich, das Gespräch mit Cara gegenüber den anderen gar nicht zu erwähnen. »Der Angriff der ARSENALJYK?« fragte ich knapp. »Es waren nur die Beiboote«, erklärte Herts. »Es gelang nur wenigen, bis zur SOL vorzustoßen, aber genau diese erwischten Cara und dich. Der Rest wurde schnell abgeschlagen, als der Defekt in den Schutzschirmen des Mittelteils festgestellt worden war. Die meisten verschwanden in der Korona von Junk, einige haben wir abgeschossen.« »Ein Defekt in den Schutzschirmen?« grübelte ich laut. »Das ist doch sehr seltsam. Die SOL hat Reservesysteme, so daß so etwas eigentlich nicht vorkommen dürfte.« »Stimmt.« Gallatan zuckte mit seinen verwachsenen Schultern. »Trotzdem ist es geschehen. Eine Häufung von Zufällen, meinte SENECA.« »Diese Häufung hat Caras Leben gekostet.« Ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. »Und beinahe deins!« Erst jetzt bemerkte ich die Tyari, die hinter mir stand. »Was macht der Nabel? Ist da schon etwas aufgetaucht?« Ich wechselte ganz bewußt das Thema. »Er ist energetisch stabil.« Herts gab wieder die Erklärungen. »Es ist noch nichts aufgetaucht. Wir halten uns von ihm fern und sind in
Alarmbereitschaft.« »Was sollte dort auch auftauchen?« fragte Tyari und trat an meine Seite. »Es gibt eigentlich nur wenige Möglichkeiten.« Ich streifte den Verband von meinem Kopf, denn ich spürte, daß sich die erhöhte Aktivität des Zellaktivators wieder herabregelte. »Ich hätte zum Beispiel nichts dagegen, wenn die FARTULOON dort erscheinen würde. Diese Gyranter wird Anti‐ES nicht noch einmal gegen uns schicken, denn es hat ja hier die ARSENALJYK.« Du irrst dich, behauptete der Extrasinn. Es wird gar nichts erscheinen. Und du weißt, was das bedeutet. Wenn nichts erscheint, ist es Anti‐ES. Es kann sich bestimmt jeglicher Ortung entziehen. Ich konnte nicht widersprechen. Mehr noch, ich mußte sogar annehmen, daß Anti‐ES am Ende gar schon in unserer unmittelbaren Umgebung war. »Bleibt noch eins zu erwähnen.« Herts deutete auf den Ausgang zur Hauptzentrale. »Du solltest dir die Ortungsbilder ansehen. Die ARSENALJYK muß in diesen Minuten ihr Ziel erreichen.« Ich folgte den anderen in das große Rund der Zentrale. Sofort spürte ich, daß hier eine angespannte Stimmung herrschte. Uster Brick brachte als einziger ein leichtes Lächeln zustande. Auch Mjailam war hier. Er stand stumm an eine Wand gelehnt, und seine große Augen funkelten. An den Schirmen, auf denen die Ortungsergebnisse dargestellt wurden, herrschte ein regelrechtes Gedränge. Ich schob mich durch die Solaner bis an die Seite von Breckcrown Hayes. »Gut, daß du wieder auf den Beinen bist«, begrüßte mich der High Sideryt. »Hier scheint sich gleich etwas zu ereignen.« Ich betrachtete die Ortungsreflexe des Nabels und dann die der Sonne Junk. Die Solaner hatten gute Arbeit geleistet und Wege zu einer sauberen Darstellung aus den verwirrenden Energieimpulsen gefunden. SENECA stellte zur Unterscheidung die Objekte mit verschiedenen Farben dar.
Plötzlich war da ein neues Signal. Es kam aus dem Innern der Sonne Junk, etwa aus einer Tiefe von 280 Kilometern, also von dort, wo die ARSENALJYK II jetzt etwa war. Zweifellos handelte es sich um gewaltige Explosionen. Mjailam stieß einen tierischen Schrei aus, und Tyari schob sich durch die Solaner an meine Seite. Sie war voller Panik, wie ihre verzerrten Gesichtzüge bewiesen. »Du mußt etwas tun, Atlan.« Ihre Fäuste trommelten auf meine Brust. »Sie greifen Prezzar und Tyar an. Ich spüre es, und Mjailam spürt es auch.« »Wir können nichts tun«, antwortete ich betreten. »Die SOL ist nicht dazu geeignet, so tief in Sonnenplasma einzudringen. Und unsere Waffen erreichen diesen Ort auch nicht. Und Wöbbeking steht unverändert zu weit von dem Geschehen entfernt. Wir können nicht helfen.« Tyaris schöne Augen funkelten wild. Erregung, Zorn und Hilflosigkeit hatten von ihr Besitz ergriffen. Sie tat mir leid, aber ich wußte wirklich keinen Ausweg in dieser Situation. Die Kräfte, mit denen wir es zu tun hatten, waren zu übermächtig. »Du scheinst mir nicht richtig zuzuhören!« fauchte sie mich an. »Es geht um die Existenz von Tyar! Er soll für immer ausgelöscht werden. Das würde bedeuten, daß Bars seinen Lebensnerv verliert. Alle Völker würden in kurzer Zeit untergehen. Das Schicksal von Abermilliarden von intelligenten Wesen steht auf des Messers Schneide. Und um Prezzar und Farynt sieht es nicht anders aus.« »Ich glaube dir jedes Wort, Tyari. Aber ich weiß keinen Ausweg. Auf Wöbbeking‐NarʹBon können wir nicht zählen. Das beweist seine Passivität und die Niedergeschlagenheit, die er gezeigt hat. Er rührt sich auch jetzt nicht, und er reagiert auf keinen Ruf.« Wieder brüllte Mjailam auf. Er rannte die Solaner, die ihm im Wege standen, buchstäblich über den Haufen und baute seinen mächtigen behaarten Körper vor mir auf. »Ausweg?« donnerte er mich an. »Ausweg? Wir müssen dorthin.«
Sein Daumen krachte auf das Orterdisplay, so daß sich auf der Scheibe ein Riß bildete. »Ich gehe«, brüllte er weiter. »Und Tyari wird mich begleiten. Ich kann an jeden Ort von Farynt gehen, wie ich es will. Ich fühle mich wieder stark. Farynt hat mir neue Kräfte gegeben. Ich helfe Prezzar. Und Tyar, denn beide wollen sich gegenseitig auch helfen.« Er kann in die Sonne Junk gehen, erklärte der Extrasinn sofort. Niemand kann ihn aufhalten. Ich hoffe nur, daß du nicht auf die verrückte Idee kommst, ihn begleiten zu wollen. Tyari sah mich flehentlich an, Mjailam eher drängend und verlangend. Sie dachten beide das, wovor mich der Logiksektor so schnell gewarnt hatte. »Ich kann noch eine Person auf die Reise mitnehmen«, brummte Mjailam. »Entscheide dich schnell, Atlan.« »Ich wüßte nicht, was ich in dieser Gluthölle …«, begann ich, als der Extrasinn mich unterbrach. Es wäre dein Tod. Der Tod, den Anti‐ES für dich programmiert hat. Die Rache für all das, was du Anti‐ES an Schlappen zugefügt hast. Plötzlich war da eine andere Stimme in meinem Kopf. Sie gehörte dem Unbekannten, der in den letzten Wochen verschiedentlich und gänzlich unvermutet aufgetaucht war. Ich wußte nur, daß es nicht Wöbbeking sein konnte, aber nicht mehr. Geh mit! bat die Stimme. Geh mit, denn sie brauchen dich. Ich werde dir helfen, so gut es geht. »Meine Ausrüstung!« verlangte ich. »Alles bereit.« Tyari lächelte. Rasch glitt ich in meinen Kampfanzug und überprüfte routinemäßig die Systeme. Es war alles in Ordnung. Dem Protestgeschrei des Extrasinns schenkte ich keine Aufmerksamkeit mehr. Breckcrown Hayes blickte mich an, als erwarte er etwas Bestimmtes von mir. Ich wußte nicht, was ich ihm sagen sollte, denn eine vernünftige Begründung für meinen Entschluß besaß ich nicht.
Mjailam legte seine Arme um Tyari und mich, denn der körperliche Kontakt war für den vorgesehenen teleportationsähnlichen Sprung durch den Raum in die Sonne Junk erforderlich. Ich mußte mich dabei blind auf die Fähigkeiten Mjailams verlassen, denn persönlich beeinflussen konnte ich diesen Vorgang natürlich nicht. Die Solaner in der Zentrale wirkten verunsichert. Auf einigen Gesichtern glaubte ich sogar so etwas wie Erleichterung zu sehen. Lag es wirklich daran, daß ich jetzt die SOL verlassen würde? Sah man am Ende doch darin eine Lösung für die verfahrene Lage? Zu allem Überfluß erschien wie aus dem Nichts in diesem Moment eine Gestalt zwischen uns, die die gereizten Nerven noch mehr strapazierte. Ich erkannte sofort den kleinen Fremden, der sich Parzelle nannte, und der kam und ging, wie es ihm behagte. Immerhin konnten wir Parzelle als harmlos einstufen, denn er griff nie direkt in ein Geschehen ein. »Ich gehe mit Mjailam und Tyari in die Sonne Junk«, erklärte ich ihm. »Was hältst du davon, Parzelle?« »Interessant«, bemerkte er wenig überrascht. »Du wirst wohl wissen, was du tust.« »Sonst hast du nichts zu sagen?« bedrängte ich ihn. Der Beauftragte Termentiers neigte seinen Kopf in meine Richtung: »Noch haben dich die Wasser der ewigen Zeiten nicht hinweggespült, Atlan.« »Wir verschwinden«, grollte Mjailam mit seinem mächtigen Baß. »Lebt wohl, Solaner!« Ein Schatten glitt heran. Ich erkannte Ticker, den wunderbaren Adlerähnlichen vom Arsenalplaneten, der unser treuer Begleiter geworden war. Er hockte sich diesmal auf Mjailams Schulter, als wüßte er, daß er die Reise nur mitmachen könnte, wenn er diesen berührte. Die vertraute Umgebung der SOL‐Zentrale verschwand vor meinen Augen, und eine undefinierbare Dimension hüllte uns ein.
4. Die Art und Weise, in der sich Mjailam unserem Ziel näherte, besaß kaum Ähnlichkeit mit den Teleportationssprüngen, wie ich sie mit Gucky oder Ras Tschubai erlebt hatte. Es war kein Verschwinden und Wiederauftauchen ohne Zeitverlust. Ich erlebte klare Eindrücke, die eine meßbare Zeitspanne dauerten. Das mochte daran liegen, daß Mjailam eben anders funktionierte. Oder aber – und das befürchtete ich fast – ihm warfen sich Kräfte aus der Sonne Junk entgegen, die ein Eindringen verhindern wollten. Ich konnte meinen eigenen Körper kontrollieren, sah aber Tyari, Mjailam und Ticker nicht. Als ich um mich tastete, spürte ich sie jedoch ganz eindeutig. Meine Wahrnehmung wurde also beeinträchtigt. Ich wußte mich mit dem begnügen, was noch an meine Sinne gelangte, und das war eine ganze Menge. Die Umgebung wirkte wie dicke blaue Luft, wie ein Gemenge aus buntem Nebel und gasförmigem Brei. Außer den Atemzügen meiner Begleiter hörte ich zunächst nichts. Mjailam keuchte. Dann wechselte die Farbe der Umgebung. Statt blau schimmerte die undefinierbare zähe Brühe nun gelb und dann rot und schließlich weiß. Ich stellte mir unwillkürlich vor, daß wir nun in die Außenschichten von Junk eindrangen. Mjailams Kräfte schützten uns perfekt, denn ich spürte keine Hitze, und die Kontrollanzeigen meines Kampfanzuges signalisierten Grünwerte. Dann waren das plötzlich andere Geräusche. Sie klangen wie mächtige Explosionen. Die breiige Gasmasse um uns herum geriet in Bewegung. Es bildeten sich Strudel und Wirbel. Unwillkürlich klammerte ich mich fester an den haarigen Burschen. Dann rief ich nach Tyari, aber ich bekam keine Antwort. Entweder konnte sie mich überhaupt nicht hören (oder ich sie nicht), oder aber die
Detonationen überdeckten jeden Laut aus meinem Mund. Keine Panik, Atlan, wisperte es in meinem Kopf. Das war der Unbekannte, der mich zu meinem spontanen Entschluß bewegt hatte, Mjailam und Tyari zu begleiten. Ich kontrolliere euch. Noch besteht keine Gefahr. »Wer bist du?« rief ich, aber eine Antwort bekam ich nicht. Plötzlich sah ich die anderen wieder. Im gleichen Moment riß uns etwas auseinander. Ich polterte auf eine feste Bodenfläche und spürte warmes Metall. Sofort war ich wieder auf den Beinen. Ticker flatterte nervös um uns herum. Mjailam und Tyari standen dicht beieinander und lauschten. Die Geräusche der Explosionen waren auch hier zu hören, wenngleich sie nun stark gedämpft waren oder weiter entfernt sein mußten. »Wir sind fast am Ziel«, brummte Mjailam. »Aber etwas hat mich im letzten Moment abgestoßen. Wir sind nicht genau da gelandet, wo ich hin wollte, zu Prezzar.« Ich brauchte einen Moment, um alle Eindrücke zu verarbeiten. Tatsächlich herrschte hier eine atembare Atmosphäre. Ich brauchte meinen Kampfanzug nicht zu schließen. Auch Tyari klappte ihren Helm zurück. Ticker und Mjailam besaßen ohnehin keine technische Ausrüstung. Auch die Gravitation besaß hinreichend normale Werte. Eins Komma elf Gravos las ich auf meinem Meßgerät am linken Arm ab. Obwohl es ziemlich sinnlos war, versuchte ich, Funkkontakt zur SOL herzustellen. Das mißlang. Der Raum, in dem wir angekommen waren, bestand aus einer Kugel von etwa 400 Metern Durchmesser. Er besaß keinerlei Einrichtungen oder Besonderheiten, von sechs Öffnungen abgesehen, die als dunkle Löcher erkennbar waren und in alle Richtungen wiesen. Das erinnerte mich an etwas aus der Vergangenheit. Bevor ich den Vergleich ziehen konnte, meldete sich der Extrasinn. Der Bau dieser Station geht letzten Endes wahrscheinlich auf Hidden‐X
und seine Vorstellungen zurück. Anti‐ES hat Bars‐2‐Bars mit seinen Nabeln und Nabelstationen ja von diesem übernommen. Hidden‐X – oder damals ARCHITEKT – baute sehr oft Kugelhüllen. Dieser Raum hier besitzt die gleiche Grundkonstruktion wie die Kugeln des Ysterioons. Daher vermute ich, daß die Ausgänge zu anderen Kugelräumen führen. Ich nickte und studierte die Lichtverhältnisse. Die Strahlung kam aus allen Richtungen, also durch die Wände. Wir warfen keine Schatten auf die Innenfläche der Kugel. »Wir müssen weiter!« drängte Tyari. »Ich spüre, daß Tyar und Prezzar in größter Gefahr sind. Ihre Gedanken werden für mich immer deutlicher. Etwas, das sie vernichten will, nähert sich ihnen und zerstört dabei die Einrichtungen dieser Sonnenstation.« »Die ARSENALJYK II«, folgerte ich. »Kommt! Ein Weg ist so gut oder schlecht wie der andere.« Ich zeigte auf das nur wenige Meter entfernte Loch, das aus unserer Perspektive in die Tiefe führte. Mjailam verharrte unsicher. »Oder kannst du eine Richtung feststellen?« fragte ich Tyari. Sie verneinte und sagte, die mentalen Ausstrahlungen kämen aus allen Richtungen gleichzeitig. Ticker stieß einen scharfen Schrei aus und steuerte eine weiter entfernte Öffnung an. Kurz vor dem Loch drehte er ab und kehrte zu uns zurück. Dann wiederholte er das Manöver. »Er will«, erklärte Tyari, »daß wir diesen Weg wählen. Sein Instinkt weist uns unser Ziel an.« Mjailam packte Tyari und mich wortlos. Ohne ähnliche Beobachtungen zu machen wie bei seinem ersten Sprung durch den Raum, landeten wir übergangslos an der von Ticker bezeichneten Öffnung. Auch hier wies die Gravitation »in die Tiefe«. Ich hatte das schon vermutet, und daher war ich nicht überrascht. Nur an der augenblicklichen Position des Adlers konnte ich mich überhaupt orientieren, denn alles andere war symmetrisch oder gleich. Wir glitten in die Röhre. Hier herrschte nur eine schwache Gravitation, die der unserer Antigravröhren entsprach. Auch war es
