Western-Bestseller Neuauflage der großen Romane des berühmten Autors
G. F. Unger � Frau im Fegefeuer Als das Pferd get...
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Western-Bestseller Neuauflage der großen Romane des berühmten Autors
G. F. Unger � Frau im Fegefeuer Als das Pferd getroffen unter ihr zusammenbricht, weiß Jessica Morgan, dass sie gegen die Horde der ehemaligen schwarzen Sklaven keine Chance mehr hat. Der Tag der Befreiung ist gekommen, und sie wollen ihre Rache. Nach dem Mord an ihrem einstigen Herrn ist nun dessen Frau an der Reihe. Entsetzt starrt Jessica auf die Schwarzen, die sich ihr langsam nähern. Aber dann geschieht das Wunder, an das sie nicht mehr zu glauben wagte. Ihre Verfolger halten plötzlich an. Als Jessica den Kopf dreht, sieht sie fünf Reiter. Weiße in der Uniform ehemaliger Südstaatler. Erleichtert atmet sie auf. Das Fegefeuer ist zu Ende, glaubt sie. Wie soll sie ahnen, dass es noch nicht einmal richtig begonnen hat! Ja, es sind Weiße. Und sie tragen alle die graublaue Uniform der Konföderierten. Im Trab kommen sie angeritten. Jessica atmet langsam aus. »Du lieber Vater im Himmel«, flüstert sie, »ich danke dir!« Sie sieht die Schwarzen – wohl in der Überzahl – zu den Pferden laufen, aufsitzen und davonreiten. Jessica sieht den fünf Reitern entgegen.
Sie halten dann vor ihr und betrachten die Frau wieder. Schließlich sagt einer: »Ma’am, das war wohl ziemlich knapp, wie?« Sie nickt. »O ja, Gentlemen, das kann man wohl sagen, das war sehr knapp.« Sie blicken nach Süden, wo die Horde der Schwarzen nun hinter einer Waldinsel verschwindet. Auch Jessica blickt nach Süden. Und dann sehen sie alle den aufsteigenden Rauch. Einer der Reiter fragt: »Ist das die Pflanzung von Major Morgan?« Sie nickt. »Ja, das ist – nein war – John Morgans Baumwollplantage Aurora. Ich bin, nein, war seine Frau. Er ist tot. Sie haben ihn erschlagen. Und jene, die ihn hassten, weil er sie besonders oft und hart bestrafte, wollten mir Gewalt antun. Nun brennen sie wohl alles nieder. Denn sie sind ja jetzt keine Sklaven mehr, sondern freie Amerikaner. Nun plündern und brennen sie. Ich danke Ihnen, Gentlemen. Wollten Sie zum Major?« Sie nicken, alle mehr oder weniger deutlich erkennbar. »Ja, er war mal unser Kommandeur«, spricht einer. »Und er nahm uns bei seinem Abschied nach seiner schweren Verwundung das Versprechen ab, ihn zu besuchen. Doch das wäre wohl sinnlos, nicht wahr?« »Ja, das wäre sinnlos«, wiederholt sie die Worte des Mannes. »Dort auf der Plantage Aurora herrschen jetzt an die vierhundert frei gewordene Sklaven. Wollen Sie mich mitnehmen, Gentlemen, ganz gleich, wohin Sie reiten?« »Selbstverständlich nehmen wir Sie mit, Ma’am«, sagt der Reiter, welcher offenbar der Anführer ist, und nickt. »Das sind wir unserem Major schuldig.« Erst als sie einige Meilen geritten sind, fragt Jessica: »Wohin reiten wir?« Sie sitzt auf einem der beiden Pferde, die von den
flüchtenden Schwarzen zurückgelassen wurden. Das zweite Tier zieht einer der fünf Exsoldaten an den langen Zügeln mit. Der Mann neben Jessica – er ist zweifellos der Anführer – sieht von seinem ruhig trabenden Pferd zu ihr herüber und lächelt blinkend. Er ist ein hagerer, dunkler Typ mit leuchtend blauen Augen. »Wir wollen heim nach Texas, Ma’am«, erwidert er, »geradewegs zum Mississippi und durch Louisiana heim nach Texas. Ich bin Chet Kehoe. Hinter uns reiten Mitch Sloane, Kelso Skinner, Zane McKay und Vance McGill. Sie werden alle noch besser kennen lernen, Ma’am.« »Sagt einfach Jessica zu mir«, verlangt sie ruhig. »Und betrachtet mich als eine Schwester. Das wäre mir lieb. Ich würde mich freuen, mit fünf Brüdern zu reiten.« Er versteht sofort, was sie ihm mit diesen Worten sagen will. Und wieder lächelt er blinkend. »Ja, sicher, Jessica, das wäre eine gute Basis. Wenn eine schöne Frau mit fünf Männern reitet, die durch den Krieg ziemlich verwilderten, ist es schon gut, wenn keiner bevorzugt wird. Also bleiben Sie nur immer schwesterlich. Das würde jedem von uns helfen.« Sie presst die vollen Lippen zusammen, bis sie einen schmalen Strich bilden. Dabei nickt sie. Er deutet auf ihre Beine, denn diese sind bis weit hinauf zu sehen. Ihre Röcke sind ja zerrissen. »Und zuerst«, sagt er, »werden wir dir etwas zum Anziehen beschaffen müssen, Jessica. Solche Beine können selbst richtige Brüder verrückt machen. Weißt du, wir alle hatten schon sehr lange keine Frau mehr.« Wieder schweigen sie eine Weile. Dann fragt sie: »Was für einen Rang hattest du in der Konföderiertenarmee, Chet?« »Captain«, erwidert er. »Mitch Sloane war Lieutenant. Die drei anderen waren Sergeants. Und wir ritten zwei Jahre unter
dem Befehl deines Mannes. Er war ein wirklich guter Kommandeur.« »Das mag sein«, murmelt sie. Er kann es durch den Hufschlag der Pferde kaum hören. Doch dann fügt sie lauter hinzu: »Er starb auch wie ein Mann. Aber…« Sie bricht ab wie jemand, der im letzten Moment begreift, dass er besser alle Gefühle tief in sich verborgen hält. Denn fast hätte sie gesagt: »… er war zu alt für mich. Ich wurde an ihn verkauft. Und davon, dass er ein guter Kommandeur war, hatte ich nichts.« Aber was geht dies Chet Kehoe an? Sie reiten den ganzen Tag, rasten nur zweimal kurz an Wasserstellen und schaffen an die dreißig Meilen. Jessica hält durch. Sie ist jedoch solche langen Ritte nicht gewöhnt und weiß, dass sie sich wund geritten hat. Als dann die Nacht kommt, da erblicken sie die Lichter einer kleinen Stadt vor sich, aber wahrscheinlich ist es nur eine große Siedlung, kaum mehr als ein Dorf. Sie gelangen auf einen Reit- und Fahrweg, zu welchem ein anderer stößt. Hier steht auch ein Wegweiser. In der Dunkelheit können sie entziffern: »Greenville, 1 Mile.« »Na also«, knurrt einer der fünf Männer. »Das wär’s endlich.« Es ist Vance McGills Stimme, und es ist ein grimmiger Klang in ihr. Sie reiten weiter auf die wenigen Lichter zu, kommen bald durch Felder und Äcker und erreichen schließlich die ersten Häuser. Ja, es ist ein kleiner Ort. Man ist wahrscheinlich schon überall mit dem Abendessen fertig und hat die kleinen Kinder zu Bett gebracht. Nun sitzt man da und dort bei Laternenschein auf der Veranda im Schaukelstuhl. Es ist eine ruhige Nacht, wahrscheinlich die erste warme Nacht für die Jahreszeit hier im Süden, denn die Tage zuvor hat es geregnet und gestürmt.
Sie reiten im Schritt die einzige Straße entlang und erreichen ein Gasthaus, an das sich der Generalstore anschließt. Sie halten an, sitzen ab und binden ihre Pferde an den Haltebalken. Ein dicker Mann tritt aus der Tür auf die Veranda. Eine Laterne unter dem vorgebauten Obergeschoss verbreitet warmes und freundlich wirkendes Licht. Der dicke Mann unter der Laterne verharrt vor dem Eingang. Er hat seine Daumen in die Westentaschen gehängt und wippt leicht. »Aaah«, sagt er, »heimkehrende Soldaten. Wir hörten heute, dass der Krieg endlich beendet ist. General Lee musste sich ergeben. Ihr seid schon verdammt weit weg von der Virginiaarmee, nicht wahr? Seid ihr vielleicht schon vorher abgehauen?« Die fünf Exsoldaten schweigen zu diesen Worten, aber Jessica hört ihre gepressten Atemzüge, und sie weiß, dass sie sich nur mit Mühe beherrschen. Dann sagt Chet Kehoe ruhig: »Wir bleiben über Nacht. Die Lady bekommt ein Einzelzimmer. Wir möchten unsere Pferde versorgen und im Store einige Einkäufe machen, besonders für die Lady. Oder sind Sie für den Store nicht zuständig?« »Doch«, erwidert der dicke Mann und wippt immer noch auf den Sohlen. »Mir gehört hier alles, fast der ganze Ort. Und ich bin auch hier der Bürgermeister. Doch in mein Hotel lasse ich keine verlausten Soldaten. Ihr habt doch alle Läuse und Flöhe. Die habe ich dann in meinen Betten. Ihr könnt in der Scheune übernachten. Habt ihr für die Einkäufe im Store überhaupt Geld? Ich meine nicht das Geld der Konföderation. Dies wird jetzt ungültig. Jetzt muss man mit Yankeedollars zahlen. Habt ihr welche?« Die drei letzten Worte klingen gierig. Und wieder schweigen die fünf Exsoldaten, atmen nur gepresst.
Jessica aber sagt: »Ich habe einige wertvolle Ringe an meinen Fingern. Wir werden uns gewiss einig, Mister.« Der dicke Mann zögert. Dann ruft er über die Schulter ins Haus hinein: »Sally, geh in die Küche und mache ein Abendessen für sechs Personen. Ich öffne noch mal den Store. Wir haben Gäste und Kunden.« *** Chet Kehoe begleitet sie in den Store. Die anderen Männer bringen die Pferde in den Hof und versorgen diese. Als im Store die beiden Karbidlampen brennen, da fragt der dicke Mann gierig: »Nun, wo sind die Ringe? Ich möchte sie erst sehen und taxieren. Zeigen Sie her, Ma’am!« Jessica hebt die Hände. An ihren Fingern sind drei Ringe – der goldene Ehering, ein Rubin mit drei Brillanten und ein Saphir, der von einem Brillantenkranz eingerahmt wird. Ja, es sind wertvolle Ringe. John Morgan wünschte sich, dass sie diese Ringe trug. Denn es gehörte zu seinem Stolz auf seinen Besitz, zu dem sie ja als schöne und junge Frau auch gehörte. »Na los, her damit«, verlangt der Dicke. Und er greift nach Jessicas Händen, will ihr die Ringe von den Fingern ziehen. Aber da hat Chet Kehoe plötzlich seinen Colt in der Hand und schlägt zu. Es ist ein erbarmungsloser Hieb, geführt von einem grimmigen und verbitterten Mann, der in den letzten Minuten schon mehr als eine Kröte schlucken musste. Der Dicke geht zu Boden und rührt sich nicht mehr. »Schwester«, sagte Chet Kehoe, »nun hast du die freie Wahl. Dort drüben liegt die Ware in den Regalen – und da hängen auch die Kleider und Anzüge. Ich glaube, du solltest dich gut ausrüsten. Auch wir werden das tun. Du hast ja vorhin gehört, dass alle Soldaten Läuse und Flöhe haben. Wahrscheinlich ist das auch so. Und so werden wir nicht länger
mit unseren Uniformen reiten.« Jessica sieht ihn einige Sekunden lang schweigend an. Und sie erkennt in seinen Augen, dass Chet Kehoe jetzt entschlossen ist, sich alles zu nehmen, ohne zu bezahlen. Er will nicht, dass sie ihre kostbaren Ringe für einen lächerlichen Schätzpreis hergibt. Der Dicke hat sie als heimkehrende Soldaten schlimm beleidigt. Sie nickt nach einigen Atemzügen. »Richtig, Chet«, spricht sie ruhig. »Ihr seid heimkehrende Soldaten, die für den Süden fünf lange Jahre alles gegeben haben, was Soldaten nur geben konnten. Und ich habe alles verloren bis auf die drei Ringe, die der Dicke da mir gewiss für einen lächerlichen Gegenwert an Waren abnehmen wollte. Wir sollten wirklich besser behandelt werden. Verdammt, wir wollen uns nicht länger herumstoßen lassen. Das muss ein Ende haben.« »So ist es«, spricht er ruhig. »Yankeedollars wollte er haben. Woher sollten wir wohl jetzt schon Yankeedollars bekommen? Wir müssten sie uns wohl wie Banditen erbeuten – oder?« Eine knappe Stunde später sitzen sie beim Abendessen. Die Frau des Wirtes und Storehalters bedient sie schweigend. Ihr Mann sitzt stöhnend in der Küche und kühlt sich die aufgeplatzte Beule an seinem Kopf mit einem nassen Tuch. Einmal hören sie ihn aus der Küche rufen: »Ihr seid Banditen, verdammte Banditen! Wahrscheinlich seid ihr schon vor Kriegsende desertiert. General Lee musste kapitulieren, weil Tausende von euch Banditen ihn im Stich ließen!« Sie hören ihn also auf diese Art seinen ganzen Frust herauskreischen. Vance McGill sieht Chet Kehoe an und fragt: »Soll ich in die Küche gehen und ihn noch mal klein machen?« »Bitte nicht«, sagt da die Frau, die mit der Kaffeekanne aus der Küche kommt und diese auf den Tisch stellt. »Bitte nicht. Ich weiß ja, er ist ein geldgieriger Mann, der stets viel Gewinn
herausschlagen will. Lasst ihn doch brüllen. Ihr habt unser Dorf in eurer Gewalt. Er kann euch nichts tun. Niemand würde ihm helfen! Denn er ist zu allen Leuten so hart. Er hat geschworen, seine Waren nur noch gegen Yankeedollars zu verkaufen oder gegen Wertsachen zu tauschen. Das ist seine Krämerseele. Er kann nicht anders.« Sie spricht leise und ruhig, und sie ist gewiss eine Frau, welche in dieser Ehe wie eine Sklavin geduldig alles erträgt. Sie schweigen und essen. Manchmal richten sie ihre Blicke auf Jessica. Diese wirkt verändert. Man könnte sie in ihrem Cordanzug für einen jungen Burschen halten, dem der Anzug etwas zu groß ist. Nur ihr dunkelrotes Haar verrät sie auf den ersten Blick als Frau. Sie hat sich aber im Store auch mit anderen Kleidungsstücken ausgerüstet, auch mit Wäsche. Sie wird dies alles in einer großen Sattelrolle und zwei prallen Packtaschen mitnehmen. Auch die fünf Männer waren nicht zimperlich und nahmen sich, was sie brauchten. Es ist wohl so, dass sie nun Banditen wurden, wenn auch aus gewiss nicht unverständlichen Gründen. Ja, der kleine Ort ist in ihrer Gewalt. Es gibt hier nur einige alte Männer und ein paar halbwüchsige Burschen. Alle anderen Männer dieses Ortes sind noch bei der Armee, in Gefangenschaft – oder tot. Überall im Ort erloschen die Lichter, ist es nun dunkel. Sie essen sich satt bis zum Platzen – jedenfalls drückt Kelso Skinner sich so aus. Dann aber erheben sie sich. Ihre Pferde, die sie ja vor dem Abendessen schon mit gutem Futter versorgt haben, stehen vor der Tür. Denn sie wollen nicht bis zum Morgen in Greenville bleiben. Chet Kehoe greift in die Tasche und holt einen Packen Papiergeld heraus. Es ist Konföderiertengeld. Er wirft es auf den Tisch zwischen das nun leere Geschirr. Er sieht die Frau
an, die aus der Küche kam. Kehoe sagt ruhig: »Dies ist das Geld des Südens. Vielleicht ist es doch nicht ganz wertlos, wenn die Yankees es eins zu zehn umtauschen. Tut uns Leid, Ma’am. Aber wir wollen nicht ganz die Verlierer sein. Gehen wir!« Die letzten zwei Worte klingen fast wie ein Kommando. Wenig später reiten sie aus dem Ort. Die gellende Stimme des Dicken ruft ihnen durch die Nacht hinterher: »Ihr verdammten Banditen! Eines Tages wird man euch hängen! Ihr verlausten Mistkerle, euer Weg wird euch von hier aus direkt in die Hölle führen!« Sie erwidern nichts, reiten ruhig im Schritt aus dem Ort. Erst draußen sagt Kehoe laut genug, dass sie es alle hören können: »Von unserer Sorte wird es bald Tausende geben im ganzen Süden. Und jeder von ihnen wird um sein Leben kämpfen wie ein Schwimmer in einem reißenden Strom. Ich sage euch, wenn wir schon Banditen werden sollten, dann nur im Zusammenhang mit einem ganz besonders großen Coup. Mit Hühnerfutter werden wir uns nicht begnügen!« »Richtig«, pflichtet ihm Mitch Sloane bei. »So soll es sein«, grollt Kelso Skinner. »Also werden wir letztlich doch keine Verlierer bleiben«, sagt Zane McKay und lacht. »Daheim in Texas ist gewiss alles anders«, meldet sich Vance McGills Stimme zuletzt. »He, denkt mal nach, Jungs. Die Yanks werden ihre Yankeedollars eines Tages auch in den besiegten Süden bringen müssen, schon allein deshalb, weil gewisse Spekulanten den halben Süden für einen Apfel und ein Ei aufzukaufen versuchen werden. Solch einen Geldtransport müssten wir erwischen. Dann kämen wir letztlich doch noch zu einem Sieg über die Yanks – oder?« Sie brummen und knurren Zustimmung. Mitch Sloane sagt für alle: »Ja, das wäre was. Das könnte uns mächtig gefallen, nicht wahr?«
* * * � Am 27. April 1865 erreichen sie bei einer kleinen Stadt endlich den Mississippi. Eine Fähre verkehrt hier. Sie halten am Ufer. Mitch fragt: »Ist dort drüben Louisiana oder Arkansas? Weiß das einer?« Sie überlegen. Dann können sie auf der Fähre, welche von der anderen Seite kommt, den Namen Arkansas Queen lesen. »Also Arkansas«, murrt Skinner. »Ich hätte gedacht, wir wären weiter südlich. Na gut, es ist mir wurscht, ob ich durch Arkansas oder Louisiana nach Texas reite, es ist mir wirklich und wahrhaftig scheißegal.« Er verstummt grimmig. Dann blicken sie zu den Häusern der kleinen Stadt. Es sind nur noch wenige Dutzend Yards bis dorthin, auch bis zur Landebrücke. Ihre Blicke richten sich nun auf Jessica. Es sind fragende Blicke. Und so schluckt sie erst einige Male mühsam und sagt schließlich: »Nun trennen sich unsere Wege. Ihr wart wirklich wie gute Brüder zu mir. Ich danke euch. Doch ich denke, ich kann jetzt hier am großen Strom selbst für mich sorgen. Hier werde ich für meine Ringe einen besseren Gegenwert bekommen als in Greenville. Ich werde mich als Lady ausstatten und mir an Bord eines Saloondampfers einen reichen Yankee suchen, den ich ausplündern kann. Lebt wohl, meine Freunde. Es tat gut, mit euch zu reiten! Aber von nun an braucht ihr euch nicht mehr um mich zu kümmern. Denn ich werde es leichter haben als ihr. Ich kann als schöne Lady gewiss reiche Beute machen, und es muss ja nicht sofort sein.
Für meine Ringe bekomme ich mehr als nur tausend Dollar. Soll ich mit euch teilen?« Sie begreifen, dass ihr Angebot ernst gemeint ist. Aber sie schütteln wie auf Kommando die Köpfe. »Viel Glück«, spricht Chet Kehoe für alle. »Dann lasst mir einen Vorsprung von einer halben Stunde«, verlangt sie. »Ich möchte hier als schutzbedürftige Witwe auftreten, die mit knapper Not ihren wild gewordenen Sklaven entkommen konnte.« Mit diesen Worten reitet sie an. Die fünf Reiter blicken ihr wortlos nach. Dann murmelt Kelso Skinner: »Und jeder von uns hätte sie gerne unter seiner Decke gehabt, nicht wahr? Wir haben nicht mal genug Geld für einen Bordellbesuch. Ob die Mädchen im Hurenhaus jetzt auch nur Yankeedollars nehmen?« Sie brummen nur grimmig als Antwort. Dann sitzen sie ab und sehen Jessica in die Stadt reiten. Wenig später legt die Fähre an. Chet sagt: »Wir haben nicht mehr genügend Geld für die Fähre. Oder traut ihr euch zu, mit euren Pferden hinüberzuschwimmen? Ha, der Strom ist hier fast eine Meile breit. Wir müssen Geld beschaffen. Glaubt ihr, dass wir für das überzählige Pferd mehr als zwanzig Dollar bekommen?« Sie schweigen eine Weile nach Chets Worten. Dann grinst der blonde, etwas schrägäugige Zane McKay und sagt: »Wenn wir unser überzähliges Pferd verkauft haben, werde ich in einer Spielhalle den Verkaufserlös verzehnfachen, das verspreche ich euch. Ihr wisst doch alle, dass ich beim Black Jack nicht zu schlagen bin. Habe ich euch nicht oft genug den ganzen Monatssold abgenommen, hahaha?« »Weil wir dir deine Kartenkunststücke nicht übel nahmen«, grollt Vance McGill, dem man ansieht, dass er zumindest zu einem Achtel ein Comanche ist, wenn nicht gar zu einem Viertel.
Zane McKay will zornig protestieren, doch Kelso Skinner sagt schnell: »Da verschwindet unser Augenstern in der Stadt. Ob sie Glück haben wird?« Sie alle blicken zu den Häusern hinüber. Sie können ein langes Stück die Straße am Fluss entlang sehen bis zu einer leichten Biegung. Es ist noch früher Mittag. Mitch Sloane sagt böse: »Wir sollten einen reichen Yankee ausplündern und dann höllisch schnell nach Texas verschwinden. Na, los, reiten wir in die Stadt und sehen wir uns um. Ich wette, die ersten Yanks sind schon da. Denn die waren in den Expresskutschen schneller als wir. Los, suchen wir uns einen reichen Yankee, der mit seinen Dollars unterwegs ist, um den armen Süden aufzukaufen.« Sie grinsen nun allesamt, aber wahrscheinlich nehmen sie Mitch Sloanes Worte nicht besonders ernst. »Ja, das wäre etwas«, lacht Kelso. Dann reiten sie in die Stadt und sie sehen durchaus nicht wie Satteltramps aus. Denn sie haben sich ja gut eingekleidet für Konföderiertengeld. Man sieht ihnen nicht an, wie sehr sie auf Beute aus sind, sondern traut ihnen zu, dass sie mehr als nur ein paar Dollars in der Tasche haben. *** Auch Jessica reitet in die kleine Stadt am großen Mississippi, die Hope heißt, was ja Hoffnung bedeutet. Auch sie will Beute machen. Dazu ist sie fest entschlossen, denn schließlich hat sie alles verloren, konnte nur das nackte Leben retten. Ihrer Meinung nach ist das Schicksal ihr nun eine Menge schuldig. Sie weiß, dass sie ihre Ringe zu Geld machen muss, zu guten Yankeedollars. Denn ohne Geld würde sie nur abhängig sein. Es ist eine lebendige Stadt am großen Strom. Es gibt
mehrere Landebrücken von verschiedenen Reedereien und Schiffsgesellschaften, auch große Lagerhäuser, dazwischen jedoch Geschäfte, Wohnhäuser, Büros – und natürlich auch Hotels und Saloons. Dann endlich erblickt sie eine Bank. Hier stehen einige noble Kutschen mit edlen Gespannen. Auch livrierte Kutscher warten, zumeist Schwarze, die zwar keine Sklaven mehr sind, aber nun für Lohn und Unterkunft ihren einstigen Herren immer noch dienen. Jessica hält an, sitzt ab, bindet ihr Pferd neben andere Tiere an die Haltestange und geht hinein, ganz und gar wie eine stolze Herrin, deren Mann einst vierhundert Sklaven besaß und in deren Herrenhaus manchmal sogar der Gouverneur verkehrte. Ja, dieses Auftreten hat sie von Kind an eingeimpft bekommen, denn schon ihre Mutter redete ihr immer wieder ein: »Jessica, der Wert einer Lady steigt mit ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit. Eine Lady muss sich stets gut verkaufen, damit sie einem edlen und kostbaren Schmuckstück gleicht.« Sie geht also hinein, trägt zwar immer noch den Cordanzug, doch sie schüttelt ihr rotes Haar auseinander und setzt sich dann den schwarzen Hut wieder auf, unter dem das Haar hervorquillt und bis tief unter die Schulter fällt. Ja, nun ist sie als Frau sofort zu erkennen. Und da ihr der Cordanzug nicht knapp, sondern reichlich sitzt, wirkt sie durchaus seriös. Ihre Reitstiefel klappern mit Sporengeklingel auf dem Steinboden der Bank. Es sind kurze und schnelle Schritte. An den Schaltern stehen wartende Männer, die sich nun wie auf Kommando zu ihr umwenden, wie alarmiert durch den schnellen Schritt mit dem melodischen Sporengeklingel. Ja, sie staunen alle. Jessica Morgan aber will es kurz machen, nicht lange herumtändeln.
