FLATLINERS Ein Roman von LEONORE FLEISCHER nach dem Drehbuch von PETER FILARDI
Leonore Fleischer
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FLATLINERS Ein Roman von LEONORE FLEISCHER nach dem Drehbuch von PETER FILARDI
Leonore Fleischer
FLATLINERS Der Roman zum Film Ins Deutsche übertragen von Wolfgang Neuhaus
Scanned by Doc Gonzo
Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Allgemeine Reihe Band 13312 Erste Auflage: Dezember 1990 Zweite Auflage: April 1991 Dritte Auflage: August 1991 Vierte Auflage: Oktober 1991 Fünfte Auflage: März 1992 Sechste Auflage: September 1992 Siebte Auflage: Juni 1993 Achte Auflage: Juni 1995 Columbia Pictures präsentiert Eine Stonebridge Entertainment Production Einen Joel Schumacher Film: FLATLINERS Kiefer Sutherland, Julia Roberts, William Baldwin, Oliver Platt und Kevin Bacon. Musik: James Newton Howard; Schnitt: Robert Brown; Kamera: Jan de Bont; Ausführende Produzenten: Scott Rudin, Michael Rachmil, Peter Filardi; Buch: Peter Filardi Produktion: Michael Douglas und Rick Bieber Regie: Joel Schumacher Im Verleih der Columbia Tri-Star FLATLINERS a novel by Leonore Fleischer based on the motion picture written by Peter Filardi © Copyright 1990 by Columbia Pictures Industries, Inc. All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1990 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Flatliners Lektorat: Edgar Bracht Titelfoto: Columbia Tri-Star Film GmbH Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, 2110 Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-13312-9
Prolog Schon vor vielen Jahren hatte sich der Gedanke in seinem Hirn eingenistet. Damals war er zwölf Jahre alt gewesen; ein hochintelligentes, von seltsamer innerer Unruhe erfülltes frühreifes Kind ohne Freunde, aber mit außergewöhnlich stark entwickelter, hyperaktiver Vorstellungskraft und Phantasie. Stunden um Stunden verbrachte er allein in der Bibliothek der Anstalt; nie las er, nie spielte er, nie hörte er Musik — meist saß er vor dem einzigen Personalcomputer, der den dreihundert als schwer erziehbar eingestuften Jungen zur Verfügung stand, und tippte hektisch auf der Tastatur, starrte auf den Monitor, stellte dem Gerät Fragen, auf die es keine Antworten gab. »Was ist das Geheimnis des Lebens?« befragte er den Computer, aber das Gerät blieb stumm. »Wird das Gute über das Böse siegen?« — »Gibt es einen Gott? — »Existiert intelligentes Leben auf fremden Planeten?« Und schließlich die quälendsten Fragen von allen: »Was geschieht nach dem Tod?« — »Warum kann ich nicht ewig leben?« Falls der Computer die Antworten wußte — so verschwieg er sie. Und in den dicken Bibliothekskatalogen war keine Software verzeichnet, mit deren Hilfe man das Gerät zum Reden hätte bringen können; genausowenig konnte der Zwölfjährige ein Paßwort finden, um in die Geheimnisse des PCs einzudringen. Er starrte auf den Monitor, bis seine Augen schmerzten; jene seltsamen blaßgrünen Augen, in denen sich tiefe Verzweiflung spiegelte, während er vergeblich auf Antworten wartete; sein weizenblondes Haar war zerwühlt und dunkel von Schweiß, und heiße Wut verzerrte seine weichen, jungenhaften Gesichtszüge. Bis er schließlich, zitternd und erschöpft, vor dem spöttischen Schweigen des Computers kapitulierte und sich einem anderen komplizierten Spiel zuwandte, einem Spiel mit Kerkern und Drachen, Schwert und Magie, bei dem er sämtliche Rollen übernahm und alle Waffen, alle Macht, alle Geheimnisse in seiner Hand vereinte. Aber in der Nacht, wenn er im gedrängt vollen Schlafsaal allein in seinem gräßlichen Kinderbett lag, auf dieser schwan-
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kenden Insel inmitten eines Meeres voller Ungeheuer, richtete sich all seine geistige Kraft immer wieder unwillkürlich auf den Tod — voller Haß, voller Furcht und in dem bitterem Eingeständnis seiner Unabwendbarkeit. Ja, eines Tages würde der Tod sogar ihn besiegen, würde ihn dazu verdammen, irgendwo einsam und vergessen in der feuchten Erde zu liegen; das Fleisch würde ihm von den Knochen faulen, sein Haar und die Nägel eine Zeitlang weiter wachsen, während das kostbare Ich, das er einst gewesen war, sich in ein Skelett und schließlich in ein Nichts verwandelte. Er würde nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, nichts mehr wissen. Es waren quälende Gedanken, die der zwölfjährige Junge aber nicht verdrängen, nicht abwenden konnte, im Gegenteil, Nacht für Nacht kehrten sie zurück, begleitet von gräßlichen Bildern, die ihm körperliche Übelkeit bereiteten. In seiner Vorstellungswelt war das Leben wie ein endloses Fließband; alle Menschen auf Erden standen darauf, in einer einzigen, gigantischen Kette und in der Reihenfolge ihres Todes. Kleine Kinder und alte Leute, kräftige junge Männer und hübsche Frauen, wahllos und bunt zusammengewürfelt und nur durch die Gewißheit ihres Todes miteinander verbunden. Und das Fließband rollte und rollte, trug einen nach dem anderen fort, unerbittlich, unaufhaltsam, immerwährend und ohne das Tempo zu verlangsamen. Und wenn dieses Fließband des Lebens die große Endstation TOD erreichte, kippte es seine Passagiere in die Tiefe. Ohne Würde, ohne Mitleid, ohne Gnade. Und ohne Rückfahrkarte. Schluß. Aus. Was aber, wenn der Tod gar nicht das unwiderrufliche Ende bedeutete? Was, wenn dort draußen irgend etwas war, mehr als das Nichts? Was, wenn es ihm selbst eines Tages gelingen würde, als erster einen Blick auf dieses Etwas zu werfen und dann mit einer Antwort auf all jene Fragen zurückzukehren, mit denen sich Generationen von Forschern, Denkern und Philosophen beschäftigt hatten, Fragen, die dem Menschen Angst eingejagt hatten, seit er ein vernunftbegabtes Wesen war? Der Tod konnte nicht das vollkommene Nichts sein. Dort draußen war irgend etwas und wartete. Es mußte so sein. Die Wesenheit, die er, der Zwölfjährige, verkörperte, konnte nicht einfach zu existieren aufhören wie ein Fingerschnippen der Ewigkeit. Das
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konnte nicht sein, durfte nicht sein. Das wäre so sinnlos. Ja. Eines Tages würde er auf das Fließband steigen, freiwillig, um einen Blick auf dieses Etwas zu werfen, einen Blick ins Jenseits ...
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l In der vergangenen Nacht hatte in der Notaufnahme ein noch größeres Chaos geherrscht als für gewöhnlich: so düster und grauenerregend wie der dritte Höllenkreis in Dantes >göttlicher Komödie<. Vielleicht lag es am Vollmond — eine trübe, riesige, dunkelorangefarben glühende Scheibe, die tief am Himmel hing; der Erntemond Ende Oktober, der den Wahnsinn und die Greuel des Halloween heraufzubeschwören schien. Ja, vielleicht lag es tatsächlich am Vollmond. Vielleicht aber auch nur am plötzlichen Anstieg der Menge oder der Toxizität einer Droge namens Gewalt. Jedenfalls war die Notaufnahme letzte Nacht hoffnungslos überfüllt gewesen mit Opfern von Überfällen, Vergewaltigungen, Schlägereien, mit Menschen, die alle möglichen Verletzungen davongetragen hatten, vom gebrochenen Schienbein bis zur aufgeschlitzten Kehle. Selbst heute morgen, als die nervlich und körperlich erschöpfte Nachtschicht sich für den Feierabend fertig machte und die ersten blassen Sonnenstrahlen durch die Gitterfenster fielen, hatte sich die Zahl der zu behandelnden Fälle noch nicht verringert. Zu viele Patienten, zu wenig Zeit, zu wenige Krankenschwestern, zu wenige Ärzte. An diesem Tag blieb nicht einmal genug Zeit für eine noch so kurze Pause; Patienten, die unter Schmerzen litten, mußten schreiend, wimmernd und um Hilfe bettelnd auf den Tragen und Betten allein gelassen werden, die in den Korridoren der Notaufnahme standen, bis sie in eine der wenigen kleinen, nur durch Vorhänge abgetrennten Kabinen geschoben wurden, wo man die Patienten notdürftig verarztete. Manche kamen mit dem Leben davon. Andere nicht. Wie sagten doch gleich die Medizinstudenten, wenn sie das Praktikum hinter sich gebracht hatten? »Nach einer gewis sen Zeit gewöhnt man sich an die Schreie, an das Betteln und sogar ans Blut.« Und Blut floß immer reichlich in der Notaufnahme; manchmal sprudelte es gewaltsam aus den Wunden hervor, aus Schußwunden zum Beispiel, oder es strömte im Rhythmus des Pulsschlages aus Stichwunden, oder es quoll aus Rissen und Schnittwunden; letztere fügten sich viele Patienten selbst zu, meist bei Selbstmordversuchen.
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David Labraccio wußte, daß er sich nie an den Anblick von Blut würde gewöhnen können. Nicht daß er in dieser Hinsicht zartbesaitet war — kein Medizinstudent im dritten klinischen Semester konnte sich das leisten —, aber er machte sich immer zu deutlich bewußt, wie kostbar diese rote Flüssigkeit war, bedeutete sie doch Leben. Es schnitt ihm immer wieder ins Herz, wenn er sah, daß Blut so achtlos wie schmutziges Spülwasser vergossen wurde. Und bei dieser hispanischen Frau floß das Blut schnell aus der Wunde, verdammt schnell. Ihr Unterleib und die Oberschenkel waren bereits von geronnenem Blut verklebt; Blut hatte auch ihre Kleidung und die weiße Leinendecke der Trage durchnäßt, auf der sie hier im Korridor lag, wimmernd, stöhnend, sich vor Schmerzen krümmend. Und keine von den gottverdammten Notbehandlungskabinen ist frei! dachte David Labraccio mit wachsender Verzweiflung. Das kalkweiße Gesicht der Frau bildete einen gespenstischen Kontrast zum grellen Rot ihres Bluts. Wieder blickte Labraccio sich gehetzt um. Die Notaufnahmestation selbst war hoffnungslos überbelegt, und weit und breit war kein Arzt zu sehen. Für Labraccio, den Medizinstudenten im dritten klinischen Semester, gab es momentan nur diese Frau, ihren Ehemann, eine total erschöpfte Krankenschwester und eine venezolanische Pflegerin. Und das Blut, das viele Blut, das unaufhaltsam strömende Blut. »Blutdruck sechzig und fallend«, sagte die Pflegerin mit nervöser Stimme. »Mein Gott, sie stirbt!« David packte kurz entschlossen das Gestänge am Kopfende der Trage und rollte sie in eine der Kabinen. Die Schwester, die Pflegerin und der Mann eilten an seiner Seite in den kleinen Raum. »Vaginale Blutungen?« fragte Labraccio. Die Pflegerin nickte. Der Mann weinte hysterisch und stieß schluchzende spanische Satzfetzen hervor, mußte er doch miterleben, wie seine Frau vor seinen eigenen Augen wegzusterben drohte. »Was sagt er?« wandte Labraccio sich an die venezolanische Pflegerin. »Kein Geld...« erwiderte sie. »O mein Gott, wahrscheinlich hat irgendein Hinterhof-Kurpfuscher bei der armen Frau eine Abtreibung vorgenommen.«
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Die Frau verblutete, wenn nicht sofort drastische Maßnahmen ergriffen wurden, das war David klar. Er traf eine rasche Entscheidung. »Wahrscheinlich hat dieses Dreckschwein eine Femoralarterie verletzt. Wir müssen die Arterie freilegen. Die Bauchdecke muß geöffnet werden. Sofort.« Die Krankenschwester runzelte die Stirn und warf ihm einen raschen, erstaunten Blick zu. »Es dauert mindestens noch zehn Minuten, bevor ein Chirurg zur Verfügung steht«, sagte sie mit einem Hauch von Herablassung. David schüttelte ungeduldig den Kopf; Strähnen seines dichten dunklen Haares fielen ihm in die Stirn. Nein, er hatte nicht die Absicht, hier tatenlos herumzustehen und diese Frau sterben zu lassen. »Wir haben keine Zeit mehr«, erwiderte er scharf. »Bereiten Sie alles vor.« »Und wer operiert?« Jetzt lag Häme in der Stimme der Krankenschwester. »Ich«, sagte Labraccio, streifte sich Chirurgenhandschuhe über und nahm ein Skalpell von einem Instrumententisch. Die Krankenschwester stieß ein leises Keuchen des Entsetzens aus. Der Junge war Medizinstudent! Er war nicht einmal graduierter Arzt! Vollkommen unmöglich. Das kam gar nicht in Frage. »Sie können doch nicht...« begann sie zu protestieren, aber Labraccio unterbrach sie schroff. »Tun Sie, was ich sage!« Sein jugendliches Gesicht strahlte plötzlich eine solche Entschlossenheit und Autorität aus, daß die Schwester nichts mehr zu entgegnen wagte. Sie legte die Anästhesiemaske auf das bleiche, spitze Gesicht der Frau. David zog ihr blutgetränktes Kleid hoch, legte die Bauchdecke frei. Beim Anblick ihrer nackten Haut und dem Skalpell in der Hand des jungen Burschen brach der Mann in hysterisches Geschrei aus. »Schafft den Kerl hier raus, aber schnell!« brüllte David. Die Pflegerin gehorchte, ohne zu zögern, und schob den jammernden Mann genau in dem Moment aus der Kabine, als David Labraccio mit einem sauberen, sorgfältigen Schnitt das Abdomen der Frau öffnete, die Rechte vorsichtig in die klaffende Öffnung schob und suchend in ihren Eingeweiden tastete.
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»Wo, verdammt noch mal? Wo ist sie?« murmelte er, während er nach der Quelle der heftigen Blutung suchte. Dann endlich fand er die verletzte Arterie, spürte das Blut pulsieren. Er drückte die Ader behutsam mit Daumen und Zeigefinger ab und stoppte die Blutung. »Klammer!« rief er. Die Krankenschwester legte ihm rasch das gewünschte Instrument in die ausgestreckte Linke. David beugte sich über die narkotisierte Frau und klemmte die Arterie ab. Der Blutstrom versiegte; nur der Einschnitt blutete noch leicht. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« rief eine erregte Stimme. Ein Arzt und eine Ärztin — beide Chirurgen — kamen in die Kabine gestürmt, offensichtlich von einer der NotaufnahmeSchwestern alarmiert. Der Arzt stieß Labraccio wütend mit dem Ellbogen zur Seite. »Raus mit Ihnen, Dave!« brüllte er. »Auf der Stelle!« Widerwillig verließ David die Kabine, trat auf den Korridor hinaus, hielt aber den Plastikvorhang zur Seite und ließ die Patientin nicht eine Sekunde aus den Augen. »Alles klar, ich sehe schon, wir müssen die Frau sofort in den OP schaffen«, hörte David den Chirurgen zur Krankenschwester sagen; dann schoben Arzt und Schwester gemeinsam das Bett aus der Kabine und eilten über den Flur, ohne David auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Krankenschwester hielt den Tropf, den David hatte bringen lassen, beim Laufen in der hoch erhobenen Hand. Die Chirurgin, Dr. Miriam Bernbohm, wandte David Labraccio ihr zorniges Gesicht zu. »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, zum Teufel noch mal?« Ihre Stimme war gedämpft, aber die Wut, die darin mitschwang, war fast körperlich zu spüren. »Ich wollte ihr das Leben retten«, erwiderte David, und es klang wie eine Entschuldigung. Seine Lippen waren nur noch ein schmaler Strich, und seine Hände zitterten leicht. »Sie sind Student, kein Arzt!« wies Bernbohm den jungen Mann schroff zurecht. In David Labraccios Augen funkelte jetzt Aufsässigkeit. Er fühlte sich herabgesetzt, beleidigt, vor allem aber ungerecht behandelt. Ohne sich die Worte vorher zurechtzulegen, erwi-
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derte er mit mühsam unterdrücktem Zorn: »Es war ein Notfall. Und es stand kein Arzt zur Verfügung. Hätte ich den Bauchdeckenschnitt nicht vorgenommen, wäre die Frau zwanzig Sekunden später tot gewesen!« »Sie haben keinerlei Befugnis, irgendwelche chirurgischen Eingriffe vorzunehmen«, gab die Ärztin mit scharfer, kalter Stimme zurück. »Die Frau hätte sterben können, das stimmt. Aber mit größerer Wahrscheinlichkeit an Ihrer Unerfahrenheit als an den Blutungen. Können Sie sich vorstellen, wie die Versicherungen über unser Krankenhaus und die Universität hergefallen wären? Und genau das ist der Grund, warum wir Ärzte die Studenten von akuten und zu schwierigen Fällen fernhalten. Wozu, glauben Sie denn, sind wir Ärzte denn hier?« Dr. Miriam Bernbohm schüttelte den Kopf, atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe und betrachtete das ernste Gesicht dieses trotzigen jungen Mannes, der in seiner blutverschmierten grünen Krankenhauskleidung vor ihr stand und ihren Blick fest erwiderte. Bernbohm wußte nicht viel über die Gruppe der Medizinstudenten, die in diesem Jahr im Krankenhaus ihr Praktikum absolvierten, aber ihr war bekannt, daß David Labraccio unter diesen Studenten eine herausragende Persönlichkeit war, der fähigste von allen; ein exzellenter Techniker, was den Umgang mit medizinis chen Apparaturen betraf, ein junger Mann, dessen Studiennoten mehr als vielversprechend waren und der die Hände eines brillanten Chirurgen hatte. Bernbohm erkannte und - auch wenn dieser Junge es ihr nie glauben würde — schätzte den Mut, den Eifer, das Engagement und das Können, die aus Labraccios impulsivem Eingriff sprachen. Er hatte jene Hingabe, jenen unbedingten Willen zum Helfen, zum Heilen gezeigt, die einen wahren Arzt auszeichneten. Ja, dieser junge Mann hatte das Zeug, einmal ein hervorragender Chirurg zu werden — für ihn gab es nichts Kostbareres als das Leben, keinen schlimmeren Feind als den Tod. Und dennoch! An David Labraccio mußte ein Exempel statuiert werden. Einen Vorfall wie diesen konnte und durfte man nicht ungestraft durchgehen lassen, ohne die straffe Disziplin an dieser Uniklinik zu gefährden. Es war an der Zeit, daß Labraccio, all seiner Begabung zum Trotz, lernte, jene ungeschriebenen Gesetze zu beachten, die einen ordnungsgemäßen
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Krankenhausbetrieb erst ermöglichten: gehorchen, die Hierarchie beachten, die Kompetenzen nicht überschreiten, die eigenen Fähigkeiten richtig einschätzen. »Ich fürchte, mir bleibt keine andere Wahl, als um Ihren zeitweiligen Ausschluß aus der Klinik zu ersuchen«, sagte die Ärztin ruhig und bedächtig. »Natürlich können Sie sich im nächsten Jahr, nach Ende des Sommersemesters, wieder um einen Platz in unserer Klinik bewerben, aber ich kann nicht dafür garantieren, daß Sie weiterhin Ihr Stipendium erhalten.« Mit diesen Worten wandte die Chirurgin sich abrupt um und ließ David stehen. Fassungslos starrte er auf ihren schmalen Rücken; Davids Atem ging schwer, er keuchte, und seine Hände, noch immer in den blutigen Chirurgenhandschuhen, waren krampfhaft zu Fäusten geballt. »Machen Sie sich mal keine Sorgen!« rief er ihr wütend hinterher. »Es ist doch sinnlos, mich hier wieder zu bewerben. Denn würde eine Situation wie eben noch einmal auftreten, würde ich wieder genauso handeln!« Doch unter der oberflächlichen Wut des jungen Mannes wühlte ein tiefsitzendes Unbehagen. Er war schockiert, hatte höllische Furcht vor der Zukunft. Vom Studium ausgeschlossen, mein Gott! Was sollte er seinen Eltern erzählten? Was sollte aus seiner angestrebten Karriere als Arzt werden? Was, zum Teufel, sollte er jetzt überhaupt tun? Der Oktoberwind, der vom Michigansee herüberwehte, war schneidend kalt und versprach einen frühen Wintereinbruch, aber in den kleinen Lichtflecken, die eine trübe Sonne zwischen die hohen Gebäude warf, war die Luft rein und klar und golden. Die herbstliche Melancholie wurde von den dürren, roten und braunen Blättern unterstrichen, die der Wind über den verlassenen Campus wehte und an den dunklen Ziegelmauern der Institutsgebäude zu raschelnden, wogenden Wächten aufhäuften; Symbole der Vergänglichkeit. Nelson Wright hob die Hände an die Bügel seiner VuarnetSonnenbrille und rückte sie gerade. Schon der kleinste Schimmer Sonnenlicht tat seinen blaßgrünen Augen weh, jagte
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schockartige Wellen glühenden Schmerzes durch seinen Schädel. Er schauderte leicht in der eisigen Luft der Morgendämmerung, hüllte den langen grünen Wollmantel enger um seine schlanke Gestalt und zog den Gürtel straffer. An diesem Morgen war der See wegen des aufkommenden Windes unruhig und aufgewühlt. Die Wellen rollten so heftig an den Küstenstreifen, daß man den Eindruck bekam, als wollten sie dem Land Stück um Stück entreißen, kleine, nasse Happen aus dem Ufersand beißen. Die aufgehende Sonne warf ihre matten Strahlen schräg nach Westen über die triste graue Wasseroberfläche. Der Himmel war stahlblau und versprach einen weiteren schönen Herbsttag. Nelson lächelte versonnen. Er liebte diese Tageszeit, die frühen Morgenstunden, die Stunden der Stille und Einsamkeit, bevor sich der Campus mit Studenten füllte, mit der lärmenden und ausgelassenen, diskutierenden und schreienden Menge junger Leute auf dem Weg in die verschiedenen Institutsgebäude. Er mochte das Gefühl, der alleinige Beherrscher und Besitzer dieser ausgedehnten Anlagen zu sein. Der kühle klare Morgen, der menschenleere Campus, die noch schlafenden Gebäude — all dies gehörte Nelson Wright. Ihm allein. Besonders am heutigen Tag. Er blieb stehen, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, und holte tief Atem, roch den feuchten Wind, der vom See herüberwehte, die verfaulenden, modrigen Blätter unter seinen Schuhsohlen, die würzige Luft und alles, was noch dort draußen war, weiter fort, unendlich weit — und das nur auf ihn wartete. »Ein schöner Tag zum Sterben«, sagte er. Er setzte seinen Weg fort, überquerte mit forschen Schritten den Campus, hielt den Kopf gesenkt, bis er sich schließlich dem sogenannten Taft-Gebäude näherte. Erst jetzt blickte er auf, betrachtete wie schon so oft die klassische Fassade mit ihren berühmten Skulpturen und dem gläsernen Kuppeldach. Das Taft war ein Laborgebäude, das der medizinischen Hochschule angegliedert war. Über achtzig Jahre alt, wurde das Bauwerk momentan renoviert und war aus diesem Grunde sowohl für die Studenten als auch für die Öffentlichkeit vorübergehend geschlossen. An den Wänden des altehrwürdigen Gebäudes
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waren Warnschilder angebracht:
WEGEN RENOVIERUNG GESCHLOSSEN ZUTRITT VERBOTEN Hinter den griechischen Säulen und unter dem Giebeldreieck im römischen Stil befanden sich die riesigen bronzenen Eingangstüren des Taft. Sie waren mit Ketten verhängt, die Fenster mit Brettern vernagelt. Nur eine kleine Seitentür war nicht mit schweren stählernen Ketten gesichert. Sie wurde von den Malern, Anstreichern und Maurern benutzt, die mit den Renovierungsarbeiten beauftragt waren. Aber auch diese Tür war außerhalb der Arbeitszeit geschlossen, und nur der Vorarbeiter des Renovierungstrupps hatte den Schlüssel. Nelson Wright blickte sich langsam und bedächtig um. Weit und breit war niemand zu sehen. Gut. Mit schnellen, entschlossenen Bewegungen schob Nelson einige Bretter zur Seite. Dahinter kam ein kleines Fenster zum Vorschein, das ins Kellergeschoß führte. Nelson wußte ganz genau, wo es sich befand; offensichtlich drang er hier nicht zum ersten Mal ein. Noch einmal zog er sich den Mantel straff um den Körper und schnürte den Gürtel fest zu, um nirgendwo hängen zu bleiben; dann kletterte er, mit den Füßen voran, durch das Fenster und sprang in die Dunkelheit, die unter ihm gähnte. Rachel Mannus kritzelte hastig in ihr Notizbuch, entschlossen, jedes Wort festzuhalten, bevor einer der Ärzte sie erwischte und zurück auf die >Bettpfannen-Patrouille< schickte. Eigentlich sollte sie heute morgen die Flure schrubben und sich nicht mit den Patienten unterhalten. Aber Rachel hatte etwas anderes vor. Heute hielten sich ausgerechnet jene drei Patienten im schäbigen Gemeinschaftszimmer des Krankenhauses auf, die Rachel am meisten faszinierten — eine seltene und außergewöhnlich günstige Gelegenheit. Normalerweise mußte sie sich einen dieser Patienten nach dem- anderen schnappen, wann immer sie ein paar Minuten erübrigen konnte, und für gewöhnlich traf Rachel sie in den Krankenzimmern an, wo die Patienten kaum oder nur wenig Privatsphäre hatten und man sich
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kaum ungestört unterhalten konnte. Ausnahmsweise plärrte diesmal der Fernseher im Aufenthaltsraum auch nicht mit voller Lautstärke, denn Charlie Raymond, der sechzig Jahre alte Farbige im Rollstuhl, der sich sonst mit Vorliebe Familienserien anschaute, wenn er nicht gerade vor sich hin döste, richtete diesmal seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch. Auch Terry Saunders, die hübsche blonde Studentin, die bei einem furchtbaren Autounfall durch die Windschutzscheibe des Wagens geschleudert worden war, hatte sich inzwischen so weit von ihren Verletzungen und vom Schock erholt, daß sie sich an der Diskussion beteiligen konnte, obwohl ihr Kopf noch immer dick bandagiert war und ihr das Reden schwerfiel. Und schließlich war da Roseanne Rizzo, eine zweiunddreißig Jahre alte Hausfrau, die vor kurzem eine Fehlgeburt gehabt hatte. Sie berichtete der kleinen Gruppe gerade über ihr Sterbeerlebnis, ihre Erfahrung im Grenzbereich des Todes. Rachel hörte ihr fasziniert zu; die Eintragungen in ihrem Notizbuch wurden länger und länger. Während sie redete, schien Roseannes Gesicht von innen heraus zu leuchten; es gab keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit ihrer Worte — so wenig wie an der Echtheit ihres Erlebnisses. »Und plötzlich sah ich mich selbst, obwohl ich im Koma lag... als würde ich mich von oben betrachten, versteht ihr? Ich blickte hinunter und sah meinen Körper und die Geräte und alles andere auf dem Bett liegen... Ralph, mein Mann, weinte. Und der Arzt sagte ihm gerade, daß ich im Sterben liege... und dann bin ich... wie soll ich sagen? ... ich bin fortgeschwebt, hinaus auf den Flur und in diesen Tunnel... auf dieses Licht zu. O ja, das Licht. Es war wunderschön... das schönste Licht, das ich jemals gesehen habe...« >Wunderschönes Licht<, schrieb Rachel in ihr Notizbuch. Roseanne sprach immer schneller; stieß die Worte jetzt beinahe atemlos hervor. »Und dann hörte ich diese Stimme, die schönste Stimme, die ihr euch vorstellen könnt, und sie sagte zu mir... sagte zu mir... >Ich nehme dein Baby, aber dich lasse ich zurückkehren. < Und dann,bin ich aufgewacht, und da standen Ralph und der Arzt neben meinem Krankenbett...« Ihre Stimme wurde leiser, schwächer, und das Licht; das auf
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ihrem Gesicht gelegen hatte, erlosch; sie war jetzt wieder eine völlig normale, ja ein wenig mitleiderregende Frau. »Ich war anderthalb Minuten klinisch tot«, sagte jetzt Charlie Raymond, der alte Farbige, »aber ich hab' weder 'nen Tunnel noch 'n Licht gesehen...« »Oh, aber ich!« unterbrach Terry, die junge Studentin, ihn eifrig. »Und es stimmt, was Roseanne gesagt hat. Es war unglaublich. So wunderschön, daß ...« »Ich war in diesem Garten, wißt ihr«, fuhr Charlie unbeirrt fort, aber Terry war nun in Fahrt gekommen und ließ ihn erst gar nicht weiterreden. Rachel notierte sich das Wort >Garten<. Interessant... Terrys Stimme klang jetzt verzückt. »Auch ich habe diesen ... Tunnel gesehen«, sagte sie, » ... und dieses Licht, und dann war da dieses... als wenn jemand mich geführt hätte, wißt ihr... und dann habe ich den Triumphwagen gesehen... und Musik gehört...« Sie wurde geführt? Hatte einen Triumphwagen gesehen? Musik gehört? Moment mal, immer schön langsam. Rachel Mannus hielt mit dem Schreiben inne, schüttelte die verkrampfte, schmerzende Hand, runzelte die Stirn und bedachte Terry mit einem scharfen, prüfenden Blick aus ihren dunklen Augen. Nein, Terry. Jetzt lügst du. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Jetzt erzählst du mir Märchen. Jetzt schmückst du die ganze Sache aus, weil du mir genau das erzählen willst, was ich hören möchte. »Ich glaube, Sie sollten lieber die Tabletten absetzen, Terry«, sagte Rachel trocken, aber mit einem freundlichen Lächeln, das ihrer Bemerkung den giftigen Stachel nehmen sollte. »Pssst... Rachel!« Rachel blickte erschrocken auf und stopfte ihr Notizbuch hastig in die Tasche ihres Kittels. Edna O'Connor, die Stationsschwester, stand in der Tür, einen vorwurfsvoll-warnenden Ausdruck im schwarzen Gesicht. Sie ruckte mit dem Kopf, wies in Richtung Flur. Über Ednas Schulter konnte Rachel sehen, daß sich das Ärzteteam auf seiner morgendlichen Runde befand und sich dem Aufenthaltsraum näherte. Auch die Krankenschwestern schwärmten schon über die Flure aus, um ihre Patienten für die Visite vorzubereiten. Rachel schnappte sich den
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Schrubber, war wie der Blitz aus der Tür und wienerte eifrig den Fußboden, als die Ärzte gerade wieder ein Zimmer verließen und das nächste betraten. Edna trat an Rachel heran. »Sie sollten lieber vorsichtig sein«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Im Moment behalten die Herrschaften euch Studenten verdammt scharf im Auge. Sie haben erst heute morgen einen von euch aus der Klinik gefeuert, weil er eigenständig einen operativen Eingriff vorgenommen hat, und...« Rachels Augen weiteten sich vor Überraschung, gepaart mit Erschrecken. Das mußte einer ihrer Kommilitonen gewesen sein! »Wer?« fragte sie. Edna zuckte gleichgültig die Achseln. »Was weiß ich. Labratch... oder so ähnlich ...« »David Labraccio?« stieß Rachel hervor. Unglaublich! Ausgerechnet David? Er war doch der Beste von allen. So gewissenhaft, so ehrgeizig, so fleißig, so engagiert. »Warum reden Sie mit den Patienten eigentlich immer nur übers Sterben und den Tod?« fragte Edna neugierig, so neugierig wie alle Schwestern auf dieser Station, was die eigenartigen Interessen dieser hochgewachsenen, schlanken Studentin mit dem seltsam ernsten Gesicht betraf; dieser bildhübschen jungen Frau mit dem dichten dunkelroten Haar und der dünnrandigen Brille, die in so starkem Kontrast zu ihrem vollen, sinnlichen Mund stand. Rachel Mannus war eine Medizinstudentin, wie sie Edna und den anderen Schwestern noch nie begegnet war. Sie schien geradezu besessen von der Beschäftigung mit dem Tod und dem Sterben zu sein und nutzte jede sich bietende Gelegenheit, mit denjenigen Patienten zu reden, die klinisch tot gewesen waren oder beinahe gestorben wären und dem Tod noch im letzten Moment von der Schippe gesprungen waren. In der Cafeteria kursierten die wildesten Gerüchte und Vermutungen über das berühmt -berüchtigte Notizbuch Rachels und darüber, was wohl darin stehen mochte und warum. Ohne auf Ednas Frage einzugehen, schnappte Rachel sich Schrubber und Eimer. »Danke, Edna«, sagte sie rasch. »Ich muß jetzt in die Anato-
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mie.« Sprach's und machte sich auf den Weg. Nelson Wright stieg die Treppe vom Kellergeschoß hinauf und schlenderte leise und verstohlen, aber zielstrebig durch die große, zentrale Halle des abgeriegelten Taft-Gebäudes. Um die Jahrhundertwende, als das Taft als Teil der medizinischen Hochschule entworfen und errichtet worden war, war es als eine der bedeutendsten Schönheiten gepriesen worden, welche die klassische Schule Chicagoer Architektur hervorgebracht hatte. In der großen Eingangshalle, unter dem hohen gläsernen Dom des Kuppeldaches, befand sich eine Reihe monumentaler Wandgemälde, im Stile eines Michelangelo ausgeführt; Heroengestalten mit strotzenden Muskeln und gekleidet in klassische Gewänder; Männer, die große Augenblicke in der Geschichte der Medizin darstellten. Dort, in jeweils abgetrennten, leicht vertieften Feldern, war Hippokrates bei der Behandlung der Epileptiker abgebildet; Galen, der dem Betrachter eine menschliche Wirbelsäule entgegenhält; Vessalius, der einen Leichnam seziert. Hier war Harvey bei einer Vorlesung über den Blutkreislauf und das ganze ausgetüftelte System von Arterien, Venen und Adern zu sehen. Dort Edward Jenner und die Entdeckung der Immunologie. Morton bei der erstmaligen Benutzung von Äther. Lister und die Antisepsis. Pasteur und die Entwicklung der Bakteriologie. Die historischen Entdeckungen und Leistungen dieser und anderer genialer Mediziner waren auf den hohen Wänden des Taft verewigt. Und ganz oben, dicht unterhalb der runden Decke, auf der dem Eingang zur Halle gegenüberliegenden Seite, befand sich ein Giebeldreieck aus Bronzeguß, eine atemberaubende Hochrelief-Plastik, die mittelalterlichen Werken nachempfunden war und in seltsamem Gegensatz zum griechisch-römischen Stil des Gebäudes stand. Das Werk stellte die ewige Auseinandersetzung zwischen der Menschheit und dem Tod dar. Die Gestalten eines Mannes und eines Skeletts kämpften darum, in den Besitz eines von Schlangen umwundenen Stabes zu kommen, der sich zwischen diesen beiden Plastiken befand. Das Skelett hielt mit einer Klauenhand eine Sense umklammert, das Sym-
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bol des Schnitters Tod, während die andere den Caduceus, den Stab des Merkur, umklammert hielt, das uralte Symbol der Heilberufe. Auch die Hand des Mannes war nach diesem Stab ausgestreckt, der Heilung und Rettung versprach, ohne ihn jedoch zu erreichen. Die Plastik war eine lebendige Metapher in Bronze, ein bildlicher Ausdruck des ewigen Kampfes der Medizin, die Kräfte des Todes zu besiegen, ein Kunstwerk, das in seiner Aussage erschreckend war und in krassem Widerspruch zu den Wandgemälden stand, die sich darunter befanden. Denn das Werk vermittelte dem Betrachter die endgültige und unwiderrufliche Gewißheit, daß trotz aller ärztlichen Kunst, trotz allen medizinischen Fortschritts, trotz aller Bemühungen die Menschheit den Kampf gegen den Tod verlieren mußte. Im Laufe der Jahre waren die Wandgemälde angedunkelt, und die Bilder versteckten sich unter jahrzehntealter trüber Glasur und Schichten von verblaßtem Lack. Der Mosaikfußboden war an einigen Stellen aufgebrochen und von Rissen und Furchen durchzogen; viele der Mosaiksteine waren verschwunden. Die Vergoldungen an den Stuckverzierungen, von denen die Wandgemälde umrahmt waren, blätterten ab. Und auch die Außenmauern des Gebäudes waren vom zunehmenden Verfall nicht verschont geblieben, hatten sie doch jahrzehntelang unter dem Einfluß von Wind und Wetter gelitten, unter den extremen Wintern und Sommern des mittleren Westens; viele Ziegel waren spröde und rissig geworden. Aber es wäre geradezu ein Verbrechen gewesen, ein so eindrucksvolles, traditionsbeladenes Gebäude wie das Taft weiter dem Verfall preiszugeben. Die Renovierungsarbeiten, die jetzt endlich vorgenommen wurden, waren längst überfällig. Vor den alten Gemälden waren Gerüste aufgestellt worden, und die Fußböden hatte man mit großen Plastikplanen abgedeckt. Die ersten Anstreicher und Maurer erschienen und machten es sich auf selbstgebauten, aus Brettern und Kisten provisorisch errichteten Sitzbänken bequem, tranken Kaffee aus der Thermoskanne, aßen in fettiges braunes Papier gewickelte Teilchen aus der Kantine, rauchten und rissen Witze. Die erste Kaffeepause dieses Tages. Als Nelson Wright zu den Männern hinüberschlenderte,
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blickten sie ihn verblüfft an. Verdammt, außer ihnen hatte hier niemand etwas zu suchen. Und vor allem — wie war dieser Mann hier hereingekommen, zum Teufel? Nelson war nicht minder überrascht als die Arbeiter der Renovierungsmannschaft. Vor zwei Tagen waren sie um diese Zeit noch nicht hier gewesen. Vor zwei Tagen hatte das Taft noch ihm, Nelson Wright, allein gehört. Aber er blieb gelassen, ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. »Morgen. Gute Arbeit. Wirklich, gute Arbeit«, sagte er zu den Männern. »Sie machen Ihre Sache hervorragend. Weiter so.« Dämliche Bemerkungen, aber sie erfüllten ihren Zweck. Aus den Gesichtern der Männer schwand das Mißtrauen. Dennoch beschleunigte Nelson seine Schritte ein wenig, ging rasch an den Männern vorüber und trat in einen der Flure. Die Tür, die auf diesen Flur führte, hatte eins jener Schlösser, die sich nur von innen öffnen ließen; befand man sich erst hinter der Tür, bekam man sie nicht mehr auf. Als Nelson die Tür geöffnet hatte, holte er einen breiten Streifen Klebeband unter dem Aufschlag seines Mantels hervor und drückte ihn. verstohlen auf das Schloß. Er lächelte zufrieden. Jetzt war die Tür auch von außen zu öffnen.
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2 Daß David Labraccio bei der Anatomieübung fehlte, blieb natürlich nicht unbemerkt. Die Nachricht von seinem Rausschmiß hatte sich unter den Studenten mit der Geschwindigkeit eines Lauffeuers in trockenem Steppengras verbreitet; ein Feuer, das von Gerüchten und Vermutungen noch geschürt worden war. David war einem der Chirurgen auf den Schlips getreten, hieß es. Er hatte eigenständig eine Blinddarmoperation vorgenommen — ohne Narkose, hieß es. Man hatte ihn erwischt, als er in einer Vorratskammer mit Duckworth vögelte, der häßlichen Oberschwester der Unfallstation, hieß es. Wie dem auch sei, man hatte ihn zeitweilig vom Studium ausgeschlossen. Man hatte ihm einen Tritt in den Hintern verpaßt. Und dann war David losmarschiert, um seinen Kummer in Alkohol zu ertränken, hieß es. Er hatte Selbstmord begangen, hieß es. Gerüchte, Klatsch, Vermutungen. Daß David nun nicht mehr einer der ihren war, war so ziemlich die einzige Tatsache, bei der alle übereinstimmten. Man hatte ihn gefeuert — ein Gedanke, der allen hier versammelten Studenten kalte Schauer über den Rücken jagte. Da hatte Dave, das arme Schwein, sich so lange abgerackert, war den Ärzten zu Kreuze gekrochen, hatte gepaukt wie ein Verrückter — mit dem Erfolg, einen Tritt in den Arsch zu bekommen. Das war der Alptraum eines jeden Medizinstudenten. Und wenn so etwas einem hochbegabten, ehrgeizigen Kommilitonen wie David passierte, der so gute Noten von der Uni mitbrachte, dann konnte es erst recht jedem anderen von ihnen passieren. Randall Steckle stellte gerade mit einer Hand die Lautstärke seines Diktiergerätes ein, während er mit der anderen das Skalpell führte. »Ich bin jetzt unterhalb des Fußgewölbes«, sagte er in sein kleines Sony-Gerät, um jeden Schritt der Sezierübung festzuhalten. »Die drei Keilbeine, in Verbindung mit den beiden anderen des Mittelfußes ...« Diese Fachbegriffe begleiteten den Weg des Skalpells am aufgeschnittenen linken Fuß des Leichnams, der Steckle zugeteilt worden war. »Dr. Steckle, eine zweite Demonstration bitte, wenn Sie so freundlich sind«, unterbrach Nelson Wright den Freund und
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Kommilitonen und wies auf den rechten Fuß des Leichnams, den Wright — als Randy Steckles Laborpartner — sezieren sollte. Die Leichen, die für die Sezierübungen benutzt wurden, lagen nackt, von weißen Laken bedeckt, auf Tischen; die Köpfe der Toten waren dick mit Verbandstoff umwickelt, um den Studenten den Anblick der Gesichter zu ersparen - was den Leichen aber andererseits ein schauriges, mumienhaftes Aussehen verlieh. Heute waren nur die Bauchhöhlen der Toten freigelegt worden; die Bauchdecken waren bereits geöffnet, die Fleischlappen nach beiden Seiten weggeklappt und festgeklammert, so daß die inneren Organe frei lagen. Steckle schaltete das Diktiergerät aus, beugte sich über den Körper und warf einen Blick auf dessen rechten Fuß, mit dem Nelson sich bereits beschäftigt hatte. Dann setzte er das Skalpell an und vollführte seinerseits einen Schnitt. Wright grinste. »Brillant«, sagte er anerkennend. »Heute abend werden Sie ganz sicher all Ihr Können brauchen.« Bei den Worten >heute abend< kaute Randy Steckle nachdenklich auf seiner fleischigen Unterlippe und blickte plötzlich sehr beunruhigt drein. »Nelson, was heute abend betrifft - du bist ein netter Kerl, und du bist einer meiner besten Freunde. Und weil das so ist, muß ich aus moralischen Gründen ablehnen. Gibt es denn draußen in der Welt nicht schon Greuel genug? Muß du auch noch deine eigene kleine Welt des Entsetzens erschaffen?« Nelson hob die Brauen, und seine blaßgrünen Augen begannen zu funkeln. »Entsetzen?« wiederholte er spöttisch und zog das Wort dabei betont in die Länge. »Randy, es ist die Unwis senheit, die wir fürchten. Und an welchem Punkt überschreitet denn das Streben nach Wahrheit und Wissen die Schwelle zu einer Welt des Entsetzens? Für einen Wissenschaftler... ein Genie? Besonders für ein Genie, wie du es bist?« Nelson nahm sich selbst ein Skalpell und machte zwei Einschnitte am Fuß des Leichnams. Als er das Wort >Genie< benutzte, errötete Randy, und sein rundes, eulenhaftes Gesicht spiegelte kindliche Glückseligkeit wider. »Eene meene mu, und — weg — bist — du«, lästerte Nelson und machte einen dünnen, feinen Schnitt durch die drei Sieges-
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kreuze, die er mit äußerst makabrem Humor in die Fußsohle des Leichnams geschnitten hatte. »Also, ich verlasse mich auf dich. Bis heute abend.« Rachel Mannus war nicht gerade glücklich darüber, daß ihr in der Anatomie ausgerechnet Joe Hurley als Partner beim Sezieren der Leiche zugeteilt worden war. Auch wenn er als fähiger Student mit exzellenten Leistungsnachweisen galt — Joe war einfach zu oberflächlich, ließ zu viele Wünsche offen, als daß er einen brauchbaren Laborpartner hätte abgeben können. Rachel aber war eine hingebungsvolle, ja fast besessene Studentin, und das Studium der Medizin war ein langer und dornenreicher Weg. Die Arbeit nahm all ihre Zeit und Energie in Anspruch; da blieb keine Zeit fürs Herumschäkern und für alberne Witze. Andererseits schien Joe Hurley das Fachwissen förmlich in den Schoß zu fallen; hochintelligent, brauchte er sich kaum eine Nacht über die Bücher gebeugt um die Ohren zu schlagen. Er war harte Arbeit nicht gewöhnt; statt dessen alberte und flirtete er gern und oft herum. Joe war ebenso gutaussehend wie großspurig, mit blasser Haut, jettschwarzem Haar und unglaublich blauen Augen; ein echter >Black Irishman< — verschmitzt, von gewinnender Art und wie der Teufel hinter jedem Rock her. In Anwesenheit von Frauen, zumal von jungen Frauen mit einem Gesicht und einem Körper wie Rachel, konnte Joe nicht anders: Er ließ automatisch seinen Charme spielen oder das, war er — im Gegensatz zu Rachel — dafür hielt. »Guten Morgen, Mannus«, begrüßte er Rachel, als sie, ziemlich außer Atem, etwa zwei, drei Minuten zu spät in den Saal kam. Ein blitzendes Lächeln. »Wie geht's der schönsten Medizinstudentin der Staaten denn so?« »Gut«, erwiderte sie einsilbig. Die Art und Weise, wie der Typ seine blauen Augen über ihren Körper huschen ließ, machte sie nervös. Wie immer. Joe Hurley würde wieder mal den Versuch unternehmen, sich an sie ranzumachen; das wußte sie jetzt schon. »Ich wollte dich schon längst mal was fragen, Rachel. Hast
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du eigentlich 'nen festen Freund?« begann er in einem höchst unpassenden Moment, denn Rachel war bereits auf die andere Seite des Tisches getreten und beugte sich jetzt über den Leichnam, vollkommen in das Untersuchungsobjekt vertieft. Sie biß die Zähne zusammen, als sie einen großen Hautlappen anhob, mit dem Skalpell auf eine bestimmte Stelle wies und sagte: »Identifizieren.« »Harnblase.« Wie aus der Pistole geschossen gab Hurley die richtige Antwort, nachdem er auf die andere Seite des Tisches getreten und einen flüchtigen Blick auf den Leichnam geworfen hatte. »Hör mal, es ist doch nicht aufdringlich, daß ich mal ein paar private Worte mit dir reden möchte, oder? Manchmal tut es ganz gut, sich dem anderen ein bißchen zu öffnen. Wie unser alter Lenny hier. Guck ihn dir an. Der hat sich uns schon geöffnet.« Er zeigte auf den Toten. »Identifizieren«, sagte Rachel knapp und wies wieder mit dem Skalpell auf ein bestimmtes Organ. »Prostata. Weißt du, Rachel«, fuhr Joe fort, der nicht das geringste Interesse am Untersuchungsobjekt dieser Anatomieübung zeigte, »ich kenne alle Gerüchte über dich. All deine verwegenen Hobbys. Aber ich kann's nicht glauben.« Er blickte sie wieder mit seinem eingeübt verführerischen Lächeln an. Rachel seufzte. »Ich bin sicher«, fuhr Joe unbeirrt fort, »daß du in Wirklichkeit eine sehr temperamentvolle junge Frau bist. Warmherzig und nett. Kein bißchen schüchtern oder gar frigide oder...« Er packte das weiße Tuch, mit dem der männliche Leichnam bedeckt war, hob es an und zeigte auf die Genitalien. »Identifizieren«, sagte er grinsend. »Dein Gehirn«, erwiderte Rachel. Joes Grinsen wurde breiter. »Sehr gut. Okay, wann kommst du mich auf meiner Bude besuchen, damit wir dieses Thema ein wenig vertiefen ...« »Entschuldigung, Doktor Hurley«, unterbrach Nelson Wright ihn, bevor Rachel dazu kam, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. »Ich muß mit Doktor Mannus mal unter vier Augen sprechen.« Wright nahm Rachel beim Arm und führte sie ein paar Schritte bis zum Fenster des Anatomielabors, wo sie ungestört reden konnten. »Ich habe dir oft genug gesagt, daß ich bei deinem hirnris -
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sigen Experiment nicht mitspiele«, sagte Rachel und streifte seine Hand ab; ihr hübsches Gesicht wurde dunkel vor Wut. Nelson machte eine beschwichtigende Geste. »Sieh mal, ich habe schon dafür gesorgt, daß Hurley und Steckle mit von der Partie sind. Zwei der Top-Studenten. Und dazu zähle ich dich auch.« Rachel erwiderte nichts, schüttelte nur ablehnend den Kopf und versuchte, sich an Nelson vorbei und zurück zum Seziertisch zu drängen. Aber so leicht ließ Nelson Wright nicht locker. »Ich brauche dich doch nur für die Injektionen und zur Bedienung und Überwachung des Infusionsgerätes.« »Vergiß es!« sagte Rachel scharf und starrte ihn wütend an. Diese ganze verdammte Geschichte widerte sie zutiefst an. Ihr war schon so mancher verrückter Einfall zu Ohren gekommen, aber Nelson Wrights Vorhaben war das bei weitem Verrückteste, was sie jemals gehört hatte. Es war... krankhaft, der helle Wahnsinn. Am Eingang zum Anatomielabor entstand plötzlich Bewegung; dann kam Professor Zho in den Raum gestürmt, hektisch und wichtigtuerisch wie immer, gefolgt von zwei Assistenten des Lehrkrankenhauses, die die gefürchteten blauen Protokollarbücher mit sich führten. Allen Anwesenden war sofort klar, daß ihnen wieder mal eine der schwierigen zweigeteilten Prüfungen bevorstand: erst die schriftliche, dann die mündliche, bei der unter den kritischen, unerbittlichen Blicken Zhos die Leichen seziert werden mußten. Zho musterte die Studenten aus seinen asiatischen Schlitzaugen. »Gu ten Morgen, meine Damen und Herren. Die heutige Prüfung wird entscheidend für Ihre zukünftige Einstufung sein«, sagte er dann ohne Vorrede. »Sie ist folgendermaßen gestaffelt. Es werden drei Einser-Benotungen vergeben, fünfmal die Zwei, zehnmal die Drei. Die restlichen vier Damen oder Herren bekommen Vierer und Fünfer.« Unter den Studenten erhob sich einstimmiges Aufstöhnen, denn plötzlich ging der Hälfte der im Labor Versammelten auf, daß durch den Rausschmiß David Labraccios einer der Einser-Plätze freigeworden war, wodurch jeder eine Chance bekam, in der Hierarchie der Noten aufzusteigen. Ein Gefühl
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schuldbewußter Dankbarkeit gegenüber David, gepaart mit schlechtem Gewissen erfüllte so manchen der Studenten, die sich nun Hoffnungen auf eine bessere Einstufung machten. Rachel wandte sich um, wollte an ihren Seziertisch zurückkehren, doch Nelson hielt sie am Ärmel ihres Laborkittels fest. »Ich beschäftige mich außerdem mit einer bestimmten... geheimnisvollen Suche«, sagte er so leise, daß nur Rachel es hören konnte. »Für eine zukünftige Ruhmeshalle der Chirurgie ...« Gegen ihren Willen war Rachel plötzlich interessiert. »Und wer wird zu den Berühmtheiten gehören?« fragte sie flüsternd. »Powell? Westheimer?« Aber Nelson legte nur den Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Wenn du kommst, wirst du's sehen.« »Ich möchte noch einmal betonen«, fuhr der Anatomieprofessor inzwischen fort, »daß Sie nicht im Wettstreit mit mir, Ihrer eigenen Person oder mit dieser Prüfung liegen, sondern in einem Wettstreit untereinander.« Rachel blickte Nelson an und schüttelte entschieden den Kopf. »Tut mir leid, Nelson. Ich habe kein Interesse, dabei zuzusehen, wie du dich selbst tötest.« Ein seltsames, verschlagenes Lächeln legte sich auf das Gesicht des jungen Mannes, und in seinen grünen Augen war ein eigenartiges Leuchten. »Das glaube ich aber doch«, sagte er leise. »Ist 'ne echte Live-Show, Rachel. Wäre das nicht sehr viel ergiebiger für deine Nachforschungen, als hier im Krankenhaus in deinem heißgeliebten >Zurück-von-den-Toten<-Scheißdreck herumzuschnüffeln?« Die Augen der jungen Frau weiteten sich, und sie starrte Nelson mit einer Mischung aus Widerwillen, Erstaunen und Erschrecken an. Woher, um alles in der Welt, wußte er davon? »Mister Wright?« rief Dr. Zho. »Haben Sie die Absicht, an dieser Prüfung teilzunehmen?« Nelson ließ sein freundlichstes Lächeln aufblitzen, erst an den Professor gewandt, dann noch einmal an Rachel. Und genau dieses Lächeln zeigte ihr, daß er wußte, er hatte die Sache geschaukelt. Er hatte gewonnen. Sie war mit von der Partie. »Selbstverständlich, Dr. Zho«, sagte Nelson.
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»Der ganze Plan ist nicht nur anmaßend und lästerlich, er ist höllisch riskant«, stellte Randall Steckle mit Nachdruck klar, während er mit einer Bürste die letzten Reste Blut und Verbandsstoff unter seinen Fingernägeln entfernte. »Mann, Randy. Ich bin kerngesund. Wir werden die Situation zu jedem Zeitpunkt völlig unter Kontrolle haben. Kein Blutverlust. Minimales Risiko«, erwiderte Nelson Wright, der am Waschbecken rechts von Randy stand. Nelson, Randy Steckle und Joe Hurley waren jetzt, nach der Prüfung, die einzigen, die sich noch im Waschraum aufhielten. »Stellt euer Licht doch nicht unter den Scheffel«, fuhr Nelson fort. »Ihr beide wart es, die den Hund wiederbelebt haben, nachdem er fast vier Stunden tot war.« »Wir hatten Glück«, widersprach Joe Hurley. »Der Köter war erfroren. Du weißt, was das hinsichtlich der Wiederbelebung bedeutet. Außerdem haben Windhunde sehr starke Herzen.« »Und das Vieh war jünger als du. Und schöner«, sagte Steckle. »Laßt die lahmen Scherze. Um neun Uhr heute abend, alles klar? Im Taft, im Old Dog Lab. Ihr werdet doch kommen?« Nelsons Stimme klang drängend. »Natürlich nicht«, sagte Joe Hurley. »Gott sei Dank nicht«, murmelte Steckle inbrünstig. Aber Nelson antwortete nur mit einem seiner Markenzeichen, einem betont coolen Schulterzucken. »Ihr wißt genau, daß es Kommilitonen gibt, die nur darauf warten, sich durch so ein Experiment einen Namen zu machen. Ist wirklich zu schade, daß ausgerechnet diejenigen, die die nötigen Fähigkeiten haben, nicht genug Mumm aufbringen. Nämlich ihr.« Hurley knüllte das Papierhandtuch zusammen und warf es auf den Fußboden. »Also gut, also gut!« stieß er hervor. »Du möchtest uns bei der Ehre packen, was? Okay. Du willst deine Show, und du sollst sie haben. Ich bin ein sehr beschäftigter Mann, aber wir werden kommen.« Wir? Randy warf Joe einen entsetzten Blick zu. Wie kam der Kerl auf >wir Es war eine Sache, über Nelsons Vorhaben zu reden — Medizinstudenten träumen oft von irgendwelchen phantastischen Experimenten —, aber es war eine vollkommen andere Sache, einen so verrückten Plan in die Tat umzusetzen.
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Und Nelsons Plan war mehr als verrückt. Randall Steckle öffnete den Mund, um heftig zu protestieren, brachte aber nur ein schwaches, krächzendes: »Wir? Das glaubst du aber auch nur!« hervor. Joe Hurley beachtete ihn gar nicht. »Sicher, es wird eine hochdramatische Sache«, spottete er, an Nelson gewandt. »Du wirst schreien, du wirst das Bewußtsein verlieren, bestenfalls wirst du dich vollkotzen — und was dann? Nichts, Nelson. Denn, ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß du Mumm genug hast.« Nelson Wright lächelte. Die anderen kannten dieses Lächeln zur Genüge — ein weiteres seiner Markenzeichen: zu breit und zu strahlend, sogar ein wenig... irre. »Gut, Gentlemen«, sagte er schließlich. »Ihr bringt die Geräte mit — und ich den Mumm.« Nachdem David Labraccio aus dem Krankenhaus gestürmt war, tat er das, was er immer tat, wenn er wütend oder enttäuscht oder beides zugleich war: Er reagierte sich körperlich ab. Am liebsten hätte er, der fanatische Alpinist, jetzt einen hohen Berg erstiegen, eine schwierige, extreme, harte Tour unternommen. Er hätte jetzt gern die Steigeisen unter seinen Stiefeln gespürt, die Kletterhaken in der einen und den Eispickel in der anderen Hand. Er wünschte sich, den kalten Atem eines hohen Berges im Gesicht zu spüren, während er am Nylonseil zum nächsten Griff oder Tritt hinüber pendelte. Er vermißte schmerzlich den klaren, sauberen Geruch von uraltem Gestein, das Gefühl, festen, sicheren Halt unter den Füßen oder in den Fäusten zu haben, das Gefühl, die unerschütterliche Macht und Erhabenheit in sich einfließen zu lassen, die ein hoher Berg, eine schwierige Felswand vermittelten. Er sehnte sich nach der gewaltigen körperlichen Anstrengung, dem ungeheuren Energieverbrauch, die ein solcher Aufstieg erforderte, sehnte sich nach dem Triumphgefühl, wenn man schließlich auf dem Gipfel stand, allein, einsam, und die dünne, eisige Reinheit der Bergluft atmete, die grandiose Weite der Landschaft in sich aufnahm, wenn all der Dreck und die Intrigen und die Falsch-
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heit tief unter einem lagen; er vermißte das grandiose Gefühl, wieder einen Berg erobert zu haben, aus eigener Kraft, einen Gegner besiegt zu haben, der zwar keinen Fehler verzieh, der aber fair spielte. Aber in der Prärielandschaft des amerikanischen Mittelwestens gab es kein Gebirge. Was also tun, um Dampf abzulassen? David kam zu dem Entschluß, sich wieder mal auf dem Basketballplatz auszutoben. Er legte den Weg nach Hause zu Fuß zurück, obwohl seine Bude am anderen Ende der Stadt lag. Unterwegs war er noch immer so zornig und aufgewühlt, daß die Wut und das Gefühl der Demütigung ihn zu überwältigen drohten. Er stürmte in seine kleine Wohnung, die vollgestopft war mit Fachliteratur, Lehrbüchern, Sportgeräten und -kleidern, schnappte sich seinen High-School-Basketball und rannte auf den kleinen, betonierten Hinterhof, wo er an einer der Mauern einen provisorischen Basketballkorb angebracht hatte. Vier Stunden lang spielte er allein, dribbelte, schmetterte den Ball bei Sprungwürfen in den Korb, schoß aus den unmöglichsten Winkeln Zwei- und Dreipunktewürfe ab, als wären die Lakers wie der Teufel hinter ihm her, um ihm einen Profivertrag anzubieten. Er trieb seinen Körper an den Rand der totalen Erschöpfung. Fit und durchtrainiert wie er war, zog es David oft vor, aufwühlende Gefühle nur durch rein körperliche Aktivitäten zum Ausdruck zu bringen — oder sie ganz zu unterdrücken. Sein Leben lang war er sowohl eine Sportskanone als auch ein erstklassiger Schüler gewesen; jedes Jahr Kapitän der High-School-Mannschaft und jedes Jahr Klassenprimus. Später hatte er zwei College-Stipendien zugleich erhalten: eines aufgrund seiner sportlichen, das andere aufgrund seiner schulischen Leistungen. Aber hier, an der medizinischen Hochschule, gab es keine Mannschaften, gleich welcher Art, und aus diesem Grunde war er gezwungen, alleine Sport zu treiben. Und eben darum liebte er das Bergsteigen so sehr — es war die wohl einsamste Sportart, sofern man, wie es David bevorzugte, fast immer allein kletterte. Schließlich - schweißüberströmt, mit wackligen Knien, rasendem Puls und schmerzenden Schultergelenken — ging David zurück auf seine Bude, um zu duschen und seine Klamotten zu packen. Er wollte weg von hier, zurück nach Hause.
