Hans Peter Hauschild fluchtversuche das leben des miro sabanovic
Für den Bürgerkriegsflüchtling Miro ist das Stricherle...
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Hans Peter Hauschild fluchtversuche das leben des miro sabanovic
Für den Bürgerkriegsflüchtling Miro ist das Stricherleben am Bahnhof Zoo nicht das Ende eines langen Abstiegs, sondern die schönste Zeit seines Lebens. In der bosnischen Heimat war er von den Eltern zum Dieb abgerichtet und körperlich misshandelt worden, jetzt erlebt er so etwas wie Freiheit und sogar Zuneigung. Aber er hat seine Rechnung ohne die deutsche Ausländerbehörde gemacht. In der Aschiebehaft schreibt er die Geschichte seines jungen Lebens, die Hans Peter Hauschild in die Form dieses Buches gebracht hat: Das Leben des Miro Sabanovic zwischen Familienterror, Bahnhof Zoo und Ausländerbehörde.
Hans Peter Hauschild wurde 1954 geboren, engagierte sich als Vorstand in der Deutschen Aidshilfe und in der Flüchtlingsarbeit von Pax Christi. Er lebt als Kulturwissenschaftler in Berlin.
Hans Peter Hauschild Fluchtversuche
Das Leben Des Miro Sabanovic Zwischen Familienterror, Bahnhof Zoo Und Ausländerbehörde
MännerschwarmSkript Verlag Hamburg 2002
DIE DEUTSCHE BIBLIOTHEK - CIPEINHEITSAUFNAHME Der Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich Hans Peter Hauschild Fluchtversuche Das Leben des Miro Sabanovic zwischen Familienterror, Bahnhof Zoo und Ausländerbehörde © MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2002 Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen Unter Verwendung eines Fotos von Brad Wilson Druck: Interpress, Ungarn ISBN 3 935596 12 X MännerschwarmSkript Bartholomae & Co. Neuer Pferdemarkt 32 • 20359 Hamburg www.maennerschwarm.de
VORBEMERKUNG
Der einundzwanzigjährige Miro Sabanovic aus BosnienHerzegowina erzählt in diesem Buch sein Leben. Sein Text entstand, während er im Jugendknast Plötzensee einsaß. Jahrelang hatte er schon den Ausweisungsbeschluss im Nacken. Um einen «Härtefall» bei den Behörden vortragen zu können, hatte er mir, seinem «Härtefall»-Betreuer bei Pax Christi, immer wieder die harten Fakten seines Jungenlebens in den Computer diktiert. Es hat ihm nichts genützt. Am 14. August 2001 wurde Miro abgeschoben. Vorher wollte er seine Geschichte noch einmal selbst schreiben. Er bat mich dann, seine Worte so zu überarbeiten, dass sie auch für andere lesbar sind. Miro Sabanovic heißt eigentlich anders. Wir beide haben dieses Pseudonym für meine hier vorliegende Fassung seines Textes vereinbart. Zehn Jahre zuvor — in Jugoslawien tobte der Bürgerkrieg — war er mit seiner Familie nach Berlin geflohen. Die Eltern hatten ihn schon von klein auf gezwungen zu stehlen. Die Folge seines Tuns in Deutschland: insgesamt vier Jahre Jugendgefängnis, fast die Hälfte seiner Berliner Zeit. Deutlich bessere Erfahrungen machte Miro mit schwulen Männern. Er begann im Bahnhof Zoo als Stricher zu arbeiten. Später verliebte er sich auch und fand fürsorgliche Freunde. Die meisten schwulen Szenegänger, die Jungen wie Miro begegnen, ahnen jedoch gar nicht, welche Dramatik ein Leben ohne legalen Aufenthalt entfalten kann. Vor diesem Hintergrund ist es irritierend, wie positiv Miro die Schwulenszene, speziell seine Freier, sieht. Familie und Staat versagen dem gegenüber grausam.
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Zu meiner Arbeit als Miros Betreuer gehörte es auch, ihm Hoffnung zu machen — Hoffnung auf einen legalen Aufenthalt in Berlin. Manchmal kommen mir Zweifel, ob es nicht fairer gewesen wäre, dies nicht zu tun. Denn Miro hatte das für eine Abschiebung kritische Strafmaß von zwei Jahren um mehr als das Doppelte überschritten. Außerdem nähert sich die gesellschaftliche Toleranz gegenüber «ausländischen Straftätern» mit großen und (derzeit) rot-grünen Schritten der Null-Prozent-Marke. Gegen eine dementsprechend pessimistische Haltung sprach aber, dass Berlin Miros Lebensmittelpunkt war, dass er sich hier — als Berliner Junge unter Berliner Männern und sehr spezifischen Bedingungen — zu einem schwulen Mann entwickelt hat. In dieser biographischen Erinnerung eines durchaus problematischen Zeitgenossen finden sich eine Vielzahl gesellschaftlich-kreativer Chancen, speziell für eine weltoffene und faire Gay community.
Berlin im Mai 2002 Hans Peter Hauschild
Diesen Brief verliest Miro Sabanovic im Gerichtssaal. Er wird freigesprochen, doch nur, um später abgeschoben zu werden.
Sehr geertes Gericht, Ich weis das ich schuldig bin und wieder kriminel geworden bin, und ich scheme mich und Bereue alles was ich gemacht habe. Aber ich möchte ihnen erklären warum ich wieder kriminel und Drogensuchtig geworden bin. Seit meinen siebenten Jahr werde ich geschlagen, mishandelt und gekwellt, und musste alles tun was mier meine Eltern gesagt haben. Ich wurde schun 2 mal von meinen Eltern verbrant weil ich nicht klaun wollte und von zuhause abgehaun bin. Ich habe noch anderen Geschwistern und die tun mier auch Leit weil von ihn keiner schreiben und lesen kann und wurden auch schon dresiert und klaungeschickt und par von ihnen sind schun auch straffälich und würden genauso landen wie ich. Meine Eltern haben noch nie Gearbeitet, sondern haben von Sozialhilfe und von gestohlenes Geld geliebt und haben nur an sich selbst kekummert und uns Kindern haben die liegengelassen. Daher bitte ich sie nicht mich zu bestrafen sondern meinen Eltern und sie sollten den Knast von innen kännen lärnen und nicht von ausen. Ich sas gesamt 38 monaten schun im Knast und wurde 3 mal von meinen Angehörigen besucht. Ich scheme mich Ihnen das alles vorzulesen, aber ich habe keine andere Wahl um meine unschuld zu beweisen. Ich habe mit Drogen angefangen und tats mier auf eine Seite gut und auf die andere werde ich noch krimineler dadurch, und die Drogen haben mier geholfen meine Probleme zu vergessen. Daher möchte ich mich beim meinen Opfärn entschuldigen dennen ich das Potmunnen genomen habe und dennen versucht habe, und ich scheme mich dafür und möchte mich noch mal an allen entschuldigen. u.s.w. 7
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LIEBES TAGEBUCH!
Mein Vater Aljo wurde wegen Mordes zu elf Jahren Knast verurteilt. Die Sache ist ganz schnell gegangen und genau so schnell war mein Vater ein Mörder, sieben Jahre vor meiner Geburt. 1973 starb meine Schwester Azra an einer Kinderkrankheit und es waren Trauerleute da, Onkel, Tanten usw. Als sie meine Schwester zum Friedhof trugen, saß mein Vater noch zu Hause. Da besuchte ihn ein Mann und sagte zu ihm: «Jetzt kannst du es ja ruhig wissen. Also ich ficke deine kleine Tochter.» Mein Vater stand auf und sah den Mann an. Der Mann wiederholte seine Worte und mein Vater war so sauer, dass er sich selbst in seinen eigenen Arm gebissen hat. Das macht er immer noch, wenn er sauer ist, oder er drückt die Zigarette auf seinem Arm aus. Mein Vater ging zu dem Mann hin und sagte kein Wort, sondern nahm sein rotes kleines Taschenmesser aus seiner Hosentasche und stach den Mann ein paar Mal. Der Mann fiel zu Boden und war sofort tot. Mein Vater wurde ein paar Tage später verhaftet und vor Gericht gestellt. Er hat gleich den Haftbefehl bekommen und wurde in Sarajevo in den Knast eingeliefert und da musste er elf Jahre verbringen. Meine Mutter war schon als Mädchen sehr arm. Sie hatte keine eigene Wohnung. Sie hatte gar nichts und sie war schwanger und wohnte noch bei ihren Eltern. Als meine Mutter meinen ältesten Bruder Buco auf die Welt gebracht hatte, ging sie mit ihm betteln, um Geld zu verdienen. Davon schickte sie meinem Vater Pakete und besuchte ihn im Knast. Sie musste ein paar hundert Kilometer mit dem 9
Zug bis Sarajevo fahren und das hat auch viel Geld gekostet. Nach langer Zeit kaufte sich meine Mutter ein kleines Haus ein paar Straßen weiter von ihren Eltern entfernt und bis dahin waren vier Kinder auf die Welt gekommen. Meine Mutter durfte im Knast mit meinem Vater Liebe spielen und so kamen auch die anderen Kinder. Auch ich bin ein Produkt dieser Knastliebe. Das kleine Haus mit nur einem Zimmer hatte keine Dusche oder Bad. Meine Mutter musste sich das Wasser selbst heiß machen und in einem großen Plastikeimer sich, uns und die Wäsche waschen. Das alles hat mir mal meine Großmutter Hanija erzählt. Die hatte immer so eine tiefe Stimme und war eine richtige Kettenraucherin. Man sah sie nie ohne Zigarette im Mund, aber sie war immer eine nette Oma gewesen. Nicht bloß zu mir, sondern zu allen. Als ich drei Jahre alt war, wurde mein Vater wegen guter Führung und gutem Benehmen entlassen und die zwei Jahre haben sie ihm geschenkt. Zu der Zeit als er entlassen wurde, hatte meine Mutter ein anderes Haus, auch mit nur einem Zimmer, aber viel größer. Es sah aus wie ein Pilzhaus. Da drinnen wurde ich geboren und habe das erste Mal meinen Vater gesehen. Er nahm mich auf seinen Schoß und küsste mich mehrere Male auf die Wangen und ich wischte es jedes Mal weg. Dann tröstete er die anderen Kinder, dass es nun besser werde. Am Abend schickte er meinen Bruder Aljo, wir nennen ihn mit Spitznamen Buco, in einen Laden, er sollte Slivovic kaufen. An diesem ersten Abend war unser Vater total besoffen und hat Gläser mit der Hand zerschlagen, wobei er sich die Hand zerschnitt. Und wir Kinder haben uns erschreckt in einer Ecke versteckt und geheult. Als er eingeschlafen war mitten im Zimmer, hat uns unsere Mutter Abendbrot gemacht und dann sind wir auch schlafen 10
gegangen. Ein paar Tage später ging mein Vater arbeiten als Schirmreparierer und Messerschleifer. In Wirklichkeit macht er so was gar nicht, sondern wenn ihn eine Dame oder ein Herr in die Wohnung rein lässt und ihm ein paar Messer oder einen Schirm zu reparieren gibt, stielt er das Geld, den Schmuck oder was er sonst Wertvolles findet, sobald er unbeobachtet ist. Das war der Beruf meines Vaters. Meine Mutter ging nicht mehr betteln, sondern schickte meine Schwestern Alija und Rabija. Mein Bruder Hato ging mit meinem Vater «arbeiten». Der hatte mal viel Geld in einem Bus gestohlen. Er saß mit meinem Bruder ganz hinten und gegenüber saß eine Frau mit ihrem Mann. Die Frau hängte ihre Tasche an die Seite, so dass mein Vater rankam ohne dass einer ihn sehen konnte. Er wartete aber, bis der Bus fünfzehn Minuten Pause machte. Dann nahm er sein Rasiermesser, das er immer in seiner Handwerkstasche dabei trug, und schnitt die beiden Griffe der Tasche durch. Und als der Bus anhielt, steckte er die Tasche unter seine Lederjacke, denn es war mitten im Winter. Er stieg aus, ging hinter eine Gaststätte am Straßenrand und holte alles raus. Es musste viel wert gewesen sein, so wie er und mein Bruder erzählt haben. Er grub ein Loch hinter der Gaststätte und tat dort das Gold und das Geld rein. Mit einem kleinen Stock hat er sich das Loch markiert. Danach ging er ganz normal in die Gaststätte und bestellt sich und meinem Bruder eine Fischsuppe. Als sie wieder in den Bus gestiegen sind, haben sie die Plätze gewechselt und saßen ganz vorne. Die Frau und der Mann waren nicht mehr im Bus und als der Bus losfuhr, wurde er von der Polizei angehalten und sie verlangten Ausweise. Sie kontrollierten den ganzen Bus, aber nichts wurde gefunden und so konnten sie auch wei-
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terfahren. Ein paar Tage später fuhr mein Vater mit einem Taxi dorthin und holte alles aus seinem Versteck. Nach einigen Monaten hat er davon ein Grundstück gekauft und angefangen, ein Haus zu bauen. Mein Vater ging nicht mehr «arbeiten» und meine Mutter auch nicht. Nur wir Kinder mussten Geld ranschaffen. Ich war damals fünf oder sechs und ging mit meiner Schwester Alija betteln. Wir stiegen früh in einen Zug, der um sieben Uhr dreißig losfuhr und kamen abends um neunzehn oder zwanzig Uhr nach Hause. Wir bettelten in allen Waggons, manchmal bekamen wir Geld und manchmal wurden wir weggejagt. Meine Schwester wurde aggressiv, wenn einer sie wegschickte. Sie prügelte sich manchmal. Und ich hatte Angst, wenn sie sich prügelte, denn sie prügelte sich selbst mit Polizisten. Einmal hat sie einem Polizisten in die Hand gebissen und als sie los ließ, blutete der Polizist aus seiner Hand und sie aus dem Mund. Der Polizist schrie vor Schmerzen und meine Schwester lachte ihn aus. Als dann andere Polizisten kamen, hat sie ordentlich Prügel bekommen und weil ich dazwischen gegangen bin, wurde ich auch geschlagen. Wir waren alle beide blau von den Flecken, die uns die Polizisten beigebracht hatten. Und ich war erst sechs Jahre alt und wurde auch mit dem Knüppel geschlagen. Auf dem Polizeirevier haben wir noch mal Prügel bekommen und wurden wieder entlassen. Das war das Übliche, wenn ich mit meiner Schwester Alija betteln gegangen bin. Später ging ich dann mit meinem Bruder Buco betteln und Buco konnte die Tricks, aus der Handtasche oder Manteltasche zu stehlen. Er holte ein Portemonnaie in fünf Sekunden aus der Tasche, ohne dass die Frau es merkt. Das hatte er mir beigebracht und ich habe nicht lange gebraucht, bis ich es konnte. 12
Als ich und mein Bruder eines Tages nach Hause kamen, war das ganze Waschbecken voller Blut. Wir fragten, was los sei. Da sagte meine kleine Schwester Birgitta heulend, dass Mutter Alijas Auge mit einer Nadel gestochen hat, weil sie kein Geld gebracht hat. Alija war in einer Ecke voll Blut über ihren Hände und hielt ein Küchentuch über das Auge. Mir kamen die Tränen, ich saß neben ihr und wir weinten alle beide. Meine Mutter kam ins Haus und sah mich und meinen Bruder neben Alija sitzen. Sie sagte: «Haut ab, sonst steche ich euch auch die Augen aus.» Sie hat uns raus gejagt und wir hörten meine Schwester schreien. Nach ein paar Tagen ist meine Schwester dann abgehauen und ich wurde alleine betteln geschickt. Ich ging mit meinen sieben Jahren ganz schön weit für einen kleinen Jungen. Ich kannte schon alle Strecken, wo ich mit meiner Schwester war. Aber ich habe auch nicht viel Geld gekriegt und hatte Angst, dass mir, wenn ich jetzt nach Hause gehe, dasselbe passiert. So bin ich auch abgehauen. Ein paar Tage später wurde ich von der Polizei verhaftet, das war genau an meinem achten Geburtstag und die Polizei hat mich in ein Heim gesteckt, bis mich mein Vater abholte. Als ich nach Hause kam, legte mein Vater einen Metallaschenbecher auf den Ofen, wollte wissen, wo ich war und was ich gemacht habe. Ich sagte ihm den Grund, dass ich Angst hatte, ohne Geld nach Hause zu kommen. Und er sagte dazu kein Wort, sondern war sehr aggressiv und ruppig. Er sagte zu mir, ich soll meine Hose ausziehen. Ich sagte: «Ich schäme mich, bitte Papa» Er sagte: «Zieh dich aus oder ich helfe dir.» Ich hatte keine Ahnung, was jetzt kommt, zog ganz langsam meine Hosen runter und bedeckte mit meinen Händen das Männliche. Meine Mutter sagte gar nichts, sie war still und alle meine Geschwister waren in der Wohnung, aber sie sagten auch nichts. Mein Vater sagte zu mir: «Leg dich hin auf den
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Bauch.» — «Warum, Papa?» — «Frag nicht. Leg dich hin.» — «Bitte, Papa.» Ich legte mich ganz vorsichtig auf den Bauch und sah, wie mein Vater ein Tuch über seine Hand legte und mir einen Lappen in den Mund stopfte. Auf einmal kam meine Mutter neben mich auf die andere Seite. Mein Vater nimmt den Metallaschenbecher, der fast lilarot war und vor Hitze glühte. Damit verbrannte er meinen Po und die Beine. Ich schrie so viel ich konnte, aber keiner konnte hören, weil ich den Lappen im Mund hatte. Von meiner Mutter wurde ich noch gehalten, damit ich mich nicht bewegen konnte. Das hat er zweimal gemacht und ich konnte die Schmerzen nicht ertragen. Am nächsten Morgen schickte mich meine Mutter mit meiner Schwester Rabija betteln, aber ich konnte nicht laufen. Ich konnte keine Hosen anziehen, sondern es wurde mir von meiner Schwester Birgitta ein Rock gegeben und so «ging» ich am nächsten Morgen betteln. Auf meiner Haut hatten sich Blasen gebildet und ich humpelte die ganze Zeit. Ich ging von Waggon zu Waggon und meine Schwester zeigte den Leuten die Verbrennung. Ich bekam damals viel Geld, das muss ich zugeben, aber dafür ich musste die Schmerzen ertragen, und das war das Schlimmste in meinem Leben bis dahin gewesen. An einem Nachmittag läutete das Telefon, mein Vater ging ran und sagte «Hallo». Ich wusste nicht, wer dran war, aber als er «auf Wiedersehen» gesagt hatte, ging er zu meiner Mutter: «Der vom Jugendamt hat angerufen, dass Alija von einer Brücke gesprungen ist und im Krankenhaus liegt.» Meine Mutter zuckte mit den Achseln, als wäre nichts passiert, obwohl sie ihr doch kurz zuvor ein Auge ausgestochen hatte. Zwei Wochen später kam Herr Todor — so heißt der Mann vom Jugendamt — mit dem Auto und drin14
nen saß meine Schwester Alija. Sie konnte nicht alleine rauskommen, weil sie überall Gips trug. Sie hatte sich den Arm, das Bein und ein paar Rippen gebrochen. Der Todor erklärte meinen Eltern etwas und sie sagten immer: «Nein, niemals». Was sie genau gesprochen haben, weiß ich nicht. Aber man kann es sich schon vorstellen. Der vom Jugendamt stieg in sein Auto ein, hupte einmal wegen der Hühner und fuhr los. Meine Mutter und mein Vater näherten sich meiner Schwester und fragten, was sie alles erzählt hat. Sie schwor, dass sie keinem was gesagt hat, was mit dem Auge passiert ist. Meine Eltern sagten gar nichts und gingen hinter das neue Haus, das gerade fertig war. Wir hatten auf der anderen Seite der Straße seit meines Vaters «Goldraub» im Bus ein neues, viel größeres und viel besseres Haus aus schönen Steinen gebaut. Es war zweistöckig mit schönen Balkonen und vorne war alles aus Glas. Mitten im Hof hatte es noch eine Küche und ringsum viel Rasen, geschützt von einem Zaun aus Metall und Beton. Hinter diesem Haus hatten wir verschiedene Obstbäume. Es war noch Sommer und mein Vater schickte mich an dem Tag stehlen. So ging ich in die Stadt und habe drei Portemonnaies gestohlen. Ich nahm das Geld und schmiss das Portemonnaie weg. Als ich die Straße überqueren wollte, wurde ich von einem Sattelschlepper gestreift. Er hat zum Glück nur mein rechtes Bein erwischt. Der Mann stieg aus dem Wagen, nahm mich in seine Arme und steckte mich in seinen Wagen und fuhr los, denn ich konnte mich nicht bewegen. Ich muss wohl schon im Auto eingeschlafen sein, weil ich nicht erinnere, wer mich rausgetragen hat. Als ich wach wurde, saßen mein Vater und meine Mutter neben meinem Bett. Ich hatte Schläuche in der Nase und konnte nicht reden, weil ich auch einen großen Schlauch im Mund hatte. Drei Tage später wurde ich operiert. Mein ganzes Bein war in Gips
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und ich konnte lange Zeit nicht laufen. Ich wurde aus dem Krankenhaus auf Verantwortung meiner Eltern früher entlassen. An diesem Tag war alles so schön, die Sonne, die Luft, und viele Gäste waren zu Besuch und ich saß neben meiner Oma Hanija und meiner Schwester Alija, die auch einen Gips trug, und alle Gäste aßen Wassermelone. Ich aß selbst eine Scheibe, aber bei mir haben sich Bienen gesammelt. Ich habe sie zwar immer weggejagt, oder es versucht. Dabei schmiss ich die Melone vor Angst weg und wurde prompt von einer Biene ins vergipste Bein gestochen, was fürchterlich wehtat. Meine Oma packte ein Stück Erde auf den Stich, damit der Stachel rauskommt, und das hat geholfen. Meine Eltern stammen beide von Roma ab, aber in Jugoslawien haben sie bosnische Staatsangehörigkeit. Von meinen Geschwistern war keiner zur Schule gegangen und sie konnten nicht mal ihren Namen schreiben. Der Einzige, der zu der Zeit lesen und schreiben konnte, war mein Vater. Er hatte acht Jahre die Schule besucht und dann aufgegeben. 1989 wurde meine Schwester Rabija verheiratet und ich war neun Jahre alt. Die Hochzeit war nicht christlich, muslimisch oder was auch immer. Sondern es wurde gefeiert, getrunken und ein bisschen Musik gemacht, so richtig nach Zigeunerart. Meine Schwester Rabija wohnte dann mit ihrem Mann bei uns und mein Vater schickte selbst meinen neuen Schwager, um Geld zu «verdienen». Wie wir Kinder musste auch er alles meinen Eltern geben. Meine Eltern waren reich durch uns Kinder, die geklaut und gebettelt haben. Wir hatten ein Pferd und eine Kuh, über fünfzig Hühner, Schafe, zwei große Häuser mit zwei Küchen extra, ein Auto und einen Fahrer, weil mein Vater keinen Führerschein hatte und ihn nicht machen wollte. Als mein Bruder 16
Buco dreizehn war, wurde auch er mit einem vierzehnjährigen Mädchen verheiratet und diese Hochzeit war ganz teuer. Meine Eltern mussten das Mädchen nach Romasitte kaufen, bevor sie mit meinem Bruder zusammenkam, und das Geld war wie immer knapp. Mein Vater ist dann mit mir, meinem Bruder Buco und dem Fahrer in andere Städte gefahren. Dort gingen ich und mein Bruder klauen, während der Fahrer und mein Vater im Auto warteten, bis wir das Geld ablieferten. Wenn uns die Polizisten erwischten, durften wir niemals was sagen, sonst wurden wir zu Hause geschlagen. Der Fahrer hatte sich mit meinem Vater geeinigt, dass er von allem, was ich stehlen würde, ein Drittel erhält und mein Vater war einverstanden. In Wirklichkeit schummelte mein Vater aber. Er wies uns an, wir sollten nicht alles zeigen, was wir gestohlen haben, sondern höchstens die Hälfte und manchmal gar nichts. So haben wir es zwei Jahre lang gemacht, auch als die teure Hochzeit längst abbezahlt war. Manchmal war meine Schwester Rabija mit dabei. Wir fuhren zusammen mit unserem Vater nach Pula in Kroatien. Wir mussten uns jede Stunde bei ihm telefonisch melden, weil wir ja verhaftet worden sein könnten, und er musste die ganze Zeit warten. An dem Tag gingen wir auf einen Trödelmarkt und sahen bei einem Verkäufer sein Portemonnaie in einer breiten Tasche stecken, übervoll mit Geldscheinen. Ich stellte mich mit meiner Schwester Rabija neben den Mann. Der war gerade mit einem Kunden beschäftigt und sagte die ganze Zeit: «Heute alles billig, billig...» Ich näherte mich noch mehr und ertastete mit meiner rechten Hand das Portemonnaie, entwendete es und ging ganz normal von der Stelle weg. Das Portemonnaie versteckte ich unter meinem T-Shirt in meiner Hose. Meine Schwester Rabija nahm meine Hand und wir wollten gerade ins Gebüsch gehen um das Geld rauszuholen. Aber da
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klopfte mir schon einer auf die Schulter und meiner Schwester ebenfalls. Drei Kriminalpolizisten in Zivil hießen uns mitkommen. Wir gingen zu ihrem Wagen und wurden kontrolliert. Sie hatten zwar gesehen, wie ich das Portemonnaie entwendet hatte, aber sie konnten es nicht finden und fragten mich, wohin ich es getan hätte. Ich stellte mich dumm und sagte: «Von was reden Sie denn?» Ich bekam eine Schelle und meine Schwester Rabija auch. Da fing ich an zu heulen, aber es hat nichts genützt. Wir mussten in den Wagen einsteigen und ab ging's in ein Polizeirevier. Dort musste ich mich nackt ausziehen und sie haben das Portemonnaie mit dem Geld sofort gefunden. Da wurde ich von einem Polizeibeamten mit dem Knüppel auf den Rücken geschlagen, was wirklich sehr wehgetan hat. Meine Schwester Rabija wurde in einem anderen Raum von einer Beamtin kontrolliert. Sie hatte zwar nichts versteckt, aber ich hörte sie schreien und heulen, genau wie ich. Rabija hatte zwei goldene Zähne vorne am Gebiss und die Polizisten sagten, sie wollten mit der Zange die Zähne rausnehmen. Das haben sie aber dann doch nicht gemacht. Wir blieben die ganze Nacht da. Am frühen Morgen kamen viele Frauen, deren Portemonnaies ich entwendet hatte. Doch das Geld hatte ich längst meinem Vater gegeben und die Portemonnaies weggeschmissen. Ohne dass der Polizeibeamte etwas gesagt hat, ob ich «derjenige welcher» sei oder gefragt hätte, ob sie mich kennen, kamen die Frauen und zwei Männer gleichzeitig auf mich zu und zeigten mit dem Finger auf mich und meine Schwester. Und die anderen Jugendlichen, die auch in Haft waren so wie ich und meine Schwester, sahen uns lachend an und wurden entlassen. Auch ich und meine Schwester blickten uns gegenseitig an mit unseren blauen Flecken im Gesicht und vermutlich noch viel schlimmeren auf dem ganzen Körper. An dem
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Tag wurden wir so lange geschlagen, bis wir alle Portemonnaies, die wir weggeschmissen hatten, wieder gefunden hatten. Aber das Geld fehlte und wir sagten kein Wort von meinem Vater, dass wir ihm das Geld gegeben haben. Sondern wir logen, es sei schon ausgegeben. Am Abend brachten sie mich in ein geschlossenes Heim, weil ich für den Knast noch zu jung war, und meine Schwester Rabija in den Frauenknast. Zwei Tage später holte mich mein Vater mit einem Rechtsanwalt aus dem Heim raus. Meine Schwester war fünfzehn Tage im Knast, dann wurde auch sie entlassen. Doch schon einen Monat später ging es weiter auf «Tournee», diesmal auf einem Rummelplatz. Dort gibt es viele Möglichkeiten zu stehlen und ich habe fast jede Minute ein Portemonnaie rausgeholt, bis wir gegen Mitternacht erschöpft nach Hause zurückkehrten. An einem Nachmittag waren wir alle zu Hause. Wir waren da schon neun Kinder zwischen zwanzig Jahren bis zum acht Tage alten Baby, der Jüngste namens Dalibor. Meine Mutter machte gerade Mittagessen und ich sollte die Zwiebel- und Kartoffelschalen zum Müllcontainer auf der anderen Straßenseite bringen. Ich schaute nach rechts und nach links, sah etwa fünfzig Meter entfernt ein Auto kommen und ging schnell über die Straße. Dabei sah ich nicht, dass mein Bruder Robert hinter mir her rannte. Als ich ihn sah und rief: «Halt, bleib stehen!», wurde Robert schon von dem Auto zu Boden geschleudert. Der Mann stieg aus dem Wagen, aber mein Bruder war unverletzt außer einer kleinen Wunde auf der Stirn. Doch meine Schwester Alija fing trotzdem an zu schreien und rannte auf den Mann zu mit dem Messer in der Hand, das meine Mutter zum Kartoffelschälen benutzt hatte und stach den Mann in den Arm. Der Mann bekam einen Schock. Die Nachbarn kamen und die
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ganze Straße hat sich vor unserem Haus versammelt. Alle standen um den Mann herum, der blutend auf der Straße lag. Mein Vater half ihm auf, rief ein Taxi und fuhr mit ihm ins Krankenhaus. Und schon war die Straße wieder leer. Meine Mutter wischte das Blut von der Straße und von der Stirn meines Bruders weg. Es war nur ein Kratzer. Am Abend hatten sie schon alles wieder vergessen, auch das, was meine Schwester gemacht hatte, und mein Vater schmiedete einen neuen Plan, wo wir hingehen könnten, um Geld zu stehlen. Er entschied sich für Zagreb, rief noch am selben Abend die Polizei dort an und meldete mich als vermisst. Denn wenn ich verhaftet würde, hätte mein Vater einen Beweis, dass er mich vermisst gemeldet hat und die Polizei könnte ihm nichts anhängen. Mein Vater hatte diesmal einen anderen Fahrer. Er war ganz blond und trug sein Haar kurz geschnitten. Früher war er Polizeibeamter gewesen, hatte damit aufgehört und machte nun eine Lehre als Maurer. Er hat auch unser Haus mitgebaut und mein Vater hatte Vertrauen zu ihm. Er hieß «Berlin», so haben ihn alle genannt, weil er blond war und es in Deutschland viele Blonde gibt. Er war circa dreißig Jahre alt, hatte ein hübsches Gesicht und alles was er trug, stand ihm gut. An diesem Abend gingen wir zu dritt, ich, mein Vater und Berlin. Ich saß hinten und die beiden vorne. Als wir in Zagreb ankamen, war es drei Uhr früh und wir schliefen erst mal ein paar Stunden im Wagen. Um sieben Uhr verließ ich den Wagen, ging «arbeiten» wie immer und habe mich jede Stunde gemeldet. An dem Tag wurde ich nicht verhaftet und habe viel Geld gestohlen. Ich lieferte den beiden im Auto immer nur die Hälfte des Geldes ab, wie mein Vater angeordnet hatte, ohne dass Berlin das wusste. Wir blieben drei Tage und zwei Nächte und in der dritten
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Nacht fuhren wir zurück. Als wir zu Hause ankamen, hatte mein Vater noch das Autoradio an. Da rannte meine Mutter zu uns und schrie: «Mach das verdammte Radio aus, mein Bruder und der Sohn meiner Schwester sind verunglückt.» Sie fing laut an zu weinen. So erfuhren wir, dass mein Onkel und mein Cousin bei einem Autounfall gestorben waren. Mein Vater stieg aus dem Wagen raus, scheuerte meiner Mutter eine und sagte: «Schrei mich nicht an», aber später tröstete er sie: «Ich kann doch nicht wissen, dass dein Bruder verunglückt ist.» Auch Berlin tröstete meine Mutter und sie erzählte uns, wie es zu dem Unfall gekommen war. Die beiden waren mit dem Auto zu einer Tankstelle gefahren und hatten getankt ohne zu bezahlen. Sie waren einfach in den Wagen gestiegen und hatten die Tankstelle verlassen. Der Ladenbesitzer hatte sie aber beobachtet, stieg in seinen Wagen und fuhr hinterher. Mein Onkel trat nun voll aufs Gas und wollte flüchten, weil er den Tankstellenbesitzer hinter sich gesehen hatte. Da fuhr er in einer Einbahnstraße frontal auf einen LKW, der aus einer Seitenstraße kam. Onkel und Cousin, waren auf der Stelle tot und der LKWFahrer nur ein bisschen verletzt. Drei Tage später wurden sie beerdigt und in unserer Familie durfte aus Trauer einundvierzig Tage lang weder Alkohol getrunken noch Musik gehört werden. Mein Vater hat sich nicht daran gehalten, weil er nicht wollte, und trank und hörte Musik. Bei uns Roma ist es so: Wenn jemand tödlich verunglückt oder friedlich einschläft, dürfen wir nicht trinken und keine Musik hören. Warum weiß ich auch nicht. Meine Mutter heulte die ganze Zeit und wurde krank davon. Sie machte sich Sorgen um die Frau ihres Bruders und seinen kleinen Sohn, die nun alleine waren. Das machte meiner Mutter Kummer und sie sprach oft mit meinem Vater darüber, seit ihr Bruder verunglückt war. Zu der Zeit machten ich und 21
mein Vater ein bisschen Pause. Aber ab und zu wurde ich auch in der Trauerzeit alleine geschickt und wenn ich kein Geld nach Hause brachte, wurde ich wie immer verprügelt. Einmal nahm ich in unserer Stadt einer Frau das Portemonnaie weg und wurde dabei erwischt. Und als mich die Polizisten nach Hause brachten, wurde ich im Stall gefesselt. In der Nacht versuchte ich mich zu befreien. Es ist mir erst am frühen Morgen gelungen, weil meine Hände mit einer Kette gefesselt waren. Der Stall war hinter dem Haus. Mit dem Fuß habe ich die ganze Nacht an die Stelle in der Wand getreten an der die Kette befestigt war. Um sechs Uhr früh hat sich der Ziegel aus der Wand gelöst und ich konnte weglaufen. Wir hatten auch einen Ausgang hinter dem Haus und durch den habe ich mich langsam geschlichen und als ich fünfzig Meter von unserem Haus entfernt war, rannte ich um mein Leben. Ich wollte den Zug um sieben Uhr dreißig nehmen und ich kam fünfundvierzig Minuten zu früh. Zur Sicherheit schloss ich mich in einer Toilette am Bahnhof ein, bis der Zug ankam. Die Bahnhofleute kannten mich alle und wussten, dass ich abhaue, so dass ich keine Fahrkarte zu bezahlen brauchte. Ich saß vorne beim Fahrer und sang Lieder, am häufigsten mein Lieblingslied: «Gib mir Mama ein anderes Leben, dass ich mich ändern kann, weil ich in meinem Leben kein Glück habe und niemanden mehr habe.» Das war von Halid Muslimovic, einem bekannten Schlagersänger. Alle im Waggon klatschten und ich wurde rot. Der Fahrkartenkontrolleur nahm seine Bahnmütze und sammelte für mich Geld und jeder hat was rein getan. Ich musste das gleiche Lied noch einmal singen. Als wir an der Endstation ankamen, waren meine Taschen voller Kleingeld und ich ging in eine Bahnhofskneipe, wo mich die Leute auch kannten. Ich erzählte den Besitzern 22
von meinen Eltern und was ich so bei ihnen erlebt habe. Die haben mich in Schutz genommen und mir Ratschläge gegeben, aber ich traute mich nicht, zur Polizei zu gehen und alles auszusagen. Ich war zehn Jahre alt und die Drohungen meines Vaters und meiner Mutter machten mir Angst, und hinderten mich daran. Und so habe ich nur auf mich selbst gehört, nur weg, weg, weg, das war es was ich wollte und meine Familie nie mehr sehen, das war mein Wille. Die Wirtsfrau wechselte noch mein Kleingeld und ich stieg in einen anderen Zug. Zuvor hatte ich mir eine Kinderfahrkarte gekauft, weil der Zug über eine weite Strecke fuhr, wo immer Polizisten kontrollierten und ich wollte nicht erwischt werden. Ich setzte mich in ein Abteil, stieg in Vinkovci aus und in einen anderen Zug um. Der Zug hatte keine Abteile, sondern nur Plätze wie der erste Zug, in dem ich gesungen hatte. Der Zug fuhr los Richtung Subotica. Ich schlief ein und träumte von einer Wiese mit vielen Schafen, die rings um mich herum waren. Als ich wach wurde, lag ich in einem «schaf»-weißen Bett und sah um mich herum nur weiß. Eine Frau war auch in weiß. Ich wollte meinen Kopf bewegen, doch mir wurde dabei schwindlig. Ich versuchte es noch einmal und es ging besser. Die Frau sagte etwas auf polnisch, das ich nicht verstand. Dann bat mich eine andere Frau, ruhig zu bleiben. Ich fragte, wo ich sei und was passiert wäre. Die Schwester sagte mir, dass ich vom Zug gefallen wäre oder mich jemand rausgeschmissen habe und fragte mich, ob ich mich an etwas erinnern könne. Ich verneinte und versuchte aufzustehen. Dabei merkte ich, dass meine Zehen am rechten Fuß schmerzten. Ich nahm die Decke zur Seite und sah einen Verband auf meinem Fuß. Ich fragte, ob es schlimm sei. «Nein», sagte die Schwes-
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ter, «du hast Glück gehabt. Ein Hubschrauber hat dich gesehen wie du zwischen den Schienen lagst und sofort wurden alle Züge eingestellt und einen Krankenwagen gerufen. Jetzt bist du hier und du hast nichts Schlimmes, bloß ein paar Kratzer auf dem Rücken und an den Zehen. Wir haben deine Eltern angerufen und sie müssen bald hier sein.» — «Was», schrie ich, nein! Ich will nicht zu meinen Eltern», und fing an zu weinen. «Nein, bitte, ich will nicht.» Da klopfte es schon an der Tür und meine Schwester Alija trat ein, doch die Schwester schickte sie wieder hinaus. Sie fragte mich: «Warum willst du nicht zu deinen Eltern?» Als ich nichts sagte, wiederholte sie ihre Frage, aber ich sagte wieder nichts. Dann fragte sie, ob meine Mutter jetzt hereinkommen solle. Ich sagte: «Das ist nicht meine Mutter.» — «Sondern?» fragte die Schwester. Ich erklärte es ihr und meine Schwester trat ein, kam an mein Bett, streichelte mich über den Kopf und küsste meine Wange. Ich wischte ihre Spucke von meiner Backe weg. Sie fragte mich, ob ich Schmerzen habe. Ich log und sagte: «Ja». Sie wollte wissen wo und ich log wieder: «Überall.» Die Krankenschwester ging raus, holte meine Sachen und mein Geld und übergab alles meiner Schwester Alija. Ich zog mich an, konnte aber den Schuh nicht über den Fuß ziehen. Die Krankenschwester lachte und band mir eine Tüte über den Fuß. Ich und meine Schwester verließen das Krankenhaus und sie brachte mich nach Hause. Ich fragte sie, ob ich Prügel bekommen würde. «Nein», sagte sie. «Bitte, hilfst du mir?» — «Ja», sagte sie. Ich zitterte am ganzen Körper. Aber an diesem Tag wurde ich nicht geschlagen. Doch schon am nächsten Tag wurde ich an der gleichen Stelle im Stall mit derselben Kette gefesselt und mit dem Hammer geschlagen. Mein Kopf erhielt eine große Wunde 24
und das Blut spritzte die Wände voll. Meine Mutter machte trotzdem weiter bis sie selbst zu kotzen anfing wegen des Blutes. Sie ließ den Hammer fallen, ich blieb am Stuhl gefesselt und heulte. Ich hatte in meinem Schock keine Schmerzen, nachdem sie aufgehört hat. Aber ich verlor viel Blut und schlief erschöpft ein. Als ich wach wurde, lag ich im Krankenhaus und wurde am Kopf operiert. Zwei Tage später entließen sie mich. Mein Vater sagte zu mir: «Das nächste Mal, wenn du abhaust, dann wird dir noch etwas viel Schlimmeres passieren, das schwöre ich auf meine restlichen Kinder.» Ich sagte dazu kein Wort und saß in einer Ecke mit dem Verband auf dem Kopf. Als ich ihn betastete, merkte ich, dass ich eine Glatze rasiert bekommen hatte. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, wer mich rasiert hat. Meine Geschwister waren immer neugierig und wollten mir den Verband abmachen, damit sie die Wunde sehen konnten. Zwei Tage später haben sie es geschafft. Sie sah ganz böse aus: Zehn Zentimeter lang und acht Nähte. Meine Mutter war eine ganz saubere Hausfrau und hatte immer alles aufgeräumt. Wenn meine Schwestern etwas falsch machten, gab es Meckerei und manchmal auch Schläge. Zwei Monate später wurde meine Schwester Alija am Hals verbrannt und musste mit der Wunde betteln gehen. Ihr Hals sah böse aus, die Blasen waren groß und manchmal platzte eine. Dann lief ihr das Wasser bis zur Brust herunter und sie schrie vor Schmerzen und bettelte, dass die Schmerzen weggehen sollten. Wir Kinder schliefen immer auf dem Boden und Mutter und Vater hatten es im Bett gemütlich. Wir hatten eigentlich viele Betten, aber wir Kinder durften nicht darauf sitzen oder schlafen. Abends, wenn Alija trotz ihrer schlimmen Wunde auf dem Fußboden schlief, konnte sie sich nicht entscheiden, auf welcher
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Seite sie es versuchen sollte. Da ist meine Schwester Alija wieder abgehauen und ich habe sie seither nie wieder gesehen. Ich denke oft an sie, vermisse sie und muss damals oft daran denken, wie sie mir erzählt hatte, wenn sie abhauen würde, würde sie mich mitnehmen. Ich wartete auf sie, aber sie kam nicht. Mein großer Bruder hatte sich mit seiner Frau Beijta gestritten und sie weggeschickt. Ein paar Tage später vermisste er sie und wollte sie zurückholen. Doch das Mädchen wollte nicht mehr und war wieder bei ihren Eltern. Denn mein Bruder hatte seine Frau oft geschlagen und ihr schwere Verletzungen beigebracht. Auch mein Vater hat sich bemüht, das Mädchen zurückzuholen, aber sie wollte nicht. Da bot mein Vater dem Vater des Mädchens Geld an, damit sie wieder zurückkäme, doch der wollte seine Tochter nicht für Geld verkaufen: «Wenn meine Tochter zurück will, dann wird sie von alleine kommen.» Mein Vater sagte nichts, sondern blickte das Mädchen an und wollte sie berühren, aber sie weigerte sich und sagte: «Bitte, fass mich nicht an.» Mein Vater sagte wieder nichts, ging ein paar Schritte zurück, öffnete die Tür und meine Mutter, mein Bruder und ich gingen und als Letzter machte ich hinter mir die Tür zu. Mein Vater sagte zu meinem Bruder: «Ich habe so viel Geld für deinen Arsch bezahlt, damit du eine Frau hast, und du schlägst sie und schickst sie weg und jetzt willst du sie wieder zurück haben.» Meine Mutter sah meinen Vater an und als sie mit ihm reden wollte, ist ihr Gebiss aus dem Mund gerutscht und fiel fast auf den Boden. Sie steckte es wieder rein und sagte: «Lassen wir das Thema für heute. Irgendwie werden wir sie zurück holen. Er wir noch eine Chance bekommen und dann muss er selbst wissen, was er macht. Er ist alt genug.» Und dabei
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war er doch erst fünfzehn Jahre. Nach drei Monaten kam die junge Frau tatsächlich zurück und zwei Monate später war sie schwanger. Mein Vater, Berlin und ich fuhren wieder in Städte, um zu stehlen. Wir waren manchmal die ganze Woche weg, haben in Hotels übernachtet und früh ging's weiter. Später wurde ich wieder alleine geschickt, ging früh weg und lieferte abends das Geld zu Hause ab. Einmal fuhr ich mit dem Bus nach Brcko und ging in ein Büro. Keiner hat mich gesehen. Ich schlich ganz leise herum und versuchte die Türen aufzumachen, aber sie waren alle verschlossen. Außer einer, und niemand war darin. Ich sah einen Mantel am Haken hängen, durchsuchte ihn und fand kein Geld oder Portemonnaie, sonder eine echte Pistole. Sie war schwer. Ich holte sie raus, steckte sie unter meine Jacke und ging damit nach Hause. Zu Hause habe ich sie meinem Vater übergeben. Er fragte mich, von wo ich sie gestohlen und ob mich einer gesehen habe, aber mich hatte keiner gesehen. Er sagte: «Schönes Ding», versteckte die Waffe und etwa drei Stunden später kam die Kriminalpolizei und suchte mich. Der Polizist kannte mich und sprach mich mit meinem Vornamen an: «Miro, du hast einen Zettel verloren, darum hast du die Waffe aus dem Mantel gestohlen, gib's doch zu. Wollen wir nicht wieder tauschen?» Ich sagte: «Was für eine Waffe?» Auch mein Vater stellte sich dumm und fragte mich scharf: «Was für eine Waffe hast du gestohlen?» und er schüttelte mich. Ich wollte nichts sagen, aber mein Vater sagte auf Roma zu mir, ich solle doch sagen, dass ich die Waffe im Stall im Ofen versteckt habe; dabei schüttelte er mich weiter. Ich tat so und ging mit den Polizisten zum Stall. Da stand ein kaputter Ofen, den machte ich auf, fand die Pistole in ein Tuch eingewickelt und gab sie den Polizis-
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ten. Die Polizisten kannten mich, denn sie haben mich schon oft verhaftet. Und auf dem Zettel, den ich im Büro verloren hatte, stand: «Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Miro Sabanovic. Ich kann nicht sprechen und bitte um ein paar Münzen. Meine Mutter ist krank und mein Vater ist gestorben und ich habe noch kleine Geschwister, die Hunger haben. Ich würde ihnen sehr dankbar sein, wenn ich was zu essen oder Kleingeld bekomme.» Darauf wussten sie natürlich, wer die Waffe gestohlen hat. Fünf Tage später fuhr ich mit meinem Vater nach Sarajevo, um dort zu stehlen. Berlin hatte da Verwandte und er zeigte mir, wo sie wohnten. Wenn etwas schief ginge, sollte ich zu denen gehen und mein Vater und er würden mich dann von dort abholen. Wir fuhren wieder in die Stadt zurück und fanden einen Parkplatz. Mein Vater schickte mich los und ich ging auf den Bahnhof und beklaute Fahrgäste. Ich steckte ein Portemonnaie in meinen Pulloverärmel, ging auf die Bahnhofstoilette und holte das Geld raus. Es war sehr viel Geld: Lauter Tausend-Mark-Scheine. Ich zitterte am ganzen Körper. Ich steckte das Geld in meine Unterhosen, schmiss das Portemonnaie ins Klo und spülte. Doch das Portemonnaie wollte nicht hinunter und so half ich mit der Hand nach und ging raus. Auf dem Parkplatz stieg ich in den Wagen, holte einen Schein raus und machte mit dem Auge ein Zeichen, dass ich noch viele davon hatte. Da sagte mein Vater zu Berlin, er solle sofort abfahren. Berlin startete und fuhr los. Als wir an einer Raststelle waren, sagte mein Vater, er habe Hunger und Berlin solle im Imbiss was zu Essen und zu Trinken holen. Berlin stieg aus, mein Vater und ich blieben allein im Wagen und ich zeigte die Geldscheine. Nach meiner Erinnerung müssen es einhundert-achtzehn Scheine gewesen sein. Mein Vater machte große
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Augen, nahm das Geld und steckte es in seine Unterhosen. Dann sagte er: «Wenn Berlin kommt, sagst du, du fühlst dich nicht gut und willst nach Hause.» Berlin kam mit Orangensaft, Hähnchen und Weißbrot zurück Er stellte alles auf den Rücksitz und setzte sich wieder vorne ans Steuer. Ich fing an zu essen und die anderen auch. Ich hatte zwar überhaupt keinen Appetit, aber aß trotzdem. Berlin fragte, ob ich den Geldschein gestohlen habe und ich log: «Mehr war nicht drin und wahrscheinlich hat mich die Frau gesehen. Ich fühle mich unsicher, habe außerdem Bauchschmerzen und ich glaube nicht, dass ich heute weiter machen kann.» Er blickte meinen Vater an und der fragte auch: «Hat dich die Frau gesehen?» — «Wahrscheinlich», antwortete ich. Mein Vater sagte zu Berlin: «Fahr nach Hause, sonst passiert noch ein Unglück.» Berlin hatte wohl einen Verdacht, aber er wollte nichts sagen und machte alles so, wie mein Vater es sagte. Abends waren wir zu Hause, mein Vater gab Berlin ein Drittel des einzigen Tausend-Mark-Scheins, den er gesehen hatte und Berlin ging nach Hause, noch bevor er seinen Kaffee leer getrunken hatte. Mein Vater holte nun das Geld aus seiner Unterhose und packte alles auf den Tisch. Er zählte und es waren einhundertachtzehn Scheine. Meine Mutter machte Riesenaugen, fiel mir um den Hals und küsste mich zum ersten Mal in meinem Leben, soweit ich mich erinnern kann, und ich fing an zu weinen. In dem Moment dachte ich mir, dass mich meine Eltern nur lieben, wenn ich ihnen Geld bringe und bei diesem Gedanken weinte ich noch mehr. Meine Mutter fragte, warum ich heule und ich log: «Vor Freude». Ein Monat später kaufte mein Vater noch ein Grundstück, noch ein Pferd, mir ein gebrauchtes und allen anderen neue Fahrräder aus dem Laden. Ich war eifersüchtig und dachte: «Ich habe geklaut, dann muss ich doch das beste Fahrrad
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bekommen und nicht das hässlichste!» Ich war elf Jahre alt und bislang nicht zur Schule geschickt worden. Noch nie war mein Geburtstag gefeiert worden und keiner dachte auch nur daran. Ich hatte nur gestohlen, und für wen? Nur für meine Eltern. An meinem elften Geburtstag ging ich Fahrrad fahren, oder ich versuchte es zu lernen. Ich fuhr am Nachmittag unsere Straße entlang und sah hinter mir ein Auto immer näher und näher kommen. Es verlangsamte seine Fahrt und hielt neben mir an. Die Wagentür wurde geöffnet, zwei Kriminalpolizisten kamen auf mich zu und hielten mich fest. Sie wollten mich in den Wagen ziehen, aber ich hielt mich am Zaun fest, ließ nicht los und schrie laut. Meine Schwester Rabija, die gerade den Teppich an der Mauer ausklopfte, hörte mein Schreien und sah in meine Richtung. Die Polizisten zogen an mir, aber ich ließ nicht los. Rabija, die etwa hundert Meter entfernt war, rannte barfuss auf mich zu, die Polizisten zerrten mit aller Kraft, ich konnte mich nicht mehr festhalten und ließ los. Sie steckten meinen Oberkörper in den Wagen, aber meine Beine waren noch draußen. Der eine Polizist, der Drago heißt, ging auf die andere Seite und zog von dort, bis ich ganz drin war. Der zweite Polizist, Dusko, saß auf meiner anderen Seite, vorne saß Milos. Der fuhr mit offenen Wagentüren los und meine Schwester Rabija, die gerade in dem Moment beim Wagen ankam, rannte noch hinterher. Der Dusko machte die Türen zu. Ich saß zwischen den beiden, bewegte mich nicht, aber heulte und sah meine Schwester weiter hinter uns her rennen. Die Polizisten brachten mich ins Polizeirevier und ich wurde in eine Zelle eingeschlossen, die sehr verschmiert war. Die ganzen Wände waren bekritzelt. Ich wurde müde und schlief ein. Aber auf der ungemütlichen Bank konnte ich
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nicht ruhig schlafen, denn ich bekam Schmerzen, wenn ich lange auf einer Seite schlief. Ich wachte auf, als ein Beamter die Tür aufmachte und sagte: «Komm, wir gehen spazieren.» Ich stand auf und ging mit Drago, Dusko und Milos in den Polizeiinnenhof. Dort stiegen wir in ein anderes Auto. Das Tor wurde geöffnet und wir fuhren mit dem Auto auf die Straße. Ich fragte, wohin wir fahren. Ich bekam keine Antwort. Ich sagte: «Bitte, wohin fahren wir?» Milos, der am Steuer war, antwortete: «Wir machen einen langen Ausflug.» Ich sagte nichts mehr, stellte auch keine Fragen mehr, steckte meinen Daumen in den Mund und schlief zwischen den beiden ein. Damals hatte ich die komische Angewohnheit, immer mit dem Daumen im Mund einzuschlafen. In der Nacht kamen wir an und als wir ausstiegen, kam mir die Straße irgendwie bekannt vor. Ich fragte Drago, wo wir sind. Er antwortete: In Sarajevo, du Geburtstagskind. Ich sah ein Haus vor uns und wir stiegen die Treppe hoch. Drago drückte auf eine Klingel und ein Mann ließ uns herein. Sie gaben sich die Hände und der Mann reichte mir die Hand, aber ich nahm sie nicht und guckte ihn böse an. Der Mann sagte zu mir: «Sei nicht so albern», war freundlich und fragte mich, ob ich Hunger habe. «Nein», sagte ich und verlangte eine Zigarette, weil ich zu der Zeit schon rauchte und meine Eltern nichts dagegen hatten. Er gab mir eine Zigarette Marke Lord und ich rauchte. Sie ließen mich vor der Tür warten. Alle vier waren im Büro und unterhielten sich über mich. Ihr Gespräch dauerte lange. Dann kamen alle wieder zu mir raus und meine drei «Chauffeure» schüttelten dem Vierten die Hände, sagten auch zu mir: «Mach's gut!» aber reichten mir nicht die Hand, weil ich sie sowieso abgewiesen hätte. Als die Kripos weg waren, sagte der unbekannte Mann zu mir, ich solle in sein Büro kommen, wo ich mich auf einem bequemen Sessel
