Hans Kneifel
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Hans Kneifel
Flucht der Androiden PERRY-RHODAN-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Moewig Verlag, 8 München 2, Augustenstraße 10 Copyright © 1975 by Moewig Verlag Redaktion G. M Schelwokat Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Einzelpreis: DM 2,80 (inkl. 5,5% MwSt) Verantwortlich für die Herausgabe in Österreich: Waldbaur Vertrieb, X-5020 Salzburg, Franz-Josef-Straße 21 NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, 2 Hamburg 1, Burchardstr. 11, Tel. 040 / 33 96 1629, Telex: 02/161.024 Printed in Germany November 1975
1. Eine mächtige Düne in der gleißenden Sonne. Ihr flacher Ausläufer ging unmerklich in die Wüste aus Salz über. Das Salz lag in hartgebackenen gelben Streifen zwischen der Lavaasche. Die Hitze war entsetzlich. Kein Grashalm wuchs hier. Die Sonne strahlte herunter wie mit weißglühenden Speerspitzen. Ein kochendheißer Windstoß riß einen spiraligen Sandwirbel hoch und trieb ihn nach Osten. Nirgendwo war Schatten, nicht ein Quadratzentimeter Schatten. Die Asche wurde abgelöst von kleinen Wällen, die gelb, rostbraun und blau waren. Zwischen den Wällen stand unbeweglich Wasser. Kochendheißes Wasser, stinkend, von verschiedenen Salzen aus den geheimnisvollen Tiefen des Planeten gesättigt. Die Mineralablagerungen bildeten jene Wälle. Die zitternde, unbewegliche, stinkende Luft über den vielgestaltigen Tümpeln flirrte. Vierhundert Schritte weiter nach Osten begann wieder eine Düne, nicht so hoch, und hier gab es vereinzelte Grashalme, harte und stachelige Gewächse, und jenseits der Düne, verborgen und wie ein Spiegelbild aus einer anderen Welt, stand in der Hitze ein kleiner Wald. Das Rauschen einer winzigen Quelle war nur dann zu hören, wenn man neben ihr stand.
Am Fuß der Riesendüne, auf dem gebackenen Streifenmuster aus Salz und Asche, lag eine Gestalt. Ein Mann. Er war vollkommen nackt, aber jetzt, als er sich bewegte, glänzte helles Metall an seinem Hals. Die trostlose Öde schluckte das Geräusch, als er zu stöhnen begann. Was war geschehen? Brodelnde, kochende Spiralnebel drehten sich vor meinen Augen. Ich war nicht fähig, zu denken. Wo befand ich mich? Zuerst schlug der Schmerz zu. Er war wie eine gewaltige Peitsche aus weißglühenden Drähten. Mein Körper war ein einziger Schmerz. Warum befand ich mich hier? Ich blinzelte. Flirrende Helligkeit blendete mich. Meine Sinne schienen sich nacheinander einzuschalten. Zuerst die Augen. Ich sah. Diese Landschaft, ein Garten des Todes! Sand. Licht. Keine Schatten. Seltsame Streifen. Direkt vor meinen Augäpfeln grobe Körner, dahinter schwarze Linien. Dahinter gelbgeäderte Wälle, über denen die Hitze das verdampfende Wasser flimmern ließ. Wasser? Was war das für ein bestialischer Geruch? Es stank nach fremden Gasen. Es stank nach dem Rückstand sofort verdunsteten Schweißes. Es stank nach Krankheit; dieser Gestank kam mit jedem Atemzug aus meinem Mund. Jeder Atemzug klang, als ob eine trockene Haut über Felsen gezerrt würde. Die Ohren arbeiteten wieder; das Gehör weigerte sich, jene kosmische Stille aufzufangen. Durch die rasenden Schmerzen hindurch fühlte ich, daß ich einen Körper hatte. Sehnen, Muskeln, Knochen und Adern. Die Hitze nagelte mich an den Boden. Auf welchem tödlichen Planeten befand ich mich? Wo ist der starke Wille, der dich bisher hat überleben lassen? Ein neues, beunruhigendes Gefühl fiel mich an wie ein Raubtier; wenn es mir nicht gelang, von hier fortzukommen, würde ich in einigen Stunden wahnsinnig und tot sein – oder noch schneller. Ich spannte meine Muskeln, riß die Haut meiner Knie und Ellbogen auf, als ich versuchte, mich aufzurichten. Feucht und stinkend kamen die keuchenden Atemzüge aus den rasselnden Lungen. Ich zog die heiße Luft ein, sie stank, und ein schmerzender Hustenanfall riß meinen Oberkörper hin und her. Als der Anfall endete, kniete ich auf Sand und körnigem schwarzen Material. Langsam drehte ich den dröhnenden Kopf. Auf die Beine! Du stirbst! Ein neuer Schwächeanfall warf mich auf die Handflächen. Meine Arme zitterten unkontrolliert. Ich erhaschte einen Blick auf meinen Körper. Nackt! Ich riß mich in die Höhe, stand einen Augenblick schwankend
da, die Bilder vor meinen Augen drehten sich, und ich fiel wieder zusammen wie ein Haufen Gebeine. Aber ich hatte einen Teil des Geländes gesehen. Ich war auf der Todeswelt. Ausgesetzt und verurteilt. War ich daran, verrückt zu werden? War dies alles ein Traum, eine Täuschung? Ich hätte andere Erinnerungen haben müssen. Hatte sich der Kosmos gegen mich verschworen? Eine erschreckende Kette von einander überstürzenden Überlegungen durchfuhr jetzt meinen Sinn. Ich merkte plötzlich, daß ich wieder stand und mit brennenden Fußsohlen zu gehen versuchte. Meine Schritte waren steif, als hätte ich seit unendlichen Jahren geschlafen. Ich stolperte nach zehn Schritten, kam wieder hoch und wankte weiter. Diese Tortur muß ein Ende haben. Es muß ein schnelles Ende sein! Ich spürte nach einigen Schritten die gnadenlose Hitze nicht mehr. Ich wankte weiter und sah, als es mir gelang, die Augen zu öffnen, vor mir tausend kleine Wasserflächen, jede nicht größer als eine Tierhaut. Wasser… Wasser… WASSER! Es ist die Rettung! Weiter. Du wirst abermals überleben! Die Wasserflächen, in denen das Sonnenlicht gleißte und sie in vielfarbige Spiegelscherben verwandelte, kamen näher. Das Bild veränderte sich mit jedem einzelnen Schritt. Ich schwankte hin und her, meine Arme ruderten hilflos durch die Luft. Erst jetzt bemerkte ich, daß die Kette des Amuletts um meinen Hals wie geschmolzenes Metall brannte. Ich erreichte den ersten Wall aus Steinen oder Mineralien. Meine Zehen rammten einen glühendheißen Stein, ich stolperte und fiel nach vorn. Mit dem gesamten Körper landete ich im ersten der tausend Bassins. Der hellgrün lodernde Spiegel zerriß, ein Regen heißer Tropfen überschüttete mich, und ich fühlte in Augen, Nase und auf der Zunge den Geschmack des Wassers. Feuerzungen einer salzigen Hölle packten mich. Die Augen begannen augenblicklich zu tränen. Ein brennender Schmerz fuhr durch meine Nasenlöcher bis hinauf in den Schädel. Die Haut brannte, als wäre es kochende Säure. Ich hörte mich schreien, aber meine Zunge und die Lippen waren taub. Ich spürte einen schrecklichen Würgereiz, ich hustete und keuchte, stöhnte und rang verzweifelt nach Luft. Das Wasser war nicht nur heiß, sondern voller gelöster Mineralien und Salze. Und es stank wie der Sud eines wahnsinnigen Zauberers. Ich kam dennoch vorwärts. Ich sah die Umgebung wie durch bunte Schleier. Ohne daß ich es gemerkt hatte, schien dieser Schock die Schmerzen meines Kopfes vertrieben zu haben. Hilflos und halb blind hinkte und stolperte ich weiter. Alles drehte sich um mich, die Wasserflächen beruhigten sich wieder und wurden zu pastellfarbenen Spiegeln, der blaue Himmel über mir wurde zu einem gewaltigen
Mahlstrom. Ich hob den Kopf. Allein. Ohne sichtbare Chancen. Wasser! Ruhe! Schlaf und Schatten! Du mußt überleben! Wo war ich? Unwichtig. Du kennst den Fluch der Unsterblichkeit! Wo ist der Weg? Du gehst in die Richtung, die dich rettet. Dort! Eine Pflanze! Was soll ich dort? ÜBERLEBEN! Gab es noch einen Ausweg? Vielleicht noch eine kleine Ewigkeit des Martyriums, dann würde ich eine Oase finden, wie sie mein kranker Verstand meinem absterbenden Körper vorgaukelte. Dort würden sein: Kühle, Schatten, Frieden, Wasser und Speise. Und jemand, der mit mir sprach und mir sagte, auf welche Welt des Wahnsinns man mich gebracht hatte. Inzwischen hatte ich den Rand der vielen kleinen Teiche erreicht, ohne ein zweitesmal in diese verfluchte Brühe hineinzufallen. Mein Körper reagierte wie ein Automat. Was war das, Automat? Ich kannte dieses Wort nicht mehr. Aber ich hatte es gedacht. Die Pflanze schob sich in mein Blickfeld. Der Hang stieg sanft an. Eine zweite, größere. Ich begann zu laufen oder bildete mir ein, daß ich lief. Noch mehr Grün. Die Farbe übte eine unerklärbare Faszination auf mich aus. Der Hang wurde steiler; ich spürte gleichermaßen, wie meine Kräfte wiederkamen, wie sie aber von dieser Tortur dahingerafft wurden und schmolzen wie Fett in dieser Hitze. Nicht ein Gedanke konnte von mir festgehalten werden. Wann bin ich? WANN? Unwichtig. Im oberen Drittel des Hanges rutschte ich in dem weichen Sand und fiel auf die Hände. Wie ein Tier, in dessen Rückenmark der Schmerz einer Pfeilspitze pochte und bohrte, krabbelte ich weiter. Ein weißhäutiger, vierfüßiger Käfer ohne Panzer, der torkelnd den Hang hinaufkroch und auf dem Kamm zusammenbrach. Meine Lungen gingen wie Blasebälge. Ich röchelte wie ein Sterbender, und mein Herz raste mit unregelmäßigen Schlägen. Ich hörte sie als einziges Geräusch, als ob mein Körper eine Trommel sei. Ich öffnete die Augen, und da erschien die Illusion vor mir. Wo bin ich? Wann bin ich? Ich ließ mich fallen. Eine letzte Energieleistung schob meinen unbeholfenen Körper vorwärts. Ich überschlug mich und kollerte in einer Wolke aus heißem Sand abwärts. Ich überschlug mich mehrmals, aber der weiche Sand fing alle Stöße ab. Zuletzt lag ich flach auf dem Bauch, und der heiße Sand schabte wie Haifischhaut an mir. Ich kreiselte dahin, wurde langsamer, der weiße Staub senkte sich wieder,
und ich roch das Wasser. Meine Sinne verwirrten sich. Die einzelnen Nerven schienen sich zu verknoten. Ich hörte das kühle, leicht bewegte Wasser und roch die sichelförmigen Reflexe der Sonne darauf, ich schmeckte auf meiner Zunge den gesprenkelten Schatten, ich sah die weit niedrigere Temperatur und raffte mich auf. Ich handelte instinktiv wie eine Amöbe, die ihr Pseudopodium ausstreckte. Tatsächlich klärte sich die sekundenlange Verwirrung wieder. Ich überwand die harte, schwarze Linie des Schattens, fühle kühlen Sand unter meinen verbrannten Sohlen, und die Luft, die ich gierig in die Lungen sog, war kühl und feucht. Die Schrecken der mineralischen Hölle lagen hinter mir. Gräser und Moosteile schoben sich zwischen meinen blutenden Zehen hindurch. Noch ein paar tastende Schritte. Ich zuckte zurück, denn das Wasser wirkte kalt und brannte in den unzähligen Wunden. Feuchtes Gras streifte meine zerschundenen Knie. Ich näherte mich dem Wasser im Mittelpunkt der Oase wie ein Schlafwandler. Jahrhunderte hatte die Quelle Zeit gehabt, sich hier eine Umgebung zu schaffen. Sie trat direkt aus dem Boden aus und schuf inmitten von großen Sandsteinen, feinem Sand und Wurzelwerk einen Miniatursee. Ich blieb stehen und krallte meine blutigen Finger in die schuppige Rinde eines Baumstamms. Es ist keine Illusion. Du bist – jetzt! Vor mir lag das Wasser. Frisch, ohne Mineralien, leicht bewegt durch das unterirdische Rinnsal, umgeben von fetten Gräsern, von Sträuchern, deren Früchte und Blüten über dem Wasser hingen. Zwei Schmetterlinge flogen vorbei. Ich stand bis zu den Knöcheln in nassem Sand. Spuren von Tieren, die ich nicht kannte. Welcher Planet war dies? Ich ging weiter, schob mich durch Büsche und kniete nieder. Dann bückte ich mich und tauchte meine Arme ins Wasser. Dreck und Blut lösten sich und wurden zum Rand hingetrieben. Ich schöpfte mit beiden Händen Wasser, trank in kleinen Schlucken, spürte wieder Zunge und Gaumen und Lippen, dann kippte ich nach vorn in die Kühle, breitete die Arme aus und wurde ohnmächtig. Ruhe. Kühle und Frieden. Ich weiß nicht, wie lange ich im Wasser gelegen hatte, aber als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rücken im Seichten, hatte meinen Kopf auf ein schwarzgrünes Moospolster gelegt und atmete ruhig. Hin und wieder tauchte ich unter und trank einen Schluck. Irgendwann schlief ich ein. Obwohl der Mann wußte, daß er allein war, waren seine Bewegungen die eines wachsamen, schnellen Raubtiers. Seine Haut glänzte; an
einigen Stellen war die gelbe Salbe dick aufgetragen, an anderen klebten runde, halbdurchsichtige Pflaster. Bis auf einen weißen Lendenschurz, der an einem breiten Gürtel befestigt war, trug der Mann nichts. Er war groß und sehnig, aber er schien die volle Gewalt über seinen Körper noch nicht zu besitzen. Das Gesicht war schmal und hager; die Sonne der vergangenen Tage hatte Gesicht und Oberkörper braun gebrannt. Der Geruch eines kleinen, rauchlosen Feuers hing wie unsichtbarer Nebel zwischen den Bäumen mit den dicken Ästen und den großen, schattenspendenden Kronen. Auf einem hölzernen Spieß hingen die Reste eines gazellenartigen Tieres. Hin und wieder tropfte von den Speckteilen ein Fettropfen ins Feuer und verbrannte zischend und mit grauem Qualm. Jetzt, einige Tage, nachdem der Fremde in der Oase aufgetaucht war, war sein Haar sauber ausgekämmt und mit einem Lederband im Nacken zusammengefaßt. Vorher war es, weiß und verwildert, bis auf die Schultern gefallen. Der Fremde drehte den Kopf und blickte zwischen den Stämmen und den knorrigen Ästen hindurch, hinaus auf die Wüste und dann die Düne hinauf. Aber da war nichts als das silberne Singen der Sandkörner, die unerforschten Gesetzen von Planetenrotation, elektrostatischen Effekten und Windgeschwindigkeit gehorchten. Beruhigt wandte sich der Mann wieder seinen Arbeiten zu. Er schien sich auf eine schwere Jagd vorzubereiten. Vor einem Tag hatte er mit einer langen Knochennadel und breiten Lederstreifen die Teile eines Felles zusammengeheftet. Das Fell sah aus wie ein solches, aber es war dicker, widerstandsfähiger und leichter. Jetzt waren die Stiefel, deren Fellabschluß bis eine Handbreit unter das Knie reichte, fertig. Sie standen auf einem echten Fell neben der Hütte, die aus vier gebogenen Ruten und einigen dunklen Fellen zusammengeschnürt war. Es mußte eine schwere Jagd sein, die dem Fremden bevorstand. Und er selbst war ein erfahrener Jäger. Je kräftiger und ausgeruhter er wurde, desto deutlicher zeigte es sich. Am Eingang des kleinen Zeltes lehnte ein Bogen. Er sah aus wie aus Holz gefertigt, aber wenn der Pfeil von der Sehne schnellte, verriet der Ton, daß es kein Holz war. Der Bogen reichte bis fast ans Schulterblatt, die Pfeile berührten mit der Kerbe, wenn sie im Boden steckten, den Hüftknochen des Jägers. Sein Körper war frei von Streifen oder Zickzacklinien, also hatte er den Jagdzauber noch nicht gemacht. Der Fremde lief immer wieder rund um die Oase; die deutlichen Spuren bewiesen es. Er aß Früchte und Beeren der Bäume und Sträucher, trank das klare
Wasser, aß den Braten der Gazelle, übte ununterbrochen, indem er sich schnell an den untersten Ästen der Bäume hochzog, wusch sich oft und mit einer schäumenden Substanz, wobei er darauf achtete, die Quelle nicht zu verunreinigen. Wenn er sich Erleichterung verschaffte, ging er hinaus in die Wüste. Er schlief lange, und nur manchmal ging er, als treibe ihn die Suche nach dem Todesgott aus der Oase, hinauf zur großen Düne und starrte in die Sterne hinauf, zur narbigen Fratze des Mondgotts oder weit über das Land das unter dem fahlen Licht des Mondes lag und von knisterndem und flüsterndem Leben erfüllt zu sein schien. Die Tage wechselten sich ab, und niemals legte der Jäger sein Amulett ab, das an einer hell glänzenden Kette um seinen Hals hing und vor der Brust baumelte. Es war ein kleines und schweres Lederbeutelchen. Eines Nachts schien sich alles zu ändern. Ich lag auf dem Rücken, fünf Meter von der verglühenden Masse des Feuers entfernt, und blickte in die Sterne. Jetzt wußte ich, daß ich noch immer auf dem dritten Planeten von Larsafs Stern war. Ich erkannte die alten Sternbilder wieder, und mir schien, daß sich die Positionen einiger Gestirne geringfügig geändert hatten. Da waren sie, die Sternbilder meiner Phantasie. Sie wirkten vertraut, vielleicht ein wenig leuchtender als damals. Damals… als ich mit den stählernen Wölfen gejagt hatte. Wann war es gewesen? Ich hatte keine Zwischenerinnerungen. Jemand oder etwas hatte mich aus meinem Versteck gerissen und hierher geworfen. Wer? Wozu? Aus welchem Grund? Es gab für mich keine Möglichkeit, mit Rico zu verkehren. Wieviel Jahrhunderte waren vergangen? Zwar wußte ich, daß ich einen bestimmten Lebensabschnitt vergessen hatte. Es war die Zeit meiner frühen Jugend. Mein Erinnerungsvermögen, das, mit dem Logiksektor des Gehirns zusammen, unbestechlich und so exakt wie ein funktionierender Riesenrechner war, schien abermals manipuliert worden zu sein. Von wem und warum? Und vor allem mußte ich wissen, in welcher Zeit dieses Planeten ich mich befand. Du spürst es selbst, meldete sich das Extrahirn überraschend klar, daß die Stunde der Entscheidung nicht mehr weit ist. Vertraue auf deinen Überlebensfaktor! Es schien, als funkelten die Gestirne nach einem geheimen Rhythmus, als versuchten sie, mir eine geheime Botschaft zu übermitteln. Nach der Verschiebung der Bilder zu urteilen, konnten Jahrtausende seit den Tagen vergangen sein, in denen ich zum letztenmal ein Mädchen in den Armen gehalten und ihre Haut gestreichelt hatte. Die-das-Feuer-brennen-läßt… Katya.
»Richtig!« sagte ich laut. Ich setzte mich plötzlich auf. In der Ferne grollte ein leiser Donner, aber es gab weder Wolken, noch hatte ich das Aufflackern eines Blitzes oder Wetterleuchtens gesehen. Eine gewaltige, aber lautlose Stimme schien mich zu rufen. Ich wußte, daß ich einem Trugschluß unterlag, aber ein unheimlicher Zwang, der aus der Tiefe meiner Seele emporstieg, ließ mich aufstehen. Ich riß einen der kurzläufigen Speere aus dem sandigen Boden; auch diese Waffe hatte ich nicht selbst hergestellt. Langsam ging ich aus dem Wäldchen hinaus und verscheuchte dabei einige Tiere, die zur Tränke kamen. Ich stieg den Grat der Düne aufwärts, indem ich einen Bogen schlug und den indirekten Weg nahm. Endlich lag die Ansammlung der heißen Wasserflächen vor mir. Sie dampften in der Kälte der Nacht hier irgendwo nahe des Äquators von Larsaf III. Die Farben hatten sich unter dem Mondlicht und dem Sternenschein verändert. Aber noch immer hörte ich das Zischen von Fumarolen, gurgelndes Brodeln des kochenden Wassers, das Fauchen der vulkanischen Aktivitäten. Ich blieb stehen. Über mir waren die Sterne, die Mondsichel befand sich in meinem Rücken, und rund um mich war nichts als Wüste. Und Sand, Salzflächen, fast verdorrende Ansammlungen von Pflanzen, die wie weggeworfen in dem Sandmeer lagen. Dann hörte ich eine Stimme. Hörte ich sie wirklich, oder nur in meinem Verstand? »Du kennst mich, Arkonide!« Eine seltsam wesenlose, unpersönliche Stimme voller uneingeschränkter Macht. Ich kannte sie. Ich kannte sie sehr gut, viel zu gut. Sie war am größten Teil meiner Leiden und Enttäuschungen schuld. Und daran, daß ich noch immer lebte. »Ich habe dich aufgeweckt, Arkonide, weil ich dich brauche. Wenn du die Hand auf deine Brust legst, wirst du mein Geschenk fühlen können. Du würdest nicht mehr leben ohne mich. Ich bin ES. Ich sehe, daß du meine Geschenke gefunden hast. In deiner Ausrüstung ist alles, was du zum Überleben brauchst, und noch einiges darüber hinaus. Aber es gibt keine Waffen oder Geräte, die dich verraten. Du hast den Status eines Bewohners dieser Welt.« Das war ein Teil der Erklärung. Ich begriff. Der wild durcheinanderliegende Haufen von Ausrüstung, den ich zwischen den bloßliegenden Wurzeln eines Baumes gefunden hatte, machte mich fast unüberwindlich. ES verlangte einen Einsatz von mir. »Du hast recht, Atlan! Ich und du, uns liegt das Schicksal dieses Planeten am Herzen. Wir bemühen uns, den unwissenden Barbaren Kultur und Zivilisation zu bringen. Ich habe dich etwa dreitausend Jahre schlafen lassen.«
Ich zuckte zusammen. Beruhige dich! Du kannst nicht erwarten, daß ein Planet deinen winzigen Denkanstößen folgt, flüsterte der Logiksektor. Das zweitemal also betrat ich die Oberfläche von Larsaf III nach dem Druuf-Desaster. Und sofort versetzte mir diese dröhnende Stimme, die so klang, als wolle sie sofort in ein welterschütterndes Lachen umschlagen, einen Schock. »Ich habe ein Problem, Arkonide Atlan. Meine Geschöpfe haben sich selbständig gemacht. Sie flüchteten vom Planeten Wanderer. Dort habe ich Modelle vieler Welten, an denen ich Entwicklungen studiere und mich entspanne. Rund ein Dutzend Androiden sind entkommen und haben sich hier versteckt. Es wäre leicht, sie zu vernichten. Aber sie bringen Anregungen, neue Verfahren, sie werden die Zivilisation beschleunigen. Sie werden die Götter dieser Welt werden, sie können nicht zurück und müssen sich mit Menschen dieser Welt paaren. Sie werden größenwahnsinnig werden und Schaden anrichten. Es ist deine Pflicht, dies zu verhindern. Du bist Richter und Henker gleichzeitig. Wenn deine Aufgabe beendet ist, wirst du alles vergessen und wieder schlafen. Geh nach Norden, am Beginn der Berge biege nach Osten ab. Du wirst dort die Fremden treffen. Wenn du sie töten mußt, denk daran, daß es keine Menschen sind. Sie sind erzeugt, nicht geboren worden. Ich werde euch zusehen und vielleicht helfen. Jede Möglichkeit, mit den bisher bekannten Werkzeugen zu arbeiten, ist dir genommen!« Das hatte ich gemerkt. Jedes Wort brachte mehr Informationen. Ich kannte jetzt in groben Umrissen meine Aufgabe. Ich holte Atem und rief: »Ich kann nicht ablehnen, denn du zwingst mich. Also werde ich tun, was zu tun ist. Aber ich brauche mehr Wissen, um richtig handeln zu können. Woher bekomme ich diese Kenntnisse?« »Du bist klug genug, um selbst zu erkennen, was vor dir liegt. Es wird nicht leicht sein, denn einige meiner Geschöpfe haben sich meinem Zugriff entzogen. Ich suchte sie, fand sie aber nicht mehr. Vielleicht spreche ich noch einmal mit dir, vielleicht nicht. Aber ich werde dir jede Erinnerung rauben, denn ich will nicht, daß meine Probleme diskutiert werden. Du hast einen schweren Weg vor dir, Arkonide Atlan.« ES war mächtig, aber nicht allmächtig. Ich mußte in Ruhe nachdenken. Aber wie konnte ich diese Oase verlassen und den langen Marsch antreten? Zu Fuß, unmöglich! Ein letztesmal erscholl die tosende Stimme. Ein gigantisches Gelächter erklang. Es rollte wie Donner über das Land. »Für alles wird gesorgt. Ich werde ein aufmerksamer Beobachter
sein, Atlan. Du hast ein sehr hohes Überlebenspotential, und ich bin sicher, du wirst die Aufgabe hervorragend lösen!« Dann dröhnte abermals das Gelächter über das Land. Ich krümmte mich unter dem Ansturm dieser Geräusche zusammen. Für mich und meine Sinne waren sie so deutlich wie ein Gewitter rund um die Krone der Düne. Das wilde, unbeherrschte Gelächter machte mich wütend. Abermals spürte ich, wie hilflos ich wirklich war. ES manipulierte mich. Ich drehte mich um, blickte wütend auf das schweigende, tote Land und stolperte den Hang abwärts, zurück in die Oase. Dort wartete bereits der nächste Schock auf mich. Erschrick nicht. Dieses Tier ist ebenso ein Werkzeug von ES wie du. Verhalte dich richtig. Du hast keine andere Möglichkeit! Ein mächtiger, stark behaarter Elefantenbulle stand außerhalb des Wäldchens. Der erste Blick belehrte mich, daß das Tier im Bann eines Zwanges stand. Mehr als zweimal so hoch wie ich, ein riesiger, unruhig zitternder Rüssel, lange, gelbe und angesplitterte Stoßzähne. Die großen Ohren bewegten sich erregt. Ich hörte die stoßenden und rumpelnden Geräusche des Magens und des Darms des Bullen. Er hob, als er mich sah, den Rüssel und stieß einen Schrei aus, der eine erschreckend große Wut ausdrückte, Wut und Angst, Unsicherheit und Todesfurcht dieses riesigen Tieres. Dein Reittier! sagte der Logiksektor. Ich ahnte, daß die Auseinandersetzung zwischen ES und seinen entkommenen Geschöpfen schwerer und erbarmungsloser geführt werden würde, als ich bisher angenommen hatte. ES setzte gewaltige Energien ein, um den Kampf zu eröffnen. Es war also mehr als ein intellektuelles Spiel einer fremden, unbegreiflichen Macht. Ich war in den Kampf der Götter geraten. Reale Götter, keine Wesen der Vorstellung! Nimm deine Ausrüstung und klettere hinter die Ohren des Tieres. Wenn ES den Bann von dem Riesen nimmt, bleibst du in der vulkanischen Wüste gefangen! drängte der Extrasinn. Der Elefantenbulle stank. Ich blickte ihn mißtrauisch an. Das Tier hatte alle anderen nächtlichen Gäste vertrieben. Ich kannte die letzten Mammute dieses Planeten, aber ich hatte keine Erfahrungen mit ihnen sammeln können. Ich packte in großer Eile die Teile der Fellhütte, die Waffen und die Ausrüstung zusammen. Schließlich befand sich alles in zwei Fellsäcken, aus denen die Schneiden der Wurfspeere hervorsahen. Ich warf ein Seil über den zuckenden Rücken des Tieres, befestigte links und rechts hinter den Gelenken der säulenartigen Vorderbeine die beiden Bündel und behielt nur Bogen und Pfeilköcher, Wurfbeil und Dolche bei mir. Kopfschüttelnd blieb ich vor dem Tier stehen. Der Kopf des Bullen schwankte hin und her. Der Rüssel bewegte sich wie ein Pendel. Wenn
das Tier angriff, war ich verloren. Dann änderte dieses lange Stück aus dunkler Haut und Muskeln seine Bewegung, formte sich zu einer Schlange und griff um meine Hüften, als das Tier einige kleine Schritte nach vorn machte. Der Rüssel packte zu, schnürte mir für einige Sekunden die Luft ab, dann wurde ich in die Höhe gewirbelt und hinter dem Kopf des Giganten abgesetzt. Wieder stieß der Bulle einen Schrei aus und drehte sich auf der Stelle. Dann riß er den Rüssel in die Höhe und begann zu rennen. Ich wurde durchgerüttelt, klammerte mich an den Ohren an, hielt mich mit einer Hand an dem Seil und versuchte mir vorzustellen, wohin mich dieses durchgehende Riesentier bringen würde. Ein wilder Ritt durch die Nacht fing an. Nur die Wüste umgab uns. Die Sterne funkelten, als der Gigant ächzend und schnaufend sich einen Weg durch den Sand bahnte, über die Lavaasche hinweg, genau nach Norden. Der dunkelgraue Elefant, haarig und verwirrt, wütend und offensichtlich hungrig, rannte immer geradeaus. Nur ich kannte den Dämon, der ihn gepackt hatte. Es hatte wieder begonnen. Ich war zu einem unbekannten Ziel unterwegs, und ich hatte eine Aufgabe, die ich nicht genau kannte. Und du wirst töten müssen, sagte der Extrasinn.