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Was sollte er hier denn noch? Es war typisch für David, daß er seiner Mutter und seinem Vater die traurige Wahrheit, daß er von der Uni gefeuert worden war, ins Gesicht sagen und ihnen nicht etwa schreiben oder sie anrufen oder sonstwas unternehmen wollte, um dieser schmerzlichen Begegnung aus dem Weg zu gehen. Nein, so etwas war nicht seine Art. Er würde nach Hause fahren und es ihnen sagen, von Angesicht zu Anges icht. Und dann, so vermutete er, würde er einen Job im Seven-Eleven bekommen. Und was die Rückkehr an die medizinische Hochschule betraf... der Fall war erledigt. Schluß. Aus. Da lief nichts mehr. Labraccio hatte gerade seine Sportsachen zusammengepackt — Baseball- und Hockeyschläger, Bälle, Steigeisen, Eispickel und andere Bergsteigerausrüstung — und wollte nun den prallgefüllten Seesack durchs Fenster auf die Straße werfen, damit er den Kram nicht schleppen mußte, als er unten neben seinem alten, ausgemusterten Army -Kleinlaster Nelson Wrights grinsendes Gesicht erkannte. »He, Labratsch, was hast du denn vor?« Wütend warf David den Seesack hinunter, schwang die Beine durchs Fenster seiner im zweiten Stock gelegenen Bude und hangelte sich an seinem Nylon-Kletterseil an der Mauer hinunter. Er schob die Segeltuch-Abdeckung der Ladefläche seines Trucks zurück und warf den Seesack und ein paar Taschen auf die Sitze und in den Laderaum. »Ich hau ab. Ich bin hier fertig. Und jetzt steh mir nicht länger im Weg rum.« »Reg dich ab. Die haben dich doch nur vorübergehend vom Studium ausgeschlossen. Vier Monate, und du bist wieder am Ball. Die ganze Sache wird nicht mal Auswirkungen auf dein Stipendium haben.« David schüttelte den Kopf; sein Mund verengte sich zu einem schmalen Strich. »Spielt keine Rolle. Mit dem Medizinstudium bin ich ein für allemal fertig.« »Du bist der beste Student, den die Uni je gehabt hat«, sagte Nelson leise, und er meinte es ehrlich. »Burschen wie dich lassen die nicht so schnell von der Angel. Abgesehen davon hast du wirklich Mist gebaut.« David wirbelte herum und starrte den Freund an. Sein Gesicht hatte sich zu einer Maske der Wut verzerrt. »Mein
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Gott, Nelson, die Frau wäre gestorben!« rief er. »Ich hab' ihr das Leben gerettet, verdammt noch mal. Was hättest du denn an meiner Stelle getan? Sie verbluten lassen?« Wright zuckte die Achseln und wich der Frage aus. »Warum nimmst du das alles bloß so persönlich«, sagte er. »Die haben doch nur die Gelegenheit genutzt, ein Exempel zu statuieren, um den Versicherungsfritzen zu zeigen, daß so was an der Klinik nicht einreißt. Die wollten nur Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, Mann. Die Uni wird dich im nächsten Semester darum bitten, zurückzukommen.« David schüttelte den Kopf. Offensichtlich hatte Nelson keine Ahnung, wovon er da redete und um welch grundsätzliche Dinge es hier ging. »Das spielt alles keine Rolle«, sagte er mürrisch. »In der gleichen Situation würde ich wieder so handeln.« »Ich weiß.« Nelson lächelte. »Und genau darum brauche ich heute abend deine Hilfe.« Aber David hatte sich schon abgewandt und verstaute den Seesack und die Taschen so, daß im Wagen noch Platz für seine restlichen Habseligkeiten blieb. »Weißt du«, sagte er dabei über die Schulter, »im Moment gibt's einige Leute, die ich liebend gern ins Jenseits befördern würde, aber du gehörst leider nicht dazu.« »Na, na. Ich hab' nicht die Absicht, zu sterben«, sagte Nelson rasch, und wieder huschte das fieberhafte, gespenstische Lächeln über sein Gesicht. »Ich möchte... zurückkehren. Mit den Antworten auf die Frage, was der Tod ist, was das Leben ist. Mit Hilfe der anderen kann ich dort... dort drüben hinkommen. Aber um mich zurückzuholen, brauche ich dich.« Schweigen. »Ich brauche dich, David«, wiederholte er. Erneut schüttelte David Labraccio den Kopf. »Tut mir leid, da spiel' ich nicht mit«, war alles, was er sagte. Nelson Wright spürte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg. Sein Plan drohte zu scheitern, aber er kämpfte die Panik nieder und schaffte es, seine Stimme ruhig und ausgeglichen klingen zu lassen, obwohl es in seinem Innern tobte. David Labraccio war sein Trumpfas, der Schlüssel zum Erfolg der >geheimnisvolle Suche<, die er Rachel gegenüber angedeutet hatte. Ja, der Erfolg seines Planes hing entscheidend vom Können und der Geschicklichkeit jener Studenten ab, die ihn wiederbeleben
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sollten; sie alle waren Laien, sicher, aber einige waren größere Laien als andere. Und der fähigste Kopf war nun mal David Labraccio. »Okay«, sagte Nelson schroff. »Dann hau doch ab, Mann. Steig auf einen deiner verdammten Berge. Heute hast du deine Karriere für einen wildfremden Menschen kaputtgemacht, und jetzt läßt du auch noch einen Freund im Stich.« Ein Tiefschlag, aber unvermeidlich, denn Nelson hatte sich entschlossen, eine ganz bestimmte Strategie zu verfolgen. Jetzt legte er einen Hauch von Mitgefühl in seine Stimme. »Hör mal, David, tut mir leid, was ich da gesagt habe. Tut mir leid, was heute passiert ist. Aber die Chance, ohne deine Hilfe zurückzukommen, ist gleich Null.« »Dann laß die Finger von der Sache«, sagte David leise. Nelson Wright lächelte, als könnte er schon jetzt jene wunderbaren Dinge sehen, die er zu sehen erhoffte. »Aber was ist, wenn es gelingt?« flüsterte er. »Was ist, wenn es tatsächlich gelingt?« Rachel Mannus war eine ohnehin schon ernste junge Frau, aber an diesem Abend war ihre Stimmung geradezu düster und gedrückt. Während sie von Zimmer zu Zimmer ging und die lästigen Pflichten erfüllte, die Medizinstudenten nun mal nicht erspart blieben — Nachttöpfe leeren, Fußböden aufwischen, frische Bettwäsche überziehen —, war sie mit den Gedanken ganz woanders. Sie dachte unablässig an Nelson Wright und dessen phantastischen, ja verrückten Plan. Ob er das überhaupt ernst meinte? Hatte er tatsächlich vor, dieses wahnsinnige Experiment durchzuführen und zu versuchen, die Schwelle zum Tod zu überschreiten? Unter ständiger Kontrolle durch Medizinstudenten und verschiedener Geräte zu sterben, um die Natur des Sterbeerlebnisses zu erforschen? Dem Tod ins Gesicht zu sehen? Antworten auf Fragen zu finden, auf die es vielleicht gar keine Antworten gab? Oder nur eine einzige Antwort: den Tod. War das nicht Blasphemie? War das überhaupt möglich? Und wenn — was war, wenn die Wiederbelebung nicht gelang? Dumme Frage. Aber hatte Nelson sie sich auch selbst gestellt? War ihm eigentlich bewußt, daß er sein
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Leben aufs Spiel setzte? Und wenn — war es ihm gleichgültig? Sicher, was man auch tat, immer und überall ging man ein Risiko ein. Aber das Risiko, das David Labraccio eingegangen war, als er seine Karriere aufs Spiel setzte, um einer Frau das Leben zu retten, war gerechtfertigt, war nachvollziehbar. Rachel bedauerte David. Er tat ihr leid. Sie verspürte Respekt für das, war er getan hatte, sie bewunderte ihn dafür, und auf ihre stille, schüchterne Art und Weise mochte sie ihn. Aber was Nelson Wright beabsichtigte, der sie immer wieder bedrängt, schikaniert, unter Druck gesetzt und schließlich mit allen Mitteln dazu gebracht hatte, mitzumachen, war für Rachel unbegreiflich. Es grenzte an Wahnsinn. Nein, es war Wahnsinn. Wirklich und wahrhaftig den Tod zu erleiden — Herztod, Hirntod — und dann den Versuch zu machen, mit irgendwelchen Erkenntnissen und Informationen ins Leben zurückzukehren wie von einer Urlaubsreise, von der man Farbdias mitbringt — nein, undenkbar. Falls so ein Experiment überhaupt möglich war, warum war es dann noch nie durchgeführt worden? Unter den bestmöglichen Bedingungen, mit den modernsten, bestmöglichen Geräten, und unter Kontrolle hervorragend ausgebildeter Spezialisten, medizinischen Kapazitäten? Vielleicht hätten sich Kandidaten für den elektrischen Stuhl oder Lebenslängliche oder unheilbar Kranke als freiwillige Versuchspersonen zur Verfügung gestellt. Nicht Zeit oder Raum, sondern der Tod war die letzte große Grenze. Für einen Arzt war der Tod der schlimmste Feind, ein bislang unbesiegter Feind, der noch niemanden wieder aus seinen Krallen freigegeben hatte. Das alles galt in wissenschaftlicher, nicht in religiöser Hinsicht. Eine Person, ein Tod. Zwei Personen, zwei Tode. Aber andererseits — die Versuchung, ein solches Experiment durchzuführen, war für Rachel auf heimtückische Art und Weise unwiderstehlich, und das wußte Nelson ganz genau. Es war wie die Schlange im Garten Eden, die Adam den Apfel vom Baum des Wissens darreichte und lockend sagte: >Nimm einen Bissen, während ihre grünen Augen wie verführerisch schöne Smaragde funkelten. Und Nelson kannte seine Pappenheimer ganz genau, jawohl. Rachel, Joe, Randy und David.
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Wer konnte seine unverbrauchten Kräfte auch besser mit dem ältesten Feind der Menschheit messen als Medizinstudenten — jung, stark, unsterblich? Ha-ha. Aber sie, Rachel, und die anderen brauchten diesem Kampf ja gar nicht selbst aufzunehmen. Nelson stellte sich freiwillig zur Verfügung. Nelson war das einzige Versuchskaninchen. Und was war, wenn er tatsächlich zurückkam von dieser Reise ins Unbekannte? Was, wenn er Wissen, Erkenntnisse, Erlebnisse mitbrachte, wie noch kein Mensch zuvor? Wissen, das helfen konnte, den Tod zu bezwingen? »Ich muß bald sterben, nicht wahr, mein Kind?« Mrs. Ashby legte Rachel ihre kraftlose Hand auf den Arm, als diese die frischen Laken glattstrich. Urplötzlich aus ihren Gedanken gerissen, starrte Rachel erschrocken auf die alte Frau in ihrem Krankenbett hinunter. Alte Frau? Nein, sie war keine alte Frau. Elizabeth Ashby war höchstens fünfundsechzig, aber der Unterleibskrebs hatte ihr Äußeres dermaßen verwüstet, daß sie wie eine Achtzigjährige aussah. Sie war unheilbar krank, im letzten Stadium; ihr Tod war nur noch eine Frage von Wochen. Oder Tagen. Oder Stunden. Und sie beide wußten es, aber die eine hatte Angst vor dem Eingeständnis, und die andere flüchtete sich in die Lüge. »Nein... nein, natürlich nicht...« stammelte Rachel und bedachte die todgeweihte Frau mit einem zaghaften, freundlich aufmunternden Lächeln, wandte sich dann aber schnell ab, als sie die Angst im ausgemergelten Gesicht der Patientin sah. Ein Lächeln, nur ein gottverdammtes falsches Lächeln. Wie wenig man solchen Menschen doch zu geben hatte! Was, wenn der Tag kommen sollte, da man ihnen mehr geben konnte? Wenn man das Wissen besaß, was sich auf der anderen Seite des dunklen Vorhangs befand? Und wenn man das Sterben wenigstens erleichtern konnte, indem man dieses Wissen weitergab? Was war, wenn Nelson Wright ihnen allen wenigstens ein kleines bißchen Wissen vermittelte; ein Wissen, das man jenen Menschen bieten konnte, die es brauchten? Rachel Mannus' Gedanken waren in hellem Aufruhr. Joe Hurley machte seine Hausaufgaben. Er liebte es, seine
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Hausaufgaben zu machen. Er studierte all seine Objekte mit der gleichen Hingabe und Leidenschaft. Blonde, Brünette, Rothaarige. Irische Mädchen, jüdische Mädchen, italienische Mädchen, farbige Mädchen, asiatische Mädchen. Mädchen mit großen weichen Brüsten und Mädels mit kleinen spitzen Titten. Man nahm's halt, wie's kam. Und es kam immer was. Die göttliche Vorsehung hatte Joe mit seinen unglaublich blauen, verführerischen Augen gesegnet, mit einem hübschen Gesicht, mit einem kraftvollen Körper und mit schier unersättlicher Geilheit. Und wer war Joe Hurley, daß er sich über die doch so offensichtlichen Absichten des Allmächtigen hinwegsetzen konnte? Das Vögeln war ihm nun mal vorherbestimmt. Was also sollte er anderes machen, als seiner Bestimmung gemäß zu handeln? Und der Schöpfer konnte ihm wahrlich nicht den Vorwurf machen, in dieser Hinsicht nachlässig zu sein. An diesem Abend trug Joes Hausaufgabe den Namen Bridget. Sie arbeitete als Bedienung in der Mensa, und nach ihren barocken Formen zu urteilen, schien ihr der Fraß sogar zu schmecken, der dort produziert wurde. Aber in ihrer kleinen, gestärkten weißen Schürze hatte sie ganz schnuckelig ausgesehen. Hurley hatte sich in der Mensa an sie rangemacht, und er hatte nicht lange gebraucht, um die Kleine in seine Wohnung zu locken, als ihr Schichtdienst an diesem Abend geendet hatte. Und in ebendieser Wohnung waren sie momentan auf Joes Wasserbett zugange. Sie beide, herrlich ungestört und ganz allein, nur in Gesellschaft von Joes moderner Videokamera, die eifrig jede ihrer Aktionen aus ihrem strategisch günstigen Versteck hinter der Bücherwand gegenüber dem Bett für die Nachwelt festhielt. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich, hatte Joe auch diesmal seinen Anrufbeantworter eingeschaltet, so daß potentielle Gesprächspartner von dem Gerät abgefertigt wurden. »Hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Piepton.« Joes Anrufbeantworter war etwa so humorvoll wie ein Säufer in der Ausnüchterungszelle. Aber so mochte es Joe nun mal: gleich zur Sache kommen. »Hi, Süßer«, flötete plötzlich Annes liebliche Stimme aus dem Mikro des Anrufbeantworters. »Ich komme gerade vom Buchdrucker. Mom hat schon unsere Einladungskarten ausge-
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sucht. Es wird eine so wunderschöne Hochzeit. Ich freue mich riesig darauf. Ruf mich bitte zurück. Ich vermisse dich. Ich liebe dich.« Klick. Als seine Verlobte ihre Nachricht hinterließ, stockte Joe keineswegs das Herz, im Gegenteil; er steigerte sein Tempo, das Wasserbett gluckerte leise vor sich hin, und jetzt fing Bridget zu stöhnen an. Na also. Anne hatte mit der Nummer hier rein gar nichts zu tun. Das waren zwei völlig verschieden Welten. Anne liebte er; bei Anne war es was Ernstes, eine lebenslange Bindung ... wahrscheinlich. Aber hübsche junge Miezen zu vögeln war nun mal Joes Hobby, und schließlich sollte jeder Mann ein Hobby haben. Möglichst auf einem Gebiet, auf dem er Großes zu leisten vermochte. »Wer... war... das?« keuchte Bridget zwischen einem Seufzer und einem Stöhnen. »Meine... Schwester«, keuchte Joe zurück. »Du... willst... deine Schwester... heiraten?« Scheiße. Selbst Bridget war nicht so dämlich, wie Joe erhofft hatte, aber er verstärkte seine Bemühungen noch weiter, so daß sie wieder in leidenschaftliches Gestöhne und Gewimmer verfiel. Und dann schellte das Telefon ein zweites Mal, und nach dem Piepton drang Nelson Wrights tiefe Stimme aus dem Anrufbeantworter. »Ich weiß, daß du da bist, Doc Hurley. Sei pünktlich und bring deine Videokamera mit. Leg aber vorher 'ne neue Kassette ein.« Klick. O Scheiße. »Videokamera?« fragte Bridget mit einem schrillen Unterton von Angst in der Stimme und blickte sich gehetzt im Zimmer um. »Was denn für eine Videokamera?« Rachel Mannus ging leise durch die Krankenstation, von Zimmer zu Zimmer, hielt an diesem Bett inne, um den Nachttopf zu leeren oder die Laken zu glätten, an jenem, um dem Patienten ein Glas Wasser einzugießen und all die Aufgaben zu ver-
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richten, die sonst die Schwestern und Pfleger erledigten. Aber die Medizinstudenten — Rachel bildete da natürlich keine Ausnahme — wußten nur zu gut, daß die Personaldecke zu dünn und Ärzte, Schwestern und Pfleger in dieser Hinsicht hoffnungslos überfordert waren. Alte Patienten mochten die bildschöne junge Frau; nie war sie ungeduldig, schroff oder gar unhöflich; sie war von natürlicher Freundlichkeit und Wärme, hatte für jeden Zeit, ein nettes Wort, ein Lächeln. Jetzt blieb sie neben Mrs. Ashbys Bett stehen, ihrer todgeweihten, ausgemergelten Krebspatientin, deren Haut sich wie dünnes Papier über die Knochen spannte. Ja, dieser schreckliche Kampf war bald vorüber. Die Frau schlug die Augen auf, streckte die Hand aus und ergriff mit einer Kraft Rachels Arm, die bei ihrem Zustand erstaunlich war. »Bitte, sorgen Sie dafür, daß ich nicht an einem Sonntag beerdigt werde«, sagte sie, und in ihren Augen erkannte Rachel, wie ernst ihr diese Bitte war. »Sonntags kostet... eine Beerdigung fünfzig Dollar mehr.« Rachel biß sich auf die Unterlippe. Es tat so weh, sich dies anhören zu müssen, ohne Trost spenden und helfen zu können. Diese arme Frau mußte sterben, und jetzt quälte sie auch noch der Gedanke, daß ihrer Familie das nötige Geld für die Bestattung fehlte. »Aber, aber, Mrs. Ashby. Es geht Ihnen doch schon viel besser«, log Rachel, nahm die Hand der Frau und drückte sie. Und verfluchte sich für ihre Lüge. Wenn sie doch irgend etwas tun könnte, um zu helfen. Nelson Wright saß allein in seiner Wohnung, wie fast jeden Abend. Er kannte das Alleinsein nun schon so lange, daß es ihm wie ein guter alter Freund erschien. Aber dieser Abend war anders, ganz anders. An diesem Abend sollte ein langgehegter Traum in Erfüllung gehen, ein Traum, der sich schon vor Jahren geformt und immer mehr verdichtet hatte, seit damals, als Nelson zwölf Jahre alt gewesen war. Es war ein Traum, dessen Verwirklichung er über einen langen, langen Zeitraum erst zu einer vagen Idee und dann zu einem konkreten Plan entwickelt und
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verfeinert hatte. Und heute abend sollte dieser Traum Wirklichkeit werden. Nelson hatte den Plan viele tausend Male überdacht, mit seinem scharfen, wachen Intellekt, wieder und wieder, jedes kleinste Detail; hatte nach Fehlern und Schwachpunkten gesucht — und schließlich keine mehr gefunden. Die einzigen Risiken, die einzigen Unbekannten in seiner komplizierten Gleichung waren die anderen — diejenigen, die ihn ins Reich des Todes schicken und von dort wieder zurückholen sollten. Falls alles plangemäß verlief, natürlich. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Nelson das Experiment ganz allein unternommen. Ja, wenn es ohne fremde Hilfe zu schaffen wäre... Aber es war unmöglich. Ohne die anderen war das Experiment nicht durchführbar; schon wegen der komplizierten Bedienung der Geräte und der Notwendigkeit einer ständigen Überwachung konnte Nelson nicht ohne die Mitarbeit der Freunde die Tür zu jenem dunklen, unbekannten Raum aufstoßen und sich dann seinem ausgeklügelten Zeitplan gemäß selbst wiederbeleben. Ein solcher Versuch wäre glatter Selbstmord gewesen. Außerdem waren die Beobachtungen wichtig, die die anderen an ihm vornehmen sollten, die Aufzeichnungen, die Protokolle. So wenig es ihm auch gefiel, er brauchte die Hilfe anderer. Also hatte er den zweitbesten Weg eingeschlagen und sich seine zweifelnden, unschlüssigen, ja widerstrebenden Verbündeten ausgewählt. Hochintelligente, handverlesene Könner. Aus einer Gruppe von einhundertsiebzig Medizinstudenten hatte er sich vier ausgesucht, die das Experiment mit ihm durchführen sollten. Die vier besten, wie Nelson glaubte. David Labraccio. Der Top-Student seines Jahrgangs an der Klinik. Entscheidungsfreudig. Blitzschnelle Auffassungsgabe. Hochintelligent. Besessen von der Medizin. Der beste und geschickteste Techniker, den man sich wünschen konnte. Aber sein Schwachpunkt war eine moralische und ethische Empfindlichkeit, die für das Experiment nutzlos, ja gefährlich war. Joe Hurley. Kühl. Clever. Abgebrüht und skrupellos genug, um auch in Krisensituationen die Nerven zu bewahren. Allerdings hielt ja nicht Joe den Kopf hin, sondern er, Nelson. Joes Schwachpunkt: Es mangelte ihm an Hingabe an die Forschung,
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an Engagement. Nie verschrieb er sich mit Leib und Seele einem Menschen oder einer Idee. Würde er bis zum Ende durchhalten? Randall Steckle. Ein Genie, zumindest auf dem Feld der Theoriebildung. Ein wandelndes medizinisches Wörterbuch. Ungeheures Fachwissen, gepaart mit unstillbarem Wissensdurst. Der geborene Forscher. Steckle und Hurley waren schon lange den gleichen Weg gegangen, schon seit der Grundschule. Wenn der dominante Hurley seinen alten Kumpel Randy Steckle beim Experiment führte, würde ihm Steckle wahrscheinlich folgen. Aber wie weit? Nelson brauchte Randy, weil er ein umfassendes, genaues Protokoll des Experiments brauchte. Exakte Daten. Und Steckle hielt mit Besessenheit alles Wissen, alle seine Erkenntnisse fest — schriftlich oder auf Diktiergerät, sämtliche Vorlesungen, alle Sezierübungen in der Anatomie. Er hatte ein unglaubliches Talent, präzise zu protokollieren. Mit Hilfe von Steckles Notizen und Bandaufzeichnungen sowie Joes Videokamera konnte das Experiment exakt und umfassend festgehalten werden. Aber Randys Schwäche lag in seiner Naivität — er war erst vierundzwanzig, die anderen dagegen sechsundzwanzig —, und außerdem war er ein ziemlicher Weichling. Im Falle einer Krise würde er als erster aus den Latschen kippen. Rachel Mannus. Da lag das große Geheimnis. Sie war kompetent und intelligent, neugierig und engagiert, von unstillbarem Wissenshunger. Sie vereinte all die positiven Seiten von David, Joe und Randy in einer Person. Außerdem war sie auf seltsame Weise vom Tod fasziniert, speziell von Sterbeerlebnissen. Aus diesem Grunde hätte man eigentlich davon ausgehen können, daß sie die erste gewesen wäre, diesem Experiment Beifall zu spenden. Aber im Gegenteil. Keiner hatte sich so sehr dagegen gesträubt wie sie, und Nelson war noch immer nicht ganz sicher, ob Rachel tatsächlich mit von der Partie sein würde oder nicht. Und ihre Schwächen? Ein weiteres Geheimnis. Nelson mußte sich eingestehen, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, wo ihre Schwächen liegen könnten. Aber wenn Rachel heute abend im Labor erschien, würde er es vielleicht herausfinden. Nelsons Wohnung war groß, nüchtern und sehr spärlich möbliert, mit hoher Decke und kahlen weißen Wänden. Nelson liebte nichts so sehr wie Stille und Höhe und Weite, riesige leere
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Räume. Er besaß einen antiken viktorianischen Schreibtisch, der ein kleines Vermögen wert war, und auf diesem Schreibtisch stand ein Personalcomputer, der um ein Vielfaches leistungsfä higer war als das Modell, dem er als Zwölfjähriger Fragen gestellt hatte, auf die es keine Antworten gab. Aber auf das Unbeantwortbare konnte auch dieser Computer keine Antworten geben. Kein Computer der Welt. Jetzt, etwa eine Stunde vor seinem Aufbruch ins Ungewisse, wandte Nelson Wright sich wieder dem Keyboard des Computers zu und tippte ein Dokument ein — die Erklärung, daß er die alleinige Verantwortung für das bevorstehende Experiment übernehme. Seine Finger zitterten leicht, als sie über die Tasten glitten, und ihm unterliefen jede Menge Tippfehler. ... und erkläre hiermit, daß bei einem Fehlschlag meines freiwilligen Selbstversuches keinem der Beteiligten irgendein Verschulden zur Last gelegt werden darf, schrieb er abschließend. Dann drückte er die PRINT-Taste. Ratternd brachte der Drucker die Erklärung zu Papier. Nelson erhob sich und ging ins Badezimmer hinüber, das so weiß und steril war wie die gesamte Wohnung. Er drehte den Hahn auf, beugte sich über das marmorne Waschbecken und spritzte sich Wasser ins erhitzte Gesicht. Im Badezimmerspiegel schien ihm sein Gesicht schon jetzt wie das eines Toten auszusehen: leichenblaß, mit dunklen Schatten unter den Augen, starr und ausdruckslos. Und zum ersten Mal packte ihn Angst. Nein. Nein, er durfte es nicht zulassen, daß die Angst ihn beherrschte. Das bevorstehende Experiment war sein geistiges Kind; es war seine freie Entscheidung, diesen Weg zu gehen, und er hatte lange und hart auf dieses Ziel hingearbeitet. Es war riskant, sicher, aber der Lohn für seine Mühen, falls alles gutgehen sollte, würde unermeßlich groß sein. Und ein Leben ohne diesen Lohn hatte für Nelson Wright ohnehin keinen Sinn mehr. Sein Traum mußte sich erfüllen. Der Drucker war inzwischen längst verstummt; in der Wohnung herrschte wieder tiefe Stille. Nelson zog den Ausdruck aus dem Gerät und las ihn durch. Dann unterschrieb er ihn mit zitternder Hand. Er war bereit. Nelson Wright würde bald auf jenem Fließband stehen, von
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dem er als Zwölfjähriger geträumt hatte, und er würde sehen, was dort draußen war. Er würde einen Blick ins Jenseits werfen.
3 Das Taft-Gebäude lag leer und verlassen in der abendlichen Stille. Die mit den Renovierungen beauftragten Arbeiter hatten schon längst Feierabend gemacht. Ihre mit Planen verhängten Gerüste erinnerten an riesige, geheimnisvolle, in Leichentücher gehüllte Gestalten. Von der runden Decke hingen, wie unheimliche, bizarre Vorhänge, große Plastikplanen herab, um Schutz vor Gips- und Asbeststaub zu bieten. Der Geruch nach Verdünnungs- und anderen Lösungsmitteln war bis in den schmalen Korridor gedrungen, der von der zentralen Rundhalle zu den verschiedenen Labors führte. Randall Steckle rümpfte angewidert die Nase. Dieser alte Bau war wirklich verdammt unheimlich. Randy fürchtete und haßte das alles — dieses menschenleere, alte, große Gemäuer, die seltsamen, schattenhaften Gebilde im Halbdunkel, diese tiefe Stille, die nur vom leisen Knirschen seiner Schuhsohlen und dem Surren der Gummiräder seines kleinen Transportkarrens auf dem sandigen, staubigen Fußboden durchbrochen wurde. Der scharfe Geruch der Chemikalien schmerzte in Randys Nase und den Stirnhöhlen. Rasch schleifte er den großen Kanister mit Stickoxydul — Lachgas — durch den Korridor und lud ihn auf den Wagen. Es kostete ihn Überwindung, nicht alle paar Sekunden einen ängstlichen Blick über die Schulter zu werfen, denn nichts haßte er so sehr, wie durch solche dunklen Katakomben kriechen zu müssen, furchtsam auf das leiseste fremde Geräusch horchend. Teufel noch mal, das ganze verfluchte Experiment war so schaurig wie dieser alte Schuppen! Typisch Nelson, daß er sich als Umgebung für sein wahnwitziges Vorhaben eine Geisterbahn wie diese hier ausgesucht hatte. Ein plötzliches Geräusch, ein lautes Quietschen von weiß Gott woher, raubte Randy die letzten Nerven. Was war das
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gewesen, um Himmels willen? Es hatte sich angehört wie das Quietschen großer Reifen. Oder? Randy erstarrte. Irgendwas war da vor ihm... irgendwas Großes, Weißes, das durch die gespenstische Dunkelheit auf ihn zugerollt kam. Er duckte sich in die schwarzen Schatten der Wand, so daß es (er? sie?) ihn nicht mehr sehen konnte. Sollte er einfach losrennen? Nichts wie weg hier? Nein, Quatsch! Es war nur... ein Krankenbett, und der gute alte Joe Hurley schob es vor sich her. Die Videokamera hing am Riemen über seiner Schulter. Steckle trat mit einem erleichterten Grinsen und seinem kleinen Karren auf Joe zu. »Aha, das Bett«, sagte er. »Und der entsprechende Spezialist gleich dazu.« »Halt hier keine Vorlesungen, Steckle«, erwiderte Joe. »Und erst recht keine Predigt.« Aber Randy hatte jetzt, wo er nicht mehr allein durch diese düsteren Gänge schleichen mußte, wieder Oberwasser. »Ich erwarte ja auch gar nicht, daß ein Mann seinem liebsten Hobby entsagt, bloß weil er verlobt ist.« Seite an Seite schoben die beiden alten Freunde langsam ihre Utensilien den Korridor hinunter. Randys Bemerkung schien Hurley leicht gekränkt zu haben. »Ist dir eigentlich nie klar geworden, daß ich nur auf diese Weise mit mir ins reine kommen kann? Indem ich meine letzten Erlebnisse auf Band festhalte, um mich dann in Ruhe auf die Monogamie zu verlegen ... mit der perfekten Frau?« »So kann man das natürlich auch sehen... obwohl ich so 'nen Schwachsinn noch nie gehört habe. Dafür hab' ich gelegentlich den Begriff >geilster Bock des Mittelwestens< gehört, wenn von dir die Rede war.« Bevor Joe die Erwiderung abgeben konnte, die ihm auf der Zunge lag, wurde seine Aufmerksamkeit von der Tür abgelenkt, die Nelson Wright mit dem Klebeband präpariert hatte. Sie ließ sich problemlos öffnen. Die beiden Freunde hielten sich gegenseitig die Tür auf, bis Randy den kleinen Transportwagen mit dem Lachgas und Joe das Bett vorsichtig hindurchgeschoben hatten. Das Labor, in dem das Experiment stattfinden sollte, lag jetzt nur noch ein paar Türen weiter den Flur hinunter.
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Das Old Dog Lab war leergeräumt und, von Nelsons Besuchen abgesehen, offenbar seit Monaten nicht mehr betreten worden; die Luft roch abgestanden, muffig und seltsam scharf, wie in Tierkäfigen, die man lange Zeit nicht mehr gereinigt hatte. Es war klirrend kalt hier drinnen, und sowohl Randy als auch Joe erschauderten. Außerdem herrschte in diesem Raum ein gespenstisches Zwielicht. Alles mögliche konnte sich in den dunklen Ecken und Winkeln verbergen. Schaben und sonstiges Ungeziefer, Ratten... vielleicht sogar etwas viel Schlimmeres, Unappetitlicheres. »Was, zum Teufel, tun wir« brach es aus Steckle heraus. »Das ist kein Labor, das ist eine Gruft. Wenn jemand das erfährt, dann leb wohl, Uni, leb wohl, Karriere...« »Reg dich ab, du Sack«, sagte Joe gelassen. »Ich wette zehn Dollar, daß Nelson die ganze Chose sehr schnell sausen läßt. Er scheißt sich die Hosen voll, wir packen unseren Krempel wieder zusammen, und fertig. Ich wette sogar zwanzig Dollar, daß Nelson gar nicht erst auftaucht.« Randy Steckle tastete nach dem Lichtschalter an der Wand, als sich plötzlich eine Hand aus den Schatten neben der Tür schälte und sich auf Randys Arm legte, um ihn davon abzuhalten, das Licht einzuschalten. Randy kreischte entsetzt auf und fuhr zurück. »Kein Deckenlicht.« Nelson Wrights Stimme klang dumpf und heiser aus der Dunkelheit, hallte geisterhaft durch das große Labor. »Sonst haben wir die Wachleute am Hals.« Irgendwo ertönte ein leises Klicken. Randy blinzelte, als er urplötzlich von zwei grellen Lichtern geblendet wurde. Erst als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er, daß Nelson die Rouleaus heruntergelassen und ein Paar starke, batteriebetriebene Laborscheinwerfer eingeschaltet hatte. »Stellt die Sachen dort neben den Elektroofen«, wies er die Freunde an. »Ich hab' gerade die Heizung angemacht, es wird gleich wärmer.« Joe Hurleys dunkle Augenbrauen schossen vor Verblüffung in die Höhe, als er die Vorrichtungen sah, die Nelson installiert hatte. Er hatte in dieser Rumpelkammer eine vollständige Wiederbelebungsapparatur mit sämtlichen notwendigen Zusatzgeräten aufgebaut. Die verschiedenen Geräte waren mindestens so
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leistungsfähig wie diejenigen, die ihnen in der Notaufnahme des Krankenhauses zur Verfügung standen — mit Monitoren für EEG und EKG, mit Infusionsgerät, mit Elektroschock- und Elektroladegerät — so ungefähr alles, was sie brauchten. Joe sah auch einen der modernen Instrumentenwagen, auf dem Spritzen, die verschiedensten Flaschen und Ampullen mit Chemikalien, Drogen und Medikamenten bereitlagen. Nelson mußte mehrere Wochen gebraucht haben, um all diese Apparaturen in den verschiedenen Labors des Taft-Gebäudes aufzustöbern, sie herzurichten, hier im Dog Lab zu installieren und in Betriebsbereitschaft zu versetzen. »Du hast das doch nicht ernsthaft vor?« sagte Randy Steckle mit leiser Stimme. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er Nelsons Plan die ganze Zeit über nie so ganz ernst genommen und erst recht keinen Gedanken darauf verschwendet hatte, daß er tatsächlich in die Tat umgesetzt werden sollte. »O doch, Steckle«, erwiderte Nelson scharf. »Laß dem Mann doch seinen Willen«, wandte sich Joe Hurley spöttisch an Randy. »Aber wo ein Wille ist, ist nicht immer ein Weg«, sagte Randy. »Halt's Maul!« brüllte Nelson. »Fangt endlich an.« Randy und Joe warfen sich einen raschen Blick zu und gehorchten, eingeschüchtert durch Nelsons offensichtliche Entschlossenheit und seine herrische Autorität. Sie schoben das Bett an den Heizkörper, der inzwischen wohlige Wärme ausstrahlte, und stellten den Behälter mit dem Lachgas griffbereit daneben. Ohne ein weiteres Wort begann Nelson Wright sich zu entkleiden, zog Jacke, Hemd und Unterhemd aus. Sein Oberkörper war mager; die Rippen traten deutlich hervor, und seine Schultern waren knochig und schmal. Er streifte sich die Schuhe ab; Hose und Strümpfe ließ er an. »Gut. Ihr werdet mich mit Lachgas narkotisieren, dann benutzt das Natriumpentothal und die Kombidecke«, wies er die beiden knapp und scheinbar ohne jede Gemütsbewegung an. »Sobald meine Körpertemperatur auf dreißig Grad gesunken ist — Elektroschock. Zweihundert Joule, um das Herz zum Stillstand zu bringen. Sobald der Herztod eingetreten ist, nehmt
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mir die Anästhesiemaske ab.« Nelson Wright setzte sich auf das Tragbett und befestigte die acht EEG-Elektroden an seinem Kopf, die über dünne Kabel mit dem Monitor des Elektroenzephalographs verbunden waren. Auf dem Monitor konnte nun seine Hirnstromaktivität beobachtet und aufgezeichnet werden. Nachdem Nelson sich die Elektroden mit Hilfe von kleinen Plastiksaugnäpfen auf Stirn, Schläfen und Schädeldecke befestigt hatte, streckte er sich der Länge nach auf dem Bett aus. Was immer jetzt in seinem Innern vorgehen mochte, er ließ es sich nicht anmerken. Aber ein Tier hätte den Hauch von Angstschweiß gerochen, der ihm aus den Poren drang. Randy und Joe standen wie erstarrt da. Sie konnten und wollten einfach nicht glauben, daß Nelson sein irrsinniges Experiment tatsächlich durchführen wollte. Er war wirklich und wahrhaftig bereit, in den Tod zu gehen. Die Atmung würde aussetzen, und der Herz- und Hirntod würde eintreten — für eine Minute, für sechzig endlose Sekunden. Wenn alles gutging. Das war der helle Wahnsinn. »EKG anschließen, Doktor Hurley!« rief Nelson ungeduldig und riß Joe aus seinen Gedanken. Hurley nahm die EKG-Elektroden, die wie beim EEG-Gerät an einen Monitor angeschlossen waren; auf ihm ließen sich Nelsons Herztätigkeit und Puls frequenz verfolgen. Joe drückte die Saugnäpfe auf Nelsons Herz, die Arme und die Beine. »Wo ist denn Mannus?« krächzte Randy mit zitternder Stimme. »Du hast doch gesagt, Rachel kommt auch.« Nelson machte sich gar nicht erst die Mühe, diese Frage zu beantworten. Schließlich hatte er ja selbst keine Ahnung, ob Rachel noch auftauchen würde oder nicht. Statt dessen fuhr er mit seinen Anweisungen fort. »Steckle, du injizierst mir zwanzig Milliliter Natriumpentothal, sobald die Wirkung des Lachgases eingetreten ist. Anschließend Sauerstoffzufuhr. Sobald die EKG-Kurve auf dem Monitor verschwindet, die Flat line erscheint und der Herztod eingetreten ist, Sauerstoffzufuhr unterbinden. Wenn dann auch auf dem EEG-Monitor diese Nullinie erscheint, habe ich meine Forschungsreise angetreten. Warte dreißig Sekunden. Dann schalte die Kombidecke auf Heizen um. Aber paß auf, das Ding
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heizt sehr schnell. Erhöhe meine Körpertemperatur auf vierunddreißig Grad. Langsam, denk daran. Anschließend wieder O-Zwei-Zufuhr. Dann injiziere mir ein Milliliter Adrenalin. Joe, nach genau einer Minute bist du dran. Elektroschock. Du hast die Ehre, mich ins Leben zurückzuholen.« »Wenn überhaupt, mit einem Hirnschaden«, erklang Rachels Stimme von der Tür des Labors. »Dann wirst du dich im Laufstall wieder ganz wie zu Hause fühlen. Sofern du Glück hast.« »Nicht, wenn wir vorher mit der Körpertemperatur auf dreißig Grad heruntergehen«, erwiderte Nelson lächelnd. »Möchten Sie die Injektionen übernehmen, Doktor Mannus?« Rachel zögerte. Sie betrachtete Nelsons Gesicht, als wollte sie versuchen, seine Gedanken zu lesen. Er erwiderte fest ihren Blick, ohne zu blinzeln, und sie sah seine eiserne Entschlossenheit. Schließlich nickte sie und trat ins Labor. »Moment! Moment mal...« Randall Steckles Stimme klang verzweifelt. »Warte. Eine ganz einfache Frage, Nelson. Warum tust du das?« »Eine ganz einfache Antwort. Um zu sehen, ob dort drüben, jenseits des Todes, irgend etwas ist«, erwiderte Nelson. »Zum ersten Mal in der Geschichte steht der Menschheit die entsprechende Technologie zur Verfügung, um eine solche... Reise zu unternehmen. Und ein Mann, der dazu bereit ist. Die Philosophie hat versagt. Die Religion hat versagt. Jetzt liegt es an uns ... den Naturwissenschaftlern. Ich glaube, die Menschheit hat Anspruch darauf zu erfahren, ob und was sich jenseits des Todes befindet.« »Aha. Du tust das also für die... Menschheit?« In Joe Hurleys Bemerkung klang unüberhörbar Zynismus mit. »Das glaubst du doch selbst nicht, Nelson«, sagte Steckle hitzig. »Du handelst nach dem Motto >Ein großer Schritt für die Menschheit, und ein noch größerer für Nelson Wright, den zukünftigen Nobelpreisträger.« »Oder der zukünftigen Leiche, in Ewigkeit, amen«, sagte Joe. Nelson lächelte sein typisches eigenartiges Lächeln. »Natürlich wird der Ruhm sich nicht vermeiden lassen.« »Das ist eine miese, schlechte Begründung«, sagte Rachel ruhig. »Aber es ist das richtige Experiment. Hier...« Nelson
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schob eine Hand in die Hosentasche und zog die Erklärung hervor, die er vor einer guten Stunde verfaßt hatte. Er reichte sie Joe. »Dieses Dokument spricht euch von jeder Schuld frei... nur für den Fall...« »Nelson, du ...« sagte Randy mit leiser Stimme. »Wie wär's, wenn du mir jetzt 'ne Ladung Lachgas verpaßt, Rachel?« unterbrach Nelson ihn. »Wenigstens werde ich dann lächelnd abtreten. Hurley, hol die Kombidecke. Und denkt daran: Wir sind Profis, und ich bin sicher, daß alles... nun ja, reibungslos klappt.« »Deine Beerdigung bestimmt. Hör mal, kann ich dein Apartment haben, wenn du abkratzt?« Rachel stieß scharf den Atem aus. Randy wurde blaß. Sie beide wandten sich zu Joe um. Joe errötete, was noch nie jemand erlebt hatte. »Ein Scherz«, sagte er rasch. »War ja nur ein Scherz.« Aber es war ihm sicherlich peinlich. »Also. Eine Minute«, sage Nelson grinsend. »Eine Minute im Jenseits, dann wieder zurück. Okay. Achtet genau auf die Zeitangaben. Mister Hurley — Aufnahme ein, fertig — Klappe.« Den Recorder auf die Schulter gestützt, begann Joe den Passagier auf seiner Reise ins Unbekannte zu filmen. Nelson beugte sich zur Seite und knipste die steife, mit Wasser gefüllte Kombidecke an, deren Wandung aus einem in der Raumfahrt entwickelten, neuartigen Kunststoff bestand und in deren Innern sich sowohl Kühl- als auch Heizschlangen befanden, die von getrennten Kontrollsystemen überwacht und gesteuert wurden. Nelson stellte die höchstmögliche Kühlstufe ein. Auf seine Freunde machte er einen ruhigen und völlig furchtlosen Eindruck. Randy Steckle jedoch zitterte am ganzen Körper, als er Nelson die Anästhesiemaske reichte. Sofort beugte Rachel sich über Nelson und drückte ihm schnell und geschickt die Infusionsnadel in den Unterarm; dann schob sie mit einer entschlossenen Bewegung die Patrone mit dem Natriumpentothal ins Infusionsgerät. Nelson blickte Rachel direkt ins Gesicht. »Versprich mir, daß du bis zum Ende durchhältst, wie immer es ausgeht«, flüsterte er, und jetzt war die Angst in seiner Stimme unüberhörbar.
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»Bis gleich«, erwiderte Rachel mit ebenso leiser Stimme. Nelson hob die Anästhesiemaske vors Gesicht und legte sie sich auf Mund und Nase. Dann reckte er grüßend den Daumen der rechten Hand in die Höhe und begann seine Reise in den Tod. Die drei anderen starrten auf Nelson, schweigend, bestürzt und ängstlich, während er allmählich in Bewußtlosigkeit versank. Von der flachen Atmung abgesehen, waren Nelsons Lebenszeichen jetzt nur noch auf beiden Monitoren — EEG und EKG — in Form gezackter Linien zu erkennen, die gleichzeitig auf rotierende Papierwalzen übertragen wurden, so daß eine ständige Kontrolle der Hirn- und Herzaktivitäten gewährleistet war. Rachel Mannus löste sich als erste aus der Erstarrung. Sie trat an das Bett, überprüfte die Druck- und Temperaturanzeige der Kombidecke, nahm Nelson die Anästhesiemaske vom Gesicht und legte ihm eine Sauerstoffmaske auf. Das Experiment erforderte die Zufuhr von Sauerstoff bis zum Eintritt des Herztodes. Dann wurde Nelson auch diese Maske abgenommen, um sicherzugehen, daß der Hirntod ebenfalls eintrat. »Körpertemperatur sechsunddreißig Grad«, verkündete Rachel. »Lieber Gott, laß ihn einfach nur ein bißchen pennen«, sagte Steckle nervös. Sein rundes Gesicht war verzerrt wie das eines weinenden Kindes, und trotz der Kälte im Labor brach ihm der Schweiß aus. »Hoffentlich hat er nur 'nen feuchten Traum und glaubt hinterher, er wäre im Himmel gewesen.« »Kein schlechter Gedanke«, sagte Hurley. »Dann bin ich als nächster dran.« Aber unter seiner aufgesetzten Flapsigkeit wütete die Furcht. »Vierunddreißig Grad«, sagte Rachel, ohne die Temperaturanzeige für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Ist ja nur für eine verdammte Minute«, sagte Hurley. »Außerdem haben wir seine Erklärung.« »Dieser Wisch ist einen Scheißdreck wert!« stieß Randy hervor. Er machte sich jetzt nicht mehr die Mühe, seine Angst zu verbergen. Ein so tiefes, gefährliches Gewässer wie dieses hatte er in seinem bisher sorgenfreien Leben noch nicht durchwatet.
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»Jetzt weiß ich wenigstens, wozu ich hier bin«, meldete Rachel sich mit kühler Stimme. »Nelson muß gewußt haben, daß euch beiden die Nerven durchgehen.« Sie schnappte sich die löffelförmigen Elektroden des Defibrillators — des Elektroschockgeräts —, rieb sie aneinander, um die nötige Spannung zu erreichen, und trat damit an das Bett. »Gehe auf zweihundert Joule.« Steckle wandte sich zur Tür. »Ich hau' ab. Ihr seid ja verrückt. Ich hab' die Schnauze voll. Ich glaube, ich hab' mich klar genug ausgedrückt. Gute Nacht.« »Vermutlich hat Randy recht«, sagte Joe und leckte sich nervös die Lippen. »Willst du tatsächlich alles aufs Spiel setzen? Deine Karriere? Deine Zukunft? Nelsons Leben?« Rachel zögerte, ließ die Elektroden wieder sinken. Sie warf einen Blick auf die Monitore. Die gezackten Linien auf dem EKG-Monitor waren zwar flacher geworden, aber das Herz arbeitete noch stark genug, wie auch die deutlich ausgeprägten Berge und Täler auf der rotierenden Papierwalze bewiesen. Noch war es nicht zu spät. Noch konnten sie das Experiment gefahrlos abbrechen, ihren Krempel zusammenpacken, nach Hause gehen und die ganze Sache vergessen. Ja, dachte Rachel. Die beiden haben recht. Den Versuch abzubrechen, gebieten schon die Vernunft und der gesunde Menschenverstand. Plötzlich kam Randy zurück ins Labor gestürmt. »Da kommt jemand!« flüsterte er mit vor Entsetzen heiserer Stimme. »Dann sieh zu, daß du ihn ablenkst«, sagte Rachel gehetzt. »Verdammter Mist!« keuchte Joe. Jetzt steckten sie gewaltig in der Scheiße. Sie konnten in so kurzer Zeit nichts tun. Schließlich lag Nelson dort auf der Trage, unter der verfluchten Kombidecke, seine Körpertemperatur sank, und sein Herzschlag, seine Atmung und seine Hirntätigkeit ließen mehr und mehr nach, brachten Nelson mit jeder Sekunde dem Tod näher. Sie konnten ihn nicht einfach hier zurücklassen. Würde man sie andererseits hier bei diesem Wahnsinn auf frischer Tat ertappen, würde man sie alle von der Uni jagen. Mehr noch. Vor Gericht stellen. Schritte näherten sich draußen auf dem Flur. Rachel, Joe und Randy hielten den Atem an. Eine hochgewachsene Gestalt erschien in der Tür des Labors
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und verharrte dort. David Labraccio. »Ist er tot?« fragte David ohne Umschweife. Er trat an das Bett heran und blickte auf Nelson, der regungslos, mit geschlossenen Augen unter der Kombidecke lag. »Noch nicht«, sagte Joe Hurley leise. »Gott sei Dank, daß du gekommen bist«, stieß Randy hervor. »Bring den Typen hier endlich Vernunft bei!« David ließ den Blick über die Apparaturen schweifen, sah dann die drei anderen an und erfaßte sofort die Situation. Sie hatten ihre Meinung geändert; sie wollten das Experiment abbrechen, bevor Nelson starb. Die ganze Sache würde sich als einziger großer Fehlschlag erweisen. Aber das durfte und sollte nicht sein. Er, David, war es Nelson schuldig, bei diesem Versuch so weit zu gehen, wie es vertretbar war. David ging auf Rachel zu. »Ich werd's tun«, sagte er und streckte die Hände nach den Defibrillator-Elektroden aus. »Du willst...?« Rachel blickte ihn an, mit einer Mischung aus Erstaunen, Unwillen und Angst. »Ich hab' nichts mehr zu verlieren«, erwiderte David. »Nur Nelsons Leben«, sagte Randy. David antwortete nicht. Das Meßgerät an der Kombidecke zeigte mittlerweile 31 Grad Körpertemperatur an. David war klar: Falls sie das Experiment doch noch durchführen wollten, dann mußte es sehr schnell geschehen. Und falls sie Nelson retten wollten, bevor er starb, mußte es sofort geschehen. Jede weitere verlorene Sekunde konnte katastrophale Folgen haben. »Ich werde ihn zurückholen«, sagte David. Es klang so überzeugt, daß Rachel ihm nach kurzem Zögern die Defibrillator-Elektroden reichte. Aber was hatte David gemeint? Wollte er Nelsons Experiment doch noch durchführen? »Körpertemperatur?« fragte David. »Dreißig Grad«, sagte Rachel. »Okay.« David drückte die Elektroden fest auf Nelsons Brust. »Jetzt!« rief er. Als der Elektroschock erfolgte, ging ein heftiger Ruck durch Nelsons Körper. Der Herzschlag hatte ausgesetzt. David streckte die Hand nach der Sauerstoffmaske aus. »Nein!« schrie Randy Steckle entsetzt. »Er will das Experi-
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ment . . .!« »Das wirst du nicht tun!« Joe Hurley war mit drei schnellen Schritten bei David und packte dessen Arm, aber David stieß Joe heftig zur Seite und nahm Nelson die Sauerstoffmaske vom Gesicht. »Du verdammtes Arschloch!« brülle Joe. »Du bringst ihn um!« schrie Steckle, am Rande der Hysterie. »Das ist Mord. Kein Wunder, daß man dich gefeuert hat!« »Großer Gott«, murmelte der sonst so coole Joe Hurley. »Er hat ihn tatsächlich getötet.« Plötzlich ertönte ein rhythmischer Warnton vom EKG-Gerät, der sich Sekunden später in ein dumpfes, durchdringendes Dröhnen verwandelte. Die vier jungen Leute fuhren herum, starrten auf den Monitor. Die über den Bildschirm wandernden Zacken waren verschwunden, nur noch eine lange, ruhige flache Linie war zu sehen. »Flat line«, sagte Rachel Mannus leise. Sie alle wußten, was das bedeutete. Herztod. Kein Puls, kein Herzschlag, keine Atmung mehr. Nur... Flat line. »Na los, film weiter«, wandte David sich schroff an den wie erstarrt dastehenden Joe Hurley und richtete dann seine ganze Aufmerksamkeit auf den leblosen Körper Nelson Wrights. »Um Himmels willen, tu's nicht, David!« kreischte Steckle, der nun völlig durchdrehte. »Rühr ihn nicht mehr an! Ich hab' nicht Medizin studiert, um meine Kommilitonen abzumurksen, egal, wie verrückt sie auch sein mögen!« »Sei endlich still!« sagte Rachel, die auf der anderen Seite der Trage stand, mit ungewohnter Schärfe in der Stimme. Auch sie konnte, wie Labraccio, an nichts und niemand anderen mehr denken als an Nelson Wright. Sie assistierte nun David, half ihm bei jedem seiner Schritte, so ruhig und sicher, als hätten sie schon immer zusammengearbeitet. David Labraccio hatte Nelson inzwischen die Sauerstoffmaske vom Gesicht genommen. Jetzt stellte Rachel das EKGGerät ab. Der schrille Warnton verstummte; die plötzliche Stille wirkte gespenstisch. Dann warteten sie schweigend. Aller Blicke waren jetzt auf den zweiten Monitor gerichtet, der mit dem EEG-Gerät gekoppelt war. Auch hier wurden die Wellenlinien immer flacher; die Nadel, die vor wenigen Minuten noch
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hektisch Nelsons Hirnfunktionen auf die rotierende Papierwalze übertragen hatte, schlug nun, da dem Hirn kein lebenswichtiger Sauerstoff mehr zugeführt wurde, schwächer und schwächer aus; die Linie auf dem Bildschirm, vorhin noch kräftig gezackt, war jetzt dünn, wie von zittriger Hand gezogen. »Ich frag' mich, was er jetzt wohl denkt. Oder sieht. Oder fühlt«, flüsterte Joe leise. »Herzstillstand«, sagte Labraccio mit ruhiger Stimme und beobachtete Nelson mit emotionslosem, wissenschaftlichem Interesse. »Der Restsauerstoff geht zur Neige. Die Schwingungen auf dem Monitor könnten... Panik sein, wir wissen es nicht.« »Oder ein friedlicher Übergang in den . . . in den ...« Rachel sprach es nicht aus. Schwächer und schwächer. Flacher und flacher. Die Linie wurde zunehmend glatter, ruhiger, während Nelsons Wrights Hirn vor ihren Augen an Sauerstoffmangel starb. Bald würde die zweite Nullinie auf dem Bildschirm erschienen — und Nelson Wright war tot. »O mein Gott, er stirbt«, flüsterte Randy Steckle; seine Augen hinter den dicken Brillengläsern waren weit aufgerissen. Nach einer Ewigkeit — die nur ein paar Sekunden gedauert hatte — gab das EEG-Gerät die gleichen rhythmischen Warnsignale ab wie vorher das EKG, bis auch diese verstummten und nur noch ein lautes, tiefes Dröhnen zu vernehmen war. Die Linie auf den Bildschirm war jetzt vollkommen ruhig und flach. David streckte die Hand aus und drehte den Lautstärkeregler auf Nullstellung. Randy Steckle stöhnte, senkte den Kopf und legte die Hände vors Gesicht. Er war, wie alle anderen, von furchtbarer, quälender Angst erfüllt. Sie alle waren Zeugen von etwas Unheimlichem und Unbekanntem. »Hirntod. Flat line«, stellte Rachel ohne sichtliche Regung fest. Der Ausdruck auf ihrem ernsten Gesicht war nicht zu deuten; ihr Geist war jetzt weit, weit fort, all ihre Gedanken waren bei Nelson Wright, als sie versuchte, sich sein Sterbeerlebnis vorzustellen — vergeblich. »Stell den Monitor wieder lauter.« Randys Stimme war kaum zu vernehmen. »Es ist so furchtbar still hier drin.« »Totenstill«, sagte Joe.
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David drehte am Lautstärkeregler des EEGs. Das tiefe Dröhnen erklang wieder. »Laß mich die Wiederbelebung versuchen«, bettelte Randy mit brüchiger Stimme und wies auf die Defibrillator-Elektroden. Er war jetzt den Tränen nahe. »Nelson ist tot. Das reicht, verdammt noch mal. Laß mich versuchen, ihn zurückzuholen.« »Du achtest auf die Tür«, erwiderte David schroff. »Wenn man uns hier erwischt, sind wir alle so gut wie tot.« »Verzeihung«, meldete sich Hurley nervös zu Wort. »Ich möchte ja keinem von euch den schönen Abend verderben, aber haben wir überhaupt noch 'ne Chance?« Niemand schenkte ihm Beachtung. Rachel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, notierte die genaue Zeit. »Noch vierzig Sekunden«, sagte sie. »Fang an zu filmen, Joe.« Die einzigen Geräusche im Labor waren jetzt das Dröhnen des Monitors und das leise Surren von Joes Videokamera. Jetzt blieb ihnen nichts mehr zu tun, als schweigend und ängstlich zu warten. Sie in ihrer Welt — und Nelson in der seinen.
4 Lange Jahre hatte Nelson Wright sich gedanklich eine experimentelle Reise in den Tod ausgemalt, doch mit etwas Derartigem hätte er niemals gerechnet. Genau wie Rachel hatte auch Nelson sämtliche Geschichten derjenigen Patienten, die angeblich aus dem Jenseits zurückgekehrt waren, geradezu mit Besessenheit verfolgt — Berichte von Patienten, die auf dem Operationstisch >gestorben< waren; von Männern und Frauen, die Schußverletzungen >erlegen< oder >ertrunken< oder >erstickt< waren oder einen wie auch immer gearteten gewaltsamen >Tod< erlitten hatten und die man mit Hilfe modernster medizinischer Technik ins Leben zurückgeholt hatte, die ihre Wiederbelebung erfahrenen Unfallsanitätern oder Ärzten verdankten, oder die dem Tod durch ein >Wunder<, wie es die Revolverblätter so gerne bezeichneten, von der Schippe gesprungen waren. Jedenfalls hatte Nelson die
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Berichte von Menschen, die eine wenn auch noch so kurze Reise in das vollkommen unerforschte Gebiet des Todes hinter sich hatten, begierig in sich aufgenommen. Fast alle diese Berichte über Sterbeerlebnisse wiesen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit auf. Immer wieder war insbesondere von drei Dingen die Rede — erstens von einem >himmlisch leuchtenden Tunnel <, der durchquert wurde und der schließlich zu einem Licht führte, einem >wunderbar strahlenden Licht von unwiderstehlicher Anziehungskraft<, das die Menschen in sein Inneres, sein >Herz< gesogen hatte. Bei der dritten Erfahrung, von der immer wieder die Rede war, handelte es sich um das Erlebnis der Entkörperlichung und der Fähigkeit, >in die Höhe zu schweben< und auf den eigenen, toten Körper >hinunterzublicken<. Diese drei Hauptelemente des Sterbeerlebnisses — Tunnel, Licht und Entkörperlichung — hatte Nelson sich vor seinem experimentell herbeigeführten Tod wieder und wieder vor Augen geführt, sich förmlich ins Gedächtnis eingebrannt. Als er starb, war Nelsons erste >Beobachtung<, daß es dieses Licht zwar gab, daß es sich aber stark von jenem Licht unterschied, wie es diejenigen geschildert hatten, die ein Sterbeerlebnis gehabt hatten und zurückgekehrt waren. Es gab keinen richtigen >Tunnel aus himmlischem Licht<. Statt dessen erinnerte dieses Licht weit mehr an den klaren, hellen Sonnenschein eines Sommertages; ein Licht, das Nelson vollkommen umhüllte, überflutete, in seinen Strahlen badete. Und dieses helle, allgegenwärtige Tageslicht zog Nelson voran; er hatte das Gefühl, ins Zentrum, ins >Herz< dieses Lichtes laufen zu müssen. Und er tat es. Tat es gern, bereitwillig, ja glücklich, wie ein kleines Kind, das zur Mutter läuft, um Liebe, Wärme, Zärtlichkeit und Geborgenheit zu finden. Und er war wieder ein Kind; irgendwo konnte er andere kindliche Stimmen vernehmen. Und es gab einen zweiten wesentlichen Unterschied zu den Berichten über Sterbeerlebnisse: Nelson machte nicht die Erfahrung der Entkörperlichung, >schwebte< nicht über der Trage und konnte nicht auf den eigenen toten Körper hinunterblicken. Ganz im Gegenteil — nie hatte er ein so intensives Körpergefühl verspürt, nie hatte er, seinen Körper lebendiger empfunden. Er war sich seiner Finger und Zehenspitzen bewußt, er spürte, erlebte und genoß deren >Fünfheit< mit unglaublicher Intensität.
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Und mehr noch: Er konnte spüren, wie das Blut durch seine Adern floß, obwohl sein Herz zu schlagen aufgehört hatte. Er konnte spüren, wie sein dichtes, dunkelblondes Haar träge in einer lauen Sommerbrise wehte, war sich aber jedes einzelnen Haares bewußt. Und seine Haut, das Organ des Körpers mit der größten Ausdehnung, war unfaßbar empfindlich, schon der leisesten Berührung gegenüber, als schwelge die Haut in Wahrnehmungen und Empfindungen, als verschmelze sie in wundervoller Harmonie mit der Umwelt. Blitzschnell durchraste ihn die Vorstellung, daß die Empfindungen nach dem Tod eine gewisse Ähnlichkeit mit einem unglaublich intensiven LSD-Trip aufweisen mochten, doch bevor dieser Gedanke deutlich Gestalt annehmen konnte, hatten die Eindrücke dieses wunderschönen Sommertages ihn vollkommen gefangen. ; Er rannte, von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl durchströmt, über eine blumenbestandene Wiese, weit und sonnenbeschienen. Unter den Füßen spürte er das Gras, feucht und federnd und frisch, und er lachte hell, als die Spitzen seiner Turnschuhe die weißen Federkronen des Löwenzahns trafen und glitzernde Wolken ins Sonnenlicht stoben. Von einem Getreidefeld in der Nähe wehte der intensive Geruch von reifem Weizen zu ihm herüber; die wogenden Ähren schimmerten wie ein goldfarbenes Meer im leichten Wind. Nelson hörte von irgendwoher das helle, freudige Gebell eines jungen Hundes, und dazu Stimmen, Jungenstimmen, und ganz plötzlich wußte er mit absoluter Gewißheit, daß auch er wieder eine Junge war. Wie alt? Neun, vielleicht? Er war nicht sicher. Aber es war so unwichtig, so vollkommen unwichtig; es war Hochsommer, ein strahlendschöner Tag, und die Schule war aus, und er spielte, hatte Freunde, war glücklich. »Noch dreißig Sekunden«, sagte David Labraccio. »Okay, fangen wir an. Wir müssen seine Körpertemperatur jetzt schnell, aber gleichmäßig erhöhen.« Er stellte den Schalter der Kombidecke auf die höchste Heizstufe, und Augenblicke später fingen die Heizspiralen zu glühen an. David behielt die Temperaturanzeige sorgfältig im Auge.
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Sie spielten Fangen, und nun war Nelson an der Reihe, einen anderen Jungen zu erwischen, ihn mit der Hand zu berühren, und sie alle rannten über die Wiese. Aber so schnell Nelson auch lief, die anderen waren schneller. Und dennoch spürte er keine Müdigkeit, keine Erschöpfung, keinen Zorn, nur fröhliche Heiterkeit. Er war sich vollkommen bewußt, daß er rannte, atmete, lebte, sich freute; spürte, wie seine Wadenmuskeln sich beim Laufen unter dem Stoff seiner Jeans spannten, spürte, wie der Wind in seinem Haar spielte, spürte, wie sein Herz schlug; er hörte das Lachen der anderen. Es war so schön, so wunderschön. Warum war er nicht schon früher hierher zurückgekehrt?
