Scan & L by: der_leser K: tigger Mai 2003 FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
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Scan & L by: der_leser K: tigger Mai 2003 FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
Vom gleichen Autor erschienen außerdem als Heyne-Taschenbücher Jade-Tiger • Band 01/6210 Wolfsjagd • Band 01/6312 Schneefalke • Band 01/6408 See-Leopard • Band 01/6496 Firefox down • Band 01/6570
CRAIG THOMAS
FIREFOX
Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/6132
Titel der englischen Originalausgabe FIREFOX Deutsche Obersetzung von Sepp Leeb
6. Auflage
Copyright © 1977 by Craig Thomas
Copyright © der deutschen Übersetzung 1982 by
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1986 Umschlagfoto: Warner Columbia/München
Innenfotos: Warner Columbia/München
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Gesamtherstellung: Ebner Ulm
ISBN 3-453-01729-3
Für TERRY, der den Firefox gebaut hat und ihn fliegen ließ
Danksagung Mein Dank gilt vor allem T. R. Jones für seine aufopfernde und sachkundige Unterstützung hinsichtlich der technischen Fragen in Verbindung mit dem Testflugzeug, das in diesem Buch eine so vorrangige Rolle spielt. Für ihren Beistand bei der Klärung geographischer Probleme möchte ich Miß Audrey Simmonds und Mr. Graham Simms danken. Ebenso bin ich Mr. Peter Payne zu Dank verpflichtet, dessen enthusiastische Skepsis mich beim Schreiben dieses Buchs ständig zwang, die Augen offenzuhalten und nicht ins Mittelmaß abzurutschen, ohne dabei vor der Größe der gestell ten Aufgabe den Mut zu verlieren. Schließlich sehe ich mich noch einer ganzen Reihe von un terschiedlichen Veröffentlichungen verpflichtet, insbesondere John Barrons höchst aufschlußreichem Buch KGB und der be wundernswerten Serie von Janes Publikationen – darunter vor allem die neuesten Ausgaben von All the World’s Aircraft, Fighting Ships und Weapons Systems, denen ich allen zahlrei che technische Informationen von unschätzbarem Wert ent nommen habe. Craig Thomas Lichfield
Nicht Pflichtgefühl und nicht Gesetz trieben mich zum Kampf,
Nicht jubelnde Mengen oder deren Führer,
Ein einsamer Anstoß der Lust
Führte zu diesem Aufruhr in den Wolken;
Ins Gleichgewicht, zur Besinnung, brachte ich alle,
Die Jahre, die da kommen sollten, schienen nichts als vergeu
deter Atem,
Vergeudeter Atem auch die Jahre, vergangen,
Im Gleichgewicht mit diesem Leben, diesem Tod.
W. B. Yeats
Der Mann lag auf seinem Hotelbett, die Hände wie Klauen über der Brust erhoben, als griffen sie nach seinen Augen. Sein Körper war ausgestreckt, steif vor Anspannung. Die Brauen glänzten von Schweiß, und unter den Achseln hatte sich der Stoff seines Hemdes verdunkelt. Seine Augen standen weit of fen. Er träumte. In letzter Zeit kam der Alptraum nicht mehr so häufig; es war wie eine langsam abklingende Malaria. Das hatte er ge schafft – er, nicht Buckholz oder die Psychiater in Langley. Er verachtete sie. Er hatte es ganz allein geschafft. Wenn der Traum jedoch hin und wieder doch zurückkehrte, tat er dies mit seiner alten, ungebrochenen Vehemenz und Heftigkeit. Der Traum war alles, was von Vietnam noch übrig war. Selbst wenn er unter seinen Qualen litt und schwitzte, beobachtete ein kalter, unbeteiligter Teil seines Verstands seine Bilder und Auswirkungen – er verzeichnete das Wüten und Toben der Krankheit. In seinem Traum war er ein Vietnamese geworden; ob Viet kong oder einfacher Bauer war völlig gleichgültig – und er verbrannte zu Tode, langsam und schrecklich; das Napalm, das der Phantom-Aufklärer abgeworfen hatte, verschlang ihn. Das Dröhnen der entschwindenden Jets ging im Prasseln der Flammen unter, die ihn ansengten, verbrannten, zum Schmel zen brachten … In diesen Flammen flackerten jedoch auch andere Bilder aus anderen Zeiten auf; hinwegspritzende Funken. Selbst während seine Muskeln dahinwelkten, in der fürchterlichen Hitze zu sammenschrumpften, konnte er sich selbst sehen, von einem Punkt weit hinten in seinem Kopf, wie er die alte Mig-21 flog; und dann plötzlich, wie festgefroren, der Moment, da er den USAF Phantom im Visier hatte … dann die Drogen in Saigon, der Stoff, der schuld daran war, daß ihn eine Mig ins Visier bekommen hatte … und dann der Zusammenbruch, die Monate 8
in dem Veteranenkrankenhaus und die blutenden, heulenden Wesen um ihn herum, bis er vor dem Abgrund zum Wahnsinn stand und in dieses neue Dunkel zu versinken wünschte, wo er nichts mehr von den Schreien anderer Wesen oder dem neuer lichen Aufheulen seines eigenen Gehirns hören würde. Und dann war da die Arbeit im Krankenhaus, die klassische Wiedergutmachung, die inzwischen nur noch ein unangeneh mer Geschmack ganz hinten in seiner Kehle war. Dann kam die Mig, und er lernte, russisch zu fliegen, russisch zu denken, russisch zu sein … Lebedew mit dem georgischen Akzent, der übergelaufen war; sie hatten ihn angebracht, damit er ihn aus bildete, und zwar gründlich – denn er mußte es perfekt beherr schen … Dann das Training in der von den Amerikanern nachgebau ten Mig-25 und das Studium von Belenkos Einsatzbesprechung – Belenko, der vor Jahren einen Foxbat nach Japan geflogen hatte … und die Tage und Wochen im Simulator, in denen er ein Flugzeug flog, das er nie gesehen hatte, das nicht einmal existierte. Das Napalm und die Flammen und Saigon … Der Geruch seines eigenen verbrannten Fleisches lag schwer in seiner Nase, völlig klar und deutlich, die bläuliche Flamme, die von dem schmelzenden Fett aufstieg … Mitchell Gant verbrannte unter unsäglichen Schmerzen, während er in seinem Hotelzimmer lag.
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CHEF VON SIS AN PM – STRENG VERTRAULICH 4.2.76
Lieber Premierminister, Sie haben um umfangreichere Informationen hinsichtlich des Mikojan-Projekts in Biljarsk gebeten. Anbei übersende ich Ihnen deshalb den Bericht, den ich letzten Herbst von Aubrey erhalten habe, welcher die Kontrolle der dortigen Spionagetä tigkeit unter sich hat. Sie werden sehen, daß seine Vermutun gen recht radikaler Natur sind! Ihre Meinung dazu wäre daher von großem Interesse. Herzliche Grüße Richard Cunningham ** STRENG VERTRAULICH – CHEF VON SIS 18.9.75
Mein lieber Cunningham, Sie haben die üblichen überarbeiteten Zusammenfassungen meiner vollständigen Berichte über die Spionagebemühungen erhalten, welche gegen das geheime Mikojan-Projekt in Bil jarsk unternommen wurden, das innerhalb der NATO mit dem Codewort »Firefox« bezeichnet wird. Da Sie mich nach meiner Meinung dazu fragen, bin ich mir nicht sicher, ob Sie auf mei ne Ausführungen ausreichend vorbereitet sind. Welche Hoffnungen die Sowjets in diesen neuen Flugzeug typ setzen, brauche ich Ihnen nicht erst umständlich darlegen. Eine Summe, deren Höhe in etwa einem Fonds für unvorherge 11
sehene Verteidigungsmaßnahmen entspricht, wurde bereitge stellt, um den Flugzeugtyp möglicherweise in Massenprodukti on herzustellen. Die Arbeit an den beiden planmäßigen Nach folgemodellen der gegenwärtigen Mig-25, dem »Foxbat«, wird augenblicklich gerade aufgegeben oder ist bereits niedergelegt worden; die Hauptangriffswaffe der sowjetischen Luftwaffe wird der Foxbat bleiben, bis die Mig-31, der »Firefox«, einsatzbereit sein wird. Allein im europäischen Rußland befin den sich drei neue Fabrikanlagen in Planung oder im Bau, von denen man annimmt, daß sie der Herstellung der Mig-31 die nen sollen. Was das Flugzeug selbst betrifft, brauche ich auf sein Poten tial nicht weiter einzugehen. Falls es die Hoffnungen und Er wartungen der Sowjets erfüllen sollte, ist nicht anzunehmen, daß wir bis Ende der achtziger Jahre eine entsprechende Waffe, wenn überhaupt, entwickeln werden können. Das würde eine unantastbare Luftvorherrschaft der Sowjetunion zur Folge ha ben. Wir alle sind uns über die Gründe der SALTVerhandlungen und Abrüstungsbemühungen im klaren, und es ist nun zu spät, Gegenbeschuldigungen vorzubringen. Es mag vielleicht der Hinweis genügen, daß aus dem russischen Besitz der Abfang- und Angriffsmodelle dieses Flugzeugtyps ein in keiner Weise zu tolerierendes Ungleichgewicht der Macht re sultieren würde. Aufgrund unserer Spionagebemühungen können wir uns glücklich schätzen, Pjotr Baranowitsch für uns gewonnen zu haben, der an der Konzeption und Entwicklung des Bewaff nungssystems beteiligt ist. Er hat, wie Sie wissen, zwei weitere hochqualifizierte Techniker angeworben, und David Edgecliff hat auch das Moskauer Ende der Pipeline bestens besetzt – mit Pawel Upenskoj, seinem besten, in Rußland gebürtigen Agen ten. Wie eindrucksvoll all dies auch klingen mag – wir beide wissen, daß diese Wertung nicht übertrieben ist –, ist dies doch
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keineswegs ausreichend! Was wir bisher in Erfahrung gebracht haben oder noch in Erfahrung bringen dürften, wird nicht aus reichen, die Mig-31 nachzubauen oder die Bedrohung, die sie darstellt, zu neutralisieren. Baranowitsch und seine Leute wis sen außerhalb ihres Spezialgebiets kaum etwas über das Flug zeug, da die Arbeit an dem Projekt aus Gründen der Geheim haltung strengstens untergliedert und spezialisiert ist. Deshalb müssen wir gegen das Biljarsk-Projekt etwas unter nehmen, beziehungsweise die nötigen Vorbereitungen treffen, innerhalb der nächsten fünf Jahre etwas dagegen unternehmen zu können. Ich schlage also vor, ein Modell dieses Flugzeug typs zu stehlen, und zwar möglichst einen produktionsreifen Prototyp zum Zeitpunkt der endgültigen Erprobung. Ich kann mir Ihre Überraschung vorstellen! Jedoch halte ich dies für durchführbar, vorausgesetzt, wir finden einen Piloten, der dazu in der Lage ist. Ich bin der Auffassung, daß es unver meidlich ist, dazu einen Amerikaner heranzuziehen, da unsere RAF-Piloten nicht mehr länger im Luftkampf ausgebildet wer den (ich ziehe alle Möglichkeiten in Erwägung); und am ge eignetsten erschiene mir in diesem Zusammenhang ein Ameri kaner mit Kampferfahrung in Vietnam. Aufgrund unserer Ver bindungen in Moskau und Biljarsk sollte es möglich sein, Pilot und Maschine in erfolgversprechende Nähe zu bringen. In gespannter Erwartung Ihrer Vorstellungen zu obigem verbleibe ich mit den besten Grüßen Ihr Kenneth Aubrey **
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STRENG VERTRAULICH-PM/›C‹ 11.2.76
Mein lieber Sir Richard, ich danke Ihnen für Ihre prompte Antwort auf meine Anfra ge. Ich möchte wirklich mehr über das Flugzeug selbst wissen – wäre es Ihnen vielleicht möglich, mir eine Zusammenfassung von Aubreys Berichten aus den letzten drei Jahren zukommen zu lassen? Was seinen Vorschlag betrifft, so ist das, nehme ich doch an, nicht sein Ernst. Es ist doch offensichtlich einfach lächerlich, einen Akt der Piraterie gegen die Sowjetunion in Betracht zu ziehen! Mit den besten Grüßen, auch an Ihre Frau Ihr
Andrew Gresham
** ›C‹/KA 13.2.76
Kenneth – anbei eine Kopie des gestrigen Briefs des Premierministers. Du wirst also sehen, was er von Deinen kriminellen Plänen hält. Zumindest, was Flugzeuge betrifft. Offiziell bin auch ich seiner Meinung. Aber im privaten muß ich Dir gestehen, daß mich der Gedanke an dieses Biljarsk-Projekt aufs äußerste be unruhigt! Unternimm deshalb alles in Deiner Macht Stehende, einen geeigneten Piloten zu finden, und arbeite schon ein Drehbuch für die vorgeschlagene Operation aus – nur für den Fall! Du könntest Dich diesbezüglich ja an unseren Freund Buckholz vom CIA wenden, der eben zum Chef des Covert