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setzte. Der Mann stellte sich vor und sagte, dass er ein Erzieher sei und unsre Familie betreue. Ich unterbrach ihn und fragte, was das hier sei. Er antwortete: «Ein geschlossenes Heim.» Ich fragte, ob ich meine Eltern anrufen könne, er antwortete, es sei heute zu spät, noch in der Nacht anzurufen. Ich bat ihn, aber er sagte: «Morgen kannst du deine Eltern anrufen. Komm mit, ich zeig dir, wo du schläfst.» Ich ging mit ihm über einen langen Gang. Er schloss eine Tür auf, machte das Licht an und ich sah viele Kinder in meinem Alter, die schon fest schliefen. Er zeigte mit seinem Zeigefinger auf ein leeres Bett und sagte leise: «Geh schlafen und morgen sehen wir weiter.» Er schloss die Tür hinter sich und ich ging zu dem leeren Bett, setzte mich darauf und sah die vergitterten Fenster. Der Mann hatte das Licht ausgemacht, es war dunkel, doch durch die vergitterten Fenster konnte man noch sehen, wo man hintrat. Ich legte mich hin und schlief fest ein. Ich war der Erste, der früh morgens wach wurde und ich sah durch das Fenster Bäume. Um acht Uhr wurden die anderen Kinder geweckt, alle zogen sich an und folgten den Erziehern in einen sehr großen Raum mit Tischen und Stühlen. Auf den Tischen waren Tassen, Teller, Messer, Toastbrot, Marmelade usw. und alle Kinder drängelten sich um die besten Plätze. Ich setzte mich neben das Fenster und schmierte mir das Brot mit Butter und Marmelade. Neben mir saßen zwei andere Kinder und starrten mich die ganze Zeit an. Ich wurde sauer, denn das störte mich und ich sagte: «Guck mich nicht so an, du Idiot.» Beide senkten den Kopf und sagten nichts. Ich aß meine Stulle und trank Tee und als alle Kinder gefrühstückt hatten, ging es in andere Zimmer ohne Betten oder Stühle. Die Räume waren ganz leer, nur Teppiche lagen auf dem Boden und acht Kinder waren in jedem Zimmer. Der Erzieher schloss die Tür von außen zu. Die
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Kinder starrten mich an und fragten, wie ich heiße. Ich sagte meinen Namen und wir saßen alle auf dem Boden und unterhielten uns über vieles. Fünf Tage später besuchte mich mein Rechtsanwalt und brachte mir eine Stange Zigaretten Marke «Partner», die meine Eltern rauchen. Er sagte mir, dass ich bald rauskomme. Mein Rechtsanwalt sprach noch mit den Erziehern. Aber nachdem er gegangen war, nahmen mir die Erzieher die Zigarettenstange ab und gaben mir jeden Tag eine Schachtel. Zurück in dem Zimmer mit den anderen Kindern verteilte ich die Zigaretten. Weil wir kein Feuer hatten, zerstörten wir den Lichtschalter, machten die Zigarette mit Spucke nass, steckten sie so zwischen die beiden Stromkabel und schoben ein Kabel vorsichtig auf das andere. Das zischte gefährlich, aber die Zigarette ging an. Manchmal bekam ich einen leichten Stromschlag, aber nur auf die Finger. Ich war schon einen Monat da und der Rechtsanwalt hatte gesagt, dass ich bald rauskomme. Ich telefonierte mit meinen Eltern und sie fragten, ob es keine Möglichkeit gebe, vom Heim abzuhauen. Ich erklärte ihnen, dass die Fenster vergittert sind. Ich sprach in meiner Muttersprache Roma mit meinen Eltern und als ich «Gitter» gesagt hatte, unterbrach der Erzieher das Gespräch und sagte: «Nichts von Gittern!» - «Gitter» heißt in unserer Romasprache «Resetka», das ist dasselbe Wort wie auf Jugoslawisch. Weil er dadurch gemerkt hat, dass meine Eltern über Flucht sprachen, hat er das Telefongespräch unterbrochen. Nun waren schon zwei Monate in dem geschlossenen Heim vergangen. Ich dachte oft an den Rechtsanwalt und seine Worte, dass ich bald rauskäme. Eines Morgens wurde die Tür aufgeschlossen und wir mussten alle unter die Dusche. Ich ging auf den Flur und der Erzieher sagte mir: «Zweite Tür rechts.» Ich lief ein Stück und schaute mich um. Der Erzieher war nicht mehr
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im Flur und die Ausgangstür stand offen. Ich schaute mich noch einmal um. Tatsächlich, keiner stand hinter mir. Ich war barfuß, hatte ein kurzes T-Shirt und Unterhosen an, rannte über den Flur, vorbei am Büro und war draußen. Ich stolperte noch auf der Treppe, schlug mir das Bein blutig, stand wieder auf und rannte weg. Dann suchte ich das Haus, das mir Berlin gezeigt hatte, wo seine Verwandten wohnten. Es war nicht weit vom Heim entfernt, vielleicht zehn Minuten zu Fuß, aber ich fand es zuerst nicht. Ich suchte weiter und erkannte ein Schild wieder, das ich damals gesehen hatte, als ich mit meinem Vater und Berlin unterwegs war. Das hat mich gerettet. Ich fand das Haus, aber ich wusste nicht, bei wem ich klingeln sollte. Ich drückte überall und wenn sich jemand meldete, fragte ich, ob sie Berlin kennen würden. Doch niemand sagte was. Endlich meldete sich eine Frauenstimme. Und als ich meine Frage stellte, fragte sie mich, wer ich sei. Ich sagte: «Ich bin Miro.» Sie drückte den Türöffner und ich ging die Treppe hoch. In der ersten Etage öffnete sich die Tür und ich trat ein, zitternd vor Kälte. Meine Zähne klapperten. Die Frau hatte einen Sohn, der ungefähr meine Größe hatte und sie gab mir seine Sachen zum Anziehen. Ihr Mann rief Berlin an, und ich hörte ihn sagen: «Der Junge, von dem du gesprochen hast, ist hier bei uns in der Wohnung.... Ja, ja, mach ich.» Sie legte auf und teilte mir mit, dass mich meine Eltern abholen und Berlin auch kommen würde. Ich bedankte mich und spielte den ganzen Tag mit dem Jungen, der in meinem Alter war. Gegen sechzehn Uhr kamen meine Eltern und ich freute mich. Alle tranken noch zusammen Kaffee, dann stiegen wir ins Auto und fuhren nach Bijeljina, unsere Stadt. Meine Mutter fragte mich unterwegs, wie es im Heim war und ich
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erzählte ihr von einem Jungen, der eine lebendige Kakerlake gegessen hat. In unserem Schlafraum waren viele kleine Kakerlaken und ich hatte immer Angst, wenn wir schlafen gingen. Ich bedeckte mich ganz mit der Decke, weil ich fürchtete, dass mir eine ins Ohr oder in die Nase reinkrabbeln könnte. Einem Jungen, Roni, ist eine ins Ohr reingekrochen und der schrie laut, so dass wir alle wach wurden und seither habe ich mich bis über den Kopf zugedeckt. In der Nacht, als Roni schrie, kam ein Erzieher und fragte, was los sei. Roni schrie weiter und sagte dann: «Ich habe eine Kakerlake im Ohr.» Der Erzieher rannte in die Küche, holte ein Stäbchen und Öl. Er sagte zu dem schreienden Roni: «Halt den Kopf still!», goss ein wenig Öl ins Ohr und holte mit dem Stäbchen das widerliche Ding heraus, das schon tot war, ganz schwarz und ganz klein. In dieser Nacht durchsuchten wir den Raum von oben bis unten, schauten auch unter dem Teppich und zertraten alle mit den Schuhen. – Meine Mutter hörte die ganze Zeit zu und gegen ein Uhr morgens waren wir zu Hause. Meine Geschwister waren alle noch wach, weil sie auf mich gewartet hatten. Am nächsten Morgen schickte mich meine Mutter zu ihrer Schwester Razija, damit mich die Polizei nicht finden sollte. Ich war schon eine Woche bei meiner Tante, ohne dass sich die Polizei bei mir zu Hause hatte blicken lassen. Eines Nachmittags kam mein Rechtsanwalt und sagte zu meinen Eltern, dass sie mich nun nicht mehr verstecken müssten. Aber sollte ich noch einmal stehlen, müsste ich damit rechnen, wieder im Heim zu landen. Ich war überglücklich, als ich das hörte, stieg sofort auf mein Fahrrad und fuhr damit herum. Als ich gegen Abend nach Hause kam, war unsere Straße voller Leute, die alle durcheinander sprachen. Ich ging
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näher und hörte, dass mein Onkel meinen Vater beschimpfte und drohte, ihn umzubringen. Meine Mutter werde er vergewaltigen und unsere Häuser verbrennen. Mein Vater sagte nichts dazu, mein Bruder Buco stand neben meinem Vater, während meine Mutter von ihrem Bruder, meinem Onkel, geschlagen wurde. Mein Vater wollte sich auch nicht in den Streit zwischen Schwester und Bruder einmischen. Endlich sagte mein Vater zu meinem Onkel: «Geh schlafen, und morgen können wir uns in aller Ruhe unterhalten wie zwei Männer.» Er sagte das nicht unfreundlich und ging ins Haus. Aber mein Onkel fühlte sich noch mehr provoziert, rastete auf der Straße aus, zog sein Messer aus der Hose und sagte: «Aljo, ich bringe dich um, du Feigling», und trat meine Mutter mit den Füßen. Mein Bruder Buco hatte auch ein Messer, holte es raus und stach meinen Onkel zweimal in den Rücken. Dann rannte er weg, als mein Onkel schon auf dem Boden lag und blutete. Meine Mutter stand auf, rannte in unsere Küche, holte einen Lappen und stoppte das Blut. Mein Onkel schob sie weg, aber meine Mutter machte weiter. Zehn Minuten später kamen Polizei und Krankenwagen und die Sanitäter halfen meinem Onkel aufzustehen und fuhren mit ihm ins Krankenhaus. Meine Mutter ist auch mitgefahren, obwohl er sie geschlagen und mit den Füßen getreten hat. Mein Vater rief uns, ins Haus zu kommen und wir sind alle reingegangen außer meinem Bruder Buco. Der war spurlos verschwunden und mein Vater machte sich Sorgen. Er liebte Buco über alles und so fing mein Vater an zu weinen. Fünf Tage später wurde mein Onkel aus dem Krankenhaus entlassen. An diesem Tag kam er zu uns bis zum Gartenzaun mit einer Flasche Slivovic in der Hand und rief meinen Vater. «Aljo, Aljo!» Mein Vater war gerade beim Mittagessen, aber er rief zurück und ging raus. «Aljo, ich sage dir ehrlich, ich schäme
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mich vor dir, denn ich habe meine Schwester geschlagen, wofür ich zu Recht mit einem Messer gestochen wurde. Lass uns all das vergessen was es war. Mein Vater ging zu ihm hin, machte die Gartentür auf, ließ ihn rein und sie umarmten sich. Mein Onkel weinte und mein Vater hatte auch Tränen in den Augen, aber er wollte nicht kindisch sein. Mein Vater trank mit ihm an diesem Abend, aber mein Bruder war immer noch spurlos verschwunden, schon den siebten Tag. Seine Frau Beijta heulte und machte sich selbst große Sorgen. Am achten Tag, es war der 1. April 1992, kam mein Bruder nach Hause. Er hatte sich im Stall versteckt, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Ich ging in den Stall und gab den Pferden, Kühen und Schafen zu fressen und Wasser. Dort holte ich noch Mais für die Hühner. Als ich gerade mit allem fertig war und gehen wollte, hörte ich einen Pfiff. Ich drehte mich um und mein Bruder lag ganz oben auf dem Dach. Und mit seinem Zeigefinger vor dem Mund gab er mir ein Zeichen, dass ich ruhig bleibe und leise. Er kam herunter und ich sagte ihm: «Du brauchst dich nicht mehr zu verstecken.» Papa würde sich wieder mit ihm vertragen. «Mama und Papa machen sich beide Sorgen, wo du dich versteckt hast haben könntest.» Er sagte, er sei bei einer Tante gewesen. Doch als ich ihm sagte: «Komm, zeig dich, dass du wieder da bist!», wollte er partout nicht. Ich musste schwören; dann erst kam er mit und als meine Eltern ihn gesehen haften, rannten sie in seine Richtung, heulten und umarmten ihn. Am 4. April 1992 gegen achtzehn Uhr abends saßen wir in der Küche, und meine Mutter holte aus dem Ofen frisches Brot, das sie selbst gemacht hat und legte es auf den großen Tisch. Sie schnitt für jeden ein Stück davon ab und wir aßen zu Abend. Das Brot mit Kartoffelsuppe schmeckte hervor-
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ragend. Gerade war meine Mutter fertig mit essen und ging raus, um sich die Hände im Garten zu waschen. Mein Onkel Kadrija war an diesem Tag mit dem Auto in die Stadt gefahren und als er zurückkam hielt er gerade in diesem Augenblick vor unserem Haus und schrie meiner Mutter zu: «Rahima!», so heißt meine Mutter, «nimm Papiere und alles, was du ganz nötig brauchst und verschwinde mit den Kindern! In der Stadt ist Krieg! Komm gleich zu mir.» Meine Mutter wollte das nicht glauben. Doch gerade als mein Onkel wegfuhr, hörte meine Mutter Schüsse und Bomben. Eine Sirene heulte laut. Dann sagte es meine Mutter meinem Vater. Doch der ist auf einem Ohr schwerhörig und sagte zu ihr: «Ich höre aber nichts.» Doch als gerade eine Bombe hochging, die vielleicht nur vierhundert Meter entfernt war, war mein Vater ganz durcheinander und packte unsere Papiere, Geld und Gold und wir rannten weg mit acht Kindern zu meinem Onkel Kadrija, der nicht weit von uns wohnte, vielleicht sechshundert Meter. Der hatte ein kleines Haus, zwei Zimmer, Küche und Bad. Und er war reich. Er hatte zwar viel Geld, aber ein ganz kleines Haus. Er war abends fast nie zu Hause, obwohl er verheiratet war und zwei Kinder namens Sandra und Miki hatte. Sandra war schwer krank und ist irgendwann friedlich eingeschlafen. Aber seit dem Tag war mein Onkel ganz verändert. Sandra war sieben Jahre alt, als sie starb und ein hübsches kleines Mädchen mit langen blonden Haaren, was es in RomaFamilien nur ganz selten gibt. Nun aber «kannten» fast alle Weiber meinen Onkel und er war ausgesprochen beliebt bei anderen. Nur seine eigene Frau schlug er oft, wenn er besoffen war. Als wir angerannt kamen, öffnete er uns die Tür. Wir traten in die Wohnung und saßen bald alle auf dem Teppich. Kadrija holte eine Waffe aus einem Regal und wollte sie meinem Vater geben. Doch mein Vater
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sagte: «Die brauche ich nicht, denn ich habe meine eigene.» Er holte seine Waffe aus dem Gürtel und zeigte sie ihm. Ich war erstaunt, dass ich von der Waffe meines Vaters gar nichts wusste, und machte große Augen. Es war eine große, silberne Pistole, wobei ich nicht weiß, was das für eine war. Kadrija gab die Waffe meinem Vater wieder zurück und dann steckten alle beide ihre Schießeisen in die Hosen und deckten sie mit dem Tischtuch zu. Draußen wurde es immer lauter, immer mehr Schüsse, die von weitem kamen. Wir blieben die ganze Nacht wach und wurden allmählich wieder ruhiger. Bald kamen fast keine Schüsse mehr. Mein Vater sagte dann, wir sollten uns nicht hier aufhalten, sondern ein Versteck finden. Kadrija sagte: «Ja, ich wüsste auch schon wo. Drüben auf der anderen Straßenseite gibt es ein leeres Haus mit Keller; dort wohnt niemand.» Mein Vater war einverstanden und sagte: «Nichts wie hin!» Kadrija und seine Frau Netada packten noch ein paar Sachen und dann gingen wir alle in das leer stehende Haus, das nicht weit weg war. Wir liefen dorthin, denn mit dem Auto zu fahren haben wir uns nicht getraut, und wir bückten uns dem ganzen Weg. Als wir ankamen, war das Haus leer wie Kadrija gesagt hatte und Strom gab es auch nicht. Aber es gab einen großen Keller, der allerdings ganz dreckig war. Meine Mutter hatte Decken mitgenommen, breitete sie aus und wir saßen in dem dunklen Keller ohne Licht und ohne Strom. Mein kleiner Bruder Dalibor war erst ein Jahr alt und heulte. Meine Mutter versuchte, ihn zu beruhigen und steckte das Baby an ihre Brust bis es wieder ruhig war. Abends gegen siebzehn Uhr kamen wieder laute Schüsse, immer mehr und mehr. Und das Baby schrie und heulte die ganze Zeit. Meine Mutter weinte auch und gab dem Baby die Brust, aber es wollte nicht. Vater sagte zu meiner Mutter, sie solle dem Baby etwas ins Ohr stecken.
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Sie holte ein Taschentuch, riss es in kleine Stücke, die sie dem Kind in die Ohren steckte, worauf es sofort still war. Die ganze Nacht bis zum frühen Morgen wurde nun geschossen und wir haben uns nicht von der Stelle gerührt. Das letzte Abendbrot hatte es gegeben, als wir noch zu Hause waren und meine Mutter hatte auch weiter nichts mitgenommen, bis auf ein wenig Flüssigkeit für das Baby in einer Kanne, was aber schnell verbraucht war. Ich fragte meine Eltern wie das gehen solle, dass unsere Tiere doch noch im Stall sind und auch nichts zu essen haben. «Ja», sagte meine Mutter, «die armen Tiere!» Doch mir ging es gar nicht so sehr um die Kühe und Pferde, sondern um meinen Hund Beri. Ich hatte ihn im Garten an eine Leine gebunden. Da hatte er sein Häuschen, das ich ihm aus Kartons gebaut und mit schwarzer Farbe bemalt hatte. Wir waren bereits seit drei Tagen im Keller und hatten nichts gegessen. In der Nacht kamen weitere drei Familien mit ihren Kindern und es wurde immer enger in dem Keller. Am frühen Morgen schlich ich mich gegen neun Uhr heraus und meine Eltern haben überhaupt nicht gepeilt, dass ich verschwunden war. Denn der Keller wurde für uns alle immer enger, besonders wegen der vielen Kinder. Auf der Straße sah ich weder Menschen noch fahrende Autos. Ich hatte ein bisschen Angst und rannte Richtung zu Hause. Ich versteckte mich immer, wenn ich an eine Straßenkreuzung kam, aber es war nie jemand zu sehen. Als ich unser Haus erreicht hatte, war es noch ganz, und es fehlte nichts. Aber im Garten, wo mein Hund Beri hätte sein sollen, war ein großes Loch und das Häuschen, das ich ihm gebaut hatte, war in hundert Stücke zerrissen und mein Hund genauso. Ich konnte meinen eigenen Hund nicht mehr erkennen. Es war grauenhaft. Das Hundeblut klebte überall
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auf den Blumen, die noch ganz waren in einem makabren Kontrast. Ich hätte nicht länger hinsehen können. Ich heulte ohne die Tränen stoppen zu können. Ich ging dann auf die andere Seite, wo wir das neue Haus hatten und hinter diesem Haus war unser Stall. Ich ging rein, holte zwei Eimer, nahm einen Schlauch, der über einem Haken hing und füllte Wasser nach. Dann stieg ich oben auf das Dach, wo Heu und Gras lagerte. Mit der Heugabel schmiss ich es vor die Pferde und all die anderen Tiere. Zuletzt gab ich noch mal allen Wasser und machte den Stall zu. Nach ein paar Schritten kam mir ein unrasierter Mann entgegen. Er sah fast wie ein Weihnachtsmann aus, allerdings mit dunklem Bart, und der sagte zu mir: «Schmeiß die Heugabel weg!» Ich erschrak und ließ die Heugabel fallen. Auch bemerkte ich die Kalaschnikow auf seiner Schulter und stieß hervor: «Bitte, tun Sie mir nichts!» Er fragte: «Bist du alleine? Ja, wo sind denn deine Eltern?» Ich log ihn an, sie seien tot. «Was machst du dann hier?» - «Ich habe die Pferde und Kühe gefüttert.» - «Lügst du mich an?» - «Nein, ich schwör's.» «O.k.», sagte er und drehte sich um, bevor er mich mit der Hand auf dem Kopf streichelte und gleich wieder auf die Straße ging. Ich weinte vor Freude, ging wieder in die Küche und sammelte alles, was es noch zu essen gab. Für das Baby Milch und Babynahrung und für uns große habe ich alles, was noch im Kühlschrank war in eine Tasche gepackt, dazu zwei Stangen Zigaretten, die mein Vater noch in einer Kiste hatte und viele Kerzen. Ein Glück, dass wir im Stall noch den Kinderwagen hatten, denn ich hätte das nicht alles tragen können. Ich packte alles darauf und schob ihn bis zu dem Keller, wo meine Eltern und die anderen Familien waren. Ich hatte niemanden mehr gesehen auf meinem Rückweg die Straße entlang, wirklich niemanden und den Mann auch nicht mehr. Ich
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klopfte bei meinen Eltern an die Tür, aber keiner machte auf, auch dann nicht, als ich fester klopfte. Ich rief meine Mama, als die Tür sich öffnete, aber mein Bruder Aljo stand in der Tür. Ich schob den Kinderwagen in den Keller und alle begannen zu essen. Meine Mutter fragte, wo ich gewesen sei und ich erzählte ihr alles, auch dass mein Hund tot war. Mein Onkel Kadrija sagte: «Fick den Hund und sei froh, dass du noch lebst. Du hattest großes Glück.» Und er küsste mich auf den Kopf. Meine Mutter heulte und sie küsste mich das zweite Mal, seit ich mich erinnern kann. Wir blieben noch vier Tage im Keller und es wurde draußen ganz ruhig. Niemand schoss mehr, so dass mein Vater sich entschied, nach Hause zurückzukehren. «Und wenn was passiert, flüchten wir wieder in den Keller.» Es war ein Nachmittag, die Sonne schien, als wir uns auf den Heimweg machten. Den ganzen Tag war es ruhig, nur abends fielen ein paar Schüsse, aber von weit her. Da draußen wo wir wohnten hatte keiner Licht brennen, auch wir nicht, so dass es nachts ganz dunkel war. Am nächsten morgen gegen neun Uhr hielt ein Wagen vor unserem Haus. Es stiegen Kriminalpolizisten aus, die mich festhielten und meinen Vater suchten. Der konnte sich nicht so schnell verstecken, denn sie hatten ihn schon gesehen. Der Polizist Drago kam in den Garten, wo mein Vater auf der Eingangstreppe saß. Der stand auf und sah Drago an. Und Drago sagte: «Aljo, ich weiß, dass du eine Waffe hast und ich gebe dir eine Stunde Zeit. Wenn ich wieder zurück komme, dann will ich was sehen.» Er drehte sich um und stieg in seinen Wagen, worin noch die beiden anderen saßen und fuhr los. Mein Vater war in Panik. Er ging in die Küche, nahm seine Waffe, ging hinter das Haus und schmiss die Waffe ins Klo hinter dem Haus. Zusammen mit den Patronen ist sie in der
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Scheiße versunken und war nicht mehr sichtbar. Er ging noch mal in die Küche, nahm den Telefonhörer in die Hand und wollte wählen. Zehn Minuten später standen zwei Taxis vor der Tür. Die beiden Fahrer kannten meinen Vater gut. Beide waren Serben und mein Vater sagte zu uns: «Steigt alle ein und lasst uns verschwinden!» Wir stiegen in die Wagen und haben alles im Stich gelassen, außer zwei Taschen, die meine Mutter gepackt hatte; die Tiere, das Auto — einfach alles. So fuhren wir per Taxi nach Mitrovica zur Familie meines Vaters. Unterwegs hatten wir keine Probleme und sind auch normal angekommen. Mein Onkel Nazif hatte ein kleines Haus mit einem Stall, darin stand ein Esel, ein klappriges Pferd und ein Schäferhund. Er hatte damals drei Jungs und ein kleines Mädchen, und zwar mit einer hässlichen Frau, die ich überhaupt nicht leiden konnte. Aber meine nette Oma wohnte auch in dem kleinen Haus und seinen zwei Zimmern. Zum Glück blieben wir dort nicht lange, bloß zwei Tage. Die ganze Zeit über spielte ich mit dem Hund, doch der Idiot biss mich in den Po. Als ich dann wegrannte, bellte er noch viel lauter und biss mich ins Gesicht, so dass ich an der Stirne blutete. Die hässliche Frau meines Onkels stürzte aus dem Haus und brüllte: «Komm her Hund, komm!» Doch als der gehorchte, schlug sie ihm mit der Sandschippe brutal auf den Rücken. Da entwischte ihr der Hund und sprang weg. Als die Alte wieder im Haus verschwunden war, kroch ich auf den Boden des Stalls, wo mein Onkel seinen Mais lagerte. Er war fast zur Hälfte voll und im Rest des Raumes sah ich einen seiner Jungs, meinen Cousin. Der war siebzehn oder achtzehn Jahre alt, außerdem taub und konnte
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nicht sprechen. Er erschrak, als er mich hochklettern sah. Doch dann lachte er aus vollem Hals. Er gab mir seine Hand und schüttelte sie wieder und wieder. Dann bedeutete er mir, ich solle mich auf eine Decke setzen, die er dort ausgebreitet hatte. Ich gehorchte und er setzte sich neben mich. Dabei blickte er auf meinen Kinderkopf und als er die Narbe sah, die meine Mutter mir zugefügt hatte, streichelte er meinen verwundeten Kopf zärtlich. Er streichelte mich ununterbrochen und ich rührte mich nicht. Er bemerkte auch, dass meine Stirn frisch zerkratzt war in der Nähe der Augenbrauen und die Schrammen von den Hundezähnen. Da verstand ich, dass er mich wortlos fragte, woher meine Wunden kämen, die alte und die neue. Ich versuchte, ihm mit Zeichen etwas davon zu erzählen, aber es gelang mir nicht. Auch als ich bellte, verstand er mich nicht. Er rückte immer näher zu mir, streichelte mich schon die ganze Zeit und ich selbst blieb ganz ruhig. Er fing schließlich an, mich zu küssen, aber da zog ich mich zurück. Da küsste er mich auf den Kopf, streichelte mich weiter und öffnete meine Hose. Er beugte seinen Kopf und nahm mein Glied in seinen Mund. Ich musste lachen, denn das kitzelte, aber er machte weiter. Plötzlich hörte ich Stimmen und meine Mutter rief: «Miro! Miro!» Ich sprang auf, zog schnell die Hose hoch, die bis unter die Knie gerutscht war, machte den Knopf zu und rannte. Fast wäre ich dabei von der Leiter gefallen, aber im letzten Augenblick fand ich einen Griff zum festhalten und schrie außer Atem: «Ich bin hier, Mama!» Aber die meinte gleich: «Komm Junge, wir verschwinden». Da blickte ich zur Eingangstür und sah dort zwei Taxi stehen. Alle saßen schon drin und meine Mutter stieg mit mir als Letztem ein. Ich fragte sofort, wohin die Reise gehen sollte, bekam aber keine Antwort. Während der Fahrt dachte ich darüber nach, ob die Sache mit dem stum-
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men Jungen im Stall, die ich schließlich zugelassen hatte, vielleicht etwas Böses gewesen sein könnte. Aber es war doch so schön gewesen und eigentlich hätte ich meine Mutter gern danach gefragt. Aber ich habe mich nicht getraut. Schließlich hatte sie mir auch keine Antwort gegeben, als ich nach dem Ziel unserer Reise fragte und ich fürchtete eine Ohrfeige bei solchen Fragen. Also behielt ich mein Geheimnis für mich. Am Bahnhof von Sremska Mitrovica stiegen wir aus. Mein Vater ging mit einem der Taxifahrer an den Kofferraum und sie holten zwei Koffer und eine schwarze Tasche heraus. Mein Bruder Hato und mein Vater trugen das Zeug in den Bahnhof. Wir anderen saßen auf den Bänken und mein Vater verlangte am Schalter neun Fahrkarten nach Berlin. Die Fahrkartenverkäuferin bedauerte, dass es leider keine direkten Züge nach Berlin gebe. «Ich kann Ihnen zwar Karten geben, aber sie müssen umsteigen.» Meinem Vater war das egal. Also druckte die Frau neun Karten aus und er bezahlte. Fast eine Stunde mussten wir auf den Zug warten. Mit dreizehn Leuten bestiegen wir schließlich den Zug, zusammen mit meinem Schwager Alro und meiner Schwägerin Beijta, die ihre Karten selbst kauften. Nummer dreizehn war der kleine Sohn meiner Schwester Rabija der noch umsonst mitfuhr. Eigentlich waren es sogar vierzehn Personen, denn Schwägerin Beijta war schwanger und hatte schon einen dicken Bauch. Als wir endlich losfuhren, sagte der Kontrolleur, dass wir aber eine große Familie seien. Mein Vater lachte, als er ja sagte. Der Kontrolleur wies uns noch darauf hin, dass wir in knapp einer Stunde in Novisad seien und umsteigen müssten. Mein Vater lachte wieder, als er sagte: «Ja, das weiß ich.» Dann knipste der nette Schaffner unsere neun «Klein»-Familien-Karten auf einmal
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und die anderen extra und wünschte noch eine gute Reise, worauf sich mein Vater bedankte. In Novisad angekommen, stand unser zweiter Zug schon bereit und wir mussten rennen, um ihn nicht zu verpassen. Eigentlich hatten wir schnell einen passenden Wagen gefunden, doch selbst hier reichte der Platz nicht für alle dreizehn. So trennten sich meine Eltern und meine Mutter saß zusammen mit mir im nächsten Wagen. Ich quetschte mich ans Fenster, um nach draußen sehen zu können. Nach einer bis anderthalb Stunden Fahrt hielten wir in Subotica, wo ich einmal im Krankenhaus war. Polizisten stiegen ein und verlangten unsere Pässe. Aber meine Mutter hatte sie nicht, sondern alle Papiere waren bei meinem Vater im anderen Wagen. Dazu kam, dass sie nicht unsere Sprache sprachen und meine Mutter nicht genau verstand, was sie wollten. Schließlich sagte der Polizist streng: «Dokumente, Papiere!» Das hatten fast alle verstanden und auch meine Mutter stand nun auf und ging nach nebenan zu meinem Vater. Es dauerte lange, bis sie endlich wiederkam und wir mussten bei nächster Gelegenheit aussteigen, weil bei Schwager und Schwägerin irgendetwas mit dem Pass nicht stimmte. Als wir draußen waren, «erklärte» uns der Polizist etwas, das wir nicht verstanden. Irgendwie versuchte er wohl, uns einen Ausweg zu weisen, aber wir konnten nicht verstehen, was er damit meinte. Dann fuhr der Zug ohne uns weiter und die Polizisten brachten aus dem Revier eine Dolmetscherin mit, die mit uns jugoslawisch sprach. Ich konnte nicht richtig verstehen, was sie meinen Eltern erklärte. Denn wir anderen bewachten das Gepäck und meine Eltern standen mit der Dolmetscherin einige Meter entfernt. Endlich kamen die drei zu uns und mein Vater erklärte, dass für Beijta ein neuer Pass ausgestellt werden müsse. So trugen mein Vater und mein Bruder die zwei Koffer und die schwarze Tasche
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in einen sehr gepflegten Park in Bahnhofsnähe. Wir setzten uns gemeinsam in einen Kreis und mein Vater packte aus, was die schwarze Tasche enthielt. Zuletzt kam eine Mappe zum Vorschein und darunter war der Pass meiner Schwester Alija. Während meine Mutter alles wieder in die Tasche packte, riss mein Vater das Passbild heraus. Zusammen mit Schwägerin Beijta gingen meine Eltern nun weg und wir anderen sollten uns nicht von der Stelle rühren. Fast drei Stunden mussten wir warten, bis sie wieder erschienen. Bei ihrer Rückkehr wirkten sie irgendwie glücklich. Nun hieß Schwägerin Beijta wie meine Schwester Alija und ich «Sabanovic», alles andere inklusive. Noch am selben Tag setzten wir unsere Reise fort und hatten nun keine Probleme mehr. Auch mussten wir nicht mehr umsteigen und nach einer Nacht und einem weiteren Tag stiegen wir im Bahnhof Berlin-Lichtenberg aus, frühmorgens um sechs Uhr. Das war genau am 12. Mai 1992, als wir in Deutschland ankamen. Wir gingen in den für unsere Maßstäbe unwahrscheinlich großen Bahnhof und ließen uns auf den Bänken nieder, die dort herumstanden. Mein Vater versuchte zu telefonieren, konnte aber niemanden erreichen. Vielleicht wollte auch keiner ans Telefon gehen, denn es war ja noch so früh am Morgen. Zwei Polizisten kamen auf uns zu und sprachen deutsch, aber wir kannten diese Sprache überhaupt nicht. Das Einzige, was ich damals auf Deutsch konnte, war bis zehn zu zählen. Sie redeten immer weiter auf uns ein, aber mein Vater «antwortete» sinngemäß, sie könnten das auch bleiben lassen, denn er verstünde sie nicht, da er aus Jugoslawien komme. Auch der Polizist sagte «Jugoslawia» und mein Vater nickte zustimmend. Darauf gab uns der Polizist ein Zeichen, dass wir mitkommen sollten. Im Polizeirevier
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warteten wir dreißig bis vierzig Minuten lang, bis der selbe Polizist mit einer Adresse zurückkam, die er meinem Vater in die Hand drückte, damit wir uns dorthin wenden sollten. Außerdem gab er uns noch einen Stadtplan und mein Vater sagte wiederholt: «Taxi! Taxi!» Da packte der freundliche Polizist selbst mit an und trug einen unserer schweren Koffer bis zum nächsten Taxistand. Mein Vater und mein Bruder trugen den Rest und wir alle folgten dem netten Polizisten. Der ging gleich auf den ersten Taxifahrer zu und erklärte ihm, wohin er zu fahren hätte; ebenso dem zweiten Fahrer, denn für ein Auto waren wir zu viele und brauchten daher zwei Wagen. Nachdem sich «unser» Polizist verabschiedet hatte, fuhren wir fast eine Stunde mit den Taxis durch die Stadt. Fast fünfzig Mark musste mein Vater schließlich zahlen, als wie ausstiegen. Einer der Taxifahrer begleitete uns noch bis zur Haustür, sprach dort mit einem Mann den er bereits kannte und ging dann wieder zu seinem Auto. Der Mann an der Haustür hatte einen Hund, bedeutete, dass wir ihm folgen sollten und brachte uns in einen großen Saal, wo es viele Betten gab und noch andere Flüchtlinge waren. Er zeigte uns noch die freien Betten, ging zunächst wieder, kam aber schon kurz darauf mit einem Wagen zurück, auf dem Getränke und Essen standen, außerdem Pampers-Windeln und Babynahrung für den Säugling. Mein Vater kannte viele Freunde unter den Flüchtlingen. Auch meine Tante samt Mann und Kindern waren da. Alle küssten sich und tauschten ihre Erfahrungen aus. Am nächsten Morgen telefonierte mein Vater mit seinem Bruder, der schon längere Zeit in Berlin lebte. Der kam ein paar Stunden darauf zu uns und staunte nicht schlecht, dass wir es geschafft hatten, nach Berlin zu kommen. Die beiden
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Männer klopften sich auf den Rücken und küssten sich. Dann sprachen sie sehr lange miteinander und mein Onkel klärte meinen Vater über Sozialhilfe und Wohnungen auf und darüber, was er in Deutschland zu tun und zu lassen hatte. Er hat uns auch am nächsten Morgen zum Sozialamt begleitet, wo wir als Bürgerkriegsflüchtlinge gleich eine Duldung und etwas Geld erhielten. Schon ein paar Tage später hatten wir in Tiergarten eine Vierzimmerwohnung mit großer Küche und Besuchertoilette samt Wanne und Dusche. Diese Wohnung war für unsre Verhältnisse sehr groß und sehr schön. Besonders meine Mutter freute sich unbändig, aber eigentlich wir alle. Doch bereits ein paar Tage darauf bat sie mich, doch etwas «spazieren» zu gehen und dabei Möglichkeiten zum Klauen zu finden, aber ohne mich erwischen zu lassen. Doch an diesem Tag wollte ich eigentlich noch nichts klauen, sondern einfach spazieren und war neugierig auf die U-Bahn, die immer im Dunkeln fuhr, was auch ich endlich einmal erleben wollte, wie meine Eltern und mein Onkel. So stieg ich zum ersten Mal in eine U-Bahn, fuhr fünf oder sechs Stationen weit und stieg dann auf der anderen Seite des Wagens wieder aus. Doch als ich zurückfahren wollte, kam ich nicht dorthin zurück, wo ich eingestiegen war. Dabei konnte ich ja auch niemanden fragen und fühlte mich ziemlich bescheuert. Ich wusste doch, dass ich fünf, höchstens sechs Stationen gefahren war und zählte auf dem Rückweg zunächst bis fünf und dann noch eine weiter. Aber ich landete ganz woanders und konnte es niemandem sagen. Außerdem hatte nicht einmal die Adresse unserer neuen Wohnung. So setzte ich mich auf eine Bank und weinte vor mich hin. Zwei Polizisten kamen auf mich zu und blieben bei mir stehen. Irgendetwas fragten sie mich und ich antwortete genauso, wie meine Mutter im Zugabteil, wobei aus meinen Worten «Jugoslawia»
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hervorstach. Mit den Fingern zeigte ich eine Sechs und deutete auf die U-Bahngleise. Der eine hatte mich wohl verstanden, nahm mich an der Hand und führte mich in ein Schaffnerhäuschen. Heute weiß ich, dass es der Berliner Verkehrs Gesellschaft gehörte. Er telefonierte lange und Stunden später kamen noch zwei andere Polizisten. Sie besprachen etwas und dann musste ich mit den beiden in einen Polizeikombi steigen. Einer schnallte mich an und wir fuhren zur Polizeidienststelle. Sie «sagten» mir mit Händen und Füßen, dass ich mich auf die Bank setzen solle. Dort saß ich stundenlang herum, ohne dass mich irgendwer beachtet hätte. Irgendwann brachte mir eine Polizistin ein Sandwich und ich staunte, dass in Deutschland auch Frauen Polizisten sind. So etwas hatte ich noch nie gesehen oder gehört. Als sie wieder gegangen war, aß ich mein Sandwich und schlief auf der Bank ein. Ich erwachte, als mein Vater mich rüttelte und lauthals über mich lachte. Er hatte meinen Onkel als Dolmetscher mitgebracht. Auf der Uhr an der Wand war es halb zwei in der Nacht. Ich freute mich, dass sie mich gefunden hatten. Nachdem mein Onkel ein paar Worte mit den Polizisten gewechselt hatte, gingen wir aus dem Polizeirevier. Mein Onkel fuhr uns in seinem Wagen nach Hause und ich erzählte den beiden, wie ich mich verirrt und welche Ängste ich ausgestanden hatte. Nach einem halben Jahr in Berlin konnte ich schon viele deutsche Worte verstehen und manche auch sprechen; jedenfalls habe ich mich seither nie wieder verlaufen. Auch wusste ich nun, wie ich mit der U-Bahn zu fahren hatte. Jeden Tag schickte mich meine Mutter zum Stehlen und ich wurde ein- bis zweimal pro Woche für kurze Zeit festgenommen. Dann haben mich die Polizisten jedes Mal wieder mit ihrem Auto nach Hause gebracht, wo ich regelmäßig 50
Dresche bekam, wenn ich kein Geld mitbrachte, etwa weil die Polizei es mir wieder weggenommen hatte. Manchmal brüllten sie mich auch «nur» an, aber das war fast noch schlimmer. Oft ging ich gemeinsam mit meiner Schwester und meinem Bruder Buco klauen. Wenn einer von uns Dreien verhaftet wurde, haben wir uns alle totgelacht. Bis dahin hatte uns Kinder noch nie ein deutscher Polizist geschlagen wie unsre Eltern fast täglich, darum lachten wir über die Schlappschwänze. Stattdessen haben sie uns immer wieder komfortabel nach Hause gebracht. Auch wenn ich sie anspuckte, machten sie gar nichts. Einmal schrie einer zwar, aber er wischte sich bloß die Spucke mit einem Taschentuch ab und ließ mich ansonsten in Ruhe. Bei solchen Szenen lachten wir uns tot. Doch sie haben uns immer wieder gut behandelt und nach Hause gebracht. Manchmal zogen sie mich auch an den Ohren, weil ich so frech war. Da griff ich kleiner Junge die Polizisten an, aber auch dann wurde ich niemals richtig geschlagen, was ich ja von zu Hause gut kannte. Ich empfand deutsche Polizisten damals als Schlappschwänze, denn in Jugoslawien wurde ich auch von der Polizei gnadenlos geschlagen, obwohl ich noch so klein war. Sie haben das wohl dort anders gesehen. Tatsächlich, sie haben mich geschlagen, als wäre ich bereits ein erwachsener Mann. Als ich schließlich so gut deutsch sprach, dass man mich auch verstehen konnte, ging ich selbst zum Jugendamt. In der Zwischenzeit hatten meine Eltern schon einige Male unsere Wohnung gewechselt und zu dieser Zeit wohnten wir in Schöneberg. Aufgrund meines Besuches dort, von dem meine Familie nichts wusste, besuchte uns ein Sozialarbeiter des Jugendamtes und sagte meinen Eltern, dass die Kinder schulpflichtig seien. Er drohte auch, sonst würde
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das Sorgerecht entzogen. Meine Eltern konnten zwar kein deutsch, aber an diesem Tag hatten wir Besuch vom Bruder meiner Mutter namens Sabrija, der gut deutsch sprach und schon lange mit seiner Frau in Berlin lebte. Er dolmetschte die Worte des Sozialarbeiters, aber meine Mutter protestierte: «Meine Kinder keine Schule! Muslim! Muslim!» Damit meinte sie, stichhaltig begründet zu haben, dass Muslime keine deutschen Schulen besuchen dürfen, was mein Onkel auch übersetzte. Doch die amtliche Antwort war: «Aber stehlen dürft ihr, das ist bei euch nicht verboten!» Nach der Übersetzung dieses Satzes kam meine Mutter zu mir, schlug mich vor den Augen des Sozialarbeiters und schrie: «Er zapzarap, er Polizei!» Der Sozialarbeiter machte sie darauf aufmerksam, dass sie mich nicht schlagen darf und dass es auch für Eltern in Deutschland strafbar ist, Kinder zu schlagen. Doch als auch dies für meine Mutter übersetzt wurde, sagte sie nur weinerlich: «Zapzarap, viel Polizei, große Probleme meine Kinder!» Zum Abschied sagte der Sozialarbeiter noch, sie sollten auf mich aufpassen und mir was Vernünftiges beibringen. Dann ging er. Zuvor sagte er jedoch noch meinem Onkel, dass er mit einer Dolmetscherin wiederkommen wolle. Noch am selben Tag ging ich alleine zu ihm hin, denn ich kannte ja die Adresse des Jugendamtes, weil ich schon mal dort war. Das war gar nicht weit von uns weg, bloß zwei Stationen mit dem Bus. Dort musste ich nur sein Büro suchen und fragte darum beim Pförtner nach seinem Namen. «Hofmann» hieß er und eine Frau brachte mich zu seinem Büro, wo er gerade telefonierte und noch den Hörer in der Hand hielt, als ich eintrat. Er brach das Telefonat ab und die Frau ging. Dann fragte er, was los sei und warum ich noch einmal gekommen sei. Ich erzählte ihm, was ich
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wusste, einfach ALLES. Auch, dass es gar nicht stimmt, dass wir Muslime sind, wie meine Mutter behauptete. Denn solange ich das mitbekomme, hat meine Familie mehr Schweinefleisch gegessen als irgendetwas anderes, z. B. Rind oder das Fleisch anderer Tiere. Zwar konnte ich nicht alles auf Deutsch erklären, aber ich glaube, der Mann verstand mich gut, denn er ließ mir viel Zeit. Er hörte mir sehr aufmerksam zu und wartete sogar als ich fertig war, ob ich noch mehr zu sagen hätte. Aber mehr brachte ich nicht heraus. Dann fragte er, ob ich zu Hause oder in einem Heim leben wollte. Ich wollte gerne in ein Heim und sagte ihm das auch. Aber keinesfalls solle er meinen Eltern erzählen, was ich ihm dargelegt hatte. Denn die hatten damit gedroht, mich umzubringen, falls ich etwas erzähle. Er sagte, ich brauche keine Angst haben. Noch am selben Tag fuhr er mich in einem Kombi in ein Heim in Westdeutschland. Dort bekam ich ein großes Zimmer ganz alleine für mich. Ich hatte noch ein paar hundert gestohlene Mark, die ich gleich am folgenden Tag für einen Kassettenrecorder und für Klamotten ausgab. Dann habe ich es mir in meinem Zimmer gemütlich gemacht und die Erzieherinnen staunten, dass ich so viel Geld hatte, mir solche Sachen zu kaufen. Sie fragten mich, woher ich das habe und ich sagte die Wahrheit. Eine Erzieherin sagte mir, dass ich das aber nicht tun dürfe und ich stimmte ihr zu. «Versprochen ist versprochen!» sagte ich. Zufällig war gerade an diesem Abend die jährliche Disko für die Heimkinder und ich hatte Glück, gerade an dem Tag dort zu sein. Es fing gegen achtzehn Uhr in einem Keller unter dem Heim an und das sah echt gut aus. Alle waren schon am Tanzen und ich setzte mich erst einmal hin. Denn ich kannte noch niemanden und schämte mich außerdem zu tanzen. Eigentlich konnte ich ganz gut tanzen, ein bisschen wie Michael Jackson. Meine
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Erzieherin kam, setzte sich zu mir und fragte, warum ich nicht tanzen würde. Ich antwortete, dass ich halt keine Lust habe. Doch sie gab keine Ruhe und wiederholte: «Komm, komm!» Aber da war was los! Ich ging mit ihr auf die Tanzfläche und alle starrten mich an, machten uns Platz und ich tanzte und tanzte. Als das Stück zu Ende war, klatschten alle. Als das Fest dann gegen Mitternacht beendet war, gingen wir alle schlafen. Am nächsten Tag fuhren wir mit Fahrrädern an einen See. Aber egal, was wir machten, ich war glücklich, so schöne Zeiten erleben zu dürfen. Eines Abends kam meine Erzieherin zu mir aufs Zimmer, setzte sich neben mich und meinte, sie habe gute Neuigkeiten. Als ich neugierig nachfragte, sagte sie: «Deine Eltern kommen am Montag, um dich zu besuchen.» Ich starrte fassungslos vor mich hin und murmelte nur leise, was sie gerade gesagt hatte. «Freust du dich denn nicht?» – «Nein», schrie ich, «keinesfalls dürfen sie erfahren, wo ich bin.» Während sie noch sprach, begann mein Herz schier zu zerspringen. Zwar hatte ich nichts mehr von ihnen gehört. Aber ich dachte, wenn sie mich finden sollten, wäre ich tot. Ich musste sofort an den Sozialarbeiter vom Jugendamt denken, der versprochen hatte, nichts meinen Eltern zu verraten. Auf dem Weg ins Heim hatte ich ihn noch gebeten, speziell ihnen keinesfalls die Adresse meiner Zuflucht vor ihnen zu verraten und auch das hatte er hoch und heilig versprochen. Innerlich fluchte ich über ihn und war stink-sauer. Als die eigentlich nette Erzieherin draußen war, schlug ich alles in meinem Zimmer kurz und klein und schmiss den ganzen Kram auf den Fußboden. Alles ging dabei kaputt, auch mein teurer Recorder. Da kam die nette Erzieherin gleich gerannt und wollte sofort wissen, was denn los sei. Aber ich sprach kein Wort und zwar zu niemandem. Noch immer war ich echt sauer, aber langsam
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wurde ich ruhiger, setzte mich aufs Bett und heulte leise. Sie sagte gar nichts mehr, als sie mich so verzweifelt sah, und ließ mich allein. Ich dachte bei mir selbst, dass ich hier ja wohl keinesfalls bleiben könne. Drum zog ich mich warm an und lief noch am selben Abend fort. Am Bahnhof kaufte ich gleich eine Karte nach Berlin und fuhr zurück. Nach etwa einer Stunde stieg ich im Bahnhof Zoologischer Garten aus. Ich streunte im Bahnhof herum und wollte eigentlich bloß sterben. Während ich hin und her lief, bemerkte ich einen Mann, der mich immerzu beobachtete. Zunächst dachte ich an einen Zivilbullen und hatte große Angst. Ich fürchtete, wenn er mich erwischte, brächte er mich zur Polizei und die Beamten schafften mich in mein verhasstes «zu Hause». Drum ging ich möglichst unauffällig weiter, aber er kam hinter mir her. Hinter einer Biegung konnte er mich kurze Zeit nicht sehen und ich rannte, was ich konnte. Zum Glück konnte ich den Kerl abhängen. Am späteren Abend verkroch ich mich auf dem Dachboden eines Treppenhauses und legte mich müde auf den Fußboden. Ich schlief eigentlich sehr gut ein, aber bald war mir etwas kühl und ich freute mich über die warmen Sachen, die ich aus dem Heim mitgenommen hatte. Am nächsten Morgen ging ich wieder zum Bahnhof Zoologischer Garten und traf dort eine Menge Bekannte. Eigentlich hatte ich bislang nicht viel mit diesen Leuten zu tun, aber wir kannten uns, weil unsere Eltern einander in der Heimat besucht hatten. Von den meisten weiß ich eigentlich nicht einmal die Namen. Doch heute fragte ich sie, was sie so treiben und wie es ihnen geht. Viele sagten, es gehe ihnen ganz gut hier in Deutschland, fernab vom schreckli-
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chen Bürgerkrieg. Einer sagte plötzlich zu einem anderen: «Schau mal, der Mann dahinten will was von dir!» Der gefragte Junge ging hin und die beiden unterhielten sich kurz. Ich wollte unbedingt wissen, was da los war, und erhielt zur Antwort: «Er will mit ihm gehen.» Was sollte das um Gottes willen schon wieder heißen, «mit ihm gehen»? Und so fragte ich zurück: «Wohin denn?» Da merkte der andere Junge, dass ich keine Ahnung hatte und ließ mich allein. Weiter drinnen im Bahnhof traf ich einen anderen Jungen, den ich bereits länger und besser kannte als die vorherigen zwei. Beim Gegenübertreten grüßte er freundlich, wir gaben uns die Hände und er fragte, was ich hier machte. «Ehrlich», antwortete ich, «ich weiß es selbst nicht.» Und wir lachten zusammen. Ich fragte zurück und er meinte, dass er hier «ein bisschen arbeiten» würde. Ich meinte, er wolle mir sagen, dass er wie ich auf Diebesgut aus war und wünschte ihm viel Glück, denn ich wusste nur zu gut, wie sehr das kleine Jungs brauchen, die in Deutschland ein bisschen klauen gehen wollen. Als er weg war, setzte ich meine «Bahnhofsinspektion» fort. Doch zehn Minuten später war der nette Junge wieder da, zeigte auf einen älteren Herrn und meinte: «Der Mann will mit dir!» Ich fragte naiv zurück: «Was will wer mit mir?» Worauf er erstaunt zurückgab: «Warst du denn noch nie mit einem Mann im Bett?» Ich verneinte und er bot an, mich meinem ersten Freier vorzustellen. Als Erstes sollte ich dreihundert Mark verlangen, dann würden wir hinterher halbe-halbe machen. Als ich wissen wollte, was ich dafür zu tun hätte, meinte er: «Eigentlich gar nichts.» So ging ich in Begleitung zu dem Mann, der scharf auf mich war. Der streckte mir seine Hand entgegen und auch ich gab ihm gerne die Hand.