David Labraccio überprüfte weiter die Körpertemperatur; sie stieg jetzt rasch und gleichmäßig an. »Zweiunddreißig Grad«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Zweiunddreißigeinhalb. Noch zwanzig Sekunden. Steckle, Natriumbikarbonat und Ephedrin bereithalten. Dreiunddreißig Grad. Rachel, Defibrillator in Bereitschaft?« »Ja.« Randy Steckle streckte die Hand nach den Spritzen mit den von David genannten Chemikalien aus, die schon auf dem Instrumentenwagen bereitlagen, aber Rachel rief: »Warte, Randy. Vierunddreißig Grad. Die Körpertemperatur ist noch nicht hoch genug.« Sie warteten weiter, warteten auf jede noch so winzige Veränderung von Nelsons Körperfunktionen, jederzeit bereit einzugreifen. Jetzt waren sie zu einem funktionierenden Team zusammengewachsen. Der junge Hund hetzte um ihn herum, sprang verspielt an seinen Beinen hoch, rannte ein paar Meter fort, jagte dann wieder heran; die Zunge hing ihm aus dem Maul; er kläffte und hechelte; aufgeregt wedelte er mit dem Schwanz. Was als Spiel begonnen hatte, wurde immer mehr zum Wettbewerb. Die heitere Unbeschwertheit schwand. Nelson war jetzt schon sehr lange derjenige, der einen der anderen fangen mußte, doch es:
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gelang ihm nicht; immer wieder wichen die Jungen ihm aus, sprangen zur Seite. Sie waren schneller als er, sie blieben unerreichbar. Das Gelächter hatte jetzt einen hämischen Unterton, und plötzlich brannte die Sonne heiß auf Nelsons Nacken; er spürte, wie die Haut sich rötete und spannte, wie sich ein Sonnenbrand bildete. Es war jetzt keine liebliche, goldgelbe, milde Sonne mehr — es war eine sengende weiße Scheibe ... grell und weiß, so furchtbar grell und weiß ... und sie schien im Himmel zu wachsen... immer größer und greller und heißer zu werden ... und näher zu kommen... »Körpertemperatur fünfunddreißig Grad!« sagte Randy Steckle drängend. David Labraccio riß Rachel die Defibrillator-Elektroden aus den Händen und rieb sie aneinander, erhöhte die Ladung. »Fertig!« rief er und drückte die beiden stählernen Löffel auf Nelsons Wrights nackte Brust. Zweihundert Volt rasten durch Nelsons Körper, der sich konvulsivisch aufbäumte — und dann schlaff und leblos zurück auf die Trage fiel. David erstarrte vor Entsetzen. »Nichts!« Steckles weit aufgerissene Augen waren auf den EKG-Monitor gerichtet, der nicht die kleinste Veränderung anzeigte. Immer noch war nur die Linie des Todes zu sehen: Flat line. »Keine Anzeige! Nicht ein einziges, gottverdammtes...« »Dreihundert Joule!« unterbrach David ihn. Wieder rieb er die Elektroden aneinander, bis er die gewünschte Spannung erreicht hatte. »Fertig. Jetzt!« rief er. Ein weiterer, stärkerer Stromschlag jagte durch Nelson Wrights Leichnam, der wieder heftig zuckte, sich aufbäumte. Ein gehetzter Blick Davids auf den EKG-Monitor. Flat line. »Verdammte Scheiße! Herzmassage!« rief David und warf Rachel die Elektroden zu. »Aufladen! Dreihundertfünfzig Joule!« David preßte die Handballen auf Nelsons Brustbein und begann, kräftig und rhythmisch zu drücken. Nichts. »Körpertemperatur?« »Sechsunddreißig Komma sieben«, meldete Rachel.
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David stellte die Herzmassage ein, wischte sich über die Stirn, blickte Rachel an. »Elektroschock«, sagte er zu ihr. »Dreihundertfünfzig.« • »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« schluchzte Randy. Joe Hurley stieß ihn zur Seite, trat mit der Videokamera nahe an die Trage heran und beugte sich vor, um eine Nahaufnahme von Nelsons starrem, leerem Gesicht zu machen. Wieder bäumte der Körper sich wild auf, als der Stromschlag erfolgte. Und wieder fiel er schlaff und leblos zurück. Flat line. Nelson war nicht mehr der Fänger. Denn jetzt war es ein anderes Spiel, und einer der anderen Jungen versteckte sich, und den mußten sie nun finden; die Jungen schrien und kreischten, und der Hund bellte wie verrückt, hetzte zwischen ihren Beinen hindurch, sprang sie an, knurrte. Wo war der Junge? Ja, jetzt war es kein Fangenspielen mehr, sondern ein Versteckspielen; die Stimmung war völlig verändert, und Nelson führte die Jungen an, hielt auf einer Baumgruppe zu, und die anderen folgten ihm. Die Bäume waren hoch, höher, als Nelson sie in Erinnerung hatte. . . in Erinnerung hatte? War er denn schon mal hier gewesen? Waren diese Bäume eine neue Erfahrung oder eine Erinnerung? Sie waren riesig, erdrückend, mit zerfurchter, rauher Rinde und dicken Stämmen; die untersten der starken, weit ausladenden Äste waren mindestens sechs Meter über dem Waldboden. Die Wipfel waren wie gewaltige Kronen aus dunklen Blättern; die Bäume sahen aus wie bedrohliche Riesen mit schwarzem Haar. Der neun Jahre alte Nelson mochte diese Bäume nicht. Sie jagten ihm Angst ein. Er wollte nicht näher an sie heran, aber... Mein Gott, dieses Gesicht! Hoch oben zwischen den Ästen und Zweigen, dieses Gesicht! Das Gesicht eines Kindes, und dennoch kein kindliches Gesicht; irgend etwas, das unendlich viel verzerrter, grotesker war als das Gesicht eines Kindes. Nelson jagte ein eisiger Schauder über den Rücken. Er konnte es nicht fassen. Das war nicht möglich. Das war doch nicht möglich!
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Blip. Plötzlich begann die EKG-Linie leicht zu schwingen. Dann bildete sich der erste kleine Zacken, wanderte über den Monitor. Ein zweiter Zacken folgte, ein dritter. . . David wischte sich fahrig übers Gesicht. Rachel starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Monitor. Randy stand mit: offenem Mund da; auf seinem Puttengesicht lag grenzenloses Erstaunen. Und Joe richtete die Kamera auf den kleinen Bildschirm, schwenkte sie dann zurück auf Nelson. »Wir haben ihn!« brüllte er dabei triumphierend. »Sauerstoff!« David riß sich aus seiner Erstarrung; Randy drückte die Maske auf Nelsons wachsbleiches Gesicht. »Ephedrin injizieren!« Aber Davids Anweisung war überflüssig. Rachel war bereits dabei, Nelson einen Milliliter des Heilmittels zu spritzen. »Injiziert«, sagte sie. Jetzt kamen die bangen, endlosen Sekunden des Wartens und Hoffens. Sie alle konnten den Blick nicht von Nelsons Körper, lösen, der vor ihnen auf der Trage lag, jenem Körper, der für eine Minute tot gewesen war. Unglaublich. Sie alle warteten auf das Wunder, das sie — vielleicht — vollbracht hatten. Und dann kehrten nach und nach die Lebenszeichen zurück. Zuerst bekam Nelsons weißes Gesicht langsam wieder etwas Farbe. Die Lider zuckten. Der Kopf bewegte sich ganz leicht. »Ja, Joe, du hast recht«, flüsterte David fast andächtig. »Wir haben ihn. Er ist jetzt im REM-Schlaf.« Dann, urplötzlich, schlug Nelson Wright die Augen auf. Er ließ den Blick von einem zum anderen schweifen, schaute in die faszinierten, ungläubigen Gesichter seiner Kommilitonen; er stellte sogar mit leichter Erheiterung fest, daß Randys Gesicht schweißglänzend war und seine Augen feucht schimmerten, daß der sonst so coole Joe Hurley ihn völlig fassungslos anstarrte, daß David Labraccio leicht zitterte und daß sich auf Rachels sonst so ernstem Gesicht Freude, Heiterkeit und Erleichterung spiegelten; ihr dichtes Haar klebte auf ihrer schweißnassen Stirn. »Nelson? Nelson, kannst du uns hören?« fragte Rachel leise. Nelson Wright lächelte sie an. »O Mann, du verdammter Hurensohn!« jubelte Joe überwältigt. »Du hast es geschafft!«
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Nelson Wright nickte schwach. Er hatte noch nicht die Kraft zu sprechen. Sein Mund war aufgrund der Drogeneinwirkung pulvertrocken, und in seinem Schädel tobte wütender Schmerz. Sein Herz schlug rhythmisch, aber noch schwach. Doch er konnte das Erstaunen und die Freude, die Erleichterung und die Bewunderung in den Gesichtern der anderen sehen, und das erfülle ihn mit Stolz. Er hatte einen Schritt getan, den noch kein Mensch vor ihm getan hatte. Es hatte geklappt! Sein verrücktes Experiment hatte sich letztendlich als doch nicht so verrückt erwiesen. Er, Nelson, war gestorben und dann von den Toten wiedergekehrt. Er hatte auf dem Fließband gestanden, hatte einen Blick ins Jenseits geworfen. Er war zurückgekehrt, ohne daß ihm etwas zugestoßen war. Und vor allem wußte er jetzt mit absoluter Sicherheit: Irgend etwas war dort drüben...
Sie führten ihn aus dem Dog Lab wie einen Helden aus der Schlacht. Er war in eine Wolldecke gehüllt, um seinen noch immer unterkühlten Körper zu wärmen. Sie alle waren erschöpft und müde, aber die Erleichterung und das Gefühl, den Tod besiegt zu haben, verliehen ihnen ungeahnte frische Kräfte. Was hatten sie vollbracht! Sie hatten dem Tod ein sicher geglaubtes Opfer entrissen. Welch eine Macht sie doch besaßen! Nelson Wright, ausgelaugt und hohlwangig, aber von einem inneren Triumphgefühl erfüllt und immer noch lächelnd, taumelte, auf die Schultern von Joseph Hurley und Randall Steckle gestützt, über den Korridor, gefolgt von David Labraccio und Rachel Mannus. Sie führten Nelson an den Wandgemälden von Hippokrates und Galen, Pasteur und Harvey, Lister und den anderen vorüber. Ich bin jetzt einer von ihnen, dachte Nelson stolz. Einer von den Großen, die Medizingeschichte geschrieben haben. Ja, er war der Mann, der jene Mauer durchbrochen hatte, die man für unzerstörbar hielt, und der mit kostbarem Wissen für die ganze Menschheit aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war. Nelson Wright, der Held, gleichrangig mit Hippokrates und Vesalius, Morton und Jenner. Zum ersten Mal in der Geschichte
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hatte ein Mensch das Risiko auf sich genommen, unter Kontrolle durch Mensch und Maschine die Reise in den Tod anzutreten, bewiesenermaßen, unter Zeugen und mit wissenschaftlicher Genauigkeit protokolliert und dokumentiert. Es war wie ein Rausch. Nelson schüttelte lächelnd den Kopf, als er dachte: wie Lazarus, von den Toten auferweckt durch Jesus. Wie Orpheus, der hinabstieg in die Unterwelt, um Eurydike, seine Geliebte, zurück ins Leben zu holen. Wie Prometheus, der es gewagt hatte, den Göttern das Feuer zu stehlen, um es den Menschen zu bringen. Gewiß, die Vergleiche hinkten allesamt. Prometheus war für seinen Raub und seinen Hochmut von den erzürnten Göttern schwer bestraft und an einen Felsen des Kaukasus geschmiedet worden, wo ein Adler ihm tagtäglich die Leber aus dem Leib fraß. Was den Göttern gehört, geben sie nicht her. Es ist der Wille der Unsterblichen, daß bestimmte Dinge der Menschheit vorenthalten bleiben. Aber auch der Tod gab bislang nicht her, was ihm gehörte. Die kalte Nachtluft ließ Nelson schaudern, und er zog die Wolldecke straffer. Sein erschöpfter Körper hatte sich noch nicht dem Temperaturunterschied angepaßt. Vor ein paar Minuten erst war er in der Hitze der Augustsonne über eine Blumenwiese gerannt, und jetzt war er wieder hier, an einem späten Abend Ende Oktober. Am klaren Himmel stand der Herbstmond, gespenstischer Begleiter der jungfräulichen Jagdgöttin Artemis. Heute war Vollmond, und die blassen silbernen Strahlen des Erdtrabanten beleuchteten den seltsamen kleinen Triumphzug, der sich langsam vom Taft-Gebäude entfernte. In den Milliarden von Jahren, in denen der Mond die Erde umkreiste, hatte er schon ungezählte rätselhafte, geheimnisvolle und seltsame Dinge gesehen, aber etwas so Seltsames wie an diesem späten Abend vielleicht noch nie. »Es ist, als wärst du auf dem Mond spaziert, alter Junge!« rief Joe überschwenglich, erfüllt von der Erhabenheit des Augenblicks. »Ist dir eigentlich klar, Nelson, wie gewaltig das ist?« sagte Randy Steckle fast ehrfurchtsvoll. »Kannst du dir das überhaupt vorstellen? Du hast ein Gebiet betreten, das den Göttern
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vorbehalten ist.« Randys Worte waren prophetischer, als er in diesem Augenblick wissen konnte. Noch nie hatten die Götter einen solchen Übergriff der Sterblichen hingenommen, und immer war ihre Rache schrecklich gewesen . . .
David Labraccios Army -Kleinlaster stand eine Querstraße vom Taft entfernt geparkt. Die kleine Gruppe wandte sich in diese Richtung, und als die jungen Leute den Wagen erreichten, setzte Nelson sich erschöpft auf das Heckteil der Ladefläche. Seine Knie zitterten leicht, aber nur für kurze Zeit. Die frische, kühle Luft sorgte dafür, daß sein Kopf allmählich klarer wurde, daß die Wirkung der Drogen nachließ, die ihm injiziert worden waren. Er fühlte sich schon ein wenig kräftiger, und erst jetzt wurde ihm so recht bewußt, welch einen Schritt er getan hatte - einen gefährlichen Schritt in die Unendlichkeit. »Danke für eure Hilfe«, sagte er zu den anderen. »Danke, daß ihr mich gerettet habt.« »Kannst du dich an irgendwas erinnern?« Das war die drängende Frage, die den ändern seit Nelsons Wiederbelebung auf der Zunge brannte, und nun, da er wieder zu sich selbst zu finden schien, da die erste Euphorie des Augenblicks verflogen war, war es Rachel, die diese Frage stellte. Nelson schwieg. »Kannst du dich an irgendein bestimmtes Gefühl oder eine körperliche Empfindung erinnern? Angst? Oder Freude? Hitze oder Kälte?« Joe Hurleys Gesicht war angespannt vor Neugierde. Nelson lächelte. Er wußte, daß er es seinen Freunden eigentlich schuldig war, diese Fragen zu beantworten. Aber dies war seine Tat gewesen. Er hatte das Risiko getragen, hatte die anderen im Falle eines Fehlschlags sogar schriftlich von aller Mitschuld entlastet. Nein. Das, was er wußte, was er erlebt hatte — es gehörte ihm allein. »Nein«, sagte Nelson schließlich. »Man kann die Eindrücke... nicht in Worte umsetzen. Es gibt keine Vergleichsmöglichkeiten, was die Gefühle und Empfindungen betrifft.«
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»Hast du denn einen Tunnel gesehen, an dessen Ende ein Licht strahlte?« wollte Rachel wissen. Nelson hob den Kopf, blickte in die neugierigen jungen Gesichter seiner Kommilitonen. O ja, sie waren gefesselt, verzaubert, fasziniert, warteten sehnsüchtig auf eine Antwort. Nelsons Lächeln wurde breiter; dann, ganz plötzlich, legte er in gespieltem Ernst die Stirn in Falten und senkte die Stimme, um einen möglichst tiefen Eindruck zu hinterlassen, bevor er langsam und jedes Wort betonend sagte: »Ich weiß jetzt, irgendetwas ist dort draußen.« Die anderen überlief es eiskalt, als sie diese Worte hörten. Der Wind frischte plötzlich auf und jagte Wolken über den Himmel, die sich rasch vor den Mond schoben. Die Dunkelheit senkte sich beängstigend schnell herab. Die Luft war feucht, erfüllt vom frischen Geruch einer sich rasch nähernden Regenfront. Unruhe und Unbehagen ergriff die kleine Gruppe; schlagartig schien es sehr viel kälter geworden zu sein. Sie beendeten ihre Gespräche und stiegen in Davids Army -Truck. Erst jetzt, wo sie sich vom Taft-Gebäude entfernten und die Spannung langsam von ihnen abfiel, spürten sie, wie hungrig und durstig wie waren. Als die Freunde den nächstgelegenen Schnellimbiß erreichten, hatte Nelson sich in tiefes Schweigen gehüllt. Er saß zusammengekauert auf der Ladefläche des Trucks, die wärmende Decke eng um sich geschlungen, und starrte hinauf zum Mond, der immer wieder zwischen den vorüberziehenden Wolken zum Vorschein kam. Nelsons Gesichtsausdruck wirkte seltsam abwesend und dennoch konzentriert; er schien tief in Gedanken versunken. Als Joe, Randy und Rachel im Schnellimbiß verschwanden, um eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken, nahm David das Blutdruckmeßgerät, legte Nelson die Manschette um den Arm, pumpte sie auf und warf einen Blick auf die Anzeige. Neunzig zu fünfundsiebzig. Ein niedriger Wert, aber das war nicht anders zu erwarten. Der Blutdruck würde sich rasch wieder normalisieren. Was David störte und irritierte, war das beharrliche Schweigen seines Freundes, zumal Nelson sonst immer für zynische Sticheleien gut war oder wenigstens Bemerkungen machte, die seiner eigenen, seltsam düsteren Lebensphilosophie
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entstammten. »Fühlst du dich nicht gut, Superman?« fragte David grinsend, aber Nelson lächelte nicht zurück, zeigte keine Reaktion. Im Mondlicht sah sein Gesicht sehr jung aus; seine Augen waren unergründlich und schienen in weite Fernen zu blicken. »Labratsch, ich. . . ich fühlte mich wie ein hochempfindlicher Empfänger«, sagte er dann plötzlich keuchend. »Sag mal, kannst du eigentlich auch den Verkehr auf der Hundertachtundzwanzigsten hören?« David runzelte die Stirn. Was redete Nelson da? David beugte sich wieder über die Anzeige des Blutdruckmeßgeräts. Keine Veränderung. »Nein, höre ich nicht«, sagte er dann. »Und ... außerdem kann ich ein ... Summen hören. Kommt von den Straßenlaternen.« Den Straßenlaternen? David schaute unwillkürlich hinauf zu den grellen Lampen, blickte dann den Freund mißtrauisch an. Aber Nelsons Gesichtsausdruck war vollkommen ernst; er hielt den Kopf leicht zur Seite gelegt und schien sich nur auf die Geräusche zu konzentrieren, die er zu hören glaubte. David ließ die Luft aus der Manschette des Blutdruckmeßgeräts und lauschte dann ebenfalls. Einen Augenblick lang hörte er nichts; dann aber vernahm auch er das leise, kaum wahrnehmbare elektrische Summen der Quecksilberdampflampen hoch über ihnen. Das Geräusch war so leise, daß man es nur dann hören konnte, wenn man sich völlig darauf konzentrierte. Aber Nelson h atte recht — zu Davids Erleichterung. »Ja, stimmt«, sagte er lächelnd. Nelsons Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Und noch viel leiser und weiter entfernt kann ich so was wie ein ... Schleifen hören. Du auch?« So sehr David sich anstrengte, dieses schleifende Geräusch hörte er nicht. Aber die Erklärung lag auf der Hand: Offensichtlich war Nelsons Wahrnehmungsvermögen durch die Einwirkung der geballten und brisanten Mischung von Drogen gesteigert worden, die sie ihm während des Experiments injiziert hatten; vermutlich hing es auch mit den schweren Elektroschocks zusammen, mit denen Nelsons Körper traktiert worden war. Und nicht zuletzt war seinem Hirn ja vorübergehend
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sämtlicher Sauerstoff entzogen worden. Das alles mochten Erklärungen sein. Was Nelson Wright vorhin durchgemacht hatte, hätte genügt, um die Wahrnehmungsfähigkeit eines ausgewachsenen Elefanten drastisch zu beeinflussen. »Tut mir leid, dieses... Schleifen kann ich nicht hören«, sagte David. »Es wird lauter«, beharrte Nelson. »Ich kann's nicht nur hören, ich kann's spüren. Es hört sich an, als wenn ein kleiner Junge die Morgenzeitungen austrägt und dabei einen Stock hinter sich her schleift.« David fühlte sich auf den Arm genommen. Er warf Nelson einen vorwurfsvollen, ja zornigen Blick zu, aber dessen Gesicht war noch immer tiefernst. David zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf, wickelte das Blutdruckmeßgerät zusammen und schob es in Nelsons Manteltasche. »Okay. Jedenfalls normalisieren sich deine Werte, und ich hab' Kohldampf. Eine Stunde noch, und du bist wieder völlig auf dem Damm, Doktor Tod.« Nelson schüttelte den Kopf. »Da steckt mehr dahinter«, sagte er mit gedämpfter Stimme. David grinste. »Wenn erst die Scheißdrogen aus seinem Körper sind, bestimmt nicht mehr. Soll ich dir irgendwas zu futtern besorgen?« »Nein. Nein, danke.« Nelson starrte den Freund mißtrauisch an. »Du glaubst mir das alles nicht, stimmt's?« David Labraccio zögerte mit der Antwort, dachte intensiv über diese Frage nach. Ja, Nelson hatte recht. David glaubte ihm tatsächlich nicht. Was immer Nelson dort drüben auch erlebt oder gehört oder gesehen zu haben glaubte — Davids nüchterner, sachlicher Verstand würde es auf die Einwirkung der Elektroschocks und der Drogen zurückführen, das Lachgas, das Ephedrin, das Natriumpentothal, das Adrenalin. Möglicherweise auch auf ein Zusammenwirken all dieser Substanzen. Was die wissenschaftliche Neugierde betraf — sie war bei David Labraccio nicht weniger groß als bei jedem andern, der an diesem Versuch teilgenommen hatte. Aber was den Tod betraf, so war er der festen Überzeugung, daß er das Aus bedeutet. Ende. Finito. Der Tod war so unabwendbar wie unwiderruflich, er war ein natürlicher Vorgang, den die Ärzte zwar verzögern, aber niemals endgültig würden abwenden können. Ja, der Kampf galt dem Ziel, den Tod hinauszuzögern, das Ster-
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ben zu erleichtern, nicht, den Tod zu besiegen. Der Tod war nicht zu besiegen. Da mußte weitaus mehr geschehen als der Drogentrip eines hochbegabten Medizinstudenten, um Davids Meinung in dieser Hinsicht zu ändern. »He, vergiß nicht, ich bin Atheist«, sagte David leichthin. »Okay. Kann ich dich für ein paar Minuten dir selbst überlassen? Ich brauch' was zwischen die Kiemen.« Nelson nickte, zog sich die Decke wieder straffer um die Schultern und kuschelte sich zusammen. David lächelte ihm aufmunternd zu, stieg aus und verschwand im Schnellimbiß. »Wie geht's ihm?« erkundigte sich Joe Hurley. »Er ist physisch stabil, aber er redet wie Lazarus nach seiner Erweckung von den Toten«, sagte David achselzuckend. »Na ja, so was Ähnliches haben wir ja auch mit ihm gemacht, stimmt's?« Hurleys blaue Augen spiegelten noch immer die Erregung wider; seine Stimme war ein wenig schrill. »Wir haben ihn von den Toten erweckt.« »Wir haben Glück gehabt«, sagte Labraccio trocken. »He, mal im Ernst. Ist dir eigentlich klar, daß wir berühmt werden können, wenn wir das Experiment wiederholen?« »Dann wird der Betreffende bestimmt 'ne Berühmtheit«, sagte David. »Er kriegt sogar ein Denkmal. Ein kleines, aus Stein. Ungefähr einen halben Meter hoch. Mit vielen, vielen netten Nachbarn und der Aufschrift >Ruhe in Frieden < »Du siehst zu schwarz, David . . .« »Ich mache das Experiment als nächster«, unterbrach ihn eine entschlossene Stimme. David, Joe und Randy fuhren herum und starrten Rachel an, völlig überrascht von ihrer plötzlichen Ankündigung. »Ich will als nächster gehen«, wiederholte sie standhaft und ließ sich von der offensichtlichen Verblüffung ihrer Kommilitonen nicht beeindrucken. »Moment mal«, sagte Joe Hurley scharf. »Warum sollten du und Nelson den ganzen Ruhm einheimsen?« Er wies mit dem Daumen auf Randy Steckle. »Wir beiden haben die Grundlagen erarbeitet, als wir den verdammten Köter wiederbelebt haben. Und darum haben wir das Recht, die nächsten zu sein.« Wir! dachte Randy. Wieder dieses verfluchte >wir<. Wie stellte der Kerl sich dieses >wir< denn diesmal vor? »Äh...
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Joe... ich glaube...« stammelte Randy ängstlich, aber Hurleys schneidende Stimme unterbrach ihn. »Im Ernst, warum sollten wir uns nicht alle den Ruhm teilen?« »Oder einen Platz auf dem Friedhof«, sagte David. »Das Risiko nehme ich in Kauf, verdammt noch mal!« beharrte Joe. »Ihr wiederholt das Experiment, und zwar mit mir!« Rachel holte tief Atem. »Ich bin bereit, den Versuch auf eine Minute und zwanzig Sekunden auszudehnen«, sagte sie entschlossen. »Und ich auf eine Minute vierzig«, erwiderte Joe sofort. »Und wenn's sein muß, mach' ich die Sache mit Randy allein.« Das saß. Rachel schwieg und starrte ihn wütend und hilflos an. Sie wußte, sie war geschlagen. Sollte das Experiment jemals wiederholt werden, würde Joe Hurley an der Reihe sein. Und er wollte das ungeheure Risiko eingehen, die Dauer seines Todes auf eine Minute und vierzig Sekunden auszudehnen, bevor die Maßnahmen zur Wiederbelebung ergriffen wurden. In Randall Steckle jedoch stieg heiße Wut auf. In seinen Augen hatten hier alle den Verstand verloren. Sie redeten wie Verrückte. Denn David hatte recht: Bei Nelson hatten sie Glück gehabt, verdammtes Glück. Die Sache hatte auf der Kippe gestanden; sie hätte genausogut anders ausgehen können. Wäre die Wiederbelebung Nelsons nicht gelungen, wären sie alle ganz gewaltig in den Hintern gekniffen gewesen. Es war höchste Zeit, aus der Sache auszusteigen. Hier und jetzt. »Seid ihr denn alle bescheuert?« sagte Randy wütend. »Oder seid ihr so gottverdammte Konkurrenten, daß ihr hier meistbietend euer Leben versteigert? Eine Minute zwanzig. Erhöhe um zehn. Gehe mit. Ihr seid ja wahnsinnig!« Rachel schwieg; ihr Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Hurley ignorierte Randys Bemerkungen. »Okay, dann ist ja alles klar. Ich bin der nächste. Eine Minute vierzig Sekunden. Kein schlechter Preis für den Anspruch auf Ruhm und Ehre.« »Dann kratz doch ab, wenn du unbedingt ein Held sein willst. Aber verzichte lieber darauf, wenn du dadurch berühmt werden willst. Als Toter hat man nicht viel von seinem Ruhm«, sagte David angewidert.
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Während die andern sich stritten, saß Nelson Wright allein im Mondlicht, ließ die Füße über die Heckklappe baumeln, hatte sich in seinen Mantel gewickelt und die Decke über die Schultern gelegt. Er verspürte ein unglaublich intensives Gefühl des Lebendigseins; all seine Sinne waren geschärft und reagierten auf die kleinsten Eindrücke, aber paradoxerweise fühlte er sich trotz dieses Ansturms auf seine Sinne so ruhig und friedlich und im Einklang mit sich und der Welt, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Er dachte immer wieder an sein Sterbeerlebnis zurück, und ein großer Teil seines Ichs wünschte sich an diesen Ort zurück. . . mußte dorthin zurück . . . Und die ganze Zeit über war Nelson sich dieses seltsamen, schleifenden Geräusches bewußt. Es schien anzuschwellen, näher zu kommen, lauter zu werden. Näher und näher. Lauter und lauter. Und jetzt wurde dieses Geräusch von einem zweiten begleitet — einem schrecklichen, leisen Wimmern, wie von einer Kreatur, die unter grausamen Schmerzen litt. Plötzlich schleppte sich mit langsamen, steifen Schritten ein Hund um die Straßenecke und geriet in den Lichtkegel einer Laterne. Es war ein mittelgroßes Tier, das Nelson keiner bestimmten Rasse zuordnen konnte; ein Bastard, eine gefleckte Promenadenmischung mit Schlappohren. Offensichtlich war das Tier an den Hinterbeinen schwer verletzt worden; sie waren bandagiert, der Verbandsstoff war braun von getrocknetem Blut. Nein, das Tier ging nicht, es schleppte sich mühsam voran, zog die verletzten Läufe hinter sich her. Als der Hund Nelson erblickte, setzte er sich mit leisem, schmerzhaftem Wimmern im Rinnstein nieder und beäugte den Mann. Im gelben Lichtkegel der Straßenlaternen sahen seine Augen wie zwei leere Höhlen in dem seltsam geformten Schädel aus. Nelson konnte den Blick nicht von dem Tier nehmen; ganz plötzlich verspürte er unendliches Mitleid... den Wunsch zu trösten ... und noch irgend etwas anderes.. . irgend etwas, das er nicht benennen konnte ... ein tief in seinem Innern bohrendes Etwas. »Na, Hündchen?« rief er leise und sanft. »Hündchen. Was ist passiert? Was, mein Kleiner?« Das Tier rührte sich nicht, aber seine leeren Augen ruhten starr auf Nelsons Gesicht. Es sah aus, als würde der Hund ihn
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gebannt und fasziniert betrachten, und Nelson erging es nicht anders. Es schien, als könnte keiner von beiden den Blick vom anderen nehmen. »Hündchen. Was ist?« Ein Windstoß ließ Nelson erschaudern. »Champ?« flüsterte er. »Bist du das?« Vielleicht lag es am eisigen Windstoß, vielleicht wurde der Hund auch herbeigerufen durch seinen Namen, jedenfalls erhob das Tier sich plötzlich und bewegte sich langsam und unbeholfen auf Nelson zu. Es konnte nicht laufen; es zog sich mit den Vorderbeinen über den Asphalt, kroch quälend langsam voran. Die Anstrengung mußte schrecklich sein; dick quoll der Schaum aus seinem Maul und tropfte in hellen Flocken auf das schmutzige, verfilzte Fell seiner Brust. Seine Hinterbeine begannen wieder zu bluten; am Verband bildeten sich frische rote Flecken. Der Hund stieß ein klägliches Winsel aus, kroch aber unbeirrt weiter auf Nelson zu. Und plötzlich wußte Nelson das schmerzlich nagende Gefühl in seiner Brust zu deuten. Es war Angst. Die irrationale Angst eines hilflosen, waidwunden Tieres... eines Tieres, das in Blut gebadet war und keine Augen mehr besaß... Es war ein erdrückendes, entsetzliches Angstgefühl. »Sitz«, flüsterte Nelson heiser. »Bleib stehen, Champ. Champ, halt!« Aber das Tier kroch weiter, qualvoll langsam, winselnd, erbarmenswürdig, Zentimeter um Zentimeter, und allmählich verringerte der Hund die Distanz wischen ihnen beiden. Nelson wich entsetzt auf die Ladefläche zurück. Die andern, obwohl nur ein paar Meter von ihm entfernt im Schnellimbiß, hatte er vollkommen vergessen. Von dem Moment an, als Nelson das Tier erblickte, hatte nichts anderes mehr für ihn existiert. Und auch der Hund schien nur ein Ziel zu haben — Nelson zu erreichen. Sie hielten starr und unverwandt die Blicke aufeinander gerichtet. Plötzlich bog ein Wagen in hohem Tempo um die Straßenecke, raste genau auf das Tier zu. Der Fahrer konnte den Hund, der auf dem Bauch über die dunkle Straße kroch, unmöglich sehen. Es schien unvermeidlich, daß das Tier von den Reifen zermalmt wurde.
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»Nein!« schrie Nelson, als der Wagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, genau auf den Hund zu raste. Hinter sich hörte er Stimmen und Gelächter. Nelson fuhr herum. Die anderen kamen mit Papiertüten und Bier- und Coladosen aus dem Schnellimbiß. Sahen sie denn nichts, Herrgott noch mal? Der Wagen mußte den Hund jetzt erreicht haben, und Nelson drehte sich gehetzt wieder um, darauf gefaßt, die gräßlichen Geräusche zu hören, das Jaulen in Todesangst, den dumpfen Aufprall und das Bersten zerbrechender Knochen, und dann den furchtbaren Anblick von... . . . aber da war nichts. Kein Hund. Kein Blut. Kein qualvolles Jaulen. Kein Geräusch von Reifen, die über Fleisch und Knochen rollten. Das war nur der vorbeihuschende Wagen, dessen Rücklichter Augenblicke später schlagartig erloschen, als er wieder um eine Gebäudeecke schoß. Die Straße war leer. »Verdammt«, sagte David, als er Nelsons verzerrtes, kreidebleiches Gesicht sah. »Jemand sollte bei ihm bleiben. Er ist immer noch ganz schön mit den Nerven runter.« »Oh ... äh, ich hab' morgen schon ganz früh 'ne Anatomieübung«, sagte Steckle wie aus der Pistole geschossen. Joe Hurley schwieg. »Ich mache das«, sagte Rachel. Hurley bedachte Randy Steckle mit einem wissenden Grinsen; Randy erwiderte das Lächeln, indem er in einer vielsagenden Geste seine buschigen Augenbrauen hob. Rachel war dies nicht entgangen, aber sie beschloß, diesen Schwachsinn gar nicht erst eines Kommentars zu würdigen. »Also gut, Rachel bleibt bei ihm«, sagte David. Er betrachtete Nelson mit einer Mischung aus Angst und Besorgnis. Nelson schien aus unerfindlichen Gründen rapide abgebaut zu haben, während David sich mit den anderen im Schnellimbiß aufgehalten hatte. Wrights Gesicht war grau und ausgezehrt, seine Augen blickten starr, und trotz der Kälte hatte sich auf seiner Stirn ein glänzender Schweißfilm gebildet. »Fühlst du dich nicht gut, Nelson?« fragte David. Nelson Wright stieß keuchend den Atem aus. »Doch. Doch, alles klar«, sagte er mit flacher, ausdrucksloser Stimme. »Ich .. . möchte jetzt nach Hause.«
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Er lehnte sich zurück gegen die Segeltuchwandung des Trucks und versuchte, sich ein wenig zu entspannen, die gespenstischen Eindrücke zu verscheuchen. Er zwang sich, die zu Fäusten geballten Hände zu öffnen. Doch auf dem ganzen Nachhauseweg wurde Nelson Wright von namenloser Angst geschüttelt. Rachel fühlte sich kein bißchen müde, im Gegenteil. Sie war hellwach, unglaublich aufgeregt und beobachtete fasziniert, wie Nelson sich im Bett unruhig von einer Seite auf die andere wälzte und dabei leise im Schlaf stöhnte. Offensichtlich träumte er, und ebenso offensichtlich war es kein angenehmer Traum. Rachel hielt jede noch so kleine Einzelheit sorgfältig in ihrem geheimen Notizbuch fest. In seinem Traum war Nelson zurückgekehrt an den Ort seines Sterbeerlebnisses. Er war wieder der neunjährige Junge an jenem heißen, sonnigen Augusttag. Er rannte, rannte über die weite Blumenwiese, und er konnte die schnellen Schritte der anderen Jungen hören, die mit ihm spielten und lachten. Und Champ tollte um sie herum, sprang an ihnen hoch, fegte zwischen ihren Beinen hindurch; er bellte freudig in seiner unbeschwerten Hundekindheit; er war gesund und voller Kraft, glücklich, zu leben und mit Nelson herumzutollen. Die drei Jungen und Champ spielten ein wunderschönes, aufregendes Versteckspiel. »Eins, zwei, drei, jetzt ist's vorbei!« rief Scotty und beendete damit das Spiel. Er und Hank schauten sich suchend um. Champ saß hechelnd an ihrer Seite. »Such, Champ«, sagte Scotty. »Such ihn! Schnapp ihn dir!« »Komm, Billy!« rief Hank. »Komm schon, wir spielen jetzt was anderes!« Aber Billy blieb in seinem Versteck. Billy würde sich nicht zeigen. Billy würde nicht mal bei >Eins, zwei, drei, jetzt ist's vorbei< aus seinem Versteck kommen, wo doch jedes Kind wußte, daß damit das Spiel zu Ende war. Billy Mahoney hatte Angst, erbärmliche Angst, und ... Nelson wimmerte im Schlaf und wälzte sich auf den Rücken, legte einen Arm über die Augen, so als wollte er die Erinnerung vor fremden Blicken verbergen. Rachel beugte sich in ihrem
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Stuhl vor und betrachtete besorgt und fasziniert zugleich sein Gesicht, das von der kleinen Nachttischlampe in gespenstisches, gedämpftes Licht getaucht wurde. Dann öffnete Nels on die Augen. »Wie geht's dir? Bist du okay?« fragte Rachel leise. »Warum fragst du?« Nelson stützte sich auf die Ellbogen und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. »Weil du einen Alptraum hattest, nicht wahr?« Ihre langen schlanken Finger legten sich sanft auf Nelsons Halsschlagader, prüften seine Pulsfrequenz, während die Augen in ihrem hübschen ernsten Gesicht aufmerksam den Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr beobachteten. Zufrieden trug sie >Pulsfrequenz: 70< in ihr Notizbuch ein. »Wir können davon ausgehen, daß dein Blutdruck sich innerhalb der nächsten zwölf bis vierzehn Stunden allmählich erhöht und normalisiert«, sagte sie, »weil die Herzklappe erst...« Rachel verstummte, als Nelson den Arm ausstreckte und ihr sanft übers lange dunkle Haar strich. »Du bist wunderschön«, sagte er. Sie schob seine Hand zur Seite. »Wir reden später weiter«, erwiderte sie verlegen. Wie immer war es ihr peinlich, wenn ein junger Mann ihr Komplimente machte, sie berührte, sich ihr zu nähern versuchte. Rachel war beinahe verzweifelt darum bemüht, ernst genommen und nicht als potentielle Bettgespielin betrachtet zu werden. Wenn sie irgend etwas an sich selbst haßte, dann paradoxerweise ihr blendendes Aussehen, weil es männliche Gesprächspartner immer wieder ablenkte; die Burschen brachten immer viel mehr Interesse für ihre Schönheit auf als für ihre Standpunkte in wissenschaftlichen Diskussionen. Und dabei war Rachel eine geradezu fanatische Wissenschaftlerin. Sie seufzte, steckte ihr Notizbuch ein und erhob sich. »Ruh dich aus«, sagte sie knapp und verließ das Zimmer. Nelson Wright hatte sich jetzt im Bett aufgesetzt und den Kopf an die weißgestrichene Wand gelehnt. Auf seinem Gesicht lag wieder sein typisches, strahlendes Lächeln. Zu strahlend. Und ein bißchen irre. O ja, >dort drüben< war irgend etwas.
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Oder war es gar nicht mehr dort drüben...?
5 Er würde nicht kneifen, o nein. Joe Hurley hatte den anderen sein Wort gegeben, und jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen, wollte er sich nicht bis auf die Knochen blamieren. Eine Minute und vierzig Sekunden hatte er versprochen, und von dieser Zeit würde er um sein Leben nicht abweichen. Um sein Leben? Was für ein Witz! Um seinen Tod, das war viel wahrscheinlicher. Aber schließlich war kein lebendes Wesen unsterblich; sogar Berge starben irgendwann einmal ab, nach Abermillionen von Jahren. Und doch beschlichen Joe Zweifel, geheime Ängste. Warum, in Gotten Namen, war er nur so versessen darauf gewesen, dieses Experiment zu machen und... vielleicht nicht mehr zurückzukommen? Joe Hurley hatte alles zu verlieren — seine Jugend, seinen Charme und sein gutes Aussehen, all die knackigen und willigen jungen Mädchen, seine Liebe zu Anne, ihre bald bevorstehende Heirat, sein Prädikatsexamen, eine lange und einträgliche Karriere als Arzt — alles, was ein Mann sich nur wünschen konnte. War auch nur irgend etwas davon das Risiko wert, sein Leben aufs Spiel zu setzen für... was? Ruhm? Der zweite Mensch zu sein, der den Weg beschritt, den Nelson schon beschriften hatte? Und vielleicht der erste, der nicht mehr zurückkehrte? Joe hatte in der Tat allen Grund, Angst zu haben, jetzt, wo die erste Euphorie verflogen war und er wieder nüchtern über diese ganze Sache nachdachte, während er im trüben Licht des frühen Morgens auf dem Bett lag. Ja, in der vergangenen Nacht war er in einem Zustand höchster Erregung und Begeisterung in seine Wohnung zurückgekehrt, aber heute morgen war diese Hochstimmung einer großen Niedergeschlagenheit und Furcht gewichen. Er hatte schon jetzt die Hosen voll, das gestand Joe sich ein. Und schon jetzt hätte er sich für seinen impulsiven Entschluß ohrfeigen können,
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sich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen. Aber wenn er den Schwanz einzog, würde er vor den anderen als Niete, als erbärmlicher Feigling dastehen. Also mußte er es tun. Aber . . . er war noch nicht bereit zu sterben. Er hatte noch keinerlei Vorbereitungen getroffen für den Fall der Fälle. Wenn irgend etwas schiefging, hatte er dann im wahrsten Sinne des Wortes eine Todsünde begangen? Oder konnte man es ihm gar als Selbstmord anrechnen? Er war nicht gerade der gläubigste Katholik der Welt, und er war schon sehr, sehr lange nicht mehr zur Beichte gegangen, weil er keinem Geistlichen von seinen Videobändern erzählen wollte. Vor allem, weil er dann keine mehr aufnehmen dürfte. Aber er glaubte an Gott; seine Familie war religiös gewesen, und daher auch seine eigene Erziehung. Überhaupt - was sollte er seinen Eltern erzählen? Daß ihr Sohn sich wirklich und wahrhaftig entschlossen hatte, in den Tod zu gehen? Und wie sollte er das Anne, seiner Verlobten, begreiflich machen? Anne. Was er mit den anderen Mädchen trieb, spielte wirklich keine Rolle, da waren keine Gefühle im Spiel; er liebte nur Anne, jawohl. Sie war diejenige, der er das Heiratsversprechen gegeben hatte. Anne. Er mußte sie sehen, mußte mir ihr reden. Joe war nicht gerade mit einem Übermaß an Tiefsinn und der Fähigkeit zur Verinnerlichung gesegnet; er hatte das Leben und alles Schöne, was es zu bieten vermochte, immer als gegeben betrachtet — man brauchte es sich nur zu nehmen. Und das fiel ihm nicht schwer: was die Mädchen betraf, seines Aussehens wegen; was Schule und Studium betraf, seiner hohen Intelligenz wegen. Joe hatte nie viel über das Leben und dessen Probleme nachdenken müssen. Eigentlich beherrschten ihn nur zwei Dinge: sein Ehrgeiz und seine Geilheit. Ihm war nie bewußt geworden, welch beruhigenden und stabilisierenden Einfluß ein Mädchen wie Anne Colgen auf ihn und sein Leben haben konnte. An diesem Morgen aber wurde ihm schmerzlich klar, wie sehr er eines solchen Halts bedurfte. Joe schwang sich aus dem Bett und schlenderte, nur mit der Unterhose bekleidet, durchs Schlafzimmer und hinüber zum Fernseher. Er öffnete den Wandschrank, der über dem Gerät angebracht war. Und wie gewöhnlich, konnte er auch diesmal
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ein selbstgefälliges Lächeln nicht unterdrücken, als er einen Blick hineinwarf. Sorgfältig aufgereiht, in alphabetischer Ordnung, standen dort Joe Hurleys kostbare, geheime Videokassetten, die er allesamt mit seiner eigenen Kamera aufgenommen hatte — eine höchst lohnende Anschaffung, o ja. Joe ließ den Blick liebevoll über die beschrifteten Aufkleber auf den Kassetten schweifen. Die Bandbreite der Namen erstreckte sich von >Andrea< bis >Yael<. Ja, dies hier war die Filmothek seiner sexuellen Eroberungen, hier war festgehalten, wie Joe es mit einigen der hübschesten Mädchen der Stadt getrieben hatte: eine ständige Quelle vergnüglicher Stunden. Hier waren die Titten und Schenkel, das Stöhnen und Keuchen von Veronica und Jane, Brenda und Mona, Donna, Pauline und all den anderen verewigt — festgehalten und stets abrufbereit durch das Wunder japanischer Technologie. Keines der Mädchen hatte gewußt, daß die Kamera gelaufen war, als sie sich mit Joe vergnügt hatten. Er hatte es niemals erwähnt, natürlich nicht. Er hatte sie alle mit seinem Charme und seinem guten Aussehen, seiner Schlagfertigkeit, seinem Witz und seinen einstudierten Komplimenten in sein Wasserbett gelockt. Auf sein Wasserbett, natürlich. Und sie waren alle nur zu bereitwillig mit ihm gekommen, um sich vögeln zu lassen. Wahrscheinlich wäre ihre Bereitwilligkeit nicht so groß gewesen, hätten sie gewußt, daß sie die unfreiwilligen Stars in einem von Joes Fickfilmen waren. Aber Schuldgefühle verspürte Joe deshalb nicht. Schließlich hatte er ihnen was geboten, und sie wußten ja nichts von seiner heißgeliebten Kamera. Außerdem hatte er nie wieder eine seine Darstellerinnen angerufen — also, bitte. Er hatte ihnen ja kein Leid zugefügt, oder? Nein, ganz im Gegenteil. In der Vitrine, auf welcher der Fernseher stand, befanden sich weitere Kassetten. Videoaufnahmen, die Joe bei Familienfeiern in trauter Runde zeigen konnte, die er sogar seiner Mutter zeigen konnte. Im Geiste stufte er sie als freigegeben ab 6 Jahren ein. Er ließ den Zeigefinger über die Kassetten gleiten, bis er diejenige gefunden hatte, die er suchte. Sie trug die Aufschrift >Verlobungsfeier, Juli 1989<. Er zog die Kassette aus der Hülle,
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schaltete Recorder und Fernseher ein, schob die Kassette in den Recorder, hockte sich in seinen altersschwachen Sessel und lehnte sich bequem zurück. Immer, wenn er sich diese Kassette anschaute und seine Freunde und Verwandten sah, wie sie ausgelassen lachten, tanzten und derbe irische Trinksprüche auf das frisch verlobte Paar ausriefen, kamen ihm die Tränen. Immer wieder mußte er sich schneuzen wie eine gerührte alte Dame, wenn er das hübsche junge Pärchen sah — ihn und seine blonde Anne. Gutaussehend, glücklich, gesund, einander versprochen und eine strahlende Zukunft vor Augen. Joes Tränen waren Tränen der Rührung, der Sentimentalität. Tiefe Gefühle? Nein. In seinem bisherigen Leben hatte Joe nur sehr selten echte, tiefe Gefühle empfunden; er hatte sie gescheut, als wären es nadelspitze Haifischzähne. Er lebte nur in der Gegenwart und war entschlossen, jeden Moment auszukosten. Jetzt aber, da er diese Aufnahme sah und Selbstmitleid in ihm aufstieg, als er wieder die Angst vor dem Experiment verspürte, das sie für den heutigen Abend angesetzt hatten und für das er sich freiwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung stellte, schwelgte Joe in sentimentalen Gedanken an Anne, und das plötzliche, heftige Verlangen, ihre Stimme zu hören, überkam ihn. Wenn er ihr doch nur irgendwie sagen könnte, was er vorhatte! Anne hätte gewußt, wie sie ihn trösten, ihm die Angst nehmen konnte. Kurz entschlossen erhob Joe sich und ging zum Telefon hinüber. Er wählte die Nummer der Verbindung von College-Studentinnen, in der Anne Mitglied war. Sofort fühlte er sich ein wenig besser. Während er darauf wartete, daß sie an den Apparat kam, versuchte er, sich zu beruhigen, so gut es ging. Als er sie an der Strippe hatte, brachte er es nicht übers Herz ihr zu sagen, was er an diesem Abend unternehmen wollte. Wahrscheinlich hätte sie ihm ohnehin nicht geglaubt, ihn für verrückt erklärt. Statt dessen machten sie beide ein bißchen belanglose Konversation. »Ich zähle schon die Tage bis Thanksgiving«, sagte Joe. »Ich weiß, ich weiß«, plapperte Anne munter drauflos. »Ich kann's auch kaum noch erwarten, weißt du, und...« Im Hintergrund konnte Joe die Stimmen der anderen Mädchen hören;
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offenbar gab es im Haus einer Studentinnenverbindung herzlich wenig Privatsphäre, wenn überhaupt. »... und vielleicht sollte ich mich an einer Uni immatrikulieren, die nicht so weit von deiner weg ist, oder mir 'nen schnelleren Wagen anschaffen. — Joe? Bist du noch dran?« Joe zögerte. »Äh ... ja. Manchmal frage ich mich...« begann er langsam, »vielleicht hätten wir schon letzten Sommer heiraten sollen ...« »Das wäre Mutter ein bißchen zu schnell gegangen«, erwiderte Anne lachend. Ja. Joe wußte, daß Annes Mutter — und Anne selbst — eine pompöse kirchliche Hochzeit mit allem Brimborium vorschwebte, keine Ruck-Zuck-Heirat mit nur zwei Brautjungfern und anschließender Feier im erstbesten Restaurant um die Ecke. O nein. Jede Menge Gäste. Der Monsignore höchstpersönlich sollte sie trauen. Und so weiter, und so weiter. Das alles in die Wege zu leiten, kostete natürlich Zeit. »Du weißt, daß du mir alles bedeutest«, sülzte Joe so leise, daß seine Stimme kaum zu vernehmen war, und Anne preßte sich den Hörer ans Ohr, um ihren Verlobten verstehen zu können. »Wenn mir irgend etwas passieren sollte ...« »Joe? Was ist los? Stimmt was nicht?« Annes Stimme war schrill geworden. Was, zum Teufel, meinte er mit >irgend etwas passieren Joe wußte sofort, daß er ein bißchen zu weit gegangen war. Er hatte ihre Stimme hören und darin Trost und Stärkung finden wollen, und jetzt hatte er Trottel ihr Angst eingejagt. Er versuchte, die Sache geradezubiegen. »Ich weiß nicht, wie. . . ach, nichts. Ich bin überarbeitet, hundemüde. Ich sollte jetzt auflegen. Ich rede ja doch nur Unsinn. ..« »Joe? Joe! Du machst mir angst! Stimmt was nicht?« Scheiße. »Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich liebe dich.« Und nach diesen Worten legte Joe Hurley auf — und fühlte sich mieser als jemals zuvor. Vor dem vollen runden Herbstmond jagten schwere, dunkle Wolken dahin, die baldigen Regen versprachen. Der Himmel
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war pechschwarz, und der Wind, der vom Michigansee herüberwehte, war so scharf wie ein Skalpell, das durch Haut und Fleisch bis auf die Knochen schnitt. Bei solchem Wetter lag der Campus leer und verlassen da, wie immer. Wer war auch schon so hirnverbrannt und überquerte zu so später Stunde bei so bitterkaltem Wind einen so ausgedehnten und öden Platz. Um elf Uhr an diesem Abend hatten sich die fünf Freunde, zitternd vor Kälte, wieder im Dog Lab des Taft-Gebäudes versammelt, um das auszuführen, was Randall Steckle auf seinem unvermeidlichen Diktiergerät dramatisch als >Versuch Nummer zwei, Versuchsperson H., hundert Sekunden in den Tod< vermerkt hatte. Hurley, der Randys Bemerkung normalerweise als halbwegs dämlich betrachtet hätte, konnte sich nicht mal ein Lächeln abringen. Da sie alle am Abend zuvor schon Zeugen von Nelson Wrights Reise ins Jenseits gewesen waren, war die Stimmung der Gruppe irgendwie gedämpft; sie alle waren konzentrierter, sachlicher und mehr an den wissenschaftlichen Ergebnissen interessiert. Joe machte rasch seinen Oberkörper frei und legte sich auf die Trage, ohne eine seiner typischen flapsigen Bemerkungen zu machen oder den Versuch zu unternehmen, Rachels Aufmerksamkeit auf seinen geschmeidigen, muskulösen Körper zu lenken. Danach stand ihm weiß Gott nicht der Sinn. Aber allzu ernst wollte er vor den anderen auch wieder nicht auftreten. Hätte ja sein können, daß man ihm seine Angst anmerkte. Er nahm die EEG-Elektroden, winkte den anderen verhalten damit zu und versuchte, einen Scherz vom Stapel zu lassen. »Und jetzt, meine Damen und Herren, beginnen Sie bitte mit dem Countdown für den interstellaren Raumkreuzer Typ Hurley Null-Eins.« »Ha-ha-ha«, machte Randy. Rachel trat, ohne eine Miene zu verziehen, an das Bett und befestigte die Saugnäpfe der EEG-Elektroden an Joes Kopf; dann legte sie ihm in gleicher Weise die EKG-Elektroden an Armen, Beinen und Brust an. Jede ihrer Bewegungen war ruhig und sicher. Als Rachel fertig war, streckte Joe die Hand aus, zog seinen alten Kumpel Randy Steckle am Ärmel dicht an sich heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn irgendwas schiefgeht, verbrenn meine Videobänder.«
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»Sie können auf mich zählen, Mr. Nixon.« Offenbar hatte Randy seinen lustigen Tag, aber sein Gesichtsausdruck war alles andere als heiter, und er fummelte nervös an den Kabeln seines Diktiergeräts herum. Als offizieller Chronist der experimentellen Reise Joseph Patrick Hurleys ins Jenseits war Randy auch mit der Bedienung der Videokamera betraut worden. Vielleicht war das Experiment in den Augen der anderen diesmal nicht so dramatisch, hatten sie es doch bereits mit Nelson Wright durchgeführt. Aber ihre Angst war geblieben und sogar noch größer geworben. Bei Nelson war alles noch völliges Neuland gewesen. Sie hatten nicht eine Sekunde sicher sein können, ob es ihnen gelang, Nelson für eine Minute im Zustand des Herz- und Hirntods zu belassen und dann wiederzubeleben — was sich ja als problematisch genug erwiesen hatte. Bei Joe aber wollten sie diese Zeit auf eine Minute und vierzig Sekunden ausdehnen — eine verdammt schwierige Nummer. Außerdem hatten sie bei Nelson vielleicht schlicht und einfach Glück gehabt. Und wer konnte schon wissen, ob ihre Glückssträhne den heutigen Abend überdauern würde? Schier unendlich langsam wurden Joes Körperfunktionen schwächer, ohne jedoch ganz auszusetzen. Die beiden Monitore zeigten nach wie vor die charakteristischen gezackten Linien, die auch von den Nadeln auf die rotierenden Papierwalzen übertragen wurden. Noch immer gab Joes Körper Lebenszeichen von sich. Dann aber, urplötzlich, verstummte der rhythmische, leise Piepton des EKG-Geräts; die schrille akustische Warnanzeige erklang. Die Zacken auf dem Monitor verschwanden; nur noch eine flache Linie war zu sehen. Rachel drehte den Lautstärkeregler herunter, als das tiefe Dröhnen erklang. »Flat line«, sagte sie leise. Der erste Schritt, die erste Etappe: der Herztod. »Herztod eingetreten«, sprach Randy in sein Diktiergerät. »Das ist bewiesenermaßen und eindeutig eine künstlich von uns herbeigeführte Asystolie. Welch eine Spannung hier herrscht... welch eine Angst... nun nimmt Mr. L. dem Versuchsobjekt H. die Sauerstoffmaske ab .. .« David nahm die Maske von Joes Gesicht, während Nelson
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jetzt den EEG-Monitor überwachte. Noch war der Hirnstrom kräftig, die gezackte Linie deutlich und ausgeprägt. Aber dann wurde auch sie flacher und flacher, näherte sich immer weiter der Flat line; die Pieptöne des EEG-Geräts wurden schwächer, der Zeitraum zwischen den einzelnen Signalen immer länger. Randy Steckle trat, das Diktiergerät dicht vor dem Mund und die Videokamera auf Joes starres, blasses Gesicht gerichtet, an die Trage heran, um eine Nahaufnahme zu machen. »Alles okay«, sagte er ins Diktiergerät. »Alles scheint bisher nach Plan zu laufen. Untersuchungsobjekt H. liegt jetzt vollkommen ruhig. Atmung hat ausgesetzt. Welch ein Anblick! Ein wirklich faszinierendes Experiment, das ...« »Dein Geschwafel geht mir auf den Geist«, sagte Nelson schroff. »Allerdings«, bemerkte David. Die Pieptöne des EEG-Geräts setzten aus; die Linie auf dem Monitor wurde vollkommen flach; das durchdringende Warnsignal ertönte. Des lebenswichtigen Sauerstoffs beraubt, erstickte Joes Gehirn. Kein Lebenszeichen mehr. Flat line. »Er ist tot«, sagte Rachel und blickte sofort auf den Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr. Die Zeit lief: eine Minute vierzig Sekunden. »O Mann«, stöhnte Randy, dem der Schweiß übers Gesicht lief, in sein Diktiergerät. »Stillstand sämtlicher Hirnfunktionen. Keine . . . äh ... Reflexe mehr zu beobachten.« Sein erster Gedanke galt dem Licht. Es strahlte längst nicht so hell, wie diejenigen Menschen berichtet hatten, die vor ihm hier gewesen und zurückgekehrt waren — wo immer dieses >hier< auch sein mochte. Sie alle hatten dieses Licht als ein wunderschönes weißes Leuchten von unwiderstehlicher Anziehungskraft geschildert. Joe konnte zwar ein Licht erkennen, aber es schien sehr weit entfernt zu sein, und es war nicht überwältigend schön, es war kein glänzendes Leuchten, sondern schwach und blaß, aber lockend. Sein zweiter Eindruck jedoch war viel stärker — er spürte Haut, weiche weibliche Haut. Joe war völlig von nackter Haut umgeben, eingehüllt von ihrem verführeri-
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schen Duft. Andere, die aus diesem Grenzbereich des Todes zurückgekehrt waren, hatten außerdem berichtet, daß sich in dem Tunnel, der zum Licht führte, geliebte Verstorbene aufhielten, die dem Ankömmling ein Willkommenslächeln schenkten und ihn mit weit ausgebreiteten Armen einluden, näher zu kommen. Aber Joes Begrüßungskomitee bestand aus lauter Frauen, wunderschönen, sinnlichen, jungen Frauen mit großen Brüsten, langen, schlanken Beinen und — leider — in kurzen Kleidern. Sie alle lächelten ihn an, hauchten ihm Küsse zu, leckten sich die Lippen und gaben ihm mit jeder wollüstigen Geste zu verstehen, daß sie ihn begehrten. Keine dieser Frauen schien tot oder >verstorben< zu sein; sie alle sprühten vor Lust und Leben. Sagenhaft. Wenn das ein Traum ist, dann laß mich nicht wieder aufwachen, betete Joe. Er konnte jetzt beobachten, wie er mit jeder von ihnen Liebe machte, wie er eine nach der anderen vernaschte auf seiner Reise in Richtung zum lockenden Licht. Er streifte ihnen die Kleider, die dünnen, durchscheinenden Büstenhalter ab und barg sein Gesicht zwischen ihren üppigen Brüsten, zog ihnen die Satin-Schlüpfer aus und machte Liebe mit den Hübschen. Einige der jungen Frauen kannte Joe; er hatte sie in seiner Wohnung gevögelt und gefilmt, andere waren Playboy-Models, an die er sich erinnerte — er hatte schließlich nicht umsonst im zarten Alter von dreizehn Jahren damit angefangen, regelmäßig Poster der Playmate des Monats herauszureißen — oh, Himmel, da war ja auch Miß September 89. Und sie sah sogar noch besser aus, als er sie in Erinnerung hatte. Er mußte an einen alten Witz denken, über einen Burschen, der gestorben war und die Erlaubnis erhielt, mal seinen besten Freund zu besuchen. Der Freund fragte: »Wie geht's dir denn da oben?« Und der Bursche antwortet: »Oh, ist gar nicht so übel. Ich stehe frühmorgens auf und mache 'ne Nummer, dann gibt's Frühstück, anschließend wird wieder gebumst, dann zweites Frühstück, Bumsen, Mittagessen, Bumsen, Kaffee und Kuchen, dann wieder Bu. . .« Der Freund unterbricht ihn mit der erstaunten Frage: »Das ist der Himmel?« Und der Bursche antwortet: »Was für ein Himmel? Ich bin jetzt Karnickel in Ari-
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zona.« Ha, ha. Ich bin's jetzt auch, dachte Joe glücklich und wandte sich der nächsten Kundin zu. Karnickel in Arizona. Je näher er dem lockenden Licht kam, desto jünger schien Joe zu werden. High-School, ja. Er war wieder auf der HighSchool, unendlich geil, und er trieb es wieder mit Mary Catharina Tognazzi auf dem Rücksitz von Papas Wagen. Ja, das war das erste Mal in seiner steilen Karriere gewesen. Er spürte ganz deutlich den weichen Stoff von Marys Angora-Pullover in seinen Fingern; dann ihre nackten jungen Titten, und wie unbeholfen er dann mit der Kleinen gebumst hatte. Himmel, war das alles großartig hier. Er näherte sich weiter dem Licht. Er wurde jünger, und mit ihm wurden auch die Mädchen jünger. Schade. Aber auch nicht übel, die süßen kleinen Dinger mit den langen seidigen Haaren und den knospenden Brüsten unter ihren gestärkten, weißen jungfräulich-züchtigen Schuluniform-Blusen. Joe spürte noch einmal die Verlegenheit, als er zum ersten Mal ein Mädchen geküßt hatte, deren Lippen sich den seinen hingebungsvoll in Form zweier verbogener Zahnspangen dargeboten hatten. Und schließlich waren Empfindungen in seinem Innern, die auszuleben er dann einfach zu unerfahren war. Die Mädchen, die bei ihm waren, waren zu jung, als daß er sie hätte verführen können, aber. . . sie verführten ihn. In ihren Augen funkelte die Lust, und sie streckten die kleinen Hände nach ihm aus... »Eine Minute zwanzig«, sagte Rachel. »Okay«, sagte Nelson. »Wird Zeit, ihn zurückzuholen.« Es waren fast zu viele Frauen. Joe Hurley hätte sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, daß es für ihn zu viele Frauen geben könnte, aber so war's nun mal — beinahe. Er war wieder umhüllt von nacktem Fleisch, wälzte sich darin, tauchte darin ein. Wunderschöne Frauen, und alle waren scharf. Unheimlich scharf. Scharf auf Joe. Er fühlte sich stark, unglaublich stark und unermüdlich. Sobald eine der Schönen
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all seine Energien erschöpft hatte, wurden neue Kräfte frei, so daß Joe sich mit der nächsten Dame befassen konnte. Herrlich! Es war so schön, so wunderschön... Sein Körper zeigte keine Reaktion. Joe Hurley lag auf dem Rücken, das Gesicht kreideweiß, und sein Körper reagierte auf keine Drogen und keinen Elektroschocks, nichts. Auf beiden Monitoren waren nur die Nullinien des Herz- und Hirntodes zu erkennen. O Gott, hier bahnte sich irgend etwas Schreckliches an! dachte Steckle voller Entsetzen. Sie waren drauf und dran, seinen alten Kumpel Joe auf immer und ewig zu verlieren. Joe Körper bäumte sich bei der Entladung von 200 Joule heftig auf. Nichts. 300 Joule. Nichts. 350. Nichts. »Nichts!« rief Nelson. »Herzmassage.« Er drückte die Handballen auf Joes Brustbein und versuchte mit kräftigen rhythmischen Bewegungen, Joes Herz wieder zum Leben zu erwecken. »Eins-eins-tausend. Zwei-eins-tausend, drei-eins-tausend . . . atme!« Er drückte kräftiger. »Vier-eins-tausend, fünf-eins-tausend... komm schon, Joe, atme!« Das Entsetzen schnürte ihnen allen die Kehle zu. Eine Minute vierzig. Warum, zum Teufel, hatten sie einer so wahnwitzig langen Zeit zugestimmt? Und diese Zeit war überschritten; sie versuchten bereits seit einer Minute, ihn wiederzubeleben. Vergebens. »Atropin injiziert«, sagte David. Er, Rachel und Nels on versuchten mit allen erdenklichen Mitteln, Joe zu retten, während Randy leise schluchzend und mit zitternden Händen die Szene filmte. »Verdammte Scheiße!« fluchte Nelson und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Können wir auf vierhundert Joule gehen?« David schüttelte den Kopf. Sofort begann Nelson wieder mit der Herzmassage, obwohl kaum noch Kraft in seinen Armen war. »Drei-eins-tausend, vier-eins-tausend, fünf-eins-tausend«, stieß er keuchend und voller Verzweiflung hervor. »Atme, gottverdammt noch mal! Atme, Joe!« Steckle richtete die Kamera auf den EGK-Monitor. Nicht die geringste Veränderung war zu sehen. »Nichts«, flüsterte er hei-
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ser, mehr zu sich selbst als an die anderen gewandt. »Flat line. Herzmassage, Atropin, Elektroschocks, und es tut sich nichts!« Rachel überprüfte das Injektionsgerät und die Kombidecke. Auch ihre Hände zitterten leicht. Nelson fuhr unermüdlich mit der Herzmassage fort. »Komm zurück, du Großschnauze!« fuhr er Joes reglosen Körper an. »Na los, na los doch!« Nelsons verkrampfte, schmerzende Hände stockten für einen Moment, dann nahm er die Massage wieder auf, kräftiger als zuvor. Der Schweiß strömte ihm in breiten Bahnen über das verzerrte Gesicht, lief in sein langes blondes Haar und färbte es dunkel, tropfte ihm in die Augen. Hinter Nelsons Rücken tauschten Rachel und David besorgte Blicke. Wenn Nelson es nicht schaffte... David gab sich einen Ruck und trat vor. »Nelson, laß mich es versuchen«, sagte er leise. Nelson Wright hielt inne, sah zornig auf, der Schweiß brannte in seinen Augen und trübte seinen Blick, er konnte David kaum erkennen. »Ich tu alles, was ich kann«, stieß er keuchend hervor. »Wir verlieren zuviel Zeit, Nelson«, sagte Rachel drängend. »Ja, bitte, laß es jetzt Dave versuchen«, sagte Randy Steckle weinerlich. »Nelson, du hast nicht mehr die Kraft«, sagte Rachel, diesmal ganz ruhig. Drei gegen einen. Wütend trat Nelson zur Seite und machte David Platz, der sofort mit der Massage weitermachte, in ruhigem, stetigem Rhythmus, kraftvoll und doch scheinbar mühelos. Nelson beobachtete ihn neidisch, bewunderte und haßte die ruhige Zuversicht, mit der David arbeitete, die seltsame Vertrautheit, mit der Rachel ihm assistierte. Die beiden waren wie eine Einheit, wie ein perfekt eingespieltes Team. »Eins-eins-tausend, zwei-eins-tausend, drei-eins-tausend...« Aber auch David, körperlich weit stärker als Nelson, hatte keinen Erfolg. Die Monitore zeigten noch immer die Nullinie. Die Angst und das lähmende Entsetzen im Dog Lab waren beinahe körperlich zu spüren. Sie alle wollten es einfach nicht glauben, daß Joe buchstäblich unter ihren Händen starb. Es war wie ein Alptraum. Es war unvorstellbar. Nicht Joe. Joe, der
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vor Lebenslust sprühte, der Klugscheißer, der ewig grinsende, immer zu dummen Scherzen aufgelegte Student mit dem gewaltigen Mädchenverschleiß und der privaten Pornofilm-Sammlung. Joe, der die Medizin fast so sehr liebte wie sein eigenes Abbild im mannshohen Badezimmerspiegel seiner Wohnung. Nein, nicht Joe. Es durfte, es konnte nicht sein! Aber sein Körper zeigte noch immer keine Reaktion. Rein gar nichts schien zu helfen. Was blieb ihnen noch? Nichts mehr. »Aus«, sagte Randy, dem die Tränen übers runde Gesicht liefen, während er die Monitore im Auge behielt. »Aus, aus, aus.« Und dann, von einem Moment zum anderen, glaubte David ein leichtes Zucken unter seiner Hand gespürt zu haben. War das möglich? Jetzt noch? Eine Muskelkontraktion? Ein schwacher Atemzug? Oder war es nur ein Krampf in Davids Hand gewesen? Nein — da war es wieder, und diesmal kräftiger. Joes Brustkorb hatte sich bewegt. .. bewegte sich erneut... fing sein Herz wieder zu schlagen an...? Blip. Nie hatte einer von ihnen ein lieblicheres Geräusch gehört als diesen elektronischen Piepton. Über den EKG-Monitor wanderte ein Zacken, dann ein zweiter, stärkerer, ein dritter. Die Nadeln, die die EKG-Kurve auf die Papierrolle übertrugen, begannen auszuschlagen, immer heftiger. Die Lebenszeichen waren zurückgekehrt, wurden nun wieder gemessen und aufgezeichnet, mit maschineller Kälte und Präzision, als wäre Joes Rückkehr von den Toten ein ganz gewöhnlicher Vorgang und kein ... Wunder. »Sauerstoff!« rief David gehetzt. Rachel legte Joe mit schnellem, sicherem Griff die Maske auf. »Sauerstoffmaske aufgelegt« sagte sie ruhig, fügte dann aber mit zitternder Stimme hinzu: »Es ist alles gut, Joe. Du wirst wieder okay.« Sekunden später nahm auch der EEG-Monitor wieder seine Tätigkeit auf. »Yeah!« brüllte Randy und ließ vor Begeisterung und Freude beinahe Joes Videokamera fallen. Rachels und Davids Blicke trafen sich, als sich beide ein Lächeln der Anerkennung und des Stolzes, der Zufriedenheit und des Respekts vor dem Können des anderen schenkten. Um Nelson Wrights Herz aber legte sich eine eisige Hand, als er die-
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ses Lächeln sah. Ihn schien das Schicksal Joes plötzlich kalt zu lassen. »Wir haben's geschafft!« rief Randy Steckle, was den Nagel nicht so ganz auf den Kopf traf, denn an der Videokamera lag es bestimmt nicht, daß Joe dem Tod von der Schippe gesprungen war. David bemerkte erst jetzt den wütenden, vorwurfsvollen Ausdruck auf Nelsons Gesicht. David kannte Nelson gut genug, um sofort zu spüren, daß es seinem Freund schlimm zu schaffen machte, daß nicht er, sondern David es gewesen war, der Joe gerettet hatte. Hinzu kam, daß dieses Experiment Nelsons Idee gewesen war. Nelson Wright war die treibende Kraft gewesen; er war als erster das Risiko eingegangen, sich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen. Jetzt mußte es ihm so vorkommen, als wäre er von den anderen praktisch in den Hintergrund gedrängt worden. »Nelson...« begann David beschwichtigend, aber Wright wandte sich abrupt um und machte sich an den Geräten zu schaffen. Plötzlich schlug Joe Hurley die großen blauen Augen auf und grinste. Dann hustete er leicht, blinzelte und versuchte, sich aufzusetzen. Und irgendwie verloren sich die Spannungen und die Mißstimmung im Triumph dieses Augenblicks. Nelson Wright lächelte.