2. Ein halbdunkler Raum, angefüllt mit Unmengen von Maschinen, Geräten, Positroniken. Eine Handvoll Männer in hellgrünen, aseptischen Kombinationen saß im Halbkreis um ein Ding herum, das wie ein futuristischer Sarg aussah. Es war eine an allen Seiten durchsichtige Konstruktion, in der eine milchig-gelbliche Flüssigkeit bewegt wurde. Dicke Bündel verschiedener Leitungen führten in diesen Behälter hinein. Die Nährlösung umspülte die Konturen eines Körpers, der durch die Konstruktion und durch Antischwerkraftprojektoren in der Schwebe gehalten wurde. Auf kleinen Bildschirmen zeichneten sich die wenigen Impulse ab, die dieser Körper aussandte. Hirnströme, Herzschlag, die Impulse des Geräts, das auf der Brust des Körpers lag, neben den Anschlüssen der Testgeräte. Undeutlich erkannte man wegen des fehlenden Lichts und durch die trübe Flüssigkeit, daß eine Menge komplizierter Verbände um den Körper lagen. Der Mann in diesem zentralen Teil der Überlebensstation war furchtbar zugerichtet gewesen. Jetzt schien er gerettet zu sein, aber in Wirklichkeit schwebte er zwischen Leben und Tod. Eine Hand im weißen Handschuh streckte sich aus und kippte einen
Schalter. Die Trommeln des schweren Aufnahmegeräts blieben stehen. »Sie wissen, daß wir hier in ein Feld von höchster Bedeutung hineingefaßt haben?« fragte einer der Mediziner. »In jeder Hinsicht. Aber ich bin sicher, daß dies alles nur therapeutischen Wert hat.« In dem gläsernen Sarg lag Atlan. Ein Einsatz im Rahmen des Multicyborgprojekts hatte ihn fast umgebracht. Ein Kommando hatte ihn zurück nach Gäa gebracht, so gut wie tot. Sein Leben wurde nur noch vom arbeitenden Zellschwingungsaktivator erhalten. Und plötzlich, während der kritischsten und gefährlichsten Phase der komplizierten Maßnahmen, hatte der Arkonide zu sprechen begonnen. Den verblüfften Männern wurde sofort klar, daß sie Erzählungen zu hören bekamen, die bisher unter einer dicken Schicht begraben gewesen waren. »Sie meinen… Sie glauben, daß ES wieder eingreift? Hier und jetzt?« »Ich bin sicher.« »Aber wir kennen nicht einmal den Anfang dieses Kapitels richtig. Atlan wachte rund drei Jahrtausende nach seinem ersten, überlieferten Abenteuer auf. Es war etwa fünftausend Jahre vor der Zeitenwende.« Eine Stimme, die vor Müdigkeit und Erschöpfung dunkel klang, sagte aus dem Hintergrund: »Er wird die ganze Geschichte erzählen. Es ist wie ein Zwang. Sein Gehirn, sein Verstand oder seine Seele wehrt sich gegen den Tod. Während wir nichts anderes tun können, als unsere beste medizinische Ausrüstung und all unser Wissen einzusetzen, läuft sein Verstand leer durch. Er beschäftigt sich mit sich selbst. Vielleicht ist das die beste Heilungschance.« »Was wissen wir?« »Wir wissen die Zeit. Fünftausend vor Christus. Wir wissen, daß ES den Arkoniden aus seiner Unterwasserkuppel riß und an einen unbekannten Platz in der heutigen Sahara warf.« Für alle diese Männer war die Erde ein Symbol. Alles, was mit dem Heimatplaneten der Menschheit zusammenhing, war unendlich wichtig. In keiner Zeit des Imperiums hatten sich so viele Terraner mit Geschichte befaßt wie ausgerechnet jetzt in den Gründerjahren des Neuen Einsteinschen Imperiums. Daher kannten die Mediziner jedes Wort, jedes Symbol, jede der angesprochenen Zonen. »Der Kunstplanet Wanderer! Auf einmal bekommt ES und dieser Planet eine ganz andere Bedeutung. ES hatte also damals Spielfiguren dort. Er führte Reihenuntersuchungen durch und experimentierte mit verschiedenen Entwicklungen herum.« »Wir müssen es annehmen. Vielleicht wissen wir mehr, wenn diese Erzählung beendet ist.« Das Erstaunliche war, daß dieser halbtote Körper die Kraft hatte, zu
reden, Worte und Sätze zu formulieren, Vorstellungen hervorzurufen und Eindrücke zu dirigieren. In dem Arkoniden steckte eine unbegreifliche Energie. Auch, dieser Umstand trug zur Hoffnung bei. Es war im Jahr 3561, und viele Bewohner Gäas in der Provcon-Faust wußten, daß sie mit Atlans Tod rechnen mußten. Der Unsterbliche war dem Tod nahe. »Wie lange wird die Pause dauern?« Der hagere Ära deutete auf ein Chronometer und sagte heiser: »Die Maschinen schalten sich selbst ein, sobald ein lautes Wort gesprochen wird. Ich selbst werde mich jetzt zur Ruhe begeben.« Er schaltete die Bandmaschine wieder ein und ging unhörbar hinaus. Die anderen Mediziner folgten ihm nach und nach. Der Raum wurde leerer, aber die Positroniken wurden niemals müde. In drei verschiedenen Überwachungszentren saßen Assistenten und beobachteten die Instrumente. Sie merkten, daß nach drei Stunden ungefähr das Bandgerät weiterlief. Wieder berichtete Atlan: Die erste Helligkeit des Morgens kroch im Osten hoch, griff nach den verschwindenden Sternen und löschte sie nacheinander aus. Graues Licht fiel über die Savanne. Die Gegend, durch die der Elefant mit mir rannte, trug alle Merkmale einer gewaltigen Waldlandschaft, die langsam versteppte. Zu wenig Regen, zu viele Tiere, zu heiße Tage und zu kalte Nächte, versiegende Flüsse und eine zu schnelle Erosion der Berge. Überall drang die Wüste mit ihrem keimtötenden Sand vor. Dieser Landstrich starb langsam aus. In einigen Jahrhunderten würde es hier nur noch einen unbarmherzigen Herrscher geben: die Wüste. Der Elefant rannte ununterbrochen mit gleichmäßig schnellem Trab. Ich wurde bei jedem Schritt hochgeworfen und wieder nach unten geschleudert. Inzwischen hatte ich die günstigste Haltung herausgefunden, was die Qualen nur wenig milderte. Wohin ging es? Warte es ab. ES wird dem Tier den richtigen Weg zeigen. Ich versuchte nachzudenken. Ich versuchte wieder einmal, den Sinn zu erkennen. Die zwölf Fremden des künstlichen Planeten waren hierher gekommen. Ohne Raumschiff, denn sonst hätte mich Rico geweckt; die Antennen registrierten die kleinsten Impulse. Sie befanden sich vermutlich dort, wo das Ziel des pausenlos rennenden Bullen gelegen sein mochte. Androiden? Also künstliche Wesen, die menschenähnlich aussehen würden. Woran erkannte ich sie? Warum sollte ich sie töten? Atlan, der Wächter der Erde. Atlan als Paladin von ES, hilflos und manipuliert. Nach dem Ende dieser Mission würde ich alles vergessen müssen. Warum? Was taten denn diese Androiden, die sicher sterblich
oder zu töten waren? Warum überließ ES sie nicht ihrem Schicksal? Wenn sich die Welt und die Menschen, die ich als steinzeitliche Jäger kennengelernt hatten, so langsam weiterentwickelten, wie ich es mir vorstellte, dann hatte kein Individuum auf diesem Planeten in diesem Zustand eine hohe Lebenserwartung. Auch nicht dieser Nachkomme der Mammute. Glühende Hitze am Tag, Durst und Hunger. Eisige Kälte und dazu die schneidende, aber stinkende Luft, die mich nachts umgab. Der Elefantenbulle fraß nicht, aber er blieb bei jeder Wasserstelle stehen und trank ungeheure Mengen Wasser in sich hinein. Sterne am Himmel, die wandernde Sichel des Mondes. Keine einzige Wolke. Die Landschaft war meistens eben wie ein Brett. Hin und wieder schoben sich am Horizont Berge aus der Ebene, aber wir näherten uns ihnen niemals. Ich war mehr tot als lebendig hinter dem Kopf des Bullen. Das Tier magerte ab, es schrie nicht einmal mehr. Über uns schwebten tagelang die Geier, sie verschwanden vor der Abenddämmerung und kamen am Vormittag wieder. Sichelförmige Silhouetten an einem qualvoll blauen Himmel. Wieder Hitze, wieder Kälte. Ich trank, aß einige Früchte und wurde wieder vom Rüssel gepackt und in meinen Sitz hinauf gehoben. Gesäß und Beine waren taub, aber wundgerieben. Weiter. Ohne Unterbrechung. Tagelang. Wieviel Tage, wieviel Nächte? Neunmal den Tag des Planeten, sagte der Logiksektor. Das Tier war schon verendet, aber es hatte es noch nicht gemerkt. Eine Zauberkraft hielt es aufrecht, denn inzwischen war es nur noch ein Gerippe mit schlenkernder Haut, voller Runzeln und Falten. Schließlich tauchten vor uns die Berge auf. Zunächst nur kleine Hügel, die dicht bewaldet waren. Die karge Steppe wurde abwechslungsreicher. Die Hitze des Tages und die Kälte der Nächte wurden erträglicher, es gab weniger Unterschiede in den Temperaturen. Ich sah Herden von Gazellen und Elefanten, von Tieren die neugierig zu uns hinübersahen und nicht flüchteten. Und dann, wie eine Illusion, sah ich auf der Kuppe eines runden Hügels, halb verborgen zwischen uralten Bäumen, einen weißen Fleck. Der Bulle rannte genau darauf zu, als liefe er eine unsichtbare, schnurgerade Straße entlang. Er walzte das Gras, die Büsche und das Dickicht nieder. Seine Energie ging zu Ende. Ich fühlte, wie das riesige Tier bei jedem Schrittwechsel von rechts nach links schwankte. Wir stapften durch ein Stück stinkenden Morast, rannten über eine Sandfläche und tauchten ein in den Schatten eines Waldes. Ich bückte mich weit nach vorn, um nicht von einem Ast erschlagen zu werden. Die Ebene endete hier, und es war Mittag; die Sonne erreichte eben ihren höchsten Stand. Achtung. Die Reise geht zu Ende! warnte der Extrasinn.
Immer wieder schob sich zwischen der grünen Kulisse und der nebelhaft auftauchenden Bergkette in weiter Ferne eine weiße Fläche hindurch. Es schien die Front eines Gebäudes zu sein. Die Ausblicke waren zu kurz; ich konnte nur Undeutliches sehen. Ich spannte meine Muskeln an, als der Elefant langsamer wurde und schließlich in einer kleinen Lichtung stehenblieb. Ein Blick zum Himmel – mehr als drei Dutzend Geier kreisten tief über den Baumwipfeln. Ich hob meine Beine an und ließ mich über die Stirn des Tieres nach unten gleiten. Dann warf ich mich mit schmerzenden Muskeln und tauben Beinen halb herum und schnitt das Seil durch. Die beiden Fellsäcke fielen ins verfilzte Gras, und ich sprang einige Schritte zurück und lehnte mich gegen einen Baumstamm. Das Blut, das in meine bisher verkrampften Gliedmaßen zurückströmte, begann prickelndes Stechen auszulösen. Der Elefantenbulle blieb stehen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Aus den Ohrlöchern und dem Maul liefen dünne Blutfäden. Der Rüssel hob sich in einer letzten, verzweifelten Anstrengung. Ich hörte ein langgezogenes Zischen. Das Tier sog Luft in seine zerstörten Lungen, dann versuchte es einen letzten, lauten Schrei. Er brach plötzlich ab, als habe man den Rüssel zerschnitten. Das Tier knickte nach vorn in den Knien ein, dann in den Hinterläufen, und es fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, federte etwas hoch und blieb mit zuckenden Läufen liegen. Die Stoßzähne rissen im Todeskampf einen großen, mit weißen Blüten übersäten Strauch aus dem Boden. Das Werkzeug hat seinen Dienst getan, es ist zerbrochen, erklärte der Logiksektor ruhig. Ich ging auf den Koloß zu, zog an dem Seil und trug meine Ausrüstung zusammen. Einen Teil versteckte ich, und ausgerüstet mit Bogen, zwei Speeren und dem runden Lederschild ging ich, bevor der erste Geier landete, in die Richtung, in der ich das helle Bauwerk gesehen hatte. Wie Steine fielen die Geier aus dem stahlblauen Himmel. Ich drehte mich nicht um. Langsam ging ich, den Bogen in der ausgestreckten Linken, im Zickzack zwischen den Pflanzen aufwärts. In den Büschen regten sich kleine, unsichtbare Tiere. Zahllose Insekten summten durchdringend, und wieder sah ich weiße Flächen und säulenartige Dinge vor mir. Ich versuchte, nicht zu laut zu sein, aber der keuchende Elefant würde jeden Jäger gewarnt haben. Und als ich zwischen den Bäumen hervorkam, stutzte ich. Quer vor mir verlief ein ausgetretener Weg. Augenblicklich kauerte ich mich nieder – ich sah Hufeindrücke und viele Spuren nackter, menschlicher Füße. Und daneben die Abdrücke von Stiefeln oder Sandalen. Menschen. Die Spuren sind einige Tage alt, wisperte der Extrasinn. Mein Herz begann hart und schnell zu schlagen. Inzwischen schaffte
ich es wieder, richtig denken zu können. Während des tagelangen, einsamen Rittes hatte ich begriffen, warum mich ES brauchte. Ich glaubte auch zu wissen, was geschehen war, wenn mir auch Detailinformationen fehlten. Jedenfalls betrat ich den Planeten drei Jahrtausende nach meinem ersten Versuch, Larsaf III zu verlassen. Langsam stand ich auf. Zwei verschiedene Gruppen von Menschen. Die Eindrücke der nackten Füße waren tiefer als die der Stiefel; also hatten die Stiefel träger keine Lasten geschleppt. Würde ich am Ende des Pfades das sehen, was ich zu finden erwartete. Meine Lippen wurden trocken, als ich weiterging, den Bogen auf die Schulter warf und den kurzen Speer in der Mitte packte. Der Pfad wand sich in Schlangenlinien nach oben. Ich sah Schmetterlinge und metallisch schimmernde Fliegen, merkwürdige kleine Tiere, pelzig und nackthäutig, die ich nicht kannte. War ich das erstemal am nördlichen Rand des riesigen Binnenmeers gewesen, so schien ich jetzt zwischen dessen südlichem Ufer und der Äquatorlinie zu sein. Der Pfad wurde trockener und breiter und verzweigte schließlich in den freien Raum rund um die Kuppe des Hügels. Ich blieb betroffen unter dem letzten Baum stehen. Vierzig große Schritte von mir entfernt stand ein steinernes, weißes Gebäude. Ich betrachtete es genau, aber immer irrten meine Augen zur Seite und suchten die Umgebung ab. Ich hörte nur die Geräusche des Waldes und der Tiere. Etwa zwanzig Schritte lang, mehr als zehn Schritte breit, weniger als dreimal meine Länge hoch. Das flache Dach bestand aus eckig zugehauenen, dicken Balken. Vor der mir zugewandten Schmalseite befanden sich sechs Säulen, viereckig und aus halbmannslangen Steinstücken zusammengesetzt. Die Oberfläche dieses Bauwerks war mit Kalk oder Kreide eingefärbt; es gab keine Stelle, die nicht dieses kreidige Weiß zeigte. Das blendende Sonnenlicht rief einen unerträglichen Glanz darauf hervor. Es ist unsicher, ob die Sammler und Jäger des Barbarenplaneten dieses Bauwerk errichten konnten. Jedenfalls nicht ohne Vorbild oder Anleitung! schränkte der Logiksektor ein. Ich hob den Speer und ging näher heran. Die erste Spur der Fremden? Hatten die Androiden diesen Tempel errichtet? Immer wieder blickte ich mich um, aber es war niemand hier. Es gab auch keine Spuren dafür, daß in den letzten drei Tagen jemand hier entlanggegangen war. Hinter den Säulen gab es nur eine glatte Wand. Die dünnen Fugen zwischen den Quadern waren verschlossen. Keine Luke, kein Fenster. Ich schritt die linke Längswand ab und bemerkte, daß auch sie ohne Eingang war, ebenso die hintere Schmalseite. Als ich um die Ecke bog, sah ich eine deutliche Spur. Ein Weg durch das niedergetrampelte Gras. Dort lagen Steinsplitter und abgebrochenes Holz. Hier waren die
Pflanzen auch mehr von Kalkflecken verätzt. Ich sah die Mauer an und fand eine hohe, schmale Öffnung, die mit kleineren Quadern, aber nicht weniger genau vermauert worden war. Ein Tempel ist jedermann zugänglich. Dieses Gebäude ist kein Tempel! Ich fühlte, wie jetzt die Schwäche sich wieder meines Körpers bemächtigte. Der rasende Ritt hatte mich erschöpft. Aber jetzt packte mich eine Neugierde, die stärker war als die Erschöpfung. Ich berührte die weiße Fläche. Sie war an einigen Stellen noch feucht, zwischen den Quadern schien die Masse der Fugen noch nicht erstarrt zu sein. Ich hob den Speer. Die Spitze aus Arkonstahl, der aussah wie gehämmerte Bronze oder Kupfer, kratzte mühelos ein fingerdickes Stück einer Mischung aus Lehm, Kalk und Staub aus der Hitze. Ich arbeitete weiter, bohrte die lange Spitze immer tiefer und hatte nach erstaunlich kurzer Zeit einen Quader fast freigelegt. Ich hob den Speer, steckte ihn ins Erdreich und stemmte mich gegen den Stein. Er bewegte sich nicht. Ich grinste kurz, zog die Wurfaxt und begann, mit ihrem Rücken gegen den Quader zu schlagen. Die Schläge waren übernatürlich laut und übertönten mühelos das Krächzen, Schreien und Flattern der Geier, die sich um das Riesentier stritten. Aber der Stein bewegte sich. Mit jedem Schlag trieb ich ihn einen Fingerbreit weiter hinein. Schließlich, nach hundert Schlägen etwa, kippte er nach innen. Ich lauschte angespannt. Er schlug mit einem satten, klatschenden Ton auf, verharrte irgendwo auf einem Hindernis und krachte dröhnend zu Boden. Stille trat ein. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich drehte mich blitzschnell herum, lehnte mich gegen die Mauer, griff nach dem Speer und riß ihn mit einem Ruck aus dem Boden. Mein Blick bohrte sich ins Unterholz. Keine Bewegung war festzustellen. Trotzdem erschrak ich zutiefst, als ein farbenprächtiger Vogel links von mir aufflatterte und schräg nach oben schwirrte. Du bist allein, flüsterte der Extrasinn. Ich wischte Schweiß und Kalkstaub von meiner Stirn und dem Gesicht. Dann riß ich mit aller Kraft an dem nächsten freiliegenden Quader. Er bewegte sich mit schmatzenden Geräuschen, ließ sich mühsam herausziehen und fiel dumpf polternd ins Gras. Die nächsten Steine ließen sich leichter losbrechen Kurvt1 Zeit später lag ein Haufen Quadern zu meinen Füßen. Vor mir war eine unregelmäßige Öffnung entstanden. Eine Strom kühler, stickiger Luft schlug mir entgegen. Mein Entsetzen wuchs, als ich den stechenden Geruch spürte. Salzig, modernd, nach Aas riechend. Das Sonnenlicht fiel nur auf die Stelle hinter dem Loch; ich konnte kaum etwas erkennen. Die Gefahren dort drinnen leben nicht mehr, sagte der Extrasinn.
Ich nahm den Speer und kletterte hinein. Vorsichtig schob ich mich durch das gezackte Loch und sprang nach unten. Ich drehte mich um und wartete, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Ich stand zwischen zwei gemauerten Sockeln. Etwa gut mannslang, zwei Ellen breit, drei Ellen hoch. Ebenfalls mit weißer Farbe überzogen. Ich erkannte jetzt mehr Einzelheiten. Auf dem Sockel rechts neben mir lag eine menschliche Gestalt. Ich griff instinktiv nach meinem Dolch – hier stimmte etwas nicht mit meiner Erfahrung überein. Ich ging näher heran. Das Gefühl des Unheimlichen, des Unheils, wurde deutlicher. Hier lag ein junges Mädchen. Ich fuhr herum. Auf dem nächsten Sockel lag ein junger Mann. Meine Augen wanderten suchend umher. Durch zwei runde Säulen aus bearbeitetem Holz war der längliche Raum in Drittel abgeteilt. Ich zählte auf den beiden Längsseiten jeweils sechs solcher Sockel. Also zwölf tote Menschen. Ich ging auf die beiden Säulen zu, die ein Drittel des Raumes optisch abteilten. Hier lag der dreizehnte Tote. Und er war kein Mensch! Die Sonne war drei Handbreit weitergezogen, das Licht wurde weniger. Und meine Unruhe wuchs, je mehr der Tag verging. Sechs junge Frauen und ebenso viele junge Männer waren geopfert worden. Man hatte sie erwürgt oder erdrosselt, die Spuren bewiesen es. Sie entstammten einem bronzehäutigen Volk, waren groß und schlank und würden mir über die Schulter gereicht haben. Nur noch winzige Spuren der steinzeitlichen Jäger waren zu sehen; sie waren ein Leben im Freien gewöhnt gewesen, waren Jäger und Sammler gewesen. Sie hatten dunkelbraunes bis tiefschwarzes Haar und, wie ich wußte, dunkle Augen. Einige von ihnen trugen die Spuren von Peitschenhieben oder Stockschlägen. Ich konnte ihr Alter nicht genau abschätzen, aber sie waren alle nicht viel mehr als zwanzig Jahre und kaum weniger als fünfzehn alt geworden. Ihre Gesichter trugen einen nichtssagenden Ausdruck. Vermutlich waren sie in einer Art Rausch gestorben – getötet worden. Die Körper fühlten sich hart an. Auf der Haut befanden sich winzige Salzkristalle. Den Körpern war die Flüssigkeit entzogen worden, sie faulten nicht, stanken nicht, waren aber auch nicht zerknittert und voller Falten wie solche Körper, die ausgetrocknet waren. Zwölf Sklaven? Als Grabbeigabe geopfert? Ein Schauder lief über meinen Rücken. Konzentriere dich auf den fremden Androiden! sagte der Logiksektor. Der Sockel, auf dem dieser Mann lag, war durch ein breites Band aus grob gehämmertem Kupfer geschmückt. Das Band, zwei Hände breit, umlief den weißgekalkten Katafalk. Während die zwölf Opfer nackt gewesen waren, ohne Waffen und ohne Schmuck, völlig anonym und dadurch nebensächlich geworden wie Opfertiere, trug der Mann
bestimmte Kennzeichen. Um seinen Hals lag eine Art Kette, die den halben Oberkörper bedeckte. Sie bestand aus Steinen, dünnen Fäden, Metallstücken und einem seltsamen, schwarzen Stein, der aussah wie polierte Lava. Um Oberarme und Handgelenke lagen breite Kupferringe. Ein handgewebtes Gewand hing über dem Körper bis fast zum Boden. Die Haut des Mannes hatte eine hellere Farbe, Finger und Füße waren gepflegt und trugen weder die Spuren von Dornen noch andere Merkmale, die ich verwenden konnte. Die Form des Schädels unterschied sich bis auf das Fehlen von Bart oder Narben keineswegs von derjenigen der Opfer. Es war ein ganz untypischer Kopf mit halblangem Haar, das über den Schläfen ergraut war, mittelbraun mit schwarzen und goldenen Schattierungen darin. Sonst gab es keinerlei Anhaltspunkte in diesem merkwürdigen Grabmal. Ich verließ nach einem letzten Rundblick den Raum und sah als letztes die breiten Balken der Decke. Vor dem Loch blieb ich stehen und atmete erst einmal tief durch. Ich fühlte mich einsam und verstört, denn es gab kein Ziel, keine Informationen, nur viele Vermutungen, Gedanken und Überlegungen, die sich gegenseitig teilweise widersprachen. Du wirst hier keine Spuren mehr finden. Suche an anderer Stelle weiter, erklärte der Extrasinn. Ich überlegte kurz und beschloß dann, meine Spuren zu beseitigen. So schnell und gut, wie ich konnte, verschloß ich die Öffnung wieder und ging dann zurück in die Richtung meiner versteckten Ausrüstung. Der Kadaver hatte Hunderte von Geiern angelockt, und ich bewegte mich langsam und vorsichtig auf die Lichtung zu. Was ich nicht brauchen konnte, war ein riesiger Schwarm aufgescheuchter Geier, die meinen Standort verrieten. Ich blieb stehen, als ich meine Ausrüstung aus dem Versteck gezogen hatte. Der Kadaver war zerfetzt und blutig. Die Vögel schrien, hackten aufeinander und auf Fleischteile, Därme und Haut los, hüpften umher, schlugen mit den Schwingen, wirbelten Staub auf und verwandelten die Lichtung in ein blutbesudeltes Inferno. Ich warf die beiden Fellsäcke über meine Schultern und kletterte zurück zum Pfad. Jetzt stolperte ich in die andere Richtung. Es ging hangabwärts, durch eine seltsame Landschaft, in der es keine größeren Tiere mehr gab. Waren sie ausgestorben oder verjagt worden? Ich folgte langsam und schwitzend dem Pfad. Ich rechnete nicht damit, daß ich jemanden traf, oder daß mich jemand belauerte. Jetzt, zwischen dem schwindenden Tageslicht und der kurzen Abenddämmerung, verließ ich den bewaldeten Hügel. Ich blieb schwitzend und müde stehen. Unweit von der Stelle, an der das flache Land in den Hügel überging, sah ich einen schmalen Wasserlauf. Im
Nordwesten erkannte ich im waagrechten Licht eine Bergkette, die von Hochflächen umgeben war. Täuschte ich mich, oder gab es dort Rauchsäulen, die schräg in den Himmel faserten? Ich mußte einen Lagerplatz für die Nacht suchen. Und ich brauchte Zeit und viele zusätzliche Informationen. Das kalte Bächlein floß nach Norden. Der Pfad gabelte sich ganz plötzlich, die breiter ausgetretene Spur führte nach rechts, die schmale geradeaus. Ich sah Libellen, die wie glitzernde Tropfen farbigen Glases mit ruckartigen Bewegungen von Schilfstengeln zum Ufer schwirrten und zurück. Das Rohr war üppig und schwarzgrün. Ich ging auf der breiteren Spur entlang, den Speer wurfbereit. Der Wasserlauf weitete sich nach einer Weile zu einem Teich, der halb von Hängegewächsen verdeckt war. Unter den Sohlen meiner Stiefel zerkrümelten Steinstücke. Als ich zwei Büsche auseinanderschob, prallte ich verblüfft zurück. Ich stand vor dem Eingang zu einem Steinbruch. Vorsicht! Der Ort kann voller versteckter Gefahren sein! warnte das Extrahirn. Hinter den Büschen schlich ich in einem Viertelkreis auf das Zentrum dieses Platzes zu. Überall sah ich Steinblöcke in verschiedenen Größen, aber keinen einzigen unversehrten Quader. Holzstücke, zerrissene Körbe, mehrere Feuerstellen, Dinge, die aussahen wie Korbgeflecht, das mit Lehm verschmiert und dann im oder über dem Feuergehärtet worden war, Steinwerkzeuge und die Reste von Hütten aus Fell und Holz, überall Spuren der Arbeit. Ich brauchte nicht nachzudenken, um zu erkennen, was das alles bedeutete: in diesem Steinbruch waren die Quadern gebrochen und bearbeitet worden, aus denen das Mausoleum dort oben bestand. Suchend wanderte ich zwischen den Überresten umher, wußte nicht, was ich eigentlich suchte, und endlich sah ich zwischen einem Geröllhaufen und weggeworfenen Steinen ein Stück Haut. Schillernde Fliegen krochen darauf herum. Ich blieb stehen und schob mit dem Speer dürre Zweige zur Seiten. Vier Körper lagen hier. Sie waren fast nicht mehr zu erkennen. Eine alte Frau, ein Junge und zwei Männer mittleren Alters. Kleine Tiere, die Hitze und die Verwesung hatten die Körper fast zerstört. Trotzdem glaubte ich, zu wissen, was diese Menschen umgebracht hatte. Die Gelenke waren besonders tief abgefressen. Das bedeutete, daß hier das Fleisch bloßgelegen war. Fesseln also. »Du hast mich auf eine schöne Mission geschickt, ES«, sagte ich laut und trotzig. Ich hatte genug gesehen und verließ den Steinbruch. Für heute hatte ich genug erlebt. Die letzten Geier flogen sternförmig auseinander. Beim ersten Licht würden sie zurückkommen. Ich lehnte, die wichtigsten Waffen in
Griffweite, in der warmen Höhlung zwischen Wurzeln und Moos. Vor mir lag das Ufer des Sees, rechts von meinem ausgestreckten Fuß war das kleine Häufchen Glut. Die im Sonnenlicht warm gewordenen Reste des Bratens, einige Früchte, die ich noch kannte, Beeren und Wasser war mein Essen gewesen. Ich war satt und todmüde. Ich lag auf den Fellen und hatte meinen Mantel ausgebreitet, der wie aus Fellen zusammengenäht aussah. Noch immer war in mir diese unbegründete Spannung, dieses vernunftwidrige Gefühl der Verfolgung. Dabei war ich der Jäger. Ich wünschte mir, die Ausrüstung zu besitzen, die ich damals mitgenommen hatte. Rund um mein Versteck hatte ich trockene Zweige ausgelegt. Der Aufenthalt in der Oase hatte meine Sinne wieder geschärft. Ich würde beim geringsten »falschen« Geräusch aufwachen. Ich schob schließlich Erde zusammen und bedeckte die Glut, ich brauchte sie am Morgen noch. Dann zog ich Stiefel und Hose aus, rollte mich in die Decke und hoffte, daß ich am Morgen klüger sein würde als jetzt. Ich schlief, traumlos und fest. Hier waren die Nächte weitaus wärmer, aber keineswegs schwül. Gegen Mitte der Nacht wachte ich auf. Ich merkte, daß die Decke von meinen Schultern gerutscht war und sich meine Finger um den Griff des Beiles klammerten. Du wirst beobachtet! Ich rührte mich nicht und widerstand der Versuchung, aufzuspringen und nach den Waffen zu greifen. Ich wußte, daß unter bestimmten Bedingungen weit geöffnete Augen sichtbar waren. Also öffnete ich die Augen nur einen Spalt und zwang mich dazu, im selben Rhythmus weiterzuatmen. Ich starrte geradeaus. Ich konnte etwa fünf Mannslängen weit undeutlich sehen, nur mit dem rechten Auge. Ich mußte mich auf mein Gehör verlassen. Ich spannte meine Muskeln und lauschte. Ich erkannte die Büsche und dahinter die dicken Halme des Schilfes nur als dunkle Kulisse. Keine Bewegung, kein Laut, nicht einmal die Geräusche der unsichtbaren Tiere. Ich wartete und hörte mir nur meinen Pulsschlag. Standen die Androiden hinter mir und überlegten, ob ich ein brauchbarer Sklave werden könnte? Oder lauerte ein Raubtier? Einer der Nachkommen jener Jäger, die ich kannte? Eine andere Gefahr? Beruhige dich! Ein Raubtier würde dich längst zerrissen haben. Du würdest es bis hier riechen! Ich wartete… wartete. Regungslos, verkrampft und bereit, mich herumzuwerfen, aufzuspringen und mich gegen einen Angriff, gleich welcher Art, mit allen Kräften zu wehren. Nichts geschah. Ich wußte nicht, wie lange ich wartete. Plötzlich knackte dicht hinter meinem Rücken ein Stück Holz. In der
Stille, die in meinen Ohren rauschte, klang es wie ein Donnerschlag. Ich handelte augenblicklich, sprang auf, schwang das Beil und warf mich in eine Richtung, in der mich ein Speer oder eine Axt nicht treffen würde. Aber noch im Schwung des Sprunges sah ich rechts neben dem Baumstamm eine Gestalt, die zögernd näherkam, ohne jede Bewaffnung. Ich federte in den Knien, senkte den Arm mit dem sausenden Beil und drehte mich herum. Ich war zwei Mannslängen von der Gestalt entfernt, die ebenso erschrocken war wie ich und sich langsam aufrichtete. Eine Frau! Kein Gegner! rief der Logiksektor. Ich blieb stehen und sah zu, wie sich eine schlanke Gestalt aufrichtete. Sie war nur im Sternenlicht zu sehen und verschmolz halb mit dem Hintergrund. Mein Extrahirn und mein photographisch exaktes Gehirn wirkten zusammen, und ich sagte in der Sprache, die ich vor drei Jahrtausenden gelernt und gesprochen hatte: »Wer bist du? Was suchst du hier?« Langsam, ohne die Frau aus den Augen zu lassen, bewegte ich mich auf die Stelle zu, die durch ihre ausstrahlende Hitze verriet, daß unter einer Erd- und Sandschicht die Glut war. »Du bist ein Jäger?« fragte die Gestalt. Eine dunkle, schwingende, aber junge Stimme. Ich bückte mich, ohne die Frau aus den Augen zu lassen, und scharrte mit einem trockenen Ast die Erde zur Seite. Längst war der Mond untergegangen. »Ich bin Jäger. Ich bin fremd hier. Lebt dein Stamm in der Nähe?« »Nein«, sagte sie. »Hier ist leeres Land.« Die rote Glut erschien. Ich steckte den Ast hinein, aber ließ sie nicht aus den Augen. Die Betonung war anders, die Wörter klangen verändert, aber wir konnten uns verständigen. Drei Jahrtausende! Ich riskierte es, steckte das Beil in den Gürtel und richtete mich auf. »Du bist allein?« »Ich bin vor den Sklavenjägern geflüchtet!« In Wirklichkeit sagte sie: »Ich bin weggelaufen vor denen, die umherstreifen und Menschen einfangen wie Jagdtiere.« Ich verstand. Konnte ich ihr glauben? Ich packte einige dünne Äste und schob sie in die Glut. Erste, winzige Flämmchen züngelten hoch. Wir warteten schweigend, bis nach kurzer Zeit das Feuer so hell brannte, daß wir einander sahen. »Du siehst aus wie… wie sie!« sagte die Frau. Ich sprang ins Dunkel zurück und schleppte Holzstücke heran. Wenige Augenblicke, nachdem ich das Brennmaterial aufgeschichtet hatte, loderte ein riesiges Feuer hoch. Ich rechnete damit, daß sie nur zwei Möglichkeiten hatte. Log sie, würde das Feuer helfen, die Gegner zu sehen. Sprach sie die Wahrheit, gab es kaum ein Risiko. Ich kam um die Flammensäule herum, schirmte meine Augen ab und sah, daß es ein Mädchen war,
eine junge Frau. Schlank, fast nackt, verstört aussehend, mit Sicherheit hungrig und hübsch. Hübsch nach meinen eigenen Maßstäben. Sie sah mich mit großen, dunklen Augen an. »Ich bin nicht wie sie!« sagte ich. Ich verstand: sie meinte die Fremden. Es gab keine andere Möglichkeit. Ihr Blick hatte gleichermaßen etwas Eindringliches und Furchtsames; sie glich einem starken, schönen Tier, das verwundet in die Ecke gedrängt worden war. »Du bist allein?« fragte sie. »Ja«, erwiderte ich und ging abermals ein Risiko ein. Inzwischen hatte ich mich im Halbkreis um das schlanke, regungslos dastehende Mädchen herumbewegt und befand mich in der Nähe meiner Waffen. »Ich bin allein. Ich komme aus dem Süden, und ich habe die zwölf Toten dort oben gesehen.« »Sie waren aus unserem Stamm. Ich sollte dort liegen, wenn es nach ihnen ginge!« Sie drückte sich mit mehr Worten einfacher aus, aber wir verstanden uns. Ich drehte meinen Kopf, aber es erfolgte kein Angriff, und jetzt hörte ich auch wieder die Laute von allen denkbaren kleinen Tieren und Insekten. Sie wurden nicht gestört, also verbarg sich niemand im Gebüsch rund um das Lager und den kleinen Teich. Die Flammen wurden heller, es gab mehr Hitze und weniger Rauch. Ich zog zur Sicherheit die Stiefel an und sagte dann in ruhigerem Ton: »Wo lebt dein Stamm?« »Im Norden. Auf den flachen Bergen. Ich heiße Adrar und bin die Tochter des Mannes mit den größten Herden.« Ich deutete auf einen Platz neben dem Feuer und sagte: »Ich heiße Atlan. Ich kenne euren Stamm nicht und eure Bräuche. Ich wurde gerufen, um sie zu verfolgen.« Richtig! Ihr meint dieselbe Gruppe. Es sind die Fremden! echote der Logiksektor. »Du bist ein starker, kluger Jäger!« sagte Adrar leise und setzte sich auf einen bemoosten Stein, der auch mir schon als Sitzplatz gedient hatte. Ich registrierte jede ihrer Bewegungen. Sie war schön, das flackernde rote Feuer machte aus jeder ihrer Bewegungen einen geheimnisvollen Vorgang. Ich spürte, daß ich sie zu begehren begann. Es war eines dieser Treffen, eine Zusammenkunft, die unter solch ungewöhnlichen Bedingungen vor sich ging, daß sie den Charakter der Ausschließlichkeit bekam. Sie schien es zu bemerken und verhielt sich entsprechend. »Ich hoffe, du hast recht«, sagte ich. »Aber – du wirst hungrig und müde sein, Adrar!« »Ja.« Ich trug nichts als meinen Lendenschurz, und sie hatte ebenfalls
einen Schurz aus dünnem Leder und eine Art Jacke, die locker um ihren Oberkörper lag. In einem schmalen Gürtel steckten ein kleiner und ein großer Dolch. Die Haut war voller Schrammen und entzündeter Stellen, schmutzig und staubig. Das Haar war lang und hing bis über die Brust. Adrar hatte volle Lippen und schneeweiße Zähne, die im zuckenden Licht aufblitzten. Das Mädchen besaß die natürliche Eleganz einer Raubkatze. »Zu trinken habe ich auch nur Wasser«, erklärte ich und deutete in die Richtung des Teiches. »Aber hier ist noch ein Rest gebratenes Fleisch, und hier gibt es einige Beeren.« Ich schlug die Tücher zurück, entfernte einige Insekten und streute Salz über das kalte Fleisch, ehe ich es ihr gab. Sie aß schnell und wie ein junges Tier. Sie warf immer wieder angstvolle Blicke in meine Richtung, aber inzwischen saß ich wieder auf meinen Fellen, hatte einen Teil davon über meine Schultern gelegt und lehnte am Baumstamm. Jetzt würde ich Informationen bekommen. Und ich hatte nicht nur einen Menschen, den ich fragen konnte und der mir antworten würde, sondern eine junge Frau, die meine Sinne beschäftigte. Sie aß die letzten Beeren aus der hohlen Hand, warf ein Stück Knorpel ins Feuer und sagte, auf meine Felle deutend: »Die Nacht ist halb vorbei. Ich habe dich lange beobachtet. Morgen werden wir über alles reden. Du wirst wachsam sein, wenn wir schlafen?« Es fiel mir leicht, zu lächeln. Sie war naiv wie ein Kind, aber inzwischen spürte sie die Wirkung, die sie auf mich ausübte. Sie kokettierte auf frauliche Art mit mir. Sie wußte, daß ich sie begehrte. Und sie schien es auch zu wollen. Sie stand mit der Bewegung eines jungen Raubtiers auf. »Ich werde wachsam sein«, sagte ich. »Und morgen werden wir reden. Auch ich bin müde.« Sie wandte sich wortlos um, warf ihre Jacke und ihren Schurz ab und sprang mit einem gewaltigen Satz ins Wasser. Ich stand auf und schichtete das Holz auf eine Weise um, die das Feuer ziemlich lange in Gang halten würde. Adrar kam langsam und in einer Weise zurück, die ich eindeutig auslegen mußte. Sie setzte sich neben meinen Füßen hin, wandte mir ihren langen, schmalen Rücken zu und sagte: »Ich weiß nicht, ob es gut war, dich zu treffen, Atlan.« Dachte ich an Katya, das Mädchen vom Stamm der Jäger, dann mußte ich zugeben, daß Adrar schöner war. Ich verschränkte die Arme hinter dem Nacken und erwiderte zögernd: »Ich verstehe dich nicht.« Sie hob die Schultern, drehte sich halb herum und zog die Knie ans Kinn heran. Sie warf mir einen berechnenden und zugleich hilflosen Blick zu und erklärte:
»Ich bin geflüchtet. Tage und Tage bin ich gerannt. Ein Mond und eine halbe Mondrinde lang. Ich wollte nicht denen dienen. Ich weiß, wie die anderen gestorben sind. Sie wollen zu Herrschern werden und das Land regieren. Und jetzt treffe ich dich. Du bist wie sie. Klug, schnell und grausam. Du wirst eine Sklavin aus mir machen.« Ich atmete seufzend aus, nahm meine Decke und schob mich darunter. Ich zog den Rand bis ans Kinn, starrte in die kleiner werdenden Flammen und in den Haufen aus Glut, der immer größer wurde, dann sagte ich mürrisch, was meiner Verfassung voll entsprach: »Du kannst gehen. Ich werde dich nicht halten und nicht verfolgen. Meine Jagd ist lang, schwer und tödlich. Ich lasse mich nicht durch das dumme Geschwätz von Weibern aufhalten.« Ich zog die Decke höher und drehte den Kopf. Du denkst an Ischtar und an Arkon, Atlan. Hier herrschen andere Bräuche, sagte der Logiksektor. »Meinetwegen!« sagte ich in Arkonidisch und gähnte. Ich war rechtschaffen müde und wollte nicht mehr diskutieren. Kurze Zeit später spürte ich, wie Adrar an meiner Decke zog. Sie kauerte neben mir und flüsterte: »Es wird kalt. Ich friere. Dein Arm wird mich wärmen, Jäger.« »Mein Arm«, knurrte ich unwillig und schläfrig, »wird dich morgen früh strafen, Adrar.« Wir schliefen ein. Ich lag auf dem Rücken, fühlte unter meinem Kopf das Moos und unter den Schultern die Felle. Sie hatte einen Arm über meine Brust gelegt, ihr Köpfchen lag in meiner linken Armbeuge, und unsere Knie berührten sich immer wieder. Wir schliefen wie die Tiere, tief und traumlos, ohne gestört zu werden, und als ich aufwachte, schien die Sonne bereits einige Zeit. ein neuer tag, blendendes licht, das licht kennzeichnete einen neuen abschnitt, die luft roch wunderbar kühl und feucht, über uns war nichts als ein gewirr grüner blätter und der kristallene himmel. es war, als wäre ich neu geboren worden, im Vollbesitz allen Wissens und sämtlicher kräfte. ich fühlte mich, als könne ich die bahn dieses planeten ändern, langsam drehte ich mich herum und betrachtete das entspannte gesicht des mädchens adrar. jung, aber gezeichnet von erfahrungen, die ich nicht kannte, das mittelbraune haar lag wie eine erstarrte welle über der stirn und einem auge, insekten waren zu hören, frösche und geschäftige, kleine tiere. sie waren die musik, als ich meine hände an das gesicht legte und mit den fingern das haar wegschob, ich versuchte, adrar zu küssen, ein fehler? nein! halb im schlaf, halb wach erwiderten ihre flinken finger die Zärtlichkeiten, adrar lächelte, ohne die augen zu öffnen, wir hatten uns getroffen, jetzt lernten wir uns kennen.