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Er stellte sich als «Karsten» vor und ich antwortete: «Miro». Auf seine Frage nach meinem Alter antwortete ich fast wahrheitsgetreu, ich sei dreizehn. «Das ist ein gutes Alter», meinte Karsten. Ich zog den Jungen beiseite, der uns verkuppelt hatte und wollte wissen, was nun dran sei. Doch der meinte nur, ich solle warten. Karsten meinte: «Von mir aus kann's losgehen.» Wir gingen zu seinem Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhof Richtung Kantstraße und ich stieg als Erster ein. Ich hatte angenommen, dass unser «Kuppler» mitkommt, aber der wollte nicht und meinte: «Nur ihr beide, ich warte hier und er wird dich wieder zurück bringen.» Da bekam ich es mit der Angst und wollte nicht alleine mit dem Fremden fahren. Doch der junge tröstete mich, er sei schon öfters mit Karsten gegangen, sei jedes Mal gut bezahlt worden und darum bräuchte ich keine Angst zu haben. Trotzdem wollte ich nicht alleine sein mit diesem Mann und stieg darum wieder aus. Der wollte natürlich wissen, was los sei. Der Junge erklärte ihm, dass ich Angst hätte mit ihm alleine zu sein, und dass ich wollte, dass er uns begleitet. «Der braucht doch keine Angst zu haben! Ich tue ihm nun wirklich nichts Böses.» Doch ich bat den Freier, dass der Junge ausnahmsweise mitkommen dürfte, zumal die zwei sich schon gut kannten. Der Junge lenkte ein und meinte, er würde eben in der Küche warten oder Fernsehen. Karsten war einverstanden und so fuhren wir zu dritt zu seiner Wohnung. Alles war schön eingerichtet und aufgeräumt, sogar die Schuhe waren geputzt. Kein Krümel lag auf dem Boden. «Zieht euch schon mal aus, da drüben gibt's Kleiderbügel», sagte er. Wir zogen die Jacken aus und flötzten uns im Wohnzimmer auf eine Couch. Er bot uns zu trinken an; mein Begleiter nahm eine Cola, aber ich wollte nichts. Als er in die Küche ging, um die Cola zu holen, fragte ich den Jungen, wann die Geldübergabe sei.
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«Wenn du was mit ihm gemacht hast.», sagte der und ich fand das in Ordnung. Der Junge schlürfte genüsslich seine Cola und der Mann schob ein Video in den Recorder und ließ es laufen. Da war ich echt platt und fragte mich: «Spinn ich jetzt oder was ist los?» Ich sah zwei Männern zu, die sich innig umarmten und küssten. Sofort fiel mir mein Cousin ein, der damals auf dem Stallboden mein Glied in den Mund genommen hatte. Dann musste ich lachen, denn der eine lag auf dem Bett, während der andere sein steifes Glied in dessen Hintern steckte. Ich lachte immer mehr. Die beiden anderen fragten mich, warum ich so lachen würde und ich antwortete, dass ich soeben zum ersten Male gesehen hätte, wie sich zwei Männer ficken. Da mussten die beiden auch lachen. Der Junge ließ uns nun allein, ging in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Da kam der Mann zu mir und setzte sich neben mich. Ich fragte mich etwas unsicher im Stillen, was wohl passieren werde und was er eigentlich von mir wolle. Doch er streichelte mich, genau wie damals mein Cousin. Dabei zog er seine Hosen runter. Und plötzlich wollte ich mich fast wegschmeißen vor Lachen, riss mich aber zusammen. Denn als die Hose unten war, sah ich seinen echt großen Schwanz. Ich dachte an mein Pferd in Jugoslawien, das auch so einen Dicken hatte. Er wollte, dass ich mich auch ausziehe, und ich befolgte den Vorschlag bis auf die Unterhosen. Das fand er merkwürdig, aber er akzeptierte es. Er fasste mein Glied durch die Hose und holte es heraus. Ich hatte wieder etwas Angst bekommen, aber ließ mir nichts anmerken. Er spielte zehn Minuten oder eine Viertelstunde daran herum und dann fragte er, ob ich keinen hoch bekommen würde. Ich wusste es nicht und sagte das auch. Nach weiteren fünf Minuten wollte er, dass ich seinen in die Hand nehme, aber ich lehnte ab. Dabei erinnerte ich mich an die Worte des
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Jungen, ich müsse «gar nichts» machen. Doch der Mann wollte, dass ich ihn ein bisschen wichse, aber ich sagte: «Nein, so etwas mache ich nicht.» Da wichste er mich mit der einen Hand und sich selbst mit der anderen und dazu lief ein Video, bei dem zwei Männer gegenseitig ihre Schwänze lutschten. Er wichste immer schneller und ich erschrak, als er abspritzte. «Um Himmels willen», dachte ich, «was ist nun wieder los?» Als das weiße Wasser spritzte, ging ich beiseite und er stöhnte. Ich wollte wissen, ob er krank sei, doch er lachte mich aus wegen der dummen Frage. Aber ich hatte so etwas wirklich noch nie gesehen. Ich hatte mich selbst zwar schon oft gewichst, aber dabei passierte nie so etwas. Ich wunderte mich auch darüber, dass er sich mit einem Taschentuch abwischte. Ich wollte von ihm wissen, warum nicht auch bei mir so etwas passiert, wenn ich mich wichse. Und der Mann antwortete, ich sei eben noch zu jung. «Mit dreizehn oder vierzehn wird es bei dir genauso sein.» Als ich ihm sagte, dass ich doch schon dreizehn sei, meinte er lachend, ich müsse bloß mehr wichsen. Er zog die Jeans an und das T-Shirt und rief den anderen Jungen. Auch ich zog mich an und fragte den Jungen, ohne dass der Alte es merken sollte, wie das nun mit dem Geld sei. Doch der wollte von meinem Begleiter sofort wissen, was ich getuschelt hätte, aber der wiegelte ab. Zu mir sprach er dann in meiner Sprache die der Freier nicht verstand, ich solle nicht drängen und er würde schon zahlen. Tatsächlich holte der Mann, als er fertig angezogen war seine Brieftasche heraus, zog zwei Scheine und gab sie mir. Ich protestierte bei dem Jungen, denn es hätten doch dreihundert sein sollen und der fragte den Freier. Aber der wurde deutlich und meinte, ich hätte nichts gemacht und nicht einmal einen hoch bekommen, da wären zweihundert Mark noch ein gutes Geschäft für mich. Ich starrte den
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Jungen fassungslos an, war stinksauer und sagte zu ihm: «Komm, lass uns gehen. Hier will ich nicht länger bleiben!» Doch der meinte, ich solle warten, denn der Freier werde uns fahren. Ich bat, er solle ihm klarmachen, dass wir jetzt gleich fahren wollen. Der Mann war nicht mehr bei uns im Zimmer sondern in der Küche. Also warteten wir aus taktischen Erwägungen und tatsächlich, als er ins Zimmer trat meinte er gleich, wir sollten jetzt losfahren. Wir gingen zu seinem Golf, stiegen ein und er fuhr uns zurück. Wir stiegen am Bahnhof Zoo aus und er fuhr weiter. Da sagte der Junge zu mir, ich hätte den Alten nur wichsen müssen, dann wären es dreihundert Mark gewesen. Ich fragte zurück, warum er es dann nicht statt meiner gemacht habe? Doch er antwortete, dass der Alte eben keine Lust auf ihn gehabt hätte, weil er ihn doch schon kennt. Da wollte ich wissen, warum es dann zehn Minuten gedauert hätte, die er mit dem Freier in der Küche verbracht hat in denen ich irritiert und unsicher alleine im Bett des Freiers wartete. Der Junge meinte dann, er hätte in dieser Zeit versucht, die ganzen dreihundert Mark herauszuleiern. Ich wollte natürlich wissen, ob es geklappt hatte. Doch er winkte ab und meinte, dass der Mann das nächste Mal ihn mitnehmen wolle und dann gebe es die volle Summe. Als wir wieder zurück im Bahnhof waren, sah ich wieder den Mann, der mich anfangs beobachtet hatte, und dem ich erfolgreich entflohen war. Ich befürchtete, er sei Zivilpolizist. Schließlich stand er direkt hinter mir und klopfte mir auf die Schulter. Mir klopfte das Herz bis zum Hals und ich drehte mich zu ihm um. Ich war ganz sicher: «Jetzt hat er mich!» Er fragte, ob ich Zeit hätte, doch ich wusste nicht, was er damit sagen wollte. Daher antwortete ich: «Nein, es tut mir leid, aber ich habe keine Uhr.» Doch ich hatte ihn
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missverstanden und er wollte, dass ich etwas mit ihm trinken gehe. Dafür hatte ich gerne Zeit. Der junge war nicht mehr bei mir, weil er auch mit einem Freier beschäftigt war. «Dann lass uns gehen», sagte der Mann. Wir fuhren zehn Minuten mit einem Taxi und stiegen bei einem Hotel aus. Zunächst ging's in ein Italienisches Restaurant auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Dort saßen wir in einer Ecke und der Kellner brachte uns zwei Speisekarten, als er fragte, was wir trinken wollten. Der Mann bestellte sich ein großes Bier und fragte mich, worauf ich Lust hätte: «Eine Cola» – «Wird gemacht!» Mit der Speisekarte in der Hand fragte er mich, ob ich nicht Hunger hätte und sagte, dann solle ich mir doch etwas aussuchen. Ich schämte mich, weil ich nicht lesen konnte, denn ich bin ja noch nie zur Schule gegangen. Er wollte wissen, warum und ich meinte das sei eine große Geschichte. Er wollte, dass ich sie ihm erzähle, aber ich mochte nicht, ließ es lieber bei meinen «großen» Andeutungen und er war zufrieden. Er bot mir an, die Speisen vorzulesen und ich sollte nur sagen, was mir gefällt. Als der Kellner mit den Getränken kam und die Bestellung aufnehmen wollte, waren wir noch nicht so weit. Ich entschied mich für Spaghetti Bolognese und der Mann nahm das Gleiche, was mich zum Lachen brachte. Dann sagte er, wir hätten uns ja noch nicht einmal vorgestellt, was wir gleich nachholten, aber ich habe seinen Namen längst vergessen. Ich schüttete die Cola herunter und er lachte: «Du musst aber Durst haben!» Ich lachte auch und bejahte seinen Eindruck. Als der Kellner zurückkam, bestellte er die Spaghetti und noch eine Cola für mich. Er wollte wissen, wie alt ich sei, und als ich «dreizehn» angab, wo ich denn wohnen würde. Ich meinte: «Nirgendwo», und er: «Na, irgendwo wirst du ja wohl wohnen.» Da fing ich meine wahre Geschichte an, dass ich von zu Hause wegge61
laufen war, weil es mir dort schlecht ging und er wollte wissen, warum. «Das ist jetzt egal, ich möchte bitte nicht darüber reden.» Und er ließ mich in Ruhe. Irgendwie fand ich ihn ganz nett. Schließlich gingen wir ins Hotel auf der anderen Straßenseite und ich wollte wissen, warum ein Hotel? Er erzählte, dass er für zwei Wochen Urlaub in Berlin sei und morgen früh wieder abreise. Dann stiegen wir in den Fahrstuhl, er drückte die Drei, öffnete oben mit einer Chipkarte die Zimmertür und bat mich, es mir bequem zu machen: «Fühl dich wie zu Hause.» Ich zog die Schuhe aus und sprang aufs Bett. Er tat das Gleiche und ging zuvor noch an den Kühlschrank um für mich eine Cola und für sich ein Bier mitzubringen. Er wollte wissen, wie lange ich schon von zu Hause weg sei und ich sagte wahrheitsgemäß: «Etwa zwei Wochen.» Auch, dass ich in einem Heim war und wiederum von dort weglief, als man mir dort den Besuch meiner Eltern androhte. Gestern hatte ich auf dem Boden in einem hohen Treppenhaus geschlafen, auch das erzählte ich ihm. Er wollte wissen, wo ich weiterhin nächtigen würde und ich wusste es nicht. «Bis morgen kannst du hier schlafen, aber früh um zehn muss ich dich rausschmeißen, denn mein Flieger geht um elf.» Ich bedankte mich, aber das wollte er nicht. Aber er wollte wissen, warum ich gestern weggerannt sei. Er lachte, als ich ihm erzählte, dass ich ihn für einen Zivilbullen gehalten hatte. «Na siehst du, ich bin kein Polizist!» Aber das hatte ich auch schon mitbekommen. Er wollte noch wissen, wo ich so gut deutsch gelernt hätte und ich wusste nichts darauf zu antworten. Die Frage nach meiner Herkunft war leichter zu beantworten, auch, dass ich kein Bosniake bin, sondern Roma. Er wollte wissen, wie lang ich schon hier sei und ich sagte ihm, dass es fast zwei Jahre seien. Er fand, dass ich echt gut deutsch sprechen würde, obwohl ich keine
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Schule besucht habe. Da war ich ein bisschen stolz. So haben wir bis gegen dreiundzwanzig Uhr geredet und viel gelacht. Als wir dann schlafen gingen, rückte er ganz nah an mich heran, legte den Arm auf mich und auch ich umarmte ihn. Dann bin ich so schnell und tief eingeschlafen, dass ich gar nicht mehr wusste, wo ich war. Als ich am Morgen aufwachte, lagen wir noch immer umarmt im Bett. Auch er erwachte, wünschte «Guten Morgen» und fragte, ob ich gut geschlafen hätte. Das konnte ich mehr als nur bestätigen, was ihn freute. Er küsste mich auf die Stirn und wir standen auf. «Komm!», meinte er, «lass uns etwas frisch machen.» Im Bad fragte er, ob ich duschen oder baden wolle und ich wollte baden. Er machte die Wanne voll mit Schaumbad und ich legte mich hinein. Er fragte, ob er meinen Rücken waschen solle, was ich ganz klasse fand. Danach ging er in die Dusche. Anschließend zogen wir uns an und gingen in die Hotelhalle zum Frühstück. Zurück im Zimmer packte er seine Koffer. In diesem Augenblick spürte ich Kummer in meinem Bauch. Er war so nett gewesen, so liebenswert und außerdem in einem Alter, dass er mein Vater hätte sein können. Er hatte überhaupt nicht verlangt, Sex mit ihm zu machen, obwohl er vielleicht schon gewollt hätte, sondern ganz einfach Liebe gesucht. Er war bestimmt zu hundert Prozent schwul, aber er ließ mich in Ruhe. Als er mit Packen fertig war, holte er seine Brieftasche heraus und gab mir den gesamten Inhalt, zwischen siebenhundert und achthundert Mark. Ich lehnte ab, aber er bestand darauf und sagte: «Nimm es an, denn du brauchst es. Kauf dir doch Klamotten davon und Schuhe.» Als ich das Geld in meine Tasche gesteckt hatte, wuchs mein Kummer immer mehr. Doch er meinte: «Sei doch nicht so traurig, lach mal ein bisschen!» Er küsste mich noch mal auf die Stirn und sagte: «Komm, lass uns gehen.» Ich ging noch
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zusammen mit ihm bis in die Hotelhalle, dann trennten wir uns und sagten: «Auf Wiedersehen». Als ich wieder alleine auf der Straße war, heulte ich wie ein Schlosshund. Viele Menschen kamen mir in Erinnerung, die ich so innig geliebt hatte. Aber das war der erste Mensch, der auch zu mir nett und lieb war. An diesem Tag ging ich wieder zum Bahnhof Zoo. Ich war traurig, denn er ging mir nicht aus dem Kopf. Viele Freier wollten etwas von mir, aber ich wollte nicht und hatte außerdem zurzeit keine Geldprobleme. Gegen Abend fragte mich dann einer, ob ich «Lust» hätte. Ich verstand nicht gleich, was er damit meinte und fragte zurück: «Auf was Lust?» Er wollte, dass ich mit ihm fahre und da hatte ich verstanden. Ich überlegte schnell, dass ich hier im Bahnhof sowieso nichts vorhatte und vielleicht bot sich auf diese Weise erneut ein Übernachtungsplatz?! So sagte ich: «Ja». Doch der Mann fragte weiter, ob ich nicht noch einen Freund hätte, was mich sehr erstaunte. Als ich verneinte, blieb er hartnäckig dabei: «Ich brauche aber zwei Jungs!» Ein paar Meter weiter stand ein anderer Stricher, der gerade frei war. Auch der Mann sah ihn, ging hin und kam rasch wieder mit ihm zurück. «So, jetzt kann's losgehen», meinte er. Er brachte uns zu einem schicken Mercedes, in dem ein weiterer Freier am Steuer saß. Wir Jungs setzten uns nach hinten und es ging ab nach Tempelhof. Ich sagte dem Jungen, dass meine Eltern hier in der Nähe wohnen und der wollte wissen, wie ich heiße. Wir stellten einander vor und drückten uns die Hände hinter den Sitzlehnen der beiden Männer. Wir waren beide noch richtig jung, ich etwas älter, er höchstens elf. Alle beide waren wir zu Hause abgehauen. Wir stiegen irgendwo aus und folgten den Freiern in eine Wohnung. Dort war es zwar unaufgeräumt, aber sauber
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und es standen teure Sachen herum. Es gab ein riesiges Fenster, fast so groß wie im Kino, bloß viel kleiner. Wir Jungs setzten uns auf ein Sofa und mein kleiner Freund begann, an seinem Schwanz zu spielen. Der fragte dann auch den einen der Freier, ob seiner groß sei, was ihn zum Lachen brachte. Der andere Freier namens Rolf ging schon ins Schlafzimmer. Die Wohnung gehörte ihm und er war mit dem anderen Mann befreundet. Der Kleine ging zuerst ins Schlafzimmer, kam aber gleich wieder zurück und meinte, dass Rolf auf mich scharf sei. Ich wollte das eigentlich nicht, befürchtete aber, den Schlafplatz zu verlieren, falls ich nicht mitmachen würde. Also ging ich hinein, wo Rolf schon nackend auf dem Bett lag. Er zog mich sanft auf das Bett und ich lag bald neben ihm. Dann streichelte er mich und hat Analverkehr mit mir gemacht. Ehrlich gesagt hatte mir das echt gut gefallen und ich hatte dabei auch einen Ständer im Gegensatz zu der peinlichen Szene mit meinem ersten Freier «Karsten». Es war so schön, dass ich immer wieder lachen musste. Er verlangte nicht von mir, irgendetwas zu tun, sondern ich lag bloß auf dem Bett und er machte sein Ding mit mir. Für meinen Geschmack kam es ihm zu schnell und er verschwand gleich darauf im Bad. Ich ging wieder zu dem Kleinen, der mit dem anderen Freier im Wohnzimmer war. Der war erstaunt, dass wir schon fertig seien und gab uns hundertfünfzig Mark. Als Rolf dazukam, fragte er glücklicherweise, ob wir hier schlafen wollten, was wir beide wie aus einem Munde bejahten. Der andere Freier fuhr dann irgendwann heim und wir Jungs schauten zusammen mit Rolf Fernsehen. Es gab zwei lange Filme hintereinander, die Rolf aus der Videothek mitgebracht hatte und so gingen wir erst spät schlafen. Als wir so gegen neun oder zehn Uhr am Morgen erwach65
ten, waren unsere Augen ganz verquollen vom Schlaf. Nachmittags musste Rolf in seinen Blumenladen und er bot uns an, bis zu seiner Rückkehr in der Wohnung zu warten. Wir fanden das toll. Als er ging, schloss er die Wohnung von außen ab. Wir Jungs ließen uns ein heißes Bad ein, setzten uns beide in die Wanne und planschten im Wasser herum wie kleine Kinder das halt so tun. Wir wohnten fast einen ganzen Monat lang bei Rolf. Er war ausgesprochen nett und hat uns nie verboten, worauf wir Lust hatten. Tagsüber gingen der Kleine und ich immer gemeinsam anschaffen, obwohl wir im Augenblick gar kein Geld gebraucht hätten, denn bei Rolf war kein Mangel. Er gab uns sogar hundert Mark Taschengeld pro Woche, die wir zu teilen hatten. Rolf hatte auch einen Freund, der in Polen im Gefängnis einsaß. Darum schickte er viele Pakete dorthin. Der Kleine zog irgendwann zu einem anderen Freier nach Steglitz, wo ich ihn auch besucht habe. Ich blieb alleine bei Rolf wohnen, über zwei Monate lang. In diesen Wochen lernte ich viele Stricherkneipen kennen. Meistens ging ich ins «Datscha», wo ich den Kleinen traf, aber auch ins «Pinocchio», ins «Tabasco» oder ins «Eldorado». Spät abends ging ich dann zu Rolfs Wohnung und schlief dort bis zum nächsten Mittag. Der Mann war wirklich immer nett zu mir. Das Leben als Stricher und die Stricherszene haben mir irgendwie echt gefallen, denn die Männer waren meistens sehr nett und außerdem verdiente ich ganz gut dabei. So wollte ich leben und nicht zum Stehlen geschickt werden. Ich wurde viel selbstbewusster und auch lustiger. Die meisten Freier mochten mich ganz besonders und ich fühlte mich als King der Szene. Eines Abends kam mein allererster Freier ins Lokal, den alle hier kannten und «Kinderkarsten» nannten, weil er besonders 66
junge Jungs mochte. Er grüßte mich und wollte wissen, was ich hier mache. Ich lachte und meinte zu ihm, das sähe man doch, denn ich spielte gerade am Automaten. «Spiel nicht so viel, sonst verlierst du dein ganzes Geld!», dann ging er an einen Tisch und bestellte irgendwas. Ich war noch immer mit dem Automaten beschäftigt, als er nach zwanzig Minuten zurückkam und mich fragte, ob ich mitkäme zu einer neu eröffneten Kneipe. Ich wollte wissen, wo das sei und er meinte, es sei nicht weit, nur fünf Minuten mit dem Auto. Ich wurde neugierig und wir fuhren los. Die Kneipe hieß «Filou» und war brechend voll, als wir reingingen. An diesem Abend habe ich ungelogen viertausend Mark verdient. Ich freute mich zwar darüber, aber schmiss die Hälfte davon gleich wieder in die Spielautomaten dort. Seither ging ich fast nur noch ins «Filou» und lernte dort einen Freund kennen, einen Polen namens Benn, der in meinem Alter, aber einen Kopf größer war als ich. Vom ersten Augenblick an waren wir unzertrennlich. Er erzählte, dass seine Eltern mit dem Auto verunglückt waren und er in ein Heim gesteckt wurde, wo er auch abgehauen ist so wie ich. Wir waren wie Brüder und liebten uns auch so. Abends stellte ich ihn Rolf vor, der schließlich perfekt polnisch sprach, aber er wollte nicht, dass Benn bei ihm wohnt. Da bin ich ausgezogen, um mit Benn zusammen sein zu können. Eines Abends fuhren wir zwei mit dem Hunderter-Bus auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, hatten einen Heidenspaß miteinander und stiegen überall ein. Wir fuhren Achterbahn, Geisterbahn und mit allem, was es dort gab. Inzwischen hatte Benn Hunger bekommen und fragte, ob ich auch etwas essen wollte, aber ich war nicht hungrig. Darum ließ er mich kurz warten und er wollte gleich zurückkommen. Derweil spielte ich an einem Chip-Automaten und hatte schon eine Menge gewonnen. Plötz-
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lich zeigte die Anzeigetafel fünf Herzen und weitere hundert Chips fielen aus dem Automat. Ich freute mich und rief laut meinen Gewinn in die Welt, so dass alle Spieler es hören mussten. Auch der Automat jaulte und ein paar Lichter sprangen im Takt an. Die Bedienung gab mir ein Gefäß, wo ich die vielen Chips unterbringen konnte. In dem Moment, als ich gerade die Chips alle verstaut hatte, hörte ich eine tiefe Männerstimme hinter meinem Rücken in der Sprache der Roma sagen: «Guten Abend Cita». Das ist mein Spitzname in der Verwandtschaft. Das war mein Vater. Ich ließ voller Panik den Krug mit den Chips fallen und mein Herz klopfte bis zum Hals. Er hielt mich am Kragen fest, damit ich nicht weglaufen konnte, drückte mir mit der anderen Hand seine brennende Zigarette im Nacken aus und sagte: «Wir gehen jetzt nach Hause. Mit Arschficken ist jetzt vorbei du schwule Sau.» Zwei weitere Männer waren bei ihm, die ich nicht kannte, und mein Vater sagte ihnen, er habe die schwule Sau nun gefunden. Ich war wie ohnmächtig vor Angst, mir war kotzübel, ich hatte Kummer im Bauch und zitterte am ganzen Leib. Einer der beiden Begleiter meines Vaters mit Schnurrbart wollte noch ein Lebkuchenherz kaufen und dann sollte es losgehen. Mein Vater hielt mich die ganze Zeit im eisernen Griff, bis wir im Auto saßen, das gegenüber der großen Straße geparkt war. Ich musste mit meinem Vater vorne sitzen und die anderen zwei stiegen hinten ein. Niemand sprach während der Fahrt. Wir fuhren erstaunlicherweise nicht nach Schöneberg zur Wohnung meiner Familie, sondern nach Neukölln. Da fürchtete ich mich noch mehr, denn vielleicht wollten sie mit mir ins «Datscha», um vor allen Jungs und Freiem klarzustellen, dass es «mit Arschficken vorbei» sei. Es beunruhigte mich, dass mein Vater wusste,
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dass ich anschaffen ging. Na ja, das hatte bei mir ja kaum mit Arschficken zu tun, aber ich staunte, dass er überhaupt davon wusste und grübelte nach, von wem er das haben könnte. Als wir vor ein kleines, zweistöckiges Haus kamen, nahm ich an, dass einer der beiden Unbekannten dort wohnt und wir weiterfahren, wenn er ausgestiegen ist. So war es aber nicht, sondern alle vier stiegen aus und gingen in den Hausflur. Mein Vater klingelte gleich an der ersten Tür und meine Schwägerin Beijta öffnete. Wir traten ein, auch die beiden Fremden, und gingen ins Wohnzimmer, das voller Qualm war. Als meine Mutter mich sah, wollte sie von meinem Vater wissen, wo er mich gefunden hätte. Der erzählte, dass es auf dem Rummel war beim Automatenspielen. Noch immer stand ich neben meinem Vater. Dann schubste er mich in eine Ecke des Raumes und ich knallte mit dem Kopf an die Wand. Da sagten die zwei Fremden, dass er mich doch in Ruhe lassen soll und dass ich schon nicht mehr abhauen würde: «Gib ihm doch eine Chance!» Drauf meine Mutter mit aggressivem Ton: «Ja, er wird eine ganz große Chance bekommen! Setzt euch doch hin, steht nicht herum.» Aber die zwei mussten nach Hause und wollten auch keinen Kaffee trinken, den ihnen meine Mutter anbot. Mein Vater begleitete die beiden noch bis zur Tür. Als sie fort waren zitterte ich vor Angst. Mein einziger Gedanke war, was jetzt wohl passieren würde, was sie mir Schreckliches antun würden. Mein Vater kam zurück, trat mich mit dem Fuß und flötzte sich in seinen Sessel. Im Stillen dachte ich: «Wenn es das schon gewesen ist, bin ich glücklich.» Meine Mutter wollte wissen, wo ich war. «Ich war überall, Mama», antwortete ich. «Von wegen überall! Du warst am Zoo und hast dich ficken lassen, stimmt es?» «Nein Mama», log ich. Im Großen und Ganzen, bis auf das eine Mal mit Rolf, hatte sie betreffs Ficken Unrecht, das mir
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damals noch nicht so wichtig war, aber Recht hatte sie bezüglich meiner vielen Freier. Doch sie konnte nicht wissen, was wir miteinander getrieben haben, denn dafür hätte sie ja jeweils dabei gewesen sein müssen. «Alle Leute lügen also», sagte sie, «und nur du behauptest die Wahrheit, du seiest gar nicht im Zoo gewesen, um dich ficken zu lassen.» Ich schwieg. Sie knurrte zornig, das sei kein Problem und wir würden es schon noch heute herausbekommen. Meine sieben oder acht Geschwister saßen alle bei mir und fragten mich unablässig, wo ich denn gesteckt hätte. Aber meine Antwort lautete stets, dass ich erst später darüber reden wolle. Ich hatte Kummer und wollte einfach mit niemandem reden. Ich fürchtete mich vor all dem, was vermutlich noch passieren würde und malte mir das Schlimmste aus. Mein Vater stand auf und ging in ein Zimmer gleich neben dem Platz, wo sein Sessel stand. Dort holte er eine kleine Flasche, die nach oben hin spitz zulief. Sie diente zum Nachfüllen von Benzin in Feuerzeuge. Mit dem Ding in der Hand hieß er mich zu ihm kommen und wir gingen beide ins Bad mit Dusche und Toilette, er vorweg. «Komm rein, mein Schwuler!» Ich blickte mich um, ob jemand ihn hindern könnte, aber plötzlich waren alle wie vom Erdboden verschluckt. «Zieh deine Hose runter!» «Bitte Papa, ich mache alles, was du willst, aber tu mir bitte nichts an! Ich würde wirklich alles tun, was du sagst.» Doch er bestand darauf: «Zieh die Hosen runter!» Ich gehorchte, wenn auch ganz langsam, so dass er sie mir bis auf die Knie herunterriss: «Dreh dich um!» - «Bitte Papa!» - «Dreh dich um!» Da drehte ich mich um und er spritzte das Benzin über meinen ganzen Arsch und zwischen die Beine auch, bis auf den Schwanz. Dann zündete er mich mit seinem Feuerzeug an, wartete noch bis die Haut richtig brannte
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und löschte erst dann das Feuer mit den Händen. Ich schrie wie irre, aber das hat mir auch nicht mehr geholfen. Er öffnete die Tür und ging. Ich blieb alleine im Bad zurück und konnte die Schmerzen nicht ertragen. Meine Brandverletzungen sahen echt böse aus, viel schlimmer, als das erste Mal. Erstaunlicherweise meinte ich zu hören, wie meine Mutter mit ihm schimpfte, aber da bin ich mir nicht sicher und es war auch zu spät. Meine Schwester Rabija kam ins Bad, als ich die Hosen noch immer unten hatte. Sie konnte gar nicht hingucken, ging raus und weinte laut. Ich konnte noch Wochen lang keine Hose über die Brandstellen ziehen. Dann kam auch meine Mutter, sah sich die Bescherung an und sagte grob: «Komm, komm, das wolltest du doch so; du hast es nicht anders verdient!» Mit ganz kleinen Schritten humpelte ich hinter ihr her ins Wohnzimmer und hatte dabei die Hosen noch unten. Ich konnte weder sitzen noch stehen, eigentlich gar nichts. Jede Bewegung war neuerliche Ursache grausamer Schmerzen. So legte ich mich heulend auf den Bauch und mein großer Bruder Aljo lachte mich aus. Am Abend waren die Schmerzen dann so schlimm, dass ich ins Krankenhaus musste. Mein Vater wählte selbst die 112, aber mein Bruder musste telefonieren, die andern sprachen kein deutsch. Dann drohte mir mein Vater: «Ich schwöre dir bei allen meinen Kindern; falls du was ausplauderst, werde ich dir noch weitaus Schlimmeres antun. Wenn dich jemand fragt, behauptest du, du hättest dich ungeschickt mit dem Heizöl unsres Ofens verbrannt, als du dir Eier braten wolltest.» Ich dachte noch bei mir: «Schlimmer kann es gar nicht werden». Da hörte ich schon die Sirene und der Notarztwagen hielt vor der Haustüre. Die Feuerwehrleute stürzen mit zwei Koffern in das Zimmer, sahen mich liegen und wollten gleich wissen, wie das passiert sei. Da meine Eltern sie nicht verstanden, musste
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mein Bruder übersetzen. Mein Vater fischte die Geschichte auf, die er mir gerade eingeschärft hatte, aber die Männer stellten Gas- oder Benzingeruch fest. Da schwieg die ganze Familie. Nun brachten sie eine Trage und packten mich ganz vorsichtig darauf mit dem Bauch nach unten. Mein Vater ließ meinen Bruder übersetzen, er wolle mitkommen und er durfte tatsächlich. Sie steckten mich mit der Liege hinten in den Wagen und ließen meinen Vater neben mir. Im Krankenhaus brachten sie mich gleich in einen großen Raum und die Behandlung begann sofort. Beim Verbinden hatte ich unglaubliche Schmerzen und meinte, sie nicht aushalten zu können. Danach brachten sie mich mit dem Wagen in ein Zimmer und mein Vater wich nicht von meiner Seite. Sie legten mich ganz vorsichtig auf ein anderes Bett und gingen wieder, so dass ich allein mit dem Grund meiner Schmerzen zurückblieb. Der hielt zwar die ganze Nacht Wache an meinem Bett, aber nur, damit ich nicht weglaufen konnte. Er zeigte mir unablässig, dass ihm mein Zustand nicht im Geringsten leid tat. Ich dachte an meine Mutter, und erinnerte mich, dass sie genauso herzlos ist wie er. Auch bezüglich meiner Schwester Alija, die wohl wieder irgendwo in Jugoslawien lebt, von der wir aber nicht wissen, ob und wo sie heute tatsächlich lebt. Auch sie war für meine Eltern nur dann gut, wenn sie ihnen Geld gebracht hat. Aber jetzt interessieren sie sich überhaupt nicht für sie. Die sind sich nur selbst wichtig, alles andere ist ihnen egal. Ich habe zu Hause mal von meiner Schwester gesprochen und wollte von Mama wissen, warum sie Alija nicht nach Berlin holt. Sie sagte bloß: «Glotz mich nicht so an.» Und schlürfte ihren Kaffee. Ich dachte oft an meine Schwester, denn sie fehlt mir und ich würde mich sehr freuen, sie irgendwann wieder zu sehen. In meinem Krankenbett dachte ich sehnsüchtig an Benn, was er wohl jetzt gerade macht und ob er mich vielleicht sucht. 72
Auch an Rolf dachte ich und daran, wie schön ich es bei ihm hatte. Überhaupt dachte ich ganz wehmütig an all die schönen Begegnungen der letzten drei Monate seit ich weggelaufen war, aber ganz besonders an Benn. Ich fing an zu weinen, wurde müde und mein Vater ging kurz raus, um eine Zigarette zu rauchen. Ich wäre so gerne abgehauen, aber in meinem schmerzhaften Zustand war das unmöglich und rennen ging schon gar nicht. Ich bin wohl schnell eingeschlafen, denn ich hatte gar nicht mitbekommen, dass mein Vater wieder ins Zimmer gekommen war. Das spürte ich erst instinktiv in der Nacht, als das Zimmer dunkel war, in dem ich lag. Als ich am Morgen erwachte war er aber nicht mehr da, sondern mein Bruder Aljo hatte den Wachposten übernommen. Er richtete mir von Papa aus, ich solle mit ihm zurückgehen. Ich starrte ihn verständnislos an, bis ich begriff, dass ich mit dieser «Familie» echt in der Klemme saß. Aljo hatte Hose, Schuhe und T-Shirt mitgebracht, trat an die andere Seite des Bettes und half mir beim Aufstehen. Ich konnte gar nicht auf meinen Beinen stehen, doch er wollte mir helfen. Er zog mir die Hose über den Verband, ohne den das niemals geklappt hätte. Dann streifte er mir die Turnschuhe und das T-Shirt über, als ein älterer Herr, der im selben Zimmer lag protestierte: «Nun quäl ihn doch nicht so, du siehst doch, dass er schwer verletzt ist und überhaupt nicht laufen kann.» Aber mein Bruder verstand den Sinn dieser Worte nicht und antwortete: «Ja, nach Hause.» Da musste ich trotz der Schmerzen in mich hinein lachen, weil er nichts kapiert hatte. Dann packte er mich um die Hüfte und wir gingen Schritt für Schritt in Zeitlupe aus dem Zimmer. Eine Schwester sah uns, stürzte auf uns zu und machte meinem Bruder eine Szene: Er sei «ja wohl total
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durchgeknallt! Der Junge muss sofort wieder ins Bett!» Aber der Dummkopf wiederholte auch bei ihr: «ja, nach Hause.» Da war mir gar nicht mehr zum Lachen. Die Schwester protestierte, aber Aljo drückte schon den Fahrstuhlknopf, als sie ins Büro rannte, um den Arzt anzurufen. Da war auch schon der Fahrstuhl, wir stiegen ein, die Tür schlug hinter uns zu und wir hörten sie im Fahren noch «Halt! Stopp!» rufen. Verhältnismäßig schnell waren wir dann beim Taxistand vor dem Krankenhaus und bestiegen das Erstbeste. Da ich nicht sitzen konnte, zog ich mich an der Nackenstütze des Fahrers ein Stück über den Autositz und fuhr quasi im Stehen. Mein Bruder saß vorne und zeigte dem Taxifahrer die Anschrift auf seiner Sozialkarte. Der sagte «o.k.» und fuhr los, aber bei jedem Loch, durch das wir fuhren brüllte ich vor Schmerz, denn mein Arsch stieß dabei jedes Mal an den Sitz. Als ich ihn bat, langsamer zu fahren, tat er es. Zu Hause angekommen waren meine Eltern am Saufen und beide schon ziemlich zugeknallt, so dass sie sich lauthals stritten. Schon vor dem Haus hörte ich meinen Vater: «Du Schlampe, du Hure, du hast dich die ganze Zeit schon von dem Kerl ficken lassen!» Als wir ins Zimmer schlichen, schmiss er gerade ein Bierglas nach meiner Mutter. Sie schmiss es sofort zurück und traf ihn am Hals. Da stand er aus dem Sessel auf und verdrosch sie nach Strich und Faden, so dass mein Bruder Aljo und meine große Schwester dazwischen gingen, um sie zu trennen. Aber der Mann ist stark und verdrosch die beiden gleich mit, bevor er sich meine Mutter wieder einzeln vornahm. Einer der jüngeren Brüder tuschelte mir zu: «Lass sie, sollen sie sich doch gegenseitig umbringen.» Die anderen Kinder weinten laut, als sie zusehen mussten, wie er mit Fäusten auf ihren Kopf
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einschlug und sie brutal an den Haaren zerrte. Da schrie meine Schwester Rabija: «Es reicht jetzt, du bringst sie ja um!», und machte noch einmal einen Versuch, ihn am Schlagen zu hindern. Doch er zog auch sie an den Haaren. Erst als mein Bruder Hato ihr half, schafften sie es, die zwei zu trennen. Meine Mutter blutete am Kopf und aus dem Mund, aber mein Vater brüllte: «Das ist noch nicht alles, du Hure!» Er griff nach der Zigarettenschachtel und rauchte quasi die «Zigarette danach». Ich rührte mich nicht von der Stelle und stand die ganze Zeit mit dem verletzten Hintern in einer Ecke, damit mich niemand aus Versehen an den verbrannten Stellen berührt. Am Abend schliefen die beiden wieder in einem Bett und sagten kein Wort. Ich «schlief» auf einer Decke am Fußboden und stöhnte die ganze Zeit vor Schmerzen. Erst meinte ich, wenn ich mich auf die linke, weniger verbrannte Seite drehe, geht es besser, aber so war es nicht. Auch auf dem Bauch hielt ich es nur kurze Zeit aus. Eigentlich lag ich die ganze Nacht wach und litt. Erst nach einer Woche ließen die Schmerzen nach, aber ich konnte noch immer nicht richtig laufen. Ich konnte mein Bein nicht grade strecken, weil sich die halbverbrannte Haut mit der unverletzten verklebt hatte. Jeder Versuch tat unglaublich weh. Besonders blöd war, dass ich mir den Arsch nach dem Scheißen nicht richtig abwischen konnte. Nach weiteren zwei Wochen ging es dann ein bisschen besser und mein Vater entfernte den Verband, den ich im Krankenhaus bekommen hatte. Der hätte natürlich täglich gewechselt werden müssen und nach drei Wochen hatte sich alles schmierig verklebt und ich schrie wie am Spieß als er ihn brutal herunterriss. Da war kein Millimeter Haut mehr auf meinem ganzen Hintern. Erst zwei Monate später
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war die Haut wieder gewachsen und ich konnte wieder normal sitzen. Da schickten sie mich wieder klauen, was ich aber nicht tat. Stattdessen ging ich Anschaffen, hatte täglich fünf bis sechs Freier am Bahnhof Zoo und verdiente so eine Menge Geld, bis zu eintausendfünfhundert Mark jeden Tag. Doch nach einer gewissen Zeit kamen immer weniger Freier in den Bahnhof und die Stricherläden öffnen erst nachmittags, wenn ich wieder zu Hause sein musste. So begann ich schließlich doch wieder zu stehlen. Natürlich wurde ich einige Male festgenommen, aber sie konnten mir nichts tun, weil ich immer noch dreizehn war und man hier in Deutschland erst mit vierzehn strafmündig ist. Ab und zu kam ich auch mal zu spät nach Hause, allerdings nur dann, wenn ich gerade viel Geld verdient hatte. Mich zog es die ganze Zeit zum «Filou», wo ich hoffte, Benn wieder zu sehen und eines Abends ging ich trotz Verbot hin. Tatsächlich, da war er auch. Ich erzählte ihm traurig und mit Tränen in den Augen, was passiert war. Da machte er mir Mut, wieder wegzulaufen und zwar ganz weit weg. Aber ich hatte Angst davor und sagte das auch. Einen der Freier namens Eddi hatte ich auch sehr gerne. Der kam immer aus München und wir hatten ein paar Mal rumgemacht, wobei er sich immer mehr als korrekt verhielt. So war ich immer traurig, wenn er nach München zurück musste. Ich hatte ihn in der «Datscha» kennen gelernt, wo wir zusammen Dart spielten. Jedes Mal, wenn er für ein Wochenende nach Berlin kam, bin ich mit ihm gegangen. Viele Freier waren so nett wie er, aber manche wollten mich bloß ficken und ich hasse so etwas. Natürlich hab ich sie mit der Hand befriedigt, oder es mit Kondom im Mund ge-
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macht. Ich weiß auch, dass ich da keinesfalls der Einzige bin und kann eigentlich über diese Dinge offen reden. Aber ein bisschen schäme ich mich dabei, doch ich hatte keine andere Wahl. Vielleicht hätte es schon eine andere Wahl gegeben, aber so war es für mich am leichtesten, an Geld zu kommen, zumal es ja fast gar nicht für mich bestimmt war. Wenn ich alles, was ich gestohlen habe und beim Anschaffen verdiente, für mich hätte behalten können, wäre ich heute ein reicher Mann. Oft denke ich heute an Leute zurück, deren Portemonnaie ich weggenommen habe und das tut mir echt leid und ich bereue das auch. Aber meine Eltern leben davon dass sie ihre vielen Kinder klauen schicken und dafür hasse ich sie. Erst die Freier haben mich da rausgeholt, ich lernte andere Leute kennen und sie schenkten mir Liebe und Zuneigung. Sie brachten mir bei, jeden Tag die Zähne zu putzen und alles andere. Von meiner Familie dagegen hab ich nichts Gutes mitbekommen, bloß das Stehlen und da bin ich nicht der Einzige unter meinen Geschwistern. Nach einer Runde Billard mit Benn verabschiedete ich mich von ihm, aber er wollte mich unbedingt nach Hause begleiten. Da ich nicht weit weg vom «Filou» wohnte, begleitete er mich bis zur U-Bahn und ging wieder. Ich lief nach Hause und weinte die ganze Zeit, weil ich am liebsten abgehauen wäre, um mit Benn zusammen zu sein, aber keinen Mut hatte, es zu tun. Als ich daheim ankam gab's ausnahmsweise keine Meckerei, obwohl ich zu spät war, denn ich brachte viel Geld mit. Am nächsten Nachmittag schickte mich meine Mutter wieder stehlen. Zu der Zeit ging ich dafür am liebsten zu
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«Karstadt», «Woolworth», «C&A», «Hertie» oder «KdW». Denn in diesen Kaufhäusern ist immer viel los. Die Detektive kannten mich schon und kaum war ich irgendwo reingegangen, liefen sie hinter mir her. Manchmal spielte ich mit ihnen auch Versteck unter den Schränken oder zwischen den Waren, denn ich war dünn, höchstens einsfünfzig groß und passte überall dazwischen. Dann mussten sie mich suchen. Wenn sie mich fanden, ohne dass ich geklautes Zeug bei mir hatte, schmissen sie mich raus. Das war's und ich konnte gleich weitermachen. Doch eines Nachmittags wurde ich festgenommen, als ich gerade versucht hatte, einer Kundin das Portemonnaie aus der Einkaufstasche zu ziehen. Zwei Detektive hatten mich beobachtet und gleich zugegriffen. Dann fragten sie die Frau, ob das ihr Geldbeutel sei. Doch die war leicht durcheinander und wollte wissen, wo es denn gelegen hätte. Da erst erfuhr sie, dass ich sie gerade bestohlen hatte und staunte nicht schlecht. Sie brachten uns beide ins Büro des Filialleiters, um die Personalien von Opfer und Täter aufzunehmen. Ich musste noch auf die Polizei warten. Schon in der Tür lachte der Polizist: «Lass mich raten: versuchter Taschendiebstahl!», und sagte noch: «Das Gesicht erkennt man doch immer wieder», als er mir die ersten Handschellen meines Lebens anlegte und zum Polizeiauto schaffte. Ich hockte im Auto mit den verbundenen Händen, so dass mich ein Polizist anschnallte, der mir gegenüber saß. Während der Fahrt dachte ich, sie bringen mich nach Hause, sie kontrollieren meine Personalien und ich kann wieder laufen, wie es meistens war. Nur ganz selten musste mein Vater mich auf der Wache abholen. Doch sie fuhren zu einer Dienststelle, wo ein älterer Polizist mich begrüßte: «Ach, den hatten wir hier schon mal.» Mein Begleiter bestätigte und sagte ärgerlich, dass es schon wieder ein Taschendiebstahl sei. «Komm,