Sie sieht auch sofort, dass in diesem Raum keine armseligen Burschen versammelt sind. Am Kassenschalter stehen drei Gentlemen, um sich Geld auszahlen zu lassen. Auf die hat es Jessica abgesehen. Doch hinter der Barriere, wo drei andere Bankangestellte sitzen, gibt es noch eine Tür, auf welcher zu lesen ist, dass sie zum Direktor führt. Diese Tür öffnet sich. Zwei Männer treten heraus. Wahrscheinlich handelt es sich um den Direktor und einen bevorzugten Kunden. Jessica hebt ihre Hände, an deren Finger die Ringe blinken. »Gentlemen, bitte hören Sie mich an«, beginnt sie. Sie erhält sofort die Aufmerksamkeit aller, und so spricht sie weiter: »Mein Name ist Jessica Morgan. Ich verlor meinen Mann und den ganzen Besitz, zu dem vierhundert Sklaven gehörten. Ich konnte mich mit knapper Not retten. Nun besitze ich nichts außer den Ringen an meinen Fingern. Es sind kostbare Ringe. Ich möchte sie für tausend Unionsdollar verkaufen. Sie waren einst das Vielfache wert, und jeder Käufer macht ein gutes Geschäft. Hat jemand der Gentlemen Interesse?« Es herrscht erst eine ganze Weile Schweigen. Mehr als zwei Dutzend Augenpaare starren sie an. Doch sie wirkt nicht wie eine Bettlerin oder bittende Hausiererin – nein, sie wirkt wie eine stolze Lady, die kühl einigen Leuten ein Geschäft vorschlägt. Man glaubt ihr, dass sie einst die Herrin auf einer großen Plantage war. Einer der Männer – er hält noch den Packen neuer Geldscheine in der Hand, die ihm der Kassierer soeben aushändigte – bewegt sich endlich und tritt näher. »Ma’am«, sagt er höflich, »darf ich mal sehen?« Sie hält ihm ihre Hand hin. Er fasst diese an den Fingerspitzen und sagt leise: »Verzeihen Sie mir. Ich zweifle nicht an Ihren Worten, aber…« »Schon gut, Mister«, unterbricht sie ihn. »Sie würden einen
sehr vorteilhaften Kauf machen – etwa zu einem Zehntel ihres Wertes.« »Das glaube ich«, spricht der Mann nach einem kurzen Blick auf die Ringe. »Ich würde Ihnen achthundert Dollar geben können, Lady – neues Geld der Union.« »Nein«, erwidert sie kühl. »Unter tausend gebe ich die Ringe nicht her.« Nun drängen die anderen Männer heran. Sie hält ihnen die Hände hin, so als wüsste sie genau, dass die Ringe an ihren Fingern viel prächtiger wirken. Und so ist es wahrhaftig. Denn ihre Hände sind wunderschön. Es sind die Hände einer Lady, wenn jetzt auch etwas mitgenommen vom langen Reiten und den Nächten unter freiem Himmel. »Ich komme aus Alabama und war länger als zwei Wochen im Sattel unterwegs«, sagt sie ruhig. Nun beginnen sie alle zu bieten. Ja, es findet jetzt tatsächlich eine Versteigerung statt. Und dies hat sie insgeheim erhofft bei ihrem Eintreten in die noble Mississippi-Bank. Als die Gebote auf zweitausendeinhundert Dollar gestiegen sind, tritt der Mann, welcher aus dem Office des Direktors kam, durch die Pforte der Barriere, die ihm einer der Bankangestellten aufhält. Der Mann mit dem eleganten Anzug wirkt imposant und beachtlich, ganz und gar wie ein erfolgreicher Boss. Ein Mann mit harten Lippen und kühlen Augen. Er hält einen Spazierstock mit einem silbernen Knauf in der Hand und schiebt damit zwei Männer rechts und links zur Seite, sodass auch er zu Jessica treten kann. Doch er blickt nicht auf die Ringe an ihren Händen, sondern fest in ihre Augen. »Dreitausend Dollar, Mrs Morgan«, spricht er lächelnd. »Ich übernehme die Ringe für dreitausend Dollar und gewähre ihnen ein Rückkaufsrecht zum gleichen Preis innerhalb eines Jahres. Gut so?«
»Das ist fair.« Sie lächelte zu ihm empor, denn er ist mehr als einen Kopf größer als sie. »Das ist fair, Mister.« »Mein Name ist Earl Simmons«, stellt er sich vor. »Kommen Sie, Mrs Morgan. So war doch Ihr Name?« Er bietet ihr seinen Arm und führt sie hinaus. Draußen sagt sie. »Da steht mein Pferd. Ich muss es noch…« »Einer meiner Leute wird sich darum kümmern«, unterbricht er sie. »Und um Sie werde ich mich kümmern. Gewiss möchten Sie zuerst ein Bad. Vertrauen Sie sich mir nur an. Wissen Sie, ich bin ein Verehrer aller schönen Dinge – auch der Künste. Und zu den schönen Dingen auf unserer Erde gehören ganz besonders die schönen Frauen. Ich freue mich, Ihnen ein wenig hilfreich sein zu dürfen.« Und so geht die schöne Jessica also an seinem Arm zum Hope Hotel. In ihr ist ein Triumph, denn sie glaubt nun fest, dass ihre Pechsträhne beendet ist. Aber das war ja eigentlich schon der Fall, als sie auf die fünf Exsoldaten der Konföderation traf. Oder doch nicht? *** Es ist schon nach Mitternacht, als die fünf Männer außerhalb der Stadt am Feuer dicht am Ufer des Stromes sitzen. Sie sind denkbar schlechtester Stimmung, und das hat seinen Grund. Denn zwar konnten sie ihr überzähliges Pferd für fünfzehn Yankeedollar verkaufen, doch Zane McKay verlor sie glatt beim Black Jack. Vance McGill sagt schließlich böse: »Zane, du bist ein verdammt dämlicher Arsch. Du hast dich wohl von der Kartenausteilerin hypnotisieren lassen – oder? Noch niemals habe ich einen Narren so schnell beim Black Jack sein Geld verlieren sehen.«
»Ja, diese Schnepfe muss ihn verzaubert haben«, murrt auch Kelso Skinner. »Die beugte sich beim Kartengeben immer so weit über den Tisch, dass er ihre Möpse sehen konnte. Da hat er wohl seinen Verstand verloren. Zane, du warst eine Niete, verdammt.« Sie wollen sich nun in ihre Decken rollen. Aber da sagt Mitch Sloane: »Zwei von uns sollten noch mal in die Stadt gehen und einem Yankee auflauern. Da waren doch einige in der Spielhalle mit dicken Brieftaschen. He, Zane, kommst du mit?« »Sicher«, erwidert Zane und erhebt sich sofort. Doch da hören sie jemanden kommen. Als der Besucher dann zu ihnen ans Feuer tritt, sehen sie, dass es eine Besucherin ist, nämlich Jessica Morgan, die schöne Witwe, mit der sie zwei Wochen lang ritten wie Brüder mit einer Schwester. »Hey, meine Brüder«, spricht sie und sie hat sich äußerlich total verändert. Sie trägt nun ein flaschengrünes, elegantes Reisekostüm. Sie tritt näher zu ihnen ans Fenster. Vance bietet ihr den Holzklotz als Sitz an, den er bis jetzt für sich beanspruchte, nachdem er ihn vom Fluss herauf geschleppt hatte. Sie nimmt Platz und sagt: »Ich machte ein gutes Geschäft und kann euch fünfzehnhundert Dollar abgeben – genau die Hälfte meiner Einnahmen für die Ringe. Und ich kann euch auch verraten, wie und wo ihr den großen Coup landen könnt. Es geht um mehr als zweihunderttausend Dollar, nagelneues Yankeegeld, frisch gedruckt auf sauberem Papier – also nicht schwer und in einigen Satteltaschen zu transportieren. Ihr könnt es einem Yankee wegnehmen, der während des Krieges reich wurde und nun mit einem Steuereintreiber zusammen nach Texas will. Dort wird er im Fahrwasser des mit ihm zusammenarbeitenden Steuereintreibers bei Versteigerungen mächtig zuschlagen. Er sagt, dass Landkäufe in Texas einen
riesigen Gewinn bringen, weil es für die Texasrinder schon bald Absatzmärkte geben würde. Im Osten bestünden nun überall große Fleisch- oder Konservenfabriken. Man hat Kühlsysteme erfunden, diese in Seeschiffe eingebaut und kann bald schon Hunderttausende von Rinderhälften nach Europa transportieren. Aber die Basis ist das Land mit den darauf stehenden Rindern, die heute noch wertlos sind. Habt ihr das alles begriffen?« Sie denken über ihre Worte nach. Dann nicken sie. Chet Kehoe sagt: »So ist das immer. Manche Geschäftemacher werden im Krieg reich, die anderen nachher. Man muss nur schlau und rücksichtslos genug sein, und wir waren die Deppen. Wir kämpften um Ruhm und Ehre und für den glorreichen Süden. Hat einer von euch jemals einen Sklaven besessen? Warum eigentlich kämpften wir für die Sklavenhalter? Wir waren doch Rindermänner und Pferdezüchter. Auf meiner kleinen Ranch hatte ich zwei mexikanische Vaqueros als Helfer. Aber…« Er verstummt hilflos. Aber das sind sie wohl alle tief in ihrem Kern. Dann aber spricht Vance das einzige Wort, das alles erklärt. »Texas!« Er ruft es stolz und zornig zugleich. »Verdammt, es war wegen Texas! Denn Texas gehört zum Süden. Immer noch! Konnten wir abseits stehen?« Sie schütteln die Köpfe. Dann aber blicken sie wieder auf Jessica, die auf dem Holzklotz sitzt wie eine Königin. Ja, sie ist schön. Jetzt sehen sie es so richtig. Sie hat sich geschickt zurechtgemacht auf eine sehr seriöse Art, wie es nur echte gebildete Ladys können, an die sich dann nur Männer mit besonderem Niveau heranwagen und bei denen jede andere Sorte sich nur blamieren würde. »Schwesterchen«, kichert Vance, »erzähl uns über diesen
reichen Yankee, der halb Texas aufkaufen möchte. Hast du ihn am Ende verzaubert mit deiner Schönheit? Frisst er dir schon aus der Hand?« »Gewiss nicht.« Sie lächelt. »Aber er hofft natürlich, dass er mich bekommen kann. Und nun passt gut auf. Die Postkutsche setzt morgen über – gleich am frühen Morgen. Er hat zwei Revolvermänner als Beschützer dabei. Auch der Steuereintreiber, der in der gleichen Kutsche fährt, hat zwei Begleiter. Ich werde der siebente Fahrgast in der neunsitzigen Kutsche sein. Glaubt ihr, dass ihr ihm den großen Koffer mit dem Geld abnehmen könnt? Und bekomme ich dann ein Sechstel? Dann könntet ihr mir auch die fünfzehnhundert Dollar zurückgeben, die ich euch jetzt überlasse. Ihr müsst euch heute noch ausrüsten und auf den Weg machen. Für gutes Geld bringt euch gewiss jemand über den Strom.« Als sie endet, schweigen sie eine Weile. Dann spricht Chet Kehoe ruhig: »Also, dann machen wir mal einen genauen Plan. Und über eines müssen wir uns klar werden, Jungs. Wir dürfen nach dem Coup nicht zusammenbleiben, denn der Steuereintreiber wird auch die Besatzungstruppe alarmieren. Man wird uns überall suchen und nach fünf Reitern Ausschau halten. Aber einzeln wird jeder von uns durchkommen.« »Und die Beute?« Vance McGill schnappt diese Worte gierig. Sie alle sehen ihren Anführer Chet Kehoe grinsen. »Die Beute«, erwidert er dann kehlig, »nun, die Beute wird Jessica für uns in Sicherheit bringen in der gleichen Kutsche und in ihrem Koffer. Wir müssen nur den Ort und die Zeit ausmachen, wo wir alle wieder zusammenkommen. Es ist ganz einfach, weil Jessica unsere Schwester ist und wir ihr vertrauen. Ja, es ist ganz einfach. Sie bringt die Beute durch – und wir trennen uns für eine Weile.«
* * * � Es ist früher Morgen, und über dem mächtigen Strom, der wichtigsten Lebensader dieses Kontinents, liegen noch die Nebel, als die Kutsche auf die Fähre fährt. Jessica sitzt neben Earl Simmons, denn dieser versprach ihr, dass er halb Texas erobern würde und sie dann als Königin seines Reiches sein schönster Siegespreis wäre. Sie nahm seine Einladung an, so als wäre sie eine Frau, der er mit seinem offensichtlichen Reichtum imponieren und die sich ein Leben in Luxus an seiner Seite gut vorstellen könnte. Sie ließ ihn spüren, dass sie durchaus bereit wäre, mit ihrem Körper dafür zu bezahlen, wenn er ihr nur etwas Zeit ließe, sich an ihn zu gewöhnen und ihren lieben Mann, den die Sklaven erschlugen, zu vergessen. Sie log ihm auch vor, dass er sie sehr an ihren Mann erinnerte und ihr das gewiss helfen würde, über den herben Verlust hinwegzukommen. Nun, die Kutsche setzt also im noch grauen Morgen auf der Fähre über den mächtigen Strom. Die beiden anderen Fahrgäste außer Jessica und den sechs Männern sind Frauen. Eine ist offenbar eine Offiziersfrau, die zu der Garnison will, in der ihr Mann als Major der Besatzungsarmee stationiert ist. Jessica blickt dann zur Seite auf die andere Frau. Ihre Menschenkenntnis ist noch nicht besonders groß, aber als sie in die klugen Augen dieser Frau blickt, da sagt ihr Instinkt, dass diese ältere Lady nicht nur eine mütterlich wirkende, gewiss gebildete und gut situierte Dame ist, sondern mehr. Die Frau lächelt freundlich, aber in ihren blauen Augen ist ein Ausdruck von kühler Gelassenheit, wenn nicht gar Härte. »Auch nach Texas?« So fragt sie. Jessica nickt und spricht dann: »Ich kenne es noch nicht, aber es soll wunderbar und sehr schön sein.« »Das ist es«, erwidert die schon grauhaarige Lady. »Dann
werden wir ja gemeinsam eine lange Reise hinter uns bringen. Ich bin Ellinora Pinkerton. Ich habe in Texas eine Menge Land und noch mehr Rinder. Doch zurzeit ist das nichts wert.« Sie blickt zum Steuereintreiber hinüber, der ihr gegenübersitzt. »Dann werde ich vielleicht auch mit Ihnen zu tun bekommen, Mister. Sie sind wohl einer der vielen Steuereintreiber, die jetzt mit der Besatzungstruppe in den Süden kommen, um diesen so richtig klein zu machen und auszuplündern. Dann bekomme ich sicher auch mit Ihnen zu tun, nicht wahr? Meine Ranch liegt im Concholand zwischen San Antonio und Laredo. Wie ist Ihr Name, Mister?« Der Steuereintreiber lächelt schmal. Er ist ein schmächtiger, vertrocknet aussehender Bursche mit einer Nickelbrille und einem steifen Kragen. Er trägt eine Melone und Schnürschuhe. Quer über der Weste protzt eine dicke Uhrkette, doch die Uhr ist eine billige Nickeluhr. Er nahm sie schon mal heraus, um sie aufzuziehen. »Mein Name ist Buster, John Buster, Lady«, sagt er. »Und ich glaube, wir werden miteinander zu tun bekommen. Ihre Ranch liegt wahrscheinlich in meinem Distrikt. Wie lange schon haben Sie keine Steuern gezahlt, Ma’am?« »Das macht mein Verwalter«, erwidert sie ruhig. »Ich war einige Jahre nicht daheim, aber ich weiß, dass ich alles in völliger Ordnung vorfinden werde.« »Der ganze Süden wird Steuern nachzahlen müssen«, spricht er lächelnd, doch in seinen Augen erkennt man hinter der Nickelbrille das harte Funkeln. »Werden Sie das können, Ma’am?« Sie lächelt zurück. »Wir werden sehen, Mr Buster, wir werden sehen. Jedenfalls hat wohl eine Laune des Schicksals uns in dieser Kutsche zusammengebracht. Ja, ja, das Schicksal macht manchmal unwahrscheinliche Späße mit uns Menschen. Mr Buster, hatten Sie schon öfter Umgang mit Texanern?« »Nein«, erwidert er. »Ich komme aus Boston.«
»Aha«, lächelt Mrs Pinkerton. »Sie kommen aus der Heimat des Stockfisches und der Bohnen, wo die Cabots nur mit den Lowells sprechen und die Lowells nur mit dem Herrgott, oho.« »Das ist nun mal die Bostoner Lebensart.« John Buster grinst. »Und bald werden Sie die texanische Lebensart kennen lernen«, erwidert Ellinora Pinkerton scheinbar freundlich, aber in ihren Augen funkelt es nun mehr als amüsiert, eher schon angriffslustig. Nun schweigen sie alle, auch die vier hartgesichtigen Burschen, die zu Earl Simmons und John Buster als Leibwächter gehören. Es sind Revolvermänner. Aber es ist ja nur logisch, dass ein Mann wie Earl Simmons, der einen großen Koffer voll nagelneuem Papiergeld dabei hat, nicht ohne einen solchen Schutz nach Texas reist. Und auch der Steuereintreiber wird diesen Schutz benötigen. Die Kutsche rollt stetig durch das Land nach Westen, gezogen von einem guten Sechsergespann. Nur manchmal hören sie die Stimme des Fahrers und das Knallen seiner Peitsche. Die Station liegt friedlich in der Morgensonne, denn es ist noch früher Vormittag. Nur etwa drei Stunden war die Kutsche unterwegs. Das Gespann ist schweißbedeckt, staubig – und auch in die Kutsche wehte der Staub. Als sie vor der Station halten, da hören sie den Fahrer böse rufen: »Hoiii, Sammy Chuck, wo bist du mit deinem Helfer? Verdammt, warum sehe ich kein frisches Gespann bei den Corrals? Zum Teufel, schlaft ihr noch?« Als Antwort tönt eine kühle Stimme. Es ist Chet Kehoes Stimme, und sie ruft die Worte: »Es gibt vorerst kein frisches Gespann, Freunde! Denn dies ist ein Überfall. Wir könnten aus der Kutsche ein Sieb machen. Oder glaubt ihr nicht, dass die Kugeln durch die Kutschwände gingen? Sollen wir es mal
ausprobieren?« Seine warnenden Worte werden nicht beachtet. Vielleicht hält man sie für einen Bluff, aber wie es auch sein mag, es gerät nun alles in rasende Tätigkeit. Fahrer und Begleitmann werfen sich vom hohen Bock zum staubigen Boden nieder und rollen sich dicht an die Vorderräder der Kutsche. Die beiden Kutschschläge werden aufgestoßen, und dann hechten die vier Revolvermänner und Leibwächter nacheinander zu beiden Seiten aus der Kutsche. Nur die drei Frauen bleiben in der Kutsche mit Earl Simmons und John Buster. Die Offiziersfrau kreischt laut und gellend: »Es sind Ladys in der Kutsche, Ladys! Schießt nicht auf Frauen, ihr Banditen! Oder mein Mann lässt euch hängen! Dieses Land steht unter Kriegsrecht!« Aber ihr Gekreische geht unter im Krachen der Waffen. Simmons und Buster kauern sich zwischen den Sitzbänken auf den Boden der Kutsche. Sie verlassen sich ganz und gar auf ihre Revolvermänner und Beschützer. Und sie haben Glück. Es pfeifen keine Kugeln durch die Kutschwände. Der Kampf findet draußen statt. Ja, die Hölle ist losgebrochen. Man kann es nicht anders beschreiben. Jede Hoffnung auf eine friedliche Lösung zerbrach binnen einer Sekunde. Es wird ein erbarmungsloser Kampf, denn Simmons’ und Busters Revolvermänner – die beiden von Buster sind US Deputys – machen ihren Job, kneifen nicht, sondern wollen es auskämpfen. Doch die Kutsche und die um sie herum am Boden liegenden Männer – es sind ja zusammen mit Fahrer und Begleitmann sechs – befinden sich im Kreuzfeuer. Sie sind eingeschlossen. Chet Kehoe und dessen Partner haben gute Deckungen, nicht nur im Stationshaus, auch hinter
Brennholzstapeln, Wasserfässern bei den Corrals und hinter dem gemauerten Brunnen. Sie wissen von der ersten Sekunde an, dass die ganze Sache außer Kontrolle geraten ist. Ja, sie hatten sich alles anders vorgestellt, glaubten, dass sich die Männer ergeben würden, weil sie ja alle auf und in der Kutsche in der Falle saßen. Nun aber brach die Hölle auf. Der ganze Kampf dauert kaum mehr als eine Minute, und die beiden Parteien geben zusammen an die fünfzig Schüsse ab. Dann ist es vorbei. Nun schießt niemand mehr. Es ist mit einem Mal für zwei oder drei Sekunden unwirklich still. Dann erst erklingen Laute und Flüche. Man hört schmerzvolles Stöhnen. Eine Stimme ruft bitter: »Oh, ihr Narren, warum wolltet ihr es auskämpfen! Ihr hattet doch keine Chance. Warum mussten wir euch Narren niederkämpfen? Seid ihr denn völlig verblödet?« Es ist die bittere Stimme von Mitch Sloane. Aber es ist nichts mehr rückgängig zu machen. Es gab Tote und Verwundete. Nur der Fahrer und dessen Begleitmann sind fast unversehrt. Denn sie kämpften nicht, sondern blieben bewegungslos am Boden liegen, verbargen ihre Köpfe – bäuchlings liegend – unter den Armen. Chet Kehoes Stimme ruft nun aus dem Stationshausfenster: »Kommt heraus aus der Kutsche, kommt heraus! Die Männer mit erhobenen Händen. Raus mit euch!« Drinnen in der Kutsche beginnen Simmons und Buster fast tonlos zu fluchen. »Das war’s wohl«, knirscht Simmons dann. »Verdammt, die haben gewusst, dass viel Geld zu holen ist. Sie haben es gewusst.« Er richtet sich auf, denn er kauerte immer noch am Boden. Sein Blick richtet sich auf Jessica und Mrs Pinkerton, die sich
nicht auf den Kutschboden werfen konnten, weil die Männer ihnen zuvorgekommen waren. Er sieht den verächtlichen Ausdruck in den Augen beider Frauen und stößt einen Fluch aus. Dann klettert er mit erhobenen Händen aus der Kutsche. John Buster folgt ihm. Und erst dann verlassen auch die drei Frauen die Kutsche. Sie werden von fünf maskierten Banditen erwartet. Dann treibt man sie ins Stationshaus, auch die drei Frauen müssen dort hinein. Als sie im Stationshaus den verklingenden Hufschlag der fünf Banditenpferde hören, gehen sie hinaus. Inzwischen fanden sie auch den Stationsmann, dessen Frau und den Helfer im Kühlkeller des Stationshauses. Sie gehen also hinaus, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Es sind zwei. Und zwei der Revolvermänner sind tot. Die Tasche, in der Simmons die zweihunderttausend Dollar transportierte, so als wäre es nur Reisegepäck, wie es ein Gentleman mitführt, liegt offen und leer im Staub. Der Fahrer und dessen Begleitmann helfen den Stationsleuten beim Hineintragen der Verwundeten. Die beiden Toten schafft man in einen Schuppen. Earl Simmons sagt vorerst kein Wort. Aber man kann ihm ansehen, dass er innerlich kocht, dass er fast platzt vor Zorn. Ellinora Pinkerton aber wendet sich an den Fahrer. »Fahren wir weiter oder kehren wir um?« So fragt sie ruhig. »Die Kutsche fährt weiter«, erwidert der Mann. »Ich muss die Fahrpläne einhalten. Was zu erledigen ist, wird der Stationsmann veranlassen. Er schickt seinen Gehilfen nach Hope, und er wird reiten wie der Teufel. Na los, Pete! Reite und erstatte dem Sheriff dort Bericht. Sie werden ein Aufgebot…« »Auf das wir hier warten«, mischt sich Earl Simmons ein. »Wir fahren nicht weiter, sondern warten hier auf das Aufgebot
aus Hope, um mit ihm die Fährte aufzunehmen. Sie sollen aus Hope einen guten Scout mitbringen. Und ich setze zehntausend Unionsdollar für die Ergreifung der Banditen aus! Verstanden?« Er brüllt das letzte Wort. »Yes, Sir«, erwidert der Stationsgehilfe Pete und läuft zum Corral, um sich dort das schnellste Pferd zu satteln. Earl Simmons wendet sich an Jessica. »Sie werden wohl auch nicht mitfahren, meine Teure? Denn was wollen Sie ohne mich in Texas, nicht wahr?« Jessica tauscht einen Blick mit Mrs Pinkerton und dann mit der Offiziersfrau. Aber auch diese lässt erkennen, dass sie weiter will, und so wendet sich Jessica mit einem bedauernden Lächeln an Earl Simmons und erwidert: »Oh, ich komme sicherlich auch allein in Texas zurecht. Nein, ich bleibe nicht hier, sondern fahre in Gesellschaft dieser beiden Ladys weiter. Ich will jetzt nach Texas. Vielleicht sehen wir uns mal wieder, Mr Simmons.« Dieser starrt sie ungläubig an, nagt dabei an seiner Unterlippe. Dann stampft er mit dem Fuß auf. »Ja, sicher«, grollt er, »ich habe ja mein ganzes Geld verloren. Was sollte Sie dann noch veranlassen, bei mir zu bleiben? Zum Teufel mit Ihnen! Und die Ringe, die ich Ihnen abkaufte, werden Sie bestimmt nicht zum gleichen Betrag zurückbekommen!« Er wendet ihr den Rücken zu und tritt zum Steuereintreiber, der sich am Brunnen aus dem Wassereimer mit Hilfe eines hölzernen Schöpflöffels erfrischt. »Wir werden diese fünf Banditen erwischen, John«, verspricht er. »Und wenn ich die Belohnung verdoppeln muss. Wir bekommen sie. Willst du auch weiter?« Der Steuereintreiber schüttelt den Kopf. »Ohne bewaffneten Begleiter reise ich nicht nach Texas, um dort Steuern einzutreiben. Ich werde mit der Gegenpost nach Hope zurückfahren und mir dort erst zwei Deputys beschaffen. Du hast eine Menge Zeit, dein Geld zurückzubekommen. Dann
reisen wir zusammen weiter. Was machen schon zwei oder drei Wochen Verspätung aus? Texas läuft uns nicht weg, auch nicht die vielen Steuerschuldner. Ich habe eine Menge Zeit.« Indes klettern die drei Frauen wieder in die Kutsche. Sie fährt auch sofort ab. Earl Simmons schüttelt ihr drohend die Faust wie eine Verwünschung nach und grollt zu John Buster: »Diese gierigen Weiber! Ich hätte sie gewiss bald in meinem Bett gehabt. Doch nun wird sie sich einen anderen reichen Mann suchen. Denn auf solch einen Burschen ist sie scharf. Das erkannte ich sofort. Die will in Luxus leben, so wie vorher, als ihr Mann noch lebte und vierhundert Sklaven für sich schuften ließ. Aber vielleicht treffe ich sie doch noch mal wieder. Wer weiß…« *** Indes jagen die fünf Banditen einige Meilen, verlassen den Wagenweg und reiten in bewaldete Hügel hinein. Als sie anhalten, einen Kreis bilden und die Nasen ihrer Pferde nach innen ziehen, als sie sich ansehen, da schweigen sie erst noch eine Weile. Dann keucht Kelso Skinner: »O Hölle, das ging völlig anders aus, als wir dachten. Nun sind wir Mörder und Banditen, verdammt!« Sie schweigen erst einmal lange nach seinen Worten. Man hört nur das Schnauben ihrer Pferde, das Knarren ihrer Sättel. Doch in dieser Minute wird ihnen klar, dass sich für sie eine Menge verändert hat. Chet Kehoe spricht dann endlich: »Ja, so ist es wohl. Wir haben vorhin nicht wie Soldaten gekämpft und getötet, sondern wie Banditen, und eigentlich gibt es nur eine Entschuldigung, nämlich die, dass wir es verdammten Yankees besorgten, welche unterwegs sind, um Texas auszuplündern, und weil wir nicht ewig die Verlierer sein wollen. Ich denke, wir sind keine
richtigen Banditen. Denn wir holten uns nur von einem verdammten Yankee eine Entschädigung für fünf Jahre Krieg. Und wir taten vielen Texanern einen mächtigen Gefallen. Er kann mit dem Geld in Texas kein Unheil anrichten. Und wenn man es also so sieht, dann befanden wir uns gewissermaßen noch im Krieg. Wir trennen uns hier. Jeder reitet nun für sich, so wie wir es beschlossen haben. Wir dürfen nicht länger zusammenbleiben, denn die Aufgebote suchen nun nach einer Bande von fünf Reitern – auch die Armee. Besonders die wird uns mit ihrem Nachrichtensystem gefährlich werden. Wir treffen uns alle in El Paso, wo Jessica mit der Beute auf uns warten wird. Also!« Er zieht sein Pferd zur Seite und reitet nach Westen. »Wir haben ja sechs Monate Zeit«, sagte Vance McGill und grinst. »Und jeder von uns hat noch fast dreihundert Yankeedollar in der Tasche. Ich reite erst einmal zum Mississippi zurück und gehe dort in das nobelste Freudenhaus, das ich finde. Verdammt, ich habe lange keine Frau mehr gehabt. Jetzt will ich eine Menge nachholen. Hoiii!« Auch er treibt sein Pferd an und schlägt eine südöstliche Richtung ein, die ihn gewiss zum großen Strom führen wird. »Dann reite ich erst einmal nach Nordwesten«, knurrt Kelso Skinner. »Verdammt, wir hätten uns jeder noch tausend Dollar von der Beute mitnehmen sollen. Wir haben nur Jessicas fünfzehnhundert Dollar unter uns geteilt.« Auch er reitet an. Zane McKay und Mitch Sloane verharren noch auf ihren Pferden, hocken irgendwie unschlüssig in den Sätteln. Zane grinst plötzlich verwegen und sieht Mitch herausfordernd an. »Wollen wir mal so richtig frech sein, Mitch, und wieder in Richtung Hope zum Strom reiten? Und wenn uns dann ein Aufgebot entgegenkommt, könnten wir uns ihm sogar anschließen. He, dann würden wir vielleicht sogar als Deputy vereidigt und müssten uns selbst suchen, hahaha!«
Mitch Sloane starrt ihn zuerst böse an. »Du warst schon immer ein verrückter Hund, Zane«, spricht er schließlich. »Aber diesmal gefällt mir deine Idee. Reiten wir also wieder zurück nach Hope. Aber um die Pferdestation machen wir einen großen Bogen.« *** Die Kutsche rollt stetig nach Westen. Sie muss nun eine Verspätung aufholen. Aber das wird sie gewiss leicht schaffen, denn sie hat nur noch drei Frauen als Passagiere, von denen jede nur wenig mehr als hundertzehn Pfund wiegt. Sechs Männer fehlen mit ihrem Gewicht, und so hat es das frische Gespann sehr viel leichter. Jede der Frauen hat nun eine ganze Bank für sich, Die Offiziersfrau hat die vordere Bank. Jessica Morgan und Ellinora Pinkerton sitzen sich gegenüber, denn auf der mittleren Bank sitzt man mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Manchmal betrachten sich die beiden so unterschiedlichen Frauen, was gewiss nicht nur das Alter betrifft, sondern auch die Lebenserfahrung. Irgendwann – nach vielen Meilen – sagt Mrs Pinkerton ruhig: »Sie haben es richtig gemacht, mein Kindchen, sehr, sehr richtig. Dieser Bursche taugte nichts. Der ist kein Gentleman. Und feige ist er auch. Er lag zu unseren Füßen auf dem Boden der Kutsche, als seine Männer draußen kämpften. Der gehört zu jener Sorte, die stets die Dreckarbeit von anderen verrichten lässt. Sie haben gewiss bald Chancen auf einen besseren Mann. Sie müssen nur abwarten und richtig wählen. Auch ich habe das getan. Mein Mann schuf für mich ein Königreich. Leider starb er schon vor dem Krieg. Ich war während des Krieges bei meiner Tochter und meinen Enkeln. Damals, als ich so jung war wie Sie, Kindchen, da musste ich raue Wege gehen, war immer auf der Suche. Manchmal glaubte
ich am Ende zu sein. Und immer wieder geriet ich an Kerle, deren Charakter ich zu spät erkennen konnte. Doch schließlich…« Sie verstummt und sieht Jessica aufmerksam an. »Wenn ich Sie ansehe, Kindchen, dann erinnere ich mich wieder an meine Zeit damals in Ihrem Alter. Ich lief von daheim weg, weil meine Familie in Boston mich mit einem Greis verheiraten wollte und…« »Ich bin damals nicht weggelaufen«, unterbricht Jessica sie, »und ich war erst Siebzehn. Er hätte mein Vater sein können, dem Alter nach. Doch er war sehr vital. Er schwängerte auch seine hübschen Sklavenmädchen. Von ihm gab es unter unseren rund vierhundert Sklaven gut ein Dutzend Kinder, die er mit seinen Schwarzen machte. Nun, seine Sklaven haben ihn vor etwa drei Wochen erschlagen. Er war zuletzt nur noch ein alter, verbrauchter, einarmiger Mann. Wenigstens starb er nicht wie ein Feigling. Ich bin Jessica Morgan, Mrs Pinkerton. Sagen Sie einfach Jessica zu mir.« Sie lächeln sich zu. Und beide wissen sie, dass dies der Anfang einer Freundschaft ist. Die Kutsche erreicht eine Weile später die nächste Pferdestation und bekommt ein frisches Gespann. Mrs Pinkerton schläft wenig später, kaum dass die Kutsche wieder rollt, auf ihrer Bank ein. Sie hat sich darauf ausgestreckt, so gut es ging, und sie wirkt sehr zerbrechlich. Aber sie ist dennoch voller Energie. Jessica spürte dies stets besonders deutlich, wenn sie in Mrs Pinkertons Augen sah. Endlich erinnert sie sich wieder an die Beute in einem ihrer Koffer. Ja, die ganze Beute von zweihunderttausend Dollar wurde in einen ihrer Koffer gepackt, nachdem sie und alle anderen in das Stationshaus gebracht worden waren. Sie denkt immer wieder: Zweihunderttausend Dollar nagelneues Papiergeld. Sie haben mir ihre Beute anvertraut. Ich
bin ihre Schwester. Hoffentlich enttäusche ich sie nicht. Es ist noch ein weiter Weg bis Texas. Was ist, wenn mir andere Banditen die Beute abnehmen? Würden meine fünf Brüder mir das glauben wie einer wirklichen Schwester? Immer wieder muss sie an den mit Geld gefüllten Koffer im Gepäckkasten der Kutsche denken und macht sich große Sorgen. *** Die Kutsche fährt Tag und Nacht mit wechselnden Gespannen, denn die Post- und Frachtlinie vom Mississippi nach El Paso funktioniert bestens. Irgendwann in einer Nacht bringt eine Fähre die Kutsche über den Red River, und der Fahrer jauchzt oben auf dem hohen Bock, als er drüben von der Fähre an Land fährt: »Ladys und Gentlemen, jetzt sind wir in Texas! Texas!« Noch in der hellen Mondnacht erreichen sie die Stadt Marshall. Hier teilt sich die Post- und Frachtlinie. Unterwegs waren andere Passagiere zugestiegen. Nun trennt sich alles wieder. Mrs Pinkerton und Jessica bleiben in der Kutsche, denn diese will über Jacksonville, Palestine, Waco und Austin weiter nach San Antonio und von dort am Pecos entlang nach El Paso. Und genau dorthin soll Jessica die Beute bringen. El Paso. Einmal müssen sie in einer kleinen Stadt übernachten, weil die Kutsche in einer stürmischen Regennacht nicht weiter kann. Denn alle kleinen Creeks schwollen zu reißenden Strömen an. Die beiden Frauen verbringen die Nacht gemeinsam in einem Doppelbett, und sie reden viel miteinander, indes draußen die Gewitter krachen, die Blitze immer wieder das Zimmer erhellen. In dieser Nacht sagt Mrs Pinkerton zu Jessica: »Damals, als
ich die rauen Wege wandern musste und mir nichts erspart blieb auf dieser für mich so gnadenlosen Welt, da hätte ich manchmal gerne eine sichere Zuflucht gehabt, einen Ort, zu dem ich flüchten konnte. Jessica, dies könnte dir eines Tages ebenso ergehen. Deshalb bitte ich dich, wenn du eine Zuflucht brauchst – vielleicht um dich zu erholen von Enttäuschungen oder wenn du krank bist oder auch auf der Flucht, dann komm zur Ranch Rosa Blanca. Hast du verstanden? Die Ranch Rosa Blanca ist ein Königreich. Sie liegt am Nueces zwischen San Antonio und Laredo im Concholand. Versprichst du es mir, Jessica? Schwörst du es mir? Denn wenn wir uns trennen, werde ich oft an dich denken müssen, weil du mich so sehr an meine Zeit erinnerst, die ich hinter mir habe, du aber noch vor dir hast. Ich kann fast alles voraussehen, was auf deinem Weg auf dich wartet – fast alles. Also, schwör mir, dass du zu mir kommst, wenn du eine Zuflucht nötig hast. Schwöre!« »Ich schwöre«, erwidert Jessica – und sie ist wieder versucht, Mrs Pinkerton alles zu erzählen, ihr auch die Geldscheine im Koffer zu zeigen. Aber sie tut es dann doch nicht. *** Irgendwann geht auch die härteste Reise zu Ende, und immer wieder gibt es Momente, da trennen sich Menschen mit starkem Bedauern und empfinden diesen Moment als großen Verlust. So ergeht es auch Jessica und Mrs Pinkerton. Letztere muss umsteigen. Und Jessica muss weiterfahren nach El Paso. Oh, sie weiß genau, wohin sie dort gehen muss mit der Beute. Nur kurz denkt sie daran, lieber mit Mrs Pinkerton zur Ranch Rosa Blanca zu reisen, als in El Paso wochen- und monatelang mit der Beute auf ihre Partner zu warten.