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Action Staff befördert worden ist – oder ist sein neuer Titel dort jetzt Direktor? Jedenfalls geht es für die Amerikaner bei dieser Sache um nicht weniger als für uns Europäer, und sie sind genau wie wir an dem Biljarsk-Projekt interessiert. Viel Erfolg. Und rufe mich in dieser Angelegenheit nicht an; ich werde mich melden – falls und wenn! Grüße, Richard **
STRENG VERTRAULICH – PREMIERMINISTER 29.6.76
Mein lieber Premierminister, Sie haben Richard Cunningham gebeten, Ihnen aufklärendes Material über bestimmte technische Probleme zu besorgen, die den Flugzeugtyp Mikojan Mig-31 betreffen, den wir mit dem Codewort »Firefox« bezeichnen. Ich gehe davon aus, daß die ser Brief eine günstige Gelegenheit darstellt, meine Sache wei ter vorzubringen, wobei ich es für äußerst wichtig halte, daß Sie sich über die Tragweite des russischen Entwicklungsstan des auf bestimmten Gebieten der Militärluftfahrt – am deut lichsten bei diesem Flugzeugtyp – im klaren sind. Unsere Informationen stammen hauptsächlich von Barano witsch, der für die Entwicklung der elektronischen Apparaturen zuständig ist, mit deren Hilfe die theoretischen Erkenntnisse anderer Forscher hinsichtlich eines gedankengesteuerten Waf fensystems in einem hochtechnologisierten Flugzeugtyp in die Praxis umgesetzt werden. Baranowitsch kann uns nicht alle Informationen zukommen lassen, die wir allein für diesen Be
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reich des Biljarsk-Projekts brauchten, und die Wahrscheinlich keit, ihn erfolgreich aus Rußland hierherzubringen, ist außeror dentlich gering, da die Mitarbeiter an diesem Projekt unter strengster Bewachung stehen. Daher auch mein Vorschlag, eine Maschine aus den letzten Serien von produktionsreifen Prototypen zu stehlen, die bereits über die gesamte Ausrüstung verfügen, mit der die Russen die Angriffsversionen der Ma schine auszustatten gedenken. Vielleicht sollte ich an diesem Punkt auf eine interessante Entwicklung auf dem Gebiet der Gedankensteuerung im zivi len Bereich hinweisen – das jüngste Modell eines Rollstuhls, das gegenwärtig in den Vereinigten Staaten erprobt wird. Da mit wird beabsichtigt, eine vollständig gelähmte und/oder be wegungsunfähige Person in die Lage zu versetzen, durch posi tive Gedankenaktivität die Bewegungen eines Rollstuhls zu kontrollieren. Der Rollstuhl würde über eine elektronische Ausrüstung verfügen, mit deren Hilfe am Gehirn angebrachte Sensoren (vermittels einer »Kappe« oder eines Kopfaufsatzes) die vom Gehirn ausgehenden Befehle in Form elektronischer Impulse auf die Mechanik des Rollstuhls übertragen. Damit käme also direkt vom Gehirn der mentale Befehl loszufahren, umzudrehen oder nach links oder rechts zu fahren; er müßte nicht mehr über schwache oder bewegungsunfähige Muskeln übermittelt werden und würde direkt in die künstlichen »Glieder« des Rollstuhls gehen. Es gibt dort jedoch kein Projekt, in dem eine militärische Nutzbarmachung eines solchen Systems angestrebt wird, wohingegen die Sowjets, wie es scheint, gera de nahe daran sind, ein solches System, für einen militärischen Verwendungszweck zu perfektionieren. (Und der Westen hat bis jetzt noch nicht einmal diesen Rollstuhl gebaut.) Das System, an dem unserer Meinung nach Baranowitsch arbeitet, scheint daraufhin angelegt, Radar und Infrarot, diese zwei Standardformen der Aufklärung und Lenkung bei moder
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nen Flugzeugen, mit einem gedankengesteuerten und -kontrol lierten Arsenal an Bord der Maschine zu koppeln. Wie Sie wis sen, wirft Radar von einem festen Objekt ein Signal zurück, und ein Bildschirm zeigt, worum es sich bei diesem Objekt handelt. Mit Infrarot läßt sich feststellen, welche Hitzequellen im Umkreis des Ortungsmechanismus auftreten. Zu Steue rungszwecken können nun diese Methoden einzeln oder kom biniert dazu verwendet werden, Raketen auf ein bestimmtes Ziel zu lenken. Die Raketen enthalten dabei selbst eines oder beide dieser Systeme. Der Hauptvorteil des gedankengesteuer ten Systems ist jedoch darin zu sehen, daß der Pilot auch noch nach dem Abschuß die Kontrolle über die Raketen behält, wie er ihren Abschuß auch beschleunigt auslösen kann, da seine mentalen Befehle direkt an das Abfeuerungssystem weiterge leitet werden, ohne daß es dabei irgendeiner Übertragung auf physischem Wege bedürfte. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß wir – und wenn wir recht unterrichtet sind, auch nicht die Russen – nicht über Waffen verfügen, die sich ein solch hoch entwickeltes System zunutze machen – wie etwa neuartige Ge schoß- oder Kanonentypen. Wenn wir jedoch nicht baldigst den Zeitvorsprung des russischen Forschungsprogramms auf holen, werden wir angesichts der immer schneller vorangetrie benen Entwicklung der Geschoß- und Kanonentechnologie so rettungslos zurückfallen, so daß es uns unmöglich gelingen wird, diesen Vorsprung aufzuholen. Aus diesem Grund müssen wir in den Besitz dieses Systems gelangen. Wir müssen eine Mig-31 stehlen, irgendwann. Mit freundlichen Grüßen, Kenneth Aubrey **
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PM AN KA 24.9.76
Mein lieber Aubrey, besten Dank für Ihre Mitteilung. Ich teile Ihre Befürchtun gen, wenn ich auch Ihren Lösungsvorschlag zurückweisen muß. Und ist Ihre Besorgnis angesichts des jüngsten »Prä sents«, das Leutnant Belenko dem Westen überbracht hat, näm lich des »Foxbat«, nicht vielleicht etwas übertrieben? Die Russen werden mit Sicherheit Jahre brauchen, um sich von dem Verlust der Geheimnisse um den Foxbat zu erholen. Mit den besten Grüßen, Andrew Gresham ** KA AN PM 30.9.76
Mein lieber Premierminister, in Erwiderung Ihrer Zweifel muß ich darauf hinweisen, daß ich der festen Überzeugung bin, daß der Foxbat, die Mig-25, im Vergleich zu dem augenblicklich entwickelten Flugzeugtyp, der in NATO-Kreisen als Firefox bekannt ist, wie ein Spiel zeug wirkt. Wir dürfen uns durch den japanischen Zwischenfall der jüngsten Vergangenheit nicht dazu verleiten lassen, uns in einem falschen Gefühl der Sicherheit zu wiegen. Wir hatten dabei eigentlich mehr Glück, als wir verdient haben, so daß sich der Vorfall letztlich sogar zu unserem Nachteil auswirken könnte. Dem möchte ich auch noch hinzufügen, daß das Informati 18
onsmaterial, welches unsere technischen Experten aus Japan erhalten haben, darauf schließen läßt, daß die Mig-25 nicht ihr volles Potential verwirklicht. Sie besteht größtenteils aus Stahl und nicht aus Titan; sie hat Schwierigkeiten, ihre Höchstge schwindigkeit zu erreichen und zu halten; und ihre elektroni sche Ausstattung ist keineswegs so hoch entwickelt, als man uns glauben machte. Dagegen steht jedoch Baranowitschs Auffassung aus Bil jarsk, daß die geplante Mig-31 selbst den hochgestecktesten Erwartungen gerecht werden wird. Er ist sich der Mängel der Mig-25 sehr wohl bewußt. Jedenfalls ist von ihnen in Wissen schaftlerkreisen immer wieder die Rede, wohingegen hinsicht lich des Firefox und seiner Qualitäten in Biljarsk niemand auch nur die geringsten Zweifel äußert. Mit freundlichem Gruß, Kenneth Aubrey **
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AUBREY AN PM – STRENG VERTRAULICH 3.7.79
Mein lieber Premierminister, was das russische System betrifft, weiß ich weder, was Anti radar ist, noch wie es funktioniert. Meldungen aus Biljarsk, in denen unsere Mittelsmänner jedoch keine genaueren Angaben über dessen geheime Details geben können, deuten lediglich darauf hin, daß das System weder mechanischer noch elektro nischer Natur ist – und daher auch nicht durch irgendwelche Gegenmaßnahmen nachteilig beeinflußt werden kann. Es ist deshalb in keiner Weise mit unserem »Chaff« zur Irreführung von Radargeräten oder irgendwelchen amerikanischen Ent wicklungen zu vergleichen, durch die auf elektronischem Wege eine Radarerfassung erschwert werden soll. Weder die USAF noch die RAF haben irgendwelche Vorstellungen, worum es sich bei diesem russischen System handeln könnte. Es steht inzwischen völlig außer Zweifel, daß der Firefox seit der Entwicklung von Atomwaffen von seiten der Sowjet union und Chinas die ernsthafteste Bedrohung der westlichen Sicherheit darstellt. Mit freundlichem Gruß, Kenneth Aubrey **
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›C‹/KA 30.7.79
Kenneth – sowohl der Premierminister wie Washington haben ihre Zu stimmung gegeben. Du wirst Dich mit Buckholz in Verbindung setzen. Zu Deinem Plan, einschließlich des Piloten (ein seltsa mer Vogel, findest Du nicht auch?), des Wiederauftankpunkts und der Methode, den Piloten in Biljarsk einzuschleusen, wur de die Zustimmung erteilt. Es versteht sich von selbst, daß der Pilot über eine Art Ortungshilfe verfügen sollte, vermittels de ren er den Ort zum Wiederauftanken finden kann. Dabei muß es sich natürlich um ein Gerät handeln, das die Russen nicht kennen und deshalb auch nicht ausfindig machen können. Der Premierminister ist sich der Dringlichkeit des Ganzen voll be wußt, und in Farnborough hat man bereits die Arbeit aufge nommen. Wende Dich dort an einen gewissen Davies. Viel Glück. Du hast nun freie Hand. Richard **
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Allein in seinem Büro, den Geruch von frischer Farbe immer noch in seiner Nase, wurde KGB-Oberst Michail Jurijewitsch Kontarskij, Chef der Abteilung ›M‹, verantwortlich für die Si cherheit des Mikojan-Projekts in Biljarsk, neuerlich von Zwei feln befallen. Sein Assistent Dmitri Prjabin war bereits gegan gen, und damit verflüchtigte sich auch das Gefühl der Zuver sicht, das er aus der Arbeit dieses Nachmittags gewonnen hat te, zusehends in dem großen Raum. Er saß hinter dem großen, neuen Schreibtisch und zwang sich, ruhig zu bleiben. Das ging nun schon zu lange so, stellte er fest – diese Ab hängigkeit von dem beruhigenden Effekt, den seine Arbeit auf ihn ausübte. Nun, da der Zeitpunkt der endgültigen Erprobung der Bewaffnung der Mig-31 so nahe gerückt war, wurde ihm bewußt, daß ihm jegliches Gefühl der Perspektive abhanden gekommen war. Dies war nichts anderes, wie ihm schien, als die Panik der entscheidenden letzten Minuten, in denen er all die Einzelteile seiner Arbeit noch einmal wie verstreute Ge päckstücke zusammenzuraffen suchte – dabei ständig von der Angst geplagt, etwas vergessen zu haben. Er hatte Angst, sein Büro zu diesem Zeitpunkt zu verlassen, da er wußte, daß sein Körper noch nicht imstande war, die für ihn charakteristische arrogante Haltung anzunehmen. Sofort hätte man ihm in den Korridoren des Zentrums seine Zweifel und Sorgen angesehen; und das hätte sich als unverzeihlicher Fehler von seiner Seite herausstellen können. Schon seit Jahren hatte er von den Sicherheitslecks in Bil jarsk gewußt – von Baranowitsch, Kreschin und Semelowskij und von ihrem Kurier, dem Lebensmittelhändler Dherkow. Während des langen Zeitraums, den die Entwicklung und Kon struktion der Mig in Anspruch genommen hatte, war es prak tisch unumgänglich gewesen, daß er davon erfahren hatte.