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mein Kleiner, pack alles aus, was du in den Taschen hast; auch die Schnürsenkel müssen raus, Uhr, Kettchen, Gürtel, alles.» Ich gehorchte und verlor so auch die fünfhundert Mark, die ich zuvor geklaut hatte. Dann steckten sie mich zum ersten Mal in eine Gefängniszelle mit Holzbett und Fenster. Aber draußen war nichts zu sehen. Ganz vorne war ein grünes Fliegengitter, dann kam das richtige Gefängnisgitter. Ich weinte bald immer lauter und ein Polizist kam und grunzte: «Halt die Schnauze!». Doch ich antwortete: «Halt du die Schnauze!», und flennte weiter. Dann war ich mindestens vier Stunden allein in der Zelle, die quälend vergingen, aber niemand holte mich. Erst am Abend kam die Kripo in meine Zelle. Ich war noch immer am Heulen, stand auf und fragte sie, was nun passiert und ob ich bald nach Hause gehen kann. Ein Mann mit Glatze erklärte mir, dass ich gar nicht heim dürfe, sondern morgen dem Richter vorgestellt werde. «Bitte, ich tu's nie wieder, ich schwör's bei meinem Gott!» – «Das hast du doch schon mal gesagt!» Sie ließen mich wieder alleine und ich heulte, bis auch das nicht mehr ging. Noch am selben Abend, ich weiß jedoch nicht, wie spät es war, denn die Uhr hatten sie mir ja weggenommen, kam ein Polizist und holte mich ab, um meine Fingerabdrücke zu nehmen und drei Fotos von mir zu machen. Er wollte einmal, dass ich mich nach links, dann wieder, dass ich mich nach rechts drehe, aber ich kannte den Unterschied noch nicht und war ganz konfus. Auch die Tätowierungen musste ich ihm zeigen, die mir meine Schwägerin gemacht hatte, alles Namen meiner Geschwister und Eltern. Auch alle Narben musste ich zeigen und er schrieb alles genau auf. «Noch so klein und schon Tätowierungen», meinte er. Bei der großen Narbe am rechten Bein, die von einem Autounfall stammte, wollte er alles genau wissen. Nein, ich war nicht selbst gefahren, sondern wollte
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bloß die Straße überqueren und hatte das Auto nicht bemerkt. Dann bat er mich, ihm den Rücken zu zeigen und rief erschreckt aus: «Mein Gott, was hast du denn da hinten gemacht? Das ist ja alles verbrannt!» Ich überlegte, was ich sagen sollte. Denn schließlich hatte mir mein Vater bei all seinen Kindern geschworen, mir noch viel schlimmeres anzutun, wenn die Wahrheit herauskäme. Als der Polizist noch einmal fragte, log ich daher, was mir mein Vater aufgetragen hatte, also die Geschichte mit dem Öl und den Eiern. Er fotografierte das ganze Elend und ließ mich die Hände in einem merkwürdigen Seifeneimer waschen, die vom Stempelkissen ganz schwarz waren. Als ich unterschreiben sollte, machte ich drei Kreuze «ttt», denn ich konnte noch nicht schreiben und er brachte mich in die selbe Zelle zurück. Nach einer Stunde Warten, vielleicht auch länger, kam er zurück und sagte, es gehe jetzt los. Ich sollte die Decke mitnehmen und im Flur hinschmeißen. Das war so eine weiße Papierdecke, die ich zerrissen hatte, um beim Heulen die Nase zu schnäuzen. Die schmiss ich also vor die Tür und ging mit in den Raum, wo sie mir anfangs die Sachen abgenommen hatten, erhielt Schnürsenkel und Gürtel ausgehändigt und den Rest in einer kleinen Tüte. Ich bat auch um meine Zigaretten, aber man gab sie mir nicht, denn ich war noch nicht sechzehn. Er ließ sich auch nicht erweichen, als ich wiederholt darum bat. Da waren noch mehr Gefangene und sie verfrachteten uns in so ein rundum geschlossenes Knastauto. Ich bekam einen Platz hinter der Tür in einer Art Käfig mit Löchern, so dass ich die Anderen beobachten konnte. Mir gegenüber saßen zwei Frauen in genau so einer Zelle wie ich, jede allein. Wir fuhren wohl zwanzig Minuten bis auf einen Platz, an dem eine große Polizeistelle lag mit Gericht und Knast. Dort fuhren wir zunächst mit dem Fahrstuhl, dann folgte die
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selbe Kontrollprozedur wie tags zuvor und ich musste wieder alles abgeben. Meine neue Zelle hatte aber wenigstens eine Matratze und Bettzeug. Auf einem kleinen in die Wand geschraubten Tischchen dampfte ein Glas heißer Tee, es gab zwei Stück Butter und Schwarzbrot, auch ein Plastikmesser. Ich fing sofort an zu essen, denn nach diesem langen Tag hatte ich echt Hunger. Als ich versuchte, die Butter auf das Brot zu schmieren, zerbrach das Messer sofort. Also aß ich Trockenbrot und trank Tee dazu und legte mich gleich auf das «Bett». Ich kannte das nicht, denn zu Hause schlief ich ja auf dem Boden. An solchen Luxus muss man sich erst gewöhnen! Ich schlief aber sofort ein, und schlief meiner Meinung nach so etwa zwei Stunden, als ich wieder geweckt wurde. Dann musste ich alles zusammen packen und erhielt eine andere Zelle, wo ich wartete und wartete, bis ich wieder weinen musste. Ich dachte an Benn und daran, was er mir gesagt hatte, mit ihm zusammen ganz weit abzuhauen. Nun bereute ich, dass wir es nicht gemacht hatten. Gegen Mittag kamen eine Frau und ein Mann, die mich abholten und Handschellen anlegten. In einem Büro setzten wir uns auf Holzstühle, eine Dolmetscherin trat ein, setzte sich zu mir und begrüßte mich. Ich antwortete und sie informierte mich, dass ich beim folgenden Verhör aussagen oder schweigen kann bzw. mit meinem Rechtsanwalt sprechen. Das wollte ich und sie übersetzte es. Dann ging das Verhör los mit den Personalien, die ich alle bestätigen konnte. «Herr Sabanovic, Ihnen wird vorgeworfen, in Berlin viermal Taschendiebstahl begangen zu haben, Widerstand gegen die Vollstreckungsbeamten in zwei Fällen und versuchter Raub, letzte Tat begangen am 13. Oktober 1994. Möchten Sie sich dazu äußern?» Ich wollte mich äußern denn ich schämte mich und bereute alles und die Sekretärin tippte mit. «Sie geben
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also zu, all das getan zu haben?» — «Ich denke schon, wenn Sie das so sagen, dann muss es wohl stimmen.» Man stellte mir noch viele Fragen, und ich bejahte jedes Mal und leid tat mir dieser Zustand ja wirklich. Dann sollte ich wieder in die Zelle zurück und das Gespräch mit dem Richter abwarten, der entscheiden musste, wie es weitergeht. Ich bettelte, dass sie mich nach Hause gehen lassen, dass ich ganz bestimmt nichts mehr ausfressen würde. Doch die Dolmetscherin konnte das nicht entscheiden und so musste ich auf den Richter warten, der allerdings noch am selben Tag Zeit hatte. Ich musste wieder das Protokoll unterschreiben, was ich ja nicht konnte und darum wieder drei Kreuze machte «ttt». Sie führte mich in die Zelle, wo ich vier Stunden auf das Gespräch mit dem Richter wartete. Es fand in einem kleinen Raum statt, umgeben von lauter Tischen. Neben der Tür saß der Beamte, der mich abgeholt hatte. In der Mitte die Dolmetscherin von vorher und eine Sekretärin neben dem Richter, der mir gut gefiel. Er war ganz blond und hatte riesengroße blaue Augen. Es ging wieder um dieselben Sachen wie bei der Kripo und ich gestand, was man von mir verlangte. Dann wollte der Richter fünf Minuten Pause. Der Beamte wollte mich einschließen, aber der Richter ließ mich dort. Er ging in einen Raum hinter diesem Zimmer und ich heulte schon die ganze Zeit was ihn vielleicht ziemlich geschafft hat. Dann kam er wieder, setzte sich und die Dolmetscherin übersetzte: «Wie es aussieht, müssen Sie erst einmal in Untersuchungshaft und können nach vierzehn Tagen einen Haftüberprüfungstermin beantragen.» Der Richter wollte wissen, ob noch jemand zu benachrichtigen wäre, weil ich ja nun in Haft bin. Aber ich flennte nur und bettelte, dass ich so etwas nie wieder tun wolle. «Nein, Herr Sabanovic, in vierzehn Tagen wieder!» Er stand auf und verschwand im angrenzenden Raum. Der Beamte brachte mich in die Zelle zurück und gegen Abend wurde ich wieder mit so einem Wagen in einer kleinen 82
Einzelzelle herumgefahren. Ich weinte den ganzen Weg über, bis wir in Plötzensee ankamen. Als ich ausstieg, wollte ein Beamter gleich wissen, wie alt ich sei. «Was — '80 geboren? Der sieht aber noch aus wie zehn!» Noch ein paar Jungs stiegen aus dem Wagen und wir wurden zusammen in eine recht saubere Zelle gesperrt. Ich bat um eine Zigarette, aber für mich gab es keine. Die Zelle wurde geöffnet, wir ginge alle durch eine Untersuchung und erhielten Decken, Bettzeug, Kamm, Zahnbürste und Zahnpasta. Ich kam wieder in eine andere Zelle mit Doppelbett, Tisch, Schrank und sogar Toilette mit Waschbecken samt Stuhl. Der Beamte schloss ab, ging und wollte gleich zurückkommen. Da öffnete ich das Fenster und hörte laute ausländische Stimmen, die ich nicht verstand. Ich sah viele Häuser, die aber fast alle gleich ausschauten. So machte ich das Fenster wieder zu und setzte mich auf den Stuhl. Was ich wohl draußen jetzt machen würde? Vielleicht im «Filou» Billard spielen mit Benn, oder zu Hause mit meinem kleinen Bruder. Dann kam der Beamte, schloss auf und brachte mich zum Anstaltsarzt. Ich ging mit ihm raus und er schloss wieder zu. Und jede Tür, durch die wir kamen, musste er erst aufschließen und dann wieder zuschließen. Dann drückte er auf eine Klingel und der Arzt kam heraus: «Das ist jetzt der letzte Zugang! Kannst du deutsch?» — «ja.» — «Wie alt bis du?» —«Vierzehn.» — «Woher kommst du?» — «Aus Bosnien.» — «Was hast du ausgefressen?» — «Geklaut.» — «Was denn?» — «Portemonnaies.» — «Komm her, zieh dich aus.» Als ich das T-Shirt auszog fragte er, ob ich Drogen nehme, und ich wollte wissen, was das sei, aber er wiegelte ab. Er kam mit einem Apparat zum Blutdruckmessen und
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das war in Ordnung. «Mach die Augen zu und wenn ich es sage, machst du sie auf und guckst mich direkt an.» Auch er sah sich Tätowierungen, Narben und Brandwunden und schrieb alles sauber auf. Morgen sollte ich dann ein zweites Mal vom Arzt untersucht werden. Der Beamte brachte mich zurück in die Zelle und fragte, ob ich Hunger habe. Ich hatte keinen, bat aber um eine Zigarette. Er versprach sie mir für morgen, aber heute gehe das nicht mehr. Da bettelte ich und er meinte: «Ausnahmsweise, denn normalerweise darfst du noch gar nicht.» Er zündete sie gleich an, wünschte mir eine gute Nacht und schloss die Tür ab. Beim Rauchen wurde mir schwindelig, denn das letzte Mal war schon zwei Tage her. Danach ging ich sofort schlafen, dachte gar nichts und hatte bloß Kummer im Bauch. Ich schlief tief, denn ich war todmüde. Frühmorgens kam ein Beamter, klopfte mit dem Schlüssel ans Bett und hieß mich aufstehen. Das ging nicht so schnell, denn ich war noch ganz verschlafen. «Komm, jetzt wird nicht geschlafen!» Ich stand mühsam auf in ging mit ihm in die Hauskammer, wo ich mich ausziehen musste. Dann haben sie mir alles, was ich anhatte, weggenommen und ich bekam andere Sachen, die alle blau waren und viel zu groß für mich. In meinen Bettbezug steckten sie rein, was mir sonst noch gehörte, ich machte wieder meine drei Kreuze «ttt» und der Beamte beschloss das Ganze mit: «Das war's» (Amen). Der andere meinte, ich solle meinen Sack packen und mitkommen. Doch ich konnte den Sack mit dem vielen Zeug nicht alleine tragen und sagte das auch. «Aber klauen kannst du», sagte er böse und trug mir den Sack bis in die Zelle. Ich sollte aber nicht auspacken, denn gleich käme ein anderer Meister und ich würde in Haus 4 verlegt. Zehn Minuten später kam ein großer Beamter mit einer großen
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Brille und das Spiel mit dem zu schweren Sack wiederholte sich. Aber er bestand darauf, dass ich den Sack eben selbst zog, wenn ich ihn nicht tragen könne. Tatsächlich hat er mir nicht geholfen, als ich das Riesenpaket über den Boden schleifte und mit der anderen Hand die viel zu große Hose festhalten musste, die mir sonst wegrutschte. Die Gefangenen, die uns sahen, mich schwitzenden Zwerg und den grimmigen Riesen mit Brille, lachten sich kaputt und ich heulte. Endlich in Haus 4 angekommen, half mir ein anderer Häftling, den Sack die Treppe hoch zu schleppen bis zu meiner Zelle und stellte ihn aufs Bett. Der Beamte kam nach, gab mir die Zellenschlüssel und ich musste wieder mal unterschreiben mit meinen «ttt». Er schloss mich auch gleich wieder ein und ich packte den Kram aus dem Sack: zwei Paar Schuhe, fünf Hemden, fünf Unterhemden, fünf Unterhosen, ein normale und ein wattierte Jacke, eine Turnhose, zwei Pullover, zwei Schlafdecken, fünf Tücher, zwei Handtücher, sieben Paar Socken, zwei Nachthemden und zwei Schlafanzüge. Ich packte alles in den Schrank und dann kam wieder derselbe Beamte und holte mich ab zum Arzt. Der fragte mich, ob ich irgendwelche Beschwerden hätte und ich hatte keine. Dann sollte ich die Augen schließen und mit dem Zeigefinger «blind» die Nase treffen. Das war leicht und er sagte nur: «O.k., das war's.» Draußen wartete ich, bis die anderen Jungs fertig waren. Dann brachte man uns wieder in Haus 4, jeden in seine Zelle bis zum Nachmittag. Dann gab's gleich Essen und drei Stunden Freizeit auf Station. Jeden fragte ich wegen Zigaretten und weil ich noch nicht selbst welche drehen konnte, haben die anderen das für mich gemacht. Als mich eine Beamtin rauchen sah, brüllte sie von weitem: «Sabanovic, sofort ausmachen!» Ich wollte wissen, warum und sie sagte, ich dürfe noch nicht. Aber ich sagte, dass ich rauche, wann es
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mir passt. Darauf drohte sie mir mit Einschluss, wenn ich nicht sofort ausmachen würde. Ich wusste noch nicht, was «Einschluss» bedeutet und sagte ihr, dass ich gar nicht daran denke. Sie ging zu meiner Zelle, die ich verschlossen hatte und schloss auf, befahl mir reinzugehen und ließ sich auf meine Nachfragen überhaupt nicht ein. Irgendwann ging ich dann tatsächlich in die Zelle und sie schloss mich ein. Ich beleidigte sie mit den Schimpfworten meines Vaters für Frauen: «Schlampe, Hure!», und nach einer Stunde kam sie wieder um zu fragen, ob ich mich entschuldigen wolle. «Für was?», fragte ich frech und sie schloss wieder zu. Ich ging zum Fenster und zerschlug beide Scheiben. Kurz darauf drangen so viele Beamte so schnell in die Zelle ein, dass ich sie gar nicht zählen konnte. Sie schmissen mich auf den Boden, traten mich mit den Füßen und drehten meine Arme auf den Rücken. Dann wurde ich hochgehoben und auf den Schultern eines Beamten ging es nun in den «Bunker». Die anderen warteten unten und als der Träger mich absetzte, verlangte er, dass ich mich ausziehe. Ich sagte ihm, ich sei nicht schwul. «Komm, ich zeig dir was schwul ist», rief die anderen herbei und alle traten wieder auf mich ein. Einer zog mir den einen Schuh aus, ein anderer den anderen, ein Dritter das T-Shirt. Als ich gerade eine Hand frei hatte, schlug ich einen Beamten mit der Faust ins Gesicht, denn es lag genau passend. Da wurden sie richtig brutal, traten mich ganz fest, zogen mich nackt aus und steckten mich in die «Monitorzelle». Trotz Schmerzen wollte ich nicht klein beigeben. Es gab Toilettenpapier dort und ich rollte es ganz ab und stopfte das Papier in den Abfluss, wodurch die Monitorzelle schnell zur Schwimmhalle mutierte. Wieder stürmten Beamte herbei, die erst mal eine Wasserwelle empfing. Aber sie schnallten mich auf dem Betonbett mit sechs festgeschweißten Griffen fest, legten
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mir Handschellen an und ich war gefesselt wie Jesus. So wurde ich mit vier Handschellen gefesselt. Zwei Kameras beobachteten mich unentwegt und am nächsten Tag kam so ein dicker Arzt: «Na, Sabanovic, haben wir uns ein bisschen beruhigt?» Was ich bejahte. Sie brachten mich in die Zelle zurück und ich hatte dort eine ganze Woche «Einschluss». Die Fenster waren frisch repariert und ich hatte bloß die Scherben aufzukehren. Samstag war dann Abwechslung. Denn alle vierzehn Tage ist Samstags «Einkauf», doch nur für die Jungs mit Geld. Da hatte ich Glück, dass sie mir die geklauten fünfhundert Mark auf das Knastkonto geschrieben hatten. Auch als ich wieder «Aufschluss» hatte, waren die anderen Jungs immer nett und spielten mit mir Tischtennis oder Karten. Ein Großer namens Ali passte immer auf mich auf, damit mich keiner abzieht oder schlägt. Er gab mir auch seine Decke, damit ich in der Zelle nicht friere, denn es war Anfang November, furchtbar kalt und meine Heizung ging nicht richtig, so dass ich nachts manchmal fror. Niemand besuchte mich und das Einzige, was mich rettete waren die fünfhundert geklauten Mark, sonst nichts. Beim Haftprüfungstermin wurde ich auch nicht entlassen und war echt traurig. Ich dachte immerzu nach, warum mich niemand besuchen will und weinte und weinte. Weihnachten und Sylvester habe ich im Knast «gefeiert», und zwar allein in meiner Zelle. Am Abend ritzte ich mir die Arme mit meinem Rasiermesser auf, weil ich so traurig war, und ging schlafen. Am 24. Januar 1995 hatte ich meine Hauptverhandlung. Mein Vater und meine Mutter waren diesmal im Gerichtssaal. Sie hatten mir einen guten Rechtsanwalt besorgt und
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auch bezahlt. Ich saß da so angeklemmt auf dem Stuhl und weinte. Der Richter war eigentlich nett. Was sie über mich sprachen, hörte ich gar nicht. Ich war ganz woanders, dachte an Benn und betete zu Gott, dass ich freikomme. Von der Dolmetscherin neben mir hörte ich, der Staatsanwalt fordere zwei Jahre auf Bewährung. Ich wusste nicht, was das ist und dachte sofort: Knast. Da stand ich auf und rief: «Bitte, bitte kein Knast!», doch die Frau hieß mich wieder hinsetzten und dass der Richter nun entscheiden müsse, ob ich nach Hause könne. Der wollte erst einmal fünfzehn Minuten Pause. Der Beamte schloss mich als wieder in eine kleine Zelle, wo ich unablässig zu Gott betete, er solle mich doch bitte nicht im Stich lassen. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, als ein Beamter kam, um mich in den Gerichtssaal zurückzubringen. Der Richter meinte dann, das läge wohl alles daran, dass bei den Roma-Familien schon mit dreizehn oder vierzehn Jahren geheiratet würde und mein Vater versprach ihm hoch und heilig, auf mich aufzupassen. Er hätte auch schon ein passendes Mädchen gefunden und behauptete sogar, ich sei damit einverstanden. Das gab in den Augen des Richters den Ausschlag, mir bloß Bewährung zu geben. Als mir das übersetzt wurde, stand ich mit Tränen in den Augen auf und bedankte mich. Ich war so aufgeregt, dass ich die Dolmetscherin vor Freude küsste und sie lachte auch. Aber ich überlegte auch, wann mein Vater angeblich vom Heiraten gesprochen hätte. Denn während der Verhandlung wurde kein Wort darüber geredet, erst bei der Urteilsverkündung. Der Anwalt führte mich an der Hand zu meinen Eltern, die mir unsere neue Adresse im Wedding aufgeschrieben hatten.
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Später wurde ich entlassen und ging nach Hause. Das war schon wieder eine neue Wohnung und diesmal lebte mein Bruder Buco nebenan als unser Nachbar mit seiner Frau und ihrem Kleinkind. Buco hatte zwei Zimmer, Bad und Küche. Und meine Eltern hatten drei Zimmer, große Küche und Bad. Als ich ankam, sah die Wohnung echt toll aus, richtig aufgeräumt und eingerichtet. Am Abend meinte mein Vater, er hätte für meinen Arsch zehntausend Mark ausgegeben, um mich da rauszuholen. Ich konnte das nicht glauben und dachte, dass der Spinner mir bloß Angst machen will, um mich weiter klauen schicken zu können. Ich bedankte mich daher höflich und er lud mich ein, mit ihm zu trinken. Aber ich wollte nicht und so trank er mit meiner Mutter. Sie meinte auch: «Komm, nimm schon einen Schluck.» Ich nahm so ein kleines Glas, das er mir eingoss, schluckte das Zeug herunter und hätte mich fast voll gekotzt. Dann gaben sie mir ein Stück Fleisch und ich aß. Ich wollte wissen, wieso mich im Knast niemand besucht hätte, aber die Frage danach wäre zu gefährlich gewesen, hatte der Alte doch schon seine «zehntausend Mark für meinen Arsch» in den Raum gestellt und so traute ich mich nicht. Zwei Wochen später sagte meine Mutter: «Ach Junge, was soll ich bloß tun - Mama hat nichts mehr!» Ich wusste schon, was nun folgen würde. «Kannst du heute nicht ein bisschen spazieren gehen und was versuchen? Du musst aber ganz vorsichtig sein.» - «Mama, ich bin bloß auf Bewährung draußen und wenn sie mich noch mal erwischen, sitze ich mindestens zwei Jahre ab.» Doch sie meinte, ich könne ja bloß hundertprozentig sichere Sachen machen und falls mir Zweifel kämmen, solle ich kein Risiko eingehen. Ich ging, wollte aber nicht klauen, sondern anschaffen. An dem Tag fand ich auch einen guten Freier. Der war ganz
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dick und kam aus München. Im «Datscha» haben wir uns kennen gelernt, wo auch mein anderer Münchner Bekannter Eddi später dazu kam. Keine Ahnung, ob ich in Eddi verliebt war, aber ich mochte ihn wahnsinnig gerne. Ein bisschen traurig war ich, weil Benn nicht im «Datscha» war. Den hatte ich ja schon drei Monate lang nicht mehr gesehen. Und heute war ich doch erstmals wieder hier, wo wir uns das erste Mal getroffen hatten... Aber ins «Filou» wollte ich nicht, denn ich hatte gehört, dass dort die ganzen «Zookinder» seien, darunter viele entfernte Bekannte meiner Familie. Die sollten mich nicht sehen, denn zu Hause durfte ja keiner wissen, dass ich wieder mit Freiern ging. Der dicke Münchner kam wortlos auf mich zu, drückte mir einhundertfünfzig Mark in die Hand und ich freute mich sehr, wollte aber gleich wissen, wofür. Er ging stumm aus dem «Datscha» und ich folgte ihm: «Entschuldigung, warum haben Sie mir das Geld gegeben?» - «Für dich.» Ich bedankte mich und wollte grad wieder zurückgehen, als er fragte, ob ich heute nicht Zeit hätte. Ich musterte ihn und hatte eigentlich keine Lust, aber dann dachte ich an meine geldgierige Mutter und meinte: «ja, ich hab immer Zeit.» Das war der erste Freier, wo ich ganz professionell die Preise vorher aushandelte. Denn normalerweise war ich damit zufrieden, was mir die Freier von sich aus gaben. Meist bekam ich dreihundert oder fünfhundert Mark. Aber bei ihm fürchtete ich, es könnte bei den einhundertfünfzig bleiben. Doch er ließ sich nicht darauf ein und meinte nur: «Über Geld sollten wir nicht reden, du bekommst genug.» - «O.k. dann wollen wir.» Er telefonierte noch wegen einem Taxi. Da kam grad Eddi rein und das war mir echt peinlich wegen dem dicken Freier. Eddi kam gleich zu mir und küsste mich. Ich war echt durcheinander. Er bestellte zu trinken und fragte auch mich, ob ich etwas wollte, aber ich
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musste ja nun mit dem Dicken gehn. Trotzdem ging ich mit Eddi an einen Tisch und gleich kam der Dicke, denn das Taxi war gekommen. Ich schämte mich, denn es wäre unfair gewesen, ihm jetzt noch abzusagen was ich eigentlich gewollt hätte. Also stand ich auf, gab Eddi einen Kuss und sagte: «Bis gleich.» Ich stieg mit dem Dicken in ein Taxi und wir hielten vor einem Hotel, das mir irgendwie bekannt vorkam. Ich überlegte, und erkannte dasselbe Hotel wieder, wo ich auf der anderen Straßenseite mit dem Freier im Restaurant war, den ich verdächtigt hatte, Zivilbulle zu sein. Der Dicke erklärte mir, das hier sei ein Schwulenhotel und dass gleich daneben auch eine schwule Kneipe sei. Auf dem Zimmer angekommen, ging ich zielstrebig zum Bad, denn ich wusste, dass sich dort eine Badewanne befindet und auf Baden bin ich echt scharf. Als ich wieder rauskam, lag der Dicke schon auf dem Bett und hatte alle perversen Sachen neben sich liegen. Große Gummipenisse, irgendwelche großen Kugeln und allerlei mehr. Ich überlegte, für was er derlei wohl braucht und er hieß mich, neben ihm zu liegen. Erst wollt ich ihn fragen, doch dann dachte ich, ich würde es ja ohnehin erfahren. Er fragte mich, ob ich scheißen könne. Als ich verneinte, ob ich Pipi machen wolle und das konnte ich zumindest. Er forderte mich auf, mit seinen Brustwarzen zu spielen und er stöhnte: «Kneifen, kneifen, ganz doll, so fest wie du kannst!» Ich kniff ihn nach Leibeskräften und fand ihn ein bisschen bescheuert. Als ich mich dann auf seinen Bauch gesetzt hatte, brach das Bett zusammen und wir fanden uns beide am Boden wieder. Wir lachten uns kaputt, obwohl er dabei mit dem Kopf an die Wand geknallt war. Dann stand er auf, legte die Matratze auf den Boden und sich darauf und ich musste ihm ins Gesicht pissen. Er war so geil darauf, dass er sofort abspritzte. Dann ging er ins Bad und ich machte den kleinen
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Fernseher auf dem Tisch an. Als er zurückkam, öffnete er meine Hand und steckte Geld hinein, das ich später nachzählen sollte. Ich war schon angezogen und steckte das Geld gleich in die Hosentasche. Dann holte er mir ein Taxi, damit ich wieder zum «Datscha» zurückfahren konnte. Aber es war schon zu spät und ich musste nach Hause, ihm war das egal. Er bezahlte dem Fahrer noch fünfzig Mark und ab ging's. In der Eingangstür zählte ich nach. Es waren zwei Zweihunderter, sechs Hunderter, also insgesamt eintausendeinhundertfünfzig Mark, aber ich konnte mich nicht darüber freuen, denn ich musste es ja meinen Eltern geben. Als ich durch die Tür kam, fragte meine Mutter, die Hektikerin, sofort: «Hast du was? Wieviel?» Ich gab ihr das Geld und sie meinte, dass ich so extrem lange weggewesen sei und dafür war es in ihren Augen nicht viel Geld. Ich begründete es mit meiner Vorsicht und mein Vater riet ihr: «Lass ihn in Ruhe, wenn er halt nicht mehr hat, vielleicht nächstes Mal.» Ich war echt enttäuscht von den beiden und dachte bei mir, dass ich ihnen so viel Geld gegeben hatte und für sie anschaffen war und jetzt reicht ihnen nicht einmal, was ich ihnen heute gegeben habe. Am nächsten Tag schickte mich meine Mutter in eine Apotheke, um Aspirin zu holen. Unterwegs ging mir vieles durch den Kopf, denn ich hatte jahrelang für meine Eltern gestohlen, für sie im Knast gesessen. Und erst gestern schickt mich meine Mutter trotzdem wieder stehlen, obwohl sie doch weiß, dass ich nur auf Bewährung frei bin. Beim Wort «Bewährung» kombinierte ich «Bewährungshelfer» und mir fiel ein, dass ich mich letzte Woche zum ersten Mal dort hätte melden sollen, es aber vergessen hatte.
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Scheiße, dachte ich und rannte die Straße entlang, wo er sein Büro hat. Ich hatte ja die Adresse und wusste auch ungefähr, wo das war. Nach zehn Minuten rennen hatte ich es endlich geschafft und klingelte. Der Mann hatte einen riesengroßen Bart und sah ein bisschen jüdisch aus. Wir begrüßten einander mit Handschlag und er vermutete gleich, dass ich der Miro Sabanovic sei. Ich korrigierte die Aussprache, er verglich das noch mal mit seiner Akte und stimmte mir zu. Wir fingen ein Gespräch an. Ich erzählte viel, denn er war echt nett, so dass ich glaubte, mit ihm alles besprechen zu können, auch, dass ich wieder klauen geschickt werde, aber stattdessen anschaffen gehe. Er hörte sehr aufmerksam zu und ich fügte hinzu: «Bitte, das bleibt aber unter uns, weil ich noch große Angst vor meinen Eltern habe!» Doch er machte mir klar, dass er meine Bitte zwar verstehen könne, aber all diese Fakten nicht für sich behalten darf, sondern dem Gericht melden muss. Da rastete ich aus: «Hören Sie mal, ich wurde schon zweimal von meinem Vater verbrannt und von beiden Eltern so oft geschlagen, dass ich das gar nicht zählen kann!» Ich hatte ja schon das Gleiche damals mit dem Jugendamt besprochen, als ich das Heim in Westdeutschland gehen durfte, was erst aufhörte schön zu sein, als die Erzieherin mir den Besuch meiner Eltern androhte und ich darum davon lief. Ich erzählte auch, dass ich danach mit Freiern ins Bett stieg, damit meine Eltern mich nicht fänden. «Nun bin ich das erste Mal bei Ihnen, dachte, Sie wollten mir helfen und ich könne Ihnen vertrauen. Vielen Dank!», sagte ich bitter, stand auf und ging. «Warten Sie, Herr Sabanovic.» Ich war so wütend, dass ich heulte. Niemandem konnte ich vertrauen und niemand half mir dabei, von meinen verdammten Eltern wegzukommen. Ich ging die Treppe runter und er rief hinter mir her, aber das hat mich nicht mehr interes-
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siert. Ich ging einfach weiter und habe ihn nie wieder gesehen. Unterwegs dachte ich nach, ob ich nicht doch wieder weglaufen sollte. Mir kamen lauter Ideen vom Leben in einer anderen Stadt, dort so lange als möglich zu bleiben. Auch wollte ich nie wieder festgenommen werden, auch nicht mehr stehlen. Denn wenn ich unbedingt Geld brauche für Essen und Klamotten, konnte ich mit Freiern gehn und mir dort etwas verdienen. Genau so wollte ich es machen. An diesem Tag wartete meine Mutter vergeblich auf ihr Aspirin. Ich nahm mir ein Taxi und fuhr direkt zum «Filou», bezahlte fünfundzwanzig Mark, wodurch mir noch mal so viel blieb, denn meine Mutter hatte mir fünfzig mitgegeben. Dort traf ich lauter Bekannte, auch Benn, und alle begrüßten mich freundlich. Benn kam zu mir mit Freudentränen in den Augen, dass ich wieder bei ihm bin. Wir gingen an einen Tisch und ich erzählte ihm alles vom Knast bis zu meinem neuen Plan. Wir waren so glücklich mit unserem Plan, gemeinsam abzuhauen. Abends kamen eine Menge Freier und Benn machte alle dreißig Minuten auf dem Klo eine Menge Geld. Ich saß in einer Ecke der Kneipe und dachte nach, ob ich das Richtige oder das Falsche tue. In dieser Stimmung lehnte ich jeden Freier ab, der mich ansprach. Benn kam und meinte, wir könnten noch diesen Abend mit einem Freier nach Köln fahren, bei ihm wohnen und er wolle uns auch beide bezahlen. Spontan sagte ich: «Wann fahren wir?» Er küsste mich und ging fragen: «Wenn du willst, sofort!» Was bedeutet «sofort»? Ich war derart aufgeregt und freute mich riesig, zog meine Jacke an, die noch über dem Stuhl hing und ging wieder zu Benn, der mich dem Kölner Freier vorstellte. Der Freier meinte, dass er mich schon mal gesehen hätte, aber ich konnte mich nicht
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erinnern. Beim Rausgehen grüßte ich noch meinen Chef und die alten Stammfreier. Wir gingen zu einem großen und gemütlichen Wohnwagen und ich war so glücklich, von Berlin wegzukommen. Es gab eine kleine Küche, ausklappbare Betten. Benn und ich stiegen auf das höchste Bett unter dem Wagendach und so konnten wir prima rausgucken während der Fahrt, die so gegen neunzehn Uhr begann. Der Freier mochte uns beide und behandelte uns gut, als wären wir seine Kinder. Drei Tage lang waren wir unterwegs, denn wir blieben zuvor zwei Tage in Essen, wo wir Jungs uns Inliner kauften und damit übten. Ich freute mich riesig, denn genau das war es, was ich immer wollte: einfach nette Menschen um mich haben. Benn war in meinem Alter und wir liebten uns wie Brüder. Und der Freier war einfach nett, denn er ließ mir die Wahl, ob ich mit Benn oder ihm ins Bett gehen wollte. Doch leider haben sich Benn und ich böse getäuscht. Am dritten Tag fuhren wir abends nach Köln und wir Jungs schliefen wieder in unserem Hochbett. Ein paar Mal stoppte das Auto und ich verstand nicht, warum. Doch in Köln offenbarte er uns, dass es ihm leid tue, aber wir könnten nicht mit ihm nach Hause, denn seine Frau sei gestern bereits früher aus dem Urlaub zurückgekehrt. Was sollten wir nun tun. «Echt Scheiße», tuschelte ich auf polnisch. Wir hatten von keiner Frau etwas gewusst. Vielleicht war das auch nur ein Trick, uns loszuwerden. Der Freier wollte, dass wir ihm einen Vorschlag machen. Benn sagte «Paris», drauf der Freier: «Ja, nächste Woche fahre ich ohnehin nach Paris.» Aber ich wand ein, dass wir ja keine Pässe haben. Außerdem hatte ich doch ein schlechtes Gewissen. Doch der Freier meinte, es gebe keine Grenzkontrollen mehr, das sei lange vorbei, und versuchte zu lachen, was aber misslang. Ich wusste schon, dass er uns bloß los sein wollte, aber was sollten wir dagegen tun? Er
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wollte uns sogar die Fahrkarten bezahlen und einen Treffpunkt in Paris ausmachen, um gemeinsam zurück zu fahren. Er wollte, dass wir ihn von Paris aus anrufen, wo er uns dann mit einem Freund bekannt machen wollte. Benn hat alles abgekauft, aber ich wollte nichts davon glauben. Doch ich wollte Benn nicht enttäuschen und dachte, dass wir ja immer noch zurückfahren könnten. Also bat ich um die beiden Telefonnummern. Doch er konnte uns nur seine geben, weil der Pariser Freund kein Telefon hatte. «Aber ihr könnt mich anrufen, ich bin immer zu Hause und sage euch dann am Telefon, wo es lang geht». Und er versuchte erneut, zu lachen. Er schrieb seine Nummer auf und sagte noch, wir bräuchten unseren Kram nicht mitzuschleppen, denn er brächte ja alles im Wagen mit. Als wir in den Kölner Bahnhof gingen, war Benn schon ganz aufgeregt. Auch ich war unruhig, aber weil ich dem Freier kein Wort glaubte. Außerdem hoffte ich, in Paris gute Freier zu finden, bei denen wir zwei Jungs gute Chancen hätten. Um zwölf Uhr ging ein Zug nach Essen und dort sollten wir umsteigen. Der Freier hatte uns noch die Fahrkarten gekauft und an den Zug gebracht. Beim Einsteigen zog ich schnell den Zettel mit «seiner» Nummer heraus und fragte ihn ganz schnell, seine Telefonnummer zu sagen, so dass er nicht nachdenken konnte. Aber die Nummer war falsch und da war mir schon alles klar. «Ach», sagte er, «Entschuldigung», und er strich die falschen Ziffern aus und schrieb die neuen hin. Jetzt hatte es auch Benn gemerkt, aber der wollte unbedingt nach Paris. Also gingen wir gemeinsam dorthin. Als wir ausstiegen, hatte es tatsächlich keine Passkontrolle gegeben und ich freute mich plötzlich, ohne dass ich mir
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das recht erklären konnte. Benn hatte eine schwere Tasche auf dem Rücken mit lauter neuen Klamotten, die wir uns in Essen gekauft hatten, für jeden das Gleiche. Denn Benn hatte genug Geld gespart, fast sechstausend Mark und hat uns daher für eintausendfünfhundert Mark Klamotten bezahlt. Da tauschten wir erst mal französisches Geld um, was glücklicherweise auch nach zwanzig Uhr noch möglich war, und erhielten eine Menge bunte Scheine und Münzen. Dann wollten wir die Tasche in ein Schließfach packen, das nicht mit dem Schlüssel, sondern mit einer Karte bedient wurde, die aussah wie eine Telefonkarte. Vor dem Bahnhofsgebäude fragte ich Benn, ob wir nicht den Freier anrufen sollten. So gingen wir in ein Restaurant auf der anderen Straßenseite, wo Benn ein paar Münzen einwarf, die Vorwahl und «seine» Nummer wählte. Aber eine Frau am anderen Ende antwortete vom Band: «Kein Anschluss unter dieser Nummer.» Er versuchte es wiederholt, doch es war immer dasselbe. «Der Bastard», lachte Benn und fragte mich «tu parles francais?» Und ich antwortete «Oui», die einzigen Worte französisch, die wir kannten. Wir lachten die ganze Zeit, trotz unserer Enttäuschung, aber ich hatte mir das ja gleich gedacht. Das nächste Problem war, wo wir nachts schlafen sollten, denn wir waren ja noch Jungs und konnten die Sprache nicht. Da gingen wir in den Bahnhof zurück, wo uns Freier ansprechen würden, vielleicht auch einer, der uns mit zu sich nähme. Der Bahnhof war derart groß, dass es uns so vorkam, als wären wir mitten in der Stadt. Keine fünf Minuten vergingen und wir waren von mindestens zwanzig Freiern umgeben. Wir lachten die ganze Zeit und mussten uns deshalb eine neue Stelle suchen, aber sie kamen hinter uns her. Da fingen wir an zu rennen und zwei waren uns auf den Fersen, so dass wir ein Hotel hinter dem Bahnhof betraten. Benn fragte, warum wir
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die Nacht nicht im Hotel bleiben, aber keiner von uns war achtzehn. Geld war kein Thema, aber es fragte sich, ob wir es schafften, da rein zu kommen. Benn ging an den kleinen Tresen und sagte zu einem Mann: «Tu parles deutsch?» Und ich lachte mich tot dabei. Auch die Bedienung musste nun lachen, denn der Mann sprach sogar gut deutsch. Ich kniete vor Lachen auf dem Boden und er ließ sich von mir anstecken. Als wir uns wieder beruhig hatten, fragte er: «Was wollen Sie, meine Herrschaften?» Benn verlangte ein Zimmer. Natürlich fragte er nach dem Alter, aber wir erzählten, wir hätten uns verlaufen und wollten morgen zurück nach Berlin fahren. Da wir genug Geld hatten, war er einverstanden und tippte den Betrag in die Kasse ein: fünfhundertdrei Francs. Benn gab ihm fünfhundertfünfzig und fügte großkotzig hinzu: «Der Rest ist für Sie.» Da bekamen wir das Hotel erklärt und erhielten die Zimmerschlüssel. Das Hotel sah insgesamt klein aus und niemand schien hier zu sein außer uns. Im Zimmer stand ein französisches Bett, es gab eine Dusche und einen Schwarz-WeißFernseher, irgendwie weder gut noch schlecht. Aber wir freuten uns, ein Zimmer zu haben, ohne den Pass vorzuzeigen. Wir duschten und guckten den Rest eines Liebesfilmes, aber wir verstanden kein Wort. Dann ging Benn voraus auf den Balkon, wo wir vor dem Schlafengehen noch eine Zigarette rauchten. Früh morgens um acht klopfte es an der Tür. Benn schlief noch, aber ich wurde wach, schlich mich leise hin und fragte: «Wer ist da?» Eine Frau antwortete auf Deutsch und sie schien ängstlich zu sein. Sie fragte, ob wir nicht herunterkommen wollten zum Frühstück, aber ich wollte nicht. Da fiel mir ein, dass Benn unser Zimmer ja ausdrücklich ohne Frühstück genommen hatte. Es hätte also ein Trick der 98
Polizei sein können, was aber gottlob nicht stimmte. Dann weckte ich Benn und rüttelte ihn, doch der war immer noch müde und wollte weiter schlafen, aber ich gab keine Ruhe und so stand er schließlich auf. Wir duschten gemeinsam, zogen uns an und gingen nach unten, wo uns der Mann von gestern gleich fragte: «Na, habt ihr gut geschlafen?» Wir hatten und gaben den Schlüssel freundlich zurück. Draußen war es sonnig und viel zu warm für unsere Klamotten, so dass ich vorschlug, die Kleidung aus dem Schließfach anzuziehen und anschließend noch ein bisschen spazieren zu gehen. Mit kurzen Lewis, T-Shirts und Sonnenbrillen ausgerüstet gingen wir aus dem Bahnhof und taten so, als merkten wir nicht, wie sie uns alle anglotzten. Die Schließfachkarte steckte hinten in meiner Hose. Zuerst wussten wir nicht recht wohin, aber fünfhundert Meter weiter war ein McDonalds und wir schlenderten dort hin, drei oder vier Freier im Schlepptau, die uns schon beim Umziehen zugeguckt hatten. Auch im Laden blieben sie uns auf den Fersen, was mich irgendwie ärgerte, denn ich dachte, wir werden diese Idioten gar nicht mehr los. Benn bestellte in Zeichensprache Hamburger, Pommes und Cola und ich ergänzte mit zwei Fingern, dass ich das Gleiche wollte. Ich meinte noch zu Benn: «Sind die nicht bescheuert?», denn die beiden hartnäckigsten Freier bestellten nun auch was. Die Bedienung erklärte, wie das mit Tablett und Kasse funktioniert, aber Benns eingetauschtes Geld war fast alle, so dass es nur ganz knapp reichte und er noch mächtig in seiner engen kurzen Hose kramen musste. Dann wählten wir einen freien Tisch und die Freier setzten sich an den Nebentisch. Ich schaute sie böse an und machte Zeichen, dass sie sich verpissen sollen. Nach dem Essen folgten sie uns dann nicht mehr. Weil wir wieder nicht wussten wohin, gingen wir eine lange Straße ziemlich weit hinunter. Auf
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einmal entdeckte Benn Schuhe in einem Schaufenster, die er unbedingt kaufen wollte. Das waren komische Stiefel und ich musste echt lachen: «Wofür brauchst du denn so etwas?» Er stimmte mir zu, wollte aber immer wieder hören, dass sie mir eigentlich gut gefallen haben. Aber ich fand sie beschissen und blieb dabei. Wir stritten im Weitergehen ein bisschen, wer von uns beiden Ahnung von Schuhen hätte. Dann kamen wir auf einen Trödelmarkt, wo sich viele Leute drängten und plötzlich konnte ich Benn nicht mehr sehen, weder vor- noch hinter mir. Ich kehrte in dem Gedränge um und rief ihn, aber keiner antwortete, sondern sie glotzten mich bloß an. Ich wurde immer wütender und schrie lauter nach Benn und wieder glotzten die Leute. Wo war er nur? Bald verflog meine Wut, ich wurde traurig und begann zu weinen. Ich drehte mich unablässig nach ihm um und hatte ihn auch eine halbe Stunde später noch immer nicht entdeckt. Wie sollte es nun weitergehen? Ich nahm mir vor, nochmals den ganzen Markt abzusuchen. Aber der war riesig und viele Schwarze waren dort, so dass ich mich in Afrika fühlte statt in Paris. Immer neu quetschte ich mich durch die Menschenmassen, hörte auf zu heulen und fing wieder an, immer so weiter. Auch nach einer Stunde hatte ich ihn noch nicht gefunden. Ich wurde sauer auf mich selbst, dass ich ihn verloren hatte, auch, dass ich überhaupt nach Paris gefahren war. Trotzdem suchte ich immer weiter und die Zeit verging, so dass es immer unwahrscheinlich wurde, ihn zu finden. Bei dem Gedanken, was er wohl gerade macht, beschloss ich, zurück an den Bahnhof zu gehen und bei unserem Schließfach zu warten. Vielleicht wartete er auch schon dort. Doch ich hatte mich verlaufen und keine Ahnung, in welche Richtung ich hätte gehen müssen. Einmal mehr fragte ich mich, warum ich jetzt wieder so zu leiden hatte. Da begann ich neuerlich zu 100
weinen und schimpfte auf Benn vor mich hin. Inzwischen war ich auf einer Art Rummelplatz. Keine Ahnung, wie ich dort gelandet bin. Da fiel mir die Schließfachkarte in meiner Hosentasche ein, aber ich konnte den Text darauf nicht lesen und fragte daher mit Handbewegungen einen Mann, der sich gerade mit einer Frau unterhielt. Doch er verstand bloß Bahnhof; ich wurde sauer, als er die Karte zurückgab und grunzte: «Du mich auch, Idiot.» Ich fragte noch andere Leute, und wurde durch meinen Misserfolg immer aggressiver. So kam mir die Idee, ein Taxi zu nehmen, zeigte meine Schließfachkarte vor und hoffte, dass er mich hinbringen würde. Ich hatte noch etwa achthundert Mark von einem Freier einstecken und das war meine Rettung. Dazu musste ich aber wechseln und die Frage war, wie ich eine Bank finden sollte. Also versuchte ich es und der Erste wies mich mit meinem hundert Markschein ab. Es war ein Chinese und ich sagte ihm, das sei auch Geld, «ManniManni», aber er wollte nicht. Dann fragte ich einen schwarzen Taxifahrer und der akzeptierte, als ich von «Manni-Manni» sprach. So brachte er mich zu derselben Bank, wo Benn tags zuvor das Geld gewechselt hatte. Nun war ich wieder etwas beruhigt, gab dem Fahrer einen Einhundert-Franc-Schein und schenkte ihm den Rest zu den siebzig Francs, die es gekostet hat, und rannte zum Bahnhof. Dort ging ich zum Schließfach, aber Benn war nicht da. Ich schloss auf, die Tasche war drin, aber Benn war nicht zu sehen. So wartete ich den ganzen Tag neben dem Schließfach, doch Benn kam nicht. Als er gegen zweiundzwanzig Uhr noch immer nicht da war, fragte ich am Schalter nach dem nächsten Zug nach Berlin. Ein Angestellter konnte deutsch und erklärte mir, um dreiundzwanzig Uhr fünfzig führe ein Zug nach Hamburg, der um sieben Uhr früh da sei. Dort könne ich gleich umsteigen und bis Berlin-Lichtenberg weiterfahren. Ich 101
