Anne Honer · Michael Meuser Michaela Pfadenhauer (Hrsg.) Fragile Sozialität
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Anne Honer · Michael Meuser Michaela Pfadenhauer (Hrsg.) Fragile Sozialität
Anne Honer · Michael Meuser Michaela Pfadenhauer (Hrsg.)
Fragile Sozialität Inszenierungen, Sinnwelten, Existenzbastler Ronald Hitzler zum 60. Geburtstag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17173-9
Quelle: christianschauderna.de
Vorwort
Versucht man Ronald Hitzlers umfang- und facettenreiches Œuvre auf einen Nenner zu bringen, so bietet sich, sofern dies überhaupt gelingen kann, die an Erving Goffman anschließende Einsicht in die Fragilität des Sozialen an. Unter dem Titel „Der Goffmensch“ hat Hitzler diese seine Auffassung als eine dramatologische Anthropologie fundiert. Deshalb wird dieser viel zitierte und von vielen (auch in diesem Band vertretenen) Kolleginnen und Kollegen als eine Art Hitzlersche Programmatik aufgenommene Artikel, der auf einem 1991 gehaltenen Vortrag beim Workshop ‚Implizite Anthropologien‘ der Arbeitsgruppe ‚Soziologie und philosophische Anthropologie‘ beruht und in Heft 4/1992 der Zeitschrift ‚Soziale Welt‘ erstmals erschienen ist, in dieser Festschrift für Ronald Hitzler anlässlich seines 60. Geburtstags unverändert wiederabgedruckt. Darin entfaltet er seinen an Goffman angelehnten Ansatz als eine sozialwissenschaftliche Perspektive, die vor allem zu erhellen sucht, „wie vom Individuum aus gesehen Gesellschaft erscheint, statt von der Gesellschaft her nach dem Individuum zu fragen“ (im vorliegenden Band S. 29). Infolgedessen plädiert Hitzler methodologisch vehement für eine Perspektive, welche nicht die großen Strukturen und funktionalen Zusammenhänge, sondern eben den Menschen und dessen Sicht der Dinge zum Ausgangspunkt soziologischer Erkundungen, Rekonstruktionen und Reexionen macht. Diese Perspektive ndet ihren Niederschlag in dem von ihm mit-entworfenen Programm einer hermeneutischen Wissenssoziologie, welche die Konstitutionsbedingungen des Sozialen erfassen will, indem sie dessen subjektive Fundierung rekonstruiert. Im Fokus stehen die ihre Welt interpretierenden Subjekte und deren Deutungen. Mit großer Skepsis begegnet Hitzler folglich allen soziologischen Ansätzen, die a tergo-Strukturen welcher Art auch immer als die treibende und ordnende Kraft des gesellschaftlichen Prozesses annehmen. Demgegenüber verortet Hitzler seine Soziologie in der wissenssoziologischen Tradition, die mit den Namen Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann bezeichnet ist, wonach die objektiven Eigenschaften historisch sozialer Wirklichkeiten auf den universalen Strukturen subjektiver Orientierung in der Welt beruhen. Spätestens in seiner Dissertation über „Sinnwelten“, einem „Beitrag zum Verstehen von Kultur“ – so der Untertitel –, ist ein Fundament gelegt, in dem die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie um existenzialphänomenologische Überlegungen ergänzt wird. Im Rekurs auf Kurt H. Wolff hie und Jean-Paul Sar-
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tre da entwirft Hitzler darin sein Verständnis eines „Existenzialen Verstehens“, das die auf eine Auistung der kognitiven Strukturen der Lebenswelt begrenzte Mundanphänomenologie Alfred Schütz’ um emotionale Bewusstseinsakte zu ergänzen trachtet. Seine an Sartre gewonnene Einsicht, dass der Mensch „ein (sozial) Gemachtes [ist], das aus dem, wozu es gemacht wurde, stets etwas machen kann, ja, dass es gar nicht umhin kann, etwas daraus zu machen“ (Hitzler in „Sinnwelten“, S. 51), führt ihn zu einem methodischen Skeptizismus als Grundhaltung des Soziologen gegenüber seinem Gegenstand. Angeregt durch Kurt H. Wolffs Ansatz der „Hingabe“ plädiert er methodisch für ein existenzielles Engagement, ohne Wolff allerdings in der Konsequenz einer ‚Auslieferung‘ an emotionale Vorgaben zu folgen. Existenzielle Involviertheit eröffnet einen zusätzlichen, sensibilisierenden und erkenntniserweiternden Zugang, der andere Methoden jedoch nicht ersetzen kann und der phänomenologischen Methode gleichsam zur Kontrolle und kognitiven Distanznahme bedarf. Es ist aber nicht nur das hohe Maß an Afziertheit, das den Hitzlerschen Arbeits- und Forschungsstil kennzeichnet. Hinzu kommt eine kaum stillbare Neugierde auf die Wirklichkeit in ihren vielfältigen Erscheinungsformen, Entstehungszusammenhängen und Folgewirkungen. „Welten erkunden“ lautet der Titel eines Aufsatzes, in dem er für eine „Soziologie als (eine Art) Ethnologie der eigenen Gesellschaft“ plädiert. Und das Fremde beginnt für Hitzler nicht erst um die nächste Häuserecke, sondern (mindestens) direkt vor der eigenen Haustür. Sein aus der Irritation über die Merkwürdigkeiten des Alltags, über die Widerständigkeit der anderen und der Welt als solchen, über das Ungewohnte ebenso wie das scheinbar so Vertraute resultierendes Interesse, die soziale Welt in ihrer Mannigfaltigkeit zu erkunden, hat Hitzler dabei bereits in die unterschiedlichsten kleinen sozialen Lebens-Welten geführt: in die der Algophilen ebenso wie in die den meisten Soziologen seiner Generation fremde Welt der Technoiden, in die der Organisatoren von Großevents wie dem Katholischen Weltjugendtag ebenso wie neuerdings dem der Kulturhauptstadt 2010. Mit seinem jüngsten Forschungsthema, dem Umgang mit Wachkoma-Patienten, ist, gerade weil ihm hier einige ihrer Grundannahmen zunehmend fragwürdig erscheinen, eine neue Zuwendung zur Phänomenologie zu erwarten. Gemäß dem von ihm gemeinsam mit Anne Honer entwickelten Ansatz der lebensweltanalytischen Ethnographie wird dem Forscher bei diesen Erkundungen einiges abverlangt: Denn er soll sich – als beobachtender Teilnehmer – möglichst intensiv auf das jeweilige Feld einlassen und dabei versuchen, den ‚Einheimischen‘ möglichst ähnlich zu werden – wohl wissend, dass eine solche methodische Assimilation ein sisyphoides Unterfangen ist. (Nicht nur) in diesem Zusammenhang zitiert Hitzler allerdings gern das Camussche Diktum, demzufolge man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müsse. Wir dürfen also vermuten,
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dass Hitzler seine Art, Soziologie zu betreiben, durchaus Vergnügen bereitet, auch wenn – oder weil? – die lebensweltanalytische Ethnographie mitunter eine riskante Art des Soziologietreibens darstellt – dies nicht nur aufgrund der dabei aufndbaren Fremdheiten (auch in sich selber), sondern auch deshalb, weil diese Art des Soziologietreibens für konventionelle Sozialforscher mitunter recht befremdlich ist. Dieser Forschungsstil hat Konsequenzen für seine Theoriearbeit: so ist die Hitzlersche Soziologie eines gewiss nicht, nämlich „blutleer“. Aususs seines Forschens ist eine im besonderen Maße empiriegesättigte Theorie, wobei Theorien – ebenso wie Methoden – für Hitzler keinerlei Eigenwert haben. Deshalb evoziert allzu abstraktes Theoretisieren, ebenso wie unreektiertes Rekurrieren auf Theorieschulen, (nicht nur) bei Tagungen seinen deutlich wahrnehmbaren Unmut. „Woher wissen Sie das eigentlich?“ ist in solchen Fällen eine typische, immer wieder gestellte Frage. Die darin formulierte und nicht nur an andere, sondern auch an sich selber gerichtete Aufforderung impliziert, genau und unvoreingenommen hinzusehen und dabei von idiosynkratischen Vorannahmen und Werthaltungen abzusehen. Darin sieht sich Hitlzler in der Weberschen Tradition ebenso wie in derjenigen von Robert E. Park, dessen Diktum „A moral man cannot be a sociologist“, das ja nicht einer unmoralischen Forschung das Wort redet, wohl aber das Einklammern von Geltungsansprüchen im Forschungsprozess fordert, gewissermaßen die Grundmaxime des Hitzlerschen Forschens formuliert. Nicht selten provoziert er dergestalt mit seinen Thesen und Analysen, indem er eingeschliffene Denkweisen und Selbstverständlichkeiten, die es in der sich mit Max Weber als ‚Entzauberungswissenschaft‘ verstehenden Soziologie nicht weniger als anderswo gibt, aufbricht und in Frage stellt. Jenseits einer empirischen Fundierung, die sich dezidiert dem hermeneutischen Begründungsdruck aussetzt, ist die Hitzlersche Soziologie um begrifiche Exaktheit bemüht. Hitzler ist daran gelegen, die Konzepte, mit denen er arbeitet, klar zu bestimmen – und auch seinen Studierenden deutlich zu machen, dass die wissenschaftliche Diskussion sich vom alltäglichen Räsonnieren nicht zuletzt durch die Verwendung klar denierter Begriffe unterscheidet. Hier hat nicht nur die (nominalistische) Art, in der Max Weber seine „Grundbegriffe der Soziologie“ formuliert (und dabei vor Kollektivbegriffen gewarnt) hat, Pate gestanden: In Übereinstimmung mit Alfred Schütz ist Hitzler davon überzeugt, dass jede wissenschaftliche Betätigung ihren Ausgang an Begriffsarbeit nehmen muss. Ronald Hitzlers Erkundungen sowohl vertrauter als auch fremder Sinn- und Erlebniswelten durchzieht die Annahme einer trotz aller Habitualisierung, Routinisierung, Disziplinierung nicht hintergehbaren Fragilität sowohl von institutionalen und Interaktionsordnungen als auch von Lebensentwürfen und Biographien gleichsam wie ein roter Faden: Der Mensch ist, so Hitzler, in einem anthropologischen Sinne zu einem ‚riskanten‘ Leben gezwungen; Risikobewältigung ist eine
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Grundanforderung der menschlichen Existenz. Und dies gelingt nur, indem und in dem Maße, in dem der Mensch sich auf die Unwägbarkeiten des Lebens einlässt. Gefordert ist ein exibler Akteur, der seine Welt(en) ständig (neu) deutet und in seinem Handeln soziale Ordnung herstellt – und diese zugleich – subversiv – verändert. Anders als andere Entscheidungen in Zeiten von Multioptionalität ist diese Flexibilität allerdings keine Angelegenheit der Wahl, sie ist uns vielmehr durch die conditio humana auferlegt. Nicht erst in der (Spät-)Moderne bzw. in enttraditionalisierten Gesellschaften vermitteln sich Akteure Hitzler zufolge durch Inszenierungen. Mit Helmuth Plessner beschreibt Hitzler den Menschen vielmehr grundsätzlich als einen Schauspieler, als einen ‚Doppelgänger‘ in dem Sinne, dass er zugleich öffentlicher Rollenspieler und individuelles, quasi ‚privates‘ Bewusstsein ist. Dieses Verständnis prägt auch seine Analysen zum politischen bzw. proto-politischen Handeln. „Politik machen“ analysiert er als „Kunst der Inszenierung“. Ohne „impression management“ kann ein Politiker – jedenfalls beruich – nicht überleben. Hitzler fasst das Politische allerdings weiter: Mit seiner an Goffman anknüpfenden De nition politischen Handelns, mit der er sich dezidiert von einem institutionalistischen und erst recht von einem etatistischen Politikverständnis abgrenzt, lässt sich jenes auch dort entdecken, wo es dem Commonsense und dem traditionellen Politikverständnis zufolge eher unpolitisch zugeht – am durch Mikropolitiken geprägten Arbeitsplatz, im durch kleine und größere Querelen gekennzeichneten nachbarschaftlichen Alltag, im (Nah-)Kampf der Geschlechter und im durch existentielle Strategien, d. h. durch life politics weit mehr als durch emancipatory politics gekennzeichneten Szeneleben. In einer individualisierten Gesellschaft gelangen die Fragilität des Sozialen und die Inszenierungsaktivitäten der Individuen allerdings in den Bereich des Offensichtlichen. Individuen werden, ob sie dies wollen oder nicht, zu Existenzbastlern. Das von Ronald Hitzler gemeinsam mit Anne Honer entwickelte Konzept der Bastelexistenz verweist auf den Verlust von Sicherheiten. Das Individuum wird in dem Sinne zum Sinnbastler, dass es sich ständig zwischen konkurrierenden Sinnangeboten entscheiden und die ausgewählten Bestandteile zu einem zumindest für ihn selber hinlänglich stimmigen Sinn-Ganzen zusammenbauen muss. In der Bastelexistenz wird den Individuen die fragile Beschaffenheit des Sozialen zwangsläug bewusst. Moderne (Bastel-)Existenzen sind deshalb notgedrungen reexive Existenzen. Als eine handlungspraktische ‚Antwort‘ auf Individualisierung erkennt Hitzler einen Modus der Aggregation, der den Einzelnen weder zur Teilhabe noch zu Denkund Verhaltensweisen zu verpichten scheint, sondern ihn vielmehr ‚lediglich‘ dazu verführt. In seinen weit über den engen Kreis der Fachöffentlichkeit bekannten Arbeiten zu Ausprägungen posttraditionaler Vergemeinschaftung, insbesondere
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zu (Jugend-)Szenen und zu jugendkulturellen Events, ist Hitzler diesem Phänomen paradigmatisch auf der Spur. Mit dem Hinweis auf die strukturelle Labilität der aus kontingenten Entscheidungen vieler Einzelner resultierenden Gesellungsgebilde wird die Fragilität des Sozialen dezidiert betont. Dies nimmt ihnen – wiederum konsequent aus der Perspektive des Einzelnen betrachtet – aber keineswegs ihren Reiz. Es ist gerade ihre Zwanglosigkeit, die sie zur idealen Entsprechung für die individualisierte Sehnsucht nach Gemeinschaft werden lässt. Die aus Pluralisierung, Multioptionalisierung und eben Individualisierung resultierende Erfordernis, sein Leben ohne verlässliche Vorgaben (Anweisungen, Auagen) aus (tradierten) Sinnwelten mit der damit einhergehenden existenziellen Verunsicherung leben zu müssen, kurz: Modernisierung ist das Handlungsproblem, vor das Ronald Hitzler den Einzelnen (alltäglich) gestellt sieht. Bewältigt wird diese Herausforderung generell dadurch, dass sich der einzelne zwar kulturell vorgefertigter und vorliegender Elemente bedient, daraus allerdings wie aus einem Steinbruch das herausbricht, was ihm zur Konstruktion seiner subjektiven Wirklichkeit hilfreich erscheint. Die in Prozessen der Externalisierung, Objektivation und Internalisierung erfolgende gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit müsse demnach durch den Prozess der Subjektivation ergänzt werden – ein Beitrag, der in Hitzlers Werk im Ansatz bereits konturiert ist, jedoch der weiteren Ausarbeitung bedarf, die, so hoffen wir, von Ronald Hitzler selber vorgenommen wird. Im vorliegenden Band sind Beiträge von Soziologinnen und Soziologen versammelt, die Ronald Hitzler zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Feldern seines wissenschaftlich-akademischen Wirkens über zum Teil lange Strecken konstruktiv-kritisch begleitet haben. Die Autorinnen und Autoren – Weggefährten und immer auch Freunde – befassen sich auf ihre je eigene Art und Weise mit seinen Themen und Arbeiten: Stefan Hornbostel, Jo Reichertz, Hans-Georg Soeffner und Trutz von Trotha mit Anthropologie und Kultur, Nicole Burzan, Reiner Keller, Hubert Knoblauch, Michael Meuser und Angelika Poferl mit Methodologie und existenzialem Verstehen, Thomas Eberle und Manfred Prisching mit Sinnbasteln und Bastelexistenz, Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Peter A. Berger, Peter Gross, Dirk Kaesler, Gerhard Naegele, Armin Nassehi, Sighard Neckel und Thomas Rauschenbach mit der (spät)modernen Gesellschaft und modernen Identitäten, Clemens Albrecht, Detlev Dormeyer, Winfried Gebhardt, Andreas Hepp, Michaela Pfadenhauer und Jürgen Raab mit Vergemeinschaftung und Erlebniswelten, Helmuth Berking, Achim Brosziewski und Christoph Maeder, Jürgen Gerhards und André Kieserling mit Wissen und Wissenssoziologie, und Manfred Lauermann, Friedhelm Neidhardt und Peter Vogel mit Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit. Ihnen allen verdankt sich dieses Buch(-geschenk). Der Dank der Herausgeber gilt außerdem Frank Engelhardt, dem Cheektor für Soziologie des Verlags für
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Sozialwissenschaften, der unserer Idee, Ronald Hitzler mit einer Festschrift zu ehren, spontan zugestimmt und uns beratend zur Seite gestanden hat. Desweiteren danken wir Maja Kempka, Nicole Kirchhoff und Haike Dogendorf für ihre tatkräftige Unterstützung beim Redigieren der Manuskripte. Michael Meuser und Michaela Pfadenhauer*
*
Diese Festschrift haben wir gemeinsam mit Anne Honer konzipiert. Ihre schwere Erkrankung hat verhindert, dass sie sich auch an der Fertigstellung des Bandes beteiligen konnte.
Inhalt
Ronald Hitzler Der Goffmensch Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie .................................. 17
Anthropologie und Kultur Stefan Hornbostel Affe trifft Goffmensch ........................................................................................ 37 Jo Reichertz Der Goffmensch beim Tanken Eine kommunikationswissenschaftliche Betrachtung ........................................ 49 Hans-Georg Soeffner Funktionale Zweckfreiheit Der ‚praktische Sinn‘ der Ästhetik ...................................................................... 59 Trutz von Trotha „Wir sind Gott“ Zur Anthropologie der Grausamkeit ................................................................... 75
Methodologie und existenziales Verstehen Nicole Burzan Zur Debatte um die Verknüpfung qualitativer und quantitativer Sozialforschung .............................................................................. 93 Reiner Keller Sozialität und Leidenschaft ............................................................................... 103 Hubert Knoblauch Subjekt, Interaktion und Institution Vorschläge zur Triangulation in Theorie und Methodologie ............................ 115
14 Michael Meuser Fragile Sicherheiten Versuch einer Annäherung an den „Goffmenschen“ aus geschlechtersoziologischer Perspektive ............................................................ 129 Angelika Poferl Sozialität und Globalität Zum existenzialen Verstehen einer kosmopolitisierten Kultur......................... 143
Sinnbasteln und Bastelexistenz Thomas S. Eberle Der Schweizer als Sinnbastler ........................................................................... 159 Manfred Prisching Beipackzettel für Bastelexistenzen ................................................................... 179
(Spät-)moderne Gesellschaft und Identitäten Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim Chinesische Bastelbiographie? Variationen der Individualisierung in kosmopolitischer Perspektive ............... 199 Peter A. Berger Kulturelle Identität als soziale Konstruktion .................................................... 207 Peter Gross Vertrauen ins Unvertraute ................................................................................. 225 Dirk Kaesler Kollektive Zäsuren und individuelle Brüche Der Fall Max Weber .......................................................................................... 241 Gerhard Naegele Der ältere Verbraucher – „(k)ein unbekanntes Wesen!“ ................................... 251 Armin Nassehi Identität als europäische Inszenierung .............................................................. 261
15 Sighard Neckel Das Debakel der Finanzeliten Krisen der Erfolgskultur.................................................................................... 277 Thomas Rauschenbach Schwache Schüler Über folgenreiche Inszenierungen und Ambivalenzen eines Konstrukts ........ 283
Vergemeinschaftung und Erlebniswelten Clemens Albrecht Gleichheitspolitik als Differenzgenerator – Identitätspolitik als Gleichheitsmaschine? Zur widerständigen Logik des Sozialen ............................................................ 301 Detlev Dormeyer Ekstase und Geheimnis in der neutestamentlichen Jesusbewegung als Hybridevent? ...................................................................................................... 313 Winfried Gebhardt ‚We are different!‘ Zur Soziologie jugendlicher Vergemeinschaftung ............................................ 327 Andreas Hepp Populäre Medienkulturen Posttraditionalität und populärkulturelle Vergemeinschaftung........................ 341 Michaela Pfadenhauer Artefakt-Gemeinschaften?! Technikverwendung und -entwicklung in Aneignungskulturen ...................... 355 Jürgen Raab Prekäre Sozialität in pluralen Sinnwelten Reexionen über Theorie und Analyse spätmoderner Vergemeinschaftungsformen............................................................................. 371
16 Wissen und Wissenssoziologie Helmuth Berking Raumvergessen – Raumversessen Im Windschatten des Spatial Turn .................................................................... 387 Achim Brosziewski und Christoph Maeder Lernen in der Be-Sprechung des Körpers Eine ethnosemantische Vignette zur Kunst des Bogenschießens..................... 395 Jürgen Gerhards Kritik des „linguistic turn“ in der soziologischen Theoriebildung Eine kleine – etwas verspätete – Anfrage .........................................................409 André Kieserling Die zwei Soziologien des Wissens .................................................................... 433
Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit Manfred Lauermann Außenseiter als Hofnarren im Wissenschaftssystem ........................................ 447 Friedhelm Neidhardt Konvention und Eigenart Über Stil und Hitzlersche Texte ........................................................................ 463 Peter Vogel Erziehungswissenschaft und Soziologie Grenzen und Grenzübergänge........................................................................... 481
Autorinnen und Autoren .................................................................................... 495
Der Goffmensch Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie1 Ronald Hitzler
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Der Positionskampf um Goffman
Auf der Suche nach dem Menschenbild von Erving Goffman, vereinfacht ausgedrückt, nach dem Goffmenschen, kommt man unweigerlich an vielerlei heterogenen, ja zum Teil widersprüchlichen Lesarten seines Oeuvres vorbei. Die naivste und wohl auch oberächlichste Variante der Rezeption begreift ihn (nachwievor) einfach als einen Vertreter der symbolisch interaktionistischen Rollentheorie. Dieses heute vor allem noch in zweitklassigen Einführungs- und Übersichtsbüchern und in der sozialpsychologischen und pädagogischen Diskussion herumgeisternde Goffman-Verständnis wurde in der soziologischen Fachdiskussion zunächst durch einen verstärkten Behaviorismus-Verdacht, v. a. im Zusammenhang mit einigen spieltheoretischen ‚Exkursen‘ Goffmans (insbesondere in 1969/1981), irritiert und darf inzwischen sicher als hinlänglich kritisiert gelten. Vorübergehend galt es dann als besonders ‚schick‘, Goffman als Funktionalisten (vgl. Collins 1980 und 1988, aber auch noch Burns 1992), Strukturalisten (vgl. v. a. Gonos 1977 und 1980) oder gar als Semiotiker zu lesen (vgl. noch die Beiträge in Riggins 1990). Und insbesondere seine letzten größeren Arbeiten (1974/1977; 1979/1981; 1981/1978) haben ihn für eine Reihe von Interessenten in die Nähe der Schützschen Phänomenologie, der Ethnomethodologie und der Konversationsanalyse gerückt (vgl. dazu Eberle 1991a, Widmer 1991, Bergmann 1991).2 Aktuell gilt Goffman unter hartnäckigen Kritikern bevorzugt als Eklektizist, unter wohlwollenden Rezipienten als ‚paradigme bridger‘ und ‚Klassiker der zweiten Generation‘ (in dieser Hinsicht zukunftsweisend zumindest für die deutschsprachige Debatte: Hettlage 1991b).
1 Überarbeitete Fassung des Vortrags beim Workshop ‚Implizite Anthropologien‘ der Arbeitsgruppe ‚Soziologie und philosophische Anthropologie‘ in Göttingen, 7. und 8.6.1991; erstmals erschienen in: Soziale Welt, 43. Jg., H. 4, S. 449–461. 2 Überraschenderweise sind hingegen, soweit ich das überblicken kann, die Korrespondenzen zwischen Goffmans Ansatz und dem des Rational Choice noch kaum thematisiert (vgl. aber Schimank 1992). Auch Hartmut Esser (1990) knüpft semantisch lediglich indirekt und ohne Verweis auf Goffman oder Bateson an das Konzept der ‚Rahmenanalyse‘ an (vgl. für weiter- bzw. zusammenführende Überlegungen auch Brosziewski 1991).
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Ronald Hitzler
Dies alles sind bedenkenswerte theoretische Vernetzungs-, Verknüpfungs-, Ableitungs- und Anbindungsversuche, unternommen zu einem guten Teil auch mit erkenntnis-theoretischen Ambitionen. Aber dabei werden typischerweise (natürlich?) keine oder allenfalls ganz beiläuge und verschämte anthropologische Fragen gestellt. Pointiert gesagt: Von wenigen Ausnahmen (wie Psathas 1977, Schudson 1984, Meinberg 1988, S. 140–156) abgesehen, ist Goffmans ‚Menschenbild‘ kaum einmal ein explizites Thema der einschlägigen Sekundärliteratur. Gleichwohl schwingen – neben den bekannteren Vorwürfen soziologischer Verkürzungen (insbesondere: Vernachlässigung kon kreter soziohistorischer Handlungsbedingungen einerseits, mangelnde Generalisierbarkeit der Befunde andererseits) – relativ oft auch sozusagen anthropologiebezogene Argumente in der Kritik an Goffman mit (z. B.: Fixierung auf die moderne Existenz, Ausblendung der biographischen Dimension, Vernachlässigung des menschlichen Affekthaushaltes, sowie, besonders häug und bzw. weil (scheinbar) augenfällig: Einschränkung des Menschen auf einen seiner Lebens-Aspekte, nämlich den des (zynischen) Theater- bzw. Rollenspielers). Ich würde diese kritischen Einwände als zumindest in Teilen durchaus berechtigt ansehen, wenn sie tatsächlich Goffmans Absichten beträfen. Dem ist aber nicht so: Seine Entscheidungen für bestimmte konkrete Untersuchungen basieren auf methodologisch-methodischen Überlegungen, nicht auf erkenntnistheoretischen und schon garnicht auf anthropologischen Fragestellungen. Goffman verfolgt ganz dezidiert soziologische Interessen, und, wie Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (o. J., S. 52) einmal notierte, ist „die Soziologie … allenfalls mittelbar, nicht aber unmittelbar eine Wissenschaft vom Menschen“. Das, was man mit aller gebotenen Vorsicht vielleicht als seine ‚Anthropologie‘ bezeichnen könnte, ist in der Tat völlig implizit – und mithin weit eher eine hermeneutisch-sinnkonstituierende Aufgabe, als eine inhaltsanaly tisch-aussagenregistrierende Operation. Das heißt, ganz konkret gesprochen, daß ich es z. B. für weniger sinnvoll halte, Goffmans Menschenbild durch den Verweis auf illustrativ geeignet erscheinende Zitatstellen aufspüren zu wollen. Ich denke vielmehr, eine Vorstellung von Goffmans Vorstellungen vom Menschen bekommt man am besten, wenn man sich anschaut, was er als Sozialforscher getan bzw. unterlassen hat: Unübersehbar ist Goffmans Neigung zu einer ‚naturalistischen‘ (also zu einer nicht experimentellen, nicht theoriebeladenen) Sozialforschung. Er ging davon aus, daß wenn wir etwas über die soziale Welt, zumindest über den Kernbereich der sozialen Welt, über Interaktions-Situationen in Erfahrung bringen wollen, wir vor allem die Augen aufmachen und das Alltagsgetriebe um uns herum anschauen sollten. Damit zusammen hängt seine Auffassung, daß wir unter anderem auch unser eigenes Leben als Datenmaterial betrachten und nutzen, und daß alle unsere großartigen Theorien irgendwie falsch sein müssen, wenn wir sie nicht auf unsere eigenen Erfahrungen anwenden können. Das meint nicht etwa, daß Goffman damit sagen wollte, wir sollten
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uns auf unsere eigenen Primärerfahrungen als Daten beschränken. Im Gegenteil: Er plädierte nachdrücklich dafür, eine möglichst umfassende, breite und gute Datenbasis zum Ausgangspunkt aller Analysen zu nehmen. Und diese schließt eben auch Primärerfahrungen ein.3 Das bedeutet für seine Forschungsstrategie vor allem, daß er Daten aller Art verwendet hat, von Tonbandaufzeichnungen über geschriebene Texte, Feldnotizen, Videoaufnahmen, Interviews und Gelegenheits- sowie systematische Beobachtungen bis hin zu Bildern. Er benutzte alle Quellen, die ihm ergiebig und interessant erschienen, als Datenbasis. Wenn er kein Material vorgefunden hat, hat er mitunter sogar ‚mögliche‘ Phänomene erfunden (so z. B. in 1981/1978). Konventionelle Sozialforschung hingegen konzentriert sich oft so vehement auf ihre verfahrenstechnisch gesicherten (bzw. als gesichert geltenden) Datenquellen, daß sie alles andere an zuhandenem Material gerne übersieht. Wo also normalerweise die empirische Phantasie endet, hat für Goffman erst eigentlich seine Forschungsarbeit angefangen. Wenn er bei seinen ethnographischen Untersuchungen4 seine Eingangsdaten gesammelt und analysiert hatte, begann er z. B. stets die Suche nach weiteren, vergleichbaren Materialien, die ihm geeignet schienen, neues Licht auf die bisherigen Ergebnisse zu werfen. Kurz: Er hat sich nie an eine Datenquelle gebunden, sondern immer mit möglichst vielfältigen Vergleichsmöglichkeiten gearbeitet. Um vor diesem Hintergund jetzt pointiert zu formulieren, worin ich nun die anthropologische Bedeutung dieser Forschungspraxis sehe: Goffman vertraute ganz offenkundig da rauf, daß ‚das Menschliche‘ (hier des Zusammenlebens) eben auch in dem Menschen ist, der mir ‚soeben‘ begegnet – nicht zuletzt, wenn er mich aus dem Spiegel anschaut –, und darauf, daß die menschliche Fähigkeit zur Selbst-Entäußerung in jedem Artefakt sich dokumentiert. Damit aber gilt es nun, die Frage zu beantworten, was Goffman als ‚das Menschliche‘ sozusagen omnipräsent sieht.
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Das (Zusammen-)Leben als Aufgabe
Die Welt als Widerstand, die anderen in der Welt als prinzipielle ‚trouble makers‘, und mithin das Leben in der Welt mit den anderen und vor allem in der von anderen immer schon vor-denierten Welt als unendliche ‚offene‘ Aufgabe – das scheint mir die deutlichste anthropologische Spur zu sein, die sich durch die Fülle materialer Beispiele und theoretischer Reexionen kurzer bis mittlerer Reichweite zieht, die Goffmans Gesamtwerk in seiner ansonsten ausgesprochen soziologischen Orientierung 3
Parallelen zu der vor allem von Anne Honer (1989 und 1991) entwickelten Methodologie des von uns so genannten ‚lebensweltlichen Forschungsansatzes‘ sind hier m. E. unübersehbar (vgl. dazu auch Teil 4 d. A.). 4 Mindestens fünf eigenständige Feldstudien hat, der Aufstellung von Karl Lenz (1991a, S. 50 f.) zufolge, Goffman durchgeführt.
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kennzeichnen. Diese Spur läuft m. E., wenn auch mit anderen Erkenntnisinteressen, ziemlich parallel zu der insbesondere von Robert Hettlage (1991a) forcierten ReVision des Goffmanschen Oeuvres von der Rahmungsproblematik her: Es geht um die Vorstellungen von Handlungssubjekten – und zwar im doppelten Wortsinne: um die Vorstellungen, die sich Interaktionsteilnehmer von sich, von den anderen und von der Welt machen einerseits, und um die Vorstellungen, die sie sich wechselseitig geben andererseits.5 Das heißt aber, daß der Goffmensch sozusagen grundsätzlich mit Fragen konfrontiert ist wie „Was kommt denn nun wieder auf mich zu? Was ist hier eigentlich wieder los? Was mach ich da jetzt wieder draus?“ Anthropologisch gesehen, und in dieser Deutung stimme ich auch z. B. mit Michael Schudson (1984) überein, ist der Goffmensch mithin ein prinzipiell verunsichertes Wesen, das ständig Probleme zu bewältigen, Antworten zu suchen, ja Rätsel zu lösen hat. Der Goffmensch lebt, er kann nicht anders, unweigerlich ein ‚riskantes‘ Leben.6 Goffman gibt, soweit ich das sehe, nirgendwo eine Antwort darauf, warum das so ist, bzw., ob das so sein muß. Er sagt nicht einmal explizit, daß dem Menschen schlechthin diese hier angedeutete Daseinsverfassung eignet. Er erzählt vielmehr vielerlei Geschichten – teils gefundene und teils erfundene Geschichten – darüber, wie Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen mit ganz unterschiedlichen Verhältnissen zu ganz unterschiedlichen anderen Menschen ganz unterschiedlich zurecht kommen. Und er verklammert diese vielfältigen Geschichten mit verschiedenartigen theoretischen Erkenntnisabsichten: – – – – – – – – – –
Wie präsentiert man sein ‚Selbst‘? (1959/1969) Was ist zu tun, wenn das ‚Selbst‘ beschädigt ist? (1963/1975) Wie bewältigt man typische Alltagssituationen? (1963/1971) Wie bewältigt man Ausnah mesituationen? (1961/1973) Wie geht man mit speziellen ‚Spielregeln‘ um? (1961/1973 und 1969/1981) Wie wahrt man sein ‚Gesicht‘? (1967/1971) Wie organisiert man das Zusammenleben mit anderen? (1971/1974) Wie organisiert man seine Erfahrungen? (1974/1977) Wie symbolisiert man soziale Ungleich heit? (1979/1981) Was ist zu beachten, wenn man redet? (1981/1978).
Und auch sozusagen die Klammer dieser Klammern, also das durchgängige Forschungsinteresse, hat Goffman selber noch kurz vor seinem Tod in seiner ‚presidential adress‘ vor der ASA (1983) explizit benannt: Es ging ihm, so seine 5
Vgl. dazu auch, mit deutlich kritischen Einwänden gegenüber der Tragfähigkeit von Goffmans Rahmenkonzept und mit m. E. konstruktiv weiterführenden Vorschlägen, Soeffner 1989a. 6 Das ist hier in dem Sinne gemeint, wie etwa Elmar Koenen (1991), im Verweis auf Francois Ewald, das Phänomen des ‚Riskanten‘ von der zugespitzteren Bedeutung bei Ulrich Beck absetzt.
Der Goffmensch
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Selbstbekundung, und so auch zahlreiche seiner Interpreten, (letztlich) immer um eine allgemeine Soziologie der Interaktionsordnung (vgl. dazu etwa die Beiträge in Drew/Wootton 1988, zur Gesamteinschätzung Lenz 1991a). Entgegen also vor allem frühen, naiven und – bleibend – sozialpsychologischen Einschätzungen des Goffmanschen Ansatzes stand demnach im Zentrum seiner theoretischen Ambitionen eben nicht die Darstellung des ‚Selbst‘. Vielmehr war das Phänomen des alltäglichen Identitäts-Managements ein besonders augenfälliger, empirisch gut ‚faßbarer‘, infolgedessen früh erkannter und auch fast im gesamten Werk immer sozusagen mitlaufender ‚Schlüssel‘ zum grundlegenderen Thema, dem (hinlänglich) gelingenden Zusammenleben als einem dauerhaften bzw. sich andauernd wiederholenden Problem für jeden einzelnen Interaktionsteilnehmer. Die jeweils gültige Interaktionsordnung als einem (mehr oder weniger systematischen) Konglomerat von Regeln und Handlungsanweisungen nämlich ist das Eine, die subjektive Interpretation, individuelle Selektion und situative Applikation von Elementen bzw. Teilen dieses jeweils gültigen Zeichen- und Symbolzusammenhanges hingegen ist das Andere (vgl. in diesem Sinne auch Soeffner 1991). Und Goffmans Grundlegung einer Soziologie der Interaktionsordnung hat, nunmehr entgegen auch allen strukturalistischen Lesarten (vgl. kritisch dazu Lenz 1991b), ihren Schwerpunkt m. E. eindeutig bei der Interaktionsordnung als einer (strukturell auferlegten) Deutungs- und Bewältigungsaufgabe für den einzelnen Teilnehmer.
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Die anthropologischen Implikationen
Wenn nun dieses Verständnis des Goffmanschen Anliegens dessen Selbstverständnis (einigermaßen) gerecht wird, dann ergibt sich im Hinblick auf seine ‚implizite Anthropologie‘ daraus – folgerichtig, wie ich meine – zunächst die Frage, wie das mit diesem soziologischen Interesse korrespondierende Bild vom Menschen als einem in seinem Selbst- und Weltverständnis prinzipiell (stets) gefährdeten, zwangsläugen ‚Problemlöser‘ kulturtheoretisch fundiert sein könnte. Sodann ist die besondere Existenzweise des somit zutage tretenden Goffmenschen phänomenologisch zu beschreiben. Und schließlich bleibt dann noch zu klären, welche (ideale) Handlungstypik dem Goffmenschen eigentlich symptomatischerweise eignet.
a)
Kulturtheoretische Fundierung: Exzentrisches Schauspiel
Einer der ältesten und häugsten Vorwürfe gegen Goffman lautet, er verallgemeinere unvorsichtiger- bzw. unzulässiger weise Befunde über menschliches Sozialverhalten, die tatsächlich lediglich aus der Analyse seiner Beobachtungen in
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bestimmten ‚Kreisen‘ und Situationen unter den sozialstrukturellen Bedingungen hochindustrialisierter Gesellschaften des angloamerikanischen Kultur raumes resultierten. Er überstrapaziere damit ein spezisches, im Kern ökonomisches Modell marktorientierter Austauschbeziehungen: ver- und gehandelt würden dabei eben vorwiegend ‚gute Eindrücke‘, erfolgversprechende und erfolgreiche Performanzen. Diese Kritik ist dann (aber auch nur dann) nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man sich auf eine zumindest hochproblematische Anthropologie versteift und unterstellt, der Mensch sei ‚ursprünglich‘ ein Wesen, dessen Handeln zunächst einmal immer völlig darin aufgeht, in quasi ‚bewußtloser‘ Auseinandersetzung mit der Natur seine sozusagen ‚animalischen‘ (Grund-)Bedürfnisse zu befriedigen, und welches erst wenn und in dem Maße, wie diese schieren ‚natürlichen‘ Überlebens-Notwendigkeiten erfüllt sind, sich – gleichsam mit dem verbleibenden bzw. entstehenden ‚Energie-Überschuß‘ – auch mit seinem alter ego und mit sich selber auseinandersetzt. Die Gesellschaftlichkeit des Menschen wäre hiernach keine anthropologische Qualität, sondern eine historische Attribuierung. Durchaus nicht mehr plausibel hingegen ist diese Kritik dann, wenn man – in Übereinstimmung mit aktuelleren evolutionstheoretischen, ethologischen und ethnologischen Erkenntnissen – (zumindest) den Menschen als ein ‚zoon politicon‘ und damit auch begreift, daß ihm die Notwendigkeit, sich dem alter ego mitzuteilen und das alter ego sich verständlich zu machen, ‚ursprünglich‘, d. h. als ‚conditio humana‘ auferlegt ist: Der Mensch, darüber besteht in den ansonsten durchaus divergenten Positionen der neueren Anthropologie bekanntlich Einigkeit, ist ein aus der unmittelbaren Naturverhaftung herausgetretenes bzw. herausgeschleudertes Wesen. Er ist nicht mehr Umwelt-gebunden, sondern steht im Horizont von ‚Welt‘ überhaupt und hat in ihr (sich selbst gegenüber) eine ‚exzentrische Positionalität‘ inne (vgl. Plessner 1981). Er ist nicht mehr instinktgeleitet, sondern interpretationsbedürftig; d. h., er steht zwangsläug, grundsätzlich und andauernd vor der Frage „Was geht hier eigentlich vor?“ (Goffman 1974/1977, S. 16). Und von dieser essentiellen Inter pretationsbedürftigkeit entlastet sich der Mensch durch Kultur, d. h. durch institutionalisierte (auf Dauer und – relativ – sicher gestellte) ‚Antworten‘ auf diese Ur-Frage. Denn was anderes als das, daß man weiß, was wer unter welchen Bedingungen wie, wann, wo und warum zu tun und zu lassen habe, ist, im allgemeinsten Sinne dessen, was man gemeinhin darunter versteht, Kultur? (vgl. dazu auch Hitzler 1991c). Was immer man an Assoziationen zum Phänomen ‚Kultur‘ im Kopf haben mag, wie idealistisch oder materialistisch, wie systematisch oder polemisch man sein Kulturverständnis auch immer anlegen oder abgrenzen mag, man wird kaum beanspruchen können, in einem universalhistorischen bzw. quasi-anthropologischen Sinne von ‚Kultur als der zweiten Natur des Menschen‘ zu sprechen, wenn man mehr sagen zu müssen glaubt, als daß Kultur eine „handlungsorientierende
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Sinnkonguration“ sei (Luckmann 1988), ein „Bedeutungsrahmen, in dem Ereignisse, Dinge, Handlungen, Motive, Institutionen und gesellschaftliche Prozesse dem Verstehen zugänglich, verständlich beschreibbar und darstellbar werden“, und der uns „bindet, obwohl er Ausdruck einer tendenziellen Freiheit gegenüber uns unmittelbar auferlegten Handlungszwängen ist“ (Soeffner 1988). Das beschreibt m. E. auch durchaus adäquat das Verhältnis des Goffmenschen zur Kultur: Der Mensch geht nicht nur – als Gattungswesen – nicht in der Natur, er geht – als Individuum – auch nicht in der ihn umgebenden Kultur auf. Vielmehr steht er – ein essentieller ‚Doppelgänger‘ (vgl. Plessner 1985) – zugleich in dieser und dieser gegenüber: „Auch und gerade im kulturellen Raum existiert der Mensch letztlich als das nackte, von Institutionen zwar geschützte, auch in ihnen aber gefährdete, im Kern ‚nicht-festgestellte‘ Wesen“ (Lipp 1985, S. 37 f.), das durch sein faktisches Handeln Ordnungen, auch und gerade Interaktionsordnungen, sowohl erzeugt und erhält als auch verändert und zerstört. Diese konstruktiv-destruktive Kompetenz aber resultiert aus der besonderen, sozusagen ‚hermeneutischen‘ Daseinsform des Menschen (vgl. Heidegger 1972), die sein Vermögen ist und zugleich seine Notwendig keit: Der Mensch muß sich die Welt (einigermaßen) verständlich und sich der Welt (hinlänglich) verstehbar machen. Er muß also, und darin zeigt sich m. E. eben die kulturanthropologische Dimension von Goffmans Perspektive (vgl. Hitzler 1991a), in einem ganz generellen Sinne Inszenierungen vornehmen. Und das heißt dann in der Tat, daß der Goffmensch ganz wesentlich als Rollen-Spieler und Schau-Steller zu begreifen ist: Er de niert (mehr oder weniger erfolgreich) Wirklich keit, indem er vorgibt, so oder so, Dies oder Jenes zu sein, und damit darauf abzielt, von den anderen auch so wahrgenom men zu werden (vgl. dazu auch Plessner 1982).
b)
Phänomenologische Beschreibung: Situative Existenz
Diese seine Gesellschaftlichkeit, d. h. seine Beziehung zu und sein Umgang mit – konkreten und anonymen – anderen Interaktionsteilnehmern und deren ‚Verkehrsregeln‘ ist, wie gesagt, für den Goffmenschen zeitlebens ein Bewältigungsproblem. Er sieht sich ständig mit situativen Zumutungen konfrontiert. Er kann diesen gegenüber nun zwar auch fast immer auf (mehr oder weniger) bewährte Lösungsmuster (1) zurückgreifen. Allerdings stehen für den Umgang mit bzw. für die Applikation von diesen Lösungsmustern (1) selber in der Regel nur noch bedingt – und vor allem nicht mehr in ähnlichem Maße ‚gültige‘ – Lösungsmuster (2) bereit. Und bereits zum Umgang mit bzw. zur Applikation von diesen Lösungsmustern (2) gibt es praktisch kaum noch ‚selbstverständliche‘ Lösungsmuster (3) – was natürlich nicht bedeutet, daß in verschiedenen Kulturen keine ‚theoretischen Erklärungen‘
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mehr vorhanden wären (ich denke hier z. B. an die Psychoanalyse). Daraus aber folgt, daß das tatsächliche Handeln des Interaktions-Teilnehmers auf keinen Fall durch irgendwelche sozial gültigen Ordnungen prä-deter miniert ist, und daß auch gelungene Sozialisation ihn nicht situativer Entscheidungen über seine ‚Antwort‘ auf etwelche ‚Zumutungen‘ enthebt. Der wohlsozialisierte Interaktionsteilnehmer im Sinne Goffmans unterscheidet sich vom weniger wohlsozialisierten vielmehr vor allem dadurch, daß er über die divergente soziale Akzeptanz unterschiedlicher Lösungsmuster in Bezug auf unterschiedliche Situationen ‚Bescheid weiß‘. Diesen Aspekt hat neuerdings vor allem Soeffner (1988) unter dem Stichwort ‚private Aneignung‘ wieder in Erinnerung gerufen: Er beleuchtet, was der einzelne Interaktionsteilnehmer aus dem macht, was sozial mit ihm gemacht wird. Seinen typischen Alltag erfährt der typische Interaktionsteilnehmer demnach als eine Art von sinnlosem Parcours, als ein leeres Rad, das immer wieder aufs Neue durchlaufen werden muß: Er bewegt sich quasi kreisför mig von einer Situation, von einer ‚Gelegenheit‘, von einer sozialen ‚Veranstaltung‘ zur nächsten. Er wechselt Orte und Rollen, verändert durchlaufend sein Verhalten und kämpft um seinen relativen Status. Er sucht oder meidet ‚Geselligkeiten‘, steigt ein in sie und (über kurz oder lang) auch wieder aus aus ihnen, nutzt sie und unterwirft sich auch (bedingt) den in ihnen jeweils geltenden Regeln und Normen. Das, was er als ‚Ordnung‘ akzeptiert, gibt ihm unbestreitbar Handlungssicherheiten, auf denen er entscheidungsentlastende Routinen aufzubauen vermag. In dem Maße aber, in dem er ‚Ordnungen‘ befragt – und er steht sozusagen prinzipiell in der Notwendigkeit, sie zu befragen –, in dem Maße erkennt er sie als stabilisiert lediglich qua Zustimmung und Einverständnis und damit als ‚verfügbar‘, in dem Maße aber werden sie ihm eben auch problematisch, zweifelhaft, fragwürdig (vgl. dazu auch Hitzler 1988). Das damit angesprochene irreduzible Phänomen der individuellen KulturAdaption verweist kaum übersehbar auf existenzial-phänomenologische Grundeinsichten: „Das Subjektive erscheint … als notwendiges Moment des objektiven Geschehens“ (Sartre 1964, S. 79). Und sowohl implizit als auch immer wieder auch explizit (z. B. in 1974/1977, S. 313, oder 1971/1974, S. 280) hat Goffman ja auch auf Gedanken von Jean-Paul Sartre rekur riert, wie den etwa vom ‚Seinfür-andere‘ (vgl. Goffman 1971/1974, S. 318 ff.) oder den der Rollendistanz (vgl. Goffman 1961/1973). Vor allem aber ist eben im Grunde seine ganze IdentitätsKonzeption eine Adaptation der existentialistischen Auffassung, daß das ‚Selbst‘ (zumindest in der Moderne) eine prekäre Angelegenheit sei, die dem Subjekt Konstruktions- und Inszenierungsarbeit abfordere, daß der einzelne sozusagen die Last der strukturellen Widersprüche der ihn umgebenden Gesellschaft zu tragen, zu ertragen und auszubalancieren habe. Andersherum gesagt: Der Goffmensch hat es stets mit Widerständigem, mit Frag- und Denkwürdigem zu tun. Was er tut,
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tut er grundsätzlich nicht mit völliger, problemloser Selbstverständlichkeit. Was immer auch kulturell für ihn bereitsteht, er kommt nicht umhin, es eben genau ohne qua Sozialisation verläßlich vermittelte Gewißheiten darüber, was unter welchen Bedingungen wann wie wo und warum zu tun und zu lassen ist, zu interpretieren, zu selegieren und zu applizieren. Pointiert ausgedrückt: Während die Vertreter des Symbolischen Interaktionismus typischerweise das Hauptaugenmerk auf die identitätskonstitutiven und wirklichkeitssichernden Ereignisse im Sozialisationsprozeß richten, und ansonsten im wesentlichen mit einem prästabilisierten Konsensmodell wohlsozialisierter Akteure operieren, sieht Goffman stets die prekäre Fragilität der menschlichen Sozialität (vgl. hierzu auch Fontana 1980). Mithin rekurriert er im Hinblick auf eine Phänomenologie der Subjek tivität m. E. auf ein deutlich existentialistisch gefärbtes Menschenbild (vgl hierzu auch Ashworth 1985, Craib 1976, S. 37–58, Loand 1980). Hans-Georg Soeffner zufolge ist „unverkennbar, daß Goffman innerhalb des Formen- und Regelwerks der ‚sozialen Mechanik‘ nach dem engen Bewegungsraum der Freiheit sucht“ (Soeffner 1989b, S. 290). Nach Auffassung von Dean MacCannell (1983) ist Goffmans Werk ohnehin die erste und vielleicht sogar auch letzte ernsthafte soziologische Antwort auf Sartre: Der Goffmensch taucht gleichsam aus dem biographischen Nichts in gesellschaftlich immer schon (mehr oder weniger massiv) vor-konstruierten Ordnungszusammenhängen auf, steht in aller Regel ziemlich unvermittelt in einer der mannigfaltigen sozialen Szenen, die ihm sozusagen grundsätzlich ‚zum Tribunal‘ werden (wobei er bei jedem dieser Tribunale immer verschiedene Rollen gleichzeitig spielt), und muß nun eben schauen, wie er aus dieser für ihn quasi ‚absurden‘ Situation (vgl. hierzu Camus 1959) ‚das Beste‘ machen, wie er ‚die Sache‘ in den Griff kriegen, wie er sich optimal ‚selbstver wirklichen‘ und wie er die anderen von sich und seinen Ambitionen überzeugen kann. Das große Problem – aber, wie Goffman immer wieder (und insbesondere schon in 1959/1969) gezeigt hat, auch die große Chance – dabei ist, daß die anderen ‚Mitspieler‘, die anderen Interaktionsteilnehmer je für sich selber die – strukturell betrachtet – gleichen (Eigen-)Interessen verfolgen.
c)
Handlungstheoretische Verortung: Proto-Politik
Weil, wie wir gesehen haben, der Goffmensch seine Vorstellungen von Ordnung, bzw. seine Ansichten darüber, was ‚los‘, was ‚richtig‘ und was mithin zu tun und zu lassen sei, immer in einem sozialen ‚Raum‘ sowohl etablierter Gültigkeiten als auch zumindest prinzipieller Möglichkeiten entwickelt und zu realisieren sucht (vgl. dazu auch Rogers 1977), handelt er m. E. notwendigerweise (in einem sehr weiten
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Sinne) politisch bzw. zumindest proto-politisch.7 ‚Politisch‘ bzw. ‚proto-politisch‘ zu handeln meint hier zunächst: die eigenen Vorstellungen (vom Zusammenleben) gegenüber Alternativen erfolgreich durchzusetzen. Dies aber erfordert den Einsatz vielfältiger (situationsspezischer) Taktiken und (situationsübergreifender) Strategien, insbesondere wohl den – afrmativen oder auch destruktiven – Rekurs auf je bereits gegebene soziale Gültigkeiten bzw. Einvernehmlichkeiten. Denn proto-politisches Handeln ist wesentlich: wie auch immer gestaltetes Aushandeln von Sachverhalten zwischen divergenten Positionen im Hinblick auf Zustimmung zu und Durchsetzung von bindenden Entscheidungen.8 Derlei proto-politisches, als Form sozialen Handelns ndet, so David Easton (1959), auf allen Ebenen und in allen – dauerhaften wie kurzlebigen – Konstellationen des sozialen Zusammenlebens statt: Wer die richtigen Worte ndet, wer zu formulieren versteht, was er will, wer weiß, wann er Kompromisse suchen muß und wie er sie nden kann, wer sein Wollen, sei es nun rational, traditional oder auch charismatisch, zu legitimieren vermag (vgl. hierzu Weber 172, S. 124), wem es gelingt, vom Besonderen auf das Allgemeine zu verweisen und das Allgemeine im Besonderen aufzuzeigen (vgl. Garnkel 1976), und wer schließlich über die Möglichkeiten – und das heißt auch: die Mittel – verfügt, um sein Wollen (auch gegen Widerstreben) zu realisieren (vgl. Weber 1972, S. 28), der hat – in welchem sozialen Kontext auch immer – gute Chancen, im proto-politischen Sinne erfolgreich zu handeln.9 Das – implizite oder explizite – (Erfolgs-) Ziel jeglichen proto-politischen Handelns ist der Erwerb, der Erhalt oder die Erweiterung von – wie auch immer gearteten – Möglich keiten, auf spezielle und/oder anonyme andere einzuwirken. Jede Maßnahme, die mit der Intention getroffen wird, hierfür geeignet zu sein, ist mithin eine proto-politische Maßnahme. Worum es im Einzelnen geht, und wer davon auf welche Weise betroffen ist, ist dabei von sekundärer Bedeutung. Das heißt:
7 Den Ausdruck ‚proto-politisch‘ biete ich an, um hier gegebenenfalls einer möglicherweise anstehenden Debatte über politische versus vorpolitische ‚Räume‘ des Sozialen aus dem Wege zu gehen (vgl. aber Hitzler 1991b). Mit Interesse und Skepsis verfolge ich dazu derzeit die einschlägigen Überlegungen insbesondere aus der Abteilung ‚Öffentlichkeit und soziale Bewegung‘ des Wissenschaftszentrums Berlin (vgl. exemplarisch Gerhards/Neidhardt 1990/1991). 8 Mein De nitionsvorschlag lautet dementsprechend: Proto-politisches Handeln soll heißen ein Handeln, das seinem Entwurf nach darauf abzielt, Zustimmung von einem Zweiten zu erlangen dazu, seinen Willen auch gegen das Widerstreben eines Dritten durchzusetzen. 9 Uwe Schimank danke ich an dieser Stelle für seine für mich sehr instruktiven Ausführungen zur ‚Battle of the Sexes‘, die mir eine interessante spieltheoretische Perspektive auf die hier zur Debatte stehende ‚Aushandlungssituation‘ eröffnet haben. – In einem neuen Aufsatz hat Schimank (1992) zwischenzeitlich Goffmans Akteur ins Verhältnis gesetzt zum Dahrendorfschen Konzept des ‚Homo Sociologicus‘, um damit einen (weiteren) Beitrag zu leisten zur Anschlußfähigkeit des (hier insbesondere vom Rational Choice-Ansatz protegierten) ‚Homo Oeconomicus‘-Modells an die (übrige) soziologische Theoriebildung.
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Wer immer, wie auch immer, intendiert, auf die Ordnung des Zusammenlebens Einuß zu nehmen, handelt proto-politisch (vgl. dazu nochmals Rogers 1977). Macht in diesem sozusagen ‚diffusen‘ Sinne (vgl. hierzu Foucault 1978 und 1987) ist mithin ein essentielles Merkmal der menschlichen Sozialität schlechthin. Sie sichert – ceteris paribus – Regeln des Zusammenlebens, stellt Praktiken auf (begrenzte) Dauer, gewährleistet die (relative) Verläßlichkeit des Handelns der (warum auch immer relevanten) anderen. Das heißt, sie reduziert die Komplexität von Optionen und erzeugt das, was Eric Voegelin (1965) ‚Kosmion‘ genannt hat: eine (sozusagen ‚sakral‘) legitimierte soziale Ordnung. Und eben diese ist ja, in vielgestaltigen Konkretionen, Goffmans durchgängiges Thema: Aufgrund welcher Bedingungen gelingt es wem, welche Situationen wie zu denieren, und was folgt daraus für wen? (vgl. dazu auch Thomas 1978). Wenn man also ‚das Politische‘ nicht reduziert auf einen institutionell bzw. organisatorisch ausgegrenzten Teilbereich des menschlichen Zusammenlebens, sondern davon ausgeht, daß ‚das Politische‘ jene ‚Intensität‘ des Handelns bezeichnet, die aus dem Problem der Herstellung, des Erhaltens oder der Veränderung gesellschaftlicher Ordnung schlechthin, und damit natürlich auch der Interaktionsordnung resultiert (vgl. dazu Schmitt 1963), dann drängt sich einem jene anthropologische Perspektive nachgerade auf, die sozusagen vom ‚zoon politicon‘ des Aristoteles bis zu Erving Goffmans situationsexiblem ‚Theaterspieler‘ reicht: Die Dramatologie der (symbolischen) Praktiken, mittels derer das Phänomen menschlicher Gesellschaftsfähigkeit und menschlicher Gesellschaftsbedürf tigkeit ‚organisiert‘ wird (vgl. dazu auch Balandier 1976). Anders gesagt: Die den Arbeiten Goffmans implizite Anthropologie ist hinsichtlich ihrer handlungstheoretischen Dimension m. E. eine in diesem weiten Sinne proto-politische Anthropologie, der die Prämisse zugrundeliegt, daß in einer gegebenen Situation nicht der Handelnde wichtig ist, der sich relativ ambitionslos durch sie ‚durchwurstelt‘, sondern vor allem der, der sich über sie Gedanken macht, der daran interessiert ist, sie zu denieren.
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Die dramatologische Perspektive
Wenn wir nun versuchen, die anthropologischen Implikationen a) der kulturtheoretischen Fundierung, die uns auf das exzentrische Schauspiel, b) der phänomenologischen Beschreibung, die uns auf die situative Existenz, und c) der handlungstheoretischen Verortung, die uns auf die ‚Ordnungspolitik‘ des individuellen Interaktionsteilnehmers aufmerksam gemacht hat, nochmals zu fokussieren, dann erscheint wieder jene Spur, auf die ich schon anfangs hingewiesen habe: Die aus dem Nichts kommende und auch nirgendwo hinführende, die Bretter, die die soziale Welt bedeuten, kreuzende Spur eines Wesens, das weder in Natur noch in Kultur fraglos eingebettet,
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vielmehr auf Interpretation und Präsentation angewiesen, gegenüber jeder Erfahrung orientierungsbedürftig und ständig in der Realisierung seiner Situationsdenitionen gefährdet ist. Kurz: Der Goffmensch, der sich hier zeigt, ist der sozusagen prinzipiell in ‚Schwierigkeiten‘ bendliche, auf die Vermeidung von Problemen bedachte und mithin ein wesentlich dramatisches Leben führende Mensch.10 Und die ‚Lehre‘ nun von diesem Menschen, von seinen Bedingungen und Möglichkeiten, seinen lebensweltlichen Bezügen und – vor allem – von seinen Äußerungsformen, bezeichne ich als Dramatologie. Dramatologisch gesehen geht es prinzipiell um den in Situationen handelnden Interaktionsteilnehmer, um dessen situative Orientierungen, Abstimmungen, Aushandlungen, Darstellungen usw. Metaphorisch gesprochen: Der Dramatologe schaut sich an, welche ‚Charaktere‘ unter welchen Bedingungen in welchen Kulissen wie miteinander umgehen. An den (inter-)agierenden ‚Spielern‘ interessiert vor allem, wie sie ihre ‚Rollen‘ meistern, welche Drehbücher sie benutzen, und welches Publikum sie wie ansprechen. „Totus mundus agit histionem“ lautet bekanntlich die Inschrift über dem Eingang des Globe Theatre in London. Und zumindest der starke Verdacht, daß alle Welt schauspielert, begründet natürlich auch die anthropologische Relevanz dieser Sichtweise der Gesellschaftlichkeit des Menschen, die – aus analytischen Gründen – diese Welt eben anschaut, als sei sie eine Bühne: „Wir stolzieren und ärgern uns ja ein Stündchen auf ihr herum, und dann ist unsere Zeit um“ (Goffman 1974/1977, S. 143). Inszenierung ist demnach gar keine besondere Sache, Alltagsdramaturgie keine außergewöhnliche Art von Verhalten, Schauspielen keine spezische Form menschlichen Zusammenlebens, sondern eine Grundgegebenheit der ‚conditio humana‘ zum einen, und eine recht banale, alltägliche Angelegenheit zum anderen: Wir alle zielen vermittels unserer Selbst-Darstellungen darauf ab, von den anderen auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen zu werden, vor den anderen in einem bestimmten Licht zu erscheinen. Und die anderen machen im Prinzip dasselbe, und so machen wir alle uns sozial einander erträglich, denn: „Sicherheit erwächst durch einander bestätigende Vorstellungen“ (Soeffner 1989a, S. 157). Wir haben es bei Goffmans Ansatz also mit einer sozialwissenschaftlichen Perspektive zu tun, die versucht, den Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens dadurch auf die Spur zu kommen, daß sie dieses als einen ständigen Strom wechselseitiger Inszenierungen begreift, dem ein analytisch faßbarer Komplex dramaturgischer Leistungen zugrundeliegt. Und diese Perspektive, und darin sehe ich ihre Besonderung und Besonderheit z. B. gegenüber den gewohnten 10
Noch weniger also als nach der berühmt gewordenen, polemisch gegen die strukturfunktionalistische Auffassung gerichteten Charakterisierung durch Gar nkel ist der Mensch für Goffman ein „urteilsunfähiger Trottel“. Vielmehr sieht er ihn m. E. eher radikaler als die Ethnomethodologen als einen ‚Sinngebungs-Virtuosen‘ an (vgl. dazu auch Eberle 1991b).
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soziologischen Rollentheorien (exemplarisch etwa der von Dahrendorf 1967), sucht eben vor allem zu erhellen, wie vom Individuum aus gesehen Gesellschaft erscheint, statt von der Gesellschaft her nach dem Individuum zu fragen – obwohl Goffman (1974/1977, S. 22) ja unmißverständlich bekundet: „Persönlich halte ich die Gesellschaft in jeder Hinsicht für das Primäre.“ Mit ‚Dramatologie‘ – als anthropologisch informierter sozialwissenschaftlicher Perspektive im Anschluß an Goffman – meine ich nun also ein in diesem Sinne spezisches analytisches Interesse innerhalb des lebensweltlichen Ansatzes, der ja prinzipiell auf Rekonstruktionen thematisch einschlägiger Erfahrungen typischer Akteure abzielt (vgl. zur Programmatik Hitzler/Honer 1988; zur Fundierung: Schütz/ Luckmann 1979 und 1984): Ich meine das Interesse an sozialem Handeln, bei dem es immer zumindest auch, möglicherweise aber auch vor allem um die Erzeugung von Eindrücken, d. h. um Inszenierung geht, weil Menschen sich faßbar machen und erhalten müssen, um interagieren zu können.11 Und das generelle Thema der Dramatologie ist eben diese „anthropologische“ Dramaturgie des sozialen Lebens, und zwar so, wie der typische Akteur sie erfährt, erleidet und – vor allem – auch selber erhandelt: als Exzentriker, als Existentialist, als Politiker.12
11 Die Differenz zwischen einem allgemeinen lebensweltlichen Rekonstruktionsinteresse und einer hierin auf den dramatologischen Aspekt zugespitzten Problemstellung läßt sich vielleicht am besten mit den beiden symptomatischen Ausgangsfragen illustrieren: (lebensweltlich) Wie sieht ein Mensch seine Welt bzw. eine seiner kleinen ‚Welten‘, und warum (aufgrund welcher Bedingungen) sieht er sie so? (dramatologisch) Was tut ein Mensch, um seine Weltsicht und (damit?) ein Bild seiner selbst (d. h. für ihn selbst und für andere) a) überhaupt faßbar zu machen, b) zu vermitteln, c) zu plausibilisieren, d) durchzusetzen? 12 Die Frage, die ich mir hier gestellt habe, war also – genau genommen – nicht, „Was ist der Goffmensch?“, sondern eher im Sinne der von Goffman (1974/1977, S. 10) explizit geforderten ‚subversiven phänomenologischen Wendung‘: „Aufgrund welcher Merkmale könnten wir einen Interaktionsteilnehmer als ‚Goffmenschen‘ bezeichnen?“ Und als Konsequenz dieser ent-ontologisier ten Fragestellung will ich, ermutigt v. a. durch Thomas Luckmanns skeptischer Frage nach den ‚Grenzen der Sozialwelt‘ (1980) und neuerdings auch wieder durch die Peirce-Inter pretation von Jo Reichertz (1991, v. a. S. 9–70), eine (vorläug jedenfalls noch) überaus spekulative und zudem paradox klingende Möglichkeit zumindest erwähnen: Der Goffmensch muß nicht notwendigerweise ein Mensch sein. (Zu in diese Richtung weisenden empirischen Befunden vgl., neben den Laboruntersuchungen über die Sprachverwendungsfähigkeiten von Schimpansen und Gorillas (dazu Linden 1980), v. a. die Dokumentationen von Langzeit-Beobachtungen freilebender Primaten durch Jane van Lawick-Goodall (z. B. 1975 und 1991), Dian Fossey (z. B. 1989) und Barbara Harrisson (z. B. 1979), sowie die Zoo-Studien von Frans de Waal (1983 und 1991).
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Der Goffmensch
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Ronald Hitzler
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Anthropologie und Kultur
Affe trifft Goffmensch Stefan Hornbostel
„Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken“ Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher
Als Naturforscher ist Ronald Hitzler gemeinhin nicht bekannt. Umso überraschender ist es, wenn man von ihm mit einem Buch beschenkt wird, das im Untertitel Ausführungen über „Versöhnung und Entspannungspolitiken bei Affen und Menschen“ (de Waal 1991) annonciert. Dies, verbunden mit der dringenden Aufforderung, das Werk sofort zu lesen, denn es enthalte so fundamentale Neuigkeiten, dass die soziologische Theorie grundsätzlich zu überdenken sei.1 Nur ein Jahr später nden sich erste Hinweise auf die revolutionäre Entdeckung unter dem irreführenden Titel „Der Goffmensch“ (Hitzler 1992). Der wesentliche Fingerzeig ist versteckt in der zwölften Fußnote [sic] am Ende des Aufsatzes: „Der Goffmensch muß nicht notwendigerweise ein Mensch sein. Zu in diese Richtung weisenden empirischen Befunden vgl., neben den Laboruntersuchungen über die Sprachverwendungsfähigkeiten von Schimpansen und Gorillas (…), vor allem die Dokumentation von Langzeit-Beobachtungen freilebender Primaten durch Jane van Lawick-Goodall (…), Dian Fossey (…) und Barbara Harrisson (…) sowie die Zoo-Studien von Frans de Waal (…)“ (Hitzler 1992: 458). Dieser klandestine Hinweis von erheblicher Tragweite wird im Text selbst allerdings erstaunlicherweise kaum argumentativ entfaltet. Dort wird man lediglich darüber informiert, dass es durchaus naheliegend sei, „in Übereinstimmung mit aktuelleren evolutionstheoretischen, ethologischen und ethnologischen Erkenntnissen, 1
Dass diese Einschätzung von hoher prognostischer Validität war, lässt sich nicht nur daran erkennen, dass der Soziologentag 2006 unter dem Motto „Die Natur der Gesellschaft“ stand, sondern auch daran, dass andere (geisteswissenschaftliche) Disziplinen sich mit angemessener Verzögerung um die Integration des Affen in das disziplinäre Theoriegebäude bemüht haben: „Immer kürzer werden zudem die Halbwertzeiten der Moden. Die neueste Sau im Germanistendorf ist, ohne jede Ironie, ein Affe. Durch frappierend viele Vorträge des Verbandstreffens, das unter dem nicht eben innovativen Titel „Natur – Kultur“ stand, rasten die Primaten. Die Kokosnuss geklaut hat diesmal die Evolutionsbiologie – wohl deshalb die jüngste Wahlverwandte der Germanistik, weil man eine gemeinsame anthropologische Basis unterstellt“ (Jungen 2007: 41).
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(zumindest) den Menschen als ein ‚Zoon politicon‘“ zu verstehen und damit auch zu begreifen, „dass ihm die Notwendigkeit, sich dem alter ego mitzuteilen und alter ego sich verständlich zu machen, ‚ursprünglich‘, d. h. als ‚conditio humana‘ auferlegt ist: Der Mensch, darüber besteht in den ansonsten durchaus divergenten Positionen der neueren Anthropologie bekanntlich Einigkeit, ist ein aus der unmittelbaren Naturverhaftung herausgetretenes bzw. herausgeschleudertes Wesen“ (Hitzler 1992: 453). Gerade das aristotelische Zoon Politikon, das mit seiner im Logos gegründeten Fähigkeit des Benennens sich vom Tier durch Erkenntnis- und Sprachfähigkeit unterscheidet, scheint aber als Beleg für die weitreichende These, dass der Goffmensch unter Umständen gar kein Mensch ist, nicht recht zu taugen. Nun wäre es aber im Hitzlerschen Sinne ein methodisch höchst bedenkliches Vorgehen, wenn man lediglich den Text akribisch auf weitere Indizien hin untersuchen wollte. In seinem Versuch einer Rekonstruktion der Goffmanschen „Anthropologie“ zeigt er einen methodisch angemessenen Weg auf: „Ich (halte) es z. B. für weniger sinnvoll (…), sein Menschenbild durch den Verweis auf illustrativ geeignet erscheinende Zitatstellen aufspüren zu wollen. Ich denke vielmehr, eine Vorstellung von Goffmans Vorstellungen vom Menschen bekommt man am besten, wenn man sich anschaut, was er als Sozialforscher getan bzw. unterlassen hat: Unübersehbar ist Goffmans Neigung zu einer ‘naturalistischen‘ (also zu einer nichtexperimentellen, nicht theoriebeladenen) Sozialforschung. (…) Damit zusammen hängt seine Auffassung, daß wir unter anderem auch unser eigenes Leben als Datenmaterial betrachten und nutzen, und daß alle unsere großartigen Theorien irgendwie falsch sein müssen, wenn wir sie nicht auf unsere eigenen Erfahrungen anwenden können“ (Hitzler 1992: 450). Versuchen wir also auf diesem Wege (durch Inspektion einiger Facetten der „kleinen Lebenswelt“ bzw. durch Untersuchung der Taten und Unterlassungen von Ronald Hitzler), der Frage näher zu kommen, was es mit der unscharfen Grenze von Affe und Goffmensch auf sich hat.
Der heilige Affe Was im Text nicht zu entdecken ist, fällt bei einem Besuch in Hitzlers Büro oder Privatwohnung auf: Früher oder später stößt man auf eine kleine Buddhagur. Das legt nahe, dass die aus dem japanischen Buddhismus bekannten drei Affen Mizaru, Kikazaru und Iwazaru (nichts (Böses) sehen, nichts (Böses) hören, nichts (Böses) sagen), die ihrerseits aus den vedischen Religionen importiert wurden, wo sie in Gestalt des Gottes Hanuman (ein Affe) eine herausragende Rolle spielen (vgl. Keul 2002), einen Hinweis geben könnten. Allerdings erweist sich diese Spur bei näherer Untersuchung als nicht sehr ertragreich. Hitzlers Beziehungen zum Buddhismus sind in religiöser Hinsicht eher oberächlich, wenn nicht ek-
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lektizistisch, konzentrieren sie sich doch eher auf physiologische Merkmale jenes zur vollkommenen Weisheit gelangten Wesens. Ertragreicher ist die Spur, die der Affe in der christlichen Bilderwelt und Literatur hinterlassen hat, wo er, durchaus ambivalent, meist aber als Karikatur des Menschen, als Symboltier für Laster und Eitelkeit (mit dem Spiegel in der Hand), für Geiz und für den Teufel steht. Sieht man einmal von den anhaltenden Auseinandersetzungen um die Kompatibilität evolutionstheoretischer Aussagen mit christlicher Dogmatik ab, erscheint allerdings die säkulare Auseinandersetzung mit dem Affen wichtiger als die religiöse Symbolik. Aus dem Mittelalter über die Hochkonjunktur des Affenmenschen in der romantischen Literatur bis zu Immendorffs Wappentier zieht sich eine Linie kultureller Auseinandersetzung mit den „Protohumanoiden“ (vgl. dazu den kenntnisreichen Sammelband von Sabine Obermaier 2009).
Goffmensch, Affe und Kultur Das Verhältnis des Goffmenschen zur Kultur beschreibt Hitzler folgendermaßen: „Der Mensch geht nicht nur – als Gattungswesen – nicht in der Natur, er geht – als Individuum – auch nicht in der ihn umgebenden Kultur auf. Vielmehr steht er – ein essentieller ‚Doppelgänger‘ (…) – zugleich in dieser und dieser gegenüber“ (Hitzler 1992: 453). Was sich in der Konsequenz verdichtet, „daß der Goffmensch ganz wesentlich als Schau-Spieler zu begreifen ist: Er deniert (mehr oder weniger erfolgreich) Wirklichkeit, indem er vorgibt, so oder so, dies oder jenes zu sein, und damit darauf abzielt, von den anderen auch so wahrgenommen zu werden“ (ebd.). Die Frage, wieweit der Goffmensch Natur ist, sei hier vorerst ausgespart. Konzentrieren wir uns zunächst auf die Frage, wie die Kultur mit dem diagnostizierten Zwang zur Inszenierung umgeht. Wenngleich es literarische Vorläufer gibt, ist hier sicherlich Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“ aus dem Jahre 1917 zu nennen. Von einer Expedition der Firma Hagenbeck gefangen, sucht der Affe Rotpeter einen Ausweg aus der bedrückenden Enge seines Transportkägs auf der Schiffspassage. Er beginnt, die Menschen nachzuahmen, weil er so unbehelligt sein will, wie sie es offensichtlich sind. Sein Ziel ist allerdings nicht Freiheit: „Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer“ (Kafka 2008: 326). Anstelle der äußerst gefahrvollen Freiheit scheint ihm Assimilation an seine menschlichen Aufseher der Ausweg: „Ich sah diese Menschen auf und ab gehen, immer die gleichen Gesichter, die gleichen Bewegungen. (…) Diese Menschen gingen also unbehelligt. (…) Niemand versprach mir, dass, wenn ich so wie sie werden würde, das Gitter aufgezogen werde. (…) Wäre ich ein Anhänger jener erwähnten Freiheit, ich hätte gewiß das Weltmeer dem Ausweg vorgezogen, der sich mir im trüben Blick dieser Menschen zeigte“ (328 f.). Vor der
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Akademie berichtet Rotpeter über seinen schnellen Lernprozess, nicht ohne auf die methodischen Probleme dieses Berichts hinzuweisen: „Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte; ich freier Affe, fügte mich diesem Joch. Dadurch verschlossen sich mir aber ihrerseits die Erinnerungen immer mehr (…). Offen gesprochen: Ihr Affentum, meine Herren, soferne Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles“ (322 f.). Leicht erlernt Rotpeter sinnvolle Gesten und auch das Sprechen: „Es war so leicht, die Leute nachzuahmen. Spucken konnte ich schon in den ersten Tagen. (…) Die Pfeife rauchte ich bald wie ein Alter. (…) Die meiste Mühe machte mir die Schnapsasche. Der Geruch peinigte mich (…)“ (329). Es bleibt allerdings nicht bei Assimilation. Rotpeter lernt in einem solchen Maße das inszenatorische Repertoire, dass er einerseits sehr bald seine Lehrer in der Hand hat, andererseits der Weg zu seiner Natur zunehmend versperrt ist: „Ach, man lernt, wenn man muß; man lernt, wenn man einen Ausweg will; man lernt rücksichtslos. (…) Die Affennatur raste (…) aus mir hinaus und weg, so daß mein erster Lehrer davon selbst fast äfsch wurde, bald den Unterricht aufgeben und in eine Heilanstalt gebracht werden mußte. (…) Überblicke ich meine Entwicklung und ihr bisheriges Ziel, so klage ich weder, noch bin ich zufrieden. (…) Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften, aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine kleine halbdressierte Schimpansin2 und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr wohlgehen. Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat nämlich den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick. (…) Im Ganzen habe ich jedenfalls erreicht, was ich erreichen wollte“ (331 f.). Kafkas Rotpeter ist Schau-Spieler in einem ganz existentiellen Sinne, gewährt das Schauspiel doch Freiheit von der Gefangenschaft, ohne allerdings die Frage nach der Freiheit wozu geklärt zu haben. Erwähnt sei noch, dass auch für Kaf kas Rotpeter ein Problem ungelöst blieb, das schauspielerisch nur schwer zu bearbeiten ist: Für die Öffentlichkeit, insbesondere die Journalisten, bleibt er – wie für ihn die Äfn – ein dressierter Affe, der die Hose herunterlässt, um seinen Pelz und seine Narben zu zeigen. Die Unausweichlichkeit dieses Vorgangs hatte Hitzler bereits frühzeitig diagnostiziert: „Unsere leibhaftige Körperlichkeit ist, ob wir es wollen oder nicht, ein – von uns nur beschränkt kontrollierbares – Anzeichenfeld für den im anderen Gegenüber fokussierten öffentlichen ‚Blick‘“ (Hitzler 1985: 508). Das gilt auch für Rotpeter. Kafkas literarischer Affe hat in seinem „Umgang mit – konkreten und anonymen – anderen Interaktionsteilnehmern“ und deren „Verkehrsregeln“ ganz ähnlich
2 Auf diese beiden Figuren (den vom Wahnsinn bedrohten Peger und das Sexualobjekt) wird noch einmal zurückzukommen sein.
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wie der Goffmensch „zeitlebens ein Bewältigungsproblem. Er sieht sich ständig mit situativen Zumutungen konfrontiert. (…) Der wohlsozialisierte Interaktionsteilnehmer im Sinne Goffmans unterscheidet sich vom weniger wohlsozialisierten vielmehr vor allem dadurch, daß er über die divergente soziale Akzeptanz unterschiedlicher Lösungsmuster in bezug auf unterschiedliche Situationen ‚Bescheid weiß‘“ (Hitzler 1992: 454). Bleibt also zunächst festzuhalten, dass der Hitzlersche Kulturbegriff hier etwas eng ausgefallen ist, stellt Kultur doch nicht nur fragile Regeln und Routinen zur Bewältigung der Interaktionssituationen bereit, sondern eben auch ein reektierendes Metawissen, in diesem Fall als Satire auf die Zivilisationsgeschichte. Allerdings bemerkt Hitzler ausdrücklich, dass auch erodierende „Lösungsmuster“ keineswegs zur Folge haben, „daß in verschiedenen Kulturen keine ‚theoretischen Erklärungen‘ mehr vorhanden wären (ich denke hier z. B. an die Psychoanalyse). Daraus aber folgt, daß das tatsächliche Handeln des Interaktionsteilnehmers auf keinen Fall durch irgendwelche sozial gültigen Ordnungen prädeterminiert ist, und daß auch gelungene Sozialisation ihn nicht situativer Entscheidungen über seine Antwort auf etwelche ‚Zumutungen‘ enthebt“ (Hitzler 1992: 454). Hier scheint sich also eine Spur im Hitzlerschen Denken aufzutun, die Ertrag verspricht – Aufklärung über die Psychoanalyse als Verblendungszusammenhang, der sich als „theoretische Erklärung“ geriert mit Hilfe des Affen (zur Bedeutung der An- und Ausführungsstriche im Hitzlerschen Werk vgl. den Beitrag von F. Neidhardt in diesem Band). Hitzlers Aversionen gegen jede Form holistischer Großtheorie (wie auch die in seiner Destruktionsarbeit offenbar werdende heimliche Faszination daran) sind bekannt. Es würde an dieser Stelle aber zu weit führen, Sigmund Freuds Unbehagen in der Kultur (dreizehn Jahre nach Kafkas Bericht erschienen) im Detail daraufhin zu untersuchen, wo sich die Divergenzen zum Hitzlerschen Kulturbegriff auftun. Daher seien nur zwei Aspekte herausgehoben, die sich unmittelbar mit Hitzlers Leben verbinden lassen: die Arbeit und der Sex.
Affe, Arbeit und Marxismus In Sigmund Freuds (1994: 41) Kulturentwurf ist „das Leben, wie es uns auferlegt ist“, zwar auch hoch problematisch, es ist nämlich „zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben“, allerdings nicht etwa, weil das kulturelle Regelwerk zu viele Kontingenzen enthält, sondern im Gegenteil, weil der Antagonismus zwischen Triebbefriedigung und kulturell reguliertem Triebverzicht in einer Spiralbewegung mit dem kulturellen Fortschritt auch das Unbehagen in und an selbiger wachsen lässt. Kultur ist hier differentiell gedacht; Differenz und Differenzbildung sind die Kategorien, in denen sich Freuds
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Begriffsbildung vollzieht.3 Dabei steht der Affe ganz am Anfang, denn ihm gegenüber wird die erste und wichtigste Differenz markiert; gegenüber seinen primitiven Verhaltensweisen erfährt sich der Mensch als distinkt: Als Kultur wird „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen bezeichnet, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“ (Freud 1994: 55). In Gang kommt der Prozess der Kulturbildung im Wesentlichen dadurch, dass a) soziale Gemeinschaften sehr günstige Bedingungen für die permanente Befriedigung des Sexualtriebes bieten und b) solche Gemeinschaften auch den durch die „Not von außen“ auferlegten „Zwang zur Arbeit“ durch arbeitsteiliges Produzieren am besten bewältigen können. Die zentrale Stellung der Arbeit (und diese umfasst im fortgeschrittenen Stadium auch die im engeren Sinne kulturellen Hervorbringungen von Kunst und Wissenschaft) verweist deutlich auf den Marxschen Arbeitsbegriff, auch wenn Freud selbst im Marxismus lediglich eine der hoffnungslosen Illusionen sah.4 Karl Marx hatte die entscheidende Demarkationslinie zwischen Mensch und Tier ähnlich gesehen: „Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst“ (Marx/Engels 1969: 21). Nun ist diese Denition, in deren Mittelpunkt die Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch steht, bereits früh ins Wanken geraten, weil sich der Werkzeuggebrauch nicht nur bei höher entwickelten Tieren recht zweifelsfrei nachweisen ließ. Marx hatte aber in weiser Voraussicht im Kapital eine begriffliche Präzisierung vorgenommen, die Intention und Planung in den Vordergrund rückt: „Eine Spinne“, so heißt es da, „verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war“ (Marx/Engels 1973: 193). Dass auch diese letzte Bastion des Marxschen Arbeitsbegriffs angreifbar sein könnte, hatte Hitzler bei seinen Überlegungen zum tierischen Goffmenschen offenbar erahnt, ohne allerdings einen schlüssigen Beweis liefern zu können. Der wurde jüngst in der Fachzeitschrift Current Biology (Osvath 2009) nachgeliefert. 3
Eine zeitgenössische Variante in der Soziologie (Kultur als gesellschaftliche Produktion von Differenz) ndet sich bei Pierre Bourdieu. 4 Dass beide im Exil in Hampstead starben, ist nicht als Beleg für eine späte Aussöhnung zu sehen.
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Mathias Osvath berichtet dort über Beobachtungen an Schimpansen in einem schwedischen Zoo. Die Wissenschaftler hatten über lange Zeit registriert, dass der Schimpanse „Santino“ des morgens, vor Öffnung des Zoos, Steine sammelte und sie zerkleinerte, um später, wenn sich der Zoo mit Besuchern gefüllt hatte, dieses Material als Wurfgeschoss gezielt gegen die Zoobesucher einzusetzen – ohne allerdings ernsthaften Schaden zu stiften. Der Autor der Veröffentlichung stellt begeistert fest, dass die Beobachtungen zeigen, „dass unsere Artgenossen zukünftige Ereignisse in einer sehr komplexen Weise berücksichtigen. Das beinhaltet, dass sie ein hoch entwickeltes Bewusstsein haben, inklusive geistiger Simulationen möglicher kommender Ereignisse in ihrem Leben“ (Netzzeitung 10.3.2009).5 Zwar hat Osvath nicht in Erwägung gezogen, dass es sich hier möglicherweise um einen Kafka-Affen handeln könnte, also einen, der auf dem Weg zur Menschenwerdung ein erstaunliches Verhaltensrepertoire durch Imitation erworben hat, man kann aber aufgrund älterer Studien fast ausschließen, dass derartige Lernchancen zur Verfügung standen, denn „im Gegensatz zur allgemeinen Überzeugung imitieren Menschen die Affen häuger als umgekehrt. Der Anblick von Affen oder Menschenaffen erzeugt bei den Leuten einen unwiderstehlichen Drang, auf und ab zu hüpfen, sich übertrieben zu kratzen und in einer Weise zu heulen, die die Primaten neugierig darauf machen muss, wie denn diese andererseits so intelligente Spezies dazu kommt, auf so minderwertige Methoden der Kommunikation angewiesen zu sein“ (de Waal 1991: 42). Die schmale Grenze zwischen Mensch und Tier, die Freud mit dem Kulturbegriff gezogen hat, ist angesichts dieser Sachlage brüchig geworden. In der Triebausstattung ähnlich beschaffen, fragt sich nun, ob Affen, wie die Menschen, die Energie des Thanatos „gemäßigt und gebändigt“, zur Unterwerfung der Natur und zum friedlichen Zusammenleben, und Eros zur Herstellung belastbarer sozialer Bindungen einsetzen können. Hinsichtlich des Einsatzes und der Beherrschung von Aggression, des Aufbaus von Koalitionen und kooperativen Gruppen, aber auch der Entwicklung von Strategien und Täuschungsmanövern, hat Frans de Waal umfangreiches Material vorgelegt, das in der Tat den Eindruck erweckt, als gehöre der „gemeine Machiavellismus“ zur sozialen Grundausstattung jeder Schimpansenkolonie.6 Zur Begriffsklärung: „‚der gemeine Machiavellismus‘ ist (…) – ähnlich wie etwa die banale Proteik‘ (…) – die Etikettierung und zugleich die Überzeichnung einer ganz alltäglichen, vor- bzw. protopolitischen Handlungs5 Ähnliches hatten bereits 2006 Josep Call und Nicholas Mulcahy vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig berichtet, allerdings auf der Basis von Experimenten mit Bonobos und Orang-Utans. Dass sowohl die Schimpansen als auch die Orang-Utans Ansätze zu planvollem Handeln zeigen, führte die Forscher zu dem Schluss, dass sich die Fähigkeit des Vorausplanens bereits vor mehr als 14 Millionen Jahren entwickelt haben müsse. 6 Interessanterweise bezieht sich Frans de Waal in seiner Argumentation auf Georg Simmel.
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,Logik‘: in diesem Fall der ,Logik‘ der erfolgsorientierten Selbstpräsentation, der Selbstpräsentation im Hinblick auf die Verwirklichung eigener Interessen. Damit ist also keine Psycho-Logik gemeint, keine Charakterologie, sondern die Idealtypisierung einer für das menschliche Zusammenleben basalen Form sozialen Handelns, die sich je situationsspezisch manifestiert“ (Hitzler 1993a: 136). Allerdings sind auch Selbstpräsentationen – wie alles in der Dramatologie – riskant und können scheitern. In Affengemeinschaften kommt es dann zu Gewaltausbrüchen und auch gezielten und gemeinschaftlichen Tötungen.7 „Im allgemeinen gehen diese Menschenaffen [allerdings] mit Konikten außerordentlich efzient um. Die Geschichten über Gewalt geben nur zu verstehen, daß Schimpansen zwingende Gründe haben, Beziehungen auszubalancieren. Einige speziell zu diesem Zweck angewandte Verhaltensweisen spielen auf die Gefahren bei gescheiterten Friedensbemühungen an. Zum Beispiel be ngern Schimpansenmännchen in Augenblicken leichter Spannung häug gegenseitig ihr Skrotum, eine Geste, die unter Feldforschern respektlos als ‚ball-bouncing‘ (Eier-prahlen) bekannt ist. Gibt es einen überzeugenderen Weg, freundschaftliche Absichten zu signalisieren, als durch Berührung dieser verwundbaren Teile?“ (de Waal 1991: 82). Damit sind wir direkt bei der noch fehlenden Auseinandersetzung mit der zweiten Säule des Freudschen Kulturkonzepts (Eros) angelangt, schließlich entwickelt sich das Unbehagen in der Kultur wesentlich daraus, dass, um die Arbeit an und in der Kultur zu bewältigen, Energie benötigt wird, die beständig dem Sexualleben entzogen werden muss. Der Zwang zur Triebkontrolle und zum Triebverzicht löst dann jene Schuldgefühle und Neurosen aus, die das Unbehagen ausmachen.
Kamasutra-Primaten, Sex für den Frieden oder „ein bisschen Spaß muss sein“ Auch in dieser Frage empehlt es sich, noch einmal auf kulturelle Reektionen des Themas zurückzukommen. Unter zeitgenössischen Autoren dürfte T. C. Boyle das engste Verhältnis zum Affen haben. Geradezu einer Obsession gleich, tauchen die Affen in fast jedem seiner Werke auf. In diesem Zusammenhang ist aber die Rückschau auf die Entstehungszeit der Psychoanalyse von besonderem Interesse, die in „Riven Rock“ (Boyle 1998) nicht nur die fragwürdigen Methoden der frühen Psychopathologie, sondern auch ihr wackliges theoretisches Gerüst anhand des Lebensberichts über Stanley McCormick (basierend auf einem authentischen Fall) literarisch verarbeitet. Den reichen Erben McCormick plagen schon wäh-
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Vgl. dazu die lange Auseinandersetzung mit der Natürlichkeit des Bösen von Konrad Lorenz (1963) bis Dale Peterson und Richard Wrangham (2001).
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rend seiner Verlobungszeit Zwangsvorstellungen und Stimmen. 1908, vier Jahre nach der Hochzeit, erfolgt die Diagnose „Schizophrenie/Psychopathia sexualis“. Das damit verbundene äußerst aggressive Verhalten führt dazu, dass der junge Mann in einem großzügigen „Privatgefängnis“ weggeschlossen und von eigens angestellten Ärzteteams behandelt wird. Der erste angeheuerte Arzt, „Dr. Hamilton“, ist Primatenforscher, und man gestattet ihm, seine Affenkolonie auf dem Anstaltsgelände unterzubringen, schließlich erwartet die fortschrittsgläubige und hoffnungslos rückständige puritanische Gesellschaft Aufschlüsse für die Behandlung psychischer Erkrankungen. Aus der Perspektive des Pegers O’Kane sah das etwa folgendermaßen aus: „O’Kane hatte inzwischen genug von den Experimenten des Doktors gesehen, um sich eine Meinung zu bilden, und seine Meinung lautete, daß das alles Quatsch war. Abgesehen davon, daß sie die Affen durch diese großen Holzkisten (…) hetzten, schienen Hamilton und seine schmierigen Assistenten nicht viel mehr zu tun, als die Viecher sich gegenseitig – oder was ihnen sonst so unterkam – cken zu lassen. Einmal hatte er beobachtet, wie der Itaker einen streunenden Hund in den Gemeinschaftskäg führte, und tatsächlich kamen die Affen sofort schnatternd von ihren Bäumen herunter, und einer nach dem anderen ckte den Hund. Dann schubsten sie einen Coyoten in den Käg. Den ckten die Affen ebenfalls. Sie warfen eine drei Meter lange Natter in den Käg. Die Affen ckten sie, dann bissen sie sie tot und fraßen sie auf. So wie O’Kane die Sache sah, hatte Hamilton bisher nichts weiter festgestellt, als daß Affen alles vögeln, was ihnen über den Weg läuft, aber wie sich das auf Mr. McCormick und all die anderen armen Schizophrenen dieser Welt übertragen ließ, konnte er nicht einmal ansatzweise erahnen.“ So sehr man in die Kritik an unsinnigen Experimenten einstimmen möchte, so sehr empört – nach den bisherigen Mitteilungen über die Primaten – doch die recht undifferenzierte Schlussfolgerung aus der äußerst unsystematischen Beobachtung äfschen Sexualverhaltens. Bekannt für ausschweifenden Sex sind die Bonobos. Diese und die Schimpansen verfügen immerhin über eine zu 99 % mit der menschlichen DNA übereinstimmende genetische Ausstattung. Ihr akrobatisches, variantenreiches, homo- wie heterosexuelles und auch pädophiles Sexualverhalten hat ihnen zu dem Titel „Kamasutra-Primaten“ verholfen. Gleichwohl hatte de Waal bei seinen Studien der Bonobos „in keinem einzigen Augenblick“ das Gefühl, „eine Ansammlung von pathologisch sexbesessenen Tieren“ vor sich zu haben (de Waal 1991: 206). Vielmehr kommt der Ethologe zu dem Schluss: „Sowohl die romantische Idee von Sex als ‚Liebe machen‘ und die auf Empfängnis ausgerichtete Auffassung von Sex sollten (…) um ein Konzept erweitert werden, das Sexualität als eine Alternative zu Feindseligkeit versteht. Bonobos setzen Sex auf gleiche Weise ein, wie es den chinesischen Großmüttern nachgesagt wird, nämlich als Geste der Beschwichtigung. Erotische Beziehungen zwischen Bonobos
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können deshalb für die Harmonie der Gruppe von lebenswichtiger Bedeutung sein“ (de Waal 1991: 208). So wichtig diese Richtigstellung ist, so wenig hilft sie bei der Klärung des Hitzlerschen Goffmenschen. Denn mir ist nicht bekannt, dass Ronald Hitzler Ambitionen in der Friedensforschung (und sei es über Sex) entwickelt hätte. Der Schlüssel ndet sich in diesem Fall auch nicht bei de Waal, sondern bei T. C. Boyle. Der behandelnde Arzt in Boyles Roman, „Dr. Hamilton“, hat eine historische Vorlage, nämlich Gilbert Van Tassel Hamilton. Selbiger wurde nicht zuletzt durch eine Befragung aus dem Jahre 1929 über die ehelichen Sexualgewohnheiten bekannt. Teil dieser Studie war die erstaunliche Nachricht8, dass 28 % der befragten Männer und 29 % der Frauen angaben, es schon einmal genossen zu haben, wenn andere Personen ihnen Schmerzen zufügten (vgl. Hamilton 1929). In der algophilen Lebens-Welt treffen wir nun auch wieder auf Ronald Hitzler (1993b und 1994) und seine Aversionen gegen psychoanalytische Theorie: „Problematisch – einfach weil in ihrer Geltung beschränkt – erscheinen mir die bekannten Theorien grosso modo vor allem im Hinblick auf solche S/M-Akteure, die explizit weder sadistische noch masochistische Neigungen haben, die also keine oder nur geringe erotische Sensationen in Verbindung mit Devotion und Dominanz erleben. Gegenüber solchen Akteuren müssen die Theorien nämlich entweder auf sogenannte ‚a-tergo‘-Annahmen zurückgreifen (exemplarisch auf ‚das Unbewußte‘), oder sie müssen zusätzliche oder alternative – symptomatischerweise selber wieder nach dem gleichen Schema zu analysierende –Motivlagen einführen (z. B. Geldgier, Liebe, soziale Reputation, nanzielle Abhängigkeit, Neugier, Opportunismus, Langeweile, Unterdrückung, usw.)“ (Hitzler 1994: 156). Nicht Psychopathologie, sondern Interaktion, nicht das Freudsche Individuum, das mit sich selbst die Probleme der Triebökonomie ausmachen muss, sondern das offene dramatologische Skript stehen im Vordergrund: „Sadismus und Masochismus werden somit verstehbar als erotische Manifestationen des Selbstbildes der maßgeblichen algophilen Akteure, ungleich, d. h. (vor allem) anders zu sein als die Objekte ihrer jeweiligen Begierde. Beide Formen der Algophilie sind – trotz ihrer oft martialischen Inszenierung – folglich im Kern wohl weniger Gewalt – als vielmehr Macht-Fiktionen“ (Hitzler 1994: 164). Anders gesagt: Hitzler entfaltet hier, wovon Freud nicht träumen konnte: Eine Kultur des kontrollierten Risikos, in der Thanatos und Eros so miteinander verschränkt werden, dass es – wenn auch nicht auf den ersten Blick – behaglich wird in der Kultur – ein bisschen Spaß muss sein. 8
Befragt wurden 100 Männer und 100 Frauen zu ihren ehelichen Gewohnheiten. 51 % der Männer und 32 % der Frauen hatten schon einmal einen „angenehmen Kitzel“ verspürt, wenn sie Tieren oder Menschen Schmerzen zufügten, und bei 33 % der Männer und 19 % der Frauen machte sich diese Tendenz weiterhin bemerkbar. 28 % der Männer und 29 % der Frauen gaben an, es schon einmal genossen zu haben, wenn andere Personen ihnen Schmerzen zufügten. Bei 20 % der Männer und 27 % der Frauen war dies anhaltend der Fall.
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Was noch kommt Wir können abschließend aus dem, was Hitzler als Sozialforscher getan und unterlassen hat, mit hinreichender Sicherheit schließen, dass die klandestine Einführung des Affen in das Hitzlersche Werk nicht einfach einer Mode oder Laune entsprungen ist. Vielmehr handelt es sich um ein Paradestück machiavellistischer Politik, was allein schon daran erkennbar wird, dass in Folge der zwölften Fußnote im Goffmenschen etliche sozial- und geisteswissenschaftliche Kongresse sich des Affen angenommen haben. Wichtiger als das ist aber die theoriesystematische Bedeutung des Affen. Wir haben gezeigt, wie sich aus den verstreuten Puzzlestücken der Argumentation sehr deutlich herausschält, dass erst das Verwischen der Grenze zwischen Goffmensch und Goffaffe die fundamentale Kritik von Marxismus und Psychoanalyse ermöglicht (von anderen Großtheorien gar nicht zu reden). Goffmensch wie -affe stehen nun als prinzipiell verunsicherte Wesen, die ständig Probleme bewältigen, Antworten suchen und Rätsel lösen müssen, nebeneinander und leben ihr unweigerlich ‚riskantes‘ Leben. Man ahnt bereits, dass sich hier der berühmte Schmetterlingsügelschlag aus Chaostheorie und Klimaforschung abzeichnet: Eine kleine Fußnote leitet ein wahrlich interdisziplinäres Forschungsprogramm ein, in dem die Soziologie (nach dem Vorbild der Neurowissenschaften) sich anschickt, weite Teile der Naturwissenschaft als Hilfswissenschaften mit den Sozialwissenschaften unter dem Dach der Dramatologie zu vereinen. Ein Wermutstropfen bleibt jedoch. Lange bevor Ronald Hitzler den Affen in die Soziologie einführte – nämlich 1970 – sangen die Kinks bereits: „I think I’m so educated and I’m so civilized. ‚Cause I’m a strict vegetarian. But with the over-population and ination and starvation. And the crazy politicians. I don’t feel safe in this world no more. I don’t want to die in a nuclear war. I want to sail away to a distant shore and make like an apeman. I’m an apeman, I‘m an ape ape man…“
Literatur Boyle, Tom C. (1998): Riven Rock. München/Wien: Carl Hanser Verlag. de Waal, Frans (1991): Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen. München/Wien: Carl Hanser Verlag. Freud, Sigmund (1994): Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a. M.: Fischer. Hamilton, Gilbert V. (1929): A Research in Marriage. New York: Boni. Hitzler, Ronald (1985): Und Adam versteckte sich. In: Soziale Welt, 36, 503–518. Hitzler, Ronald (1992): Der Goffmensch: Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie. In: Soziale Welt, 43 (4), 449–461.
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Hitzler, Ronald (1993a): Der gemeine Machiavellismus. In: Sociologia Internationalis, 31, 133–147. Hitzler, Ronald (1993b): Die Wahl der Qual: ein Einblick in die kleine Lebens-Welt des Algophilen. In: Zeitschrift für Sexualforschung, 6, 228–242. Hitzler, Ronald (1994): Devotion und Dominanz: rituelle Konstruktionen in der algophilen Lebens-Welt. In: Schröer, Norbert (Hg.): Interpretative Sozialforschung: auf dem Wege zu einer hermeneutischen Wissenssoziologie. Opladen: Westdt. Verlag, 151–166. Jungen, Oliver (2007): Der hat die Kokosnuss geklaut! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung/Sonntagszeitung vom 28.9.2007, 41. Kafka, Franz (2008): Die Erzählungen. Hrsg. von Roger Hermes, Frankfurt a. M.: Fischer. Keul, István (2002): Hanuman, der Gott in Affengestalt. Entwicklung und Erscheinungsformen seiner Verehrung. Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, Band 47. Berlin/New York: de Gruyter. Lorenz, Konrad (1963): Das sogenannte Böse. Wien: Borotha-Schoeler. Marx, Karl (1973): Das Kapital. In: MEW 23. Berlin: Dietz Verlag. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1969): Die deutsche Ideologie. In: MEW 3. Berlin: Dietz Verlag. Mulcahy, Nicholas J./Call, Josep (2006): Apes Save Tools for Future Use. In: Science (19. Mai, Bd. 312), 1038–1040. Netzzeitung 10.3.2009: Schimpansen sind auch nur Menschen. http://www.netzeitung.de/ wissenschaft/1295537.html Obermaier, Sabine (Hg.) (2009): Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Berlin: de Gruyter. Osvath, Mathias (2009): Spontaneous planning for future stone throwing by a male chimpanzee. In: Current Biology, Volume 19, Issue 5, R190–R191. Peterson, Dale/Wrangham, Richard (2001): Bruder Affe – Menschenaffen und die Ursprünge menschlicher Gewalt. München: Diederichs Verlag.
Der Goffmensch beim Tanken Eine kommunikationswissenschaftliche Betrachtung Jo Reichertz
Die Welt als Widerstand, die anderen in der Welt als prinzipielle ‚trouble-makers‘, und mithin das Leben in der Welt mit den anderen und vor allem in der von anderen immer schon vordenierten Welt als unendliche ‚offene‘ Aufgabe … (Hitzler 1992: 451).
Was geht hier eigentlich vor? „Ich gehe davon aus, dass Menschen, die sich gerade in einer Situation benden, vor der Frage stehen: Was geht hier eigentlich vor? Ob sie nun ausdrücklich gestellt wird, wenn Verwirrung und Zweifel herrschen, oder stillschweigend, wenn normale Gewissheit besteht – die Frage wird gestellt, und die Antwort ergibt sich daraus, wie die Menschen weiter in der Sache vorgehen“ (Goffman 1977: 16). Interaktion und Kommunikation sind Formen des sozialen Handelns. Interaktion wie Kommunikation sind deshalb Antworten auf die Frage: Was geht hier eigentlich vor? Weil dies so ist, müssen alle an einer Interaktion oder Kommunikation Beteiligten sich ständig anzeigen, wer sie für sich und die anderen sind bzw. sein wollen. Das sind die Grundpfeiler einer auf Goffman (1975 und vor allem 1977) zurückgehenden dramatologischen Perspektive, die vor allem Ronald Hitzler für eine wissenssoziologisch verfahrende Interaktionsforschung fruchtbar gemacht hat (vor allem Hitzler 1992, 1993). Im Weiteren soll gezeigt werden, dass diese Perspektive gewinnbringend auch für die Analyse von Kommunikation genutzt werden kann.
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Maria Windelen an der Tankstelle
Stellen Sie sich einmal vor oder genauer – erinnern Sie sich einmal an ähnliche Situationen mit ähnlichem Personal: Ein ungemütlicher Dezemberabend im Ruhrgebiet. Maria Windelen ist mit ihrem Wagen auf dem Weg nach Hause. Ein anstrengender Arbeitstag liegt hinter der Rektorin einer deutschen Großstadtreal-
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schule. Es regnet und draußen ist es kalt. Die attraktive, schlanke Endfünfzigerin trägt ein blaues Businesskostüm, die Haare sind modisch frisiert und das dezente Make-up hat sie vor der Abfahrt von der Schule noch aufgefrischt. Sie ist müde, sehr müde, hat aber noch die Energie, sich auf ihren Mann (Studienrat für Deutsch und Geschichte) zu freuen, der die beiden Enkelkinder, die seit zwei Tagen zu Besuch sind, gerade betreut. Sie macht sich Gedanken darüber, was sie zu Essen machen und wie sie die Kinder bespaßen soll, als sie nach einem Blick auf die Kraftstoffanzeige ihres Mercedes Cabrio die nächste Großtankstelle anfährt. Sie hält vor einer der vielen Zapfsäulen, steigt aus, schaut sich suchend um. Da wir uns in den Anfängen des 3. Jahrtausends benden, gibt es wieder Tankstellen mit Servicepersonal. Ihr Blick bleibt an einem Mann in den 40ern (offensichtlich ohne Migrationshintergrund) hängen, den sie noch nie zuvor gesehen hat, der dem Serviceteam anzugehören scheint. Er ist mit einem Overall und einer Schirmmütze bekleidet, auf der das Logo der angefahrenen Tankstellenkette deutlich zu sehen ist. Der Mann1 (schlechte Haut, schlechte Zähne, etwas aus der Form, offensichtlich müde) erwidert den Blick von Maria Windelen und bewegt sich auf sie zu. Als er etwa eineinhalb Meter von ihr entfernt ist, spricht sie (immer noch in Gedanken bei ihren Enkelkindern weilend) in seine Richtung die Worte: „meintankisleer … super“. Was jetzt passiert, das ist weder ungewöhnlich noch überraschend, sondern völlig normal und es passiert in dieser oder sehr ähnlicher Form überall in Deutschland – jeden Tag und immer wieder. Der Mann bewegt sich (ohne ein Wort
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Natürlich hat der Mann auch einen Namen – nämlich Peter Fischer. Er ist 35 Jahre alt, seit 17 Jahren verheiratet, hat drei Kinder (der Älteste macht eine Lehre, die beiden Jüngsten gehen noch zur Schule). Seine Frau hilft gelegentlich bei einem Friseurladen aus und geht ansonsten putzen. Peter Fischer ist gelernter Friseur, musste aber wegen einer Allergie seine Stelle bei einem großen Friseursalon aufgeben. Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit hat er bei der Tankstelle vor einem Monat den sehr schlecht bezahlten Job als Servicemitarbeiter bekommen. Jetzt ist er bereits seit siebeneinhalb Stunden im Dienst. Er ist sehr müde und hat bislang 4,73 Euro Trinkgeld erhalten. Natürlich könnte der Mann an der Tankstelle auch ein Wissenschaftler sein, der gerade mit einer beobachtenden Teilnahme die Bedingungen von Hilfsarbeiten im Servicebereich erkunden will. Dass er beamteter Wissenschaftler ist, würde erst einmal am Lauf der Dinge wenig ändern. Auch er würde wortlos das tun, was alle in der Position der Servicekraft tun. Allerdings wäre in dem Falle die Wahrscheinlichkeit höher, dass es in der Kommunikation zu Irritationen kommt. Sollten sie einmal entstanden sein, dann wird der weitere Verlauf sich ganz wesentlich anders entwickeln. Wenn hier die Geschichte vor allem aus der Perspektive von Maria Windelen erzählt wird, dann vor allem, um deren (richtige und unrichtige) Wahrnehmungs- und Orientierungsleistungen sichtbar zu machen. Ich hätte auch die Perspektive von Peter Fischer zur Leitperspektive meiner „lebensweltlichen Ethnographie“ (Honer 1993) machen können. Möglich und interessant wäre es aber auch gewesen, dabei den Weg Latours beschreitend (Latour 2002, 2007), die Ereignisse aus der Perspektive der heimlichen Hauptdarstellerin, der Zapfsäule, zu berichten: Alle Personen und Dinge bewegen sich um sie herum, müssen sich zu ihr positionieren und erst, wenn sie gegeben hat, was sie geben soll, ist sie nicht mehr Zentrum der Ereignisse.
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der Antwort oder der Nachfrage) unter den Augen von Maria Windelen zu deren Auto, öffnet die Klappe zur Tanköffnung, steckt den Stutzen des Benzinschlauchs in die Tanköffnung und befüllt den Tank. Maria Windelen gibt dem Mann dann eine kleine Münze, wendet sich wortlos in Richtung Kasse, bezahlt dort und fährt nach Hause zu Mann und Enkelkindern – ohne noch einmal Blickkontakt mit dem Mann, der den Tank ihres Wagens gefüllt hat, aufzunehmen. Der Mann hat derweil zwischen den Zapfsäulen Stellung bezogen und scannt die ankommenden Autos danach, ob jemand seine Hilfe will oder benötigt. All das geschieht ohne Zögern und ohne Nachfragen. Weder stellt der Mann Fragen noch wundert sich Maria Windelen über das, was der fremde Mann mit ihrem Auto anstellt. Weder werden die Regeln für eine höiche Begegnung eingehalten noch begleitet eine entgegenkommende, freundliche Emotionalität, durch die viele Servicetätigkeiten in modernen Gesellschaften gekennzeichnet sind (Hochschild 1990), das gemeinsame Handeln. Es ereignet sich einfach, weil es sich so oder in ähnlicher Form schon unendlich oft an deutschen Tankstellen ereignet hat und weil es auch den beiden Charakteren, wenn auch in anderer personaler Konstellation, immer wieder passiert ist bzw. sie es so gemacht haben. Man muss nicht zueinander höich oder freundlich sein – vor allem nicht zu dieser Tageszeit und bei diesem Wetter.2 Tanken ist für sie eine Praxis, die sie kennen und in unterschiedlichen Formen auch schon betrieben haben. Sie setzen eine Praxis fort, die sie kennen, und deshalb wissen sie, was sie in welcher Reihenfolge zu tun haben und was nicht. Es passiert einfach, obwohl die Lautfolge „meintankisleer … super“ für viele Sprach- und Kommunikationswissenschaftler gleich in mehrfacher Hinsicht falsch bzw. unklar ist. Einmal ist die Aussage ganz offensichtlich falsch, weil nicht der Tank von Maria, sondern der Tank ihres Autos leer ist. Auch kann er nicht wirklich leer sein, sonst wäre der Wagen nicht bis zur Zapfsäule gelangt. Dann fehlt in dem Satz der konkrete Auftrag: „Ich beauftrage Sie hiermit, den Tank meines Wagens zu befüllen.“ Ebenso fehlt eine Mengenangabe, also eine Aussage darüber, wie viel Benzin denn aufgefüllt werden soll. Über all diese Mängel hinaus fehlen natürlich auch eine Begrüßung und deren Erwiderung. Niemand klärt, was hier überhaupt der Fall ist und niemand verabschiedet sich. Der Mann fragt nicht nach, ob er richtig verstanden hat, und den Tank des Autos füllen soll. Dennoch wissen alle, was hier der Fall ist und was als Nächstes zu tun ist. Klar ist, dass es Maria Windelen nicht nur um die Konstatierung eines Sachverhaltes ging und dass dieses nachgestellte „super“ kein freudiger oder sarkas2
Neckel hat also Recht, wenn er schreibt: „Und wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen geben auch im ökonomischen Feld soziale Institutionen jeweils spezische Gefühlsregeln vor, nach denen Akteure Emotionen in sozial erwünschter Weise erleben und ausdrücken sollen“ (Neckel 2008: 121). Allerdings, so könnte man ergänzen, variieren diese Regeln auch mit Jahres- und Tageszeit, Belastung und Firmenanspruch, Branche und Kundschaft etc.
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tischer Kommentar zu diesem Sachverhalt war, sondern unter Berücksichtigung der Maxime, dass man nur das sagt bzw. sagen sollte, was für das aktuell laufende Geschehen relevant ist (vgl. Grice 1996), versteht der Mann im Overall das „super“ als Auskunft darüber, welche Art von Benzin der Wagen benötigt. Dass Maria Windelen das Wort ‚Tank‘ aufgrund eines traumatisierenden Kindheitserlebnisses mit Schmerz und Trauer verbindet, während dagegen das Wort ‚Tank‘ für den Mann aufgrund eines schönen Kindheitserlebnisses mit Wohlempnden und Freude verbunden ist, stört die Kommunikation in keiner Weise. Sie ‚gelingt‘, weil in dieser Situation nur relevant ist, dass der Tank fast leer ist. Keiner von beiden erfährt, dass sie in unterschiedlichen ‚Tankwelten‘ leben und sie werden auch nie davon erfahren – außer sie beschließen, eine Beziehung miteinander einzugehen und kommen dann einmal zufällig auf dieses Thema. Dann erst würden sie von ihren unterschiedlichen Konnotationen zum Wort ‚Tank‘ erfahren. Aber auch in diesem Gespräch würden sie gut verstehen können, was der andere jeweils mit dem Wort ‚Tank‘ verbindet und dann für die jeweils spezische Art des ‚Verstehens‘ des Wortes ‚Tank‘ Verständnis haben. Angesichts dieser zahlreichen Mängel der von Maria Windelen geäußerten Lautfolge, die natürlich eine kommunikative Handlung war, sollte man doch erst einmal vermuten, die Kommunikation sei nicht gelungen, könne auch gar nicht gelingen. Frau Windelen müsse erneut ansetzen, erst einmal einen Gruß äußern, der durch einen Gegengruß auch ratiziert werden müsste und dann könnte sie ihr Anliegen klar äußern, worauf dann der Mann erneut das Verstehen und seine Bereitschaft, den erteilten Auftrag auch zu erledigen, zum Ausdruck bringen müsste. Wenn der kommunikative Akt dennoch fraglos gelingt, sollten wir uns genauer ansehen, weshalb das so ist und was wir daran über alltägliches kommunikatives Handeln lernen können. Was macht Frau Windelen, wenn sie auf diese Weise mit dem Mann von der Tankstelle kommuniziert? Erst einmal sagt sie ihm, dass ihr Tank leer ist und nicht ihr Geldbeutel – was für den Fortgang der Ereignisse gewiss nicht ganz unwichtig ist. Hiermit sagt sie erst einmal etwas über die Welt, sie stellt einen Sachverhalt dar. Das ist der sachliche Inhalt ihrer kommunikativen Handlung. Dann gibt sie mit ihrer Äußerung kund (und um das zu erkennen, müssen wir bereits aus dem in dieser Situation geäußerten Satz Schlussfolgerungen ziehen, Implizites explizit machen, Implikationen und Implikaturen ausbuchstabieren), dass ihr dieser Sachverhalt in irgendeiner Weise unangenehm ist. Das ist der zweite Aspekt dieser kommunikativen Handlung. Der dritte ist (und auch hier müssen wir mit Interferenzen arbeiten), dass Maria Windelen mit ihrem Satz ihr Gegenüber auffordert, an ihn appelliert, diesen unangenehmen Zustand zu beenden, indem er den fast leeren Tank auffüllt. Der vierte Aspekt des Handelns ist natürlich, dass damit zwischen Frau Windelen und der Servicekraft eine Beziehung aufgebaut wird, nämlich die
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zwischen Kunde und Servicepersonal, was eine moderne Variante der Beziehung zwischen Herr und Knecht ist. All das wissen Sozial- und Kommunikationswissenschaftler natürlich – ist das doch schon seit langem durch die Arbeiten von Bühler, Watzlawick und Schulz von Thun bekannt und bis in die Schulbücher und die Bahnhofsratgeber für kleines Geld und wenig Zeit hinein verbreitet worden (Bühler 1999; Watzlawick 1969; Schulz von Thun 1981). Aber es passiert noch mehr: Indem Maria Windelen über ihren Tank und die Notwendigkeit des Tankens spricht, spricht sie auch über ihre Welt, in der Autos mit Benzin fahren, das im Tank gelagert und mittels Benzinpumpe in den Motor geleitet und dort gezündet wird und die so aufgebaute Energie treibt dann die Räder ihres Autos an. All das weiß Frau Windelen zwar nicht genau, nur ungefähr, aber sollte sie einmal etwas Genaueres darüber wissen wollen oder müssen, dann könnte sie ihre Kollegen/innen aus der Physik oder der Chemie dazu befragen. Indem Maria Windelen in dieser Weise ihre Anweisung gibt, sagt sie zugleich etwas über ihre soziale Position und die ihres Gegenübers aus. Obwohl man in der Art und Weise, wie sie spricht, auch etwas über ihre Persönlichkeit erfährt (ungeduldig, ein wenig herrisch, nicht ganz bei der Sache) und in der Art und Weise, wie der Mann von der Tankstelle der Anweisung nachkommt, auch etwas über seine Persönlichkeit erfährt (duldsam, effektiv, wortkarg), werden hier doch vor allem soziale Rollen angesprochen und ausgelebt: die zwischen Kunde und Personal. Dennoch: Auch damit bestimmt Maria, was sie ist und sein will und was der andere ist bzw. für sie sein soll. Kurz: Sie schreibt sich und dem Anderen Identität zu, nämlich selbst eine besondere Sorte von Kundin zu sein, während die Servicekraft aus ihrer Sicht vor allem ‚nur‘ Servicekraft ist. Das sieht der Mann im Overall in etwa auch so – zumindest tut er so, als würde er es so sehen. Und weil beide wissen, was ‚hier los ist‘ (Goffman) und was zu tun ist, klappt alles so reibungslos und deshalb sind alle zufrieden.
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Was alles hätte passieren können
Aber es hätte auch alles völlig anders ablaufen können. Denkbar ist Folgendes: „Guten Abend, gnädige Frau, so viel Zeit muss sein. Was kann ich für Sie tun?“ Das wäre eine mögliche Antwort des Mannes von der Tankstelle gewesen, die sanft auf der Gültigkeit von Höichkeitsoskeln auch am späten Abend an der Tankstelle besteht und zugleich milde tadelt. Vielleicht wäre dieser leichte Tadel auf fruchtbaren Boden gefallen und vielleicht hätte Maria Windelen gesagt: „Entschuldigen Sie bitte, das war unhöich von mir. Guten Abend und könnten Sie bitte den Tank meines Wagens füllen?“ Vielleicht hätte er sich aber mit dieser Zurechtweisung sein Trinkgeld verscherzt. Oder noch ärger: Maria hätte schnippisch darauf hinweisen
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können, dass sie es nicht nötig hätte, sich von einem Tankhelfer zurechtweisen zu lassen, wäre dann in ihr Auto gestiegen und zur nächsten Tankstelle gefahren. Wenn das der Geschäftsführer gesehen hätte, wäre dies nicht ohne Folgen für den Mitarbeiter geblieben. Aber der Mann von der Tankstelle hätte auch die Ansicht Frau Windelens von der Beschaffenheit der Welt irritieren können. So hätte er sagen können, dass Autos seit neuestem von kosmischer Energie angetrieben würden und deshalb nicht mehr betankt werden müssten. Oder er hätte ihr mitteilen können, dass Bäckereien jetzt für die Ausgabe von Benzin zuständig seien oder aber dass wegen einer Finanzkrise, einem Embargo oder schwindenden Ölreserven nur noch zehn Liter pro Autofahrer abgegeben werden dürften. All das und noch viel mehr hätte er über die Welt mitteilen können und es wäre schnell klar geworden, dass sie offensichtlich nicht in der gleichen Welt leben. Aber er hätte auch an der sozialen Rolle arbeiten können. Seine Antwort: „Sehr gern, gnädige Frau.“ und sein Ruf nach hinten: „Eh Pit, füll doch mal den Tank der jungen Frau!“ hätten klar gemacht bzw. klar machen sollen, dass er entgegen der Zuweisung durch die Kundin nicht eine Servicekraft, sondern der Chef ist oder zumindest eine vergleichbar wichtige Position im Betrieb einnimmt oder darstellt. Aber er hätte auch Sprachkritik betreiben können – etwa mit den Worten: „Für Ihren Tank bin ich nicht zuständig, aber wenn Sie den Ihres Wagens meinen, dann kann ich den natürlich auffüllen, wenn Ihnen das recht sein sollte.“ Maria Windelen hätte dann, wäre der Mann Ende zwanzig gewesen, vielleicht erwidert: „Ah, noch einer von den Germanistikstudenten, die es nicht geschafft haben, Lehrer zu werden.“ Wäre der Mann Mitte vierzig gewesen, hätte die Erwiderung vielleicht so gelautet: „Wird heute an Schulen so wenig gezahlt, dass sich die Deutschlehrer an der Tankstelle etwas nebenbei verdienen müssen?“ Einem jungen Mann unter zwanzig hätte sie Folgendes erwidern können: „Ah, ein junger Klugscheißer. Machen Sie weiter so, Sie werden es weit bringen.“, während ihr vielleicht für einen Mann über sechzig die Worte: „Aus dem Alter für Scherze müssten Sie doch schon raus sein.“ angemessen erschienen wären. Wie auch immer die Antwort ausgefallen wäre: Maria Windelen hätte darauf bestanden, dass ihr kommunikatives Handeln auch für eine Schulrektorin in einer solchen Situation (abends, müde, Servicekraft) angemessen und legitim und das Verhalten der Servicekraft unangemessen gewesen sei. Vielleicht schaukelt sich der Wortwechsel auch hoch. Der Mann betrachtet eine solche Antwort als persönliche Herabsetzung – sein Gesicht ist in Gefahr. Das kann und will er sich nicht gefallen lassen – schon gar nicht von der aufgetakelten Tussi mit ihrem Mercedes. Vielleicht murmelt er dann so etwas wie: „Schon wieder eine von diesen frustrierten alten Frauen, die sich immer aufspielen müssen.“ Wahrscheinlich würde ihn das nicht nur sein Trinkgeld kosten, sondern ihm auch
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eine Beschwerde beim Geschäftsführer und vielleicht sogar eine Kündigung einbringen. Die Welt wäre dann für beide eine andere geworden. Natürlich hätte der Mann nicht die Kundin, sondern die Frau ansprechen können. Er hätte dezent irten oder sie hoeren können. Aber er hätte auch, den Auffüllstutzen in der Hand, mit den Worten ‚Tank‘ und ‚tanken‘ jede Art von Mehrdeutigkeiten und Anzüglichkeiten in sein kommunikatives Handeln einechten können. Auch das hätte wahrscheinlich zu massiven Irritationen des kommunikativen Ereignisses führen können (Trinkgeldverweigerung und Beschwerde eingeschlossen), in deren Verlauf die bewährten Beleidigungskaskaden dafür gesorgt hätten, dass die gesellschaftliche Debatte über die Eigenschaften von Frauen und Männern reichlich Nahrung gefunden hätte. Aber der Mann im Overall hätte Maria Windelen auch in gebrochenem Deutsch mit: „Du tanken?“ ansprechen können. In dem Falle hätte sie vielleicht ihr Anliegen langsamer und deutlicher artikuliert vorgetragen und folgende Formulierung gewählt: „Der Tank ist leer. Bitte füllen!“ Oder sie hätte sich mit Hilfe von Hinweisgesten verständlich gemacht. Oder sie hätte den Tank selbst befüllt. Auf keinen Fall hätte sie jedoch ihr Gegenüber gerügt und darauf bestanden, von ihm nicht plump vertraulich angesprochen zu werden – einfach deshalb, weil es für den Umgang mit Menschen, die erkennbar einer Sprache oder der Kommunikation nicht mächtig sind, besondere Regeln gibt. Besondere Umgangsformen gibt es nämlich auch für Servicekräfte, die stottern oder stumm sind. Aber alles hätte auch eine positive Wendung nehmen könne. So hätte auf der anderen Seite der Zapfsäule ein Audi A8 halten und ihm die schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehene Jugendliebe von Maria Windelen entsteigen können. Vielleicht hätte man sich erkannt, vielleicht einige Zeit miteinander gesprochen und sich für das nächste Wochenende verabredet. Oder ein Mann im Nikolauskostüm hätte auf seiner Suche nach Kunden Maria Windelen mit einer Weihnachtstüte überraschen können. Die Tankstelle hätte aber auch Schauplatz eines gescheiterten Raubüberfalls werden können und die üchtenden Täter hätten Maria zum Schutz als ihre Geisel mitgenommen. All das (und vieles andere mehr) hätte passieren können und all das (und vieles andere mehr) passiert auch – jeden Tag an vielen Orten. Aber hier ist es dieses Mal nicht passiert. Was nichts heißen soll, denn beim nächsten oder übernächsten Mal könnte es auch hier passieren, dass die Welt ein wenig ins Stolpern gerät.
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Die Welt in Ordnung
Wenn Maria Windelen das Gelände verlässt, sich in den laufenden Verkehr einfädelt und nach Hause fährt, dann ist für beide die Welt in Ordnung. Autos fahren
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immer noch mit Benzin, es gibt keine Benzinknappheit und die global organisierte Petrolindustrie ist immer noch für die Förderung, die Herstellung und den Vertrieb von Benzin zuständig. Weder Maria Windelen noch der Mann von der Tankstelle mussten ihre Rolle oder gar ihre Identität verteidigen. Kunden tun immer noch das, was Kunden tun und Servicekräfte tun das, was Servicekräfte tun. Der Mann im Overall wird für sich eine Art ‚geistiges Punktekonto‘ für die attraktive Frau anlegen und wegen des erhaltenen Trinkgeldes dort einige Pluspunkte verbuchen (siehe hierzu Brandom 2000), was sich beim nächsten Aufeinandertreffen positiv auswirken könnte. Maria Windelen wird den Mann, gerade weil alles so reibungslos lief, bereits auf ihrem Weg nach Hause vergessen haben. Deshalb legt sie für ihn auch kein Konto an. Sollten sie sich erneut begegnen, käme vielleicht eine Erinnerung hoch, vielleicht auch nicht. Für sie begänne somit etwas Neues, während für ihn etwas weiter ginge. Die allgemeine Ordnung der Welt scheint hier recht stabil zu sein. Kraftfahrzeuge, große wie kleine, werden wohl noch lange mit Benzin und nicht mit kosmischer Energie fahren, die Ölkonzerne werden auch weiterhin für den Vertrieb von Kraftstoff sorgen und die Weltvorräte scheinen noch ein paar Jahre zu reichen (aber hier könnte eine Quelle der Unsicherheit sein). Die soziale Ordnung zwischen Frau Windelen und dem Mann im Overall ist das, was viel fragiler ist, prekärer – einfach, weil sie vor Ort aushandelbar ist, weil die beiden, die Realschulrektorin und die Servicekraft es aktiv tun müssen. Zwar weisen die Besonderheit der Situation, der kommunikative Rahmen, die Hoffnung auf Trinkgeld, Arbeitsverträge, Praktiken der Gesichtswahrung, Regeln der Höichkeit und Bequemlichkeiten auf beiden Seiten allen Beteiligten ihren Weg durch die Erfordernisse der gemeinsamen Interaktion. Zudem ist dieser Weg der normalen Ordnung durch eine Fülle von Sanktionen befestigt, so dass niemand so leicht vom Weg abkommen kann. Aber sicher ist man nie und sicher ist niemand. Immer kann etwas schief gehen – weshalb alle darum bemüht sind, dass die Dinge nicht schief gehen. Beide haben also gewonnen oder besser: nichts verloren, oder noch genauer: sie haben nicht mehr verloren, als sie bereits vor ihrer Begegnung verloren hatten. Die Welt hat sich nicht unter ihnen geöffnet, sie ist nicht in Unordnung geraten, niemand musste um sein Gesicht, sein Ansehen, seine Identität kämpfen, niemand hat sich an den scharfen Kanten der Welt verletzt, da beide sich gemeinsam darum bemühten, alle Verletzungsmöglichkeiten zu umgehen und die Möglichkeit, dass jemand verletzt werden könnte, sogar zu verbergen. Alle gaben sich Mühe damit, die Dinge reibungslos weiter laufen zu lassen. Insofern sind sowohl Frau Windelen als auch der Mann im Overall ‚Goffmenschen‘ (Hitzler 1992), denn der Goffmensch ist „ein prinzipiell verunsichertes Wesen, das ständig Probleme zu bewältigen, Antworten zu suchen, ja Rätsel zu lösen hat. Der Mensch lebt, er kann nicht anders, unweigerlich ein ‚riskantes‘ Leben“ (Hitzler 1992: 451). Er ist
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prinzipiell in Schwierigkeiten und ständig „auf die Vermeidung von Problemen bedacht“ (ebd.: 457).3 All dies passiert nun nicht nur abends auf deutschen Tankstellen, sondern auch dann, wenn z. B. Menschen in der Sauna über ihr Fitnessprogramm sprechen, wenn Dennis seiner Sarah in der kleinen Pizzeria eine Liebeserklärung macht, wenn morgens am Frühstückstisch eilig der Hunger gestillt wird, wenn Fachbereichsräte die beantragten Lehraufträge durchwinken, wenn Politiker im Fernsehen ihre Statements abgeben dürfen, kurz: es passiert immer und überall. Meist geht es gut, was heißt, es läuft so, wie es alle kennen und erwarten, manchmal kommt die Praxis ins Stolpern, manchmal gibt es heftige Kämpfe um Weltdeutungen und Identitäten und manchmal tut sich einfach der Boden unter einem auf. Aber meistens weiß man, wie man damit kommunikativ umzugehen hat, weil es selbst für solche Fälle, wo man nicht mehr weiß, wie es weiter gehen soll, soziale Regeln, Prinzipien und vor allem: Praktiken gibt, die weiterhelfen. Nur ganz selten ist man verloren. Aber selbst dann hilft Kommunikation weiter. Dann sagt man z. B.: „Jetzt bin ich sprachlos!“ und kann somit auch weiter handeln.
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Über die Macht der Kommunikation
Auf den ersten Blick scheint es sich bei der Geschichte von der Rektorin und der Servicekraft vor allem um die beispielhafte Erläuterung und Klärung des Verstehensproblems zu handeln, nämlich um eine Erläuterung der These, dass Verstehen in der Regel kein Problem ist und selbst dann noch funktioniert, wenn vieles unklar oder falsch ist. Ein zweiter Blick zeigt jedoch schnell, dass es hier nicht nur um Verstehen geht, sondern um Folgsamkeit, um ein Sich-Fügen in das sprachlich Gewünschte. Die Frage ist nämlich, weshalb tut die Servicekraft das, was sie tut: Weshalb füllt sie den Tank? Weshalb haben die Worte von Maria Windelen überhaupt eine Wirkung und weshalb haben sie genau die, die sie haben? Nun könnte man es sich ganz leicht machen und sagen, dass sei doch völlig klar, weshalb der Mann an der Tankstelle das tut, was er tut, nämlich weil das sein Job ist, weil er dafür bezahlt wird. Dies zu sagen bedeutet zu sagen, mit ihren Worten habe Frau Windelen Herrschaft ausgeübt, sie habe als Kundin von der Servicekraft eine Dienstleistung eingefordert, und dass diese der Aufforderung Folge geleistet habe, läge schlicht daran, dass man sie anderenfalls hätte kündigen können. Spitz formuliert: Nicht die Worte haben Macht, sondern die dahinter liegende und immer leise mitschwingende Drohung, notfalls andere Mittel zur Durchsetzung einsetzen
3 Hier zeigt sich, wie sehr Goffmans und Hitzlers Vorstellungen von der conditio humana letztlich dem Gedankengut des französischen Existentialismus verpichtet sind.
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zu können und zu wollen. Demnach sei das soziale Machtgefälle für das Handeln der beiden verantwortlich, nicht die geäußerten Worte. Gewiss kann man versuchen, die Macht der Worte in Herrschaft aufzulösen, aber ich denke, dass ein solcher Versuch zu wenig erklärt und damit unzureichend ist. Was mit Herrschaft erklärbar ist, das ist die erhöhte Chance, dass die Servicekraft der Kundin ihren Wunsch erfüllt. Was Herrschaft nicht erklärt, das ist die Art und Weise, wie der Wunsch erfüllt wird. Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass der Mann an der Tankstelle an dem Verstehensprozess aktiv mitarbeitet. Er hätte auch ‚Verstehen nach Vorschrift‘ betreiben und die Kundin zur Explikation nötigen können. Natürlich hätte das auch die Kommunikation maßgeblich verändert. Die Frage ist also nicht, weshalb fügt sich der Mann, sondern: Weshalb fügt er sich auf diese Weise? Und akzeptiert man diese Frage, dann muss es neben Herrschaft noch etwas anderes geben, was im Kommunikationsprozess Fügsamkeit auslöst oder nicht – und genau diese andere soziale Macht gilt es zu erklären. Aber das ist eine andere Geschichte.
Literatur Brandom, Robert (2000): Expressive Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bühler, Karl (1999): Sprachtheorie. Stuttgart: Lucius & Lucius. Goffman, Ervin (1975): Interaktionsrituale. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Goffman, Ervin (1977): Rahmen-Analyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Grice, Herbert Paul (1996): Logik und Konversation. In: Hoffmann, Ludger (Hg.): Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter, 163–182. Hitzler, Ronald (1992): Der Goffmensch. In: Soziale Welt, 43, 449–461. Hitzler, Ronald (1993): Der gemeine Machiavellismus. In: Sociologica Internationalis, 31, 133–147. Hochschild, Arlie Russel (1990): Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt a. M.: Campus. Honer, Anne (1993): Lebensweltliche Ethnographie. Wiesbaden: DUV. Latour, Bruno (2002): Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt a. M.: Fischer. Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Neckel, Sighard (2008): Flucht nach vorn. Frankfurt a. M.: Campus. Reichertz, Jo (2009): Kommunikationsmacht. Wiesbaden: VS Verlag. Schulz von Thun, Friedemann (1981): Miteinander Reden. Reinbek: Rowohlt. Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D. (1969): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Übersetzt von Paul Watzlawick. Bern: Huber Verlag.
Funktionale Zweckfreiheit Der ‚praktische Sinn‘ der Ästhetik1 Hans-Georg Soeffner
Vorbemerkung Der Titel meines Aufsatzes besteht aus zwei Teilen, in denen sich jeweils ein bewusst formuliertes Paradox ndet: (1) ästhetischer Zweckfreiheit wird eine Funktion und (2) dem – vom praxisorientierten Sinnbezirk des Alltagsverstandes und des alltäglichen Handelns abgegrenzten – relativ ‚geschlossenen Sinnbezirk‘ (vgl. Schütz 1971: 407) der Ästhetik ein praktischer Sinn unterstellt. Das muss und soll im Folgenden begründet werden. Dabei folge ich nicht – oder nur am Rande – den Traditionslinien einer Philosophie der Ästhetik, wie sie seit dem 18. Jahrhundert von Baumgarten über Kant und Hegel bis zur Gegenwart, exemplarisch bei Martin Seel, vertreten wird. Stattdessen versuche ich, soweit dies in einem kurzen Vortrag möglich ist, auf der Grundlage phänomenologischprotosoziologischer und anthropologischer Überlegungen das Beziehungsgefüge zwischen Alltagsverstand, Ästhetik und Wissenschaft zu charakterisieren. Dabei verweist der Ausdruck „Beziehungsgefüge“ bereits auf eine entscheidende Prämisse: Mögen sich gesellschaftlich konstruierte Ordnungen und Weltsichten, zumal in modernen, sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaften, noch so sehr in scheinbar geschlossene Einzelsektoren zergliedern und in Perspektivenvielfalt dissoziieren – gesellschaftlich erlebte Wirklichkeit ist immer relational: Gefüge und Prozess von „Wechselwirkungen“ (Simmel).
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Eröffnungsvortrag zur 6. Jahrestagung des Sonderforschungsbereiches 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, Thema: „Ästhetisierung“. Geschichte und Gegenwart einer Krisendiagnose, 6. November 2008. Wenn von der „Geschichte und Gegenwart einer Krisendiagnose“ die Rede ist, stellt sich für mich beinahe zwangsläug die Frage nach dem Verhältnis von ‚Diagnose der Krise‘ einerseits und der ‚Krise der Diagnose‘ andererseits. Es ist eine Frage, die ich – in unterschiedlichen Kontexten – seit beinahe 30 Jahren mit Ronald Hitzler diskutiere. Hier nun gebe ich eine Teilantwort, indem ich auf den Ursprung der ‚Krise der Diagnose‘ in der Ambivalenz der Synästhesie verweise und zugleich die Möglichkeit der Überwindung dieser Krise im konjunktivistischen Potential eben dieser Ambivalenz verorte.
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Hans-Georg Soeffner Geschmack statt Werthaltung: Die Ästhetisierung der Ästhetik
Max Weber hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts das ‚Ästhetentum intellektualistischer Zeitalter‘ (vgl. Weber 1976: 365 f.) als Ergebnis einer Entwicklung beschrieben, innerhalb derer sich Ästhetik und vor allem Kunst als ‚reine Kunst‘ vom ‚religiösen Erlösungswillen‘ ablösen und selbst den Anspruch auf innerweltliche Erlösung erheben. Damit setzen sie eine Feindschaft zwischen ethischer Religiosität und der aus ihr hervorgehenden ‚rationalen Systematisierung der Lebensführung‘ einerseits und ästhetisch-kultureller Selbstsinngebung andererseits. Wenn aber Kultur und mit ihr gesellschaftliche Ordnung nichts anderes sind als ein „vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (Weber 1973: 180), ergibt sich nicht nur eine Spannung zwischen Jenseitsreligion und innerweltlichen Erlösungsszenarien, sondern auch ein innerweltlich orientierter Begründungszwang für eine Diesseitsethik. Deren Sachwalterin wird nun – im Namen des menschlichen Intellekts – die Normsetzung durch die praktische Vernunft. Als menschliche, sich jeweils in neue historische Gewänder einkleidende, Äußerungsform gerät diese Vernunfttätigkeit, insbesondere in intellektualistischen Zeitaltern, in einen permanenten Relativismusverdacht. Verbindet und verbündet sich ein solcher relativistischer Intellektualismus mit einer ästhetisch-kulturellen Haltung, die ihre Bestimmung in der Freiheit zum Entwurf von Möglichkeitshorizonten der Selbstsinngebung sieht, so steigert sich die Neigung, auch gegenüber ethischen Normensetzungen der praktischen Vernunft eine der ästhetischen Haltung nachgebildete Einstellung einzunehmen: im Namen scheinbar beliebiger Möglichkeitshorizonte von Sinngebungen und Werthaltungen die Verantwortung für ein ethisches Urteil abzulehnen. Was der Kölsche Volksmund als praktische Lebensweisheit artikuliert, die Feststellung: ‚Jeder Jeck is anders‘, kann in intellektualistischen Zeitaltern in letzter Konsequenz dazu führen, die jeweilige Lebensführung zur Geschmackssache zu deklarieren: „Die Ablehnung der Verantwortung für ein ethisches Urteil und die Scheu vor dem Schein beschränkter Traditionsgebundenheit, wie sie intellektualistische Zeitalter hervorbringen, veranlasst dazu, ethisch gemeinte in ästhetisch ausgedeutete Urteile umzuformen (in typischer Form: ‚geschmacklos‘ statt ‚verwerich‘)“ (Weber 1976: 366). Ein solcher subjektivistischer „Kultus des Ästhetentums“ (Weber 1976: 366), dem alles zur Geschmacksfrage wird und innerhalb dessen man sich über Geschmack nicht ernsthaft streiten will, kann vom Standpunkt der religiösen Ethik aus – so Weber – „sehr wohl als eine tiefste Form von spezischer Lieblosigkeit, verbunden mit Feigheit, angesehen werden“ (Weber 1976: 366). – Kurz, konsequente „Brüderlichkeitsethik“ (Weber 1976: 366) und intellektualistisch verbrämtes Ästhetentum können nicht zueinander nden:
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Die Brüderlichkeitsethik hat das Spektrum der Möglichkeitshorizonte zu überschaubaren Sollensvorschriften zusammengeschmolzen. Das Ästhetentum wird weder dem Intellekt noch der Ästhetik gerecht. – Es kränkt den Intellekt, weil es ihn in Beliebigkeit aufgehen lässt und die Ästhetik, weil es etwas ästhetisiert, was sich nicht ästhetisieren lässt: die Bestimmung des Menschen, ein – in einem ganz existenziellen Sinne – ästhetisches Wesen zu sein. Webers Beschreibung des intellektualistischen Zeitalters und des darin eingebetteten Kultus des Ästhetentums verweist somit auf eine historisch spezische Ausprägung und Überspitzung von Lebensformen. Es sind Lebensformen, die das kritische Erkenntnisvermögen des Intellekts in intellektualistischer Attitüde auösen und einen für den Menschen signikanten, durch Ästhetik und Ästhetisierung gekennzeichneten Zugang zur Welt und zu sich selbst entweder in einem egozentrischen, letztlich inhaltsleeren Virtuosentum und in Selbstästhetisierung zu überbieten suchen oder in Blasiertheit aufgehen lassen. Letztere hat Simmel charakterisiert als ständige Überreizung des Nervensystems z. B. von Großstädtern, die sich immer neuen Reizen ausgesetzt sehen und diese auch immer wieder selbst suchen, bis schließlich die Reize ihren Reiz verlieren. Dementsprechend bestimmt Simmel das Wesen der Blasiertheit als „Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge“ (Simmel 2008: 324). Die Ersetzung von Werthaltungen durch die Beliebigkeit von Geschmacksurteilen ist Kennzeichen des blasierten Ästhetentums. Sowohl die Überbietungs- als auch die Ennuiattitüde solcher Lebensformen muss also unterschieden werden von einem grundlegenden, durch Ästhetik und Ästhetisierung geprägten menschlichen Welt- und Selbstbezug – ganz unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob wir noch oder schon wieder in einem intellektualistischen Zeitalter leben. Das postmoderne Zeitalter, allerdings, sollte es ein solches gegeben haben, hätte Max Weber sicherlich zu den intellektualistischen gezählt.
II
Die Frage nach dem Problem, auf das die Ästhetik eine Antwort ist
1925, drei Jahre bevor er in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (Plessner 1928/1975) seine Theorie von der ‚exzentrischen Positionalität‘ des Menschen entwickelt, fragt Helmuth Plessner in einem kurzem Aufsatz nach der Möglichkeit einer Ästhetik (Plessner 1925/1982: 51–57). Dabei geht es ihm erkennbar nicht um die Frage nach der Möglichkeit von Kunst, sondern um die – durch das Zusammenspiel der menschlichen Sinne geformte – Wahrnehmung eines „ästhetischen Gegenstandes“ (Plessner 1925/1982: 54). Es ist eine Wahrnehmung, die durch präreexives Verstehen charakterisiert ist. Dabei bleibt, so Plessner, „das Ästhetische nicht im Wahrnehmen eines Gegenstandes beschlossen“, sondern es muss „mit der Wahrnehmung ein Sinn verknüpft sein […] und zwar ein atheoretischer Sinn,
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der einer unmittelbaren Intuition gegeben ist“. Daraus entspringt „ein ursprüngliches Erlebnis eines Kontrastes […] zwischen dem schlichten Akt der Empndung sinnlich-stoficher Daten und dem Akt eines in gewisser Weise unstofichen Verstehens“ (Plessner 1925/1982: 54). Seit dieser ersten These zum Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Ästhetik bleibt die „Anthropologie der Sinne“ (Plessner 1970) ein unaufgelöstes Leitmotiv des Plessnerschen Denkens: Die 1970 erschienene, gleichnamige Abhandlung fasst Aufsätze aus der Zeit von 1936 bis 1968 zusammen. Im Folgenden greife ich einige Gedanken Plessners auf, nehme mir aber die Freiheit, sie – die Gedanken – meinem eigenen wissenssoziologischen Ansatz ‚anzuverwandeln‘. Ausgangspunkt ist dabei Plessners Ringen mit einer phänomenologisch begründeten Einsicht, die nicht ganz zu dem II. anthropologischen Grundgesetz, dem Gesetz von der „vermittelten Unmittelbarkeit“ (Plessner 1928/1975: 321 ff.), passen will. Es ist die Entdeckung, dass es so etwas zu geben scheint wie eine „ursprüngliche Begegnung des Menschen mit der Welt, die nicht zuvor verabredet ist“ (Plessner 1928/1975: 336). In dieser Formulierung leistet sich Plessner – wie an anderer Stelle auch – eine grammatikalische Mehrdeutigkeit: Das Nicht-Verabredet-Sein kann sowohl der ursprünglichen Begegnung als auch der Welt zugeordnet werden. Nimmt man beides zusammen, so entsteht in der nicht verabredeten Begegnung des Menschen mit der Welt zugleich eine Welt, die ebenfalls neu und anders als zuvor wahrgenommen und verabredet sein kann. Unter der Hand scheint diese Mehrdeutigkeit gewollt zu sein, denn es soll sich in dieser ‚ursprünglichen Begegnung‘ eine „Einheit von Vorgriff und Anpassung“ vollziehen (Plessner 1928/1975: 336). Offenkundig lassen sich diese Charakterisierung des Phänomens erlebter, mehrdimensionaler Unmittelbarkeit und das zuvor beschriebene ‚ursprüngliche Erlebnis‘ der Wahrnehmung eines ästhetischen Gegenstandes parallelisieren zur Kennzeichnung dessen, was ich den ‚ästhetischen Kairós‘ (vgl. Soeffner 2005) nenne: die präreexive, zeitlich kondensierte Verschmelzung von sinnlichen Wahrnehmungsaktivitäten einerseits und den in ihnen konstituierten ästhetischen Gegenständen andererseits. Ebenso offenkundig ist, dass für Plessner dieser Typus unmittelbaren Erlebens sich nicht erst auf künstlerisches Handeln, die Wahrnehmung von Kunstwerken oder gar auf die ‚Kunst der Gesellschaft‘ (Luhmann) als ausdifferenziertes, gesellschaftliches Subsystem bezieht, sondern ihnen allen als Bedingung der Möglichkeit der Konstitution ästhetischer Gegenstände in Erlebnis und Wahrnehmung voraus liegt und ganz allgemein in der ‚exzentrischen Positionalität‘ des Menschen als ein wesentliches Merkmal der conditio humana angelegt ist. Anders ausgedrückt: In dieser spezischen sinnlichen Erlebnis- und Wahrnehmungstätigkeit ist potenziell alles Wahrgenommene in ästhetische Gegenstände transformierbar.
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Wie für Max Weber allen menschlichen Tätigkeiten und Erzeugnissen – wirtschaftlichem, politischem, handwerklichem, privatem, religiösem Handeln und den ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Institutionen – in einer spezischen Einstellung des sinnverstehenden, sozialen Subjektes ‚Kulturbedeutung‘ zukommen kann, so kann ihnen allen aus Plessners Sicht auf der Grundlage ästhetischen Wahrnehmens und Erlebens auch ein ästhetischer Akzent verliehen und – allerdings nur innerhalb dieses Erlebnis- und Wahrnehmungshorizontes – der Charakter eines ‚ästhetischen Gegenstandes‘ verliehen werden. Nur innerhalb dieses Horizontes können Bazon Brock und jeder andere Mensch, Duchamps Readymades, John Cages’ Minimalmusik (vgl. „4'33''“), Andy Warhols „Brillo Boxes“ und andere ‚Werkexperimente‘ zu ästhetischen Gegenständen werden. Das ‚Ästhetische‘ oder ‚Nicht-Ästhetische‘ ist dementsprechend primär kein Attribut oder Merkmal, das in bestimmten Handlungs- und Organisationsformen, Gegenständen und Erzeugnissen ‚material‘ schon angelegt ist und ihnen daher zuoder abgesprochen werden kann, sondern es entspringt – um es in Begriffen von Alfred Schütz auszudrücken – einer spezischen ‚Bewusstseinsspannung‘, die den ‚Sinnbezirk‘ (vgl. Schütz 1971: 407 ff.) der Ästhetik und die ihn konstituierenden Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Handlungsformen prägen. Insofern verbietet sich eine Entgegensetzung von ‚Ästhetischem‘ und ‚Nicht-Ästhetischem‘ auf der Objektebene, gleich um welche menschlichen Äußerungsformen es sich dabei handelt. Das „offensichtliche Versagen [der] traditionellen Ästhetik gegenüber der künstlerischen Produktion der Gegenwart“ (Plessner 1970: 190) hatte, so Plessner, seinen Grund in eben jener objektzentrierten Betrachtungsweise. Auffällig an dieser Formulierung ist wiederum eine grammatikalische Zweideutigkeit: Das Versagen der traditionellen Ästhetik kann sich (1) sowohl auf eine künstlerische Produktion beziehen, die in der (damaligen) Gegenwart entstand, oder aber (2) auf das künstlerische Produzieren von Gegenwart – auf den ästhetischen Kairós – selbst. Vermutlich zielt der von Plessner gemeinte ‚subjektive Sinn‘ (Max Weber) auf die erste Deutungsmöglichkeit. ‚Objektiv‘, d. h. sprachlich und grammatikalisch, möglich ist auch die zweite Deutung – und diese schließt zwar ‚subkutan‘, aber dennoch schlüssig – an den bisher skizzierten Theorieansatz Plessners an, – allerdings nur dann, wenn man mir zugesteht, dass ich hier, – wie auch an anderer Stelle, Plessner besser zu verstehen versuche, als er sich selbst versteht, ein Anspruch, den schon Fichte für seine Kant-Interpretation in Anspruch nahm. Es ist eine Konzeption, die im Verlauf des Plessnerschen Denkens sich mehr und mehr auf die Sinnesleistungen und auf das Zusammenspiel der Sinne konzentriert: auf die Konstitutionsleistungen der Sinne mehr als auf die durch sie konstituierten ‚Gegenstände‘. Für meinen eigenen Ansatz und für die damit verbundene These vom ‚praktischen Sinn der Ästhetik‘ kommt es daher im Folgenden darauf an, mit Hilfe der Plessnerschen Analysen die in der Synästhesie angelegte strukturelle
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Multioptionalität menschlicher Wahrnehmung herauszuarbeiten und so zu einer protosoziologischen Bestimmung der Ästhetik zu kommen: im doppelten Sinne der Genitivkonstruktion zu zeigen, wie/als was Ästhetik einerseits bestimmt werden kann und wozu sie andererseits bestimmt ist. Wie für Plessner, für den das „offensichtliche Versagen der traditionellen Ästhetik“ (s. o.) gegenüber der modernen Kunst der Anlass war, einen neuen Zugang zu den allgemeinen Voraussetzungen einer anthropologisch fundierten Ästhetik zu suchen, so gilt auch für meinen Ansatz, dass er einerseits allgemeine, zeitübergreifende Aussagen zu treffen sucht, andererseits aber zeitabhängig ist. Dies nicht nur, weil er als Weiterentwicklung der Plessnerschen Überlegungen zu verstehen ist, sondern auch weil er sich auf der empirischen Ebene sowohl gegenüber neuen Formen künstlerischer Produktion als auch gegenüber einer neuen medialen Umwelt bewähren muss, die der menschlichen Wahrnehmung und ihrer Basis, den Sinnen, zusätzliche (Anpassungs-)Leistungen abverlangt. Insgesamt lässt sich wohl feststellen, dass die Entwicklung ästhetischer Theorien parallel nicht nur zu der Entwicklung der künstlerischen Produktion und ihrer zunehmenden ‚Autonomisierung‘, sondern auch zur Erndung neuer technischer Instrumente und Hilfsmittel verläuft, auf die sich die menschlichen Sinneswahrnehmungen einstellen müssen – seien es neue akustische und optische Instrumente, physikalische Bildgebungsverfahren und neue Medien oder beschleunigte Bewegung im Raum durch neue Verkehrsmittel (vgl. Soeffner/Raab 2004). Immer wieder kommt es zu einem neuen Zusammenspiel von menschlicher ‚Sinnesausstattung‘ und Sinnesschulung. Pointiert (‚funktionalistisch‘) gesagt: Die Sinne sind uns angeboren, damit wir sie schulen und von unseren Umgebungen schulen lassen. Bei seiner Suche nach dem „Sinn der Sinne“ (Plessner 1970: 199; vgl. auch Straus 1935) konstatiert Plessner zusammenfassend, dass „jeder Sinn seinen Grund [hat] in dem, was er und nur er herausbringt“, während alle Sinne „zusammen die Vielfalt im Ganzen heran“ bringen: „Soviel Seiten, soviel Sinne. Aber auch: soviel Sinne, soviel Seiten“ (Plessner 1970: 232). Allerdings ist diese Vielfalt nicht beliebig. Als ‚Wahrnehmungsquellen‘ sind die Sinne auf das Handeln bezogen, das sie steuern. Daraus resultiert ihre ‚Aktionsrelativität‘ (Plessner 1970: 238). Wie für die gesamte Tierwelt, so gilt auch für den Menschen, dass die sinnliche Wahrnehmung nicht ‚an sich‘, sondern ‚für/zu etwas‘ existiert: zur Orientierung, Handlungskoordination und wechselseitigen (‚sozialen‘) Steuerung der Individuen einer Art. Kants Einsicht, dass die Sinne (wie auch die ‚reine Vernunft‘) sich nicht irren können, ndet hier eine sowohl biologische als auch humanethologische Bestätigung. Irrtümer und Fehlschlüsse sind, so Kant, nicht den Sinnen, sondern der Übersetzung von Sinneswahrnehmungen in Verstandes- und Vernunftbegriffe
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zu ‚verdanken‘ (vgl. Kant 1790–1799 (1968))2, also jener sprachlichen Vermittlung (und Verzerrung) des sinnlich Unmittelbaren, die Nietzsche später einer radikalen Sprachkritik unterziehen wird (vgl. Nietzsche 1980b).3 Wir teilen dementsprechend mit der Tierwelt strukturell das Zusammenspiel von sinnlicher Ausstattung und Synästhesie. Aber anders als unsere tierischen Vorläufer und Vettern – so Plessner – beruhigt sich der Mensch nicht „bei dem puren Faktum seiner sinnlichen Organisation, er sieht etwas darin, einen Sinn – und wenn er ihn nicht ndet, gibt er ihm einen und macht etwas daraus“ (Plessner 1970: 199). Wie für die sinnliche Organisation als ganze gilt dies auch für die jeweils einzelnen Sinne: Auch in ihrer Existenz sehen wir einen Sinn und machen etwas daraus, beispielhaft in Goethes ‚Sinn‘-Spruch: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nicht erblicken“, aber auch, indem wir uns – früher als Jäger, Sammler und Handwerker – auf einzelne Sinne spezialisieren oder einzelne Sinneswahrnehmungen hervorheben und zunehmend instrumentell unterstützen durch ‚Organverlängerungen‘ wie Brille, Mikroskop, Fernrohr oder Mikrophon, Lautsprecher, Klangkörper etc. Vor allem die Künste werden zu Experimentierfeldern der Wahrnehmung – für die Spezialisierung der Sinne wie in Malerei, Photographie, Musik – und ebenso für die bewusste Anleitung zur Synästhesie in Gesamtkunstwerken für Sinneskompositionen aus Bildern, Musik, Bewegung, Weihrauchgeruch, Sprache etc. wie in der Heiligen Messe, aber auch im Theater, in der Oper oder in Medienkompilationen bei modernen Massenevents. Auf den ersten Blick lassen sich in solchen ästhetischen Experimentierfeldern zwei scheinbar gegenläuge Tendenzen erkennen: die Spezialisierung der Sinne einerseits und die Aggregierung der Sinneswahrnehmungen andererseits. Bei sorgfältiger Betrachtung erweist sich jedoch, dass beide Bewegungen aufeinander bezogen sind, genauer: aufeinander ausgerichtet sein müssen, damit aus der gezielten Spezialisierung der Sinne keine Diskrepanz der Sinneswahrnehmungen wird. Denn was die ‚Kooperation der Sinne‘ in unserem relativ natürlichen Umgang mit uns selbst und unserer (Um-)Welt synästhetisch immer schon zu einem Gesamteindruck verarbeitet, wird in den ästhetischen Experimentierfeldern ja gerade aufgebrochen und als zwar strukturell gegebene, aber verborgene Divergenz
2 Ebenso verhält es sich mit den ‚Sinnestäuschungen‘: Sie ergeben sich aus den Schlüssen, die man auf der Grundlage von Wahrnehmungen über das Wahrgenommene zieht. 3 Im Zusammenhang mit der Frage nach der ‚richtigen Perzeption‘ (S. 317) schreibt Nietzsche (S. 314): „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen und geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind…“.