wesentlich dunkler, denn durch die Rohrwandungen drang nur ein diffuses Licht nach innen. Ticker flog voraus. Ich staunte, wie er sich reibungslos den veränderten Schwerkraftverhältnissen anpassen konnte. In einigen hundert Metern Entfernung schimmerte ein heller Lichtfleck. »Schneller!« forderte der behaarte Riese und versetzte uns direkt an das Ende der Röhre. Bei solch kurzen Sprüngen schien er keine Schwierigkeiten zu haben. Ticker schoß mit Höchstgeschwindigkeit heran, während wir über den Rand des Ausgangs in einen anderen Kugelraum kletterten. Hier war alles anders, abgesehen von der Helligkeit und der Gravitation. Der Raum war nur etwa 50 Meter tief und voller bizarrer Gegenstände, die alle unregelmäßig geformt waren, zwischen einem und zwei Metern durchmaßen und freischwebend langsam durch die Luft glitten. Wir machten ein paar Schritte vorwärts, als Ticker einen scharfen Schrei ausstieß, der wie eine Warnung klang. Ich konnte keine unmittelbare Gefahr erkennen, und außerdem vertraute ich auf Mjailams Fähigkeiten. Auch als sich die unregelmäßigen Körper heftiger zu bewegen begannen, ahnte ich noch nichts Schlimmes. Sie formierten sich zu einem Trichter. Die einzelnen Teile paßten zusammen wie die Fragmente eines riesigen dreidimensionalen Puzzlespiels. Die Öffnung des Trichters schwenkte herum und zeigte auf uns. Ich wollte Tyari etwas zurufen, als mich Tickers Krallen an den Schultern packten. Der Adlerähnliche riß mich in die Höhe. Aus dem heftigen Schlagen seiner Flügel erkannte ich, daß er alle Kraft einsetzte. Ich wurde durch die Luft gewirbelt. Der plötzlich nach vorn schnellende Trichter wollte sich über mich stülpen, aber dank Tickers Eingreifen entkam ich dieser Falle. Der Vogel ließ mich los, und ich stürzte zu Boden. Dicht neben mir schloß sich die Trichteröffnung. Ich sah Tyari und Mjailam, die zu keiner Reaktion fähig schienen, denn der Vorgang lief zu
überraschend und schnell ab. Sie wurden von den sich verschiebenden Teilen umklammert. Ticker schoß durch die letzte kleine Öffnung zu den beiden, vermutlich, um Tyari herauszuholen. Der Trichter formte sich zu einer geschlossenen Kugel, und meine drei Begleiter waren damit für mich verschwunden. Die Kugel, die nun etwa zehn Meter durchmaß, glitt langsam zum Mittelpunkt des Raumes und blieb dort stehen. Warum sprang Mjailam nicht einfach nach draußen? fragte ich mich und starrte das blaugraue Ding an. Schließlich zog ich meine Kombistrahler und feuerte einen Schuß auf den Rand der Kugel ab. Das fremde Material verschluckte die Energie. Nicht einmal eine Spur des Schusses war zu sehen. Der Helm meines Kampfanzugs schloß sich automatisch, als der Luftdruck abfiel. Gleichzeitig hörte ich ein pfeifendes Geräusch und sah, daß sich die Öffnungen des Kugelraums schlossen. Die Materie wuchs über den Löchern in sich zusammen, so daß nicht die kleinste Fuge blieb. Sekunden später war von den Ausgängen nichts mehr zu sehen. Gefangen! stellte der Extrasinn lakonisch fest. Das hast du davon, wenn du nicht auf mich hörst! * »Antworte!« schrie die gedankliche Stimme Tyars, denn von seinem Mitgefangenen war nichts mehr zu hören. »Ich spüre, daß die Gefahr immer näher kommt. Antworte doch! Was soll ich tun?« Die übergreifende Intelligenz wand sich in den Fesseln. Mehr als die wenigen Öffnungen, die seit kurzer Zeit existierten und durch die sie sich mit Teilen nach draußen tasten konnte, gab es nicht. Was aber durch die Öffnungen in Tyars Bewußtsein gelangte, war erschreckend. Draußen wütete der unbekannte Feind. Mehr als den Namen Penetranz konnte er nun nicht mehr aufnehmen, denn sein
Verstand drohte dem Wahnsinn zu verfallen. Du mußt durchhalten! verlangte eine leise Stimme. Tyar brauchte Momente der Besinnung, um den Unbekannten zu erkennen, der schon zu ihm und Prezzar gesprochen hatte. Es ist Hilfe unterwegs. »Hilfe?« Ja, Tyari, dein Geschöpf. Und Mjailam, Prezzars Erzeugnis. Und ein Mann namens Atlan. Die Erwähnung des Namens des Arkoniden beseitigte eine Bewußtseinssperre in Tyar, die er sich selbst aufgebaut hatte. Das war der Mann, nach dessen Vorbild Tyari herangewachsen war. Das war der Mann, von dem er sich letztlich die Befreiung erhoffte. Er tastete wieder nach draußen, und diesmal spürte er tatsächlich die Wärme wohlgesinnter Wesen. Das mußten die drei sein, von denen der Unbekannte gesprochen hatte. »Wer bist du?« rief er diesem zu. Ich werde mich dir zeigen, Tyar. Aber noch ist es nicht soweit. Ich muß erst darauf achten, daß unsere Helfer nicht zu Schaden kommen. »Ihr vergeudet wertvolle Zeit!« Das war Prezzar, der aus seiner inneren Erstarrung erwacht war. »Das Ende ist nah. Wir können nichts mehr tun.« Falsch! Der Unbekannte wirkte zornig. Ihr müßt euch nur mit aller Kraft wehren. Jeder Impuls aus euren Gedanken verzögert den Eindringling. Und dann müßt ihr noch etwas machen. Ihr müßt euch zusammenziehen und euer Ich auf den kleinsten Raum konzentrieren. So bietet ihr der angreifenden Penetranz und dem Partikelstromwerfer das geringste Ziel. »Wenn ich das täte«, klagte Prezzar prompt, »würde ich zur Gänze materiell werden. Ich bin schließlich ein realer Teil von Farynt.« Du bist Farynt. Und es schadet dir nicht, wenn du vorübergehend körperliche Form annimmst. Das gilt auch für Tyar. Ich weiß, daß ihr das verabscheut, aber in eurer Lage ist es die beste Lösung. Wählt eins der Wesen als Vorbild, die ihr aus euren Sterneninseln kennt. Tyar und Prezzar berieten sich kurz und beschlossen, dem Rat des
Unbekannten zu folgen. »Ich möchte so aussehen wie du, Unsichtbarer«, begehrte der eigenwillige und launische Prezzar. »Zeige dich!« Ein Stoßseufzer war die Antwort, aber Prezzar spürte, daß der Unbekannte einwilligte. Vor ihm entstand ein Wesen. Es ähnelte vielen Prezzar bekannten Lebewesen von Farynt, denn auch es besaß vier Extremitäten, von denen zwei Beine und zwei Arme waren. Der Körper wirkte fast zerbrechlich. Er war in ein dünnes langes Gewand gehüllt. »So sieht also C‐RA aus«, staunte der Instinkt von Farynt. Nenne mich nicht C‐RA. Ich heiße Cara oder … »Egal!« unterbrach Prezzar. »Ich werde dein Aussehen annehmen, Cara. Und Tyar kann sich selbst etwas aussuchen für seine Gestalt.« Die beiden Intelligenzen begannen, ihren Wesensinhalt zu verdichten und das anzunehmen, was ihnen das Bild Caras bot. Sie wurde materiell und stabil. Damit paßten sich auch ihre Fesseln automatisch den veränderten Gestalten an. Das Loch, durch das Tyar seinen geistigen Fühler gesteckt hatte, war nun eine Öffnung in einer undurchdringlichen Wand, die so klein war, daß Tyar‐Cara nicht einmal den kleinen Finger hineinstecken konnte. Und Prezzar‐Cara trommelte wild mit den kleinen Fäustchen auf die blanken Metallflächen, die ihn umschlossen. Ihr hättet euch wirklich etwas anderes einfallen lassen können, um eure Körper darzustellen, sagte C‐RA mißgelaunt. Nun muß ich aber gehen, denn die anderen sind in arger Bedrängnis. Wehrt euch, womit ihr immer könnt! Der Kontakt riß ab. 5. Ich hörte ein Geräusch in meinem Rücken und fuhr herum. Wenige
Meter entfernt stand Parzelle. Er hielt seine Arme verschränkt und betrachtete mich sinnend. »Es sieht nicht gut für dich aus«, stellte er dann fest. »Was willst du?« fuhr ich ihn an. »Du erscheinst und verschwindest, wie es dir beliebt, und der Ort scheint keine Rolle zu spielen.« »So ist es.« Der kleine Zweibeiner nickte. »Du weißt doch, daß Termentier mich beauftragt hat, alles zu beobachten.« »Hörst du auch alles?« fragte ich mit einer bestimmten Absicht. »Natürlich. Aber es gibt viel Überflüssiges, das die Wasser der ewigen Zeiten nur langsam wegspülen.« »Hast du auch die Stimme gehört, die mir riet, mich Mjailam anzuschließen?« Der Unscheinbare nickte erneut. »Dann weißt du auch, wer das ist. Und wo er jetzt ist.« Zum erstenmal sah ich Verblüffung auf Parzelles Gesicht. Er fing sich aber schnell wieder. »Das klingt ja«, staunte er, »als ob du es nicht wüßtest.« »Sollte ich das?« »Vielleicht. Es ist nicht von Bedeutung. Ich werde dir nicht sagen, wer da mit dir, Tyar und Prezzar redet.« »Mit denen spricht er auch?« Nun war die Überraschung auf meiner Seite. »Warum tut er das?« »Ich weiß es nicht. Er gehört nicht zu den Wesen, die ich beobachten soll. Ich kann nur feststellen, daß er zur allgemeinen Verwirrung beiträgt und nebenbei seine eigenen Ziele verfolgt.« »Das klingt wie eine Warnung.« »Es ist keine. Es ist eher ein Mosaiksteinchen, wie du sagen würdest, das sich gegen das Wasser der ewigen Zeiten stellt. Nun lebe wohl.« Ich sah, daß ich nicht mehr von Parzelle erfahren würde. Sein rätselhaftes Gehabe behagte mir nicht. Da er aber mehr oder weniger direkt schon eine Hilfe war, wollte ich ihn nicht vergraulen.
Schließlich hatte er mir soeben verraten, daß der Unbekannte auch mit Tyar und Prezzar in Verbindung stand. »Sehen wir uns wieder?« fragte ich. »Vielleicht, Atlan. Wenn dich die Wasser der ewigen Zeiten …« »… nicht wegspülen. Ich weiß, ich weiß. Verrate mir wenigstens, was du wirklich willst.« »Ich sagte es dir schon.« Mit diesen Worten löste sich der kleine Mann einfach auf. Ich war wieder allein. Ich konnte nicht ausschließen, daß Parzelle identisch mit der Stimme war, die ich vernommen hatte. Der Extrasinn bestritt das energisch. Ich hoffte noch immer, daß es Mjailam gelingen würde, wieder zu mir zu stoßen, aber in der seltsamen Kugel rührte sich nichts. Dafür wurden die Explosionen nun wieder lauter. Ich umrundete einmal das ganze Kugelinnere, ohne eine Spur zu finden, die mir weiterhalf. So kehrte ich an meinen Ausgangspunkt zurück. Ein schmatzendes Geräusch lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen hellen Fleck im Boden. Das halbtransparente Material verfärbte sich. Ein rotes Leuchten, etwa so groß wie meine Handfläche, wurde sichtbar. Es kam schnell näher. Das eigentliche Material verflüssigte sich, und schließlich schoß eine faustgroße Kugel durch den Boden. Ich erkannte die charakteristischen Farben der Jenseitsmaterie, das helle Rot und das fahle Grün, das sich ununterbrochen abwechselte. Zu gut erinnerte ich mich an die verschiedenen Begegnungen mit dem seltsamen Stoff, begonnen bei der Jagd eines von Hidden‐X im Ysterioon eingesetzten Klumpens bis zur Jenseitsmaterie der BANANE. Der Brocken glitt schnell in die Höhe meines Kopfes. Ich schaltete meinen Individualschutzschirm ein, obwohl ich mir denken konnte, daß dieser normalerweise nichts half. Es kam nur darauf an, mit welchem Ziel dieses Stück auf die Reise geschickt worden war. Die Jenseitsmaterie blieb still stehen.
Sprich sie an! forderte der Logiksektor. »Komm her!« sagte ich. »Und gehorche mir!« Dabei streckte ich eine Hand aus. Tatsächlich glitt der Brocken hinein. Ich konnte ihn deutlicher fühlen. Verwende ihn schnell! Ich konnte nicht genau feststellen, wer da zu mir sprach, der Extrasinn oder jener Unbekannte, denn die Detonationen waren noch lauter geworden. Die Zeit wird knapp. Ich befahl der Jenseitsmaterie, das Gefängnis von Mjailam, Tyari und Ticker zu zerstören. Sie zögerte einen Moment, setzte sich dann aber in Bewegung. Je näher sie der Kugel kam, desto langsamer wurde sie. Nun sah ich auch, daß sich ihre Masse schnell verzehrte. Etwas drängte sie von der Kugelhülle ab. Da es abzusehen war, daß sie ihr Ziel nicht erreichen würde, schaltete ich den Antrieb meines Anzugs ein und flog hinterher. Ich selbst spürte nichts, was mich zurückhielt. So packte ich den Brocken, der schon auf die Hälfte seines Volumens zusammengeschmolzen war, und trug ihn bis an die Außenhülle des Gefängnisses heran. Verschwinde von hier! wurde ich gewarnt. Da ich sah, daß sich der rot‐grüne Stoff an der Außenwand festsaugte, machte ich kehrt. Noch bevor ich wieder den Boden erreichte, wirbelte mich eine Druckwelle fort. Ich sah, wie die Gefängniskugel in viele tausend winzige Bruchstücke zersprang. Mjailam und Tyari purzelten daraus hervor. Die Druckwelle schleuderte sie auseinander, und Ticker griff nach der Frau und hielt sie fest, damit sie nicht gegen eine Wand prallen konnte. Mjailam half sich selbst durch einen kurzen Sprung dank seiner nun wieder frei entfaltbaren Kräfte. »Was war das?« keuchte Tyari, als Ticker sie neben mir absetzte. »Vermutlich eine automatische Falle«, antwortete ich. »Genau weiß ich es auch nicht. Und wenn nicht der Klumpen Jenseitsmaterie aufgetaucht wäre, hätte ich euch nicht herausholen können.«
»Unwichtig.« Tyari blickte wieder Mjailam an. »Wir müssen weiter. Tyar und Prezzar stehen kurz vor der Vernichtung. Ich konnte auch aus der Kugel ein paar Gedanken von ihnen auffangen. Sie sprachen dabei mit einem Wesen, daß sich C‐RA oder Cara nennt. Sagt dir das etwas, Atlan?« »Die unbekannte Stimme!« folgerte ich sofort, denn Parzelle hatte mir ja – beabsichtigt oder nicht – den entscheidenden Hinweis gegeben. »Und Cara kann eigentlich nur eins bedeuten. Das weißt du doch auch. Aber Cara Doz ist tot. Ich habe es selbst gesehen.« »Keine Zeit für dummes Gerede!« Mjailam stellte erneut körperlichen Kontakt zu uns her. Ticker setzte sich wieder auf seine Schulter. Dann sprang die mächtige Gestalt, und wir erreichten ohne Zeitverzug einen ähnlichen Raum. Diese Kugelhülle war jedoch noch größer als die erste, und im Mittelpunkt der Kugel schwebte eine kleine dunkelblaue Kugel, die mich an das Gefängnis von Tyari und Mjailam erinnerte. »Dort drinnen befindet sich das«, sagte Tyari, »was nun Tyar ist. Er hat sich verändert. Ich spüre jeden Gedanken in aller Deutlichkeit. Er hat sich verkleinert und komprimiert, um den Angriff zu widerstehen. Dabei hat er praktisch eine materielle Gestalt angenommen. Wir müssen ihn herausholen, denn in wenigen Minuten wird die Penetranz den Partikelstromwerfer auf diese Kugelzelle richten und alles vernichten.« »Kannst du hineinspringen?« fragte ich Mjailam. Der Riese schüttelte sich unwillig. »Schon versucht. Geht nicht. Etwas Fremdes und Geheimes hält mich ab.« So wie die Jenseitsmaterie es zuvor nicht schaffte, dachte ich. Diese Gefängnisse mußten einen besonderen Abwehrmechanismus besitzen, der nicht nur jeglichem Energiebeschuß standhalten konnte, sondern auch allen hochwertigeren Methoden widerstand, wie Mjailams teleporterähnlicher Fähigkeit oder gar dem Klumpen Jenseitsmaterie.