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Nelson Wright, der die Augen unverwandt auf Joes Gesicht gerichtet hielt, als suche er irgendeine Antwort in dessen blauen Augen. »Was soll das heißen — super?« fragte Rachel und nippte am Kaffeebecher. Die fünf Medizinstudenten saßen um einen Tisch in einem Schnellrestaurant, das rund um die Uhr geöffnet hatte; sie waren die einzigen Gäste. Joe — blaß, müde, erschöpft und in eine wärmende Decke gehüllt — war der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, und das bereitete ihm offensichtlich großes Vergnügen. »Ich weiß nicht«, ging er zögernd auf Rachels Frage ein. »Es ist schwer zu erklären ... wenn nicht sogar unmöglich. Dieses >super<... es hat nichts mit der Vergangenheit zu tun oder mit der Zukunft. Es bedeutet einfach das Gefühl des Hier und Jetzt. Ein unglaubliches schönes Gefühl.« Er konnte sich nicht besser ausdrücken und wußte nicht, ob die anderen begriffen, was er damit sagen wollte. »Aha«, sagte David ironisch, »dann ist der Tod also das reinste Vergnügen.« Joe wandte David sein Gesicht zu. Seine Stimme klang ernst, fast feierlich — völlig untypisch für Hurley — als er sagte: »Dave, Nelson hat recht. Es gibt da drüben irgend etwas... eine Aktivität... oder Leben ... nach dem Tod.« »Ganz genau«, bestätigte Nelson, während die andern wie gebannt auf Joe starrten, ihm jedes Wort von den Lippen lasen. »Mein Erlebnis«, fuhr Joe fort, »war ein wenig seltsam, beinahe ... erotisch.« »Der Kerl stirbt und vögelt munter weiter«, scherzte Randy Steckle und räusperte sich verlegen, als er sah, wie Rachel errötete und David ihm einen vorwurfsvollen Seitenblick zuwarf. Nelson hingegen runzelte die Stirn. Erotisch? Was redete Hurley da? Nelsons Sterbeerlebnis war alles andere als erotisch gewesen. »Was meinst du mit erotisch?« fragte er Joe. Joe gab sofort klein bei. Ihm wurde klar, daß er sich in eine peinliche Situation hineingeredet hatte und seine Kommilitonen schockieren oder abstoßen würde, sollte er ins Detail gehen. »Na ja, nur ein bißchen erotisch«, sagte er. »Nicht daß ihr glaubt, es hätte irgendwas mit Sex zu tun gehabt. Absolut nicht. Aber es gab dort eine... Energie, die ich fühlen
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konnte... Hitze von außen und Liebe im Innern. Es war... angenehm, freundlich. . . ach, verdammt, es ist so schwer zu erklären.« »Den Eindruck habe ich allerdings auch«, sagte David. Es war ihm deutlich anzumerken, daß er noch immer mißtrauisch war, was Joes Schilderung betraf. »Nein, wirklich«, beharrte Joe. »Ich glaube, da war irgendwas Freundliches und unbestimmt Feminines, das mich... geführt hat.« Sofern man unersättliche nackte Mädchen mit großen Titten, strammen Hintern und langen, schlanken Beinen als >unbestimmt feminin< bezeichnen kann, dachte Joe. Nelson Wright lehnte sich im Stuhl zurück. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich zu einer Maske aus Skepsis und Mißtrauen. Die Gedanken rasten hinter seiner Stirn. Offensichtlich wies Joes Sterbeerlebnis nicht die kleinste Gemeinsamkeit mit dem seinen auf. Sogar die Empfindungen, Gefühle, Eindrücke waren völlig unterschiedlich. Und noch etwas: Nelson hatte sich als Junge gesehen, als neunjähriger Junge. Joe hingegen behauptete, von etwas >unbestimmt Femininem geführt< worden zu sein. Was hatte das zu bedeuten? War es möglich, daß es gar kein universelles, allgemeines und gleiches Sterbeerlebnis gab, wie man bisher angenommen hatte? Das wiederum würde bedeuten, daß kein stichhaltiger, exakter wissenschaftlicher Nachweis des Sterbeerlebnisses zu erbringen war, der als Tatsache dokumentiert und Eingang in die Lehrbücher finden konnte. Was war, wenn das Sterbeerlebnis subjektiv geprägt war, wenn jeder es anders erlebte? Wenn es nicht das Sterbeerlebnis gab, sondern unzählige Variationen? Würde das seine, Nelsons, Forschungen wissenschaftlich wertloser, seine Experimente weniger sensationell machen? Würde man sie gar als Wahnvorstellungen abqualifizieren, als banale Drogentrips? Würde es ihn den Ruhm kosten, der ihm zustand? Die anderen waren zu sehr von Joes Bericht gebannt, als daß sie den finsteren Ausdruck auf Nelsons Gesicht bemerkt hätten. »Das ist die Entdeckung des Jahrhunderts! Der größte Durchbruch in der Geschichte der Medizin!« sagte Steckle gerade voller überschwenglicher Begeisterung. Seine Augen funkelten hinter den Brillengläsern; seine dicken Wangen glühten vor Erregung. »Leute, die letzte große Grenze ist überschritten. Erst das
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Meer, Amerika, der Westen, der Mond. Dann Drogen. Timothy Leary und die Reise ins eigene Ich. Und Miß MacLaine, unsere berühmte einstige First Lady, und das Verlassen des eigenen Ich. Aber das hier, Leute, übertrifft alles. Und es ist unsere Entdeckung!« Er sprang so unbeholfen auf, daß er in seiner Begeisterung fast Tisch und Stuhl umgeworfen hätte. »Und wir haben die Aufzeichnungen«, sagte David. »Jawohl«, rief Randy Steckle. »Und wir haben etwas Lohnendes gefunden! Wir haben eine Entdeckung gemacht, mit der wir diese blutigen Amateure in den Sack stecken!« »Wir?« sagte Nelson mit schneidender Stimme. »Ich. Vergeßt das nicht. Vergeßt das nie! Es war meine Idee.« Bevor die ändern etwas erwidern konnten, trat die Kellnerin an den Tisch. »Hier ist die Rechnung. Und bitte, drücken Sie sich etwas gepflegter aus«, sagte sie. Sie war eine Frau mittleren Alters und sichtlich müde. Alle anderen Tische waren unbesetzt; man hatte bereits die Stühle auf die Tischplatten gestellt. Wenn sie diese verrückten, lautstarken Twens loswurde, hatte sie endlich ihre Ruhe, konnte den Laden dichtmachen, sich vielleicht noch bei einem Drink und zwei, drei Zigaretten entspannen. Joe bedachte sie mit einem jungenhaften Lächeln und knipste seinen berühmten irischen Charme ein. »Sie müssen schon entschuldigen, Ma'am«, sagte er, »aber ich bin heute abend aus dem Reich der Toten zurückgekehrt.« Die Kellnerin verzog keine Miene. »Ach, wirklich?« sagte sie. »Das überrascht mich nicht. Gestern abend hat Elvis auf ein Bier bei uns reingeschaut.« Sie legte die Rechnung auf die schmutzige, wie gemastert aussehende Resopal-Tischplatte. »Ihr könnt bezahlen, wenn ihr fertig seid.« Und damit entschwand sie zur Theke. Rachel beugte sich vor und blickte Joe fest in die Augen. »Joe, hast du es als schwierig empfunden, zurückzukehren?« wollte sie wissen. Joe zuckte die Achsel. »Kann mich nicht daran erinnern.« »Aber an alles andere, was?« spottete David. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ihr macht euch was vor. Du, Nelson, hast uns die Hucke vollgelogen, und Joe schwört sogar noch auf seinen Unsinn.«
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Nelson lächelte gelassen. »Ich würde an deiner Stelle nicht anders denken. Ich würd's auch nicht glauben. Jedenfalls nicht, bevor ich's nicht selbst erlebt hätte.« Seine Augen funkelten plötzlich herausfordernd, und mit heimtückisch sanfter Stimme fragte er: »Willst du's nicht auch mal versuchen, Labratsch?« »Genau«, stimmte Joe zu. »Du bist doch Atheist, hast du gesagt. Du hast also nichts zu verlieren.« »Kommt gar nicht in Frage«, sagte Rachel. »Ich bin als nächste an der Reihe.« Davids Grinsen erlosch, und sein Gesicht wurde finster vor Zorn. »Moment mal. Niemand ist als nächster an der Reihe. Es gibt kein nächstes Mal. Sucht ihr Antworten auf die Frage: Was ist nach dem Tod? Es gibt keine Antworten. Ihr beide habt nur das gesehen, was ihr sehen wolltet — wenn überhaupt. Alle Fragen sind offen geblieben.« Ohne es zu wissen, hatte David damit Nelsons heimliche Befürchtungen in Worte gekleidet. »Gebt die Sache auf!« sagte er beschwörend. »Es wird zu gefährlich!« Zu gefährlich. Tiefes Schweigen senkte sich über die Gruppe. Davids eindringliche Mahnung hatte die anderen nachdenklich gestimmt. Dann aber sagte Rachel entschlossen in die Stille: »Wir können das Rad jetzt nicht mehr zurückdrehen. Dafür ist es zu spät. Ich gehe noch weiter als Joe. Eine Minute fünfzig Sekunden.« Eine Minute fünfzig! War Rachel noch bei Trost? Nachdem sie erlebt hatte, wie verzweifelt sie schon um Joes Leben hatten kämpfen müssen, der zehn Sekunden weniger in der Todeszone geblieben war! Joe und Randy tauschten nervöse Blicke aus, während Nelson sein kaltes Lächeln zeigte. »Zwei Minuten.« David Labraccios Ankündigung traf sie alle wie ein Fausthieb, und sie starrten ihn mit einer Mischung aus maßlosem Erstaunen und Entsetzen an. Zwei Minuten kamen fast einem Selbstmord gleich. »Hör mal, Dave, du hast doch gerade noch gesagt...« begann Randy mit heiserer Stimme. »Ich hab's mir anders überlegt«, erwiderte David kühl. Sein Mund war ein schmaler Strich; der Ausdruck in seinen Augen nicht zu deuten. »Zwei Minuten.« »Zwei Minuten zehn«, sagte Rachel wütend.
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»Zwei Minuten zwanzig«, konterte David seltsam gelassen bei dieser verrückten Auktion des Todes. »Ihr seid ja vollkommen verrückt geworden«, sagte Randy entgeistert. Rachel konnte David nur noch anstarren. In ihren Augen loderte heißer Zorn, aber sie schwieg. »Tja«, brach Nelson schließlich das atemlose Schweigen. »Sieht so aus, als hätten wir einen Sieger gefunden.« Rachel erhob sich, stieß den Stuhl zurück, warf achtlos ein paar Münzen Kleingeld für ihren Kaffee auf den Tisch und verließ grußlos und mit schnellen Schritten das Fast-food-Restaurant. Nach ein paar Sekunden stand auch David auf und folgte ihr. Nelson Wright zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch zur Decke. Er suchte sorgfältig nach den richtigen Worten und wandte sich zögernd an Joe Hurley. »Joe, hast du irgend etwas Furchteinflößendes, Böses erlebt? Irgend etwas . . . Negatives?« Die Frage verblüffte Joe, und irgendwo in seinem Unterbewußtsein tauchte ein kleiner, nagender Zweifel auf. Irgend etwas Negatives? Da war etwas gewesen, etwas Unbestimmtes, kaum mehr als eine Ahnung. Aber er konnte es nicht in Worte umsetzen, konnte sich nicht einmal genau daran erinnern. Es war nur ein blasser, verschwommener Gefühlseindruck gewesen ... In einer griechischen Tragödie gibt es immer einen Augenblick, einen winzigen Herzschlag der Zeit, an dem die Handlung zu erstarren scheint und die Welt den Atem anhält: wenn Agamemnon den purpurnen Teppich betritt, der den Göttern vorbehalten ist. Wenn Ödipus die Mörder seines Vaters verflucht, ohne zu wissen, daß er diesen Fluch auf sich selbst herabbeschwört. Wenn jener Moment gekommen ist, da der Held, der tragische König, einen Fehler macht, einen alles entscheidenden Fehler, der eine Entwicklung in Gang setzt, die nicht mehr aufzuhalten, nicht mehr rückgängig zu machen ist. Bis zu diesem Augenblick scheint der Lauf der Dinge noch beeinflußbar zu sein. Aber nach dieser einen, schicksalsschweren Entscheidung kann nicht mehr eingegriffen und nichts mehr gelenkt werden; nichts ist mehr wie zuvor, nichts kann mehr
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zurück auf seinen alten Platz. Augenblicke wie diese haben das Schicksal der Menschheit mitbestimmt. Und jetzt war so ein Augenblick gekommen. Nelson Wright hatte sich zögernd vorgewagt, hatte eine alles entscheidende Frage gestellt. Hätte Joe Hurley den leisen Zweifel erwähnt, der in seinem Innern nagte, wären die Experimente vielleicht eingestellt worden. Vielleicht. Aber niemand wird das je erfahren. Weil Joe Hurley log. »Irgend etwas Negatives? Nein«, sagte Joe zu Nelson. »Gut«, sagte Nelson. »Gut.« Und von diesem Augenblick an nahm das Unvermeidliche seinen Lauf. Während sie sich im Schnellrestaurant aufhielten, hatte es zu regnen angefangen. Der Regen hatte sich schon seit Tagen durch dunkle Wolken angekündigt, und jetzt fiel er in dicken, schweren Tropfen; Nebelschwaden zogen durch die Straßen; die Lampen der Straßenlaternen waren von gespenstischen Halos umgeben; der nasse Asphalt schimmerte feucht. David brauchte eine Minute, bis er Rachel auf der dunklen, leeren Straße eingeholt hatte. Sie ging schnell, beinahe hastig; die Hände hatte sie tief in den Manteltaschen vergraben, einmal, um sie zu wärmen, zum anderen, um das Zittern zu unterbinden, denn noch immer war sie wütend und aufgewühlt. »Rachel, he, warte doch«, sagte David, als er sie erreicht hatte und ihr die Hand auf die Schulter legte, um sie zurückzuhalten. Rachel blickte sich gar nicht erst um und machte sich mit einem heftigen Ruck von David frei. »Was sollte das vorhin bedeuten?« fragte sie zornig und schritt noch schneller aus. »Wolltest du auf diese Art den Kavalier spielen?« »Unsinn. Wie kommst du dar ...» »Oder wolltest du nur versuchen, mich zu blamieren?« David zog sie am Arm herum, blickte ihr ins Gesicht. »Wie kommst du eigentlich darauf, daß sich alles immer nur um dich dreht?« fragte er sie ruhig. »Weil jeder so furchtbar besorgt um mich zu sein scheint. Ich hab' keinen männlichen Schutz nötig. Auch deinen nicht,
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Labraccio.« »Vielleicht hast du was anderes Männliches nötig, Mannus.« Die offene sexuelle Anspielung steigerte noch ihren Zorn. »Ach, ja?« fuhr sie ihn an. »Und was hast du in deiner unendlichen Weisheit beschlossen, in dieser Hinsicht zu unternehmen?« David betrachtete im Licht der Straßenlaterne ihr hübsches Gesicht, ihr volles, dunkelrotes Haar, als sähe er es zum ersten Mal. Er räusperte sich verlegen. »Tut mir leid, was ich gesagt habe. Es ist nur ... jemand, der so entschlossen und zielbewußt ist wie du ... und so verdammt hübsch ... na ja, der macht uns andere nervös.« Rachel hob die Brauen; dann mußte sie unwillkürlich lächeln. Eine Antwort wie diese hatte sie nicht erwartet. »Um Ausreden bist du wohl nie verlegen, was?« sagte sie, wandte sich um und ging weiter. »Es ist keine Ausrede«, sagte David, der sich jetzt an ihrer Seite hielt. »Ich ...« »Und warum hast du vorhin so plötzlich deine Meinung geändert?« unterbrach Rachel ihn. Ihr Zorn war fast verflogen; nun hatte wieder Interesse am Experiment die Oberhand. David zuckte die Achseln. »Ich bin der Skeptischste von uns allen«, erklärte er. »Wenn wir den Versuch tatsächlich noch einmal machen, sollte ich der nächste sein. Denn wenn dort drüben wirklich nichts ist, dann werde ich es mir auch nicht einreden. Und dann werden wir wissen, daß es keinen Grund mehr gibt, die Experimente weiterzuführen.« »Glaubst du denn nicht an die Erlebnisse, von denen Nelson und Joe erzählt haben?« David zögerte; dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin sicher, daß sie irgend etwas gesehen haben. Wahrscheinlich Bilder aus ihrem Leben, die ihnen das sterbende Hirn eingegeben hat. Wie. . . na ja, wie bei einem Computer, bei dem das Programm abstürzt.« Rachel dachte kurz darüber nach und verwarf Davids Theorie. Er war einfach zu nüchtern, zu sehr Realist und Praktiker. Und außerdem überging er eine wichtige Tatsache. »Wie erklärst du dir dann die große Ähnlichkeit bei der Schilderung
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von Sterbeerlebnissen? Hunderte sind protokolliert worden, auf der ganzen Welt. Sterbeerlebnisse von Menschen verschiedener Hautfarben, Kulturkreise, Religionen«, sagte Rachel. Wieder zuckte David die Achseln. »Ich weiß es nicht«, gab er ehrlich zu. »Vielleicht werden beim Eintritt des Todes bestimmte Chemikalien vom Hirn freigesetzt, um uns das Sterben erträglicher zu machen. Und diese Chemikalien sind bei jedem Menschen die gleichen, unabhängig von seiner Umwelt.« »Reine Spekulation«, sagte Rachel lächelnd. »Was ist denn, wenn du das Experiment machst und feststellst, daß dort drüben, wie ihr immer sagt, wirklich dieses unheimliche Etwas ist?« »Dann halte ich dich nicht mehr davon ab, dich für länger als zwei Minuten umzubringen«, erwiderte David grinsend. Rachels Miene nahm einen verschlossenen Ausdruck an. »Ich habe nicht die Absicht, mich umzubringen«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst. »Freut mich zu hören«, sagte David, immer noch lächelnd. »Ich kenne dich nicht sehr gut... aber ich weiß, daß ich dich sehr vermissen würde.« Er warf Rachel aus dem Augenwinkel einen verstohlenen Seitenblick zu, wie immer verzaubert von ihrer Schönheit und verwundert darüber, wie wenig Rachel ihr Aussehen zu bedeuten schien. Er sah, wie sie auf seine Bemerkung hin den Kopf zur Seite wandte; eine für sie typische Geste der Schüchternheit. Er sah aber auch ihr leises Lächeln, und eine Woge von Zuneigung stieg in ihm auf. »Warum bist du eigentlich so besessen von diesem Gebiet? Von den Sterbeerlebnissen? Vom Tod?« fragte er. Rachel schüttelte den Kopf. »Es ist keine Besessenheit. Es ist einfach... Interesse.« Sie zögerte, fügte dann hinzu: »Ein persönliches Interesse.« David wartete darauf, daß sie diese seltsame Bemerkung weiter ausführte, denn eine Stimme in seinem Innern sagte ihm, daß Rachel mehr darüber erzählen wollte. Aber sie schwieg. Falls Rachel irgendwelche Geheimnisse hatte, wußte sie diese Geheimnisse sehr gut zu hüten. Plötzlich blickte sie ihn an, und für ein paar Sekunden war irgend etwas Verbindendes, Inniges zwischen ihnen, etwas bei-
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nahe Greifbares, doch dann erlosch der Zauber dieses Augenblicks, hinterließ nur einen leisen Nachhall. Was immer in diesem Moment gewesen war — es war vorüber. »Soll ich dich nach Hause begleiten, oder ... woanders hin?« fragte David mit heiserer Stimme. »Nein. Gute Nacht«, sagte sie leise. »Gute Nacht, Rachel.« Sie wandte sich um und ging weiter. David blieb stehen, blickte ihr hinterher, dachte über sie nach, fragte sich, wer sie wirklich war, was sie sich vom Leben wünschte, was sie zu tun bereit war, um sich diese Wünsche zu erfüllen, und was sie nicht zu tun bereit war; er fragte sich, ob sie sich vor dem Leben fürchtete, und wenn, was ihr diese Furcht bereitete. Weder David noch Rachel bemerkten Nelson Wright, der im Schatten eines in der Nähe gelegenen Gebäudes stand und sie beobachtet hatte. Aus der Entfernung hatte er ihre Worte nicht verstehen können, aber er hatte den Ausdruck auf ihren Gesichtern gesehen, die Blicke, die sie getauscht hatten, und eine Woge von Wut und Haß stieg in ihm auf. Mit langsamen Schritten machte er sich auf den Nachhauseweg.
7 Der Wind war abgeflaut, und die Nacht war sehr still und klar und kalt. Der Mond stand strahlend hell am Himmel und warf sein silbernes Licht auf die vorüberziehenden Regenwolken. Die Verkehrsgeräusche aus der Innenstadt kamen aus weiter Ferne, leise und gedämpft. Nelsons Stiefelabsätze klackten laut auf dem menschenleeren, nassen Bürgersteig, aber er war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, als daß er das Geräusch seiner Schritte oder sonst etwas hätte wahrnehmen können — obwohl es keine Lüge gewesen war, als er David Labraccio gegenüber behauptet hatte, all seine Sinne seien durch sein Sterbeerlebnis geschärft worden. Nein, das war keine Lüge gewesen. Nelson Wright mußte über vieles nachdenken. Über Joe Hur-
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ley, zum Beispiel. Was Joe über sein Sterbeerlebnis erzählt hatte, machte ihm Sorgen, sogar Angst. Warum unterschied es sich so sehr von dem seinen? Und wie würde Davids Sterbeerlebnis aussehen? Wieder ganz anders als Joes und seines? Nelson fühlte sich irgendwie im Stich gelassen, enttäuscht und einsam, und der bittere Geschmack der Niederlage lag auf seiner Zunge. Enttäuschung und Einsamkeit, das Gefühl, ein Außenseiter zu sein — all das waren keine neuen Erfahrungen für Nelson Wright. Wohl aber die Eifersucht. Die Eifersucht auf einen Freund. Er mochte David Labraccio, aber er war plötzlich neidisch und eifersüchtig auf ihn, und das aus mehreren Gründen. Er war neidisch auf Davids ruhige Gelassenheit, sein Können, seine kühle Besonnenheit in kritischen Situationen. Neidisch auf den Respekt, den die anderen David entgegenbrachten, besonders Rachel. Und er war neidisch darauf, daß er selbst sich dafür entschieden hatte, nur eine Minute in den Tod zu gehen, während David die Absicht hatte, dies für länger als zwei Minuten zu tun. Besaß David doppelt soviel Mut, Schneid und Risikobereitschaft wie er, Nelson Wright? Diese bange Frage nagte in ihm, quälte ihn. Als sie mit den Experimenten angefangen hatten, war Nelson natürlich davon ausgegangen, daß er die Führungsrolle übernehmen würde. Nein, die einzige Rolle. Er hätte nie damit gerechnet, daß die anderen — Nelson bezeichnete ihre kleine Gruppe in Gedanken mittlerweile als die >Flatliners< — sein Experiment nachvollziehen und ebenfalls die Reise in jenes unbekannte, unerforschte Gebiet jenseits des Todes unternehmen wollten; er hatte sie als bessere Hilfskräfte betrachtet, die getreu und zuverlässig alle notwendigen Handgriffe verrichteten — Infusionen, Handhabung der Lachgas- und Sauerstoffmasken, Überwachung der Geräte, Verabreichung der Elektroschocks, Aufzeichnungen der Meßwerte, Filmaufnahmen vom Versuch und so weiter —, die für das Gelingen und die exakte wissenschaftliche Dokumentation des Experiments notwendig waren, während er, Nelson Wright, der eigentliche Held war, der Abenteurer, der Mann, der diese unglaubliche Reise antrat und die größte und kostbarste aller Trophäen eroberte: scientia, Wissen.
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Daß die andern ihn nun übertrumpfen wollten und, wie Joe Hurley, schon übertrumpft hatten und dadurch seinem Ruhm etwas von seinem Glanz nahmen, war ein unerträglicher Gedanke. Ja, die anderen würden ihn überflügeln, und in diesem Ansturm, dieser Flut neuer Erkenntnisse, würde sein Genie in Vergessenheit geraten. David Labraccio würde den ganzen Ruhm ernten; er würde der gefeierte und bewunderte Held sein, die große Berühmtheit — nicht Nelson. Aber Nelson brauchte die Bewunderung, die Anerkennung. Er hatte schon fest darauf gezählt, sich mit dem Ruhm und der Ehre endlich aus der traurigen Einsamkeit seines Lebens befreien zu können. Das Verlangen nach Anerkennung, Ruhm und Bewunderung war die einzige Quelle seiner Kraft, hatte ihn alle die trostlosen Jahre, Tage, Stunden vorangetrieben, hatte ihn die einsamen Nächte ertragen lassen. Und es gab andere Gedanken, die ihm noch unerträglicher waren. Joes Sterbeerlebnis unterschied sich sehr deutlich von dem seinen, und das konnte ihn wertvolle Punkte in diesem Spiel um Ruhm und Ehre kosten. Und Rachel Mannus schien Interesse an David Labraccio zu entwickeln; Nelson hatte es an ihrer Körpersprache erkennen können, als er die beiden vorhin beobachtet hatte, wie sie unter dem Licht der Straßenlaterne standen und sich unterhielten. Seit mehr als einem Jahr aber fühlte Nelson sich stark zu Rachel hingezogen; Rachel, mit ihrem hübschen, ernsten Gesicht, ihren großen, schönen Augen, ihrer wundervollen Figur. Er mußte sich sogar eingestehen, daß er sein Experiment zum Teil deshalb durchgeführt hatte, um ihr seinen Mut beweisen zu können, seine Fähigkeiten — einfach deshalb, um ihr nahe zu sein. Sie war so schön, so intelligent. Nelson betrachtete sie als seinen einzigen gleichwertigen Partner, was Wissen und Können betraf, und mehr noch: als die einzige begehrenswerte Partnerin fürs Leben. Sie paßte zu ihm mit ihrem Ernst, ihrer Intelligenz, ihren Interessen. Ja, er brauchte sie verzweifelt, er begehrte sie schmerzhaft, und jetzt sah es so aus, als würde ein anderer sie bekommen. Sein Freund David Labraccio. Das konnte er nicht ertragen. Das wollte und durfte er nicht zulassen. Und da war noch etwas. Etwas, das Nelson nicht definieren
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konnte. Eine Art dunkle Vorahnung... Erst jetzt bemerkte Nelson, daß er sich gar nicht auf dem Nachhauseweg befand, sondern die genau entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte. Er war so tief in Gedanken versunken gewesen, daß es ihm gar nicht aufgefallen war. Jetzt befand er sich in einer Gegend, in der er noch nie gewesen war, ein einsames, menschenleeres, dreckiges Viertel, in dem Lagerschuppen, verlassene, verfallene Mietskasernen mit baufälligen hölzernen Feuertreppen und alte Fabrikgebäude lagen, wo Hals abschneider und Ausbeuter ihre Betriebe untergebracht hatten, Betriebe, in denen sich tagsüber illegale Einwanderer für einen Lohn abrackerten, der zum Leben zu niedrig und zum Sterben zu hoch war. Nachts gehörte dieses häßliche Viertel mit seinen dunklen Straßen den Obdachlosen, jenen gesichtslosen Männern und Frauen, die billigem Fusel oder giftigen Drogen verfallen waren, die in den Teufelskreis der Hoffnungslosigkeit geraten waren, die sich aufgegeben hatten, weil sie mit dem Leben nicht fertig wurden. Ja, hier waren diese Menschen, schliefen zusammengekauert in dunklen Türeingängen oder sogar auf den Gittern der U-Bahn-Entlüftungsschächte, aus denen hin und wieder ein Schwall warmer, verbrauchter, stinkender Luft drang, um ihre ausgemergelten Körper so gut es ging vor der Kälte dieser Oktobernacht zu schützen. Hier dienten alte Zeitungen als Decken und Pappkartons als Matratzen. Schaudernd zog Nelson sich den Mantel enger um den Körper, schlug den Kragen hoch und beschleunigte seine Schritte. Die Straßen waren noch immer naß vom Regen; das Licht der Laternen schimmerte matt auf dem schmutzigen Asphalt und warf verzerrte Spiegelbilder gräßlicher, namenloser Dinge in seine Augenwinkel. Nelsons Sinne, durch das Sterbeerlebnis geschärft, erholten sich nur langsam von dem Gestank nach Dreck, Müll, ungewaschenen menschlichen Körpern und Schlimmerem. Und über allem lag der ekelerregende Geruch von Ratten, geronnenem Blut und Exkrementen. Sein Magen rebellierte; Übelkeit stieg in ihm auf. Er rannte jetzt beinahe, aber es wurde ein schrecklicher Spießrutenlauf, der ihn an einer langen Reihe von Mülltonnen vorbeiführte, in denen kleine Feuer brannten, die ihr
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flackerndes Licht geisterhaft auf die ausgezehrten, totenkopfähnlichen Gesichter der Menschen warfen, die sich, in schmutzige Lumpen gehüllt, an diesen Feuern wärmten. Die grauenerregenden Gesichter schienen ihn anzugrinsen, ihm verschwörerisch zuzublinzeln, als würden sie mit ihm ein schreckliches Geheimnis teilen. Von plötzlichem Entsetzen erfüllt, bog Nelson in eine menschenleere dunkle Seitengasse ein. Er hörte das rhythmische Pochen seiner Stiefelabsätze überlaut von den Hauswänden widerhallen, wie Trommelschläge, und sein rasender Herzschlag war wie eine Aufeinanderfolge schmerzhafter Explosionen in seiner Brust. Sein Atem ging keuchend und schwer, kratzte in seiner Kehle. Er wußte nicht, was ihm plötzlich solche Angst einjagte. Die Totenschädelvisagen? Nein. Aber immerhin war er jetzt fort von diesen Fixern, Alkoholikern, Pennern und Psychopathen. Er war allein. Ganz allein. Und er hatte sich hoffnungslos verirrt. Vielleicht war er irgendwann einmal schon in dieser Gegend gewesen, aber niemals allein und nie bei Nacht. Jedenfalls war ihm keiner der Straßennamen auf den Schildern vertraut, und die Gebäude selbst wirkten irgendwie bedrohlich, wie von einem seltsamen, unheiligen Eigenleben erfüllt. Von plötzlicher Panik ergriffen, rannte Nelson die Seitengasse hinunter, suchte nach einer Durchgangsstraße, die ihn auf den vertrauten Weg zurück nach Hause führte. Aber die Seitengasse beschrieb eine Kurve und wurde schmaler, mündete dann in eine noch längere, noch engere Gasse. Er blieb keuchend am Kreuzungspunkt der beiden Gassen stehen und zögerte. Welchen Weg sollte er einschlagen? Links oder rechts? Und dann hörte er das Geräusch. Ganz leise zuerst; dann wurde es sehr schnell lauter, kam näher. Es war wieder dieses schleifende Geräusch, dieses schaurige, ihm nur zu vertraute schleifende Geräusch! Und das Wimmern. Nelson hielt den Atem an. »Champ?« flüsterte er. Wie als Antwort auf diesen leisen Ruf, kam der Mischlingshund, noch immer mit dem blutdurchtränkten Verband an den Hinterbeinen, über die dunkle Gasse gekrochen. Er schleppte sich in einer Entfernung von etwa zehn
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Metern an Nelson vorüber und verschwand im Schatten. »Champ?« krächzte Nelson. Das Wort blieb ihm fast wie eine Stein in der Kehle stecken. Obwohl er den Hund nicht sehen konnte, vernahm er ganz deutlich dessen klägliches, schmerzerfülltes Winseln. Er spähte die stockdunkle Gasse hinunter in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien. Mitleid und Entsetzen kämpften in Nelsons Seele. Warum ließ man es zu, daß dieses arme Tier sich durch die Straßen schleppte? Ein so schwer verletzter Hund brauchte tierärztliche Behandlung und Pflege! Er brauchte Hilfe, Zuneigung. Nelson wollte dem Tier zuerst nicht folgen, denn in seinem Hirn meldete sich eine Stimme, die schrie und doch lautlos war und die ihn vor dem Hund warnte, ihn aufforderte, sich umzudrehen und schleunigst zu verschwinden. Doch dann bewegte Nelson sich doch zögernd und langsam, von Furcht gepackt, die Gasse hinunter und spähte in die Schatten, um das Tier auszumachen. Alle Vernunft war vergessen, ausgeschaltet. Donnergrollen raste über den nächtlichen Himmel — dumpfe, dröhnende Schläge, die langsam verebbten und in der Ferne verklangen. »Champ?« Das Tier war um die nächste Straßenecke verschwunden, wie Nelson einen winzigen Moment zuvor aus dem, Augenwinkel bemerkt hatte. Nelson folgte ihm — und stand dann plötzlich vor der geöffneten Eingangstür eines langen, schmalen Gebäudes. Im Innern herrschte undurchdringliche Finsternis. Aber das Tier war weit und breit nicht zu sehen; es gab keine andere Möglichkeit: Der Hund mußte in diesem Gebäude verschwunden sein. Er konnte sich mit seiner Verletzung nicht schnell genug bewegen, um die Gasse schon so weit hinuntergelaufen zu sein, daß er außer Sichtweite wäre. Das Tier war schwer verletzt und mußte medizinisch versorgt werden. »Champ? Hier bin ich, Kleiner. Komm her.« Langsam und vorsichtig ging Nelson durch die dunkel gähnende Türöffnung und betrat das Gebäude. Im Innern war es eisig kalt, und jetzt erkannte Nelson auch, daß es ein altes Haus war, mit sehr niedriger Decke und nacktem, rissigem Betonfußboden. Eine kahle, schwache Glühbirne tauchte den Korridor in trübes, schummriges Licht und warf lange, verzerrte Schatten an die feuchten
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Wände, von denen die Farbe blätterte, und an die Decke, von der Wasser tröpfelte. Langsam bewegte Nelson sich vorwärts, setzte Fuß vor Fuß; angestrengt suchte er im trüben Dämmerlicht nach dem verletzten Hund. Ein Stück voraus sah er eine kleine Gestalt, halb versteckt in den Schatten. Nelson zuckte heftig zusammen, blieb wie angewurzelt stehen. Was hatte ein Kind in diesem Alter zu dieser späten Stunde an einem solchen Ort des Verfalls verloren? Das Kind konnte nicht älter als neun oder zehn sein; ein kleiner, dünner Junge in einem roten Sweatshirt mit Kapuze. Auf seinem Gesicht lag ein wehmütiger, trauriger, verlorener Ausdruck. Hatte dieses Kind kein Zuhause? »Was ist los, Kleiner?« rief Nelson ihm zu, als er sich vom ersten Schreck erholt hatte. »Was tust du hier?« Er ging auf den Jungen zu. Das Kind gab keine Antwort, stand nur da und starrte Nelson an; sein kleines Gesicht war von tiefer Traurigkeit gezeichnet. Nelson, seltsam berührt, ging weiter auf den Jungen zu, war ihm jetzt schon so nahe, daß er fast die Sommersprossen hätte zählen können. Wenn das Licht nur nicht so trübe wäre... »Hast du dich verlaufen?« fragte Nelson. »He, Junge, ist was nicht in Ordnung?« Das Kind schwieg beharrlich, starrte Nelson aber immer noch seltsam eindringlich in die Augen. In der gespenstischen Beleuchtung war das Gesicht des Jungen erschreckend blaß, fast weiß. Urplötzlich schien es sich im gedämpften Schein der trüben Funzel zu verzerren; es nahm eine seltsame Form an, wie das Gesicht eines wütenden Gnoms. Ohne jede Warnung trat der Junge zu, und sein vorschießender Fuß traf Nelson hart in den Unterleib. Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden, krümmte sich vor Schmerz. Und als Nelson wehrlos dalag und sich in Krämpfen wand, begann der Junge auf ihn einzuschlagen; seine kleinen Fäuste waren hart, seine Schläge so wuchtig wie die eines Boxers. Gnadenlose, brutale Hiebe prasselten auf Nelsons ungeschützten Kopf nieder, auf die Leber, die Nieren, die Milz. Er brüllte vor Schmerz, Wut und Überraschung und versuchte, die Schläge abzublocken, auf die Beine zu kommen,
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aber die Fäuste des Jungen waren überall, unermüdlich und stärker als die eines kräftigen Mannes. Nelson mußte furchtbare Treffer an der Schläfe, an Kinn und Wangen, auf der Nase, in den Augenpartien einstecken... »Hör auf!« kreischte er in Todesangst; er wollte und konnte nicht glauben, daß dies wirklich passierte, daß diese Schmerzen Realität waren, daß ein neunjähriger Junge ihm die Seele aus dem Leib prügelte, lautlos, gnadenlos und scheinbar ohne jede Anstrengung. Er hob den Kopf und versuchte, das Blut aus den Augen zu schütteln, aber schon traf ihn ein schmetternder Schlag auf den linken Wangenknochen und schleuderte ihn zurück; sein Kopf prallte hart auf den Betonfußboden, und Schleier legten sich vor Nelsons Augen. Verzweifelt wehrte er sich gegen die aufsteigende Bewußtlosigkeit. Noch immer stand der Junge über ihm, schlug auf ihn ein, starrte ohne Anzeichen von Regung auf ihn hinunter. Und das war fast noch schlimmer als die furchtbaren Schmerzen, gespenstischer als alles andere — im ausdruckslosen, reglosen Gesicht des Jungen war keinerlei Gefühl zu erkennen; keine Wut war in den leeren Augen; sie waren so leer wie die Augen des verwundeten Hundes. Und dennoch lag irgend etwas darin, das Nelson — wie schon bei dem Hund — auf furchtbare, grauenerregende Weise vertraut war. . . Instinktiv rollte Nelson sich zusammen, um den Schlägen eine möglichst kleine Trefferfläche zu bieten; er legte die Arme schützend über den Kopf, erwartete aber jeden Augenblick, daß der letzte, alles zerstörende Schlag seine Deckung durchbrach. Ja, es waren unglaublich brutale Hiebe; der Junge prügelte ihn buchstäblich zu Tode. Nelson wußte es, aber er war hilflos, der Gnade oder Ungnade dieses kleinen, furchteinflößenden, schrecklichen Monstrums völlig hilflos ausgeliefert. Und dann, von einem Moment zum anderen, war es vorüber. Kein Schlag schmetterte mehr auf Nelson nieder. Ohne ein Wort wandte der Junge sich um und rannte davon, verschwand in den schwärzesten Schatten dieses geisterhaften Hauses, ließ Nelson Wright achtlos auf dem kahlen Betonfußboden liegen, zitternd, von Entsetzen gepackt, hustend und keuchend und würgend im eigenen Blut.
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Er holte sie vor dem Eingang des Admin Universitätsgebäudes ein, genau in dem Moment, als sie das Gebäude betreten wollte. »Hi. Ich bin Joe Hurley. Du bist Terry Saunders, richtig?« Terry, die hübsche blonde Studentin, die nach ihrem Autounfall auf Rachels Krankenstation behandelt worden war, blickte den hochgewachsenen, gutaussehenden jungen Mann mit den strahlenden blauen Augen verwundert an. »Ja, bin ich«, sagte sie dann lächelnd. »Ich hab' gehört, du hattest ein Sterbeerlebnis.« Terrys Lächeln verschwand schlagartig; ihre Haltung wurde abweisend, und sie wandte sich rasch von Joe ab. »Darüber möchte ich nicht reden«, sagte sie über die Schulter und verschwand im Gebäude. Joe zögerte kurz, folgte ihr dann und holte sie in der Eingangshalle des Admin-Gebäudes ein. »Warte bitte«, sagte er drängend. »Weißt du, Terry, ich hatte auch ein Sterbeerlebnis.« Die junge Frau hielt inne und blickte ihn skeptisch an. Wollte der Bursche sie anmachen? »Ach, wirklich?« fragte sie mit spöttischem Unterton. Joe knipste seinen irischen Charme an und schaltete auf Höchstleistung, tausend Watt. »Ja, wirklich. Du kannst mir glauben. Du mußt mir glauben. Und ich muß mit jemandem darüber reden. Dieses Erlebnis hat mein Leben verändert.« Ein blitzendes Lächeln. Terry wandte sich ihm jetzt ganz zu, offensichtlich interessiert, was Joe die Gelegenheit gab, ihren Körper in Augenschein zu nehmen; Joe Hurley gehörte zu jenen seltenen Exemplaren männlicher Gattung, die die Fähigkeit hatten, einer Frau in die Augen zu sehen und dabei gleichzeitig die Größe ihres BHs zu taxieren. »Trink doch 'nen Kaffee mit mir«, sagte Joe und wußte sofort, daß sie sein Angebot nicht ausschlagen würde. Die beiden gingen in die Cafeteria, die erst kürzlich für die bevorstehende Halloween-Party geschmückt worden war; in sämtliche Ecken des Raumes hatte man Garbenbündel aus Maisstengeln gelehnt, und auf jedem Tisch lag ein Kürbis. Joe ging zur Theke, um zwei Tassen Kaffee zu holen, ohne zu bemerken, daß zwei Mädchen wütende Blicke auf ihn abschossen und sich dann von ihrem Tisch erhoben und die Cafeteria
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verließen. Beide waren Darstellerinnen auf zwei von Joes geheimen Videokassetten. Er hatte die Girls rumgekriegt und dann wie heiße Kartoffeln fallen lassen. Kein Wunder, daß sie nicht gut auf ihn zu sprechen waren, gelinde gesagt. Terry saß ernst und sittsam am Tisch und hatte die schlanken Beine unter ihrem Faltenrock übereinandergeschlagen. Joe grabschte sie wieder von oben bis unten mit Blicken ab, als er sich dem Tisch näherte. Die Kleine war absolut filmenswert. Wie schön, immer einen reichlichen Vorrat an Leerkassetten zur Verfügung zu haben. Hoffentlich waren die letzten Kassetten nicht für die Verfilmung der Experimente draufgegangen. Wieder ein blitzendes Lächeln, als Terry die Tasse hinstellte, aber Terrys Interessen waren offenbar anders gelagert, denn sie fing sofort damit an, von ihrem Sterbeerlebnis zu berichten. Offenbar hatte sie im Gegensatz zu Joe tatsächlich das Bedürfnis, mit anderen Menschen darüber zu reden. »Was mein Sterbeerlebnis angeht. . . na ja, man hat mir zuerst nicht geglaubt. Bis auf einige wenige Ausnahmen. Darum bin ich in dieser Hinsicht etwas empfindlich.« Joe beugte sich verschwörerisch über den Tisch zu ihr vor. »Aber wir wissen, daß es stimmt, nicht wahr?« sagte er heiser. »Wir wissen's.« »Ich werde es nie vergessen, weil...« begann Terry, aber Joe unterbrach sie, indem er ihr sanft die Hand auf den Arm legte. »Ich möchte alles erfahren. Jede Einzelheit«, sagte er mit geheucheltem Interesse. »Aber wenn du zur Vorlesung mußt... na ja, vielleicht könnten wir diese Woche abends mal 'nen Happen essen gehen und unsere Erfahrungen austauschen.« Aber Terry kam jetzt in Fahrt und war nicht mehr zu bremsen. »Weißt du, damals, als der Unfall passierte, hatte ich den ganzen Tag über schon gewußt, daß irgendwas geschehen würde«, vertraute sie Joe an. »Ich habe immer schon... Vorahnungen gehabt. So was wie das Zweite Gesicht. Einmal wollte meine Tante uns besuchen kommen. Sie wohnt in Vegas, hatte den Flug schon gebucht. Und da hab' ich zu meiner Mutter gesagt...« Joe Hurley gab nur vor, der jungen Frau zuzuhören; ein Teil seiner Aufmerksamkeit galt dem hübschen, munter drauflosplappernden Blondchen ihm gegenüber, ein anderer Teil war
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auf die Umgebung gerichtet. Joe ließ den Blick träge und beiläufig durch die Cafeteria schweifen, bis er auf dem Fernseher an der rückwärtigen Wand haften blieb. Der Apparat lief, natürlich; hier in der Cafeteria lief das Ding fast immer. Vorhin, als er und Terry am Tisch Platz genommen hatten, war ein College-Footballspiel übertragen worden. Jetzt aber wurde ein ganz anderes Spiel übertragen. Joes Augen weiteten sich. Mann Gottes, lief da ein Porno? Hier, in der Cafeteria? Ein Fickfilm im Admin-Universitätsgebäude am hellichten Tag? Sah ganz so aus. Ja, eindeutig. Da trieb es ein Pärchen so wild miteinander, daß das Wasserbett zu platzen drohte. Und jetzt drehte das Mädchen auf dem kleinen Bildschirm das Gesicht zur Kamera und ... Gütiger Himmel! Das konnte sie nicht sein. Das durfte sie nicht sein. Das war sie aber. Das Mädchen war Barbara Mullins, und der Typ, der sie vernaschte, war Joe Hurley, und der Pornostreifen stammte aus Joes geheimen Privatbeständen. Wie, zum Teufel, kam das Band hierher? Welcher Hurensohn hatte diese gottverdammte Kassette aus seinem Wandschrank geklaut? Seltsamerweise schien niemand dem hochinteressanten Programm auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken; keiner außer Joe starrte auf den Bildschirm. Und dann wandte das nackte Mädchen Joe erneut das Gesicht zu; sie blickte ihm direkt in die Augen und sagte laut und deutlich: »Warum hast du mir das angetan, Joe?« Joe Hurley versetzte schlagartig die Farbe, stieß einen leisen Schrei aus, fluchte lästerlich, sprang auf, warf dabei polternd den Stuhl um und flüchtete aus der Cafeteria, als wäre ihm der Leibhaftige auf den Fersen. Terry glotzte offenen Mundes hinter ihm her; gedämpftes Gelächter anderer Studenten drang an seine Ohren. Was ist das denn für ein Scheißspiel? fragte er sich entsetzt. Und dann sah er nur noch Barbara Mullins' vorwurfsvollen Blick, hörte nur noch ihre eigenartig traurige Stimme und konnte nur noch denken: Das gibt's doch gar nicht. Das gibt es doch gar nicht!
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Nelson Wright schloß mit zitternden Fingern die Wohnungstür hinter sich ab. Mit letzter Kraft kämpfte er die drohenden Schatten der Ohnmacht nieder, obwohl sein zerschlagener und geschundener Körper mit jeder Faser nach Bewußtlosigkeit und Vergessen schrie. Fast hätte er die Treppe bis zur Tür seiner alten Wohnung nicht mehr geschafft. Völlig außer Atem und noch immer von Grauen gepackt, wankte er mit zitternden Knien ins Badezimmer, wo er warmes Wasser ins Waschbecken laufen ließ und dann ganz behutsam die Schnitt- und Schürfwunden, die aufgeplatzte Haut, die Schwellungen in seinem Gesicht mit einem feuchten Waschlappen abtupfte. Es tat höllisch weh, erst recht, als Nelson eine desinfizierende Salbe auf die Wunde auftrug. Im grellweißen Licht seines blitzsauberen Badezimmers ris kierte Nelson zögernd einen ganz kurzen, verschwommenen Blick in den Wandspiegel — aber der genügte. Fast hätte er ins Waschbecken gekotzt. Sein Gesicht sah wie ein roher Hamburger aus. Beide Augenlider waren dunkelblau angelaufen und fast zugeschwollen. Eine Rißwunde über seinem linken Wangenknochen blutete noch immer heftig; der Riß war lang und tief und mußte genäht werden. Er öffnete den Medizinschrank, nahm eine Nadel, eine Klemme, eine Abbindungsschnur für die Ligatur und Verbandsstoff heraus. Bei seinem körperlichen und seelischen Zustand grenzte es an ein Wunder, daß es ihm — wenn auch nur mit Mühe — gelang, die Hand so ruhig zu halten, daß er es tatsächlich schaffte, die Wunde zu vernähen. Die Schmerzen waren unsäglich. Als Nelson endlich fertig war, wünschte er nichts anderes mehr vom Leben als eine heiße Dusche und sein Bett. Sein Körper verlangte verzweifelt nach Schlaf, sein Hirn nach Vergessen. Und dann hörte er die Schritte. Sie kamen näher, näher an die Eingangstür seiner Wohnung. Es waren die Schritte eines Kindes, und jetzt waren sie unmittelbar draußen vor der Tür und verstummten. Reagier gar nicht darauf! schrie sein Körper flehentlich. Bleib von der Tür weg! Und dennoch — gegen seinen Willen ging Nelson Wright zur Eingangstür seiner Wohnung hinüber. Er preßte ein Ohr ans Holz und lauschte. Sein Verstand war ver-
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wirrt, umnebelt vor nackter Angst, sein Puls raste vor Todesfurcht. Nichts. Nelson blickte hinunter auf die schmale Milchglasscheibe, die sich unten an der Tür befand, unmittelbar über dem Fußboden. Mit einen entsetzten Keuchen schreckte er zurück. Durch die Scheibe konnte er die verschwommenen Umrisse von zwei kleinen Füßen erkennen. Zweifellos die Füße eines Jungen. Nelson stieß sich von der Tür ab und duckte sich an die Wand wie ein in die Enge getriebenes Tier. Er schwitzte und schauderte zugleich, und über seine Lippen drangen leise, stöhnende Laute, die er vor Grauen gar nicht wahrnahm. Unter seinem zerrissenen, blutigen Hemd schlug das Herz in wildem Stakkato, und obwohl seine Handflächen feucht von Schweiß waren, waren Mund und Kehle wie ausgedörrt. Er mußte hier raus. Sofort. Nelson schnellte aus der Hocke hoch, stürmte durch die Wohnung in die Küche, zerrte seinen Mantel so hastig vom Kleiderhaken, daß er ihn beinahe zerfetzt hätte, und riß mit Gewalt die Hintertür auf. Seine Erschöpfung war völlig verflogen; die panische Angst sorgte für einen gewaltigen Adrenalinausstoß, der alle Müdigkeit hinwegfegte. Nur noch ein Gedanke beherrschte ihn: Er mußte weg hier, nichts wie weg! Er rannte die Hintertreppe hinunter, immer drei, vier Stufen auf einmal nehmend, bis zum nächsten Treppenabsatz. Er stieß die Feuertür auf, hinter der eine weitere Treppe ins Erdgeschoß führte. Nelson stieg leise und vorsichtig ein paar Stufen hinunter und warf einen Blick übers Geländer in die kleine Eingangshalle des Hauses. Sie war leer. Niemand zu sehen. Gut. Er stieg die Treppe ganz hinunter und ging ein paar Schritte? über die kalten, marmornen Platten des Fußbodens der stuck-. verzierten Eingangshalle des alten Hauses. Und dann hörte er wieder die Geräusche, die leisen Schritte, die Schritte eines Kindes. Sie näherten sich über die Vordertreppe der Eingangshalle. Nelson fuhr herum; er packte den Griff der Feuertür im Erdgeschoß und rüttelte verzweifelt und mit aller Kraft daran. Zwecklos. Abgeschlossen. Er saß in der Falle. »Mein Gott, nein!« brüllte er.
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Am ganzen Körper zitternd, drückte er sich an die Wand, als könnte er in die Schatten eintauchen. Die Schritte kamen nun schon vom Treppenhaus im ersten Stock. Lauter und lauter. Näher und näher. Aus seinem Versteck konnte Nelson eine kleine, verschwommene Gestalt erkennen, die durch die Eingangshalle direkt auf ihn zukam. Die Gestalt eines Kindes. Er stand wie gelähmt da, unfähig, sich zu rühren, bebend, schwitzend, schaudernd vor Angst, einer Angst, die so erstickend und bitter war, daß er sie wie Galle in der Kehle schmecken konnte. »Gib was oder geh!« Die beiden kleinen Mädchen in ihren Halloween-Verkleidungen wohnten im zweiten Stock; die kleinere der beiden trat vor Nelson hin und streckte ihm eine Tüte aus einem Billigladen entgegen, in der sie die Süßigkeiten sammelte und die über und über mit schwarzen Katzen und Kürbissen bedruckt war. Der Anblick des Mädchens ließ Nelsons Herz stocken, und er drängte sich kreischend an ihr vorbei und stürmte panisch durch den Vorderausgang hinaus in die kalte Nacht. Du lieber Gott, was geschieht mit mir? Es mußte sich um eine Art Halluzination gehandelt haben, dachte Joe Hurley, als er sein Halloween-Kostüm anzog, einen schwarzen Bodystocking mit einem aufgedruckten fluoreszierenden Skelett. Wahrscheinlich war das Erlebnis in der Cafeteria eine verspätete Reaktion auf den ganzen verdammten Drogenmist gewesen, den man ihm während des Experiments in die Adern gepumpt hatte. Eine Art mentale Rückblende vielleicht, wie bei einem wilden LSD-Trip. Ein momentaner Anflug geistiger Verwirrung, zurückzuführen auf den Sauerstoffentzug. Ja, irgend etwas in dieser Richtung; jedenfalls definitiv eine Halluzination. Er hatte auf dem Bildschirm des Fernsehers in der Cafeteria mit absoluter Sicherheit nicht wirklich gesehen, wie er mit Barbara Mullins gevögelt hatte; genausowenig, wie ihre seltsame Bemerkung Realität gewesen war. Die mit > Barbara < beschriftete Videokassette lag sicher, wohlverwahrt und unangetastet im Wandschrank; das hatte Joe überprüft, kaum daß er seine Wohnung betreten hatte.