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der Sinneswahrnehmungen aufgedeckt. In der Anthropologie der Sinne ebenso wie in der ästhetischen Praxis zeigt sich somit, dass jeder Mensch über seine Sinne sein eigenes Primärmedium ist, das er sich zugänglich machen muss und dem er seine Selbst- und Weltwahrnehmungen verdankt. Wenn es aber stimmt, dass alle Sinne zusammen Vielfalt und Divergenz ‚heranbringen‘ („soviel Seiten, soviel Sinne. Aber auch: soviel Sinne, soviel Seiten“, s. o.), dann ist die Einheit der Sinne nicht selbstverständlich gegeben, sondern die Einheitsstiftung das Problem, das im Akt der Ästhetisierung gelöst werden muss. Es ist ein Akt, der das gleichzeitige Erleben von Divergenz einerseits und die Verschmelzung der Sinneswahrnehmungen andererseits zum Ziel hat. Dieser Akt muss von einem Wesen geleistet werden, das den anthropologischen Grundgesetzen der „natürlichen Künstlichkeit“ und der „vermittelten Unmittelbarkeit“ (Plessner 1928 (1975): 309 ff.) ausgeliefert ist, das also nicht nur lebt und erlebt, sondern auch sein Erleben erlebt (Plessner 1928 (1975): 292), das nicht nur etwas wahrnimmt, sondern auch wahrnimmt, dass und wie es etwas wahrnimmt, das von sich aus keine Einheit ist, sondern ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, das also weiß, dass wir alle „Fragmente sind, nicht nur des allgemeinen Menschen, sondern auch unserer selbst“ (vgl. Simmel 1992: 49). Die Ästhetisierung des Wahrgenommenen und zugleich der Wahrnehmung ist die menschliche Antwort auf diese Problemlage. Und die auf der Ästhetisierung beruhende „künstlerische Verschmelzung“ von nach ihren „modalen Qualitäten unüberbrückbaren Divergenzen“ ist – so Plessner – der „eine dem Menschen offen stehende Weg, aus sinnlicher Diskrepanz der sensorischen Komponenten ein Konzept zu machen; eine Einheit“ (Plessner 1970: 247). Max Imdahls Unterscheidung und zugleich Zusammenführung von „wiedererkennendem Sehen“ und „sehendem Sehen“ (vgl. Imdahl 1996; dazu auch Raab 2008: 169 f.) bei der Bildhermeneutik ndet hier ihre anthropologische Grundlage. Zugleich wird erkennbar, dass sich die Ästhetisierung menschlichen Lebens, neben vielen anderen, ein spezisches Ausdrucksmittel geschaffen hat, das die Einheit des Widersprüchlichen – der Grenzziehung und der Grenzüberschreitung, der Unmittelbarkeit der Wirkung und der zeichenhaften Vermittlung – zugleich repräsentiert und veranschaulicht: das Symbol (Soeffner 2000). Bezeichnenderweise umfasst die Reichweite, Verwendung und Wirkung des Symbols alltägliche, ebenso wie religiöse, künstlerische, politische und auch wirtschaftliche Ästhetisierungs- und Repräsentationsleistungen. Ästhetisierung und die in ihr zum Ausdruck kommende ‚Selbststeigerungstendenz des menschlichen Lebens‘ (Plessner 1928 (1975): 320) sind somit Antworten auf eine grundlegende Krise: auf die konstitutive Gleichgewichtslosigkeit der exzentrischen Positionalität (Plessner 1928 (1975): 316). Sie stehen für den Versuch, mit künstlichen Mitteln einen Boden zu schaffen, der immer wieder nur einen ebenso vorübergehenden wie labilen Halt geben kann:
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Kultur (Plessner 1928 (1975): 311 ff.) als innerweltliche Grundlage menschlicher Existenz und nicht als Spielfeld für Kulte und Virtuosen des Ästhetentums. Die Ästhetisierungsbemühungen des Menschen und ihr Erzeugnis – die Kultur in ihren vielfältigen historischen Erscheinungsformen – verweisen zuerst und vor allem auf die uns aufgezwungene Aufgabe, der fundamentalen Unsicherheit und Krisenhaftigkeit unserer Existenz zu begegnen: der divergierenden Welt der Sinne einen Sinn zu geben und gesellschaftliche Ordnung zu stiften, weil uns die hintergründige Ahnung um die Zufälligkeit unserer jeweiligen Einzelexistenz und des ‚Weltgeschehens‘ insgesamt ständig bedroht. Zugleich aber zeigen sowohl die Künste – als spezische welt- und möglichkeitsoffene, praktische Ästhetisierung des Lebens – als auch die anthropologisch fundierten, historischen Ästhetiken, welche Freiräume und von Menschen selbstgeschaffene Sinnpotenziale als Antworten auf die immer wieder zu bewältigende Krisensituation entworfen werden können. Einerseits also zwingt uns das Erbe der Evolution das Ungleichgewicht der exzentrischen Positionalität auf. Andererseits setzt uns dieses Erbe frei, Distanz gegenüber uns selbst und unserer Umwelt und damit ‚Weltoffenheit‘ zu gewinnen. Paradox ausgedrückt: Fähigkeit und Möglichkeit der Ästhetisierung unseres Lebens und unserer (Um-)Welt sind Ausdruck einer uns evolutionär aufgezwungenen, krisenbelasteten Freiheit, Grundlage der Labilität und zugleich der Chancen auf eine riskierte und unwahrscheinliche Lebensführung.
III Öffnung und Schließung In „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ stellt Plessner die geschlossene, „zentrische Positionalität“ (Plessner 1928 (1975): 237 ff.) der Tiere, der „exzentrischen Positionalität“ der Menschen gegenüber. Vor ihm hatte einer seiner Lehrmeister, Darwin (vgl. hierzu insbesondere: Darwin 1872; Lorenz 1977; Gehlen 1978), ebenso wie danach Konrad Lorenz auf das auch im Menschen noch anzutreffende Spannungsverhältnis von geschlossener, durch Instinkte und angeborene Verhaltensmuster geprägter Organisationsform einerseits und ‚Instinktunterausstattung‘ (Gehlen) sowie die daraus resultierende Weltoffenheit andererseits hingewiesen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Offenheit und Geschlossenheit führt aus der Perspektive menschlichen Handelns zu einem andauernden Widerstreit zwischen Prozessen der Öffnung und Schließung, die sich ihrerseits in spezischen Ausdrucksformen manifestieren. Schließt man sich Nietzsches Gedankenexperiment aus ‚Die fröhliche Wissenschaft‘ an und nimmt vom Standpunkt der Tiere aus, die wir ja auch sind, also aus der Perspektive programmierter und programmatischer Geschlossenheit, den Menschen in den Blick, erscheint dieses Wesen als ein Tier, „das in höchst
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gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat, – als das wahnsinnige Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier“ (Nietzsche 1980a: 152). Das Gedankenexperiment verdeutlicht, dass der gesunde Tierverstand und der so genannte gesunde Menschenverstand eines gemeinsam haben: die Suche nach einer stabilen Verankerung, die durch die gezielte Begrenzung allzu unüberschaubarer Möglichkeitshorizonte der riskanten Weltoffenheit erreicht werden soll. Bei diesem Ausschluss von Risiken und Unwahrscheinlichkeiten geht es nicht so sehr um eine Auseinandersetzung mit einer risikolosen Multioptionalität, wie sie sich in der Attitüde des ‚anything goes‘ äußert. Denn diese Illusion von der Existenz und Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts beliebiger Handlungsoptionen ist keine echte Gefahr für den gesunden Menschenverstand praktischen Alltagshandelns: Dieser weiß, dass immer gehandelt werden muss und gehandelt wird – und dass mit jeder Entscheidung und Handlung Folgehandlungen in Gang gesetzt werden, die der geschmäcklerischen Beliebigkeit ständig offen gehaltener Optionen schnell den Garaus machen. Vielmehr reagiert der gesunde Menschenverstand auf eine existenzielle Krise, auf eine Bedrohung, die sich immer nur vorübergehend beseitigen lässt: auf die Tatsche nämlich, dass wir ‚riskierte Wesen‘ sind und dass wir wegen unserer Weltoffenheit als ‚Spezialisten des Nichtspezialisiertseins‘ (vgl. Lorenz 1963) agieren, also letztlich nicht wissen können, was wir tun werden, „sondern es erst durch die Geschichte erfahren“ (Plessner 1928 (1975): 341) – durch eine Zukunft, die wir im Versuch vorgreifender Anpassung vorweg entwerfen müssen, um uns doch immer wieder von der zur konkreten Gegenwart gewordenen Zukunft überraschen zu lassen (vgl. Soeffner 2001). Metaphorisch gesprochen: Der gesunde Menschen- und Alltagsverstand ahnt, dass wir trotz aller schließenden Sicherheitsvorkehrungen immer vom möglichen ‚Zusammenbruch des Mundanen‘ (Alfred Schütz) und vom Zerfall der lebensweltlichen Sicherheit bedroht sind. Aber er weigert sich – gerade deswegen – zur Kenntnis zu nehmen, dass es vor allem die angeblich sicherheitsstiftenden Schließungsprozesse sind, die das Gefährdungspotenzial vergrößern, statt es zu verringern. Deswegen wendet sich auch Karl Popper gegen die „Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes“, dessen Praxistauglichkeit er dennoch durchaus anerkennt. Denn wie das weithin geschlossene Lernmodell der ‚zentrischen Positionalität‘ des Tieres tendiert auch der Alltagsverstand dazu, erfolgreiche Problembewältigungsmuster beizubehalten und in Routinen umzuformen: Was sich bewährt hat, gilt als gut und wird, wenn es kollektive Anerkennung ndet, als Tradition geheiligt. Die Alltagswelt ndet ihre Ordnung durch den Ausschluss des Riskanten. An die Stelle des Experimentierens mit dem Wechselverhältnis von Versuch und Irrtum tritt der Versuch, die intellektuelle Versuchung durch den Irrtum gar nicht
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erst zuzulassen: den Irrtum auszumerzen, bevor man aus den Möglichkeiten, mit ihm umzugehen, Neues lernen könnte. Dementsprechend unterscheidet Poppers ‚kritischer Rationalismus‘ zwischen ‚Alltagstheorien‘ und wissenschaftlicher Theoriebildung. Erstere wollen, was sie für sicher halten, verizieren. Letztere zielen methodisch auf Falsikation, konfrontieren das scheinbar gesicherte ‚Faktische‘ mit dem von den ‚Alltagstheorien‘ ausgeschlossenen Möglichen und setzen an die Stelle der Transformation des Wahrscheinlichen zur Gewissheit den Entwurf des Unwahrscheinlichen als Bewährungsfeld und ‚Schau‘-Platz des menschlichen Erkenntnis- und Wahrnehmungsvermögens: an die Stelle der ‚Irrtümer‘ scheuenden, geschlossenen Wirklichkeitskonstruktion den Entwurf von alternativen Wirklichkeiten. Der frühzeitig sich verschließende Umgang mit dem Irrtum unterscheidet, so Popper, Einstein von der Amöbe: Beide wenden „zwar die Methode von Versuch und Irrtumsbeseitigung [an], aber die Amöbe [irrt] nicht gerne, während Einstein gerade davon angezogen wird: Er sucht bewusst nach seinen Fehlern, um aus ihrer Entdeckung und Beseitigung etwas zu lernen“ (Popper 1972: 84 f.). Anders ausgedrückt, sowohl Einstein als auch die alltagsverstandliche Amöbe konstruieren Ordnungen von und für Wirklichkeit. In beiden Fällen geht es nicht um eine Wirklichkeit ‚an sich‘, sondern um Ordnungskonstruktionen, die aus unterschiedlichen Perspektiven und Einstellungen entworfen werden. Keine dieser Konstruktionen kann für sich beanspruchen, ‚realer‘ als die andere zu sein, so wie in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von ‚real‘ und ‚ktiv‘ überhaupt als unsinnig erscheint. Vielmehr geht es um unterschiedliche Zugriffe auf unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst und – in Abhängigkeit davon – um unterschiedliche Modi der Realität. Der Alltagsverstand zielt in einer ‚hellwachen‘ (Alfred Schütz), am praktischen (interaktiven) Handeln ausgerichteten Einstellung auf eine effektive, d. h. möglichst reibungslos umsetzbare Handlungspraxis. Die von ihm entworfene, gesellschaftlich getragene, alltägliche Lebenswelt stützt sich auf bewährte Routinen und Rezeptwissen. Dem vom Alltagsverstand fundierten Realitätsmodus liegt nicht nur daran, Irrtümer zu vermeiden, sondern auch Irritationen – wie die in der Divergenz der Sinne angelegten Diskrepanzen – zu minimieren. Das in eben dieser Divergenz und möglichen Diskrepanz der menschlichen Sinne angelegte ästhetische Selbst- und Weltverhältnis dagegen ist gekennzeichnet durch den „kategorischen Konjunktiv“: durch eine Haltung, die Plessner in seinem „Versuch über die Leidenschaft“ (Plessner 1983) beschrieben hat. Ich greife diese Beschreibung auf, spitze sie gezielt zu und mache den ‚kategorischen Konjunktiv‘ zum zentralen Begriff meiner Konzeption des Ästhetischen und der Ästhetisierung. Denn an ihm lässt sich jener offene Realitätsmodus, durch den das ästhetische Selbst- und Weltverhältnis sich auszeichnet, am besten zeigen.
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Plessner selbst trifft folgende – vorläuge – Unterscheidung zwischen Indikativ und Konjunktiv: „Während der Indikativ zu Feststellung des Wirklichen und des Möglichen dient, schafft der Konjunktiv einen Spielraum innerhalb des Möglichen. Das Unmögliche prägt sich wieder indikativisch aus“ (Plessner 1983: 347).4 Vordergründig erinnert dieser Spielraum innerhalb des Möglichen an Karl Valentins „Können habe ich schon wollen, nur wollen habe ich nicht können“. Aber gemeint ist weder Valentins knappe Nicht-Handlungstheorie noch ein: „Es ging schon, aber es geht nicht“ oder ein „Es müsste gehen, weil es gehen könnte“, sondern vielmehr „Es könnte gehen, weil es gehen können müsste“. Zentrales Ziel des kategorischen Konjunktivs ist die Eröffnung eines spezischen Realitätsmodus, der auch dem Unwahrscheinlichen einen Realitätsakzent zuerkennt. Dieser Realitätsmodus besteht nicht nur im Imaginieren des Unwahrscheinlichen (als noch Möglichen), sondern auch in der Anerkennung der Realität der Imagination. Dabei geht es um eine Realität der Imagination in einem doppelten Sinne: um das Entwerfen von Unwahrscheinlichem als dem Realen im Modus der Imagination einerseits und um die Realität des Wirkens der Imagination im menschlichen Selbst- und Weltbezug andererseits. Man hat sich daran gewöhnt, mit dem Hinweis auf Wirklichkeit als Produkt gesellschaftlicher Konstruktion (vgl. Berger/Luckmann 1969), Realität als ‚relativ‘ d. h. abhängig von ihren gesellschaftlichen Konstruktionsbedingungen zu begreifen. Dass sie uns, so relativ und konstruiert sie auch sein mag, als harte Faktizität entgegentritt, die wir bewältigen müssen, haben Peter Berger und Thomas Luckmann, auf die das Etikett des ‚Konstruktivismus‘, gemessen am ‚radikalen Konstruktivismus‘ Varelas, Maturanas und der Systemtheorie Luhmanns wohl kaum zutrifft, immer wieder betont (Berger/Luckmann 1969: 20). Wenn ich hier dagegen von unterschiedlichen Realitätsmodi spreche, setze ich einen anderen – allerdings ebenfalls von Alfred Schütz und Thomas Luckmann angeregten – Akzent. Diese Akzentsetzung verdankt sich der jeweils spezischen Bewusstseinsspannung (s. o.), durch die unterschiedliche ‚Sinnprovinzen‘ oder ‚Sinnbezirke‘ (Alltagswelt, Ekstase, Wissenschaft, Traum, Kunst etc.) konstituiert sind und durch die sie sich voneinander abgrenzen. All diese voneinander unterschiedenen Sinnbezirke sind insofern real, als sie tatsächlich erlebt und gelebt werden: im jeweils eigenen Realitätsmodus. Dass die Wirk- und Interaktionswelt alltäglichen Handelns, die Welt konkret gelebter und erlebter ‚Wechselwirkungen‘ (Simmel), als ‚paramount reality‘ (Schütz, Schütz/Luckmann) bezeichnet werden kann und ihr der ‚schärfste‘ Realitätsakzent zugesprochen wird, weil in ihr ein ‚hellwaches Bewusstsein‘ lebt, handelt und
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Zum Fehlen des Konjunktivs in einigen Sprachen wie z. B. im Hebräischen vgl. ebenfalls S. 347, Anmerkung 4.
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erlebt, kann nicht, wie dies oft geschieht, so interpretiert werden, als seien die anderen Sinnbezirke weniger ‚real‘ oder als nähme in ihnen der ‚Realitätsgehalt‘ ab. Vielmehr wird ihnen in einer jeweils besonderen Bewusstseinsspannung und einem von ihr abhängigen Realitätsmodus ein jeweils spezischer Realitätsakzent verliehen. Der offene Realitätsmodus des ästhetischen Selbst- und Weltverhältnisses im Zeichen des kategorischen Konjunktivs grenzt sich, wie ich oben gezeigt habe, einerseits vom ‚schließenden‘, praxisorientierten Realitätsmodus des Alltagsverstandes ab, während er andererseits durch seinen offenen und konjunktivischen Charakter dem Sinnbezirk der wissenschaftlichen Möglichkeits- und Realitätsentwürfe nahe steht – ohne sich jedoch mit ihm zu decken. Zwar ist erkennbar, dass der offene Realitätsmodus des ästhetischen Selbst- und Weltverhältnisses mit dem Popperschen Wissenschaftsverständnis im Zeichen des Falsi kations- und ‚Irrtumskonstruktionsgebotes‘ den (positiv) utopischen Standort teilt, und ebenso lässt sich begründen, dass ohne eine auch ‚ästhetische Bewusstseinsspannung‘ sowie durch deren Kinder, Phantasie und Imagination, keine produktive Wissenschaft möglich ist. Aber ebenso deutlich ist, dass der kategorische Konjunktiv des ästhetischen Welt- und Selbstverhältnisses der Realität der Imagination den Verzug gibt vor den rationalen Konstruktionsregeln der Wissenschaft: Das ästhetische Weltverhältnis im Zeichen des kategorischen Konjunktivs drückt sich aus in dem Appell an die Einbildungskraft, die Ordnung des Alltags, der ‚verabredeten‘ Wahrnehmungen von Umwelten und Dingen, neu zu kontextualisieren, kurz: sie in den Realitätsmodus der Imagination zu versetzen: Dem ‚Es Ist‘ wird ein ‚Als Ob‘ angehängt, das ‚SoSein‘ zeigt sich als ‚Werden-Können‘. Und gerade im Entwurf dieses – diesseits von Rationalitätsregeln – gelebten und erlebten Möglichkeitshorizontes besteht der praktische Sinn der Ästhetik. Schon in seinem Frühwerk stellt Plessner zwei einander widersprechende Antworten des Menschen auf die exzentrische Positionalität einander gegenüber: die Suche nach Sicherheit und „Heimat“ in der Religion einerseits und den Entwurf von Freiheitsräumen andererseits. Letzterer will von einem ‚utopischen Standort‘ aus, vom ‚Stehen des Menschen im Nirgendwo‘ seine Realisierung in der labilen Sicherheit einer künstlich geschaffenen zweiten Heimat, der Kultur, nden (Plessner 1928 (1975): 341). Zwischen der Suche nach einem ‚Denitivum‘ an Sicherheit und Heimat, wie es die Religion verspricht, und der Kultur, der riskierten Form und strukturellen Unsicherheit menschlicher Sinngebung, besteht, so Plessner, eine „absolute Feindschaft“ (Plessner 1928 (1975): 342). Ebenso gilt, dass – weniger pathetisch gesprochen – ein ständiger Widerstreit zwischen den Öffnungstendenzen eines ästhetisch fundierten Weltverhältnisses einerseits und den Schließungsbemühungen menschlichen Sicherheitsbestrebens andererseits besteht. Was Plessner für die Gegnerschaft zwischen Religion und
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Kultur konstatiert, ndet sich ebenso im Verhältnis zwischen ‚dienender‘, religiös oder politisch motivierter und ‚reiner‘ Kunst (Hegel) oder zwischen normativen Universalitätsansprüchen einer (religiösen) Ethik und riskierten Welthaltungen des ästhetischen Selbst- und Weltbezuges. Noch innerhalb der Wissenschaft, die sich als Konstruktion von Irrtümern und Unwahrscheinlichkeiten ebenfalls dem ästhetischen Weltverhältnis verdankt, – ohne allerdings wegen ihrer Rationalitätsverpichtung darin aufzugehen – formieren sich immer aufs Neue Gegnerschaften zwischen Schließungs- und Öffnungstendenzen. Insofern verbirgt sich – auch in der Soziologie – hinter den wissenschaftstheoretischen Gegensätzen, zwischen systemtheoretischen Erklärungsmodellen oder der Figur des homo oeconomicus einerseits und hermeneutischer/phänomenologischer Wissenssoziologie andererseits mehr und anderes als ein grundlagentheoretischer Streit: die Auseinandersetzung nämlich zwischen dem kategorischen Indikativ der schließenden Veri kation und dem kategorischen Konjunktiv eines offenen wissenschaftlichen Selbst- und Weltverhältnisses, zwischen einer sicherheitspolitischen Wissenschaftsstrategie einerseits und einer zwar riskiert utopischen, aber zugleich zukunftsfähigen, weil zukunftsoffenen Antwort auf die Krisenlage der exzentrischen Positionalität andererseits. Weltoffenheit, das Leben in Zukunfts- und Möglichkeitshorizonten, lässt sich allerdings mit Peter Rühmkorf auch ganz einfach unterscheiden von dem letzten Schließungsprozess menschlichen Lebens: „Auch im Maul des Hais lässt sich noch über Zukunft reden, aus der Dose nicht mehr“ (Rühmkorf 2004).
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„Wir sind Gott“ Zur Anthropologie der Grausamkeit Trutz von Trotha
Vorrede Lieber Ronald, ich will die wunderbare Einladung, an Deiner Festschrift mitzuarbeiten, zum Anlass nehmen, nicht zurückzuschauen, sondern von einem zukünftigen Abenteuer Dir zu berichten. Es ist, so hoffe ich wenigstens, ein ‚Abenteuer‘, das ganz auf das Lesen und Nachdenken beschränkt ist – ein ‚„Armchair“-Abenteuer‘, um ein ironisches Wort aus der Geschichte der Ethnologie abzuwandeln. Es wird, mit anderen Worten, ein ‚Abenteuer‘ sein, das Deinem Forscherleben ferne steht. Du hast den großen theoretischen Anspruch einer subjektorientierten Soziologie zu Recht dadurch eingelöst, dass Du Dich nicht nur ins Getümmel der Lebenswelt gestürzt hast, sondern Dich immer dort befunden hast, „wo was los ist, wo es action gibt“, wie es bei Erving Goffman heißt. Warum ich mich in diesem Fall von solcher ‚action‘ bewusst so weit wie möglich fernhalten und vorrangig von den Erfahrungen, Beobachtungen und Überlegungen anderer lernen möchte, liegt bei dem Thema, den der Titel meines Beitrages anzeigt, möglicherweise nicht auf der Hand, aber vielleicht ist es verständlich. Aber warum die Grausamkeit dann zu einem Thema für den Beitrag zu Deiner Festschrift machen? In der Tat habe ich gezögert und die Herausgeber um ihre Ansicht gebeten. Und obwohl ich nicht im Einzelnen mit ihnen darüber gesprochen habe, haben sie vermutlich gesehen, warum ich dieses Thema gerade in der Festschrift für Dich zum ersten Mal publizistisch aufnehme. Zum einen hast Du in Deinen Forschungen zum Sadomasochismus ein Thema empirisch erkundet, das unmittelbar Bezüge zum Phänomen der Grausamkeit hat, zumindest viele Fragen nach solchen möglichen Beziehungen aufwirft – von Deinen allgemeinen Beiträgen zur Gewalt und existenziellen Zusammenhängen einmal ganz abgesehen. Kurz, ich hoffe, auch in diesem Falle von Dir im speziellen wie über die allgemeinen Bezüge des Themas zu lernen. Wichtiger und grundsätzlicher im theoretischen Sinne ist, dass ich mit meinem Beitrag unmittelbar an einem Deiner theoretischen Hauptwege mitarbeiten möchte: an der anthropologischen Grundlegung der Soziologie. So wenigstens habe ich viele Deiner Beiträge immer auch gelesen. Schließlich sind
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da Eigennutz und das Versprechen der Freundschaft. Eigennützig bin ich, weil ich mit dem Beitrag die Bitte um Kritik und Diskussion über das verbinde, was ich erst begonnen habe, mir und mit diesem Beitrag nun auch anderen verständlich zu machen. Das Versprechen der Freundschaft ist, miteinander in jenem lebendigen Gespräch verbunden zu bleiben, in dem selbst zwei ‚alte Herrn‘ noch einmal zu jugendlichen Abenteurern werden können.
Einleitung In der „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ von Thukydides nden sich über die Bürgerkriegswirren auf der Insel Korfu im Sommer 427 v. Chr. die berühmten Sätze: „Der Tod zeigte sich da in jederlei Gestalt, […] nichts, was es nicht gegeben hätte und noch darüber hinaus. Erschlug doch der Vater den Sohn, manche wurden von den Altären weggezerrt oder dort selbst niedergehauen, einige auch eingemauert im Heiligtum des Dionysos, daß sie verhungerten“ (Thukydides 1960: 249 f.). Vom ausgehenden 15. Jahrhundert ist durch den „schwülstigen“ Chronisten Jean Molinet, wie ihn Johan Huizinga in seinem großartigen Buch über den „Herbst des Mittelalters“ (Huizinga 1975: 86) charakterisiert hat, überliefert, dass „die Leute von Mons […] einen Räuberhauptmann für einen viel zu hohen Preis [kauften], nur um des Vergnügen willens, ihn zu vierteilen, ‚was das Volk mehr ergötzte, als wenn ein neuer heiliger Leichnam auferweckt worden wäre‘“ (Huizinga 1975: 25). Von den Irokesen des 17. Jahrhunderts wird berichtet: „Dem Gefangenen, der durch einen Überfall in Gefangenschaft geraten war, begegneten Prügel und andere Züchtigungen auf dem Heimweg in das irokesische Dorf. Dort angekommen, mußte er zwischen Frauen und Kindern, die mit Stöcken, Riemen und Ästen auf ihn einschlugen, Spießruten laufen. […] Wenn er zum Tod bestimmt war, warteten Stunden der Agonie in den Händen seiner Feinde auf ihn, die [wie ein französischer Jesuit berichtete – TT] ‚sich daran ergötzten, Männer auf die denkbar blutigste Weise zu martern: bei lebendigem Leib von Ungeziefer auffressen zu lassen … durch Abhacken der Gliedmaßen und bei anderen der Gelenke, nach einander, Stück für Stück, man brät sie anschließend auf dem Feuer und ißt die Fleischstücke unter den Augen des Opfers, das noch immer lebt‘“ (The National Geographic Society 1974: 129).
Der französische Journalist Hatzfeld schreibt am Ende des 20. Jahrhunderts: „Es geschah 1994, zwischen Montag, 11. April, 11 Uhr, und Samstag, 14. Mai, 14 Uhr: Rund 50.000 der etwa 59.000 Menschen zählenden Tutsi-Bevölkerung wurden auf den Hügeln der Gemeinde Nyamata in Ruanda mit der Machete abgeschlachtet – von
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Milizleuten und ihren eigenen Hutu-Nachbarn, tagtäglich von 9.30 Uhr bis 16 Uhr“ (Hatzfeld 2004: 7). In den Worten des zwölfjährigen Augenzeugen Cassius Niyonsaba, liest sich das Morden so: „‚Die Interahamwe kamen mittags unter Gesängen herangezogen, haben Handgranaten in die Kirche geworfen, die Gitter herausgerissen, sich in die Kirche gestürzt und sind daran gegangen, die Leute mit Buschmessern und Speeren in Stücke zu hauen. Sie trugen Maniokblätter in den Haaren, sie schrien aus Leibeskräften und sie lachten aus vollem Hals. Sie schlugen wahllos zu, zereischten, was in ihre Reichweite gelangte. […] Etwa um die Mitte des Nachmittags haben die Interahamwe die Kleinkinder vor der Tür verbrannt. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie diese sich bei lebendigem Leib in den Flammen wandten. Es roch stark nach verbranntem Fleisch und Petroleum‘“ (Hatzfeld 2004: 17, kursiv i. Orig.).
Das letzte Beispiel entnehme ich dem Buch „Der Afrikaner“ des Literaturnobelpreisträgers des Jahres 2008, Le Clézio: „Die Skorpione standen eines Tages im Mittelpunkt einer dramatischen Szene, die mein Herz noch heute schneller schlagen läßt, wenn ich daran zurückdenke. Mein Vater (es muß wohl an einem Sonntagvormittag gewesen sein, denn er war zu Hause) hatte in einem Schrank einen der weißlichen Skorpione entdeckt. Genauer gesagt handelte es sich um ein Weibchen, das seine Sprößlinge auf dem Rücken trug. Mein Vater hätte das Tier mit einem Schlag seines besagten Pantoffels platt schlagen können. Aber er tat es nicht. Er holte aus seiner Hausapotheke ein Fläschchen mit neunzigprozentigem Alkohol, begoß den Skorpion damit und zündete ein Streichholz an. Aus einem mir unbekannten Grund loderte das Feuer zunächst rings um das Insekt auf, bildete einen Kreis aus blauen Flammen, und das Skorpionweibchen nahm eine tragische Haltung ein: mit zum Himmel erhobenen Scheren und gespanntem Körper richtete es den deutlich erkennbaren giftigen Stachel am Schwanzende über seinen Jungen auf. Der zweite Spritzer Alkohol ließ das Tier mit einem Schlag in Flammen aufgehen. Das Ganze hat bestimmt nur ein paar Sekunden gedauert, und dennoch habe ich den Eindruck, als hätte ich dem Todeskampf lange zugesehen. Das Skorpionweibchen drehte sich mehrmals um die eigene Achse, wobei der Schwanz krampfhaft zuckte. Die Jungen waren schon tot und elen zusammengekrümmt vom Rücken des Tieres. Nach dem es mit einer resignierten Geste die Scheren vor der Brust angewinkelt hatte, erstarrte es, und die hohen Flammen erloschen“ (Clézio 2007: 41).
Fünf Beispiele aus der Geschichte der Grausamkeit. Sie geben eine Ahnung von der Vielfalt der Grausamkeit, welche Geschichte und Gegenwart des Menschen auszeichnet. Allerdings sind es Beispiele, in denen die Gewalt, die körperliche Verletzung und der Schmerz, der mit ihr verbunden ist, im Mittelpunkt steht. Das ist eine Verengung des Phänomens der Grausamkeit, die noch zu korrigieren ist.
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Nicht zurückgenommen werden muss, dass die Grausamkeit immer auch und vorrangig eine Wirklichkeit der Empndungen und Gefühle ist. Ebenfalls verweisen die Beispiele darauf, dass die Grausamkeit ein Spiegel der Lebensverhältnisse und Errungenschaften einer Gesellschaft ist. Die Grausamkeit ist stets auf der Höhe der Zeit – von der Guillotine über die Handgranaten der Interahamwe bis zu den orangeroten Anzügen der Inhaftierten von Guantánamo. Auch geben die Beispiele einen Eindruck von wichtigen Zusammenhängen der Grausamkeit. Dazu gehört, dass der Grausamkeit bei allem Gegenwartsbezug etwas Archaisches eigen ist, um mich eines Worts aus dem Wörterbuch der Moderne zu bedienen. Die Grausamkeit ist kein geschichtlich neues Phänomen. Im Gegenteil, sie verweist auf den Anfang des Menschen. Sie scheint so alt wie die Menschheit selbst zu sein. Das schließt ein, dass sie eine Erscheinung ist, die die Grenzen von Kulturen und Gesellschaften überschreitet. Keine Gesellschaft kann von sich sagen, dass sie der Grausamkeit keinen Raum gibt, auch wenn sich Gesellschaften auf das Äußerste darin unterscheiden, wieviel Raum sie der Grausamkeit geben, welcher Art und wo der Raum der Grausamkeit ist, und welche Formen von Grausamkeit in diesen besonderen Räumen praktiziert werden. Allerdings machen die Beispiele gleichfalls unmissverständlich klar, dass die Grausamen nicht wählerisch sind: Nicht nur kann jedermann, sondern alles Lebendige, das Schmerz empnden kann, Opfer der Grausamkeit werden. In vier der fünf Beispiele ist die Grausamkeit eine soziale und darüber hinaus sogar eine mehr oder minder organisierte Erscheinung. Auch wenn in ihrem sozialen Charakter der relevante Kern der Grausamkeit für die Gesellschaft und die Geschichte der Grausamkeit sowie im Besonderen für die Soziologie der Grausamkeit liegt, ist eine ausschließliche Konzentration auf die soziale Seite der Grausamkeit ebenso eine Vereinseitigung wie die Verkürzung der Grausamkeit auf die körperliche Verletzung. Nicht jedermann, nicht einmal unter Todesdrohung schließt die Reihen der grausamen Täter und Gaffer, und Sadismus als Eigenschaft einer Person ist nicht jedermann gegeben. Der folgenreichste Organisationszusammenhang der Grausamkeit ist jedoch zweifellos der der politischen Herrschaft. Grausamkeit ist nicht nur eine Erscheinungsform der Macht, sondern vor allem der politischen Macht und Herrschaft. Sie ist ein politischer Sachverhalt ersten Ranges. Wie die Beispiele anzeigen, gehört zu diesem Herrschaftszusammenhang der Grausamkeit viererlei. Erstens ist die Grausamkeit kein Vorrecht hierarchischer politischer Ordnungen. Auch die mehr oder minder egalitäre Ordnung nimmt die Grausamkeit in ausgefeilten Institutionen in Anspruch. Zweitens setzt Grausamkeit Herrschende und Beherrschte nicht notwendig einander entgegen. Die Grausamkeit kann ebenso den Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten begründen und vertiefen, wie sie ihn zu überbrücken vermag. Drittens ist Grausamkeit eine Erscheinung der Inszenierung
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und ein Ritual – von der öffentlichen Marter über die Hinrichtung auf irgendeinem Hinterhof einer Militärkaserne bis zum ‚scharfen Verhör‘. Viertens ist Grausamkeit auf vielfältige Weise mit Ordnungen der Sichtbarkeit verbunden. Sie ist eine Wirklichkeit des Auges und Ohres – für die Zuschauer, die sich an der öffentlichen Marter ergötzen oder den Grund ihres Abscheus gegen die Grausamkeit nden, für den Gefangenen, der, verborgen vor den Zuschauern, in einem Keller oder mit verbundenen Augen in einem Hinterhof erschossen wird, für die Angehörigen der ‚Verschwundenen‘, vor denen Folter und Mord verborgen werden, um sie um so mehr mit quälender Ungewissheit zu martern. Der Charakter politischer Herrschaft gibt sich nicht zuletzt dadurch zu erkennen, dass jede politische Herrschaft die ihr eigene Weise hat, Grausamkeit sichtbar oder unsichtbar zu machen. Ich fasse die bisherigen Beobachtungen zusammen, zu denen die genannten Beispiele ohne große Umschweife Anlass sind: Die Grausamkeit gehört dem Menschen seit seinen Anfängen zu und kennt keine Schranken der Kulturen und Gesellschaften, auch wenn diese ihr jeweils andere Gesichter geben, deren die Grausamkeit viele hat. Diese Gesichter sind stets auch Spiegel der je gegebenen Lebensverhältnisse. Allerdings ist es die Gewalt, welche in den Gesichtern der Grausamkeit die sichtbarsten Spuren hinterlässt. Grausamkeit mag den einen mehr, den anderen weniger oder gar nicht auszeichnen, wichtiger ist, dass die Grausamkeit eine soziale, vor allem eine organisierte und, was das wichtigste an der Grausamkeit überhaupt ist, eine politische Erscheinung ist. Die Grausamkeit ist eine Form von Macht und ein Attribut von Herrschaft. Zu den folgenreichsten Sachverhalten für Gesellschaften, Kulturen und die in ihnen lebenden Menschen gehört, wie politische Herrschaft Grausamkeit institutionalisiert, ritualisiert und mit der Sichtbarkeit der Grausamkeit umgeht. Im Folgenden will ich auf diese Sachverhalte etwas näher eingehen. Das erfordert, einen anthropologischen, gewaltund politiksoziologischen und einen dramaturgischen Blick auf die Grausamkeit zu werfen. Als erstes steht jedoch die unumgängliche Aufgabe an, ausdrücklich, mithin abstrakter, aber auch genauer als mit Beispielen zu bestimmen, was ich unter Grausamkeit verstehen will.
Was ist Grausamkeit? Statt mit dem Begriff der Grausamkeit beginne ich in handlungstheoretischer Absicht mit dem, was ich unter ‚grausamem Handeln‘ verstehe. Nicht anders als im Fall der Gewalt bedarf ein handlungstheoretischer Begriff der Grausamkeit des Merkmals der Absicht, der Intentionalität. Grausames Handeln ist absichtsvolles Handeln. Ich will der Person, die ich grausam behandle, das antun, was ich ihr antue. Dabei ist es für den Begriff ‚grausamen Handelns‘ unerheblich,
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ob die absichtsvolle Grausamkeit, die der Handelnde einem anderen antut, mit dem subjektiven Wunsch des Handelnden zusammenfällt, dem anderen gegenüber grausam zu sein. Es mag sein, dass unter den Handlangern der Grausamkeit Menschen sind, die die Grausamkeiten, die sie einem anderen Menschen antun, verabscheuen.1 Auch in diesem Fall entfällt die Absicht, dem anderen Grausames anzutun, nicht. Die Absicht, die der grausam Handelnde verfolgt, ist, seinem Opfer Schmerz und Leid zuzufügen, die bis zu Mord oder Selbstmord des Opfers gehen können. Darin eingeschlossen ist, dass grausames Handeln existentielle Furcht sowie die Erfahrung von physischem Schmerz, Hilosigkeit und existentieller Verlassenheit in unterschiedlichen Kombinationen und mit unterschiedlicher Intensität erzeugt, für deren äußerste Grenzen die Todesfurcht und ihre Überwindung angesichts unerträglicher Schmerzen stehen. Spätestens mit Montaignes Essay über die „Grausamkeit“ (1587/2000) kreisen die Konzeptualisierungen unter Bezugnahme auf die Intention des Täters um die Frage der Instrumentalität oder den Selbstzweckcharakter der Grausamkeit. Letzterer kann mit Montaigne als „reine Mordlust“, als ein Tun „ohne anderes Ziel“ beschrieben werden, „als sich am ergötzlichen Schauspiel der erbärmlichen Gebärden […] eines qualvoll mit dem Tode ringenden Menschen zu weiden“ (Montaigne 1587/2000: 418). Unter den jüngeren theoretischen Versuchen haben vor allem Christine McKinnon (1989) und Wolfgang Sofsky (2002) den Selbstzweckcharakter der Grausamkeit unterstrichen. Warum sollte man unter empirischen Vorzeichen hier jedoch einen Gegensatz aufmachen? In der Montaigneschen Beobachtung vom Selbstzweckcharakter der Gewalt ist allerdings einer der wichtigen Gründe zu suchen, warum die Grausamkeit keine Erscheinung ist, die viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit, schon gar nicht von Seiten der Soziologie gefunden hat. Nicht anders als der Krieg läuft die Grausamkeit dem Selbstverständnis der Moderne zuwider. So wenig die Soziologie bis jüngst den Krieg thematisiert hat, so wenig hat sie sich dem Studium der Grausamkeit jenseits der Erscheinung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers verschrieben. Zur grausamen Absicht kommt hinzu, dass grausames Handeln sich gegen einen anderen Menschen oder ein Tier bzw. ein Lebewesen richtet, von dem wir wissen oder wenigstens unterstellen, dass es Schmerz emp ndet. Grausamkeit gehört dem Raum des Lebendigen zu – auch wenn wir metaphorisch von einem ‚grausamen Schicksal‘ oder einer ‚grausamen Natur‘ sprechen. Als lebendiger Vollzug im Raum des Lebendigen schließt grausames Handeln ein, dass es noch während der Ausführung eine Antwort von seinem Opfer erhält. Voraussetzung allerdings ist, dass die technologischen Vermittlungsketten grausamen Handelns 1
In der literarischen Verarbeitung der Grausamkeit – von Shakespeares Macbeth bis zu Dostojewskis Raskolnikow – ist die Abscheu für das eigene Tun allerdings zu Recht vorrangig ein Teil der Reue und nicht der Tat.
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nicht so lang werden, dass grausames Handeln jeglichen Zusammenhang zwischen Täter, Tat und Leid des Opfers verlustig geht.2 Insoweit der Kern allen grausamen Handelns ist, dem Opfer körperlichen Schmerz zuzufügen oder es zu töten, ist Grausamkeit üblicherweise eine Form der Gewalt. Aber die grausame Handlung kann ohne Gewalt auskommen und sich auf die Psyche des Opfers konzentrieren. Es lässt sich grausam sein, ohne gewalttätig zu sein. Allerdings, was für die Gewalt allgemein gilt, gilt umgekehrt, zumindest auf längere Sicht, für die grausame Handlung. Hat die Gewalt stets ihre psychische Seite, hat die psychische Grausamkeit meist ihre körperliche Seite, um so mehr, als auch die psychische Tortur, z. B. der völligen Isolierung, typischerweise mit Umständen verbunden ist, in denen Gewalt und die Drohung mit Gewalt gegenwärtig sind, und die Möglichkeit, einfach davonzulaufen, beschränkt ist. Ob körperlich oder psychisch, grausames Handeln verletzt ernsthaft. Die Schäden grausamen Handelns, die psychische Verletzung eingeschlossen, sind mehr oder minder langlebig oder wie viele körperlichen Verletzungen von Dauer. Die Schwere der Schädigung ist nicht nur mit dem Tod des Opfers als äußerste Grenze bestimmt, sondern auch mit der existentiellen Furcht, denen die Opfer ausgesetzt werden. Die Ernsthaftigkeit von Schäden lässt sich zweifellos objektiv bestimmen, sei es medizinisch oder psychologisch-psychiatrisch. Die Positivierung der Grausamkeit in der Objektivität des Antuns ist vor allem ein Ergebnis der neuzeitlichen Betrachtung der Grausamkeit (Baraz 2003). Die Grausamkeit ist danach vorrangig ein Handeln, das sich durch seine Maßlosigkeit im Antun auszeichnet, dem auf der Ebene des Opfers eine Maßlosigkeit des Erleidens entspricht. Die zentralen Bezugspunkte der Maßlosigkeit sind der menschliche Körper, der gemartert wird, und das Bewusstsein von der Endgültigkeit des Getötet-Werdens, das Opfer und Täter teilen und für beide gleichermaßen grauenvolle Todesdrohung und Erlösung von der Maßlosigkeit des erfahrenen Leids ist, auch wenn für beide daraus anderes folgt. In einem Satz, der Solschenizyn von Popitz zugeschrieben wird, ist dieser Sachverhalt in seiner herrschaftssoziologischen Konsequenz treffend auf den Punkt gebracht: „Zum Nachteil der Beherrschten und zum Vorteil der Herrschenden ist der Mensch so beschaffen, daß man ihm, solange er lebt, immer noch etwas antun kann.“3 Grausames Handeln ist die absichtsvolle Ausnützung dieser menschlichen Verletzungsoffenheit. 2 Diese dringliche Gegenwart des Opfers haben die Milgram-Experimente zu einer der wichtigsten Achsen für die Variation der Versuchsanordnungen mit dem eindrucksvollen Befund gemacht, dass mit steigender Indirektheit der Folter die Bereitschaft wächst, die einmal begonnene Folter fortzusetzen (Milgram 1969/1974). 3 Das Zitat stammt aus Solschenizyns „Im ersten Kreis der Hölle“. In der mir vorliegenden Übersetzung von Swetlana Geier (Im ersten Kreis. Vollständige Ausgabe der wiederhergestellten Urfassung des Romans „Der erste Kreis der Hölle“. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch. S. 745) heißt es
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Allerdings stehen diesem objektiven Körperbezug der Neuzeit der römische ‚Statusbezug‘, nach dem die Grausamkeit wesentlich durch den gesellschaftlichen Status des Opfers bestimmt ist, und der christlich-mittelalterliche ‚Heilsbezug‘ gegenüber, in dem das körperliche Leid ganz hinter das Seelenheil zurücktritt (Baraz 2003). Sie machen deutlich, dass ein interkulturell tragfähiges Grausamkeitskonzept sich nicht auf die Körperlichkeit der Grausamkeit beschränken kann, umso weniger, als für Grausamkeit die Verletzung von Körper und Psyche konstitutiv sind. Der neuzeitliche Materialismus, der den Reduktionismus auf die körperliche Verletzung bei der Untersuchung der Grausamkeit nach sich zieht, unterschlägt, dass Gesellschaften und Kulturen die Vieldimensionalität der Grausamkeit auf ganz andere Weise als im neuzeitlichen Körperbezug zuspitzen können: als soziales, spirituelles und als psychisches Leid. In den ernsthaften Schäden ist ein Element kultureller und historischer Relativität eingeschlossen. Die ‚Ernsthaftigkeit‘ oder Schwere der Verletzung ist über das Objektive hinaus gleichfalls durch einen Kontext des ‚Üblichen‘ bestimmt. Grausames Handeln ist eine Verletzung, die den Rahmen des ‚Üblichen‘ sprengt. Das drückt sich nicht zuletzt in jener Maßlosigkeit im Verletzen aus, das dem grausamen Handeln typischerweise zugeschrieben wird. Maßlos ist grausames Handeln, weil es vom Üblichen abweicht – mit der Folge, dass in einer Gesellschaft, die nur das Lob kennt, schon die kleinste Strafe dem Schuldspruch der Grausamkeit anheimele, wohingegen eine radikal grausame Gesellschaft, die auf alle und jede Verfehlung und Abweichung mit schrecklichen Strafen reagieren würde, eine Gesellschaft ohne Grausamkeit wäre. Der Absicht, grausam zu handeln, stehen der Wille oder die Abwehr desjenigen entgegen, der grausam behandelt wird. Die grausame Handlung erfolgt gegen den Willen oder die Abwehr des Opfers. Die Unfreiwilligkeit des Opfers ist zum einen die Scheidelinie, welche das grausame vom ärztlichen Handeln – human- oder veterinärmedizinisch – ebenso unterscheidet wie von sadomasochistischen Beziehungen. Wie stets bei begrifflichen Festlegungen gibt es auch hier Grenzerscheinungen, die typischerweise etwas mit dem Merkmal der Maßlosigkeit in Antun und Leid zu tun haben. Im Rahmen z. B. der Krebstherapie können ärztliche Eingriffe so schwer sein, dass sowohl der Patient Einspruch erhebt als auch professioneller Widerspruch hervorgerufen wird. Sadomasochistische Beziehungen, die die Verbindung zwischen Eros und Grausamkeit herstellen und variieren, lehren wiederum, wie wichtig die Perspektiven auf das grausame Handeln sind. Mag für den objektiven Betrachter längst die Grausamkeit nach Maßgabe von Maßlosigkeit und körperlichem Schmerz herrschaftssoziologisch und anthropologisch allerdings nicht ganz so treffend: „Zum Unglück der Menschen und zum Vorteil für die Regierenden ist der einzelne so beschaffen, daß man ihm solange er lebt, immer noch etwas entziehen kann“ [Herv. v. TT].
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erreicht sein, mögen die Beteiligten sich noch ganz im Raum der Lust und der Wechselseitigkeit erfahren. Zum anderen weist die Unfreiwilligkeit grausames Handeln als ein genuines Phänomen der Macht aus. Grausames Handeln ist eine Machtaktion und entspricht ohne Abstriche den Kategorien der Macht von Heinrich Popitz und von Max Weber. Die Konsequenz ist, dass die Zusammenhänge der Grausamkeit dort gesucht werden müssen, wo drei Kategorien von Erscheinungen sich treffen: anthropologische, handlungstheoretische und macht- und herrschaftssoziologische. Grausamkeit ist eine Erscheinung des Menschen, des sozialen Handelns und der Herrschaft, insbesondere der politischen Herrschaft. Demzufolge kommt der, der nach der Grausamkeit fragt, nicht um die Frage herum, was der Mensch ist. Grausamkeit wirft die Frage nach den Dispositionen und Fähigkeiten des Menschen auf. Grausamkeit gehört darüber hinaus dem sozialen Handeln, d. h. einem Handelnden, zu, der weiß, was er tut. Das eine wie das andere wird in den genannten Beispielen vielleicht nirgendwo so eindringlich wie in Clézios Anekdote über die Tötung der Skorpionmutter. Dispositionen, Fähigkeiten und Absichten, von denen grausames Handeln bestimmt ist, können vor allem in politischen und ihnen zugehörigen rechtlichen Ordnungen schließlich so institutionalisiert werden, dass sie zu Grundbausteinen oder wie im Falle von Tyrannis, Theo- und Autokratien, der faschistischen und totalitären Regime zu denierenden Merkmalen dieser Ordnungen werden. Mit der Institutionalisierung grausamen Handelns zu ‚Ordnungen der Grausamkeit‘ kann verbunden sein, dass die grausame Handlung erheblich an Bedeutung für den Charakter und die Stabilität der Ordnungen der Grausamkeit verliert. Die Grausamkeit verwirklicht sich scheinbar ganz ohne grausames Handeln. Allerdings ist eine Ordnung der Grausamkeit ohne grausames Handeln in Beziehungen zwischen Menschen mehr ein theoretisches Konstrukt, denn erfahrbare Wirklichkeit. Beispielhaft ist die Hinrichtung in US-amerikanischen Strafanstalten. Spätestens der Henker ist mit der Todesfurcht seiner Opfer konfrontiert, was ihm auch keine Rechtssprechung des Obersten Gerichtshofes der USA wegdenieren kann, die aus verfassungsrechtlicher Unvereinbarkeit von Grausamkeit und Strafe der amerikanischen Todesstrafe abspricht, grausam zu sein. Das Handwerk des Henkers ist mit grausamem Handeln verbunden – daran kann auch keine juristische Willfährigkeit gegenüber demokratischer Grausamkeit etwas ändern. Naheliegender ist der Gegensatz zwischen Ordnungen der Grausamkeit und grausamem Handeln im Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Hierfür steht die Funktionalisierung der Grausamkeit im Schlachthaus der Tierschutzgesetze – in dem die Menschen den Tieren alle Angst und Qual nehmen wollen, aber die Stimmen tierischer Angst unverändert hinausschreien, dass an diesem Ort eine tödliche Arbeit verrichtet wird.
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Die Ausgangsfrage „Was ist Grausamkeit?“ lässt sich dementsprechend jetzt, wie folgt, beantworten: Grausamkeit ist einerseits das Syndrom von Dispositionen, allgemeinen menschlichen Fähigkeiten von sozialen Akteuren und von grausamen Handeln. Im grausamen Handeln verfolgt der Handelnde die Absicht, einem Lebewesen, das Schmerz zu empnden vermag, gegen dessen Willen oder Abwehr körperlichen Schmerz oder psychisches, soziales oder spirituelles Leid zuzufügen, welches ernsthafte Schäden nach sich ziehen und die Tötung oder den Selbstmord des Opfers einschließen können. Schmerz und Leid, die dem Opfer zugefügt werden, zeichnen sich in den Kategorien der jeweiligen Kultur durch ein Element der Maßlosigkeit aus. Schmerz und Leid, die das Opfer erfährt, unterscheiden sich von den ‚üblichen‘ schmerzvollen Erfahrungen. Dazu gehören existentielle Furcht sowie die Erfahrung von physischem Schmerz, Hilosigkeit und existentieller Verlassenheit. Andererseits ist Grausamkeit das Syndrom von grausamem Handeln, sozialen Praktiken, sozialen Situationen und Einrichtungen, die grausames Handeln befördern oder in vielfältigen ‚Ordnungen der Grausamkeit‘ institutionalisieren und ritualisieren. Im ersten Fall ist Grausamkeit ein anthropologischer Sachverhalt, der seine individualpsychologischen Variationen hat und mit den handelnden Personen unterschiedliche Ausprägungen erfährt. Der eine Pol dieser Ausprägungen wird vom Sadisten deniert. Im zweiten Fall ist Grausamkeit ein soziologischer Sachverhalt. In ihm wird die anthropologisch verankerte Grausamkeit zu einer sozialen Wirklichkeit von Praktiken, Situationen und Einrichtungen bis zu politischen Ordnungen. Letztere bringen grausames Verhalten ebenso hervor wie sie Formen und Orte sind, in denen die Dispositionen und Fähigkeiten zu grausamem Handeln ihre soziale Form und ihren sozialen Ort erhalten. In unterschiedlichen Graden verfestigt, kann Grausamkeit das gesellschaftliche Leben und insbesondere die Strukturen einer Gesellschaft unterschiedlich stark prägen. In politischen und rechtlichen Einrichtungen institutionalisiert, gehört Grausamkeit zu den gesellschaftlich folgenreichsten Erscheinungen. Der Boden der Vergesellschaftung selbst variiert mit dem institutionalisierten Umgang mit Grausamkeit. Er trennt fast unüberbrückbar Gesellschaften, die der Grausamkeit ofzielle Orte weitgehend vorenthalten, von solchen, deren öffentliche Ordnung auf Grausamkeit gründet. Anders als die funktionalistischen, interaktionistischen und situativen Programme von Sozialpsychologie und Soziologie wollen, ist grausames Handeln aber kein bloß abgeleitetes Phänomen. Es ist absichtsvolles Handeln verantwortlicher Akteure. Eine soziologische Anthropologie der Grausamkeit hat deshalb die Aufgabe zu lösen, zum einen das Syndrom von Dispositionen und allgemeinen menschlichen Fähigkeiten von sozialen Akteuren näher zu bestimmen, welche mit grausamem Handeln verbunden sind. Zum anderen muss sie die Institutionalisierungs- und Deinstitutionalisierungsvorgänge, die sozialen Situationen, Interaktionen, Einrich-
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tungen und im Besonderen Organisationen untersuchen, in denen die ‚Dispositionen der Grausamkeit‘, wie ich sie nennen möchte, ihren sozialen und institutionellen Ausdruck nden. Ich beschränke mich hier auf ‚Dispositionen der Grausamkeit‘, auf die anthropologische Betrachtung.
Dispositionen der Grausamkeit Anders als für Soziologie und Sozialpsychologie, für die grausames Handeln eine abgeleitete Größe ist und die deshalb mit der Beruhigung leben können, dass die Tatsache grausamen Handelns nicht dazu zwingt, das optimistische Menschenbild der Moderne zu korrigieren, „fürchte[te]“ Montaigne, dass „die Natur selbst […] dem Menschen einen Trieb zur Unmenschlichkeit mitgegeben hat“ (Montaigne 1587/2000: 419). Diese Sorge erschien Montaigne umso richtiger, weil er seine scharfe Kritik an der Grausamkeit nicht aus irgendwelchen abstrakten Grundsätzen hergeleitet hat. Stattdessen verstand er seine tiefe Abneigung gegen die Grausamkeit als eine persönliche, idiosynkratische. Grausamkeit schien ihm schlicht seiner Natur zuwiderzulaufen und umso mehr in der Natur derer zu liegen, die „ihren Geist anspannen, um unbekannte Foltern und neue Todesarten zu ernden“ (Montaigne 1587/2000: 418). Montaignes Verzweiung über die Grausamkeit war Resultat unverstellter Beobachtung und zwingt dazu, sich ernsthaft mit jener ‚Natur‘, die er anführt, auseinanderzusetzen. Welcher Art ist die ‚Natur‘, die sich darin zu erkennen gibt, dass Menschen sich „ohne Feindschaft, ohne Vorteil, ohne anderes Ziel, als sich am ergötzlichen Schauspiel der erbärmlichen Gebärden und Zuckungen, des kläglichen Ächzens und Wimmerns eines qualvoll mit dem Tode ringenden Menschen zu weiden“ (ebd.). Unter den drei wesentlichen Dispositionen der Grausamkeit – die Entgrenzung des menschlichen Machtverhältnisses, die Faszination der Grausamkeit und das Erkunden – will ich hier nur auf die Entgrenzung des menschlichen Machtverhältnisses eingehen.
Die Entgrenzung des menschlichen Machtverhältnisses Im Popitzschen Theorem von der Entgrenzung der menschlichen Gewalt ist die Entgrenzung vierfach bestimmt: im Blick auf Täter und Opfer, situational und motivational. Hier interessiert die motivationale Entgrenzung der Gewalt, die besagt, dass Gewalt mit allen nur denkbaren Motiven verbunden werden kann. Menschen verletzen und töten aus Liebe oder Hass, Gedankenlosigkeit oder um eines politischen Zieles wegen, „für alle denkbaren Zwecke“ (Popitz 1999). Als Gewaltform ist Grausamkeit eine Ausdrucksform dieser Entgrenzung des menschlichen Ge-
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waltverhältnisses. Aber grausames Handeln ist nicht auf Gewalt beschränkt. Als Steigerung der Aktionsmacht der materiellen Schädigung kommt sie in Gestalt einmarschierender Truppen, die sich nicht damit begnügen, bei den Besiegten dieses oder jenes zu requirieren, sondern die gesamte Habe der Besiegten rauben oder zerstören und die Ausgeplünderten dem Elend und Hungertod preisgeben. Für ein Wesen, für das Zugehörigkeit lebensnotwendig und konstitutiv für die Bildung von sozialer Subjektivität ist, hat die Grausamkeit mit der Aktionsmacht des sozialen Ausschlusses vielfältige Wege, soziale und psychische Wunden zu schlagen: von der Stigmatisierung über die Isolationshaft und Versklavung bis zum Genozid, in dem alle drei Formen von Aktionsmacht akkumuliert sind. Selbstverständlich kann die Grausamkeit in unterschiedlichsten Strafformen als instrumentelle Macht auftreten – und es ist die Folter, welche für die Grausamkeit als instrumentelle Macht beispielhaft ist, auch wenn sie längst nicht in dieser Zweckhaftigkeit aufgeht. Zu den grässlichsten Formen der Grausamkeit schließlich gehört eine autoritative Macht, welche der Mächtige mittels der Marter gewonnen hat, wobei die Qual des Gemarterten so umfassend ist, dass der Gemarterte noch die Anerkennung seines Folterers sucht. Aber so wenig die Grausamkeit mit der Gewalt, so wenig fällt sie mit diesen Machtformen der Popitzschen Typologie zusammen. Die Grausamkeit, im Todestrakt des Gefängnisses im Angesicht des Todes zu leben, die Grausamkeit gezielter fortwährender Geringschätzung, die das Opfer ‚klein machen‘ soll und psychisch den Boden verlieren lässt, die grausame Verweigerung spirituellen Friedens z. B. dadurch, dass der Priester dem zu Tode Verurteilten die letzte Ölung verweigert und ihn vor dem Weg zum Schafott der Verdammnis preisgibt, der grausame ‚Schrecken der Magie‘, welche die spirituelle Furcht und die Furcht vor dem Tod zum Alltag zu machen vermag, sind Formen der Grausamkeit, die weder der Gewalt noch den Machtformen der Popitzschen Typologie zugehören. Aber nichtsdestoweniger sind sie Formen der Macht, des „Vermögen[s], sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen“ (Popitz 1999: 22), und zusammen mit den Formen der Aktionsmacht, der instrumentellen und autoritativen Macht Ausdruck der Entgrenzung des menschlichen Machtverhältnisses. Kurz: Es gibt nicht nur eine Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhältnisses. Die Entgrenzung letzteren ist Teil der Entgrenzung des menschlichen Machtverhältnisses. Unter Entgrenzung des menschlichen Machtverhältnisses verstehe ich die Disposition des Menschen, seine Macht im Sinne eines Vermögens, eines Könnens so zu steigern, dass es jene äußerste Grenze erreicht, die Popitz als Bezugspunkt für die Idee der vollkommenen Macht versteht: das „Herr-Sein über Leben und Tod“ (Popitz 1999: 53). Aber im Unterschied zu Popitz, der dieses Herr-Sein in der Macht des Tötens, in der absoluten Gewalt bestimmt, erscheint mir die Verbindung von absoluter Gewalt mit grausamem Handeln als die reinste Form der Entgren-
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zung des menschlichen Machtverhältnisses. Anders als in der Macht des Tötens, in der die „Antinomie der Machtvollkommenheit“ (Popitz 1999: 57) gegenwärtig ist, ist es der grausame Tod, in dem die Vollkommenheit der Macht ihre äußerste Steigerung erreicht. Im grausamen Tod fällt die Macht zu töten mit der Macht über das Sterben, dem verzeitlichten Tod, zusammen, so dass der Gemarterte sich nicht einmal mehr durch den Freitod seiner Unterwerfung entziehen kann. Im grausamen Tod wird jene Maßlosigkeit erreicht, die der Bezugspunkt der Grausamkeit ist und die Solschenizyns Satz von der Steigerungsfähigkeit der Marter benennt. Der grausame Tod ist die vom Streben nach Machtvollkommenheit bestimmte Antwort auf die Tatsache der Antinomie der Machtvollkommenheit. Er ist eine Art Verfügung und deshalb Triumph über die Antinomie der Machtvollkommenheit. Absolute Gewalt bringt die Idee von der Vollkommenheit der Macht hervor, wie Popitz hervorhebt. Aber der grausame Tod ist die Vervollkommnung der Idee von der Vollkommenheit der Macht. Dementsprechend wird Göttern und Gott immer auch die Eigenschaft zugeschrieben, grausam zu sein,4 ebenso wie die islamische oder christliche Hölle Orte sind, wo „das ewige Feuer“ brennt (Matthäus 18,8), „[d]ie Unseligen […] laut aufheulen und hinausschreien, und wo sie weilen, solange Himmel und Erde währen“ (Koran: 163).5 Die Hölle ist der Ort Gottes, an dem er seine Machtvollkommenheit dadurch kundtut, dass die Qual auf Dauer gestellt ist und kein Tod das Ende aller Qual bedeutet. Die Hölle ist die göttliche Form der irdischen Hölle des grausamen Todes. Schließlich wird die Vollkommenheit der Macht gerade dann verwirklicht, wenn die Grausamkeit so zweckfrei und dementsprechend unkonditioniert wie möglich ist, wenn sie nur noch auf sich selbst verweist. Deshalb das Erschrecken, das der grausame Tod des Skorpions beim Leser auslöst und vermutlich beim Sohn ausgelöst hat, dem sich das Feuer, in dem das Skorpionweibchen und seine Jungen den Tod fanden, ins Gedächtnis eingebrannt hat. Der Vater von Le Clézio hätte das Skorpionweibchen mit einem Schlag seines Pantoffels töten können. „Aber er tat es nicht“. Stattdessen quält er methodisch das Skorpionweibchen mit seinen Jungen auf dem Rücken. Deshalb die Fassungslosigkeit, in die der Leser eines Berichtes gestürzt wird, wenn er über die Qualen erfährt, die einem indianischen Kriegsgefangenen angetan worden sind. Die Motive der Gewalt sind uferlos, die Dispositionen zu grausamem Handeln sind begrenzt. Zum Satz an Dispositionen zur Grausamkeit gehört die Entgrenzung des menschlichen Machtverhältnisses. Es ist das Streben nach unbegrenzter Macht, nach der Erfahrung, uneingeschränkt Herr über einen anderen Menschen oder eine andere Kreatur zu sein. Im grausamen Handeln erfährt dieses Streben 4
In religionskritischer Tradition lässt es sich auch umgekehrt ausdrücken: Die Allmacht Gottes ist die ins Metaphysische gewendete Entgrenzung des menschlichen Machtverhältnisses. 5 Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret (1996). Stuttgart usw.: Kohlhammer (7. Au.; zuerst 1979), Sure 11.
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seine Bestätigung. Grausames Handeln ist die praktische Validierung der bis zum Tod reichenden Verletzungsmacht und Verletzungsoffenheit des Menschen. Vor allem macht der Mensch, der grausam handelt, die Erfahrung der unvergleichlichen Freiheit, eine andere Kreatur nach Belieben zu verletzen und schrankenlos über sie verfügen zu können. Es ist die Erfahrung der Freiheit und der Macht der Götter oder der Nichtkonditionalität und Machtvollkommenheit eines Gottes, über den es in der selben Sure 11 des Korans, die schon erwähnt worden ist, heißt: „Dein Herr tut (immer), was er will.“ (Koran: 163) In diesem Sinne ist Grausamkeit das bis zum Grauen gehende, aber nichtsdestoweniger fruchtlose Streben nach Vollkommenheit, das als Hybris deshalb notwendigerweise die Rache der Götter zu spüren bekommt und in der christlichen Tradition eine Todsünde ist. Grausames Handeln ist eine Anmaßung im doppelten Sinn. Sie ist erfolgreich realisierte Anmaßung, Herr über die Kreatur zu sein, die man buchstäblich ‚in der Hand hat‘, und die Anmaßung, die Götter herausfordern zu können, indem man sich ihrer Macht bemächtigt oder, um es mit den Worten eines argentinischen Folterknechtes zu sagen, die einst wie ein tödlicher Peitschenhieb auf einen über alle Maßen Gequälten niedergefahren ist und vermutlich so erbarmungslos niederfahren sollte: „Wir sind alles für dich. […] Wir sind Gott“ (Reemtsma 1991: 13). Das Streben nach Machtvollkommenheit, das die Grausamkeit bestimmt, kann zweifelsohne auf anderen, nicht destruktiven Wegen erfolgen. Der wichtigste Weg ist vermutlich der technologische. Aber in deutlichem Unterschied zu den nicht destruktiven Wegen des Strebens nach Machtvollkommenheit zeichnet sich die Grausamkeit durch ihre Egalität aus. Die Grausamkeit ist ‚demokratisch‘. Ihr Weg zur Erfahrung von Machtvollkommenheit ist keinem versperrt – es sei denn, er liegt so fern, wie er für Montaigne in seinen Augen zu liegen schien. Das nicht destruktive Streben nach Machtvollkommenheit, für die eine folgenreiche technische Erndung oder ein medizinisches Operationsverfahren stehen mögen, ist eine individuelle, im äußersten Fall elitäre, das zerstörerische Streben stattdessen eine egalitäre Angelegenheit. Zumindest als Gewalt ist die Grausamkeit eine Wirklichkeit, die von der radikalen Gleichheit in der Verletzungsmacht bestimmt ist. Es bedarf nicht einmal, die Grausamkeit zu erlernen, selbst wenn vom Folterknecht bis zum Verhörspezialisten die Grausamkeit nie der Lehrverhältnisse entbehrt hat. Wenn die Geschichte des Menschen, wie Edvard Munch in seinem berühmten, gleichnamigen Gemälde behauptet, ein einziger Schrei ist, dann ist diese Geschichte auch der Egalität der Grausamkeit zuzuschreiben. Das Solschenizynsche Diktum lässt sich abwandeln: „Zum Nachteil der Beherrschten und zum Vorteil der Herrschenden“ mangelt es den Herrschenden nie an Folterknechten, denn der Mensch ist „so beschaffen“, dass jeder jedem, „solange er lebt, immer noch etwas antun kann“.
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Methodologie und existenziales Verstehen
Zur Debatte um die Verknüpfung qualitativer und quantitativer Sozialforschung Nicole Burzan
In der Diskussion um angemessene und effektive empirische Methoden wird häug zum einen gefordert, die Methoden über die Grenzen so genannter „quantitativer“ und „qualitativer“ Forschung1 hinweg je nach Fragestellung einzusetzen. Zum anderen gibt es nach wie vor mehr oder weniger reektierte Gräben zwischen diesen beiden Forschungsrichtungen, die unterschiedliche Formen annehmen können. Diese reichen vom grundsätzlichen Dissens über mangelnde Kenntnisse der jeweils anderen Richtung bis hin zu gegenseitiger Nichtbeachtung, was auch institutionell – etwa durch unterschiedliche Sektionen in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – gestützt wird. Ob und wie sich beide Stränge verknüpfen lassen, ist dabei durchaus immer wieder von Interesse, sowohl in der Forschungspraxis als auch in der methodologischen Diskussion (s. z. B. die „mixed methods“ vor allem im angloamerikanischen Raum; vgl. z. B. Tashakkori/Teddlie 1998). Der folgende Beitrag greift einige Schlaglichter dieser Debatte auf: Erstens ist zu klären, was überhaupt unter einer Verknüpfung von Methodensträngen zu verstehen ist. Im zweiten Schritt werden zwei konkrete Vorschläge zur Methodenintegration von U. Kelle sowie von M. Schulz und M. Ruddat diskutiert, wobei ebenfalls Argumente zur Sprache kommen, die gegen eine Verknüpfung sprechen. Schließlich richtet sich ein Ausblick auf exemplarische Fragen, die zu klären sind, wenn man grundsätzlich von einer Verknüpfbarkeit quantitativer und qualitativer Methoden ausgeht.
Kombination und Integration von Forschungssträngen Zunächst einmal stellt sich die Frage, was genau unter einer Kombination von Methoden verstanden werden kann. Erstens lässt sich damit eine Methode fassen, die selbst eine Mischform quantitativer und qualitativer Elemente darstellt. Ein Beispiel ist ein nichtstandardisiertes Interview, das mit Hilfe von zuvor oder 1
Ich nutze diese gängigen Begriffe hier in pragmatischer Weise als Bezeichnungen für die unterschiedlichen Forschungsstränge, ohne dabei begründet auf gerade diese Begriffe in Abgrenzung zu anderen, die ebenfalls ihre Begrenzungen haben (z. B. interpretativ vs. standardisiert), grundsätzlich bestehen zu wollen.
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im Rahmen der Analyse z. B. nach thematischen Gesichtspunkten recht zügig festgelegten Kategorien ausgewertet wird. Qualitative Datenerhebungselemente mischen sich hier mit quantitativen Auswertungsmethoden bzw. solchen, die teilweise als qualitative Inhaltsanalyse (z. B. Mayring 2003) angesehen werden, die anderen Forschern jedoch nicht weit genug gehen in der Rekonstruktion des Kontexts und der Prozesshaftigkeit eines Sachverhalts oder eines Falls, um als qualitative Forschungslogik zu gelten. Andererseits sind sie auch keine Variante statistischer Verfahren. Jedoch kann es bei entsprechender Reexion des eigenen Vorgehens für manche (sicherlich nicht alle) Fragestellungen oder Forschungsphasen durchaus geeignet sein, eine solche Mischform zu wählen, die dann nicht unter dem – jeweils nicht ganz passenden – Label „qualitativ“ oder „quantitativ“ rmieren muss, sondern offensiv als Mischform vertreten werden könnte (so lässt sich etwa die Studie von Schöneck (2009) zum Zeiterleben Erwerbstätiger lesen). Im besten Fall können z. B. zuvor nicht antizipierte Inhalte und Zusammenhänge oder standardisiert kaum abfragbare kulturelle Selbstverständlichkeiten (etwa zur vorherrschenden Zeitkultur) erfasst werden, deren Auswertung auf ein hohes Maß an unmittelbarer Vergleichbarkeit abzielt. Ein Risiko besteht andererseits darin, vorwiegend die Schwächen statt die Stärken der verschiedenen methodischen Zugänge zu kombinieren. Der zweite Typus der Methodenkombination – der, den die entsprechenden Diskussionen im Regelfall thematisieren – ist die Verknüpfung zweier je eigenständiger Methoden, (mindestens je) einer quantitativen und einer qualitativen, die in unterschiedlichem Ausmaß aufeinander bezogen sind. Dieser Bezug reicht von einer komplementären Verknüpfung, die zwei ganz unterschiedliche Aspekte einer übergeordneten Fragestellung ergänzt, über phasenspezische Kombinationen (z. B. eine qualitative Vertiefung quantitativer Befunde oder eine Quantizierung des Vorkommens qualitativ gefundener Typen) bis hin zu einer von vornherein auf Integration beider Methoden angelegten Anwendung, die auch der gegenseitigen Validierung und damit der erweiterten empirischen Fundierung der Befunde dient (zur Triangulation vgl. Flick 2008; zur Integration auch Mayring 2001). Die komplementäre Verknüpfung stößt am wenigsten auf methodische Anwendungsprobleme, nutzt das Kombinationspotential aber auch am wenigsten im Sinne der inhaltlich-theoretischen Vertiefung und des gegenseitigen Ausgleichs methodischer Schwächen. Mit fortschreitender Integration beider Methodenstränge verhält es sich umgekehrt. Das Grundproblem besteht dann darin, bei widersprüchlichen Befunden zu erkennen, an welcher Stelle ein methodischer oder konzeptioneller Fehler vorliegt bzw. ob man tatsächlich vergleichbare Befunde vorliegen hat und nicht etwa Äpfel mit Birnen vergleicht (das Problem liegt prinzipiell auch bei sich bestätigenden Ergebnissen vor, denn es könnten ähnliche – falsche – Vorannahmen zu den entsprechenden Ergebnissen geführt haben).
Verknüpfung qualitativer und quantitativer Sozialforschung
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Ein Hinweis ist an dieser Stelle notwendig: Spricht man von der Kombination zweier Methodenstränge, so liegt die Vorstellung nahe, dass jeweils in sich relativ einheitliche Elemente vorliegen. Das gilt möglicherweise für die quantitativen Methoden, deren Verfahren vergleichsweise stärker in Form von Regeln z. B. des Ablaufs formulierbar sind – jedoch sind auch hier konkrete methodische Entscheidungen letztlich inhaltlich begründungsabhängig. Die Einheitlichkeit qualitativer Methoden steht in noch höherem Maße in Frage. Beispielsweise schreibt Hitzler, dass ein Alleinstellungsmerkmal qualitativer Methoden jenseits der Abgrenzung von quantitativen Methoden nicht existiere (Hitzler 2007: 20) und unterstützt damit Reichertz, der von Vielfalt ohne rechte Einheit ausgeht bzw. von verstärkter Kanonisierung (beispielsweise in Form von Lehrbüchern, z. B. Brüsemeister 2008; Flick/von Kardorff/Steinke 2000; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008; Rosenthal 2008) bei gleichzeitiger Zersplitterung und Beliebigkeit, insofern sich einige Forscherinnen und Forscher in grober Anlehnung an eingeführte Methoden ihr Verfahren selbst „stricken“ (Reichertz 2007: 196–197). Die Vielfalt kann allerdings auch eine Chance darstellen, wenn die jeweiligen (elaborierten) qualitativen Methoden passend zur Fragestellung eingesetzt werden (Reichertz 2007: 198). Diese fehlende Einheitlichkeit führt durchaus dazu, dass sich die Frage der Methodenkombination oder Integration noch komplexer gestaltet.
Positionen zur Methodenintegration In der Literatur nden sich nun in unterschiedlichem Maße methodologisch reektierte Argumentationen dazu, diese Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methoden umzusetzen. Zwei konkrete Vorschläge von Kelle (2007) und von Schulz und Ruddat (2008) sollen dies exemplarisch illustrieren. Kelle richtet seine Argumentation ausdrücklich methodologisch aus. Eine Überwindung des Methodendualismus ist seines Erachtens zwingend notwendig, weil der Gegenstandsbereich der Sozial- und Kulturwissenschaften Strukturen begrenzter Reichweite umfasst, die durch Wandel und Heterogenität statt durch universale Gesetze gekennzeichnet sind. Er stützt dieses Postulat durch den Bezug auf die Konzepte Erklären, Verstehen (die sich nicht gegenseitig ausschließen) und Kausalität. Hier kann nur die grobe Linie Kelles’ Argumentation nachgezeichnet werden. Danach sind Handlungserklärungen nicht vollständig aus allgemeinen Theorien ableitbar, sondern es bedarf konkretisierender Brückenhypothesen mit Gegenstandsbezug, mithin einer empirisch begründeten Theoriebildung. Beispielsweise klärt die Annahme rationalen Handelns allein noch nicht, ob jemand sich für das Zusammenleben mit Partnerin und Kindern entscheidet oder nicht. Für die Herausarbeitung der Brückenhypothesen sind laut Kelle qualitative Methoden in
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besonderem Maße geeignet. Im Weiteren kann ein – traditionell häug „qualitativ“ zugeordnetes – Verstehen von Sinn quantitativ ergänzt werden durch Analysen der Geltungsreichweite gefundener Zusammenhänge. Schließlich ist die Herstellung von Kausalbezügen ein zentrales Ziel empirischer Forschung insgesamt, egal welcher Couleur. Sowohl bei qualitativen als auch bei (selbst multivariaten) quantitativen Methoden besteht hierbei die Gefahr von Fehlschlüssen, die durch quantitative und qualitative Analysen der Fragestellung eine größere Entdeckungschance aufweisen. Kelle führt im Folgenden verschiedene sequentielle oder parallele Verknüpfungsmöglichkeiten der Methodenstränge an. Eine Variante, die verschiedene Verknüpfungsziele erfüllt und den Methoden jeweils unterschiedliche Funktionen zuordnet, ist dabei das integrierte qualitativquantitative Paneldesign. Hier sind von Vornherein mehrfache Schleifen quantitativer und qualitativer Teilstudien, teilweise mit identischen Zielgruppen, im Forschungsdesign vorgesehen. Beispielsweise – als realisiertes Beispiel führt Kelle Untersuchungen aus dem SFB 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ an – könnte eine quantitative Befragung weitere Fragestellungen generieren (etwa nach der Erklärung überraschender Befunde) und zugleich ein qualitatives Sampling in Teilen anleiten. Ein qualitativer Teil soll Deutungsmuster und Handlungsorientierungen identizieren und so Kausalzusammenhänge herausarbeiten. Die Quantizierung gefundener Typen von Handlungsorientierungen kann dann wiederum ein nächster quantitativer Teilschritt sein etc. Gleichzeitig sind dabei potentielle methodische Fehler auszuloten. Kelle lehnt in diesem Kontext eine sich ausschließende Gegenüberstellung von wechselseitiger Validierung und gegenseitiger Ergänzung ab, „die Methodenkombination führt dann zu einem umfassenderen und damit gleichzeitig valideren Bild des Gegenstandsbereichs“ (Kelle 2007: 261). Die Vorstellung eines solchen – hier nur äußerst knapp skizzierten – Forschungsdesigns ist nicht als Methodenanleitung misszuverstehen. Kelle beansprucht in seinem Buch nicht, praktische Probleme von Methodenverknüpfungen eingehend zu lösen, sondern eine methodologische Basis für solche Verknüpfungen zu schaffen, an der sich die konkrete Methodenanwendung orientieren kann. Man muss nicht in allen Punkten Kelles Argumentation zustimmen, auch müsste eine breite Anwendung zeigen, wie weit sein integratives Konzept trägt. In jedem Fall handelt es sich jedoch um ein gegenstandsbezogenes und methodologisch reektiertes Plädoyer für eine integrierte Methodenanwendung. Quasi ein Gegenbeispiel stellt der Kombinationsvorschlag von Schulz und Ruddat (2008) dar. Auf einer offensichtlich quantitativ geprägten Ausgangsbasis schlagen sie eine Form von Metaanalyse vor, die entweder stärker numerisch oder stärker intepretativ ausgerichtet ist. Als Vorbedingung ist eine hinreichende Vergleichbarkeit der Themen herangezogener quantitativer und qualitativer Studien sicherzustellen. In der numerischen Variante werden publizierte Ergebnisse ver-
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schiedener qualitativer Studien in eine mehrstuge Skala eingeordnet, beispielsweise von niedriger bis zu hoher Akzeptanz von Gentechnik, die dann statistisch weiter auf Verteilungsmerkmale etc. untersucht wird. In der interpretativen Variante sollen themenrelevante Bestandteile extrahiert und zusammengefasst werden. Dies erfolgt dadurch, dass Publikationen qualitativer und quantitativer Studien mit dem gleichen Kodierschema erfasst werden. In beiden Varianten ist allerdings eine Erhöhung der Validität der Befunde nur eingeschränkt möglich. Als Konklusion stellen Schulz und Ruddat einen Entscheidungsbaum auf, der anzeigt, unter welchen Umständen sie eher eine getrennte Analyse oder eine gemeinsame Analyse nach quantitativer oder nach qualitativer Logik befürworten würden. Beispielsweise votieren sie für eine gemeinsame Analyse nach qualitativer Logik, wenn weniger als 20 Studien vorliegen und die Fragestellung eher offen ist. In dem Kombinationsvorschlag zeigt sich erstens ein äußerst enges Verständnis qualitativer und letztlich auch quantitativer Methoden. Qualitative Befunde werden auf punktuelle eindimensionale Ergebnisse ohne jeden Kontext, ohne jede Prozesshaftigkeit, ohne jede Reexion der Rekonstruktion von Sinn reduziert. Die Reduktion auf einzelne Variablen wird zudem auch einer seriösen quantitativen Sozialforschung nicht gerecht. Zweitens werden unzulässige Vereinfachungen vorgenommen. Die Basis der Metaanalyse sind Publikationen über Studien, nicht Forschungsmaterial selbst, so dass alle Aussagen höchst indirekt auf die Befunde bezogen sind. Die Vergleichbarkeit wird dabei im Zweifel von den Autoren positiv eingeschätzt, wenngleich im Beispiel der Studien zur Risikowahrnehmung die Unterschiede „deutlich zahlreicher als die Gemeinsamkeiten“ waren (Schulze/ Ruddat 2008: 113). Was klassiziert wird, sind z. B. Ausprägungen je einzelner, recht isoliert gefasster Merkmale. Weiterhin sind die Entscheidungskriterien für eine der Verknüpfungsvarianten nicht nachvollziehbar. Warum spielt es etwa eine Rolle, ob mehr qualitative oder mehr quantitative Studien einbezogen werden? Wenn am Ende oft die eine und die andere Variante denkbar ist, welche Hilfe gibt dann der Entscheidungsbaum? (s. a. ähnlich die Kritik im Kommentar von Jungbauer-Gans 2008). Schließlich können divergierende Ergebnisse doch wieder auf einen Mangel an Validität oder alternativ auf unterschiedliche Fragestellungen der Studien hindeuten. Dass einige Forscherinnen und Forscher angesichts solcher Verknüpfungsvorschläge von Methodenkombinationen lieber absehen wollen, ist durchaus nachvollziehbar. Der Beitrag von Schulz und Ruddat in der Sozialen Welt 2008 zeigt jedoch, dass auch der neuere Diskussionsstand eines Dialogs zwischen qualitativen und quantitativen Methodenanwendungen im deutschsprachigen Raum zumindest in Teilen wohl auf diesem Argumentationsniveau stattndet. Welche Argumente sprechen über die Ablehnung von methodologisch eher wenig reek-
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tierten Kombinationsvorschlägen hinaus gegen eine Verknüpfung quantitativer und qualitativer Methoden? Reichertz’ Kommentar (2008) zum Beitrag von Schulz und Ruddat fällt ebenfalls kritisch aus, unter anderem weil diese das jeweilige Erkenntnisinteresse der Forschungsstränge nicht berücksichtigen. Aber Reichertz bezieht sich nicht allein auf diesen konkreten Kombinationsvorschlag, wenn er schreibt: „Ein Ozean trennt die beiden [qualitativen und quantitativen, N. B.] Kulturen … Quantitative und qualitative Forschung sind nicht nur durch die Methoden getrennt, sondern vor allem und wesentlich: durch die Kultur, deren Ausdruck die Methoden sind“ (Reichertz 2008: 132). Kultur meint hier einen Bedeutungsrahmen, unter anderem erkenntnistheoretische Grundlagen der Forschung. Diese reichen bis zu grundsätzlichen Fragen, etwa inwieweit der Forschungsgegenstand existiert bzw. situativ immer wieder neu konstruiert wird. Nach Reichertz benötigte man zunächst eine Sprache, in der „Fragen und Probleme aus einer neutralen und übergeordneten Perspektive formuliert werden könnten“ (Reichertz 2008: 132, Herv. i. O.). Ob dies gelingen kann, ob beispielsweise Validität nicht immer schon die Konnotation einer messtechnischen Gültigkeit hat, sieht er eher skeptisch. Vorsichtigen Optimismus äußert er dagegen für einen ersten, Verknüpfungen vorbereitenden Schritt, der darin besteht, zunächst einmal darüber nachzudenken, wie Forschungsfragen, die an bestimmte Methoden gebunden sind, sinnvoll miteinander verknüpft werden können. Insofern verschließt sich Reichertz nicht prinzipiell einer Aufgeschlossenheit für Methodenverknüpfungen und verweist auf einen Punkt, den auch Kelle als zentral herausstellte: Seriöse Überlegungen zu Methodenverknüpfungen müssen sowohl den Forschungsgegenstand als auch methodologische Grundlagen reektieren. Bereits in anderen Zusammenhängen ist immer wieder darüber nachgedacht worden, ob bzw. wie die in der quantitativen Forschung explizierten Gütekriterien – Gültigkeit, Zuverlässigkeit, Repräsentativität, Intersubjektivität – auf qualitative Methoden übertragbar sind, wodurch potentiell kleinste gemeinsame Nenner generiert werden könnten. Eine simple Übertragung ist jedenfalls aufgrund der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Erkenntnisziele nicht möglich, stattdessen werden Reformulierungen diskutiert, alternativ jedoch auch entweder eigene Kriterien (z. B. kommunikative Validierung, d. h. die Bewertung der Ergebnisse durch die Forschungsteilnehmer/innen) oder die Ablehnung übergreifender Gütekriterien für qualitative Forschung insgesamt (vgl. Steinke 2000: 319–321; zu klassischen und erweiterten Gütekriterien in der qualitativen Forschung auch Przyborski/WohlrabSahr 2008: 35–48). Steinke spricht sich für ein System mehrerer Kernkriterien aus, die jeweils untersuchungsspezisch zu konkretisieren sind. Diese Kriterien lauten intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Indikation (Gegenstandsangemessenheit) des gesamten Forschungsprozesses, empirische Verankerung, Limitation (Festlegung des Geltungsbereichs), Kohärenz der entwickelten Theorie, Relevanz sowie reek-
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tierte Subjektivität der Forschenden (Steinke 2000: 324–331). Auf ihrer Grundlage entscheiden die Forschenden und auch die Rezipienten der Untersuchung, ob das „‚bestmögliche‘ Ergebnis“ (Steinke 2000: 331) erzielt wurde. In der Forderung nach untersuchungsspezischer Konkretisierung liegt dabei eine Chance, auch mit quantitativer Forschung in einen Dialog zu treten. Beispielsweise besteht ein Ziel sowohl qualitativer als auch quantitativer Forschung darin, einen gewissen bzw. bestimmbaren Grad an Verallgemeinerbarkeit der Befunde zu erzielen. Die Mittel der Verallgemeinerung unterscheiden sich allerdings im Weiteren – quantitative Untersuchungen arbeiten mit möglichst repräsentativen Stichproben, qualitative Methoden z. B. mit Fallkontrastierung, um eine theoretische Sättigung herausgearbeiteter Typen zu erreichen. Eine traditionell häug geäußerte Kritik an qualitativer Forschung, dass sie nicht repräsentativ sei, kann so prinzipiell entkräftet werden, da das Gütekriterium in der bestimmbaren Geltungsreichweite besteht und nicht in dem für die quantitative Forschung spezischen Hilfsmittel der repräsentativen Stichprobe. Dieser verhaltene Optimismus bedeutet nicht, dass es keine Schwierigkeiten dabei gäbe, gemeinsame Nenner quantitativer und qualitativer Forschung zu formulieren. Unter anderem besteht eine Herausforderung darin, gerade solche erkenntnistheoretischen Annahmen, die eher unreektiert mit Begrifichkeiten und Verfahrensregeln verbunden sind, zu explizieren und die Grenzen der Verknüpfbarkeit auszuloten. Ein Weg dahin führt neben methodologischen Überlegungen und der von Reichertz vorgeschlagenen Diskussion der Verknüpfbarkeit von Forschungsfragen über die reektierte Anwendungspraxis von Methodenkombinationen. Methodische und methodologische Probleme können auf diese Weise zunächst gegenstandsbezogen analysiert werden, so dass im besten Fall eine Hin-und-herBewegung zwischen reektierter Anwendung von Methodenkombinationen und grundsätzlichen Erkenntnissen zur Verknüpfbarkeit der Forschungsstränge entsteht.
Zu Herausforderungen methodenintegrativer Forschung In einem Ausblick stellt dieser Beitrag exemplarisch einige methodische Herausforderungen vor, die sich auf der Basis der Annahme einer grundsätzlichen Verknüpfbarkeit der Forschungsstränge stellen können. Zu diesem Zweck wird beispielhaft nochmals auf phasenspezische Kombinationsvarianten zurückgegriffen. Eine Variante der phasenspezischen Kombination besteht in der quantitativen Analyse der Häugkeit und Verbreitung qualitativ gefundener Typen: In welchem Ausmaß und wie lassen sich komplexe Typen z. B. in standardisierte Fragebogenitems übersetzen? In einer eigenen Studie zur Zeitgestaltung älterer Menschen, die mit Leitfadeninterviews arbeitete (Burzan 2002), gab es beispielsweise einen
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Typus, der mit der vermeintlich unproduktiven Zeit in der Rentenphase Probleme hatte. Diese Probleme äußerten sich jedoch nicht in manifester Unzufriedenheit und Langeweile, sondern z. B. in einem hohen Aktivitätsgrad, der deshalb als prekär zu kennzeichnen war, weil er an spezische Bedingungen gebunden war (z. B. renovierte ein Befragter intensiv sein Haus und gestaltete den Garten um, wofür neben nanziellen Mitteln z. B. auch eine gute Gesundheit notwendig ist; zu dieser produktiven Tätigkeit gab es für den Befragten kaum eine sinnvolle Alternative). Nun hat nicht jeder Heimwerker Probleme mit sinnhaft verbrachter Zeit, andererseits würde soziale Erwünschtheit in hohem Maße greifen, wenn man dieses Phänomen über oberächliche Aussagen hinaus direkt erfragen wollte. Eine „Übersetzung“, die dazu individuelle Ausprägungen eines Typus auf einen Nenner bringt, ist also nicht in jedem Fall problemlos umzusetzen. Bei der anderen Variante der phasenspezischen Kombination werden quantitative Befunde qualitativ vertieft; Kelle (2007) nennt hier z. B. die Möglichkeiten, dass quantitative Studien ein qualitatives Sampling in Teilen anleiten oder dass überraschende Befunde qualitativ erklärt werden: Ein Problem besteht hier darin, dass quantitative Methoden so ausgerichtet sind, dass möglichst systematisch Hypothesen geprüft werden. Im Rahmen der deduktiven Vorgehensweise ist es gerade konstitutiv, dass die Forschenden ihre Aufmerksamkeit auf spezische Aspekte lenken. Wie können sich die Forschenden aber unter diesen Bedingungen für „Überraschungen“ sensibilisieren, die sich nicht nur auf hypothesennahe Irritationen richten? Weiterhin setzt die Anleitung des qualitativen Samplings durch quantitative Besonderheiten und Zusammenhänge voraus, dass die quantitative Datenerhebung im Idealfall bereits alle zentralen Merkmale berücksichtigt hat, die die Heterogenität des untersuchten Gegenstands ausmachen. Dies ist jedoch keinesfalls als selbstverständlich vorauszusetzen. Diese Beispiele können für methodische Herausforderungen der Methodenkombination sensibilisieren, jedoch keine allgemeinen Lösungen quasi auf dem Tablett präsentieren; dazu sind weitere empirische Forschungen und theoretischmethodologische Reflexionen notwendig. Jedoch soll abschließend auf eine zentrale Vorbedingung hingewiesen werden, die eine zielführende Diskussion erst ermöglicht: Es bedarf einer soliden Ausbildung von Forschenden in beiden Forschungssträngen sowie in übergreifenden methodischen Kompetenzen – denn wie sollte man über Verknüpfungen nachdenken können, wenn man nicht beide Elemente und ihre zugrundeliegende Logik eingehend kennt? Ein Problem, das bereits bei der Anwendung nur einer Methode auftritt, potenziert sich hier. Przyborski und Wohlrab-Sahr formulieren das Problem am Beispiel der qualitativen Forschung so: „Qualitative Studien, die letzten Endes versuchen, den Nachweis einer Korrelation zwischen bestimmten Merkmalen zu erbringen, verschenken die Möglichkeiten rekonstruktiver Forschung und pervertieren zu einer Schrumpfform
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quantitativer Forschung“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 19). Auch übergreifende methodische Kompetenzen gilt es zu trainieren, bevor man über Verknüpfungslogiken nachdenkt. Beispielsweise ist es sowohl für die qualitative als auch für die quantitative Forschung unabdingbar, in der Praxis aber dann doch nicht immer so selbstverständlich, sich über eine (vorläuge) Problemstellung klar zu werden bzw. sein Erkenntnisinteresse zu reektieren und nicht nur ein Thema wie z. B. „Sporttreiben“ zu bearbeiten. Bei beiden Forschungssträngen führt ein Übergehen dieser forscherischen Kompetenz zu Datenfriedhöfen; sie nehmen lediglich unterschiedliche Formen an, seien es z. B. detaillierte Paraphrasen eines Interviews oder zahlreiche Tabellen und Abbildungen. Das Plädoyer für eine Kompetenzbildung in beiden Methodensträngen impliziert nicht, dass Forschung mit nur einer speziellen Methode nicht je nach Fragestellung schlicht angemessen wäre oder dass Forscher sich nicht auf bestimmte Methoden und ihre Weiterentwicklung spezialisieren sollten – jedoch sollten sie es vor dem Hintergrund eingehender Methoden- und Forschungskenntnisse tun. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine für den gesamten methodischen Werkzeugkasten offene empirische Forschung nach wie vor relativ am Anfang steht. Unter der Voraussetzung einer breiten und intensiven methodischen Ausbildung der Forschenden sowie der Perspektive auf methodologische und gegenstandsbezogene Reexion empirischer Forschung erscheinen die Gräben zwischen qualitativer und quantitativer Forschung allerdings zumindest verkleinerbar. Dies wäre der Erforschung komplexer sozialer Zusammenhänge wie beispielweise Formen und Prozessen „fragiler Sozialität“ zu wünschen.
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Sozialität und Leidenschaft Reiner Keller
„Das Unlogische notwendig / Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweiung bringen können, gehört die Erkenntnis, daß das Unlogische für den Menschen nötig ist, und daß aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in allem, was dem Leben Wert verleiht, daß man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen“ (Friedrich Nietzsche, Menschliches. Allzumenschliches. /31/ [1878]).
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Soziologie und Leidenschaft
Für alle Klassiker der Soziologie als „Wirklichkeitswissenschaft“ (Max Weber) war evident, dass sich ihr Gegenstand über Nicht-Logisches oder Affektivität (mindestens) ebensosehr konstituiert wie über Zweckrationalität. In ihren Werken haben sie in sehr unterschiedlicher Weise „die Bedeutung nicht-logischer Praxis für die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit“ (Hitzler 1988: 5) zum Thema gemacht. Betrachtet man dagegen die nach-klassische Soziologie, so scheint sie sich eher schwer zu tun mit der Beobachtung, dass wir „in unsere Gefühle in gleicher Weise verstrickt [sind] wie in unser Wissen“ (ebd.: 36). Nimmt man diese Feststellung ernst, so sollte es keine Soziologie der Organisationen, der Arbeitsbeziehungen, der sozialen Ungleichheiten, der Familie, der Jugend, des abweichenden Verhaltens usw. geben, die nicht Logisches und Nicht-Logisches zugleich in den Blick nimmt. Doch dies ist offensichtlich nicht der Fall. Ob die gegenwärtig anhebende Soziologie der Emotionen dies zu korrigieren vermag, oder ob sie den herkömmlichen Bahnen der Analyse von Funktionalisierungen und/oder kapitalistischen Überformungen sowie Destruktionen des Gefühlslebens folgt, bleibt abzuwarten. Auch da, wo die zeitgenössische Erlebniskultur und ihre Erlebnisszenen in den Blick genommen werden, kreisen die soziologischen Beiträge in erster Linie um die Frage der (kommerziellen) Produktion und Organisation des Außeralltäglichen im Zusammenspiel von Veranstaltern und Publikum. Die mitunter ekstatischen Erfahrungen des Erlebens selbst lassen sich nur schwer in
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soziologische Worte fassen. In ihrer kürzlich veröffentlichten kulturhistorischen Studie über die Geschichte der „collective joy“ stellt Barbara Ehrenreich der Soziologie insgesamt ein entsprechend negatives Zeugnis aus: „One might expect that sociology, which ordinarily deals with groups larger than two, would have some insights to offer into the phenomenon of collective ecstasy. But where psychology found only illness and irrationality, sociology has tended, in recent decades anyway, to go too far in the other direction, interpreting group behavior as an entirely rational and self-interested undertaking on the part of each participant“ (Ehrenreich 2007: 16).
Helmuth Plessner diagnostiziert die Ausgrenzung der Befassung mit Leidenschaften – und dazu möchte ich vorläug auch das Begehren nach „kollektiven Ekstasen“ rechnen – aus den Wissenschaften als Prozess des 19. Jahrhunderts, der wesentlich an die neue naturwissenschaftliche Ausrichtung der Psychologie einerseits, deren Trennung von einer erfahrungsfernen Philosophie andererseits gebunden war: „Für eine so spezisch menschliche Größe wie die Leidenschaft, die sich nur im Blick auf den ganzen Menschen, seine Natur und Unnatur sichtbar machen läßt, boten die Versuchsbedingungen des Laboratoriums keinen Raum. (…) Die Philosophen wieder um, auf Reinheit und Unabhängigkeit von aller Erfahrung bedacht, zogen sich von allem zurück, was dem Urteil der Psychologie überlassen werden sollte. (…) [So] sah sich das Thema der Leidenschaft in das Gebiet des Imaginären und des Exorbitanten, um nicht zu sagen des Krankhaften, verwiesen (…)“ (Plessner 1983: 67).
Schon Montaigne warnte: „Der Leidenschaft bedient sich, wer sich der Vernunft nicht zu bedienen weiß“ (Montaigne 1998: 509). Das war nicht unbedingt auf die entstehenden Wissenschaften gemünzt, sondern sehr viel genereller auf die strategische Verfolgung verschiedenster weltlicher Interessen. Für Kant war der Affekt ein momentaner Verlust der Selbstherrschaft, die Leidenschaft aber verderbliche Sucht – er nennt Ehrsucht, Rachsucht, Herrschsucht, Habsucht, Freiheits- und Geschlechtsneigung – zwar lustspendend, aber grundsätzlich und unauöslich böse, moralisch verweriche Hingabe an die Selbstversklavung: „Die dem Subjekt zur Regel (Gewohnheit) dienende sinnliche Begierde heißt Neigung (inclinatio). – Die Neigung, durch welche die Vernunft verhindert wird, sie, in Ansehung einer gewissen Wahl, mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen, ist die Leidenschaft (passio animi). Man sieht leicht ein, daß Leidenschaften, weil sie sich mit den ruhigsten Überlegungen zusammenpaaren lassen, mithin nicht unbesonnen sein dürfen, wie der Affekt, daher auch nicht stürmisch und vorüber-
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gehend, sondern sich einwurzelnd, selbst mit dem Vernünfteln zusammen bestehen können, – der Freiheit den größten Abbruch tun, und wenn der Affekt ein Rausch ist, die Leidenschaft eine Krankheit sei, welche alle Arzeneimittel verabscheut und daher weit schlimmer ist, als alle jene vorübergehende Gemütsbewegungen (…) Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar“ (Kant 1977: 599 f.; vgl. ebd. 599 ff.).
Die Zügelung der Leidenschaften, insbesondere die Verwandlung der sündigen Habgier in das nützliche Interesse durchzieht als historischer Prozess das 17. und 18. Jahrhundert (Hirschman 1980). Einen ähnlichen Weg durchläuft der „Wille zum Wissen“ (Michel Foucault), der noch bei Nietzsche als „Wille zur Macht“ apostrophiert war, und dann in den methodologisch-methodischen Reinigungen bei Durkheim oder Weber als leidenschaftsloses Erkenntnisstreben der Soziologie in wissenschaftliches Erkenntnisinteresse mündet. Auch in der soziologischen Schwierigkeit, sich mit den Gefühlen und Leidenschaften, mit Begehren, Begierden und Gelüsten, mit dem Lieben und dem Hassen in ihrer konstitutiven Rolle für menschliche Sozialität zu befassen, kommt gewiss eine (notwendige?) Begrenzung des wissenschaftlichen (Fach-)Diskurses zum Ausdruck, die, mag sein, ihre Wurzeln in seiner Selbstetablierung als einer Sozialwissenschaft ndet, die leidenschaftslos ihrem Gegenstand sich nähert. Das ist der Weg, der die Scheidelinie bei Scheler oder Simmel anlegt, ihre lebensphilosophischen Positionen von ihren Soziologien trennt und sich bei Durkheim oder Weber als breite Bahn des soziologischen Denkens entfaltet: als eines rationalen Zugangs zu gesellschaftlicher Realität. Das bedeutet keineswegs den Verzicht auf Engagement in der Sache. Wie wir über Weber zur Genüge wissen, war er ein leidenschaftlicher Denker, und gleiches lässt sich von Durkheim sagen (Fournier 2007). Tatsächlich kommt hier eine Unterscheidung zum Ausdruck zwischen einer Sache – dem Objekt des Willens zum Wissen – und der Stärke oder Art des Engagements, das sich auf die Sache richtet. Leidenschaft und Leidenschaftslosigkeit schließen sich also in der Soziologie keineswegs aus – im Gegenteil: es macht wohl gerade die spürbare Leidenschaft, die in einem Werk enthalten ist, sein Interesse aus. Leidenschaftlich soziologisieren – wie es etwa der Jubilar dieses Bandes so eindrucksvoll immer wieder aufs neue tut – ist das, was das Fach mehr als nötig hat. Das geht zusammen mit der Attitüde der „künstlichen Dummheit“ (Hitzler 1988: 19), d. h. einer unvoreingenommenen Betrachtung ‚der Sache selbst‘, für die schon Weber, Durkheim, Thomas oder Park auf ihre je eigene Weise plädierten. Leidenschaftliche Soziologie unterscheidet sich von Religion, Moralisieren und Politik dadurch, dass sie die Leidenschaft für ihren Gegenstand im Moment ihrer Praxis einklammert: egal ob etwas herrlich, hässlich, sündig, schädlich oder böse
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ist, es sollte dennoch vorbehaltlos in seinem Bestehen untersucht werden. Was keineswegs die Existenz und Notwendigkeit erkenntnisleitender Einüsse und Fragestellungen bestreitet, aber dennoch die Moral und die Politik außen vorlässt. Leidenschaftliche Soziologie, ‚Soziologie als Berufung‘, unterscheidet sich von ‚Soziologie als Beruf‘ und ‚Dienst nach Vorschrift‘ wie eine Passionsfrucht von einer Hollandtomate (im Winter).
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Das obskure Objekt der heroischen Leidenschaft
Nicht zufällig focht Max Weber für das gerade erwähnte Verhältnis von Soziologie und Leidenschaft (und stellte ihm kontrastierend dasjenige der Politik gegenüber). Die Weber attestierte „Leidenschaft des Denkens“ (Radkau 2005) ist ein Beispiel für das, was man den heroischen Typus der Leidenschaft nennen könnte. So sah Weber das auch selbst: „Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann“ (Weber 1967: 12). Plessner (1983) hat wohl ein ähnliches Bild der Leidenschaft im Blick, auch wenn er ganz grundsätzlich die Leidenschaftlichkeit des Menschen in dessen unbestimmtem Weltverhältnis verankert sieht. Gewiss bestehen Schwierigkeiten, leidenschaftliche Ergriffenheit von anderen Formen „affektiver, getriebener und süchtiger Bewegtheit“ abzugrenzen. Plessner weist, gegen Kant um die Ehrrettung der Leidenschaft und ihre Trennung von den Süchten bemüht, darauf hin, dass bei der Leidenschaft die Anerkennung durch die Anderen weniger auf das jeweilige Feld oder Objekt gerichtet ist. Leidenschaftlich lässt sich die Soziologie ebenso betreiben wie das Tennisspiel, das Briefmarkensammeln, die Politik, das Salsa-Tanzen oder das Wandern. Die Anerkennung bezieht sich immer auf die Art und Weise, die Qualität des Engagements selbst. Auch der Tennisspieler und der Briefmarkensammler werden durch diese bekundete oder attestierte Leidenschaft, durch die Stärke oder Intensität ihres Investierens in die Sache geadelt. Während sich der Trunksüchtige, der Rauchsüchtige an ihr Suchtobjekt versklaven, folglich ‚klein werden‘, führe – so Plessner – die echte Leidenschaft deswegen zu einer Erhöhung des Menschseins, ganz unabhängig von ihren Folgen. Der Respekt „weiß um den Unterschied edler und niedriger, sinnvoller und sinnloser Leidenschaften, aber er stört sich nicht daran, wenn sie nur echt sind. Die Leidenschaftlichkeit eines Strebens, eines Tuns, eines Genusses, einer Hingabe und Ergriffenheit, sie selbst als solche erzwingt Achtung in jedem Falle, denn in welcher Verzerrung und Übersteigerung auch und gerade in ihr scheint das Menschliche, vor dem wir uns beugen“ (Plessner 1983: 70).
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Gewiss gibt es gesellschaftliche Hierarchien der Objekte und Werte, auf die sich solche Leidenschaften richten. Manche bieten sich dazu eher an als andere. Doch der Grenzfall der „Leidenschaft zum Irrelevanten“ ist keineswegs ausgeschlossen. Und auch das ist ein Beispiel der heroischen, und dann vielleicht auch tragischen Leidenschaft. Die Trennung zwischen der Leidenschaft und ihrem Objekt ermöglicht zudem die erwähnte Leidenschaft zum Leidenschaftslosen, zur Askese, zum „kühlen Urteil“, zur Objektivität und nichts als Objektivität der wissenschaftlichen Wahrheit. Doch immer verbindet sie „Freiheitsverlust“ und „Entschränkung und Enthemmung der eigenen Person“. Ihre trotz aller Abgrenzungen bestehende Nähe zum Wahn, zum Zwang, zur Sucht befördern den Verlust der Selbstkontrolle. Zur heroischen Leidenschaft kann man sich nicht entschließen, man ist von ihr ergriffen, sie reißt einen „von sich fort und auf ein ‚höheres‘ Niveau“. Deswegen resultiert daraus ein ‚über sich hinauswachsen‘. Das lässt sich nicht einfach als gesteigerte „Erfüllung“ begreifen, denn es erscheint sowohl im Positiven wie im Negativen. Was in beidem bleibt, ist die Steigerung, die uns neue Möglichkeiten unserer selbst eröffnet: „Den Leidenschaftlichen (…) zieht das Objekt, das Gewalt über ihn hat, durch seine Möglichkeiten aus sich heraus und von sich fort und gewährt ihm eben darin ein Glück, dessen Außerordentlichkeit jede Katastrophe aufwiegt“ (ebd.: 74).
In Plessners Analyse kommt zweifellos eine hohe Wertschätzung für die Außergewöhnlichkeit des leidenschaftlichen Menschen zum Ausdruck. Festgehalten werden kann zudem, dass es sich auf den ersten Blick um eine Verankerung der Leidenschaftlichkeit in einer Art intrinsischer Motivationsstruktur handelt. Letztere scheint ein knappes Gut zu sein – nur so kann sie sich heroisch aus der banalen Vollzugswirklichkeit der Leidenschaftslosen herausheben. Und doch wird ihr attestiert, die besondere Würze einer menschlichen Existenz auszumachen. Eine solche Fähigkeit zur Leidenschaft ist begehrens- und beneidenswert. Auf den zweiten Blick zeigt sich dann, dass diese Leidenschaft tatsächlich in einer relationalen Beziehung zwischen einem empndenden, investierenden Individuum und einem ihm gegenüber stehenden, mehr oder weniger ersetzbaren Sachverhalt, Objekt oder Subjekt liegt. Denn ohne ein solches Gegenüber läuft Leidenschaft ins Leere. Rainer Paris hat vor einigen Jahren einen stärker analytischen Zugang zu den heroischen Leidenschaften vorgeschlagen und dabei die bei Plessner enthaltenen Überlegungen systematisiert (Paris 2009). Vier Merkmale sind es, die er festhält: „1. die emotionale Qualizierung und Lebensintensität, 2. Objektbezug, 3. Übersituativität/Dauerhaftigkeit, 4. Hierarchisierung von Sinn als Herausbildung einer biographischen Zentralität“ (ebd.: 2). Der Begriff der Leidenschaft verweise so zum einen auf eine emotionale Intensität und Begleitung eines Tuns, die der
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Ausführung unserer Intentionen eine besondere, nicht alltägliche Qualität verleiht: „Ob leidenschaftliche Liebe, Hass oder Eifersucht, extremer Ausdauersport oder Sammelleidenschaft – das übergreifende Kennzeichen ist stets: Intensität“ (ebd.: 2). Leidenschaften richten sich, wie erwähnt, auf ein Objekt, und sie werten den Weg (zu) seiner Verfolgung sehnsuchtsvoll auf. Doch handelt es sich hier keineswegs um ein situatives Begehren oder situative Begierden. Von Leidenschaft ist vielmehr dann die Rede, wenn eine intensive Färbung ausholender Handlungsvollzüge oder Laufbahnen bis hin zur dauerhaften „Charakterprägung“, zur permanent erregten Justierung unserer Gefühlsorientierung und Identität in der Zeit und im Raum sich einstellt. Wo Zorn mit Zeit vergeht, bleibt der Hass bestehen. Situative Intensität des Erlebens ist deswegen zwar hinreichend zur Rede von „Erlebnisgesellschaft“, aber nicht ausreichend, um als Ausdruck einer Leidenschaft gewertet zu werden: „Die rastlose Steigerung von Intensität und Erregung, die sich an wechselnden Situationen und Aktivitäten festmacht und deren Inhalte austauschbar sind, all dieses Gebaren postmoderner Kasper ist keine Leidenschaft. Es verhält sich zu wirklicher Leidenschaft wie ein Event zum Fest“ (Paris 2009: 4).
Leidenschaften haben schließlich Auschließlichkeitscharakter. Sie hierarchisieren unsere Relevanzstrukturen zu klaren Eindeutigkeiten, was wir zu tun und zu lassen haben, egal ob dies als Passion oder als Obsession in Erscheinung tritt. Dem Reiz der Ausübung ungezügelter Leidenschaft kann jedoch – so Paris – die Mäßigung als zivilisatorische Errungenschaft gegenüber gestellt werden. Auch bei Paris ist also von der heroischen Leidenschaft die Rede, von der Bürde einer personbezogenen Gesamtantriebsstruktur, die wiederum als Resultat einer Wechselwirkung, einer Energieerzeugungsmaschine zwischen ihrem Gegenstand und einem Aktivitätsagenten gelesen werden kann (vielleicht zur Freude der Aktor-Netzwerk-Theorie?). Wie verhält sich heroische Leidenschaft zur Sozialität? Zunächst konstituiert sie wohl ein existenzielles Einsamkeitsverhältnis und eine daran geknüpfte Motivgrammatik zwischen dem intensiv erlebenden Ich und dem obskuren Gegenstand seiner oder ihrer Begierde. Das kann zwar Anlass zur Bewunderung durch andere bieten, gar zum Ruhm. Doch wahre heroische Leidenschaft hat diese Form der Anerkennung wohl nicht nötig, genügt sie sich doch selbst. Und ungeachtet aller Hinweise von Karin Knorr-Cetina auf „Interobjektivität“ vermute ich, dass dies doch ein sehr einseitiger Prozess bleiben wird, sofern der Gegenstand ein ideelles oder materielles Sachobjekt darstellt. Ob die Briefmarke für ihren Sammler Leidenschaft empndet, kann wohl nur in der Gesellschaft der Briefmarken hinreichend geklärt werden. Nicht immer ist jedoch der/die Leidenschaftliche mit seiner/ihrer Leidenschaft alleine. Ein erster Schritt zur Sozialität nicht mit Dingen, sondern mit menschlichen Anderen bietet der Club der Leidenschaftlichen, d. h. die aus
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den unterschiedlichen Begehren, die sich auf ein Objekt, eine Erkenntnis, ein Tun, ein Projekt richten, entstehende Möglichkeit der vereinsbildenden Geselligkeit. Mit anderen sich über seine Leidenschaften austauschen, gemeinsamen Leidenschaften frönen, nicht nach dem Modell des „großen Fressens“ oder der faschistoiden „120 Tage“, sondern vielleicht eher nach demjenigen der Käferfreunde, die ihre blankgeputzten Automobile über tausende Kilometer bewegen, um sich dann im Nirgendwo als Endlosschlange der Käferliebhaber zu einem bunten, ratternden Autokorso zu verbinden. Und schließlich muss der Fall in Rechnung gestellt werden, dass zwei (oder drei oder vier oder mehr) sich begegnen und verbinden in leidenschaftlicher Liebe oder leidenschaftlichem Hass. Dass sich also das Objekt des leidenschaftlichen Begehrens als Subjekt entpuppt, das dem Fremdbegehren ein eigenes entgegensetzt. Wo heroische Leidenschaft sich auf personale Andere richtet, befördert sie gewiss die Sozialität. Fraglich bleibt dabei allenfalls, ob das von Paris genannte Kriterium der Dauer hier zu überzeugen vermag. Für Liebe belegen dies wohl eher die großen Romane, also imaginäre Projektionen; für den Hass mag sich dies anders verhalten. Vielleicht ist deswegen die auf eine Sache, ein Projekt, eine Idee gerichtete Leidenschaft die enttäuschungsresistentere Variante. Die heroische Leidenschaft ist ein Merkmal des Großen, des Außer-Gewöhnlichen. Doch ist damit das Gebiet der Leidenschaften tatsächlich erschöpfend behandelt? Lassen sich nicht in den Nischen des modernen Alltagslebens ganz gewöhnliche und auch üchtige Leidenschaften konstatieren? Kann es nicht leidenschaftliches und zugleich situativ situiertes Emp nden von Liebe, Hass, Eifersucht, Freude, Ekstase geben? Lässt sich nicht ein ganzes Spektrum ‚banaler Leidenschaften‘ ausmachen, das unseren Alltag durchzieht? Sind da nicht andere Früchte, zwischen Passion und Hollandtomate? Die Spur, der ich im letzten Punkt folgen möchte, führt in die französische Soziologie, die stärker als ihr deutsches Gegenüber sich der banalen Leidenschaften angenommen hat.
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Im Reich der banalen Leidenschaften?
Vor 25 Jahren betonte der französische Soziologe Edgar Morin in seiner Studie über „Das Rätsel des Humanen“ die Doppelgesichtigkeit des Menschen als homo sapiens und homo demens, als Wesen, das produktiv, technisch, konstruktiv, ängstlich, genießend, ekstatisch, singend, tanzend, wandelbar, subjektiv, imaginär, mythologisch, krisenhaft, neurotisch, erotisch, hybrid, bewusst, unbewusst, magisch und rational sei (Morin 1974: 175): „Der erwachsene sapiens ist imstande, seine Tränen zurückzudrängen und sein Lachen zu zügeln, doch die [kindliche] Heftigkeit des Lachens und Weinens bleibt
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Reiner Keller ihm erhalten, und man muß diese Eigentümlichkeit in Beziehung setzen zu anderen psychisch-affektiven, ausbruchartigen Erscheinungen, die in einer rationalistischen Anthropologie des homo sapiens merkwürdigerweise vergessen wurden: seine Bereitschaft einerseits zur Lust, zum Rausch, zur Ekstase, andererseits zum Zorn, zur Wut, zum Haß. (…) Sehr selten hat man sich über das Erdbebenhafte der menschlichen Lustempndung Gedanken gemacht. Doch kann man sich keine Fundamentalanthropologie vorstellen, die nicht dem Fest, dem Tanz, dem Lachen, den Konvulsionen, den Tränen, der Lust, dem Rausch, der Ekstase ihren Platz einräumte. (…) Nimmt man all diese Merkmale zusammen (…), dann erkennt man deutlich, daß sapiens nicht durch eine Beschneidung der Affektivität zugunsten der Intelligenz, sondern im Gegenteil durch eine wahrhafte psychisch-affektive Eruption und selbst durch das Auftreten der Hybris, der Maßlosigkeit charakterisiert ist. Diese Maßlosigkeit äußert sich auch in Wut, Mord und Zerstörung (…)“ (Morin 1974: 129 f.).
Obwohl auch bei Morin in der Grundsätzlichkeit, mit der er das Nicht-Logische als Konstituens des Menschlichen beschreibt, eine gewisse Erhöhung mitklingt, so möchte ich doch behaupten, dass er damit einen Typus der banalen Leidenschaften in den Mittelpunkt rückt. Im Zusammenhang von Lachen, Lust, Rausch, Ekstase, Wut und Hass kommen menschliche Gefühlslagen zur Sprache, die einerseits gesucht, ersehnt, begehrt werden können, die andererseits überraschen, überkommen, überwältigen. Die Struktur dieser Affektivität erfüllt wohl drei der vier Merkmale, mit denen Paris die heroischen Leidenschaften auszeichnete. Auch hier geht es um Intensitäten des Erlebens, um einen Objektbezug des Sehnens oder überwältigt sein, und um eine in Gestalt von Wiederholbarkeit oder ‚kleinerer Dauer‘ sich einstellende Übersituativität. Im Kontext der französischen Diskussion lieferte natürlich die Durkheimsche Religionssoziologie wichtige Stichworte: In der eruptiven Rauscherfahrung der Corrobori-Feste liegt die Grundlage der Integration der australischen Stämme (Keller 2006: 41 ff.). Schon Durkheim sprach davon, dass solche Phänomene keineswegs nur in einfachen Stammesgesellschaften zu beobachten seien, im Gegenteil – sie können auch in unseren modernen Gesellschaften allenthalben ausgemacht werden: „Innerhalb einer Ansammlung, die eine gemeinsame Leidenschaft erregt, haben wir Gefühle und sind zu Akten fähig, deren wir unfähig sind, wenn wir auf unsere Kräfte allein angewiesen sind“ (Durkheim 1984: 289). Er führt entsprechende moderne Beispiele an: Parteien rufen Versammlungen ein, um den gemeinsamen Glauben zu bezeugen und zu beleben; sogar ganze historische Perioden lassen sich ausmachen, „in denen die sozialen Interaktionen unter dem Einuß großer kollektiver Erschütterungen häuger und aktiver werden. Die Individuen streben zusammen und sammeln
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sich mehr als jemals. Daraus entsteht eine allgemeine Gärung, die für revolutionäre oder schöpferische Epochen kennzeichnend ist. (…) Die Veränderungen sind nicht mehr nur Gradunterschiede; der Mensch wird anders. Die Leidenschaften, die ihn erschüttern, sind derart heftig, daß ihnen nur mit gewalttätigen und unmäßigen Handlungen Genüge getan werden kann: mit Heldentaten oder blutrünstiger Barbarei. (…) Die Erregung wird manchmal derart stark, daß sie zu unerhörten Akten verführt. Die entfesselten Leidenschaften sind so heftig, daß sie durch nichts mehr aufgehalten werden können“ (ebd.: 290 ff.).
Der französische Soziologe Michel Maffesoli oder in jüngerer Zeit die US-amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich haben in ihren kulturhistorischen und kulturvergleichenden Untersuchungen über den „Orgiasmus“ und den „Teufel“ (Maffesoli 1979, 1984, 1986, 1988, 2002, 2007) bzw. die „collective joy“ und die „blood rites“ (Ehrenreich 2007, 1998) unzählige Beispiele für entsprechende Phänomene und Erfahrungskonstellationen versammelt. In der Verbindung von Nietzsche und Durkheim entwickelte dann zunächst in den 1930er Jahren das Collège de Sociologie um Georges Bataille u. a. eine Theorie der dionysischen Überschreitungen und ihrer Bedeutung für gesellschaftliche Integration (vgl. Keller 2006: 48 ff.). Dies blieb freilich auf der Ebene heroischer Momente und Einsätze. Doch wenige Jahre später führte der marxistische Soziologe Henri Lefèbvre in seiner „Kritik des Alltagslebens“ ähnliche Ideen mit Bezug auf die banale Alltäglichkeit der Routine ein: „Statt Institutionen und Klassen, Strukturen ökonomischer Produktion und gesellschaftlicher Kontrolle zu untersuchen, müsse man über ‚Momente‘ nachdenken, Momente der Liebe, des Hasses, der Poesie, Frustration, Aktion, Hingabe, des Entzückens, der Erniedrigung, Gerechtigkeit, Grausamkeit, Resignation, Überraschung, Abscheu, Ablehnung, des Selbstmitleids, Mitleids, der Wut, des Seelenfriedens, über diese, wie Lefèbvre sagte, winzigen Epiphanien, in denen sich die absoluten Möglichkeiten und zeitlichen Grenzen von jedermanns Existenz enthüllten“ (Marcus 1992: 146). Das Moment zeichnet sich durch Wiederholung, Abhebung, eigene Dauer, eigene Erinnerung, Inhalt, Form, Absolutheit aus: „Das Moment ist die Leidenschaft und zugleich die unvermeidliche Zerstörung und Selbstzerstörung dieses leidenschaftlichen Zustands. Das Moment ist das Möglich-Unmögliche, das als solches angestrebt, gewollt und gewählt wird“ (Lefèbvre 1977: 183 [1946/1961]).
Michel Maffesoli schließlich ersetzt die kritische Konnotation durch eine diagnostische, beschreibt den modernen Alltag als wesentlich durch Momente der leidenschaftlich-affektuellen, unproduktiven Verausgabung durchzogen, die jeden – auch den soziologisch – rationalisierten Zugriff ins Leere laufen lassen: „Hic
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et nunc haben der Affekt und die Leidenschaft eine zu wichtige Stellung als dass es möglich wäre, die Transparenz in den menschlichen Beziehungen oder in den Beziehungen der Menschen zu den Dingen zu erreichen“ (Maffesoli 1979: 15). Die Nietzscheanisch interpretierte Tragik und Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz wird abgemildert im Einsatz banaler Leidenschaften, in unterschiedlich konfusionellen Phänomenen und Praktiken, die Sozialität im gemeinsamen Erfahren des üchtigen Augenblicks erzeugen. Die Orgie ist die Metapher für den Prozess der wechselwirkenden Leidenschaften, als Ort des Rausches, der Ekstasen, des Außer-Sich-Seins der Einzelnen. Die sich versammelnden banalen Leidenschaften werden zum Energiequell der Sozialität in der gänzlich unheroischen Banalität des Alltagslebens und seiner punktierenden orgiastischen „Momente“, zu Kristallisationsträgern einer neuen oder wiederbelebten Corrobori-Kultur in den modernen Megastädten. Das sind keine profan zweckorientierten Gruppenbildungen, sondern auf sich selbst, ihren Ablauf, die Magie ihres Augenblicks zentrierte oder eingestimmte diffuse Gefühlskonstellationen und Szenen, die geteilten Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle und Leidenschaften in unmittelbarer Gegenwart von Anderen. Alfred Schütz hatte ein solches Ineinsklingen der Bewusstseine für die Aufführung von Musikstücken und auch für den sexuellen Akt beschrieben (Schütz 1972). Es verläuft über symbolische Kristallisationen, über die Versammlung um ein Stammestotem, über einen starken intensiven, leidenschaftlichen Moment der Gefühlserfahrung: „Ganz entschieden scheint der Ausdruck Ästhetik (aisthésis), das gemeinsame Empnden, das beste Mittel, um den ‚Konsensus‘ zu benennen, der sich vor unseren Augen entwickelt, und der auf geteilten Gefühlen oder heftigen Empndungen beruht: Cum-sensualis. (…) In dieser Hinsicht eröffnet die Postmoderne eine Form sozialer Solidarität, die nicht mehr rational, ‚vertraglich‘ de niert ist, sondern die sich im Gegenteil aus einem komplexen Prozess der Anziehungen und Abstoßungen, der Emotionen und Leidenschaften aufbaut“ (Maffesoli 1990: 13 f.).
Für Maffesoli wird der Neo-Tribalismus zur neuen gesellschaftlichen Architektur und Strukturierungsform (im Simmelschen Form-Begriff) des 21. Jahrhunderts. Die neo-tribale Vernetzung ergibt sich aus ästhetischen Identikationen auf der Grundlage gemeinsam erfahrener Gefühlszustände und banalen Leidenschaften, die dennoch ausgezeichnete Momente im Alltagsleben schaffen. Gegenüber der hier postulierten Postmodernität kann man skeptisch bleiben (Keller 2008). Die Verbindung der banalen Leidenschaften mit der Sozialität jedoch erscheint evident: das Objekt ihres Begehrens, nur vordergründig der jeweilige Anlass zur Versammlung, ist die ästhetische Erfahrung im Zusammenklang mit den anderen, ein leidenschaftliches Vergnügen am gemeinsamen Augenblick, ein
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kurzes Aufblitzen der paradiesisch-höllischen Ewigkeit im Hier und Jetzt. Das schon binnen weniger Stunden der Wiedereinbindung in die Produktionslogik des abendländischen Zweckbetriebes, der Sorge und Endlichkeit des Daseins weichen wird. Bis auf weiteres.
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Subjekt, Interaktion und Institution Vorschläge zur Triangulation in Theorie und Methodologie1 Hubert Knoblauch
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Einleitung mit subjektiver Note
Es ist in der Wissenschaft noch immer ganz und gar unüblich, einen wissenschaftlichen Aufsatz mit persönlichen Erfahrungen zu verbinden, wenn man nicht die postmodernen Anrufungen der Relativierung durch das Subjekt wiederholen möchte oder sich als Mitglied einer sozialen Gruppe identizieren kann, die eine vom dominanten Diskurs zu emanzipierende „Subjekt“position einnimmt (was ich als halbwegs normaler, weißer, mittelalterlicher Europäer vermutlich (noch) nicht beanspruchen kann). Wenn ich diesen Beitrag dennoch mit einer persönlichen Erfahrung beginne, dann geschieht dies, weil sie sich mit der wissenschaftlichen Fragestellung auf eine glückliche Weise verbindet. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen nämlich bildet die Frage nach dem Verhältnis der Phänomenologie zur Soziologie. Wie sehr das Verhältnis auch variieren mag, so werden doch seine Extreme durch zwei Autoren vertreten, denen ich – und hier kommt nun das Persönliche ins Spiel – zu Beginn meines Studium begegnet bin: Auf der einen Seite ist hier zweifellos Thomas Luckmann zu nennen, der eine sehr folgenreiche, aber auch dezidierte Vorstellung über dieses Verhältnis vertritt (1978; 1979). Luckmann zufolge sind Phänomenologie und Soziologie strikt zu trennen, da beide völlig verschiedenen Methodologien folgen. Während die Phänomenologie entschieden subjektivistisch sei und die Objekte der Welt skeptizistisch einklammere, folge die Soziologie dem naiven Realismus einer positivistischen Kosmologie, die weder die Existenz der Akteure noch die der Beobachter in Zweifel zieht. So entschieden Luckmanns Position war, so verwundert war ich dann doch, als junger Student in der Person von Luckmanns damaligem Mitarbeiter Ronald Hitzler eine ebenso entschiedene Gegenposition kennen zu lernen. Sehr stark von 1
Den ursprünglichen Plan, einen humorvollen persönlicheren Text für diesen Band zu schreiben, habe ich angesichts der dramatischen gesundheitlichen Entwicklung von Anne Honer aufgegeben, angesichts derer mir der Humor unangebracht scheint; zudem sind die Verwirrungen der jüngeren Rezeption der Phänomenologie so groß, dass es mir wichtiger denn je scheint, die angesprochenen Fragen zu behandeln. Ich möchte mich bei René Tuma für die Korrekturen und die Vereinheitlichung der Graphiken bedanken.
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Sartre geprägt, vertrat Hitzler die Auffassung, dass die von der Phänomenologie frei gelegten subjektiven Prozesse ganz entscheidend Teil des sozialen Handelns sind und somit im Weberschen Sinne auch Gegenstand der Soziologie. Damit, so Hitzler, müsse auch in der Soziologie vom Subjekt die Rede sein. Einen persönlichen Bezug hat dies, weil meine eigenen Stellungnahmen zu diesen unterschiedlichen Positionen (Knoblauch 1993) immer mit der Ablehnung einer Person verbunden war (und der Zustimmung zur anderen). (Was, im Unterschied zu entsprechenden Verquickungen bei anderen Personen, glücklicherweise nicht zu Zerwürfnissen führte.) Es ist für die späteren Ausführungen sicherlich folgenreich, dass die fehlende Trennung der eigenen phänomenologischen Subjektivität von der der soziologischen Sachen selbst in diesem Spannungsverhältnis zur Überschneidung kam. Ebenso folgenreich ist es für mich gewesen, dass diese Spannung keineswegs nur als theoretisches Problem auftrat, sondern sich auch in der empirischen Forschung einstellte: Ob wir nur die Zeichen, die Kommunikation oder das Verhalten beobachten oder den subjektiven Sinn eruieren, hat mit völlig verschiedenen Vorgehensweisen zu tun, die durchaus auch im Rahmen der qualitativen Sozialforschung auftreten. Luckmanns Vorschlag einer rigiden Trennung zwischen Soziologie und Phänomenologie baut darauf auf, dass die Phänomenologie als „Protowissenschaft“ für die Soziologie dienen könnte. In der Tat hat Luckmann seine Bearbeitung der Schützschen Strukturen der Lebenswelt als eine Propädeutik der Soziologie bzw. als Protosoziologie verstanden (Luckmann 1990): Hier werden die Begriffe phänomenologisch bestimmt, die als Grundlage soziologischer Analyse dienen – ohne selbst schon soziologische Analyse zu sein. Dennoch zeigt Luckmann (1992), wie diese Begriffe etwa für eine soziologische Handlungstheorie fruchtbar gemacht werden können. Dieser Anspruch jedoch muss nun von einer Phänomenologie erfüllt werden, die den Anspruch auf philosophische transzendentale Letztbegründung aufgegeben hat (Schütz 1971). Husserl (1969) zufolge sollte das cartesianische Prinzip des Zweifels zu einem Unbezweifelbaren führen, das er letzten Endes im transzendentalen Ego vermutete. Allerdings zeichnet sich gerade diese Lösung, wie schon Schütz (1971) betonte, eine außergewöhnliche Vergessenheit des Sozialen aus, das in Husserls Fassung nur als Vorstellung des Ego gedacht werden kann. Schütz plädierte deswegen für eine mundane Phänomenologie, die sich jedoch auf die Ergebnisse der transzendentalen Phänomenologie stützen können sollte. Die Frage, die sich stellt ist, wie denn diese mundane Phänomenologie der Lebenswelt begründet werden kann, wenn sie nicht transzendental begründet wird. Eine der möglichen Antworten auf diese Frage wird von Srubar (1988) angedeutet: Er vermutet, dass die Anthropologie diese Begründung übernehmen könne, eine Auffassung, die er auch bei Schütz angedeutet sieht. Auch in den Augen von Soeffner (1991a) kann die philosophische Anthropologie die Aufgabe
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einer Begründung des Sozialen leisten. Allerdings muss man einwenden, dass nicht nur das Verhältnis zwischen philosophischer Anthropologie und Phänomenologie nach wie vor ungeklärt ist; man darf auch nicht übersehen, dass die philosophische Anthropologie nach mehreren Jahrzehnten auch noch keine befriedigende Lösung auf diese Frage geben konnte (Fischer 2008). Einen anderen radikaleren Lösungsweg schlägt Hitzler (1987) vor. Im Anschluss an Sartre und Wolff (1998) plädiert er für eine Beachtung der existentiellen Dimension des Subjekts. Soziologisch ndet diese in einer starken Betonung der subjektiven Strategien des Handelns ihren Ausdruck, die insbesondere an den frühen Goffman erinnern (Hitzler 1992/1993).2 So ungeklärt die Frage ist, wie Existentialismus und Soziologie verknüpft werden können (Douglas/Johnson 1977), ruft der Hitzlersche Ansatz doch die Bedeutung des konkreten Subjekts in Erinnerung – eine Bedeutung, die in der gegenwärtigen Hausse von neuer Phänomenologie, subjektivistischen Methoden und „Subjektivierungs-Theorie“ an Relevanz gewinnt. Zur Klärung der Frage nach der Grundlegung der Sozialwissenschaften möchte ich hier einen anderen Weg vorschlagen, der die Spannung zwischen den beiden Positionen vereint. Wollte man die räumliche Metapher aufnehmen, erinnerte dieser Weg weniger an „Grundlegung“ als an die Münchhausensche Leistung, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen: Die Triangulation. Dieser Weg folgt zum einen der Einsicht, dass eine letzte Begründung weder der Sozialwissenschaften noch der Wissenschaften (noch des Wissens generell) möglich ist. Das Subjekt stellt zwar die Bezugsgröße des Wissens dar, doch kann es nicht als isolierte Erkenntniseinheit betrachtet werden. Ich folge der wissenssoziologischen Vorstellung von der Sozialität des Wissens, wie sie vor allem von Berger und Luckmann entwickelt wurde. In der Tat bildet Berger und Luckmanns Theorie der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit das Modell für die Triangulation. Sie stellen das Subjekt in einen dialektischen Zusammenhang zu den sozialen Tatsachen, und zwar auf eine Weise, bei der wir drei Momente dieser Dialektik ausmachen können: Das handlungsfähige Subjekt, die situative Interaktion mit anderen und die Institutionalisierung einer dauerhaften, übersituativen Umwelt. Diese drei Momente stellen, so möchte ich argumentieren, die entscheidenden Bezugspunkte der sozialwissenschaftlichen Methodologie dar, die deswegen als Triangulation beschrieben werden kann. Methodologie soll hier jedoch nicht als bloße wissenschaftliche Erkenntnistheorie verstanden werden. So wie die Triangulation explizit auf theoretischen Vorannahmen aufbaut, die sie aber auch reexiv zu explizieren sucht, so bezieht
2 Ein alternativer Versuch zur Begründung der Soziologie in Heideggers Existentialismus zeichnet sich ja durch die Vermeidung des Subjekts aus (vgl. Bühl 2002).
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sich die Triangulation auf verschiedene methodische Verfahren der Datenerhebung und Datenanalyse. Die Triangulation soll entsprechend keineswegs als ein neues Verfahren vorgestellt werden, sondern als Explikation eines Verfahrens, das in der bisherigen Forschung schon Verwendung fand. Ich folge damit zumindest in Teilen meiner eigenen Forderung nach der Explikation der eigenen Vorgehensweise (Knoblauch 2000).
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Die Strukturen der Lebenswelt und das Subjekt
Kehren wir noch einmal zur „phänomenologischen Soziologie“ zurück, deren unbezweifelter Kern die Lebenswelt ist. Die Lebenswelt basiert auf vorgegebenen Prozessen des subjektiven Bewusstseins. Beispielhaft dafür sind Typisierungen, die subjektive Verfestigungen des Sinns und damit Bausteine des sozialen Wissens sind. Ihre Ordnung wird wesentlich von der Relevanzstruktur – also thematischen, interpretativen und Motivationsrelevanzen – geprägt. Darüber hinaus schält die mundanphänomenologische Analyse eine vom Bewusstsein geschaffene Ordnung von Zeit, Raum und Sozialität heraus: Die Gliederung der Welt in Vorwelt und Nachwelt, die Ordnung des Raumes in einen primäre, unmittelbare und eine sekundäre, mittelbare manipulative Zone, die Unterscheidung von Mitmenschen, Nebenmenschen, Vorfahren und Nachkommen zählen zum Beispiel zu den Merkmalen, die für alle lebensweltlichen Subjekte zu gelten scheinen. Luckmann (1980) nennt diese allgemein geltenden Merkmale eine „mathesis universalis“. Es ist diese Unterscheidung zwischen den phänomenologisch rekonstruierbaren Konstitutionsprozessen des subjektiven Bewusstseins und den soziologisch erforschbaren Formen der Konstruktion, Vermittlung und Verteilung des gesellschaftlichen Wissens, die für ihn den Unterschied auch zwischen Soziologie und Phänomenologie markiert. Dieser Unterschied spiegelt sich nicht nur in der völlig unterschiedlichen Methodik wider: Im Falle der Phänomenologie handelt es sich um eine Introspektion, eine subjektive Innensicht, im Falle der Soziologie idealtypisch um die Beobachtung. Er spiegelt sich auch in einer Abwendung von den Letztbegründungsansprüchen der Husserlschen Phänomenologie wider. War Husserl, wie erwähnt, der Auffassung, den Grund aller Sinngebungsprozesse im transzendentalen Ego zu nden, sucht Schütz die Begründung für die Sinngebung und des Ich nicht mehr im Bewusstsein, sondern in den empirischen Vorgaben menschlichen Handelns. Luckmann spricht deswegen von einer „phänomenologisch orientierten Soziologie“ und grenzt sich damit entschieden gegen die so genannte „phänomenologische Soziologie“ ab. Im angelsächsischen Raum tritt diese „phänomenologische Soziologie“ in den 1970er Jahren in verschiedenen Varianten auf (Psathas 1973). Im deutschsprachi-
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gen Raum wird sie einerseits von Grathoff (1989) repräsentiert, demzufolge die Phänomenologie als eine Methode der Analyse sozialer Phänomene angewandt werden könne. Hitzler und Honer (1984/1988) waren es, die neben der theoretischen auch eine empirische Verbindung von Phänomenologie und Soziologie vorschlugen, indem sie für die Eingliederung der subjektiven Perspektive in die sogenannte qualitative, interpretative Soziologie plädierten. Diese subjektive Perspektive wird nicht einfach als partikular, sondern als Element einer „kleinen Lebenswelt“ angesehen, die gleichsam die subjektive Seite der Situation darstellt. Diese Innenansicht ist deswegen von Bedeutung, weil sie den Sinn des Handelns (im Sinne Webers [1988/1922]) oder die Denition der Situation (im Sinne des Pragmatismus) deniert. Mit dieser Betonung der Subjektivität schließt die Ethnographie der Lebenswelt auch an die zentrale Forderung aller Ethnographie an, den „native’s point of view“, die Perspektive der Akteure, einzunehmen, deren Rekonstruktion die Welt gleichsam von innen zeigt. Betonenswert ist, dass hier die phänomenologische Perspektive sehr entschieden für die Zwecke der qualitativen Forschung eingesetzt wird. Zugleich dient die Lebensweltanalyse auch einer Ausarbeitung und Verfeinerung der Schützschen Analyse der Strukturen der Lebenswelt. Hitzler und Honer stellen sich damit gegen die Luckmannsche Forderung, die Phänomenologie von der Soziologie abzugrenzen, weil sie einem anderen methodologischen Paradigma folge. In der Tat können sie sich dabei auf das Argument beziehen, das schon Schütz leitete: Sofern es die Soziologie mit dem Handeln zu tun hat und sofern Handeln kategorisch durch den subjektiven Sinn geleitet wird, muss auch dieser subjektive Sinn Gegenstand der Soziologie sein. Luckmanns Versuch, die Subjektivität der Soziologie sozusagen vorzulagern, ist zwar konsequent, bleibt aber nur dann sinnvoll, wenn die soziologischen Methoden von denen der Phänomenologie paradigmatisch unterscheidbar sind. Gerade dies aber trifft für die große Zahl von qualitativen Methoden nicht mehr zu, die sich als interpretativ verstehen. Beispielhaft dafür ist die Ethnographie, die sich ja dadurch auszeichnet, dass das Subjekt selbst Teil des Feldes wird und damit seine eigenen Erfahrungen als Ressource der empirischen Forschung hat. (Ähnliches gilt, in abgeschwächter Form, auch für alle hermeneutischen Verfahren (Soeffner 1991b). Subjektivität ist das zentrale Merkmal der phänomenologischen Analyse, sie ist aber auch das zentrale Merkmal der ethnographischen Beschreibung, die ja die soziale Welt aus der „emischen“ Perspektive der Handelnden rekonstruieren will. Honer betont, dass diese subjektive Perspektive, etwa Malinowskis berühmter „native’s point of view“, keineswegs als partikularistisch verstanden werden darf, Vielmehr dient ja besonders Schütz’ Analyse der Typisierung dazu, typische subjektive Perspektiven zu rekonstruieren. Diese sind für die Soziologie von Relevanz, weil sie die Welt aus der Perspektive (typischer) Handelnder rekonstruiert
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und damit erlaubt, (typische) Handlungen zu verstehen, denn „unser Erleben, und nicht ein ‚objektiver Sachverhalt‘, [ist] entscheidend für unsere Situationsdenition“ (Hitzler/Eberle 2000: 114). Mit anderen Worten: Wollen wir das Handeln verstehen, müssen wir die Perspektive der Handelnden von „innen“ einnehmen. Die Subjektivität wird doppelt wichtig, geht es der Ethnographie doch auch immer um die Berücksichtigung des forschenden Subjektes – wie dies etwa in der Reexion der eigenen Vorannahmen, Erwartungen und Beobachtungen bei der Ethnographie gefordert wird, „dass das, was der Phänomenologe tut, nämlich seine eigenen Erfahrungen zu reektieren, stärker in die empirische Sozialforschung integriert wird. (…) Und die ideale Basis dafür ist der Erwerb der praktischen Mitgliedschaft an dem Geschehen, das erforscht werden soll, und damit der Gewinn einer existentiellen Innenansicht“ (Honer 2000: 200 f.). Honer und Hitzler nehmen damit eine breite wissenschaftskritische Bewegung vorweg, die eine Berücksichtigung der Subjektivität einfordert (Mruck/Breuer 2003). Damit ist auch das Problem angedeutet, das sich der Luckmannschen Trennung von Phänomenologie und Soziologie stellt: Nicht dass die Phänomenologie aufgewertet würde; vielmehr wurden die sozialwissenschaftlichen Methoden ihrerseits (gerade auch durch die wissenssoziologische Kritik) so stark relativiert, dass eine paradigmatische Differenz zwischen einer subjektivistischen Phänomenologie und eindeutig objektiven (und nicht nur objektivistisch legitimierten) Verfahren der empirischen Sozialforschung nurmehr schwer aufrecht zu erhalten ist. Folgt man dieser Argumentation (und dies ist für mich, wie gesagt, ein biographischer Schritt), dann legt sich nicht nur die Integration der phänomenologischen und der soziologischen Methode nahe; es stellt sich vor allem auch die Frage, wie Subjekt und Sozialität theoretisch so verbunden werden können, dass diese Integration möglich wird. In meinen Augen bietet die Theorie des Sozialkonstruktivismus, wie sie in der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ erläutert wurde, dafür einen vorzüglichen Ausgangspunkt.
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Die drei Momente der gesellschaftlichen Konstruktion
Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit beschreibt einen Prozess, in dem die zwei logisch kontradiktorischen Sätze – „Der Mensch konstruiert die soziale Wirklichkeit“ und „der Mensch ist ein Produkt der Gesellschaft“ – miteinander in eine dialektische Beziehung gebracht werden.3 Diese dialektische Beziehung jedoch bleibt keine Metaphysik von Gegensätzen, die sich vermittels einer nicht geklärten chemischen Reaktion auf eine neue Emergenzstufe versetzen, wie dies 3
Vgl. dazu Berger und Luckmann (1969); darin auch die vorzügliche Einleitung von Helmuth Plessner.
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in dialektischen Modellen so häug der Fall ist; vielmehr ist die Dialektik lediglich eine äußere Darstellungsform, denn Berger und Luckmann rekonstruieren die gesellschaftliche Konstruktion auf eine durchaus konsequent logische Weise. Ich möchte diese Konstruktion hier nicht nachzeichnen (vgl. dazu Knoblauch 2005), sondern lediglich auf die entscheidenden analytischen Momente dieser Rekonstruktion hinweisen: Berger und Luckmann setzen mit dem subjektiven Bewusstsein an, das Sinnhaftigkeit schafft; dem Subjekt ist entsprechend auch das Handeln als sinnhaftes Verhalten zugeordnet. Erscheint die „Objektivierung“ im Sinne der Dialektik als zweiter Pol der Konstruktion, so verläuft der Weg zu ihr doch über zwei soziologisch unverzichtbare Brücken: Während nämlich der dialektische Begriff der Externalisierung weitgehend noch an das Handeln gebunden und damit wesentlich „subjektiv“ bleibt, nimmt die Interaktion eine entscheidende Rolle ein: Das Subjekt begegnet Anderen, auf die zu es sozial handelt und mit denen es in wechselseitige Handlungsverhältnisse tritt. Dadurch verändert sich die Situation ganz grundlegend, gibt es nun erst eine gemeinsame Umwelt, Interaktion und soziales Wissen als gemeinsam geteilten Sinn. Was als Interaktion näher bezeichnet werden kann, wurde vom symbolischen Interaktionismus ja breit ausgeführt, den Berger und Luckmann aufnehmen. Ihre besondere Leistung besteht darin, diese interaktionistische Theorie mit der Theorie der Institutionen verbunden zu haben. In der Tat besteht das Herzstück der „Objektivierung“ in einer Theorieskizze, die von der Begegnung in der Interaktion über das Einspielen wechselseitiger Erwartungen (und „Rollen“) bis hin zur Institutionalisierung reicht. Auch die Institutionalisierung wird über eine weitere soziologische Brücke erreicht: der „Figur des Dritten“: Die zwischen (idealtypisch) zwei Handelnden habitualisierten und routinisierten interaktiven Handlungsmuster werden von Dritten übernommen.4 Durch diese Übernahme entsteht die völlig neue Möglichkeit der Tradition, der Historisierung und der Legitimation, denn Dritte machen „es“ so, weil „man“ es so macht, sie machen es so, weil man es „vorher“ so gemacht hat, und da sie nicht an der interaktiven Konstitution des Sinnes beteiligt waren, müssen sie es gegebenenfalls mit neuem Sinn füllen, also legitimieren. (Dadurch wird die Differenz zwischen der Interaktion, die bestenfalls in den „Vorhof“ der Institutionen führt, und der Institution sehr scharf.) Erst die so legitimierten Institutionen sind mit Sanktionen und also Macht verbunden, und sie bilden dann auch den deutlichsten Ausdruck dessen, was Berger und Luckmann als objektivierte Wirklichkeit, als soziale Tatsachen bezeichnen. An dieser Stelle angekommen, sehen wir, dass die Objektivität nicht einfach eine Art Negation des Subjekts ist, wie dies dialektisch zu erwarten wäre; viel-
4 Die Bedeutung der Figur des Dritten ist also zu unterstreichen, doch wurde sie keineswegs von der Soziologie übersehen. Vgl. Lindemann (2006).
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mehr geht sie in einer soziologischen Analytik aus der Subjektivität hervor: Es bedarf der „Anderen“, Alter ego – und des Dritten. Entsprechend baut auch das Subjektwerden der Gesellschaft, die Internalisierung und Sozialisation, wiederum auf diesen beiden Strukturen auf: einerseits auf den institutionalisierten Strukturen der Gesellschaft und des Wissens, die entscheidend Identitäten prägen (wie etwa die einheitliche Identität in einfach strukturierten Gesellschaften oder die Patchwork-Identität moderner Gesellschaften), und andererseits der Interaktion etwa zwischen signikanten Anderen, in der (wie man im Anschluss an Mead zeigt) diese Identität prozessual geschaffen wird.5 Wollte man die Konstruktion der Wirklichkeit nachzeichnen, so gibt es gleichsam zwei Beschreibungsebenen: Die dialektische Beschreibungsebene führt vom Subjekt über die Externalisierung und die Objektivierung zur Internalisierung des Objektiven, die analytische Beschreibungslinie führt vom Subjekt über die Interaktion zur Institution und von dort wieder zur Interaktion (als Sozialisation). Dabei tritt die objektive soziale Wirklichkeit in Gestalt der Institution auf. Subjektivität, Interaktion und Institution, so folgere ich daraus, bilden die drei wesentlichen analytischen Momente der gesellschaftlichen Konstruktion, die logisch aufeinander bezogen sind. Abbildung 1
Die drei Momente der gesellschaftliche Konstruktion
5 Auch hier möchte ich darauf hinweisen, dass der wesentlich kommunikative Charakter, der von Mead betont wird, zugunsten eines stark an die Sprache angelehnten Wissensmodells vernachlässigt wird.