alle gedanken an gefahren waren vergessen, wir erforschten unsere körper. wir begannen uns zu lieben wie fremde und lernten uns mit jedem atemzug mehr kennen, es war wie ein kleiner vulkan, wie eine bewegung der erde, weder adrar noch ich wollten es anders, wir genossen jeden moment. als wir uns voneinander lösten, flüsterte sie: »du bist ein großer jäger, atlan. ngarto hat mich zu dir geführt.« ich erwiderte atemlos: »ich weiß nicht, wer ngarto ist, aber sie hatte recht.« adrar riß die augen auf, blickte mich unsicher und angstvoll an und flüsterte zurück: »es ist die göttin der liebe, eine der fremden, sie hat viele jünglinge getötet.« es war, als träfe mich ein dolch in den nackten rücken. Immer wieder die bekannten Bewegungen und Gerüche. Die schnelle Jagd, der heulende Pfeil, die im Sprung zusammenbrechende Gazelle. Jetzt drehte sich der Braten über der weißen Glut. Adrar kannte Würzkräuter und sammelte Beeren und Früchte, und ich hatte das Salz. Wir waren allein und hungrig. Wir hatten uns in dem kleinen See gebadet, und eine Stunde lang hatte ich mit meiner Ausrüstung die kleinen Wunden des Mädchens behandelt, ihr Haar mit dem scharf geschliffenen Arkonstahl des Dolches etwas gekürzt, meine Reservestiefel verkleinert und mich um den Braten gekümmert. Adrar war noch immer mißtrauisch und von den Ereignissen irgendwie überrascht. Einmal fragte sie: »Woher kommst du, Atlan?« Ich deutete nach Süden, dachte an meine verlassene Tiefseekuppel und erwiderte leise: »Aus einem fernen Land. Ein Ruf erfolgte. Ich muß ihm gehorchen, denn er läßt mir keine andere Möglichkeit.« »Was sagte dein Herr? Was befahl er?« »Eine Hand und zwei Finger, also zwölf Fremde sind erschienen. Sie versklaven das Land und wollen mächtige Könige werden. Ich soll die Verbrecher unter ihnen töten.« Während wir uns um unser körperliches Wohlbefinden kümmerten, hatte Adrar meine Waffen und meine Ausrüstung entdeckt. Sie prüfte die langen Pfeile, die Schaffungen der Speere, die verschiedenen Vorratsbehälter, die wie Knochenstücke aussahen. Ich hatte die gesamte Ausrüstung in der Oase gefunden, nachdem ich mich aus dem Wasser hatte erheben können. ES hatte verhindert, daß ich auch nur die geringste Energie verwendete. Das ließ sich annehmen, daß die Fremden über Möglichkeiten verfügten, mich entdecken zu können. Ich mußte also bis zum bitteren Ende den fremden Jäger spielen, der über kein Mittel verfügte, das »unangemessen« war. Die perfekte Tarnung des Henkers. »Sie sind mächtig. Sie schleudern Blitze. Dort, wo sie leben, haben
alle Furcht vor ihnen.« »Wo leben sie?« Ich erfuhr, daß Tausende von Familien rund um das ferne Gebirge lebten, dort auf den Hochebenen und in den Tälern. Ich hatte also doch Rauchsäulen gesehen, obwohl die Plateaus viele Tagesreisen entfernt waren. Dort schien es so etwas wie den Anfang eines städtischen Lebens zu geben. Das bedeutete, daß die Sammler, Hirten und Jäger, vielleicht auch die Bauern, soviel Nahrung erzeugten, daß sich andere Männer einem Beruf widmen konnten, ohne durch Jagen oder Ernten aufgehalten zu werden. Mit einiger Sicherheit waren diese Vorgänge Werk der Fremden. »Wie viele Fremde kamen über euch?« erkundigte ich mich und packte, während Adrar den Spieß drehte. »Es waren zwei Hände und soviel.« »Dreizehn also. Der Mann, der dort oben liegt…?« Sie warf mir einen entsetzten Blick zu und lehnte sich zurück. Ihre Furcht war echt. Trotz allem, was uns in diesen wenigen Stunden verband, war Adrar ein Geschöpf ihrer Zeit. Hier hatte jeder Halm, jeder Blitz, selbst die Wolken am Himmel, eine besondere Bedeutung. Überall zeigte sich das finstere Wirken einer Gottheit. Und genau diese Erkenntnis schienen sich die Fremden zunutze gemacht zu haben – ich hätte an ihrer Stelle nicht anders gehandelt. »Es war einer der jüngeren Fremden. Er kam mit den anderen. Er ließ sich ein großes Haus bauen. Aber er hat etwas gegessen, was ihn tötete. Die anderen trieben Männer und Frauen zusammen und ließen das Totenhaus bauen. Die zwölf erwürgten Diener wurden mit ihm bestattet. Sie glaubten, die Diener hätten ihn getötet.« Es schienen düstere, bösartige Fremde zu sein. Androiden. Spielmaterial von ES, hierher geflohen und gezwungen, sich eine neue Welt aufzubauen. Sie waren, hatte ES gesagt, geschaffen, nicht geboren. Waren sie auch potentiell unsterblich wie ich? Ich würde es bald erfahren. »Was tun die Fremden? Wie beschäftigen sie sich?« fragte ich und nahm den fertigen Braten von der Glut. Inzwischen knurrten unsere Mägen. »Sie sagen uns, was wir zu tun haben. Sie tun viele neue Dinge. Sie arbeiten mit Holz und Feuer, sie haben etwas gefunden, was sie Eisen nennen, sie hämmern auf Metall, und sie bauen Häuser.« Ich nickte und verbrannte meine Finger an dem heißen, mageren Fleisch. Die Würzkräuter rochen herrlich. »Machen sie auch Bier?« fragte ich, weil mir ein entsprechender Gedanke durch den Sinn schoß. »Ja. Sie versuchen es.« Während wir aßen, unterhielten wir uns darüber. Seit einem halben
Jahr, seit sechs Mondwechseln also, gab es die Fremden auf den Hochflächen. Plötzlich waren sie dagewesen. Sie kamen in der Nacht, in einer »feurigen Kugel«. Sie schienen nicht übermäßig bewaffnet zu sein, und auch wenige Geräte bei sich zu haben, aus deren Vorhandensein sie Macht schöpfen konnten. Und immerhin beschäftigten sie sich damit, Zivilisation und Kultur zu verbreiten. »Warum bist du hier?« fragte ich und umfaßte mit einer Bewegung die Landschaft um den Hügel. »Meine Brüder liegen dort oben. Ich bin geflohen und habe mich versteckt. Sie suchten mich. Tashil wollte mich. Ich bin das schönste Mädchen unseres Stammes. Ich bin schön, nicht wahr, Atlan?« Ich lächelte sie an und entgegnete: »Du bist das schönste Mädchen, das ich seit langer Zeit gesehen habe«, und das entsprach der Wahrheit. »Aber wir müssen dorthin, wo die Fremden hausen. Ich habe nicht vor, die ganze Strecke zu wandern.« »Aber… hier gibt es keine gezähmten Reittiere!« »Vielleicht finden wir welche.« Von hier aus konnte ich nichts unternehmen. Ich sollte Richter und Henker gleichzeitig sein, obwohl ich es nicht mochte und nicht geplant hatte. Aber um richten zu können, mußte ich mehr erfahren. Viel mehr. Das konnte ich nur dort, wo sich die Fremden ausbreiteten und ihr geheimes Königreich zu schaffen versuchten. Sie hatten eine Welt betreten, die sich zum zweitenmal aufmachte, um den langen Weg zu den Sternen zu erreichen. Ich würde dafür sorgen, daß es kein zweites Desaster geben würde. Eile war sinnlos. Je länger ich beobachtete, nachdachte und plante, desto größer würde der Erfolg sein. Ich war nicht gewillt, blind den undeutlich formulierten Befehlen des mächtigen ES zu gehorchen. Adrar wischte ihre Finger im Gras ab und fragte zaudernd: »Was wirst du jetzt tun, Jäger?« Sie nannte mich weitaus häufiger »Jäger« als bei meinem Namen. Ich dachte an meinen Auftrag und daran, daß ES zusehen und sich amüsieren würde. Vielleicht ertönte ein gedämpftes Lachen, und ein neuer, halbtoter Elefant erschien. »Noch etwas warten. Viele Fragen stellen. Und dich lieben.« Das ferne Gebirge verschwand im Tageslicht. Die Tafelberge davor wurden undeutlich. Der Weg dorthin war weit, und die Wahrscheinlichkeit, daß ich versagte, war groß. »Du mußt sie alle töten!« sagte sie schließlich. »Sonst töten sie dich. Und ich werde zur Sklavin.« »Ich entscheide, was ich tun muß und was nicht!« erklärte ich und rammte den langen Dolch in die Erde. Das Land südlich des Binnenmeers lag im Sterben. Eine
Klimaänderung, eine Verschiebung des Wetters, was wußte ich. Einmal mußte es hier riesenhafte, undurchdringliche Wälder gegeben haben, jetzt gab es nur noch kleine Zonen von Bäumen und Büschen, meist in den geschützten Tälern oder entlang der Wasserläufe. Es gab kleine Wildschweinrudel, Gazellen, wilde Schafe und Ziegen, Rotwild, Rehwild, Rinder und Giraffen, hin und wieder sahen wir die grauen Rücken großohriger Elefanten. Aber es waren winzige Herden, schnell, scheu und niemals näher als zwanzig Bogenschußweiten. Es gab Spuren von Füchsen und Wölfen, aber auch der Tierbestand sagte mir, daß es hier in einigen Jahrhunderten riesige Wüstenflächen geben würde, die sich unaufhaltsam ausbreiteten. Die Zeichen waren untrüglich. Die Stämme oder Familien auf den Hochplateaus würden in vielen Jahren weiterwandern müssen, nachdem sich die Überbleibenden um die lebenswichtigen Wasserstellen erbitterte Kämpfe liefern würden. Das dunkle Königreich der Androiden war schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Sollte ich trotzdem eingreifen? Vergiß nicht, warnte der Logiksektor und zeigte mir, daß ich wenig Alternativen hatte, daß du ein Werkzeug dieses Mächtigen bist! Er hat dich in der Hand! Ich wünschte mir einen schweren, verkleideten Paralysator, aber es würde keinen geben. Atlan, der rächende Jäger! Nur mit Mühe unterdrückte ich ein hysterisches Gelächter. Wir räumten das Lager, und ich verteilte die Lasten. Jetzt noch, am frühen Nachmittag, benutzten wir den schmalen Pfad, der sich nach einer Stunde in der Landschaft verlor. Wir ließen uns Zeit und redeten miteinander. Wir bahnten uns vorsichtig einen Weg nach Nordosten. Schritt um Schritt. Ich erfuhr in den Stunden bis zum Abend alles, was Adrar mir sagen konnte. Es half mir nicht viel weiter. Wir kamen, die Fellsäcke über den Schultern, über die Kuppe eines winzigen Hügels. Plötzlich blieb das Mädchen stehen und packte meinen Arm. »Dort!« sagte sie. »Der Elefant. Er greift uns an!« Ich wirbelte herum und überlegte, ob ich mit dem Speer eine Chance hatte, oder ob ich versuchen mußte, das Tier mit einem Pfeil zu erlegen. Aber als ich die herankommende graue Masse genauer sah, wußte ich, daß ich keine Waffe brauchte. Das Tier näherte sich schnell, aber es griff nicht an. Der Rüssel war gesenkt, die Ohren lagen flach an, und der Elefant bewegte sich, als stünde er unter dem Bann eines fremden Willens. Noch war ich nicht sicher, aber vermutlich hatte uns ES das zweite Reittier geschickt. Ich wartete, den Speer in der Hand, bis das Tier nahe heran war. Adrar schob sich aufgeregt hinter meinen Rücken.
Das Tier sah uns starr aus seinen weisen Augen an. Ich glaubte die Qual zu erkennen, die der fremde Wille erzeugte. Der Elefant keuchte und hob vorsichtig den Rüssel. Er war etwas kleiner als der Bulle, der mich hierher gebracht hatte. Auch schien das Tier jünger zu sein. Ich überlegte, dann sagte ich zu Adrar: »Mein Herr schickt dieses Tier. Es ist willenlos und wird uns gehorchen. Und es wird uns zu den Tafelbergen bringen.« »Ich… das verstehe ich nicht!« flüsterte sie mit schreckgeweiteten Augen. Ich nahm ihr das Gepäck ab und begann, die Ausrüstung auf dieselbe Weise zu befestigen wie vor Tagen. Dann hob ich Adrar, die wie gelähmt alles über sich ergehen ließ, auf den Rüssel hinauf und lachte laut, als ich ihr Gesicht sah. Sie entspannte sich unmerklich. Für sie standen mein »Herr« und ich offensichtlich schon jetzt mit den Göttern in Verbindung. Züchte diesen Aberglauben nicht weiter! Du solltest dich von den Fremden unterscheiden! flüsterte eindringlich das Extrahirn. Ich ließ mich von dem Elefanten hochheben und setzte mich hinter Adrar. Sie lehnte sich schwer gegen mich. Das Tier trompetete leise und drehte sich auf der Stelle. Ich lenkte es, indem ich meine Stiefel hinter die Ohren setzte und mit leichten Stößen die Richtung angab. Dieses Mal hetzte das Tier nicht los wie von Dämonen gepeitscht, sondern trottete in einem langsamen Trab dahin. Es war besser so. Lange Zeit sagte Adrar nichts, versuchte sich zu fassen, dann drehte sie ihr Gesicht zu mir herauf und flüsterte: »Jetzt glaube ich, daß du sie alle vernichten wirst, mächtiger Jäger.« Ich erwiderte ernst: »Ich kann es nur mit deiner Hilfe und mit der Unterstützung der jungen Männer deines Stammes.« »Sie sind alle Sklaven.« Eine Wanderung von neun Tagen begann. Jede Nacht entließ ES das Tier aus dem Zugriff seines Willens, aber am Morgen, beim ersten Sonnenlicht, fand sich das Tier gehorsam und geduldig bei unserem Lager ein. Und am siebenten Tag, gegen Mittag, geschah das, was ich erwartet und befürchtet hatte. Zuerst waren die Vögel da. Sie zogen Kreise in der hohen Luft, sie flatterten in aufgeregten Schwärmen über der Savanne, die wolkenförmigen Ballungen und die langgezogenen, V-förmigen Ketten vollführten blitzschnelle Richtungsänderungen. »Sie jagen!« sagte Adrar erbittert. »Sie jagen Löwen und Menschen.« »Die Fremden?« »Ja. Die fremden Götter!«
Vor uns erhob sich seit Tagen die mächtige Kulisse des Gebirges, das aus Sandstein zu bestehen schien, eine helle, im Sonnenlicht unerträglich glänzende Barriere, die im Morgenlicht und in den Sonnenstrahlen der Abenddämmerung alle Töne im roten Bereich zeigte. Davor befanden sich die tafelbergähnlichen Vorberge. Vom ersten Abhang waren wir noch zwei Tagesreisen entfernt, und die Jagd schien sich von rechts nach links zu bewegen. »Ich frage dich etwas. Von dieser Frage hängt vieles ab, Adrar!« sagte ich und hielt sie an den Schultern fest. »An welcher Stelle finden wir Unterschlupf bei deinen Leuten, fernab von den Göttern?« Sie deutete auf den westlichsten Ausläufer der Vorberge. »Dort. Bei den Herden, die von Wasserstelle zu Wasserstelle ziehen. Dorthin kommen die Fremden sehr selten.« »Und an welcher Stelle hausen die Fremden?« »Sie leben an sechs verschiedenen Stellen. Auf sechs Hügeln. Dort und dort, auf dem runden Hügel und dort, wo du die Felsen unter der treibenden Wolke sehen kannst.« Um der Jagd zu entgehen, mußten wir nach Osten traben. Um an die zuerst bezeichnete Stelle zu kommen, sollten wir einen weiten Bogen nach Westen schlagen. Ich beschloß, das Tier in einen Halbkreis traben zu lassen, zuerst nach Nordost und dann entlang der Abhänge zurück nach Westen. »Sie dürfen uns nicht sehen!« rief Adrar zitternd. »Ich habe Angst, Jäger!« »Du brauchst keine Angst zu haben«, erklärte ich. »Wir greifen sie nicht an. Noch nicht.« Der Elefant trabte weiter. Immer mehr Vögel erhoben sich in die Luft. Wir sahen die ersten flüchtenden Tiere. Sie kamen uns schräg entgegen, und ich dirigierte unser Reittier mehr nach rechts in eine Bodensenke hinein. Zwei Löwinnen hetzten an uns vorbei, ohne uns mehr als einen flüchtigen Blick zu gönnen, die Bäuche tief an den Boden gepreßt. Hinter den Büschen trabten drei Giraffen mit wiegenden Hälsen entlang. Ich hielt nach kurzer Zeit den Elefanten an. Sie kommen näher! In ein Versteck! rief der Logiksektor. Weder Adrar noch ich konnten etwas hören. Aber die Anzahl der flüchtenden großen Tiere nahm zu. Ich sah mich um und entdeckte ein einigermaßen gutes Versteck; eine zerklüftete, überwachsene Felsengruppe auf einem kleinen Hügel. Ich rammte die Spitzen der Stiefel hinter die Ohren des Tieres, trieb es an und hielt mich und Adrar fest. Schnaubend und leise trompetend rannte der Elefant durch einen Graben voller Sumpfgewächse, über die Grasflächen und durch die Büsche, die krachend splitterten oder zurückschnellten. Dann erreichten wir den breiten Felsspalt, ich dirigierte das Tier rückwärts zwischen die Felsen und durch die Vorhänge aus Lianen und
vielblättrigen Schmarotzerpflanzen. Wir befanden uns unsichtbar in einem kleinen, von allen Seiten von Felsen umschlossenen Versteck und hatten einen guten Blick über das Gelände. »Sie jagen tatsächlich Menschen!« sagte ich verblüfft. Schweigend betrachteten wir die Szene, die sich schräg unter uns abspielte. Es waren zwei Gespanne mit jeweils drei Insassen. Hinter ihnen bewegten sich lange Ketten von Männern mit Waffen. Die Ketten der Treiber und die zwei Gespanne bildeten eine riesige Sichel. Die Wagen befanden sich in der Mitte. Ein Mann lenkte, zwei andere handhabten Bogen oder eine lange Lanze – oder aber kurze Wurfspeere. Ich konzentrierte mich mit steigender Verwunderung auf die Gespanne und die Wagen. Die fremden Götter hatten eine Menge neuer Technik oder Verfahren schon nach einem halben Jahr eingeführt. Die vier Tiere, die aussahen wie Pferde, aber längere Ohren und kürzere Schwanzquasten hatten, waren noch halbwild. Es schienen Eselshengste zu sein, die mit Peitsche, Stachel und langen Zügeln gelenkt wurden. Der Wagen besaß zwei Deichseln, an denen drei Halbesel eingeschirrt waren. Ein vierter rannte vor dem mittleren Tier. Die Zugtiere waren rasend vor Schmerzen und Aufregung und rissen die Wagen im Galopp hinter sich her. Die Peitschen krachten, die Tiere schrien hell, ihre Kruppen waren blutig. Der Mann an den Zügeln, einer der eingeborenen Jäger offensichtlich, steuerte den Wagen mit dem geschlossenen hüfthohen Korb einen leicht schrägen Hang hinauf und drehte oben in unsere Richtung zurück. Die Tiere spränge in einen Halbkreis, der Wagen schleuderte, und einer der Bogenschützen feuerte einen Pfeil auf eine Gazelle ab, die sich aus einem kleinen Rudel gelöst hatte und versuchte, den Treibern zu entkommen. Ich sah den Wagen genauer an; ich interessierte mich für die Achsen und die Räder. Die Fremden waren rücksichtslos. Die Vermessenheit schien schon in ihnen gewesen zu sein, als sie hierher starteten. Sie benutzten die Menschen ebenso rüde wie die Tiere. Von den beiden Gestalten – ein Mann und eine Frau standen in dem Wagen, der jetzt den Hang hinunterratterte und auf eine Gruppe flüchtender Menschen zuschleuderte – ging eine erstaunliche physische Arroganz aus. Über einer langen Achse aus federndem Holz war der Korb befestigt. Die Räder hatten breite Felgen, offensichtlich aus Bronze oder vielleicht aus Eisen. Sie waren hervorragend für dieses Gelände geeignet, die Speichen schienen die Belastungen gut auszuhalten, und die vier Tiere bewegten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Sie würden nicht lange als Zugtiere zu gebrauchen sein. »Siehst du, wie sie jagen? Sie sind rücksichtslos. Sie kennen keine Gnade!« stöhnte Adrar auf und klammerte sich an meinen Arm. Wir
waren unsichtbar. Der Elefant bewegte sich nicht um eine Handbreit. Wir fühlten nur den mächtigen Atem des Tieres. »Es sind Fremde. Keine Götter, aber auch keine Menschen wie wir!« sagte ich und sah weiter der Jagd zu. Ich erkannte die beiden Insassen des Wagens besser; es waren tatsächlich Fremde. Der Eindruck blieb, sie waren arrogant wie Götter. Jede Bewegung zeigte ihr Unvermögen, sich wie Freunde unter den Menschen zu bewegen. Sie waren als Götter gekommen und hatten niemals die Absicht gehabt, sich einzugliedern. Falls es einen positiven Aspekt in dieser Auseinandersetzung gab, dann das, daß sie einige neue Techniken entdeckten oder wiederentdeckten und vielleicht auch weitergaben. Letzten Endes würde dies den Menschen von Larsaf III helfen können. Du mußt einen von ihnen in deine Gewalt bekommen. Dann erfährst du alles!, sagte der Logiksektor. Ich lachte kurz. Dieser Einfall war fast absurd und jetzt völlig unmöglich zu realisieren. »Es sind keine Menschen wie wir. Aber sie paaren sich mit Menschen!« erklärte Adrar. »Ich weiß. Wir warten das Ende der Jagd ab und dringen dann nach Westen vor!« sagte ich. »Dann, irgendwann, beginnt unsere Jagd.« »Du bist der Jäger!« stimmte sie zu. Die sichelförmig ausgeschwärmten Jäger gehorchten den Befehlen, die sie von den vier Androiden hatten. Sie umgingen die geschossenen Tiere oder schnitten ihnen, wenn sie noch lebten, die Kehlen durch. Sie folgten den dahinrasenden Wagen, die mit durchfedernden Achsen und schwankenden Körben sogar kleine Gräben übersprangen, und die etwa zehn Flüchtenden wurden eingeschlossen. Es war nicht zu erkennen, ob es Jäger, Hirten, Männer oder junge Frauen waren. Sie hatten alle ihre Waffen inzwischen verloren oder weggeworfen, aber als sie von dem Ring aus Treibern umschlossen waren, wehrten sie sich mit Dolchen und Steinen. Sie wußten, was ihnen drohte. Aber sie hatten keine echte Chance. Sie wurden überwältigt und gefesselt. Einer der Wagen fuhr langsam an den gefangenen Eingeborenen vorbei. Ich sah alles ein wenig undeutlich, weil eine Baumgruppe zwischen uns und dem Geschehen stand. Die Frau und der Mann musterten die Gefangenen. Sie schienen miteinander zu sprechen. Sie trugen Kleider, die zum Teil aus Leder, zum Teil aus Gewebe bestanden und von sehr fremdartigem Aussehen waren. Groß, schlank, kerzengerade, für die einfachen Menschen hatten sie tatsächlich das Verhalten von Göttern. Oder wenigstens von Fremden, die so unbegreiflich waren, daß den einfachen Jägern und Hirten nichts anderes übrigblieb, als sie zu Göttern zu machen und ihren Befehlen zu folgen, blind und wie die geschundenen Tiere.
»Wenn ich jetzt etwas unternehme«, sagte ich leise zu Adrar und strich ihr beruhigend über das Haar, »dann werde ich dasselbe Schicksal erleiden wie diese Gefangenen. Du verstehst?« Sie nickte langsam und erwiderte schließlich: »Du bist der Jäger. Du mußt entscheiden, Atlan.« Und du mußt richtig entscheiden, weil es für dich keine zweite Chance geben wird, erklärte das Extrahirn. Wir warteten schweigend und regungslos, bis die toten Tiere fortgeschleppt und die Menschen jagd vorbei war. Die Treiber und die beiden Gespanne formierten sich zu einer langen Reihe, die nach Nordosten davonzog und das verwüstete Jagdgebiet verließ. Die Vogelschwärme lösten sich in der Abenddämmerung auf, und die Vögel verteilten sich über das Gebiet. Als keine Gefahr mehr bestand, entdeckt zu werden, ließ ich den Elefanten wieder lostraben. Wir brauchten mehr als zwei Tage, um die ersten Herden und Hirten zu erreichen.
