Atlan - König von Atlantis Nr. 472 Dorkh
Flucht von Dorkh von Hans Kneifel
Eine Welt vor dem Untergang
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Atlan - König von Atlantis Nr. 472 Dorkh
Flucht von Dorkh von Hans Kneifel
Eine Welt vor dem Untergang
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit zwei Gefährten auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐ Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort seine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie tatsächlich alles überstehen, was Dorkh gegen sie aufzubieten hat, und sogar ihre Aufgabe erfüllen – allerdings anders, als Duuhl Larx es sich vorgestellt haben dürfte. Nun aber, da Dorkh Kurs auf den Sitz des Dunklen Oheims eingeschlagen hat, scheint der Dimensionsfahrstuhl dem Untergang geweiht zu sein. Somit haben Atlan und die wenigen Gefährten, die ihm noch geblieben sind, nur eine Möglichkeit, dem Unheil zu entrinnen – die Möglichkeit der FLUCHT VON DORKH …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide sucht nach einer Möglichkeit der Flucht von Dorkh. Razamon, Fiothra, Asparg, Stophemuk und Pantzerklag ‐ Atlans Gefährten. Dovart ‐ Ein Sterbender. VarVar ‐ Eine Laune der Natur.
1. Eben noch waren die Insassen der beiden Zugors davon überzeugt gewesen, daß ihnen die Bevölkerung dieses Wilden Dorfes geschlossen als Gegner gegenüberstünde. Plötzlich schienen sich die Umstände und Verhältnisse gründlich zu ändern. Razamon, der Berserker, wie sie alle hervorragend ausgeruht, kraftvoll und an Gefahren gewohnt wie immer, setzte ein schiefes Grinsen auf. Wieder sah sein Gesicht aus wie das eines Adlers, der überlegt, ob er sich auf seine Beute stürzen sollte oder nicht. Razamon wandte sich an Atlan und sagte: »Die Ordnung rundum trügt. Auch die Bewohner dieses Wilden Dorfes werden von den Impulsen des SCHLOSSES gesteuert.« Schauernd erinnerten sie sich an die Schwärze, die jedes Licht absorbierte und sich jetzt dort ausdehnte, wo sich noch vor kurzer Zeit die Lichtkuppel befunden hatte. Atlan blickte in die Gesichter der Wesen, die um die beiden Zugors und die Insassen der rettenden Flugkörper in einem dichten Kreis herumstanden. In den menschenähnlichen Zügen glaubte er, beginnende Heiterkeit und Entspanntheit zu erkennen. Den Ausdruck vieler anderer, weitaus exotischer Wesen konnte er nicht deuten. In diesem Wilden Dorf hatten sich ausgestoßene und geflüchtete Angehörige aller Stämme oder Gruppen Dorkhs getroffen.
»Im Augenblick scheinen sie sich zu entkrampfen!« sagte Atlan, und die Waffe, die er noch immer auf die Brust des Weißhaarigen mit dem funkelnden Scheibenamulett gerichtet hatte, senkte sich in seiner Hand. »So sieht es aus!« pflichtete der Händler ohne Karawane bei. »Wir sollten so schnell wie möglich wieder starten.« »Wir brauchen frisches Wasser!« erinnerte ihn Fiothra. Atlan hob in einer Geste die Hand, die keiner mißverstehen konnte. Er sagte: »Freunde! Wir wollen von euch nur ein wenig Wasser, und dann werden wir euch nicht mehr länger stören.« Hunderte völlig fremder Wesen murmelten, stießen sich an, tauschten Bemerkungen in völlig unverständlichen Dialekten aus und öffneten den Ring ein wenig weiter. Der Weißhaarige lachte, kam auf den Arkoniden zu und rief: »Was wolltet ihr? Wir waren eben noch in unsere eigenen Probleme verstrickt und daher etwas unaufmerksam.« Die zehn Insassen der Zugors waren die Ausnahme von der Regel. Durch besondere Umstände gelang es ihnen, eine bestimmte Immunität gegen die Impulswellen aufrechtzuerhalten, die aus den zerstörten Resten des SCHLOSSES heraus über ganz Dorkh fluteten und den Dimensionsfahrstuhl in ein gefährliches, oft tödliches Irrenhaus verwandelten. Atlan wiederholte verwirrt: »Wir brauchen Wasser und einige Auskünfte darüber, wie es zwischen Varlan und Turgan zugeht.« »Habt ihr Gefäße?« Die Zukahartos und der Turganer, unterstützt von Asparg, dem jungen Magier, holten die leeren oder fast leeren Wasserschläuche aus den Zugors. Niemand hinderte sie daran. Aus einem Haus ertönte eine Art Musik, die von unbekannten Instrumenten gespielt wurde. Einige der Neugierigen rannten davon. Die Wasserbehälter gingen von Hand zu Hand und kamen schließlich gefüllt zurück. Fiothra und ein Zukaharto blieben in dem Zugor sitzen und wagten sich nicht mehr hervor.
Der Eindruck, den sie beim Anflug und bei der Landung gehabt hatten, galt allerdings noch immer. Die Wilden Dörfer waren wohlgeordnete Gemeinwesen, in denen gepflegte Felder, fettes Vieh und kleine, fabrikähnliche Handwerksbetriebe sich ausbreiteten. Die Häuser waren hell und zeigten die Spuren fleißiger Ausbesserungsarbeiten. Die vielen verschiedenen Wesen, die sich entlang der Grenze Dorkhs, zwischen der Straße der Händler und dem Rand des Fragments angesiedelt hatten, lebten nachweislich in Ruhe, Frieden und Ordnung. Aber sie standen bereits unter dem Diktat der Impulsschauer. Scherzend und in lauter Unterhaltung begriffen, bildeten sich ein paar Gruppen und zogen sich in verschiedene Richtungen zurück. Der Wall aus lebenden Körpern um die Flugscheiben bekam deutliche Lücken. Schritt um Schritt näherten sich Atlan und Razamon den Flugapparaten. Atlan knurrte: »Ich spüre förmlich, daß sich die Stimmung in wenigen Augenblicken umkehren wird.« Die Hysterie greift bereits um sich! stellte der Logiksektor fest. Es war der Effekt, den sie bis zum Überdruß selbst kennengelernt hatte. Er war am Tod des letzten Gassuaren und Grizzards schuld. Die Impulse aus dem SCHLOSS verwandelten Dorkh und alle seine Bewohner, selbst bestimmte Pflanzen, in Tollwütige. »Es ist für uns unmöglich, irgendwelche Verhandlungen auf sachlicher Basis zu führen«, meinte der Berserker. Inzwischen befanden sich die Besatzungen der Zugors unmittelbar an den Außenschalen der Flugkörper. Nur ein schneller Satz, ein paar Schritte an die Kontrollen, und dem Start stand nicht mehr viel im Weg. Mißtrauisch blickten Razamon, der Turganer und Atlan um sich. Die Dörfler verhielten sich ruhig – offensichtlich waren sie noch in der Phase der losgelösten Heiterkeit. »Gleich wird es losgehen!« prophezeite Asparg, der junge Magier.
Er klammerte sich an einem Griff des Zugors fest und schwang sich mit einem flinken Satz ins Innere. Dann lockerte er die Waffe an seinem Gürtel. Von außerhalb des Dorfes, unmittelbar hinter der langen Reihe der Hütten, ertönte ein dumpfer Knall. Eine bläuliche Rauchwolke trieb zwischen zwei Lehmziegelmauern in die Höhe. Ein Bewohner des Dorfes, der wie ein Turganer aussah, griff sich aufschreiend an die Brust und brach blutüberströmt zusammen. »Es geht wieder los!« stöhnte Razamon und flankte über den Rand des Zugors. Mit zwei schnellen Schritten war er an der Steuerung und riß an den Hebeln. Atlan registrierte, daß sich ein großer Teil der Dorfbewohner zu Boden fallen ließ, dann aber aufsprang und nach allen Richtungen davonstob. »Schnell!« schrie er. »In die Zugors! Wir starten sofort.« Wassersäcke flogen über die Reling der Zugors. Die Insassen halfen sich gegenseitig. Der Rückzug war hastig, aber der zunächst zwiespältig‐friedliche Eindruck des Dorfes war endgültig vorbei und durch den Ausdruck beginnenden Wahnsinns ersetzt worden. Einige Pfeile heulten über die Zugors dahin. Von rechts und links flogen Steinbrocken über den freien Platz. Einige Dörfler schrien auf und brachen in die Knie, von den Geschossen getroffen. »Sie bringen sich gegenseitig um!« rief Fiothra. Schlagartig schien sie sich der langen, ununterbrochenen Kette von Kämpfen und Todesgefahren zu erinnern, von denen die letzten Tage – bis auf einen Tag Ruhe im Berg der Quellen – ausgefüllt gewesen waren. Fast gleichzeitig hoben beide Zugors vom Boden ab und gewannen rasch an Flughöhe. Klirrend prallte eine Waffe aus Metall vom Rand eines Zugors ab. Ein Stein zersplitterte an der Bordwand. Zahlreiche Kämpfe, in denen jeweils nur wenige Angehörige der Dorfgemeinschaft verwickelt waren, brachen aus. Stets waren es verschiedene Lebewesen, die bisher hier friedlich gelebt hatten und sich jetzt
mörderisch bekämpften. Ein erstes Feuer flackerte im Dachstuhl eines nahen Hauses auf. Die Flammen schlugen knatternd in die Höhe. Eine Rauchsäule wälzte sich dicht über dem Boden auf die Felder zu. Nebeneinander stießen die Zugors durch die Flammen und den Rauch und flogen einen Kreis, dabei ständig an Höhe gewinnend. Die Insassen kauerten am Rand der Scheiben, hielten sich an den Griffen und Gerätehalterungen fest und starrten entsetzt nach unten. Ein Kampf jeder gegen jeden war ausgebrochen. Atlan kippte den Zugor ein wenig und blickte hinunter auf die Felder und die schmalen Wege. Herdentiere griffen die Dörfler an und verkeilten sich ineinander im Versuch, sich gegenseitig umzubringen. Der Brand hatte auf ein Feld hoher, trockener Pflanzen übergegriffen. Eine Wand aus Feuer trieb Tiere und Dorfbewohner vor sich her. Trotz der Tatsache, daß sie alle in Todesangst flohen, kämpften alle gegeneinander. Jeder Dörfler hatte irgendeine Art von Waffe in der Hand, die Tiere griffen mit Hörnern, Zähnen und Klauen an. »Mit größter Sicherheit«, rief Atlan zum anderen Zugor hinüber, »sieht es auf ganz Dorkh so aus.« Sie beendeten ihre Runde und ließen hinter sich das halb brennende Dorf zurück, dessen Bewohner sich selbst auszurotten begannen. »Auch in Torstadt werden wir kaum etwas anderes erwarten können«, gab Razamon laut zurück. »Das ist das Ende von Dorkh!« sagte Asparg und senkte den Kopf. Dorkh war auf dem Weg durch einen Dimensionskorridor. Es gab keine sichtbare Unterscheidung zwischen Tag und Nacht mehr. Dort, wo noch vor kurzem die unkontrollierte Glut des zusammengebrochenen SCHLOSSES gewütet hatte, erstreckte sich nun undurchdringliche Finsternis.
Der Dimensionsfahrstuhl war auf dem Weg zum Dunklen Oheim. Die Insassen der beiden Flugmaschinen versuchten, Torstadt zu erreichen, das am unteren Ende Dorkhs lag. Atlan hatte die Richtung als Süden definiert, analog zu Pthor‐Atlantis. Zwei Magier, Atlan und Razamon, ein Techno, zwei Turganer und drei Zukahartos waren die Insassen der Zugors, und sie näherten sich auf ihrem Flug jetzt der Todesrinne. Die Zugors flogen in etwa zweihundert Metern Höhe nach Südwesten. Hinter ihnen und unter ihnen verschwanden die wohlgeordneten Felder und Weiden der Wilden Dörfer unter einem Vorhang von vielen kleinen Rauchwolken. Pantzerklag, der Techno, rief plötzlich: »Ich sehe die Felsenstadt Turgan! Am Ende der Händler‐Straße!« Ein Zukaharto wandte sich an Stophemuk und fragte: »Wollt ihr Turganer nicht in eure Stadt zurück? Dort stirbt es sich am wenigsten unangenehm.« Der Besitz der beiden erbeuteten Zugors allein war für den Plan Atlans nicht ausschlaggebend. Sie brauchten ein raumfestes Fahrzeug. Daß es in Torstadt echte Raumschiffe geben könnte, vermochte keiner von ihnen zu glauben. »Wir gehen mit Atlan!« sagte Stophemuk und zog seine Gesichtstücher zurecht. »So war es abgesprochen, als wir von der Oase aufgebrochen sind.« Atlan und Razamon, unterstützt vom Techno Pantzerklag, glaubten sicher zu wissen, daß sie in Torstadt wenigstens einen raumgeeigneten Zugor finden würden. Es galt, dem Zugriff des Dunklen Oheims zu entkommen. Es war nicht damit zu rechnen, daß Dorkh auf seinem Weg ans Ziel auf einem Planeten mit atembarer Atmosphäre landen würde – in diesem Fall hätten die Zugors gereicht, um wenigstens zehn Leben zu retten. Von Torstadt aus wurden die Einsätze der Horden geleitet, der »Berserker« von Dorkh. Und in dieser ausgedehnten Stadt hofften sie, zu finden, was sie
dringend suchten. Mit höchster Geschwindigkeit rasten die Zugors auf die Todesrinne zu. Razamon hob die Schultern, als er sich an sein Vorhaben erinnerte, das ihn und den störrischen Grizzard‐Axton über die gewaltige Steinbrücke geführt hatte. Längst wußte er, warum sich Grizzard derart merkwürdig verhalten hatte. Die tiefe, zerklüftete und zerrissene Schlucht tauchte auf, bot einige Augenblicke lang ihren erschreckenden Anblick und verlor sich in der Ferne. Dann kam das östliche Ende des Titanenpfads in Sicht. Das Heulen des Fahrtwinds machte fast jede Unterhaltung unmöglich, nur die Insassen, die sich hinter die Bordwand duckten und einander in die Ohren schrien, konnten sich verständlich machen. Voraus lag der Hordenpferch. Es schien ein grünes und fruchtbares Land zu sein, das von vielen schmalen Kanälen durchzogen wurde. Der erste Kanal, der von West nach Ost verlief und sich in großen Bögen krümmte, schnitt durch saftige Weiden und ausgedehnte Wälder, deren ausladende Gewächse nicht sonderlich hoch zu sein schienen. Atlan drosselte die Geschwindigkeit, Razamon tat es ihm auf ein Signal hin nach. Der Arkonide fragte Pantzerklag: »Was kannst du mir über den Hordenpferch sagen? Oder besser: erzähle es uns allen.« Bereitwillig antwortete der Techno. Auch er schien sich inzwischen mit der seltsamen Schicksalsgemeinschaft abgefunden zu haben, in die es ihn nach dem Angriff seiner wutentbrannten Artgenossen verschlagen hatte. »Ihr seht selbst, daß das Land fruchtbar und grün ist.« Es gab nur wenige, unbedeutende Erhebungen. Auch sie waren allesamt von dunklem Grün bedeckt. »Wir sehen auch mittlerweile zwei Flüsse oder Kanäle«, bestätigte der Berserker dröhnend. »Sie dienen der Bewässerung? Oder ist das alles Moor unter uns?«
»Nein. Die Kanäle verzweigen sich immer mehr. Sie werden dünner und dünner und versickern schließlich in einem blinden Ende.« »Und dort wohnen die Horden?« Nicht nur das, dachte Razamon. Hin und wieder entkommen auch kleine Gruppen, und sie streunen durch das umliegende Land. Er war mit einer solchen Gruppe zusammengekommen. »Richtig. Und zwischen dem Pferch und Torstadt liegt eine leere Fläche«, wußte Pantzerklag weiter zu berichten. »Ihr werdet sie in ungefähr sechs Stunden zu sehen bekommen.« »Eine leere Fläche? Eine Wüste?« Ruhig schwebten die Zugors über dem Land. Immer wieder sahen sie zwischen den Bäumen einzelne Gruppen dahinrennen. Es war nicht deutlich auszumachen, ob auch die Tiermenschen gegeneinander einen regellosen Kampf ausfochten. »Eine Art Wüste. Wenn das Signal sie aufruft, versammeln sich die Tiermenschen des Hordenpferchs auf dieser Ebene. Sie marschieren nach Torstadt.« Ereignislos glitt Minute um Minute das Land unter ihnen dahin. Die Luft war seltsam unbewegt, und die bleigraue Farbe des schmutzigen Himmels ohne Wolken und Sonne legte sich wieder auf das Gemüt der bisher fast völlig immun gebliebenen Flüchtlinge. »Weiter!« drängte Atlan. »Was geschieht dann?« »In Torstadt werden die Tiermenschen einer besonderen Behandlung unterzogen«, berichtete der Techno leidenschaftslos. »Sie erhalten Waffen und Bitteres Wasser, das man direkt vom Berg Odiara herbeischafft.« Die Tiermenschen werden für ihre Einsätze konditioniert, kommentierte der Extrasinn. »Waffen?« fragte Razamon mit unverhohlener Neugierde. »Das bedeutet, daß Torstadt ein riesiges Lager sein muß?« »So ist es. Torstadt ist ein riesiges Depot. Natürlich erhielten die
Tiermenschen nur ganz einfache Waffen. Keulen beispielsweise, Lanzen und dergleichen mehr; lauter Dinge, die in ihrem Gebrauch die Tiermenschen nicht überforderten. Sie sind kräftige, ungestüme Krieger und Kämpfer. Das Bittere Wasser freilich macht sie zu rasenden Furien.« Auch das wußte Razamon sehr genau. »Und wie steht es mit den Technos?« erinnerte Atlan. »Lasse dir nicht jede Antwort abringen.« Die Zugors flogen dicht nebeneinander langsam dahin. Wieder tauchte ein sich verzweigendes Kanalnetz auf und verlor sich zwischen Hügeln und Wäldern. Zweimal sahen die Insassen Tiermenschen, die mit riesigen Ästen aufeinander losgingen. »Die Technos begleiteten die Horden nach draußen, über die Grenzen Dorkhs hinweg und in das Beutegebiet. Wir dirigierten sie, wir führten sie an. Natürlich stand uns ein ganz anderes Material zur Verfügung. Es waren Zugors mit Waffen, alle denkbaren Geräte zur Kommunikation, Abwehr‐ und Angriffswaffen. Allerdings …« »Kurzum, ein modernes, schlagkräftiges Arsenal!« stellte Atlan fest. Der Techno nickte und schien sich zu erinnern. Oder wußte er es nur aufgrund seiner eigenen Konditionierung? »Ihr werdet alles sehen, sobald wir den Aufmarschplatz hinter uns gelassen haben«, versicherte er. »Torstadt besitzt wirklich moderne Einrichtungen, die denen der Stadt der Verlorenen in nichts nachstehen. Auch sind sie viel zahlreicher.« Wieder setzten Atlan und Razamon die Geschwindigkeit der schnellen Flugscheiben herauf. Stunde um Stunde verging in fast lautlosem Flug. Der Himmel änderte sich ebenso wenig wie die Färbung des Landes. Kanäle wurden sichtbar und verloren sich wieder in der großen grünen Fläche. Spannung und Erwartung stiegen. Ein Teil der Vorräte des Wirtes wurde ausgepackt und gegessen. Dann wurden die Kanäle schmaler und spärlicher. Aus den runden Hügeln wurden noch kleinere Erhebungen. Das Grün verlor seine satte Farbe, immer
mehr verdorrte Pflanzen mischten sich darunter. Am Horizont zeigte sich ein heller Streifen, der sich immer mehr verbreiterte und in die Länge wuchs, je mehr sich die Zugors dem Aufmarschgebiet der Tiermenschen näherten. »Das ist der Platz zwischen Torstadt und dem Hordenpferch!« sagte Pantzerklag schließlich mit Bestimmtheit. Er deutete nach unten. Offensichtlich völlig friedlich wanderten drei Tiermenschen in die Richtung der Stadt und kamen eben den letzten kleinen Hügel hinunter. Sie betraten die Zone, in der sich nur noch dürre Gräser ausbreiteten. Verblüfft sahen sich die zwei Zugor‐Steuermänner an. »Es scheinen die Impulse nicht mehr bis hierher zu reichen«, rief Razamon. »Ich kann es nicht glauben.« Sie lauschten in sich hinein und spürten augenblicklich tatsächlich keine der wohlbekannten Schauer von Gefühlen und Impulsen, von denen ihr Verstand manipuliert werden sollte. »Alles ist möglich!« beschied sich Atlan fatalistisch. »Trotzdem glaube ich an keine positive Wendung der Ereignisse. Ich muß immer wieder an YhmʹDheers rätselhafte Schwärze denken, an sein Schwarzes Verderben.« »Daran denken wir alle!« sagte Stophemuk nachdrücklich. Die Insassen der Zugors waren durch Pantzerklags Berichte auf Torstadt und das, was sie zu sehen bekommen würden, einigermaßen vorbereitet. Trotzdem zeigten sie Überraschung, als die Stadt in voller Ausdehnung schräg vor ihnen lag. Eine glatte Mauer, die nicht höher sein konnte als sieben bis zehn Meter, umgab Torstadt. Von einzeln stehenden Felsbrocken umgeben, ringelte sie sich in verblüffenden Windungen durch das Gelände. Unmittelbar hinter der Mauer standen wuchtige, klobige Bauwerke mit teilweise flachen Dächern. Die Felsen selbst, in die das Ende der Mauern nahtlos überzugehen schien, waren bearbeitet und glattgeschliffen. Zwischen den Häusern breiteten sich Plätze und auffallend breite Straßen aus. Es gab wenig Grün in dieser Stadt; es war eine
zweckbestimmte Siedlung, in der ausschließlich Technos lebten. »Einige Kurven zur Orientierung?« schrie Razamon herüber. Atlan hob den Arm und drehte das Handgelenk. »Lieber eine Umkreisung mehr als eine zu wenig. Ich sehe die ersten Zugors.« Die Insassen kletterten wieder an den Rand und blickten hinunter. Torstadt war ausgedehnt, und sie stand mit mehr als einem Drittel ihrer Stadtmauer direkt auf dem Rand von Dorkh. Das südliche Ende des Dimensionsfahrstuhls bildete einen ziemlich spitzen Winkel, gleichsam eine vorspringende Landzunge, die restlos von der eigentlichen Stadt bedeckt war. Zahllose Technos waren zu erkennen. Sie blieben stehen, als sie die Zugors sahen, winkten zaghaft und starrten in den Himmel hinauf. Ihre Augen verfolgten den ruhigen Flug der Scheiben, die dicht über den höchsten Türmen und Erhebungen dahinglitten. Auch hier wirst du keine Kinder und keine Frauen sehen, sagte der Logiksektor. Atlan wandte sich wieder an Pantzerklag und beobachtete, während er fragte, die einzelnen Gruppen unter sich. »Die Stadt wird nur von Technos bewohnt?« »Außer in den Zeiten, in denen die Tiermenschen hier auf ihren Kampf vorbereitet werden«, bekräftigte Pantzerklag. »Die Stadt wimmelt förmlich vor Zugors!« bemerkte Razamon verdrossen. »Nur sind es alles offene Modelle.« Seine Beobachtungen deckten sich mit denen der Fluchtwilligen. Auf flachen Dächern und großen, terrassenähnlichen Vorsprüngen, entlang ausgedehnter Rampen und auf einigen Plätzen standen Zugors. Es waren größere und normalgroße Modelle, teilweise mit Waffen versehen und mit Schutzschildern, aber bisher hatten sie keinen einzigen Zugor gesehen, der irgendwie verglast, abgedeckt oder auf andere Weise für einen Raumflug tauglich gemacht worden war. Atlan schlug schließlich während der zweiten Umkreisung vor:
»Wir können immerhin versuchen, einen großen Zugor umzubauen. Wenn es richtig ist, was Pantzerklag sagt, dann sollten uns einige technische Möglichkeiten zur Verfügung stehen.« Der Techno sagte aufgeregt: »Seht ihr die Rampen? Sie führen in große Magazine und Hallen unterhalb der Stadt. Dort können sich alle nur denkbaren Maschinen und Apparate befinden. Aber wir werden suchen müssen.« »Wenn sich die Suche lohnt …?« Noch immer starrten die Technos wie gebannt zu den Zugors hinauf. Atlan und Razamon suchten inzwischen einen aussichtsreich erscheinenden Landeplatz. Auch hier würden sie nur Männer zwischen achtzehn und rund achtzig Jahren finden; jene merkwürdigen Geschöpfe aus dem SCHLOSS. »Dort, die Terrasse! Sie befindet sich am Schnittpunkt mehrerer Straßen und Rampen«, schlug der Arkonide vor. »Einverstanden.« Torstadt trug diesen Namen zu recht. Zwar waren die Einlässe der Stadt in der niedrigen Mauer und zwischen den glatten Häuserfronten keineswegs einladend, sondern nicht mehr als bessere Steinpforten, die mit metallenen Gittern verschlossen werden konnten, aber auf rätselhafte Weise machte Torstadt den Eindruck, als öffnete sie sich ins Fremde, ins Unbekannte. Die Straßen, die zum Rand hinausführten, verbreiterten sich trichterförmig. Man konnte sich leicht vorstellen, daß die Massen der Mißgestalteten aus dem Hordenpferch durch diese breiten Schneisen stürmten, immer schneller wurden, von der Wirkung des Bitteren Wassers angetrieben und in Raserei versetzt, die fremde Welt betraten, um sie zu verwüsten. Torstadt wirkte nicht nach Dorkh herein, sondern aus Dorkh hinaus. Sanft setzten die Zugors auf. Sie standen dicht nebeneinander, wie üblich, und die Insassen blickten stehend auf die Technos, die ihnen entgegeneilten. Die Stimmung war entspannt; auf den Gesichtern
der Männer zeichneten sich Freude und Überraschung ab. »Willkommen! Abgesandte des SCHLOSSES!« Immer mehr Technos rannten über Treppen und auf der glatten Rampe auf die Fluggeräte zu. Noch zögerten die beiden Männer aus Pthor, die Maschinen abzustellen. Aber es gab tatsächlich keinerlei Anzeichen dafür, daß die Wahnsinnsstrahlung auch bis nach Torstadt gedrungen war. Alles scheint friedlich. Das sollte dich mißtrauisch machen, warnte der Extrasinn. Atlan blieb mißtrauisch und schaltete den Antrieb des Zugors nicht ab. Aber zusammen mit den anderen kletterte er aus der Maschine. »Seit langer Zeit gab es keine Verbindung zwischen dem SCHLOSS und Torstadt!« riefen einige Technos. »Verdammt«, knurrte Razamon wütend. »Das haben wir vergessen! Es hätte mir auffallen müssen, als ich die verwahrlosten Zugors sah!« »Du hast recht!« stimmte Atlan zu. »Sie haben weder Nachrichten erhalten noch Befehle.« »Seit Jahren!« stöhnte der Techno Pantzerklag, aber trotzdem stieg er aus dem Zugor, hob den Arm und erwiderte den Willkommensgruß. Das Auftauchen der Zugors über Torstadt war also die Sensation. Die SCHLOSSHERREN hatten sich seit langer Zeit um nichts gekümmert. Was in Dorkh vor sich ging, hatte die Uleb nicht oder nur am Rand interessiert. Über diesen ausdrucksvoll langen Zeitraum hinweg waren auch die Technos von Torstadt ohne jede Verbindung gewesen. Das mußten die Insassen des Zugors jetzt einsehen. Die jüngsten Männer, die sie hier vor sich sahen, schienen rund zwanzig Jahre alt zu sein; man sah keine jüngeren Technos. Und plötzlich änderten sich die Mienen derjenigen, die eben noch fröhlich und erwartungsvoll gewesen waren.