Doch sie will zuverlässig und treu bleiben. Diese fünf Männer retteten sie vor betrunkenen Exsklaven, die ihr Schlimmeres angetan hätten, als nur ihr Leben auszulöschen. Diese fünf Männer, für die sie eine Schwester war, haben ein Recht auf ihre Treue. Und so winkt sie Mrs Pinkerton aus dem Kutschfenster zu und hat Tränen in den Augen dabei. Aber dann, als Mrs Pinkerton aus ihrem Blickfeld verschwindet, da sitzt sie noch eine Weile kerzengerade auf ihrem Platz, so richtig entschlossen und ganz offensichtlich bereit für alles, was auch kommen möge. Einige neue Fahrgäste stiegen hinzu. Ihr gegenüber sitzt ein recht beachtlich wirkender Mann, den sie nur schlecht einzuschätzen vermag. Aber wahrscheinlich ist es ein ehemaliger Offizier, der es verstand, der Gefangenschaft zu entgehen und der nun auf der Heimreise ist. Er ist ein löwenartiger Bursche, einer von der Sorte, die in einer Menge von hundert Männern sofort auffällt, ein Mann mit einer hohen Stirn und ein paar tiefen Linien im Gesicht, auch ein paar Narben, welche durchaus Zeichen von Kämpfen sein können. Seine Augen sind braungelb, fast so wie sein Haar und der sichelförmige Bart. Ja, er ist gewiss ein beachtlicher Mann, der sich überall behaupten kann und gelassen wirkend seinen Weg geht. Aber Jessica will nichts von Männern wissen. Sie berühren sich einmal kurz mit den Füßen auf dem Kutschboden, bis jeder für seine Füße den richtigen Platz gefunden hat. Jessica schließt die Augen und lehnt sich endlich zurück. Sie denkt mit wehmütigem Bedauern an Mrs Pinkerton. Und dann denkt sie wieder an das viele Geld in einem ihrer beiden Koffer. Wenn ich damit nur schon in El Paso wäre, wünscht sie sich und beginnt sich vorzustellen, was sie mit ihrem Anteil machen wird. Denn dies werden mehr als dreißigtausend Dollar sein.
Natürlich ist sie sich bewusst, dass ihre fünf Partner für diese Beute getötet und Blut vergossen haben. Aber was hat man mit ihr gemacht? Sie ist knapp einer betrunkenen Exsklavenhorde entkommen, welche zuvor ihren Mann und den Oberaufseher erschlug. Sie sah den Rauch der brennenden Gebäude und des Herrenhauses. Und dann traf sie auf fünf Reiter, welche ebenfalls zu den Verlierern zählten und sich ihr gegenüber wie Brüder verhielten. Nein, sie verspürt keine Gewissensbisse. *** Es lässt sich nicht vermeiden, dass sie mit jenem löwenhaften Mann ins Gespräch kommt. Auch wenn sie in den Gaststuben der Stationen einen Imbiss einnehmen, sucht er stets ihre Nähe, um sich mit ihr unterhalten zu können. Er stellte sich als Gilbert Bancroft vor. Auch er will nach El Paso, aber vielleicht hat er dies erst nachträglich beschlossen, um ihr möglichst lange den Hof machen zu können. Er erzählt ihr, dass er ein Ingenieuroffizier in der Konföderiertenarmee gewesen sei, welcher Brücken und Bahnlinien baute, und dass er nun von El Paso weiter nach Mexiko wolle, weil er dort noch Minenrechte besitze und in den alten Minen herumstöbern wolle, um vielleicht ein noch unentdecktes Goldvorkommen oder gar eine Goldader zu finden. »Wissen Sie, Ma’am, ich habe eine gute geologische Ausbildung erhalten und traue mir zu, in alten und verlassenen Minen noch etwas zu finden.« »Und da suchen Sie natürlich einen Geldgeber«, erwidert sie kühl. »Verschwenden Sie deshalb lieber nicht Ihre Zeit mit mir, Mr Bancroft.« »Verschwenden?« So fragt er lächelnd. »Verschwenden, sagten Sie, Ma’am? Wie kann ein Mann seine Zeit verschwenden, wenn er die Gesellschaft einer schönen Frau
genießt? Wäre ich es nicht, der Ihnen all die anderen Burschen hier vom Leibe hält, dann würde es ein anderer tun. Was gefällt Ihnen nicht an mir?« »Darum geht es nicht«, erwidert sie. »Ich suche vorerst keine Männerbekanntschaften. Mein Mann ist erst vier Wochen tot. Seine einstigen Sklaven erschlugen ihn wie einen kranken Hund. Dieses Bild vergesse ich nicht so bald – und auch nicht, was danach noch geschah. Ich will allein sein.« »Gut.« Er nickt. »Dann werde ich nur aus einigem Abstand bis El Paso Ihr Beschützer sein. Soll ich mich in der Kutsche auf einen anderen Platz setzen, damit Sie meine bewundernden Blicke nicht mehr auf sich spüren?« »Nein«, erwidert sie. »Ich wollte Ihnen nur klar machen, dass Sie bei mir keine Chance haben.« Er erwidert darauf nichts. Und nun schläft auch er viele Stunden ihr gegenüber in der Ecke lehnend mit dem Hut über dem Gesicht. Doch manchmal, wenn sie sich beide etwas bewegen, berühren sich ihre Füße. *** Die Fahrt nach El Paso, der Stadt zu beiden Seiten der Grenze, verläuft tatsächlich ohne Zwischenfälle, obwohl die Straßen und Wege gefährlich sind, es Banditenbanden gibt – und sogar, je weiter sie nach Westen kommen, Comanchen, also wilde Indianer. Und oft kommen mexikanische Bandoleros über den Rio Grande, die weit nach Norden vordringen, also tief nach Texas hinein. Es geschieht jedoch nichts. Jessica macht sich unnötige Sorgen wegen des Koffers voller Geld. Es ist eine linde Nacht, als sie El Paso erreichen. Die Postkutsche hält vor dem Rio Hotel, und der Fahrer ruft von oben nieder: »Alles aussteigen! Wir sind am Ziel!« Aus dem Hotel kommen zwei mexikanische Hausburschen,
hinter ihnen der Portier, der fragt: »Wessen Gepäck soll ins Hotel getragen werden? Wir haben noch Zimmer frei.« »Hier!«, ruft Jessica beim Aussteigen. »Ich habe zwei Koffer im Gepäckkasten. Jemand muss leuchten, damit ich nicht die falschen herausnehmen lasse.« Es geht dann alles sehr schnell. Wenige Minuten später ist sie auf ihrem Zimmer. Als es an der Tür klopft, öffnet sie. Draußen steht der löwenhafte Gilbert Bancroft und lächelt blinkend. »Ich habe das Nebenzimmer, Ma’am«, spricht er. »Sie stehen immer noch unter meinem Schutz. Wenn etwas ist, dann rufen Sie nur. Gehen wir zusammen zum Abendessen?« »Nein«, erwidert sie und knallt die Tür zu. Aber dann bedauert sie ihr unhöfliches Benehmen. Was ist falsch daran, dass er ihr den Hof macht? Täte er es nicht, würden es andere tun. Sie ist nun mal eine schöne Frau allein auf einer Reise. Doch sie hat ein großes Geheimnis in einem ihrer Koffer, nämlich zweihunderttausend Dollar Beutegeld. Sie ist dafür verantwortlich. Deshalb möchte sie sich mit keinem Mann einlassen, selbst dann nicht, wenn er ihr gefallen sollte. Sie hat unten dem Portier gesagt, dass sie ein Bad nehmen möchte. Und so klopft es bald wieder an ihrer Tür. Diesmal sind es die beiden Hausburschen. Sie tragen eine Badewanne herein, holen dann jeder zwei Eimer mit warmem Wasser. Jessica riegelt hinter ihnen die Tür ab. Und als sie dann in der Wanne liegt, da stößt sie einen befreiten Seufzer aus. Aaah, tut das gut, denkt sie. Sie fühlt sich irgendwie erlöst. Denn sie ist am Ziel. Und morgen wird sie weiter nach Chet Kehoes genauen Anweisungen handeln. Ja, sie weiß genau, was zu tun ist. ***
Als sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück beim Mietstall ein Pferd mietet, hat sie zuvor schon einige Einkäufe gemacht und ist dann noch einmal auf ihr Zimmer gegangen. Die beiden Satteltaschen, mit denen sie zum Mietstall kam, sind mit dem ganzen Geld aus dem Koffer gefüllt. Sie trägt Reitkleidung und hat mit dieser auch ein Gewehr und Munition gekauft. Bevor sie losreitet, fragt sie den Stallmann nach der Kehoe Ranch. Der alte Cowboy blickt sie verblüfft an. »Die Kehoe Ranch?« So fragt er staunend. »Sie meinen die Pferderanch von Chet Kehoe, Ma’am?« »Genau diese«, erwidert Jessica. »Sie soll etwa neun Meilen von hier in den Vorbergen des El Capitan Peak liegen. Ich müsste also nach Osten reiten, ja?« »Sicher, Ma’am«, nickt der alte Stallmann. »Sie haben ja den El Capitan ständig vor Augen. Reiten Sie nur darauf zu. Es gibt dann an einem schmalen Reitpfad gewiss noch den alten Wegweiser. Aber die Ranch ist verfallen. Chet Kehoe ritt vor fünf Jahren in den Krieg und nahm alle seine Pferde mit zur Armee. Wissen Sie etwas über ihn, Ma’am? Ich habe früher bei ihm gearbeitet, als er dort in den Hügeln anfing. Am liebsten wäre ich damals mit ihm in den Krieg geritten. Doch mir wurden als Zureiter schon zu viele Knochen gebrochen. Ich kann es nicht mehr lange im Sattel aushalten.« »Er lebt«, erwidert Jessica und sitzt auf. »Er wird irgendwann zurückkommen. Vielleicht bringe ich die Ranch wieder in Gang. Ich will sie mir ansehen.« Nach diesen Worten reitet sie davon und verlässt El Paso nach Osten zu. In der klaren Luft kann sie in der Ferne – etwa achtzig bis neunzig Meilen weit entfernt – den gewaltigen Turm des El Capitan Peak erkennen.
Sie reitet genau darauf zu. Nach etwa fünf Meilen erreicht sie die Abzweigung eines schmalen Reitwegs, und hier steht tatsächlich ein alter Wegweiser, schon etwas windschief zwar und arg verwittert, aber dennoch als Wegweiser erkennbar. Auf dem Holzbrett sind die Worte eingebrannt: »Kehoe Ranch. 4 Miles.« Sie hat angehalten und sieht sich um. Auf dem Wagenweg verkehren Fahrzeuge und Reiter. Der Weg nach El Paso wird viel benutzt, denn die Grenzstadt ist für dieses Land sozusagen der Nabel der Welt. Aber der schmale Pfad zur Kehoe Ranch ist leer und kaum noch erkennbar. Jessica reitet an. Vier Meilen, denkt sie, nur noch vier Meilen. Und dann bin ich das Geld los. Nur ein Sechstel habe ich für mich behalten – nur meinen gerechten Anteil. Sie wird sich nach diesen Gedanken bewusst, wie fragwürdig doch der Begriff »gerechter Anteil« ist. Denn es ist ja geraubtes Geld, Mord- und Blutgeld. Wie kann ein Anteil davon gerecht sein? O Himmel, denkt sie weiter. Ich denke und fühle wie ein Bandit. Ob mir mein Anteil überhaupt Glück bringen wird? Ihre Gedanken kreisen immer wieder um diese Frage. Aber es gelingt ihr immer besser, jedes Schuldgefühl abzuschütteln. Denn ihrer Meinung nach ist ihr das Leben eine Menge schuldig. Es ist ein herrliches Hügelland, in das sie reitet. Nach Osten zu steigt es vom Rio Grande Valley und El Paso stetig an. Es ist ein grünes, fruchtbares Land mit guter Weide, Buschinseln und Wald. Da und dort erblickt sie in der Ferne kleine Anwesen, zumeist Ranches und Farmen. Rinder und Pferde weiden. Es gibt aber auch Äcker und Felder.
Und alles wirkt so friedlich hier in der Nähe der Stadt. Als sie einmal anhält und in die Runde blickt, da sieht sie einen Reiter hinter einem Waldstück verschwinden. Er taucht nicht wieder auf. Vielleicht reitet er zu einem Anwesen in der Ferne. Er war auch zu weit entfernt, um ihn erkennen zu können. Doch wen sollte Jessica hier auch erkennen? Höchstens diesen Gilbert Bancroft, der ihr auch heute Morgen beim Frühstück im Hotel wieder den Hof zu machen versuchte und an den sie sich fast schon zu gewöhnen beginnt. Denn er ist wahrhaftig ein beachtlicher Bursche. Vielleicht wird sie ihm doch noch eine Chance geben, wenn sie erst das Geld losgeworden ist. Es ist dann schon fast Mittag, als sie die alte Kehoe-Ranch erreicht. Sie besteht aus einem kleinen Adobehaus und einigen Schuppen und Corrals. Aber alles sieht verlassen aus. Überall hat sich Unkraut breit gemacht. Eine ganze Menge müsste repariert werden, besonders die Maisstrohdächer. Der Brunnen ist zugedeckt, aber sie kann erkennen, dass man dann und wann Wasser aus ihm holte. Wahrscheinlich kommen hier also manchmal Reiter vorbei. Sie sitzt ab, bindet ihr Pferd an, nimmt die beiden Satteltaschen vom Pferd und geht damit zur Tür des Adobehauses. Die Tür lässt sich leicht öffnen. Sie ist nicht verschlossen, und sie ließe sich ohnehin nur von innen verriegeln. Langsam tritt sie ein. Ja, sie kann unschwer erkennen, dass hier manchmal Menschen übernachteten. Aber sie ließen keinen Dreck zurück, räumten also stets auf, bevor sie wegritten. Die drei Räume sind karg eingerichtet. Es gibt hier nichts zu stehlen. Chet Kehoe ließ damals nichts zurück, was einigermaßen wertvoll war. Sie verharrt im Wohnraum vor dem aus Bruchsteinen
gemauerten Kamin, und sie kann sich gut vorstellen, wie Chet Kehoe damals zuerst den Kamin mauerte und dann das Haus um diesen Kamin herum errichtete. Eine Weile verharrt sie so und wiederholt sich in Gedanken die Worte, welche Chet Kehoe damals zu ihr sprach: »Du musst die große Steinplatte vor dem Kamin mit dem eisernen Schürhaken hochhebeln. Darunter ist ein Kasten unter dem Sand, der den Kastendeckel verbirgt. Räum den Sand weg, öffne den Kastendeckel und leg unser Geld hinein. Dann schließt du den Kasten wieder, deckst ihn mit dem Sand zu und legst die Steinplatte drauf. Du musst auch wieder den Staub auf die Steinplatte fegen, der gewiss inzwischen überall auf dem Fußboden liegt. Der ganze Raum ist mit Steinplatten ausgelegt.« Das waren seine Worte. Sie macht sich an die Arbeit. Der eiserne Schürhaken ist noch vorhanden. Sie kann ihn fast wie eine Brechstange benutzen. Und tatsächlich lässt sich die Steinplatte hochhebeln. Sie lehnt die Platte gegen den Kaminsockel und beginnt den Sand herauszuholen. Er liegt etwa eine Handbreit hoch auf dem Deckel des Holzkastens. Im Kasten selbst findet sie in einem öligen Lappen einen Revolver, sonst ist er leer. Sie wendet sich am Boden kniend zur Seite, um nach den Satteltaschen zu greifen. Und da sieht sie an einem der kleinen Fenster das Gesicht eines Mannes. Es ist Gilbert Bancrofts Gesicht. Sie erschrickt bis tief in ihren Kern hinein, so als würde sie den Schmerz eines Messerstiches spüren. Einen Moment lang will sie Panik erfassen. Denn binnen eines Sekundenbruchteils ist ihr klar, dass dieser Gilbert Bancroft ihr gefolgt ist – aus welchen Gründen auch immer. Wahrscheinlich war er der Reiter, den sie vorhin sah. Und nun wird er wissen wollen, warum sie dort dieses Geheimversteck
öffnete, und was sie darin verstecken will. Er wird die Satteltaschen durchsuchen wollen, da ist sie sicher. Ihr Gewehr steckt draußen am Pferd im Sattelschuh. Aber hier im Kasten liegt der Colt. Sie hatte ja das Bündel – also den öligen Lappen – aufgewickelt, und die Waffe darin gefunden. Nun greift sie danach. Und als Gilbert Bancroft eintritt, da hält sie den Colt kniend in beiden Händen und richtet die Mündung auf ihn. »Halt!«, sagt sie. »Keinen Schritt weiter.« Er hält inne, hebt beide Hände, zeigt ihr friedlich seine Handflächen und lässt wieder einmal mehr unter seinem Sichelbart die prächtigen Zahnreihen blinken. »Schöne Jessica«, spricht er, »ich wette, dass du nicht auf mich schießen kannst. Eine so schöne Frau bringt es gewiss nicht fertig, auf einen Mann zu schießen, der sie bewundert und…« »Doch, ich werde schießen«, unterbricht sie ihn. »Ich muss es tun, verdammt! Denn Sie kamen hinter mein Geheimnis, welches Ihnen nun den Tod bringt. Sie verdammter Narr!« Sie ruft die letzten Worte fast verzweifelt. Denn ihr wird klar, dass sie ihn töten muss. Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig. Wenn er das Geld zu sehen bekommt, wird er es haben wollen. Da ist sie sicher. Er ist auch nur ein Abenteurer auf der Suche nach einer Chance. Und eine größere Chance könnte er sich gar nicht vorstellen. Aber er kann immer noch nicht glauben, dass sie schießen wird. Und so nimmt er seine Hände herunter, grinst wieder blinkend und sagt: »Aber, meine Süße, warum so böse und nervös? Du wirst nicht auf mich schießen können, du nicht. Weißt du, ich bin der Mann, mit dem du jedes Geheimnis teilen kannst, und der dich stets beschützen wird. Du bist nämlich verdammt allein. Das habe ich von Anfang an gespürt. Du brauchst einen Burschen wie mich. Also gib mir die Waffe und lass uns von nun an ein Paar sein, welches zusammen…«
Weiter kommt er nicht. Denn inzwischen schob er sich schon zu nahe an sie heran. Er könnte jetzt schon nach ihr greifen oder ihr einen Fußtritt geben, der sie aus ihrer knienden Haltung auf den Rücken wirft. Sie drückt ab, zielt schräg nach oben. Der Hammer der Waffe schlägt auch tatsächlich zu, denn sie legte ihn ja beim Zugreifen mit dem Daumen zurück. Doch es kracht kein Schuss. Die Waffe lag zu lange in diesem Versteck. Das Zündhütchen jagt keinen Funken durch den Piston in die Pulverladung. Die Waffe versagt. Und dann bekommt Jessica im nächsten Sekundenbruchteil auch schon Gilbert Bancrofts Fußtritt. *** Sie bleibt nicht lange bewusstlos, denn sie schlug nicht besonders hart mit dem Hinterkopf auf dem Steinboden auf, als der Fußtritt sie auf den Rücken warf. Als sie nach einer halben Minute etwa erwacht und sich aufsetzt, hört sie Bancrofts begeisterte Schreie. Ja, er ist verrückt vor Freude. Denn er fand das Geld in den Satteltaschen. Er leerte diese aus und wühlt nun in den Geldscheinen. Doch dann bekommt er sich fast von einem Atemzug zum anderen wieder unter Kontrolle. Er wendet sich Jessica zu. »Was für ein Beutegeld ist das?« So fragt er hart. »Das kann nur Beutegeld sein. Nagelneue Yankeedollars. Solltest du für Bankräuber dieses Geld hier verstecken und in Sicherheit bringen? Haben sie eine schöne Frau dafür ausgewählt? Hattest du es die ganze Zeit in einem deiner Koffer? Oha, da wirst du mir viel erzählen müssen, schöne Jessica. Und dann vergesse ich vielleicht, dass du mich erschießen wolltest, ja, dann
vergesse ich es vielleicht. Erzähle!« »Geh zur Hölle, du Hurensohn«, erwidert sie, und nun will sie keine Lady mehr sein. Nun fühlt sie sich wieder so wie während des Rittes mit den fünf Männern, die sie wie eine Schwester behandelten – nämlich wie eine Frau, die nicht verlieren, sondern gewinnen will, wenn es sein muss, auf primitive Weise. Er lacht nun böse. »Pass auf«, spricht er dann kehlig, »ich will dir etwas sagen. Dich wollte ich vom ersten Augenblick an haben. Du warst von Anfang an die große Herausforderung für mich. Bisher habe ich noch jede Frau bekommen, so oder so. Und jetzt bist du dran, schöne Jessica. Es hat keinen Zweck, sich zu wehren. Wir sind hier so allein wie auf einer einsamen Insel. Und der große Revolver schießt nicht mehr. Oho, was habe ich heute für ein Glück! Zwei Satteltaschen voller Geld und eine schöne Frau! Ich bin doch ein Glückspilz.« Er wirft sich nun aus der Hocke mit einem Hechtsprung auf sie. Und sie kann nichts gegen ihn tun und sein Begehren – gar nichts. Sie glaubt, dass er es fertig bringen würde, sie grün und blau zu schlagen und vielleicht sogar zu töten. Er ist jetzt wie von Sinnen, irgendwie verrückt. Und so ist sie klug genug, sich ihm zu ergeben. Vielleicht kann sie so aus dieser Gefahr herauskommen. *** Es ist etwa zwei Stunden später, als er lachend davonreitet und auch ihr Pferd mitnimmt. Sie liegt im Adobehaus nackt auf dem Steinboden und zittert am ganzen Körper. Aber dann begreift sie, dass er weg ist. Der Hufschlag verklingt allmählich.