3. Die Worte und Sätze, jene unvergleichlich plastischen Schilderungen, kamen nicht nur aus dem verdunkelten Raum des Wiederbelebungszentrums in der Dunkelwolke, sondern gleichermaßen aus einer Vergangenheit, die unwiederbringlich verloren war. Atlan schwebte noch immer, jetzt, nach einem vollen Tag im Tank voller Nährflüssigkeit, in größter Lebensgefahr. Sein Verstand aber lebte. Er schilderte die Geschehnisse, die mehr als fünfundachtzig und ein halbes Jahrhundert alt waren. Es war ein Prozeß, der möglicherweise die Selbstheilung einleitete, denn jetzt kamen Erlebnisse und Schilderungen – und Zusammenhänge – zum Vorschein, die niemals geahnt worden waren. ES hatte dafür gesorgt, daß das unbestechliche Extrahirn des Arkoniden vergaß, was vergessen werden sollte. Etwa fünftausend Jahre vor der Zeitenwende also war die Sahara rund um das Hoggar-Massiv eine Savanne gewesen. Atemlos hörten die Ärzte zu, was die Stimme des Arkoniden schilderte. »Die ersten Menschen sind etwa um dreißigtausend vor der Zeitenwende in die Sahara eingewandert!« murmelte ein Terraner. »Die Gebirge und die Vorgebirge waren damals regenreich. Der Rest versteppte langsam.« »Genau diese Entwicklung schilderte uns Atlan. Elefanten, Giraffen, Haibesen… erst Rhodan schaffte es, die Oasen wieder wachsen zu lassen.« Einst war das Gelände Meeresboden gewesen. Saurier und vorgeschichtliche Vegetation kam später und machte üppiger
Tropenvegetation Platz. Die Menschen, die zu »Atlans Zeit« dort lebten, waren negroid, aber heller, größer und mediterraner als die Schwarzafrikaner. Sie jagten Nashörner und Flußpferde und besaßen riesige Rinderherden, deren Überweidung zur Versteppung des Landes mit beigetragen haben mochte. Vermutlich wanderten die letzten Menschen aus, die sich immer mehr in die Gebirgsregionen zurückgezogen hatten. Oder sie starben aus. Atlans Erzählungen würden berichten, was wirklich geschah. Vielleicht waren die viel später erschienen Tuareg die Nachkommen der Androiden und der eingeborenen Jäger? Jedenfalls schienen die vielen Felszeichnungen im Tassili-Gebirge aus Atlans Zeit zu stammen. Die Bänder drehten sich weiter. Der bewußtlose Atlan, dessen physische Sperren beseitigt waren, berichtete, wie er begann, die Androiden von Wanderer zu bekämpfen. Unser Auftauchen am Berg Alyeshkas, unterhalb des Tempels der Einsamkeit, löste Chaos, Furcht und Angriffe aus. Die Abenddämmerung brach an, als wir die ersten Rinder erreichten, die ihre gehörnten Köpfe hochrissen, dumpf aufschrien und mit steil erhobenen Schwänzen davonrasten. Hinter einem Teil der Herde, die vor uns flüchtete, sah ich mehrere Feuer. »Gib acht, Jäger. Sie haben Angst um die Herde. Sie werden sich verteidigen.« Immer mehr Rinder, Kälber und Kühe kamen in Bewegung. Sie bildeten mit ihren breiten Rücken einen Strom, der vor uns her drängte und sich dann im Kreis zu bewegen begann. Ich überlegte, ob der Elefant nicht doch zu ungewohnt und zu groß war und rutschte über den Rüssel nach unten. Dann ging ich langsam weiter und sicherte nach beiden Seiten. Adrar hob die Hand und rief vom Nacken des Elefanten herunter: »Sage ihnen, daß du der Feind der Fremden bist. Sonst bringen sie dich um.« »Es geht nicht ganz so schnell!« antwortete ich und sah bereits, wie einige Männer mit Speeren und langen, brennenden und funkensprühenden Fackeln sich durch die scheuenden Tiere drängten. Sie kamen von drei verschiedenen Seiten und schrien, um die Tiere auseinanderzutreiben. Ich blieb stehen, einen Schritt vor dem schwingenden Rüssel des Elefanten. Ich hob meinen rechten Arm und kehrte den heranstürzenden Hirten die Handfläche zu. »Wir sind Freunde!« rief ich laut, aber ich dachte an Flucht. Die letzten Rinder stoben vor den Fackeln zur Seite, die Hirten blieben verblüfft stehen, dann erklärte Adrar mit einigen lauten, schrillen Sätzen, wer wir waren und welche Absichten wir hatten. Bald umstand uns ein Halbkreis von mehr als zwanzig aufgeregten jüngeren
und älteren Männern, die sich schweigend anhörten, was wir hier suchten. Der Elefant griff mit seinem Rüssel nach oben und hob Adrar herunter, was allgemeines Staunen hervorrief und Mißtrauen, denn derartige Dinge vollbrachten nur die blitzewerfenden Fremden. »Der Tempel der Einsamkeit ist leer. Das heißt, niemand von den Göttern ist dort!« sagte endlich einer der Hirten und deutete scheu einen steilen Hang aufwärts, der einige hundert Meter in die Nacht aufragte. »Nur die Sklaven wachen dort oben. Bleibt an unseren Feuern!« »Dann helft uns«, sagte ich und öffnete die Knoten der Seile, die unsere Ausrüstung hielten. »Und gebt uns etwas zu essen!« schloß Adrar. Während wir uns in die Richtung auf das Feuer entfernten, drehte sich das Riesentier um und trottete den Weg zurück, den wir gekommen waren. Kurze Zeit später war für uns eine kleine, aus Laub und Fellen bestehende Hütte geräumt. Wir saßen am Feuer, tranken wunderbar kühle Milch und aßen alle die Dinge, die hier im Umkreis der Herden erzeugt wurden. Der älteste und erfahrenste Hirte kam, krummgebeugt und auf einen weißen Stab gestützt, an unser Feuer. Die Nachricht, daß ein mächtiger fremder Jäger mit weißen Haaren aufgetaucht war, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Wingossen, der Hirte, sah mich lange und prüfend an, schließlich sagte er mit einer unglaublich alt klingenden Stimme: »Du mußt allein gehen und Alyeshka töten. Aber nicht so. Du bist anders als wir.« Du mußt dich tarnen. Nimm das Aussehen der Eingeborenen an! drängte das Extrahirn. »Ich bin anders, ja«, stimmte ich zu. »Morgen werde ich aussehen wie einer von euch. Aber heute sind wir müde.« »Ich werde dir sagen, was es mit dem Tempel der Einsamkeit auf sich hat«, begann Wingossen langsam. »Dort oben sind viele Häuser und Stallungen. Die meiste Zeit des Jahres stehen sie leer, aber ab und zu kommt einer der Fremden. Sie suchen die Einsamkeit dort, aber die Sklaven müssen den ganzen Mond lang für das Haus sorgen und bereit sein. Sie sind wild und rücksichtslos, die Fremden. Ab und zu verschwinden junge Mädchen und Männer und werden an die Stämme weit im Osten verkauft, die wir nicht richtig kennen.« »Das alles seit sechs Monden?« fragte ich verwundert. Adrar saß neben mir und preßte sich an meine Seite. »Es klingt unglaublich, aber sie sind es gewohnt, zu herrschen.« Sie hatten augenblicklich nach ihrem Eintreffen die Herrschaft übernommen. Sie waren also alles andere als dumm. Wenn sie Spielfiguren auf dem Kunstplaneten waren, so schienen sie aus einer nachgeahmten Kultur zu stammen, in der sie alle die bereits von mir
gesehenen und erkannten Techniken beherrschten. »Schlaft jetzt. Morgen werden wir euch alles sagen und geben. Du wirst uns versprechen, Alyeshka zu töten?« Ich fragte irritiert: »Alyeshka ist hier?« »Nein, aber die Trommeln sagen, daß sie kommt. Sie ist Tage unterwegs bis zum Tempel der Einsamkeit.« Sie fürchteten sich also und benutzten mich als Werkzeug. Ich konnte sie verstehen. Sie würden mich ohne die geringsten Skrupel opfern, weil sie glaubten, ich wäre furchtloser oder habe ein geheimes Rezept gegen die geschleuderten Blitze. Ich stand langsam auf und reckte meine Arme. »Morgen«, sagte ich. »Morgen werde ich den Hang hinaufsteigen und darüber nachdenken, was ich tun kann.« »Und ich? Ich komme mit!« sagte Adrar und zog mich in das provisorische Zelt. Nebelfetzen fuhren über die Kante des Tafelbergs dahin. Ich fröstelte trotz der Anstrengungen. Die Zweige der verkrüppelten Bäume und Büsche am Hang schüttelten sich in einem leichten westlichen Wind. Ich kletterte weiter, ich hatte mich verwandelt. Mein Haar war mit einem streng riechenden Pflanzensud dunkel, fast schwarz gefärbt worden. Adrar hatte es mit dem Messer kürzer geschnitten und entsetzlich zugerichtet. Ich trug ein breites, besticktes Lederband darum. Die Sonne kletterte langsam über den Horizont herauf; ich hatte mich bereits in der Dämmerung auf den Weg gemacht, von einigen Hirten und Adrar begleitet. Jetzt sah ich sie tief unter mir, eine kleine Gruppe, die hintereinander auf die Herden zuging, die sich in Bewegung setzten. Ich trug nur das Hemd aus nachgeahmtem Leder mit vielen Teilen meiner Ausrüstung, den breiten Gürtel mit Axt, dem kleinen Messer und dem längeren Dolch, hervorragende Waffen, die allerdings von den Androiden sofort als das identifiziert werden würden, was sie waren, nämlich hervorragenden Nachahmungen endsteinzeitlicher Geräte. Dazu den Bogen, der am Köcher mit den fünfzig verschiedenen Pfeilen befestigt war. In der rechten Hand hielt ich einen Wurfspeer, der mir als Kletterstock diente. Ich atmete schwer und schwitzte. Nun lag vor mir ein gewaltiger Teppich phantastischer Bergblumen, klein und stark riechend, direkt vor einer Felsnase, die ich umgehen mußte. Der Serpentinenweg hinauf zum Plateau, seit Jahrhunderten ausgetreten, war leicht einzusehen, ich mußte unsichtbar bleiben – bis zum Ende der Kämpfe. Die Unruhe und die Entschlossenheit erfüllten mich, die jedesmal einer schwierigen Mission vorangingen. Noch hatte ich keinen der
Androiden deutlich gesehen, noch kein Wort mit ihnen gewechselt. Ich wußte nichts über sie. Eine Kette kreischender hellgrauer Vögel flog hinter dem Felsen hervor, als ich mich an Steinen und Wurzeln höher zog, schräg an mir vorbei und jagte hinunter in die Ebene. Die Luft war kühl und wunderbar frisch, ich warf einen langen Schatten. Ich kletterte weiter und hatte jetzt knapp die Hälfte des Hanges hinter mir. Er verlief in verschiedenen Steigungen und ließ erkennen, daß auch er irgendwann ohne Pflanzen sein würde. Der Wind nahm zu, bewegte die Gewächse und trocknete den Schweiß von meiner Stirn. Jetzt kam ich in den Bereich trockener Gräser, in denen Tausende von unsichtbaren Insekten prasselnde, tickende und schnarrende Geräusche erzeugten. Ein eigenartiges Hochgefühl durchfuhr mich plötzlich, ich fühlte mich wunderbar wohl. Woher kam diese Hochstimmung? Ich wußte es nicht – vielleicht war es die Ruhe, die hier herrschte. Noch sah ich keine Gefahren, aber dort oben würde ich mich ihnen stellen müssen. Und: noch immer ahnte ich, daß ich nicht nur die Befehle von ES ausführen würde wie ein Sklave. Irgendwo über mir begann ein Stein zu rollen. Er hüpfte langsam den Hang hinab, es klang wie hastige Schritte. Einen Moment lang bildete ich mir ein, ich sähe dort oben eine starr aufgerichtete Gestalt, kühn und königlich in der Haltung, die mich lange und prüfend anstarrte. Aber dann blitzte Sonnenlicht auf dem Tau auf, verdunstete ihn in wenigen Augenblicken und ließ den Schemen vergehen. Im Zickzack schlich und kletterte ich den Hang weiter hinauf, und schließlich erreichte ich den Anfang des schwierigsten Abschnitts. Die Felsen traten zurück, die Sträucher verschwanden, und hier wurde die Kante des Hochplateaus rund und war augenscheinlich gepflegt worden. Ich wechselte schräg nach links und setzte mich in den Schatten eines der letzten Büsche. Unter mir lag, mit der Sonne von links, die sterbende Savanne zwischen dem Binnenmeer und dem Äquator. Ich sah die großen Herden, von denen die Menschen auf und zwischen den Tafelbergen lebten. Ich sah einen Waldbrand, hin und wieder das Aufblitzen kleiner Seen oder Flußkrümmungen, und in dem endlosen erstarrten Meer aus verschiedenen Grünschattierungen die kleinen Bauminseln, die Buschstreifen und der Nebel, der über einzelnen Teilen lag. Der Wind pfiff leise um mich herum. Und kurze Zeit später mischte sich in dieses auf- und abschwellende Geräusch der Klang von Stimmen. Ich atmete tief durch, wischte meine Handflächen am Leder der Hose trocken und zog den Speer aus dem Boden. Dann machte ich mich daran, eine Deckung zu suchen, die ich ohne Risiko benutzen konnte. Ich sah mich um. Der mächtige Baum im Osten. Dorthin mußt du schleichen! sagte der
Logiksektor. Es war die einzige Möglichkeit. Ich blieb etwa zehn Mannslängen unterhalb des unregelmäßig verlaufenden Abrisses und erreichte schließlich die Wurzeln des Baumes. Sie klammerten sich zu einem Drittel an den Hang, zu zwei Dritteln befanden sie sich schon auf der flachen Zone des Berges. Ich begann zu klettern, hielt mich auf der südlichen Hälfte des Stammes, erreichte die unteren Äste und benützte meinen Speer dazu, eine Art Trittleiter zu bilden, indem ich die Arkonstahlspitze in die dicke, korkige Rinde trieb. Und dann schob ich, auf dem Bauch und einem breiten gegabelten Ast liegend, die letzten Zweige auseinander. Vor mir lag der Tafelberg. Es war eine leicht gewellte Fläche, ein Viertel des Plateaus groß. Drei Viertel lagen tiefer und waren mit Weiden, Bäumen und Gebüsch bestanden. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das Gelände vor mir. Etwa kreisförmig, rund tausend Mannslängen Durchmesser. Und schon jetzt angelegt wie ein Park auf Arkon! sagte der Logiksektor mit Nachdruck. Alyeshka, offensichtlich einer der geringsten Götter, hatte diesen Bezirk in seinem Griff. An einigen Stellen erhoben sich Mauern aus Bruchsteinen und dicken Palisaden. Die steilen Mauern waren von innen aufgeschüttet worden, so daß man auf ihnen bequem gehen und Vieh weiden lassen konnte. Langgestreckte Gebäude waren überall zu sehen, mit weit vorspringenden Vordächern und unendlich vielen Säulen, überraschend oft aus Stein hochgezogen. Alles war mit jenem weißen Firnis überzogen, einer Farbe aus Kalk oder Asche. Ich sah, daß man die gewachsenen Bäume an Ort und Stelle gelassen und die Anlagen rundherum geschaffen hatte. Rauchsäulen stiegen auf. Im abgelegenen Bereich gab es Werkstätten, in denen mit einer Vielfalt von Geräuschen gearbeitet wurde. Folgendes ist geschehen, erklärte mein Extrahirn, und ich wußte, daß kein Irrtum möglich war. Die Menschen lebten bisher in freien Familienverbänden. Der Älteste war der Mächtigste. Seine Befehle galten und waren aus Erfahrung geboren. Die Gesellschaft dieser Zeit ist reif für Veränderung. Und dreizehn Androiden kamen und veränderten die Gesellschaft. Sie brachten Vorteile, neue Erkenntnisse und neue Techniken, und sie brachten ihre kalte, unmenschliche Art als Nachteil. Du wirst abwägen müssen. Nichts anderes wollte ES von dir. Ich hielt mich an den Ästen fest und versuchte zu ergründen, was ich hier sah. Ich mußte jede Einzelheit genau kennen. Ich war es, der sich hier tagelang unerkannt bewegen mußte. Unerkannt und vor allem ungesehen. Ich versuchte, die Anzahl der Eingeborenen abzuschätzen.
Die Gebäude hier waren tatsächlich mehr als ein Fortschritt. Hell, geräumig und von einer großzügigen Eleganz. Ihre Anlage sprach dafür, daß die Androiden beabsichtigten, für immer hierzubleiben. Immer wieder sah ich ein junges Mädchen oder einen jungen Mann, der sich um die Gebäude kümmerte, das Gras schnitt, irgendwo ein Stück Mauer oder ein Balkengefüge mit weißer Farbe zu bemalte, ein Feuer anzündete oder Vasen und Krüge, Körbe oder Bretter hin und her trug. Ab und zu ging eine Frau mittleren Alters vorbei oder ein gleichaltriger Mann, der eindeutig die Funktionen eines Aufsehers hatte. Hundert Menschen? Weitaus mehr! Denke an die Ställe und die Werkstätten! flüsterte der Logiksektor. Langsam glitten meine Blicke über die Anlage. Die Wälle bildeten einen Vierfünftelkreis, der sich an einer Stelle öffnete. Dort befand sich ein Tor, eine Straße mit Gräsern und Moos in den Steinfugen führte hinein und in die Richtung des tieferliegenden Plateaus. An beiden Seiten war dieser Weg von schlanken Statuen gesäumt. Sie bestanden aus Holz und waren mit Metall und eingesetzten Steinen verziert. Inmitten des »Tempels« befand sich ein Gewässer, über das Brücken führten. Ruhige Bewegung lag über allem. Es war deutlich zu spüren, daß die Göttin der Einsamkeit nicht anwesend war. Was sollte ich tun? Wenn ich eindrang und mich von Raum zu Raum vorarbeitete, würde ich nur die Einrichtung sehen, aber nicht mit dem Androiden sprechen. Ich wartete weiter, unschlüssig, zitternd vor Erregung. Hier oben sah ich eine kleine Insel des Friedens und der Entwicklung. Gab es unter den zwölf noch lebenden Androiden auch gute und böse Angehörige? Die Stunden vergingen. Die Sklaven fühlten sich nicht beobachtet. Sie arbeiteten ruhig weiter. Eine Glocke oder ein Stab, der an Metall geschlagen wurde, rief kurz vor dem höchsten Sonnenstand zur Ruhe oder zum Essen. Ich sah voller Verwunderung zu, wie sich mindestens zweihundert junge Eingeborene versammelten und in eines der größten Gebäude hineingingen, das zwischen den Mauern und dem tiefliegenden Bezirk erbaut war. Ich verließ, auf Deckung bedacht, den Baum, sah mich um und spurtete über den Rasen. Ich erreichte eine Treppe aus Holzbohlen zwischen den Palisaden und tauchte auf dem Wall auf, zwischen zwei hohen weißen Holzsäulen mit Kupferringen daran. Der Park vor mir war leer. Es gibt nicht einmal Hunde hier. Du hast in den vergangenen Stunden keines dieser Tiere gehört! sagte der Extrasinn. Vielleicht mochte Alyeshka keine Hunde; denkbar, daß es auf dem Kunstplaneten keine solchen Tiere gab. Schließlich war ich es gewesen, der den Wolf gezähmt hatte.
Der Park interessierte mich nicht. Mit einem langen Rundblick prägte ich ihn mir ein, dann stürmte ich am Rand der schmalen Pfade entlang und hütete mich, mit den weichen Sohlen auf den Kies zu treten. Das erste Gebäude kam in Sicht. Ich sprang eine Treppe hinauf und riß, den Speer in der Hand, einen halbdurchsichtigen Vorhang zur Seite. Ein einfaches Zimmer, klein, karg, aber sehr sauber, eingerichtet für zwei Bewohner. Ich sprang weiter. Vor mir lag eine überdachte Terrasse, die ich überquerte und jeden Raum kurz, aber genau musterte. Es waren ausnahmslos Unterkünfte. Dann hielt ich an und lauschte. Nichts! Dort drüben war der sogenannte Tempel. Ich duckte mich hinter eine Reihe teils blühender, teils früchtetragender Büsche und rannte auf das flache Bauwerk zu, das im Viereck um einen kleinen Hof erbaut war. Wieder huschte ich unter einem Tor hindurch, dann befand ich mich vor einer geschlossenen Tür. Ich hörte jetzt viel deutlicher die Geräusche und die Stimmen der Essenden von dort drüben her. Drei weiße Vögel flogen mit bedächtigem Schwingenschlag über den Park und fielen in den überwucherten Teich ein. Die Tür schwang fast geräuschlos auf. Sie bestand aus sauber verzapften Bohlen und drehte sich in Angeln aus Kupfer, aus denen weißes Fett quoll. Ich pfiff durch die Zähne und verschwand in dem Raum. Knackend schloß sich die Tür, ich klinkte den schweren Holzriegel herunter. Wenn dies der Palast der Einsamkeit ist, dachte ich, dann muß er sinngemäß dreizehn einzelne Abteilungen enthalten, denn sonst verdient er diesen Namen nicht. Eines war sicher: der große Raum, etwa fünf Mannslängen breit und ebensoviel quer, war seit längerer Zeit unbenutzt. Ich sah ein riesiges Bett, einfach und aus Holz, Leder, Fellen und gewebten Decken hergestellt, aber zweifellos bequem. Niedrige Tische, teilweise mit geschliffenen Steinen. Spiegel aus hochpoliertem Kupfer oder Bronze, verhältnismäßig riesige Vorhänge aus Tierfasern gewebt, Zeichnungen in verschiedenen Farben an den Wänden, die aus gekalktem Lehm bestanden, große Flächen des Bodens waren mit zusammengenähten Fellen bedeckt, meist von Schafen oder Ziegen. Die Decke war wieder gegen den Boden mit runden Holzsäulen abgestützt, die ihrerseits Bänder aus Kupfer und Bronze trugen. Drei Ausgänge waren mit Vorhängen verdeckt. Ich riß einen zur Seite und sah in ein Bad hinein. Es war gemauert, eine große Vertiefung im Boden, einfache Hähne aus Hartholz, Stühle und Hocker, muschelähnliche Behälter, Tücher und wieder Felle. Natürlich das Gemach eines Königs oder einer Königin. Aber auch sie konnten nichts anderes benutzen als das, was die einfachen Handwerker herstellten.
Immerhin gab es bereits ein Rohrsystem. Der zweite Ausgang führte zu einer Schattentür, hinter der sich der Garten befand. Der dritte trennte einen kleinen Raum ab, vermutlich denjenigen der Zofe, des Sklaven oder eines Begleiters. Auf einem Hocker lag eine Peitsche, irgendwo fand ich einen Knebel, der als Handfessel zu verwenden war. In der Kammer sah ich einen schweren Ring in die Wand eingefügt; ich ahnte, wozu er diente. Weiter! Noch bist du allein! Ich rannte weiter. Ich riß die Tür auf, die in den Garten führte, und plötzlich befand ich mich abermals in einer anderen Welt. Dieser winzige Park schien einen besonderen Teil des Kunstplaneten wiederzugeben, denn er war absolut fremdartig. Farbige Steine, Sand, Kies und Lavagrieß, kleine Skulpturen aus Holz, Stein und Metall, parallel gezogene Linien in Sand und in der vulkanischen Asche… es war eine Szenerie, die jeden Betrachter zur Ruhe und zur inneren Einkehr zwang. Ich gab mir einen Ruck und öffnete die nächste Tür. Ein Baum, der von einigen Räumen des Palasts umschlossen wurde, beschattete jetzt den inneren Park. Ich kontrollierte einen Raum nach dem anderen. Sie alle waren leer, aber ich entdeckte eine Menge von Besonderheiten. Jeder Androide hatte einen anderen Geschmack und hatte diesen Raum danach gestalten lassen. Es waren unverkennbar sechs weibliche und sieben männliche Androiden hierher gekommen. In einem Bezirk waren die Möbel zerbrochen, die Spiegel zerkratzt, die Felle zerrissen – das konnte nur die Bedeutung haben, daß es sich um die Gemächer des gestorbenen Androiden handelte. Ich sah Hinweise auf die einzelnen Charaktere. Hier waren Macht und Leidenschaften, Erfindergeist und Zügellosigkeit, Jagd und Nachdenklichkeit… alle möglichen Eigenschaften angedeutet. Am meisten beeindruckten mich zwei Bezirke. Einer mußte der Raum Tashils sein, des mächtigsten der fremden Götter. Metall und Leder, Stein und wuchtige Holzteile vereinigten sich zu einer kraftvollen Synthese aus brutaler Macht. Überall waren die Symbole der Macht und des Todes verewigt: Blitze, Waffen, Tote auf den Zeichnungen, Zwang und Gefangene… ich brauchte nicht lange, um zu begreifen. Tashil also. Der Fürst der Androiden. Der andere Bezirk war ebenso ohne Zweifel derjenige Alyeshkas. Die Göttin wurde erwartet, und die Räume wurden geschmückt und ausgerüstet. Krüge, Decken, Blumen und Essen waren zu sehen, Geschirre und die Spuren von arbeitenden Sklaven, die sich jetzt beim Essen befanden. Ich hielt an, überlegte eine Weile und handelte dann sofort. Wenn Alyeshka am Abend oder in der Nacht kam, brauchte ich nicht mehr lange zu warten.
Ich huschte zurück in den Bezirk, der Tashil geweiht war, und dort verbarg ich mich in dem kleinen Zimmer inmitten der Folterwerkzeuge, der Waffen und Fellen. Mitten in der Nacht weckte mich mein Extrasinn aus einem ruhigen Schlaf. Metallene Felgen mahlten auf den Steinen. Hufgetrappel war zu hören, die Peitsche krachte. Das Schreien der geschundenen Zugtiere drang durch die Nacht. Ich erhob mich und schlich durch die Dunkelheit zu einem raumhohen Fenster, um zu sehen, was draußen vor sich ging. Durch die Bäume blendete Lichtschein. Ich blinzelte, und dann erkannte ich eine doppelte Reihe von Sklaven und Sklavinnen, die neben und vor den Skulpturen standen. Das Gefährt mit den vier schweißüberströmten und aus den Mäulern schäumenden Zugtieren donnerte aus dem Wald hervor und auf den Palast zu. Einige Diener fielen den Tieren in die Zügel. Eine dunkle, weiche Stimme sagte im Befehlston: »Bringt mich in meine Räume. Ist alles bereit?« »Alles ist bereit, Göttin.« Ich nickte und schob mich zur Seite, um besser und mehr sehen zu können. Alyeshka wurde aus dem Wagenkorb gehoben und bewegte sich hoheitsvoll über eine Treppe aus Armen und Rücken, die von den Sklaven gebildet wurde, zu Boden. In der Hand hielt sie eine dünne, lange Gerte. Die Fackelträger veränderten eilig ihre Stellung und bildeten eine Kette bis zu dem Eingang in diesen Teil des Palasts, keine fünf Mannslängen von mir entfernt. Ich hielt den Atem an. Die Frau ähnelte in gewisser Weise den Eingeborenen, aber sie war schlanker, ihre Gestalt war ausgeprägter, und es waren ihre Bewegungen, die einen unverkennbaren Eindruck von Fremdheit hervorriefen. Das Haar war schulterlang und staubbedeckt. Die Kleidung sah ähnlich aus wie die der vier Jägerinnen und Jäger, die Adrar und ich beobachtet hatten. Langsam und hoheitsvoll schritt die Göttin über den Pfad, die wenigen Stufen hinauf und wartete, bis man ihr die Türen öffnete und die Vorhänge zur Seite zog. Sie war, trotz der Strapazen einer langen Reise in diesem holpernden Gefährt, sehr schön. Eine kühle, fast eiskalte Schönheit; der Ausdruck der physischen und psychischen Arroganz war unverkennbar. Sie erregte mich nicht, ich zog die blutvolle Natürlichkeit Adrars vor. »Zuerst einen Schluck, dann ein Bad. Ich brauche meine Sklavinnen und Rhif«, sagte die Androidenfrau kühl. »Schnell, oder es gibt die Peitsche.« Hinter ihr und dem kleinen Gefolge schlossen sich die Türen, die Vorhänge wehten wieder zurück. Jetzt hörte ich zu, was weiter geschah. So oder ähnlich hatte ich es mir vorgestellt. Die Sklavinnen entkleideten die Frau. Hin und wieder hörte ich ein Zischen, ein klatschendes Geräusch und einen unterdrückten
Schmerzenslaut. Dann lief Wasser aus den Hähnen. Öle oder Kräuterauszüge wurden in das Badewasser geschüttet. Die Göttin schien sich für alles eine Menge Zeit zu lassen und dirigierte die Sklavinnen mit kurzen Befehlen und der Peitsche. Dann die Geräusche, mit denen das Essen aufgetragen wurde. Einige Mädchen kamen mit einfachen Instrumenten, Flöten und kleinen Trommeln. Sie sangen, während Alyeshka aß und trank. Der Geruch nach den Essenzen zog zu mir herüber, und ich wartete geduldig. Noch war meine Stunde nicht gekommen. Die Geräusche wechselten. Rund um Alyeshkas Palastteil herrschte Aufregung. Ununterbrochen hörte ich das Tappen und Patschen nackter Füße, Geflüster, das Klirren von Waffen oder Schalen, hin und wieder die Peitsche oder einen scharfen Befehl jenseits der Mauer. Ich wußte nicht genau, was ich von allem zu halten hatte. Die weiblichen Androiden schienen ebenso machthungrig zu sein wie die männlichen. Wenn es stimmt, was du vermutest, sagte der Logiksektor, dann gibt es nur eine Erklärung. Sie sind potentiell geblieben, aber unfruchtbar. Das kann eine Erklärung für ihre Art sein. Vielleicht war es so. Langsam wurde ich ungeduldig. Ein schneller Blick zeigte mir, daß die Nacht bereits zur Hälfte vorbei war. Die Geräusche nahmen ab, die Fackelträger zogen sich zurück, und neben dem Eingang brannten noch zwei Schalen, in denen Dochte in Öl schwammen. Ein Sklave trug eine dritte Schale in den fremdartigen Park hinaus und stellte sie hinter die Steine. Ein gelbes, flackerndes Licht machte aus dem Garten eine Phantasielandschaft, die Landschaft eines anderen Planeten – aber ich kannte Stellen von Larsaf III, die ähnlich aussahen. Es wurde noch leiser draußen, die letzten Sklaven verließen die Umgebung. Ich machte mich bereit. Jenseits der Mauer hörte ich, wie Alyeshka einen jungen Sklaven zwang, sich von ihr verführen zu lassen. Ich wartete noch eine Zeitlang, dann vergewisserte ich mich, daß meine Waffen keine Geräusche verursachen würden. Ich zog den langen Dolch aus dem Gürtel, zog unendlich langsam den Vorhang zurück und öffnete die Tür in den Innengarten. Meine Augen durchforschten das Dunkel. Ich sah das flackernde Licht, aber nirgendwo konnte ich einen Wächter entdecken. Ein$ merkwürdige Stimmung, jeder versteckte sich, es gab keine Fröhlichkeit, keine Geräusche. Selbst ich spürte die Niedergeschlagenheit, die über dem Hochplateau lag. Ich lief auf Zehenspitzen fünf Mannslängen weit, dicht an den Mauern und den weißgekalkten Bohlenwänden entlang. Ich hörte die schweren Atemzüge des Jungen und die leidenschaftlichen Laute Alyeshkas. Im halben Schatten des Eingangs blieb ich stehen und verschmolz mit der Dunkelheit. Das Ende des Bogens, der am Köcher festgeschnallt war,
schabte kurz gegen die Mauer. Ich erstarrte, aber niemand hatte mich gehört. Und wieder wartete ich. Schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit, hörte ich die unbeteiligte Stimme der Frau. »Geh jetzt. Ich werde dich noch oft rufen, ich bleibe eine Weile.« Die Stimme des Mannes Rhif war demütig und zeigte seine Erschöpfung. »Ja, Herrin.« Wieder Geräusche. Fußschritte, die Tür, die klirrenden Ringe des Vorhangs, die Frau kam aus dem Baderaum zurück, leichtere Schritte, dann die Atemzüge eines Menschen, der einzuschlafen begann. Ich griff an den Riegel der Tür und hob ihn ganz vorsichtig hoch, drückte die Tür nach innen und schloß sie wieder. Die Atemzüge aus dem nächsten Raum wurden gleichmäßiger. Ich ging zum Vorhang, kam durch den schmalen Gang, blickte in jeden Winkel hinein – keine Wachen. Von den beiden Öllampen auf der Terrasse und dem verdeckten Licht im Steinpark drang ein mildes, gelbes Licht in den Raum. Ich blieb stehen und blickte in die Richtung des Bettes. Dort lag, mit einem dünnen Gespinst zugedeckt, Alyeshka. Sie war allein. Ich hob die Hand mit dem Dolch, vergewisserte mich noch einmal, ob ich allein war, dann machte ich vier schnelle, weite Schritte und packte zu. Meine linke Hand preßte sich auf den Mund der Frau. Die Rechte setzte den Dolch genau auf den Kehlkopf und drückte vorsichtig zu. Die spitze Klinge senkte sich in die weiche Haut, aber ich stieß nicht zu. Drei Herzschläge später öffnete Alyeshka die Augen und sah in mein Gesicht. Ich merkte, daß sie mich nur undeutlich erkannte. »Ich bin der Jäger!« sagte ich leise, aber überbetont deutlich. Sie sah mich an, ihr Körper neben mir schien zu Stein zu erstarren. Ich lockerte weder meine Hand noch den Druck der Waffe und sprach weiter. »Ich weiß, wer ihr seid. Ich habe euch lange beobachtet. Ich habe den Auftrag, euch zu töten. Wenn du schreist, muß ich dich töten.« Ich machte eine Pause und beobachtete ihre Augen. Sie waren hell, vermutlich grün oder grau. Alyeshka nickte langsam und vorsichtig. »Kannst du mir etwas sagen, das mich davon abhält, alle zwölf Androiden von Wanderer nacheinander zu töten?« fragte ich. Die Spannung war fast unerträglich; ich rechnete jeden Augenblick mit einem Angriff der Sklaven, herbeigerufen durch ein geheimnisvolles Zeichen. Alyeshka begriff augenblicklich die volle Tragweite der Frage. Dann hob ich die Hand von den Lippen der Frau. »Du scheinst entschlossen zu sein?« fragte sie leise. Ihre Stimme hatte sich sehr verändert. Jetzt sprach sie nicht mit Sklaven, sondern
mit ihrem Henker, wie sie glaubte. »Ich bin entschlossen. Wenn ich euch nicht töte, werde ich getötet.« »Du weißt alles über uns?« »Fast alles«, sagte ich. »Und es ist niemals genug.« »Warum sollst du töten? Warum willst du uns umbringen?« Die Dolchspitze drückte noch immer auf ihre Kehle. Der Körper hatte sich nicht bewegt. Ich blieb ruhig und erklärte: »Ihr seid auf diesen Planeten gekommen und habt Menschen gefunden, die Hilfe verdienen.« Alyeshka bäumte sich auf, und sofort preßte ich die Hand auf ihre Lippen und verstärkte den Druck auf die Waffe. Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Du willst schreien?« »Nein!« gurgelte sie. »Ich will antworten.« »Sprich.« »Sie sind primitiv. Was du hier siehst, ist alles von uns in einem halben Jahr geschaffen worden. Wir mußten sie zwingen, etwas zu lernen.« Ich lächelte kalt und entgegnete: »Mit der Peitsche, rücksichtslos, dadurch, daß ihr sie zu Sklaven gemacht habt, sie ausbeutet, und sogar dadurch, daß ihr sie erwürgt, wenn einer von euch durch einen Unfall stirbt. Ihr seid entsprungene Wahnsinnige.« Sie sagte erbittert: »Du verstehst nichts, Jäger. Jäger… ist dies dein Name?« »Du brauchst nicht mehr zu wissen, Alyeshka«, erklärte ich. »Was verstehe ich nicht?« »Wir sind ebenso manipuliert, wie wir die Eingeborenen manipulieren. Wir sind eines Tages aufgewacht und haben gemerkt, daß wir nichts anderes als denkendes Zuchtvieh sind. Dann bot sich uns die plötzliche Chance, von diesem planetengroßen Spielfeld zu flüchten. Wir nahmen die Chance wahr. Sind wir deshalb zu verurteilen?« Sie sprach zum Teil das aus, was ich vorher gedacht hatte. Aber meine Miene veränderte sich nicht. Ich hielt noch immer den Dolch an ihren Hals und wartete. »Deswegen hat euch niemand verurteilt. Ich verurteile euch wegen der Grausamkeit, mit der ihr über diese Welt zieht. Ich bin der einzige wirkliche Gegner, den ihr habt. Ich habe dich beobachtet, seit du mit den halbtot geschlagenen Zugtieren hier angekommen bist – im Tempel der Einsamkeit.« »Wir sind nicht immer und nicht alle so grausam!« sagte sie in einem schwachen Versuch der Verteidigung. Inzwischen aber begriff sie, daß ich aus einer Kultur kam, die der Höhe ihrer eigenen entsprechen
mochte. Sie begann zu lächeln und bewegte ihren Körper, sehr langsam und auf eindeutig raffinierte Weise, bis sie in aufreizender Stellung unter dem Laken lag. Ich hob die Brauen und murmelte: »Mit dieser Verlockung, Göttin, kannst du Rhif überwältigen. Nicht mich. Ich bin Jäger, nicht Bettsklave.« Sie ließ sich die Enttäuschung nicht anmerken. »Tashil, der älteste und klügste von uns, ist der Vater des Übels. So nennen ihn die Eingeborenen.« »Ich verstehe. Und was bist du?« »Ich bin nichts. Ich bin einer der Androiden, der unfruchtbar ist und dazu nicht unsterblich.« »Wenn das richtig ist«, meinte ich ruhig und hob die Hand mit dem tödlichen Dolch, »dann spare ich eine Hinrichtung ein. In einem Jahrhundert hat die Sonne deine göttlichen Knochen in Asche verwandelt.« Sie schwieg. Dann richtete sie sich langsam auf; jede ihrer Bewegung wurde von mir voller Wachsamkeit registriert. Ich war bereit, ihr innerhalb eines winzigen Augenblicks den Dolch in die Brust zu stoßen. Alyeshka lehnte sich an das fellüberzogene Oberteil des Bettes, dann bemerkte sie meinen kalten Seitenblick und zog das Laken über ihre Brüste. Ihre kalte, helle Schönheit war nicht zerbrochen, aber ihr Selbstbewußtsein hatte breite Sprünge und Risse. Ich hob die Hand und sagte: »Verstehe mich recht, Alyeshka. Ich bin kein Mörder, und wenn ich töte, dann töte ich nicht gern. Aber ich fürchte, es gibt kein Mittel, einen klugen und potentiell unsterblichen Androiden auf seinem Siegeslauf über diesen Planeten anzuhalten… außer einem giftigen Pfeil durchs Herz. Ich weiß, wie man die Barbaren dieses Planeten gewinnt. Jedenfalls nicht durch die Peitsche, nicht durch Mord, nicht durch psychologische Vergewaltigung. Ich weiß genau, wie primitiv sie sind.« Sie überlegte. Und auch ich dachte nach. Ich fühlte es an der Stimmung dieser entscheidenden Nacht. Sie versuchte, mir ein Angebot zu machen. Sie suchte mein Vertrauen; ich war ein Gesprächspartner für sie. Konnte ich bei diesem Handel verlieren? Wenn ich verlor, verlor ich gleichzeitig mein Leben. Du kannst es wagen! sagte das Extrahirn. Ich stand auf und schob den Dolch in die Lederscheide. Dann sagte ich bedächtig, jedes Wort abwägend: »Dein Wort ist hier heiliger Befehl?« »So ist es.« »Dann schließen wir einen Waffenstillstand auf der Basis gegenseitigen Mißtrauens. Er gilt bis zur Abenddämmerung des nächsten Tages. Einverstanden?« Sie öffnete ihre Augen weit und sah mich überrascht, fast furchtsam