Pantzerklag erkannte die Situation sofort und stellte sich schnell darauf ein. Er sagte schroff: »Keine falschen Reaktionen. Diese hier sind meine Begleiter.« »Zukahartos haben in Torstadt nichts zu suchen!« fuhr ihn einer an. »In diesem Fall brauche ich sie. Ohne ihre Hilfe kann ich, der vom SCHLOSS kommt, eine bestimmte Arbeit nicht ausführen. Sie ist von allergrößter Wichtigkeit. Ihr wißt, daß sich Dorkh auf dem Flug zum Dunklen Oheim befindet?« Einige der Technos schienen Pantzerklags Autorität anerkennen zu wollen. Andere murrten, aber sie machten keine Anstalten, sich auf die Ankömmlinge zu stürzen. Fiothra klammerte sich ängstlich an ihren Halbbruder. »Was ist der Zweck des Besuchs?« »Eine Inspektion!« erklärte Pantzerklag, der von den Technos auf den ersten Blick als ihresgleichen erkannt worden war. »Auf Befehl der SCHLOSSHERREN.« Er hatte einkalkuliert, daß ganz Torstadt nicht die geringste Ahnung davon hatte, was im Zentrum der Macht tatsächlich vorgefallen war. Mit dieser Meinung hatte er absolut recht. Die Unruhe legte sich ein wenig, als er erklärte: »Wir beabsichtigen nicht, eure Gastfreundschaft lange auf die Probe zu stellen. Nach der Inspektion, die uns auch in die unter der Stadt liegenden Bezirke führen wird, fliegen wir sofort wieder zum nächsten Ziel weiter. Wißt ihr, daß über Dorkh der Tod, das große Kämpfen und der Brand regieren?« »Wir wissen nur, was innerhalb der Stadt vor sich geht. Wir haben seit so langer Zeit keine Befehle erhalten!« lautete die mehrstimmige Antwort. »Wir berichten es euch, bevor wir fliegen«, versprach Razamon grimmig. »Und nun sollte Pantzerklag seines Amtes walten.« Atlans Hoffnung, daß wenigstens einige Teile von Dorkh von den rasendmachenden Impulsen verschont bleiben mögen, nahm ein
wenig zu. Der Techno winkte entschlossen und ging voran. Sofort öffnete sich in der Mauer der wartenden Torstädter eine breite Gasse. Widerwillig traten sie zurück, aber immerhin glaubten sie ihrem Artgenossen. Die wenigen Wesen, die immerhin ein deutliches Ziel vor Augen hatten, folgten dem einzelnen Techno. Pantzerklag wuchs in der Umgebung seiner Artgenossen förmlich über sich hinaus. »Macht Platz für die Inspektoren!« rief er. »Sie sind wichtig für die Herren des SCHLOSSES!« Er deutete nacheinander auf etwa sieben ältere Männer und sagte in einem Befehlston, der keinerlei Widerspruch zu dulden schien: »Ihr werdet uns führen. Es ist unsere Aufgabe, uns über den Zustand der wichtigen Magazine unter der Stadt ein Bild zu machen.« Der Arkonide grinste in sich hinein, als er die schuldbewußte Antwort verstand. »Wir wußten nicht, was wir tun sollten. Wir haben uns bemüht, alle Aufgaben so zu meistern, wie es uns gelehrt wurde!« »Dann sollten sie zur Zufriedenheit der SCHLOSSHERREN gelöst sein. Ich habe den Eindruck, daß das SCHLOSS euch nicht mehr wohlgesonnen ist. Allerdings gibt es sicher Möglichkeiten, das Wohlwollen wiederzuerlangen.« »Indem, beispielsweise«, erklärte der Turganer trotzig, »den Mitgliedern der Inspektionsgruppe höchste Bereitwilligkeit entgegengebracht wird!« Eine riesengroß anwachsende Menge von männlichen Technos aller Altersstufen beobachtete neugierig und etwas ratlos, wie die Gruppe eine Rampe hinunterging und unterhalb eines großen Bauwerks am Rand des Platzes verschwand. Die Suche nach einem weltraumgeeigneten Zugor oder einem ähnlichen Transportmittel hatte begonnen.
2. Die erste Halle, gut beleuchtet, kühl und sauber, barg eine Vielzahl von Kisten und Verpackungen. Es war ein Waffenlager, aber eines von der Art, wie es zur Ausrüstung der Tiermenschen verwendet wurde. Ab und zu gab, während sie schnell zwischen den Stapeln hindurchgingen, der Techno magere Kommentare ab. »Sauber gereinigt«, sagte er einmal, dann wieder: »Gut sortiert.« Oder: »Übersichtlich aufbewahrt.« »Es sind die Waffen für die Tiermenschen«, erklärte einer der Begleitpersonen. »Ich verstehe«, gab Pantzerklag zurück. Die Hallen und Magazine unter den Bauwerken schienen nicht viel weniger ausgedehnt zu sein als die Stadt selbst. Pfeiler um Pfeiler, Hallen und Eingänge wurden sichtbar. Überall befanden sich Ausrüstungsgegenstände jeder nur denkbaren Art. Die Gruppe suchte nach Zugors oder Raumschiffen, oder nach ähnlich zu verwendenden Geräten, nach nichts anderem. Die Schritte hallten in den großen Räumen wider, und noch immer, obwohl die Fremden oft abbogen und ständig neue Bilder vor ihnen auftauchten, hatten sie nicht einmal von fern gesehen, was sie suchten. »Gibt es in diesen Magazinen Fahrzeuge, mit denen man Dorkh verlassen kann?« fragte Razamon nach einer Stunde mühsamen Fußmarsches. Der Techno sah ihn an, als habe er von völlig unmöglichen Dingen gesprochen. »Wie?« Im Licht der Scheinwerfer und Tiefstrahler sahen sie weit vor sich, in der letzten Öffnung aus einer Reihe sich perspektivisch verkleinernden Torportale, eine Art Reparaturwerkstatt, in der einige Technos arbeiteten. »Wir suchen im Auftrag der Herren des SCHLOSSES«, erklärte
Atlan und erntete ein beifälliges Nicken Pantzerklags, »einen Apparat, mit dem es möglich ist, sich im luftleeren Raum zu bewegen.« »Ein Zugor, der allseitig geschlossen ist«, rief Stophemuk. »Nichts anderes!« »Wozu braucht ihr dieses Gerät?« fragte einer der Technos voller Mißtrauen zurück. »Wir wissen es nicht«, sagte Pantzerklag. »Die SCHLOSSHERREN haben uns geschickt, um diesen Über‐Zugor zu ihnen zu fliegen.« »Ich denke, um das SCHLOSS steht es schlimm?« war die verwunderte Gegenfrage. »Was nicht bedeutet«, gab Pantzerklag schlagfertig zurück, »daß die Herren ihre Initiative verloren haben. Vermutlich wollen sie Hilfe für Dorkh holen.« Auch ihn erfüllte inzwischen die Todesangst. Nur so war es zu verstehen, daß er gegenüber den Technos von Torstadt diese ungewöhnliche Rolle spielte. »Wir wissen nichts.« Die anderen Führer durch die unter der Stadt gelegenen Werkstätten und Hallen schwiegen. Vermutlich beschäftigten sich ihre Überlegungen mit der Glaubwürdigkeit dieser Inspektion. Zweifellos waren sie mißtrauisch geworden. Aber noch gelang es den Fremden, ihre Rolle einigermaßen glaubhaft weiterzuspielen. Mit schnellen Schritten näherte sich die Gruppe der Werkstatt, aus der Arbeitsgeräusche zu hören waren. Einige zwanzig Schritte davon deutete Pantzerklag schließlich mit dem Arm nach rechts. »Hier stehen neue oder zumindest gut gepflegte Zugors!« entfuhr es ihm verwundert. Alle Blicke richteten sich an diese Stelle. »Tatsächlich. Und dazu ein ganz besonderes Exemplar«, murmelte Razamon und ging langsam darauf zu. »Hoffentlich haben wir diesmal etwas Glück«, brummte Asparg. In drei Reihen, auf gegeneinander versetzten Ebenen, standen schimmernde Flugscheiben. Zehn Stück in jeder Reihe; in ihrer Mitte
befand sich ein Gittergerüst, das wohl die Funktion eines großen Materialaufzugs hatte. Der fünfte Zugor von links in der untersten Aufstellung aber sah ganz anders aus. Er konnte sogar genau jenes Gerät sein, das ihnen die Rettung brachte. Die Fremden stellten sich vor dem Zugor auf und betrachteten jede Einzelheit, die sich ihnen bot. Bis zur Brüstung sah der Flugapparat aus wie jeder andere Zugor, abgesehen davon, daß er keine oder nur winzige Spuren der Benützung zeigte. Aber von der gerundeten Kante der Wölbung gingen breite Verstrebungen nach oben und bildeten eine Art Haube aus Metallprofilen. Zwischen den einzelnen, unregelmäßig geformten Ecken waren teilweise transparente, zum anderen Teil undurchsichtige Platten angebracht. Sie wirkten wie Metallschilde oder Glasfenster, und das Ganze sah aus, als wäre es die Arbeit eines phantasievollen Handwerkers. Pantzerklag fragte, wieder im Befehlston: »Dieses Ding kann fliegen? Ist es betriebsbereit? Erscheint mir ungewöhnlich gut gewartet worden zu sein.« Die Auskunft kam zögernd. Verstärktes Mißtrauen schlug den Fremden entgegen. »Nahezu jeder Gegenstand, der sich unter Torstadt finden läßt, ist überaus trefflich in Ordnung. Unsere Aufgabe ist es, Reparaturen durchzuführen und alles betriebsbereit zu halten für die Tage nach dem Signal.« »Signal?« fragte ein Zukaharto verblüfft. Stophemuk brachte ihn mit einem harten Ellbogenstoß zum Schweigen und knurrte: »Dann ist auch dieser merkwürdige Zugor flugfertig?« »Allerdings.« »Und er ist in der Lage, einige Insassen durch den luftleeren Raum zu tragen?« fragte der mutige Techno hart. »Keiner von uns hat es jemals ausprobiert. Aber wir alle wissen, daß dies leicht möglich ist. Warum brauchen die SCHLOSSHERREN
diesen Zugor? Ausgerechnet diesen?« »Sie haben mir ihre Beweggründe nicht mitgeteilt«, entgegnete Pantzerklag sarkastisch. »Ihr dürft nicht erwarten, daß sie euch gegenüber auskunftsfreudiger sind.« Ratlos, aufgeregt und fast wütend standen die Technos da und ließen ihre Blicke zwischen dem Gitterwerk des Zugors und den zehn Fremden hin und her gehen. Ihre Ahnung, daß es hier nicht mit rechten Dingen zuging, verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde. Als Pantzerklag kategorisch auf den Zugor deutete und erklärte, daß er im Auftrag seiner Herren diesen Zugor in Besitz nehmen und nach beendeter Inspektion damit davonfliegen würde, brach der Tumult los. »Wir glauben dir nicht, daß du vom SCHLOSS kommst. Solange ich lebe, habe ich derlei Geschichten niemals gehört. Tod über Dorkh! Welch ein Unsinn!« schrie ein Techno erbost. »Du hast zu schweigen und den Befehlen zu gehorchen wie ich auch!« dröhnte Pantzerklags Stimme auf. »Los! In die Maschine. Setzt den Aufzug in Bewegung!« Ein anderer Mann aus ihrer Begleitung, der bisher ausführliche Erklärungen abgegeben hatte, sprach in ein Kommunikationsgerät. Aus der nahen Werkstatt stürzten Technos in Arbeitskleidung hervor. Atlans und Razamons Hände fuhren zu den Waffengriffen. »Hierher! Wir haben Fremde ertappt!« brüllte ein anderer. Wieder verständigten sich Atlan und Razamon mit wenigen Worten und einigen knappen Gesten. Um Razamon versammelten sich blitzschnell die übrigen Mitglieder der verzweifelten Expedition, während der Arkonide mit einigen Sprüngen auf das Gerüst zurannte. Er suchte nach einer Schalttafel und hoffte, schnell den Mechanismus ergründen zu können. Die Technos liefen von allen Seiten zusammen. Die meisten waren unbewaffnet, aber ihre Überzahl war groß. Mit einem Satz war Razamon auf der untersten Ebene und rannte
einmal um den Zugor herum. Er suchte den Einstieg oder die Schleuse. Die Technos schrien wild durcheinander. Noch immer gab es unter ihnen einige, die Pantzerklags Version des Auftrags glaubten. Oder sie hatten Angst, daß die SCHLOSSHERREN sie für ihren Ungehorsam strafen würden. Als sich die meisten geeinigt hatten und Razamon gerade an einem Hebel riß und ein an den Kanten gerundetes Stück der Verkleidung aufschwingen ließ, hallte ein sonderbarer Laut auf. Er schrillte auf und ab wie das Heulen einer gigantischen Sirene, aber gleichzeitig erinnerte sein Dröhnen an einen Summer. Schlagartig waren die Magazine vom Lärm und den Echos erfüllt. Die Trommelfelle begannen zu schmerzen, so intensiv war das Geräusch, das zudem in regelmäßige Intervalle zerhackt wurde. »Alarm! Das Signal für uns!« verstand Atlan zwischen den einzelnen Tönen. Die Technos, ausgenommen Pantzerklag, blickten sich bestürzt an und rannten dann in drei verschiedene Richtungen auseinander. Sie verschwanden in großen Säulen, in denen plötzlich Türen und Schotte aufgesprungen waren. Das Alarmsignal war noch lauter geworden, seine Abstände kürzer – es wirkte auf die Fremden wie eine Drohung. Atlan drehte sich herum, bevor er auf einige Schalter drückte, und schrie aus Leibeskräften: »Was soll das bedeuten?« Ebenso laut gab Pantzerklag zurück: »Ich habe nur … eine Erklärung!« »Welche?« »Die Tiermenschen greifen an. Oder eine andere Bedrohung.« Die Signale des Alarms wurden abermals hektischer, lauter und durchdringender. Die Fremden hielten sich die Ohren zu und schüttelten gepeinigt die Köpfe. Unvermittelt rissen die Laute ab.