Du stinknormaler Kerl konntest dich der Hülle nähern, sagte der Logiksektor. Darauf scheint sie nicht programmiert zu sein. Nun fehlt dir nur noch etwas, womit du sie öffnen kannst. »Wartet!« rief ich Mjailam und Tyari zu und schaltete den Antrieb ein. Mühelos glitt ich nach oben auf die Kugel zu. Tyari, die sich mir anschließen wollte, prallte gegen ein unsichtbares Hindernis. Sie mußte umkehren. Dafür gewahrte ich aber Ticker, der mir ohne Schwierigkeiten folgen konnte. Er flog auf den letzten Metern sogar voraus und krallte sich an der rauhen Außenfläche fest. Das Material wirkte auf mich wie hochverdichteter Terkonitstahl. Mit keiner der mitgeführten Waffen und Werkzeuge konnte ich ihm auch nur einen Kratzer zufügen. Unten schrien Mjailam und Tyari aufgeregt, denn die Explosionen der sich nähernden ARSENALJYK wurden wiederum eine Nuance lauter. Das riesige Schiff schien sich förmlich durch die Sonnenmaterie zu schießen. Für Sekundenbruchteile dachte ich daran, daß irgendwann durch diese Zerstörungen die Stabilitätsmechanismen dieser Anlage ausfallen würden. Dann wäre alle Mühe umsonst gewesen. Ticker krächzte, wie ich durch den Außenlautsprecher hörte. Ich sah, wie er mit seinem gebogenen Schnabel in die harte Materie hämmerte und dabei mit seinen Krallen scharrte. Etwas schier Unglaubliches geschah. Die Materie, die Mjailam abgestoßen und an der Durchquerung spielend gehindert hatte, und die für mich wie unzerstörbarer Spezialstahl wirkte, verhielt sich gegenüber dem Vogel wie spröder Sand! Das Material zerkrümelte und spritzte unter den Hieben Tickers auseinander. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel wird durch diese Falle auf den Kopf gestellt, erklärte der Extrasinn. Diese Falle ist nicht für ein Wesen wie ein Tier erschaffen worden, obwohl sie die übergreifende Intelligenz von Bars am Entkommen hindert. Ich verstand nicht genau, was der Logiksektor damit meinte, aber
ich erkannte, daß sich dieses Gefängnis den jeweiligen Gegebenheiten von außen oder innen anpassen konnte. Es veränderte sich in seiner Struktur so, daß ein intelligentes und mächtiges Wesen hoffnungslos zum Scheitern verurteilt war. Nur etwas Primitives wie ein Tier, das auch nach dem Ermessen einer Superintelligenz hier niemals auftauchen können würde, hatte da eine Chance. Es wunderte mich, daß dieses Gefängnis nicht auf Tickers geheimnisvolle Kräfte ansprach, die ich eigentlich als Psi‐ Fähigkeiten interpretiert hatte. Irgendwie würde mir dieser Helfer vom Arsenalplaneten wohl immer ein Rätsel bleiben. Ticker hatte unterdessen ein Loch geschaffen, durch das er in das Innere gelangen konnte. Er sah jedoch davon ab und vergrößerte die Öffnung. Ich schwebte zu ihm hin und blickte über den gezackten Rand. Innen herrschte fast völlige Dunkelheit. Dann gewahrte ich einen Lichtschein. Etwas bewegte sich. »Beeil dich!« schrie Tyari von unten. Ich schaltete meinen Helmscheinwerfer ein und schwang mich in das Loch. Hier herrschte fast keine Gravitation, da sich wohl die Schwerkraft im Mittelpunkt des riesigen Kugelraums gegenseitig neutralisierte. Dann entdeckte ich eine Gestalt, die in sich verkrümmt an der Seitenwand kauerte. Ich richtete meinen Scheinwerfer darauf und zuckte zusammen. Für einen Moment glaubte ich tatsächlich, das sei Cara Doz. Aber dafür war die Figur doch etwas zu groß. Rein äußerlich glich sie Cara jedoch fast aufs Haar. Ich schwebte zu ihr hin und zog die Arme vom Gesicht. Die fehlende Gravitation half mir, den Körper zu strecken. Noch vermochte ich nicht zu glauben, daß sich in diesem Wesen die Intelligenz Tyar verbergen sollte. Das Gesicht wandte sich mir nun zu. Tyar‐Cara öffnete die Augen und sah mich staunend an. Die Lippen bewegten sich. Es war kein Laut zu hören, aber das Wort konnte ich deutlich von den Lippen ablesen:
Atlan? »Ja«, sagte ich über den Außenlautsprecher. »Ich bin Atlan. Komm mit, Tyar.« Ich warf mir die Gestalt über die Schulter und stieß mich von der Wand in Richtung der Öffnung ab, die Ticker inzwischen weiter vergrößert hatte. Tyar oder Tyar‐Cara fühlte sich nicht wie ein lebendes Wesen an. Er wirkte schwammig und weich, als könne er jeden Moment zu Brei zerfließen. Ich schob den Leib durch das Loch und kletterte dann hinterher. Ticker packte mit seinen krallenbewehrten Fängen nach Tyar‐Cara und schwang sich in die Luft. Mit Entsetzen stellte ich fest, daß die Krallen tief in den Pseudokörper drangen. Tyar‐Cara reagierte darauf nicht, und es waren auch keine Spuren einer Verletzung zu erkennen. Unten stieß Tyari einen Freudenschrei aus. Sie schien zu spüren, was sich da näherte. Ich landete kurz hinter dem Adlerähnlichen auf der festen Innenwandung. »Wir müssen hier weg«, grollte Mjailam. »Wir müssen zu Prezzar. Ich habe Tyari freiwillig den Vortritt gelassen, aber jetzt ist es an der Zeit, daß auch mein Schöpfer gerettet wird.« Ticker löste sich von Tyar, der sich hoch aufrichtete. Er war mindestens zwei Meter groß. »Der Dank kommt später, Atlan«, erklang ein gar nicht zu der Figur passender männlicher Ton. »Erst muß ich dafür sorgen, daß dieses grausame Gefängnis für immer zerstört wird. Meine Sterneninsel Bars, mit der ich jetzt wieder lebe, gibt mir neue Kraft.« Tyars Gestalt verschwamm vor meinen Augen. Sie wurde fast durchsichtig, und jetzt merkte ich ihm erst das Irreale an, das ihm anhaftete. Mir brannte zwar die Frage auf den Lippen, wieso er dieses äußerliche Bild unserer toten Emotionautin angenommen hatte, aber ich schwieg. Die Luft knisterte förmlich, als Tyar Energien in sich aufsaugte.
Dann erfolgte eine Explosion, die uns alle von den Beinen riß. Die Kugel von Tyars ehemaligem Gefängnis zerbarst ohne erkennbare äußere Einwirkung. Tyar sank wieder schlaff in sich zusammen. Er hatte wohl seine ganze neue Kraft in diese Tat gelegt. Mjailam, der zuerst wieder auf den Beinen war, warf ihn sich über die Schultern. »Nun zu Prezzar«, donnerte sein Baß. »Alle auf einmal schaffe ich nicht. Ich gehe zuerst mit Tyar, denn er steht schon in Kontakt mit Prezzar.« Ich konnte weder protestieren noch zustimmen, denn der behaarte Riese verschwand unmittelbar darauf. Tyari, Ticker und ich waren allein. Sie klammerte sich plötzlich an mich und schluchzte. Unsere Raumhelme behinderten uns, aber ein Blick in ihre Augen verriet mir, daß sie glücklich war. Eine bange Frage schlich sich trotz unserer noch gänzlich ungeklärten Situation in meinen Kopf. Was würde nun mit Tyari geschehen? Eigentlich war sie aus der Sicht der Bars‐Intelligenz Tyar nun überflüssig. Sie schien meine Gedanken aufgenommen oder erraten zu haben. »Keine Panik, mein Lieber!« Ihre Hand strich über das Sichtfenster meines Raumhelms. »Ich bin glücklich, daß ich meine Mission erfüllen konnte. Für uns beide bedeutet das, daß ich nun nur noch für dich dasein kann.« Ticker kratzte heftig an meinem rechten Oberschenkel. Ich hatte dort in den Raumanzug eine zusätzliche Tasche fertigen lassen, die gerade groß genug war, um meinen gefiederten Freund aufzunehmen. Ich öffnete den Verschluß, denn Tickers Verhalten signalisierte Gefahr. Gleichzeitig warnte ich Tyari und schaltete die Schutzschirme ein. »Wo bleibt Mjailam?« fragte sie. Wieder konnte ich ihr keine Antwort geben, denn die folgenden Ereignisse machten das unmöglich. Eine schwere Detonation
erklang in unserer unmittelbaren Nähe. Die Wand des Kugelraums wölbte sich an der uns gegenüberliegenden Seite auf. Es bildeten sich breite Risse, in denen ein Energiefeld flimmerte. Dahinter waberten weißglühende Massen. »Die ARSENALJYK!« schrie Tyari durch das Toben. »Wir müssen weg!« Ich sehnte Mjailam herbei, aber von dem zeigte sich keine Spur. Ein weiterer Treffer in diesen Sektor erfolgte. Diesmal schwappte etwas durch eine Öffnung, die sich erst Sekundenbruchteile durch ein sich aufbauendes Energiefeld wieder notdürftig schloß. Mein Raumanzug schlug Alarm, und der Gravostabilisator heulte auf. Mit Entsetzen las ich die Werte ab. Die Außentemperatur war schlagartig auf die obere Belastungsgrenze von einigen 10.000 Grad gesprungen, und die Schwerkraft betrug 37 Gravos. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Systeme zusammenbrachen. Und noch immer gab es keine Spur von Mjailam. Tyari drängte sich in meine Nähe und klammerte sich an mich. Ihr war ebenso klar wie mir, daß der nächste Schuß der ARSENALJYK uns vernichten würde. Ich blickte in die Höhe und sah den Einschlag. Tonnen der Sonnenlava stürzten auf uns herab. Der Lärm war unbeschreiblich, obwohl die Automatik die Außengeräusche dämpfte. Das Ende! durchzuckte mich ein Gedanke. Dann preßte ich Tyari an mich und schloß die Augen. 6. »Ortung!« Lyta Kunduran sprang auf und winkte den High Sideryt herbei. Breckcrown Hayesʹ Gesicht war abzulesen, daß er von tiefer Sorge erfüllt war. Von Atlan, Tyari und Mjailam gab es seit über zwei Stunden kein Lebenszeichen. Die gewaltigen Detonationen im
Innern der Sonne Junk dauerten zudem unvermindert an, und die Energieechos verrieten, daß bereits ein Teil der subastralen Anlagen ein Opfer des Angriffs der ARSENALJYK geworden waren. »Es regt sich etwas in der Zone, in der der Nabel angemessen wurde« fuhr »Bit« fort, wie Lyta noch immer von ihren Freunden und den anderen Stabsspezialisten genannt wurde. Hayes betrachtete das Bild der Energieortung. Hier war nur ein verschwommener Schatten erkennbar, der wenig aussagte. Ganz anders war es aber mit der optischen Darstellung. Wöbbeking‐NarʹBon stand noch immer bewegungslos am Rand des Junk‐Systems. Er hat seine gewaltige Gaswolke eingezogen. Nun betrug seine Größe, die auch seinen tatsächlichen Abmessungen entsprach, »nur« noch 2024 Meter mal 1236 Meter. Das war noch immer ein mächtiges Ding; aber das kaum noch wahrnehmbare Leuchten seiner Hülle aus Jenseitsmaterie, die nun schon Stunden andauernde völlige Passivität und die Tatsache, daß er sich mit keinem Wort mehr gemeldet hatte, verhießen nichts Gutes. Plötzlich kam Hayes das mächtige Riesenei krank und schwächlich vor. Diese Wirkung vergrößerte sich noch, als der High Sideryt dieses Bild mit dem verglich, das sich langsam an der Stelle zwischen den Umlaufbahnen von Junk I und Junk II herausbildete. Hier war der Sektor, in dem man durch energetische Streustrahlungen den eigentlichen Junk‐Nabel, also die Hauptübergangsstelle von Bars‐2‐Bars in die Namenlose Zone, vermutete. In diesem Abschnitt lief etwas ab, was sich noch nicht genau definieren ließ. Es kam etwas aus der Namenlosen Zone, und dieses Etwas war gewaltig. Zunächst sah es aus, als würden sich Nebelschwaden ein Stelldichein geben. Fahlgraue Schlieren tanzten einen verrückten und ungeordneten Reigen. Lange Rauchfahnen strebten vom angemessenen Mittelpunkt des Nabels aus in alle Richtungen.
Ständiger Nachschub des seltsamen Stoffes von der anderen Seite sorgte dafür, daß trotz der Verflüchtigung die sich sammelnde Wolke immer dichter wurde. Schon nach wenigen Minuten waren die ersten Sterne der Doppelgalaxis, die aus der Position der SOL hinter dem Nabel lagen, nicht mehr zu erkennen. »Ausbreitungsgeschwindigkeit der Nebelschwaden«, verkündete Lyta, »liegt bei 30 Prozent LG, nach außen hin langsam abnehmend.« Noch immer wuchs die gewaltige Wolke an. Ihre Formen waren gänzlich unregelmäßig, und eine eindeutige Farbe ließ sich nicht zuordnen. Hayes glaubte bisweilen ein fratzenhaftes Gesicht aus den Schlieren zu erkennen, aber er sagte sich, daß das Einbildung sein mußte. Dann begann die Wolke zu strahlen. Das Licht war optisch einwandfrei wahrnehmbar, aber die Energieortung zeigte weiterhin nur einen verwaschenen Fleck, der von der Struktur des aktivierten Nabels ebenso herrühren konnte wie von der Wolke selbst. In der Zentrale der SOL kehrte eine beklemmende Stille ein. Der Alarm war längst ausgelöst worden. Uster Brick hockte in seinem Pilotensessel und sehnte seinen verschollenen Zwillingsbruder Vorlan herbei. »Ausbreitung der Wolke ist abgeschlossen«, kommentierte Lyta Kunduran weiter. »Durchmesser 0,834 Lichtsekunden gleich rund 250.000 Kilometer.« »Was ist das?« stöhnte einer der Funker auf. »Wenn mich nicht alles täuscht«, antwortete der High Sideryt tonlos, »dann ist das Anti‐ES oder zumindest etwas, was von ihm direkt gemacht wird. Wir beobachten weiter und unternehmen nichts.« »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden«, verlangte eine Frau aus dem Mitarbeiterstab der Ortungsspezialisten. »Dieses Ding kann unseren Untergang bedeuten.«
»Wir müssen bleiben«, meldete sich SENECA. »Ruhe!« donnerte Hayes ungewöhnlich laut durch die Zentrale, als sich eine heftige Diskussion zu entwickeln begann. »Die Entscheidungen treffe allein ich. Und noch habe ich nichts befohlen.« Es kehrte Ruhe ein, aber die Orterin, die unbedingt das Junk‐ System verlassen wollte, ließ sich nicht zum Schweigen bringen. »Mich interessieren Atlan und diese komische Tyari nicht«, schrie sie laut. »Niemand kann uns zwingen, auf ihre eventuelle Rückkehr zu warten. Nach den Explosionen in Junk zu urteilen, sind sie sowieso längst nicht mehr am Leben.« »Genug!« Hayes ließ von den Bildschirmen ab und ging zu der Frau. Er faßte sie nicht gerade sanft am Oberarm und zerrte sie zum nächsten Schott. Dort schob er sie auf den Gang hinaus und verriegelte den Eingang wieder. Dann sah er sich in der Zentrale um. »Hat noch jemand Lust zu kneifen?« Seine Augen bildeten schmale Schlitze. »Denkt daran, es geht nicht nur um Atlan. Breiskoll ist mit der FARTULOON und gut vier Dutzend Solanern verschollen. Solange ich nicht mit Sicherheit weiß, daß sie tot sind, gehe ich jeder Spur nach, um sie zu finden. Die einzige Spur, die wir haben, ist die in die Namenlose Zone. Ganz abgesehen davon finde ich, daß es unsere natürliche Pflicht ist, etwas für die positive Seite zu leisten. Und dieses Ding dort«, er zeigte auf die leuchtende Wolke, »ist bestimmt nichts Positives!« Er wandte sich wieder den Bildschirmen zu, als er keine Antwort bekam. Verstehen konnte Hayes seine Solaner, denn schließlich war durch den Umschwung, für den letztlich Atlan verantwortlich war, nicht alles zum Guten gewendet worden. Die Zeiten der Diktatur waren zwar endgültig vorüber, aber der Preis, den man dafür zu zahlen hatte, war auch gepfeffert. Die Solaner waren praktisch von einer Gefahr in die andere geschlittert, und es hatte Verluste gegeben, die nur noch SENECA zahlenmäßig genau überblickte.
In der gewaltigen Wolke bildeten sich nun langsam einzelne Punkte aus, die noch heller strahlten als der übrige Stoff. Auch diese waren nur optisch wahrnehmbar. »Was hat das wieder zu bedeuten?« stöhnte Lyta. Sie vergrößerte einen der Lichtpunkte, um ihn genauer untersuchen zu können. »Spektralanalyse!« ordnete sie an. »Schon durchgeführt.« In Anbetracht der brisanten Lage schaltete sich SENECA selbst in die Auswertungen ein. »Es handelt sich um ganz normales monochromatisches Licht. Besonderheiten sind nicht erkennbar.« »Doch!« Hayes beugte sich nach vorn. »Die Lichtpunkte beginnen sich zu bewegen. Schutzschirme hochfahren.« Der von ihm vermutete Angriff auf die SOL blieb jedoch aus. Auch SENECA hielt es für äußerst unwahrscheinlich, daß – selbst wenn es sich bei dieser Wolke tatsächlich um Anti‐ES handeln sollte – die Superintelligenz sich selbst direkt an den Kämpfen beteiligen wollte. Die Lichtpunkte, jeder tatsächlich nicht größer als eine Space‐Jet, beschleunigten nun immer mehr. Sie strebten aus der Wolke heraus, aber keiner von ihnen nahm direkten Kurs auf die SOL oder einen der Himmelskörper des Junk‐Systems. »Wenn sie konkrete Ziele haben«, teilte SENECA mit, »dann liegen diese in Bars und Farynt.« Die Punkte wurden nun noch schneller. Innerhalb einer weiteren halben Minute erreichten sie fast Lichtgeschwindigkeit, ohne dabei ihre Strahlung zu verändern. Das war ein physikalischer Widerspruch, der nicht zu erklären war. Dann verschwanden sie allesamt. »Energieortung«, wurde gemeldet. »39 Echos, von einem Eintritt in den Hyperraum.« Breckcrown Hayes legte seine vernarbte Stirn in Falten. Er konnte sich keinen Reim auf den Sinn dieses Geschehens machen. So fragte er SENECA nach einer Auswertung.