an. »Was bringt dich dazu, Jäger?« Ich lachte kurz. »Ich bin der Jäger, der aus dem Süden auf dem Rücken eines Elefanten hierher kam, um dreizehn fremde Götter zu töten. Ich bin meinem Auftrag nach zugleich Richter und Henker. Ich will von dir erfahren, welche Gründe es für mich geben kann, nicht alle zwölf noch lebenden Androiden zu töten. Sage mir diese Gründe, und vielleicht entscheide ich, daß einige von euch am Leben bleiben. Und, noch eines: mit den Mitteln, mit denen du bisher Erfolg hattest, mit allen Mitteln, die dir einfallen – mit diesen kleinen, unwichtigen Gesten bin ich nicht zu beeindrucken. Dort, wo ich herkomme, sind sie alle schon vergessen.« »Die Wahrheit also?« Ich nickte. »Die Wahrheit ist böse!« sagte ich. »Und mitunter tödlich. Du bist jetzt dein eigener Anwalt.« Sie atmete schwer, dann stieß sie hervor: »Dann töte Tashil, Ngarto und Toteen! Bald! Und lasse sie leiden.« Ich legte die Hand an den Griff der Axt und trat langsam fünf Schritte zurück. Ich sagte hart: »Eine Stunde nach der Morgendämmerung will ich mit dir im Schatten des großen Baumes essen. Es ist müßig, mich verfolgen zu lassen – ich fliege von diesem Berg weg und komme zurück.« Kurze Zeit später verließ ich das Zimmer, rannte durch den ausgestorbenen Park und versteckte mich wieder in der Krone des Baumes. Niemand sah mich, und ich merkte nicht das geringste. Sie verfolgten mich nicht. Alyeshka würde nicht schlafen, und sie schien mir zu glauben. Aber die Worte am Tag sind stets anders als die in der Dunkelheit. Es war ein kalkuliertes Risiko. Ich wußte, wie schnell ich meinen Köcher leerschießen konnte, ich wußte, wie gut ich kämpfte, aber ein Befehl der Göttin würde Hunderte auf mich hetzen. Von der Astgabel, auf der ich halb schlafend, halb wachend, den Rest der Nacht verbracht hatte, sah ich, daß sich Alyeshka offensichtlich an unsere Vereinbarung hielt. Sklaven bereiteten einen Tisch vor, schleppten Speisen heran, Krüge und Becher, schließlich zwei Sessel, mit wertvollen Pelzen ausgeschlagen, dann zogen sie sich wieder zurück. Als ich sah, daß Alyeshka ihre Räume verließ, kletterte ich hinunter und schlug einen Weg ein, der mein Versteck nicht verraten würde. Ich erschien, aus der sicheren Deckung der Büsche kommend, zwischen den Säulen des Eingangs in den Tempelbezirk. Schweigend sahen mich Sklavinnen und Sklaven an, als ich auf die
Göttin zuging, den Bogen in der Hand, mit gespannten Muskeln und vibrierenden Nerven. Aber keines der Zeichen, die ich richtig interpretierte, deutete auf Verrat oder eine Falle hin. »Du siehst nicht aus, als hättest du viel geschlafen!« sagte ich als Begrüßung und setzte mich. Mein Sessel befand sich mit dem Rücken gegen eine massive Mauer, also konnte ich nur von vorn überfallen werden. »Ich habe nicht geschlafen. Ich mußte nachdenken!« erklärte sie ernst. Sie hatte nicht nur nachgedacht, sondern setzte auch alle ihre Reize ein. Natürlich war sie jedem Eingeborenen dieser Welt turmhoch überlegen, aber in Wirklichkeit verwendete sie nur die reife Form alter Verhaltensweisen. Sie trug ein langes Gewand aus hellem Stoff, von einem prächtigen Kupfergürtel zusammengehalten, genau an der richtigen Stelle, um zu betonen, wie schlank sie war. Die seitlichen Schlitze ließen die Beine bis zum Hüftknochen sehen, der Ausschnitt war tief und aufreizend. Ich lehnte den Bogen griffbereit an die Mauer. »Hat dein Nachdenken zu einem Erfolg geführt?« fragte ich. »Ja. Ich werde dir alles sagen. Unseren Zustand, meine Gedanken, die Überlegungen und die Pläne. Ich will nicht sterben, obwohl ich weiß, daß ich nicht ewig leben kann.« Ich blickte auf den Tisch, über den ein weißes Tuch gebreitet war. Auf gescheuerten Holztellern standen und lagen sämtliche Nahrungsmittel, die zu dieser Zeit und an dieser Stelle erzeugt werden konnten. Sogar frisches, köstlich riechendes Brot. Ich eröffnete die Unterhaltung und fragte: »Wer seid ihr? Die Namen, die Charaktere, die Eigenarten. Denke daran, daß ich Richter und Henker bin.« Ich hatte in den vergangenen Stunden darüber nachgedacht und versucht, mich an ihre Stelle zu versetzen. Sie würde nicht bewußt lügen, aber sie würde verschweigen und dort Erklärungen suchen, wo die Wahrheit auf verschiedene Weise verstanden werden konnte. »Wir sind Androiden«, sagte sie. »Zurück! Wir wollen allein sein.« Die letzten Worte galten den Eingeborenen, die sich verwirrt außer Hörweite zurückzogen. Ich bemerkte, daß nirgendwo die Peitsche zu sehen war und registrierte, daß Alyeshka leiser, weicher und weniger herrisch befehlend gesprochen hatte. Immerhin, ein Erfolg von vermutlich kurzer Dauer. »Das weiß ich. Ich kenne eure Heimat, aber sprich weiter. Ich will alles wissen, was es zu sagen gibt.« Sie sprach weiter. Es fiel ihr schwer, die Ruhe zu bewahren. Ich begann zu spüren, daß sie ebenfalls ein Werkzeug von ES war, noch schlimmer manipuliert als ich. »Wir sind die Mitglieder einer Expedition. Wir wurden zusammengestellt, mit künstlichen Erinnerungen versehen und
erwachten sozusagen am ersten Tag der Expedition, die in unbekanntes, gefährliches Gebiet führen wollte. Vermutlich sollten wir beweisen, wie sich Menschen unter Druck und in ausweglosen Situationen verhalten. Binnen kurzer Zeit setzte sich Tashil an die Spitze und riß uns mit sich. Er ist der älteste und klügste von uns. Ein Berserker, eine Führernatur, ohne jede Rücksicht. Aber er schaffte es, von vierundzwanzig Menschen dreizehn ans Ziel zu bringen. Ngarto und Toteen halfen ihm. Sie sind von seiner Art. Wir hatten alles, was man für eine solche Expedition braucht. Und am Ziel geschah etwas, das nicht passieren sollte. Wir entdeckten uns selbst. Erspare mir die Einzelheiten, aber wir wußten plötzlich, daß wir nicht nur männlich und weiblich waren, sondern geschaffene Halbmaschinen. Androiden, hergestellt, nicht geboren. Nichts anderes als perfekte Nachahmungen wirklich lebender Menschen. Hochorganisiertes Protoplasma. Wie wir meinen: Protoplasma mit Seele. Wir bluten, wenn man uns sticht, und Beyet erbrachte hier den Beweis, daß wir zu vergiften sind. Aber wir wußten dies schon, denn elf Expeditionsteilnehmer starben auf Wanderer.« »Ihr habt also auch den Namen der Kunstwelt erfahren?« fragte ich. Für mich tat sich eine neue Perspektive auf. »Nicht nur das. Jeder von uns trug, abgesehen von seinen Fähigkeiten, einen besonderen Keim in sich. Der Keim ging auf dem langen Weg auf. Am Ende waren wir das Resultat der mühseligen, aber unausweichlichen Entwicklung. Tashil: ein halb wahnsinniger Mann, der den Kosmos erobern wollte. Beyet, ein Sybarit, der jedes Laster bis zur letzten Prüfung ausprobieren mußte. Er starb hier, aber im Todeskampf erwürgte er seine zwölf Schlaf genossen.« »Ich verstehe«, erwiderte ich heiser. Mir blieb der Bissen im Halse stecken. Auf ihrem Gesicht, das im unbarmherzigen Licht des frühen Morgens plötzlich überraschend menschlich wirkte, erschienen die Zeichen der inneren Qual. Ich riß mich zusammen; mein Mitleid oder allzuviel Verständnis konnte genau die listig gewünschte Reaktion sein. Gleichmütig säbelte ich eine Scheibe mageren Schinken ab und wickelte sie um ein Stück Brot. Alyeshka sprach weiter. Sie war erregt und rang nach Fassung. »Wir fanden am Ende unserer Expedition eine alte Kultur. Heute wissen wir, daß auch sie nur Kulisse war. Aber dort entdeckten wir zweierlei. Uns selbst, die unabänderliche, furchtbare Wahrheit und eine Transportkugel. Wir wußten, daß wir auf einer anderen Welt bessere Chancen hatten, kletterten hinein und wurden hier von dem Transportmittel abgeworfen, das sich auflöste, in einer gräßlichen Feuerkugel. Dabei wurde Toteen wahnsinnig, eine Frau in mittleren Jahren. Sie sah, daß wir in der kulturellen Vorzeit gelandet waren, und sie setzt alles dran, um mit blankem Terror zu schaffen, was sie
verloren hat. Sie ist mit Calen zusammen, einem jungen Mann, den sie von Tag zu Tag mehr verdirbt. Sie will ein Königreich errichten, in dem nur zwei Leute Könige und alle anderen Sklaven sind. Calen ist abhängig und tut, was sie will. Du hast sie jagen gesehen, dort unten, vor einigen Tagen?« »Ja! Wer waren die anderen?« »Tashil und Lapee.« »Ich vergesse die Namen nicht wieder. Was entdecktet ihr noch?« »Das Schlimmste. Wir sind zwei verschiedene Arten von Androiden. Einige von uns sind unsterblich und in der Lage, Leben zu zeugen. Es sind zwar noch keine Kinder geboren worden, aber ich glaube, es werden Monstren. Diejenigen, die diesen Planeten beherrschen wollen, sind zu dieser Klasse zu rechnen. Wobei Aiv, ein junges Mädchen, eine Schönheit, so unschuldig ist wie eine Blume. Es wäre ein Verbrechen, sie für Tashils Verbrechen zu bestrafen. Sie ist unsterblich, aber zu töten. Ich bin unfruchtbar und sterblich, aber ich weiß nicht, wie lange ich hier leben kann.« »Weiter. Ich kenne noch nicht alle Namen.« »Tashil, Aiv, Ngarto, Calen und Toteen kennst du. Verschone Aiv, wenn du kannst. Jeder liebt sie, und sie sondert sich von uns allen ab. Ich glaube, sie wird sich eines Tages selbst umbringen. Beyet ist tot. Ich bin die Siebente. Tuar und Keraik gehören zu den Unsterblichen. Sie sind begnadete Handwerker und Erfinder, und alles, was du siehst und was noch erfunden wird, kommt von ihnen und von Kharg. Die letzten drei heißen Imohag, Paer und Lapee.« »Sag mir, wer sie sind!« »Lapee ist böse. Sie leidet gern und sieht andere gern leiden. Wir erschraken schon während der Expedition über sie. In ihrem Palast hat sie eine Schule für Gladiatorensklaven, von denen sie täglich ein paar umbringt, weil sie besser kämpft als alle.« »Ich weiß«, sagte ich langsam und entsetzt, »daß ich aus einem langen Schlaf aufwachte und begann, euch zu verfolgen. Aber je länger du sprichst, um so mehr glaube ich, daß ich in einem Traum gefangen bin.« Sie nickte langsam. Bisher hatte sie noch keinen Bissen angerührt. Ich stellte in meinen Gedanken eine Liste auf. Tashil, der grausame Alleinherrscher, der für alles verantwortlich war, weil er seine Macht über die anderen Androiden dazu benutzte, um sie aufzustacheln und im negativen Sinn zu führen. Seine Geliebte Lapee, ein gehorsames Instrument, die Nutznießerin seiner Gewalt war. Aiv, die Zarte, zu jung, um Schrecken lieben zu können. Ngarto, die kalte Planerin, Göttin der Liebe, die sie alle aufstachelte. Beyet war tot. Toteen und Calen, das verbrecherische Pärchen, die zwei Chaotiker.
»Wer sagt mir, daß deine Schilderung richtig ist, Alyeshka?« fragte ich mit rauher Stimme. »Ich weiß, daß du dich überzeugen wirst, ehe du deinen Bogen spannst!« sagte sie und zuckte ihre schönen nackten Schultern. »Du hast recht.« Eine Bilanz des Schreckens. ES braucht mehr einen Henker, weniger einen Richter, erklärte mir der Logiksektor. Weiter… Imohag, ein Mann mittlerer Jahre, mehr der Typ des besonnenen Denkers, der sich absonderte, weil er die Terrorphilosophie der anderen nicht mochte oder für sinnlos hielt. Tuar und Keraik, die Erfinder. Alyeshka berichtete mir, daß sie geheimnisvolle geistige Kräfte besaßen, mit denen sie ohne Peitsche versklavten, aber die geistigen Wunden, die sie schlugen, waren schlimmer als die Narben des dünnen Leders. Kharg, sterblich und der trockene Typ des Pragmatikers. Alyeshka, unentschlossen, unsicher, sie konnte werden wie ich oder wie Tashil. Und Paer, ein junger Mann, dessen Leidenschaft so kühl und distanziert war wie meine. Er begann den Planeten zu lieben und setzte sich dem Spott der anderen aus. Ich spießte einen Würfel gelben Käse auf und meinte: »Alyeshka und Kharg, Paer und Imohag und schließlich Aiv. Drei Sterbliche und zwei Unsterbliche. Ich glaube, daß ich alle anderen toten muß. Und ich werde sie toten, nachdem ich sie kennengelernt habe. Sie leben alle hier auf den Hochplateaus?« »Ja. Aber du kannst warten, bis sie herkommen. Tashil und Lapee sind auf dem Weg, um die Hirten zu strafen.« »Strafen? Wofür?« Die meisten der zwölf Androiden haßten einander, aber da sie Fremde waren und nur eine Handvoll auf einem fremden, unbarmherzigen Planeten, war ihre Zusammengehörigkeit deutlich ausgeprägt. Zwölf gegen einen Planeten. Und ich gegen sieben von ihnen. »Die Felle, die abgeliefert wurden, waren nicht schon, nicht weich genug. Tashil sucht nur einen Grund, um zu strafen. Und außerdem rennt er einem eingeborenen Madchen nach. Sie hat ihn halb verrückt gemacht. Er jagte schon dreimal nach ihr.« »Adrar!« sagte ich. Meine Gefährtin, es stimmte also doch! »Das ist ihr Name. Und während du auf Tashil wartest, soll ich schweigen?« Ich lächelte abwesend und schüttelte den Kopf. »Nein. Du kannst ihnen sagen, was immer du willst. Ich habe Zeit und Mittel, um jeden von euch zu finden. Der Planet ist nicht groß genug, als daß einer von euch sich verstecken könnte. Ich finde ihn!«
»Aber… einige sind unsterblich, Jäger!« »Ich habe Jahrtausende, um nach ihnen zu suchen. Und ein Überlebenspotential, das viel höher ist als jeder euch bekannte Wert.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Vorläufig würde ich sie schonen. Da die Eingeborenen meine Freunde waren, würde ich von ihnen alles erfahren. Die geringste Einzelheit würden sie mir überbringen. »Ich kann es nicht glauben, Jäger!« Sie spielte mit einem breiten Armband aus Bronze und seltenen Steinen, das an ihrem linken Handgelenk saß. Ich stand auf. Ich war satt. Ich griff nach meinem Bogen und schloß: »Warte einige Jahrhunderte, und du wirst wissen, was ich meine. Noch etwas: sage Tashil und Lapee, daß ich auf sie warte und sie töten werde. Dort unten, bei den Herden. Ich werde ihre Zeichen erkennen.« Ich sah kurz ihr weiches, dunkelbraunes Haar, ihre grünen Augen und ihren halb geöffneten, verlockenden Mund. Aber es gab eine rätselhafte Schranke in mir. Sie war, wenigstens hier und heute, für mich keine Frau. Sie war ein Wesen ohne Bezeichnung. Nicht Mann, nicht Frau, keinesfalls ein Mensch und doch in der Lage, zu einem Menschen zu werden… nicht ohne Verwirrung verließ ich den Tisch, die Terrasse, den Park und ein wenig später das Plateau. Adrar wartete auf mich, das Mädchen, das Tashil begehrte und jagte.
4. Sechs Tage, sechs Nächte, und die Stunden dazwischen. Ich verlebte mit den ziehenden Herden und Hirten ein einfaches, aber herrliches Leben. Ununterbrochen war ich mit Adrar zusammen. Ich lag in der Sonne, rang mit den jungen Hirten, aß frischen Braten und half ihnen, wo immer ich konnte. Ich erklärte ihnen, was die erfinderischen Götter taten, und ich versuchte ihnen zu erklären, wer die Fremden wirklich waren. Diesen Teil meines Vorhabens schaffte ich nicht, denn sie waren mehr als nur abergläubisch. Für sie war auch ich eine Art Gott, aber einer von der freundlichen Sorte. Wo immer ich mich befand – überall folgten mir meine Waffen, von einigen Jungen getragen. In diesen sechs Tagen baute ich ein grobmaschiges Informationsnetz auf, und als das Gespann Tashils irgendwo am Horizont auftauchte und begann, sich die Serpentinen auf den Berg Alyeshkas hinaufzuschleppen, hörte ich zuerst davon. Der Kampf konnte beginnen. Würde sich Tashil stellen? Der Wagen mit den vier geschundenen Tieren kam schnell quer über die abgefressenen Weiden herangerast. Erdbrocken wurden von den Hufen hochgerissen und nach hinten geschleudert. Die Peitsche
krachte, und wir hörten die aufgeregten Schreie der beiden Götter. Neben mir rief Wingossen: »Es sind Toteen und Calen. Die Götter der Wut und des Irrsinns!« Sie trugen lederne Helme mit Kupferbändern und Hörnern. Die Streifen, die von den Hornspitzen flatterten, schlugen klatschend zusammen. Niemand wußte, warum sie herkamen, aber zweifellos hatten sie ihre eigenen, unbegreiflichen Gründe. Ich befand mich hinter einigen Rindern, die an Steinen und Pflöcken festgemacht waren und nicht flüchten konnten. Vor mir steckten einige Pfeile im niedrigen Gras. Ich blickte zwischen den unruhigen Tieren hindurch und sah den Wagen näherkommen. Von rechts erscholl Gebell, eine Hündin sprang aus dem Gras auf und rannte auf den Wagen zu. Hinter ihr purzelten drei kleine, pelzige Bündel her. Die jungen Wolfshunde folgten der Mutter. »Wo ist der Jäger?« schrie die Frau aus dem Wagenkorb. Sie zog einen kurzen Wurfspeer aus einem Flechtköcher und hob den Arm. Sie erhielt keine Antwort. Die Hirten hatten sich über ein weites Gebiet verstreut, und Adrar hatte ich selbst versteckt. Nur der alte Mann hatte darauf bestanden, bei mir zu bleiben. Wingossen, der Großvater von Adrar. Der Wurfspeer zischte durch die Luft und bohrte sich eine Handbreit neben der Hündin in den Boden. Das Tier sprang hoch, heulte auf und warf sich herum. Es schnappte nach dem Hinterlauf, im gleichen Augenblick rollte die breite Felge über zwei der jungen Hunde. »Ihr versteckt den Jäger!« schrie Toteen. Der junge Mann neben ihr brachte es fertig, trotz des malerischen Aufputzes völlig nebensächlich auszusehen. Ich stand auf, und als der Wagen zwanzig Mannslängen vor mir vorbeiratterte, rief ich: »Ich bin hier, Toteen und Calen.« Die Frau fuhr herum. Unter dem kupfernen Helmrand sahen mich zwei haßerfüllte Augen an. Ich kannte weder sie noch Calen, aber die Hirten hatten von sechs schreckerfüllten Monaten berichtet. Der Wagen schleuderte nach einem kurzen, schrillen Kommando herum, Toteen ließ den zweiten Speer fallen und faßte an den Gürtel. »Ich bin gekommen, um dich zu töten, Jäger!« schrie sie. Ihre Stimme war zu schrill, sie schien tatsächlich verrückt zu sein. Die Hand des weiblichen Androiden kam wieder über den Rand des Korbes. Der Wagen donnerte genau auf meinen Standort zu. Ich bedeutete Wingossen, in der Deckung zu bleiben und sprang hinter den scheuenden und schreienden Rindern nach rechts. Dann hob ich den Bogen. Es ist schwierig, im Laufen zu schießen. Noch schwieriger ist es, im Zickzack zu rennen und zu springen und dabei auch noch zu treffen.
Neben mir schlug ein krachender Blitz in die aufgerissene Erde. Der Wagen schlingerte in eine anderer Richtung, ein Rind riß sich los und stürmte schreiend davon. Ich blieb stehen, zielte und ließ die Sehne los. Ein zweiter Strahl fuhr in den Boden. Der Pfeil heulte zwischen dem Gehörn der Rinder hindurch, traf Toteen über der rechten Brust und nagelte sie an den Korb. Im gleichen Augenblick rammte das durchgehende Rind den vordersten der Halbesel. Der Wagen hielt an, einige Zügel und Geschirrstränge rissen. Die Tiere sprangen in verschiedene Richtungen. Ich griff den nächsten Pfeil und setzte ihn auf die Sehne. Das Chaos brach rings um mich aus. Die scheuenden Tiere wirbelten riesige Staubwolken auf. An zwei Stellen begann das dürre Gras zu brennen. Der Stier, der sich losgerissen hatte, senkte den Schädel und ging auf den Halbesel los, der mit gerissenem Zaumzeug und den nachschleifenden Geschirrsträngen auf die Hinterbeine stieg und sich wehrte. Der Lenker des wackelnden Wagens drosch mit dem Peitschenstiel auf die Tiere ein. Die Androidin hatte den Pfeil mit beiden Händen gepackt und versuchte, ihn aus der Holzstrebe zu ziehen. Angsterfüllt klammerte sich der junge Mann an den Korbrand. Der alte Hirte hatte sich aufgerichtet und schlug mit seinem weißen Hirtenstab auf die Köpfe und Schnauzen der Rinder, die sich losreißen wollten. Das Bild verschwand jetzt in einer Wolke aus Staub und Rauch. Ich hörte nur noch Schreien aus der Richtung des Gefährts. Ich riß die Pfeile aus dem Boden, rannte hustend und fluchend aus der Wolke heraus und wurde von einem massigen Tierkörper zur Seite geworfen. Ich kam wieder auf die Beine, hob den Bogen und sah, wie die Zugtiere den Wagen umrissen. Der Eingeborene schnellte sich mit einem riesigen Satz aus dem Korb, der bedrohlich schief hing. Im gleichen Augenblick kippte der Wagen nach vorn. Die Deichseln brachen krachend. Der Wagenlenker rannte davon, und aus dem Staubnebel und dem weißen Rauch kam stolpernd der alte Hirt und schwang in höchstem Zorn seinen Stab. Der Pfeil brach, der Körper Toteens wirbelte durch die Luft und schlug dumpf im zerfetzten Gras auf. Der junge Mann, der den Helm verloren hatte und aus einer Stirnwunde blutete, taumelte hinkend auf mich zu. »Nicht töten!« schrie er. »Nicht schießen! Ich will nicht sterben.« Ich zögerte, den Pfeil auf der Sehne. Er kam näher, ich wich nach links aus und wartete. Ich war unschlüssig. Plötzlich tat er mir leid. Calen war in jeder Hinsicht unwichtig; er war weder besonders gutaussehend, noch besonders groß, er schien völlig von der Frau abhängig gewesen zu sein. Aber nun kam Wingossen heran, sprang an einem auskeilenden Zugtier vorbei und schwang seinen weißen Stab durch die Luft. Mit einem einzigen Schlag zertrümmerte er Calens
Schädel. Ich* senkte den Bogen und trat zurück. Calen fiel wie ein gefällter Baum um. »Du hast einen Gott erschlagen, Hirtenvater!« sagte ich, steckte den Pfeil zurück und warf den Bogen über die Schulter. »Es war kein Gott. Hätte ich ihn dann sonst töten können?« erwiderte er in unerschütterlicher Sicherheit. Jetzt, nachdem sich ein Teil der Herde brüllend verstreut hatte, tauchten die anderen Hirten wieder auf. Sie fingen die Zugtiere auf, blieben schweigend vor den zwei Leichnamen stehen und hoben den Wagen wieder auf die Räder. Zwei Androiden waren tot – noch zehn Fremde des Kunstplaneten gab es auf Larsaf III. Es war kein Mord, es war Abwehr. Suche die Energiewaffel sagte der Logiksektor. Einige Männer kamen mit Wasserschläuchen und mit Kürbisschalen voller Wasser. Sie löschten die kleinen Brände ab. Die Herden wurden zurückgebracht und weideten in kurzer Zeit friedlich weiter. Ich suchte langsam die Umgebung des Wagens ab. Ich blickte in die Furchen, spähte in den leeren Korb hinein und fand schließlich einen Gegenstand, der die Energiewaffe sein mußte. Ein Bündel verschieden dicker und verschieden langer Stifte, ein Handgriff und zwei kleine Einstellschrauben, dazu ein kantiger Druckschalter. Ich steckte ihn in die Tasche meines Hemdes, ehe ihn einer der Hirten sehen konnte. Dann blieb ich vor dem Lenker stehen, der von zwei Hirten festgehalten wurde und vor Angst zitterte. Sein Gesicht war grau und wirkte verfallen. »Warum sind nicht Tashil und Lapee gekommen?« Er schluckte und entgegnete: »Ich weiß es nicht. Ein Bote kam und berichtete von dir. Sie sind alle auf dem größten Hügel, Jäger.« »Du bist ein Sklave, nicht wahr?« »Ja. Sie zwangen mich in ihren Dienst. Es sind furchtbare und grausame Herrscher, Jäger.« »Das hörte ich bereits. Willst du mich zu ihnen bringen?« »Ich bin dein Sklave!« sagte er, dann zuckte er seine Schultern. »Aber wir werden alle sterben!« Ich winkte ab. »Du hast gesehen, daß diese Götter sterblich sind«, sagte ich leise. »Aber es waren keine Götter. Es sind nicht einmal Menschen wie wir, sondern Fremde. Bitte die Hirten, daß sie dir helfen, den Wagen wieder instand zu setzen. Laßt ihn los, er gehört nicht zu denen!« Die Hirten ließen seine Arme los, und in dem Rest des Tages arbeiteten wir alle zusammen, um die Zugtiere einzufangen und einzuschirren, den Wagen zu reparieren, neue Deichseln zu bearbeiten und die Fahrt nach Osten vorzubereiten.
Langsam vergingen die Stunden. Die beiden Androiden wurden in flachen, langen Löchern begraben; man fesselte sie, bestreute sie mit zermahlener, roter Erde und bedeckte ihre Körper mit schweren Steinen, um zu verhindern, daß sie aus ihren Gräbern aufstanden und wieder lebend erschienen. Ich glaubte nicht daran, daß es mir gelungen war, den Eingeborenen auszureden, daß es Götter gewesen wären. Zu tief saß in den Herzen der einfachen Eingeborenen der Glaube an das Überirdische, an das Wirken geheimnisvoller Kräfte, die sich in Dingen oder Menschen symbolisierten. Es war ein unseliges Erbe dieses Planeten. Als ich das erstemal aufwachte, hatte ich mir geschworen, diesen Planeten gegen Eindringlinge zu verteidigen und den Eingeborenen zu helfen, den Weg zu den Sternen zu finden. Sie würden noch Jahrtausende brauchen, um eine entsprechende Technik entwickeln zu können. Und statt meiner Hilfe hatten sie von den fremden Göttern erfahren, wie bestimmte Metalle zu finden und zu bearbeiten waren… und viele wichtige Dinge mehr. In Wirklichkeit hatten die Androiden viel geleistet, das zum Besitz der Menschen werden würde. Hier brauchte ich nicht einzugreifen. Mir blieb nur noch die Aufgabe, die mir ES gestellt hatte. Töte die Fremden. Ich erinnerte mich, was Alyeshka gesagt hatte. Einige von ihnen würde ich am Leben lassen. Sie konnten die Arbeiten tun, die ich hätte freiwillig tun können. Am nächsten Morgen brachen wir auf. Neben mir im niedriger gemachten Wagenkorb stand Adrar. Der Sklave, jetzt nicht mehr Werkzeug der Fremden, sondern unser Freund, berichtete uns alles, was er über die Fremden wußte. Erstaunliche Dinge waren zu hören. Konnte ich ihm glauben? Noch war der volle Mond nicht aufgegangen. Die feuchte Nachtluft schien alles niederzudrücken, festzuhalten, reglos zu machen. Die Sträucher und die Savannengräser wirkten versteinert wie geheimnisvolle Gestalten. Aber da war etwas in der gespenstischen Ruhe zwischen Nacht und Morgendämmerung. Ich spürte es deutlich, es war eine Unruhe, die nur Wesen spüren konnten, die sich von der wahren Natur dieser Welt nicht entfernt hatten. Ich spürte sie. Adrar, die neben mir lag, spürte sie auch, denn sie bewegte sich unruhig im Schlaf und stieß stöhnende Schreie aus. »Hokir!« zischte ich in die Richtung des Wagenlenkers. Er setzte sich starr auf und blickte zu mir herüber. »Etwas geschieht, Jäger!« flüsterte er zurück. »Wir sind nicht allein in der Savanne.« Ein plötzlicher Schauder ergriff mich. Mindestens fünf der Fremden wußten von mir, und mit Sicherheit waren sie ebenso entschlossen,
mich zu töten, wie es die irre Toteen gewesen war. Ich wußte, daß diese Zeit auf dieser Welt brutal war, daß die Natur ihr unerbittliches Ausleseverfahren auch auf mich und* meinesgleichen anwendete. »Sieh nach den beiden Sternen. Jemand kommt!« sagte Hokir und streckte die Hand aus, um weiteres Holz auf das winzige, dunkelrotschwarze Gluthaufchen zu legen. Ich stand vorsichtig auf und schob seinen Arm zur Seite. »Nicht. Wir wissen nicht, wer kommt.« Dicht über dem Horizont standen drei Sterne, helle Lichter im bereits schwindenden Schwarz der Nacht. In den vergangenen Tagen waren wir langsam durch die Savanne gezogen, immer nach Osten, und die sich ständig abwechselnden Formen der Tafelberge zur linken Seite. Wir hatten uns dem Sitz der Götter, dem niedrigsten und ausgedehntesten Plateau, bis auf zwei Tagesreisen genähert. Jetzt erkannte ich undeutlich zwei Silhouetten gegen den Himmel. Zwei Personen kamen von Osten auf unser Lager zu. Sie gingen langsam und schienen am Ende ihrer Kräfte zu sein. Ich packte den Bogen, warf den Köcher über meinen nackten Rücken und flüsterte: »Bleib hier, Hokir. Ich gehe dort hinüber und greife ein, wenn es nötig ist. Ich habe die Waffe der Götter.« Ich hatte den Energiestrahler untersucht und wußte, daß das Magazin nur für eine bestimmte Anzahl Schüsse reichte. Ich ahnte nicht, wann es erschöpft sein würde. Jetzt huschte ich durch das feuchte Gras hinüber zu den Zugtieren, die sich inzwischen an uns gewöhnt hatten und nicht mehr mit Gewalt getrieben werden mußten. Hinter dem Wagenkorb kauerte ich mich nieder und spannte langsam den Bogen aus. Ich drehte den Kopf und versuchte, die Umgebung genau zu erkennen, aber nur die beiden Gestalten kamen näher. Flüchtende? Vermutlich werden sie von den Fremden verfolgt! wisperte das Extrahirn. Ich blieb wachsam, wartete unruhig und dachte an alle möglichen Wahrscheinlichkeiten und vorstellbare Aktionen. Für die Androiden ging es um das Leben, um ihre neu gewonnene Freiheit. Sie würden sich wehren, was für mich völlig logisch war. Jetzt wurden die Tiere noch unruhiger, rissen die Köpfe hoch und stellten die Ohren in die Richtung der Kommenden. Ich verhielt mich regungslos und glaubte zu sehen, daß ein junger Eingeborener dort ging und, der Kleidung nach zu urteilen, einer der Fremden. Auch Hokir rührte sich nicht, aber seine Fäuste lagen um die Waffen. Schließlich blieben die zwei Wanderer vor dem Feuer stehen. Jetzt flogen ein paar Äste in die Glut, und die auflodernden Flammen zeigten mir die Fremden. Ich stand auf und ging mit gespanntem Bogen näher. »Was wollt ihr?« fragte Hokir. Mich hatten sie noch nicht entdeckt. »Ich bringe Aiv. Sie ist vom Berg der Götter geflüchtet.« Es traf mich wie ein Schlag. Wir hatten über Aiv gesprochen, den
jüngsten der weiblichen Androiden, unsterblich wie ich. Warum flüchtete sie? Ich sagte hinter ihrem Rücken: »Aiv ist genau dorthin geflüchtet, wo der Henker sie erwartet. Ich bin der, den sie Jäger nennen.« Die Flammen wurden höher, Aiv drehte sich herum, und der junge Eingeborene hob seinen Speer. Hokir fiel ihm in den Arm und beruhigte ihn. Ich ging ums Feuer herum und blickte Aiv an. Auch sie war absolut menschlich und ähnelte mehr als die anderen Androiden dem Aussehen der Eingeborenen. Sie war auf eine mädchenhafte Art schöner als Alyeshka. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und flüsterte entsetzt: »Du bist der Jäger? Du hast Toteen und Calen erschlagen?« »So ist es«, sagte ich. »Warum hast du den Berg verlassen?« Sie hob die Schultern. Adrar war längst erwacht und folgte schweigend unserer Unterhaltung. »Sie sind alle rasend vor Wut. Sie kennen dich nicht und wissen nicht, was sie tun sollen. Sie fürchten sich und sind entschlossen, dich zu jagen. Sie glauben, daß du ein Verfolger von dem Planeten bist, von dem wir geflohen sind. Ich habe es nicht mehr ausgehalten – jeder Platz ist besser als der im großen Palast.« Ich entspannte den Bogen und dachte nach. »Was willst du tun, nachdem du deine Freunde verlassen hast?« »Ich weiß es nicht. Ich will weit weggehen und irgendwo leben. In Ruhe. Wenn du mich nicht tötest.« Sie scheint die Wahrheit zu sprechen. Sieh sie an. Sie weiß selbst nicht, was sie tun soll. Sie ist verzweifelt. Ich setzte mich und winkte den anderen, ebenfalls rund ums Feuer Platz zu nehmen. Dann sagte ich hart und mitleidslos: »Der Herr des Planeten, von dem ihr kommt, weckte mich auf. Ich bin eine Art Wächter über diese Welt. Der Herr, der euch erschaffen hat, hat mir euer Leben in die Hand gelegt. Ich soll die Menschen hier vor Tyrannei und Versklavung retten, und davor, daß sie von euch ausgebeutet werden. Ich hätte Beyet getötet, wenn er noch gelebt hätte. Toteen schleuderte ihre Energieblitze nach mir und starb durch den Pfeil. Calen wurde von einem alten Hirten erschlagen. Alyeshka habe ich verschont, aber wenn ich merke, daß sie regiert wie Tashil, stirbt auch sie. Sage mir jetzt, warum ich dich nicht töten sollte?« Sie hatten entdeckt, daß sie auf Wanderer nichts anderes als Spielfiguren waren, die augenblicklich ausgewechselt werden konnten. Hier versuchten sie, eine sinnvolle Identität zu finden. Wenn sie es irgendwie schafften, die Eingeborenen nicht zu versklaven, sondern vorsichtig zu leiten, dann erfüllten sie eine weitaus wichtigere Aufgabe als ich. »Ich weiß es nicht. Ich hasse die Art, wie sich Tashil verhält. Ich will
nichts als Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Wenn du mich töten mußt, dann töte mich. Ich kann dich nicht daran hindern.« »Nein, das kannst du nicht!« sagte ich. »Wo sind Kharg, Paer und Imohag?« Sie blickte mich aus großen, dunklen Augen überrascht an. »Ich denke, sie sind bei Tashil. Warum fragst du?« Konnte ich riskieren, ihr die Wahrheit zu sagen. In gewissem Sinn waren wir alle Wesen mit ähnlichen Schicksalen. Wie sie war auch ich ein Versprengter auf dieser Welt, ein Ausgesetzter, der selbstverständlich gewisse Pflichten übernommen hatte. Uns trennte eigentlich nur der Umstand, daß ich ein Mensch, ein Arkonide war und sie Androiden. Ich überwand diese Schranke und entgegnete leise: »Ich habe beschlossen, fünf von euch noch leben zu lassen. Alyeshka und dich, Kharg, Paer und Imohag. In dem Augenblick, da ihr größenwahnsinnig werdet wie Tashil, sterbt ihr durch mich. Und jetzt – berichte mir alles, was du über den großen Palast weißt.« Wir sprachen bis gegen Mittag, bis wir alle in einen flachen und unruhigen Schlaf fielen, unter den glühenden Strahlen der Sonne. Ich erfuhr alles über die Pläne der Androiden, genauer über Tashils Pläne. Er war größenwahnsinnig. Er wollte nichts anderes, als Herrscher über diesen Planeten zu werden. Bis auf die fünf Wesen, die ich schonen wollte, würden alle anderen Androiden ihm helfen. Er hatte sie von der Größe seines Planes überzeugt. Ich mußte handeln, möglichst schnell. In kurzer Zeit würden sie beginnen, mit ihren Sklaven wieder auf die Jagd zu gehen, neue Kriegerstämme finden, die Ausrüstung verbessern, wieder neues Land erobern und beherrschen, die Zahl der Sklaven vergrößern und mit neuen Heeren neue Länder zu erobern. Ich sagte: »Für diese Aufgabe muß ich allein sein. Ich werde euch sagen, was zu tun ist!« Mein Plan stand fest. Die Ausführung war gefährlich – ich konnte nur hoffen, daß ES mir dabei half.