Eine fast unerträgliche Stille breitete sich aus. In den Ohren zischte es. Der Arkonide kippte nacheinander einige Schalter und sah zuerst, wie sich hoch über ihm eine runde Öffnung auffaltete und zur Seite schob. Dann klappte ein Teil des Gerüsts zur Seite, so daß eine Plattform erschien. Sie war etwa doppelt so groß wie der Zugor, den sie sich ausgesucht hatten. Razamon rief, weitaus leiser nunmehr, zu Atlan hinüber: »Ich glaube, ich kann dieses Ding fliegen. Willst du herüberkommen und einsteigen?« »Das ist wohl das beste«, erklärte Atlan, lief zu der Reihe der Zugors hinüber und sah zu, wie einer nach dem anderen durch die nicht sonderlich große Luke kletterte. Die Beleuchtung der Hallen drang durch die transparenten Flächen. Erstaunlicherweise waren sie nicht dick von Staub bedeckt. Die Fremden hatten innerhalb der Schale einigermaßen bequem Platz. Auf einem längeren Raumflug allerdings würden sich katastrophale Zustände schwerlich vermeiden lassen. »Zufrieden?« fragte Razamon. »Das können wir erst sagen, wenn sich die Konstruktion als zuverlässig erwiesen hat«, antwortete Atlan. »Du weißt, wie es weitergeht?« »Alles klar. Keine Schwierigkeiten«, gab Razamon zurück und startete den Zugor. Auf dem Schaltpult in der Mitte blinkten Lichter auf, als das Gerät sich hob, nach vorwärts schwebte und genau auf die Öffnung im Gitter zuglitt. Atlan spähte durch die Luke, betrachtete die Riegel und Zuhaltungen und entdeckte breite, elastische Streifen und Dichtungen an allen denkbaren Stellen. Die Konstruktion war auch von innen solide, wenn auch nicht sonderlich schön. Die anderen Teilnehmer des Fluchtversuchs von Dorkh verhielten sich still und abwartend; keiner von ihnen hatte je in einem solchen Apparat gekauert. »Der Alarm hat aufgehört«, murmelte schließlich, als Razamon auf
der Plattform aufsetzte und sie sich fast lautlos nach oben in Bewegung setzte, der ehemalige Karawanenführer aus Turgan. »Wieder wird uns an der Oberfläche eine neue Art von Chaos und Vernichtung erwarten. Ich habe bald keinerlei Hoffnung mehr.« »Wir leben noch!« stellte ein Zukaharto sachlich fest. Aber seine Stimme schwankte. »Können es tatsächlich die Tiermenschen sein?« fragte sich Fiothra laut. »Sie erschienen uns vor ganz kurzer Zeit noch durchaus friedlich?« »Wir werden es gleich erfahren«, meinte der andere Turganer. »Rechne mit dem Schlimmsten.« Die Plattform setzte den Weltraum‐Zugor auf einer leeren Terrasse ab. Sie verschloß auf diese Art die große runde Öffnung im Boden. Nein – die Fläche war nicht leer; eine Schar großer Vögel spazierte aufgeregt entlang der Brüstung. Aus der Tiefe der Stadt kam dumpfes Lärmen. Geräusche unzähliger Schritte vereinigten sich zu einem auf‐ und abschwellenden Laut. Atlan deutete nach oben. »Fliege den Zugor höher hinauf. Wir brauchen einen besseren Überblick. Es braut sich etwas zusammen.« Er spähte hinaus und sah nur den grauen, ereignislosen Himmel, eine Unmenge von verschiedenen Flächen, Treppen und Rampen, die vor zwei Stunden noch dicht bevölkert waren – und jetzt fielen ihm auch die Tiere auf, die überall dort aufgeregt umherrannten, wo sich die Menge der erwartungsvoll starrenden Technos eingefunden gehabt hatte. Der Zugor landete zum zweitenmal, diesmal auf einem kegelförmigen Turm, auf dessen oberster Plattform ein halbes Dutzend andere, leere Zugors abgestellt waren. Zwei von ihnen waren mit langläufigen Waffen ausgerüstet. Sofort kletterten, bis auf Razamon, alle Insassen wieder hinaus. Sie wurden fast magisch von einem dahinhastenden Strom Technos angezogen, der sich unter ihnen auf die Felsen, Mauern und
Hauswände der Stadt zuwälzte. Dann glitten die Blicke über die Mauern und hinaus auf die leere Fläche zwischen Stadt und Hügelsaum. Dort befanden sich jetzt Tausende von Tiermenschen. Das Signal galt tatsächlich einem bevorstehenden Angriff, erläuterte der Logiksektor. Aber die Gründe liegen tiefer. Tonlos sagte Fiothra: »Was wir sehen müssen, läßt nur einen einzigen Schluß zu.« »Die Impulse vom SCHLOSS haben den Hordenpferch erreicht und die Tiermenschen in Raserei versetzt«, ergänzte Stophemuk. »Sie werden auch diese Stadt überfluten. Alles fängt abermals von vorn an. Ich habe es geahnt.« »Immerhin besitzen wir ein unschätzbar wichtiges Mittel, um wenigstens uns zu retten«, warf Razamon nachdenklich ein. Dann versenkte er sich wieder in die kühl analysierende Betrachtung der Vorgänge auf beiden Seiten der nördlichen Stadtgrenzen. »Sie sind rasend geworden«, murmelte Asparg und deutete auf die Tiermenschen. Von hier aus gab es nur einige große Massierungen zu sehen, von denen sich kleine Gruppen abspalteten. Hin und wieder waren zwischen den einzelnen Wesen und anderen Gruppen wütende, blitzschnell geführte Kämpfe zu beobachten, die aber ebenso schnell wieder abflauten. »Sie bringen sich gegenseitig nicht um«, meinte Razamon. »Noch ist es nicht soweit.« »Wir werden es in kurzer Zeit mitansehen müssen«, fügte Fiothra hinzu. »Und es gibt keine Möglichkeit, etwas zu tun. Wir alle sind die hilflosen Opfer des Schreckens.« Atlan legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie kurz in einer kameradschaftlichen Geste an sich. Er sagte leise, aber eindringlich: »Noch leben wir. Solange wir leben, können wir noch hoffen.« »Das ist es auch, was die Technos gerade unternehmen«, sagte Razamon. »Sie hoffen, ihre Stadt gegen die Bewohner des Hordenpferchs zu verteidigen.«
Die rasenden Tiermenschen kamen näher. Ihre Erregung verlief in einzelnen Schüben; dies war deutlich zu merken und auch der Grund für die plötzlichen Kämpfe, für das Zusammenrotten zu Gruppen, die dann schnell vorstießen und sich anscheinend unmotiviert wieder auflösten. »Nein. Sie verteidigen Torstadt sicher nicht zum erstenmal«, sagte Atlan nach einer Weile. Er betrachtete in steigender Unruhe die Versuche von einigen tausend Technos, die Stadt zu verschließen und sicher zu machen. Aus dem Innern Torstadts heraus waren alle Technos an die Mauern gerannt. Die metallenen Gitter vor den Toren schlossen sich in kreischenden Torangeln. Ausgeklügelte Mechanismen schoben aus dem Boden schwere Steinplatten hoch, schwangen sie herum und verschlossen damit die Durchbrüche in den Mauern fast fugenlos. Auf einzelnen Mauerabschnitten tauchten Technos auf und richteten sich darauf ein, mit Tornistergeräten und langen Schläuchen, an denen lange, lanzenförmige Spritzdüsen angeschlossen waren, die Mißgebildeten abzuwehren. Die zielsichere Eile, mit der die Verteidigungsvorkehrungen getroffen wurden, deuteten auf eine gewisse Übung hin. Plätze und Straßen an den Rändern Torstadts leerten sich. Nur noch die Tiere blieben übrig. Atlan, der in steigender Erregtheit versuchte, sich Klarheit zu verschaffen, mußte an die vielen Berichte und die noch zahlreicheren persönlichen Erfahrungen denken. Tiere, vom Instinkt geleitet, hatten ein besonderes Gespür für nahende Gefahren. Sie merkten viele verhängnisvolle Entwicklungen weitaus früher als die vernunftbegabten Wesen. Auch in Torstadt war es nicht anders. Die Vögel rannten hin und her, stießen sich gegenseitig von den Gesimsen und vereinigten sich, wenn sie flogen, zu kleinen Schwärmen. Diese Gruppierungen bewegten sich aufgeregt zwischen den Gebäudefronten hin und her und führten in exakter Gleichmäßigkeit schnelle Kursänderungen durch, als gehorchten sie
alle einem unhörbaren Befehl. Katzenähnliche Tiere mit langen Greifschwänzen turnten überall umher und rasten senkrechte Wände aufwärts und abwärts. Sie jagten keine Beute, sondern versuchten durch Bewegungen ihre innere Spannung abzubauen. »Wahnsinn!« stöhnte Stophemuk plötzlich. »Die Strahlung macht alle verrückt. Wir, die einigermaßen immun sind, werden zu Zeugen des Untergangs. Ich frage mich nur, wer dafür verantwortlich ist, und was damit bezweckt werden soll?« »Richtig!« stimmte Atlan zu. »Ein entvölkertes Dorkh nützt nicht einmal dem Dunklen Oheim.« Über die leeren Plätze und durch die Straßen Torstadts liefen jetzt auch andere Tiere. Sie hatten entfernte Ähnlichkeit mit Hunden oder Wölfen, aber sie waren allesamt wohlgenährt und fett. Auch sie zeigten dieselben Merkmale der Unruhe wie alle anderen Tiere dieser Stadt. Warum sollten sich die Tiere anders verhalten als die Technos, die mittlerweile, noch immer mit allen Zeichen der Aufregung, sämtliche Mauern im Norden von Torstadt besetzt hielten? An allen Stellen waren Geräte, Waffen, Maschinen und Einrichtungen zu sehen, deren Zweck einzig und allein darin bestand, die Stadt zu verteidigen. Atlan stieß hervor: »Was tun wir jetzt? Wie können wir helfen?« »Vermögen wir tatsächlich etwas zu ändern?« fragte Fiothra zurück. »Alles ist gegen uns. Nicht nur gegen uns zehn, sondern gegen die Gesamtheit von Dorkh!« erklärte mit Bestimmtheit der turganische Karawanenführer. Sie alle fühlten, daß sie schutzlos dem näherkommenden Unheil ausgeliefert waren. »Vermutlich hast du recht«, knurrte Asparg. »Trotzdem wiederhole ich die Frage: Was können wir tun?« Razamon erwiderte pragmatisch:
»Abwarten, überlegen und dann handeln.« Torstadt hatte – schätzungsweise – zwanzigtausend Einwohner. Alles Männer; es gab außer Fiothra innerhalb der Mauern keine einzige Frau. Diese relativ große Anzahl von Männern sahen sich einer ungefähr doppelten Übermacht von Tiermenschen gegenüber, die sich den Stadtgrenzen näherten. Razamon grollte: »Es dauert nicht mehr lange, bis Tiermenschen und Technos aufeinandertreffen. Und kurz danach erreichen auch uns wieder die Impulse. Horcht in euch hinein! Spürt ihr schon etwas?« Noch nicht. Aber bald – mit größter Sicherheit! sagte trocken der Logiksektor. Die Angehörigen der kleinen Gruppe schwiegen und versuchten, sich zu konzentrieren. Entweder hatten sie mit den schnellen Zugors tatsächlich die Impulse überholt, oder jenes unheimliche Schwarze sendete die Impulse in auf‐ und abschwellenden Rhythmen. »Nichts. Keine Unruhe«, sagte der Zukaharto kurz. »Ich spüre nichts«, pflichtete ihm Stophemuk bei und wandte sich an den Techno. »Und du?« Schweigend schüttelte Pantzerklag den Kopf. Unterdessen änderten sich die Szenen in jeder Minute. Über die Hügel strömten mehr und mehr Tiermenschen. Sie kamen einzeln und in Gruppen. Sie schwärmten nach beiden Seiten aus, so daß sie die Ränder der Aufmarschfläche erreichten. Jetzt sah ihre Menge aus wie eine Mondsichel. Die Spitzen deuteten auf den Rand Dorkhs links und rechts von Torstadt. Die Aufgeregtheit der Verteidiger hatte sich für einige Momente gelegt. Die Technos bildeten ihrerseits einen Ring, der aber den inneren Windungen der Mauer folgte. Sie befanden sich auf Dächern, auf Terrassen und kanzelartigen Vorsprüngen derjenigen Bauten, die auswärts wiesen und teilweise an die Mauern angebaut waren. Ein riesiges Instrumentarium der verschiedensten Waffen
richtete sich auf die herankommenden Tiermenschen. Die innere Stadt, auch der Teil, der mit dem Rand des Dimensionsfahrstuhls abschnitt, war so gut wie leer. Nur die vielen Tiere rannten, flogen und kletterten in steigender Panik dort umher. Der halb verglaste Zugor stand auf einem wuchtigen Turm, der sich etwa im ersten Drittel der Gebäude befand, von der kahlen Fläche aus gesehen. Gerade, als Razamon und Atlan sich herumdrehten, aufeinander zugingen und sich absprechen wollte, spürten sie den ersten Impuls aus dem Zentrum Dorkhs. Gleichzeitig packten die Impulse die Technos. Wieder bewies sich, daß die wenigen Fremden die einzigen waren, die bis zu einem bestimmten Punkt immun blieben gegen die Verwirrung und die Gefühle der Raserei, die jeden anderen Dorkher ergriffen. Die Technos verfielen augenblicklich in das Stadium der unbegründeten Heiterkeit. Sie warfen ihre Waffen zu Boden; jede ihrer Bewegungen strahlte Heiterkeit und Sorglosigkeit aus. »Jetzt spüre ich tief in mir die Impulse. Es sind die gleichen, die ich vom SCHLOSS her kenne«, grollte der Berserker. »Außerdem ist das Verhalten der Technos der beste Beweis.« »Mich berührt die Heiterkeit nur ganz leicht«, meinte Fiothra. »Aber dort richtet sie Verheerungen an.« Sie deutete auf eine breite Terrasse, auf der die Technos bisher schweigend und diszipliniert auf den ersten Ansturm der Tiermenschen des Hordenpferchs gewartet hatten. Die Abwehrgeräte lagen auf den Bodenplatten, die Technos führten großartige Bewegungen aus, lachten und scherzten miteinander. Einige bewegten sich, als würden sie tanzen wollen. »Das gefällt mir alles nicht«, sagte der Arkonide voller Unbehagen. »Aber ich habe nicht die geringste Idee, was wir tun können. Ich hätte nie geglaubt, daß es eine so große Menge Tiermenschen im Pferch gibt.« Es wurden immer mehr.
Sie befanden sich in Raserei, aber ihre Zweikämpfe hatten aufgehört. Ihr Ziel war die Stadt. Die mißgestalten Wesen schwangen primitive Waffen, sprangen hin und her und kamen unaufhaltsam näher. Die unartikulierten Laute, die sie von sich gaben, kamen wie ein einziger, mächtiger Trommelwirbel zu den wartenden, noch unschlüssigen Fremden. Unter den Füßen der vielen Tausende wirbelte Sand auf. Die nächste Welle der Impulse erreichte Aufmarschplatz und Stadt. Die Zukahartos griffen sich an die Köpfe, wimmerten auf und schrien unverständliche Worte. Dann warfen sie sich herum, und noch ehe Atlan einen Arm ausstrecken konnte, rannten sie auf die Treppe zu und verschwanden heulend im Innern des Turmes. Die Technos auf der Mauer gebärdeten sich wie rasend. »Tatsächlich!« stöhnte Asparg auf. Er war bis zum Rand des Treppenschachts gelaufen und hatte versucht, die Zukahartos zurückzuhalten. »Sie sterben im Gelächter. Sie werden …« »Sie werden zwischen Furcht, Gelächter und Raserei hin und her gerissen«, sagte Atlan laut. Die Geräusche verstärkten sich ebenso wie die Bewegungen. Die Technos verließen ihre Verteidigungsplätze und liefen in die Stadt zurück. Die ersten Tiermenschen erreichten die Mauer Torstadts und versuchten, sie zu überklettern. Aber ebenso wenig, wie ihnen dies im ersten Ansturm gelang, versuchten die Technos auch nur ein einziges Mal, eine Stelle zu verteidigen. Sie führten sich alle auf wie unheilbar Geisteskranke. Stophemuk, der bisher starr dagestanden hatte, zog das Tuch über sein Gesicht und murmelte: »Es ist Zeit, zu gehen.« Mit drei schnellen Schritten war er an der Kante des Turmes und ließ sich nach unten fallen. Starr vor Entsetzen sahen die Fremden seinen Körper verschwinden. Erschüttert meinte der junge Magier mit stockender Stimme:
»Die Zeichen des großen Sterbens mehren sich. Bald werden auch wir tot sein.« »Wir sind immun!« sagte Razamon, nicht weniger von Furcht besessen. »So wie ihr zwei auch.« Asparg deutete auf den Rest der Gruppe und entgegnete bitter: »Bisher meinten auch jene, immun zu sein oder sich beherrschen zu können …« Pantzerklag, der unruhig auf dem Zugorlandeplatz hin und her gegangen war, winkte hinunter zu seinen Artgenossen und rief ihnen etwas zu. Dann packte er die Hand des zweiten Turganers und lief hinter den Zugors ebenfalls auf die Treppe zu. Ein letztes Tappen von Füßen auf Stein, und die beiden Fremden waren mit dem Magierpärchen aus Shatna allein. »Das letzte, schlimmste Zeichen!« murmelte Asparg durch den stärker anschwellenden Lärm. Atlan schüttelte den Kopf. Unter dem schmutziggrauen Himmel spielten sich Szenen ab, die jedem von ihnen kalte Schauder über den Rücken trieben. Technos rannten ziellos hin und her und prallten bisweilen in vollem Lauf gegeneinander. Lachend standen sie auf und umarmten sich. Die Tiermenschen bildeten lebende Leitern und enterten an einigen Stellen die Stadtmauer. Zwei kleine Gruppen lösten sich rechts und links aus der heranströmenden Menge der Tiermenschen. Razamon sah sie zuerst und stieß hervor: »Sie rennen auf den Abgrund zu – auf den Rand!« »Sie sind blind vor Angst und Raserei«, antwortete Atlan. »Sie wissen nicht, daß sie in den sicheren Tod stolpern.« »Sie wissen gar nichts«, murmelte niedergeschlagen Fiothra. In den letzten Tagen und Stunden war eine derartig große Menge von Schrecken und Aufregung auf das Mädchen mit den großen Augen niedergeprasselt, daß sich Atlan selbst wunderte, wie sie dies ausgehalten hatte. Aus diesem Grund und deswegen, weil er den ersten Tiermenschen sah, der sich mit einem wilden Sprung über die
Kante des Dimensionsfahrstuhls schnellte und im Wölbmantel verschwand, sagte er: »Vielleicht können wir die Tiermenschen retten. Wenigstens teilweise!« Razamon griff seine Idee auf und fragte zurück: »Du meinst, mit diesen normalen Zugors hier? Wir versuchen, sie zurückzutreiben? Habe ich dich recht verstanden?« Eifrig meldete sich Asparg. »Ich kann einen Zugor fliegen. Meine Halbschwester auch!« »Genau das meinte ich«, bestätigte Atlan. »Meine Überlegungen sehen ungefähr folgendermaßen aus: diesen angeblich weltraumfesten Zugor wird uns hier oben, am höchsten Platz der Stadt, in den folgenden Wirren niemand mehr wegnehmen. Wir steigen in vier normale Zugors, oder noch besser in solche, die schwere Waffen tragen. Damit versuchen wir, die Tiermenschen von ihrem freiwilligen oder aus Angst erzwungenen Tod zu retten. Da! Schon wieder stürzen sich einige in den Wölbmantel.« Razamon hob die Schultern und sagte: »Falls wir versuchen sollten, die verrückten Technos auf diese Entwicklung aufmerksam zu machen, werden wir Schiffbruch erleiden. Keiner von ihnen ist ansprechbar.« Fiothra, Atlan, Razamon und Asparg spürten, daß die Impulse auch sie ergriffen hatten. Ständig schwankten ihr Verstand und das Gefühl zwischen Heiterkeit und Furcht, zwischen Sorglosigkeit und kalter Panik. Aber sie spürten ebenso, daß sie sich beherrschen konnten. Besonders dann, wenn sie versuchten, etwas Sinnvolles zu tun, irgendwie zu handeln … Atlans Vorschlag wurde angenommen und in großer Schnelligkeit ausgeführt. Vier verschiedene Zugors wurden bemannt. Jede der Flugscheiben war mit irgendwelchen Waffen ausgerüstet, die ausnahmslos lange Läufe hatten. Atlan rief vom Steuerstand seines Zugors:
»Fiothra! Wir beide nehmen diesen Abschnitt!« Sie winkte zurück. Nacheinander starteten die vier Zugors und schwebten über dem Chaos hinter und vor den Mauern nach rechts und links. In einem kühnen, schnellen Schwung rasten sie entlang des Wölbmantels auf die Spitzen der Tiermenschen‐Kolonnen zu, die entlang der Stadtmauern und der Felsen auf den Rand von Dorkh zurannten oder sich in grotesken Sprüngen ins Verderben fortbewegten. Razamon flog am schnellsten und befand sich zuerst an der Stelle, an der die meisten Fußspuren durch die wüstenartige, von gelbem Sand bedeckte Fläche zu sehen waren. Er näherte sich den verschwimmenden Konturen des Wölbmantels so weit wie möglich, ließ den Zugor in der Luft ruhig schweben und sah sich schweigend um. Der Zugor schwebte etwa dreißig Meter über dem Boden Dorkhs und wurde nicht abgetrieben. Mit zwei Schritten war der Berserker an der Waffe, drehte das lange Rohr hin und her und versuchte, den Mechanismus zu begreifen. Das Geschütz ließ sich in fast jede Richtung schwenken. Er richtete die Mündung fast senkrecht nach oben und bewegte einige Hebel. Dann drückte er auf einen breiten Schalter, der wie ein Abzugsknopf aussah. Sofort röhrte ein langer Feuerstrahl aus der Mündung und verlor sich in der Weite des dunstigen Himmels über dem staubigen Platz. »Ich verstehe«, knurrte Razamon im Selbstgespräch und senkte das Rohr, bis die Mündung auf den Boden der freien Sandfläche zeigte. Die Tiermenschen kamen. Ab und zu lösten sich einzelne Gestalten aus der Masse des Heeres, das da aufmarschiert war. Sie rannten direkt auf Razamons Zugor zu und verschwanden unter ihm, tauchten dahinter wieder auf und stolperten, schreiend und ihre einfachen Waffen schwingend, geradeaus weiter. Es schien, als würden sie gegen
einen Feind zu kämpfen versuchen, den nur sie in ihrem verwirrten Verstand sahen. Der erste warf sich, einen riesigen Speer schleudernd, hinter Razamon über die scharfe Kante Dorkhs. Er verschwand im Wölbmantel und wurde unsichtbar. Seine wütenden Schreie rissen mit brutaler Plötzlichkeit ab. Razamon fühlte ein Brennen in seiner Brust, von dem er nicht genau wußte, woher es kam. Es sah im Bruchteil einer Sekunde, wie von dem Rand des wüstenartigen Stückes des Dimensionsfahrstuhls einige Handvoll Sand nachrutschten und ebenfalls verschwanden. Razamon begann lautlos zu fluchen, zielte mit dem Geschütz und feuerte eine ununterbrochene Serie von Feuerstrahlen ab. Sie schlugen unter ihm in den Sandboden ein, schmolzen ihn zusammen, erzeugten einen langgezogenen Krater und eine breite, dichte Rauchwolke. Die Waffe gab donnernde, dröhnende Geräusche von sich und zuckte und zitterte in seinen Händen. Eine Gruppe von Tiermenschen, die auf den Rand zulief, warf sich instinktiv zur Seite und durchbrach die Rauchwolken. Mit einem Sprung schwangen sich die verwirrten Wesen über den Graben, der glühte und rauchte. Sie waren mit einigen Sätzen am Rand und stürzten sich in den Wölbmantel. Sie wären nur aufgehalten worden, wenn sie Razamon mit dieser Waffe getötet hätte. »Verdammt!« schrie Razamon und blickte hinüber zu Asparg. Der junge Magier versuchte genau dasselbe wie Razamon. Auch er bediente das Geschütz und feuerte vor den heranstürmenden Tiermenschen in den Sand. Kochende und rauchende Explosionen erschienen in der Fläche, aber ihre Glut und der schwarze Rauch, der in dicken Säulen hochkroch, vermochten die Tiermenschen nicht aufzuhalten. Als hätten sie, diese Sperren betreffend, plötzliche Intelligenz
entwickelt, umgingen sie sie und rannten dann geradeaus weiter. Allein hinter Razamon hatten sich kaum weniger als hundert der Unglücklichen in ihren Tod gestürzt. Tiefe Depression ergriff den Berserker. Sein schmales Gesicht verzog sich zu einer Maske der Wut und des hilflosen Hasses. Er haßte denjenigen oder dasjenige, von dem versucht wurde, unschuldigen Wesen das Leben zu nehmen. Irgendeine Macht hatte sich des Dimensionsfahrstuhls bemächtigt und verübte Unheil. Das Schicksal der einzelnen Wesen war dabei völlig unwichtig. Razamon sog die nach Rauch stinkende Luft in seine Lungen, wandte den Kopf und brüllte hinüber zu Asparg: »Nicht ablenken lassen! Wir machen weiter!« Der junge Magier winkte zurück zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Das Geschütz seines Zugors dröhnte wieder auf, und neue Flammen erhoben sich aus dem Sand dicht vor der Kante des Weltenfragments. Aber noch mehr kleine Gruppen von drei oder vier Tiermenschen lösten sich aus der Spitze dieses seltsamen Belagerungsrings, rannten auf den Zugor zu, rechts und links an ihm vorbei und verschwanden auf gespenstische Weise jenseits der Kante. »Und auch unsere Begleiter sind wahnsinnig geworden«, sagte sich Razamon und dachte an Grizzard, den Gassuaren YhmʹDheer, Stophemuk und den Techno, der sich noch vor seinem Ende zu einer solchen schauspielerischen Glanzleistung aufgeschwungen hatte. »Wieder einmal sind wir allein.« Der Lauf des Geschützes in seinen Händen schwang hin und her und hämmerte Feuer, Flammen und Explosionen in den geschwärzten, durchfurchten Sand des Feldes. Die Gesichter der Tiermenschen, die sich immer wieder durch die Sperre schoben, tauchten vor Razamon auf; unauslöschliche Eindrücke von blitzartiger Schnelligkeit, die immer erschienen, wenn der Rauchvorhang kurz aufriß, um eine Gestalt freizugeben. Verzerrte Gesichtszüge, tiefliegende Augen, massige Kiefer und
alle Arten von Entstellungen kennzeichneten diese Mienen des Schreckens. Jeden einzelnen Blick, den einer der Tiermenschen unwillkürlich zu der fluchenden und verzweifelten Gestalt im Zugor hinaufwarf, traf den Berserker wie ein Stich. In seinem langen Leben hatte er viele Menschen und ebenso viele Wesen sterben sehen, die nichts Menschliches an sich hatten. Er haßte nicht das Sterben an sich. Tod war das natürliche Ende des Lebens. Auch er würde sterben müssen – und er hoffte, einen schnellen und leichten Tod zu haben. Aber sein Haß galt demjenigen, der für dieses gräßliche Massaker an Kreaturen verantwortlich war, die absolut nichts begriffen. Er begann zu husten und sprang zurück zur Steuerung des Zugors. Die Flugscheibe stand still in der Luft mitten in einem Gebrodel aus Rauchsäulen und vergastem Sand. Razamon konnte nicht mehr sehen, wohin er schießen mußte. Er zog den summenden Zugor dreißig Meter höher und weiter vom Rand weg; auch er fürchtete die Schrecknisse des Wölbmantels. Als er die größere Höhe erreicht hatte, blickte er wieder weitestgehend ungehindert auf die Sandebene. Die Verhältnisse waren noch dramatischer geworden. Von den Technos und ihrer Verteidigungslinie war nichts mehr zu sehen. Vermutlich tanzten sie hinter der Mauer und verfielen mehr und tiefer in jenen rauschhaften Zustand, der charakteristisch war für eine der beiden Impuls‐Komponenten. Die Bewohner des jetzt entvölkerten Hordenpferchs berannten die Stadt. Ihr Angriff war gleichermaßen wütend und todesverachtend wie rührend und hilflos. Sie kletterten übereinander und verwendeten ebenso ihre Körper wie auch die Schäfte ihrer simplen Waffen als Leitern und Steighilfen. Ab und zu brach eine solche Pyramide aus Körpern, Lanzen und Knüppeln zusammen. Die Verletzten blieben
liegen, diejenigen, die den Fall heil überstanden hatten, kletterten schreiend weiter. Niemand war da, der sich ihnen entgegenstellte. Nur weggeworfene Waffen bedeckten die Terrassen, die Treppen und Rampen Torstadts. Die Tiermenschen hatten eines ihrer Ziele erreicht und blieben, als sie die Stadt erreicht und die Mauer überwunden hatten, unschlüssig stehen. Sie schrien und fuchtelten mit ihren Waffen. Dann rannten sie die Treppen hinunter und drangen in die Stadt ein. Aber in jeder ihrer Bewegungen drückte sich Ratlosigkeit und Desorientiertheit aus. Sie hatten ein Teilziel erreicht, aber nun wußten sie nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Razamon rang sich zu einem Entschluß durch. Dieser Entschluß war das Ergebnis aller seiner Beobachtungen und Erfahrungen der letzten Stunde. Die Summe seiner Gedanken und Überlegungen hieß: Sinnlos. Was immer sie versuchten, es würde nicht funktionieren. Ob sie nun handelten oder es sein ließen, das Ergebnis war identisch. Er ließ die Griffe des heißgeschossenen Geschützes los, sprang zurück zur Steuerung und brachte den Zugor in unmittelbare Nähe der Flugscheibe, in der sich Asparg befand. Razamon schrie hinüber: »Unsere Versuche waren vergeblich. Wir fliegen zurück zum Turm. Hast du verstanden?« Asparg drehte sein verschwitztes, rußbedecktes Gesicht in Razamons Richtung und gab zurück: »Verstanden. Sie rennen durch die Flammen und springen durch den Rauch. Es ist aussichtslos.« »Genau deswegen kehren wir zurück!« sagte Razamon und sah zu, wie der andere Zugor seine Position veränderte und mit ihm zusammen in einer riesigen Schleife auf die Oberfläche des Turmes zurückkehrte.