»Zu früh«, antwortete die Biopositronik. »Es müssen erst noch weitere Geschehnisse zur Bestätigung meiner Theorie abgewartet werden.« So widmete man sich wieder den Ortungsaufzeichnungen. Wöbbeking stand unverändert in etwa fünf Lichtminuten Entfernung von der strahlenden Wolke, in der oder hinter der man Anti‐ES vermutete. Nach dem Verschwinden der 39 Leuchtpunkte ereignete sich in der Wolke nichts mehr. Die äußeren Ränder bewegten sich zwar noch leicht auf und ab, als würden die kosmischen Winde über sie streichen, aber insgesamt gesehen veränderte sich das Gebilde nicht. Die Auswertung der Meßergebnisse zeigte, daß sich der Stoff dieser Wolke keiner bekannten Struktur zuordnen ließ. Es handelte sich also um etwas ganz und gar Fremdartiges, was den Verdacht bekräftigte, daß nur Anti‐ES hinter dem Geschehen stecken konnte. »Fernortung für Hyperenergieechos muß aktiviert werden«, verlangte SENECA. »Der gesamte Bereich von Bars und Farynt muß beobachtet werden.« Die Ortungsspezialisten kamen der Aufforderung nach. Es dauerte keine weitere zehn Minuten, als in knapp 100 Lichtjahren eine schwere Explosion angemessen wurde. Dann folgten in kurzen Abständen weitere Energieechos aus Teilen von Bars und Farynt, die in immer größeren Entfernungen stattfanden. Die Anteile an überlichtschneller Hyperenergie waren dabei besonders groß. Breckcrown Hayes begann zu ahnen, was sich dort abspielte, aber er reagierte auf keine Fragen seiner Mitarbeiter. In dieser angespannten Lage erschien es ihm ratsamer, die Gesamtauswertung SENECA zu überlassen. Als schließlich 39 Echos angemessen worden waren, kehrte wieder Ruhe ein. Keiner in der Zentrale zweifelte mehr daran, daß die 39 Leuchtpunkte, die aus der strahlenden Wolke in Marsch gesetzt worden waren, die Ursache für die gewaltigen Energieentfaltungen
darstellten. »Nun, SENECA?« forderte der High Sideryt die Biopositronik auf. »Du hast uns sicher einiges zu sagen.« »So ist es. Meine Bemühungen haben ergeben, daß kein Zweifel über die Existenzform der leuchtenden Wolke mehr besteht. Das ist Anti‐ES. Aus dem augenblicklichen Aussehen dürfen jedoch keine falschen Schlüsse gezogen werden, denn dieses Aussehen dient auch nur der Erfüllung, eines bestimmten Teilplans. Zunächst müßt ihr euch darüber im Klaren sein, daß die negative Superintelligenz wirklich hier erschienen ist. Das zählt. Die Wolke kann nur ein Zerrbild der Wirklichkeit von Anti‐ES sein. Für uns zählt das nicht, wohl aber für Wöbbeking‐NarʹBon. Die tieferen Handlungsmotive für Anti‐ES sind hinreichend bekannt. Es will für immer der Verbannung in der Namenlosen Zone entfliehen. Nun hat es dafür die entscheidenden Schritte eingeleitet. Es bekam von den Kosmokraten – aus welchen Gründen auch immer – 100 Stunden der völligen Freiheit. Diese nutzte es, um mit sich selbst das zu unterstützen, was es seit langem eingeleitet hat. Die ARSENALJYK II zerstört Tyar und Prezzar. Bars‐2‐Bars wird dadurch verfallen und nie wieder die Möglichkeit bieten, Schleusen oder Nabel zur Namenlosen Zone tragen zu können. Der Wirkungsraum von Anti‐ES ist unser Kosmos. Sein Ziel ist letzten Endes die Menschheit. Es muß daher nicht nur sein eigenes Ich komplettieren, sondern auch dafür sorgen, daß es nie wieder in die Namenlose Zone gelangen kann – selbst wenn es hier mit Teilen seines Planes scheitern sollte. Das ist die Begründung für die Aktion der 39 Leuchtpunkte. Wir können davon ausgehen, daß Anti‐ES alle Nabel von Bars‐2‐Bars kannte. Ich sage absichtlich nicht kennt, denn nun existiert kein Nabel mehr, abgesehen von dem hiesigen Junk‐Nabel. Dieser erfüllt eine zweifache Funktion. Er stellt ein Lockmittel für Wöbbeking‐NarʹBon dar, mit dem sich Anti‐ES komplettieren will. Er beinhaltet aber auch noch etwas anderes. Wenn es Anti‐ES nicht
gelingen sollte, seine Rache an Atlan und der SOL zu erfüllen, wird es unser Heimatschiff durch diesen Nabel in den Raum verstoßen, aus dem es nun kam. Das ist die Bedrohung, die dann Aktion wird, wenn die SOL der ARSENALJYK entgehen sollte. Ihr habt gesehen, wie leicht Anti‐ES 39 Nabel vernichten konnte, die weit entfernt und über ganz Bars‐2‐Bars verstreut lagen. Es benötigte Minuten dafür. Ich habe keinen Zweifel, daß es den Junk‐Nabel in Sekunden zerstören kann. Hütet euch also davor, dem Übergangsbereich zu nahe zu kommen!« »Das hört sich alles wenig erbaulich an, SENECA«, stellte Hayes betroffen fest. »Aber du bestätigst das, was ich zum Teil auch schon vermutet habe. Eine Antwort bist du uns aber noch schuldig. Was rätst du uns zu tun?« »Ich berücksichtige alle Fakten.« Die Biopositronik stieß einen fast menschlichen Seufzer aus. »Die Überlebenschancen für Atlan sind gering. Vielleicht existiert er schon nicht mehr. Ihr wißt, daß das seelische Gleichgewicht meines Zellplasmas in hohem Maß auf die Gegenwart Atlans angewiesen ist. Und dann fehlt von den Solanern, die mit Bjo Breiskoll und der FARTULOON in die Namenlose Zone verschlagen wurden, noch jedes Zeichen. Ich weigere mich, sie einfach abzuschreiben, auch wenn sich die Chancen für die Korvette durch die Zerstörung der Nabelstationen weiter verschlechtert hat. Ich habe aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben, denn ein Faktor der letzten Wochen ist nicht bestimmbar. Auf Wöbbeking‐NarʹBon brauchen wir nicht zu bauen, aber irgend etwas hat verschiedentlich Schicksal gespielt. Und dieses Etwas ist auf unserer Seite. Ich rate euch daher, weiter aufmerksam alles zu verfolgen, nicht jedoch zu versuchen, das Heil in der Flucht zu suchen.« Breckcrown Hayes versuchte, in den Gesichtern seiner Stabsspezialisten abzulesen, was diese dachten. Er sah jedoch nur Ratlosigkeit und Unsicherheit. Die Explosionen im Innern von Junk dauerten an. Die Ortung bewies, daß die Zerstörungen um sich griffen, und von Atlan und
seinen Begleitern fehlte jedes Lebezeichen. Das Funkpersonal versuchte, Kontakt mit Wöbbeking herzustellen, aber erwartungsgemäß blieb dieser stumm. Die strahlende Wolke, in der Anti‐ES sich manifestiert hatte, lag über dem einzigen noch intakten Nabel von Bars‐2‐Bars. Die Stimmung sank einem Tiefpunkt entgegen, aber niemand in der Zentrale wagte das auszusprechen, was er dachte. Für die SOL und die Solaner gab es nur noch einen Ausweg. Die sofortige Flucht unter Verzicht auf Atlan, Tyari, Breiskoll und die Menschen der FARTULOON. Gegen die Macht eines Anti‐ES wirkte selbst Wöbbeking‐NarʹBon wie ein Nichts. Und die SOL war gegenüber der riesigen leuchtenden Wolke wenig mehr als ein Staubkorn, das sich in eine fremde Sterneninsel verirrt hatte. »Wir bleiben hier«, entschied der High Sideryt noch einmal, »bis wir wissen, woran wir sind. Zur Flucht ist dann immer noch Zeit.« Er sah die Zweifel in den Gesichtern der anderen bei seinen letzten Worten. Und er fühlt die Zweifel tief in sich selbst. 7. Ringsum herrschte gleißende Helligkeit, und doch spürte ich nichts. Das Erlöschen der Gedanken kam nicht. Auch kein stechender Schmerz, kein Hinfortreißen aus dem gewohnten Dasein, nicht einmal eine Veränderung meines Ortes. Ich öffnete voller Unglauben die Augen wieder und bewegte meine Arme. Die leuchtende Masse wirkte wie ein dünner Brei, der meine Bewegungen kaum behinderte. Ich war verblüfft, denn eigentlich mußte ich jetzt tot sein. »Atlan«, hörte ich Tyari aus dem Helmfunk. »Was ich geschehen? Ich sehe dich.« Als ich meinen Kopf etwas zur Seite drehte, erkannte auch ich sie. Sie schwebte inmitten der hellen Masse, ohne festen Boden unter
den Füßen zu haben. Es war sicher unmöglich, daß wir noch unversehrt in dem Sonnenplasma existierten. Ich suchte nach einer Erklärung, aber es gab keine. Fremdbeeinflussung! behauptete der Extrasinn. Ich tastete mich rudernd an Tyari heran. Jetzt sah ich, daß ihr Körper von einer hauchdünnen Folie eingehüllt war. Sie strahlte in einem rotgrünen Wechselspiel der Farben, und so mußte ich sofort an Jenseitsmaterie denken. Dann kontrollierte ich die Anzeigen meines Raumanzugs. Außer der Gravitation, die auf null gesunken war, waren alle Werte normal. Die Aggregate strahlten ein beruhigendes Summen ab. »Ich werde verrückt«, sagte Tyari über Funk. Mir wurde bewußt, daß auch die bestehende Funkverbindung eine physikalische Unmöglichkeit sein mußte. »Ich glaube«, antwortet ich vorsichtig, »wir sind in letzter Sekunde an einen anderen Ort versetzt worden, Tyari.« Irrtum. Dazu hatte ich keine Zeit. »Was redest du da durcheinander?« klagte Tyari. Ich erkannte, daß sie die Stimme auch wahrgenommen hatte, von der ich zunächst angenommen hatte, sie gehörte dem Logiksektor. Schnell hatte ich aber dann gemerkt, daß es jener Fremde war, der uns hilfreich und geheimnisvoll zur Seite stand. »Danke, Fremder«, sagte ich. »Wir wären dir sehr verbunden, wenn du uns auch noch aus dieser Klemme holen könntest.« Nur Geduld, Atlan. Ich bin sehr beschäftigt. Tyari blickte mich jetzt durch ihren Helm ganz aus der Nähe an. Sie hatte sicher längst ähnliche Schlußfolgerungen gezogen wie ich. »Ich will nicht versäumen«, sprach ich weiter, »mich zu bedanken, C‐RA oder Cara. Mich würde jedoch brennend interessieren, was dieses Versteckspiel zu bedeuten hat. Wer bist du? Was hast du mit Cara Doz zu tun?« Ich hörte ein leises Lachen. Eine Cara Doz hat es nie gegeben. »Du sprichst in Rätseln, mein Freund.«
Alles zu seiner Zeit, Atlan. Jetzt gilt es, den neuen Konflikt zwischen Tyar und Prezzar zu bereinigen. Das überlasse ich dir, denn ich muß einen anderen Ort aufsuchen. Ich gebe übrigens zu, daß dieser Konflikt auf einem Fehler beruht, für den ich verantwortlich bin. Ich schwieg, denn ich wußte nicht, was ich zu dem Gehörten sagen sollte. Meine Gedanken überschlugen sich. Die Enge der breiigen Umgebung wirkte plötzlich beängstigend. Ticker regte sich unruhig in seinem freiwilligen Gefängnis. Dann hüllte uns für Sekunden Dunkelheit ein. Bevor es wieder hell wurde, spürte ich den gewohnten Sog einer normalen Schwerkraft. Aus der Lichtlosigkeit stürzte ich auf festen Grund. Neben mir richtete sich Tyari auf. Ein schneller Blick machte mich mit der Umgebung vertraut. Der große Kugelraum war grundsätzlich von der gleichen Art wie die, die ich schon kennengelernt hatte. Im Mittelpunkt schwebten ähnliche Trümmer, wie sie Tyar hinterlassen hatte, bevor sein ehemaliges Gefängnis unter dem Feuer des Partikelstromwerfers der ARSENALJYK II zerstört worden war. Mjailam stand wenige Schritte von mir entfernt. Er wirkte unsicher und hielt seine langen Arme hilflos in die Höhe. Die Szene, die er mit flackernden Augen verfolgte, war absurd. Ein Stück weiter rangen zwei Gestalten miteinander, die sich fast völlig glichen. Beide sahen aus wie etwas zu groß geratene Caras. Ich hörte den Logiksektor, der das Bild sofort auswertete: Tyar‐Cara und Prezzar‐Cara. Sie kämpfen. »Warum tun sie das?« rief Tyari. »Komm, Atlan. Wir müssen dem Unsinn ein Ende bereiten.« »Versuche, den Grund dieses Streites herauszufinden, Tyari. Sie gefährden nicht nur uns. Sie bringen sich auch selbst an den Rand des Unterganges. Ich höre schon die nahenden Explosionen der ARSENALJYK.« »Ich kann ihre Gedanken nicht aufnehmen«, teilte sie mir mit. Mjailam stapfte heran. Er fuchtelte wild mit den Armen.
»Unsere Schöpfer sind übergeschnappt«, grollte er. »Ihnen scheint die lange Gefangenheit nicht bekommen zu sein.« Er tippte mit ausgestrecktem Finger an seinen Kopf. »Warum streiten sie plötzlich wieder?« fragte ich. Wachsendes Unbehagen beschlich mich. War es schon unerklärlich, daß Tyar und Prezzar sich dieser seltsamen Cara‐Körper in fast durchscheinender Form bedienten, so war es noch unerklärlicher, daß sie jetzt miteinander in geradezu erschreckend primitiver Manier kämpften. »Es fing alles sehr gut an«, erklärte Mjailam. »Tyar zerstörte mit der Gewalt seiner Gedanken das Gefängnis Prezzars. Von außen her war das leicht möglich. Prezzar bedankte sich auch brav, aber plötzlich starrten sie sich an, als wären sie Feinde. Es muß etwas mit ihrem Aussehen zu tun haben.« Komplexe galaktischer Intelligenzen, behauptete der Extrasinn, der hier schneller folgerte als ich. Sie sind aufeinander eifersüchtig, weil jeder so aussieht wie der andere. Daher bekriegen sie sich. Ich konnte das nicht glauben, denn es erschien mir unlogisch. Draußen lauerte die Gefahr in Form der ARSENALJYK. Jeden Augenblick konnte sie ihr Zerstörungswerk nach den Absichten von Anti‐ES noch vollenden. Dann wäre alle Mühe umsonst gewesen. Und da stritten sich diese Scheinfiguren wegen ihres unwirklichen Aussehens? Ich bin mir sicher, daß es so ist, bekräftigte das Extrahirn. Du mußt sie zur Vernunft bringen. Tyari und Mjailam können sich kaum gegen ihren Schöpfer auflehnen. Gegen meine Überzeugung beschloß ich, dem Rat des Logiksektors zu folgen. Ich eilte zu den beiden Kämpfern hin. Sie beachteten mich nicht. Unterscheiden, wer wer war, konnte ich sie nicht. So genau hatte ich mir Tyars vorübergehendes Aussehen auch nicht einprägen können. Eigentlich war es auch gleichgültig. Es berührte mich, in beiden doch irgendwie Cara Doz zu sehen, deren Tod ich erst wenige Stunden zuvor hatte miterleben müssen.
Ich gab mir einen Ruck und hechtete mich zwischen die beiden Kämpfhähne. Derjenige, der zuerst in Reichweite meiner Fäuste kam, erhielt den ersten Schlag. Ich prallte zurück gegen den anderen und stieß diesem ein Knie in den Leib. Prezzar‐Cara und Tyar‐Car flogen auseinander. »Aufhören!« schrie ich die beiden an. » Von draußen kommt der Tod. Und ihr rauft herum wie dumme Bengel.« »Du mußt dieser Atlan sein«, dröhnte die eine Gestalt. An der Ähnlichkeit der Stimme mit Mjailam erkannte ich, daß dies Prezzar sein mußte. »Der bin ich!« antwortete ich trotzig. »Du solltest dich besser heraushalten«, drohte Prezzar. »Er hat mein Bild imitiert.« Sein Arm zeigte auf Tyar‐Cara, der zum Sprung ansetzte. Ich verstand plötzlich, daß der Logiksektor vollkommen recht gehabt hatte. Und ich verstand, was C‐RA gemeint hatte, als er sagte, er sei die Ursache dieses Streites. C‐RA hatte den Körper Caras zumindest als Bild den beiden Gefangenen angeboten, damit diese sich materialisieren lassen konnten. Körper mußten Tyar und Prezzar etwas sehr Fremdes sein. Daß C‐RA an der Befreiung der beiden einen großen Anteil hatte, war mir ohnehin klar. Ich überlegte nicht lange, was zu tun war. »Paß auf, Prezzar!« Ich baute mich vor der durchscheinenden Gestalt auf. Gleichzeitig dachte ich intensiv an Icho Tolot, meinen alten halutischen Freund. Ich rief jede Einzelheit seines Körpers in mein Gedächtnis. »Ich könnte den sinnlosen Streit schnell beenden, wenn du für dich einen besseren Körper wählst. Das Vorbild findest du in meinen Gedanken.« Die Gestalt eines Haluters mußte dem urwüchsigen Prezzar einfach gefallen, sagte ich mir. Die Frage war nur, ob er auf mein Spiel einging, und ob er überhaupt willens und in der Lage war, das zu tun, was meine Gedanken ihm anboten. Er sah mich lauernd an und schwieg.