überlegte kurz, ob ich das wirklich machen sollte. Aber dann dachte ich, dass er schon irgendwie zurückkommen werde und kaufte die Karte für 890 Francs. Die Verkäuferin akzeptierte auch das deutsche Geld, so dass ich nicht noch mal wechseln musste. So reiste ich mit der großen Tasche wieder nach Deutschland und stieg so um, wie man mir gesagt hatte. Als der Zug Berlin Zoologischer Garten hielt, stieg ich aus. Dabei fürchtete ich, jemand von meiner Familie könnte mich hier suchen, und schaute sehr genau hin, bevor ich in die Bahnhofshalle trat. Lauter Bekannte lungerten herum, all die Stricher und Kinderkarsten war auch da. Ich ging zu ihm, begrüßte ihn und er wollte wissen, was ich mit der großen Tasche vorhätte. Da erzählte ich ihm, dass ich Benn in Paris verloren habe und er wollte genauer wissen, wie des passiert sei. Er fragte mich, ob ich einen Schlafplatz suche und ich sagte, ich wolle mal bei Rolf fragen, ob ich wieder bei ihm wohnen könne. Er wurde ganz bleich und meinte, das könne ich vergessen, denn Rolf sei ermordet worden. Ich wollte es nicht glauben, aber er hatte eine Zeitung dabei und zeigte mir die Meldung. Wir gingen zu seinem Wagen und er las mir den Artikel vor. «Rolf M. wurde an einem Stuhl gefesselt ermordet. Er war ein Freier», usw. Auch als er weiter vorlas, wollte ich es noch nicht glauben. Doch es stimmte und ich wurde ganz traurig und begann zu weinen, weil Rolf doch immer so gut zu mir war. Ich bat Karsten, mich nach Tempelhof zu Rolfs Wohnung zu fahren. Er packte meine Tasche in den Kofferraum und brachte mich bis zu Rolfs Wohnungstür. Darauf war etwas geklebt, dass man hier nichts anfassen dürfe, wie Karsten mir vorlas. Ich hockte mich auf die Treppe und heulte, denn wieder hatte ich alles verloren. Benn war weg, Rolf tot und Eddi war
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bloß am Wochenende in Berlin, so dass mir das im Augenblick nicht weiterhalf, denn es war ein Montag. So fuhr ich wieder mit Karsten zurück zum Zoo. Ich nahm meine Tasche, stieg in die U-Bahn und fuhr die Strecke hin und her, damit die Zeit vergeht und ich um fünfzehn Uhr endlich ins «Filou» gehen konnte. Ich wartete schon mit meiner Tasche vor der Tür, als der Besitzer ein bisschen zu spät aufschloss. So trat ich als erster Gast dieses Tages ein. Und der Besitzer fragte besorgt, ob mir nicht gut sei, denn ich sah verheult und irgendwie kaputt aus. Er wollte auch wissen, wo ich Benn gelassen hätte. Da fing ich an zu weinen und erzählte ihm die ganze Story vom Freier, der uns verarscht hat, dass Benn verschwunden ist und das Rolf tot ist. Das Letzte wusste er schon seit einer Woche. Da streichelte er mich am Kopf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Er lud mich ein, umsonst zu trinken, aber ich wollte nichts. Bloß meine Tasche wollte ich gerne hier lassen und das war kein Problem, denn unter der Bar war ein großer Keller. «Wenn du sie wieder brauchst, kannst du sie jederzeit holen», und ich bedankte mich. Dann ging ich aus dem Lokal und überlegte, wie ich es anstellen könnte, nach einer ganzen Woche Abwesenheit wieder nach Hause zu gehen ohne Prügel zu beziehen. Mein Plan war, von Verhaftung und Knast zu erzählen, nichts Unrealistisches also in meiner Situation. So ging ich tatsächlich nach Hause. Alle saßen im Wohnzimmer beieinander. Meine Schwester öffnete und rief: «Mama, Miro ist wieder zurück!» So trat ich mit einem echt schlechten Gewissen ein und mir war klar, dass ich nun glaubwürdig erscheinen musste. Als ich mein Märchen begann, bellte meine Mutter gleich dazwischen, das stimme doch alles gar nicht. Doch ich bekräftigte, verhaftet worden zu sein, weil ich nicht beim
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Bewährungshelfer war. Doch sie zischte: «Lüg mich nicht an! Ich weiß alles, ich weiß auch, dass du wieder am Zoo warst und dich hast ficken lassen.» Ich schwor hoch und heilig, aber es half nichts, denn sie wollten den Entlassungsschein sehen und meine Behauptung, ich hätte «so was nicht bekommen», glaubte mir niemand. Da stand sie auf, trat neben mich und donnerte mir eine Ohrfeige, noch eine und noch eine, so dass ich in die Knie sank. Dann sagte sie zu meinem Vater: «Zieh mir doch verdammt noch mal den Gürtel aus deiner Hose, ich hab Schmerzen an den Händen.» Der gehorchte und alle anderen saßen bloß rum und glotzten blöd. Auch als sie den Gürtel doppelt legte, hinderte sie keiner. Und dann drosch sie wie eine Wahnsinnige auf mich ein. Ich hatte am ganzen Körper blutige Striemen von ihren Schlägen. Dann trat sie mich mit dem Fuß und drosch immer weiter. Danach flötzte sie sich wieder auf die Couch und zischte: «Meinst du schwule Sau, du kannst mich belügen? Morgen könntest du meine Tochter oder meine Schwägerin ficken und würdest es abstreiten! Hau bloß ab in die Dusche und mach dich sauber!» In der Dusche hockte ich mich auf den Boden und weinte. Ich wusste nicht, wofür ich überhaupt leben sollte und plante, die ganze Familie umzubringen und dann mich selbst. Erst schicken sie mich klauen und Geld bringen und das ist jetzt der Dank für alles. Schon als Kind und bis heute haben sie mich immer nur geschlagen. Wie lang soll das noch weitergehen? Warum schicken die meistens mich klauen und die Geschwister viel seltener? Sie hassen mich alle, das wusste ich. Auch im Knast hat mich niemand besucht und nun dieses «Dankeschön». Das habe ich wirklich nicht verdient. Da rief meine Mutter schon wieder und ich machte bloß schnell mein Gesicht ein bisschen nass und ging zurück. Mit funkelnden Augen fragte sie: «Miro, wie viel Geld hast du
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mir mitgebracht?» und ich holte vierhundert Mark und den Rest Francs heraus und legte sie auf den Tisch. Da pfiff sie: «Das ist ja soooo viel, damit kann ich mir grad die Muschi wischen, ich kann das gar nicht annehmen.» Ich reagierte nicht, sondern setzte mich ruhig in eine Ecke. «Du schwule Sau», schrie sie da, «ich schwöre dir bei allen meinen Kindern, wenn du nicht binnen vier Stunden mindestens fünftausend Mark auf diesen Tisch legst, dann wirst du schon sehen, was passiert. Raus jetzt, raus!» Ich zog mir die Schuhe an und ging. Auf der Straße weinte ich und dachte: «Gott, was habe ich dir denn getan, dass du mich so quälst?» Es war mir heute scheißegal, ob sie mich verhaften oder nicht. Da hab ich bei «Kaiser's», bei «Reichelt», «Woolworth» und «Karstadt» jeweils ein Portemonnaie geklaut und sie haben mich nicht erwischt. Das waren zwar keine fünftausend, aber immerhin zweitausend Mark und damit ging ich nach Hause. Sie waren zufrieden und ließen mich in Ruhe. Drei Tage später besuchte uns mein Bruder Buco, als ich gerade vom einkaufen bei Reichelt zurückkam. Meine Schwester Birgitta nahm mir die Sachen aus der Hand und trug sie zur Küche. Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Buco zwischen meinen Eltern und war total nervös, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte seine Schuhe nicht ausgezogen und darauf waren Tropfen von Blut. Meine Mutter sagte: «Verschwinde, du musst sofort abhauen, bevor die Polizei kommt!» Buco erhob sich und verließ das Haus. Meine Schwester nahm mich beiseite und sagte, er hätte Beijta, seine Frau, mit dem Messer abgestochen. Warum konnte sie mir nicht sagen. Da rief mich meine Mutter, ich solle mit fünfzig Mark zu Beijta ins Krankenhaus gehen. Falls mich jemand nach Buco fragt, solle ich sagen, dass er
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die ganze Zeit schon bei der Fahrstunde ist. Ich sollte schnell machen und sehen, was Beijta dazu sagen würde. Falls die Polizei da wäre, sollte ich sofort zu Hause anrufen. So ganz hatte ich noch nicht kapiert, was sie wollte, aber ich gehorchte. Sie gaben mir einen Zettel mit der Adresse vom Krankenhaus und weil ich nicht lesen konnte, meinte mein Vater, ich solle ein Taxi nehmen und dem Fahrer den Zettel zeigen. So ging es und ich fragte einen Arzt an der Pforte nach dem Bett meiner Schwester. Der schickte mich einen blutroten Streifen entlang, der zu einem kleinen Büro führte, hinter dessen Türfenster eine Krankenschwester saß. Als ich auch hier fragte, verpeilte ich total, den Familiennamen meiner «Schwester» zu sagen. Da sollte ich wieder einem gelben Streifen folgen, an dessen Ende sei ein Arzt, der würde mir weiterhelfen. Als ich ihm den Namen meiner Schwägerin nannte, tippte ihn der Arzt in den Computer und fragte, wer ich sei: «Was will Sabanovic Miro von Sabanovic Bijeta?» Ich sagte ihm, sie sei meine Schwester und ich wolle sie besuchen. Aber der Arzt bedauerte, er dürfe mir keinerlei Auskunft geben. «Ich ficke dich, du Bastard», dachte ich und sagte: «Sie ist doch meine Schwester, da müssen Sie mir doch Auskunft geben.» Doch er drohte, die Polizei zu rufen, wenn ich nicht augenblicklich verschwände. «Dann ruf doch die Polizei, ich ficke die Bullen und dich!», und ich verschwand. Ich suchte weiter im Krankenhaus herum, aber niemand zeigte mir, wo sie war. Als ich auf der anderen Seite des Hauses zur Tür herausgehen wollte, sah ich Buco in einem Wartezimmer sitzen und setzte mich neben ihn. Doch auch er beantwortete meine Frage nicht. So wartete ich stumm neben ihm, bis ich nach einer Viertelstunde meine Mutter anrufen ging. Ich berichtete ihr, was geschehen war, dass ich noch nichts wusste, aber Buco im Wartezimmer getroffen hätte. Da war
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sie ganz außer sich. Ich solle Buco sofort klarmachen, dass er zu verschwinden hatte. Oder er solle Mama sofort anrufen, damit sie es ihm sagen könne. Aber auf jeden Fall solle ich bleiben und mich sofort melden, wenn irgendwas passiert. Ich setzte mich wieder zu Buco und nach langem Schweigen sagte ich ihm, was Mama wollte. Es war ihm nicht recht, dass sie nun wusste, wo er ist, aber er ging telefonieren. Ich saß eine halbe Stunde allein im Warteraum und Buco kam nicht mehr zurück. Da rollte eine Art Wagen aus einem der Räume. Ich wollte gleich wissen, was das war und lief hin. Da sah ich Beijta, in der überall am ganzen Körper Schläuche steckten und ihr Körper war mit gelber Alufolie überzogen. Ich bat den Arzt, mir zu sagen, wie es ihr geht. Doch der fauchte mich nur an, ich solle zur Seite gehn. «Bitte, das ist meine Schwester», lief ich hinter der Wagen her, der immer schneller gefahren wurde. Ich wollte wissen, ob sie vielleicht tot ist, aber der Arzt antwortete wie zuvor. Ich klebte an den beiden Ärzten mit den grünen Klamotten und Gesichtsmasken, bis sie mit der Bahre in einem anderen Raum verschwanden, wo ich nicht mehr mit durfte. Da rief ich sofort heulend meine Mutter an und erzählte, dass ich Beijta gesehen hätte, wie schrecklich sie aussah und dass sie nun mit Ärzten in einem besonderen Raum verschwunden sei. Da sollte ich gleich nach Hause kommen und sie legte sofort auf. Ich überlegte, ob ich etwas falsch gemacht haben könnte, weil sie so kurz angebunden war, darum fuhr ich schnell mit dem Taxi zurück. Zu Hause war Buco auch wieder da, aber mit zerschlagenem Gesicht. Aus seinen Lippen tropfte das Blut auf den Fußboden. Mein Vater war schon angezogen, meine Mutter war grad dabei und forderte Buco auf, sich auch fertig zu machen. Auch ich sollte mitkommen und wechselte bloß
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die Schuhe. Als ich fragte, wohin, erfuhr ich: Zur Fahrschule, wo mein Vater und Buco Unterricht nahmen. In Wirklichkeit gingen sie aber dorthin, weil der Lehrer falsche Führerscheine ausstellt, wenn man die Fahrstunden besteht und doppelt bezahlt. Aber Geld war für meinen Vater ja kein Thema, er hatte ja Kinder... Wir stiegen alle gemeinsam aus dem Taxi und besuchten den Fahrlehrer. Mein Vater und er hatten einen echt guten Kontakt, konnten sich aber nur schlecht unterhalten und so musste Buco dolmetschen. Es ging darum, dass der Lehrer, falls die Polizei ihn besuchen würde, bezeugen solle, Buco sei bei ihm gewesen, als das mit seiner Frau passiert war. Mein Vater bezahlte fünfhundert Mark dafür und die zwei schüttelten sich die Hand. Dann tranken die Eltern mit dem «Lehrer» noch Kaffee und Buco und ich bekamen Fanta. Nach etwas mehr als einer Stunde fuhren wir wieder nach Hause. Am nächsten Morgen wollte die Polizei den Schlüssel von Bucos Wohnung holen und meine Mutter versicherte sich erst bei Buco, ob er auch das Messer fortgeschafft hätte. Er hatte es aber gleich vergraben und so bat sie ihn um den Schlüssel und dass er ihr dolmetschen sollte. Alle liefen wir hinter den Polizisten her in Bucos Wohnung und die wollten wissen, ob wir irgendetwas verändert hätten. «ja, wir mussten ja sauber machen», sagte sie. Er wollte auch wissen, ob wir etwas über den Tathergang wüssten und meine Mutter erzählte, dass das Kleinkind nicht aufgehört habe zu weinen, so dass sie gucken gegangen sei. «Die Tür war nicht abgeschlossen und da sah ich die Ärmste auf den zertrümmerten Glasscheiben liegen und bluten und das Kleinkind daneben.» «Und wo war ihr Mann in der Zeit?» – «Der war zur Fahrschule. Schon gegen sieben Uhr geht er immer zusammen mit meinem Mann dorthin.» Da sie nicht
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beantworten konnte, welche Art Fahrschule, musste sie meinen Vater fragen, der ja zu Hause war. Als ich mit dem Polizisten alleine war, wollte der wissen, wie alt ich bin, wie ich heiße und wieso ich so gut deutsch spreche, da ich doch nicht zur Schule gehe. Ich wusste keine Antwort und meine Eltern traten ins Zimmer. Sie begrüßten einander, während die anderen Beamten von jedem Türgriff Fingerabdrücke nahmen. Mein Vater erklärte, dass sie in die Fahrschule in der Frankfurter Allee gehen und übergab auch eine Karte der Schule. Alles wurde aufgeschrieben, auch was ich gedolmetscht hatte und dann meinte der Beamte: «Das reicht fürs Erste». Er bedankte sich bei mir für die Übersetzung und sie gingen wieder. Dann sollte ich allerdings noch fragen, ob meine Eltern damit einverstanden sind, dass sie von uns allen die Fingerabdrücke nehmen. Mein Vater hatte kein Problem damit und so machten wir mit, bevor sie dann endgültig gingen. Doch schon nach zwei Tagen schickte mich meine Mutter wieder stehlen. Ich wurde verhaftet und sagte mir: «Jetzt bist du erledigt!» Der Haftrichter in Tempelhof steckte mich erst mal in Untersuchungshaft. Ich empfand die «pädagogisch» begründete Anklageschrift ziemlich erniedrigend. Dennoch änderte sich mit mir in der Haft Entscheidendes. Denn ich begann, schreiben zu lernen und hatte eine nette Lehrerin, die gut kroatisch spricht und eine Gesprächsgruppe für jugoslawische Gefangene anbietet. Und darüber hinaus kam sie ein- bis zweimal pro Woche extra, um mit mir alleine zu lernen. Erst konnte ich sie gar nicht leiden, aber das änderte sich schlagartig, als ich merkte, dass sie mir ja wirklich helfen wollte. Ab und zu hatte ich «Einschluss», weil ich Beamte beschimpft oder Mithäftlinge geschlagen hatte. Natürlich verlor ich jede Prügelei und jedes Mal
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zerschlug ich beim «Einschluss» die Zelle. Und jedes Mal kamen sie dann mindestens zu fünft und bringen mich in den Keller, bis ich mich beruhigt hätte. Aber prinzipiell kam ich mit den meisten gut klar. Alle spielten mit mir und waren freundlich, denn ich war der Kleinste und Jüngste. Aber ich war auch frech zu jedermann, egal wer das war. Als ich einmal wieder eingeschlossen war, schrieen die anderen von draußen, ich soll durch das Fenster pissen. Ich tat es und als die Beamten das sahen, bekam ich ein Fensterschloss, das ich nicht mehr aufbekam. Beim Haftprüfungstermin wurde ich natürlich nicht entlassen. Nach vier Monaten bettelte ich meine Sozialarbeiterin an, sie sollte doch zu Hause anrufen und um Besuch bitten. Das tat sie auch, aber die haben immer sofort aufgelegt. Selbst durfte ich ja nicht telefonieren, denn ich war ja noch in U-Haft. Da fragte ich meine Lehrerin. Vielleicht war sie geschickter als Jugoslawin mit deutschem Mann und drei Kindern. Sie sprach am Telefon mit Buco und ich saß daneben. Er versuchte deutsch zu sprechen und sagte immer: «Schule, Schule.» Damit wollte er ausdrücken, dass ich schwul bin und sie mich deswegen nicht besuchen kämen. Die Frau fragte mich, was er mit «Schule» meine und ich log, dass er habe sagen wollen, dass ich nicht zur Schule gegangen sei. Was die Lehrerin mit ihm auf Jugoslawisch sprach, erfuhr ich nicht. Sie zuckte nur die Schulter und wollte mir bestimmt bloß keinen Kummer machen. Nun hatte ich schon sechs Monate Haft hinter mir und noch immer keinen Besuch gehabt. Nicht mal Klamotten haben sie geschickt, sondern die Lehrerin brachte mir Sachen von ihren Kindern, die ungefähr so groß sind wie ich. Mit ihr machte ich immer weiter Fortschritte. Nach den sechs Monaten wusste ich schon alle Buchstaben, nur lesen ging
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noch nicht richtig, bloß kurze Sätze: «Ich gehe zur Schule.» – «Ich gehe spazieren.» Die Lehrerin hatte immer verschiedene Lektionen für mich in ihrer Tasche, gab mir Hausaufgaben und ich machte die dann in meiner Zelle. Mit ihr konnte ich auch über meine Eltern sprechen und habe vor ihr geweint, denn es fiel mir so schwer, all das aufs Neue zu erzählen, was Schreckliches geschehen war. Aber sie ließ mich immer ausreden und hörte aufmerksam zu. Sie glaubte mir, dass mir all das leid tut und ich nicht wieder stehlen gehen will. Ich wurde in Holzarbeiten ausgebildet, aber wusste immer alles besser und hörte nie auf meinen Meister, obwohl alles schief und krumm war. Darum schmiss er mich raus und ich bekam einen anderen Job als Putzboy für das ganze Haus. Dabei verdiente ich eigentlich hundertfünfzig Mark monatlich, aber sie zogen mir immer hundertzehn Mark ab, weil ich so viel kaputt machte. Vom Rest kaufte ich mir Tabak, mit dem ich dann einen Monat auszukommen hatte. Wenn ich alleine in der Zelle saß, dachte ich oft an meine Eltern, warum sie mich wohl derart im Stich gelassen hatten, schließlich sitze ich für sie nun schon sechs Monate im Knast. Wenn jemand anruft, sagen sie bloß, dass ich schwul bin und legen auf. Wenn ich Geld brachte, war ich ihr gutes Kind, obwohl es doch meist schwule Geschäfte waren. Aber wenn ich in der Klemme steckte, kannten sie mich nicht. Ich hoffte noch immer, aus der U-Haft freizukommen. Denn ich saß schon so lange und es gab noch immer keinen Verhandlungstermin. Auch meine Sozialarbeiterin wunderte sich, dass es so lange dauerte. Da schrieb ich meinen Eltern, denn so weit war ich nun schon mit schreiben: «Lieber Papa und Mama, ich bitte euch, kommt mich besuchen. Ich mache die Scheiße nicht mehr und gehe nicht
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mehr klauen.» Ich wusste, dass der Brief erst durch die Staatsanwaltschaft kontrolliert wurde. Auch für sie wollte ich dadurch etwas ausdrücken, aber es nütze nichts, sie kamen nicht zu Besuch. Ich wartete und wartete. Nach sieben Monaten gab es einen mündlichen Termin und sie haben meinen Bewährungswiderruf widerrufen. Nachdem nun mein Urteil rechtskräftig war, wurde ich in Haus 3 verlegt und bekam einen neuen Sozialarbeiter. Doch die Lehrerin besuchte mich weiter, ich lernte und mein Wille war ganz auf ihrer Seite. Ich freute mich irrsinnig, dass ich schreiben und etwas lesen konnte. Ganz langsam hat sich alles an mir geändert. Ich war nicht mehr der kleine Miro, sondern ich wurde ein Anderer. Im Knast habe ich noch als Anstreicher gearbeitet und alles machte mir Spaß. Dann bekam ich einen neuen Sozialarbeiter, der echt in Ordnung war. Wegen Straferlass durfte ich telefonieren und war echt aufgeregt, als meine Schwester Birgitta dran war. «Hallo, hier ist Miro!» Sie bat mich kurz zu warten, da rief meine Mutter: «Hallo Kind!» Mir kamen die Tränen und ich sagte: «Hallo Mama!» - «Warum hast du denn nicht früher angerufen?» - «Ich durfte nicht!» Sie wollte noch wissen, wann ich rauskäme, aber das wusste ich nicht. Dann wollte mich mein Vater sprechen und auch wissen, wann ich rauskäme. Ich sagte, dass ich in einigen Monaten Haftlockerung bekäme und sie besuchen gehen könne. Er wollte wissen, ob ich Geld für Zigaretten hätte, und ich sagte, dass es verdammt knapp sei, weil ich hier nur wenig verdiene. Er wollte mir Geld bringen, aber ich behauptete, ich wolle mit Rauchen aufhören. «Aber besuchen könntest du mich mal Papa, es dürfen drei Personen mitkommen. Er wollte die Besuchszeit wissen, die alle vierzehn Tage war. «Bitte bring den kleinen Dalibor mit, dass ich ihn sehen
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kann!» - «Wann ist das?» - «Sonntags, du kannst achtzehn Mark Kleingeld mitbringen um achtzehn Uhr am FriedrichOlbrich-Damm 40. Er wollte mit dem Auto kommen und ich fragte nach seinem Führerschein, den er aber schon lange hatte. Ich beglückwünschte ihn und sagte, dass ich nun auflegen müsse und in zwei Tagen wieder anrufen werde. «O.k., mein Sohn, mach's gut und bau keine Scheiße.» So verabschiedete er sich. Ich ging gleich in meine Zelle, denn ich hatte damit begonnen, dieses Tagebuch zu schreiben. Ich war glücklich wie nie und schrieb einen Vormelder für den Besuch meiner Eltern. Tatsächlich, am Sonntag um achtzehn Uhr waren sie da, die zwei Alten mit meinem kleinsten Bruder, und ich umarmte sie alle. Ich weinte vor Trauer und Freude zugleich. Sie brachten mir Anziehsachen mit, die ich am liebsten gleich angezogen hätte. Nach einem ganzen Jahr hatte ich nun erstmals Besuch gehabt und das war für mich ein Gottesgeschenk. Eine ganze und eine halbe Stunde durfte ich bei ihnen bleiben und habe mit meinem kleinen Bruder gespielt. Dann hielt der Kleine mich fest, als sie gehen mussten, und wollte mein Bein nicht mehr loslassen. Am Mittwoch darauf gab's einen neuen Beschluss vom Verwaltungsgericht. Darin wurde bestätigt, was ich bis dahin gar nicht begriffen hatte. Dass ich nämlich aus Deutschland wegen meiner Straftaten unwiderruflich ausgewiesen werde und die deutschen Richter mir keinerlei Hoffnung machen, dass ich diese Perspektive wenden könnte. Trotzdem hatte ich mich riesig gefreut, als ich im April 1997 mein gutes Zeugnis für sechs Monate Malerarbeiten bekam. Ich telefonierte alle zwei Tage nach Hause und hatte wieder das alte Gefühl in mir. Noch einmal haben sie mich besucht, und seit dem habe ich sie nicht mehr gesehen. Meine
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Schwester Rabija kam zu Besuch, die mir ihre letzte Zeit mit unseren Eltern schilderte. Sie sprach mit Tränen in den Augen und ich weinte mit ihr. Sie hatte sich von ihrem Mann Ago getrennt, ist abgehauen und ging zu meinen Eltern. Die bestanden darauf, dass sie wieder zurückgeht, aber sie folgte nicht, sondern lief am nächsten Morgen auch von dort weg. Sie war zwei Monate unterwegs und fand einen neuen Freund, der zehn Jahre älter ist als sie. Sie lebte zusammen mit ihm in einem Heim in der Lietzenburger Straße und erzählte mir, wie nett er zu ihr war und dass sie ihn liebte. Doch eines Abends klopfte es an der Wohnungstür und sie machte auf. Plötzlich drangen meine Eltern und Onkel herein und schlugen den Mann zusammen. Sie wurde gefesselt, in ein Auto gesteckt und nach Hause gebracht. Dort banden sie die Gefesselte an und schnitten ihr die langen Harre auf null ab, auch die Augenbrauen. Darum trug sie ein Kopftuch. Vor drei Wochen sei das passiert und sie wusste nicht, wie weiter. Im selben April bekam ich meinen ersten Ausgang, den meine Lehrerin begleiten musste. Vier Stunden durfte ich raus und ich hatte schon wochenlang am Telefon angekündigt, dass ich dann meine Eltern treffen wollte. Auch sie sagten jedes Mal: «Das ist schön, wenn du kommst!» Doch fünf Tage vorher brach ich mir das Schlüsselbein, als ich von den Knien eines netten Jungen herunterrutschte, mit dem ich oft etwas Sport machte und auch Blödsinn. Das war aber betreffs Ausgang kein Problem, solange mich nur die Lehrerin begleitete. Der Tag kam heran. Ich war echt aufgeregt und freute mich riesig. Um zehn Uhr rief ich noch zu Hause an, dass wir uns um dreizehn Uhr an der Gedächtniskirche treffen würden, und mein Vater bestätigte. Um zwölf Uhr Mittags war ich seit vierzehn Monaten das
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erste Mal in Freiheit und das machte mich echt kirre. Am liebsten wäre ich losgerannt, um so schnell als möglich etwas vom Ausgang zu haben. Aber ich wollte mich vor der netten Lehrerin nicht daneben benehmen. Wir gingen zum Ku'damm, und ich erzählte noch mal, dass ich dort meine Eltern treffen wollte, was sie doch schon wusste. Nun waren wir am Treffpunkt und verwarteten die kostbare Zeit in Freiheit. Ich lief auch, sie zu suchen, aber sie waren nicht da. Weil ich kein Geld hatte, gab mir die Lehrerin ihre Telefonkarte. Als meine Mutter dran ging, redete sie sich mit einer Grippe heraus, und dass sie alle sich deswegen nicht vom Fleck rühren könnten. «Warum kommst du nicht nach Hause?» Aber das durfte ich erst beim nächsten Ausgang. Das erklärte ich ihr und sie legte einfach auf. Die Lehrerin sah meine Enttäuschung und schlug vor, in den Zoo Tiere gucken zu gehen. Sie wollte mich ermutigen, denn ich war traurig. Sie lud mich zum Zoo ein und dort haben wir Eis gegessen und danach in eine Pizzeria, was sie auch bezahlt hat. Ich schämte mich, dass sie immer bezahlte, aber ich hatte keine Mark in der Tasche. Um sechzehn Uhr waren wir wieder im Knast und ich bat sie, nichts von dem Fiasko mit meinen Eltern zu erzählen. Die Sozialarbeiterin freute sich, dass ich unbeschadet zurück war. Seitdem bekam ich öfters Ausgänge. Als ich zur Schule ging, wurde ich sogar Freigänger, um jeden Tag hingehen zu können, aber abends um zwanzig Uhr musste ich wieder zurück sein. Beim zweiten und dritten. Ausgang ging ich nach Hause und meine Eltern waren schon wieder umgezogen. Sie freuten sich überhaupt nicht, als ich kam, trotz der langen Zeit. Als ich dann zurück musste, war ich jedes Mal traurig und hatte auf Station immer schlechte Laune. Mein erster
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Ausgang über ein ganzes Wochenende ging zwar auf dem Papier auch nach Hause, aber da war ich nicht. Ich wollte in einer Disco abtanzen, aber mir fehlte das Geld dafür. So ging ich zum Bahnhof Zoo. Dort wollte ich einen Freier finden, um den Eintritt zu verdienen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen meines «Rückfalls». Doch ich sagte mir: «Einmal und nie wieder.» Damals war ich noch sechzehn, hatte mich schick angezogen und lief hin und her. Einige erkannten mich wieder, aber mit denen wollte ich nichts zu tun haben, denn ich empfand sie ekelhaft. Die Zeit verging. Viele sprachen mich an, aber ich wollte nicht. Ich erschrak, als mir meine Uhr sagte, es sei schon ein Uhr dreißig. Aber es stimmte. Da kamen zwei Freier auf mich zu. Einer hieß Olaf, war ein bisschen betrunken und fragte: «Wie viel nimmst du denn so, du geile Sau?», vielleicht nur aus Neugierde. Ich wollte nichts sagen und ging weg. Kurz darauf kamen die beiden wieder und der Andere namens Robert fragte mich in ruhigem Ton und ganz freundlich. Weil es für die Disco schon zu spät war, dachte ich auch daran, dass ich irgendwo schlafen musste. So sagte ich, «hundertfünfzig Mark», und Olaf meinte: «Huch, ist die aber teuer.» Robert warf sich immer mehr an mich ran und fing schon auf dem Bahnhof an, mich zu streicheln. Da rückte ich zunächst weg. Doch Olaf ging, weil er «was anderes» gesehen hatte und wir blieben alleine zurück. Er wollte wissen, was ich alles mache und ich sagte: «Nichts». Dann fragte er, ob ich mit ihm nach Hause gehen wolle. Ich wollte und er informierte Olaf, schüttelte seine Hand und kam zurück. Dann mussten wir noch mit dem Bus fahren. Der stand schon bereit und wir mussten flitzen, um ihn nicht zu verpassen. Während der Fahrt saßen wir ganz vorne oben und ich hörte Musik.
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Ich überlegte noch, ob das richtig oder falsch war, aber ich dachte, dass ich keine andere Wahl habe. Ich würde dort schlafen und morgens nach Hause gehen? Nein, das wollte ich nicht. Ich will meine Freiheit genießen und mir nicht mit den Alten die Laune verderben! Morgen würde ich spazieren gehen, einen neuen Schlafplatz finden und Sonntag zurück in den Knast gehen. Robert hatte eine schöne Wohnung, zusammen mit zwei anderen. Einer heißt Hans und der andere ist dessen Freund namens Kai. Er zeigte mir alle Zimmer und die Küche, die allesamt schön aufgeräumt waren. Nur ein kleines Zimmer stank nach den Käsfüßen des Freundes von Hans und war nicht aufgeräumt, so dass Robert lachen musste. Ich wollte wissen, wo die zwei jetzt sind und erfuhr, dass sie in seiner Kneipe arbeiten. Er erzählte mir von seiner Diskothek in Leipzig, und ich dachte im Stillen, dass ich von so jemand ruhig mehr verlangen könnte, als poplige hundertfünfzig Mark. Er zeigte mir unseren gemeinsamen Schlafplatz, eigentlich ein ganz kleines Zimmerchen, aber richtig gemütlich. Ich zog mich aus, legte mich in das weiche Bett und deckte mich zu. Auch er zog sich aus und ich sah, dass seine Beine und seine Brust Operationsnarben hatten. Als er sich hinlegte, fragte ich ihn danach. Er hatte schon dreimal einen Herzinfarkt überstanden. «Und ich lebe noch immer», lachte er. Dann zeigte er mir alle Narben und wo sie was rausgenommen haben für die Bypässe. Mir kam das vor, wie ein Horrorfilm. Aber er lachte so herzlich darüber, dass er mich mitriss. Dann fing er an, mit meinem Schwanz rumzufummeln, aber er merkte gleich, dass ich nicht in Stimmung war und mich irgendetwas bedrückte. Er wollte wissen, was los sei und ich wollte auch mit jemandem reden. Aber ich dachte, mit so einem kann ich doch nicht wirklich reden. Er ist zwar nett, aber hat bestimmt nur Sex im Kopf. So
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schwieg ich. Dann fragte er, ob ich noch bei den Eltern wohne und als ich verneinte, ob ich denn im Heim oder vielleicht alleine wohne. Da überlegte ich kurz und beschloss, ihn nicht anzulügen, zumal ich zum Lügen auch viel mehr Zeit brauche, bis ich mir etwas überlegt habe: «Ich wohne im Knast.» Natürlich wollte er alles wissen und ich sagte ihm: «Das ist eine lange Geschichte.» - «Du kannst mit mir reden, und wenn ich kann, helfe ich dir!» Dann habe ich aber doch nicht reden wollen, sondern fühlte mich auf einmal so kindlich. Ich umarmte ihn zärtlich und hatte mit ihm zum ersten Mal in meinem Leben so richtig guten Sex. Danach schämte ich mich ein bisschen und als wir mit der Liebe fertig waren, wollte ich auf einmal reden. Ich erzählte ihm mein Leben, auch von meinen Straftaten, aber ich wurde schnell müde und bin gleich eingeschlafen. Am frühen Morgen haben wir noch mal Liebe gemacht. Und ich dachte bei mir: «0 Gott, ich bin wirklich schwul! Ich hab das alles ja mitgemacht und zwar echt gerne!» Ich ging duschen und er machte Frühstück. Auch Hans saß neben mir am Frühstückstisch und irgendwann kam sein Freund Kai dazu. Ich fühlte mich echt super. Ein stolzer Schwuler unter lauter netten Schwulen. Noch immer hatte ich dieses kindliche Gefühl in mir und Freude hab ich gehabt wie nie zuvor. Wir frühstückten zu viert, aber ich hatte nur Augen für Robert. Ich fand ihn wirklich nett, also sind Tunten doch nette Leute, und da fuhr mir plötzlich wieder der Kummer in den Bauch, denn schon morgen musste ich wieder zurück. Den ganzen Tag war ich dann mit Robert zusammen und wusste wegen des Kummers im Bauch nicht, ob ich wirklich in ihn verliebt bin. Als ich fertig erzählt hatte, wollte er wissen, ob er mich im Knast besuchen kann. Aber ich lehnte ab, denn ich wollte vermeiden, dass die Sozialarbeiterin mitbekam, dass ich anschaffen war. «Warum sagst
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du nicht einfach, dass du einen Freund gefunden hast?» Da musste ich lachen und sagte, das sei unmöglich. Aber ich konnte ihn ja täglich besuchen, wenn ich zur Schule rausging. Nach dem Unterricht könnten wir dann zusammen sein. «O.k.» sagte er, «ich bin immer für dich da!» und ich bedankte mich. Robert war neunundvierzig Jahre alt und ich war sechzehn. Nach diesem Wochenende besuchte ich ihn täglich und war glücklich in seiner Nähe. Meinen Eltern dagegen erzählte ich, ich müsse gleich nach der Schule in den Knast zurück. Um sechs Uhr verließ ich den Knast, um acht fing der Unterricht an, der bis dreizehn Uhr dauerte. Drei Tage pro Woche gab's richtig Schule und an zwei Tagen lernte ich in einer großen Metallwerkstatt. Die Arbeit gefiel mir nicht, aber Schulunterricht fand ich toll. Nach Mittag hatte ich bis sechzehn Uhr Zeit und diese Stunden verbrachte ich immer mit Robert. Wir trafen uns immer in seiner Kneipe, die nicht weit von der Metallwerkstatt weg war. Da gab es ausschließlich Schwule. Und erst, als ich eifersüchtig wurde, merkte ich, dass ich in Robert verliebt war. Auch er liebte mich und war noch viel eifersüchtiger, zumindest aber genauso wie ich. Nach einem Kurzbesuch zu Hause am Wochenende bot mein Vater mir an, mich mit dem Auto hinzubringen und ich ließ mich fahren. Denn bei einer Ablehnung hätte er bestimmt etwas mitbekommen oder geargwöhnt von meinem neuen Leben mit Robert. So war ich schon eine Stunde zu früh zurück und nutzte die Zeit zum Duschen und schick Machen, bevor ich um zwanzig Uhr wieder das Haus verließ. Sofort ging ich in Roberts Kneipe. Er freute sich und ich freute mich. Schon zum zweiten Mal hatte ich fünf Mark in
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einen Automaten geschmissen und jedes Mal gewann ich zwischen zweihundertfünfzig und dreihundert Mark und Robert freute sich mit mir darüber. Als einige Freier begannen, mich anzusprechen, wurde Robert eifersüchtig, setzt sich neben mich und wollte damit klarstellen, dass ich zu ihm gehöre. Er drängte mich, mit ihm nach Hause zu gehen. Ich wollte schon, aber erst noch ein bisschen spielen. Gegen zweiundzwanzig Uhr gingen wir dann zu ihm, während Hans und Kai die Kneipe bis vier Uhr offen hielten, bevor sie heimkamen. Robert und ich machten es uns gemütlich, schauten noch einen Film und gingen dann zeitig schlafen. Ich liebte ihn immer heftiger und das lag nicht bloß am Sex, sondern gerade darum, weil er so viel älter war als ich und mein Vater hätte sein können. Ich habe noch nie jemanden so geliebt wie ihn und das war mein Glück, ihn kennen zu lernen. Eines Tages erzählte ich meiner Sozialarbeiterin von Robert. Ich hätte jemanden kennen gelernt, der auch gerne zu Besuch käme, denn meine Eltern kämen schließlich nie. Sie wollte wissen, was für einer das sei und ich schilderte den Mann und dass er mir helfen wolle. Um keinen Freierverdacht zu nähren, erzählte ich, ich hätte ihn und seine nette Frau in ihrer Kneipe kennen gelernt. Doch die Sozialarbeiterin wollte erst mal mit ihm sprechen. Da rief ich gleich Robert an und der sagte immer «ach, mein Kleiner» zu mir. Ich bat ihn, mir zuzuhören, denn ich hatte doch mit der Sozialarbeiterin geredet und sie will dich erst einmal selbst sprechen. Er wollte sofort vorbeifahren, aber ich sagte ihm, sie wolle ihn morgen anrufen und befragen, wie genau wir uns kennen gelernt hätten. Bitte sag ihr, was ich ihm gesagt habe, nämlich dass wir uns zusammen mit deiner Ehefrau in eurer Kneipe kennen gelernt hätten. Er war etwas unwillig, weil er ja gar keine Frau hatte, aber ich sagte ihm, er solle halt so tun und da war er einverstanden.
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Am nächsten Tag war alles wie immer und ich kam pünktlich um sechzehn Uhr zurück in den Knast, als mich die Sozialarbeiterin gleich sprechen wollte. Mit schlechtem Gewissen schlich ich in ihr Büro. «Sabanovic, wenn Sie der Meinung sind, dass Sie dieser Mann besuchen soll, ist das Ihre Entscheidung. Ich habe nichts dagegen.» Ich bedankte mich, küsste sie vor Freude auf die Wange und sie lachte. Sofort musste Robert die gute Neuigkeit erfahren. Er wusste das schon und ich füllte glücklich meinen Besucherschein aus. Er kam das erste Mal nicht alleine, sondern zusammen mit Hans, der schon seit seinem zehnten Lebensjahr immer mit Robert gelebt hat. Das sind nun fast achtundzwanzig Jahre inzwischen und sie verstehen sich wirklich gut. Früher besaßen sie gemeinsam eine Disco in Leipzig, aber weil Robert von der vielen Arbeit seine Infarkte davontrug, verpachtete er den Schuppen, zog nach Berlin und sie machten gemeinsam eine neue Kneipe auf. Zu dem Zeitpunkt, wo wir uns kennen lernten, war er noch immer schwer krank, doch es begann ihm auch durch unsere Freundschaft langsam besser zu gehen. Er ging eigentlich nicht mehr arbeiten, sondern besuchte seine Kneipe wie ein Gast. Entweder besuchte er mich im Knast oder ich ging zu ihm. Einmal besuchte ich auch wieder meine Eltern, wo ich erfuhr, dass meine Schwester Rabija erneut abgehauen war, diesmal in ein Frauenhaus. Meine Eltern wollten sie dort besuchen, hatten aber Hausverbot. Meine Mutter versuchte, mich zu überreden, ob ich nicht zu ihr gehen könne, um ihr zu sagen, sie möge doch nach Hause zurückkehren und dass sie ihren Mann Ago verprügelt und rausgeschmissen hätten, so dass sie nicht mehr bei ihm bleiben müsse. Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber was sollte ich machen?
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So ging ich mit Ago zum Frauenhaus, Ago versteckte sich und ich klingelte. Eine Betreuerin kam heraus: «Was wollen Sie?» Auf meinen Besuchswunsch antwortete sie, dass meine Schwester aber keinerlei Besuch wünsche. Da bat ich darum, dass ihr ausgerichtet würde, Miro sei hier und wolle sie sehen. «Ich kann sie noch mal fragen», meinte sie dann, ich wartete und bald kam sie mit meiner Schwester zurück. Ich konnte sie hinter der Glastür allerdings kaum erkennen. Von hinten wurde sie irgendetwas gefragt und sie nickte zustimmend. Da wurde mir aufgeschlossen und ich durfte sie besuchen. Sie weinte und umarmte mich, brachte mich zu ihrem Zimmer und sie erzählte zitternd und bebend, was meine Eltern mit ihr angestellt hatten. Sie wollte diesen Mann nicht, so zwangen sie unsere Eltern mit Ago zusammen zu sein. Sie wurde an einen Stuhl gefesselt und mein Vater nähte ihr die Vagina zu. Sie konnte kaum reden, weil sie unablässig in Tränen ausbrach. Ich weinte mit ihr, denn ich bin immer so ein Weichei, wenn ich jemand heulen sehe. Da versuchte ich, sie zu beruhigen und zu ermutigen, mit mir spazieren zu gehen. Es gab einen kleinen Park mit einer Mauer darum, der zum Frauenhaus gehörte, fast wie mein Knast. Dort gingen wir umher und ich offenbarte ihr, dass draußen Ago auf mich wartete. «Lass den Idiot warten», sagte sie. Auf der Wiese wurde Volleyball gespielt und ich versuchte, sie damit auf andere Gedanken zu bringen. Erst wollte sie nicht, doch dann fragte sie, ob wir mitspielen dürfen und die anderen freuten sich. So spielten wir drei oder vier Stunden und ich sagte zu ihr: «Große, du weißt, dass ich dich liebe. Ich will nicht, dass du dir irgendetwas antust. Du bist doch viel älter als ich. Dich kann niemand zwingen, mit Ago zusammen zu sein. Du bist doch schon zweiundzwanzig und wenn du nur den Willen hast, etwas aus deinem Leben zu machen,
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dann tu es doch. Ich halte zu dir!» Dann musste ich gehen und sie brach wieder in Tränen aus. Ich küsste sie und sagte: «Ich hab dich lieb. Auch ich würde an deiner Stelle weglaufen.» Da lachte sie und ich ging. Draußen wartete Ago noch immer, war stinksauer und schrie mich an: «Hast du sie gefickt oder was?» Doch ich war plötzlich ganz selbstbewusst: «Hör zu Ago, du hast mir überhaupt nichts zu sagen und sofort hörst du auf rumzuschreien, ich hätte meine Schwester gefickt. So einer bin ich nicht. Wenn du deine Schwester fickst, ist das eine andere Sache und damit es klar ist: Ich sage alle deine Worte meinem Vater!» Da war er still und ich hatte mir Luft gemacht, denn ich konnte ihn noch nie leiden. Unterwegs wollte er wissen, was sie gesagt hatte. Doch das geht ihn nichts an und so habe ich bis zu Hause kein Wort mit ihm gesprochen. Zu Hause wollten alle wissen, wo wir so lange gewesen seien und ich log, ich hätte versucht Rabija zu überreden, aber sie wolle nicht. Ich behauptete sogar, ich hätte ihr gesagt, Ago sei nicht mehr im Haus, dass sie das aber nicht geglaubt hätte. Mein Vater knurrte: «Diese Hure.» Dann beschwerte ich mich über Ago. Er sei nur mein Schwager und nicht mein Vater. Trotzdem habe er mich angebrüllt und sogar gesagt, ich hätte meine Schwester gefickt. Da musste ich heulen und mein Vater wollte von Ago wissen, ob das wahr sei. Der bejahte und sagte, er sei eben wütend gewesen. Da knallte mein Vater ihm mindestens vier saftige Ohrfeigen und schlug mit der Faust mitten in sein Gesicht. Ich wollte schon laut lachen, beherrschte mich aber und freute mich still. «Das war für meine Schwester, du Miststück», dachte ich. Dann blieb ich noch etwas dort und ging in den Knast zurück, allerdings nur um den Urlaubsschein abzuholen, denn wenn ich gewollt hätte, hätte ich bis zum nächsten Morgen bleiben können.