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Aber er und seine Abteilung hatten nichts dagegen unter nommen – nicht mehr zumindest, als den Informationsfluß durch verschärfte Sicherheitsbestimmungen und die Verhinde rung von Treffen und Informationsübergaben auf ein Minimum zu reduzieren. Er hatte sich nämlich – und plötzlich ließ er seinen Kopf in seine Hände sinken, preßte seine Handflächen gegen die geschlossenen Augenlider – auf ein gewagtes Spiel eingelassen. Der Grund dafür war Angst gewesen – Angst, die Entfernung lebenswichtiger menschlicher Komponenten von dem Projekt vorzuschlagen, und Angst, daß die Engländer oder der CIA, wenn er dies doch getan hätte, andere Mitarbeiter für sich gewonnen oder neue Agenten und Kontaktmänner einge schleust hätten, von denen er nichts gewußt hätte. Mir ist der Teufel, den ich kenne, lieber, hatte er Prjabin gegenüber geäu ßert, als er diesen, ein zaghaftes Lächeln auf seinen Lippen, von seinem Entschluß in Kenntnis gesetzt hatte. Und sein jun ger Kollege hatte sich seinem Vorschlag angeschlossen. Inzwi schen erschien ihm dieses Vorgehen von unüberbietbarer Dummheit. Auch damals schon war der Preis im Falle eines Fehlschlags absolut gewesen. Schmähliche Dispensierung vom Dienst, wenn nicht sogar Exekution. Er suchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß, was auch immer die Amerikaner und Briten in Erfahrung gebracht haben mochten, doch wesentlich weniger war, als sie möglicherweise hätten herausfinden können … Seine schmalen, dunklen Gesichtszüge wirkten müde und ab gespannt; in seinen grauen Augen stand die Angst. Er mußte sie weiter arbeiten lassen, auch wenn sie Spione waren. Die Worte klangen hohl in ihm nach, als trüge er sie bereits einer ungläubigen Hörerschaft vor, und auch Andropow selbst …
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Erster Teil
DER DIEBSTAHL
1. Der Mord Dem zierlich gebauten Mann am Ende der langen Reihe von Passagieren erschien der Weg von der BAC-111 der British Airways über das Rollfeld des Tscheremetiewo-Flughafens, als würde er nie enden wollen. Der Wind peitschte gegen seinen Schlapphut, den er sich mit einer Hand fest auf den Kopf drückte, während er in der anderen eine Reisetasche mit dem Etikett der Fluglinie trug. Er war ein unauffälliger Passagier – er trug eine Brille mit dickem Rand, und seine Oberlippe zierte ein dünner Schnurrbart. Durch den kalten Wind war seine Nase gerötet, seine Wangen gebleicht. Er trug einen dunklen Mantel, eine dunkle Hose und unauffällige Schuhe. Einzig die Bewe gungen seines Magens, eine Folge seiner animalischen Angst, verliehen ihm Individualität. Es war Usus beim KGB, sämtliche Passagiere, die mit einem Auslandsflug auf Moskaus Hauptflughafen ankamen, zu foto grafieren, und so wurde auch er mit einer Kamera mit Teleob jektiv aufgenommen. Er vermutete, daß dies irgendwann wäh rend seines Marsches über das Rollfeld geschehen war, obwohl er nicht hätte sagen können, zu welchem Zeitpunkt genau, während er mit gesenktem Kopf über den Asphalt schritt, um sich den aufwirbelnden Staub aus Gesicht und Augen zu hal ten. Die plötzliche Wärme der Abfertigungshalle überraschte ihn, 25
verleitete ihn dazu, den Kragen seines Mantels herunterzuklap pen, seinen Hut abzunehmen und über sein braunes Haar zu streichen. Er zupfte es aus seiner Stirn, wirkte wie ein Mann, der nichts auf sein Äußeres gibt. In diesem Augenblick wurde er neuerlich fotografiert. Es war beinahe so, als posierte er für solch eine Studie. Er blickte sich kurz um und trat dann auf die Zollabfertigung zu. Um ihn herum wogte die Menschenflut, wie sie auf jedem internationalen Flughafen anzutreffen ist, und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Delegationen wurden durch die Menge geschleust, und sein Blick fiel auf die Fla mingofarben einer afrikanischen Nationaltracht. Auch andere waren vertreten – Orientalen, Europäer. Innerhalb dieses im mensen Kongresses wurde er selbst zu einem Gegenstand, und die kosmopolitische Familiarität einer Flughafenwartehalle wirkte sich beruhigend auf seinen Magen aus. Wenn überhaupt, dann wirkte er höchstens ziemlich unterkühlt und unwohl, als hätte er den Flug nicht gut vertragen. Er wußte, daß die Männer, die hinter den Zollbeamten stan den, vermutlich Sicherheitsbeamte waren – KGB. Er stellte seine Flugtasche zwischen die Schirme des Detektors, und sein restliches Gepäck kam über das Fließband auf ihn zugeglitten. Der Mann bewegte sich jedoch nicht – er hatte bereits geahnt, was als nächstes geschehen würde. Einer der beiden Männer, die mit zur Schau getragener Gleichgültigkeit hinter den Zoll beamten standen, trat vor und nahm die zwei Koffer vom Fließband. Starr hielt der Mann seinen Blick auf die Zollbeamten ge richtet, als ignorierte er den Sicherheitsbeamten, während die ser beide Koffer öffnete und mit unsanfter Gründlichkeit die Kleidung, die sie enthielten, abtastete und durchsuchte. Der Zollbeamte überprüfte seine Papiere und reichte sie dann dem Kontrolleur am Ende des langen Schalters. Das Durchwühlen der Kleidungsstücke wurde immer drängender, und das Lä
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cheln auf den Lippen des KGB-Mannes verflog, um durch ein angespanntes, stutziges Starren auf den Boden eines jeden Kof fers abgelöst zu werden. Der Zollbeamte sagte: »Mr. Alexander Thomas Orton? Was ist der Grund Ihres Besuchs in Moskau?« Hustend antwortete der Mann: »Wie Sie aus meinen Papie ren ersehen können, bin ich Auslandsvertreter der Excelsior Plastics Company aus Welwyn Garden City.« »Ach ja, natürlich.« Der Blick des Mannes wanderte kurz zu der frustrierten Miene des Sicherheitsbeamten hinüber. »Sie haben – während der letzten zwei Jahre die Sowjetunion meh rere Male besucht, Mr. Orton?« »Allerdings – und so etwas ist mir dabei noch nie passiert!« Der Mann war nicht verärgert, nur überrascht. Er schien be müht, einen höflichen Eindruck zu erwecken, ein einsichtiger und erfahrener Rußlandreisender, der sich entschlossen hatte, geflissentlich zu übersehen, wie man mit seinem Gepäck um sprang. »Entschuldigen Sie bitte«, entgegnete der Beamte. Inzwi schen war der KGB-Mann in eine geflüsterte Unterhaltung mit dem Zollbeamten verwickelt. Der Rest der Fluggäste hatte be reits das Tor passiert. »Sie wissen doch, daß ich alle nötigen Papiere habe«, melde te er sich zu Wort. »Sie sind vom Handelsattaché der Sowjeti schen Botschaft in London unterzeichnet.« In seiner Stimme lag ein Anflug von Nervosität, als spielte man ihm einen Streich, den er noch nicht recht verstand. »Wie Sie bereits ge sagt haben, war ich bereits mehrere Male in der Sowjetunion, und es hat dabei nie derartige Schwierigkeiten gegeben. Muß er meine Sachen wirklich so in Unordnung bringen? Wonach sucht er überhaupt?« Der KGB-Mann näherte sich ihnen. Alexander Thomas 27
Orton fuhr sich mit der Hand über sein pomadisiertes Haar und versuchte ein Lächeln. Der Russe war ein großer Mann mit platten, mongolischen Gesichtszügen und einer Aura von un bedeutender, frustrierter Macht über ihn. Er nahm von dem Beamten den Paß und die Visa entgegen und studierte sie ein gehend. Als er schließlich zufrieden zu sein schien, starrte er hart in Ortons Gesicht und sagte: »Weshalb kommen Sie nach Mos kau, Mr. – Orton?« »Orton, richtig. Ich bin Geschäftsmann – Export, um genau zu sein.« »Und was gedenken Sie aus Ihrem Land in die Sowjetunion zu exportieren?« In der Stimme des Russen lag ein scharfer Ton, noch zusätzlich unterstützt durch ein leichtes Schürzen der Lippen. Allmählich nahm die ganze Szene etwas irreale Züge an. Der Mann strich sich neuerlich über das ölige Haar und schien nervöser als zuvor. »Plastikprodukte – Spielsachen, Spiele und so.« »Wo sind Ihre Muster – das Zeug, das Sie verkaufen, Mr. Orton?« »Hier, sehen Sie.« »Sind Sie Engländer, Mr. Orton? Ihre Stimme – sie klingt nicht sehr englisch.« »Ich bin gebürtiger Kanadier.« »Sie sehen aber nicht kanadisch aus, Mr. Orton.« »Ich – versuche, so englisch wie möglich zu wirken. Für den Verkauf ist das im Ausland äußerst förderlich, verstehen Sie?« Plötzlich fiel ihm das penible Sprechtraining ein, das ihm damals angesichts all der anderen Aufgaben absurd erschienen war. Jetzt war er dafür dankbar. »Das verstehe ich nicht.« 28