Dann verwandelte sich seine Cara‐Gestalt in einen bläulichen Nebel, der sich zu neuen Konturen umformte. Es wurde ein Haluter, aber ich mußte trotz des Ernstes der Lage ein Lachen unterdrücken. Eine Kleinigkeit mußte Prezzar übersehen haben, oder es lag an mir. Der Prezzar‐Haluter war gerade einen Meter groß! »Dein Glück, Prezzar«, donnerte Tyar in meinem Rücken. »Es ist gut, daß du zur Vernunft gekommen bist. Ich dulde niemand, der mein Aussehen besitzt, auch wenn es nur diese schäbige Gestalthaftigkeit ist.« »Ich denke«, mischte ich mich ein, ohne darauf zu reagieren, daß Tyar sich den Erfolg der Umwandlung zuschrieb, »ihr solltet euch nun auf den Sinn eures Daseins besinnen. Wir können hier jeden Moment durch das Raumschiff vernichtet werden, das Anti‐ES gegen euch gehetzt hat. Ihr könntet zur Beispiel etwas dafür tun, daß wir hier herauskommen. Und dafür, daß der eigentliche Gegner in seine Schranken gewiesen wird.« Die Tyar‐Cara‐Figur und die Prezzar‐Haluter‐Gestalt sahen sich wortlos an. Ich spürte, daß sie intensive Gedanken austauschten. Dann lösten sich beide vollständig auf. »Heh!« schrie ich. »Du kannst die Gesetze unseres Daseins kaum verstehen, Arkonide Atlan«, hörte ich Prezzars Stimme. »Wir danken dir und deinem unbekannten Freund C‐RA. Du hast uns die Freiheit wiedergegeben.« »So ist es«, fuhr Tyar mit einer Stimme aus dem Nichts fort. »Auch ich schließe mich diesem Dank an. Unsere Aufgabe ist jedoch nicht, gegen die fremde Macht zu kämpfen, die uns bedroht. Wenn wir jetzt entweichen, so wirst du das vielleicht nicht verstehen. Unsere übergreifende Aufgabe verlangt es. Bars und Farynt werden sich wieder trennen. Unsere Völker werden einer besseren Zukunft entgegengehen. Allein darin liegt der Sinn unseres Daseins, an den du uns zu Recht erinnert hast. Die lange Gefangenschaft hat an unsere Substanz gezehrt, aber wir werden uns erholen. Das Wesen,
das uns in diese Verbannung schickte, existiert nicht mehr. Wir wissen, Atlan, daß wir auch diese Tatsache dir zu verdanken haben. ARCHITEKT nannte er sich, und du nanntest diesen Frevler Hidden‐ X. Die Nabel von Bars‐2‐Bars sind zerstört. Anti‐ES ist nicht unser Feind, denn es wird nach der Einverleibung des Teiles, der sich Wöbbeking‐NarʹBon nennt, von hier absetzen. Sein Ziel ist eine andere Galaxis. Es ist die, die du Milchstraße nennst. Anti‐ES wird Prezzar und mich also nicht mehr behindern.« Ich verstand genau was ich zu hören bekam, aber es behagte mir ganz und gar nicht, daß sich Prezzar und Tyar einfach aus dem Staub machen wollten. Aus ihrer Sicht ist das richtig, tröstete mich der Extrasinn. »Mjailam hat sich gut geschlagen.« Das war wieder die Stimme Prezzars. »Ich gebe ihm noch etwas Zeit, um dir zu helfen, dann wird er sich auflösen. Er wird nicht mehr benötigt.« Und Tyari? schoß es mir durch den Kopf. Würde sie das gleiche Los teilen müssen. »Nein.« Tyars Stimme klang sanft. »Tyari war immer ein echtes Wesen rein biologischer Herkunft. Nur ihr Aussehen wurde ihrer Aufgabe angepaßt. Sie wird so bleiben, wie sie ist. Und sie kann frei über ihr weiteres Leben entscheiden.« Mir fiel ein Riesencontainer voller Steine vom Herzen, und ich warf Tyari einen tiefen Blick zu. Erst jetzt kam mir zur Besinnung, was ich noch gehört hatte. Die Nabel von Bars‐2‐Bars sollten zerstört sein? »So ist es«, bestätigte die Stimme Tyars. Das würde bedeuten, folgerte ich, daß Anti‐ES für immer in der Namenlosen Zone festsitzen würde. Es würde ferner bedeuten, daß der Konflikt mit der negativen Superintelligenz für die SOL und für mich beendet wären! Meine Träume wurden schnell zerstört. Tyar, der meine Gedanken offensichtlich genau aufnehmen konnte, meldete sich wieder. »Du unterliegst einem Irrtum, Atlan. Die Zerstörung der Nabel
bedeutet, daß Anti‐ES nicht mehr in die Namenlose Zone zurückkehren kann. Es hat die Frist der Freiheit, die ihm gegeben wurde geschickt genutzt. Anti‐ES ist hier!« Mir wurde schwindlig. Damit war wohl alles verloren. »Wir kehren in unsere Sterneninseln zurück«, erklang es zweistimmig. Danach hörte ich nichts mehr von Prezzar und Tyar. Ich ging langsam zu Tyari und Mjailam hinüber. Dabei überlegte ich krampfhaft, was ich nun tun sollte. Irgendwie war mein Gehirn blockiert. In zu kurzer Zeit hatten sich die Dinge ereignet. Anti‐ES sollte bereits in Bars‐2‐Bars sein. Eigentlich war das zu erwarten gewesen. Was verbarg sich hinter C‐RA? Wie kam ich wieder zur SOL? Durch Mjailam, half mir der Extrasinn. Allerdings solltest du dich beeilen, denn er wird sich irgendwann auflösen, und die ARSENALJYK II ist nah. Der Riese wirkte unschlüssig und hilflos. Ich vermochte nicht zu beurteilen, was sich in ihm abspielte. Wenn er ein freies Bewußtsein besaß, und daran zweifelte ich eigentlich nicht, dann waren Prezzars Worte für ihn so etwas wie ein Todesurteil gewesen. Die Detonationen wurden lauter. Der Boden schwankte unter den Druckwellen. Es war wirklich höchste Zeit. »Mjailam«, sagte ich eindringlich. »Bitte bringe Tyari und mich zur SOL. Wir kommen sonst hier um.« Er glotze mich verständnislos an und brummelte etwas. »Was hast du gesagt?« hakte ich nach. »Sinnlos«, antwortete er und drehte mir den Rücken zu. »Bin sowieso schon tot.« »Noch nicht«, drängte ich. »Du hast gehört, daß Prezzar wollte, daß du uns aus dieser Sonnenstation bringst.« »Pah! Er hat mich vergessen. Ich bin nur noch Schrott. Ich löse mich gleich auf.« »Du hast deinen Teil zur Befreiung Prezzars beigetragen«, mischte sich nun auch Tyari ins Gespräch. »Du hast deine Aufgabe erfüllt.
Deshalb brauchst du nicht mit dem Schicksal zu hadern.« »Du hast leicht reden.« Der behaarte Riese fuchtelte wild mit den langen Armen. »Du lebst ja weiter. Ich will nicht mehr. Ich bleibe hier, bis der Tod mich erwischt.« »Und an Atlan und mich denkst du gar nicht!« Mjailam zuckte unter diesen harten Worten zusammen. Statt einer Antwort hockte er sich im Schneidersitz auf den Boden und kreuzte die Arme vor der Brust. In unserer unmittelbaren Nähe detonierte wieder ein Geschoß. Es mußte wohl Schutzvorrichtungen für die Kugelstationen geben, durch die sich die ARSENALJYK kämpfte. Die künstliche Schwerkraft fiel aus. Das Antigravaggregat meines Anzugs heulte unter der plötzlichen Belastung auf. Tyaris Augen waren vor Schrecken geweitet. Plötzlich stand Mjailam neben mir. Er war kaum noch zu erkennen, denn sein Körper war durchscheinend. Ich vermutete, daß er seinen Auflösungsprozeß selbst durch seinen Willen beschleunigte. Irgendwie fand ich sogar Verständnis für den Riesen, der nach dem Erlebten einfach nicht mehr die Kraft aus sich selbst heraus aufbrachte, noch etwas zu unternehmen. »Da!« grollte er und packte an meinem Helm. »Will nicht undankbar sein, Atlan.« Seine zweite Hand tauchte vor meinem Sichtfenster auf. Ich sah ein helles Glühen. Er hielt etwas zwischen den behaarten Fingern, das sich wie ein Lebewesen drehte und wand. »Nimm es Atlan! Es hält bestimmt noch ein paar Stunden an.« Das leuchtende Ding drang durch den Helm. Ich schloß geblendet die Augen, als es sich meinem Kopf näherte. Panik befiel mich. Als ich Sekunden später die Augen wieder öffnete, weil nichts geschehen war, war das Licht verschwunden. Auch von Mjailam gab es keine Spur mehr. »Was war das?« stöhnte ich auf. »Hast du das gesehen, Tyari?« »Ja.« Ihre Hände tasteten nervös über meinen Helm. »Es muß ein
Teil von Mjailam gewesen sein. Er hat dir etwas überlassen, bevor er sich auflöste. Ich spüre etwas von ihm … in dir.« Ich zuckte bei diesen Worten zusammen. Es ist etwas hier, meldete sich der Extrasinn. Ich ahne, was es ist. Mjailam hat dir seine Kraft gegeben, sich an beliebige Orte von Farynt begeben zu können. Ich verstand. Und mit diesem Verstehen eröffneten sich mir ganz neue Perspektiven. Es war unbegreiflich, aber doch Tatsache. Ich sah Orte in der nahen und der fernen Umgebung, als lägen diese frei vor meinen Augen. Da war die ARSENALJK II, und in ihr bemerkte ich die Penetranz, die ihre willenlosen Gyranter steuerte. Die ganze Masse der Sonne Junk wurde mir gegenwärtig, darin die schon weitgehend zerstörten Stationen, von denen dieser Kugelraum nur einen winzigen Bruchteil darstellte. Ich sah weiter nach draußen und entdeckte die Planeten des Junk‐ Systems, in diesen mächtige Maschinen, die für die Energiegewinnung des Junk‐Nabels und dessen Stabilisierung sorgten. Und dann gewahrte ich die SOL! Mein Blick durchdrang ihre Abschirmungen und Wände bis hinein in die Hauptzentrale mit ihren vielen Menschen. »Komm, Tyari!« Ich faßte ihre Hand und kümmerte mich nicht um den ohrenbetäubenden Lärm, der plötzlich ringsum war. Es war wie ein Schritt über einen gewaltigen Abgrund, dann stand ich neben Breckcrown Hayes. »Hallo!« sagte ich und klappte meinen Helm zurück. * Es war typisch für Breckcrown und seine Stabspezialisten, daß sie nicht danach fragten, wie ich mit Tyari plötzlich wieder in die SOL
gekommen war. Mir erleichterte das das Anpacken der ungelösten Probleme. Da ich außerdem wußte, daß Mjailams Kraft bald schwinden würde, war die Geschichte fast bedeutungslos. Zuerst informierte ich mich über den Stand der Dinge aus der Sicht der Solaner. Fasziniert und erschrocken zugleich betrachtete ich die leuchtende Wolke in der unmittelbaren Nähe des ausgemessenen Junk‐Nabels. Daß der Nabel noch existierte, zeigte, daß Tyar auch nicht alles vollständig gesagt oder wahrgenommen hatte. Wöbbeking‐NarʹBon stand unverändert an seinem alten Platz. Von dort hatte man nichts bemerkt oder gehört. Die beiden mächtigen Wesen, jedes so fremdartig, daß es mir schwerfiel, in ihnen echtes Leben zu sehen, belauerten sich aus sicherer Distanz. Ich versuchte, mit Mjailams Fähigkeit in die Wolke oder Wöbbeking »zu sehen«. In beiden Fällen prallte ich auf eine undurchdringliche Schwärze und eine eisige Kälte, so daß sich auf weitere Versuche schnell verzichtete. Unklar war mir, warum der Junk‐Nabel als einziger nicht zerstört worden war. Der Extrasinn vermutete, daß er als Hauptnabel des Bars‐2‐Bars‐Systems eine besondere Rolle spielte, um Wöbbeking anzulocken. Daß die ganze Doppelgalaxis auf das Riesenei wirkte, hatte es ja selbst erwähnt. Die Zerstörungen der. Station im Innern der Sonne Junk neigten sich dem Ende zu. Daß dies keinen Einfluß auf die Stabilität des Nabels hatte, bewies, daß dessen Stationen allein in den Planeten untergebracht waren und daß Junk selbst nur der Energielieferant war. Ich zweifelte nicht daran, daß Anti‐ES auch diesen letzten Nabel in absehbarer Zeit desaktivieren würde. Eine konkrete Bedrohung stellte neben der negativen Superintelligenz noch die Penetranz mit der ARSENALJYK II dar. Die Ortungsergebnisse zeigten schon wenig später, daß das Schiff sich wieder der Sonnenoberfläche näherte. Die Solaner wurden
unruhig. Noch während ich mit Hayes und den Stabspezialisten die Erfahrungen austauschte, meldete sich SENECA zu Wort. Natürlich waren der Biopositronik alle Informationen zur Verfügung gestellt worden. »Anti‐ES verfolgt ein Hauptziel«, erklärte SENECA. »Das ist die Gewinnung des Teiles Wöbbeking. Daneben spielen andere Ziele scheinbar keine bedeutende Rolle – aus der Sicht der Superintelligenz. Für die SOL sind diese Nebenziele jedoch entscheidend, denn zwei Teilpläne sind erkennbar, die beide das gleiche Ziel verfolgen, nämlich Rache an der SOL zu üben. Oder besser ausgedrückt, an Atlan und der SOL. Diese beiden Faktoren haben das Wirken der Superintelligenz ganz entscheidend behindert. So sieht sie es. Durch Atlan entstand der verlorene Teil, der sich damals Born nannte. Durch ihn wurde er zur Wöbbeking, wobei die Lichtquelle der Basis des Ersten Zählers eine Rolle spielte. Durch die SOL wurde in Xiinx‐Markant verhindert, daß Wöbbeking in die vorbereitete Falle ging. Cara Doz, welches Geheimnis sie auch immer umgab, war ein Teil dieser Aktion. Das begründete die mehrfachen Versuche von Anti‐ES, sie zu vernichten.« »Zwei Teilpläne?« fragte ich zurück. Ich ahnte bereits, was SENECA noch ausführen wollte. »Richtig. Da ist ein Plan, der durch die ARSENALJYK II verwirklicht werden soll. Das Ziel ist die Vernichtung der SOL, die dem Partikelstromwerfer nichts Gleichwertiges entgegensetzen kann. Anti‐ES denkt jedoch noch weiter. Es rechnete mit Unwägbarkeiten, denn wir haben bewiesen, daß viele Pläne nicht so aufgingen, wie es sich das gedacht hat. Daher hat es einen zweiten Plan in Reserve, den Junk‐Nabel. Wenn sich die SOL tatsächlich dem Zugriff der ARSENALJYK entziehen können sollte, wird Anti‐ ES dafür sorgen, daß sie in den Nabel gerät und in die Namenslose Zone verschlagen wird. Unmittelbar darauf wird es auch diesen letzten Nabel zerstören. Die Richtigkeit meiner Aussagen wird mit
99,99 Prozent angegeben. Das bedeutet, daß eine Flucht sinnlos ist. Jede Flucht wird im Junk‐Nabel enden. Es wäre ratsam, dies alle Solaner wissen zu lassen, weil andernfalls erneut Unruhen gegen Atlan entstehen könnten.« Ich schwieg betreten. Immerhin hatte SENECA einen klaren Grund dafür geliefert, daß dieser eine Nabel zur Namenslosen Zone noch existierte. Viel schwerwiegender war die unausgesprochene Aufforderung, sich zum Kampf gegen die ARSENALJYK und gegen Anti‐ES zu stellen. Daß diese Auseinandersetzung mit der ohnehin schwer angeschlagenen SOL keinen Erfolg für uns bedeuten konnte, war mir klar. Ich stand vor einer schweren Entscheidung. Jeder Rat, den ich Hayes und den Solanern geben würde, würde diesen gar nicht gefallen können. Die Alternative zwischen einer Flucht in die Namenslose Zone oder einem freiwilligen Tod stellte sich nicht. Es sah zwar so aus, aber ich wußte zu gut, daß eins wie das andere das Ende der Solaner bedeuten würde. Ich hörte nicht auf die heftigen Diskussionen, die den Raum erfüllten. Tyari schien wie ich zu fühlen, denn sie sah mich traurig und hilflos an. Meine Versuche, diesen Zustand der SOL zu rechtfertigen, scheiterten, denn ich wußte nur zu gut, daß ich der Verursacher war. Gut, ich hatte die Solaner aus der Zwangslage der SOLAG‐Diktatur befreit. Aber um welchen Preis! Selbst der Extrasinn schwieg. Ich kam mir wie ein Fremdkörper oder ein ungebetener Gast in der Hauptzentrale vor. Plötzlich meinte ich, daß jeder durch mich hindurch sah. Ich wollte mich zum Gehen wenden, als ein Ruf schlagartig die Lage verändert. »Die ARSENALJYK II ist aus Junk hervorgetreten. Sie nimmt Kurs auf die SOL.« Der Kampf war unausweichlich. Und wir waren darin ein Spielzeug in den Racheplänen von Anti‐ES.