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Kein Grund also, auszuflippen. Cool bleiben. Alles in Ordnung. Entwarnung. Heute abend wollte Labraccio sich auf diesem verdammen Schleudersitz ins Jenseits schwingen. Aber bis dahin: Partys, Partys, Partys. Schließlich war ja Halloween. Ein paar mit ihm befreundete Jungs, die in einer Rockgruppe namens >The Bonebreakers< spielten, ließen heute eine große Halloween-Kostümfete steigen. Bonebreakers. Was war da passender als dieses Kostüm. Mit Knochen drauf. Auf der Party würden Kobolde und Ghule, Zombies und Hexen auftauchen; und eine große Anzahl von ihnen würde sicherlich weiblich und ohne Begleiter sein. Der Gedanke daran hob Joes Stimmung, er war ganz in seinem Element. Und warum auch nicht. Er hatte das verfluchte Experiment heil überstanden und nicht die Absicht, diese Reise noch einmal zu wachen. Heute abend würde er. eine dieser Schönheiten aufreißen und mit in seine Wohnung nehmen, wo die Videokamera bereits mit neuer, unbespielter Kassette in ihrem Versteck in Bereitschaft stand und... »Scheiße.« Die Videokamera. Heute abend im Dog Lab. David Labraccio stand schon in den Startlöchern, Joe warf einen Blick auf seine Uhr. Halb neun. Er hatte keine Zeit mehr, herumzuknutschen, er hatte nicht mal mehr Zeit, nach Hause zu gehen und sich umzuziehen. Er mußte als Skelett verkleidet ins Taft-Gebäude schleichen, so hirnverbrannt das auch sein mochte. Er bahnte sich einen Weg durch all das warme, willige, weibliche Fleisch, quetschte sich an prallen Hintern und wippenden Brüsten vorbei, kämpfte sich bis zum Ausgang durch und trat hinaus in die Eingangshalle. Und dort hing an der gegenüberliegenden Wand ein kleiner Überwachungsmonitor mit schwenkbarer Kamera und Schwarzweißbildschirm; eins von diesen Geräten, mit denen ein Sicherheitsbeamter von einer Zentrale aus sämtliche Flure beobachten kann, um zu überprüfen, ob sich auch kein Unbefugter im Gebäude herumt reibt. Jetzt aber sah Joe auf dem Monitor anstelle leerer Flure, verlassener Korridore oder stillstehender Aufzüge Marcia Moneghan, und zwar genauso, wie er sie heimlich gefilmt hatte: nackt und stöhnend und sich windend im intimen Clinch mit Joe Hurley. Gottverdammich!
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Auf dem Bildschirm wandte Marcia den Kopf zur Seite, so daß sie jetzt dem entsetzensstarren Joe genau in die Augen blickte; ihr Gesicht nahm einen kummervollen Ausdruck an. Sie hob die rechte Hand; fast schien es, als würde sie den Zeigefinger anklagend auf Hurley richten, der in der Eingangshalle stand und fassungslos auf den Monitor starrte. »Ich habe dir vertraut, Joe«, sagte sie und hielt den Blick starr auf ihn gerichtet. »Ich habe dir vertraut.« Mit einem wilden Aufschrei fuhr Joe herum, rannte wie vom Teufel gehetzt durch die Eingangshalle und stürmte durch die offene Tür ins Freie, rannte und rannte, wollte nichts wie weg von diesem verfluchten Monitor, vor diesem Gesicht, dieser Hand, dieser Stimme. Du lieber Gott, was geschieht mit mir?
8 Halloween, endlich. Überall draußen in der wirklichen Welt — nur nicht im Old Dog Lab — begannen unter der runden, orangefarbenen Scheibe des Mondes die teils makaberen Feierlichkeiten, deren Ursprünge auf heidnische Vorzeiten zurückgehen. Kleine Kinder rannten von Haus zu Haus, wie boshafte, lästige Gnome, deren Übermut nur mit Schokoladenriegeln und anderen Süßigkeiten zu besänftigen war. Ihre Hexen-, Gespensterund Skelettkostümierungen beschworen die kultische Erinnerung an die frühzeitliche, von Geistern beherrschte Nacht vor Allerheiligen herauf, jene Nacht, in der die Toten sich aus den Gräbern erheben, der Teufel aus seinem finsteren Reich emporsteigt, um beim Hexensabbat mit seinen verruchten Anhängern zu tanzen und zu kopulieren. Alle verborgenen, geheimen, unheiligen Dinge, die das aufkommende Christentum vor langer Zeit an der Wurzel herausgerissen hatte, erwachten in dieser einen Nacht an versteckten Plätzen aus ihrem Todeschlaf zu neuem Leben und brachte Bosheit, Grauen und Schrecken hervor. Auf dem Campus war die orgiastische Walpurgisnacht bereits in vollem Gange. Auf dem quadratischen Platz drängten
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sich alle nur erdenklichen Schreckensgestalten. Wie jedes Jahr versuchten die jüngeren Studenten sich bei einem Wettbewerb in der Grauenhaftigkeit ihrer Kostüme zu übertreffen, und wie jedes Jahr gab es mehr als einen Sieger. Gestalten mit grimmig verzerrten Teufelsfratzen tanzten mit wilden, ausgelassenen Hexenhuren in langen schwarzen Maschenstrümpfen; doppelköpfige Monster und andere Horrorgestalten wirbelten mit wehenden Gewändern wie verrückt um ein großes Freudenfeuer, während dröhnende Rock-'n'-Roll-Klänge die kalte Abendluft vibrieren ließ. Im Herzen des verlassenen Taft-Gebäudes, dem schummrig beleuchteten Dog Lab, dessen Rouleaus wieder heruntergelassen waren, beschäftigten sich Rachel, Randy und David intensiv mit den Vorbereitungen für David Labraccios unmittelbar bevorstehenden Trip. David hatte sich bereits bis zur Hüfte entkleidet und saß mit nacktem Oberkörper auf dem Krankenbett. Die drei jungen Leute wurden allmählich unruhig. Bis jetzt hatten sie weder von Nelson noch von Joe etwas gehört oder gesehen, und die Zeit drängte. Wollten die beiden sich etwa nicht mehr blicken lassen? »Ich weiß nicht, Leute«, sagte Randy Steckle nervös. »Heute ist Halloween, und noch dazu Vollmond. Findet ihr nicht, daß wir von den zwei Minuten zwanzig ein bißchen runtergehen sollten?« David Labraccio lächelte. Äußerlich war er vollkommen ruhig und gelöst, aber in seinem Innern tobte die Angst, wie schon bei Nelson und Joe, seinen Vorgängern. Hier saß er nun und gleich würde er sein Leben in die Hände von Laien legen, ja, Laien. Und er hatte sich bereit erklärt — hatte versprochen! —, den Herz- und Hirntod für so lange Zeit zu riskieren, wie noch kein Mensch vor ihm. Jedenfalls war noch nie ein so lange währendes Sterbeerlebnis dokumentiert worden. Und warum nahm er dieses Risiko auf sich? Um Rachel davon abzuhalten, als nächste die große Reise ins Ungewisse anzutreten? Um sich selbst irgend etwas zu beweisen? Aber was denn? Daß diese Experimente mit dem Tod reiner Unsinn waren? Daß sie mit diesen Versuchen aufhören sollten? Aber gab David nicht Nelsons Phantasie, seinen Hoffnungen, neue Nahrung, indem er sich freiwillig als nächstes Versuchskaninchen zur Verfügung
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stellte? Und mußte er, David, nicht zugeben, zumindest vor sich selbst, daß er unter der Oberfläche seiner Skepsis doch neugierig darauf war, was ihn erwartete; eine Neugierde, die durch den Verdacht geweckt worden war, Nelson könnte vielleicht doch recht haben und >dort drüben< könnte irgend etwas sein? Aber falls dort >irgend etwas< war, warum konnte er nicht sechzig Jahre warten? Oder ein paar Jahre mehr oder weniger? Eines Tages würde er es ohnehin erleben. Und was, wenn die anderen versagten, wenn sie es nicht schafften, ihn ins Leben zurückzuholen? Dann würde er nie den K 2 besteigen können, oder den Annapurna, den Mount Everest — seine Bergsteigerträume. Dann würde er nie jenen Beruf ausüben können, der für ihn Berufung war: Arzt. Dann würde er nie jemanden heilen, Menschenleben retten können, niemals lieben und heiraten und Kinder haben. Die Menschheit würde sich ohne David Labraccio durchwursteln müssen — was ihr zweifellos gelingen würde. Aber das war für David ein schwacher Trost. Okay, er hatte sich auf dieses Abenteuer eingelassen, und jetzt mußte er auch zu den Konsequenzen stehen. Davids kühler, nüchterner Verstand hatte sich nie eingebildet, im chaotischen Universum irgendeine geordnete Struktur zu erkennen; für ihn war das Leben nichts als ein winziger, rasch vergessener Lidschlag der Ewigkeit. Für ihn gab es keinen Gott, keinen Schöpfer, keinen tieferen Sinn in der Schöpfung als ihre Wiedererschaffung und Fortentwicklung. Für ihn gab es nur den Kreislauf der Natur. Der Tod? Der war das Nichts, ganz einfach. Mit diesen Gedanken konnte David sehr gut leben. Vielleicht wurde die Erde eines Tages von Insekten beherrscht, bevor sie in ein paar Milliarden Jahren von der Sonne verbrannt wurde und bevor dann, wieder Milliarden von Jahre später, auch die Sonne starb — auch mit diesem Gedanken konnte David leben. »Tut mir leid, daß ich so spät dran bin.« Die Stimme erklang so plötzlich von der Tür her, daß Rachel, Randy und David erschrocken herumfuhren. Sie erkannten Nelson Wright, obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnten, bis er in das Licht der starken Laborlampen trat. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Randy schrie leise auf. Nel-
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sons Gesicht war furchtbar zerschlagen und entstellt. »Nelson! Um Gottes willen! Was ist passiert?« David schwang sich von der Trage herunter und wollte auf Nelson zutreten, der ihn aber mit einer schwerfälligen Handbewegung zurückwinkte; sein Gesicht verzog sich dabei zu einer schmerzerfüllten Fratze. »Sieht's so schlimm aus, wie es weh tut?« versuchte er einen schwachen Scherz. »Schlimmer«, versicherte Randy ihm. »Wer hat das getan?« fragte Rachel. Nelson zuckte abweisend die Achseln. Schon diese kleine Bewegung ließ ihn vor Schmerz leise aufstöhnen. »So 'n paar Burschen. Schlägertypen. Hab' ich nie zuvor gesehen. Ist ja auch egal.« Wieder ertönte ein Geräusch an der Tür, ein leises Rascheln, und die >Flatliners< glaubten ihren Augen nicht zu trauen, als ein glühendes Skelett ins Labor huschte. Rachel stieß einen schrillen Schrei aus, Nelson wurde kreidebleich, und Randy flitzte hinter dem Bettgestell in Deckung. »Hi«, sagte Joe kläglich. »Toll, nicht?« »Geradezu umwerfend«, erwiderte Rachel spitz. »Joe, du Arschloch«, sagte Randy plötzlich wieder von männlichem Mut erfüllt. »Wo hast du gesteckt, zum Teufel?« »Ich fühl' mich nicht besonders gut«, erwiderte Joe ausweichend. »Hast auch schwer abgenommen«, witzelte David. Aber Joe sah tatsächlich ziemlich mitgenommen aus, wie David und die anderen jetzt erkannten. Sein Gesicht war angespannt und blaß. Es wurde noch blasser, als er Nelson sah. »Was hat man denn mit dir gemacht?« »Es hat jedenfalls gereicht, um mir das Geld für 'ne Maske zu sparen«, erwiderte Nelson und versuchte ein Grinsen, was gründlich danebenging. »Kümmer dich nicht um mich, kümmer dich lieber um deine Kamera.« »Okay«, sagte Joe kleinlaut. Nelson wandte sich zu David um. Sein zerschundenes Gesicht war jetzt ernst. »Bist du soweit?« David nickte. »Fertig.« Es gab keinen Grund, das Experiment noch länger hinauszuschieben; alle >Flatliners< waren jetzt versammelt. David legte
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sich auf die Bahre, und Rachel befestigte die EKG-Elektroden. Als sie dabei seine Brust berührte, spürte sie, wie sein Herz pochte; mochte er auch noch so sehr Gelassenheit zur Schau tragen, in Wahrheit war er völlig aufgeregt. »Denk an irgendwas Schönes«, sagte sie leise. »Das wird dir helfen, dich zu entspannen.« Er lächelte sie an. »Ich wüßte schon was.« Rachel errötete, und Nelson, der dem leisen Wortwechsel gelauscht hatte, verspürte einen plötzlichen, scharfen Stich in der Brust. Randy befestigte inzwischen die EEG-Elektroden an Davids Kopf, während Joe die Batteriespannung seiner Videokamera überprüfte. Kurz darauf waren sämtliche Geräte einsatzbereit. Rachel nahm eine Patrone mit Natriumpentathol vom Instrumentenwagen und reichte sie Nelson. »Zwei Minuten zwanzig«, sagte David. »Denkt dran.« »Komm schnell zurück«, erwiderte Nelson und trat mit der Patrone an das Krankenbett. »Dann kannst du uns ein spätes Abendessen machen.« »Nelson.« David lächelte und blickte dem Freund ins verquollene, geschundene Gesicht. »Laß mir bloß das Seil nicht fallen.« Und dann schob Nelson die Patrone mit den 20 Millilitern Natriumpentathol ins Infusionsgerät. Randy legte David die Sauerstoffmaske aufs Gesicht. David Labraccios Reise in den Tod begann. Von alters her glaubt man, daß vor dem geistigen Auge eines Sterbenden das Leben noch einmal blitzartig vorüberzieht, wie ein rasend schnell abgespielter Film. Und so ähnlich erlebte es auch David. Doch sein erster Eindruck, als er erstickte, war der, daß seine Lungen fast bis zum Bersten mit Atemluft erfüllt seien, mit reiner, klarer Luft, nicht mit der smogverpesteten Großstadtluft. Es war eine Luft, wie er sie nur auf hohen Berggipfeln eingeatmet hatte. Und dann sah er sein ganzes Leben an sich vorbeirasen (oder raste er daran vorbei, zurück in die Vergangenheit?), in einer Folge blitzartig aufleuchtender Bilder. David sah, wie er mit Rachel über die Straße ging, sich mit
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ihr unterhielt — das lag erst eine Stunde zurück. Er sah sich bei seinem täglichen Zehnkilometerlauf, er sah sich an der Steilwand eines Berges, wo er Haken in den Fels schlug, sah sich beim Basketballspiel auf dem Hinterhof des Hauses, in dem er wohnte, sah sich, wie er vor ein paar Tagen die Hand in die aufgeschnittene Bauchdecke der blutenden Frau schob und nach der verletzten Arterie tastete, sah sich beim Radrennen ... halt. Seit seiner High-School-Zeit war er keine Radrennen mehr gefahren... aber jetzt sah er die High School, die er einst besucht hatte, und dann seine Freunde von der Grundschule, eine Kleinstadt in Illinois, seine Heimat, mit ihren Umzügen zum Nationalfeiertag und ihre Marschkapelle. Vor seinem geistigen Auge blitzte in schwindelerregendem Tempo ein Bild nach dem anderen auf. Er wollte die Hand ausstrecken, all diese Bilder festhalten, länger betrachten, in sich aufnehmen, aber er bewegte sich zu schnell, flog hinauf den Gipfeln einer einsamen Bergkette, die noch keines Menschen Fuß betreten hatte, die nur auf ihn wartete. Ja, er war es, der sich bewegte, der dahinflog, mit wahnwitziger Geschwindigkeit, so schnell, so unglaublich schnell, immer höher, immer steiler; er fühlte sich frei, herrlich frei, und seine Lungen atmeten diese wunderbar klare Luft. Es war wie beim Bergsteigen, genau so, nur, daß es ihm nicht die geringste Mühe bereitete. Und jetzt war er schon über dem Kamm der schneebedeckten Berge, hoch über den Graten und Gipfeln, die er nie zuvor gesehen hatte, es sei denn, in seiner Phantasie. Grandiose Weite, Einsamkeit. Die Anden? Die Rocky Mountains? Der Himalaja? Er wußte es nicht, aber diese Berge waren so wunderschön und erhaben und unberührt, daß er vor Glück und Freude hätte weinen können. Alles, was er erlebt hatte, was ihm widerfahren war an Schönem und Gutem, Bösem und Schlechtem lag tief, tief unter ihm ...
»Flat line«, sagte Joe, der die Kamera auf den EKG-Monitor gerichtet hatte. Die ganze Zeit über sprach Rany Steckle schon in sein Diktiergerät. Jetzt nahm er David die Sauerstoffmaske vom Gesicht und kommentierte dies mit den dramatischen Worten: »Herz-
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tod soeben eingetreten ... nehme der Versuchsperson jetzt die O-Zwei-Maske ab... Sauerstoffzufuhr unterbunden... meine Hände zittern leicht...« »Halt's Maul, Steckle«, schimpte Nelson und knipste das akustische Warnsignal des EKG-Geräts aus. Die >Flatliners< richteten ihre Aufmerksamkeit jetzt auf die zweite gezackte Linie, die auf dem EEG-Monitor zu sehen war, und die zunehmend verflachte. Rachel hielt die genaue Zeit fest, als die Schwingungen aufhörten, stellte den schrillen Warnton ab und sagte mit zitternder Stimme: »Flat line.« »Was ist, wenn er's nicht schafft... oder wir?« fragte Nelson leise und blickte Rachel aus den Augenwinkeln an. »Würdest du ihn vermissen?« Was für eine Frage! Die junge Frau setzte zu einer heftigen Erwiderung an, schwieg aber dann, doch Nelson sah, wie ein Ausdruck der Verachtung über ihr Gesicht huschte. Und mehr noch. Besorgnis vielleicht? Angst um David Labraccios Leben? »Eine Minute«, vertraute Randy Steckle seinem Diktiergerät an. Er konnte so etwas wie Gesang hören, liebliche, helle Kinderstimmen, die Stimmen kleiner Mädchen; sie wehten wie leises Glockengeläut über die stille Bergwelt, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Nein, es war kein richtiger Gesang. Mehr wie ein Sprechgesang, oder ein einfaches Kinderlied, immer und immer wieder die gleichen Worte. Was war das für ein Lied? Warum konnte er die Worte nicht verstehen? »Zwei Minuten«, sagte Randy in sein Diktiergerät. »Und in diesem Augenblick haben wir mehr als die doppelte Zeit erreicht als bei unserer ersten abenteuerlichen Reise ins Jenseits.« Hurley richtete die Kamera auf die Monitore und zuckte so heftig zusammen, daß er das Gerät um ein Haar hätte fallen lassen. Auf den Bildschirmen hätten sich nur zwei flache Linien zeigen dürfen, mehr nicht; statt dessen konnte Joe sich einmal mehr beim Vögeln bewundern, mit einer seiner hübschesten
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Eroberungen. Entsetzt ließ er den Blick in die Runde zucken. Sah denn keiner der anderen, was er sah? Offensichtlich nicht; die Aufmerksamkeit seiner Freunde war völlig auf David und das Experiment gerichtet. Noch. Jede Sekunde konnte einer von ihnen aus irgendeinem Grund einen Blick auf die Monitore werfen, und dann würde er die bumsfidele Vorführung sehen. Ein unerträglicher Gedanke: diese Schande, diese totale Demü tigung. Joe bewegte sich langsam seitwärts auf die Monitore zu, behielt die anderen ständig im Auge und stellte sich so hin, daß er Rachel, Randy und Nelson den Blick auf die Bildschirme versperrte. Er konnte die kleinen Mädchen jetzt sehen. Sie waren allesamt etwa zehn Jahre alt. Sie standen auf einem Spielplatz und warteten darauf, daß sie beim Seilspringen an die Reihe kamen. Zwei Mädchen schwangen das Seil in stetigem Rhythmus, und zwei andere sprangen mit unglaublichem Timing darüber hinweg, immer kurz bevor es den Boden berührte. Die übrigen Mädchen standen daneben, klatschten in die Hände und sangen das Kinderlied, das David vorhin gehört hatte. Es war ein einfacher Reim, der dem Rhythmus des schwingenden Seils angepaßt war, ein Reim von jener Art, wie er über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte mündlich überliefert wird. Das Seilspringen zu beobachten bereitete David ein Gefühl der Beklommenheit. Aber wie konnte ein simples Spiel wie dieses, das es seit fünfhundert oder mehr Jahren gab, ihn so beklommen machen? »Körpertemperatur zweiunddreißig Komma zwei. Bereitmachen!« rief Rachel. Randy und Nelson bezogen ihre Positionen; Steckle an der Kombidecke und Wright am Elektroschockgerät. Ihre Zusammenarbeit klappte sehr gut, fast reibungslos, aber die ganze Zeit über wuchsen die dunklen Schatten in Nelson Wrights Seele. »Sollten wir ihm nicht noch fünf Sekunden mehr geben? Was meinst du?« fragte er Rachel hinterhältig. »Was?« Die junge Frau wandte sich betroffen zu ihm um. »Oder zehn Sekunden?« sagte Nelson unbeeindruckt.
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»Warum denn nicht? Diese Chance haben wir vielleicht nie wieder.« Rachel ignorierte ihn. »Joe, auf Position!« sagte sie scharf. »Du versperrst uns die Sicht.« Oha, mit Wright würde sie später ein Hühnchen rupfen, nachdem sie David wiederbelebt hatten. Im Augenblick waren andere Dinge wichtiger. Viel wichtiger. Sie mußten ein Menschenleben retten. »He, Leute«, sagte Randy nervös. »Ihr könnt euch später die Schädel einschlagen, ja? Zwei Minuten fünfzehn.« »Körpertemperatur vierunddreißig Grad!« sagte Rachel laut und voller Konzentration. Nur noch Sekunden bis zur Wiederbelebung. Im Dog Lab knisterte es förmlich vor Spannung; die Atmosphäre war so aufgeladen wie die Elektroden des Defibrillators. Joe Hurley trat widerwillig von den Monitoren weg und hoffte flehentlich, die anderen würden so von ihrer Arbeit in Anspruch genommen sein, daß sie keinen Blick auf die Bildschirme werfen konnten, auf denen noch immer sein Privatporno flimmerte. Und dabei stellte Joe plötzlich fest, daß irgendeine Veränderung vor sich gegangen war. Während er sich über das Scheißvideo den Kopf zerbrach, hatte in der Gruppe ein Wechsel in der Führung stattgefunden. Nicht mehr Nelson, der große Nelson, war jetzt der Boß, sondern Rachel. Sie hatte die Verantwortung an sich gerissen; sie hielt die Fäden in der Hand; sie gab Nelson und Randy die Anweisungen. Ihr Gesicht zeigte eine wilde, ja grimmige Entschlossenheit; ihr sonst so sinnlicher Mund sah jetzt streng aus, und sie nahm keinen Sekundenbruchteil die Augen vom reglosen Körper David Labraccios. Randy Steckle begann die letzten Sekunden abzuzählen. »Zwei Minuten fünfzehn ... sechzehn... siebzehn...« Peng! Ein plötzlicher lauter Knall am Fenster ließ sie alle erschrocken zusammenfahren. »Verdammt!« brüllte Joe, und Randy stieß einen gedämpften Schrei aus. Sie alle standen wie vorn Donner gerührt da. Das Rouleau schoß rasselnd in die Höhe; draußen, vom Licht im Dog Lab gespenstisch beleuchtet, waren gräßliche Fratzen zu sehen, halb verweste Zombie-Visagen, Totenschädel, bizarr verzerrte Alptraumgesichter. Die >Flatliners< brauchten einige Sekunden, um sich von dem Schrecken zu erholen und sich
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darüber klarzuwerden, daß es — natürlich — jüngere Studenten in ihren Halloween-Verkleidungen waren. Aber bis Rachel und die anderen sich aus ihrer Erstarrung gelöst hatten, waren kostbare, unwiderbringliche Sekunden verstrichen. »Ihr Idioten!« Joe stürmte wütend zum Fenster und riß das Rouleau wieder herunter. »Zwei Minuten zwanzig«, stieß Rachel hervor. »Mein Gott.« Sie fuhr zu Nelson herum, der die Defibrillator-Elektroden aneinanderrieb, um sie aufzuladen. »Gib her!« verlangte sie schroff. Rachel hatte kein Vertrauen mehr zu Nelsons Fähigkeiten, und schlimmer noch — zu seinen Absichten. Irgendwas an ihm war . . . abgründig, verderblich. Aber Nelson dachte gar nicht daran, die Elektroden aus der Hand zu geben. »Hier habe ich das Sagen, Mädchen«, sagte er seltsam leise. »Dreihundert Joule. Geladen. Fertig!« Er drückte David die Elektroden auf die Brust. Er schwebte nicht mehr über den Bergen. Er raste durch einenTunnel. Er spürte es nur, denn um ihn herum war es stockdun-. kel. Er sah nichts, rein gar nichts, konnte seltsamerweise aber immer noch das Surren des Springseiles und den Sprechgesang der Mädchen hören, ihr rhythmisches Händeklatschen im Takt des schwingenden Seils. Bis plötzlich aus der Dunkelheit ein Gesicht auf ihn zu schwebte. Das Gesicht eines kleinen farbigen Mädchens. »Natriumbikarbonat und Ephedrin injiziert!« rief Rachel. David atmete nicht. Immer noch nicht. Obwohl die Wiederbelebungsversuche jetzt schon fast eine Minute dauerten, gab David noch kein Lebenszeichen von sich. Seinen Freunden lief die Zeit immer schneller davon. »Drei-eins-tausend... vier-eins-tausend ... fünf-eins-tausend...« Es war ein schlechter Scherz, aber jetzt war es Nelson, der Ströme von Angstschweiß vergoß, während Rachel den toten David durch Herzmassage wiederzubeleben versuchte. »Elektroschock! Zweihundert Joule!« rief Rachel, noch wäh-
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rend sie die Herzmassage fortsetzte. Nelson lud die Elektroden wieder auf, reichte sie Rachel. »Zweihundert. Geladen. Fertig«, sagte er. Davids Körper zuckte wild, bäumte sich krampfartig auf, als der Stromstoß erfolgte, und der EKG-Monitor gab einen leisen, schwachen Piepton von sich. Noch einen. Und noch einen. »Das ist es! Das ist es!« brüllte Randy Steckle. »Das ist es nicht«, stieß Rachel verzweifelt hervor. Sie hatte recht. Das Geräusch war schon wieder verstummt. Flat line. Keine Herztätigkeit. »Noch mal aufladen. Dreihundert«, sagte Rachel und reichte Nelson die Elektroden zurück. »Atropin?« fragte Randy. »Noch nicht«, erwiderte Rachel gehetzt und wischte sich übers Gesicht. Ihr Haar hatte sich gelöst und klebte in dunklen, schweißnassen Strähnen auf ihrer Stirn. »Dreihundert. Fertig«, sagte Nelson. Rachel jagte die Ladung durch Davids Körper. Nichts. Flat line. Sie rieb die Elektroden aneinander, bis die Anzeige auf 350 Joule hochschnellte. »Dreihundertfünfzig. Geladen. Fertig.« Wieder bäumte Davids Körper sich wild auf. Alle Blicke waren in banger Erwartung auf den Monitor gerichtet. Flat line. Keine Wirkung. Alle Mühe schien vergebens zu sein. Nicht der kleinste Schimmer eines Lebenszeichens. David hatte recht behalten. Das Experiment war heller Wahnsinn gewesen, von Anfang an. Zweimal hatten sie Glück gehabt, einfach Glück. Und jetzt? Zwei Minuten vierzig Sekunden — total verrückt. Sie hätten es doch wissen müssen! Dave hatte ihnen gesagt, daß es gefährlich ist, daß sie aufhören sollten, bevor es zu spät wäre. Sie hätten auf seine Warnung hören sollen. Welch eine Ironie, daß es jetzt ausgerechnet David selbst traf. »Drei Minuten!« kreischte Randy, der offenbar kurz vor einem hysterischen Ausbruch stand. »Zu lange! Viel zu lange. . . » Er fing an zu schluchzen. »Übernehme Herzmassage«, sagte Nelson und begann, kräftig und rhythmisch auf Davids Brustbein zu drücken. »Joe, weiterfilmen ...! Eins-eins-tausend... zwei-eins-tausend...« Joe nahm die Videokamera auf und legte den Sucher ans rechte Auge. Aber was er sah, war nicht der reglose Körper
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David Labraccios, sondern der Körper eines nackten Mädchens, und dann ihr vorwurfsvolles Gesicht; sie blickte ihm direkt in die Augen, und dann hörte er laut und deutlich ihre traurige Stimme. »Du hast mich belogen, Joe.« Mit Mühe unterdrückte er einen gellenden Schrei. Fast hätte er die Kamera fallen lassen, aber er schaffte es gerade noch, das Gerät mit den Fingerspitzen festzuhalten. Großer Gott, was waren das für Halluzinationen? Was hatte das zu bedeuten? Warum wurde er auf diese Weise verfolgt? War er im Begriff, den Verstand zu verlieren? Wurde er wahnsinnig? »Lidocain injiziert!« rief Rachel, während sie die Spritze schon aus Davids Unterarm zog. Und noch immer keine Reaktion. »Tut irgendwas! Verdammt, so unternehmt doch irgendwas!« schluchzte Randy verzweifelt. Eine Art elektrischer Strom schien durch sie alle hindurchzufließen, als wären sie und David Labraccio ein einziger Organismus, verbunden durch die Kabel und Leitungen, mit denen Davids Körper an EKG- und EEG-Gerät angeschlossen war. Sie hatten alles versucht, alles getan, was in ihrer Macht stand — Stimulantien injiziert, Herzmassage durchgeführt, Elektroschocks verabreicht —, ohne auch nur die geringste Wirkung zu erzielen. David Labraccio war tot. Das Entsetzen im Dog Lab war körperlich zu spüren, man konnte es schmecken — und es war ein bitterer Geschmack. Es war der bittere Geschmack von drei Minuten und fünfzig Sekunden. »Nelson, dreihundertsechzig!« rief Rachel. Nelson rieb die Elektroden hastig aneinander, bis sie die von Rachel geforderte Spannung erreicht hatten; dann sagte er »Fertig!« und drückte sie fest auf Davids Brust. Ein konvulsivisches Zucken ging durch den Körper. Blip! Urplötzlich erwachte das EKG-Gerät zum Leben und stieß einen lauten Piepton aus. Ein magischer kleiner Zacken wanderte über den Monitor, gefolgt von einer schwingenden Wellenlinie und... aus. Nullinie. Für einen Augenblick, der eine Ewigkeit zu währen schien, standen die vier jungen Leute völlig
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reglos da und starrten so eindringlich auf den Monitor, als könnten sie ihn durch reine Willenskraft dazu zwingen, ein zweites Mal den Signalton abzugeben, einen zweiten, dritten, vierten Zacken über den Bildschirm wandern zu lassen... ... und das Wunder geschah. Wieder ein Piepton, dann noch einer, lauter und kräftiger, und wieder einer; allmählich wurden die Signale regelmäßig und rhythmisch — so wie Davids Herzschlag. Und dann begann auch der zweite Monitor zu arbeiten; die EEG-Nullinie verwandelte sich langsam in eine gezackte Linie; die Nadeln, die die Werte auf die Papierwalzen übertrugen, schlugen immer weiter und hektischer aus. David kehrte aus dem Reich der Toten zurück. »Sauerstoff! Schnell!« schrie Rachel. »Maske ist auf!« rief Nelson. »Injiziere ein Milligramm Ephedrin.« Er setzte die Spritze an. Ja, das war's. Diesmal hatte es wirklich geklappt. Es war nicht zu fassen, aber sie hatten ihn. Das Seil war ihnen nicht aus den Händen gerutscht. David lebte. »Nie wieder«, murmelte Joe vor sich hin, und seine Hände zitterten, als er das Objektiv auf Davids Gesicht richtete. »Das mache ich nie wieder mit. Das halte ich nicht noch einmal durch.« »O Junge«, sagte Randy Steckle schluchzend. »O mein Gott. Das war knapp. Das war sehr knapp. Das war verdammt noch mal zu knapp.« Rachel lächelte und dachte in tiefer Aufrichtigkeit: >Ich danke dir, lieber Gott. Ich danke dir, lieber Jesus Christus.< Und Nelson Wright ließ sich mit dem Rücken an die Wand fallen, die Defibrillator-Elektroden noch in den Händen. Jetzt, plötzlich, konnte er wieder frei atmen. Sie brachten den halb bewußtlosen David nach Hause und legten ihn ins Bett. Als er ein wenig Flüssigkeit zu sich genommen, sich etwas erholt hatte und wieder halbwegs zu Kräften gekommen war, berichtete er den anderen, die vor Neugierde förmlich zitterten. Denn Davids Bericht — der Bericht eines Atheisten, der schon immer ernste Zweifel an einem Weiterleben nach dem
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Tod geäußert hatte - war der einzige, den sie wirklich hören wollten. Dave Labraccios Sterbeerlebnis interessierte sie alle am meisten. »Wie war das? Was hattest du vor dem Versuch noch gesagt?« fragte Joe. »Das war ein Zitat. Eine Kriegsbeschwörung der Sioux. Sehr macho. Es bedeutet: >Heute.. .<« »Heute ist ein guter Tag zum Sterben«, vollendete Nelson den Satz. Er wußte jetzt, daß David irgend etwas gesehen hatte, und dies war für Nelson ein Augenblick des Triumphes — der Sieg über David Labraccios Mißtrauen; die Bekehrung eines Skeptikers. »Und, Dave? War es ein guter Tag zum Sterben?« Aber so einfach ließ David sich nicht bekehren. Er schüttelte schwach den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich tot war. Es war irgend etwas ... ich weiß nicht... wie ein Traum ... oder die Freisetzung bestimmter Erinnerungsbilder in meinem Verstand...« Nelson ließ sich nicht beirren. Er glaubte David kein Wort. »Du warst tot, Dave. Herz- und Hirntod waren eingetreten«,, sagte er ernst. »Du hattest keinen ... Verstand mehr, wie du es ausdrückst.« »Aber die Hirnströme setzen erst aus, wenn...« »Es gab keine Hirnströme mehr. Wir hätten sie auf dem EEG-Monitor sehen müssen. David, du warst tot. Also, warum erzählst du uns nicht einfach, was passiert ist?« David ließ den Blick in die Runde schweifen. Randy hielt sich sein unvermeidliches Diktiergerät vor die Lippen und sprach irgend etwas hinein, sorgsam darauf bedacht, jede Regung Davids zu beschreiben und nicht eine Silbe zu versäumen, was Dave berichtete. Auch Joe hörte gebannt zu. Nelson lächelte sein leicht überhebliches Lächeln. Und was Rachel betraf — sie sagte nichts, aber ihre dunklen Augen waren forschend auf Davids Gesicht gerichtet, und er konnte die unausgesprochenen Fragen darin lesen. »Es ist schwer in Worte zu fassen«, begann er langsam. »Es ist, als wäre man paranoid, ohne Angst zu haben. Es ist ein Gefühl, als würde man beobachtet...«
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In Nelsons Augen war ein kurzes Aufblitzen, und Joe Hurley zuckte leicht zusammen, aber David bemerkte diese Reaktionen nicht. »Ich... weiß nicht. Vielleicht lag es daran, daß ihr um mich herum wart.« »Wie meinst du das? Wer könnte dich beobachtet haben?« fragte Steckle. »Der Tod«, sagte Nelson leise. »Das hab' ich nicht gesagt«, widersprach David. »Aber unser großer Skeptiker hat irgend etwas gespürt, nicht wahr?« Der Triumph ließ Nelsons Augen funkeln, und seine bleichen, eingefallenen Wangen röteten sich leicht vor Erregung. »Okay. Ich werde mich noch einmal dem Versuch unterziehen«, kündigte er an. Rachel erhob sich zornig. »Kommt nicht in Frage, Nelson. Ich bin schon zweimal ausgebootet worden!« Aber Nelson war jetzt wie besessen, gefangen von einer Idee, einer Macht, die er nicht mehr aufhalten oder auch nur beeinflussen konnte. »Mein Mindestgebot liegt bei vier Minuten«, sagte er. »Wer bietet mehr?« Nach seinen Worten trat schlagartig Schweigen ein. Dann stieß Rachel atemlos hervor: »Vier Minuten?« Es war eine unvorstellbare, geradezu selbstmörderisch lange Zeit. »Labratsch hat es schon, wenn auch unfreiwillig, auf drei Minuten fünfzig gebracht«, stellte Nelson fest. Wieder lag dieses seltsame, irre Lächeln auf seinem Gesicht. »Aber das war nicht geplant! Das war ein Fehler!« rief Randy protestierend. »Ein weiterer Versuch mit einer Zeit unter vier Minuten wäre jetzt überflüssig«, erwiderte Nelson kühl. Randy schüttelte den Kopf. »Nichts da. Schluß, aus. Da mach' ich nicht mit. Niemand geht für vier Minuten ...« »Es geht überhaupt niemand mehr«, sagte David scharf. »Doch. Ich. Vier Minuten fünfundzwanzig Sekunden«, erklärte Rachel mit ruhiger Stimme. In ihren dunklen Augen brannte ein fanatisches Feuer, und sie erwiderte die entsetzten Blicke der anderen mit einem heftigen Kopf schütteln. »Ich bin die nächste, oder ich bin draußen. Endgültig.« David blickte Nelson an; er ahnte dessen Gedanken. »Ver-
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such's gar nicht erst mit fünf Minuten. Ohne Rachels Hilfe sind fünf Minuten unmöglich zu schaffen«, sagte er leise. »Und du müßtest auch ohne meine Hilfe. . . » »... und ohne meine auskommen«, sagte Randy Steckle und blickte Joe Hurley auffordernd an, aber Joe schwieg. Nelson nahm einen langen Zug an seiner Zigarette; seine grünen Augen wurden schmal, aber das eisige Lächeln spielte weiter um seine Lippen. »Also eine Meuterei«, sagte er schließlich. Das Lächeln verschwand, sein Gesicht verdüsterte sich, und zum ersten Mal hob er die Stimme. »Wißt ihr, ich habe euch an etwas teilhaben lassen, das einfach und dennoch genial ist. Es ist eine Idee, wie man sie nur einmal im Leben hat. Es war mein Wissen, es war meine Idee.« »Nelson, hör doch endlich damit auf«, sagte David. Wright fuhr wütend zu ihm herum. »Nein, du hörst jetzt endlich auf«, sagte er schroff und abweisend. Sein Gesicht war so blaß geworden, daß die tiefe Wunde auf seinem Wangenknochen in einem gräßlichen Rot leuchtete. »Keiner von euch hatte den Weitblick, das Wissen und den Mut, den Versuch zu machen. Ich war derjenige. Du möchtest die nächste sein, Rachel? Okay, herzlich willkommen. Auf euch andere scheiß ich. Das war und bleibt mein Versuch. Ihr seid nichts als billige Hilfskräfte.« Mit diesen wütend ausgestoßenen Worten stürmte er aus Davids Wohnung, knallte die Tür hinter sich zu und ließ die anderen sprachlos zurück. »Also, ich selbst hätte vielleicht drei Minuten dreißig, drei Minuten vierzig riskiert.. . aber ich hab' mich lieber da rausgehalten«, log Randy Steckle, als er und Joe Hurley sich gemeinsam auf den Nachhauseweg machten. Randy verschwieg wohlweislich, daß er sich nicht eine Sekunde für dieses Experiment zur Verfügung gestellt hätte, erst recht nicht für länger als drei Minuten. »Aber vier Minuten fünfundzwanzig... das ist verrückt. Damit nähern wir uns der Fünf-Minuten-Grenze. Gefährlich. Höllisch gefährlich. Schwer vermintes Feindgebiet. Ich muß Nelsons Urteilsvermögen wirklich in Frage stellen.
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Was solche Dimensionen angeht, weiß niemand...« Aber Joe hatte andere Sorgen, als sich Randys Geschwafel anzuhören. Sie gingen gerade an einem Elektrofachgeschäft vorüber; in dem langen Schaufenster stand ein Fernseher neben den anderen. Sämtliche Geräte waren eingeschaltet. Und alle zeigten nur ein Programm. Joes Sex-Videos. Ein Gesicht nach dem anderen wandte sich ihm zu; die Augen der Mädchen schienen bis auf den Grund seiner Seele zu brennen, und ihre Stimmen — traurig, vorwurfsvoll — dröhnten wie Donnerschläge in seinen Ohren. »Du hast gesagt, du liebst mich, Joe. . .« »Ich habe dir vertraut, Joe. . .« »Warum hast du mir das angetan. . .?« »Warum, Joe, warum. . .?« »Du bist ein Schweinehund, ]oe. ..« Und dann, ganz plötzlich, Annes Stimme, Annes Gesicht. »Ich liebe dich, Joe.« Er schloß die Augen, konnte die Gesichter aber nicht vertreiben, sah sie immer noch vor sich. Er legte die Hände auf die Ohren, aber die Stimmen drangen weiter auf ihn ein. Sie umgaben ihn, waren in seinem Innern, überall. Sie ließen ihn nicht mehr in Frieden. Sie verfolgten ihn. Er wußte, daß sie ihn wie Furien hetzen und ihm keine Ruhe mehr lassen würden. Sie würden ihn jagen, für den Rest seines... »He, du Gerippe!« Randy Steckle zog ihn am Ärmel. »Joe? Hörst du mir überhaupt zu?« Wut, Verzweiflung und stumme Vorwürfe an die Adresse seiner vermeintlichen Freunde beherrschten Nelson Wright auf dem ganzen Nachhauseweg. Diese Undankbarkeit! Diese Überheblichkeit! Diese verdammte Anmaßung! Er hatte den anderen alles wie auf einem silbernen Tablett serviert — die Chance, die größte Entdeckung in der Geschichte der Wissenschaft zu machen, Ruhm zu ernten —, und wie hatten sie es ihm gedankt? Sie hatten ihn vor die Tür gesetzt, hatten wie kläffende Köter nach seiner ausgestreckten Hand geschnappt. Labraccio ist der Schlimmste, dachte Nelson. Er war mein
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Freund; zumindest hatte ich ihn für einen Freund gehalten. Aber seit er ein Auge auf Mannus geworfen hat, ist es mit der Freundschaft Essig. Ja, die beiden haben's miteinander, das sieht man an den Blicken, den Gesten; sie haben ihre kleinen süßen Geheimnisse, was? Okay, scheiß auf die beiden! Scheiß auf sie alle. Er würde auch ohne die anderen zurechtkommen. Nachdem er seine spartanisch eingerichtete Wohnung betreten hatte, zog Nelson den Mantel aus und hängte ihn auf einen Haken neben der Tür. Er war erledigt, müde und wollte ins Bett. Er ging ins Schlafzimmer — und erstarrte vor namenlosem Entsetzen. Dort, auf dem blütenweißen Bettlaken und auf dem Kopfkis sen, waren die Abdrücke schmutziger Schuhe zu sehen. Schuhe eines kleinen Jungen. Und plötzlich hörte er eine innere Stimme höhnisch sagen: >Nichts ist sicher, Nelson. Nichts ist sicher vor mir. Ich kriege dich, kriege dich überall. Es gibt kein Versteck vor mir, Nelson, nirgendwo ... < Er wirbelte herum; sein Blick huschte durchs Zimmer; er hatte panische Angst vor dem, was er sehen würde, denn er wußte, was es war... ... und da stand er, der kleine Junge mit dem roten Sweatshirt. Dieser gräßliche, schweigsame Junge mit dem teuflischen kleinen Gesicht. Er hielt Nelsons Hockeyschläger in den Fäusten ... und dann hieb er auch schon zu, ohne jede Vorwarnung. Nelson hatte nicht den Hauch einer Chance, sich vor dem fürchterlichen Hieb zu schützen. Der hölzerne Schläger schmetterte ihm vor die Brust, raubte ihm den Atem. Nelson stöhnte wie ein verwundetes Tier, als er auf die Knie fiel, und dann holte der Junge aus und hieb ihm auf den Rücken, so wuchtig, daß der Schläger in zwei Stücke brach. Nelson wurde nach vorn geschleudert. Mit schier übermenschlicher Willensanstrengung kam er auf die Beine, aber schon war der Junge wieder bei ihm, trat ihn mit den Füßen, schlug ihn mit den Fäusten, schmetterte ihm die Ellbogen in den Leib — mit unglaublicher Kraft und Härte, unermüdlich, erbarmungslos, ohne einen Laut von sich zu geben. Nelson taumelte, stürzte rückwärts aufs Bett, und dann war der Junge über ihm, kniete auf seiner Brust, nagelte ihn förmlich fest, verdammte ihn zu völliger Bewegungslosigkeit, denn der kleine Bursche
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war schwer, furchtbar schwer und lastete wie ein Bleigewicht auf Nelsons Herz. Bis zu diesem Moment hatte Nelson sich nicht eingestehen wollen, daß er diesen Jungen kannte, sein Gesicht, seinen Namen. Aber jetzt konnte er das Eingeständnis nicht länger vor sich selbst verbergen. Billy Mahoney. Der kleine Junge in dem Sweatshirt war niemand anders als Billy Mahoney. Und in diesem Augenblick erschien ein Lächeln auf Billys Gesicht, ein scheußliches Lächeln, ein Lächeln aus den Abgründen der Hölle. Langsam öffnete er den Mund und ließ Nelson den Klumpen Spucke und Schleim sehen, der sich auf seiner Zunge gebildet hatte. Ein dünner Faden lief ihm aus dem Mundwinkel, doch bevor Nelson der Speichel ins Gesicht tropfen konnte, sog der Junge ihn wieder ein. Und dann wiederholte er den widerlichen Vorgang. Schließlich spuckte er. Und Nelson Wright schrie, schrie, schrie...
9 David Labraccio erwachte mit einem bitteren Geschmack im Mund, mit quälendem Durst und Kopfschmerzen, die so heftig waren, als triebe ihm jemand mit Thors Hammer stählerne Nägel in den Schädel. Für einen Moment wußte er nicht, wo er sich befand, aber als er den Kopf hob und das riesige Poster einer Himalaja-Berglandschaft sah, das er vor drei Jahren, als er hierher an die medizinische Hochschule gekommen war, über seinem Bett an die Wand geheftet hatte, erkannte er erleichtert, daß er sich im Schlafzimmer seiner Wohnung befand. Und er war nicht allein. Unglaublich, aber die hübsche Rachel war bei ihm. Sie stand auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers am Fenster und faltete gerade eine Decke zusammen. Das sanfte Licht, das durchs Fenster fiel, zeichnete die Konturen ihres Gesichts, ihrer Figur ganz weich nach. Sie sah unglaublich schön aus. Offenbar hatte sie die Nacht zusammengekauert im Sessel verbracht und sich mit der Decke gewärmt, um auf ihn, David, aufzupassen. Er spürte, wie eine
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mächtige Woge verschiedenster Gefühle in ihm aufstieg — Freude, Dankbarkeit... Liebe? »Rachel«, sagte er leise, »danke, daß du geblieben bist.« Sie wandte sich zu ihm um, strich sich das lange, dunkelrote Haar aus der Stirn. Sie sah müde aus, und das ließ sie jünger erscheinen, fast mädchenhaft. Sie lächelte David an. »Ich hab' heute Frühschicht im Krankenhaus«, sagte sie. »Ich muß jetzt los. Tja ... dir scheint's ja wieder ganz gut zu gehen. Also, ich sehe dich dann später.« Später. Später war ein Wort, das für sie beide ein ganzes Universum an Bedeutungsinhalten hatte. >Später< umfaßte das Old Dog Lab, die Trage, die EEG- und EKG-Geräte, die Medikamente und Drogen, das ganze gefährliche Unternehmen >Reise in den Tod<. Für Rachel bedeutete das >später< an diesem Tag vor allen Dingen eins: Flat line. »Warte noch.« David schwang sich aus dem Bett und streifte sich den Morgenmantel über. »Was heute abend angeht...« »Redest du besser nicht mit mir darüber«, sagte Rachel. »Nur eine Frage: Warum tust du das?« Er trat an sie heran, nahe genug, daß er sie hätte berühren können. Aber wie stark sein Verlangen danach auch war, er ließ es bleiben. Rachel nahm einen tiefen Atemzug und wandte ihm ihr stilles, schönes, ernstes Gesicht zu. Und dann sagte sie langsam, fast zögernd, so als müsse sie sich zu jedem einzelnen Wort zwingen: »Menschen, die mir sehr nahe gestanden haben, sind vor langer Zeit gestorben. Ich möchte einfach nur wissen, ob es dort... schön ist, wo sie jetzt sind. Hört sich das kitschig an?« Ihre dunklen Augen blickten beinahe flehend in die seinen. David schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Um ehrlich zu sein, es ist die einzig vernünftige Begründung, die ich bis jetzt gehört habe. Ich muß dir was sagen, Rachel. Gestern abend habe ich dir was verschwiegen...« Er suchte nach den richtigen Worten. »Ich... ich hatte das Gefühl, daß ich dort drüben irgend etwas ... gefunden hätte, wenn ich nur noch ein bißchen weiter gegangen wäre... etwas, das mich beschützt hätte. Verstehst du? Irgendwas .. .« »Gutes«, vollendete Rachel den Satz. David nickte, obwohl >gut< nun wirklich nicht der richtige Ausdruck war, um dieses Etwas zu charakterisieren.
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»Wenn du's weißt, brauchst du den Versuch ja gar nicht zu machen«, sagte er. Plötzlich lächelte Rachel wieder; ein warmes, freundliches Lächeln, das ihr Gesicht erhellte und ihre ernste Schönheit erstrahlen ließ. »Willst du mir damit zu verstehen geben, daß David, der Atheist, jetzt an Gott glaubt?« David blickte ihr tief in die Augen. »Ich will dir damit nur sagen. .. ich möchte nicht, daß du das Experiment machst.« Zum ersten Mal hielt sie Davids festem Blick stand. Er hatte den Eindruck, daß sie alles begriff, alles wußte, was er ihr sagen wollte — einschließlich des Ungesagten, von dem er nicht sicher war, daß er selbst es begriff. Und dennoch, sie war nicht umzustimmen. »Denk einfach an all das, worüber wir zu reden haben, wenn du mich zurückgeholt hast«, sagte sie leise. Und damit wandte sie sich um und ging, und die folgende Stunde konnte David Labraccio nichts anderes tun als grübeln; seinen Gefühlen, seiner Angst freien Lauf zu lassen. Jetzt war nichts mehr aufzuhalten. Bis >später<. Rachel war nicht bei der Sache, als sie auf der Krankenstation fast mechanisch all die monotonen Aufgaben verrichtete, die ihr zugeteilt worden waren — Nachttöpfe leeren, Betten machen, Flure schrubben. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um den heutigen Abend, und was dieser Abend ihr bringen würde. Den Tod? Ja! Ein widersinniger, absurder Gedanke. Hatte sie Angst vor dem Experiment? Nein, Angst war nicht das richtige Wort, es war eher eine Art. . . nervöse, gespannte Erwartung. Heute abend würde sie erfahren, was Nelson, Joe und David schon wußten. Heute abend würde sie zu jenem geheimnisvollen Ort aufbrechen, an dem die anderen schon gewesen waren. Vier Minuten und fünfundzwanzig Sekunden. Länger, als jeder andere vor ihnen ... Sie versuchte, den Satz in Gedanken nicht zu Ende zu führen, das bedrückende Wort zu vermeiden, aber es gelang ihr nicht. Tot. Länger, als jeder andere von ihnen tot gewesen war. Sogar David war nur — nur! — drei Minuten und fünfzig Sekunden klinisch tot gewesen. Sie würde fünfunddreißig Sekunden länger bleiben. Ob es ihr dadurch vielleicht
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möglich wäre, weiter zu gehen als er, jenem »schützenden Etwas< von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, von dem David gesprochen hatte? Oder bedeutete die Zeitspanne schlicht und einfach, daß die anderen keine Chance mehr hatten sie ins Leben zurückzuholen? Waren vier Minuten und fünfundzwanzig Sekunden zu lange? War eine Wiederbelebung nach dieser Zeitspanne überhaupt noch möglich? David. Rachel verweilte in Gedanken einige Minuten bei ihm, sah sein schmales, markantes Gesicht vor ihrem geistigen Auge, sein dichtes langes Haar, das ihm in die Stirn fiel und fast bis auf die breiten, geraden Schultern reichte. Sie wußte, was er ihr heute hatte sagen wollen — daß er sich um sie sorgte, daß er sie gern in Sicherheit gewußt hätte. Aber David konnte ja nicht wissen, was ihre Triebkraft war, was sie so fest entschlossen machte, das Experiment zu unternehmen. Hätte er es gewußt, hätte er vielleicht verstanden, warum sie es wagen mußte. Und dann hätte er auch begriffen, daß nichts auf der Welt sie davon abbringen konnte. Was waren eigentlich ihre Gefühle ihm gegenüber? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war — er verwirrte sie mehr und mehr. Sie hatte David immer schon sympathisch gefunden, hatte ihn gemocht, die ruhige, beherrschte Aura der Autorität, die er ausstrahlte, seine Ehrlichkeit und seine geradlinige Art des Redens und Handelns. Sie bewunderte seine Fähigkeiten als zukünftiger Arzt, und sie achtete ihn als Mensch. Und noch mehr... denn jetzt mußte sie sich eingestehen, daß sie sich sehr gerne von ihm in die Arme hätte nehmen lassen. O ja, sie hatte es vorhin deutlich spüren können, wie gern er sie berührt, ihr Haar, ihre Wangen gestreichelt hätte. Aber sie hatte keine Zeit für solche Gefühle. Vielleicht, wenn dieses >später< hinter ihr lag... Als Rachel an Mrs. Ashbys Bett kam, hielt sie inne. Die sterbende Frau weckte immer wieder Mitleid und Sympathie in Rachel, und heute... heute waren diese Gefühle besonders stark. Rachel setzte sich auf den Besucherstuhl neben dem Krankenbett und ergriff die Hand der todkranken Frau. »Ich muß sehr, sehr bald sterben, Rachel, nicht wahr? Bitte, lügen Sie mich nicht an.« Mrs. Ashby suchte die Antwort, die Wahrheit in Rachels Augen.
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Ja. Vorher war Rachel immer in Lügen geflüchtet, hatte es sich einfach gemacht, um es der Frau einfacher zu machen, um ihr falsche Hoffnungen zu machen. >Sie sehen heute schon viel besser aus, Mrs. Ashby. Bald werden Sie wieder ganz gesund sein.< Aber heute war es anders. Ganz anders. Rachel lächelte Mrs. Ashby an. »Manchmal bleibt uns nichts mehr, als uns... zu fügen«, sagte sie sanft. Die alte Frau nickte. »Das sagen die Stimmen auch.« Rachel runzelte die Stirn. »Welche Stimmen?« fragte sie und beugte sich leicht vor, um die leisen Worte Mrs. Ashbys besser verstehen zu können. »Die Stimmen sagen: >Hast du auch genug getan? Hast du den Menschen, die du geliebt hast, das auch gesagt? < Aber ich habe ... ich habe.. .« Den Tränen nahe, legte Mrs. Ashby den Kopf zur Seite. »Ist gut. Ist ja gut«, sagte Rachel unbeholfen und drückte die knochige Hand der todkranken Frau. »Es sind freundliche Stimmen, und sie sagen Ihnen nur das, was Sie wissen müssen.« Mrs. Ashby wandte Rachel das Gesicht zu. In ihren Augen lag eine stumme Bitte, als sie fragte: »Und was ist das? Was muß ich wissen?« »Daß man Sie irgendvo freudig erwartet«, sagte Rachel sanft. Tränen füllten Mrs. Ashbys Augen und liefen ihr über die faltigen Wangen. »Glauben Sie das wirklich?« fragte sie leise. Rachel nickte. »Ja«, sagte sie mit fester, glücklicher Stimme. »Ja. Ja, das glaube ich.« Den ganzen Tag über konnte Dave sich nicht von den Gedanken an Rachel lösen. Er fühlte sich hilflos; er wußte, daß sie keine Sekunde von ihrer gesetzten Zeit — vier Minuten und fünfundzwanzig Sekunden — abrücken würde, und er hatte Angst, schreckliche Angst um sie. Es war sehr gut möglich, daß diese Zeit einfach zu lang bemessen war, die Grenzen sprengte, so daß er, Nelson, Joe und Randy sie nicht mehr würden zurückholen können. Dreimal schon war es haarscharf gewesen, bei viel kürzeren Zeiten. Rachel — tot. Nein, nein, nein! Er hatte eine seltsame Zartheit in ihr gespürt, eine unerforschte Ver-
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wundbarkeit, und er sehnte sich danach, Rachel besser kennenzulernen, viel besser, und für lange, lange Zeit. Er spürte, daß sie sich stark zueinander hingezogen fühlten, schon jetzt, und daß dieses gegenseitige Gefühl noch wachsen würde. David verbrachte den Rest des Tages auf einem Sportplatz am anderen Ende der Stadt, um festzustellen, ob das Experiment negative Auswirkungen auf seine physische Verfassung gehabt hatte. Als er zum fünften Mal in flottem Lauftempo die Aschenbahn umrundet hatte, war er sicher, daß dies nicht der Fall war. Er war zwar ein wenig schlapp und müde, aber Lunge und Herz arbeiteten ruhig und gleichmäßig; auch die Reflexe, die unter der Einwirkung der Drogen gelitten hatten, schienen schon wieder ganz da zu sein. Es wurde spät, und er mußte sich auf den Rückweg machen. Er entschloß sich, wie schon auf der Hinfahrt die Straßenbahn zu nehmen. Die Rush-hour hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Bahn war überfüllt mit Fahrgästen — Pendler, die von ihren Arbeitsstellen aus der Innenstadt kamen, ließen sich auf den Sitzbänken nieder und verstopften den Mittelgang. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, schien sich der Menschenmenge um ihn herum gar nicht bewußt zu sein. Die hoffnungslos überfüllte Straßenbahn war für sie nur eine weitere Plage an einem von Mühsal und Streß erfüllten Arbeitstag. Die Bahn fuhr jetzt eine kurze Strecke bergab und tauchte in einen Tunnel ein. Schlagartig erfüllten diffuses Licht und das laute Rasseln der stählernen Räder den Waggon, die Lampen an den Tunnelwänden huschten in monotonem Rhythmus vorüber. »He, Fellatio!« rief eine Kinderstimme in Davids Rücken. Das Wort erklang so plötzlich, so laut und erschreckend, daß David herumfuhr. Er versuchte, das Kind irgendwo im Dämmerlicht auszumachen. »Fällt dir kein passender Vergleich ein?« fuhr die Kinderstimme mit hämischem Unterton fort. »Nein? Mir aber. Dein Gesicht und mein Arsch. Dein Atem und ein großer Haufen Scheiße.« Die Bahn rollte aus dem Tunnel; Licht flutete in den Wagen, und plötzlich sah David sie: ein kleines farbiges Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, sauber und ordentlich gekleidet. Ihr Haar
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war sorgfältig zu zwei Zöpfen mit Schleifchen an den Enden geflochten. Und plötzlich, mit einem Anflug von Grauen, wurden David Labraccio zwei Dinge bewußt. Erstens redete das kleine Mädchen mit ihm. Zweitens war es jenes kleine Mädchen, dessen Gesicht er auf seiner Reise in den Tod gesehen hatte. Er blickte sich gehetzt um. Es kam ihm so vor, daß die anderen Fahrgäste die unflätigen Ausdrücke zwar gehört und auch bemerkt hatten, wem sie galten; sie schienen aber nicht schockiert, sondern eher belustigt über die Flut von Beschimp fungen zu sein, die aus dem Kindermund der kleinen Schwarzen gedrungen waren. »Kenne ich dich?« fragte er und erwartete beinahe ängstlich ihre Antwort. »Einen Scheißdreck kennst du, Arschgesicht!« fauchte sie, und der Schwall von Obszönitäten, der dann in einem nicht enden wollenden Strom über ihre unschuldigen Lippen kam, war voller Haß und Verachtung: »Du Wichser, Ficker, Scheißer, Schwuchtel, Hurensohn, Drecksau...« David schauderte vor der Wildheit und Primitivität dieser verbalen Attacken zurück, wollte nichts als weg von diesem Kind und seinen schauderhaften Flüchen, aber der Waggon war hoffnungslos überfüllt. Er saß in der Falle, dazu verdammt, zuzuhören. Er fühlte sich, als würde er mit dem Rücken gegen eine harte Mauer gedrückt. Es waren die schlimmsten, demü tigendsten Sekunden seines Lebens. Was wollte die Kleine von ihm? Und warum ausgerechnet von ihm? »Schweinehund, Arschloch, Drecksau, Hundesohn, Schleimscheißer ...« Was um alles in der Welt geschah hier! Irgendwie kannte er das kleine Mädchen. Obwohl er sich nicht an ihren Namen erinnern konnte, erkannte er ihr Gesicht wieder, nicht nur aus seinem Sterbeerlebnis — er hatte es schon vorher gekannt. Woher? Und wann war das gewesen? Ja, genau das war es, was diese Sache so unheimlich machte: Wenn er der Kleinen wirklich schon früher einmal begegnet war, wenn sie tatsächlich aus seiner eigenen Vergangenheit kam, dann war sie heute kein kleines Mädchen mehr, sondern eine junge Frau, Mitte Zwanzig. Wer war sie? Was wollte sie von ihm? Warum griff sie ihn so vehement an, bedachte ihn mit derart widerlichen Ausdrücken?