Und so erhebt sie sich langsam und beginnt die Sachen zu suchen, die er ihr vom Leibe riss. Sie kleidet sich an, und sie möchte weinen, kann es aber nicht. Tief in ihrem Kern scheint sich alles zu einem Stein verwandelt zu haben. Sie kann nicht einmal schluchzen. Bitter denkt sie: Den Exsklaven unserer Plantage konnte ich entkommen. Doch dann geriet ich an diesen Mistkerl. Verdammt, warum ging der Colt nicht los! Langsam tritt sie ins Freie. Es wurde Nachmittag. Was soll sie tun? Zumindest wird sie bis zum Wagenweg laufen müssen. Das sind etwa vier Meilen. Und dann? Sie verlor die Beuteanteile ihrer fünf Partner. Wenn sie hierher zu dieser verlassenen Kehoe-Ranch kommen, werden sie nichts finden – nicht einen Dollar von der großen Beute. Man wird sie für ein Miststück halten, das ihre Partner und Brüder betrog. Sie selbst hat ihren Beuteanteil im Hotelsafe einschließen lassen. Würden sich ihre fünf Partner damit zufrieden geben, wenn sie ihren Anteil mit ihnen teilt? Auf jeden von ihnen kämen nur wenig mehr als fünftausend Dollar. Doch würden sie ihr glauben? Sie kann es sich nicht vorstellen, dazu ist sie zu verbittert und enttäuscht von ihrem Schicksal, von ihrem Pech und von der Schlechtigkeit der Menschen. Was Gilbert Bancroft ihr antat, hat sie nun völlig für alles Gute verdorben. Von nun an wird sie böse und schlecht sein, eine giftige und gefährliche Natter, die mit niemandem mehr Erbarmen hat. Denn wer hatte das mit ihr? Sie fühlt sich von der ganzen Welt verraten, betrogen und erniedrigt. Und in ihrem Zustand ist ihr ein anderes Denken und Fühlen gar nicht möglich. Langsam macht sie sich auf den Weg. Es wird längst schon Nacht sein, wenn sie El Paso erreicht. Und dieser Gilbert Bancroft wird dann bereits viele Meilen
weit weg sein – irgendwohin. Sie glaubt nicht, dass sie ihn jemals Wiedersehen wird. Langsam stolpert sie voran. Und immer noch nicht kann sie weinen. In ihr ist alles verhärtet und böse. Als sie den Wagenweg erreicht, ist es schon Nacht. Aber es kommt ein Wagenzug des Wegs, der noch bis El Paso durchfahren will. Der Wagenboss lässt sie auf einen der Wagen aufsteigen, nachdem er hörte, dass sie ihr Pferd verloren hätte. Es ist dann fast schon Mitternacht, als der Wagenzug El Paso erreicht und sie sich auf den Weg zum Hotel macht. Ein Betrunkener taumelt ihr in den Weg und will sie lallend umarmen. Aber sie tritt ihm mit aller Kraft in den Unterleib. Er geht kreischend vor Schmerzen zu Boden. Aber sie verspürt eine böse Freude, und solch eine Freude wird sie von nun an wahrscheinlich immer spüren, wenn sie anderen Menschen Böses antun oder ihnen Niederlagen zufügen kann. Sie fühlt sich vom Schicksal tief verletzt, verraten und mies behandelt. Als sie in die Hotelhalle tritt, da staunt der Portier hinter dem Anmeldepult sie an. »Aber Mrs Morgan«, sagt der Mann, »was ist geschehen?« »Das verdammte Pferd hat mich abgeworfen«, lügt sie. »Und so musste ich weit zu Fuß laufen. Man hat mir im Mietstall ein schlechtes Pferd gegeben.« Nach diesen Worten nimmt sie den Zimmerschlüssel, den ihr der Portier reicht, und stolpert die Treppe hinauf nach oben. Und oben wirft sie sich bäuchlings aufs Bett. Sie würde gerne weinen, denn sie glaubt, dass ihr dies helfen könnte. Doch sie kann immer noch nicht weinen. In ihr ist alles hart. Und sie hasst die ganze Welt, in der ihr so Schlimmes angetan wurde.
* * * � Sie liegt den Rest der Nacht wach und überlegt immerzu, was sie tun soll. Eigentlich war zwischen ihr und ihren fünf Partnern ausgemacht, dass sie mit ihrem Anteil ihrer Wege gehen konnte, sobald sie die anderen fünf Beuteanteile in das Versteck gelegt hatte. Soll sie nun auf ihre fünf Partner warten? Sie werden nicht zusammen zur selben Zeit kommen. Jeder von ihnen ritt einen anderen Weg. Und sie alle würden auf Umwegen hierher kommen. Sie müsste dann jeden von ihnen überzeugen, dass dieser Gilbert Bancroft sie beraubt und sie sich völlig in seiner Gewalt befunden hatte, weil dieser verdammte Revolver nicht funktionierte. Würden sie ihr glauben? Wahrscheinlich nicht. Und auf jeden Fall würde sie ihren eigenen Anteil, den sie ja im Hotel gelassen hatte, mit ihnen teilen müssen. Daran denkt sie nicht. Sie hat schon zu viel bezahlt, sogar mit ihrem Körper; als Gilbert Bancroft ihr Gewalt antat wie ein böses Tier. Nein, jetzt will sie endlich mal gewinnen. Und so kommt sie in dieser Nacht gegen Morgen zu dem Entschluss, dass sie nicht auf die fünf Texaner warten muss. Gewiss, sie waren wie Brüder zu ihr. Aber sie will von jetzt an nur noch an sich selbst denken. Also wird sie mit ihrem Beuteanteil verschwinden. Doch wohin? Sie werden nach ihr suchen, jeder von ihnen sicherlich auf eigene Faust, wenn sie nicht aufeinander warten auf Kehoes Pferderanch. Die Fährte einer schönen Frau ist leicht zu verfolgen, denn jeder erinnert sich an sie.
Jessica begreift, dass sie für eine Weile verschwinden muss, sozusagen untertauchen. Doch wohin könnte sie? Da fällt ihr jene Ellinora Pinkerton wieder ein, der sie hatte schwören müssen, dass sie in der Not zu ihr auf die große Ranch Rosa Blanca kommen würde. Zu dieser erfahrenen Frau fühlt sie sich plötzlich hingezogen. Ja, sie will dort bei ihr für eine Weile Zuflucht suchen, sich verbergen und auch vergessen. Und sie wird ja nicht als arme Maus dorthinkommen, sondern mit mehr als dreißigtausend Dollar. Sie wird dort nur eine längere Rast einlegen. Einmal denkt sie erschrocken: Hoffentlich hat dieser Hundesohn mir kein Kind gemacht. Vielleicht sollte ich einen Kopfpreis auf ihn aussetzen, Killer anwerben, die ihn suchen und zur Hölle schicken. Sie bleibt bis zum frühen Vormittag liegen. Dann kleidet sie sich an, verzichtet auf das Frühstück – denn sie bekäme keinen Bissen herunter – und geht zum Mietstall, um dort zu sagen, dass man ihr das Pferd gestohlen hätte. Doch der Stallmann empfängt sie mit den Worten: »Aah, Lady, da sind Sie ja. Ihr Mietpferd war gestern wieder hier. Hatten Sie es zurückgebracht oder…« »Nein«, unterbricht sie ihn, und ihre Stimme klingt böse. »Man hat es mir auf der Kehoe Ranch gestohlen. Das wollte ich eigentlich nur hier melden. Doch wenn es wieder hier ist, werde wohl nicht ich als Pferdedieb gelten. Nun gut!« Sie geht wieder, und als sie am Office der Post- und Frachtlinie vorbeikommt, geht sie hinein, um sich nach der Verbindung nach San Antonio und dem Concholand zu erkundigen. Sie hat Glück, denn der Agent erwidert: »In einer knappen Stunde fährt die Mittagspost nach San Antonio ab. Es ist noch ein Platz frei. Da haben Sie aber Glück, Ma’am.« Sie kauft sich sofort eine Fahrkarte und geht dann ins Hotel,
um ihre Sachen und ihr Geld zu holen. Und als die Kutsche abfährt, sitzt sie am Fenster und starrt ins Leere. El Paso war für sie ein Unglücksort. Und wie wird es auf der Ranch Rosa Blanca sein? *** Es ist etwa vier Wochen später, als Chet Kehoe seine alte Ranch in später Nacht erreicht und die alte Laterne anzündet, in der sich noch etwas Knochenöl befindet, welches jemand einfüllte, der hier mal übernachtete. Er sieht dann sofort die weggeschobene Steinplatte und darunter den leeren Kasten, denn Gilbert Bancroft machte sich nicht die Mühe, das Versteck zu schließen. Auch Jessica dachte nicht mehr daran, bevor sie diesen Ort in tief ster Depression verließ. Eine Weile hockt er so bewegungslos. Aber seine Gedanken jagen sich. Er sieht den alten Colt im offenen Kasten liegen Was ist hier geschehen? So fragt sich Chet Kehoe. Er leuchtet mit der Lampe den Boden ab. Auf dem Steinboden liegt Staub, aber es gibt in diesem Staub viele Spuren. Aus diesen Spuren kann er nicht viel herauslesen. Nichts deutet darauf hin, dass Jessica Morgan überhaupt hier war. Doch vielleicht sollte er sich dies alles sorgfältiger bei Tageslicht ansehen. Auch müsste er draußen nach Spuren suchen. Das Öllämpchen spendet nicht genug Helligkeit. Er geht wieder hinaus zu seinem Pferd, nimmt diesem Sattel und Gepäck ab und legt sich unter einem alten Cottonwoodbaum zur Ruhe. Doch so müde er auch vom langen Reiten ist, er kann nicht
einschlafen. Immer wieder fragt er sich, was wohl geschehen sein mag. Er findet keine Antwort. Zu zahlreich sind die Möglichkeiten. Nur eines steht fest: Die Beute ist nicht im Versteck. Aber ist sie das überhaupt einmal gewesen? Ist Jessica damit überhaupt hergekommen? Haben vielleicht irgendwelche Leute hier übernachtet, das Geheimnis unter der Steinplatte entdeckt und nur den alten Colt gefunden, den sie achtlos liegen ließen? Es gibt wirklich viele Möglichkeiten. Irgendwann schläft er endlich ein, doch als der Tag dann hell genug ist, beginnt er noch einmal nach Spuren und Zeichen zu suchen. Aber es verging schon eine zu lange Zeit. Seit vier Wochen war kein Mensch mehr hier. Jessica ist von hier zu Fuß davongestolpert. Seither kam niemand mehr her. Der Wind hat längst alle Spuren verweht, und die Gräser und das Unkraut sind noch höher gewachsen. Chet Kehoe geht wieder ins Haus hinein. Er hat es damals mit zwei mexikanischen Helfern eigenhändig gebaut. Er lässt die Tür offen, und so fällt mehr Licht in den Wohnraum als nur durch die Fenster. Nun bewegt er sich auf Händen und Füßen umher, fast so wie ein schnüffelnder Hund. Und dann sieht er den Handabdruck im Staub dicht neben dem offenen Versteck. Ja, es ist unverkennbar der Handabdruck einer Frau. Hier muss sich Jessica mit einer Hand aufgestützt haben, indes sie mit der anderen Hand den Sand herausholte, der auf dem Kastendeckel lag und diesen verbarg. Ja, es war eine Frauenhand. Doch war es die Hand von Jessica? Er kriecht weiter umher und betrachtet die Fußspuren im Staub. Er kann sich jedoch kein Bild machen, obwohl er meint, dass einige Fußspuren die von einer Frau – also von Jessica – sein könnten.
Aber alles ist zu verwischt, zu undeutlich. Dann aber macht er plötzlich den alle Zweifel beseitigenden Fund. Im Staub neben der breiten Liegebank in der Ecke findet er die Haarspange einer Frau, und er weiß, diese Spange gehörte Jessica. Sie hielt damit ihr Haar hinter dem Nacken wie eine Art Pferdeschwanz zusammen. An diese Spange aus Schildpatt kann er sich gut erinnern. Sie ist kunstvoll geschnitzt und mit silbernen Plättchen eingelegt. Es ist Jessicas Spange, denkt er. Sie war hier und hat das Versteck geöffnet. Doch was ist dann geschehen? Hat jemand sie überrascht? Oder kam erst nach ihr jemand und sah ihre Spuren? Hat sie das Versteck nicht sorgfältig genug geschlossen und den Staub nicht wieder auf die Steinplatte gefegt? Oder ist alles nur eine Täuschung, ein übler Trick? Kam sie nur her, um den Eindruck zu erwecken, sie hätte ihre Aufgabe erfüllt, und nach ihr wären andere Menschen gekommen, die dann das Versteck ausräumten? Chet Kehoe begreift, dass nur Jessica selbst ihm diese Fragen beantworten kann. Und so wird er sie suchen müssen. Wenig später ist er nach El Paso unterwegs, um dort ihre Fährte aufzunehmen. Als er vor den Mietstall reitet, kommt der Alte und krummbeinige Stallmann heraus und staunt ihn ungläubig an. »Hey, Boss«, ächzt der Excowboy und Zureiter dann, »da bist du ja wieder. Aber die schöne Frau, die vor vier Wochen kam, sich bei mir ein Pferd mietete und mich nach dem Weg zur Kehoe Ranch fragte, ist längst wieder fort. Sie hat nur einen einzigen Tag gewartet.« »Und wo ist sie hin, Shorty?« So fragt Kehoe noch aus dem Sattel seinen einstigen Zureiter.
Shorty kratzt sich hinter dem Ohr. Dann erinnert er sich. »Ihr Pferd kam von allein zurück. Sie tauchte erst am nächsten Vormittag wieder hier auf und sagte, der Gaul hätte sie abgeworfen. Sie muss dann noch am selben Tag mit der Postkutsche nach San Antonio abgereist sein, denn ich sah sie nicht wieder.« »Gut, Shorty«, erwidert Chet Kehoe und sitzt ab. »Dieser Braune hat mich weite Wege getragen. Versorge mein Pferd gut, Shorty.« »Sicher, Boss, sicher.« Der kleine Mann grinst. »Und wann werden wir auf der Kehoe Ranch wieder Pferde und Maultiere züchten, Boss? Ich darf doch wieder für dich arbeiten – oder?« Chet Kehoe blickt auf Shorty Wells nieder. Dann legt er ihm die Hand auf die Schulter. »Ich habe erst noch etwas zu erledigen, Shorty«, sagt er. »Aber wenn ich wiederkomme, geht es los. Was verdienst du hier im Monat?« »Zwanzig Dollar.« »Ich gebe dir jetzt hundert als Vorschuss. Zieh hinaus auf die Ranch und schaffe dort Ordnung. Es gibt viel zu tun dort. Willst du, Shorty? Und du musst auch mein Pferd mitnehmen, denn ich fahre mit der Postkutsche weiter.« »Boss«, sagt Shorty, »auf diesen Tag habe ich gewartet. Wenn du wieder zurück bist, wird die Ranch wie neu aussehen. Ich musste mir hier den Job suchen, weil…« »Schon gut, Shorty«, unterbricht ihn Kehoe. Er nimmt die Sattelrolle, die beiden Satteltaschen und das Gewehr vom Pferd. Dann gibt er Shorty das Geld, hebt sein Gepäck wieder aus dem Staub des Hofes und geht davon. Er wird die Fährte nicht verlieren. Und er hat auch reichlich Geld zur Verfügung. Denn aus den knapp dreihundert Dollar, die jeder von ihnen auf den Weg mitnahm, als sie sich trennten, machte er vor zwei Wochen in einer harten Pokerrunde tausend. Er kann es sich leisten, eine verdammt lange Fährte zu
verfolgen. Indes er zu einem der Hotels geht, kommt er an einem Barbierladen vorbei, zu dem auch eine Badeanstalt gehört, die sich im Hof befindet und nur aus einigen Holzbottichen bestehen, die von einem Neger nach Bedarf mit heißem Wasser gefüllt werden. Er hält inne, überlegt kurz und geht durch die Hofeinfahrt nach hinten. Wenig später sitzt er in einem solchen Badefass, bekommt die Haare geschnitten und kann nachdenken. In den anderen Badefässern hocken ebenfalls Männer und verlangen immer wieder heißes Wasser, um auch wirklich alle Poren zu öffnen und den letzten Dreck aus ihnen herauszuspülen. Der Neger am großen Wasserkessel hat mächtig zu tun. Er heizt mit trockenen Kakteenleichen, dem üblichen Heizmaterial in diesem Land. Kehoe denkt jetzt an seine vier Partner. Er weiß nicht, wann und ob sie jemals herkommen werden. Nein, er will nicht auf Sie warten. Als sie sich damals trennten, war es ausgemacht, dass jeder seinen eigenen Weg reiten würde, um den Aufgeboten, welche nach fünf Reitern suchten, zu entkommen. Und auch später, wenn sich jeder von ihnen seinen Anteil geholt hatte, wollten sie nie wieder zusammenkommen. Denn sie wissen, es wurden Belohnungen auf sie ausgesetzt. Und verdächtig sind alle, die eine Menge nagelneue Yankeedollars bei sich haben. Überall im ganze Süden und Südwesten gibt es jetzt Spione in jeder Stadt und in jedem Ort, die ihre Augen und Ohren aufhalten. Denn zweihunderttausend Dollar sind zu dieser Zeit eine unvorstellbar hohe Summe. Man könnte hier in Texas damit eine Ranch mit zweihunderttausend Rindern kaufen – gäbe es solch eine Riesenranch. Es sind zehntausend Dollar Belohnung ausgesetzt. Hunderte
von Prämienjägern suchen nach den Banditen. Chet Kehoe weiß, dass jeder von seinen Partnern bei Nacht und Nebel zur Kehoe Ranch schleichen wird, um dort seinen Anteil an der Beute zu holen. Doch keiner wird etwas finden. Und dann wird sich jeder auf die Suche machen. Immer wieder denkt Kehoe: Jessica hätte warten müssen, ja, warten, um uns alles zu erklären. Es war dumm von ihr, wegzulaufen, sehr dumm, verdammt dumm. *** Es ist am nächsten Tag schon, als Chet Kehoe in der Postkutsche nach San Antonio sitzt – und immer dann, wenn die Postkutsche bei den Relaisstationen einigen Aufenthalt hat, damit die Reisenden einen Imbiss zu sich nehmen können, da fragt er die Stationsleute nach einer schönen Frau, welche vor etwa vier Wochen hier durchgefahren sein musste. Und stets bekommt er befriedigende Antworten. Jessica ist also nach San Antonio unterwegs, dies steht nun fest. Gewiss wird er sie finden. Was aber wird dann sein? Es sind an die sechshundert Meilen von El Paso nach San Antonio. Die Kutsche ist Tag und Nacht unterwegs. Immer wieder denkt Kehoe an Jessica. In ihm verändert sich etwas. Damals war sie für alle eine Schwester, denn sie wollten keinen Streit wegen einer Frau unter sich. Sie hat auch keinem von ihnen einen Grund gegeben, ihr den Hof zu machen, also keinen dazu ermutigt. Jetzt aber… Was wird sein, wenn er sie findet? *** Es ist acht Tage später, als Mitch Sloane in einer Nacht wie ein �
Wolf zur Kehoe Ranch geschlichen kommt, um sich seinen Beuteanteil zu holen. Er stellt fest, dass zwei Pferde im Corral stehen, und hört drinnen im Adobehaus einen Mann laut schnarchen. Wenig später hält er Shorty die Nase zu. Zuvor hatte er die Lampe angezündet. Im schwachen Schein der Öllampe starren sie sich an. Dann fragt Shorty: »Mann, bist du ein Bandit? Bei mir ist nichts zu holen. Ich bin hier nur, um zu arbeiten. Mein Boss ist Mr Kehoe. Und der ist weg. Was willst du, Mann?« Mitch Sloane ist denkbar schlechter Stimmung. Er blieb mit Zane McKay zusammen, und sie kamen ja auf die Idee, sich einem Aufgebot anzuschließen. Das taten sie tatsächlich. Sie wurden vom Sheriff sogar als Deputy vereidigt, so wie all die anderen Reiter, und erhielten einen Dollar pro Tag. Zwei Wochen ritten sie mit dem Aufgebot und suchten wie der Sheriff nach fünf Reitern. Sie trafen bei Hills Boro, einem Ort am Brazos, auch tatsächlich auf fünf Reiter, aber diese konnten nachweisen, dass sie aus der Gefangenschaft kamen, denn sie hatten Entlassungspapiere, aus deren Datum ersichtlich war, dass sie zur Zeit des großen Geldraubs in einer ganz anderen Gegend waren. Sie wollten sich dann sogar für einen Dollar pro Tag dem Aufgebot anschließen, doch der Sheriff war der Meinung, dass er Reiter genug hätte und ohnehin bald heimreiten würde, weil es keinen Sinn mehr hätte, weiter zu suchen. Mitch Sloane und Zane McKay trafen dann auf eine reisende Theatertruppe, die jedoch nichts anderes war als ein fahrendes Hurenhaus. Sie schlossen sich an, weil ihnen die weiblichen Schauspielerinnen die Köpfe verdrehten und sie eine Weile brauchten, bis sie kapierten, dass die gar keine Schauspielerinnen waren. Doch inzwischen hatten sie beim Spiel schon eine Menge Geld verloren.
Sie schieden dann in Unfrieden, weil es ihnen klar wurde, dass der so genannte »Zauberkünstler« der Truppe sie mit Kartentricks betrog. Es wurde ein harter Kampf, und sie ließen zwei Tote und drei Verwundete zurück, bekamen selbst dabei auch jeder etwas ab. Sie trennten sich dann, weil Zane McKay noch längere Zeit in einem kleineren Ort seine Wunde auskurieren musste, Mitch Sloane aber endlich seinen Beuteanteil holen wollte. »Nimm nur nicht meinen Anteil mit, Mitch!« So rief Zane McKay ihm noch nach und hob dabei drohend die Krücke, mit deren Hilfe er sich bewegte, weil er von jenem Zauberkünstler eine Kugel ins Bein bekommen hatte. Shorty wartet immer noch auf eine Erklärung. Aber Mitch Sloane hat keine Lust zum Reden. Inzwischen ist Shorty Wells endlich so richtig wach geworden und erinnert sich auch an Chet Kehoes Worte und genaue Anweisungen. Und so fragt er endlich, bevor Mitch Sloane sich zu etwas entschließen kann: »He, mein Boss Kehoe sagte mir, dass wahrscheinlich vier alte Kriegskameraden nach und nach kommen würden. Sag mir deinen Namen, Mann, dann werde ich wissen, ob du einer von diesen vier Burschen bist. Sag mir deinen Namen.« »Mitch Sloane«, grollt dieser. »Und was nun?« »Dann habe ich eine Nachricht für dich, Mitch Sloane.« »Verdammt, dann spuck sie endlich aus. Oder willst du daran ersticken?« »Im Kasten unter dem Stein vor dem Kamin ist nichts und war auch nichts, soll ich ausrichten. Nicht mal ein Hosenknopf sei im Kasten gewesen. Doch die schöne Jessica war hier. Nun ist Chet Kehoe hinter ihr her. Er ist nach San Antonio. Das ist alles, was ich sagen soll.« Als er verstummt, starrt Sloane ihn böse an. In ihm weigert sich alles, diesem alten Burschen zu
glauben. Fluchend nimmt er die Lampe und sucht nach dem richtigen Stein vor dem Kamin. Er findet ihn leicht, denn Kehoe hat ihnen allen ja alles sehr präzise erklärt. Selbst ein Kind hätte bei der Suche nach dem Versteck keinen Fehler machen können. Als Sloane mit dem Schüreisen die Steinplatte hebt, sagt Shorty von seinem Lager her: »Der Kasten darunter ist leer. Ich muss es ja wohl wissen, denn ich machte alles wieder zu. Da war nur ein alter Colt im Kasten.« Aber Mitch Sloane grollt nur böse und macht sich daran, den Kastendeckel freizulegen. Als er ihn öffnen kann, sieht er, dass Shorty nicht gelogen hat. Eine Weile kniet er so wie zuvor schon Chet Kehoe, und die bittere Enttäuschung lässt ihn einen Moment lang erschlaffen. Dann aber beginnt er vor Wut zu vibrieren und starrt zu jenem Ruhelager hinüber, auf dem damals Jessica von Bancroft vergewaltigt wurde und auf dem nun der kleine Shorty hockt. »Nach San Antonio ist er?« So fragt er grollend. Shorty nickt und hebt seine Hand wie zum Schwur. »Das kann ich beschwören. Kehoe stieg in die Kutsche nach San Antonio. Ich brachte ihn selbst dorthin.« Mitch Sloane atmet heftig. Doch nun bekommt er sich und seine Enttäuschung wieder unter Kontrolle. »Es kommen noch drei Mann. Kennst du ihre Namen?« »Ja, die kenne ich! Aber nenne auch du sie mir, Sloane.« »Kelso Skinner, Zane McKay und Vance McGill.« »Richtig«, nickt Shorty. »Das sind die Namen. Und ihr alle seid mit Kehoe durch den Krieg geritten. Hätte ich mir nicht so oft als Zureiter die Knochen gebrochen, wäre auch ich mit euch geritten, darauf kannst du wetten.« »Sei froh«, grollt Sloane. »Es war ein verdammter Krieg, und wir sind darin die Deppen gewesen. Sei froh. Sag den anderen, wenn sie kommen, dass auch ich nach San Antonio
gereist wäre wie Kehoe.« Er spuckt verächtlich in den leeren Kasten und stellt die Lampe auf den Tisch. Auf einem Wandregal sieht er eine noch halb volle Flasche Tequila stehen. Er tritt hin, öffnet sie und schluckt drei lange Züge aus ihr. Dann packt ihn noch einmal die Wut, und er wirft die Flasche mit einem wilden Ausbruch gegen die Wand. »Mann«, krächzt Shorty böse und voller Gift, »was kann ich dafür, wenn dir eine Laus über die Leber gekrochen ist? Glaubst du denn, ich könnte mir jeden Tag eine neue Flasche Feuerwasser kaufen? Wenn es dich beruhigt, dann scheiß doch in den leeren Kasten, aber wirf nicht meine Medizin gegen die Wand.« Mitch Sloane starrt ihn einige Atemzüge lang böse an. Dann greift er in die Tasche und holt einen Dollar heraus, dann noch einen und schließlich den dritten. Er wirft sie Shorty zu. »Dann kauf dir neue Medizin, du Wurzelzwerg«, grollt er und geht hinaus. Wenig später verklingt der Hufschlag seines Pferdes in der Nacht. *** Es ist ein langer Weg für Jessica Morgan ins Concholand zwischen San Antonio und Laredo. Aber schließlich erreicht sie doch den Ort Rosa Blanca. Zuletzt musste sie sich einen Wagen mit einem Fahrer mexikanischer Abstammung mieten, um nach Rosa Blanca zu gelangen. Aber der kleine Ort ist ja nicht die große Ranch. Er liegt nur mitten in deren Weidegebiet und stammt noch aus der Zeit der Spanier, als diese hier überall Missionen errichteten, um die Heiden zu bekehren.