»Warum durchsuchen Sie mein Gepäck?« Für einen Moment stutzte der KGB-Mann. »Das – das geht Sie nichts an. Sie sind in der Sowjetunion zu Besuch. Verges sen Sie das nicht, Mr. Orton!« Wie um seinen Ärger auszu drücken, hielt er schließlich das kleine Transistorradio hoch, sah Orton in die Augen und öffnete die Rückenklappe des Ge räts. Orton ballte in den Hosentaschen seine Fäuste und warte te. Offensichtlich enttäuscht, schloß der Russe das Radio wie der. »Was wollen Sie damit eigentlich? In Moskau können Sie Ihre lächerlichen Programme doch sowieso nicht empfangen.« Der Mann zuckte mit den Achseln, und dann streckte man ihm das Radio und seinen Paß entgegen. Er gab sich alle Mühe, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu halten, als er sie entge gennahm. Darauf ging Orton, so viel gekränkte Würde in seiner Miene wie möglich, langsam auf den Ausgang zu und trat durch die mächtigen Glastüren ins Freie. Er brauchte sich gar nicht erst umzusehen, um zu wissen, daß sich der KGB-Mann bereits mit seinem Kollegen beriet, der die ganze Zeit über nicht von sei nem Platz gewichen war und offensichtlich der Ranghöhere von beiden war. Gant vermutete, daß sie der Sicherheitsabteilung angehörten, die für die Überwachung amerikanischer, britischer und kana discher Touristen zuständig war. Während sich seit Verlassen des Flugzeugs sein Magen zum erstenmal wieder einigermaßen beruhigte, dachte Gant bei sich, daß er in gewisser Weise alles drei und daher sehr wohl von Interesse für sie war. Vor dem Flughafengebäude rief Gant nach einem Taxi, setz te seine Koffer ab und drückte sich gegen den starken Wind neuerlich seinen Hut fester auf den Kopf. Ein schwarzes Taxi fuhr vor, und mit seiner höflichsten und
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harmlosesten Stimme sagte Gant: »Ins Hotel Moskwa, bitte.« Der Fahrer öffnete ihm die Tür, verstaute seine Koffer und stieg dann selbst ein, um freilich, den Motor im Leerlauf, noch eine Weile zu warten. Gant wußte, daß er auf den KGB-Wagen wartete, der ihnen folgen sollte. Ihm war das Zeichen keines wegs entgangen, das der bullige KGB-Mann dem Taxifahrer gegeben hatte. Er nahm seinen Hut ab und neigte sich etwas zur Seite, so daß er im Rückspiegel die lange, chromglänzende Limousine sehen konnte. Schließlich legte der Taxifahrer den ersten Gang ein und fuhr vom Flughafengelände auf die Schnellstraße, die sie in südöstlicher Richtung in das Zentrum Moskaus führen würde. Gant lehnte sich in seinem Sitz zurück und vermied es tunlichst, durch das getönte Rückfenster nach hinten zu blicken. Er wußte, daß ihnen die schwarze Limousine folgen würde. Alexander Thomas Orton hatte also die erste Feuerprobe überstanden, dachte er, während er spürte, wie die Spannung langsam nachließ und von ihm wich. Er schwitzte nicht. Die Heizung des Taxis taugte nicht viel, und die Innentemperatur war ziemlich niedrig. Er mußte jedoch trotzdem zugeben, daß er nervös gewesen war. Dies war ein Test gewesen, den er un bedingt hatte bestehen müssen. Er hatte eine Rolle spielen müssen, die seinem Publikum zur Genüge vertraut war – so vertraut, daß ihnen jeder Mißton sofort aufgefallen wäre. Er hatte dabei sein eigenes Selbst total ausschalten müssen, nicht nur hinter der Maske von Ortons fettigem Haar, seiner Brille und seinem kraftlosen Kinn, sondern auch in seinen Bewegun gen und in seiner Stimme. Zugleich mußte ihm dabei jedoch auch, ähnlich dem Geruch eines charakteristischen Rasierwas sers, ein Hauch von Verdächtigkeit und Zwielichtigkeit anhaf ten. Drittens schließlich – und das war vermutlich für ihn das schwerste – sollte er eine gewisse aufgesetzt wirkende »Bri tishness« an den Tag legen, was vor allem Verhalten und Ak
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zent betraf. Während er noch über seinen Erfolg nachdachte und dem KGB-Mann insgeheim für seinen erheblichen Mangel an Fan tasie und Scharfsinn dankte, wußte er zugleich auch Aubreys enorme Voraussicht zu würdigen. Der kleine, untersetzte Eng länder hatte schon lange an Gants Tarnung als Orton gearbeitet, die nur dem Zweck diente, Gant unauffällig nach Rußland zu schleusen. Fast zwei Jahre lang hatte ein Mann, der fast genau so aussah wie Gant im Moment, den Zoll in Tscheremetiewo passiert. Ein Exportkaufmann, der mit einigem Erfolg eine Reihe von Plastikspielsachen vertrieb. Besonders gut verkaufen sich seine Produkte offensichtlich im GUM am Roten Platz – eine Tatsache, die Aubrey ungemein amüsiert hatte. Das war natürlich noch nicht alles gewesen; Alexander Thomas Orton war ein Schmuggler. Vor etwas mehr als einem Jahr war ganz vorsichtig der Verdacht des KGB hinsichtlich Ortons möglicher Aktivitäten als Rauschgiftschmuggler ge weckt worden. Orton war sehr sorgfältig überwacht worden, wenn er auch bisher noch nie so offen behelligt worden war. Der große, blöde KGB-Mann hatte in seinem Gepäck etwas zu finden erwartet, daran bestand kein Zweifel. Und da sich sein Verdacht, erst geweckt und dann frustriert, nicht bewahrheitet hatte, wurde Gant auf dem Weg ins Hotel beschattet. Gant wußte, daß Aubrey nicht von ihm beeindruckt gewesen war. Nicht, daß ihm das etwas ausgemacht hätte. Trotz seines Engagements für diese Sache war Gant nie daran gelegen, je manden zu beeindrucken. Er stand noch am Anfang seiner Rei se, und wenn er überhaupt eine Emotion verspürte, dann die der Ungeduld. Seit dem Zeitpunkt, da Buckholz ihn, als er noch als Garagengehilfe gearbeitet hatte, in dieser miesen Piz zeria in Los Angeles aufgestöbert hatte, hatte für ihn nur eines gezählt. Dies war das erstemal gewesen, daß er sich von den Apatschen getrennt hatte, der Mig-Schwadron im Besitz der 31
USAF, und es hatte immer nur eines für ihn gezählt. Er würde einmal das größte Flugzeug der Geschichte fliegen. Falls Gant noch so etwas wie eine Seele besaß, was er bezweifelte, dann bestand sie in dieser Idee; darin war sie wie in einem Heiligtum aufbewahrt, vielleicht sogar einbalsamiert. Buckholz hatte ihn wieder zurück zur Fliegerei gebracht; erst hatte er die Mig-21 geflogen, und dann den Foxbat; und dann war er ausgeschie den, hatte versucht, das Ganze bleibenzulassen. Darauf hatte Buckholz ihn neuerlich aufgespürt, und dabei war diese Idee zur Sprache gekommen – der Firefox. Seine Schauspielerei in der Rolle Ortons amüsierte Aubrey – wie notwendig sie auch war. In seiner äußersten Entschlossen heit und Zielstrebigkeit betrachtete Gant dies jedoch nur als ein Vorspiel. Es brachte ihn dem Firefox näher. Gant hatte immer einen Glauben an sich selbst besessen, der fast krankhafte Ausmaße annahm. Und er hatte diesen Glauben nie verloren. Nicht in den Alpträumen, unter Drogeneinfluß, im Krankenhaus, während des Zusammenbruchs, in der Zeit seiner versuchten Sühne. Er hatte nie aufgehört, anders von sich zu denken als von einem Flieger, und zwar dem besten. Buckholz, dieser Dreckskerl, hatte das gewußt, sinnierte Gant – und er hatte sich dieses Wissens bedient, da er gewußt hatte, daß hier in seine einzige Chance lag … Er kam nicht davon los. Der Job in Los Angeles war im Grund nur Mache gewesen – ein Aus steigen, das etwa so ernst zu nehmen gewesen war wie das An legen einer Verkleidung. Und auch davor, das Krankenhaus und die weiße Uniform, all das war nur Verkleidung gewesen. Er hatte versucht, seine Augen vor der Wahrheit zu verschlie ßen, vor der Wahrheit, daß auch der Beste Angst haben konnte, daß er sich überschätzen konnte, daß er versagen konnte. Das war der wirkliche Alptraum gewesen. Gants prekäre Welt, die ganze Person, die er war, sah sich bedroht – durch angespannte Nerven, durch zu viele Missionen, durch ein 32
Zuviel an Gefahr und Anspannung. Gant entstammte nicht sonderlich glücklichen familiären Verhältnissen. Kaum über zehn, verspürte er nur noch Verach tung für seine Eltern und seinen Bruder, den Versicherungs kaufmann, der eindeutig ein Versager war. Auch verachtete er, obwohl er zugleich nicht umhin konnte, sie zu lieben, seine ältere Schwester, eine unordentliche Schlampe mit vier Kin dern und einem Säufer als Ehemann. Er kam aus einem miesen, kleinen Nest in der eintönigen und endlosen Weite des Mittel westens – Clarkville, 2763 Einwohner, stand auf der Ortstafel, und darunter: eine große kleine Stadt. Gant hatte Clarkville gehaßt. Er hatte Clarkville schon lange den Rücken gekehrt, und auch der Tod seiner Mutter und sein alternder Vater hatten ihn nicht mehr dorthin zurückbringen können. Seine Schwester hatte ihm einmal geschrieben, wobei sie ihm abwechselnd Vorhaltungen machte und dann wieder an sein gutes Herz ap pellierte. Er hatte nicht darauf geantwortet. Der Brief hatte ihn in Saigon erreicht. Gant war Carkville nie entronnen. Er schleppte es mit sich herum, wohin er auch ging. Es hatte ihn geprägt. Er wischte sich den Schweiß von seiner Stirn an den Beinen seiner dunklen Hose ab. Er schloß die Augen und versuchte, nicht an die Vergangenheit zu denken. Es war dieser Traum gewesen, dachte er. Dieser verdammte Traum war an allem schuld. Das und sein verletzter Stolz, weil dieser neunmalklu ge, altväterliche Aubrey so von oben auf ihn herabgesehen hat te. Gants Hände ballten sich auf dem Plastiksitz zu Fäusten. Wie ein Kind wollte er nur eines – es ihnen zeigen, ihnen allen; genauso, wie er es damals denen in Clarkville hatte zeigen wol len, dieser toten Stadt voller toter Menschen. Es gab nur eine Möglichkeit, es Aubrey zu zeigen. Er mußte ihm dieses Flug zeug zurückbringen – den Firefox.