5. Ich war wieder allein, und nach vielen Tagen mühevoller Wanderung befand ich mich jetzt zwischen den Felsen der Götterburg. Hoch über mir waren Sagen und Legenden geboren worden, die später einmal zum Allgemeingut der Menschen werden würden. Längst mußten Hokir, Adrar, Aiv und der junge Sklave den Palast der Einsamkeit erreicht und sich in den Schutz Alyeshkas gestellt haben. Dorthin würde ich zurückkehren, wenn ich die Götter getötet hatte. Es war Mittag. Die Sonne erreichte mich nicht, es war kalt, und Wasser lief
von den Steinen. Ich kämpfte mich über riesige Brocken, unter denen Sand lag, der Berg begann schon hier zu zerfallen. Ich schwitzte, stemmte mich höher, rutschte aus und hielt meine Waffen fest. Ich hoffte, daß ich nach der Abenddämmerung die Hochfläche erreichte. Ich konnte mir nur ungenau vorstellen, was mich dort erwartete. Auf alle Fälle eine Handvoll zu allem entschlossener Androiden. Es war ein Stück Wildnis, in dem ich auftauchte. Es erstreckte sich von dem Beginn einer flachen Felsspalte bis hier herauf. Ich lehnte mich schwer gegen einen dicken, verkrüppelten Stamm. Vor mir lag eine ebene Fläche, vom Sternenlicht und dem Licht des abnehmenden Mondes beleuchtet, nichts war zu erkennen. Ich war durstig, und mein Magen knurrte. Ich löste mich von dem Baumstamm und schlich vorsichtig weiter. Unter den weichen Sohlen meiner Stiefel knirschten feuchte Gräser. Weit vor mir hörte ich undeutliche Geräusche. Es waren Hufe, Schritte, Gegenstände, die aneinander schlugen. Ich hielt den Atem an und lauschte, als ich mich weiter vom Rand des Tafelberges entfernt hatte. Acht Androiden lebten hier, und vermutlich kam die Unruhe von den Wachen, die sie aufgestellt hatten. Es hilft dir kein Überlegen! Du mußt ins Zentrum vordringen! sagte befehlend der Logiksektor. Ich suchte mir ein Ziel aus. Es war eine Gruppe von nackten Felsen, die etwa hundert Mannslängen von mir entfernt aus einem kleinen Hügel ragte. Die Oberfläche dieses Tafelbergs war stark bewaldet und fiel nach Osten leicht ab, das hatte ich auf der langen Wanderung erkennen können. Ich holte tief Luft, hielt den Bogen fest und die Wurfspeere, so daß sie nicht gegeneinander klapperten, dann rannte ich mit weiten Sprüngen los. Unter meinen Tritten ringelte sich, wütend zischend, eine Schlange davon. Dürres Holz knackte unerwartet laut. Ich sprang über niedrige Büsche, rammte mit dem Knie ein weißes Tierskelett zur Seite, umrundete Baumstämme und lief entlang einer Lichtung auf den niedrigen Hügel zu. Die Schwärze der Nacht und die Schatten des Waldes nahmen mich auf. Vögel schwangen sich von den Ästen und flogen davon. Das Gelände stieg an, ich hastete weiter und hielt erst an, als dicht vor mir der erste Felsen aufragte. Augenblicklich begann ich, mich an den Gewächsen hochzuziehen und kletterte die fast senkrechte Fläche hinauf. Meine Zehen fanden Halt, ich krallte meine Finger um die Ranken und in schmale Spalten des Steines. Endlich zog ich mich über die Kante und blieb ächzend auf dem Stein liegen. Von hier aus hatte ich den Überblick, den ich brauchte. Ich drehte den Kopf. Das Plateau war annähernd ellipsenförmig, teilweise abgestuft, die dunkle Oberfläche sah aus wie die erstarrten
Wellen eines Meeres. Also war auch der Boden immer wieder von Hügeln und Tälern durchsetzt, die selten höher als zehn Mannslängen waren. Überall gab es Lichter, die ihren Standort nicht veränderten, und solche, die in Schlangenlinien wanderten, verschwanden, wieder auftauchten… Sie suchen dich! Ich wartete schweigend und setzte mich auf, aß etwas und nahm einen Schluck aus dem Ziegenfell, das als Wasserschlauch diente. Geradeaus näherten sich einige flackernde Lichter, immer wieder durch Silhouetten von Menschen verdeckt. Ich duckte mich und sah sie näherkommen. Lange, blakende Fackeln, etwa ein Dutzend Männer, die sich auf einem schmalen Pfad in meine Richtung schoben. Die Flammen spiegelten sich auf bronzenen oder kupfernen Speerspitzen. »Wir werden den Jäger nicht finden!« rief einer der Wächter. Ich wußte, daß es hier oben nur Sklaven gab. Aber auch unter Sklaven gab es solche, die sich von den Herrschenden korrumpieren ließen und ihre Sklaverei liebten. »Wir müssen ihn finden. Der Vater des Übels läßt uns pfählen!« »Dann sucht ihn, ihr Narren!« grollte der Wächter. Sie kamen näher. Sie suchten nach Spuren, wichen vom Pfad nach beiden Seiten ab und drangen ins Gebüsch ein. Sie scheuchten eine Menge Tiere auf, erfüllten den Waldrand mit dem stinkenden Rauch der Fackeln, riefen durcheinander und blieben genau unter dem Felsen stehen. »Niemand weiß, ob er hier ist.« Ich hörte jedes Wort und sah, daß auch an anderen Stellen Züge von Sklaven unterwegs waren. Noch schützte mich die Dunkelheit, aber sie dauerte nur noch einige Stunden. »Wenn er nicht hier ist, dann wird er kommen. Die Götter haben es gesagt. Tuar, der Gott der Bildnisse, hat seinen Palast verbarrikadiert.« »Auch der Jäger muß ein Gott sein, wenn ihn die Götter fürchten!« Ich lächelte kalt. Der Rauch stieg in meine Nase und reizte die Schleimhäute. Ich beherrschte mich und wartete darauf, daß die Jäger wieder davontrabten. Endlich gab ihr Anführer einen Befehl. »Wir suchen jetzt bei den Gärten. Keraik, die Jagdgöttin, hat alle ihre Jäger im Palast versammelt!« »Los! Schneller. Die Nacht ist bald vorbei.« Die Zahl der Sklaven auf dem Tafelberg betrug mehr als eintausend. Etwa die Hälfte von ihnen Männer. Sie alle waren in den vergangenen rund sieben Monden aus der Umgebung zusammengetrieben worden und flüchteten nur deshalb nicht, weil sie Angst vor der Verfolgung hatten. Die kleine Truppe dicht unter mir wandte sich nach rechts und verschwand nach wenigen Schritten im Unterholz. Ich mußte mich
entscheiden – es gab nur eine Richtung. Ich prägte mir das Bild und die Lage der erleuchteten Vierecke ein, die Verbindungen dazwischen, die Türme und die Feuerstellen, ich sah auch die langgestreckten Werkstätten, in denen selbst jetzt gearbeitet wurde, und plötzlich wußte ich, daß sich alles hier in dieser umgekehrten Arena abspielen würde. Es gab weder für die Androiden noch für mich ein Entkommen. Sie warteten auf meinen ersten Zug. Ich entschloß mich und verließ langsam den Felsen. Auf dem Pfad, den die Sklaven gekommen waren, drang ich ins Innere des Hochplateaus ein. Ich bewegte mich wie ein Schatten. Ich sprang von Deckung zu Deckung, und jetzt scheuchte ich nicht einmal Vögel aus ihren Nestern. Nach kurzer Zeit sah ich vor mir einen Zaun; er bestand aus dichten Dornenhecken und dort, wo sie aufhörten, verlief er in Form von Balken und straff gespannten Seilen. Das Gehege des Gottes der Jagd, wisperte der Logiksektor ironisch. Ich folgte kopfschüttelnd diesem Zaun. Die Androiden hatten sich ein Reich der Phantasie erschaffen, als würde der Planet ihnen gehören. Aber genau das hatten sie auch gedacht! Der Zaun, immer wieder von Netzen und Dornenhecken unterbrochen, führte in Windungen durch Wald, Buschwerk und über abgefressene Weiden. Zweimal begegnete ich großen, massigen Tierkörpern. Sie rochen warm und säuerlich, und riesige Augen glotzten mich an. Der Lärm aus der Ferne schwoll an und wurde schwächer, wenn sich wieder Bäume dazwischenschoben. Aber durch die Pflanzen schimmerten immer mehr Lichter. Ich näherte mich – die Schilderung hatte ich von Aiv und dem jungen Sklaven – dem Palast Tuars, dem Gott der Bildnisse. Die Umzäunung des Jagdbezirks bildete einen Knick und verschwand nach rechts in der Dunkelheit. Vor mir befand sich ein sorgfältig gerodetes Stück Land, das bis zum Fuß einer Palisadenwand reichte. Ich kannte die Anordnung der Palastmauern vom anderen Tafelberg. Ich lief entlang der Palisadenwand nach links, duckte mich in den Schatten und hörte über mir Stimmen und Geräusche. Auch der Gott der Bildnisse hatte sich mehr eine Verteidigungsanlage als einen Palast errichten lassen. Ich glaubte die Peitschenhiebe zu hören und die Kommandos, von denen die Eingeborenen angetrieben worden waren. Ein Busch stand mir im Weg, ich sprang mit einem riesigen Satz darüber hinweg und lief über das niedrige Gras bis an eine Stelle, an der sich ein Baum befand. Ich preßte mich gegen den Stamm. Dicht über meinem Kopf berührte das Licht, das aus unzähligen Ölschalen und ummauerten Feuerstellen kam, den Baum. Ich hörte viel, sah aber nichts. Ich mußte sie ablenken. Dann grinste ich plötzlich, wirbelte um den Stamm herum und kletterte, so schnell ich konnte, hinauf. Ich bemühte mich, nicht auf zu dünne Äste zu treten
und befand mich im Schutz der Zweige der Krone, als ich den gesamten Palast überblicken konnte. Ich griff, nachdem ich Bogen und Speere auf einen Ast gelegt hatte, in den Gürtel und zog die Energiewaffe hervor. Mir fiel eine weitere Variante dieses Angriffs ein, und ich lächelte befriedigt. Ich drehte die Einstellschrauben in die entsprechende Position und zielte am Lauf entlang. Ich konzentrierte mich auf ein eckiges Gebäude, das eine Art Scheune oder Vorratshaus sein konnte; jedenfalls gab es dort wenig Lichter. Dann drückte ich viermal hintereinander ab. Viermal schmetterte ein trockener, donnerähnlicher Laut über die Wälle, zwischen den Toren hindurch und hinüber ins Ziel. An vier Stellen schlugen lange, weiße Blitze in das Gebäude und setzten es augenblicklich in Brand. Einige Herzschläge später leckten die Flammen von den Einschlagstellen aufwärts. Sofort verwandelte sich die Szene vor mir in ein Chaos. Viele Sklaven und der Gott der Bildnisse mußten auf etwas gewartet haben, darauf, daß ich angriff oder daß mich die suchenden Trupps fingen. Von allen Ecken strömten Menschen zusammen und rannten auf das Gebäude zu. Über dem Lärmen und Schreien erhob sich eine helle, kalte Stimme: »Schafft Wasser heran! Löscht das Magazin! Und verlaßt die Tore nicht!« Ich schob die Waffe zurück, kletterte im schwachen Schein der lodernden Flammen auf der dem Feuer abgewandten Seite des Baumes herunter und lief in einem engen Bogen auf das Tor zu, das sich hinter einer wuchtigen Doppelmauer erhob. Links und rechts der steinernen Säulen ruhten auf Steinsockeln raubtierähnliche Fabelwesen mit halb ausgebreiteten Schwingen. Ich erkannte, daß sie in mühevoller Arbeit aus großen Steinen herausgeschlagen worden waren, aber der Verlauf der feineren Linien zeigte mir, daß der Gott hier zu üben angefangen hatte. Er schien für diese Technik sehr begabt zu sein. Ich riß mein Hemd halb auf, versteckte die Speere und schmierte abgerissene Gräser und Schlamm in mein Gesicht. Dann wankte ich stolpernd und stöhnend in den Bereich des hellen Lichts hinein, fiel auf die Knie und stemmte mich mühsam wieder hoch, als mich die vier Posten bemerkten. Ich kam torkelnd näher und stöhnte auf: »Der Jäger… er ist dort und hat Tashil ins Herz geschossen. Dort…« Zwei der Männer sprangen hinzu und stützten mich. Ich stieß einen qualvollen Schrei aus und lallte undeutlich: »Zu Tuar! Schnell… eine Botschaft von Aiv.« Sie packten mich an den Armen und unter den Schultern und schleppten mich vom Tor weg, vorbei an vielen kleinen und großen
Steinplastiken oder hochgemauerten Statuen, die nur teilweise vollendet waren. Vermutlich befand sich der Eingang zum Palast dort, wo ich jetzt die meisten Lichter sah. Ich merkte, daß die Sklaven zögerten. Zwischen ihnen hängend, aber mit angespannten Muskeln, mögliche Abwehrschläge bereits genau planend, murmelte ich zwischen den Lippen: »Ihr seid Sklaven. Tuar wird euch vernichten, wenn er sieht, daß ihr den Jäger in den Palast gebracht habt.« Sie blieben ruckartig stehen. Dann flüsterte der Mann rechts von mir: »Bist du wahnsinnig?« Ich bückte mich, schlug beide Arme zur Seite und befreite mich mit einigen kurzen Bewegungen. Dann hob ich den Bogen über den Kopf und sagte leise, aber mit unüberhörbarer Schärfe: »Ich bin gekommen, um die Götter zu töten. Ich töte sie und verbrenne die Paläste. Flieht hinunter zu den Herden, oder kämpft mit mir!« Sie waren wie erstarrt. Die Furcht in ihren Gesichtern war deutlich. Seit einem halben Planetenumlauf und mehr lebten sie in äußerster Verwirrung, denn die Welt änderte sich für ihren Verstand zu rasch. Und jetzt stürzte ich sie abermals in Unsicherheit. »Es ist besser, ihr geht zu den Hirten. Ich brauche keine Helfer, denn ich bin der Freund der Blitze.« Sie nickten und bissen sich auf die Lippen. Sie waren noch jung, keine zwanzig Sommer alt. Dann warfen sie sich auf den Fersen herum und rannten davon, hinaus durch das Tor. Ich ging mit schleppenden Schritten, den Kopf gesenkt, den Bogen im Gras und auf den Platten des Weges nachschleifend, weiter auf den Palast zu. Eine Treppe. Ich stolperte sie hinauf und beobachtete unter den Brauen hervor die Umgebung. Die langen Schatten der Säulen und der Baumstämme schienen zu zittern im Licht der Brände. Wie ein Rennfeuer setzte sich die Aufregung fort – die vier Schüsse waren von den Androiden klar als Angriffssignal erkannt worden. Aber sie wußten nicht, ob ich die Waffe führte oder einer von ihnen. Ich blieb stehen, wachsam, als ich von rechts Schritte hörte. Entlang der Kolonnade rannte eine schlanke Gestalt auf den Eingang zu, irgendeine Waffe in der Hand. Ich hob den Kopf und blickte kurz hin. Eine schneidende Stimme zischte: »Sklave! Weg hier! Scher dich zum Feuer.« Ein Zischen ertönte. Ich sprang zur Seite, aber die Peitsche fuhr durch die Luft und schnitt glühend quer über mein Gesicht. Ich riß den gesenkten Kopf und starrte den Mann an. Es war Tuar, der Androide. Ich erkannte ihn an seiner typischen Kleidung und den ledernen Handschuhen, die er trug. Er schützte seine weichen Finger gegen die Steinsplitter seiner Plastiken. Aus der Richtung des brennenden Hauses ertönten einige donnernde
Geräusche. »Dafür wirst du sterben, Androide Tuar!« sagte ich heiser. Blut lief über mein linkes Auge. Tuar begriff sofort, daß ich der Jäger war. Ich sprang ihn an, aber er reagierte blitzschnell. Ich erhaschte nur noch einen Blick auf seine straffe, sehnige Gestalt. Er war etwas kleiner als ich, aber offensichtlich ein Gegner, kein Opfer. Er ließ die Peitsche fallen und warf sich durch einen auseinanderschlagenden Vorhang in einen hell erleuchteten Raum hinein. Hinterher! Achte auf Fallen, die nur er kennt! warnte der Extrasinn. Drei Schritte trennten uns, als ich angriff und durch den Vorhang sprang. Augenblicklich befand ich mich in einem verhältnismäßig riesigen Raum, einer Mischung zwischen Wohnraum und Werkstatt. Ungeheure Hitze schlug aus einer Ecke; dort befand sich ein gewaltiger Ofen. Tuar fuhr einige Schritte vor mir herum und schleuderte einen steinernen Hammer nach mir. Ich hechtete zur Seite, das Geschoß bohrte sich mit einem dröhnenden Laut in eine riesige ungebrannte Tonkugel. Tuar sah mich kurz an, dann wußte er, daß er von mir keine Gnade mehr zu erwarten hatte. Ich riß den Arm hoch, wischte das Blut aus dem Gesicht und griff nach einem Pfeil über der linken Schulter. Ich riß ihn aus dem Bündel des Köchers hervor und senkte den Bogen. Zu spät. Tuar riß einen Holzbalken hoch und schleuderte ihn nach mir. In der rasenden Eile fand er keine Waffe. Wieder wich ich aus, ließ Pfeil und Bogen fallen und zog den langen Dolch. Der Balken drehte sich, flog auf mich zu, und ich warf mich nach vorn. Die Bohle zerschmetterte dicht über mir eine Reihe von gebrannten Tongefäßen. Scherben und Staub regneten auf mich herunter. Ich schnellte mich vom Boden hoch und drang auf Tuar ein. Ein schneller, lautloser Kampf begann. Ich flankte über eine Statue, holte mit dem Arm aus, und Tuar schleuderte einen eisernen Meißel nach mir. Das stumpfe Werkzeug traf mich an der linken Schulter. Ein wütender Schmerz zuckte durch meinen Körper. Als ich nahe genug heran war, stieß ich zu, aber der Androide hatte schnelle Reflexe. Er sprang hoch, auf einen hölzernen Absatz, dann schnellte sein Fuß vor, die Stiefelspitze traf mein Handgelenk. Rechtzeitig hatte ich die Muskeln entspannt, der Tritt konnte die Waffe nicht aus meinen Fingern reißen. Ich packte den anderen Fuß, auf dem das Körpergewicht ruhte, riß ihn nach vorn und sprang zurück. Der Körper des Androiden krachte hart auf die Felle, wirbelte herum, und mein Dolch bohrte sich schwer in das Holz. Tuar kam auf die Beine, drehte sich herum und packte ein langgeschäftetes Beil. Ich rollte, so schnell ich konnte, zur Seite. Tuar holte weit mit beiden Armen aus, zielte auf meinen Kopf… dann raste die geschliffene Schneide direkt auf meine Augen zu.
Nach hinten! schrie der Extrasinn auf. Ich stemmte meine Sohlen gegen den Boden, stieß mich mit den Händen ab und überschlug mich nach hinten. Als ich vier Fuß tiefer auf allen vieren aufprallte, fuhr die Schneide krachend in das Holz. Ich hechtete nach vorn und schlug zu. Meine Faust bohrte sich hart über dem Magen des Androiden in den Körper. Tuar breitete die Arme aus, ächzte auf und faßte hinter sich nach zwei Tongefäßen. Er packte sie und schleuderte sie gleichzeitig nach mir, sie prallten über meinem Kopf zusammen, weil ich mich ducken konnte. Ich war für einige Augenblicke geblendet, einige Scherben rissen mir die Haut auf. Noch immer war niemand hereingekommen, wir kämpften völlig allein. Ich bekam den Griff meines Kampfbeils zu fassen und riß die Waffe aus dem Gürtel. Tuar nahm einen Anlauf, sprang über den vibrierenden Stiel der Waffe und kam auf mich zu. Ich holte aus, ich sah ihn nur als Schatten auf mich zukommen. Noch immer blinzelte ich; geronnenes Blut und Staub verklebten meine Augen. Aber ich handelte instinktiv, mit der Erfahrung aus tausend Kämpfen in meiner unendlich weit zurückliegenden Jugend. Mein Arm und seine Verlängerung, die hochwertige Waffe, beschrieben einen weiten Halbkreis. Beim ersten Schlag sah Tuar die Gefahr, krümmte seinen Körper nach hinten und bekam nur einen Hieb ab, der die schwere bronzene Schnalle seines Gürtels fast auseinanderschnitt. Tuar schrie auf, streckte beide Arme aus und sprang auf mich zu. Mein Arm schwang zurück, und Faust, Handgelenk und die schwere Waffe trafen, warfen ihn nach rechts. Im selben Moment konnte ich endlich deutlich sehen. Tuar wurde von der Wucht des Schlages zur Seite gerissen, trat auf ein Stück seiner herumliegenden Keramikbecher und stolperte. Sein Körper bewegte sich weiter, er warf zwei andere Vorratsbehälter um und fiel gegen eine Werkbank aus abgesplitterten Balken. Ich wirbelte den Arm hoch und zielte nach Tuars Schädel. Er wehrte den heruntersausenden Hieb mit der rechten Hand ab. Als die Waffe die Hand traf, hörte ich ein furchtbares Krachen. Tuar schrie und wimmerte, aber der gebrochene Knochen hielt ihn nicht auf. Er schwang sich über die Platte und riß mit den Beinen alles mit sich, was darauf stand. Er stöhnte ununterbrochen, aber er bewegte sich mit derselben Geschicklichkeit weiter. Jetzt versuchte er zu flüchten. Ich holte aus, zielte und schleuderte das Beil. Es drehte sich wirbelnd, immer wieder überschlagend, durch die Luft und traf ihn mit ungeheurer Wucht zwischen den Schulterblättern. Jetzt kreischte Tuar wie ein Wahnsinniger auf, schwankte nach beiden Seiten, aber lief weiter. Mir stockte der Atem. Tuar bewegte sich wie ein sterbendes Tier – genau auf den Brennofen mit seiner höllischen Glut zu. Ich stand schweratmend, schweißüberströmt, mit offenen Wunden da und sah
zu, wie Tuar weitertorkelte. Die Hitze schien ihn magisch anzuziehen. Er rammte mit der Schulter eine seiner halbfertigen Statuen, die zu schwanken begann, sich wie ein Kreisel drehte und schließlich nach hinten fiel. Der Kopf, auch noch ohne Ausdruck, brach ab, begann zu rollen, sprang in die Höhe und traf Tuar in die Kniekehlen. Er brach zusammen und fiel nach vorn und kippte dann, die Hände vorgestreckt, zwischen die rotglühenden Wände des Ofens. Über ihm brach ein Berg aufeinandergestapelter Tongefäße zusammen. Er schrie immer wieder, dann rissen die Schreie ab. Ich stand da wie erstarrt. Seine Beine ragten aus der Öffnung und schlugen wie rasend auf und ab. Dann zischte es, aus dem Ofen brodelte eine Wolke, nach verbranntem Fleisch stinkend. Hinaus! Der Ofen! sagte der Logiksektor. Dies war ein Ende, das ich nicht gewollt hatte. Noch während ich überlegte, was ich tun sollte, gab es eine Explosion. Der Ofen zerbrach in Stücke, die nach allen Richtungen flogen. Augenblicklich setzten sie Matten, Felle und das Brennholz in Flammen. Ich rannte auf die Stelle zu, an der mein Beil lag. Ich hob es auf und kämpfte mich zwischen Trümmern, Skulpturen und Scherben hindurch, zwischen den hochzüngelnden Flammen und dem grauen Rauch, der von der Zugluft in Richtung auf den Eingang getrieben wurde. Ich packte den Bogen und rannte durch den immer dichter werdenden Qualm hinaus. Hinter mir begann der Palast zu brennen. Zusammen mit der Rauchwolke kam ich aus dem Eingang hinausgestürzt. Ich mußte aussehen wie ein Geist, blutüberströmt, mit Rauchspuren, zerfetzter Kleidung… gleichgültig. Ich rannte weiter. Geradeaus, über den Weg, im Spurt über die ansteigende Fläche bis zur Kante der Palisadenbrüstung. Tuar, der Gott der Bildnisse, war tot. Sein Palast brannte. Die kurze, aber tiefe Spur, die der Androide in den Boden dieses Planeten gerammt hatte, begann zu verblassen. Ich blieb kurz stehen und sah zu den Sternen hinauf. Aber… es gab keine Sterne mehr. Sie waren verschwunden. Der Himmel hatte sich bezogen, es war kälter geworden, und der Wind ging in kurzen, heulenden Stößen. Zwei riesige lanzenförmige Spitzen drehten sich brodelnd und knatternd in die Höhe. Weiter! Sie wissen, daß du hier bist. Sie wissen es sicher. Ich blickte mich um, und zwischen den alten Bäumen sah ich einen viereckigen Bau stehen. Aus kleinen Öffnungen fiel weiches, ruhiges Licht. Der Bau sah wie ein Turm aus. Ich wußte nicht, wie es kam – aber ich war sicher, daß auch dort einer der fremden Besucher zu finden sein würde. Ich handelte ohne zu denken. Der Bogen flog über meine Schulter, ich sicherte das Beil und zog die Energiewaffe aus dem Gürtel.
Dann sprang ich nach unten, federte den Schwung ab und ging ruhig auf den Turm zu. Lärmen, Schreien, das Zischen von viel zuwenig Wasser, die Kommandos und die rennenden Sklaven blieben schon nach wenigen Schritten als undeutlicher Hintergrund zurück. Mich erfüllte eine eigentümliche Stimmung zwischen kalter, zu allem entschlossener Wut, von Haß und von totaler Gleichgültigkeit der eigenen Person gegenüber. Ich ahnte nicht einmal, daß ES mich in seinem Griff hatte. Auch das Extrahirn versagte. Ich erreichte den Turm. Alles war ruhig. Ich hörte wohlklingende, fast abgeklärte Stimmen, die aus dem oberen Teil des Turmes zu kommen schienen. Dann stand ich vor der Tür. Hinein! Die Zeit verringert sich. Am Morgen können sie dich sehen! Ich stieß mit der Schulter die Tür auf und stand in einem leeren Raum. Die Bohlen krachten gegen die weißgekalkte Wand. Eine Öllampe tauchte den Raum in trübes Licht. Ich sah einige Möbelstücke, einen Herd, Vorräte und eine Reihe bauchiger Vorratsbehälter aus Keramik. Vor mir war eine breite Holztreppe, die in den oberen Raum hinaufführte. Ich hielt die Waffe in der Hand und stieg langsam hinauf. Durch die offene Tür kamen Feuerschein und ferner Lärm. Die Stimmen über mir hatten zu reden aufgehört, als ich die Tür aufbrach. Über mir war das Licht heller, sie warteten auf mich. Offensichtlich hatte sich das Chaos nicht bis hierher fortgesetzt. Die Ruhe paßte zu dem, was ich über Imohag wußte. Ich sprang von der letzten Stufe in den hellen Raum hinein und drehte mich um, aber es befanden sich wirklich nur zwei Personen darin. Imohag saß hinter einem großen, massiven Tisch, der auf zwei großen Steinköpfen stand. Der Androide blickte mich ruhig und, wie es schien, ohne Angst an. Neben ihm saß eine junge Eingeborene. »Du bist der Jäger, nicht wahr?« fragte Imohag ruhig. »So ist es. Du hast keine Furcht?« »Nein. Die Dinge kommen und gehen, wie es geschrieben steht.« Ein verhältnismäßig einfach eingerichteter Raum, kein Vergleich zu den barbarisch-prächtigen Palästen der anderen »Götter«. Imohag schien wirklich ein Mann zu seih, der sich von den anderen absonderte. Ich ging bis zu dem Tisch und blickte von dem Mädchen zu ihm und wieder zurück. »Jetzt sind die Dinge gefährlich geworden«, sagte ich. »Tuars Palast brennt, er wurde getötet. Wenn du Verstand genug besitzt, dann nimm dieses Mädchen und verlasse den Berg.« Er lehnte sich zurück. Seine prüfenden Augen musterten jeden Fingerbreit meiner Erscheinung. Die Waffe zielte noch immer auf seinen Kopf. »Du wirst sie alle töten? Uns alle?« fragte Imohag mit unnatürlicher
Ruhe. »Nicht alle. Ich werde warten, was die Überlebenden tun. Aber die Zeit drängt. Tu, was du willst. Wenn du dein Leben retten willst, verlasse dieses Haus und geh zu Alyeshka. Auch Aiv ist auf dem Weg dorthin.« »Ich denke darüber nach!« sagte er. Der Wind draußen hatte zugenommen. Er ließ die Flammen der Öllampen flackern und heulte im Feuer, das jedesmal aufleuchtete wie ein Dämonenauge. Ich hob die Schultern und wandte mich ab. »Die anderen suchen mich«, sagte ich kurz. »Es geht um dein Leben, Imohag. Du stirbst jedenfalls nicht heute.« Ich sprang die Stufen wieder hinunter, lief nach links und merkte sofort, daß sich etwas geändert hatte. Der Palast brannte noch immer, und jetzt riß der Wind glühende und brennende Fetzen mit sich und trug sie davon. Ziellos rannten Wachen und Sklaven umher. Zwischen meinen Zähnen knirschte es. Sand? Ich lief zurück in den Schutz der Büsche und rannte in die Richtung auf das Gehege Keraiks, der Göttin der Jagd. Ich duckte mich immer wieder, versteckte mich in Büschen und hinter Baumstämmen, aber die Sklaven hatten Angst, es war nicht ihr Kampf, der hier ausgetragen wurde. Schließlich prallte ich gegen die Sehnentaue des Zaunes und schlüpfte durch die Maschen. Die Tiere innerhalb dieses Geheges waren aufgeregt, teilweise rasend vor Unruhe und in Panik. Ich sah zwischen den Bäumen die Lichter des Palasts der Jagd. Dorthin mußte ich. Ich bahnte mir einen Weg quer durch diesen Teil des Geheges. Der Wind hatte abermals zugenommen und wehte jetzt ununterbrochen, aber einzelne wütende Stöße warfen Sandschleier über das Hochplateau. Immer wieder mußte ich mich gegen den Druck aus dem Westen stemmen. Ein Rudel Gazellen sprang an mir vorbei, die Körper streiften mich fast. Die glühenden Augen eines Fuchses verschwanden vor mir. Wildrinder rasten galoppierend immer entlang der Hecken und Zäune, schrien dumpf auf und polterten weiter. Das Fauchen eines Löwen von rechts. Ich rannte schneller, stolperte über eine Wurzel und raffte mich wieder auf. Über mir waren plötzlich Flügelschläge. Große Vögel, Geier oder Adler, versuchten mit rasenden Schwingenschlägen, gegen den Sturm anzukämpfen. Unter meinen Sohlen spürte ich Steine, dann erkannte ich vor mir eine Art Weg. Ich wurde langsamer und beruhigte meine Lungen. Der Weg schlängelte sich bis zu einem geschlossenen Tor aus Holzbohlen. Ich sprang darüber und sah jetzt den Palast. Er war kleiner als die anderen, außerdem gab es keine Palisadenwände. Schräg über mir befand sich eine vorspringende Terrasse, von einem noch weiter herausragenden Dach hingen Öllampen, die im Sturm stark schwankten.