Ihr sinnloser Rettungsversuch war beendet. Hinter ihnen ging das Rennen, Hasten und Stolpern einzelner Tiermenschen weiter. Sie schienen vom Rauch und den Flammen mit magischer Gewalt angezogen zu werden, stürzten sich in diese Barriere und starben irgendwelche fünfzig Schritte später im Wölbmantel jenseits der Kante. Als die zwei Zugors sich etwa in der Höhe der Stadtmauer befanden, schwirrten die beiden anderen Maschinen auf sie zu. Also hatten auch Atlan und Fiothra aufgegeben. 3. Die Landung der vier Zugors auf dem Turm war nicht sonderlich elegant. Mit Krachen und Poltern setzten die vier Maschinen auf, und die Insassen sprangen heraus und vereinigten sich instinktiv zu einer Gruppe. Atlan warf nur einen Blick in das Gesicht Fiothras und wußte, daß auch diese Erlebnisse bei ihr die Wunden eines Schocks hinterlassen hatten. Sein Extrasinn flüsterte eindringlich: Es wird für euch noch schwerer und schlimmer werden. Die Ereignisse neigen dazu, sich zu überschlagen. Du brauchst nicht mehr lange darauf zu warten, Arkonide. Die Fremden lehnten sich gegen die Wölbung des angeblich raumfesten Zugors und versuchten, die vielen Bilder richtig zu deuten, die sich ihnen boten. Ganz zweifellos waren dies Szenen des Untergangs. Warum nur? Wer war verantwortlich für diese Orgie der Vernichtung? Nicht einmal der Logiksektor wußte eine Antwort auf Atlans sich überschlagende Gedanken. »Nein. Nicht auch noch das!« sagte plötzlich der junge Magier. Zuerst blickten sie ihn an. Dann sahen sie seine vor Schreck aufgerissenen Augen und
folgten mit ihren Blicken seiner ausgestreckten Hand. Er zeigte zitternd auf einen breiten Streifen tiefdunkler, lichtaufsaugender Schwärze, die am Horizont stand wie ein Band, das sich quer über ganz Dorkh erstreckte. »Der Schrecken, von dem YhmʹDheer sprach!« murmelte Atlan. Der Schrecken kam näher. Das Band näherte sich dem südlichen Ende des Dimensionsfahrstuhls mit rasender Schnelligkeit. Gleichzeitig wuchs der obere Rand des Bandes höher und höher hinauf, bis er mit dem schweren, graunebligen Himmel verschmolz. Der Eindruck der Gefahr und der Vernichtung, der diesem Schauspiel innewohnte, war nur für die vier Fremden deutlich. Sie waren und blieben offensichtlich immun. »Das ist der Schwarze Tod!« flüsterte der Berserker. An den Seiten und über der schwarzen Wand behielt der Himmel seine unsaubere Farbe. Wie ein riesiger Schild schob sich die Wand näher und näher an Torstadt heran. Sie kam über die Kanäle, Hügel und Wälder des Hordenpferchs, und ihre untere Kante glich sich, als sei sie geschmeidig, den Unebenheiten des Geländes an. Aus der Stadt kam schlagartig ein einziger, gewaltiger Aufschrei. Die unübersehbar große Menge Technos, die sich eben noch mit allen Anzeichen der Heiterkeit durch die Gassen nahe der Mauer gewälzt hatte, änderte schlagartig ihr Verhalten. Die Technos fielen übereinander her. Sie kämpften, fast ohne jede Bewaffnung, wie die Rasenden gegeneinander. Zahllose Gruppen bildeten sich, deren Mitglieder kreischend und brüllend aufeinander einschlugen. Auch die Tiermenschen erfaßte im selben Augenblick ein neuer Aufschwung der Wut und der Raserei. Die schwarze Wand kam völlig lautlos näher. Einige Minuten lang, während die Unterkante der Wand über die Ebene glitt und die winzigen Gestalten förmlich zu Boden warf und niederdrückte, waren beide Gruppen in einem Kampf von irrwitziger Intensität
verwickelt. Die Wand berührte die Mauer, verhielt einen Sekundenbruchteil lang und überwand dieses geringe Hindernis. Hinter ihr verschwanden die Konturen des Geländes, die Felsen, der Sand … alles. Pechschwarz und lautlos ragte diese Wand vor Atlan und seinen Freunden auf und erstreckte sich bis an die Grenzen, die für Dorkh oder Pthor charakteristisch waren. Ein harter Schauer von Impulsen schlug in den Verstand der vier Wesen ein. Sie krümmten sich unter dieser Flut, aber sie wurden nicht gezwungen, sich so zu verhalten wie die rasenden Tiermenschen und die nicht weniger rasenden Technos. Noch konnten sie klar denken und beobachten. Und noch immer sahen sie, was vor ihnen und unter ihnen geschah. Die schwarze Wand kam näher und verhielt, als sie etwa die Hälfte der Stadt erreicht hatte. Bewegungslos standen Atlan, Razamon, Fiothra und Asparg da und ahnten nicht einmal, was jetzt folgen würde. Der Anblick war so schauerlich und überwältigend, daß sich alle ihre Gedanken und Empfindungen in wirren Wirbeln überschlugen. »Ich halte es nicht mehr aus!« stöhnte Atlan. Starr und unbeweglich, auf alles gefaßt, stand er da und hielt sich hinter seinem Rücken an der Wölbung des Zugors fest. »Mir geht es nicht anders!« flüsterte Razamon. Die schwarze Wand, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit identisch war mit der Schwärze, von der die Lichtkuppel überzogen worden war, glitt nun nicht mehr weiter. Sie stand starr da und teilte die Stadt in einen sichtbaren und einen kleineren, unsichtbaren Bezirk. Die Technos schrien abermals laut auf und fielen, falls eine Steigerung ihrer Raserei noch möglich war, in verstärktem Maß übereinander her. Exakt dasselbe geschah mit den Tiermenschen. Sie kämpften
gegeneinander, fielen über die Treppen der Stadt, schlugen rechts und links der Mauern, wohin die schwarze Wand nicht reichte, aufeinander ein und erlebten einen letzten, erschöpfenden Anfall von wilder Raserei. Und dann … Alle Wesen, Technos wie Tiermenschen, standen einen Sekundenbruchteil starr da und sanken dann zu Boden. Die Ausnahmen waren jene vier Fremden auf der Spitze des Turmes und alle Tiere in Torstadt. Dieses Zu‐Boden‐Sinken war nicht zu vergleichen mit einem Schock, der die Wesen tötete. Es sah aus, als wären sie unendlich müde geworden und sänken in Schlaf. Ihre Körper verdrehten sich auf seltsame Weise, und sie versuchten, sich am Nachbarn oder zufälligen Gegner festzuhalten. Aber allen war gemeinsam, daß sie lautlos zu Boden sanken und dort liegenblieben. Eine ungeheure Stille senkte sich über die Stadt und über den Aufmarschplatz, der jetzt unsichtbar hinter oder in der Schwärze verborgen war. Tausende oder Zehntausende von Körpern lagen in jeder nur denkbaren Stellung im Sand oder auf den Platten der verschiedenen Rampen und Treppen. Die schwarze Wand stand unverändert da. Einige Sekunden vergingen in absoluter Lautlosigkeit und Ereignislosigkeit. Die vier Personen standen da und warteten. Keiner von ihnen wußte, ob sie nicht im nächsten Augenblick tot umfielen wie die Tiermenschen und die Technos. Dann veränderte sich der Schwarze Schrecken. Er zog sich von beiden Seiten und von oben zusammen. Er schrumpfte. Die Farbe veränderte sich dabei nicht. Die Wand wurde kleiner und kleiner und bildete eine Art liegendes Oval, das sich irgendwie konzentrierte und verdichtete, ohne daß man in der Struktur einen Unterschied sah. Die Stille über der Stadt trug dazu bei, den Vorgang noch
gespenstischer und drohender zu machen, als er ohnehin schon war. Dann, als das Oval eine bestimmte Konzentration erreicht hatte, zog sich die Schwärze auf dem selben Weg, auf dem sie gekommen war, mit derselben Geschwindigkeit zurück. Die Fremden, die wie versteinert diesen Vorgang sahen und miterlebten, hatten alle die gleichen Empfindungen. Sie meinten, daß dieses Gebilde sich auf eine Weise zurückzog, als sei es zufrieden damit, was es durch sein Erscheinen ausgelöst hatte. Zweifellos waren dies höchst fragwürdige Empfindungen, aber sie drängten sich Atlan und seinen letzten Freunden auf Dorkh förmlich auf. So schien es – so war es. Lautlos und schnell verschwand die schwarze Wand, erheblich verkleinert, in der Ferne. Jeder von den vier Fremden war überzeugt, daß sie sich in die Richtung des SCHLOSSES bewegte und dort auch bleiben würde. Deine Überlegungen scheinen richtig zu sein, pflichtete der Extrasinn bei. Atlan schüttelte sich, um die Beklemmung loszuwerden. Die schwarze Wolke driftete in rasender Schnelligkeit zurück, wurde kleiner und kleiner und schließlich unsichtbar, weil sie jenseits der Hügel und der Wälder des Hordenpferchs verschwand. Razamon sagte kurz: »Ich bin ratlos. Sind sie tot? Oder schlafen sie nur?« Atlan hob die Schultern und murmelte: »Wir müssen nachsehen. Ich glaube, die meisten von ihnen schlafen. Oder sind bewußtlos. Ich weiß es nicht – keine Ahnung.« Asparg deutete auf einen Zugor und schlug vor: »Fliegen wir auf jenen Platz dort unten und sehen wir nach. Ich glaube auch, daß zumindest die Technos in einen tiefen Schlaf gesunken sind. Immerhin … wir haben überlebt. Ich kann es noch nicht fassen.« Fiothra, fast jenseits des Schreckens, flüsterte fast unhörbar: »Tatsächlich. Es ist ein Wunder. Ich glaube auch … sie alle schlafen. Gehen wir hinunter, und sehen wir nach. Und dann, Atlan,
mein großer Freund?« »Und dann«, entgegnete der Arkonide in steigender Verzweiflung, »weiß ich auch nicht, was wir noch tun können.« »Kurzum«, stellte Razamon fest, »es herrscht vollkommene Ratlosigkeit.« »So ist es«, entgegnete der Arkonide. Sie warfen einen langen Blick auf die Umgebung. Nichts hatte sich geändert. Jedes Wesen, ausgenommen die Tiere der Stadt, lag da und schlief oder war tot. Die Stille lag wie eine Lähmung über allem. »Sehen wir nach!« entschied Atlan. Sie gingen schweigend auf einen Zugor zu, kletterten über den Rand der hochgewölbten Scheibe und hielten sich an den Griffen fest, während Atlan die Steuerung übernahm und die Flugscheibe auf einen Platz hinuntersteuerte, auf dem Hunderte Technos lagen. Der Zugor landete sanft und fast lautlos zwischen den regungslosen Körpern und war binnen weniger Sekunden von den hundeähnlichen Tieren umschwärmt. Sie standen da, ihre Ohren zuckten, und sie wedelten mit ihren langen Greifschwänzen, und ihre großen Augen starrten die einzigen Wesen an, die sich innerhalb von Torstadt noch bewegten. Razamon verscheuchte sie mit zischenden Lauten und einigen Tritten. Dann liefen sie auf eine Gruppe von fünf Technos zu, die in verkrümmter Haltung auf den harten Platten lagen. »Schlafen sie?« murmelte Asparg und schüttelte einen von ihnen hart an der Schulter. Der Tote oder der Schläfer gab keinerlei Zeichen von sich. Der Körper des Technos war schwer zu bewegen. Razamon spannte seine Muskeln, packte denselben Mann an den Schultern und rüttelte ihn, daß sein Kopf hin und her flog. Dann ließ er ihn wieder zu Boden gleiten, faßte nach dem Puls und berührte mit den Fingerspitzen die Halsschlagader. Nach einigen Sekunden richtete sich der Berserker auf und sagte
überzeugt: »Sie sind nicht tot. Sie schlafen. Tief und kaum aufzuwecken.« »Bist du sicher?« fragte Atlan. »Hundertprozentig!« erwiderte Razamon. »Ich habe in dieser Hinsicht nicht wenige Erfahrungen.« Sie gingen langsam von einem Techno zum anderen. Sie rüttelten die Schläfer, hielten ihnen die Nasen zu und schüttelten sie abermals. Jeder Schläfer wäre unter dieser rauhen Behandlung aufgewacht. Aber nicht diese Technos. Ihr Schlaf war abgrundtief. Der Logiksektor meldete sich und wisperte: Denke an den Stern der Läuterung, Atlan! Der Arkonide richtete sich ein wenig später auf und sah eine Weile den nutzlosen Versuchen seiner Freunde zu. Dann sagte er im Versuch einer Erklärung: »Hört auf. Es ist sinnlos. Ich erinnere mich, und zwar in diesem speziellen Fall an den ›Stern der Läuterung‹. Zwar erlebte ich dort zuerst den Schlaf, der wie ein Koma war, und anschließend die totale Raserei, aber hier ist es wohl genau umgekehrt, und, verblüffenderweise – das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe.« »Sicher magst du recht haben«, erklärte Razamon und ließ einen schlaffen, schweren Körper zurücksinken. »Alle schlafen. Wenn sie schlafen, träumen sie vermutlich. Es wäre interessant zu erfahren, was sie träumen.« Der junge Magier sagte: »Im Zweifelsfall träumen sie von dieser schwarzen, gräßlichen Erscheinung.« »Das können wir nicht feststellen. Aber nichts geschieht ohne Grund. Warum versetzt die schwarze Wolke Tausende von Leuten in Schlaf? Es muß irgendwie einen Grund haben. Ich habe keine Idee, aber so oder ähnlich ist es«, sagte Asparg finster. Wieder blickten sich Atlan und Razamon in die Augen. Sie waren die erfahrensten Kämpfer. Die zwei jungen Magier mochten ihre besonderen Fähigkeiten haben; in vielen oder den meisten Dingen,
die aus der Erfahrung kamen, waren und blieben Razamon und Atlan die besseren Männer. Atlan deutete auf Fiothra. »Du bist Magierin. Jetzt kannst du zeigen, was in dir steckt. Du bist in der Lage, jemanden in Trance zu versetzen? Keine Ausflüchte jetzt, denn du hast es mir erzählt.« Fiothra schüttelte ihren schmalen Kopf, und ihr schulterlanges Haar flog hin und her. »In Trance? Du meinst …« Atlan erwiderte in tiefem Ernst: »Ich meine, daß du deine Fähigkeiten entwickeln und anwenden sollst. Bringe mich dazu, daß ich mit diesen Schläfern Verbindung aufnehmen kann. Wir müssen erfahren, was die Technos träumen. Wie Razamon ganz richtig gesagt hat, träumt jeder, der schläft. Und daß die Technos schlafen, daran besteht wohl kein Zweifel.« »Ein Experiment …«, murmelte Asparg. »Es kann verdammt gefährlich werden. Für dich, Atlan, nicht für die Schläfer.« »Dieses Risiko gehe ich ein«, brummte der Arkonide. »Oder – was denkst du, Razamon? Die Wolke oder die Wand. Die Schläfer … die Träume bringen sicherlich eine gewisse Aufklärung. Für den Moment scheinen die unmittelbaren Gefahren vorbei zu sein.« Razamon schüttelte bedächtig den Kopf und erwiderte schließlich: »Du riskierst deinen Verstand, Atlan. Vielleicht kann ich eingreifen, wenn es zu gefährlich wird. Aber meine Fähigkeiten in dieser Hinsicht sind ziemlich beschränkt. Lasse dich warnen.« »Danke für den Rat, Razamon«, sagte Atlan. »Kennst du eine bessere Alternative?« »Nein. Nicht im Augenblick!« war die deutliche Antwort. Atlan nahm die Hand des Mädchens und sagte: »An die Arbeit, Fiothra. Es genügt nicht, daß ich schlafe. Du mußt es schaffen, zwischen mir und den Schläfern oder zumindest einem der schlafenden Technos eine starke Verbindung herzustellen. Wenn ich wieder aufwache, sollten wir über die Wirkung der
schwarzen Wand einigermaßen Bescheid wissen. Es geht schließlich um unser Leben. Und um unsere geistige Gesundheit. Muß ich mich hinlegen, um in den Genuß der Segnungen deines Talents zu kommen?« Fiothra zögerte noch immer. Dieses Zögern zeichnete sich deutlich in ihrem Gesicht ab. Schließlich, als ihr der Arkonide ein aufmunterndes Lächeln schenkte, sah sie in seine Augen, senkte den Kopf, und als sie ihn wieder hob, lächelte auch sie. Es war allerdings ein höchst unsicheres Lächeln. Sie sagte langsam und wohlüberlegt: »Lege dich hin. Entspanne dich.« Atlan setzte sich auf den Boden, streckte seine Beine aus und ließ sich langsam nach hinten fallen. »Und jetzt?« fragte er. Dränge sie nicht. Sie wird ihre Sache schon richtig machen. Vertraue ihr! sagte der Logiksektor beschwichtigend. »Schließe die Augen.« Atlan schloß die Augen und entspannte sich, zumindest versuchte er, sich zu entspannen, was eine keineswegs geringe Anstrengung bedeutete. Seine Gedanken waren voll von dem Geschehen der letzten Stunde und versetzten ihn in eine Art von Unruhe und Nervosität, die es fast unmöglich machte, sich tatsächlich zu entkrampfen. Er fühlte, wie Fiothras Finger seinen Hals berührten, seine Schläfen streichelten und über sein Gesicht glitten. »Das tut gut«, murmelte er, noch immer mit geschlossenen Augen. »Entspanne dich. Warte auf das, was ich tue. Glaube mir. Du wirst müder und müder, und alle Anspannung gleitet von dir ab. Versuche, dich an Dinge zu erinnern, von denen du weißt, daß sie dich beruhigen, Atlan. Denke an deine Kindheit. Denke an die Momente des Glücks und der Zufriedenheit. Und warte, was meine Finger mit dir tun …«, kam das einschläfernde Murmeln der jungen Magierin an seine Ohren. Er versuchte, genau das zu tun.