Es gibt hier nur ein Gasthaus, welches Bodega, Fonda, Saloon und Store zugleich ist. Der Ort besteht aus zwei Dutzend Adobehütten und -häusern, die sich rings um die ziemlich verfallen wirkende Missionskirche gruppieren. Als der Fahrer Jessicas Gepäck auslädt, tritt ein kleiner Mexikaner aus dem Gasthaus. »Ay, Señora, was verschafft Rosa Blanca die Ehre Ihres Besuches?« So fragt er staunend. Jessica verharrt noch im Staub neben dem Wagen, dessen Fahrer jetzt auf seinen Lohn wartet. Aber Jessica will erst wissen, ob sie hier tatsächlich richtig ist. Und so fragt sie den kleinen Mexikaner, den sie für den Wirt hält, weil er eine Schürze umgebunden hat, so als würde er in der Küche arbeiten: »Señor, komme ich von hier aus zur Ranch Rosa Blanca – oder besser gesagt, zu deren Patrona Ellinora Pinkerton?« Der kleine Mann staunt. Offenbar ist er dabei gewesen, irgendein Federvieh zu rupfen, denn Jessica sieht nun da und dort weiße Federn an der Schürze. »Si, Señora, si«, erwidert er. »Aber das ist ein noch sehr weiter Weg. Werden Sie erwartet?« »Nein«, erwidert Jessica, und plötzlich verspürt sie Zweifel, ob ihr Herkommen richtig war. Doch wohin hätte sie sonst gekonnt, um für eine Weile zu verschwinden? »Ich möchte so schnell wie möglich hin, Señor«, spricht sie weiter. Der kleine Wirt nickt plötzlich heftig, so als fiele ihm in diesem Moment etwas ein. Er deutet zur Missionskirche hinauf, die auf einer kleinen Anhöhe liegt. »Señor Ernesto ist beim Padre«, sagt er schnell. »Und Señor Ernesto ist…« Er hält inne und kratzt sich hinter dem Ohr. »Ja, was ist Señor Ernesto eigentlich?« So fragt er sich selbst. Aber dann spricht er weiter: »Ay, für die Ranch Rosa Blanca ist
Señor Ernesto alles – einfach alles. Ohne ihn wäre diese große Ranch längst nicht mehr die große Schenkung der Krone Spaniens, das Reich der Patrona Ellinora. Doch ich kann ihn nicht holen lassen. Ernesto kann man nicht herbeiholen, selbst nicht für eine schöne Señora.« »Dann werde ich zu ihm gehen«, entschließt sich Jessica. Sie entlohnt ihren Fahrer und macht sich auf den Weg. Ihr Gepäck lässt sie vor dem Gasthaus einfach stehen. Die beiden Mexikaner sehen ihr eine Weile stumm nach. Dann entschließt sich der Fahrer. »Ich fahre zurück zu meinem Dorf am Wagenweg nach San Antonio. Diese da ist eine merkwürdige Señora. Ich glaube fast, sie ist auf der Flucht. Sie ließ mich schwören, dass ich niemandem erzähle, wohin ich sie gebracht hätte. Nun, sie hat mich gut bezahlt.« Indes geht Jessica den kleinen Hang hinauf und betritt bald darauf die alte Missionskirche. Draußen vor dem Eingang sah sie ein Pferd stehen, ein wunderschönes Tier, so wie es unter zehntausend Pferden gewiss kein zweites gibt. Drinnen im großen Kirchenschiff ist niemand. Doch dann meint sie Stimmen zu hören und geht dem Klang dieser Stimmen nach. Im Halbdunkel findet sie dann den Durchgang zur Sakristei. Als sie dort eintritt, sieht sie zwei sehr unterschiedliche Männer an einem alten Tisch sitzen. Zwischen ihnen auf dem Tisch befindet sich ein Schachbrett mit goldenen und silbernen Figuren, in die auch noch irgendwelche Halbedelsteine eingelassen sind. Das Schachbrett und seine Figuren sind alte Kostbarkeiten. Es ist aus Indien über Spanien in dieses Land gekommen. Die beiden so unterschiedlichen Männer wenden sich ihr zu. Einer der beiden Männer ist ein sehr, sehr alter Padre in seiner Kutte, mit weißem Haar und langem Bart. Der andere Mann wirkt auf den ersten Blick fast unscheinbar.
Doch als er sich ihr zuwendet und sie in seine hellen, etwas schräg stehenden Augen blickt, da verspürt sie jäh ein merkwürdiges Gefühl, das sie nicht zu deuten weiß. Nein, es ist keine Furcht, aber dennoch ein Gefühl wie eine instinktive Warnung. Der Mann sagt ruhig: »Lady, stören Sie uns bitte nicht.« Dann will er sich wieder dem Schachspiel zuwenden. Offenbar ist er am Zug und steckt in der Klemme. Aber Jessica sagt ruhig: »Mister, mein Name ist Jessica Morgan, und ich möchte zu Mrs Pinkerton.« Sie tritt während ihrer Worte an den Tisch und blickt auf das Spiel nieder. Nun kann sie erkennen, dass er mit seinen silbernen Figuren tatsächlich in der Klemme steckt. Sie ist eine ziemlich gute Schachspielerin, aber sie wüsste nicht, wie dieser Mann da noch etwas retten könnte. Doch sie zieht sich nun zurück bis zur Wand und setzt sich dort auf eine alte Bank, die zwischen zwei Bücherschränken steht. Es ist eine resignierende Bitterkeit in ihr. Und sie denkt: Wäre ich nur nicht hergekommen, verdammt! Dann aber sieht sie den Mann einen Zug machen, hört ihn leise lachen und dann sagen: »Das war es, nicht wahr, Padre Francisco?« »Ja, das war der einzig noch mögliche Ausweg, Ernesto«, erwidert der Padre. »Und auch diesmal hast du ihn gefunden. Gut so, Ernesto. Nun ist alles wieder offen. Du hast dich befreien können.« Sie blicken wieder beide auf Jessica, die geduldig wartet. »Zu Mrs Pinkerton wollen Sie?«, fragt jener Ernesto nun. Sie presst die Lippen aufeinander und nickt nur stumm. Da erhebt er sich, und nun zeigt es sich, dass er kaum mittelgroß ist, ziemlich hager dabei, ein Mann unbestimmbaren Alters und mit fast farblosem Haar, das schon arg gelichtet ist. Er trägt zwei Revolver im Kreuzgurt, hat sie nicht einmal in
der Kirche abgelegt. »Dann kommen Sie, Lady«, spricht er. »Ich bringe Sie zu Mrs Pinkerton. Müssen wir einen Wagen nehmen oder haben Sie nur wenig Gepäck und können sich dennoch für einen Ritt umziehen?« »Ich kann mich umziehen«, erwidert sie. »Und ich habe nur zwei Koffer und eine Reisetasche.« »Na gut, dann reiten wir«, erwidert er. »Ich besorge für Sie ein Sattelpferd und für das Gepäck ein Packtier. Gehen wir.« Er wendet sich an den Padre. »Wir spielen die Partie in den nächsten Tagen zu Ende, ja?« »Gewiss, Ernesto, gewiss«, sagt dieser und nickt. *** Eine halbe Stunde später ist Jessica mit Ernesto unterwegs. Und immer noch wundert sie sich über diesen Mann. Ständig spürt sie, dass er ein gefährlicher Mann ist, obwohl er keineswegs beachtlich aussieht, solange man nicht in seine Augen sieht. Sie reiten Meile um Meile. Der Tag nähert sich dem Ende. Jessica sieht überall Rinder, nichts als Rinder. Das ganze Land ist voller Rinder, so weit das Auge reicht. Und auch die Weide ist gut. Hier in der Nähe des Rio Grande gibt es viel Grün, auch kleine Bäche und größere Teiche. Und dennoch sind es fast zu viele Rinder – selbst für dieses gute Weideland. All diese Tiere müssen sich während des Krieges wie die Kaninchen vermehrt haben, weil es keine Absatzmärkte gab. Einige Male erblicken sie auch Reiter da und dort. Offenbar ist man beim Rinderbränden. Doch Jessica fragt nichts. Sie reitet ebenso schweigend wie dieser Ernesto. Es wird nun Nacht. Sie sind bisher mehr als zehn Meilen geritten. Doch dann endlich erblickt Jessica Lichter in der
Nacht. Zuerst glaubt sie, dass vor ihr ein Ort ist, ein Dorf oder gar eine kleine Stadt. Doch dann hört sie Ernesto über die Schulter hinweg sagen: »Da vorne die Lichter, das ist die Ranch Rosa Blanca.« In seiner Stimme klingt Stolz, etwa so, als wenn ein Vater einen besonders gut geratenen Sohn vorstellt – oder ein Künstler sein gelungenes Werk der Öffentlichkeit darbietet. Sie reiten nun auf die Lichter zu, und als sie nahe genug sind, da sieht Jessica, dass die Ranch wie eine spanische Hacienda gebaut wurde und selbst für einen Fürsten eine angemessene Residenz wäre. Als sie vor dem großen Eingang zum Innenhof anhalten, kommen zwei Pferdeburschen angelaufen, um die Tiere zu übernehmen. Sie sitzen ab. Ernesto sagt: »Folgen Sie mir, Mrs Morgan.« Sie gehen in den erleuchteten Innenhof, in den Patio. Und dieser ist ein blühender Garten, der hell erleuchtet ist. Es gibt sogar einen kleinen Teich, offenbar gespeist von einer unterirdischen Quelle. Unter den Arkaden sitzt eine Frau beim Lampenschein an einem Tisch und hat offenbar soeben das Abendessen beendet. Eine Dienerin schenkt ihr roten Wein ein. Doch dann tritt Ernesto näher und fragt: »Ellinora, kennen Sie eine Jessica Morgan? Ich habe sie hergebracht – aber…« »Jessica!« Ellinora Pinkerton ruft es voller Freude, so wie jemand, der eine unerwartete und sehr freudige Überraschung erlebt. Und nochmals ruft sie: »Jessica!« Sie erhebt sich von ihrem bequemen Sessel, kommt hinter dem Tisch hervor und breitet die Arme aus. »Jessica, mein Mädchen, komm in meine Arme! Wie schön für mich, dass du hergekommen bist, wie wunderbar!« Und Jessica eilt tatsächlich in ihre Arme, so als wäre sie eine nach langer Zeit heimgekehrte Tochter. O ja, sie ist froh und erleichtert, dass sie hergefunden hat. Als sie in Ellinoras Armen liegt, da kommen ihr die Tränen.
Ja, nun endlich kann sie weinen – nun endlich. Lange stehen sie so und halten sich fest. Dann flüstert Jessica in Ellinoras Ohr: »Ich brauche eine Zuflucht für eine Weile. Ich bin auf der Flucht. Und…« »Das wirst du mir morgen alles erzählen, Jessica«, unterbricht Ellinora sie ruhig. »Und was es auch ist oder sein mag, es ist bedeutungslos geworden. Denn hier bist du in Sicherheit vor der ganzen Welt. Ich merke, du bist erschöpft und hast einen sehr langen Weg hinter dir. Du wirst gleich baden, danach etwas essen und dann lange, lange schlafen. Denn hier bist du auf einer sicheren Insel.« Sie lösen sich, aber Ellinora legt einen Arm um Jessicas Schultern, behält sie so neben sich, so als wollte oder könnte sie Jessica nicht mehr freilassen. An Ernesto gewandt spricht sie ruhig: »Ernesto, sie ist mir wie eine Tochter, verstehst du – wie eine Tochter. Ich bin sehr froh, dass sie hergekommen ist. Ich möchte, dass sie auch unter deinem Schutz steht, mein Freund.« »Gut«, erwidert der scheinbar so schmächtige Mann. Er richtet seinen Bück im Lampenschein auf Jessica. »Gut«, sagt er noch einmal und dann geht er davon. Nun erst fällt Jessica auf, wie leicht er sich bewegt und dass man seinen Schritt nicht hört. Er trägt keine Sporen. Offenbar benötigt er keine bei seinem Pferd. »Wer ist er?« So fragt Jessica unwillkürlich. »Er ist kein zweiter Zerberus«, erwidert Ellinora. »Nein, er ist mit diesem dreiköpfigen Höllenhund in der griechischen Unterweltsage nicht zu vergleichen. Aber dennoch ist er der Beschützer der Ranch Rosa Blanca. Mein verstorbener Mann hat ihn mir gewissermaßen vermacht, ließ ihn Treue schwören. Aber er ist auch mein guter Freund, eine Art Samurai, der mich verehrt und mir Schutz gibt wie ein Ritter seiner Königin. Ich bin eine alte Frau, und er könnte altersmäßig gewiss mein Sohn sein, und dennoch meine ich manchmal, dass er mich damals,
als ich schon fünfzig war und wie dreißig aussah, geliebt hat. Es ist ein merkwürdiges Verhältnis zwischen uns. Nur eines weiß ich: Er würde für mich und die Ranch Rosa Blanca sterben. Komm, mein Kleines, komm ins Haus. Ich spüre, du bist ziemlich am Ende deiner Kräfte. Der Ritt hierher gab dir wohl den Rest. Komm!« Sie gehen in das große Haus. In der Wohnhalle ist ein Kamin, in dem man fast einen ganzen Ochsen am Spieß braten könnte. Und so überdimensional scheint alles hier im Haus zu sein. Obwohl Jessica müde und erschöpft ist, begreift sie, dass sie bei einer ungekrönten Königin angelangt ist. Ja, sie ist müde und erschöpft. Nach einem Bad wird sie gewiss nichts mehr essen können, so müde ist sie. Schlafen wird sie, lange, lange schlafen. Doch dann muss sie Ellinora alles erzählen – einfach alles. Die alte Frau hat ein Recht darauf, alles zu erfahren. *** Als sie erwacht, sitzt Ellinora neben ihr am Bett und hat den Frühstückstisch gedeckt. Es ist später Vormittag. Jessica hat lange geschlafen. Wahrscheinlich hat der starke Kaffeeduft sie geweckt. Ja, nun verspürt sie einen gewaltigen Hunger. Denn nun ist sie ausgeruht, nicht mehr bis ins Mark erschöpft. Ellinora lächelt auf sie nieder. »Das hat gut getan, nicht wahr? Nun, jetzt wird es dir gewiss doppelt gut schmecken. Es ist alles da. Willst du im Bett frühstücken oder aufstehen?« »Aufstehen«, erwidert Jessica. »Und ich muss dir endlich alles erzählen. Weißt du, ich war damals nicht ganz ehrlich zu dir. Ich hatte zweihunderttausend nagelneue Yankeedollar in einem meiner Koffer, die Beute meiner fünf Partner, die ich…« »Steh auf und erzähle es mir am Frühstückstisch, mein
Mädchen«, unterbricht Ellinora sie ruhig. »Komm, steh auf. Und dann werde ich zuhören. Weißt du, auch ich bin dir gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen. Wir werden viel Zeit haben, uns alles zu erzählen.« Jessica gehorcht. Sie steigt aus dem Bett und dehnt unter dem Nachthemd ihren geschmeidigen Körper. Oh, wie gut fühle ich mich jetzt – und wie geborgen, denkt sie. Und als sie dann die ersten frischen Biskuits mit Honig verzehrt, das Ei gegessen und die erste Tasse Kaffee getrunken hat, da beginnt sie zu erzählen. Denn sie will alles loswerden. Ellinora soll Bescheid wissen. Sie lässt nichts aus, erzählt alles haargenau. Und endlich schließt sie mit den Worten: »Jetzt weißt du alles, Ellinora – einfach alles. Darf ich nun bleiben und Tante zu dir sagen – oder soll ich wieder verschwinden?« Die alte Frau – vielleicht oder wahrscheinlich ist sie eine zweibeinige alte Wölfin – lächelt ruhig. »Für mich bist du wie eine Tochter«, spricht sie. »Ich will mehr für dich sein als nur eine Tante. Doch sag ruhig Tante zu mir. Was sind schon Namen?« Sie macht eine kleine Pause und nippt einen kleinen Schluck Kaffee vom Tassenrand. Dann aber spricht sie langsam: »Auch ich muss dir ein wenig über mich erzählen – zum Beispiel, dass ich gar keine Tochter und Enkelkinder habe, wie ich damals unterwegs in der Postkutsche sagte. Nein, ich war während des Krieges nicht auf Besuch bei Tochter und Enkelkindern – o nein. Ich hatte viele Töchter während des Krieges. Denn ich leitete ein schwimmendes Bordell für Offiziere, einen Luxusdampfer. Ich hatte die schönsten Mädchen an Bord, die man sich denken kann. Alle Hautfarben waren vertreten. Ich spionierte mit meinen Mädchen für den Süden. Denn wir lagen stets in den Städten am Mississippi vor Anker, wo die Unionstruppen waren. Wir spionierten für den Süden.«
Als sie verstummt, da staunt Jessica erst einmal eine Weile wortlos. Dann aber fragt sie: »Und warum verließest du dieses Königreich hier? Warum agiertest du als Chefin eines schwimmenden Bordells?« Da lächelt Ellinora Pinkerton wieder nachsichtig und weise zugleich. »Meine Wege waren früher rau und wild. Erst mein Mann Blake Pinkerton holte mich da raus. Ihn störte meine Vergangenheit nicht. Das war kurz nach dem mexikanischen Krieg. Er besaß damals eine Schenkungsurkunde der Krone Spaniens an einen Hidalgo. Und er brachte es fertig, dass Texas diese Schenkung anerkannte. Aber das ist eine lange Geschichte. Wir bauten in fast fünfzehn Jahren dieses Reich hier auf und machten die Ranch Rosa Blanca zu einem mächtigen Besitz. Einige alte Freunde von mir – Senatoren und andere mächtige und einflussreiche Männer – auch Generale – baten mich dann während des Krieges, meine Erfahrungen in den Dienst der Konföderation zu stellen. Ja, ich war eine Spionin des Südens mit Hilfe eines schwimmenden Bordells.« »Und dein Mann?« Jessica fragt es impulsiv. »Der lebte damals schon nicht mehr. Oh, er war ein ganz besonderer Mann, dieser Blake Pinkerton, der mich zur Frau nahm, obwohl er meine Vergangenheit genau kannte. Hier in Texas war ich dann plötzlich eine Lady – oder eine Doña, wie die Mexikaner mich nannten. Ihn nannten sie Don Blake. Er starb zwei Jahre vor dem Krieg von einer Minute zur anderen. Das Rad eines Frachtwagens war gebrochen. Er benutzte die Wagendeichsel als langen Hebel, damit der Fahrer das Rad auswechseln konnte. Aber er strengte sich dabei zu sehr an. Wahrscheinlich platzte ihm die Hauptschlagader. Er fiel um wie ein morscher Baum. Und wenn ich Ernesto nicht als Beschützer gehabt hätte in den beiden folgenden Jahren…« Sie verstummt und breitet viel sagend ihre Arme aus. »Wer weiß«, spricht sie weiter, »was dann aus Blake
Pinkertons Königreich geworden wäre. Wenn Ernesto will, kann er zweihundert Reiter in die Sättel bringen. Er kann sie zusammenholen von beiden Seiten des Rio Grande, der auch die Grenze der Ranch Rosa Blanca bildet auf mehr als dreißig Meilen.« Jessica staunt und begreift erst jetzt so richtig die Macht dieser Ranch. Sie erinnert sich auch an das Gespräch damals in der Kutsche – oder besser gesagt an den Wortwechsel – zwischen Ellinora und dem Steuereintreiber, der ja gesagt hatte, dass er auch in dieses Gebiet hier kommen würde. Nun tut ihr dieser Steuereintreiber jetzt schon Leid, sollte er wahrhaftig herkommen ins Concholand, nach Rosa Blanca und schließlich auch in dieses Königreich, das sich Ranch Rosa Blanca nennt. Jessica vermag aber das alles immer noch nicht so richtig zu glauben. Und so muss sie impulsiv fragen, weil sie vor Neugier gar nicht anders kann: »Und warum ist dieser Ernesto so treu?« Sie sieht nun, wie Ellinora am Frühstückstisch einige Sekunden lang ihre Augen schließt, so als müsste sie tief in sich hineinlauschen. Dann sieht Ellinora sie fest an. »Es ist ein Geheimnis«, spricht sie dann. »Schwöre mir, dass du es für dich behalten wirst bis ins Grab – oder bis zu Ernestos Tod.« »Ich schwöre«, sagt Jessica sofort, und sie meint es ernst. Sie hat längst begriffen, dass sie jetzt hier bei Ellinora Pinkerton auf der mächtigen Ranch Rosa Blanca ihre neue Heimat fand und die alte Abenteurerin und einstige Glücksjägerin in ihr so etwas wie ihre Tochter sieht. Ellinora nickt langsam. »Es war vor vielen, vielen Jahren, kurz nach dem Fall von Alamo, als die texanische Armee noch dabei war, die Mexikaner unter General Santa Anna endgültig zu besiegen. Ernesto war damals noch ein junger Bursche, doch er war Meldereiter. Einige Mexikaner nahmen ihn gefangen und
wollten wissen, was für eine Meldung er zu General Houston bringen sollte. Doch er verriet nichts. Da marterten sie ihn. Sie marterten ihn so schlimm wie Apachen. Jessica, sie entmannten den jungen Burschen. Verstehst du?« Jessica kann nichts sagen, nur krampfhaft nicken. Nach einer Weile spricht Ellinora weiter: »Mein Mann war damals Captain in der Texasarmee, die ja nur aus Freiwilligen bestand. Er rettete damals Ernesto vor dem Verbluten, brachte ihn zu einem erfahrenen Feldarzt. Aber Ernesto war dann kein Mann mehr. Und dennoch wollte er zumindest als solcher auftreten, und so wurde er ein unbesiegbarer Revolvermann. Die Ranch Rosa Blanca – wie sie wuchs und mächtig wurde – war ihm Ersatz für all die anderen entgangenen Freuden, die ein Mann erlebt, wenn er eine gute Frau und Kinder hat. Ernesto wird der Ranch Rosa Blanca stets die Treue halten, und er wird auch töten und sterben für diese Treue. Die Ranch Rosa Blanca ist Ernestos Leben, sein Stolz, sein Lebenszweck. Er wird stets bis an sein Lebensende der Hüter und Beschützer der Ranch Rosa Blanca sein, die er an der Seite meines Mannes mit geschaffen hat. Jetzt weißt du fast alles, Jessica, meine Kleine.« Sie verstummt fast tonlos, so als würgte ihr die Bitterkeit im Hals. »Fast?« So fragt Jessica. Ellinora nickt stumm. »Iss dein Frühstück«, verlangt sie dann. Jessica gehorcht gern dieser Mahnung. Denn sie verspürt einen gesunden Hunger. Und sie will schnell wieder zu Kräften kommen. Aber indes sie in ein frisches Biskuit beißt, ist ihr bewusst, dass es noch ein anderes Geheimnis geben muss. Denn warum hätte Ellinora sonst gesagt, dass Jessica nun fast alles wüsste? Es ist zwei Tage später, als Jessica mit Ernesto ausreitet. Ellinora will es so. Sie möchte, dass Jessica sich ein Bild
von der Ranch machen soll. Aber das wird viele Tage und Wochen dauern. Diese Weidegebiete der einstigen Schenkung der Krone Spaniens an einen verdienstvollen Hidalgo sind größer als so manches europäische Fürstentum. Jessica wird weite Ritte machen und auch in irgendwelchen Vorwerken oder Grenzhütten mit Ernesto übernachten müssen. Und sie wird all die vielen Mannschaften und Reitergruppen, die Grenzwächter und Raubzeugjäger kennen lernen, die für diese Ranch reiten. Aber sie will es gern. Sie reiten fast den ganzen Tag umher, machen dann und wann Rast an Stellen, von denen sie einen guten Rundblick haben, und reden nicht viel miteinander. Nur dann und wann erklärt Ernesto ihr etwas. Sie stoßen auch auf eine Brennmannschaft und nehmen das Mittagessen auf einem der Vorwerke am Rio Grande ein. Am späten Nachmittag aber hat Jessica genug von der ablehnenden, schweigsamen Art des Revolvermannes, der sich offenbar nur deshalb mit ihr abgibt, weil Ellinora dies so will. Sie halten wieder einmal auf einem sanften Hügel und blicken in die Runde. Da fragt Jessica: »Mister, was haben Sie gegen mich? Sagen Sie’s offen, damit Klarheit geschaffen wird. Wissen Sie, mir wurde bewusst, dass Sie ein Teil der Ranch Rosa Blanca sind. Sie ist wahrscheinlich Ihr Leben. Betrachten Sie mich als Eindringling? Möchten Sie, dass ich wieder verschwinde?« Er starrt sie mit seinen hellen, etwas schräg stehenden Augen eine Weile wortlos an, und sie kann fast körperlich spüren, wie sein Instinkt an ihr herumtastet und in sie einzudringen versucht. Schließlich nickt er und spricht: »Ellinora hat uns zusammen losreiten lassen, damit wir uns besser kennen lernen. Ich habe mir über Sie noch kein Urteil gebildet, Mrs Morgan. Ich weiß nur, dass Sie eine sehr schöne und reizvolle
Frau und auf der Flucht sind. Vielleicht sollten Sie mir heute Abend, wenn wir in einem Vorwerk am Rio Grande bei den dort stationierten Grenzreitern übernachten, Ihre Geschichte erzählen – die ganze, wahre Geschichte. Wollen Sie?« »Gewiss«, erwidert Jessica. *** Es ist dann lange nach dem Abendessen, und sie sitzen am Rio Grande, den der Silbermond zu einem schimmernden Zauberstrom macht, als sie Ernesto alles erzählt hat. Er schweigt dann lange Zeit, und so erregt sie bis eben war, nun will die Müdigkeit sie überwältigen. Sie denkt: Es muss fast Mitternacht sein. Die Reiter im Bunkhouse schlafen längst. Nur die Grenzreiter sind noch unterwegs. Aber Ernesto lässt sich Zeit. Was ist das nur für ein Mann? Sie hört ihn nun leise und ruhig sagen: »Wir Menschen machen immer wieder Fehler, erliegen Irrtümern und gehen falsche Wege. Und immer wieder treibt das Schicksal seine Spiele mit uns. Jessica, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Ellinora wollte sicherlich, dass Sie mir Ihre Geschichte selbst erzählen. Nun gut, ich weiß nun, dass Ellinora sich irgendwie in Ihnen wiedererkannt hat und Ihnen ihren eigenen Weg ersparen möchte. Ich glaube, es ist gut, dass Sie hergekommen sind, Jessica Morgan. Und was hinter Ihnen liegt, darüber sollten Sie sich keine Sorgen machen. Gehen Sie schlafen. Ich schlafe im Bunkhouse bei der Mannschaft. Gehen Sie nur, Jessica. Morgen nach dem Frühstück reiten wir weiter.« Sie erhebt sich, und indes sie den leichten Hang hinaufgeht und bald darauf das Adobehaus betritt und sich auf das Bett legt, da denkt sie: Es war wohl gut, dass ich mich diesem Mann sozusagen geöffnet habe. Ob er mich jetzt immer noch als Eindringling betrachtet? Aber sie kann sich keine Antwort
darauf geben. Von einem Atemzug zum anderen schläft sie ein, und als sie am nächsten Morgen vom Hufgetrommel vieler Pferde geweckt wird, das sich langsam entfernt und immer leiser wird, da weiß sie, dass sie verschlafen hat. Die Mannschaft ritt fort, irgendwohin zur Arbeit. Sie erscheint etwas schuldbewusst auf der Veranda zum Frühstück. Aber Ernesto lächelt ihr verständnisvoll entgegen, und da weiß sie, dass er nichts mehr gegen sie hat und sie nicht mehr als Eindringling betrachtet. Eine Stunde später sind sie ohne viele Worte wieder unterwegs. Aber nun hat sie ein gutes Gefühl, wenn sie so neben ihm reitet. Und dennoch hat sie knapp drei Stunden später, als sie durch unübersichtliches Land reiten, ein schreckliches Erlebnis. Denn sie sehen in einer kleinen Senke drei Reiter, die eine kleine Rinderherde treiben. Ernesto hält an und streckt seinen linken Arm seitlich aus, als wollte er so eine Schranke bilden, die sie zurückhalten soll. »Warten Sie«, sagt er knapp. Dann reitet er vorwärts und genau auf die drei Treiber und die kleine Herde zu, die aus etwa hundert Rindern besteht. Als die Treiber ihn kommen sehen, lassen sie von der Herde ab und reiten ihm entgegen. Jessica sieht, wie sie dann voreinander halten und es offenbar zu einem kurzen Wortwechsel kommt. Und dann krachen plötzlich die Colts. Jessica sieht, wie die drei Reiter wie von unsichtbaren Fäusten von den Pferden gestoßen werden, und begreift, dass Ernesto mit seinen beiden Colts geschossen hat, indes sein Pferd bewegungslos auf der Stelle verharrte. Jene drei Reiter, die nun von den Pferden kippen, haben zwar nach ihren Waffen gegriffen, doch waren sie viel zu
langsam. Ernesto kommt nun zu ihr geritten. Sie vermag es kaum zu glauben, doch was sie soeben sah, war ein Revolverkampf drei gegen einen. Und die drei Reiter hatten keine Chance, nicht die geringste. Sie begreift jetzt erst, als Ernesto fast schon bei ihr ist, was da geschehen ist. Sie sieht in sein Gesicht, erkennt die gnadenlose Härte darin und den kalten Glanz in seinen nun flintsteinhart wirkenden Augen. »Viehdiebe«, sagt er kurz und reitet an ihr vorbei. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Über eine Stunde reiten sie schweigend, dann stoßen sie auf eine Brennmannschaft, die mit ihrem Wagen umherzieht und all die ungebrannten Rinder mit dem Brandzeichen der Ranch kennzeichnet. Zu diesen Reitern sagt Ernesto knapp: »Reitet auf unserer Fährte zurück. Ihr werdet auf drei angeschossene oder tote Viehdiebe stoßen. Jagt sie aus dem Land oder begrabt sie. Nehmt also eine Schaufel mit.« Die Reiter gehorchen sofort. Dann ist Jessica mit ihm allein. Er sieht sie fest an. »So ist das hier«, spricht er ruhig. »Dies ist eine Riesenranch, verwundbar von allen Seiten. Wenn wir uns nicht brutal und rücksichtslos wehren, gehen wir bald unter. Dann kommen sie von allen Seiten, auch über den Rio Grande. Es wird noch schlimmer werden, wenn erst der Absatz der Rinder wieder in Gang kommt. Dann gibt es Krieg um die Rinder von ganz Texas. Und so manche Ranch wird dabei untergehen. Jessica, es musste sein. Ich sah den Schrecken in Ihren Augen. Doch wenn Sie hier bei uns bleiben wollen, dann müssen Sie akzeptieren, dass…« »Schon gut, Ernesto«, unterbricht sie ihn. »Ich habe schon einmal verloren und musste zusehen, wie unsere ehemaligen Sklaven meinen Mann erschlugen. Ich erzählte es Ihnen ja. Ich