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Theorie, Methodologie und die Triangulation
Die Trias der sozialen Konstruktion bildet keineswegs nur einen theoretischen Rahmen; sie kann auch zur Integration der Methodologie empirischer Sozialforschung dienen. Anstelle der verbreiteten Annahme, dass empirische Methoden unabhängig von der Theorie betrieben werden könnten, sich aus der Empirie ergäben oder lediglich als Überprüfungsverfahren theoretischer Sätze fungierten, gehe ich mit Kalthoff (2008) davon aus, dass alle Methoden ihrerseits eine theoretische Position implizieren. Dieser Theoriebezug der Methoden kommt im gängigen Begriff der Methodologie deutlich zum Ausdruck. Während Methoden Praktiken sind, mit denen wir in der Wissenschaft Daten und Aussagen über diese Daten erzeugen, behandelt die Methodologie die Frage, in welchem Verhältnis diese Daten und die daraus gewonnenen Aussagen zu den allgemeinen und theoretischen Fragestellungen stehen, der die gesamte Untersuchung folgt. Fragestellungen jeder Art verweisen zweifellos auf einen begrifichen Zusammenhang, der, sofern er ausgeführt ist, als Theorie bezeichnet werden kann. Was wir fragen, ist davon abhängig, in welchen Begriffen wir fragen. Diesen Zusammenhang kann man auch als das methodologische Dreieck beschreiben und mit angrenzenden Aufgaben verbinden. Abbildung 2
Zusammenhang der Methoden
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Die Theorie der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, so meine These, bietet nicht nur einen allgemeinen begrifichen Rahmen für soziologische Fragestellungen, indem sie mit den drei Momenten der Dialektik auch gleichsam drei empirische Ebenen eröffnet. Damit ist nicht nur eine Verortung der Fragestellung auf den drei Ebenen möglich; zudem erlaubt sie auch eine grobe, aber orientierende Zuordnung verschiedener Methoden zu diesen Ebenen. Denn auf der einen Seite kennen wir Methoden, die sich sehr gezielt mit dem Subjekt beschäftigen. In der Tat ist die Rekonstruktion der subjektiven Perspektive ja gerade in der Tradition der verstehenden Soziologie ein zentrales Anliegen. In meiner eigenen Forschungspraxis bildet dafür die Ethnophänomenologie ein Beispiel, bei der es um die formale und inhaltliche Rekonstruktion subjektiver Handlungen und Erfahrungen geht (Knoblauch/Schnettler 2003). Aber auch narrative und biographische Interviews zählen zu dieser Kategorie, auch wenn sie sich häug stärker auf die Frage der Bedeutung institutioneller Strukturen für das Subjekt beschäftigen. Ganz zweifellos beschränkt sich die Orientierung an der subjektiven Perspektive keineswegs auf die qualitative Forschung. Der Großteil der Einstellungsforschung etwa hat einen eindeutigen Bezug auf das Subjekt, auch wenn er inhaltlich massive Standardisierungen unterstellen muss. Im Unterschied zu einer Orientierung an der subjektiven Perspektive stehen jene Methoden, die sich mit je aktuellen, „natürlichen“ Prozessen des Handelns beschäftigen. Analysen von Interaktionen und Aktivitäten (etwa beim Arbeiten) betrachten weniger das handelnde Subjekt als die faktische Kommunikation zwischen Akteuren (bzw. Medien und Technologien) in situ. Exemplarisch dafür sind die Sequenzanalysen, wie sie im Rahmen der Konversationsanalyse entwickelt wurden, aber auch die teilnehmende Beobachtung von Arbeitsprozessen, Ritualen und Zeremonien. Hier wird zwar auf ein typisches Verstehen einzelner Züge von Handelnden aufgebaut, doch liegt das Erkenntnisinteresse auf der Analyse der inhaltlichen und formalen Kooperation der Handelnden untereinander und damit der Rekonstruktion der Konstruktion der sozialen Ordnung in situ. Solche Analysen beziehen sich idealtypisch auf „natürlich“ aufgezeichnete Situationen, können aber gegebenenfalls auch rekonstruktiv verfahren. Die dritte Untersuchungsperspektive nun konzentriert sich auf jene übersituativen Aspekte, die unter dem allgemeinen Begriff der Institutionen zusammengefasst werden: Formen der Kommunikation, die als Gattungen handlungsleitend werden, Organisationen als formale Strukturen von Institutionen mit einem ausdrücklichen Regelwerk, Legitimationen und Diskurse sowie Vergemeinschaftungsformen, die von Familien bis zu sozialen Milieus und Klassen reichen, bilden typische Gegenstände dieser Analysemethoden, für die hier exemplarisch die ethnographischen Interviews, die Netzwerk-, Organisations- und Diskursanalyse genannt werden.
Subjekt, Interaktion und Institution Abbildung 3
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Untersuchungsperspektiven
Die Darstellung macht schon deutlich, dass hier keine Vollständigkeit angestrebt wird. Auch das Verhältnis von quantitativen zu qualitativen bzw. standardisierten und interpretativen Methoden ist, so muss ich einräumen, noch ungeklärt. Das Muster soll aber deutlich machen, was in vielen Untersuchungen übersehen wird: Dass nämlich mit vielen Methoden nur bestimmte Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit untersucht werden: Diskurstheorien haben demnach ebenso ihre deutlichen Grenzen wie Interaktionsanalysen, und zwar auch wenn die ersteren beanspruchen, in Interaktionen aufzutreten und die anderen beanspruchen, auch Organisationen widerzuspiegeln – von Überverallgemeinerungen der Analysen strategischen (oder rationalen) Handelns ganz abgesehen. Die Triade erlaubt nicht nur eine Einordnung jeweiliger Untersuchungen, sondern gibt auch ein Muster vor, mit dem verschiedene Methoden miteinander verbunden werden können. Im Unterschied zu Konzepten einer „theoretischen Triangulation“ (Flick 2004) gehe ich hier von der Gültigkeit der genannten theoretischen Annahmen aus, die Subjekte, Interaktionen und Institutionen als die zentralen Momente des Sozialen betrachtet. Indem sie jedoch keine Grundlegung außerhalb ihrer sucht, öffnet sie jedoch auch den theoretischen Anspruch für die wechselseitige Korrektur. So sind die Annahme etwa über das Subjekt, die Struktur des Handelns und der Lebenswelt, die wir als Bezugspunkt subjektiver Analysemethoden nehmen, keineswegs apodiktisch. Ganz im Gegenteil erfordert die phänomenologische Methodologie selbst eine Abklärung und gegebenenfalls Korrektur mit Blick auf die verschiedenen Handlungssituationen und institutionellen Kontexte: Kann das phänomenologische Subjekt, das Alfred Schütz beschreibt, wirklich auch mit dem Subjekt etwa eines soziologisch bewussten Blinden oder mit dem Subjekt einer weiblichen Ethnographin gleichgesetzt werden oder bedarf es nicht dadurch einer Korrektur? Und
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müssen nicht die vermeintlich „universalen“ Strukturen der Konversation nach ihrer Variation hinsichtlich verschiedenen institutionellen Typen oder Kulturen befragt werden? Diese Fragen deuten an, dass die vorgegebenen Kategorien innerhalb der Triangulation korrigiert werden können. Mit der Vergleichsmöglichkeit deuten sie auch das sozialkonstruktivistische Forschungsprogramm an, das trotz der Vermeidung absoluter Kategorien nicht-relativistisch ist.
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Fragile Sicherheiten Versuch einer Annäherung an den „Goffmenschen“ aus geschlechtersoziologischer Perspektive Michael Meuser
I Ronald Hitzler hat in seiner Rezeption des dramatologischen Ansatzes Erving Goffmans dessen Menschenbild folgendermaßen skizziert: Der „Goffmensch“ ist „ein prinzipiell verunsichertes Wesen, das ständig Probleme zu bewältigen, Antworten zu suchen, ja Rätsel zu lösen hat. Der Goffmensch lebt, er kann nicht anders, unweigerlich ein ‚riskantes‘ Leben“ (Hitzler 1992: 451). Ein gelingendes Zusammenleben müsse als ein „sich andauernd wiederholende(s) Problem für jeden einzelnen Interaktionsteilnehmer“ (ebd. 452) verstanden werden, die „prekäre Fragilität der menschlichen Sozialität“ (ebd. 455) sei unhintergehbar. Gleichwohl leben Menschen in Routinen und wähnen sich in Sicherheiten, auch wenn die Konstanzerwartungen, derer es dazu bedarf, auf Idealisierungen beruhen, wie Alfred Schütz gezeigt hat: auf den Idealisierungen des „und so weiter“ und des „ich kann immer wieder“ (Schütz/Luckmann 1975: 88). Der in der natürlichen Einstellung des Alltags lebende Mensch nimmt es, so Schütz, als fraglos gegeben an, dass die Dinge des Alltags so weiter laufen werden, wie sie es immer getan haben, und dass er deshalb mit eingespielten Handlungsweisen immer wieder erfolgreich wird agieren können. Ein anderer Blick auf Sozialität ist mit dem Bourdieuschen Habitusbegriff gegeben. Der Habitus meint eine inkorporierte, in die Körper der Akteure eingeschriebene Sozialität. Inkorporierungen erzeugen tief sitzende Gewissheiten, die nur schwer zu erschüttern sind, schwerer jedenfalls als rein kognitiv gegebene Überzeugungen. In ähnlicher Weise schreibt Jean-Claude Kaufmann (1999) dem Körper eine vom rationalen Denken unterschiedene Intelligenz zu. Die Vertrautheit der Alltagswelt basiert auf der vorreexiven Selbstverständlichkeit der körperlichen Routinen. Dessen ist sich Hitzler selbstverständlich genauso bewusst, wie Bourdieu den Habitus nicht als ein bruchlos kohärentes Gebilde konzipiert. Hitzler (1999: 477) sieht in dem Umstand, dass den Akteuren Fertigkeiten und Geschicklichkeiten „in ihre Körper gleichsam ‚eingeschrieben‘ sind“, einen Grund dafür, dass sich soziales Handeln nur schwer über verbale Erhebungsverfahren
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rekonstruieren lässt, und Bourdieu (2001: 206) betont, „daß widersprüchlichen Positionen […] oft zerrissene, in sich widersprüchliche Habitus entsprechen, deren innere Gespaltenheit Leiden verursacht.“ In (spät-)modernen Gesellschaften dürfte die Anzahl solcher Positionen anwachsen. Freilich haben wir es hier mit zwei unterschiedlichen wissenssoziologischen Perspektiven zu tun, die verschiedenen Traditionen in der Wissenssoziologie zuzurechnen sind: der Schützschen und der Mannheimschen. Die eine ndet ihre methodologische und methodische Fortführung gegenwärtig in der „hermeneutischen Wissenssoziologie“, zu deren Hauptprotagonisten Ronald Hitzler zählt (Hitzler/Reichertz/Schröer 1999; Soeffner/Hitzler 1994), die andere in der von Ralf Bohnsack (2003; Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2001) als Ansatz der rekonstruktiven Sozialforschung elaborierten „dokumentarischen Methode der Interpretation“. Unterschiedlich ist nicht zuletzt das jeweilige Verständnis von Sinn: in der Schützschen Tradition auf den subjektiv gemeinten Sinn bezogen, in der Mannheimschen auf den dokumentarischen Sinngehalt (Meuser 1999, 2001). Diesem Unterschied korrespondiert eine unterschiedliche Gewichtung in der für die Soziologie offenkundig anhaltend kontroversen Frage, auf welcher Seite der analytische Blick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ansetzen soll. Hitzler (1992: 458) plädiert dafür, „zu erhellen, wie vom Individuum aus gesehen Gesellschaft erscheint, statt von der Gesellschaft her nach dem Individuum zu fragen“. Er scheint sich allerdings nicht ganz sicher zu sein, ob er hierfür Goffman als Gewährsmann anführen kann. Aus Goffmans Rahmenanalyse zitiert er den Satz: „Persönlich halte ich die Gesellschaft in jeder Hinsicht für das Primäre“ (Goffman, zit. in: ebd.).1 Herbert Willems (1997: 181 ff.) sieht starke Afnitäten der Goffmanschen Rahmenanalyse zum Boudieuschen Habituskonzept. Jene impliziere die Habitustheorie. Wie dem auch sei, hier geht es nicht um eine Goffman-Exegese. Vielmehr soll im Folgenden für einen beständigen Wechsel zwischen beiden Perspektiven argumentiert werden. Auf diese Weise kommt, so soll gezeigt werden, die Gleichzeitigkeit, das widersprüchliche Ineinander von Fragilität und Sicherheit in den Blick. Dies lässt sich auf die zwei Betrachtungsweisen beziehen, mit denen Hitzler sich dem Phänomen der fragilen Sozialität zuwendet: einer anthropologischen, im „Goffmenschen“ entfalteten und einer modernisierungstheoretischen, wie sie zahlreichen gegenwartsdiagnostischen Arbeiten zugrunde liegt, zuletzt denen zu posttraditionaler Vergemeinschaftung 1
Möglicherweise eignet sich der frühe Goffman besser als der späte, um die Notwendigkeit einer beim Individuum ansetzenden Perspektive zu untermauern, auch wenn Teile der Goffman-Rezeption die Kontinuität seines Werkes betonen und die Rahmenanalyse als Schlüsseltext zum Verständnis des Gesamtwerks verstehen (Hettlage 1991). Aber damit scheint es sich zu verhalten wie mit biographischen Rückerinnerungen: Unstimmigkeiten werden geglättet, das Vergangene an die gegenwärtige Sichtweise angepasst.
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(Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008). Die erste fokussiert auf die elementare Fragilität menschlicher Sozialität als ein Merkmal der conditio humana, die zweite auf spezische und wachsende Fragilitäten (spät-)moderner Sozialitäten. Um dies empiriebezogen auszuführen, werde ich mich in das Feld der Geschlechterbeziehungen und -verhältnisse begeben – nicht nur, weil ich mich in der einschlägigen Forschung leidlich auskenne, sondern auch, weil hier gegenwärtig besonders unsichere Zeiten zu herrschen scheinen; Krisenzeiten, wenn man der aktuellen Medienberichterstattung Glauben schenken will. Wenn die von Schütz beschriebenen Idealisierungen nicht mehr tragen, dann wird es für die Subjekte ernst. Dann wird die in anthropologischer Perspektive als – im Sinne der conditio humana – prinzipiell nicht hintergehbar begriffene Unsicherheit zu einer alltäglichen Erfahrung der Subjekte. In den Geschlechterbeziehungen scheinen gegenwärtig vor allem Männer solche Erfahrungen zu machen.
II Im pädagogischen Männlichkeitsdiskurs und in den Men’s Studies ist das Deutungsmuster einer fragilen Männlichkeit weit verbreitet. Es wird insbesondere bemüht, wenn es gilt, eine Erklärung für die im Vergleich zu Frauen deutlich höhere Afnität zu Risikohandeln und die stärkere Verbreitung von Gewalthandeln unter Männer und vor allem männlichen Jugendlichen zu nden. Michael Kaufman (1996: 152, 153) zufolge ist „Männlichkeit ungeheuer zerbrechlich“, Männer seien sich „ihrer eigenen (biologischen und sozialen) Männlichkeit permanent unsicher“. Ein Weg, die permanenten Zweifel an der eigenen Männlichkeit zu bekämpfen, sei Gewalt.2 Jon Swain (2003) beschreibt in einer ethnographischen Studie über die Rolle des Körpers bei der Konstruktion von Männlichkeit die häugen Schlägereien unter männlichen Schülern als tägliche Verteidigung einer herausgeforderten Männlichkeit. Diese müsse immer wieder unter Beweis gestellt werden. Unsicher ist die Männlichkeit insofern, als sie den männlichen Jugendlichen nicht als unverbrüchlicher Besitz zu eigen ist, sondern durch bestimmte Praktiken, zu denen das Riskieren der Unversehrtheit des eigenen Körpers und Gewalthandeln gehören, situativ hergestellt werden muss. In diesem Sinne sind die männlichen Jugendlichen jene prinzipiell verunsicherten Wesen, als die Hitzler die „Goffmenschen“ beschreibt; ihr Leben ist in einem sehr handfesten, z. B. ein blaues Auge und eine blutende Nase in Kauf nehmenden, Sinne riskant.
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Dass damit männliches Risiko- und Gewalthandeln nicht hinreichend erklärt ist, habe ich an anderer Stelle ausgeführt (Meuser 2002).
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Zugleich, in ein und derselben Bewegung, ist es ein von Sicherheiten geprägtes Leben. Die homosoziale Männergemeinschaft vermittelt eine habituelle Sicherheit, indem sie keinen Zweifel lässt hinsichtlich der angemessenen Performanz einer anerkannten Männlichkeit. Die Akteure wissen, was sie zu tun haben, um in ihrer Männlichkeit bestätigt zu werden. Sie müssen sich den ernsten Spielen des Wettbewerbs stellen, in denen Männlichkeit sich formt (Bourdieu 1997: 203; Meuser 2008), und die homosoziale Gemeinschaft sorgt dafür, dass die Spielregeln in das inkorporierte Geschlechtswissen der männlichen Akteure eingehen. Sie wissen, dass sie sich ihrer Männlichkeit im Modus des Wettbewerbs vergewissern müssen. Die häugen Prügeleien zwischen Jungen und männlichen Jugendlichen, von diesen selbst als „Spaßkloppe“ bezeichnet, sind zu sehen als tägliche Verteidigung einer herausgeforderten Männlichkeit und als in den Bewegungen des Körpers fundiertes praktisches Erkennen des kompetitiven Modus der Herstellung und Darstellung von Männlichkeit. Dieser wird in die Körper eingeschrieben, die als „reale Akteure“ (Bourdieu 2001: 171) habitualisierte Handlungsweisen, die Voraussetzung für Handlungssicherheit, in Gang setzen. Gäbe es diesen sicheren Boden nicht, wäre schnell ‚Schluss mit lustig‘. Das Paradoxe ist gewissermaßen, dass es Spaß macht, die herausgeforderte Männlichkeit zu verteidigen. Die Männlichkeit ist in dem Sinne fragil, dass sie im Wettbewerb fundiert ist und damit auch verfehlt werden kann. Diesem eignet freilich eine „doxische“ Qualität, er ist ein Modus, in dem Männlichkeit „mit der alltäglichen Ordnung des Ungefragten und Selbstverständlichen“ gewohnheitsmäßig verwurzelt ist (Bourdieu 1987: 668). Das Ergebnis sind fragile Sicherheiten. Rekonstruiert man die riskanten Wettbewerbsspiele der männlichen Jugendlichen aus deren je individueller Perspektive, drängt sich die prekäre Fragilität der Männlichkeitskonstruktionen in den Blick. Wählt man die umgekehrte Perspektive, fragt man von der Gesellschaft aus nach dem Individuum, entdeckt man eine „selbstbewußte Zustimmung zum habituellen Schicksal“ (Janning 1991: 31), einen positiv angenommenen Zwang, der eine habituelle Sicherheit vermittelt, indem er den Weg weist, wie mit der Prekarität umzugehen ist. Die eine Perspektive entwertet die andere nicht. Beide gleichzeitig einzunehmen, erlaubt es zu erklären, weshalb nicht nur junge Männer mit großer Regelmäßigkeit und oft auch mit Vergnügen sich in homosoziale Wettbewerbe begeben, mithin in Situationen, deren Ausgang per denitionem unsicher ist. Körperriskante und gewaltförmige Praktiken sind im Übrigen nur eine Form, in der die ernsten Spiele des Wettbewerbs ausgetragen werden (Meuser 2008). Das Beispiel der Wettbewerbsspiele zeigt, in welcher Weise Fragilität und Sicherheit auf der Ebene elementarer sozialer Interaktion ineinander verwoben sind. Die trotz aller Fragilität gegebene habituelle Sicherheit gründet in der vorreexiven Intentionalität der sozialisierten Körper. Deren Bedeutung zeigt sich
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auch, freilich in einer unterschiedlichen Weise, wenn man fragile Sicherheiten in modernisierungstheoretischer Perspektive betrachtet.
III Die Medienberichterstattung über die Entwicklung und den Stand der Geschlechterverhältnisse hat in den letzten Jahren einen neuen Problemfall entdeckt: den Mann in der Krise, den zerbrechlichen Mann. Die Frauen sind, so der Tenor der Berichterstattung, auf dem Vormarsch, bei den Bildungsquali kationen wie bei den Berufskarrieren, die Männer hingegen in der Defensive.3 Der Titel des „Spiegel“ vom 23. Juni 2008 – „50 Jahre Emanzipation. Was vom Mann noch übrig ist“ – verdeutlicht dies exemplarisch. Das Titelbild zeigt einen aus der Vogelperspektive fotograerten muskulösen, den gegenwärtigen Standards männlicher Körperästhetik gerecht werdenden, nackten Mann vor einer leeren weißen Wand, der den Oberkörper leicht nach vorne gebückt ängstlich nach oben in die Kamera schaut und mit beiden Händen sein Geschlechtsteil bedeckt – das einzige Insigne der Männlichkeit schützend, das ihm noch geblieben ist bzw. das die Frauen ihm gelassen haben. Ein aller sozialen Attribute von Männlichkeit entkleideter Mann – deutlicher lässt sich der Niedergang des männlichen Geschlechts bildlich kaum darstellen. Der zugehörige Artikel unterstreicht den Niedergang mit einer Reihe symbolträchtiger Bilder: Frauen in den „urmännlichen“ Betätigungsfeldern des Finanzmarktes, des Militärs und des Fußballs, zudem in Funktionen und Positionen, in denen sie den Männern Anweisungen geben und Befehle erteilen. Sich von einer Schiedsrichterin die rote Karte zeigen lassen zu müssen, darf man sich getrost als eine nicht unerhebliche Herausforderung der betroffenen Männer vorstellen. Gewiss ist es geraten, die übliche mediale Dramatisierung in Rechnung zu stellen, gleichwohl verweisen derartige Berichte auf einen wichtigen Aspekt. Der Wandel der Geschlechterverhältnisse hat in engem Zusammenhang mit der Transformation der Erwerbsarbeit tradierte Männlichkeitspositionen fragil werden lassen. Die hieraus resultierenden Verunsicherungen liegen auf einer anderen Ebene als die zuvor beschriebene elementare Fragilität von Männlichkeit, die unabhängig von den gegenwärtigen Prozessen gesellschaftlicher Veränderung gegeben ist. Insoweit als verschiedene Gruppierungen von Männern in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Maße in diese Veränderungen involviert sind, weist das Fragilwerden von Männlichkeitspositionen wie auch der Umgang damit stratikatorische Differenzierungen auf. Die wachsende Prekarisierung männlicher 3
Vgl. z. B. Der Spiegel vom 23.6.2008 oder Die Zeit Nr. 31 vom 23.7.2009.
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Erwerbsarbeit hat vor dem Hintergrund, dass das Normalarbeitsverhältnis die zentrale institutionelle Stütze industriegesellschaftlicher Männlichkeitskonstruktionen (gewesen) ist, zum Teil tief greifende Verunsicherungen zur Folge. Auf der Basis einer Fallstudie über männliche Leiharbeiter in der Automobilindustrie beschreibt Klaus Dörre (2005), welche Konsequenzen diese Form prekärer Beschäftigung für das geschlechtliche Selbstverständnis dieser Männer hat. Die von Dörre untersuchten qualizierten Facharbeiter betrachten ihre Tätigkeit am Montageband „mehrheitlich als Ausübung einer unterwertigen Beschäftigung. Manche sprechen abwertend von ‚Frauenarbeit‘“ (ebd. 190) und begreifen ihre Tätigkeit als eine Art „Zwangsfeminisierung“ (ebd. 200). In einer Gegenreaktion nutzen die Leiharbeiter jede Gelegenheit, „ihre angegriffene ‚Männlichkeit‘ imaginär, also mittels symbolischer Überzeichnung zu stärken“ (ebd.). In einer vergleichbaren Weise imaginär ist die Reaktion junger ostdeutscher Männer aus benachteiligten Sozial- und Bildungslagen an der Schwelle des hochgradig prekären Übergangs in den Beruf. Thomas Kreher (2007) zeigt, dass bei diesen Männern eine Orientierung am (für sie kaum erreichbaren) Normalarbeitsverhältnis und dessen Sicherheitsverheißungen dominiert.4 Mit dem Festhalten an traditionellen Mustern und Ansprüchen wird gewissermaßen eine Inklusion in eine Arbeitswelt zu erreichen versucht, die insgesamt von Auösung bedroht ist und insbesondere diesen Männern mangels geeigneter Bildungsabschlüsse nicht offen steht. In ihren Versuchen, die aus den Verwerfungen des Arbeitsmarktes resultierende Fragilität ihrer Männlichkeitspositionen zu bewältigen, orientieren sich diese Männer an Mustern, die vormals, unter industriegesellschaftlichen Bedingungen und in Zeiten von Vollbeschäftigung, Sicherheit nicht nur verheißen, sondern auch vermittelt haben. Davon ist nur die Verheißung übrig geblieben. Die Orientierung an tradierten Männlichkeitskonzepten, das Festhalten an industriegesellschaftlichen Männlichkeitskonstruktionen befördert jedoch die Verunsicherungen, anstatt sie, wie gehofft, still zu stellen (Scholz 2007). Das Problem dieser Männer besteht darin, dass sie sich am tradierten habituellen Repertoire von Männlichkeit orientieren, aber nicht sehen, dass die Anwendungsbedingungen für dieses Repertoire nicht mehr gegeben sind. Dies geschieht immer dann, „wenn ein Feld eine tiefe Krise durchmacht und seine Regelmäßigkeiten (oder sogar seine Regeln) grundlegend erschüttert werden“ (Bourdieu 2001: 206). Eine andere Form, sich den Veränderungen zu stellen, lässt sich auf der stratikatorischen Gegenseite beobachten. Veränderungen, Entgrenzungen ereignen sich nicht nur im Segment prekärer Beschäftigung, auch die andere Seite des Erwerbssystems, das Management, ist in den letzten Jahrzehnten weitreichenden
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Dörre verweist auf „die ungebrochene Ausstrahlungskraft des Normalarbeitsverhältnisses, die bis in die ‚Zone der Entkopplung‘ hineinreicht“ (2007: 293).
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Umorganisationen und Strukturveränderungen unterzogen worden. Der Verlust von Sicherheit betrifft auch Positionen im Management, insbesondere im mittleren Management (Hearn/Collinson 2006: 307). Dies ndet statt in einer globalisierten Wirtschaft. Es ensteht eine „transnational business masculinity“, die Connell und Wood (2005: 347) als das neue Muster hegemonialer Männlichkeit identizieren. Ein zentrales Merkmal dieser Männlichkeit besteht darin, den immensen Druck auszuhalten, der mit den wachsenden Unsicherheiten in einer globalen Ökonomie einhergeht, auch damit, dass die eigene Karriere alles andere als institutionell gesichert ist. Mit Unsicherheit produktiv umzugehen, sich vom Wandel nicht verunsichern zu lassen, sondern diesen zu gestalten, sich gleichsam an dessen Spitze zu setzen, kennzeichnet, so meine These, hegemoniale Männlichkeit unter den Bedingungen von Entgrenzung und wachsenden Unübersichtlichkeiten. Hedwig Rudolph zeigt in einer Studie über „Unternehmensberatungen als männliche Eliteorganisationen“ (2007: 114), dass die in dieser Branche allgegenwärtige Statusunsicherheit die Beschäftigten veranlasst, sich „als hart getestete Bestenauslese zu stilisieren – nach innen wie nach außen“ (ebd.). Hegemoniale Männlichkeit muss sich ständig aufs Neue in den „ernsten Spielen des Wettbewerbs“ konstituieren, deren Rigidität zugenommen hat. Der Wettbewerb funktioniert im Sinne eines „upor-out“ Modells, so die Formulierung eines von Connell und Wood (2005: 356) interviewten Managers. Anders als die prekär beschäftigten oder arbeitslosen Männer bejahen die Manager, zumindest die unter ihnen, die im Wettbewerb bestehen, das ihnen auferlegte riskante Leben. Sie sehen den „unvollständigen und offenen Charakter des Sozialen“ (Laclau/Mouffe 2006: 175) als eine Chance zur Gestaltung; sie nutzen die Fragilität gleichsam als ‚Sprungbrett‘ für den individuellen Erfolg. Statt den Verlust von Sicherheit als Gefährdung der eigenen Männlichkeit zu erfahren, präsentiert sich ihre Männlichkeit als ein auf permanente Innovation hin orientiertes ‚Projekt‘, integriert in ihr „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2007).
IV „Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen“ (Loriot). Wie kaum eine andere Beziehungsform kann die heterosexuelle Paargemeinschaft als ein fragiles Gebilde gelten. Insbesondere im Geltungsbereich des Codes der romantischen Liebe, in dem Mann und Frau unter einem gesteigerten Individualitätsanspruch zusammen nden (Lenz 2003: 18), tritt ein grundlegendes Problem des „Goffmenschen“ zutage: dass ein gelingendes Zusammenleben ein „sich andauernd wiederholende(s) Problem für jeden einzelnen Interaktionsteilnehmer“ ist (Hitzler 1992: 452). Spätestens dann, wenn keine ökonomischen Abhängigkeiten mehr ihre
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Bindungskraft entfalten, was im Zuge der Transformation der Geschlechterordnung immer häuger der Fall ist, kann eine auf Dauer gestellte Paargemeinschaft als unwahrscheinlich gelten. Allerdings belehrt uns die Empirie, trotz gestiegener Scheidungsraten, eines Besseren. Für die im Jahr 2005 in Deutschland geschlossenen Ehen wird erwartet, dass 40 Prozent von ihnen geschieden werden. Für die weitere Entwicklung wird ein Niveau von 50 Prozent geschätzt. Immerhin bliebe die Hälfte der Ehen ungeschieden. Und auch die geschiedenen Ehen blicken überwiegend auf eine längere Zeit des Zusammenlebens zurück (Peuckert 2008: 169 ff.). Was sichert den Bestand von Partnerschaften und Ehen? Peter Berger und Hansfried Kellner (1965) haben in ihrem ‚klassischen‘ Aufsatz über „Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit“ das „fortlaufende Gespräch“ zwischen den Ehepartnern als den Weg benannt, auf dem die „Nomos-Bildung“ erfolgt, durch die das Paar sich als Gemeinschaft konstituiert, eine gemeinsame Wirklichkeit herstellt. „Es kann gesagt werden, dass man sein Leben grundsätzlich im Gespräch führt“ (ebd. 222). Berger und Kellner begreifen die Ehe als einen „dramatischen Vorgang, bei dem zwei Fremde aufeinandertreffen und sich neu denieren“ (1965: 222). Damit skizzieren sie eine Paargemeinschaft, die man sich als grundsätzlich fragil vorstellen muss, beständig auf verbale Verständigung angewiesen, ein Umstand, der angesichts des Schwindens der Bindungskraft von Traditionen erheblich an Brisanz gewonnen hat. Vor einem anderen theoretischen Hintergrund beschreiben Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1990) sowie Anthony Giddens (1993) moderne Partnerschaften als von einem ‚Beziehungsdauerdiskurs‘ getragen. Alois Hahn weist allerdings auf die „enorme Riskiertheit“ hin, „denen Beziehungen ausgesetzt wären, die tatsächlich durch Konversation eine neue Welt schaffen müssten“ (1983: 213). Hahn erscheint es folglich als fraglich, dass das „‚Konversationsmodell‘ der Ehe“ ein empirisches Korrelat hat.5 Eine andere Sicht auf den Prozess der partnerschaftlichen Gemeinschaftsbildung entwickelt Jean-Claude Kaufmann (1994). An die Stelle des Gesprächs treten die alltäglichen Routinen des Haushaltens; in ihnen wachsen Mann und Frau allmählich zu einer Paargemeinschaft zusammen. In dem Maße, in dem die Paarintegration voranschreitet, werden die Gewohnheiten zum zentralen „Bindemittel“ (ebd. 109) der Paargemeinschaft. Das Paar funktioniert, so Kaufmann pointiert, „im Kern über das Schweigen“ (ebd. 224). Die Stabilität einer Partnerschaft beruht geradezu darauf, zentrale Probleme nicht in die Aufmerksamkeit des Diskurses zu heben, sondern über das Wesentliche zu schweigen (vgl. auch Koppetsch/Burkart 1999). Folgen Paare der in der Ratgeberliteratur verbreiteten Empfehlung „Reden, 5
Man könnte das diskursive Modell der Ehe auch als ein typisches Beispiel dafür sehen, dass Soziologen nicht selten dazu neigen, die Erfahrungen, die sie im eigenen akademischen Milieu machen, über dessen Grenzen hinaus zu generalisieren. Der Soziologie eignet die Tendenz, die „MittelschichtIdealversion“ (Goffman 1981: 20) sozialer Verhältnisse zu betrachten.
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Reden, Reden“, vermögen sie zwar Probleme zu benennen, gefährden aber nicht selten den partnerschaftlichen Zusammenhalt, dessen Fragilität sie sich im Reden bewusst werden. Mit dem Wandel der Geschlechterverhältnisse stehen Partnerschaften verstärkt unter dem Anspruch der Egalität – als von außen herangetragener wie als von den Partnern selbst vertretener. Dies hält nicht nur den Beziehungsdauerdiskurs in Schwung, es erhöht zumindest potentiell die Fragilität der Beziehungen. Wie verschiedene Studien zeigen, nden Paare durchaus ‚intelligente‘ Lösungen, um zu vermeiden, dass die Gemeinschaft unter den vielfach von beiden Partnern getragenen Egalitätsansprüchen auseinander bricht (Behnke/Meuser 2005; Hochschild/ Machung 1993; Kaufmann 1994; Koppetsch/Burkart 1999). Eine Realisierung der Egalitätsansprüche scheitert vor allem an inkorporierten Gewohnheiten. Die ‚Trägheit des Körpers‘ macht sich u. a. darin geltend, „dass die Frau selbst ein System von Praktiken verstärkt, welches sie im übrigen kritisiert“ (Kaufmann 1994: 257). Da dies „im Schweigen der Gewohnheiten“ (ebd.: 261) geschieht, bleibt es den Akteuren zumeist verborgen. Zudem sorgen „Konsensktionen“ (Hahn 1983) dafür, dass die mangelnde Realisierung der selbst gesetzten Gleichheitsansprüche nicht wahrgenommen wird. Das Paar einigt sich stillschweigend auf eine Interpretation, die sich für den außen stehenden Beobachter zwar nicht mit dem deckt, was er wahrnimmt, von deren Richtigkeit das Paar aber fest überzeugt ist. Regelungen, bei denen jeder das erledigt, was er gerne macht, können so, auch wenn der Zeitaufwand sehr ungleich ist, als mit der Gleichheitsnorm in Einklang stehend wahrgenommen werden. Der Alltag von Paargemeinschaften hält ein reichhaltiges Anschauungsmaterial ndiger Lösungen bereit, mit denen die Akteure die Fragilität geschickt zu bewältigen wissen. Dass dies oftmals in verblüffender Weise reibungslos erfolgt, verdankt sich dem Umstand, dass die Lösungen habitualisierten geschlechtstypischen Mustern folgen. Hierzu gehört, dass die Frau die Wirklichkeitskonstruktionen des Mannes unterstützt und sie dadurch zur gemeinsamen Paarwirklichkeit macht. In einem Interview mit einem Paar, das sich der Egalitätsnorm verpichtet sieht, in dem gleichwohl der Mann der Haupternährer der Familie ist und die Frau neben einer Teilzeittätigkeit die Hauptlast der Familienarbeit trägt, geschieht dies beispielsweise dadurch, dass die Frau den potentiellen (allerdings sehr unwahrscheinlichen) Fall, dass sie das Familieneinkommen sichert und der Mann die Familienarbeit leistet, als gänzlich unproblematisch darstellt. Hätte sie in ihrem Beruf bessere Verdienstmöglichkeiten als er in seinem, dann, führt sie aus, „hättest Du, glaub ich, überhaupt gar kein Problem damit gehabt“. „Also da bist Du wirklich komplett unambitioniert.“ Indem sie es ist, die die Bereitschaft des Mannes zur Übernahme der Familienarbeit herausstellt, stellt sie ihren Mann davon frei, sich für das tatsächliche Arrangement zu rechtfertigen. Er kann im Fortgang des Interviews,
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ohne kritische, zweifelnde Fragen befürchten zu müssen, seine Bereitschaft zur Familienarbeit explizieren. „Also von meiner Seite aus, war’s rein die Frage, wer verdient mehr.“ Dass dem so ist, gilt durch die Bekundungen der Frau auf jeden Fall als verbürgt.6 Das an diesem Beispiel erläuterte geschlechtstypische Unterstützungsmuster trägt in entscheidendem Maße dazu bei, dass unter Gleichheitsansprüchen stehende Partnerschaften weniger fragil sind, als es angesichts des durch die Gleichheitsnorm gesteigerten Koniktpotentials zu erwarten wäre. Obwohl die Frauenbewegung mit der Losung „Das Private ist politisch“ den Binnenraum der Familie zum Ort geschlechterpolitischer Kämpfe zu machen sich bemühte (Meuser 1998), haben sich in diesem Raum tradierte Strukturen länger und hartnäckiger als im Feld der Erwerbsarbeit behaupten können. Dies mag mit dem schon von Goffman (1994) angemerkten Umstand zu tun haben, dass die ‚Kontrahenten‘ Tisch und Bett miteinander teilen und dass in der Moderne private Geschlechterbeziehungen emotional fundiert sind.7 In einer Studie zu Doppelkarrierepaaren haben wir gezeigt, dass es die Frauen sind, die für das Vereinbarkeitsmanagement zuständig sind, dessen es bedarf, um zwei Karrieren unter dem Dach einer Familie zu vereinen. Diese Zuständigkeit ist „nicht das Ergebnis von langwierigen Aushandlungsprozessen zwischen den Partnern oder Ausdruck einer Resignation nach nicht zufriedenstellend ausgetragenen Divergenzen, sondern sie ‚ergibt sich‘ gleichsam wie von selbst“ (Behnke/ Meuser 2005: 137). Die skizzierten Geschlechterarrangements sind gewiss riskant; es bedarf oft nicht viel, um sie zu gefährden. Allein die Thematisierung im Interview kann den Anstoß geben. Gleichwohl eignet ihnen in all ihrer Fragilität eine Sicherheit, die ohne die geschlechtstypischen Habitualisierungen nicht zu haben wäre. Noch bei den Doppelkarrierepaaren, die als ‚Lebensstilpioniere‘ kaum Vorbilder haben, an denen sie sich orientieren können, und deshalb zu einer reexiven Lebensführung ‚genötigt‘ sind, macht sich die vorreexive Intentionalität inkorporierter Routinen geltend. Dies stabilisiert die Paargemeinschaft, und vermutlich sichert die ‚heimliche‘ Macht der Routinen generell das Überleben des „Goffmenschen“ im Alltag. Er hätte also guten Grund, das ‚Lob der Routine‘ zu singen.
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Das Interview wurde im Rahmen eines laufenden, von der DFG geförderten Projekts zu Formen und Bedingungen einer stärkeren Involvierung des Vaters in das familiale Binnengeschehen geführt. 7 Günter Burkart und Cornelia Koppetsch weisen darauf hin, dass das Geschlechterverhältnis „in Paarbeziehungen anders strukturiert und reguliert [ist] als im Kontext der öffentlichen Geschlechterordnung“ (2001: 432).
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V Ronald Hitzler verweist unter Rekurs auf Goffman auf die grundsätzliche Zerbrechlichkeit sozialer Ordnungen. Oft bedarf es nur einer geringen Abweichung vom erwarteten Interaktionsverlauf, um eine Ordnung zusammenbrechen zu lassen. Garnkels (1967) Krisenexperimente haben dies äußerst anschaulich vor Augen geführt. Sie zeigen aber auch, dass die (temporär) zerbrochene Ordnung schnell wieder hergestellt bzw. ‚geheilt‘ wird. Auf der anderen Seite weisen soziale Ordnungsgefüge oftmals eine für den soziologischen Beobachter „verblüffende Persistenz“ (Heintz/Nadai 1998: 77) auf, die sich nur schwer modernisierungstheoretisch erklären lässt. Ob man als Soziologe das eine oder das andere betont und welchen Erklärungsansatz man favorisiert, hängt, so meine Vermutung, auch davon ab, in welchem Feld man die empirische Basis der eigenen theoretischen Reexionen gewinnt. Posttraditionale Gemeinschaften scheinen eine andere Perspektive nahezulegen als Geschlechterbeziehungen. Man kann dies als eine methodologisch relevante Variante der Standortverbundenheit des Denkens begreifen.
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Sozialität und Globalität Zum existenzialen Verstehen einer kosmopolitisierten Kultur Angelika Poferl
Der folgende Beitrag verortet die Tatsache der Sozialität – also der Gesellschaftlichkeit des Menschen und seines Lebens in sozialen Beziehungen – in den Zusammenhängen einer globalisierten, ‚kosmopolitisch‘ gewordenen Welt. Als Beispiel wird das Phänomen der Sorge um globale Andere in Form transnationaler Hilfe und Unterstützung herangezogen, die – ausgehend von einem europäisch-westlichen Hintergrund – als eine spezische Ausprägung ‚fragiler‘ Sozialität auf der Grundlage hochgradig pluralisierter, individualisierter und global transformierter Sinnwelten begriffen werden kann. Die Ausführungen sind in zwei Schritte untergliedert. Zunächst erfolgt ein kurzer Überblick über die Globalisierungsdiskussion, wie sie in den Sozialwissenschaften insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre geführt worden ist. Daran anschließend wird anhand des gewählten Themenfeldes eine Perspektive skizziert, die die von Ronald Hitzler begründete Programmatik eines „existenzialen Verstehens“ (Hitzler 1988) mit Ansätzen einer „kosmopolitischen“ Soziologie (Beck 2000; 2002; 2004; Beck/Sznaider 2006) verbindet.
Globalität und die Globalisierung sozialer Beziehungen Die Globalisierung sozialer Beziehungen stellt ein zunehmend wichtiges Forschungsfeld unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Disziplinen dar. Im Folgenden sei anhand einiger Stichworte zur Entwicklung der Globalisierungsdiskussion daran erinnert, in welcher Weise die Vorstellung, dass wir in einer globalisierten Gesellschaft leben, in die Soziologie eingegangen ist. „Globalisierung“ ist ein schillernder und zwischenzeitlich auch inationär gebrauchter Begriff, so inationär, das manche es vorgezogen hätten, das ‚G-Word‘, wieder aus dem Vokabular ernstzunehmender sozialwissenschaftlicher Debatten zu tilgen. Gleichwohl scheint der Begriff trotz aller Unschärfen und eher hinderlicher landläuger Besetzungen (z. B. als Synonym eines entfesselten Kapitalismus und Neoliberalismus) heuristisch von Nutzen, um jene Prozesse und Zustände in den Blick zu rücken, die die scheinbar feststehende Einheit von nationalstaatlich organisierten Gesellschaften auösen oder zumindest überformen. Er versetzt damit, analytisch angewendet und
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weiter gefasst, auch in die Lage, die hoch voraussetzungsvolle Gleichsetzung von Staat, Nation und Gesellschaft in ihrer Geschichtlichkeit, d. h. als eine historische Konstruktion, und nicht als Ausdruck von ‚Naturgesetzlichkeiten‘ zu erkennen. Die Soziologie hat lange mit dieser Gleichsetzung gearbeitet. Ulrich Beck kritisiert die teils implizite, teils explizite Verknüpfung von Nationalstaatlichkeit und Gesellschaft seit den 1990er Jahren vehement als einen von der sozialen Wirklichkeit überholten „methodologischen Nationalismus“; im Gegensatz dazu sei von einer sich durchsetzenden „Globalität“ – verstanden als Leben in gesellschaftlich entgrenzten Erfahrungs- und Handlungsräumen – auszugehen (Beck 1997). Dies bedeutet nicht ein Ende aller Grenzen; einige werden aufgehoben, andere neu gezogen. Inzwischen ist innerhalb der Sozialwissenschaften wie auch in der Sphäre des öffentlichen und politischen Diskurses weitgehend anerkannt, dass es Prozesse eines Wandels der Moderne gibt, denen ein rein nationales und territorial gebundenes Gesellschaftsmodell nicht gerecht werden kann. Allerdings wäre es zu pauschal, von ‚der‘ Globalisierung ‚der‘ Moderne zu sprechen. Gesellschaftstheoretische und historisch gesättigte Analysen weisen auf die Vielfalt von Modernen (Eisenstadt 2002), auf weltweit differierende Wege in die Moderne (Therborn 1995) und Formen der Verechtung verschiedener Modernen hin (Randeria 1999). Aktuelle Prozesse der Globalisierung treffen somit auf sehr unterschiedliche Voraussetzungen und nehmen dementsprechend unterschiedliche Züge an. Die Entstehung einer globalisierten Welt oder Gesellschaft kann nicht einem Standardschema unterworfen werden; auch sind vereinfachende Vorstellungen einer globalen Verbreitung und Weiterentwicklung von Moderne zu korrigieren. In Absetzung von einer allein ökonomischen Betrachtung von Globalisierungsprozessen klassizieren sozialwissenschaftliche Zugänge meist nach mehreren Dimensionen und Mechanismen, um der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse gerecht zu werden; die Rede ist z. B. von informatorischer, sozialer, kultureller oder auch ökologischer Globalisierung. Innerhalb der Globalisierungsliteratur, aber auch zur Präzisierung der Begriffe, wurde in den Sozialwissenschaften das Konzept der „Transnationalisierung“ (vgl. etwa De Swaan 1995; Pries 2008) geprägt. Transnationalisierung verweist auf Prozesse und Strukturen ‚quer‘ zu nationalstaatlich xierten Einheiten, ohne dabei gleich die Dimension des ‚Globalen‘ anzusprechen. Wieder andere Akzente werden mit dem von der angelsächsischen Diskussion inspirierten Begriff der „Kosmopolitisierung“ gesetzt, der auf Formen der „Globalisierung von innen“ (Beck 2000; 2002; 2004) abhebt. In dieser Sichtweise stellt Globalisierung keine Außenbeziehung geschlossener Systeme dar, sondern die Durchsetzung einer neuartigen gesellschaftlichen Realität mit globalen und transnationalen Bezügen innerhalb von Nationalstaaten, Regionen, sozialen Netzen und anderweitigen Zusammenhängen. Nicht zu vergessen ist, dass es grenzüberschreitende Verknüpfungen in der einen oder anderen Form auch zu
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historisch früheren Zeitpunkten schon gab (dies auszublenden, ergäbe ein falsches und geschichtlich verzerrtes Bild). De Swaan beschreibt dies anschaulich anhand des Handelns von Eliten: „In mehrfacher Hinsicht waren die künstlerischen, wissenschaftlichen und aristokratischen Eliten im Europa des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts weniger auf ein einzelnes Gebiet beschränkt und in ihrer Einstellung ‚europäischer‘ als jene des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ab dem Spätmittelalter reisten die Künstler durch ganz Europa, von Hof zu Hof. Umherziehende Studenten erstrebten ihre Ausbildung in Universitätsstädten. Es war keineswegs unüblich, daß Gelehrte den größten Teil ihres Lebens in ausländischen Klöstern, an ausländischen Universitäten oder Höfen verbrachten. Die vor- und frühneuzeitlich herrschenden Klassen hatten in vielerlei Hinsicht kein Vaterland, fanden ihre Ehepartner im ‚Ausland‘, sprachen fremde Sprachen und ließen sich vielfach da nieder, wo gerade irgendein Thron unbesetzt war (…). Doch beschränkte sich dieser ‚Internationalismus‘ (…) auf sehr kleine klerikale, adlige, künstlerische und universitäre Gruppen, die einer zumindest auf das Hochmittelalter zurückgehenden Tradition folgten. In der heutigen Zeit ndet die Internationalisierung notwendigerweise als Gegengewicht zur Nationalisierung statt, das heißt in Verbindung mit und als Gegensatz zu der Entstehung von Nationalstaaten. Ungefähr zwischen 1815 (dem Wiener Kongreß) und der Gegenwart wurde die Erdoberäche nach und nach in Nationalstaaten aufgeteilt, deren Grenzen auch als Schranken zwischen den in den einzelnen Gebieten entstandenen nationalen Kulturen fungierten“ (De Swaan 1995: 110).
Manche der hier skizzierten Entwicklungen kehren heute als Massenphänomene wieder. In der aktuellen Diskussion nimmt man daher Abschied von einem ‚Container‘-Bild, demzufolge Gesellschaften aus mehr oder weniger geschlossenen, auf einen bestimmten geographischen Raum festlegbaren, eine homogene ‚Kultur‘ erzeugenden und tradierenden Einheiten bestehen. Am geläugsten in den sozialwissenschaftlichen Thematisierungen ist sicherlich die Dimension der ökonomischen Globalisierung: globale Finanz- und Devisenmärkte, Fusionen und Standortverlagerungen von großen, multinationalen (Welt-)Konzernen, globale Handels- und Produktströme und deren Folgeprobleme bestimmen das Themenspektrum, wo es um ‚Globales‘ geht. Schon Karl Marx und Friedrich Engels haben im Kommunistischen Manifest von 1848 die weltumspannende Wirtschaftsdynamik des Kapitalismus prognostiziert. An dieser Stelle ist auch auf Immanuel Wallerstein und die von ihm seit den 1970er Jahren angestoßene „World-Systems“-Forschung (Wallerstein 2004) hinzuweisen, die erste Schübe der ökonomischen Globalisierung im 15. Jahrhundert diagnostiziert. Des Weiteren ndet eine technisch und massenmedial vermittelte kulturell-informatorische Globalisierung statt, die von der Kulturindustrie und Produktvermarktung vorangetrieben wird. Global kom-
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merzialisierte Bilder, Töne und Kulturgüter (Filme, Fernsehserien, Kleidermoden, Musikstile, Starkulte etc.) sind für viele selbstverständlich in den Alltag integriert. Sie transportieren Vorstellungen, Wünsche, Träume von erstrebenswerten oder attraktiven Lebensweisen über die ganze Welt. Es ist für Regierungen nahezu unmöglich geworden, Informationen darüber zu unterdrücken, welche Lebensbedingungen in anderen Ländern und Teilen der Welt vorherrschen. Bestimmte Ereignisse können überall als Anlässe für Konversation genutzt werden und haben die Fernsehzuschauer der Welt zum Publikum. John Meyer und seine Forschungsgruppe zur „Weltgesellschaft“ und „Weltkultur“ (Meyer 2005) heben in diesem Zusammenhang die Diffusion westlicher Normen und Prinzipien und globale Prozesse der Diffusion (z. B. im Bereich der Bildung) hervor. Arjun Appadurai (1996) betont die cultural ows, die Allgegenwart der Bilderströme, die Imaginationen jeweils anderer Welten und eigene kulturelle Sphären erzeugen (vgl. dazu auch Featherstone/Lash/Robertson 1995 sowie Castells 1996; 1997; 1998). Migrationen in all ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, Asylsuche und Flucht machen auf globale Bewegungen von Menschen und soziale Mobilitäten aufmerksam. Nationale oder auch ethnisch-kulturell begründete Abschließungsversuche werden Tag für Tag von der räumlichen und kommunikativen ‚Beweglichkeit‘ der Individuen – ob als Touristen, Migranten, Flüchtlinge, Exilanten, ‚Gastarbeiter‘, Gastwissenschaftler, Gaststudierende – unterlaufen, was wiederum neue gesellschaftliche Strukturen hervorbringt. Im Hinblick darauf wurde das Konzept der grenzüberschreitenden „Transnationalen Sozialen Räume“ (Glick Schiller/Basch/ Blanc-Szanton 1992; Pries 1998) entwickelt. Im wissenschaftlich-technischen Bereich werden Wissen und technologische Errungenschaften zunehmend in globalen Koordinationsnetzen erzeugt und global verwendet. Zivilisatorisch induzierte ökologische Krisen drohen im Weltmaßstab und treiben weltweite Mobilisierungen sowie globale politische Abstimmungsbemühungen voran. Darüber hinaus hat ein Prozess politischer Globalisierung begonnen, der über die bisherigen Gefüge und Praktiken internationaler Beziehungen und Verträge hinausgeht und neue supranationale Regimebildungen befördert und stabilisiert. Von Bedeutung sind schließlich die weltweit ausgeprägten sozialen Ungleichheiten. Die Abstände von Reichtum und Lebensstandard zwischen den Wohlstandsregionen und ärmeren Gebieten, in denen der Großteil der Weltbevölkerung lebt, wie auch die sozialen Spaltungen innerhalb der Länder trennen ‚Welten‘ voneinander. Globalisierungsprozesse haben in Teilen zu einer Verschärfung globaler sozialer Ungleichheiten beigetragen (vgl. unter anderem Held 2007; Wade 2003; Davis 2004; Therborn 2001). Sie führen zugleich dazu, dass soziale Ungleichheiten über einen nationalen Rahmen hinaus sichtbar und vergleichbar werden (vgl. Stichweh 1997; Beck 2008) und damit tendenziell an Legitimation verlieren. Auch die Diskussion über globale Gerechtigkeit (vgl. Pogge 2001) erhält neuen Auftrieb.
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Unter den spezischeren Fachperspektiven und Fragestellungen der Soziologie lässt sich Globalisierung als „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen“ (Giddens 19952: 85) und als eine ungleichzeitig verlaufende Neuordnung der Bedeutung und Dimensionen von Zeit und Raum im sozialen Leben begreifen. Globalisierung beinhaltet demnach, dass lokale zeit-räumliche Einbettungen des individuellen und kollektiven Handelns in ihrer Bedeutung zurücktreten gegenüber zeit- und raumübergreifenden Interdependenzen. Dies muss keine einseitige Unterdrückung lokaler kultureller Unterschiede durch ‚Amerikanisierung‘ bedeuten, wie etwa der Künstler Andy Warhol 1975 konstatierte: „Das Schönste an Tokio ist McDonald’s. Das Schönste an Stockholm ist McDonald’s. Das Schönste an Florenz ist McDonald’s. Peking und Leningrad haben noch nichts Schönes“ (zit. nach Handschuh-Heiß 1997: 44). Der Soziologe George Ritzer (2004) benutzte für die standardisierenden Effekte von Globalisierung eben diese Metapher der „McDonaldisierung“. Allerdings spricht vieles gegen eine simple Homogenisierungsthese. So weisen Autoren wie Stuart Hall (1996) oder Jan Nederveen Pieterse (1998) auf die Herausbildung ‚hybrider‘ transnationaler Identitäten und Kulturen mit „Melangeeffekten“ und unterschiedlichen Ursprüngen in den großen Weltregionen hin. Ulf Hannerz (1996) spricht von „Kreolisierung“, Roland Robertson (1998) hebt die Verbindung globaler und lokaler Anteile der Lebensweisen hervor – ein Phänomen, das als „Glokalisierung“ bezeichnet wird. Wachsende Aufmerksamkeit erfahren die teils gewaltsam ausgetragenen globalen Kultur- und Wertkonikte, die – so Appadurai (2007: 54) – bisherige „Wegweiser“ universalistischer, vermeintlich nichtverhandelbarer Überzeugungen ihrer Verlässlichkeit berauben. In einer Mitte der 1990er Jahre durchgeführten Studie über die Einwohner des Londoner Stadtteils Tooting zeigen Martin Albrow und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, welche Konsequenzen Globalisierungsprozesse für die Wahrnehmung von lokalen Gemeinschaften haben. In ausführlichen Interviews mit Anwohnern und Anwohnerinnen des untersuchten Stadtteils ging das Forschungsteam der Frage nach, wie die Menschen jeweils ihr Leben und ihre sozialen Kontakte organisieren. Die erhaltenen Antworten verdeutlichen, dass es innerhalb eines eng umgrenzten Raumes sehr verschiedene „soziale Landschaften“ (socioscapes) geben kann. Dieses Konzept setzt an der Umgestaltung sozialstruktureller und -kultureller Gefüge sowie heterogenen, ineinander übergehenden sozialen Zusammensetzungen und Interaktionsbeziehungen an. Nur für die wenigsten befragten Personen stellt der räumliche Ort auch den wichtigsten Bezugspunkt ihrer Lebensorientierung dar. Es nden sich vielmehr sehr typische, aber unterschiedliche Bezüge auf das Viertel, in dem man wohnt. Viele benutzen es als Ausgangspunkt, von dem aus sie ihre Welt-Kontakte pegen. Dies wird im folgenden Beispiel deutlich, dass sich wie ein aktuelles Gegenbild zu den oben von de Swaan geschilderten historischen Elitephänomenen lesen lässt.
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Angelika Poferl „Unsere älteste Befragte asiatischer Herkunft, Naranja, ist 65 Jahre alt und lebt seit 19 Jahren in Tooting. Sie kommt aus Tansania, lernte ihren Ehemann jedoch in Indien kennen; fast ihre ganze Familie lebt dort, abgesehen von den Söhnen, die außerhalb Londons wohnen. Sie steht in ständiger Verbindung mit ihrer Familie in Indien und einer Schwester in New York, in der Regel über Briefe, und kehrt jedes Jahr nach Indien zurück. Sie und ihr Ehemann mögen Deutschland und die Schweiz, und sie reist gerne. In der Gemeinde ist sie sehr aktiv, singt in ihrem Tempel, besucht das Altenzentrum und hat in allen Volksgruppen Freunde (…) Möglicherweise ist Michael der genaueste Beobachter, ein aus Jamaika stammender schwarzer Gemeindearbeiter, der seit 18 Jahren mit seinen Eltern in Tooting lebt und in Battersea, auf der anderen Seite von Wansworth arbeitet. Seiner Meinung nach gibt es in Tooting kein Gemeinschaftsleben (..). Seine Freunde sind über ganz London verstreut, und alles, was er macht, kreist um das Telephon. Jede Woche telefoniert er mit Jamaika und den Vereinigten Staaten, und seit zehn Jahren fährt er jedes Jahr nach Jamaika. Großbritannien betrachtet er als einen zusätzlichen amerikanischen Bundesstaat“ (Albrow 1998: 303 ff.).
„Geben Sie diesem Kind eine Chance“.1 Die Sorge um globale Andere Vor dem eben gezeichneten Hintergrund erscheint es soziologisch fruchtbar, nicht nur die strukturelle Dimension von Globalisierungsprozessen zu betrachten, sondern auch der Frage nachzugehen, was die Entstehung einer globalisierten Welt für das Selbstverständnis und Zusammenleben der Menschen bedeutet. Anhaltspunkte dafür liefert zum einen eine Soziologie des „kosmopolitischen Blicks“, wie sie von Ulrich Beck und anderen gefordert und entwickelt wird. In Absetzung zu philosophisch-normativen Positionen wird darunter ein „Beobachterstandpunkt“ verstanden, der die „reale Kosmopolitisierung“ von Gesellschaft sowie entsprechende Entgrenzungs- und Verechtungsprozesse unter dem Vorzeichen einer global geöffneten Moderne zu fassen erlaubt. Zum anderen lohnt es, die historische und kulturelle Kontextbezogenheit neu entstehender und sich wandelnder Deutungs- und Handlungsmuster auszuleuchten. Darüber hinaus rücken Aspekte von Subjektivität und der Weltverbundenheit von Individuen in den Blick, deren Nachvollzug über ein „existenziales Verstehen“ (nach Hitzler) geleistet werden kann. Dazu sei beispielhaft das Phänomen einer ‚Sorge um globale Andere‘2 betrachtet, das zum Gegenstand lebhafter Debatten über Chancen und Grenzen einer globalen Ethik oder ethische Aspekte von Globalisierung (vgl. etwa Bindé 2007; 1
Titelblatt eines Flyers von Unicef, Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Gezeigt wird ein Foto von „Saio Marah aus Sierra Leone, 9 Jahre alt.“ Der Flyer ist Bestandteil eines Spendenaufrufs zur Bekämpfung von Malaria. 2 Bezug genommen wird hierin auf aktuelle Forschungen der Verfasserin, in denen diese Thematik bearbeitet wird.
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Eade/O’Byrne 2005; Kuschel/Pinzani/Zillinger 1999) geworden, in ihrer konkreten lebenspraktischen Relevanz allerdings deutlich unterbelichtet ist. Sie interessiert hier als eine spezische Haltung der Anteilnahme am Leid anonymer, unbekannter Fremder, die an der gesellschaftlichen Präsenz und ‚neuen Nähe‘ des globalen Fremden ansetzt. Im Zuge gesellschaftlicher Globalisierung sind diese ‚Fremden‘ bzw. ‚Anderen‘ nahe gerückt, sei es durch Prozesse massenmedialer Vermittlung und kommunikationstechnologischer Vernetzung, sei es durch Migrationen, Reisen, ökonomischen und kulturellen Austausch oder die Begegnung von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Nationalität vor Ort. Globale Verechtungen und Entgrenzungen haben zu einer „Nachbarschaft aller mit allen“ (Beck 2007: 8) geführt. Es gibt keine grundsätzlich voneinander abgeschotteten territorialen und sozialen Räume mehr, der „distant stranger“ (Linklater 2007) ist Teil der Gegenwart und einer geschichtlich vorbildlosen planetarischen Koexistenz, die ihre eigenen Muster und Strukturen ausbildet. Das heißt: Die Schicksale, Lebensund Notlagen auch derjenigen, die in weit entfernten Weltregionen leben, stellen einen Bestandteil politischer, öffentlicher und alltäglicher Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonte dar. Die ‚Sorge um globale Andere‘ ndet derzeit vor allem in den vielfältigen Aktivitäten und Erscheinungsformen der globalen Zivilgesellschaft ihren Ausdruck. Herausgebildet hat sich ein breit gefächertes Spektrum an Problem- und Praxisfeldern, das von der humanitären Hilfe bis zum Einsatz gegen Folter und Repression, der Bekämpfung von Armut, Hunger und Unterentwicklung, dem Kampf gegen geschlechtsspezische Diskriminierungen, dem Bemühen um Kinderschutz und Kinderrechte, eine weltweite Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, der Umweltstandards und anderem mehr reicht. Dies verweist zunächst auf ein weltanschaulich eher unwahrscheinliches Phänomen: Unwahrscheinlich im Rahmen einer Misanthropie, die ‚den Menschen‘ grundsätzlich als übelwollend und schlecht begreift; unwahrscheinlich im Rahmen klassenkämpferischer Logik, die zwar das internationalistisch-revolutionäre (oder ‚falsche‘) Bewusstsein, nicht aber die Figur der Anteilnahme kennt; unwahrscheinlich auch in Bezug auf die teils utilitaristische, teils familialistische Annahme, dass Individuen und kollektive Akteure sich ausschließlich am Egoismus des Eigennutzens und dem Wohlergehen der ihnen Nahestehenden – der Zugehörigen, die in ein ‚Wir‘ inkludiert sind – orientieren. Entsprechend eingeübte Sehgewohnheiten ändern sich wenig, sofern man die Ebene von Organisationsformen des Sozialen, insbesondere im Modus der Vergemeinschaftung, einbezieht. Menschliche Sozialität wird dann meist als ‚Solidarität‘ verstanden: partikular, gruppenbezogen und exklusiv. Zentral hierfür sind die Kriterien der sozialen und symbolischen Nähe und Verbundenheit, wenngleich die historischen Formen und Normen von der Vormoderne bis zur Gegenwart erheblich variieren. Die „paradoxe Verknüpfung von Gemeinschaft und Gesellschaft“ (Beckert et al.
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2004: 10) prägt auch das Konzept nationalstaatlicher Solidarität, das durch einen Wandel von der ‚Solidarität unter Gleichen‘ zur ‚Solidarität unter Fremden‘ unter Bedingungen der Zugehörigkeit gekennzeichnet ist. Gesellschaftswissenschaftliche Deutungen haben von der Vermengung empirischer Beschreibungen und darauf bezogener normativer Zusatzannahmen (z. B. der Gruppenidentität und des Gemeinschaftscharakters, der Reziprozität und Reziprozitätserwartungen) wenig Abstand genommen. Theoretisch muss zur Kenntnis genommen werden, dass „die Beschränkung ethischer Verpichtungen auf ein abgrenzbares Kollektiv (…) in den Ordnungsmodellen der Soziologie immer mitgedacht (war)“ (Beckert et al. 2004: 10). Damit treten Hilfs- und Unterstützungsbeziehungen jenseits nationaler Grenzen und sozial integrierter Einheiten jedoch allenfalls als Abweichung in Erscheinung. Noch die aktuelle und sehr kontrovers geführte Debatte um neuartige Formen transnationaler, globaler und kosmopolitischer Solidarität arbeitet sich wesentlich an einem solchen methodologischen Kollektivismus und seinen normativen Bedingungen ab – oft entgegen ihren eigenen Absichten.3 Einerseits nden sich Positionen, die um den Nachweis eines Strukturwandels der Solidarität auf weltgesellschaftlicher Ebene bemüht sind und die Durchsetzung solidarischer Normen betonen. So sieht Hauke Brunkhorst (2008: 5) einen „wachsenden, strukturellen Solidaritätsbedarf“ gegeben, der aus weltgesellschaftlichen Funktionsdifferenzierungen und normativen Integrationsprozessen erwächst und sich in hoher Sensibilität gegenüber Rechtsverletzungen sowie anderweitigen Unzumutbarkeiten äußert: „Zwar sind massive Menschenrechtsverletzungen, sind die soziale Exklusion ganzer Weltregionen und empörende Ungleichbehandlungen nicht verschwunden. Aber erst jetzt werden Menschenrechtsverletzungen, Rechtlosigkeit und politische und soziale Ungleichheit als unser eigenes Problem verstanden, das jeden Akteur der Weltgesellschaft betrifft und erst jetzt gibt es ernsthafte und rechtlich bindende Ansprüche auf die globale Exklusion von Ungleichheit“ (ebd.). Andere hingegen räumen der Realisierung einer globalen Solidarität, die an der „nationalstaatlich gelegten Messlatte“ (Münkler 2004: 22) scheitern müsse, nur geringe Chancen ein. Eine exterritoriale, auf Nahbeziehungen verzichtende und tatsächlich gelebte Solidarität könne es demnach nicht geben: „Globalisierte und universalisierte Solidarität ist keine mehr. Bestenfalls handelt es sich bei ihrer medialen Inanspruchnahme um den Exerzierplatz schlechten Gewissens, das zunehmend von im humanitären Bereich tätigen NGOs bewirtschaftet wird“ (Münkler 2004: 22). Aus einem kultursoziologischen Blickwinkel muss dieser ‚Herstellungsaspekt‘ nicht verwundern. Empirische Studien zeigen in der Tat, dass Solidarität ‚erzeugt‘ werden kann, z. B. durch soziale Bewegungen und öffentliche Kampagnen; sie widmen sich dem Wirken prominenter 3 Die Literatur zum Begriff der Solidarität sowie ihren historischen und gegenwärtigen Erscheinungsformen ist äußerst breit gefächert. Vgl. dazu aus einer globalen bzw. transnationalen Perspektive auch Brunkhorst (2002) und Calhoun (2007) sowie im Überblick Poferl (2006).
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Einzelpersonen oder auch dem mehr oder wenigen stummen Akt des Spendens (vgl. Baringhorst 1999; Radtke 2007; Stein 2008). Ein ausgearbeiteter und sich dezidiert von nationalen Perspektiven abgrenzender Begriff „kosmopolitischer Solidarität“ ndet bei Kurasawa (2004; 2007) Verwendung. Er konzipiert diese als „Arbeit“ an der Verwirklichung von globaler Gerechtigkeit und Menschenrechten; „kosmopolitische Solidarität“ besteht demnach in einem transnationalen Modus der Praxis, „whereby actors construct bonds of mutual commitment and reciprocity across borders through public discourse and socio-political struggle“ (Kurasawa 2007: 160). Einem formalistischen und sozial ‚dünnen‘ globalen Konsensus der legalistischen Steuerung und Regulation wird darin das Modell eines kulturell pluralistischen, politisch dezentrierten und ästhetisch unterlegten „solidaristic cosmopolitanism“ entgegengesetzt, der sich durch dialogische und kreative Eigenschaften auszeichnet (Kurasawa 2007: 161). Betont wird darüber hinaus vor allem die Rolle der Medien, die einen eigenen „moral space“ (Silverstone 2007) kreieren (vgl. dazu auch Sontag 1993; Boltanski 1993; Chouliaraki 2006). Doch kann das Phänomen der Sorge um globale Andere so hinreichend erfasst werden? Um zu einem vielschichtigeren und normativ unvoreingenommenen Verständnis zu gelangen, ist es erforderlich, dem weitere Elemente hinzuzufügen. Formen der Anteilnahme, der Hilfe und Unterstützung bauen auf Problematisierungsprozessen und je spezischen „Moralen“4, auf Verantwortungskonstruktionen, historisch entwickelten Gefühlskulturen ebenso wie auf gesellschaftlich ‚zulässigen‘ Bereichen der Imagination auf. Sie sind Resultat einer „gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1969), die in unterschiedlichen Graden der Institutionalisierung stattndet und den Menschen mehr oder weniger legitime Orientierungen des Denkens, Fühlens, Handelns nahelegt, ohne dies streng zu determinieren. Im Hinblick auf das hier behandelte Themenfeld spielen so unterschiedliche historisch wirkmächtige Leitbilder wie das seit dem 18. Jahrhundert sich fortschreibende „humanitäre Narrativ“ (Laqueur 1989) sowie aktuell vor allem die – keineswegs linear entfaltete, sondern dramatisch gebrochene – Programmatik unteilbarer Menschenrechte (vgl. Levy/Sznaider 2001) eine Rolle, letztere haben sich trotz variierender Auslegungen als „schlechthin grundlegende[n] und weltweit gültige[n] politische[n] Idee“ (Menke/Pollmann 2007: 99) etabliert. Eindimensionale und einseitige Kategorien von ‚Fortschritt‘ und ‚Entwicklung‘ sind fragwürdig geworden und haben der Anerkennung globaler, menschlich verursachter Risiken und Problemlagen Platz in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit eingeräumt. Damit sind Wert- und Deutungshorizonte eröffnet, die die Kultur transnationaler Sorgebeziehungen diskursiv beeinussen und entsprechende Prozesse der Kosmopoliti4 Mit Luckmann (1997) empehlt es sich, für moderne Gesellschaften angesichts der Auösung umfassender Sinngefüge und eines allgemeinverbindlichen Wert- und Normengerüsts von ‚Moral‘ in der Mehrzahl zu sprechen.
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sierung mit ihren jeweiligen Verwerfungen und Ambivalenzen, Veränderungs- und Koniktpotentialen rahmen. Darüber hinaus enthält die Sorge um globale Andere in ihrer subjektiven Dimension jedoch ein Moment, das am treffendsten vielleicht auf die Formel eines (wie immer geglaubten, respektierten, gefühlten) „gemeinsamen Menschseins“ (Appiah 2009: 20) gebracht werden kann. Dies hat wenig mit abstrakten Idealen, bedingt mit Interessen (im Sinne des Involviertseins) und nichts mit traditionalen Formen der Vergemeinschaftung zu tun. Modi des subjektiven Erlebens, der Erinnerung und Erfahrung, Emotionalität in Gestalt von Mitgefühl oder Mitleid, die Möglichkeit, sich imaginativ in Andere hineinzuversetzen und sich deren Lage vorstellen zu können sowie Aspekte ästhetisch-utopischen Denkens sind hierfür mit konstitutiv. Sie nden in je individuell vollzogenen Stellungnahmen ihren Ausdruck und werden in ein Vokabular praxiswirksamer Motive übersetzt. Die Sorge um globale Andere verweist auf eine spezische „kulturelle Einstellung“ (Soeffner 2003), die sich das Schicksal anonymer Fremder zu eigen macht und neuartige Muster der Sozialität hervorbringt. Unter den historischen Bedingungen einer globalisierten Welt haben herkömmliche Formen der Hilfe und Unterstützung jedoch ihre Unschuld und Gewissheitsgrundlagen verloren: Die Figur des ‚Anderen‘ wird tendenziell obsolet zugunsten der Akzeptanz ‚eines‘ mondialen5 Verantwortungs- und Handlungsraumes. Gleichwohl bestehen Disparitäten und Differenzen, Privilegierungen und Deprivationen verschiedenster Art. ‚Fragil‘ ist die Sozialität der Sorge insofern, als sie kaum auf kollektiver Verbindlichkeit, auf Routinen und eine gesicherte Übereinkunft der Perspektiven zwischen Anteilnehmenden und deren Adressaten aufbauen kann. Damit sind einerseits Chancen für eine weitere tatsächliche ‚Öffnung‘ gesellschaftlicher Wahrnehmungen gegeben. Zu ihren trügerischen und tragischen Seiten gehört andererseits, globale Andere auch verfehlen zu können – was konkrete politische wie soziale Folgen6 und allgemeine existenziale Voraussetzungen hat: „Aus der Perspektive eines existenzialen Skeptizismus ist der Kon-Sens, ist der mit anderen geteilte Sinn eben nicht das Fundament menschlicher Existenz. Im Gegenteil, jede kulturelle Vereinbarung ist ein artizielles Konstrukt und mithin prinzipiell hochproblematisch. (…) M. a. W.: Ich produziere ständig den Sinn, den ich selber für mich und für Andere habe. (…) Dieses existenzielle Vermögen des Menschen (…) nämlich, Sinn zu setzen und damit Wirklichkeit(en) zu konstruieren, ist die Basis allen gesellschaftlichen Miteinanders“ (Hitzler 1988: 180 f., Herv. i. O.).
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Zur systematischen Verwendung des Begriffs der „Mondialisierungen“ in Absetzung von ‚Globalisierung‘ vgl. Badura (2006). 6 Beredte Beispiele liefern unter anderem die Dekonstruktion des Entwicklungsgedankens, die (nicht nur) postkoloniale Kritik am paternalistischen Gestus der Hilfe sowie die Auseinandersetzungen um kulturelle Differenz und Toleranz.
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Sinnbasteln und Bastelexistenz
Der Schweizer als Sinnbastler Thomas S. Eberle
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Prolog
Wenn es darum geht, einen lieben Freund und Kollegen zu ehren, tut man gut daran, sich auf seine Eigenheiten und Besonderheiten zu besinnen und auf solche Bezug zu nehmen. Ronald Hitzler hat deren viele, und so hat man die Qual der Wahl. Dass diese unversehens zur Wahl der Qual mutieren kann, hat Hitzler (1993) nicht nur in einer besonders wagemutigen und abenteuerlichen Feldstudie anschaulich beschrieben, sondern resultiert auch aus den grundsätzlichen Problemlagen der Multioptionsgesellschaft, die von Peter Gross (1994) so glänzend analysiert und von Hitzler (1999, 2001a, 2003, 2006) in mannigfaltigen Aspekten vertieft wurden: Angesichts der zunehmenden Optionierung und Enttraditionalisierung, die der Modernisierungsprozess uns beschert hat, bleibt nur die Qual der Wahl, und solange das Projekt der Moderne durch eine grundsätzliche Differenzakzeptanz nicht selbst optioniert wird, korrespondiert die Qual der Wahl mit der Wahl der Qual (vgl. Brosziewski/Eberle/Maeder 2001). Es gibt kein Entrinnen, aber wenigstens Methoden der situativen Bewältigung. In kontingenter Weise konstituieren sich im subjektiven Bewusstsein Synthesen und Assoziationen in Form auferlegter Relevanzen (Schütz 2004b), Eigen- und Besonderheiten des Geehrten nämlich, die besonders „ins Auge springen“. Zum Beispiel seine Aversion gegen die Systemtheorie. So mag es provokativ anmuten, ausgerechnet Luhmann (1970) zu zitieren, der mit der „Reduktion von Weltkomplexität“ eine hilfreiche Formel fand, um die Qual der Wahl wenigstens etwas abzumildern. Gross (1994) hat die Extreme identiziert: Präsenzpsychotiker, die überall dabei sein und immer alles wollen, bilden den einen Pol; Handlungsparalysierte, welche die Null-Option wählen und aus der modernen Gesellschaft emigrieren, den anderen. Dazwischen ndet „intelligentes Optionenmanagement“ statt. Übertragen auf die vorliegende Problemstellung: die präsenzpsychotische Variante äußert sich im „Messie“, der alles und jedes sammelt, also über alles und jedes schreiben will und sich vom Hundertsten ins Tausendste (Knoblauch 1989) in der Unübersichtlichkeit verliert; die handlungsparalysierte Variante äußert sich im fence-sitter, der sich nicht entscheiden kann und daher letztlich nichts schreibt. Ich habe mich für eine Zwischenlösung, also ein mehr oder minder intelligentes Optionenmanagement entschieden mit der
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aus Expertenwissensbeständen (Hitzler/Honer/Maeder 1994) entlehnten Intention, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren (Seiwert 2002, Eberle 1994). Eine Eigen- und Besonderheit von Ronald Hitzler, die in unserer Beziehung immer virulent war, ist seine Schweiz-Begeisterung. Bei keinem meiner deutschen Freunde war (und ist) sie so groß, so uneingeschränkt, so vorbehaltlos, so offen und ehrlich wie bei ihm. Je weiter nördlich er wohnte, desto stärker schien sie zu werden, was in Anbetracht seines allzeit kritischen Verstandes und seiner Lust zur Provokation gleichzeitig auch erstaunte. Sicherlich, es gibt klare Vorteile gewisser schweizerischer Verhältnisse, zumal an den Universitäten, die bei uns in der Regel weit unbürokratischer und persönlicher, dadurch informeller und pragmatischer funktionieren als an den meisten Orten Deutschlands. Besonders erfrischend jedoch war, dass sich in unseren Gesprächen über die komparativen Vorteile der Schweiz jeweils nicht nur sein glasklarer Intellekt manifestierte, sondern gleichzeitig auch die gefühlvolle, empathische, enthusiastische und leidenschaftliche Seite seiner Persönlichkeit. Er beherrschte die Ethnomethoden, seine Begeisterung kommunikativ „accountable“ zu machen (Garnkel 1967), derart virtuos, dass diese unmittelbar ansteckend wirkte: Ronald Hitzler weckte meine eigene Begeisterung über meine ansonsten nicht hinterfragte, als Selbstverständlichkeit hingenommene „schweizerische“ Lebenswelt. Tief sitzender, latent schlummernder Stolz auf die eigene Heimat erwachte wieder, der in der frühen Sozialisation erfolgreich internalisiert worden war mittels nationaler Symbole und Narrationen, mittels roter Fahnen mit weißem Kreuz, Heldensagen von Wilhelm Tell und Winkelried sowie Legenden siegreicher Befreiungsschlachten der alten Eidgenossen gegen fremde Herrscher und Unterdrücker, effektvoll inszeniert mittels Lampion-Umzügen und mahnenden Reden an Erster-August-Feiern (dem schweizerischen Nationalfeiertag), oft auch unterlegt mit Blasmusik und sichtbaren Insignien der Milizarmee und vielem mehr. Lob auf mein Vaterland, realisierte ich, erwärmt mir unwillkürlich das Herz, stärkt mein Selbstwertgefühl – gleich jenen Kompatrioten, die so stolz auf die Schweizer Alpen sind, als hätten sie diese selbst erschaffen. („Wer hat’s erfunden?“ – „Die Schweizer haben’s erfunden“, proklamiert die Läkerol-Reklame.) Was hat es nur mit der nationalen Identität auf sich? Wenn man kein Migrant ist, weder Emigrant noch Immigrant, also kein „marginal man“ im Sinne von Robert Park (1928) und Everett Stonequist (1937), ist man an einem Ort aufgewachsen und vom lokalen Sozialmilieu sozialisiert. Man erwirbt eine Menge Alltagswissen und zahlreiche Sonderwissensbestände, bildet im Prozess der Habitualisierung Handlungsroutinen aus, erlernt rollenspezische Verhaltensweisen und arrangiert sich mehr oder weniger mit der von mannigfaltigen Legitimationsschichten überformten institutionellen Welt (Berger/Luckmann 1969). Mit der Geburt erwirbt man eine Staatszugehörigkeit, die erst in der sekundären Sozialisation schrittweise erläutert und mit Bedeutung aufgefüllt wird. „Staatskunde“ heißt das Schulfach, in dem die
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politischen Institutionen des Landes erklärt und als rationale Identikationsangebote angepriesen werden, und „Schweizer Geschichte“ das Fach, in dem die Legenden erzählt und als emotionale Identikationsangebote vermittelt – und später auch da und dort demontiert werden. Als Staatsbürger hat man Rechte und Pichten, und in der direkten Demokratie der Schweiz fällt darunter, dass man mindestens drei bis vier Mal im Jahr zur Urne gerufen wird, und zwar nicht nur um Personen in die Legislative, Exekutive und Judikative zu wählen, sondern insbesondere um über materielle Sachvorlagen abzustimmen. Trotzdem – im Alltagsleben spielt die nationale Identität eine untergeordnete Rolle; wie alle sozialen Identitäten wird auch sie nur situativ relevant, nur zu bestimmten Anlässen. Neben konkreten Staatsbürgerpichten, Nationalfeiern und einschlägigen Informationen der Massenmedien bilden vor allem Kontakte mit Fremden solche Anlässe. Wenn man sich im Ausland bendet, sei es als Tourist oder aus beruichen Gründen, sei es nur kurz oder für längere Zeit – immer wird man angesprochen auf sein Herkunftsland und damit auf seine Staatszugehörigkeit. Dasselbe passiert Fremden in der Schweiz: ihr Fremdsein wird dauernd thematisiert, explizit wie implizit, verbal wie nonverbal. Und plötzlich verbindet sich die Mikro- mit der Makro-Ebene: in der vis-à-visSituation einer face-to-face Beziehung ndet eine Interaktion statt, in der nicht nur persönliche, sondern auch soziale Identitäten konstruiert werden. Und wenn dabei die nationale Identität einer Person thematisiert wird, greift man unweigerlich auf das Reservoir symbolischer Wissensbestände als Konstruktionsressourcen zurück. Die interaktionistische Konstitution von Identität und die Konstruktion kollektiver nationaler Identität, die in der soziologischen Literatur immer getrennt abgehandelt werden, fallen in der konkreten Begegnung plötzlich zusammen: ein „Deutscher“ und ein „Schweizer“ begegnen sich. Doch was heißt das eigentlich? In der postmodernen Gesellschaft gibt es nur noch fragmentierte Identitäten. Hitzlers Konzept der Bastelexistenz und sein Ansatz, soziologische Phänomene konsequent vom Handlungsproblem der Akteure her zu analysieren (Hitzler 1994, 1996, 1999, 2000b, 2001a, 2001b, 2003, 2006; Hitzler/Honer 1994), scheinen daher sehr geeignet, um auch das Phänomen nationaler Identität, wie es sich heutzutage darstellt, genauer zu durchleuchten. Ziel dieses Beitrages ist es mit anderen Worten, das Sinnbasteln des Schweizers1 näher zu untersuchen. Beginnen wir zuerst mit dem Toolkit symbolischer Identitätskonstruktionen, das die einschlägigen Bastelressourcen enthält: a) Gründungsmythos und Schweizer Geschichte, b) das Narrativ vom schweizerischen Sonderfall, und c) gängige Stereotype zur Charakterisierung der Schweizer.
1 Schweizerinnen sind in der männlichen Form hier stets mitgemeint, da die Doppelführung schwerfällig wäre und die (von mir sonst oft verwendete) Wortbildung „SchweizerInnen“ vom Geehrten als Duden-widriger feministischer Kampfbegriff verstanden und verabscheut wird.
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Thomas S. Eberle Gründungsmythos und Schweizer Geschichte
Die Geschichtsschreibung hat sich bekanntlich eng mit dem Nationalstaat verquickt. Zwar hatte sie bereits seit Beginn der Neuzeit begonnen, über eine reine Chronik hinaus zu gehen, doch als wissenschaftliche Geschichtsforschung konstituierte sie sich zur selben Zeit wie die europäischen Nationalstaaten. So entstanden überall in Europa jene die eigene Nation glorizierenden Geschichtsbilder, die Historiker heute als „Meistererzählungen“ bezeichnen und als Konstruktionen entlarven. Sie hatten wenig mit der historischen Wirklichkeit zu tun, führen aber noch heute in der Populärkultur, als Gebrauchsgeschichte in den Köpfen der Menschen und vor allem auch in nationalkonservativen Kreisen ein gewisses Eigenleben. Das europäische Forschungsprojekt „Representations of the Past – National Histories in Europe“, das von 2003 bis 2008 unter der Leitung von Stefan Berger (Universität Manchester) durchgeführt wurde und an dem rund 200 Historiker aus 30 europäischen Ländern beteiligt waren, fand überall dieselben Ingredienzen solcher Narrationen: Ursprungs- und Gründungsmythen, die möglichst früh in der Geschichte angesiedelt wurden; ein Panorama von Helden, oft in Kombination mit einem Erzfeind (der oft als dekadent und verweichlicht, in der Schweiz indes stets als übermächtig und furchterregend dargestellt wurde); und auf dieser Grundlage wurden Schlachten folgerichtig zum wichtigsten Strukturelement der Nationalgeschichte. Auffallend ist sodann eine starke Wertung historischer Zeiten, eine Einteilung in helle Zeiten der Blüte sowie dunkle Zeiten des Verfalls und der Krise, sowie die Darstellung der eigenen Geschichte als ein Sonderweg. Nationale Geschichtsschreibung diente der Glorizierung sowie Homogenisierung der eigenen Nation und auch der Legitimierung von Gewalt, Vertreibung, Genozid und Krieg (Berger/Lorenz 2008; Bernhard 1998; Meier-Rust 2009; Reichmann 2000). Wann wurde die Schweiz gegründet? Der Gründungsmythos lautet: im Jahre 1291 durch den im Bundesbrief dokumentierten Beistandspakt der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden. Die literarische Schilderung der damaligen Ereignisse lieferte Friedrich Schiller mit seiner Version der Wilhelm-Tell-Sage, wo Gessler als Tyrann, Tell als Freiheitskämpfer und der Treueschwur der drei Eidgenossen auf dem Rütli als feierliche Deklaration brüderlichen Beistands beschrieben wurden. Die einprägsamen Worte des Rütlischwurs, die man sich eigentlich kaum in Schweizerdeutsch gesprochen vorstellen kann, lauteten (Schiller 1804, 2. Aufzug, am Schluss der 2. Szene): „Wir wollen seyn ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Noth uns trennen und Gefahr. Wir wollen frey sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.“
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Darauf erhob sich das Volk, stürmte die Burgen und brannte sie nieder, und die fremden Vögte wurden für immer verjagt. In den folgenden 200 Jahren verteidigten sich die tapferen Eidgenossen in einer ganzen Reihe von Schlachten erfolgreich gegen die einfallenden Ritterheere der Habsburger (die ihre Stammburg pikanterweise im Aargau, also auf heutigem Schweizer Gebiet hatten). Tell selbst, belehrt uns noch heute die Website www.tell.ch, kämpfte 1315 an vorderster Front in der Schlacht bei Morgarten und starb angeblich erst 1354 im Schächenbach beim Versuch, ein ertrinkendes Kind zu retten. So förderlich solche Gründungsmythen für die nationale Einheit und den eigenen Nationalstolz sind, der modernen Geschichtsforschung halten sie nicht stand. Wie Sablonier (2008) in seiner vielbeachteten Studie kürzlich festhielt, fand die angebliche Gründungszeit um 1300 ohne Eidgenossen statt. Die Mythen wurden erst später konstruiert: Von „Thall“ wie dem Rütlischwur ist erstmals 1470/1474 die Rede, und erst Mitte des 16. Jahrhunderts wurden sie zu Sagen verdichtet und Tell zum Volksheld stilisiert. Und das Bündnisabkommen von 1291 wurde erst im späten 19. Jahrhundert zum „Bundesbrief“ und zum „Gründungsakt der Eidgenossenschaft“ (v)erklärt (Marchal/Mattioli 1992). Die historische Quellenlage ist jedoch komplex: Bereits im 19. Jahrhundert waren für die Zeit von 1251 bis 1386 über 80 Dokumente bekannt, die ähnliche Bünde besiegelten. De facto waren die hochmittelalterlichen Reichsstädte und Länder, mit Untertanengebieten, geistlichen Fürstentümern und kleinen Herrschaften durch ein unübersichtliches Geecht von Bündnisabkommen vernetzt, deren primärer Zweck gegen innen die Wahrung des Landfriedens und gegen außen die Verteidigung des Territoriums der Beteiligten gegen fremde Herrschafts- und Rechtsansprüche sowie kriegerische Übergriffe war. So hat sich wohl auch die Alte Eidgenossenschaft mit ihren zunächst acht, ab 1513 dreizehn „Orten“ (Kantonen) mit ihren jeweiligen Untertanengebieten und den „zugewandten Orten“ und „gemeinen Herrschaften“ (Vogteien) allmählich und ohne eigentlichen Gründungsakt herausgebildet. Nach dem gewonnenen Schwabenkrieg 1499 (in Deutschland und Österreich „Schweizerkrieg“ genannt) wurde die faktische Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft von den Habsburgern anerkannt, doch erst im Westfälischen Frieden von 1648 erhielt sie ihre Unabhängigkeit vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation auch formell besiegelt. Danach betrachteten sich die Kantone, auch Stände genannt, als völkerrechtlich souveräne Staaten (de Capitani 2009). Untereinander waren sie heftig zerstritten. Vor allem seit der Reformation ab 1519 (und während der anschließenden Gegenreformation) gab es nicht nur religiös motivierte Zwistigkeiten, sondern auch Bürgerkriege, und sowohl während der Hugenottenkriege als auch während des Dreißigjährigen Krieges verbündeten sich die katholischen und reformierten Kantone mit je unterschiedlichen europäischen Mächten und kämpften als Söldner in feindlichen Lagern. Auch der Schweizer
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Bauernkrieg von 1653 hinterließ tiefe Wunden. Nach dem Einmarsch der Franzosen 1798 wurde die Eidgenossenschaft unter der Führung Napoléon Bonapartes umgestaltet und 1803 durch die Mediationsakte als konföderaler Staatenbund neu gegründet. 1815 wurde der Staatenbund von nun 22 Kantonen mit einem Bundesvertrag erneuert, und der Wiener Kongress erkannte 1814/15 dessen Struktur, territoriale Integrität und „immerwährende bewaffnete Neutralität“ an. In ihrer heutigen Form existiert die Schweiz erst seit der Annahme der Schweizerischen Bundesverfassung im Jahre 1848, durch welche der bisherige Staatenbund selbständiger Kantone in einen Bundesstaat transformiert wurde. Dem gingen vielerlei Spannungen voraus, vor allem zwischen den katholischen Kantonen der Innerschweiz und den mehrheitlich protestantischen, liberalen Kantonen. Als sich die katholischen Orte 1845 zwecks Interessenwahrung zum Sonderbund zusammen schlossen, wurde dieser schließlich aufgrund eines Tagsatzungsbeschlusses mit militärischer Gewalt aufgelöst. Dieser Bürgerkrieg war der letzte bewaffnete Konikt auf dem Gebiet der Schweiz und ebnete endgültig den Weg für den Bundesstaat. Dieser übernahm den historisch tradierten, ausgeprägten Föderalismus (der nicht nur den Kantonen, sondern auch den Gemeinden eine weitgehende Autonomie gewährt) sowie die etablierten Institutionen der bewaffneten Neutralität und der direkten Demokratie. Im Unterschied zu den im Norden und Süden entstehenden Nationalstaaten Deutschland und Italien war der schweizerische Staat indes multiethnisch zusammengesetzt, mit vier verschiedenen anerkannten Landessprachen. Er verkörperte daher nicht eine Nation im damals üblichen Verständnis einer „Kulturnation“, also einer Volksgemeinschaft mit gemeinsamer Sprache und Kultur, sondern eher eine „Staatsnation“ in der Tradition des französischen Verständnisses (état-nation). In Anlehnung an Ernest Renan (1882) wurde später von einer „Willensnation“ gesprochen – ein Topos, der bis heute weitergepegt wird (Villiger 2009). Als ofzielle Bezeichnung wurde „Schweizerische Eidgenossenschaft“ gewählt sowie, um keine Landessprache zu bevorzugen, lat. Confoederatio Helvetica, das auch auf den Schweizer Münzen steht. Daher das verbreitete – und vielen unverständliche – Schweizer Landeskennzeichen „CH“, das beispielsweise an Autos klebt oder das schweizerische Netz des World Wide Web markiert (z. B. www.unisg.ch). Die Produktion nationaler Mythen erlebte vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre eigentliche Blütezeit. Die im 17. Jahrhunderts erstmals aufgetauchte Helvetia, eine –analog zur Germania des Niederwalddenkmals in Rüdesheim – wehrhafte Frauengestalt als gemeinsame Identi kationsgur der Eidgenossenschaft, gewann zunehmende Bedeutung. Sie ziert bis heute die ½-, 1- und 2-Franken-Münzen, und ihr Name bildet das Landeskennzeichen auf schweizerischen Briefmarken. Interessanterweise wurde die Geburt der Schweiz nicht mit der Gründung des Bundesstaates gleichgesetzt, sondern um Jahrhunderte zurück
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verlegt und mit der Entstehung der Alten Eidgenossenschaft angesetzt. Damit bildeten ausgerechnet jene katholischen Innerschweizer Kantone den Ursprung der „Schweiz“, die sich vehement gegen die Schaffung des Bundesstaats gewehrt hatten und im Sonderbundskrieg besiegt worden waren. Wilhelm Tell wurde zum Nationalhelden stilisiert, sukzessive wurden die Orte seines Wirkens am Urner See identiziert, Denkmäler wurden gebaut und schließlich auch – auf Initiative der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft – die Rütliwiese gekauft, auf der angeblich der Rütlischwur stattgefunden haben soll. Das Rütli (älter: Grütli, „kleine Rodung“) wurde zum symbolischen Ort des schweizerischen Freiheitskampfes und Ziel tausender obligatorischer Schulreisen. Noch im Juli 1940 versammelte General Guisan, der damalige Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, hier seine führenden Ofziere zum „Rütli-Rapport“, um den gemeinsamen Abwehrwillen gegen die Achsenmächte zu bekräftigen, und bis heute nden dort am Nationalfeiertag Bundesfeiern statt (Kreis 2004). In den letzten Jahren wurden diese öfters durch Rechtsextreme gestört, was große Polizeiaufgebote und entsprechend breite Medienaufmerksamkeit zur Folge hatte.
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Die Schweiz als Sonderfall
Für die moderne Schweiz war allerdings die Gründung des Bundesstaats von 1848 konstitutiv. Es bildete sich denn auch bald ein Narrativ heraus, das für die kollektive Identität der Schweizer letztlich maßgebender war als der Gründungsmythos und die nationalhistorischen Erzählungen: der Sonderfall Schweiz. Der historische Bedeutungsgehalt dieses Topos formierte sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und umfasste die liberale Konzeption eines republikanischen, ausgesprochen föderalistisch organisierten Staates mit direkter Demokratie; das Milizsystem in Politik und Armee; die 1815 zur Staatsmaxime erhobene „dauerhafte Neutralität“; das Kollegialitätsprinzip2 der Exekutive sowie die Idee einer „Willensnation“, die verschiedene Sprachen und Kulturen vereinte. Im Kontext der sich damals herausbildenden Nationalstaaten im Norden und Süden, welche sich nach sprachlich-ethnischen Gesichtspunkten als zentralistisch organisierte Monarchien konstituierten, bildete die Schweiz wahrlich einen Sonderfall. Das Sonderfalls-Bewusstsein manifestierte sich einerseits im nationalen Selbstbewusstsein, der Kleinstaat Schweiz sei beispielhaft, bilde eine Brücke zwischen Völkern und Kulturen und habe für die anderen eine Vorbildfunktion. Andererseits verband es sich ausgeprägt mit dem Gefühl einer anhaltenden Bedrohungslage, 2
Das Kollegialitätsprinzip ist in der Schweiz sowohl auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene institutionalisiert; es besagt, dass die Exekutive aus gleichberechtigten Mitgliedern der verschiedenen Parteien besteht und dass gefasste Beschlüsse mit einer Stimme nach außen vertreten werden.
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welche die nationale und soziale Kohäsion beträchtlich steigerte. Besonders nachhaltig wirkte die in den 1930er Jahren einsetzende „geistige Landesverteidigung“, in der als „schweizerisch“ wahrgenommene Werte, Bräuche, Institutionen und Kulturelemente hervorgehoben wurden, um damit den nationalen Zusammenhalt zu stärken und totalitäre Ideologien abzuwehren: zunächst den Nationalsozialismus und Faschismus inkl. des anhaltenden panitalienischen Irredentismus, später im Kalten Krieg den Kommunismus (Kunz 1998; Möckli 2000). Der Wegfall dieser Bedrohungslage seit dem Fall der Mauer stellt die Schweiz vor neue Herausforderungen: Was hält uns noch zusammen, wenn wir nicht mehr von außen bedroht werden? Ist es mehr, als dass die Deutschschweizer keine Deutschen, die Romands keine Franzosen und die Tessiner keine Italiener sein wollen? Identität konstituiert sich immer in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, bei Menschen, Institutionen wie Nationen. Die Rede vom „Sonderfall“ betont einseitig das Besondere und droht zu übersehen, dass sich nicht nur die Schweiz, sondern vor allem auch ihr Umfeld fundamental verändert haben: Seit über einem halben Jahrhundert teilen wir mit den Nachbarstaaten dieselben politischen Grundwerte der Demokratie, der Menschenrechte, des Rechts- und Sozialstaates, der sozialen Marktwirtschaft und des Friedens. In komparativen Studien kommen Sozialwissenschaftler zudem immer wieder zum Schluss, dass die schweizerische Gesellschaft sich sozialökonomisch wenig von den umliegenden Gesellschaften unterscheidet und die typischen Merkmale moderner Gesellschaften aufweist: Abhängigkeit von den weltwirtschaftlichen Konjunkturzyklen, Arbeitslosigkeit, Immigrationsströme, hohe Scheidungsquoten, geringe Geburtenraten, steigende Mobilität, zunehmende Multikulturalität usw. Nicht nur die Nachbarstaaten, auch die Schweiz wird also immer mehr zu einem „Normalfall“, und das Fazit gipfelt denn regelmäßig im Postulat, sich vom „Sonderfall Schweiz“ zu verabschieden (z. B. Kriesi et al. 2005, Clavel/Schönenberger 2000, Schneider 1998, Papadopoulos 1991, Borner/Brünetti/Straubhaar 1990). Kollektive Identitätskonstruktionen schaffen jedoch Pfadabhängigkeiten und lassen sich nicht einfach per Dekret verabschieden. In der öffentlichen politischen Kommunikation spielt der Sonderfall-Diskurs nach wie vor eine prominente Rolle, und die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat nun über 20 Jahre erfolgreich damit politisiert. Christoph Blocher (2000) führt die wirtschaftliche Prosperität der Schweiz ursächlich auf folgende Säulen zurück, auf denen der Sonderfall Schweiz – „das Geheimnis der Schweiz“ – beruhe: Volkssouveränität; direkte Demokratie (Machtbeschränkung); Föderalismus mit Wettbewerb von Kantonen und Gemeinden; dauernd bewaffnete Neutralität (als Hindernis für Großmachtgelüste); Weltoffenheit auf der Basis von Achtung und Freundschaft mit allen Staaten der Welt; Widerstand gegen die Einbindung in internationale Großgebilde. Den Sonderfall verbindet er mit einem dezidierten Antietatismus: Der Erfolg der
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Schweiz beruhe auch auf einem schlanken Staat; einer freiheitlichen Verfassung; einer beschränkten Macht von Regierung und Parlamenten und der Betonung der Selbstverantwortung und Freiheit der Bürger. Vergleichbare Positionen vertritt eine Gruppe von „Radikal-Liberalen“ – so die Selbstbeschreibung –, die anlässlich der schweizerischen Landesausstellung Expo.02 ein Buch zum Sonderfall Schweiz herausgegeben haben (Hirt/Net/Ritter 2002). Während eine Reihe von Politikern der bürgerlichen Mitte empfahlen, den „Sonderfall Schweiz“ zu verabschieden (z. B. Heberlein et al. 1994, Cotti, vgl. NZZ 1997), blieb die Linke dem traditionellen Internationalismus der proletarischen Bewegung und später der Sozialdemokratie treu und verharrte in der Multikulturalismus-Debatte. Gleichsam im Windschatten der politischen Debatten verbreiteten sich in der Bevölkerung eine modische Swissness und ein leichtfüßiger Patriotismus, eine ausgeprägte Vorliebe für die „isola elvetica“ bei der Jugend (Meier-Dallach et al. 2003) und ein wiedererwachter Stolz auf die Errungenschaften des Service public, wie auch eine rechtskonservative Abgrenzung gegen alles Fremde, seien es Immigranten oder supranationale Zusammenschlüsse. Wie steht die Schweiz in der Welt? Und wie steht sie zur Welt? Wie deniert sie ihre Rolle und ihre Identität in Bezug zu ihren Nachbarn und den anderen Staaten dieser Welt? In einer historisch-soziologischen Analyse geht Kurt Imhof (2007) der Frage nach, welche Kernsemantiken die schweizerischen Sonderfalldiskurse kennzeichnen und welche Pfadabhängigkeiten zwischen ihnen bestehen. Da jede Identitätsstiftung vom Besonderen lebt, entwickelt jede Vergemeinschaftungsform einen Selbstbeschrieb als Sonderfall. Sonderfallsverständnisse konstituieren einen „Gemeinsamkeitsglauben“ (Max Weber), über den über Zugehörigkeiten (von Minderheiten usw.) entschieden wird. Das haben, so seine These, sowohl die nationalpatriotische wie die nationalkritische, revisionistische Mainstreamhistoriographie vernachlässigt. Zu den Kernelementen des „Sonderfalls Schweiz“ gehören nach Imhof die Konkordanz – ein Kernelement des schweizerischen Verfassungspatriotismus – sowie die Herkunftsmythologie – die Imagination des bäuerlichen Ursprungs der Eidgenossenschaft – und die mit dieser verbundene Bedrohungs- und Widerstandssemantik: der Bedrohung von oben und von außen wird mit einem gemeinsamen Kampf föderierter Gemeinwesen begegnet. Imhof unterscheidet fünf Gesellschaftsmodelle, die seit der Gründung des Bundesstaates 1848 konsekutiv implementiert wurden, und zeichnet die entsprechenden Sonderfallsverständnisse und ihre Pfadabhängigkeit nach: Wer politisch Erfolg haben will – so seine These – muss sich an den Kernsemantiken des schweizerischen Sonderfalls orientieren. In der Schweiz ist daher eine neue Sonderfall-Debatte angesagt, um ein neues Gesellschaftsmodell zu entwickeln, und Imhof arbeitet die Voraussetzungen eines solchen Diskurses heraus. Dem neuen Sonderfall-Diskurs wird jedenfalls, so seine Prognose, nur dann Erfolg beschieden sein, wenn sich auch die politische Mitte und die Linke daran beteiligen.
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Thomas S. Eberle Gängige Stereotype zur Charakterisierung der Schweizer
Die dritte Bastelressource nationaler Identitätskonstruktionen bilden die gängigen Stereotype von Verhaltensweisen, Persönlichkeitseigenschaften, Vorlieben, von Sitten und Bräuchen sowie Werten und Denkweisen, die bestimmten Staatsangehörigen zugeschrieben werden. In der persönlichen face-to-face Interaktion wird ihr stereotyper Charakter zwar unmittelbar evident, trotzdem halten sie sich hartnäckig am Leben. Stereotype zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie wider besseren Wissens und trotz gegenteiliger Erfahrung oder Evidenz aufrechterhalten werden. Sie fallen in Bezug auf die In-Group in der Regel vorteilhafter und schmeichelhafter aus als bezüglich der Out-Group, und sie erfüllen die Aufgabe enormer Komplexitätsreduktion vortrefich, wenn die Bevölkerung eines ganzen Staates auf einige wenige Klischeebilder reduziert wird – trotz Differenzierung, Individualisierung, Pluralisierung, Diversität usw. Stereotype sind darüber hinaus auch oft witzig, ironiegesättigt und unterhaltsam. So beschreibt der Xenophobe’s guide to the Swiss (Bilton 2008) beispielsweise als erstes deren „Physik der Angst“: Obwohl die Schweiz die einzige Nation sei, welche die Deutschen inefzient, die Franzosen undiplomatisch und die Texaner arm erscheinen lasse, und obwohl sie das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt besitze, hätten die Schweizer seit 1291 den Eindruck, dass ihr Erfolg nur vorübergehend und von kurzer Dauer sei und sich demnächst in einem Schwall von Tränen auöse. Umgekehrt seien sie fest überzeugt, dass in der Schweiz hergestellte Produkte qualitativ besser seien als ausländische, weswegen sie schweizerische Erdbeeren den italienischen vorzögen, auch wenn sie wesentlich teurer seien. Die Schweizer würden Amerika und Großbritannien bewundern, weil sie – zu unterschiedlichen Zeiten – zu Weltmächten aufgestiegen seien. Deutsche hingegen würden sie nicht so gut mögen, und zwar weil diese so gut Deutsch sprechen. Der Charakter des Schweizers sei durch die harten Bedingungen geprägt, unter welchen die Bergbauern gewirtschaftet und trotz aller Widrigkeiten überlebt hätten; er bestehe vor allem in der generalisierten Lebensmaxime: Don’t be happy, just worry! Die schweizerischen Sitten und Verhaltensweisen seien durch Formalität und Reserviertheit gekennzeichnet, würden indes von Ausländern oft als „gute Manieren“ missdeutet. In der Schweiz werden zur Begrüßung überall die Hände geschüttelt, und man spricht einander mit Namen an. Pünktlichkeit und Qualitätsbewusstsein sind ferner Relevanzsysteme, die man in unterschiedlichsten Bereichen antrifft. In der Gebrauchsanleitung für die Schweiz schürft Thomas Küng (2009) (gemeinsam mit seinem deutschen Kollegen Peter Schneider) etwas tiefer, thematisiert sprachliche Eigenarten und Besonderheiten des Schweizerdeutschen, lokales Brauchtum, Schweizer Politik und den „harten Kampf um das Mittelmaß“ – eine weitere Fundgrube von „Wissenswertem“, das vor allem (einige wenige) ausländische Immigranten zur Kenntnis nehmen dürften.
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Die unvergessliche Schilderung des schweizerischen Föderalismus beginnt gleich auf der ersten Seite: Während ein deutscher Knirps behauptet, dass in Deutschland der Storch die Kinder bringe, und der Franzose meint, Kinder würden beim faire l’amour gezeugt, meint der Schweizer Bub altklug: „Bei uns ist halt alles von Kanton zu Kanton verschieden!“
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Das Sinnbasteln des Schweizers
Der Gründungsmythos, die nationalgeschichtlichen Meistererzählungen, der Topos des Sonderfalls Schweiz und der gesammelte Bestand an stereotypen Charakterisierungen bilden gleichsam das Reservoir kollektiver Identitätskonstruktionen, aus dem sich bedienen kann, wer die Schweiz oder die Schweizer beschreiben will. Je nach Anlass werden dann mehr oder weniger willkürlich einzelne Elemente oder Kombinationen davon ad hoc mobilisiert. Neben den üblichen, wiederkehrenden Anlässen gab es im Laufe des letzten Jahrzehnts einige herausragende Ereignisse, die das nationale Selbstverständnis erschütterten: Erstens die Sammelklage jüdischer Nachkommen gegen die schweizerischen Großbanken, welche die Vermögen von nachrichtenlosen Konten in ihr eigenes Eigentum überführt hatten. Dies endete schließlich in einem Vergleich mit den Klägern, weitete sich aber zu einer generellen Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg aus: Eine jüngere Generation von Historikern, „die damals nicht selbst dabei gewesen“ waren (so die Kritik), präsentierte auf der Grundlage eines Nationalfondsprojekts eine historische Neubewertung, die nicht mehr die glorreiche Version vom militärisch abschreckenden Alpen-Réduit ins Zentrum stellte, sondern vielmehr die Kooperation der Schweiz mit Nazideutschland (vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg 2002). Parallel dazu stürzte zweitens die Schweizer Armee, die als Milizarmee bei den Schweizer Männern fest verwurzelt war (und lange keine Zivildienst-Möglichkeit zuließ), nach dem Fall der Mauer plötzlich in eine Orientierungskrise, da keine Feinde mehr in Sicht waren. Die Krise dauert an. Eine weitere Erschütterung brachte drittens das Grounding der Swissair, des National-Flag-Carriers, welcher als „Botschafter der Schweiz“ in der großen weiten Welt auf besondere emotionale Verbundenheit und Unterstützung der Bevölkerung zählen durfte, trotz staatlicher Unterstützung aber nicht mehr zu retten war. Viertens schließlich die Finanzkrise, die sich in horrenden Verlusten der UBS niederschlug und die Großbank erheblich ins Schlingern brachte. Dank staatlichen Überbrückungskrediten überlebte sie (bis jetzt), den Schweizern wurde aber bewusst, dass solche Riesenkonzerne für diese kleine Nation in einer ernsthaften Wirtschafts- und Finanzkrise zu einem untragbaren Großrisiko werden. Ramponiert wurde das Ansehen der Schweiz seit Ausbruch der Finanzkrise fünftens durch die
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breite Front der EU sowie der USA gegen das schweizerische Bankgeheimnis, das Steuer üchtlingen aus aller Welt Schutz bietet, weil hierzulande zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung juristisch unterschieden wird (als Schutz des Bürgers vor dem Staat). Wann immer es angefeindet wurde, hat man das Bankgeheimnis sofort zum festen Bestandteil des „Schweizer Sonderfalls“ empor stilisiert. Als SPD-Chef Müntefering im Frühling 2009 wortwörtlich sagte, die Steueroasen in aller Welt müssten nun schleunigst dicht gemacht werden, „früher hätte man dort Soldaten hingeschickt, aber das geht heute nicht mehr“; und als der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück noch Öl ins Feuer goss mit der Bemerkung, die (deutsche) Kavallerie hätte nun die (Schweizer) Indianer erfolgreich aufgescheucht, wurden hierzulande unverblümt Vergleiche angestellt zwischen diesen politischen Exponenten und den damaligen Armbinden tragenden Nazi-Horden in Stiefeln und Ledermänteln – die nationale Einheit schien wieder hergestellt (vgl. n-tv 2009). Vordergründig. Nur sehr vordergründig. Denn die Nazivergleiche kamen in der Schweiz genau so unter Beschuss wie in Deutschland, und von nationaler Einheit kann schon lange keine Rede mehr sein. Ob das Bankgeheimnis zum Schweizer Sonderfall gehört, ist hierzulande genauso umstritten wie die Frage, ob und inwieweit die anderen Ereignisse tatsächlich die nationale Identität tangieren. Nationale Identitäten werden situativ ausgehandelt, sie bilden kommunikative Konstruktionen in einer pluralistischen Gesellschaft, die durch Wandel, Diskontinuität und Fragmentierung geprägt ist. Moderne Nationen sind kulturell hybrid, und die Globalisierungsprozesse schwächen die herkömmlichen nationalen Identitäten genauso wie auch andere kulturelle Identitätskonstrukte (Hall 1994). Moderne Gesellschaften folgen anderen Strukturierungsprinzipien als traditionelle Gesellschaften, was neue funktionale Konsequenzen zur Folge hat (Giddens 1990). Die alltägliche Lebenswelt des modernen Menschen ist daher „zersplittert in nicht mehr sinn- und zweckhaft zusammenhängende Teil-Orientierungen und Zeitenklaven“ (Hitzler 1994: 76). Unter Individualisierungsbedingungen ist der Einzelne existenziell verunsichert, er sieht sich dauernd in Wahl- und Entscheidungssituationen gestellt. Dies impliziert einen „Gewinn an Entscheidungschancen“, aber auch „den Verlust eines schützenden, das Dasein überwölbenden, kollektiv und individuell verbindlichen Sinn-Daches“ (Hitzler/Honer 1994: 307). Hitzler analysiert soziologische Phänomene vom individuellen Akteur und seinem subjektiven Handlungsproblem her. Gemeinsam mit Anne Honer hat er, in Anlehnung an Lévi-Strauss’ (1973) bricolage, „den Bastler als die Metapher zur Beschreibung der spezisch modernen Lebensführung gewählt – und nicht etwa den Konstrukteur, der ja vielleicht semantisch näher gelegen hätte: ‚Konstruieren‘ meint ein typischerweise langwieriges, komplexes Gestalten nach (mehr oder weniger) festen, handlungsleitenden Regeln. Wirklichkeitskonstruktionen im Sinne der neueren Wissenssoziologie bezeichnen deshalb vielschichtige soziale
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Ordnungsprozesse, die in ihren elaboriertesten Formen, den von Berger/Luckmann so genannten ‚symbolischen Sinnwelten‘, von einschlägig legitimierten Experten vorangetrieben, gesteuert, aufrechterhalten oder zumindest maßgeblich beeinusst werden. ‚Basteln‘ hingegen meint ein Gelegenheitstun aus quasi ‚privaten‘ Motiven, ein durchaus zwischen Dilettantismus und Genialität changierendes Werkeln und Wirken. Sinnbasteleien … bezeichnen mithin all jene kleinen, alltäglichen Unternehmungen des individualisierten Menschen, unter, zwischen und am Rande der großen gesellschaftlichen Weltdeutungsprozeduren – und im ständigen, entsprechend den je eigenen subjektiven Relevanzen oft ganz selektiven Rekurs auf diese – sein eigenes Leben zu bewältigen“ (Hitzler/Honer 1994: 310).
In der reexiven Moderne (Beck/Giddens/Lash 1996) bildet die Bastelexistenz die reexive Form des individualisierten Lebensvollzugs. Der moderne Mensch ist permanent mit einer Pluralität von (Selbst-)Stilisierungsformen und Sinnangeboten konfrontiert, unter denen er wählen kann und muss. Er schlüpft in verschiedene Rollen, die Gruppenmitgliedschaften konstituieren, aber je nur einen Teil seiner persönlichen Identität ausmachen. Das individuelle Sinnbasteln kann bestimmten Stil-Kriterien folgen, also ästhetisch überformt werden, und resultiert dann in einer Art Patchwork oder Collage. In dezidierter Abgrenzung von einem generalisierten Lebensstilkonzept will Hitzler gerade nur dann von „Lebensstil“ sprechen, wenn ihm eine Absicht, ästhetisch zu gestalten, zugrunde liegt. Im Unterschied zu Bourdieu (1982), bei dem ein Lebensstil in Form des Habitus auferlegte Vollzugsformen beinhaltet, geht es bei Hitzler (1994) um ästhetische Gestaltung: Nicht jede (elende) Lebenslage hat „Stil“. Konkretionen von Lebensstil-Konzepten nden sich in jenen sozialen „Zweckwelten“, die Benita Luckmann (1978) als kleine soziale Lebenswelten bezeichnete und die die Korrelate jeweiliger thematischer, interpretativer und motivationaler Relevanzen bilden (Hitzler 1994: 82). Auf dieser theoretischen Basis haben Ronald Hitzler, Anne Honer und Michaela Pfadenhauer das Konzept der lebensweltanalytischen Ethnographie (Hitzler 1999b, 2000a; 2002; Pfadenhauer 2008) entwickelt, früher auch „lebensweltliche Ethnographie“ (Honer 1993), „ethnographische Lebensweltanalyse“ bzw. „Lebensweltanalyse in der Ethnographie“ (Honer 2000) genannt, das seither in vielen Kontexten erfolgreich erprobt wurde (vgl. dazu Eberle/Hitzler 2000). In der Tat sind auch Diskurse zur nationalen Identität stets in kleine Lebenswelten eingebettet. Um dies sichtbar zu machen, eignet sich Hubert Knoblauchs (1995: 79 ff.) Unterscheidung von drei Ebenen kultureller Kontexte, die er im Anschluss an den Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt von Alfred Schütz (2004a) und Hans-Georgs Soeffners (1991) Drei-Sphären-Modell entwickelt hat: Der Akteur lebt und handelt erstens in der Welt in unmittelbarer Sicht- und Reichweite, also in seiner Wir-Welt, Mitwelt und Wirkwelt. Diese ist zweitens eingebettet in die Welt „potentieller Reichweite“, also die Welt des vermittelten, institutionell
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bestimmten Handelns und Wissens, sowie drittens in die Welt des symbolisch ausgeformten Wissens, der Kosmien und Weltbilder. Die drei kulturellen Kontexte werden im kommunikativen Handeln konstruiert; Anzeichen, Merkzeichen und Symptome bilden ebenso wie Zeichen, Embleme, Rituale oder Symbole Brücken zwischen den Individuen, Gruppen und Kollektiven (ibid.). Das Schweizertum des Schweizers äußert sich, soziologisch gesprochen, nur im kommunikativen Handeln und wird auch nur in diesem thematisiert. Und der einzelne Schweizer ist denn in der modernen Gesellschaft genauso wie andere Menschen ein Sinnbastler, der bei Bedarf mehr oder weniger ad hoc an seinem Schweizersein und seiner nationalen Identität werkelt. Auch diesbezüglich handelt er „in aller Regel (bei weitem) nicht so systematisch, so reektiert, so konzeptionell wie ein professioneller SinnKonstrukteur, d. h. wie ein Erzeuger, Bewahrer, Verteidiger großer symbolischer Sinnwelten (…) aber er gestaltet, subjektiv hinlänglich, aus heterogenen symbolischen Äußerungsformen seine Existenz“ (Hitzler/Honer 1994: 311). Nur wenige nehmen aktiv am öffentlichen, vorwiegend medialen Diskurs zur kollektiven, nationalen Identität teil, den die mehr oder minder sachkundigen und legitimierten „Experten“ aller Art führen. Die meisten Laien nehmen nur passiv daran teil, wenn überhaupt. Der Alltagsschweizer – in Analogie zum „Alltagshandelnden“, also der „normale“ Schweizer in seiner Alltagswelt – ist ein Sinnbastler, d. h. er bedient sich aus dem oben beschriebenen Reservoir kollektiver Identitätskonstruktionen und bastelt daraus – in mehr oder weniger stilisierter Form – sein eigenes Patchwork schweizerischer Identität. Die einzelnen Patches mögen dabei manchmal durchaus grob gestrickt sein und stereotype Ausprägungen aufweisen, wie dies bei der Konstruktion nationaler Identitäten oft der Fall ist; sie können aber auch durchaus differenziert, vielschichtig, bunt und überraschend ausfallen. Das Besondere an nationaler Identität ist, wie eingangs erwähnt, dass sie im „Normalfall“ gar nicht als Teil der persönlichen Identität thematisch wird, sondern zum nicht hinterfragten, selbstverständlichen Teil der Lebenswelt gehört. Daher ist der Schweizer zwar immer ein Sinnbastler, aber nicht ein Existenzbastler. Die „Existenz“ betrifft eine grundlegendere Schicht modernen Daseins, nämlich dessen Kern: Der moderne Mensch muss seine Existenz basteln, darum kommt er nicht herum. Das Schweizer-Sein gehört aber nicht unbedingt zur Kernschicht menschlicher Existenz. Manchmal ist der Existenzbastler auch Schweizer (oder Deutscher), aber der Schweizer ist als Schweizer kein Existenzbastler. Im täglichen Leben des Schweizers in der Schweiz ist es weder dem Schweizer noch seinen Schweizer Mitmenschen bewusst, dass sie Schweizer sind. Es muss entweder ein medialer Diskurs stattnden, ausgelöst durch weltpolitische Ereignisse welche die Schweiz betreffen (wie oben beschrieben), der in alltäglichen Interaktionen aufgegriffen, wiedergegeben und selektiv diskutiert wird. Oder man begegnet einem Ausländer, der durch seine Fremdheit oder Andersartigkeit die eigene Identität als
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Inländer konstituiert – Identität konstituiert sich durch Differenz. Oder man begibt sich selbst ins Ausland, wo man entweder sofort als Schweizer erkannt wird (wie die Deutschschweizer in Deutschland) oder explizit nach seinem Herkunftsland gefragt wird, und wo einem per Membership-Categorization-Device unverzüglich eine Reihe stereotyper Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen attribuiert wird. Oder aber man erhält Besuch ausländischer Intellektueller – zum Beispiel von Ronald Hitzler –, die einen explizit in eine tiefer schürfende Diskussion über die Schweiz und deren Typik, übers Schweizertum und dessen Genese sowie über den Schweizer als sozialen Typus (bzw. als Pluralität sozialer Typen) verwickeln.
In jeder dieser Situationen ist Sinnbasteln angesagt. Die Sinn-Collagen, die durch lokal situiertes Sinnbasteln inkrementell produziert werden, sind jeweils hoch indexikal, kontingent und nicht prognostizierbar. Sie können nur durch sorgfältige empirische Forschung, vorzugsweise mittels der lebensweltanalytischen Ethnographie, zielführend eruiert werden. Dabei empehlt sich eine klare Beschränkung auf konkrete kleine Lebenswelten, da nationale Identitätskonstruktionen in vielen
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verschiedenen Bereichen der Gesellschaft vorgenommen werden und in ihrer Gesamtheit, auf gut Schweizerdeutsch gesagt, einen totalen Chrüsimüsi bilden. Konkrete Interaktionszusammenhänge sind übersichtlicher, ihre empirische Erforschung gestaltet sich einfacher. In Bezug auf die beobachtende Teilnahme steht eins indes fest: Mit Ronald Hitzler als Gesprächspartner muss man bezüglich Swissness wesentlich tiefer in den Werkzeugkasten der Bastelressourcen greifen und elaboriertere Stilmittel anwenden als mit Otto Normalverbraucher. Wie eingangs konstatiert: Es sind die Besonderheiten, die ihn ausmachen.
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Beipackzettel für Bastelexistenzen Manfred Prisching
Postmoderne Menschen strampeln sich ab zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung, und in diesem Terrain strampelt sich auch Ronald Hitzler in seiner wissenschaftlichen Arbeit ab. Es ist die Enträtselung der Moderne und ihres Prozesses der Individualisierung (Beck 1986): Der Einzelne1 kann, will und muss zum „Original“ werden, zum „Einzelstück“; er ist auf einer ständigen „IchJagd“ (Gross 1999). Individualisierung heißt Freisetzung: einerseits Befreiung, Abstreifen der Zwänge; andererseits ein Herausschleudern aus den Sicherheiten der Herkunftsmilieus und der Sinnwelten. Die Menschen werden Konstrukteure ihres Ichs, Designer ihrer Lebenswelt, Gestalter ihrer Zukunft – aber eigentlich doch nicht: Es reicht nicht zum selbstbewussten Konstrukteur, zum kühnen Daseins-Architekten. Die Individualitätssucher sind – nach Hitzlers Bezeichnung – bloße „Existenzbastler“. Sie fühlen sich dabei nicht sonderlich wohl, sie suchen, nach dem Verlust aller anderen Einbettungen und Sinnstiftungen, zumindestens nach „temporären“ beziehungsweise „posttraditionalen Vergemeinschaftungen“. Diese Befunde sind unsere Ausgangspunkte. Wir setzen bei der Vermutung an, dass die Bastler nicht sonderlich genial sind. Sie halten sich weitgehend an Beipackzettel, an die How-to-do-Rezepturen. In Wahrheit ndet nur eine „halbierte Individualisierung“ statt (Prisching 2006).
Die Hitzler-These vom Existenzbastler Wenn es nach dem Angebot an Gelegenheiten ginge, könnten die Menschen ihr Ich komponieren. Doch sie sind mit dieser Aufgabe – in einer sinnentleerten Postmoderne – überfordert. Es hat sich ein kultureller Supermarkt für Weltdeutungsangebote 1 Nach Möglichkeit wird den sprachlichen Gender-Anforderungen entsprochen, zuweilen wird aus sprachästhetischen Gründen jedoch jenen Konventionen, die dem Männlichen einen gewissen Vorrang einräumen (und ohnehin das Menschliche meinen), nachgegeben. Hier ist also von „dem Einzelnen und der Einzelnen“ die Rede, und Entsprechendes gilt an anderen Stellen. Ich bedanke mich bei meiner Frau, Roswitha Prisching, für Lektüre und Diskussion der Arbeit. Die Arbeit ist unter Garantie drittmittelfrei. Eine ausführlichere Behandlung einiger Themen ndet sich in meinem Buch Prisching 2009.
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aller Art entwickelt, der mit einer Vielzahl von religiösen, ästhetischen, esoterischen, chauvinistischen, rassistischen, nationalistischen, globalistischen, klassenkämpferischen, konformistischen, ökologischen, sexistischen, feministischen und anderen Ideen sowie den jeweiligen Anti-Ideen dienlich ist. Jeder ist auf sich allein gestellt, um mit dem zuhandenen Material zurechtzukommen: als Hobby-Tüftler, beim Verfertigen der „bricolage“, beim Fabrizieren der jeweils eigenen „Bastelexistenz“. Diese Begriffe, „Existenzbastler“ und „Bastelexistenz“, haben in den allgemeinen Sprachgebrauch der Zeitdiagnostiker Eingang gefunden (Hitzler 2001, 2006; Hitzler/ Honer 1994). Der Identitätsbastler sieht zu, was kulturell gerade zur Verfügung steht und sich ohne allzu hohe Kosten besorgen lässt, und er stückelt zusammen, was ins eigene Konzept passt. Das Daseinsbewältigungsvermögen des Existenzbastlers ist das eines genuss-souveränen Multioptionalisten, eines egozentrischen Angebots-Surfers und Unterhaltungs-Spaß-Zerstreuungs-Flaneurs. „Jeder will tun, was ihm gefällt. Jeder will, dass andere tun, was er will, dass sie tun“ (Hitzler 2006: 262). Das bedeutet einerseits Selbstbewusstsein und Durchsetzungswillen, andererseits aber auch Borniertheit, Anmaßung und Dreistigkeit. Es besteht das Bedürfnis, frei, aber dennoch nicht allein zu sein (Hitzler 2003). Da wird die IchBastelei zum Problem; denn zur unbegrenzten Freiheit gehört die Bindungslosigkeit, und das Problem von Verortung, Zugehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit macht den Menschen zu schaffen. Amartya Sen plädiert in seinem Buch von der Identitätsfalle für einen Kosmopolitismus, der im Dienste der Individualität Schubladisierungen verhindern will (Sen 2007). Theorien der angeborenen, unentrinnbaren, autochthonen Identität – „das ist ein Muslim“ – ließen den Menschen keine Wahl, und dem kann man entgegenhalten: Eine Person kann widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin und Lehrerin, Romanautorin und Feministin, Heterosexuelle und Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan und Jazzmusikerin sein. Vorrangig ist die eigene Entscheidung: Welche Bedeutung wir einzelnen Elementen unserer Identität geben, ist unsere eigene Sache. Wir haben die Wahl, und die anderen müssen sie respektieren.2 Das alles ist richtig und sympathisch, es klingt ja auch nach Georg Simmels „Kreuzung sozialer Kreise“, wonach sich Individualität nicht aus der Einzigartigkeit von Elementen, sondern aus der je einzigartigen Kombination vorhandener Elemente ergibt (Simmel 1983). Und doch drängt sich ein Einwand auf: Beliebige Kombinationen von Merkmalen 2
Identitäten hängen, wie Sen richtig darlegt, auch vom sozialen Kontext ab: Beim Besuch einer wissenschaftlichen Tagung wird die Identität als Forscher wichtiger sein als jene als Vegetarier. Und Identitäten sind veränderlich: Die politische Kultur Mitteleuropas hat seit der Mitte des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Wandel durchgemacht.
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oder Rollen dieser Art sind auch wieder nicht möglich. Man wird nicht im soliden Dreiteiler zu einer Punk-Versammlung gehen. Der Museumsdirektor wird sich nach dem Abendessen nicht in Skinhead-Kluft werfen und zum Kriegsspiel eilen. Unverheiratete Journalistinnen eines Zeitgeist-Magazins arbeiten üblicherweise in ihrer Freizeit nicht bei der Caritas. Ein Marxist macht selten den Job als Vorstandsassistent einer Großbank. Metzger sind keine Vegetarier. Der Hochofenarbeiter hat keinen Weinkeller. Es gibt Muster, die sich nicht so beliebig kombinieren lassen, wie das Sen, in guter Absicht, propagiert. Es gibt Zusammenhänge zwischen den einzelnen Rollen, Weltauffassungen, Lebenselementen. Es ist irgendeine Art von „Einheit“, die es ermöglicht, vom „Lebensstil“ oder vom „Habitus“ zu sprechen (Berger/Hradil 1990; Hartmann 1999; Bourdieu 1987). Was tun Individuen, wenn sie sich „individualisieren“ wollen? Sie halten sich – als „Baumarktbastler“ und „Basteldilettanten“ – an „Montageanleitungen“ für ihre Bastelidentität. Wir betrachten einige dieser Montagetips: Wie bastle ich mein Selbst?
Montagetipp 1: Typenndungstests „Reine“ Individualisierungsthesen stellen sich tatsächlich so etwas wie eine „unique selling proposition“ vor: die Suche nach der Einzigartigkeit der Person. Aber natürlich sind die Individuen, denen wir auf der Straße begegnen, keineswegs einzigartig. Sie weisen ein ganz offensichtliches Bestreben auf, so sein zu wollen wie die anderen; über die aktuelle Mode Bescheid zu wissen; ihre Identität so zu inszenieren, dass sie gewinnend ist – und jedenfalls nicht so ausgefallen, dass die Interaktionspartner ihre Einzigartigkeit nicht verlässlich zu deuten vermögen. Sie suchen nicht die heroische Einsamkeit, sondern die Gemeinsamkeit mit anderen, mit denen sie dann, zur Fundierung des kollektiven Erlebnisses, viele Features (Präferenzen, Werte, Stile, Moden, Accessoires, Kenntnisse etc.) teilen müssen. Tatsächlich ist dann, wenn von Identität und Individualität gesprochen wird, andauernd die Rede vom „Typus“, zu dem man „gehört“. Wenn man die gängigen Magazine (die in einer erstaunlichen, in anderen Lebensbereichen verpönten säuberlichen Trennung der Geschlechter angeboten werden) durchblättert, fällt auf, dass die Suche nach Identität und Individualität wesentlich so verläuft, dass man sich zunächst auf die Suche nach dem eigenen „Typus“ zu begeben hat: zuordnen, vergleichen, klassizieren. Dort wird nicht das „Unikat“ angeboten, also die Hilfe zum Unterfangen, ganz anders zu werden als die anderen; ganz im Gegenteil: Unterstützung bei der Zuordnung zu meist recht groben Schubladisierungen. Man darf sich jeweils als einer von vier bis sechs Typen fühlen. Ein Beispiel aus der Brigitte: Welcher Wohntyp sind Sie? 13 Fragen genügen, und man bekommt als Resultat einen Beitrag zu seinem Innenleben geliefert. Er
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sieht dann etwa folgendermaßen aus. Typ D: „Bei Ihnen herrscht Klarheit! Alles ist an seinem Platz, Ihre Einrichtung ist praktisch, aktuell, pur, zurückhaltend. Materialien und Möbel sollen qualitativ hochwertig sein, was nicht heißt, dass Sie immer nur das Teuerste kaufen. ‚Form follows function‘, dieses Credo gilt auch für Sie. Sie legen Wert auf eine klare Formensprache. Übertriebenes Dekor liegt Ihnen fern. Schnickschnack, überüssige Nic-Nacs, und Plüschiges in jeglicher Form wird man in Ihrer Wohnung vergeblich suchen. Stattdessen konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche: Reduziert-schlichte Formen, helle, reinweiße, möglicherweise mit einer kräftigen Kontrastfarbe abgesetzte Wandächen, großzügige Fenster. Edle dunkle Hölzer, wie Wenge und Zebrano, werden mit Chrom und Aluminium kombiniert, Hightechstoffe und Sichtbetonächen treffen auf Naturstein und satiniertes Glas. Ihre Möblierung rekrutiert sich aus dem Repertoire der modernen Klassiker. Raumfunktionen gehen ießend ineinander über. […] Technik fasziniert Sie. […] Hätten Sie eine Zeitmaschine, würde Ihre erste Reise wohl ins Jahr 1955 zu einer Cocktailparty in einem Richard Neutra-Bungalow in den Hügeln von Beverly Hills führen.“3 Die letzte Bemerkung verrät, dass man sogar über entlegeneres architektonisches Lifestyle-Wissen verfügen (oder dieses ergoogeln) muss. Brigitte bietet weitere Tests zu Erforschung von diversen Facetten des Innenlebens an: Welches Haustier passt zu mir? Welcher Geschenke-Typ sind Sie? Die Zeitschrift Cosmopolitan geht gleich die wichtigen Themen an: Sind Sie bereit für das Jawort? Lieben sie das Risiko? Wie fantasievoll ist ihr Sex? Die Zeitschrift Wienerin bietet Tests an über die Frage: Wie alt sind ihre Gefühle? Men’s Health ist praktisch: Wie stabil ist ihr Kreislauf? Da ist es beispielsweise wichtig zu wissen: Haben Sie manchmal Taubheits- oder Lähmungsgefühle in einer Körperhälfte? mit den – recht männlichen – Antwortmöglichkeiten: „Nein, zum Glück nicht“; oder: „Ja, selbst ohne Vollrausch.“4 Amica lädt ein zu den Tests: Sind Sie eine gute Freundin? Ist er ein Fremdgänger? Wer passt zu mir? Oder zum „Flirt-Check“: Sind Sie eine Spielerin? (Frage: „Flirten Sie ständig und mit jedem, der Ihnen begegnet – ganz gleich, ob Sie ihn anziehend nden oder nicht, sondern weil es einfach eine lustige Freizeitbeschäftigung ist?“). Das Magazin myself offeriert Partnertests (Wie gut passen Sie und Ihr Partner zusammen?), Star-Style-Tests (Welcher Star-Ikone ähneln Sie?), den Inneres-Alter-Test (Sind Sie so alt, wie Sie sich fühlen?).5 Einzigartigkeit und Typenbildung scheinen sich zu widersprechen, aber das macht nichts. Erstaunlich ist: Warum sollte man sich „einzigartig“ fühlen, wenn man als Wohntypus oder Partnertypus oder Sextypus oder Urlaubstypus jeweils einer von vier oder fünf Gruppierungen angehört, in die sich die Gesamtbevölkerung 3
www.brigitte.de, abgerufen am 24. Juli 2009. Alle Tests wurden am 24. Juli 2009 abgerufen. 5 Online abgerufen am 4. August 2009. 4
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gliedern lässt? Solche Fragestellungen verraten nicht nur die ungeheure Verunsicherung, in der sich Bewohnerinnen und Bewohner der postmodernen Gesellschaft benden, sondern auch die Komplexität einer postmodernen Identitätskonstruktion: Ich muss zuallererst entdecken, wer ich selbst „wirklich“ bin (denn offensichtlich weiß ich das nicht ohne weiteres), und zu diesem Behufe benötige ich Kategorien, Klassikationen, Ordnungsraster, Muster, die mich allerdings bereits wieder in Schubladen befördern, in denen die tatsächliche Individualität höchst begrenzt ist. Wenn ich das weiß, dann kann ich mit der Bastelei beginnen.
Montagetipp 2: Individualitätsinszenierung Wenn ich zu wissen glaube, welcher Typus ich bin (Prisching 2007), kann ich mich in einschlägiger Weise dekorieren: Haare färben; High Heels besorgen; Chanel-Sonnenbrille kaufen; Axe Aftershave aufsprühen. Meine Individualität auf den Typus hintrimmen. Offenbar bedeutet Individualisierung nicht, dass es sich beim Personal einer postmodernen Gesellschaft um eine Versammlung von unitären Exemplaren handelt, die nichts mit anderen gemeinsam haben; vielmehr gehört es nicht nur zu den Funktionsbedingungen einer Gesellschaft, die ihr angehörigen Individuen in irgendeiner Weise kompatibel und funktional zu halten, auf die gehörige Spur zu bringen, eine grundlegende Integration der Gesellschaft im Dienste ihrer Funktionsfähigkeit sicherzustellen; auch die Individuen ihrerseits haben den Wunsch nach der Klassizierbarkeit. Sie dient auch zur Kommunikation ihrer Identität, zum verstehbaren Austausch von Signalen (Prisching 2009). Wenn sie glauben, ihr besonderes Selbst gefunden zu haben, wollen sie anderen signalisieren, wie dieses Selbst beschaffen ist – großartig, cool, dynamisch, eigenwillig, ungeduldig, zukunftsorientiert, freundlich, durchsetzungsfähig, gescheit, smart, kritisch – das Leben ist ein Hit. Wenn man sich als „eigenwillige“ Person präsentieren will, muss man wissen: Was sind die „Signale der Eigenwilligkeit“, die von anderen als solche wahrgenommen werden? Sie müssen den anderen ihre Besonderheit deutlich machen, und die anderen müssen diese Botschaft dechiffrieren können. Jede Art von Besonderung dementiert sich insofern von selbst, als es offensichtlich verstehbare Muster geben muss, durch die das Besondere einer Person auf kommunikationsfähige Weise inszeniert wird. Zu dem Typus, der zu sein man sich entschlossen hat, gehört beispielsweise „Weinkennerschaft“ (sagen wir: einer aus der oberen Mittelschicht), aber wenn man sich als Weinkenner präsentieren will, dann gibt es Kriterien für die Beurteilung des Weinangebotes, ein bestimmtes Wissen über Sorten, Lage, Winzer, Jahrgänge, ja eine besondere Sprache, die man beherrschen muss („fruchtig im Abgang“) – und allzu individuell sind die Möglichkeiten, den Beweis seiner einschlägigen Kompetenz zu führen,
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nicht. (Man kann schon einmal einen originellen „Ausreißer“ bei einer Beurteilung einer Bouteuille haben, aber andauernd darf das nicht passieren. Wenn man individuell sein will, muss man urteilen wie alle anderen.) Individuell ist man, wenn man so ist, wie alle sind, die individuell sein wollen; und dies differenziert sich natürlich je nach Bezugsgruppe. Noch ein Problem tritt auf. Zeitschriften neigen dazu, für jedes Problem eine andere Typologie zu ernden. Selbst gehobene Zeitschriften aus dem Marketing- und Managementbereich machen keine Ausnahme. Nur ein Beispiel: In einer Ausgabe des Harvard Business Manager wird die Frage von Work-LifeBalance behandelt (Stock-Homburg/Bauer 2008). Aufgrund einer Befragung von 250 Führungskräften werden Männer- und Frauentypologien unterschieden. Bei den Männern ndet man: den unterstützten Karriereorientierten; den immer Erreichbaren; den Isolierten; den Beziehungsorientierten. Bei den Frauen werden verzeichnet: die Karrierefokussierte; die Unabhängige; die Beziehungsorientierte; die Familienorientierte. Diese Typen werden näher beschrieben, nicht unplausibel. Ginge es nun aber um eine andere Frage, etwa um das Problem der Führung, würden offensichtlich andere Typen entworfen. Wenn man aber für jedes Problem andere Typen zutage fördert, stellt sich die Frage, wie sich diese Typen zueinander verhalten – denn jede einzelne Person muss dann vielen Typen angehören. Und es stellt sich die Frage: Wer bin „Ich“? Eine Synergie aus Wohntyp A und Sextyp D und Haustiertyp X und weiteren 27 Typen? Paradoxerweise haben Lebensstil- und Milieustudien eigentlich die genau entgegengesetzte Zielrichtung gehabt: nicht für jede gesellschaftliche Funktion verschiedene Typen entwerfen, sondern aus einem Typus heraus unterschiedliche gesellschaftliche Dimensionen beurteilen können.6 Die Typisierungen mit ihren Inszenierungen sind handfeste Rezepte für hilose Bastler, aber zum Kompositum des Gesamt-Typus schreiten wir mit diesen Montagehilfen nicht voran.
Montagetipp 3: Vergemeinschaftungsdrang Ronald Hitzler kennt die Pole von Gemeinschaft und Gesellschaft. Gemeinschaft ist, nach der alten und guten Beschreibung von Ferdinand Tönnies, die Einbettung 6
Das heißt: Die Vorgehensweise kennt Funktionalitäten I, II, III (Führung, Wohnen, Gesundheit, Familie etc.) und sucht sich für jede dieser Funktionalitäten eine eigene Typologie, also für die Funktion II die Typen A bis C, Funktion III die Typen R bis U; und diese Typen stehen zueinander in keinem Verhältnis. Der eigentliche Ansatz wäre umgekehrt gedacht gewesen: einige Typen (Lebensstile) beschreiben, von A bis H, und aus dem jeweiligen Typus, etwa dem Typus A, erschließen, wie sich die Zugehörigen der A-Gruppe zum Thema Klimawandel, zur Religion, zur Familie, zum Umgang mit Geld, zum Konsumieren, zur Fortbildung, zu den politischen Parteien und dergleichen verhalten.
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in eine dauerhafte soziale Umgebung: hierarchisch, generationenübergreifend, statusgebunden, face-to-face. Ihr steht die Gesellschaft gegenüber, in der es um formale, anonyme, rationalisierte Interaktionen geht. Die Gemeinschaften gehen verloren, mit ihnen auch die Beheimatungs-Gefühle. Es bleibt das Leben in der Gesellschaft, in der man, trotz aller Verbundenheit, getrennt bleibt (Tönnies 1991). Es entsteht ein Dezitgefühl – so kann man nicht leben. Denn Zugehörigkeitsgefühle bleiben bestehen, Wünsche nach Vertrautheit, nach gemeinsamer Erfahrung, nach Emotion, nach interesselosem Wohlfühlen; und diese Wünsche werden nicht zuletzt durch „temporäre Vergemeinschaftungen“ befriedigt (Hitzler 2008b). Posttraditionale Vergemeinschaftungen sind die Lösung für ein Problem, das Unvereinbare zu vereinen: den Wunsch nach Freiheit und Einzigartigkeit sowie den Wunsch nach Bindung und Einbettung. Im Terrain zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, bei einigen Arten von Stilen und Szenen, treibt sich Ronald Hitzler in den letzten Jahren herum, mehr wissenschaftlich als physisch, aber nicht ausschließlich in theoretischer Enthobenheit. Was sich dort nden lässt, klingt unter den Bedingungen postmoderner Einsamkeit nach einer formidablen Lösung: Man kann „Vergemeinschaftungen“ ernden, die keine „Gemeinschaften“ sind, aber einige ihrer Vorzüge aufweisen – temporäre oder posttraditionale Vergemeinschaftungen sind eng umgrenzte Ereignisse, die aus dem Leben herausgeschnitten werden (Prisching 2008). „Neostämme“ (Maffesoli 1996), die Inseln einer massenhaften Konsumkultur, vermitteln jene emotionellen Inputs, die man benötigt: man fühlt sich in ihnen wohl. Es sind „Wahlgemeinschaften“, nicht „Herkunftsgemeinschaften“: Erlebnismilieus, Lebensstilgruppen, Jugendszenen, Clubs und Gangs. Sie brauchen einen thematischen „Aufhänger“, aber vor allem geht es um Zugehörigkeit, die durch einen gemeinsamen Stil, durch Rituale und Auffassungen gefestigt wird. Die meisten temporären Vergemeinschaftungen verlangen keine persönliche Anstrengung, die über das Ereignis selbst hinausreicht. Man kann in der fußballbegeisterten Masse aufgehen, wenn man die „Welle“ macht, oder in der heiser-brüllenden Fangemeinde, wenn man im Konzert die Feuerzeuge oder Sternspritzer schwenkt. Eine angenehm-fröhliche Stimmung herrscht beim Oldtimer-Meeting, eine stärker exaltierte beim GTI-Treffen, und man fühlt sich wohl in gemeinsamen Stimmungslagen. Man ist dabei. Die anderen sind dabei. Da braucht man keine Gemeinschaftsressourcen oder Zukunftsperspektiven. Wichtig ist nur die Unterscheidung von Insidern und Outsidern in den Vernetzungen, Netzwerken, Clustern. Man ist so wie die anderen. Man bewegt sich wie die anderen. Man schreit wie die anderen. Man ist, auf kurze Zeit, die vermaledeite Individualität los – und kann danach wieder zu ihr zurückkehren. Nun gibt es allerdings ganz unterschiedliche Vergemeinschaftungsformen. Beispiel 1: Eine ganz lockere, temporäre Form ist die Teilnahme an einem zeitbegrenzten Event: Popkonzert, Papstmesse, Stadtfest, Fußballspiel. Auch dies ist
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freilich Ausdruck entsprechender Zugehörigkeitssehnsüchte in einer einsamen Welt, aber doch mit einem Minimum an Verpichtungscharakter; gleichwohl hat die Teilnahme an einer Techno-Party oder am Weltjugendtag der Katholischen Kirche mit der Identität des Akteurs oder der Akteurin zu tun7 (Forschungskonsortium WJT 2007). Weit weniger Identität ist im Spiel beim Public Viewing im Rahmen einer Fußballweltmeisterschaft. Da kann man anschließend heimgehen und Sanskrit übersetzen. Beispiel 2: Die Zugehörigkeit zu einem lokalen Richard Wagner-Verein oder zur Gesellschaft der Freunde des X-Museums ist, anders als die Vergemeinschaftung beim Popkonzert, auf Dauer angelegt, aber sie berührt oder determiniert als solche nicht grundlegend die Identität der Mitglieder.8 Die Mitgliedschaft bei den Freimaurern bringt schon etwas stärkere Verpichtungen – ohne zeitliches Reservat – mit sich, dort schieben sich die Manager ihre Posten und Projekte zu, und man ist insofern einander innig verbunden, weil man auch über öffentlichkeitsferne rechtsrelevante Aktivitäten voneinander weiß. Neben den unverbindlichen Gesellungsformen, in die man einsteigt oder aus denen man aussteigt, stehen die kollektivorientierten Anläufe zur Selbst-Findung, mit der man nicht leichtfertig spielt: Testläufe, mithilfe derer man sich in Situationen begibt, um angesichts der äußeren Stimulanz in sich hineinzuhorchen, ob man denn die hinreichende Resonanz und den attraktiven Response verspürt. Auch einem Michael JacksonFanclub tritt man nicht „zufällig“ bei. Beispiel 3: Die Zugehörigkeit zur Community von touristischen Animateuren, die sich als Schilehrer und Tauchlehrer, als Snowboarder und Segelbootvermieter durchs Leben schlagen, zwischen dem österreichischen Kitzbühel im Winter und der australischen Küste im Sommer, die sich zuweilen treffen oder wieder nden, die aber im Grunde ungebunden (höchst individualistisch, meist mit viel Alkohol und Sex) durch die Welt trampen – diese Zugehörigkeit stellt eine eigenartige Mischung dar: einerseits tatsächlich ein hohes Ausmaß von Befreiung oder Individualisierung, andererseits eine Umfassendheit des Lebensstils, der keinen zeitweiligen Ausstieg zulässt, keine Verträglichkeit mit einer Familie, keine Vereinbarkeit mit einem bürgerlichen Job, keine Vorsorge für die Pension. Er ist das ganze Leben (Spendlingwimmer 2007). 7
Es mag im Einzelfall auch vorkommen, dass die Teilnahme aus anderen Gründen erfolgt, etwa im Zuge der Arbeit an einer sozialwissenschaftlichen Studie. Im Normalfall jedoch wird eine Person am Katholikentag teilnehmen, weil Christlichkeit ein Teil ihrer Identität ist und weil sie sich von der Teilnahme für die eigene Person und das weitere Leben etwas erwartet. Es ist also nicht so, dass man, mit spielerischem Charakter, drei Tage Christentum zelebriert und am Ende aussteigt, geplant und vorgesehen, ohne jeden verbindlichen Charakter, allein des Spaßes halber. Mit den Zuschauern auf dem Fußballplatz muss man nichts gemeinsam haben, mit den Besuchern des Katholikentages sehr wohl. 8 Allerdings sind gerade solche Lebensgestaltungselemente Ausdruck eines bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses, und dieses ist sehr wohl umfassend, prägend, nachhaltig.
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Beispiel 4: Der Entschluss, sich vier Wochen lang auf den Weg des Jakob-PilgerPfades zu machen, bedeutet, dass man, trotz ganz unterschiedlicher Motivationen, in eine wandernde Gemeinschaft eintritt, in der besondere Spielregeln gelten. Das Wandern von Tag zu Tag gewinnt eine eigene Faszination, auch wenn manche Pilgerinnen und Pilger mehr religiöse, andere mehr säkulare Ziele verfolgen. Für die meisten jedoch steht die eigene Person (und ihre Meditation) im Mittelpunkt. Man will, mehr oder weniger, ein wenig „verändert“ von diesem Pfad zurückkehren. Man hat mit vielen, die sich auf diesem Weg benden, etwas gemeinsam, es herrscht meistenteils ein unkompliziertes Gemeinsamkeitsverständnis, es gibt aber auch einige strenge Regeln. Zugleich ist mit dem Ende der Reise auch das Ende dieser sanften Vergemeinschaftungsform gegeben; man kehrt in den Alltag zurück – und nimmt vielleicht doch manche Reminiszenz in die nächste Zeit mit. In allen Fällen, und auch im Falle der Inszenierung von Individualität, geht es darum, was man mit anderen gemeinsam hat: wie lange diese Gemeinsamkeit reicht, welche Dimensionen sie umfasst, welche Verpichtungen sie mit sich bringt. Für die „situativen Event-Vergemeinschaftungen“ (Gebhardt 2008) gibt es glänzende Beispiele, aber es gibt auch „stabilere“ Formen, die es gleichwohl nicht zu der Verfestigung und Konkretisierung einer „Gemeinschaft“ bringen: Elemente also, die doch eine deutliche Spannung zu einer als Konstruktion von Einzigartigkeit verstandenenen Individualität aufbauen. Für die Identitätsmontage gilt der Ratschlag: Einbettung in unterschiedliche Vergemeinschaftungen, playing the game – das bringt ein wenig Stabilität.
Montagetipp 4: Generationenbewusstheit Mit einer alten Klassen- oder Schichtstruktur, die seinerzeit aufschlussreiche Informationen über das „ganze Leben“ der betroffenen Personen geliefert hat, lässt sich die soziologische Schubladisierungsarbeit nicht mehr betreiben, und so werkt man mit Lebensstilen, Milieus, Sozialgruppen, Habitus, Mentalitäten, Generationen und Szenen herum. Eine „große“ Einheit sind offenbar die „Generationen“: Gemeinsamkeiten bestimmter Geburtsjahrgänge, die so ausgeprägt sein sollen, dass man diese Jahrgänge als besondere Einheiten auszeichnen und gegenüber anderen Alterskohorten abgrenzen kann. Zu den berühmteren dieser Gruppierungen gehören die Achtundsechziger, über deren kulturelle Langzeitwirkungen immer noch spekuliert wird. Eine gewisse Anpassung über die Jahrzehnte wird ihnen nachgesagt (der „Marsch durch die Institutionen“ wurde zum Karrierepfad). Ihren Kindern wird ein gewisser Backlash zugeschrieben („Mama, muss ich heute schon wieder tun, was ich will?“). Weitere Generationen sind ihnen gefolgt: die Generation Golf, die Generation X, die Bobos und die Millenials (Illies 2003;
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Brooks 2000; Coupland 1995; Howe/Strauss 2000, Strauss/Howe 1991) – und als spezielle Phänomene wurden auch noch die Generation Praktikum, die Generation Käfer, die Generation Reform und andere beschrieben. In einem Sonderheft des Spiegel wird die Gegenwartsgeneration unter dem Titel der „Krisenkinder“ behandelt. Wir kennen kein Protestgefühl, das uns eint, so heißt es in dieser Beschreibung. Wir haben keine Wortführer. Wir haben kein Konkret und kein Tempo, bloß Neon, und das erzählt von normalen Menschen, die über Gefühle und Karriere nachdenken. Wir sind unsichtbar. Wir sind da, aber als Generation artikulieren wir uns nicht. Wir sind Krisenkinder, aber wir werden nicht laut. Wir haben Angst, dass es für das Normale nicht langt, für Job und Familie. Wir erben die Alterspyramide und die Staatsschulden. Aber wir rebellieren nicht. Der Mainstream „ist nicht auf der Straße, sondern bei der Arbeit, in der Uni, im Büro. Er ndet die Welt so kompliziert, dass er es vorzieht, nicht daran zu verzweifeln, er ist so individualisiert, dass der Blick aufs eigene Schicksal gerichtet bleibt: Die Welt wird wohl untergehen, ich selbst komme irgendwie durch, und wenn nicht, dann war man eben selbst dran schuld und nicht das System.“ Die pragmatische Generation hat keine Ideologie, schon gar keine Utopie, sie nimmt die Welt hin, wie sie ist. Sie nimmt auch hin, dass Arbeitgeber die Freizeit und das Wochenende einfordern – und dass die Älteren sich befremdet zeigen, dass die Jungen nicht gegen jene Welt stärker revoltieren, die letztlich von eben diesen Älteren gebaut wurde und beherrscht wird. Deshalb wird der Jugend Verwöhntheit vorgeworfen, von jenen älteren Semestern, die in ihrem Leben tatsächlich verwöhnt worden sind. „Wohl wahr, unsere Generation ist nicht sexy, dafür aber sind wir wenigstens nicht so anstrengend wie die, die immer genau wussten, was gut ist und was böse, was cool ist und was nicht. Die Popliteraten der Generation Golf waren stolz auf die Tyrannei ihrer Geschmacksurteile, die 68er hatten die Welt politisch in Richtig und Falsch aufgeteilt, in Ho-Tschi-Minh und USA. Diese Generation ist davon frei. Sie ndet alle Musik gut, die auf ihren iPod passt, sie kann alle Meinungen irgendwie verstehen. Sie sampelt sich ihr Weltbild zusammen und remixt es jeden Tag, mal stimmt dies, mal das. Liberal, bürgerlich, sozialdemokratisch, grün, was eben gerade richtig erscheint.“9 Generationen werden nicht in konkreten Vergemeinschaftungsformen sichtbar, und insofern strapaziert man die Kategorie der Vergemeinschaftung, wenn man Generationen wie diese Krisenkinder als Varianten einer solchen betrachtet. Es fehlt der face-to-face-Charakter. Aber wenn sich die Zugehörigen treffen, so erkennen sie einander. Beim „Kameradschaftsbund“ der Achtundsechziger gibt es, wenn sie an „damals“ denken, eine Art von Grundverständnis, oft sogar Vertrautheit. Man verfügt über dieselben prägenden Ereignisse und Erfahrungen, 9
Der Spiegel Special: Was wird aus mir? Nr. 1/2009, 14–23.
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manchmal „Heldengeschichten“: Teilnahme an einer Demonstration, Besuch einer Avantgarde-Literatur-Veranstaltung. Wie hast du damals die Berichte über Woodstock verstanden? Wo warst du, als Kennedy ermordet wurde? Hast du den Oswalt Kolle-Film gesehen? „Gemeinschaft“ kann es nicht sein, völlige Fremdheit ist es auch nicht; also wohl eher eine Art von „Vergemeinschaftung“; jedenfalls ndet auch in diesem Fall eine deutliche „Typisierung“ statt. Generation reektieren – das liefert ein paar Bausteine für die Individualität.