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Kontarskij telefonierte mit seinem Vorgesetzten innerhalb der Industriellen Sicherheitssektion des 2. Hauptdirektoriums, innerhalb deren die Abteilung M einen zwar kleinen, aber le bensnotwendigen Bestandteil bildete. Dmitri Prjabin beobach tete eingehend seinen Chef; fast erinnerte er an einen Souffleur, der, das Textbuch auf den Knien, mit den Augen den Bewe gungen eines Schauspielers folgt. Kontarskij schien inzwischen wesentlich gelassener als am Tag zuvor, als hätte die Geschäf tigkeit der letzten vierundzwanzig Stunden einen beruhigenden Effekt auf ihn ausgeübt. Kontarskij hatte währenddessen von der KGB-Einheit in Biljarsk einen auf dem neuesten Stand befindlichen Bericht erhalten, und die Überwachung der Un tergrundzelle war verschärft worden. Während der letzten achtundvierzig Stunden war niemand unbemerkt nach Biljarsk gelangt, und verlassen hatte die kleine Stadt nur der Kurier Dherkow. Sein Kombi war bei seiner Rückkehr aus Moskau gründlich durchsucht worden. Kontarskij hatte angeordnet, sämtliche Fahrzeuge, die nach Biljarsk kamen, zu durchsuchen und das Personal innerhalb des Sicherheitsbereichs der Fabrik genauestens zu überprüfen. Die Hundepatrouillen um das Fa brikgelände waren verstärkt und die Anzahl der bewaffneten Wachen in den Hangars verdreifacht worden. Nachdem diese Maßnahmen einmal in die Wege geleitet wa ren, hatten sowohl Kontarksij wie Prjabin begonnen, sich bes ser zu fühlen. Prjabin sollte noch am selben Abend mit einem KGB-Hubschrauber nach Biljarsk fliegen und vom dortigen zuständigen Offizier den Oberbefehl über die Sicherheitskräfte übernehmen. Binnen weniger Stunden würde er Biljarsk her metisch abriegeln können. Kontarskij hatte sich entschlossen, nicht mit dem Ersten Sekretär und seinem Gefolge zu reisen, sondern schon vierundzwanzig Stunden vor dem Probeflug an Ort und Stelle zu erscheinen. Sie würden die Mitglieder der Untergrundorganisation erst wenige Stunden vor dem Flug
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verhaften, so daß sie zum Zeitpunkt der Ankunft des Ersten Sekretärs bereits verhört würden. Das würde, rechnete er sich aus, sicher einigen Eindruck auf den Ersten Sekretär und An dropow machen, der ebenfalls in Biljarsk eintreffen sollte. So wohl Prjabin wie Kontarskij versprachen sich sehr viel von den Verhören. In einer ebenso theatralischen wie eindrucksvollen Demonstration gnadenloser KGB-Effizienz würden Barano witsch, Kreschin, Semelowskij, Dherkow und dessen Frau aus ihrem trügerischen Gefühl der Sicherheit gerissen werden. Kontarskij legte den Hörer auf die Gabel. Auf seinen Lippen breitete sich ein breites Lächeln aus, das seinem Adjutanten und der dritten in seinem Büro anwesenden Person galt – Vik tor Lanjew, dem stellvertretenden KGB-Sicherheitschef in Bil jarsk. Nachdem er sich Lanjews detaillierten Bericht über die Unternehmungen und Kontakte der drei unter Beobachtung stehenden Männer angehört hatte, wirkte Kontarskij sichtlich erleichtert; er wurde zusehends optimistischer und malte sich bereits in den buntesten Farben den erfolgreichen Abschluß seiner Mission aus. Die Sicherheitsvorkehrungen in Biljarsk nahmen gerade klassische Ausmaße an – völlig orthodox und ohne Fantasie – eine reine Politik des Overkill. Da waren die ortsansässigen KGB-Offiziere und ihre ausgewählten Leute vom 2. Direktori um; ihnen zur Seite stand das Personal des GRU, des sowjeti schen Militärischen Geheimdienstes, das sowohl auf dem Flug feld wie in der Stadt als Wachen und Patrouillen fungierte; und drittens waren da schließlich noch die »inoffiziellen« KGBMitglieder, die Informanten und Spitzel, die den engsten Kon takt zu den Forschungs- und Entwicklungsteams hatten. Alle diese drei Gruppen richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf vier Männer und eine Frau. Sie beobachteten alles, sahen und wußten alles. Bereits frühzeitig in den Glückwünschen seines Vorgesetz 35
ten schwelgend, sagte Kontarskij nach einer Weile, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte und seine Finger aneinan derlegte: »Wir werden alles doppelt absichern, meine Freunde. Wir dürfen an diesem Punkt keinerlei Risiken mehr eingehen – nicht, daß in letzter Minute noch etwas schiefgeht. Deshalb würde ich vorschlagen, daß wir noch zusätzlich vom 5. Haupt direktorium eine ihrer Sicherheitshilfseinheiten anfordern. Ein verstanden?« Lanjew, der Mann aus Biljarsk, schien leicht gekränkt. »Das ist doch nicht nötig, Genosse Oberst.« »Und ob das nötig ist!« Kontarskijs Augen blitzten vor Zorn. »Ich muß völlig sichergehen können, daß in Biljarsk nichts schiefgehen kann oder wird. Oder können Sie mir vielleicht garantieren – und zwar ohne irgendwelche Abstriche –, daß nichts schiefgehen kann?« Kontarskij lächelte Lanjew an. Dieser, ein Mann in mittleren Jahren, der in den Rängen des KGB so weit aufgestiegen war, wie es angesichts seiner Voraussetzungen nur möglich war, sah zu Boden und schüttelte den Kopf. »Nein, Genosse Oberst, das könnte ich nicht«, entgegnete er ruhig. »Und das würde selbstverständlich auch niemand von Ihnen verlangen, Viktor Alexejwitsch.« Er strahlte seine zwei Unter gebenen an. Prjabin spürte den Umschwung in Kontarskijs Stimmung. Es überraschte ihn stets von neuem, wie sich im Wesen seines Chefs hin und wieder in Ansätzen genau die Symptome eines Manisch-Depressiven zeigten. Inzwischen waren die Zweifel des vorangegangenen Tages völlig verges sen. Vermutlich hätte Kontarskij sich selbst nicht erkannt, wäre er dem besorgten Mann vom Tag zuvor gegenübergestanden. »Wie viele Männer, Oberst?« fragte er. »Vielleicht hundert. Aber das muß natürlich unauffällig ge 36
schehen. Ja, ich würde sagen: hundert. Damit riskieren wir na türlich, sie davor abzuschrecken, etwas zu unternehmen, aber das ist immer noch besser, als sie bei ihrem Vorhaben gar nicht zu erwischen.« »Genosse Tsernik glaubt nicht, daß sie etwas geplant haben, Genosse Oberst«, warf Lanjew ein. »Mhm. Vielleicht nicht. Aber wir müssen so vorgehen, als beabsichtigten sie, den Testflug zu sabotieren. Irgendein De fekt an einer der Raketen oder an der Bordkanone … eine Ex plosion mitten im Flug; ich brauche Ihnen das wohl nicht näher auszumalen; Die Produktion der Mig-31 würde weit zurück geworfen, wenn nicht sogar neu überdacht werden müssen. Wollen Sie also, daß wir alle, alle von uns, aufs unehrenhafte ste vom Dienst suspendiert werden?« Kontarskij lächelte im mer noch. Für einen Augenblick legte sich zwar seine Stirn in Falten, aber dann schüttelte er seine Zweifel wieder ab. Inzwi schen konnte er seiner Angst in die Augen sehen, da es ihm unvorstellbar schien, wie er noch einen Fehler hätte machen sollen. Das reine Prinzip der Multiplikation verlieh ihm Selbst vertrauen. Fast zweihundert Männer in Biljarsk, ganz zu schweigen von den Spitzeln … »Ich muß noch beim Politischen Sicherheitsdienst anfragen, welche von den Informanten, die man uns – geliehen – hat, am zuverlässigsten sind«, fuhr Kontarskij entschlossen fort. »Ei gentlich bräuchten wir sie nicht, aber sie werden sich auf dem Werkgelände aufhalten, wo sie den Dissidenten am nächsten sind. Sie werden auf Ihre Anweisungen hin bewaffnet werden, Viktor Alexejwitsch.« Lanjew nickte. »Und mit Funksprechge räten ausgestattet. Und jetzt, wo werden sich unsere drei Verrä ter während der letzten Stunden vor dem Start aufhalten, wenn die Maschine mit den Waffen bestückt wird?« Lanjew blätterte in seinen Notizen.
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»Alle drei Männer werden sich im Hangar selbst befinden, Genosse Oberst – leider.« »Tja, dort sind sie natürlich dreimal so gefährlich wie an jedem anderen Ort. Können Sie mir dazu noch Genaueres sa gen?« »Wie Sie wissen, Genosse Oberst, hat Baranowitsch am Be waffnungssystem selbst gearbeitet.« »Er wird also die ganze Nacht, bis zum Start, Zugang zur Maschine haben?« »Ja, Genosse Oberst.« »Und kann er denn nicht irgendwie ersetzt werden?« »Nein, das ist nicht möglich.« »Na gut! Und was ist mit den anderen?« »Kreschin und Semelowskij sind beide kaum mehr als be sonders wichtige Mechaniker, Genosse Oberst. Sie werden mit dem Auftanken der Maschine und der Anbringung der Raketen und der anderen Waffen beschäftigt sein. Und auch mit dem hinteren Abfangsystem. Sie sind mit diesen Systemen aufs be ste vertraut und deshalb nicht so ohne weiteres zu ersetzen.« »Können sie bei der Arbeit beobachtet werden?« »Sogar aus nächster Nähe. Unsere Informanten werden Seite an Seite mit ihnen arbeiten.« »Solange unsere Informanten nur wissen, wann sie es mit ei nem Akt versuchter Sabotage zu tun haben!« »Machen Sie sich deshalb einmal keine Sorgen, Genosse Oberst.« »Gut, ich verlasse mich in diesem Punkt ganz auf Sie. Dher kow wird um diese Zeit natürlich bei sich zu Hause mit seiner fetten Frau im Bett liegen und schlafen.« Kontarskij grinste. Er wurde in seiner Zuversicht weiter bestärkt – durch das, was er hörte, durch die Maßnahmen, die er scheinbar ergriff, durch die 38
Entschlossenheit seines Auftretens, durch seine Stimme … »Darf ich dann vielleicht einmal kurz zusammenfassen, meine Herren? Unsere Kollegen vom GRU werden einen undurch dringlichen Schutzring um Biljarsk legen. Die angeforderte Sicherheitshilfseinheit wird morgen eintreffen und die Wachen an der Umzäunung des Werkgeländes, in den Hangars, in der Fabrik und am Stadtrand selbst verstärken. Unsere drei Dissi denten werden schärfstens überwacht; das gilt vor allem für Baranowitsch. Habe ich irgend etwas vergessen, Dmitri?« »Ich habe alles hier in meinen Aufzeichnungen«, erwiderte Prjabin. Die Arme hinter dem Kopf gefaltet, streckte sich Kontarskij hinter seinem Schreibtisch. Das Lächeln, das Prjabin allmäh lich zu beunruhigen begann, schien völlig unveränderlich in seinen schmalen, dunklen Gesichtszügen fixiert. Sein Uni formkragen stand am Hals offen, so daß sein vorstehender Adamsapfel sichtbar war, und die dünne, vogelartige Haut, die sich wie bei einem Truthahn um den Hals spannte … Prjabin versuchte, nicht weiter daran zu denken. »Ich denke, wir sollten zusätzlich auch gleich die Verteiler in Moskau auffliegen lassen. Nein, noch nicht heute nacht. Wenn sie fast achtundvierzig Stunden früher verschwinden, könnte das Lansing noch merken und unsere Freunde in Biljarsk war nen. Nein! Morgen wird noch früh genug sein. Damit werden uns etwa vierundzwanzig Stunden verbleiben, um herauszufin den, was sie wissen! Werden Sie sich darum kümmern, Dmi tri?« »Jawohl, Oberst. Ich werde von heute abend an das Lager haus überwachen lassen, das sie als Deckung benutzen – und dann auf Ihre Anweisungen hin eingreifen.« »Gut. Ich würde sie noch gerne sehen, bevor … bevor ich morgen nach Biljarsk fliege. Ja. Wenden Sie sich wegen der
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Überwachung des Lagerhauses an das 7. Direktorium, Dmitri. Wir können nicht zu viele von unseren eigenen Leuten entbeh ren, und die sind es ja gewohnt, Leute zu überwachen. Wenn ich dann Anweisung erteile, können sie durch unser Team ab gelöst werden.« »Sehr gut, Oberst.« »Sehr gut? Ja, Dmitri, allmählich bekomme ich das Gefühl, daß das alles wirklich sehr gut sein könnte!« Kontarskij lachte. Prjabin beobachtete, wie der Adamsapfel im Truthahnhals sei nes Vorgesetzten auf und ab hüpfte, und haßte die übertriebene Zuversicht seines Vorgesetzten mehr, als er seine Stimmungs umschwünge fürchtete. Die schwarze Limousine hatte sich an einer günstigen Stelle gegenüber dem Eingang des Hotels Moskwa postiert. Während Gant die Eingangshalle des Hotels betrat und sich auf seine Hosen- und Manteltaschen klopfte, als wollte er sich vergewis sern, daß er seine Papiere noch hatte, beobachtete er die beiden Männer in der Limousine, die jedoch keine Anstalten machten, ihm zu folgen. Einer war bereits in die Lektüre einer Zeitung vertieft, während der andere, der Fahrer, sich eben eine Zigarette ansteckte. Durch ihre Inaktivität gewarnt, sah sich Gant von der Rezeption aus im Foyer des Hotels um, bis er schließlich auch den Mann entdeckte, der darauf wartete, ihn zu identifizieren. Offensichtlich war sein Bild sofort per Funk vom Flughafen in die Dserschinskijstraße weitergeleitet worden. Wäre er von Aubrey nicht gründlich darauf vorbereitet wor den, was ihn hier erwartete, hätte ihm diese Totalität der Über wachung sicher den Atem geraubt. Und dabei stand er nur un ter dem Verdacht der »Wirtschaftskriminalität«. Der Mann, der ihn, hinter einer Ausgabe der Prawda ver steckt, beobachtete, zeigte keinerlei Anzeichen von Interesse.