Seine Gedanken und Empfindungen verloren sich in den Erinnerungen. Er spürte hier einen Druck, dort ein Streicheln, an anderer Stelle eine sanfte, entspannende Berührung. Müdigkeit überfiel ihn augenblicklich. Seine Glieder wurden schwer wie Blei. Seine Gedanken versammelten sich wie durch den Brennpunkt einer Linse gebündelt, an Plätzen der Erinnerung, die für ihn angenehm waren. Tatsächlich schlief er ein. Er wußte nicht, wieviel Zeit zwischen dem Augenblick des Einschlafens und dem anderen Augenblick vergangen war, an dem er die Träume der anderen empfing. Es konnten Sekunden, aber es konnten auch Tage dazwischenliegen. Atlan träumte: Eine Verbindung spannte sich zwischen unbekannten Regionen seines Verstandes und den schlafenden Technos um ihn herum. Vielleicht wußte nicht einmal die Magierin, welche geheimnisvollen Strömungen hier und jetzt funktionierten, aber Atlans Geist tauchte in fremde Träume ein. Es war eine düstere Welt, erfüllt von Schrecken und Finsternis. Zuerst befand sich Atlan mitten in einem wilden Reigen schwirrender Gedankenfetzen und Teilen von Vorstellungen, aber je mehr Zeit verging, desto besser konnte sich sein tastender Verstand an einzelnen Wesen oder deren Träumen festsaugen. Es gab in diesem Chaos keinen einzigen erfreulichen Aspekt. Keinen hellen Funken, kein Lachen, keine fröhliche Erinnerung. Nicht eine Spur von Heiterkeit oder Gelassenheit. Trostlosigkeit regierte die Träume. Sie stellten sich Atlans losgelösten Verstand dar als riesige Hohlkugel, in der dunkle Schleier sich langsam bewegten. Sie wanden und drehten sich umeinander, und schließlich gelang es Atlan unbewußt, in einen solchen Schleier der lichtlosen Welt einzudringen. Ein kurzer Ausschnitt eines Traumes lief ab. Er spielte auf einem dunklen Planeten. Der Boden war ebenso
grau und finster wie der Himmel mit einer purpurnen Sonne, die sich durch jagende schwarze Wolken kämpfte. Riesige Gestalten mit knochigen Armen und fahl schimmernden Waffen kämpften auf brutale Weise gegeneinander. Blut und Körperflüssigkeit sickerten in breiten Strömen. Schreckliche Greueltaten verübten die Kämpfenden aneinander. Eine riesige Ebene im Purpurlicht war voll kämpfender Gruppen, und zwischen denen, die noch aufrecht standen, lagen unabsehbare Mengen toter und sterbender Gestalten. Nicht die Kämpfer und ihre Waffen waren deutlich zu sehen in diesem Traum, sondern die Wunden und die grausame Art ihres Kampfes. Maschinen erschienen zwischen der dunklen Sonne und den dampfenden Wolken der Ebene. Scharfgebündelte Scheinwerfer blendeten auf. Aus undeutlichen, unförmigen Kanzeln zuckten Blitze abwärts und schlugen wahllos in die riesigen Körper der Streiter. Abermals begann ein Gemetzel, das durch die Laute noch furchtbarer wurde. Diese Laute … sie waren ebenfalls Bestandteil des Traumes, vermutlich des Traumes eines Technos, der neben Atlan lag und schlief. Aus allen Richtungen ertönte ein vielstimmiges, langgezogenes Ächzen und Stöhnen, ein Winseln und Wimmern aus Tausenden gigantischer Kehlen. Oder war es der Wind, der über die Kampfstätte fuhr und sich an den Gestalten brach? Atlans Verstand und seine Phantasie krümmten sich förmlich zusammen, zogen sich aus diesem gräßlichen Traum zurück – und hafteten an einem anderen. Die Bilder klärten sich langsam. Und sie enthüllten eine andere Szene, angefüllt mit der gleichen Brutalität wie der vorangehende Traum. Endlose Gemäuer aus schwarzen, bemoosten Quadern erstreckten sich hier. Trübe erhellten Gluthaufen und winzige Funzeln die Gewölbe. An bizarren Maschinen und Geräten, an Leitern, Rädern, glühenden Kugeln aus Gittergeflecht und kantigen Formen hingen
und krümmten sich kleine, dürre, knochige Wesen, deren Gesichter von unvorstellbaren Qualen verzerrt waren. Schreie gellten durch die Gewölbe und brachen sich als schauerliche Echos an den Mauerquadern. Wieder enthüllte sich eine Szene, in der eine Gruppe unbekannter Wesen eine andere Gruppe quälte. Die eine Gruppe verübte an den Angehörigen der anderen Gruppe unerhörte und schaurige Grausamkeiten. Weißglühende Eisen, pfeifende Peitschen und blitzende Messer waren die Instrumente der Tyrannei. Auch in diesem Traum herrschten Dunkelheit und bösartiges Chaos. Hier regierte die nackte Gewalt. Durch den Verstand des Arkoniden blitzte ein einsamer Gedanke von überraschender Klarheit. Diese Träume hatten etwas zu bedeuten. In diesen Träumen fehlten die wesentlichen Bestandteile, die Träume abwechslungsreich und erholsam machten. Es waren weniger Träume als Visionen unerhörter Schrecklichkeiten. Es war, flüsterte eine innere Stimme, als ob jemand aus den Träumen auch den geringsten Schimmer eines erfreulichen oder zumindest normalen Aspekts herausgesogen hatte. Die schwarze Wand? Eine neue Szene, ein anderer Traum, eine abermals gesteigerte Szenerie des Schreckens. Eine Wasserfläche dehnte sich aus. Über dem schäumenden Wasser, das von wütenden Wellen und einem heulenden Sturm gepeitscht wurde, standen drei winzige, bösartig rot brennende Sonnen. Aus dem Wasser und dem Schaum, der aus den Wellenkämmen wuchs, sprangen fischähnliche und krakenartige Wesen. In ihren Klauen und Fangarmen hielten sie lange, gezackte Splitter eines seltsam funkelnden Gesteins. Mit diesen Waffen stachen und schlugen sie aufeinander ein. Aus dem Wasser quollen lange Ketten von Blasen, vermischt mit sirrenden, fauchenden und zischenden Lauten. Das trübe Rot der
Sonnen ließ im Wasser lange Schlieren von tiefroter Farbe und schwarzer Tinte erkennen. Immer wieder funkelten und blitzten die steinernen Waffen auf. Abgetrennte Fangarme trieben in einem dunkelgrünen Schleim, und die zuckenden Körper der verwundeten und sterbenden Wassertiere – oder waren es Intelligenzwesen? – wurden von den Wellen hin und her geschaukelt. Das Entsetzen packte aufs neue den Arkoniden, und in seiner Trance schüttelte er sich und gab unverständliche Wörter und Laute von sich. Technos, Tiermenschen, Turganer und Zukahartos träumten. Ihre Träume vereinigten sich in einem übergeordneten, nicht bestimmbaren Raum, abseits des Dimensionskorridors und weit entfernt von der Realität Dorkhs zu einem einzigen Mischmasch von Greueln, Schrecken und Entsetzen. Hinter all diesen Träumen war für den Verstand des Arkoniden ein bestimmtes System erkennbar. Nein, verbesserte sich sein Verstand gleichzeitig. Erkennbar, klar zu definieren, war die Systematik nicht. Noch nicht. Noch mußten andere Erfahrungen gesammelt und Bestätigungen eingeholt werden. Die Theorie mußte bewiesen und untermauert werden. Undeutlich zeichnete sich für den Arkoniden eine ungeheuerliche Entwicklung ab, oder vielmehr eine Entwicklung von ungeheuerlicher Tragweite. Er versuchte, nachdem er drei oder mehr Kostproben der Träume genossen hatte und fast am Rand seines geistigen Fassungsvermögens war, sich aus dem Traum zu lösen. Mit einem Akt ungeheurer Anstrengung zog er sich aus den treibenden Traumschleiern zurück. Er schaffte es im ersten Anlauf nicht. Sein Körper reagierte anders als sein Verstand. Atlan schlug, ohne es bewußt zu merken, wild um sich und stöhnte wie ein verwundetes Tier. Fiothra warf sich förmlich über seinen Körper. Sie hielt seine Handgelenke fest, redete völlig unverständlich, aber beruhigend auf ihn ein und schaffte es zum Erstaunen Razamons
und auch wohl ihres Halbbruders, Atlan zu besänftigen. Sein Gesicht, bleich und schweißüberströmt, sah wie eine Maske aus poliertem Stein aus. Es schien für den Arkoniden fast unmöglich zu sein, sich aus der verhängnisvollen Welt seiner übertragenen Träume loszureißen. Razamon, Fiothra und Asparg sahen deutlich, wie er kämpfte und rang. Sein Körper war verkrampft, seine Muskeln waren hart wie eiserne Stränge. Fiothra berührte bestimmte Punkte seines Kopfes, seines Halses und des Brustkorbs. Atlan schrie kreischend auf und riß den Oberkörper in die Höhe. Dann öffneten sich seine Augen. Er starrte direkt in das Gesicht der jungen Magierin. Er erkannte sie erst nach einer Handvoll von Sekunden. Er stöhnte auf und flüsterte: »Wer bist du? Eine Gestalt aus diesen … gräßlichen Träumen?« »Nein«, sagte Fiothra langsam und genau betonend. »Ich bin wirklich. Du bist aus der Tiefe der Träume aufgetaucht. Alles ist vorbei. Aber du mußt sofort erzählen, was du in den Träumen gesehen und erlebt hast. Sofort! Augenblicklich! Sonst nimmst du einen Schaden, der nicht wieder gutzumachen ist.« Atlan fühlte hinter sich harte Hände, die ihn stützten, hielten. Er starrte begriffsstutzig in ein schmales Gesicht mit dunklen, unsteten Augen und einer scharfrückigen Nase, umgeben von fast schwarzem Haar. Er kannte diesen Mann erst, als Razamon in sein Ohr murmelte: »Ich bin es. Razamon. Keine Sorge. Wir schaffen es schon, dich dieser schlimmen Welt wiederzugeben.« »Du bist Razamon!« stellte Atlan fest. »Ich habe geträumt … gesehen … miterlebt … ich muß es euch berichten. Gräßlich. Grausame Vorgänge lösten einander ununterbrochen ab. Ich habe gesehen, wie …« Er holte tief Luft und versuchte, seine Träume zu schildern.
Während er redete und hastig wiedergab, was sich in seiner perfekten Erinnerung eingegraben hatte, entdeckte er mit den Augen immer neue Einzelheiten seiner Umwelt und kam in einer Reihe kleiner, tastender Schritte in die Wirklichkeit der toten, schlafenden Stadt zurück. Schließlich stand er auf und atmete mehrmals tief durch. Sein Gesicht nahm wieder normale Farbe an, seine Finger und Knie hörten auf zu zittern. Der nächste Blick zeigte ihm wieder den trostlosen Himmel und die ausgestorbene Umgebung. Die wenigen Geräusche, die von den Tieren verursacht wurden, klangen unnatürlich laut und hallten in der leeren Stadt wider. »Ich habe einige interessante Eindrücke gewonnen. Oder vielmehr war ich ihnen ausgeliefert«, sagte er schließlich, wieder Herr seines Verstandes und seines Körpers. Sie starrten ihn fragend an. »Hinter den schauerlichen Träumen und Visionen steht ein System. Jemand manipuliert die Schläfer. Oder hat sie jedenfalls manipuliert«, sagte er dann zögernd. »Die schwarze Wand etwa?« fragte Razamon. »Mit einiger Wahrscheinlichkeit. Es ist, als habe die Wand auf die Verstandeseinheiten der Schläfer einen besonderen Einfluß.« »Sie saugt Empfindungen auf, so, wie sie das Licht aufgesaugt hat!« flüsterte die Magierin. »Das war auch mein Eindruck«, stimmte der Arkonide zu. »Wir sollten an anderen Stellen nachforschen, ob es ebenso ist.« Asparg deutete vage in die Richtung auf die Straße der Händler und fragte: »In Turgan beispielsweise?« Sie erkannten, daß sie nicht gefährdet worden waren. Alle Wesen lagen da und schliefen, nur die vier Fremden nicht. Sie schienen frei zu sein und waren tatsächlich handlungsfähig geblieben. Sekunden später murmelte Razamon: »Und jetzt schlafen sogar die Tiere ein!« Wieder blickten sie sich um. Die Vögel hörten auf, in Schwärmen
zu flattern und ließen sich schwer auf Simse und Terrassen fallen. Die katzenartigen Kletterer schlugen ihre Krallen in Mauerfugen und blieben darin hängen wie schlafende Fledermäuse. Und die wolfsähnlichen Tiere verkrochen sich am Boden in dunkle Winkel und rollten ihre Körper zusammen. »Was das zu bedeuten hat«, sagte Atlan scharf, »das habe ich nicht einmal durch die Träume erfahren. Falls unsere Theorie stimmt, daß die Wolke jeden positiven Impuls aufgesogen hat, dann kann ich nicht glauben, daß sie auch die sogenannten positiven Gedanken oder Instinkte – oder was auch immer – der Tiere braucht. Ausgerechnet Tiere!« Razamon nickte mehrmals und sagte nach einer Pause des Überlegens: »Einverstanden. Nehmen wir dieses gelungene Beispiel torstädtischer Raumschiffsbaukunst. Fliegen wir damit nach Turgan. Dort werden wir vermutlich erfahren, was uns so interessiert, daß wir todesmutig werden.« Mit dem Zugor flogen sie wieder hinauf zum Turm. Dort stiegen sie in das seltsame Gerät ein und unterzogen es einer schnellen, aber gründlichen Untersuchung. In Fächern, die sich im Bodenteil öffnen ließen, fanden sie sechs Raumanzüge. Sie waren klobig und unförmig, würden aber jedem von ihnen passen. Atlan und Razamon grinsten sich kurz zu und sagten: »Dieselben Modelle, wie wir sie schon kennen.« »Nicht dieselben, die gleichen«, brummte Atlan und sagte sich, daß durch den Besitz der Anzüge ihre Überlebenschancen abermals etwas gestiegen waren. Darüber hinaus war das Vorhandensein der Ausrüstung ein sicherer Beweis dafür, daß der Zugor tatsächlich für den Weltraum gedacht war oder dafür, auf Planeten mit andersgearteter Lufthülle eingesetzt zu werden. »Schnell!« drängte Asparg. »Die Wolke oder ein anderer Schrecken kann jederzeit zurückkommen.« »Besonders dann«, meinte Atlan und griff in die Steuerung, »wenn
sich herausstellen sollte, daß unter Tausenden und aber Tausenden Schläfern wir die einzigen sind, die sich noch frei bewegen können.« Einige Minuten später waren sie auf dem Flug nach Nordosten. Turgan, die Stadt der Sklavenhändler und der Felshöhlen war ihr Ziel. 4. Mit ständig zunehmender Geschwindigkeit raste der Zugor entlang des Wölbmantels und der Kante Dorkhs auf Turgan zu. Die vier Fremden flogen nicht sehr hoch; etwa hundert Meter nur. Sie hatten Angst, entdeckt zu werden. Zunächst überflogen sie die Stadtmauer und ließen die schlafenden Technos hinter sich, die Stadt, die wie ausgestorben wirkte. Sie spähten durch die unregelmäßigen, transparenten Flächen der Zugor‐Umhüllung und hatten die Luke geschlossen. Der Aufenthalt in dem Gefährt war nicht unkomfortabel; trotzdem blieb dieses Gerät ein Notbehelf, das wenig Ähnlichkeit mit einem Organraumschiff hatte. Dann rasten sie über einen Teil der Aufmarschfläche und sahen unter sich die schlafenden Tiermenschen. Sie waren umgefallen, wo sie gerade gekämpft hatten oder gerannt waren. Dem Rand zu lagen immer weniger Angehörige der Gruppen aus dem Hordenpferch, und unmittelbar an der Kante Dorkhs schliefen die verrenkten Körper derjenigen, die auf dem Sprung in den Tod gewesen waren. Bleierne, schmutzige Farbe durchzog auch den Wölbmantel, der jetzt wie eine Nebelschicht nach hinten am Zugor vorbeiglitt. Atlan schob den Fahrthebel ganz nach vorn, als sie die ersten Hügel und Kanalausläufer des Pferchs erreichten. Nichts bewegte sich mehr unter den weiten Ästen der Bäume oder entlang der schmalen Wasseradern. »Was erwartest du in Turgan?« fragte Fiothra.
»Mit einiger Sicherheit ebenfalls schlafende Dorkher aller Arten. Turgan war eine andere Stadt als Torstadt.« Atlan und Razamon wußten dies aus eigener, schmerzlicher Erfahrung. »Bist du sicher, daß auch Turgan heimgesucht wurde?« erkundigte sich Asparg. Razamon stieß ein kurzes, rauhes Lachen aus und entgegnete: »Ich bin sicher. Überall auf Dorkh sieht es jetzt so aus wie in der Stadt, aus der wir kommen.« »Das ist sehr wahrscheinlich.« Nach einem Flug von rund drei Stunden kam Turgan in Sicht. Noch war nicht zu erkennen, ob sich in der Stadt noch Leben regte. Aber es gab, und das sahen sie bereits von hier aus, nicht eine einzige Rauchsäule, die von einem Herd stammte. Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich, nachdem sie einmal um das oberste Drittel der Stadt gekreist waren. Auf der Rampe, in den Eingängen der Höhlen und auf jedem freien Platz lag das bunte Gemisch der verschiedenen Einwohner Turgans und schlief. Razamon murmelte erschüttert: »Spätestens dieser Eindruck hätte unseren stolzen Stophemuk umgebracht. Hinunter, Atlan!« »Schon dabei, Berserker!« Der Zugor landete auf dem obersten Platz, der von den aus den Felsen herausgemeißelten Häuserfronten umgeben war. Neben einem Brunnen, dessen Wasser ungenutzt überlief und sich zwischen den verrenkten Körpern der Schlafenden hindurchschlängelte, war gerade ein so großer freier Platz, daß Atlan den Zugor landen konnte, ohne einen Schläfer zu verletzen. Die Luke schwang auf, Razamon sprang ins Freie und blickte sich, beide Waffen in den Händen, sichernd um. »Keine Bewegung!« stellte er sachlich fest. Sie schlafen alle. Unnatürlich tief. Versuche einen neuen Kontakt mit ihren Träumen!