Montagetipp 5: Lebensstilangepasstheit Sozialforscher sind sich einig, dass die klassische Ober-, Mittel- und UnterschichtEinteilung durch (zumindest) eine zweite Dimension ergänzt werden muss, aber es ist eine schwierige und in Studien auf unterschiedliche Weise gelöste Frage, welche Dimensionen man einbezieht, um eine Landkarte der Lebensstile zu zeichnen, und in welcher Präzision man Lebensstile beschreiben soll. Eine Studie des Gruner & Jahr-Verlages (Dialog 2) hat beispielsweise 47 Lebensstil-Gruppen ergeben; und das ist so viel, dass fraglich ist, ob man damit etwas anfangen kann. Übersichtlicher sind die Unterscheidungen der VALS-Studien (Values and Lifestyles) des Stanford Research Institutes. Auf der Grundlage theoretischer Überlegungen von Maslow und Riesman werden neun Lebensstile dargestellt: Survivors und Sustainers auf der unteren sozialen Ebene; zu den von außen beeinussten Personengruppen zählen die Belongers, die Emulators und die Achievers; durch eigene Vorstellungen gesteuert werden die I-Am-Me’s, die Experimentals und die Societally Conscious. Beide Komponenten (inner and outer directed) vereinen die Integrated. Die Marktforschung des Burda-Verlages hat interessanterweise zwischen Männerund Frauen-Lebensstilen unterschieden. Zu den Ersteren gehören die folgenden: Familienoberhäupter, Orientierungslose, Unzufriedene, Egozentriker, Verunsicherte, Anerkennungsorientierte, Realisten, Erfolgsorientierte, Pichtbewusste. Zu den Letzteren gehören: aktive, erfolgsorientierte Frauen; traditionsorientierte, konservative Frauen; pessimistische, zukunftsbesorgte Frauen; gefühlsorientierte, emotionale Frauen; auf schönes Aussehen und Luxus bedachte Frauen; Frauen mit dem Anspruch auf Selbstverwirklichung, gute Bildung und Selbstständigkeit; gesundheitsbewusste Frauen; resignative Frauen mit Orientierungsproblemen. Allzu viel Theorie kann wohl nicht hinter solchen Klassizierungen stecken. Am berühmtesten sind die Sinus-Milieus (Flaig/Meyer/Ueltzhöffer 1993) mit ihren insgesamt acht bis zehn Clustern10: das konservative, das kleinbürgerliche und das 10 Als Milieu-Bausteine dienen die folgenden acht Elemente: Lebensziel (Werte, Lebensphilosophie); soziale Lage; Arbeit/Leistung; Gesellschaftsbild (politisches Interesse, Engagement, Systemzufriedenheit, Problemwahrnehmung); Familie/Partnerschaft (einschließlich Glücksvorstellung); Freizeit;
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traditionelle Milieu, das traditionslose Arbeitermilieu, das neue Arbeitnehmermilieu, das aufstiegsorientierte Milieu, das technokratisch-liberale, das hedonistische und das alternative Milieu. Die einzelnen Cluster werden ausführlich beschrieben, und man hat das Gefühl, dass man entsprechende Personen „wiedererkennt“.11 Freilich ist es damit nicht getan. Marketingforscher, die ihre Honorare rechtfertigen müssen, nden immer wieder neue Typen – und eine Unzahl von nicht immer ganz plausiblen Verfeinerungen, bei denen Lebensstile, Szenen und Typen verschwimmen und „Brands“ (Pfadenhauer 2008) wichtig werden. Da gibt es etwa die „Ucos“: ultra consumers, für die der Kauf der besten Produkte Lebensinhalt ist. Anbieter müssen sich überlegen, was sie den „Fruppies“, den frustrated urban professionals, anbieten, den griesgrämigen Ex-Yuppies. Was macht man mit den „Limers“ (less income, more excitement), den „Dobies“ (daddy older, baby younger), den „Mobies“ (späte Mütter)? Wie hält man den „Zapper“ (Markenwechsler) bei der Stange? „Globos“ jetten zum Schilaufen nach Kanada und zum Shopping nach London. Der „Zwumb“ macht zweimal Urlaub und montags blau. Die „Nonamers“ kaufen billig, die „Lohas“ (lifestyle of health and sustainability) und die „Hanks“ (health and nature keepers) teuer. Die Elektronikbranche schlägt sich mit „Yetties“ (young, entrepreuneurial, techbased, twenty-something) herum und liebt die „TAPs“ (technically advanced persons, also Technik-Freaks). „Dinks“ werden verehrt (double income, no kids), weil sie kaufkräftig sind; unklar ist das Verhalten der „Dins“ (double income, no sex; sie arbeiten so viel, dass sie zum Sex zu müde sind – was sagt das für ihr Einkaufsverhalten?). „Frumpies“ (former radical upward moving people) sind mittlerweile angepasste Aufsteiger, mit einigen Erinnerungen an frühere Zeiten. „Milkies“ (modest introvert luxury keepers) bewahren Luxus, sind aber nicht kaufwütig. „Puppies“ (poor urban professionals) sind die Prekaristen, freiberuich, Großstadtbewohner, die sich nichts leisten können. „Slobbies“ (slowly, but better working people) sind langwierige Entscheider, die bewusst konsumieren, ganz im Gegensatz zu den „Skippies“ (school kids with income purchasing power), einem interessanten Kaufkraftpotenzial. Man erinnert sich an das eine oder andere Beispiel aus der eigenen Bekanntschaft. Jedenfalls kann man ein wenig Montagematerial nden.
Wunsch- und Leitbilder; Lebensstil (ästhetische Bedürfnisse und Bewertungen, milieuspezische Stilwelten). 11 Eine Grundfrage bei allen Studien ist es, welche Variablen in dem (üblicherweise) zweidimensionalen Darstellungsfeld auf den Achsen stehen. In Schulzes Erlebnisgesellschaft waren es (in beeindruckender Schlichtheit) die beiden Variablen Alter und Bildung. In der Sinus-Studie sind es Schichtzugehörigkeit und Wertorientierung. Aber die Milieubeschreibungen sind durchaus „übersetzbar“, sodass man den Eindruck erhält, dass Bildung und Schichtzugehörigkeit einander ebenso weitgehend entsprechen wie Alter und Wertorientierung; und tatsächlich wird man in vielerlei Hinsicht eine hohe Korrelation zwischen diesen Größen nden.
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Montagetipp 6: Szeneneinbettung Szenen sind eine andere Form von Gemeinschaftlichkeitsstiftung, die, insbesondere für Jugendliche, eine „situative Kuhstallwärme“ in einer als kühl empfundenen Gesellschaft bietet: die Form eines lockeren sozialen Netzwerks, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften. Man sucht sich bestimmte Interessen aus, man ist eine Zeit lang in der Szene mehr oder weniger zuhause, häug sind Szenen auch mit klaren Konsumstilen verbunden. Es gibt aber keine scharfen Abgrenzungen, keine förmlichen Mitgliedschaften, man nimmt wahr, dass man „irgendwie“ dazugehört (Hitzler 2008a). Im Internet-Portal jugendszenen.com – ein Hitzler-Projekt – sind zwei Dutzend dieser Gruppierungen beschrieben, von Antifa bis Techno, von Cosplay bis Punk, von Gothic bis Junghexen. Sie entwickeln so etwas wie einen eigenen Lifestyle mit Sprachgewohnheiten, Umgangsformen, Treffpunkten, Ritualen und Events; vor allem aber dieselbe Relevanzstruktur: Man muss wichtig nden, was die anderen wichtig nden, und das ist Assoziierungsbedingung. Natürlich besteht in dieser beweglichen Landschaft von Assoziierungen ein Recherche- und De nitionsproblem. Nicht jedes neue Phänomen, das von Marketing-Fachleuten entdeckt oder von Medien hochgespielt wird, ist eine „Szene“. Und Szenen, die sich tatsächlich etabliert haben, weisen Aufschwünge und Abstürze auf. Nicht jeder Mode-Gag kann sich zu einer Szene verfestigen, auch wenn er eine Zeit lang einussreich ist. Den Blueberry-Benutzern wird man die Einordnung als Szene verweigern, wohl auch den Apple-Freaks. Die Abgrenzung von Szenen zu anderen Gesellungsformen ist unklar: soziale Bewegungen (Frieden, Ökologie, Tierschutz), Subkulturen (Hippies), Gangs (in bestimmten Territorien von Großstädten, mit quasi-ideologischer oder ethnischer Prägung), Cliquen (Freundeskreise zur Verbringung von Freizeit). Hitzler selbst spekuliert darüber, welche Gruppierungen man als Szenen bezeichnen kann oder wo dies nicht angebracht erscheint: Jumpstyle oder Krocha, Trekkies, Reggae Dancehall, Visual Kei, Rockabilly, Grindcore, Emo – ein weites Land (Hitzler 2008a). Aber für das, was (zeitweise) als Identität betrachtet wird, können Szenen – und die stilistische Konformität mit ihnen – von überragender Bedeutung sein.
Rezept 7: Konsumspontanismus Wie sich zeigt, ist die postmoderne Gesellschaft tatsächlich bunt. Aber in jedem der „patches“ gibt es strikte Regeln. Wenn man sich gar nicht mehr zu helfen weiß, kann man sich auf die in Konsumakten spontan zutage tretenden Gefühle stützen, um Hinweise auf den eigenen Typus zu erhalten – darauf läuft der Ratschlag einer
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Zeitschrift hinaus. Die enge Verklammerung von Bastelexistenz und Konsumismus (Prisching 2006) wird nicht nur daraus ersichtlich, dass Individualisierungspostulate und posttraditionale Vergemeinschaftungsformen immer ein Luxusphänomen waren (und in dieser Form sind sie auch in früheren Gesellschaftsformationen aufgetreten) (Albrecht 2008), sondern auch daraus, dass man die Kausalität umkehren kann: durch Tests, die aus der Beurteilung von Konsumgegenständen zu erschließen trachten, welcher Typ man sei. Während im ersten Verfahren die Fragestellung ist: wer bin ich, und was muss ich kaufen, um mir gerecht zu werden? ist beim zweiten Verfahren die Fragestellung: was kaufe ich, was gefällt mir, und wie kann ich daraus schließen, wer ich bin? Ein Blick auf eine der über Jahrzehnte einussreichen Jugendzeitschriften (Bravo) zeigt einen Test, einen Psycho-Check, bei dem man sich jeweils zwischen zwei Bildern entscheiden muss und eine rasche Antwort bekommt, wer/wie/was man ist. Zwei unterschiedliche Jeans-Fotos ergeben einerseits: „Wenn es einen Trend gibt und er gefällt dir – warum solltest du ihn nicht mitmachen? […] Ganz klar: Du bist immer aktiv und kriegst alles mit, was gerade so geht!“ und andererseits: „Wenn’s um Klamotten geht, scheint dir ein lässiger Look zu gefallen! Klar – Klamotten sollen cool aussehen. Aber als Modepüppchen stolzierst du nicht gern rum. Du bist selbstbewusst und machst dein eigenes Ding!“ Die Entscheidung zwischen Schuhen ergibt einerseits:„Du stehst also eher auf dezente, süße Looks – sportliche Klamotten gehören für dich wirklich nur zum Sport! Klare Regeln – so bist du!“ und andererseits: „Zu verzickt darf dein Look auf keinen Fall sein. Du liebst es lässig und sportlich – und damit bist du immer ganz bequem und trendy unterwegs. Take it easy – das könnte dein Lebensmotto werden!“ Bei der Entscheidung zwischen Jacken landet man bei der Feststellung „So bist du: Offen und selbstbewusst, ohne Angst vor krummen Blicken!“ oder „So bist du: Diplomatisch und aufgeschlossen, vernünftig und clever!“ Die Entscheidung zwischen verschiedenen Taschen führt zur Alternative „Du bist vernünftig und praktisch, gehst deinen Weg ohne unnötige Kurven!“ versus „Du stehst auf Abwechslung und frischen Wind – Langeweile wird es mit dir nicht geben!“ Und so weiter.12 Die konsumistische Wahlfreiheit steht voran. In ihr ndet nicht nur die Individualität
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www.bravo.de. Es ist eine der spezialisierten Zeitschriften, die aus dem klassischen „Bravo“ herausgewachsen sind, in diesem Fall eine Internet-Variante mit eigener Redaktion. Dieser Test wurde am 30. April 2009 abgerufen. Es ist natürlich nicht so, dass wir derlei Spielereien ernst nehmen, gleichsam als soziologischen oder sozialpsychologischen Befund verstehen. Solche Tests dienen der Unterhaltung; aber doch nicht nur: Unterstellt wird, dass die Leserinnen und Leser solcher Magazine sie insofern ernst nehmen, als sie sie nicht gänzlich unplausibel nden. Sonst würden sie wohl die Zeitschrift nicht kaufen. Da aber die Blattmacher in den meisten Fällen recht gut wissen, was sie tun, unter dem Druck ihrer Existenz, können wir diese Tests und sonstige Ratschlagkolumnen als Schlüssel zur Vorstellungswelt der Rezipienten durchaus ernsthaft verwenden.
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ihren Ausdruck. Sie leitet sich sogar davon ab. Wer einkaufen kann, der ist auf dem besten Wege, ein Individuum zu werden. Das vervollständigt die Gleichung für das postmoderne Leben. Erstens: Identität und Individualität sind nur durch Typisierung und Stilisierung fassbar – Verfahren, die den Originalitätsgehalt individualisierter Personen beträchtlich reduzieren. Die Flickschusterei an der Bastelexistenz richtet sich nach den Beipackzetteln und ihren Montageanleitungen. Zweitens: Die Inszenierung der eigenen Person erfordert eine strikte Einhaltung von Mustern und Regeln, mithilfe derer Individualität gebastelt und dargestellt werden kann; und verschiedene Formen der posttraditionellen Vergemeinschaftung verlangen ebenso die Einhaltung zahlreicher innerer und äußerer Normierungen durch die Akteure. Drittens: Existenzbastelei dieser Art ist in einer vermarktlichten Gesellschaft auf das Engste mit konsumistischen Mitteln verknüpft.
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(Spät-)moderne Gesellschaft und Identitäten
Chinesische Bastelbiographie? Variationen der Individualisierung in kosmopolitischer Perspektive Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim
Ronald Hitzler, dem dieser Text mit herzlichen Glück- und Zukunftswünschen gewidmet ist, hat der Soziologie der Individualisierung, zu seinem HandwerkerModell des eigenen Lebens greifend, die Metapher der „Bastelbiographie“ geschenkt, ein Leuchtzeichen für alle diejenigen, die sich in den Abstraktionen der Individualisierungstheorie verirrt haben. Max Weber hat einmal gesagt, dass die Soziologie sich um eine Art von Wahrheit bemühen sollte, die auch „den Chinesen einleuchtet“. In einem allerdings charakteristisch abgewandelten Sinne gilt das auch für die Individualisierungstheorie. Am Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir uns die Frage dieses Aufsatzes stellen: Gibt es auch eine chinesische Form von Bastelbiographie? Die Antwort, vorweggenommen, lautet: Ja! Viele Analysen belegen eindrucksvoll, dass auch in China das Individuum zur Grundkategorie des Sozialen geworden ist (Hansen 2010; Yan 2010); auch hier ist eine Entwicklung in Gang gekommen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringt, nicht nur die Privatheit, die Familienstrukturen, die Geschlechterverhältnisse, sondern auch die Organisation der Wirtschaft und der exiblen Erwerbsarbeit, nicht zuletzt auch das Verhältnis zum autoritären Staat bestimmt. Allerdings zeigt sich gleichzeitig, dass dieser chinesische Individualisierungsprozess ein charakteristisch eigenes Prol besitzt, also nicht einfach eine Kopie des europäischen Individualisierungspfades darstellt, sondern als Individualisierung à la China zu begreifen ist. Mit anderen Worten: wer die Grundordnung der chinesischen Gesellschaft heute – mitsamt ihren Ambivalenzen, Kontingenzen, Widersprüchen – verstehen will, muss Hitzlers „Bastelbiographie à la chinesisch“ entziffern lernen. Das hat nicht nur Bedeutung für die Individualisierungsdebatte, sondern für die aufkommende Debatte um die Renaissance der Gesellschaftstheorie. Denn es geht darum, das, was „Moderne“ heißt, in einer kosmopolitischen Perspektive zu begreifen und neu zu denieren. Die Individualisierungstheorie, wie wir und andere sie entwickelt haben, ist nicht auf den Bezugsrahmen westlicher Gesellschaften xiert, sondern prinzipiell offen für unterschiedliche historische Pfade und Konstellationen. Es geht darum, die unerforschten varieties of individuali-
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zation ins Blickfeld zu rücken. Diese in Zukunft weiter auszuarbeiten, gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer methodologisch-kosmopolitisch ausgerichteten Theorie der Variationen Zweiter Moderne.1 Dazu wollen wir im Folgenden einige Bemerkungen beitragen, dabei erstens auf konzeptionelle und methodologische Probleme hinweisen, die bei einem derartigen Paradigmenwechsel zu erwarten sind; und zweitens diese Probleme anschaulich vorführen, indem wir den chinesischen mit dem europäischen Pfad der Individualisierung vergleichen.
I Die Theorie der Individualisierung ist Teil der Theorie reexiver Modernisierung bzw. der Zweiten Moderne; entsprechend kann man diese Theorie in drei komplexe Argumente auffächern – das Theorem forcierter Individualisierung, das Theorem der (Welt-)Risikogesellschaft und das Theorem mehrdimensionaler Globalisierung (Kosmopolitisierung). Alle drei arbeiten die gleiche Argumentationsgur aus und verstärken sich dabei wechselseitig: „Risikogesellschaft“, „Individualisierung“ und „Kosmopolitisierung“ sind radikalisierte Formen einer Modernisierungsdynamik, die am Beginn des 21. Jahrhunderts, auf sich selbst angewendet, das Zeitalter der Ersten Moderne ablöst. Diese Erste Moderne folgte einer Ordnungs- und Handlungslogik, die charakterisiert war durch klare Grenzen und Unterscheidungen – zwischen Kategorien von Menschen, Gruppen, Tätigkeiten, zwischen Handlungssphären und Lebensformen –, was eindeutige institutionelle Zuständigkeiten, Kompetenzen und Verantwortungszuweisungen ermöglichte. Diese Logik der Eindeutigkeit – man könnte in einer Metapher von der Newtonschen Gesellschafts- und Politiktheorie der Ersten Moderne sprechen – wird nun zunehmend ersetzt durch eine Logik der Mehrdeutigkeit, gewissermaßen von einer Heisenbergschen Unschärferelation des Gesellschaftlichen und Politischen. Es ist demnach gerade der Siegeszug der Moderne, der ihre Grundlagen erschüttert. Die Moderne radikalisiert sich selbst in dem Versuch, sich bewusst auseinander zu setzen mit den zahllosen Risiken und unbeabsichtigten Nebenfolgen, die im Prozess der Modernisierung erzeugt werden. Mit anderen Worten, die Moderne scheint an die Grenzen ihrer bisherigen Entwicklung gekommen zu sein. Sie tritt jetzt in eine neue Phase ein, die wir als Zweite Moderne bezeichnen. Der Unterschied zu den früheren Phasen besteht darin, dass die Zweite Moderne die Grundlagen des Wachstums nicht mehr selbstverständlich voraussetzen kann – sondern zunehmend erfährt, wie diese brüchig werden durch antizipierte Katastrophen (wie Klimawandel, Finanzkrise), die ihrer Denition nach ambivalent, diffus und unberechenbar sind. 1
Siehe dazu Beck 2006; Beck/Sznaider 2006 sowie Beck/Grande 2010.
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Diese Sicht der Moderne versucht zu zeigen, welche Bedeutung der Reexivität im Prozess des Wandels zukommt. Dagegen ist zu Recht eingewandt worden, dass hier implizit ein europäischer bzw. westlicher Bezugsrahmen unterstellt wird – während die Frage ausgeblendet bleibt, was Reexivität in jenen Regionen der Welt bedeutet, die gerade erst in der Moderne ankommen. Um dieser Beschränkung des Blickwinkels zu entkommen, muss die Theorie der Zweiten Moderne systematisch weiterentwickelt werden. Wie dies aussehen könnte, wollen wir im Folgenden im Hinblick auf die Individualisierungsthese andeuten. Zuallererst muss es darum gehen, den methodologischen Nationalismus zu überwinden und eine vergleichende Perspektive zu entwickeln, dabei bewusst auch die außereuropäischen Länder einzubeziehen und auf dieser Basis verschiedene mehr oder weniger interdependente varieties of individualization vorzustellen. Das heißt, wir können nicht davon ausgehen, dass der Prozess der Individualisierung in allen Regionen der Welt nach demselben Grundmuster abläuft, überall die gleichen institutionellen Formen annimmt, sich überall in die gleichen Muster der Bastelbiographie umsetzt und die gleichen gesellschaftliche Widersprüche bzw. Konikte erzeugt. Im Gegenteil, es ist auf der Ebene der historisch-kosmopolitisch ausgerichteten „Gesellschaftstheorie“ herauszuarbeiten, dass der europäische Individualisierungspfad erst dann in seiner Besonderheit sichtbar wird, wenn man ihm außereuropäische Individualisierungspfade gegenüber stellt. Dies wiederum müsste in drei Schritten entwickelt werden. Im ersten Schritt wäre zu begründen, weshalb es überhaupt zu verschiedenen Varianten von Individualisierung kommt. Zunächst liegt dies im Individualisierungsprozess selbst begründet, der quasi seiner Natur nach für neue Stile und Formen des sozialen Lebens offen ist, die weder Wiederholungen noch Fortschreibungen des europäischen Individualisierungsmodells sind. Genauer gesagt: Die Mehrdimensionalität des Individualisierungsprozesses muss sich aus den Beschränkungen eines nationalen, europäischen Blicks lösen, der sich selbst als Zentrum der Innovation versteht. Es war der Kolonialismus, der klare Trennlinien zog zwischen dem Zentrum der Ersten Moderne und den kolonialisierten Peripherien: „the West and the rest“ als Gegensatzpaar. Aber der Diskurs der Zweiten Moderne im postkolonialen Zeitalter hat genau diese Grenzkonstruktionen aufgehoben und stattdessen die Verechtungen, Verbindungslinien, alten und neuen (Inter)Dependenzen zwischen den Weltregionen ins Zentrum gerückt. In der Tat öffnet die Theorie der Variationen der Zweiten Moderne – und damit auch der Individualisierung – die europäische Gesellschaftstheorie für die postkolonialen Erfahrungen der Adaption und Variation, Berechnung und Neudenition von Komponenten der Modernisierung. Wenn man diese Linie konsequent weiterverfolgt, kann man auch nicht mehr selbstverständlich voraussetzen, dass der europäische Individualisierungspfad der erste, eigentliche und authentische
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sei. Stattdessen müssen wir eine Perspektive entwickeln, die von der umgekehrten Prämisse ausgeht: von der parallelen Existenz europäischer und außereuropäischer varieties of individualizations, zwischen denen zu erforschende Wechselbeziehungen verschiedenster Art bestehen. Auf dieser Basis müssen dann in einem zweiten Schritt verschiedene Typen von Moderne bzw. Individualisierung herausgearbeitet werden. Diese Typen könnten mit Hilfe von drei Dimensionen gebildet werden: ökonomische Produktion und Reproduktion (Kapitalismus), Charakter politischer Herrschaft und soziokultureller Integration (Individualisierung, Kosmopolitisierung und Religion). Entsprechend ließen sich vielleicht (auf der Grundlage der in der Literatur angeführten vergleichenden Typologien kapitalistischer bzw. demokratischer Systeme sowie unterschiedlicher Formen der sozialen Integration) verschiedene Grundtypen historischer Konstellationen von Moderne bzw. Individualisierung idealtypisch bestimmen: Typ 1: Europäische Moderne – regulierter bzw. koordinierter Kapitalismus; entwickelte Demokratie; institutionalisierte Individualisierung (Wohlfahrtsstaat); säkularisierte Gesellschaft. Typ 2: US-amerikanische Moderne – liberaler bzw. unkoordinierter Kapitalismus; entwickelte Demokratie; institutionalisierte Individualisierung und post-säkulare Religiosität. Typ 3: Chinesische Moderne – staatlich regulierter Kapitalismus; posttraditionalautoritäre Herrschaft; halbierte institutionelle Individualisierung und plural-religiöse Gesellschaft. Typ 4: Islamische Moderne – regulierter Kapitalismus; traditional-autoritäre Herrschaft; verbotene Individualisierung in der monoreligiösen Gesellschaft. In einem weiteren Schritt müsste es dann darum gehen, Mischverhältnisse – „Hybridformen“ – zwischen vormodernen, erstmodernen, zweitmodernen und nachmodernen Strukturprinzipien aufzuzeigen, insbesondere im Hinblick auf Individualisierungsprozesse in den genannten Typen der europäischen, US-amerikanischen, chinesischen und islamischen Konzeption von Modernität. Ein exemplarisches Beispiel für ein solches Vorgehen liefert das Buch „Individualization of Chinese Society“ (2010) von Yunxiang Yan, das in seinen vieldimensionalen Analysen den durchaus widersprüchlichen und offenen chinesischen Pfad der Individualisierung eindruckvoll sichtbar macht.
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II Methodologisch notwendig ist für diesen Zweck die Umkehrung des Blicks, nämlich die Redenition und Präzisierung des europäischen Modells der Individualisierung im Vergleich mit dem chinesischen Modell. Dabei wird die Prämisse infrage gestellt, auf der unsere Individualisierungstheorie aufbaut: dass der durch instrumentelle Beziehungen charakteristische Kapitalismus in der Phase des ausgehenden Wohlfahrtsstaates etwas erzeugt hat, was niemand erwartet hätte – nämlich eine Individualisierung, die Ideen kultureller Demokratisierung beinhaltet. Denn ganz offensichtlich trifft dies gerade auf die chinesische Individualisierung nicht zu; in China existieren weder eine kulturell verinnerlichte Demokratie noch ein Wohlfahrtsstaat. Ebenso ist Individualisierung in China, anders als in Europa, bislang nicht in einem System der Grundrechte (oder im Familienrecht, Arbeitsrecht usw.) institutionell verankert. Damit aber wird sichtbar, dass das, was sich im europäischen Kontext als „universalistische Logik“ der Individualisierung darstellt – nämlich das Zusammentreffen von den institutionalisierten Rechtsformen und biographischen Mustern der Individualisierung – tatsächlich eine historische und kulturell begrenzte Sonderform ist, das Ergebnis einer spezischen Verschmelzung von Modernisierung und Individualisierung in Europa2. Diese beiden Entwicklungen können – siehe das Beispiel China – auch voneinander entkoppelt oder zu anderen Individualisierungspfaden kombiniert werden. Grundsätzlich gilt, sowohl im europäischen wie im chinesischen Kontext besteht eine enge Verbindung zwischen Individualisierung und Staat. Aber diese Verbindung kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, ja sogar gegensätzlich ausgerichtet sein. Wenn das Individuum auch in China wachsende Bedeutung gewinnt, so geschieht dies – anders als in Europa – eben nicht in einem institutionell gesicherten Rahmen, auf der Basis von zivilen, politischen und sozialen Grundrechten, wie sie in Europa in der Ersten Moderne politisch erkämpft wurden. Vielmehr ist der chinesische Prozess der Individualisierung gerade dadurch gekennzeichnet, dass um diese Ziele noch gerungen wird – und der Ausgang ist offen. Mit anderen Worten, ein zentraler Unterschied besteht darin, ob es in der Individuum-Staat-Beziehung einen Bereich unverletzlicher individueller Grundrechte gibt oder (bislang) nicht. Allerdings ist es auch der chinesische Staat, der seit den 1970er Jahren Reformprogramme umgesetzt hat, die eine gemeinsame Grundlinie verfolgen. Ihr Ziel ist es, die Wirtschaft aus dem sozialistischen Kontrollgriff des Staates zu „eman-
2 Auch hier wären West- und Osteuropa, also ein kapitalistisch-wohlfahrtsstaatlicher Pfad von einem postsozialistisch-kapitalistischen Pfad zu unterscheiden.
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zipieren“, indem die staatlichen Kontrollen über die Produkte, die Arbeit und die Kapitalmärkte gelockert werden und gleichzeitig die Individuen freigesetzt werden aus den allumfassenden sozialistischen Institutionen der urbanen Arbeitseinheiten und landwirtschaftlichen Kollektive. Was hier in Gang gesetzt wurde, ist eine Art begrenzter, staatlich sanktionierter Individualisierung, in der die Individuen zur Eigeninitiative verdammt sind – allerdings die sozialen Sicherheiten des chinesischen Staatssozialismus verschwunden sind. Damit hält der Modus der individuellen Verantwortungszuweisung Einzug, der zu den generellen Merkmalen von Individualisierung gehört – allerdings unter den Rahmenbedingungen eingeschränkter geographischer Mobilität, also strenger Reglementierung der Zuzugsmöglichkeit vom Land in die Städte usw. Die Ironie ist, dass sich in China im Zuge der marktgesellschaftlichen Reformen der letzten 30 Jahre eine in bestimmtem Sinne individualisierte Gesellschaft herausgebildet hat, die keineswegs so uniform ist, wie es dem europäischen China-Bild, aber auch der staatlichen Präsentation (z. B. während der Olympiade) entspricht, und die längst auch den Aktionskreis der herrschenden Partei prägt und begrenzt. Wenn man diese „chinesische Gesellschaft der Individuen“ in ihren unterschiedlichen Facetten sieht – zusammengehalten durch einen ausgeprägten Nationalismus und ein atemberaubendes Wirtschaftswachstum, also einen dramatischen „Fahrstuhl-Effekt“, aber gleichzeitig den Kontroll- und Zensurmaßnahmen der Regierung ausgesetzt –, gewinnt man ein weit realistischeres, differenzierteres und in Teilen auch günstigeres Bild einer „chinesischen Moderne“ – mit all ihren Widersprüchen zwischen Anarchie und Staatsautoritarismus. Ein Kommentator einer reformorientierten Wochenzeitung schrieb kürzlich, die „Soft-Power“ des Landes, auf die die Regierung immer so viel wert legt, hänge vor allem von der Freiheit und Qualität der Presse ab. In diesem Sinne haben sich die Artikulationsspielräume dieser teil-individualisierten Gesellschaft durchaus erweitert – allerdings nur, solange das Herrschaftsmonopol der Partei nicht direkt betroffen ist. Eben damit ist ein weiteres herausragendes Merkmal der chinesischen Individualisierung verbunden, das nach unserem westlich-europäischen Verständnis mindestens instabil, wenn nicht sogar unmöglich erscheint: Die chinesische Reform der marktökonomischen Individualisierung halbiert, oder schärfer gesagt: kastriert den Individualisierungsprozess in seinen politisch-demokratischen Partizipationsansprüchen. Individualisierung ist möglich, ja, erwünscht, wird sogar erzwungen, um der chinesischen Wirtschaft die weltmarkterobernden Traumwachstumsraten zu schaffen. Dieser Freisetzungsprozess soll aber klare Grenzen einhalten, nämlich ausschließlich auf den Bereich der wirtschaftlichen Aktivitäten und der privaten Lebensführung beschränkt bleiben. So daraus öffentliche Partizipations- und Demokratieansprüche erwachsen, werden sie möglichst präventiv durch scharfe
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staatliche Kontrollen und entsprechende Grenzziehungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit unterbunden. Gleichzeitig bietet heute das Internet jene kollektiv individualisierte Öffentlichkeit, in der auch politische Partizipationsansprüche erprobt und wirksam artikuliert werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bleibt offen, inwieweit es tatsächlich auf Dauer gelingt, diesen Widerspruch staatlich ohne demokratische Zugeständnisse wenigstens in „Schrittchenreformen“ zu zähmen. Auffallend ist, dass der chinesischer Individualisierungspfad – verglichen mit dem europäischen – eine charakteristisch andere, ja umgekehrte zeitliche Reihenfolge aufweist. Hier wird eine neoliberale Flexibilisierung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes, der Alltagskultur und des Konsumismus der chinesischen Gesellschaft in Gang gesetzt, vor der und ohne die Schaffung jener grundrechtlichen Individualisierungsbasis, wie wir sie in Europa kennen. Die Folge ist, dass die Durchsetzung der politischen und sozialen Grundrechte auf der Grundlage einer neoliberalen Marktindividualisierung erstritten werden muss und erstritten wird. Also nicht durch kollektive Arbeiter- oder Bürgerbewegungen, sondern eben auf dem Hintergrund einer teilindividualisierten und fragmentierten Gesellschaft. Diese Umkehrung führt dann wiederum dazu, dass der autoritäre Staat, der mit der Kollektivbindung die sozialen Sicherheiten aufgekündigt hat, nun dem dem Individualisierungsprozess innewohnenden politischen Partizipationsanspruch klare Grenzen zu ziehen versucht, indem er ein Netz von Kontrollen um das Individuum spannt. Individuelle Rechte werden als Privileg gewährt, nicht als unveräußerliche Grundrechte, die jedem qua Geburt zustehen. So versucht die Regierung den Geist des Individualismus, den sie benötigt, zugleich wieder in die Flasche zu bannen, indem sie ihn in staatlich zelebrierte Werte wie Nation und Familie zurückbindet. Zusammenfassend kann man sagen: Während in Europa gerade Recht und Gesetz die Sprache der Individualisierung sprechen, ndet in China sozusagen die Praxis der geduldeten oder sogar erzwungenen, forcierten Individualisierung bei gleichzeitiger staatlich-ideologischer Diskriminierung derselben statt. „The rise of the Chinese individual“ kombiniert in anderer zeitlicher und sachlicher Folge die Elemente, die aus europäischer Perspektive dem Individualisierungsprozess geradezu logisch zugehörig scheinen. Darin liegt die Herausforderung für die Revision der ursprünglich fälschlich universalistisch angelegten Individualisierungstheorie, ihre Verortung im europäischen Pfad sowie für weitere kosmopolitische Erweiterungen und Bereicherungen.
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Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim
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Kulturelle Identität als soziale Konstruktion1 Peter A. Berger
I Etwas „Googlen“ offenbart schnell, dass der Begriff „Kulturelle Identität“ mit gut 400.000 „Treffern“ im Deutschen und als „Cultural Identity“ mit mehr als 2 Millionen „hits“ auf englischsprachigen Seiten durchaus nicht selten ist. Im deutschen Sprachraum taucht „Kulturelle Identität“ häuger auf als „Soziale Identität“ mit rund 100.000 („Social Identity“: 870.000), „Kollektive Identität“ mit 30.000 („Collective Identity“: 85.000) und „Nationale Identität“ mit gut 250.000 Treffern („National Identity“: 2.700.000). „Identity“ bringt es dann auf fast 200 Millionen und „Identität“ auf etwa 7 Millionen Treffer – wogegen der Begriff „Deutsche Identität“ mit 14.000 Treffern erfreulich selten verwendet wird. Die schiere Menge von Nennungen im World Wide Web, die unüberschaubare Vielfalt von Bedeutungsvarianten, aber auch die politische Intensität und Leidenschaft, mit der diese Begriffe oftmals verwendet werden, lassen schnell den Verdacht aufkommen, dass es sich hier um Konzepte handelt, die nicht einfach als „Abbilder“ oder „Beschreibungen“ von „Realität(en)“ zu begreifen, sondern als Produkte individueller und/ oder kollektiver Auseinandersetzungen um Zuschreibungen und Zugehörigkeiten zu lesen sind – ganz im Sinne einer wissenssoziologisch gedachten „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1969), aber auch im Sinne einer eher „realistisch“ vorgestellten Erzeugung „posttraditionaler Gemeinschaften“ (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008). Ausgangspunkt der folgenden, weniger einer kultur- oder wissenssoziologischen Perspektive, sondern mehr dem Blickwinkel der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung verpichteten Überlegungen wird nun die Beobachtung sein, dass zwar das Konzept „Kulturelle Identität“ der Tradition der Ungleich1 Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag des Autors im Rahmen der Ringvorlesung „Das Kapital der Kulturen“ des Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“ an der Universität Rostock im Sommersemester 2009. Nichtsdestoweniger ist er jedoch Ronald Hitzler in Erinnerung an die „Bamberger Zeiten“ gewidmet, als wir uns des Öfteren die Köpfe über den (Un-)Sinn soziologischer Strukturkategorien heiß redeten. Bei einem guten Rotwein konnten sich dann aber der phänomenlogische Soziologe und der post-marxistische Klassen- und Indvidualisierungsanalytiker meist darauf verständigen, dass „Strukturen“ etwas sind, was morgen noch so ist wie heute …
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Peter A. Berger
heits- und Sozialstrukturforschung eher fremd ist, sich dort jedoch in neuerer Zeit nicht nur intensivere Auseinandersetzungen mit „Kultur“ als Element von Ungleichheitsmustern nden lassen, sondern auch die Frage nach der „kollektiven Identität“, die sich auf die „Ähnlichkeit“ der Klassenmitglieder stützen sollte, schon eine längeren Tradition hat. In einem Schnelldurchgang durch die Geschichte der soziologischen Mobilitätsforschung werde ich dann zu zeigen versuchen, dass darin neben dem (vorherrschenden) Interesse an Fragen der Chancengleichheit und Offenheit von Gesellschaften immer auch Fragen nach den Konsequenzen von Mobilität für individuelle (bzw. soziale) Identitäten, aber auch für die kollektive Identität mitverhandelt wurden – wobei die „Heterogenität“ von Klassen oder Schichten in einer von schnellem berufsstrukturellen Wandel erfassten Gesellschaft als „Normalzustand“ gelten muss. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die „soziale Konstruk tion“ von Klassenbewusstsein, also auf die (auch politisch) bewusste Herstellung und Betonung von Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten, wie sie beispielsweise schon bei Bemühungen um die Etablierung einer „Arbeiterkultur“ als „Gegen kultur“ eine Rolle spielten, jedoch auch heute noch für die Herstellung von „Gemeinschaft(en)“ zentral sein dürften (vgl. (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008). In einem weiteren Schritt wird dann angedeutet werden, welche theoretischen Folgerungen im Hinblick auf soziale Ungleichheiten aus diesen Überlegungen gezogen werden könnten – bevor zum Abschluss noch einige empirische Indikatoren für den Bedeutungsgewinn einer sowohl alltägliche wie wissenschaftliche Identitätskonstruktionen herausfordernden „Logik der Ströme“ (vgl. Berger 2009; Weiß/Berger 2008) präsentiert werden.
II Auch auf den Gebieten, die gemeinhin mit den eher „härteren“ sozialstrukturellen „Fakten“ wie Ungleichheiten der Bildungschancen oder der Einkommen in Zusammenhang gebracht werden, lässt sich in den letzten Jahrzehnten eine gewisse „Kulturalisierung“ beobachten: So hat sich vor allem unter dem Einuss der Arbeiten Pierre Bourdieus der Begriff des „kulturellen Kapitals“ in der Soziologie, aber auch darüber hinaus fest etabliert: Ganz im Sinne eines ethnologischen oder kulturanthropologischen Kulturbegriffs untergliedert er dieses „kulturelle Kapital“ bekanntlich in das „objektivierte“ kulturelle Kapital, womit kulturelle Artefakte wie z. B. Gemälde, Bücher oder auch Maschinen, bezeichnet werden, in das „inkorporierte“ kulturelle Kapital, also jene verinnerlichten Kompetenzen und Codes, die es uns erst ermöglichen, den jeweiligen „Sinn“ dieser Artefakte zu verstehen und sie richtig zu verwenden, und in das „institutionalisierte“ kulturelle Kapital, das sich auf Zeugnisse, Titel und Zertikate bezieht, mit deren Hilfe legitime Unter-
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scheidungen in Art und Umfang des inkorporierten kulturellen Kapitals getroffen werden sollen (Bourdieu 1983). Mit seinem Modell des „sozialen Raumes“, der von den Achsen „Volumen“ und „Struktur“ des ökonomischen und des kulturellen Kapitals aufgespannt wird, und des darauf bezogenen „Raumes der Lebensstile“ und mit Blick auf die französische Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre konnte Bourdieu (1984) Verbindungen aufzeigen zwischen einem „objektiven“ Raum sozialer Postionen, zwischen Klassen und Klassenfraktionen, und dem „Raum“ der auf kulturelle Gegenstände und Praktiken bezogenen Geschmacksurteile sowie entsprechenden Vorstellungen von einer „legitimen“ (Hoch-)Kultur, von einer „Kultur“ des mittleren „Geschmacks“ und einer „populären“ oder Volkskultur. Als Bindeglied zwischen Klassenstruktur und Kultur diente ihm dabei das Konzept des „Habitus“, verstanden als verinnerlichtes System von Wahrnehmungsmustern, Dispositionen, Werturteilen und Praktiken, das durch die Position im sozialen Raum strukturiert wird und in der Erzeugung und Bewertung kultureller Artefakte und Praktiken zugleich den kulturellen Raum der „Feinen Unterschiede“ strukturiert. In intensiver Auseinandersetzung damit und in Ergänzung „klassischer“ Klassenund Schichtmodelle haben sich dann seit den 1980er Jahren auch in Deutschland Lebensstil- und Milieukonzepte ausgebreitet (vgl. Berger/Hradil 1990) – erwähnt seien hier nur das Modell der „Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze (1992), die Milieustudien der Arbeitsgruppe um Michael Vester (Vester u. a. 2001) oder die mehr im Bereich der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung verbreiteten, sogenannten „Sinus-Milieus“ (vgl. http://www.sociovision.de). „Kultur“ bzw. „kulturelles Kapital“ wird dabei entweder als „unabhängige Variable“, also als Ungleichheiten der Bildungs- und Berufschancen erklärendes, auf Individuen zurechenbares Merkmal aufgefasst – etwa in Form von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, mithin als „inkorporiertes“ kulturelles Kapital. Oder „Kultur“ erscheint, z. B. in Form von Konsum- und Freizeitpräferenzen, von politischen Werthaltungen und Mentalitäten, als eine weitere, im Sinne der Lebensstil- und Milieuforschung „konkretere“ oder „alltagsnähere“ Ebene der Beschreibung sozialer Strukturen. In letzterem Fall kann dann trefich darüber gestritten werden, wie „eng“ oder „lose“ die Zusammenhänge zwischen „objektiven“ oder „sozioökonomischen“ Ungleichheiten der Bildung oder des Berufs, von Einkommen und Vermögen einerseits, von „subjektiven“ Szenezugehörigkeiten und Lebensstilen bzw. von „sozio-kulturellen“ Milieus andererseits (noch) sind (vgl. z. B. Otte 2008; Pape/Rössel/Solga 2008). Trotz der damit angedeuteten „Kulturalisierung“ kommt aber nach meinen Beobachtungen auch dabei „Kultur“ aus der Perspektive der klassischen Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung kaum als etwas „Eigenständiges“ in den Blick. Und auch das Konzept einer „kulturellen Identität“ scheint einer soziologischen Teildisziplin, die sich im Wesentlichen mit Ungleichheiten der Verteilung von
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Ressourcen oder Restriktionen bzw. von Handlungsmit teln und -beschrän kungen auf soziale Positionen und von Personen auf ungleich ausgestattete Positionen beschäftigt, eher fremd zu sein. Wie ich im nächsten Schritt kurz zeigen will, gibt es allerdings auch in der Tradition der Ungleichheits- und Sozialstrukturforschung einen Strang, der sich – mehr oder weniger explizit – mit Fragen der „Identität“ beschäftigt hat und z. T. immer noch beschäftigt. Ich meine damit die Tradition von „Klassentheorien“, wobei sich die folgenden Ausführungen u. a. von der Vermutung leiten lassen, dass es durchaus Ähnlichkeiten und Berührungspunkte zwischen den Diskursen um „Klassenidentität“ und den Diskursen um „kulturelle Identität“ gibt.
III In der marxistischen Klassentheorie stand neben Fragen nach der „richtigen“ Einteilung einer kapitalistischen Gesellschaft in Klassen immer auch die Frage nach dem Verhältnis von „Klasse-an-sich“ und „Klasse-für-sich“, also von Klassenlage und Klassenbewusstsein, und damit zugleich die Frage nach der „Identität“ einer Klasse im Zentrum. Bei Max Weber (1976) wurde dies insofern noch zugespitzt und präzisiert, als er zwar zum einen lapidar feststellte, dass „Klassen“ – im Unterschied zu „Ständen“ – „normalerweise keine Gemeinschaften“ seien, in einer moderneren Begrifichkeit also auch keine „kollektive“ Identität aufwiesen. Anscheinend unzufrieden mit einer „rein“ ökonomischen Bestimmung von Klassenlagen durch Positionen auf Arbeits- und Gütermärkten, aus denen sich eben keine direkten „Vergemeinschaftungen“ ableiten lassen, fügte er jedoch später den Begriff der „sozialen Klasse“ hinzu, die sich „nach außen“ durch Mobilitätsbarrieren abschließe, sich im Inneren aber durch eine lebhaftere Mobilität zwischen beruichen Positionen auszeichne (vgl. Berger/Neu 2007). Im Sinne einer Beschreibung „sozialer Klassen“ durch Prozesse intergenerationeller Mobilität und intragenerationeller Mobilität hat sich dann die sozialwissenschaftliche Forschung immer mal wieder mit Fragen einer „Identität“ von Klassen und Schichten bzw. mit den denkbaren Konsequenzen einer hohen oder steigenden Mobilität beschäftigt: So hatte z. B. Karl Marx schon um 1850 vermutet, dass „in den Vereinigten Staaten, wo zwar schon Klassen bestehen, aber sich noch nicht xiert haben, sondern in beständigem Flusse fortwährend ihre Bestandteile wechseln und aneinander abtreten“, der Übergang von der „Klasse-an-sich“ zur „Klasse-für-sich“ wohl schwieriger sei (Marx 1982). Aber auch Joseph Schumpeter (1927) hatte in den 1920er Jahren betont, dass die Klassen einem „Omnibus“ gleichen würden, der zwar immer besetzt sei, aber immer wieder von anderen Menschen – weshalb die Rede von der „Einheit“ einer Klasse problematisch sei.
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Auf der anderen Seite des Atlantiks, in den als hochmobile Einwanderungsgesellschaft wahrgenommenen USA, „entdeckte“ Robert E. Park dann in den 1920er Jahren den sogenannten „marginal man“, der aufgrund seiner Migrationsund Mobilitätserfahrungen desorientiert zwischen verschiedenen Kulturen stehen solle (Park 1928; vgl. auch: Hitzler/Gebhard 2006). Im Anschluss daran hat Pitrim A. Sorokin (1959) dann die US-amerikanische Gesellschaft der 1920er und 1930er Jahre mit einem „mad merry-go-round“ verglichen, das sich so schnell drehe, dass die Menschen vom Schwindel erfasst und zunehmend orientierungslos würden. In der Tradition von Georg Simmel (1992, 2001) oder Emile Durk heim (1977) verknüpfte er damit auch Tendenzen einer – so wörtlich – „individualization“: Da ein Individuum in mobilen Gesellschaften verschiedenen sozialen Gruppen angehöre und sich auch leichter von einer Position in eine andere bewegen könne – Sorokin spricht hier recht anschaulich von „boxes“, in die Menschen „einsortiert“ werden bzw. zwischen denen sie sich bewegen –, sei die Solidarität nicht mehr auf die Angehörigen einer „box“ beschränkt, sondern beziehe sich zugleich auf die vielen anderen Individuen, die sich in anderen „Schachteln“ be nden. Bei hoher Beweglichkeit der Individuen könne demzufolge auch nicht einfach aus den Eigenschaften der „boxes“ bzw. der jeweiligen sozialen Positionen auf die Eigenschaften von Personen geschlossen werden – und die jeweils Anderen müssten als individuelle Persönlich keiten ernst genommen werden. Trotz dieser eher „optimistischen“ Deutung vermutete Sorokin aber auch, dass dieser von ihm als „Individualisierung“ bezeichnete Prozess nicht nur „kollektive“ Klassen- oder Schichtidentitäten eher schwäche oder verhindere, sondern im Sinne wachsender Statusunsicherheiten auch zur Gefährdung individueller „Identität“ führen könne (vgl. Beck 1983, 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1994; Beck/Sopp 1997). Der soziologische Diskurs um individuelle wie kollektive Folgen von hoher und steigender Beweglichkeit in modernen Gesellschaften war also mit Blick auf „soziale Integration“ bzw. „kollektive“ oder auch „kulturelle“ Identitäten von Anfang an ambivalent (vgl. Berger 2004): Im Hintergrund mehr pessimistischer Deutungen, denen wachsende Mobilität schwergewichtig als „Gefahr“ erscheinen, steht bis hin zu neueren Arbeiten von Richard Sennet (1998) zum „exiblen“, aber charakterschwachen Menschen im gegenwärtigen Kapitalismus die Vorstellung, dass der „Verlust von Statusgewissheit“ – so eine Formulierung von Heinz Kluth (1957) – für die Konsistenz und Stabilität der persönlichen wie der sozialen Identität problematisch sei. So vermuteten auch Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980) in den 1960er Jahren, dass es in solchen Situationen zu einer „Unter-Bestim mung“ von Identität komme, da durch die rapiden Milieuveränderungen eine „Spaltung zwischen vergangener und gegenwär tiger Identität“ einträte. Solche und ähnliche Befürchtungen haben dann in der amerikanischen Soziologie und insbesondere in den 50er und 60er Jahren zu vielen Forschungen über die „psycho-sozialen“
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Belastungen und „Kosten“ von Mobilität geführt. Gemäß der pessimistischen Deutungsvariante wurde dabei meist davon ausgegangen, dass gravierende und/ oder häuge Statuswechsel vorzugsweise zu Orientierungsschwierigkeiten, Mobilitätsstress und Identitätskrisen führen. Trotz einer Vielzahl von Untersuchungen gab und gibt es freilich bislang keine eindeutigen empirischen Bestätigungen für diese Vermutungen. Und auch eigene Analysen zum Mobilitätsgeschehen in Westdeutschland haben gezeigt, dass die Zusammenhänge zwischen beruicher Mobilität und Aspekten der subjektiv empfundenen Lebensqualität mit Blick auf pessimistische oder optimistische Deutungen keineswegs eindeutig sind (Berger 1996): Während nämlich Menschen, die einen beruichen Abstieg hinnehmen mussten, wenig überraschend mit ihrem Leben relativ unzufrieden sind, gilt dies erstaunlicherweise häug auch für Männer und Frauen, die als „Aufsteiger“ gelten können. Deutlich zufriedener sind demgegenüber aber nicht nur diejenigen, die keine Veränderung ihrer beruichen Stellung erlebt haben, sondern auch jene, die man als „Unstetige“ bezeichnen könnte, weil sich bei ihnen zwar häuge Statuswechsel nden, diese sich jedoch nicht zu Ab- oder Aufstiegsprozessen zusammenfügen. Bei allen (auch methodischen) Problemen, die mit solchen Analysen verbunden sein mögen, weisen sie doch nachdrücklich darauf hin, dass Mobilität – hier verstanden als beruiche Karrieremobilität – keineswegs durchgängig mit „Mobilitätsstress“ oder mit Unzufriedenheit einhergehen muss – weshalb eben durchaus auch optimistischere Deutungen möglich sind. Eine optimistische Lesart verweist demgegenüber auf Autonomiegewinne und Emanzipationschancen der aus hergebrachten Beschränkungen und Milieus „freigesetzten“ Individuen, hebt also insbesondere den Zuwachs an Freiheiten, Wahlmöglichkeiten und Erfahrungen hervor. Solche Deutungen nden sich dementsprechend häug bei Modernisierungstheoretikern der 1960er und 1970er Jahre, so z. B. bei Karl W. Deutsch (1979: 329): „Soziale Mobilisierung ist ein Name, der einem umfassenden Wand lungsprozeß gegeben wurde, den wesentliche Teile der Bevöl kerung von Ländern durchmachen, die auf dem Wege von traditionellen zu modernen Lebensformen sind. Dieser Begriff umklammert eine ganze Anzahl engerer Teilprozesse, wie zum Beispiel Wohnsitzwechsel, Berufswechsel, Änderung der sozialen Umgebung und der Sphäre des Nachbarlichen, von Institutionen, Rollen und Handlungsweisen. Er umfasst darüber hinaus Wandlungen der Erfahrungen und Erwartungen und damit der persönlichen Erinnerungen, Gewohnheiten und Bedürfnisse, einschließlich dem Verlangen nach neuen Vorbildern der Gruppenbildung und neuen Bildern des Selbstverständnisses der einzelnen. … Soziale Mobilisierung kann .. als ein Prozess deniert werden, bei dem größere Ballungen alter sozialer, wirtschaftlicher und psychologischer Bindungen aufgerissen und zerbrochen werden und wo die Menschen für neue Formen der Vergesellschaftung und des Verhaltens aufgeschlossen werden.“ Für Deutsch impliziert
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diese mobilitätsbezogene Vorstellung von Modernisierung zugleich verschiedene „prozessuale Etappen“, nämlich „1. die Stufe des Herausgerissenwerdens aus alten Umgebungen, Gewohnheiten und Bindungen; und 2. das Hineinführen mobilisierter Bevölkerungsteile in relativ stabile neue Formen der Gruppierung, Organisation und Verpichtung“.
Dieses „Hineinführen“ mobiler Personen in neue Situationen, Milieus oder Gruppen verweist dabei auf Chancen von sozialer und räumlicher Mobilität, die man in Anlehnung an Jonathan Turner (1984) als „Mobilitätszirkel“ skizzieren kann (vgl. Berger 1996, 2004): Bewegungen von einzelnen Menschen (oder auch von Gruppen) in neue Gegenden, Berufspositionen oder Gemeinschaften erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Kontakten zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Subpopulationen, Gruppen oder sozialer Milieus. Dies „zwingt“ insbesondere die „mover“, also die mobilen Personen, sich mit anderen Kommunikations- und Verhaltensstilen, mit unterschiedlichen Einstellungen und Werthaltungen auseinanderzusetzen und sollte – wenigstens „in the long run“ – zu mehr Empathie für die Wünsche und Motive anderer, und vielleicht auch zu einer wachsenden Toleranz gegenüber anderen Formen der Lebensführung, anderen Verhaltensweisen und Wertorientierungen führen (vgl. Berger 2000) – eine Vermutung, die ein weiterer Modernisierungstheoretiker, nämlich David Lerner (1979), im Übrigen in seiner Theorie der „Modernisierung des Lebensstils“ ebenfalls schon in den frühen 1960er Jahren formulierte. Zugleich nimmt mit der Zunahme von Mobilität die Homogenität von Subpopulationen oder Milieus in einer Gesellschaft weiter ab, Gruppengrenzen werden in der Folge leichter überwindbar und ein sich selbst verstärkender Kreislauf kann in Gang kommen. Egal, ob man nun eher zu einer pessimistischen oder zu einer optimistischen Lesart neigt, kann dieser knappe Durchgang durch die Geschichte soziologischer Mobilitätsforschung im 20. Jahrhundert vor allem verdeutlichen, dass die auch in neueren Diskussionen immer wieder auftauchende Vorstellung, es gäbe in modernen Gesellschaften eine Vorherrschaft oder eine Notwendigkeit „singulärer Zugehörigkeiten“ – so ein Ausdruck von Amartya Sen (2007) – empirisch wie theoretisch gleichermaßen fragwürdig ist. Empirisch scheinen vorschnelle Identitätsannahmen auch deshalb problematisch, weil es zeitgenössischen Gesellschaften, die beruiche Mobilität nicht nur dulden, sondern unter dem Aspekt der „Chancengleichheit“ häug fördern und unter dem Gesichtspunkt von „Flexibilität“ oftmals sogar fordern, ganz „normal“ ist, dass Klassen oder Schichten mit Blick auf die soziale Herkunft der aktuellen Angehörigen dieser Sozialkategorien „heterogen“ sind – und zwar umso heterogener, je mobiler diese Gesellschaften sind: So rekrutierte sich etwa die sich ab dem 19. Jahrhundert herausbildende städtische „Arbeiterklasse“ zunächst vor allem aus der ländlich-bäuerlichen Bevölkerung – und erst im Laufe des 20. Jahrhunderts
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konnte sich die Selbstrekrutierung verstärken und die Arbeiterschaft damit auch Züge einer „sozialen Klasse“ im Sinne Max Webers annehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich in der expandierenden Angestelltenschaft ein ähnlicher Prozess der Heterogenisierung (verstärkt noch durch das zunehmende Einströmen der Frauen in diese Dienstleistungsbereiche), weshalb sich z. B. Gewerkschaften bis heute schwer tun, Beschäftigte in diesen Bereichen als „einheitliche“ Kategorie, Gruppe oder gar „Klasse“ anzusprechen und zu organisieren (vgl. Berger 1986, 1991, 2001). Ausgehend von der in „offenen“ Gesellschaften unvermeidbaren Heterogenität in der sozialen Zusammensetzung von Klassen kann man dann annehmen, dass eine „Klassenidentität“, sofern es sie überhaupt je gab, immer etwas war, das „hergestellt“ werden musste und sich eben nicht gewissermaßen „von selbst“ oder „automatisch“ aus einer günstigeren oder ungünstigeren ökonomischen Position ergab. „Klassenbewusst sein“ und Züge einer „kollektiven Identität“ als Klasse waren historisch also immer auch Produkt jener Akteure, die, wie Arbeiterparteien und Gewerkschaften, ein Interesse an einer solchen Identität hatten – und in politisch-strategischer Absicht auch haben mussten, denn es ging ja darum, wechselseitige Zurechnungen von ökonomisch bestimmten Lebenslagen und Weltdeutungen, von politischen Zielen und Interessenvertretern zu erleichtern und zu stabilisieren (wozu dann auch Bemühungen um die Etablierung einer „eigenständigen“ Arbeiterkultur gehörten). An solchen Prozessen der Herstellung oder „sozialen Konstruktion“ von Klassenbewusstsein und Klassenidentität, wie sie z. B. Edward P. Thompson (1987) schon für das frühe 19. Jahrhundert als „Making of the Englisch Working Class“ beschrieben hat, waren aber nicht nur Intereressenvertreter und Politiker beteiligt. Auch die ja eigentlich einem Beobachterstatus verpichteten Sozialwissenschaften, und zwar sowohl in ihrer marxistischen wie auch in ihrer „bürgerlichen“ Ausrichtung, spielten dabei ofmals eine nicht zu unterschätzende Rolle: Man denke hier nur an die vielfältigen Versuche einer möglichst „richtigen“ Beschreibung gesellschaftlicher Klassenstrukturen bis hin zu den komplizierten philosophischen Konstruktionen eines „wah ren“ gegenüber einem „falschen“ Bewusstsein – wobei Intellektuelle wie z. B. Georg Lukacs (1970) selbst verständlich einen privilegierten Zugang zum „wahren“ Bewusstsein hatten, während das „falsche“ Bewusstsein den „einfachen“ Klassenangehörigen vorbehalten blieb. Oder an die in Deutschland besonders intensiven und umfangreichen Bemühungen, die sogenannte „Kragenlinie“ zwischen Arbeitern und Angestellten (bzw. Beamten) jenseits versicherungsrechtlicher Zurechnungen auch mit theoretischen Argumenten zu „begründen“ (vgl. Berger 1986) – was beispielsweise noch in den 1950er Jahren in Westdeutschland seinen Widerhall in Versuchen fand, die „Besonderheit“ von
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Angestellten „anthropologisch“ zu fundieren und Angestellte bzw. Beamte sogar als „Menschen eigener Art“ zu kennzeichnen.
IV Welche theoretischen Folgerungen aus diesen zweifellos bruchstückhaften Beobachtungen zur Geschichte der Klassen- und Mobilitätsforschung gezogen werden könnten, kann nun anhand von Arbeiten von Margaret S. Archer (1985) und von Reinhard Kreckel (2004) erläutert werden: In ihrem schon 1985 erschienenen Aufsatz kritisiert Margaret S. Archer vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit dem funktionalistischen Denken und dem dadurch mittransportierten „Erbe“ der angelsächsischen Kulturanthroplogie, dass diese Ansätze zu sehr dazu neigen, „kulturelle Muster“ und deren mehr oder weniger deutlich ausgeprägte „Einheitlichkeit“ und „Kohärenz“ mit dem Auftreten gleichartiger Handlungen, die auf dieser kulturellen Kohärenz beruhen und „soziale Homogenität“ befördern können, gleichzusetzen. In einem überzogenen kulturellen Determinismus gehen für sie notwendige Unterscheidungen zwischen der „logischen Kohärenz“ eines Systems „kultureller Bedeutungen“ und dem durch die Übertragung „kultureller Bedeutungen“ von einer Gruppe auf eine andere ausgeübten Druck oder Zwang in Richtung einer gewissen „Uniformität“ verloren. Uniformität von Handeln entsteht nicht allein – und vermutlich nicht einmal vorrangig – aus der „Überlegenheit“ eines logisch kohärenten Systems kultureller Bedeutungen. Für die kritisierte theoretische Engführung macht sie neben Einüssen eines deutschen, „romantisierenden“ Verständnisses von „Kultur“ insbesondere auch die Orientierung von Teilen der frühen Soziologie und Kulturanthropologie an traditionalen Gesellschaften, an denen Vorstellungen einer „kulturellen Kohärenz“ abgelesen wurden, verantwortlich. Nach einer insbesondere bei Talcott Parsons zu ndenden Vorstellung von „kultureller Integration“ wird „Kultur“ dabei nicht nur als in sich „kohärentes“ System, sondern zugleich als etwas aufgefasst, was das Handeln von Menschen, gesellschaftliche Teilsysteme und Gesellschaften als Ganzes „integrieren“ kann – und auch müsse. Demgegenüber bleibe die Annahme einer „kulturellen Integration“ nicht nur im Sinne einer „Kontrollbeziehung“ zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen oder zwischen Gesellschaft (= Kultur) und Individuen, sondern auch hinsichtlich der unterstellten „Kohärenz“ von kulturellen Elementen und Praktiken selbst meist fragwürdig. Damit wird auf den „Konstruktcharakter“ solcher Kohärenzen verwiesen und zugleich auf deren mögliche Konstrukteure, zu denen dann nicht nur religiöse und politische Eliten, sondern auch sozialwissenschaftliche Beobachter, die im Falle der Kulturanthropologen etwa dem Mythos von „einfachen“ Gesellschaften unterlagen, eine wichtige Rolle spielen. Mit ihrer vehement vorgetragenen
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Kritik am Mythos der „kulturellen Integration“, den man mühelos auch als Glauben an „kulturelle Identität“ umschreiben könnte, öffnet Archer zugleich den Blick dafür, dass Auseinandersetzungen um die Kohärenz von Kultur(en), mithin um auch „kulturelle Identitäten“, keineswegs rein „intellektuelle“ Angelegenheiten seien, also beispielsweise „interne“ Diskussionen unter Theologen um die „richtige“ Auslegung „heiliger Schriften“, literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen um die korrekte Interpretation „klassischer Texte“ oder musikwissenschaftliche Debatten um die „Werktreue“ von Aufführungen. Dass Auseinandersetzungen im Bereich der „Kultur“ bzw. um „Kultur“ keineswegs allein – und vielleicht nicht einmal maßgeblich – nach inhärent geistesund kulturwissenschaftlichen Maßstäben erfolgen, haben nun gerade die Arbeiten Pierre Bourdieus immer wieder eindrucksvoll gezeigt: Schon im Bereich der Alltagskultur ndet er ja je nach Klassenlage und zumindest im Frankreich der 1970er Jahre so deutliche Unterschiede in den Vorlieben für bestimmte Autoren und Filme, Musikstücke, Sportarten, Speisen und Getränke, dass er „Klassengrenzen“ zugleich als „Geschmacksgrenzen“ bezeichnen kann. Und in seiner berühmten Studie zum „Homo Academicus“ (Bourdieu 1988), die ihm in Frankreich den Ruf eines „Nestbeschmutzers“ einbrachte, kann er zudem für das universitäre bzw. akademische Milieu zeigen, in welchem Maße der „Streit der Fakultäten“ nicht allein den Regeln eines wissenschaftlichen Diskurses folgt, sondern es dabei vor allem auch um Prestige und Anerkennung, um Macht und Geld geht. Schaut man sich freilich die Arbeiten Bourdieus genauer an, wird man feststellen, dass auch er sich trotz aller Betonung der Konikte und Kämpfe um das kulturelle Kapital und seine „Bedeutung“ vom Mythos der kulturellen Integration nicht so recht lösen kann – und will: „Ähnlichkeiten“ in den Lebensstilen und Geschmacksurteilen, die sich mit statistischen Methoden feststellen lassen, werden manchmal fast zu schnell in (doch wieder irgendwie „kohärente“) „Klassenkulturen“, die dann auch noch miteinander „kämpfen“, umgedeutet – eine Tendenz, die trotz der ganzen methodischen Rafnesse auch in der jüngeren deutschen Lebensstil- und Milieuforschung immer wieder aufscheint. Nun hatte aber, wie eben zu sehen war, Archer gerade gefordert, zwischen „kultureller Kohärenz“ und „sozialer Integration“ wesentlich klarer zu trennen als dies in der soziologischen Tradition lange Zeit der Fall war. Wie dies aus der Perspektive der Ungleichheitsforschung geschehen könnte, kann anhand von Überlegungen Reinhard Kreckels (2004) demonstriert werden, der der Frage nachgeht, wie „Dimensionen“ sozialer Ungleichheit jenseits des Verweises auf die seit Max Weber (1976) altbekannte Trias von „Class, Status and Power“ begründet werden könnten. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Handeln zum einen materielle und symbolische Aspekte habe, Handeln zum anderen in sozialen Beziehungen symmetrischer oder asymmetrischer Art stattndet, in denen sich Handelnde als
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gleich oder ungleich behandeln. Im Falle des materiellen Handlungsaspektes führt dies zur Ungleichheitsdimension (oder „Ressource“) des „Reichtums“, die sich in zeitgenössischen Gesellschaften im Medium „Geld“ ausdrückt; beim symbolischen Aspekt geht es – ganz im Sinne des kulturellen Kapitals bei Bourdieu – um „Wissen“, das in „Zeugnissen“ sein institutionalisiertes Medium ndet. Auf Seiten der Beziehungsformen nden sich, vorzugsweise in hierarchischen Organisationen wie Betrieben und staatlichen Verwaltungen, asymmetrische Beziehungen von Macht und Herrschaft – der „Rang“, den eine Person in solchen Organisationen einnimmt, kann dafür als soziales Kürzel gelten. Verbleiben schließlich „symmetrische“ Beziehungsformen mit einer Betonung auf „Gleichheit“, die im Rahmen einer Ungleichheitstheorie vielleicht zunächst deplatziert erscheinen mögen. Dieser Aspekt, den Kreckel als „selektive Assoziation“ bezeichnet und bei dem es um die „Zugehörigkeit“ zu Familien, sozialen Gruppen oder Sozialkategorien geht, markiert jedoch einen zentralen sozialen Ort der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten, denn dabei wird ja regelmäßig versucht, durch Prozesse sozialer Schließung Ungleichheiten nach innen zu begrenzen – wodurch zugleich Ungleichheit nach außen aufgebaut oder erhalten werden. Im Unterschied zu den Ungleichheiten in den anderen Dimensionen, die sich in modernen Gesellschaften meist durch Verweis auf das Leistungsprinzip rechtfertigen lassen, gelten Ungleichheiten, die auf „Zugehörigkeiten“ beruhen, in diesen Gesellschaften daher oftmals auch als „illegitim“. Für die vorliegende Argumentation heißt dies nun vor allem, dass zwischen „kulturellem Kapital“ und „Zugehörigkeiten“ (bzw. Netzwerken oder „sozialem Kapital“; (vgl. Lüdicke/Diewald 2007) begrifich getrennt werden kann – und auch sollte. Man kann damit nicht nur die von Max Weber überlieferte Unterscheidung zwischen von Märkten bestimmten Klassenlagen und „ständischen Lagen“, die auf Zugehörigkeiten und der wechselseitigen Zuerkennung von „Prestige“ und „Ehre“ beruhen, rekonstruieren. Möglich werden darüber hinaus auch weitere wichtige Perspektivenerweiterungen, auf die ich nun noch kurz eingehen will. Während nämlich „Zugehörigkeiten“ eher nach einer kategorial-exklusiven Logik zu beschreiben sind – man oder frau gehört entweder dazu oder nicht –, lässt sich „kulturelles Kapital“ eher als ein graduelles Merkmal des Mehr oder Weniger fassen (vgl. Berger 1989). Um daran dann „Zugehörigkeiten“ – etwa zu bestimmten Berufsgruppen – festmachen zu können, bedarf es der Institutionalisierung dieser Ungleichheitsdimension in Form von Zeugnissen, Titeln und Zertikaten. Zugehörigkeiten – seien sie nun „einfacher“ oder „pluraler“ Art –, folgen dabei wenn schon nicht einer Logik der „Identitäten“ (die ja, wie zu sehen war, immer erst hergestellt werden müssten), so doch einer „Logik der Differenzen“ und der Grenzziehungen. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die Vorstellung von Zugehörigkeiten häug auf Personen als „Einheiten“ angewendet wird, die
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sich dann – entsprechend dieser verbreiteten Vorstellungen und in einer Art gedanklicher „Verräumlichung“ sozialer Zusammenhänge – zur gleichen Zeit nur an einem „Ort“ benden können. „Wissen“ und „kulturelles Kapital“, das ja nicht nur in inkorporierter, also auf Personen zurechenbaren, sondern auch in objektivierter Form auftritt, scheint demgegenüber vor allem in der letzten Form eher einer „Logik der Ströme“ – um einen Ausdruck von Manuel Castells (2003; vgl. Berger/ Kahlert 2004) zu verwenden – zu folgen (vgl. Berger 2009; Weiß/Berger 2008).
V Aus diesem hier nur angedeuteten Blickwinkel einer „Logik der Ströme“, die Wanderungen von Personen einschließt und auch dazu angetan ist, die Grenzen eines „methodologischen Nationalismus“ bzw. eines „Container-Modells“ von Nationalgesellschaften, die etwa Ulrich Beck in den letzten Jahren immer wieder beklagt hat (vgl. z. B. Beck 2008; Beck/Grande 2008), zu überwinden, können nun beispielhaft noch einige Indikatoren für gesellschaftliche Entwicklungen benannt werden, die einer Logik der Differenzen und Grenzen eher entgegenlaufen. Diese beziehen sich schwerwiegend auf die Europäische Union (EU) und sind neueren Arbeiten von Steffen Mau und Marco Büttner (2009) entnommen. So können wir zunächst einen stetigen Ausbau der Transport- und Kommunikationsnetzwerke registrieren: Grenzüberschreitende Autobahnen, Zuglinien und Schifffahrtswege wurden errichtet, welche die Mobilität zwischen Nachbarländern erleichtern. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Liberalisierung des Luftverkehrs, die einen enormen Zuwachs an europäischen Luftfahrtunternehmen, transeuropäischen Flugverbindungen sowie sogenannten „Billig-Airlines“ mit sich brachte und insgesamt zu einer deutlichen Zunahme von Fluggästen geführt hat. Daneben ist auch der Ausbau von neuen Kommunikationsnetzen und -technologien ein wichtiger Faktor in dieser Logik der Ströme, die zu einer zunehmenden „horizontalen Verechtung“ Europas beitragen dürfte. Fragt man weiter (und wiederum nur für Europa) nach Migrationsströmen, erscheinen die Europäer freilich als eher „immobil“: Nach Büttner/Mau (2009) haben sich bis heute nur etwa 1,5 Prozent aller EU-Bürger langfristig in einem anderen EU-Land niedergelassen, wobei ein großer Teil davon noch der ersten Generation von „Gastarbeitern“ angehört. Auch im Vergleich zu den US-Amerikanern, die ja als besonders umzugswillig gelten, erweisen sich die Europäer als eher „immobil“, denn nach Daten aus dem Jahre 2005 sind nur etwa 4 Prozent der EU-Bevölkerung in ein anderes EU-Land umgezogen, und nur etwa 18 Prozent der Befragten sind überhaupt jemals aus ihrem Herkunftsort weggezogen. Aufgrund der verbesserten Transport- und Reisemöglichkeiten scheinen freilich immer mehr
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Menschen nur noch mit einer kurz- bzw. mittelfristigen Perspektive zu wandern oder gleich zu pendeln – und dieser Trend hat sich mit dem Beitritt der neuen EUMitgliedsstaaten aus Mittel- und Osteuropa im Mai 2004 noch verstärkt. Alles in allem lässt sich aber festhalten, dass Europäer viel mehr in Bewegung sind als zu Zeiten geschlossener Grenzen und nationaler Abschot tung. Unter dem Gesichtspunkt einer „Logik der Ströme“ ist jedoch auch das Wachstum des europäischen Tourismus nicht zu vernachlässigen, denn die meisten Menschen dürften ihre ersten Erfahrungen mit anderen Lebensstilen und Kulturen durch Urlaubsreisen ins Ausland machen. Und auch wenn im Hinblick auf die Frage, inwieweit Tourismus tatsächlich zu veränderten Wahrnehmungen und intensivem interkulturellen Kontakt führt, eine gewisse Skepsis angebracht scheint, dürften die umfangreichen Touristenströme im Sinne des oben skizzierten „Mobilitätszirkels“ alles in allem doch eher zu mehr Toleranz und Weltoffenheit führen als das dauerhafte Verharren an ein und demselben Ort. Ein besonderes Gewicht kommt unter diesen Gesichtspunkten schließlich auch der grenzüberschreitenden Mobilität von Schülern und Studenten zu: In den vergangenen Jahrzehnten bildeten vor allem junge Menschen und junge Erwachsene eine neue „Trägerschicht“ für interkulturelle Lernbereitschaft und Toleranz. Neben den schon länger institutionalisierten Programmen zum Jugend- und Studentenaustausch – etwa zwischen Deutschland und Frankreich – gibt es heute viele weitere Möglichkeiten, europaweite Kontakte zu knüpfen und andere Kulturen, Länder oder Sprachen kennen zu lernen. Der einer Logik der Differenzen und Identitäten folgende Modus nationaler oder regionaler Abschottung scheint damit zunehmend von einem der Logik der Ströme entsprechenden Modus internationaler Begegnung und Offenheit für andere Länder und Kulturen abgelöst worden zu sein. Steffen Mau und Marco Büttner (2009) fassen diese und weitere Beobachtungen nun folgendermaßen zusammen: „Es ist generell davon auszugehen, dass wir von all den dargestellten Bewegungs- und Kommunikationsformen über die nationalen Containergrenzen hinweg, und nicht nur von den großen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Integrationsschritten, Langzeiteffekte in Richtung einer zunehmenden Europäisierung nationaler Gesellschaften erwarten können. Dies geschieht in dem Maße, in dem die Europäisierung den Alltag der Menschen erfasst und immer mehr Menschen ganz selbstverständlich über Ländergrenzen hinweg agieren und interagieren. Die zunehmende horizontale Verechtung der Bevölkerung Europas führt vielleicht nicht unweigerlich zur Herausbildung einer europäischen Gesellschaft, aber wir gehen davon aus, dass sie die grundlegenden Orientierungs- und Handlungsmuster der einbezogenen Gruppen so verändert, dass ein Zurück zu nationalstaatlicher Abschottung immer weniger vorstellbar ist.“
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Auch sie nehmen an, dass sich solche Entwicklungen mit Konzepten wie (kulturelle) „Identität“ und „Gemeinschaft“ nur unzulänglich erfassen lassen, da sie letztlich zu sehr einem Denken in „Differenzen“ verhaftet oder, um nochmals mit Margaret Archer zu sprechen, dem „Mythos kultureller Integration“ verfallen sind. Um Erweiterungen des Erfahrungs- und Handlungsraums, die Zunahme interkultureller Erfahrungen und darauf aufbauender „Fremdheitsfähigkeit“ in Europa, aber auch darüber hinaus erfassen zu können, bedarf es also auch aus dieser Perspektive einer Abkehr von kollektiv-kulturellen Identitätskonzepten, aber auch von Auffassungen einer „singulären Zugehörigkeit“. An deren Stelle müssten verstärkt Vorstellungen von „pluralen Zugehörigkeiten“ treten, die Amartya Sen für sich selbst so beschrieben hat: „Was mich betrifft, so kann man mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger, Inder, Bengalen mit bangladeshischen Vorfahren, Einwohner der vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischen Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laiizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tode (und, falls es jemanden interessiert, auch ein ‚Leben vor der Geburt‘) angeht“ (Sen 2007: 33 f.). „Kulturelle Identitäten“ können dann freilich nicht mehr länger als voraussetzungslose Vorgaben in kulturoder sozialwissenschaftlichen Analysen begriffen werden. Vielmehr müssen sie als soziale Konstrukte, die vor allem der Begründung von „Zugehörigkeiten“ und oftmals auch der Sicherung von Privilegien dienen, aufgefasst werden. Zu fragen ist dann aber letzten Endes auch nach der Rolle, die die Sozial- und Geisteswissenschaften in ihren verschiedenen Teildisziplinen in diesen Prozessen sozialer Konstruktion gespielt haben und immer noch spielen. Aber das wäre eine andere Geschichte …
Literatur Archer, Margaret S. (1985): The Myth of Cultural Integration. In: The British Journal of Sociology, 36, 333–353. Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Schwartz & Co., 35–74. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich (2008): Weltristikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kulturelle Identität als soziale Konstruktion
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Kulturelle Identität als soziale Konstruktion
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Vertrauen ins Unvertraute Peter Gross
Wenn es derzeit etwas gibt, was unbedingt wiederhergestellt werden muss, dann ist es das Vertrauen. Obwohl oder gerade weil Vertrauen überall schwindet und bis ins Selbstvertrauen hinein fragil und knapp zu werden droht, existiert so etwas wie ein Grundvertrauen ins Vertrauen. Misstrauen hingegen, das die modernen Gesellschaften unterwandert hat, will bekämpft und ausgetrocknet werden. Es ist des Teufels. Dabei sind Vertrauen und Misstrauen komplementäre Mechanismen. In einer modernen Gesellschaft sind beide funktional und notwendig. Aber unsere Gesellschaft kommt nicht klar mit ihrer Innovationskraft und Zukunftsoffenheit. Das wachsende Meer von Zweifeln lässt sich nicht mehr durch Vertrauen oder Misstrauen absorbieren. Unsere Gesellschaft kommt, mit anderen Worten, nicht nach mit der Erzeugung einer Form des Vertrauens, die dieser Zukunftsoffenheit angemessen ist: Vertrauen ohne Rückgriff auf Vertrautes.
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Misstrauen
Der Ruf nach Vertrauen resultiert aus grassierendem Misstrauen. Natürlich gibt es noch Formen fraglosen Vertrauens, die unbeschädigt unser Leben ermöglichen. Ohne Vertrauen, dass der Stuhl mich trägt, der Computer funktioniert und der Beitrag über „Fragiles Vertrauen“, wenn man nur lange genug an ihm arbeitet, eine druckfähige Fassung erlangt, wäre schon die erste Stunde heute morgen undenkbar. Jede Art von Kooperation zwischen Menschen wäre darüber hinaus unmöglich. Es gibt sogar eine Vertrauensbeziehung zwischen Herrscher und Beherrschtem, zwischen Polizisten und Verbrechern, verfeindeten Soldaten (Axelrod 1991) und Opfern und ihren Peinigern (Hitzler 1995). Ebenso und sonderbarerweise ein Vertrauen in die Gewalt als ultima ratio (Reemtsma 2008). Gleichwohl, in einer modernen Multioptionsgesellschaft mit ihrer überschäumenden Vitalität, ihrem ungebrochenen Drang nach Neuem, der unumgänglichen Vermischung der Kulturen und der rasch voranschreitenden Überfremdung von Heimaten gewinnt das Misstrauen eine eigene, singuläre Notwendigkeit. Misstrauen ist in modernen Gesellschaften so unerlässlich wie Vertrauen. Es ist, wie es Niklas Luhmann nennt, ein funktionales Äquivalent von Vertrauen
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Peter Gross
(Luhmann 1973). Nicht nur ein Handschlag ist efzienter als ein ausgefeilter Vertrag, sondern auch seine Verweigerung (Prisching 2009). Beim Misstrauen handelt es sich nicht einfach, wie das laute Wehklagen über zunehmendes Misstrauen suggeriert, um fehlendes Vertrauen. Misstrauen ist wie Vertrauen ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität. Man sollte deshalb Misstrauen nicht gering-, sondern wertschätzen. Wie Vertrauen vereinfacht auch Misstrauen die Komplexität und Kontingenz der modernen Welt. Es vereinfacht die Lebensführung und macht im Übermaß von Optionen erst handlungsfähig. Denn wächst die Zahl der Optionen, wächst auch die wechselseitige Bedingtheit von Entscheiden. Deren Resultate lassen sich wiederum schwerer voraussagen (Gross 2003). So gibt es, als funktionales Äquivalent zum Vertrauen in die Gewalt, auch Misstrauen gegenüber ihrer Anwendung. Aber Vertrauen und Misstrauen implizieren auch Differenz. Die Folgekosten des Umgangs mit Vertrautem, wenn das Vertraute enttäuscht, sind offensichtlich höher als jene des Umgangs mit Misstrautem. Insofern ich mich auf Misstrautes gar nicht einlasse, entstehen auch keine Folgekosten – höchstens in der Reue, es verschmäht zu haben, oder Rache des oder der Verschmähten. Misstrauen ist auch kein Äquivalent zum Vertrauen, wenn man es in der Relation zum Glück oder zur Zufriedenheit betrachtet. Es lässt sich wohl schwerlich behaupten, dass steigendes Misstrauen (wie steigendes Vertrauen) das Wohlbenden steigert. Aber es unterbindet das Enttäuschtwerden, das Folge von enttäuschtem Vertrauen ist. Wie auch immer, in einer globalisierten und nur noch in Ausschnitten begreif- und beherrschbaren Welt sind alle, wenn sie nicht im Kloster leben, aber selbst da (weil die Eintritte, wie bei den Pastoren, vermehrt aus Nicht-Einheimischen bestehen), mit zunehmend Fremdem und immer mehr Fremden konfrontiert (Gross 1997). Die überkommenen Vertrautheitsmaßstäbe, die über Traditionen eingeschliffenen Verhaltensweisen versagen (Giddens 1995). Zwischen Vertrauen und Misstrauen öffnet sich eine immer breiter werdende Spanne der Unsicherheit und des Zweifels. Dass in einer globalisierten Gesellschaft der Zweifel vorzugsweise in Misstrauen überführt wird, ist verständlich. Die Abwehr ist, wie schon gesagt, bequemer als deren Vereinnahmung in den Kreis des Vertrauten. Schon Georg Simmel formulierte vor mehr als einem Jahrhundert, dass mit der Vergrößerung der Wirtschaftsräume die gegenseitige Einsicht in die Verhältnisse unvollkommener werde, das Vertrauen bedingter, die Vollstreckbarkeit der Ansprüche unsicherer (Simmel 1989). In einer Welt, in der darüber hinaus über die Prozesse der Individualisierung und Autonomisierung des Einzelnen die Handlungen der anderen weniger berechenbar, kontingenter werden, ist Misstrauen unersetzlich. Es ist nicht nur funktional im Sinne einer Reduktion von Komplexität, sondern auch funktional im Sinne einer Absorbtion des Neuen und Fremden.
Vertrauen ins Unvertraute
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Misstrauen, könnte man also sagen, ist eine Prüfvermeidungsstrategie. Wer misstraut, nimmt, wie wer vertraut, eine Zukunft vorweg, die mehr Möglichkeiten zulässt als sich verwirklichen lassen. Aber wer misstraut, ignoriert Möglichkeiten, wer vertraut, ergreift sie. Denn nie lassen sich in einer Multioptionsgesellschaft alle Möglichkeiten prüfen. Die biblische Forderung, alles zu prüfen und das Gute zu behalten und das Schlecht zu lassen (1 Thess 5, 21), ist angesichts schon einer Weinhandlung ungangbar. Ganz zu schweigen von Weltmärkten wie dem Weltheiratsmarkt. Die Zweifel machen auch vor der eigenen Person nicht halt. „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele“ – das Buch mit diesem Titel hält sich seit Monaten auf den Bestsellerlisten (Precht 2007). Eine Portion Selbstmisstrauen ist nicht von Schaden. Obwohl Führungshandbücher meist den eitlen Grundsatz pegen, Selbstvertrauen sei die Basis des Vertrauens überhaupt. Selbstvertrauen ist von Vorteil, wenn damit das Selbstvertrauen einhergeht, auch Enttäuschungen des Vertrauens gewachsen zu sein. Ansonsten ist überspanntes Selbstvertrauen nicht nur häug die Basis zu blindem Vertrauen, sondern auch Auslöser von Abwehrgefühlen und Misstrauensäußerungen bei anderen. Gerade in Gesprächen und Veranstaltungen sind Menschen mit einem zu hohen Pegel an Selbstvertrauen suspekt, weil sie häug nicht in der Lage sind, anderen zu vertrauen. Im Übrigen haben die Kinder in mit Fremdem durchsetzten Gesellschaften von Anfang an auch das Misstrauen zu lernen, gegenüber Rutschbahnen wie gegenüber Unbekannten, sie müssen lernen, ihrer eigenen Einschätzung zu misstrauen.
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Zukunftsvertrauen
Um Vertrauen und Misstrauen den richtigen Platz in einer modernen, offenen Gesellschaft zuzuweisen, ist eine zweite Präzisierung vorzunehmen. Die Vertrauensvorstellung hat nicht Schritt gehalten mit der Evolution moderner Gesellschaften. Sie ist stehengeblieben bei einer alttestamentarischen Vorstellung von Vertrauen als Vertrautheit. In vertrauten Welten bestimmt die Vergangenheit die Zukunft. Vertrauen imaginiert Vertrautheit und Erzeugung von Vertrauen suggeriert die Wiederherstellung von vertrauten Umständen. Natürlich: Vertrauen ist immer eine riskante Vorleistung. Aber diese erfolgt in der Hoffnung auf Vertrautes. Die Gegenwart muss diese Hoffnung preisgeben. Sie ist zukunftsorientiert, sie lebt von Mobilität und Durchmischung, von Innovation und Neuerung. Sie will alles anders machen als es ist. Sie generiert neue Unruheherde und -stände. Sie emanzipiert sich von überkommenen Welten; sie wird postfossil und nanogefüttert. Man kann nicht davon ausgehen, dass die Dinge sein werden, wie sie sind, sondern dass sie alle Vorstellungen sprengen.
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Peter Gross
Wie aber können wir in etwas vertrauen, das uns nicht bereits vertraut ist (Offe 2001)? Neu ist etwas nur, so hat es einmal Hermann Lübbe formuliert, weil es nicht vorhersehbar ist, sonst wäre es nicht neu. In einer neophilen, das Neue gegenüber dem Alten präferierenden Gesellschaft muss deshalb ein neues Vertrauen gedacht und entwickelt werden: das Vertrauen ins Unvertraute. Das Unvertraute vertraut machen, das Unbekannte voraussehen und voraussagen. Der Wunsch ist so alt wie die Menschheit. Die großen Religionen, wie das Christentum oder der Islam, entwickeln darum temporale Ordnungen und metaphysische Fahrpläne für das Geschehen nach dem Tod. Im Christentum sind sie im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes niedergelegt, im Islam bei Allah und den Propheten. Vormoderne Gesellschaften führen über Gebote und Verbote in die Zukunft. Das Tun, auch jenes von morgen und übermorgen, ist eingezwängt und so lange vorhersehbar, als sich die Untertanen daran halten. Die moderne Gesellschaft hingegen hat eine extrem verunsicherte Zukunftsperspektive. Was ist, könnte anders sein, und was kommt, hängt von Entscheidungen ab, die wir nicht kennen. Allerhöchstens lassen sich Möglichkeitsräume explorieren (Hitzler 2005). Man könnte sagen, mit der Autonomisierung des modernen Menschen kommt die Kontingenz der Zukunft, ihre Ungewissheit und Unbestimmtheit ins Spiel. Die Wiederholung ist in die Zukunft verlegte Erinnerung und gerade diese ist modernen Gesellschaften in zentralen Bereichen, wie etwa in der Wirtschaft, untersagt. Wer macht, produziert Unvorhersehbarkeit, wer lässt, lässt der Vorhersehbarkeit Raum. Die Moderne, die Freiheit freisetzt, erhöht also ihre Kontingenz. Alles könnte x-mal anders sein. Sie steigert auch die Nichtantizipierbarkeit von Entscheiden. Während der Wetterprophet das Wetter einigermaßen voraussagen, aber nicht machen kann, kann der soziologische Prophet die Zukunft gerade dann nicht voraussehen, wenn alle die Zukunft machen und nichts belassen, wie es ist. „Wir können nur sicher sein, dass wir nicht sicher sein können, ob irgendetwas von dem, was wir als vergangen erinnern, in der Zukunft so bleiben wird, wie es war“ (Luhmann 1992: 136). Insofern sind Vertrauen und Misstrauen nicht nur Reduktionen von Komplexität, sondern auch Verringerung von Kontingenz. Wenn also die Zukunft nur noch im Modus des Wahrscheinlichen bzw. des Unwahrscheinlichen oder in Form von Trendaussagen und Wahrscheinlichkeiten gegeben ist (Pfadenhauer 2005), muss Vertrauen umschalten von Vertrauen in Vertrautheit auf Vertrauen in Unvertrautheit, auf neue und unbekannte Formen des Vertrauens. Und wenn die Zukunft gerade durch Entscheiden ungewisser wird, weil man die Entscheide anderer, die in neuartigen Gestaltungsspielräumen operieren, nicht vorausnehmen kann, stellt sich mit Wucht die Frage ein, wie Vertrauensbildung dann aussehen könnte.
Vertrauen ins Unvertraute 3
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Vertrauenserzeugung
Vertrauen muss jedenfalls erzeugt werden. So viel ist sicher. Aber welches Vertrauen und Vertrauen in was? Endlos sind die Vertrauensumschreibungen und die Objekte, denen man Vertrauen angedeihen lässt oder es ihnen entzieht. Insofern Vertrauen, ob ganz allgemein in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Wirtschaft, der Politik oder beim Verfassen von Aufsätzen für Festschriften, ganz Unterschiedliches meint, kommt man bei der Frage nach der Vertrauenserzeugung am besten vorwärts, wenn man nicht nach Wesen oder einem invarianten Wesenskern von Vertrauen, sondern nach lädierten Vertrauensbeziehungen fragt, die ein System wegen fehlenden Vertrauens in Turbulenzen oder ganz abstürzen lassen. Das Funktionieren der Familie basiert, bis hin zu Liebesentzug und Strafen, auf dem Vertrauen, dass Entzüge oder Strafaktionen das Gleichgewicht wieder herstellen und dass die Bestrafung eine endgültige Abgeltung getanen Unsinns ist. Für die Familie gibt es keine externen Prüforgane, es sei denn, es geschehe etwas, was strafrechtlich relevant sei, etwa offensichtliche Vernachlässigung der Kinder etc. Auch auf den ersten Blick dubiose, auf den zweiten aber modernitätsrelevante Überlegungen zu einem „Elternführerschein“ oder (wie derzeit in der Schweiz) eine Bewilligungspicht fürs Kinderhüten für Großeltern, können fehlendes Vertrauen nur bedingt ersetzen. Dieses muss – und zwar gegenseitig – intern erzeugt werden, die Familienmitglieder generieren durch ihr tägliches Verhalten den Vertrauenskitt, der das Tageswerk ermöglicht. Nur in Ausnahmefällen erfolgt Hilfestellung von außen in Form von Ratschlägen oder eventuellen Therapieangeboten. Schließlich: Familienbeziehungen sind unkündbar. Sohn bleibt Sohn, Tochter bleibt Tochter (Pelzmann 2009). Anders stellt sich die Sachlage in der Wirtschaft und bei den Unternehmen dar. Händeringend sucht man Vertrauen und nach Mitteln, Vertrauen zu gewinnen. Vertrauenserzeugung heißt hier Vertrauen in Firmen, Unternehmen, Marken und Vertrauen in Produkte erzeugen. Es genügt, im Unterschied zur Familie, nicht, wenn die Mitarbeiter eine große vertraute Familie sind und einander vertrauen und liebhaben. Ein Soll an Manieren und elementaren Höichkeiten ist selbstverständlich. Aber alles, was in einer Unternehmung geschieht, deren Choreographie von der Geschäftsleitung bis zum Marketing, steht im Dienste des Kunden. Nur kundenrelevante Resultate zählen, ob sie nun von autoritären oder kooperativen Führungskräften erzielt worden sind (Malik 2000). Ohne den Customer value läuft nichts, der Customer ist Arbeitgeber aller Arbeitgeber. Das Vertrauen des Kunden gilt es zu erringen (Kenning 2002). Das Potential an Handlungsmöglichkeiten einer Unternehmung, kundenrelevante, vertrauensbildende Maßnahmen zu ergreifen, ist allerdings unerschöpich. Was soll man in den Vordergrund rücken? Personen, Produkte, die Marke, den
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Verkauf, den Verkäufer? Was nützt einer in Rücklage geratenen Schweizer Großbank am ehesten? Die Inthronisierung von gestandenen Vertrauensmännern und Alt-Ministern? Der Abschluss von internationalen oder bilateralen Verträgen? Die Festigung der Systeme? Die Installierung neuer Sicherheitseinrichtungen oder die Erndung transparenter und abgesicherter Produkte, für die die Garantie übernommen wird, dass ihnen nicht passiert, was den strukturierten Produkten gestern passiert ist? Oder alles zusammen? Und auch die Semantik der prüfenswerten Eigenschaften ist sowohl, was die unorganische als auch die organische Materie betrifft, unergründlich. Dichte, Härte, Sprödigkeit, Zähigkeit? Und bei der Menschenprüfung? Klugheit, Dummheit, Intelligenz? Teamfähigkeit oder Querheit? Ausdauer? Kommt es auf Eigenschaften oder deren Umsetzung und deren Wirksamkeit an? Es gibt keinen besten Schachzug. Es kommt, wie beim Schachspiel, auf die Situation und auf das, was man wissen will, an. Jedenfalls lässt sich, schon das Wort „erzeugen“ legt das nahe, Vertrauen weder befehlen noch kaufen. Es gibt elementare Tatbestände des modernen Lebens, wie Glück, Liebe oder Hass, die sich nicht erzwingen, aber auch nicht wegzaubern lassen. Schon die Reexion dieser Zustände kann heikel sein. Das Vertrauen ist, wie Annette Baier es nennt, eine empndliche Panze, die eine Untersuchung ihrer Wurzeln möglicherweise nicht schadlos übersteht (Baier 1986). Auch das Kaufen-wollen von Vertrauen führt meistens zum Gegenteil, selbst wenn der Gekaufte die Prämie annimmt, wächst nicht das Vertrauen, sondern das Misstrauen (Prisching 2009). Auch mittels Ab- und Versicherungen lässt sich Vertrauen nur bedingt generieren. Versicherungen sind ein Schutz gegen Konsequenzen einer Entscheidung, die sich vorausnehmen und in Wahrscheinlichkeiten berechnen lassen. Versicherungen operieren auf dem Boden von Bekanntem. Unsicherheiten werden in Wahrscheinlichkeiten umgearbeitet. Wer seinen Hausrat versichert, muss ihn dem Versicherer eröffnen und zeigen. Ein Bild, das gegen Diebstahl versichert wird, muss da und in seinem Wert eingeschätzt werden können. Ein Atlantikug lässt sich aufgrund der geschehenen Abstürze in seinem Risiko berechnen und versichern. Sofern die erwarteten Schadenhöhen und -frequenzen sich nicht kalkulieren lassen, wird es schwieriger. Besonders problematisch ist die Abschätzbarkeit von Großrisiken (Industrieanlagen, Staudämme), wo keine statisch relevanten Größen vorliegen. Bei neuen Risiken, wo noch keine Erfahrungswerte vorliegen, wo also nicht von „Berechenbarkeit“ gesprochen werden kann, wird Vertrauen auf eine harte Probe gestellt. Aber gerade solches Vertrauen ist nötig.
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Evolution externer Prüfsysteme
Die Krux der Vertrauenserzeugung liegt in modernen Gesellschaften also darin, dass sich die mit bestimmten Entscheidungen verbundenen Unsicherheiten nur sehr beschränkt vorausnehmen lassen. Die Geothermie beispielsweise, als neuartige und noch wenig erprobte Technologie zur Wärmeproduktion, ist zwar klimafreundlich, unerschöpich und lokal vorhanden. Aber was geschieht, wenn direkt unter Siedlungen gebohrt wird, wenn der Permafrost Risse bekommt oder, wenn dem Erdinnern zunehmend Wärme entzogen wird? Die Erfahrungen liefert letztlich die Natur in ihrer beobachtbaren Antwort auf die Bohrungen. Ähnliches gilt für alle neuen Technologien: etwa die Nanotechnologie, deren Eindringen in Pharmazeutik, Kosmetik und Medizin in ihren Auswirkungen auf den Menschen sich noch überhaupt nicht abschätzen lässt. Eine Konsequenz dieser Sachlage ist die Hilfestellung der Prü ndustrie. Ihre Antwort heißt Kontrolle und Prüfung und nicht Vertrauen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, soll Lenin propagiert haben. Vertrauen in Kontrolle scheint einen Königsweg zu bieten. Die Pründustrie, und darunter verstehen wir alle öffentlichen oder privaten Institutionen, die prüfen, sei(en) es (wohl der Ursprung aller Prüfungen) Personen, seien es Produkte, Prozesse, Eigenschaften, Materialien, was auch immer. Die Pründustrie hat zwar, und die Materialprüfanstalten haben dabei eine Pionierrolle gespielt, den Umschwung von internen zu externen Beobachtungen von Prüfobjekten mitgetragen. Die Situation wird nicht mehr nur vom Kunden und den Überlegungen und Selbsterforschungen der Unternehmung, ihrer „freiwilligen Selbstkontrolle“ bestimmt. Seit geraumer Zeit sind neue Akteure im Spiel, welche eine immer wichtigere Rolle im Konzert vertrauensbildender Maßnahmen spielen: nämlich externe und unabhängige Prüfsysteme. Mit entsprechenden Organisationen und Experten. Die internen Maßnahmen, durch welche die Unternehmung über verschärftes Controlling neue Buchführungsstandards und Qualitätssicherungssysteme Vertrauen zu erringen versuchen, haben einen Systemfehler. Sie werden von jenen in die Wege geleitet, welche gleichzeitig die Hersteller sind. Die kollektive Selbstbindung (Schenker-Wicki 2008) ist in dieser Beziehung eher problematisch. Die gegenseitige Vereinbarung von Standards und Verhaltenskodizes sind wegen ihrer Freiwilligkeit nur beschränkt. Seit Beginn der 90er Jahre im Binnen-Außenverhältnis von Unternehmen etabliert, haben diese informellen und freiwilligen Selbstbindungen die Exzesse der letzten Jahre nicht verhindern können. Deshalb genießen externe Empfehlungen und Prüfungen weit größeres Vertrauen als jene der Hersteller. Fremdbeobachtung zählt mehr als Selbstbeobachtung. Den gleichen Fehler pegt im Übrigen die Werbewirtschaft, indem die Unternehmen mit ihrer Hilfe ihre eigenen Produkte belobigen. Eigenlob stinkt. Wie am Beispiel
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der Atomkraftwerke ersichtlich, haben die internen Kontrollen nicht nur nicht selten versagt, sondern sind manipuliert worden, indem Sicherheitsprobleme nicht kommuniziert, Störungen nicht behoben und Risiken verheimlicht worden sind. An die Stelle interner Prüfmechanismen tritt deshalb eine explodierende unternehmensexterne, heute großteils privatwirtschaftlich operierende Pründustrie. Die Unternehmen erhöhen ihre Resonanzfähigkeit durch Erhöhung der Einfallstore für externes Wissen (Gross/Brügger 2001). Es begann mit Kundenreklamationen und dem Einsatz von verdeckten „Ermittlern“. Undercover Aktionen, wie jene von Günter Wallraff, sind noch in bester Erinnerung. Während die öffentlichen Prü nstitutionen, wie die vor einem guten Jahrhundert gegründete „Materialprüfungsanstalt“ (MPA) oder ihr schweizerisches Pendant, die „Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt“ (Empa), sich sukzessive auf Forschungsund Entwicklungstätigkeiten („agieren statt reagieren“) verlegen, schießen seit einigen Jahrzehnten die privaten Prüfungsanstalten wie Pilze aus dem Boden. Sie prüfen Werk- und Baustoffe, sie messen Umweltfaktoren wie Immissionen und Strahlungen, sie analysieren Wasser- und Bodenproben, testen Spielzeuge, Lebensmittel, Medikamente oder Kontüren oder ganze Systeme und Anlagen wie Kraftfahrzeuge oder Förderbänder. Dass früher oder später, was die Materialien und Werkstoffe betrifft, die kleinsten Bausteine der Materie, Nanos und Atome, und, früher oder später, was lebende Organismen betrifft, die Träger der Erbinformationen, die Gene geprüft und getestet werden, versteht sich von selbst. Konventionelle externe Unternehmensprüfungen erfolgen durch Setzung von Standards im Finanzwesen (Richtigkeit, Genauigkeit, Ordnungsmäßigkeit), im Informationsmanagement, im Datenschutz, den Produktionsabläufen und im Kundenmanagement. Mittels Zertizierung werden die Einhaltung bestimmter Standards für Produkte und Dienstleistungen und ihre jeweiligen Herstellungsverfahren garantiert. Ausbildungsstandards, persönliche Befähigungen, Qualitätserfordernisse (z. B. ISO 9000) werden erhoben. Informationssicherheit, die Einhaltung der Umwelt und Sozialstandards, die Arbeits- und Umweltschutz-Maßnahmen werden erforscht. Derart etabliert sich ein Wettbewerb um Zertizierungen. Die Zertizierungs-, Güte- und Prüfsiegel-Vergabe ist unterdessen für den Laien so unübersichtlich geworden, dass er eine Prüfung der Prüfagenturen verlangt. Über der Prüf- und Zertizierungsindustrie etablieren sich Metaprüfzentren. Das gilt insbesondere für den Bereich der Lebensmittel und Spielwaren, für die Medikamente und Geräte. Die großen Rating-Agenturen wie Moody’s Investor Service oder Standard & Poor’s messen die Bonität von Unternehmen, sind aber mit der Finanzkrise selber in Ungnade geraten. Wir wollen schweigen davon, dass das Wirtschaftsprüfungswesen selber zum Handlanger krimineller Machenschaften wurde (Malik 2008).
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Alles ist sehr unübersichtlich geworden. Im Bereich der Lebensmittel konkurrieren unterschiedliche Bio-labels (Bio-suisse, Natura Beef, Max Havelaar, Bio Weide Beef, Demeter, delio bio, naturaplan, kagfreiland, bio engagement, Bio Natur Plus, claro, fair-sh, ip-suisseagri-natura etc. etc.). Es gibt private und öffentliche labels, nationale und internationale. Überall ist man auf der Suche nach den besten Aufpassern und den besten Aufpassern über Aufpasser. Die wachsende Zahl an privaten Instituten erfordert wiederum eine Zertizierung und Akkreditierung von staatlicher Seite. Je vielfältiger und komplexer die Prüf-, Inspektions- und Zertizierungsangebote werden, desto dringlicher wird deren Zertizierung. Und je grenzüberschreitender die Aktivitäten von Unternehmern werden, umso internationaler werden die Akkreditierungsnormen und -verfahren.
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Audit-Explosion und Web
Auch die Lehranstalten und Universitäten konnten sich der externen Prüfmanie nicht entziehen. Unablässig wird evaluiert. Entsprechend wird von einer „Evaluitis“ (Matthies/Simon 2008), von einer „Audit Explosion“ oder einer „Audit Society“ gesprochen (Power 1997). Zu den Aufnahmeprüfungen und Schlussprüfungen kommen immer neue Prüfungen hinzu. Lehrkräfte prüfen Studierende, Studierende prüfen Lehrkräfte, Lehrkräfte prüfen sich wechselseitig. Seit einigen Jahren werden im breitgefächerten Markt der MBA-Anbieter Rankings erstellt und Gütesiegel verteilt. Der Dschungel der Gütesiegel wird selber wieder gerankt. AACSB, Equis, Epas, Amba, OAQ und Fibaa – jedes Jahr kommen neue hinzu. Unablässig werden wir aufgefordert, Bewertungen abzugeben, im Hotel, im Restaurant, auf Tagungen, bei Referaten. Eventuell werden die Köche und Lehrpersonen mit den besten und mit den schlechtesten Evaluationen im Internet veröffentlicht oder werden in eigenen Blogs an den Pranger gestellt. Schon expandieren Unternehmen im Web, die gegen Bezahlung Reputationskontrollen auch der eigenen Erscheinung in Aussicht stellen. Auch die Suchmaschinenoptimierung oriert. Es wird professionelle Anbieter von Vertrauensdienstleistungen geben, die Vertrauenskapital bilden und handeln (Pelzmann 2009). Gleichwohl laufen die Prüfanstalten der täglichen Explosion von Produkten und Dienstleistungen, von Angeboten und Verheißungen hinterher. Ein Füllhorn an Neuigkeiten, ein Sammelsurium von Produkten wird tagtäglich über uns ausgeschüttet. Gleichzeitig nehmen die Lebenszyklen ab. Warentest hat seit den Jahren seines Bestehens 70 Tausend Produkte geprüft. Etwa so viele wie täglich auf den Markt gelangen. Das Internet mit seinen sich explosionsartig vermehrenden Foren und Marktplätzen ist für die traditionellen Prüfsysteme eine neue Herausforderung. Seine
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Vorläufer sind der investigative Journalismus, das „Muckracking“ (in den USA schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts „im Mist stochern“ genannt). Oder was Personen betrifft, die Aktivitäten der Paparazzis. Das Web bietet indes bezüglich Schnelligkeit, Verbreitung und Greifbarkeit völlig neue Möglichkeiten. Aber auch die über Blogs, Internet Communities wie Facebooks, Twitters oder Flickr können die systematische Lücke zwischen ungeprüften Novitäten und deren Prüfung nie schließen. Im Netz nden sich deshalb nicht nur Nutzertestimonials, sondern immer mehr Vertrauensbarometer, Indices, die Bewertungen zusammenführen und in der Addition bewerten. Sie ergänzen zwar die Misstrauensausbeutungsindustrie, sind aber selber wegen ihrem Jekami-Charakter und wegen der Möglichkeit der Anonymisierung der Absender in Verruf gekommen. „Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist“, ein Wortspiel, das auch in Zeiten zunehmender Kontrolle der Online-Welt weiterhin gilt. Dennoch: Wieviel und wie immer geprüft wird, die Hauptwirkung von Web 2.0 ist deren Drohung. Es kommt, wie beim Zoll, auf das „könnte“ und nicht auf die effektiven Kontrollen an. Jedenfalls: Das Vertrauen in Hersteller, Händler und Expertenwissen nimmt generell ab, das Vertrauen in Meinungs- und Nutzerwissen zu (Frick/Hauser 2007). Nutzerwissen und Konsumentenurteile wiederum widersprechen sich in der Bewertung von Produkten oder Personen allerdings häug und lassen viele Fragen offen. Durch sie wird zwar eine Art Demokratisierung der Prüfsysteme und der entsprechenden Vertrauens- und Misstrauensbildungen in die Wege geleitet. In der Politik sind Twitter, Youtube und Facebook Hauptwaffen von Oppositionellen und Demonstranten geworden. Internetplattformen können in Zukunft nicht nur zum Tod des Despotismus und der Diktaturen führen, sondern auch globale Marktleader im Lebensmittel-, Finanz- oder Pharmabereich nachhaltig schädigen oder vernichten.
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Individualisierte Prüfsysteme
Deshalb wird es (und diese Zukunft hat bereits begonnen) eine völlig neuartige Industrie von individualisierten und privat anwendbaren Prüfsystemen geben. Wenn zum Beispiel, wie in der Schweiz, jeder, der Markenprodukte einführt, die sich als gefälscht erweisen, entschädigungslos deren Beschlagnahmung zu erwarten hat, wenn also dem Konsumenten die Echtheitsprüfung übertragen wird, dann wird der Kunde früher oder später, sofern der Bund nicht an allen Schweizer Botschaften Markenprüfer abstellt, bei denen der Kunde seine Produkte testen lassen kann, Geräte erwerben, mit denen er selber Echtheitsprüfungen durchführen oder mobil abrufen kann. Die technischen Mittel dazu sind mit den neuen Kommunikationstechnologien und der mobilen Internetverbindung gegeben. Suchmaschinen
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lassen sich mit Handys aktivieren, Warentests abfragen, von Neuentwicklungen Tests herunterladen. Es wird in nicht allzuferner Zeit möglich sein, Kompressionen von internen, externen und Web-Bewertungen auf dem Handy von Waren und Geräten geben. Die Hersteller führen Call-Center, die sich unterwegs anzapfen lassen. Einkäufe in personalfreien Self-Check-Supermärkten der Zukunft werden gekoppelt mit von Suchmaschinen zusammengetragenen Bewertungen, Referenzen und Testimonials. Vielleicht werden entsprechende Geräte bald (wie die Lupen im Coop) im Einkaufswagen integriert. Schrittmacher privater Prüfsysteme sind zweifellos die privaten (in der Regel für medizinische Zwecke entwickelten) Körperanalysegeräte, die von der Waage und dem Fiebermesser bis zur neuesten Generation der Körperfettmessgeräte reichen. Geräte wie Fieberthermometer, Sensoren, Waagen, Ozonmesser, Blutdruckmessgeräte, Puls- und Kalorienmesser zählen zu den Grundausstattungen moderner Haushalte. Nicht aber Messgeräte, um den Sult- oder Schwefelgehalt in Weinen zu prüfen, nicht Lügendetektoren zur Prüfung des Charakters von Verkäufern. Private Messgeräte sind (nicht nur bei Alkoholtestgeräten) kräftig auf dem Vormarsch und haben, je restriktiver die Vorschriften werden, Konjunktur. Selbstdiagnose via Handheld und „quick-check“, Do-it-yourself-Geräte wie Inhome-Dialysegeräte werden propagiert. Auch bezüglich der privaten Messgeräte für Elektrosmog, Formaldehyd, Ozon oder UV-Strahlung evolviert einen Markt von Messgeräten, der indessen so reichhaltig ist, dass er selber wieder periodisch getestet wird. Möglicherweise werden in naher Zukunft nicht nur Verbrauchsdaten und bio-labels die Produkte schmücken, sondern ins Handy eingebbare Codes, die alle relevanten Informationen zusammenfügen. Ein Arsenal von Prüfgeräten und Messsystemen folgt dem Feuerwerk von Produkten. Die mobilen Kommunikationstechnologien werden Zusatzfunktionen wie Ozon- und Smogmesser aufweisen. Es wird mobile, tragbare Medientechnologien und Bekleidungsnetzwerke geben, in die alle verfügbaren Prüfgeräte eingebaut sind. Brillen, die ultraviolette Strahlung anzeigen. Schuhe, die die Verunreinigung des Bodens anzeigen, und Kappen, die bei dünner Luft leuchten. Die Prüfanstalten und -institutionen verschwinden im Individuum. Die Pründustrie wird individualisiert den persönlichen Bedürfnissen angepasst, wie man das bei Anzügen, Fahrrädern, elektronischen Ausstattungen von Automobilen u. Ä. m. schon kennt. Die MPL dockt individuell an: jeder und jede eine kleine Material-, Waren- und Menschenprüfanstalt! Die individualisierte Pründustrie kompensiert insbesondere jene Risiken im Gefolge umweltbeeinussender Großsysteme, die unsichtbar, unerreichbar und untastbar sind (Beck 1986). Ebenso ndig werden allerdings die Möglichkeiten der Produkthersteller sein, den Messgeräten zu entgehen. Es wird zugehen wie bei den Schwimmweltmeisterschaften. Wo Anzüge getragen werden, deren Prüfung noch aussteht, werden
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diese, wenn geprüft, ugs durch wieder andere, wieder neue und ungeprüfte ersetzt. Kontrolle und ihre Umgehung werden Geschwister in einem endlosen Wettlauf. Die Pründustrie, ob intern, extern, im Web oder durch den prüfenden Konsumenten selber, kommt immer zu spät. Sie humpelt wie eine hochgerüstete Armee hinter den exiblen, andauernd Neues auswerfenden Innovatoren hinterher. Das, insbesondere von den staatlichen Materialprüfungsanstalten anvisierte proaktive und präventive Prüfen und der gleichzeitige Vorstoß zu den kleinsten Bauteilen der Materie, wird angesichts dieser Sachlage verständlich. Die Kluft zwischen Neuem und seiner Prüfung bleibt.
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Wie also lässt sich das bewerkstelligen, was als zentrale neue Herausforderung für die Vertrauensbildung genannt wurde, das Vertrauen ins Neue, Unbekannte? Wie lässt sich Vertrauen in etwas erzeugen, was noch niemand gesehen und noch keine Institution geprüft hat? Muss Vertrauen in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht systematisch in Schwierigkeiten kommen, wenn das uns allen Vertraute die andauernde Erzeugung von Unvertrautem ist? In einer rasant sich wandelnden Gesellschaft, die sich selber immer neu arrangiert, wird auf diese Situation mit Personen und Verantwortlichkeiten reagiert. Wie beim Schachspiel kommt es zwar auf die Situation an, welcher Zug der bestmögliche ist. Aber das Vertrauen muss die ungewisse Zukunft antizipieren und akzeptieren. Optimal wäre es wohl, schifffahrtsterminologisch gesprochen, wenn Schiff und Kapitän mein Vertrauen haben, unbekannte Gewässer zu meistern. Aber in Krisenzeiten ndet eine Personalisierung der Vertrauensdebatte statt. Dass die Vertrauenskrise letztlich auf das autonome Individuum rekurriert, ist gesellschaftsanalytisch zwingend. Es ist die Person, an der sich Vertrauen festsetzten muss. Systeme lassen sich als Systeme nicht zur Rechenschaft ziehen, auch nicht Staaten, Wirtschaftsordnungen oder die Ganzwelt. Systeme können sich selber korrigieren, aber nicht innovieren. Systeme sind dazu nicht in der Lage. Sie können sich wasserdicht machen, aber nur gegen das Wasser. Je fragiler das Vertrauen desto stärker der Ruf nach Führern, die Vertrauen verdienen. In einer subjektorientierten Gesellschaft, welche die Autonomie und Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen resolut ins Zentrum rücken, wollen Verantwortlichkeiten zugeschrieben und Schuldige gefunden werden. Der Rekurs auf Person, Subjekt oder das Individuum impliziert mehr. Die Autonomie des Einzelnen, die freie Entfaltung des Individuums ist eine in langen Kämpfen den kirchlichen und weltlichen Mächten abgetrotzte Errungenschaft. Autonomie heißt, das ist in der langen Geschichte der Evolution dieses Begriffes
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in Vergessenheit geraten, Selbstgesetzgebung, Selbstbindung und Selbstverantwortung. Autonomie führt sonst schnurstracks in Anomie. Selbstverantwortung wiederum bedeutet, Einstehen für die Folgen, gerade dann, wenn wir nicht sicher sein können, was kommt. Und Einstehen heißt, Einstehen für Folgen, die jenen entstehen, die vertraut haben. Selbstverantwortung verschmilzt mit Mitverantwortung. Selbstbindung wird zur zukunftsbezogenen interpersonalen Bindung. Wer Verantwortung zu tragen bereit ist, denkt über den Zeithorizont des Hier und Jetzt hinaus und voraus in die Zukunft. Von dieser weiß er eines sicher, dass sie bei allen Unwägbarkeiten von seinen Entscheidungen geprägt ist, im guten oder im schlechten Sinne. Dieses Verständnis von Verantwortung zügelt den Innovationsdrang und diszipliniert die Gier. Dass jemand seine Freiheit verantwortlich nutzt, ist indes anspruchsvoller und anstrengender als die Repetition und das Vertrauen, dass das Vertraute sich immer wiederholt. In seinem Buch „Die unsichtbaren Städte“ schildert Italo Calvino (1984) eine Stadt namens Ottavia, die an einem Netz zwischen zwei Bergen aufgespannt ist. Das Leben in ihr ist, so Calvino, sicherer als in anderen Städten, weil die Bewohner wissen, dass das Netz nur ein bestimtes Gewicht zu tragen vermag. Das bedeutet, auf unsere Welt übertragen, dass die Akteure sich auch zu kollektiven Bindungen bekennen müssen, damit nicht einzelne, anarchistische Akteure das Netz zum Reißen bringen. Diese Sachlage bedarf zweifellos eines Grundvertrauens in eine Gesellschaft der offenen Horizonte. Eine „Certitudo“, die früher vielleicht der Vorsehung Gottes zukam. Certitudo meint ein vertrauensvolles sich Einlassenkönnen auf das Wagnis der Existenz und seine Zukunftsoffenheit. Die Gegenwartssicht ist eingetrübt durch die (eine christliche Erbschaft) verweltlichte Heilsbotschaft einer erschütterungs- und störungsfreien Zukunft und unterschätzt die Vorteile und Geschenke der Offenheit. Eine offene Gesellschaft ist auch offen für Anderes, für Alternativen. Und nicht zuletzt offen dafür, die Selbstverantwortung an Vertrauenspersonen zu delegieren. Nur eine offene Gesellschaft birgt Hoffnung, dass es sich zum Besseren wendet. Dass wir die Zukunft nicht genau kennen, ist deshalb kein Nach-, sondern ein Vorteil. „Durch die Hoffnung werden wir selig. Die Hoffnung aber, welche man sieht, ist keine Hoffnung, denn was jemand sieht, wie hofft er mehr darauf?“ (Röm. 8, 24, 25). Das Vertraute wiederholen mag glücklich stimmen, das Unvertraute wagen, aber birgt neue Möglichkeiten (Kierkegaard 1961): Möglichkeiten, die sich zum Guten wie zum Schlechten wenden können. Oder in den Worten von David Hume: „Man kann (die Möglichkeit) des Guten unmöglich vom (Risiko) des Übels trennen.“ Fügen wir hinzu: Auch die Mittel der Pründustrie sind im Hinblick darauf sehr beschränkt.
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Kollektive Zäsuren und individuelle Brüche Der Fall Max Weber Dirk Kaesler
Nach allgemeiner Meinung prägen „Kollektive Ereignisse“, abgelagert in der „Kollektiven Erinnerung“, als gesellschaftliche Rahmenbedingungen in entscheidender Weise den Verlauf individueller Biograen. Solche Prägung wird vor allem dann als besonders stark veranschlagt, wenn es sich um kollektive „Zäsuren“ in der Geschichte der jeweiligen Gesellschaft handelt, Ereigniszusammenhänge also, die kollektive wie individuelle Geschichte in ein „Davor“ und „Danach“ einteilen. In meinem Beitrag zur Ehre des Freundes Ronald Hitzler möchte ich zum einen andeuten, welchen „Niederschlag“ zentrale, kollektive Zäsuren der deutschen Geschichte in Biograe und Werk Max Webers hinterließen. Zum zweiten möchte ich mich mit der Frage auseinandersetzen, welche zentrale, individuelle Zäsur es in dieser Biograe Max Webers zu verzeichnen gibt. Abschließend folgen wenige Anmerkungen zum Zusammenhang dieser individuellen Zäsur mit den kollektiven Zäsuren und ihrer Wirkung auf Leben und Werk Max Webers. Insgesamt vertrete ich die These, dass es der sehr genauen Analyse eines nicht leicht zu entwirrenden Zusammenspiels von „Kollektiven Brüchen“ und „Individuellen Brüchen“, von „Generationenzugehörigkeit“, „Familialen Konstellationen“ und „individuellen Dispositionen“ bedarf, um den biograschen Verlauf eines einzelnen Individuums zu (re-)konstruieren. Den noch komplexeren Zusammenhang zwischen diesem biograschen Weg und den wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Arbeiten Max Webers gilt es zu problematisieren. Das Postulat eines direkten Zusammenhangs zwischen „Kollektiven Zäsuren“, individueller Biograe und Werksbiograe wird damit in Frage gestellt.
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Kollektive Zäsuren der deutschen Geschichte während der Lebensspanne des Max Weber
Angesichts der redaktionellen Vorgaben ist es unmöglich, auch nur einen Bruchteil der soeben gemachten Ankündigungen einzulösen. Spannend für den biograschen Fall Max Weber ist, dass sich dessen individuelle Lebensdaten – geboren 1864,
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gestorben 1920 – ziemlich genau mit den „Lebensdaten“ des Deutschen Kaiserreichs decken, die üblicherweise mit der Spanne 1870 bis 1919 angegeben werden. In eben diesem „ziemlich genau“ liegen Tragik und Spannung des Lebens und Werks Max Webers zugleich, wie sich aus seiner eigenen Kohortensituierung ablesen lässt: „An unserer Wiege stand der schwerste Fluch, den die Geschichte einem Geschlecht als Angebinde mit auf den Weg zu geben vermag: das harte Schicksal des politischen Epigonentums. […] Es wird uns nicht gelingen, den Fluch zu bannen, unter dem wir stehen: Nachgeborene zu sein einer politisch großen Zeit, – es müsste denn sein, dass wir verstünden, etwas Anderes zu werden: Vorläufer einer größeren.“
Mit dieser Äußerung bezieht sich der zu diesem Zeitpunkt 31jährige Universitätsprofessor auf jene Zäsur, die seine Landsleute – und vor allem die Generation seines Vaters – empfanden, als das Deutsche Reich und der Deutsche Kaiser in Versailles am 18. Januar 1871 proklamiert wurden. Max Weber Junior stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor seinem siebten Geburtstag, die Generation seines Vaters erlebte diesen Tag als Mitdreißigjährige. Für Dr. Max Weber Senior – geboren 1836 – begann mit der Reichsgründung die erfolgreichste Zeit seines Lebens, aktiv nahm er Teil an diesem triumphalen Unternehmen eines hegemonialen Großpreußen. Für den 35jährigen Max Weber Senior begann mit der Reichsgründung eine erfolgreiche Karriere als Berufspolitiker. Der Erstgeborene, Max Weber Junior, empfand sich – zumindest rückblickend – als Zu-spät-Gekommener. Hören wir den Bericht, den Marianne Weber zu eben diesem Zeitabschnitt gibt: „Schon der Ausbruch des Krieges von 1870 hatte sich ihm [gemeint ist Weber Junior] unvergesslich eingeprägt. […] Die ungeheure Spannung vor der Entscheidung, der naive Glaube an die Gerechtigkeit der eignen Sache, der freudige Ernst eines opferwilligen, kriegerischen Volkes, das sich seine Großmachtstellung erringen will – dann der überwältigende Siegesjubel und das stolze Hochgefühl der endlich errungenen Einheit des Reichs – all’ dies nahm das Kind mit voller Wachheit in sich auf und wurde davon für’s Leben geprägt.“
So also müsste es weitergehen, wollte man das oben angedeutete Programm einlösen: Ich würde alle jene Daten und Ereignisse im Einzelnen durchgehen, von denen als „Kollektive Brüche“, als „Epochenbrüche“, als „Schicksalstage“ für jenen Ausschnitt der deutschen Geschichte gesprochen wird, die in die individuelle Lebensspanne des Max Weber Junior elen.
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Unstrittig dürfte sein, dass es – nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1870/71 – mindestens um diese vier weiteren Ereigniskomplexe gehen müsste:
Ausbruch, Verlauf und Beendigung des Ersten Weltkrieges (August 1914 bis November 1918) beide Russische Revolutionen (1905 und 1917/18) Revolutionen und Gegenrevolutionen im untergehenden Deutschen Kaiserreich während der Jahre 1918/19 Gründungsphase der Weimarer Republik ab 1919.
Alle diese kollektiven Traumata der deutschen und europäischen Geschichte haben tiefe Spuren hinterlassen, sowohl im biograschen Lebensverlauf Max Webers als auch in dessen wissenschaftlichen Arbeiten. Ich werde dieser Fragestellung – so verlockend sie ist – hier nicht detailliert nachgehen können. Denn, so behaupte ich, keiner dieser „Kollektiven Brüche“ ist vergleichbar mit jener „biograschen Unsicherheit“ im Leben und Werk des Max Weber, wie der individuelle biograsche „Bruch“, der nichts mit solchen kollektiven Zäsuren zu tun zu haben scheint. Ich meine damit jenen Ereigniszusammenhang, den Guenther Roth als „Die Familienkatastrophe“ bezeichnete, und den Marianne Weber – in ihrem „Lebensbild“ von 1926 – mit dem drastischen Wort „Absturz“ überschrieb.
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Die individuelle Zäsur im Leben des Max Weber
Zu berichten ist von einem dramatischen Zusammentreffen von vier Menschen im Frühsommer des Jahres 1897. Es trafen aufeinander: ein Vater, eine Mutter, ein Sohn und eine Schwiegertochter. Zwei Ehepaare. Zwei Generationen. Zwei Männer. Zwei Frauen. Jeder dieser vier Menschen stand, ohne dass sie es wissen konnten, vor einer entscheidenden Schwelle ihres Lebens. Nur einer der Männer überlebte dieses Treffen, wenn auch psychisch und physisch schwer beschädigt, die Leben der beiden Frauen mussten radikal umgebaut werden. Wer also traf auf wen, und mit welchem Ausgang? Der Senior: Dr. jur. Max Weber hatte gerade sein 61. Lebensjahr begonnen. Seit vier Jahren bereits war er „außer Diensten“. Zwar hielt er noch sein Mandat als nationalliberaler Abgeordneter zum Preußischen Landtag, aber der doppelte Verlust seiner beiden anderen Ämter, sowohl des Mandats als Mitglied des Reichstags seit Anfang 1877 als auch die politisch erzwungene Beendigung seiner Tätigkeit in der Berliner Magistratsverwaltung nach 24 Jahren des engagierten Einsatzes, schmerzten ihn stark. Seit diesen beiden erzwungenen Rücktritten verbrachte der verbitterte Mann seine Tage viel zu Hause.
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Die Mutter: Helene Weber, geborene Fallenstein, hatte gerade ihren 53. Geburtstag gefeiert. Seitdem „die Kinder“ – also der geliebte älteste Sohn, ihr ewiges Sorgenkind, zusammen mit seiner Frau, der sie als ihrer Ziehtochter ihr mütterliches Herz geöffnet hatte – vor drei Jahren das Charlottenburger Elternhaus verlassen hatten, war ihr eigenes Leben dort nicht leichter geworden. Der Junior: Professor Dr. Max Weber feierte am 21. April gerade seinen 33. Geburtstag. Er stand in dieser Zeit auf dem inneren und äußeren Höhepunkt seines bisherigen beruichen Lebens. Im Jahr davor hatte er den Ruf auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Heidelberg angenommen. Auf eben diesen Lehrstuhl an der ältesten deutschsprachigen Universität im Deutschen Kaiserreich als Nachfolger eines der renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler, seines eigenen Lehrers Karl Knies, berufen worden zu sein, konnte er ganz allein seinen eigenen Leistungen zurechnen. Und nicht nur die universitäre Wissenschaft rief nach ihm: Noch zu Jahresbeginn hatte ihn ein liberaler politischer Verein in Saarbrücken zum Vortrag eingeladen, wenig später offerierte man ihm von dort eine Kandidatur für den Deutschen Reichstag, die er wegen des erwarteten Rufs nach Heidelberg abgelehnt hatte. Die junge Ehefrau, Großnichte und Ziehtochter: Die 27jährige Marianne Weber, geborene Schnitger, erlebte sich in diesem Frühsommer 1897 als in einem „neuen Leben“ stehend. Gerade hatte sie damit begonnen, durch Selbststudium und ihr Engagement in der bürgerlichen Frauenbewegung, jenes „geistige Eigenleben“ zu führen, das ihr der eigene Ehemann und Großcousin von Beginn ihrer Ehe an nachdrücklich verschrieben hatte. Wie in einem antiken Drama treffen diese vier Menschen aufeinander. Fast 30 Jahre später versuchte die Witwe des Juniors einen Bericht darüber zu formulieren. Hier Auszüge daraus – aus der sicherlich befangenen Perspektive einer der beiden Akteurinnen: „Da entlädt sich im Frühsommer 1897 ein schweres Unwetter, das im Seelenleben der davon Betroffenen unauslöschliche Spuren zurückläßt. Helene ist es Bedürfnis, bei den ihr so nahestehenden Kindern, seit sie Berlin verlassen haben, alljährlich einige ruhige Wochen zu verbringen. Dieses Ferienglück ist indessen nie ohne Schwierigkeiten zu erreichen, denn ihr Mann kann sich nach wie vor nicht darein nden, daß seine Frau ihm fremde Interessen mit andern teilt und innige Gemütsbeziehungen pegt, von denen er sich ausgeschlossen fühlt. Er vermag nicht der Vorstellung Herr zu werden, daß die nun alternde Frau immer noch ihm ‚gehört’, daß seine Interessen und Wünsche den ihrigen und allen Andern vorangehen, und daß er das Recht hat, Zeit und Maß ihres Urlaubs zu bestimmen. Dies wollen die Heidelberger Kinder nicht anerkennen. – In diesem Jahre ist es besonders schwierig, die verschiedenen Wünsche in Einklang zu bringen. Helene hat nicht die Kraft, einfach zu tun, was sie möchte. Verstimmungen ist sie nicht gewachsen, und wenn es sich um ihre Wünsche
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handelt, weiß sie nie, was sie dem Gatten zumuten darf. Verabredungen werden nicht eingehalten, gereizte brieiche Verhandlungen nden statt – schließlich begleitet der ältere Weber seine Frau nach Heidelberg, so daß ihr ungestörtes Ausruhen bei den Kindern verkürzt oder ganz vereitelt scheint. Da entlädt sich das lange drohende Unheil. Der Sohn kann den aufgespeicherten Grimm nicht mehr an sich halten. Die Lava bricht aus. Das Ungeheuerliche geschieht: Ein Sohn hält Gerichtstag über den Vater. Im Beisein der Frauen erfolgt die Abrechnung. Keine Stimme hält ihn zurück. Er hat das beste Gewissen, ihm wird wohler bei dieser Entladung, die der bisherigen diplomatischen Behandlung aller Familienschwierigkeiten ein Ende macht. Es geht um die Freiheit der Mutter, sie ist die Schwächere, niemand hat das Recht, sie seelisch zu vergewaltigen. […] Der ältere Weber ist anders veranlagt und stammt aus einer andern Zeit; er kann und will nicht einsehen und zugeben – in diesem Augenblick am allerwenigsten – daß sein Verhalten unrichtig gewesen ist. Die heftige Art der Einwirkung ist ja auch nicht dazu angetan. Er beharrt auf seinem Standpunkt, deshalb bleibt auch der Sohn unzugänglich – nur die Einsicht des Vaters hätte ihn weich gemacht. Sie gehen unversöhnt auseinander. […] Aber das Schicksal geht seinen Gang. […] Als Helene nach einigen Wochen in ihre Häuslichkeit zurückkehrt, verschließt er sich gegen sie. Damit erreicht er das Gegenteil dessen, was er im stillen hoffen mag: Helene, sonst immer bereit, sich selbst schuldig zu sprechen, wenn Schlimmes geschieht, wird nicht weich durch die unerträgliche Lage, sondern sichrer in dem Bewußtsein eines höheren Rechts, das nun endlich durchgekämpft werden muß. – Ihr Mann begibt sich mit einem Freund auf Reisen, sie darf noch hoffen, daß er sie nach einer Frist verwandelten Sinnes begrüßen werde. – Aber nach kurzer Zeit wird ihr seine entseelte Hülle heimgebracht. Eine Magenblutung beendete sein Leben plötzlich. […] An einem prangenden Augusttag steht der Katafalk auf dem Rasenteppich des Gartens. Helene und alle ihre Kinder sind um ihn versammelt. Die jüngeren erleben dumpf, die älteren mit wacher Helle die grausame Tragik dieses Abschlusses. Aber den ältesten Sohn erschüttert kein Selbstvorwurf. Die sieben Wochen zuvor erfolgte Auseinandersetzung erscheint auch an diesem Sarge als unentrinnbar.“
Wir wissen, wie es weiterging mit dem zwei Jahre später psychisch schwerkranken Weber, dessen Zustand von Marianne Weber so beschrieben wurde: „Alles und jedes ist zu viel: Er kann ohne Qualen weder lesen noch schreiben, noch reden, noch gehen und schlafen. Alle geistigen und ein Teil der körperlichen Funktionen versagen Gehorsam. Zwingt er sie dennoch zum Dienst, so bedroht ihn das Chaos, ein Gefühl, als könne er in den Wirbel eines den Geist verdunkelnden Erregungszustandes geraten.“ Nach einer Odyssee durch Sanatorien, Nervenkliniken und Auslandsaufenthalten dauerte es mindestens vier Jahre – von jenem Drama am 14. Juni 1897 bis in die Jahre 1901/02 hinein – dass Weber seine wissenschaftlichen Aktivitäten
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wieder einigermaßen umfassend aufnehmen konnte. Insgesamt wird man sagen müssen, dass Weber bis zu seinem Tod im Juni 1920 nie wieder wirklich gesundete. Zwei Fragen stellen sich für unsere Themenstellung nach „Kollektiven Brüchen“ und „Biograschen Unsicherheiten“: Zum einen die nach den „Ursachen“ für diesen individuellen Bruch einer fragilen Biograe, zum anderen nach den Auswirkungen dieses biograschen Bruchs mit seinen dadurch erzeugten Unsicherheiten auf Leben und Werk Max Webers.
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Über „Ursachen“ für den individuellen Bruch der Biograe Max Webers
Von den möglichen Ursachen lassen sich mehrere aufzählen, ohne dass es als sinnvoll erscheint, zwischen ihnen eine genaue Abwägung vorzunehmen. Sowohl die signikant hohe Häufung psychiatrischer Erkrankungen im weit verzweigten Familiensystem sowohl auf väterlicher wie auf mütterlicher Seite, als auch eine, im Alter von zwei Jahren durchlittene, schwere Meningitis ließen sich ebenso als medizinisch-physiologische Faktoren anführen, wie die völlige Überarbeitung Webers, die unschwer zu einer akuten Neurasthenie führen konnte. Plausibel erscheinen darüber hinaus Deutungen, die sich eher auf psychische Faktoren gründen, wie etwa Webers geleugnete und verdrängte Schuldgefühle, als Resultat der Auseinandersetzung mit seinem Vater. Die Umstände der Heirat mit seiner Cousine zweiten Grades, Marianne Schnitger, bei gleichzeitiger Trennung von einer anderen Cousine, Emmy Baumgarten, verfolgten Weber längere Zeit. Auch das asexuelle Verhältnis zu Marianne Weber trug sicherlich nicht zu Max Webers mentaler Stabilität bei. Seine rigide Arbeitsdisziplin, eingebettet in eine asketische Lebensführung, ist im hier angesprochenen Zusammenhang zu erwähnen. Neben dem Wunsch nach beruichem Erfolg gab er selbst als Grund für seine Arbeitswut eine unbestimmte Angst vor der „Bequemlichkeit des Daseins“ an. Ganz allgemein sollte man jedoch zurückhaltend dabei sein, die Webersche Krankheit als eigentliche „Geisteskrankheit“, im Sinne einer echten Neurose, zu bezeichnen. Die genannten komplexen Ursachen und mannigfaltigen Anlässe führten unzweifelhaft zum Krankheitsbild einer schweren Depression. Für deren Ausbruch bedeutsam wurden zudem vermutlich äußere Faktoren, so etwa das steife, ihm unbekannte universitäre Milieu in Heidelberg, das Weber als bedrückend empfand. Dennoch kann als eigentlich auslösend für den Beginn der Krise die Eskalation des Koniktes mit dem Vater und dessen tragisches Ende gesehen werden.
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Auswirkungen des individuellen biograschen Bruchs auf Leben und Werk Max Webers
Zur Beantwortung der Frage, welche Auswirkungen dieser tiefe biograsche Bruch für das wissenschaftliche Werk Max Webers hatte, muss man mit der Beobachtung beginnen, dass Weber, als psychisch kranker Mann – trotz oder wegen seiner Krise – eine enorme Schaffenskraft entwickelte, zudem eine allmähliche Umorientierung nicht nur innerhalb seiner persönlich-individuellen Lebensführung erreichte, sondern vor allem auch hinsichtlich seiner erkenntnistheoretischen Arbeits- und Sichtweise. Ohne den Stellenwert seiner psychischen Krise übergebührlich hoch anzusetzen, oder gar andeuten zu wollen, dass sich Weber allein durch die Erfahrung seiner Krankheit vollständig gewandelt hätte, spricht doch vieles dafür, dass sie einen bedeutsamen „Knotenpunkt“ in seinem Leben und Werk bildet. Auf der Ebene der äußeren Lebensführung notieren wir, dass die Zeit der Krise geprägt war vor allem von vielen Reisen, speziell von längeren Aufenthalten in Italien. Als Weber 1902 nach einem fast zweijährigen Italienaufenthalt nach Heidelberg zurückkehrt, berichtet seine Frau von „Lichtblicken“ mit Bezug auf die allmählich zurückkehrende Arbeitskraft. Die Geschichte Italiens, insbesondere die magischen Relikte in dem katholisch geprägten Land und damit der Gegensatz zu Webers eigener Sozialisation, erregten sein lebhaftes Interesse. In Heidelberg war zwischenzeitlich seiner Entlassung aus dem Ordinariat stattgegeben worden, was eine teilweise Befreiung von den Zwängen seines sozialen Umfeldes bedeutete. Die gemeinsame Reise nach Amerika im Jahr 1904 brachte zwar nach Angaben von Marianne Weber „keine eigentliche Erholung“, gehört dennoch sicher in die Phase der Besserung, ließ sich Weber doch von seiner Wahrnehmung der dortigen historisch-sozialen Entwicklungen enorm fesseln. Dass er gerade in dieser Zeit sowohl seine famosen Abhandlungen über „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ als auch über die „Protestantische Ethik und den ‚Geist‘ des Kapitalismus“ abschloss, belegt eine wiedergewonnene Schaffenskraft und eine gesteigerte gedankliche Originalität. Nur angedeutet sei, dass auch Webers Verhältnis zu Ethik und Erotik in dieser Zeit eine allmähliche Veränderung erfuhr. Um jedoch die immer wieder viel zu weit reichenden Spekulationen darüber nicht unnötig zu befördern, soll es – neben dem obligaten Hinweis auf Mina Tobler und Else Jaffé, geborene von Richthofen – hier sein Bewenden haben. Nach 1904 jedenfalls trat Weber in eine neue Phase seines politischen und gesellschaftlichen Wirkens, nun ging es weniger um das nationale Pathos und den politischen Kampfeswillen, sondern eher um eine distanzierte, selbstreexive, wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Standortbestimmung seiner eigenen Person, seiner Schicht, seines Landes, sowie die wissenschaftliche Analyse der
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funktionalen Wechselwirkungen sozialstruktureller Ausgangsbedingungen und transzendenter Ordnungssysteme.
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Zum Zusammenhang von „kollektiven Brüchen“ und „individuellem Bruch“ in Leben und Werk Max Webers
Die deutsche historische Entwicklung zur Lebenszeit des Max Weber war nicht nur geprägt von den genannten Zäsuren in der politischen Ereignisgeschichte. Diese wiederum waren verbunden mit jenen vielfältigen Entwicklungen, die sich allmählich im Bereich der allgemeinen Kultur- und Ideengeschichte ausbreiteten, aber dennoch ebenso grundstürzende Wirkungen auf die Menschen jener Zeit ausübten. Es sei hier nur aufgezählt die allmähliche Verbreitung der Ideen von Charles Darwin, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Stefan George und Oswald Spengler; von den zahlreichen „Bewegungen“, die auch auf die Gedankenwelt des Max Weber einwirkten, seien wenigstens genannt die „Frauenbewegung“ und die „Erotische Bewegung“. Alle diese ideen- und sozialgeschichtlichen Komplexe zusammen führten zu einer allgemeinen Kulturkrise, die viel beschworene „Umwandlung aller Werte“ beförderte bei vielen Menschen den Verlust ihrer Glaubensgewissheiten – sowohl an Gott als auch an die Fortschritte der Wissenschaft. Diese kollektiven Erschütterungen waren ganz gewiss der allgemeine Hintergrund für eine labile psychische Verfassung vieler Menschen um die Jahrhundertwende, wahrlich nicht nur die von Max Weber. Wenn es nun, wie in seinem Falle, zudem auch noch individuelle biograsche Zäsuren im familiären Umfeld gab, so konnte das leicht zu tiefen persönlichen Krisen und Unsicherheiten führen. Für den Wissenschaftler Max Weber jedoch entscheidend ist, dass dieser sich nach seiner akuten Erkrankung genau mit jenen Zusammenhängen auf wissenschaftliche Weise beschäftigt hat, die über allein individuelle Ursachen hinausweisen, so etwa die sozio-ökonomische Entwicklung des modernen, rationalen Betriebskapitalismus und dessen entwertete und abgelöste Bezüge zu religiösen Deutungssystemen. Er analysierte in seinem Werk die kulturellen Hintergrundbedingungen, die einem Eintritt in eine individuelle Depression förderlich sind. Bewusst oder unbewusst thematisierte er die Gründe für die eigene Krise in einem allgemeinen, allen zugänglichen Werk. Er selbst war es, der das „stahlharte Gehäuse der Hörigkeit“ in der „lebenden Maschine“ der „bürokratischen Bevormundung“ in einer „entzauberten Welt“ diagnostizierte. Damit erfasste er genau jene Situation um die Jahrhundertwende, die die Grundlage für sein eigenes Empnden einer tiefen Krise legten – ebenso wie die vieler seiner Zeitgenossen. Er erkannte, machtlos gegenüber den von ihm intellektuell rekonstruierten Entwicklungen zu sein, er
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vertrat die Überzeugung der Irreversibilität der Entwicklungen, doch versuchte er zumindest als Kämpfernatur sich dem zumindest analytisch entgegen zu stemmen. Und so verbindet sich eben doch der individuelle Bruch dieser Biograe mit den kollektiven Zäsuren der deutschen und europäischen Geschichte. Die Krankheit und teilweise Genesung Max Webers spiegeln sich in seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Zwängen und Unsicherheiten seiner Kultur wider, mit dem kritischen Hinterfragen der religiösen Werte und nicht zuletzt in dem praktischen Versuch – auch wenn es nur bei einem Versuch geblieben ist – den Grenzen und Zwängen seines sozialen Umfeldes zu entiehen. Es wird dem Wert dieses wissenschaftlichen Werks nicht gerecht, würde man behaupten, dass Weber von seinen biograschen Krisen in seinem wissenschaftlichen Werk „bestimmt“ worden sei. Spätestens seit Bourdieu wissen wir jedoch, dass die äußeren Strukturen sich erst im Vollzug gesellschaftlicher Praxis herausbilden, durch das Handeln der Individuen, deren Habitus geprägt wird durch eben jene strukturellen Bedingungen, so dass diese wiederum die externe Struktur reproduzieren und dadurch gleichzeitig geformt werden. Ohne simplen Zirkelschluss dient dieses Konzept als eine sinnvolle Erklärung jener gesellschaftlichen Entwicklungen, von denen Max Weber geprägt war, als auch jener, unter denen er so tief litt. Und die er als Wissenschaftler mit nüchternem und skeptischem Blick analysierte, in einem Werk, das uns bis heute fesselt.
Der ältere Verbraucher – „(k)ein unbekanntes Wesen!“ Gerhard Naegele
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Vorbemerkungen
Die sozialwissenschaftliche Diskussion um den älteren Verbraucher hat (und ndet zum Teil immer noch) in stark polarisierender Weise statt. Galten ältere Verbraucher in der Vergangenheit als ausgesprochene „Konsummuffel“, die eher bescheiden, anspruchslos und zurückhaltend daherkamen und allenfalls in „krankheits- und pegenahen Kontexten“ (z. B. als Nutzer von Rollstuhlliften oder als Konsument von Stärkungsmitteln a la „Klosterfrau Melissengeist“ oder „Doppelherz“ Aufmerksamkeit von der Konsumgüterindustrie und Absatzwirtschaft fanden, so hat sich dieses Bild heute fundamental geändert. Dennoch ist es nicht weniger klischeebehaftet. Heute dominieren die drei „K’s“: Ältere Verbraucher werden uns als „konsumfreudig“, als „kompetent“ und als kaufkraftstark“ präsentiert, was aber insgesamt ebenso wenig auf eine breite empirische Evidenz verweisen kann wie das zuerst beschriebene Bild. Hinter beiden verstecken sich gerontologische Konstrukte, für die Ronald Hitzler gut und gerne auch den Begriff der „Inszenierung“ hätte benutzen können: Während ersteres die Herkunft zum (in der gerontologischen Forschung längst widerlegten) „Dezitmodell“ vom Alter“ nicht verleugnen kann, spiegeln die neuen Bilder das neue Konzept vom „active ageing“ wider, das ebenfalls keine durchgängig breite empirische Evidenz aufweist.1 Dabei sind – damals wie heute – sozialstrukturelle und kohortenspezische Zuordnungen möglich: So (war) ist das Bild vom älteren „bescheidenen“ Verbraucher eher für ältere Kohorten und insbesondere für die Sozial- und Einkommensschwächeren unter ihnen typisch, wohingegen die drei „K`s“ wohl eher für jüngere Kohorten mit vergleichsweise günstigen sozio-ökonomischen Ausgangsbedingungen typisch (waren) sind. Aus der Perspektive der „Inszenierungspraxis“ von Altersbildern ist es dabei offensichtlich, dass aktuell nur die Vorstellung vom konsumfreudigen, aktiven älteren Konsumenten in das Bild passt: zum einen in das Bild des mainstreams in der gerontologischen Forschung, die immer noch gegen die Vorstellung
1 Der Verfasser hat bereits 1978 in diesem Zusammenhang vom „restriktiven“ und vom „expansiven“ Bedürfnisniveau gesprochen (Naegele 1978).
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vom „Dezit-Modell“ des Alters zu Felde zieht (und dies, obgleich das so genannte „vierte Alter“, also Hochaltrigkeit“, zunehmend dezitäre Dimensionen in den Lebenslagen aufweist), zum anderen in das Bild der „Seniorenwirtschaft“, für die auf dem „silver market“ nur die kaufkräftigen und konsuminteressierten Älteren von Interesse sind. Und verwundern muss es eigentlich, dass dieses neue Bild vom „silver ager“ aktuell noch nicht von der Wirtschaftspolitik entdeckt worden ist, eignet es sich doch hervorragend, um über die Nutzung der hier vorhandenen immensen Kaufkraft die stagnierende Binnennachfrage anzukurbeln.
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Das Alter hat viele Gesichter – auch im Konsumbereich
Versucht man eine sozialwissenschaftlichen Kriterien genügende Beschreibung des Verbraucherverhaltens älterer Menschen, so reichen weder kohortenspezische noch sozialstrukturelle Erklärungsmuster und schon gar nicht die Ergebnisse von gerontologischen wie ökonomischen Inszenierungsbemühungen allein aus, um das Konsumverhalten älterer Menschen hinreichend zu erklären, wenngleich ihr je spezischer Einuss keineswegs geleugnet werden kann. In diesem Beitrag geht es eher um eine Versachlichung des Diskussion und – wenn man so will – um „realistische“ Altersbilder im Konsum. Auch für das Alter gilt zunächst, dass Lebensläufe und Lebensphasen immer unterschiedlicher gestaltet und gelebt werden und sich damit auch Konsuminteressen und -bedürfnisse variabler darstellen. Dies hängt wesentlich mit der zeitlichen Ausdehnung der Altersphase aufgrund des Doppeleffektes von immer früherer „Entberuichung“ des Alters (Tews) einerseits und zunehmender fernerer Lebenserwartung andererseits zusammen. Die Kategorie des chronologischen Alters eignet sich allenfalls noch für eine grobe Abgrenzung des risikobehafteten hohen Alters (80–85 Jahre), aber nicht mehr als wesentliches Unterscheidungsmerkmal innerhalb der Lebensphase, die wir heute „Alter“ nennen und die nicht selten 40 und mehr Lebensjahre umfasst. Die Gerontologie versucht schon seit langem, zu aussagefähigeren internen Abgrenzungen der Lebensphase Alter zu kommen, dabei teilweise auch unter Zuhilfenahme kalendarischer Altersgrenzen. So ist die Rede vom jungen Alter (55/65), vom mittleren/normalen Alter (65/75), vom hohen Alter (75–85/90) („drittes Alter“) und vom sehr hohen Alter/Hochaltrigkeit (ab 85/90) („viertes Alter“). Dem entsprechen Forschungsergebnisse, nach denen sich in den jeweiligen Segmenten alterstypische Verhaltensweisen signikant unterscheiden und sich Lebenslagen z. T. komplett anders darstellen, wenn man z. B. Menschen im jungen und im sehr hohen Alter miteinander vergleicht. Mit anderen Worten: Alter hat sich differenziert, und diese Differenzierung ist auch bei der Analyse vermeintlich alterstypischer Konsumhandlungen zu beachten.
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Unternimmt man weitere Annäherungsversuche, um den älteren Konsumenten zu beschreiben, dann ist zudem auf die Konsequenzen des allgemeinen sozialstrukturellen Wandels hinzuweisen. Diese haben längst auch das Alter erreicht und dabei die sich allein schon aus der zeitlichen Ausdehnung der Altersphase ergebenden Differenzierungen innerhalb der Lebensphase Alter noch überlagert. Auch Alter und Altern sind zunehmend durch plurale Verlaufs- und Existenzformen gekennzeichnet, werden unterschiedliche Kohortenerfahrungen und biograsche Bedingungen, unterschiedliche Lebensformen, Lebensstile und Selbstbilder vom Alter wirksam. Gleiches gilt für lebensgeschichtliche Erfahrungen von sozialer Ungleichheit. Auch die Folgen der Pluralisierung in den sozialen Absicherungsformen sowie der Unterschiede in der Lebensarbeitszeit sind nicht ohne Einuss, wenn es um die Analyse von Konsumbedürfnissen und -entscheidungen geht: Die Konsequenzen bezeichnen wir in der Gerontologie als die „Differenzierung des Alters“: Es gibt heute gesunde, tte, reiche, aktive, gesellschaftlich integrierte und konsumfreudige Alte, es gibt aber auch alte, kranke, arme, sozial isolierte, zurückgezogen lebende und am Konsum desinteressierte Alte. Der zunehmenden sozial-strukturellen Differenzierung des Alters entspricht darüber hinaus die Zunahme der intraindividuellen Variabilität im Alter, d. h. eine wachsende Heterogenisierung von individuellem Altern und Alter(n)serleben. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass aktuelle Konzepte zur Segmentierung der Zielgruppe im „silver market“ z. B. mit dem Label „50+“ nicht nur einen Gerontologen befremden müssen, sondern zudem der Realität der Konsumentscheidungen und -bedürfnisse innerhalb der Gruppe „50+“ in keiner Weise entspricht. Nicht zuletzt spricht dafür das Auseinanderklaffen zwischen subjektiver kalendarischer Selbsteinschätzung und objektivem Alter (gemessen am Geburtsdatum): Menschen zwischen 40 und 85 Jahren fühlen sich heute im Schnitt etwa zehn Jahre jünger als es ihrem kalendarischen Alter entspricht.