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Er saß in einer der vielen Nischen entlang der Eingangshalle des Hotels. Sein Mantel war über seinen Sessel geworfen, und er schien völlig mit sich selbst beschäftigt. Falls und wenn Gant das Hotel verließ, würde ihm dieser Mann folgen. Mögli cherweise war der Wagen auf der Straße draußen bereits von einem anderen abgelöst worden, der demselben Direktorium der KGB unterstellt war wie der Mann hinter der Zeitung. In seinem Zimmer setzte Gant seine Brille mit den unge schliffenen Gläsern ab, zerzauste sich absichtlich das Haar und nahm seine Krawatte ab. Es war, als befreite er sich aus einer Zwangsjacke. Er öffnete seine Koffer und streifte dann die Schuhe ab. Die Fenster seines Zimmers blickten auf den Roten Platz hinaus. Gant nahm von dem Wägelchen mit Getränken, das in einer Ecke stand, eine Flasche Scotch und schenkte sich ein Glas ein. Dann setzte er sich auf die niedrige Couch, legte seine Beine hoch und versuchte, sich zu entspannen. Man hatte ihn gewarnt, nicht nach Wanzen zu suchen, da die Möglichkeit bestand, daß er durch einen von einer Seite her durchsichtigen Spiegel beobachtet wurde. Er warf einen kurzen Blick auf den großen Wandspiegel, zwang sich aber, sofort wieder wegzusehen. Allmählich be gann er, den hypnotischen Effekt der KGB-Überwachung zu spüren. Man mußte wirklich alle Kraft aufbringen, um sich nicht, wehrlos und nackt, wie ein Insekt aufgespießt vorzu kommen, angestrahlt von gnadenlos grellem Scheinwerferlicht. Unwillkürlich mußte Gant erschaudern. Er nahm einen Schluck von dem Scotch. Der Whisky, an den er sich gewöhnt hatte, um die Rolle Ortons perfekt zu spielen, wärmte ihn innerlich. Er bewohnte eine Landschaft von Augen. Er verfiel in gedankenlose Untätigkeit. Schließlich stand er auf und trat ans Fenster, um vom zwölften Stock auf den Roten Platz hinauszusehen. Der Scotch wärmte ihn nicht mehr, als er neuerlich einen 41
Schluck davon nahm. In Gedanken weilte er bereits in der un mittelbaren Zukunft, wo er am Ufer der Moskwa die drei Män ner treffen würde, die er nicht kannte. Er sollte nach dem Abendessen das Hotel verlassen und sich dabei, ganz gleich, wer ihm folgte, wie ein gewöhnlicher Tourist verhalten. Er mußte nur bis halb elf an der vereinbarten Stelle in der Nähe der Krasnoknlinski-Brücke eintreffen. Er sollte auf jeden Fall das Transistorradio und Hut und Mantel mitnehmen, wobei er letztere nicht anhaben sollte. Man hatte ihm gesagt, daß er nicht ins Hotel zurückkehren würde; dies würde der Beginn seiner Reise nach Biljarsk sein. Nachdem er im Speisesaal des Hotels zu Abend gegessen hatte, verließ Alexander Thomas Orton am selben Abend kurz vor zehn das Hotel Moskwa. Während des Essens war er unab lässig von einem KGB-Mann des Überwachungsdirektorats beobachtet worden. Der korpulente, kleine Mann hatte an ei nem kleinen Tisch Platz genommen, von dem aus man jeden in dem großen Saal beobachten konnte. Er war ihm dann in die Bar gefolgt, wo er ihn, ein Glas Wodka vor sich auf dem Tisch, weiter im Auge behielt. Gant vermutete, daß während des Es sens sein Zimmer durchsucht worden war. Aus diesem Grund hatte er das kleine Transistorradio in der Tasche seines Mantels stecken, den er so aufgehängt hatte, daß er ihn im Auge hatte und daß auch deutlich zu sehen war, daß er ihn im Auge hatte. Seine Taschen waren nicht durchsucht worden. Er hatte während des Abendessens seinen Moskauführer stu diert, wobei er beim Nachtisch den großen Stadtplan ostentativ über den Tisch breitete. Auch in der Bar befaßte er sich weiter mit dem Führer. Als er ging, folgte ihm der Mann fast auf dem Fuß. Als Gant die Stufen vor dem Hotel auf den Roten Platz hi
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nunterging, blieb der kleine Mann kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Hell leuchtete sein Gasfeuerzeug im Dunkel auf. Gant konnte zwar dieses Zeichen nicht sehen, aber er bemerkte die dunkle Gestalt, die sich von einem großen Wa gen löste, der in der Nähe der Stelle stand, wo am Nachmittag die Limousine geparkt hatte, die ihn vom Flughafen hierher beschattet hatte. Nur ein Mann, dachte Gant; und der kleine Dicke kam hinter ihm die Treppe herunter. Zwei. Die Scheinwerfer des Wagens leuchteten auf; der Motor wurde angelassen. In der allgemeinen Stille kam Gant das Ge räusch des Motors übertrieben laut vor. Einen Moment be fürchtete Gant, er könnte verhaftet werden, bevor er sich ein Stück vom Hotel entfernen konnte. Aber die beiden Männer unternahmen nichts dergleichen. Während er über den Roten Platz schlenderte und vor ein paar Schaufenstern haltmachte, um sich die Auslagen anzuse hen, war er immer darauf bedacht, sich nicht zu weit von sei nen Verfolgern zu entfernen. Sollten sie ihn nämlich aus den Augen verlieren, würden sie auf der Stelle zur Jagd auf ihn blasen, und genau das wollte er tunlichst vermeiden. Bis Gant schließlich die Moskwa und die MoskworetskiBrücke erreichte, war er gründlich durchgefroren. Der Wind, der vom Fluß herauf blies, war eisig kalt, und Gant drückte sich mit der einen Hand seinen Hut auf den Kopf, obwohl er sie lieber zum Schutz gegen die Kälte in seiner Manteltasche gelassen hätte. Unter den Passanten auf der Brücke, die wegen der Kälte kräftig ausschritten, fiel Gant sofort ein einzelner Mann auf, der sich im Gegensatz zu seiner Umgebung auffällig gemächlich bewegte. Gant lächelte in sich hinein. Er wandte dem Fluß den Rücken zu und zog sich den Man telkragen straff um den Hals. Wie beiläufig beobachtete er die Straße entlang des Flußufers. Der Wagen war, die Scheinwer fer gelöscht, stehengeblieben und stand nun, scheinbar leer, ein 43
gutes Stück von den Straßenlaternen entfernt am Straßenrand geparkt. Und da war noch ein zweiter Fußgänger, der ein Stück vor ihm mit dem Rücken gegen das Brückengeländer gelehnt stand. Gant ging weiter. Trotz allem, was man ihm gesagt hatte, spürte er, wie sich sein Magen leicht zusammenzog. Er wußte nicht, was passieren würde, wenn er die KrasnoknlinskiBrücke erreichte, die sich etwas weiter flußabwärts befand. Man hatte ihm jedoch immer wieder eingeschärft, auf keinen Fall seine Verfolger abzuschütteln. Darauf hatte Aubrey in die sem rauchigen Londoner Hotelzimmer am Abend zuvor aus drücklich bestanden. Der KGB durfte ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Als er schließlich vom Oserkowskaia-Kai eine Steintreppe zum Fluß hinunterstieg, wäre er am liebsten stehengeblieben, um sich zu übergeben. Er merkte, daß ihn seine bisherige auf gesetzte Gelassenheit endgültig verlassen hatte. Er konnte sich nicht mehr länger vormachen, daß dies lediglich das Vorspiel war, bis es schließlich aufs Ganze gehen würde. Er steckte be reits mitten drin. Er konnte nun die Schritte der Männer hören, die ihm in etwa vierzig Metern Abstand die Treppe zum Fluß hinunter folgten. Er hatte Angst. Er nahm eine Hand aus der Manteltasche und klammerte sich damit über seinem Bauch am Mantelstoff fest. Er durfte sich jetzt auf keinen Fall umdrehen, um sich zu vergewissern, wie viele es waren, die ihm folgten. Er wußte mit Übelkeit erweckender Gewißheit, daß inzwischen drei, wenn nicht sogar vier Männer hinter ihm waren. Und oben würde der Wagen den Oserkowskaia-Kai entlangfahren und darauf warten, daß er wieder zur Straße hochstieg. Er passierte die Oustinski-Brücke und sah auf seine Uhr. Zehn Uhr zwanzig. Spätestens in zehn Minuten würde er die nächste Brücke erreichen, wo er verabredet war. Doch wer 44
würde dort auf ihn warten? Er holte mehrere Male tief Atem, um die Kontrolle über sich wieder zu erlangen. Die Schritte hinter ihm waren verstummt. Als er seinen Weg wieder fortsetzte, konnte er sie jedoch wieder hören. Er überholte ein Paar, das, völlig mit sich selbst beschäftigt, gemächlich dahinschlenderte. Die Schritte des Paa res gingen allmählich in dem lauteren Getrappel der KGBMänner unter. Gant wollte einfach losrennen. Er konnte nicht glauben, daß sie ihn bis zur Brücke kommen lassen würden. Er wollte nichts als losrennen … Krampfhaft bemühte er sich, seine Schritte zu zügeln, nicht durchzudrehen. Schließlich hatte er die Krasnoknlinski-Brücke erreicht. Für eine Weile waren die Schritte hinter ihm verstummt; das leise Motorengeräusch des Wagens auf der Brücke entging seinen Ohren jedoch nicht. Er sah auf seine Uhr. Halb elf. Vermutlich sahen auch seine Verfolger in der genauen Einhaltung der Zeit irgendeine Bedeutung. Er hörte die Steintreppe von der Brücke vorsichtige Schritte herunterkommen, während er auf das Was ser hinausstarrte. Zwei Paare. Dann nur noch eines. Einer der KGB-Männer war auf halbem Weg die Treppe herunter ste hengeblieben. Er starrte in das Dunkel unter der Brücke. Keine Gestalten lösten sich aus dem Schatten. Er ging weiter am Flußufer ent lang. Die nächste Treppe, die vom Gorowskaia-Kai herunterführ te, lag nur wenige hundert Meter entfernt, und als er sich ihr nun näherte, wurden auf den Stufen drei schattenhafte Umrisse sichtbar, die auf ihn zukamen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob es sich bei ihnen nicht auch um Leute vom KGB handel te, als ihn einer der Männer in leisem Englisch ansprach. »Mr. Orton?« »Ja.« Er konnte nicht eine Spur von einem ausländischen 45
Akzent feststellen. Die drei Männer schlossen sich ihm rasch an, und plötzlich leuchtete ihm eine Taschenlampe ins Gesicht. Die englische Stimme sagte: »Ja, er ist es.« Darauf wandte sich der größte der drei Männer an ihn. Er war noch jung und hatte blondes Haar und eckige Gesichtszü ge. »Wie viele sind Ihnen gefolgt?« Er sprach englisch, aber mit einem unverkennbaren russischen Akzent. Um seine Aussprache zu testen, erwiderte Gant in Russisch: »Drei zu Fuß, glaube ich, und dann noch ein Wagen. Er steht oben auf der Brücke.« »Gut«, antwortete der Russe. Gant beobachtete den ersten Mann, den Engländer, von dem er annahm, daß er dem Sicher heitsstab der englischen Botschaft angehörte. Er hatte etwa die gleiche Statur wie Gant; sein Haar war aus der Stirn zurückge kämmt. Er lächelte Gant aufmunternd – oder verschwörerisch – zu. Gant erwiderte das Lächeln. »Was treiben sie gerade, Pawel?« fragte der Engländer, die Augen weiter auf Gant geheftet. »Der eine auf der Treppe ist zum Wagen zurück, und der kleine Dicke überlegt wohl gerade, was er tun soll, da wir jetzt hier zu viert sind.« Der Russe lachte leise. »Ich glaube, er hat Angst.« »Dann haben sie sicher Unterstützung angefordert. Sehen wir also besser zu, daß wir Mister Orton so schnell wie mög lich von hier wegschaffen, solange sie noch unentschlossen sind.« Gant war auf dem Sprung – bereit, jeden Augenblick loszu rennen, die Flucht zu ergreifen. Sie standen dicht zusammen gedrängt, und der Stoff des Mantels des Engländers, ähnlich
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Gants eigenem, preßte sich gegen ihn. Der große Russe, Pawel, zog einen schweren Holzknüppel unter seinem Mantel hervor. Sie standen dicht aneinandergedrängt, dachte Gant wie beiläu fig, und der Engländer hatte dieselbe altmodische Figur wie er selbst … Fenton, der Engländer, der während der letzten zwei Jahre so oft die Rolle Ortons gespielt hatte, schrie entsetzt auf. Einmal, zweimal sauste der schwere Knüppel auf die Stirn des Englän ders nieder. Dann lag der Engländer auf dem Boden, und wäh rend er noch hemmungslos stöhnte, krachte der Knüppel noch drei weitere Male auf ihn nieder. Obwohl sich sein Magen um drehte, obwohl alles in ihm aufschrie, als befände er sich in einer Schlangengrube wie dem Veteranenlazarett, sah Gant zugleich mit ätzender Klarheit, daß der Russe das Gesicht des Engländers zur Unkenntlichkeit entstellen wollte. Eine Trillerpfeife kratzte an seinem Bewußtsein. Der KGBMann forderte Verstärkung an. »Ihre Papiere, schnell!« stieß Pawel hervor und beugte sich über das entstellte Gesicht des Engländers. Der Anblick dieses Gesichts schien auf Gant eine hypnotische Wirkung auszuüben. »Ihre Papiere!« Er langte in seine Brusttasche und reichte ihm wie in Trance seinen Paß und die restlichen Papiere. Sie wurden in Fentons Taschen gestopft, und dann wurden dem Engländer seine eige nen Papiere genommen. Der dritte Mann riß Gant den Schlapphut vom Kopf und half dann dem großen Russen, die Leiche an den Rand der Ufermauer zu rollen, um sie von dort in das schwarz gekräuselte Wasser der Moskwa gleiten zu las sen. Der dunkle Mantel blähte sich auf, und die Arme des Toten waren wie bei einem Gekreuzigten von sich gestreckt. Von der Strömung fortgetragen, schwamm er langsam davon. »Schnell! Folgen Sie uns – zur Pawolets-Untergrundstation«,
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zischte Pawel Gant ins Ohr und rüttelte ihn aus seiner Starre. Das Signal des KGB-Mannes, der fünfzig Meter von ihnen entfernt stand, wurde durch das Schrillen anderer Trillerpfeifen erwidert. Gants Beine begannen sich zu bewegen; sie schienen sich Hunderte von Meilen unter ihm zu befinden. Hinter Pawel und dem anderen Russen stolperte er die Stufen zum GorowskaiaKai hinauf. Hinter ihm gellendes Pfeifen und das an den Ufer mauern widerhallende Geräusch von laufenden Füßen. Pawel und der andere Mann rannten vor ihm. Ihr Abstand zu Gant vergrößerte sich. Er sah kurz etwas weiß aufblitzen, als sich Pawel mit dem Gesicht zu ihm umwandte. »Schnell!« schrie er. Gant begann zu laufen – schneller und schneller, fort von den Trillerpfeifen, fort von der Leiche im Wasser … Der kleine Dicke und die größere Gestalt, die sich von dem Wagen vor dem Hotel Moskwa gelöst hatte, standen bis zur Hüfte im eiskalten Wasser der Moskwa und zogen die Leiche an Land. Der Dicke fluchte und ächzte vor Anstrengung. Nachdem sie die Leiche schließlich auf die Steinplatten der Ufermauer hochgezerrt hatten, beugte sich der dicke Mann über sie und durchsuchte fürchterlich hustend die Taschen des Toten. Er zog einen britischen Paß hervor, in dem eine Reihe weiterer, völlig durchweichter Papiere steckten. Der größere Mann richtete den Schein seiner Taschenlampe erst auf das Paßbild des Mannes mit dem öligen Haar und dann auf das zerschmetterte Gesicht der Leiche auf dem Boden. »Mhm«, brummte der Dicke nach einer Weile. »Davor habe ich sie ja in der Zentrale schon gewarnt.« In seiner Stimme lag ein zufriedener Ton. »Er hatte auf dem Flughafen keine Drogen bei sich. Ganz offensichtlich konnte er der Nachfrage also nicht nachkommen. Sie haben ihn einfach umgebracht, Stetschko.