habe begriffen, dass man um seinen Besitz kämpfen muss. Daheim war ich allein und musste flüchten. Zum Glück ist Ellinora nicht allein. So sehe ich das.« Er nickt stumm. Dann reiten sie weiter. Und bald erklärt er ihr wieder dann und wann die Besonderheiten des Landes. Sie hört aufmerksam zu und gibt sich Mühe, sich alles zu merken. Doch sie weiß, dass sie noch viele Tage und Wochen wird umherreiten müssen. Ellinora kann es nicht mehr. Deshalb soll sie es tun wie eine Nachfolgerin. Oder warum sonst? *** Wochen vergehen, und in einer dieser Nächte kommt Chet Kehoe wie ein Wolf in das Concholand geschlichen. Er reitet nur in den Nächten und taucht in solch einer Nacht auch in dem kleinen Ort Rosa Blanca auf, der ja gewissermaßen im Schatten der mächtigen Ranch lebt. Trotz der späten Stunde macht er im Store einige Einkäufe, fragt den Storehalter, der ja zugleich der Wirt des Gasthauses ist, nach dem Weg zum Rio Grande und lässt sich alles genau erklären. Dann aber erkundigt er sich nach der großen Ranch, von der er gehört habe, und fragt, ob man dort noch Reiter einstellen würde. »Reiten Sie doch hin«, erwidert der Wirt. »Es sind ja nur knapp zwei Stunden. Fragen kann man immer – nicht wahr?« Chet Kehoe lässt sich den Weg beschreiben. Er hätte noch viele Fragen, zum Beispiel jene nach einer schönen Frau. Denn er ist überzeugt, dass Jessica hierher geflüchtet ist. Er hörte unterwegs schon von der großen Riesenranch, auch, wie gefährlich es wäre, in deren Weidegebiete einzudringen. Auch als er vor dem Krieg bei San Antonio seine Pferderanch in
Gang hielt, hatte er von der großen Ranch im Rio Grande und im Concholand dann und wann gehört. Wohin kann Jessica geflüchtet sein? Dies hat er sich immer wieder gefragt. Er hat auch jenen Fahrer gefunden, der Jessica nach Rosa Blanca fuhr. Er brachte ihn zum Reden auf ziemlich raue Art. Und so kam er zu der Vermutung, dass Jessica entweder hier in Rosa Blanca oder auf der großen Ranch zu finden sein wird. Denn er hält es für ausgeschlossen, dass sie weiter zum Rio Grande wollte, um hinüber nach Mexiko zu flüchten. In Chet Kehoe ist ein grimmiger Zorn, welcher von Tag zu Tag schlimmer wurde und jetzt von ihm kaum noch zu ertragen ist. Immer mehr glaubt er, dass Jessica sie alle um die Beute betrog und nur deshalb das Versteck in seinem Haus auf der Ranch freilegte, um den Anschein zu erwecken, dass andere es entdeckt und geleert hätten. Chet Kehoe beschließt, einige Tage in Rosa Blanca zu bleiben und zu warten. Er nimmt sich also in dieser Nacht noch ein Zimmer im Gasthaus und stellt sein Pferd in den Stall. Aber am nächsten Tag macht er dann schließlich doch den großen Fehler, den er in der vergangenen Nacht, als er im Store einkaufte und dann das Zimmer mietete, vermieden hat. Er fragt die Putzfrau des Gasthauses, die auch in der Küche hilft und ihm das späte Frühstück bringt, nach einer schönen Frau, die vor etwa vier Wochen vom Wagenweg zwischen San Antonio und Laredo hierher gebracht worden sei. Die Hausgehilfin stellt sich dumm. Aber wenig später weiß der Wirt Bescheid. Und noch ein wenig später ist ein Reiter unterwegs zur Ranch Rosa Blanca. *** Es ist am nächsten Tag, als Jessica in Ernestos Begleitung in �
den kleinen Ort Rosa Blanca kommt. Als sie die kleine Plaza erreichen, erhebt sich dort Chet Kehoe am Brunnen, welcher von alten Cottonwoods umgeben wird, in deren Schatten einige alte Steinbänke stehen. Auf solch einer Bank saß Kehoe und schnitzte an einem Stück Holz herum, ganz und gar den Eindruck eines Müßiggängers machend, der zwar auf der Durchreise ist, jedoch hier in dieser kleinen Stadt ein wenig ausruhen will. Als Jessica und Ernesto ihre Pferde vor ihm zügeln, stößt Kehoe heiser hervor: »Da bist du ja endlich, schöne Jessica. Ich glaube, du wirst mir eine Menge erklären müssen. Komm herunter vom Pferd. Und den da schick weg. Na los, Jessica!« Sie sieht zur Seite auf Ernesto und nickt diesem zu. Dann sitzt sie ab, reicht Ernesto die Zügel, geht zu einer der Steinbänke und lässt sich dort nieder. »Ja, Chet Kehoe«, spricht sie, »ich habe dir eine Menge zu erklären. Komm her und setz dich zu mir.« Er reagiert noch nicht. Zuerst starrt er auf Ernesto, der wahrhaftig keinen besonders imposanten Eindruck macht. »Na los«, sagt er zu Ernesto. »Hau ab, denn wir haben private Dinge zu regeln.« Ernesto gehorcht sofort. Und reitet mit den beiden Pferden zum Gasthaus hinüber, sitzt dort ab, bindet die Tiere an und setzt sich in den Schatten des Gasthauses auf die Veranda. Er kann von dort aus über die halbe Plaza hinweg Jessica und Kehoe genau beobachten. Indes stellt sich Kehoe vor Jessica hin und blickt auf sie nieder. »Erzähl, liebe Schwester«, sagt er. »Weißt du noch, wir waren wie Brüder zu dir. Du warst für uns die Schwester, der wir zweihunderttausend Yankeedollar anvertrauten. Wo sind sie?« Sie blickt zu dem großen Mann auf, der ja eineinhalb Köpfe größer ist als sie. In seinen Augen erkennt sie etwas, was ihr
mehr als nur Sorgen macht. Sie begreift in diesen Sekunden erst richtig, dass Chet Kehoe nicht mehr der Alte ist, sondern sich verändert hat. Er ist böse geworden, denkt sie. In ihm ist jetzt Misstrauen gegen die ganze Welt. Der glaubt nur noch an sich selbst. Die Zeit, da wir wie fünf Brüder und eine Schwester waren, ist vorbei. Als das Geld – unsere Beute – nicht mehr im Versteck und ich ohne Erklärung verschwunden war, da veränderte er sich total. Sie hört sich mit einer irgendwie beschwörend klingenden Stimme sagen: »Chet, ich will es dir haargenau erzählen. Setzen wir uns.« »Nein«, erwidert er. »Sag es mir mit drei Sätzen. Los, vorwärts!« Sie schüttelt bedauernd den Kopf. Dann spricht sie: »Ein Mann – er nannte sich Gilbert Bancroft – machte mir unterwegs in der Postkutsche den Hof. Er folgte mir dann unbemerkt von San Antonio zu deiner Ranch und beobachtete mich, als ich die Beute in das Versteck legen wollte, so wie es ausgemacht war. Der alte Revolver in diesem verborgenen Kasten ging nicht los. Sonst hätte ich ihn erschossen. Aber er nahm sich alles – das Geld, mich – und dann auch mein Pferd. Verstehst du, ich war wehrlos in seiner Hand. Es tut mir Leid für euch, aber ich…« Sie verstummt plötzlich, denn in ihr ist plötzlich wieder die Erinnerung an alles, was dieser Gilbert Bancroft ihr damals antat. Damals veränderte auch sie sich in ihrem tiefsten Kern. Was ihr Mann, den zuletzt seine Sklaven totschlugen, nicht schaffte, dies schaffte dieser verdammte Mistkerl Gilbert Bancroft. Sie blickt Chet Kehoe wieder fest an. »Es ist alles weg«, spricht sie zu ihm empor. »Du hast nutzlos nach mir gesucht. Eure Anteile hat dieser Gilbert Bancroft. Er ist ein löwenhaft wirkender Bursche. Sucht nach
ihm irgendwo von El Paso aus. Er ist ein Bursche jener Sorte, die man niemals übersieht. Und jetzt lass mich in Frieden.« Sie will sich abwenden und gehen. Aber er reißt sie am Arm wieder herum. »Und deinen Anteil?« So fragt er. »Hast du den auch verloren an diesen Gilbert Bancroft?« »Nein«, erwidert sie. »Den hatte ich im Hotelsafe gelassen, bevor ich zu deiner Ranch ritt mit den anderen fünf Anteilen unserer Beute. Aber das war mein Anteil, nicht eure Anteile. Lass mich los! Du tust mir weh.« Er ist nun wild vor Wut. Sie kann es in seinen Augen erkennen. Die Enttäuschung war schon zu groß in ihm, als er den verborgenen Kasten leer vorfand. Und nun, da er sie endlich gefunden hat und sie ihm sagt, dass er der Verlierer ist, da sieht er rot wie ein gereizter Wolf, dem eine Katze die Beute wegschnappen will. »So kommst du mir nicht davon«, knirscht er. »Du wirst deinen Anteil hergeben müssen. Und was dann die anderen mit dir machen, ist mir verdammt egal.« Nun will sie sich losreißen, aber sie kann es nicht. Er will etwas zu ihr sagen, doch da sieht er Jessicas Begleiter von der Gasthausveranda herüberkommen. Ernesto sieht nicht beachtlich aus, nur wie ein kaum mittelgroßer, hagerer Bursche. Doch er trägt zwei Revolver im Kreuzgurt unter der offenen Jacke, die ihm etwas zu lang ist. Es ist eine befranste Lederjacke. Nun hat er sie zurückgeschlagen, sodass die Kolben frei sind. Chet Kehoe begreift erst jetzt, dass dieser so unscheinbar wirkende Mann unbestimmbaren Alters ein Revolvermann ist, Jessicas Beschützer, nicht irgendein Begleiter, der sich um die Pferde kümmert. Aber Chet Kehoe hat sich noch niemals vor Revolverschwingern gefürchtet. Er ist ja selbst ein
Revolvermann, der es mit Revolverschwingern selbst dann aufnehmen kann, wenn diese in der Überzahl sind. Er lässt Jessica los und geht Ernesto einige Schritte entgegen. Ja, jetzt ist er bereit, hier die Hölle loszulassen in diesem kleinen Ort. Wenn es sein muss, wird er Jessica mitnehmen. Als Ernesto ihm nahe genug ist, ruft er diesem entgegen: »He, willst du was?« »Sicher – dich«, erwidert Ernesto. Kehoe begreift endgültig, dass er Jessica nicht wird mitnehmen können, solange er mit dem Burschen vor sich nicht zurechtgekommen ist. Schon in der nächsten Sekunde begeht Chet Kehoe den größten Fehler seines Lebens. Denn er schnappt nach seinem Colt. Ja, er ist sehr schnell, sogar unwahrscheinlich schnell. Doch als er die Mündung seiner Waffe hochschwingt, da trifft ihn Ernestos Kugel mitten ins Herz. Er stirbt stehend und schießt vor Ernesto in den Staub der Plaza. Dann fällt er um, zuerst auf die Knie, dann nach vorn. Jessica verharrt starr – und mit einem Mal wird ihr mit jäh einsetzender Wucht bewusst, was geschehen ist. Chet Kehoe, den sie noch vor wenigen Wochen fast wie einen Bruder mochte und den sie für einen zwar verwilderten, doch im Grunde anständigen Kerl hielt, ist tot. Ernesto kannte keine Schonung. Sie gehört ja nun zur Ranch Rosa Blanca, und Ernesto vernichtet alles, was dieser Ranch und deren Lebewesen feindlich gegenübersteht. Und dennoch fing Chet Kehoe den Kampf an in seinem Zorn, der aus tiefster Enttäuschung geboren wurde. Ernesto bewegt sich wieder. Er hat nur den linken Colt gezogen. Nun lässt er ihn wieder wie durch Zauberei ins Holster gleiten und erreicht Jessica nach zwei Dutzend Schritten. Er geht achtlos an Kehoe vorbei, der im Staub liegt. Dieses Bild nimmt Jessica in sich auf – und es ist ein tiefes,
bitteres Bedauern in ihr. Sie denkt: Oh, Chet Kehoe, das alles musste nicht sein. Verdammt, was ist aus uns geworden? Und in was bin ich hineingeraten? Ernesto steht nun vor ihr. »Kommen Sie, Jessica«, spricht er ruhig. »Dies wäre geklärt. Reiten wir heim.« Sie erreichen die Pferde und sitzen auf. Der Wirt kam aus dem Gasthaus. Auch vor den anderen Häusern und Hütten des kleinen Ortes stehen Menschen. Nur die spielenden Kinder verschwanden. Sie liefen heim. Und irgendwo jault ein Hund, so als müsste er Kehoes Tod beklagen. Ernesto wirft vom Sattel aus dem Wirt ein Geldstück zu. Offenbar ist es ein Zehn-Dollar-Goldstück. »Beerdigt ihn«, sagt er knapp. »Sein Pferd und seine Siebensachen gehören nun euch hier in Rosa Blanca. Ihr wollt doch eine Schule mit einer Lehrerin, nicht wahr? Verkauft seinen Nachlass.« Sie reiten an und lassen Rosa Blanca, diesen winzigen Ort im Schatten der großen Ranch, hinter sich. Lange reiten sie schweigend. Erst nach drei Meilen etwa fragt Ernesto: »Und nun könnte es sein, dass noch vier von dieser Sorte kommen, nicht wahr?« Jessica beißt die Zähne zusammen und nickt stumm. In ihr ist ein Widerstreit von Gefühlen. Ja, sie ist in diesem Land mit ihrem Beuteanteil in Sicherheit, wird von einem Revolvermann beschützt, dem keiner gewachsen ist. Sie fand bei Ellinora eine Zuflucht und konnte bereits ein wenig vergessen, was dieser Gilbert Bancroft ihr antat. Aber wenn jetzt noch Mitch Sloane, Kelso Skinner, Vance McGill und Zane McKay kommen – was dann? Sie waren Partner, Freunde, Brüder. Sie vertrauten ihr die große Beute an. Nun werden sie sich betrogen fühlen und dies
nicht hinnehmen wollen. Dann bekommen sie mit Ernesto zu tun. Kann sie das verantworten, auf ihr Gewissen nehmen? Ist dieser Ernesto nicht doch ein Höllenhund wie jener Zerberus? Nach diesen Gedanken kommt in Jessica Trotz auf. Verdammt, denkt sie, ich will nicht die Verliererin sein, sondern gewinnen. Und wenn sie herkommen, um mir meinen Anteil wegzunehmen, weil sie meiner Geschichte keinen Glauben schenken – nun, dann zur Hölle mit ihnen. *** Es ist noch am selben Abend nach dem Abendbrot, als Jessica und Ellinora bei einem Glas Wein im Innenhof des alten Haciendabauwerks beisammen sitzen. Offenbar hat Ernesto Ellinora bereits alles berichtet, denn sie fragt: »Es war wohl nicht leicht für dich, Jessica?« »Nein, Tante«, erwidert diese. »Kehoe wollte keine Vernunft annehmen, nicht der Verlierer sein. Aber auch ich wollte das nicht. Es gab keinen Ausweg, als er gegen Ernesto den Revolver zog. Er muss Ernesto sehr unterschätzt haben.« »Das tun sie am Anfang alle«, murmelt Ellinora. »Und die Ranch Rosa Blanca würde längst nicht mehr existieren, gäbe es ihn nicht.« Sie macht eine kleine Pause und spricht dann härter weiter: »Du musst eines begreifen, mein Kind. Ein Königreich wie die Ranch Rosa Blanca wird stets Feinde haben. Wenn wir auch nur die geringste Schwäche zeigen, sind wir verloren. Wir haben hier kein Recht und Gesetz – nur unsere eigene Stärke: Wenn wir uns nicht behaupten können, gehen wir unter. Unsere Rinder werden bald eine Million Dollar wert sein. Dann geht der Kampf erst richtig los. Bis dahin brauchst du dein Geld. Ich brachte nicht viel mit aus dem Krieg, keine zehntausend Dollar. Doch bald werden wir eine kleine Armee
unterhalten müssen. Deine dreißigtausend Dollar machen es uns leichter, bis sich unsere Rinder in blanke Dollars verwandelt haben. Ich werde dann nicht mehr sein. Du wirst an meine Stelle treten, und Ernesto wird dich beschützen, dein Ritter sein.« Sie verstummt ernst. Jessica aber glaubt nicht richtig gehört zu haben. »Was hast du da soeben gesagt? Du wirst dann nicht mehr sein? Wann wirst du nicht mehr sein? In zehn oder zwanzig Jahren? Oder wann?« »Bald«, erwidert Ellinora Pinkerton ruhig, »bald, mein Kind. Ich bin ziemlich krank. Und dies ist das Geheimnis, das du noch nicht erfahren hast. Es kann jeden Tag passieren – oder jede Nacht. Mein Herz wird immer schwächer. Und du wirst alles erben. Das Testament liegt bei allen anderen Urkunden im Tresor, wo wir ja auch dein Geld hineingetan haben. Du bist meine Erbin, denn ich will dir meine Wege ersparen, die ich in deinem Alter gehen musste, bis Blake Pinkerton mich zu seiner Frau machte und für mich ein neues Leben begann.« »Nein«, widerspricht Jessica, »der Erbe kann doch allein Ernesto sein. Wie heißt er überhaupt richtig, doch nicht nur Ernesto?« »Ernest Kingsley ist sein richtiger Name. Und ich muss ihn nicht als meinen Erben einsetzen, denn ohne ihn wirst du die Ranch gegen den Ansturm ihrer Feinde nicht halten können. Du und er, ihr werdet wie Königin und deren getreuer Ritter sein. Ohne ihn bist du verloren. Er gehört zur Ranch Rosa Blanca wie das Land, wie die Rinder und Pferde, wie der Himmel über ihr. Er ist ein Wesen wie ein zu Fleisch und Blut gewordener Geist.« »Wie jener Zerberus«, murmelt Jessica, »wie jener Höllenhund aus der griechischen Sage, der mit den drei Köpfen. Die hat er zwar nicht, doch dafür hat er zwei
Revolver.« »So ist es, mein Kind«, erwidert Ellinora mit unerwarteter Härte. »Er beschützt die Ranch.« Jessica möchte etwas erwidern, doch dann wird sie sich wieder bewusst, dass Ellinora von ihrem baldigen Tod sprach. »Du darfst nicht sterben, Tante«, spricht sie. »Denn…« Sie bricht hilflos ab. Und Ellinora sagt in diesem Moment: »Kind, das Leben geht immer weiter. Und vielleicht ist es ja auch nicht so schlimm mit meinem Herzen. Wir werden sehen. Vielleicht dauert es noch lange. Aber damit rechnen müssen wir. Und vorbereitet musst du sein.« *** Auch Mitch Sloane findet eines Tages den Weg nach Rosa Blanca, so wie vor ihm Chet Kehoe. Nur braucht er etwas länger als dieser. Sloane reitet ganz offen in den kleinen Ort, so wie einer der wenigen Reiter, die auf dem schmalen Wagenweg zum Rio Grande wollen. Im Gasthaus fragt er dann nach Chet Kehoe. Natürlich nennt er nicht Kehoes Namen, sondern beschreibt ihn als großen, hageren Mann mit schwarzen Haaren und leuchtend blauen Augen, die niemand vergisst, der in sie blickte. Der Wirt brachte ihm zum Mittagessen einen Krug Wein auf den Tisch und erwidert: »O ja, Mister, so ein Mann, auf den die Beschreibung passt, war vor fast drei Wochen hier. Doch jetzt liegt er auf dem Friedhof. Wir haben ihn christlich beerdigt und sein Pferd mitsamt seinen anderen Habseligkeiten verkauft. Wissen Sie, wir benötigen jeden Dollar für eine Schule und eine Lehrerin oder Lehrer. Sie können auf dem Friedhof sein Grab besuchen. Sein Name – wir erfuhren ihn – steht auf dem hölzernen Grabkreuz.«
Mitch Sloane will es nicht glauben. Und er starrt in die listigen Augen des dicken Wirtes. Mit einem Mal beginnt er zu wittern, dass dies ein gefährlicher Boden für ihn ist. Dennoch fragt er: »Und wie ist der Mann, auf den meine Beschreibung zutrifft, gestorben?« »Er hieß Chet Kehoe.« Der Wirt lächelt ohne jede Freundlichkeit. »Den Namen erfuhren wir von einer schönen Frau. Und erschossen hat ihn ein gewisser Ernesto. Soll ich Ihnen einen guten Rat geben, mein Freund?« »Nur zu«, grollt Mitch Sloane, »nur zu, mein Bester.« »Reiten Sie aus dem Land, so schnell Sie können.« Der Wirt entfernt sich nach dieser Warnung. Mitch Sloane aber beendet seine Mahlzeit, trinkt dazu den roten Wein und denkt dabei unaufhörlich nach. Er weiß nun, dass Chet Kehoe offenbar die schöne Jessica gefunden hatte, denn der Wirt sprach von einer schönen Frau. Und dann wurde Kehoe von einem gewissen Ernesto erschossen. Mitch Sloane beendet seine Mittagspause, wirft einen Dollar auf den Tisch, erhebt sich und geht hinaus. Wenig später sitzt er außerhalb des Ortes beim Friedhof ab, findet schnell das noch frische Grab und liest Kehoes Namen auf dem Holzkreuzbrett. Nun weiß er es genau. Und ein gewisser Ernesto hat ihn erschossen, denkt er grimmig. Nun, dann soll mir dieser Ernesto lieber nicht in den Weg laufen. Eine alte Frau kommt zum Friedhof, wahrscheinlich um ein Grab zu pflegen. Denn sie hat eine kleine Schaufel und einen Topf mit Pflanzblumen dabei. Er greift höflich an den Hut und fragt: »Ma’am, eine schöne Frau soll vor einigen Wochen hierher gekommen sein. Wo finde ich sie?« »Auf der Ranch Rosa Blanca«, erwidert die Frau und geht
an ihm vorbei. Er aber geht zu seinem Pferd, sitzt auf und überlegt dann im Sattel. Sein Instinkt warnt ihn. Es geht ihm wie einem Wolf, der den Stahl einer Falle wittern kann. Und seine Gedanken jagen sich. Für ihn ist alles klar und sieht etwa so für ihn aus: Jessica ist mit der ganzen Beute nach hierher geflüchtet. Und als Chet Kehoe sie aufspürte, wurde er von einem Revolvermann erschossen. Jessica lebt offenbar auf einer großen und mächtigen Ranch mit der Beute und wird gut beschützt. Verdammt, denkt Mitch Sloane, soll ich auf Kelso, Vance und Zane warten? Oder soll ich es allein versuchen? *** Es ist drei Nächte später, als er unterwegs ist. Er verließ damals nach dem Friedhofsbesuch den kleinen Ort und verschwand irgendwo im unübersichtlichen Land des Rio Grande Valley. Und er ist entschlossen, nicht auf die anderen drei Partner zu warten. Denn es ist ja nicht sicher, wann und ob sie überhaupt kommen werden. Es ist eine ziemlich dunkle Nacht, als er nach der Ranch Rosa Blanca sucht. Er fand vor zwei Tagen jemanden, der ihm den Weg beschreiben konnte. Und so richtet er sich nach irgendwelchen Landmarken, wenn der Mond wieder einmal zwischen den Wolken zum Vorschein kommt. Als er über eine kleine Ebene reiten muss, sieht er am Rand dieser Ebene ein Feuer, wahrscheinlich vom Camp einer Brennmannschaft. Er reitet einen Bogen. Aber dann kommt ihm ein Reiter entgegen. Ganz plötzlich taucht der Reiter vor ihm auf. Die Nacht wurde nur für einige Minuten hell. Bald werden die Wolken wieder den Mond verbergen.
Mitch Sloane hält an, lässt den Reiter näher kommen. Dann hält auch der Reiter an. Die Entfernung zwischen ihnen beträgt etwa sechs Yards. Ihre Pferde schnauben ein wenig. Dann ist es wieder still. Mitch Sloane fühlt sich entdeckt, und so will er retten, was zu retten ist. Er fragt: »Komme ich in dieser Richtung zur Ranch Rosa Blanca?« »Nein«, erwidert der Mann, »der Weg hier führt in die Hölle. Sie sind Mitch Sloane. Sie wurden mir schon gemeldet, bevor Sie in Rosa Blanca Kehoes Grab besuchten. Sie sind ein Narr, Mitch Sloane. Ich bin Ernesto.« Als Mitch Sloane das hört, begreift er, dass er wirklich ein Narr ist und dass in diesem scheinbar so weiten, unübersichtlichen und fast menschenleeren Land nichts unbemerkt bleibt. Er stößt einen wilden Ruf aus und schnappt nach dem Colt. Um den Colt möglichst schnell herauszubekommen, stellt er sich in den Steigbügeln auf und bietet Ernesto seine Brust über dem Pferdekopf als Ziel an, als wollte er es dem Revolvermann möglichst leicht machen. Aber natürlich ist das nicht von ihm gewollt, es ergibt sich nur so, weil er schnell ziehen will. Er schafft es so wenig wie Chet Kehoe. Wieder schießt Ernesto nur einmal – und wieder trifft seine Kugel das Herz seines Gegners mit unheimlicher Präzision, so als wäre dieser Ernest Kingsley kein wirklicher Mensch, sondern eine präzise funktionierende Tötungsmaschine. Mitch Sloane liegt am Boden, denn die Kugel tötete ihn nicht nur, sondern stieß ihn zugleich wie eine unsichtbare Faust vom Pferd. Das Tier ist an Revolverfeuer gewöhnt und verharrt auf dem Fleck, ist nur ein wenig nervös. Ernesto zieht dann sein Pferd herum und reitet über die kleine Ebene auf das Feuer zu. Er muss fast eine Meile reiten, dann erreicht er eine der Brennmannschaften der Ranch. Die Männer haben natürlich den Schuss gehört. Manche lagen
bereits in den Decken. Doch als Ernesto ans Feuer reitet, sind sie alle auf den Beinen. Er bleibt im Sattel, und sein scharfer Blick trifft sie alle. Seine Augen funkeln im Feuerschein. »Ihr habt doch den Schuss gehört«, spricht er hart. »Warum ist niemand herübergeritten, um nachzusehen, wer geschossen hat? Glaubt ihr wirklich, dass ihr nur hier auf dieser Weide seid, um gehörnte Karnickel mit dem Rosa-Blanca-Brand zu versehen?« Sie schweigen eine Weile, wirken jedoch schuldbewusst. Es sind fünf Cowboys. Ihr Vormann erwidert nun: »Sir, wir dachten uns, dass Sie es wären. Einer von uns sah Sie kurz vor Nachtanbruch oben auf einem der Hügel. Und es war ja nur ein einziger Schuss. Wir wussten nicht, ob es Ihnen recht wäre, wenn jemand von uns…« »Schon gut«, unterbricht Ernesto den Mann und fügt hinzu: »Dort drüben liegt ein Toter. Sein gutes Pferd verharrt bei ihm. Einer von euch soll den Toten nach Rosa Blanca schaffen. Und dort soll man ihn neben dem Grab von Chet Kehoe beerdigen. Auf seinem Holzkreuz soll sein Name stehen. Mitch Sloane ist der Name. Habt ihr verstanden?« »Yes, Sir«, erwidert der Vormann. Da wendet Ernesto sein Pferd und reitet davon. Das Tier trabt mit der Leichtigkeit eines Wolfes. Pferd und Reiter verschwinden in der Nacht. Die fünf Männer am Feuer sind gewiss harte Burschen. Doch erst jetzt atmen sie wieder freier. Einer sagt fast flüsternd: »Manchmal frage ich mich, ob der wirklich aus Fleisch und Blut ist. Wie viele hat er wohl schon getötet als Beschützer der Ranch Rosa Blanca?« Wieder schweigen sie. Dann sagt ihr Vormann – einer von mehr als einem halben Dutzend Vorleuten der Ranch – fast tonlos flüsternd: »Viele. Er hat schon viele getötet, das wissen wir alle. Und wenn es zu viele Gegner sind, dann tötet er sie
aus der Ferne mit seiner Sharps. Er hat, wie ihr wisst, eine Sharps mit einem Zielfernrohr. Damit trifft er auch noch aus einer halben Meile Entfernung jedes Ziel, das größer ist als ein Kaninchen. Hank, du schaffst den Toten nach Rosa Blanca. Hast du dir den Namen gemerkt, der auf dem Grabkreuz stehen soll?« »Sicher, Larry, sicher.« *** Es ist zwischen Mitternacht und Morgen, als Ernesto die Hauptranch erreicht. Als er sein Tier einem der Nachtwächter übergibt, sagt dieser: »Sir, Sie sollen sofort ins Haupthaus zu Mrs Morgan kommen.« Ernesto erwidert nichts, doch er macht sich auf den Weg und betritt bald darauf den Innenhof und von dort die Räume des großen Bauwerkes. In der großen Wohnhalle brennt nur eine Lampe. Doch auch von oben fällt Lichtschein die geschwungene Treppe herunter. Er geht hinauf. Und irgendwie wirkt er zögernd, gehemmt, fast so, als müsste er sich überwinden, hinaufzugehen. Die Tür von Ellinora Pinkertons Schlafzimmer ist offen. Als er eintritt, sieht er Jessica am Bett der alten Löwin sitzen. Jessica hält Ellinoras Hand. Ernesto tritt an die andere Seite des Bettes. Auch er setzt sich und ergreift die andere Hand der Alten. Denn auch er erkennt mit einem einzigen Blick, dass es mit ihr zu Ende geht. Schon die letzten Tage und Nächte stand sie nicht mehr auf, lag matt und kraftlos im Bett, nahm kaum noch etwas zu sich. Nun, da auch er an ihrem Bett sitzt und eine ihrer Hände hält, öffnet sie die Augen. Aber es ist keine Kraft mehr in ihrem Blick – nur noch der Ausdruck von verlöschendem Leben.