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Lebensphasenbezogene Segmentierung der älteren Verbraucher
Sichtet man die aktuelle Markt- und Konsumforschungsliteratur dahingehend, wie der ältere Konsument adressiert wird, dann zeigt sich eine Vielzahl von stereotypisierenden Zielgruppenbezeichnungen und anglizistischer Wortakrobatik, die zugleich eine große Unsicherheit und Uninformiertheit ausdrückt. Sehr häug taucht dabei der Begriff „Generation 50+“ auf. Schon der Begriff der Generation suggeriert eine Einheitlichkeit und Erlebnisparallelität (Lüscher), die im faktischen Widerspruch zur empirischen Vielfalt in diesem Bevölkerungssegment steht. Es gibt kaum eine Erlebnisparallelität zwischen dem jungen Alter und dem hohen Alter. Selbst innerhalb der Altersgruppen gibt es aufgrund der Unterschiedlich-
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keit der Lebenslagen keine gruppenübergreifende Erlebnisparallelität, allenfalls partielle. Diese simple Erkenntnis, u. a. verknüpft mit der empirisch hinlänglich bestätigten These, dass das Alter allein nicht „politisierungsfähig“ ist, hat z. B. in der politischen Wahlforschung dazu geführt, dass man keine auf die Älteren bezogenen Wahlkampfstrategien praktiziert, sondern sie in ihren jeweiligen Lebenswelten bewirbt. Die empirisch evidente Vielschichtigkeit des Alters hängt auch nicht allein mit unterschiedlichen Lebenslagen zusammen, da gleichzeitig über den Lebensverlauf hinweg unterschiedliche Lebensphasen durchschritten werden. Einschlägige Beispiele dafür sind die bekannten Phaseneinteilungen von Lebensläufen oder auch typische Statuspassagen, wie die Verwitwung oder der Auszug der Kinder. In Anlehnung an die psychologische critical-life-event-Forschung betrachtet die neuere sozialgerontologische Konsumforschung zudem Statuspassagen im Lebensverlauf im Zusammenhang mit sowohl positiven als auch problematischen „kritischen Lebensereignissen“ und fragt nach damit zusammenhängenden Konsuminteressen, -bedürfnissen und -handlungen in der ausgeweiteten Lebensphase Alter, die sie entsprechend für diese Lebensphase typischer critical life events untergliedert. Damit folgt sie einem in der US-amerikanischen soziologischen Konsumforschung schon seit langem bekannten und erfolgreich angewandten Konzept, nämlich die Konsumhandlungen und -entscheidungen von Individuen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Stellung im Lebenszyklus zu beschreiben (Naegele 1978). Demnach macht es Sinn, die empirische Analyse von Konsumentscheidungen von Personengruppen nicht auf der Basis des zum Zeitpunkt der Untersuchung erreichten Lebensalters zu analysieren, als vielmehr auf der Grundlage der jeweiligen Stellung im Lebenszyklus, verstanden als idealisierte Abfolge typischer Lebensphasen. Dabei werden in der Konsumforschung üblicherweise mehrere Lebenszyklusmodelle unterschieden: Familien-, Berufs- und Einkommens-/ Sparzyklus. Folgt man der Annahme, dass sich Konsumbedürfnisse und -entscheidungen im Lebenslauf verändern und lebensphasenspezische Ausprägungen annehmen, dann muss dies auch für die Lebensphase Alter gelten. Wegen der zunehmenden Variabilität von Lebensläufen und Lebensphasen (auch im Alter) rückt dabei das chronologische Alter als Erklärungsvariable in den Hintergrund. Für die Lebensphase Alter lassen sich vor diesem Hintergrund die folgenden konsumrelevanten critical life events, Statuspassagen bzw. Altersveränderungen erkennen, die erste Hinweise auf allgemeine Lebensbedürfnisse von Menschen in den relevanten Lebensphasen erkennen lassen. Dabei ist zu beachten, dass bei den nachrückenden Kohorten der Älteren jeweils die (auch zeitliche) Variabilität in den Lebensläufen und Lebensphasen zunimmt:
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Auszug der Kinder bzw. „empty nest“; Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (Beginn der „späten Freiheit“); Beginn des so genannten „jungen“ (aktiven) Alters; Großelternschaft („intergenerationell sorgendes, verantwortlich handelndes Alter“); Beginnende funktionale Einschränkungen („vorpegebedürftiges Alter“); Ernsthafte gesundheitliche Einschränkungen/Pegebedürftigkeit (gemessen an den „activities of daily living“) („hilfebedürftiges (vulnerables) Alter“); Tod des/r Partners/in, Überlebendenhaushalt („singularisiertes Alter“); Einzug in eine besondere Wohnform („betreutes und beschütztes Alter“).
Quer dazu stehen zweitens solche Einussfaktoren auf Konsumhandlungen, die sich aus lebensphasenübergreifenden allgemeinen Präferenzen älterer Menschen ableiten lassen. Dafür steht z. B. die folgende Typologie von sozialen Grundbedürfnissen älterer Menschen (Meier/Schröder 2007), die maßgeblich auch Konsumhandlungen prägen und die je nach individueller Stellung im Lebenslauf, Lebenslage und Lebensform weiter differenziert werden kann:
Gesundheit (als Vorbedingung für die Befriedigung anderer Bedürfnisse); Sicherheit (materiell, existenziell, baulich-wohnlich); Selbständigkeit und Wunsch nach Selbstbestimmung; Lebensqualität (d. h. physisches wie psychisches Wohlergehen); Soziale Einbindung und Integration (Kommunikation, Kontakte etc.); Wünsche für das Wohlergehen anderer (vor allem mit Blick auf engste Familienangehörige).
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Weitere Determinanten des Konsumentenverhaltens und weitere Unterschiede im Konsumverhalten zwischen den Altersgruppen
Die Tatsache, dass das Konsumentenverhalten älterer Menschen von einem komplexen Bedingungsgefüge unterschiedlicher Positionen im Lebenslauf, Präferenzen und Lebenslagesituationen abhängt, trifft im Grundsatz auf alle Altersgruppen gleichermaßen zu. Speziell für die Lebensphase Alter sind darüber hinaus relevante Einkommensunterschiede zu beachten: Haushalte in der Alterskategorie 50–64 Jahre haben z. B. im Gesamtvergleich mit den übrigen Altersgruppen die höchsten frei verfügbaren Konsumbudgets. Mit dem Übergang in die berufsfreie Zeit sinken die Konsumausgaben je Haushalt um durchschnittlich 20 Prozent.
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Über die bisher genannten Determinanten des Konsumentenverhaltens älterer Menschen hinaus lassen sich noch die folgenden, speziell für Ältere relevanten Faktoren benennen:
Unterschiedliche Haushaltskonstellationen: Schon 2002 hat die Enquete-Kommission demograscher Wandel in ihrer Kritik am „demograschen Bedrohungsszenarium“ aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive (alterstypischer Rückgang in der Konsumgüternachfrage!) darauf aufmerksam gemacht, dass nicht die Zahl der älteren Menschen, sondern die Zahl und Zusammensetzung der Haushalte über Konsumentscheidungen in der zweiten Lebenshälfte entscheiden. In den höheren Altersgruppen überwiegen zunehmend Ein- bis Zweipersonenhaushalte, darunter in wachsender Zahl Single-Haushalte, die dies als bewussten Lebensstil praktizieren (darunter viele Frauen). Mit anderen Worten: Die jeweiligen Zielgruppen sind auch nach ihrer Haushaltskonstellationen und der Lebensphase zu differenzieren, in der sie sich aktuell benden. Statuspassagen/Stationen/critical life events für Konsumverhalten: Aus der gerontologischen Lebenslagen- wie aus der bislang dazu vorliegenden empirischen Konsumentenforschung ist bekannt, dass das Durchlaufen/Erreichen von Statuspassagen/Stationen/critical life events etc. zu Veränderungen in den Bedürfnisstrukturen führt – z. B. Austritt aus dem Erwerbsleben führt zum Wunsch nach Erleben von „neuen Freiheiten“ (z. B. Reisen, Mobilität, Freizeit), die Geburt von Enkelkindern mit Konsequenzen für Verantwortung- und Zuneigungsgefühlen beeinusst die Schenk- und Sparbereitschaft, körperliche Einschränkungen erhöhen den Wunsch nach Sicherheit in der selbständigen Lebensführung). Konsumrelevante Selbstbilder: Insbesondere aus der neueren Konsumentenverhaltensforschung – oder auch entsprechenden Arbeitshypothesen aus den laufenden Arbeiten in der 6. Bundesaltenberichtskommission zufolge – kommen Hinweise auf die zunehmende Bedeutung selbstbezogener, konsumrelevanter Einstellungen i. S. von Selbstbildern. Diese sind auch bei älteren Menschen häug über konsumrelevante Fremdbilder gesteuert, die u. a. auch durch Werbespots (Beispiel „dove“-Kampagne), Medien, eigene Kinder, peer-groups etc.) vermittelt werden. Dabei sind die Selbstbilder stark über die Lebensphasen und die hier unterschiedlichen kritischen Lebensereignisse bestimmt. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich dann auch solche produkt- und dienstleistungsgruppenübergreifenden Dimensionen von Konsumentscheidungen wie Funktionalität, Qualität, Markentreue, Bequemlichkeit, Servicefreundlichkeit oder „One-Stop-Shopping“ angemessen in die Analyse einbeziehen.
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Konsumrelevante Lebensstile: Schließlich ist auch der professionellen Konsumtypologieforschung die Differenziertheit des Konsumverhaltens älterer Menschen mittlerweile bewusst geworden. Exemplarisch sei auf folgende, von Kolland (2000) erwähnte Segmentierung der Gruppe älterer Verbraucher durch die Grey-Gruppe Deutschland verwiesen: Sie unterscheidet (1) die Gruppe der Master Consumer (43 %), die als aktiv und erlebnisoprioentiert beschrieben werden sowie über ein hohes Bildungsniveau und gehobenes Einkommen verfügen, (2) die Maintainers (33 %), die ihre Freiheiten und ihre Freizeit dank einer guten körperlichen Konstitution genießen, dabei aber im Unterschied zur ersten Gruppe eher eine Kontinuität in ihrem Lebensstil aufweisen und (3) die Simplifyer, die als „echte Pensionäre“ gelten können und eher eine traditionelles alterstypisches Rollenverhalten aufweisen (d. h. zurückgezogener, häuslicher Lebensstil, geringe Kaufkraft).
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Ausblick: Fragen an eine sozialgerontologische Konsumuntersuchung im „silver market“
Für eine verlässliche Einschätzung und Erschließung unerschlossener Potenziale im so genannten „silver market“ fehlt gegenwärtig eine zuverlässige, repräsentative Datenbasis zu den Verbraucherwünschen und (ungedeckten) Bedarfslagen. Dabei geht es insbesondere um Fragen wie die nachfolgend genannten:
Wie wirken Stellung im Lebenslauf, Lebenslage, Wohnform, Statuspassagen/ critical-life-events, sozial-strukturelle Faktoren, konsumrelevante Selbstkonzepte sowie typische Lebensstilfaktoren in ihrem konkreten Interdependenzgefüge auf die Entwicklung von Konsumbedürfnissen und -entscheidungen in der Lebensphase Alter ein? Welche (un-)gedeckten Konsumbedürfnisse sind mit den lebensphasenspezischen Übergängen im Alter (z. B. Übergang in die berufsfreie Zeit, Verwitwung, Einsetzen von altersbedingten funktionalen Beeinträchtigungen, Einsetzen von Hilfe- und Pegebedürftigkeit) und vielfältigen Lebensstilen im Alter verknüpft? Welche (un-)gedeckten Konsumbedürfnisse im Alter hängen mit allgemeinen sozio-strukturellen Verschiebungen in der Gesellschaft zusammen? Welche (un-) gedeckten Konsumbedürfnisse, -interessen und welches Konsumverhalten stehen weniger mit den individuellen oder gesellschaftlichen Altern, sondern z. B. mit Informationsdeziten bzw. Zugangsbarrieren zu der rapiden gesellschaftlichen Entwicklung, wie z. B. der technischen Entwicklung
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Gerhard Naegele und der Verbreitung des Internets, im Zusammenhang? In welchen Marktsegmenten werden tatsächlich innovative altersspezische/ lebensphasenspezische, wo generationengerechte, d. h. altersgruppenübergreifende Produkte und Dienstleistungen benötigt (Stichwort: „universal design“)? Welche Ansprüche an Qualität, Transparenz, Verbraucherschutz werden von älteren Menschen in den unterschiedlichen Lebensphasen an Produkte und Dienstleistungen gestellt? Wie wirken sich die mit dem Alter in Verbindung gebrachten Grundbedürfnisse (s. o.) auf die konkreten Konsumentscheidungen aus?
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Identität als europäische Inszenierung Armin Nassehi
Im Achten Hauptstück von „Jenseits von Gut und Böse“, das von „Völkern und Vaterländern“ handelt, schreibt Friedrich Nietzsche im Jahre 1885 über die Deutschen, sie entschlüpften der Denition und seien damit schon die Verzweiung der Franzosen. Es kennzeichne die Deutschen, dass bei ihnen die Frage „Was ist deutsch?“ niemals aussterbe (Nietzsche 1980: 184). Bis heute sollte Nietzsche Recht behalten. Und bis heute gilt auch Nietzsches einige Seiten später vermerkte Einsicht, dass trotz des Nationalitäts-Wahnsinns zwischen den europäischen Völkern – und das schreibt Nietzsche noch vor den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts – das Eins-Werden Europas, die Verschmelzung, die Kränkung des Nationalen, die Transzendierung seiner denierten Partikularität, die Beseitigung jener Lüge des Reinen und Einheitlichen bereits auf der Tagesordnung der Geschichte stehe, ob die Nationen dies wollten oder nicht. Speziell den Deutschen attestiert Nietzsche ein geradezu neurotisches Verhältnis zu jenen Reinheitsphantasien, weil ihnen aus den bekannten historischen Gründen jene Einheit empirisch immer schon abgeht und also theoretisch, kulturell, philosophisch, also: künstlich und durch Gelehrte eingeschrieben werden muss. Dass es die Deutschen kennzeichne, dass man über sie selten völlig Unrecht habe, gilt Nietzsche als Chiffre für die radikale Ambivalenz, aber auch die tiefe Verunsicherung der Deutschen, die stets auf jenes kultivierte Frankreich starren und zugleich vor Neid erblassen und deshalb vor Wut erröten. Über Europa wird heute – zumindest in Deutschland – mit ähnlichen semantischen Reinheitsphantasien gesprochen wie weiland übers Deutsche, man denke nur an die Frage der Mitgliedschaft des NATO-Stützpunktes Türkei in der EU. Man scheint weniger die Frage zu stellen, inwiefern in Europa eine staatlich-überstaatliche Figur verfahrensrechtlich funktioniert – eine Struktur, die ganz offenkundig mehr ist als ein bloßes Bündnis von Staaten in punktuellen Fragen bilateraler Kooperation, aber auch weniger als ein Staat, wie wir ihn aus der europäischen Geschichte kennen. Statt diese neuartige Realität zur Kenntnis zu nehmen und all die verfahrensrechtlichen und demokratietheoretischen Fragen auf einen begrifichen Boden zu stellen, der sich jener zwar postnationalen, aber keineswegs das Nationale bereits überwundenen Realität fügt, scheint den Kommentatoren bloß das begrifiche Arsenal des 19. Jahrhunderts zur Verfügung zu stehen. Geradezu als transzendentale Bedingung ihrer politischen Denkmöglich-
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keit erscheinen jene Gemeinschaftsbegriffe, nach denen in gepegter, aber völlig unrealistischer Weise über Europa als staatliche Realität nachgedacht wird und die dem begrifichen Arsenal jener nationalen Konstellation entnommen sind, mit denen man im 19. Jahrhundert die durchaus neue Realität des Nebeneinanders von universalistischen Partikularismen im Rahmen des Nationalstaates auf den Begriff gebracht hat. So beklagen gepegte Beobachter, dass sich die neue Realität Europas der alten der europäischen Staatenordnung nicht mehr fügt. Als Beispiel solch gepegter Reexion mögen die Einlassungen Peter Graf Kielmannseggs dienen, in denen der neuen europäischen Realität ein Demokratiedilemma und -dezit attestiert wird (vgl. Kielmannsegg 1996). Verantwortlich dafür sei ein Mangel an Identität stiftender Gemeinschaft. Weder eine „Erinnerungsgemeinschaft“ sei Europa, noch eine „Kommunikationsgemeinschaft“ oder gar eine „Erfahrungsgemeinschaft“ konstituiere jenes Gebilde, das exakt deswegen keine Demokratie sein könne, weil ihm jene Ingredienzien fehlen, die aus einer Bevölkerung ein Volk machen, um an Bert Brechts Unterscheidung zu erinnern. Lässt sich über Europa nicht anders nachdenken als in den Kategorien, mit denen man historisch kontingent entstandenen Nationen in Europa den Charakter von Schicksalsgemeinschaften zuschreiben konnte? Nicht dass dieses Argument vordergründig als kritisch verstanden wird. Nicht diese nationale Strategie des 19. Jahrhunderts soll hier kritisiert werden – ebenso wenig gut geheißen. Vielmehr soll es darum gehen, die historischen Bedingungen zu verstehen, unter denen sich jene Identitätsstrategie und -inszenierung historisch „bewähren“ konnte, eine Identitätsstrategie, die weder in den gepegten Semantiken der nationalen Gemeinschaft noch in der heutigen naiven Beschwörung von Gemeinschaftlichkeit auch nur Kenntnis davon nimmt, dass diese Identitätsstrategie der europäischen Völker (sic!) bereits eine gesamteuropäische Figur war. Keines der europäischen Völker hätte es ohne das andere gegeben. Schon die Reexion also der europäischen Nationen und Nationalismen krankt an jenem methodologischen Nationalismus (vgl. Smith 1979), den moderne Kritiker für unangemessen halten, um die sogenannte postnationale Konstellation begreifen zu können (vgl. Beck 2000; Habermas 1998). Aber diese aktuelle Kritik scheint jenen methodologischen Nationalismus geradezu zu verharmlosen, denn selbst den Siegeszug des nationalstaatlichen Modells und den Nationalismus des 19. Jahrhunderts wird man mit den Mitteln des methodologischen Nationalismus nicht angemessen begreifen können. Letztlich lässt sich dieser Mangel des sozialwissenschaftlichen Denkens schon am Paradigma der normativen Integration von Gesellschaften (sic!) ablesen, das eng an der Idee der Parsonsschen self-sufciency des Gesellschaftlichen gebaut ist, das ganz auf die politische, i. e. staatliche Limitierung von Gesellschaft(en) abgestimmt ist. Aber schon das Europa nach dem Wiener Kongress 1815 ist ein treffendes Beispiel dafür, dass die Entstehung von Nationalstaaten eine segmen-
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täre Differenzierung eines politischen Systems ist und nicht ein Nebeneinander politischer Systeme oder gar Gesellschaften. Die Funktion des politischen Systems besteht nicht nur darin, für kollektiv bindende Entscheidungen zu sorgen, sondern, wie ich vorgeschlagen habe, auch darin, jene Kollektivitäten erst zu erzeugen, denen Entscheidungen als bindend zugemutet werden können (vgl. Nassehi 2002; 2003a). Erst dieser Gedanke kann aus jenem methodologischen Nationalismus herausführen, der all unsere politischen Begriffe insofern inziert hat, als sie die Kollektivität ihres Geltungsraums immer schon voraussetzen müssen. Auch dies ist nicht als Kritik formuliert, denn gerade am methodologischen Nationalismus der Sozialwissenschaften wie der politischen Semantik selbst lässt sich viel über die Funktion des Politischen lernen: die Paradoxie invisibilisieren zu müssen, dass mit der Zumutung von kollektiver Bindung auch jene Kollektivitäten erst entstehen. Insofern erstaunt es nicht, dass sozialwissenschaftliche Texte, die sich etwa für die Überwindung dieses Syndroms einsetzen, ungewollt und unvermeidlich in den Zugzwang normativ-politischer Rede geraten. Man beachte nur den politischen Grundzug von Ulrich Becks appellativer Rede über Europa als kosmopolitisches Projekt (vgl. Beck 2004: 245 ff.), in dem die Frage nach einer Europa konstituierenden Kollektivität strukturell ähnlich gestellt wird, wie sie Kielmannsegg noch eng mit dem begrifichen Arsenal (national-) staatsrechtlicher Möglichkeiten in Angriff nimmt. Wohlgemerkt: Ich spreche nur von einer strukturellen Ähnlichkeit. Die Unterschiede liegen darin, worin sich diese Art Kollektivität der europäischen Erfahrung empirisch niederschlägt. Beiden gemeinsam ist jedenfalls der Fokus auf eine Identität, die Unterschiedliches, also Differenz, integriert – in Kielmannseggs Perspektive noch die Idee der Klassen transzendierenden Integration, in Becks kosmopolitischem Ansatz dann die Idee einer „Kulturen“ übergreifenden Integrationsidee. Oder anders gewendet: in Kielmannseggs trauriger Beschwörung nationalstaatlicher Reexionsbegriffe erscheint eine europäische Identität als Bedingung europäischer Demokratie als unmöglich; in Becks positiver Konnotierung fungiert die kosmopolitische Identität als Integrator von Unterschiedlichem. Identität und ihre Inszenierung bleibt aber stets vorausgesetzt – und wie anders sollte eine politik-nahe Perspektive auch aussehen?
Identität als Frage Man kann aber auch anders anfangen. Und einen solchen anderen Anfang möchte ich ausprobieren, indem ich die Fragestellung nach einer europäischen Identität umkehre. Ich möchte und ich kann die Frage, ob es eine europäische Identität bereits gibt, ob es sie geben könnte, welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen oder gar ob sie denn wünschenswert sei, nicht beantworten. Ich möchte vielmehr behaupten,
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dass die Frage nach der Identität selbst ein europäisches Konzept ist. Ich verlege mich also letztlich auf nichts anderes als auf eine gepegte Begriffsgeschichte. Und in diesem Rahmen erweist sich die Frage nach der Identität als eine europäische Frage – und das heißt, wenn man Europa zunächst als einen kulturellen Raum mit historischer Ausdehnung behandelt, als eine griechische Frage. Schon der Begriff der Identität spielt auf den Satz der Identität an, der neben dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten und dem Satz der Kontravalenz zu den Grund-Sätzen der europäischen Denkgeschichte gehört und, wie ich behaupten möchte, bis heute den Grundzug dessen darstellt, was als europäisches Denkkonzept gelten kann. Der Satz der Identität ist gewissermaßen die Startrampe für jene europäische Metaphysik, deren basso continuo das selbständige Sein von Seiendem zum Thema hat, die Frage seiner Substanz, seiner Konstanz und seines wesentlichen Kerns. Ich möchte nun freilich nicht die philosophische Geschichte des Satzes der Identität nachverfolgen, nicht jene Entwicklung von der ontologischen Metaphysik zur Bewusstseinsphilosophie nachzeichnen, in der die Identität des Dings an sich zur bloßen Möglichkeitsbedingung seiner Erkennbarkeit schrumpft, auch nicht Heideggers Wiederbelebung des Gleichheitszeichens in der Formel A = A, nach der die Behauptung, etwas sei sich selbst gleich, zunächst nicht auf die Gleichheit, sondern auf das Prädikat abstellt. Etwas muss sein, um gleich sein zu können (Heidegger 1957). All das ist nicht Gegenstand meiner Überlegungen. Gleichwohl lebt die Idee der Identität als Frage nach der Substanz wider die Akzidenzen auch in jenem Identitätsbegriff fort, der in den Sozialwissenschaften Fragen etwa des folgenden Typs beantwortet: Wie kann ein Individuum, das im Laufe seines Lebens seine Zustände wechselt und damit sich selbst verändert, also: nicht-identische Momente enthält, mit sich selbst identisch sein/bleiben/werden? Diese Art Fragen reagiert letztlich darauf, dass sich Identität zum Problem geworden ist, dass die Substanz einer Person gegen ihre wechselnden Zustände in der Zeit und vor allem gegen die wechselnden Anforderungen in der Gesellschaft gesichert werden muss. Die Semantik der Identität enthält letztlich bereits Spuren des Verlustes eines Identitätsdenkens, das – im Sinne der klassischen Logik – ein Denken in Substanzen ist. Das starke Interesse an Identität ist sozusagen eine Folge von Nicht-Identität, vom Prekärwerden der mit sich identischen Substanz. Dass meine Identität auch eine andere sein könnte, ist sprachlich ebenso befremdlich wie empirisch wahr. Und dass Identitäten wechseln können, ja dass einer mehrere Identitäten haben kann, ist logisch ebenso unsinnig wie lebenspraktisch notwendig. Die Rede von der Identität wird also nötig, so bald Identität sich nicht schlicht aus dem Gleichheitszeichen des Satzes der Identität ergibt. Als europäisches Konzept erscheint Identität also zunächst als eine Denkgur, die ebenso mit der ontologischen Idee der Identität bricht, wie sie in ihrer
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Kontinuität steht. Nun hat das Bezugsproblem der sozialwissenschaftlichen Frage nach der Identität keineswegs erst mit den Sozialwissenschaften begonnen. Bereits die klassische europäisch-philosophische Idee des Selbstbewusstseins stellt auf das Prekärwerden der Identität des Bewusstseins ab – und stellt von der schlichten Voraussetzung der cogitatio auf das ego cogito um. Und der wesentliche Gegenstand dieser nun subjektivierten Form der cogitatio ist das ego selbst. Es ist dies Ausdruck jener bürgerlichen Inklusionsform, die den Einzelnen zum Subjekt seiner selbst macht und ihn paradoxer Weise sowohl als Subjekt als auch als Objekt behandelt. Was oder wer das Ich nun sei, erschließt sich nur noch über Selbstbeobachtung – philosophisch über Theorien der Reexion und des Selbstbewusstseins, empirisch über das bürgerliche Tagebuch des Protestanten, über die kulturelle Selbstvergewisserung des dritten Standes und über die gesellschaftliche Herstellung komplexer Innenwelten, denen nun die Konstitution der Welt zugemutet wird – philosophisch durch die totale Entwertung der Außenwelt zum bloßen Schein und empirisch durch die Erndung des bürgerlichen Heldensubjekts, das ebenso männlich wie standhaft den Dämon in sich selbst nden muss, der seines Lebens Fäden hält. Der Einzelne wird damit zum Subjekt seiner selbst, weil er seinen eigenen Blick zum Maßstab der Welt zu machen beginnt – inklusive der Distinktionsübungen bürgerlicher Individualität gegen den puren Traditionalismus der alten Eliten und gegen den Lebensstil der Notwendigkeit der neuen proletarischen Schichten. Und zum Objekt seiner selbst wird er, weil er sich primär mit sich selbst zu beschäftigen beginnt und sich zum Gegenstand einer Erzählung macht, deren Quintessenz eine Identität ist – und jede gute Erzählung hat eine Quintessenz, auch das lernt das nun an der Selbstästhetisierung interessierte bürgerliche Individuum, das damit tatsächlich ein Subjekt wird – freilich nicht jenes der denknotwendigen Allgemeinheit der Transzendentalphilosophie, dem es seinen Namen verdankt, sondern das bürgerliche, dem erzählt wird, Subjekt seiner Handlungen zu sein. Das Ideal ist die Behauptung der eigenen Identität trotz aller Entzweiungen der Welt, die innerhalb ebenso wie zwischen den Subjekten klaffen. Bisher war nur die Rede von den Entzweiungen innerhalb der Subjekte – formuliert in der Kontextur des alteuropäischen Paradigmas der Bewusstseinsphilosophie, die die Identität des Einzelnen in die operativen Prozesse eines sich selbst reektierenden Individuums verlagert. Es ist letztlich auch diese Begriffsbedeutung, die mit dem Terminus Identität üblicherweise abgerufen wird. Und auch unser Sprachgebrauch benutzt den Identitätsbegriff zumeist als einen Begriff für das Selbst von Individuen, für ihre Selbstbeschreibungsroutinen und für die Semantiken, mit denen sie sagen können, was sie sind. Auch hier lässt sich jene europäische Gemengelage von individueller Zurechnung, subjektiviertem Weltverständnis und der Erfahrung nden, ein Leben führen zu müssen, d. h. die Wahl zu haben, es auch anders zu führen.
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Offensichtlich ist Identität das Ergebnis einer Erzählung – damit ist nicht nur die literarische Form der Selbst- oder Fremdexploration von Personen gemeint, deren Lebensgeschichte als kontingente Geschichte mit Freiheitsgraden und Möglichkeiten zum Scheitern rekonstruiert wird. Damit ist auch die Biographisierung von Lebenslagen angesprochen, also die bürgerliche Praxis, sich bei aller Notwendigkeit der Verhältnisse als das Ergebnis kontingenter, eigener Entscheidungen darzustellen. Über diese Form der Biographisierung der Selbstreexion ließe sich viel sagen – etwa mit dem Hinweis auf die Entkoppelung von gelebtem Leben und Darstellungsform oder unter Rekurs auf die kommunikativen Formzwänge, eine Geschichte konsistent zum Besten zu geben, damit tatsächlich eine Identität oder auch: eine Identität herauskommt. Ich möchte aber viel elementarer auf die schlichte Tatsache eingehen, dass solche Selbstvergewisserungen in Form von Erzählungen und Inszenierungen sich vor anderen, vor einem Publikum bewähren müssen – und wenn es nur das virtuelle Publikum in der psychischen Selbstvergewisserung von Personen ist. Identitäten haben sich also vor anderen zu bewähren – und womöglich sind sie nur über andere zu haben. Wenn ich nun Identität als ein Konzept rekonstruieren möchte, von dem ich behaupten möchte, es sei ein europäisches Konzept, dann reicht es nicht aus, allein auf die bewusstseinsphilosophische Tradition mit seinem Reexionsmodell der Innerlichkeit abzustellen.
Identität als Antwort Die folgenreichste – und ich meine: auch soziologisch folgenreichste – Dekonstruktion des Subjekts entstammt Hegels Kant-Kritik. Hegel bescheinigte diesen bürgerlichen Subjekten, „die in selbständiger Freiheit und als Besondere für sich sind“, sie verlören ihre „sittliche Bestimmung“. Diese „Atomistik“ aber habe „der Staat als bürgerliche Gesellschaft“ aufzuheben (Hegel 1970a: 321). Die Hegelsche Aufhebung des bewusstseinsphilosophischen Innerlichkeitsmodells in seiner Philosophie des Geistes ist gewissermaßen die erste gesellschaftstheoretische Fassung des Identitätsproblems, modelliert als Problem der Versöhnung des Einzelnen mit seinen Differenzen: mit den zeitlichen Differenzen einer je eigenen Vergangenheit und Zukunft; mit den sachlichen Differenzen in einer sich entzweienden Moderne; mit den sozialen Differenzen einer Gesellschaft der Individuen, die Individuen nur so weit sein konnten, als sie sich der Einsicht in die Notwendigkeit fügten und dafür eine sittliche Totalität benötigten, die im postrevolutionären Zeitalter Hegels noch in der sittlichen Totalität des Staates zu nden war und in der Sprache der späteren Soziologie normative Integration heißen sollte – von Hegel geschrieben übrigens wenige Jahre nach der Friedensordnung des Wiener Kongresses von 1815, der nicht nur dem Expansionismus Frankreichs ein Ende setzte, sondern mit seiner
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konservativen Lösung den Boden für die liberalen und bürgerlichen Befreiungsbewegungen bereitet hat, deren Stärke v. a. die Ressource einer dem Volk als Nation unterstellten Sittlichkeit sein sollte, der nun eine Identität zu entnehmen war. Meine Rekonstruktion leidet sicher darunter, allzu grobschlächtige Schneisen zu schlagen, die man im Einzelnen viel genauer beschreiben und belegen müsste – und auch könnte. Es geht mir aber nur darum, die Kontinuität des Problems zu betonen, und zwar eine Kontinuität, die weniger theorietechnisch gestiftet wird, sondern eher eine Kontinuität des Bezugsproblems der Selbstbeschreibung moderner Individuen darstellt. Was als Problem des Selbstbewusstseins beginnt, als Subjekttheorie weitergeführt wird, schließlich als theoretische Bemühung um die Versöhnung von Individuum und Gesellschaft in das Paradigma der Identität mündet, lässt sich letztlich nur von seinem Kontext her verstehen. Der theoretische Beobachter des Identitätsproblems löst offenbar folgendes Problem: Wie kann es unter Bedingungen der modernen Gesellschaftsstruktur – also unter Bedingungen einer Multiinklusion in einer funktional differenzierten Gesellschaft – gelingen, dass Individuen in ihrer strukturell atomistischen sozialen Lagerung eine soziale Aufhebung erfahren? Von ihrem Hegelschen Erbe scheint sich die Soziologie also letztlich nie wirklich emanzipiert zu haben, von jenem Erbe nämlich, das Gesellschaft, konfundiert im Staat, als das Allgemeine beschreibt, dem die Individuen als das je Besondere gegenüberstehen. Deren Identität ist dann stets – und hier bekommt der Identitätsbegriff eine geradezu ironische Bedeutung – nicht nur ein Identisch-Sein oder -Bleiben mit sich selbst, sondern eine Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen, das in dialektischer Verschlingung sein je anderes je ist. Wie in Hegels Rechtsphilosophie das staatliche Gemeinwesen als die „substantielle Einheit … absoluter, unbewegter Selbstzweck“ ist und damit zu einem „wirklichen Gott“ gerät (Hegel 1970b: 399 ff.), scheint auch die soziologische Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft in einem staatsanalogen Gebilde ihren allgemeinen Fokus gefunden zu haben. Es ist letztlich der Hegelsche Volksgeist als objektiver Geist des (staatlich formierten) Gemeinwesens, der von Durkheims conscience collective über Parsons’ societal community bis zu Habermas’ vernünftiger Identität einer komplexen Gesellschaft so etwas wie den optischen Fluchtpunkt des gesellschaftstheoretischen Denkens darstellt. Die Hegelsche Gesellschaftstheorie betont die Identität von Identität und Differenz und strebt dabei die dialektische Versöhnung von subjektivem und objektivem Geist an. Ihr wesentliches theoretisches Problem ist ganz offensichtlich die Frage danach, wie sich die Unterwerfung des Besonderen unters Allgemeine als Freiheit denken lässt. Erst dies macht es plausibel, den Staat für einen wirklichen Gott zu halten. Denn allein die Unterwerfung unter einen Gott lässt sich letztlich in Freiheit umdenieren. Die theorietechnische Funktion der Sittlichkeit, als deren Wirklichkeit der Staat erscheint, postuliert analog die Einschränkung
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individueller Handlungsmöglichkeiten zugunsten eines Allgemeinen. Es wäre eine Überinterpretation, der mainstream-Gesellschaftstheorie eine Hegelsche Denkgur zu unterstellen – aber die Hegelsche Kontextur des Problemaufrisses ist dieselbe: Wie lässt sich soziale Ordnung denken, obwohl Individuen prinzipiell mehr Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, als sie letztlich wählen? Wie lässt sich Allgemeinheit herstellen, obwohl Akteure sich – gesellschaftsstrukturell gesehen – als besondere, als Ichheiten, als endlich setzen? Die Antwort auf diese Fragen lautet: Identität. Wohlgemerkt: die theoretische Antwort – und das bis heute. Die praktische Antwort freilich verweist auf die europäischste aller Praktiken: auf die Etablierung des Nationalstaats, bzw. der Nationalstaaten als jenem Identitätsfokus, der die Identität von Identität und Differenz verbürgt. Er haucht dem Besonderen, dem Individuellen jenen Geist ein, der als objektiver, als Volksgeist jene Formen der Selbstbeschreibung etabliert, in denen sich sowohl Praktiken als auch Personen identisch setzen können, identisch nämlich mit der Allgemeinheit ihrer kulturellen, d. h. hier immer: nationalen Livree. Der Einzelne, so formuliert treffend Alain Finkielkraut in einem lesenswerten Essay über die Niederlage des Denkens, und er meint damit ausdrücklich: des europäischen Denkens, der Einzelne werde ausschließlich „im Gewahrsam seiner Zugehörigkeit“ gehalten, gefangen im „absoluten Primat des Kollektivs“, was im übrigen die empirische Staatenentwicklung Europas seit Beginn des 19. Jahrhunderts abbildet (Finkielkraut 1989). Der Europäer wurde nun primär Angehöriger nicht mehr von interaktionsnahen sozialen Gebilden, sondern von Großgruppen, von Staaten. Die politische Zugehörigkeit sollte sich mit der kulturellen decken, und diese wiederum ihr ästhetisches Abbild in Territorien nden, und zwar exklusiv. Logischerweise waren dann kriegerische Auseinandersetzungen oftmals das Ergebnis von Befreiungsbewegungen, von separatistischen oder unitarischen Bestrebungen, also Kriege um Kollektivität bildende Grenzen, Kriege um Zugehörigkeiten. Es ist dies letztlich eine erstaunliche Diagnose, denn mit der europäischen Kultur verbinden wir doch eher den Individualismus, die Idee der individuellen Lebensführung und der Pluralität der Urteile – und der Identitätsbegriff scheint diesen Geist ebenfalls zu atmen. Wir muten nur jemandem zu, eine Identität zu haben bzw. seine Identität zu erzählen, wenn er tatsächlich als Individuum angesprochen wird, als Akteur mit Freiheitsgraden, als ein Ich, das Du zu sich sagen kann – für diesen Sachverhalt hat das europäische Denken den ebenso unpräzisen wie unsinnigen Begriff des Subjekts erfunden. Aber auch dieser Begriff ist, ebenfalls wie der Identitätsbegriff, nicht frei von Ironie. Subjekt war seit Descartes und Kant nur der Titel für ein Gegenüber, von dem das Individuum zehrt: bei Cartesius Gott, der sich für ihn gewissermaßen als Begriffsnotwendigkeit ergibt, um das cogitans dem generellen Erkenntniszweifel
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zu entziehen, und bei Kant die Vernunft, die als solche nur dann gedacht werden kann, wenn man die von Neigungen gesteuerte Person einer Reinigung unterzieht, aus der sie dann als Subjekt hervorgehen kann. Die Erhabenheit dieser Begründungen hat ihre Ironie verdeckt – und Ähnliches gilt auch für die Identität, die eben nicht nur die Selbstgleichheit des Satzes der Identität in Anspruch nimmt, sondern die Gleichheit mit einem anderen, mit dem Allgemeinen nämlich. Die Ironie des Identitätsbegriffs besteht darin, dass er ein Kollektivbegriff ist, dialektisch gesprochen ist die Identität durch Differenz vermittelt, die die Identität der beiden Seiten verbürgt. Wissenssoziologisch gesehen fungiert das Konzept der Identität als Brückenkonzept zwischen einer sich funktional differenzierenden Gesellschaft einerseits und ihrer politisch-kulturellen Repräsentation andererseits. Funktionale Differenzierung meint das Auseinandertreten unterschiedlicher Logiken und Horizonte für Anschlussfähigkeit: ökonomisch, wissenschaftlich, religiös, rechtlich und politisch. Ohne Zweifel lässt sich die europäische Moderne als Geschichte der Emanzipation jener unterschiedlichen Logiken voneinander rekonstruieren, als Emanzipation von jenen multifunktionalen Gemengelagen der traditionalen Welt, die sich ihre Stabilität mit entsprechenden Entwicklungshemmnissen erkaufte und sich in ihren zentralen Selbstbeschreibungen v. a. mit überzeitlichen Formen ausstatten konnte. Die europäische Moderne dagegen steht für das Auseinandertreten unterschiedlicher Dynamiken, für Produktivkraftentfaltungen im technischen und wissenschaftlichen Bereich, für die Herstellung von neuen Erwartungssicherheiten im rechtlichen Bereich, für die Reduktion des Knappheitsausgleichs auf sein ökonomisches Medium, auf Geld nämlich, für die „Erndung der Religion“ als eines eigenen Kommunikations- und Institutionenkomplexes, der seine Andersheit zum Rest der Welt wahrzunehmen begann – exakt deshalb sind Reformation und Gegenreformation, konfessionelle Schließung und die Versöhnung religiöser Innerlichkeit mit einer äußerlich unreligiösen Welt genuin europäische Erndungen. Und nicht zuletzt steht die europäische Moderne für eine unvergleichliche politische Optionssteigerung, die die Prinzipien der räumlich-territorial integren und sozial-kulturell unierten Form der Herrschaft in die Weltgeschichte getragen hat. Die entscheidenden Selbstbeschreibungen der europäischen Moderne waren und sind politische Selbstbeschreibungen. Europa hat nicht nur die Nation als den entscheidenden Identitätsfokus der Moderne erfunden. Europa hat vielmehr mit der Theorie und der Praxis der Nation und der nationalen Identität jene Form von Allgemeinheit empirisch umgesetzt, die sich philosophischen und kulturellen Semantiken aufdrängte. Das europäische Denken ist Identitätsdenken, weil es die Idee der unproblematischen Selbstgleichheit aufgrund von Differenzierungs- und Entkoppelungsprozessen, aufgrund von Pluralität und innerer Widersprüchlichkeit längst verloren hat. Und das europäische Denken ist v. a. politisches Identitätsdenken, weil sich Allgemeinheit als Identitätsfokus eben wesentlich politisch konditionieren
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lässt. Wenn die Etablierung des Nationalstaats die europäischste aller europäischen Praktiken ist, dann ist die Ausdifferenzierung des politischen Funktionssystems sicher das charakteristischste Merkmal der europäischen Gesellschaftsentwicklung. Die Funktion des Politischen wird üblicherweise damit angegeben, für kollektiv bindende Entscheidungen zu sorgen, und zwar unter Ausnutzung von Routinen, Institutionen und Verfahren, die den operativ eigenständigen Charakter des Politischen betonen. So muss auch eine politische Entscheidung aus Vorteilsnahme, Bestechung, Zwang oder ökonomischer Erpressung als politische Entscheidung operiert werden, um anschlussfähig zu bleiben. Ich habe, wie bereits erwähnt, vorgeschlagen, die Funktionsbestimmung des Politischen nicht nur auf kollektiv bindendes Entscheiden einzugrenzen, sondern v. a. auf die Herstellung von Kollektiven auszuweiten, denen solche Entscheidungen sowohl zugemutet werden können – als „Volk“ – als auch zugerechnet werden können – als „Demokratie“. Dieser Art Kollektivitäten stellen letztlich die empirische Seite jenes philosophischen Problems dar, Identität und Subjektivität des Einzelnen ironischerweise nur von einem Anderen her bestimmen zu können. Mit dem Individualismus seiner Kultur und seiner empirischen Praxis scheint sich dieser Fall Europas offensichtlich nur versöhnen zu können, indem er eigens einen Kommunikations- und Institutionenkomplex für die Herstellung solcher Kollektivitäten vorsieht. Nur so ist das Primat des Politischen in der Selbstbeschreibung der europäischen Moderne zu erklären. Politik als Medium der Visibilisierung von Kollektiven, als Visibilisierung eines Allgemeinen in der Sozialdimension, entfaltet deshalb gerade in der europäischen Moderne jene Optionssteigerung des Politischen, die sich an verschiedenen historischen Erscheinungen ablesen lässt. Die Etablierung gewaltmonopolisierter Nationalstaaten gehört ebenso dazu wie die eigenlogische Entkoppelung des politischen Prozesses von der Sachlogik von „gesellschaftlichen Problemen“, was immer das sei. Dazu gehört ebenso die staatlich-politische Legitimation und Stabilisierung der neuen Formen sozialer Ungleichheit, die sich im Kapitalismus genannten Zeitalter nicht mehr der Naturwüchsigkeit eines „Immer-schon“ verdanken, sondern dem Zufall einer kontingenten Herkunft. Im Übrigen erscheinen auch die genuin europäischen politischen Optionssteigerungen des extremen Nationalismus, des Faschismus und Francismus, des Nationalsozialismus und des Stalinismus nicht als „fremde“ Phänomene, sondern als Ausdruck jenes europäischen Identitätsdenkens, das sich der Versöhnung des Besonderen mit dem Allgemeinen, seiner widerspruchsfreien und konsistenten, in diesem Sinne „gereinigten“ Gestalt verschrieben hat – selbst wenn sie statt mit zivilisatorischer innerer mit äußerer Polizeigewalt durchgesetzt werden musste (vgl. dazu Nassehi 2003c). Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich stelle hier keine Betrachtungen über historische Entwicklungslogiken an, auch will ich nicht behaupten, es gebe so
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etwas wie einen europäischen Entwicklungspfad. Und selbst wenn ich nicht glaube, dass „Gesellschaften“ etwas lernen können, so geht es mir auch nicht darum, die unterschiedlichen Formen jenes Identitätsdenkens über einen normativen Kamm zu scheren. Ich gedenke nur zu zeigen, dass die Semantik der Identität zum einen als semantische Reaktion darauf zu verstehen ist, wie die Freiheitsgrade von Akteuren mit der Notwendigkeit der Handlungskoordination vermittelt werden. Identität wird dann die Identität des Besonderen mit einem Allgemeinen, dessen theoretischer Niederschlag sich im methodologischen Nationalismus unserer sozial- und politikwissenschaftlichen Begrifichkeiten niederschlägt und dessen empirischer Niederschlag in der Disparität nationaler und transnationaler Politikformen sich zeigt. Zum anderen habe ich versucht zu zeigen, wie sehr sich die Semantik der Identität in die europäische Praxis der politischen Form kollektiver Selbstbeschreibungen einfügt und exakt dort den Fokus jenes Allgemeinen ndet, von dem her das Einzelne, der Einzelne die Kategorien seiner Selbstverortung im sozialen Raum bezieht. Exakt das nennt man Identität. Im Übrigen beinhaltet meine Behauptung, es handle sich um ein europäisches Konzept, keineswegs, dass es nur in Europa vorkommt. Es handelt sich vielmehr um eine europäische Strategie, eine europäische Inszenierung, die man in den amerikanischen Debatten um das nation-building, um den Streit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, auch in den partikularen Universalismen von ethnischen und rassischen Minderheiten in den USA wiederndet. Ebenso lässt sich das Konzept als Ergebnis nachholender Entwicklungen überall dort beobachten, wo Staatlichkeit sich dem europäischen Institutionenemodell anpasst. Und nicht zuletzt die postkolonialen Staatsbildungen Afrikas benutzten dieses Konzept – um derzeit mit dem Verlust von Staatlichkeit unter ganz anderen Formen kollektiver Willensbildung zu leiden.1
Identität als theoretische Strategie Wie stark die Konstruktion der Identität auch im 20. Jahrhundert kontinuiert wurde, lässt sich – und ich belasse es nur bei Andeutungen – noch in den sozialwissen1
Shmuel N. Eisenstadts Konzept der „Multiple Modernities“ lässt sich entnehmen, wie sehr das moderne System von Staatlichkeit und gesellschaftlicher Differenzierung ein europäisches Konzept ist, das freilich mit seiner Ausbreitung auf unterschiedliche kulturelle Kontexte traf und hier Identitätsbildungen in ganz unterschiedlicher Weise ermöglichte, insbesondere die Herausbildung kollektiver und damit politisierbarer Horizonte für Identität und Identi kation (vgl. Eisenstadt 2000a; 2000b). Wie sehr sich damit die bisweilen anti-europäischen Perspektiven unterschiedlicher Couleur – vom US-amerikanischen Modell eines militärischen und kulturimperialistischen Universalismus bis zur islamistischen Mobilisierung politischer Theologie – ihres europäischen Ursprungs verdanken, gehört zu den merkwürdigsten Listen der Geschichte.
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schaftlichen Formierungen der Identitätssemantik nachverfolgen. Man denke nur an Erik H. Eriksons geradezu schulbildende Überlegungen über psychische Gesundheit, die er dann gefährdet sieht, wenn es dem Individuum nicht gelingt, die eigenen Aspirationen mit denen des Kollektivs zu versöhnen – und selbst diese sozialpsychologische Perspektive gibt als Referenzgruppe die politische Einheit der Nation bzw. einer universalen kollektiven Identität an, die die Identität des Einzelnen konditioniert (vgl. Erikson 1975). Eine gelungene Identität ist also eine Identität, die sich zwischen den Zielen einer Gruppe und denen eines Individuums einstellt, das also gewissermaßen auf dem Boden einer allgemeinen Sittlichkeit steht und in ontogenetischer Entwicklung eine Ich-Identität ausbildet, d. h. ein reexives Bewusstsein dieser gruppenspezischen Quelle des Individuellen erlangt. Man könnte in Abwandlung von Hegels Afrmation des Wirklichen mit dem Vernünftigen sagen: Das Gesunde ist das Vernünftige. Oder man denke an Jürgen Habermas’ geradezu epochalen Aufsatz über die Frage, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden könnten (vgl. Habermas 1976). Habermas rekonstruiert die Bedingungen einer vernünftigen Identität nicht nur im Kontext, sondern sogar mit den Begriffen jener Philosophie, die die Entfaltung jener Art von Kollektivität meint, die als das dialektische Gegenüber einer Vermittlungsbeziehung fungiert und die Geschichtsphilosophie vom Kopf auf die nun nicht mehr politökonomischen, sondern empirisch rekonstruierbaren Füße stellt. Und sie ndet – bezogen auf Europa – ihren Höhepunkt dort, wo Habermas die führenden Intellektuellen Kern-Europas ganz in Hegelscher Manier für jene Allgemeinheit stehen lässt, die den angeblich jüngeren und peripheren europäischen Nationen kontinentalgeschichtlich (oder meinte er heilsgeschichtlich?) noch nicht zusteht. Wohl müssen diese erst identisch werden.2 Wer die Semantik der Identität in Anspruch nimmt, muss nicht diesen ganzen Ballast mitschleifen, den ich hier herbeiargumentiert habe. Aber der Begriff, auch seine Selbstverständlichkeit, sogar seine Unschuld – haben wir nun schon eine europäische Identität? – steht nolens volens in diesem Kontext. Für mich wird – nicht nur an diesem Topos – immer deutlicher, wie sehr die gesamte sozialwissenschaftliche Intelligenz und wie sehr die gepegten politischen staatstragenden Semantiken von jenem Untoten umgetrieben werden, der die Identität von Identität und Differenz auf den Begriff gebracht hat. In all unseren Identitätsdiskursen treibt sich der Hegelsche Wiedergänger herum und erzwingt seine Lösung: Identität.
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Ich spiele an auf eine Initiative (kern-)europäischer Intellektueller, die „Wiedergeburt Europas“ in Gang zu setzen. Vgl. dazu den initiativen gemeinsamen Zeitungsartikel von Jacques Derrida und Jürgen Habermas (2003) in einer deutschen und einer französischen Tageszeitung. Zeitgleich erschienen in anderen europäischen Blättern ankierened Artikel von Adolf Muschg, Umberto Eco, Gianni Vattimo und Fernando Savater. Für atlantische Westbindung sorgte Richard Rorty.
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Ich habe bis jetzt nur destruktiv argumentiert und kein Gegenkonzept, keine Alternative vorgestellt. Jedenfalls möchte ich meine Ausführungen nicht als Vorschlag für eine Theorie der Identität missverstanden wissen. Vielleicht ist das Konzept gar nicht theoriefähig, sondern nur als Gegenstand theoretischer Erörterung tauglich. Insofern sollte man nicht die Frage beantworten, ob es eine europäische Identität schon, noch oder wieder gibt. Vielleicht ist die angemessene Frage, warum man so fragt! An dieser Frage übrigens lässt sich lernen, dass der oft zitierte Satz stimmt, das Praktischste sei eine gute Theorie. Denn erst, wenn man sein Denken von Substanzen und Kausalitäten auf Bezugsprobleme und Funktionen umgestellt hat, wird man die Identitäts xiertheit des europäischen Projekts angemessen verstehen können. Die Fixierung auf Identität, der auch der methodologische wie der praktisch-politische und kulturelle Nationalismus entstammt, ist nur die andere, die reexive Seite jener Offenheit, Pluralität und Inklusivität Europas. Das Bezugsproblem allen Identitätsdenkens ist die Erfahrung der Differenz. Wenn Ulrich Beck schreibt, es sei „uneuropäisch, die Muslime auf den Islam zu reduzieren“ (Beck 2004: 250), dann hat er völlig Recht. Beck paraphrasiert damit nur die Erfahrung einer multiinkludierenden Gesellschaft, die Individuen punktuell und nicht vorgeordnet im Sinne einer Totalinklusion in ihre funktional differenzierte Struktur integriert. Aber gerade eine solche „uneuropäische“ Praxis hat Europa stets begleitet – gerade weil sie „uneuropäisch“ ist, weil sie sichtbar machen kann, was Gesellschaft strukturell nicht mehr hergibt: Zurechnungsfoci, identizierbare Gruppen aus „ganzen“ Personen und nicht nur Merkmalsgruppen eines statistischen Samples. Nur solchen Gruppen lässt sich vollständige Inklusion zumuten, nur solchen Gruppen kann die Strategie eines „stahlharten Gehäuses der Zugehörigkeit“ (Nassehi 1999: 203) widerfahren. Worauf Beck hinweist, ist jene alte (sic!) Erfahrung Europas, dass es offenbar eine unheilbare Wunde zwischen dem Menschen als Menschen und dem Menschen als Bürger gibt (vgl. Kristeva 1990) – beides reagiert auf jene Umstellung von vormodernen Zugehörigkeitsformen auf Multiinklusion einer sich modernisierenden Gesellschaft. Die Idee des Menschen (wie die des Subjekts) ist eine Reaktion darauf, dass die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft Personen mit vielfältigen Inklusionsangeboten traktiert und deshalb die Menschlichkeit des Menschen vergleichsweise unterdeterminieren muss; und die Idee des Bürgers ist ein Inklusionsangebot, das Identität dadurch ermöglicht, dass es Gruppen identizierbar macht und damit vor allem andere identizierbare Gruppen sichtbar macht. Die Idee des Menschen ist eine europäische Idee, weil der europäische Pfad der Modernisierung seine Efzienz und seinen Erfolg gerade daher bezieht, ein Moment Fremdheit in die soziale Ordnung einbauen zu können, die den jeweiligen Eigensinn des Ökonomischen, Politischen, Wissenschaftlichen und Künstlerischen erst ermöglichte. Und die Idee des politischen Bürgers ist eine
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europäische Idee, weil sie dieser Fremdheit einen Rahmen geben konnte, der sich in erster Linie über politische Inklusionsangebote ermöglichte. Erst vor diesem Hintergrund ist das möglich, was man normativ für das Europäische halten mag: die Bedingung von Diversität und Toleranz, von Vielfältigkeit und kultureller Indifferenz, in der ein jeder nach seiner Façon selig werden kann – und ihre politische, kulturelle und militärische Dementierung, die nur dementieren kann, was sie vorndet. So viel Dialektik muss sein – auch wenn sie offensichtlich niemand mehr lesen kann. Es spricht deshalb vieles dagegen, den Begriff Europas allzu substantialistischnormativ zu bilden. Anders als die Kern-Europa-Enthusiasten um Habermas und Derrida gelingt es etwa Ulrich Beck erheblich genauer, alle empirischen Abschattungen jener normativen Idee eines „kosmopolitischen“ Europas wenigstens mitzudenken. Womöglich scheint hier ansatzweise, gar ungesehen die Idee jener dialektischen Bedingung aller Strategie auf, die noch ihr Gegenteil mit vollzieht.3 Aber Beck kann das kosmopolitische Argument letztlich nur normativ zuspitzen, in die ästhetische Figur eines Kierkegaardschen Sprungs bringen, weil ihm keine anderen als normative Theoriemittel, besser: Mittel zur Verfügung stehen. Ich plädiere eher dafür, nach der Funktion solcher Diskurse zu fragen, die mit „Identität“ auf „Differenz“, heute sagt man „diversity“, reagieren. Das gilt auch für Beck selbst, auch wenn er dies im Gewande einer offeneren, einer pluraleren, einer liberaleren, einer – so das alte, immer wieder neue Versprechen der Moderne – neuen Identität vorträgt. Womöglich enthält das Konzept des „kosmopolitischen Europa“ selbst ein erhebliches Moment an „Identität“ im Sinne der Unterwerfung unter ein Allgemeines, das nun als „Europa“ identiziert werden muss. Nur so ist seine Normativität zu erklären – aber wie sollte es auch anders gehen, denn es ist ein genuin „europäisches“ Konzept, ebenso europäisch wie die Zumutung von Identität. Insofern lässt sich hier kein Ergebnis erzielen; außer diesem: das Europäische am Europäischen sind weniger die Antworten, sondern die Fragen. Europa ist eine inszenierte Lebenswelt, keine kleine Lebenswelt wie die Hitzlerschen kleinen Lebenswelten, aber letztlich nach ähnlichen Strukturen aufgebaut – eine große Lebenswelt, die sich praktisch inszenieren muss.
Eine andere Geschichte Man hätte die Denkgeschichte Europas übrigens auch ganz anders rekonstruieren können und nicht mit Kant und Hegel, sondern mit der Romantik und mit Nietz3
Wenn schon dialektisch, dann ließe sich das unterscheidungstheoretisch erweitern. Oder man erinnert sich an Gotthard Günthers Bemühungen um eine „operationsfähige Dialektik“, deren „mehrwertige Logik“ die Unterscheidungstheorie vorbereitet (vgl. Günther 1979).
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sche und ihrer Gegengeschichte der Moderne beginnen können. Aber man wäre darauf gestoßen, dass auch diese Gegengeschichte nur ein Thema hat: Identität nämlich, wenn auch nur als negative Folie. Auch das 20. Jahrhundert war voll solcher Gegengeschichten, die nur bestätigten, was sie dementieren wollen: der französische Strukturalismus und der Poststrukturalismus repräsentieren und dementieren zugleich die Perspektive auf die Präsenz des Zentrums, wie man es sogar an französischen Straßenkarten ablesen kann; Pierre Bourdieus Gegengeschichte gegen den Strukturalismus ähnelt dem poststrukturalistischen Projekt zumindest, was die Kritik an einer Zentralperspektive angeht; Michel Foucaults Aufweis von Subjektivierungspraxen stellt von Prinzipien auf Praxen um und dezentriert das Subjekt als Effekt, nicht als Voraussetzung solcher Praxis; die Systemtheorie Niklas Luhmanns oder auch die kognitionswissenschaftliche Praxeologie eines Gregory Bateson wären nicht anders denkbar gewesen als als Gegengeschichten zum alteuropäischen Satz der Identität. Im Übrigen ist das US-amerikanische Denken dort am Europäischsten, wo es eine Gegengeschichte zu jenem Vertrauen in jene Allgemeinheit zu erzählen weiß, die sich jenseits des Atlantiks viel undialektischer darstellt, man denke an John Rawls und Richard Rorty. Was bleibt also am Ende? Dass noch die Kritik der Afrmation dient, dass noch sie bestätigt, wogegen sie opponiert, dass gerade das Besondere auf das Allgemeine verweist, von wem haben wir das gelernt? Dem Hegelschen Wiedergänger lässt sich nicht entkommen – und genau das macht die Identität Europas aus, dass das Konzept der Identität nämlich selbst ein europäisches Konzept ist.
Literatur Beck, Ulrich (2000): The cosmopolitan perspective: sociology of the second age of modernity. In: British Journal of Sociology, 51, 79–106. Beck, Ulrich (2004): Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques/Habermas, Jürgen (2003): Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Mai 2003. Eisenstadt, Shmuel N. (2000a): Multiple Modernities. In: Daedalus, 129, 1–29. Eisenstadt, Shmuel N. (2000b): Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Erikson, Erik H. (1975): Dimensionen einer neuen Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Finkielkraut, Alain (1989): Die Niederlage des Denkens. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Günther, Gotthard (1979): Theorie der ‚mehrwertigen‘ Logik. In: Günther, Gotthard: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Hamburg: Meiner, 181–202.
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Das Debakel der Finanzeliten Krisen der Erfolgskultur Sighard Neckel
„Noch nie war positiv denken so im Trend“, verkündete im April 2009 die Werbung eines Wirtschaftsmagazins, das in der betreffenden Ausgabe mit der Überschrift „Die Angst besiegen. Ihr persönlicher Weg aus der Krise“ aufgemacht hatte. Illustriert wurde der Aufmacher durch eine rosa getönte Brille, die Hilfestellung gegen das „Schwarzsehen“ versprach. Im Innenteil konnten sich Leser darüber informieren, „wer sich um Ihre Probleme kümmert“ und dass man „Hilfe annehmen“ soll. Um das Blatt aber nicht vollends in Depression versinken zu lassen, fand sich schließlich noch ein Artikel darüber, „welche Anlage-Produkte in schlechten Zeiten die beste Performance liefern“. Die Verbindung von nanzieller und emotionaler Volatilität lässt sich in diesen Zeiten, in denen die Weltwirtschaft Achterbahn fährt, allerorts registrieren. Schon immer waren Krisen des Geldes Zeiten großer Gefühle und intimer Geständnisse. Das Vermögen hat für das moderne Wirtschaftssubjekt eine existenzielle Dimension, da es Handlungsoptionen bereithält, Sicherheiten gewährt und Lebenssinn verschafft. Der Vermögensverlust, den die Kernschmelze des Finanzsystems gegenwärtig den oberen Mittelschichten beschert, wird daher nicht allein als Krise des Bankenwesens erfahren, sondern berührt den eigenen Seelenhaushalt. Dies lockert die Zungen, lässt Heimlichkeiten verschwinden. Das Unsagbare spricht sich aus, und so wird unter Akademikern, im Tennisclub und nach dem Opernbesuch zurzeit über wenig anderes als über das eigene Geld geredet. Freunde gestehen sich ein, schon seit Ende der 1990er Jahre in Fonds investiert zu haben. Kollegen offenbaren einander, bereits bei der New-Economy-Krise 2001 beträchtliche Summen verloren zu haben. Und während Partnerschaften ins Schlingern geraten, weil insgeheim das gemeinsame Guthaben im schwarzen Loch „intelligenter Finanzprodukte“ versenkt worden ist, tauscht der Kulturbürger Tipps darüber aus, wie das verbliebene private Stammkapital noch in eine krisenfeste Anlage hinübergerettet werden kann. Schnell noch eine Immobilie im Barkauf erwerben? Staatsanleihen, aber welche? Gold? – und sei es nur in geringen Mengen? Auch erste Panikkäufe werden gemeldet. In Wien beispielsweise nden xfertig abgepackte Säckchen mit Diamanten starkes Interesse, welche die teuren Juweliere der Inneren Stadt
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Sighard Neckel
ab 200.000 Euro ihrer nervösen Laufkundschaft offerieren. Und während unter den Besitzlosen der Spott zirkuliert, wächst in den vermögenden Schichten die Bestürzung darüber an, dass sich der Glaube, der eigene propere Wohlstand lasse sich grenzenlos steigern, als eine Spekulationsblase eigener Art erwiesen hat. Der Finanzmarktkapitalismus, der jetzt implodiert, hatte sein soziales Pendant in gesellschaftlichen Milieus, die in den langen Nachkriegsjahrzehnten des friedlichen Aufschwungs nicht nur wohlhabender, sondern auch ambitionierter wurden. Das viele Geld sollte genossen, vor allem aber vermehrt werden. Nach Jahrzehnten, in denen der Anteil der oberen Schichten an der gesamten Vermögensverteilung in den wichtigsten westlichen Ländern konstant bei 30 bis 40 Prozent lag, nahm mit der gewaltigen Vermehrung des privaten Finanzvermögens auch dessen Konzentration in der Beletage der sozialen Rangordnung zu (vgl. Altzinger/Schlager 2009). Seit der Jahrtausendwende wuchs in den USA der Anteil des obersten Zehntel am gesamten Geldvermögen auf 70 Prozent, in Deutschland auf 47, in Österreich auf 54 Prozent. Höhere Werte wurden unter vergleichbaren OECD-Ländern nur noch in der Schweiz erreicht. Hält man sich vor Augen, dass das Volumen der Finanzvermögen weltweit auf die historisch beispiellose Summe von 41 Billionen Dollar anstieg (vgl. Deutschmann 2008: 502 ff.), erkennt man, welche Geldmengen hier danach riefen, angelegt und kapitalisiert zu werden. Wie kommunizierende Röhren nahm sich dazu ein Finanzsystem aus, das seinerseits von einer Steigerungslogik des Gewinns angetrieben war. Nur das galt noch als nanzieller Erfolg, was kurzfristig ein Mehrfaches an Rendite und in der näheren Zukunft ein schier grenzenloses Wachstum von Erträgen versprach. Zwanzig Prozent „return on equity“ – solche gigantischen Verwertungsraten kamen jedoch nur dadurch zustande, dass das Finanzsystem schließlich einer Wettbörse glich, an der Hypotheken mit schlechter Bonität als hübsch verpackte Wertpapiere verkauft worden sind, Sekundärmärkte mit zweifelhaften Wertpapieren überschwemmt wurden, Fremdwährungskredite die Devisenspekulation anheizten und ein Derivatehandel erblühte, der die Eigenschaften von Pyramidenspielen annahm. Da nur noch das Ziel der Gewinnsteigerung, aber nicht mehr die Mittel zählten, mit denen es erreicht werden sollte, zeigte sich das Finanzsystem offen für alle Erscheinungsformen wirtschaftlicher Devianz. Von politischer Kontrolle weitgehend befreit und beglaubigt durch das Mantra von Rating-Agenturen, war es nicht individuelles Fehlverhalten, sondern ein Systemeffekt, dass sich die Wirtschaftskultur des schnellen Geldes paarte mit Falschmünzerei. Investmentbanker, die der Bonuszahlungen wegen ihren Kunden vermeintlich gewinnstarke und risikoarme Papiere angedient haben, wurden zur Personi kation eines Verteilungssystems von Vorteilen, bei denen sich die Begehrlichkeiten von Anlegern und Bankern gegenseitig in die Hand gespielt haben. Fast schien es so, als wollte die Bankenwelt der Händler, Berater und Analysten ein Verdikt von Karl Marx
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glaubhaft machen, der den Aufstieg einer Klasse von Börsenspekulanten in der französischen Juli-Monarchie mit den Worten gebrandmarkt hatte, dass „die Finanzaristokratie, in ihrer Erwerbsweise wie in ihren Genüssen, nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft“ sei (Marx 1850/1981: 130). Der ideologische Kitt, der alle Beteiligten des großen Gewinnspiels mental miteinander verband, war eine Kultur des Erfolgs, welche die soziale Durchsetzung von Gewinnern um bald jeden Preis betrieb (vgl. Neckel 2008). Erfolg mutierte zu einer reinen Wettbewerbskategorie, bei der es auch in ökonomischer Hinsicht nicht auf Wertverwirklichung ankam, wenn nur die Bilanzen im persönlichen Geltungskampf fortwährend nach oben getrieben werden konnten. Maßstäbe hierfür waren allein die nackte Summe des Geldes, die Strahlkraft des eigenen demonstrativen Konsums und die prestigeträchtige Stellung an der Spitze der globalen VIP-Lounge-Kategorie. Die Sucht nach Erfolg, vermessen in reinen Geldund Statusbegriffen, wurde zum mentalen Pendant des Finanzmarktkapitalismus, zur Subjektivierung einer Wettbewerbsgesellschaft, in der sich das Ranking auf vorderen Plätzen zu einer Art Privatreligion aufrichten konnte. Durch den Bankencrash ist daher viel mehr erschüttert worden als nur das Finanzsystem. Wenn heute unter den Vermögensbesitzern der Verlust von Renditen als persönliches Problem und psychische Krise ankommt, dann schlägt sich darin auch nieder, wie wirksam sich die Maximen des raschen nanziellen Erfolgs im Habitus des modernen Bürgertums bereits verankern konnten. Es ist daher nur folgerichtig, dass im Frühjahr des Jahres 2009, als die Finanzkrise ihren ersten vorläugen Höhepunkt erreichte, Ralf Dahrendorf, der Doyen einer liberalen Sozialwissenschaft, in einem Aufsatz für den „Merkur“ die Frage aufwarf, ob die Wirtschaft angesichts des Debakels des Finanzmarktkapitalismus nicht zur protestantischen Ethik zurückkehren müsse (Dahrendorf 2009). Als innere Ursache der Implosion der Finanzmärkte machte Dahrendorf einen Einbruch der ökonomischen Mentalitäten aus, wodurch das moderne Wirtschaftssystem seine eigenen sozialen Voraussetzungen gefährde. Der Schritt von der Wertschöpfung zum Derivatehandel, von der Realwirtschaft zur virtuellen Ökonomie erlaubte den Genuss vor dem Bezahlen („enjoy now, pay later!“), die Verschuldung vor dem Konsum. Der „Pumpkapitalismus“ als verhaltensprägende Leitkultur hätte dadurch – so Dahrendorf – zur Untergrabung der ehernen Regel vom Bedürfnisaufschub geführt. Die Anreizsysteme von Benchmarking und Bonuszahlungen prämierten eine Kultur der wirtschaftlicher Kurzfristigkeit, vor der am Ende – so lässt sich mit Norbert Elias ergänzen – der zivilisatorische „Zwang zur Langsicht“ kapitulierte. Dahrendorf beurteilte in dem besagten Aufsatz die Aussichten auf eine Rückkehr zur protestantischen Ethik eher pessimistisch. Denn mehr noch als dass
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der Konsumkapitalismus dauerhaft die Vorstellung entkräftet hat, dass allein im Jenseits Entlohnung für Anstrengung und Verzicht zu erhalten sei, stellt sich in soziologischer Hinsicht die Frage, wer heute eigentlich die Rolle jener sozialen Schichten einnehmen soll, die einst die Maximen des bürgerlichen „Sparkapitalismus“ (Dahrendorf) getragen haben. Die historische Verbindung von Kapitalismus und Bürgerlichkeit gelangt im 21. Jahrhundert offenbar an ein Ende. Längst hat sich im Wirtschaftsleben ein Neofeudalismus der Begüterten ausgebreitet, der in seinem Hang zur Verschwendung ganz und gar unbürgerlich ist. Mit dem Absterben des Familienkapitalismus scheint auch eine bestimmte Sittlichkeit verloren gegangen zu sein, deren Ideal Max Weber in seiner These vom protestantischen Geist des Kapitalismus einst bündig formuliert hatte. Nun ist die Feststellung einer nachbürgerlichen Epoche des Kapitalismus theoriegeschichtlich nicht neu. Bereits die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hatte von einer „Rückbildung des liberalen Kapitalismus“ (Adorno 1972: 368) gesprochen, durch welche ein Verfall bürgerlicher Ideale und das Ende aller rationalen Maßstäbe in Wirtschaft und Gesellschaft verursacht worden sei. Doch weist im Vergleich zu dieser zurückliegenden Diagnose die Gegenwart des Kapitalismus zumindest zwei gravierende Veränderungen auf. Zum einen gewannen Adorno und die Frankfurter Schule ihre Kritik am Zerfall des liberalen Erbes aus der Beobachtung, dass der Kapitalismus durch staatliche Lenkung und totalitäre Organisation eine „Herrschaft unabhängig vom Marktmechanismus“ (ebd.) etabliert hatte, in welchem die Kritische Theorie stets auch eine liberale Ratio jenseits von bloßer Willkür walten sah. Heute hingegen scheint es gerade die Vermarktlichung aller gesellschaftlichen Beziehungen zu sein, in der die soziologische Zeitdiagnose den Kern ökonomischer Irrationalitäten und sozialer Pathologien ausmacht (Neckel 2008). Wenn sich Markterfolge allein an der Höhe nanzieller Renditen bemessen, entthront die Kultur des schnellen Geldes die bürgerliche Logik der Meritokratie. Entsprechend entfernen sich auch die Deutungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs vom Narrativ des bürgerlichen Erwerbseißes zur Ökonomie der günstigen Gelegenheit. Deren Geschichte wird nicht in Bildungsromanen erzählt, sondern ruft eher obskurantistische Weltdeutungen auf, von denen heute eine ganze Bewußtseinsindustrie der ökonomischen Esoterik ihr Dasein bestreitet. Die Rationalität des bürgerlichen Bewusstseins lebte von dem, was Max Weber (1920/1988: 536 ff.) die Unterscheidung in verschiedene „Wertsphären und Lebensordnungen“ nannte. Fallen unter dem Gesetz der Ökonomisierung aller Lebensbereiche Kunst und Geschäft, Weltanschauung und Wettbewerb, Glaube und Geld in eins, verliert sich mit der sozialen offenbar auch die geistige Differenzierung, durch die einst die Strahlkraft des bürgerlichen Vernunftprogramms gekennzeichnet war.
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Stellen sich die kulturellen Signaturen des Kapitalismus in dem Maße als nachbürgerlich dar, wie sie durch die Ökonomie des unbedingten nanziellen Erfolgs geprägt worden sind, so sorgt zum anderen die Globalisierung der wirtschaftlichen Märkte dafür, dass sich der Zusammenhang von Kapitalismus und Lebensführung im 21. Jahrhundert dem kulturellen Schema der Bürgerlichkeit möglicherweise allein schon aus geographischen Gründen entzieht. Die Entwicklungszentren der Weltökonomie haben sich von Europa und den USA deutlich nach China, Russland und Indien verschoben. Damit hat nicht nur das Modell des gelenkten „Staatskapitalismus“ eine Renaissance erfahren. Auch fügen sich religiöse und habituelle Bestände in die kulturellen Einbettungen des asiatischen Kapitalismus ein, die noch Max Webers universalgeschichtliche Untersuchungen als hinderlich für den rationalen Betriebskapitalismus betrachtet haben. Die Veränderungen des globalen Kapitalismus selbst sind es, die diese Annahmen heute als überholt erscheinen lassen. Gleichwohl ist der unternehmerische Betriebskapitalismus privater Eigentümer weder im Russland der Oligarchen noch im China des Parteikapitalismus die treibende ökonomische Kraft. Die Annahme, dass dem Kapitalismus die kulturelle Lebensform der Bürgerlichkeit korrespondiert, wird durch die Dynamik der Weltmärkte heute auf eine bisher ungekannte Weise in Frage gestellt. Jenseits des Bürgertums und seiner sozialen Erben in der Rangordnung von Geld und Prestige treibt das Ende des Traumes vom scheinbar mühelosen Reichtumserwerb Angst und Häme in einer brisanten Mischung hervor. Die unteren Schichten müssen befürchten, auch in der Zeit der großen Verluste die Verlierer zu sein, nachdem sie es in der Zeit der großen Gewinne ebenfalls schon gewesen sind. Dies mag der überraschende Grund dafür sein, dass seit dem Ausbruch der Finanzkrise im September 2008 konservative Parteien in Europa unentwegt Wahlsiege aneinanderreihen. Denn die Furcht vor dem Absturz setzt nicht auf eine Reform des Kapitalismus, sondern erwartet viel eher, dass der Kapitalismus möglichst rasch wieder repariert werden möge, wozu konservative und liberale Parteien besser geeignet scheinen als reformwillige Sozialisten. Breite Bevölkerungsschichten sind durch eigene Interessen an die Blüten der Kapitalmärkte gebunden. Die Götterdämmerung der ökonomischen Erfolgsreligion kommt ihnen daher wie die Verheißung eines eigenen Unglücks vor. Doch hat die Erfolgskultur wie alle geistigen Projektionen eine eher robuste Struktur. Weil sich, wie es bei Karl Marx einmal hieß, der ideologische Überbau viel langsamer wandelt als die ökonomische Basis, kann man darauf vertrauen, dass die Hohepriester des Erfolgs noch das Scheitern ihres eigenen Projekts als Chance zum Vorwärtskommen inszenieren. Und so dürften die nächsten Benchmarks darüber vereinbart werden, wer als Bester den tieferen Sinn des Lebens und die Gesetze der Realwirtschaft begreift.
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Dennoch stellt die Finanzkrise ein Desaster für die Erfolgskultur dar. Ihr Selbstbewusstsein bezog sie daraus, dass als Lohn für die eigene Optimierung nicht nur Geldvermehrung lockte, sondern auch der psychische Gewinn allgemeiner Bewunderung. Daraus ist heute die Last geworden, das Stigma von schamlosen Zockern möglichst stoisch ertragen zu müssen. Die freiwillige Rückgabe millionenschwerer Bonuszahlungen im Finanzmanagement ist deshalb als die eigentliche Niederlage der Erfolgskultur zu betrachten. Den Verzicht von Josef Ackermann auf bis zu 90 Prozent des eigenen Jahreseinkommens kann die Öffentlichkeit nur als vorauseilenden Gehorsam dem Volk gegenüber verstehen. Und selbstverständlich hätten die Vorstände von AIG schon um der eigenen Selbstachtung alles behalten müssen anstatt bereit zu sein, dem amerikanischen Finanzminsterium die Boni rückzuerstatten. Wie beim Freitod eines schwäbischen Unternehmers, der sein Firmenimperium der Börsenspekulation geopfert hatte, wäre dann gesagt worden, dass hier wenigstens die Instinkte noch stimmen. Mit den Millionensummen ist ein Anspruch geopfert worden, den die Finanzelite noch bis gestern als wohlbegründet vertrat. Ihr Debakel ist es, den Glauben an die Rechtfertigung durch Erfolg nicht auch noch im Misserfolg durchhalten zu können.
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Schwache Schüler Über folgenreiche Inszenierungen und Ambivalenzen eines Konstrukts Thomas Rauschenbach
Öffentlich und medial verwendete Begriffe und die damit verbundenen Sichtweisen er weisen sich häug als Inszenierungen von interessierter Seite. Sie tragen dazu bei, etablierte Weltsichten und Wahrnehmungsmuster zu reproduzieren und zu stabilisieren. Das Konstrukt des „schwachen Schülers“1 könnte so eine Figur sein, inszeniert sie doch von vorneherein eine individualisierte Zuschreibung auf die Rolle des Versagers und des bildungspolitischen Verlierers, ohne Rücksichtnahme auf die stigmatisierenden Effekte dieser Zuschreibung, ohne zumindest auch nur eine Andeutung auf andere Einussfaktoren und Kontexte zu eröffnen. Auch wenn diese Form einer Vorverurteilung nicht unbedingt den Konventionen der „political correctness“ entspricht, entlastet es doch zugleich viele andere Akteure, adjustiert es sofort potenzielle Zuständigkeiten und signalisiert allen anderen, die sich dieser Kategorie nicht unterordnen müssen, Entwarnung. Schon diese Zusammenhänge lassen es angebracht erscheinen, sich mit einem sozialwissenschaftlichen Blick noch einmal mit den verschiedenen Facetten dieses Konstrukts auseinanderzusetzen. In der Logik der öffentlichen Wahrnehmung der Thematik des „schwachen Schülers“ scheint auf den ersten Blick alles klar. Das deutsche Schulsystem entlässt am Ende der Schulzeit einfach zu viele schwache Schülerinnen und Schüler aus der Schulpicht, die den Anforderungen des heutigen Arbeitsmarktes nicht gewachsen sind. In der Folge steht dadurch eine inakzeptable Zahl an nicht oder nur schwer vermittelbaren jungen Menschen vor den Toren der beruichen Ausbildung, die aufgrund dessen mit einem enormen Zusatzaufwand im sogenannten „Übergangssystem“ t gemacht werden soll. Und am Ende erweisen sich die nicht bzw. nur geringfügig Ausgebildeten mit Blick auf eine erfolgreiche und dauerhafte Platzierung auf dem Arbeitsmarkt, das belegt ein Blick auf die Befunde der Arbeitslosenstatistik, dennoch als die Verlierer des Ausbildungs- und Beschäftigungssystems.
1
Die Kategorie des „schwachen Schülers“ ist selbstverständlich nicht geschlechtsspezisch konnotiert, auch wenn sich in dieser Hinsicht interessante Zusammenhänge zeigen. Infolgedessen wird der Begriff, soweit dies nicht ausdrücklich anderweitig betont wird, geschlechtsneutral verwendet.
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Auch wenn an dieser Lesart der Ausgangsproblematik zweifellos einiges richtig ist, scheint es dennoch lohnenswert, diesen einfachen Ursache-WirkungsZusammen hang noch ein mal genauer unter die Lupe zu nehmen, tun sich dabei doch Facetten auf, die die Thematik in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen. Da die bildungs-, ausbildungs- und erwerbsbiograschen Abfolgen nach wie vor eine wichtige Rahmung für den Übergang in den Erwachsenenstatus und die sozialen Koordinaten für eine selbstständige Lebensführung bilden, ist nachfolgend zu fragen, welches die Risikofaktoren sind und wo mögliche Hürden liegen, hinter denen sich die Gewinner und Verlierer des Ausbildungssystems konturieren. Dazu werde ich zunächst einen Blick hinter die Kulissen der schulischen Ausbildung werfen, um so mögliche Anteile des Bildungssystems und der sozialen Herkunft an der Produktion des Konstrukts des „schwachen Schülers“ prüfen zu können. Daran anschließend ziehe ich eine Bilanz mit Blick auf den Übergang von der Schule in die beruiche Ausbildung und den damit verbundenen Problemen von Risikoschülern. Da sich hinsichtlich der Lage auf dem Ausbildungsmarkt gegenwärtig eine Wende abzeichnet, gilt es den Blick zugleich nach vorne zu lenken und zu fragen, wie sich der Ausbildungsmarkt vor dem Hintergrund des demograschen Wandels in den nächsten Jahren entwickelt und welche gesellschaftlichen Anstrengungen zur Verbesserung der Lage der „schwachen Schüler“ im Schul- und Ausbildungssystem beitragen können.
1
Die „schwachen Schüler“ – ein Blick hinter die Kulissen
Üblicherweise werden in Deutschland die „schwachen Schüler“ gleichgesetzt mit Schulabgängern ohne Schulabschluss. Allerdings werden hinsichtlich des Bildungsniveaus, über das eine Person verfügt, seit PISA mehr denn je zwei Dimensionen unterschieden: Zum einen betrifft dies die erreichten Zertikate bzw. Bildungsabschlüsse und zum anderen die Kompetenzen, über die Personen im Vergleich zu anderen Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügen. Wie die PISA- oder IGLU-Studien wiederholt gezeigt haben, ist dabei wichtig zu beachten, dass die erreichten Zertikate und die gemessenen Kompetenzen häug nicht deckungsgleich sind. Der Tendenz nach gibt es beispielsweise mehr kompetenzschwache Personen als junge Menschen ohne einen Schulabschluss. So ist in Deutschland der Anteil der Gruppe derer, die über die erste PISAKompetenzstufe nicht hinausgekommen sind, jedenfalls mehr als doppelt so groß, wie es die amtliche Schulstatistik (KMK 2009) auf der Basis der Schulabschlüsse nahelegen würde. Praktisch heißt das, dass es eine Gruppe von jungen Menschen gibt, die zwar einen (Haupt-)Schulabschluss erreichen, jedoch bei den Messergebnissen der PISA-Studien im unteren Kompetenzbereich liegen, also zu den „PISA-
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Risikoschülern“ gehören. Und zugleich gibt es Schulabbrecher oder Jugendliche ohne einen Schulabschluss, die nach den Befunden der PISA-Leistungstests jedoch durchaus über ausreichende Kompetenzen verfügen.2 Unabhängig davon verläuft die Integration in den Berufsausbildungsmarkt vergleichsweise einheitlich nach dem Muster: je geringer die schulischen Bildungsabschlüsse der jungen Menschen sind, umso geringer ist auch die Chance, auf Anhieb in einer dualen Ausbildung oder einer vollzeitschulischen Berufsausbildung zu landen. Nur 15 Prozent der jungen Menschen ohne Hauptschulabschluss schaffen dies. Bei der Gruppe der Hauptschülerinnen und Hauptschüler muss inzwischen ebenfalls mehr als die Hälfte erst einmal in eine Warteschleife – neuerdings zusammengefasst unter dem Begriff des „Übergangssystems“ –, kann also mit diesem Abschluss nicht auf Anhieb eine beruiche Ausbildung, egal ob betrieblicher oder vollzeitschulischer Art, antreten. Und immerhin noch rund ein Viertel der jungen Menschen mit einem Realschulabschluss landet zunächst ebenfalls im Übergangssystem. Dies ist, alles in allem, ein irritierender Befund, der – in Umkehrung des Leitsatzes „Qualizierung lohnt sich“ – nochmals unterstreicht, dass zu geringe oder gar fehlende Schulabschlüsse im Ausbildungs- und Beschäftigungssystem eine massive Hürde darstellen. Dieser Befund deutet aber auch darauf hin, dass es sich zugleich um ein Strukturproblem an der Schwelle zwischen Schule und beruicher Ausbildung handelt, in dem sich zu geringe Ausbildungskapazitäten auf der einen Seite mit, folgt man PISA, individuellen Kompetenzmängeln in Verbindung mit Schulformen und Schulabschlüssen auf der anderen Seite offenkundig bis zur Unkenntlichkeit ver mengen. Daher empehlt sich zunächst noch einmal ein Blick auf die unterschiedlichen Einussebenen. Hinsichtlich der Zertikate, also der fehlenden formalen Schulabschlüsse, lassen sich vier Befunde unterscheiden. (a) Schüler ohne Hauptschulabschluss: Nach den Daten der KMK haben 2007 etwas mehr als 70.000 Personen die allgemeinbildenden Schulen ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Das entspricht einem Anteil von 7,7 Prozent an der altersentsprechenden Bevölkerung. Ein Blick auf die Entwicklung in den letzten Jahren macht dabei zweierlei deutlich: zum einen, dass der Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss sich seit vielen Jahren in Größenordnungen zwischen 7 und 10 Prozent bewegt hat, also kein neues Phänomen ist. Im Gegenteil: deutlich wird nämlich zum anderen, dass der Anteil seit 2001 – mit dem Spitzenwert von 9,7 Prozent – bis zum Jahr 2007 auf immerhin 7,7 Prozent und damit um ca. 20 Prozentpunkte gesunken ist.
2
Diesbezüglich haben Allmendinger und Leibfried (2003) im Kontext der Rede von „Bildungsarmut“ analog die beiden Dimensionen Zerti katsarmut und Kompetenzarmut unterschieden.
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Wenigstens der letzte Befund eines sinkenden Anteils der Abgänger ohne Hauptschulabschluss ist ein kleiner Lichtblick, zu mal hinzukommt, dass der Anteil der Abgänger mit Hauptschulabschluss im gleichen Zeitraum von über 27 Prozent auf ca. 24 Prozent abgenommen hat. In der Summe heißt das, dass die Gruppe der jungen Menschen, die das allgemeinbildende Schulwesen maximal mit einem Hauptschulabschluss verlässt – und aus dem sich das Potenzial der sogenannten „schwachen Schüler“ zuallererst rekrutiert –, zwischen 2001 und 2007 von über 35 Prozent auf zuletzt rund 31 Prozent gesunken ist. Ob in dieser abnehmenden Kurve erste Erfolge eines erhöhten bildungspolitischen Engagements für schwache Schüler zum Ausdruck kommen, oder ob dies lediglich eine schulimmanente Reaktion auf die harsche Kritik im Anschluss an PISA ist, lässt sich anhand dieser Zahlen nicht beantworten. (b) Der Einuss der Schulart: Aufschlussreich ist unterdessen ein Blick auf die Schulart, aus dem die jungen Menschen ohne einen Hauptschulabschluss abgehen. Dabei ist der Blick weitaus stärker, als dies bisher der Fall war, auf den Anteil der Abgänge aus den Sonder- und Förderschulen zu richten. Während 1998 knapp 35.000 Personen diese Schulform ohne einen Hauptschulabschluss verließen, was einem Anteil an der Gruppe aller Schüler ohne Hauptschulabschluss von fast 42 Prozent entspricht, waren dies 10 Jahre später, 2007, bei insgesamt sinkenden Gesamtzahlen etwas mehr als 38.000 und damit immerhin 54 Prozent an allen jungen Menschen ohne Schulabschluss (KMK 2009: 346). Mit anderen Worten: Die Mehrheit der jungen Menschen ohne Schulabschluss kommt inzwischen nicht mehr aus den Hauptschulen, sondern aus den Förderschulen. Dieser Befund wird aus sozial- und bildungspolitischer Perspektive in seiner Tragweite noch gar nicht richtig zur Kenntnis genommen, zumal sich viele Studien der jüngeren Bildungsforschung wie beispielsweise PISA, das nationale Bildungspanel oder die Bildungsberichterstattung mit dem Thema Förder- und Sonderschulen ausgesprochen schwer tun, sprich: diese Form der Schule gar nicht oder zumindest nicht differenziert genug ins Blickfeld rücken. Dies ist unter dem Gesichtspunkt der Schulart und der entsprechenden Behinderungsart deshalb von erheblicher Bedeutung, da es bei den Förderschulen im Kern mehrheitlich nicht um geistig oder schwer mehrfach behinderte junge Menschen geht, bei denen in irgendeiner Weise von einer generellen kognitiv-organischen Einschränkung auszugehen ist. Diese Behinderungsarten decken in den Förderschulen eine deutliche Minderheit von allenfalls knapp 16 Prozent ab. Demgegenüber benden sich weit mehr als die Hälfte der Förderschüler in Schulen für Lernbehinderte sowie in Förderschulen mit dem Schwerpunkt der sozialen und emotionalen Entwicklung, den früheren „Schulen für Erziehungshilfe“ (vgl. BBE 2008: 67), also in Schulen für Behinderungsarten, bei denen in vielen Fällen eben gerade nicht von einer kognitiv-organischen Schädigung auszugehen ist. Umso stärker müssen bei diesen
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Formen der „Behinderung“ die dabei möglicherweise zum Tragen kommenden sozio-kulturellen Einüsse beachtet werden. Und völlig anders gelagert ist der Fall bei der – allerdings ausgesprochen kleinen – Gruppe der Sinnesbehinderten, bei denen zwar von einer organischen Schädigung auszugehen ist, die aber vielfach lediglich körperlich, keineswegs aber kognitiv zum Ausdruck kommt. Im Lichte der international neu entfachten Diskussion um Inklusion bedeutet das zunächst einmal, dass die Bildungspolitik diese Gruppe der „schwachen Schüler“ in den Förderschulen gezielter in den Blick nehmen muss. Obgleich die Lehrer-Schüler-Relation in diesen Schulen mit 1 : 11 etwa doppelt so gut ist wie in durchschnittlichen Hauptschulen (KMK 2009: XI), werden die jungen Menschen in den Förderschulen in der Summe trotz dieser günstigeren Relationen nicht so gefördert, dass sie damit am Ende mit einer höheren Wahrscheinlichkeit über einen Hauptschulabschluss verfügen. Im Gegenteil: „Im Förderschwerpunkt Lernen … besteht in zehn Ländern die Möglichkeit, den Hauptschulabschluss zu erwerben nicht. Auch dies macht die Zuweisung von Schülerinnen und Schülern mit Lernschwierigkeiten an eine Förderschule zu einer besonders schwerwiegenden Entscheidung“, so das Fazit des Bildungsberichts (BBE 2008: 89). In der Konsequenz dieser Abschlussproblematik im Kontext der Förderschulen bedeutet dies aber auch, dass aus den Hauptschulen mit einer Quote von 12 Prozent weitaus weniger Schüler die Schule ohne einen Abschluss verlassen, als dies gemeinhin unterstellt wird (Krekel/Ulrich 2009: 30). Oder anders formuliert: Nur gut jeder dritte junge Mensch ohne einen Schulabschluss war am Ende seiner Schulzeit an einer Hauptschule. Wenn also die Bildungspolitik etwas an der Situation der Gruppe der „schwachen Schüler“ ändern, etwa die Quote, wie beim Bildungsgipfel im Herbst 2008 vereinbart, halbieren will (vgl. BMBF 2009), dann darf sie ihr Augenmerk nicht ausschließlich auf die Hauptschulen bzw. die allgemeinbildenden Schulen richten. (c) Der Einuss der Geschlechterfrage: Der Blick auf das Geschlecht fördert den inzwischen nicht mehr ganz so überraschenden Befund zutage, dass es sich bei den Abgängern ohne Hauptschulabschluss mehrheitlich um männliche Jugendliche handelt. Von den 7,7 Prozent Schülern ohne Hauptschulabschluss des Jahres 2006 waren immerhin 63 Prozent männlich und 37 Prozent weiblich (BBE 2006: 274). Oder in altersentsprechender Relation ausgedrückt: 5,3 Prozent der Schülerinnen, aber 8,7 Prozent der Schüler ohne Migrationshintergrund hatten keinen Hauptschulabschluss.3 Das sind deutliche geschlechtsspezische Unterschiede. Hierin spiegelt sich der inzwischen allgemeine Befund, dass sich Jungen im schulischen System offenkundig schwerer tun.
3 Nur am Rande: Die Relation bei den jungen Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit lag bei den Schülerinnen bei 12,7 Prozent gegenüber 19,2 Prozent bei den Schülern.
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(d) Der Einuss des Migrationshintergrundes: Kompliziert wird die Lage des Konstrukts vom „schwachen Schüler“ schließlich mit Blick auf die Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte. Zu diesem Thema liegen nach wie vor keine Daten auf Basis der Schulstatistik vor – ein in Anbetracht der erheblichen Anteile dieser Gruppe an den aktuellen Problemen des Bildungswesens bildungspolitisch unhaltbarer Zustand. Infolgedessen kann man hierzu lediglich den Bildungsbericht 2006 und die dort zugrunde gelegten Daten des Mikrozensus von 2005 heranziehen (vgl. Abb. 1). Abbildung 1
25- bis 35-Jährige ohne allgemeinbildenden Schulabschluss nach Migrationshintergrund (2005; in Prozent der altersentsprechenden Bevölkerung)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2005
Auf dieser Datenbasis wird sichtbar, dass der Anteil junger Menschen ohne Hauptschulabschluss unter Migrationsgesichtspunkten erheblich variiert. Während sich das Problem fehlender Schulabschlüsse in der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen bei den Personen ohne Migrationshintergrund nur noch auf dem Niveau von knapp 2 Prozent und bei Spätaussiedlern bei weniger als 3 Prozent bewegt, liegt der entsprechende Anteil bei den jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund insgesamt bei immerhin 9 Prozent und bei den jungen Erwachsenen mit türkischem Hintergrund sogar bei 18 Prozent. Diese haben somit im Schnitt eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, die Schule ohne Abschluss zu verlassen wie die Migran-
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ten insgesamt und eine 10mal höhere Wahrscheinlichkeit als Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Daraus folgt zweierlei: Zum einen gilt es zur Reduktion der Gruppe „schwacher Schüler“ besondere Aufmerksamkeit auf jene Kinder ohne Hauptschulabschluss zu richten, die selbst oder deren Eltern zugewandert sind – allen voran gilt dies für Schüler mit türkischem Hintergrund. Und zum anderen muss dabei innerhalb dieser Gruppe noch einmal die Situation der jungen Menschen mit Migrationshintergrund gesondert beleuchtet werden, die in Förderschulen unterrichtet werden, da bei ihnen die Gefahr offenkundig besonders groß ist, dass hier auch oder gar überwiegend sprachliche und/oder soziokulturelle Gründe zu einer Überweisung auf die Förderschule beitragen, sprich: dass Lernschwierigkeiten hier nicht allein auf kognitive Dezite zurückzuführen sind, sondern es sich zumindest potenziell auch um (schul) systembedingte Fehlallokationen handeln könnte. Diese Seite der Thematik bleibt in der bundesdeutschen Bildungsforschung und Bildungspolitik bei der Diskussion um das Konstrukt „des schwachen Schülers“ bis heute jedoch eher im Dunkeln. Wie aber bereits eingangs erwähnt lässt sich das Problem der „schwachen Schüler“ schlussendlich gar nicht allein auf die Gruppe jener Jugendlichen reduzieren, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Zumindest weisen die Daten der PISA-Studien darauf hin, dass die Gruppe der Risikoschüler deutlich größer ist als die Zahl der Schüler ohne Hauptschulabschluss (vgl. Abb. 2). Abbildung 2
Entwicklung der Risikogruppenanteile in Deutschland anhand unterschiedlicher Kompetenzbereiche in den PISA-Studien (2000–2006; in Prozent der befragten Population)
* Zu den Risikogruppen zählen diejenigen Schüler, die die Kompetenzstufe II nicht erreichen. Quelle: PISA (2001, 2005, 2007)
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Hierbei zeigt sich, dass über die verschiedenen Kompetenzbereiche hinweg nach wie vor knapp 20 Prozent, also jeder fünfte Jugendliche jener Risikogruppe angehört, die dauerhaft nicht nur mit schulischen, sondern anschließend auch mit Problemen in Ausbildung und Beruf zu rech nen hat, von sonstigen, allgemeinen Problemen der Lebensführung ganz abgesehen. Schule stellt somit in der Biograe von Kindern unübersehbar eine wichtige Weiche: im günstigen Fall eine gut ausgestattete Basisqualizierung für einen zwar nicht gesicherten, aber immerhin erwartbaren beruichen Werdegang, im ungünstigen Fall einen prekären Schulverlauf mit zusätzlich stig matisierenden und folgenreichen Nebenwirkungen auf die anschließende Lebensführung. Eine gewisse Dynamik zeigt sich auch bei diesen Daten: Da sich bei den PISA-Befunden zwischen 2000 und 2006 ein leichter Rückgang andeutet, könnte dies immerhin dafür sprechen, dass sich auch innerhalb der Gruppe der „schwachen Schüler“ die Lage leicht verbessert hat. Bilanziert man insgesamt die Befunde dieses Abschnitts mit Blick auf die „schwachen Schüler“, so zeigen sich sowohl inhaltliche Befunde als auch Hinweise auf die Implikationen des Konstrukts des „schwachen Schülers“. Inhaltlich wird erkennbar, dass das Thema der Förderschulen, also der Schulform, künftig stärker beachtet werden muss und dass die bloße Erhöhung der Anteilsquoten erfolgreicher Hauptschulabschlüsse allein nicht weiterhilft, sofern dies nicht zugleich mit einem Zugewinn an Kompetenz einhergeht. Zugleich wird deutlich, dass männliche Jugendliche in der Gruppe der schwachen Schüler stärker vertreten sind als junge Frauen und dass sich hinter dem Konstrukt des „schwachen Schülers“ eine Zusatzhürde für Heranwachsende mit Migrationshintergrund im Allgemeinen sowie mit türkischem Migrationshintergrund im Besonderen auftut. Hierbei liegt es – auf der Basis anderer Befunde – nahe, dass diese Auffälligkeiten wiederum eng mit dem Schulabschluss der Eltern konfundieren. Oder allgemeiner: dass der Einuss der Herkunftsfamilie, also des sozialen Hintergrunds für eine erfolgreiche Bildungsbiograe offenkundig genauso wichtig oder gar wichtiger ist als die Schule selbst. Dies verweist unmittelbar auf die problematische Konstruktion des „schwachen Schülers“, da hier ungeltert unaufgeklärte Zusammenhänge von zumindest sozialer Herkunft, Schulform, Migrationshintergrund, Geschlecht, schulischer Leistung und individueller Kompetenz konfundieren, ohne dass es auf dieser Basis gerechtfertigt wäre, einfach von dem „schwachen Schüler“ zu sprechen.
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Die Übergänge – über Hürden und Chancen
Die Übergangsforschung ebenso wie die Bildungsberichte haben wiederholt belegt, dass beim Übergang an der ersten Schwelle, also von der Schule in die beruiche Ausbildung, nicht die Devise gilt: „neues Spiel, neues Glück“ (Reißig/Gaupp/ Lex 2008; BBE 2008). Auch wenn es keinen linearen Zusammenhang zwischen Schulabschluss und erfolgreicher Einmündung in die beruiche Ausbildung gibt, so sind diese Zertikate dennoch wichtige Optionsscheine für den Eintritt in die beruiche Ausbildung. Für sich genommen eröffnen sie zwar noch keine Garantie für einen sicheren Ausbildungsplatz, da zugleich – und das macht die Rede vom „schwachen Schüler“ so ambivalent – der Frage einer ausreichenden Zahl an betrieblichen, außerbetrieblichen oder vollzeitschulischen Ausbildungsplätzen mit Blick auf das Ausmaß der vermittelten Bewerber eine ganz entscheidende Rolle zukommt. Mit anderen Worten: Neben den unbestritten vorhandenen kompetenzbedingten Ausbildungslosen gibt es seit Jahren auch eine immense Zahl an marktbedingten Ausbildungslosen. (a) Lage und Zukunft auf dem Ausbildungsmarkt: Spätestens seit Ende des letzten Jahrhunderts gibt es in der beruichen Ausbildung ein deutliches Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage an Ausbildungsplätzen. Die Folge war, dass die Zahl der jungen Menschen im „Übergangssystem“ spürbar angestiegen ist – von knapp 350.000 im Jahre 1995 bis auf mehr als 500.000 Personen ab 2004 –, einem Übergangssystem, das im Übrigen gar kein kohärentes System, sondern ein unverbundenes Bündel an Maßnahmen schulischer und beruicher Qualizierung unterhalb eines Berufsabschlusses verkörpert. Diese ungünstige Entwicklung hängt vor allem mit dem Anstieg der Ausbildungswilligen zusammen, also der Gruppe der sogenannten „nichtstudienberechtigten Abgänger“ aus den allgemeinbildenden und beruichen Schulen, zuzüglich der unversorgten Altbewerber (vgl. Abb. 3). Dabei zeigt sich: Lag die Zahl der Jugendlichen, die eine Ausbildung anstrebten, nach Berechnungen des Bundesinstituts für beruiche Bildung nach der „erweiterten Variante 1“ 1995 noch bei rund 800.000, so ist dieser Wert ab 2004 auf rund 1 Million gestiegen.4 Bei der etwas „engeren Variante 2“ stieg die Zahl im gleichen Zeitraum von 700.000 bis auf 880.000.5 Mit diesem Verlauf auf Seiten der Nachfragenden hat die Entwicklung des Angebots an Ausbildungsplätzen – sowohl im Rahmen der dualen Ausbildung als auch des Schulberufssystems – nicht Schritt
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Variante 1 umfasst alle Schulabgänger und Schulabsolventen – auch die ohne erfolgreichen Abschluss – und wird daher als „erweiterte Variante“ bezeichnet. 5 Variante 2 umfasst nur Schulabsolventen mit einem erfolgreich abgelegten Schulabschluss und wird daher als „engere Variante“ bezeichnet.
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gehalten, so dass unter dem Strich die rechnerische Lücke zwischen Angebot und Nachfrage immer größer wurde. Abbildung 3
Entwicklung von Ausbildungsangebot und Ausbildungsnachfrage (1998–2008; in Absolutzahlen)
Quelle: In Anlehnung an Krekel/Ulrich (2009: 43 f.)
Diese Ausbildungsmisere mit einer nicht unerheblichen Zahl an marktabhängigen Ausbildungslosen bendet sich inzwischen jedoch an einem Wendepunkt. Aufgrund der demograschen Entwicklung und des gleichzeitig zu erwartenden anteilsmäßigen Rückgangs der nichtstudienberechtigten Schulentlassenen kehren sich in den nächsten Jahren – zuallererst und in massivem Umfang in Ostdeutschland – die Verhältnisse aller Voraussicht nach um (vgl. Abb. 4). So würde bei der „erweiterten Variante 1“ auf der Basis der rund 820.000 Ausbildungsplätze, die in den letzten beiden Jahren jeweils zur Verfügung standen, ab dem Jahre 2014 die Nachfrage für viele Jahre und in wachsendem Maße unter dieser zur Verfügung stehenden Zahl an Ausbildungsangeboten liegen, während dieser Wert im Falle der „engeren Variante 2“ bereits heute rechnerisch unterboten würde. Und selbst unter der Annahme, dass die duale Ausbildung in den nächsten Jahren wieder auf ihren schlechtesten Wert der letzten 15 Jahre zurückfallen würde – nämlich auf rund 560.000 Ausbildungsplätze – hieße das, dass die Nachfrage das Angebot gemäß der „erweiterten Variante 1“ Ende des nächsten Jahrzehnts,
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in der „engeren Variante 2“ jedoch bereits ab 2010 unterschreiten würde. In Ostdeutschland realisiert sich diese Entwicklung aufgrund der ungleich stärkeren demograschen Komponente noch wesentlich deutlicher und schneller. Abbildung 4
Prognose zur Entwicklung von Ausbildungsangebot und Ausbildungsnachfrage (2005–2020; in Absolutzahlen; ab 2008: Prognose)
Quelle: In Anlehnung an Krekel/Ulrich (2009: 48 f.)
Hinsichtlich dieser sich abzeichnenden Entwicklungen erscheint das Fazit von Krekel und Ulrich auch im Lichte der aktuellen Wirtschaftskrise nachvollziehbar: „Nach Über windung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise sind deshalb die Voraussetzungen für einen raschen Abbau des Ungleichgewichts von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage sehr gut. … Aus den demograschen Veränderungen erwächst eine Scherenöffnung …, welche die Verhältnisse auf dem Ausbildungsmarkt umkehren und in ein Ungleichgewicht zu Lasten der Betriebe überführen wird“ (Krekel/Ulrich 2009: 24). (b) Ausbildungslose und fehlende Berufsabschlüsse: Auch wenn sich somit das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach verschieben wird, ist damit das Thema der „schwachen Schüler“ keineswegs vom Tisch, auch wenn sich die Stellung dieser jungen Menschen auf dem Ausbildungsmarkt allein aus quantitativen Gründen ebenfalls verbessern dürfte. Bestehen bleibt aber vorerst das Dilemma der steigenden Anforderungen in der beruichen Ausbildung bei einem nicht unbedingt zeitgleich verbesserten
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Kompetenzprol auf Seiten der Schülerinnen und Schüler. Deshalb ist sowohl ein Blick auf die Ein mündung in den Ausbildungsmarkt als auch auf das Ende der beruichen Ausbildung und damit die fehlenden Berufsabschlüsse zu werfen. 1. An der ersten Schwelle, also dem Übergang von der Schule in die beruiche Ausbildung werden in unverhohlener Form die fatalen Folgen eines fehlenden oder zu geringen Schulabschlusses – bei einem zu knappen Ausbildungsangebot – offenkundig (vgl. Abb. 5). Abbildung 5
Verteilung der Neuzugänge in der Berufsbildung nach Sektoren und schulischer Vorbildung (2004–2006)*
* Ohne Neuzugänge mit sonstigen Abschlüssen Quelle: BBE (2008)
An diesen Befunden wird noch einmal die prekäre Entwicklung für Schülerinnen und Schüler der Förder- und Hauptschulen auf dem Ausbildungsmarkt deutlich, auch wenn – darüber hinaus – die zusätzlichen Hürden für junge Menschen mit Migrationshintergrund nicht gesondert ausgewiesen werden kön nen. Unter dem Strich besteht unübersehbar die Gefahr, dass eine große Gruppe Ausbildungsloser auch auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft ohne Perspektive bleibt und damit zu Ver-
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lierern der Gesellschaft wird, zu Verlierern, die niemals in der Lage sein werden, ihr Leben ökonomisch, und in der Folge vielfach auch sozial, selbst in die Hand zu nehmen. 2. Bestätigt wird diese Gefahr bei einem Blick auf das Ende der beruichen Ausbildung, d. h. auf die Gruppe der Unausgebildeten und damit jener Personen, die vermutlich dauerhaft über keinen beruichen Ausbildungsabschluss verfügen werden. 2007 hatten in Deutschland immerhin fast 16 Prozent bzw. rund jede 6. Person im Alter zwischen 25 und 35 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung. Dieser Wert fächert sich unterdessen dramatisch auf, wenn man ihn migrationsspezisch aufschlüsselt. Demnach verfügen zwar 15 Prozent der deutschstämmigen Menschen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren über keinen beruichen Ausbildungsabschluss, während dies bei den Spätaussiedlern aber immerhin knapp 28 Prozent, bei den Migranten insgesamt rund 40 Prozent und bei den türkischen jungen Menschen dramatische 57 Prozent sind, also fast vier mal so viel wie bei den einheimischen jungen Erwachsenen. Hier kommt erneut der massive Einuss des Migrationshintergrundes und insbesondere der jungen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund zum Tragen. Dies zeigt einmal mehr, was sich bereits am Ende der allgemeinbildenden Schullaufbahn abgezeich net hat: die besondere Stellung der jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte auch bei jener Gruppe, die evtl. für immer ohne eine eigene Berufsausbildung bleibt. Dies verweist einmal mehr auf die ungeklärten sozialen und kulturellen Anteile hinter dem schulisch-kognitiven Konstrukt des „schwachen Schülers“.
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Herausforderungen für das Ausbildungs- und Beschäftigungssystem
Es stellt sich schließlich die bildungspolitisch relevante Frage, wie erreicht werden kann, dass sich die Lage dieser jungen Menschen jenseits des Konstrukts des „schwachen Schülers“ real verbessert. Dazu abschließend drei Anmerkungen. (a) Auch beim Thema der Bildungsbenachteiligung gilt, dass zur Vermeidung entsprechender Bildungsverlierer-Biograen früh angesetzt werden muss. „Bildung von Anfang an“ (BMFSFJ 2003) ist in diesem Zusammenhang eine viel zitierte Programmformel, die weniger auf eine frühe schulische Bildung abzielt, stattdessen jedoch konsequent die altersgerechten Möglichkeiten einer lebensweltlichen Förderung und spielerischen Weltaneignung in den ersten Lebensjahren in den Blick nimmt. Damit erlangen sowohl die Förderung des Aufwachsens in der Familie als auch in der Kinder tagesbetreuung eine wachsende Aufmerksamkeit, sollen in dieser Hinsicht nicht wesentliche Impulse verschenkt werden.
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Für die Propagierung dieser Sichtweise kann man nicht nur den amerikanischen Nobelpreisträger James Heckman heranziehen, der auf der Basis einer Fülle von empirischen Daten zu dem Fazit gelangt, dass – zugespitzt formuliert – bis zur Einschulung im Grunde genommen alle wesentlichen Weichen gestellt sind (Heckmann/ Krueger 2005). In die gleiche Richtung weisen auch die PISA- und IGLU-Studien mit ihren starken Indizien einer lange Zeit unterschätzten positiven Wirkung, die eine gute Kindertagesbetreuung entfalten kann. Demnach nden sich bei Kindern, die mehr als ein Jahr einen Kindergarten besucht haben, auch noch einige Jahre später höhere Kompetenzwerte (Rauschenbach 2009). Hierbei werden die verstärkten Bemühungen um eine gezielte frühe Sprachförderung ganz unübersehbar zusätzliche wichtige Impulse setzen, auch wenn die gesamte Frage der frühkindlichen Förderung und der verbesserten Integration von Kindern mit Migrationshintergrund dabei nicht auf das Thema Sprachförderung reduziert werden kann. Dazu sind die anderen Facetten der Bildung, Betreuung und Erziehung viel zu bedeutsam. (b) Die Daten und Befunde aus den großen vergleichenden Kompetenzstudien weisen immer wieder darauf hin, dass es keineswegs allein die Schule ist, die über das Leistungspotenzial und das Kompetenzniveau der jungen Menschen entscheidet. Im Gegenteil: Die Familie und die soziale Herkunft erweisen sich als weitaus stärkere Einussfaktoren zur Erklärung der in Deutschland besonders stark anzutreffenden Leistungsunterschiede. Dieser Befund ist auch als ein Hinweis auf die Bedeutung dessen zu verstehen, was sich mit Alltagsbildung umschreiben lässt, also jener Sorte von Bildung und Befähigung, die nicht in das Korsett der schulischen Unterrichtsfächer eingebunden ist, die aber eine elementare Voraussetzung für eine allgemeine Lebensführungskompetenz junger Menschen ist – und in den heutigen modernen Bedingungen des Aufwachsens keineswegs mehr selbstverständlich in allen Fällen vermittelt wird (Rauschenbach 2009). Die Potenziale der realisierten oder eben nicht realisierten Alltagsbildung scheinen ausschlaggebende Faktoren zu sein, die die Existenz des „schwachen Schülers“ erklären und zugleich zu dessen Überwindung beitragen können. Das Konzept der Ganztagsschule könnte in diesem Zusammenhang zu einer wichtigen Antwort werden, sofern diese so konzipiert wird, dass in den nichtunter richtlichen Teilen des Ganztagsangebots die Potenziale der Alltagsbildung zum Tragen kommen und auf diese Weise junge Menschen in einem weit höheren Maße handlungskompetent werden, als dies üblicherweise im normalen Unterricht möglich ist. Dies würde vermutlich bei vielen Jugendlichen, die als „schwache Schüler“ kategorisiert werden, weit mehr bewirken als die alleinige Ausrichtung auf die Leistungssteigerung im gewöhnlichen Fachunterricht. (c) Schließlich geht es bei den anstehenden Herausforderungen um die Möglichkeiten und Instrumente einer verbesserten Förderung der „schwachen Schüler“ im
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engeren Sinne (Krekel/Ulrich 2009), sei es durch Mentorensysteme und betriebliche Patenschaften für einzelne Schulen, sei es durch ein regionales Übergangsmanagement, das sich gezielt institutionell und persönlich um den Übergang von der Schule in die Ausbildung kümmert, sei es durch unterschiedlichste Hilfestellungen und zusätzliche individuelle Unterstützungsangebote bei den Übergängen, sei es durch Betriebspraktika, modularisierte akkumulierbare Ausbildungselemente, Teilzeitausbildungen oder schließlich auch durch Kompetenzfeststellungsverfahren, die das tatsächliche Ausmaß nur bedingt ausbildungsfähiger bzw. -williger junger Menschen auch jenseits von erreichten Zertikaten sichtbar macht. Alle diese Maßnahmen würden weitaus eher dazu beitragen, die Rede vom „schwachen Schüler“ nicht nur auf ein realistisches Maß zu reduzieren, sondern zugleich auch die Anteile der systembedingten Produktion des schwachen Schülers besser in den Blick zu nehmen. Insgesamt spricht somit alles dafür, das Konstrukt vom „schwachen Schüler“, das die Lage allzu sehr individualisiert, durch ein Prol der persönlichen Stärken und Fähigkeiten, aber auch durch die strukturell bedingten Benachteiligungen zu ergänzen. Zugleich sollte der Blick bei diesem Thema konsequent geweitet werden auf die gesamte Lebenssituation der jungen Menschen, um so auch die jenseits der Schule brachliegenden Potenziale der Alltagsbildung verstärkt einzubeziehen. Schlussendlich geht es jedoch auch um eine verstärkte Einbeziehung der institutionellen Aspekte des Übergangs, also der Lage der Förderschulen ebenso wie die sich verändernden Rahmenbedingungen der Ausbildungslandschaft. Dies alles zusammen sollte es zumindest künftig erschweren, gänzlich unbedarft vom „schwachen Schüler“ zu sprechen.
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Vergemeinschaftung und Erlebniswelten
Gleichheitspolitik als Differenzgenerator – Identitätspolitik als Gleichheitsmaschine? Zur widerständigen Logik des Sozialen Clemens Albrecht
Paradoxien des Sozialen Als ich in den 90er Jahren zum ersten und einzigen Mal die Love-Parade in Berlin besuchte, war dies eine Erfahrung überwältigender Monotonie. Vielleicht entstand dieser Eindruck in erster Linie durch Musik, das – buchstäblich – eintönige Wumm-Wumm der Bässe, neben denen weder Rhythmen, Tempi, Harmonien oder gar Melodien identizierbar waren. Dann die Monotonie der Bewegungsformen: Vor und zurück, in erster Linie aber auf und nieder im Takt der Bässe, kaum zu unterscheidende Schrittfolgen – dazu fehlte allein der Bewegungsraum. Und schließlich die Eintönigkeit der schrillen Farben, in denen sich Abertausende gekleidet hatten, die in mir unwillkürlich die Assoziation durcheinandergeratener Warnbaken einer Großbaustelle wachriefen. Ganz ähnlich der Eindruck, der mich in Leipzig überel, als ich eher zufällig an den Rand des Wave-Gothic-Festivals geriet. Eine Straßenbahn voll Schwarzgekleideter, die wie ein Raumschiff durch die bunte Umwelt glitt. Niemand kann heute solche Erfahrungen in der vielfältigen Szenenlandschaft reektieren, ohne sie mit dem Werk Ronald Hitzlers (als pars pro toto: Hitzler 2001) abzugleichen. Seine vielfältigen Studien zu den jugendlichen Szenen und Subkulturen, seine luziden Beschreibungen der vielseitigen und zugleich fragilen Identitätsbasteleien (Hitzler 2003a) an der Schwelle zum Erwachsenenleben und darüber hinaus markieren, fachgeschichtlich gesehen, eine neue Lust an der sozialen Vielfalt, die ihre Wurzeln eher in der Ethnographie, der dichten Beschreibung möglichst vielfältiger Stämme zu haben scheint (Hitzler 2003b), als in der sozialstrukturellen Zusammenfassung wesentlicher Merkmale moderner Gesellschaften, wie sie die 60er und 70er Jahre dominierten. Wurde damals die Vielfalt grundsätzlich kritisch als Gleichheitshindernis gesehen, als ein Faktor, der als vormodern-ständisches Moment in die auch normativ angestrebte nivellierte Mittelstandsgesellschaft hineinragt, so vollzog sich mit der Individualisierungstheorie (Beck/Beck-Gernsheim 1994) ein grundsätzlicher Wandel, indem die soziale Vielfalt nicht mehr als ein Produkt unterschiedlicher Traditionen, sondern
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der Freisetzung aus ihnen und damit grundsätzlich positiv, als modernitätsafn interpretiert werden konnte. Trotz dieser grundsätzlichen Umlenkung des Blicks von sozialstruktureller Einheit auf sozialethnographische Vielheit der fragilen Inszenierungen und Sinnwelten von Existenzbastlern gibt es nicht nur genetische Verbindungslinien zwischen diesen beiden Entwicklungsstufen der Modernisierungstheorie, sondern auch strukturelle. Eine dieser Parallelen in der Theoriestruktur zeigt sich in der oben beschriebenen Paradoxie, dass individualisierte Existenzbastler, sobald sie sich in Szenen oder Events vergemeinschaften (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008), soziale Monotonie produzieren. Im Umkehrschluss entsteht deshalb die Frage, ob und inwiefern Gleichheitspolitik Verschiedenheit generiert. Ich möchte im Folgenden durch einen Aufgriff der klassischen 70er-Jahre-Frage nach sozialer Ungleichheit zeigen, dass sich beide Paradoxien aus einer widerständigen Logik des Sozialen erklären lassen.
Soziale Ungleichheit – revisited Wollte man die deutsche Gegenwartsgesellschaft sozialstrukturell nach einem klassischen Schichtenmodell beschreiben, so könnte man von einer Tortengesellschaft sprechen: Ganz unten der verbrannte Boden der Exkludierten, darüber ein ebenfalls zu fest geratener Biskuitboden der Hartz IV-Empfänger und prekär Beschäftigten, dann der seit den 90er Jahren dünner werdende Belag verschiedener Crèmes der Mittelschichten, und ganz oben die Sahnehaube der Elite. Soziale Mobilität beschränkt sich hier weitgehend auf die Mittelschichten, hier ndet ein gewisser Austausch der Säfte statt, hier sind die Bildungskämpfe zu verorten, hier noch die Hoffnung auf sozialen Aufstieg, hier greifen die Milieutheorien mit ihrer horizontalen Differenzierung. Ganz unten dagegen über Generationen stabilisierte Erwartungen, von staatlichen Zuwendungen zu leben, ganz oben die zur Selbstverständlichkeit geronnene Lebenserfahrung, auch wieder oben anzukommen. Das zeigen die einschlägigen Elite-Studien: „Betrachtet man nur die Vorstandsvorsitzenden der 100 größten Unternehmen, so wird die soziale Rekrutierung noch elitärer. Sie ist weit exklusiver, als die bisherigen Untersuchungen vermuten ließen. Von jenen gut 85 % der Vorstandsvorsitzenden, über die entsprechende Informationen zu bekommen waren, stammen über vier Fünftel aus den genannten gehobenen Schichten (…). Dies gilt auch schon für die Generation, die vor einem Vierteljahrhundert die wirtschaftliche Macht in Händen hielt“ (Hartmann 2001: 177). Warum haben Menschen verschiedener sozialer Herkunft so unterschiedlich große Chancen, in Spitzenpositionen einzurücken, und zwar unabhängig von ihrer Leistung? Die Personalchefs der großen Unternehmen geben darüber Auskunft:
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Ein Universitätsexamen ist heute, auch mit exzellenter Note, kein ausreichender Qualitätsnachweis, sondern nur eine Voraussetzung unter vielen. Entscheidend dagegen seien Persönlichkeitsmerkmale, und zwar auch nicht diejenigen, die in den Stellenausschreibungen genannt werden (Belastbarkeit, Teamfähigkeit etc.). Dabei entscheiden häug die ersten 20 Sekunden des Gesprächs: Auftreten, Kleidung, Sprachkonventionen. Und: Allgemeinbildung. „Wenn Sie mich jetzt fragen, was zum Topmanagement-Erfolg auch beiträgt, wie Leute auffallen, angenehm auffallen“, meint der Manager eines großen Konsumgüterkonzerns, „dann ist das diese Allgemeinbildung im Sinne von: breiter sein als sein Job, eine Meinung, ein Bekenntnis haben zu Dingen, die da links und rechts liegen. Ich habe immer wieder festgestellt, dass unsere Topleute oftmals profunde Kenntnisse haben über Musik oder Literatur oder Geschichte oder die Bibel bzw. Religionen überhaupt. Das ist ein Kriterium, nicht ausgesprochen, aber unausgesprochen.“ Und die Führungskraft eines Elektrokonzerns ergänzt: „Allgemeinbildung ist bei allen Vorgesetzten wichtig, und je höher der Führungskreis, desto wichtiger und desto selbstverständlicher. Wenn ich meinen Kollegen in Japan besuche, dann will ich von ihm etwas über japanische Kultur wissen“ (beide Zitate aus Hartmann 2001: 187). Die Ursache dafür, dass Mittelschicht-Kinder unabhängig von ihren sachlichen Fähigkeiten und Leistungen geringe Chancen auf Aufstieg in die Spitzenpositionen der Wirtschaft haben, liegt darin, dass ihnen der Habitus der Oberschichten – Souveränität, Selbstsicherheit, optimistische Einstellung zum Leben, gute Allgemeinbildung, solide, nicht angelernte Kenntnisse über die Lebensformen der Oberschichten – nicht vertraut ist. Damit stimmt das nicht, auf was es bei den meisten Bewerbungsgesprächen ankommt: die Chemie. „Wer ohne Gewöhnung in einen Salon kommt“, bemerkte schon der geborene Großbürger Max Horkheimer in seinen jungen Jahren, „benimmt sich ungeschickt, und wehe, wenn auch noch fühlbar wird, daß er begierig ist dabeizusein. Die Freiheit, Selbstverständlichkeit, ‚Natürlichkeit‘, die einen Menschen in gehobenem Kreis sympathisch machen, sind eine Wirkung des Selbstbewußtseins; gewöhnlich hat sie nur der, welcher immer schon dabei war und gewiß sein kann, dabeizubleiben. Die Großbourgeoisie erkennt die Menschen, mit denen sie gern umgeht, die ‚netten‘ Menschen an jedem Wort“ (Horkheimer 1987: 321). Soziale Ungleichheiten und das Problem der Chancengerechtigkeit betreffen also auch heute noch alle sozialen Schichten. Das ist eigentlich erstaunlich, denn zumindest im Westen hat man sich seit mehr als zweihundert Jahren über soziale Ungleichheit Gedanken gemacht und auch allerlei unternommen, um sie zu beseitigen. Das Problem allerdings ist immer noch in der Welt. Ja im Gegenteil haben gerade die eifrigsten Versuche, soziale Ungleichheit zu beseitigen, stets zu neuen Formen der Ungleichheiten geführt. So gab es in Deutschland einmal ein erfolgreiches Programm, den Anteil an Arbeiterkindern im höheren Bildungsweg
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zu erhöhen, und zwar im Osten nach 1950. Die Dominanz des Bildungsbürgertums, der Ärzte- und Apothekerkinder, der Lehrersöhne und Intellektuellentöchter, wurde gebrochen – und hat innerhalb von einer Generation zur Einführung einer ganz neuen Oberschicht geführt, der Schicht der Funktionäre, die sich nun über ihren politischen Einuss in Staat und Partei absicherten und bei ihren eigenen Kindern dafür sorgten, dass sie ebenfalls wieder in die lukrativen Posten kamen (Hornbostel 1999). Dieser Befund eines mehr als zweihundertjährigen Kampfes gegen Ungleichheit und sein letztliches Scheitern soll hier als Anlass dienen, ein wenig grundsätzlicher, vertiefter über das Phänomen nachzudenken. Dabei fällt zunächst auf, dass der Begriff der sozialen Ungleichheit in der sozialwissenschaftlichen Literatur nur als Paket zu haben ist, das auch noch anderer Dinge enthält: Dazu zählen Gerechtigkeitsvorstellungen, die eng mit dem Begriff verbunden sind (vgl. Kersting 2000), wodurch in allen Studien eine latente oder offene moralische Empörung mitschwingt, der man nur ungern widersprechen möchte, weil sich viele und hochtragende Hoffnungen daran binden: „Soziale Ungleichheit ist eine von Menschen gemachte und somit auch von Menschen veränderbare Grundtatsache heutigen gesellschaftlichen Lebens. Von den Beteiligten und Betroffenen wird sie allerdings häug als unabänderliches Schicksal hingenommen. Dennoch besteht die Hoffnung, dass mit der genauen Einsicht in die Entstehungs- und Wirkungsweise sozialer Ungleichheitsverhältnisse auch deren vermeintliche Selbstverständlichkeit und Unantastbarkeit ins Wanken gebracht werden kann“ (Kreckel 1992: 13). In der Ungleichheitsforschung wie in allen Modernisierungstheorien liegen Erkenntnis, Moral und Politik eng beieinander, für einen skeptischen Geschmack zu eng. Darum sollen hier die Dinge ein wenig entzerrt werden. Ich möchte zeigen, dass dem Begriff der sozialen Ungleichheit neben seiner semantischen auch eine soziale Logik eignet – und dass beide sich widersprechen. Anders formuliert: Es geht um die nicht-intendierten Folgen sozialer Handlungen.
Gleichheitspolitik und ihre Folgen Der Antike war der Begriff der sozialen Ungleichheit fremd, Gleichheit als Ideal bezog sich nur auf diejenigen Gruppen, die überhaupt gleich sein konnten: Sklaven als Sklaven, Freie als Freie, Bürger als Bürger. Deshalb bindet sich in der klassischen politischen Literatur der Begriff der Gleichheit nicht an das Soziale, sondern an das Recht. ‚Rechtsgleichheit‘ taucht als Verfassungsbegriff zum ersten Mal auf, als in Griechenland um 500 v. Chr. die Erweiterung der politischen Rechte nichtadeliger Volksschichten zu organisieren war (Lübbe 1992). Aristoteles bezog den Begriff dann eng auf Gerechtigkeit, indem er zwei Arten unterschied: Ungerecht
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ist, wenn Gleiche Ungleiches und wenn Ungleiche Gleiches erhalten (Aristoteles 1981: 1131a). Diese Form der normativen Kopplung ist sozial sehr exibel, weil es mitnichten ungerecht ist, Sklaven von bestimmten Gütern fernzuhalten, insofern man sie als verschieden von den Freien betrachtet. Im römischen Recht benennt das ius aequum dann nur die Gleichheit römischer Bürger vor dem Gesetz. Das ist weit von unseren universalistischen Gleichheitsvorstellungen entfernt. Die moderne Gleichheitsdiskussion setzte erst mit dem aufklärerischen Naturrecht ein. Montesquieus These, dass im Naturzustand alle Menschen gleich sind und die Gesellschaft sie verschieden macht, wird von Rousseau im berühmten zweiten Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1775 kulturkritisch neu interpretiert. Auch Rousseau unterscheidet zunächst physische Verschiedenheit von der durch Konventionen festgelegter Ungleichheit, um dann nach der Quelle dieser Ungleichheit zu fragen. Der Mensch im Naturzustand (ob Rousseau das genetisch oder hypothetisch meint, bleibt offen) lebe allein der Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse und erhalte sich friedlich in physisch gesunder Konvention. Den Übergang zum Gesellschaftszustand bindet Rousseau dann an die Erndung des Privateigentums: „Le premier qui ayant enclos un terrain s’avisa de dire, Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de misères et d’horreurs n’eût point épargnés au genre humain celui qui, arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses semblables: ‚Gardez-vous d’écouter cet imposteur; vous êtes perdus si vous oubliez que les fruits sont à tous, et que la terre n’est à personne!‘“ (Rousseau 1983: 190 ff.).
Der Ursprung sozialer Ungleichheit durch Erndung des Privateigentums – mit dieser Konstruktion weitet sich der naturrechtliche Gleichheitsbegriff auf die gesamte Lebensrealität des Menschen aus. Gab es die Gleichheitsvorstellung bislang nur für bestimmte soziale Gruppen vor dem Recht oder vor Gott, so umfasst sie in ihrer naturrechtlichen Begründung durch abstrakte Bezüge auf Güter nun unterschiedslos alle Menschen in allen Aspekten ihres Seins. Der Gleichheitsbegriff sprengt gleichsam seine Fesseln, thematisch wie sozial. Sozial ungleich ist nun alles, der gesamte Gesellschaftszustand des Menschen. Gleichheit, universalistisch gedacht, ndet weder eine formal-pragmatische Grundlage wie der Rechtsbegriff noch eine soziale Realität, die sie zufriedenstellen könnte. Denn universale Ideale sind unersättlich: Es gibt keinen denkenswerten Zustand der Gleichheit, der nicht noch gleicher, keinen der Freiheit, der nicht noch freier gedacht werden kann. Erst jetzt wird soziale (d. h. alle Lebensbereiche umfassende) Ungleichheit zum dauernden Signum des menschlichen Lebens und zum andauernden Grund des Leidens an jeder seiner Formen. „Es ist ein großes Paradox der
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modernen Welt, daß die Menschen überall dem Prinzip der Gleichheit anhängen und gleichzeitig überall, im eigenen Leben wie in dem der anderen, der Realität der Ungleichheit begegnen. Je mehr sie sich mit dem Prinzip oder der Ideologie der Gleichheit identizieren, desto stärker wird für sie die Unterdrückung“ (André Béteille, zit. n. Kreckel 1992: 29). Erst mit der Universalisierung des Begriffs der Gleichheit entsteht die normative Ordnungsunterstellung, sie enthält nichts anderes als den Naturzustand des Menschen nach Rousseau, das goldene Zeitalter vor der Erndung des Privateigentums, der falschen Bedürfnisse, des Luxus und dem Beginn der Zivilisation. In der sozialen Realität aber sind wir weiterhin mit Ungleichheit konfrontiert, die im westlichen Teil der Welt in den letzten 50 Jahren vielleicht nicht mehr so schreiend ungerecht ist wie zu den Zeiten Rousseaus. Gleichwohl leben wir schizophren, in einem dauernden Zwiespalt zwischen den ideellen Ansprüchen der Gleichheit und den kontraproduktiven Folgen jedes Versuches, sie in soziale Realität zu übersetzen. Dieser Widerspruch kann geradezu paradigmatisch an Gracchus Babeuf und der conspiration des égaux erläutert werden (Babeuf 1988). Die französische Revolution ist ja auch die große Zeit der Spinner und Projektemacher. Es gibt kaum eine vorstellbare Idee, die nicht irgendwo ihre begeisterten Anhänger fand. Babeuf gehörte nicht zu den Radikalen, er vertrat vergleichsweise vernünftige politische Konzepte. Er stammte aus einfachen Verhältnissen in der Picardie und ernährte sich und seine Familie vor der Revolution als feudiste, d. h. als Verwalter von alten Rechtsdokumenten, mit denen der unter gewaltigem Druck stehende französische Adel seine alten Rechte auf diesen oder jenen Landstrich und seiner Ausbeutung nachwies. Das hatte absurde Ausmaße, es wurde mit allen Mitteln um das Recht gestritten, einen Klafter Holz in einem Wald, zehn Prozent des Ertrags von einem Hektar kassieren zu dürfen. Aus dieser Erfahrung schöpfte Babeuf seine Ideen, die er in verschiedenen von ihm gegründeten und populären Zeitschriften nach 1789 allmählich entwickelte. Kern ist die Gleichheitsidee, die sich, so Babeuf mit Rousseau, eben nur verwirklichen lassen, indem die bestehenden Eigentumsverhältnisse revolutioniert würden. Zuerst lief seine Vorstellung darauf hinaus, das produktive Land gleichmäßig an alle Franzosen zu verteilen. Als er später bemerkte, dass der Produktivitätsfortschritt in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nur durch Konzentration zu bewerkstelligen sei, ging er dazu über, Gemeineigentum zu propagieren. Seine Vorstellungen zielten auf die Gründung von Gemeinschaften, die man heute als Landkommunen bezeichnen würde. Er reformulierte auch die naturrechtliche Basis des Egalitarismus, indem er ihn nicht mehr auf ktive Rechte, sondern auf die von Natur aus gleichen Bedürfnisse und Fähigkeiten aller Menschen gründete. Deshalb zählt Babeuf heute zu den Klassikern des Sozialismus (Bambach 1991).
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Politisch agierte Babeuf weitaus unglücklicher, wobei man berechtigt fragen darf, wer denn in den Jahren nach 1789 überhaupt glücklich agieren konnte. Zunächst stand Babeuf den Jakobinern nahe, kritisierte aber auch die Folgen der Terrorherrschaft. Nach dem Sturz Robespierres 1794 sammelte er die Reste der Jakobiner in einer neuen Partei, die allerdings bei den neuen und alten Besitzenden (und dazu muss man wissen: die französische Revolution war vor allem eine gewaltige Übertragung von Besitzrechten vom alten Adel auf die neuen politischen Volksführer; vgl. dazu Bergeron: 1977) nicht gern gesehen wurde. Im Gefängnis lernte er den Florentiner Buonarroti kennen und gründete mit ihm 1796 einen politischen Geheimclub, der sich den Egalitarismus auf die Fahnen geschrieben hatte, eben die conspiration des égaux. Weil auch die revolutionäre Führung auf die bewährte monarchistische Geheimpolizei zurückgriff, wurde diese Verschwörung aufgedeckt, die Führer verhaftet und in einem langen, aufsehenerregenden Prozess zum Tode verurteilt. Auch hier gibt es eine tragische Verkettung sozialer Logik: Gerade die entschiedensten Kämpfer für die Gleichheit wollten sich der großen Gleichmacherin der Revolution, der Guillotine, entziehen, indem sie noch im Gerichtssaal selbstgebaute Stichwaffen zogen und sich in die Brust stießen – beide erfolglos, Darthé verfehlte aus anatomischer Unkenntnis das Herz, Babeuf traf nur das Zwerchfell. In der Hoffnung, an diesen Wunden zu sterben, litten beide die Nacht durch und wurden am Morgen dann doch geköpft. Ein Aspekt der babouvistischen Bewegung ist für unser Thema interessant, der an dem 1796 von Sylvain Maréchal verfassten Manifeste des Égaux erläutert werden kann. Die Erklärung der Menschenrechte von 1789 hat die Forderung nach Gleichheit in römischer Tradition nur als Rechtsbegriff formuliert. Im Artikel 1 heißt es: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.“ Gegen diese bürgerliche Rechtsgleichheit protestierte das Manifest mit dem Argument, das Gleichheitsversprechen sei leer, wenn es juristisch begrenzt wird und nicht im umfassenden sozialen Sinn das ganze Leben des Menschen einschließt, also auch die Eigentumsordnung: „Gleichheit! das erste Gebot der Natur! das erste Bedürfnis des Menschen, das wichtigste Band jeder legitimen Vereinigung! Seit undenklichen Zeiten wiederholt man uns heuchlerisch: die Menschen sind gleich, und seit undenklichen Zeiten lastet die erniedrigendste und größte Ungleichheit schamlos auf dem Menschengeschlecht. Seit es zivilisierte Gesellschaften gibt, wird das schönste Erbteil des Menschen zwar widerspruchslos anerkannt, doch konnte es nicht ein einziges Mal Wirklichkeit werden: die Gleichheit war nichts als eine schöne, ergebnislose Fiktion des Gesetzes. Und heute, wo sie lauter gefordert wird, antwortet man uns: Schweigt, Elende! Die faktische Gleichheit ist nur ein Hirngespinst. Begnügt euch mit der bedingten Gleichheit: ihr
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Clemens Albrecht seid alle gleich vor dem Gesetz. Kanaille, was willst du noch mehr? Was wir noch mehr wollen? Gesetzgeber, Herrschende, Grundbesitzer, hört ihr jetzt einmal zu! Wir sind alle gleich, nicht wahr? Dieser Grundsatz ist unbestritten, denn man kann nicht ernsthaft behaupten, es sei Nacht, wenn Tag ist, es sei denn, man wäre wahnsinnig. Also, wir wollen von nun an gleich leben und sterben, wie wir geboren sind, wir wollen die wirkliche Gleichheit oder den Tod, das ist es, was wir verlangen. Und wir werden diese wirkliche Gleichheit erringen, um jeden Preis. Wehe denen, die sich zwischen sie und uns stellten! Wehe dem, der sich einem so ausdrücklichen Verlangen widersetzte! Die französische Revolution ist nur die Vorläuferin einer anderen, viel größeren und bedeutsameren Revolution, die die letzte sein wird. Das Volk hat die Könige und Priester zertreten, die sich gegen es verbündeten: es wird mit den neuen Tyrannen genauso verfahren, mit den neuen politischen Heuchlern, die die Stelle der alten einnehmen. Was wir mehr wollen als die Rechtsgleichheit? Wir wollen nicht nur diese Gleichheit, die in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte geschrieben steht, wir verlangen die Gleichheit in unserer Mitte, unter dem Dach unserer Häuser. Für sie sind wir zu allem bereit, wir sind bereit, reinen Tisch zu machen, um uns an sie allein zu halten. Mögen notfalls alle Künste zugrunde gehen, wenn uns nur die wirkliche Gleichheit erhalten bleibt! … Wir streben etwas Erhabeneres und Gerechteres an, das Gemeingut oder die Gütergemeinschaft. Kein individuelles Landeigentum mehr: die Erde gehört niemandem. Wir verlangen, wir fordern den gemeinsamen Genuß der Früchte der Erde: die Früchte gehören allen. … Schluß endlich mit den empörenden Unterschieden zwischen Reichen und Armen, Großen und Kleinen, Herren und Knechten, Herrschenden und Beherrschten. Es darf keinen Unterschied mehr zwischen den Menschen geben als den des Alters und des Geschlechts. Nachdem alle dieselben Bedürfnisse und dieselben Familien haben, soll es für sie auch nur ein und dieselbe Erziehung, dieselbe Ernährung geben.… Noch nie ist ein bedeutenderer Plan gefaßt und ausgeführt worden. Hin und wieder sprachen einige geniale Männer, einige Weise üsternd und zitternd darüber, aber keiner von ihnen hat den Mut gehabt, die ganze Wahrheit zu sagen. Der Augenblick ist gekommen große Maßnahmen zu treffen. … Alles soll wieder in Ordnung und an seinen Platz kommen. Im Gefolge der Gleichheit sollen sich Gerechtigkeit und Wohlergehen entfalten. Die Zeit ist reif, die Republik der Gleichen zu gründen, den großen Hort, der allen Menschen offensteht“ (Babeuf 1988: 103 ff.).
Die Widerständigkeit sozialer Logik An diesem Manifest lässt sich die Aporie zwischen ideeller und sozialer Logik zeigen. Die ideelle Entfaltung des einmal universalisierten Gleichheitsbegriffs läuft auf Expansion hinaus, auf die Inklusion aller Ungleichheitsverhältnisse in seinen Geltungsanspruch; denn die Forderung nach sozialer Gleichheit umfasst nun alle Ungleichheiten. Im Manifest endet diese Forderung noch bei zwei Un-
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gleichheiten: der des Geschlechtes und des Alters. Beim Geschlecht haben wir heute rund hundert Jahre Gleichheitskampf hinter uns. Aber auch das Alter lässt sich bei genauer Überlegung nicht halten, weil es nicht nur die Differenz zwischen sex und gender gibt, sondern auch zwischen dem Faktum des biologischen Alters und seiner gesellschaftlich bedingten und deshalb veränderbaren Ausstattung mit Macht, mit der sozialen Positionierung des Alters. „Kinderrechte in die Verfassung!“ ist nur der Anfang, am Ende wird die umfassende Forderung nach sozialer Gleichheit aller Altersstufen stehen. Die Lobby hat sich nur noch nicht formiert. Das ist die ideelle Logik. Die soziale Logik zeigt sich dagegen in einem anderen Teil des Manifests, wo die Feinde der Gleichheit als soziale Gruppe identiziert werden: „Und wir werden diese wirkliche Gleichheit erringen, um jeden Preis. Wehe denen, die sich zwischen sie und uns stellten! Wehe dem, der sich einem so ausdrücklichen Verlangen widersetzte! Die französische Revolution ist nur die Vorläuferin einer anderen, viel größeren und bedeutsameren Revolution, die die letzte sein wird“ (Babeuf 1988: 103). Das war ein Versprechen mit Realitätsbindung, 1796 war die aktivste Zeit der Guillotine mit mehreren hundert Toten jede Woche. Gerade die universalisierte Forderung nach Gleichheit schafft die neue Ungleichheit zwischen den Gleichheitsfreunden und den Gleichheitsfeinden, die wie auch immer motiviert sein mögen – und es generiert die neue Klassenbildung der Funktionäre, der Idealisten, die, einmal mit politischer Macht ausgestattet, nun als Kämpfer der Gleichheit Ungleichheit in ihrer härtesten Form generieren, indem sie die Gleichheitsfeinde verfolgen, verhaften und töten. Wie das konkret aussieht, kann man am Kambodscha der 70er Jahre verfolgen, Pol Pot und seine Gruppe haben in Paris studiert bei den intellektuellen Wiederentdeckern Babeufs (vgl. Courtois 1998). Zurück zur Natur. Dies sind freilich alte, blutige Geschichten, aber der Gegensatz zwischen ideeller Vollendung einer Argumentation und ihren nichtintendierten sozialen Folgen zeigt sich auch in harmloseren Kontexten, etwa in der modernen Diskussion um Chancengleichheit im Bildungswesen. Dies lässt sich am Beispiel von Ralf Dahrendorfs klassischer Anregung der bildungspolitischen Debatte in der Bundesrepublik zeigen. Dahrendorf hatte vier Merkmale sozialer Ungleichheit identiziert, weil die dem Bevölkerungsanteil entsprechende Anzahl aus diesen statistischen Gruppen nicht in den Bildungsinstitutionen zu nden seien: 1. Land/ Stadt, 2. Mädchen/Jungen, 3. Arbeiter/Bürger, 4. katholisch/evangelisch (Dahrendorf 1965: 48). Daraus entstand als Gipfel sozialer Ungleichheit das berühmte katholische Arbeitermädchen vom Lande. Seit PISA wissen wir, dass es heute vom türkischen Großstadtjungen abgelöst wurde (Deutsches PISA-Konsortium 2001). Ist das Zufall? Ich meine: nein. Denn wer die Mädchen fördert, fördert eben keine Jungen. Wer gezielt Arbeiterkinder an die Schulen und Universitäten brin-
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gen möchte, setzt am unteren Rand der Arbeitsskala Tätigkeiten frei, für die dann Gastarbeiter eingeogen werden müssen, die ihre Kinder mitbringen. Mit der Bildungsexpansion verschärft sich also das Migrationsproblem. Jedes bildungspolitische Förderungsprogramm entwickelt also seine eigene soziale Dynamik, und diese hört auch dann nicht auf zu arbeiten, wenn „Gleichheit“ formell hergestellt ist. Sie wird allenfalls von anderen Programmen konterkariert. Und dabei ist Folgendes zu beobachten: Schon in der französischen Revolution entstand die Forderung, die égalité de droit auch durch eine égalité de fait abzulösen (Rechtsgleichheit also durch soziale Gleichheit), aus der Eigendynamik der sozialen Gruppen, die um ihre Partizipationschancen kämpften. Erfolgreich sind vor allem diejenigen Programme, die sich gleichzeitig als soziale Gruppen formieren und um politischen Einuss und Anerkennung kämpfen. In unserem Fall (Dahrendorf) waren das nicht die Landbewohner und nur verdeckt die Katholiken. Frauen und Arbeiter dagegen haben sich organisiert und – unterschiedlich erfolgreich – soziale Ungleichheiten bekämpft, indem sie gleichzeitig neue Ungleichheiten geschaffen haben. Sie schufen aber auch neue soziale Entwicklungen: Die Expansion der Universitätsabschlüsse hat dazu geführt, dass die Abschlüsse nicht mehr viel wert sind und bei der Verteilung knapper Güter, etwa Vorstandsposten, andere Kriterien herhalten müssen. Sorgen müssen wir uns heute auch nicht mehr um die Mädchen und ihre Schulkarrieren, sondern um die Jungen, wie Klaus Hurrelmann zu betonen nicht müde wird. Und: in den unterprivilegierten Gruppen von heute können wir die Herrschaft von morgen erkennen – sofern sie sich organisieren! Darüber hinaus hat die ideelle Universalisierung von Gleichheitsvorstellungen immer auch ein Drang zur institutionellen Monopolisierung, im Extremfall zum totalen Staat. Aber auch unterhalb der Schreckensebene ist diese Tendenz festzustellen: Wenn Familie Ungleichheit generiert, Schule sie aber als Chancengleichheit herstellt, ist die Tendenz, der Familie den Erziehungsprozess durch frühkindliche Bildung und Ganztagsschulen zu entziehen, vorprogrammiert. Dabei entsteht das klassische Gerechtigkeitsdilemma, das wir bei Aristoteles schon kennengelernt haben: Während die Nachmittage der Kinder aus Unterschichtfamilien nun viel sinnvoller gestaltbar sind, fällt der Klavierunterricht oder die individuelle Tanzförderung von Kindern aus Mittel- und Oberschichtfamilien aus. Wenn Ungleiches gleich behandelt wird, entsteht Ungerechtigkeit. Aber auch hier setzt die Eigenlogik sozialer Differenzierung ein: Die Ganztagsschule mag erfolgreich bundesweit installiert werden – Oberschichten werden ihre eigenen Institutionen nden, dann vielleicht nicht mehr die Familien, sondern die teuren Privatschulen. Das Streben, soziale Ungleichheit durch Bildung zu beheben, führt in seiner sozialen Logik also zu neuen Distinktionsmöglichkeiten. Wenn sich diese Paradoxie zwischen ideeller und sozialer Logik als strukturelles Muster bestätigen ließe, dann könnte man eine zentrale Frage folgern, die
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sich aus ihr ergibt und unmittelbar an das Hitzler’sche Werk anschließt: Lässt sich aus der Widerständigkeit sozialer Logik die Monotonie individualisierter Inszenierungen der Sinnwelten von Existenzbastlern erklären? Ich meine: ja. Der Nachweis steht noch aus.
Literatur Aristoteles (1981): Die Nikomachische Ethik. 4. Au.. München: DTV. Babeuf, Gracchus (1988): Die Verschwörung für die Gleichheit. Hamburg: Junius. Bambach, Ralf (1991): Gracchus Babeuf (1760–1797). In: Euchner, Walter (Hg.): Klassiker des Sozialismus, Bd. 1. München: C.H. Beck, 37–49. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.) (1994): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bergeron, Louis (1977): Die französische Gesellschaft von 1750 bis 1820. In: Zeitschrift für historische Forschung, 4, S. 131–146. Courtois, Stéphane, u. a. (1998): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München/Zürich: Piper. Dahrendorf, Ralf (1965): Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Nannen-Verlag. Deutsches PISA-Konsortium (Hg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hg.) (2000): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen, Erlebniswelten, Bd. 2. Opladen: Leske + Budrich. Hartmann, Michael (2001): Klassenspezischer Habitus oder exklusive Bildungstitel als soziales Selektionskriterium? Die Besetzung der Spitzenpositionen in der Wirtschaft. In: Krais, Beate (Hg.): An der Spitze. Von Eliten und herrschenden Klassen. Konstanz: UVK, 157–208. Hitzler, Ronald (2001): Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Opladen: Leske + Budrich. Hitzler, Ronald (2003a): Die Bastelgesellschaft. In: Prisching, Manfred (Hg.): Modelle der Gegenwartsgesellschaft. Wien: Passagen Verlag, 65–80. Hitzler, Ronald (2003b): Ethnographie. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried/Meuser, Michael (Hg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Ein Wörterbuch. Opladen: Leske + Budrich, 48–51. Hitzler, Ronald/Honer, Anne/Pfadenhauer, Michaela (Hg.) (2008): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnograsche Erkundungen, Erlebniswelten Bd. 14. Wiesbaden: VS Verlag. Horkheimer, Max (1987): Dämmerung. Notizen aus Deutschland. In: Gesammelte Schriften Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922–1932 (1934). Frankfurt a. M.: Fischer, 309–452. Hornbostel, Stefan (Hg.) (1999): Sozialistische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR, Soziologie und Politik Bd. 2. Opladen: Leske + Budrich.
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Kersting, Wolfgang (2000): Theorien der sozialen Gerechtigkeit. Stuttgart: J. B. Metzler. Kreckel, Reinhard (1992): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Theorie und Gesellschaft Bd. 25. Frankfurt a. M.: Campus. Lübbe, Weyma (1992): Rechtsgleichheit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8. Basel: Schwabe AG-Verlag, Sp. 272–278. Rousseau, Jean-Jacques (1983): Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. In: Schriften zur Kulturkritik, 4. Au. Meiner: Hamburg, 61–317.
Ekstase und Geheimnis in der neutestamentlichen Jesusbewegung als Hybridevent? Detlev Dormeyer
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Einleitung
Der Jubilar hat mit dem Forschungskonsortium WJT den XX. Weltjugendtag der katholischen Jugend 2005 in Köln beobachtet und analysiert (Forschungskonsortium WJT 2007). Die Gruppe ndet zu der gemeinsamen Deutung des Weltjugendtags als „postmodernistisches religiöses Hybridevent“ (Forschungskonsortium WJT 2007: 18). Ist dieses Hybridevent nur eine Erndung der Postmoderne, und zwar eine der „institutionellen Klugheit der katholischen Kirche“ (Forschungskonsortium WJT 2007: 215–219), oder gehen seine Wurzeln auf die Anfänge des Christentums, auf die Jesus-Bewegung selbst zurück? Muss Kirche nicht ein Dauer-Event inszenieren unter den jeweiligen Rahmenbedingungen einer Geschichts-Epoche? Dann wäre die theologische Frage kritisch zu stellen, ob das Hybridevent eine adäquate, moderne Bezeichnung der im Neuen Testament dokumentierten Jesus Bewegung ist.
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Events, Ekstase und Geheimnis bei den Wundern Jesu
Nach den neutestamentlichen Wundergeschichten hat Jesus sein öffentliches Auftreten als ein Dauer-Event gestaltet. Die neutestamentlichen Wundergeschichten sind zwar nachösterliche Bildungen, sie haben aber ihren Haft punkt in der charismatischen Therapie- und Exorzismustätigkeit des vorösterlichen Jesus. Seine Heilungen und Dämonenaustreibungen symbolisieren den Anbruch der Gottesherrschaft. Diese bricht die Macht der Dämonen, die Besessenheit und Krankheit verursachen: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist die Gottesherrschaft zu euch gekom men“ (Lk 11, 20). Wie jede gestaltete Kurzgeschichte ist auch die Wundergeschichte aus Einleitung, Hauptteil und Schluss aufgebaut: Die Einleitung schildert die Art des Leidens. Die Begegnung mit dem Wundertäter kommt hinzu, weil das Wunder nicht an einer festen Heilstätte, sondern durch einen umherziehenden Thaumaturgen wie Jesus von Nazaret oder Apollonius von Tyana bewirkt wird (Philostratos [3. Jh.], Apollonius 4, 45; Weinreich 1909: 171 ff.;
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Theißen 1974: 231). Beim Aufenthalt in einer Heilstätte wird der Inkubationstraum betont (Weinreich 1909: 76–137). Die Wunderhandlung bildet den Hauptteil:
Es erfolgt der heilende Eingriff in Form einer Geste (Weinreich 1909: 1–76). Das deutende Wort tritt hinzu oder ersetzt die Geste (Weinreich 1909: 110–137). Geste und/oder Wort haben Erfolg (Bultmann 1995: 240).
Im Schlussteil wird das Wunder durch das anwesende Publikum mit Admirationen und Akklamationen begleitet oder durch die Entlassung des Geheilten festgestellt; eine Demonstration kann zusätzlich von der Realität der Heilung überzeugen. Der Heilerfolg wird öffentlich festgestellt (Dormeyer 1993: 166–169). Die meisten griechischen Wundergeschichten von Epidaurus, die dort für die Werbung des Heiligtums auf Stelen eingemeißelt wurden (Herzog 1931: 1 ff.), haben unverkennbar diese elementare Grundstruktur einer Heilungsgeschichte, ebenso die neutestamentlichen Heilungsgeschichten. Bis auf den heutigen Tag bleibt diese elementare Struktur umgangssprachlich erzählbar (Dormeyer 1974: 68 ff.; Fohrbeck/Wiesand 1983: 97 ff.). Die Bildung und Tradierung der neutestamentlichen Wundergeschichten erfolgt in der nachösterlichen Spannung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Dibelius nimmt für die Wundergeschichten einen eigenen, nachösterlichen Stand „der Erzähler und der Lehrer“ an, die die Kunst des Erzählens von solchen „Novellen“ besessen haben (Dibelius 1959: 66 f.). Den Hauptanteil der Wundergeschichten enthält das Markusevangelium (18). Es nehmen die Wundergeschichten und die Hinweise auf Wunder in den Evangelien und in der Apostelgeschichte in unterschiedlicher Intensität einen breiten Raum ein. In der Erzählzeit des öffentlichen Wirkens Jesu (ohne Kindheitsgeschichten, Taufszenen, Passions- und Nachgeschichten) beträgt ihr Anteil bei Markus 38 %, bei Matthäus 32 %, bei Lukas 25 % und bei Johannes 53 % (Knoch 1986: 556). Wird der irdische Jesus der Evangelien durch diesen massiven Einbruch einer hellenistischen Gattung, die alttestamentliche und frühjüdische Motive mühelos aufzusaugen vermochte, zum „theios aner“, zu einem der vielen Wundertäter der hellenistischen Welt (Bieler 1976: 103–113)?