8. Breckcrown Hayes übernahm das Kommando, ohne daß für mich ersichtlich war, welche Absichten er verfolgte. Die SOL nahm Fahrt auf. Sie bewegte sich mit halber Lichtgeschwindigkeit in einem Winkel von der bisherigen Umlaufbahn weg, so daß der Abstand zu Junk und der nahenden ARSENALJYK, aber auch zum Ort des Nabels und der strahlenden Wolke von Anti‐ES größer wurde. Plötzlich lag die ARSENALJYK wieder vor uns. Sie hatte eine blitzschnelle Linearetappe durchgeführt. Die Piloten reagierten erst, als SENECA warnte. Hier zeigte es sich, daß Cara Doz sehr fehlte. Die SOL drehte aus dem bisherigen Kurs ab und setzte damit Hayesʹ nun deutlicher erkennbare Fluchtabsicht fort. »Linearetappe!« befahl der High Sideryt. Eine sinnlose Maßnahme, meldete sich mein Extrasinn. Du wirst es erleben. Der Flug sollte das Hantelschiff weit aus dem Junk‐System hinaustragen. Das erkannte ich an den programmierten Daten. Zunächst schien es keine Schwierigkeiten zu geben, dann wurde jedoch allen die bittere Wahrheit klar. Mit dem Austritt aus dem Linearraum präsentierte sich in unmittelbarer Flugrichtung die strahlende Wolke. In ihrer Mitte hatte sich ein Loch gebildet, dessen Schwärze grausam in unsere Nervenbahnen, peitschte. Das war die Namenlose Zone! SENECA quakte etwas von einem mißlungenen Manöver. Eine Erklärung hatte er nicht parat. Im letzten Moment drehten die Piloten ab. Sie wählten dabei eine willkürliche Richtung. Junk tauchte kurz auf dem Hauptbildschirm auf, der die jeweilige Flugrichtung zeigte. Inzwischen bestätigte die Hyperenergieortung, daß das dunkle Loch tatsächlich der Nabel gewesen war. Man war ihm entkommen, aber die
unvorhergesehenen Geschehnisse bewiesen, daß die SOL nicht mehr so fliegen konnte, wie sie wollte. Anti‐ES diktierte das Geschehen. Dann war auch die ARSENALJYK wieder heran. Die Schutzschirme glühten unter einem harmlosen Streifschuß des Partikelstromwerfers auf. Die Geschütztürme der SOL spien alle verfügbaren Energien auf das langgestreckte Schiff, aber es gingen keine Wirkungsmeldungen ein. Das Katz‐und‐Maus‐Spiel wurde immer deutlicher. Anti‐ES trieb das Schiff direkt in die Fänge des Partikelstromwerfers. Die SOL würde dieses grausame Spiel vielleicht noch ein paar Minuten überstehen. Dann war das Ende unausweichlich. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Mjailams Kraft war zwar schon deutlich schwächer geworden. Ich konnte vielleicht noch einige tausend Kilometer weit sehen, aber das mußte reichen. »Breck!« Ich riß den High Sideryt herum. »Ich gehe jetzt. Frage mich nicht, warum und wieso. Halte dir die ARSENALJYK vom Leib, bis ihre Waffen schweigen. Und dann weißt du, was du zu tun hast.« Er starrte mich an, als wäre ich ein Geist. »Tu es nicht!« Tyari drängte sich an meine Seite. Sie hatte meinen Plan durchschaut. »Oder nimm mich mit!« »Die Kraft ist schwach.« Ich stieß sie sanft von mir. »Sie reicht nicht mehr für zwei.« Dann machte ich den Schritt durch den Raum – hinüber zur ARSENALJYK. * Ich kam nicht an dem Punkt der ARSENALJYK heraus, den ich anvisiert hatte. Es mochte daran liegen, daß ich im Umgang mit Mjailams Fähigkeit zu ungeübt war. Oder daran, daß diese unfaßbare Kraft schon nachließ. Oder daran, daß mich ein
unbekannter Einfluß ablenkte. Immerhin landete ich in dem Schiff, und das war schon ein zählbarer Erfolg. Die Zeit drängte. Entweder würde dieses Schiff die SOL vernichten, oder Anti‐ES würde sie in die Namenlose Zone verschlagen, von wo es sicher keinen Weg zurück gab. Meine eigentliche Mission, der Auftrag der Kosmokraten, wäre zur Gänze gescheitert. Selbst die verlorenen Koordinaten von Varnhagher‐ Ghynnst würden mir in einem solchen Fall nichts mehr nützen – selbst wenn ich überleben würde. Und doch nahm ich mir die Zeit für ein paar Gedanken, bevor ich die nächsten Schritte einleitete. Ich fühlte, daß Mjailams Kraft nicht ausreichen würde, um ohne fremde Hilfe wieder zur SOL zu gelangen. Meine Tat war also purer Wahnsinn, und der Extrasinn machte daraus kein Hehl, indem er mich zur sofortigen Umkehr drängte. Ich hatte aber ein Motiv! Ich war es diesen prächtigen Burschen von der SOL einfach schuldig, dieses Risiko einzugehen. Ich war der Grund für die Misere, in die 100.000 Lebewesen, meist Nachkommen der geliebten Terraner, aber auch viele Fremde, geraten war. Insofern war es selbstverständlich, daß ich auch alles versuchen mußte, um ihnen wieder aus der Patsche zu helfen. Falsch gedacht, hakte der Logiksektor ein. Du müßtest sagen, sie vor dem Untergang zu bewahren. Aber dazu bist du allein nicht in der Lage. »Ich bin nicht allein!« antwortete ich trotzig und öffnete den Verschluß an meinem rechten Bein. Ticker kletterte heraus und schwang sich sofort in die Höhe. Er kreiste einmal durch den Raum, der eine Maschinenhalle oder etwas Ähnliches sein mußte. Dann kehrte er zu mir zurück. »Paß gut auf, mein Freund!« rief ich ihm zu. Er krächzte als Antwort. Ich tastete mich erneut mit Mjailams Kraft voran. Dabei beschränkte ich mich ganz auf den Bereich der ARSENALJYK. Weiter reichte die Fähigkeit nun sowieso nicht mehr. Ohne Mühe machte ich die Kommandozentrale aus. Als ich sie
näher in Augenschein nehmen wollte, stieß ich auf ein Hindernis, in das ich nicht eindringen konnte. Die Reflexionen waren denen ähnlich, die ich von Anti‐ES und Wöbbeking‐NarʹBon gespürt hatte, fremd und schwarz und kalt. Das mußte die Penetranz sein, jener Abkömmling von Anti‐ES! Vor diesem Wesen mußte ich mich in acht nehmen. Mein weiteres Augenmerk galt dem Partikelstromwerfer. Diese Waffe zog sich röhrenförmig durch das ganze Schiff. Sie war von den übrigen Bereichen her so gut abgeschirmt, daß ein unmittelbares Eindringen wohl unmöglich war. Ich kehrte mit Mjailams Blick wieder in den Kommandostand zurück. Von hier wurde das gefährliche Gerät eingesetzt. Die Technik war mir fremd, aber aus der Hektik der hier wirkenden Gyranter erkannte ich, wo ich ansetzen konnte. »Ticker!« rief ich, und sofort setzte sich der Vogel auf mein rechten Schulter. Der kurze Schritt durch die ARSENALJYK war problemlos. Von einer Sekunde zur anderen tauchte ich in der Kommandozentrale auf. Meine beiden Kombistrahler waren schußbereit. Sie spien sofort Feuer auf die Einrichtungen zur Steuerung des Partikelstromwerfers. Die Gyranter stießen Schreie aus und rannten auseinander. Einige warfen sich mit bloßen Händen auf mich, aber sie prallten am Individualschirm meines Raumanzuges ab. »Achte auf die Penetranz!« brüllte ich Ticker zu, der mit wilden Schnabelhieben auf einer Konsole herumhämmerte. Dort sprühten Funken auf, aber der Adlerähnliche wich ihnen geschickt aus. Ich setzte mein Feuer unvermindert fort und zerstörte, was mir vor Augen kam. Heftige Explosionen dröhnten auf, und ich dachte dabei an die Schäden, die Mjailam der SOL zugefügt hatte, als er noch ein Sklave der Penetranz gewesen war. Als Ticker kreischend vor meinem Gesicht auftauchte, wußte ich, daß es nun brenzlig wurde. Ich fuhr herum und blickte auf eine
heranstürmende Meute von schweren Robotern. Dahinter folgten mehrere Gyranter, und über allen schwebte das Ei der Penetranz. Im gleichen Augenblick, in dem ich Tickers Krallen durch die Kombination spürte, sprang ich. Irgendwo in der Nähe hatte ich einen Raum entdeckt, in dem keine Lebewesen waren. Ich vermeinte noch die Glutstrahlen aus den Waffenrohren der Roboter zu spüren, als ich plötzlich in einer ruhigen Umgebung war. Eine Nebenzentrale! schoß es mir durch den Kopf, als ich die leeren Galerien mit Bildschirmen und Steuerelementen sah. Gleichzeitig wurde mir damit schmerzlich bewußt, daß ich vielleicht noch keinen ausreichenden Schaden angerichtet hatte. Ticker löste sich von mir. Er folgte seinem unnachahmlichen Instinkt und stürzte sich eine Konsole. Dort richtete er jedoch keine Zerstörung an. Zu meiner Überraschung flammten einige Bildschirme auf. Der Anblick der SOL schlug mich sofort in Bann. Ich registrierte nur nebenbei, daß ich selbst im Zielpunkt des Feuers war, das aus den Geschützen des Hantelschiffs durch den Raum jagte. In mir brannte der sinnlose Wunsch, daß Hayesʹ Mannen einen entscheidenden Treffer landen mögen. Dann sah ich den Partikelstromwerfer im Einsatz. Die Schüsse lagen so schlecht, daß die SOL nicht unmittelbar gefährdet wurde. Also hatte ich wenigstens einen Teilerfolg erreicht. Ticker gelang es, weitere Bildschirme zu aktivieren. Ich sah die Wolke des Anti‐ES und Szenen aus dem Inneren der ARSENALJYK. Die hastenden Gyranter und ihre Roboter bewiesen, daß die Penetranz mich suchen ließ. Lange konnte ich also hier nicht bleiben. Ich versuchte es erneut mit Mjailams Kraft. Mein Blick reichte noch etwa 500 Meter weit. Damit konnte ich zur Triebwerkssektion im Heckteil springen. Bevor ich das tat, schärfte ich eine der beiden handlichen Ultrabomben, die ich in meiner Kampfkombination mitführte. Dann rief ich Ticker zu mir und machte den Schritt.
Ohrenbetäubender Lärm dröhnte durch alle Schutzabschirmungen meines Anzuges, als ich den Zielort erreichte. Ich mußte ganz nah an den wichtigsten Maschinenteilen angekommen sein. Zeit für Überlegungen blieb mir nicht. Ich ließ die Kugel mit der hochbrisanten Ladung in eine Öffnung zu meinen Füßen gleiten und sprang gleichzeitig an den Ausgangsort in der Nebenzentrale zurück. Ticker schoß mit einem Schrei in die Höhe. Im gleichen Moment wurde ich in glühende Flammen gehüllt. Die Aggregate meines Anzuges heulten auf, und ein schriller Warnton zeigte die Überschreitung der Kapazität an. In den sich entfaltenden Gluten konnte ich meine Gegner, vermutlich die zuvor auf der Suche befindlichen Roboter, nicht einmal sehen. Ich sprang aufs Geratewohl durch die nächste Wand in den Nebenraum. Auch hier herrschte nur für Sekunden Stille. Dann erschütterte eine gewaltige Detonation die ARSENALJYK. Meine Bombe im Triebwerksabschnitt hatte gezündet. Die dadurch entstehende Verwirrung sollte mir wieder einen kleinen Vorsprung geben. Vor allem mußte ich Ticker wiederfinden, den ich im Chaos des unvermuteten Überfalls hatte zurücklassen müssen. Der Boden schwankte unter meinen Füßen, weil sich die Zerstörungen für Momente auch auf die künstliche Gravitation des Schiffes auswirkten. Mein Anzug hatte die Attacken aber gut überstanden. Die Aggregate pegelten sich wieder auf normale Werte ein. Ich versuchte mit Mjailams Kraft in die Nebenzentrale zu sehen, aber das Bild war verschwommen. Immer deutlicher spürte ich, daß diese wunderbare Gabe nachließ. Ticker konnte ich nicht entdecken, aber auf einem Bildschirm sah ich, daß sich die ARSENALJYK noch in Richtung der SOL drehen konnte. Und noch etwas sah ich. Die strahlende Wolke Anti‐ES hatte weite Ausläufer gebildet, die wie ein riesiges Rohr mit einem Stempel in der Mitte die SOL unaufhaltsam in Richtung des Schiffes
der Penetranz schoben. Der Partikelstromwerfer feuerte erneut. Die Schutzschirme der voranfliegenden SZ‐2 wurden hinweggefegt. Der folgende Feuerstoß lag jedoch ungenau. Außerdem hatten die Solaner ihr Schiff wohl in letzter Verzweiflung noch ein Stück gewendet. Hinter der glühenden Wolke der Superintelligenz schimmerte nun in tiefem Schwarz der Junk‐Nabel. Der Kampf der SOL gegen die ARSENALJYK neigte sich dem Ende zu. Ich schloß meine richtigen Augen, aber das Bild blieb. Erst Tickers Krächzen riß mich aus diesem Chaos aus Traum und Wirklichkeit. Ich richtete mich auf. Das war kein Traum! Es war die Wirklichkeit! Der Vogel strebte schnell einen Ausgang an, und ich folgte ihm, ohne zu überlegen. Orientieren konnte ich mich nicht mehr, denn Mjailams Kraft war fast versiegt. Durch einen Antigravschacht gelangte ich auf eine andere Ebene. Ticker wies mir den Weg, bis ich vor einer stählernen Wand ankam. Aus dem Gebaren des Adlerähnlichen konnte ich folgern, daß ich diese Wand überwinden sollte. Ich konzentrierte mich ein letztes Mal. So sah ich Energiebahnen und glitzernde Hyperelemente. Das mußte das Herzstück des Partikelstromwerfers sein. Mein Versuch, die Wand zu durchspringen, scheiterte auf halbem Weg. Ich stürzte zu Boden. Ticker kroch zu mir und suchte die Öffnung zu seiner unbequemen Behausung in meinem rechten Hosenbein. Da ich mich schon daran gewöhnt hatte, blind dem Begehren des Adlers nachzugeben, schaltete ich die Schutzschirme kurz ab und ließ ihn hinein. Dabei bemerkte ich, daß ich ohne den Individualschirm etwas besser die restliche Kraft Mjailams nutzen konnte. Vielleicht würde es mir jetzt gelingen, diese letzte Mauer zu durchqueren. Ich schärfte die letzte Bombe, schaltete beide Kombistrahler auf Kurzschluß (was binnen weniger Sekunden zu einer weiteren
Explosion des angestauten Kernplasmas führen würde) und sprang. In der Dunkelheit ließ ich alle Gegenstände fallen und sprang blind erneut. Irgendwohin. * Breckcrown Hayes bewies auch in der höchsten Not, daß er noch Herr der Lage war. Gemeinsam mit SENECA lenkte er die SOL, gab seine Anweisungen an die Piloten und die Stabsspezialisten. Alle Feuerüberfälle waren fast wirkungslos verpufft. Die Explosion in den Haupttriebwerken der ARSENALJYK schrieb der High Sideryt einem günstigen Geschick zu, während SENECA dahinter eine Aktion Atlans vermutete. Beweise dafür gab es nicht, denn von dem Arkoniden fehlte jede Spur. Die Fänge der Superintelligenz trieben die SOL unaufhaltsam in die Schußrichtung der ARSENALJYK. Das Hantelschiff spie Feuer in alle Richtungen, aber eine Wirkung erzielte man nicht. Hayesʹ letzte Hoffnung, der mächtige Wöbbeking, verharrte unverändert in seiner Lethargie. »Atlan ist auf der ARSENALJYK«, behauptete Tyari plötzlich. Sie fand kein Gehör. Den Piloten stand der Schweiß auf der Stirn, denn das Schiff gehorchte den Anweisungen nicht mehr. Langsam drehte sich die kaum noch bewegungsfähige ARSENALJYK. »Keine Reaktionen der Steuertriebwerke«, meldete SENECA. »In wenigen Sekunden liegen wir in der Schußlinie des Partikelstromwerfers.« Bleierne Stille der Niedergeschlagenheit setzte ein. Irgend jemand murmelte etwas, vielleicht ein Gebet. Viele Augenpaare richteten sich auf den Leib der ARSENALYJK, deren Bugwalze nun fast genau auf die SOL zeigte. In der Stille des nahen Todes platzte ein greller Blitz aus dem zentralen Teil der ARSENALJYK, dem sofort eine weitere Explosion
folgte. Für Sekunden begriffen die Menschen nicht, was geschah. Selbst SENECA war verstummt. Die Schutzschirme des gestreckten Raumschiffes flackerten, und Breckcrown Hayes sprang wie von einer Tarantel gestochen aus seinem Sessel auf. »High Sideryt an alle Geschützbatterien!« brüllte er. »Noch einmal alles Feuer auf die ARSENALYJK!« »Nein!« Tyari warf sich auf Hayes. »Damit tötest du Atlan! Widerrufe diesen Befehl!« »Zu spät.« Lyta Kunduran zog Tyari zur Seite, während sich die Energiestrahlen der SOL in den Leib der ARSENALYJK fraßen. Die letzte Phase dieses Kampfes dauerte keine zehn Sekunden, dann wehten von dem riesigen Schiff nur noch Trümmer, Rauch und glühender Staub durch den Raum. 9. »Dieser Tod wäre zu schade für dich!« Die Stimme erinnerte mich an etwas. Ich sah mich um und bemerkte nur Dunkelheit. Die gewaltigen Explosionen waren verklungen. Tickers sanfte Bewegungen, die ich an meinem Bein spürte, waren das einzige reale Zeichen dafür, daß ich noch wirklich lebte. Ich tastete um mich herum und fühlte eine weiche Masse, die mich einschloß. Endlich fand ich den Kontakt meines Helmscheinwerfers. Das Licht fiel auf eine nur Schritte entfernte dunkle Wand. Ich drehte mich um und sah das gleiche Bild. Auch über mir war die gleiche Begrenzung. Ein Blick auf die Anzeigen meines Raumanzugs zeigte mir, daß die Umgebung ohne Schwerkraft war. Wo befand ich mich? Auch der Extrasinn schien ratlos zu sein, denn er schwieg beharrlich.