Sie warten auf dich. Dort oben stehen sie! sagte der Logiksektor. Vor und zwischen den Lichtern standen Sklaven. Sie hielten Bögen in den Händen, neben ihnen standen schlanke Körbe voller Pfeile. Vor dem Eingang zum Palast wartete Keraik, die Göttin der Jagd. Neben und hinter ihr befand sich ein kleines Arsenal aller erdenklicher Jagdwaffen. Ich überlegte. Welche Waffe versprach für mich Erfolg? Nimm den lautlosen Pfeil! »Es wird das Beste sein!« murmelte ich. Der Wind riß die Worte von meinen Lippen. Ich schob den Strahler in den Gürtel, griff über die linke Schulter und faßte die Befiederung eines Pfeiles. Raschelnd glitt das Geschoß aus dem ledernen Köcher. Ich packte den Bogen mit der Linken, schob mich seitwärts in den Windschatten von Gebüsch und einem Baumstamm, legte den Pfeil auf die Sehne. Mein rechter Zeigefinger berührte meine Wange, als ich die Sehne bis fast ans Ohr auszog. Meine Augen konzentrierten sich auf das Ziel; der fast unbegreifliche Vorgang, der mit dem Verstand nichts mehr zu tun hatte, weil sich der Körper des Schützen auf alle Umstände einrichtete, lief ab. Im entscheidenden Augenblick löste ich die Sehne. Der Pfeil wurde nach vorn gerissen, die Sehne schlug hart und kurz gegen den Schutz des linken Unterarms. Sofort, die Augen auf das Ziel gerichtet, zog ich den nächsten Pfeil heraus. Mein Geschoß traf. Die große Öllampe neben Keraik zersplitterte. Heißes Öl ergoß sich nach allen Richtungen und tränkte das Holz. Der brennende Docht setzte die Flüssigkeit sofort in Brand. Keraik sprang zur Seite, schrie wilde Kommandos und griff nach einem großen Schild aus Leder mit Metallverzierungen. »Er ist dort in der Dunkelheit! Schickt Pfeile hinunter! Tötet ihn, den Jäger! Löscht den Brand!« Die Androiden hatten zwar die Eingeborenen mit Furcht und Terror gelehrt, gute Handwerker zu werden. Aber sie hatten ihnen nicht die abergläubische Furcht vor Naturgewalten nehmen können. Der Sturm, der die Flammen aus dem kochenden Öl gegen Vorhänge, Holzkonstruktionen und Verkleidungen trieb, dazu die flackernden Flammen und der Gestank des brennenden Öls – das war zuviel. Einige Sklaven flüchteten. Ich feuerte meinen zweiten Pfeil ab, der genau ins Zentrum des Schildes donnerte. Gleichzeitig warf der Sturm einen dichten Sandschleier über das Gelände. Zwischen den Bäumen erhob sich ein fahles, hohles Sausen. Keraik stand jetzt allein neben dem brennenden Stück des Palasts. Ihre Sklaven waren geflüchtet. Ich hatte den dritten Pfeil auf der Sehne und schritt langsam aus der Deckung heraus in den Lichtschein. Nach zwölf Schritten sah mich Keraik. Die große, überschlanke Göttin der Jagd war nur einige Herzschläge lang unschlüssig, dann handelte sie. Sie riß den Schild hoch, griff nach einem Wurfspeer und
schleuderte ihn in meine Richtung. Ich wich leichtfüßig aus und hörte den Speer durch die Büsche zischen. Keraik trug einen schmalen, langgezogenen Helm aus Leder mit golden glänzenden Verzierungen. Der Helm glänzte über dem Schildrand. Ich zog aus und schickte den Pfeil genau an die Stelle zwischen Schildrand und Helm. Keraik wurde von der Wucht des Einschlags gegen die Wand des Palasts geschleudert. Der Helm wirbelte davon und rollte über die Terrasse. Ich spurtete los und befand mich, als sich Keraik wieder zum Kampf stellte, am anderen Ende der Terrasse. Jetzt waren wir wieder auf gleicher Höhe. Ich wußte, daß rundherum zitternde Sklaven in den Verstecken hockten und den Kampf der Götter starr vor Schreck mitansahen. Keraik setzte alles in einen einzigen, wilden Angriff. Sie griff nach einem Speer, hob den Schild und rannte, mit dem Wurfarm weit ausholend, auf mich zu. Ich erwartete sie hinter dem Feuer. Keraiks Haar hatte sich gelöst, ihr schmaler Kopf war von einer flatternden goldgelben Mähne umgeben. Ich löste den nächsten Pfeil. Das Geschoß heulte über eine Entfernung von zehn Mannslängen hinweg und schlug in den Schild. Er drang zwei Handbreit tief ein und traf den linken Unterarm in den Halteschlaufen. Keraik ließ den Schild fallen und schleuderte den Speer. Die Waffe flog direkt auf meinen Kopf zu, aber ich warf mich nach vorn und rollte mich ab. Der Speer heulte über mich hinweg, ich stand wieder auf beiden Beinen und hielt mein Beil in der Hand. Der Bogen lag einige Schritte entfernt. Zwischen uns war nur das Feuer, das sich zwar rasend schnell ausbreitete, vom Wind aber in das Gebäude hineingedrückt wurde. »Ich will dich nicht töten, Keraik«, stieß ich keuchend hervor. Rußige Flocken wurden herangetragen und hefteten sich an unsere Haut. »Aber ich werde dich vernichten!« schrie sie. Ich hatte mich nur kurz täuschen lassen; diese zähe, geschmeidige Frau war in Wirklichkeit eine Rasende. Sie bückte sich, griff nach einem langen Dolch und schleuderte ihn mit derselben Bewegung nach mir. Die Waffe schnitt eine Wunde in meinen Schenkel, aber ich spürte in der Erregung des Kampfes keinen Schmerz. Ich hörte nur das Poltern der Waffe. Aber in diesem Zeitpunkt befand ich mich bereits über der verkohlten Flache und drang mit kreisendem Kampfbeil auf Keraik ein. Sie wehrte sich mit einem zweiten Dolch, den sie aus dem Gürtel riß. Wir kämpften auf einem Platz, der zwei Mannslängen breit und ebenso lang war. Das Beil wirbelte durch die Luft, Keraik duckte sich, wich aus und kämpfte nur mit dem rechten Arm. Die linke Hand war blutüberströmt und steckte in dem Ledergürtel. Keraik trug kniehohe Stiefel und hatte überlange, sehnige Beine. Ihr Dolch blitzte auf, traf
das Beil, schnitt Riefen in den Schaft, fuhr einen Fingerbreit vor meinen Augen durch die Luft, dann gelang es mir, mit einem kurzen, halb geschraubten Schlag die Waffe aus der Hand der Frau zu schmettern. Nach einem klirrenden Geräusch wirbelte der Dolch in die sturmerfüllte Dunkelheit hinaus. Keraik schnellte sich weit nach hinten und in die Höhe, suchte mit den Augen ihre Waffen, aber ich setzte nach, und sie mußte Schritt um Schritt rückwärts fliehen. Immer wieder entkam sie durch eine schnelle Drehung, durch einen unerwarteten Ruck, durch meisterhafte Körperbeherrschung meinen Schlägen. Dann waren wir am Ende der Terrasse angekommen. Keraik bückte sich und schrie noch einmal leise auf, als sie mit beiden Händen die heiße Schale der Öllampe ergriff und nach mir schleuderte. Ich hatte die Wendung des Kampfes rechtzeitig begriffen und hechtete von der Terrasse hinunter ins sturmgepeitschte Gras. Das aufflammende Öl bildete einen feurigen Bogen, und ich schleuderte noch im Sprung das Beil, um sie abzulenken. Ich landete im Gras, überschlug mich und blieb einen Herzschlag länger als unbedingt nötig liegen. Dann wälzte ich mich herum und sah, daß ich gut getroffen hatte. Zu gut. Das Beil hatte den Schädel Keraiks halb gespalten, und die Frau lag neben dem zweiten Feuer. Drei Gegner sind noch vor dir! Und Tashil ist erbarmungslos! Ich sprang auf die Beine. Ich rannte wieder hinauf und holte den Bogen. Der Sturm hatte seinen Rhythmus nun geändert. Es gab nur noch kurze, harte Stöße von ungeheurer Wucht. Der Himmel war vollkommen verfinstert. Immer wieder bogen sich die Bäume zur Seite, warfen Blätter ab, die in Spiralen davongerissen wurden. Äste krachten, und die Sandwirbel wurden dichter, als ich mich neu orientierte und in die Richtung des Palasts der Liebesgöttin lief. Mein Körper begann, erste, schwere Spuren der Erschöpfung zu zeigen. Aber die Zeit verging zu schnell. Als ich mich zwang, langsamer zu laufen und mich von den Sturmstößen treiben zu lassen, fühlte ich die ersten Regentropfen auf meiner Haut. Oder war es hochgerissenes Wasser aus einer der vielen Quellen. Der Sturm war der eigentliche Herrscher dieser Nacht. Er fachte die Flammen der brennenden Häuser an und verwandelte sie in ein Lauffeuer, das rechts und links hinter mir nach Osten raste.
6. Der Zustand des Landes, durch das ich seit mehr als einem Mond raste wie ein Stück gehetztes Wild, konnte mich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es verlorenes Land war. Die Savanne und ihr Grün täuschte: Die Schicht fruchtbarer Erde unter den Pflanzen war
dünn. Ein Brand, ein Überweiden, ein kräftiger Sturm konnte sie davontragen. Der Wechsel von Trockenheit und heftigem Regen löste einen chemischen Vorgang aus, der den ausgelaugten Lehm mit dem Sand verband und ein unfruchtbares Mineral ergab. Die Herden der Hirten und das Wild trugen dazu bei. Blitzschlag und Flächenfeuer verwüsteten riesige Gebiete. Dieses Land hier hatte nicht mehr die Kraft, sich zu erholen, wenn es einmal ernsthaft geschädigt worden war. Dasselbe galt für die bewachsenen Flächen der Tafelberge. Eines nicht zu fernen Tages würde hier alles Wüste sein, und vielleicht erinnerten nur noch die Steinfiguren, jene unfertigen plastischen Entwürfe, an meinen Kampf mit den Androiden und an die fremden Götter. Ngarto hatte sich zweifellos etwas gedacht, als der Palast errichtet wurde. Er wuchs – nahezu völlig natürlich – wie eine merkwürdige Pflanze aus der Natur des Tafelbergs. Unmerklich gingen die wilden Büsche in sorgfältig beschnittene Reihen und Linien über. Es gab kugelförmige Büsche, solche, die wie Mauern wirkten, und andere, die im gelbweißen Licht des herankommenden Feuers wie Gestalten aus einem unbekannten Mythos aussahen. Ich eilte an ihnen entlang auf eine Handvoll von kleinen, weißen Bauten zu, die in einer lockeren Gruppe zusammenstanden. Sie erhoben sich auf Stelzen, waren untereinander durch zierliche Stege verbunden, hatten flache Dächer und schienen innen aus vielen kleinen Räumen und Winkeln zu bestehen. Keine einzige Wache! Kein Sklave! Sie sind alle geflohen! sagte der Logiksektor eindringlich. Welche Waffe? Ich entschied mich für den Strahler und verharrte dicht vor den Pavillons. Niemand beachtete mich. Ngarto, Lapee und Tashil machten nicht einmal den Versuch, mich zu suchen. Ich verstand es nicht. Ich vermochte mich nicht in die Überlegungen der Androiden hineinzufinden. Die schmalen, hohen Fensteröffnungen der Pavillons schienen mit dünnem Pergament aus Tierhäuten verschlossen zu sein. Ich bemerkte dahinter tiefgelbes Licht. Vor mir führte eine Treppe, die aus wuchtigen Steinplatten bestand, im Halbkreis aufwärts. Zögernd ging ich hinauf. Durch das stoßweise Heulen des Sturmes glaubte ich undeutliche Stimmen zu hören. Ich ging weiter und näherte mich schrittweise der ersten Tür. Vielmehr dem ersten Vorhang, der aus dickem Stoff und Fellstücken bestand. Ein eigenartiger Geruch schlug an meine Nase; seltene Kräuter mochten so riechen, Schweiß oder gärende Getränke. Ich schob mit der linken Hand das dicke Zeug zur Seite und blickte in den Raum hinein. »Ich kann es nicht glauben!« stieß ich hervor. Was ich sah, war mehr
als verblüffend. Der Raum, von zierlichen Öllampen in eine Anzahl heller Bereiche aufgeteilt, war voller Menschen. Sie schienen berauscht zu sein. Sie saßen und lagen beieinander. Liebestempel? fragte ich mich. Es war eine grausige Parodie auf diesen Begriff, denn keiner der Anwesenden trug den Ausdruck des Glücks im Gesicht. Die Welt dort draußen schien sie nicht zu interessieren, denn sie waren wie betäubt. Ich ließ den Vorhang los und suchte mir einen Weg durch die ineinander verschlungenen Körper. Junge und alte Menschen waren hier, schöne und häßliche… aber niemand, der auch nur annähernd aussah wie ein Androide. Ich verließ diesen Raum, riß den Vorhang herunter und duckte mich, als ein Windstoß Sand, abgerissene Pflanzenteile und einen Wasserschauer in das Häuschen wehte. Ich wartete den rasenden Ansturm ab und lief dann über den Steg hinüber in den nächsten Pavillon. Das gleiche Bild. Nur schien hier der Rausch schon fortgeschrittener zu sein. Die Eingeborenen schliefen oder waren halb besinnungslos. Einige stöhnten, andere führten wirre Reden, wieder andere bewegten ihre Glieder ziellos und griffen nach mir, als ich zwischen ihnen hindurchschritt. Ich blieb stehen, als ich an einer Säule eine kupfern schimmernde Metallplatte erkannte. Ich spiegelte mich in ihr, und die Lampen waren hell genug, so daß ich deutlich sehen konnte. So siehst du aus, Arkonide! wisperte mein Extrahirn. Vom Kopf bis zu den Zehen mit Schmutz bespritzt. Überall war Blut, der Schnitt im Leder klaffte, aber die Wunde darunter schloß sich bereits. Angesengtes Haar, überall die Rußflecken, die Spuren der Kämpfe – ich wandte mich ab und verließ den Raum. Eine Treppe abwärts, über einen Steg, zwischen sorgfältig beschnittenen Büschen hindurch und über einen schmalen Bach, dessen Wasser vom Sturm hochgerissen und davongeschleppt wurde. Ein gewaltiger gelber Sandschleier senkte sich jetzt, als der Sturmstoß nachließ, über die Anlage. Ich ging, Bogen und Strahler in der Hand, auf das Haus in der Mitte der Anlage zu. Der Sturm riß an der Tür, als ich sie öffnete, und schleuderte sie aus meinen Fingern. Ein Gefühl der Schwäche ergriff meine Knie. Vor mir breitete sich ein Raum aus, der zwar einfach, aber mit erlesenem Geschmack eingerichtet war. Kaum weniger als fünfzig Flammen brannten entlang der Wände, vor Metallplatten und glasierten Tonkacheln. Der Raum war hell, und alles, was sich darin befand, wurde deutlich für mich sichtbar. Fast ohne Unterbrechung umlief eine tiefe Bank, mit Stoffen und Fellen hoch bedeckt, die Wände. Sklaven mit seelenlosem Blick
starrten mich an, zwischen ihnen junge Mädchen. Sie waren ausgesucht schön und nur mit winzigen Stoffetzen, kleinen Fellstücken oder metallenem Schmuck und Ketten bekleidet. Auch sie schienen berauscht, zumindest willenlos. Sie saßen da wie Puppen, wie ausgeschaltete Automaten. Noch etwas fiel mir auf: Alle trugen das Haar im selben Schnitt, bildeten gleichsam eine Schar ohne besondere äußere Merkmale. »Du bist gekommen, um zu töten, Jäger!« sagte eine dunkle, schwingende Stimme. Der Klang war ebenso erotisch wie abgeklärt. Langsam wandte ich den Kopf und sah in der Mitte des Raumes eine Art Bank stehen, ebenfalls mit verschiedenen Fellen überhäuft. Am Fußende kauerte ein junges Mädchen, am Kopfende lag ein junger Mann mit gewaltigen Muskeln. Die hellhäutige Frau, die ihre Füße im Schoß des Mädchens und den Kopf an der Brust des Mannes hatte, hielt einen Pokal aus silbernem Metall in der Hand. Sie lächelte mich an, ein abgeklärtes Lächeln. Ich blieb fünf Schritte vor ihr stehen und sagte langsam: »Ja. Denn ich will nicht, daß dieser Planet bestraft, daß seine Menschen versklavt werden.« Ngarto, die Göttin der Liebe, schenkte mir ein trauriges Lächeln. Die Hand, die den Pokal hielt, zitterte nicht. »Auch du bist nur ein Werkzeug, Jäger.« »Das mag sein«, erwiderte ich, »aber ich bin eine scharfe Waffe.« »Wir haben erkannt, daß wir in der falschen Welt gelandet sind. Und ich habe die Zeit, die mir blieb, gut genutzt. Alle diese Menschen waren meine Werkzeuge. Ich habe sie gelehrt zu lieben.« Plötzlich fror ich. Sie war halb wahnsinnig, und zur anderen Hälfte erkannte sie mit großer Klarheit, was das eigentliche Problem war. Sie waren Bakterien in diesem Organismus. Sie wurden abgestoßen oder riefen eine Infektion hervor. Oder beides. Ngarto bewegte sich lüstern; auch sie war so gut wie nackt. Schmuck und winzige Kleidungsstücke verstärkten den Eindruck noch. Ihr Körper war der einer reifen, sinnlichen Frau, schon etwas zu schwer, aber noch immer ungemein anziehend. Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Dies alles ist nicht der Grund, dich zu töten. Ich jage euch, weil ich muß, und darüber hinaus deswegen, weil ihr die Menschen verderbt, anstatt zu führen. Hast du die Brände nicht gesehen?« Sie sah mich an. Lange und schweigend, aus ihren Augen schien Trauer zu sprechen. Schließlich hob sie den Pokal und trank schweigend einige tiefe Schlucke. Dann nickte sie. »Die Brände sind das Zeichen. Alles wird vergehen. Unser Aufenthalt hier war kurz. Wir wollten ein Riesenreich errichten, aber die Materie erwies sich als zu zäh und zu schlecht formbar.« »Das ist die Stärke der Menschen, der Eingeborenen dieses
Planeten!« versicherte ich. »Einige von uns haben dies bemerkt. Alyeshka etwa. Oder Aiv. Oder Imohag. Das ist auch unwichtig, denn ihre Gebeine werden ebenso zu Staub wie meine.« Ich zögerte. Es widersprach meiner gesamten Einstellung zu anderen Wesen, auf Wehrlose zu schießen. Es wäre Mord gewesen, das Delikt, das ich den Androiden vorwarf. »Sie sind langlebig«, sagte ich leise. »Ich werde sie nicht töten, sondern warten. Wenn sie größenwahnsinnig werden wie du, dann werde ich sie töten müssen.« »Ich habe begriffen. Und weil ich es weiß, bin ich dir zuvorgekommen, Jäger!« Wieder trank sie aus dem Becher, dann warf sie ihn über die Schulter. Er klirrte über die Fliesen davon. »Gift?« »Erraten. Ein besonderes Gift. Es verschafft mir eine kurze Zeit der äußersten Ekstase und einen tiefen Schlaf. Eine Ewigkeit lang.« Sie lächelte. Schon jetzt war ihr Lächeln entrückt und nicht mehr von dieser Welt. Ich hob den Arm mit dem Bogen und sagte hart: »Der Sturm treibt das Feuer von Westen heran. Es wird nicht mehr lange dauern, und dein Palast brennt ab. Treibe deine Liebesopfer hinaus, damit sie nicht sterben müssen. Sie sind unschuldig.« »Vielleicht tue ich es. Ist es vermessen, dich zu bitten?« Ihre Finger zuckten nervös. Sowohl der junge Mann als auch das Mädchen bewegten sich. Es war, als sei eine bestimmte Art von Energie von Ngarto auf sie übergesprungen. Ihre Blicke wurden klar, aber sie warteten noch auf einen Befehl, eine Aufforderung. »Ich höre?« »Laß mich allein. Ich sterbe, das ist sicher. Du brauchst nicht zu schießen, Jäger, mit jener Waffe, die du von Toteen hast. Ich schicke die Jungen hinaus, wenn ich die Flammen sehe.« Ich senkte den Arm und schloß: »Was immer du versuchst – du kannst mir nicht entkommen. Derjenige, der euch auf dem Kunstplaneten manipulierte, zwingt mich, meine Jagd bis zum Ende durchzuführen.« Ich drehte mich um und verließ den Raum. Auf der Schwelle warf ich einen Blick zurück. Ich sah, wie sich Ngarto leidenschaftlich über den Jüngling warf. Im Freien packten mich wieder Sturm, Sandmassen und Wassergüsse. Noch immer kamen sie aus Westen. Ein Teil des Feuers war erloschen, aber im Norden und Süden brannten jetzt breite Streifen und bildeten eine Art riesige Gasse, die zum Palast Tashils führte, dem Vater des Übels. Ich hatte hier noch keinen Sturm erlebt, aber ich wußte, daß solche
Stürme Tage andauern konnten. Sieh dich um! sagte der Logiksektor warnend. Ich tat es. Erst einige Atemzüge später fiel mir ein, was ich vermißte. Die Sklaven. Zwar huschten jetzt hinter mir nackte Mädchen und Jünglinge aus den Pavillons und rasten, wie von Dämonen gehetzt, nach allen Richtungen, aber ich sah keine Sklaven mehr. Weder die Handwerker aus den Werkstätten, noch die Wächter. Sie schienen alle nach Osten geflohen zu sein. Dort wand sich die Straße in engen Serpentinen abwärts, die sie teilweise selbst gebaut hatten. Mit einiger Sicherheit trieb sie der Instinkt dorthin, woher sie gekommen waren: in die großen Ebenen rund um das Mittelgebirge und die Tafelberge. Aber ich wußte von Adrar, daß schon seit Urzeiten Menschen hier oben gelebt hatten, dafür sprachen auch die Tiere in Keraiks Gehege. Ich zuckte die Schultern und ließ mich weitertreiben. Immer deutlicher spürte ich meine Schwäche. Tashil und Lapee. Kharg und Paer! sagte der Extrasinn. »Ja!« murmelte ich. Ich verfluchte ES. Ich schwankte dahin, stolperte, spürte Durst und Hunger und – eine Schwäche, die immer deutlicher wurde. Noch immer leuchteten Hunderte Lichter vor mir, abgesehen von den schräg dahinrasenden und heulenden Flammen am Rand des Plateaus. Der Palast des obersten Tyrannen war der größte, aber eine Vielzahl von Gebäuden bestand aus Magazinen, Ställen und Sklavenquartieren. Ich ging jetzt über abgegraste Weiden, aus denen nur vereinzelt Bäume und Büsche aufragten. An einigen Stellen lag der angewehte Sand so hoch, daß nur noch das oberste Drittel der Gräser hervorsah. Streckenweise lief ich über Sand, aber mit jedem Schritt näherte ich mich dem weiten, offenen Hof zwischen den U-förmig errichteten Gebäuden. Auch sie schienen für eine kleine Ewigkeit errichtet oder geplant worden zu sein, denn sie bestanden aus massivem Stein, aus gebrannten Ziegeln und mächtigen Bohlen. Hof und Gebäude schienen ausgestorben zu sein. Ich sah keinerlei Bewegung, außer derjenigen, die durch den Sturm hervorgerufen wurden. Das Feuer würde noch eine Zeit brauchen, um hierher zu gelangen, falls es nicht von den Wassergüssen gelöscht werden würde. Jetzt stand ich mitten im Hof. Der Wind riß den Sand weg, den meine Stiefel aufwühlten. Eine gespenstische Szene umgab mich an drei Seiten. Überall Terrassen, hüfthoch über dem sorgfältig begradigten Gelände. Darüber weit vorspringende Dächer, abgestützt durch sorgfältig verfugte Balkenkonstruktionen. Sehr einfach, aber in seiner Einfachheit durchdacht. Ein Höchstmaß von Wirkung bei einem Mindestmaß von Arbeit. Sie waren Künstler, diese Androiden. Wenigstens ein Teil von ihnen.
Vorsicht. Diese Bewegungslosigkeit täuscht! warnte der Logiksektor. Ich warf mich herum und rannte nach links, sprang mit einem gewaltigen Satz auf die Rampe der Terrasse und fing mich an der Mauer ab. Die Rußflocken waren bis hierher getrieben worden und fleckten die weiße Wand. Hinter den offenen Fenstern und den hohen, schmalen Türen standen die Lampen auf gemauerten Vorsprüngen. Hinter ihnen waren gerundete Metallblätter angebracht, die das flackernde Licht reflektierten. Ein unaufhörliches Zucken und Zittern ging durch das ganze Gebäude; die Reflexe des Lichtes schienen es in geheimnisvolle Schwingungen zu versetzen. Ich sprang mit gezogener Energiewaffe in den ersten Raum hinein. Ein leeres Sklavenquartier. Essensreste verkohlten stinkend auf dem Feuer. Weiter. Der nächste Raum: ein Magazin. Es roch nach Leder und Urin. Wieder hinaus auf die sturmerfüllte Terrasse. Der nächste Eingang. Diesmal ein Stall. Einige Halbesel rissen an ihrem Geschirr. Ich rannte durch den Raum und schnitt die Seile aus Sehnen durch, die die Tiere festhielten. Mit weit aufgerissenen Augen und Schaum um die gelben Zähne rasten sie durch den zweiten Ausgang ins Freie. Einige Tiere waren ausgeschirrt worden, denn ich bemerkte frischen Dung in den leeren Abteilen. Der nächste Abschnitt enthielt die Ausrüstung der Androiden-Jäger. Ein Wagen mit gebrochenem Rad, trockenes Gras, Zaumzeug und ähnliches. Ich rannte weiter. Der linke Flügel enthielt nichts, was mich interessierte. Ich erreichte die Ecke und die erste Öffnung, die in den Mittelteil der Gebäude führte. Wieder zögerte ich, aber dann sprang ich nach einem kurzen Anlauf hinein. Noch ehe ich richtig auf den Füßen war, erkannte ich, daß sich Tashil einen unerwartet fremdartigen Palast gebaut hatte. Der Raum, den ich betrat, war mindestens zwanzig Mannslängen breit und ebenso lang. Rund fünfzig Säulen stützten das Dach, das sich in ein einziges Gitterwerk aufteilte. Die Flächen zwischen jeweils vier Säulen befanden sich in unterschiedlichen Höhen. Rampen und Treppen mit wenigen breiten Stufen führten hinauf und hinunter. Auch dieser riesige Raum schien eben erst verlassen worden zu sein, denn eine Unmenge blakender Fackeln und Öllampen brannten überall. Die Säulen warfen lange Schatten in verschiedene Richtungen. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Nur das Heulen des Windes war zu hören. Dazu das Knistern der Fackeln und meine keuchenden Atemzüge. Eine unsinnige Wut erfüllte mich, die jeden Gedanken an Gefahr in mir auslöschte. »Tashil!« schrie ich. »Komm hervor und stelle dich! Hier ist der Jäger!« Der Schrei verlor sich in der Weite des Raumes. Ich begann zu laufen und wurde immer schneller. Ich handelte wie im Fiebertraum, eine Kraft, die ich plötzlich spürte, trieb mich vorwärts. Ich erreichte die
erste Plattform – leer. Die nächste, wieder leer, Treppen und Rampen, auf den Plattformen standen alle jene Gerätschaften, die ich in einem solchen Palast erwarten mußte, Möbel und Vorratsbehälter, Pläne, auf schwarzen Stein gezeichnet, Modelle und Plastiken, Lampen und Essen, ein Bad, in dem das Wasser noch dampfte und roch, Kleidung und Felle. Ich warf mich nach rechts, als ich die gegenüberliegende Wand erreichte und durch eine runde Maueröffnung nichts anderes erkennen konnte als eine schwache Helligkeit im Osten und leere, windgepeitschte Umgebung. »Tashil! Du Mörder! Du hast Angst, nackte Angst!« schrie ich abermals und rannte entlang der nächsten Mauer. Jetzt sah ich, immer wieder durch die mit Kupferbändern zusammengehaltenen Stützbalken unterbrochen, daß die Anordnung der Plattformen einem gewissen Schema gehorchte. Im Zentrum gab es die tiefste Stelle, die nachfolgenden stiegen unterschiedlich an, und die höchsten – aber auch einige sehr tiefliegende – Ebenen lagen ganz außen. Als ich die Mitte erreicht hatte, glaubte ich ein schwaches, langgezogenes Stöhnen zu hören. Ich blieb stehen und lehnte mich mit der Brust gegen eine Holzsäule. Das Kupferband kühlte meine brennendheiße Stirn. Der Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, mein Atem ging rasselnd. Meine Lippen waren trocken, und ich merkte, daß meine Knie immer schwächer wurden. Der Zellschwingungsaktivator konnte die Energie nicht so schnell wieder herbeiführen, wie ich sie verausgabte. Da – wieder! Ein Stöhnen! Ich packte die Energiewaffe fester und schlich hinter den Säulen entlang. Meine Augen durchsuchten den Teil der riesigen flachen Halle, durch den ich noch nicht gerannt war. Dort, wo sich hohe und niedrigere Plattformen trafen, konnte sich Tashil verstecken. Abermals hörte ich das Geräusch. Direkt von vorn kam es, schräg von unten. Mit steifen Beinen ging ich über eine hohe Plattform, hinunter auf eine niedrigere und über eine noch höhere Plattform. Dann sah ich genau im Zentrum etwas, das wie ein Bündel Felle aussah. Ich stand ganz starr und blickte genauer hin. In den tanzenden Schatten sah ich eine große Menge von Fellen verschiedener Farbe. Dann eine Menge Rot. Blut! [-Getrocknetes Blut, das auf den Fellen rostrote Flecken bildete. Ich ging einige Schritte näher, und meine Finger verkrampften sich um den Kolben der Waffe. Schließlich sah ich eine Bewegung. Ein menschlicher Körper. Schon wieder ein Opfer dieser Besessenen? Ich sah helle Haut, eine Bewegung, dann begriff ich. Mit einigen Sprüngen überwand ich die nächsten Plattformen und befand mich kurz darauf am Rand des tiefsten Vierecks. Unter mir lag auf den blutbesudelten Fellen ein relativ junges Mädchen, aber ich
wußte, daß es Lapee war, die Gefährtin des stärksten Androiden, des Vaters des Übels. Ich blickte auf sie hinunter. Entweder hatte sie mit jemandem erbittert gekämpft, oder man hatte sie niedergeschlagen und für tot liegengelassen. Sie hatte eine Unmenge Blut verloren. Ich trat hinunter auf die Felle, und wieder stöhnte sie auf. Es war die Äußerung einer Sterbenden. »Lapee!« sagte ich. Sie lag auf der Seite, mit angewinkelten Knien, voller Wunden und langer, aufgerissener Stellen. Vor kurzer Zeit hatte sie einen begehrenswerten Körper besessen; jetzt war er nur noch eine Ruine. »Jäger…«, flüsterte sie kaum hörbar. Ich ging noch näher und ließ mich neben ihr auf die Hacken nieder. Ich schob den Strahler in den Gürtel, legte den Bogen hinter mich und berührte ihre Stirn. Eiskalt. Sie fühlte sich rauh an, wie Stein. »Ja. Ich bin der Jäger. Wo ist Tashil?« Sie entblößte in einer wilden Grimasse die Zähne. »Geflohen… mit Wagen und Sklaven… hinunter.« Ich verstand, aber ich begriff nicht. Ich fragte leise, mit rauher Stimme: »Warum hat er dich zurückgelassen, Lapee? Du bist seine Gefährtin, hörte ich?« Sie schwieg. Sie war am Ende und wußte es. Ein Arm lag zwischen Fellen unter ihrem Körper. »Kann ich dir helfen?« Sie öffnete die Augen. Sie waren goldfarben und übergroß herrliche Augen, aber die Augen einer Sterbenden. »Er schlug mich… ich wollte ihn dazu bringen, gegen dich zu kämpfen. Er sah… Feuer. Alle geflohen… Tashil.« »Warum bist du nicht mit ihm gegangen, Lapee?« Ihr Blick war ausdruckslos. Die Muskeln ihres rechten Armes spielten unter der seidigen Haut. Es hätte mich warnen sollen. Ich konzentrierte mich aber auf ihr Gesicht und äußerte meinen Verdacht. »Als er gehen wollte, hattet ihr Streit?« »Ja!« wisperte sie mit letzter Kraft. »Hilf mir. Auf den… Rücken.« Ich kniete neben ihr und schob meine Arme unter ihre Schultern, drehte sie vorsichtig herum. »Und im Streit habt ihr gekämpft? Er erschlug dich fast?« »Ja!« Sie entspannte sich. Sie atmete mehrmals, ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Dann zuckte der halb ausgestreckte Körper zusammen, als habe ein Skorpion zugebissen. »Und er ließ dich hier liegen. Draußen ist Feuer, der Palast wird brennen.«
»Ja«, sagte sie und dann, mühsam und gebrochen: »Du bist schuld. Ohne dich hätte er mich eine Ewigkeit lang geliebt.« Mit einer letzten, unbegreiflichen Anstrengung riß sie den Arm unter den Fellen hervor und zielte mit einem langen, nadelfeinen Dolch auf mich. Der Arm beschrieb einen Viertelkreis. Ich warf mich zurück, und der Dolch schabte, nachdem er keine zwei Fingerbreit neben meinem Hals durch die Felle gestochen hatte, über den Steinboden. Der Griff der blutigen, schlanken Finger löste sich, Lapee gab auf. Ich kam auf die Beine und zuckte die Schultern. »Sei verflucht, Jäger!« flüsterte sie. Die Geräusche des Windes und alles andere schienen sich weit entfernt zu haben. Es war totenstill. Aus der Kehle des Androidenmädchens kam ein langgezogenes, leises Wimmern. Dann röchelte sie: »Sei… verflucht, Jäger… werde so unglücklich… wie ich. Töte Tashil…« Sie zuckte zusammen, aus ihrem Mund brach ein dicker blasiger Blutstrom, und sie starb. Ich zog mich an der Kante der nächsten Plattform hoch, griff nach dem Bogen und hörte das Dröhnen in meinen Ohren. Der Haß war unversöhnlich. Und der Vater des Übels hatte seine eigene Gefährtin erschlagen, als sie ihn drängte, gegen mich zu kämpfen. Gab es noch eine Steigerung des Irrsinns, existierte noch mehr unmenschliche Grausamkeit auf diesem Planeten? Sie waren nicht schlimmer als Tiere, denn Tiere töten nur, wenn sie hungern. Die Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte, töteten auch aus Haß, aber sie quälten nicht. Mit mechanischen Bewegungen verließ ich dieses Viereck und wußte, daß das Morgenlicht nicht mehr fern war. Du wirst Tashil in der Ebene bekämpfen! sagte der Extrasinn. Die Abdrücke des fehlenden Wagens, die ausgeschirrten Zugtiere – eines fügte sich zum anderen. Tashil war vor kurzer Zeit geflohen, ich war sicher, denn die Sterbende war in ihrem Haß zu ehrlich gewesen. Es würde keinen Hinterhalt geben. Aber noch hatte ich Paer und Kharg vor mir, die ich schonen wollte. Paer, der junge Mann, der den Planeten liebte und deswegen aus dem Kreis der Leute um Tashil ausgestoßen wurde, und Kharg, der trockene Pragmatiker, wie Alyeshka mir gesagt hatte. Sie bewohnten kleine Häuser, die sich inmitten des Waldes über den Quellsteinen erhoben. Aiv hatte mir den Weg mit der Spitze des Dolches aufgezeichnet. Oder waren die Häuser schon verbrannt? Ich ging aus dem Palast hinaus, hielt mich an der Rückwand im Windschatten und sah, daß die Nacht vorüber war. Dunkles Grau war überall. Der Sturm wütete noch immer, und das Heulen riß nicht ab. Die Sandschleier waren dichter geworden, und wenn kein Sand durch die Luft geschleudert wurde, dann rasten dicke Wassertropfen daher. Im Norden brannte es noch immer, dort schien es weniger zu regnen,