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Jesus als Wanderlehrer, die Öffentlichkeit der Wunder und das Wundergeheimnis
Neben Jesus von Nazareth haben nach der Überlieferung die Schriftgelehrten Honi, der Kreiszieher (jüdische Mischna [3. Jh.], Traktat Taan 3, 8) (Green 1979, 624 f.), Cha-
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nina Ben Dosa (jüdischer babylonischer Talmud [6. Jh.]: bBerak 34b; bPes 112b/113a) (Kampling 1986: 243 ff.) und Eleazar (Josephus [1. Jh.], Antiquitates 8, 2, 5) Wunder gewirkt. Doch es darf die Wundertätigkeit in Palästina nicht als häuges Phänomen vorausgesetzt werden. Sie ist für den Schriftgelehrten keine selbstverständliche Qualikation, sondern bleibt die Ausnahme (Kampling 1986: 237–248; Kollmann 1996: 169–173 ggn. Theißen 1974: 269). Wunder wirkten wohl die hellenistischen Charismatiker, die theoi andres (göttliche Menschen). Wunder wirkten auch im Alten Testament die Propheten Elija und Elischa (1 Kön 17, 2 Kön 13). Jesus selbst führte seine Wunder auf keine dieser beiden Vorbilder zurück, während die nachösterliche Wunder tradition die hellenistische Gattung der Wundergeschichte aufnahm und zusätzlich mit Motiven aus dem alttestamentlichen Elija-Elischa-Erzählkranz anreicherte (Weiser 1975: 115). Es ist unbestritten, dass der vorösterliche Jesus Heilwunder gewirkt hat und großen Widerhall im Volk gefunden hat. Volksmassen begleiteten ihn bei seiner Wanderschaft durch Galiläa und auf der Wallfahrt zum Tempel nach Jerusalem. Insbesondere das erste Evangelium, das Markusevangelium, entwirft ein Porträt vom irdischen Jesus, das für die Heilwunder an somatisch Kranken und psychisch Kranken (= von Dämonen Besessenen) auch auf die vorösterliche Zeit zurückgeführt werden kann. Das Schweigegebot gehört zum markinischen Konzept des Wundergeheimnisses. Jesus wird in seiner Verkündigung und in seinen Taten als Wundertäter offenbar. Seine Zeitgenossen missverstehen aber diese Offenbarung, so dass ihnen Jesus Schweigen auferlegt. Dieses Schweigen wird aber nicht gehalten, so dass Jesu Ruf durch ganz Galiläa geht. Aber dieser Ruf ist vom Missverständnis auf folgenloses, unmündiges Empfangen von Wundergaben geprägt, so dass die Hörer nicht zur Umkehr gelangen. Erst Kreuz und Auferstehung geben die eindeutigen Kriterien, dem Missverständnis zu entgehen. Jesu Taten können nur durch die Nachfolge im Leiden bis zum Bekenntnis des Gottessohnes am Kreuz (Mk 15, 39) richtig verstanden werden. Jesus hat allerdings nicht alle Menschen geheilt, sondern nur eine begrenzte Zahl. Die Heilungen dienen als Symbole der verheißenen Herrschaft Gottes. Nach ihrer Ankunft beginnt der kosmische Friede wieder zu entstehen, werden die Krankheiten geheilt, wird die menschliche Gesellschaft nach dem Prinzip der Gottes- und Nächstenliebe strukturiert. Die Sammelberichte zeigen an, dass die Heilungen Jesu lange Zeit für Galiläa, Judäa und die heidnische Umgebung ein umfassendes Angebot bleiben: „(53) Und hinüberfahrend auf das Land, kamen sie nach Gennesaret und legten an. (54) Und als sie herauskamen aus dem Boot, sofort erkennend ihn, (55) liefen sie in je-
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Detlev Dormeyer nem ganzen Land umher und begannen auf den Bahren die, denen es schlecht ging, umherzutragen, wo sie hörten, dass er sei. (56) Und wo immer er hineinging in Dörfer oder in Städte oder in Höfe, legten sie auf den Märkten die Schwachen hin und baten ihn, dass sie nur den Saum seines Gewandes berührten; und alle, die ihn berührten, wurden gerettet.“ (Mk 6, 53–56; ähnlich 1, 32–34; 3, 7–12).
Der Erzählstil ist additiv. Jesus legt das Boot mit seinen Jüngern am Nordwestufer des Sees Gennesaret an. Es werden sogleich aus der ganzen Umgebung die Kranken zu ihm gebracht. Die Berührung mit ihm bringt für alle die Heilung. Insgesamt versinnbildlichen die neun Heilwunder, vier Dämonenaustreibungen und fünf Naturwunder des Markusevangeliums die eschatologische Fülle, die Jesu wirkmächtige Verkündigung der Gottesherrschaft bringt. Allerdings erneuert er dieses Angebot nicht mehr für Jerusalem. Lediglich das Naturwunder der Verdorrung eines Feigenbaumes ndet statt (Mk 11, 12–14). Dieses Naturwunder löst aber keine heilende, sondern eine drohende Symbolik aus. Jesus kann in Jerusalem nicht mehr heilen, weil Jerusalem im Unterschied zu Galiläa den Vertrauensglauben an Jesu anfanghafte Realisierung der Königsherrschaft Gottes nicht aufzubringen vermag (Söding 1985: 385–526). Wie die gewalttätigen Weinbergpächter die Pacht verweigern (Mk 12, 1–12), verdorrt der Feigenbaum als Symbol für die nicht zur Umkehr bereiten jüdischen Führer. Seit Augustus richteten sich die Hoffnungen der römisch-griechischen Welt auf den regierenden Kaiser, er möge die Gesundheit und den Frieden des Reiches, d. s. salus und pax romana, bewahren und für alle erfahrbar machen. Parallel zur Abfassungszeit des Markusevangeliums betätigte sich der neue römische Kaiser Vespasian (69–79), der Sieger des Bürgerkrieges 68–69 n. Chr., als Wundertäter. Er ließ sich in Alexandrien von seinen Freunden und von den ägyptischen SerapisPriestern bereden, seine Erwählung zum Kaiser, die die Angliederung seiner Familie an die Familie seiner vergöttlichten Vorgänger bedeutet, durch charismatische Wundertaten zu legitimieren.1 Solche kaiserliche Wundertätigkeit blieb für den Kaiserkult allerdings die Ausnahme. Weder die Söhne Vespasians, Titus (79–81) und Domitian (81–96), noch 1 „Noch fehlte Vespasian das nötige Ansehen und gleichsam die von Gott bestätigte Majestät, da er wider Erwarten und erst seit kurzem zum Kaiser erhoben war. Aber auch dies wurde ihm zuteil. Zwei Männer aus dem Volke, der eine blind, der andere mit einem lahmen Bein, kamen miteinander zu ihm, als er auf seinem Tribunal saß, und baten ihn, zu ihrer Heilung zu tun, was ihnen Serapis im Traum gezeigt habe: Vespasian werde dem Blinden das Augenlicht wiedergeben, wenn er dessen Augen mit seinem Speichel benetze, das Bein des Lahmen heilen, wenn er geruhe, es mit seiner Ferse zu berühren. Da kaum eine Hoffnung bestand, daß die Sache irgendwie von Erfolg begleitet sein könnte, wollte der Kaiser nicht einmal einen Versuch wagen. Auf Zureden seiner Freunde unterzog er sich endlich vor versammeltem Volke dem Experiment, und der Erfolg blieb beidemal nicht aus“ (Sueton, Vespasian 76–78).
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das vorangegangene julisch-klaudische Kaiserhaus und die Adoptivkaiser des 2. Jh. bemühten sich um Wundertaten (Haehling 2008). Die umfassende Wundertätigkeit blieb wenigen Charismatikern wie Apollonius von Tyana, Alexander von Abonuteichos, Rabbi Honi, Rabbi Chanina und Jesus von Nazaret vorbehalten. Sie wird auch von den frühjüdischen Propheten, die Mose und die Endzeit zu repräsentieren versuchen, in Anspruch genommen (Mk 13, 21 f.). Das gewaltsame Schicksal, das die römische Besatzungsmacht diesen eschatologischen, wundertätigen Propheten bereitet, wirft ein Licht auf die Gefahren einer machtpolitischen Interpretation der Wundertätigkeit Jesu (Apg 5, 35–39). Aber nur die im Messias = Christus Jesus angebrochene Königsherrschaft Gottes realisiert vollständig die antike Hoffnung auf die Einheit von Gesundheit und Herrschaft. Nur der auf Jesus Vertrauende erfährt das endgültige Heil und die endgültige Ganzheit. Das Volk ist der erste, nicht genannte, aber implizierte Adressat der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1, 14 f.). Deren Dauer bleibt unbestimmt. In der zweiten Szene des öffentlichen Auftretens tritt das Volk als dritte Hauptrolle, als Helfer, neben Jesus als Helden und dem Besessenen als Gegner auf. In der Helferrolle lernt das Volk Admiration, Akklamation und Vertrauensglauben. Das Lernen des Volkes steht unter einem Spannungsbogen. Es verhält sich durchgängig positiv gegenüber Jesus. Es kommentiert und unterstreicht Jesu Wirken (Schenke 1988: 95). Es erhält Anteil an der Jüngerbelehrung. In deutlicher Nähe zu den Jüngern hält es Gemeinschaft mit Jesus, vertraut Jesus, staunt über seine Wundertaten und durchbricht den Geheimhaltungsauftrag der Wunder, ohne aber Jesu endzeitliches messianisches Amt und endzeitliches Leiden zu erkennen und zu verstehen (Mk 1, 21–3, 6). Es wird in einem Apophthegma mit den Jüngern zur erweiterten Familie Jesu erklärt (Mk 3, 31–35) und erhält in Gleichnissen und allegorischer Auslegung gemeinsam mit dem Zwölferkreis „das Geheimnis der Gottesherrschaft“ anvertraut (Mk 4, 1 f.; 10–12, 33 f.) (Meiser 1998: 212–217, 374; Küster 1996: 94). Nach dem Messiasbekenntnis des Petrus gibt Jesus Volk und Jüngern gemeinsam Anweisungen zur Nachfolge im Leiden (Mk 8, 34–38), die es aber wie die Jünger nicht versteht. Gemeinsam mit den Jüngern bereitet das Volk Jesus den feierlichen Einzug in Jerusalem und repräsentiert so in der Öffentlichkeit das neue System von Ideen und Handeln (Mk 11, 1–12, 44). Es vertraut auf Jesus als dem zu Wunder und Weisheit befähigten, außergewöhnlichen Nachkommen der Davidsdynastie innerhalb dieser Weltzeit (Mk 10, 47. 48; 11, 10; 12, 35–37), gelangt aber nicht zum vollen Glauben an die eschatologische, messianische Gottesherrschaft. Entsprechend verängstigt rechnen die Gegner Jesu das Volk zu seiner Anhängerschaft (Mk 12, 12; 11, 18). In der Passion gelingt es allerdings den Hohenpriestern, das Volk auf ihre Seite zu ziehen (Mk 15, 11). Das Volk ist die diffuse Großgruppe, die die Botschaft Jesu mit Staunen aufnimmt und das Geheimnis der Gottesherrschaft mitverwaltet, die die zur Umkehr und Kreuzesnachfolge Entschlossenen als Jünger bereitstellt,
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die aber auch für die Propaganda der Gegner anfällig bleibt (Mk 15, 11). Die volle Integration des Volkes in die angebrochene Gottesherrschaft ist eine gemeinsame Aufgabe von Jesus und Jüngern.
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Hybrid-Event als Anfrage an das Selbstverständnis von Kirche
Sowohl bei den Weltjugendtagen als auch bei den Kirchentagen beider Konfessionen strömt eine große Volksmenge für mehrere Tage zusammen. Es werden zwar keine Heilungswunder mehr gewünscht, denn schließlich haben die Aufklärung und die heutigen Wissenschaften einen klar erkennbaren und breit akzeptierten Fortschritt der medizinischen Erkenntis gegenüber dem antiken medizinischen Wissen gebracht, wohl aber wird eine Atmosphäre des Geheimnisvollen und Ekstatischen erwartet. „Nicht die Vermittlung eines einheitlichen, sondern die eines unverwechselbaren Bildes ist das Anliegen, das im Bereich ‚Liturgie‘ mit der Inszenierung des Weltjugendtags verfolgt wird… Und ganz wesentlich geprägt wurde die stimmungsvolle Atmosphäre bei der abendlichen Vigil, der Lichterfeier, durch die Taizé-Gesänge…“ (Forschungskonsortium WJT 2007: 183–185). Es steht nicht die von Amtsträgern gefeierte Eucharistie im Mittelpunkt der Erwartungen, sondern die von allen gemeinsam erzeugte Stimmung des Geheimnisses des Glaubens. Amtliche Selbstdarstellungen erweisen sich eher als störend: „Die Aufschüttung eines Hügels und damit die hochgelegte Altaranlage, die eine deutlich sichtbare Distanz zwischen Klerus und Kirchenvolk schafft, kann… auch als Ästhetisierung von Herrschaft interpretiert werden…, (um) die Aufmerksamkeit auf die ‚Eminenz des päpstlichen Vikariats zu lenken und die hierarchische Differenz auffällig zu machen‘“ (Forschungskonsortium WJT 2007: 186 f.). Wie Amt und Gemeinde nach dem Neuen Testament zueinander stehen, wird noch zu klären sein. Als Fest gehört der Weltjugendtag zu den Events. Doch es gibt drei entscheidende Unterschiede, die ihn zu einem Hybridevent, zu einem Event von zweierlei Herkunft, machen: „Entscheidend ist, dass er a) von einer etablierten und traditionsgesättigten Großinstitution wie der katholischen Kirche veranstaltet wurde, dass er b) die traditionellen Fest- und Feierformen dieser Großinstitution wie die Liturgie, die Andacht oder die Katechese in das Zentrum des Geschehens und vor allem in das Zentrum der Aufmerksamkeit stellte, und dass er c) stets auf eine nur institutionell – genauer wiederum: durch die Katholische Kirche – verwaltbare und dem einzelnen Menschen aufschließbare ‚transzendente Wirklichkeit‘ verwies.“ (Forschungskonsortium WJT 2007: 210). Das Kriterium c), der Verweis auf die transzendente Wirklichkeit, verbindet am deutlichsten den Weltjugendtag und andere christliche Hybridevents mit den
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vielen Massenversammlungen um Jesus von Nazaret, allerdings nur unvollständig. Denn die gegenwärtige institutionelle Verwaltung dieses Verweises hat nur noch eine schwache Ähnlichkeit mit der Jesusbewegung und darf auch nur eine solch gebrochene Strukturanalogie haben (Cancik 2009). Denn da der irdische Jesus am Ende seines öffentlichen Wirkens gekreuzigt und auferweckt wurde, hat auch seine Bewegung unter dem Kreuz ein Ende gefunden. Sie wurde erst durch Ostern wieder neu konstituiert. Der erhöhte Jesus Christus wird erneut der Leiter seiner Kirche, nun aber in unsichtbarer Existenzweise und in universaler Anwesenheit für alle stattndenden Versammlungen in seinem Namen. Er ist der Leiter der Events, der DJ, der allein dem einzelnen Christen und am Glauben Interessierten die transzendente Wirklichkeit erschließt. Er allein verleiht die Geistegaben Ekstase und Charisma (1 Kor 12). Eigentlich müssten die Kirchen die Soziologen arbeitslos machen. So haben sich die ersten nachösterlichen Gemeinden auch verstanden. Sie waren sich einig, für interne Streitigkeiten keine weltlichen griechisch-römischen Gerichte anzurufen (1 Kor 6, 1–11) und für ihre Institutionalisierung keine religiösen oder profanen Vorbilder zu nutzen. Nun weisen ihnen aber die heutigen Exegeten komparativ nach, dass sie sehr wohl erprobte Modelle von Institutionalisierung übernommen haben; über deren Herkunft im Einzelnen herrscht allerdings noch immer der Streit der Exegeten. Aber auch beim modernen Event stört es die Feierlaune, wenn über die Herkunft der Einzelelemente nachgedacht werden soll. Dieses Geschäft bleibt einer nachträglichen Meta-Reexion überlassen. Diese wiederum erlaubt eine Verbesserung der Planung künftiger Events und eine Steigerung des Erlebens beim nächsten Fest. Ähnlich ießend waren die Institutionen in der Gründungszeit des Neuen Testaments. Zwar ging das Charisma der Wundertätigkeit weiter (1 Kor 12, 9 f.; Mk 9, 28 f.), es stand aber nicht mehr im Mittelpunkt der Versammlung = griechisch Ekklesia = deutsch Kirche. Das Hybridevent Kirche, das am ersten Wochentag stattzunden pegte (Apg 20, 7), bot in Korinth andere aufregende Turbulenzen: „(26) Was ist nun, Brüder? Wann ihr zusammenkommt, hat jeder einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Offenbarung, hat eine Zungenrede, hat eine Auslegung; alles soll zur Erbauung geschehen. (27) Sei es, daß einer mit Zunge redet, zu zweien oder höchstens dreien und der Reihe nach, und einer soll auslegen; (28) wenn aber nicht da ist ein Ausleger, soll er in der Gemeinde schweigen, zu sich aber soll er reden und zu Gott. (29) Propheten aber sollen zwei oder drei reden, und die anderen sollen beurteilen; (30) wenn aber einem anderen Dasitzenden etwas offenbart wird, soll der erste schweigen. (31) Denn ihr könnt einzeln alle prophezeien, damit alle lernen und alle ermahnt werden. (32) Und die Geister von Propheten ordnen sich den Propheten unter, (33) denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.“ (1 Kor 14, 26–32).
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Jeder trägt etwas zum Hybridevent bei: einen Psalm oder eine Lehre entweder aus dem Alten Testament oder aus dem Lieder- und Lehrschatz der frühen Gemeinden, eine Offenbarung oder eine Zungenrede. Offenbarung und Zungenrede werden zusätzlich erklärt. Zungenrede = Glossolalie gehört zu den Rätseln des Neuen Testaments. Der Glossolale redet ekstatisch in einer eigenen Sprache zu Gott (1 Kor 14, 2). Völlig offen bleibt, ob er unverständliche Laute, Wörter oder Sätze oder fremde Sprachen verwendet (Schrage 1999: 3, 384 f.). Es handelt sich um individuelle private Äußerungen. Bei einer großen Volksansammlung gehen solche Glossolalien in der allgemeinen Begeisterung auf. Jedoch bei der Zusammenkunft einer kleinen Gruppe bedarf die Glossolalie einer nachträglichen Auslegung. Es geht ja um das gemeinsame Ziel der Auferbauung (Vers 26). Jeder ist verpichtet, die anderen an seinem Wissensschatz (u. a. Lieder und Lehre), seinen religiösen Emotionen (Glossolalie) und Einsichten (Offenbarung) teilnehmen zu lassen. Paulus begrenzt die Zahl der Glossolalen auf zwei bis drei. Er verlangt in jedem Falle eine Auslegung. Glossolale und Ausleger können dieselbe Person sein. Wenn der Glossolale nur individuell zu Gott reden will und die Teilhabe anderer an dem Sinn seiner Rede nicht will, soll er schweigen. Die unerklärte Glossolalie bleibt erlaubt, gehört aber nicht in die öffentliche Gemeindeversammlung. Jesus warnt ebenfalls vor dem privaten öffentlichen Beten und empehlt die verschlossene Kammer für das private Gebet zu Gott (Mt 6, 5 f.). Das gemeinsame und von allen verstandene Gebet wird hingegen vom gesamten Neuen Testament für erstrebenswert gehalten. Der Glossolalie wird die Prophetie übergeordnet. Letztere ist von vornherein verständlich und bedarf deshalb keines Auslegers. Es gab urchristliche Propheten (Apg 11, 27–30; 13, 1 u.ö.). Paulus zählt die Prophetie unter den Charismen auf (1 Kor 12, 10). Jeder Christ kann das Charisma der Prophetie haben. Doch wie bei der Glossolalie soll nicht jeder seine prophetische Fähigkeit bei der Versammlung zur Geltung bringen. Daher begrenzt Paulus die Prophetien auf zwei bis drei Teilnehmer. Allerdings dürfen sich auch andere spontan mit Prophetien einschalten. Dabei soll nicht durcheinander geredet werden, sondern der Reihe nach. Ein TalkMaster, ein DJ, fehlt. Gott und der Auferstandene sorgen für Ordnung und Frieden.
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Christen und ihre Hybrid-Events
Eine Versammlung ohne menschliche Leitung? Kann eine solche Zusammenkunft überhaupt ordentlich ablaufen oder bricht nicht sofort das Chaos aus? Nun sind Paulus gerade von Korinth her chaotische Verhältnisse zu Ohren gekommen; sie werden der Anlass, von Ephesus aus den ersten Brief an die Korinther zu schreiben: „Es wurde mir nämlich von den Leuten der Chloe berichtet, dass es Zank und Streit unter euch gibt. Ich meine damit, dass jeder von euch etwas anderes sagt:
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Ich halte zu Paulus – ich zu Apollos – ich zu Kephas – ich zu Christus“ (1 Kor 1, 11 f.). Paulus versucht, diesen Parteienstreit dadurch zu schlichten, dass er eine systematische theologische Erörterung zum Evangelium vom Kreuzestod und der Auferweckung Jesu entfaltet (1 Kor 1, 17–4, 21). Doch anschließend muss er zu konkreten Streitfällen autoritativ Stellung nehmen: Blutschande, – ein Mann lebt mit „der Frau seines Vaters“ zusammen, gemeint ist seine Stiefmutter (1 Kor 5, 1–13) –, Rechtshändel unter Christen (1 Kor 6, 1–11) und weitere Streitfragen (1 Kor 6, 12–15, 58). Sie alle entscheidet Paulus mit der Autorität als Apostel. Er stellt einen Leitungsanspruch. Der auferweckte Jesus Christus hatte ja durch seine Erscheinungen den Aposteln und den anderen ersten nachösterlichen Führungskräften eine besondere Vollmacht verliehen, an der Paulus teilhat und mit der er theologische Fragen klären darf (1 Kor 15, 1–11, 12–58). Die Evangelien verweisen darauf, dass Jesus der Leiter der Volksmassen und seiner Jüngerinnen und Jünger war und seine Leitung als Dienst charakterisiert hat (Mk 10, 41–45 parr.; die Fußwaschung Joh 13, 1–20). Nach Ostern gehen Leitung und Dienst auf die Apostel und Jünger über (Mk 16, 7; Mt 28, 16–20; Lk 24, 44–49; Apg 1, 1–11; Joh 20, 19–23; 21, 15–23). Doch die von Jesus Christus berufenen Apostel sterben aus, und der auferstandene Jesus Christus beruft keine neuen Apostel. Das Chaos nach Ostern ist einerseits konsolidiert. Die Apostel haben als Garanten der vorösterlichen und frühen nachösterlichen Tradition ihre Funktion erfüllt. Es bedarf keiner neuen Apostel mehr. Doch durch wen sorgt Jesus Christus nun für Organisation, Ordnung und wahre Lehrtradition? Bricht wieder das Chaos aus? Die Antwort ist zunächst Ja. Wie in Korinth zur Zeit des Paulus bilden sich bis auf den heutigen Tag Spaltungen. Für ihre Schlichtung ist der auferstandene Jesus Christus zuständig. Im kommenden Weltgericht wird er die Gründe und Ursachen der Spaltungen beurteilen und die Einheit herbeiführen. Doch wenn es bis heute nur permanent Spaltungen gegeben hätte, wäre sicherlich nicht eine Weltkirche entstanden. Daher ist die Antwort zugleich Nein. Nach Ostern gibt es in jeder Gemeinde Leute, die „im Namen des Herrn leiten und zum Rechten anhalten“, so die erste Schrift des Neuen Testaments (1 Thess 1, 12). Ist also die Rede von der Abwesenheit menschlicher Leitung nur ein Schwindel, wie die Religionskritiker sagen? Paulus und die Evangelisten vermeiden es in der Tat, die Tätigkeit eines nachösterlichen Leiters genau zu beschreiben, weder für das Gemeindeleben, noch für die Organisation der Hybridevents, also der gottesdienstlichen Versammlungen. Erst in der Apostelgeschichte und in nachpaulinischen Briefen ist die Rede von Presbytern = Ältesten als Gemeindeleiter, doch ohne dass ihre genaue Funktion deutlich wird (Apg 11, 30; 14, 23; 15, 1–16, 4; 20, 17; 21, 18; 1 Tim 5, 1–19; Tit 1, 5). Und Paulus hatte seine Entscheidungen immer identisch mit Jesus Christus gesehen, so dass dieser das Hauptkriterium
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für Richtigkeit und Wahrheit war. In der Beantwortung der Gemeindeanfragen präsentierte Paulus allerdings zusätzlich eine Fülle innerweltlicher Argumente. Mit dem Tod des Paulus erlosch diese singuläre apostolische Identität. Die Gemeindeversammlungen waren schon zur Zeit des Paulus auf eine beständige Suche nach angemessenen Organisations- und Leitungsstrukturen angewiesen und waren es nach seinem Tode noch viel mehr. Die Notlösung, mit pseudepigraphischen Paulusbriefen (Kol, Eph, 2 Thess; 1–2 Tim, Tit) die Organisations- und Glaubensprobleme der dritten Generation anzugehen, konnte nur zeitlich begrenzt weitergeführt werden, und zwar bis ins 2. Jh.. Dann mussten die theologischen Autoren entweder unter eigenem Namen schreiben (Ignatius, Polykarp, Hermas) oder anonym bleiben wie die Evangelisten zuvor. Für diese waren die Apostel eindeutiger als für die pseudepigraphischen Paulusbriefe eine Größe der Vergangenheit. Die Gemeinden mussten während und nach der Zeit der Apostel selbständig ihre Organisation bestimmen. Die Apostelgeschichte bietet daher eine Fülle von ständig wechselnden Versammlungs- und Gemeindemodellen aus apostolischer und nachapostolischer Zeit an. Nach der Wiederauffüllung des apostolischen Zwölferkreises (Apg 1, 15–26) wird für die jüdischen Hellenisten ein zusätzlicher Siebenerkreis gebildet (Apg 6, 1–7), und in der syrischen Weltstadt Antiochien entsteht ein Fünferkreis aus Propheten und Lehrer, dem Paulus angehört, der vor Ostern ja kein Apostel war (Apg 13, 1–3); Älteste leiten die Gemeinde von Jerusalem (Apg 11, 30; 21, 18); Älteste und Episkopen werden vom hl. Geist für die neu gegründeten Gemeinden eingesetzt (Apg 14, 23; 20, 28) (Dormeyer/ Galindo 2003: 23 f.). Was für die Religionskritiker schon ab der Antike eine Selbsttäuschung war, beschreibt zentral des Selbstverständnis der Christen. Sie bilden ständig neue Ämter aus, die sie gleichzeitig als Amt negieren. Denn der einzige Amtsträger ist der auferstandene Jesus Christus mit Gott: „(8) Ihr aber sollt nicht gerufen werden Rabbi; denn einer ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Brüder. (9) Auch Vater sollt ihr nicht rufen einen von euch auf der Erde, denn einer ist euer Vater, der himmlische. (10) Auch sollt ihr nicht gerufen werden Lehrer, denn euer Lehrer ist einer, der Christus. (11) Der Größere aber von euch soll euer Diener sein. (12) Wer aber sich selbst erhöhen wird, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigen wird, wird erhöht werden“ (Mt 23, 8–11; Mk 10, 41–45).
Selbstverständlich gab es in der matthäischen Gemeinde Väter = Patres/Presbyteres. Die Väter der wohlhabenden Familien = Häusern haben sicherlich den Ton angegeben. Es gab Schriftgelehrte/Theologen mit der Bezeichnung Rabbi und Lehrer u. ä. (Mt 13, 52; 23, 54). Sie haben für die Wahrheit der Tradition gesorgt.
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So gab es also Größere in der Gemeinde, die aber ständig ihren hierarchischen Unterschied aufzuheben hatten. Es führt zu weit, die vielfältigen Formen der Amtsinnehabung und -negierung in der Christentumsgeschichte aufzuzählen. Das geglückteste Projekt war sicherlich das spätantike Mönchtum mit seinen ständigen chaotischen Zusammenbrüchen und neuen Aufbrüchen bis in die Gegenwart.
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Schluss
Ein Weltjugendtreffen ohne Leitung? Die theologische Antwort ist ein klares Ja. Jesus Christus ist der Leiter. Doch die soziologisch sichtbare Kirche bedarf einer Leitung, und zwar einer Leitung, die sich ständig selber aufhebt. Für dieses Paradox zeigt allerdings die institutionelle Klugheit der gegenwärtigen Katholischen Kirche deutliche Reexions- und Wahrnehmungsschwächen. Es herrscht eine Amtshierarchie, der die Bezugnahme auf die Humanwissenschaften, die doch mit ihren Methoden genauer als die theologische Tradition eruieren könnten, wie heutige Christen das Paradox von Amt und ständiger Selbstaufhebung rezipieren, weitgehend abgeht. Mich hat beeindruckt, dass die jugendlichen Helfer besonders die mangelhafte Dezentralisierung beklagt haben (Pfadenhauer 2007: 140–143). Wenn ein Hybridevent erlebt werden soll, muss natürlich der Einzelne als Subjekt im Mittelpunkt stehen. Ihm Aufgaben zu übertragen und ihn gleichzeitig an allem teilhaben zu lassen, müsste oberstes Prinzip sein. Und in den kleinen Gruppenversammlungen ging es ja charismatisch herrschaftsfrei zu wie in den Gemeindeversammlungen von Korinth. Natürlich ist auch der Hügel überüssig. Wenn der Papst wie ein simpler DJ agieren soll, braucht er ihn. Doch wenn er die Aufhebung seines Amtes demonstrieren soll, bedarf sein Auftreten einer anderen Raumanordnung, anderer Symbole und anderer Riten. Seit dem II. Vaticanum ist die Kirche ja keine societas perfecta mehr mit dem Papst als absolutistischer Spitze, sondern in Rückkehr zu den neutestamentlichen Anfängen eine ecclesia semper reformanda, also eine Versammlung des Volkes Gottes mit ständigem Reformbedarf und ständigem kritischem Austausch zwischen Basis und Amtsträgern. Es bedarf der Kreativität, dieses Reformprogramm anfanghaft umzusetzen und zu inszenieren. Es ist nicht eine Gefahr, dass „auf so etwas wie einen Kern von wie auch immer gearteter Dogmatik… ein Hauch von Hybris“ beim Weltjugendtag liegt (Forschungskonsortium WJT 2007: 217), sondern eine echte Chance, die neutestamentliche Ekstase und Geheimniserfahrung zu reaktivieren und die Katholische Kirche zu transformieren. Es ist eine Frage der theologischen Rückbesinnung, ob
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eine Steigerung des Organisationsgrades, der bei den Kirchen gegenwärtig zu beobachten ist (Forschungskonsortium WJT 2007: 213), den bewusst dürftigen, paradoxen neutestamentlichen Angaben zu gemeindlichen Organisationsformen entspricht, ganz zu schweigen vom Fehlen jeglichen Kirchenrechts im Neuen Testament, deren Vertreter sich gegenwärtig als die eigentlichen Herren des Vatikans aufspielen und jede Reform mit Rechtskanones abblocken. Zu der theologischen Aufklärung und Kreativität gehört notwendigerweise der Dialog mit der Soziologie, den ich mit dem Jubilar in einem gemeinsamen Seminar führen durfte und den ich für die Kirche für grundlegend halte. Das Neue Testament bietet noch immer den Fundus, aus dem alle Christen und religiös Interessierte aller Berufe immer wieder Neues und Altes zum Heile der Kirche und der Gesellschaft hervorholen können (Mt 13, 52).
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‚We are different!‘ Zur Soziologie jugendlicher Vergemeinschaftung Winfried Gebhardt
‚We are different!‘ ist eine jener Kernaussagen, die dem Selbstverständnis der Jugend Kontur geben. Sie diente – in dieser oder einer anderen Form – Jugendlichen schon immer dazu, sich gegen die ‚Welt‘ der Erwachsenen abzugrenzen und das tut sie auch noch heute. Jugend ist ‚anders‘ und Erwachsene haben der Jugend das Recht, ‚anders‘ zu sein, bis zu einem gewissen Grad auch immer zugestanden. Dass Jugend ‚anders‘ ist und ‚anders‘ sein muss, das wusste Aristoteles so gut wie Cicero, Thomas von Aquin so gut wie Johann Wolfgang Goethe. Und auch dem deutschen Volkslied war es bekannt, als es formulierte: ‚Lass doch der Jugend ihren Lauf!‘. Insofern handelt es sich bei der Aussage, Jugend sei ‚anders‘, um eine Trivialität, freilich um eine solche, die in regelmäßigen Abständen immer wieder neu ausgesprochen werden muss – auch weil sich das jugendliche ‚Anderssein‘ immer wieder neuen kulturellen, auch musikalischen Ausdruck verschafft, sich immer wieder in neuen Sozialformen organisiert und so das latente Misstrauen der Erwachsenen der Jugend gegenüber aufrechterhält.
I Die Aussage, dass Jugend ‚anders‘ ist und auch ‚anders‘ sein muss, stützt sich auf grundsätzliche Erkenntnisse der sozialpsychologischen und soziologischen Jugendforschung. Jugend wird hier verstanden als eine spezische ‚Entwicklungsphase‘ in der menschlichen Biographie. Diese Entwicklungsphase – auch als Adoleszenz bezeichnet – kann als typische Übergangsphase verstanden werden, als ‚psycho-soziale Karenzzeit‘ (Erik Erikson), in der Jugendliche bestimmte ‚Entwicklungsaufgaben‘ zu erfüllen haben. Eine davon ist die ‚Ablösung‘ vom Elternhaus, von der eigenen Herkunftsfamilie, von der Vertrautheit und Sicherheit eingespielter und routinisierter sozialer Nahverhältnisse mit ihren unhinterfragten, selbstverständlich geltenden Normen, Werten und Beziehungsmustern. Ablösungsprozesse dieser Art, die notwendig einhergehen mit dem ‚selbständigen‘ Betreten neuer Erfahrungs- und Erlebnisräume, also mit ‚Differenzerfahrungen‘, werden in der Regel begleitet von Distanzierungs- oder Abgrenzungsbestrebungen, die
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das Erleben von Besonderheit und damit die Entdeckung der eigenen Person als ‚Ich‘ erst ermöglichen (vgl. Tenbruck 1965; Remplein 1966; Hurrelmann 1994). Zur Lebensphase Jugend gehört also notwendig eine gewisse – oftmals nur ‚spielerisch‘ praktizierte – provozierende ‚Anti-Haltung‘, die sich in vielerlei, manchmal sich widersprechenden Formen gegen die ‚Welt‘ der Erwachsenen und ihre ‚Kultur‘ richtet und die – spätestens mit der Entstehung moderner Gesellschaften – zur Entstehung typisch jugendlicher ‚Sonderwelten‘ mit eigenen normativen, ideellen und ästhetischen Leitideen und Leitvorstellungen führt, die sich in spezischen jugendlichen Lebensgefühlen und Lebensstilen bündeln. In der Vergangenheit wurden diese jugendlichen ‚Sonderwelten‘ oftmals als ‚Subkulturen‘1 bezeichnet, in denen sich die jugendspezische ‚Anti-Haltung‘ zu einer ‚gesellschaftskritischen‘, manchmal sogar explizit ‚gesellschaftsfeindlichen‘, vor allem aber ‚totalen‘ Lebensform mit alternativen Werten, Verhaltensnormen und kulturell-ästhetischen Präferenzen verdichtete – einer Lebensform, die oftmals ideologisch (links wie rechts) unterfüttert wurde mit eher diffusen Utopien eines ‚besseren‘ und ‚gerechteren‘ Lebens und der Idee eines ‚Neuen Menschen‘ (vgl. Küenzlen 1997). Subkulturen wissen in der Regel ziemlich genau, was sie nicht wollen. Nicht selten geraten sie aber in Schwierigkeiten, wenn es darum geht, exakt anzugeben, was zu erreichen sie eigentlich erhoffen. Deswegen stehen auch nicht die utopischen Vorstellungen von einer ‚besseren Welt‘ im Zentrum subkulturellen Denkens, sondern die provozierende Gegnerschaft zu einer in der Regel als ‚dekadent‘, ‚verkommen‘, ‚spießig‘ und ‚heuchlerisch‘ abquali zierten ‚Welt‘ der Erwachsenen. Schon bei Gustav Wyneken und anderen radikalen ‚Propheten‘ des ‚Wandervogels‘, ndet sich diese provozierende Attitüde: „Wir kennen die Welt der Erwachsenen nicht. Wir verstehen nicht ihre Maschinen, ihre Gesetze, ihre Fabriken, ihre Sitten. Wir harren des Tags, wo wir sie mit ihrem ganzen Krempel zum Teufel jagen werden …“ (zit. n. Küenzlen 1997: 155). Diese Aussage kann geradezu als paradigmatisch für jugendliche ‚Subkulturen‘ angesehen werden. Auch deshalb wurden sie oftmals von den Erwachsenen als Bedrohung und als Gefahr für die etablierte Ordnung eingeschätzt und die für sie typischen Verhaltensund Praxisformen als deviantes oder abweichendes Handeln abqualiziert. Das galt – mehr oder weniger stark ausgeprägt – für die frühen Jugendbewegungen des ‚Wandervogels‘ oder der ‚Bündischen Jugend‘ ebenso wie für die oftmals auch
1 Der Begriff der Subkultur wurde und wird auch noch heute in den Sozialwissenschaften unterschiedlich de niert und benutzt (vgl. Cremer 1984). Hier wird er im Sinne der Cultural Studies gebraucht, als Bezeichnung für eine ‚totale‘, ‚eigensinnige‘ und (latent) ‚widerständige‘ Lebensform, die sich als soziale, kulturelle (manchmal auch politische und ökonomische) ‚Alternative‘ zu der sie umgebenden Gesellschaft begreift und deshalb deren normativen Ansprüchen und kulturellen Ausdrucksformen dezidiert entgegentritt (vgl. z. B. Schwendter 1978; Hebdige 1979).
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als ‚soziale Bewegungen‘ charakterisierten Jugendsubkulturen der ‚Rocker‘, der ‚Hippies‘ oder der ‚Punks‘.
II Die Situation hat sich heute deutlich verändert. Die seit den 70er Jahren zu beobachtenden gesellschaftlichen Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse haben nicht nur zu einem Bedeutungs- und Akzeptanzverlust etablierter Institutionen (Vereine, Verbände, Parteien, Kirchen u. a.) und ihrer normativen Geltungsansprüche geführt, sie haben auch die individuelle Wahlfreiheit – insbesondere was die ästhetische und weltanschauliche Gestaltung des eigenen Lebens betrifft – enorm erhöht, ohne allerdings schicht- und klassenspezische Beschränkungen dieser Wahlfreiheit gänzlich aufzuheben (vgl. Niesyto 2007; Otte 2007). Folge dieser Entwicklungen ist eine akzelerierende Pluralisierung – oftmals synkretistischer, dem Prinzip des ‚cultural hacking‘ (Franz Liebl) folgender – kultureller Sinn- und Lebensstilangebote, unter denen nicht nur, aber vor allem Jugendliche ‚auswählen‘ können. Diese führt ihrerseits dazu, dass einstmals klar konturierte Hierarchiemuster in der Bewertung kultureller Praktiken und weltanschaulicher Orientierungen (wie beispielsweise die Unterscheidung zwischen ‚Hochkultur‘ und ‚Populärkultur‘) an Bedeutung verlieren (vgl. Gebhardt 2002), Grenzüberschreitungen nicht nur möglich, sondern oftmals sogar ‚erwünscht‘ sind, und damit die Bereitschaft, das ‚Anderssein‘ des ‚Anderen‘ zu tolerieren, wächst, weil in dieser Situation das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung als einziges gesellschaftliches Leit- und Ordnungsprinzip noch konsensfähig erscheint. Unter diesen ‚spätmodernen‘ Bedingungen fällt es Jugendlichen schwer, überhaupt noch eine festgefügte kulturelle und soziale ‚Welt‘ der Erwachsenen zu identizieren, gegen die es sich abzugrenzen und aufzulehnen lohnt. Die Eltern von heute sind schon selbst ‚Kinder der Freiheit‘ (Ulrich Beck) und gestehen ihrem Nachwuchs Freiräume zu, die sie sich selbst hart erkämpfen mussten. Wenn es überhaupt noch ein gesellschaftliches ‚Tabu‘ gibt, gegen das angegangen werden kann, um ‚Differenz‘ zu markieren, dann ist es das Toleranzgebot der pluralistischen Gesellschaft selbst. Die in einigen wenigen jugendkulturellen ‚Sonderwelten‘ verbreitete Neigung, mit rechtsextremen, elitären und demokratiekritischen Weltanschauungsfragmenten (wie beispielsweise bestimmten Denkguren aus dem Kreis der sogenannten ‚Konservativen Revolution‘) zu ‚spielen‘ (vgl. Eulenbach 2007), erklärt sich wesentlich aus diesem Sachverhalt. Insgesamt betrachtet, entwickelt die das jugendliche Selbstverständnis charakterisierende Aussage ‚We are different!‘ allerdings eine neue Stoßrichtung. ‚We are different!‘ heißt heute nur noch bedingt, wir sind ‚anders‘ als unsere Eltern oder die Erwachsenen. ‚We are
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different!‘ steht heute fast ausschließlich für den Willen, ‚anders‘ zu sein als andere Jugendliche. Angesichts des stark gewachsenen Toleranzspielraums, den Erwachsene Jugendlichen heute zugestehen, grenzen sich Jugendliche in zunehmendem Maße gegeneinander ab und konstruieren ihre ‚Identität‘ oftmals in der Konfrontation mit Gleichaltrigen. Zunehmend zerfällt Jugend heute in unterschiedliche, teilweise sogar in miteinander konkurrierende Teile, deren ‚Gegenüber‘ nicht mehr die ‚Gesellschaft‘ ist, sondern diejenigen, die einen anderen Lebensstil praktizieren und andere ästhetische Vorlieben teilen. Technoide, Hip-Hopper, Gothics, Emos, New Romantics, Goas, Skater, Snowboarder, Mountainbiker, Skinheads, Heavy MetalFreaks, Hacker, Treckies, Pokemonés und viele andere mehr berufen sich in aller Regel nicht nur auf unterschiedliche kulturelle, ästhetische und weltanschauliche Traditionen, sie grenzen sich auch äußerlich (in der Musik, im Tanz, in der Kleidung, in der Inszenierung des Körpers, im Gebrauch von Symbolen, im Jargon u. a.) zunehmend gegeneinander ab und demonstrieren ihre jeweilige Besonderheit und ihren Eigensinn offensiv und provokativ im jugendinternen ‚Kampf um Bedeutung‘ (Lawrence Grossberg) in sogenannten ‚style-wars‘ – ein Kampf, der in der Regel mit friedlichen Mitteln, also im Kern performativ ausgetragen wird, unter bestimmten Umständen aber auch gewaltsame Formen annehmen kann, insbesondere dann, wenn noch schicht- und klassenspezische Distinktionsstrategien mit im Spiel sind. Es ist heute nur noch bedingt die ‚Gesellschaft‘ als Chiffre für die ‚verachtete‘ Welt der Erwachsenen, die als ‚Kontrapunkt‘ und auch als ‚Reibungsäche‘ für jugendliches Orientierungsverlangen und jugendliche Identitätsbildung dient, sondern die im jugendinternen ‚Kampf um Bedeutung‘ beteiligten Konkurrenten. Der ‚Feind‘ steht nicht mehr außen vor, er bendet sich in den eigenen Reihen. Auch deshalb neigt Jugend heute dazu, sich nicht mehr demonstrativ gegen die sie umgebende ‚Gesellschaft‘ abzugrenzen und eine ‚Gegenwelt‘ zu postulieren und zu leben, sondern sie begnügt sich damit, einen – auch weitgehend zugestandenen – ‚Freiraum‘ einzufordern, um ihre primär ästhetischen Vorstellungen in einem Kreis von Gleichgesinnten innerhalb der ‚Gesellschaft‘ zu verwirklichen. Diese für hochgradig individualisierte Gesellschaften typische ‚Entstrukturierung‘ von Jugend als relativ geschlossener gesellschaftlicher Teilgruppe, die einhergeht mit einer Entwicklung, in der Jugendlichkeit aus einer oppositionellen oder inofziellen Position ins Zentrum der Kultur rückt, also nicht mehr länger als Übergangsstadium gilt, sondern als Ideal einer ganzen Gesellschaft, hat sich auch in der sozialwissenschaftlichen Terminologie niedergeschlagen. Insbesondere in der pädagogischen Jugendforschung wurde in den letzten Jahren der Begriff der ‚Subkultur‘ aufgegeben und der unverbindlichere Begriff der ‚Jugendkulturen‘
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an seine Stelle gesetzt2. Wenn hier überhaupt noch von ‚Subkultur‘ die Rede ist, dann nur noch im Sinne einer gleichberechtigten gesellschaftlichen ‚Teilkultur‘. Mit einer solchen Begriffsverschiebung gerät freilich der ‚revolutionäre‘ Impuls des ‚Anders-Sein-Wollens‘, des sich ‚Abgrenzen-Wollens‘, der allen jugendlichen ‚Sonderwelten‘ zu eigen ist, aus dem Blickfeld und löst sich auf in eine liebesakosmistische Beliebigkeitsideologie des ‚Jeder darf tun, was er will!‘ und ‚Alles hat seinen eigenen Wert!‘.
III Aus der Unzufriedenheit mit dem diffusen, weil die Besonderheiten juveniler Vergemeinschaftung verwischenden Begriff der Jugendkultur, hat sich, insbesondere in der kultur- und wissenssoziologisch angeleiteten Jugendforschung, ein innovatives theoretisches Konzept durchgesetzt, das die neueren gesellschaftlichen Entwicklungen (einschließlich des Bedeutungsverlustes spezisch ‚subkultureller‘ Vergemeinschaftungsformen) berücksichtigt, gleichzeitig aber die jugendliche Widerständigkeit, das jugendliche ‚Anders-Sein-Wollen‘ in seinem ‚revolutionären‘, ‚subkulturellen‘ Anspruch nicht ausschließt, also präziser, differenzierungsfähiger und damit inhaltsreicher ist als der Begriff und das Konzept der Jugendkulturen3. Dies ist die Theorie der Jugendszene4. Szenen im Allgemeinen lassen sich in Anschluss an Gerhard Schulze als „Netzwerke lokaler Publika“ (Schulze 1992: 463) denieren, deren jeweiliges Merkmal die partielle Identität von Personen, von Orten und von Inhalten ist. Eine entwickelte Szene ist ein locker verknüpftes soziales Gefüge von Personen, welche bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und diese Gemeinsamkeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln.
2
Eine maßgebliche Rolle spielte dabei Baacke 1987. Zum heutigen Stand der (durch die Pädagogik dominierten) Jugendforschung vgl.: Griese/Mansel 2003. Vgl. für die musikpädagogische Diskussion u. a.: Ansohn/Terhag 2004. 3 ‚Reine‘ Subkulturen – im obigen Sinne (vgl. Fußnote 1) – lassen sich heute kaum mehr identizieren. Gleichwohl lohnt es sich, Jugendszenen daraufhin zu untersuchen, ob und wenn ja, welche typisch ‚subkulturellen‘ Elemente in ihnen noch enthalten sind. Die Existenz beziehungsweise Nicht-Existenz von ‚subkulturellen‘ Elementen ist ein entscheidendes Differenzierungskriterium, das es ermöglicht, den Eigensinn und die Widerständigkeit von Jugendszenen typologisch zu ordnen. 4 Nur nebenbei sei bemerkt, dass der soziale Prozess der Szene-Bildung, der diese Begriffswahl initiiert hat, nicht nur auf den gesellschaftlichen Teilbereich der Jugend beschränkt ist, sondern alle gesellschaftlichen Gruppen erfasst. Ich habe zum Beispiel in einer empirischen Studie über die Besucher der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele zeigen können, dass auch die ehemals festgefügte, ja ‚versäulte‘ Gruppe der Wagnerianer einem solchen ‚schleichenden‘ Prozess der Verszenung unterliegt. Vgl. dazu Gebhardt/Zingerle 1998.
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Voraussetzungen dafür sind typische Orte und typische Zeiten, an beziehungsweise zu denen die Szenemitglieder sich treffen und miteinander kommunizieren und interagieren (vgl. Irwin 1977; Schulze 1992). Es war aber dann vor allem Ronald Hitzler, der mit seinem (auf vielfältigen ethnographischen Feldstudien aufgebauten) theoretischen Konzept der „posttraditionalen Vergemeinschaftung“ (Hitzler 1998; Hitzler/Pfadenhauer 2001; Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008) die Entwicklung zu einer umfassenden Theorie der Jugendszene angestoßen und eine solche zusammen mit anderen auch ausgearbeitet hat (vgl. Rohmann 1999; Hitzler/Bucher/ Niederbacher 2001; Gebhardt 2002). Jugendszenen lassen sich – wenn man Hitzler folgt – primär durch folgende Merkmale kennzeichnen: 1.
2.
3.
Szenen sind primär ästhetisch orientierte soziale Netzwerke. Szenen setzen sich in der Regel aus einzelnen, zumeist lokal verortbaren Gruppen zusammen, die sich auf der Basis gemeinsamer Erlebnisinteressen und zumeist ähnlicher ästhetischer Inszenierungs- und Performationsvorlieben (in Musik, Tanzstil, Kleidung, Design, Körper-Styling etc.) zu anderen Gruppierungen hin öffnen und sich selbst eben nicht nur als Gruppe, sondern als Teil einer größeren Gemeinschaft von Gleichgesinnten, eben als Teil einer Szene sehen. Szenen sind thematisch fokussierte soziale Netzwerke mit je eigener Kultur. Jede Szene hat ein zentrales Thema, auf das hin die Aktivitäten der Szenegänger ausgerichtet sind. Das kann ein bestimmter Musik-Stil (die häugste Form), eine Sportart, eine religiöse oder weltanschauliche Orientierung, spezielle Konsumgegenstände oder auch ein Konsum-Stil-Paket der ‚angesagten Dinge‘ sein. Szenegänger verfügen über ein gemeinsames ‚Wissen‘, das andere nicht haben, und sie teilen typische Einstellungen, Handlungs- und Umgangsweisen, die oftmals in spezische ‚Rituale‘ einmünden und durch besondere, nur für Szenegänger verstehbare ‚Symbole‘ und ‚Codes‘ mit Sinn versehen werden. Szenen sind relativ unstrukturierte und labile soziale Gebilde. Ein besonderes Kennzeichen von Szenen ist ihre partikuläre und temporäre Existenz. Anders als traditionale Gemeinschaften (wie z. B. die Familie), aber auch anders als moderne Assoziationen (wie z. B. der Verein), sind sie in ihren Zugehörigkeitsbedingungen offener und in ihren Wahrheitsansprüchen diffuser und unverbindlicher. Verpichtende Bekenntnisse, Unterwerfung unter gesatzte Regeln oder hingebungsvolle Opferbereitschaft sind nicht nötig. Die ‚Mitgliedschaft‘ ist jederzeit kündbar. Auch deshalb bieten Szenen nur kurzfristig die Illusion, dass sich ein Urteil über das Richtige und Relevante auf eine allgemeine, verallgemeinerungsfähige Grundlage stellen lässt. Ihre Handlungsanweisungen bleiben über die Situation hinaus unverbindlich, ihre Autorität ist damit stets prekär.
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5.
6.
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Szenen sind kommunikative und interaktive Teilzeit-Vergemeinschaftungen. Weil Szenen relativ unstrukturiert und labil sind, ist ihre Existenz gebunden an eine ständige kommunikative Vergewisserung, ja noch mehr, an die ständige kommunikative Erzeugung gemeinsamer Interessen (vgl. Stauber 2004; Klein 2002). Nur im – sinnlich fassbaren – Gebrauch szenetypischer Symbole und Zeichen durch die Mitglieder konstituiert sich die Szene. Erst indem sie sich ‚in Szene setzt‘, indem sie sich ‚inszeniert‘, wird sie ‚real‘. Diese Inszenierung ist aber immer gebunden an spezische Räume und Zeiten. Deshalb vermitteln Szenen auch nicht – anders noch als die älteren ‚Subkulturen‘ – Lebensbereiche und Lebenssituationen übergreifende Gewissheiten und Verbindlichkeiten, sondern sind typische ‚Teilzeitvergemeinschaftungen‘. Die Szene und ihre normativen Vorgaben existieren nur, wenn die Szene-Mitglieder miteinander kommunizieren und interagieren. Szenen sind von einer ‚Organisationselite‘ vorstrukturierte und von einer ‚Reektionselite‘ mit ‚Sinn‘ versehene Erfahrungs- und Erlebnisräume. Szenen sind in der Regel keine homogenen, struktur- und hierarchielosen Gebilde. Sie werden ‚hergestellt‘ – sowohl von sogenannten Organisationseliten (oftmals langjährige Szenegänger), die die entsprechenden Veranstaltungen organisieren und für die Inhalte verantwortlich sind, als auch von sogenannten Reektionseliten, die in programmatischen Schriften und Reden die Szene nach innen wie nach außen in ihren Ansprüchen rechtfertigen und ‚Trends‘ setzen (oftmals in eigenen Publikationsorganen). Quantität und Qualität der ‚Reektionselite‘ sind allerdings abhängig von der jeweiligen intellektuellen Kapazität der Szene. Innerhalb der Gothic-Szene, die sich selbst als ‚intellektuelle Elite‘ deniert und dementsprechend auch hauptsächlich aus Gymnasiasten und jüngeren Studierenden aus dem pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Bereich besteht, ist sie z. B. sehr stark ausgeprägt und für die Szene von großer programmatischer Bedeutung, während ihr in der Techno-Szene eher eine unbedeutende Randrolle (als den ‚Spaßfaktor‘ steigerndes Beiwerk) zukommt. Szenen sind exklusiv und reklamieren Einzigartigkeit. Jede Szene behauptet, etwas Besonderes zu sein und sieht sich in gewissem Sinn als ‚jugendliche Avantgarde‘. Um diese Ansprüche aufrechterhalten zu können, betont sie ihre Exklusivität und grenzt sich gegen die Anderen ab, weniger gegen die Welt der Erwachsenen, mehr gegen andere, konkurrierende Szenen. So halten Technoide Grufties für ‚depressive Hirnies‘ und Grufties Technoide für ‚hirnlose Hedonisten‘. Da Abgrenzung und die Markierung von Differenz in Zeiten eines akzelerierenden Kultursynkretismus aber zunehmend schwieriger zu gestalten sind, drückt sich das widerständige ‚Anders-Sein-Wollen‘ oftmals in akzelerierenden Provokationen aus. So ‚erfand‘ die Techno-Generation,
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7.
Winfried Gebhardt um sich von ihrer popmusikgeschwängerten 68er Elterngeneration ebenso wie vom jugendlichen popkulturellen Mainstream abzugrenzen, eine rein elektronische, körperzentrierte und textarme Tanzmusik, die für die mit den Beatles oder mit Bob Dylan Aufgewachsenen schlicht unhörbar schien. Und die Gothic-Szene greift zurück auf mittelalterliches Liedgut und auf Johann Sebastian Bach oder lädt gängige Musikstile der populären Musik auf mit provozierenden Textinhalten aus dem Bereich rechtsextremer Ideologien oder als ‚abartig‘ geltender sexueller Praktiken (bevorzugt aus dem SadoMaso-Milieu). In dieser Orientierung sind beide Szenen äußerst konsequent. Denn das einzige, mit dem Jugendliche heute noch ihre Umwelt provozieren können, ist – wie oben bereits angedeutet – entweder ein dekorativ vorgetragener Hedonismus oder das ‚Spielen‘ mit rechten Ideologien und als ‚abartig‘ geltenden sexuellen Praktiken. Szenen konstituieren sich im Event. Weil diese neue Gesellungsform der Szene in ihrer Struktur offener und unverbindlicher und in ihren Wahrheitsansprüchen diffuser ist als die der älteren ‚Subkulturen‘ und die der immer noch existierenden, aber in ihrer Bedeutung zurückgehenden, heterokephalen Jugendgruppen, benötigen Szenen spezische Zeiten und spezische Veranstaltungsformen, an denen sich Szenemitglieder treffen können, um das Gefühl der Zusammengehörigkeit auch ‚sinnlich‘ zu erfahren. Solche sich multiplizierenden außeralltäglichen Veranstaltungsformen werden heute als Events bezeichnet. Events beruhen auf dem Versprechen eines ‚totalen‘ Erlebnisses, das perfekt organisiert und zumeist monothematisch fokussiert, unterschiedlichste Erlebnisinhalte zu einem nach primär ästhetischen Kriterien konstruierten ‚Gesamtkunstwerk‘ zusammenbindet. Events vermitteln den Szene-Gängern das Gefühl, im gemeinsamen Vollzug des Events nicht allein, sondern unter Gleichgesinnten zu sein, auch wenn man diese persönlich gar nicht kennt. Hubert Knoblauch hat deshalb Events als „strategische Rituale der kollektiven Einsamkeit“ (Knoblauch 2000: 49) bezeichnet. Wie dem auch sei: Szenen und Events sind notwendig aufeinander angewiesen. Ohne Szene kein Event, ohne Event keine Szene5.
IV Jugendszenen sind in ihrem kulturellen und sozialen Einuss kaum zu überschätzen. Jugendszenen bestimmen mit ihren musikalischen, weltanschaulichen und 5
Die Bedeutung des Events für die Aufrechterhaltung von Szenen kann nicht genug betont werden. Vgl. grundsätzlich zur Bedeutung und Funktion von Events: Gebhardt 2000, Knoblauch 2000 und Hepp/Vogelgesang 2003.
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ästhetischen Inhalten und Formgebungen das Lebensgefühl und den Lebensstil der heutigen Jugend. Sie setzen innovative kulturelle ‚Trends‘, deren Wirkung weit über die jeweilige Szene hinausgeht und deshalb selbst die Musik- und Freizeitindustrie dazu zwingen, diese Trends aufzuspüren, um sie vermarkten zu können (vgl. Mikos 2003). Zwar ist es richtig, dass, wie Axel Schmidt und Klaus Neumann-Braun betonen, nur die wenigsten Jugendlichen explizite Szene-Gänger sind. Aber selbst die Jugendlichen, die sich nicht explizit einer Szene zurechnen, orientieren sich in ihrem Lebensstil an – oftmals wechselnden – Szeneinhalten und ihren ästhetischen Ausdrucksformen. Schmidt und Neumann-Braun bezeichnen sie deshalb als ‚Allgemein Jugendkulturell Orientierte‘, abgekürzt: als ‚AJOs‘ (Schmidt/Neumann-Braun 2003). Nicht nur, aber auch aus diesem Grund, lassen sich Jugendszenen als ‚Prototyp‘ juveniler Vergemeinschaftung in sich pluralisierenden und hochgradig individualisierten Gesellschaften bezeichnen. Dieser Tatbestand, der in der Soziologie zunehmend als ‚Verszenung‘ theoretisch verortet wird (vgl. Gebhardt 2002), verändert nun die Struktur und auch die Qualität sozialer Beziehungen. Diese gestalten sich zunehmend lockerer, situationsabhängiger und werden damit in ihrem Verpichtungsgrad unverbindlicher. Anders als in den ‚klassischen‘ Vergemeinschaftungsformen, ist die Zugehörigkeit in Szenen nur noch bedingt an klare Mitgliedschaftskriterien und die Einhaltung von spezischen Regeln geknüpft. In die klassischen Vergemeinschaftungsformen musste man typischerweise ‚hineingeboren‘ werden oder ‚formal‘ eintreten und war dazu verpichtet, bestimmte Leistungen zu erbringen. In gewissem Sinne galt dies auch für die Vergemeinschaftungsform der ‚Subkultur‘, die von ihren Mitgliedern zumindest die Bereitschaft erwartete, sich den subkulturellen Normen und Werten voll und ganz unterzuordnen und die eigene Lebensführung nicht nur zeitlich beschränkt an ihnen auszurichten. Ansonsten drohten durchaus Sanktionen. In die neue Vergemeinschaftungsform der Szene hingegen tritt man typischerweise zwar absichtlich und freiwillig, aber nur ‚auf Zeit‘ (sowohl was die Lebenszeit als auch die Wochenzeit betrifft) ein. Der Eintritt vollzieht sich ohne großes Aufheben durch das schlichte Bekenntnis, dazu gehören zu wollen, und eine gewisse äußere Anpassung. Sie ist aber auch jederzeit revidierbar, ohne dass Sanktionen von Seiten anderer Szene-Gänger zu erwarten sind. Trotz ihres grundsätzlich ‚offenen‘ und deshalb ‚labilen‘ Charakters haben Szenen eine – wenn auch im Vergleich zu traditionalen, assoziationalen und auch subkulturellen Vergemeinschaftungsformen eingeschränkte – sozialintegrative und identitätsstiftende (Bildungs-)Funktion. Sie stellen erstens Räume zur Verfügung, in denen sich das jugendliche Verlangen nach Differenzerfahrungen und Widerständigkeit sinnenfällig Ausdruck verschaffen kann (vgl. exemplarisch Schmidt/ Neumann-Braun 2004: 204 ff.; Hagedorn 2008). Sie bieten zweitens – insbesondere im Rahmen der Szene-Events – ihren jugendlichen Mitgliedern die Möglichkeit
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zu enthusiastisch-ekstatischen, auf der „unmittelbaren Lebendigkeit letzter Entschleierung“ (Plessner 2001: 45) beruhenden und deshalb auch ‚gemeinschaftsstiftenden‘ Grenzerfahrungen , die für die Ausbildung und Konturierung eines stabilen ‚Ich-Bewusstseins‘ unerlässlich sind. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die während eines Events performativ hergestellte, emotionale ‚Gegenwelt‘, in der ‚Authentizität‘ als ‚außeralltägliche‘ Erfahrung nicht nur kognitiv, sondern auch körperlich, sozusagen ‚mit allen Sinnen‘ spürbar wird (vgl. Klein 2002). Und sie geben drittens – trotz aller Unverbindlichkeit und Diffusität – ein ‚sinnstiftendes‘ und Orientierung bietendes Repertoire an Relevanzen, Regeln und Routinen vor, das von den Mitgliedern mehr oder weniger fraglos zu teilen und zu befolgen ist – wenn sie es denn wollen (vgl. Hitzler 1998). Jugendszenen und ihre Events sind zwar im Kern nur vororganisierte und professionell stabilisierte (Teilzeit-)Vergemeinschaftungsformen, immerhin bieten auch sie ihren Mitgliedern eine wenigstens relative Sicherheit und Gewissheit und damit eine – wenn auch zeitlich begrenzte – Entlastung von den existentiellen Sinnfragen: ‚Wohin soll ich mich wenden?‘ und ‚Wer bin ich eigentlich?‘ (vgl. Hitzler 1998). Im Vergleich zu den traditionalen und assoziationalen Vergemeinschaftungsformen ist ihre sozialintegrative, sinn- und identitätsstiftende (Bildungs-) Funktion wohl etwas eingeschränkt, gleichwohl sollte man sie nicht einfach abfällig als markt- oder hierarchiegesteuerte, dekadente, spaßzentrierte und hedonistische Kunstformen abtun6. Im Gegenteil: In den von einer ‚kalten‘ und ‚seelenlosen‘ Rationalität durchformten ‚Alltagswelten‘ spätmoderner Gesellschaften, bieten Jugendszenen und ihre Events der Jugend eine der wenigen Möglichkeiten, der ‚entzauberten Welt‘ der Spätmoderne die Erfahrung von ‚Wiederverzauberung‘ entgegenzustellen (vgl. Prisching 2008; Gebhardt 2008), zu entdecken, dass es auch für sie – vor allem in einer (oftmals immer noch) provozierenden Demonstration des ‚Anders-Sein-Wollens‘ – möglich ist, ‚Sinn‘, ‚Gefühl‘, ‚Wärme‘, ‚Vertrautheit‘ und ‚Authentizität‘ erleben zu können.
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Oliver Dimbath und Ursula Engelfried-Rave konnten in ihren Studien m.E. sehr schön zeigen, dass sich hinter dem in heutigen Jugendkulturen allpräsenten Spaßbegriff ein ‚ernsthaftes‘ Bemühen um eine durchaus ‚rationale‘ Auseinandersetzung mit existenziellen Berufs- und Sinnfragen verbergen kann (vgl. Dimbath 2007; Engelfried-Rave 2008).
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Populäre Medienkulturen Posttraditionalität und populärkulturelle Vergemeinschaftung Andreas Hepp
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Populäre Medienkulturen: Einige grundlegende Anmerkungen zum mediatisierten Populären
In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Medien und Kommunikation ist der Begriff der Medienkultur eng mit dem der Populärkultur verbunden. Allgemein hebt der Ausdruck des Populären auf eine weite Verbreitung oder generelle Akzeptanz von etwas ab. Das Populäre ist das, was auf ein großes Interesse stößt. Dieser Aspekt des Populären schwingt in vielen Konzepten der Populärkultur mit, wonach diese die Kultur ist, die „von vielen Leuten favorisiert oder gemocht“ (Storey 2005: 262) wird. Populärkultur ist aber nicht mit traditionaler Volkskultur gleichzusetzen. Rückgreifend auf Überlegungen von Stuart Hall (1981) macht John Fiske (1989a, 1989b) darauf aufmerksam, dass die gegenwärtigen Populärkulturen in erheblichem Maße auf kommerziellen (Medien-)Produkten beruhen, sich gleichzeitig aber im aktiven Handeln der Menschen konstituieren. In Anlehnung an den Kulturtheoretiker Michel de Certeau (1988) spricht er davon, dass sich die Populärkultur in den taktischen Aneignungspraktiken der Menschen artikuliert, durch die diese die Produkte der Kulturindustrie jenseits der Strategien ihrer Produzenten bzw. der Machthabenden als Ressourcen für eine ‚eigene Bedeutungsproduktion‘ in Besitz nehmen. Mit einem solchen Begriff der Populärkultur rückt die Frage in den Mittelpunkt, durch welche Prozesse der kulturellen Auseinandersetzung das ‚Populäre‘ in einzelnen Medienkulturen artikuliert wird. Hierbei müssen wir vorsichtig sein, die Aneignungspraktiken der Menschen, mit denen sie die (kommerziellen) Produkte in ihrer eigenen Alltagswelt lokalisieren, zu romantisieren (Kellner 1995: 33). Diese Praktiken sind nicht von vornherein „widerständig“, wie es in Teilen der Populärkulturforschung behauptet wurde, sondern können durchaus bestehende Machtverhältnisse stabilisieren. Sie sind aber gleichzeitig nicht von vornherein „manipulativ“, wie die Kritische Theorie in der Tradition von Adorno und Horkheimer (1988) nahelegt. Vielmehr gilt es im Einzelfall konkret zu analysieren, wie sich eine soziale Auseinandersetzung um Bedeutung im Bereich des Populären konkretisiert.
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Andreas Hepp
Es ist dieser analytische Blickwinkel, den ich mit dem Begriff der populären Medienkultur fassen möchte. Populäre Medienkultur fasst solche Aspekte von Medienkultur, die in ihren Inhalten, Ästhetiken und Praktiken von vielen Menschen angeeignet, gemocht und favorisiert werden bzw. ihnen „Vergnügen“ bereiten. Welche Inhalte, Ästhetiken und Praktiken dies im Einzelfall sind, verweist auf Denitionen von kultureller Distinktion und Differenz, die machtgeprägt und in Bezug auf verschiedene Institutionen und institutionelle Prozesse zu betrachten sind. Dabei ist nicht (mehr) nur an die „Industrien“ der Massenmedien zu denken, sondern ebenso an die „Social Software Unternehmungen“ des Internets oder der Mobilkommunikation, die das Populäre heutiger Medienkulturen ebenfalls ausmachen. Hat man einen solchen Blick auf populäre Medienkultur, genügt es nicht, diese auf einzelne Produkte und deren Inhalte zu reduzieren. Man muss sich ihr umfassender annähern und sowohl die Produktion des Populären im Blick haben als auch dessen weitere Aneignung bzw. damit verbundene Identikationen und populäre Vergemeinschaftungen. Kennzeichnend für heutige Medienkulturen bleibt allerdings eine mediale Zentrierung dessen, was als ‚populär‘ gilt: ‚die Medien‘ gebaren sich als die herausgehobenen Orte des Populären. Dieser Zugang zum Populären verdankt den Theorieentwicklungen und Analysen von Ronald Hitzler weitreichende Anregungen. Er wäre ohne dessen grundlegende empirische und theoretische Arbeit zur Eventisierung bzw. zur posttraditionalen Vergemeinschaftung nicht denkbar. Differenzen in einzelnen Überlegungen ergeben sich allenfalls durch einen unterschiedlichen Blickwinkel: Während Ronald Hitzler auf die Erfassung von erlebter ‚fragiler Sozialität‘ als solcher zielt, geht es in der weiteren Argumentation um die kommunikative Vermittlung von populären Vergemeinschaftungen. Deren Verständnis wird allerdings erst dann möglich, wenn sie als Teil von ‚fragiler Sozialität‘ begriffen werden.
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Populärkulturelle Vergemeinschaftungen: Posttraditionalität und translokale Medienkommunikation
Man muss an dieser Stelle vorsichtig sein, nicht das Bild einer übermächtigen, kommerzialisierten populären Medienkultur zu zeichnen, die uns in unserem Leben ‚überrollt‘. Dass dem nicht so ist, liegt an dem Übermaß des medienkulturellen populären Angebots, seiner „Überdeterminierung“ (Ang 1999): Die global zunehmende Zahl und Differenziertheit populärer Medienangebote lässt eine einfache Hegemonie einzelner Inhalte als unwahrscheinlich erscheinen. Strukturiert wird die populäre Medienkultur entsprechend weniger durch ideologische Beziehungen von einzelnen Medieninhalten und deren individuelle Aneignung als vielmehr
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durch medienkulturelle „Figurationen“, die über das einzelne Medienprodukt bzw. dessen individuelle Aneignung hinaus gehen: populärkulturelle Vergemeinschaftungen. Ein Beispiel für diese wären die Fangemeinschaften und Szenen, die sich um ein einzelnes Format (Star Trek) oder eine bestimmte Musikrichtung (HipHop) artikulieren. Solche populärkulturellen Vergemeinschaftungen zeichnen sich insbesondere durch vier Aspekte aus (Hepp 2008): Erstens handelt es sich um Netzwerke lokaler Gruppen, in denen eine entsprechende Face-to-Face-Kommunikation und weitere Interkations- und Ereignisformen wie lokale Events bestehen. Zweitens haben diese Netzwerke einen translokalen Sinnhorizont, d. h. eine geteilte, durch Medienkommunikation vermittelte Sinnorientierung. Diese entsteht in einer Verdichtung von medienvermittelter Kommunikation, nicht nur durch die Medienprodukte, auf die sich populärkulturelle Vergemeinschaftungen in ihrem Kern beziehen, sondern ebenso durch verschiedene Formen interner Medienkommunikation, durch E-Mail, Social Software, Briefe, Telefon, Newsletter, Fanzines usw. Drittens sind populärkulturelle Vergemeinschaftungen – phänomenologisch gesehen – deterritorial, indem sie sich im Kern ihrer „Kulturbedeutung“ (Weber 1988: 165) jenseits des Nationalen denieren: Die fan community von Star Trek beispielsweise ist durch eben diese Filmserie bzw. ihre textuelle Welt bestimmt und nicht durch die nationale Zugehörigkeit ihrer Fans. Deutlich wird daran eine weitere Besonderheit populärkultureller Vergemeinschaftungen: Sie sind viertens stets auf einen bestimmten thematischen Kern ausgerichtet, einen populären „single issue“, dessen Faszination die Mitglieder dieser Vergemeinschaftung teilen. Sicherlich ist diese Beschreibung in dem Sinne idealtypisch, dass die einzelnen Charakteristika populärkultureller Vergemeinschaftung überzeichnet werden, um deren Kernaspekte greifbar zu machen. So meint beispielsweise der Hinweis auf den deterritorialen Charakter populärkultureller Vergemeinschaftungen nicht, dass es in ihnen keine Nationalisierungen gäbe. Gerade verschiedene Fangemeinschaften haben nationale Treffen oder Organisationseinheiten. Es ndet eine nationale Territorialisierung statt – wie es Territorialisierungen auf regionaler oder supranationaler (beispielsweise „europäischer“ oder „lateinamerikanischer“) Ebene gibt. Solche Re-Territorialisierungen im populärkulturellen Bereich nden aber innerhalb ihrer Gesamtverdichtung statt, die deterritorial bleibt, und denieren nicht deren thematischen Kern, was den Unterschied zur territorialen Vergemeinschaftung der Nation ausmacht. Während die Deterritorialisierung folglich das Grundmoment dieser Vergemeinschaftungen ist, sind die verschiedenen Re-Territorialisierungen auf supranationaler, nationaler und regionaler Ebene Prozesse, die es als solche zu untersuchen gilt. In diesem Sinne sind populärkulturelle Vergemeinschaftungen eine besondere Form deterritorialer Vergemeinschaftung.
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Dieses Grundverständnis populärkultureller Vergemeinschaftung als einem wichtigen Moment heutiger Medienkultur knüpft an eine breite Diskussion um den Wandel von Vergemeinschaftung in den Sozialwissenschaften an. Versteht man unter Vergemeinschaftung im klassischen Sinne Max Webers eine „soziale Beziehung“, deren konstitutives soziales Handeln „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditioneller) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“ (Weber 1972: 21), klingt bereits in dieser Denition ein Spannungsverhältnis an. Dies ist das Spannungsverhältnis von einerseits traditionellen Vergemeinschaftungen, d. h. solchen, bei denen die Zusammengehörigkeit auf Tradition beruht (die Vergemeinschaftung der Familie, Nachbarschaft etc.). Andererseits sieht Weber die Möglichkeit affektueller (d. h. „emotionaler“, Weber 1972: 12) Vergemeinschaftung jenseits von Tradition. In den Sozial- und Kulturwissenschaften ist vor allem diese Form von „nicht-“ oder – in einer historischen Perspektive – „posttraditionaler“ Vergemeinschaftung breit diskutiert worden. Zygmunt Bauman beispielsweise betrachtet in diesem Zusammenhang „ästhetische Gemeinschaften“, die auf einer „expliziten oder stillschweigenden Übereinkunft [beruhen], die sich in der unwillkürlichen Billigung eines ästhetischen Urteils bzw. in uniformem Verhalten äußert“ (Bauman 2009: 81). Diese basieren für ihn auf einem Paradox, nämlich einerseits für jeden zugänglich zu sein (im Gegensatz zu traditionalen Vergemeinschaftungen, wie man mit Bezug auf Max Weber sagen könnte), andererseits den hieraus resultierenden „Mangel an Bindungskraft verheimlichen“ (Bauman 2009: 82) zu müssen, um attraktiv zu sein. Ästhetische Gemeinschaften entstehen für Bauman auf dem „Nährboden der Unterhaltungsindustrie“, die die Möglichkeit bietet, „Spektakel [zu] kreieren, an denen eine unbegrenzte Zahl räumlich weit entfernter Zuschauer teilnehmen kann, die ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf das selbe Ereignis konzentrieren“ (Bauman 2009: 83). Neben solchen durch mediale Kommunikation vermittelten Ereignissen sind auch andere lokale, regelmäßig wiederkehrende Events für Bauman ein wichtiges Moment ästhetischer Vergemeinschaftungen. Einen anderen Begriff für heutige Formen nicht-traditionaler Vergemeinschaftung hat Michel Maffesoli mit dem des „Neo-Tribalismus“ geprägt. Der Kern seiner Darlegungen ist, dass gegenwärtige kommerzialisierte Gesellschaften als komplexe organische Gebilde anzusehen sind, in denen auf situative Rollen ausgerichtete affektive Stämme eine zentrale Bedeutung haben (Maffesoli 1996: 6). Neostämme sind nicht funktional bzw. zweckrational organisiert, sondern emotionale Gemeinschaften. In diesen steht die symbolische Beziehung der Mitglieder zueinander, die sich in quasi-kultischen Veranstaltungen manifestiert, im Mittelpunkt (Maffesoli 1996: 9 f., 97; Shields 1996: xii). Dass wir es bei solchen „Stämmen“ nicht zwangsläug mit Jugendcliquen oder Gruppen anderer „Spezialkulturen“ (Winter/Eckert 1990: 82) zu tun haben,
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zeigt die Argumentation von Ethan Watters. Dieser setzt sich kritisch mit der These Robert Putnams (2001) auseinander, in der amerikanischen Gesellschaft hätte – u. a. getrieben durch einen zunehmenden Konsum von Massenmedien – ein individueller Atomisierungsprozess eingesetzt: Jüngere Generationen würden in Distanz zu Vereinen, Verbänden und Nachbarschaften gehen, was mit einem Verlust an sozialem Kapital und Gemeinschaft einher ginge. In Abgrenzung dazu betont Watters, dass nicht Vergemeinschaftungen und soziales Kapital verloren gegangen seien, aber sich deren Figuration verändert habe: An die Stelle von stärker traditionalen Vergemeinschaftungen sind „urbane Stämme“ getreten, deren „stammesmäßiger Stil der Vergemeinschaftung“ (Watters 2004: 116) über Netzwerke von Freunden geschieht. In einem solchen Argumentationsrahmen ist das Konzept der „posttraditionalen Vergemeinschaftung“ von Ronald Hitzler zu sehen (Hitzler 1998; Hitzler/Pfadenhauer 1998; Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001). Dieses Konzept versucht zu fassen, dass in Kontexten fortschreitender Individualisierung verschiedene Formen der kommerzialisierten Wiedervergemeinschaftung auszumachen sind. Posttraditional ist die Vergemeinschaftung dieser Kollektive insofern, als sich die Zugehörigkeit zu ihr nicht qua Tradition ergibt, sondern durch individuelle Partizipation auf Zeit. Deren Mitglieder müssen ständig aufs Neue zur Teilnahme „verführt“ (Hitzler 1999) werden. Die Zugehörigkeit zu posttraditionalen Vergemeinschaftungen umfasst nicht die Totalität einer Person und ihre Mitglieder werden nicht fraglos in sie hinein sozialisiert. Es handelt sich hierbei um Gemeinschaften, deren Spezi k darin zu sehen ist, dass sie ein auf temporären Wahlentscheidungen basierendes, identitätsstiftendes Vergemeinschaftungserleben ermöglichen. Die Zugehörigkeit zu solchen Vergemeinschaftungen ergibt sich durch geteilte Vorstellungen. Als eine „Variante“ oder konkreter als eine „Brutstätte“ (Hitzler 2008: 55) postraditionaler Vergemeinschaftung lassen sich Szenen ausmachen. So bestehen differente (Freizeit- und Konsum-) Szenen, die von einer Organisations-Elite durchaus mit Protinteressen getragen werden und dem Individuum eine soziale Einbindung ermöglichen. De nitorisch sind Szenen eine Form von „lockerem sozialen Netzwerk […], in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften“ (Hitzler 2008: 56). Die Mitgliedschaft in einer Szene beruht auf interessensgeleiteter Wahl, wobei Szenen keine förmlichen Mitgliedschaften haben und der bzw. die Einzelnen häug nicht wissen, ob er oder sie im Zentrum der Szene stehen oder nicht. Während Szenen sich in lokalen Gruppen und lokal bestehenden Besonderheiten konkretisieren, betont Ronald Hitzler die kommunikative Erstreckung von Szenen über das Lokale hinaus: Szenen sind ein „weltumspannendes, globales – und ohne intensive Internet-Nutzung der daran Beteiligten zwischenzeitlich auch kaum noch überhaupt vorstellbares – Gesellungsgebilde“ (Hitzler 2008: 56 f.).
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Mit solchen Überlegungen rückt einmal mehr die Frage des Stellenwerts von Medienkommunikation in den Fokus, und zwar in einem doppelten Sinn: Einerseits beziehen sich viele Szenen in ihrem thematischen Kern auf Medienprodukte bzw. mit diesen artikulierte populärkulturelle Stile. Beispiele dafür sind Szenen von Fans einzelner Medienprodukte wie die Death Metal Szene, die Comic Szene, die Gothic Szene, die HipHop Szene, die Punk Szene oder die Techno Szene (siehe http://www.jugendszenen.com/). Andererseits werden Medien – allen voran das Internet – zur internen (Identitäts- und Organisations-)Kommunikation der Szene genutzt. Szenen sind in diesem Sinne umfassend mediatisierte „Figurationen“. Sie sind Teil heutiger populärer Medienkulturen, eine bestimmte Form von populärkultureller Vergemeinschaftung. In einer kommunikations- und medienwissenschaftlichen bzw. mediensoziologischen Perspektive ist also das Spezi kum solcher Vergemeinschaftungen in ihrer medialen kommunikativen Vermittlung zu sehen. Eine solche Auseinandersetzung mit der Mediatisierung von Vergemeinschaftung bricht klar mit klassischen Vorstellungen sozialer Vergemeinschaftung. So kann man als einen wichtigen Aspekt des Vergemeinschaftungsbegriffs von Weber (aber auch von Tönnies) ansehen, dass dieser implizit von „der Vorstellung der Unmittelbarkeit der kommunikativen Begegnung“ (Knoblauch 2008: 81) ausgeht, die Vergemeinschaftung stiftet. Vergemeinschaftungen im Sinne Webers basieren auf direkter Face-to-Face-Kommunikation und bilden ein spezisches Wissen aus, weswegen man von (lokalen) „Wissensgemeinschaften“ sprechen kann. Den Wandel, den Hubert Knoblauch ausmacht, ist nun ein Wandel von „Wissensgemeinschaften“ hin zu „Kommunikationsgemeinschaften“: Mit der zunehmenden Durchdringung von Kulturen mit Medienkommunikation erfahren medienvermittelte translokale „Kommunikationsgemeinschaften“ einen Relevanzgewinn. Bei diesen Kommunikationsgemeinschaften wird das im Vergleich zu lokalen Vergemeinschaftungen geringere Maß an unhinterfragt geteiltem Wissen durch eine Zunahme der Kommunikation ausgeglichen: „Je weniger Wissen geteilt wird, um so mehr muss kommuniziert werden“ (Knoblauch 2008: 84). Dies betrifft nicht nur territoriale, nationale Vergemeinschaftungen, sondern ebenfalls den Bereich des Populären. Hierbei haben interaktive Medien bzw. das Internet deswegen einen hohen Stellenwert, weil sie in der Kommunikation der Vergemeinschaftungsmitglieder selbst in der internen Kommunikation „die Ausbildung sozialer Strukturen“ (Knoblauch 2008: 85) ermöglichen. Solche Überlegungen sind durch die gleiche Fluchtlinie der Argumentation gekennzeichnet, wie das hier entwickelte Konzept der populärkulturellen Vergemeinschaftung als einer Form der medienvermittelten, translokalen Vergemeinschaftung: Eine herausgehobene Besonderheit solcher Vergemeinschaftungen ist die Form ihrer kommunikativen Vermittlung, ihr das Lokale überschreitender
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Sinnhorizont. Während der Begriff der „Kommunikationsgemeinschaft“ – oder konkreter Medienkommunikationsgemeinschaft – generell nochmals den Charakter der kommunikativen Vermittlung betont, unterstreicht das Konzept der populärkulturellen Vergemeinschaftung ihren thematischen Kern, d. h. den Fluchtpunkt ihres medial vermittelten Sinnhorizonts im Bereich des Populären. Hat man diese Fragen der kommunikativen Vermittlung im Blick, ist es zentral, sich zu vergegenwärtigen, dass „Szenen“ nur eine Form heutiger, populärkultureller Vergemeinschaftung sind. So bestehen weitere Formen populärkultureller Vergemeinschaftung jenseits oder konkreter in den Randbereichen von Szenen und anderen Gruppierungen. In Bezug auf die Musikrezeption Jugendlicher haben Axel Schmidt und Klaus Neumann-Braun dafür den Begriff der „Allgemein Jugendkulturell Orientierten (AJOs)“ (Schmidt/Neumann-Braun 2003: 263) gefunden. Hiermit bezeichnen Sie die „graue Mehrheit“ (Schmidt/Neumann-Braun 2003: 249) der Jugendlichen, die ein grundlegendes Interesse für Popmusik haben, lebenspraktisch jedoch in keine Szene oder szeneafne lokale Gruppe involviert sind. Deren Teilhabe an Popmusik bleibt weitestgehend über den Jugendmarkt und die Jugendmedien vermittelt. Analysiert man diese AJOs genauer, fällt auf, dass für diese die Zugehörigkeit zu einer Musik- oder Jugendszene eher „dezitär“ ist und einen „Mangel an Individualität“ (Schmidt/Neumann-Braun 2003: 262) deutlich macht. Anders als Jugendliche, die sich in einem Szenekern bewegen, ist Popmusik zwar ein zentraler Bestandteil der Alltagswelt. Ihr Stellenwert für die Abgrenzung, für Distinktion von Anderen – ob in der gleichen oder einer älteren Generation – ist aber gering. Dies heißt gleichwohl nicht, dass Popmusik für diese Jugendlichen nicht ein wichtiger Aspekt von Vergemeinschaftung wäre. Schmidt und Neumann-Braun arbeiten heraus, dass der „Identi kations xpunkt“ (Schmidt/Neumann-Braun 2003: 266) und damit Referenzpunkt für Vergemeinschaftung der AJOs die lokale Peer-Group ist. In deren Rahmen wird Popmusik gehört, das „ideologische Potenzial“ (Schmidt/Neumann-Braun 2003: 266) der Musik aber weder übernommen noch intensiver gelebt. Die Funktion von Popmusik in diesen lokalen Gruppen ist vielmehr eine andere, nämlich als Allroundmedium in jeweils persönliche und situationsspezische Bedürfnisse und Relevanzen hinein projiziert zu werden. Die Aneignung ndet eher auf emotionaler denn auf diskursiver Ebene statt, indem Musik mit bestimmten Situationen, Gefühlen und Stimmungen verknüpft wird. Es steht das Körpererleben und die geteilte emotionale Stimmung in lokalen Zusammenhängen im Vordergrund. Popmusik ist allerdings für die AJOs nicht nur eine Ressource für emotionales Erleben in den Gruppen. Sie vermittelt darüber hinaus „ein diffuses Gefühl von ‚Dabeisein‘“ (Schmidt/Neumann-Braun 2003: 266), schafft die Möglichkeit der Einordnung in den weiteren Rahmen einer populären Medienkultur. Populärkulturelle Vergemeinschaftung entsteht hier also nicht
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nur durch das Musikerleben in den lokalen Gruppen. Zentral bleibt dabei deren Positionierung in einen weiteren, medial vermittelten populären Sinnhorizont. Ein anderes aktuelles Beispiel für populärkulturelle Vergemeinschaftung jenseits von Szenen ist die aktuelle Entstehung des „E-Sport“. Hierbei handelt es sich um eine Form des institutionalisierten und zumindest in Teilen professionalisierten, „wettkampfmäßigen Computerspielens“ (Maric 2009). Konkret sind unter E-Sport von entsprechenden Verbänden bzw. „Clans“ ausgetragene, (semi-)professionelle Computerspielwettkämpfe zu verstehen, für die nationale und internationale Events wie die „World Cyber Games“ (WCG) oder „E-Sport World Cup“ (ESWC) beispielhaft stehen. Einerseits gibt es beim E-Sport – ähnlich wie bei den AJOs, die sich an den „Rändern“ bestehender Szenen bewegen bzw. „touristisch“ in Szenen eintauchen – klare Bezüge zu der u. a. von Waldemar Vogelgesang (2009) und Daniel Tepe (2007) beschriebenen LAN-Gaming Szene. Bei letzterer handelt es sich um eine Szene von Computerspielern, die im Local Area Network (LAN) gegeneinander spielen. Dabei sind verschiedene populäre Spielevents ein zentraler Referenzpunkt der Szenebildung (siehe auch Hepp/Vogelgesang 2008). Man kann E-Sport nun als aus dieser Szene erwachsene Form der Professionalisierung von wettkampfmäßigem Computerspielen begreifen, die in einer ähnlichen Beziehung zur LAN-Szene steht wie der professionelle Fußball zum nicht-professionalen Fußballspielen im Verein oder der Freizeit: Während die LAN-Szene und ihr „gaming“ ein wichtiger Bezugspunkt des E-Sport bleibt (Maric 2009: 6), haben sich im E-Sport institutionalisierte Spielstrukturen und eine in denierten Qualikationswegen geschulte, auf ein ‚fachgemäßes‘ Erwerbsleben zielende Spielerschaft herausgebildet, die nach vergleichbarer Anerkennung strebt wie andere professionalisierte Sportarten. Entsprechend sind die Bemühungen des Auf baus nationaler Organisationen und Wettkämpfe zu sehen, über die nationale Territorialisierungen in den E-Sport einziehen. Greifbar wird dies in der (beginnenden) Medienberichterstattung über E-Sport, die nur bedingt an die Spezika des kompetitiven Computerspielens anknüpft und dieses tendenziell in den Mustern bestehender populärer Sportberichterstattung wie die des Fußballs zu kommunizieren sucht (Maric 2007). Wir können E-Sport als ein gegenläuges Beispiel zu dem der AJOs verstehen, das uns dennoch einen weiteren, wichtigen Einblick in Prozesse populärkultureller Vergemeinschaftung gibt. Der Unterschied zur Szene besteht beim E-Sport nicht in einer indeniten Allgemeinorientierung. Er liegt darin, dass aus einer Spieleszene über weitere Professionalisierung ein neuer, institutionalisierter Sportbereich erwächst, mit entsprechend klaren und vereinsmäßigen Zugangsbarrieren und Eintrittsbeschränkungen. Es geht nicht um das szene-förmige Gaming, sondern das auf allgemeine Anerkennung zielende professionelle Spielen. Trotz oder vielleicht eher wegen einer solchen Professionalisierung haben wir es aber ebenfalls
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mit Prozessen der mediatisierten, populären Vergemeinschaftung zu tun. Erstens sind mit Computerspielen ‚Medien‘ das Instrument des Sports. Dabei kristallisiert sich E-Sport in seinem Kern anhand populärer Multi-User-Computerspiele, für die „Counterstrike“, „FiFa“ oder „World of Warcraft III“ Beispiele sind. Zweitens organisiert sich E-Sport in hohem Maße vermittelt über das Internet durch mediatisierte Kommunikation. Drittens zielt E-Sport mit seinen herausgehobenen Events auf eine breite Medienberichterstattung auch in den Massenmedien, d. h. versucht diese Events nicht nur als populäre lokale Spielevents, sondern gleichzeitig als Medienevents zu inszenieren. Über solchermaßen mediatisiertes populäres Spielen bzw. die Kommunikation darüber wird in dreifacher Hinsicht Vergemeinschaftung artikuliert: Unter den Organisatoren und Spielern die Vergemeinschaftung der Professionellen, unter den Anhängern einzelner Spieler und Clans die Vergemeinschaftung der Unterstützer sowie über die weitere E-Sport-Berichterstattung die ggf. nur situative Vergemeinschaftung der Interessierten. An diesem Punkt strahlt E-Sport wiederum in das Gaming der LAN-Szene, für die die Berichterstattung über professionellen E-Sport das eigene Spielen bei populären Spielevents legitimiert bzw. Teil des medienvermittelten Sinnhorizonts der in der eigenen Szene erlebten Vergemeinschaftung ist. Durch die allgemeine Berichterstattung über E-Sport können aber auch AJOs ihr nicht weiter organisiertes Computerspielen und darüber in ihrer lokalen Gruppe erlebte Vergemeinschaftungen in den weitergehenden Sinnhorizont populärer Medienkultur einordnen.
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Möglichkeitsräume des Populären: Geteilte Sinnhorizonte
Die bisherige Diskussion eröffnet einen vielschichtigen Zugang zum Populären in heutigen, globalisierten Medienkulturen. Insgesamt fällt die Differenziertheit populärer Medienkultur auf. Getragen von populären Medienevents, Formaten und verschiedenen Interaktionsformen im Internet bzw. mittels anderer digitaler Medien besteht in Medienkulturen eine Vielfalt sehr unterschiedlicher populärer Medienangebote und Aneignungsformen. Über diese Vielfalt hinweg wird anhand der unterschiedlichen Beispiele deutlich, in welchem Maße Populärkultur mediatisiert ist, d. h. durch eine Zentrierung auf Medienkommunikation aufrecht erhalten wird: Das, was als das Populäre erscheint, wird bei all seiner Differenziertheit als das, was in translokaler Medienkommunikation als populär konstruiert wird, greifbar. Als kennzeichnend kann man weiter ansehen, dass die populäre Medienkultur vermittelt über unterschiedliche Prozesse der Medienaneignung vielfältige Möglichkeiten der Vergemeinschaftung eröffnet, die sich als populäre Vergemeinschaftung bezeichnen lassen. Diese verfügen aufgrund ihrer medialen
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Vermittlung zwangsläug über einen translokalen Sinnhorizont, das heißt eine Orientierung über den lokalen Lebenskontext der Alltagswelt hinaus. Insgesamt können die von Ronald Hitzler breit analysierten Szenen als ein herausragendes und in hohem Maße sichtbares Beispiel von populärkulturellen Vergemeinschaftungen begriffen werden, wie auch seine Überlegungen zu Posttraditionalität ein wichtiger Bezugspunkt ihrer Beschreibung sind. Allerdings umfassen mediatisierte populärkulturelle Vergemeinschaftungen weit mehr als Szenen, was exemplarisch das translokal kontextualisierte Poperleben der AJOs bzw. der professionalisierte Mediensport deutlich machen. Populärkulturelle Vergemeinschaftungen sind zuerst einmal deterritorial; sie erstrecken sich als Netzwerke über Lokalitäten in unterschiedlichen Ländern hinweg, und Fragen von regionaler, nationaler oder supranationaler Territorialität sind für sie nicht konstitutiv. Dies heißt selbstverständlich nicht, dass ausgehend von dieser grundlegenden Deterritorialität Prozesse der Nationalisierung und Territorialisierung auszuschließen wären. Gerade bei Professionalisierungen, die auf nationale Publika zielen wollen bzw. sich in nationalen Legitimations- und Organisationsstrukturen bewegen, kann dies der Fall sein. An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie sich solche Ergebnisse insgesamt kritisch einschätzen lassen. Forschung zu Szenen und Fankulturen hat die Tendenz, die „Produktivität“ bzw. den „Eigensinn“ populärkultureller Vergemeinschaftung zu betonen (Willis et al. 1991; Winter 1995; Jenkins 1992), d. h. solche Vergemeinschaftungen als eigene „Beteiligungskultur“ („participatory culture“, Jenkins 2006) zu betrachten. Ronald Hitzler hat vorgeschlagen, Szenen als Umfeld der „Kompetenzaneignung“ (Hitzler 2007: 57) zu begreifen. Junge Menschen könnten immer weniger damit rechnen, für sie brauchbare Lösungen von Älteren und Erwachsenen vermittelt zu bekommen. Solche „lebenspraktischen Kompetenzen“ (Hitzler 2007: 60) lassen sich allerdings in Szenen aneignen. Diese werden so zum „LernOrt“ (Hitzler 2007: 65), an dem – motiviert durch die praktischen Interessen des Szene-Engagements – verschiedene Handlungskompetenzen erlernt werden. Auf diese Weise erarbeiten sich Szene-Angehörige „Chancen zur gelingenden Bewältigung des je eigenen Lebens auch über die Dauer der Szene-Vergemeinschaftung hinaus“ (Hitzler 2007: 66). Dieser Art von in der Tendenz positiven Einschätzungen stehen kritische Bewertungen gegenüber, für die die bereits zitierte Position von Zygmunt Bauman als kennzeichnend gelten kann. Bauman sieht das Problem der von ihm so bezeichneten ästhetischen Gemeinschaften – oder, wie wir hier sagen würden: von populärkultureller Vergemeinschaftung – darin, dass die „ästhetische Gemeinschaft […] ausdrücklich kein Netz ethischer Verantwortlichkeiten und – als deren Folge – langfristiger Verpichtungen zwischen ihren Anhängern knüpfen“ (Bauman 2009: 89; Herv. i. O.) will. Das, was Ronald Hitzler als Chance sieht – nämlich eine
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gewisse Unverbindlichkeit, die als solche Möglichkeiten selbstgewählter Lernerfolge jenseits ofzieller Bildungsinstitutionen gestattet – erscheint Zygmunt Bauman als Problem. Er gibt bei all ihren Problemen der verbindlichen „ethische[n] Gemeinschaft“ (Bauman 2009: 90; Herv. i. O.) den Vorrang, da diese aus „langfristigen Bindungen, unveräußerlichen Rechten und unerschütterlichen Pichten“ (Bauman 2009: 90) bestünden und so als „Variablen für die Zukunftsplanung dienen können“ (Bauman 2009: 90). Hinter solchen Argumenten steht zumindest zum Teil das Ideal der lokalen Vergemeinschaftung, das auch bei Max Weber Ausgangspunkt der Reexion war. Möglicherweise lässt sich – gewissermaßen beide Positionen aufgreifend – argumentieren, dass das Potenzial populärer Medienkulturen gerade in ihrer medialen Zentrierung liegt: Es ist eine geteilte Zentrierung auf bestimmte Bereiche des medienvermittelten Populären, die überhaupt populäre Vergemeinschaftungen wie Szenen ermöglicht, die dann im Einzelfall Chancen des Kompetenzerwerbs eröffnen. Wendet man seinen Blick auf die „Allgemein Jugendkulturell Orientierten“ – oder vielleicht umfassender: die „Allgemein Populärkulturell Orientierten“ – wird im Sinnhorizont des mediatisierten Populären ein Bezugsraum greifbar, der auch situative populärkulturelle Vergemeinschaftung für Menschen eröffnet, die nur am Rande von Szenen stehen. Dieser Sinnhorizont populärer Medienkulturen hat zwar nicht die von Bauman eingeforderte dauerhafte Bindung, kann aber vielleicht gerade deshalb transkulturell ein Bezugspunkt für Verständigung sein. Exemplarisch haben dies Studien gezeigt, die sich mit der Aneignung von Populärkultur über ethnisch-kulturelle Grenzen hinweg befassen. So geht beispielsweise Marie Gillespie (1995: 191) darauf ein, dass für aus dem Pandschab stammende, nach Großbritannien migrierte Jugendliche die von MTV und anderen Massenmedien vermittelte globalisierte populäre Medienkultur die Entwicklung der „Utopie“ einer nicht-rassistischen Jugendkultur gestattet. Oder Laura Suna (2005) zeigt in ihrer Untersuchung zur Medienaneignung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen lettischer und russischer „Ethnie“ in Lettland, dass die geteilten Muster der Medienaneignung über sprachliche und kulturelle Differenzen hinweg Verständigungspotenzial haben. Vielleicht liegen die Möglichkeitsräume populärer Medienkulturen als Aspekt ‚fragiler Sozialität‘ demnach darin, dass sie uns durch ihre mediale Zentrierung des Populären vergleichsweise unproblematische kommunikative Ressourcen zur Verfügung stellen und so eine zumindest situativ beziehbare „common culture“ schaffen, die gleichwohl lokal in hohem Maße different artikuliert und angeeignet wird.
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Posttraditionale Vergemeinschaftung als ‚Antwort‘ auf Individualisierung
Die von Ulrich Beck (1983) und Elisabeth Beck-Gernsheim (Beck/Beck-Gernsheim 1990 und in diesem Band) vertretene Individualisierungsthese, der zufolge Menschen als Effekt des Modernisierungsprozesses massenhaft aus vorgängigen biographiedeterminierenden Verlässlichkeiten abgelöst werden, hat als soziologische Explikation eines fundamentalen sozialstrukturellen Wandels nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch außerhalb der Fachöffentlichkeit hohe Resonanz erzielt. Trotz dem nicht zuletzt auch der methodisch-methodologischen Herangehensweise der soziologischen Ungleichheitsforschung geschuldeten Problem der empirischen Nachweisbarkeit ist Individualisierung zwischenzeitlich neben Pluralisierung, Globalisierung und neuerdings Mediatisierung als eine treibende Kraft der Transformation moderner Gesellschaften anerkannt. Die als eine funktionale Konsequenz sozialstruktureller Veränderungen moderner Gesellschaften1 beschriebene „Arbeitsmarkt-Individualisierung“ (Beck/Beck-Gernsheim 1990) treibt eine „Suchgesellschaft der Individuen“ (Beck 1990) hervor. Im mitunter heftig geführten Disput darüber, ob Individualisierung nun eher Vereinzelung, Vereinsamung, Isolation oder aber Loslösung, Befreiung, Emanzipation bedeutet und befördert, ob Individualisierung also zu begrüßen oder zu beklagen sei, ist lange Zeit kaum registriert worden, dass in dieser These neben der Herauslösung stets auch die Neu- bzw. Wieder-Einbindung des Einzelnen mitgedacht ist. Diesen Aspekt hat Ronald Hitzler in seinem 1998 erschienenen und seither viel zitierten Artikel „Posttraditionale Vergemeinschaftung. Über neue Formen der Sozialbindung“ pointiert hervorgehoben: Darin beschreibt er einen neuen „Modus sozialer Aggregation (…), „der sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass die 1 Gemeint sind sozialstrukturelle Veränderungen wie „Verrechtlichung immer weiterer Lebensbereiche, Bildungsexpansion und -entwertung, Auösung des Normalarbeitszeitverhältnisses, Erhöhung des durchschnittlichen Wohlstands auch als Fahrstuhleffekt bekannt, Generalisierung des Gleichheitsgrundsatzes und Erosion der relativen kulturellen Verbindlichkeit des Kleinfamilienmodells“ (Hitzler 1998: 81).
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freiwillige Einbindung des Individuums auf seiner kontingenten Entscheidung für eine temporäre Mitgliedschaft in einer – typischerweise von einer OrganisationsElite im Zusammenhang mit Protinteressen stabilisierten und perpetuierten – (vorzugsweise freizeit- und konsumorientierten) sozialen Agglomeration beruht. Kollektive, die aus der Konglomeration solcher sozusagen kommerziell evozierter Zugehörigkeitsentscheidungen resultieren, nennen wir posttraditionale Gemeinschaften“ (Hitzler 1998: 82). Dieser aus der Empirie zu Jugendszenen (vgl. Hitzler 2002, 2003, 2007a, 2008a; Hitzler/Pfadenhauer 1997, 2001a, Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001), insbesondere aus der ethnographischen Forschung zur Techno-Szene (vgl. Hitzler 1997, 2002, 2001a, 2007b; Hitzler/Pfadenhauer 1997, 1998a, 1998b, 1998c, 1999a, 1999b, 2001b, 2002, 2003, 2008a, 2009), und in theoretischer Abgrenzung von Axel Honneths (1993) und Karin Knorr Cetinas (2002) lediglich semantisch gleich lautenden Bestimmungen posttraditionaler Gemeinschaften gewonnene Typus sozialer Einbindung wird in den im Herausgeberband „Posttraditionale Gemeinschaften“ (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008) versammelten Beiträgen kritisch diskutiert. Anders als Anthony Giddens’ (1990) Begriff des „Reembedding“ dies nahezulegen scheint, ist keineswegs eine Wiedereinbettung in herkömmliche sozialmoralische Milieus zu beobachten. Sozusagen als ‚Antwort‘ auf Individualisierung und damit einhergehende Verunsicherungen wird Hitzler (1998) zufolge vielmehr eine neue Art von Gesellungsgebilden bzw. ein besonderer Modus der Aggregation virulent. Denn auch bzw. gerade moderne, individualisierte Menschen suchen Anschlüsse, Kontakte, Verbindungen, sind also auf der Suche nach Gemeinschaft. Ihre „Sehnsucht nach Vergemeinschaftung“ (Hitzler 2004: 82) ist allerdings eine ganz spezielle: sie besteht wesentlich darin, solche anderen zu nden, die mit ihren eigenen je aktuellen Neigungen und Interessen wenigstens zeitweilig hinlänglich kompatibel sind. Gefragt sind deshalb heute vor allem solche Gemeinschaftsformen, die dem Einzelnen sowohl ein Höchstmaß an individueller Freiheit als auch ein attraktives Zusammensein mit gleichgesinnten Anderen versprechen. Da die Einbindung in diese Formen aus freiem Entschluss und (oft sogar bereits ex ante) nur ‚bis auf weiteres‘, d. h. temporär erfolgt, weist die dergestalt hergestellte, in der Regel netzwerkförmige und zumeist translokale, häug sogar transnationale Gemeinschaft einen geringeren Verpichtungsgrad auf und ist strukturell auch weniger stabil als eine Traditionsgemeinschaft, für die man sich typischerweise eben nicht entschieden hat, sondern in die man hineingeboren (Verwandtschaft) oder mehr oder weniger fraglos hineinsozialisiert (Nachbarschaft, Kirchengemeinde) worden ist. Dem zeitdiagnostischen Befund, dass sich Gesellschaften wie die unsere am Übergang zu einer ‚anderen‘ Moderne benden, liegt also keineswegs die These zugrunde, dass solche Gesellschaften strukturlos wären. Es ist vielmehr lediglich
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davon auszugehen, dass sich die bisher dominierenden Klassen- und Schichtstrukturen zunehmend auösen und die klassischen Gesellungsformen in Phänomene transformiert werden, die nur noch den Etiketten nach sind, was sie einmal waren. Deshalb qualiziert Ronald Hitzler das ihn interessierende Phänomen als ‚posttraditional‘ – und rückt damit eine Art von Gesellungsgebilde ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die bislang bei der Analyse theorierelevanter Kollektive kaum systematisch Beachtung gefunden hat: eine für den Lebensvollzug des Einzelnen zunehmend wichtige Art von Selbst-Einbindung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich Individuen kontingent dafür entscheiden, sich zeitweilig mehr oder weniger intensiv als mit anderen zusammengehörig zu betrachten, und zwar mit solchen anderen, bei denen sie eine gleiche Interessenfokussierung vermuten.
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Der Fokus posttraditionaler Vergemeinschaftung
Interesse für ein bestimmtes Thema bzw. ein bestimmtes thematisches Feld ist also eine notwendige, wenngleich keineswegs hinreichende Voraussetzung für die Bildung und Stabilisierung der uns interessierenden Art von Gemeinschaft. Damit stellt sich naheliegenderweise die Frage, wie etwas, was eben ‚Thema‘ ist, beschaffen sein muss, welche Eigenschaft es haben muss, damit es gemeinschaftsstiftend bzw. vergemeinschaftend wirken, dass es zum Zentrum von Gemeinschaft werden bzw. ‚gemacht‘ werden kann. Ein Ertrag der „Dortmunder Szeneforschung“ (DoSe) besteht darin, dass jede Szene ein zentrales Thema hat – eine bestimmte Art von Musik (z. B. Techno, Punk, Hardcore, Electro), eine Sportart (z. B. Skaten, Sportklettern, Beach-Volleyball), einen Mode- bzw. ästhetischen Stil (z. B. Gothic, Visual Key, Grafti, Comic), eine bestimmte Art von Spiel (z. B. Fantasy-, Rollen-, Computerspiel) und/oder Tüftel-Spaß an neuen Medien (z. B. Warez, LAN). „Um dieses zentrale Thema herum gruppiert sich dann so etwas wie ein Lifestyle mit eigenen Sprachgewohnheiten, Umgangsformen, Treffpunkten bzw. Lokalitäten, Zeitbudgetierungen, Ritualen, Festen bzw. Events – und zum Teil (aber eben nur zum Teil) auch mit einem als ‚szenespezisch‘ erkennbaren Outt“ (Hitzler 2008: 64). Die – vorläug noch als Desiderat zu verstehende – Vermutung der zwischenzeitlich auch in Karlsruhe angesiedelten Gemeinschaftsforschung lautet, dass auch Technik derartige soziokulturell bedeutsame Qualitäten aufweisen bzw. zugesprochen bekommen kann. Damit ist nicht einfach nur gemeint, dass alle Themen, ganz gleich, ob es sich dabei um Musik, Mode, Ästhetik, Sport oder Spiel handelt, auch technische Aspekte aufweisen – und dass sich in den interessierenden Gesellungsgebilden bestimmte Personen speziell mit technischen Problemen befassen (vgl. Pfadenhauer 2000). Die in Karlsruhe auf die kurze Formel ‚Gemeinschaft durch Technik?‘ gebrachte Frage lautet vielmehr: (Wie) entwickelt
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sich um technische Artefakte, genauer: um Konsumgegenstände, die als technisch konnotiert sind, ein Angebot zur Selbst-Einbindung? Grundsätzlich meinen wir, dass Menschen alles, was sie wahrnehmen und sich vorstellen, dazu verwenden können, sich eine Identität zusammenzubasteln und eine Gemeinschaft zu schaffen – ohne Zweifel also auch Konsumgegenstände, d. h. von ihnen konsumierbare materiale und geistige Produkte (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2008). In der einschlägigen Literatur wird hierbei bestimmten Konsumgegenständen, nämlich Markenartikeln, ein besonderer Stellenwert zugeschrieben, d. h. Konsumprodukten, die bei Kunden dadurch Aufmerksamkeit erregen sollen, dass sie nicht nur ästhetisch augenfällig und erinnerungsträchtig gestaltet, sondern auch bereits mit Sinn, mit Bedeutung versehen worden, dass sie in diesem Verstande also wert-haltig sind (vgl. Cova 1997, Hellmann 2005a, 2005b, Holt 2004, Huber et al. 2006, Kunde 2000, Pfadenhauer 2008). Dieses Prinzip der symbolischen Auadung und der relativen Alleinstellung durch Augenfälligkeit gilt keineswegs nur für materielle Produkte im engeren Sinne, sondern auch für Ideologien und Religionen. Und insofern sind Identitäts- und Gemeinschaftsbildungen im Rekurs auf mit Konsumgegenständen und technischen Artefakten verbundene ‚Erzählungen‘ analytisch nicht anders zu beurteilen als solche, die im Rückgriff auf Ideologien und Religionen unternommen werden. Wie plausibel, wie systematisiert, wie umfassend und mithin wie identitätssichernd und gemeinschaftsstabilisierend diese Weltanschauungsangebote für wen unter welchen Umständen dann jeweils sind, das wiederum ist weniger eine prinzipielle, denn eine empirisch konkret zu klärende Frage.
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Fokussierung auf als technisch konnotierte Konsumgegenstände
Michel Maffesoli (1995, 2007) beschreibt den sich unter Individualisierungsbedingungen abzeichnenden Trend zu einem von ihm als ‚postmodern‘ gedachten Vergemeinschaftungsmodus als „Rückkehr der Stämme“. Der archaisierende Terminus „tribe“ bzw. „neo-tribe“ meint dabei eine nicht-zweckrational organisierte, sondern eine kultisch fokussierte und stabilisierte soziale Aggregation (vgl. Keller 2008). Im Anschluss an Maffesoli sprechen Cova et al. (2007) von „Consumer Tribes“ und betonen damit explizit das Potential von Konsumgütern zum ‚re-embedding‘. Der Konsumgegenstand fungiert hier offenbar wie ein Totem, wie ein heiliges Zentrum, das in der mental darum versammelten Gemeinschaft als einen höheren Sinn symbolisierend verehrt wird, und das unter den Stammesmitgliedern zwar nicht über jede Kritik, aber zumindest über grundsätzliche Zweifel erhaben ist. Allen bisherigen Erkenntnissen nach eignet sich offenbar aber keineswegs jeder (Marken-)Artikel dazu, als Totem, d. h. als Symbolisierung einer nicht-präsenten,
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außeralltäglichen Wirklichkeit zu fungieren. Dem dänischen Marketingexperten Martin Lindström (2002) zufolge üben insbesondere Produktfamilien „mit einem starken Image, einer langen Geschichte, mit teuren Produkten, mit einer geringen Kaufhäugkeit und einem gewissen Erklärungsbedarf“ eine besondere emotionale Anziehungskraft auf ihre Kunden aus. Der letzte Aspekt scheint uns besonders bedeutsam zu sein. Denn es nden sich empirisch Hinweise darauf, dass sich manche Konsumgegenstände – z. B. Autos, Motorräder, Fahrräder und Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik (Spielkonsolen, Smartphones etc.) – besonders zur Gemeinschaftsbildung eignen (vgl. Muniz/O’Guinn 2001, Muniz/Schau 2005, Schouten/Mc Alexander 1995, Schouten et al. 2007), weil ihre Foki – neben vielen anderen ihnen zugeschriebenen Vorzügen – als technisch ‚interessant‘ beschrieben werden. Sachtechnisch interessant erscheinen sie offenbar dann, wenn sie eine gewisse Komplexität aufweisen, d. h. dass sie sich hinsichtlich der ihnen inhärenten UrsacheWirkungs-Ketten und der Verkettungsformen (lineare, interaktiv verknüpfte oder rekursive Prozesse) als komplex beschreiben lassen.2 Als handlungstechnisch interessant erscheinen sie (den faszinierten Nutzern) entweder im Hinblick auf neue Kulturtechniken (z. B. electronic literacy) oder aber auch hinsichtlich als verloren geglaubter bzw. bewahrenswert erscheinender Kulturtechniken (z. B. Ritter-Turnierkämpfe mit zu ‚Stahlrossen‘ umgebauten und umfunktionierten Fahrrädern). Im Hinblick auf Vergemeinschaftung darf die Komplexität allerdings ein bestimmtes Maß nicht überschreiten, sondern muss noch verstehbar, d. h. in gewisser Weise auch wieder reduziert sein. Gemeinschaft entsteht nun dadurch, dass die beiden Extrempositionen im Verhältnis zum Artefakt – der die Konstruktionsprinzipien bis in die kleinsten Verästelungen durchdringende Blick des Produzenten, der alles weiß und kennt, was das Technische an einem Artefakt ausmacht einerseits, und der des Users andererseits, der nur die für ihn geschaffene Oberäche wahrnimmt, hinter der die Technik versteckt wird – kommunikativ aufgeweicht und verüssigt werden. Unserer These zufolge konstituiert sich die uns interessierende Gemeinschaft also nicht einfach durch die Afnität („Liebhaberei“) zu einer Marke bzw. zu einem Konsumgegenstand, wie dies in der Marketingliteratur unterstellt wird (vgl. Loewenfeld 2006). Unseres Erachtens sind es vielmehr zunächst häug Kompetenzgesichtspunkte (entweder Probleme im Umgang mit dem Produkt oder ein Wissensvorsprung, der anderen Produktliebhabern mitgeteilt werden will), die eine Kontaktaufnahme mit anderen evozieren. Erst aus dem Wissensaustausch und der dabei mitlaufenden gegenseitigen Verständigung über produktbezogene Werthaltun-
2 Komplexität ist hier also nicht als Substanzphänomen intendiert: sie wird vielmehr, zumindest auch, kommunikativ konstruiert.
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gen und Einstellungen zum Artefakt erwächst sukzessive eine Bindung unter den am Austausch partizipierenden Akteuren, die sich allmählich als „Gleichgesinnte“ erkennen. Diese These wird gestützt durch empirische Befunde, denen zufolge sich neben einem sozialmoralisch gestimmten Kunden ein zweiter neuer Kundentypus herausgebildet habe, der als „wissenshungriger Konsument“ (IBM Global CEO Study 2008) bezeichnet werden könne. Dieser sei nachgerade unentwegt auf der Suche nach Produktinformationen und hochgradig daran interessiert, anderen seine sach- und kulturtechnischen Kenntnisse und Wissensbestände ebenso wie seine diesbezüglichen Meinungen und Erwartungen mitzuteilen. Einige Anhaltspunkte zur Beschreibung des kognitiven Stils, um den es hier geht, nden sich in der von Alfred Schütz (1972) vorgelegten Typologie von Wissenden. Schütz hat darin den Experten bekanntlich weder einfach mit dem Laien konfrontiert, wie wir das alltagssprachlich für gewöhnlich tun, noch vom Spezialisten abgegrenzt, wie Ronald Hitzler (1994) das vorgeschlagen und damit explizit den zu undifferenzierten Gebrauch des Expertenbegriffs in den „Strukturen der Lebenswelt“ (Schütz/Luckmann 1979) kritisiert hat.3 Differenziert nach ihren Einstellungen und Relevanzen hat Schütz dem „Experten“ vielmehr den „Mann auf der Strasse“ gegenübergestellt und zwischen diesen den „gut informierten Bürger“ positioniert. Dieser hat einerseits „kein Expertenwissen und strebt es auch nicht an; andererseits beruhigt er sich nicht mit der fundamentalen Vagheit des bloßen Rezept-Wissens oder mit der Irrationalität seiner ungeklärten Leidenschaften und Gefühle. Gut informiert zu sein bedeutet ihm, zu vernünftig begründeten Meinungen auf den Gebieten zu gelangen, die seinem Wissen entsprechend ihn zumindest mittelbar angehen, obwohl sie seinem zuhandenen Zweck direkt nichts beitragen“ (Schütz 1972: 88). Der gut informierte (Konsum-)Bürger scheint angesichts eines jederzeit zugänglichen Informationsüberusses zu einem Beteiligten am (Markt-)Geschehen geworden zu sein, mit der man rechnen muss (vgl. hierzu auch Ullrich 2008). Jürgen Gerhards (2001) beschreibt diese Entwicklung, die nicht unwesentlich durch Medien und Selbstorganisation befördert worden sei, als „Aufstand des Publikums“, d. h. der Alltagsmenschen, die in dieser systemtheoretischen Logik lediglich als Rezipienten der in den verschiedenen Teilsystemen erbrachten Leistungen der jeweiligen professionellen Protagonisten konzeptualisiert sind. Nicht nur will der Alltagsmensch nicht mehr auf die passive Rolle gedrängt werden, er wird auch als „Aktivposten“ entdeckt und das meint keineswegs nur als Adressaten, auf den Produkte immer individueller abzustimmen sind, wie das im Konzept 3
Als ‚Experten‘ bezeichnet Hitzler (1994b, 25) jenen Typus eines Wissenden, der einen Überblick über das auf einem Gebiet insgesamt gewusste Wissen, d. h. einen Überblick über einen Sonderwissensbereich hat, also „weiß, was die (jeweiligen) Spezialisten auf dem von ihm ‚vertretenen‘ Wissensgebiet wissen – und wie das, was sie wissen, miteinander zusammenhängt“.
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des „Mass Customization“ (Piller 2006) vorgesehen ist, auch nicht nur als sich Gehör verschaffender Kritiker (Hirschman 1980), der im Customer Relationship Management berücksichtigt werden soll, sondern als kompetent agierender Konsument (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2006), der in der Literatur auch als Prosumer (vgl. Blättel-Mink/Hellmann 2009) diskutiert und als „mitarbeitender Kunde“ (vgl. Voß/Rieder 2005) problematisiert wird. Im strategischen Marketing wird „Cultural Hacking“ gar als Konzept empfohlen, das in die Unternehmensstrategie integriert werden soll (vgl. Düllo/Liebl 2005). Und der amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins betont die partizipative Kultur von Fans, die er als prototypisch für ‚normale‘ Mediennutzung der Zukunft ansieht (vgl. Deterding 2009). Nicht nur im Kontext von Konsum und Marketing, sondern vor allem auch im Bereich der Populärkultur, von den Cultural Studies vor allem im Hinblick auf Medienrezeption, wird der Handlungsbeitrag des Alltagsmenschen akzentuiert, wobei die crossmediale Produktion und Rezeption als „Convergence Culture“ (Jenkins 2006) zu fassen versucht wird. Während in Ökonomie und Kultur also längst die Mitwirkung und zum Teil auch die Gegenwirkung des Kunden bzw. Rezipienten erkannt wird, wird der Adressat in der Technikforschung vorzugsweise immer noch vor allem als dilettantischer Laie in den Blick genommen. Techniksoziologische und -philosophische Ansätze betonen zwar seit mehr als zwanzig Jahren die sozialen und kulturellen Einüsse auf Technik; als ‚Einfallstor‘ gerät dabei aber vorwiegend der Techniker, der Ingenieur, der Entwickler, der Ernder in den Blick. Empirisch zeigt sich demgegenüber, dass Menschen Technik in ihrem Alltag (Hoerning 1988) nicht einfach nach den Vorstellungen des Konstrukteurs und den Vorgaben des Anbieters verwenden, sondern kreativ nutzen. Akteure, die nicht in den Konzepten des Lead oder Heavy User aufgehen, wenden Technik nicht nur an, sondern verwandeln sich diese an, gestalten sie um, dekonstruieren und rekonstruieren sie, bis unter Umständen etwas Neues entsteht. Insofern es sich symptomatischerweise um Akteure handelt, die in Netzwerke eingebunden sind, in deren Kommunikation immer auch ein Austausch über geteilte Vorstellungen und Einstellungen mitläuft, etikettieren wir diese Gesellungsformen als Aneignungskulturen – und vermeiden damit den in die Debatte um das Neue verstrickten Begriff der „Innovation Culture“ (Loudin/Schuch 2009). Die hier gemeinte, an produktbezogenem Sonderwissen orientierte Handlung und Haltung ist in ein Verhältnis zu Hubert Knoblauchs Vorschlag zu stellen, posttraditionale Gemeinschaften als „Kommunikationsgemeinschaften“ (Knoblauch 2008) zu bezeichnen: Jede Form von Gemeinschaft setzt ihm zufolge voraus, dass Individuen eine gemeinsame Struktur von Handlungen ausbilden und Wissen auf der Grundlage gemeinsamer Objektivationen teilen und dass sie überdies immer auch unterstellen, dass sie dieses Wissen teilen. In posttraditionalen Gemeinschaften nun
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ist das Ausmaß geteilten Allgemeinwissens herabgesetzt, was Knoblauch zufolge durch verstärkte Kommunikation ausgeglichen wird, weshalb diese s. E. eben nicht als Wissens-, sondern als „Kommunikationsgemeinschaften“ zu bestimmen seien. Unserer Einschätzung nach zeichnen sich die uns interessierenden Gesellungsgebilde zwar nicht als Gemeinschaften geteilten und weitgehend unausgesprochenen, sedimentierten, habitualisierten und routinisierten Allgemeinwissens, aber als Gemeinschaften geteilten technischen Sonderwissens, und damit eben durchaus als eine (bestimmte) Art von Wissensgemeinschaft aus.
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Aneignungskulturen
Cova et al. (2007) begreifen die von ihnen so genannten „Consumer Tribes“ als Ausdruck einer sich ausbreitenden „participatory culture“, in der die Aneignung, Veränderung und Umdeutung von Konsumgütern in permanenter Aushandlung mit dem Anbieter zur Regel werde, wobei diese „Konsum-Stämme“ hinsichtlich ihres Eingriffs in das Marktgeschehen unterschiedliche Ausprägungen, z. B. die von ‚Plünderern‘, annehmen können. Nicht nur Cova et al., sondern ebenso Vertreter der Cultural Studies, insbesondere des Domestizierungsansatzes‘ (vgl. Hartmann 2008), betonen – im Unterschied zu konventionellen oder kulturkritischen Positionen in der Konsum- und Dienstleistungssoziologie – den aktiven Part des Konsumenten, der Konsumgegenstände (längst) nicht (mehr einfach nur) hinnimmt, sondern diese auf je individuelle Weise deutet und umdeutet, nutzt und umnutzt, sich anverwandelt und dabei umwandelt – bis mitunter etwas gänzlich Anderes, Neuartiges daraus hervorgeht. Auch wenn wir uns zunächst Zurückhaltung auferlegen, hierbei von ‚Innovation‘ zu reden, scheint uns, jedenfalls im Blick auf bestimmte Fälle (für die zu klären ist, ob es sich um Einzelfälle handelt), die Rede von ‚Partizipation‘ zu kurz zu greifen. In semantischer Annäherung an Peter Sloterdijk (2004) scheinen sich u. E. hier vielmehr empirische Belege für nutzerseitige Aktivitäten von Analytizität und Synthesis vorzuliegen. In den großteils mikrosozialen Prozessen der Herstellung und Aufrechterhaltung von Konsensen über je als „richtig“ angesehene Verhaltensweisen, Attribuierungen, Codes, Signale, Embleme, Zeremonien, Attitüden und eben Wissensbestände und Kompetenzen erinnern uns diese Gesellungsgebilde vor allem an das, was wir aus diversen Jugendkulturen kennen, die wir seit vielen Jahren untersuchen. Die Erkenntnisse zu Szenen als dem Prototyp posttraditionaler Vergemeinschaftung bilden deshalb gleichsam die Folie zur Untersuchung der spezischen Merkmale der nunmehr interessierenden Gesellungsform. Über Szenen wissen wir, dass sie sich nicht aufgrund vorgängiger gemeinsamer Lebenslagen oder Standesinteressen der daran Beteiligten konstituieren; dass sie augenfällig geringe Verbindlich-
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keits- und Verpichtungsgrade aufweisen; nicht grundsätzlich selektiv und auf exklusive Teilhabe hin angelegt sind; dass sie aber trotzdem thematisch relativ eindeutig verortbare Erlebnis- und Selbststilisierungsräume darstellen, innerhalb derer einschlägig Interessierte und Engagierte eine hohe Chance haben, sich mit „Gleichgesinnten“ zu vergemeinschaften. Während die bekannte Denition von Brand Communities als „a specialized, nongeographically bound community, based on a structured set of social relationship among admirers of a brand“ (Muniz/O’Guinn 2001) hohe Ähnlichkeit mit der Beschreibung von Szenen als einer Form von lockerem, tendenziell weltumspannenden Netzwerk hat, zeigen unsere ersten empirischen Befunde zu Markengemeinschaften starke regionale Verankerungen, die mit ihrer Stammtisch-Kultur eher an Vereins- als an Szeneleben erinnern (vgl. Pfadenhauer et al. 2009). Der Denition nahe zu kommen scheinen da auf den ersten Blick jene Vernetzungsangebote auf Firmen-Websites, die dort häug explizit unter „Community“ rmieren. Dennoch haben wir hier erhebliche Zweifel, dass diese analytisch sinnvoll als ‚Gemeinschaft‘ eingestuft werden können, wenn und insofern ihnen nicht zumindest folgende Kriterien zugrunde liegen: 1.
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Die Akteure sind nicht (nur) – sozusagen (struktur-)monadisch – über den Produkthersteller verbunden, sondern vielfältig untereinander vernetzt und treten auch ohne anbieterseitige „Veranlassungen“ miteinander in Verbindung. Die Community-Angehörigen treffen sich face-to-face bei Gelegenheiten, Veranstaltungen und Events, die vom Hersteller zwar unterstützt sein können, die aber nicht ausschließlich von diesem organisiert und von den Teilnehmern auch nicht als reine Werbeveranstaltungen angesehen werden. Zugehörigkeit wird vorgängig kommunikativ ausgewiesen (wobei empirisch zu prüfen sein wird, ob kommunikative Beiträge allein hinreichen, um Zugehörigkeit von anderen attestiert zu bekommen). Für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft reicht also weder eine formale Mitgliedschaft noch die Anmeldung in einem Netzwerk noch der bloße Besitz des Konsumgegenstands aus (auch wenn letzteres die Einstiegshürde erheblich senkt – übrigens gerade auch im Vergleich mit Szenen).
Diese drei Aspekte – regelmäßiger Kontakt untereinander, face-to-face-Treffen bei selbst-organisierten Gelegenheiten, kommunikativer Ausweis von Zugehörigkeit – betrachten wir als nicht hinreichende, aber als conditiones sine qua non dafür, tatsächlich Gemeinschaften auf die Spur zu kommen. In dem Sinne, dass sich diese Gebilde um technische Konsumprodukte ausbilden, können diese Gebilde als „Artefakt-Gemeinschaften“ bezeichnet werden. Dabei rekurrieren wir u. a. auch auf die Erträge der visuellen Wissenssoziologie, denen zufolge „die
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Versorgung moderner Gesellschaften mit technischen Artefakten auch Gemeinschaftsformen hervorbringt und festigt, die sich gerade darauf gründen, dass ihre Angehörigen über das Vehikel der Kommunikationstechniken im sozialen Handeln versuchen, ihre sinnlichen Wahrnehmungen aufeinander abzustimmen und aneinander anzugleichen, um ihre Erfahrungen zu vereinheitlichen und so Intersubjektivität und Gemeinschaft herzustellen“ (Raab in diesem Band S. 380, vgl. dazu auch Raab 2008).
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Artefakt-Gemeinschaften?
Markenaffinität und/oder Technikfaszination, d. h. die Begeisterung für die technische und/oder die ästhetische Funktionalität eines Artefakts konstituiert noch keine Gemeinschaft, sondern zunächst einmal lediglich Gemeinsamkeit, deren Erleben durch das Wissen entsteht, dass andere (nach welchen Kriterien auch immer) ähnlich sind bzw. ähnliche Erfahrungen und Interessen haben wie ich. Damit aus Gemeinsamkeit Gemeinschaft entsteht, bedarf es vielmehr eines Ineinandergreifens von folgenden Merkmalen a) die Abgrenzung gegenüber einem wie auch immer gearteten „Nicht-Wir“, b) ein wodurch auch immer entstandenes Zu(sammen)gehörigkeitsgefühl, c) ein wie auch immer geartetes, von den Mitgliedern der Gemeinschaft geteiltes Interesse bzw. Anliegen, d) eine wie auch immer geartete, von den Mitgliedern der Gemeinschaft anerkannte Wertsetzung und schließlich e) irgendwelche, wie auch immer gearteten, den Mitgliedern zugängliche Interaktions(zeit)räume. Wenn diese Merkmale gegeben sind, wobei dieses Gegebensein nicht einfach additiv gedacht, sondern in der spezischen Weise der sich verstärkenden Interdependenz verstanden und dadurch erklärt werden muss, dann können u. E. auch um als technisch konnotierte Konsumgegenstände ausgebildete Gesellungsgebilde als ‚Gemeinschaften‘, allerdings eben als posttraditionale Gemeinschaften bezeichnet werden. Hinsichtlich ihrer gesellschaftsstabilisierenden Wirkung sollten diese Gesellungsgebilde als nicht zu bedeutsam, hinsichtlich ihrer sozialintegrativen Kraft sollten sie aber als nicht zu unbedeutsam eingeschätzt werden, da sie zwar keine Antwort auf sozialstaatliche Verunsicherungen (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2008), aber auf jene Art von Verunsicherung bieten, die wesentlich resultiert aus dem von Thomas Luckmann (2007a, 2007b) beschriebenen Fraglichwerden der persönlichen Identität bzw. aus dem Verlust des Sinn-Baldachins, den Peter L. Berger (1967) und Hans-Georg Soeffner (2000) für unsere Gegenwartsgesellschaft als symptomatisch erachten. Und auch wenn konkrete Ausprägungen – wie aktuell angesagte Szenen, Online-Communities oder eben Markengemeinschaften – sich als nicht lange überlebensfähig erweisen und deshalb bald wieder von der Bühne
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der Geschichte abtreten sollten, wie Clemens Albrecht (2008) dies prognostiziert: die durch Labilität und Unverbindlichkeit gekennzeichnete strukturelle ‚Gestalt‘ dieser Gesellungsgebilde scheint für die Selbst-Einbindung unter heutigen modernen Bedingungen bis auf weiteres unhintergehbar zu sein. Nicht nur aufgrund ihrer Labilität und Prekarität erweist sich diese neue Form der Sozialbindung als fragil. Auch „phänomenologisch gesprochen, d. h. also: die je subjektive Perspektive des sich vergemeinschaftenden Individuums strukturell rekonstruierend, erscheint Vergemeinschaftung mithin schlicht als Entwicklung eines – als idealer weise reziprok unterstellten – ›gefühligen‹ Wir-Bewusstseins (…). Nicht vor und nicht nach, sondern innerhalb solcher Vollzugsroutinen moderner Gesellschaftlichkeit also entstehen, sozusagen kontingent, die Bedingungen für das, was wir als »posttraditionale Vergemeinschaftung« bezeichnen kön nen (vgl. Hitzler 1998) – und zwar eben nicht als konstellative soziale Zwangsläugkeit, sondern infolge der Mutmaßung gemeinsamer, gegenüber anderen spezizierbarer Interessen“ (Hitzler 2008b: 137). Aufgrund der prinzipiellen Unzugänglichkeit des anderen Bewusstseins, der perspektivischen Gebundenheit des Subjekts (vgl. Schröer 2008), bilden immer nur Unterstellungen und Mutmaßungen die Basis, auf der diese damit immer fragile Sozialität gründet.
Literatur Albrecht, Clemens (2008): Traditionale und posttraditionale Vergemeinschaftung. In: Hitzler, Ronald/Honer, Anne/Pfadenhauer, Michaela (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnograsche Bestimmungen. Wiesbaden: VS Verlag, 329–336. Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Klasse und Stand?. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen: Schwartz, 35–74. Beck, Ulrich (1990): Der Konikt der zwei Modernen. Bamberg (Manuskript des Eröffnungsvor trages beim 25. Deutschen Soziologentag in Frankfurt). Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Berger, Peter L. (1967): The Sacred Canopy: Elements of a Sociological Theory of Religion. Garden City, NY, Doubleday. Blättel-Mink, Birgit/Hellmann, Kai-Uwe (Hg.) (2009): Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden: VS Verlag. Cova, Bernard (1997): Community and Consumption: Towards a Denition of the Linking Value of Product of Services. In: European Journal of Marketing, Vol. 31 (3/4), 297–316. Cova, Bernard/Kozinets, Robert V./Shankar, Avi (2007): Tribes, Inc.. The new world of tribalism, In: Dies, Consumer Tribes. Oxford, 3–26.
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Prekäre Sozialität in pluralen Sinnwelten Reexionen über Theorie und Analyse spätmoderner Vergemeinschaftungsformen Jürgen Raab
I
Auf dem Weg zu einer empirischen Wissenssoziologie pluraler Sinnwelten
Seit ihren Ursprungstagen begreift sich die Soziologie als Ordnungswissenschaft und Krisenwissenschaft. Diese Selbstauffassung gründet in der Reexion auf ihren ‚Untersuchungsgegenstand‘ als einem im Spannungsfeld zwischen der Herstellung, Absicherung und Verteidigung von sozialer Ordnung einerseits und deren Veränderung, Auösung, Zerstörung sich bewegenden Wechselverhältnis andererseits. So erachtete Auguste Comte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts das gleichzeitige Gegeneinanderarbeiten und Zusammenwirken von Statik und Dynamik als konstitutiv für die Entwicklung moderner Gesellschaften, wenngleich er noch daran glaubte, Ordnung und Forstschritt mithilfe der Erkenntnisse seiner Zeit- und Krisendiagnosen in einen harmonischen Gleichgewichtszustand überführen zu können. Unbesehen dieser Selbstüberschätzung verfestigte sich das Selbstverständnis der Soziologie als Ordnungs- und Krisenwissenschaft immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit. Prominenten Vorschub hierfür gaben Peter L. Berger und Thomas Luckmann, als sie, mehr als einhundert Jahre nach Comte und in dezidiertem Anschluss sowie explizitem Aufeinanderbezug von Durkheim und Weber, die Frage, wie es möglich ist, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird, wie also soziales Handeln eine Welt und immer wieder neue Welten sozialer Tatsachen hervorbringt, zum Leitmotiv ihrer Theorie einer neuen Wissenssoziologie erhoben (vgl. Berger/Luckmann 1969: 20). Aus wissenssoziologischer Perspektive sind Sinnkrisen nicht nur unvermeidlich, sondern für moderne Gesellschaften sogar charakteristisch, nährt sich die Dauerkrise doch strukturell aus dem Umstand, dass im voranschreitenden Modernisierungsprozess die alltagsweltlichen Konstruktionen erster Ordnung (Alfred Schütz) ihren Status als kosmologisch geschlossene, sinnhaft in sich widerspruchsfreie, sozial verbindliche und zudem historisch beständige Orientierungsgeber des Deutens und Handelns im Wissenshaushalt der Menschen verlieren. Angesichts dieser Beobachtungen und eingedenk ihrer Aufgaben kamen die sozialwissenschaftlichen
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Jürgen Raab
Konstruktionen zweiter Ordnung nicht umhin, von ihrem ursprünglichen Anspruch, gesicherte und abschliessende (All-)Erklärungsmodelle für soziales Handeln und für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse ausbuchstabieren zu können, zusehends abzurücken (vgl. Berger/Luckmann 1995; Luckmann 1999; Soeffner 2000). Die Fokussierung der Gefährdetheit und Vorläugkeit von sozialer Ordnung erfuhr im Zuge der unter den terminologischen Vorzeichen von Enttraditionalisierung, Individualisierung und Multioptionalisierung geführten Diskussion um die sogenannte zweite, reexive Moderne eine Pointierung und Verschärfung (Beck 1986; Gross 1994). Dies führte zu weitreichenden Um- und Neuformulierungen wissenssoziologischer Problemstellungen. Stellte sich doch nun die Aufgabe, die Pluralität symbolisch geordneter Sinnwelten hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft theoretisch-methodologisch und empirisch-analytisch in den Blick zu nehmen. Pluralität meint dabei zugleich Komplexität, Fragilität, Prekarität. Denn die in ihren Wissensvorräten, Handlungsformen und Inszenierungsweisen vielfältig und vielgestaltig sich ausbildenden „kleinen sozialen Lebenswelten“ (Honer 1999) existieren nicht nur füreinander gleichermaßen wahrnehmbar und zeitgleich nebeneinander, und sie unterliegen nicht allein einem beschleunigten Wechsel, Aufblühen und Vergehen, sondern sie werfen auch und vor allem Fragen auf nach den Bedingungen der Möglichkeit und nach der Spezik der Erscheinungsart von Sozialität in „posttraditionalen Gemeinschaften“ (Hitzler 2006, 2008; Hitzler/ Honer/Pfadenhauer 2008). Vor dem skizzierten Hintergrund reektiere ich im Folgenden über die Grundzüge eines theoretischen Ansatzes, der innerhalb der aktuellen Fachdiskussion kaum mehr zu übersehen ist: die bereits kurz nach ihrer Ausarbeitung Ende des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geratene, jüngst aber zu neuem Leben wiedererweckte Soziologie von Gabriel Tarde (vgl. Broch/Stähli 2009; Tänzler 2009). Die Rezeption dieses Werkes motivierte Bruno Latour kürzlich zum Entwurf von nicht weniger als einer „neuen Soziologie für eine neue Gesellschaft“ (Latour 2001, 2007, 2009) und sie gab Peter Sloterdijk entscheidenden Anstoß zu seinem breitangelegten Unternehmen nicht nur einer Neuaneignung des phänomenologischen Lebenswelt-Begriffs, sondern auch zur Reformulierung der philosophischen Anthropologie (Sloterdijk 1998, 1999, 2004). Für den oben einleitend dargestellten Problemhintergrund ist von entscheidender Bedeutung, dass sowohl Latour wie auch Sloterdijk, so wie vor ihnen bereits schon Tarde, ganz grundlegend für sich in Anspruch nehmen, über tradierte und eingeschliffene Verständnisse von ‚Gesellschaft‘ hinauszugreifen. Und zwar gerade weil sie, auch darin ihrem Vordenker folgend, (spät-)moderne Sozialordnungen strukturell von Unsicherheit und Vorläugkeit, von Zufälligkeit und Zerbrechlichkeit bedroht sehen, und damit deren Sozialformen – die Tarde „Assoziationen“ nannte und von denen Latour
Prekäre Sozialität in pluralen Sinnwelten
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als „Akteur-Netzwerken“ und Sloterdijk als „Blasen“, „Globen“ und „Schäumen“, insgesamt als „Sphären“ sprechen wird – als riskante, mithin fragile Angelegenheiten begreifen. Dem vorliegenden Beitrag ist es nun primär darum getan, in einer notgedrungen groben Annäherung zu sondieren, welche Anregungen eine anthropologisch fundierte und phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie pluraler und prekärer Sinnwelten der Soziologie von Tarde und deren mit grosser Verve vorgetragenen Adaptionen entnehmen, und welche sie gegebenenfalls in sie hineintragen kann. Ich werde die These entwickeln, dass die aufbauend auf Tarde von Latour entwickelte Netzwerktheorie und Sloterdijks Sphärologie aus wissenssoziologischer Perspektive notwendig nach einer Ergänzung um eine empirische Medien- und Kommunikationssoziologie verlangen.
II
Monadologie und die Soziologie der Assoziationen
Für Gabriele Tarde ist die Monade der grundlegende Baustein alles Sozialen. Zwar stimmt er noch überwiegend mit den von Leibniz benannten Eigenschaftsmerkmalen der Monaden überein, wenn er sie als prinzipiell voneinander unterschieden beschreibt und sie von einem inneren Streben nach fortlaufender Veränderung getrieben sieht, bei dem der jeweils gegenwärtige Zustand mit dem zukünftigen bereits schwanger geht. Dem tragenden leibnizschen Gedanken aber, die Monade sei eine einfache und fensterlose, selbstgenügsame, solipsistische, ja geradezu autistische Entität, deren Streben nach Veränderung zudem von einer teleologischen Dimension determiniert werde (Leibniz 1996: § 7–22), kann und will der an Darwin geschulte Tarde nicht mehr folgen. „Die Monaden, Geisteskinder Leibniz‘“, so der richtungsweisende Eröffnungssatz von Monadologie und Soziologie, „haben seit der Zeit ihrer Geburt einen weiten Weg zurückgelegt“; für Tarde sogar einen so weiten Weg, dass von „der Geburt einer erneuerten Monadologie“ gesprochen werden muss (Tarde 2009a: 17, 48). Tardes soziologisch gewendete Monadologie – oder monadologisch gewendete Soziologie – gründet denn auch auf einer dreifachen, evolutionstheoretisch fundierten Ergänzung und Erweiterung. Aus ihr gehen die Monaden als komplexe, entwicklungsdynamisch offene und sich assoziierende Gebilde hervor. Die Auffassung der Monaden als komplexe Gebilde birgt neben jener für Tarde typischen Metaphysik1 einen zeitgenössisch brisanten, soziologischen Sprengstoff. Denn entgegen seinem mächtigen Kontrahenten Emil Durkheim, der menschliche 1
So wie es Leibniz im Blick hatte, als er davon sprach, dass sich in jeder Monade das ganze Universum spiegele, nur unter je anderer Perspektive, entspringt auch in Tardes Monadenlehre „alles einer einzigen Quelle. Jede Monade birgt die ganze Welt in sich, d. h. sie besitzt sie durch sich selbst“ (Tarde 2009a: 96).
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Jürgen Raab
Gesellschaft als überindividuelle, das Einzelwesen stets überragende, überwölbende und vereinnahmende Komplexität begreift (vgl. Durkheim 1981: 596 f.), misst Tarde „der Basis der Phänomene ebenso viel oder gar eine höhere Komplexität […] wie der Spitze“ zu (Tarde 2009a: 67). In dieser Haltung durchaus Georg Simmel nahestehend, sieht Tarde das Individuum auch nicht gänzlich im Gesellschaftlichen aufgehen, denn „wenn uns die Gesellschaft wirklich vollständig geschaffen hätte, so hätte sie uns sicherlich ausschließlich sozial gemacht“ (ebd. 81, vgl. hierzu Simmel 1993, 2001). Vielmehr bewegen sich die Einzelnen zugleich innerhalb und außerhalb des Sozialen: sie „gehören stets nur mit einer Seite ihres Seins zu der Welt, die sie bilden, und mit der anderen entkommen sie ihr“ (Tarde 2009a: 80). Die so begründete Nivellierung des Komplexitätsniveaus zwischen Individuum und Gesellschaft, ja die in letzter Instanz angestrebte Umkehrung des von Durkheim gedachten ‚Bottom-Down-Verhältnisses‘, heben das Einzelwesen – sozial und soziologisch – in seiner Bedeutung über die im Vergleich zu ihm stets einfacher, weil weniger ausdifferenziert und aufgrund „jene[r] unerklärliche[n] Vorliebe, uns alles als homogen vorzustellen, was wir nicht kennen“, immer schon geschlossener und einheitlicher erscheinenden Sozialformen (ebd. 70). Mit diesem Perspektivenwechsel verschafft, sichert, ja auferlegt Tarde der Monade jene prinzipielle Differenz, Abständigkeit und Freiheit, mittels deren sie sich im voranschreitenden Modernisierungsprozess von jener bei Leibniz noch als fensterlos geschlossen gedachten Entität zu einem entwicklungsdynamisch offenen, performativen Gebilde wandeln.2 Denn aus dem bereits benannten Umstand, dass das Individuum aufgrund der ihm zugeschriebenen Komplexität niemals in der – im Verhältnis zu ihm – reduzierten Komplexität der Sozialordnung vollständig enthalten, aufgehen und aufgehoben sein kann, erklärt sich dessen fortwährendes Streben zu grenzüberschreitender, sich selbst ebenso wie die von ihm geschaffenen Sozialformen immer wieder verändernder und überbietender Ausdehnung und Erweiterung, Auffüllung und Steigerung. Diese dynamische Tendenz ins Offene – in der Sprache der späteren philosophischen Anthropologie: ihr ekstatisches Wesen, ihre Weltoffenheit, ihre exzentrische Position (vgl. Agamben 2002, Gehlen 2004, Plessner 2003) – lässt die Monaden gleichermaßen zu Chancen- wie Risikoobjekten werden. Die beiden Erweiterungsschritte dienen Tarde zur Fundierung seiner sozialpsychologischen Hauptthese im Versuch zur Klärung der ihn umtreibenden soziologischen Generalfrage: „Die Gesellschaft, was ist das?“ (Tarde 2009a: 87, vgl. ebenso 2009b: 81 ff.). Im zentralen dritten Argumentationsschritt erweist sich 2
Tarde begreift das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durchaus als Wechselwirkungsprozess. Deshalb gilt das, was er für die Monade beschreibt, in selbem Maße für das Monadenkollektiv, das sich im Zuge der als Modernisierung begriffenen sozialen Evolution gleichfalls von einfachen und geschlossenen hin zu offenen, pluralistischen Strukturen ausdifferenziert.
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die komplexe und in ihrem Drang nach Auffüllung und Ausdehnung, Vervollständigung und Veränderung entwicklungsdynamisch offene Monade nämlich notwendig als sich assoziierendes Gebilde. Denn „eine auf sich gestellte Monade […] vermag [nichts]. Das ist die Grundwahrheit, welche uns sofort dazu dienen kann, eine weitere zu erklären: die Tendenz der Monaden, sich zusammenzuschliessen“ (Tarde 2009a: 60, Herv. i. O.). Die Erklärung der assoziierenden Tendenz fordert Tarde einen erneuten Dreischritt ab, denn sie ist nicht nur voraussetzungsreich und anspruchsvoll, sondern außerdem der zweite entscheidende Hieb in Richtung Durkheim. Gegen dessen Grundgedanken, die Gesellschaft sei eine Realität sui generis, hält Tarde daran fest, das Soziale als Verbindungsprinzip zu denken, und generalisiert dabei den Assoziationsgedanken so weit, dass alle empirischen Gegenstände, auch biologische Organismen oder gar Sterne und Atome, als Phänomene des Zusammenseins beschrieben werden können.3 Die Ausbildung von Assoziationen folgt erstens dem Prinzip der Heterogenität. Nur Heterogenität und Differenz, nicht Ähnlichkeit und Identität, können der nach Ergänzung und Entfaltung strebenden Monade als Grundorientierung dienen, was Tarde denn auch davon sprechen lässt, dass „im Herzen der Dinge […] die Verschiedenheit, nicht die Einheit“ liegt (2009a: 78, vgl. auch 71 f. sowie 2009b: 93). Zweitens besteht das Grundmotiv aller Assoziationen in der Besitzergreifung von Ideen, Werten, Zielen und ästhetischen Ausdrucksmitteln anderer Monaden, wobei dem Spannungsverhältnis von Überzeugungen und Begehren elementare Bedeutung zukommt. Denn Überzeugungen umfassen alle bereits existenten Ideen und Ausdrucksmittel und markieren mithin den eher statischen Aspekt, während das Begehren „die soziale Antriebskraft des Fortschritts“ bezeichnet, nämlich die Neugierde und das Verlangen, sich all das anzueignen, „was sich uns als neues geeignetes Mittel, um unsere alten Ziele zu erreichen und unsere alten Bedürfnisse zu befriedigen, bzw. was sich uns als neuer Ausdruck unserer alten Ideen anbietet“, wobei wir gleichzeitig damit beginnen, „Neuerungen aufzunehmen, die in uns neue Ideen und Ziele erwecken“ (Tarde 2009b: 166, 224). Drittens schließlich ist das für die Verwirklichung der beiden Grundprinzipien von Heterogenität und Besitzergreifung eingesetzte kommunikative Verfahren die Nachahmung. Nachahmung ist die „innerste Seele des sozialen Lebens“ (ebd. 207), also die eigentliche Größe in der Konstitution von Gesellschaft, umschließt sie doch alle Prozesse der Wiederholung und Angleichung im Gesamt der sozialen Kommunikation.4 Anders aber als man vorschnell annehmen könnte, markieren die 3
Tardes Gedanke, jedes Ding sei eine Gesellschaft, kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Er bildet jedoch den Ausgangspunkt jenes von Latour vorangetriebenen Versuchs, die Soziologie um die Dimension nicht-menschlicher Wesen, Objekte und Dingwelten zu ergänzen (vgl. insb. Latour 2001). 4 Ein Umstand, der sich für Tarde ganz exemplarisch in der Sprache als dem „grossen Träger aller Nachahmungen“ und der zentralen Vermittlungsform von Wissen ausdrückt (Tarde 2009b: 38).
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mit Wiederholungen und Angleichungen einhergehenden Anpassungsleistungen nicht den Endzustand sozialer Weiterentwicklung, sondern vielmehr im Gegenteil deren immer wieder neu gesetzten Ausgangspunkt, was Tarde zu dem Resümee führt: „Das höchste Gesetz der Nachahmung scheint ihr tendenziell unbegrenztes Fortschreiten zu sein“ (ebd. 374). Deutlich erkennbar vertritt Tarde nicht die Position jener später an Husserl anschließenden Auffassung der Protosoziologien und Sozialtheorien von Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann, welche die sinnhafte Intersubjektivität innerhalb von „Monadengemeinschaften“ (Schütz 2009: 246 ff.) an die Appräsentationsfähigkeit der egologisch perspektivierten Subjekte und an die prinzipielle Zeichenhaftigkeit der Kommunikation binden (vgl. Hitzler 1999). Darum fehlt seiner Konzeption auch die anthropologische Dimension einer konkreten Unsicherheits-, Problem- oder Krisenorientierung sozialen Handelns. Und deshalb auch bleibt das Sinnphänomen, bleiben also die Frage nach Intentionen, Ursachen und Wirkungen von Handlungen analytisch ebenso ungeklärt, wie die nach der sozialen Konstruktion von Wissen und der diesbezüglichen kommunikativen Relevanz von Symbolen und Ritualen. Vielmehr sieht Tarde die Wechselwirkungsprozesse gesellschaftlicher Reproduktion und Innovation gänzlich losgelöst von Zeit-, Raum- und Sinnbezügen nebeneinander herlaufen. Was hier beschrieben wird, ist eine jeglichen evolutionstheoretischen Fundierungen voraus liegende, systemimmanente Logik der ewigen Wiederkehr immergleicher Verlaufsstrukturen: ein gesellschaftliches Perpetuum mobile, in Schwung gesetzt durch eine seriell organisierte, subjekt- und damit verantwortungsfreie Metaphysik (vgl. hierzu auch Keller 2009: 248 f.). Unberührt von solcherlei Erwägungen und Einwänden entwickelt Bruno Latour seine „alternative Sozialtheorie“, namentlich die „Soziologie der Assoziationen“, in direktem Anschluss an die oben herausgestellten Kerngedanken Tardes (Latour 2007: 17, 23). Weil die Monaden – terminologisch synonym: ‚Akteure‘ – ihrem Bestreben nach Ausdehnung und Vervollständigung folgend, beständig und auf nicht vorhersagbare Weise nach Assoziationen als neuen Möglichkeitsräumen des Sichverbindens – den ‚Netzwerken‘ – suchen, bedeutet „sozial zu sein […] nicht länger eine sichere und unproblematische Eigenschaft, sondern eine Bewegung, die dabei scheitern kann, eine neue Verbindung vorzuzeichnen und eine wohlgebildete Assemblage neu zu formen“ (ebd. 21, Herv. i. O.). Das besondere Gefährdungspotential moderner Sozialordnungen erkennt Latour folglich darin, dass gesellschaftliche Wirklichkeiten immer nur Teilverwirklichungen einer potentiell unendlichen Zahl möglicher, aber (noch) nicht realisierter Wirklichkeiten sind: „Das Soziale ist nicht das Ganze, sondern nur ein Teil, und zudem ein fragiler“, denn es ist „nur eine kleine Menge standardisierter Verknüpfungen, die nur einige Monaden einen Teil ihrer Zeit beschäftigten. […] Sobald man die winzigen Netzwerke verlässt, bendet
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man sich nicht länger im Sozialen, sondern weiter unten in einem verwirrenden ‚Plasma‘, das sich aus Myriaden von Monaden zusammensetzt, einem Chaos, einem Gebräu“ (Latour 2009a: 50 f.). In dieser Ursuppe der All-Assoziativität schwimmen die Netzwerke wie Fettaugen, umgeben von einer potentiell unendlichen Zahl uneingelöster, weil unerprobter, teilweise sicherlich auch schlichtweg (noch) unbekannter und unwahrscheinlich erscheinender Ausdehnungs- und Anschlussmöglichkeiten. Für die empirische ‚Akteur-Netzwerk-Theorie‘ (ANT) gilt es deshalb weniger die Stabilisierungsvorgänge und Sicherungsmechanismen zur Aufrechterhaltung von Sozialität nachzuzeichnen und in ihren Abläufen zu erforschen, wie es sich die klassische „Soziologie des Sozialen“ noch zur Aufgabe machte (Latour 2007: 23), als vielmehr jene Pfade, auf denen eine Monade sich verbreitet und verbindet, mithin jene nicht minder riskanten Prozesse der Strukturbildung und Strukturveränderung, also der Auösung und Neuentstehung, der Umgestaltung und Umgruppierung spätmoderner Vergemeinschaftungsformen.