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Nach zwei Monaten wurde meine Strafe in «Bewährung» umgewandelt wegen guter Führung und (man glaubt es kaum) gutem Benehmen. Ich hatte achtzehn Monate abgesessen und den Rest zu den zwei Jahren gaben sie mir nun «Bewährung». Meine Eltern sollten nichts von meiner Entlassung erfahren, denn ich zog noch am selben Tag bei Robert ein. Er war inzwischen nach Neukölln umgezogen, gar nicht weit von meinen Eltern und ich fürchtete, sie könnten mich sehen. Ich hatte viel gelernt im Knast und konnte schon Bücher lesen. Zwar verstand ich nicht alles, aber doch vieles. Ich hatte sogar eine ganz schöne Handschrift entwickelt und möchte mich an dieser Stelle noch mal ganz herzlich bei meiner Lehrerin bedanken, die mich so weit gebracht hat mit ihrer Hilfe und Mühe. Rechnen fiel mir schwerer, aber ich kann schon «plus» und «minus» und auch ein bisschen «mal». Manches hab ich auch im Schulunterricht gelernt. Vor der Knastzeit konnte ich gar nichts von all dem und ich muss zugeben, dass mich die achtzehn Monate reifer gemacht haben. Ich wusste nun, dass ich für jemanden etwas wert war und nicht nur fürs Klauen geeignet bin. Bei Robert hatte ich ein eigenes Zimmer, das ich nach meinem Geschmack mit Fernsehen und Video einrichtete. Denn wegen meiner Straftaten war die Duldung nicht wieder verlängert worden, was ich damals nicht begriffen hatte. Aber Robert wollte mich bei sich polizeilich anmelden und da fiel es auf. Ich kannte eine Beratungsstelle für ausländische Straftäter und wurde von dort zu einem Büro von Pax Christi geschickt, das speziell mein Problem behandelte. Dort lernte ich Herrn Hauschild kennen, der auch sofort etwas unternahm. Ich erzählte ihm mein Leben und die Misshandlungen durch meine Eltern. Das war mit einem Besuch natürlich nicht möglich und so hatte ich eine Zeit lang wöchentlich zu kommen. Ich hatte großes Ver-
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trauen zu ihm und er bemühte sich um meinen Aufenthalt, der vielleicht dadurch möglich wurde, dass ich so schwer misshandelt worden war. Ein- oder zweimal pro Monat musste ich außerdem meinen Bewährungshelfer aufsuchen. Eigentlich gab es eine Menge Leute, die mir wirklich weiterhalfen. Ich ging wieder regelmäßig zur Schule und hatte auch ein Hobby, denn ich fuhr so gerne Inliner oder Fahrrad, und der arme Robert musste immer mitkommen. Denn das Rumsitzen tat ihm gar nicht gut und er wurde wieder zusehends kränker, was sich aber nach jedem Ausflug besserte und aufheiterte. Morgens ging ich zur Schule und Nachmittags unternahmen wir etwas, ich mit Inliner und er mit dem Fahrrad, was ihm echt gut tat. Nun wussten meine Eltern schon seit drei Monaten nicht, dass ich frei war und ich rief auch nicht an. Einmal traf ich in Roberts Kneipe den Kleinen, mit dem zusammen ich meine ersten Erfahrungen als Stricher gesammelt hatte und der sprach davon, dass er mal mit Robert im Bett war. Ich wurde total eifersüchtig und stritt mich mit Robert darüber. Eigentlich hatte ich keinerlei Anlass, aber ich wurde so wütend, dass ich begann, den Kleinen zu verdreschen. Da ging Robert dazwischen, dem ich auch aufs Auge boxte und dann ging ich nach Hause. Als er später heimkam, war sein linkes Auge ganz blau von meinem Schlag und das tat mir echt leid. Eine Woche lang hing der Haussegen schief und wir provozierten uns gegenseitig. Trotzdem liebten wir uns innig. Ich war meistens am Abends in Roberts Kneipe, wo ich viele Jungs schon Jahre lang vom Anschaffen kenne. Aber die Jungs in der Kneipe erzählten wohl hinter meinem Rücken meinen Eltern von meiner Entlassung. Zum Glück
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kannte keiner die neue Adresse von Robert. Zwar hatte Robert vor der Tür eine Überwachungskamera. Aber ich hatte keinen Spaß mehr dort, weil verschiedene Jungs erzählten, dass mich meine Familie überall sucht. Eines Abends sah ich mir zu Hause die Überwachungsvideos an und erkannte meinen Bruder Buco, der also am selben Abend dort gewesen sein musste. Ich hatte Angst und das Herz schlug mir bis zum Hals. Seither ging ich erst mal nicht mehr in die Kneipe, sondern gleich nach der Schule nach Hause. Ich hatte auch keine Freude mehr an meinem Hobby, sondern blieb immer in der Wohnung außer beim Schulbesuch. Vielleicht eine Woche später sah ich beim Verlassen des Klassenzimmers gegen dreizehn Uhr durch ein Fenster, dass mein Vater und Buco im Schulhof auf mich warten. Sie hatten mich aber glücklicherweise nicht bemerkt und so ging ich in den vierten Stock zurück. Zwei Jungs, die mit mir zur Schule gingen, aber schon nach einem Monat wieder rausgeschmissen wurden, kannten meine Eltern auch und vielleicht haben sie denen gesteckt, wo meine Schule ist. Im Klassenzimmer bat ich meine Lehrerin, mich vor meiner Familie zu schützen, die unten auf mich wartete. Sie kannte schon meine Geschichte und wollte wissen, ob sie mich gesehen hätten. Da dies nicht so war, sollte ich hier warten, bis sie die Polizei geholt hätte. Doch das wollte ich auf keinen Fall, sondern mich bloß verstecken, bis sie gegangen wären, und sie war einverstanden. Sie kundschaftete nach einer Stunde aus, ob die zwei irgendwo zu sehen wären, aber sie waren weg. So schlich ich vorsichtig nach unten und blickte die ganze Zeit ängstlich um mich. Dann rannte ich wie wahnsinnig zur U-Bahn und war dankbar für mein Glück, aus dem Fenster geschaut zu haben. Zu Hause erzählte ich Robert alles und wollte nun auch nicht mehr zur Schule gehen. Ich rief auch
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gleich dort an, um Bescheid zu geben, dass ich es geschafft hätte, aber mich nicht mehr trauen würde, wieder zu kommen. Da wurde die Lehrerin ganz traurig, aber was sollte ich tun? Auch Herrn Hauschild von Pax Christi und meinen Bewährungshelfer rief ich an, um mich bis auf Weiteres abzumelden. Ich war ein guter Schüler gewesen und wurde oft gelobt, aber das war nun vorbei, denn ich traute mich lange nicht mehr aus dem Haus. Ich lernte nun mit Robert, aber der war kein guter Lehrer. Denn ich tanzte ihm auf der Nase herum, wusste alles besser, obwohl alles falsch war, denn mit ihm hatte ich keine Lust zu lernen. Er ließ mir keine Zeit wie die Lehrerin, sondern sagte immer gleich, wie etwas richtig zu schreiben sei, was ich ihm aber nicht glaubte. Nach zwei bis drei Wochen traute ich mich mal gegen achtzehn Uhr, einen Spaziergang zum Ku'damm zu machen und irgendwie zog mich der Bahnhof Zoo magisch an. Das war mein Fehler. Ich hielt mich recht lange dort auf und freute mich über all die alten Bekannten aus dem «Filou». Seit meiner Entlassung war ich nicht mehr dort gewesen und traf wieder den Kinderkarsten und andere Freier, die so nett zu mir gewesen waren. Als ich gegen Mitternacht nach Hause ging, hielt neben mir ein Wagen, was ich nicht weiter beachtete. Plötzlich packte mich mein Bruder Buco von hinten an den Haaren, schleifte mich in sein Auto und schubste mich mit Gewalt hinein. Ich saß eingeklemmt zwischen Buco und meinem Vater, der mich ebenfalls brutal an den Haaren riss und bis auf seine Knie runterdrückte. Die zwei vorne kannte ich nicht, aber sie sahen aus wie Mafiosi in einem Film. Niemand sprach während der Fahrt. Es ging wieder in ihr «zu Hause». Buco verdrehte mir den Arm auf dem Rücken wie ein Polizist und führte mich in die Wohnung «ab». Mein Vater be-
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sprach noch was mit den Männern und kam dann auch. Mein Bruder schubste mich vor sich her in die Küche, wo meine Mutter und die anderen Geschwister saßen, teilweise auf dem großen Sofa, teilweise auf dem Boden. Ich hatte Herzklopfen und mir wurde schwindelig vor Angst. Ich sah sie zwar alle, aber verschwommen und so, als wären sie mindestens fünfzig Meter entfernt. Fast wäre ich in Ohnmacht gefallen, da hörte ich von ferne meine Mutter: «Hör mir zu. Ich schwöre dir bei meinen Kindern, dass ich dir nichts antun werde. Aber dafür musst du deinem Bruder helfen. Denn der hat bald seinen Gerichtstermin wegen der Messerstecherei, mit der er seine Frau lebensgefährlich verletzt hatte. Du musst aber als Zeuge aussagen, dass er zu dieser Zeit bei der Fahrstunde war, sonst muss er in den Knast.» Ich protestierte und wies auf meine Bewährung hin. Sofort sprang Buco auf und trat mich, was mir aber nicht wehtat. Meine Mutter schlug mich zweimal ins Gesicht: «Lieber bist du mit deinen Schwulen zusammen, als deinem Bruder zu helfen.» Mein Vater sagte, er könne schwören, dass ich sofort abhauen würde, wenn man mich ließe. «Doch er hat keine Chance», und er bat Aljo, ihm den Gürtel aus der Hose zu ziehen. «Mama bitte, ich schwöre, ich werde alles sagen!» Doch mein Vater gab ihr den Gürtel, aber sie gab mir bloß drei feste Hiebe auf die Beine, die durch meine Jeans hindurch schmerzten. «Los!», sagte mein Vater und meine Mutter befahl mir in das Nebenzimmer zu gehen, das sie abschloss. Dort schlief mein kleinster Bruder tief in seinem Beffchen und ich streichelte ihn. Ich hätte gerne aus dem geöffneten Fenster um Hilfe gerufen, aber ich traute mich nicht, auch nicht herunterzuspringen. Ein Telefon war im Raum, aber als ich in seine Nähe ging, schloss plötzlich mein großer Bruder die Tür auf und ich ging schnell zur Seite und tat so, als weinte ich noch. Er
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guckte bloß und schloss wieder ab. Sofort wählte ich Roberts Nummer, doch da war nur der Anrufbeantworter dran, auf den ich flüsterte, dass meine Eltern mich gekidnappt hatten. Dann legte ich sofort wieder auf, denn alle paar Minuten wurde ich ja kontrolliert, und so setzte ich mich ruhig in eine Ecke. Das nächste Mal ließ Buco die Türe unabgeschlossen und ich wählte die 110. Der Polizist am anderen Ende verstand mich nicht, weil ich ja so leise sprechen musste. Ich legte gerade noch auf, fast hätte mich Buco erwischt. Ich sollte ihm in die Küche folgen und setzte mich neben den Herd. Doch er wollte etwas «spazieren gehen». Er brachte ein Seil und meine Mutter fesselte meine Hände vor meinem Bauch und steckte mir einen Waschlappen in den Mund. So brachte er mich in den Keller, wo ich wegen der Dunkelheit überhaupt nichts sehen konnte. Er führte mich vor eine kleine Kellertür und schloss auf. Ich hatte schon Angst, dass er mich hier umbringen wollte oder einfach auf den Boden schmiss. Das war aber gar kein kleiner Raum, sondern eine Art Flur, wo wir mehrmals verschieden abbiegen mussten, bis er vor einem bestimmten Kellerraum Halt machte. Dort war nur ein Stuhl und ein winziges Fenster mit Fliegengitter davor. Er fesselte mich an den Stuhl und band auch meine Beine zusammen. Die Hände waren immer noch vorne gefesselt und er schlug mir seine Faust mit aller Kraft in den Bauch, so dass ich dachte: «Mein Gott, jetzt bin ich erledigt!» Er ging aber sofort und ließ die Tür unabgeschlossen. «Gute Nacht, du schwule Sau, bis morgen!» Bald schliefen meine Beine ein. Als er eine Viertelstunde lang weg war, versuchte ich, mich zu befreien. Ich hörte Mäuse, die sich gegenseitig zufiepten und hatte Angst. Mit den Zähnen wollte ich wie eine Maus die Hände frei nagen, aber der Strick war zu fest. So wackelte ich den Stuhl hin und her, bis ich auf die Seite fiel, wo
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ich besser mit dem Kopf an die Knoten herankam. Es war saukalt in diesem Keller, trotz Pullover und langen Hosen. Was sie sich wohl dabei gedacht hatten, mich so zu fesseln! Schließlich schaffte ich es mit viel Mühe, einen Knoten nach dem anderen zu lösen und meine Hände waren frei. Ich löste das Seil von den Füßen, stand auf und ging zur Tür, die zwar verriegelt, aber nicht abgeschlossen war. Erst sah ich kaum etwas, doch dann bemerkte ich eine Lücke in der Wand, durch die ich auf den Flur schlüpfte. Ich hatte keine Ahnung, wo der Ausgang sei und tastete mich um viele Ecken an der Wand entlang. Als ich dabei einen Mantel ertastete, der an einem Haken hing, wärmte ich mich erst mal auf. Da sah ich ein bisschen Licht und zwar anderes, als in dem Keller, wo ich festsaß. Ich drückte gegen das Fenster und stand sofort im Innenhof des Hauses. Ich beobachtete, wie an der Eingangstür jemand Licht machte und dass bei meinen Eltern alles hell erleuchtet war. Auch waren schnelle Schritte zu hören. Ich kroch hinter ein Gebüsch. Tatsächlich, es war mein Bruder. Als der nicht mehr zu sehen war, schlüpfte ich durch den dunklen Gang an der anderen Hausseite und stand plötzlich auf der Straße. Doch mein Bruder wachte auf der anderen Straßenseite, sah mich und rannte auf mich zu. Ich knallte ihm die Eingangstür vor der Nase zu, rannte zurück in den Hof, fand einen anderen Ausgang in der Parallelstraße. Ich war völlig durcheinander und rannte um mein Leben. Er fand mich dann nicht mehr. Doch wohin jetzt? Zu Robert traute ich mich nicht, denn da hätte ich wieder umkehren müssen, also lief ich langsamer und machte eine Pause. Sollte ich zur Polizei gehen? Auch das traute ich mich nicht. Ich war dann gegen vier Uhr früh schon ganz weit gelaufen und bestieg die erste U-Bahn, in der ich fast einschlief. Ich fuhr bis Wittenbergplatz, stieg aus und wusste nicht wohin. Ich wurde total wütend und
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dachte wieder an eine Anzeige. Es war mir jetzt egal, ob sie mich dafür umbringen würden. Meine Wut wuchs und so ging ich tatsächlich in ein Polizeirevier. Ich erzählte, was passiert war, es wurde ein Protokoll angefertigt und dann sollte ich auf die Kripo warten. Nach drei Stunden bereute ich es schon, dorthin gekommen zu sein, weil nichts geschah. Ich sagte am Schalter, dass ich jetzt gehen möchte, weil ich völlig erschöpft sei. Aber der Beamte bedauerte, er könne mich nicht gehen lassen, bevor die Kripo da war. «Die wollte Ihren Bruder schon seit Längerem verhaften und Sie sind derjenige, der wirklich etwas von ihm weiß.» Um acht Uhr war endlich ein Kriminalbeamter da, aber der interessierte sich nur dafür, wie mein Bruder seine Frau abgestochen hat. Da wurde ich sauer, denn ich war schließlich gekommen, um meine Misshandlungen zur Anzeige zu bringen. Da wurden sie böse und ich verlor jede Lust, mit ihnen zu reden. Ich erzählte bloß die Hälfte und wollte nach Hause, aber sie ließen mich nicht. Um zehn Uhr riefen sie bei Robert an, aber der wollte mich nicht abholen, denn ich könne schließlich alleine kommen. Da wurde ich endgültig sauer und hätte Robert am liebsten verkloppt, weil er offensichtlich glaubte, ich sei wieder beim Klauen erwischt worden. Doch gegen elf Uhr kam er dann doch und ich war stinksauer auf ihn. Ich wollte wissen, ob er den Anrufbeantworter nicht mehr abhören würde, aber er hat nicht verstehen können, was ich draufgeflüstert hatte. Ich wurde immer wütender durch all den Scheiß und das lange Warten. Zu Hause legte ich mich sofort ins Bett und schlief den ganzen Tag. Eine Woche drauf kamen drei Kripobeamte zu uns, eine davon war eine Frau. Wir saßen im Wohnzimmer und alle waren nett zu mir. Als ich die Sache mit dem Keller geschildert
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hatte, fragten sie gleich wieder über die Geschichte mit der abgestochenen Frau. Ich sagte, dass ich mich nicht traue, darüber zu reden. Doch ein Beamter sprach mich freundlich mit Vornamen an: «Ich verspreche dir, dass wir dir helfen, wenn du uns hilfst. Ich weiß ja, dass du abgeschoben werden sollst und könnte dir Aufenthalt und Arbeitserlaubnis beschaffen.» Robert kam dazu und meinte, ich müsse das selbst wissen, er halte sich da raus. Die Frau gab mir das Ehrenwort der Polizei. Ich sagte, dass ich sagen würde, was ich weiß, aber dass sie mich raushalten müssten und sie waren einverstanden. So legte ich los und erzählte, was ich wusste. Die Frau wiederholte, wie lange sie schon versucht hatten, ihn einzusperren. Doch nun werde es zu hundert Prozent klappen und dann hätte ich auch Ruhe vor ihm. Ich wiederholte auch, dass «ich» ihnen gar nichts erzählt habe und auch fürderhin nicht bereit sei, als Zeuge zu dienen. Aber sie sagten, ich brauche keine Angst zu haben. Ich vertraute ihnen und die Frau gab mir noch die Visitenkarte zum Abschied. Schon eine Woche später wussten es aber alle Verwandten und natürlich auch meine Eltern. Ich war echt enttäuscht und traute mich vor lauter Angst wieder nicht aus dem Haus. Ein paar mal sah ich sogar meinen Bruder vor dem Haus stehen und ich zitterte. Doch zum Glück wusste er die Etage nicht und an der Haustür stand mein Name nicht. Da rief ich die Polizistin an, die das Versprechen gebrochen hatte und schimpfte mit ihr, dass meine Verfolger nun schon vor meiner Wohnung herumlungern. Sie bedauerte das sehr und sagte, die Staatsanwaltschaft hätte etwas ausgeplaudert. Ich solle das Haus nicht verlassen, «oder sind sie vielleicht schon oben?», und sie wollte einen Streifenwagen vorbei schicken, der die Straße absuchen würde. Nach zwei Wochen erfuhr ich, dass sie ihn endlich eingesperrt hatten und zwar in Plötzensee, wo ich
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auch war. Da hatte ich erst recht Angst und glaubte schon, ein toter Mann zu sein. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Lange Zeit später traute ich mich rauszugehen, aber mehr, weil ich es in der Wohnung nicht mehr aushielt. Auf dem Herrmannplatz traf ich unten bei der U-Bahn meinen Cousin Ramiz. Ich grüßte und er fragte: «Was hast du bloß mit deinem Bruder und deinem Vater gemacht?» Ich hatte keine Ahnung und er erzählte, dass die Polizei zu viert meinen Vater zusammengeschlagen habe und mein Bruder im Knast sitze. «Aber nicht wegen mir», und ich versuchte, das Thema zu wechseln, wollte wissen, was er hier treibt. Er wollte sich «etwas holen», ich hatte keine Ahnung was, war neugierig und begleitete ihn zu einem Araber, der ihm vier kleine Kügelchen für insgesamt sechzig Mark verkaufte. Ich wollte wissen, was das wäre und so brachte er mich in eine U-Bahntoilette. Er holte eine Rolle Alufolie aus seiner Lederjacke und ich quengelte, weil ich nichts begriff. «Nerv nicht rum, sondern wart's ab», grunzte er. Er riss ein Stück Folie ab, bügelte es mit der Hand an der Wand ganz glatt und drehte ein Röhrchen daraus, das wie eine Zigarette aussah. Dann öffnete er zwei von den kleinen Kügelchen und ihr brauner Inhalt erinnerte mich an Kakaopulver. Er schüttete das Zeug auf die Folie und sagte mir, das sei Heroin. Ich kannte das nicht, was ihn ärgerte: «Mann, bist du dumm!» Er steckte sich die Röllchen in den Mund und machte das Zeug auf der Folie mit dem Feuerzeug drunter heiß, bis es schmolz wie Butter in der Pfanne und saugte mit den Röhrchen den Rauch ein. Nach ein paar Lungenzügen fragte er mich, ob ich auch will. «Bist du bekloppt!» — «Mann, ich schwör's dir, das ist das geilste Gefühl überhaupt. Du weißt gar nichts und denkst an nichts mehr.
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Probier's doch selbst, wenn du meinst, ich verarsche dich.» Da kniete ich mich vor ihm hin, steckte mir auch so ein Röllchen in den Mund und er erhitzte die Flüssigkeit, die ich nach seinem Beispiel in mich hinein saugte. Der Rauch schmeckte ganz bitter. Er forderte mich auf, das Ganze zu wiederholen und ich nahm noch drei Züge. Plötzlich lief mir der Schweiß und ich fühlte mich wie im Hochsommer, obwohl draußen sechs Grad minus waren. Nach weiteren drei Zügen wurde mir schlecht und ich kotzte alles raus, was im Magen war. Dann wusch ich mein Gesicht in der Kloschüssel, wurde etwas müde, fühlte mich wohlig warm und beruhigte mich. Er rauchte den Rest und dann liefen wir zusammen herum bis zum frühen Morgen. Die ganze Nacht hatten wir über Drogen gesprochen und meine Erfahrung gefiel mir gut. Am nächsten Tag stand ich gegen fünfzehn Uhr auf, nahm die Inliner und ging zum Winterfeldplatz, wo ich immer mit den Dingern fuhr. Dort traf ich einen hübschen Libanesen, der das Gleiche tat und den ich schon kannte. Ich zeigte ihm Tricks, die ich gelernt hatte. Irgendwann stieg er dann aus, aber ich fuhr so lange, bis meine Füße Blasen bekamen. Da sah ich den Hübschen auf einer Bank sitzen und er unterhielt sich mit einem Mädchen. Ich setzte mich dazu. Das Mädchen war nicht sehr gesprächig. Da merkte der Libanese, dass er vergessen hatte, sie mir vorzustellen. Es dauerte lange, bis er zu dem Punkt kam, unsere Namen zu sagen, denn er kannte ja uns beide. Wir drückten uns die Hand, aber es war schon achtzehn Uhr und ich wollte nach Hause. Ich fragte den Jungen, ob er nicht mitkommen will. Er wollte und fragte, ob das Mädchen nicht mitkommen könne. Ich wollte erst meinen «Vater» Robert fragen und rief ihn an und der war's zufrieden, solange wir keine
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Scheiße in der Wohnung bauen. Das versprach ich und so fuhren wir zu dritt zu mir nach Hause. Ich zeigte dem Mädchen mein Zimmer und stellte ihr Robert vor. Dann machten es sich die zwei gemütlich und ich brachte uns Cola zum Trinken. Richtig harmonisch war das alles und der Libanese legte den Arm um das Mädchen, was das Mädchen wortlos zuließ. Ich hatte etwas Hunger und war kurz in der Küche, um mir ein Sandwich zu schmieren. Als ich zurückkam war es mir peinlich, als ich sah, wie der Junge seinen Kopf auf die Brüste des Mädchens drückte, und so ging ich rückwärts wieder raus. Ich aß mein Sandwich bei Robert und als ich wieder in mein Zimmer ging, war die Laune mies dort, denn das Mädchen wollte nichts von ihm und der Junge war sauer. Ich zitierte einen Spruch von Robert: «Der eine macht und der andre macht mit; wenn der andre nicht mitmacht, macht keiner nichts.» Er beruhigte sich und keiner sagte etwas. Ich machte das Deckenlicht an und bemerkte, dass das Mädchen einen ganz roten Kopf hatte, dachte aber nichts Schlimmes dabei. Ich stand gerade vor meiner Polaroid-Kamera und als der Junge vom Klo zurückkam, fragte er, warum wir nicht ein paar Fotos machen. Ich war einverstanden und anschließend durfte jeder ein Bild behalten. Als der Junge noch mal aus dem Zimmer ging, fragte mich das Mädchen, ob ich sie gehen lassen würde, wenn sie mir einen bläst. Ich dachte überhaupt nicht an so was und die ganze Sache war mir ausgesprochen peinlich. Ich traute mich allerdings auch nicht, das Angebot abzulehnen. Dieses «Ja» hat mir dann das Genick gebrochen und ich bereue das bis heute. Ich machte die Hose auf und sie nahm meinen Schwanz in den Mund, aber ich wurde weder erregt noch geil sondern blieb cool. Um bei dem Jungen anzugeben, hab ich es gleich erzählt. Sie bat nochmals, nach Hause gehen zu dürfen,
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aber der junge sagte gebrochen aber bestimmt: «Nein du Hure, erst bläst du mich auch.» Ich bat den Jungen, er solle sie doch gehen lassen, doch der knallte ihr eine und grunzte: «Hau ab, du Schlampe!» Da lief sie heulend die Treppe herunter. Nach einer halben Stunde war ich mit Robert dann wieder allein und erzählte ihm nichts davon. Zwei Tage drauf kam die Polizei gegen Mitternacht, führte mich in Handschellen ab und gleich am Morgen zum Haftrichter. Sie haben Roberts gesamte Wohnung auf den Kopf gestellt und in meinem Zimmer Totalschaden angerichtet. Alles wegen der Fotos, auf denen angeblich Oralverkehr zu sehen gewesen sein soll, was nicht der Fall war. Aber ich hatte Angst, obwohl ich doch fast nichts gemacht hatte. Vor dem Haftrichter hatte ich mit dem Libanesen vereinbart, dass wir kein Wort sagen wollten, dann würden wir freikommen und es funktionierte. Ich erzählte dem Richter bloß, was ich gesehen hatte und dass nichts Schlimmes geschehen sei. Er wollte wissen, ob ich das Mädchen zum Oralverkehr gezwungen hätte. Dann wollte er wissen, ob sie mich oral befriedigt hätte. Erst wollte ich «Ja» sagen, denn immerhin hatte sie meinen Schwanz im Mund, wenn auch erfolglos. Aber ich entschied mich für «Nein», weil sonst die total übertriebene Lügengeschichte des Mädchens glaubhafter erschienen wäre und ich wäre am Arsch. Er wollte etwas von den Fotos wissen und ich sagte, dass er die doch schon hätte. Er meinte, dass zwei Fotos noch fehlen zu einem ganzen Polaroidfilm und ich erklärte, dass jeder sich eins mitgenommen hat. Bezüglich des Blasens log ich aber und so kam ich für diesmal frei. Ich sagte, dass ich noch nie etwas mit einem Mädchen hatte. Auch, dass mich Mädchen überhaupt nicht interessieren, was sogar die Wahrheit ist, denn ich bin schwul und dann
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heulte ich wie ein kleiner Junge. Wahrscheinlich ließen sie mich deshalb laufen. Ich wollte noch wissen, wie die Sache weitergeht. Er sagte, ich bekomme eine Vorladung und das Gericht werde dann entscheiden. Am nächsten Tag traf ich den Jungen wieder auf der Bank am Winterfeldplatz ohne das Mädchen. Da fragte ich ihn, ob er sie irgendwie geschlagen hätte oder sonst gequält. Aber er schwor bei seiner Mutter, mehr als die Beleidigung am Schluss und eine Ohrfeige hätte er ihr nicht angetan. Da war ich sicher, dass sie mir erst recht nichts anhaben konnte, weil ich noch viel weniger beteiligt war und ging meinem Hobby mit den Inlinern nach. Zwei Monate später kam erst mal eine Vorladung als Zeuge gegen meinen Bruder und ich traute meinen Augen nicht. Schließlich hatten sie mir hoch und heilig versprochen, dass es dazu auf keinen Fall kommt und nun das! Ich wollte zuerst nicht hingehen, aber Robert machte mir Mut und meinte: «Wenn du das schaffst, dann schaffst du alles und deine Eltern werden dich zukünftig in Ruhe lassen.» Ich hatte noch eine Woche Bedenkzeit und niemand kann sich ausmalen, was für eine Angst ich hatte. Am Verhandlungstag ging ich dann mit Robert unter Herzklopfen hin. Die ganze Familie saß schon im Gerichtssaal, auch die Familie der Misshandelten. Ich wartete zusammen mit Robert auf einer Bank und die ganze Familie saß gegenüber, aber keiner sagte ein Wort, sondern sie glotzten nur. Mein kleinster Bruder wollte zu mir rüber laufen und meine Mutter rief ihn zurück wie einen Hund. Die Mutter der abgestochenen Frau kam zu mir und bat mich, Robert zu fragen, ob er sie nicht heiraten wolle. Ich zwang mich, ein bisschen zu grinsen, als ich Robert die «frohe» Nachricht brachte, er gefalle ihr und ob er sie nicht heiraten wollte. Der lachte und bedankte sich bestens. Sie
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lachte auch, meinte «schade!» und setzte sich wieder zu ihren Kindern. «Hat die nicht was anderes in der Birne», tuschelte mir Robert zu und ich musste lachen. Nach zehn Minuten wurde die Streitsache Sabanovic aufgerufen und alle Zeugen sollten reinkommen. Da sah ich, dass all die anderen ebenfalls «Zeugen» waren und mir schwante schon Übles. Dann gingen wir erst mal wieder raus, bis mein Bruder gebracht wurde und das Herzklopfen ging wieder los. Bald wurde ich gerufen und gleich hinter mir saßen die drei Anwälte meines Bruders. Auch mein Bruder und die Eltern saßen direkt hinter mir. So spielte ich nervös an meinen Fingern und hoffte, bald wieder gehen zu dürfen. Der Richter belehrte mich, dass ich bestraft werden kann, wenn ich die Unwahrheit sage, und dass ich nicht gegen meine Familie aussagen muss. Dann fragte er mich, ob ich aussagen will und ich wollte nicht, weil es meine Familie ist. Da erhob sich der Staatsanwalt und meinte, ich wolle bloß darum nichts sagen, weil ich Angst vor meinen Eltern hätte. Der Richter fragte nach und ich sagte «Ja». Da schickte er die drei raus und ich erzählte von dem schrecklichen Vorfall mit Beijta und von dem Keller, in dem sie mich gefesselt hatten. Ständig unterbrachen die Rechtsanwälte und wollten genau wissen, um wie viel Uhr genau was genau gewesen sei, lauter Fragen, die mit dem Verbrechen gar nichts zu tun hatten. Schließlich meinten sie, wenn es im Keller so dunkel war, hätte Buco doch eine Taschenlampe haben müssen, die er aber nach meiner Schilderung nicht hatte. Da wurde ich wütend und sagte, dass ich so gar nichts mehr reden würde. Der Richter ermahnte mich noch mal, gut zuzuhören und die Fragen unbeantwortet zu lassen, wenn ich das wolle. Eigentlich hätte ich die drei Anwälte gerne beleidigt, aber ich beherrschte mich. Ich bat, mit der Aussage abzubrechen, weil ich total fertig war, aber
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die Fragerei ging immer weiter. Dann wollte ich sie verarschen und sagte auf jede Frage, es tue mir leid, aber das wüsste ich nicht. Das hat die Anwälte echt geärgert und sie sagten: «Herr Sabanovic, das hier ist kein Kindergarten!» Plötzlich war Alarm im Gerichtsgebäude, denn draußen wurde jemand bedroht und alle rannten vor die Tür. Erst dachte ich, Robert hätte vielleicht wieder einen Infarkt und fürchtete mich, weil ich dann nicht weiter gewusst hätte. Ich blieb als Einziger ängstlich mit der Sekretärin sitzen. Dann fürchtete ich, meine lieben Verwandten hätten Robert etwas angetan, aber so war es Gott sei Dank nicht und ich beruhigte mich. Robert wurde als Zeuge vernommen und dann meine Eltern. Selbst die misshandelte Beijta war gekommen. Bestimmt hatten ihr meine Eltern gedroht, dass sie die Anzeige zurückzieht. Das hatte sie tatsächlich noch vor der Verhandlung gemacht und ich wollte es einfach nicht glauben, dass mein Bruder mit einem Jahr Bewährung davon kam, und sechs Monate hatte er ja schon abgesessen. Wenn ich das Gleiche getan hätte, hätte ich vier oder fünf Jahre ohne Bewährung bekommen. Schließlich war das versuchter Mord mit Kidnapping. Bestimmt mussten sie viel bezahlen, um so gute Anwälte zu bekommen. Dann ging ich bedrückt mit Robert heim. Am selben Tag ging ich wieder ein bisschen spazieren und traf Cousin Ramiz, der mich unter Tränen um zehn Mark anbettelte. Ich wusste wofür, aber bei Geldbitten kann ich einfach nicht «Nein» sagen, wenn ich welches dabei habe. Weil ich nur einen Fünfziger einstecken hatte, bat ich, er solle mir auch eine Kugel mitbringen. Da lachte er plötzlich und ich lachte mit. Ich ging mit ihm wieder zu dem Araber in eine nahe Spielhalle, dort klingelten wir und aus einer Tür neben dem Lokal kamen eine dicke Frau und ein Mann
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heraus, so um die fünfundzwanzig Jahre alt. Beide hatten arabische Gesichter. Sie liefen auf uns zu und die Frau schrie meinen Cousin an: «Habe ich dir nicht gesagt, das ist die falsche Uhrzeit?! Und wer ist das überhaupt?» Ich wurde als «neue Kundschaft» vorgestellt, der nun täglich kommen werde, und sie wollte gleich wissen, was ich von ihr kaufen wolle. Ramiz fragte mich, ob er für fünfzig Mark kaufen solle, ich nickte und sie holte zwei Kügelchen aus ihrem Mund, steckte sie in meine Hand und sagte, ich solle sich auch im Mund verstecken. Doch ich tat nur so, behielt sie in der Hand und wir gingen wieder auf die U-Bahntoilette. Er machte es wie beim ersten Mal und ich versuchte es, aber es gelang mir nicht, bis er mir half. Ich rauchte eine ganze Kugel alleine, musste wieder kotzen und wieder ging's mir wunderbar, so dass ich unbedingt etwas unternehmen wollte. Ich konnte unglaublich weit laufen, denn mit dem Zeug spürte ich keine Müdigkeit. Seit diesem Tag gab ich täglich rund dreißig Mark für Dope aus, merkte nach einer Woche, dass ich davon nicht abhängig war und machte weiter damit. Erst nach einem halben Monat fiel mir auf, dass ich ohne Dope nicht mehr einschlafen konnte. Der ganze Körper juckte mich, aber Robert merkte nichts von dem Zeug, denn ich log immer, dass ich beim Sport sei oder spazieren gehe. Er sollte mich bloß in Ruhe lassen. Ich wurde ganz blass und aß nur noch einmal pro Tag. Entweder gab mir Robert «Taschengeld» oder mein Cousin ging anschaffen. Jeden Tag waren wir zusammen und ich dachte bloß noch an das Zeug und nachts ans Schlafen. So versetzte ich meinen Bewährungshelfer und Herrn Hauschild von Pax Christi, der sich um meinen Aufenthalt kümmerte. Jedes Mal rief ich an, ich sei krank oder hätte einen wichtigen Termin. Vier Monate lang merkte niemand, dass ich von Heroin abhängig war. Ich hatte auch wieder mit dem
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Anschaffen begonnen, denn mit einem Freier verdiente ich in einer Viertelstunde einhundertfünfzig Mark, die für einen ganzen Tag ausreichten. Mit dreißig Mark täglich hatte es angefangen und inzwischen waren es einhundertzehn Mark und mehr, die ich täglich zum Dealer brachte. Eines Tages spionierte mir Robert nach und kam gerade in die Toilette rein, als ich zusammen mit Ramiz alles vorbereitete. Ich hielt noch das Dope und die Folie in der Hand und Robert verstand das nicht und wollte sofort wissen, was los sei. «Ich rauche bloß ein bisschen Haschisch», sagte ich. Und er: «Ab, nach Hause!» Doch ich wollte dableiben und er fragte, wie lange ich das Zeug schon nehme. Ich log, es sei heute zum ersten Mal. Er wurde zornig: «Das hier soll Haschisch sein? Komm bitte nach Hause!» Aber ich wollte nicht und am Ende, da brüllte er: «Dann brauchst du gar nicht mehr nach Hause zu kommen. Bleib darum hier. Das ist ab jetzt dein zu Hause, die Klappe am Herrmannplatz.» Das nervte mich und ich schrie zurück: «Verpiss dich Alter und lass mich bloß in Ruhe!» Er versuchte es noch mal, ich solle doch vernünftig sein und das Zeug nicht nehmen. Aber ich war eingeschnappt, weil er gesagt hatte, dass die Klappe nun mein zu Hause ist. Da verlangte er den Wohnungsschlüssel zurück: «Da hast du ihn, aber jetzt geh endlich!» Dann rauchten wir das Dope und ich hab keinen Augenblick darüber nachgedacht, was ich getan hatte. Mir war alles egal außer dem Stoff. An diesem Tag hatte ich echt übertrieben und für zweihundert Mark Dope geraucht. Ich war derart breit, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war. Trotzdem sah ich im Vergleich mit Ramiz noch ganz gut aus. Der war völlig abgemagert und sah todkrank aus. Drei Stunden später stieg ich
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aus der Klappe auf den Herrmannplatz. Ich hatte die ganze Zeit unten geschlafen und kam langsam ein bisschen zu mir. Um mich etwas besser orientieren zu können, setzte ich mich auf eine Bank. Da war Robert wieder da und bat, ich solle mich doch nicht umbringen, sondern nach Hause kommen. Aber ich wies ihn schroff ab und er bettelte weiter: «Bitte, lass uns von vorne anfangen. Ich weiß doch was du da nimmst und dass es heute nicht das erste Mal war. Ich helfe dir, davon wegzukommen. Aber erst mal geht's jetzt nach Hause!» Ich wurde im Kopf klarer, als ich noch mal gekotzt hatte und ging mit ihm zurück. Er machte mir Abendbrot, aber ich hatte keinen Hunger und wollte nur schlafen. Da brachte er mich ins Bett und ich schlief sofort ein. Beim Aufwachen am nächsten Morgen hatte ich leichte Entzugserscheinungen und kein Dope mehr. Ich wollte Robert vormachen, dass ich wirklich aufhöre damit und bloß ein bisschen spazieren gehe. Aber er roch den Braten und bat mich, keine Scheiße zu bauen. Ich versprach es, ging direkt zu meinem Dealer und rauchte das Zeug bedenkenlos, trotz meines Versprechens. Robert erwischte mich immer wieder, aber ich wollte ganz einfach überhaupt nicht aufhören. Es war jedes Mal so ein geiles Gefühl und die Sorgen verschwanden. Immerhin hatte ich in den vierzehn Monaten seit meiner Entlassung nichts mehr geklaut, obwohl ich drogensüchtig geworden bin. Aber mit dem Anschaffen hat es für das Dope leicht gereicht, nun schon sieben Monate und zwar jeden Tag. Meine Eltern ließen mich tatsächlich in Ruhe. Sie suchten mich nicht und auch ich besuchte sie nie. Ab und zu traf ich entferntere Verwandte, die behaupteten, die Polizei hätte meinen Vater wegen mir zusammengeschlagen, was gar nicht stimmte. Ein bisschen fürchtete ich mich deswegen,
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aber sie ließen mich in Ruhe. Zwei Monate drauf wurde ich wieder wegen Diebstahls verhaftet. Mein Cousin und ich hatten an diesem Tag kein Glück mit den Freiern, denn die Toilette am Herrmannplatz war geschlossen. Das kam so, weil Robert bei der Polizei angezeigt hatte, dass unten in der Klappe angeschafft, gedielt und Drogen konsumiert würde, also genau das, was auch Sache war. Damit hoffte er, mir zu helfen. Da waren viele Stricherjunkies, nicht bloß wir zwei, und Robert protestierte so lange, bis die Klappe geschlossen wurde. Wir überlegten also, wie wir das Geld fürs tägliche Dope zusammenbringen sollten. Ich wollte zum Zoo, nach Freiern ausschauen. Aber er meinte, dass er da nicht hingeht, weil dort seine dealenden Gläubiger auf ihn warteten, um Schulden einzutreiben. Ich sagte ihm, jetzt solle er mal was vorschlagen. Doch er wollte mich zu Robert oder zu meinen Eltern schicken, was natürlich beides nicht in Frage kam. Da flennte er: «Ich bring Robert um, die schwule Sau. Jetzt finden wir wegen ihm keine Freier, weil er hat die Klappe schließen lassen. Alles hat er versaut.» Ich verteidigte Robert, denn er hatte es ja wirklich gut mit uns gemeint. Doch er konterte, Robert sei ja bloß eifersüchtig auf ihn und hatte das überhaupt nicht gemacht, damit wir nicht kaputtgehen. Ich wollte aber nicht streiten, sondern schlug vor, eine andere Toilette mit Freiem zu suchen. Aber plötzlich hatte er doch eine Idee, nämlich zu dem Dealer zu fahren und um Vorschuss zu bitten. Die Dealer standen in dem U-Bahnhof herum und Ramiz heulte wie ein Kind und bettelte sie um Dope an. Doch alle behaupteten, heute ausverkauft zu sein. Keiner wollte uns auf Kredit etwas geben, obwohl wir eigentlich superverlässliche Kundschaft waren und zwar täglich. Ich bekam wieder leichte Entzugserscheinungen, aber Ramiz war voll auf Turkey, heulte laut vor Schmerzen und so gingen wir wieder nach oben. Er 143
wollte sich schon aufgeben, aber ich versuchte, ihm Mut zu machen und dass wir schon an eine Kugel herankommen würden. Draußen war es saukalt, besonders auf Entzug schien es uns ganz extrem. Ich zitterte am ganzen Körper und Ramiz klapperte laut mit den Zähnen, so dass er ins nächste Kaufhaus wollte und ich ging mit. Dabei suchten wir sofort mit den Augen nach geeigneten Einkaufstaschen. «Nicht so auffällig» sagte ich ihm, «die Leute gucken schon.» Er winkte ab, aber ich wies darauf hin, dass ich schließlich der Profi sei. Da wollte er, dass ich das mache, aber ich wollte keinesfalls meine Bewährung verlieren. So wollte ich draußen auf ihn warten und er lachte über den «Angsthasen». Ich stieg ins Untergeschoss. Er kam mit und beobachtete eine Frau, deren Portemonnaie echt leicht zu entwenden war, denn es ragte fett aus ihrer Manteltasche. Ich sollte ihm Deckung geben und schweren Herzens trat ich hinter die Frau, die sich gerade ein T-Shirt aussuchte. Bald hatte ich ihr schwarzes Portemonnaie, aber sie merkte irgendetwas. Da warf ich Ramiz das Ding zu, was sie so schnell nicht sehen konnte. Sie drehte sich zu mir um und merkte jetzt, dass ihr Portemonnaie fehlte. «Wo bitte ist mein Geldbeutel? Stell dich nicht dumm, du hast ihn geklaut!» Ich lud sie ein, mich abzusuchen, denn ich hatte das Ding schließlich nicht. Ich holte mein eigenes aus der Tasche und fragte sie, ob es das sei. Aber sie wollte ihres. Ich sah aus dem Augenwinkel noch, wie Ramiz das Portemonnaie unter Jeans in einem Einkaufskorb versteckte. Da stürzten vier Kriminalpolizisten auf uns zwei und legten uns auf den Boden. Sie legten uns Handschellen an und fesselten uns, denn sie hatten alles von Anfang an beobachtet. Ich fühlte mich so beschissen und bescheuert. Nachdem sie die Frau vernommen hatten,
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brachten sie uns in ein Polizeiquartier und am nächsten Morgen stand ich mal wieder vor dem Haftrichter. Wieder kam nur ich in den Knast und Ramiz kam frei. Weil ich noch siebzehn war, steckten sie mich in den Jugendknast im «Kieferngrund», wo ich extrem schmerzhaften Entzug erlitt. Ich hatte schlimme Schmerzen und Krämpfe. Das war «kalter Entzug», aber ich wollte niemandem davon erzählen, weil ich fürchtete, dass das alles nur verschlimmern würde. Am selben Tag musste ich zur Aufnahmeuntersuchung und sagte dem Arzt auf seine Frage, dass ich keine Drogen nähme. Damit war die Sache für ihn erledigt und ich wurde in die Zelle geschlossen. Ich hatte keine Zigaretten mehr, bloß ein Bild von Robert und meine Armbanduhr, die fünfhundert Mark gekostet hatte. Als um siebzehn Uhr Aufschluss war, bettelte ich alle Jungs um Zigaretten an, aber die hatten keine oder wollten mir nichts geben. Da fing ich an, die Kippen in den Aschenbechern aufzurauchen. Zwei Tage darauf sagte mir mein Sozialarbeiter, er soll von Robert schön grüßen, denn der wollte mich besuchen kommen. Da fühlte ich mich gleich viel besser und machte mir echt Sorgen, weil ich ihn mit dem Dope und dem Anschaffen so verletzt hatte. Er hatte mir helfen wollten und ich hab ihn in den Dreck getreten. Und nun sitze ich wieder, aber er ruft hier noch an, lässt Grüße bestellen und kommt sogar zu Besuch. Hatte ich das verdient? Ich weinte, weil ich so einen guten Menschen kannte und alles verdorben hatte. Eine Woche später kamen Robert und Hans zu Besuch. Robert umarmte mich und wir heulten beide. «Mensch, hab ich dir nicht gesagt, dass dein Cousin Unglück bringt? Du sitzt und der ist frei! Du wolltest mir ja nicht glauben. Erst machen dich deine Scheißeltern kaputt und dann das verdammte Heroin.» Ich bat ihn,
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leiser zu sein, weil das mit dem Heroin soll keiner wissen. «Aber du gehst fast drauf dabei», meinte er, aber ich bat ihn, nichts zu sagen. Ich sagte, dass ich noch ein bisschen Schmerzen hätte und noch immer nicht schlafen könne. «Hoffentlich wird dir das eine Lehre sein!» Er versprach, mir noch eine Chance zu geben und mich nicht im Stich zu lassen. Er hatte Klamotten, Geld und ein Radio mitgebracht und sie mussten schon nach dreißig Minuten wieder raus, was mich echt traurig machte. Nach neun Tagen durfte ich im Garten arbeiten. Das war sehr schwer für mich wegen dem Entzug, aber ich konnte wieder gut schlafen. Manchmal hatte ich nachts noch Magenkrämpfe. Nach einiger Zeit hat mein Meister wohl gemerkt, dass ich manchmal Krämpfe hatte und auch bei der Arbeit gelegentlich einschlief und er fragte, ob ich Drogen nehme. «Wie kommen Sie denn darauf?» Doch er sagte, er wollte es ja bloß wissen. Am Ende des ersten Monats sollte ich ins Drogenhaus verlegt werden und ich wollte wissen, warum, da ich doch keine Drogen mehr nahm. Der Sozialarbeiter sagte: «Herr Sabanovic, ich weiß mehr als Sie.» Da dachte ich, Robert hätte geplaudert und ich protestierte, dass ich keine Drogen nehme. Er reizte mich mit seiner Art und so erzählte ich schließlich resigniert, wie alles war. Darum kam ich in Haus 8, wo ich viel schlechter an Drogen hätte rankommen können als hier. Freilich hätte ich überall Drogen bekommen, in Haus 8 genauso wie in Haus 3. Aber ein Menschenwille gehört dazu und nichts anderes entscheidet, ob oder ob nicht. Keine Therapie kann das ersetzen, meine ich. Gleich als ich hier ankam, fragte mich einer, ob und was ich von ihm kaufen wolle und ich habe es geschafft, dankend abzulehnen. Dann wollte er meine Uhr kaufen und ich dachte, der Bastard soll sich verpissen, und sagte wieder: «Nein.» Ich setzte mich ich die Küche auf den Fußboden, denn um
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in meine Zelle zu kommen, hätte ich an all den Junkies vorbei gemusst. Ich dachte an all den Mist mit meinen Eltern und an meine Scheiße mit den Drogen. Ich heulte vor Wut über mein Unglück und meine eigene Blödheit. Aber wenn ich weine, geht es mir meistens gleich wieder besser. Da sah mich ein Beamter heulen und rief mich in sein Büro. Ich wischte mir die Tränen ab, setzte mich und er fragte, ob ich reden wolle. Da musste ich wieder weinen und er war wirklich nett und freundlich mit seinen Fragen. Da erzählte ich von meinen Eltern und von mir selbst und fühlte mich gleich viel besser. Nach einigen Wochen bekam ich Probleme mit meinen Mitgefangenen, denn ich setzte mich für einen Fünfzehnjährigen ein, der abgerippt werden sollte. Da riet ich ihm, sich bei den Beamten zu beschweren. Er hatte sich für fünfzig Mark Haschisch besorgt, aber der Araber, der es verkaufte, verlangte hundert Mark, und zwar als es schon aufgeraucht war. So ein Schwein, für 0,3 Gramm hundert Mark zu nehmen. Dann hat er ihm zweimal eine geknallt und ich war sauer und brüllte ihn an. Ich hätte mich auch raushalten können, aber der Junge tat mir leid. Nach zwei Monaten wurde mir die Anzeige wegen der «sexuellen Nötigung» des polnischen Mädchens vom Winterfeldplatz zugestellt, aber noch kein Gerichtstermin. Die Verhandlung war erst sieben Monate später. Ich hatte die Hoffnung, dass sie mich freilassen, aber ich bekam drei Jahre und sechs Monate. Ich dachte, ich spinne und legte dagegen Berufung ein und nach vier Monaten haben sie beim Landgericht das Strafmaß immerhin um drei Monate niedriger gemacht. Wieder saß ich sechszehn Monate und wurde dann auf Bewährung entlassen. Ich hatte eine neue Schule gefunden,
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meine Eltern waren nicht mehr in Deutschland und ich fühlte mich frei. Ich hatte wieder Freude am Lernen und wurde von Robert oft gelobt. Da traf ich gelegentlich einen Jungen, den ich schon aus Bosnien kannte und der Drogen nimmt. Genau gesagt, ist er im Kopf schon ziemlich kaputt von dem Zeug. Ich wollte aber wirklich auf keinen Fall rückfällig werden. Und als ich ihm zusah meinte ich zu ihm: «Hör damit auf, du machst dich kaputt.» Da wurde er böse, er wolle Drogen nehmen solang er will und außerdem sei er nicht abhängig davon. Da erkannte ich mich wieder, wie ich vor zwei Jahren war. Genau so hatte ich auch geredet und wurde abhängig. Dabei war es doch eine Zeit lang so schön gewesen! Meistens ging ich nach der Schule gleich nach Hause zu Robert und manchmal schaffte ich ein bisschen an für mein Taschengeld. Am Wochenende ging ich oft in die schwule Sauna und hatte echt Spaß dort - ohne Geld! Ich war gesund und fröhlich. Ich konnte machen, was ich wollte. Doch das war mit einem Schlag vorbei, als ich auf meinem Handy einen Anruf von meiner Mutter bekam, so gegen zwölf Uhr mittags. Ich sagte ihr, dass ich von der Abschiebung der Familie gehört hätte. «Und seit einer Woche sind wir schon wieder zurück!», sagte sie und jammerte, sie seien total verarmt und mein kleiner Bruder, den ich so sehr liebte, hätte überhaupt nichts mehr anzuziehen. «Ich dachte, mein Sohn, du könntest uns helfen, uns was zum Essen bringen und zum Rauchen», und sie heulte am Telefon. «Bitte hilf uns! Wir wohnen bei fremden Leuten, die uns nicht leiden können.» Ich wollte wissen, wo das sei, und sie sagte, dass ich das kenne, denn es sei ein Flüchtlingsheim in Neukölln. «Bitte lass uns nicht im Stich!» Mir kamen auch die Tränen und ich überlegte, was zu tun sei. Einerseits
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dachte ich an die alten Zeiten, wo sie mich mehr als nur im Stich gelassen hatten. Andererseits sah ich meinen kleinsten Bruder vor Augen, der ja nichts dafür konnte wie die ganzen anderen Kinder auch nicht. Also: Ich würde etwas zu Essen besorgen und sie damit besuchen. Robert war nicht zu Hause, sondern hatte eine neue Arbeit als Museumswärter angenommen. Ich rief dort an und erzählte von dem Anruf meiner Mutter. «Mensch, hab ich dir nicht gesagt, dass du deine Nummer nicht aller Welt geben sollst. Jetzt hast du wieder die Scheiße am Bein! Was wollen sie von dir?» Ich erzählte meinen Plan, aber er meinte: «Miro, das ist deine Familie, aber du musst auch an dich denken.» Ich beschwichtigte ihn, dass es ja bloß wegen meiner kleinen Geschwister sei. «Ich sage dir ganz genau die Adresse, du rufst mich jede Stunde an und wenn ich plötzlich unerreichbar sein sollte, weißt du, was Sache ist.» Er wollte wissen, ob ich das Risiko wirklich eingehen will. Dann zog ich mich sauber an, denn ich trug noch die Sachen von der Schule. Ich packte meine Ersparnisse ein, die eigentlich für ein Auto bestimmt waren, insgesamt fünftausendzweihundert Mark. Unterwegs kaufte ich zwei Stangen Zigaretten, Lebensmittel und Süßigkeiten für die Kinder. Die Kneipe «Banana» war ein bosnisches Lokal und im Hinterhof wohnten meine Eltern bei entfernten Bekannten. Ich trat mit vier großen Tüten in den Hof und fragte einen jungen, den ich noch aus Bosnien kannte, wo ich meine Eltern finde. Er brachte mich in den ersten Stock zu der Gastgeberfamilie. Ein hübsches, gepflegtes Mädchen öffnete und rief gleich meine Mutter. Mein kleinster Bruder rannte gleich zu mir und küsste und umarmte mich stürmisch. «Guck mal, was ich dir mitgebracht habe?» Ich schenkte ihm einen Gameboy. Er freute sich riesig und küsste mich wieder. Dann ging ich zu meiner Mutter, die am Boden saß, wir begrüß149
ten uns steif, aber küssten uns nicht. Ich setzte mich neben sie und die Geschwister kamen dazu. Ich wollte wissen, wo mein Vater sei und erfuhr, dass er gerade beim Sozialamt war. Dann zeigte ich ihr die Tüten, die ich für sie eingekauft hatte und dass auch Zigaretten dabei waren. Sie bedankte sich und hatte Freude im Gesicht, als sie sah, was ich alles gebracht hatte. «Ach, mein Sohn, die Serben haben uns mit Gewehren aus dem Haus gejagt und wir haben großes Glück, dass wir noch leben.» Da fragte ich sie, was dran sei, dass sie zwischendurch in Holland gewesen seien, was ich gehört hatte. Sie erzählte, dass Buco dort von einem Albaner fast totgestochen worden wäre und zwar grundlos. Sie log, er sei mit Beijta und den Kindern in Bosnien zurückgeblieben. Ein kleiner Junge wollte plötzlich zwei Mark von mir, da fiel mir das Portemonnaie aus der Hand und einige Scheine rutschten raus. Da bekam meine Mutter gleich riesige Augen, sagte aber erst mal nichts. Ich sammelte alles wieder zusammen und meine Mutter schalt den Kleinen, er solle ihr aus den Augen gehen. Aber es war doch gar nichts passiert. Da schaute mich das Mädchen, das geöffnet hatte, mit ihren dunklen Augen an, die sehr weich waren und ich wurde nervös. Da meinte meine Mutter: «Dein Vater muss gleich hier sein und er hat nicht mal das Geld für die Miete.» Ich wusste schon, worauf sie scharf war, aber sagte ihr, dass das schließlich vom Sozialamt übernommen wird. Sie behauptete aber, die Gesetze hätten sich geändert und sie wüssten nicht mal mehr, wo sie noch schlafen sollten. «Du allein kannst uns jetzt noch helfen und ich schwöre auf dich und alle Kinder, dass ich es dir zurückzahle.» Ich protestierte, dass das Geld, was sie gesehen hatte, mir gar nicht gehörte, sondern meinem Vermieter und ich hatte es bloß ausgeliehen, um ihnen was einzukaufen: «Behaupte doch einfach, es wurde dir geklaut! Oder du hättest es verloren.