Der Extrasinn gab diese Empfehlung. Atlan nahm Fiothras Hand und zog das Mädchen mit sich. Sie blieben vor einer Gruppe Turganer stehen, die gerade bei einem Handelsgeschäft gewesen sein mußten, ehe ihr Verstand versagte, überwältigt von den Impulsen. Atlan sagte nachdenklich: »Eigentlich ist es logisch, daß das Unheil eher über Turgan als über Torstadt gekommen ist. Die Stadt liegt näher am SCHLOSS. Die schwarze Wand hatte keinen so langen Weg.« »Eine richtige Überlegung. Der Marktplatz wirkt, als schliefen sie schon lange.« Lange, das war ein relativer Begriff. Die einzelnen Ereignisse lagen höchstens einige Stunden auseinander. Zögernd gingen die vier Fremden hin und her und sahen in die starren Gesichtern, von denen in den meisten Fällen die in Turgan üblichen Gesichtstücher heruntergerissen worden waren. »Also doch ein Kampf?« mutmaßte Atlan. Aber es gab keine Anzeichen dafür, daß in Torstadt die Bewohner erbarmungslos und mit Waffen übereinander hergefallen wären. Vielleicht hatten sie nur mit den Fäusten aufeinander eingeschlagen, dann wäre einiges zu erklären gewesen. »Bist du bereit, Atlan?« fragte Fiothra. »Ja. Die Zeit drängt!« Wieder setzte sich der Arkonide zu Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand und schloß die Augen. Mit einschläfernden Worten und den leichten körperlichen Kontakten, die Atlan kaum spürte, die aber auf seine Entspannung einen unverkennbaren Einfluß hatten, versuchte die Magierin, Atlan mehr und mehr dem Punkt entgegenzubringen, an dem er leicht in Trance zu versetzen war. Seine Glieder wurden schwerer und bewegungslos. Er spürte, wie eine ungewohnte Ruhe und Entspannung über ihn kamen. Sein Verstand öffnete sich und wurde frei. Der leise Singsang der Worte, die Fiothra zu ihm sprach, versetzte ihn in eine
leichte, schlummerartige Träumerei. Und ganz plötzlich, ohne Kraftanstrengung und Schock schlief und träumte er, und wieder konnte er in diesem Zustand seine Gedanken und Empfindungen innerhalb bestimmter Grenzen manipulieren. Er bestimmte, wohin sie gehen sollten. Er stach mitten hinein in die Träume einer anderen Gruppe von Dorkhern. Ohne daß er sagen konnte, aus welchem Grund, spürte er, daß diese Träume ganz anders waren. Ihre Bedeutung, ihre Ausstrahlung auf seinen Verstand – sie waren ein krasser Unterschied zu dem vor drei oder vier Stunden Erlebten. Die ersten, engeren Kontakten zwischen einem kollektiven Traumerlebnis und dem schlafenden Bewußtsein des Arkoniden fanden statt. Die Turganer waren den Impulsen länger ausgesetzt gewesen. Ihre Träume hatten, verglichen mit den Visionen der Technos und Tiermenschen, bereits einen fortgeschrittenen Zustand erreicht. Es gab in den ersten, vorbeihuschenden Eindrücken weniger Kämpfe, weniger Schlächtereien. Ein wichtiger Bestandteil fehlte. Atlans Bewußtsein stellte fest: Dadurch, daß die Schläfer von Torstadt noch Kämpfe und Gegenwehr in ihre Träume projizierten, drückten sie aus, daß sie sich gegen den Einfluß der Impulse und der fremden Visionen wehrten. Die Turganer wehrten sich nicht mehr. Über dieses Stadium waren sie bereits hinaus. Sie entdeckten keine Grausamkeiten mehr in ihren Träumen. Oder aber, sie hatten es aufgegeben, sich zu wehren. Es gab auch keine verschiedenen Träume mehr, keine einzelnen Traumerlebnisse auf unterschiedlichen visionären Welten, sondern nur einen einzigen, kollektiven Traum. Alle Träume waren gleichartig. Sie hatten allesamt ein bestimmtes Ziel. Atlans Bewußtsein trieb wie ein Nebelschleier zwischen den vielen einzelnen Fäden, aus
denen der Gemeinschaftstraum gewoben war. Er versuchte, das Ziel der Träume festzustellen. Szenen von subtiler Grausamkeit, gemischt mit der absoluten Tiefe der Hoffnungslosigkeit, zogen an Atlan vorbei. Die Bedeutung der einzelnen Abfolgen von abgestuften Ungeheuerlichkeiten lautete überraschenderweise: Alles geht binnen kurzer Zeit zum Dunklen Oheim. Das Ziel der Träume war also die Begegnung oder Vereinigung mit dem Dunklen Oheim. Gleichzeitig schien diese Bedeutungslosigkeit der eigenen Widerstandskraft nur einen Schluß zuzulassen. Die Träumer waren sicher, daß sie nicht mehr aufwachen würden. Woher sie diese Gewißheit hatten, die jede Einzelheit der tieftraurigen, resignierenden Visionen ausfüllte, konnte der schweifende Verstand des Arkoniden nicht herausfinden, so sehr er auch bemüht war, den Grund zu erkennen. Jeder Schläfer bereitete sich hier, in den Mauern und zwischen den Felsen Turgans, auf eine baldige Begegnung mit dem Dunklen Oheim vor. Die Bilanz war niederschmetternd: massenhafter Tod, der günstigerweise vielleicht für die vielen Einzelwesen ein wenig gnädig sein würde, weil sie keine Schmerzen spürten. Noch eine Einzelheit enthüllten die Träumenden dem Arkoniden. Er nahm dieses Wissen ins Bewußtsein mit, als er erwachte und nach einer kurzen Phase der Unsicherheit wieder in die Wirklichkeit zurückfand. Er richtete sich auf, sah über Fiothras Schulter hinweg und sagte mit rauher Stimme: »Die Träume haben mir verraten, daß die schwarze Wand oder das schwarze Wesen nicht für den Zustand der Dorkher verantwortlich ist.« »Wie kann ich das verstehen?« fragte Razamon. Atlan schüttelte sich, um die Eindrücke grauenhafter Resignation und Todessehnsucht loszuwerden und entgegnete: »Nicht das schwarze Wesen ist dafür verantwortlich, sondern die Phasen der Aggression und des Schlafes sind Teil eines Planes.«
»Welcher Plan?« fragte Fiothra. »Das konnte ich nicht erfahren«, sagte Atlan. »Und von wem stammt der Plan?« fragte Razamon sofort. »Ihn hat der Dunkle Oheim ausgeheckt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie die schlafenden Dorkher dies erfahren haben. Aber das ist das Wissen, das ich aus den Träumen mitgebracht habe.« Atlan ging langsam auf den Zugor zu, setzte sich in den Einstieg und sah von einem seiner Freunde zum anderen. »Ich weiß ein paar Einzelheiten und kann mir andere Zusammenhänge denken. Als ich meinen Extrasinn verlor und die Geschehnisse um den ›Stern der Läuterung‹ miterlebte, erfuhr ich, daß die Körper der Wesen für den Dunklen Oheim ziemlich unwichtig sind.« »Organmaterial für Schiffe, nicht wahr?« murmelte Razamon finster. »Nichts anderes als Rohmaterial für Organschiffe«, stimmte Atlan zu. »Aber bevor die Körper auf so brutale Weise verwendet wurden, entzog man ihnen allen das Bewußtsein.« »Welch eine Bestie muß der Dunkle Oheim sein!« fauchte Fiothra und schüttelte sich vor Abscheu. »Für ihn gelten andere Maßstäbe. Möglicherweise gilt für ihn auch eine andere Moral«, schränkte Asparg ein. »Aber das kann die unendlich vielen unschuldigen Opfer nicht entschuldigen.« Atlan fragte sich, was der Dunkle Oheim mit den vielen Bewußtseinseinheiten anfangen konnte. »Diese vielen Bewußtseinsinhalte oder Wesenheiten oder Seelen, wie immer man sie nennen mag«, begann der Arkonide wieder voller Nachdenklichkeit, »sind aber von negativen Gedanken und Visionen erfüllt. Nicht nur erfüllt, sie sind förmlich davon beherrscht. Das bedeutet, daß der Dunkle Oheim innerhalb kurzer Zeit Millionen oder mehr negativ gestimmter Bewußtseinsinhalte
präsentiert bekommt. Und wozu?« Ratlos standen sie vor dem Zugor und sahen nichts anderes als die regungslosen Gestalten. Das Plätschern des schmalen Rinnsals aus dem Brunnen war das einzige Geräusch in der zweiten ausgestorbenen Stadt, die sie erlebten. Fiothra entfernte sich von der Gruppe, ging einige Schritte weit und blieb an der Balustrade neben einem Haus stehen. Von hier aus gab es einen prächtigen, ungehinderten Blick auf die lange Rampe, einen Großteil der Stadt und die Umgebung. Plötzlich riß Fiothra die Arme hoch und schrie leise auf. »Die schwarze Wand kommt! Der Schwarze Schrecken … schnell, Atlan!« Razamon und Atlan waren mit einigen Sätzen bei ihr. Sie warfen keinen Blick auf das Panorama Turgans, sondern entdeckten im Westen tatsächlich dieselbe Erscheinung, die vor Stunden Torstadt heimgesucht hatte. Die schwarze Wand, noch klein und nicht mehr als ein Streifen eindringlicher Finsternis am Horizont, kam mit bestürzender Geschwindigkeit näher. »Sie bringt uns um! Sie saugt unseren Verstand aus!« schrie Fiothra. In ihrem Innern schien der letzte Damm der Beherrschung zu reißen. Sie wirbelte herum, sprang wie eine Rasende zwischen den Körpern der Turganer hindurch und rannte auf eine Treppe zu, die vom Platz in die tiefere Stadt hinunterführte. Razamon spurtete hinterher, aber auch Asparg, der bisher wartend am Zugor gestanden, rannte davon. Im Gegensatz zu Fiothra schrie er nicht. Aber sein Gesicht war von panischem Schrecken erfüllt. Er kam Razamon in den Weg, der Berserker prallte mit ihm zusammen und versuchte, ihn festzuhalten. Aber mit wild um sich schlagenden Armen riß sich der Magier los und rannte hinter seiner Halbschwester her. Atlan war entlang der Hausfronten gerannt und verfehlte Asparg um einige Handbreit. Der junge Mann stolperte in grotesken
Sprüngen die Treppe hinunter und verschwand hinter einigen Felssäulen. Als sich Atlan und Razamon herumdrehten, war die schwarze Wand abermals um eine beträchtliche Strecke nähergekommen. »Sie haben den Verstand verloren«, stellte Razamon fest. »Und wir verlieren ihn auch, wenn wir nicht flüchten.« Sie liefen auf den Zugor zu, schwangen sich hinein, und sofort bewegte Atlan die Hebel der Steuerung. Auch sie waren von Furcht und Entsetzen gepackt – jetzt wußten sie sehr viel deutlicher, was sich hinter der Schwärze verbarg. Schon tauchte die seelenlose Wand, die inzwischen wieder den gesamten westlichen Horizont bedeckte, vor der Stadt auf. Der Zugor stieg schräg auf, schwankte zwischen einigen Hausgiebeln aus Stein hindurch und raste auf den Wölbmantel zu, der direkt hinter den Bergen der Stadt zu sehen war. Atlan bremste ab, ließ den Zugor sinken und versuchte, in der Deckung der massigen Felsen zu bleiben, als habe die schwarze Fläche in ihrer Mitte ein Auge, das sie beobachtete. Mit brüchiger Stimme sagte Razamon leise und nachdenklich: »Es scheint, als wären wir noch einmal davongekommen. Wir können nur zusehen und uns zahllose Fragen stellen.« »Die von niemandem beantwortet werden«, gab Atlan zurück. »Was wird geschehen? Die Schwärze wird sich über Turgan senken.« »Das ist sicher.« »Und was geschieht, wenn die Stadt von diesem unheimlichen Wesen bedeckt ist?« »Nach meiner Meinung«, erwiderte Razamon hart, »sind dann alle diese Turganer und wer auch immer tot.« Und du denkst das gleiche, sagte der Logiksektor brutal. Sie fühlten sich keineswegs sicher in ihrem Zugor und an diesem Ort. Eine Flucht würde sinnlos sein, denn die schwarze Wand entwickelte eine Geschwindigkeit, mit der die Maschinen des
Zugors nicht konkurrieren konnten. Sie warteten, wagten nicht zu atmen und spähten durch die Fensteröffnungen hinaus. Direkt hinter ihnen war der Wölbmantel, und nur ein kleiner Teil des Blickes auf die Stadt wurde von den kantigen Felsen verdeckt. Die Wand raste heran und schob sich dann, plötzlich viel langsamer geworden, über die Flächen, Kanten und die riesigen Stufen der Stadtanlage. Sie wischte über den Platz, den Atlan und der Berserker eben verlassen hatten und schwang sich lautlos und in gespenstischer Vollkommenheit an der Rückseite der Stadtfelsen wieder hinunter bis auf den Boden Dorkhs. Dann blieb die Wand unverändert stehen. Nach etwa einer halben Stunde murmelte der Arkonide: »Nichts zu sehen. Nur eine pechschwarze, stumpfe Fläche, die nicht an einer einzigen Stelle aufreißt.« »Und auch nichts zu hören. Keine Schreie der Opfer!« So war es. Hinter ihnen stand der schmutziggraue Wölbmantel, der ebenso bewegungslos war wie die Wand. Die Wand berührte ihn oben und an den Seiten und spannte sich, vor dem Zugor leicht konvex gekrümmt, wie ein lichtschluckender Vorhang vor dem Rest von Dorkh. Eine weitere halbe Stunde verging in völliger Ereignislosigkeit. * Unbeweglich stand Atlan an den Schaltern und Hebel der einfachen Steuerung des geschlossenen Zugors. Zwei Raumanzüge waren in der Zwischenzeit geöffnet und überprüft worden. Jetzt richtete sich Razamon auf, nachdem er die anderen vier klobigen Gebilde wieder in den Fächern verstaut hatte. »Jeder Test, den ich durchführen konnte, hat positive Werte ergeben«, sagte er und bemerkte mit Erleichterung, daß ihnen noch die Vorräte aus dem Berg der drei Quellen geblieben waren.
»Eine zusätzliche, wenn auch geringe Sicherheit«, sagte Atlan. »Die Kräfte, die jetzt am Werk sind, übersteigen die Möglichkeiten, die wir haben, um ein Mehrfaches.« »Das trifft zu. Ist, nach deiner Meinung, die schwarze Wand dort draußen mit dem Dunklen Oheim identisch?« »Das glaube ich nicht«, antwortete Atlan. »Ich denke eher, sie handelt für ihn oder an seiner Stelle. Irgendwann werden wir die Antwort erfahren. Immerhin ist Dorkh noch nicht zum Stillstand gekommen.« Sie warteten weiter, in steigender Ungeduld und zunehmender Spannung. Wenn es so war, wie Atlan meinte, dann brauchte die Finsternis über Turgan sehr lange, die Turganer zu töten und ihre Bewußtseine aufzusaugen. Seit dem Erscheinen der Wand und den folgenden Geschehnissen waren sicher drei Stunden vergangen. Razamon knurrte: »Es wird heller. Achtung, Atlan!« An beiden Flanken zog sich die Wand vom Wölbmantel zurück und glitt gleichzeitig rückwärts über einen Teil der Stadt weg. Ihre Geschwindigkeit nahm wieder sehr zu, sie entfernte sich und wurde kleiner und anscheinend kompakter. Atlan sagte kurz: »Ich will sehen, wohin sie geht.« Der Zugor brummte auf und kletterte auf der Stelle in einer leichten Spirale aufwärts. Aus größerer Höhe, so hoffte Atlan, ließe sich der Weg dieser tödlichen Erscheinung vermutlich viel besser verfolgen. Aber selbst nach einem Steigflug von mehreren Minuten mußte er einsehen, daß es keine echte Chance gab. Die Wand, die jetzt einem aufrecht stehenden Viereck glich, bewegte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit dorthin zurück, woher sie lautlos gekommen war. Atlan ließ den Zugor nach Westen schweben und versuchte halbherzig eine kurze Verfolgung. »Sie ist zu schnell für uns!« Die kompakte Finsternis, deren wahren Charakter sie wohl
niemals erfahren würden, verschwand in der Ferne und blieb verschwunden. Atlan gab die Verfolgung auf und flog außerhalb von Turgan einen Wendekreis. Der Zugor befand sich jetzt in der Nähe des Rinnensteigs und näherte sich entlang der Straße wieder Turgan. »Wir wissen nur, was diese Schwärze vermag«, stellte Razamon fest. »Woraus sie besteht, wird uns vielleicht der Dunkle Oheim sagen.« Zögernd und langsam, in großen Zickzackschleifen, steuerte Atlan den Zugor zurück nach Turgan. Vermutlich waren sie in dieser Totenstadt noch am sichersten. Aber fast gleichzeitig bemerkten Razamon und Atlan in der Stadt einige Dinge, die sie von ihrer Überzeugung abzubringen vermochten. »Kann das sein?« fragte Atlan von seinem erhöhten Platz an der Steuerung aus und beugte sich spähend vor. »Bewegungen in Turgan? Die Turganer sind gar nicht tot?« Er flog ohne Umwege auf die Rampe der Stadt zu. Razamon öffnete die Luke und blickte hinaus. »Es sind die Tiere!« rief er über die Schulter zurück. »Sie sind alle erwacht.« Der Zugor hielt schräg über der Rampe und den terrassenartigen Reihen von Höhleneingängen an. Zwischen den Tausenden dahingestreckter und regungsloser Bewohner der Stadt bewegten sich die Tiere. Chreeans taumelten, teilweise noch mit ihren Lasten und gesattelt, unsicher über die Rampe. Die ersten Vögel wagten sich schon wieder in die Luft, aber ihre Schwingen arbeiteten nicht mit der gewohnten Leichtigkeit. »Tiere!« stellte Atlan fest. »Also braucht der Dunkle Oheim die Tiere nicht. Ich habe mich getäuscht.« »Offensichtlich. An Tieren ist weder die dunkle Wand noch der Oheim interessiert. Die Turganer aber dürften alle tot sein.« »Wir sehen nach.« Atlan landete die Flugscheibe am oberen Ende der Rampe.
Flüchtig entsannen sie sich ihrer aufregenden Erlebnisse in dieser Stadt, die vor Leben und Handel förmlich durchflutet gewesen war. Ihre ersten Schritte waren vorsichtig, und sie untersuchten jeden der starren Körper sehr genau. »Tot. Unzweifelhaft!« sagte Atlan und wischte den Schweiß von seiner Stirn. »Sie sind alle tot.« »Ich habe nichts anderes erwartet. Aber ich habe gehofft«, bekannte der Berserker schwach, »daß ich mich täusche.« Atlan bohrte seinen Blick in Razamons Augen. »Du weißt, was das für die anderen Städte und Siedlungen Dorkhs bedeutet?« Razamon nickte und ließ seinen Blick aufmerksam über jeden sichtbaren Fleck gleiten. Er wußte selbst nicht, wonach er suchte. »Dasselbe wie für Turgan. Die Wesen schlafen ein, richten ihre Träume aus, werden von der schwarzen Wand getötet und entpersönlicht. Und dann wachen die Tiere wieder auf. Dorkh wird systematisch zu einem Weltenfragment gemacht, das von Toten bedeckt ist. Ein Dimensionsfahrstuhl, frei von jedem intelligenten Leben. Das ist eine Aussicht, die nichts Gutes erwarten läßt. Auch nicht für uns. Wir sind nichts anderes als statistisch unwichtige Randfiguren und vielleicht die einzigen Ausnahmen.« »Das könnte unser Glück sein und unsere Überlebenschancen beträchtlich steigern«, erwiderte Atlan und sah plötzlich in den Augen seines Freundes, daß dieser etwas Ungewöhnliches gesehen hatte. Verwunderung überzog das Gesicht des Berserkers. Er meinte schließlich: »Ich bin sicher, daß ich mich nicht irre. Sieh hinunter zum Fuß der Rampe. Dort lebte damals immer allerhand lichtscheues Gesindel – ich habe es dir erzählt. Und dort leben augenscheinlich noch einige Intelligenzwesen von Turgan.« Die Ausnahmen von der Regel? sagte der Logiksektor. Atlan versuchte, zwischen den wenigen Büschen, dem Unrat und
den streunenden Tieren etwas zu erkennen. Dort waren zweifellos Bewegungen, aber die meisten stammten von hüpfenden und flügelschlagenden Vögeln und kleinen, rattenähnlichen Tieren mit dunklem Fell. Aber dann sah auch er, was Razamon bemerkt hatte. »Du hast recht«, sagte Atlan. »Dort hat jemand überlebt. Ich kann ganz klar zwei Personen unterscheiden. Sie scheinen miteinander zu sprechen.« »Ich denke, es ist sicherer, wenn wir den Zugor hier oben lassen«, meinte der Berserker. »Sehen wir nach.« »Einverstanden.« Zielstrebig, aber ohne übergroße Hast gingen sie die Rampe abwärts. Sie konnten keine drei Schritte machen, ohne ausweichen zu müssen. Entweder stellten sich Tiere in den Weg, die ihren Herrn suchten, oder sie würden, wenn sie weitergingen, auf einen Leichnam treten. Der Gegensatz zwischen dem vielfältigen Tod und dem Leben der verwirrten Tiere war grausam und grotesk. Schweigend bewegten sich die Männer von Pthor hinunter zum Beginn der Felsenrampe. Aus einigen der kantigen Eingänge, die in komplette Wohnungen, Schenken und Magazine der Händler führten, drangen seltsame Gerüche hervor. Unbeirrt von diesen Ablenkungen gingen Razamon und Atlan weiter. Immer wieder richteten sie ihre Augen auf die Stelle, an der tatsächlich zwei Gestalten aufrecht dastanden. Einige Schritte später keuchte Atlan auf: »Das … dort ist Fiothra!« »Tatsächlich«, sagte Razamon nach einiger Zeit und beschleunigte auch seine Schritte. Sie liefen auf die beiden Gestalten zu und blieben stehen, als sie von denen bemerkt worden waren. Es war ein alter, hagerer Turganer ohne seine Gesichtsverschleierung. Neben ihm stand, zierlich und zerbrechlich, die junge Magierin. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich erschreckend verändert. Ihre Augen starrten ins Leere, vorbei an Razamon und Atlan.