Ich schaltete mein Armbandfunkgerät ein, aber ich hörte nicht einmal das statische Rauschen. Als ich den Antigrav abschaltete, schwebte ich langsam auf den Mittelpunkt dieses kleinen Kugelraums zu. »Deine Versuche sind völlig sinnlos!« Da war die Stimme wieder. Sie klang überheblich und gehässig. Für Momente hatte ich gehofft, daß der geheimnisvolle C‐RA sich wieder gemeldet hätte, aber dessen Stimme hatte ganz anders geklungen. Ich überprüfte die Atmosphäre. Es war keine da. Also mußte ich Ticker in seiner engen Behausung lassen. Vielleicht hätte er mir helfen können. »Dir kann niemand mehr helfen, Atlan.« Von Mjailams Kräften waren die letzen Spuren verweht. Der Blick über Distanzen und die Fähigkeit, die gesehenen Orte zu erreichen, waren verschwunden. Ich hörte die Stimme lachen. »Du bist mein Trumpf für Anti‐ES. Die Rache an dir wird so vollzogen werden, wie es beschlossen war. Willst du sehen, wie es der SOL ergeht? Du sollst dich an ihrem Untergang laben, Atlan.« Ein bläuliches Dämmerlicht erhellte nun die Umgebung. Irgendwie erinnerte mich das an Asgard, aber der konnte unmöglich hier sein und mit solcher Niedertracht zu mir sprechen. Vielleicht wäre es so gewesen, wenn er noch im Bann der Penetranz … Ich brach den Gedanken ab, denn plötzlich erkannte ich die Wahrheit. Im gleichen Moment meldete sich der Logiksektor. Es bestehen keine Zweifel mehr. Du befindest dich im Innern der Penetranz. Sie muß sich vergrößert haben. Natürlich! Das Produkt von Anti‐ES war nach allem, was ich über es erfahren hatte, praktisch unverwundbar. Es war ein Teil der Superintelligenz, ein Ableger. Die Penetranz hatte selbst den Untergang der ARSENALJYK Überlebt! Es mußte ihr gelungen sein,
mich dort in dem Chaos noch aufzuspüren und in ihrem Körper aufzunehmen. Es war eine Ironie, aber wahrscheinlich verdankte ich diesem Gegner, daß ich überhaupt noch lebte! »Paß auf, Atlan!« Die Wände wurden durchsichtig. Ich konnte in den Weltraum hinausblicken. Die Größenordnungen waren verzerrt, denn die SOL wirkte unnatürlich groß und nah. Da sie aber komplett in ihre Schutzschirme gehüllt war, wußte ich, daß sie den Angriffen der ARSENALJYK doch noch hatte entkommen können. »Was ihr nichts nützt. Dort ist der Nabel. Anti‐ES drängt sich auch ohne ARSENALJYK in die Namenlose Zone. Dir ist dieses gnädige Schicksal nicht vergönnt, Arkonide. Du wirst hier sterben. Aber zuvor sollst du sehen, was geschieht.« Ich streichelte über meine Kombination, wo Ticker saß. Der Vogel, der Tyari und mir so sehr geholfen hatte, war der einzige positive Anhaltspunkt für mich. Helfen konnte er mit seinen Instinkten nun auch nicht mehr, aber er gehörte nicht zu dieser Ausgeburt des Bösen, in der ich nun hockte. »Sieh hin! Er kommt! Es ist etwas zu früh. Wahrscheinlich glaubt dieser Narr, er könnte der SOL noch helfen.« Ich brauchte Sekunden, um mich bei den leicht verzerrten Bildern normal orientieren zu können. Dann bemerkte ich das riesige Ei, das sich der strahlenden Wolke näherte, und wußte daß die Penetranz von Wöbbeking‐NarʹBon sprach. »Das ist nicht sein Name. Er heißt Anti‐ES. Daran ändert auch seine Abtrünnigkeit gegenüber dem Stammleib nichts.« Ich verschloß meine Gedanken, weil mir diese Art der Konservation mit der Penetranz zuwider war. Statt dessen konzentrierte ich mich auf das, was ich sehen konnte. Die Anti‐ES‐Wolke ließ von der SOL ab, als sie den nahenden Wöbbeking bemerkte. Die langen Rauchschwaden rankten sich durch den Raum, dem Riesenei entgegen. Die SOL driftete seitlich ab, verschwand aber nicht. Auf irgendeine Weise schien die
Superintelligenz sie noch festzuhalten. Wöbbeking‐NarʹBon wollte sein Gas ausströmen lassen, um so an Umfang zu wachsen, aber die Wolke drängte alles zurück und begann den matt leuchtenden Körper einzuhüllen. Das Riesenei taumelte. Es überschlug sich mehrmals, während sich die strahlende Wolke immer mehr um ihn legte. »Das Ende des Abtrünnigen ist nah, Atlan. Es bedeutet auch für mich, daß ich wieder in den Stammleib heimkehre. Anti‐ES wird komplett sein. Du wirst die letzte Phase nicht mehr erleben können, denn ich werde dich jetzt töten. Anti‐ES will es so.« Die Transparenz blieb, aber die Wände schnürten sich zusammen, begannen, mich zu zerquetschen. Ich schaltete alle Energien auf die Abwehrschirme, aber das entlockte der Penetranz nur ein neuerliches Lachen von abgrundtiefer Gehässigkeit. Das Aggregat jaulte auf, und Ticker schrie so laut, daß ich es bis in meinen Helm hören konnte. Endgültig aus war der Traum von der Durchführung des Auftrags der Kosmokraten. Ich empfand neben dem Unverständnis für deren Handlungsweise in diesen Sekunden so etwas wie Haß. Die Sinnlosigkeit des ganzen Geschehens um die verbannte Superintelligenz weckte diese Gefühle in mir. Ich würde sterben, ohne zu erfahren, was dieser Ablauf der Ereignisse für einen Sinn gehabt hatte. Ich würde sterben, ohne das Auftauchen des Wesens Parzelle begreifen zu können und ohne zu erfahren, was sich hinter C‐RA oder gar Cara Doz verborgen hatte. Die Suche nach den Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst hatte mich in diese Sackgasse geführt, aus der es keine Umkehr mehr gab. Die Koordinaten waren in diesen Sekunden zu einem bedeutungslosen Nichts geworden, zu einem Phantom, das mich und die SOL in die Irre geführt hatte. Der Druck auf die Schirmfelder wurde stärker. Das Jaulen der Aggregate war so laut, daß ich diese am liebsten abgeschaltet hätte. Aber ich war zu keiner Bewegung mehr fähig. Ticker war
verstummt, vielleicht schon besinnungslos oder gar tot, denn er hockte an einer ungünstigen Stelle. Der Helm schützte meinen Kopf noch so gut, daß ich einen letzten Blick nach draußen werfen konnte. Die SOL stand abseits des eigentlichen Geschehens, aber auch um sie hatte sich eine von Anti‐ ES ausgehende Wolke gelegt, die sie in Richtung des schwarzen Junk‐Nabels schob. Im Innern der strahlenden Wolke zuckten heftige Blitze, die letzten Regungen des einst so mächtigen Wöbbeking. Der Triumph von Anti‐ES wurde auf mentaler Ebene spürbar. Ich vermeinte zugleich das Gejammer seines Gegners, der seinem Körper entstammte, zu hören. Bilder aus der Vergangenheit tauchten vor mir auf, Bilder, die mir Wöbbeking zugespielt hatte. Ich sah mich mit einem Messer etwas aus dem verkleinerten Anti‐ES schneiden – Born, Wöbbekings Urzelle. Ich sah mich fliehen, vergessen und kämpfen. All das wurde nun zur Sinnlosigkeit verdammt. O ihr grausamen und unverständlichen Kosmokraten! Die Aggregate auf meinem Rücken explodierten unter dem Andruck der Penetranz. Ich spürte den Druck und die Hitze, und ich schloß zum zweitenmal an diesem Tag die Augen in der sicheren Erwartung eines Endes, das schon zu lange andauerte. Dann war da plötzlich ein anderer Schrei. Er war wirklich und ganz nah! Es war die widerwärtige Stimme, die schrie! Die Hülle der Penetranz zeriß. Blaue Fetzen strebten nach allen Seiten auseinander und verloren sich im Dunkel des Leeraums. Ich war frei! Mein Raumanzug hielt noch, aber die Aggregate versagten ihren Dienst. Für einige Minuten würde der Sauerstoffvorrat noch ohne künstliche Zirkulation ausreichen. Die SOL war nur ein Lichtschimmer in unendlicher Weite, jetzt, wo ich alles wieder in der natürlichen Größe sah aber die Wolke von Anti‐ES überdeckte fast das gesamte Gesichtsfeld. Sie wirkte noch
mächtiger, und die Gegenwehr Wöbbekings war fast völlig erlahmt. Noch verstand ich nicht, was die plötzliche Wende verursacht hatte. Es kam jetzt nur darauf an, so schnell wie möglich in die SOL zu gelangen, denn die Atemluft wurde schon stickig. Der Vorratsbehälter war abgesprengt worden. Nur dem Umstand, daß sich die Sicherheitsventile geschlossen hatten, verdankte ich noch mein Leben. Mein Funkgerät war ohne Energie, und selbst zur Erzeugung von Lichtsignalen war ich nicht mehr in der Lage. Ein paar Augenblicke wird der Alte wohl noch ohne mich auskommen. Ich glaubte, meine Sinne spielten mir einen Streich. Ich bringe dich erst einmal in Sicherheit, sonst heult sich Tyari noch einen Wasserfall aus dem Leib, der die ganze Hauptzentrale überschwemmt. Die locker in meinem Kopf erklingenden Worte standen in einem so krassen Gegensatz zu meiner Lage, daß ich tatsächlich an meinem Verstand zu zweifeln begann. Aber ich erkannte die Stimme! C‐RA! Im gleichen Moment tauchte vor mir der Kopf von Cara Doz auf. Sie, die immer so verschlossen gewesen war, lächelte mich an. »Cara!« rief ich zutiefst betroffen. »Wie ist das möglich?« Ich bin nicht Cara! Sie verzog das Gesicht zu einem Lachen. »Dann eben C‐RA!« stieß ich hervor und wunderte mich, daß der Sauerstoff so plötzlich wieder frisch und unverbraucht war. »C‐RA?« Diesmal war die Stimme wirklich und vertraut. Sie war leise, aber voller Liebe, auch ein bißchen spitzbübisch. »C‐RA? Nicht schlecht. Was hälst du von Chybrain?« Das Gesicht blähte sich auf. Dann sackte es wieder in sich zusammen, und ich sah das hellgrün und fahlrosa schimmernde Ei mit seinem typischen Sechseckmuster. Chybrain, das Wesen aus Jenseitsmaterie, das Born‐Wöbbeking und mein entführter Extrasinn auf der Basis des Ersten Zählers gezeugt hatten und dem die Quelle der Jenseitsmaterie einen Körper gegeben hatte.
* »Es dürfen keine weiteren Versuche zur Aktivierung der Triebwerke unternommen werden! Die Gefahr ist zu groß, denn wir bewegen uns sowieso nicht von der Stelle. Durch die Überlast entstehen schwere Schäden.« Ich erkannte diese Stimme blind. Sie gehörte SENECA. Aber ich sah und fühlte nichts. »Dann gehen wir eben den Weg in die Namenlose Zone.« Das war Breckcrown Hayes. Er mußte wenige Meter neben mir stehen, denn seine Stimme klang lauter. »Wenn sowieso alles aus ist, dann möchte ich auch sehen, wie sich Anti‐ES Wöbbeking einverleibt.« Uster Brick, durchzuckte mich ein Gedanke. Ich wollte mich bewegen, aber ich hatte keinen Boden unter den Füßen, auch konnte ich nichts ertasten. »Ich spüre Atlans Nähe! Er lebt!« Tyari! Ich öffnete meinen Mund und schrie etwas, aber meine eigene Stimme verhallte in einer unbegreiflichen Leere. Vielleicht habe ich diese Ungeduld von dir geerbt, flüsterte mir Chybrain zu. Es geht nicht alles so schnell und einfach. Und das Ende ist ungewiß. Dein Geist ist schon auf der SOL, aber deinen Körper muß ich erst durch die strahlende Wolke meines Stiefvaters – so muß ich Anti‐ES wohl nennen – bringen. Verrückt, dachte ich und verhielt mich ruhig. Plötzlich verspürte ich einen Sog und stolperte zu Boden. Da war wieder Licht … Tyari! Sie riß mir den Helm vom Kopf und holte Ticker aus seinem engen Gefängnis. Der arme Kerl fiel platt zu Boden, aber sein Brustkorb bewegte sich noch. Ich schob Tyari zur Seite und preßte den Vogel an meinen Oberkörper, wobei ich hoffte, daß etwas von
den Impulsen des Zellaktivators auch auf ihn wirkte. Tyari verstand. Sie war eben eine wundervolle Frau, die in einer solchen Lage auch für meine Handlungsweise Verständnis aufbrachte. Sie wartete geduldig, bis Ticker seine Flügel spreizte und sich aus meinen Armen wand. »Ohne ihn wäre ich nicht mehr hier«, sagte ich. »Und ohne …« Ich brach ab und sah mich um. Von Chybrain gab es hier keine Spur. Erst jetzt – in der vertrauten Umgebung – wurde mir so richtig bewußt, was geschehen war. Chybrain hatte die Penetranz ausgeschaltet. Das hatte mich vor dem sicheren Tod bewahrt. Viel weitreichender aber war sein Bekenntnis, sich hinter der Maske von Cara Doz versteckt zu haben. Er hatte das zwar nicht direkt gesagt, aber sein Verhalten war beredt genug gewesen. Er hatte alle getäuscht, alle hinters Licht geführt. Nicht einmal mein ach so logischer Extrasinn hatte einen Verdacht schöpfen können, da Cara bereits vor Chybrains Verschwinden nach der entscheidenden Auseinandersetzung mit Hidden‐X auf der SOL gewesen war. Wie er das gemacht hatte, würde er wohl kaum verraten, aber daß es so gewesen war, stand nun fest. Ich bekam keine Gelegenheit, weiter über dieses Phänomen nachzudenken, denn Hayes bestürmte mich mit Recht. Draußen tobte der Kampf in der strahlenden Wolke, und die SOL war gefesselt. Sie driftete unaufhaltsam dem Junk‐Nabel entgegen. Man bestürmte mich mit tausend Fragen, nur Tyari schwieg. Und dafür war ich ihr dankbar. »Alle Anzeichen deuten darauf hin«, drängelte Breck, »daß Wöbbeking dem Untergang geweiht ist. Seine Reaktionen werden immer schwächer und seltener. Sternfeuer hat die mentalen Ausstrahlungen des Kampfes aufgenommen. Es besteht kein Zweifel daran, daß Anti‐ES siegen wird. Wir haben zwar die ARSENALJYK vernichten können, aber in die Namenlose Zone will auch niemand.« »Die ARSENALJYK konnte vernichtet werden«, sagte Tyari, »weil
Atlan mit der Kraft des nicht mehr existierenden Mjailam zu ihr hinüberwechselte und dort erst den Hauptantrieb und dann den Partikelstromwerfer zerstörte.« Sie erntete verwunderte Blicke, und schwieg. Es lag mir nicht, in dieser Situation mit Taten zu protzen, die ich eigentlich Mjailam und Ticker zu verdanken hatte. Andererseits fragte ich mich, ob Tyari sich das zusammengereimt hatte oder ob sie meine Gedanken auch manchmal lesen konnte. Ich streifte den nutzlosen Rest meiner Kampfkombination ab. Die verschmorten Stellen und die fehlenden Aggregate bewirkten verwunderte Blicke der Stabsspezialisten und der Mannschaft in der Hauptzentrale. Es ist an der Zeit, daß du etwas sagst, meldete sich der Extrasinn. Es war typisch für ihn, daß er auf das, was mich bewegte, mit keinem Wort direkt einging. Dabei war er eigentlich mehr betroffen als ich. Ich bin du, sagte er nur. Und du bist ich. Das habe ich dir schon einmal gesagt. Sage ihnen, daß der Kampf zwischen Wöbbeking‐NarʹBon und Anti‐ES noch nicht entschieden ist. Ich zögerte einem Moment. Dann warf ich einen Blick auf den Hauptbildschirm. Die strahlende Wolke des Anti‐ES schien sich beruhigt zu haben. Von den ohnehin unbegreiflichen Abwehrmaßnahmen Wöbbekings war nichts mehr zu bemerken. Aber da war etwas anderes. Ein roter Faden spann sich durch das All. Vertrau mir! drängte der Logiksektor. Ich winkte Breck und die Umherstehenden zu mir. »Laßt alle Aktionen sein«, bat ich. »Es geschieht etwas, was in seiner Tragweite unseren Verstand überschreitet. Ihr braucht keine Furcht mehr zu haben. Nicht vor Anti‐ES. Und nicht vor einer unfreiwilligen Verbannung in die Namenlose Zone. Ich habe soeben in den Grundzügen verstanden, was hier geschieht. Eins muß ich gleich sagen. Ich muß den Kosmokraten Abbitte leisten für das, was ich manchmal und insbesondere in den letzten Stunden über sie
gedacht habe.« Sie folgten mir und stellten sich im Halbkreis vor der Panoramagalerie auf. Die ersten Solaner entdeckten den roten Faden, der sich behutsam um die riesige Wolke spann, die Anti‐ES verkörperte. An einigen Stellen schimmerte dieses Band grün. Die Bewegung erschien langsam, aber den erfahrenen Raummenschen war klar, daß sich dieser Faden in Wirklichkeit mit nahezu Lichtgeschwindigkeit bewegen mußte. Bereits drei Schlingen hatten sich um die Wolke gelegt. Jede senkrecht zu den beiden anderen. An den Berührungsstellen wölbte sich die undefinierbare Masse von Anti‐ES etwas ein. »Was ist das?« fragte Lyta Kunduran. Sie sah mich an, denn sie erwartete eine Antwort. Ich zog es vor, zu schweigen und Tyari an mich zu drücken. »Es ist hübsch, nicht wahr?« erklang es in unserem Rücken. Erst drehten sich zwei oder drei Solaner um, dann alle. Am Eingang der Hauptzentrale stand Cara Doz. »Du bist hier?« platzte ich heraus. »Nein«, antwortete sie und kam mit tippelnden Schritten an meine Seite, ohne sich um die Blicke und Äußerungen der anderen zu kümmern. »Ich bin nicht hier. Ich bin da!« Ihr ausgestreckter Finger deutete auf die rot‐grüne Spur, die sich anschickte, die strahlende Wolke zum viertenmal zu umrunden. »Ich bin der Faden«, erklärte sie weiter. »Und an einem solchen Faden hängt auch die SOL, damit sie nicht in den Junk‐Nabel fällt. Ich kann diesen Faden spinnen, denn ich habe alle Kraft über Monate gesammelt, die in euch Menschen steckt.« 10. Wir waren alle nur Zuschauer in dem vermeintlichen letzten Akt des Geschehens. Unser Vertrauen war gewachsen, und ohne Absicht
hatte ich durch meine Äußerungen entscheidend dazu beigetragen. Dabei waren für mich nur zwei Gründe ausschlaggebend gewesen, die Äußerungen des Extrasinns und das Wissen um die Gegenwart Chybrains. Letzterer stand in der Gestalt von Cara Doz neben mir, und zugleich wirkte er dort draußen im Junk‐System in einem Kampf mit, den sich Wöbbeking‐NarʹBon und Anti‐ES lieferten. Ich ahnte, daß er dabei so etwas wie das Zünglein an der Waage spielte, ähnlich wie er es bei der Vernichtung von Hidden‐X auch schon in anderer Form gemacht hatte. Damals hatte sein Versteckspiel begonnen. Ich ahnte auch, daß er nun in der Gestalt seiner Cara‐Maske hier erschienen war, um uns etwas zu sagen oder zu demonstrieren. Zunächst schien es ihm aber nur um den Ausgang der Auseinandersetzung dort draußen zu gehen, denn Cara schwieg. Ihr Gesichtsausdruck war ganz anders als früher. Sie strahlte Zuversicht aus. Auf die Solaner wirkte das beruhigend. Es kehrte eine Gelassenheit ein, die der Situation eigentlich nicht angemessen war. Ich schwieg jedoch und schloß mich den Beobachtungen an. Noch wußte niemand, wer sich hinter Caras Maske verbarg, und ich wollte Chybrain da nicht vorgreifen. Der rot‐grüne Faden, der sich um die Anti‐ES Wolke rollte, war mittlerweile immer schneller geworden. Keiner konnte mehr die Umrandungen zählen. Es entwickelte sich ein regelrechtes Netz, das sich mit zunehmender Dichte immer mehr einschnürte und damit die Wolke verkleinerte. Ich verstand erst gar nicht, die Kräfte zu verstehen, die dort wirkten. Es genügte mir zu erleben, daß mit Chybrain eine Dritte Kraft in das Geschehen eingegriffen hatte, die dem erwarteten Ausgang noch eine Wende geben konnte. Die SOL bewegte sich nicht mehr auf den unverändert vorhandenen Junk‐Nabel zu. Das beschäftigte meine Freunde, denn es wendete den zweiten Schrecken von ihnen ab, den SENECA
genannt hatte. Dabei wurde mir bewußt, daß auch die Biopositronik von dem kleinen Chybrain getäuscht worden war. Wie er das gemacht hatte, die Daten über Cara Doz in SENECA abzuspeichern, würde wohl auch ein Geheimnis bleiben. Mir genügte es zu wissen, daß er das konnte. Und daß er auf der Seite der positiven Kräfte stand. Sternfeuer trat neben mich. »Es ist kein Leben in Cara«, flüsterte sie mir zu. »Ich weiß.« Ich lächelte sie an, denn sie tat mir leid, weil ihr Zwillingsbruder mit Bjo Breiskoll und der Korvette FARTULOON verschollen war. »Sag es noch keinem, sonst verderben wir dem Kleinen den Spaß. Aber Cara war nur eine Maske. Es ist Chybrain. Ich werde ihm den Namen eines kosmischen Schlitzohrs verpassen müssen.« Die Mutantin schwieg, aber ich konnte mir ausmalen, was sie jetzt hoffte, nämlich eine Information über Federspiel. Die Anti‐ES Wolke war mittlerweile weiter geschrumpft. Sie durchmaß noch knapp 30.000 Kilometer und kam damit schon fast in die Größenordnung Wöbbeking‐NarʹBons, wenn dieser sich zu seiner Gaswolke vergrößert hatte. Das anfänglich wirr erscheinende Muster aus Chybrains rot‐grünen Fäden zeigte mehr und mehr eine klare Ordnung. In einigen Abschnitten war schon deutlich zu erkennen, daß das Gitter der Fäden sich zu gleichseitigen Sechsecken verformte. Der Schrumpfungsprozeß ging weiter. Als die Wolke mit ihrem Durchmesser unter 20.000 Kilometer gelangte, atmete Cara‐ Chybrain auf. »Er schafft es«, erklang es aus dem Mund der vermeintlichen Solanerin. »Ihr dürft nicht glauben, daß ich das bewirke. Es ist Wöbbeking‐NarʹBon, und ich helfe ihm nur von außen.« Sie sah mich plötzlich sehr streng an. »Atlan! Um den Erfolg zu haben, muß man nicht nur von innen heraus verteidigen. Man muß auch einen starken Partner haben, der von außen wirkt. Einer, der die dort drohenden Gefahren abwehrt.