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Seine Schmugglerfreunde haben Mr. Alexander Thomas Orton umgebracht.«
2. Die Reise An Gants Augen zog flüchtig das Bild einer gigantischen, ornamentüberladenen Fassade fast orientalischen Charakters, dem Hauptbahnhof, vorbei, und dann verlangsamten sie ihre Schritte, um den Lift zur Pawolets-Untergrundstation hinunter zufahren. Unten angekommen, stellten sich die drei Männer getrennt voneinander auf, obwohl kaum Fahrgäste anwesend waren, die auf die nächste U-Bahn warteten. Pawel blieb nur ganz kurz neben Gant stehen, um ihm unauffällig eine Reihe von Doku menten, darunter einen blauen britischen Paß, zuzustecken. Dazu murmelte er: »Sehen Sie sich das genau durch, bevor Sie die U-Bahn verlassen. Ihr Name ist jetzt Michael Grant, also fast Ihr richtiger Name. Sie sind ein Tourist und wohnen im Hotel Warschau. Und vergessen Sie nicht, daß niemand nach einem Engländer sucht. Also regen Sie sich nicht unnötig auf.« Darauf schlenderte Pawel weiter den Bahnsteig hinunter. Gant betrachtete das Paßbild, auf dem er abgebildet war. Dann nahm er den Hut und die Brille ab und steckte sie in die Tasche seines Mantels, den er sich lässig über den Arm warf. Sein dunkler Anzug schien ihn jedoch zu verraten; sein Schnitt war zu offensichtlich nicht-russischen Ursprungs. Verschiedene Russen starrten ihn neugierig an. Als der Zug in die Station einfuhr, trat Gant vor und warf sich dabei seinen Mantel wieder über die Schulter. Ihm war klar, daß er einen Fehler gemacht hatte. Mit dem Mantel war er
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unauffälliger. Als der Zug losfuhr, wandte er sich auf seinem Sitz um und sah Pawel, der ein paar Plätze weiter, seine Beine auf dem Mittelgang ausgestreckt, Zeitung las. Der andere Mann befand sich nicht im selben Waggon. Während sie so dahinfuhren, versuchte Gant angestrengt, sich zu entspannen. Er hatte keine Idee, wie weit er seinen Be gleitern trauen konnte. Das einzige, woran er sich in diesem Punkt halten konnte, waren Aubreys Zusicherungen. Gant wurde seiner Aufregung nicht Herr. Eben war mitten in Mos kau ein Mann ermordet worden, und sie flohen mit einem öf fentlichen Verkehrsmittel. Der ganzen Situation haftete etwas Lächerliches an, aber, wie Gant nach kurzem Nachdenken auch eingestehen mußte, eine beruhigende Anonymität. Wieder einmal Aubrey. Aubrey hatte ihn nicht eingeweiht, wie er aus Moskau ver schwinden und nach Biljarsk gelangen würde. Er mußte sich als ein Stück Frachtgut betrachten, bis er das Werksgelände und den Hangar erreicht hatte. Und so hatte er sich anfänglich auch an die ganze Sache heranzugehen bemüht, obwohl es ihm inzwischen der Schock, den seine letzten Reserven an Ruhe und Gelassenheit durch den Mord an der Moskwa erlitten hat ten, zusehends unmöglicher machte, in der Rolle eines Gepäck stücks zu verharren. Er hatte Angst. Als der Zug in der Kourskaia-Station kurz hielt, schaffte er es immerhin, nur äußerst gelangweilt aus dem Fenster zu blik ken und sich nicht für die einsteigenden Fahrgäste zu interes sieren. Als sich jedoch die Türen beim Losfahren des Zugs seufzend schlossen und er sich zu Pawel umsah, starrte der große Russe auf den Bahnsteig zurück. Gant folgte seinem Blick. Am Aufgang zur Rolltreppe befragten zwei Männer in Hut und Mantel die Fahrgäste, die eben aus ihrem Zug gestie gen waren. Die Kehle zugeschnürt, wartete Gant, bis Pawel wieder in 50
seine Richtung sah. Als er dies schließlich tat und merkte, wie Gant ihn anstarrte, nickte er nur einmal kurz. Gant verstand. KGB! Wenn sie auch noch nicht jeden U-Bahn-Zug kontrol lierten, begannen sie doch bereits, die Ausgänge abzuriegeln. Um sich abzulenken, ging Gant hastig die Papiere durch, welche Pawel ihm ausgehändigt hatte. Als er damit fertig war, steckte er sie weg, worauf seine Augen wieder hypnotisch vom Fenster angezogen wurden. Draußen flog jedoch nur das undefinierbare Dunkel des Tunnels vorbei. Angespannt und völlig hilflos, starrte Gant darauf auf die Tür, welche den Waggon, in dem er saß, mit dem nächsten verband, und wartete darauf, daß sie sich öffnete und eine Gestalt in Hut und Mantel durch sie trat, um ihre Blicke prüfend über die Gesichter der Fahrgäste gleiten zu las sen. Der Zug verlangsamte seine Fahrt und glitt in die Komso molskaia-Station. Unwillkürlich sah sich Gant nach Pawel um. Der große Russe stand auf und stützte sich lässig an einer Griffstange neben der Schiebetür des Waggons ab. Gant erhob sich unbeholfen – er wußte, daß sein Gesicht blaß und schweißnaß war – und stellte sich vor die andere Tür des Wag gons. Als der Zug schließlich hielt und die Türen aufgingen, wurde ihm bewußt, daß er absolut nichts über den Inhalt der Papiere in seiner Tasche wußte. In einem plötzlichen Anfall von Panik hatte er alles vergessen. Beim Aussteigen wurde er von einem anderen Fahrgast angestoßen, und dann fiel es ihm plötzlich wieder ein. Grant – fast wie sein eigener Name. Seine Augen wanderten in Richtung Ausgang. Ja, dort standen zwei Männer vom KGB. Pawel drängte sich nahe an Gant heran, als wollte er ihn durch seine bloße Gegenwart bestärken und ermutigen. An
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dieser Station waren ziemlich viele Menschen ausgestiegen, und Gant und der große Russe befanden sich inmitten der klei nen Menge, die langsam dem Ausgang zustrebte. Er spürte, wie Pawel sich in der Menge wieder ein Stück von ihm entfernte, drehte sich jedoch nicht um. Das Krokodil schlich auf die Männer zu, die am Fuß der Rolltreppe zum Ausgang warteten. Sie kontrollierten die Papiere der einzelnen Fahrgäste, und auch Gant griff in seine Brusttasche, um Mi chael Grants Reisedokumente daraus hervorzuholen und in Eile noch einmal durchzusehen. Drohend erschien das Gesicht des KGB-Mannes vor ihm – ein blasses, schmales Gesicht mit hohen Backenknochen, einer langen Adlernase und stechenden Augen. Er inspizierte Gants Papiere gründlich, blickte erst auf das Paßbild, dann auf Gants Gesicht und schließlich wieder zurück auf das Foto. Dann sah er sich die Dokumente an, die Michael Grant seit seiner An kunft in Moskau vor drei Tagen ausgestellt worden waren. Gant fragte sich, ob wohl an jenem Tag tatsächlich ein Mann dieses Namens im Hotel Warschau ein Zimmer genommen hatte – und er war sich klar darüber, daß man auch dafür Sorge getragen hatte. Michael Grant war mit Sicherheit ein ganz ge wöhnlicher Tourist, dessen Papiere man sich kurz ausgeliehen hatte, um sie zu kopieren. »Geht es Ihnen nicht gut, Mr. Grant?« sprach der KGBMann Gant englisch an. Er lächelte und schien keinen Verdacht zu schöpfen. »Es ist nichts Ernsthaftes«, erwiderte Gant zögernd. »Ich – ich habe mir nur den Magen etwas verdorben. Das Essen, Sie wissen schon …« Er lächelte verlegen. »Sie tragen auf dem Foto eine Brille, Mr. Grant.« Gant tastete seine Taschen ab und lächelte weiter sein Lä cheln, das ebenso gequält wie blöde wirkte. »Sie … ich habe
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sie in meiner Tasche.« »Das Essen im Hotel Warschau – ist es nicht gut?« »Doch, doch, es ist sogar sehr gut – nur eben etwas zu üppig für mich.« »Aha. Dann entschuldigen Sie bitte, und vielen Dank.« Der Mann hatte sich die Nummern des Passes und der ande ren Dokumente notiert, bevor er sie Gant wieder aushändigte. Als Gant schließlich die Rolltreppe hochfuhr und die beiden KGB-Offiziere immer weiter hinter sich zurückließ, hätte er sich vor Erleichterung am liebsten übergeben. Er rülpste jedoch nur und zwang sich, sich nicht nach Pawel und dem anderen Mann umzusehen. Er spürte ein anwachsendes Gefühl der Pa nik in sich hochsteigen, sie könnten verhaftet worden sein, so daß er nun ganz auf sich allein angewiesen gewesen wäre … Oben angekommen, trat er auf einen großen Plan des Mos kauer U-Bahn-Netzes zu. Er gab sich alle Mühe, seine Panik niederzukämpfen, und wagte nicht, seinen Blick von dem Plan abzuwenden. Was sollte er tun, wenn sie Pawel und den ande ren Mann verhaftet hatten? Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und er fuhr hoch, als stünde er plötzlich unter Strom. Er wandte sich um, so daß Pa wel in sein schweißnasses, angstverzerrtes Gesicht blicken konnte. In seinen Augen flackerte Zweifel auf. »Gott sei Dank«, hauchte Gant. »Sie sehen ja schrecklich aus«, meinte Pawel. »Ich habe Sie eben beobachtet, Mr. Gant … Besonders überzeugend war das ja nicht gerade.« »Mein Gott! Ich hätte vor Angst fast in die Hose gemacht«, platzte Gant heraus. Pawel sah ihn an. Gant wirkte noch kleiner und unscheinba rer, als ihn sonst allein schon seine Verkleidung erscheinen