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Und die wichtigste Frage: Warum hatte er sie wachgerufen, aus den tiefsten Tiefen seiner Seele heraufbeschworen? Fluchtartig verließ David die Bahn an der nächsten Haltestelle, verfolgt von den verdutzten Blicken der anderen Fahrgäste. Er atmete tief durch, als die Straßenbahn wieder anfuhr und von dem kleinen Mädchen keine Spur mehr zu sehen war. Und plötzlich erkannte David Labraccio mit glasklarer Deutlichkeit, daß es eine Halluzination gewesen war, die auf irgendeine Art und Weise nicht nur mit seinem eigenen Sterbeerlebnis, sondern auch mit dem Nelsons und Joes zu tun hatte. Mein Gott, irgend etwas an diesem Experiment stimmte nicht! Irgendwo lag ein schrecklicher Fehler. Und Nelson hatte ihn verschwiegen. Nelson mußte diesen Fehler kennen, hatte sein schreckliches Wissen aber für sich behalten. Rachel durfte die Reise in den Tod nicht antreten! Er mußte den Versuch verhindern, auf welche Weise auch immer. Der ganzen Sache mußte ein Ende gemacht werden, bevor etwas passierte, was zu schrecklich war, um auch nur daran zu denken. Und plötzlich fiel ihm noch etwas anderes ein: der Name des kleinen Mädchens. Er kannte sie aus seiner Kinderzeit. Sie hieß Winnie. Winnie Hicks. Die Decke des Old Dog Lab war alt und feucht und rissig, so daß der Regen durch die Spalten drang; an einigen Stellen tröpfelte es nur, an anderen drang das Wasser geradezu sturzbachartig herein. Steckle und Hurley hatten so viele Eimer wie möglich aufgetrieben und unter jene undichten Stellen aufgebaut, durch die der meiste Regen drang. Rachel Mannus checkte die EKG- und und EEG-Geräte durch; Nelson überprüfte die Spritzen, um sicher zu gehen, daß sie die richtige Substanz in der richtigen Dosierung enthielten. Abgesehen vom stetigen Prasseln und Tröpfeln des Regens in den Blecheimern war es im Labor vollkommen still; die gewohnten deftigen Scherze blieben aus, der flapsige Studentenhumor regte sich nicht. Besonders Nelson und Joe Hurley waren ungewöhnlich gedrückter Stimmung; beide waren tief in
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quälende Gedanken versunken. Sie wurden von dämonischen Wesen verfolgt, die nur sie selbst kannten. Und aus genau diesem Grund beunruhigte Nelson der Gedanke, daß Rachel sich dem Experiment unterzog, und das auch noch über vier Minuten lang. Ein-, zweimal öffnete er den Mund, um sie zu warnen, um sie in letzter Minute doch noch davon abzubringen, diese Reise anzutreten — aber dann schwieg er doch. Entweder fand er einfach nicht die richtigen Worte, oder aber er wagte es nicht zuzugeben, daß dieser gefährliche Versuch Tücken hatte, die er hartnäckig verschwieg. Rachel entgingen Nelsons Nervosität, seine Angst, sein Zittern nicht, aber sie schrieb dies den frischen Wunden in seinem Gesicht zu. Offenbar hatte man ihn ein zweites Mal zusammengeschlagen, schlimmer noch als zuvor. Er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war verquollen und entstellt, die Lippen blutig und aufgeplatzt. »Wie ist das passiert?« fragte sie ihn mit ruhiger Stimme. Nelson zuckte die Achseln. »Beim Hockeyspielen.« Rachel runzelte die Stirn. »Voriges Mal hast du gesagt, ein paar Burschen hätten dich ...« »Glaub mir oder laß es bleiben«, unterbrach Nelson sie. Das mit dem Hockeyspielen war ja nicht einmal so ganz gelogen. Nur hatte Billy Mahoney gespielt, und Nelson war ein Puck aus Fleisch und Blut gewesen. »Hör mal, wegen gestern abend möchte ich mich . ..« versuchte er rasch vom Thema abzulenken. Rachel sagte lächelnd: »Ist schon gut.« Wohl schon zum zehnten Mal in dieser Minute warf Randy Steckle einen Blick auf seine Armbanduhr. 21 Uhr 49. »Keine Spur von Dave«, sagte er verwundert. »Das ist doch sonst nicht seine Art, verdammt.« »Auf diese Weise versucht er nur, mich vom Experiment abzuhalten«, sagte Rachel, und die Enttäuschung war ihr deutlich anzuhören. Sie hatte auf Davids Erscheinen gezählt; es war Daves Gesicht, das sie als letztes sehen wollte, bevor das Lachgas sie narkotisieren würde. »Aber es hilft ihm nichts. Ich bin soweit.« »Wir aber noch nicht«, erwiderte Randy bekümmert. »Nicht ohne Dave. Wir sollten unbedingt warten, bis er hier ist. Ohne
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ihn wär's noch riskanter, als es ohnehin schon ist.« »Wir brauchen Labraccio nicht«, sagte Nelson schroff. Rachel blickte ihn forschend an. Nelsons Hände zitterten. »Schaffst du's denn? In deinem Zustand?« fragte sie ihn leise. Er hob den Kopf, blickte sie erstaunt an, und ein Hauch seiner früheren kühlen Beherrschtheit erschien auf dem zerschundenen Gesicht. »Traust du mir nicht?« »So ist es. Aber laß es uns trotzdem versuchen.« Rachel zog ihre Bluse aus, ließ den BH aber an. Sie legte sich auf die Bahre und befestigte die EKG-Elektroden an Brust, Armen und Beinen; dann zog sie sich die Kombidecke über und lächelte ihren ängstlichen, besorgten Kommilitonen zu. »Bis gleich«, sagte sie, bevor Nelson ihr die Anästhesiemaske auf Mund und Nase legte. Ich hätte nicht so überstürzt aus der Straßenbahn flüchten sollen, dachte Dave verzweifelt, dann säße ich jetzt nicht hier fest. Ich hätte von vornherein mit meinem Army -Truck zum Sportplatz fahren sollen, verdammt noch mal! Aber nun war es müßig, sich über diesen Fehler den Kopf zu zerbrechen. Dave hatte sich verirrt, befand sich jetzt in einem Stadtteil, den er nicht kannte. Und die Zeit drängte. Er rannte durch die Straßen, die aber immer wieder in Sackgassen oder Seitenstraßen endeten, ohne ihn seinem Ziel auch nur einen Schritt näher zu bringen. Sinnlos. David hielt inne, wühlte in den Taschen seiner Jeans und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß das Geld für eine Taxifahrt zur medizinischen Hochschule reichte. Während der schier endlos langen Fahrt stellte er sich jede Minute, jede Sekunde die gleichen quälenden Fragen und kam immer wieder zu den gleichen quälenden Antworten. Die Tatsache, daß er sich an Winnie Hicks' Namen hatte erinnern können, war ein wichtiges Teil in diesem riesigen Puzzle; ein Puzzle, das noch kein klares Bild ergab, obwohl David allmählich nebelhaft und verschwommen die Konturen zu erkennen glaubte. Zumindest wußte er jetzt, was ihn unterbewußt irritiert hatte, seit sie mit diesen verrückten Experimenten angefangen hatten: Nelsons Verhaltensänderung. Warum hatte
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er das nicht schon früher erkannt? Seit seinem Sterbeerlebnis hatte Nelson sich seltsam benommen, und das galt auch für Joe Hurley. Die beiden verheimlichten irgend etwas, davon war David überzeugt. Aber was? Es mußte etwas mit dem zu tun haben, was sie erlebt hatten und was Rachel heute abend erleben würde, falls er nicht rechtzeitig das Dog Lab erreichte, um diesen Wahnsinn zu verhindern. Wenn Rachel nur nicht so starrköpfig gewesen wäre! Er mußte sie aufhalten, bevor es zu spät war. Oder er mußte sie notfalls schnell genug wiederbeleben, bevor sie zur Zielscheibe dessen wurde, was immer dort drüben auf sie lauern mochte. Endlich hielt das Taxi vor dem Taft-Gebäude, und David drückte dem verblüfften Fahrer ein paar Scheine in die Hand und rannte zu Nelsons geheimem Seiteneingang hinüber. Es war spät, sehr spät, fast Viertel vor zehn. Er stürmte durch die runde Haupthalle und kümmerte sich nicht darum, ob irgend jemand seine Schritte hörte, die laut auf dem Marmorfußboden hallten; dann bog er in den Korridor ab, der zum Dog Lab führte, und riß die Tür auf. Er kam zu spät. Rachel lag reglos und kreidebleich auf der Trage. Beide Monitore zeigten Flat line. Herz- und Hirntod waren bereits eingetreten. »Wie lange schon?« stieß David hervor und wies auf die Monitore. »Eine Minute«, sagte Randy Steckle, der sich wie die drei anderen erst jetzt vom Schreck erholte, David so plötzlich auftauchen zu sehen. »Gut. Dann holen wir sie zurück. Auf der Stelle.« »Das werden wir nicht!« rief Nelson wütend. »Die Decke auf Heizen umschalten! Sofort!« ordnete David eisig an. »Wie ist ihre Körpertemperatur?« »Dreißig Grad«, sagte Joe leise. Nelsons zerschlagenes Gesicht verzerrte sich zur wütenden Grimasse. »Wir haben ihr versprochen ...« »Tu, was ich sage!« brüllte David. Nelson zuckte zurück, gehorchte und drehte den Schalter der Decke widerwillig auf die höchste Heizstufe. Dann bedachte er David mit einem schmierigen süffisanten Lächeln.
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»Erwarte jetzt bloß keine liebevolle Umarmung oder ein Küßchen von ihr. Sie wollte das Experiment unbedingt machen. Auch ohne dich, mein Freund.« Es gab keinen Tunnel, und es gab kein Licht, aber die fünfjährige Rachel Mannus vermißte weder das eine noch das andere. Sie war froh, das glückliche Lächeln auf Mas Gesicht zu sehen und bei der Party dabeisein zu dürfen. Rachel ging gern auf Partys. Nur schade, daß dies nicht ihre Geburtstagsfeier war. Aber es war schön, so wunderschön. Ma hatte eine große amerikanische Flagge an die Wand gehängt und ein Schild gemalt. Rachel konnte nicht lesen, was darauf stand, dazu war sie noch zu klein, aber die Mutter hatte es ihr vorgelesen. >Willkommen zu Hause, Daddy<, stand auf dem Schild. Rachel hörte Musik und sah ihre Tanten und Onkel, die Großmutter und den Großvater tanzen, und auf dem Tisch stand eine riesige Schokoladentorte, auf der mit lila Zuckerguß >Daddy< geschrieben stand. Und da war dieser große, hübsche fremde Mann. Rachel konnte sich nicht erinnern, diesen Mann vorher schon einmal gesehen zu haben, aber sie hatte ihn auf Anhieb lieb, weil er die gleichen blauen Augen hatte wie der Liebe Herr Jesus Christus auf dem Bild, das oben auf dem Flur im ersten Stock hing. Und außerdem hatte der Mann sie in die Arme genommen und hochgehoben und ihr ein Küßchen gegeben. Er trug eine schicke Uniform mit glänzenden Knöpfen und Anstecknadeln - Ma hatte >Orden< dazu gesagt. Rachel strich über eins der silbernen Abzeichen auf den Aufschlägen seiner Jacke; sie sahen wie große silberne Ballons aus, aber der Mann sagte, es sei ein Fallschirm, und es sei das Zeichen der »Hundertundersten Luftlandetruppe<, und er sei stolz darauf, dieses Abzeichen tragen zu dürfen. Der Mann war Daddy, und sie alle erzählten Rachel, daß er früher mit Ma in diesem Haus gewohnt hatte, dann aber weggehen mußte, kurz nachdem Rachel zur Welt gekommen war, und daß er lange, lange Zeit in einem Land, das Vietnam hieß, in einem Krieg gekämpft hatte. Aber jetzt war er wieder zu Hause, und darum feierten sie
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das Fest, und darum war die kleine Rachel so glücklich. Ihr Daddy war zu Hause. »Abbruch des Versuchs Nummer vier. Wir warten noch immer auf einen Anstieg der Körpertemperatur«, sagte Randy Steckle in sein Diktiergerät. »Nach wie vor dreißig Grad. Wiederhole: Abbruch des Versuchs Nummer vier.« Er nahm das Mikrophon vom Mund. »Warum, Dave?« »Warum fragst du nicht Doktor Tod?« sagte David mürrisch, und er und Nelson tauschten sekundenlang wütende Blicke — bis Nelson Wright zuerst die Augen senkte. »Dreißig Komma fünf Grad«, sagte Randy. »Was geht hier eigentlich vor, Nelson? Ich will die Wahrheit wissen!« sagte David plötzlich scharf, und Nelson erkannte schlagartig, daß Dave irgend etwas wußte. Hatte auch ihn etwas — jemand — verfolgt? Nelson zuckte die Achseln. »Das siehst du doch. Wir holen Rachel jetzt ein bißchen früher zurück. Auf deinen ausdrücklichen Wunsch. Mehr nicht.« »Wirklich nicht?« »Immer mit der Ruhe, Jungs«, meldete sich Joe Hurley. »Fangt jetzt keinen Streit an. Nicht jetzt. Wir müssen uns um Rachel kümmern.« »Joe hat recht«, sagte Randy. »Körpertemperatur einunddreißig Grad. Injektionsspritzen und Geräte bereithalten, Jungs.« Die Wiederbelebung verlief reibungslos. Rachel würde in etwas mehr als einer Minute wieder bei ihnen sein. Sie hatte ruhig und artig mit ihrer Puppe gespielt, während Ma bügelte, aber jetzt langweilte Rachel sich. Sie wollte zu Daddy. Er war oben im Bad. Vielleicht rasierte er sich. Manchmal ließ er Rachel dabei zuschauen. Warum nicht jetzt? Sie mochte es, wenn er die Bartstoppeln an ihrer Wange rieb, sie mochte den Geruch des weißen Schaums, der wie Schlagsahne aus der Dose quoll, und den glatten, sauberen Streifen Haut, wenn Daddy mit dem Naßrasierer diesen Schaum wegstrich. Sie mochte den
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frischen Duft des Rasierwassers, wenn er dann seine Wange an ihrem Gesicht rieb. Ja, sie wollte jetzt Daddy sehen. Sie legte die Puppe sanft in die kleinen Kissen, damit ihr Baby auch schön schlafen konnte; dann stand sie auf und nahm ihr kleines Tamburin, das Daddy ihr geschenkt hatte, und rannte damit zur Treppe hinüber. Als sie an der Küchentür vorüberkam, drang ihr der scharfe Geruch von Stärke und Feuchtigkeit, die unter dem heißen Bügeleisen verdampften, in die Nase, und sie konnte ihre hübsche, dunkelhaarige Ma in ihrer weißen Schürze sehen, wie sie sich über das Bügelbrett beugte. Rachel schlug mit einer Hand auf ihr kleines Spielzeug-Tamburin, und ihr gefiel das Geräusch; das Tamburin klang wie eine, kleine Trommel, und die winzigen Schellen am runden hölzernen Rahmen hörten sich wie Glöckchen an. Irgend etwas stimmte nicht. Nelson Wright drückte die Defibrillator-Elektroden auf Rachels Brust, und die 200 Joule, die durch ihren Körper rasten, ließen ihn krampfhaft zucken. Aber nichts weiter geschah. Ein rascher Blick zu den Monitoren: Flat line. »Nichts«, murmelte Nelson, dem der Schweiß übers zerschlagene Gesicht lief. »Geh auf dreihundert, Dave.« David rieb die Elektroden aneinander, brachte sie auf die gewünschte Spannung. »Fertig!« »Jetzt!« Wieder jagte Nelson den Stromstoß durch Rachels Körper. »Nichts, gar nichts! Gottverdammich! Dreihundertfünfzig, Dave!« Wieder ein Elektroschock. Und wieder keine Reaktion. Die Treppe war sehr steil und sehr lang. Viel steiler und länger, als die kleine Rachel sie in Erinnerung hatte. Oben, am Treppenabsatz, sah sie ganz deutlich das Bild an der Wand im Flur. Sein Gesicht war so sanft und so schön und ein bißchen traurig; Seine Augen sahen einen immer an. Aber Ma hatte gesagt, daß Jesus alle Leute immer und überall sah, auf alle aufpaßte, so daß keinem etwas Schlimmes widerfahren konnte. Rachels kleine Beinchen wurden müde, aber sie stieg unbeirrt weiter die Treppe hinauf. Sie wollte Daddy sehen. Daddy war im Bade-
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zimmer. Sie konnte jetzt, wo sie fast oben an der Treppe war, schon die Tür zum Bad sehen, aber die Tür stand nur einen Spalt breit offen. Rachel mußte sie auf stoßen, wenn sie Daddy sehen wollte. Noch immer keine Reaktion. Nichts. Nicht einmal die Andeutung eines Lebenszeichens. Flat line. Nelson versuchte weiterhin mit wilder Entschlossenheit, Rachel wiederzubeleben. Im Labor herrschte drückende Stille; nur das Geräusch des Regenwassers, das von der Decke in die Blecheimer tröpfelte und rann, war zu vernehmen. In der Stille klang es so laut wie das Dröhnen von Pauken in einer Marschkapelle. Dann, ganz plötzlich, gab der EKG-Monitor einen Piepton von sich. »Ich hab' sie!« rief Nelson triumphierend. »Wir haben sie nicht«, sagte David leise. Hinter ihnen flimmerten gespenstisch die Nullinien auf den beiden Monitoren. Rachel konnte Daddy jetzt sehen, durch den Spalt in der Tür. Er hielt ihr den Rücken zugewandt, aber er rasierte sich nicht. Rachel hob ihre kleine Hand und stieß die Tür auf. »Nein!« Plötzlich erschien Ma hinter Rachel, packte sie und zog sie von der Tür weg, so heftig, daß es weh tat. Das Tamburin fiel Rachel aus der Hand und landete mit einem mißtönenden blechernen Scheppern auf dem Boden. Warum hatte Ma ihr weh getan? Vor Angst und Verwirrung fing Rachel zu weinen an. Und dann kam Daddy aus dem Bad gestürmt und stieß Rachel und Ma zur Seite. Bevor sie ihn aufhalten konnten, rannte er ins Erdgeschoß hinunter und stieß dabei gegen das Tamburin, das die Treppe hinunterrollte. Daddy riß die Eingangstür auf und stürmte aus dem Haus, und Ma folgte ihm, so schnell sie konnte, und sie weinte jetzt auch, weinte wie Rachel. Warum weinte sie denn so sehr? »Weiter so, Nelson. Du schaffst es!« Randy Steckle hatte sein Diktiergerät völlig vergessen, brabbelte jetzt nervös vor sich
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hin. »Du holst sie schon zurück.« »Geh auf dreihundertsechzig!« Nelson reichte David die Defibrillator-Elektroden. Dave lud sie auf, gab sie Nelson zurück. »Fertig!« brüllte Wright und drückte Rachel die Elektroden auf die Brust. Ihr Körper bäumte sich wild auf. Wieder stieß der EKG-Monitor einen schwachen Piepton aus, dann noch einen. Die Nullinie begann leicht zu schwingen. Endlich — Gott sei Dank — hatte es doch noch geklappt. Urplötzlich begannen die Warnlichter des Elektroschockgeräts zu flackern, und Augenblicke später zerriß ein lauter Knall die Stille des Labors, als der Sicherungskasten des Geräts in einem grellen Funkenregen explodierte. Die Gummiteile der Stecker verschmorten; ein scharfer, durchdringender Gestank erfüllte den Raum, und der leise summende Generator kam zum Stillstand. »Großer Gott!« schrie Nelson entsetzt. »Ich hatte sie! Ich hatte sie doch schon!« Er warf einen gehetzten Blick auf den EKG-Monitor. Er zeigte wieder nur eine unbewegte, glatte Linie: Flat line. »Verdammter Mist! Nichts mehr zu machen«, stieß David hervor, nachdem er das Elektroschock-Gerät rasch überprüft und sofort die Ursache für den Ausfall erkannt hatte. Wasser war von der Decke in die Kühlrillen gedrungen und hatte einen Kurzschluß verursacht. »Die Reservebatterie!« erinnerte Randy die anderen, sichtlich erleichtert. »Du hast sie doch aufgeladen, Joe, nicht wahr?« »Scheiße, nein!« keuchte Hurley. Über den gräßlichen Wahnvorstellungen, die ihn seit seinem Sterbeerlebnis verfolgten, hatte er es völlig vergessen. Die Reservebatterie war leer, und das Elektroschockgerät verfügte über keinen Hilfsgenerator. Die Chancen, Rachel zu retten, waren gleich null. Sie hatte furchtbare Angst. Warum weinte Ma denn so schrecklich? Tränen liefen über Rachels kleines Gesicht, als sie mit unbeholfenen Schritten die Treppe hinunterstiegen, um ihren Eltern zu folgen. Aber sie kam nicht schnell voran, konnte nur Stufe um Stufe nehmen und mußte sich am Geländer festhalten, weil ihre Beinchen zu kurz waren. Als sie endlich am Fuß
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der Treppe angelangt war, sah sie, daß die Haustür offenstand. Rachel konnte sehen, wie Ma, noch immer die Schürze umgebunden, die Straße hinunterrannte, dorthin, wo Daddys Auto stand. Und Ma weinte immer noch. Zitternd vor Angst, lief Rachel ihr hinterher. »Beginne mit Herzmassage!« rief Nelson verzweifelt. »Steckle, Sauerstoff!« Randy legte Rachel die Sauerstoffmaske auf und regulierte die Zufuhr, während Nelson begann, mit kräftigen, rhythmischen Stößen auf Rachels Brustbein zu drücken. Die Folgen des Ausfalls vom Elektroschockgerät stand ihnen ins Gesicht geschrieben: kaum noch Hoffnung für Rachel. »Eins-eins-tausend, zwei-eins-tausend, drei-eins-tausend — atme, Mädel, um Gottes willen!« »Kein Puls«, sagte Randy, der die Monitore im Auge behielt, mit brüchiger Stimme. David schob Nelson kurz zur Seite und horchte Rachels Brust mit dem Stethoskop ab. Nichts. Der dröhnende Knall hörte sich wie die Fehlzündung eines Wagens an. Das plötzliche, schmetternde Geräusch ließ Ma aufschreien. Rachel weinte herzzerreißend. Das alles war so seltsam. Es machte ihr schreckliche Angst. Nie hatte sie sich so allein und einsam gefühlt; nie zuvor war sie allein und einsam gewesen. Ma war immer bei ihr, immer für sie dagewesen, aber jetzt schien ihr das kleine Mädchen, das erschöpft, mit taumelnden Schritten zu ihr aufzuschließen versuchte, vollkommen gleichgültig zu sein. Statt dessen starrte Ma in Daddys Auto, und sie schrie und schrie und schrie. David überdachte blitzschnell die wenigen Möglichkeiten, die ihnen noch blieben. Er wußte, daß sie ohne das Elektroschockgerät so gut wie hilflos waren; denn auf die Herzmassage und die Sauerstoffzufuhr zeigte Rachel nicht die geringste Reaktion. Wieder wanderte sein Blick zu den Monitoren hinüber, dann auf den schweißverströmten Nelson Wright, der sichtlich am Ende seiner Kräfte war. »Nichts! Los, Nelson, Platz da! Joe, übernimm!«
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Joe setzte die Herzmassage gekonnt und weitaus kräftiger als Nelson fort, der nur widerwillig seinen Platz räumte und David düster anstarrte. Aber er war zu erledigt, um sich noch mit Labraccio anzulegen, der jetzt wieder einmal das Kommando an sich gerissen hatte. »Vier Minuten sind um!« Randy Steckles Stimme war nur noch ein Krächzen. Nelson nahm ein Fläschchen vom Instrumentenwagen, offnete es und zog eine Spritze auf. »Ich injiziere ihr Bretylium«, sagte er keuchend und stieß die Luft aus dem Kolben der Spritze. »Keine andere Chance mehr, keine andere Chance ...« »Nein!« kreischte Steckle. Bretylium — das wußten sie alle — war ein schweres Geschütz, unberechenbar in der Wirkung. Niemand konnte sagen, wie der Körper eines Patienten auf diese chemische Keule reagierte. »Tu's nicht, Nelson! Du wirst sie von innen rösten!« David beugte sich über das Bett und blickte Nelson, der mit der Spritze an Rachels reglosen Körper herantrat, ganz ruhig an. »Nelson«, sagte er sanft, »bitte... tu's nicht.« Für einen Augenblick starrten die beiden Freunde sich an und tauschten geheime, unausgesprochene Worte aus, die nur sie beide verstanden. Dann trat Nelson zurück und legte die Spritze wieder auf den Instrumentenwagen. »Hol du sie zurück«, sagte er zu David. Rachel sah das Loch in der Windschutzscheibe. Es war nicht groß, aber es war so präzise gerundet, als wäre es ins Glas gebohrt worden. Kleine Risse führten in allen Richtungen davon weg; es sah aus wie ein hauchfeines Spinnennetz. Und die ganze Windschutzscheibe war mit Blut bespritzt. So viel Blut, so leuchtend rot. Die kleine Rachel starrte auf das Blut, als es langsam die Scheibe hinunterlief und aufs Armaturenbrett tröpfelte. Wieder hörte sie Ma so furchtbar schreien; dann zog ihre Mutter sie von der Autotür weg. Sie sah wieder ihren Vater, wie er die Treppe hinunterstürmte. Sie hörte wieder diesen lauten Knall und die Schreie ihrer Mutter. Und dem kleinen Mädchen ging ein einziger Satz immer wieder durch den Kopf:
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Das ist deine Schuld. Mit fliegenden Fingern löste David die Sauerstoffmaske und riß sie Rachel vom Gesicht. Er drückte ihr mit Daumen und Zeigefinger die Nasenlöcher zu, preßte seinen Mund auf den ihren und blies die Luft tief in die Lungen. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Draußen goß es wie aus Kübeln. Die Risse an der Decke waren unter dem wütenden Einsturm der windgepeitschen Regenfluten breiter und länger geworden, und das Wasser floß jetzt in Strömen in die Eimer, die längst schon übergelaufen waren. Das Jaulen des Windes, das Prasseln des Wassers, das Rattern der Rouleaus verschluckten alle anderen Geräusche, auch die der verzweifelten Rettungsversuche, die sich so gespenstischerweise lautlos abzuspielen schienen. Randy, Joe und Nelson standen wie erstarrt und beobachteten hilflos, wie David die tote Rachel durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben versuchte. Plötzlich: »Ich höre was!« Randy Steckles zitternde Stimme übertönte alle anderen Geräusche. »Psst. Seid doch mal ruhig!« Nelson und Joe fuhren zu den Monitoren herum. Joe stieß einen gellenden Freudenschrei aus, und Nelson wurde weich in den Knien. Das konnte nicht wahr sein! Und doch waren sie zu sehen, die ersten leichten Schwingungen der gottverfluchten Nullinien. Jetzt hörten auch sie, wie Randy, durch das Prasseln des Regens und das hohle Jaulen des Windes die ersten leisen Pieptöne, die schnell lauter und gleichmäßiger wurden. »Sauerstoff! Sauerstoff!« rief David überglücklich. Joe riß sich aus der Erstarrung und legte Rachel die Maske auf. Gebannt sahen sie, wie sie sich unter den ersten Atemzügen Rachels leicht bewegte; dann hob und senkte sich Rachels Brustkorb. Die Monitore und die Nadeln, die über die rotierenden Papierwalzen glitten, erwachten gleichzeitig mit Rachel wieder zum Leben. »Sie ist zurück«, keuchte David. Er grinste voller Erleichterung, Zufriedenheit und Stolz. Und Nelson Wright stieß ein lang unterdrücktes Schluchzen aus.
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10 Erst eine Stunde war seit Rachels Wiederbelebung vergangen, aber für die anderen schien es schon eine Ewigkeit her zu sein. Die unsägliche Anspannung lastete immer noch auf ihnen, hatte ihre letzten körperlichen und geistigen Kräfte verzehrt; Nelsons und Joes Nacken- und Schultermuskulatur, jetzt von der Anstrengung befreit, schrien noch vor Schmerzen. David brannten einige Fragen an Nelson auf der Zunge, aber er zwang sich, die Ruhe zu bewahren und zu schweigen, bis Rachel aus dem Waschraum des Taft zurückgekehrt war, den sie aufgesucht hatte, um sich ein wenig zu erfrischen. Während David und die anderen auf Rachel warteten, hockten sie in der großen Rundhalle unter den Wandgemälden und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. »Ich kapier' immer noch nicht, warum du den Versuch unbedingt abbrechen wolltest«, sagte Randy Steckle. David holte tief Atem. Auf genau diese Frage hatte er nur gewartet. »Dann hört mir mal zu«, sagte er gepreßt. »Es gab da mal ein Mädchen ... Winnie Hicks. Wir haben gemeinsam die Grundschule besucht. Wir... wir haben uns oft über Winnie lustig gemacht. Nichts wirklich Ernstes; Kinderkram. Wir haben sie Nigger genannt und was weiß ich, und Winnie hat geweint. Als ich heute in der Straßenbahn saß, hat jemand plötzlich mich mit bestimmten Namen belegt. Schweinische, obszöne Namen. Ich hab' mich umgedreht, und ich schwöre bei Gott, da stand sie vor mir, leibhaftig. Winnie Hicks. Und sie war ungefähr zehn Jahre alt, etwa so alt wie damals.« Nelson Wright runzelte kaum merklich die Stirn, sagte aber nichts. Joe Hurleys Gesicht war wie eine steingewordene Maske der Angst und der gespannten Aufmerksamkeit. Nur Randy Steckle, der sich als einziger nicht für einen Trip in den Tod zur Verfügung gestellt hatte, war zu einer spöttischen Bemerkung fähig. »Sind ja aufregende Halluzinationen. Vielleicht bist du in der Bahn eingepennt, und die Nettigkeiten, die dieses Kind dir an den Kopf geworfen hat, sind so was wie ein Überdruckventil deines Unterbewußtseins, um alte Schuldgefühle abzulassen.« »Warum dann erst jetzt!« erwiderte David. »Nein, nein. Und
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ich war hellwach, das kannst du mir glauben.« Joe Hurley, der sich an der Wand angelehnt hatte, trat einen Schritt vor und räusperte sich. Was er nun sagen wollte, war ihm peinlich, aber jetzt, wo David damit angefangen hatte, hielt er den Zeitpunkt für günstig, endlich auch sein Problem zur Sprache zu bringen. »Ich hab' auch ein paar verdammt... seltsame Sachen aus meiner Vergangenheit gesehen, Jungs«, begann er zögernd und lachte gequält. »Zuerst hab ich's auf einen Hirnschaden zurückgeführt, den ich beim Experiment davongetragen habe, aber...« Steckles Augen leuchteten auf. »Warte, das brauche ich auf Band«, sagte er hastig und fummelte an den Schaltern des Diktiergerätes herum. »Laß das Scheißding aus, Randy.« Joe Hurley zog ein finsteres Gesicht. »Das ist eine sehr... persönliche Sache.« Widerwillig drückte Randy auf die Stopp-Taste. »Na los, Joe«, ermunterte David den Freund. »Dann mal raus mit der Sprache.« Er warf einen raschen Blick zu Nelson hinüber, aber dieser gab sich ganz reserviert, schwieg beharrlich und schien desinteressiert. Doch David entging nicht, daß Nelson in Wahrheit die Ohren spitzte. Joe stand beschämt und verlegen da; seine Wangen glühten, und er brachte es nicht über sich, einem der anderen in die Augen zu blicken. »Ich werde von ... Bildern verfolgt, von Bildern der Mädchen und jungen Frauen, die ich heimlich mit meiner Videokamera aufgenommen habe, wenn ich mit ihnen... na, ihr wißt schon. Sind alle Mitglieder der Joe-HurleySexvideothek...« Er hielt inne und zuckte die Achseln. David nickte und warf Nelson Wright einen vielsagenden Blick zu, betrachtete eingehend die frischen Wunden in Nelsons Gesicht, die angeschwollene Nase, die aufgeplatzten Lippen. »Und was ist mit dir, Nelson?« fragte er leise. »Wer war hinter dir her? Waren es wirklich vier wildfremde Burschen? Und beim zweiten Mal ist's plötzlich beim Hockey passiert? Ihr scheint ja 'ne ziemlich rauhe Mannschaft zu haben.« Nelson zuckte die Achseln und nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Ist keine große Sache, wirklich nicht. Er heißt Billy Mahoney. Er ist ein achtjähriger Junge, auf dem wir immer herumgehackt haben. Damals, als wir noch zur Grund-
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schule gingen.« »Keine große Sache was?« David Labraccios Stimme war trügerisch ruhig und gelassen. »Warum sagst du uns dann nicht, was wirklich mit deinem Gesicht passiert ist?« Nelson lächelte, und dieses Lächeln war ein schrecklicher Anblick. »Manchmal kann der kleine Knirps sich nicht mehr bremsen, wenn er mir die Fresse poliert.« Augenblicklich trat atemloses Schweigen ein, als die anderen diese erschreckende, unglaubliche Information in sich aufnahmen. Dann stieß Randy Steckle hervor: »Moment mal! Moment! So wie ich die Sache sehe, ist Dave in der Straßenbahn eingepennt, und unser Superbumser Joe hat feuchte Träume von seinen Betthäschen. Aber du willst allen Ernstes behaupten, daß dieser Junge dich tatsächlich verprügelt hat? Das er keine Halluzination ist? Das ist doch unmöglich...« »Dieses ganze Labor, all diese Versuche sind unmöglich«, sagte Nelson und verzog die zerschlagenen Lippen zu einem gequälten Lächeln. »Oder?« Joe Hurley trat langsam an die Wand zurück. »Also ehrlich, das wird mir zu unheimlich«, murmelte er. Nelsons Lachen ähnelte einem heiseren, abgehackten Krächzen. »Unheimlich? Unheimlich, sagst du? Soll ich dir mal sagen, was an der ganzen Sache unheimlich ist? Wir waren tot, mein Junge. Tot. Und irgendwie haben wir bei der Wiederbelebung unsere Sünden mitgebracht. Ungeheuer aus Fleisch und Blut, und ...« Das verzerrte Lächeln verschwand schlagartig aus seinem Gesicht. »Und die rächen sich jetzt«, sagte er abschließend. Nun endlich lag es offen zutage, das pulsierende Herz des schrecklichen Geheimnisses. Sie alle mußten für den Hochmut bezahlen, daß sie sich erdreistet hatten, in einen Tempel einzudringen, in dem sie nicht erwünscht waren, daß sie versucht hatten, Wissen an sich zu reißen, das ihnen nicht zustand. Im Namen der Forschung hatten sie sich anmaßend gegenüber dem Unbekannten, Übermächtigen verhalten, und jetzt mußten sie die bitteren Konsequenzen tragen. Nun wurden sie für ihre Überheblichkeit bestraft, von Sünden aus ihrer Vergangenheit gejagt, die auf geheimnisvolle Art und Weise körperlich, stofflich geworden waren und sie auf ihrer Rückreise aus dem Land der Toten begleitet hatten.
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Gespenstisch. Der Mechanismus mochte unbegreiflich, irreal sein — die Wunden in Nelson Wrights Gesicht aber waren sehr real. »Und seit wann hast du das gewußt?« fragte David leise. Nelson zögerte. »Mir kam der Verdacht«, erwiderte er schließlich, »nachdem Joe dort drüben war.« Unglaublich! Heiße Wut loderte in David auf. »Und was war, bevor ich >drüben< war, wie du dich so schön ausdrückst?« fuhr er Nelson an. »Und bevor Rachel das gottverfluchte Experiment gemacht hat? Du hast kein Wort gesagt!« »Das war ein Fehler, Nelson«, sagte Randy leise. »Ein Fehler? Verdammt noch mal, ich dachte, ihr seid Ärzte, Wissenschaftler!« brüllte Nelson zurück. »Du bezeichnest dich als Wissenschaftler?« Randall Steckles Stimme zitterte vor Empörung und mühsam unterdrücktem Zorn. »Daß du uns Erkenntnisse vorenthalten hast, war rücksichtslos, niederträchtig und unmoralisch!« Nelson schüttelte den Kopf. »Hört mir mal zu«, sagte er mit seinem irren Grinsen. »Vielleicht kennt Rachel jetzt die Antworten auf all die Fragen über Leben und Tod. Sie war länger als fünf Minuten drüben. Wenn sie mit diesen Antworten an die Öffentlichkeit geht, wird die Welt sie verehren. Anbeten. Vergöttern.« Er wies mit der Zigarette auf David Labraccio. »So wie du«, flüsterte er gehässig. Fast hätte David sich auf ihn gestürzt, aber dann erhob er sich, wandte sich um und ging in Richtung Waschraum, rief Nelson Wright aber in scharfem Tonfall über die Schulter zu: »Du hättest es uns sagen sollen, Nelson!« »Du hättest es auch nicht getan!« schrie Nelson zurück. Wutentbrannt sprang er auf, wandte Hurley und Steckle den Rücken zu und verließ ohne ein weiteres Wort das TaftGebäude. Randy und Joe tauschten entsetzte Blicke. »Jetzt sind wir in den Arsch gekniffen«, flüsterte Joe Hurley. Mit steifen Schritten durchquerte Rachel die Rundhalle des Taft, schob die Plastikplane zur Seite, die den Arbeitern als Schutzabdeckung diente, betrat die Damentoilette und ging
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zum Waschbecken hinüber. Sie drehte die beiden angerosteten Hähne auf. Ein asthmatisches Röcheln drang aus den Rohrleitungen; dann floß das dünne Rinnsal einer rostigen, trüben Brühe aus den offenbar seit langer Zeit nicht mehr benutzten Wasserhähnen. Von Grauen gepackt, beobachtete Rachel Mannus, wie die übelriechende Flüssigkeit träge und mit einem gräßlichen Gurgeln durch den schmutzigen Abfluß sickerte. Der dickflüssige Schwall sah aus wie Blut. Nichts war so gewesen, wie sie es erwartet hatte, nichts. All diese angeblichen >Sterbeerlebnisse<, die sie so eifrig in ihrem Notizbuch gesammelt hatte, all die Abhandlungen, die sie in ihren Fachbüchern über Thanatologie, jenem Forschungszweig, der sich mit dem Tod und dem Sterben befaßt, gelesen hatte keine dieser Schilderungen wies auch nur die geringste Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Sterbeerlebnis auf. Sie hatte kein lockendes Licht gesehen, keinen Tunnel, keinen Garten. Und was die verstorbenen geliebten Menschen betraf, die einen angeblich mit lächelnden Gesichtern begrüßten und liebevoll in die Arme nahmen — alles Lug und Trug. Rachel schauderte bei der Erinnerung an das Erlebte. Es war ein Alptraum gewesen, ein Alptraum aus Grauen und Blut, ein vollkommen realistisches, erneutes Durchleben und Durchleiden jenes Tages, an dem ihr Vater sich auf dem Fahrersitz seines Chevy das Leben genommen hatte, indem er sich eine Kugel aus seinem Dienstrevolver durch den Kopf jagte. Ja, sie hatte wirklich und wahrhaftig den schlimmsten Tag ihres Lebens noch einmal erlebt, hatte alles noch einmal gespürt, gerochen, gefühlt. Das hatte sie nicht erwartet, weiß Gott nicht. Nach all den Berichten zu urteilen, die Rachel gelesen oder gehört hatte, hätte alles vollkommen anders verlaufen müssen. Es hätte schön sein müssen, besänftigend, beruhigend; es hätte sie etwas lehren, ihr Antworten geben müssen. Statt dessen gab es jetzt mehr offene Fragen für sie als je zuvor. Und nun lastete auch wieder dieses unerträgliche Gewicht der Depressionen auf ihr, Gefühle der Schuld und des.. . Grauens quälten sie. »Rachel? Geht's dir schon besser?« Sie erkannte Davids Stimme, aber sie wollte jetzt keinen der anderen sehen oder gar mit ihm reden, nicht einmal mit David. »Mir geht's gut«, rief sie mit einer Stimme, die deutlich zu
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verstehen gab: verschwinde! Laß mich in Ruhe! Langsam, zögernd senkte sie den Blick, schaute wieder hinunter aufs Waschbecken. Sie seufzte leise vor Erleichterung. Das Wasser war jetzt klar und rein. Rachel hielt die Hände kelchförmig unter den Strahl und spritzte sich das kühle Naß ins Gesicht. Hinter ihr raschelte die Plastikplane auf dem Arbeitsgerüst vor der geöffneten Tür. Urplötzlich hatte Rachel das deutliche Gefühl, nicht mehr allein im Waschraum zu sein. »Ich sagte doch, es geht mir gut!« rief sie mit einer Mischung aus Zorn und Angst. Sie blickte sich langsam um. »David?« nichts. Trotzdem hatte sie das deutliche Gefühl, daß sich ihr jemand näherte. »Wo steckt ihr Kerle?« rief sie schrill. »Wollt ihr mich begaffen, oder was ist los?« Wer kommt denn da näher, zum Teufel? David? Oder Hurley, dieser Lustmolch? Langsam gewann die Wut in ihr Oberhand. Rachel wischte sich das Wasser aus den Augen und blickte in den Wandspiegel über dem Waschbecken. Er war tausendfach gesprungen und trübe und spiegelte nur ein verzerrtes Bild ihres Gesichts und die schemenhaften Umrisse des Raumes hinter ihr wider. Stand da jemand? Sie beugte sich ganz nahe an den Spiegel heran, starrte angestrengt hinein. Da war doch was? Die Angst, sich umzudrehen, schnürte ihr die Kehle zu. Ja, sie erkannte jetzt, daß irgend etwas Großes, Schattenhaftes hinter ihr stand, im zerbrochenen Spiegel nur undeutlich zu sehen. Und dann, von einem Moment zu anderen, krampfte sich eine eiskalte Faust um ihr Herz. Sie wußte, wer da stand. Ihr Vater. Und sie wußte, daß er sehr wütend auf sie war. Nelson Wright arbeitete mit verbissener Konzentration, bis der Riegel fest an der Tür saß. Als Nelson fertig war, sah der lange, schwarz gestrichene Sicherungsriegel aus massivem Stahl vor dem makellos reinen Weiß der Türfarbe fast obszön aus, aber das spielte gar keine Rolle. Hauptsache, er würde seinen Zweck erfüllen. Nichts und niemand kam mehr durch diese Tür, nicht mal ein Schwergewichtler. Nicht mal Billy Mahoney. Nelson schwitzte jetzt, zum einen vor Anstrengung, zum
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anderen vor Angst; seine Muskeln zitterten unkontrolliert. Der alte Nelson Wright hätte jetzt erst einmal sein schweißnasses, schmutziges, stinkendes Hemd ausgezogen, ausgiebig geduscht und frische Kleidung angezogen. Aber den alten Nelson Wright gab es nicht mehr. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an körperliche Sauberkeit oder die makellos reine, ja antiseptische Beschaffenheit seiner Umgebung. Sein einziger Gedanke galt Billy Mahoney. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Hintertür verrammelt und verriegelt und sämtliche Fenster geschlossen waren, setzte Nelson sich mit gekreuzten Beinen auf den Fußboden des Wohnzimmers. In den Händen, deren Innenflächen feucht und glitschig von Schweiß waren, hielt er immer noch den schweren Schraubenzieher, mit dem er den Riegel an der Eingangstür befestigt hatte. Jetzt konnte er nur noch eins tun: warten. Warten auf Billy Mahoney. Nein, heute nacht würde er kein Auge schließen. Diesmal wollte er auf das Erscheinen dieses kleinen Ungeheuers vorbereitet sein, sofern es sich jetzt noch Zutritt zur Wohnung verschaffen konnte. Diesmal wollte er sich nicht überrumpeln lassen. Nelson lachte laut auf, ein irres, herausforderndes Lachen, das schaurig von den Wänden des kahlen, höhlenartigen Zimmers widerhallte. »Na los, Billy. Komm schon. Zeig mal, was du wirklich drauf hast.« Er klopfte mit dem Griff des schweren Schraubenziehers in monotonem Rhythmus auf den Boden. »Na los, komm! Traust dich nicht, was? Traust dich wohl nicht, du kleiner feiger Schweinehund!« Endlich schlief Rachel doch für ein paar Stunden ein. Aber es war kein tiefer, erholsamer Schlaf, sondern ein unruhiges Dahintreiben dicht unter der Oberfläche des Bewußtseins, und ihre Träume waren so intensiv, daß sie nicht wußte, ob sie wach war oder schlief. Plötzlich wurde sie von einem leisen Geräusch geweckt, und sie setzte sich ruckartig im Bett auf und sah David Labraccio, der ein Kopfkissen und zwei Decken aus dem Wandschrank ihres Schlafzimmer nahm, um sich damit ein Lager auf der Couch im Wohnzimmer zu bereiten. Draußen war es immer
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noch dunkel. Obwohl Rachel nicht die leiseste Ahnung hatte, wie spät es war, wußte sie, daß sie nicht sehr lange geschlafen haben konnte. »Wie geht es dir?« fragte David sanft. Rachel antwortete nicht. Ihr gingen ganz andere Gedanken durch den Kopf. Sie brauchte Antworten auf jene Fragen, die ihr Hirn marterten und die ihr irgendwann, da war sie sicher, den Verstand rauben würden. »Dinge aus unserer Vergangenheit... wollen sich rächen?« fragte sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd, erschien. David blickte sie an, und Mitleid lag in seinen Augen. Also wurde auch Rachel gejagt, gehetzt, verfolgt, gequält, wie er und Nelson und Joe. Ja, irgendeine Schuld aus der Vergangenheit war Fleisch und Blut geworden und konnte überall lauern, für den Rest ihres Lebens. »Ich weiß es nicht«, gab er offen zu. »Ich bin mir noch nicht sicher, wie diese... Transformation vonstatten gegangen ist und was für Auswirkungen sie genau haben. Aber wenn du... wenn du irgend etwas siehst... dann möchte ich, daß du mir sofort Bescheid sagst, okay?« Rachel nickte schweigend. »Was du auch siehst, sag's Onkel Doktor David, ja?« Er lächelte sie an, hoffte, daß sie den Wink verstanden hatte: Er würde ihr helfen, was auch geschehen sollte. Wieder nickte Rachel nur schwach und legte den Kopf zurück aufs Kissen. Sie war müde, sehr müde. Aber sie konnte die quälenden Gedanken nicht abschütteln; sie mußte wissen, was David und die anderen wußten — wie immer dieses Wissen auch aussah. »Sind es ... Menschen, denen wir irgendwie weh getan oder die wir ungerecht behandelt haben?« flüsterte sie. »Ist denn heute abend irgendwas passiert?« hakte David sofort nach. »Gibt es etwas, worüber du mit mir reden möchtest?« »Nein.« Er zögerte, wollte noch mehr sagen in der Hoffnung, daß sie sich ihm öffnen würde. Denn irgend etwas mußte geschehen sein. Rachel hatte offensichtlich das Bedürfnis zu reden. Was immer sie erlebt hatte, als sie klinisch tot gewesen war — es mußte grauenhaft gewesen sein. Jetzt hatte sie ihr Gesicht zwar
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von ihm abgewandt, aber vorher hatte er die Qual in ihren schönen dunklen Augen gesehen, und das machte ihm Sorgen. »Okay. Dann versuch wenigstens, dich etwas auszuruhen«, sagte er schließlich. »Ich bin drüben im Wohnzimmer, wenn du mich brauchst.« Er nahm das Kissen und die Decken und wandte sich zum Gehen, hielt aber an Rachels zweitem Schreibtisch inne, der hier im Schlafzimmer stand, und ließ den Blick über einige Buchtitel schweifen. Es waren ein paar Werke aus ihrer Thanatologie-Bibliothek, die auf einem kleinen Regal standen: Der sterbende Patient. Die Philosophie des Todes und des Sterbens. Vom Jenseits ins Diesseits. Weitere Titel zum gleichen Thema lagen auf der Schreibtischplatte neben einem Stapel handschriftlicher Aufzeichnungen und Notizbücher. »Darf ich mal 'nen Blick in diese Werke werfen?« fragte er. Wieder nickte Rachel stumm, und David klemmte sich einige der Bücher sowie ein paar von Rachels Notizbüchern unter den Arm und schlurfte hinüber ins Wohnzimmer. Dort erwarteten ihn bereits Joe und Randy mit sorgenvollen Gesichtern. »Wie geht's ihr?« fragte Randy, kaum daß David das Zimmer betreten hatte. David zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich glaube, sie verschweigt uns irgendwas... Unheimliches.« »Was denn zum Beispiel?« fragte Randy eifrig und wies mit dem Kopf aufs Schlafzimmer. »Läuft da drin irgend 'ne Spukshow?« Randys nur als Anspielung geäußerte Unterstellung, daß Rachel ihm, David, aber nicht den anderen Genaueres über ihr Sterbeerlebnis erzählt habe, was ja gar nicht der Fall war, brachte David augenblicklich in Wut. »Woher soll ich das wis sen, zum Teufel?« sagte er schroff. Steckle gab sofort klein bei, hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste. »Schon gut, Dave. Aber es ist doch wichtig, daß wir einander informieren, was Sache ist, stimmt's? Du kommst doch hier allein klar... ich meine, wenn's keinen Kummer mit Rachel gibt, wie du sagst?« David nickte schweigend. »Okay. Dann machen wir jetzt 'nen Abflug. Kommst du mit, Joe?«
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David schloß die Tür hinter den beiden Freunden und setzte sich auf die Couch, legte sich die Decke über die Beine und fing an zu lesen. Drüben im Schlafzimmer schloß Rachel Mannus die Augen und betete darum, endlich vergessen zu können. So sehr er auch darum kämpfte, er schaffte es nicht, wach zu bleiben. Immer wieder döste Nelson ein, sein Kinn sank langsam auf die Brust, doch dann schreckte er wieder auf; sein Kopf ruckte so heftig hoch, daß ihn der Nacken schmerzte. Aber schließlich überkam ihn der Schlaf, und der schwere Schraubenzieher fiel aus seiner schlaffen Hand. Er träumte. Zuerst war es ein wunderschöner Traum, der gleiche Traum, den er gehabt hatte, als er klinisch tot gewesen war. Er war wieder zurück an jenem Ort, rannte mit den Freunden über die von der Augustsonne beschienene Blumenwiese, und sie spielten wieder Verstecken. Sie suchten jemanden — wen? — und rannten auf die hohen, dunklen Bäume am Wiesenrand zu. Nelson hatte die Spitze, führte die anderen, und Champ sprang mit langen Sätzen und freudigem Gebell neben ihnen her. Es war ein heißer Tag mit stahlblauem Himmel. Ein wunderschöner Sommertag. »Eins, zwei, drei, es ist vorbei!« »Komm raus! Komm raus, wo immer du auch steckst!« Aber >Es< kam nicht. >Es< zeigte sich nicht. >Es< hatte Angst, aus seinem Versteck zu kommen. Die Jungen waren jetzt in das kleine, schattige Waldstück eingedrungen, sprangen über die großen, knorrigen Wurzeln hinweg, als sie >Es< suchten, aber nicht fanden. Doch Champ blieb schließlich unter einem der Bäume stehen, die Hinterläufe auf den Boden gestemmt, die Vorderpfoten an den Stamm einer hohen Eiche gestützt. Er hob den Kopf und bellte aufgeregt. Irgend etwas verbarg sich dort oben zwischen den Ästen und Zweigen, und Champ hatte es gewittert; vielleicht ein kleines Tier. »Champ?« rief Nelson. »Was hast du denn da gefunden, Junge?« Sie blickten nach oben, hinauf in die Krone des Baumes. Und dort oben saß ein kleiner Junge in einem roten Sweatshirt zusammengekauert auf einem der obersten Äste; er hatte den
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Körper fest gegen den Stamm gepreßt und blickte auf die anderen hinunter. Auf seinem kleinen Gesicht spiegelte sich Angst. »Es ist Billy! Billy Mahoney!« »Komm runter, Billy!« »Na los, komm runter, wir tun dir schon nichts!« Aber der kleine Junge drückte sich nur noch fester an den Stamm. Er wußte, er konnte denen da unten nicht trauen. Alles Lügner. Nein, er würde nicht herunterkommen. Champ bellte und bellte, und Nelson schaute sich um, ließ den Blick über den Waldboden schweifen, suchte einen Stein. Den richtigen Stein. Einen, der groß und schwer genug war. Er fand ihn. Und dann schloß sich seine Hand um den Stein... ... und seine Hand war leer. Nelson erwachte schlagartig aus seinem Traum und stellte fest, daß er auf dem Fußboden seines Wohnzimmers saß. Wo war der Schraubenzieher? Er hatte doch einen Schraubenzieher in der Hand geha... Sein Blick wanderte nach oben. Billy Mahoney stand vor ihm und hielt den Schraubenzieher verkehrt herum in der kleinen weißen Faust. Bevor Nelson einen klaren Gedanken fassen oder auch nur schreien konnte, hob der Junge den Schraubenzieher hoch und schmetterte Nelson den schweren Plastikgriff an die Schläfe. Rachel schlug die Augen auf. Die ersten bleichen Strahlen des Tageslichts fielen durch das Schlafzimmerfenster; es war noch sehr früh am Morgen. Sie mußte irgendwann eingeschlummert sein und hatte dann für ein paar Stunden traumlos geschlafen. Sie schob die Decken zurück und stellte überrascht fest, daß sie vollständig angezogen war. David mußte sie gestern abend so ins Bett gelegt haben. Sie stand mit schwachen, wackeligen Beinen auf. Jeder Muskel ihres Körpers schmerzte, und jene Stellen auf der Brust, an denen die Defibrillator-Elektroden ihre Ladung in Rachels Körper gejagt hatten, brannten wie Feuer. Steifbeinig ging sie ins Bad hinüber, wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne; dann nahm sie einen Umhang aus dem Wandschrank und streifte ihn über. Sie fühlte sich schrecklich müde und zerschlagen, aber es gab eine Sache, die sie auf der Stelle erledigen mußte. Eine lebenswichtige Sache.
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Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung im Schlafzimmer; Rachel hatte sie aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Sie holte scharf Atem, wirbelte herum. Nichts. Da war niemand. Aber Rachel wußte mit absoluter Sicherheit, daß jemand dort gewesen war, jemand, der sie beobachtet hatte, jemand, der irgend etwas von ihr wollte ... David saß noch immer auf der Couch und las. Er hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Als Rachel ins Wohnzimmer kam, legte er ihr Notizbuch zur Seite, in dem er gelesen hatte, und fragte: »Na, wie geht's?« Rachel erwiderte einsilbig: »Ich bin spät dran. Ich sehe dich nachher.« Sie wandte sich zur Tür. David streifte die Decken ab, die er sich über die Beine gelegt hatte, und erhob sich schwerfällig. »Wo willst du denn hin? Warte doch mal...« »Ich bin spät dran, Dave.« Sie ging, ohne stehenzubleiben, weiter, blickte sich nicht einmal zu ihm um. »Ich muß mit ihr reden. Ich hab' sie belogen!« Panische Angst klang plötzlich in ihrer Stimme mit. »Mit wem mußt du reden? Warte. . . » Aber da war Rachel schon zur Tür hinaus und eilte die Treppe hinunter. David rannte ihr hinterher, stellte dann aber fest, daß er barfuß war. Als er schließlich in seine Stiefel hineingeschlüpft war und seine Lederjacke vom Haken gerissen hatte, war Rachel schon längst draußen und eilte zur Bushaltestelle an der Straßenecke. Und als David zur Ausgangstür gelangte und auf die Straße stürmte, sah er nur noch, wie der Bus sich in den Verkehr einfädelte. Er lief los. »Rachel!« schrie er. »Rachel! Warte!« Aber der Lohn für seine Bemühungen war nur eine stinkende Wolke von Dieselabgasen, die der davonfahrende Bus ihm ins Gesicht blies. »Scheiße!« fluchte David. Kaum hatte sie das Krankenhaus betreten, rannte Rachel über die Flure jener Station, der sie zugeteilt war. »Guten Morgen, Rachel«, sagte die Krankenschwester und hob erstaunt die Brauen, als die junge Frau hastig an ihr vorbeieilte. Was war
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denn mit der los? In einem solchen Zustand hatte sie die Studentin noch nie gesehen. Nervös, fahrig, das Haar zerzaust, die Kleidung zerknittert; der Umhang wehte hinter ihr her wie bei einer Spukgestalt. »Morgen«, gab Rachel keuchend über die Schulter zurück. Die Krankenschwester schüttelte verständnislos den Kopf, als sie sah, wie Rachel hastig von Zimmer zu Zimmer eilte, von Bett zu Bett, bis sie schließlich an Mrs. Ashbys Krankenbett gelangte. Mrs. Ashby, ihre todgeweihte Krebspatientin. Ihre Freundin. Das Bett war leer und schon mit frischen weißen Laken überzogen und wartete. Wartete auf den nächsten Patienten. Einen lebenden Patienten. Rachel stand wie erstarrt da; ihre Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Ihr Gesicht zuckte, als sie auf das jetzt so trostlos leere Bett blickte, und sie stieß einen leisen Schrei aus. »Nein! Nein! Nein, nein, nein...« Edna kam ins Zimmer, trat neben Rachel und legte ihr mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Die Schwester sah, wie verzweifelt und niedergeschlagen die junge Frau war. »Ich ... wollte ihr doch noch sagen, daß ihre Stimmen gelogen haben«, schluchzte Rachel, der jetzt die Tränen über die Wangen liefen. »Es ist nicht wunderschön dort drüben. Nein. Es ist das... nackte Grauen!« Ihre Stimme klang gebrochen. Edna runzelte die Stirn. Was meinte Rachel damit? Dann aber sagte sie sanft: »Rachel, Sie müssen sich daran gewöhnen, daß wir Patienten wie Mrs. Ashby... verlieren. Es ist ein Teil unserer Arbeit, so schlimm sich das auch anhört.« »Aber ich habe sie belogen. Ich habe mich geirrt!« Von Weinkrämpfen geschüttelt, wandte Rachel sich von dem leeren Bett ab.
David Labraccio fuhr in die Gegend, in der er aufgewachsen und zur Schule gegangen war, zur Clairemont's S. B. Butler-Grundschule. Er parkte seinen Army -Kleinlaster eine Querstraße vom Schulhof entfernt. David wußte nicht recht, was er sich eigentlich von dieser Tour versprach, aber der Tag war so schön und sonnig, daß er eher in den Mai als in den November
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gepaßt hätte, und es würde ihm gut tun, eine Weile durch die altvertrauten Straßen zu schlendern. Doch seine Schritte führten ihn unbewußt direkt zur Schule. Auf dem Schulhof mit seinem rissigen Betonboden, den alten Schaukeln und den rostenden Kletterstangen tummelten sich spielende Kinder. Und noch bevor David das surrende, schwingende Springseil sah, hörte er die kleinen Mädchen rhythmisch in die Hände klatschen und einen alten Kinderreim singen... Die alte Hexe wohnt draußen im Wald, tief in den Bäumen, wo's dunkel und kalt, Kochen und Putzen, das ist ihr gleich, hat einen Penny und glaubt sie wär' reich ... Die Kinder trugen allesamt helle, luftige Sommerkleidung, Jeans und T-Shirts, Turnschuhe und Socken, Baumwollkleidchen. Es wurde David gar nicht so recht bewußt, wie seltsam dieses Bild sich für einen Novembertag ausnahm. Es sah alles so natürlich aus, so normal. Ja, Kinder brauchten solche sonnigen Tage, brauchten solche Ausgelassenheit, solches Lachen, solche Freude, fernab aller Sorgen der Erwachsenenwelt. David beobachtete die spielenden Kinder mit einem Anflug von Neid. Aber nicht alle Kinder waren sorglos und glücklich. Ein kleines Mädchen weinte. Ein kleines, farbiges Mädchen, nicht älter als zehn Jahre, mit zwei geflochtenen Pferdeschwänzen, an deren Enden Schleifchen gebunden waren. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie war umringt von anderen Kindern, die sie hänselten, beschimpften, sie dumm und häßlich nannten und sie mit dem Rücken an den Zaun drängten, so daß sie sich nicht bewegen, nicht weglaufen konnte. Schockartig erkannte David die kleine Winnie Hicks. Und sein Entsetzen wuchs, als er den Wortführer der gehässigen, boshaften Gruppe erkannte, die Winnie beschimpfte und beleidigte. Er selbst war es. Er, David Labraccio, im Alter von etwa zehn Jahren. Und plötzlich kam die Erinnerung wie ein Sturzbach über ihn. All die häßlichen Namen, mit denen er die kleine Winnie bedacht hatte, all die kindlichen Beleidigungen, die Winnie tief im Herzen getroffen haben mußten, und seine niederträchtige Freude über die Macht, dieses wehrlose kleine Mädchen zum Weinen zu bringen. Oh, er hatte vergessen, wie grausam Kinder sein können, vergessen, daß er selbst eins dieser grausamen
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Kinder gewesen war. Die Erinnerung erfüllte ihn so sehr mit Schuld- und Schamgefühlen, daß ihm die Knie weich wurden und er sich am Drahtzaun des Schulhofes festklammern mußte, um nicht zu Boden zu stürzen. Kaum hatten seine Finger das kalte Metall berührt, schloß David die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der Sommertag dem kalten, trüben November gewichen. Die Sonne schien nicht mehr vom stahlblauen Himmel. Und auch die Kinder waren plötzlich verschwunden; der Schulhof lag trist und verlassen und einsam da, die Schaukeln und Kletterstangen waren leer, das Lachen und der Gesang verstummt. Ein paar einsame Zeitungsseiten wurden vom kalten, scharfen Wind über den kahlen Betonboden geweht. David war allein, allein mit seiner Erinnerung und den Gefühlen der Schuld und der Scham, die ihn seit seinem Sterbeerlebnis verfolgt hatten. Und David Labraccio wußte jetzt, was er zu tun hatte. Joe Hurley schlug den Kragen seines Mantels hoch. Er hatte es eilig, von der Klinik nach Hause zu kommen. Zum einen, weil der klirrendkalte Wind die ersten Vorboten der Winterfröste mit sich trug, zum anderen, weil er das Bedürfnis verspürte, allein zu sein und nachzudenken. Er wurde von irgend etwas unsäglich Schrecklichem heimgesucht, und er brauchte seine Ruhe, um — vielleicht — herauszufinden, was zum Teufel es war, das ihn so unerbittlich verfolgte und peinigte. Er bog um eine Ecke, den Kopf zum Schutz gegen den schneidenden Wind tief zwischen die Schultern gezogen, und wäre fast mit dem bildschönen, braunhäutigen Mädchen zusammengeprallt, das an der Straße stand, die zu dem Haus führte, in dem sich Joes Apartment befand. »Du scheinst es ja ziemlich eilig zu haben«, sagte sie mit seidenweicher, verführerischer Stimme. »Allerdings.« Joe sah, daß dieses Mädchen eine Schönheit war, auf die er unter normalen Umständen voll abgefahren wäre. Aber nichts war mehr normal, alles geriet aus den Fugen. Nein, er wollte alleine sein, er wollte in seine Wohnung, er mußte nachdenken.