und die Wand des Feuers raste zwar nach Osten, kam aber dem Palast Tashils immer näher. Ich fand den sandverwehten Pfad, der nach Südosten führte und lief langsam in diese Richtung. Als ich wieder Waldgebiet erreichte, verstärkten sich zwar die Geräusche, aber der Sturm wurde gebrochen. Nach dreihundert Schritten hörte ich durch den Sturm hindurch Geräusche. Holz brach, wilde Schreie kamen zwischen den Bäumen hervor, und der Boden schien zu beben. Ich blieb hinter einem dicken Baumstamm stehen und griff nach der Waffe. Aus dem Unterholz brach eine wilde, panische Jagd. Die Tiere dieser Hochfläche, bisher im Gehege eingesperrt, schienen entweder den Zaun niedergewalzt zu haben, oder das Feuer hatte die Dornenhecken vernichtet, jedenfalls wälzte sich ein schmaler, langgezogener Keil von Tieren an mir vorbei. Rinder und Füchse, ein riesiges Rudel Gazellen, verschiedene Antilopen, zwei Löwinnen, allerlei Kleingetier, aus einem Grund, den niemals jemand erfahren würde, raste ein Schwarm verschiedener Vogelarten genau über dieser Woge aus stampfenden, schreienden, braunen, roten und fleckigen Tierkörpern dahin. Sie flohen nach Osten, und die Nachdrängenden würden die Leittiere über die Kante des Tafelbergs drücken. Ein Geschehnis, das ich auch vergessen würde, wenn es nach dem Willen von ES ging, diesem unbegreiflichen Wesen. Ich wartete, erschöpft und ausgelaugt, bis dieser Strom vorbei war, dann ging ich weiter. Nach einigen Schritten fiel ich in einen langsamen Trab und fühlte dankbar, wie mir ein strömender Regenguß, der mich bis auf die Haut durchnäßte, das geronnene Blut und den Dreck aus dem Gesicht wusch. Das Wasser schmeckte rauchig und bitter auf meinen schmerzenden Lippen. Und dann stolperte ich und sah, daß ich am Rand des schmalen Rinnsals stand, das vom Sand zum Teil verschüttet war. Ich folgte dieser neuen Spur, und als der Bewuchs an den Ufern dichter und dorniger wurde, lief ich im Bett des schmalen Bächleins, das immer wieder von kleinen Quellen neuen Zufluß bekam und sich nach einem wilden Lauf über Steine, vorbei an ausgewaschenen Wurzeln und aufgehalten durch Felder dicker, in Kolben auslaufender Gewächse, an eine Barriere aus Steinen brach. Jetzt sah ich in dem hellgrauen Licht des Morgens die tragenden Balken und Baumstümpfe, auf denen das Haus Khargs stand: Das Haus selbst sah ich nicht, es war völlig zugewachsen. Ich watete ans Ufer und trank einen Schluck Wasser, ehe ich wieder den Pfad betrat. Ich folgte ihm und ging dem Rauschen nach, das immer lauter wurde und schließlich fast das Heulen des nervenmarternden Windes übertönte. Ich stand plötzlich vor einer Doppelreihe geschälter Stämme, die tief
in den Boden gerammt waren. Zwischen ihnen führten Holzstufen aufwärts, bis sie in eine Art Brücke übergingen. Diese Konstruktion verband Boden und Haus federnd miteinander. Ich blieb darauf stehen und fühlte, wie sich die Stöße des Windes auf das Haus übertrugen, das sich leise wiegte. Ich trat auf die Brücke und rief, so laut ich konnte: »Kharg! Ich suche dich!« Trotz der Erzählung Aivs zog ich die Waffe und richtete sie auf die Tür. Das Haus war groß und niedrig und schwang sich kühn über die Stufen, die von Steinen und Wasser gebildet wurden. Ich holte gerade Luft zum zweiten Ruf, als die Tür aufschwang. Ein großer, breitschultriger Mann mit mürrischem Gesichtsausdruck und nackenlangem, grauem Haar kam heraus. Sein Oberkörper und seine Füße waren nackt, er trug nur eine Hose aus Wildleder mit einem breiten Gürtel und der unvermeidlichen Kupferschnalle. Er sah mich ruhig an. »Du bist der Jäger und bist am Ende der Jagd?« »Ich weiß es nicht. Ob es das Ende ist, mußt du entscheiden. Ist Paer bei dir?« Er winkte und ließ mich an sich vorbeigehen. Ich schob mich in den Raum hinein, ohne Kharg aus den Augen zu lassen. »Nein. Paer ist gegangen, ehe die vier Schüsse aus dieser Waffe abgegeben wurden. Sein Platz, sagte er, sei nicht mehr länger hier oben.« »Warum hast du gewartet?« fragte ich mißtrauisch. Der Raum bestand auf allen Seiten aus Holzbrettern. Die Einrichtung war wie bei Imohag einfach, aber zweckmäßig. Für Kharg, den »trockenen Pragmatiker«, schien Luxus unwesentlich zu sein. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte er ohne sonderliche Regung. »Dort ist ein Feuer, heißes Wasser gibt es genügend, und Essen werde ich sofort haben. Hast du den Vater des Übels getötet?« »Nein. Er rast entweder die Straße hinunter oder befindet sich unten auf der Ebene.« Ein spärliches Lächeln teilte Khargs Lippen, dann brummte er: »Ich ziehe es vor, bei einem solchen Wetter im Haus zu bleiben. Es erscheint sinnvoller.« »Keine Furcht vor dem Feuer?« »Kaum. Hier ist genug Wasser!« Er winkte mich zu einer Tür, die auf eine Terrasse hinunterging. Zwei Mannslängen tiefer gab es einen kleinen See, in den sich das sprudelnde Wasser von den wuchtigen Steinblöcken stürzte. »Hör zu«, sagte ich. »Aiv und Alyeshka sagten mir, ich könne dir trauen, und Alyeshka bat mich sogar, dich nicht zu töten. Ich habe herausgefunden, daß ihr alle wißt, daß mich derjenige schickt, von
dessen Welt ihr gekommen seid. Ich bin todmüde und brauche Schlaf und Erholung. Du kannst mich mit bloßen Händen erdrosseln. Wie sehr kann ich dir trauen?« Jetzt lachte er dröhnend. Das Lachen paßte zu seiner Gestalt, aber es war ohne viel Humor. Er klatschte in die Hände, und eine junge Eingeborene kam schweigend herein und blickte uns an. »Ob du mir traust, das ist deine Sache. Darna – bitte, ein Bad für unseren Gast und ein weiches Lager im dunkelsten Winkel. Wenn… nein, das Problem ist von einer anderen Warte aus zu betrachten. Wenn ich dich töte, habe ich dadurch keine Freiheit. Denn ich weiß, daß mein Hersteller wie ein Succubus in den Körper eines Eingeborenen oder eines Löwen fährt und deine Arbeit verrichtet. Was hätte ich dadurch gewonnen?« Keine Gefahr. Du kannst ihm trauen! sagte deutlich der Logiksektor. Ich löste die Schnalle und warf den Köcher auf den Tisch, legte den Bogen daneben, dann den kleinen Dolch und die Energiewaffe. Ich zog das Lederband aus dem Haar und legte es dazu. »Hör zu, Kharg«, sagte ich. »Ich bin Jäger gegen meinen Willen, aber ich bin kein Mörder. Ich habe beschlossen, dich und Aiv, Alyeshka, Imohag und Paer nicht zu töten. Ich habe soviel Macht, dies zu tun oder zu lassen. Ihr sollt so lange auf diesem Planeten leben, wie es eure Natur gestattet. Ich sah wunderbare Dinge der Handwerkskunst, aber ich werde nicht dulden, daß ihr auftretet wie Tyrannen. Blitzeschleudernd, regierend mit Peitsche oder Drogen wie Ngarto, versklavend und mehr. Wenn ihr die Eingeborenen lehrt, dies ist erwünscht. Ich bin der Wächter über diesen namenlosen Barbarenplaneten, und in mir habt ihr den mächtigsten Freund oder den bösesten Feind dieses Planeten. Es liegt nur an euch.« Während ich gesprochen hatte, war das Mädchen schnell und schweigend mit allem fertig geworden. Sie reichte mir ein Tuch, aus dem warmes Wasser troff. Ich wischte mein Gesicht und dann die Hände einigermaßen sauber und sagte: »Das alles können wir besprechen, wenn wir Tashil jagen.« Er nickte, sein Blick war offen. Das Essen auf dem Tisch neben dem Feuer des Kamins ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Iß, Jäger. Und dann schlafe. Morgen reden wir über alles. Der Sandsturm wird deinen Schlaf bewachen.« Ich aß und trank. Eine Stunde später zog ich mich aus und kroch, ohne ein Bad genommen zu haben, zwischen die Felle. Ich schlief augenblicklich ein. Das grelle Sonnenlicht strahlte genau in meine Augen. Ich blieb liegen und dachte nach. Die Überlegung, daß Kharg mich jederzeit
umbringen konnte, wich einem Gefühl der Erheiterung; ich mußte so lange geschlafen haben, daß es wirklich genügend Zeit dazu gehabt hätte. Ich hob ein wenig den Kopf. Der Sturm hatte aufgehört, eine merkwürdige Stille herrschte. Eine wohlige Schwäche erfüllte meinen Körper, aber mein Verstand war alles andere als heiter, zufrieden oder ausgeglichen. Ich setzte mich auf und rief: »Kharg! Ich bin aufgewacht. Wo finde ich das Bad?« Statt Kharg erschien die junge Eingeborene, lächelte mich scheu an und sagte: »Kharg ist zu den Palästen gegangen. Er will versuchen, einen Wagen zu finden und Zugtiere. Auch will er sehen, was der Brand zerstört hat.« »Wo ist das Bad? Ich habe einen gewaltigen Hunger. Wie lange habe ich geschlafen?« wollte ich wissen. Sie hatte nicht das geringste von einer Sklavin an sich. Seine Gefährtin vermutlich. »Komm!« Zwei Stunden später, nachdem sie den Riß meiner Hose vernäht und mir ein ledernes Hemd von Kharg gegeben hatte, fühlte ich mich wieder fähig, etwas zu unternehmen. Ich hatte gegessen und schnallte mit schnellen Griffen Gurt und Köcher um. »Es gibt nur einen Weg zum Palast Tashils, Darna?« »Ja. Den Bach entlang und durch den Wald.« »Wenn ich Kharg nicht treffe, komme ich wieder hierher zurück. Ich bin sicher, wir verlassen den Berg.« Sie nickte nur schweigend. Ich sprang hinaus auf die Brücke, rannte die Treppe hinunter und bemerkte die Spuren des Sturmes. Überall lag Sand, überall waren Teile von Bäumen abgerissen, abgebrochen und umhergeworfen worden. Die Ruhe war beängstigend. Ich konnte nicht einmal die Insekten hören. Dann kam ich an den niedergetrampelten Sträuchern vorbei, durch die gestern die Tiere gerannt waren. Ich hatte etwas weniger als einen ganzen Tag lang geschlafen. Noch immer lag Rauchgeruch zwischen den Bäumen. Nach einem kurzen, schnellen Lauf erreichte ich das Gelände des größten Palasts. Es brannte noch immer. Jetzt rückte das Feuer mit einzelnen Zungen nach Süden vor. Einige Teile hatte der Regen gelöscht, andere waren wieder aufgeflackert, aber es gab keinen Wind. Über mir sah ich einen schwefelgelben Himmel, in dem die Sonne schwamm wie ein riesiges, giftiges Tier. Du mußt Tashil verfolgen, Arkonide! sagte mein Extrasinn. Ich blieb auf der unregelmäßigen Sandfläche stehen, die vor zwei Tagen noch eine Weide gewesen war. Rund um mich erhoben sich die Bauten des Palasts. »Kharg! Ich bin hier, Jäger Atlan!« schrie ich, die Hände trichterförmig am Mund. Ich wartete nicht lange, dann tauchte er auf
der unversehrten Terrasse der rechten Palastseite auf und winkte. »Hierher! Ich habe interessante Dinge gefunden!« Ich setzte mich in Bewegung und sprang auf die Terrasse hoch, drang in einen großen Raum ein und sah, daß Kharg zwei Wagen gefunden hatte. Sie waren eindeutig Weiterentwicklungen der großen Jagdwagen, wurden von jeweils zwei Tieren gezogen, zwischen ihnen und zwischen der schlanken Doppeldeichsel befand sich ein dritter Halbesel. Ein Wagen war bereits fertig. Die Tiere waren eingeschirrt und fraßen gleichgültig ihr Futter. »Ich wußte von den Wagen«, sagte Kharg. »Aber Tashil hat eines der großen Gefährte genommen, als er floh. Ich bin sicher, daß er auf dem Weg zu Alyeshka ist. Dort wird er versuchen, sein zweites Großreich zu gründen.« Er grinste kalt. »Du hast Lapee gefunden?« fragte ich und sah zu, wie er die Tiere zwischen die Deichseln des anderen Fahrzeugs dirigierte und dort anschirrte. »Ja. Und andere interessante Dinge. Du warst bei Ngarto! Der halbe Palast ist verbrannt.« Ich deutete nach draußen und sagte: »In einem Jahrzehnt wird hier oben Wüste sein. Noch ein Sturm, noch ein Brand nach einem Blitzschlag – und alles ist verschwunden. Was hast du vor?« Er grinste wieder. Auch für ihn schien die Zeit hier abgelaufen zu sein. »Zu Alyeshka. Ich bin sicher, daß du Tashil verfolgen wirst. Ich werde deiner Spur nach Westen folgen und dir helfen, falls nötig. Aber vorher werde ich mich entsprechend ausrüsten. Es gibt Werkzeuge und Dinge, die ich mitnehmen muß. Ich habe bestimmte Pläne… in deinem Sinn, übrigens.« »Wir treffen uns also im Palast der Einsamkeit. Und ich, ich werde Nahrungsmittel suchen, Waffen und Ausrüstung. Und Wasser. Und dann werde ich Tashil verfolgen.« »Ich wußte, daß du dies sagen würdest. Suche in diesem Raum dort!« Ich fand in einem angrenzenden Magazin alles, was ich brauchte. Nahrungsmittel, leichte Waffen, einen neuen Schild, Wassersäcke und Felle, alles neu, hervorragend gearbeitet und sorgfältig gelagert. Ich brauchte keine Beweise mehr, denn ich wußte längst, daß Tashil versuchen wollte, mit einer riesigen Armee durch das Land zu ziehen und sein Königreich zu gründen mit Mord, Terror und Versklavung. Ich nahm zur Sicherheit auch noch einen Ballen getrocknetes Futter für die drei Halbeselshengste mit. Dann war der Wagen ausgerüstet. »Wann brichst du auf, Kharg?«
Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu und murmelte: »In ein paar Tagen. Ich muß mir erst über bestimmte Dinge klar werden.« Ich nickte und streckte die Hand aus. Es war das zweitemal, daß ich einem Androiden die Hand reichte. »Ich nehme einen Weg, der möglichst geradlinig ist. Und wir treffen uns bei Alyeshka.« Ich packte die Tiere bei den Trensen, führte sie hinaus und faßte dann die Zügel. Ich hatte Handschuhe gefunden, die mir paßten. Die Tiere waren unruhig und rannten los, sobald ich die Zügel lockerte. Der Wagen fuhr eine weite Kurve im Innenhof, die breiten Felgen warfen Sandfontänen hoch, als ich drehte und das Nebengebäude umrundete, dann nach Osten fuhr. Die lange Achse federte erstaunlich gut, und die schlimmsten Stöße wurden abgefangen. Ich wußte nicht, ob das Gefährt und ich es schaffen konnten, den Berg Alyeshkas zu erreichen. Als ich nach dem höchsten Sonnenstand die Stelle erreichte, an der das Plateau abfiel und als zunächst breite, dann immer schmaler werdende Straße in Serpentinen abwärts führte, als ich die Savanne unter mir liegen sah, im Licht dieses schwefligen Himmels, hatte ich eine Vision: Das leere Land würde durchwandert werden; von einem gemeinsamen Knotenpunkt, der in dieser Savanne lag, würden Androiden die Hirten und Jäger führen. Nach Osten, Westen und hauptsächlich Süden würden lange Wanderzüge das verfallende Land verlassen. Immer weiter. Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende. Sie würden die riesigen Regenwälder durchqueren, entlang der Flüsse wandern und einzelne Stämme bilden, eigenständige Kulturen, unterschiedliche Sprachen und Sitten. Die Farbe der Haut würde sich ändern, denn die Form der Siedlung, von den Androiden erdacht, war erstens für diese Menschen zu früh und zweitens ein Nachteil: ein Lager dieser Eingeborenen konnte auf dem Rücken der Tiere in alle Windrichtungen mitgenommen werden. Hirten und Jäger waren nicht an die Scholle gebunden – sie brauchten Platz. Und dieses leere, wilde Land, der große Kontinent auf beiden Seiten des Äquators… es wartete auf sie. Und eines Tages würde ich wieder aufgeweckt werden, ich, Atlan, Wächter von Larsaf III, und alles würde sich verändert haben, selbst für mich nicht mehr zu erkennen. Ich schwang die Peitsche über den Rücken der Tiere und machte mich an den Abstieg. Sie alle wirkten wie Ameisen, auch mein Gespann an der Flanke des Berges. Ich sah die langen Züge der flüchtenden Sklavinnen und Sklaven, dort unten in der Savanne. Das Grün der Ebene war seltsam gefleckt. Überall hatte sich Sand abgelagert. Und überall wanderten die Menschen, hauptsächlich nach Westen, aber auch nach Süden, zu den
wandernden Herden. Ich suchte schweigend, vor mir die Rücken der drei Zugtiere und ihre aufgeregt spielenden Ohren. Dann sah ich den Wagen, mit dem Tashil nach Westen flüchtete. Er verschwand fast in der Entfernung, ich sah fast nur die Bewegung, nicht das Gespann. Ich biß auf meine Lippen und hob die Schultern – ich konnte nicht fliegen. »Ho! Weiter!« schrie ich und ließ die Zügel auf die Rücken klatschen. Die Tiere galoppierten an, fielen dann in einen unruhigen Trab und zogen den Wagen die Serpentinen abwärts. Ab und zu kam ich an einem zusammengebrochenen Sklaven vorbei, dessen Leichnam halb vom Sand begraben war. Wasser und Sand hatten in der Nacht eine Masse gebildet, die sich wie klebriger Treibsand verhielt. Sie hatte die Flüchtenden über die Kanten der Serpentinen gerissen und ihnen die Knochen gebrochen, die Körper zermalmt. Mit der starren Doppeldeichsel ließ es sich zwar hervorragend steuern, weil die beiden rasselnden und Sand und Steine hochschleudernden Räder dorthin liefen, wohin die Tiere zogen, aber gleichzeitig auf und nieder schwankten und den Wagen bewegten. Jedoch war die schlechteste Fahrt besser als das schnellste Laufen. Ich lehnte mich weit vor und raste vorbei an einer unfertigen Brücke, zwischen unfertigen Monumenten, hinunter von der Felswand auf einen ausgefahrenen, ausgetretenen Weg, durch den trocknenden Sand dieser Schlammlawine, hinaus in das Gras der Savanne. Die Fahrt ging schneller als damals, denn an vielen Stellen lag Sand unter den Halmen. Ich schlug den Weg ein, den ich kannte – nach Westen, zu Alyeshka und zu Adrar. Ich sehnte mich nach ihren Umarmungen. Trab wechselte mit Galopp ab, die Tiere tranken an einem halb verschütteten Bach, Sklaven, die jetzt frei waren, sprangen zur Seite, als ich vorbeipreschte, und ich winkte ihnen zu. Viele von ihnen würden die Herden nicht erreichen, und viele würden unterwegs ihr Ziel vergessen und Familien gründen. Ich hielt am späten Nachmittag zum erstenmal an, aber Tashil war noch weit vor mir. Ich würde meine Tiere schonen; die Strecke war lang, und nicht überall lag Sand. Das Nachtlager war einfach, aber es gab Wasser, eine Gazelle, die ich schoß, und Pflanzen für die Zugtiere. Am Mittag des nächsten Tages war ich allein. Es gab keine Züge von Flüchtenden mehr. Bisher war der Himmel über mir blau und wolkenlos gewesen, aber jetzt zog am Horizont eine gewaltige, pechschwarze Wolke auf. Sie vergrößerte sich zusehends und näherte sich immer mehr der Sonne. Ich suchte das Gelände nach einem Versteck ab und glaubte, es hinter einem Hügel im Südosten gefunden zu haben. Ich gebrauchte die Peitsche und trieb die Tiere auf diese Stelle zu. Die Eingeborenen haben gesagt, daß es solche Stürme selten gab! Die Stöße, die den Wagen trafen, ihn rechts und links
hochschleuderten und die lange Achse durchfedern ließ, wurden härter und häufiger. In einem langgestreckten Galopp, fast mit übereinstimmenden Bewegungen, rannten die Zugtiere dahin. Ich brauchte sie nicht anzutreiben. Die blauschwarze Wand, die jetzt den Himmel in zwei Teile spaltete, erschreckte auch sie. Die Halbesel witterten die Gefahr. Sie wurden schneller, aber bisher bewegten wir uns noch auf Gelände, in dem wir gut vorwärts kamen. Ich brauchte kaum zu lenken, kaum anzutreiben. Der Hügel mit seinem scharfen, bewachsenen Abriß kam näher und wurde deutlicher sichtbar. Aber jetzt bedeckte die schwarze Fläche bereits fast zwei Drittel des Himmels. Die Sonne wurde überzogen, mächtige Strahlenbalken brachen hinter dem Wolkenrand hervor. Aus dem Schwarz bildeten sich einige Finger heraus, die wie die Klaue eines Dämons nach unten griffen. Ich wußte, was dies zu bedeuten hatte. Auch an anderen Stellen sackte die schwarze Wolke nach unten durch. Die Finger begannen sich zu drehen, verlängerten sich, wurden an einigen Stellen schmaler, an anderen dafür dünner, schließlich berührte der erste von ihnen die Erde. Sandhosen! Wirbelwinde! Während die Tiere den schleudernden und springenden Wagen in die Richtung des grünen Hügels rissen und zogen, sah ich gebannt zu, wie weit im Westen die erste Windhose, eine Säule, die bis zu den Wolken reichte, auf uns zukam. Sie riß den Sand, Pflanzen und Baumteile, kleine Tiere und alles, was auf ihrem Weg lag und ein bestimmtes Gewicht nicht überschritt, in die Höhe, drehte es in das wahnsinnige Karussell ihrer entfesselten Kraft und riß es spiralenförmig mit sich. Dabei raste die Säule von West nach Ost, wurde einmal dicker, dann wieder dünner, schließlich fiel sie zusammen und lud alles, was in ihr war, in Form einer riesigen stäubenden Fontäne ab. Ich hielt mich am Zügel und am Rand des weit und hoch springenden Wagens fest und sah, daß wir dem Hügel sehr nahe gekommen waren. Eine zweite, eine dritte Windhose bildete ihren schwankenden Schlauch aus und raste rechts an uns vorbei. Endlich donnerte und knirschte das Gefährt in den Schutz der Bäume, die still und unbeweglich standen und deren Grün fast schwarz wirkte. Ich sprang aus dem Wagenkorb und riß die Zügel über die Köpfe der Tiere, in fieberhafter Eile schlang ich die Sehnentaue um einen dicken Baumstamm. Dann hastete ich hinauf auf die Kuppe des Hügels und legte mich neben einen Baum und sah zu. Kaum war eine der schlauchartigen Windhosen im Westen entstanden, brach weit im Osten eine andere zusammen. Die pechschwarze Wolke erreichte jetzt auch den östlichen Horizont, aber schon zeichnete sich im Westen wieder ein goldheller
Streifen Licht ab. In der unbewegten Luft war ein jaulendes Heulen. Kein Zweig bewegte sich hier. Zwischen den Vorbergen und der Savanne brauste eine Windhose nach der anderen über die sanderfüllte Savanne. Mindestens dreißig solcher wirbelnder Schläuche zogen vorbei. Dann rauschte eine Stunde lang ein dichter, schwerer Regen herunter. An diesem Tag würde es sinnlos sein, weiterzufahren. Ich schirrte die Tiere aus und bereitete mir ein Lager. Tashil mußte inzwischen eine gute Strecke weiter sein, er würde in zwei, drei Tagen die Rampe erreichen, die zu Alyeshkas Berg hinaufführte. Ein Teil des Sandes war hochgerissen und an anderen Stellen abgelagert worden, ein anderer Teil war vom Regen tief in den Boden und zwischen die Pflanzen gespült worden. Aber die Savanne, durch die ich jetzt fuhr, war leer. Es gab keine Tiere mehr, nicht mehr in diesem Teil, der nach meinen Erfahrungen zwei Tagesmärsche von dem Berg der Einsamkeit entfernt war. Am frühen Nachmittag polterten die zwölf Hufe über eine steinige, harte Fläche, und ich hing meinen Gedanken nach. Plötzlich scheuten die Tiere. Eine Raubkatze! Dort vorn! schrie der Extrasinn. Ich riß an den Zügeln und brachte das Gefährt zum Stehen. Dann sprang ich aus dem Wagenkorb, packte die Trensen der Tiere und ging langsam weiter. Hier war eine kleine Sanddüne entstanden, unter der sich große Pflanzen verbergen konnten. Dann unterschied ich einzelne Teile im blendenden Sonnenlicht. Ein Zugtier, in die Stränge verwickelt und verknotet, halb aufgefressen von Füchsen und Raben. Ich hob den Kopf und blinzelte in den strahlenden Himmel. Die Geier kreisten bereits; ich hatte sie bisher übersehen. Ich ging steifbeinig näher heran. Die Löwin, die den zweiten Tierkörper aus der Sandverwehung herausgezerrt hatte, saß zwanzig Mannslängen weit entfernt auf den Hinterkeulen und äugte herüber. Die Bordwand des Korbwagens. Adrar, Aiv und Hokir? Eisiger Schrecken durchfuhr mich, aber dann sah ich einen ledernen Stiefel im Sand. Ich wickelte die Zügel um den Arm und ging in die Richtung, packte den Stiefel und zog daran. Sand begann von den Umrissen eines Körpers zu rieseln. Ich schaffte es schweißüberströmt, mit Sand zwischen den Zähnen, den schweren Körper zu drehen. Ich starrte in ein schwarz gebranntes Gesicht, umrahmt von weißem Haar und einem blauschwarzen Bart. Tashil. Der Vater des Übels trug noch jetzt einen wilden, haßerfüllten Ausdruck in seinen Gesichtszügen. Ich fand in seinem Gürtel eine zweite Energiewaffe, größer und stärker als meine erbeutete. Nun, dein Auftrag ist erfüllt! sagte der Logiksektor. Ich glaubte, das dröhnende Gelächter von ES zu hören, als ich mich wieder aufrichtete.
Vermutlich war das Gespann in den Bereich einer Windhose geraten, zerschmettert und begraben worden. Ich blieb ratlos stehen. Was sollte ich tun! Ich beschloß, weiterzuziehen. Hinauf zu Alyeshkas Palast. Der Tafelberg stand direkt vor mir, und ich konnte schon von hier aus die Rauchfahnen der Hirtenfeuer erkennen. Fünf Androiden hatten überlebt, und ES würde mich rufen, wenn sie die Nachfolge der sieben Toten antreten wollten. »Und ich bin sicher«, sagte ich laut, »ES wird mich wieder brauchen. Entweder gegen die langlebigen Androiden, oder deshalb, weil ES eine Spielfigur auch auf dieser Welt braucht.« Ich war verbittert, aber ich sah ein, daß die Gründe tiefer lagen, und ich wußte, daß ES auch eindeutig Verantwortung für diese Rasse Lebewesen verspürte, die Larsaf III bewohnte und den mühsamen Weg zur Erkenntnis angetreten hatte. Ich schwang mich in den Wagenkorb, schrie auf, knallte mit der Peitsche und fuhr davon. Die Löwin sprang auf und schlich näher an die Begräbnisstätte im Sand heran. Die ersten Geier ließen sich wie große, schwarze Klumpen fallen. Es waren häßliche Vögel mit widerwärtigen Stimmen. Dann hörte ich nur noch die trommelnden Hufschläge und das Mahlen der breiten Felgen. Zwei Tage später fuhr ich den Weg auf das Tor des Palasts der Einsamkeit zu. Adrar rannte auf mich zu, als ich müde und zerschlagen zu Boden sprang und mich umsah. Alles war noch so wie vor langer Zeit, als ich aufgebrochen war, meinen Auftrag zu erfüllen. Dann spürte ich ihren Körper an mir, und alles war vergessen. An einem der folgenden Tage, im Glast des Mittags, wachte ich auf. Wir lagen auf einer Felldecke nahe der Quelle, weit entfernt vom Palast und den fünf Androiden. Und sofort begriff ich, was mich geweckt hatte. ES ruft dich! sagte das Extrahirn. Das Gelächter hallte in meinem Verstand wider wie in einer riesigen Höhle. Wut und Haß schlugen in mir hoch, denn ich wußte, was geschehen würde. Arkonide Atlan! Du hast wie ein meisterlicher Jäger genau das getan, was ich erwartete! Wir beide werden abwarten, was die Überlebenden tun. Ich als Spieler mit der Unendlichkeit und Ewigkeit und du als Hüter des Planeten Larsaf III, wir werden warten. Jahrtausende lang. Noch einige Tage gebe ich dir, dann wirst du in deiner Kuppel weiterschlafen, bis ich dich wieder brauche. Denn wenn ich dich brauche, braucht dich die Menschheit dieser Welt. Du wirst vergessen, was ich dich vergessen lasse. Du wirst über Werkzeuge verfügen, die ich dir zubillige! Einmal mehr, einmal so
wenige wie jetzt. Und durch mein Geschenk dort an deiner Brust, den Aktivator, habe ich dich gekauft. Du wirst tun, was ich will. Es dient weder meinem Vergnügen, sondern nur diesem Planeten. Und ich weiß, daß sich viele Eindringlinge um seinen Besitz streiten werden. Vergiß also deine Wunden, genieße die Tage, und plötzlich wirst du verschwinden. Ich rufe dich wieder, wenn der Planet dich braucht. Ich sehe, du bist wütend, mein armer Freund. Eines sage ich dir, Jäger: Es bereitet mir weit weniger Vergnügen, dich zu quälen, als du glaubst. Ich trage mehr Verantwortung als du. Ich sehe mehr als du. Und ich werde zusehen, wie sich die Welt ändert. Bald werde ich dich wieder brauchen. Ich zitterte am ganzen Körper, als die Stimme nach einem zweiten, immer leiser werdenden Gelächter endlich schwieg. Dann hörte der Druck auf meinen Verstand auf. Ich war jetzt hilflos und konnte mich nicht wehren, ich würde auch dann hilflos sein und nur innerhalb von Grenzen handeln können, die ES bestimmte. War ich für die naiven Eingeborenen zu einem Gott geworden, so setzte sich ES mir gegenüber in diese Stellung. Wie lange hatte ich noch Zeit, das Leben hier zu genießen? Fünf Tage. Fünfmal vierundzwanzig Stunden, die ich zusammen mit Adrar verbrachte, mit den Androiden sprach und ihnen erklärte, was sinnvoll oder sinnlos war. Fünf heiße Tage, fünf wunderbar warme Nächte. Noch wußte ich alles, jede Einzelheit wurde von meinem Extrahirn gespeichert. Aber auch dieser Organismus war zu überlisten – durch ein Wesen wie ES. Ich hatte die Zeit zwischen meiner Geburt und den Jahren als Flottenkommandant verdrängt; die Millionen einzelner Erlebnisse lagen wie hinter einem dichten Schleier. Einmal würde der Schleier aufreißen und alles preisgeben. Ebenso war es mit den Erinnerungen, die ES willkürlich blockierte. Auch sie würden eines fernen Tages frei werden, niemand wußte, durch welches Ereignis. Und plötzlich, mitten in der Nacht… Ich fühlte es. Es war anders als vor einigen Monden, wo ich aus der Kuppel in die Nähe der Oase geschleudert worden war. Ein Ziehen, eine Art gedanklicher Flug zurück in die sterile Geborgenheit der Kuppel. Ich spürte überhaupt keine Furcht. Nur eine gewaltige, kühle Losgelöstheit von allen Problemen. Ich beugte mich über Adrar, die mit dem Ausdruck eines Kindes neben mir lag und schlief. »Wir werden uns niemals wiedersehen«, sagte ich, »und ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist. Wir sind nur Werkzeuge.«
Ein wunderliches Lächeln glitt über ihr schmales, dunkles Gesicht. War sie glücklich? So schien es mir. Die Laute der Nacht – Insekten, warmer Wind, das Rauschen der Zweige, Adrars Atem – erstarben. Eine plötzliche Helligkeit ging über das Land hin. Nichts regte sich mehr, alles kehrte zurück in den unbeeinflußbaren Ablauf der Jahre und Jahrtausende, während für einen kurzen Augenblick mein Erinnerungsvermögen aussetzte und ich mich in der Kuppel wiederfand, bereits auf dem Ruhelager ausgestreckt. Und schon senkte sich wie ein dunkles Tuch das totale Vergessen über mich… ENDE