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Bitte, lass Mama und die Kinder nicht im Stich!» Das hübsche Mädchen wurde rot, ich schämte mich und schlug Mama vor, ihr die Hälfte zu geben. Aber das war ihr nicht genug, sie hätten nichts zu essen und überhaupt gar nichts. «Schau doch den Kleinen an, wie der verdreckt ist, aber wir haben ja nicht mal Geschirr.» So bettelte sie immer weiter. Schließlich gab ich ihr alles bis auf sechzig Mark und war todtraurig. Da klingelte das Handy und Robert wollte wissen, ob alles o.k. sei. Ich bejahte und er bat mich, gut auf mich aufzupassen. Als meine Mutter fragte, wer angerufen habe, sagte ich: «Der Mann, bei dem ich wohne.» – «Ach ja, der nette Mann» heuchelte sie. «Jetzt muss ich aber gehen, Mama.» Ich wollte den Kleinen ein bisschen mit raus nehmen und sie ließ ihn mit mir gehen. Der freute sich riesig und zog schnell seine Schuhe an. Ich bekam auch von ihm gesteckt, dass sie gar keine Wohnung in Aussicht hatten, von wegen «Miete». Ich wollte auch, wissen, wo Buco sei und der Kleine meinte, dass er in einem Heim in Neukölln sei. Ich hatte mir so was ja schon gedacht, denn er hatte doch noch Bewährung und eine illegale Rückkehr nach Deutschland war folglich gar nicht möglich, ohne dass er wieder eingesessen hätte. Darum also hatte meine Mutter die Story mit der «freiwilligen Rückkehr» erfunden, damit ich ihn nicht verpetzen kann. Dann gingen wir noch Eis essen, ich stellte ihn bei Robert zu Hause unter die Dusche, schmiss die Dreckklamotten in die Waschmaschine und gab ihm Sachen von mir. Dafür musste ich von Hose und Jacke etwas wegschneiden, denn er war ja noch so klein. Mit der Polaroid-Kamera machte ich dann noch ein paar Bilder von uns beiden. Ich hatte mich so gefreut, mit dem Kleinen mal wieder was zu tun zu haben, dass mir sogar die Idee kam,
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ihn zu stehlen und irgendwo zu verstecken, aber ich traute mich nicht. Als Robert nach Hause kam, begrüßte der Kleine ihn höflich. Er war damals sieben Jahre alt und ich liebte ihn mehr, als die anderen Geschwister. Außerdem tat er mir leid, denn er war ja noch so klein und hatte keine Ahnung, was für entsetzliche Monster er als Eltern hat. Außer ihm waren alle Familienmitglieder bereits straffällig. Der nächstältere Bruder ist elf und hat schon Diebstähle, Raub und Körperverletzung auf seinem Konto. Ich weiß, wo er mit vierzehn landen wird. Aber der Kleine und die anderen Minderjährigen könnten noch gerettet werden, um den Knast zu vermeiden. Ich wollte zwar, aber ich traute mich nicht, meine Eltern anzuzeigen. Denn dann bliebe ja trotzdem die Frage offen, wo die Kleinen leben sollten. Vermutlich kämen sie ins Heim und würden mir die Schuld geben, wenn sie älter sind. Darum suchte ich wenigstens für mich einen ruhigen Platz zum Leben, um mit mir selbst klarzukommen und hoffte, dass meine Geschwister meinen Egoismus nicht missverstehen. Denn ich liebe sie alle und wäre gern dabei gewesen, als sie aufwuchsen, anstatt im Knast, wo ich die längste Zeit groß wurde. Schuld daran sind nur meine Eltern und dafür hasse ich sie. Die denken doch nur an sich und andere sind total egal. Anfangs hatte ich mich ja geschämt, dass ich schwul bin. Aber heute bin ich froh darüber, dass ich keine Kinder haben werde, denn vielleicht würde ich es nicht besser machen. Kinder zu haben ist zwar toll, aber so ein Risiko würde ich nicht eingehen. Ich kam noch am selben Tag mit meinem Brüderchen zu den Eltern zurück und hatte ein ungutes Gefühl, denn mein Vater war bestimmt zurück. Doch der war ganz nett, grüßte freundlich und wir saßen eine Weile zusammen. Er wollte wissen, warum der Mann nicht mitgekommen sei, bei dem ich wohne, aber Robert sei auf Arbeit, log ich. 152
Und dann kam's: «Mein Sohn, was machst du bloß aus deinem Leben? Warum gehst du zur Polizei und erzählst, was ich dir angeblich angetan haben soll und dass ich Waffen besäße?» Hass stieg in mir hoch und am liebste hätte ich geantwortet, dass es genauso war, wie ich vor der Polizei ausgesagt habe. Denn er hatte mich schließlich grausam misshandelt und in den Dreck getreten. Aber ich log: «Papa, ich hab niemandem was gesagt.» Dann fragte er nach der Gerichtsverhandlung gegen meinen Bruder. Ihn hätte ich doch auch angeschissen und er zeigte mir vier Polaroidfotos, wie ihn die Polizei bei Bucos Festnahme zugerichtet hatte: ein total zerschlagenes Gesicht, ein blaues Auge und Blutergüsse überall. Das verschlug mir erst mal die Sprache und ich bekam Angst. Meine Mutter beruhigte ihn, er solle das Thema wechseln. Sicher täte es mir heute leid und ich wolle ihnen ja schließlich jetzt helfen. Sie hatte schon wieder anderes im Kopf und bat mich, Robert zu fragen, ob er nicht Geschirr und andere Sachen hätte, die er nicht mehr braucht. Ich glaubte zwar nicht, dass es bei Robert irgendetwas Überflüssiges gebe, aber ich versprach, es zu versuchen. Dann ging ich nach Hause und packte eine Tasche voller Teller, T-Shirts von Robert und auch meine Anziehsachen, von jedem ein bisschen. Ich dachte, ich bring was hin und dann hört die Quengelei auf. Doch meine Mutter säuselte wieder «mein Sohn», und dass ich «doch Robert mitbringen» solle. «Ich will ihn mal kennen lernen, um zu sehen, dass du es wirklich gut bei ihm hast.» Irgendwie war ich da stolz, meinen Freund den Eltern vorstellen zu können. Ich sagte meiner Mutter, dass ich ihn fragen wolle und war
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ganz glücklich deswegen. Nach einer Stunde war ich wieder daheim und erzählte Robert vom Wunsch meiner Mutter. Er war natürlich nicht gerade begeistert, aber ich wollte es so und bat ihn, sich richtig schick zu machen. Ich nahm die Kamera mit, um diese Begegnung festzuhalten. Mein Vater war wieder außer Haus, aber alle anderen waren da, als wir kamen. Robert begrüßte alle und ich merkte, wie nervös er war. Meine Mutter hieß ihn, sich zu setzen und als er auf der Couch saß, habe ich gleich mit dem Knipsen begonnen. Dann setzte ich mich dazu, als mein Vater kam und die zwei sich begrüßt hatten. So eine Viertelstunde ging das gut, aber schon fing meine Mutter wieder an, nach einem Fernseher oder Möbeln zu fragen und ich musste das Robert übersetzen. Ich schämte mich total und hätte am liebsten losgeheult, aber ich beherrschte mich und dolmetschte weiter. Dann fing mein Vater an, ob Robert nicht seine Versicherungen übernehmen könne, besonders die teure Autoversicherung, und Robert wollte es tatsächlich versuchen. Auch sagte er, dass es kein Problem für ihn sei, einen Fernseher und eine Couch zu besorgen. Und allgemein versichern wollte er die Bagage auch. Meine Eltern bedankten sich, boten noch Kaffee an und wir gingen wieder nach Hause. Gleich am nächsten Tag riefen sie an, wann denn nun die Sachen kämen. Ich wusste es nicht und sagte ihnen: «Sobald sein Monatslohn da ist.» «Frag ihn doch, denn wir hätten so gerne einen Fernseher.» Ich fragte Robert, wann er das Zeug besorgen wolle, aber der stellte sich dumm. Er wisse nicht wann und genau genommen, nicht einmal ob. Das machte mich zornig. Warum hatte er es dann versprochen, statt nur zu sagen, er würde es versuchen. Da klingelte das
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Telefon schon wieder und meine Mutter fragte wieder dasselbe. Ich sagte ihr, erst wenn er am Ende des Monats sein Geld bekommt. «Ach mein Sohn, was soll ich nur machen. Mama hat kein Geld mehr.» Dabei hatte ich ihr doch gerade fünftausend Mark gegeben und war nun selbst pleite. Sie behauptete, Papa hätte das Geld schon ausgegeben für drei Monate Miete im Voraus und morgen würden sie in die neue Wohnung ziehen. «Miro, mein Sohn, willst du wirklich, dass dein kleiner Bruder verhungert?» Das wollte ich natürlich nicht und sie forderte mich auf, Roberts Kram zu durchsuchen und mindestens fünfhundert Mark zu ihr zu bringen. Ich wollte ihn aber vorher fragen, und morgen was vorbeibringen, falls er mir Geld dafür gibt. An diesem Tag hatte ich Termin beim Sozialamt und bekam dreihundertneunzig Mark ausbezahlt. Zu Hause angekommen, klingelte sofort das Telefon. Meine Mutter beschwerte sich, dass sie schon die ganze Zeit auf mich warten würden und wollte wissen, ob er mir was gegeben hätte. Ich log, Robert sei bei der Arbeit und ich würde ihn abends fragen. Da knallte sie sauer den Hörer auf. Doch abends rief sie wieder an und ich log, Robert hätte mir vierhundert Mark gegeben, die ich morgen vorbeibringen wolle. «Nein, mein Sohn, bring das Geld bitte sofort!» und ich versprach, in einer Stunde da zu sein. Natürlich hatte Robert mir gar nichts gegeben und ich war sauer auf ihn, weil er Leuten Dinge versprach, die er nicht hielt. Das machte die Sache für mich immer komplizierter. Nun hatte ich selbst grad mal fünfhundertsiebzig Mark inklusive Sozialhilfe und vierhundert davon musste ich meiner Mutter bringen. Doch kaum hatte sie das Geld in der Hand, erzählte sie mir von «so einem schönen Kühlschrank für nur fünfzig Mark», den sie bei einem Trödler gesehen hatte. «Bitte kauf ihn deiner Mutti!» Da ging ich tatsächlich mit ihr
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den Kühlschrank kaufen. Ich war stinksauer auf mich selbst, weil ich all das tat und gar nichts mehr für mich übrig blieb. Noch am selben Abend fuhr ich mit der U-Bahn zu meinem Dealer und kaufte zwei Kugeln Heroin von dem bisschen Restgeld. So fing ich wieder mit dem Dope an und das dauerte diesmal drei Monate. Ich ging wieder anschaffen und machte halbe-halbe mit meinen Eltern, damit sie Ruhe geben. Sie riefen fast zweimal täglich an und wollten jedes Mal nur das Eine. Sie bedrohten Robert sogar und schlugen mir vor, dass ich ihnen doch den Wohnungsschlüssel geben könne, damit sie alles Wertvolle ausräumen könnten. Ich solle dann behaupten, ich hätte den Schlüssel verloren. Zum Glück hatte ich ausnahmsweise keine Schlüssel dabei. Da wollten sie wissen, wie ich denn reinkäme und ich sagte, dass ich bis sechzehn Uhr warte, denn dann käme er von der Arbeit zurück. «Mama, bitte, lass doch den Mann einfach in Ruhe. Ich hab dir jedes Mal Geld gegeben, wenn ich welches hatte!» – «Sag ehrlich, Miro, hat dich der Mann gefickt, dass du so auf ihn acht gibst?» – «Mama, wie kommst du denn darauf. Wir mögen uns halt gerne und er behandelt mich wie seinen Sohn.» Dann wollte sie aber wissen, warum er das Versprechen mit der Couch und den Versicherungen nicht gehalten hätte. Ich sagte ihr, dass er mir doch reichlich Geld gegeben hatte, das ich ihnen ständig vorbeibrachte. «Na ja, das ist dein Problem, mein Sohn. Ich fände es richtig, wenn du wieder zu uns ziehst. Dann rauben wir gemeinsam seine Wohnung aus.» Aber ich wusste, dass ich das niemals zulassen würde und ging. Eine Woche drauf holte ich das Ergebnis meines HIV-Testes ab, denn ich wollte wissen, ob ich vielleicht AIDS habe. Der 156
Test war glücklicherweise negativ, aber der Arzt fragte mich, ob ich Drogen nehme. Ich log, dass das lange vorbei sei. Er informierte mich, dass ich eine Hepatitis A hinter mir habe und erklärte, dass die Gefahr einer Gelbsucht besteht, falls ich weiter Drogen nähme. Ich war fürs erste beruhigt, aber an Aufhören dachte ich nicht. Damals ging ich nicht anschaffen, sondern stehlen, was einen Monat gut ging, bis ich erneut verhaftet wurde. Alles wie gehabt: Ich saß wieder ein und hatte den schlimmsten Entzug meines jungen Lebens. Auch Robert zog sich zurück, drohte immer, mich nicht mehr besuchen zu wollen und ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. In der Zelle kam mir öfters der Gedanke, mich umzubringen, denn ich hatte ja keine Lebensperspektive und war allein. Oft dachte ich an mein Sterben und den Tod. Ich bereitete schon eine Möglichkeit vor, mich aufzuhängen. Dazu verwendete ich meinen Schnürsenkel. Der war fest genug, aber beim ersten Versuch riss er bloß ein Stück aus der Zimmerdecke. Da band ich ihn an das feste Eisengitter des Fensters, legte ihn um den Hals, stellte mich auf einen Stuhl. Ich bekam noch mit, wie ich den Stuhl wegschob und dann weiß ich nichts mehr. Beim Aufwachen lag ich auf dem Fußboden und hatte mich vollgepisst und eingeschissen. Der Schnürsenkel hing noch um meinen Hals entzwei und ich fühlte mich total kaputt. Erst konnte ich gar nicht aufstehen und heulte vor Wut. Als es dann langsam besser zu gehen begann, trat ich vor den Spiegel. Da sah ich meinen Hals, der ringsum blutrot eingeschnitten war und man sah das noch lange Zeit später. Jetzt heulte ich, weil es nicht funktioniert hatte. Ich war doch bereits «weg», aber eben bloß ohnmächtig, weil der Strick doch nicht gehalten hat. Nach fünf Wochen war dann meine Hauptverhandlung. Ich dachte, sie lassen mich
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bestimmt eingesperrt wegen der Bewährungsstrafe von vorher. Ich wollte auch gar nicht raus, denn mir war klar, dass ich sofort wieder Drogen nehmen würde. Zu diesem Zweck schrieb ich mir einen Brief ans Gericht, den ich dort vorlesen wollte. Zunächst wurde wieder lange über mich und meinen Werdegang gesprochen und alle alten Straftaten wurden dabei erneut durchgekaut. Ich hatte ein Schlusswort, das kannte ich ja schon, und fragte den Richter, ob ich meinen Text vorlesen dürfe. Weil es vier Seiten waren, wollte er, dass ich etwas abkürze. Aber Robert war auch im Saal und rief dazwischen: «Nein, er soll alles vorlesen.» Der Richter wies Robert zurecht, er habe hier gar nichts zu sagen, drehte den Kopf wieder zu mir und forderte mich auf, anzufangen. «Sehr geehrtes Gericht, ich weiß, dass ich schuldig bin, dass ich wieder kriminell geworden bin. Ich schäme mich und bereue alles, was ich gemacht habe. Aber ich möchte Ihnen erklären, warum es wieder so weit kam, auch warum ich wieder Drogen genommen habe und erneut süchtig geworden bin. Seit meinem siebenten Lebensjahr wurde ich geschlagen, misshandelt und gequält. Ich musste alles tun, was meine Eltern von mir wollten. Zweimal haben sie mich angezündet und schwer verbrannt, weil ich nicht klauen gehen wollte und ausgerissen bin. Ich habe noch andere Geschwister. Die tun mir leid, weil von denen keiner schreiben und lesen kann. Außerdem werden sie alle dressiert und klauen geschickt wie ich. Ein paar von ihnen wurden auch schon straffällig und werden wohl genauso enden wie ich. Meine Eltern haben noch nie gearbeitet, sondern leben von Sozialhilfe oder von gestohlenem Geld. Sie haben sich nur um sich selbst gekümmert und uns Kinder im Stich gelassen.
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Daher bitte ich Sie, nicht mich zu bestrafen, sondern meine Eltern. Die sollten den Knast mal von innen kennen lernen, nicht nur von außen, wenn sie mal ausnahmsweise ihre kriminellen Kinder besuchen. Insgesamt saß ich bis jetzt 38 Monate ein und wurde ganze drei Mal von Angehörigen besucht. Ich schäme mich, Ihnen das alles vorzulesen, aber ich habe keine andere Wahl, um meine Unschuld zu beweisen. Ich habe mit Drogen angefangen. Immerhin haben mir die Drogen geholfen, meine Probleme eine Zeit lang zu vergessen. Einerseits tat mir das sehr gut, andererseits wurde ich dadurch noch öfter straffällig. Darum möchte ich mich bei meinen Opfern entschuldigen, denen ich das Portemonnaie gestohlen oder es zumindest versucht habe. Ich schäme mich dafür und kann meine Entschuldigung bloß immer wiederholen.» So in etwa habe ich damals geschrieben und alles vorgelesen. Im Gericht hörten mir alle zu und als ich fertig war, wollte der Richter wissen, ob ich das selbst geschrieben hätte und lobte mich dafür. Da erhob sich der Staatsanwalt und sagte, er glaube mir, was ich geschrieben habe und schlage daher vor, die Untersuchungshaft anzurechnen und die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen. Ich wusste nicht, ob ich glücklich oder misstrauisch sein sollte. Der Richter fragte nach meiner Meinung und ich wollte bloß wissen, ob er der gleichen Meinung sei, wie der Staatsanwalt. Dann zogen sie sich zehn Minuten zur Beratung zurück und ich saß verklemmt und nervös da, als sie endlich wieder zurück waren. Ich stand mit meinem Pflichtverteidiger auf und der Richter sagte das Gleiche wie der Staatsanwalt: «Herr Sabanovic, es tut mir leid, aber Sie sind nun frei auf Bewährung. Allerdings wird Sie nun die Aus-
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länderpolizei mitnehmen.» Zwei Zivilbullen waren schon die ganze Zeit im Gerichtssaal, was ich gar nicht wusste, fesselten mir die Hände mit Handschellen auf dem Rücken und führten mich ab. Ich verstand gar nichts mehr und hörte noch beim Weggehen, wie Robert sich mit dem Richter anlegte: «Ach kommen Sie, das war doch so geplant, erst Freispruch und dann Abschiebung!» Da warf er ihn aus dem Saal raus. Im nächsten Polizeirevier wurde ich gründlich kontrolliert und musste dann erst mal fünf Stunden in einer Zelle warten, bis der Transportwagen zum Abschiebegewahrsam Köpenick kam. Dort wurde ich noch mal kontrolliert und sie nahmen mir die Schnürsenkel weg. Erst gingen wir durch einen großen Gang mit lauter alten Gefangenen. Einer meiner Begleiter zeigte mir eine Sechs-Mann-Zelle und fragte, ob da noch was frei sei. Es war ein Bett frei und der Beamte sagte noch: «Fühl dich wie zu Hause», bevor er ging. «Ja danke, du Arschloch», dachte ich. Er konnte ja nicht wissen, wie sehr er ins Schwarze getroffen hatte... Wir waren nicht unter Verschluss, nur eine Stunde während der Nacht. Wir hatten auch einen Fernseher in der Zelle, aber ich konnte mich nicht unterhalten, denn niemand dort sprach deutsch oder bosnisch. Da ging ich vor die Tür, um den Betrieb ein bisschen zu erkunden. Doch, große Scheiße, da kam mir mein großer Bruder entgegen: «Hallo schwule Sau, so sieht man sich wieder!» Ich versuchte trotz allem zu lächeln und wollte ihn grüßen. Aber er stieß mich brutal von sich weg: «Fass mich nicht an, du Schwanzlutscher!» Da musste ich Buco einfach antworten, dass er überhaupt kein Recht habe, so mit mir zu sprechen: «Meinst du, ich könnte so schnell vergessen, was du mir angetan hast damals im Keller und auch sonst immer? Komm, wir un160
terhalten uns friedlich, wie zwei richtige Brüder!» Ich ging mit ihm in seine Zelle, wo noch zwei Albaner und zwei aus unserer Heimat saßen. Denen wurde ich gleich vorgestellt: «Das ist mein Bruder, der mich angeschissen hat und wegen ihm saß ich im Knast!» Einer der Albaner fragte, ob ich Hunger hätte, aber ich war noch satt und bedankte mich. Dann wieder Buco: «Sag mal, du Schwuchtel, wie willst du das wieder gutmachen!?», und schlug mit der Faust auf meinen Kopf. Der nette Albaner wollte ihn beruhigen, schließlich sei ich doch sein Bruder. Aber Buco tobte immer schlimmer: «Was der mich angeschissen hat! Der sieht mir gar nicht ähnlich, denn er ist ja eine schwule Sau, die sich in den Arsch ficken lässt. Und so was soll mein Bruder sein?!» Der Albaner wollte ihn bremsen, als Buco auf mich losging, aber er schaffte es nicht: «Das ist doch dein Bruder, Mensch!» Ich lehnte an der Zellenwand und Buco boxte mich in den Bauch, immer wieder. Ich wehrte mich nicht, denn das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Gott sei Dank kam von hinten ein kräftiger Schwarzer, der Buco von mir wegzog. Ich lag mit dem Kopf auf dem Fußboden und keiner sagte was. Als ich mich erholt und er sich beruhigt hatte, ging ich eine Rauchen und er setze sich mir im Raucherzimmer gegenüber, guckte mich aggressiv an und fauchte: «Schämst du dich nicht für das, was du gemacht hast?» - «Doch, ich schäme mich.» - «Bist du noch immer mit der schwulen Sau zusammen?» - «Klar.» - «Vermisst du ihn denn nicht? Das ist doch deine Frau!» Ich bat ihn, nicht zu streiten, denn unsere Abschiebung stand doch bevor und ich wusste überhaupt nicht, wohin ich in Bosnien gehen sollte. Doch er tobte weiter: «Hör mal, du Schwuchtel, ich bin nur wegen dir hier und werde nur wegen dir abgeschoben. Du rufst jetzt den Schwulen an, der soll fünftausend Mark zahlen für die Scheidung, die du ver-
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schuldet hast. Sag ihm, ohne das Geld würden meine Exfrau und die Kinder auch noch abgeschoben.» Da gab er mir seine Telefonkarte. Als ich Robert anrief, stand Buco neben mir und überwachte genau, was ich sagte. Wir sprachen nur ganz kurz und er versprach, mein erspartes Geld vorbei zu bringen. Natürlich wusste Robert so gut wie ich, dass da nichts Gespartes mehr war. Kurz darauf rief ich noch mal an mit einer Karte, die mir ein Pole auslieh, aber ohne meinen Bruder. Ich erzählte Robert, dass hier gar keine Beamten seien, wo ich mich beschweren könne und dass Buco mich schlägt. «Robert, ich muss schnell auflegen, bevor er mich sieht!» Dann setzte ich mich erst mal still hin und dachte meine Perspektiven mit Bosnien durch. Ich hatte keine, und ich wollte sterben, weil es keinen Grund zu Leben gab. Nach einer Stunde kamen zwei Beamte in Bucos Zelle: «Wer hat wen geschlagen?» Ich verlor die Sprache und hatte Robert wohl falsch informiert von wegen fehlender Beschwerdemöglichkeit. Buco sollte aufstehen und stritt alles ab, ich genauso. Da wollten sie wissen, was das für Blutergüsse und Wunden in meinem Gesicht sind, aber ich sagte nichts. Als sie raus waren, drosch Buco weiter auf mir herum und wieder wehrte ich mich nicht. Er grunzte: «Ich schwöre dir bei allen meinen Kindern, wenn wir wieder in Bosnien sind, bring ich dich um! Steh bloß auf und tu doch nicht so, als wenn du schon tot wärest.» Ich versuchte gerade aufzustehen, da kamen die Beamten wieder, trennten uns und verlegten mich auf eine andere Station. Herr Hauschild von Pax Christi hatte ein Fax geschickt, was sie mir zeigten, und sagten: «Wenn zwei Brüder sich streiten, müssen sie auseinander.» In der neuen Etage setzte ich mich auf mein neues Bett und dachte nach. Was hatte ich eigentlich verbrochen, dass ich mich von jedem schlagen lassen muss? Meine Eltern haben mir mein Leben geraubt 162
und jeden Scheiß hab ich für sie machen müssen. «Bitte Gott, schieb mich nicht ab! Ich würde in Bosnien nicht mehr leben können, bitte, Gott, lass mich nicht im Stich. Ich habe zwar nie an dich geglaubt, aber erfülle mir doch die eine Bitte und trenne mich ein für alle Mal von dieser entsetzlichen Familie!» Ich weinte und zwei freundliche Schwarze kamen zu mir, die wissen wollten, wie ich heiße. Auch sie stellten sich vor, erzählen von sich und ich sollte ihre Ausweisungsbescheide lesen und erklären, was sie daran nicht verstanden. Etwas später besuchte mich ein Araber, der mir Heroin verkaufen wollte, aber ich hatte ja kein Geld. Da wollte er wissen, ob ich Besuch bekäme und ich fragte ihn, wie das überhaupt mit Besuch sei und erfuhr, dass man jeden Tag welchen bekommen darf. Man kann sogar Essen und Trinken von außen mitbringen lassen. Er wollte noch wissen, ob ich Familie habe und ich sagte, dass die bestimmt schon bald zu Besuch kämen. Da fragte er, wie viel ich kaufen wolle und ich nahm erst mal ein Kügelchen, um eine Entscheidungsgrundlage zu haben, ob ich tatsächlich bei ihm kaufe. Er holte eine große Tüte Gras aus der Unterhose und zur Hälfte war Heroin dazwischen. Da hab ich aber geguckt! Er stellte die Tüte auf den Tisch und ich besorgte aus meiner Zelle Alufolie, die dort schon herumlag. Dann holte er mit seinen langen, dünnen Fingern eine Kugel aus der Tüte und packte mir das Zeug auf die Folie. «Hör mal», sagte er, «das hier schenke ich dir. Und wenn du wieder was willst, dann kommst du zu mir.» Ich war einverstanden und wurde von dem Zeug nach ein paar Zügen so breit, dass ich keine Ahnung mehr hatte, wo ich eigentlich war. Am nächsten Tag besuchte mich Robert, brache Klamotten, Kosmetika, etwas Essbares und die zwanzig Mark, die man
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hier nur haben darf. Beide waren wir traurig, weil wir ganz sicher waren, dass ich abgeschoben werde. Er liebte mich wohl nicht mehr, wegen all der Scheiße, die er mit mir am Bein hatte. Bei diesem Besuch war er ganz anders als früher, ungeduldig, fast unfreundlich und ich glaube, dass er heilfroh war, als die Stunde vorbei war. Als ich aus dem Besucherraum zurück zur Station gebracht wurde, schrieb ich gleich an die Ausländerpolizei, sie sollten mich bitte nicht abschieben, denn in Bosnien könne ich mir kein Leben mehr vorstellen. Abends kaufte ich dann für die zwanzig Mark Heroin und schlief bis um neun Uhr, als mich ein Beamter weckte. Er brachte mich zur Ausländerpolizei, die mich sprechen wolle. In dem Büro war ein Beamter mit Dolmetscherin, doch ich konnte ja selber deutsch. So nahmen sie wieder einmal meine Personalien auf, dann konnte ich gehen und auf meine ängstliche Frage, was nun passieren solle, sagten Sie bloß knapp: «Sie werden abgeschoben», das war's. Ich dachte: «0 Gott, da hab ich echt keine Chance!» und heulte den ganzen Weg zurück auf Station neben dem Beamten. Um elf Uhr besuchte mich dann die Jugendgerichtshilfe und erkundigte sich, wie es mir hier gehe. Ich erzählte von meinem Brief und von dem Gespräch mit der Polizei. Nachmittags kam überraschenderweise doch Robert wieder, brachte Zigaretten, Essen, Telefonkarte und zwanzig Mark und wir näherten uns wieder etwas an. Als er gegangen war, kaufte ich für fünfzig Mark Heroin und rauchte den ganzen Tag, war superbreit und ging gleich schlafen. Am vierten Tag in Abschiebehaft stellten sie mir einen Gerichtstermin wegen der Sache mit dem polnischen Mädchen zu, der in zwei Wochen sein sollte. Am fünften Tag sollte ich schon wieder zur Ausländerpolizei. Doch diesmal waren sie ganz freundlich dort, fragten mich nach meinen Eltern und warum ich denn in Deutschland unbe-
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dingt bleiben wolle. Ich erklärte ihnen alles ganz genau und beim Abschied kündigten sie an, es werde noch ein solches Gespräch geben und danach würde entschieden. Doch bereits als ich zurückgebracht wurde, wartete vor der Zelle schon ein weiterer Beamter, der mich aufforderte, zu packen: «Herr Sabanovic, Sie werden entlassen!» Ich packte, rief schnell Robert an, dass er mich abholt, aber der glaubte mir nicht. Erst als ich heilige Eide schwor, versprach er, zu kommen. Alles ging mir zu schnell und ich begriff gar nichts mehr. Ich dachte an den folgenden Gerichtstermin in zwei Wochen und hatte grad noch angenommen, dass sie mich deshalb mindestens bis dahin noch festhalten. Was war nur los, dass ich schon heute aus der Abschiebehaft freikam? Es war der 1. Dezember. Ich stand vor dem Knast und wartete auf Robert. In der Hand hielt ich einen Zettel, den sie mir bei der Entlassung gegeben hatten. Darauf stand, dass ich mich in Eisenhüttenstadt/Brandenburg zu melden habe und die Meldefrist: 3. Dezember 1999, aber ich beachtete das gar nicht und wollte bloß nach Hause. Aber Robert kam nicht. Ich begann schon, die ersten Entzugserscheinungen zu spüren, denn gestern hatte ich das letzte Mal Dope gehabt. Also entschied ich mich für die Straßenbahn bis zum S-Bahnhof und von dort nach Neukölln, wo wir wohnten. Ich traf den Dealer dort im Bahnhof, den ich noch von früher kannte, und begrüßte ihn. Als Erstes bot ich ihm meine Uhr an zum Tausch gegen Heroin. Er lachte, bot mir dafür zwei Kügelchen an und ich war einverstanden. Ich ging gleich auf das U-Bahnklo, nahm bei einer Imbissbude etwas Alufolie mit und rauchte beide Kugeln auf einmal. So richtig geil war es nicht, aber der Entzug war weg. Mit der Telefonkarte rief ich dann gleich Robert an und zwar auf
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seinem Handy: «Robert, wo bist du?» - «Mensch, ich war doch da, aber du warst weg!» Ich ging gleich nach Hause, das jetzt eine andere Adresse hatte, denn Robert war in der Zwischenzeit umgezogen und hatte mir die Adresse in der Abschiebehaft gegeben. Dort legte ich mich gleich in die Badewanne, fast eine ganze Stunde lang. Am nächsten Morgen rief ich Herrn Hauschild von Pax Christi an, der sich mit mir freute und wissen wollte, warum es auf einmal möglich war. Ich erzählte von verschiedenen Zetteln, die ich unterschrieben habe und da wusste er, was ich gemachte hatte: Ich hatte Asyl beantragt. Als ich noch von Eisenhüttenstadt/Brandenburg erzählte, wo ich schon übermorgen meldepflichtig sei, sagte er, das brauche ich nicht einhalten, sondern soll der Ausländerbehörde nur schreiben, dass ich den Asylantrag zurückziehe. Ich machte es so, wie er mir sagte. Am nächsten Tag wollte ich eigentlich aus dem Knast meine Sachen abholen, denn ich war ja direkt vom Gericht in die Abschiebehaft verfrachtet worden und einiges war noch im Knast davor. Aber telefonisch ging da nichts. So holte ich mir dort mein Erspartes ab, das ich für eine Zahnreparatur zurückgelegt hatte, etwa eintausendzweihundert Mark. Aber ich machte nur meinen Dealer reich und bekam viel Dope dafür. Bald war ich wieder total am Boden. Ich konnte an gar nichts anderes denken als Heroin. Mein ganzes Zimmer stank danach und Robert bettelte, ich soll mich doch nicht kaputt machen. Ich log ihn an, dass er sich das einbildet, weil ich doch gar keine Drogen mehr nähme. Aber er sagte: «Mensch Miro, das sieht man doch. Ich schau dir in die Augen und sehe alles. Du belügst dich höchstens selbst, ich weiß bescheid!» - «Ach lass mich doch in Ruhe, du hast ja keine Ahnung!» Robert drohte, mich rauszuschmeißen, weil er zurecht 166
Angst um seine Wohnung hatte, denn ich war schon öfters mit brennender Zigarette eingeschlafen, wenn ich voll Dope war. Einmal hatte das Bett schon Feuer gefangen, als er grad noch dazu kam. Er klagte, ich hätte ihn an den Rand des Ruins getrieben und nervlich völlig kaputt gemacht. Aber ich hörte gar nicht zu, obwohl er doch wirklich in jeder Hinsicht recht hatte. Das «Zahnarzt»-Geld reichte für zwei Wochen Heroin, dann ging ich wieder anschaffen. Mein Verdienst von zweihundert Mark täglich reichte mir bald nicht mehr aus, denn mein Körper brauchte immer mehr Stoff. Ich konnte gar nicht genug davon haben. Ende Januar musste ich wieder meine monatliche Duldung verlängern lassen, denn seit einem Jahr schon bekam ich die Duldung nur für jeweils einen Monat. Danach zum Sozialamt die Stütze abholen, wo ich um zehn Uhr bestellt war. Also stand ich schon um sechs Uhr früh auf, für mich damals mitten in der Nacht. Ich rauchte das erste Mal vor dem Losgehen und das zweite Mal, als ich die Ausländerbehörde verließ. Das dritte Mal in der U-Bahn zum Sozialamt, wobei die Leute komisch schauten, aber das war mir egal. Als ich dann eine Viertelstunde zu spät im Amt erschien, wurde ich deswegen gleich gerügt. Erst erschrak ich, weil ich die Zeit überhaupt verpeilt haben könnte, vielleicht schon stundenlang zu spät war. Aber es waren doch nur die paar Minuten und ich zeigte meine verlängerte Duldung mit der Bemerkung vor, dass ich das hier gerade noch abgeholt hätte, was einen Moment länger gedauert habe. Doch die Sozialarbeiterin blieb hart: «Herr Sabanovic, Sie können sich gerne bei meinem Chef beschweren. Aber Sie sind zu spät und darum gebe ich Ihnen für kommenden Montag einen neuen Termin.» Ich bat sie und log, mir fehle das Geld zum Essen. Da gab sie mir eine Adresse, wo ich zu Essen holen könne, aber natürlich wollte ich das nicht und
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verließ das Sozialamt sauer und ohne einen Pfennig in der Tasche. Ich spürte schon leichten Entzug, weil ich die letzten Tage echt übertrieben hatte. Aber mein Körper verlangte das Doppelte wie am Anfang und so überlegte ich, wie ich das bis Montag machen sollte. Etwa drei Gramm brauchte ich täglich, um befriedigt zu sein, sonst ging's mir schlecht. Ich war noch immer wütend auf die blöde Kuh vom Sozialamt, die mir wegen fünf Minuten nichts gegeben hatte, als ich beschloss mit der U-Bahn zum Alexanderplatz zu fahren. Dort ist eine gut besuchte Klappe, aber die war um diese Zeit noch geschlossen. Ich wurde richtig zornig und kam mal wieder auf die Idee, zu stehlen. Ich wog kurz die Risiken ab, aber ich dachte, entweder es klappt und ich habe Glück, oder ich hab Pech und sie sperren mich eben wieder ein. Ich stand schon bei «Kaiser's» im Laden und zweifelte noch etwas, als eine Frau mit sichtbarer Geldbörse in der Manteltasche eintrat. Als ich gleich mein Glück versuchte, bemerkte sie mich und hielt meine Hand fest. Ich schaffte es zwar, mich loszureißen. Aber beim Versuch zu fliehen war ich ganz verwirrt und fand die Richtung zum Ausgang nicht. Da rief die Frau zornig hinter mir her: «Haltet den Dieb!» Ich flitze herum, rutschte irgendwie aus und knallte auf den Boden. Als ich wieder aufstand, hielten mich zwei Männer fest, bis die Polizei kam. Als sie auf mich zu kamen, dachte ich: Bestimmt ist es so besser für mich. Denn ich war echt am Boden, nicht nur auf dem des Supermarktes. Ich war total kaputt und überstand keinen Augenblick ohne Drogen. Ich wog mal grad noch fünfzig Kilo und war total abgemagert. Auf dem Weg zum Polizeirevier zitterte ich vor Kälte und Schmerzen, es schien mir unmöglich, das auszuhalten. Da riefen sie einen Arzt, der zu mir in die Zelle kam. Der roch nach Alkohol aus dem
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Mund und fragte mich, ob ich Drogen nehme. Ich gab es zu und er wollte wissen, ob ich das Zeug drücke, schnüffle oder rauche. Als ich die Menge nannte, war er echt platt. Dann maß er noch Fieber und Blutdruck und ich hab ihn nicht mehr gesehen. Doch mir ging's immer schlechter, ich krampfte im Magen und mit den Beinen. Außerdem fror ich in dieser elenden Zelle. Am nächsten Tag stand ich mal wieder vor dem Haftrichter und der entschied, dass ich in den Jugendknast nach Plötzensee muss. Als sie mich brachten, konnte ich fast nicht mehr laufen vor Entzug. Da riefen sie einen Arzt, aber der war ratlos und so schleppte ich mich mit den Beamten zum eigentlichen Anstaltsarzt. Wir kannten uns ja schon und er hieß mich hinsetzen. Ich zitterte wie Espenlaub und er fragte, was ich denn hätte. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass es Entzug sei und er fragte, wann ich das letzte Mal Drogen genommen hätte, was genau und wie viel. «Und was wollen Sie jetzt von mir?» Ich wusste es selbst nicht, denn man hatte mich ja hierher gebracht. Er stellte völlig widersinnig fest, ich sähe «gut» aus und er wisse «wirklich nicht, was er mir helfen» könne. Ich bat um ein Mittel gegen meine Schmerzen. Er fragte, wo ich welche hätte und ich erklärte, dass es mir überall wehtue. Er sagte, dass «überall» unmöglich sei und ich zeigte ihm den Bauch, die Beine, die Glieder und den Rücken. Doch er half mir nicht und fasste mich nicht einmal an. «Herr Sabanovic, ich kann nichts erkennen und dann darf ich auch nichts verschreiben. Aspirin könnten sie bekommen, aber das haben auch Ihre Stationsbeamten, Sie müssen nur fragen.» Ich drohte ihm, dass er verantwortlich ist, wenn mir in diesem Zustand was passiert. Da stand er auf: «Können Sie das wiederholen?» Ich tat es und er tat mir kund, dass er mich in die Monitorzelle schlafen schickt. Da
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wurde ich sauer: «Sind Sie ein Arzt oder ein Arsch? Ich habe Schmerzen jenseits der Grenzen meiner Belastbarkeit.» Er lehnte alles ab und warf mich unsanft heraus. Die Beamten hatten alles mit angehört und gaben mir recht, als sie mich in die Monitorzelle bringen mussten. Sie sagten noch, morgen käme der Chefarzt und der würde sicher ein Rezept schreiben. Ich zischte: «Das war nur ein Spinner.» In der Monitorzelle musste ich mich nackt ausziehen und dachte: «0 Gott, ich erfriere!» Aber bald wurde es unter meinen Füßen immer wärmer und ich freute mich darüber wie ein kleines Kind. Zwei Kameras beobachteten mich die ganze Zeit und ich bekam nur eine Papierdecke. Ich legte mich auf den körperwarmen Boden, das war angenehm, aber schlafen konnte ich wegen der Schmerzen die ganze Nacht über nicht. Gleich am Morgen kam ein netter Arzt herein, der wissen wollte wie ich geschlafen hatte. Der verschrieb mir sofort für sieben Tage Methadon. «Solang bleibst du auf der Krankenstation, bis ich dich wieder gesund schreiben kann. Aber du kennst das ja bereits, denn du bist schließlich nicht das erste Mal hier.» Ich lachte erleichtert und ging mit ihm nach oben auf die Krankenstation. Dort traute ich mich nicht aus dem Zimmer, denn ich fühlte mich noch immer total kaputt, hatte weiter Magenkrämpfe, Schlaflosigkeit und schwitzte die ganze Zeit wie ein Schwein. Als ich einmal vor allen kotzen musste, nannte mich einige «Junkie» und ich schämte mich. Darum beschloss ich, so lange auf der Zelle zu bleiben, bis es mir besser ging. Doch dort erbrach ich Blut und hatte Todesangst. Das sagte ich nur dem Arzt, der mich gründlich untersuchte, aber nichts finden konnte. In der Zelle allein dachte ich oft an Robert und weinte vor mich hin. Ich bereute von Herzen, dass ich die Scheiße genommen habe
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und dass ich wieder klauen war. Ich fühlte, dass mir keiner glauben würde, wenn ich versuchen würde, all das zu erklären. Einerseits verstand ich das auch, denn ich saß nun zum fünften Mal ein und erzählte dem Richter jedes Mal die gleiche Geschichte. Wenn ich Richter wäre, würde ich jemand so Unglaubwürdigen wie mir weder vorzeitige Entlassung noch Bewährung geben. Das wäre nur anders, wenn ich mir der Story sicher wäre, die ein Angeklagter mir auftischt. Aber mir wird keiner glauben. Und warum das Ganze? Weil meine Eltern nie die Wahrheit sagen würden. Und sie wären auch dumm, das zu tun, bei all ihren Verbrechen. Dann fühlte ich wieder eine lähmende Lebensmüdigkeit aufsteigen, denn ich hatte auch meinen einzigen Freund Robert so schwer enttäuscht. Wer erwartet mich und wer wird mir irgendetwas glauben? Keiner! Voller Selbsthass kullerten mir die Tränen. Ich hatte jede Ausbildung bisher wieder gesteckt und war mit meinen fast zwanzig Jahren immer nur klauen gegangen. Wie würde es mir wohl gehen, wenn mein Geld gestohlen würde? Ich musste mir selbst eingestehen, dass ich die Leute verdreschen würde. Aber ich hatte so vielen Frauen das Portemonnaie gestohlen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, wie böse ich zu denen bin. Sie haben vielleicht zu Hause dann geheult und wer weiß, wie knapp sie mit Geld und wie wichtig ihre Papiere waren. Die hatte ich meist einfach weggeworfen und nur ganz selten in einen Briefkasten gesteckt, wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte. Am 20. Februar 2000 war alles für meinen Selbstmord vorbereitet. Ich schrieb noch einen Zettel, den man neben der Leiche finden sollte: «Bitte glaubt mir: Ich war kein schlechter Kerl. Aber mir wurde von klein auf nie geglaubt und ich kam immer wieder in den Knast. So will ich nicht weiterleben. Im Himmel würde ich es besser haben.» Noch
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immer hatte ich Entzugsschmerzen, doch plötzlich änderte ich meine Meinung. Ich war schließlich erst zwanzig Jahre jung und wollte noch so viel erleben und meine Unschuld beweisen. «Schreibe doch an die Öffentlichkeit und die wird dir vergeben und dir Glauben schenken», dachte ich. Dann wieder bezweifelte ich diese Möglichkeit und riss dabei die kleinen Notizzettel ab, die ich mir an meinen Tisch geklebt hatte. Dann musste ich darüber heulen, dass ich so entscheidungsschwach war und schlief irritiert ein. Am nächsten morgen besuchte mich eine Pfarrerin, die schon öfters mit mir geredet hatte und der erzählte ich alles, was zuletzt passiert war. Sie hörte gut zu und war echt mitfühlend. Da konnte ich heulen wie ein kleines Kind, denn mit ihr war jedes Thema unproblematisch. Sie gab mir eine Menge echt gute Ratschläge, aber nichts davon funktionierte. Ende März war dann die Hauptverhandlung wegen dem letzten Diebstahl und wegen der vermeintlichen «Vergewaltigung». Wieder versuchte ich, meine Unschuld zu beweisen und trotzdem erhielt ich eine Gesamtstrafe von vier Jahren Jugendknast ohne Bewährung. Sie haben gezielt übersehen wollen, was für eine miese Kindheit ich hatte und dass ich schließlich in Berliner Knästen zum großen Teil aufgewachsen war. Nun habe ich noch eine recht lange Haftzeit vor mir und ich denke an meine kleinen Geschwister, die wohl immer noch nicht wissen, was auf sie zukommt. Ich sorge mich, sie könnten genauso enden wie ich. Außer dem Kleinsten sind alle schon vorbestraft. Für den kleinen Dalibor würde ich sogar mein Leben geben, damit ihm so etwas nicht passiert. Auch an die beiden älteren Schwestern denke ich oft. Wir hatten uns früher gut verstanden, aber uns nun schon Jahre lang nicht mehr gesehen. Der Kontakt zu Robert ist leider
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schlecht geworden, seit ich schon wieder eingefahren bin. Zwar kommt er zu Besuch, aber er liebt mich nicht mehr. Damit muss ich mich wohl abfinden und ich kann auch verstehen, dass er das Interesse verloren hat. Ein bisschen tröstet mich zur Zeit das einzige Foto, das ich von meinem kleinsten Bruder besitze. Ich hatte es damals in Roberts Wohnung gemacht, als ich ihn abduschte und ihm meine Kleidung mit der Schere zurecht geschnitten hatte. Auf dem Bild umarme ich ihn und wir waren in dem Moment echt glücklich. Jetzt muss ich zuseh'n, dass ich irgendwie zurechtkomme mit der Zeit nach der Entlassung. Meine größte Angst ist es, dass ich vielleicht abgeschoben werde. Aber auch dann muss ich eben zuseh'n, irgendwie zurecht zu kommen. Miro Sabanovic
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HORIZONTERWEITERUNG ODER VON MIRO LERNEN? Miros «Zigeuner»-Geschichte ist ein aktuelles Stück europäische Sozialgeschichte. Sie passt in die gegenwärtigen Debatten um Ausländerrecht und «soziale Hängematte» wie die Faust aufs Auge. Geschichtsschreibung aus persönlicher Sicht ergänzt die «Fakten» wissenschaftlicher Forschung oftmals gegen deren Mainstream. Denn die Verliererinnen herrschender Verhältnisse kommen dabei relativ unzensiert zu Wort, mithin genau jene Menschen, die in aller Regel stumm gemacht wurden und werden. «Oral History» vermag vor allem eines, was auch Miros Beitrag so wertvoll macht: die Auflösung von Klischees und Vorurteilen zugunsten einer differenzierten Sicht auf Einzelne. Die Stärke solcher Geschichten gegenüber der «Geschichte» ist zugleich ihre methodische Schwäche. Denn «Oral History» lässt keine Verallgemeinerungen zu. Das gilt gerade auch dann und dort, wo Vorurteile durch einen persönlichen Text beim ersten Hinschauen bestätigt werden. Miros Familie und ihr Umgang mit Kindern mag zunächst vielleicht als «typisch Roma» empfunden werden. Doch sein feinfühliger Text ermöglicht, die harte Passform des Stigmas «Roma» oder «Zigeuner» aufzuweichen: Das Klischee bekommt Risse und Löcher, durch die das Persönliche sichtbar wird. Wer daher «fremden» Menschen hierzulande Chancen einräumen will, sich also nicht hinter Allgemeinplätzen verschanzt, kann sich durch Miros Text dabei helfen lassen. Niemand «repräsentiert» in persona das Klischee einer gesellschaftlichen Zuschreibung. Nie-
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mand ist existenziell «kriminell» oder «ein Krimineller», auch der Romajunge Miro nicht. Allenfalls ist er straffällig geworden und in vieler Hinsicht eine echte Zumutung. Doch das Roma-Klischee vom betrügerischen Schmarotzer ist besonders stabil. Es war für mich währen meiner Jahre mit Miro verblüffend, wie extrem dieser Junge und seine Familie diesem Klischee entsprechen und auch entsprechen wollen. Dabei haben alle Handlungspersonen in Miros Text durchaus auch andere Charakterzüge, selbst die folternden Eltern. Aber ihr Selbstverständnis (ihre Identität) definieren sie gemäß der dreifachen Zuschreibung «gewaltsam, betrügerisch, schmarotzend». Immer wieder äußerte Miro in meiner Sprechstunde oder im Gerichtssaal nicht ohne einen gewissen Stolz: «Ich bin halt ein Dieb.» Ohne das an dieser Stelle vertiefen zu können, sei hier zumindest holzschnittartig skizziert, dass es sich bei diesem Klischee um ein altes, und auch darum so renitentes Ausgrenzungsmuster europäischer Kulturen handelt. In den Grundzügen «gewaltsam, betrügerisch, schmarotzend» ist es bereits zur Zeit der großen Pest des 15. Jahrhunderts nachweisbar. Migration wurde damals, ähnlich wie heute, zu einem zentralen Faktor gesellschaftlichen Lebens, weil vielerorts Hunger herrschte. Das Hauptaugenmerk staatlicher Kontrolle galt deshalb den «Fremden». Es gab Beschlüsse zahlreicher Städte und Gemeinden, die «fahrendes Bettelunwesen» durch Sanktionen unattraktiv machen sollten. Damals mischte sich, was wir heute «Elendsmigration» nennen, mit traditionellem Nomadentum. Viele dieser ungeliebten Schmarotzer wurden seit dem 17. Jahrhundert in Arbeitshäusern interniert, auch in der Donaumonarchie, zu der Miros Heimatort Bijeljina damals gehörte. Unter der Maxime «effektiver Verbrechensbekämpfung» wurden und werden Sinti und Roma überwacht und schikaniert. So
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ungenau eine Gleichsetzung des jüdischen Holocaust mit dem der Zigeuner ist: Kein heute lebender Sinti oder Roma ist frei von diesen Brandspuren. Zwar leben die Europäer heute rechtsstaatlich, aber «Schmarotzer» haben auch nach geltendem Recht nichts zu lachen. Man wird an das unselige «Asylbewerberleistungsgesetz» erinnert. Bei meiner Flüchtlingsarbeit durfte ich anhand zahlreicher «Fälle» kennen lernen, was Menschen entgegen einem weit verbreiteten positiven Vorurteil von «Menschlichkeit» tatsächlich einander antun. Das gilt für die Fluchtgründe ebenso wie für die gegen Null tendierende Erfolgsquote der Flüchtlingshilfe bei «nutzlosen» oder gar straffälligen Illegalen. Hier offenbaren westlich orientierte Staaten wie Deutschland ihre ausländerfeindliche Doppelmoral und den Stellenwert der Menschenrechte als billige Rhetorik. Das Erste, was ich von Miro lerne, ist daher, dass die Gewalt des uralt-aktuellen Klischees, in das er hineingeboren wurde, weiter existiert und wie er es mit Hilfe seiner «Fluchtversuche» aufweicht. Dennoch mag das Vorhaben, von Miro etwas lernen zu wollen, auf den ersten Blick aberwitzig erscheinen. Was sollte ein derart unstimmiges Leben wohl andere Menschen lehren können? Vom Alter her könnte ich sein Vater sein, aber ich habe eine Menge von dem Jungen gelernt. Ich meine das keineswegs nur negativ, im Sinne einer Erkenntnis der Defizite von Flüchtlingsschicksalen und Migrationspolitik. Vielmehr hat Miros Persönlichkeit mich auch nachhaltig positiv beeindruckt, was ich im Folgenden gegen den «Strich» gebürstet darstellen möchte. Ausgehend von der Erfahrung, dass dieser Junge auch für mich eine Zumutung ist, wage ich eine sympathische (also mitfühlende) 176
Deutung seiner Persönlichkeit unter besonderer Berücksichtigung seiner Familie und seiner sexuellen Entwicklung. Insgesamt versuche ich, Ausblicke schmackhaft zu machen auf bessere Formen eines Miteinanders von «Eigenem» und «Fremdem». Vielleicht gelingt damit ein Beitrag, die einund festgefahrenen Verhältnisse in Sachen «Sozialschmarotzertum» generell und straffällig gewordener Ausländer speziell etwas beweglicher zu diskutieren. Es versteht sich, dass diese essayistische Nachbetrachtung zu Miros Bericht keine «Wahrheit» verkündet, sondern meine Sicht auf Miro und einige mit seinem Schicksal verbundene kulturelle Fragen ist, die das Leben dieses jungen Mannes nach meinem Dafürhalten existentiell stellt. Miros Jungenleben ist randvoll mit extremen humanitären Härten, die bei ihrer bloßen Nennung eigentlich jedes Herz zum Schmelzen bringen müssten. Dass er dennoch keine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland bekam, liegt auch an den Härten, die er selbst seinen Mitmenschen zufügt. Denn Miro, das Opfer, ist bei Gott kein Engel, sondern eine Zumutung, eine Frechheit auf zwei Beinen. Seit dem 14. August 2001 ist er nun abgeschoben und lebt auf bosnischen oder serbischen Straßen, manchmal in billigen Hotels. Niemand gibt ihm Arbeit, außer gelegentliche Freier, die dort lange nicht so gut zahlen wie die in Berlin. Sein Berliner Freund Robert unterstützt ihn weiterhin mit einhundertfünfzig Euro pro Monat, was dem Einkommen einer größeren Familie in dieser Gegend entspricht. Im Winter ging alles Geld für warme Schlafplätze drauf, wie Miro behauptet. Aber seine Telefonanrufe werden immer verwirrter, was daran liegen könnte, dass er wieder exzessiv Drogen konsumiert, die er nicht verträgt. Wegen Diebstahl, Raub und illegaler Prostitution war er auch nach seiner
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Abschiebung bereits wieder mehrfach in Haft. Noch immer hat er sich in seiner Heimat nicht um Ausweispapiere gekümmert, geschweige denn - mit diesen in der Hand einen Wiedereinreiseantrag nach Deutschland gestellt, um mit seinem Freund zusammen leben zu können. Das wäre gar nicht unrealistisch, denn immerhin war das Aufgebot für eine Lebenspartnerschaft noch kurz vor seiner Abschiebung bestellt worden. Das wäre aber nicht sofort realisierbar, am besten schon vorgestern und mit rotem Teppich, sondern mit Bewährungsauflagen und frühestens nach einem Zeitraum, der seinen in Deutschland abgesessenen Strafen entspricht. Diese Vorstellung ist in der Tat nicht besonders komfortabel für ihn, wäre aber eine immerhin begründete Hoffnung. Sie könnte in dem Maße immer besser begründet sein, wie Miro sich um Anpassung an gängige Lebensformen bemühen würde, was mit Papieren und Antragstellungen begänne. Die Zumutung namens Miro ist also gar nicht so sehr die verständliche Tatsache seiner wachsenden Verzweiflung, sondern die Selbstgerechtigkeit, mit der er die Fehler, aus denen Konsequenzen zu ziehen wären, ausschließlich bei anderen sucht. Manchmal habe ich ihn echt zerknirscht gesehen, wenn ihm klar wurde, was er einem seiner Opfer angetan hat. Doch umso stärker und hemmungsloser kehrte kurz darauf die egozentrische Weltsicht zurück. Wetterwendisch zerstob die eben noch aufrichtige Reue und ein aggressiver Wirbelsturm entlud sich auf seinen Freund, seine Helfer oder einfach die nächstbeste Person. Leider gibt es keinen Anlass zu der Hoffnung, dass er sich in irgendeiner konstruktiven Form von der Unbill seines Geschicks hätte beeindrucken lassen.