III Sphärologie: Dyaden, Klimatechnik, Medientheorie Aus Distanz besehen scheint sich Sloterdijks Sphärologie von der Latours Netzwerktheorie kaum unterscheiden, denn auch für sie ist Tarde eine zentrale Referenz, darüber hinaus gilt es ihr gleichfalls „das Fragile als Ort und Modus des Wirklichsten zu bedenken“ (Sloterdijk 2004: 39), und nicht zuletzt will sie wie die Latoursche ANT den Begriff der Gesellschaft in neue Metaphern kleiden. Doch der hierfür beschrittene Weg weist in eine eigene Richtung, amalgamieren auf ihm doch Georg Simmels Theorie sozialer Wechselwirkungen und Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie mit Arnold Gehlens philosophischer Anthropologie. Tardes Kerngedanke der Assoziationen bildet deshalb auch nur den Anstoß für die Beschreibung der ersten Formen im Phänomen der ,Schaumbildung‘. Gemeint sind jene dyadischen Sphären, die Sloterdijk Blasen nennt, und in denen er Simmel folgend die primäre Vergemeinschaftung und damit den Ausgangsort und das Grundverhältnis alles Sozialen erkennt. So ist zwar auch „die Schaumtheorie […] unverhohlen neo-monadologisch orientiert“, doch im Unterschied zur Sozialpsychologie Tardes setzt sie den Akzent „auf die These […], dass das Paar gegenüber dem Individuum die wirklichere Grösse darstellt – was zugleich bedeutet, dass die Wir-Immunität gegenüber der Ich-Immunität das tiefere Phänomen verkörpert“ (Sloterdijk 2004: 61, 13). Der Nachsatz im Zitat markiert den unumgänglichen Brückenschlag zur Systemtheorie und philosophischen Anthropologie. Denn jede Sphäre – angefangen bei der kleinen Blase, die sich im Verbund mit anderen Paaren, Haushalten, Familien, Betrieben, Verbänden zu gewaltigen Schaumgebilden ausdehnen und aufschichten kann – deniert sich ganz im Sinne systemtheoretischen
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Denkens in ihrer Grundgestalt durch eine trennscharfe Innen-Aussen-Differenz: Sphären sind „selbstbezüglich verfasste Mikrokontinente. Wie sehr sie auch vorgeben, mit Anderem und Äusserem verbunden zu sein, sie runden sich doch zunächst nur jeweils in sich selber ab“ (ebd. 59). In jenem durch kapselartige Abschließung bewirkten insulären Klima entwickelt und bewahrt sich Sozialität wie in einem Treibhaus. Die für die Hervorbringung und Stabilisierung der ‚Lebenswelt‘ notwendige ‚Klimatechnik‘5 heißt Kommunikation: Rhythmen, Melodien, Symbole, Routinen, Rituale, Düfte6, Mythen, Projekte – insgesamt: jene Formspiele, die eine gemeinsame sinnvolle Sinnlichkeit erzeugen – ermöglichen intersubjektive Erfahrung und Verstehen, wechselseitige Inspiration, kollektive Erregung und Anstrengung, und erreichen dank der ihnen inhärenten Nachahmungs- und Wiederholstrukturen jene für Sloterdijk entscheidende Immunisierung: die „reziproke Beseelung […] durch radikale Resonanz“ (Sloterdijk 1998: 53).7 Das Primat der dyadischen Assoziation setzt Sloterdijk derart hoch an, dass er ihm eine anthropologische Qualität beimisst. Sie operiert allerdings unter genau den umgekehrten Vorzeichen als jene auch und gerade für die grundlagentheoretische Konzeption der neuen Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann bedeutsame philosophische Anthropologie Arnold Gehlens. Denn während Gehlen im Ausgang von Herder, Nietzsche und Scheler den Menschen als biologisches Mängelwesen auffasst, das, um überlebensfähig zu sein, die ihm von der Natur auferlegte Nichtfestgelegtheit und Weltoffenheit durch Kultur und deren Institutionen notgedrungen ausgleicht und stabilisiert, da erkennt Sloterdijk in jenem für seine Sphärologie und Schaumtheorie so fundamentalen „selbstverstärkenden Brutkasteneffekt“ den Keim für ein das Menschenwesen charakterisierendes Ineinandergreifen von biologischen und kulturellen Faktoren: „Homo sapiens ist, mit anderen Worten, nicht ein Mängelwesen, das seine Armut mit Kultur kompensiert, sondern ein Luxuswesen, das durch seine protokulturellen Kompetenzen hinreichend gesichert war, um angesichts aller Gefährdungen zu überleben und gelegentlich zu prosperieren“ (Sloterdijk 2004: 705 f.). So greift die Schaum-Metapher das von Tarde und Latour beschriebene Ausdehnungs- und Assoziationsstreben auf, betont aber zugleich deren Gegentendenz, nämlich die potentielle Rückbildung und Auösung der fragilen Gebilde bis hin 5
Sloterdijk rückt ,Klimatechnik‘ gar ersetzend an die Stelle des phänomenologischen LebensweltBegriffs: „Wo ‚Lebenswelt‘ war, muss Klimatechnik werden“ (2004: 69). 6 Zur Rolle und Funktion des Geruchs für die Generierung und Absicherung von sozialer Ordnung vgl. Raab 2001. 7 Die herausgehobene Bedeutung systemstabilisierender Kommunikation markiert zugleich die Differenz zwischen der Schaum-Metapher und der des Netzwerkes. Im Unterschied zur NetzwerkMetapher nämlich, welche „die Vorstellung von ausgedehnten Punkten, die als Schnittstellen von Linien verbunden“ sind, suggeriert, kehrt „die Rede von Schäumen […] die Eigenvolumen der kommunizierenden Einheiten hervor“ (Sloterdijk 2004: 257).
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zum Platzen der Blasen und zum Sphärentod. Schaum- bzw. Sphärentheorie „ist die Theorie kofragiler Systeme“ (Sloterdijk 2004: 38), denn die Raumschöpfungen sind chronisch von Instabilität beunruhigt und bedürfen der fortwährenden Absicherung und Erneuerung, werden sie doch ununterbrochen von Irritationen, Provokationen und Interventionen aus den Nebensphären ihrer pluralen Umwelt angetastet. Dabei erschweren die Bedingungen der Moderne – die Brüchigkeit, die Konkurrenz und der Verlust traditioneller theologischer und kosmologischer Ordnungskonstruktionen und Legitimationsinstanzen (vgl. oben: I.) – die Sicherungs- und Sanierungsarbeiten an den schützenden Hüllen und Schalen zusätzlich. Eine Antwort auf das Problem der Systemstabilisierung ndet Sloterdijk im Einsatz der neuen technischen Kommunikationsmedien. Als spezisch moderne Instrumente zur Klimatisierung und Immunisierung übertreffen die technischen Medien sowohl die Wirkungskraft der Formspiele der Face-to-Face-Kommunikation wie auch in ihrer voranschreitenden Entwicklung die ihrer jeweiligen medialen Vorläufer, denn immer kontrollierter vermögen sie an den Innenwänden der Sphären panoramatisch geschlossene, hyperrealistisch ausgemalte und dabei zugleich idealisierte Kunstwelten auszugestalten und vorzuführen. In solcherlei selbstausstaferten und selbstanimierten Eigenräumen können sich die Sphärenbewohner nicht nur immer perfekter einnden, aufgehen und selbst spiegeln; als dauerzugängliche selbstreferenzielle Informationskokons und Echokammern verstärken sie zudem den Effekt der ‚reziproken Beseelung durch radikale Resonanz‘ auf ein bis dahin ungekanntes Niveau. Dies wiederum hat Rückwirkungen bis auf die anthropologische Grundverfasstheit des Menschen, unterstützt und steigert die neue Medien-Umwelt doch jene im Luxuswesen bereits angelegten protektivverwöhnenden, animierenden und passivierenden Tendenzen: „Ausdehnungslose, aktionsblasse, an Teilhabe arme Iche starren durch Medienfenster in bewegte Bildlandschaften hinaus. Für die akuten Massenkulturen ist es typisch, dass die bewegten Bilder um vieles lebendiger geworden sind als die meisten unter ihren Betrachtern: Wiederholung des Animismus auf der Höhe der Modernität“ (Sloterdijk 1998: 74; vgl. auch 2004: 802). Der den technischen Kommunikationsmedien beigemessenen Relevanz entsprechend, ist die Sphären-Trilogie in übergeordneter Instanz der Versuch zu „zeigen, dass Medientheorie und Sphärentheorie konvergieren“ (Sloterdijk 1998: 31). Hinweise darauf, ob und wie sich die Sphärologie mit einer wirklichkeits- und erfahrungswissenschaftlichen Forschungsmethodologie verbinden und wie sich die konstatierte Konvergenz mittels empirisch-materialer Medienanalysen überprüfen und gegebenenfalls belegen lässt, bleibt Sloterdijk allerdings schuldig.
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IV In den Spiegelkammern der Wissensgesellschaft – und darüber hinaus Eine phänomenologisch und anthropologisch begründete Wissenssoziologie, die sich mit Fragen prekärer Sozialität in pluralen Sinnwelten auseinandersetzt, kann aus der Zusammenschau jener Soziologie der Assoziationen, wie sie Latour und Sloterdijk in Auseinandersetzung mit Tarde entwickeln, für die eigenen grundlagentheoretischen Überlegungen und für die eigene hermeneutisch-empirische Forschung durchaus Argumente und Anregungen entnehmen. Drei solche Aspekte möchte ich abschließend lediglich noch aneinanderreihen. Dabei markieren die beiden zuletzt Genannten zugleich jene Stellen, an denen die hier erörterten neuen Gesellschaftstheorien meines Erachtens einer Ergänzung um eine empirische Medien- und Kommunikationssoziologie bedürfen. Zunächst aber erscheint es lohnend, das von Tarde beschriebene unaufhörliche Begehren und die Prozesse der Nachahmung, die er für die ununterbrochene Suche nach neuen und Auösung bestehender Assoziationen verantwortlich macht, und die bei Latour zur Ausbildung und Ausgestaltung sozialer Netzwerke, bei Sloterdijk zur Ausformung, Wandlung und Rückbildung von Sphären, führen, um das, was man in einer ersten Näherung eine soziologisch angeleitete ‚Phänomenologie der Sättigung‘ bzw. eine ‚Protosoziologie der Langeweile‘ nennen könnte, zu ergänzen. Darüber hinaus macht Sloterdijk in expliziter Kritik an Latours Netzwerktheorie auf die herausgehobene Rolle und Funktion insbesondere der technischen Kommunikationsmedien auch für die Untersuchung der Sphärenbildung aufmerksam. Allerdings interessiert sich seine nicht-empirische Sphärologie einzig für die Schließung und Stabilisierung von Sozialität in selbstreferenziell sich auskleidenden Spiegelkammern. Entgegen der seit geraumer Zeit gelegentlich aufscheinenden Vision einer „postsozialen Gesellschaft“ (Bude 2001, Knorr Cetina 2006), in der die seit den 1980er Jahren verstärkt diagnostizierten Prozesse der Individualisierung (Beck 1986) und der Ausdünnung des Sozialen (Honneth 1994) vor allem durch die Ausbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien (Castells 2001) so weit fortgeschritten sind, dass Menschen der fortgeschrittenen Moderne primär eine „Sozialität mit Objekten“ pegen, sich also zunehmend „an Objekten als Quellen des Selbst, relationaler Intimität, geteilter Subjektivität und sozialer Integration“ orientieren (Knorr Cetina 2006: 112), kann gezeigt werden, dass die Versorgung moderner Gesellschaften mit technischen Artefakten auch Gemeinschaftsformen hervorbringt und festigt, die sich gerade darauf gründen, dass ihre Angehörigen über das Vehikel der Kommunikationstechniken im sozialen Handeln versuchen, ihre sinnlichen Wahrnehmungen aufeinander abzustimmen und aneinander anzugleichen, um ihre Erfahrungen zu vereinheitlichen und so Intersubjektivität und Gemeinschaft herzustellen (vgl. Raab 2008). Kurz, Gruppen und Gemeinschaften – soziale Milieus – entwickeln und reproduzieren eigene
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mediale Typisierungen und Handlungsformen: sie bilden im Zuge ihrer Mediensozialisation Sehordnungen mit spezischen Sehgewohnheiten und Seherwartungen aus, die sie dann mittels technischer Aufzeichnungsmedien wie Fotoapparaten oder Camcordern xieren, reproduzieren und modellieren können. Solcherart durch die hermeneutischen Verfahren einer visuellen Wissenssoziologie sowie auf Grundlage materialer Analysen von konkreten Handlungsprodukten empirisch zu beschreibenden Sehgemeinschaften stellen innerhalb ihres eigenen Milieus wechselseitige, medial vermittelte Wahrnehmungs- und Deutungsbereitschaft her und halten in und mit diesen Spiegelkammern die eigene Weltsicht und die eigene Sozialwelt gegenüber konkurrierenden Entwürfen und Modellen anderer Sinn- und Sozialwelten aufrecht, sicher und stabil. Dagegen – und dieser Ansatz kann weiterführenden wissenssoziologischen Forschungen den Weg weisen – ist es Latours Akteur-Netzwerk-Theorie dezidiert um eine Analyse der Öffnungsprozesse und um die mit diesen einhergehenden Strukturumbildungen und Neuorientierungen von Gemeinschaftsbildungen getan. Gleichwohl vernachlässigt er, darauf weist Sloterdijk – siehe oben – hin, die für diese Prozesse konstitutive Bedeutung der (technischen) Kommunikation. Gerade aber der unaufhebbare Widerstreit zwischen den Stabilisierungs- und Schließungsbemühungen einerseits und der Tendenz zur Öffnung hin zu neuen Möglichkeitsräumen des Sichverbindens, zur Auösung, Ausdehnung und zum Neuanschluss, manifestiert sich in spezischen, in sich modernisierenden Gesellschaften zunehmend in vielfältigen, technisch-medialen Ausdrucksgestalten. Als besonders lohnenswert erscheinen solche Kommunikationsformen und -inhalte, welche die Öffnungs- und Veränderungsprozesse explizit thematisieren, die hierzu neue Verfahrensweisen des Ausdrucks und der Wahrnehmung erproben und die dabei auf soziale Akzeptanz stoßen, also Handlungs- und Darstellungsoptionen vorführen, die wiederum Anschlüsse herstellen und zu Nachahmungen anregen. Solcherart ästhetische Entwürfe von Möglichkeitshorizonten und von Experimentierfeldern der Selbstsinngebung ließen sich besonders gut dort beobachten und beschreiben, wo Gefährdungspotentiale und potentielle Krisenszenarios von Sozialität ebenso wie Imaginationen des Unwahrscheinlichen und Utopischen (als des auch noch Möglichen) in medialen Produkten vorentworfen und ktional durchgespielt werden (vgl. Hitzler 2004). Auch für die Analyse dieser ästhetischen Kommunikationsformen bieten sich die empirischen Verfahren der hermeneutischen Wissenssoziologie an, vermögen sie doch Einblicke zu vermitteln in die Bauformen sozialen Handelns, nur um auf diesem Wege Aufschluss zu geben, nicht nur über die Bearbeitung jener anthropologisch bedingten Weltoffenheit des Menschen durch die Herstellung und Aufdauerstellung von sozialen Sinnwelten, sondern darüber hinaus auch über seine aus diesen historischen, sozialen und kulturellen Problemlösungen
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ausgehend sich herausbildende „sekundäre Weltoffenheit“ (Marquard 2003: 82) mit ihren Entwürfen über die Chancen- und Risikopotentiale prekärer Sozialität in pluralen Sinnwelten.
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Wissen und Wissenssoziologie
Raumvergessen – Raumversessen Im Windschatten des Spatial Turn Helmuth Berking
Turns, turns, turns. Wer will sie noch zählen die annoncierten Wenden? Wissenschaftliche Revolutionen nden heute im Rythmus jahreszeitlicher Wechsel statt. Linguistic, feminist, und cultural turn, ecological, phenomenological, representational, structural, poststructural, pictoral und spatial turn – auf die nächste Frühjahrskollektion darf man gespannt sein. Ein aussichtsreicher Favorit, der strategisch in Stellung gebracht worden ist, schreitet noch etwas unsicher, als „cosmopolitan turn“ bereits über die Laufstege der wissenschaftlichen Welt. So, alles nur Moden, schickes Labelling, eben so schnell vergessen wie besessen? Ist aus dem Diktum Kirkegaards „Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird schnell zum Witwer“ nicht längst die Empfehlung „Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird schneller bekannt“ geworden? Angesichts dieser irritierenden Gemengelage möchte ich einige Anmerkungen zur Diskussion anbieten, die sich mit der Revolutionierung sozialwissenschaftlicher Leitsemantiken auseinandersetzen. Ich werde zunächst in einer wissenssoziologischen Perspektive das institutionelle Feld sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion kurz markieren, um dann in einem zweiten Schritt nach den unabweisbaren Folgen des „spatial turns“ zu fragen. Im Hintergrund aber wartet die ebenso krude wie dogmatische Behauptung, dass es kein ‚nach‘ nach dem spatial turn geben kann.
I Beschreibt man Diskurse als Produkte von Kompromissen zwischen „Ausdrucksinteressen“ und einer „Zensur“, die sich der Struktur des jeweiligen Feldes verdankt, in dem der Diskurs sich entfaltet (Bourdieu 1976), lässt sich ganz unaufgeregt konstatieren, dass der Zeitgeist immer schon da ist. Zwei sich verschränkende Modalitäten spielen dabei eine wichtige Rolle. Die ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘ zielt permanent auf Grenzüberschreitung. Die Logik des Feldes dagegen, in unserem Falle der Soziologie, die auf einer über selektive Traditionsbildung imaginierten Identität des Faches basiert, sichert qua Zensur die Seriosität des sprachlichen Ausdruckes und somit das Recht desjenigen, der spricht, im Namen von … zu
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sprechen. Erbitterte Kämpfe um die Einhegung beziehungsweise Erweitung des Grenzverlaufs sind die zwangsläuge Folge. Von besonderem Interesse freilich ist nun die Frage, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen eine bestimmte Thematik aus dem Fundus der institutionalisierten Wissensbestände ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, um dann, im Durchgang durch die Ökonomie der Aufmerksamkeit, substantiell angereichert, den Grenzverlauf ihres Ursprungsgebietes radikal zu verschieben. Innovationen, so die einfache These, kommen in der Regel von außen. Es sind die Interessen, Einstellungen und Deutungsschemata kollektiver Akteure, die über vielfältige institutionelle Verstärker vermittelt, nach Artikulation und Repräsentation in allen Bereichen der dominanten Kultur verlangen. Und es sind vor allem die Sozial- und Kulturwissenschaften, die diese Ausdrucksinteressen feldspezisch systematisieren und so gleichermaßen zu neuen Erkenntnissen wie zu folgenreichen Reizierungen beitragen. Ohne die Ökologiebewegung hätte es die „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) nicht gegeben; ohne den Feminismus würde die soziale Ungleichheitsforschung immer noch einseitig gelähmt daherkommen, ohne die anhaltende Globalisierungsdebatte hätten sich raumtheoretische Entwürfe nie zum spatial turn verdichtet; aber auch umgekehrt: ohne die Chicago boys hätte der Neo-Liberalismus niemals den Status einer wissenschaftlichen Weltanschauung erreichen können, kurz: Sozialwissenschaftliche Leitsemantiken lassen sich gegen die gesellschaftlichen Erfahrungsgehalte ihrer Zeit niemals dauerhaft durchsetzen. Sie sind, notabene, ihre Zeit in Gedanken gefasst. Folgt man diesen Überlegungen – und unter epistemologischen Gesichtspunkten besteht heute keine Zweifel daran, dass die Sozial- und Kulturwissenschaften auf ebenso intime wie prekäre Weise in ihre Gegenstandskonstitution verstrickt sind, es also gegenüber uns Alltagsmenschen keinen privilegierten Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt – dann heißt dies nichts anderes, als dass die turns selbst bedeutsame empirische Daten sind, die ihrerseits zentrale Verschiebungen der Gesellschaftssemantiken repräsentieren.
II Nicht alle zeitgeistigen turns evozieren vergleichbare Folgen. Es gibt solche, deren epistemologische Tiefenwirkung sie post festum als wissenschaftliche Revolutionen erscheinen lässt; und es gibt andere, deren Anhängerschaft sich schnell auf Sektenniveau reduziert. Der „linguistic turn“ (vgl. Rorty 1992) ist, im epistemologischen Register, zweifellos eine wissenschaftliche Revolution. Die Durchsetzung der Erkenntnis, dass die Welt für uns nur sprachlich, respektive, symbolisch zu haben ist, beendet die Legitimität essentialistischer Argumente in allen wissenschaftlichen Diskur-
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sen. Die Einsicht in die Arbitrarität der Zeichen war längst in unterschiedlichen Disziplinen ausgearbeitet. Aber erst die durch die Ökonomie der Aufmerksamkeit hindurch getriebene Verdichtung schafft jenen autorisierenden Überschuss, der nun für den Legitimitätsanspruch wissenschaftlicher Aussagen unverzichtbar wird. Ohne den linguistischen turn, hinter den es kein Zurück geben kann, sind Konstruktivismus und Repräsentationskritik, Strukturalismus und Poststrukturalismus etc. nicht denkbar. Die „kulturalistische Wende“ (vgl. Bachmann-Medick 2006) baut auf diesem Fundament auf und fügt die Einsicht von der Pluralisierung und Heterogenisierung symbolischer Ordnungen ein. Ohne den cultural turn wären die Wissenshorizonte, die durch postcolonial und gender studies, durch Film- und Medienwissenschaften erschlossen wurden, nicht in den autorisierenden Blick geraten. Mit dem „spatial turn“ (vgl. Döring/Thielmann 2007) schließlich realisiert und radikalisiert sich die auf den ersten Blick triviale Erkenntnis, dass der bunte Flickenteppich symbolischer Ordnungen, der die Welt ausmacht, in der wir leben, Strukturierungen aufweist, die sich am besten raumtheoretisch erfassen lassen. Dabei geht es um mehr als um schlichte geographische Unterscheidungen. Der spatial turn zerrt gleichsam die letzte Bastion essentialistischen Denkens ins grelle Licht der analytischen Aufmerksamkeit. „Raum“ wird nun gleichermaßen als Voraussetzung wie als Resultat von Sozialität bedacht (vgl. Löw 2001). Diese Revolution berührt nicht nur die räumlichen Dimensionen der Alltagspraxis, sondern auch und gerade die der mentalen Strukturen und damit Reichweite und Tiefenschärfe, vor allem aber den Geltungsanspruch wissenschaftlicher Diskurse. Wir denken in Abständen. Jede Theorie organisiert sich um ein in der Regel unbedacht bleibendes raumtheoretisches Schema. Für den Strukturalismus zum Beispiel ist Bedeutung der Effekt aus der relationalen Position eines zu allen anderen Elementen in einem geschlossenen System. Nicht nur, aber besonders für die Soziologie ist die nationalstaatlich organisierte Gesellschaft gleichsam die natürliche Analyseeinheit. Oder auch so: Welche Effekte auf die Wissensproduktion geben sich zu erkennen, wenn Ortsmetaphoriken prominente Positionen zugeschrieben werden: bei Walter Benjamin etwa „Passage“, „Einbahnstraße“, bei Giorgio Agamben „Lager“ und „Lagerung“, bei Bruno Latour „das Labor“, bei Michel Foucault „das Archiv“, „das Hospital“, „das Gefängnis“ usw.? Der Befreiungsschlag, den die raumtheoretische Wende auslöst, lässt sich mit drei, wiederum übervereinfachten Argumenten verdeutlichen. Zum einen: Die modernen Sozial- und Kulturwissenschaften sind raumvergessen, aber zeitbesessen. Ihre Geschichte zeichnet sich wesentlich durch eine Dominanz der Zeitlichkeit, der asymmetrischen Dichotomie von Raum und Zeit aus. Von Henri Bergson bis in die für ihre raumtheoretischen Reexionen zurecht gerühmte Phänomenologie Michel De Certeaus ist es die Kategorie der Zeit,
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Zeitlichkeit, Dauer, Duration, unter der der „Raum“ verschwindet (vgl. Massey 2005: 20 f.). Raum ist passiv, der Abstand zwischen zwei Punkten, der durchquert werden muss und nach der Zeit bemessen wird, die dabei vergeht. Zeit ist Wandel, Veränderung, Raum, Stabilität, physische Gegebenheit. Diese Repräsentation des Raumes als Container erfüllt gleichwohl eine wichtige Funktion, ist er doch die Adresse, mit der die Zeit gezähmt wird. Alles ereignet sich im Raum, der Raum selbst aber ist kein Ereignis. Dieser Denkstil lässt sich mit Verweis auf das Prinzip mechanischer Kausalität verdeutlichen. Ursache und Wirkung in geschlossenen Systemen sind Zeiteffekte, was aber ist mit der Konstruktion geschlossener Systeme? Zum Zweiten: Die Dominanz der Zeitlichkeit oder vielleicht noch etwas gröber: die Substitution von Raum durch Zeit hat weitreichende Folgen im Feld der Sozialwissenschaften wie des Alltagswissens. Denn räumliche Abstände werden in zeitliche Abstände transformiert, Geographie in Geschichte verwandelt. Dass Mali oder der Tschad ein anderes Entwicklungsniveau als Westeuropa und Nordamerika repräsentieren, übersetzt sich so einfach in die für Modernisierungstheorien typische Deutung, diese Länder seien 100 Jahre zurück, was nicht nur dazu führt, zu vergessen und zu verneinen, dass wir in Zeitgenossenschaft leben, sondern auch, dass wir „hier“ die Geschichten, die „dort“ erzählt und gemacht werden, für uns nicht zur Kenntnis nehmen wollen und müssen (vgl. Massey 1999). Die Systemtheorie, die nicht gerade für raumsensible Interventionen bekannt ist, setzt diese Deutung nicht nur fort, sondern liefert zugleich eine evolutionstheoretische Begründung. Während einfache Gesellschaften aus überlebensstrategischer Notwendigkeit den Raum privilegieren, ist für moderne Gesellschaften nicht die räumliche, sondern die zeitliche Distanz – unterentwickelt/entwickelt – die oberste Referenz (Stichweh 2000). Was aber machen wir mit den sprachlichen Resten, in denen Zeitangaben als räumliche Maße repräsentiert werden wie etwa „damals“, oder deutlicher noch im englischen „always“ (vgl. Stichweh 2000)? Zum Dritten: Die bis heute unaufgeklärte Differenzierung zwischen Raum und Ort, „space and place“, zeitigt außerordentliche machtpolitische Effekte. Raum wird imaginiert als das abstrakte „out there“, das durchquert und erobert sein will, Ort als das konkrete „in here“, des Alltagslebens, des Realen etc. Bewegung ndet im Raum statt. Von den Conquistadores bis zum aktuellen Globalisierungsdiskurs gilt: die einen kommen und die Eingeborenen sind immer schon „da“, vor Ort gefangen. Orte sind heute mit beidem verbunden: mit Opferdiskursen, wie mit dem Pathos des Widerstands gegen die destruktiven Tendenzen der Globalisierung. Unter dem Regime des spatial turns werden alle drei Denkbilder destruiert. Gleichzeitig geben sich interessante Perspektivverschiebungen, aber auch vielfältige theoretische Aufgaben zu erkennen, die sich summarisch beschreiben lassen.
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Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten unserer Geistesgegenwart, „Raum“ als soziale Konstruktion zu fassen, die ihrerseits ebenso Voraussetzung wie Resultat sozialen Handelns ist. Aber nicht „dass“, sondern „wie“ „Raum“ sozial und temporal konstruiert wird, ist die unabgegoltene Herausforderung. Handeln schlechthin wird nun vorrangig in seinen raumproduzierenden wie raumkonsumierenden Dimensionen bedacht. Es war Emile Durkheim (1912), der in den „Elementaren Formen des religiösen Lebens“ die Idee formuliert, dass die räumliche Organisation von Gruppen das Grundmodell für die mentale Organisation der Welt abgibt. Wenn die analytische Aufmerksamkeit auf die räumlichen Dimensionen von Klassikationen, Weltbild-Strukturen, Deutungsschemata und Identitäten zielt, wird zwangsläug auch die zeitliche Dimension ihrer Geltung thematisch. Es lassen sich zwei Arten der räumlichen Organisation von Soziabilität unterscheiden (vgl. Berking 2008). Soziale Beziehungen können entweder als territorialisierte Einheiten gestaltet werden, für die Innen und Außen, Eigenes und Fremdes, Regelbefolgung, Erwartungserwartungen und Identitätszuschreibungen als räumlich xiert erscheinen. Oder sie können als de-territorialisierte Vergesellschaftungsformen organisiert werden, die nicht über Grenzen und den Modus des territorialen Einschlusses, sondern über Netzwerke integriert werden. Die „Raum als Container“-Theorie wird in der Regel mit der historischen Formation des territorialen Nationalstaats und der ihr eigenen Epistemologie, dass soziale Beziehungen sich ausschließlich in territorial denierten und räumlich isomorphen Einheiten organisieren und reproduzieren, ins Verhältnis gesetzt. Die zweite für den Globalisierungsdiskurs so zentrale „space of ows“-Ontologie wird an die Transnationalisierung der Arbeits-, Kapital- und Kulturmärkte zurückgebunden und mit Verweis auf die nicht-territorialen Raumpolitiken translokaler Vergesellschaftungsmodi und globaler Diasporas plausibel gemacht. Das Zusammenspiel von Raumproduktion und Identitätskonstruktion, von Raumpolitiken und Identitätspolitiken ist von besonderem Interesse. So wie Räume sind auch Identitätszuschreibungen das relationale Produkt vielfältigster Praktiken, Interessenkonikte, Anerkennungs- und Ausscheidungskämpfe zwischen Gruppen. Kategoriale Identitäten freilich haben die Tendenz, sich territorial zu verfestigen. Im Präsens präsent zu sein, heißt räumlich identizierbar zu sein. Eine ähnlich intime Beziehung lässt sich für das Verhältnis von Raum- und Wissensproduktion behaupten. Wenn die Annahme zutrifft, dass die Produktion von Raum Hand in Hand geht mit der Evokation und der hierarchischen Ordnung von Wissen, dann ist „Wissen“, aller Globalisierungsrhetorik zum Trotz, raumspezisches Wissen. Bestimmte Räume und bestimmbare Orte versammeln nicht nur distinkte kulturelle Wissensbestände.
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Helmuth Berking Sie limitieren auch den Rahmen dessen, was legitimerweise gewusst werden kann und gewusst werden muss. Vieles, aber eben nicht alles, ist „hier“ im Unterschied zu „dort“ denkbar wie machbar. „Placing categories“, so Arif Dirlik, “gives meaning to categories, just as categories give particular meaning to places“. Dabei ist der Weltbezug der Phänomene bedeutsam, denn dieser ist ortspezisch. Die Redeweise vom ‚Weltbezug‘ verweist auf ein raumtheoretisches Folgeproblem: Die Frage nach der Skalierung, genauer, nach der Bedeutung sozialräumlicher Maßeinheiten für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung. Hätte nicht auch für die Sozialwissenschaften eine Art „maßstabsgerechte“ Gegenstandskonstitution zu gelten? Sozialräumliche Maßeinheiten fungieren alltagspraktisch als unhintergehbare Ordnungsschemata der Wahrnehmung. Sie werden durch das Handeln von Individuen und Gruppen konstruiert, die mit dieser Politik der räumlichen Abstände Grenzen markieren, Zugehörigkeiten legitimieren und Identitäten territorialisieren. Betrachtet man den „körperbezogenen Nahbereich“, das „Lokale“, das „Regionale“, das „Nationale“ und das „Globale“ als relationale sozialräumliche Maßeinheiten, stellt sich unweigerlich die Frage, ob diesen Skalierungen nicht auch distinkte Wissensbestände, Institutionensysteme und Praxisformen korrespondieren. Es gibt keinen guten Grund, die Skalierung zu hierarchisieren und wie in Globalisierungstheorien üblich, dem Globalen im wirklichkeitsmächtigen Bild eines freien ungebundenen „space of ows“ oberste Priorität einzuräumen. Begrifiche Konfusionen entstehen vor allem dann, wenn sozialräumliche Skalen, wie das Globale und das Lokale, nicht nur als Gegensätze, sondern zudem noch synonym gesetzt werden mit „Raum“ und „Ort“. Dass der „globale Fließraum“ die „lokalen Orte“, die zudem noch unter das Dach der Territorialität gezwungen werden, frisst, ist eine interessierte Fiktion, die den Opferdiskurs des Lokalen nährt. Gegenüber der Vorstellung schließlich, dass Orte an Signikanz verlieren, reicht es völlig aus, mit Clifford Geertz (1996) an die schlichte Einsicht zu erinnern, dass niemand in der Welt im Allgemeinen lebt. Ein trennscharfes Konzept des Ortes allerdings ist in den Sozialwissenschaften nicht vorndbar. Die britische Kulturgeographin Doreen Massey hat vorgeschlagen, Ort als Produkt sozialer Beziehungen und Sphären der Ko-Präsenz distinkter Geschichten als „meeting places“ zu thematisieren. „This is a notion of place where specicity (local uniqueness, a sense of place) derives not from some mythical internal roots nor from a history of relative isolation (…) but precisely from the absolute particularity of the mixture of inuence found together there“ (Massey 1999: 22). Der Ort ist wie der Körper immer im Hier. Raum und Zeit ereignen sich im Ort, der Ort ist Treffpunkt, meeting
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place, ebenso durchlässig und porös wie die menschliche Haut; er versammelt Dinge Menschen, Erinnerungen, er produziert Geschichten, Routinen und Identitäten. „Staying in this place I understand what is true of other places over there precisely because of what I comprehend to be the case for this place under and around me“ (Casey 1996: 45). Mit dieser Lesart wird das für Globalisierungstheorien so typische Gegeneinander von abstraktem Raum und konkretem Ort, von Handlungsmacht und Ohnmacht, von Gewinn und Verlust, von Zukunft und Tradition unterlaufen. Denn Orte werden nicht nur als Momente gefasst, durch die das Globale produziert und koordiniert wird, sie sind selbst „agents in globalisation“ (Massey 2004: 11) und damit alles andere als bloße Opfer externer Prozesse. Der Ort ist genau das: ein ZeitRaum, ein Ereignis, das Platz auch für das Unerwartete und Überraschende lässt (vgl. Casey 1996). Auch wenn gegenwärtig lautstark die kosmopolitische Wende ausgerufen, und über die strukturelle Blödheit der Globalisierungsdebatte, insbesondere ihrer Raumversessenheit gelästert wird – die Verräumlichung der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung hat eben erst begonnen. Auf die Ergebnisse jedenfalls, auf ein Denken in „ZeitRäumen“ darf man gespannt sein.
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Lernen in der Be-Sprechung des Körpers Eine ethnosemantische Vignette zur Kunst des Bogenschießens Achim Brosziewski und Christoph Maeder
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Einleitung
Das linguistisch-semiotische Jahrhundert hat auch in der Sozialforschung deutliche Spuren hinterlassen, hat Traditionen und Schulen geprägt. Die Sprache, die Diskurse und die Zeichen haben ihre Unschuld als bloße Mittel und Mittler der Wirklichkeitsbeschreibung verloren. Keine halbwegs reektierte Methodologie kommt heute umhin, ihre eigene Zeichenabhängigkeit zu bedenken und Vorstellungen anzubieten, wie sie trotz ihrer konstitutiven Zeichenbedingtheit zur forschungsnotwendigen Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand gelangt; wie sie sich ihres Wirklichkeitskontaktes zu vergewissern vermag. Gerade die Soziologie wird sich nicht gestatten können, die Sprache, die Diskurse und die Zeichen als ihre Gegenstände gelten zu lassen. Ihr stellt sich das Problem, von und aus den Zeichen heraus vorzudringen (zurückzunden?) zu sozialen Prozessen, sozialen Strukturen und sozialen Ordnungen – wissend, dass sie sozialer Prozesse, sozialer Strukturen und sozialer Ordnungen nur bezeichnend habhaft werden kann; dass sie selbst immer nur Rede von sozialen Prozessen, sozialen Strukturen und sozialen Ordnungen bleiben wird. Gegenwärtig kann man vornehmlich drei Kandidaten ausndig machen, die geeignet erscheinen, „das Andere“ der Zeichen zu xieren und Ankerpunkte in der sozialen Wirklichkeit zu nden: den Körper, die Praxis (die Praktiken) und das Bild (die „Inszenierung“). Allen dreien sind die Merkmale der Kompaktheit und der Opazität gemein – Garantien dafür, dass sie sich konstitutiv einer einfachen sprachlichen Auösung entziehen; erst recht jeder „vorübergehenden“, jeder touristischen Beobachtung. Der Körper, die Praxis und das Bild – sie fungieren nicht oder zumindest nicht auf Anhieb als Zeichen für anderes. Sie versprechen stattdessen Wirkungen: der Körper die Beweglichkeit, die Praxis die Produktion, das Bild ein „authentisches“ Erleben. Zwar können auch die Effekte nur bezeichnet werden, ebenso wie ihre Auslöseeinheiten. Doch die Bezeichnung von Wirkungen und Wirkbeziehungen verspricht den ersehnten Wirklichkeitskontakt, der nicht nur Sprache, nicht nur Diskurs, nicht nur Zeichen sein kann.
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In den Diskursen haben diese Verweise auf ihr „Anderes“ unübersehbar Raum gewonnen. Hier motivieren sie Unmengen von Texten. Doch wirken die Referenten – der Körper, die Praxis und das Bild – in dem Moment sperrig, in dem es um empirische Forschung geht, also um den kontrollierten und kontrollierbaren Zugang zu den gemeinten Wirklichkeitsquellen. Man kann ja schlecht den Körper in die Soziologie hineinstellen, ebenso wenig wie Praktiken oder Bilder. Es braucht dazu viel Text, um den Nichttext kontrollierbar und nachvollziehbar in den soziologischen Texten wirken zu lassen. Davon kann sich ebenso dieser (unser) Text nicht frei machen – man sehe nur, wieviel schon geschrieben ist, ohne dass „die Sache selbst“ zum Vorschein gekommen wäre. Unser Beitrag greift einen der genannten Kandidaten für das Nichtdiskursive heraus, den Körper, um ihn in das Licht eines empirischen Verfahrens zu rücken (zu zerren), das selbst der „linguistischen Wende“ entstammt. Die ethnographische Semantik ist vornehmlich für einen sehr sprachzentrierten, insbesondere einen „lexikalischen“ Weg bekannt. Doch wollen wir zeigen, dass ihre Mittel keineswegs auf durch Sprache begrenzte Gegenstandsvorstellungen einschränken. So wurde beispielsweise aus einer sehr verwandten Richtung (der Metaphernanalyse) gar eine „Philosophie aus dem Fleisch“ entwickelt (Lakoff/Johnson 1999) und es wird die Frage nach dem Körper im Geist gefragt. Allerdings werden wir uns anderer theoretischer Mittel bedienen als sie im genannten Werk und auch sonst im linguistischen Umfeld gepegt werden – Mittel, die uns zu direkt auf das Gehirn und die philosophische Geist-Körper-Debatte zielen. Die Elemente, die uns die Referenz auf soziale Prozesse, Strukturen und Ordnungen sicherstellen sollen, beziehen wir einerseits aus der soziologischen Systemtheorie und andererseits aus Bourdieus Theorie des Habitus. Uns erscheinen beide Richtungen so unvereinbar nicht, wie in oberächlichen Theoriekontrastierungen kolportiert wird (vgl. Nassehi/Nollmann 2004). Über die Fruchtbarkeit der Dreier-Begegnung von Linguistik, Systemtheorie und Habitustheorie sollte unserer Hoffnung nach erst ein Versuch entscheiden. Den empirischen Gegenstand entnehmen wir einem Feld, in dem beide Autoren sich seit ungefähr zwei Jahren als beobachtende Teilnehmer bewegen: der Kunst des Bogenschießens. Vorbehaltlos ist hier einzugestehen, dass sich diese Auswahl schlicht und ergreifend unserer Neigungen verdankt. Doch soll die theoretische Rahmung davor bewahren, das Phänomen und seine soziologische Beschreibung auf das gewählte Feld zu begrenzen. Zur Rede steht ein Aspekt, der für das Verhältnis von Körperlichkeit und Sprache zentral ist, wo immer Sozialität zentral über Körperliches strukturiert wird (so etwa auch in vielen Jugendszenen, die sich über Körperliches denieren (vgl. beispielsweise Hitzler/Pfadenhauer 2001). Zudem soll das Bogenschießen eine erste kleine Studie zur Entwicklung einer Soziologie des Lernens liefern, die es unseres Erachtens bislang noch gar nicht gibt. In der
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Soziologie ist von Sozialisation die Rede und in dem Zusammenhang dann auch von Habitualisierung. Doch was daran genau Lernen heißen soll, bleibt ungeklärt und der Psychologie überlassen, sofern Lernen nicht umstandslos mit „Anpassung“ gleichgesetzt wird. Wir vermuten – ohne diese Annahme hier ausführen zu können und ohne die angemahnte Lerntheorie gleich liefern zu können –, dass jede eingehende soziologische Theorie des Lernens auf sehr ähnliche Probleme stoßen wird, die wir anhand des Bogenschießens verhandeln wollen; Phänomene, die mit dem Zusammenspiel von Körper und Zeichen zu tun haben und die sich als Zusammenspiel sehr schwer kontrolliert beschreiben lassen. Darin vermuten wir weiterhin nicht ein rein soziologisches, sondern zugleich ein eminent praktisches Problem: ein Problem der Instruktion, also des Lehrens und des Ausübens einer Praxis. Auch das Lehren sucht, in seiner Praxis wie in seinen Theorien, nach Ankerpunkten jenseits der Zeichen. Diese Verdoppelung des Problems (in Theorie und Praxis) muss nicht notwendigerweise als eine Problemvermehrung wirken. Sie bietet auch die Chance, aus der Praxis für die Theorie zu lernen. All dies wollen wir natürlich nicht unserer kleinen Fallstudie auaden. Das Exempel des Bogenschießens muss vorerst die Leerstelle einer soziologischen Lerntheorie besetzt halten. Doch zuvor wollen wir die drei Stränge kurz umreißen, die wir zusammenführen wollen: die Systemtheorie, die Habitustheorie und die ethnographische Semantik.
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Der systemtheoretische Beitrag: Bezeichnung und Unterscheidung
Aus der Systemtheorie beziehen wir das Konzept des Zusammenhangs von Bezeichnung und Unterscheidung, der als Zusammenhang das Phänomen der Beobachtung erzeugt (siehe unter anderem Luhmann 1995). „Das Andere“ der Zeichen, das wäre dementsprechend ein zweifaches Anderes: die Unterscheidung sowie die Beobachtung, die beide nicht in Zeichen „aufgehen“ oder „aufgehoben“ sind, wenngleich sie konstitutiv auf Bezeichnungsleistungen und Bezeichnungsverknüpfungen angewiesen sind. Den Umfang des Unterscheidungsbegriffs darf man nicht auf die binären Unterscheidungen reduzieren, wie es leider oft in der Rezeption geschieht. Binäre Unterscheidungen sind Sonderfälle des Unterscheidens, in denen zweierlei gilt, was nicht für alle Unterscheidungen zutrifft. Erstens sind bei binären Unterscheidungen beide Seiten bezeichnet und bestimmt: Zahlen und Nichtzahlen; Macht haben und keine Macht haben; Lieben und Nichtlieben. Zweitens sind ihre Seiten so konstruiert, dass die eine Seite die andere ausschließt; dass das „und“ als „oder“ gehandhabt werden muss, das zu einer Wahl auffordert oder gar zwingt, um im System Anschlussfähigkeit zu erhalten. Doch neben diesem Spezialtyp von Unterscheidungen gibt es ungezählte andere Unterscheidungen, die nicht auf eine zweiseitige Bestimmtheit und auf Alternativität angelegt sind;
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bei denen „die andere Seite“ vage bleiben kann (dies/alles andere), oder solche, die Gleichzeitigkeiten (süß-sauer) oder Übergangsbereiche vorsehen können (von heiß zu kalt). Ein weiteres wichtiges Beispiel bilden implikative Unterscheidungen. Das sind solche, in denen eine Seite die andere Seite mit enthält, wie „Möbel und Tische“ oder „Frauen und Menschen“. In unserem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass es sich schon bei der Unterscheidung von Bezeichnung und Unterscheidung um eine implikative Unterscheidung handelt; hier sogar mit der Möglichkeit, die Implikation auf beiden Seiten anzusetzen. Die Unterscheidung von Bezeichnung und Unterscheidung ist selber eine Unterscheidung; und sie ist zugleich eine Bezeichnung ihres Zusammenhangs, also ein Zeichen, das auf sich selbst und auf sein Anderes verweist. Der systemtheoriemüde Leser wird hier wohl eine der ungeliebten und „überüssigen“ Logeleien der Systemtheorie vermuten. Doch wir können diesen Hinweis auf die intrikaten Bedingungsverhältnisse nicht auslassen. Denn die Implikationsmuster spielen immer dann eine Rolle, wenn vom „Verwischen“ oder von einer „Aufhebung“ von Unterscheidungen die Rede ist und eine Einheits- oder gar eine Ganzheitsmystik ins Spiel kommt. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, das uns auch später noch beschäftigen wird: „Um Boxer zu werden, muss man sich also, über einen Prozess progressiver Imprägnation, einen Komplex körperlicher Mechanismen und mentaler Schemata aneignen, die so eng miteinander verbunden sind, dass zwischen Physischem und Spirituellem, zwischen dem, was von athletischen Fähigkeiten und was vom moralischen Vermögen und vom Willen abhängt, nicht mehr unterschieden werden kann. Der Boxer ist ein lebendiges Räderwerk, das Körper und Geist miteinander verzahnt, die Grenze zwischen Vernunft und Leidenschaft negiert, den Gegensatz von Aktion und Repräsentation aufhebt und dadurch die Überwindung der Antinomie zwischen Individuellem und Kollektivem ermöglicht. Auch hier kann man wieder mit Marcel Mauss reden, der von ‚physio-sozial-psychologischen Kongurationen‘ spricht.“ (Wacquant 2003: 22)
Das Muster, das wir hier vornden, ist das folgende: Es geht um die Einheit einer Unterscheidung (um den Zusammenhang ihrer beiden Seiten), die durch eine ihrer beiden Seiten realisiert wird. Der Körper realisiert die Einheit von Körper und Geist. Im Spüren wird die Unterscheidung „aufgehoben“, wird die Grenze „aufgelöst“. Aber das bedeutet gerade nicht, dass die Unterscheidung gelöscht würde. Ohne die Grenze gäbe es auch nichts zu spüren. Die Grenze und mit ihr die Unterscheidungsseiten müssen „da“ sein, um ihre „Aufhebung“ erfahren zu können. In diesem Sinne ist Körperliches auch, aber eben nicht nur als Zeichen relevant. Das Körperliche bezeichnet selbst: im „Spüren“. Es entfaltet symbolische Kraft: es bezeichnet nicht nur die Einheit des Unterschiedenen, es bewirkt sie vielmehr. Der Preis für solch eine einheitsbildende Leistung ist die „Mystizierung“ in jeder
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Kommunikation, die auf die besagte Einheit referieren möchte. Der Körper spricht nicht und er zeigt auch nichts. Man muss das Spüren empnden, um zu verstehen – auch um zu verstehen, wovon die Rede ist, wenn die Einheit aufgerufen wird. Das Sprechen, das Fragen, das Beschreiben und erst recht das Erklären versagen, wenn vorgestellt werden soll, worauf es ankommt. Sie können – mit hohem Kommunikationsaufwand – nur ihre Leerstelle xieren, die durch die Sprache nicht erreicht werden kann, sondern ein Erleben anfordert, um „Verstehen“ zu ermöglichen. Die Nähe zu mystischen Figuren (und Formen der Initiation) stammt nicht von ungefähr. Das buddhistische „Satori“ (Erleuchtung) hat genau diese Struktur. Satori organisiert die Rede vom Ununterschiedenen, von der Abwesenheit allen Unterscheidens, von der Einheit und Ganzheit, die nicht das Wort „Satori“ ist und auch nicht sprachlich erklärt und kognitiv nachvollzogen werden kann (vgl. die Studie zum Zen-Buddhismus von Fuchs 1989). Man muss Satori erleben, um zu verstehen – verbunden mit dem Paradox, dass auch Satori selbst unterschieden werden müsste (von allem „Nicht-Satori“), um über solches Erleben kommunizieren zu können. Deshalb versagt die Kommunikation. Doch dieselbe Figur nden wir auch in säkulareren Feldern. Man muss boxen, um Boxen zu verstehen – mit dieser Feststellung begründet Wacquant (2003: 62) seinen vielseitigen Text „Die Welt des Boxsports versteht nur, wer persönlich in sie eintaucht.“, der um das Unbeschreibliche kreist, und der dem Autor wie dem Leser sagt, dass der Diskurs das Wesentliche verfehlt: „Diese Sinnlichkeit entgeht in noch größerem Maße dem Leser, der nur über das geschriebene Wort Zugang zum boxerischen Universum ndet. Denn allein durch den Übergang zur Schrift wird die zu vermittelnde Erfahrung unwiderruich transformiert.“ (2003: 73, Fußnote 28) Unser Punkt dabei ist, dass sich dieses Problem nicht nur der sozialwissenschaftlichen (oder irgendeiner anderen „analytisch“ interessierten) Beobachtung stellt, sondern im Phänomen selbst wirksam ist. Im Fall des Boxens und vieler anderer Sportarten verdichtet sich dieser Umstand in der Figur des Trainers. In Anwendung der Unterscheidungstheorie und im Vorgriff auf unsere eigene Empirie zum Bogenschießen sei vorgemerkt: Das Zusammenspiel von Körper und Zeichen wird durch den Trainer verkörpert. Daher lässt sich seine Funktion nicht in Diskurse auösen und nicht durch Texte ersetzen. Seine Worte sind es, die den Körper besprechen – eingebettet in eine immer schon ablaufende Körperkoordination und mit Effekten innerhalb dieser Körperkoordination. Die Trainerworte wirken im Gelingensfalle nicht als bloße Zeichen (die sie immer auch sind), sondern als Signale, die Körperprozesse transformieren, unter (fast) vollständiger Ausschaltung des sprachempfangenden, deutenden und verstehenden Bewusstseins. Nur so können Worte die Einheit von Körper und Geist vermitteln. Dazu an späterer Stelle mehr.
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Achim Brosziewski und Christoph Maeder Der Beitrag der Habitustheorie: Inkorporierung
Bekanntermaßen fungiert bei Bourdieu der Habitus als Schnittstelle zwischen Praxis und sozialer Ordnung (Bourdieu 1993: 97–121). Es geht also auch hier um eine Unterscheidung und das Problem ihrer Einheit, ihres „inneren“ Zusammenhangs. Die soziale Ordnung stellt die Existenzbedingungen des Lebens, die sich nicht rein kognitiv, sondern ebenso oder sogar primär der individuellen Sensorik und Motorik (inklusive Sprachsensorik und -motorik) im Zuge von Lebenserfahrungen „einschreiben“. Der Habitus befähigt zu Praktiken, die den Lebensvollzug mit der Reproduktion sozialer Beziehungen vereinen. In diesem Sinne ist der Habitus zugleich strukturierte wie strukturierende Struktur. Der Habitus ist inkorporierte, ist einverleibte Sozialität. Er fungiert präreexiv, vor jeder Zuschaltung des Bewusstseins und ist auch nur sehr bedingt einer bewussten Manipulation („Reexion“, „Strategiebildung“) zugänglich, denn der Habitus liefert jene Kategorien, mit denen das Bewusstsein überhaupt arbeiten kann. Somit unterliegt auch jeder Diskurs den Vorgaben des Habitus, die durch den Diskurs selbst nicht oder wiederum nur sehr eingeschränkt aufgelöst werden können. Man kann einen Habitus nicht lernen und nicht lehren, denn er bildet das sensomotorische Milieu, in dem Lernen und Lehren sich vollziehen und das seinerseits die fortlaufende soziale Reproduktion voraussetzt und mit vollzieht.1 Für die empirische Forschung folgt daraus, dass sie nicht nur über Befragungen und andere sprachzentrierte Erhebungsmethoden an die entscheidenden Elemente sozialer Prozesse und Ordnungen gelangt. Sie muss sich auch einlassen auf Praxen und Praktiken, in denen sich Nichtsprachliches und insbesondere Körperliches realisiert. Die bereits zitierte Boxer-Studie von Loïc Wacquant (2003) ist insofern mustergültig. Sie vereint sozialgeographisches und ethnographisches Arbeiten mit einer Art „Körperphänomenologie“, die der Autor (fast) wörtlich am eigenen Leib vollzieht: „Wie soll ich beschreiben, was ich empnde, wenn Butchs Faust auf mich zuschießt? Ich sehe eine gelbe iegende Untertasse, die mit schwindelerregender Geschwindigkeit größer wird, mir vollständig die Sicht raubt, und bumm! Ein stechendes Gefühl, ein paar Sterne, und die Sicht wird wieder klar. Die gelbe Untertasse ist auf dem Rückzug, es wird wieder hell. Aber bevor ich auch nur an die geringste Reaktion denken kann, ist die iegende Untertasse plötzlich wieder da und landet mir im Gesicht.“ (Wacquant, 2003: 79)
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Gerade für das Erziehungssystem, also für die geplante Einwirkung auf Kompetenzen und Einstellungen, zeigte Bourdieu die mittelschicht- und elitenreproduzierende Funktionsweise des Habitus auf.
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Soziologie kann sehr quälend und schmerzhaft sein – und muss sie diesem Verständnis nach auch sein. Doch wie gelangt man von Qual und Schmerz (und in ihrer Korrespondenz: von Rausch und Euphorie) zur Praxis, zur Reproduktion von Sozialstruktur? Dies kann dann doch wiederum nur durch Zeichen der Vermittlung geschehen, die mitbezeichnen, dass das Vermittelte nicht „in“ den Zeichen weilt. Wiederum kommt hierbei die Vermittlungsgur des Trainers zum Tragen, sowohl in seiner Funktion innerhalb der Praxis als auch als Auskunftgeber für den analyseinteressierten, noch zeichenbedürftigeren Beobachter: „Kann man einem Boxer vermitteln, wie er sich beim Training entspannen oder wie er atmen soll? – Hell no! Nein, das kann man ihm nicht vermitteln. Du kannst ihm sagen, was du willst, aber das klappt nicht.“ (2003: 81)
Der Habitus lässt sich nicht dreinreden. Entspannung und Atmung können nicht instruiert werden. Und doch sind auch sie nicht der Beobachtung entzogen, insbesondere nicht der kritischen Beobachtung des Trainers und aller Beobachter, deren Praxis und Milieu durch das Boxen jedes Boxers reproduziert wird. Inkorporation ist Exposition. Es muss also Zeichen geben, die solches Beobachten organisieren, und Unterscheidungen, die durch Bezeichnungen „unterhalten“ werden, auch wenn weder das Bezeichnete noch das Unterschiedene selbst diskursiv-textlich, sondern „rein körperlich“ strukturiert ist.2 Mit diesen theoretischen Vorbereitungen ist die Bresche geschlagen für einen Einsatz der ethnographischen Semantik, die zwar der linguistischen Tradition entstammt, aber in ihren Anwendungsformen gerade nicht auf Sprachlichkeit in ihrer Vollausprägung (geordnete Sätze, Darstellungs- und Argumentationsmuster) beschränkt ist. Sie kann sich sehr gut Sprachfragmenten zuwenden, die ihre Funktionen nichttextlich erfüllen.
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Der Beitrag der ethnographischen Semantik: Die Worte der Praxis
Die ethnographische Semantik ist ein Produkt jenes linguistischen Zweiges, der sich von der Annahme einer Repräsentation durch Sprache (von der Idee der „Abbildfunktion“) mehr und mehr emanzipiert hat. Die Sprache wird nicht als Hilfs- oder Ausdrucksmittel des Denkens aufgefasst. Sprache strukturiert das Denken und bedingt in diesem Sinne, was überhaupt denkbar werden kann. In der Form, die 2
An dieser Stelle setzen andere Ansätze gerne den Begriff des „Wissens“ ein und sprechen von „implizitem Wissen“ oder auch „verkörpertem Wissen“, das die Beobachtungen verschiedener Beobachter koordiniere. Der Begriff des Zeichens vermeidet die Last, eine besondere Form von Kognition annehmen zu müssen, die von der Kognition des Bewusstseins unterscheidbar wäre.
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wir der ethnographischen Semantik entnehmen (vgl. Maeder/Brosziewski 1997 und 2007), streichen wir jedoch die Annahme, dass die Struktur der Sprache mit den Strukturen des Denkens in der Weise einer Analogie gleichzusetzen wäre. Um die Produktivität der ethnographischen Semantik auszunutzen, reicht die viel eingeschränktere These, dass es um einen strukturierten Zusammenhang von Sprache und Wahrnehmung geht (was dann das Denken aus seinen Wahrnehmungen macht, ist eine zweite Frage, die eigener Analysen bedürfte). Der Zusammenhang wird durch den Umstand gesichert, dass die Sprachelemente selber wahrnehmbar sind. Worte werden gehört oder gesehen. Abermals haben wir es mit einer implikativen Unterscheidung zu tun: Sprache ist von Wahrnehmung zu unterscheiden, obwohl sie selbst wahrnehmbar ist. Sprache ist eine Sonderwahrnehmung. Inwieweit diese Sonderwahrnehmung steuernd oder gar kausal auf das Was und Wie der übrigen Wahrnehmung wirkt, ist eine nachfolgende Frage, die nicht voreilig entschieden werden sollte. Für unseren Kontext reicht die Feststellung aus, dass die Sprache über ihren Wahrnehmungsbezug auch an die Körperlichkeit angeschlossen ist, und dies nicht ausschließlich in ihren diskursiven, satzförmigen Mustern, sondern bereits in ihren Elementarformen einzelner, das heißt wahrnehmungsmäßig isolierbarer Worte und Sätze. Die Technik der Ethnosemantik baut auf solchen „Isolaten“ auf und forciert noch deren Isolation. Sie verfährt in ihren ersten Schritten nicht deutend, interpretativ oder hermeneutisch, sondern eher „mathematisch“ – wenn man unter Mathematik eine Technik versteht, die einzelne Elemente untereinander relationiert und alle weiteren Schritte als Modikation dieser Relationen vollzieht. Die Ethnosemantik sucht Worte, oder allgemeiner: signikante Zeichen, deren Signikanz sich daraus ergibt, dass diese Zeichen sich nicht aus dem Fundus allgemein selbstverständlicher Worte und Zeichen heraus verstehen. In diesem Sinne ist die Ethnosemantik (Sub-)Kulturforschung, wenn man die Grenzen von Kulturen dort vermutet, wo sich Signikationen nicht sofort verstehen und auch nicht umstandslos ineinander übersetzen lassen. Rückgreifend auf den Zusammenhang von Sprache und Wahrnehmung lässt sich sagen, die Ethnosemantik sucht jene Worte und Zeichen zu identizieren, die eine „andere“, eine besondere Wahrnehmung strukturieren. In einem zweiten Schritt geht es um die Relationierungen, um Nähen und Distanzen, um Konkretisierungen und Verallgemeinerungen, die zwischen den einzelnen Elementen auszumachen sind. „X ist eine Art von Y“, „X widerspricht Y“ wären Beispiele solcher Relationierungen. In einem dritten Schritt wird versucht, ein allgemeines Muster (manche sagen: ein „Prinzip“), eine abstraktere Struktur in den ermittelten Relationen auszumachen. Dieses Muster wird als „kulturelles Thema“ bezeichnet. Damit erst wird die Ebene der Kommunikation und des Diskursiven erklommen.
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Allerdings ist hier eine besondere Vorsicht in der Zurechnung geboten. Die „Thematizität“ des kulturellen Themas ist eine durch die zuvor angewandten Verfahren hergestellte Ordnung, also eine Thematizität der Beschreibung, nicht eine solche der Praxis selbst. Die Annahme bleibt, dass die Ermittlung und Kenntnis eines kulturellen Themas den Beobachtungen im Feld zur Organisation von Redundanzen und somit zu mehr Kohärenz verhilft und stärkere Generalisierungen erlaubt. Man kann das Thema jedoch nicht als solches seinen Informanten vorlegen und ihnen verbale Stellungnahmen abverlangen, es also nicht, oder wenn, dann nur mittels ganz besonderer Vorkehrungen als kommunikative Struktur seiner Feldkontakte verwenden. In unserer folgenden ethnosemantischen Vignette werden wir „Spannung“ als ein derartiges kulturelles Thema entwickeln und vorstellen.
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Die Kunst des Bogenschießens: Auf dem Weg zur perfekten Spannung
Wer zum ersten Mal einen richtigen Bogen3 in die Hand nimmt, einen Pfeil anlegt und versucht, ein 60 cm großes Scheibenziel in etwa fünf bis sechs Metern Distanz zu treffen, wird von der Vielzahl von Sinneseindrücken und Körperempndungen und dem ziemlich sicher unerwartet ungenügenden Resultat überrascht sein. Was auf den ersten Blick als ein einfaches Vorhaben einer prinzipiell einleuchtenden Körperbewegung mit einem trivialen Gerät erscheint, scheitert in der praktischen Realisierung kläglich am ungeschulten Körper. Auch dann, wenn man physisch t ist und physikalisch perfekt versteht, worum es hier gehen soll. Diesen noch rohen Körper gilt es in vielerlei Hinsicht (motorisch, mental, kognitiv, emotional) durch lange Übung mit der Gerätschaft des Bogens und seiner ihm eigenen Mechanik zu verschmelzen. Erst dann liegen weitere Distanzen und vorhersehbare Ergebnisse in Reichweite. Das Material spielt beim Bogenschießen, wie in allen heutigen Sportarten, eine wichtige Rolle. Es gibt den endlosen kommunikativen Stoff ab, aus dem sich 3 Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen einfachen Langbogen aus Holz, einen modernen Recurve-Sportbogen, oder einen mit Übersetzungen versehenen High-Tech Compound-Bogen handelt. Mit dem Attribut „richtig“ meinen wir hier einfach einen Bogen, wie er in Clubmeisterschaften oder anderen Wettschießen über die Distanzen 18 m (Indoor), 30 m, 50 m und 70 m (Freiluft) verwendet wird. Wir selber schießen sogenannte Recurve-Bogen. Das sind Bogen mit einem Mittelteil aus Aluminium als Handgriff, in den die Wurfarme eingesteckt werden. Dieser Bogentyp wird als einziger bei den olympischen Spielen eingesetzt und gilt als Prototyp des Sportbogens. Compound-Bogen sind eigentlich eher Jagdwaffen und die Langbogen stellen eine historische Entwicklungsstufe des Bogens dar. Langbogen wurden insbesondere durch ihren Einsatz als Kriegswaffen der Engländer berühmt, die damit in der Schlacht von Azincourt ein Ritterheer des französischen Adels besiegt, d. h. niedergeschossen haben (vgl. Cromwell 2008). Schießtechnisch gesehen werden aber alle Bögen bis auf wenige Details gleich bedient, d. h. die Grundgur der Bewegung ist dieselbe.
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die posttraditionale Gemeinschaft in ihren subkulturellen Nischen (vgl. Hitzler/ Honer/Pfadenhauer 2009) bildet: Es dient der Selbststilisierung entlang der vom Feld angebotenen Bogentypen; es differenziert „angefressene Fans“ von „einfachen Sportschützen“; es indiziert die Unterscheidung von eher naturbezogenen OutdoorSchützen mit Langbogen versus die High-Tech-Fans mit ihren Compound-Bogen und es verweist durchaus auf soziale Milieus wie z. B. Jäger, Wettkampfschützen, Zen-Orientierte oder einfache Sportler. Neue Pfeilspitzen oder -beederungen und -halterungen, verschiedene Materialen für Pfeile wie Aluminium, Carbon oder Holz, unterschiedliche Visiere mit vielfältigen Einstellmöglichkeiten, Wurfarme aus neuesten Materialien der Raumforschung, Stabilisatoren aus einem Guss oder mit zusammengesetzten Rohren, Tabs aus Leder oder Kunststoff, neue Armschütze, Mittelstücke aus Aluminium oder Carbon, magnetische oder einfache Pfeilauagen, unterschiedliche Sehnendicken und anderes mehr bilden eine endlose Quelle für Besprechungen und Einschätzungen unter den Bogenschützen. Die Kataloge der einschlägigen Geschäfte sind umfassend, entsprechend dick und die technologische Entwicklung ist, trotz der prinzipiell archaischen Grundstruktur des Bogens und seines kulturgeschichtlich beachtlichen Alters, noch keinesfalls abgeschlossen. Die grundlegende Anordnung des Körperschemas ist am Anfang einfach: Füße parallel und im rechten Winkel zum Ziel, Kopf gedreht und Blick in Zielrichtung, Bogen in Bogenhand, Zughand mit „Tab“ (= Fingerschutz) bei eingelegtem Pfeil an Bogensehne. Erst in den daran anschließenden Bewegungssequenzen wird die Sache anspruchsvoll und – wie alle, die diesen Weg gegangen sind, wissen – für längere Zeit intransparent im Hinblick auf das Erkennenkönnen, weshalb der Pfeil wo stecken wird. Denn nun gilt es, den Bogen hochzuheben, den Blick durch das Visier in Zielnähe zu bringen, die Sehne mit horizontal gehaltenem Zugarm nach hinten zu ziehen, die Bogenhand im Spannungsaufbau vom Griff zu lösen und den Auszug am Kiefer mit der Oberkante des Tabs zu verankern. Jetzt herrscht im wahren Wortsinn Höchstspannung und die, je nach Bogen 28 Pfund oder mehr, Kraft der Wurfarme ießt direkt in den Körper hinein. Noch muss die Spannung für einige Sekunden gehalten werden, denn erst jetzt beginnt – immer noch ein wenig an der Sehne ziehend – die präzise Ausrichtung des Visiers auf den gelben Kreis in der Mitte der FITA-Scheibe.4 Wenn dann das Visier korrekt ausgerichtet ist und wie es heißt „im Gold steht“, dann müssen die Finger der Schusshand durch Strecken gelöst werden und die Sehne schnellt mit einem Zischen nach vorne und beschleunigt den Pfeil in Sekundenbruchteilen auf über 200 km/h. Der Pfeil bohrt sich bei der im Hallenschießen üblichen Distanz von 18 m nach weniger als einer Sekunde mit einem dumpfen Aufschlag in die Scheibe. Erst nach dem Einschlag
4 FITA steht für die Fédération Internationale de Tir à l’Arc, welche Zielscheibenart und -größe, Schussdistanzen usw. reguliert.
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darf die Bogenhand, in deren Fingerschnur in Folge der Entladung der Spannung sich der Bogen senkt, gelöst, d. h. gesenkt werden. Jetzt kommt, bis zum Aufbau des nächsten Schusses, Entspannung in den Körper.5 Die für einen praktischen Nachvollzug immer ungenügend bleibende Beschreibung zeigt, dass sich der Schuss aus verschiedenen Sequenzen ineinander ießender Bewegungen und punktuellen Stillständen und den Übergängen dazwischen zusammensetzt, die im Bild der Bogenschützen mit den Begriffen der „Körperspannung“ oder der „Spannung“, manchmal auch der „Haltung“ benannt werden. Diese prinzipielle Schwierigkeit der Beschreibung wird in der Praxis durch ein Lernen am Modell und durch dauernde Kommunikation bewältigt. Ein erfahrener Schütze führt einen Schuss aus und kommentiert dazu, was er gerade tut, der Novize schaut zu und versucht den ebenfalls beobachteten mehrmaligen und oft sprachlich korrigierten Nachvollzug. Dadurch können die Grundguren und -abläufe in einer groben Form schnell erkannt und eingeübt werden. Allerdings ist diese Lernform grundsätzlich begrenzt, denn jeder beschreibt nur das, was er im Moment gerade an sich selber erkennt, und manche, insbesondere komplexe Formen des Zusammenspiels und der Gleichzeitigkeit von Abläufen, kann man nicht in einem einzigen Handlungsablauf beschreiben. Aber nur wer durch lange Übung und Repetition eine gute Körperspannung und eine „saubere Haltung“ aufbaut, wird mit seinen Pfeilen regelmäßig und sicher die inneren Ringe der Zielscheibe erreichen. Die Beschreibung verweist auf ein komplexes Zusammenspiel von Ziel, Gerätschaft und Körperbeherrschung, in dem der Körper die zentrale Schalt- und Schnittstelle darstellt. Erfahrene Bogenschützen sehen auf einen Blick, ob jemand eine „saubere Haltung“ hat. Sie können auch ohne weiteres punktuelle Probleme, wie z. B. die zu früh gesenkte Schusshand oder das „unsaubere Lösen“ des Pfeils benennen, was einem vorübergehend durchaus helfen kann, die Pfeile besser anzusetzen und loszulassen. Doch der Körper in seiner Bewegung selber wird immer nur an seinen punktuell zu sehenden Fehlstellungen thematisiert und ist als Ganzes nur diffus mit der „Spannung“ oder der „Haltung“ zu fassen. Wenn der Körper besprochen wird, dann lässt er sich eben nicht als Entität in seiner Verbindung von Technik und verkörperter Kompetenz fassen, obwohl erst die Gesamtheit aller richtig ausgeführten Bewegungen und Aufmerksamkeiten in ihrem Zusammenspiel mit den Gerätschaften als einem Bewegungsprogramm eine „saubere Haltung“ abgeben. Einer solchen Haltung kann sich der Bogenschütze nur durch nie endendes Üben annähern. Er kann sich auch nie sicher sein, dass einmal Erreichtes bestehen bleibt. Es gibt zwar hilfreiche Worte, die immer wieder 5
Einen guten Ein- und Überblick in Technik, Material und Anwendung für das hier von uns beschriebene Schießen mit einem Recurve-Bogen gibt das Buch „Reference guide for Recurve archers“ (2002). Die jeweils neueste Fassung kann im Internet unter http://www.archersreference.pwp.blueyonder. co.uk gefunden werden.
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Ausschnitte des Programms adressieren: „Schulterspannung aufbauen“, „Einatmen beim Spannungsaufbau“, „den Anker immer an derselben Stelle setzen“, „das Korn des Visiers im Gold bewegen“, „Lösen, aber nicht daran denken“, „die Fußstellung stabil halten“ und so weiter und so fort. Das Attribut, dass all diese Verweise eint, ist die Gleichförmigkeit. Je gleichförmiger die endlos repetierten und verketteten Bewegungen sind, desto vorhersehbarer werden die Ergebnisse. Dies bedeutet nun aber noch nicht, dass alle Pfeile ins Gold gehen. Vielmehr lässt sich so nur die erste Stufe im Prozess des verkörperten Lernens erreichen: Die Pfeile liegen auf der Scheibe eng beieinander. Oder in der Sprache der Schützen: sie bilden „eine schöne Gruppe.“ Diese gilt es nun in weiteren Trainingsrunden ins Zentrum zu verschieben.
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Die Vignette und die Theorie
Das umfangreichste Zeichenarsenal der Kunst des Bogenschießens ist zweifelsohne nichtsprachlicher Form. Es sind vornehmlich die Gerätschaften: der Bogen mit all seinen Einzelteilen, die Pfeile und das Ziel, die die Praktiken bezeichnen und die Gegenstände der Kommunikation ausmachen. Der Körper erscheint hier als „Integral“, das sich einfügt in die Bewegungsprogramme, die durch die Gerätschaften, durch das Heideggersche „Zeug“, vorgegeben sind und durch Üben, Üben, Üben dem Körper eingeschrieben werden müssen. Der Körper wird durch dieses Zeichenarsenal selbst als maschinenhaft beschrieben, als zerlegbares und zusammensetzbares Programm der Bewegungsausführung. Dazu gibt es viel zu sagen, innerhalb der Szene, innerhalb ihrer Didaktiken und auch in jeder ethnographischen Beschreibung. Doch all diese Rede ndet den Punkt nicht, auf den es ankommt. Die Rede kreist um das unbeschreibliche „Mehr“, das sich jeder Analyse und Synthese entzieht. Wir sagten eingangs, alles Beobachten verdanke sich Bezeichnungen und Unterscheidungen. Von den Bezeichnungen wissen wir nun einiges, nach den Unterscheidungen ist zu fragen. Für den Kenner und mehr noch für den Trainer sind die Bewegungen zu unterscheiden von der Spannung. Sie ist es, auf die es „letztlich“ immer ankommt und an der man zu arbeiten hat, selbst wenn das Bewegungsprogramm „perfekt“ ausgeführt wird und der Pfeil im Gold steckt. Ein Könner kann nie zufrieden sein. Erst wenn der Pfeil sein Ziel erreicht hat, oder eigentlich noch etwas später, darf sich die Spannung lösen und der Bogen herabsinken; aber nur, um sich für den nächsten Schuss bereit zu machen. Doch wie kann man Bewegung und Spannung denn überhaupt unterscheiden? Kann das der Körper für sich allein, Körper hier verstanden als das Aggregat zahlloser Muskelzustände und Nervenimpulse, die irgendwo im Gehirn „verrechnet“ werden? Die Unterscheidung der Bewegung von der Spannung ist die Aufgabe des Bewusstseins.
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Das Körperliche erscheint dem Bewusstsein als „Spüren“ – und genau darauf hat es sich zu konzentrieren. Es darf sich nicht durch Zeichen anderer Art ablenken lassen – bis auf die im Wortsinne kleine Ausnahme des gelben Flecks in 18, 30, 50 oder 70 Meter Entfernung. Der beobachtende Trainer wiederum kann das Spüren nicht sehen. Er muss es mit Hilfe einer weiteren Differenz erschließen, mit der Differenz von Spannung und Haltung. Aus der sichtbaren Haltung spürt er die unsichtbare Spannung heraus – eine Transformation der mimetischen Art. Er kann, mittels Worten, zu Korrekturen aufrufen, also sein Körpergefühl, seine Körpererinnerung aus zig-tausend Schüssen, in die Haltung des Adepten hineinlesen – ohne dass diese Be-Sprechungen das prekäre Bewegungsarrangement, vor allem nicht dessen Rhythmus, stören dürfen. Die Einheit all dieser Unterscheidungen und das Glücken der „physio-sozial-psychologischen Konguration“ (Mauss) realisiert sich im Auslösen des Schusses. An das Lösen darf man, sagen die Könner, gerade nicht denken. Man muss das Lösen einfach geschehen lassen. Die Worte halten die Imagination des Körpermöglichen in (unsichtbarer) Spannung und (sichtbarer) Haltung aufrecht, und sie rufen dem Übenden seine erlahmende Aufmerksamkeit in Erinnerung, wenn seine Konzentration nachzulassen droht. Die Perfektion in Bewegung, Spannung und Haltung lässt die Kommunikation verstummen. Wenn Sehen, Spüren und Lösen eins sind, wenn alle Beobachtungen konvergieren, lässt sich nichts mehr sagen. Die Einheit erzeugt Genuss und Bewunderung. Allerdings sind solche Momente angesichts der vielen Fehlermöglichkeiten eher selten und es kann, je nach Tagesstimmung oder -form, sehr erfüllend oder frustrierend sein, an der Verschmelzung von Programm, Technik und Körper zu arbeiten. Über die Fehler ließe sich weiter (und viel) schreiben. Die Perfektion hingegen ist einfach nicht zu Papier zu bringen. Was nun können wir unserer kleinen, sicherlich hochgradig ausarbeitungsfähigen ethnosemantischen Vignette zum Bogenschießen für das Verhältnis von Körper, Zeichen und Lernen entnehmen? Soziologisch formuliert stehen wir an der Stelle, an der semiotisch verfasste Wissenselemente mit einer Handlungspraxis verschmolzen und im Sinne eines Habitus inkorporiert werden. Die von uns hier skizzierte Verbindung dreier Ansätze (Habitus- und Systemtheorie, Ethnosemantik) zur Beobachtung von Körper-Zeichen-Verhältnissen kann unseres Erachten genutzt werden, um auch Kontexte, in denen fraglos die Zeichen dominieren – wie im Schulunterricht, in interkulturellen Begegnungen, in Praktiken der Ungleichheitsdistinktion – im Hinblick auf deren Körperlichkeit zu untersuchen, ohne dabei auf vorsemiotische Erkenntnispositionen zurückzufallen. Mit diesem Programm versprechen wir uns nichts weniger als eine soziologisch begründete und empirisch realisierbare Theorie des Lernens.
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Kritik des „linguistic turn“ in der soziologischen Theoriebildung Eine kleine – etwas verspätete – Anfrage1 Jürgen Gerhards
Ronald Hitzler ist seit einigen Jahren der Vorsitzende der Sektion „Wissenssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Bis zum Jahr 2000 hieß die Sektion Sprachsoziologie; sie war Ende der siebziger Jahre von Hans-Georg Soeffner, Thomas Luckmann und Richard Grathoff gegründet worden. Unter Hitzlers aktiver Mitarbeit wurde die Sektion in „Wissenssoziologie“ umbenannt. Die Namensänderung war und ist eine konsequente Schlussfolgerung der inhaltlichen Veränderungen, die unter dem Dach der Sektion stattgefunden hatten. Die Sprachsoziologie wurde mit Beginn der 70er Jahre zunehmend in eine allgemeine Gesellschaftstheorie transformiert und zum Teil mit dieser identisch. Dieser „linguistic turn“ hat nicht nur innerhalb des hermeneutischen Paradigmas stattgefunden, sondern auch in anderen Soziologien und ist eingebettet in einen allgemeinen Trend einer kommunikativen Wende der Soziologie. Das Kernargument, Sprachsoziologie als allgemeine Gesellschaftstheorie zu begreifen und damit im Kern die Sprachsoziologie als eine Bindestrichsoziologie aufzulösen, lautet in den verschiedenen Theorieschulen ganz ähnlich: Interaktion bzw. Kommunikation ist der Grundbegriff der Soziologie. Kommunikation ist aber weitgehend sprachliche Kommunikation. Insofern ist jede Soziologie, die sprachliche Kommunikation untersucht, immer schon allgemeine Soziologie. So unterschiedliche Theorien wie die Luhmannsche Systemtheorie, die Habermas’sche Theorie des kommunikativen Handelns oder Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns Theorie der Strukturen der Lebenswelt haben alle ein kommunikations- und in 1
Die lange Freundschaft mit Ronald Hitzler geht auf die gemeinsame Assistentenzeit am Institut für Soziologie der Universität Köln zurück. Eine der ersten wissenschaftlichen Aufsätze, die ich damals zusammen mit Ronald Hitzler intensiv diskutiert habe, hatte einen ähnlichen Titel („Kleine Anfrage an eine Soziologie der Kultur“, Gerhards 1989) wie der Untertitel dieses Beitrags. Ähnlich wie damals ist auch der jetzige Aufsatz u. a. bezogen auf Entwicklungen der hermeneutisch orientierten Soziologie, in deren Fahrwasser die Hitzlersche Soziologie zu verorten ist und die er selbst institutionell und programmatisch mitgestaltet hat. Und ähnlich wie damals unterscheiden wir uns in den methodologischen Prämissen Soziologie zu betreiben, auch wenn die Gegenstände der Analyse und die Fragestellung manchmal identisch sind. Die Freundschaft hat unter den grundsätzlichen Differenzen nicht gelitten, sondern sie eher stimuliert.
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der Regel sprachsoziologisches Fundament. Sie sind in ihrem Selbstverständnis allgemeine soziologische und sprachsoziologische Theorien zugleich. Wenn aber (fast) alles Soziale zugleich sprachliche Kommunikation ist, benötigt man, so die Schlussfolgerung, keine spezische Sprachsoziologie. Mit dieser Argumentation wurde die Sprachsoziologie ins Allgemeine und damit ins Unverbindliche transformiert. Dies manifestiert sich u.a. auch darin, dass die für das Gelingen von jeder Interaktion so wichtige Tatsache, dass es verschiedene Sprachen gibt, in den einschlägigen Theorien keine oder kaum Berücksichtigung ndet. Meist ist von Sprache und Kommunikation im recht allgemeinen Sinne die Rede unter Vernachlässigung der Tatsache, dass es mehrere, im Moment ca. 4.000 bis 5.000 unterschiedliche Sprachen gibt, die von den Menschen auf der Erde gesprochen werden. Die Existenz mehrerer Sprachen hat aber unmittelbare Folgen für die Chancen der Interaktion, der Interaktionsverdichtung, die Chancen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung insgesamt. Weder werden in den allgemeinen sprachsoziologischen Abhandlungen die Folgen der Existenz unterschiedlicher Sprachen für die Vergesellschaftung hinreichend bedacht, noch wird die Frage in Angriff genommen, in welchem Maße die Menge der existierenden Sprachen, die Dominanz bestimmter Sprachen oder die Veränderungen der Dominanzverhältnisse zwischen verschiedenen Sprachen von der Gesellschaftsordnung abhängig sind. Die Tatsache, dass z. B. ein Bürger eines englischsprachigen Landes ganz andere Kommunikationsmöglichkeiten hat als ein Bürger aus Lettland, ist ja nicht zufällig, sondern das Resultat eines historischen Prozesses, in dessen Verlauf englischsprachige Imperien eine hegemoniale Stellung erreicht haben und Lettland eben nicht. Ich werde im Folgenden die Entwicklungen der Transformation der Sprachsoziologie in eine allgemeine Soziologie skizzieren, um dann kurz auf die dadurch bedingten Blindstellen einer konturlos gewordenen Sprachsoziologie hinzuweisen.
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Die kommunikations- und sprachsoziologische Fundierung verschiedener Gesellschaftstheorien
Die Diskussion der kommunikationswissenschaftlichen Fundierung von drei Groß-, bzw. Metatheorien (Alexander 1987) steht im Zentrum der folgenden Überlegungen: die der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas, die der Systemtheorie von Niklas Luhmann und die kommunikationstheoretische Fundierung der verstehenden Soziologie, wie sie von Alfred Schütz, Thomas Luckmann und Peter L. Berger formuliert wurde und in deren Traditionslinie auch die Hitzlerschen Arbeiten stehen.
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1.1 Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns Die Habermas’sche Theorie des kommunikativen Handelns bezieht ihre Fundierung aus der universalpragmatischen Philosophie einerseits und der Sprechakttheorie andererseits (zum folgenden Habermas 1981). Ausgangspunkt der Habermas’schen Gesellschaftstheorie ist die Bestimmung eines geeigneten Handlungsbegriffs. Er unterscheidet bekanntlich zwischen instrumentellem Handeln einerseits, das nicht auf andere Menschen bezogen ist, und dem sozialen Handeln, das an anderen Interaktionspartnern orientiert ist, andererseits. Soziales Handeln, selbst wieder unterteilt in strategisches und kommunikatives Handeln, zielt ab auf die Handlungskoordination zwischen mindestens zwei Interaktionspartnern. Es ist sprachlich vermittelt und verläuft regelorientiert. Zur Rekonstruktion des sprachlich vermittelten sozialen Handelns und seiner Regeln nimmt Habermas Bezug auf die Sprechakttheorie von John Searle (Searle 1969). Sprechakte sind die Grundelemente der sprachlichen Kommunikation. Mit den Sprechakten sind wiederum Geltungsansprüche der Kommunikation verbunden. Immer, wenn Menschen miteinander interagieren, tun sie dies auf der Basis der Unterstellung von Geltungsansprüchen. Habermas unterscheidet bekanntlich vier solcher Geltungsansprüche: den Anspruch auf Verständlichkeit, auf Wahrhaftigkeit, auf Wahrheit und auf Richtigkeit. Verständlichkeit ist die Basisvoraussetzung für jede gelingende Kommunikation; erst wenn sie gewährleistet ist, können die anderen Geltungsansprüche eingelöst werden. Der Geltungsanspruch der Verständlichkeit meint, dass Hörer und Sprecher sprachlich kompetent sein müssen, um die vom jeweilig Anderen benutzen Zeichen zu verstehen. Wahrhaftigkeit des Sprechers bedeutet, dass die Interaktionspartner wechselseitig davon ausgehen, dass der andere zu seinem Wort steht, dass Gesagtes und Gemeintes übereinstimmen. Weiterhin unterstellen sich die Sprecher, dass die Aussagen, die sie tätigen, auch wahre Aussagen sind. Wenn jemand sagt, dass es draußen regnet, dann unterstellt das Gegenüber, dass der propositionale Gehalt der Aussage – nämlich, dass es regnet – wahr ist. Schließlich unterstellen sich die Kommunikationspartner die Richtigkeit der Normen, denen sie folgen, so dass sie diese im Ernstfall auch rechtfertigen können. Wenn sich jemand z. B. für die Einführung der Todesstrafe ausspricht, dann unterstellt man, dass er dafür gute Gründe anführen kann. In der alltäglichen Kommunikation gibt es häug Nachfragen nach den unterstellten Geltungsansprüchen, die meist schnell geklärt werden können. Studierende fragen im Seminar, was Pierre Bourdieu denn unter „Habitus“ versteht; man erläutert dies und wird damit dem Anspruch nach Verständlichkeit gerecht. Die Mutter hat Zweifel, ob das Kind wirklich die Hausaufgaben gemacht hat und befragt die Wahrhaftigkeit des Kindes, das behauptet, es hätte die Hausaufgaben gemacht. Die Person, die sich für die Todesstrafe ausspricht, wird sich wahrscheinlich Nachfragen gefallen lassen müssen und dann mit Argumenten
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zu begründen versuchen, warum sie die Todesstrafe als ein legitimes Mittel des Strafrechts ansieht. Schließlich wird man auch die Aussage, dass es regnet, in Zweifel ziehen können, indem man darauf verweist, dass der Wetterbericht doch Sonnenschein angekündigt habe. Manchmal sind aber die Nachfragen nach den Geltungsansprüchen durch schnelle Korrekturen nicht ausreichend zu befriedigen. Die Interaktionspartner unterbrechen dann die Interaktion und wechseln in einen anderen Modus der Kommunikation, in den der Metakommunikation, den Habermas als Diskurs bezeichnet. Wenn Akteure in den Diskurs einsteigen, um problematische Geltungsansprüche zu klären, dann stellt sich die Frage, auf welcher Basis man entscheiden kann, ob Geltungsansprüche richtig oder falsch sind. Habermas geht davon aus, dass jedem Diskurs wiederum eine Unterstellung zugrunde liegt, nämlich die einer idealen Sprechsituation. Wir unterstellen (idealerweise), dass in dem Diskurs a) nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments gilt, d. h. Macht und Zwang ausgeschlossen sind, b) jeder das Recht hat, alle Sprechakte zu benutzen und c) dass man sich auf die besten Argumente einigen wird und diese sich dann durchsetzen, so dass am Ende des Diskurses ein argumentativ gestützter Konsens stehen wird. Diese komplexe, zugleich stringent und elaboriert ausgearbeitete Theorie der Kommunikation und der Metakommunikation basiert ganz fundamental auf dem ersten Geltungsanspruch: dass sich die Kommunikationspartner überhaupt verstehen können. Die Bedingungen für Verständlichkeit werden aber von Habermas an keiner Stelle diskutiert. Verständlichkeit hängt ganz entscheidend von der Frage ab, ob die Kommunikationspartner dieselbe Sprache sprechen. Dies wiederum wird von Habermas einfach vorausgesetzt oder als so selbstverständlich interpretiert, dass er dieser Frage keine Aufmerksamkeit schenkt. Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, die dieselbe Sprache spricht, ist aber alles andere als selbstverständlich. Die Grenzen von Sprachgemeinschaften sind gesellschaftlich denierte Grenzen. Die gesellschaftlich denierten Sprachgemeinschaften begrenzen umgekehrt den Möglichkeitsraum, innerhalb dessen Interaktionen, Interaktionsverdichtungen, Lebenswelten und damit Gesellschaften entstehen können. Dies gilt nicht nur für Interaktionen, in denen alle Geltungsansprüche als richtig unterstellt werden, sondern natürlich auch für die Möglichkeit diskursiver Kommunikation: Das Aushandeln von Geltungsansprüchen im theoretischen und praktischen Diskurs setzt voraus, dass die Akteure sich wechselseitig verstehen, und dies ist wiederum an die Bedingung geknüpft, dass sie dieselbe Sprache sprechen. Das Sprechen ein und derselben Sprache ist natürlich keine hinreichende Voraussetzung für das Gelingen von Diskursen, es ist aber eine unabdingbare, notwendige Voraussetzung dafür, dass Diskurse überhaupt zu Stande kommen können. Diese grundbegrifiche Blindheit gegenüber der Tatsache, dass die Menschen sehr unterschiedliche Sprachen sprechen und dass die Sprachkonstellation der
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Erde selbst wiederum durch die gesellschaftliche Institutionenordnung geprägt ist, spiegelt sich auch in der makrosoziologischen Applikation der Grundbegriffe, vor allem in der Habermas’schen Öffentlichkeitssoziologie. Dem Bereich der Öffentlichkeit widmet Habermas seit seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) immer eine besondere Aufmerksamkeit und dies aus theorieimmanenten, guten Gründen. Wenn der Diskurs der Bereich ist, in dem die Menschen die zentralen Regeln ihres Zusammenlebens in einer Gesellschaft aushandeln, dann kommt der Institutionalisierung von Diskursen in Form der Öffentlichkeit eine zentrale Funktion in der Selbstbestimmung von Gesellschaften zu. Die Teilhabe an Öffentlichkeit, an öffentlichen Debatten über politische Optionen und damit an einem demokratischen Gemeinwesen setzt voraus, dass sich die Interaktionspartner miteinander verständigen können. Die Verständigungsmöglichkeit ist aber in hohem Maße an die Kompetenz, die gleiche Sprache zu sprechen, gebunden. Wie sonst soll man Argumente z. B. zur Frage, ob der Klimaschutz höchste politische Priorität genießen soll, Atomkraftwerk abgeschaltet werden sollen oder eine militärische Intervention in Afghanistan sinnvoll ist, miteinander austauschen können, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht? Die Grenzen von Öffentlichkeit sind entsprechend weitgehend durch die institutionell denierten Sprachgemeinschaftsgrenzen deniert. Genau diese bleibt in dem Habermas’schen Konzept von Öffentlichkeit unterbelichtet. Dass die Entstehung von Öffentlichkeit, sei es historisch in Form der nationalen Öffentlichkeiten, sei es im Hinblick auf die Gegenwart in Form einer europäischen, transnationalen oder sogar globalen Öffentlichkeit an die Grundvoraussetzung, dass man ein und dieselbe Sprache spricht, gebunden ist, wird von ihm nicht thematisiert. Damit bleiben aber auch Vorstellungen von Öffentlichkeiten, die jenseits der ja meist sprachlich homogen verfassten Nationalgesellschafen gelagert sind, weitgehend illusorisch.
1.2 Niklas Luhmanns Systemtheorie Auch der fast zeitgleich zur Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns entwickelte Gegenentwurf zu einer Theorie der Gesellschaft, die Systemtheorie von Niklas Luhmann, hat eine kommunikationswissenschaftliche Fundierung. Gegenstand der Soziologie ist bekanntlich die Analyse sozialer Systeme. Kommunikation ist das Letztelement oder die spezische Operation von sozialen Systemen und damit der Grundbegriff einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie (zum Folgenden Luhmann 1984). Individuen bzw. psychische Systeme bilden die Umwelt von sozialen Systemen. Sie operieren auf der Basis von Gedanken und Bewusstsein und nicht auf der Basis von Kommunikation. Kommunikation liegt gleichsam außerhalb der Individuen. Kommunikation selbst besteht wiederum
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aus drei verschiedenen Elementen: einer Information, einer Mitteilung und dem Verstehen. Eine Kommunikation hat stattgefunden, wenn Alter versteht, dass Ego eine Information mitgeteilt hat. Verstehen bedeutet in der Luhmannschen Begriffsführung nicht das psychische Verstehen einer Person, sondern dass der Kommunikationspartner zur Fortsetzung der Kommunikation motiviert wird. Alter kann den Kommunikationsvorschlag von Ego annehmen oder ablehnen. An diesem Punkt spricht Luhmann bereits von Anschlusskommunikation. Wenn ich z. B. in einer Einführungsvorlesung sage, dass bei der letzten Klausur im Kontext einer Einführungsvorlesung 30 % der Studierenden die Klausur nicht bestanden haben, die Studierenden die Information „30 % der Studierenden sind durch die letzte Klausur durchgefallen“ als die Mitteilung, der Dozent will uns warnen und zugleich motivieren, mehr zur Vorbereitung der Klausur zu tun, verstehen, dann ist dies eine Kommunikation, weil die Studierenden den Unterschied zwischen Information und Mitteilung verstanden haben. Der Verstehensprozess bildet dann die Voraussetzung für weitere Kommunikationen, indem z. B. die Studierenden behaupten, das Anforderungsniveau in den Klausuren sei zu hoch, oder darum bitten, dass ich den klausurrelevanten Stoff mehr eingrenzen möge. Das gegebene Beispiel bezieht sich bereits auf eine besondere Form der Kommunikation, nämlich auf sprachliche Kommunikation. Luhmann unterscheidet verschiedene Formen der Kommunikation, die evolutionär nacheinander entstanden und entsprechend unterschiedlich leistungsfähig sind. Die einfachste Art der Kommunikation ist die Wahrnehmung. Die Frau am Tisch in einer Kneipe nimmt wahr, dass der Mann an der Theke sie anschaut. Sie kann die Information (Blick des Mannes) als Anmache (Mitteilung) interpretieren und damit verstehen. Das Beispiel verdeutlicht aber, dass die Wahrnehmung häug eine uneindeutige Form der Kommunikation ist. Der Blick des Mannes mag eher zufällig die Augen der Frau am Tisch berührt haben, die Mitteilung „Anmache“ war nicht die intendierte Mitteilung. Zudem ist die Kommunikation via Wahrnehmung auf die Anwesenheit der Kommunikationspartner angewiesen. Im Vergleich zur Wahrnehmung ist die sprachliche Kommunikation durch spezische Merkmale gekennzeichnet, die sie besonders leistungsfähig macht. Sprache ist ein Medium der Kommunikation, das im Vergleich zur Wahrnehmung eindeutiger ist und zudem mit einer Fülle anderer evolutionärer Vorteile verbunden ist. So ist der Satz des Manns an der Theke „Darf ich Sie auf einen Drink einladen“ in seinem Informationsgehalt und in seiner Mitteilung eindeutiger als der Blick. Zur genaueren Beschreibung von Sprache greift Luhmann auf die Unterscheidung der recht abstrakten Begriffe Form und Medium zurück. Ein Medium ist durch eine lose Kopplung zwischen verschiedenen Elementen gekennzeichnet, während eine Form die verschiedenen Elemente miteinander verknüpft und verdichtet. Luhmann erläutert diesen Unterschied am Beispiel von Luft und
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elektromagnetischen Wellen, die jeweils Medien darstellen. Sie sind als solche lautlos bzw. unsichtbar. Gesprochene Laute oder wahrgenommene Gegenstände geben dem jeweiligen Medium (Luft und Wellen) eine Form. „Man sieht nicht das Licht, sondern die Dinge, und wenn man Licht sieht, dann an der Form der Dinge. Man hört nicht die Luft, sondern Geräusche …“ (Luhmann 1997: 201). Was nun Form und was Medium ist, ist relativ. Nichts ist an sich Form oder Medium. Mit Hilfe der Begriffe Form und Medium beschreibt Luhmann nun auch die Sprache (zu Luhmanns Sprachbegriff vgl. Srubar 2005). Die mündliche Sprache besteht zuerst einmal aus Lauten. Von den Lauten ist der Sinn der Laute zu trennen. Der Laut bestimmt, welches der Sinn ist, der mit dem Laut verbunden ist. Insofern kann man sagen, dass die Laute das Medium sind und der Sinn die Form. „Sprachliche Kommunikation ist also zunächst: Prozessieren von Sinn im Medium der Lautlichkeit“ (Luhmann 1997: 213). Etwas ist Medium in Bezug auf die Form, die sich durchsetzt; die Form kann aber auch Medium sein im Hinblick auf eine andere Form, die sich in dem Medium durchsetzt: Laute sind die Form des Mediums Luft; die Laute selbst wiederum sind das Medium der Form des Sinns, wie er sich in Worten manifestiert. Worte wiederum können ein Medium sein, die nach den Regeln einer Grammatik miteinander kombiniert werden und Sätze im Sinne von Sinnzusammenhängen produzieren. Das entscheidende Merkmal, dass die Differenz der mündlichen Sprache zur Kommunikation durch Wahrnehmung von Gesten ausmacht, ist aber die Differenz von Laut und Sinn. Luhmann knüpft hier an die Unterscheidung von Ferdinand de Saussure zwischen Bezeichnetem (signié) und Bezeichnenden (signiant) an (Luhmann 1997: 208).2 Das Zeichen ist nicht identisch mit dem Bezeichneten. Entsprechend ist die Zuordnung von Laut und Sinn völlig arbiträr.3 Es gibt keinen inneren Grund, warum wir z. B. im Deutschen mit der Lautsequenz B-ü-g-e-le-i-s-e-n das Objekt Bügeleisen bezeichnen. So kann der Satz des Mannes in der Kneipe „Darf ich Sie auf einen Drink einladen“ auch lauten „May I invite you for a drink“ oder „Quieres tomar algo“. Es gibt keinen zwingenden, soll heißen, in dem Bezeichneten liegenden Grund, warum bestimmte Informationen und Mitteilungen 2 Sinnhaft ist etwas, das mit Bedeutungen versehen ist. Das Besondere von Sinn besteht darin, dass es einen dauerhaften Überschuss an Bedeutungen gibt. „Das Phänomen Sinn erscheint in der Form des Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns. Alles, was intendiert wird, hält in dieser Form die Welt im Ganzen sich offen […]“ (Luhmann 1984: 93). Sinn ist die Differenz zwischen aktuell gegebenen Bedeutungen und dem potentiell Möglichen. Sinn ist immer eine Auswahl im Horizont anderer Möglichkeiten. 3 Ilja Srubar (2005: 604) hat in seiner Rekonstruktion des Luhmannschen Sprachbegriffs darauf hingewiesen, dass das Luhmannsche Sprachkonzept überaus konventionell sei, wenn auch in einer eigenen und eigenwilligen Theoriesprache ausformuliert.
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eine bestimmte Lautfolge haben. Es gibt auch keinen zwingenden Grund, warum bestimmte Wörter nach einem bestimmten Regelsystem (Grammatik) miteinander kombiniert werden. Luhmann beschreibt nun eine Menge an Merkmalen, die mit der Entwicklung von Sprache verbunden sind und die die Evolution der Gesellschaft begünstigt haben. Im Vergleich zur Wahrnehmungskommunikation ist z. B. die Möglichkeit der Kommunikation von komplexen Informationen weitaus größer; man stelle sich vor, man müsse den gerade gelesenen Satz durch Gestik und Mimik darstellen. Weiterhin ist die Mitteilung der Kommunikation im Falle der sprachlichen Kommunikation eindeutiger; der Vergleich des Blicks in der Kneipe mit dem gesprochenen Satz verdeutlicht dies. Zudem kann man mit sprachlicher Kommunikation über Objekte kommunizieren und dies ganz unabhängig von deren Anwesenheit. Weiterhin kann man über Objekte reden, die man nicht wahrnehmen kann, wie z. B. über Freiheit, Demokratie oder das Jenseits. Die Entwicklung der Schriftsprache erhöht nochmals die evolutionären Möglichkeiten der Kommunikation im Vergleich zur mündlichen Sprache. Die Besonderheiten der Schriftsprache formuliert Luhmann wiederum mit Hilfe der Begrifichkeit von Form und Medium. „Während die Sprache ganz allgemein ihre Form als Differenz von Laut und Sinn ndet, ermöglicht die Schrift eine Symbolisierung genau dieser Differenz in einem anderen Wahrnehmungsmedium, im Medium der Optik. […] das heißt: Schriftzeichen bringen die Einheit einer Unterscheidung zum Ausdruck, und zwar so, dass mit der Einheit weiter operiert werden kann, also andere Unterscheidungen getroffen werden können. Mit Schrift kann man ganz neuartige Operationen durchführen, nämlich lesen und schreiben, und dies genau deshalb, weil in diesen Operationen nicht zwischen Laut und Sinn, sondern zwischen Buchstabenkombinationen und Sinn unterschieden werden muß“ (Luhmann 1997: 255 f.). Welche Besonderheiten und Vorteile für die Entwicklung der Gesellschaft mit der Schriftsprache wiederum verbunden sind, wird von Luhmann ausführlich expliziert (zusammenfassend Luhmann 1997: 289 f.). Das muss uns hier aber nicht weiter interessieren, weil die Basisannahmen der Luhmannschen Konzeptionalisierung von Kommunikation und Sprache hinreichend klar sind, um die Kritik an diesen Annahmen zu formulieren. Die Kritik setzt an der für gesprochene Sprache denitorischen Unterscheidung von Laut und Sinn bzw. an der für Schriftsprache zentralen Unterscheidung von Buchstabenkombination und Sinn und deren jeweiligen Rückbezug auf den Kommunikationsbegriff an. Kommunikation wird von Luhmann, wie wir gesehen haben, als das Zusammenspiel von Information, Mitteilung und Verstehen deniert. Eine mündliche Äußerung kann aber nur dann zur Kommunikation führen, wenn die Sprecher und Hörer den Zusammenhang zwischen den Lauten einerseits und dem Sinn, der mit den Lauten verbunden ist, kennen. Gleiches gilt für den
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Zusammenhang von Buchstabenkombination und Sinn. So ist der Satz „Darf ich Sie auf einen Drink einladen“ in seinem Informationsgehalt und in seiner Mitteilung nur verstehbar, wenn der Hörer des Satzes der deutschen Sprache mächtig ist. Dazu muss er mit dem Lexikon der Wörter, aus dem die Wörter des Satzes stammen, vertraut sein; und er muss über Kenntnisse der Grammatik verfügen, die die Wörter zu Sätzen kombiniert hat. Ist dies nicht der Fall, dann bleibt das Hören des Satzes reines Lautmalen, ohne Sinnbezug oder in der Luhmannschen Terminologie formuliert: Medium ohne Form und damit keine Kommunikation. Damit sprachliche Kommunikation überhaupt stattnden kann, müssen Ego und Alter also über die gleiche Einzelsprachkompetenz verfügen; sonst ist die Kommunikation zwischen den beiden zum Scheitern verurteilt, genauer: die Autopoiesis sprachlicher Kommunikation wird erst gar nicht in Gang gesetzt. „Denn gerade das Verstehen einer Kommunikation ist ja Voraussetzung dafür, dass sie angenommen oder abgelehnt werden kann“ (Luhmann 1997: 229). Und das Verstehen setzt die Handhabung der Differenz von Laut und Sinn voraus. Dazu muss man aber wissen, welche Laute mit welchem Sinn kombinierbar sind. Auch wenn der Kommunikationsbegriff und der Begriff der sprachlichen Kommunikation von Luhmann nicht so anspruchsvoll konzeptionalisiert wird wie der Begriff des kommunikativen Handelns von Habermas, so weist der Begriffsvorschlag doch eine ähnliche Schwäche auf. Luhmann spricht ähnlich wie Habermas von Sprache und nicht von Sprachen und unterstellt damit kontrafaktisch eine universelle Kommunikationsmöglichkeit zwischen den Menschen. Zwar ist die Zuordnung von Laut bzw. Zeichen und Sinn im Grundsatz arbiträr; welche konkreten Zuordnungen Sprecher aber gelernt haben, hängt von deren Zugehörigkeit zu Sprachgemeinschaften ab, die wiederum durch Einzelsprachen gekennzeichnet sind. Sprachliche Kommunikation zwischen zwei und mehr Kommunikationspartnern wird nur dann möglich, wenn die Sprecher dieselbe Sprache sprechen. Die Menge der existierenden Einzelsprachen, ihre jeweilige Ausdehnung und Sprecherzahl ist wiederum nicht zufällig entstanden, sondern das Resultat eines historischen Entwicklungsprozesses der Durchsetzung von hegemonialen Sprachen und der Verdrängung von kleineren Sprachen. Diese Sprachenkonstellation bildet die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Kommunikation – ganz im Sinne Luhmanns – überhaupt stattnden kann. Und ähnlich wie bei Habermas hat die grundbegrifiche Blindheit gegenüber der Tatsache, dass die Menschen sehr unterschiedliche Sprachen sprechen und dass die Sprachenkonstellation der Erde selbst wiederum durch die gesellschaftliche Institutionenordnung geprägt ist, Folgen für die makrosoziologische Sichtweise auf Gesellschaft. Die Gesellschaft besteht nach Luhmann aus Kommunikationen und zwar aus einem unendlichen Strom von Kommunikationen, die sich selbst immer weiter reproduzieren. Gesellschaft ist also dasjenige Sozialsystem, in dem
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sämtliche potentiell anschlussfähige Kommunikation stattndet. Dieser Gesellschaftsbegriff und der ihm zugrunde liegende Kommunikationsbegriff impliziert fast automatisch, dass die Gesellschaft eine Weltgesellschaft ist. Entsprechend ergibt sich die Luhmannsche These von der Existenz einer Weltgesellschaft konsequent aus der Begriffslogik seines Theoriegebäudes. Wenn Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem aller Kommunikationen deniert ist, dann kann es nur eine Gesellschaft geben: „Geht man von Kommunikationen als der elementaren Operation aus, deren Reproduktion Gesellschaft konstituiert, dann ist offensichtlich in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert, und zwar ganz unabhängig von der konkreten Thematik und der räumlichen Distanz zwischen den Teilnehmern“ (Luhmann 1997: 130).4 Die Frage nach der Existenz einer Weltgesellschaft wird hingegen in eine empirische Frage transformiert, wenn man berücksichtigt, dass Kommunikation nur funktioniert, wenn die Kommunizierenden auch in der Lage sind, an die Kommunikationen der anderen anzuschließen. Dies wiederum ist von Bedingungen abhängig, die man genauer spezizieren muss und die für die unterschiedlichen Medien der Kommunikation (Sprache; symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Geld, Macht oder Wahrheit) recht unterschiedlich ausfallen. Für das Medium der sprachlichen Kommunikation, und auf dieses konzentrieren wir uns hier, ist eine Weltgesellschaft nur vorstellbar, wenn es eine lingua franca gibt, die von allen Kommunikationsteilnehmern gesprochen wird. Dass es diese nicht gibt, zeigt jeder Wechsel in ein anderes Land, dessen Sprache man nicht spricht. Im Grundsatz ist die Frage nach der Existenz einer Weltgesellschaft aber eine empirische Frage, die man nicht begriffstheoretisch vorweg entscheiden kann. Und auch die empirische Antwort kann nur sehr differenziert ausfallen. Es gibt zentrale Sprachen, die von einer Vielzahl von Sprechern gesprochen werden, wie Englisch oder Mandarin. Deren Sprecher haben eine ganz andere Kommunikationschance als Sprecher, die sich in einer Sprache artikulieren, die z. B. nur von einer kleinen Gruppe von Indianern im Amazonas gesprochen wird; aber auch für die Sprecher der Zentralsprachen gilt, dass sie nur von einem relativ geringen Teil der 6,8 Milliarden Menschen der Erde verstanden werden. Neben dem Verbreitungsgrad der Einzelsprachen ist die Fremdsprachenkompetenz der Sprecher eine entscheidende 4
Die interne Differenzierung der Weltgesellschaft erfolgt dabei nach Luhmann primär nach dem Kriterium der funktionalen Differenzierung und nicht nach Staaten und Regionen: „Eine primär regionale Differenzierung widerspräche dem Primat funktionaler Differenzierung. Sie würde daran scheitern, daß es unmöglich ist, alle Funktionssysteme an einheitliche Raumgrenzen zu binden, die für alle gemeinsam gelten. Regional differenzierbar in Form von Staaten ist nur das politische System und mit ihm das Rechtssystem der modernen Gesellschaft. Alle anderen operieren unabhängig von Raumgrenzen. Gerade die Eindeutigkeit räumlicher Grenzen macht klar, daß sie weder von Wahrheiten noch von Krankheiten, weder von Bildung, noch vom Fernsehen, weder vom Geld (wenn man Kreditbedarf mitberücksichtigt), noch von der Liebe respektiert werden“ (Luhmann 1997: 166).
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Ressource, um mit möglichst vielen kommunizieren zu können. Die Verfügung über Fremdsprachenkenntnisse hängt wiederum von einer Vielzahl von Bedingungen ab, wie dem Entwicklungsgrad des Bildungssystems in einem Land, der Größe eines Landes, aber auch von individuellen Merkmalen wie der Klassenlage oder des Bildungsgrads einer Person (Gerhards 2009). Die wenigen Andeutungen mögen an dieser Stelle genügen, um das systematische Argument zu illustrieren. Luhmann kann zu seiner These, dass die Gesellschaft eine Weltgesellschaft ist, nur gelangen, weil sein Kommunikationsbegriff verkürzt ist. Da die Theorie nicht berücksichtigt, dass der kommunikative Anschluss nur möglich ist, wenn zwei oder mehrere Sprecher mit den gleichen Lauten bzw. Zeichen den gleichen Sinn verbinden, also die gleiche Sprache sprechen, ist die Luhmannsche Gesellschaft in der Tat per denitionem eine Weltgesellschaft. Geht man aber von der Prämisse aus, dass Kommunikation auch Kommunikationsmöglichkeit voraussetzt, also Sprachkompetenzen, stellt sich die Frage nach der Existenz einer Weltgesellschaft ganz anders. Soziologisch hoch relevante Fragen nach der Sprachenkonstellation der Gegenwart geraten in den Blick, nach den gesellschaftlichen Kräften, die die Sprachenkonstellation erzeugt haben und nach der Dynamik, die zu einer Veränderung der Sprachenkonstellation geführt hat, so dass manche Sprachen an Bedeutung gewannen, andere verdrängt wurden. All diese Fragen stellen sich erst gar nicht, wenn man den Kommunikationsbegriff sprachenunabhängig konzeptionalisiert.
1.3 Die verstehende Soziologie: Alfred Schütz, Peter L. Berger, Thomas Luckmann und die neuere Wissenssoziologie Die meisten deutschen Soziologen, die in der Traditionslinie der verstehenden Soziologie arbeiten, sind in der Sektion „Sprachsoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie organisiert. Ich hatte in der Einleitung bereits betont, dass sich die Sprachsoziologie in eine Wissenssoziologie transformiert hat, was sich auch in einer Änderung des Namens der entsprechenden Sektion (Wissens- statt Sprachsoziologie) manifestiert. Hubert Knoblauch (2003) hat die Entwicklungsschritte der Sprachsoziologie hin zur Wissenssoziologie kenntnisreich zusammengefasst (vgl. dazu auch Hitzler 2000: 469 ff.). Die Sprachsoziologie der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts betrachtete Sprache als ein gesellschaftlich geformtes Gebilde und analysierte den Zusammenhang zwischen sprachlichen Ausprägungen und Variationen einerseits und gesellschaftlichen Bedingungen andererseits. Die Arbeiten von Basil Bernstein (1981) über den Zusammenhang von Klasse und Sprache sind ein typisches und prominentes Beispiel für die Sprachsoziologie dieser Zeit. Bernstein behauptete, dass es eine klassenspezische Sprachentwicklung und Sprachverwen-
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dung gibt (restringierter versus elaborierter Code), die dann zu unterschiedlichen Schulerfolgen führen und damit die Klassenstruktur von Gesellschaften reproduzieren helfen. William Labov (1966) untersuchte in den USA den Sprachgebrauch ethnischer Gruppen. In Deutschland griff Ulrich Oevermann (1972) die Arbeiten von Bernstein auf und analysierte den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Sprachverwendung. Dieser Entwicklungsstrang der Sprachsoziologie, der in den 70er Jahren mit den Konzepten der kompensatorischen Erziehung auch politisch recht wirkungsmächtig war, hat sich fast ganz im Sande verlaufen. Bezugnahmen auf den Zusammenhang von Sprache und Ungleichheit gibt es allenfalls im Kontext der Migrations- und Integrationssoziologie; das schnelle Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes wird hier als eine zentrale Voraussetzung zum sozialstrukturellen Aufstieg und damit zur Integration in die Aufnahmegesellschaft verstanden (vgl. Esser 2006). Die besondere Perspektive der Sprachsoziologie der 60er und 70er Jahre bestand darin, dass sie nicht von der Sprache ausging, sondern von Sprachen, Sprachvariationen bzw. unterschiedlichen Soziolekten. Die Annahme der Varianz von Sprachen eröffnete erst die Möglichkeit, nach der Erklärung von sprachlichen Varianzen zu fragen und damit den Zusammenhang von gesellschaftlichen Parametern wie Klasse, Schicht, Ethnie oder Geschlecht und Unterschieden in der Sprachverwendung zum Gegenstand der Analyse zu machen. In der weiteren Entwicklung hat sich die Sprachsoziologie in eine allgemeine Soziologie transformiert mit der Folge, dass der Plural „Sprachen“ weitgehend durch den Singular „Sprache“ ersetzt wurde. Ausschlaggebend für diese Transformation ist die Annahme, dass jede gesellschaftliche Interaktion eine kommunikative Interaktion darstellt, und fast jede kommunikative Interaktion eine sprachliche Interaktion ist. Sprache wurde zunehmend „als wesentliche Trägerin von Sinn, als Objektivierung von Wissen oder als Aspekt eines allgemeiner konzipierten Handelns angesehen“ (Knoblauch 2003: 585). Das Erkenntnisinteresse einer nun in eine Wissenssoziologie aufgelösten Sprachsoziologie konzentriert sich entsprechend auf eine Rekonstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen. Ronald Hitzler hat sich an der Ausformulierung des Programms einer hermeneutischen Wissenssoziologie prominent beteiligt (vgl. Hitzler 1999; Hitzler/Reichertz/Schroer 1999; dann Hitzler 2000, 1998). Die Annahme, Gesellschaft sei kommunikativ und dominant sprachlich verfasst, spiegelt sich auch in der Text- und Sprachorientierung der Methoden der verstehenden Soziologie (dazu Knoblauch 2003: 584 f.). Auch wenn das Erkenntnisinteresse nicht auf Texte, sondern auf die Erforschung der Praxis der Lebenswelt der vergesellschafteten Subjekte gerichtet ist, so müssen die im Feld generierten Daten doch in „xierte, hin- und her wendbare, immer wieder in ojektivierter Form vergegenwärtigbare Daten – vorzugsweise also doch (im weitesten Sinne) Texte“ (Hitzler 2000: 462) transformiert werden (vgl. auch Hitzler/Honer 1997: 8). Die durch
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die verschiedenen qualitativen Erhebungstechniken generierten „Daten“ bestehen entsprechend in erster Linie aus Transkriptionen, also aus schriftsprachlichen Texten. Die Analyse und Interpretation dieser Texte ist einerseits Sprachanalyse, zugleich und vor allem aber Gesellschaftsanalyse, da die Analyse der Sprache auf eine verstehende Rekonstruktion des Sinns sozialer Handlungen abzielt. Die theoretische Legitimation, Sprachsoziologie in Wissenssoziologie zu transformieren, erfolgt vor allem durch Bezugnahme auf die einschlägigen Arbeiten von Alfred Schütz, Thomas Luckmann und Peter L. Berger. Der Rekurs auf die genannten Autoren erfolgt aber recht selektiv. Die neuere Wissenssoziologie knüpft vor allem an die grundbegrifichen Überlegungen ihrer „Riesen“ an, lässt die Anknüpfungspunkte, die sich für eine Sprachensoziologie ergeben, aber weitgehend unberücksichtigt. Vor allem in den sprachsoziologischen Arbeiten von Alfred Schütz nden sich interessante Anknüpfungspunkte für eine Soziologie der Sprachen (vgl. Knoblauch/Kurt/Soeffner 2003). Ich werde zuerst die theoretischen Grundprämissen und den Kommunikations- und Sprachbegriff erläutern. Ich werde dann das von den Autoren skizzierte Verhältnis von Sprache und Gesellschaft diskutieren. Die Autoren gehen davon aus, dass die Sprache das Wissen von der Gesellschaft und damit das Handeln in der Gesellschaft strukturiert. Aus dieser Vorstellung haben dann die Nachfolger die Schlussfolgerung gezogen, die Sprachsoziologie in eine Wissenssoziologie zu überführen. a) Grundbegriffe und theoretische Prämissen: Alfred Schütz geht ganz ähnlich wie später dann Luhmann davon aus, dass sich Subjekte in ihrem Bewusstsein wechselseitig nicht zugänglich sind; man kann die Gedanken des anderen nicht wahrnehmen (Schütz 1974).5 Wie können sich dann Akteure wechselseitig verstehen und auf dieser Basis ihre Handlungen koordinieren? Dazu machen Akteure, so Schütz, verschiedene Unterstellungen (Idealisierungen). Sie unterstellen sich zum einen wechselseitig, dass auch der Andere mit Bewusstsein ausgestattet ist und die Fähigkeit zur Sinndeutung hat. Schütz bezeichnet diese Annahme als die Generalthese des alter ego (Schütz 1974: 138). Zweitens gehen die Akteure von einer Reziprozität der Perspektiven aus. Sie unterstellen sich wechselseitig, dass der jeweilig Andere ähnliche Interpretationen tätigt wie man selbst. Auf der Basis dieser beiden Annahmen ist Verständigung im Grundsatz möglich, auch wenn die Subjekte sich wechselseitig in ihrem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Wie funktioniert Kommunikation auf der Basis der gemachten Unterstellungen?
5 Die Gemeinsamkeiten mit der Luhmannschen Systemtheorie sind nicht unerheblich, wie Ursula Dallinger gezeigt hat (vgl. Dallinger 1999).
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Jede Kommunikation erfolgt zeichenvermittelt; sie bedarf der Produktion von äußeren Objekten durch Ego, die Alter wahrnehmen kann. Damit wird Kommunikation zu etwas – wiederum ganz ähnlich wie bei Luhmann –, das gewissermaßen außerhalb des Bewusstseinsstroms der beteiligten Subjekte gelagert ist. Gesten und Gesichtsausdrücke sind u. a. solche Objektivationen (Berger/Luckmann 1969: 36 f.). Indem ich z. B. die Stirn in Falten lege oder die Lautfolge „Ojeoje“ von mir gebe und mein Gegenüber diesen Gesichtsausdruck bzw. die Laute wahrnimmt, haben Ego und Alter einen gemeinsamen, äußeren Bezugspunkt; der Gesichtsausdruck bzw. die Laute bilden eine intersubjektive Welt zwischen Ego und Alter (vgl. hierzu die Ausführungen von Hitzler (1998: 98) mit Bezugnahme auf Goffman). Sowohl Gesichtsausdrücke, als auch Gesten und Laute werden aber nicht bloß als „natürliche Vorgänge erlebt“ (Luckmann 1972), sie werden als Anzeichen von etwas erlebt, als Anzeichen dessen, was dahinter steht. Das „dahinter“ ist im Kern der Sinn, der mit der Mimik, der Gestik und den Lauten verbunden wird. Auch hier zeigt sich die Parallele zu Luhmannns Unterscheidung von Laut (Medium) und Sinn (Form). Die Mimik, die Gestik oder der Laut appräsentieren („mitvergegenwärtigen“) das Erleben von Ego (Luckmann 1972: 231). Die Stirn, die ich in Falten lege, kann Ausdruck meiner Besorgnis sein ob des heranziehenden Gewitters. Wie kann Alter den Sinn „Besorgnis“ auf der Basis der Wahrnehmung eines Stirnrunzelns verstehen? Alter unterstellt zum einen, dass Ego mit Bewusstsein ausgestattet ist und entsprechend das Stirnrunzeln eine Bedeutung hat (Generalthese des Alter Ego); Alter unterstellt zum Zweiten, dass Ego dem Stirnrunzeln eine ähnliche Bedeutung zumessen wird, wie Ego dies selbst tun würde (Reziprozität der Perspektiven). Wie kommt aber die Bedeutungszuordnung von Stirnrunzeln und Besorgnis zu Stande? Die Zuordnung von Zeichen und Sinn ist im Ursprung arbiträr, soll heißen: Besorgnis kann man auch anders, mit einer anderen Gesichtsexpression ausdrücken. Wenn aber aus welchen Gründen auch immer in besorgniserregenden Situationen Ego sein subjektives Erlebnis der Besorgnis mit einem Stirnrunzeln ausdrückt und Alter diesen Zusammenhang von besorgniserregenden Situationen, dem Besorgniserlebnis Egos und dem Stirnrunzeln erkennt und dieses Erkennen des Zusammenhangs wiederum zum Ausdruck bringt, dann ist der erste Schritt der Ausbildung eines gemeinsamen interpretativen Schemas getan: Ego und Alter verbinden mit dem Stirnrunzeln einen ähnlichen Sinn. Dieser Zusammenhang von spezischem Gesichtsausdruck und spezischem Sinn mag dann in Folgeinteraktionen wiederholt werden und sich zu einem festen Zusammenhang verdichten, es kommt zur Typisierung. Im nächsten Schritt kann dann die Ausdrucksform intentional benutzt werden:
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„Eine Ausdrucksform wird also nun absichtlich von einem Partner hervorgebracht, der die Interpretation dieser Ausdrucksform vorwegnimmt – darüber hinaus wird die gleiche Ausdrucksform zum gleichen Zweck vom anderen Partner hervorgebracht. Die Partner bringen nun nicht mehr zufällig einen „inneren Zustand“ zum Ausdruck (sie handeln auch nicht mehr im schlichten Wechselbezug einer Face-to-Face-Situation. Sie handeln, um etwas auszudrücken, das der Partner wissen soll); sie nehmen die Interpretation ihrer Ausdruckshandlung vorweg, wobei die gleiche „objektivierte“ Ausdrucksform dem gleichen Zweck für die anderen Partner dient. Mit anderen Worten, sie haben begonnen, miteinander zu sprechen. X ist jetzt ein prototypisches Zeichen und nicht mehr bloß ein Ausdruck oder eine Kundgabe“ (Luckmann 1972: 233).
Ganz ähnlich beschreiben Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969: 39 ff.) und Luckmann (1972; 1979) die Entstehung der Sprache und die Verständigung durch Sprache. Die Entstehung der Sprache beginnt mit der Verbindung von spezischen Lauten und Lautfolgen mit bestimmten Bedeutungsgehalten, die von Ego und Alter zugleich geteilt werden. „Sprachformen als prototypische Zeichen sind intersubjektiv gültige, auswechselbare und absichtlich hervorgebrachte Objektivierungen subjektiver Vorgänge“ schreibt Luckmann (1972: 234). Im Unterschied zu Mimik und Gestik ist sprachliche Kommunikation aber durch eine Menge von Merkmalen gekennzeichnet, die sie besonders leistungsfähig macht. Das wichtigste Merkmal ist das der Ablösbarkeit der Sprache von „face to face“ Situationen (Berger/Luckmann 1969: 39). Sprache ermöglicht Bedeutungen zu vermitteln, die nicht direkter Ausdruck des Subjektes in einer konkreten Situation sind. Man kann über Dinge und Begebenheiten sprechen, die nicht anwesend sind oder die in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegen oder die nicht real sind (wie z. B. Träume oder Geister). Dabei betonen Schütz und Luckmann und mit ihnen die gesamte Schule der verstehenden Soziologie, dass Kommunikation immer ein sehr brüchiger Prozess ist. Der subjektive Sinn, den Ego mit einer Mimik, einem Laut oder einem Zeichen verbindet, ist Alter nicht direkt zugänglich. Nur über Typisierungen und Standardisierungen von Zeichen und Sinn, denen unterstellt wird, dass sie gemeinsam geteilt werden, interferiert Alter von einem Ausdruck oder einer Laut- oder Zeichenfolge auf den von Ego intendierten Sinn. Ob dieser Rückschluss richtig ist, ist immer ungewiss. Denn „das „Hier“ des einen ist immer noch das „Dort“ des Anderen“ (Schütz 2003a: 160). Insofern ist das Verstehen des Anderen und damit Kommunikation immer interpretations- und damit störanfällig. b) Sprache und Gesellschaft: Auf der Basis der erläuterten Grundbegriffe spezizieren Schütz, Berger und Luckmann ihr Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Gesellschaft. Jeder Mensch wird in eine bereits existierende Welt
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hineingeboren. Er lernt in dieser Gesellschaft ein Wissen, wie man eine Vielzahl von Situationen bewältigt. Schütz bezeichnet dieses unhinterfragte Wissen als ein Rezeptwissen (Schütz 1972: 56). Jeder Mensch wird auch in eine spezische Sprachgemeinschaft hineingeboren, und er lernt diese Sprache als seine Muttersprache. Die existierende Sprache ist aber kein neutrales Medium der Kommunikation. Sie strukturiert das Wissen über die Gesellschaft und wirkt damit auf die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein. „Die bereits existierende Sprache ist ein System existierender Erfahrungsschemata, das auf Idealisierungen und Anonymisierungen der unmittelbaren subjektiven Erfahrung aufruht. Diese von der Subjektivität abgelösten Erfahrungstypisierungen sind sozial objektiviert, wodurch sie zu einem dem Subjekt vorgegebenen gesellschaftlichen Apriori werden“ (Schütz/Luckmann 2003: 318). Die Erfahrungstypisierungen sind in hohem Maße sprachlich vermittelt (Schütz 1972: 63 f.). Schütz, Berger und Luckmann knüpfen hier an die Humboldt’sche Vorstellung an, dass die Sprache die Weltsicht prägt.6 So markieren z. B. das „Du“ und das „Sie“ im Deutschen den Unterschied zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Das Fachvokabular der einzelnen Wissenschaften z. B. stellt eine sprachliche Objektivation dar, das den Handelnden in dem Feld vorschreibt, wie sie in dem Feld handeln sollen. Die Sprache hat damit eine wissens- und wirklichkeitsstiftende Macht (Berger/Luckmann 1969: 163). Genau diese These, dass das Wissen über die Gesellschaft ein weitgehend sprachlich vermitteltes Wissen ist, die Typisierungen sprachliche Normierungen sind, wird von den Autoren immer wieder, in immer neuen Formulierungen wiederholt. Alfred Schütz hat die Wirkungsmächtigkeit von Erfahrungstypisierungen und deren Sprachgebundenheit für die Bewältigung des Alltags u. a. am Beispiel der Rolle des Fremden illustriert (Schütz 1972). Für denjenigen, der von einer Gesellschaft A in eine andere Gesellschaft B wechselt, gelten die einmal gelernten Erfahrungstypisierungen gerade nicht mehr; er verfügt nicht über das Wissen, das ihm die Typisierung von Situationen ermöglicht. Er kennt auch nicht den Sinnhorizont, der mit bestimmten Wörtern und Sätzen verbunden ist, auch nicht die Konnotationen von Wörtern, in denen vergangene Erfahrungen abgespeichert sind (Schütz 1972: 64). Gerade diese Durchdringung von Sprache und Welterfahrung macht es für den Fremden so schwierig, sich in der neuen Gesellschaft zurechtzunden, weil es mit dem Lernen von Wörtern und Syntax der neuen Sprache allein nicht getan ist. 6
„Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ (Humboldt 1963: 262). Die These ist dann später von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf weiterentwickelt worden (vgl. zusammenfassend Hunt 2001).
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So plausibel die Grundannahme, dass Sprache und sprachliche Objektivationen das Wissen von der Gesellschaft und damit das Handeln in der Gesellschaft vorstrukturieren, ist, so diffus und unausgeführt bleibt diese These. In dem Standardwerk der neueren Wissenssoziologie, dem Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, thematisieren Berger und Luckmann (1969) die eben erläuterten Grundbegriffe von Kommunikation und Sprache in dem ersten, den Grundlagen gewidmeten Kapitel. In dem zweiten Kapitel, das der Analyse der Gesellschaft als objektive Wirklichkeit gewidmet ist und sich unter anderem mit Institutionalisierungsprozessen beschäftigt, hätte man erwartet, dass Prozesse der Institutionalisierung von Einzelsprachen, die so entscheidend für jede Kommunikationsmöglichkeit sind oder von Soziolekten, die mit den Schicht- und Klassenverhältnissen in Verbindung stehen, analysiert werden. Diesen Themengebieten wird aber keine Aufmerksamkeit geschenkt. Damit erhält die Grundthese, dass Sprache das Wissen von der Gesellschaft und auf dieser Grundlage das Handeln in der Gesellschaft strukturiert, den Status einer nicht weiter spezizierten Grundannahme, die an Beispielen illustriert, aber empirisch nicht weiter speziziert und geprüft wird. Jeffrey Alexander (1987) bezeichnet im Anschluss an Thomas S. Kuhns Konzept eines wissenschaftlichen Paradigmas (Kuhn 1967) solche nicht weiter geprüften Annahmen als „presupposition“ einer Theorie. Interessant scheint mir diesbezüglich eine Äußerung von Alfred Schütz aus seinen Vorlesungen zur Sprachsoziologie zu sein. Nachdem er in 13 Vorlesungen linguistische, philosophische, anthropologische und phänomenologische Perspektiven der Beschäftigung mit Sprache mit Rekurs auf eine Vielzahl von Autoren vorgestellt hat, beginnt er die 14. Vorlesung, fast am Ende des Zyklus angelangt, mit dem Satz: „Die eigentliche Sprachsoziologie beginnt mit der Frage: Was ist eine Sprachgemeinschaft?“ (Schütz 2003b: 277). Sprachgemeinschaften sind für Schütz gesellschaftliche Gruppen, die eine spezische Sprache sprechen. ‚Sprachen‘ können Einzelsprachen sein (wie Deutsch, Japanisch oder Englisch), Fachsprachen, wie die verschiedenen Wissenschaftssprachen oder Dialekte, Soziolekte oder „Slangs“. Sprachgemeinschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Sprachen und damit die Sprachgemeinschaften konstituieren. Es sind Nationen, die Nationalsprachen durchsetzen, es sind klassenspezische Bedingungen, die zu klassenspezischen Codes führen und es ist der Prozess der Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung, der wissenschaftliche Fachsprachen entstehen lässt. Schütz deutet diesen Zusammenhang von Vergesellschaftungsprozessen und Sprachgemeinschaften nur an. Er erhebt deren Untersuchung aber in den Status, das eigentliche Thema der Sprachsoziologie zu sein, auch wenn er selbst sich auf die Ausarbeitung der These der sprachlichen Konstituierung der Wirklichkeit konzentriert hat. Dies mag seinem Erkenntnisinteresse geschuldet
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sein, das sich auf Fragen richtet, die sich im Grenzbereich von Philosophie und Soziologie bewegen. Fassen wir die Argumentation der vorgestellten Autoren an dieser Stelle zusammen. Die Entstehung der Sprache beginnt mit der Verbindung von spezischen Lauten und Lautfolgen mit bestimmten Bedeutungsgehalten. Diese Objektivationen liegen außerhalb des Bewusstseins der Akteure. Ego und Alter unterstellen sich dabei wechselseitig, dass die Laute und Lautfolgen eine gleiche oder zumindest ähnliche Bedeutung haben. Dies ist und bleibt eine Unterstellung, weil sich die Subjekte in ihrem Bewusstsein wechselseitig nicht zugänglich sind. Nur durch Typisierungen und Standardisierungen von Zeichen und Sinn, denen unterstellt wird, dass sie gemeinsam geteilt werden, interferiert Alter von einem Ausdruck oder einer Lautoder Zeichenfolge auf den von Ego intendierten Sinn. Im Unterschied zu Luhmann, aber auch in Differenz zu Habermas, belassen es die Autoren aber nicht bei diesen allgemeinen Ausführungen zur Sprache. Sie gehen von der Annahme aus, dass die jeweilige Sprache das Wissen über die Gesellschaft strukturiert. Die Sprache selbst hat einen Einuss auf die Art und Weise, wie wir die Welt typisieren; sie strukturiert das Wissen über die Gesellschaft und wirkt damit auf die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein. Die Autoren beschränken sich aber weitestgehend auf die Formulierung dieser wissenssoziologischen Grundaussage. Eine genaue Spezikation des Verhältnisses von Sprache und Gesellschaft gerät nicht in den Blick. Und auch bei den Nachfolgern der drei „Riesen“ nden wir in erster Linie nur Reformulierungen der These, dass das Wissen von und über die Gesellschaft ein sprachlich vermitteltes Wissen ist. Damit wird die Sprachsoziologie in eine allgemeine Soziologie, in eine Wissenssoziologie transformiert (Knoblauch 2003: 585). Vor allem kommt die Tatsache, dass es verschiedene Sprachen und Sprachgemeinschaften gibt, nicht hinreichend in den Blick. Dies ist ganz erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das Augenmerk der verstehenden Soziologie gerade auf Prozesse des Verstehens gerichtet ist. Eine Grundvoraussetzung für jegliches Verstehen ist aber, dass Ego und Alter dieselbe Sprache sprechen.
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Für eine Renaissance der Sprachensoziologie
Wir hatten gesehen, dass so unterschiedliche Theorien wie die Habermas’sche Theorie des kommunikativen Handelns, die Luhmannsche Systemtheorie und die von Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann ausgearbeitete wissenssoziologische Theorie der Gesellschaft alle ein kommunikations- und sprachsoziologisches Fundament haben. Die diskutierten Theorien verstehen sich
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als allgemeine soziologische Theorien und sprachsoziologische Theorien zugleich. Meist ist in den Theorien von Sprache und Kommunikation in recht allgemeinem Sinne unter Vernachlässigung der Tatsache, dass es klassenspezische Sprachen, einen ethnisch unterschiedlichen Sprachgebrauch, vor allem aber mehrere Einzelsprachen auf dieser Welt gibt, die Rede. Die Existenz mehrerer Sprachen hat unmittelbare Folgen für die Chancen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung. Weder werden in den allgemeinen sprachsoziologischen Abhandlungen die Folgen der Existenz unterschiedlicher Sprachen für die Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsprozesse hinreichend bedacht, noch die Frage in Angriff genommen, in welchem Maße die existierenden Sprachen, die Dominanz bestimmter Sprachen oder die Veränderungen der Dominanzverhältnisse zwischen verschiedenen Sprachen von der Gesellschaftsordnung abhängig ist. Ich werde im Folgenden in drei Argumentationsschritten kurz skizzieren, warum es genau aus diesen Gründen einer Renaissance einer Sprachensoziologie bedarf. Die hier nur kurz vorgetragenen Argumente sind Teil einer größeren Studie, in der ich die Bedeutung von transnationalem linguistischem Kapital – der Fähigkeit von Menschen mehrere Sprachen zu sprechen – im Kontext von Globalisierungs- und Europäisierungsprozessen untersuche, und die 2010 als Buch erscheinen wird (vgl. für erste Ergebnisse Gerhards 2009). 1. Zwischen den im letzten Kapitel diskutierten Autoren gibt es weitgehend Konsens im Hinblick auf die Frage, was Kommunikation und sprachliche Kommunikation bedeutet, auch wenn die Begriffe in der je eigenen Theoriesprache deniert werden. Eine Sprache besteht aus der Verbindung von spezischen Lauten und Lautfolgen bzw. Zeichen und Zeichensystemen mit bestimmten Bedeutungsgehalten. Dieselbe Sprache sprechen, bedeutet nach dieser allgemeinen Denition, dass die Sprecher den Lauten und Lautfolgen, den Zeichen und Zeichenfolgen die gleichen Bedeutungen zuordnen und das gleiche Regelsystem der Kombination von Wörtern und Sätzen, die gleiche Grammatik also, beherrschen. Ist dies der Fall, dann können sie miteinander kommunizieren; ist dies nicht der Fall, ist eine unmittelbare sprachliche Kommunikation schwer möglich. Damit haben wir auch eine recht einfache Denition von Einzelsprachen formuliert. Die verschiedenen insgesamt auf der Erde existierenden Sprachen unterscheiden sich von einander durch verschiedene Grammatiken und unterschiedliche Zeichensysteme. Diese Unterschiede manifestieren sich in der Sprachverwendung in dem Sachverhalt, dass zwei Sprecher, die unterschiedliche Sprachen sprechen, sich nicht oder kaum verständigen können, was nicht bedeutet, dass sie nicht miteinander interagieren können. Die Transaktionskosten der Interaktion sind aber im Vergleich zu einer Verfügung über eine gemeinsame Sprache enorm hoch. Jeder, der in einem Land
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war, dessen Sprache er nicht spricht und versucht hat, den Weg zum Bahnhof oder zum Flughafen herauszunden, weiß dies. 2. Der Sprache kommen zwei zentrale gesellschaftliche – und nur diese sind für Soziologen interessant – Funktionen zu, die weder von den Autoren, die im letzten Kapitel diskutiert wurden, noch von den soziologischen Klassikern hinreichend beachtet wurden. Man kann zwischen einer Vergesellschaftungs- und einer Vergemeinschaftungsfunktion der Sprache unterscheiden. a) Die Tatsache, dass Sprache eine Interaktion zwischen Menschen ermöglicht, ohne dass mit der Interaktion sehr hohe Transaktionskosten verbunden sind, macht es wahrscheinlich, dass eine Kooperation und Interaktion zwischen denjenigen, die dieselbe Sprache sprechen, eher zustande kommt, als zwischen denjenigen, die eine unterschiedliche Sprache sprechen. Jeder, der auf internationalen Konferenzen war, kennt diesen Zusammenhang aus unmittelbarer Erfahrung. Personen, die die gleiche Sprache sprechen, setzen sich bei Tisch zusammen und unterhalten sich. Diese Kommunikationen verdichten und verfestigen sich häug: Beim nächsten Treffen setzt man sich wieder mit denen zusammen, die dieselbe Sprache sprechen; es entstehen mögliche Kooperationen, man trifft sich häuger und auf diesem Wege entsteht eine Interaktionsverdichtung zwischen Kommunikationspartnern in Abgrenzung zu denen, die eine andere Sprache sprechen. Dies ist der erste Schritt in Richtung Vergesellschaftung. Dabei kann die Vergesellschaftung sich auf sehr unterschiedliche Dimensionen beziehen: auf wissenschaftlichen Austausch, auf politische Kooperationsbeziehungen oder auf Liebes- oder Geschäftsbeziehungen. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch Vergesellschaftungen mit bilingualer oder trilingualer Zusammensetzung gibt; diese gibt es sowohl auf der Ebene von Interaktionssystemen (Freundschaften, Partnerschaften, Ehen) als auch auf der Ebene von ganzen Nationalstaaten (z. B. Schweiz, Kanada oder Belgien). Ihre Entstehung ist aber deutlich voraussetzungsvoller und damit unwahrscheinlicher. Der Zusammenhang von Sprachkompetenz und Vergesellschaftungschance gilt auch für Sprecher ein und derselben Sprachgemeinschaft bzw. für Migranten, die in ein Land, in dem eine andere Sprache als in ihrem Herkunftsland gesprochen wird, auswandern. Personen ein und derselben Gesellschaft können die dort gesprochene Sprache unterschiedlich gut beherrschen. Je besser sie die Sprache sprechen, desto wahrscheinlicher wird es sein, dass sie höhere Bildungszertikate erreichen, erfolgreicher in der Platzierung in der Berufshierarchie sind, entsprechend ein höheres Einkommen und höheres Ansehen erwirtschaften und auch besser an politischen Prozessen partizipieren können, kurz: erfolgreicher in der Vergesellschaftung sind. Die Arbeiten von Basil Bernstein aus den 60er Jahren haben diesen Zusammenhang, wenn auch methodisch einfach, nachgewiesen. Auch die
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Arbeiten aus der Migrationssoziologie zeigen, dass die Sprachkompetenz eine ganz zentrale Ressource für die Integration von Migranten in die Aufnahmegesellschaft ist (zusammenfassend Esser 2006). b) Unter Vergemeinschaftung versteht Max Weber bekanntlich das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu einer Gruppe (Weber 1985: 21). Die Merkmale, die zur Konstruktion des Zusammengehörigkeitsgefühls genutzt werden können, sind vielfältig. Sprache ist ein besonders geeignetes Merkmal, das zum Aufbau von Gruppenidentität benutzt werden kann und häug und prominent auch benutzt wurde. Wenn zudem eine gemeinsame Sprache zu einer Verdichtung von Interaktionen beiträgt, dann sind diese Vergesellschaftung und die daraus entstandene Interaktionsstruktur im Modus der Sprache hergestellt. Die sprachlich vermittelte Gemeinsamkeit der Interaktionsverdichtung ist wiederum ein Merkmal, das der Sprache zugerechnet werden kann und häug auch wird. Schließlich beschreiben sich Gesellschaften häug selbst in ihrer Identität. Und sie tun dies wiederum im Medium der Sprache. Die reexive Konstruktion der eigenen Identität in der Sprache färbt auf die Sprache selbst ab. Sie wird mit zu einem Identitätsmerkmal. All dies begründet, warum der Sprache neben der Vergesellschaftungs- häug auch eine Vergemeinschaftungsfunktion zukommt. Vor allem die Forschung zur Entstehung von Nationen hat gezeigt, wie prominent die Rolle der Sprache in der Konstruktion von nationalen Gemeinschaften war. Der Zusammenhang von Sprache und Vergemeinschaftung gilt aber auch für Sprecher ein und derselben Gruppe. Pierre Bourdieu hat gezeigt, dass die Fähigkeit, sich in der Hochsprache eines Landes elaboriert mündlich wie schriftlich auszudrücken eine Ressource ist, um innerhalb der Klassenstruktur einer Gesellschaft einen Distinktionsgewinn gegenüber den unteren Klassen zu erzielen, sich gegenüber der Alltagssprache der unteren Klassen mit ihrer „vulgären Sprache“ (Bourdieu/ Passeron 1971: 110; Bourdieu 1992) abzugrenzen. Sprache und Sprachbeherrschung dienen hier der Vergemeinschaftung von Klassen. 3. Die wenigen, federstrichartigen begrifichen Vorsortierungen zeigen bereits, wie wichtig die Sprache für Prozesse der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung ist und dass es folglich einen Bedarf an Sprachsoziologie gibt. Diese sollte die Bereiche Gesellschaft einerseits und Sprachen andererseits analytisch getrennt halten und nicht – wie die im ersten Kapitel besprochenen Theorien – Sprachsoziologie in Gesellschaftstheorie auösen. Erst die analytische Trennung ermöglicht es, beide Bereiche aufeinander zu beziehen. Man kann dann fragen, in welchem Maße die Sprach- und Sprachenkompetenzen der Bürger ihre Vergesellschaftungs- und Vergmeinschaftungschancen strukturieren. Man kann umgekehrt fragen, wie die innergesellschaftlichen Sprachenordnungen, vor allem aber die Sprachenordnung
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der Erde denn zustande gekommen sind. Abram de Swaan (2001) hat hierzu eine hervorragende, aus einer Weltgesellschaftsperspektive formulierte Studie vorgelegt. Drei Mechanismen waren und sind für die Ausdehnung von Einzelsprachen besonders relevant: eine Ausdehnung des Handels in vormals fremde Gebiete, eine politisch-militärische Eroberung und Beherrschung von Territorien, die bis dato eine andere Sprache gesprochen haben und eine religiöse, heute häug kulturellsäkulare Missionierung. So ist zum Beispiel die Dominanz des Englischen in der Welt u. a. das Resultat der Dominanz englischsprachiger Kolonialreiche und des britischen Imperialismus im 19. Jahrhundert, dann der Dominanz der USA in der internationalen Ordnung im 20. Jahrhundert, vor allem in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Insofern ist die Sprachenkonstellation immer auch ein Spiegelbild der hierarchisch strukturierten Weltordnung. Ändert sich diese, hat dies unmittelbare Folgen für die Sprachenordnung. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist dafür ein Beispiel aus der jüngeren Zeitgeschichte. Der Wert des Russischen als Fremdsprache wurde mit einem Schlag inationiert, das Englische konnte sich ausdehnen. Alfred Schütz hatte vollkommen Recht, wenn er schrieb, dass die eigentliche Sprachsoziologie erst mit der Frage, ‚Was ist eine Sprachgemeinschaft?‘ beginnt (Schütz 2003b: 277).
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I Der Wissensbegriff deckt extrem verschiedenartige Sachverhalte, die sich auf mehr als nur einer Dimension unterscheiden. In der Dimension konkret/abstrakt reicht das, was wir Wissen nennen, vom Fingerspitzengefühl bis zur Philosophie. In der Sozialdimension umfasst es nicht nur die anonym konstituierten Strukturen der Lebenswelt, sondern auch das mehr oder minder unzugängliche Sonderwissen gesellschaftlicher Teilsysteme, einzelner Gruppen, konkreter Individuen1. In der Zeitdimension wiederum mag man, mit sehr unterschiedlichen Präferenzen, dem alten das neue Wissen gegenüberstellen. Auf der Ebene der gepegten Semantik entspricht dem, dass man Wissen nicht nur von Gegenbegriffen wie Handlung und auch nicht nur von Reexionsbegriffen für Nichtwissen wie Unbewusstheit oder Latenz unterscheiden kann. Unterscheiden kann man vielmehr auch verschiedenartige Wissenstypen. Prominente Beispiele wären: Geheimwissen/öffentliches Wissen, Meinungswissen/strenges Wissen, theoretisches Wissen/praktisches Wissen, usw. Die Frage nach Herkunft und sozialstrukturellem Hintergrund solcher Wissenstypologien wäre ein sinnvolles Thema der Wissenssoziologie, dem wir hier aber nicht nachgehen können. Sicher ist, dass sie weit hinter die moderne Gesellschaft zurückreichen. In einigen Fällen scheint es sich um Korrelate für die beginnende Ausdifferenzierung von Funktionsbereichen wie Religion (geheimes Wissen) oder Wissenschaft (strenges Wissen) zu handeln, in anderen Fällen würde man andere Korrelationen, etwa mit der Erndung von Verbreitungsmedien Schrift oder mit Buchdruck, vermuten. Eine Wissenssoziologie, die der Geschichte solcher Typenunterscheidungen nachgehen wollte, müsste freilich ihrerseits typneutral angelegt sein. Ein nahe1 Nicht einmal die Träume wird man aus einem unvoreingenommenen Begriff des Wissens ausschließen wollen. Freilich gelten sie seit der Individualisierung ihrer Inhalte nur mehr als unverbindliches Privatwissen, das soziologisch nicht weiter interessiert. Über die davorliegende Tradition einer öffentlichen Deutung von Träumen mit sehr viel höheren Anforderungen an Gedächtnisleistungen informieren Aubert und White (1959). Es versteht sich, dass diese öffentlich betriebene Traumdeutung auf die gegenwärtige Zukunft des Gesellschaftssystems abzielte, und nicht etwa auf die gegenwärtige Vergangenheit des Träumenden. Nicht Psychoanalyse war ihr Sinn, sondern Divination.
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liegender Ratschlag wäre, keinen Wissenstypus vorab schon zu privilegieren. Ein Blick auf die wissenssoziologischen Forschungen der vergangenen Jahrzehnte zeigt freilich, wie schwierig es ist, dieser Maxime zu folgen. Während eine Wissenssoziologie der Typenunterscheidungen nach wie vor aussteht, kann man eine dieser Unterscheidungen verwenden, nämlich die Unterscheidung von theoretischem und praktischem Wissen, um die Geschichte der Wissenssoziologie selber zu ordnen. An einer ihrer wichtigsten Bruchstellen wird nämlich der eine Wissenstypus für den anderen substituiert: War sie von Marx bis Mannheim eine Soziologie, die sich exklusiv auf Sozialtheorien bezog, so befasst sich die heute übliche Wissenssoziologie bevorzugt mit theoriefernem Alltagswissen. Vom theoretischen zum praktischen Wissen – so könnte man die Themengeschichte dieser Subdisziplin resümieren. Statt die eigenen Interessen oberhalb aller Wissenstypologien zu situieren, um von dort aus auch deren Genese behandeln zu können, hat man es vielmehr mit verschiedenen Versionen von Wissenssoziologie zu tun, die den einen Typus gegen den anderen ausspielen. Dabei scheint der Typus des praktischen Wissens zu dominieren: Zunächst nur als Ergänzung des Themenbestandes der Klassiker gedacht, ist aus seiner Analyse unterdessen die Hauptbeschäftigung dieser Forschungsrichtung geworden, und das Interesse an einer wissenssoziologischen Auf klärung der Ideengeschichte und ihrer Zäsuren fristet demgegenüber ein marginales Dasein. Das ist ein wissenschaftsgeschichtlich interessantes Datum, zu dessen Erklärung die folgenden Überlegungen beitragen wollen. Eingeleitet wurde jener Sinneswandel durch das bekannte Buch von Berger und Luckmann (1969). In der Kritik an Mannheim und seinen Vorgängern, mit dem es beginnt, wird ihm eine zu enge Themenwahl vorgehalten: Theorien, auch Sozialtheorien, seien soziologisch gesehen nicht allzu wichtig, und mit seiner Auszeichnung des theoretischen vor dem praktischen Wissen habe Mannheim daher das Pensum der Wissenssoziologie viel zu eng umschrieben. Die soziologische Thematisierung des Wissens sei dabei stark unter Wert angeboten worden: als eine spezielle Soziologie neben anderen statt als Grundlagentheorie des gesamten Faches. Nur durch Zuwendung zum Alltagswissen lasse sich dieses Selbstmissverständnis kurieren. Ein knapper Vergleich dieser Position mit den Auffassungen Mannheims (II) soll zeigen, dass der spektakuläre Erfolg der Kritik an ihm nicht etwa darauf beruht, dass Berger und Luckmann ein analytischer Zugriff von überlegener Allgemeinheit gelungen wäre. Denn auf ihre Weise hatten ja auch Mannheim und seine Vorläufer einen Zug ins Grundsätzliche (III). Über das Format einer speziellen Soziologie reichten auch ihre Vorstellungen, der Ambition nach, deutlich hinaus. Auch ihre Version von Wissenssoziologie sollte sich als Grundlagentheorie des gesamten Faches vertreten lassen. Eine rein ideengeschichtliche Nachzeichnung
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des Überganges stößt also auf Grenzen. Um sie zu überschreiten, soll abschließend eine alternative Lesart vorgestellt werden, die Denkmittel der klassischen Wissenssoziologie einsetzt, um deren heutige Marginalisierung innerhalb des Faches verständlich zu machen (IV).