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»Kannst du dich nicht an mich erinnern, Joe?« Sie ging neben ihm her und blickte ihm lächelnd in die Augen. »Doch, natürlich«, log er. Er hatte sie nie zuvor gesehen. »Sag mal, bist du Fotomodell?« fragte die Brünette herausfordernd, mit leichter Ironie. »So, wie du aussiehst...« Die Worte kamen ihm irgendwie bekannt vor, und plötzlich fühlte er sich unbehaglich. »Hör mal, ich hab's eilig«, erwiderte er. »Ich nicht«, sagte sie lächelnd. »Ich habe auf dich gewartet. Darf ich dich zu 'nem Drink einladen?« Sie hatte auf ihn gewartet? Was sollte der Blödsinn? »Nein, danke«, sagte Joe. Sie hatten jetzt den Eingang seines Apartmentgebäudes erreicht. Er schloß auf, öffnete hastig, wollte das Mädchen loswerden. Sie war ihm unheimlich. Warum, zum Teufel, war sie so verdammt hartnäckig? Merkte sie denn nicht, daß er wirklich kein Interesse an ihr hatte. »Okay.« Sie zuckte die Achseln. »Ich rufe dich am Wochenende an. Ich such 'nen Studienpartner, weißt du.« »Aha. Ja, gut. Ich bin zu Hause«, sagte Joe schroff, schob sich an ihr vorbei ins Haus, schloß von innen ab und atmete auf. »Hallo, Süßer«, sagte eine Frauenstimme in seinem Rücken. Mit einem leisen Schrei fuhr Joe herum. Eine Rothaarige, klein und drall, stand vor ihm und lächelte zu ihm auf. »He, kenn' ich dich nicht?« fragte er das Mädchen. Die Rothaarige lächelte noch breiter. »Du kannst mich ja kennenlernen.« Ihre Stimme war rauchig, lockend. »Wir können ja in deine Wohnung. Ein bißchen reden, was trinken. Der Abend ist doch lang...« Joe Hurley erschrak bis ins Mark. Er erkannte plötzlich ihre Worte wieder, und jetzt erinnerte er sich auch an die Worte des Mädchens auf der Straße. Es waren seine Worte. So — und anders — hatte er die Mädchen anzumachen versucht. Seine alte Tour. Und jetzt versuchten sie es auf seine alte Tour bei ihm. Warum? Und wer waren die beiden? Was wollten sie von ihm, verdammt? Er wandte sich hastig von der Rothaarigen ab, rannte den Flur hinunter, bis vor die Tür zu seiner Wohnung, warf einen gehetzten Blick über die Schulter, um sicher zu gehen, daß das Mädchen ihm nicht folgte. Sie tat es nicht. Mit zitternden Fingern öffnete Joe, trat hastig ein, schlug die
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Tür hinter sich zu, schloß wieder ab und schob den Riegel vor. Er atmete auf. Er war zu Hause. In Sicherheit. Er knipste das Licht an. Niemand zu sehen. Natürlich nicht, wie auch? Er ging die Stufen zum Obergeschoß hinauf... ... und ihm wehte der Duft von Parfüm entgegen. Nein, der Duft verschiedener Parfumsorten. Der Duft von Weiblichkeit. Sein zitternder Finger legte sich auf den Lichtschalter, das Licht flammte auf und — Joe schrie gellend. Das Zimmer war voller Mädchen und junger Frauen. Hübsche junge Frauen, bezaubernd, sexy, verführerisch, sinnlich, lockend. Ihrer aller Augen waren auf ihn gerichtet; sie alle redeten auf ihn ein, aber es waren seine Worte, die sie gebrauchten. Er kannte diese Floskeln. Er hatte sie oft benutzt, zu oft. »Ich werde dich anrufen. Großes Ehrenwort.« »Nein, nein, es gibt niemand anderen in meinem Leben.« »So was wie dich hatte ich noch nie im Bett.« »Was für eine Frage! Natürlich liebe ich dich.« Lügen. Alles Lügen. Er war umgeben von Lügen, erstickte fast am verführerischen Duft seiner eigenen Lügen, der jetzt das Zimmer erfüllte. Die jungen Frauen bildeten einen Kreis, umringten ihn, kamen näher und näher; ihre gierigen Augen zogen ihn förmlich aus; Hände streckten sich vor, um ihn zu berühren... »Ihr seid nicht wirklich hier! Ihr seid Trugbilder!« brüllte Joe voller Panik, und als wäre dies das magische Losungswort gewesen, mit dem man den bösen Spuk bannen konnte, verwandelten sich die Frauen plötzlich in nebelhafte Gebilde, um dann ganz zu verschwinden. Aber der Duft eines ganz bestimmten Parfüms blieb zurück, und Joe Hurley kannte diesen Duft, kannte dieses Parfüm. Anne benutzte es oft. Sie saß still und reglos auf dem Sofa und blickte ihn an. Und sie war Realität. »Anne!« sagte Joe mit heiserer Stimme. »Bist du das? Bist du das... wirklich?« Joe trat auf sie zu, kniete an ihrer Seite nieder, und Tränen der Erleichterung liefen ihm über die Wangen. »Deine Stimme hat sich am Telefon so besorgt angehört, so ängstlich«, sagte seine Verlobte. »Ich habe mir Sorgen gemacht
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und bin mit dem Bus hierher zu dir gekommen. Ich mußte dich sehen.« Ihre Stimme war angespannt, kühl, distanziert. Es war nicht mehr Annes warme, liebevolle Stimme. Aber Joe war erleichtert, zu glücklich, um diesen Unterschied zu bemerken. »Was für eine schöne Überraschung, Anne. Mein Gott, bin ich froh, dich zu sehen!« Er beugte sich vor, um sie zu küssen, aber sie wandte den Kopf zur Seite. »Wie ... wie lange bist du schon hier?« fragte er verwirrt. »Lange genug, um mir deine Videobänder anzusehen.« Seine Videobänder! Joe sprang auf, blickte entsetzt zum Fernseher hinüber. Die Türen des Wandschranks, in dem er die Kassetten aufbewahrte, standen offen, und die Sex-Videos waren zu beiden Seiten der Fernsehtruhe aufgestapelt. »O Gott!« stieß er hervor. Anne hatte die verfluchten Kassetten entdeckt. Nichts auf der Welt hatte er so sehr gefürchtet. »Anne«, sagte er heiser, »das war doch alles... nichts. Ich liebe nur dich. Bitte . ..« Aber die junge Frau erhob sich, nahm ihre Handtasche und ging zur Treppe hinüber. Sie war nach außen hin kühl, aber ihre Stimme zitterte. »Weißt du«, sagte sie, den Tränen nahe, »das Schlimmste an dieser Sache ist, daß du jetzt wahrscheinlich glaubst, ich verlasse dich nur deshalb, weil du mit all diesen Mädchen geschlafen hast...« »Sie haben mir nichts bedeutet, Anne!« unterbrach Joe sie voller Verzweiflung und folgte ihr die Treppe hinunter. »Ich habe nichts für sie empfunden. Sie waren mir gleichgültig, Anne. Anne!« Sie durfte ihn nicht verlassen. Sie war die einzige, die er liebte, die er jemals lieben konnte. Und sie liebte ihn doch auch! Er konnte, durfte sie nicht verlieren. Und dann mußte er erkennen, daß er den letzten, alles entscheidenden Fehler gemacht hatte. Denn Anne wandte sich an der Ausgangstür noch einmal zu ihm um und ssgte: »Genau das ist es eben, Joe. Ich wünschte, sie hätten dir etwas bedeutet.« Ihre großen blauen Augen blickten ihn vorwurfsvoll an. »Denn wenn du wenigstens ehrlich zu ihnen gewesen wärst, ihnen ein wenig Gefühl entgegengebracht hättest, ein bißchen was für sie empfunden hättest... dann hätte ich vielleicht damit fertigwerden können, weil ich dich ... geliebt habe. Aber diese Mädchen heimlich zu filmen, ohne daß sie davon wußten, das ist
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so gemein, so entwürdigend, so dreckig... diese Mädchen haben dir vertraut, Joe, haben dich vielleicht sogar geliebt. Ich kann dich jetzt nicht mehr lieben. Wie könnte ich einen Mann lieben, der so egoistisch ist, so gefühllos? Wie stellst du dir eine Ehe ohne gegenseitiges Verstehen vor? Ohne Vertrauen? Nicht du tust mir leid, Joe. Diese Mädchen tun mir leid.« Sie streifte den Verlobungsring vom Finger und legte ihn in Joes kraftlose, zitternde Hand. »Nein, Anne! Bitte! Es ist nicht so, wie du denkst!« rief er flehend, bettelnd, verzweifelt. Ein letztes Mal hob Anne den Kopf und sah ihm direkt in die Augen, und Joe wand sich unter der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, die aus ihrem festen Blick sprach. »Doch, Joe. Es ist so, wie ich denke. Und du weißt es«, sagte sie leise, und dann trat sie hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Noch nie hatte Joe ein Geräusch gehört, das so sehr den Eindruck von Endgültigkeit vermittelte, wie dieses Einrasten des Türschlosses. Schluchzend senkte er den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Er hatte Anne verloren.
11 Unter dem Namen Hicks standen drei-, vierhundert Nummern im Telefonbuch. David wunderte sich, daß so viele Menschen in der Stadt und der weiteren Umgebung diesen Namen hatten. Egal, zum Teufel damit. Er mußte es herausfinden, und wenn er jeden einzelnen Teilnehmer anrufen mußte! Aber er hatte Glück. Schon beim sechzehnten Anruf landete er einen Zufalls treffer und erwischte die richtige Nummer. »Hallo, ist dort Mrs. Earl Hicks?« fragte er. »Mein Name ist David Labraccio. Ich weiß, es ist eine seltsame Frage, Mrs. Hicks, aber... äh ... haben Sie eine Tochter namens Winnie? Ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt? Oh, ja? Wissen Sie, ich bin mit Winnie zur Schule gegangen. S. B. Butler-Grundschule,
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genau. Sie erinnern...? Ja, meine Eltern wohnen immer noch in Clairemont... ja, danke, es geht ihnen gut. Nun, ich hätte Winnie nach so langer Zeit gern mal wieder getroffen, und da habe ich mich gefragt... Sie geben mir Ihre Anschrift? Großartig. O ja, danke, ich notiere.« Den Hörer zwischen Wange und Schulter gepreßt, zückte er Kugelschreiber und Zettel und schrieb mit. »Hm ... hm ... okay, ich hab's. Haben Sie herzlichen Dank, Mrs. Hicks. Das war wirklich nett von Ihnen. Wiederhören.« David legte auf, schnappte sich seine Lederjacke, schob den Zettel mit der kostbaren Anschrift Winnie Hicks'... nein, nicht Hicks, sie hieß jetzt Winnie Johnson ... in die Brusttasche und stürmte zur Wohnungstür. Verdammt. Nelson war so ungefähr der letzte, den er jetzt sehen wollte. Er hatte keine Zeit für ihn oder sonst jemanden. Aber als Nelson ins Licht der Lampe auf dem Treppenabsatz kam, hielt David vor Entsetzen den Atem an. Wieder hatte jemand Nelson fürchterlich verprügelt, noch schlimmer als zuvor. Sein Gesicht war eine einzige, blutende, geschundene, verquollene Fratze; sein Kopf von Beulen und Blutergüssen entstellt; sein Haar an einigen Stellen blutverklebt. Wer oder was, um alles in der Welt, war hinter ihm her? »Mein Gott!« stieß David hervor. »Komm rein. Ich werd' dich verarzten, so gut ich kann.« »Nein, ich wollte... wollte nur wissen, wie's Rachel geht«, quetschte Nelson unter heftigen Schmerzen zwischen seinen aufgeplatzten, blutenden Lippen hervor. David zuckte die Achseln. »Jedenfalls ist sie nicht, wie du gehofft hast, mit den Antworten auf die Fragen nach Leben und Tod aus dem Jenseits zurückgekommen«, sagte er mit leichtem Zynismus. »Tut mir leid, Nelson, ich muß jetzt los.« »Wo willst du hin?« fragte Nelson leise. »Nach Bensonville«, erwiderte David, verblüfft über die Frage. Nelson erkannte, daß der Freund es tatsächlich eilig und weder die Zeit noch die Ruhe hatte, sich um ihn zu kümmern. Trotzdem, er mußte die Frage stellen. »Nimmst du mich mit, Dave?« »Mann, das ist 'ne Zweistundenfahrt« erwiderte David. »Du solltest besser ins Krankenhaus und dich untersuchen lassen,
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Himmel noch mal.« David schob sich an ihm vorbei und stieg die Treppe hinunter. »Dave ... ich möchte ... jetzt lieber nicht alleine sein.« Die Worte waren so flehentlich, so verzweifelt, so voller Angst hervorgebracht, daß David innehielt, sich umwandte und seinen Freund betrachtete. In einem solchen Zustand hatte er Nelson noch nie gesehen — nicht nur, was seine schrecklichen Verletzungen und sein Äußeres, sondern auch seinen seelischen Zustand betraf. Nelson war immer kühl und beherrscht gewesen. Selbstsicher. Gepflegt und sauber. Jetzt war er nur noch ein geschundenes, zitterndes, schmutziges Häufchen Elend. Und er stank bestialisch. Der Sauberkeitsfanatiker Nelson Wright, der sonst so viel heißes Wasser wie ein Sechsfamilienhaus verbrauchte, stank nach geronnenem Blut, nach Schweiß, nach Dreck und noch etwas anderem. Und nach Angst, erbärmlicher Angst. Zum ersten Mal blickte David hinter die Schrammen, die Blutergüsse und Beulen, blickte bis auf die Narben und Wunden in Nelsons Seelenlandschaft. Und er erkannte, daß Nelson psychisch am Ende war, fix und fertig. Welches Ungeheuer auch immer ihn so zugerichtet hatte — es hatte sein Inneres weit schlimmer verletzt als sein Äußeres. Und David sah noch etwas. Nelson stand kurz vor dem körperlichen und geistigen Zusammenbruch, lief vielleicht sogar Gefahr, den Verstand zu verlieren. Seine Augen waren abgrundtiefe Seen stummer Qual; in seiner Stimme schwang namenloses Grauen mit. »Sicher, Nelson«, sagte David sanft. »Natürlich kannst du mitfahren, wenn du möchtest, alter Junge.« »Heute, meine Damen und Herren, werden wir zuerst die linke Niere entfernen und dann die unteren Darmbereiche sezieren«, sagte Dr. Zho fröhlich, als spräche er übers Wetter. »Ich möchte Sie bitten, den aufsteigenden Ast des Dickdarms vom Querdarm zu trennen. Anschließend sezieren Sie die Dickdarmkrümmung und entfernen den Blinddarm. Beim Entfernen des Appendix achten Sie bitte auf den Blutfluß. Sobald das geschehen ist, wenden wir uns der Harnblase zu ...« Rachel Mannus blickte auf den Seziertisch hinab, wo der ihr zugeteilte Leichnam lag. Der Kopf war mit einem dicken Ver-
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band umwickelt worden, um den Studenten den Anblick eines vom Tod verwüsteten Gesichts zu ersparen. Die Bauchdecke der Leiche war bereits geöffnet und gewährte den Blick auf die Windungen des Darms. Es sah genauso aus wie bei den Plastik-Anatomiemodellen, die man Schicht für Schicht, Stück für Stück auseinandernehmen konnte, bis nur noch das Skelett übrigblieb. Aber dies war kein Plastikmodell, sondern die sterblichen Überreste eines denkenden und fühlenden Menschen. Widerwillig und mit leichtem Schaudern nahm Rachel das Skalpell in die rechte Hand. Sie hatte sich die dünnen Chirurgiehandschuhe übergestreift, und das Skalpell fühlte sich seltsam fremd und unwirklich in ihren Fingern an. »Geht's dir nicht gut? Ist es wegen des... Experiments?« Joe Hurley kam mit besorgter Miene zu ihr und trat dicht an sie heran. Rachels Lippen zitterten leicht. »Ich würde mich besser fühlen, wenn mich nicht jeder immer wieder fragen würde, ob ich mich besser fühle«, erwiderte sie mit gedämpfter Stimme. Achselzuckend nahm Joe die Abfuhr hin und kehrte an seinen Seziertisch und zu dem Leichnam zurück, den man ihm zugeteilt hatte. Am benachbarten Seziertisch stand Randy Steckle. Er blickte Joe verständnislos an. »Bist du verrückt?« zischte er leise. »Ja«, seufzte Joe. Jedenfalls bin ich drauf und dran, verrückt zu werden, dachte er. »Was soll das heißen? Was ist denn mit dir los?« Joe warf einen raschen Blick zu Dr. Zho hinüber, der sich auf der gegenüberliegenden Seite des Anatomielabors angeregt mit einigen Studenten unterhielt. Dann berichtete Joe mit knappen Worten, daß seine Verlobte sich von ihm getrennt hatte, aber er brachte es nicht über sich, Randy den Grund dafür zu nennen. »Kopf hoch, Alter«, versuchte Randy ihn zu trösten. »Wenn du dich jetzt hängenläßt und wegen mangelhafter Leistungen 'nen Arschtritt kriegst, bringt dir das deine Anne auch nicht zurück. Komm, an die Arbeit.« Blöder Hund, dachte Joe, schwieg aber. Rachel beugte sich über den Leichnam und versuchte, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, die düsteren Schatten der
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Erinnerung zu vertreiben, die sich immer wieder in ihr Bewußtsein drängten. Aber ihre Hand zitterte so heftig, daß Rachel sie hastig zurückzog, bevor sie mit dem Skalpell zum ersten Schnitt ansetzen konnte und dabei möglicherweise einen Fehler machte. Mit ihrer hektischen Bewegung verschob sie das Laken über dem rechten Arm des Leichnams, und das weiße, tote Fleisch kam zum Vorschein. Es war der Arm eines Mannes, stark und muskulös. Und auf dem Arm befand sich eine blaue Tätowierung. Sie zeigte einen ausgebreiteten Fallschirm, das Abzeichen der Einhundertundersten Luftlandetruppe. Ihr Vater hatte genau dieselbe Tätowierung gehabt... Rachel erstarrte; vor nacktem Grauen stockte ihr der Atem, und ihr wurde so schwindelig, daß sie das Bewußtsein zu verlieren drohte. Und plötzlich wehte ein Wind, der aus dem Nichts zu kommen schien, durch das Anatomielabor, und ließ die Leichentücher flattern. Unter Rachels entsetzensstarrem Blick richtete der Oberkörper des Toten sich langsam auf, und auch der tätowierte Arm wurde plötzlich wieder von Leben erfüllt. Der Leichnam drehte die Hand so, daß die Handfläche nach oben wies; dann streckte er den Arm wie in Zeitlupe nach Rachel aus. Die weißen, mumienartigen Verbände, mit denen der Kopf des Toten umwickelt war, lösten sich, fielen herab und gaben den Blick auf das starre, wachsbleiche Gesicht eines Mannes frei. Der Mund war zu einem lautlosen Schrei geöffnet; die Augen waren leer und tot und ausdruckslos, und doch stierten sie Rachel durchdringend an. Sie kannte diese Augen. Sie kannte dieses Gesicht. Vor ihr lag ihr Vater. Mit einem gellenden, irren Schrei sprang Rachel zurück und prallte gegen den Tisch, auf dem ihre Instrumente lagen. Er stürzte mit lautem Klirren um. Und dann rannte sie los, rannte und schrie. Rannte um ihr Leben. »Mannus! Rachel Mannus!« rief Professor Zho mit einer Mischung aus Erstaunen und Zorn hinter ihr her, als Rachel aus dem Anatomielabor stürmte. Er erlebte es nicht zum ersten Mal, daß ein Student bei dieser Übung die Nerven verlor. Aber ausgerechnet Rachel Mannus?
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Joe und Randy rannten in Richtung Tür, aber der kleine asiatische Arzt versperrte ihnen den Weg. »Das werde ich selbst erledigen«, sagte er mit schroffer, autoritätsgewohnter Stimme. »Geht wieder an die Arbeit, oder ihr werdet die Konsequenzen tragen!« Joe überdachte die Situation innerhalb eines Sekundenbruchteils. Rachel war in der Anatomie beim Anblick einer Leiche durchgedreht? Niemals. Nein, jetzt wurde auch sie von irgendeinem Monstrum aus ihrer Vergangenheit gejagt, da war er sicher, und zum Teil trug er die Schuld daran. Seit langer, langer Zeit dachte Joe Hurley einmal nicht nur an sich selbst. »Ach, Scheiß drauf!« stieß er hervor, schubste den kleinen Arzt zur Seite und stürmte hinter Rachel her. Steckle schluckte nervös. Er hatte schreckliche Visionen, was Doktor Zhos angedrohte >Konsequenzen< betraf, sah sich schon als gescheiterten Medizinstudenten, dessen ärztliche Karriere zu Ende war, bevor sie überhaupt begonnen hatte, sah die entsetzten Gesichter seiner Eltern, kurz bevor sie gleichzeitig einen Nervenzusammenbruch erlitten. Aber Randy hatte Mumm, und niemand war über diese Entdeckung mehr erstaunt als Randy Steckle selbst. »Ganz meine Meinung! — Scheiß drauf«, sagte er und stürmte am Professor vorbei, der offenen Mundes dastand und die Welt nicht mehr verstand. Sie waren jetzt schon fast zwei Stunden unterwegs. David hielt die Augen konzentriert, ja mit fast grimmiger Entschlossenheit auf die Straße gerichtet, während neben ihm Nelson im Beifahrersitz immer wieder einnickte, um Augenblicke später aus seinem unruhigen Halbschlaf aufzuschrecken. Das Häusermeer der Riesenstadt war allmählich den Vororten gewichen; jetzt wichen die Vororte der ländlichen Gegend. Nach gut anderhalb Stunden waren David und Nelson in Bensonville, einer Kleinstadt mit etwa 3000 Einwohnern. Nun fuhren sie ins Hinterland von Bensonville: eine ruhige, idyllische Gegend mit tiefen dunklen Waldstücken. Die ganze Fahrt über hatte David wieder und wieder darüber nachgedacht, was er Winnie Hicks sagen sollte, ohne daß er zu einem Ergebnis kam. Wenn er ihr erst einmal gegenüberstand, so hoffte er, würde er schon die richtigen Worte finden. Hauptsache, er schaffte es irgendwie, die Geis ter der Vergangenheit zu
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vertreiben! David hatte versucht, Nelson zu erklären, was er mit diesem Besuch bezweckte, aber Nelson schmorte zu tief in seiner eigenen Hölle, einer sehr viel schlimmeren Hölle, als daß er David aufmerksam zugehört hätte. Nein, das waren zwei ganz verschiedene Fälle. Was immer David vorhatte, bei dieser Winnie Hicks mochte es ja helfen. Aber einen Billy Mahoney konnte man mit solchen Sperenzchen nicht aufhalten. »Hier muß es sein«, sagte David und hielt seinen alten Kleinlaster etwa zwanzig Meter vor einem frei stehenden, von ausgedehnten Waldflächen umgebenen Haus an. Es war ein sehr schönes, malerisches Gebäude. Das Haus, das aus den 30er Jahren zu stammen schien, erstrahlte in frischem Anstrich und besaß eine große Veranda mit schattenspendender Überdachung. Nelson rieb sich die Augen, raffte sich auf und blickte zum Haus hinüber. »Sieht so aus, als käme diese Winnie ganz gut zurecht«, bemerkte er. David stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. »Stimmt«, erwiderte er. »Was ist, wenn sie sich nicht mehr an dich erinnern kann?« fragte Nelson. Labraccio zuckte die Achseln. Der Gedanke war ihm auch schon gekommen. »Es ist einen Versuch wert«, antwortete er. »Kommst du mit?« Nelson schüttelte den Kopf, grinste verlegen und zeigte auf sein Gesicht. »Nee.« David lächelte mitleidig zurück, stieg aus, ging ein paar Schritte aufs Haus zu und — zögerte. Er war ehrlich besorgt um Nelson Wright. Der Freund war am Ende, erledigt, restlos fertig. Man konnte ja nie wissen, was ... Er ging zum Wagen zurück, beugte sich zum Fenster hinunter. »Hör mal, Nelson«, sagte er langsam und betonte jede einzelne Silbe. »Falls was passiert, falls du mich oder irgendwas brauchst, dann drück auf die Hupe. Alles klar?« »Alles klar.« Nelson winkte ihn fort. »Ab mit dir.« David wandte sich um und ging zum Haus hinüber, warf noch einmal einen raschen Blick über die Schulter auf den Freund. Momentan schien es Nelson den Umständen entsprechend gut zu gehen. Er hatte sich in den Beifahrersitz gelüm-
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melt, die Füße aufs Armaturenbrett gelegt und blickte David nach. Dieser war inzwischen die Treppe zur Veranda hinaufgestiegen, hatte die Haustür erreicht und drückte auf die Klingel. »Bing, bong. Bing, bong«, murmelte Nelson leise und mit schmerzverzerrtem Grinsen vor sich hin. »David, David. Du hättest ihr lieber 'nen Brief schreiben sollen.« Nichts tat sich. Die Tür blieb geschlossen. David Labraccio wartete eine halbe Minute, dann schellte er erneut und rief: »Hallo? Ist jemand zu Hause?« Die Antwort war Stille, bedrückende Stille. David wandte sich zum Gehen. Aber kaum hatte er die beiden ersten Stufen der Verandatreppe genommen, hörte er, wie jemand die Tür öffnete. Er wandte sich um, und augenblicklich stockte ihm der Atem. Die kleine Winnie Hicks, etwa zehn Jahre alt, stand schweigend im Türeingang und betrachtete ihn. David zog scharf den Atem ein. Nein, das war nicht Winnie, nicht die Winnie, aber ein kleines Mädchen, das ihr sehr, sehr ähnlich sah. Und sie war auch nicht zehn Jahre alt, wie er jetzt erkannte, sondern erst sechs oder sieben. Sie mußte Winnies Tochter sein, ein kleineres Ebenbild ihrer Mutter. »Hi«, sagte er lächelnd. »Ist deine Ma zu Hause?« Das Kind antwortete nicht, betrachtete ihn nur ernst und schweigend, doch hinter ihr rief plötzlich eine Frauenstimme: »Ich komme sofort!« Und Sekunden später erschien sie im Türeingang. Winnie Hicks. Sie war eine erwachsene junge Dame, nicht schön, aber recht hübsch. Sie trug ländliche Kleidung: Jeans, Gummistiefel und einen Pullover aus grober Wolle; sie hatte eine gute, wenn auch etwas füllige Figur, strahlende Augen und eine reine, hellbraune Haut. Ihr krauses Haar war kurz geschnitten; die niedlichen Zöpfchen aus der Kindheit, an die David in den letzten Tagen so oft hatte denken müssen, gab es nicht mehr. Als sie David Labraccio auf der Veranda stehen sah, glitt ein Hauch von Mißtrauen über ihr freundliches Gesicht, und sie schickte ihre kleine Tochter zurück in den sicheren Schutz des Hauses. Offensichtlich erkannte sie ihn nicht wieder, und ebenso offensichtlich traute sie ihm, dem fremden jungen Mann mit den langen Haaren und der schwarzen Lederjacke, nicht recht über den Weg. »Ja?« sagte sie. »Kann ich Ihnen helfen?«
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»Äh ... ja, ich glaube, das können Sie«, erwiderte David verlegen und ein wenig unbeholfen. »Sie sind Winnie Hicks, nicht wahr? Aus Clairemont?« Sie musterte ihn forschend, aber ihr Gesichtsausdruck blieb wachsam und mißtrauisch. »Ja«, sagte sie nur. »Ich bin David Labraccio. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. S. B. Butler-Grundschule.« »Ach, wirklich?« Winnie blieb weiterhin auf Distanz. Was immer dieser junge Bursche von ihr wollte — er kam wirklich verdammt langsam zur Sache. »Ja.« David lächelte schüchtern. »Bin gerade aus der Stadt gekommen. Die Rostmühle von Army -Lieferwägen da drüben gehört mir.« Winnie drehte den Kopf etwas zur Seite und blickte zum ramponierten alten Truck mit seinem zeltplanenbespannten Laderaum hinüber. Ein zweiter junger weißer Mann saß lässig auf dem Beifahrersitz; sein Gesicht sah aus, als hätte ein Schwergewichtler es als Punchingball benutzt. Er winkte herüber. »Hi«, sagte Nelson in der Einsamkeit des Fahrerhauses leise durch die zusammengepreßten Zähne. »Ich bin ein netter Kerl, und er ist ein netter Kerl. Wir beide haben nur einen kleinen Fehler. Wir sind geisteskrank. Wir haben 'ne Macke. Dürfen wir trotzdem reinkommen? Oh, vielen Dank auch, Ma'am.« Er sah, wie David Winnie Hicks ins Innere des Hauses folgte. »Wenn ich doch die ganze Scheiße dir überlassen könnte, Dave«, flüsterte er. »Du hast Mumm, alter Freund.« Er lümmelte sich wieder in den Vordersitz und döste ein. Im Innern des Hauses roch es streng nach frischer Farbe und Terpentin. David konnte jetzt sehen, daß die Renovierungsarbeiten noch in vollem Gange waren; hinter der Tür zum Eßzimmer stand eine mit Farbe bekleckerte Leiter; Tapetenrollen und Farbeimer warteten auf Maler und Tapezierer. Winnie führte David in die Küche, die sich als riesig, luftig, hell und sehr sauber erwies. Das Zimmer war bereits fertig renoviert, in einem anheimelnden rustikalen Stil, frische Krauter wuchsen in Töpfen, und alte kupferne Pfannen, Schöpflöffel und ähnliches hingen von einem Deckenbalken. An einer Wand stand eine hölzerne Sitzbank vor einem Tisch; Winnie Hicks' kleine Tochter hatte breits darauf Platz
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genommen, und David quetschte sich ein wenig verlegen neben sie, während Winnie sich ihnen gegenüber auf einen Stuhl setzte. Sie schwieg, beobachtete David aufmerksam und wartete offensichtlich darauf, daß er endlich auf den Grund seines Besuchs zu sprechen kam. »Na, wie heißt du denn?» fragte Dave das Mädchen. »Sherry«, piepste sie schüchtern. »Das ist aber ein schöner Name.« David lächelte. »Hast du denn noch Schwesterchen oder Brüderchen?« »O nein!« rief Winnie, und jetzt lächelte auch sie zum ersten Mal. »Sie hält mich schon mehr als genug auf Trab.« In diesem Moment kam ein gutaussehender, hochgewachsener farbiger Mann aus dem Eßzimmer in die Küche. Er wischte sich mit einem terpentingetränkten Lappen Farbspritrer von den Fingern. Als er David sah, grüßte er freundlich, aber seine Blicke ruhten auf Winnie, und in den Augen des Mannes lag eine stumme Frage. »Hi«, erwiderte David den Gruß. »Ben, das ist David«, stellte Winnie ihn vor. »Labraccio?« David nickte, und er sah, wie Winnie ihrem Mann mit Blicken zu verstehen gab, daß sie nicht wußte, was der junge Bursche eigentlich von ihr wollte. »Ich... äh, bin mit Winnie zur Schule gegangen«, wandte David sich an Ben und kam sich wie ein Idiot vor. »So?« sagte Ben. »Na, großartig. Möchten Sie ein Bier?« »Nein. Nein, danke. Normalerweise gern, aber...« »Draußen wartet ein Freund in seinem Wagen«, sagte Winnie an Davids Stelle. Die Situation war für sie offensichtlich recht heikel; sie hatte nicht die leiseste Ahnung, warum David gekommen war und was er von ihr wollte. Was konnte sie ihrem Mann da schon sagen? »Dann sind Sie sicher gekommen, um über die alten ruhmreichen Tage eurer gemeinsamen Schulzeit zu plaudern?« half Ben ihm auf die Sprünge. »Okay, dann will ich euch mal nicht länger stören. War nett, Sie kennenzulernen, David.« Und damit kehrte Ben zu seinen Farbtöpfen und Pinseln zurück. David und Winnie blickten sich unbehaglich an, und David bemerkte, daß seine eigene Verlegenheit sich auf Winnie übertrug. Verdammt, er sollte es jetzt besser wagen, was er Winnie
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zu sagen hatte, und wenn's auch noch so schwerfiel. Eine plötzliche frische Brise wehte trockenes Laub über den Boden und wirbelte es im Kreis herum. Dann wurde der Wind stärker, schüttelte die starken Äste der Pinien. Zum Rascheln des Laubes gesellte sich das leise Flüstern der Nadeln an den Zweigen. Nelson Wright döste noch immer vor sich hin, lag zusammengekuschelt wie ein kleines Kind auf dem Beifahrersitz des Wagens. Aber seine Träume waren nicht die süßen Träume eines Kindes. Es waren gräßliche Alpträume, und er stöhnte im Schlaf. Ein kleines Tier huschte draußen am Wagen vorüber, und das plötzliche Geräusch ließ Nelson aus dem unruhigen Schlaf schrecken. Der Wind rüttelte und zerrte jetzt an den Planen der Ladefläche des Trucks. Nelson hob den Kopf und blickte sich um; für einen Augenblick wußte er nicht, wo er sich befand; dann kehrte die Erinnerung zurück, und er entspannte sich, froh, dem Traum entronnen zu sein. Alles war in Ordnung. Er war hier draußen in der finstersten Provinz, in David Labraccios ausgemustertem Army -Truck. Dave mußte noch immer im Haus sein. Wieder flitzte das Tier am Wagen vorüber. Irgendwo raschelte es in den Ästen. War das Biest auf einen Baum geklettert? Eine Katze vielleicht? Ein Eichhörnchen? Und dann sah Nelson für einen winzigen Augenblick irgend etwas im Rückspiegel, es huschte gerade hinter den Wagen. Er sah etwas Rotes aufblitzen. Es war kein Tier. Es war ein kleiner Junge in einem roten Sweatshirt. Es war Billy Mahonay. Nelson Wright brüllte sein namenloses Entsetzen hinaus. Als sie im Gewächshaus waren, schien Winnie Hicks ein wenig zugänglicher zu werden. Ihre kleine Tochter an der Hand, und umgeben von ihren kostbaren Pflanzen, die in schmalen Töpfen heranwuchsen, schien sie sich in einen ganz anderen Menschen zu verwandeln, zutraulicher und selbstsicherer. Das große, beheizte Gewächshaus war für Winnie das Zentrum ihrer Existenz. Die Pflanzen waren ihre ganze Leidenschaft — im übrigen auch eine solide Einkommensquelle. Denn die
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Pflanzen, die sie hier heranzog, verkaufte sie später an einen Großhändler. Tief beeindruckt ließ David den Blick durch die ausgedehnte gläserne Halle schweifen. Reihe neben Reihe standen hier eingetopfte Pflanzen — Krauter, Blumen, Blattpflanzen —, allesamt gesund und kräftig. »Mensch, das ist ja toll, das ist wirklich großartig!« sagte David, ehrlich begeistert. »Du hast ganz schön was aus dir gemacht.« Winnie lächelte schüchtern, aber der Stolz in ihren Augen war unübersehbar. »Na ja, es ist zwar nicht die medizinische Hochschule, aber für mich reicht's. Mit dem ganzen theoretischen Kram konnte ich sowieso nie was anfangen. So ein Medizinstudium ist sicher sehr schwierig.« »Ach was, halb so wild. Das würdest du auch schaffen.« David meinte das ganz ernst, aber Winnie schüttelte nur den Kof. »Ich bin doch nie gern zur Schule gegangen. War ja auch keine große Leuchte. Ich wundere mich sowieso, daß du dich überhaupt an mich erinnerst.« Mit dieser letzten Bemerkung gab Winnie ihrem Gast genau den Einstieg, den er brauchte, um sich endlich aussprechen zu können, und dafür war David ihr im stillen dankbar. Er holte tief Luft; es fiel ihm sehr schwer, aber jetzt kam er ohne Umschweife zur Sache. »O doch, ich erinnere mich sehr gut an dich... und daran, wie ich dich damals behandelt habe.« Er konnte den Ausdruck plötzlichen Erstaunens in Winnies Augen erkennen; er sah, wie ihr Körper sich straffte. Sie trat einen Schritt zurück. »Ich. . . ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß es mir sehr, sehr leid tut. Ich möchte mich entschuldigen, Winnie.« David blickte die junge Frau ernst an; er wünschte sich sehnlichst, daß sie verstand, was er meinte — und daß sie ihm verzieh. Verlegen und durch Davids plötzliche Eröffnung ein wenig aus der Fassung gebracht, lachte Winnie kurz und humorlos auf. »Was redest du denn da? Das liegt doch alles schon so lange zurück. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht mehr, was du mir angetan haben könntest.« Sie lächelte. »So schlimm kann's jedenfalls nicht gewesen sein. Schließlich bin ich ja noch am
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Leben. Bitte, laß uns diese alten Geschichten nicht mehr ausgraben, was immer es gewesen sein mag.« Was immer es gewesen sein mag... Die kleine Sherry blickte mit großen, erstaunten Augen zu ihrer Mutter auf. Das kleine Mädchen spürte, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Die Mutter drückte plötzlich ganz fest ihre Hand. »Sherry, geh jetzt ins Haus zurück«, sagte Winnie streng. »Los. Na los!« Widerwillig stakste Sherry auf ihren kleinen Beinchen aus dem Gewächshaus. David war klar, daß er jetzt Farbe bekennen mußte, alles sagen. »Winnie ... ich weiß nicht, was du damals gefühlt hast, als ich dich beschimpft und beleidigt habe, und wie du dich gefühlt hast, aber... es war falsch. Es war ganz allein meine Schuld.« Winnie machte ein etwas betrübtes Gesicht, aber dann straffte sie die Schultern und blickte David fest in die Augen. »Ich habe jetzt eine Familie«, sagte sie stolz. »Auch wenn ich ein häßliches kleines Mädchen gewesen bin.« David fuhren Reue und Scham wie scharfe Messer in die Brust. »Du bist niemals häßlich gewesen«, sagte er. »Glaub mir. Bitte.« »Wir waren doch noch Kinder«, erwiderte Winnie ruhig. »Ich weiß, wie Kinder sein können. Was damals war, hat jetzt gar nichts zu bedeuten.« Aber David spürte, daß es für Winnie sehr wohl etwas bedeutet hatte, und daß der Stachel noch immer tief saß, so tief wie an jenem Tage, als es passiert war. Vor mehr als fünfzehn Jahren. Gehetzt, keuchend, in panischer Verzweiflung verschloß Nelson Wright blitzartig die Autotüren und kurbelte die Türfenster hoch. Im Moment konnte er Billy Mahoney nirgendwo entdecken, aber er wußte, daß der Junge dort draußen war, irgendwo, und nur auf seine Chance lauerte. »David! Hilf mir!« schrie Nelson, dessen Herz vor schierer Angst wie rasend schlug. Aber durch die verschlossenen Fensterscheiben drang seine Stimme nicht bis zum Haus. David
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konnte ihn nicht hören. Plötzlich erschien Winnies Mann Ben im Eingang des Gewächshauses. Die kleine Sherry stand hinter ihm und spähte auf David und ihre Mutter. »Winnie, mein Schatz, ist alles in Ordnung?« fragte Ben. Sie nickte. »Alles in Ordnung, Ben. Mir geht's gut.« Mit einem mißtrauischen Blick auf David nahm Ben das kleine Mädchen bei der Hand und ging mit ihr zum Haus hinüber. Ihm war nicht entgangen, daß Winnie geschwindelt hatte, daß irgendwas nicht in Ordnung war; sie hatte traurig, ja ein wenig verletzt ausgesehen. Aber was immer sich auch zwischen seiner Frau und dem langhaarigen, jungen weißen Mann abspielte — es ging ihn nichts an. Er vertraute Winnie. Wenn Winnie sagte, daß alles in Ordnung sei, dann konnte er sie beim Wort nehmen. David sah, daß Winnies Augen feucht wurden, daß ihr eine Träne über die Wange lief, und es schnitt ihm ins Herz. Er biß sich auf die Lippe. »Es tut mir leid, wenn du dich jetzt mies fühlst, weil ich in alten Wunden gerührt habe. Ich wollte dir nicht noch einmal weh tun. Nie wieder«, sagte er so leise, daß es kaum mehr als ein Flüstern war. Sie nickte nur; der Aufruhr von Gefühlen, der in ihrem Innern tobte, war so stark, daß sie kein Wort hervorbrachte. »Ich ... ich gehe dann jetzt wohl besser«, sagte David, und er wandte sich um, niedergeschlagen, besiegt, enttäuscht. Das ganze Unternehmen war ein einziger Fehlschlag. Er hatte die Fahrt umsonst gemacht. Er hatte bei Winnie nur alte Narben aufgerissen, und jetzt ging es ihr schlechter als je zuvor. Und das alles war seine gottverdammte Schuld. Die Fenster und Türen waren fest verriegelt. Billy Mahoney würde keine Möglichkeit haben, ins Auto einzudringen. Nein, keine... Plötzlich hörte Nelson ein gedämpftes Klatschen in seinem Rücken, und eine eisige Klaue legte sich auf seine Brust. Ganz langsam drehte er sich im Sitz um. Das Segeltuchverdeck des Laderaums von Daves Kleinlaster hatte sich gelöst, ganz
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hinten rechts, direkt über der Ladeklappe, und nun flatterte der Zipfel der Plane im rauhen Novemberwind. Mein Gott, jetzt war er nicht mehr sicher vor Billy Mahoney, der durch diese Lücke leicht in den Wagen kriechen könnte! Mit einem gellenden Aufschrei warf Nelson sich über den Beifahrersitz auf die Ladefläche, wühlte sich zwischen Davids Taschen, der Sportund Bergsteigerausrüstung hindurch, um die Lederriemen der Plane wieder festzuzurren. Hier hinten, im dunklen Laderaum, hielt sich niemand auf, und auch durch den Schlitz in der Plane war draußen nichts Verdächtiges zu sehen. Gott sei Dank. Mit klammen, tauben Fingern und vor Angst unbeholfenen Bewegungen, zog Nelson die Plane heran und schnallte sie, so fest er konnte, um das Stahlrohr. Und dann erklang hinter ihm ein leises Rascheln. Nelsons Kopf zuckte herum. Im Fahrerhaus des Kleinlasters war niemand anders als Billy Mahoney! Er kletterte gerade über den Vordersitz hinweg und kroch langsam auf Nelson zu. Und der Junge hielt Davids Eispickel in der Hand, ein verdammt gefährliches Ding, mit einer Hacke und einer Schneide dran, beide scharf und spitz genug, um damit Felsstücke loszusprengen, und erst recht scharf und spitz genug, um damit Fleisch in Stücke zu schneiden, Knochen zu zersplittern. Nelson kreischte wie irre, aber niemand konnte ihn hören. Niemand, nur Billy Mahoney. Und dann erinnerte Nelson sich schlagartig an Davids Worte: Wenn irgendwas passiert, wenn du mich brauchst, dann drück einfach auf die Hupe. Die Hupe, er hatte die Hupe vergessen, und jetzt war Billy Mahoney zwischen ihm und dem Fahrerhaus. Aber das spielte keine Rolle. Nein, das machte nichts. Er mußte an die Hupe herankommen. Er mußte. Verzweifelt, vom Grauen gepackt, versuchte Nelson auf die Beine zu kommen, sich mit einem mächtigen Satz an dem kleinen Jungen im roten Sweatshirt vorbeizuwerfen. Im gleichen Augenblick holte Billy Mahoney mit dem mörderischen Eispickel zum Schlag aus.
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»Danke, David.« David Labraccio wandte sich um. Winnie Hicks blickte ihn an, und endlich, endlich konnte er in ihrem Gesicht die Wahrheit erkennen. Sie hatte es nicht vergessen. Sie hatte es niemals vergessen. Der Schmerz hatte zu tief in ihrem Innern gewühlt — und zu lange. Sie hatte David auf Anhieb erkannt, in dem Moment, als er die Veranda ihres Hause betreten hatte. Ja, sie hatte ihn sofort erkannt, und im gleichen Augenblick war auch wieder die alte Angst in ihr aufgestiegen. Es spielte gar keine Rolle, wie viele Jahre alles schon zurücklag, es spielte keine Rolle, daß sie jetzt eine erwachsene Frau war, die Familie hatte, die geliebt wurde, die ein glückliches, erfülltes Leben führte. Tief in ihrem Innern hatte der Schmerz geschlummert. Unter all den alten Narben hatte immer noch die zehnjährige, unglückliche, tief verunsicherte Winnie Hicks gelebt, das wehrlose Ziel von Davids Beschimpfungen, Schmähungen, Beleidigungen. »Bist du... bist du sicher?« flüsterte David. Sie nickte, und in seiner Seele konnte David Labraccio sehen - wirklich und wahrhaftig —, wie Winnie Johnson die Hand öffnete und die zehnjährige Winnie Hicks losließ, sie fallen ließ, und wie das kleine Mädchen verschwand, für immer und ewig. Es war vorbei. Sie beide waren von dem Alptraum befreit. Was David Labraccio für sich selbst getan hatte, hatte er auch für Winnie getan. Sie blickten sich lange Zeit in die Augen, und ein Gefühl, das der Liebe ähnelte, ging von einem auf den anderen über, eine Liebe, geboren aus gegenseitigem Verstehen, aus Freiheit, Würde und Achtung. »Ich danke dir«, sagte David heiser und ging. Es war ein Kampf, der ganz anders war als die vorherigen. Es war keine Bestrafung mehr, es war ein erbittertes Ringen auf Leben und Tod, und Nelson Wright wußte es. Schon bei seinen vorausgegangenen Angriffen hatte Billy Mahoney ungeheure Körperkräfte entwickelt, aber diesmal schien seine Energie sich noch verzehnfacht zu haben. Er attackierte jetzt nicht mit einem mickrigen Hockeyschläger, der beim ersten wuchtigen Hieb zerbrach, oder dem Griff
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eines Schraubenziehers, den man mit Armen oder Fäusten abwehren konnte, sondern mit einer stählernen, mörderischen Waffe, die er mit tödlicher Präzision handhabte. Nelson kämpfte um sein Leben, versuchte verzweifelt, Billy Mahoney den Eispickel aus den kleinen Fäusten zu winden, aber Billy ließ nicht los. Denn er war stärker als Nelson Wright, viel stärker. Und noch etwas war diesmal anders, wie Nelson mehr unterbewußt registrierte. Die ersten beiden Angriffe hatte Billy in gespenstischer Lautlosigkeit geführt. Jetzt aber lachte er, und es war ein häßliches, boshaftes Lachen, nicht das Lachen eines Kindes, sondern ein Lachen scharf wie ein Skalpell, das in Nelsons Hirn schnitt; der Schmerz ließ ihn mit noch wilderer Verzweiflung kämpfen. Gott im Himmel, er mußte dafür sorgen, daß dieses gräßliche, irre Gelächter verstummte! Nelson wich den mörderischen Hieben mit knapper Not aus und schlang die Arme um seinen schmalen, drahtigen Gegner, der die Umklammerung aber mühelos sprengte. Jetzt hatte er Nelson auch schon fest im Griff, drückte ihn auf die Ladefläche, und wie in Zeitlupe näherte sich die scharfe Schneide des Eispickels Nelsons Gesicht. Aber noch schlimmer war, daß Billy Mahoney nur mit ihm spielte, wie Nelson jetzt feststellen mußte. Er spielte mit ihm wie die Katze mit der Maus, bevor sie die Krallen ins Fleisch des Opfers gräbt. Da er seinem Gegner haushoch überlegen war, konnte Billy sich den Augenblick aussuchen, wann er mit der scharfen Schneide des Pickels Nelsons Schädel spalten wollte. Und er zögerte diesen Moment hinaus, wollte erst seinen Spaß haben, wollte Nelson leiden sehen, seine Todesangst genießen, sich an seinem namenlosen Entsetzen weiden. Trotz dieser schrecklichen Erkenntnis kämpfte Nelson verbis sen um sein Leben. Er kämpfte vor allem deshalb weiter, um nicht länger dieses unerträgliche, teuflische Lachen hören zu müssen. Aber jetzt war die Schneide des Eispickels schon so nahe vor seinem Gesicht, daß er das Öl auf dem Metall riechen konnte, und seine Kräfte erlahmten mehr und mehr. David fühlte sich geläutert und glücklich, als er Winnies Haus verließ. Ja, er hatte das Richtige getan, dieser Ausflug hatte sich
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gelohnt, er wußte es jetzt. Eine innere Stimme sagte ihm, daß dies auch für Nelson und Joe eine Möglichkeit wäre, um die Horrorgestalten aus der Vergangenheit abzuschütteln. Nelson und Joe mußten zu ihrer Schuld stehen. Buße tun. Abbitte leisten. Bereuen. Bezahlen. Wenn er es geschafft hatte, konnten sie es auch. Und was Rachel betraf... nun, er wußte ja nicht, was für ein Dämon es war, der sie verfolgte, aber tief im Herzen spürte David, daß die Lektion, die er gelernt hatte, auch Rachel weiterhelfen konnte. Draußen war der Wind inzwischen stärker geworden, und allmählich senkte sich die Dunkelheit über das Land. David schauderte leicht, zog den Reißverschluß seiner Lederjacke zu und schlug den Kragen hoch. Es war bitterkalt geworden. David trottete langsam zu seinem Army -Truck hinüber. Seltsam. Nelson saß nicht mehr auf dem Beifahrersitz. Und der Wagen schaukelte leicht, als würde sich jemand auf der Ladefläche zu schaffen machen. David rannte los, rief dabei Nelsons Namen. Keine Antwort. Die Türen des Fahrerhauses waren verriegelt; die Fenster hochgekurbelt. Plötzlich konnte David Stöhnen, Keuchen, dumpfe Schläge hören. Sie kamen aus dem Laderaum! Was war da los, zum Teufel? Mit dem Ellbogen schlug David eine Seitenscheibe ein, löste die Verriegelung und riß die Tür auf. Aus der Dunkelheit des Laderaumes drang ein widerliches, knackendes Geräusch an seine Ohren, gefolgt von einem gedämpften Schmerzensschrei. David war mit einem Satz im Wagen und schwang sich über den Vordersitz. Und dann sah er... o Gott!... er sah... einen Kampf auf Leben und Tod. Nelson Wright wehrte sich mit erbitterter Verzweiflung. Und lachte ... ein schauerliches Lachen, wie David es noch nie vernommen hatte. Nelson wurde wie eine Strohpuppe hin und her geschleudert, von jemandem, der körperlich viel stärker war als er, erbarmungslos und brutal verprügelt... zu Tode geprügelt. Nur — da war niemand! Nelson Wright kämpfte mit einem unsichtbaren Gegner. Er hielt den Eispickel in den verkrampften Fäusten und versuchte... versuchte, sich selbst mit der scharfen Schneide die Schädeldecke zu zerschmettern! Nelson war allein, ganz allein, aber er kämpfte, als wären sämtliche
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Dämonen der Hölle seine Gegner. Er kämpfte... gegen sich selbst. Und in diesen furchtbaren Sekunden, in denen David durch den Schock wie gelähmt war, erkannte er, daß Nelson sich schon vorher all die furchtbaren Verletzungen im Gesicht selbst zugefügt haben mußte. Nur seine Wahnvorstellungen waren für die Wunden verantwortlich, nur Nelson — und das Schreckgespenst aus seiner Vergangenheit. »Nelson!« schrie David. »Nelson! Hör auf!« Er versuchte, Nelson den Eispickel zu entreißen, aber der Freund entwickelte unglaubliche Kräfte; er hielt den Pickel mit übermenschlicher Anstrengung umklammert, versuchte weiter, sich die Schneide durch die Schädeldecke in das Hirn zu jagen und sich so auf diese Weise selbst zu töten. »Nelson!« brüllte David und zerrte verzweifelt am Schaft des Pickels. Und dann, schlagartig, kehrte Nelson in die Wirklichkeit zurück. Er starrte aus blutunterlaufenen, flackernden Augen zu David hoch. »Wo ist. . . wo ist. . . Billy Mahoney?« stieß er keuchend hervor. »Hier sind nur wir beide, Nelson, nur wir beide!« rief David. »Laß los! Laß endlich los!« Das irre Leuchten in Nelsons Augen erlosch allmählich; sein Blick wurde klarer, und der Griff um den Eispickel lockerte sich. David riß ihm den Schaft aus den Fäusten, schleuderte den Pickel zur Seite. Nelson schien allmählich zu begreifen, daß Billy Mahoney nicht hier war, daß der zehnjährige Billy Mahoney nie bei ihm gewesen war, ihn nie verprügelt hatte — nicht hier im Wagen, nicht in dem abbruchreifen düsteren Haus, nicht in Nelsons Wohnung. Er erkannte, daß er sich die schmerzhaften Wunden im Gesicht und am Körper selbst zugefügt hatte. Und zum ersten Mal ahnte Nelson Wright die Abgründe des Wahnsinns, in die er eingetaucht war, und die zerstörerische Kraft des Grauens, das so tief in seiner Seele nistete. »O mein Gott!« stöhnte er und klammerte sich, weinend und zitternd, wie ein Ertrinkender an Dave.