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Spätestens an dieser Stelle scheiden sich die Geister. Dieser junge Mann und das Nachdenken über ihn und seinen Lebensweg polarisiert. Man wird entweder dem potenzierten Unglück dieser Kindheit alle Schuld an der Entwicklung geben, oder aber Miros eigenen problematischen Entscheidungen. Wer der strukturell-politischen Argumentation zuneigt, wird vielleicht bei der miserablen Position minderjähriger Flüchtlinge ansetzen und den Mangel an guten Alternativen zur Familienerziehung beklagen. Wer eher Miros Persönlichkeit kritisch einschätzt, wird an die vielfältigen Chancen erinnern, die er in Berlin trotz allem bekommen hat und deren ungeachtet er immer wieder hinter Gittern landete. Es ließe sich mit guten Argumenten kritisieren, dass Miro die klassische «Babynummer» aller Junkies «abzieht» und aller Welt seine selbst gemachten Dramen aufnötigt: «Mami - Kacka!» Aber gibt es nicht einen keineswegs nur erotischen Markt, der solcher Existenzen bedarf? Wenn dem so ist, und vieles spricht dafür, dann produzieren die «Braven» solche «schlimmen Jungs» mit, zur Befriedigung ihrer Sehnsucht nach anderem als «Bravheit»: Ich «braver Schwuler» nehme mich da nicht aus, auch wenn die Objekte meiner Begierde eher verschwitzte Greise mit Hängetitten sind. Wie bei Slavoj Zizeks Interpretation der Balkankriege, vor denen Miro mit seiner Familie hierher geflohen war, wäre der zuschauende westliche Blick «durch das Fernsehen hindurch» nicht so unschuldig, wie es zunächst aussieht. Wir westlich «Braven» wären demnach ebenfalls mitverantwortlich für Pogrome und Bomben. Es gibt eine verbreitete mediale Opfergeilheit, die, oft uneingestanden, einen erotischen Kitzel in der Magengrube auslöst, nicht nur bei Vergewaltigungsgeschichten aus aktuellen Kriegen und gar nicht selten im «selbstlosen» Helferlnnentum verborgen. 179
Wer die angenehme Behütetheit seines westlichen Fernsehsessels nicht durch kriminellen Söldnerdienst bei einem bluttriefenden Warlord auszutauschen gedenkt (was in den Jugoslawienkriegen nicht wenige Deutsche getan haben, um mal nach Herzenslust vergewaltigen und morden zu können), bleibt eben weniger «befriedigt» vor der Glotze sitzen. Das mag für einen Großteil der TV-Konsumentlnnen überzogen anmuten und vielleicht ungerecht empfunden werden. Doch unschuldig oder unbeteiligt ist auch der aufrichtig mitleidige Blick nicht. Das gilt nicht erst «kriegerisch», sondern schon lange vorher «kulturatmosphärisch». Die eben nur scheinbare Belanglosigkeit herrschender Westlichkeit mit ihrer öden Spaßgesellschaft legt dazu folgenden Komparativ nahe: Je geregelter die rechtsstaatlich gesicherte Menschenwürde, desto stärker der Wunsch nach tatsächlichem, nicht bloß gespieltem Ausbruch in andere Freiheiten als die leider nur möglichen. Die Betrachtung der Lebensumstände ausländischer Stricher stellt mithin auch der schwulen Welt existentielle Fragen jenseits von gut und böse. Miro demonstriert mit «koprophilem» (von Scheiße fasziniertem) Nachdruck, was bei ihm sowieso immer nur zu erwarten ist. So passt er ins Roma-Klischee seiner Familie, der an ihren Mitmenschen nur gefällt, was an Barem «hinten rauskommt» - und wer nicht freiwillig «abdrückt», wird halt gezwungen. Zwar weniger finanziell, aber mit seinen cholerischen Ausbrüchen «bescheißt» Miro die Liebe seiner Freunde und vergrätzt auch Leute, die ihm wirklich gewogen sind. Nach Lage der Dinge in der Gesellschaft und in seiner Persönlichkeit stehen seine Chancen für ein glückvolles Leben heute schlechter denn je. Auch bei näherem Hinsehen scheint es für Miro keinen Fluchtweg zu geben, weder aus
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seinem persönlichen Dilemma noch aus den ungünstigen Verhältnissen. Taugliche Fluchtwege für Jungs wie ihn fehlen, sind versperrt oder erscheinen unerreichbar. So mag es bei Miros Bericht nahe liegen, zunächst nach der «Brieftaschensicherheit» in der Szene zu fragen oder das für Elendsflüchtlinge erst jüngst wieder verschlechterte Ausländerrecht zu beklagen. Aber dem Drama dieses Sexarbeiters kommen wir damit noch nicht näher. Genau dieses Näherkommen bietet uns Miro jedoch mit der Erzählung seiner Lebensgeschichte an: Schaut hin, das ist mein Leben und vergesst es nicht, wenn ihr auf mich scharf seid! Miros Biographie wirft einen grellen Spot auf mann-männliche Prostitution am unteren Ende der Stricherhierarchie. Die Roma waren und sind hier das Allerletzte und werden von allen anderen auch so platziert. Nicht jeder Junge hat eine derart dramatische Geschichte wie Miro. Aber jeder verkörpert eben die seine, was von Seiten der Kundschaft beim «Kauf» eines Migrantenkörpers für sexuelle Dienstleistungen zu berücksichtigen ist. Freier könnten anhand von Miros Biographie damit beginnen, Vorstellungen über die innere und äußere Zwangssituation der Objekte ihrer Begierde zu entwickeln. Das liegt in ihrem eigenen Sicherheitsinteresse, aber genauso auch im Interesse emotionaler Verständigung, die für ein glückvolles Sexerlebnis in aller Regel nicht unbedeutend ist. Damit soll nun nicht vorgeschlagen sein, jedem «ungermanisch» wirkenden Sexarbeiter das nackte Grauen unter die farbige Haut zu fantasieren. Außerdem ist vielen Flüchtlingen ihr Status nicht so drastisch auf die Haut geschrieben und wer alle über (s)einen Kamm schert, liegt dabei wie auch sonst stets und notwendig falsch. Die sexuelle Kundschaft von Migranten sollte aber auch nicht sagen können, man habe ja nichts gewusst und von all den Härten sei ihnen gar nichts bekannt gewe-
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sen. Wer mit Flüchtlingen und Migrantlnnen zu tun hat, muss mit größtem Elend rechnen, das hinter der lächelnden Verkaufsfassade von Sexanbieterlnnen verborgen sein kann. Nicht um deshalb solche Kontakte zu meiden oder Sozialarbeit statt Erotik zu praktizieren. Aber um hinter der für den deutschen Konsumenten inszenierten Operettengestalt eines «Zigeunerjungen» oder eines «Thai-Boys» den leidensfähigen Menschen nicht ganz zu übersehen vor lauter sexueller Faszination. Mit solchen Einsichten, wie Miro sie für seine Person offeriert, muss der Appetit auf solche Jungs keinesfalls kleiner werden, das wäre auch überhaupt nicht im Interesse dieser «Anbieter». Allenfalls könnte der exotische Appetit auf den sexuell besetzten «Migranten-Thrill» zu recht vom schlechten Gewissen bedrängt werden, das zwischen seinen Scheuklappen vielleicht schon ahnte, was an Schrecken unter so einem Jungengesicht verborgen sein könnte, dies aber ganz bewusst nichts wissen wollte. Doch wenn es einfach nur egal ist, ob und wie ein immerhin begehrtes Lustobjekt hinter seiner Fassade leidet, oder wenn gar sein Leid es ist, das scharf macht, hätten die Kritiker von Prostitution (an und für sich und besonders von Jungs oder abhängigen Migrantlnnen) ein humanitäres Argument in Händen, das in der Tat schwer zu entkräften wäre. Die besorgte Frage nach einer lebbaren Balance der Extreme gehört zu solchen Überlegungen, soll der Kontakt zwischen Strichern und Freiem nicht dem beiderseitigen Zynismus preisgegeben sein. Das aber wäre fatalistisch und herzlos, außerdem eine irreführende Verkennung der Stärken, die Miros Lebensweg «braveren» Existenzen anbietet. Die zahlreichen Fluchtversuche aus dem Krieg, aus der Familie, aus dem Kinderheim oder aus der Sucht führten
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auf tragische Weise stets wieder in Miros «Existenzgefängnis» zurück. In verschiedener Hinsicht drängt sich der Eindruck auf, dass er sich im Knast am wohlsten fühlt, wenn die kalte Gewalt der Gitterstäbe sein persönliches Chaos in eine erzwungene Form bringt und die Übermacht des «Schicksals» unausweichlich spürbar ist. «Sekundärer Krankheitsgewinn» ist dabei fraglos die fürsorgliche Zuwendung und das Verständnis von Sozialarbeitern, Pfarrerinnen und seinem Freund Robert. Überall machte Miro Ausbruchsversuche, nur nicht aus dem Gefängnis. Das scheint in seinem Falle nicht nur an der objektiven Ohnmacht des Häftlings zu liegen, sondern auch daran, dass die Struktur des Knasts seiner Persönlichkeit sehr entgegen kommt. Eigentlich hat er meistens in diversen Spielarten von «Knast» gelebt, doch im Gefängnis kann er sich der «Knasthaftigkeit» seiner Lebensumstände besonders sicher sein. Nicht dass er bewusst gerne im Gefängnis lebte oder bei den Urteilsverkündungen Freudentänze aufgeführt hätte. Im Gegenteil, er jammerte stets, weil die Strafen immer Zeit raubender wurden und jede freie Entfaltung seiner Persönlichkeit beschnitten - bis hin zur Abschiebung in Handschellen. Dennoch war dieses Jammern entspannter und irgendwie «befreit» im Vergleich zu dem Gejammer in seinen knastfreien Zeiten. Denn äußerlich frei, erfuhr er sich mit seinem Selbstverständnis «gewaltsam, betrügerisch, schmarotzend» einem riskanten zivilen Reglement ausgeliefert. Um darin so sein zu können, wie er sich sah (und wie er sich wohl noch immer sieht), um «sich» also nicht an diese bürgerliche Freiheit zu verlieren, «musste» Miro sein Alltagsgefängnis mühsam selber errichten oder auf problematische Angebote seiner Familie zwar widerstrebend, aber eben doch eingehen. Darin gleicht er den Leuten, denen Sozialhilfe und Wohngeld zustehen, die aber auf-
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grund ihres Bildes von «sich» das harte Leben auf der Straße vorziehen. Freilich liefert diese «gestalttherapeutische» Interpretation von Miros Geschichte nicht die ganze Wahrheit. Denn - um den finanziellen Aspekt ins Spiel zu bringen - Drogen lassen sich von dem Bisschen Sozialhilfe kaum bezahlen und Ämter machen nicht selten Probleme, wenn ein fester Wohnsitz fehlt. Auch «psychodynamisch» stimmt diese Jammertheorie nur teilweise. Denn Miro konnte auch ganz anders sein, die Freiheit genießen, tanzen wie ein pubertärer Michael Jackson, von Herzen lachen, kindlich Blödsinn machen, oder sich fast «väterlich» an seinem kleinen Bruder Dalibor erfreuen. Miro liebte es gelegentlich sehr, mit Freunden und /oder Freiern geil im Bett herum zu spielen. Diese unkomplizierte Freude währte aber stets nur ganz kurz, denn die Faszination der nackten Gewalt war stets größer und zwar in jeder denkbaren Form: von der kleinkriminellen «Action» mit Polizeikontakt, Gerichtsverhandlung und Inhaftierung bis hin zur Abschiebedrohung, die mit jedem geklauten Portemonnaie an Substanz zulegte. Neben und «in» seiner psychischen Struktur gab und gibt es auch Miros Familie, die ihn grausam unterdrückt und zum Klauen abrichtet. Und es gab und gibt auch staatliche Härten, die ihm nahe legen, gleichfalls gnadenlos zu handeln. Aber die stärkste Kraft seiner Verhältnisse ist vermutlich die Faszination der Gewalterfahrung an und für sich. Psychoanalytisch betrachtet handelt es sich um eine Verkoppelung des Begehrens mit erlittener Gewalt, auf die Miro existentiell «steht». Er machte von Kleinkindsbeinen an lauter Erfahrungen, die Wohlbefinden zugleich an Schmerz banden. Alles Angenehme war im nächsten Au-
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genblick schon wieder radikal bedroht wie Frühlingsblüten bei einem späten Frosteinbruch. Der staatliche Zwangsapparat inklusive seiner Fürsorge und seines Abschiebereflexes kollaboriert mit diesem psychischen Set. Wer derartige Angebote macht, muss sich nicht wundern, wenn «Repressions-Junkies» wie Miro gierig darauf eingehen. Es ließe sich darüber streiten, ob Sexualität bei Miros Fluchtversuchen ein zentraler Faktor ist. Seine sinnlichen Erfahrungen mit Männern und selbst der unfreiwillige und missglückte Versuch mit dem polnischen Mädchen wirken normal und harmlos, besonders im Vergleich zu den Erfahrungen in seiner Herkunftsfamilie. Bei all dem geschilderten Elend fällt aber auf, dass Miro von «Glück» nur im Zusammenhang mit seinen Freiern und Freunden erzählt. In diesem Sinne ist Sexualität auch für Miros Lebensgeschichte ein zentraler Faktor und eröffnet ihm die bislang hoffnungsvollsten Fluchtwege in ein besseres Leben. Mit seiner Mutter, seiner Schwester Alija oder dem kleinen Bruder ist es auch mal für Minuten halbwegs erträglich; doch gegen die verlässliche Zugewandtheit eines «Kinderkarsten» vom Bahnhof Zoo oder gegen die hingabevolle Liebe seines Partners Robert sind selbst die schönsten familialen Augenblicke bloß Pausen in einem Bombenhagel. Dennoch und deshalb kommt Miro von dieser Familie nicht los. Der gewissenlos explodierende Schrecken hat offensichtlich seine Faszination und schlägt ihn in Bann. Wie unsichtbar angekettet, handelt Miro sogar auf telefonischen Befehl. Man wird an Woody Allan erinnert, der in dem Film «Der Jadeskorpion» als «Schläfer» auf das telefonische Zauberwort «Madagaskar» hin absurde Diebstähle verübt. Auch dies ist Bestandteil seiner Erotik und seines Begehrens: So hart Miro mit seiner Familie manchmal ins Gericht
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geht, seine Zornausbrüche und die Egozentrik seines Weltbildes ähneln denen seiner Eltern und Brüder. Nicht selten habe ich Robert in den Beratungsstunden mit einem blauen Auge erlebt - und oft mit wundem Herzen. All das zusammen - in seinen obsessiven Verflechtungen - macht Miros Sexualität aus, Miros Homosexualität. Einzig Miros Männerfreundschaften gewähren bis heute kleine Fluchten und würden auch die große Flucht in ein angepassteres Leben nach Kräften unterstützen. Wenn da nur was zum Unterstützen wäre. Denn gegen Miros Freiheitswillen sind ernste Zweifel angebracht. Er hätte sich zwar gewiss sehr über einen legalen Aufenthalt in Deutschland gefreut. Aber ob er daraus etwas Freies und Frohes hätte machen können und wollen, ist höchst ungewiss. Einerseits hat ihn die behördlicherseits geradezu hinterhältige Situation für Flüchtlinge in Europa entmutigt. Andererseits waren die Hilfsangebote für ihn weit größer und zahlreicher als üblich. Es gibt daher guten Grund zu der Annahme, dass Miro auf die repressiven Schrecken, die er schildert, obsessiv scharf ist. Gequält zu werden und gelegentlich auch selbst zu quälen, scheint ihm sinnliche und sinnstiftende Horizonte zu eröffnen, an die keine andere Erfahrung in Größe und Bedeutung heranreicht. Die Engherzigkeit des Staates und die Folterkammern seiner Familie funktionieren im Dienste derselben Attraktion. Gespielter Sadomasochismus, bei dem alle Beteiligten «Stopp!» sagen können und der Spuk ist augenblicklich vorbei, muss Miro als lächerlicher Kinderkram erscheinen gegenüber der «humanen» Wahrheit, die er kennt und in einem archaischen Sinne kultisch verehrt. Die besinnungslose Tobsucht, mit der sein großer Bruder auf die Ehefrau einsticht, wobei diese nur knapp dem Tod entrinnt, ist das
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«Mysterium tremendum», das ihn existentiell zittern macht. Nichts erscheint Miro größer als die ungebändigte Grausamkeit. Obwohl er keinerlei religiösem Einfluss ausgesetzt war, interpretiert er seine Lage vor Gericht und in Haft «wie Jesus», also Opfer in den Händen der letztlich göttlichen Übermacht mit Familie und Staat als ihren ausführenden Organen. Seine Knastgebete in Verbindung mit der Form seiner Unterschrift, den drei aufgerichteten Kreuzen statt der bei anderen Analphabeten üblichen drei «x», verleiht seiner Selbstsicht etwas «Passionsmystisches». Seine Schilderungen des Unterworfenseins haben dazu noch (oder gerade) im größten Grauen etwas nicht nur subtil Erotisches, das seine nach bürgerlichen Maßstäben inakzeptable Qualität gerade der gefährlichen Realität verdankt, zum Opfer zu werden oder zum Opfer zu machen. Es ist die gewaltsame Todesnähe, die Miro gewissermaßen kultisch verehrt, in der er Sinn und Sinnlichkeit findet oder von ihr stets neu gefunden wird. Miro scheint fast ungebrochen fasziniert zu sein von ihrer übermächtigen Wahrheit. Jeder «Fluchtversuch» erscheint sofort wieder bedroht, wenn Miro zum Rückzug in unfreiere Muster genötigt wird und vermutlich auch genötigt sein will. Hier ist alles gemein und hinterhältig, dafür aber überzeugend wahr und fies wie letztlich das Sein an sich, kein Sandkasten für wattegepackte Spaßfetischisten. Auch sein Drogengenuss funktioniert wie der «Genuss» seiner Familie, wie Knast und Abschiebestaat. Er erfährt sich als zum Opfer übermächtig tobender Empfindungen gemacht, was ihn zugleich bis zum Irrsinn fasziniert und anwidert. Vielleicht erscheint diese Deutung Miros fremd oder gar als Beleg für eine in der Tat tief greifende kulturelle «Fremdheit», die das Handeln des Staates legitimiert oder doch
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verständlicher macht. Aber nicht Miro allein kennt die Todesfaszination. Ihre Gewalt ist plausibler, als es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. Jeder TV-Konsument kennt die «schreckliche» Faszination von Leichenbergen oder Gräueltaten, wenn wir uns «angewidert» vom Bildschirm abwenden oder «entsetzt» hinstarren müssen. Manche werden dann unsagbar traurig oder nutzen die Energie dieses Schreckens, um über Möglichkeiten des Engagements für eine bessere Welt nachzudenken. Das sinnstiftende Faszinosum gequälter Menschen ist allgegenwärtig, unabhängig davon, ob die Empfindungen eher für oder eher gegen das Opfer und seine Interessen gerichtet sind. Im Angesichte des Opfers entsteht «Sinn» angesichts der Sinnlosigkeit, die uns vom Tode her anweht, jenes letzten Opfers, dem niemand entgeht. Das gilt auch für die Gesamtheit institutioneller Zwänge, die eine kulturelle Situation zumutet. Staatsterror oder Ausländerrecht haben in ihrer Unerbittlichkeit daher etwas mit dem Tod gemeinsam. Sie produzieren Opfer, deren Leid an jenes Leid erinnert, das auf alle Menschen wartet. Auch wenn das bewusst religiös verstandene (z. B. Mess-) Opfer in Mitteleuropa heute kein zentraler Gesellschaftsfaktor mehr ist, scheint die kulturelle Opferfaszination in säkularer Gestalt ungebrochen. Solange Menschen sterben müssen, quälen sie offensichtlich gerne und bringen einander auch «sinnstiftend» ums Leben. Wer meint, moralisch gegen diesen Stachel löcken zu können, schaue sich mit den Leichenbergen europäischer Geschichte seit der «Aufklärung» auch die Müllhalden der eigenen humanitären Motive an. Als professioneller Helfer weiß ich, wovon ich da rede! Was derart existentiell Sinn macht, muss auch sinnlich faszinierend sein. Vielleicht ist Erotik zwar keine erschöpfende «Antwort» auf das Sterbenmüssen, aber eben doch eine, wenn nicht gar die typisch
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menschliche Umgehensweise damit (im Unterschied zum «Trieb» des Tieres, das von seinem Tod vermutlich nichts weiß). So betrachtet wäre die ungezügelte, sinnlich erfahrene Gewalt von Säuglingsbeinen an wesentlicher Ausgangspunkt möglicher Fragen nach Sinn und Sinnlichkeit. Speziell bei der Erotik verletzt die Thematisierung von Gewalt und Tod den modernen zivilen Konsens. Alles ist erlaubt, wenn nur die Freiheit und Würde der Partnerlnnen gewahrt bleiben. Diese vergleichsweise braven «Spiel»Regeln sind in vieler Hinsicht plausibel, auch für mich. Aber existenziell «andere» Kulturen, Menschen wie Miro und die Sabanovics oder auch Junkies und Leute wie «Kinderkarsten», fühlen anders und halten sich nicht daran. Ihnen wird man mit einer Absolutsetzung westlicher Werte nicht gerecht. Bleibt dann nur Abschiebung oder Knast im Einzelfall und Krieg im Falle ganzer Völker? Vielleicht ist es ja tatsächlich für viele besser, dass das Taliban-Regime zerschlagen ist. Dennoch beunruhigt die westliche Selbstherrlichkeit, die davon überzeugt ist, alle anderen zur Befolgung eigener Maßstäbe zwingen zu sollen. Schließlich wird dabei mindestens die gleiche Menge an Zerstörungskraft freigesetzt, was meine These einer ungebrochenen Opferfaszination stützt: Abschiebungsbrutalität gegen Straftat, fünftausend afghanische Zivilisten gegen fünftausend, die im World Trade Center starben, Auge um Auge Zahn um Zahn. Diese Reflexion kann hier nicht vertieft werden, aber eine opferlogische Skizze der «neuen» Weltordnung ist für mein Verständnis von Miros hartem Leben unverzichtbar. Miro ist ein trefflicher Repräsentant der Problemstellungen herrschender Globalisierung aus Sicht eines Migranten. Die existentielle Frage, die Miros Existenzweise stellt, zielt darum ins Herz kultureller und be-
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sonders interkultureller Prozesse. Wie wäre emotionale Balance und Vermeidung unnötigen Leidens möglich, ohne westliche «Werte» zu verordnen, ohne das nicht Wahr-GutSchöne kulturimperial auszumerzen per Knast, Abschiebung oder Krieg? Miro denkt ganz unpolitisch, aber ihn treffen ähnliche Verurteilungen, wie Taliban-Sympathisanten im Jahre 2002 an einer deutschen Uni. Miro und seine Herkunftsfamilie sind so etwas wie ein kleiner «Schurkenstaat», ein ekliger Punkt auf der «Achse des Bösen». Weil Miro nur ganz selten einmal wahr-gut-schön handelt, stellt er mit seinem Text und in persona die Frage, ob er auch liebenswert sei jenseits von gut und böse. Ohne eine Relativierung der eigenen Maßstäbe - zugunsten befremdlich anderer Denkstile und Handlungsmuster - haben böse «fremde» Jungs im Europa der «Menschenrechte» in der Tat die Rolle von Ungeziefer. Soll die herrschende Globalisierung jedoch ihre hegemonialen Züge verlieren und zu einer allen Menschen dienenden Kraft werden, geht dies nicht ohne die Akzeptanz von befremdlicher Fremdheit. Ich «höre» Miros Existenz als ein einziges Plädoyer für weitergehende Interkulturalitäten, für ein bereits in seinen Basics vielgestaltiges Humanum. Das schließt Ungleichheiten ein, auch solche, die für westliche Gesellschaften grausam, ungerecht und abschaffenswert erscheinen. Um hier weiter zu kommen, muss man die generalpräventive Sicherheitslogik westlicher Gesellschaften einen Augenblick lang vergessen. Denn wer rundum sicher gehen will, wird Existenzen wie Miro genauso zu verhindern suchen wie beispielsweise gewaltbereites Neonazitum. Das Multi-KultiMenü der herrschenden Spaßgesellschaft müsste die Wagnisse der Wahrnehmung von «Fremden» nicht nur widerwillig dulden, sondern aktiv suchen - auch im eigenen 190
Interesse. Bei allen «Fremden» würde es darum gehen, sich über leckere oder kleidsame Konsumangebote hinaus dem Anderen der Anderen in seiner ambivalenten Fülle zu öffnen. Wenn der Innenminister im Blick auf Flüchtlinge und Asylbewerberlnnen meint, «die Grenzen der Belastbarkeit» seien erreicht, ist zu ergänzen: weil es kein oder kaum Interesse gibt, sich mit anderem als sich selbst ernsthaft zu beschäftigen. Kulturell sind westliche Gesellschaften auf dem besten Wege, zu Onanistenclubs zu verkommen. Die Geschlechterverhältnisse sind vielleicht der wundeste Punkt befremdlicher Interkulturalität. Die Widerstände gegeneinander sind hier am größten, darum könnte auf diesem Gebiet besonders viel «Lernpotential» zu finden sein. Niemand ist «geschlechtlich» völlig unverletzt. Das bedeutet auch, dass das Eigene hier stets Risse hat, die vielleicht interkulturell nutzbar wären, auch im Nachdenken über Miros Biographie. Es gibt keine andere Kultur ohne andere Geschlechterverhältnisse. Sie gehören zu den Basics alles «Eigenen» einer Gesellschaft, sind vielleicht gar dessen Ursprung. Islamistische Clanmoral entsetzt sich empört über westlich sexuelle Selbstbestimmung vice versa, um nur das vordergründigste Spektakel dieses globalen Desinteresses aneinander zu nennen. Ein Vergewaltigungsversuch wie in Miros Fall ist keinesfalls hinnehmbar, aber die Selbstgerechtigkeit politischer Korrektheit ist genauso desinteressiert an den jeweils Anderen und damit nicht weniger problematisch. Warum kein dialogischer TäterOpfer-Ausgleich als interkultureller Austauschprozess statt sinnloser Haftzeit? Alle Beteiligten und ihre Umgebung hätten dabei konstruktiv Befremdliches aneinander zu entdecken und voneinander zu lernen! Nur weil Frauen bei Sabanovics oder in islamistischen Verhältnissen offensicht191
lich gequält werden, beweist das noch keine moralische Überlegenheit westlicher Geschlechterverhältnisse. Erstens wird hier nämlich auch vergewaltigt, geprügelt und gemordet, so dass wir Frauenhäuser brauchen, die freilich bei den «Schurken» fehlen. Und zweitens leugnen wir in dem selben Maße die Gewaltsamkeit unserer Kultur sexueller Selbstbestimmung, wie wir sie dem gesamten Rest der Welt gewaltsam aufnötigen. Ich sage hier «wir», weil es auch mir schwer fällt, andere Maßstäbe gelten zu lassen. Lesben und Schwule erfahren ja im Zuge dieser «neuen Weltordnung», dass Globalisierung nicht nur hegemonial platt macht, sondern auch neue Differenzierungen hervorbringt, in denen es sich postfamilial für viele gut leben lässt. Und doch bleibt da ein Rest an hässlicher Gewaltsamkeit, eine fühlbare Verkrüppelung in diesem «brav» inszenierten postmodernen Erleben, auf die mich Miros Existenzweise immer wieder hinwies. Vielleicht können schwule Szenegänger leichter nachvollziehen, worum es mir dabei geht. Wer viele Partner hat, kennt die Palette der Qualitätsunterschiede dieser Begegnungen. Manche werden banal empfunden, wenn und weil sie auf konsensuelle «Verrichtungen» reduziert sind. Sind sie jedoch erschütternd gut, sind sie im selben Maße auch «ungleich». Das gilt meines Erachtens zweifach: erstens im faszinierten Erkennen der Andersheit Anderer; zweitens im unwiderstehlichen Sog erotischer Anziehung, die größer ist als «ich» und gewaltsam wie der Tod. Die erotische Faszination liefert mich Anderen als ihrem Objekt aus, durchaus gegen meinen Willen. Hier erscheint der enge Zusammenhang von Erotik und Sterblichkeit, auch als Versessenheit auf sinnliches Glück, weil wir wissend empfinden, dass diese Sinne sterben müssen. Keine Clubszene, kein noch so raffiniertes Sex192
Accessoire kann das existenziell erotische Erzittern spielerisch ersetzen, das uns vom Tod her ergreift. Miro distanziert sich nicht von erotisch besetzter Gewalt. Er weist sanftere Akteure auf eine gewaltsame Wahrheit ihres domestizierten Tuns hin, die sich unter dem «braven» Konsens-Sex gleichwohl findet, vielleicht als Sehnsucht nach «unmöglichem» Glück. Der verbreitete Hass auf Existenzen wie Miro erklärt sich zumindest auch aus diesem ungeliebten Hinweis. Und aus dem Erschrecken vor sich selbst, das mit dem Abschübling des Landes verwiesen wird, ohne jedoch zu verschwinden. Miros Platz in dieser Welt ist in der Tat gewissermaßen unmöglich: Die Klappe am Herrmannplatz wird «seinetwegen» geschlossen, so wie Deutschland ihn zunächst einsperrt und schließlich ausweist. Miros spannender Beitrag zum Thema «Missbrauch» ist seine positive Gesamtsicht der Stricher-Freier-Szene. Zwar hat er auch für die aufopferungsvolle Lehrerin im Jugendknast dankbare Gefühle, weil sie ihn vom Analphabeten zu einem rudimentär gebildeten und lernbegierigen Jungen zu wandeln verstand. Aber richtig in Fahrt kommt seine - wenn auch äußerst unberechenbare - Dankbarkeit einzig bei den älteren Männern, die er liebt und begehrt. Warum soll also Miro dieses Begehren, diesen positiven Kontrapunkt in seinem sonst so hoffnungsarmen Leben, nicht genießen dürfen - auch unter den Bedingungen von Prostitution und Promiskuität? Das zu akzeptieren oder zumindest zu tolerieren, erfordert einen ähnlichen Meinungswandel, wie er bezüglich schwuler Lebensformen in den letzten Jahrzehnten geschah. Es gibt zwar nach wie vor (auch die alten) Vorbehalte und Vorurteile, aber eine eindeutig negative Sicht auf Schwule und Schwules ist gesell-
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schaftlich passe. Dass ich diesen Kontrapunkt «positiv» nenne, bitte ich nicht mit gut, brav oder angepasst zu verwechseln. Denn das macht Miros (auch schwuler) Stil in äußerster Schärfe klar: derlei interessiert ihn nicht. «Positiv» ist Miros schwule Position als Stricher und privat, im Unterschied zur Negation fast aller anderen Lebensbereiche, repräsentiert von Familie und Staat. «Positiv» meint nicht «problemlos», wohl aber relativ glückvoll den Anderen und dem eigenen Leben zugewandt. Dazu gehört bei Miro auch, dass seine Liebhaber mit cholerischen Ausbrüchen zu rechnen haben. Dass sie dennoch bei ihm bleiben, ist ein schwer zu entkräftendes Indiz für die Qualität seiner freundschaftlichen Hingabe, nicht nur im Bett. In keiner anderen Kategorie von Miros Lebensäußerungen überwiegt die Lebensfreude so eindeutig. Neben den Chancen nichtfamilialen Aufatmens muss es wohl die menschliche Qualität der Freier und väterlichen Freunde sein, die ihn mit ihrer Großzügigkeit und Warmherzigkeit überzeugten. Die Art, wie er heute über seine Männer schreibt, verrät deutlich, dass Geld dabei von allenfalls drittrangigem Interesse war. Er ist zwar ein Automatenspieler und die verplempern bekanntlich Unsummen, wenn's drauf ankommt. Aber Preise hochtreiben und Beischlafdiebstahl gab es für den Berliner Miro nur selten, und dann auch nur, um die Geldgier seiner asozialen Familie zu stillen. In seiner Hingabe an Männer dagegen fand er eine neue «Kultform» für das gewaltsamtödliche Geheimnis des Menschseins, die zumindest zeitweise das destruktive Faszinosum der Gefahr und der Qual verwandelte: sinnlicher Sinn für ein Leben, das sich zu leben lohnt. Miros Berliner Zeit lässt sich als schwule Liebesgeschichte mit nicht wenigen Männern dieser Stadt deuten. Am ex-
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kommunizierten Ort und als exkommuniziertes Tun findet die entscheidende Wandlung der Gewaltfaszination statt: im Bahnhof Zoo und als Mann-Kind-Sex. Miros Faszinosum ist vorher wie nachher die unbeherrschbare Sinnlichkeit, das Leben als Fest, das Andere im Gegenüber zum harmlosen Dahinvegetieren oder gar «arbeiten». Seine zwischen Familienterror und Abschiebestaat einsetzende erotische Geschmacksveränderung ist allerdings keine Unfallversicherung. Und so wie es aufgrund des Telefonkontaktes mit Miro scheint, hat seine momentane Elendsstricherei mehr mit dem Vorurteil über Straßenstrich gemein als mit Freiheit oder gar Glück. Aber in der Logik der Prostitution, in der Logik seiner Freier und Freunde ist er trotz und wegen aller Zumutungen sehr wohl liebenswert. «Das älteste Gewerbe» erweist sich als wandlungsfähiger Kulturraum, in dem Miro Glück erfährt und schenkt. Das ist niemals immer so und bei Miro schon gar nicht. Aber nach und inmitten all der Gewaltsamkeit erstaunt es doch. Die Tatsache, dass Miro all diesen «Missbrauch» durch viel ältere Männer so positiv schildert, diskutiert das heikle Thema quer zu den herrschenden Einschätzungen. Es wäre allzu einfach, auf die entsetzlichen Traumatisierungen zu verweisen, die Miros Werte so radikal verzerrt und pervertiert hätten, dass ihm derlei gefallen konnte, was jedes gesunde Kind abschreckt. Doch Miros schrittweise Wandlungen vom Gewaltjunkie zum Männerverehrer weisen Wege in andere Entwicklungsmuster als die primitive Hauruckmethodik von Abschiebung und «Krieg der Kulturen». Damit dieses Existenzplädoyer jedoch ernsthafte Chancen erhält, muss jemand da sein, der es «hört». So hat Miro mich gelehrt, dass ernsthafte Interkulturalität nicht einfach (habermasianisch) «diskursiv» und «machbar»
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ist, durch welche Intervention auch immer. Sie mutet den Menschen allerhand zu. Doch geht es dabei auch darum, etwas zu gewinnen: Es geht um zahllose Zwischentöne und um Vermittlungen, die Stärken und Faszinosa aus unterschiedlichen kulturellen Blickwinkeln nachzufühlen. Dafür bedarf es der interkulturellen Erfahrungen mit konkreten Menschen, die es uns gestatten, uns hier wie da «zu Hause» zu fühlen oder auch hier wie da als «fremd», aber vielleicht gerade dadurch bereichert. Das geht nicht ohne die Hoffnung, dass der globale Kapitalismus nicht die bestimmende Kraft bleibt, denn Interkulturalität braucht mehr als Wirtschaft, vor allem auch Neugier auf Andere und anderes, die «nutzlose» Fähigkeit zu staunen. Das ist kein Plädoyer für Nichtstun, weder im alltäglichen Umfeld, noch im politischen Geschäft. Damit soll auch nicht vorgeschlagen werden, dass man gefährliche Jungs tatenlos gewähren lässt, dass individuelle Opfer keine Rechte haben oder dass Errungenschaften der Zivilgesellschaft leichtfertig preisgegeben werden. Aber das stets problematische Humanum und in unserem Fall die westliche «Menschenrechtlichkeit» könnten sich von Miro und anderen unbequemen Zeitgenosslnnen ein paar Chancen schenken lassen, überhaupt erst einmal hinzuschauen. Das erfordert allerdings die Aufgabe einer geostrategischen, innenpolitischen oder auch privaten Hybris, das «Wahre Gute Schöne», Frieden oder gar Glück «machen» zu können und den eigenen Geschmack samt Lebensstil zum Maß aller Dinge zu erheben. Hans Peter Hauschild Juni 2002
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