Sie flüstert: »Wie schön, dass ihr beide jetzt bei mir seid. Ernesto, jetzt wird Jessica an meine Stelle treten.« »Gewiss, Ellinora«, erwidert er, »und nichts wird sich sonst hier ändern.« »Gut so«, flüstert sie. Nach einer Weile fügt sie hinzu: »Jessica wurde mir eine Tochter. Ich konnte Blake keine Kinder schenken. Aber jetzt bin ich gleich bei ihm. Lebt wohl. Erhaltet die Ranch Rosa Blanca.« Sie haucht die letzten Worte nur noch. Dann ist kein Leben mehr in ihr. Ernesto streckt seine Hand aus, um ihr die Augen zu schließen. Und Jessica kann erkennen, dass Ernestos Hand zittert, zittert wie die Hand eines Greises. Dann sehen sie sich an. Jessica sagt heiser: »Aber ich will diese Riesenranch nicht. Ich habe sie nicht verdient und nicht das geringste Recht darauf. Wenn jemand ein Recht auf die Ranch Rosa Blanca hat, dann Sie, Ernesto.« Aber da schüttelt er den Kopf und erwidert: »Es kommt nicht darauf an, wem von uns die Ranch offiziell gehört. Das ist unwichtig. Wichtig ist, dass sie erhalten bleibt und weiterhin blüht, wächst und gedeiht bis in alle Ewigkeit. Nur darauf kommt es an – ganz allein darauf. Und wir werden irgendwann einen Mann für dich finden müssen, der so ist wie damals Blake Pinkerton. Denn dieser Mann wird eines Tages an meine Stelle treten müssen.« Als Jessica dies hört, will sie es nicht glauben. Aber in Ernestos Augen erkennt sie den Ernst und beginnt zum ersten Mal richtig zu begreifen, dass Ernest Kingsley von ihr zum Nutzen der Ranch Rosa Blanca noch eine ganze Menge verlangen wird. Sie beginnt das ganze Spiel zu begreifen. Denn sie sollte nicht nur Ellinoras Nachfolgerin werden, sondern dieser Ranch irgendwann auch einen zweiten Blake
Pinkerton – einen noch jungen Blake – beschaffen mit ihrer Schönheit. Dazu war sie wahrscheinlich ausersehen. Nun ist sie gewissermaßen die Königin und hat die Pflicht, das Reich zu erhalten mit einem Prinzgemahl und Kindern als Nachkommen. Und Ernesto wird weiter der getreue und beschützende Ritter sein – aber nicht nur das. Ernesto ist der Erfüller eines Vermächtnisses. Sie sehen sich über die Tote hinweg an, und Jessica beginnt zu ahnen, dass sie in einer goldenen Falle sitzt – oder ist es gar ein Fegefeuer, wenn man bedenkt, dass Ernesto immer wieder wird töten müssen, um die Ranch zu erhalten? Ist die Riesenranch das wert? Sie beginnt zu begreifen, dass sie sich noch viele Gedanken wird machen müssen, Tag und Nacht. Sie lässt Ellinoras Hand los, erhebt sich und geht hinaus in den Innenhof. Am Himmel sind Sterne. Sie blickt hinauf und wünscht sich, dass diese Sterne ihr Antwort geben könnten auf die vielen Fragen, die jetzt auf sie zukommen werden. *** Zwei Tage später bestatten sie Ellinora Pinkerton neben Blakes Grab auf einem Hügel, von dem aus man weit in die Runde blicken kann. Das hatte Blake Pinkerton oft getan, als er noch lebte. Und dann gruben sie hier sein Grab. Jessica sieht nun zum ersten Mal fast alle Reiter der Ranch versammelt. Denn sie kamen von allen Vorwerken, Grenzhütten und Brennwagencamps. Es kamen auch einige Leute aus dem kleinen Ort Rosa Blanca. Mehr als hundert Menschen sind versammelt. Ja, es ist so, als würde eine Königin bestattet neben einem König, der schon
vor ihr gehen musste aus seinem Reich in ein anderes, in dem er nur einer unter vielen anderen Seelen ist, weil alle in diesem Reich gleich sind. Jessica wird sich wieder einmal mehr darüber klar, dass sie nun an Ellinora Pinkertons Stelle getreten ist. Nun ist sie die Königin. Und sie tut, was Ernesto von ihr verlangt. Denn sie spricht am Grab die Worte: »Eine große Lady und Patrona ging von uns und ließ die Ranch Rosa Blanca in meinen Händen zurück. Es war ihr Wille. Und so geht alles in ihrem Sinn und nach ihrem Willen weiter. Es ändert sich nichts. Die Ranch Rosa Blanca soll weiter wachsen und gedeihen. Ellinora Pinkerton wird aus dem Jenseits auf uns herabblicken. Beten wir für sie.« Sie beten dann alle laut und vielstimmig das Vaterunser. Viele der Rosa-Blanca-Reiter sieht Jessica zum ersten Mal. Fast die Hälfte sind mexikanischer Abstammung. Sie alle kommen an ihr vorbei, um ihr zu kondolieren. Und sie blickt fest in ihre Augen und fühlt sich tatsächlich wie die neue Königin. Sie und Ernesto bleiben dann zuletzt am Grab zurück. »Ellinora braucht sich keine Sorgen zu machen«, murmelt Ernesto und setzt seinen Hut wieder auf. Sie gehen zu ihren Pferden, sitzen auf und verharren in den Sätteln. Ernesto deutet mit ausgestrecktem Arm in die Runde. »Das ist dein Reich«, spricht er. »Wie gefällt es dir?« Sie sieht ihn an, zieht sogar das Pferd etwas herum, damit sie ihn nicht von der Seite her ansehen muss, sondern ihm gerade in die Augen blicken kann. »Aber wir werden bald einen Krieg um die Rinder führen müssen«, spricht sie. »Es wird viel Blut fließen und Tote geben. Ich weiß noch nicht, ob ich das ertragen kann.« »Du musst«, erwidert er hart. »Du bist die Königin, du musst. Nenne mir einen König oder eine Königin, welche nicht
irgendwann Krieg führen mussten. Ja, sie werden kommen, all diese Rinderdiebe und Maverickjäger, sie werden kommen, sobald es für die Rinder Absatzmärkte gibt. Aber es sind unsere Rinder. Wer sie uns stiehlt, den hängen wir auf. Diese Dreckarbeit verrichte ich. Mach dir keine Sorgen. Reiten wir.« »Wohin?« So fragt sie. Er starrt sie seltsam forschend an und lächelt dann hart. »Es kamen drei Fremde nach Rosa Blanca«, spricht er klirrend. »Nach deinen Beschreibungen müssten es Kelso Skinner, Vance McGill und Zane McKay sein. Dass ich Mitch Sloane töten musste – es geschah vor zwei Nächten, also in jener Nacht, als Ellinora starb – weißt du wohl noch nicht. Jetzt kamen die letzten drei deiner einstigen Partner. Sie fanden sich irgendwie und irgendwo auf deiner Fährte zusammen. Reiten wir zu ihnen und fragen wir sie, was sie von dir wollen.« Als Jessica das hört, verharrt sie eine Weile bewegungslos im Sattel. Und erst jetzt weiß sie, dass nach Chet Kehoe nun auch Mitch Sloane starb. Sie hebt die Hand und wischt sich über Stirn und Augen. Einen Moment wünscht sie sich, dies alles nur zu träumen. Doch es ist kein böser Traum. Auch Mitch ist tot – und in Rosa Blanca kamen nun McGill, McKay und Skinner an. Ja, auch sie fanden hierher auf ihrer Fährte. Wahrscheinlich verriet ihnen der Mann, der Jessica damals vom Wagenweg nach Rosa Blanca brachte, wohin er mit ihr fuhr. Und Ernestos Nachrichtensystem in diesem Land funktioniert erstklassig. Ihm entgeht nichts auf dreißig oder vierzig Meilen im Umkreis. Seine Reiter sind überall und melden die scheinbar unwichtigsten Dinge. In Jessica steigt ein Furchtgefühl hoch. Denn wenn die drei ehemaligen Partner von ihr nicht vernünftig sind, dann wird Ernesto sie ebenfalls töten. Das darf nicht sein. Sie möchte es gerne verhindern. Und so
spricht sie heiser und spröde: »Ja, reiten wir nach Rosa Blanca. Lass mich mit ihnen reden, Ernesto. Sie werden vernünftig sein, denke ich, wenn ich sie zu Kehoes Grab führe.« »Daneben ist auch Mitch Sloanes Grab«, erwidert er und reitet an. Sie folgt ihm, und die Ahnung von Unheil erzeugt in ihrer Magengegend ein Gefühl, als würde in ihrem Magen ein schwerer Stein liegen. Es will eine Hilflosigkeit in ihr aufsteigen. Sie sieht das Unheil auf sich zukommen wie eine hohe Woge. Und plötzlich verspürt sie ein Gefühl von Hass gegen Ernesto. Denn was er auch tun wird, er wird von ihr verlangen, dass sie es billigt. *** Sie kommen am Nachmittag nach Rosa Blanca. Es ist heiß. Die Hitze flimmert über dem Erdboden. Fliegen und andere Insekten summen überall. Sie müssen am Friedhof vorbei, aber Ernesto biegt vom Weg ab und reitet bis zu den Gräbern. Es sind sehr alte Gräber darunter mit Grabsteinen der spanischen Eroberer. Später wurden dann hier Mexikaner begraben. Und nun kann man auch die Namen von Angloamerikanern hier lesen, zum Beispiel Kehoe und Sloane. Ja, da auf dem Holzkreuz steht Mitch Sloanes Name. Als sie vor seinem Grab stehen, sagt Ernesto: »Er griff zuerst zum Colt. Er hatte seine Chance. Ich hielt ihn auf, als er auf dem Weg zur Ranch war. Er wollte sich wie ein Wolf zu dir schleichen, Jessica. Aber das geht nicht in diesem Land.« Sie nickt nur, starrt auf das Holzkreuz mit Mitch Sloanes Namen und denkt: Aber Mitch hatte gar nicht die Chance, mit mir zu reden. Vielleicht hätte er mir geglaubt. Dann wäre alles
anders gelaufen. Wieder steigt ein Gefühl von Abneigung oder gar Hass gegen Ernest Kingsley in ihr auf, und sie fragt sich an den beiden Gräbern: Was soll ich tun? Soll ich nicht besser alles hier aufgeben und meines Weges ziehen? Sie hört Ernesto halblinks hinter ihr sagen: »Da kommen sie. Offenbar sahen sie uns heranreiten und hier absitzen. Da kommen sie. Es sind drei Fremde. Sind es deine einstigen Partner?« Jessica schreckt aus ihren Gedanken und wendet sich zur Seite. Ja, da kommen Vance McGill, Kelso Skinner und Zane McKay sporenklirrend durch den Staub der einzigen Straße von Rosa Blanca, und man sieht ihnen an, dass sie sich zu dritt völlig sicher fühlen. Denn jeder von ihnen ist ja ein gefährlicher Revolvermann. Sie können schnell und tödlich mit ihren Revolvern umgehen. »Lass mich mit ihnen reden«, sagt Jessica zur Seite. »Geh weg und lass mich mit ihnen reden, Ernesto. Ich bitte dich.« »Sicher«, murmelt er. »Rede nur mit ihnen.« Und er wendet sich ab, tritt zu den Pferden und zieht diese an den Zügeln ein Stück fort. Doch dann tritt er von den Pferden weg und wartet scheinbar gelangweilt und nicht besonders interessiert, so als wäre er nur ein einfacher Ranchhelfer, der für die Pferde verantwortlich ist. Jessica aber wartet voller Sorge. Sie halten dann vor ihr an und betrachten sie mit bösen und verächtlichen Blicken. Sie sieht ihnen an und kann es auch riechen, dass sie getrunken haben. Vance McGill deutet an Jessica vorbei auf die beiden Gräber. »Die haben wir schon gesehen«, sagt er. »Wir wissen auch inzwischen, dass du in diesem Land eine große Lady geworden
bist. Der halbe Ort hier war zur Beerdigung deiner Gönnerin. O ja, wir haben viel gehört über dich, bevor wir herkamen. Und auch die Frau des Wirtes hat uns einiges erzählt. Na gut, machen wir es kurz! Wir wollen unsere Anteile – und auch die von Chet und Mitch, und uns kannst du nicht einfach so abschießen lassen. Also, wo ist das Geld, unsere Beute? Auf der großen Ranch?« »Ein Mann, der sich Gilbert Bancroft nannte, ein löwenhafter Bursche, hat es mir abgenommen auf Kehoes Ranch, bevor ich es in das Versteck legen konnte«, erwidert sie. »Sucht diesen Burschen. Er hat eure Beute. Sucht ihn und lasst mich zufrieden. Reitet weg, bevor euch etwas zustößt.« Sie hören ihre Worte und wollen es nicht glauben. Störrisch schütteln sie die Köpfe. Und weil sie leicht angetrunken sind, steigert das noch ihre Sturheit. »Verdammt«, stößt Zane McKay hervor, »mit uns kannst du das nicht machen. Chet und Mitch kamen nacheinander – doch wir sind zu dritt. Wir nehmen dich als Geisel, reiten zur Ranch – und dort gibst du uns die Beute. Was wir dann noch mit dir machen, wird sich finden. Na los, sag deinem Pferdeburschen, dass er die Pferde zum Gasthaus bringen soll. Wir gehen voraus. Unsere Tiere müssen noch etwas ausruhen, bis die Hitze nachgelassen hat. Gehen wir!« Sie wollen auf Jessica zutreten und diese in ihre Mitte nehmen. Doch da tönt Ernestos messerscharfe Stimme: »Lasst es bleiben!« Der Klang dieser Stimme ist es, was sie jäh innehalten lässt, nicht die Erscheinung des vermeintlich unwichtigen Begleiters der schönen Jessica. Alle drei verspüren ganz plötzlich Warnsignale, so als hätten sie eine Gefahr völlig übersehen, und so blicken sie sich um nach allen Seiten. Es ist ein Wittern in die Runde. Doch sie sehen nur diesen kaum mittelgroßen, mageren Mann, der sich
ihnen gemessenen Schrittes nähert und die Pferde einfach stehen lässt. Vance McGill faucht: »He, wer ist der denn? Sag es uns, Jessica, sag es schnell. Wer ist dieser Bursche da?« In Jessicas Stimme ist ein bitterer Klang, als sie erwidert: »Der da ist Ernesto. So nennen sie ihn hier in diesem Land – einfach nur Ernesto. Doch er hat Chet Kehoe und Mitch Sloane getötet. Sie hatten keine Chance gegen ihn. Legt euch nicht mit ihm an. Er beschützt mich. Vergesst alles. Reitet fort. Das ist eure einzige Chance, glaubt es mir. Ich will nicht, dass ihr neben Mitch und Chet beerdigt werdet hier in Rosa Blanca.« Sie flüstert die letzten Worte nicht nur bittend, sondern regelrecht beschwörend. Aber sie wollen es nicht glauben, dazu sind sie zu selbstbewusst. Sie haben schon zu viele Kämpfe bestanden. Dennoch sehen sie diesen scheinbar nur durchschnittlichen Mann plötzlich mit anderen Augen. Ernesto trägt einen schwarzen Anzug, der ihm zu weit zu sein scheint. Und die Jacke ist ihm etwas zu lang – nur die Ärmel nicht. Nun schlägt er die Jacke auf und bis hinter die beiden Revolverkolben zurück. Er hält inne und blickt fest auf die drei harten Burschen, die kamen, um sich von Jessica die Beute zu holen. Zane McKay zischt die Worte hinüber: »Pass auf, mein Freund. Du magst mit Kehoe und auch Sloane gut zurechtgekommen sein. Vielleicht hast du sie auch von hinten erledigt, damit die falsche Schlange da die Beute behalten kann. Du bist also ihr Beschützer, ja? Geht sie dafür mit dir ins Bett? Bist du damit zufrieden? Doch jetzt hast du es mit uns dreien zu tun. Nur einen von uns kannst du im besten Fall erledigen – vielleicht. Den beiden anderen gehört dann die schöne Jessica, denn du wirst tot sein. Los!« Sein letztes Wort stößt er wild und böse aus. Es ist ein Schrei, der auch für McGill und Skinner das Zeichen zum
Ziehen ist. Und so ziehen sie, wie sie es schon oft getan haben. Diesmal begnügt sich Ernesto nicht mit einem seiner beiden Colts, so wie damals, als er Kehoe und dann später Sloane im Duell tötete. Diesmal zaubert er beide Revolver in seine Fäuste. Ja, es ist wie Zauberei, schneller fast als ein Gedanke. Und dann krachen seine Waffen auch schon im selben Sekundenbruchteil. Nein, dieser Ernesto ist nicht zu besiegen. Er trifft seine drei Gegner, noch bevor sie ihre Mündungen hoch bekommen. Seine Schüsse folgen so schnell aufeinander, dass man kaum Pausen zwischen ihrem Krachen wahrnehmen kann. Jessica steht dabei, und sie hat eine Hand zur Faust geballt, hält sie an den Mund und beißt hinein. Ja, sie muss in ihre Faust beißen, weil sie sonst zu kreischen beginnen würde. Dabei denkt sie immer wieder: O Vater im Himmel, halte ihn auf! Erschlag ihn mit einem Blitz! Doch dann ist es schon geschehen. McGill, Skinner und McKay liegen im Staub. Und Ernesto verharrt noch mit den rauchenden Colts in den Fäusten, wartet noch, ob sie sich vielleicht wieder bewegen oder gar erheben, um weiterzukämpfen gegen einen Unüberwindlichen. Aber sie bewegen sich nicht mehr. Jessica aber beißt sich die Knöchel blutig. Sie achtet jedoch nicht darauf, sondern stößt einen entsetzten Schrei aus. Sie läuft zu ihrem Pferd, wirft sich in den Sattel und treibt das Tier an. Ja, sie flüchtet ohne Ziel. Sie will nur fort, nichts wie fort. *** Es ist erst am Mittag des nächsten Tages, als Ernesto die in wilder Flucht davongerittene Jessica in einer alten Grenzhütte am Rio Grande aufspürt, der ja die Westgrenze der Ranch
bildet auf seinem Weg zum Golf. Jessica hockt auf einer alten Schlafpritsche und starrt Ernesto durch die offene Tür an, als wäre er ein Wesen von einem anderen Stern. Er lehnt sich gegen den Türpfosten, holt sein Rauchzeug hervor und beginnt sich eine Zigarette zu drehen. Dies tut er mit einer Hand unwahrscheinlich schnell. Kein Zauberkünstler könnte es vollendeter machen. Ja, auch dieses Zigarettendrehen ist ein Zauberkunststück. Erst nachdem er drei lange Züge geraucht hat, sagt er ruhig: »Jessica, komm endlich heim. Es ist ja vorbei. Sie können dich nicht mehr bedrohen, weil sie dir nicht zu glauben vermochten wie Brüder einer Schwester. Sie waren also nicht deine Brüder – auch wenn sie es sein wollten. Du bist die Herrin der Ranch Rosa Blanca. Du hast Pflichten wie eine Königin und kannst nicht einfach weglaufen. Ja, ich werde noch mehr Männer töten müssen – Viehdiebe, Banditen, Feinde der Ranch. Ja, ich mache eine verdammte Dreckarbeit. Aber ich verrichte sie nicht für mich – auch nicht für dich. Alles geschieht zum Wohle der Ranch. Verstehst du, sie ist das große Werk. Sie darf nicht untergehen, wenn sie alle über sie herfallen. Komm also heim, denn du bist die Königin.« Sie sieht in seine hellen und leicht schrägen Wolfsaugen, will etwas erwidern und kann es nicht. Aber denken kann sie. Und so denkt sie voller Resignation und tiefster Bitterkeit: Jetzt weiß ich es genau. Die Ranch ist eine Art Götze für ihn, den er anbetet und für den er alles tut – einfach alles. Er ist verrückt. Ja, er muss ganz einfach verrückt sein. Ob er deshalb so wurde, weil er kein Mann mehr ist, weil ihm damals das Schlimmste angetan wurde, was einem Mann passieren kann? Er ist verrückt geworden, weil er niemals die Liebe einer Frau erleben durfte. Und so suchte er sich einen Ersatz, wurde zum Beschützer und Hüter der großen Ranch, zum treuen Ritter. Und er will mich als Königin des Landes,
damit er mir einen Mann zuführen und ich Kinder bekommen kann. Dies alles gehört zu seinem Werk, wahrscheinlich zu Ellinoras Vermächtnis. Darin waren sie sich wohl von Anfang an einig bei meinem Kommen. Sie sitzt in der Falle. Wenn sie gehorsam ist, darf sie Königin sein. Und wahrscheinlich gibt es kein Entkommen für sie. Was also soll sie tun? Sie weiß es nicht – noch nicht. Nur eines weiß sie, nämlich, dass sie gehorchen muss. Dieser Mann da beherrscht alles. Die fast hundert Reiter der Riesenranch gehorchen ihm aufs Wort, besonders seine Grenzwächter, die ja alle Revolverschwinger sind und den doppelten Lohn von Cowboys erhalten. Er ist eigentlich der Herr der Ranch Rosa Blanca. Aber zugleich gehört er dieser Ranch, weil er sich ihr gewissermaßen verschrieben hat wie ein Götzendiener. Langsam erhebt sie sich, geht an ihm vorbei zu ihrem Pferd, welches schon viele, viele Stunden hier draußen vor der alten Grenzhütte verharrt. Als sie aufsitzt und zum Rio Grande hinunterblickt, welcher keine Viertelmeile entfernt ist, da denkt sie bitter: Diese Welt könnte so schön sein! Warum nicht auch für mich? Warum muss ich immerzu durch die Hölle gehen? Aber es gibt keine Antwort. Sie reiten schweigend heim zur Ranch, halten manchmal auf Hügelkämmen und sehen in die Runde. Ja, überall sind Rinder. Da und dort kann man Reiter sehen. All die Herden stecken noch voller ungebrannter Tiere. Bald werden die Herdentrecks zur Kansasbahn beginnen. Dann ist jedes Rind mehr als zehn Dollar wert. Und die Rinderdiebe und Maverickjäger werden sich holen, was sie wegtreiben können. Wenn Jessica daran denkt, überläuft sie stets ein Schauder.