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12 Während der gut zweistündigen Rückfahrt in die Stadt redete Nelson kaum ein Wort. Kein Wunder. Er war schlimmer zugerichtet als je zuvor, an Leib und Seele, er war erschüttert und wie benommen; David hatte die Befürchtung, daß sein Freund einen so schweren Schock erlitten hatte, daß er sich nie wieder davon erholte — falls es ihm überhaupt je gelang, dieses Ungeheuer aus der Vergangenheit loszuwerden. David wandte sich im Sitz um, nahm eine alte Army -Wolldecke von der Ladefläche und legte sie über Nelsons ausgemergelten, zitternden Körper; dann wickelte er einen behelfsmäßigen Verband um seine blutende Stirn. Als sie die Außenbezirke der Stadt erreichten, schien Nelson sich wieder ein wenig gefangen zu haben; jedenfalls versuchte er, sich zusammenzureißen. Und dann berichtete David ihm von Winnie Hicks, darüber, was vor all den Jahren zwischen ihnen vorgefallen war und wie sie das Problem schließlich gemeinsam gelöst hatten. Nelson hörte aufmerksam zu, schüttelte dann aber müde den Kopf. Gott segne David Labraccio. Für ihn war alles so einfach, so verdammt klar und deutlich, so festgelegt. Als ob das alles nach Plan ablaufen könnte! Du mußt nur vernunftbestimmt handeln, mußt dich entschuldigen, mußt bereuen, was du getan hast, und dir wird alles vergeben, und der größte Haufen Scheiße verwandelt sich in Erdbeeren mit Schlagsahne, in Ewigkeit, amen. Vernunftbestimmt handeln! Was für ein toller Ratschlag. Es war einfach zum Lachen. Oder zum Kotzen. David wußte, daß er Nelson in dieser Nacht unmöglich allein lassen konnte, und beschloß, ihn mit in seine Wohnung zu nehmen. Aber als er den Wagen vor dem Apartmenthaus hielt, erwartete ihn eine weitere Überraschung, denn plötzlich stürmten Joe Hurley und Randy Steckle mit allen Anzeichen von Wut und Empörung die Eingangstreppe hinunter, wo sie offenbar auf ihn gewartet hatten. David sah Rachel zusammengekauert im Schatten der Eingangstür hocken; sie hatte sich tief in ihren Mantel gehüllt und den Kragen hochgeschlagen. Ihr Gesicht war sehr blaß, und ihre Augen waren blutunterlaufen
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und schmerzerfüllt. »Wo, zum Teufel, seid ihr Kerle gewesen?« fragte Joe mit schneidender Stimme, als David und Nelson aus dem Fahrerhaus stiegen. »Rachel ist in der Anatomie ausgeflippt. Sie ist völlig am Ende. Wir passen schon den ganzen Tag auf sie auf, verdammt noch mal.« David ging wortlos an Joe vorbei und trat auf Rachel zu. »Was ist denn geschehen! Wie geht's dir denn jetzt?« fragte er besorgt. »Oh, gut. So gut, wie es jemandem gehen kann, der laufend seinem Vater begegnet, der seit mehr als zwanzig Jahren tot ist!« Rachel stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus, aus dem schwarze Verzweiflung sprach. >»Der Tod ist schön<«, zitierte sie sarkastisch. »Was für ein Schwachsinn! Und wie geht's dir so, Nelson? Fühlst du dich gut? Weil ich mich nämlich bei dir bedanken möchte. Herzlichen Dank für die Alpträume!« Nelson starrte erst Rachel zornig an, dann die anderen. »Ihr alle konntet es doch gar nicht abwarten, auf meinen Zug aufzuspringen. Ihr habt wie die Irren um Minuten und Sekunden gepokert«, erwiderte er mit beißendem Spott. »Also, willkommen an Bord, und weiterhin gute Fahrt.« »Du hast uns Informationen vorenthalten! Das ist genauso mies und dreckig wie eine Lüge!« rief Rachel wutentbrannt. »Tut mir aufrichtig leid, euch alle so vergrellt zu haben«, erwiderte Nelson spöttisch. Joe Hurley fragte zornig: »Glaubst du etwa, du bist der einzige, der etwas riskiert hat? Und der jetzt auch noch dafür büßen mu ß?« »Ich hatte schon von Anfang an den Verdacht, daß an dem ganzen gottverdammten Experiment irgendwas ... Widernatürliches dran ist«, bemerkte Randy Steckle. Joe Hurley fuhr vom Zorn gepackt zu seinem alten Freund herum. »Halt du dich doch raus, du dämlicher Hund! Du hast doch gar nichts riskiert!« brüllte er. Für einen Augenblick glaubten die anderen, daß er sich auf Randy stürzen und ihn verprügeln würde. Diesen Eindruck hatte offenbar auch Randy, denn er trat schnell zwei, drei Schritte zurück und rief aus sicherer Entfernung: »Leck mich doch am Arsch!« Und nun fingen die gegenseitigen Beschimpfungen und Belei-
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digungen erst richtig an. Jeder versuchte lautstark, dem anderen die Schuld zuzuweisen, und um ein Haar wäre eine Schlägerei zwischen Nelson und Joe entbrannt, wäre David Labraccio nicht dazwischengetreten. Er versuchte, Frieden zu stiften, zu beschwichtigen. »Hört auf! Ruhig, Leute. Das hilft uns doch nichts!« rief er. »Wir alle sind schuld, aber...« »Nein, das stimmt nicht«, sagte Rachel kategorisch in die plötzlich entstandene Stille; dann wandte sie sich zum Gehen. »Ist sie nicht schön? Und so stark, so selbstbewußt, so unabhängig«, rief Nelson ihr höhnisch hinterher. Sie wandte sich um und starrte ihn an, und in ihren Augen flammten Zorn und Verzweiflung. »Wenn ich Ärger bekomme oder Probleme habe, ziehe ich die anderen jedenfalls nicht mit in den Dreck«, sagte sie. Nelsons Augen verengten sich. Voller Haß stieß er hervor: »Ach, ja? Was ist dir denn schon groß passiert, he? Der liebe Daddy ist dir über den Weg gelaufen? Toll!« Er drehte sich zu Joe um. »Und bei dir? Bei dir sind's Videopornos, die dir jetzt schlaflose Nächte bereiten. Ist ja furchtbar!« Er fuhr zu David herum. »Und du wirst von einem zehnjährigen Mädchen verfolgt, das du auf dem Spielplatz beschimpft hast. Mann, das ist ja wirklich schockierend! Und du«, fuhr er Rachel an, »grüß Daddy von mir. Mein Gott, seid ihr Arschlöcher! Aber okay, ihr habt mein tiefstes Mitgefühl. Es tut mir fuuurchtbar leid.« Sein Hohn und Spott schmerzten Rachel, und sie wandte sich um, kam zurück und trat dicht vor Nelson hin. »Du weißt überhaupt nichts über mich, Nelson. Du hast nie etwas über mich gewußt«, sagte sie leise. »Ich nicht, stimmt. Aber David, nicht wahr? David versteht dich!« sagte er gehässig. »Ein paar geile Weiber, ein kleines Mädchen, dein toter Vater — das sind eure Sünden aus der Vergangenheit. Ihr müßt damit leben, wie ich mit meiner Sünde.. . meinem Ungeheuer leben muß!« Er packte die Aufschläge ihres Mantels, zog sich nahe an sie heran, daß ihr schönes, ernstes Gesicht fast seine entstellte, zerschundene Fratze berührte. »Du willst den Tod sehen?« flüsterte er heiser. »Dann schau mich an. Sieh genau hin! Er ist wunderschön, nicht wahr?« Rachel erschauderte bei dem Anblick seiner Wunden, seines
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blutigen, verquollenen Gesichts, aber noch größeres Entsetzen jagte ihr die Flamme des Wahnsinns ein, die in Nelsons grünen Augen loderte. David trat zwischen die beiden und stieß Nelson grob zur Seite. »Laß sie in Ruhe!« sagte er scharf. »Du hast dir selbst schon Schmerzen genug zugefügt. Was willst du denn noch? Willst du jetzt auch noch ihr weh tun? Sie hat schon Kummer genug!« Rachel wandte sich schockiert und angewidert von Nelson ab und ging mit schnellen Schritten los. David eilte hinter ihr her, rief Joe aber noch über die Schulter zu: »Hilf Nelson, Billy Mahoney zu finden.« »Was? Wen? He, und warum ich?« stieß Joe hervor. »Ich muß mich um mein Studium kümmern.« »Verdammt noch mal, Joe! Laß ihn jetzt nicht allein. Hilf ihm, Billy Mahoney zu finden!« Und dann rannte er los, um zu Rachel auf zuschließen. Joe wandte sich resigniert zu Nelson um. »Warum müssen wir diesen Billy Mahoney finden?« Nelson zuckte die Achseln. »Weil Doktor Labraccio der Meinung ist, unsere schicksalsschweren psychischen Probleme gelöst zu haben«, sagte er verächtlich. »Tuet Buße, Gentlemen, Tuet Buße.« Rachel ging so schnell, daß David in Laufschritt verfallen mußte, um sie einzuholen. »Warte, Rachel!« rief er. »Warte doch mal! Warum hast du es immer so verdammt eilig, zum Teufel? Warum läufst du immer davon? Willst du nicht endlich mit mir reden?« Sie hielt zögernd inne. David hatte recht. Ja, sie lief immer davon, vor ihm, vor den anderen, vor jedem Menschen. Dabei war sie so verzweifelt, so verängstigt, so einsam. Wenn sie jemals einen Freund gebraucht hatte, jemanden, dem sie sich anvertrauen, mit dem sie reden konnte, dann jetzt. Sie wandte sich um, und ihre Blicke trafen sich, und sie sah die Hilfsbereitschaft, die Aufrichtigkeit, die Entschlossenheit und so tiefes Wissen in Davids Augen, daß sie nur noch nicken konnte. Hätte sie jetzt versucht, irgend etwas zu sagen, sie wäre unweigerlich in Tränen ausgebrochen, und das wollte sie nicht. Nicht
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vor David. Sie willigte ein, als er ihr den Vorschlag machte, mit in seine Wohnung zu kommen, um sich über ihre Probleme zu unterhalten, und als sie das Wohnzimmer betraten, fiel Rachels Blick auf das Poster, das die erhabene Himalaja-Landschaft zeigte. Sie wußte, daß auch dieses Poster einen Traum versinnbildlichte — Davids kostbaren Traum, irgendwann einen dieser Riesen zu besteigen. Träume, ja. Wie schön konnten sie sein — und wie grauenhaft. Sie setzten sich aufs Sofa und redeten, und Rachel, die mit ihren Gefühlen kämpfte, die sich verzweifelt darum mühte, Haltung zu bewahren, sich unter Kontrolle zu halten, nicht in Tränen auszubrechen, erzählte David endlich jene Dinge, von denen sie geglaubt hatte, sie niemals irgend jemandem anvertrauen zu können — auch das verborgendste und schmerzlichste Geheimnis, das sie so viele Jahre tief in ihrem Innern verschlossen hatte. »Mein Vater... hat sich erschossen, als ich fünf Jahre alt war«, sagte sie, sichtlich um Fassung bemüht. David wurde sofort klar, daß der Selbstmord eines Elternteils Rachels Persönlichkeit wesentlich mitgeprägt hatte und vieles erklärte — ihren Ernst, ihre Schüchternheit, ihre innere Zurückgezogenheit — und ihre Besessenheit, sich mit den Fragen nach Leben und Tod auseinanderzusetzen. »Und du fühlst dich dafür verantwortlich?« fragte er leise. Jetzt füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber sie weinte nicht, noch nicht, sondern fuhr mit erstickter Stimme fort: »Da war diese Tür zum Bad, im ersten Stock, und ich hätte... irgendwie ... nicht ins Bad gehen sollen, glaube ich ...« Sie stockte. Sie konnte nicht mehr weiterreden. »Hör mal, Rachel«, sagte David sanft aber bestimmt. »Kinder neigen dazu, sich für alles mögliche verantwortlich zu fühlen. Dich trifft doch überhaupt keine Schuld.« Sie nickte; verstandesmäßig wußte sie, daß seine Worte der Wahrheit entsprachen. Ein fünfjähriges Kind, das nichts weiter tut, als überraschend eine Tür zu öffnen, kann wohl kaum die Ursache dafür sein, daß ein erwachsener Mann daraufhin aus dem Zimmer stürmt und Selbstmord begeht. Aber Gefühle und Verstand sind nun einmal zwei verschiedene Reiche; die
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Gefühle lassen sich nicht von der Vernunft steuern. Rachel wußte, was sie wußte, und außerdem — ihr Vater war zurückgekehrt, leibhaftig, ja; er war aus dem Grab gestiegen, und jetzt jagte er sie, streckte die Hände nach ihr aus, um sie zu packen und sie mit sich zu zerren, zurück in sein Grab ... »Aber du hast es doch selbst gesagt, David!« rief sie plötzlich voller Qual und Todesangst. »Menschen, denen wir Böses angetan haben, wollen sich rächen!« David trat an sie heran, setzte sich neben sie aufs Sofa und nahm ihre Hand. »Ich weiß nicht, ob das, was ich dir jetzt erzählen werde, dir irgendwie helfen kann«, begann er zögernd und suchte ihren Blick. »Daß ich heute Winnie Hicks besucht habe ... ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll... aber als ich sie gebeten habe, mir zu verzeihen, da ist irgendwie...« »Winnie Hicks lebt?« David konnte ihren plötzlichen Widerstand spüren. Wie Nelson, glaubte auch Rachel nicht, daß man ihr Problem mit dem Davids vergleichen konnte. Es war etwas ganz anderes, einem lebenden Menschen Auge in Auge gegenüberzutreten als einer... gräßlichen Gestalt, die einem aus dem Jenseits nachgefolgt ist, einem Fleisch gewordenen Alptraum, einem Monstrum. David packte sie bei den Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu blicken, ihm zuzuhören. »Rachel, dein Vater ist jetzt an einem ... friedlichen, freundlichen Ort. Und er möchte, daß du ihm verzeihst und ihn gehen läßt!« Mein Gott! schoß es Rachel durch den Kopf. Konnte David recht haben? Konnte das die Wahrheit sein? Wenn sie es nur glauben könnte. Wie gerne hätte sie es geglaubt... Und dann, endlich, brachen die Dämme. Rachel schluchzte; Tränen liefen ihr über die Wangen. David umarmte sie, drückte sie sanft an sich, versuchte, ihr Trost zu spenden, Wärme zu geben. Und Rachel weinte. Weinte all die Tränen, die längst hätten vergossen sein müssen, weinte um ihren Vater, um Mrs. Ashby, um Nelson Wright, während David sie umarmt hielt, ihr übers Haar strich. Und sie küßten sich, und Davids Lippen waren warm auf den ihren, erst zärtlich und liebevoll, dann leidenschaftlich und fordernd, als sie seinen Kuß erwiderte. Sie brauchte David, ja, das erkannte sie jetzt, und diese Erkenntnis
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erfüllte sie mit Wärme, Glück, Liebe. Denn auch er brauchte sie; Rachel spürte es, hatte es schon lange gespürt, hatte sich aber vor dem Leben verschlossen, hatte sich ihrem Schmerz hingegeben, ihren Erinnerungen, ihren Schuldgefühlen. Als er sie tiefer in die Arme schloß, ließ sie es geschehen, willig und freudig; denn endlich, endlich hatte sie erkannt, daß das Leben den Lebenden gehörte, und daß selbst der Tod, dieser unbesiegbare Gegner, daran nichts zu ändern vermochte. »Hier«, sagte Nelson mit irrem Grinsen, und Joe brachte seinen alten schwarzen Mustang zum Stehen. »Wo sind wir, zum Teufel?« wollte Joe Hurley wissen. Nelson hatte ihn und Randy zum Arsch der Welt dirigiert, wie es den Anschein hatte. Nur ein paar vereinzelte Häuser und triste, leere Hinterhöfe waren zu sehen. Sie befanden sich etwa zwanzig Kilometer von der Stadtmitte entfernt. »Hältst du es nicht für besser, wir bringen dich ins Krankenhaus und lassen deine Frankenstein-Visage verarzten, Nelson?« fragte Randy Steckle mit mühsam unterdrückter Furcht. Es war gespenstisch hier. Draußen war es so dunkel, daß man kaum die Hand vor Augen sehen konnte, und Randy gefiel es ganz und gar nicht, mit dem durchgedrehten Nelson Wright, der jetzt offensichtlich völlig ausgeflippt war, durch die Gegend zu kutschieren. Plötzlich schoß Nelsons Rechte vor; er riß die Schlüssel aus der Zündung. Bevor Joe auch nur protestieren konnte, hatte Nelson die Beifahrertür aufgestoßen und rannte hinaus in die Dunkelheit. Randy und Joe stürmten hinter ihm her, riefen seinen Namen, aber Nelson blieb nicht stehen, warf keinen Blick zurück. Er bewegte sich schnell und sicher über das Gelände. Kein Wunder, hier war er aufgewachsen. Nelson überquerte finstere Hinterhöfe, rannte durch menschenleere, stille Gassen. Joe und Randy konnten ihn nicht stoppen, sie hatten Mühe genug, mit Nelson Schritt zu halten und ihn nicht aus den Augen zu verlieren. »Na los!« rief Nelson lachend. »Das ist 'ne Abkürzung ... bin selbst überrascht, daß ich mich so gut an das alles hier erinnern kann.. .« Er duckte sich, kroch durch ein gezacktes Loch in
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einer Ziegelmauer. »Ach du dickes Ei. Hat sich wirklich ganz schön verändert.« Er rannte jetzt eine Gasse hinunter, bog um die Ecke und verschwand aus Joes und Randys Sichtfeld. »Gib mir die Schlüssel, Nelson!« brüllte Joe in die kalte Nachtluft. Sein Ruf wurde von Hundegebell beantwortet. Die Köter schienen plötzlich auf allen Hinterhöfen gleichzeitig zum Leben zu erwachen; in einigen Gebäuden flammte Licht auf. Bald würde das ganze gottverdammte Viertel hinter ihnen her sein. Vielleicht sogar alte Knacker mit Schrotflinten. Nelson war wirklich verrückt geworden, wirklich und wahrhaftig, und außerdem ging Randy jetzt schon die Puste aus, diesem Schlappschwanz. Er keuchte, schwitzte und fragte sich immer wieder jammernd, wie sie zum Wagen zurückfinden und das Scheißding in Gang kriegen sollten, um schleunigst von hier zu verschwinden. Joe fluchte leise vor sich hin. Urplötzlich schoß hinter einem Zaun Nelsons Kopf in die Höhe, wie eine gräßliche, blutige, aufgedunsene Halloween-Fratze. Er grinste. Und seltsam... trotz seines fürchterlichen Äußeren schien er plötzlich wieder ein kleiner Junge zu sein, so als hätte er sich auf gespenstische Weise blitzartig in sein Kindesalter zurückentwickelt. »Pssst«, sagte er leise. »Weckt Mr. Shapiro nicht auf. Der ist böööse.« Er wandte sich wieder um und rannte weiter, gefolgt von den beiden Freunden. Es war wie... Fangen- oder Versteckspielen, als die drei wieder über die dunklen, fremden Hinterhöfe rannten, Nelson voran. Bettlaken und Kleidungsstücke hingen von Wäscheleinen und bewegten sich geisterhaft im Nachtwind, wie Leichentücher. Joe und Randy bahnten sich schaudernd einen Weg hindurch, während Nelson mit traumwandlerischer Sicherheit einem ganz bestimmten Ziel zuzustreben schien. Es war schauerlich. »... fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben. . . » hörten sie Nelson mit der Stimme eines kleinen Jungen singen — und das war noch viel schrecklicher. Steckle und Hurley tauschten verwirrte Blicke; auf ihren Gesichtern lagen Angst u nd Beklemmung. »Eins, zwei, drei, es ist vorbei« Nelson blieb kurz vor einer niedrigen steinernen Mauer stehen und wurde plötzlich wieder ernst. »Den letzten beißen die Hunde. Los, Jungs, kommt rüber, die Erlösung liegt direkt vor uns.«
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Er schwang sich über die Mauer und verschwand. Nach kurzem Zögern folgte Joe Hurley ihm; schließlich, langsam und schwerfällig, auch Randy Steckle. Auf der anderen Seite der Mauer landeten sie auf weichem Boden. Kein Beton unter den Füßen, kein Haus weit und breit. Stille. Weite. Joe und Randy spähten angestrengt in die Dunkelheit und konnten in der Umgebung seltsam geformte Umrisse ausmachen, große steinerne Platten und marmorne Kreuze. Kreuze... Schlagartig wurde ihnen bewußt, wo sie sich befanden. »Das ... das ist ja ein Friedhof!« stieß Randy atemlos hervor und wich bis zur Mauer zurück. Das alles war so gespenstisch, so unheimlich. Zum zwanzigsten Mal in der letzten Minute wünschte er sich nichts sehnlicher, als irgendwo anders zu sein, nur nicht hier, nur nicht bei Nelson Wright. »Nelson!« rief Joe. »Gottverdammt, wo steckst du? Ich finde das gar nicht mehr komisch.« »Das ist es nie gewesen«, flüsterte Randy. »Ich bin hier drüben.« Nelsons gedämpfte Stimme, die jetzt nichts Kindliches mehr an sich hatte, drang aus etwa zehn Metern Entfernung zu ihnen herüber. Ihre Köpfe wandten sich ruckartig in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war; sie spähten in die Dunkelheit. Nelsons Schemen kniete vor einem großen, von Efeu umrankten Grabstein. »Hier wohnt Billy. Wach auf, du kleines Stück Scheiße! Du hast Besuch.« Langsam und zögernd, angestrengt ins Dunkel blickend, näherten Joe und Randy sich dem Grabstein. Irgendwie wurde ihnen klar, ohne daß sie ein Wort darüber wechseln mußten, daß sie jetzt Zeugen von Nelsons geheimen Ängsten wurden, vielleicht dem Monster aus seiner Vergangenheit begegnen würden, dem gräßlichen Produkt seiner Phantasie. Ja, sie waren Zeugen seines Schicksals. Irgend etwas Schreckliches bahnte sich an dieser Stätte des Todes an, und sie hatten nicht die Macht, es aufzuhalten. Nelson blickte zu seinen Freunden auf, als sie neben ihm standen, und auf seinem geschundenen, entstellten Gesicht lag ein scheußlicher Ausdruck; halb Verzückung, halb Verzweiflung. »Ihr fragt euch, woher ich wußte, wo die kleine Drecksau
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ist?« flüsterte er. »Weil ich dafür gesorgt habe, daß er hier liegt.« Der Grabstein war so dicht von Efeu bewachsen, daß die Blätter und Ranken die Inschrift verdeckten. Sanft, fast zärtlich pflückte Nelson die Blätter ab, bis die eingemeißelten Worte zum Vorschein kamen. Hier ruht unser geliebter Billy Mahoney 1965-1973 Nelson spürte die Blätter unter den Fingern. Er spürte die Blätter ... die Blätter ... Blätter schwebten aus den Ästen des Baumes langsam zu Boden, als die Jungen sich um den Stamm der Eiche versammelten, an dem Champ mit den Vorderpfoten lehnte und lautlos kläffte. Nelson hielt einen großen, runden Stein, in der Faust, rund und groß und schwer, einen Stein, den man prima werfen konnte. Für einen neunjährigen Jungen hatte Nelson kräftige Arme, und er wollte es den anderen zeigen, die ebenfalls Steine gesammelt hatten und Billy höhnische Bemerkungen zuriefen. »Billy, du Feigling!« »Billy-Schweinchen!« »Fall nicht runter, Mahoney, du taube Nuß!« Hoch oben im Baum hockte ein kleiner Junge in einem roten Sweatshirt auf einem Ast, klammerte sich krampfhaft am Stamm fest und blickte voller Angst auf die anderen hinunter. Von allen Jungen, die ihn verspotteten und beschimpften, fürchtete er Nelson Wright am meisten. »Bitte nicht, Nelson!« bettelte er, und Tränen liefen über sein kleines, verhärmtes Gesicht. »Tu's nicht! Bitte, bitte, nicht!« Aber Nelson hatte schon zum Wurf ausgeholt und schleuderte den Stein mit aller Kraft, und der Stein stieg höher und höher, als besäße er einen eigenen Willen, stieg hinauf bis zu den höchsten Ästen. Oh, wie schnell und zielsicher er flog — wie ein gefiederter Pfeil. Er schmetterte an Billys Schläfe. Der Kopf des Jungen wurde nach hinten gerissen, er schwankte, und
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dann ließ er den Stamm los. Billys kleiner Körper fiel. Er fiel langsam, es schien eine Ewigkeit zu dauern; krachend stürzte er durch die Äste und Zweige. Nelson stand wie erstarrt da, von Grauen gepackt, und beobachtete, wie Ast nach Ast unter Billys Aufprall zerbarst, ohne seinen Sturz zu bremsen; er fiel weiter, immer tiefer, und während des Sturzes schrie er; Billy Mahoney schrie in einem fort, er hörte nicht zu schreien auf, und jetzt schrie auch Nelson, doch ihre Schreie wurden schließlich von einem schmerzerfüllten, gräßlichen Aufheulen übertönt, als ein schwerer Ast auf Champ fiel und ihm das Rückgrat brach. Und dann lagen sie am Boden, der Junge und der Hund. Der Junge lag ganz still und reglos da, während der Hund sich wand und zappelte und im Todeskampf winselte, ein klägliches, markerschütterndes Winseln. Nelson blickte starr vor Entsetzen auf die beiden. Nelson Wright... neun Jahre alt. Er hatte das hier getan. Er war schuld. Nur er. Er war ein aufgeweckter, strahlender, glücklicher, allseits beliebter blonder Junge, gesund und stark, und jetzt hatte er diesen Stein genommen und geworfen, und Billy Mahoney war tot. Er hatte Billy Mahoney getötet. Und auch Champ. Und seine Schreie nahmen kein Ende ... »Ein paar Wochen später wurde ich von zu Hause abgeholt, aus meiner Familie herausgerissen und in eine Erziehungsanstalt gesteckt«, endete Nelson. Bittere, salzige Tränen liefen ihm über die Wangen. »Ich kam auf die Stoneham School. Ich hab' geglaubt, das wäre das Ende.« »Nelson, es war ein Unfall«, sagte Joe mit gedämpfter Stimme. »Laß uns jetzt nach Hause gehen, okay?« flüsterte Randy. Aber ein seltsamer Ausdruck legte sich auf Nelsons Gesicht. Seine grünen Augen funkelten durch den Schleier von Tränen. »Dave hatte recht«, hauchte er kaum verständlich. »Ich kann es wiedergutmachen.« Er sprang auf, wandte sich um und rannte los. »Joe, ich muß mir deinen Wagen leihen!« rief er über die Schulter. »Warte! Nelson! Warte! Komm zurück!« Joe stürmte hinter
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ihm her, aber es war bereits zu spät. Nelson war verschwunden. Joe und Randy starrten sich hilflos an. Nelson hatte den Wagen genommen, und jetzt saßen sie hier fest — auf diesem düsteren, gespenstischen und vielleicht sogar verfluchten Friedhof in einem namenlosen, gottverlassenen Ort. »O mein Gott!« flüsterte Steckle. Irgend etwas weckte Rachel. War es ein Geräusch gewesen? Eine Bewegung? Sie war sich nicht sicher, aber sie erwachte schlagartig, und all ihre Sinne waren augenblicklich geschärft. Neben ihr in dem großen Bett, unter dem Poster mit der Himalaja-Landschaft, lag der schlafende David Labraccio und atmete tief und regelmäßig. Plötzlich konnte der Gedanke, daß David bei ihr war, seine männliche Stärke und die süße, noch so lebendige Erinnerung daran, wie er sie geliebt hatte, Rachel keinen Trost mehr geben. Aber jetzt wollte sie auch keinen Trost mehr. Sie löste sich aus seiner Umarmung und erhob sich lautlos, schwang sich aus dem Bett, streifte sich Davids alten Bademantel über den nackten Körper und zog den Gürtel straff um die Hüften. Dann ging sie ganz leise durchs Schlafzimmer und hinüber zum Bad; irgend etwas hinter der Tür zum Badezimmer zog sie wie magisch an. In ihrem Unterbewußtsein hörte sie ein Telefon klingeln, aber sie beachtete es gar nicht. All ihre Aufmerksamkeit war auf das Bad gerichtet, das sie anzog wie ein Magnet Eisenspäne. Die Tür zum Bad war geschlossen, Rachel drückte die Klinke herunter, stieß die Tür auf und trat langsam in den dahinterliegenden Raum. Er schien mit einemmal viel größer zu sein, als Rachel es in Erinnerung hatte, und es sah ganz anders aus. Vertraut, und doch nicht vertraut. Plötzlich wurde ihr klar — und dennoch war es wie in einem Traum —, daß sie sich gar nicht in Davids Bad befand. Es sah fast so aus wie das Badezimmer in jenem Haus, in dem sie gewohnt hatten, bevor Daddy gestorben war. Sie hatte Angst, schreckliche Angst, aber sie ging weiter, obwohl sie wußte, daß da irgend etwas auf sie wartete ... auf sie... »Rachel!« Jemand klopfte laut an die Badezimmertür, und sie
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hörte, wie David ihren Namen rief. Sie wandte sich um, und die Tür wurde geöffnet. Die Vision verschwand. Rachel stand wieder in dem kleinen Badezimmer in David Labraccios Wohnung. David hatte seine Jeans übergestreift und knöpfte sich mit fliegenden Fingern das Hemd zu. »Nelson ist durchgedreht«, sagte er ernst. »Joe und Randy sitzen irgendwo fest. Ich werde die beiden abholen. Kommst du so lange allein hier zurecht?« Sie nickte. »Ja.« »Bist du sicher?« »Ja.« »Gut.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal zu Rachel um, blickte in ihr wunderschönes Gesicht, in die unergründlichen dunklen Augen, legte ihr die Hände an die Wangen und küßte sie ganz kurz auf den Mund, ließ sie bei dieser flüchtigen Berührung seine Liebe spüren. Dann nahm er seine Jacke, suchte in den Taschen nach den Schlüsseln für seinen Army -Truck, bedachte Rachel mit einem raschen, beruhigenden Lächeln und verließ die Wohnung. Rachel war allein. Sie wußte, daß sie keinen Schlaf mehr finden würde. Sie hatte Vorahnungen von erschreckender Intensität — irgend etwas Grauenhaftes würde geschehen, irgend etwas Gewalttätiges, das wußte sie genau, und sie hatte keine Möglichkeit, es aufzuhalten. Verängstigt, am ganzen Körper zitternd, ging sie in Davids Wohnung auf und ab. Sie dachte kurz daran, überall das Licht einzuschalten, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Irgendwie fand sie die Dunkelheit für das, was bevorstand, angemessen — was immer es auch sein mochte. Zwei, drei Minuten ging Rachel ruhelos von Zimmer zu Zimmer, mied aber das Bad. Sie hätte sich gern ein wenig frisch gemacht, doch sie traute sich nicht in den Raum, in dem sie vorhin so seltsame Visionen heimgesucht hatten. Irgend etwas Furchtbares lauerte hinter der Tür. Sie spürte es. Sie wußte es genau. Rachel ging langsam, wie in Trance, durchs Wohnzimmer, strich mit den Fingern über die Wand. Sie erschauerte; ihre Kehle war wie zugeschnürt. Als sie das gegenüberliegende Ende des Zimmers erreichte, stellte sie fest, daß sie auf eine lange, steile Treppe blickte.
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Eine Treppe? In David Labraccios Wohnung gab es doch gar keine Treppe...! Aber... sie kannte diese Treppe. O ja, sie erkannte sie sofort wieder. Sie war in der Wohnung ihrer Eltern. Oben am Treppenabsatz, an der Wand, hing das Bild mit dem Lieben Herrn Jesus Christus, und seine blauen Augen blickten mitleidig und traurig auf sie nieder. Und hier unten, am Fuß der Treppe, lag ihr kleines Tamburin, das Daddy zur Seite getreten hatte, als . . . als . . . Er wartete auf sie. Sie wußte es ganz genau. Er wartete im Bad, und... Plötzlich drang ihr ein scharfer Geruch in die Nase, und Rachel blickte zur Seite und sah Ma in der Küche stehen und bügeln; es war der Geruch der Stärke und des verdampfenden Wassers, den sie roch. Und Ma sah so hübsch aus in ihrer weißen Schürze. Aber wo war Daddy? Sie wollte ihren Daddy sehen. Mit quälender Langsamkeit, eine Stufe nach der anderen nehmend, stieg Rachel Mannus die Treppe hinauf. Sie konnte jetzt den Flur sehen, der zum Badezimmer führte, jenen Raum, den sie nicht hätte betreten dürfen, als Daddy sich darin aufgehalten hatte. Sie bewegte sich voran wie in einem Traum; ihre Füße machten nicht das leiseste Geräusch, Die Tür zum Bad stand einen Spalt breit offen. Rachel streckte langsam eine Hand aus und stieß die Tür nach innen. Und da war Daddy; er wandte ihr den Rücken zu. Er trug seine Uniformhose und ein khakifarbenes Unterhemd, und seine Arme waren nackt, seine Schultern breit und kräftig. Rachel näherte sich ihm, ohne ein Wort zu sagen, und blickte ihrem Daddy über die Schulter. Sie war jetzt groß genug, um sehen zu können, was er tat. Und dann sah sie einen Löffel, dessen Unterseite mattschwarz gefärbt war von einer Streichholzflamme, und in dem Löffel kochte bereits das Heroin. Hilflos wie in einem Traum, in den man nicht eingreifen kann, mußte Rachel mit ansehen, wie Daddy eine Spritze in die farblose Flüssigkeit tauchte und die Spritze aufzog. Er hatte sich ein Stück Gummischlauch fest um den Unterarm gewickelt, und dicht oberhalb der Army -Tätowierung traten die Venen deutlich hervor. Rachel sah, wie die Spritze über dem Arm schwebte, sie beobachtete, wie die Nadel
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dann tief im Fleisch versank und das Heroin heiß in Daddys Vene strömte, als er auf den Kolben der Spritze drückte. Ein leiser Schrei kam über Rachels Lippen, und Daddy hörte ihn und drehte sich um und blickte sie an, und zum ersten und letzten Mal sah Rachel ihn mit den Augen einer Frau, nicht mit denen eines kleinen Mädchens, und sie sah Dinge, die sie als Kind nicht hatte sehen können. Daddy war jung, so schrecklich jung. Er war etwa in Rachels Alter, 25 Jahre, und er hatte Angst. Ihr Vater war drogensüchtig. Er war einer von Tausenden, die in diesem schrecklichen Krieg verwundet worden waren, einer von Tausenden, die abhängig vom Morphium geworden waren, das man ihnen im Lazarett gespritzt hatte, um ihre grausamen Schmerzen zu lindern. Daddy war als Drogensüchtiger aus dem Goldenen Dreieck in die Heimat zurückgekehrt, wie so viele Veteranen, zu viele, und niemand verstand sie, niemand half ihnen, niemand war für sie da. Daddy war allein und ängstlich — und krank. Heroin war so leicht zu bekommen; damals bekam man für einen Fünfdollarschein an jeder Straßenecke ein Briefchen mit genug Stoff für einen Schuß. Rachel schlug die Augen nieder; sie konnte den bemitleidenswerten Anblick nicht äl nger ertragen, und ihr brach es das Herz, weil sie damals zu jung gewesen war, um zu verstehen, zu jung, um zu helfen. Sie spürte, daß Daddy sie anblickte, und Rachel sah auf, schaute ihm ins Gesicht. Schweiß stand Daddy auf der Stirn, und in seinen Augen glitzerten Tränen. Sie war sein Baby, sein kostbares kleines Mädchen, sein ein und alles, und er war hilflos, konnte der Fünfjährigen nicht erklären, warum ihr Daddy so krank war und warum seine Tage und Nächte so unerträglich und qualvoll waren. Aber Rachel, der jungen Frau, konnte er endlich, endlich die Wahrheit sagen. »Rachel, mein Schatz. Rachel. . . es tut mir so leid.« Und er hob die zitternden Hände, streckte sie nach ihr aus. Und mit einem leisen Schrei, aus dem Mitleid und Qual und Verstehen sprachen, warf sie sich in seine Arme, und sie standen engumschlungen da. Und Rachel ließ all ihre Liebe, all ihre Kraft, all ihr Verständnis und Mitleid einströmen in dieses arme, bemitleidenswerte, drogensüchtige Etwas, das einst ihr
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Vater gewesen war. »Kannst du mir verzeihen?« fragte er, bettelte er. Und genau das waren die Worte, die sie so sehnsüchtig erwartet hatte, all die Jahre über; sie waren der Grund dafür, warum er ihr aus dem Jenseits gefolgt war. Er wollte ihre Vergebung; Rachels Absolution war die einzige Möglichkeit für ihn, endlich Frieden zu finden. >Buße tun<, hatte David gesagt. Er hatte recht. Rachel hatte ihrem Vater die Möglichkeit gegeben, Buße zu tun, und nun, endlich, würden sie beide ihren Frieden haben. David Labraccio brachte seinen Kleinlaster zum Stehen. Joe Hurley und Randall Steckle stiegen auf die vordere Sitzbank, und David fuhr sofort wieder an. »Was ist denn passiert, zum Teufel?« fragte er. »Dieser Billy Mahoney. . . er ist vor siebzehn Jahren ums Leben gekommen«, erklärte Randy mit stockender Stimme. »Und Nelson glaubt, für seinen Tod verantwortlich zu sein, ob es nun stimmen mag oder nicht.« »Mein Gott! Habt ihr eine Ahnung, wohin er gefahren sein könnte?« »Er ist plötzlich losgerannt und hat irgendwas von ... Wiedergutmachung gesagt«, erwiderte Randy. . »Er hat den Verstand verloren!« rief Joe. »Wie kann man einem Toten Wiedergutmachung leisten?« David durchzuckte ein schrecklicher Gedanke. »Glaubt ihr, daß er es fertigbringt, sich im Dog Lab ohne unsere Hilfe...« Er brauchte den Satz nicht zu vollenden. Für einen Moment herrschte atemlos Stille bei dieser entsetzlichen Vorstellung; dann stieß Randy hervor: »Das wäre Selbstmord!« David nickte nur. Dann trat er das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Rachel lag zusammengekuschelt wie ein kleines Mädchen auf Davids Bett, umhüllt von einer Aura der Ruhe und des inneren Friedens, die so vollkommen war, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Ihr Alptraum war vorüber, für immer und ewig,
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und sie war glücklich, so glücklich wie nie zuvor. Bald würde David wiederkommen, und dann konnte sie ihm erzählen, was geschehen war, konnte ihm sagen, wie recht er gehabt hatte, und konnte ihm danken. Das Telefon klingelte, und erwartungsvoll riß sie den Hörer von der Gabel. »David?« »Nein, hier ist Nelson.« »Nelson! Wo bist du?« fragte sie, plötzlich beunruhigt. »Ich. .. wollte dir nur noch sagen, daß es mir leid tut, Rachel. Bitte, sag David... ich schäme mich, daß ich euch in diese Sache hineingezogen habe. Es tut mir schrecklich leid . . .« »Nein!« rief Rachel ängstlich. »Du siehst das falsch! Es war gut. Es war richtig!« Sie wollte ihr Glück mit ihm teilen, wollte ihn beruhigen, ihm die Verzweiflung nehmen, die aus seiner Stimme sprach. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr, Nelson, denn...« Sein Lachen überraschte sie völlig. Es hörte sich selbstsicher an. Es klang fast wie das Lachen des alten Nelson Wrights, und doch schwang irgend etwas Bedrohliches darin mit. In seiner Stimme war keine Spur von Verstellung und Heuchelei mehr; sie klang ruhig, fast friedlich, als er leise sagte: »Nein, Rachel. Alles spielt eine Rolle. Alles, was wir tun ... und getan haben. Darum werde ich das Experiment noch einmal machen. Ein letztes Mal.« Das Experiment! Zum letzten Mal? Allein? »Nein!« rief Rachel. »Nein, Nelson! Warte doch! Hör zu! Bitte, warte!« O Gott, er verstand nicht, was sie meinte. Warum konnte sie es ihm nicht begreiflich machen? Sie mußte ihn aufhalten, irgendwie. Aber dann drang noch einmal Nelsons Stimme aus dem Hörer. »Leb wohl, Rachel«, flüsterte er. »Es tut mir wirklich leid.« Er legte auf, und das leise, klickende Geräusch klang schrecklich endgültig. Die Verbindung war tot. Nelson hängte den Hörer in die Gabel und trat aus der Telefon-
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zelle. Die Straßenlaternen, die den Campus umg aben, tauchten die Umrisse des Taft-Gebäudes in ein überirdisches, geisterhaftes Licht. Nelson ging mit schnellen Schritten los; dann rannte er. Er wußte, die anderen würden schon bald nach ihm suchen. Er hatte nicht viel Zeit.
13 »Jetzt bekommen wir die Quittung für unsere verfluchte Überheblichkeit«, sagte Randy Steckle, während Davids Truck über die nächtlichen Straßen raste, in Richtung Taft-Gebäude und Dog Lab. »Halt dich geschlossen, Randy«, sagte Joe. »Ich bin nur froh, daß ich das Experiment nicht gemacht habe«, fuhr Steckle mißmutig fort. »Wahrscheinlich wäre mein sechs Zentner schwerer weiblicher Babysitter hinter mir her gerast und hätte dabei mit der halb gegessenen Salamipizza nach mir geschmissen, die ich ihr mal geklaut hab'.« Joe Hurley hörte nicht auf Randys Gefasel und versank in düsteres Schweigen. In Gedanken war er mit seiner eigenen Not beschäftigt, und er überdachte, ob die Art und Weise, wie David sich von seinen Qualen befreit hatte, nicht auch für ihn der Ausweg sein konnte. Ja, es gab noch Hoffnung, das glaubte er. Aber diesen Weg einzuschlagen würde schwer fallen, es würde erniedrigend und bitter sein. Hatte er wirklich die Kraft, all jene Mädchen aufzusuchen, die er heimlich gefilmt hatte? Könnte er jeder einzelnen in die Augen blicken, seine Sünde gestehen und um Verzeihung bitten? Und vor allem — würden diese Mädchen ihm verzeihen? Und wenn ja, würde Anne dann zu ihm zurückkehren? Lieber Gott, wenn Du mir hilfst, mich aus diesem Dreck zu ziehen, dann schwöre ich Dir... Auch David schwieg. Er hielt die Augen konzentriert auf die nächtlichen Straßen gerichtet, fuhr weiter mit Vollgas, holte das Letzte aus dem altersschwachen Truck heraus. Er hatte Herzklopfen, so heftig, daß es in der Brust weh tat und seine Kehle war wie zugeschnürt. Keiner der anderen kannte Nelsons
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schreckliches Geheimnis so gut wie er; keiner der anderen wußte, welches Risiko Nelson einzugehen bereit war, um das Schreckgespenst aus der Vergangenheit endlich loszuwerden. Vielleicht war er bereit, dafür zu sterben. Sie mußten ins Dog Lab, bevor es zu spät war! Und noch etwas wurde David klar; es war eine Art Einblick in sein Inneres. Es war paradox, aber all das Böse, das er Winnie Hicks vor so vielen Jahren angetan hatte, mußte in ihm Schuldgefühle ausgelöst haben, die ihn irgendwie zu einem besseren Menschen gemacht hatten. Vielleicht war dieses Schuldgefühl der Grund dafür gewesen, daß er sich für das Studium der Medizin entschieden hatte, daß er Menschen helfen, sie heilen wollte. Um all das Schlechte, das er getan hatte, wettzumachen. Und vielleicht — nur vielleicht — war das auch der Grund dafür, daß er seine Karriere aufs Spiel gesetzt hatte, damals, als er der Frau geholfen hatte, die zu verbluten drohte — sühnen, büßen für die Sünde, die er vor langer Zeit begangen hatte, als er ein Mädchen schmähte und beleidigte. Wenn das zutreffen sollte, dachte er — wäre es nicht wunderschön? Und er dachte an Rachel, und der eisige Klumpen in seinem Magen begann dahinzuschmelzen. Wenn bei diesen verrückten Experimenten irgend etwas Gutes herausgekommen war, dann die Tatsache, daß er und Rachel zueinander gefunden hatten. Er erinnerte sich an ihr bildhübsches Gesicht, daran, wie sie sich geliebt hatten, an die Flut ihres dunkelroten Haares auf dem weißen Kissen. Er hatte den Wunsch, anzuhalten und sie anzurufen, ihre Stimme zu hören, aber er wußte, daß sie es sich nicht erlauben konnten, auch nur einige wenige, kostbare, unwiederbringliche Sekunden zu verschwenden, wenn sie Nelson Wright retten wollten. Was David nicht wußte: Rachel rannte in diesem Moment durch die nächtlichen Straßen in Richtung Universitätsgebäude. Nelson Wright riß die Tür zum Labor auf, stürmte hinein und knipste mit zitternden Fingern die Lampe über der Bahre an. Er zog hastig den Mantel aus, dann Jacke, Hemd und Unterhemd. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein entstelltes Gesicht
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schweißüberströmt, und sein Atem ging rasselnd, und das Ausatmen bereitete ihm heftige Schmerzen in der Brust. Aber es spielte keine Rolle mehr. Bald war es vorüber. Ja, in wenigen Augenblicken würde er alle Qualen überstanden haben. In fieberhafter Eile durchsuchte er die verschiedenen Flaschen und Ampullen auf dem Instrumentenwagen. Er nahm die Ampulle mit dem Natriumpentathol auf, legte sie aber wieder zurück, als er merkte, daß es nicht das war, was er suchte — nicht stark, nicht endgültig genug. Aber dort, dort stand es; das Kaliumkarbonat. Das würde seinen Zweck erfüllen. Nelson war klar, daß die anderen früher oder später hierherkommen würden, und ihretwegen, und wegen der Aufzeichnung des letzten Experiments, befestigte er die EEG- und EKGElektroden an seinem Körper. Für ihn selbst waren die Meßwerte, die die Geräte liefern würden, ohne jede Bedeutung. Für ihn würde es keine Rückkehr mehr geben. Er stellte den Schalter der Kombidecke auf die höchste Kühlstufe, riß eine der sterilen Spritzen aus ihrer Plastikhülle, hielt sie in das flüssige Kaliumkarbonat und zog sie auf. Dann schnallte er sich eine Gummimanschette um den Arm und zog sie straff, so daß die Venen deutlich hervortraten, legte sich unter die Kombidecke und injizierte sich das Kaliumkarbonat. Er lag jetzt ganz still und entspannt und spürte nach kurzer Zeit, wie die Wirkung der Droge einsetzte. Kurz bevor er das Bewußtsein verlor, nahm er mit schnellem, sicherem Griff die Anästhesiemaske und drehte den Regler für die Zufuhr des Lachgases auf. »Okay, Billy, ich komme«, flüsterte er und legte sich die Maske auf Mund und Nase. Er schloß die Augen, und seine Atmung wurde flacher und flacher... ... und setzte aus. Nelsons Herz hörte zu schlagen auf. Flat line. Er raste durch die Zeit in die Vergangenheit, kämpfte wieder um sein Leben, als Billy Mahoney unter gräßlichem Gelächter mit dem Eispickel zum Schlag ausholte, um ihm den Schädel zu spalten. Er sah Billy Mahoney, wie er ihm den Griff des Schraubenziehers an die Schläfe schlug. Billy Mahoney, wie er den
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Hockeyschläger auf Nelsons Rücken zerschmetterte, wie er Nelson brutal mißhandelte, ihn schlug und trat und bespuckte. Nelson schluchzte vor Angst. Und dann, von einem Augenblick zum anderen, schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel auf die Blumenwiese, und das Gras war grün und saftig, und Nelson rannte in seinen Turnschuhen los. Aber er spürte das weiche, dämpfende Gras nicht unter den Sohlen; er hörte nur seinen Herzschlag und seinen rasselnden Atem. Und er spürte die Angst, diese unsägliche, peinigende Angst. Jetzt war er es, den die anderen jagten und allen voran lief Billy Mahoney und rief ihm höhnische Worte zu. Und auch Champ jagte Nelson, aber in seiner wilden Erregung lief er Billy immer wieder vor die Füße, so daß dieser nicht ganz so schnell aufholen konnte, Gott sei Dank, denn Nelson wußte, was er und die anderen mit ihm anstellen würden, sollten sie ihn zu fassen kriegen, und dieser Gedanke jagte ihm Angst ein, höllische Angst. Wenn er doch nur die Bäume erreichen konnte, bevor sie ihn erwischten! Er war ein guter Kletterer, und wenn er sich da oben verstecken konnte, irgendwo hoch oben in den Ästen, dann fanden die anderen ihn vielleicht gar nicht. Der Truck hielt mit kreischenden Reifen vor dem Taft-Gebäude, und kaum stand der Wagen, rannten David und die zwei Freunde auch schon zum Seiteneingang, so schnell sie konnten. Sie jagten durch die Rundhalle und den Korridor zu den Labors hinunter. Joe Hurley vorneweg, dann David, und dahinter ein keuchender, japsender Randy Steckle. Als sie das Old Dog Lab erreicht hatten, riß David die Tür auf, hämmerte auf den Kippschalter der Deckenbeleuchtung und rannte zum Krankenbett hinüber. Und dort lag Nelson. Ganz ruhig und friedlich, mit geschlossenen Augen. Auf den Monitoren waren zwei flache Linien zu sehen — Flat line. Nicht die geringsten Anzeichen von Herz- oder Hirnaktivität. Wie lange mochte Nelson schon tot sein? David und seine Freunde konnte es nicht erraten.
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»Körpertemperatur dreißig Grad!« rief Joe. »O mein Gott«, stöhnte Randy beim Anblick Nelsons ... von Nelsons Leichnam. David handelte schnell und entschlossen. Er stellte den Schalter der Kombidecke auf die höchste Heizstufe, während Randy hektisch die Flaschen und Ampullen auf dem Instrumentenwagen durchwühlte und dabei eine schreckliche Entdeckung machte. »Kaliumkarbonat! Er hat sich Kaliumkarbonat injiziert!« Er und die anderen tauschten schockierte Blicke. Sie alle wußten, daß dieses Mittel eine Wiederbelebung unendlich schwieriger machte als in den Fällen zuvor — wenn nicht unmöglich. »Kalzium injiziert!« rief Randy, der sich aus seiner Errstarrung gelöst und sofort gehandelt hatte. Und Joe lud bereits über die inzwischen aufgeladenen Notbatterien die Defibrillator-Elektroden und reichte sie David. »Dreihundert! Fertig!« rief David und drückte Nelson die Elektroden auf die Brust. Ein heftiges Zucken ging durch den Körper. Gehetzte Blicke auf die Monitore. Flat line. Randy beugte sich über Nelson, drückte ihm das Stethoskop auf die Brust und horchte ihn ab. »Nichts.« »Scheiße. Joe, mehr Saft! Dreihundertsechzig!« Wieder reichte Joe dem jungen Labraccio die Elektroden. »Dreihundertsechzig«, sagte er. »Jetzt!« rief David. Der Stromstoß war so stark, daß er Nelsons Oberkörper förmlich in die Höhe riß; dann fiel er schlaff und leblos zurück. Flat line. Wieder horchte Randy ihn ab. »Nichts!« rief er verzweifelt. »Nichts, nichts, nichts!«
Er kletterte hastig die Eiche hinauf und ignorierte den Schmerz, als Splitter der rissigen Rinde in seine Hände drangen. Nur ein Gedanke durchzuckte ihn immer wieder: Nichts wie weg! Nichts wie weg! Erst ganz hoch oben, dicht unterhalb des Wipfels, hielt er inne und klammerte sich an den Stamm. Er war völlig außer Atem und schweißüberströmt. Tief unter ihm
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konnte er hören, wie die anderen näher kamen; die Jungen lachten. Nelson schreckte zurück, versuchte, sich im Schutz des dichten Laubes zu verbergen; aber vielleicht schauten die anderen ja gar nicht zu ihm hinauf. Aber dann lenkte wildes Gekläff die Aufmerksamkeit der Jungen auf die Eiche; Nelson konnte sie dort unten lachen hören, ihre Schmährufe vernehmen. Champ! Er hatte Champ ganz vergessen. Der Hund hatte seine Fährte aufgenommen und witterte ihn jetzt hier oben, und bei einem raschen, verstohlenen Blick sah Nelson, daß Champ die Vorderpfoten an den Stamm gelehnt hatte, zu ihm hinaufblickte und wie verrückt bellte, als hätte er ein kleines Tier auf diesen Baum gejagt, einen Waschbären zum Beispiel. Und so kam Nelson sich auch vor: wie ein kleines, völlig verängstigtes Tier. Die anderen hatten ihn jetzt entdeckt und brüllten und schrien mit böser, gemeiner Ausgelassenheit, riefen seinen Namen und überschütteten ihn mit einer Flut kindlicher Beschimpfungen, mit Spott und Hohn. Dann fingen sie an, Steine aufzusammeln . . . sie wollten mit Steinen nach ihm werfen! Und schon kamen die ersten geflogen, und dann prasselte ein Hagel von Steinen durch die Äste und Zweige; zwei, dreimal wurde Nelson an Brust und Schulter getroffen. Er schluchzte laut auf, klammerte sich noch fester an den Stamm. Oh, er hatte Angst, und die größte Angst hatte er vor Billy Mahoney. Billy war mit Abstand der beste Werfer von allen. Plötzlich kam Rachel völlig außer Atem ins Labor gestürmt. Mit einem Blick erfaßte sie die Situation. David, Joe und Randy bemühten sich fieberhaft, Nelson wiederzubeleben, aber Nelsons Körper zeigte nicht die kleinste Reaktion. Ein Blick auf die Monitore: die Nullinie. »Er hat mich vorhin angerufen«, keuchte Rachel und streifte hastig den Mantel ab. »Er muß jetzt länger als neun Minuten tot sein!« »Neun Minuten!« krächzte Randy und starrte Rachel fassungslos an. David hingegen blickte nicht einmal auf. Er arbeitete mit verbissener Konzentration. »Okay«, sagte er. »Rachel, wir müssen eine Intubation vornehmen.« Rachel nahm das Laryngoskop und schob Nelson vorsichtig
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den Schlauch in den Hals; dann versuchte sie, Luft hindurchzupumpen. Vergeblich. »Gott verdammt! Es zieht keine Luft! Es geht nicht! Die Luftröhre ist zu eng!« David entfernte den Schlauch und rief: »Herzmassage!« Er nahm den Rhythmus auf. »Eins-eins-tausend, zwei-eins-tausend, drei-eins-tausend... atme, Nelson. Na los, Nelson, atme!« Nichts. Schweißüberströmt hielt David inne, suchte verzweifelt nach einer anderen Möglichkeit. »Versuch's noch mal, Dave!« drängte Joe Hurley. Wieder nahm David die Herzmassage auf, schüttelte aber schließlich den Kopf. »Scheiße! Das hilft nichts! — Randy, Ephedrin, intratracheal. — Na los!« Schockiertes Schweigen breitete sich aus. Was David da vorhatte, war ein ungewöhnlicher, drastischer und höchst gefährlicher Eingriff. Nelson das Ephedrin direkt durch die Luftröhre zuzuführen bedeutete ein ungeheures Risiko. Andererseits — was hatten sie noch zu verlieren? Nelson Wright war seit mehr als zehn Minuten tot, und bislang hatten alle Versuche, ihn wiederzubeleben, sich als Fehlschläge erwiesen. Billy Mahoney nahm einen Stein vom Boden, ganz langsam und bedächtig. Er ließ die Hand prüfend über die Oberfläche des Steins gleiten. Ja, genau der richtige, groß und rund und glatt. Ein Stein, den man prima werfen konnte. Er streichelte ihn beinahe zärtlich, hielt ihn dann hoch, damit Nelson ihn sehen konnte. Er drehte ihn in der Hand, um Nelson zu zeigen, wie groß und glatt und schwer der Stein war, wie gut ein Billy Mahoney ihn werfen konnte. Und die ganze Zeit über lachte er. »Nein, Billy! Bitte, tu's nicht!« rief Nelson schluchzend und starrte, von Panik erfüllt, in die Tiefe. »Bitte, bitte, nein!« Doch Champ kläffte weiterhin, die Jungs hänselten ihn weiterhin, die Angst wühlte weiterhin in seinem Innern, und der neunjährige Nelson sah nur noch den großen Stein in Billys Hand. Er wußte ganz genau, was gleich passieren würde. Und dann sah er auch schon, wie Billys Arm nach vorn schoß, sah den Stein auf sich zufliegen, hoch, hoch in die Luft... »Billy, es tut mir leid!« schrie er.
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»Ephedrin intratracheal zugeführt!« rief Randy Steckle. Sie arbeiteten jetzt wie ein gut eingespieltes Team, nicht in Konkurrenz zueinander, sondern miteinander; sie konzentrierten all ihr Wissen und Können, all ihre Energie auf den toten Körper Nelson Wrights. David hatte wieder mit der Herzmassage begonnen, drückte kräftig auf Nelsons nackten Brustkorb und zählte in monotonem Rhythmus. »Eins-eins-tausend, zwei-eins-tausend, dreieins-tausend. — Komm schon, Nelson, atme. Bitte, atme, atme, atme!« Immer wieder hielt er kurz inne, immer wieder horchte Randy Nelson ab, immer wieder kam die verzweifelte Feststellung: »Nichts.« Nichts. Nichts hatte geholfen. Es schien hoffnungslos zu sein. Ja, es war zwecklos, weiterzumachen. Nelson war jetzt zu lange tot; es gab keine Chance mehr, ihn zurückzuholen. Und doch gab einer sich nicht geschlagen: David Labraccio. »Randy, vier Milligramm Atropin aufziehen«, keuchte er. Der Schweiß lief ihm in Strömen vom Körper, brannte in den Augen, aber er hatte nicht eine Sekunde den Blick von Nelson genommen. Er hatte noch gar nicht bemerkt, daß die anderen bereits aufgesteckt hatten. Rachel blickte auf ihre Armbanduhr, zuckte zusammen und sagte leise: »David...« Er sah nicht einmal auf, fuhr unbeirrt mit der Herzmassage fort. »Atropin intratracheal. Los!« befahl er. »Aber das ist 'ne ganze Wagenladung...« begann Randy Steckle. »Scheißegal. Mach schon!« Die lange Nadel mit der gewaltigen Dosis Atropin glitt langsam in Nelsons Luftröhre. »Jetzt aber, jetzt aber!« preßte David zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein langes Haar war strähnig und schweißverklebt und hing ihm tief in die Stirn, aber das nahm er nicht mehr wahr. All seine Aufmerksamkeit war auf Nelson Wright gerichtet. »Na los, Nelson. Komm schon. Komm schon.« Nichts. Nullinie. »Nein, tu's nicht! Bitte nicht, Billy!« Der Stein hatte jetzt den Scheitelpunkt seiner Flugbahn erreicht und fiel herab, brach
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krachend durch Äste und Zweige und traf Nelson voll an der Schläfe. Er schrie auf, sein Kopf wurde in den Nacken geschleudert, und er verlor das Gleichgewicht. Schreiend und brüllend, die Arme Halt suchend ausgestreckt, stürzte er, und seine schreckgeweiteten Augen sahen den Waldboden auf sich zurasen. Dann, nach einer Ewigkeit, der Aufprall. Nelson Wright lag reglos am Boden. Er ist... seit elf Minuten tot«, sagte Randy schluchzend. »Es ist hoffnungslos.« »Ephedrin intrakardial«, sagte David mit grimmiger Entschlossenheit. O nein, er gab noch nicht auf! Nelson war sein Freund, und einen Freund läßt man nicht im Stich. Niemals. »Intrakardial?« stieß Joe hervor. »Du reißt sein Herz in Stücke, Dave!« »Er ist tot! Nun mach endlich!« brüllte David. Rachel nahm die Spritze mit dem Ephedrin auf, trat an die Bahre heran und zögerte, blickte David in die Augen... und was sie darin las, gab den Ausschlag. Sie nickte. Dann drückte sie Nelson die Nadel direkt ins Herz. »Ephedrin intrakardial«, sagte sie leise. Nichts. Nullinie. Nelson Wright schlug die Augen auf. Er lag auf dem Waldboden, unter der großen alten Eiche, und... es war etwas ganz Seltsames geschehen. Er war kein neunjähriger Junge mehr, er war ein erwachsener Mann. Und er war tot, das wußte er mit völliger Gewißheit. Er wußte, daß er tot war. Er setzte sich auf und sah, daß ein kleiner Junge in einem roten Sweatshirt ihn betrachtete. Er hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen. Billy Mahoney. Vor langer Zeit ums Leben gekommen. Er und der kleine Junge waren tot. Der Junge hob den Arm und streifte die Kapuze zurück. Ja, es war Billys Gesicht, aber Nelson sah keine Angst darin, keinen Zorn. Nur tiefen Frieden. Nelson hatte Billy gesagt, wie leid es ihm tut, er hatte wiedergutgemacht, was er damals getan hatte, und jetzt, endlich, hatte Billy seinen Frieden gefunden.
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Buße, ja. Nelson hatte mit seinem Leben gebüßt. Und auch Champ war bei ihnen. Gesund. Ohne Schmerzen. Still und gehorsam stand er an Billys Seite. Billy lächelte Nelson an, und dieses Lächeln war eine Botschaft: Tod bedeutet Frieden. Der Tod ist schön. Das Leben ist schwer, aber der Tod ist leicht. Nelson lächelte zurück. Er hatte die Botschaft verstanden, und er gab Billy recht. Der Tod war leichter als das Leben. »Er ist seit zwölf Minuten tot.« Randy Steckles Stimme war jetzt tonlos und klang zutiefst resigniert. Es war unglaublich, aber David hatte noch immer nicht aufgegeben. Im Rhythmus der Herzmassage drang seine Stimme durch das Labor. »Eins-eins-tausend, zwei-eins-tausend, drei-eins-tausend, atme!« »Laß es bleiben, Dave«, sagte Joe Hurley leise. »Er ist tot. Wir haben ihn verloren.« »Nein!« brüllte David. Er begann auf Nelsons Brustkorb einzuschlagen. Das war jetzt keine Herzmassage mehr, das waren Schläge der Verzweiflung, der Hilflosigkeit, der Wut. »Du Hurensohn!« rief er weinend. »Du verdammter Hurensohn!« Entsetzt über diesen Ausbruch streckte Rachel den Arm nach ihm aus und rief fast flehend: »Hör auf, David, hör auf, hör endlich auf! Du mußt ihn gehen lassen! So hör doch auf!« Sie griff nach seiner Rechten, barg sie in den Händen und zwang ihn, sie anzublicken. Und als er Rachel ins Gesicht sah, erkannte David die Wahrheit, gestand sich endlich ein, daß er alle Hoffnung fahrenlassen mußte. Nelson Wright war tot. David sog tief und scharf den Atem ein und ließ für einen Moment seine Rechte schlaff in Rachels Händen ruhen. Dann überkam ihn eine neuerliche Woge heißer Wut, und er riß die Hand los und hämmerte die Fäuste mit verzweifelter Wildheit gegen die Wand. Nelson Wright lag ruhig und friedlich auf dem Bett. Die Monitore zeigten zwei Nullinien. Diese gottverfluchte Flat lins. Es war vorbei. »Wir alle sind dafür verantwortlich«, sagte Randy Steckle
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seltsam gefaßt. »Vielleicht haben wir es nicht anders verdient«, meinte Joe Hurley leise. Es verdient? Das hier verdient! »Nein!« rief David. »Nein! Das ist nicht fair! Das ist nicht richtig!« Er streckte wutentbrannt eine Faust zum stummen, schweigenden Himmel, wie es Menschen im Angesicht ihres eigenen Unrechts oftmals tun. »Es tut mir leid, Gott!« brüllte David, der Atheist. »Es tut mir leid, daß wir den Fuß auf dein beschissenes Territorium gesetzt haben! Was willst du noch hören? Reicht das nicht?« »Offensichtlich nicht«, sagte Randy weinerlich. »Laßt uns die Polizei rufen«, schlug Joe Hurley leise vor. Rachel kämpfte tapfer gegen die Tränen an. »Wißt ihr«, sagte sie heiser, »ich konnte es in seiner Stimme hören. Er glaubte wirklich, den Tod verdient zu haben.« »Scheißdreck! Nein, so nicht.« Rachel und die anderen wandten sich verblüfft um. David trat wieder an das Bett heran, die Fäuste geballt; sein Gesicht war eine düstere Maske wilder Entschlossenheit, sich immer noch nicht geschlagen zu geben. »Es war ein Fehler, ein kindischer Fehler!« brüllte er. »Er war ein kleiner Junge, und er hat den Tod nicht verdient!« Er riß die bis an die Grenze ihrer Kapazität aufgeladenen Defibrillator-Elektroden aus der Halterung. »Nein!« schrien die anderen wie aus einem Munde; es war ein einziger Aufschrei des Entsetzens. Aber es war zu spät. David hatte Nelson bereits die Elektroden auf die Brust gehämmert. Wuchtig. Vierhundert Joule rasten wie ein Blitzschlag durch Nelson Wrights Körper, der konvulsivisch zuckte und sich wild aufbäumte. Ein klares, helles und wunderschönes Licht erstrahlte und blendete Nelson Wrights Augen. Billy Mahoney wandte sich ab und ging in Richtung des Lichts davon. Champ an seiner Seite. Bevor er in das Leuchten eintauchte, drehte er sich um und blickte auf Nelson, und Nelson wußte, was Billy wollte. Er bat ihn, mitzukommen. Ja, die Vergebung war vollkommen, und er und Billy und Champ konnten mit diesem wunderschönen
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Licht verschmelzen und ewigen Frieden finden. Nelson erhob sich freudig. Das Licht lockte ihn an, hieß ihn willkommen, wärmte ihn. Er wollte darin eintreten, zerfließen, ein Teil davon werden. Er trat einen Schritt vor, dann noch einen. Doch plötzlich ließ ein Geräusch aus unendlicher Ferne ihn innehalten. Er zögerte. Irgendwo in den tiefsten Tiefen seines Ichs wußte er, was für ein Geräusch es war. Es war die explosionsartige Entladung eines gewaltigen Elektroschocks in seinem Körper, seinem Herzen. Nein, die Zeit war noch nicht reif. Irgendwann, viele Jahre später, würde er diesen letzten Schritt tun und mit Billy und Champ ins Licht eintauchen, und dieses Wissen machte ihn glücklich. Jetzt aber war es an der Zeit, zurückzukehren. »Laden! Fertig!« preßte David zwischen den Zähnen hervor. »Nein! Warte!« rief Rachel. Sie hielt das rechte Ohr fest an Nelsons Brustkorb gepreßt und lauschte angestrengt. Und dann ... dann hörte sie ihn, ganz schwach zuerst, aber rasch an Kraft zunehmend. Nelsons Herzschlag. »Mein Gott«, sagte sie leise und ehrfürchtig. »O mein Gott...« »Wir haben Pulsschlag! Pulsschlag!« brüllte der sonst so coole Joe Hurley, dem die Tränen übers Gesicht liefen. Die Blicke der anderen zuckten zu den Monitoren hinüber. Die Flatlines waren verschwunden; in regelmäßigen Abständen wanderten Zacken über die Bildschirme, die rasch größer und kräftiger wurden. »Wir haben ihn. Bei allen Heiligen, wir haben ihn!« Ein unglaubliches Glücksgefühl, Dankbarkeit und Ehrfurcht durchströmte sie alle. Rachel faßte sich als erste. »Laßt ihm Zeit«, sagte sie und nahm die Sauerstoffmaske. »Komm jetzt, Nelson, durchhalten. Komm her, komm zurück zu uns.« Sie legte Nelson die Maske auf, und dann beobachteten die vier Studenten tief erschüttert das Wunder, das sich nun ereignete: Die Maske hob und senkte sich leicht unter Nelsons wieder einsetzenden Atemzügen. »Das... war's. Atmung hat eingesetzt. Herzschlag stabilisiert sich.« David lächelte stolz und zufrieden — zufrieden mit sich selbst und den anderen. Heute abend, hier und jetzt, hatten sie wie Ärzte gehandelt, wie wirkliche Ärzte. Sie hatten das
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getan, was die Pflicht eines jeden Arztes war: mit aller Kraft, allem Können, aller Leidenschaft hatten sie ein Menschenleben gerettet — und das, obwohl sie selbst die Hoffnung fast schon aufgegeben hatten. »Ganz ruhig«, sagte Rachel mit tränenerstickter Stimme zu Nelson. »Alles in Ordnung. Es ist alles gut.« Und dann schlug Nelson die Augen auf. Er blickte die Freunde der Reihe nach an und versuchte zu lächeln, wozu er aber noch viel zu schwach war. Doch seine Augen gaben David zu verstehen, daß er ihm irgend etwas sagen wollte, und David nickte und brachte sein Ohr ganz nahe an Nelsons zerschlagene, trockene Lippen. Es waren nur ein paar wenige mühsam im Flüsterton hervorgebrachte Worte. »Was hat er gesagt?« fragte Joe Hurley mit heiserer Stimme. Ein Lächeln umspielte Davids Lippen. »Daß heute doch kein guter Tag zum Sterben war.« Nelson öffnete wieder den Mund. Er lächelte seine Freunde mühsam an. »Danke«, flüsterte er. Draußen vor dem Old Dog Lab, in der Rundhalle, stand eine Skulptur; sie stellte Mensch und Tod dar, im ewigen Kampf um den Besitz des Äskulapstabes, der das Symbol der Heilung war. Und der Griff der Klauenhand hatte sich ein wenig gelockert. ENDE
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