Zwischen den Zähnen sagte Atlan: »Sie erkennt uns nicht mehr.« »Ihr Verstand … niemand weiß, was sie damit angestellt haben«, flüsterte Razamon und ging ganz langsam, um die Überlebenden nicht zu erschrecken, auf den Turganer und das Mädchen zu. »Ich bin es«, sagte er beruhigend. »Razamon. Keine Furcht, Fiothra.« Als sie ihren Namen hörte, zuckte Fiothra zusammen. Ihr Haar war feucht und verfilzt. Ungesunde Blässe breitete sich über ihr schmutziges Gesicht aus. Die großen Augen ließen nichts erkennen, das auf den wahren Zustand ihres Verstandes schließen ließ. Sie streckte Razamon in unbewußter Abwehr beide Arme entgegen und wich einen Schritt zurück. Dabei stieß sie mit der Schulter gegen den Turganer, der mit einem leisen Laut des Schmerzes zusammenbrach und in einen Busch stürzte. Atlan kam näher, ging schweigend um den Busch herum und richtete die hagere Gestalt auf. Behutsam führte er den Mann bis zu einem moosüberwucherten Stein und half ihm, sich hinzusetzen. Auch das Gesicht des Alten war ausdruckslos, seine menschenähnlichen Augen blickten leer und sahen Bilder, die niemand verstand. »Ich bin nicht hier. Ich bin ganz weit weg«, murmelte der Turganer mit einer verzerrt klingenden Stimme. »Dovart ist auf dem Weg zum Dunklen Oheim. Ich war Dovart.« Sein Oberkörper sackte nach vorn. Dovart war vom Tod gezeichnet. Daß er den Angriff der schwarzen Wand überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Er würde nicht mehr lange zu leben haben. Seine Finger zitterten wie in einem wütenden Fieberanfall. Er hob den Kopf und stammelte: »Dovart weiß eine gräßliche Wahrheit.« »Sage mir die Wahrheit!« bat ihn Atlan und bemühte sich, jedes einzelne Wort zu verstehen. Der Alte murmelte und ächzte
unverständliche Worte. Razamon hatte das Mädchen an sich gezogen und streichelte beruhigend ihre Schultern. Sie lehnte an seiner Brust und schien zu weinen, gab aber keinen Laut von sich. »Die Wahrheit! Erzähle sie mir!« drängte Atlan und bezähmte seine Ungeduld. »Der Dunkle Oheim … er ist betrogen worden. Er wird sich fürchterlich rächen. Das weiß ich aus meinen Träumen. Aber für Dovart hat das keine Bedeutung mehr.« »Warum ist der Dunkle Oheim betrogen worden? Auf welche Weise?« fragte Atlan. Razamon hörte schweigend zu und schüttelte ungläubig den Kopf. »Die schwarze Wand …«, begann Dovart. »Ja?« »Sie hat alle Turganer getötet.« »Das wissen wir. Fast alle sind tot.« »Die schwarze Wand hat die Bewußtseine gestohlen?« »Wir sind sicher, daß sie die Bewußtseinsinhalte in sich aufgesogen hat«, bekräftigte Atlan. Der Zustand des alten Mannes war ein seltsames Schwanken zwischen Hellsichtigkeit und Verwirrung. Das ließ darauf schließen, daß er sein Bewußtsein noch besaß – teilweise oder ganz. »Das hat der Dunkle Oheim verboten. Die Wand stahl ihm die Bewußtseine. Sie werden vom Oheim für einen Kampf gebraucht, der unmittelbar bevorsteht.« Auf irgendeine kaum faßbare Weise war es Fiothra gelungen, trotz ihres Zustands sich hierher zu schleppen. Aber der Besuch der schwarzen Finsternis war an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Wahrscheinlich hatte sie nur das nackte Leben, nicht aber ihren gesunden Verstand und schon gar nicht ihre magischen Fähigkeiten gerettet. Ihr Halbbruder befand sich mit größter Wahrscheinlichkeit unter den zahllosen Opfern in der Totenstadt. »Ein Kampf?« fragte Atlan behutsam. »Der Dunkle Oheim will einen Kampf führen? Gegen wen?«
»Der Kampf steht unmittelbar bevor. Er bereitet sich darauf vor. Er wird furchtbar werden in seinem Zorn, wenn er merkt, daß ihm die Bewußtseine gestohlen wurden. Aber dann ist Dovart nicht mehr hier. Er ist schon jetzt weit weg.« Der Alte tastete mit seinen Fingern nach Atlans Arm, zog sich daran hoch und stand dann einen Augenblick lang starr aufgerichtet da. Sein Atem ging in langen, keuchenden Zügen. Dann knickte Dovart in den Knien ein und starb lautlos. Atlan fing ihn auf und legte den leichten Körper schweigend neben den Stein. »Das inhaltslose Gerede eines Sterbenden«, kommentierte Razamon, ebenso erschüttert, aber dennoch voller gespannter Aufmerksamkeit. »Du solltest nicht allzu viel davon glauben, Atlan.« Atlan nickte, aber er antwortete trotzdem: »Ich glaube ihm bedingt. Vieles von dem, was er uns sagen wollte, ergibt zusammen mit einigen meiner Eindrücke einen Sinn.« »Ich höre?« Atlan trat neben Razamon und das erschöpfte, verwirrte Mädchen und sagte nachdenklich: »Natürlich gibt es dafür, was ich aus den Träumen herausgefunden zu haben glaubte, keine Beweise. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß sich der Dunkle Oheim tatsächlich auf einen Kampf vorbereitet.« »Gegen einen von allem intelligenten Leben entblößten Dimensionsfahrstuhl namens Dorkh?« fragte Razamon. »Das ist schwer zu glauben und noch schwerer zu verstehen.« Atlan erwiderte: »Die nächste Folgerung ist noch schwerer zu verstehen. Aber sie ist ungeheuerlich. Ich bin sicher, daß sie zutrifft. Der Dunkle Oheim, dieses noch nie gesehene Machtwesen, will ganz Dorkh bestrafen. Und ich glaube auch zu wissen, wie das geschehen soll.« Ehe er weitere Ausführungen machen konnte, hörten sie von der Rampe her, vom letzten Abschnitt, eine Folge merkwürdiger
Geräusche. Sie fuhren herum, und ihre Augen sahen einen Anblick, den sie in der toten Stadt Turgan am allerwenigsten erwartet hätten. Eine merkwürdig‐makabre Prozession näherte sich der Straße, der Kreuzung zwischen Rampe und dem Weg zum Rinnensteg. Die Teilnehmer dieser langgezogenen Reihe von Gestalten kamen aus einer der größten, mit ausdrucksvollen Friesen umrahmten Felsentüren. 5. Wieder einmal waren Atlan und Razamon starr vor Erstaunen und Überraschung. Bisher war jeder weitere Blick auf die Leichen in dieser Stadt eine Erschütterung gewesen. Jetzt erkannten sie, daß es auch in Turgan Überlebende der schwarzen Flut gab. In welchem inneren Zustand sie sich befanden, war noch nicht auszumachen. Ihr äußerliches Bild jedoch glich einem Aufzug, der aus Karneval, Leichenzug und Beschwörungen zusammengesetzt schien. Den Gewändern nach zu urteilen, schienen es dreizehn echte Turganer zu sein. Aus den schreienden Farben der Überwürfe leuchteten nur die auffallenden Augen dieser Wesen hervor. Selbst Fiothra wurde von dem herankommenden Lärm und den Farben der Prozession aus ihrer Versunkenheit gerissen. Sechs Turganer trugen Musikinstrumente. Aus drei flötenartigen Stäben mit ausladenden Schalltrichtern am Ende erscholl ein wimmerndes, auf und ab trillerndes Pfeifen. Flache Messingscheiben wurden in einem unverständlichen Takt gegeneinander geschmettert. An den Felswänden der Terrassen brach sich das Echo. Ein Turganer schlug auf eine riesige Trommel ein, und jeder, der nicht gerade eine Flöte an den schmalen Spalt der Gesichtstücher setzte, sang laut und unverständlich im Takt der glänzenden Scheiben. Der Anführer der Prozession trug an einer Stange einen großen,
schwarzen Totenschädel. Die Prozession umging geschickt die Leichen und wich den Tieren aus, die sich ihr vertrauensvoll näherten. Schritt um Schritt kamen sie an der Stelle vorbei, an der Atlan mit Razamon und Fiothra stand. Der Lärm wurde unerträglich laut. In einer kurzen Pause zwischen zwei Beckenschlägen rief Razamon: »He! Ihr Überlebenden! Wohin geht ihr?« Der Anführer blieb einige Sekunden später stehen, als habe der Schrei seine Ohren auf Umwegen erreicht. Dann senkte er dieses seltsame Feldzeichen und gab zur Antwort: »Wir gehen zum Dunklen Oheim. Wir werden ihn beschwören, einige Wesen auf Dorkh am Leben zu lassen.« Wieder ertönte die heulende, krachende und mit dumpfen Stimmenfetzen untermalte Musik. Razamon merkte, daß Atlans Meinung über die Vorgänge wohl auch von anderen Wesen geteilt wurde. Wieder schrie er: »In welche Richtung geht euer Weg zum Oheim?« »Hinaus vor die Stadt!« »Wie weit und warum?« »Zum Rinnensteig. Dort kann er uns sehen und hören, weil sich ringsum flaches Land ausbreitet.« »Wie seid ihr dem Tod entgangen?« »In unseren Höhlen. Sie schirmten uns wohl ab.« »Halt! Sprecht mit uns!« schrie Razamon. »Vielleicht können wir uns zusammentun und etwas gemeinsam erreichen.« »Wer seid ihr?« »Fremde, die das große Sterben überlebt haben und Antworten auf viele Fragen suchen. Gibt es noch mehr Überlebende?« Die in größter Lautstärke geführte Unterhaltung ging in den Pausen zwischen den einzelnen Takten vor sich. Nur der Anführer sang und musizierte nicht, sondern gab Antworten. Inzwischen war die Prozession fast ganz an der Gruppe um Fiothra vorbeigetappt. »Wir haben keine anderen gesehen«, schrie der Anführer und
schwenkte den schwarzen Schädel, der unversehens eine schaurige Bedeutung erhalten hatte. »Der Oheim bestraft keine einzelnen Wesen. Er straft uns alle.« Razamon zeigte auf die farbigen, mit Metallplatten behängten Rücken der Turganer und wandte sich an Atlan. »Was sollen wir mit ihnen tun?« »Nichts. Wir können sie nicht aufhalten. Sie würden sich auch nicht aufhalten lassen.« »Also lassen wir sie zu ihrem Lagerplatz am Rinnensteig weiterziehen, obwohl sie ebenso sicher wissen, daß sie sterben werden, wie wir es wissen?« »Hast du einen anderen Vorschlag?« »Nein!« antwortete der Berserker. »Ich habe keinen. Mir fällt auch bald überhaupt nichts mehr ein.« Die Prozession wanderte in Schlangenlinien zwischen den Leichen weiter und erreichte die breite Straße zwischen Turgan und dem Rinnensteig. Einige beladene Chreeans und eine Anzahl anderer Tiere schlossen sich dem Zug an und trotteten im selben Tempo mit gesenkten Köpfen hinterher. Über der Kreuzung flatterte aufgeregt ein Schwarm winziger weißer Vögel, die den hallenden und wimmernden Lärm mit ihren spitzen, gellenden Schreien begleiteten. Um eine Felsnase und einige wuchtige Steinsäulen herum verschwand diese merkwürdige Karawane aus den Blicken der drei Übriggebliebenen. Das Leben verschwand aus den Augen Fiothras. Ihre Tränen hatten in den Schmutz ihres kleinen Gesichts zwei tiefe Rillen gegraben. Atlan deutete mit einer kurzen Kopfbewegung auf das Mädchen und fragte: »Was nun, Razamon?« »Wir tasten uns von einem Punkt der Ratlosigkeit zum anderen«, sagte schulterzuckend der Freund. »Wenn ich eine Ahnung hätte, was uns in den nächsten Stunden und Tagen erwartet, dann könnte
ich dir vermutlich eine zufriedenstellende Antwort geben. Leider bin ich kein Hellseher.« »Kümmern wir uns um Fiothra. Und unser Versteck steht wohl auch schon fest.« Es waren die Höhlen oder Händlermagazine, aus denen die Teilnehmer der Prozession gekommen waren. Eine schnelle Überlegung sagte den zwei Männern, daß es für sie längst Zeit war, sich auszuruhen; es war mehr als ein Tag auf Dorkh zwischen der letzten Rast vergangen. Sie faßten Fiothra an den Armen und zogen das Mädchen mit sich. Sie folgte ihnen fast willenlos bis zum Eingang des Hauses im Fels. Atlan blieb stehen und schaute hinauf zum Ende der Rampe. »Der Zugor ist mir zu weit entfernt. Falls wir flüchten müssen, dauert es zu lange. Ich hole ihn, klar?« »Ausgezeichnete Idee«, antwortete Razamon und spähte in den Eingang des Felsenhauses. »Ich kümmere mich um Fiothra.« Atlan hastete davon, kehrte nach wenigen Schritten um und zerrte ein halbes Dutzend Leichen vor dem Eingang zur Seite. Dann war ein freier Platz geschaffen, groß genug, um den Zugor zu landen. Razamon verschwand vorsichtig im Haus, in der rechten Hand die kurzläufige Waffe. Minuten später, als der Zugor leise summend landete, mit der offenen Luke genau vor dem kantigen Loch im Fels, kam Razamon wieder ins Freie, sah nach dem unverändert grauen Himmel und hob eine Hand. »Leer. Gut ausgestattet«, sagte er. »Fiothra ist halbwegs zusammengebrochen und schläft. Ich habe noch Hoffnung, daß sie sich wieder erholt.« »Du meinst, die schwarze Wand hat sich nicht ihre Bewußtseinsinhalte geholt?« Atlan ging an Razamon vorbei in die Höhle und sah sich einem Raum gegenüber, der ein Mittelding zwischen großzügig entworfenem Wohnzimmer und einer kleinen Handelsstation
darstellte. Im Hintergrund lag Fiothra in tiefem Schlaf auf einigen Kissen, mit einem Fell zugedeckt, und neben ihr brannte das winzige Flämmchen einer Öllampe. »Geradeaus geht es in Ställe, Magazine, andere Wohnräume, Küchen und Bäder«, erläuterte Razamon. »Ich denke, es ist zu riskieren, wenn wir hier ausruhen. Aber nur, wenn wir abwechselnd Wache stehen.« Atlan hob ein Bündel mit Nahrungsmitteln, das er aus dem Zugor mitgenommen hatte. Sein Körper hatte ihn überzeugt, daß er Nahrung und Erholung brauchte, trotz der Wirkung des Zellschwingungsaktivators. »Genau so machen wir es. Fiothra?« »Wir müssen abwarten, wie sie sich fühlt, wenn sie aufwacht. Ich glaube, es ist ein Schlaf der Erschöpfung. Nicht der Todesschlaf der kollektiven Träume.« Sie reinigten ihre Arme und Gesichter, trockneten sich mit Tüchern ab, die den Toten dort draußen gehört haben mochten, und trafen sich, nachdem sie aus allen möglichen Winkeln Becher, Kannen und Bestecke zusammengetragen hatten und nachdem sie Nahrungsmittel gefunden hatten, an dem großen Tisch nahe des Eingangs. Atlan entzündete drei weitere Öllampen und half dann Razamon. Wenige Augenblicke später versuchten sie, ihren Hunger zu stillen, obwohl ihre Gedanken immer wieder abirrten. »Ich neige inzwischen«, sagte irgendwann während der Mahlzeit der Arkonide, »zu einer Ansicht der Vorfälle, die mich mutlos macht. Der Dunkle Oheim will alle Wesen von Dorkh dafür bestrafen, daß der Dimensionsfahrstuhl steckengeblieben ist.« »Das bedeutet, daß alles intelligente Leben auf Dorkh ausgelöscht werden soll – oder bereits ausgelöscht ist«, murmelte Razamon finster. Atlan senkte den Kopf. »Gleichzeitig wird der Dunkle Oheim neue Kräfte mobilisieren.« Atlan hatte lange nachgedacht und versucht, scheinbar
unzusammenhängende Beobachtungen, Informationen und Vermutungen zu einem klaren Bild zusammenzufügen. Noch war das Mosaik lange nicht vollständig, aber die Taktik zeichnete sich bereits in groben Umrissen ab. Atlan trank einen großen Schluck einer prickelnden und aufmunternden Flüssigkeit, die nach Wein roch, dann fuhr er in seinen Überlegungen weiter fort. »Weißt du, ich glaube, die Bevölkerung von Dorkh soll völlig ausgetauscht werden. Unsere Lage im Augenblick ist einerseits tödlich gefährlich, andererseits sind wir hier so sicher wie nirgendwo.« »Einerseits«, pflichtete ihm Razamon bei, »zählen wir, trotz Zugor, Waffen und Raumanzügen, auch zur auswechselbaren Bevölkerung.« »Stimmt. Und andererseits gibt es in Turgan ja nichts mehr zu töten, zu holen oder auszutauschen. Und falls Dorkh sein Ziel erreicht, ist der Wölbmantel nicht weit entfernt.« Atlan nickte und deutete auf die flackernden Flammen der Schnabelgefäße. »All diese Überlegungen sollten eine leidlich ruhige Nacht garantieren. Wobei die Bezeichnung ›Nacht‹ einer der vielen gräßlichen Scherze ist.« In den folgenden Momenten relativer Ruhe und Entspanntheit lauschten sie wieder einmal in sich hinein, überprüften den Zustand ihrer Gedanken und Empfindungen und kamen übereinstimmend zu dem Schluß, daß die Impulse aus der Richtung des SCHLOSSES zumindest für sie beide ihrer Wirksamkeit erloschen war. Jedenfalls zeigten sie keine Wirkung. Es gab weder Momente der grundlosen Leichtfertigkeit noch solche der unbegründeten Angst oder Raserei. Aber es gab etwas anderes. Diese Unruhe kam nicht vom SCHLOSS, sondern aus den Tiefen der Erfahrungen, die Atlan und Razamon im Lauf ihres ungewöhnlich langen Lebens gemacht hatten. Das deutliche
Bewußtsein, daß sich alle stattgefundenen, augenblicklichen und noch in der unmittelbaren Zukunft liegenden Einflüsse addierten und summierten – bis zu einem Punkt, der sie veränderte. »Also«, versuchte Atlan eine Zusammenfassung, »wir bleiben vorläufig in Turgan, weil wir ziemlich sicher sind, daß uns hier die geringsten Gefahren drohen. Einverstanden, Partner?« »Völlig einverstanden«, entgegnete Razamon, der sich in die Kissen zurückgelehnt hatte und alle Spuren der Müdigkeit zeigte. »In dieser Stadt sind wir vor der schwarzen Wesenheit sicher. Das größte Problem ist allerdings, wenigstens jetzt, wer die erste Wache hat.« Atlan gab ein schwaches Lächeln zurück und versicherte: »Dieses Problem ist gelöst.« Der Arkonide deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle, an der sich der Zellaktivator in seinen Körper versenkt hatte. »Danke. Dann … hinaus mit dir! Nimm dir den Weinkrug mit, oder wie sich dieses Getränk auch immer schimpft. Zur Unterhaltung in den nächsten Stunden empfehle ich intensive Selbstgespräche.« Atlan stand auf, zog die Waffe aus seinem Gürtel und starrte sie mit gerunzelter Stirn an. Von der Sinnlosigkeit dieser Geste verblüfft, schüttelte er wütend den Kopf, schob sie wieder zurück und packte den halbleeren Krug. Langsam ging er hinaus und setzte sich zwischen Zugor und Holzperlenvorhang auf die breite Schwelle des Felsenhauseingangs. Er lehnte sich müde gegen die Wand, blickte lange in den ereignislosen Himmel über der Stadt und stieß einen tiefen Seufzer aus. Mit Verblüffung stellte er fest, daß er anfing, sich nach Pthor‐ Atlantis zu sehnen, nach seinem sogenannten Königreich. Ausgerechnet Pthor, du König ohne Königreich, kommentierte bissig der Extrasinn. Atlan mußte grinsen, obwohl ihm danach nun wirklich nicht zumute war.
»Es mag«, brummte er im Selbstgespräch, »schauderhaft und unglaubwürdig klingen. Aber alles, was ich auf Pthor erlebte, war geradezu langweilig gegenüber den Ereignissen, die ich hier und in dem weiten Gebiet zwischen Pthor und Dorkh erleben mußte.« Du täuschst dich! Der Arkonide zuckte die Schultern, nahm einen kräftigen Schluck aus dem Krug und war absolut sicher, daß die Ruhe vorübergehend und die nächste, von tödlichen Gefahren erfüllte Unterbrechung nicht fern war. 6. Razamon befand sich ebenso wie der Arkonide in einer nachdenklichen, von einer flüchtigen Phase der Entspanntheit diktierten und überlagerten Stimmung. Nach einem erschöpfenden Schluck aus dem zweiten Krug, der dasselbe Getränk enthielt, lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem schwellenden Kissen der steinernen Bank. Er sagte sich im vollen Bewußtsein, daß er die wenigen Stunden der fragwürdigen Ruhe genießen mußte. Er war ebenso wie sein Freund absolut sicher, daß Abenteuer und Gefahren weitaus schneller wieder auftauchen würden, als es ihnen lieb war. Vor allem, was der Dunkle Oheim mit Dorkh geplant hatte, würden sie sich auch in dem schützenden Gelaß am Fuß von Dorkh nicht verbergen können. Razamon war noch immer ziemlich sicher, daß die schwarze Wand (oder das, was Atlan und er so bezeichneten), von der die Turganer getötet worden waren, und der Dunkle Oheim miteinander in engster Verbindung standen. Es gab ebenso Ketten von Überlegungen dafür wie auch dagegen. Atlan, das wußte er, war nicht dieser Meinung, denn schließlich hatte das schwarze Ding dem Dunklen Oheim die Beute vor der Nase weggeschnappt.