Denn Ernesto wird dann wieder töten und auch töten lassen. Er sprach ja schon davon, dass man jeden Rinderdieb hängen würde. Immer wieder denkt Jessica: Wie kann ich weg? Wie kann ich entkommen? Ihr wird bei diesem Gedanken plötzlich klar, dass sie auf alles verzichten will, darauf, Königin zu sein und steinreich zu werden. Der Preis ist zu hoch, denkt sie. Ich kann ihn nicht zahlen. Dieser Preis ist zu hoch. Ich kann mit diesem Killer keine gemeinsame Sache machen. Aber wie kann ich entkommen? Vorerst weiß sie es nicht, sieht keine Chance. Und so reitet sie mit Ernesto zur Ranch. Dieser Ernest Kingsley kann keiner Frau ein Kind machen und so für Erben sorgen. Sonst hätte er sich längst selbst zum König der Ranch Rosa Blanca gemacht. Was für einen Mann wird er Jessica als Prinzgemahl zuführen? Zum Teufel mit ihnen allen!, denkt Jessica. Sie reiten schweigend, sprechen kein Wort. Als sie nach einem Zweistundenritt die Ranch erreichen, sitzt sie ab und verschwindet sofort in ihren Räumen. Nein, er folgt ihr nicht. Er weiß, dass er sie nun erst einmal in Ruhe lassen muss. *** Tage vergehen, dann Wochen, und sie hat sich wieder einigermaßen gefangen. Was geschah, ist nur noch wie ein böser Traum in ihrer Erinnerung. Sie will auch nicht wissen, was draußen in weiter Runde überall auf den Weidegebieten geschieht. Doch einige Male bringt man verwundete Rosa-BlancaReiter zur Ranch. Es gibt keinen Arzt im weiten Umkreis, doch
der alte Padre, mit dem Ernesto in der ziemlich verfallenen Missionskirche manchmal Schach spielt, ist ein guter Heilkundiger und kommt mehrmals heraus auf die Ranch. Er versorgt die verwundeten Reiter. Jessica lädt ihn stets zum Essen ein. Und einmal fragt sie ihn: »Padre, wie stehen Sie dazu, dass Ernesto nichts anderes als ein Killer ist, für den ein Menschenleben nichts gilt, gar nichts – wie stehen Sie als Padre dazu?« Es ist eine glasharte Frage. Sie kann erkennen, wie der alte Mann tief in seinem Kern erschrickt. Erst nach einer Weile erwidert er: »Manchmal tun Menschen Gutes auf böse Weise. Es ist die Zeit, die sie dazu zwingt. Ernesto wird all seine Sünden in der Hölle abbüßen. Er weiß es und nimmt dies auf sich. Ich kann ihn nicht ändern, obwohl ich es in langen Gesprächen versuchte. Ich bin ein alter Mann am Ende meiner Tage. Ich kann nichts tun.« Er verstummt bitter und schiebt dann den Teller von sich, so als könnte er nun keinen Bissen mehr herunterbekommen. Dann spricht er die harten Worte: »Wenn man ihn damals als jungen Bursche nicht entmannt hätte, wäre sein Leben gewiss in anderen Bahnen verlaufen.« »Das ist keine Entschuldigung«, erwidert sie. »Wir alle sind Sünder, auch ich habe eine Menge falsch gemacht. Aber…« »Wenn er ein normaler Mann wäre, hätte ihm eine gute Frau eine andere Erfüllung geben können. Und nun will ich heim.« Padre Francisco erhebt sich bei seinen Worten, und Jessica begreift: Er ist ein alter Mann, der nichts mehr verändern kann und längst resigniert hat. Und durch Schachspiel kann man einen Mann wie Ernesto nicht heilen. Sie folgt ihm hinaus. Draußen wartet der Wagen mit einem Fahrer. Ja, man wird Padre Francisco heimbringen in seine verfallene Kirche. Dieser alte Mann und die alte Kirche sind irgendwie
symbolisch für die Machtlosigkeit des Guten gegen Ernest Kingsley. Jessica kehrt wieder in ihre Räume zurück. Ja, sie ist eine Gefangene. Wenn doch mal eine Kugel Ernesto treffen würde, denkt sie. Aber wahrscheinlich ist er mit dem Teufel verbündet, dem er seine Seele verpfändet hat. *** Irgendwann nach diesen ersten Tagen und Wochen wird Jessica sich darüber klar, dass sie nicht in ihrem Käfig verharren darf. Sie beginnt wieder auszureiten. Weil Ernesto sich um viele andere Dinge kümmern muss, bleibt er manchmal tagelang weg, doch dann sind stets für Jessica zwei Leibwächter auf der Ranch, schweigsame Revolvermänner, die sie nun auch wortlos bei ihren Ausritten begleiten, sich aber stets in respektvoller Entfernung halten. Für Jessica ist es klar, dass es schwer sein würde, wollte sie fliehen. Ernesto wird ihr seine besten Männer nachschicken, und diese werden sie finden, so wie ja auch Chet Kehoe und die vier anderen ehemaligen Partner sie gefunden haben. Sie müsste sehr, sehr weit flüchten, am besten zu einem Seehafen, vielleicht nach Galveston. Nur auf einem Segelschiff könnte sie entkommen. Und ihr Anteil an der Beute, jene mehr als dreißigtausend nagelneuen Yankeedollar? Was ist damit? Soll sie die mitnehmen – oder soll sie nur ihre Haut zu retten versuchen, um irgendwo bei einem neuen Anfang ihr Seelenheil wiederzufinden? Aber wenn sie auf einem Seeschiff entkommen will, wird sie gewiss ein paar Dollars haben müssen. Viele Fragen sind in ihr. Und gewiss will sie nicht plötzlich
nach all ihren Erlebnissen eine Heilige sein. An einem dieser Tage rüstet sie sich mit Proviant aus, denn sie will den ganzen Tag im Sattel bleiben und sich umsehen. Vielleicht wird sie als Herrin der Ranch sogar irgendwo in einem der Vorwerke übernachten. Wieder folgen ihr die beiden Beschützer, denn Ernesto ist schon seit drei Tagen nicht mehr auf der Hauptranch gewesen. Er kann sehr weit weg sein, einen ganzen Tagesritt weit. Die Weidegebiete der Ranch sind riesig, durchzogen von Hügelketten, Tälern, Ebenen und auch Creeks, die alle dem Rio Grande zufließen. Jessica ist viele Stunden unterwegs. Erst am späten Nachmittag denkt sie daran, einen Rastplatz zu suchen – vielleicht eine Weidehütte oder gar ein Vorwerk. Und sie hat sich überall umgesehen von den Hügelkämmen aus. Das Land ist nicht leer, sondern voller Rinder. Es müssen Zehntausende von Longhorns sein. Wenn sie sich noch mehr vermehren, werden sie bald die Weide kahl fressen, obwohl es eine gute Weide ist überall. Wieder einmal hält sie auf einem sanften Hügelkamm an, um zu schauen. Dann aber hört sie Schüsse. Dazwischen kracht immer wieder ein schweres Gewehr. Es muss eine Sharpsbüchse sein, mit der man auch noch auf große Entfernung einen Büffelbullen fällen kann. Die anderen Schüsse stammen von Revolvern und Gewehren. Jessica sieht sich nach ihren beiden Begleitern um. Diese befinden sich an die hundert Yards hinter ihr. Aber sie erkennt, dass auch sie aufmerksam wurden. Und da reitet sie plötzlich an. Ja, sie will wissen, warum da geschossen wird und ob Ernesto wieder bei seiner gnadenlosen Arbeit ist. Während der vergangenen Wochen hat sie es abgelehnt, sich um die Dinge und das Geschehen in den
Weidegebieten und an den Grenzen zu kümmern. Sie wollte nichts wissen, nichts hören, nichts sehen. Doch jetzt hat sich in ihr etwas verändert. Will sie Ernesto noch mehr verachten und hassen als ohnehin? Will sie dadurch die Kraft finden, etwas Verzweifeltes zu tun? Sie reitet bald durch eine Hügellücke auf eine Ebene hinaus, durch die sich ein kleiner Creek windet. Die Schüsse sind verklungen. Aber vor sich am Creek sieht sie einige Pferde stehen. Und leblose Körper liegen am Boden. Auch einige Rinder stehen am Creek. Die Schüsse haben sie nicht besonders beunruhigt. Hinter sich hört Jessica die Rufe ihrer beiden Begleiter. Diese lassen ihre Pferde galoppieren, wollen sie einholen. Doch Jessica wurde inzwischen eine sehr gute Reiterin. Sie reitet auch das bessere Pferd. Und so kommt sie zuerst beim Creek an, wo die sechs Toten liegen. Jawohl, es sind sechs Tote. Sie liegen weit verstreut, denn sie liefen gewiss auseinander, um Deckung zu finden. Doch an diesem flachen Creek gab es keine Deckung. Gras und Büsche sind hier von den Rindern abgefressen worden. Der Creek selbst ist kaum mehr als knöcheltief an dieser Stelle. Dafür ist er sehr breit. Die Toten hier hatten keine Chance. Der Sharpsschütze erwischte sie mühelos Mann für Mann. Und hätten sie sich auf ihre Pferde geschwungen, dann würden sie noch bessere Ziele abgegeben haben. Als Jessica den ersten Toten erreicht – dieser liegt auf dem Rücken und hat die Augen noch offen, so als hätte er über sich noch einmal den Himmel sehen wollen, da erschrickt sie so sehr, dass sie einen Schrei nicht unterdrücken kann. Dann sind die beiden Reiter rechts und links neben ihr. »Kommen Sie, Ma’am«, sagt der eine Mann scharf,
»kommen Sie, denn dies hier ist nichts für Sie. Das waren gewiss Viehdiebe, die damit rechnen mussten, dass man sie abschießen würde. Kommen Sie!« Der Mann will ihr die Zügel aus den Händen reißen, doch sie lässt dies nicht zu. »Hände weg!«, faucht sie. Dann aber reitet sie den Weg zurück, den sie vom Hügel aus gekommen ist. Vor ihren Augen wird es schwarz, so sehr sitzt der Schock in ihr. Denn sie hat den Toten erkannt. Schließlich saß sie ihm lange genug in der Postkutsche gegenüber und erlebte, wie seine damaligen Begleiter kämpften und getötet wurden. Auch Ellinora Pinkerton hatte sich in der Kutsche mit diesem Mann unterhalten. Er hatte ihr auch gesagt, dass ihm als Steuereintreiber der Union das Concholand zugeteilt worden sei und sie sich gewiss alle bald Wiedersehen würden. Er war in Begleitung jenes Mannes gewesen, der die zweihunderttausend nagelneuen Yankeedollars in einem seiner Koffer hatte. Es dauerte lange, bis sie hierher kamen. Doch sie mussten sich wohl auch erst noch Marshals und Leibwächter neu beschaffen – auch Geld. Und nun sind sie tot. Jessica zweifelt nicht daran, wer hier aus sicherer Entfernung mit der schweren Sharps geschossen und sie Mann für Mann getötet hat. Sie waren ihm in diesem deckungslosen Gelände ausgeliefert, diesem verrückten Mörder Ernest Kingsley. Sie hatten noch zurückgeschossen mit ihren Waffen. Doch gewiss war die Entfernung für ihre Revolver und Gewehre zu weit. Gegen ein weit reichendes Büffelgewehr konnten sie nichts ausrichten. Was hier geschah, dies war gewissermaßen eine Hinrichtung. Anders kann man es nicht nennen. Jessica ist davon überzeugt, dass Ernesto vom Kommen des Steuereintreibers gewusst hat. Das Nachrichtensystem der
Ranch Rosa Blanca ist vollkommen. Sie hockt eine Weile erschlafft und kraftlos wirkend auf ihrem Pferd, welches im Schritt geht und unsicher ist, weil es die Führung vermisst. Schließlich hält das Tier an und wendet den Kopf, als wollte es die Reiterin fragen: »Was ist mit dir los?« Die beiden Begleiter Jessicas kommen nun herangeritten und halten rechts und links neben ihr. »Sie hätten nicht hinreiten sollen, Ma’am«, spricht einer fast sanft zu ihr, so als täte sie ihm Leid. »Das waren gewiss Viehdiebe, welche unbemerkt einsickern konnten«, murmelt der andere Mann. »Wir haben bald einen richtigen Krieg um unsere Rinder. Und wo Krieg ist, da gibt es Tote. Ja, Ma’am, es ist Krieg. So müssen Sie es sehen.« Sie starrt den Mann an. »Ja, es ist Krieg«, erwidert sie langsam und spricht dann weiter: »Doch diese Toten da waren keine Viehdiebe. Ich kannte sie. Der eine Mann war ein Steuereintreiber der siegreichen Union. Verstehen Sie? Diese Toten sind Beauftragte der Union – nein, waren. Die Ranch Rosa Blanca hat einen Krieg gegen die siegreiche Union und deren Besatzungsmacht hier in Texas begonnen. Ernesto ist verrückt. Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, dass ihr eure Befehle von einem Verrückten bekommt?« Die beiden hartgesichtigen Männer staunen sie an. »Aber wir alle reiten und kämpfen doch für die Ranch Rosa Blanca…«, beginnt einer und bricht dann ab. »… und hier können Fremde nicht einfach so herumreiten«, spricht der andere Mann. Dann setzt der erste hinzu: »Ma’am, wir Texaner haben fünf Jahre lang gegen die Yankees gekämpft. Warum sollten wir das nicht immer noch tun, wenn sie herkommen, um uns auszuplündern? Was ist denn ein Steuereintreiber?« Sie sieht ein, dass es keinen Sinn hat, mit diesen beiden
Männern zu diskutieren. Und so reitet sie wieder an. Sie möchte Ernesto finden. Er muss ja noch irgendwo in der Nähe sein. Vielleicht beobachtet er sie sogar von einem der Hügel. Sie möchte sich in den Steigbügeln aufstellen und laut rufen: »Ernesto, du verdammter Mörder, komm her! Zeige dich, damit ich dir meine ganze Verachtung ins Gesicht spucken kann!« Doch sie lässt dieses Rufen bleiben. Was hätte es auch für einen Sinn? Sie wird Ernesto nicht ändern können, denn er ist ein fanatischer Diener seines Götzen – nämlich der Ranch Rosa Blanca. Er ist verrückt. Die Ranch ist ihm ein Ersatz für all das, was er als Mann nicht erleben konnte. Jessica will nun zurück zur Ranch. Irgendwann wird Ernesto ja dort wieder auftauchen. Und dann? Ja, was wird dann sein? *** Drei Tage und drei Nächte vergehen. Immer wieder denkt Jessica darüber nach, wie sie von der Ranch Rosa Blanca flüchten könnte, und ob sie überhaupt eine Chance zum Entkommen hätte. Ja, sie will weg. Sie will von diesem Ort flüchten. Aber sie sitzt in der Falle. Ernesto will sie als Königin in dem Reich haben, das von ihm allein gelenkt wird. Die beiden Revolverreiter, die von ihm dazu bestimmt wurden, sie zu beschützen oder besser gesagt »zu bewachen«, würden sie nicht entkommen lassen. Sie käme ohne die Begleitung dieser beiden Reiter nicht von der Ranch weg. Und so verspürt sie die immer stärker werdende Resignation einer Gefangenen in einem goldenen Käfig. Manchmal
erschrickt sie bei dem Gedanken, was für einen Mann Ernesto für sie ausersehen und herbringen wird als Prinzgemahl, der für Nachkommen sorgen soll. Sie weiß, Ernesto wird es bald tun. In diesen Tagen und Nächten kommt sie allmählich zu der Erkenntnis, dass sie dieser Falle nur entkommen kann, wenn sie Ernesto tötet. Als sie dies begreift, wird ihre Resignation noch stärker. Denn wie soll sie diesen Mann töten können, wenn selbst die schnellsten und gefährlichsten Revolvermänner es nicht zu schaffen vermögen? Ernesto ist wie ein unbesiegbarer Geist, der nur manchmal menschliche Gestalt annimmt, ausgestattet mit Zauberkräften. Immer wieder denkt sie daran, wie viele Tote es schon gegeben hat. Und sie ist gewissermaßen die Königin, das Aushängeschild. Sie denkt auch immer wieder an ihr Geld im Tresor des Ranchbüros. Es sind noch mehr als zwanzigtausend Dollar vorhanden. Das Geld, welches Ellinora Pinkerton mitbrachte – es waren an die zehntausend Dollar – und ein Drittel von Jessicas Geld wurden bereits ausgegeben. Sie kann das kontrollieren an Hand der Lohnlisten und all der anderen Ausgabenbelege. Eine Ranch mit fast hundert Leuten hat große Ausgaben, nicht nur durch die Löhne. Man braucht Proviant, Geräte, Werkzeuge. Auch all die Vorwerke und Grenzhütten müssen immerzu versorgt werden. Jessica weiß, auch ihr Geld wird in einigen Monaten aufgebraucht sein. Wenn ihr dann die Flucht gelingen sollte, wird sie ohne Mittel sein. Aber ist es überhaupt ihr Geld? Schließlich ist es nur ein Sechstel der damaligen Beute. Jene anderen fünf Sechstel raubte dieser Gilbert Bancroft. Sie erinnert sich noch gut an den löwenhaft wirkenden Mann, der ihr Gewalt antat im Adobehaus von Chet Kehoes
verlassener Pferderanch. Einige Wochen hat sie sich davor gefürchtet, dass ihr dieser Mistkerl ein Kind gemacht haben könnte. Nun muss sie dies nicht mehr befürchten, denn es verging ja schon eine lange Zeit. Sie würde dennoch gerne wissen, was dieser Kerl mit seiner Beute gemacht hat, wohin er ging und ob ihm der große Raub Glück brachte. Sie ahnt noch nicht, wie bald sie es erfahren wird. *** Es ist gegen Abend des vierten Tages, als Ernesto mit einigen Reitern auf der Hauptranch eintrifft. Sie haben einen Gefangenen bei sich, der gefesselt im Sattel sitzt. Mit diesem Gefangenen kommt Ernesto in den Innenhof geritten. Jessica, die aus der großen Wohnhalle tritt, hält jäh inne. Und alles, was sie Ernesto sagen wollte, bleibt ihr in der Kehle stecken. Denn der Mann, dessen Handgelenke am Sattelhorn festgebunden sind, o ja, diesen Mann erkennt sie sofort wieder. Er sieht jetzt zwar ziemlich ramponiert und mitgenommen aus, weil man verdammt rau mit ihm umgegangen sein muss – aber er wirkt immer noch löwenhaft. Ernesto grinst schmal. Sein hageres und asketisch wirkendes Gesicht bekommt viele Falten, und seine hellen, schrägen Wolfsaugen sind zu einem Schlitz verengt. »Ist er das?«, fragt er. Jessica blickt zu Gilbert Bancroft auf, und sie erkennt in seinen Augen die Todesangst. Ja, dieser Mann fürchtet sich so sehr, dass ihm kalte Schauer durch den Körper laufen. Sie nickt langsam. »Ja, das ist er, Ernesto. Wie konntest du ihn finden? Ich wusste gar nicht, dass du ihn suchen ließest. Warum brachtest du ihn her?«
Noch als sie spricht, wird ihr klar, dass sie – als sie Gilbert Bancroft erkannte und dies auch sagte – über diesen Mann das Todesurteil sprach. Ernesto grinst wieder schmal. »Er tat dir Böses an«, spricht er. »Du aber bist die Herrin der Ranch Rosa Blanca. Dir darf niemand ungestraft etwas Böses antun. So einfach ist das. Ja, ich ließ nach ihm von dem Tag an suchen, da Ellinora und ich von dir deine Geschichte erfuhren. Und er war eigentlich leicht zu finden. Denn solch ein prächtig aussehender Bursche fällt überall auf und hinterlässt eine deutliche Fährte. Und überdies verlor er in den Spielhallen zwischen El Paso und Santa Fe eine Menge Geld. Er ist ein verdammter Spieler, und manchmal hatte er drei Frauen bei sich, die er beschenkte und verwöhnte. Als meine Männer ihn fanden, wollte er von Santa Fe ins Goldland von Colorado. Und er hatte nur noch siebenundfünfzig Dollar in der Tasche. Er hat die ganze Beute verspielt und verhurt. Jetzt gehört er dir, Jessica. Du brauchst nur zu sagen, was wir mit ihm machen sollen. Wir können ihn aufhängen, an einem Lasso zu Tode schleifen, ins Feuer legen oder erschießen. Wie willst du deine Rache haben?« Sie erschrickt bis in ihren tiefsten Kern, und es würgt ihr die Kehle. Diesem Ernest Kingsley mangelt es an vielem, aber das Schlimmste ist, dass er sich dieses Mangels nicht bewusst ist. Sie sieht zu Bancroft hinauf. Er sitzt zusammengesunken im Sattel. Nun wirkt er gar nicht mehr löwenhaft, sieghaft und selbstbewusst. Sie hört ihn heiser flüstern: »Es tut mir so Leid, so schrecklich Leid. Ich war damals verrückt, richtig verrückt. Verzeihen Sie mir, Ma’am, oh, verzeihen Sie mir, und lassen Sie mich davonkriechen. Ja, ich bitte Sie, mich davonkriechen zu lassen wie einen Wurm.« Sie vermag kaum zu glauben, was sie da hört.
Dieser Bursche, der so gemein und gnadenlos zu ihr war, dieser großspurige Mistkerl wimmert um Gnade. Ernest beugt sich aus dem Sattel und hat plötzlich ein Messer in der Hand. Mit einer blitzschnellen Bewegung schneidet er Bancrofts Fesseln durch, sodass der Gefangene nicht mehr am Sattelhorn festgebunden ist. Dann stößt Ernesto ihn aus dem Sattel. Aber Bancroft erhebt sich nicht. Er bleibt neben dem Pferd am Boden liegen, wartet ergeben, was sie mit ihm anstellen werden. »Hol die Schrotflinte, Jessica, hol sie und…«, beginnt Ernesto. Doch sie schüttelt heftig den Kopf und spricht herbe: »Nein!« »Was?« So fragt er fauchend und fügt hinzu: »Hast du es vergessen, du bist die Herrin der Ranch Rosa Blanca! Er tat dir Böses an. Also hat er den Tod verdient. Willst du keine Rache, keine Genugtuung? Für das, was er dir antat, würde er hier in Texas überall gehenkt werden und auch fast überall westlich des Mississippi.« »Er ist ein Wurm geworden«, spricht sie ruhig. »Ich räche mich nicht an Würmern. Sieh ihn dir an! Er liegt vor mir im Staub und wimmert um sein Leben. Er hat mich damals nur beschmutzt, mehr nicht. Jag ihn fort, Ernesto. Und dann will ich mit dir reden.« Nach diesen Worten wendet sie sich ab und verschwindet durch die offene Tür in der großen Wohnhalle des prächtigen Herrenhauses, das einst ein stolzer Hidalgo von seinen Sklaven errichten ließ. Nein, sie will keine Rache. Es hat schon zu viele Tote gegeben. Und aus Gilbert Bancroft wurde ein Wurm. Bis aus Santa Fe haben sie ihn hergebracht. Gewiss hat er unterwegs eine Menge ertragen müssen und war zerbrochen worden. Als sie im Haus verschwunden ist, verharrt Ernesto länger
als ein Dutzend schwerer Atemzüge im Sattel. Und Bancroft liegt wie tot am Boden. Dann spuckt Ernesto auf ihn nieder und befiehlt: »Steh auf!« Bancroft gehorcht. »Und nun lauf!« Ernesto zischt es böse. Abermals gehorcht Bancroft blitzschnell. Er läuft aus dem Innenhof hinaus ins Freie und dann über den Hof zum großen Torbogen, durch welchen der Weg hinaus auf die Weide führt. Er läuft, so schnell er kann, und seine Todesfurcht verleiht ihm Kraft und Ausdauer. Und so bringt er es fertig, eine halbe Meile weit sehr schnell zu laufen. Dann aber muss er keuchend anhalten. Er fällt sogar auf die Knie, und er wagt keinen einzigen Blick zurück. Durch seine keuchenden Atemzüge hört er dann den Hufschlag eines Pferdes. Eine Lassoschlinge wird um seinen Oberkörper geworfen und vom anspringenden Pferd mit einem gnadenlosen Ruck zugezogen. Er hört Ernestos Stimme rufen: »Ich helfe dir! Du brauchst nicht mehr zu laufen!« Nun wird er von einem galoppierenden Pferd über den Boden gezogen. Noch hofft er, dass dies seine ganze Strafe ist. Aber bald schwinden ihm die Sinne. Und mit seinem letzten Gedanken begreift er, dass er nie wieder erwachen wird. *** Es ist schon Nacht, als Ernest Kingsley in die große Wohnhalle tritt, wo Jessica in einem der Sessel sitzt. Es brennt keine Lampe, auch keine Kerze in den Leuchtern. Nur vom Innenhof, in den das Licht der Gestirne fällt, dringt ein Schimmer in die Wohnhalle, sodass Ernesto die Frau im Sessel sitzen sehen kann.
»Soll ich Licht machen, die Lampe oder Kerzen anzünden?« So fragt er heiser. »Nein«, erwidert sie ruhig. Dann fügt sie hinzu: »Setz dich zu mir, Ernest Kingsley. Verdammt, wir müssen über alles reden.« »Sicher«, erwidert er. Doch zuerst tritt er an den Tisch, wo die Flaschen und die Gläser stehen, und bedient sich aus der Flasche mit dem Bourbon. Er trinkt ihn stets pur, doch sehr mäßig, manchmal nur einen einzigen Schluck. Mit dem nur zwei Finger breit gefüllten Glas geht er zu einem der Sessel und setzt sich Jessica gegenüber. »Nun, dann reden wir«, sagt er ruhig. »Ich weiß, dass dir eine Menge nicht gefällt und ich dir zu hart bin. Aber…« »Was hast du mit Gilbert Bancroft gemacht?« Mit dieser Frage unterbricht sie ihn scharf. »Du bist ihm nachgeritten. Hast du ihn laufen lassen?« »Ich ersparte ihm das Laufen, denn ich zog ihn an meinem Lasso«, erwidert er hart und fügt hinzu: »Hast du immer noch nicht begriffen, Jessica Morgan, dass wir uns in diesem Land nur durch rücksichtslose Stärke behaupten können und auch nicht die kleinste Schwäche zeigen dürfen? Du hast mich enttäuscht. Ich wollte dir einen Dienst erweisen wie ein getreuer Ritter seiner Königin. Ich brachte dir den Mann, der dir das Schlimmste antat, was man einer Frau antun kann. Und dann warst du zu schwach für eine Rache. Aber gut, du hast ja mich. Ich erledige die Dreckarbeit, es macht mir nichts aus. Du kannst die gute und saubere Königin bleiben. Den Dreck nehme ich auf mich, das habe ich hier immer getan. Diese Ranch ist mein Werk. Aber sie soll Erben bekommen. Ich habe Boten ausgesandt. Bald werden die ersten Bewerber kommen. Du wirst Zeit haben, dir einen Mann auszusuchen, und dann…« »Du bist verrückt, Ernesto!« So ruft sie fast verzweifelt und erfüllt von panischem Schrecken.
»Sag dies nie wieder zu mir«, zischt er, »nie wieder! Ich bin nicht verrückt. Ich bin nur ein getreuer Ritter und Beschützer dieser Ranch und auch deiner.« Sie möchte nun aufschreien und fortlaufen, doch sie zwingt sich zur Ruhe und will auf keinen Fall ihre Selbstkontrolle verlieren. Und so fragt sie scheinbar gelassen: »Wie war das vor vier Tagen am Creek? Ich fand dort sechs Tote – und einer davon war ein Steuereintreiber der Besatzungsmacht. Man wird irgendwann hier nach ihm suchen. Hast du ihn und seine Begleiter getötet? Sag es mir, Ernesto. Ich muss es wissen!« Sie ruft die letzten Worte scharf. Er lässt sie auf eine Antwort warten, leert erst sein Glas. Dann murmelt er: »Ja, ich bekam gemeldet, dass von San Antonio ein Steuereintreiber unterwegs zu uns sei. Und er hatte zwei US Deputys dabei. Begleitet wurden sie von einem gewissen Earl Simmons. Auch von ihm hattest du mir erzählt. Denn ihm hattet ihr die zweihunderttausend Yankeedollar gestohlen. Ich konnte sie nicht herkommen lassen, denn die Sache war für mich klar. Der Steuereintreiber hätte uns unser ganzes Geld abgenommen. Denn es wurden hier über sechs Jahre keine Steuern mehr gezahlt. Vielleicht wäre diese Ranch wegen tausend Dollar zur Versteigerung gekommen. Denn so machen es diese Banditen, wenn Steuereintreiber und Aufkäufer zusammenarbeiten, so machen sie es. Ja, ich habe sie abgeschossen wie Geier. Für die Ranch Rosa Blanca, nicht zu meinem Vorteil. Ich werde noch mehr töten, wenn es sein muss.« Er verstummt knirschend. Sie aber kann nicht mehr. Langsam greift sie neben sich, denn dort liegt – verborgen von den vielen Falten ihres Rockes – der Revolver. In der Dunkelheit des Raumes kann Ernesto auch nicht erkennen, dass sie die Waffe in beide Hände nimmt.
Erst als sie mit dem Daumen der Rechten den Hammer zurücklegt, hört er das metallisch knackende Geräusch. »He, hast du da einen Revolver? Willst du mich erschießen?« So fragt er. Sie aber erwidert: »Das muss ich, Ernesto, das muss ich. Denn sonst komme ich nicht aus dieser Falle heraus – und sonst würdest du für die verdammte Ranch immer wieder morden. Denn du bist verrückt.« Sie ist darauf vorbereitet, dass er aufspringen wird. Denn in dem tiefen Sessel kann er seine Waffen nicht ziehen. Er muss erst hochkommen, und so hat sie den Vorteil für sich. Aber er springt nicht auf. Er spricht vielmehr ruhig: »Jessica, wenn du mich erschießen solltest, dann vernichtest du auch die Ranch. Dann werden sich alle um unsere Weide und die Rinder streiten wie hungrige Wölfe um eine wehrlose Beute. Du vernichtest alles, was von Blake Pinkerton, von Ellinora und mir geschaffen wurde. Du lässt ein Rinderreich untergehen.« »Ja, so ist es wohl – und es ist gut so!« Sie ruft es mit einem verzweifelten Klang in der Stimme, und dann drückt sie ab, einmal, zweimal, dreimal – bis der Revolver leer ist. Und selbst dann drückt sie immer noch ab und erwacht schließlich wie aus einem wilden Traum, erhebt sich und lässt den leer geschossenen Revolver fallen. Als dann die Leute der Ranch in die Wohnhalle kommen, alarmiert von den Schüssen, da hat sie die große Lampe angezündet und steht neben dem toten Ernesto, der zurückgelehnt im Sessel sitzt. Sie alle – es sind an die sechs Reiter, Ranchhelfer und auch der Schmied – starren auf dieses Bild, zusammen fast ein Dutzend. Sie aber sagt: »Ich konnte ihn nicht länger für eine Ranch morden lassen. Zum Teufel mit der Ranch Rosa Blanca – zum Teufel mit ihr! Ich will sie nicht! Macht mit ihr, was ihr wollt.
Ich will nichts anderes als fort von hier! Habt ihr eigentlich nie gemerkt, dass er verrückt war?« Sie verharren schweigend. Dann nicken sie zögernd. Der Schmied sagt leise: »Ja, das war er wohl. Und nun…« Er verstummt hilflos. Alle sind sie jetzt hilflos. Denn es brach für sie eine Welt zusammen. *** Es ist vier Tage später, als Jessica Morgan im Hafen von Galveston ein Seeschiff besteigt, welches nach New Orleans will. Man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Vielleicht wurde sie glücklich. ENDE