II Machen wir uns an Themenwahl und Technik der Begriffsbildung zunächst einige leicht erkennbare Unterscheide zwischen den beiden Soziologien des Wissens klar. In der ersten Version, die letztlich auf Anregungen von Karl Marx zurückgeht, behandelte man das begrifich verselbständigte Wissen, das eine Gesellschaft über sich selber hervorbringt: ihre Theorien, ihre Philosophie, ihre semantischen Traditionen. Als Gegenbegriff dazu fungierten die Sozialstrukturen dieser Gesellschaft, so wie ein mit den aktuellen Denkmitteln seiner Disziplin ausgerüsteter Soziologe sie sehen würde. Wissen und Struktur werden also jeweils für sich erfasst, und der soziologische Zugriff zielte auf die Korrelation zwischen beidem.2 Dass man auch von den Strukturen etwas „wissen“ muss, von den Rollenstrukturen zum Beispiel, um sich in der Gesellschaft zurechtzunden, das wird bei dieser Anlage der Wissenssoziologie zwar nicht explizit bestritten; aber es wird auch nicht eigens betont. In der zweiten Version geht es dagegen gerade um jenes elementare Wissen, das schon im Strukturgebrauch selbst impliziert ist. Hier werden die Sozialstrukturen ihrerseits als Wissensstrukturen beschrieben – ungefähr so, wie man die Dinge als Bewusstseinsstrukturen beschrieben hatte. Zu den bevorzugten Themen gehören hier einerseits die sozial inklusiven Strukturen eines Alltagswissens, an dem jedermann teilhat, und andererseits die sozial exklusiven Strukturen eines Expertenwissens, das nur den Spezialisten der jeweiligen Sinnprovinz zugänglich ist, während es ihren Laien schleierhaft bleibt.3 In beiden Fällen zielt der Zugriff auf solche Komponenten des Wissens, die diesseits von Theoriebildung und begrificher Systematisierung anfallen. Dass es auch jenseits solcher Schwellen so etwas wie Wissen gibt, das wird dabei nicht explizit bestritten; aber es wird auch nicht eigens betont. In der Programmschrift von Berger und Luckmann standen immerhin, unter dem Gesichtspunkt von „Legitimation“, auch Theorien und theorieabhängige Ordnungsargumente auf der Agenda; aber erfolgreich waren sie nicht mit diesem Punkt ihres Programms. Diesen Unterschieden in der Themenwahl entsprechen solche in der Technik der Begriffsbildung. Die Soziologie des Alltagswissens muss ihren Leitbegriff 2
Siehe dazu nur Mannheim 1995. Hier können dann soziologische Grundbegriffe für Arbeitsteilung oder funktionale Differenzierung in die Wissenssoziologie eingebaut werden. 3
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so denieren, dass er es mit anderen Begriffen für Sozialstrukturen aufnehmen kann. Folglich geht es ihr um den Indifferenzpunkt von Wissen und Sozialstruktur, nämlich um denjenigen Punkt, an dem es unmöglich oder mindestens artiziell wird, beides überhaupt unterscheiden zu wollen.4 Es geht also um die Einheit von Wissen und Sozialstruktur. Anders die Soziologie der gepegten Semantik. Sie bildet den für sie relevanten Begriff des Wissens so, dass dabei so etwas wie die Ausdifferenzierung dieses Wissens, erzeugt durch konsistenten Begriffsgebrauch, vorausgesetzt ist. Ihr geht es um die Ordnung eines Wissens, das mit den tragenden Sozialstrukturen der Gesellschaft schon nicht mehr identisch ist, sondern diese nur thematisiert – ob nun direkt oder indirekt, und ob nun als Aussage über den Kosmos, die Natur oder den Menschen getarnt oder nicht. Im einen Falle wird der Begriff des Wissens als differenzloser Begriff verwendet, so dass alle Sozialstrukturen als Formen von Wissen erscheinen können und die Soziologie des Wissens so etwas wie die Grundlagentheorie des gesamten Faches abgibt. Im zweiten Falle unterscheidet man zwischen Sozialstruktur und Wissen. Mit Unterschieden in der theoretischen Ausrichtung ihrer Anhänger hängt die Differenz der beiden Wissenssoziologien nur locker zusammen. Zugunsten der ersten Version kann man nicht nur Mannheim, sondern, als einen späten und darum vergleichsweise isolierten Repräsentanten, auch Luhmann zitieren.5 Mannheim dachte aber, was Sozialstrukturen betrifft, noch in den Bahnen einer Theorie der Klassengesellschaft, die er allenfalls mit Konzepten für weitere Großgruppen, nicht aber in Richtung auf funktionale Differenzierung überschritt. Und seine Wissenssoziologie war, da er noch ohne Kommunikationsbegriff dachte,6 eine Soziologie des Bewusstseins und seiner sozialen Konditionierung. Die Unterschiede zur Systemtheorie sind also leicht zu erkennen. Und auch die zweite Version von Wissenssoziologie hat ihre Einheit durchaus nicht in den Grundannahmen dieser oder jener soziologischen Theorie. Sie müsste nicht im Anschluss an Berger und Luckmann, sie könnte auch im Anschluss an Garnkel formuliert werden. Wenn aber die Differenz dieser beiden Versionen von Wissenssoziologie nicht in der jeweils bevorzugten Theorie liegt, worin liegt sie dann? Die Unterschiede in der Themenwahl – hier das theoretische und dort das vortheoretische Wissen – reichen 4 Dass es dann schwerfällt, latente Strukturen zu identi zieren, liegt auf der Hand. Siehe als Kritik daran Jürgen Habermas (1981). 5 Vgl. dazu Niklas Luhmann (1980, 1981, 1989, 1994). Weitere Beiträge zu dieser Art von Wissenssoziologie wären etwa Fuchs (1992: 62 ff., 144 ff., 174 ff.); Stichweh (1994); Goebel (1995); Kieserling (1999: 391 ff.). 6 Diesen Defekt hat als erster Ernst Manheim gerügt. Siehe dazu: Die Träger der öffentlichen Meinung: Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit, Brünn 1933, zitiert nach der Neuausgabe Aufklärung und öffentliche Meinung (hrsg. von Norbert Schindler), Stuttgart 1979, 26 ff. – Der Text ist unterdessen nur noch als einer der wenigen Vorläufertexte für Jürgen Habermas (1962) in Erinnerung. Er ist aber auch der erste Versuch, eine Wissenssoziologie auf kommunikationstheoretischer Grundlage zu schreiben.
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als Antwort auf diese Frage nicht aus. Sie wären vielmehr ihrerseits erst noch zu erklären. Die Erklärung, die wir im Folgenden ausprobieren wollen, besagt, dass es sich um eine Differenz zweier Fragestellungen oder Problemstellungen handelt.
III Diese Überlegung setzt voraus, dass sich oberhalb von Theorien und Theoriekontroversen einheitliche Problemstellungen identizieren lassen, die Theorievergleich und Theoriesubstitution anleiten, mindestens aber rekonstruierbar machen, und so in sozialer wie zeitlicher Hinsicht für die Einheit einer wissenschaftlichen Disziplin einstehen.7 Für die Soziologie kommt an dieser Funktionsstelle wohl nicht nur die Frage in Betracht: Wie ist soziale Ordnung möglich?, sondern zusätzlich auch die Frage: Wie ist soziologische Erkenntnis möglich? Da es der Soziologie um die Erkenntnis sozialer Ordnungen geht, müssen die Antworten auf beide Fragen so gewählt werden, dass sie zueinander passen. Man kann zum Beispiel nicht gut sagen: Soziale Ordnung ist Sinn, aber als strenge Wissenschaft kann die Soziologie diesen Sinn nicht behandeln. Und auch die Auskunft, als Wissenschaft könne die Soziologie nur rationales Handeln erforschen, aber in ihrem Gegenstandsbereich komme ein derartiges Handeln nicht vor, wäre nicht sehr vielversprechend. Sie würde die Soziologie auf das Hantieren mit Rationalmodellen des Handelns festlegen, deren empirische Referenz unklar bleibt. Die heute so genannten Klassiker der Soziologie haben sich denn auch, jeder auf seine Weise, um konsistente Antworten auf beide Fragen bemüht. Durkheim beantwortet die Ordnungsfrage mit einem Begriff der Verdinglichung, der dann auch im Zusammenhang der Erkenntnisfrage überzeugen soll. Wenn soziale Ordnung schon von Hause aus so beschaffen ist, dass niemand fürchten muss, ihre Realität sui generis könne sich unter der Hand in die unerforschbare Mikrodiversität eines milliardenfachen Meinens auösen, dann kann sie auch durch die Wissenschaft mit subjektfrei konzipierten Begriffen traktiert werden. Hier wird der Begriff der sozialen Ordnung so gewählt, dass er zu den Vorgaben eines vorausgesetzten Wissenschaftsbegriffs passt. Simmel wiederum stellt die Frage: Wie ist soziale Ordnung möglich?, zunächst noch ganz kantisch, nämlich als Frage nach der Herstellung dieser Ordnung durch das von außen hinzutretende Subjekt, stellt dann aber klar, dass die damit in Anspruch genommenen Syntheseleistungen im Falle der Soziologie schon im Gegenstand, nämlich schon in der Gesellschaft selber erbracht werden müssen. Die Beobachtung der Gesellschaft habe immer schon und noch vor aller Wissenschaft die Form einer Selbstbeobachtung, und auch die Soziologie könne 7
Siehe zur Begründung dieser These Niklas Luhmann (1981).
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Leistung dann nur ins Unwahrscheinliche hochtreiben. Es lohnt sich festzuhalten, dass damit die Erkenntnisfrage als engerer Fall der Ordnungsfrage konzipiert ist, Wissenschaft also als ein Fall von sozialer Ordnung neben anderen gilt. Eine derart abgestimmte Antwort auf beide Fragen ist der Wissenssoziologie nicht gelungen. Vielmehr gilt, dass Mannheim nur auf die Erkenntnisfrage zu antworten versucht, während Berger und Luckmann es exklusiv mit der Ordnungsfrage zu tun haben. Es scheint mir diese Differenz zwischen den beiden Soziologien des Wissens zu sein, in der die anderen ihre Erklärung nden. Machen wir uns dies zunächst an den Unterschieden an dem jeweils bevorzugten Wissenstyp klar. Soll der Wissensbegriff auf die Frage nach der Möglichkeit einer sozialen Ordnung antworten, dann lenkt dies die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Typus von Wissen, während andere Wissenstypen zurücktreten und marginalisiert werden. Die These, Sozialität schlechthin sei in geteiltem Wissen fundiert, kann sich ersichtlich nicht auf eine Fundierung durch das Wissen der modernen Wissenschaften beziehen. Das würde schon daran scheitern, dass man diesen Ansatz auf vormoderne Gesellschaften nicht übertragen kann, da diese Wissenschaft in dem für uns maßgeblichen Sinne nicht kannten. Aber auch in der modernen Gesellschaft sind die Wissenschaften, gesellschaftstheoretisch gesehen, nicht wichtig genug. Sie penetrieren den Alltag vor allem in der Form von Technik, nicht aber in der Form, dass man sich in ihren artiziellen Theorien zurechtnden müsste, um sich in sozialen Situationen zurechtzunden. Die Vorstellung einer verwissenschaftlichten Gesellschaft gehört, ob nun als Tatsachenaussage oder als Trendmeldung verstanden, der Vergangenheit an. Auch um ein theoretisches Wissen, das seine eigene Konsistenz über Begriffe zu kontrollieren versucht, kann es bei dieser Anlage der Wissenssoziologie nicht gehen. Zwar ist der Begriff der Theorie breiter als derjenige der Wissenschaft. Aber auch vorwissenschaftliche oder außerwissenschaftliche Formen von Theoriebildung sind keineswegs in jeder Gesellschaft zu beobachten. Auch sie sind also keine Implikationen von Sozialität schlechthin. Will man dem Wissensbegriff die größtmögliche Tragweite für die Objektseite der soziologischen Erkenntnisrelation geben, dann kann weder das wissenschaftliche noch das theoretische Wissen der Modelfall sein. Weder universalistische Geltungsansprüche noch Ansprüche auf eine konsistente Begrifichkeit können ohne weiteres unterstellt werden. Die These der Fundierung von Sozialität in Wissen kann vielmehr sich nur auf Alltagswissen und common sense, nur auf Milieukenntnis und praktische Kognitionsleistungen richten. Nur mit dieser Ausrichtung an den vortheoretischen und vorwissenschaftlichen Formen des Wissens kann die Wissenssoziologie den Anspruch erheben, so etwas wie Grundlagentheorie der gesamten Soziologie zu sein oder zu werden. Wer diese These vertritt, der muss folglich eine Soziologie des Alltagswissens vorschlagen. Diesen Schritt haben
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Berger und Luckmann der Wissenssoziologie empfohlen, und wie gesehen, halten die Erfolge dieser Empfehlung bis heute an. Ist das Vokabular der Wissenssoziologie aber erst einmal auf diesen Typus eingestellt, dann eignet es sich nicht länger, auch eine Soziologie der Soziologie anzuleiten. Denn so unstrittig es ist, dass auch Soziologen auf Alltagswissen zurückgreifen müssen – und zwar nicht nur nach Feierabend, sondern auch im Kern ihrer Berufsrolle –, so unstrittig sollte es sein, dass die Soziologie nicht ausgerechnet diese Allerweltskomponente ihres eigenen Wissens für identitätskritisch hält. Stolz ist sie nicht etwa darauf, dass auch ihre Mitglieder in der Lage sind, sich in Bibliotheken oder Berufungskommissionen zu behaupten. Und selbst ein eklatanter Mangel an Alltagswissen, so wie ihn das Stereotyp des zerstreuten Professors vor Augen hat, schlägt auf die spezisch wissenschaftliche Reputation keineswegs durch. Das Lachen der Thrakerin hat den Fortgang der Wissenschaft nicht aufhalten können (siehe dazu Blumenberg 1987). Im Unterschied zu dieser Soziologie des Alltagswissens waren schon jene Vorläufer der Wissenssoziologie, die man heute unter dem Begriff der Ideologiekritik subsumiert, so etwas wie Protosoziologen eines Wissens mit Theorieanspruch. Das Alltagswissen und die milieuspezischen Kognitionsleistungen waren ihr Thema nicht. Stattdessen waren sie mit einer Entzauberung von Großtheorien befasst. Das beste Beispiel dafür ist natürlich die Kritik der politischen Ökonomie. Bekanntlich war es diese Tradition, an die auch Karl Mannheim den Anschluss suchte. Auch er konnte sich für das vortheoretische Wissen nicht recht begeistern. Weder wollte er wissen, warum jeder Mensch nur eine Person sein kann, noch interessierte er sich für das praktische Wissen der Polizisten oder für die kognitiven Routinen einzelner Krankenhäuser. Stattdessen befassen sich seine großen Studien mit den Sozialtheorien des neunzehnten Jahrhunderts. Dagegen richten Berger und Luckmann den Einwand: Mit der Konzentration auf Großtheorien habe die Wissenssoziologie einen späten und exotischen Typus von Wissen vor Augen, der die Wissenssoziologie dazu verurteile, als Soziologie der Ideengeschichte eine Subdisziplin neben anderen zu sein, während es doch in Wahrheit darauf ankomme, sie als Grundlagentheorie der gesamten Soziologie zu etablieren. In Wahrheit erhebt auch die Wissenssoziologie von Mannheim diesen grundlagentheoretischen Anspruch. Nur folgt bei ihm daraus, dass er noch die Frage nach der Begründung des soziologischen Wissens, bislang eher ein Gegenstand der philosophischen Erkenntnistheorie, in Wissenssoziologie glaubte aufzulösen zu können. Er reagiert auf die Entdeckung, dass die Entzauberung der Großtheorien des neunzehnten Jahrhunderts, ihre Erschütterung durch Ideologiekritik, auch auf die Großtheorien der Soziologie selbst anwendbar ist. Und er fragt daher: Wie ist soziologische Erkenntnis überhaupt möglich? Oder auch: Wie kann eine differenzierte Gesellschaft ein Wissen über sich selbst produzieren, das mehr und
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anderes ist als nur das Wissen dieses oder jenes Teilsystems? Das setzt einen auch epistemologisch interpretierbaren Begriff von gesellschaftlicher Differenzierung, also heute etwa die Vorstellung von Teilsystemen der Gesellschaft als Beobachtern der Gesellschaft, voraus, die sich im Maße des für sie erreichbaren Universalismus unterscheiden und darum unterschiedliche Chancen haben, wenn es um die Produktion eines relativ kontextfreien Wissens geht. In der Tat behandelt Mannheim die Strukturen eines Wissens, das mit den tragenden Sozialstrukturen der Gesellschaft schon nicht mehr identisch ist, sondern sie nur noch thematisiert. Aber seine Präferenz für diesen Typus von Kognitionsleistungen ergab sich nicht etwa daraus, dass er dessen Tragweite für die Reproduktion der Gesellschaft naiv überschätzt hätte, sondern daraus, dass er einen Gegenstand suchte, an dessen Behandlung man zugleich etwas über die Möglichkeit von Soziologie lernen kann. Die Einheit eines Problems, das die Soziologie nach seiner Auffassung mit den vorwissenschaftlichen Sozialtheorien teilt, hatte ihn dazu motiviert, vor allem diese zum Thema zu machen – und nicht etwa andere Theorien oder gar das vortheoretische Wissen des Alltags. So jedenfalls könnte eine rationale Rekonstruktion dieser Themenwahl lauten. Es spricht für diese Rekonstruktion, dass man eine ähnlich enge Themenwahl auch noch bei einem zweiten Vertreter der klassischen Wissenssoziologie, nämlich bei Norbert Elias nden kann. Der Wissenstyp, auf den er seine Soziologie ansetzt, ist das Wissen der modernen Naturwissenschaften. Auch hier geht es nicht um die gesellschaftstheoretische oder sozialtheoretische These, dass dieses Wissen den Spitzenplatz einer imaginären Hierarchie des Wissens besetzt hielte, der auch die Soziologie des Wissens sich anzupassen hätte. Selbst wenn man konzediert, dass die Gesellschaftstheorie von Elias dem Szientismus und mitunter, nämlich in ihren Vorgriffen auf Künftiges, sogar den Vorstellungen von Technokraten mitunter recht nahekommt – die Themenwahl seiner Wissenssoziologie ist davon ganz unabhängig. Denn auch hier geht es nur darum, dass die Wissenssoziologie ihre Themen so wählen muss, dass sie an ihnen etwas darüber lernen kann, wie die Soziologie als Wissenschaft möglich ist. Mannheim hatte sich mit den Ideologien des neunzehnten Jahrhunderts an erfolglose Versuche der Verwissenschaftlichung gehalten. Elias hält sich stattdessen an die unbestritten erfolgreichen Naturwissenschaften. Aber die Logik ist bei ihm dieselbe, von der auch Mannheim sich leiten ließ: Nur dann, wenn die Soziologie sich auf gleichartiges und nicht etwa auf ungleichartiges Wissen konzentriert, nur dann hat sie eine Chance, dass die Soziologie dieses Wissens zu Erkenntnissen führt, die auch für die Soziologie des soziologischen Wissens etwas besagen. Es sollte also entweder um andere Arten von Sozialtheorie (Mannheim) oder aber um andere Arten von Wissenschaft (Elias) gehen, und nicht etwa um das implizite Wissen der Lebenswelt oder um die milieuspezischen Kognitionsleistungen.
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Und natürlich war Elias auch darin Schüler von Mannheim, dass er nicht im Traum daran dachte, die Theorie der wissenschaftlichen und so auch der soziologischen Erkenntnis den Philosophen zu überlassen. Beharrlich wiederholt er den Einwand, dass die philosophische Theorie der Erkenntnis den von ihr aufgestellten Normen für gute Wissenschaft ihrerseits durchaus nicht entspricht. Statt als deskriptive Theorie trete sie als normative Theorie auf, und statt sich für Widerlegungsversuche durch den faktischen Gang der Wissenschaft offenzuhalten, dogmatisiere sie ihre eigenen Idealisierungen. So kann, so muss man urteilen, wenn man das Projekt einer soziologischen Theorie der Erkenntnis ernstnimmt und gerade hier, und nicht in der Rekonstruktion des Alltagswissens, die Aufgabe der Wissenssoziologie sieht. Berger und Luckmann wiederum zahlen für ihre Revision der Wissenssoziologie mit der Preisgabe dieses Programms. Die Begründung der Soziologie erwarten sie in alter Weise von der philosophischen Erkenntnistheorie, und ihren eigenen Ansatz verstehen sie so, dass er mit sehr verschiedenen Erkenntnistheorien, ausgenommen allenfalls extreme Versionen von Positivismus, kompatibel sein soll. Mit einer universalistischen Vorstellung von Wissenssoziologie ist dies allerdings inkompatibel. Weder die Philosophie noch die Soziologie selbst können auf diese Weise thematisiert werden.
IV Ich breche die Darstellung von Mannheim auf der einen, Berger und Luckmann auf der anderen Seite an dieser Stelle ab, um ein Fazit zu ziehen: ein generelles Gefälle an Allgemeinheit oder Grundsätzlichkeit ist zwischen den hier verhandelten Positionen nicht zu erkennen. Dem Gewinn an Themen, auf den Berger und Luckmann verweisen, steht ein Verzicht auf die Soziologie der Soziologie gegenüber. Die Wissenssoziologie, die sie vorschlagen, ist zwar thematisch umfassender als die Vorlagen von Mannheim, aber sie ist nicht zur Selbstanwendung in der Lage. Sie behandelt jedes Wissen, nur nicht das eigene. An deren Stelle tritt jene Abhängigkeit der Soziologie von der Philosophie, aus der die älteren Wissenssoziologie sich zu lösen versuchte. Der Einwand ist berechtigt, dass der Ansatz von Mannheim in den Themen enger gefasst war, aber dafür handelte es sich auch um einen universalistischen Ansatz mit starken autologischen Komponenten, die seither ersatzlos entfernt wurden. Die Überlegenheit, die Berger und Luckmann für sich reklamieren, gilt nur relativ auf das Kriterium der Thematisierungskapazität. Lässt man daneben auch weitere Kriterien zu, führt der Vergleich zu einem Patt. Der Themenwechsel in der Wissenssoziologie bezeichnet also einen Strukturwandel im Wissenschaftssystem, den man nicht gut nach dem Muster kumulativen
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Lernens interpretieren kann. Aus den Argumenten, die für ihn warben, ist dieser Austausch der Forschungsprogramme und Fragestellungen nicht vollständig zu verstehen. Nun ist ein rational untermotiviertes Geschehen der Theoriesubstitution ein Tatbestand, mit dem die ältere Wissenssoziologie reiche Erfahrungen hat. Der Schluss aus Rationalitätsdeziten auf das Mitspielen externer Umstände war eine ihrer bevorzugten Denkguren. Es liegt daher nahe, ihn auch für die Geschichte der Wissenssoziologie selber zu ziehen. Dazu verhilft zunächst die Einsicht, dass die in diesem Text als klassisch apostrophierte Wissenssoziologie von ihren amerikanischen Beobachtern immer schon als etwas spezisch Deutsches beschrieben worden war. Robert K. Merton (1959) hatte ihr die amerikanische Massenkommunikationsforschung als einen alternativen Ansatz gegenübergestellt: Während die amerikanische Version ein sozial inklusives Meinungswissen vor Augen habe, das sich aus gut isolierbaren Items zusammensetzt, interessiere man sich in Deutschland mehr für begrifich integrierte Systeme des Wissens, deren Kenntnis ein Privileg von Spezialisten sei. Ist die klassische Wissenssoziologie aber eine regionale Besonderheit gewesen, dann präzisiert das die Frage nach der sie tragenden Sozialstruktur. Nur solche Gegebenheiten kommen in Betracht, in denen die deutsche sich von der amerikanischen Soziologie einmal unterschieden hatte. Aber welche Gegebenheiten könnten dies sein? Im Rückblick liegt es nahe, auf Unterschiede in der akademischen Etablierung des Faches zu verweisen. Dabei fallen vor allem Tempodifferenzen in interdisziplinären Differenzierungsprozessen ins Gewicht. Während die Soziologie in Amerika schon recht früh zu einer selbständig studierbaren Wissenschaft wird, bleibt sie in Deutschland bis weit in die Nachkriegszeit ein Nebenfach. Das bedeutet, dass die Soziologen, die es lehren, ihrer Ausbildung nach gar keine reinen Soziologen sind, sondern irgendein anderes Fach studiert haben. Dass dies für den Aufbau einer soziologischen Fachtradition wenig günstig war, ist leicht zu erkennen. Aber auf der anderen Seite hatte es auch den Vorteil einer gewissen Breite der intellektuellen Orientierung. Die semantischen Traditionen anderer Disziplinen sind den deutschen Soziologen dieser Zeit so geläug, wie sie es eben nur aufgrund eines Studiums werden können. Das gilt auch und gerade für das Verhältnis zur Philosophie. Wie man sich neben Mannheim auch am intellektuellen Prol von Adorno oder Gehlen, Schelsky oder Tenbruck klarmachen kann, war sie vielen Soziologen vertraut geworden, noch ehe sie sich den soziologischen Fragestellungen zuwandten.8 Der Entschluss, auch Texte philosophischen Anspruchs zum Thema spezisch soziologischer
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Als den zugleich jüngsten und letzten Soziologen dieses Typs mag man Jürgen Habermas ansprechen. Siehe speziell dazu Kieserling (2004).
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Untersuchungen zu machen, musste unter diesen Bedingungen subjektiv wie objektiv naheliegen: subjektiv, weil keine langen Lern- und Sozialisationsphasen zu durchlaufen waren, ehe man über philosophische Themen urteilen konnte; und objektiv, weil diese Fähigkeit auch unter den soziologischen Kollegen vorausgesetzt werden konnte. Für eine Soziologie der Philosophie gab es unter diesen Umständen sowohl Autoren in ausreichender Zahl als auch ein Publikum, das als urteilsfähig unterstellt werden konnte. Mit beiden Vorteilen hat die akademische Etablierung der Soziologie als selbständiges Fach aufgeräumt. Angesichts der stärkeren Differenzierung von Soziologie und Philosophie, an die man sich unterdessen gewöhnt hat, kann nicht mehr vorausgesetzt werden, dass Soziologen in der Lage sind, philosophische Texte zu lesen. Diese Kompetenz wird vielmehr abhängig von biographischen Zufällen wie dem eines Zweitstudiums. Aber selbst wo sie auf dieser Grundlage vorhanden ist, fehlt ihr die Gewissheit, nicht ins Leere zu reden. Für den Wegfall eines urteilsfähigen Publikums bieten auch Doppelbegabungen oder Zweistudien keinen Ersatz. Es ist diese institutionelle Konstellation, der die Wendung zum Alltagswissen ihre soziologischen Erfolge verdankt. Der Themenwechsel von der Philosophie zum Gebrauchswissen wäre demnach ein Effekt geänderter Studienordnungen. Wenn diese Wissenssoziologie der Wissenssoziologie auch nur halbwegs zutreffend ist, dann enthält sie zugleich eine Prognose: die Bedingungen für die Fortsetzung der klassischen Wissenssoziologie, die Bedingungen für eine Wiederaufnahme ihrer Fragestellungen unter wie immer variierten Theorieannahmen sind ungünstig. Vor allem die Eliminierung eines philosophisch urteilsfähigen Fachpublikums wirkt entmutigend. Es mag Außenseiter geben, die sich davon nicht abschrecken lassen, oder auch Theoretiker, deren Reputation so groß ist, dass sie auch ungewöhnliche Themen aufwerten kann. Und natürlich gibt es nach wie vor auch die Fachgeschichtsschreibung im Sinne einer Subdisziplin, die an der Philosophie nicht einfach vorbeigehen kann. Es gibt keinen Grund, solche Arbeitsbedingungen geringzuschätzen. Aber verglichen mit einer Soziologie des Alltagswissens liegen die Schwellen für eine Soziologie der Philosophie heute höher als vor der akademischen Verselbständigung des Faches. Einen Grund, die entsprechenden Forschungen einzustellen, würde ich darin freilich nicht sehen. Aber möglicherweise könnte mehr geschehen, wenn es darum geht, sie nicht vollends dem Zufall zu überlassen.
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Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit
Außenseiter als Hofnarren im Wissenschaftssystem Manfred Lauermann
Denn wer sich selbst als Narr eracht’t,/ Der ist zum Weisen bald gemacht. Sebastian Brant Das akademische Leben ist also ein wilder Hazard. Max Weber
Zu den glücklichen Kindheitserinnerungen zähle ich die Lektüre des Eulenspiegel1, die mich nachhaltig prägen sollte. Während des Studiums bei Hans Mayer an der TH Hannover (Lauermann 1997) konnte ich ein Buch in der berühmten Reihe Literatur als Kunst kaum übersehen, das ein Lehrstuhl-Mitarbeiter gerade geschrieben hatte: Der Bürger und der Narr oder mit dem ursprünglichen Titel: Der tragische Hanswurst als Maske des sentimentalischen Menschen (Promies 1966). Damit begann die Herausbildung eines Gedächtnisses für diesen Komplex, in das allerlei einoss, modisches wie Wahnsinn und Gesellschaft2, abgelegeneres wie ethnologische Texte zu Trickster oder Funde wie der Wol-geschliffene NarrenSpiegel. Daher traf mich Ronald Hitzlers Satz wie ein Blitz: „Narren sind vielleicht Skeptiker unter der Maske des Irren. Jedenfalls müssen Narren wissen, wie man
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Ich verkneife mir – aus Platzgründen – das Eulenspiegel-Material auch nur anzudeuten (eine winzige Spätlese ist Lauermann 2007) –, einzig erlaube ich mir einen Hinweis, den ich Steffen Dietzsch verdanke: das obskurste Büchlein scheint von Ernst Bertram (Nietzsche/Thomas Mann) zu sein, Till Eulenspiegel in Magdeburg (1951). 2 Allein die wissensgesättigten Fußnoten 119/120 genügen, die Narrenschiff-Phantasien unserer französischen Reputationsgröße ersten Ranges zu demontieren, aber wer hört schon auf einen (1996 noch) Privatdozenten? (Siehe Kemper 1996: 122–125). Außerdem beichte ich zögernd: Wahnsinn und Gesellschaft ist ein wunderschönes Stück Prosa, zugleich das revolutionäre Gemüt befriedigend. – Der Wahnsinn „ist die Strafe einer aus den Regeln geratenen und unnützen Wissenschaft. Wenn er die Wahrheit der Erkenntnis ist, heißt das, daß die letztere lächerlich ist und daß sie, statt sich an das große Buch der Erfahrungen zu wenden, sich im Staub der Bücher und in den müßigen Diskussionen verliert. Das Wissen wird durch den Exzeß der falschen Wissenschaft selbst zum Wahnsinn“ (Foucault 1969: 43).
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den Irren spielt. Aber Narren müssen auch wissen, wie man das Spiel als Spiel durchschaubar macht, sonst werden sie leicht ‚irre‘“ (Hitzler 2006: 77). Dazu dieser Zwischenruf. Zuerst möchte ich (1) die Figuration des Hofnarren näher betrachten, die sich zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert in Europa ausbreitet, dann suche ich ein funktionales Äquivalent: (2) den akademischen Außenseiter des Wissenschaftssystems bis in die Gegenwart. Schließlich (3) behandle ich kurz einen Vorschlag, die ‚Narren der Moderne‘ als Exzentriker zu bestimmen und ende mit einigen ausgewählten Outsiders.
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Hofnarr
„Die Römer hatten bei bestimmten Festen bereits die Komik der verkehrten Welt gekannt, die als Inversion der herrschenden hierarchischen Ordnung auf Zeit im Mittelalter eine große Rolle spielte. […] Die weite Verbreitung des (Hof-)Narren und die literarische Pege vieldeutiger Narrheit (Erasmus, Shakespeare) können als Institutionalisierung der kathartischen Funktion des Lachens gedeutet werden. Denn wenn das römische Lachen satirisch war, dann war das mittelalterliche parodistisch bis zur Blasphemie“ (Reinhard 2004: 105). Andere spezialisierte Historiker wie Lever (1983) und Petrat (1998) erzählen dem Gegenstand entsprechend in bunten Farben die Geschichten der Hofnarren. Die Vorstufe des Narren am Hof ist der Volksnarr, der zu bestimmten Kirchen-Festen verkehrte Welt spielen darf. Das Grundmuster wird übertragen. „Beschränktheit, Torheit, Tick oder gar heller Wahnsinn gelten als göttliche Auszeichnung, die dem Betroffenen fromme, respektvolle Scheu seiner Mitmenschen einträgt, ihn vielfach auch unverantwortlich macht und außerhalb der Gesetze stellt. Da aber ebenso der Herrscher als Abgesandter Gottes gilt, so stehen sich Fürst und Narr in geheimnisvoller Wechselbeziehung, ja in mystischer Verwandtschaft gegenüber. Sie gehören zusammen wie die Brennpunkte einer Ellipse. Der Fürst kann nicht Unrecht tun, der Narr ebenso wenig. So zieht der Fürst den Narren an sich, und jener drängt sich zum Fürsten“ (Amelunxen 1991: 7). Innerhalb der ständischen Feudalgesellschaft vollzieht sich die Konstitution reiner Individualitätsformen in der Doppelgur König/Narr. Die Gegenstruktur ist die hösche Gesellschaft, die von dem Herrscher diszipliniert wird und die sich ihrerseits an dessen Negativ – in ohnmächtiger Stellvertretung – an dem Hofnarren zu rächen versucht, weshalb dieser handfeste Garantien vom Herrscher zu erwirken sucht. Garantien, die sein physisches Überleben auch nach dem Tode seines Königs garantieren. Genauere Untersuchungen zur Struktur der höschen Gesellschaft in der Nachfolge von Elias zeigen eine extreme Kompliziertheit aller Interaktionen und Handlungsketten auf (Opitz 2005), die sich in tausenderlei institutionellen
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Arrangements verfestigen. Der Hofnarr ist die Reduktion dieser Komplexität für den Herrscher. „Die Rolle, die der Narr für den König spielt, ist einzigartig. Er ist weder Diener noch Ratgeber, weder Höing noch Günstling, nicht einmal ein zur Zerstreuung des Fürsten bestimmter Spielmann oder Gaukler. […] Er ist sowohl in der Öffentlichkeit als auch privat ständig an seiner Seite; er begleitet ihn überall hin, auf Reisen, zur Jagd, in den Rat, wo er manchmal an den Diskussionen teilnimmt; er folgt ihm in seine Privaträume, ja bis in das Schlafzimmer seiner Mätresse; er kann sich ihm gegenüber fast uneingeschränkt Freiheiten herausnehmen, er nennt ihn beim Vornamen, duzt ihn, unterbricht ihn ohne weiteres, kritisiert und berät ihn, ahmt ihn nach, und er kann abweisend oder einschmeichelnd sein, ohne sich je auch nur den kleinsten Verweis zuzuziehen. Eine fast unglaubliche Sache, wenn man bedenkt, was jeden anderen schon eine einzige dieser Vertraulichkeiten kosten würde. Aber ihm und nur ihm allein scheint alles erlaubt zu sein: er hat das Recht, alles zu machen, alles zu sagen. Sogar, ja vor allem die Wahrheit, so beleidigend sie für seinen Herrn auch sein mag“ (Lever 1983: 119).
Wir wohnen der Emergenz von Subjektivität bei, die später das Bürgertum sich auf die Fahnen schreiben sollte, aber nicht allein bei Kant zumeist als Imperativ. Die Narrenrolle antizipiert diese spätere Habitus-Konstellation. Idealtypisch wird der Hofnarr vom Herrscher aus einem freien Markt gewählt, je nach Angebot und Nachfrage, bevorzugt werden nicht selten behinderte Körper oder wahnafne Geister. Trainiert und vorgeführt werden muss beides intensiv und die Berufskrankheit Leberzirrhose schlägt vor allem am sächsischen Hof zu (Amelunxen 1991: 24). Die materielle Ausstattung der Hofnarren ist exzellent: Man mag Amelunxens Berechnungen kaum glauben. Neben Logis und Kost – und prachtvoller Dienstkleidung, den königlichen Gewändern an Kostbarkeit nachempfunden – ein üppiges Gehalt, Möglichkeiten des Zuverdienens, Festverträge auf Lebenszeit, inkl. Pensionen und unwahrscheinliche Aufstiegsmöglichkeiten. Drei Spaßmacher des Kardinals Richelieu bringen es zum ‚Grand Aumônier‘ des Königsreichs Frankreich, zum Bischof (obwohl Zwerg) und zum Theologie-Professor an der Sorbonne. „Die drei lustigen Prälaten zählen übrigens auch zu den Gründervätern der hochberühmten Académie Française“ (Amelunxen 1991: 19). Damit sind wir in einer Übergangspassage gelandet: Der Hofnarr wir durch den Hofpoeten substituiert, dieser ist seinerseits oft im Nebenberuf Professor. Das Gehalt ist allerdings erheblich niedriger, die Stellung erheblich unsicherer und die Wahrheit sollte er möglichst nicht sagen. Eine Prekarisierung des Hofnarren greift um sich. Der Gründe, die die Literatur anbietet, sind viele: Die Mätressen seien – verschwörungstheoretisch – die Ursache, als körperlich doch letztlich überlegene Konkurrenz, die zusätzlich eine Feminisierung des höschen Stils
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durchsetzen (Amelunxen 1991: 28 ff.). Die Zwangsverpichtung etwa von Adligen zu Hofnarren (natürlich kam auf diese Schnapsidee der russische Zar), wodurch statt Individualität ein bloß mechanischer Humor doch auf Dauer ineffektiv war (Petrat 1998: 73). Zuweilen, und nicht allein in den Königsdramen Shakespeares, übernahm der König die Rolle des Narren selbst, spielte sich als Narr, verdoppelte sich, dem Trickster gleichend. Verfügte der König doch traditionell über „zwei Körper“ (Kantorowicz 1990), was nicht besonders überraschen kann, wenn man an die Trickster-Konstruktion von Lévi-Strauss denkt (Koepping 1984: 200). Am preußischen Hof wird ein Habitus-Struktur-Konikt im Sinne Bourdieus ausgetragen. Friedrich Wilhelm I. führt in Personalunion als Hofnarr und Professor Jakob Paul Gundling vor.3 Heiner Müller lässt sich die symbolische Gewalt, die in diesen Konikt kulminiert, nicht entgehen. Eine Szene, in der ein lahmer Bär Gundling umarmt, kommentiert der König: „Dem Volk die Pfoten gekürzt, der Bestie, und die Zähne ausgebrochen. Die Intelligenz zum Narren gemacht, daß der Pöbel nicht auf Ideen kommt“ (Müller 1988: 388). Aber die Rache der Intellektuellen, der Putsch des Geistes gegen Macht und Reichtum kommt rascher als erwartet (Nagel 1981: 3). Vorher aber wird die hösche Welt geistig enteignet. Die Literaturgattung wechselt vom Hof zur Gelehrtensatire. Motivunterstellungen werden aufgedeckt, die das Ensemble (nach Goffman 1976: 73 ff.) der späteren Universitäts- und Wissenschaftslandschaft, jedoch zweifellos subtiler, determinieren werden. Was klassisch Ehrsucht4 heißt, wird heute als Zweitcodierung der Wissenschaft, als Reputation begrifich von der Systemtheorie bestimmt. Koenina (2003) trägt zusammen, was bis heute gültig zu sein scheint: Die Bibliomanie oder der gelehrte Wahn, je entlegener, desto besser: Parodien auf Forschungsthemen, Verspottung des akademischen Handwerks und Verkehrungen: Lob der Torheit (à la Erasmus 1511) und der Analphabeten. In einer Übergangssemantik von Hofnarr zum Außenseiter werden in der Aufklärung Wortmasken wie Hanswurst, Harlekin, Sonderling ausprobiert. 1737 erlebt die Gelehrtenwelt, beehrt vom preußischen König, einen ersten und zugleich grandiosen performativen Akt, Narr und Magister verschwimmen ineinander!5 Im perfekten Narrenkostüm – statt eines 3
Jakob Paul Gundling (1673–1731), 1718 in der Rolle als Professor Nachfolger von Leibniz qua Präsident der Akademie der Wissenschaften, in der Rolle als Hofnarr gern schon mal im Affenkostüm (Koenina 2003: 46 – mit weiterer Literatur, Petrat 1998: 139 ff.). Friedrich Wilhelm „läßt ihn in einem großen Weinfaß einsargen, auf dessen schwarzer Farbe ein weißes Kreuz mit folgender Inschrift gepinselt wird: „Hier liegt in seiner Haut / halb Schwein, halb Mensch, ein Wunderding / In seiner Jugend klug, im Alter toll / des Morgens wenig Witz, des Abends immer voll. / Bereits ruft Bacchus laut: / Das teure Kind ist Gundeling!“ (Amelunxen 1991: 28). 4 Spinoza de niert: „Ehrgeiz ist unmäßige Begierde nach Ehre“ und schreibt in der Erläuterung: „Cicero sagt: ‚Sogar die Philosophen setzen auf die Bücher, die sie über die Verächtlichkeit des Ruhmes schreiben, ihre Namen‘“. Ethik III, Def. 44 (z. B. Spinoza 1887: 237). 5 Zur Einführung in das geheimnisvoll Performative, siehe: Bachorski 2001/Grübel 1979.
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Degens ein Fuchsschwanz, auf dem Hute statt Federn Hasenhaare – trägt Salomon Jacob Morgenstern (1706–1785) seine Disputation vor: Vernünfftige Gedancken von der Narrheit und Narren (Promies 1966: 54; 126 ff.). Der Skandal wird durch Klassikerpege neutralisiert, die Aufklärung entdeckt Demokrit, den lachenden Philosophen, wie das bereits antike Klischee bei Wieland lautet, dem Heraklit als weinender Philosoph korrespondiert, und den Großmeister des närrischen Philosophen, Sokrates (Böhm 1966). „Der Weltweise, der Sokrates und Demokrit in der Narrenkappe – erbauliches Bild der reinsten und heitersten Aufklärung am Ende des Jahrhunderts – hat jenes Spiel nie mit der ganzen Existenz bestritten. Seine Erscheinungsweisen: hie bürgerliche Person, hie närrischer Rollenträger stellten sein Ich nie auf die Zerreißprobe. Sie vertrugen sich im Gegenteil wohl miteinander, weil sie eine durchaus unverbindliche Kundgabe waren“ (Promies 1966: 166). Dadurch ist die ernste Existenz des Hofnarren durchgestrichen und eine neue Form institutionalisiert sich: der akademische Außenseiter, dem ein ähnliches Schicksal droht: „Die Allusion des Narren blieb auf dem Papiere, in Vorreden Usance, während die bürgerliche Person sich nach wie vor der Konvention bequemte, so zu sein wie die anderen“ (Promies 1966: 292). Am Anfang des 19. Jahrhunderts schließlich wird die Quintessenz des verblichenen Hofnarren sublimiert in die bürgerliche Kultur übertragen: „Alles ist närrisch auf dieser Welt, außer einem närrischen Leben. Alles ist lächerlich, außer dem Lachen über alles und jedes. Alles ist eitel, außer dem schönen Trug und genußreichen Nichtigkeiten“ (Leopardi 1985: 522).6
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Insiders and Outsiders
Outsiders, um Mertons Termini zu adaptieren, haben die verdammte Picht und Schuldigkeit, im Betrieb, wie parasitär auch immer, auszuhalten. Darin sind sie dem Narren wesensverwandt, dessen Zwei-Seiten-Form, also dessen negative Symmetrie zum Herrscher, oben beschrieben wurde. Denn da nach Merton die Produktion der wissenschaftlichen Wahrheit nur durch beide Gruppen hindurch, durch etablierte Wissenschaftler und Outsiders, getätigt werden kann (Merton 1972: 31 f.), die zudem sich, jedenfalls prinzipiell, zwingen müssen, die je andere Perspektive einnehmen zu können, würde ein Verschwinden der Außenseiter aus dem Wissenschaftsbetrieb diesen nachhaltig sabotieren. Eine Konsequenz wäre: 6
Den Ausgang dieser Transformation markiert ausgerechnet ein Soziologe, dem alteuropäisches fremd ist: Niklas Luhmann. „Luhmann war wahrscheinlich einer der größten Humoristen seiner Zunft, wenn nicht der Wissenschaft überhaupt. Aber niemand hat das gemerkt, weil sein Witz haarscharf war und nur von denen verstanden werden konnte, die in der Lage waren, sich selbst zu verstehen“ (Baecker 2007: 128).
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Die Erzeugung wissenschaftlicher Sekten nimmt ihren Lauf. 1992 gab Luhmann zu Bedenken, obwohl von 2009 her gesehen damals die Idylle – weder Bachelor noch Master – zu herrschen schien, das Bologna-Schwert noch nicht gezückt war: „Die Personalförderung ist deutlich schlechter geworden, insbesondere, wenn man sich als Personal nicht den agilen jungen Menschen vorstellt, der schnell lernt, gut formuliert, gerne reist und überall sofort ankommt, sondern jemanden, der lange Zeit braucht und der sich selbst immer wieder testet, sich selbst immer wieder in Frage stellt. Wenn man einmal den Prototyp des jungen Mannes nimmt, der früher einmal deutscher Professor wurde, sieht man sofort: Diese Leute kommen nicht mehr durch“ (Luhmann 1992: 112). Unsere Soziologie hatte immer schon die Neigung, sich selbst zu beobachten, die Operation des in/out zu afrmieren, soziologistische (ökonomistische?) Kausalitäten für das Entstehen der Outsiders zu propagieren. Oft aber verschwieg sie, dass sie sich am liebsten selbst betrachtet und sprach halb bescheiden, halb anmaßend von ‚Wissenssoziologie.‘7 „Die soziale Organisation der wissenschaftlichen Arbeit in ihrer akademischen Form hat jedoch eine eigene ungeplante Dynamik. Zwei ihrer wesentlichen Merkmale sind, erstens, ein ungeplanter langfristiger Trend zu zunehmender Spezialisierung, und zweitens, ungeplante Macht- und Statusdifferentiale zwischen den verschiedenen Spezialdisziplinen. Ein drittes Merkmal, das mit diesen beiden zusammenhängt, ist die Tendenz wissenschaftlicher Establishments, Berufsideologien herauszubilden, eine Art wissenschaftliche Folklore, wie zum Beispiel eine innerdisziplinäre Ahnenverehrung, besonders Glaubensgrundsätze über ausgewählte ‚große Männer und Frauen‘, die dieser Disziplin angehören und keiner anderen, Glaubensgrundsätze über den einzigartigen Wert des eigenen Arbeitsgebietes, verglichen mit dem anderer – eine Folklore, die, obwohl vielleicht von begrenztem Erkenntniswert, das Zugehörigkeitsgefühl stärkt, den Stolz der Mitglieder auf ihre eigene Arbeit, Empndungen, deren Menschen, in vernünftigem Maß, möglicherweise bedürfen. Allzu oft tarnen sich diese Berufsideologien wissenschaftlicher Establishments jedoch als Theorien und führen so dazu, daß Forschungsbemühungen scheitern“ (Elias 2006: 280; 81).
Selten ist das Feld so präzisiert worden, welches als Anti-Struktur (Turner 2005) den strukturellen Ort für Außenseiter positioniert, bereitstellt. Es kann hier nicht die Frage geklärt werden, welche psychische Disposition jemanden für die Außenseiter-Rolle disponiert, also die Gewohnheit, in seiner Bastelbiographie
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Selbst ein kanonisches Kompendium scheint jetzt die Überdeterminierung zu verdecken, vgl. Hitzler/ Pfadenhauer 2006. In seiner liebenswürdigen Weise überzeugt Baecker uns, dass und wie AußenseiterWissen das Fach vorangetrieben hat, wie die ‚Insiders‘ geduldig und zäh dieses kleingearbeitet haben (Baecker 2007: 390 ff. = 81. Soziologie III).
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permanent alles falsch zusammenzusetzen. Die Identität des Außenseiters benutzt andere Spiegel, versteckt sich hinter anderen Masken als sein Pendant, die Insiders.8 Die objektiven Außenseiter-Bedingungen (ihrer Möglichkeit) sind:
die zunehmende Spezialisierung zu unterlaufen, etwa durch intensive gleichzeitige Mitarbeit an mehreren Sektionen der jeweiligen wissenschaftlichen Gesellschaft, das Sich-Trennen von Mode-Sektionen, Freundschaften in der scientic community mit den Anderen: der Theoretiker mit dem Empiriker; die Macht- und Statusdifferentiale verschiedener Spezialdisziplinen mittels paradoxer Intervention zu verüssigen (es kann nicht schaden, sich als reektierender Laie in Staatsrecht (Schmitt) einzulesen oder in eine Theorie der Konjunkturzyklen (Schumpeter), auch können Grundkenntnisse in Geschichte ebenfalls kaum Schaden anrichten (Osterhammels Geschichte des 19. Jahrhunderts, Reinhards Kleine Geschichte des Kolonialismus), schließlich wäre auch eine klassische Philosophie nicht vom Übel: ich rate mit Luhmann zu Spinoza); gegen Ahnenverehrung und Glaubensgrundsätze hilft nur Spott, vorzugsweise andere Ahnen (Tarde, der von Durkheim so lange verdrängte – Vorsicht! 2009 fast durchgesetzt). Nicht schlecht sind Gegenpredigen – wenn Marx durchdringend, dann eben Max Weber, wenn Weber dominant, dann zurück zu Marx (Lauermann 1989). Oder das Unterlaufen durch ‚schwache Diskurse‘: Dahrendorf, Kolakowski, Bauman bzw. durch Provokateure: Rudolf Burger, Im Namen der Geschichte, Žižek, In Defense of Lost Causes, Negri, GoodBye, Mr. Socialism – liegen zufällig auf meinem Lesetisch; weggeräumt sind Liessmanns Theorie der Unbildung – ein wahrlich närrischer Text und das ZfS Sonderheft zur Weltgesellschaft); wird das Zugehörigkeitsgefühl zu klebrig, muss das Lager gewechselt, Distanz gewonnen und Einsamkeitsfähigkeit (Marquard 1994: 110 ff.) antrainiert werden. Mein Vorbild seit 1968 darin: Arnold Gehlen.9
Doch halt, für eine Apologie des Narrentums, worin Außenseiter inkludiert seien, wird mein Tonfall zu ernst, meine Stimme zu schrill. Verfremdung ist vonnöten. Vervielfältigen wir den Typs des Außenseiters: Narren, Richter, Propheten und, beschränkter, Therapeuten (Hampe 2007: 39). Der Narr steht unterhalb/außerhalb 8 Ich spiele natürlich generell auf Goffman und Garnkel an, speziell auf Strauss 1968 und vor allem Lipp (1985: 117 ff.), Stichworte: Stigma, Selbststigmatisierung, Gegenstigmatisierung. 9 Schlüsseltext – für mich: Gehlen 1975. Siehe neuerdings zu Gehlens Blick ‚von oben‘: Rehberg 2007; zu seiner Insider-Historiographie – ‚Abrechnungen von Gescheiterten mit erheblicher Fallhöhe‘, ‚die wußten worum es ging‘ (ebd.: 43) – ferner: Manfred Lauermann: Zurück zum politischen Biedermeier. [zu einer Gehlen-Tagung] In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 8. Februar 2006, S. 3.
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des sozialen Feldes, der Richter darüber, der Prophet wählt sich nicht selbst, sondern ein Gott gebraucht ihn als Sprachrohr; der Therapeut (Arzt) endlich ist eine liminale Gestalt (John Berger), er berührt fremde Körper und greift qua Therapievorschlag in die Lebensweise ein, wird dadurch aber nicht wirklich Teil der Intimsphäre jener fremden Person. „Aus dieser Außenseiterrolle ergibt sich für alle vier Typen die Fähigkeit einer gemeinsamen Funktion, die für sie in sehr unterschiedlicher Mentalität realisierbar ist: die Funktion der Kritik“ (Hampe 2007: 41). Hat vielleicht der Außenseiter im Wissenschaftssystem Teil an den vier Typen? Narr sowieso, Richter über die Theorien anderer, Prophet in säkularisierter Verkleidung, Therapeut für die gesellschaftlichen Probleme. Ändern wir die Perspektive. Die amüsante Idee, das Sozialsystem der Wissenschaft als Stammesorganisation zu betrachten, ist eines Ausbaus fähig. Insiders/Outsiders wären dann zwei verfeindete Stämme, die jeweils in sich ihre Außenseiter hätten: Outsiders, die zu Insiders konvertieren und Insiders, die aus Eigensinn (= Narrheit) sich aus Wahrheitsliebe zu den Outsiders bekehren. Außerdem können die Schwachstellen mit List ausgenutzt werden, schwindende Kompetenz, wachsende Verhärtung sind Einstiegstore für Mitglieder des anderen Stammes, schließlich frisst sich der Normalismus durch. „Kooperative Menschen, die sich der Mehrheit beugen, die mit anderen auskommen, sich ihnen anpassen und die die Gruppe zusammenhalten, werden selbst dann bevorzugt behandelt, wenn sie weniger kompetent sind“ (Campbell 1985: 268). Zu einer Stammeskultur gehört ein Set von Außenseiter-Rollen, die wir der Ethnologie entleihen:10 1.
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Der Trickster oder Schelm. Ihn provozieren die routinisierten Abläufe des Wissenschaftsbetriebs. Die akademischen Empfänge, die Tagungsmechaniken, die Routine der Wortmeldungen nach Referaten, die Festschriftkulturen. Er kann aber seine Eskapaden nicht steuern, so bindet er wider Willen die Gemeinschaft der Mitmacher zusammen. (101) Der Parasit oder Hofnarr. Hier geht es darum, sich dort einzuschmuggeln, wo an-sich kein Zutritt ist, beim Tagungsabendessen dorten seinen Platz zu nden, wo die Prominenz sitzt. Er jongliert mit der Differenz, Wissenschaft sei für alle offen, so bekanntlich Mertons Universalismus-Postulat und der Tatsache, nur wenige werden zugelassen. (103) Sein Lieblingsobjekt sind Tagungen aller Art. Ist aber ein Pendant zu nden, zum Hofnarren, „… der den parasitären Narren in institutioneller Form“ repräsentiert? Vielleicht der Privatdozent? Der ewige Nachwuchswissenschaftler? Der Groucho-Marx-Typus. „I don’t want to be a member of a society which accept me as a member.“ (104) Hier wäre an das Personal von DFG oder DAAD
Nach Schnepel 2001. Seitenzahl im Text in Klammern.
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zu denken, ebenso an das von Stiftungen aller Art (think tanks, politische Stiftungen, Siemens). Eigentlich fühlen sie sich dem universitären Personal überlegen, haben deren Position nicht nötig. In ihnen treibt der Underdog sein unbewusstes Unwesen. (105) Der freche Neffe oder die Scherzbeziehungen. (107) Hat es Wissenschaft mit dem Teilsystem Politik oder mit Massenmedien zu tun, bildet sich dieser Typus heraus. Man gibt ständig zu verstehen, Wissenschaft sei nicht ernst zu nehmen, alles sei verhandelbar und auch ohne jede intellektuelle Arbeit könne die Andere mitreden – was den eigenen Anteil geistiger Anstrengung möglichst verdecken soll. Ideale Lektüre für diesen Typus ist Leggewie/ Mühlleitner 2007. Der Idealist oder Don-Quijote-Typus. Der „sieht sich selbst als Streiter für ein besseres und gerechteres Leben, als Kämpfer gegen den Mißbrauch der Macht und als ein Freund der Armen, Versklavten und Erniedrigten, die er aus ihrer Not befreien möchte.“ (108) In den Sozialwissenschaften neigt dieser Typus zu einer intensiven Sektenbildung an der marxistischen Peripherie, oft, aber nicht immer außerinstitutionell. (Instruktiv ist die Rezension eines Sektenhandbuchs, das sich als wissenschaftlicher Text missversteht, von Henning 2009). Allerdings reicht es nicht mehr für eine Bohème wie bei den intellektuellen Großvätern: den Junghegelianern der kritischen Kritik (Eßbach 1988: 308 ff.; Lauermann 2009). Der Idiot. Dieser Typus ndet sich vor allem in den Naturwissenschaften oder im religiösen Milieu der Theologen. Er ziert die Kampagnen gegen Wal(d)sterben, Gentechnologie, Tierversuche, Anti-AKW, Kindersterben usw. „Während sich alle Personen um ihn herum ständig verrenken und drehen, zerren und schubsen, nimmt der Idiot, obwohl er außerhalb der Geschehnisse steht, auf paradoxe Weise eine zentrale soziale Position ein. Er steht gewissermaßen im Auge des gesellschaftlichen Hurrikans. Für die ränkeschmiedenden guten Bürger stellt er einen notwendigen sozialen Referenzpunkt dar, um den herum sie ihre Intrigen, ihre Komplotte und ihr Mobbing gestalten können.“ (111)
Zwei weitere Typen sind (7) der Clown, den ich im Abschnitt 3 unter dem Titel Exzentrizität betrachte, und (8) der Heilige Narr – letzterer existiert im heutigen Wissenschaftssystem nicht (mehr)! Vordem war er zuweilen gesehen worden in der klassischen Philosophischen Fakultät, im Ausnahmezustand als Genie ausgerufen. Wem ele da nicht ein: Wittgenstein und Heidegger, und als letzter Widergänger: Derrida? Sein Grundantagonismus ist der von Narr und Priester. Die Philosophie des Narren ist, anzuzweifeln, was in einer Epoche am unerschütterlichsten gilt, die des Priesters ist die permanente Herstellung von Dogmen und von Ordnungen. Neue Mythologien verdrängen alte, Schwundstufen politischer Theologie werden
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überall sichtbar. „Das geistige Leben einer Gesellschaft, in der der Mechanismus des traditionellen Glaubens bereits verrostet, wimmelt von neuen Mythen, die offenbar mit größter Leichtigkeit – und sei es aus dem Fortschritt der Technik und der exakten Wissenschaften– geschöpft werden können“ (Kolakowski 1964: 279).
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Exzentriker und arrivierte Außenseiter
Hofnarren sind sozial, sachlich, zeitlich determiniert, während wir für sein funktionales Äquivalent, den akademischen Außenseiter, dessen Existenzform mittels Webers Hazard und Luhmanns aussterbenden Typus des Gelehrten limitiert wird. Dörr-Backes schlägt vor, einen der Postmoderne entsprechenden Begriff zu wählen: Exzentriker als die Narren der Moderne.11 Im Unterschied zu sozialen Gruppen resp. Rollen wie Außenseitern, Kriminellen, Delinquenten deniert sie:
„Exzentriker wählen ihre Form von Abweichung frei“; „Exzentriker planen ihre Abweichung temporär und räumlich begrenzt“; Sie sind „freudvoll dabei, sich eine abweichende Identität zuzulegen“; und schließlich: „In der Regel wird exzentrisches Verhalten kulturell toleriert, im besten Fall sogar akzeptiert. Das garantiert eine soziale Randposition, deren Freiheitsgrade kreativ genutzt werden können“ (alle Zitate: 155).
Im Verlauf ihrer Arbeit bemerkt Dörr-Backes eine zunehmende Neutralisierung ihres Erkenntnisobjektes, einhergehend mit einer Verharmlosung ihrer Kategorie, die sich daher schwerlich als Nachfolgerin für Hofnarr und Außenseiter anbietet. Sie differenziert daher ihre Kategorie und unterscheidet:
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Berufsexzentriker wie historisch die Bohème (217) oder als Mythos der asketische Wissenschaftler (239); Life-Stage-Exzentriker, „die sich bewusst von kulturell vorgegebenen Zeit- und Altersrollen-Vorgaben absetzen und eigene Zeitvorstellungen leben. Damit verweigern sie sich vorgegebenen sozialen Zeitvorgaben und gewinnen ein
Warum ExzentrikerInnen bislang kein Thema der Soziologie sind, behandelt sie als Grundproblem (Soziologischer Theorie- und Typenmangel). Eine von vier Vermutungen zur Ursache dieses Mangels lautet: „Sind viele Soziologinnen etwa selbst ExzentrikerInnen und deshalb mit einer Art Betriebsblindheit für das Thema beschlagen?“ (Dörr-Backes 2003). Ihr methodologisches Konzept wird außer durch Giddens, Beck, Hitzler besonders angeregt durch „Anne Honers Konzept der lebensweltlichen Ethnographie“ (ebd. 181).
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Stück Unabhängigkeit und individuelle Freiheit. Auf der kollektiven Ebene tragen sie zur Aufweichung rigider zeitlicher Rahmen bei und sichern dadurch sozialen Frieden [sic! M. L.]“ (249). Ähnlich funktioniert der Cross-Gender-Exzentriker (267), wobei dem Alltagsverstand vertraut ist, dass „auch heute noch die Flucht in Krankheit oder Spleens als legale Fluchtmöglichkeit vor den Widersprüchen des weiblichen Lebenszusammenhangs angeboten wird“ (280 ff.). Schließlich destilliert sich der selbstredend rare Typus des echten Exzentrikers12 heraus, der „Unterschiede zur Lebensweise der massenhaft anzutreffenden Hasardeure der modernen Erlebnisgesellschaft zeigt. Echte Exzentriker fallen nicht unter die sonst anzutreffenden Typen von erlebnissuchenden, riskierten Abenteurern der (Post)moderne. […] Manchmal treten sie als Mischform der bereits beschriebenen Idealtypen auf“ (Dörr-Backes 2003: 286). Welch’ ein Exzellenzfall für Poppers Falsikation! Meine These, Außenseiter hätten in der Postmoderne keine Existenz- bzw. Individualitätsform mehr zur Verfügung, wird durch Dörr-Backes wider Willen erhärtet, durch ihre kategoriale Ausucht: ‚echter‘ Exzentriker. Blicken wir zurück auf eine Daseinsweise für Außenseiter, die das Wissenschaftssystem vordem institutionalisierte: Der Akademische Rat. Mein langjähriger Freund Jürgen Frese (1939–2007) erzählte mir seine klassische Geschichte. Der Großordinarius Helmut Schelsky erzwingt mit unsittlichen Drohungen die Abgabe seiner Dissertation (Frese 1965), gründet dann die Universität Bielefeld, und nimmt Frese als verbeamteten Rat mit, natürlich ohne jede Ausschreibung, gar Mitsprache von Kollegen. Ein Anruf beim Minister/Ministerium genügt. (Ähnlich arrangiert Schelsky die Lehrstuhlbesetzung Luhmanns). Später wird Schelsky schlicht, weil ihm die Entwicklung in Bielefeld missfällt, seinen Lehrstuhl einpacken und nach Münster verlegen lassen.13 Ein anderer Fall ist der Typus des langjährigen Assistenten, Gastdozenten und Lehrstuhlvertreters, der unauffällig bleibt und wegen seiner schlichten Dauer im Betrieb als automatischer Reex übernommen wird. In Hannover war der Soziologe Peter R. Gleichmann (1932–2006) so ein Fall, der daher luzide die
12 Wie wär’s mit Spinozas Ethik-De nition: „Und allerdings muß eine Sache schwierig sein, die so selten angetroffen wird. Denn wenn das Heil so bequem wäre, und ohne große Mühe gefunden werden könnte, wie wäre es dann möglich, daß es fast von jedermann vernachlässigt wird? Alles Erhabene [sprich: Exzentrische] aber ist ebenso schwierig wie selten“ (Spinoza 1887: 389). 13 Vgl. die polemische Streitschrift, die seine einmalige Statur ausdrückt: Schelsky 1981. Ob in einem der letzten Texte zu Bielefeld, die Schelskys Leistung herausstellen, diese Dimension des akademischen Rates auch nur erwähnt wird? (Bürger 2009). Zu Frese: Leutzsch 2003. Und Frese ist längst keine Ausnahme, Hartmann Tyrell wäre ein weiteres Bielefelder Beispiel (Tyrell 2008); symptomatisch ist, dass die prominente Herausgeberschar von Tyrell einige seiner Aufsätze nicht abdruckt, die ich für die wichtigeren halte.
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lebenslange Statusinkongruenz (Claessens 1996) des Spätklassikers Norbert Elias beschreiben kann.14 Klassisch ist natürlich die Figur des ewigen Privatdozenten, die vielleicht ein letztes Mal von Richard Faber (FU Berlin) repräsentiert wird. Jahrzehnte organisiert er Semester für Semester Ringvorlesungen, die in zahllosen Sammelbänden sich materialisieren – nicht gerade wenige eigene Monographien begleiten diese Produktion. Es mag die unwürdige Universität charakterisieren, dass ihm der formale Professorentitel erst kurz vor der Altersgrenze verliehen worden ist, was bei anderen Universitäten höchstens fünf Jahre nach der Habilitation Usus ist – um schlechtes Gewissen zu übertünchen, oder Faber in normalisierenden Gestus einzugemeinden?15 Zwei Warnungen mag ich nicht unterdrücken: Außenseiter verfallen in kürzester Zeit dem Wissenschaftsdarwinismus des Vergessens. Luckmann greift Carl Mayer als exemplarischen Fall heraus, der wie kaum einer den Marx/Weber-Kosmos durchschritten hat (vgl. Lauermann 1989). „Was war er nicht? Er war kein großer Systematiker, er war auch kein vielseitiger empirischer Forscher. Er hat keine Schule gebildet, keine Anhängerschaft erworben. Er hat kein großes Werk geschrieben, keines hinterlassen. Er hat nicht viel veröffentlicht – und was er veröffentlicht hat, waren Aufsätze, ein Genre wissenschaftlicher Publikation, das verstreuter Natur ist. Die Aufsätze sind einzeln und zusammengenommen gewichtig, ausgewogen, befördern das Wissen; aber sie sind keine Blitze im wissenschaftlichen Himmel. Ihr Autor war ein Gelehrter, der meinte, nie genug wissen zu können, der an jedem Satz feilte, ein Mann, dem Schlamperei zuwider war und Aufbauschung ein Greuel, ein Mann schließlich, der sich in Bescheidenheit an einem anderen orientierte, an Max Weber“ (Luckmann 1984: 5). Aber auch wenn Schulen gegründet werden: Die Nachwelt wertet die Bedeutung der handelnden Wissenschaftler zuweilen bis ins Gegenteil um. Horkheimer erlischt im Resultat, Adorno gewinnt den Mehrwert der Frankfurter Schule für sich! (Ziege 2009: 34 f. – zur Schulbildung). Diese beiden Möglichkeiten überschneiden sich bei dem Frankfurter Soziologen Gerhard Brandt, wobei Horkheimer die Funktion von Weber einnimmt (Lauermann 2008). Diese soziologischen Figurationen von akademischen Außenseitern sind für die Nach-Humboldtsche Universität Fossilien – sie können einer heutigen Genera14
Vgl. Gleichmann 2006: 208 ff., 261. Die strukturelle Wahlverwandtschaft von Soziologen zur Außenseiter-Rolle analysiert nicht zufällig Elias erhellend: „Der diffuse Charakter und das hohe Maß an Heteronomie der soziologischen Theorien beeinträchtigen das Machtpotential und das Ansehen von Soziologen und verwandten Berufsgruppen. […] Ihre intellektuelle Unterwürgkeit gegenüber anderen etablierten Gruppen, ob wissenschaftlicher oder politischer Art, verstärkt ihre Außenseiterposition und ihre Unfähigkeit, ihre zentrale Rolle als Erforscher der menschlichen Gesellschaft zu erfüllen…“ (Elias 2006: 329). 15 Faber 2008; zu ihm passt die Liebe zum Abgelegenen, etwa zu den jüdischen Witzen von Jacob Taubes! (Faber 1997).
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tion nur als Narren erscheinen. Weniger in Deutschland als in klassischen Wissenschaftsnationen wie USA, Frankreich und Großbritannien kann ein paradoxer, hochgefährdeter Typus des Außenseiters überleben: der arrivierte Außenseiter.16 Er ist ein evolutionäres, zufälliges Produkt jener Eliten-Struktur, die gewissermaßen aus der Gesellschaft in die Universitäten als unbeabsichtigte Nebenfolge überschwappt, eine Struktur, die invisibilisiert werden muss, damit sie wirken kann. 17 Ihre Sozialisation folgt einem strengen Muster: Ein braver Anfang und das Bedienen des Betriebs sind Bedingungen sine qua non: Erst nach Erreichen einer internationalen Reputationsgröße kann radikal die Seite gewechselt werden. Brillant wurde das vorgeführt ausgerechnet im strengen Bereich der naturwissenschaftlichen Methodologie durch Paul K. Feyerabend (Feyerabend 1988). Wie gesagt: Vergangenheit! Für die Zukunft entwirft eine Dichterin in geglückter Anlehnung an Orwell und Huxley eine negative Utopie: „Wer keine Seite wählt, ist ein Außenseiter. Und Außenseiter leben gefährlich. Von Zeit zu Zeit braucht die Macht ein Exempel, um ihre Stärke unter Beweis zu stellen. Besonders, wenn im Innern der Glaube wackelt. Außenseiter eignen sich, weil sie nicht wissen, was sie wollen. Sie sind Fallobst.“18
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16
Bourdieu 1988: 180–190: „Die arrivierten Häretiker“ (etwa: Collège de France, namentlich: Foucault, Barthes, Bourdieu selbst) – „Die Außenseiterpositionen dagegen schließen – ungeachtet des Prestiges, das einige von ihnen genießen mögen – häug mehr oder minder vollständig die Verfügungsgewalt über die Reproduktionsmechanismen aus“ (Bourdieu 1988: 182). 17 Wie ich seit Jahren beobachten kann, ist die großartige Intervention von Dieter Claessens, die Freiheit der Wissenschaftler, also den sozialhistorischen Kausalzusammenhang von liberalem Kapitalismus und Wissenschaftsfreiheit, auf einen materialistischen Unterbau zu stützen, völlig verpufft und vergessen (vgl. Claessens 1993 sowie den Basistext Lowell Field/Higley 1983). 18 Der dialektischen Romangur, der „idealen Geliebten“, in den Mund gelegt! (Zeh 2009: 144).
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Konvention und Eigenart Über Stil und Hitzlersche Texte Friedhelm Neidhardt
Die Meisten von uns bleiben in der Wissenschaft unauffällig darin, wie sie was schreiben. Gängig ist ein „keuscher Stil“ (Schopenhauer 1988: 464), der vor jeder Ablenkung die Augen niederschlägt und kein anderes Vergnügen kennt, als schnurstracks zur Sache zu kommen. Da fällt Ronald Hitzler mit seinen Texten aus der Reihe. Zwar darf man nicht meinen, seine Rhetorik sei unwissenschaftlich; in manchem gibt sie sich ausgesprochen akademisch. Aber seine Texte sind ungewöhnlich komplex gebaut und außerordentlich abwechslungsreich orchestriert. Sie produzieren schnelle Tempowechsel, „molto vivace“ zwischen hohen und tiefen Tönen, jähe Unterbrechungen des Leitmotivs und Seitensprünge über weite Strecken. Der Leser kommt bald ins Schwitzen, will er sie verstehen. Es mag interessant sein, da genauer hinzuschauen. Das kann sich auch deshalb lohnen, weil man bei der Erkundung des Hitzlerschen Stils nicht nur dessen Eigenarten, sondern auch die stilistischen Konventionen kennenlernt, von denen er abweicht. Die Eigenarten des Autors sind Abweichungen von den Normalitäten der Schriftsprache, und diese gehen auf Gewohnheiten zurück, von denen einige einen normativen Rang haben. Sie drücken sich auch im Fache unseres Autors aus, zum Beispiel in der „herrschenden Meinung“ jener Mainstreamsoziologen, die ich im Folgenden als Vergleichsgruppe benutze, um für einige Belange einen empirischen Maßstab zur Einschätzung Hitzlerscher Besonderheiten zu haben.1 1
In diese Vergleichsgruppe rekrutiere ich Fachkollegen, mit denen sich unser Autor seit den gemeinsamen Kölner Tagen selber regelmäßig vergleicht, nämlich Jürgen Gerhards, Stefan Hornbostel und Friedhelm Neidhardt, und ich nehme an, dass die vorhandenen Sympathiebeziehungen reichen müssten, um ihn darüber zu beruhigen, dass er auch von anderen verglichen wird. Für den kleinen Test analysiere ich aus einem der Texte, welche die drei Kollegen für sich selber als typisch eingestuft haben, jeweils die Seiten zwei und drei sowie die vor- und vorvorletzten Seiten (Gerhards 2008; Hornbostel 2008 und Neidhardt 2007). Die zusammengefassten Befunde stelle ich dann den Ergebnissen einer Inhaltsanalyse der entsprechenden Seiten von drei Texten Ronald Hitzlers gegenüber (Hitzler 1989; Hitzler 2000; Hitzler 2002). Mit dieser Fingerübung in „quantitativer Stilistik“ (van Dijk 1980: 100) erfasse ich nur eine kleine Textmenge von insgesamt 57 bzw. 40 Seiten und einer Unterstichprobe von jeweils 12 Seiten. Das soll hier genügen, um meine Einschätzungen der stilistischen Auffälligkeiten unseres Autors davor zu bewahren, völlig falsch zu sein. Für raf niertere statistische Analysen größerer Textkorpora steht inzwischen eine Software zur Verfügung, mit der sich auch
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Natürlich gilt auch hier, dass Abweichungen nicht unbesehen als Defekte verrufen werden dürfen. Man kann nämlich über die Vernünftigkeit von Normen triftig streiten – wie sich zeigen lässt, auch in diesem Fall. Zu eindrücklich sind darüber hinaus die Argumente der Linguisten, dass erst Abweichungen vom Standard überhaupt einen Stil begründen. Ein Stil wird durch seine Auffälligkeit deniert (Meyer 2007: 81; Sanders 1977: 70). Halten wir uns daran, kann man von Anfang an wissen: Ronald Hitzler ist unter uns Normalwissenschaftlern ein Besonderer, sehr eigen und ganz unverwechselbar. Auch gelegentliche Verständnisprobleme können dem aufmerksamen Leser im Übrigen nicht den Eindruck nehmen, dass seine Eigenarten nicht nur Marotten sind.
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Rhetorik der Wissenschaft
Man sagt, die oberste Funktion des wissenschaftlichen Stils bestehe darin, der Sache zu dienen und die Wissenschaftssprache sei in diesem Sinne „dienendes Sprechen“ (Gauger 1986: 123). In der Tat prägt der Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis dessen Darstellung durch die Merkmale, die ihm eigen sind. Aber es ist nicht so, dass die Sache von selber sprechen würde und als sei Wissenschaft im Sinne einer „window-pane theory“ (Guseld 1976: 16) nichts weiter als ihre schnörkellose Abbildung. Der Rohstoff, den unsere Labors and Computer erzeugen, auch das, was uns bei „armchair-reection“ am Schreibtisch einfällt, muss zuerst hergestellt, dann gesichtet, geltert und gedeutet, am Ende auch dargestellt werden, bevor daraus wissenschaftliche Erkenntnis werden kann. Und um als „wahr“ zu gelten, bedarf diese der Anerkennung der Kollegen. Erst deren Konsens ratiziert den Wahrheitsanspruch des Forschers. Ohne den Beifall der Experten hängen unsere Entdeckungen in der Luft. Es ist dieser Umstand, der die klassische Entgegensetzung von Logik und Topik unterläuft und die Fiktion zerstört, es gäbe in der Wissenschaft so etwas wie eine Selbstevidenz, die ohne „Techniken des persuasiven Diskurses“, also ohne Rhetorik, wirksam wäre (Perelman 1980: 4; vgl. Toulmin 1986, Blumenberg 1981). Rhetorik ist ein auf Überzeugung angelegtes Sprechen vor Publikum, und auch die Wissenschaft ist Kommunikation vor und mit Publikum. Als primäre Bezugsgruppe fungiert dabei die „Spezialistengemeinde“, und es ist deren Urteil, das über die Beachtlichkeit des wissenschaftlichen Textes entscheidet (Knorr-Cetina 1984: 127). Die Sprache der Wissenschaft ist deshalb jenseits ihrer Bindungen an die Sache,
Daten ermitteln ließen, die hier nicht eingebracht werden, zum Beispiel Daten zu Wortreichtum, Wortlängen, Nominalisierungsgraden, Kollokationen, Verwendungen von Konjunktiven etc. (siehe Hansen-Schirra/Neumann 2004).
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um die es jeweils geht, immer auch eine soziale Veranstaltung, die von den Erwartungen der Peers und den Konventionen des Kollegialverkehrs reguliert wird.
1.1 Meidungsgebote: „the rhetoric of substance“ (Guseld 1976: 23) Man kann davon ausgehen, dass Ronald Hitzler bei allem Eigensinn seines Schreibens nicht davon absieht, mit seinen Texten bei der „scientic community“ der Soziologen anzukommen. Dies empehlt sich schon deshalb, weil eine Untermenge der Kollegenschaft über seine Produkte schiedsrichtert: Rezensionen schreibt, Artikel für bestimmte Zeitschriften empehlt oder verwirft und Forschungsgelder verteilt oder versagt. Überdies sorgt der kollegiale Small-talk für den guten oder schlechten Leumund im Fach. Auf diese Weise wird sowohl materiell als auch symbolisch der eigene Marktwert bestimmt. Der sozialen Kontrolle, die ihn hervorbringt, wird sich keiner mutwillig entziehen wollen. So ist auch bei Hitzler zu erwarten, dass er wichtigen Regeln wissenschaftlicher Sprachführung folgt. Was aber sind wichtige Regeln in der Wissenschaftskommunikation? Gilt Wissenschaft als autoritative Instanz zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Dinge dieser Welt, dann wird sie dafür weder die Freiheiten der Alltagssprache in Anspruch nehmen können noch den besonderen Sprachmustern etwa von Theologen, Juristen oder Poeten folgen wollen. Die auf die Dinge dieser Welt bezogenen Erkenntniszwecke legen in Morphologie, Syntax und Grammatik eine frugale Sprache nahe. Wissenschaft neigt zur Biederkeit ihrer Texte. Und dies umso mehr, je weniger ihr die rhetorischen Ansprüche ihrer kollegialen Publikumsbindung bewusst ist. Harald Weinrich sieht für die „Formen der Wissenschaftssprache“ vor allem drei Imperative wirksam, und er formuliert sie „etwas überscharf“ in den folgenden drei Verbotsbestimmungen (ohne diesen selber zuzustimmen – Weinrich 1989: 132, 135, 138).
Erstens: „Ein Wissenschaftler sagt nicht ‚ich‘.“ Die Sache soll für sich selber sprechen, und die Verfahren, die einer einsetzt, um das zu bewerkstelligen, gehören zu einer Methodologie, die den Erkenntnisvorgang objektivieren will. Das führt zur Erndung des „Autorenplurals“ (man sagt „wir“ und „uns“ – Kretzenbacher 1991: 120) – oder mehr noch: zu einer „rejection of personal terms“ überhaupt (dann sagt man: „the test indicates“ anstatt „we concluded“ – Guseld 1976: 20). Zweitens: „Ein Wissenschaftler erzählt nicht.“ Es geht ihm nicht um die Abbildung der Details des Gegenstandsbereichs und seiner erratischen Bewegungen; es geht um die Entdeckung von Mustern und von Regelmäßigkeiten
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Ronald Hitzler ist (wie auch die Personen der hier vermessenen Vergleichsgruppe) so hinreichend in akademische Kommunikationsmuster hineinsozialisiert, dass er den zitierten Grundregeln folgt, obwohl sie keineswegs unumstritten sind. „Ich“ kommt bei ihm vor, aber so ausnahmsweise, dass es nicht sehr auffällt. Narrative Elemente sind zumindest in den hier untersuchten Texten nicht vorhanden. Und im Metapherngebrauch ist er insofern zurückhaltend, als er „kühne Metaphern“, die sich von seinem Gegenstand weit entfernen (Meyer 2007: 100), nicht riskiert. Aber der „Allgegenwart der Metapher“ kann auch seine Prosa nicht entkommen. Metaphernbildung erweist sich als „eine unentbehrliche Technik der Begriffsbildung“ (Deutscher 2008: 137, 164), und sie ist auch für die moderne Wissenschaft unerlässlich, weil ihr „intuitive appeal“ für die Anschauungskontrolle der Erkenntnisbildung gebraucht wird (Lakoff/Johnson 1980: 19). Schon wenn man „nach“ oder „zurück“ oder „bittere“ Wahrheit oder „radikal“ sagt, spricht man metaphorisch. Verwunderlicher ist eher, dass die Hitzlerschen Texte so wenig erzählen. Denn selbst der theoretische Ehrgeiz zur Verallgemeinerung stößt immer wieder auf Erscheinungen, die sich aus der mehr oder weniger zufälligen Interferenz distinkter Handlungsprozesse so kontextspezisch ergeben, dass sie sich nur erzählen lassen (Mayntz 1997: 334 f.). Die Sozialwissenschaft ist insoweit nicht das absolute Gegenprogramm einer Geschichtswissenschaft, für die Odo Marquard wohl zu Recht die Devise „Narrare necesse est“ ausgibt (Marquard 2000: 60 ff.; ähnlich Lübbe 1977: 27 f., 77 ff., 299 f.). Schon gar nicht, denkt man, dürfte sich die für Hitzler paradigmatisch wichtige Lebensweltperspektive soziologischer Analyse widerstandslos den Abstraktionen generalisierter Rede überlassen; sie
2 Das ist auch der Grund dafür, dass Gesetzesregeln und deren juristische Interpretationen Synonyme nicht vertragen (Oksaar 1967: 110).
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will doch alltags- und subjektnahe sein, also dort hinlangen, wo es nicht selten drunter- und drübergeht. Dies müsste zumindest als narrativer Rest eigentlich auch in den Konstruktionen der Lebenswelt sichtbar sein. Im Unterschied zur Referenzgruppe traut sich Ronald Hitzler aber ab und an, auf jene Objektivitätsktion zu verzichten, die sich mit dem Gebot der Ichvermeidung in wissenschaftlichen Texten einrichtet. Diese Abstraktion ist, recht bedacht, eine arge Zumutung für den Wissenschaftler, denn sie unterdrückt in seinen Äußerungen das auch sprachgeschichtlich „wichtigste Ding in der ganzen weiten Welt“, nämlich das „Ich“ (Deutscher 2008: 247). Sie tut so, als liefe der Erkenntnisprozess ohne Akteure ab und als sei dessen Produkt etwas anderes als sein Konstrukt. Es spricht für den Charakter unseres Autors, dass er sich dieser Verpichtung nicht ausnahmslos fügt.
1.2 Tributforderungen: die Zitate Das Schreiben hat seinen besonderen Vorteil darin, dass einem keiner ins Wort fallen kann. Ein Autor ist am Schreibtisch wunderbar souverän. Nur gelegentlich und aus freien Stücken erteilt man im eigenen Text auch einem Anderen das Wort. Allerdings wird diese Freiheit in der Wissenschaft durch die strenge Erwartung begrenzt, sich nicht mit fremden Federn zu schmücken. Jeder Forscher setzt bei einem „Stand der Forschung“ an, den viele Andere hergestellt haben. Man darf also nicht so tun, als hätte man all das selber erfunden, was man in seinen Texten von sich gibt. In der Wissenschaft skandalisiert der Plagiatsvorwurf das Verschweigen der Anleihen viel radikaler als anderswo. Ronald Hitzler lässt sich da nichts zuschulden kommen – im Gegenteil. Zwar ndet man in seinen Texten kaum mehr wörtliche Zitate als in den Texten der Vergleichsgruppe. Aber mit Literaturhinweisen übertrifft er diese bei weitem. Verteilt man sie auf die einzelnen Sätze, so hakt sich im Durchschnitt jeder zweite Satz bei einem Fremdautor ein (im Mainstreamsample nur jeder achte). Sucht man nach Gründen dafür, so wird neben allem Anderen von Bedeutung sein, dass empirische Sozialforschung bei Hitzler eine durchweg geringere Rolle spielt als bei den Leuten, mit denen er hier verglichen wird. Literaturhinweise sind in den Erfahrungswissenschaften das funktionale Äquivalent empirischer Daten. Rhetorisch gesehen handelt es sich um „reasoning from authority“ (Toulmin 1984: 229 ff.; Schlüter 1985: 51), und es ist deshalb auch kein Zufall, dass reputierliche Soziologen in den Bibliographien Hitzlers immer prominent vertreten sind – Alfred Schütz zum Beispiel, oft Erving Goffman, immer wieder Thomas Luckmann, manchmal Pierre Bourdieu und Georg Simmel, seltener Max Weber. Die Beglaubigung des eigenen Gedankens, den bei anderen Kollegen eine Tabelle besorgt, wird hier über
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anerkannte Gewährsleute eingeholt. Selbst der Widerspruch zu einem der Großen des Faches adelt das eigene Argument. Allerdings ist es schwierig, bei den üblichen Literaturhinweisen hinter den Formeln „vgl.“ oder „sh.“3 auszumachen, ob und in welchem Maße sie Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken sollen. Im Hinblick auf deren Verteilung unterscheiden sich die Jäger und die Sammler unter den Kollegen; aber man kann sie in den Texten Dritter meistens nicht genau erkennen. Zu prüfen wäre deshalb die Verwendung einer Skala, die Peter Rieß in den hintersinnigen „Prolegomena zu einer Theorie der Fußnote“ mit dem Vorschlag einführt, den Informationsgehalt von Literaturhinweisen durch „Belegkommentierungen“ zu steigern. Er unterscheidet „(nach der Reihenfolge der Zustimmung oder Ablehnung und der Schärfe des Tones): ‚bemerkenswert‘, ‚mit beachtlichen Gründen‘, ‚erwägenswert‘, ‚zweifelhaft‘, ‚ohne nähere Begründung‘, ‚wohl kaum haltbar‘, ‚fragwürdig‘ und ‚abwegig‘“ (Rieß 1995: 23). Auf diese Weise ließen sich die Autorenverhältnisse, die in den Literaturhinweisen ausgedrückt werden, auch soziometrisch auseinanderhalten. Natürlich müssten die Methodenspezialisten von ZUMA noch untersuchen, ob die achtstellige Skala hinreichend differenziert und diskriminiert.4 Übrigens steigert Ronald Hitzler die Obskuranz der Literaturhinweise, indem er (wenn es nicht um wörtliche Zitate geht) auf Seitenangaben regelmäßig verzichtet. Dies ist eine Unart, die in unser Fach aus den Naturwissenschaften eingewandert ist. Bei denen kommt es auf Genauigkeit in dieser Hinsicht nicht an, da die Seitenzahl ihrer Produkte so gering ist, dass man die Verweisstellen im Text auch ohne Seitenangaben schwerlich verfehlen kann. Aber was soll man zum Beispiel mit der Hitzlerschen Angabe „vgl. Heidegger 1972“ anfangen, wenn es sich dabei um die ungefähr 400 Seiten von „Sein und Zeit“ handelt? Natürlich wird man bei einem Mann wie Hitzler nicht den Verdacht ausbreiten dürfen, er selber habe den fraglichen Text gar nicht so genau gelesen, dass er eine einschlägige Referenzstelle nun auch genau angeben könnte. Aber man kann nicht grundsätzlich ausschließen, auch ihm käme es durchaus zupass, dass keiner so genau nachschauen kann, um prüfen zu können, dass er richtig gelesen hat. Insofern widerlegt die Analyse seiner Literaturbelege nicht ganz zwingend den notorischen Verdacht, die Funktion des Zitierens bestehe manchmal bloß darin, Duftmarken zu setzen, die das soziale Netzwerk markieren, das der Autor pegen will. Für Ronald Hitzler bliebe freilich festzuhalten, dass dieses Netzwerk beeindruckend groß ist, keineswegs nur aus 3
Gegenüber dem Leser sind das übrigens sonderbar autoritäre Duzformen, hinter denen eigentlich ein Ausrufzeichen stehen müsste. 4 Nebenbei sei angemerkt, dass die von Rieß vorgeschlagene Differenzierung der Literaturhinweise in der Wissenschaftsforschung zu einer erheblichen Validitätssteigerung der Zitationsanalyse beitragen würde. Sie würde nämlich erlauben, bloße Prominenz von tatsächlichem Prestige einer Referenzquelle zu unterscheiden.
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Freunden besteht und in großer Zahl Verstorbene ehrt, auf deren Zuneigung es nicht mehr ankommt.
1.3 Exkurs über Selbstzitation In jedem Fall lässt sich bei unserem Autor schnell der Verdacht ausräumen, sein Zitationsnetzwerk bestände im Wesentlichen nur aus ihm selber. Und das ist angesichts des oben behandelten Gebots der Ichvermeidung in wissenschaftlichen Texten erwähnenswert. Wenn das akademische Ichtabu einen Autor in der Wissenschaft nämlich zwingt, so zu tun, als gäbe es ihn gar nicht, dann kann die Selbstobjektivierung als Autor zitierbarer Texte das Mittel der Wahl sein, um sich doch noch ins rechte Licht zu setzen. Durch Selbstzitation gelingt die Wiederkehr des Ichs in der dritten Person. Obwohl Zitationsanalysen in der Wissenschaft umfangreich betrieben und für viele Disziplinen zunehmend folgenreiche Evaluationsinstrumente sind, ist dem für diese Zwecke irritierenden Phänomen der Selbstzitate kaum Beachtung geschenkt worden; man schätzt nur, dass der Anteil der Selbstzitate durchschnittlich bei etwa zehn Prozent liegt (Marx/Schier/Wanitschek 1998: 29). Ich selber habe eine kleine Selbstzitationsanalyse 1989 in einer Laudatio auf Renate Mayntz benutzt, um ihr mit einem „Wie-ich-schon-gesagt-habe“-Index von 0,08 zu bescheinigen, dass sie in ihrem Schrifttum einerseits nicht zur Selbstverleugnung neigt, andererseits aber deutlich unter einer „Eitelkeitsschwelle“ liegt, die ich damals bei etwa 0,3 vermutet habe. Es passt gut zu einer Festschrift, dass ich für unseren Jubiliar mit einer Quote von acht Prozent Selbstverweisen den genau gleichen Wert wie für unsere hochgeschätzte Kollegin feststellen kann und dass auch die Vergleichsgruppe mit ihrem Sieben-Prozentanteil nur so unwesentlich davon abweicht, dass man Ronald Hitzler im Umgang mit sich selber als unauffällig erfährt.5 Selbstzitate sind kein Stilelement seiner Texte.6
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Dass die absolute Zahl von Selbstreferenzen in seinem Fall deutlich höher liegt als bei den hier herangezogenen Gewährsleuten der „herrschenden Meinung“, erklärt sich aus der sehr hohen Gesamtzahl seiner Literaturverweise; diesen Umstand will ich hier tunlichst nicht vertiefen. Es kommt, denke ich, auf die Proportionen an. 6 Dass genauere Analysen von Selbstzitationsraten eine Reihe intervenierender Variablen zu berücksichtigen hätten, lässt sich beispielhaft an meinem Festschriftenbeitrag erkennen. Erhellende Literaturhinweise auf „Neidhardt…“ kommen nicht vor, da ich mit linguistischen Stilanalysen bislang nicht in die Literatur eingegangen bin. Der Verzicht auf Selbstzitierung ist in diesem Fall also kein Indiz extremer Bescheidenheit, sondern Ausweis einer Notlage – ein Armutszeichen: Es gibt nichts, worauf ich zurückgreifen könnte.
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Friedhelm Neidhardt Stilmittel der Komplexitätssteigerung
Dass die Rhetorik in der modernen Wissenschaft lange Zeit in schlechtem Ruf stand, hing wohl auch damit zusammen, dass man sie mit dem „manieristischen Formelaufputz der Barocksprache“ (Sanders 1977: 72), eine ihrer historischen Ausprägungen, verwechselte. Deren Prächtigkeit passt nun in der Tat nicht zur „Sprachökonomie“ (Sanders 1977: 43) der Wissenschaftssprache. Diese ist „mit der Reduktion des Textaufwands“ auf „Kondensation“ angelegt (Kretzenbacher 1991: 118): Weg mit „überflüssigen Wörtern oder unnötigen Satzfolgen“, so die „Leitlinie“ (Becker 2000: 111 f.).7
2.1 Die Fußnote Bedenkt man die bisherigen Feststellungen zur Stilistik von Ronald Hitzler, so ndet man keine eindeutigen Hinweise darauf, dass er sich mit der Sparsamkeitsregel der Wissenschaftssprache schwer tun könnte; es scheint aber, dass dies doch der Fall ist. Ein erstes, aber noch schwaches Indiz ndet man darin, dass die durchschnittliche Satzlänge in seinen hier untersuchten Texten signikant höher liegt als in der Vergleichsgruppe, nämlich um mehr als ein Drittel. Und sein Vorsprung würde noch erheblich steigen, würde man in Gestalt von Parenthesen oder mit Relativsätzen noch einen Teil jener Textauslagerungen in seine Sätze einbeziehen, die bei ihm als Fußnoten erscheinen. Pro Seite ndet man sie hier in einer durchschnittlichen Stückzahl von 1,25 – und das ist doppelt so viel wie bei den drei Mainstreamkollegen, mit denen er hier verglichen wird. Fußnoten sind ein interessantes Stilelement wissenschaftlicher Texte. Man muss dem ironisch schiefen Blick von Stefan Fisch und Peter Strohschneider (1995: 41) nicht folgen und den „Ort unter dem Strich zum Zentrum der Wissenschaft“ erklären. Richtig aber ist, dass die Fußnote nicht nur als Ablage jener methodisch-technischen Anmerkungen dient, die im Text nur umständlich unterzubringen wären. Mit ihnen ndet auch das einen Ausdruck, was Robert Merton als „serendipity pattern“ für 7
Leider gehört zur „Varianzreduktion“ der modernen Wissenschaftssprache (Kretzenbacher 1991: 131 f.) auch die weitgehende Vermeidung des Konjunktivs. Dies ist verwunderlich deshalb, weil die indikative Tönung den Wahrheitsansprüchen eine Gewissheit verleiht, die ihnen oft nicht zukommt. Dagegen stellt der Konjunktiv – Albrecht Schöne hat das am „Lichtenbergschen Konjunktiv“ beschrieben – ein „Vorbehaltssignal“ dar, das mit seiner „distanzierenden semantischen Potenz“ als ein perfekter Ausdruck des Hypothetischen gelten kann (Schöne 1983: 43, 38). – Interessant ist die Beobachtung Karin Knorr-Cetinas, in die Texte ihrer Laborwissenschaftler geriete der Konjunktiv erst in den Verhandlungsprozessen der diversen beteiligten Autoren. Der Ersatz von „Notwendigkeitsaussagen durch Möglichkeitsaussagen“ erscheint dann als ein Kompromiss, der auch den kollegialen Zweifel mitvertritt (Knorr-Cetina 1984: 191 f.).
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die Wissenschaft gefeiert hat (Merton 1957: 159). Sie geben den wegstrebenden Einfällen, hintergründigen Erläuterungen und plötzlichen Assoziationen Platz, die zur Systematik des Haupttexts nicht passen, aber doch gesagt sein sollen; so auch in großer Zahl bei Ronald Hitzler. Die „relative Fußnotendichte“, die man bei ihm vorndet, lässt sich als Ausdruck seines intellektuellen Temperaments begreifen. Dieses hält sich nicht regelmäßig an den Zwang argumentativer Linienführung. Man kann sogar bedauern, dass Hitzler für den Ausdruck dieses Temperaments nicht noch häuger Fußnoten benutzt, da diese als semantische Einheiten ja apart daherkommen und als solche gut zu verstehen sind. Er hätte dann leichter auf ein heikles Stilelement verzichten können, das in seinen Texten auffällig oft vorkommt, nämlich der Schaltsatz.
2.2 Schaltsätze – Parenthesen „Daß aber eben dies – also den Eindruck von Kompetenz für die Belange des Gemeinwesens in als schwierig angesehenen Zeiten zu vermitteln – gegenwärtig dem Gros des politischen Personals kaum (optimal) gelingt, zeigt das – seit Längerem und unbeschadet etwelcher ‚kurzzeitiger Konjunkturen‘ der Protagonisten (und Antagonisten) bestimmter politischer Haltungen in Krisen und Kriegszeiten (vgl. SchwabTrapp 2002) – die ‚öffentliche Meinung‘ beherrschende Urteil, die etablierte Politik sei angesichts des Umbaus und der Neuorientierung der Gesellschaft programmatisch konzeptions- und ideologisch einfallslos, und die gewählten Politiker zeichneten sich vor allem durch persönliche bzw. lobbyistische Begehrlichkeit aus (vgl. Scheuch/ Scheuch 1992; Arnim 1993)“ (Hitzler 2002: 46).
In den untersuchten Textstichproben fand ich bei Ronald Hitzler in durchschnittlich 22,9 Prozent der Sätze eine Parenthese, dagegen nur in 3,1 Prozent der Sätze in der Vergleichsgruppe. Mark Twain hätte hier jene „Parenthesestaupe“ diagnostiziert, über die er in „The Awful German Language“ spottete (Twain 2004: 11 f., 61) – und Arthur Schopenhauer hätte sofort eingestimmt: „Offenbar aber ist es gegen alle gesunde Vernunft, einen Gedanken quer durch einen anderen zu schlagen, wie ein hölzernes Kreuz: Dies geschieht jedoch, indem man Das, was man zu sagen angefangen hat, unterbricht, um etwas ganz Anderes dazwischen zu sagen, und so seinem Leser eine angefangene Periode, einstweilen noch ohne Sinn, in Verwahrung gibt, bis die Ergänzung nachkommt“ (Schopenhauer 1988: 479). Wenn einer der Hochmeister der deutschen Sprache einen derartigen Bannstrahl gegen den Schaltsatz schleudert, ist der Vorsatz, unseren Autor gegen ihn zu schützen, zuerst einmal eingeschüchtert. Macht man sich aus Sympathie für den Autor gleichwohl auf die Suche nach möglicherweise guten Gründen für sei-
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ne unkeusche Vorliebe für Schaltsätze, so kann man an deren Differenz zu den Stilmitteln der freilaufenden Periode nicht nur ihr Problem, sondern wenn nicht ihren Sinn, so doch ihren Hintersinn erkennen. Im Unterschied zu dem Gefüge einer Periode sind Parenthesen rüde Unterbrechungen eines Satzusses dadurch, dass sie „formalgrammatisch nicht mit dem Satz verbunden“ sind (Sommerfeld 1984: 243). Sie werden unvermittelt in einen Satz geschlagen. Für ihre ordentliche Verbindung mit dessen Teilen stände ein großes Arsenal „unterordnender Konjunktionen“ zur Verfügung (z. B. obwohl, während, weil, wenn, bevor, damit – etc.), und es ließe sich auch der Relativsatz, „dieses kostbare Instrument sprachlicher Verfeinerung“ (Deutscher 2008: 278), nutzen. Dass sie in dieser Funktion bei Ronald Hitzler aber selten vorkommen, könnte mit einer phänomenologischen Abneigung dagegen zusammenhängen, die Erscheinungen nach dem Gefälle zu hierarchisieren, in dem sie miteinander verknüpft sind. Der Schaltsatz entzieht mit sich selber auch seinen Gegenstand der Unterordnung. Das mag in der Sache korrekt sein, wird aber beim Lesen ungut irritieren. Allerdings gilt das nur, wenn Parenthesen so außer Fasson geraten, dass an ihrem Ende der Leser nicht mehr weiß, was nun fortzusetzen und wie zu einem guten Ende zu bringen ist. Das aber muss bei Parenthesen nicht unbedingt der Fall sein, wie sich zum Beispiel an ihrer Kurzform der Apposition zeigen lässt. Das Problem der Parenthese gebietet also nicht unbedingt ihre Meidung, wohl aber ihren vernünftigen Gebrauch, und Vernünftigkeit beweist sich nach dem pragmatischen Verständnis von Stilgesetzen mit der „kommunikativen Adäquatheit“ der Sätze (Oksaar 1986: 115) – vor allem anderen: mit ihrer Verständlichkeit. Hält sich die Parenthese an das bündige Maß des Beiläugen, wird sie einen Gedankenuss unterbrechen, ohne ihn nachhaltig zu stören. Sie kann ihn dann inhaltlich anreichern und formal „gesellig“ bleiben (Müller 2003: 12). Von der Art sind auch die Hitzlerschen Parenthesen meistens, aber sie sind es, wie das obige Textbeispiel zeigt, nicht immer. Vielleicht hängt dies neben allem Sonstigen auch mit dem Zeitdruck eines eißigen Autoren zusammen, der manchmal dazu führen kann, dass die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ mit dem Schreiben zusammenfällt und zwischen dem Einen und dem Anderen eine zu kleine Pause liegt, um den Einfällen einen übersichtlichen Ausgang zu verschaffen: „Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort …“ (Kleist o. J.: 8). Würden sie in mündlicher Rede vorgetragen, ließen sie sich wenigstens dadurch unterscheiden, dass für eine klärende Schichtung von Sprachebenen die Stimmführung sorgen kann. In der Tat ndet man in Hitzlers Texten differenzierende Stimmzeichen zuhauf, und man erleichtert das Verstehen seiner Texte, wenn man sie laut spricht und dabei den interpunktierenden Regieanweisungen des Autors folgt.
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Text als Partitur „Wenn es aber zutrifft, daß keine, auch keine noch so ‚professionelle‘ Organisation, den von ihr je produzierten bzw. produzierbaren Event-Typus mehr dauerhaft und massenhaft ‚bindend‘ institutionalisieren kann, dann folgt daraus, daß in Zukunft die einzige kulturelle Stabilität in Gesellschaften, wie der unseren, im Wechsel prinzipiell instabiler Trends bzw. Moden bestehen dürfte – und für den angebotskonsumierenden Akteur damit typischerweise sozusagen in einem lebenslänglichen mentalen Kulturtourismus, der sich – generalisiert ausgedrückt – tatsächlich an nichts anderes orientiert, orientieren kann, als daran, daß auf jeden Fall ein bißchen Spaß (dabei) sein muß – allerdings immer der Spaß, den er haben will …“ (Hitzler 2000: 406).
Die Rhetorik eines Vortragstextes lebt von seiner musikalischen Gestaltung. Die Rede bedarf lebhafter Stimm- und Tempowechsel, soll sie bei ihrem Publikum ankommen; sie braucht Steigerungen und Dämpfungen des Tons, Beschleunigungen und Pausen. Verschriftlicht man die Rede, so steht die Interpunktion für den Versuch, den Texten ihre Musikalität zu erhalten. Die Satzzeichen sind Rudimente rhetorischer Tonkunst. „In keinem ihrer Elemente ist die Sprache so musikähnlich wie in den Satzzeichen“ (Adorno 1974: 106). Satzzeichen (und auch die benutzten Drucktypen) machen den Text zur Partitur.
3.1 Funktionen der Interpunktion Satzzeichen sorgen für die Phrasierung eines Textes, sind Pausen- und Tonzeichen zugleich (Bieling 1880/1984: 189 ff.). Geht es um den Rhythmus ihres Vortrags, gebietet der Absatz die längste Pause; man soll ihn beim Schreiben nur an der Stelle machen, an der man sich vorstellen kann, vor Publikum einen Schluck Wasser trinken zu dürfen. Innerhalb eines Absatzes setzt der Punkt die schärfste Zäsur, der Satz setzt sich mit ihm zur Ruhe und die Stimme legt sich hin. Auf der anderen Seite soll das Komma nur ein relativ schwaches Verzögern auslösen. Zwischen beiden Satzzeichen markieren andere die Möglichkeiten zu feinerer Nuancierung (Adelung 1788/1984: 85 ff.). Leider ist das Punkt-Strichzeichen des Semikolons in den Texten der Wissenschaft (und allgemein) fast vollständig verschwunden. Dabei besitzt es in seiner Zwischenstellung zwischen Punkt und Komma eine interessante hermeneutische Funktion. Es steht für den Ausdruck mittlerer Ausprägungen von Zusammenhängen. Der Punktstrich mauert einerseits keine semantische Grenze zwischen die Dinge, die gesagt sein sollen, so wie der Punkt, reduziert andererseits aber auch nicht die Distanz zwischen ihnen so wie das einfache Komma. Bei den Wissenschaf-
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ten, deren empirische Gegenstände normalerweise, wenn überhaupt, nur „loosely coupled“ sind, erscheint das Semikolon in den Sätzen über diese Gegenstände als eine subtile Ausdrucksform mäßiger Kausalitäten. Auch Ronald Hitzler nutzt das Semikolon kaum, anders als die deutlicheren Pausensignale, die sich mit Längsstrichen darstellen. Zu beachten ist dabei nicht nur der Gedankenstrich, der im Zusammenhang mit Schaltsätzen oben schon ins Spiel gebracht ist, sondern auch der Bindestrich, mit dem einzelne Wörter in bedeutungsvolle Bestandteile gesondert werden, ohne aber ihren Zusammenhang zu sprengen. Ich kenne keinen Autor der ihn häuger gebrauchen würde. Man liest bei Hitzler immer wieder Silbenspreizungen wie „Selbst-Darstellung“, „intersubjektiv“, „Selbst-Entäußerung“, „vor-denierte Welt“, „‚un-verschämte‘ Nacktheit“, „strukturelle Ent-deckung“, „Schau-Spieler“ etc. Etwas oberlehrerhaft wird mit dem Bindestrich als Zeigestock zwischen zwei Wortteilen dem Leser bedeutet: ‚Merkt auf! Was da in Wörtern zusammengewachsen ist, hat einen doppelten Sinn; die urspüngliche Bedeutung ihrer Teile sollte nicht völlig verschliffen sein.‘ Zum ersten Mal begegnet man hier dem ausgeprägten Wörterbewusstsein des Autors. In Satzzeichen erscheinen Tempo- und Tonangaben meistens miteinander verschränkt. Zum Beispiel treibt der Bindestrich die Wortbetonung leicht nach oben, und nach dem Punkt fällt die Stimme. Hitzlers schwierigen Parenthesen kann man bei der Orchestrierung des Textes nicht nur durch ein Verhalten der Stimme vor und hinter den Gedankenstrichen gerecht werden, mit denen sie eingerahmt werden, sondern man tut auch gut daran, die Stimme abzusenken, um damit die Hauptsache zu erheben, in die sie gedrängt wurden. Bei Fußnoten ist es leider so, dass man sie, wenn überhaupt, erst beim Umblättern der Seiten wahrnimmt und sie beim mündlichen Vortrag sowieso überspringt, ihnen also überhaupt keine Stimme gibt. Neben Parenthesen ist die Einklammerung von Wörtern bei Ronald Hitzler das häugste Mittel, den Vortrag auf „sotte voce“ einzustellen. Sie steht gewissermaßen für das Flüstern im Text. Man liest zum Beispiel: „subjektiv (mehr oder weniger) hinlänglich“ oder „eine den (oft impliziten) Erwartungen des jeweiligen Publikums entsprechende Inszenierung“ oder „unabhängig davon, ob der Schein mit einem (wie auch immer feststellbaren) Sein identisch ist“. Dergleichen kommt bei ihm doppelt so oft vor wie bei der Vergleichsgruppe, im Durchschnitt immerhin mehr als viermal pro Seite. Oft handelt es sich wie bei den zitierten Fällen um Immunisierungsformeln, mit denen man einer kräftigen Aussage das vielleicht Anstößige nimmt. Sie verraten gewissermaßen die Angst vor der Courage. Ich nehme an, dass sie vom Autor erst bei der Überarbeitung des Textes eingefügt wurden, möglicherweise erst in Reaktion auf die Bedenken eines zum Korrekturlesen verpichteten Assistenten.
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Die Stimmverstärker unter den Satzzeichen passen nicht so recht in die unerregte Gefühlslage wissenschaftlichen Schreibens. Das wird besonders deutlich am Ausrufzeichen, das seinen Satz markig ins fortissimo drängt – weshalb es auch eher militärischen als akademischen Zwecken dient; bei Ronald Hitzler kommt es gar nicht vor. Auch der Doppelpunkt ist in seinen Texten zwar häuger als in der Vergleichsgruppe, insgesamt aber doch nur selten zu sehen; und dies mit gutem Grund. Er ist das riskanteste Satzzeichen. Mit dem Doppelpunkt reißt ein Satz den Mund auf, und wehe, wenn die Bedeutung des Folgenden nicht der Emphase entspricht, die das Zeichen gebietet. Liest man bei unserem Autor „… auch wenn viele, vielleicht wirklich: die meisten von uns auf ihren Körpergewohnheiten beharren …“ (Hitzler 2002: 80), könnte man das nur korrekt nden, wenn es einen überraschen würde. Da das bei mir nicht der Fall ist, erscheint mir die metrische Aufrüstung des Satzes wie ein Schlag ins Wasser, bei dem es nicht einmal spritzt. Völlig beim herkömmlichen Muster akademischer Sprachetikette bleibt unser Autor durch den Verzicht auf jene Marker, mit denen sich die Reklame Beachtung sucht. Bei ihm kommen Kapitälchen und Versalien nicht vor, und auch der Fettschrift begegnet man nur in den Titeln und Untertiteln. Er benutzt aber ungewöhnlich oft das zartere Druckmittel der Kursiv- oder Schrägschrift, und zwar anders als in meinem Beitrag hier nicht nur als ordnender Blickfang, sondern sehr oft (siehe Zitat oben) zur Betonung der Wörter. In den untersuchten Textstichproben kamen Kursivsetzungen bei Hitzler mindestens ein halbes Dutzend Mal pro Seite vor – in der Vergleichsgruppe kein Mal. Nicht selten wird dem kursiv Gesetzten auch ein besonderer Tonfall zugewiesen. Wenn die von ihm berufenen Experten als „einschlägige wissenschaftliche Experten“ vorgestellt werden, dann soll der Leser wenigsten ahnen, dass ihre Expertise zwar einschlägig, aber nicht unbestritten – und der Autor selber wohl anderer Ansicht ist. Auf diese Weise drückt sich ein ironischer Hintersinn aus, der in Hitzlerschen Texten noch eindeutiger mit seinem exzessiven Gebrauch von „Gänsefüßchen“ verbunden wird. Schrägschrift und Gänsefüßchen sind bei ihm (neben Klammern und Parenthesen) die sichtbarsten interpunktierenden Stilmittel.
3.2 Zur Linguistik des Gänsefüßchens „Anführungszeichen soll man nur dort verwenden, wo man etwas anführt, beim Zitat, allenfalls wo der Text von einem Wort, auf das er sich bezieht, sich distanzieren will“ (Adorno 1974: 110). Das Auffällige bei unserem Autor besteht darin, dass die Adornosche „allenfalls“-Ausnahme bei ihm die Regel ist. Gänsefüßchen kommen in den von ihm untersuchten Texten acht bis neun Mal pro Seite vor, vier Mal so oft wie bei der Vergleichsgruppe.
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Man wird hinter dieser Häufung zuerst einmal eine pädagogische Absicht vermuten dürfen. Gänsefüßchen dienen dazu, „schlichten Gemütern im Irrgarten der Stilistik den Weg zu weisen; nämlich darzutun, wann ein Ausdruck vom gewöhnlichen Gebrauch abweichend verwendet wird, etwa in ironischer, satirischer, spöttischer, zärtlich-anspielender Hinsicht“ (Süßkind 1973/1984: 302 f.). Diese Funktion erschien im Altdeutsch der Buchdrucker mit dem Begriff „Hasenöhrchen“ trefich bezeichnet (Adelung 1788/1984: 99): ‚Aufgepasst!‘ hieß das. ‚Nehmt, was ich sage, nicht zum Nennwert! Achtet auf den doppelten Boden.‘ Auf diese Weise erfüllen Gänsefüßchen die Funktion eines „Ironiesignals“ (Weinrich 1966: 59 ff.). Was sich im Vortrag mit kurzem Innehalten und mit leicht süfsanter Worttönung, vielleicht auch mimisch mokant auszeichnen lässt, bedarf im schriftlichen Text der Gänsefüßchen (ersatzweise auch der Kursivschrift), um verlässlich erkennbar zu sein – und nützlich sicher nicht immer nur den „schlichten Gemütern“. Gänsefüßchen sind mit Blick auf das imaginierte Lesepublikum aber nicht nur in fürsorglicher Absicht rhetorisch bezweckt. Sie dienen auch der erkenntnistheoretischen Hygiene des Autors selbst – vor allem dann, wenn er Soziologe ist und empndlich spürt, wie die Wörter, die er nutzen will, durch sozialen Gebrauch mit Bedeutungen besetzt sind, die er gar nicht meint. Wörtern schwindet, hin- und hergeredet, ihre Fasson. Und seitdem immer mehr in der Massenkommunikation ihre Unschuld verlieren, lässt sich schwerlich so „keusch“ reden, wie Schopenhauer das wollte (Schopenhauer 1988: 464). Ronald Hitzlers Besonderheit besteht darin, dass er das nicht nur wahrnimmt, sondern auch ausdrücken will. Sein Sprachgefühl merkt und vermerkt die Verletztheit der Wörter. Man kann dann ganz auf sie verzichten, also schweigen (man inziert sich nicht); man kann sie mit eigener Denition gegen den notorischen Sprachgebrauch immunisieren (aber man landet, in aller Konsequenz betrieben, schnell in ein regressum in innitum); man kann versuchen, Wörter in einen semantischen Kontext einzubetten, der ihre Bedeutung schärft (würden alle anderen Wörter eindeutig sein); oder aber man kann mit Gänsefüßchen ironisch werden. Auch diese Praxis kommt aber nicht darüber hinaus, eine Notlösung zu sein. Der Text, der mit angeführten Wörtern spricht, weigert sich, die Verantwortung für sie zu übernehmen – und was dann? Wenn man „‚professionelle‘ Organisation“ sagt, meint man nur, dass eine Organisation sich für professionell hält, nicht aber, dass sie es sei – oder nicht sei; wenn man öffentliche Meinung zur „‚öffentlichen‘ Meinung“ erklärt, macht man sich die Floskel nicht zueigen, man stört sie – weiß es aber auch nicht besser; wenn man davon redet, dass bestimmte Leute „Politik ‚machen‘“, stellt man in Frage, dass sie das tun – mehr nicht. Dies ist, um eine Phrase Adornos ins Gegenteil zu wenden, der „Jargon der Uneigentlichkeit“. Und der mag für heuristische Zwecke genügen. Immerhin entstehen auf diese Weise interessante Fragen. Gänsefüßchen außerhalb von Zitaten
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irritieren unsere Wahrnehmung der Dinge. Sind diese das, als was sie sich selber ausgeben? Oder was alle von ihnen halten? Solcher Zweifel kann produktiv sein. Er steht am Anfang aller Soziologie.
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Person und Programm
Ich habe in der gemeinsamen Kölner Zeit zur fachlichen Sozialisation des Assistenten Ronald Hitzler dadurch beigetragen, dass ich ihn davon überzeugt habe, in der soziologischen Forschung sei es bei der Wahl einer Stichprobe sinnvoll, sie von N = 1 auf mindestens N = 2 zu verdoppeln. Ich konnte davon ausgehen, damit sei sein Widerstand gegen ihre weitere Ausdehnung prinzipiell gebrochen. Denn der epistemologische Sündenfall ereignet sich ja schon mit dem ersten Schritt, nämlich dadurch, dass man, wenn man in der Analyse Zwei ineins setzt, die Komplexität des Einzelnen auf etwas Vergleichbares herunterholt und sich dann nicht für das interessiert, was am Rest inkommensurabel ist. Das Individuelle aber besteht aus diesem Rest. Mit den Indifferenzen, die jede analytisch ehrgeizige Soziologie professionalisiert, hat sich Ronald Hitzler aber bis heute nicht recht anfreunden können. Er sieht immer noch mehr als Andere, oft auch hinter den Dingen. Das sorgt in seinen Texten für überraschende Aus- und Einblicke. Es muss, versteht man, von mehr die Rede sein dürfen, als eine schnöde ceteris-paribus-Analytik wahrnimmt. Also vertritt er auch theoretisch einen überdurchschnittlichen Komplexitätsbedarf. Dies aber bringt bestimmte Darstellungsprobleme mit sich. Die Sätze laufen voll und lassen sich schwer bändigen. Sicher wird der Eine oder Andere fragen, ob Komplexität immer so kompliziert sein muss, wie sie bei Ronald Hitzler manchmal erscheint. Aber sein besonderer Stil ist darauf eingerichtet, damit fertig werden zu wollen. Er versucht Passungen von Inhalt und Form. Eine komplizierte Rhetorik wird mit der Handreichung üppiger Zeichensetzung fassbarer gemacht. Der Leser kann in Hitzlerschen Texten ja keine fünf Schritte gehen, ohne dass ihm der fürsorgliche Autor mittels diverser Satzzeichen bedeutet, wo es lang geht und was er zu beachten habe, wenn er weiterliest: Pause lang oder kurz, Ton hoch oder tief, Stimme laut oder leise. Lässt man sich darauf ein, protiert man davon. Man stößt auf Sinn. Den kleinen Rest, der dann noch rätselhaft bleibt, kann man hilfsweise, denke ich, als Ausdruck von Marotten der Art begreifen, die man auch an sich selber nicht versteht.
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Erziehungswissenschaft und Soziologie Grenzen und Grenzübergänge Peter Vogel
Ronald Hitzler hat sich jüngst unter dem Titel „Grenzen der disziplinären ‚Ökumene‘. Zur fundamentalen Differenz von Jugendsoziologie und Pädagogik“ (Hitzler 2008) mit den unterschiedlichen Zugangsweisen der soziologischen Jugendforschung und der Sozialpädagogik hinsichtlich des gemeinsamen Gegenstandes „Jugend und ihre Lebenswelten“ kritisch auseinandergesetzt und dabei auch die grundsätzliche Grenze zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft/Pädagogik markiert – als Grenze zwischen unterschiedlichen Typiken von Wissenschaft. Das Thema ist von mehr als nur akademischem Interesse; in den weitaus meisten erziehungswissenschaftlichen Studiengängen ist in unterschiedlichen Formaten das Fach Soziologie beteiligt, und von den Studierenden wird erwartet, dass sie die disziplinären Perspektiven unterscheiden können. Ich möchte im Folgenden versuchen, an den Argumenten von Ronald Hitzler entlang die Grenzbestimmung von der anderen Seite (der Seite der Erziehungswissenschaft) aus nachzuvollziehen, und an einigen Stellen vielleicht andere Akzente setzen.
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Die „fundamentale Differenz“
Aus Anlass von Irritationen bei der Kommunikation zwischen (universitären) Pädagogen und Soziologen über die Beforschung von Jugendlichen reektiert Ronald Hitzler die „Grenzen der disziplinären Ökumene“ zwischen den beiden Wissenschaften und markiert eine „fundamentale Differenz“ (vgl. Hitzler 2008: 145). Die Differenz wird zunächst am gänzlich anderen Stellenwert von „Moral“ in der Zugangsweise der Pädagogik erklärt: Insofern Pädagogik „handlungsorientierendes Praxiswissen“ bereit stellen muss, „so etwas wie eine erfahrungsgesättigte Ansammlung von Gewissheit(en) darüber, was für die zu erziehende Klientel richtig und wichtig sei“ (Hitzler 2008: 146), müssen Pädagogen „ihrer (de-)formation professionelle nach – ebenso zwangsläug wie selbstbewusst werteverhaftet und in diesem Verstande letztlich Moralisten sein, sonst können sie nicht pädagogisch wirken (in welche Richtung von Erziehungsidealen auch immer). Jugendsoziologen müssen – ihrer (de-)formation professionelle nach – Amoralisten oder zumindest
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allen wo und wie auch immer vorndlichen Moralismen gegenüber zumindest indifferent sein, sonst können sie vielleicht zwar Jugend erforschen, aber gewiss nicht mit jenem soziologischen Blick, der es rechtfertigt, gesellschaftlich subventioniert zu werden“ (Hitzler 2008: 146). Ausgehend von dem Zitat von Robert Ezra Park „a moral man cannot be a sociologist“ (Hitzler 2008: 146) – ein Einstieg, mit dem Ronald Hitzler in seiner Vorlesung auch gerne Studierende der Erziehungswissenschaft erschreckt – wird dann überzeugend (am Beispiel der soziologischen Erforschung der Alltagswelten Jugendlicher) demonstriert, dass die moralische Überzeugung des Forschers im Falle der soziologischen Forschung keinerlei Rolle spielen darf, allenfalls ein zu kontrollierender Störfaktor ist, während moralische Überzeugungen – auf welchem Reexionsniveau auch immer – conditio sine qua non für pädagogisches Handeln sind. Kann man so differenzieren? Ganz zweifellos, wenn für alle Sozialwissenschaften das Postulat der „Werturteilsfreiheit“ gilt: „Gerade Wissenschaften, die sich mit dem menschlichen Leben und Zusammenleben beschäftigen, haben Weber zur Folge danach zu fragen, was war, was ist, warum das, was war und ist, so war und ist, wie es war und es ist, und was möglich bzw. was eben nicht möglich ist – aber nicht danach, was sein sollte. Was sein sollte, ist laut Weber bekanntlich eben keine wissenschaftliche, sondern vielmehr eine wertende bzw. moralisierende Frage“ (Hitzler 2008: 147). Damit ist ein wissenschaftstheoretisches Dilemma der Erziehungswissenschaft markiert, das sowohl in der Außenwahrnehmung wie im binnendisziplinären Diskurs über die Frage, was für eine Art Wissenschaft die Erziehungswissenschaft denn nun ist, für Irritationen beziehungsweise für Unsicherheit sorgt: Wenn einerseits die Wissenschaften vom Menschen, sofern sie die Kriterien von Wissenschaft erfüllen wollen, sich moralischer Urteile enthalten müssen, persönliche moralische Überzeugungen sogar als mögliche Fehlerquelle bei der Forschung kontrolliert und eliminiert werden müssen, und andererseits die wissenschaftliche Pädagogik ohne irgendwelche Zielvorstellungen hinsichtlich der pädagogischen Beeinussung ihrer Klientel einfach von der Logik der Sache her nicht auskommt, ist sie dann – wenigstens in Teilen – keine wirkliche Wissenschaft und insofern ihre erfolgreiche Etablierung im Wissenschaftssystem ein Missverständnis? Allerdings hat Ronald Hitzler freundlicherweise eingeräumt, dass die scharfe (und zunächst nicht gut widerlegbare) Grenzziehung zwischen Soziologie und Pädagogik nicht „empirisch arbeitende ebenso wie theoretisch reektierte Erziehungswissenschaftler“ meint, die er „dezidiert nicht zu den Pädagogen […], sondern zu den Sozialwissenschaftlern“ (Hitzler 2008: 145) zählt, und dass die empirische Erziehungs- und Bildungsforschung nur durch kontingente Umstände
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in den erziehungswissenschaftlichen Instituten oder Fakultäten gelandet ist, aber eigentlich nicht in die Pädagogik gehört (vgl. Hitzler 2008: 152 f.). Das löst allerdings das oben beschriebene Problem nicht, sondern verschiebt es nur und spitzt es gleichzeitig zu: Dann besteht die universitäre Erziehungswissenschaft aus einem wissenschaftlichen (nach den anerkannten sozialwissenschaftlichen Regeln forschenden) Teil und einem anderen Teil (möglicherweise dem größeren), der im besten Fall die Bedürfnisse der Ausbildung pädagogischer Berufe bedient, indem er die Akteure wenigstens mit normativ aufgeladenem „professionellem Sonderwissen“ ausstattet, um es nicht beim „konsensuellen ‚gesunden Menschenverstand‘“ (Hitzler 2008: 151) zu belassen. Um die Existenz des nicht-empirischen Teils der Erziehungswissenschaft an den Universitäten zu klären, möchte ich im Folgenden die aktuelle Situation der Erziehungswissenschaft zunächst aus ihrer Geschichte beleuchten, um dann mit einer Unterscheidung von Wissensformen eine etwas andere Differenzierung als Ronald Hitzler vorzuschlagen. Im Mittelpunkt stehen das Problem der „Werturteilsfreiheit“ von Wissenschaft und der Vergleich mit der Soziologie.
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Zur Wissenschaftsgeschichte der Erziehungswissenschaft
Wenn man die Entstehung der Erziehungswissenschaft an einem eigenständigen Wissensbestand, eigenen Denkmitteln, Kommunikationsmedien und dem selbst deklarierten oder zugeschriebenen Expertentum jenseits des pädagogischen Alltagswissens und jenseits des Professionswissens der entstehenden pädagogischen Berufe festmacht, dann ist die Erziehungswissenschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden und in mehrfacher Hinsicht mit dem Projekt „Aufklärung“ verbunden. Wenn man davon ausgeht, dass die Menschengattung ihre Angelegenheiten durch Nutzung der Gattungseigenschaft „Vernunft“ ohne Hilfe geistlicher Vormünder selbst regeln und endlich zum Besseren wenden kann, kommt der Erziehung eine zentrale Aufgabe zu: Dummheit, Faulheit und Gewalttätigkeit des Menschen sind keine Folgen der Erbsünde, sondern Produkt mangelnder Aufklärung und Erziehung, und durch Erziehung kann man diese Dezite beheben: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind. Daher macht auch Mangel an Disziplin und Unterweisung bei einigen Menschen sie wieder zu schlechten Erziehern ihrer Zöglinge“ (Kant 1968: 699). Aus der Diagnose ergibt sich zwanglos die Therapie: „Vielleicht, daß die Erziehung immer besser werden, und daß jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der
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menschlichen Natur. Von jetzt an kann dieses geschehen. Denn nun erst fängt man an, richtig zu urteilen, und deutlich einzusehen, was eigentlich zu einer guten Erziehung gehöre. Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte“ (Kant 1968: 700). Mit dieser Erwartung: Fortschritt der Menschengattung durch Erziehung ist zugleich die Erwartung an die Erziehungswissenschaft formuliert: „Die Erziehungskunst oder Pädagogik muß also judiziös werden, wenn sie die menschliche Natur so entwickeln soll, daß sie ihre Bestimmung erreiche. Schon erzogene Eltern sind Beispiele, nach denen sich die Kinder bilden, zur Nachachtung. Aber wenn diese besser werden sollen: so muß die Pädagogik ein Studium werden, sonst ist nichts von ihr zu hoffen, und ein in der Erziehung Verdorbener erzieht sonst den Andern. Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden, sonst wird sie nie ein zusammenhängendes Bestreben werden, und eine Generation möchte niederreißen, was die andere schon aufgebaut hätte“ (Kant 1968: 703 f.). Die erste Generation wissenschaftlicher Erziehungsexperten hatte auch keinerlei Zweifel daran, dass diese Herausforderung zu bewältigen sei; da die Menschengattung ihre Eigenschaften einem guten und vernünftigen Schöpfer verdankt, ist es nur eine Frage der Zeit und der pädagogischen Anstrengung, um sie zu dem moralischen Level zu führen, für den sie eigentlich ausgestattet ist. Dieser „pädagogische Optimismus“ ist gewissermaßen die erste historische Hypothek, die auf dem Denkgebäude der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft lastet: Die Erziehungswissenschaft ist historisch angetreten als Weltverbesserungswissenschaft, und so lange man die Menschheit in toto oder in individuo für grundsätzlich aufklärbar hält, bleibt die Hypothek bestehen. Die zweite Hypothek, deren Zinsen bis heute anstehen, entsteht im 19. Jahrhundert. Nachdem sich die unmittelbaren Heilserwartungen gegenüber der Ausbreitung der Vernunft, distribuiert auf dem Weg der Erziehung, etwas abgekühlt hatten, fand eine Ausdifferenzierung und Spezi zierung der erziehungswissenschaftlichen Themen statt: Im Rahmen der Entwicklung eines vormodernen Bildungswesens zu einem modernen Bildungssystem und einer ächendeckenden Alphabetisierung wird die Pädagogik zur „Wissenschaft, deren der Erzieher für sich bedarf“ (Herbart 1965: 22). Im Umkreis und für die Bedürfnisse der Lehrerseminare für Volksschullehrer entsteht ein differenzierter Wissenskorpus zu Fragen der Didaktik, Fachdidaktik, zum erziehenden Unterricht und zu den Aufgaben des Lehrpersonals; die Orientierung dieses Wissens ist nicht nur normativ, sie ist auch auf das beruiche Handeln der Lehrprofession ausgerichtet. Pädagogik als „Berufswissenschaft des Lehrers“ ist ein Slogan, der bis in die Gegenwart vor allem im schulpädagogischen Segment der Erziehungswissenschaft immer noch
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als heimliche oder auch offen vertretene selbstverständliche Hintergrundüberzeugung anzutreffen ist – mit den Schwierigkeiten für das wissenschaftstheoretische Prol der Erziehungswissenschaft, auf die Ronald Hitzler hinweist. Da Lehrer- und Lehrerinnenbildung in einem ausdifferenzierten Bildungssystem nicht nur – je nach Art der diagnostizierten Bildungskrise – ein regelmäßig wiederkehrendes Thema der öffentlichen Diskussion ist, und alleine die Zahl der an Universitäten auszubildenden Lehrer und Lehrerinnen für alle Schularten, die ungeachtet ihrer Fächerkombinationen schulbezogene Erziehungswissenschaft studieren müssen, erheblich ist, bleibt der Anspruch der oben angesprochenen Überzeugung für die Erziehungswissenschaft insgesamt lebendig. Der eigentliche „Sündenfall“ – insofern er mit einer absichtlichen wissenschaftspolitischen Entscheidung verbunden war (und die dritte Hypothek) – ist allerdings mit dem Aufstieg der Pädagogik zur Universitätsdisziplin verbunden, und hier ist der wissenschaftsgeschichtliche Ort der Differenz zur Soziologie: Pädagogik und Soziologie wurden zum gleichen Zeitpunkt „universitär“, nämlich ab den 1920er Jahren. Während aber die Deutsche Gesellschaft für Soziologie sich bei ihrer Gründung 1909 auf „Werturteilsfreiheit“ verpichtete (unter Mitwirkung von Max Weber und in Abgrenzung zum politisch durchaus wertungsfreudig eingestellten „Verein für Socialpolitik“), und die Soziologie als empirische Wissenschaft in die Philosophischen Fakultäten einzog, ging die wissenschaftliche Pädagogik einen anderen Weg. Ihr Angebot für die Philosophischen Fakultäten war Sinnstiftung in einer unübersichtlich gewordenen Welt und Sinnorientierung und professionsethische Ausrichtung der zukünftigen Gymnasiallehrer: „Es bedarf einer Wissenschaft vom Schul- und Erziehungswesen, die sowohl historischempirisch die tatsächlichen Institutionen des Schulwesens in Entstehung und Sinn erläutert als spekulativ-normativ das Bildungsziel und die in die Schulen hineinzuwirkende geistige Kultureinheit zu formulieren, zu verarbeiten und zu begründen hat“ (Schwenk 1977: 140). Diesen Erwartungen der preußischen Kultusverwaltung (von 1917) konnte die neue Universitätspädagogik ohne Schwierigkeiten entsprechen: „Der Antagonismus der geistigen Mächte, die aus dem Volksleben geboren werden, fordern eine ihnen überlegene, höhere geistige Macht, durch die sie alle ihrem Wert und Recht gemäß zur Geltung kommen. Aber gerade dieser produktive Ausgleich ist nicht möglich ohne die Kraft der Wissenschaft, und die Widersprüche des Lebens selbst treiben über die bloße Tatsächlichkeit hinaus zu der großen ordnenden, gestaltenden und versöhnenden Macht, die in der Theorie und Besinnung liegt. Einheit und Synthese, Durchleuchtung und Beherrschung der gesellschaftlichen Erziehungsmächte ist nicht erreichbar ohne eine wissenschaftliche Pädagogik“ (Spranger 1973: 268). An der Normativität dieser Aufgabe gibt es keinen Zweifel: „Die Aufgabe der wissenschaftlichen Pädagogik liegt also darin, eine bereits gegebene Kulturwirklichkeit aufzufassen, unter ordnende
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Begriffe zu bringen und zuletzt durch Wertsetzungen und Normen zu gestalten“ (Spranger 1973: 269). Möglicherweise ist die für Spranger nicht nachvollziehbare Position der Soziologen gemeint, wenn er schreibt: „Man hat ihr [der Wissenschaft] zwar neuerdings den Schritt in das Gebiet der Werturteile untersagen wollen. Und gewiß mit Recht, wenn man unter Werturteilen solche versteht, die aus der subjektiven Leidenschaft unter den parteiischen Interessen hervorgehen. Alle Werturteile aber zu verbieten, heißt die Wissenschaft entmannen“. Und etwas später: „Der Wille zur Objektivität kann nicht soweit getrieben werden, daß überhaupt keine formende und gestaltende Seele mehr übrig bleibt“ (Spranger 1973: 269). Das bedeutet: die wissenschaftliche Pädagogik hat die Aufgabe, qua Wissenschaft Werte zu setzen, und sie traut es sich auch zu. Dass gleichzeitig der an die Universitäten drängende kopfstarke Volksschullehrer-Nachwuchs an die neugegründeten Pädagogischen Akademien umgeleitet wird (mit dem Argument, dass die zukünftigen Volksbildner an eigenen Bildnerhochschulen gebildet werden müssen, weil sie an Universitäten ohnehin nicht die Bildung bekämen, die ihr Amt und ihre Aufgabe erfordern – nebenbei die größte Cooling-Out-Aktion im Wissenschaftssystem bis zur Einführung der konsekutiven Studiengänge), rundet das Bild nur ab – auch hier geht es selbstverständlich um eine normative Orientierung durch eine normativ aufgeladene Erziehungswissenschaft. Diese Orientierung sorgte insgesamt dafür, dass sich die universitäre Erziehungswissenschaft und die universitäre Soziologie im punkto „Werturteilsfreiheit“ gegensätzlich entwickelten – was bei der einen Disziplin Kern ihrer Identität ist, hätte bei der anderen tendenziell zur Exkommunikation geführt. Eine Folge dieser konträren Orientierung war es auch, dass eine Rezeption soziologischer Theorien oder Erkenntnisse in der Erziehungswissenschaft nicht wirklich stattfand; Durkheims Idee etwa, nach der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung zu fragen („socialisation méthodique“) brauchte deshalb 60 Jahre, um auf dem Umweg über die USA in der deutschen Erziehungswissenschaft anzukommen. Erst in den 1960er Jahren geriet die geisteswissenschaftlich-kulturphilosophisch-sinnverstehende und -setzende Erziehungswissenschaft unter Druck: zum Einen durch eine sich explizit politisch denierende „emanzipatorischen Pädagogik“, die hinsichtlich des hier diskutierten Problems der Werturteile nur eine andere und eindeutigere Zielrichtung verfolgte und an der Wertgebundenheit von erziehungswissenschaftlicher Theorie und pädagogischer Praxis außer den Werten und ihrer Herleitung nichts änderte (auch die Soziologie hatte damals, wenn ich es richtig sehe, Probleme mit dem Durchhalten der Werturteilsfreiheit, und der „Positivismusstreit“ in der Soziologie war immerhin die Folie, auf der das gleiche Problem in der Erziehungswissenschaft diskutiert wurde). Zum Anderen wurde eine „empirische Wende“ propagiert, in deren Rahmen einerseits gefordert wurde,
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sicheres empirisches Wissen sowohl über die Ursachen von Bildungsbenachteiligung zu erzeugen als auch über die Instrumente, sie abzubauen, und andererseits der Wissenschaftscharakter der Erziehungswissenschaft grundsätzlich in Zweifel gezogen (zu den Hauptargumenten vgl. Vogel 1989). Nach einer Phase heftiger wissenschaftstheoretischer Kontroversen tritt in den 1980er Jahren eine gewisse Beruhigung ein; unter dem Eindruck der Relativierung absolutistischer Wissenschaftsmodelle durch die Geschichtlichkeit von Paradigmen (Kuhn) einerseits und die „Pluralität der Sprachspiele“, die die postmoderne Wissenschaftsphilosophie anbietet andererseits, ndet man sich mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugangsweisen innerhalb der Erziehungswissenschaft ab, und das empirische (möglichst werturteilsfreie) Paradigma wird nicht als Widerspruch zur Konstruktion von (normativen) handlungsleitenden pädagogischen Modellen gesehen (vgl. Vogel 1991). Eine groß angelegte Untersuchung der wissenschaftlichen Orientierung der universitären Erziehungswissenschaftler (1988) kommt u. a. zu dem Ergebnis: „Danach kann es kaum Zweifel geben, dass eine die Pädagogik tragende Grundüberzeugung die Idee einer praktischen Wissenschaft ist. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass eigene pädagogische Erfahrungen die Forschung stimulieren und diese zu einer unmittelbaren Verbesserung der pädagogischen Handlungsvollzüge führen“ (Baumert/Roeder 1994: 41). Dieser Kompromiss ist wissens- und wissenschaftstheoretisch unbefriedigend; insofern sind Ronald Hitzlers Bedenken in seinem Beitrag durchaus nachvollziehbar. Andererseits: Wie kann eine befriedigende Lösung aussehen?
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Erziehungswissenschaft als reine Sozialwissenschaft?
Rein wissenschaftssystematisch würde nichts dagegen sprechen, dass die Erziehungswissenschaft, die ja immerhin in Teilen schon nach den sozialwissenschaftlichen Regeln forscht – wobei dieser Teil dank TIMMS, PISA, NEPS und Co einerseits und die breite Rezeption der Biographieforschung andererseits derzeit einen ungeahnten Aufschwung nimmt – insgesamt in das sozialwissenschaftliche Lager wechselt: Warum nicht akzeptieren, dass der Versuch, mit kulturphilosophischen Mitteln Bildungsziele wissenschaftlich zu bestimmen, ebenso gescheitert ist wie deren Herleitung aus einer Emanzipationsidee, warum nicht anerkennen, dass sich Zielvorstellungen für pädagogische Interventionen „politisch und moralisch, nicht jedoch wissenschaftlich“ (Hitzler 2008: 152) legitimieren lassen und sich auf den wissenschaftlichen Teil beschränken? Wenn man indessen – durchaus soziologisch – in den Blick nimmt, dass die Alimentation von Wissenschaften an Universitäten eine gewisse gesellschaftliche Anstrengung impliziert, die auch mit gesellschaftlichen Erwartungen verbunden ist
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(ungeachtet dessen, wie gut sie erfüllt werden), dann zeigt sich, dass – unter anderem durch eine Tradition von 250 Jahren – genau die zielgerichtete pädagogische Intervention Teil dieses Erwartungshorizonts ist: Kinder und Jugendliche essen zu viel, das Falsche oder hungern sich zu Tode? Jugendliche verbringen zu viel Zeit am Computer? Jugendliche neigen dazu, Konikte mit körperlicher Gewalt auszutragen? Jugendliche Fußballfans haben gelegentlich einen fatalen Hang zu rechtsextremer Ideologie? Zu wenig Jugendliche mit Migrationshintergrund sind im Bildungssystem erfolgreich, weil sie Analphabeten in zwei Sprachen sind? Gleichsam reexhaft wird von der Politik und der Öffentlichkeit erwartet, dass Gesundheitsbewusstsein, Medienkompetenz, Koniktfähigkeit, Toleranz und Sprachkompetenz mithilfe von pädagogischen Programmen im Kindergarten, in der Schule oder in sozialpädagogischen Maßnahmen oder Einrichtungen den Kindern und Jugendlichen nahe gebracht werden. Die Frage, ob die entsprechenden Programme die an sie gestellten Erwartungen erfüllen, muss hier ebenso wenig diskutiert werden wie die Frage, ob man wirklich glaubt, gesellschaftliche Probleme pädagogisch lösen zu können; für unseren Zusammenhang genügt es, dass die Erwartungen an die Erziehungswissenschaft in der Vergangenheit und Gegenwart wesentlicher Teil ihrer „disziplinären Identität“ sind. Wenn man beim Stichwort „Identität“ an das Modell der (gesellschaftlichen) Konstitution und Aufrechterhaltung von Identität bei Personen von Goffman/ Habermas denkt, dann kann man es nutzen, um die Identität einer Disziplin zu beschreiben (wobei ich nicht sicher bin, ob damit nur eine Metapher verwendet wird oder die Strukturisomorphie die Basis für eine ernsthafte theoretische Erklärung abgibt). Die Identität einer Wissenschaft wäre dann nicht per se stabil, sondern angesichts von Veränderungen der Erwartungen des sozialen Umfeldes jeweils neu zu bestimmen. Eine Wissenschaft müsste dann eine jeweils neue Balance herstellen zwischen den Erwartungen des gesellschaftlichen Umfeldes (hier: des übrigen Wissenschaftssystems, der Bildungspolitik, der pädagogischen Professionen, der Öffentlichkeit) und der eigenen Geschichte (hier: der Tradition der Problemdenitionen und Problemlösungsstrategien), wobei diese Geschichte nichts anderes ist als die Summe der gleichsam sedimentierten, mehr oder weniger gut gelungenen Balanceakte. Mit diesem Modell ließen sich geschichtliche Anpassungsleistungen (z. B. beim Eintritt der Pädagogik in die Universitäten oder die teilweise paradigmatische Umorientierung in der Bildungsreformzeit) ebenso erklären wie die Uneindeutigkeiten der sedimentierten Fachbiographie (einschließlich der Versuche, aus aktuellen Balancebedürfnissen diese Biographie gelegentlich umzuschreiben). Für das hier diskutierte Problem bedeutet diese Analogie aber: So wenig wie eine Person kann eine Wissenschaft sich von ihrer geschichtlichen Identität trennen; eine ausschließlich sozialwissenschaftliche Erziehungswissenschaft hätte keine eigene Identität mehr und wäre in der Tat eine Subdisziplin der Sozialwissenschaften.
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Wenn die Einwände von Ronald Hitzler zutreffend sind, eine Beschränkung auf die reine werturteilsfreie Bearbeitung ihres Forschungsfeldes aber aus den genannten Gründen ausscheidet – wie kann dann eine Lösung aussehen? Im Folgenden wird ein Denkmodell vorgestellt, das mit der Differenzierung von Wissensformen innerhalb der Erziehungswissenschaft arbeitet; zunächst muss aber die Differenz zum pädagogischen Professionswissen geklärt werden.
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Zur Differenz von erziehungswissenschaftlichem Wissen und pädagogischem Professionswissen
Einer der Hauptunterschiede zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft, der bei der Lektüre von Hitzlers Text deshalb auffällt, weil der Autor ihn wie selbstverständlich unterstellt, aber nicht problematisiert, ist der Umstand, dass die Erziehungswissenschaft – wie oben dargelegt – mit der Erwartung konfrontiert wird, handlungsorientierendes Wissen für pädagogische Berufe bereitzustellen – was dann wegen des Werturteilproblems Zweifel an der Wissenschaftlichkeit größerer Teile der Erziehungswissenschaft begründet. Zunächst muss man konstatieren, dass für die Soziologie dieses Problem insofern gar nicht entstehen kann, weil es kein soziologisches Professionswissen gibt – im Sinne der Wissensbestände, Urteilsregeln, Deutungsmuster, Handlungsmaximen usw. für ein beruiches Handlungsfeld – so wie für pädagogische Berufe. Wo immer ein diplomierter Soziologe beruich tätig wird – er handelt politisch, administrativ, beratend, notfalls auch pädagogisch, wie auch immer, aber nicht soziologisch, weil es keine soziologischen Handlungsfelder gibt, auf jeden Fall nicht so wie pädagogische. Die von Ronald Hitzler markierten Vorbehalte sind in der Tat dann plausibel, wenn man nicht – wie es tatsächlich in manchen Teilen der Erziehungswissenschaft (noch) geschieht – zwischen (erziehungs-)wissenschaftlichem Wissen und pädagogischem Professionswissen unterscheidet; wenn man aber differenziert, ergibt sich ein anderes Bild: Pädagogisches Professionswissen
beschreibt das Wissen, das notwendig und hinreichend ist, um in einem pädagogischen Beruf kompetent zu arbeiten und hat vor allem die Aufgabe, Handlungssicherheit auch in schwierigen beruichen Problemlagen zu ermöglichen; enthält Bestände von Einzelwissen (wissenschaftlich abgesicherte Informationen über das Handlungsfeld; Wissen über Zusammenhänge im Handlungsfeld); Regelwissen (Wissen über die angemessenen und üblichen Strategien zur
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Erziehungswissenschaftliches Wissen hingegen
beruht auf der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien, nicht auf praktischen Erfahrungen; wird erworben durch wissenschaftliches Studium und Teilnahme an Forschung (etwa auch durch Qualikationsarbeiten); ist auf interne Konsistenz und Widerspruchsfreiheit angewiesen (systematischer Zusammenhang der Wissensbestände); ist geordnet gemäß den Theoriekontexten, die es erzeugen; trennt penibel und rigide empirische und normative Anteile, die mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Verfahren bearbeitet werden; normative Probleme sind Gegenstand von Reexion und Theoriebildung, ohne dass am Ende eine gleichsam „wissenschaftlich bewiesene“ praktische Empfehlung stehen könnte (dazu gleich mehr); folgt den wissenschaftsinternen Kriterien von „Wahrheit“, ungeachtet praktischer Verwertungsmöglichkeiten und der Erwartungen aus den pädagogischen Handlungsfeldern; hat als typisches Begründungsmuster die Berufung auf methodisch abgesicherte wissenschaftliche Strategien der Wissensproduktion.
Wenn man so differenziert, dann ergibt sich auch eine klare Differenz hinsichtlich der Werturteilsproblematik: die geforderte „moralische Indifferenz“ kann nicht für das Professionswissen gelten, wie Ronald Hitzler zurecht konstatiert, sie muss und kann aber für die Erziehungswissenschaft gelten. Das impliziert auch, dass die universitären Erziehungswissenschaftler keineswegs vom Schreibtisch aus das Geschehen in den Schulen oder der Jugendhilfe steuern (ein leider immer noch verbreitetes Selbstmissverständnis in unserer Zunft); der Wissenschaftler/die Wissenschaftlerin ist der Erziehungswissenschaft und ihren Kriterien gegenüber verantwortlich, nicht gegenüber den Kindern; verantwortlich pädagogisch handeln müssen die Angehörigen der pädagogischen Professionen.
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Mit der Differenz ist auch ein erhebliches Problem für die erziehungswissenschaftliche Lehre an der Universität verbunden: Lehrende und Studierende müssen sich klarmachen, was Leistung und Grenzen beider Wissensformen sind und (sich) die Differenzen deutlich machen. Studierende müssen lernen, dass ihre Praxis im Studium nicht die der pädagogischen Berufe, sondern die Praxis der Wissenschaft ist, und dass sie sich intensiv auf wissenschaftliches Wissen einlassen müssen, wenn sie später kompetent in einem pädagogischen Beruf arbeiten wollen, dessen Handeln dann nach ganz anderen Regeln bestimmt wird. Es ist fahrlässig oder unehrlich, wenn einzelne Lehrende an der Universität vorspiegeln, man könne beruiches Handeln an der Universität lernen, genauso wie es mindestens ein Selbstmissverständnis ist, wenn manche Praktiker behaupten, anspruchsvolles professionelles Handeln wäre auf wissenschaftliches Wissen nicht angewiesen. Ehrlicherweise muss man einräumen, dass überall da, wo im letzten Absatz „müssen“ steht, auch „müssten eigentlich“ stehen könnte; nicht alle Lehrenden machen diesen Unterschied, und den Studierenden macht es in der Regel nichts aus, mit einem synkretistischen Wissenschaftsverständnis zu leben (wenn sie das Problem überhaupt wahrnehmen). Wie es Studierende schaffen, ihre aus der Schule mitgebrachten lebensweltlichen Vorurteile bzw. Voreinstellungen gegen alle Bemühungen des Lehrpersonals unbeschadet über das Studium zu retten, ist ein faszinierendes und wenig erforschtes Phänomen, und die „unreektierte Attitüde normativer Selbstgewissheit“ (Hitzler 2008: 148) ist sowohl für Soziologen wie für Erziehungswissenschaftler ein Problem. Somit bleibt noch zu klären, wie innerhalb der Erziehungswissenschaft wissenschaftlich mit den normativen Implikationen umgegangen werden kann, die mit „Erziehung“ und „Bildung“ sachlogisch zwingend verbunden sind. Man kann Ronald Hitzler nicht widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass pädagogische Zielvorstellungen nicht wissenschaftlich legitimiert werden können; andererseits folgt daraus nicht ohne weiteres, dass die Erziehungswissenschaft deshalb auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Problem am besten gänzlich verzichten sollte. Der erziehungswissenschaftlich endemische Theorietypus „Bildungs- und/ oder Erziehungstheorie“ zeichnet sich dadurch aus, dass aus mehr oder weniger anspruchsvollen philosophischen Annahmen über die Bestimmung/die Aufgaben/ das Wesen des Menschen Maximen abgeleitet werden, wie er via pädagogische Prozesse auf den richtigen Weg gebracht werden kann, oft verbunden mit der Empfehlung praktisch-pädagogischer Settings. Diese Theorien haben alle gemeinsam, dass man sie letztlich nicht beweisen kann; allerdings kann man doch erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Qualität der Begründungen feststellen, und darum geht es in der theoretischen/analytischen/reexiven Erziehungswissenschaft. Typische Argumentationsmuster in diesem Bereich sind Analysen von problemgenerierenden Kategorien und konstituierenden Grundbegriffen, Aufdecken von Widersprüchen
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und nicht deklarierten Prämissen, Diskussion von theoretischen Folgelasten und des Begründungsaufwandes etc. Am Ende stehen nicht Empfehlungen, sondern Wenn-Dann-Sätze. Dahinter steht die Überzeugung, dass es – ungeachtet der Unmöglichkeit wissenschaftlicher Letztbegründung von Erziehungs- und Bildungstheorien – erhebliche rational nachvollziehbare Qualitätsunterschiede zwischen diesen Theorien gibt, und es ist nicht gleichgültig (nicht im Sinn von Moralität, sondern im Sinn von Rationalität), ob man pädagogische Maximen für eine (zweifellos normative) Erziehungstheorie entwickelt, die die moralische Autonomie des Zöglings im Sinn des kategorischen Imperativs anvisiert oder eine (ebenfalls normative) Erziehungstheorie, die auf „Gottesebenbildlichkeit“ abzielt. Warum das wichtig ist? Unter anderem deshalb, weil explizite oder implizite Erziehungs- oder Bildungstheorien in modernen Gesellschaften an zahlreichen Stellen präsent sind und das Handeln von Menschen steuern, ob man nun darüber nachdenkt oder nicht, von den Curricula im Bildungssystem über die Erwartung katharsischer Effekte beim Strafvollzug bis zu den zahllosen Settings sozialpädagogischer und sozialpolitischer Intervention; auch die Modulbeschreibungen für das Studienfach Soziologie an Universitäten enthalten selbstverständlich implizite bildungstheoretische Prämissen darüber, zu welchem Ende man dieses Fach studieren soll. Irgendjemand im Wissenschaftssystem sollte sich also kritisch-analytisch (und selbstverständlich wertfrei) um diese Fragen kümmern, und nach Lage der Dinge ist das derzeit die Erziehungswissenschaft. Ronald Hitzler hat mit seiner „Grenzziehung“ zweifellos einen wunden Punkt getroffen; seine Einwände gelten für die Teile der universitären Erziehungswissenschaft, in denen unverdrossen und mit hoher Erfahrungsresistenz an dem Projekt gebastelt wird, eine Wissenschaftsdisziplin mit den Charakteristika einer Professionsethik zu modellieren.
Literatur Baumert, Jürgen/Roeder, Peter Martin (1994): „Stille Revolution“. Zur empirischen Lage der Erziehungswissenschaft. In: Krüger, Heinz-Hermann/Rauschenbach, Thomas (Hg.): Erziehungswissenschaft. Die Disziplin am Beginn einer neuen Epoche. München: Juventa, 29–48. Herbart, Johann Friedrich (1965): Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet [1806]. In: Herbart, Johann Friedrich: Pädagogische Schriften. Bd. 2. Düsseldorf/München: Helmut Küpper, 9–155. Hitzler, Ronald (2008): Grenzen der disziplinären „Ökumene“. Zur fundamentalen Differenz von Jugendsoziologie und Pädagogik. In: Soziologie, 37, 145–154.
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Kant, Immanuel (1968): Über Pädagogik [1803]. In: Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden (hg. v. Weischedel, Wilhelm) Bd. 10. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft: 695–761. Schwenk, Bernhard (1977): Dokumentation: „Pädagogische Konferenz im Ministerium der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten am 24. und 25. Mai 1917“. In: Haller, Hans-Dieter/Lenzen, Dieter (Hg.): Wissenschaft im Reformprozess (= Jahrbuch für Erziehungswissenschaft 1977/78). Stuttgart: Klett, 133–157. Spranger, Eduard (1973): Die Bedeutung der wissenschaftlichen Pädagogik für das Volksleben [1920]. In: Spranger, Eduard: Philosophische Pädagogik (= Gesammelte Schriften, hg. von Bähr, Hans Walter u. a., Bd. II). Heidelberg: Quelle & Meyer, 260–274. Vogel, Peter (1989): Zur Rekonstruktion pädagogischer Wissensformen. In: P. Zedler, Peter/König, Eckard (Hg.): Rekonstruktionen pädagogischer Wissenschaftsgeschichte. Weinheim: Deutscher Studienverlag, 429–445. Vogel, Peter (1991): Von Umfang und Grenzen der Lernfähigkeit empirisch-analytischer und systematischer Pädagogik im Streit miteinander. In: Hoffmann, Dietrich (Hg.): Bilanz der Paradig mendiskussion in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Deutscher Studienverlag, 17–30.
Autorinnen und Autoren
Albrecht, Clemens, Dr., Professor für Soziologie an der Universität Koblenz/Landau, Campus Koblenz Beck, Ulrich, Dr., em. Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, British Journal of Sociology Visiting Centennial Professor an der London School of Economics, Senior Loeb Fellow an der Harvard Design School (seit 2008), Senior Fellow am Max-Planck-Institut Göttingen Beck-Gernsheim, Elisabeth, Dr., Professorin i. R. für Soziologie an der Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Professorin an der Universität Trondheim, Norwegen Berger, Peter A., Dr., Professor für Allgemeine Soziologie – Makrosoziologie an der Universität Rostock Berking, Helmuth, Dr., Professor für Soziologie an der Universität Darmstadt Brosziewski, Achim, Dr., Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Thurgau Burzan, Nicole, Dr., Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Dortmund Dormeyer, Detlev, Dr., em. Professor für Katholische Theologie/Neues Testament an der Technischen Universität Dortmund Eberle, Thomas, Dr., Professor für Soziologie an der Universität St. Gallen Gebhardt, Winfried, Dr., Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz/ Landau, Campus Koblenz Gerhards, Jürgen, Dr., Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin Gross, Peter, Dr., em. Professor für Soziologie an der Universität St. Gallen Hepp, Andreas, Dr., Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Bremen Honer, Anne, Dr., Professorin i. R. für Empirische Sozialforschung mit dem Schwerpunkt qualitative Methoden an der Hochschule Fulda Hornbostel, Stefan, Dr., Professor für Soziologie an der Humboldt Universität zu Berlin, Leiter des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung in Bonn Kaesler, Dirk, Dr., Professor i. R. für Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg Keller, Reiner, Dr., Professor für Soziologie an der Universität Koblenz/Landau, Campus Landau
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