Er schloß die Augen und zwang sich dazu, keinen Gedanken mehr an die voraussichtlichen Gefahren zu verschwenden. »Schlaf endlich ein, Razamon«, sagte er zu sich selbst und befolgte diesen Rat auch sofort. Er schlief, und er ahnte nicht einmal, daß die tote Stadt Turgan noch immer verwirrende Geheimnisse für jeden Lebenden in Bereitschaft hielt. * Als Razamon aufwachte, blieb er mehrere Herzschläge lang ruhig liegen, öffnete dann die Augen und blinzelte in die Flammen der Öllämpchen. Das Licht des seltsamen Dorkh‐Tages fiel nur noch stark abgeschwächt bis in diesen Winkel des Wohnraums. Fiothras Atemzüge waren ruhig, sie bewegte sich nicht, und innerhalb der verzierten Felswände gab es keinerlei Geräusche, die den Berserker beunruhigten. Er stand auf, spülte seinen Mund mit einem neuen Schluck aus und ging hinaus zu Atlan. »Achtung«, sagte er. »Erschrick nicht. Ich binʹs. Wachablösung, Atlan.« »Bei mir gibt es nichts Neues«, erwiderte der Arkonide und stand ächzend vom Stein auf. »Die Tiere, ausgenommen die Vögel, verlassen zum Teil die Stadt.« »Begreiflich. Was sollen sie auch hier zwischen den Felswänden. Gehe hinein, ich kann dir die Ruhe gut empfehlen.« »Wie gesagt: keine besonderen Vorfälle. Die Toten sind tot, die schwarze Wand ist weit weg, und der Dimensionsfahrstuhl rast nach wie vor durch irgendeinen Korridor. Wecke mich, wenn der Dunkle Onkel auftritt.« Razamon mußte wider Willen in ein heiseres Lachen einstimmen. Er versicherte:
»Falls dies eintritt, dann wirst du so schnell geweckt wie noch nie in deinem Leben.« Razamon setzte sich an dieselbe Stelle, an der auch Atlan gesessen war. Er schaute die vielen Flächen der Felsenstadt an und die wenigen Bäume und Hängepflanzen, die aus steinernen Trögen wuchsen. Sein Blick wanderte über den grauen Himmel und heftete sich auf den Wölbmantel. Die unzähligen Leichen waren inzwischen, so makaber er selbst diesen Gedanken empfand, ein Anblick geworden, der fast alltäglich war. Hundeähnliche Tiere zerrten an den Gewändern der Leichen. Immer wieder schwirrten die Vogelschwärme hin und her und verschwanden für lange Minuten außer Sicht. Die Chreeans rissen sich los, und als das erste Tier aus der Stadt galoppierte und seine Last abschüttelte, folgten ihm einige andere. Hin und wieder, fast jenseits der Hörgrenze, glaubte Razamon die krachenden Beckenschläge und die dröhnenden Klänge der riesigen Trommel zu hören. Vermutlich war die Prozession der dreizehn Männer noch immer auf dem Weg zu der Stelle, an der sie sich dem Dunklen Oheim entgegenstellen wollten. Verächtlich lachte er auf; ein weiteres sinnloses Unterfangen. Er wartete mit der Geduld eines Jägers, denn irgendwann würde sich irgend etwas ändern. Seine Gedanken schweiften ab, und er rief sich zur Ordnung. Früher oder später würde sich in oder auf Dorkh etwas ändern müssen. Die Steigerung der Vorfälle wies in diese einzige, mögliche Richtung. Ein ungelöstes Problem war Fiothra. Er, Razamon, hatte die schmalhüftige Magierin vorübergehend heftig begehrt, aber die Ereignisse hatten jeden seiner Versuche im Keim erstickt. Jetzt empfand er nur noch bestenfalls Mitleid mit dem jungen Mädchen. Er hoffte, daß ihr Geist nicht unwiderruflich geschädigt war. Aber genau dies mußten sie befürchten. Die Minuten und Stunden vergingen in qualvoll langsamer Ereignislosigkeit. Razamon saß da, spielte mit seiner Waffe, nahm
ab und zu einen kleinen Schluck aus dem Krug, stand endlich auf und schlenderte halbwegs gelangweilt zwischen den Leichen hin und her, verscheuchte die kläffenden kleinen Tiere mit dem struppigen Fell mit einigen Fußtritten und setzte sich schließlich wieder. Irgendwie war er dankbar dafür, daß nichts geschah. Der Anblick des startklaren Zugors mit seinen unsymmetrischen Fenstern und Abdeckplatten beruhigte ihn jedesmal, wenn er seinen Blick darauf fallen ließ. Er zuckte die Schultern und lehnte sich gegen den kühlen Stein der Hausfassade. Er wartete. Er wußte nicht genau, worauf er wartete. Hinter ihm, sicher verborgen hinter dicken Wänden aus gewachsenem Fels, schliefen Atlan und Fiothra. * VarVar hingegen wachte auf. Er, sie oder es – VarVar begriff sich als geschlechtsloses, aber mächtiges Wesen – hatte bisher, verteilt auf seine unzähligen Zellen, geschlafen und gewartet. VarVar lebte in den Höhlungen, Röhren und Kanälen, die vor undenkbar langer Zeit in die massiven Felswände geschlagen und gebohrt worden waren. Er/Sie/Es bestand aus Tausenden und aber Tausenden einzelner Zellen. Sie sahen aus wie weiße, leicht phosphorn leuchtende und außergewöhnlich große Sandkörner. Es waren aber Sporen und Einschüsse, in winzige und haarfeine Risse des Gesteins eingebettet. Sie existierten seit der Zeit, in der Dorkh selbständig geworden war. Der Prozeß, der zu der Reife vieler einzelner Zellen geführt hatte, dauerte ungewöhnlich lange. Zuerst kam das Wachstum der ersten Zelle, dann die Zellteilung, schließlich die zweite Zellteilung. Aus vier Zellen wurden acht, aus
acht sechzehn, dann zweiunddreißig und vierundsechzig. Nach mehreren weiteren Teilungen war die geringstmögliche Menge erreicht, an der ein Wesen von der Art VarVars die ersten Spuren von dumpfer Intelligenz zu entwickeln begann. Diese Vorahnung der Intelligenz äußerte sich nach einigen Dutzenden von Jahrhunderten darin, daß die einzelnen, noch immer mit dem bloßen Auge der Kanalbauer nicht erkennbaren Körner danach strebten, sich zu vereinigen. Sie bewegten sich, von einem dumpfen Drang gesteuert, aufeinander zu. Für die Strecke von wenigen Zentimetern brauchten sie Jahrzehnte. Säurehaltige Zellausscheidungen lösten langsam den Stein auf, und entlang der Haarrisse wanderten die Bestandteile VarVars aufeinander zu. Irgendwann, nach einer sehr langen Zeit, trafen zwei Zellverbände aufeinander. Sie erkannten, daß ihre gegenseitigen Muster übereinstimmten und verschmolzen miteinander. Ihre Größe wuchs um das Doppelte. Ihre gedankenlose, aber instinktsichere Intelligenz wuchs um mehrere Potenzen. Gemeinsam suchten die Zellen VarVars nach ihrem jeweiligen Nachbarn. Das kriechende, tastende Vorwärtsbewegen dauerte abermals Tausende von Tagen. Unbemerkt und völlig unberührt von allen Geschehnissen und Vorgängen, die sich auf Dorkh und in der wechselvollen Geschichte des Dimensionsfahrstuhls abspielten, vereinigten sich einzelne Bestandteile von VarVar. Dies geschah in völliger Dunkelheit. Unbeeinflußbar von äußeren Einflüssen, welcher Art auch immer. Von den Hunderttausenden einzelner Zellen oder Wesenheiten trafen sich mehr und mehr. Sie wuchsen, erkannten einander, wanderten weiter. Die Zellteilungen hatten seit einigen Jahrtausenden aufgehört. Jetzt begannen die Zellvereinigungen. Der erste wirkliche Vorstoß in die Richtung des geplanten Lebewesens war der Augenblick, als mehrere Zellverbände
unabhängig voneinander eine freie Höhlung erreichten. Hier gab es Feuchtigkeit, Nährstoffe, freien Weg – die Widerstände des Fortbewegens in den Haarrissen des Felsens waren nicht mehr vorhanden. Mehr und mehr Einzelteile von VarVar vereinigten sich. Noch immer kannten sie nur ein einziges Ziel: Sie mußten mehr ihresgleichen finden. Sie wanderten weiter. Ein dumpfer Evolutionsdrang trieb sie stets in die entsprechenden Richtungen. Aus vier zufällig aufeinandergetroffenen Partikeln wurden fünf, sechs, irgendwann zwanzig oder mehr. Wieder galt, was für die ahnungslosen Zellverbände richtig war: Die Masse wuchs nur unwesentlich, aber die Intelligenz wuchs im Quadrat und in besonderen Fällen in der Potenz. VarVar bestand jetzt nicht mehr aus Millionen von weit verstreuten, unzusammenhängenden Zellen, sondern aus einigen Hunderttausenden kleiner Einheiten. Je mehr von ihnen die pechfinstere Freiheit einer Röhre, eines Loches oder eines Kanals erreichten, desto größere Stücke verbanden sich miteinander. Und da sie inzwischen wußten – ohne darüber so etwas wie Gedanken entwickeln zu können –, daß ihre einzige Stärke, ihr einziger Daseinszweck darin bestand, sich zu vereinigen, zu wachsen, größer und länger zu werden, handelten sie danach. In der Kanalisation von Turgan befanden sich jetzt Tausende etwa fingerlanger, nur weniger Millimeter dicker Bruchstücke Var‐Vars. Wieder verging eine gewaltige Zeitspanne. Sie bedeutete nichts für diesen Organismus, der seine Existenz zur Hälfte dem Zufall, zur anderen Hälfte den ewigen Gesetzen der Evolution verdankte. Die einzelnen Teile wurden größer, wurden stärker, fanden zueinander und hefteten sich wie Teile eines langen, dünnen Seiles aneinander. Aus tausenden Teilen, jeweils einen Finger lang, wurden Stücke von unterschiedlicher Länge, die nicht mehr Durchmesser hatten als ein Strohhalm. Auch diese Phase verlief unbemerkt und dauerte mehrere
Jahrhunderte. Die Bruchstücke waren nun armlang, oder mehrere Meter lang, und es gab auch einzelne Fäden, die zehn und mehr Meter lang waren und mit ihren Enden suchend und gierig umherwedelten. Abermals verging eine bestimmte Zeitspanne, die für VarVar nichts bedeutete. Er/Sie/Es war ein zeitloses Wesen, das für kleine Ewigkeiten geschaffen und gedacht war, nichts anderes als eine Laune der allgewaltigen Natur. VarVar wartete, ohne zu wissen, daß er/sie/es wartete. Nach abermals einer gewaltigen Zeitspanne geschah folgendes: Impulse durchfluteten die gesamte Natur der Oberfläche von Dorkh. Sie schlugen in den Boden ein und durchdrangen sogar Teile des Felsens. In der Stadt Turgan, die aus massivem Stein herausgearbeitet war, drangen die Impulse selbst an Stellen ein, die normalerweise alle anderen Strahlungen absorbierten und filterten. Es waren die Impulse aus dem SCHLOSS, die alle Lebewesen zwischen irrsinnigster Raserei und ausufernder Heiterkeit hin und her schwanken ließen. Auf die schläfrig wachsenden und unsichtbar tastenden Teile VarVars hatten die Impulse eine völlig andere Wirkung. Die Teile gerieten in rasende Aufregung. Sie bewegten sich, schlängelten sich blind, aber schnell durch die Höhlungen und Kanäle, glitten aneinander vorbei oder trafen sich. Wenn sie sich trafen, vereinigten sich zwei oder mehr Stücke sofort miteinander und bildeten eine Art Schnur von vielen Metern Länge. Jene Teile, die sich trotz ihrer Ahnung verfehlten, trafen auf andere Bruchstücke und vereinigten sich mit diesen. Einige Stunden nach dem ersten Schwall der Impulse aus dem SCHLOSS gab es in diesem tiefgelegenen Teil von Turgan mehr als hundert Bruchstücke von VarVar, von denen jedes nicht kürzer als zehn Meter war und noch immer so dünn wie ein Grashalm. Die Impulse. Sie kamen und gingen, wechselten einander ab, wurden schwächer und stärker, beeinflußten die Teile des im Lauf
von Jahrtausenden entstandenen Wesens. Rasende Aktivität der aufeinander zustrebenden Teile wurde abgelöst von erschlaffender Inaktivität. Als die schwarze Wand zum erstenmal über Turgan hinwegstrich und alle Lebewesen in Tiefschlaf versetzte, ruhte auch der Bewegungsdrang von VarVar, der nun aus Stücken von mehreren Dutzenden Metern bestand. Noch immer waren seine Bruchstücke bleich und leuchteten in der absoluten Dunkelheit der vergessenen Kanäle wie das Licht am Hinterleib der Leuchtkäfer … Die Wand erschien das zweitemal. Während diese unbegreifliche Wesenheit das Leben aus den schlafenden Körpern der Turganer heraussog, erfaßte die Teile von VarVar eine hektische Betriebsamkeit. Sie rasten förmlich durch das nachtschwarze Labyrinth und bildeten immer längere Ketten. Als sich die schwarze Wand, gesättigt und strotzend von den Bewußtseinsinhalten der getöteten Turganer, zum zweitenmal zurückzog, hatten alle Bruchstücke und Teile von VarVar zueinandergefunden. Ein Organismus, mehrere tausend Meter lang und noch immer so dünn wie ein feiner Bindfaden, war entstanden. Die Enden der Bruchstücke, die wie Kupplungen ineinandergriffen, wurden von elektrisierenden Strömen der Intelligenz durchflossen. Vom Kopf bis zum Schwanz des in diesen Sekunden entstandenen Wesens VarVar entstand binnen weniger Minuten eine Einheit. Abermals potenzierten sich Intelligenz und Gier. Dieses neu entstandene Wesen entwickelten zum erstenmal zwei grundsätzlich verschiedene, aber arterhaltende Eigenschaften. Es wurde sich selber bewußt. Und es entdeckte die Gier, die übermächtig war und notwendig, um das Überleben des kilometerlangen Wesens zu gewährleisten. Sofort fing VarVar an, sich zu bewegen. Nur der Instinkt sagte ihr/ihm, in welcher Richtung das Licht zu finden war und in welcher Richtung es Nahrung gab. VarVar fraß alles, verdaute selbst
Gestein, war von einer gewaltigen Überlebensgier erfüllt und erreichte nach einer Reihe von Verrenkungen, Schlängeleien und tastenden Versuchen einen Punkt, der die Trennungslinie darstellte zwischen dem absoluten Dunkel und dem vagen Licht. Licht? VarVar konnte Licht nicht als das identifizieren, was es bedeutete. Aber: VarVar begriff. Hinter der Barriere aus fein gemeißeltem und ziseliertem Stein, die Magazin, Laden und Gemeinschaftsraum voneinander trennte, erschien aus einem winzigen Loch das Ende des dünnen, endlos langen Wesens. Der Kopf war nicht mit Sinnesorganen ausgestattet, aber die komplizierten Zellverbände entwickelten eine Art pseudotelepathischer Fähigkeit. Sie witterten Wärme, Licht, Sauerstoff und Nahrung. Das Ende schob, ringelte und tastete sich aus der Öffnung. Irgendwo vor VarVar gab es Licht. Etwa zehn Meter des langgestreckten Körpers, kamen aus der Öffnung hervor und krochen über den rauhen, trockenen Stein des Bodens. Wie eine winzige Schlange bewegte sich das augenlose Ende VarVars. Fast unmittelbar vor den gierigen Zellen befand sich ein großer Brocken Nahrung. Diese Masse rührte sich nicht und kroch nicht davon. Noch mehr von VarVars Körpersubstanz verließ die feuchte Dunkelheit, in der sie entstanden war. Lautlos kroch der glimmende Faden heran und legte sich in spiralige Windungen. Als das Ende den warmen Körper berührte, ging es wie ein Schlag durch die fadenähnliche Kreatur. Die Säfte, mit denen VarVar seine Nahrung auflöste, um sie durch die Zellwände transportieren zu können, wurden aktiviert und traten aus dem Spiralkörper aus. VarVar legte pfeilschnell Windung nach Windung seines hungrigen, gierigen Körpers um die warme, bluterfüllte Nahrung. *
Atlan trat neben Razamon und machte einige Lockerungsübungen seiner Schultermuskeln. »Dort drinnen ist die Luft plötzlich stickig geworden«, sagte er. »Vermutlich hat dieser Umstand mich geweckt.« »Immerhin hast du rund fünf Stunden geschlafen«, erwiderte Razamon und stand von seinem harten Sitz auf. »Mir erschien es nicht so lang.« Dorkhs Lage und der Zustand der Stadt waren unverändert. Die Fahrt des sterbenden Dimensionsfahrstuhls hielt an. Die schwarze Wand hatte sich nicht gezeigt. Nur waren inzwischen die meisten Tiere aus der Stadt geflohen oder hatten sich versteckt. »Wir sollten etwas unternehmen«, schlug Atlan vor und schüttelte sich. »Was schlägst du vor?« »Ein Erkundungsflug ist das einzige, was mir einfällt. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Und eine private Plünderung der Schätze Turgans ist so sinnlos wie vieles andere.« »Wohin soll der Flug gehen?« Atlan machte eine unbestimmte Geste. »Nach Norden meinetwegen. Immer entlang des Wölbmantels. Aber zuerst sehen wir nach Fiothra.« Sie nickten sich zu und gingen in den Wohnraum hinein. Im gleichen Augenblick zitterte der Boden unter ihnen. Ein donnerartiges Geräusch ging über die Stadt hinweg. Dorkh wird angehalten! schrie warnend der Extrasinn. Und aus dem Raum, aus der Ecke, in der Fiothra schlief, kamen gurgelnde und schmatzende Laute. Der Berserker drängte sich an Atlan vorbei und sprang über die steinernen Möbelstücke. Wieder schüttelte sich die Stadt, und aus den Tiefen ihres steinernen Innern drangen Knistern und Poltern hervor. »Atlan! Hierher! Etwas bringt das Mädchen um …«, schrie der Berserker auf und riß die Waffe aus dem Gürtel. Atlan hob seine
Energiewaffe und feuerte einen Schuß auf eine leuchtende Spirale ab, die aus dem Hintergrund des Raumes kam und sich mit dehnenden und zusammenziehenden Bewegungen auf die Füße des Mädchens zuschob. Der Energiestrahl verbrannte und zerfetzte den Spiralkörper, der aussah, als glimme er. Ein schwaches Phosphorlicht ging von ihm aus. Razamons Finger, die sich um mehrere der Windungen über dem Kopf des Mädchens gelegt hatten, rutschten immer wieder ab. »Sie stirbt!« knurrte voller Wut der Arkonide. Razamon wischte seine Hände, die unerträglich juckten und brannten, an seinen Hosen ab und griff wieder zu. Aber selbst die gewaltigen Körperkräfte des Berserkers schafften es nicht, die schnurdünnen Windungen aufzubrechen und abzureißen. Der Körper Fiothras, der sich noch schwach bewegte und hilflos zuckte, war wie eine Mumie von den spiraligen Windungen des fremden Wesens umwickelt. Eine Windung lag ohne Abstand an der nächsten an. Von Kopf bis Fuß war Fiothra von der leuchtenden Substanz eingeschnürt. Der zweite Schuß peitschte röhrend aus Atlans Waffe. Er vernichtete ein weiteres Stück des leuchtenden Mörderwurms, das aus einem winzigen Loch der Wand gekommen war. Dann wandte er sich ab und sagte, während sich die Felsen wieder zu bewegen schienen: »Hör auf. Du erreichst nichts.« Razamon hob seine Hände hoch, starrte sie verständnislos an und rannte fluchend in die Badekammer des Felsenhauses. Dort tauchte er die Finger ins Wasser und fühlte, wie sich die Säure auflöste. Der Arkonide zögerte eine Weile, dann drehte er sich um und hob seine Waffe. Aus beiden Enden der engen, zuckenden Spirale, die sich aufzublähen begann, sickerte eine trübe Flüssigkeit. Die Haut des Mädchens war aufgelöst, Fiothra war erstickt und zermalmt worden. Ein weiterer Schuß erfüllte das Innere des Steinhauses mit
ohrenbetäubendem Lärm. Dann war auch dieses Stück des Wurmes eingeäschert, zusammen mit seinem Opfer. Die Männer rannten ins Freie. Der Überfall hatte keine dreißig Sekunden gedauert. In der Zwischenzeit war Dorkh zum Stillstand gekommen. Razamon fauchte, ein trockenes Tuch in den Fingern: »Es muß völlig lautlos vor sich gegangen sein.« »So leise, daß ich nicht einmal aufgewacht bin«, sagte der Arkonide. »Der dumpfe Geruch hätte mich warnen müssen.« »Dorkh steht. Die Reise hat ihr Ende gefunden. Jetzt müßte eigentlich eine Sonne erscheinen … oder die Nacht mit ihren Sternen.« Atlan kletterte in den Zugor. Ein losgerissenes Stück Sims krachte aus einem oberen Bezirk der Stadt herunter und zersprang krachend auf dem Boden. Razamon schwang sich auf die Kante des Einstiegs und starrte nach oben, als Atlan die Maschinen startete. »Keine Sonne, Atlan«, sagte er nach einigen Sekunden. »Aus der Höhe des Wölbmantels sickert aber so etwas wie Rauch oder Nebel herunter.« Atlan sah durch ein Fenster, daß Razamons Warnung stimmte. Die Farbe des Wölbmantels begann sich zu verändern. Durch den Mantel hindurch drang eine hellgraue, milchigtrübe Substanz. Es konnte tatsächlich Nebel sein, oder die giftige Lufthülle einer fremden Welt, auf der Dorkh unter ständigen Erschütterungen zum Stillstand gekommen war. Razamon ließ sich ins Innere gleiten und sagte kurz: »Wir müssen hier weg.« »Es dauert nur noch einige Sekunden«, antwortete Atlan. »Der Nebel wird dichter und dicker.« Leise summend hob sich der Zugor senkrecht hoch. Als sich die Maschine drehte und leicht nach vorn kippte, um in einen schrägen Steigflug überzugehen, stießen beide Männer einen Laut der Überraschung aus.
»Die Prozession!« Als wäre nichts geschehen, kehrten die dreizehn Teilnehmer dieses seltsamen Zuges in die Stadt zurück. Wie weit sie bei ihrem Gang gekommen waren, und warum sie ihren Plan nicht ausgeführt hatten, war nicht zu erkennen. Atlan verlangsamte den Flug der Maschine und blickte verblüfft den schwarzen Totenschädel an und die aufdringlichen Farben der Umhänge und der Metallplatten. Durch die Platten der Verkleidung drangen der Lärm der Instrumente und das dumpfe Singen der Pilger aus Turgan. Sie befanden sich jetzt auf der Straße und kamen gerade auf den Platz, an dem die Rampe begann. Der Zugor schwebte über der höchsten Stelle der Stadt. »Dieser Nebel … er wird gleichmäßig ganz Dorkh bedecken«, meinte Razamon und dachte daran, die Luke zu schließen und zu verriegeln. »Ich kann bereits Teile der Landschaft nicht mehr genau erkennen.« Der Nebel kam aus jedem Teil des Wölbmantels und breitete sich aus. Zwar verdünnte er sich, ehe er den Boden erreicht hatte, aber ständig drang mehr von der watteähnlichen Substanz nach. Atlan blickte in verschiedene Richtungen und sah ebenfalls, wie die Konturen sich auflösten und langsam zu verschwimmen begannen. Auch Teile der kantigen Felsen von Turgan verloren ihr Aussehen und versteckten sich in dem dünnen Nebel. »Wenn wir jetzt Dorkh verlassen«, sagte der Arkonide und ließ den Zugor langsam um die Spitze der Stadt kreisen, »fliegen wir dem Dunklen Oheim direkt in die Arme. Zwar wissen wir nicht, wie seine Arme aussehen … mir wird übel, wenn ich daran denke, was uns bevorsteht.« Razamon antwortete nicht. Er hob den Kopf, blickte aus der Luke und zeigte dann geradeaus hinaus nach Westen. »Was hast … ich sehe es!« murmelte der Arkonide. Die schwarze Wand.
»Sie kommt zum drittenmal nach Turgan!« stellte Razamon fest. »Eine neue Teufelei, ich bin ganz sicher. Wir sind ihr schon einmal hier entkommen.« Der Nebel machte auch die Umrisse der schwarzen Wand weicher und scheinbar harmloser. Aber die zwei Männer gaben sich keinerlei Illusionen hin. Die Gefahr, die jenes intelligente Gebilde aus Finsternis verkörperte, wurde dadurch nicht geringer. In derselben rasenden Geschwindigkeit, wie sie von Atlan und Razamon bisher immer beobachtet worden war, kam die Wand heran. »Ohne Zweifel ist Turgan ihr Ziel!« stellte Atlan fest. »Ich werde uns wieder dorthin bringen, wo wir schon einmal überlebt haben.« »Einverstanden. Und was tun wir, wenn die Wand diesmal näherkommt und etwas ganz anderes plant?« »Dann gibt es für uns nur noch eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die ich gern bis zum letzten Augenblick hinauszögern möchte.« Razamon warf einen Blick auf die Raumanzüge und antwortete dann: »Hinaus? Durch den Wölbmantel ins Unbekannte!« »Du weißt es ebenso gut wie ich.« Der Zugor beendete seine Umkreisung des obersten Plateaus. Von dem Fuß der Rampe kamen abgerissene Fetzen von Gesang und Beckenschlägen. Die Leichen lagen zwischen den Hausfronten. Ein Tier, groß wie ein Hund, hinkte zwischen ihnen auf einen Hauseingang zu. Das Rinnsal des Brunnenwassers war versiegt und ausgetrocknet. Der Zugor schwebte langsam rückwärts und auf den Wölbmantel zu. Die ersten Nebelschwaden griffen wie gierige Finger nach der Flugscheibe. Razamon schnupperte aufgeregt, aber der Nebel roch nach nichts. Nicht einmal nach den Gasen einer fremden Welt. Schweigend und voller Erwartung kommenden Unheils blickten
die Männer der schwarzen Wand entgegen. Obwohl sie teilweise im Nebel verschwand, wirkte die Wand diesmal so, als plane sie etwas gänzlich anderes, völlig Ungewohntes. Razamon hatte sich wohl bereits damit abgefunden, daß Atlan binnen kurzer Zeit den Zugor durch den Wölbmantel Dorkhs hinaus steuern würde, denn er fragte nach einigen Sekunden: »Was wird uns draußen erwarten?« »Ich habe nur Vorstellungen von Schrecken und Terror. Vermutlich hat noch niemand den Dunklen Oheim gesehen. Nicht einmal die Neffen.« Die schwarze Wand kroch jetzt auf den Fuß der Stadt zu. Ihre Geschwindigkeit hatte abgenommen, aber ihre Größe erreichte jetzt wieder die bekannten Ausmaße. Die Wand spannte sich bis in den nebligen Wölbmantel hinein, lag auf dem verschwimmenden Felsboden auf und schwang sich konkav hinauf in den Himmel über Turgan. Alles nahm jetzt dieselbe Farbe an: ein helles, nebliges Grau, das nicht einen Funken Sonnenlicht enthielt. Im Innern des Zugors wurde es dunkler und dunkler. Nur das drohende Schwarz direkt vor ihnen behielt seinen schrecklichen, stumpfen Ausdruck. Eine leichte Erschütterung ging durch den Zugor, als Razamon die Luke schloß und die Verriegelung bediente. Atlan murmelte plötzlich: »Ich glaube, die Wand lauert auf einen bestimmten Moment.« »Oder auf uns?« »Auch das ist möglich. Noch sehe ich eine winzige Chance für uns …« Obwohl sie sich fürchteten, hielten sie noch eine Weile durch. Nach ihrer Meinung war die schwarze Wand zum Stillstand gekommen, direkt vor ihnen. Die Entfernung war gering, aber wie gering, konnten sie nicht abschätzen. Und plötzlich, nach einer unerträglich scheinenden Wartezeit, sagte Atlan leise:
»Ich bin sicher, daß sich die Wand bewegt.« Razamon hatte sich nicht von der Stelle gerührt und bohrte seinen Blick in die Finsternis vor ihnen. »Ich glaube, du hast recht. Also …?« »Wir flüchten nach vorn.« »Ich wünsche uns viel Glück.« Der Zugor bewegte sich langsam auf den Wölbmantel zu und verschwand nach einer kurzen Flugstrecke im Nebel. Wo die Trennungslinie zwischen Nebel und Wölbmantel verlief, wußte Atlan nicht. Er erkannte auch nicht unter sich den Felsabriß, der für Turgan die Grenze zwischen dem festen Land und dem Unbekannten bedeutete. Der Flug hatte angefangen. Wie er enden würde – und was die nächsten Augenblicke für Atlan und Razamon bereithielten –, ahnten die Männer nicht einmal. Aber sie fürchteten sich davor. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 472 von König von Atlantis mit: Spur des Todes von Marianne Sydow