Verstehst du das?« Ich antwortete mit einem fragenden Blick. »Es könnte der Erde und der Mächtigkeitsballung von ES, das dir deinen Zellaktivator verliehen hat und das gegen Anti‐ES schon bestehen mußte, einmal so ergehen. Vielleicht ergeht es Terra und deinen Freunden schon jetzt oder sehr bald so, daß sie über die Feinde im Innern die von außen übersehen. ES hat nicht umsonst Perry Rhodan zu dem gemacht, was er ist. Und dennoch hat es dich auch zu einem Unsterblichen gemacht, nicht nur damit dir die Kosmokraten einen Auftrag im Jenseits gaben. Die Zusammenhänge müssen eine tiefere Bedeutung haben, aber die kenne ich nicht. Ich bin nur ein Bastard, ein unerlaubtes Produkt.« Ich zog es vor, auch jetzt zu schweigen. Der Wechsel zwischen launischem Verhalten und ernsten Worten bei Chybrain war eine Sache für sich. Die Anti‐ES‐ Wolke wechselte ihre Farbe. Plötzlich dominierte das typische Grün, das wir erstmals als »Grüne Sichel von NarʹBon« auf dem Planeten Chail erlebt hatten. Wöbbeking triumphierte! Es gab keine Vernichtung, keine Auslöschung des negativen Anti‐ES, der überkommenen Bewußtseinsreste einer ewigen Menschheit. Etwas von dem Geschehen dort draußen griff nach uns allen. Es war keine telepatische Information, es war eher ein sicheres Gefühl. Dort siegte das Gute! Das Positive! Es siegte nicht im eigentlichen Sinn. Es überwand. Der ursprüngliche Plan von Anti‐ES, sich Wöbbeking zur Komplettierung und Stärkung seines Ichs einzuverleiben, kehrte sich ins Gegenteil um. Wöbbeking‐NarʹBon verleibte sich dank Chybrains Hilfe Anti‐ES ein! Erst jetzt spürte ich, wie leise die Freude Wöbbekings war.
* Wir hörten: Ein neues Wesen braucht einen neuen Namen. Die Kette muß logisch bleiben: Born – NarʹBon – Wöbbeking – KING. Ich entleihe diesen Namen mit etwas Humor der Erinnerung meines Partners aus der Vergangenheit, dem Extrasinn Atlans. In seiner Sprache besaß dieser Begriff etwas Doppeldeutiges. Man nannte Herrscher so, die nicht an der Spitze der Hierarchie der Menschen standen. Man nannte aber Menschen so, die etwas Außergewöhnliches leisteten – mit einem Augenzwinkern. Der Kosmos ist voller Wunderlichkeiten und Extreme. Vielleicht bin ich eins davon. Ich bin komplett. Ich beinhalte das, was ihr einmal Anti‐ES genannt habt. Das, was nun nicht mehr existiert, denn es hat sich aufgegeben. Manchmal dauert es eben für menschliche Begriffe sehr lang, bis sich das Positive durchsetzt, erschreckend lang. Nun werdet ihr vielleicht das verstehen, was auch mir ein ewiges Rätsel war, nämlich die wahre Absicht der Kosmokraten. Eine Verbannung hätte Anti‐ES nie geheilt oder verändert. Die Auslöschung eines so mächtigen Wesens wäre eine Versündigung allen Daseins gewesen. Also gingen die Hohen Mächte auf das Begehren von ES ein und schickten Anti‐ES in die Verbannung – für zehn Relativ‐Einheiten unbestimmter Länge. Sie wählten zehn Wesen aus der Namenlosen Zone aus, die die Zähler dieser Zeiten spielen sollten – und doch gingen die Hohen Mächte davon aus, daß etwas wie Anti‐ES nicht eine einzige Periode ohne Widerspruch dulden würde. Ihre Pläne waren ganz anders. Sie verbanden Absichten, die auch ich nicht kenne, die ES, Perry Rhodan und die Terraner betrafen mit der Absicht, Anti‐ES zu KING zu machen. Ich weiß nicht, was Atlan jenseits der wahren Materiequellen erlebte, denn ich entstand erst, als er mich aus Anti‐ES herausschnitt und mir eine eigene Existenz schenkte. Heute sehe ich aber, daß die Hohen Mächte alles durchgedacht haben müssen. Mit meiner Entstehung begann eine
Entwicklung, die zunächst darin mündete, daß Chybrain entstand. Ich habe ihm als Figur in diesem Geschehen nie eine größere Rolle als die eines Störenfrieds und Frechdachses zugemessen. Er ist unreif und vorlaut, eigenwillig und keß. Er hat etwas von dem mitbekommen, was Atlan bei den Menschen gelernt hat – bewußt oder nicht –, aber er bleibt das, was er ist. Atlan würde vielleicht sagen, ein verspielter Teenager mit zuviel Macht und Kraft. Ich danke ihm trotzdem, aber mehr noch muß ich Atlan danken, der allen Anfeindungen zum Trotz über Hidden‐X den Weg zu Anti‐ES gefunden hat und der letztlich die Figur war, die die Weichen im Sinn der Kosmokraten gestellt hat. Du, Atlan, wirst einsehen, daß die Genialität des Planes der Kosmokraten die scheinbare Unlogik nicht nur ersetzt, sondern auch übertrifft. Ich habe soeben Besuch gehabt. Das Wesen nennt sich Parzelle, und er sagt, er sei ein Gesandter Termentiers. Ich habe einen Auftrag empfangen, der sich in anderen Gefilden des Universums erfüllen soll, als denen, in denen sich Solaner, Terraner oder du, Atlan, zu entfalten haben. Ich werde diesem Ruf folgen, denn ich weiß, daß ich ohne die Weitsicht der Kosmokraten nicht in dieser Form existieren würde. Ich nehme an, daß Parzelle ein Bote der Hohen Mächte ist. Sein Ruf ist durchdringend. Ich will ihn befolgen. Atlan, du wirst deine Aufgabe erfüllen, daran zweifle ich nicht. Und du wirst sie erfüllen, auch wenn dir ein paar vertraute Freunde fehlen. Sie gehen freiwillig mit mir. * Ich zuckte zusammen, denn mein erster Gedanke galt Tyari. »Nein«, hörte ich KING. »Sie nicht. Du brauchst sie. Und sie braucht dich. Nichts ist ideal.« »Was willst du dann?« brüllte ich heraus, ohne Rücksicht auf Breck und die anderen Solaner zu nehmen.
»Ich sage es dir«, hörten wir KING, der draußen die Form des ehemaligen Wöbbeking angenommen hatte, jetzt jedoch so hell leuchtete, daß die Sechsecke auf seiner Oberfläche kaum noch auszumachen waren. »Sanny, Kik, Asgard – sie gehören zu mir –, aber auch Twoxl, Argan U und vor allem …« Es platzte aus mir heraus. »Nimm, wen du willst, aber laß mir Nockemann und seinen Blödel!« KING lachte. »Es gehen die mit, die ich brauche. Bei dir bleiben die, die du brauchst.« »Wer also noch?« »Chybrain!« Die unwirkliche Cara‐Figur kniff mir in den Arm und grinste mich frech an. Was das bedeutete, verstand ich nicht. »Ich bin einverstanden, KING«, sagte ich, denn ich sah sein Begehren ein. »Sonst hast du zu Chybrain nichts zu sagen?« »O doch. Er ist ein Lausebengel ersten Grades. Er hat mich gewaltig übers Ohr gehauen. Und ich habe nicht einmal erkannt, daß er als Cara Doz die SOL in den Schlund von Xiinx‐Markant schickte, um mich vor dem geplanten Zugriff durch mein damaliges anderes Ich namens Anti‐ES zu bewahren. Ich freue mich, daß er noch existiert, aber das ist bei seinem Leichtsinn nur eine Frage der Zeit.« »Weiter!« drängte ich. »Ich erwarte noch etwas von dir KING. Du nimmst mir meine besten Freunde, also kann ich von dir auch etwas erwarten.« »Du und die Solaner sind gerettet. Was willst du mehr?« KINGS Stimme klang fast menschlich betreten. »Die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst!« platzte ich bewußt heraus, und jeder Solaner in meiner Nähe konnte es hören. »Die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst.« KING sprach gedehnt, als hätte er es nötig, Zeit zu finden. »Chybrain hat sie an sich genommen, als wir mein nicht mehr existierendes Teil‐Ich
überwanden. Er wird sie dir geben, bevor er mir folgt. Die anderen sind bereits an Bord. Er kann folgen. Er wird es tun. Lebt wohl, Solaner! Vergeßt Terra nicht!« Ich drehte mich zu der Cara‐Figur um, in der Chybrain nun wieder vollständig stecken mußte. »Wie sieht die Sache aus, Sohnemann?« fragte ich lächelnd. Cara wechselte ihre Erscheinung. Sie schmolz zu dem kleinen glitzernden Ei von etwa 18 Zentimetern Höhe und elf Zentimetern Dicke zusammen und erstrahlte in dem typischen Hellgrün und Fahlrot der Jenseitsmaterie. »Ich will euch etwas sagen, dir und den Solanern«, wisperte Chybrain. »Ich denke gar nicht daran, KING zu folgen. Er mag in euren Augen mein Vater oder meine Mutter sein. Oder beides. Aber was ich bin, danach fragt keiner! Und noch eins sage ich euch. Ich rücke diese Koordinaten nicht heraus. Es ist auch mein Verdienst, daß ihr noch existiert.« »Ich verstehe dich nicht«, versuchte ich ihn zu besänftigen. »Das glaube ich dir, Atlan!« Chybrain glitt erregt auf und ab. »Keiner versteht mich. Gut, ich habe die SOL in das Dimensionsloch im Zentrum von Xiinx‐Markant gelenkt. Hat es euch geschadet? Ihr haltet mich für ein glitzerndes Ei aus unbegreiflicher Jenseitsmaterie, aber das bin ich nicht! Ich bin ein Lebewesen wie ihr, wie Hallam oder Lyta, wie Breck oder Atlan, wie Twoxl oder Sternfeuer. Das sieht niemand, nicht einmal KING. Wer hat SENECA die Idee eingegeben, daß Mjailam zum Arsenalplaneten gehen sollte? Wer hat die Jenseitsmaterie so programmiert, daß sie letztlich doch Atlan half? Und damit euch allen. Wer hat den Distanzdehner wirkungslos gemacht? Wer war die wispernde Stimme, die den Plan von Kerness Mylotta verraten hat? Wer hat Sanny und Tyari beeinflußt, damit alles seinen Weg ging und möglichst wenig Menschen zu Schaden kamen? Und dabei habe ich mich stets vor der Entdeckung durch Anti‐ES schützen müssen. Das sind nicht alle Dinge, die ich bewirkt habe. Aber sie reichen aus, um
etwas verlangen zu dürfen.« Ich verstand die Zusammenhänge, aber das zählte in diesem Augenblick wenig. Chybrain tat mir mit einem Mal leid. Mochte er jung und unausgegoren sein, so war sein Schicksal dennoch nicht bestaunenswert. Seine Fähigkeiten, ein Gemenge aus mir und dem damaligen Born, waren für unsere Begriffe phantastisch. Vielleicht war es gerade das, was auch mich hatte übersehen oder vergessen lassen, daß in dem Kerl etwas wohnte, was eine Seele war. »Einer hat es gespürt«, flüsterte Chybrain weiter. »Aber der konnte nichts sagen, und Tyari konnte mit seinen Instinktreaktionen nichts anfangen. Ich spreche von Ticker, um den ich Atlan nur beneiden kann. Er ist der Beweis dafür, daß Einfaches und Natürliches mehr persönlichen Erfolg haben kann als ein Kristallei, das durch Wände geht oder eine perfekte Emotionautin sein kann.« »In Ordnung, Chybrain.« Ich zog das Gespräch an mich. »Du bist ein Teil von mir, aber daß du uns fremd bist, wirst du wohl einsehen. Sage mir die Wünsche, die du hast, und ich werde mein Bestes tun, um sie zu erfüllen. Auch habe ich einen Auftrag, den ich erfüllen will.« »Du weißt mein Verhalten vielleicht zu würdigen, Atlan.« Seine Stimme klang nicht gerade begeistert. »Aber ich gehe meinen Weg. Du kannst ihm folgen, wenn du willst. Der Junk‐Nabel wurde nicht zerstört. Er wird noch einige Zeit erhalten bleiben, nicht lange, vielleicht hundert Tage. Die Solaner haben genug zu tun, um ihre angeschlagene Heimat wieder in einen ordentlichen Zustand zu versetzen. Parzelle hat mein Verhalten nicht gewürdigt, obwohl er wissen müßte, daß ich praktisch unsterblich bin. Wir sehen uns, Atlan, denn du brauchst die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst. Und ich weiß sie.« Er gab mir keine Gelegenheit zur Antwort. Er glitt durch die Wände und verschwand. Die Ortung lieferte ein so deutliches Echo, daß jedem klar war, daß er gesehen werden wollte. Seine Spur zog sich hinaus, und aus der Richtung, die er einschlug, war das Ziel
schon ersichtlich. Keine Minute später verschwand das Echo im Zentrum des Junk‐ Nabels. Chybrain war in die Namenlose Zone gegangen. Ich war überwältigt durch die jüngsten Ereignisse und durch sein Erscheinen und seine Worte. Breck starrte mich an. Er sah alt aus, und ich wahrscheinlich auch. Daran änderte auch Tyari nichts, die einen Arm um meine Hüfte schlang. »Laßt uns die Schäden beheben«, schlug Gallatan Herts vor. »Dann sehen wir weiter.« KING war fort, und wie man mir berichtete, fehlten auch die, die er für sein Gefolge benannt hatte, Sanny, Twoxl, Kik, Asgard und der liebe Argan U. Und mit Bjo Breiskoll, Federspiel und über vier Dutzend Solanern fehlten auch noch Freunde, über die ich nichts erfahren hatte. Chybrain noch einmal zu rufen, war sinnlos. Mit Tyari wandte ich mich dem Ausgang zu. Ich brauchte Ruhe. Ticker, der sich wieder erholt hatte, schloß sich uns an. Er knabberte sanft an meinem Ohr, und er reagierte nicht, als Parzelle plötzlich vor mir stand. »Wir sehen uns noch«, sagte der seltsame Typ. »Gib mir die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst!« verlangte ich spontan. »Du weißt, wer sie hat«, antwortete er kühl. »Und außerdem ist es deine Sache, dich um den Bastard zu kümmern, der genau weiß, daß er ein Fehlprodukt ist.« Die Figur löste sich auf. »Komm!« sagte Tyari, und ich versuchte zu vergessen, was ich erlebt und gehört hatte. ENDE
Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES hat ihren Zweck erfüllt. Beim Entscheidungskampf zwischen Wöbbeking und Anti‐ES entstand KING, ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agieren wird. Für Atlan ist damit die Jagd nach den gesuchten Koordinaten noch längst nicht zu Ende. Er muß in DIE NAMENLOSE ZONE … DIE NAMENLOSE ZONE – so lautet auch der Titel des Atlan‐Bandes 650. Der Roman wurde ebenfalls von Peter Griese verfaßt.