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ließ. Pawel mußte daran denken, was Edgecliff, der Chef der SIS-Station in Moskau, über den Amerikaner gesagt hatte. Die ser Mann stellte ein nicht unerhebliches Risiko dar. Edgecliff hatte gesagt, wenn er ernsthafte Schwierigkeiten macht, seht zu, daß ihr ihn loswerdet; setzt nicht die ganze Organisation seinetwegen aufs Spiel. Und Gant machte ganz den Eindruck, als würde er erhebliche Schwierigkeiten machen. »Gehen Sie schon und übergeben Sie sich«, forderte ihn Pa wel mit Verachtung in der Stimme auf. »Gehen Sie und ver stecken Sie sich auf der Toilette. Wir werden unterwegs noch auf mehr Leute vom KGB treffen. Wir werden die Station erst verlassen, nachdem sie das Gefühl haben, ausreichend Sicher heitsvorkehrungen getroffen zu haben – wenn sie sich sicher sind, daß wir, wenn wir den Ausgang erreichen, mindestens drei- bis viermal kontrolliert worden sind. Los jetzt, gehen Sie!« Die letzten Worte spuckte Pawel richtig heraus, und Gant drehte ihm den Rücken zu und ging davon, nachdem er ihn lange angestarrt hatte. Kopfschüttelnd sah ihm Pawel nach und machte sich dann daran, im Schutz seiner Zeitung genauestens zu beobachten, wer in der Komsomolskaia-Station von nun an eintraf. David Edgecliff, vermeintlicher Handelsattaché der Briti schen Botschaft, war in der Bar des Hotels Moskwa. Von sei nem Platz nahe der Tür konnte er einen Teil der Eingangshalle überblicken. So entgingen ihm die Männer vom KGB nicht, die zusammen mit mindestens zwei Leuten vom Politischen Si cherheitsdienst ankamen. Wenn seine Diagnose richtig war, dann war Fenton, dieser arme Teufel, nicht umsonst gestorben. Das Erscheinen dieser speziellen KGB-Offiziere bedeutete, daß die Russen den Bluff von Ortons Ermordung durch seine an geblichen Moskauer Abnehmer geschluckt hatten. Orton war tot – es lebe Gant. 54
Edgecliff ließ sich einen neuen Scotch bringen und wandte sich wieder seinem Buch zu. Insgeheim beobachtete er jedoch, wie die KGB-Männer Gants Gepäck wegbrachten. Sie hatten sein Zimmer sicher gründlich durchsucht und alles mitgenom men. Orton, dieser mysteriöse Engländer, der so harmlos wirk te und doch die Jugend Moskaus mit der Teufelsdroge Heroin infiziert hatte, würde aufs sorgfältigste überprüft werden. Edgecliff lächelte. An diesem Abend zumindest würde er in seinem Bericht an Aubrey einen uneingeschränkten Erfolg ver buchen können. Außer den falschen Papieren, die er den KGB-Offizieren in der Metro gezeigt hatte, um nicht als verdächtiger Drogenhänd ler verhaftet zu werden, hatte Pawel neben verschiedenen ande ren Dingen auch etwas bei sich, das Gant noch wesentlich mehr Übelkeit verursacht hätte als alles bisher Vorgefallene. Dieser Gegenstand war eine kleine rote Karte, wie sie nur Mit glieder des KGB bei sich trugen. Pawel hatte gehofft, diese Karte nicht zeigen zu müssen, da sie gefälscht war, aber ihm war zugleich klar, daß er im Notfall auf sie hätte zurückgreifen müssen, wenn es keinen anderen Ausweg gegeben hätte, aus der Metrostation zu kommen. Er hatte sie bei der Ankunft beobachtet. Sie waren wenige, aber sie gingen sehr gründlich vor. Er hatte während der letzten fünfzehn Minuten mehr als ein dutzendmal seinen Standort gewechselt und hatte dabei all seine Gelassenheit und Ruhe aufbringen müssen, in seinen Bewegungen möglichst natürlich und unauffällig zu wirken. Am Haupteingang hatten die KGBMänner eine behelfsmäßige Absperrung errichtet, an der sie die Papiere sämtlicher Personen überprüften, welche die Station betraten oder verließen. Einige der Gesichter der KGB-Leute kamen ihm aus Edgecliffs Akten über den Politischen Sicher heitsdienst sogar bekannt vor. Sie suchten nach den Mördern 55
Ortons, den »Wirtschaftskriminellen«, deren Verfolgung zu ihren wichtigsten Aufgaben zählte. Wassilij, den dritten Mann vom Flußufer, hatte er bisher nur einmal gesehen; er saß im Restaurant der Station, aß ein riesi ges Stück Kuchen und trank Kaffee. Wassilijs Papiere wiesen ihn als Nachtwächter aus. Er konnte ruhig noch ein paar Stun den in dem Restarant bleiben, ohne irgendwelchen Verdacht zu erregen, selbst wenn er verhört und durchsucht werden sollte. Nicht so aber Gant. Die restlichen KGB-Männer, die nicht nach unten zu den Bahnsteigen gefahren waren, durchsuchten währenddessen jeden Winkel innerhalb der U-Bahn-Station, der sich als Ver steck hätte eignen können. Pawel war ständig bemüht, den Eingang zur Herrentoilette in seinem Gesichtsfeld zu behalten, in der Gant verschwunden war. Er konnte nicht verstehen, wie ausgerechnet dieser Mann für diese Mission ausgewählt werden konnte. Fast hätte Pawel den KGB-Mann übersehen, der die Treppe zur Herrentoilette hinunterstieg, da er einen Moment durch den plötzlich entstehenden Tumult abgelenkt wurde, als am Ein gang jemand verhaftet wurde. Sobald er nun den KGB-Mann die Treppe hinuntersteigen sah, verließ er seinen Platz vor dem Restaurant. Das reichte jedoch bereits aus, einen anderen KGBMann – er wischte sich noch an einem blauen Taschentuch den Mund ab – aus dem Restaurant kommen zu lassen und ihn um seine Papiere zu bitten. Einen Augenblick lang, und nur einen Augenblick lang, zog Pawel in Erwägung, dieser Aufforderung einfach nicht nachzukommen. Dann setzte er jedoch ein nervö ses Lächeln auf und griff langsam in seine Brusttasche. Gant saß immer noch in einer der Toiletten auf der Klo schüssel und zog den Mantel an den Aufschlägen mit einer Hand fest um sich, während er die andere in dem verzweifelten
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Versuch, ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen, in der Tasche zu einer Faust ballte. Er wußte, daß er nahe daran war, wieder in den Zustand zu verfallen, in dem er sich in Saigon befunden hatte. Er war nahe daran, wieder diesen Traum zu haben. Er hatte es gerade noch in den schützenden Hort der Toilette geschafft, bevor er sein Abendessen erbrach. Darauf hatte er sich matt auf der Kloschüssel niedergelassen und versucht, seinen rasenden Herzschlag und die beängstigenden Bilder unter Kontrolle zu bringen, die seinen Kopf durchschossen. Er lauschte den Schritten, den gedämpften Unterhaltungen, den Pfiffen, dem Spritzen des Wassers in den Waschbecken und dem Klicken der Handtuchrollen. Die Toilette war sicher ein dutzendmal leer gewesen, aber er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Und er konnte sich auch nicht vorstellen, daß er dazu in der Lage gewesen wäre. Plötzlich hörte er Schritte auf dem Fliesenboden vor der Tür seines Abteils. Er nahm sich vor, die Toilette zu verlassen, so bald sie wieder leer war. Dann klopfte eine Faust gegen die Tür. »Hallo, da drinnen«, hörte er eine russische Stimme. »Ihre Papiere. Aber schnell!« »Ich … ich …« Er preßte die Worte mühsam hervor. »Ich sitze gerade auf dem Klo.« »Sind Sie Engländer?« fragte darauf der Mann mit einem starken Akzent. »Staatssicherheitsdienst«, fügte er dann hinzu. »Ihre Papiere, bitte.« »Könnten Sie bitte – einen Augenblick warten?« »Selbstverständlich«, erwiderte der Mann gereizt. Gant riß etwas Papier von der Rolle, zerknüllte es geräusch voll und zog dann die Spülung. Er löste seinen Gürtel, klimper te leicht mit der Schnalle und dem Kleingeld in seiner Tasche und löste dann die Verriegelung, um nach draußen zu treten. 57
Der muskulöse KGB-Mann hatte einen dicken Bauch und sah mißmutig drein. Gant vermutete, daß er einen ziemlich niedrigen Rang bekleidete, dies einem englischen Touristen jedoch nicht anmerken lassen wollte. Er warf sich in die Brust und rollte theatralisch mit den Augen. »Ihre Papiere, bitte.« Er streckte seine Hand aus und starrte Gant ins Gesicht. »Sind Sie krank, oder – haben Sie Angst?« »Nein – mein Magen«, jammerte Gant. Ohne Eile sah der KGB-Mann sorgfältig die Papiere durch. Dann sah er auf, reichte sie Gant wieder und sagte: »Ihre Pa piere sind nicht in Ordnung!« Buckholz hatte Gant wiederholt eingeschärft, daß dies ein allgemein gebräuchlicher Trick war. Irgendeine falsche An schuldigung, um zu sehen, welche Reaktion darauf folgte. Und doch war Gant unfähig, entsprechend gelassen darauf zu rea gieren. Panik überkam ihn. Aus seinen Augen sprang die Angst – wie bei einem Tier, das verzweifelt nach einem Ausweg sucht. Der KGB-Mann griff in seine Tasche, und Gant wußte, daß er seine Waffe ziehen würde. Instinktiv warf er sich gegen den Mann; seine Hand griff nach der Hand in der Tasche des Russen. Der KGB-Mann verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Rücken gegen den Handtuchspender. Er versuchte immer noch, an seine Waffe in seiner Tasche zu gelangen, während Gant bereits wie ein Verrückter an der Handtuchrolle zerrte. Die Hand, welche sich um den Revolver gelegt hatte, wand sich unter seinem Griff; er hatte Schwierigkeiten, das dicke Hand gelenk zu umklammern. Er stieß dem Russen das Knie in den Unterleib, worauf dieser laut aufstöhnte und zusammensackte. Inzwischen hatte Gant einen langen Handtuchstreifen losge zerrt und schlang ihn dem Mann um den Hals. Und dann zog er zu. Die freie Hand des Russen klammerte sich an die sich um
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seinen Hals schnürenden Handtuchschlingen; seine Augen schienen größer zu werden und traten weit aus ihren Höhlen. Auch Gant verschwamm alles vor den Augen, aber er zog und zerrte weiter an dem Handtuch. Plötzlich schien er aus weiter Ferne eine Stimme zu hören; er spürte eine Hand, die sich auf seine Schulter legte … Er hielt inne. Als nächstes wurde er herumgerissen, und etwas explodierte über seinem Gesicht. Er starrte in Pawels Gesicht, dessen Hand bereits erhoben war, um ihn ein zweites Mal zu schlagen. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck nackter, eiskalter Wut. »Sie … Sie … blödes Stück Vieh! Der Mann war vom KGB. Wissen Sie nicht, was das bedeutet? Und … und Sie haben ihn umgebracht!« Gant drehte sich um und starrte blöde auf das blasse Gesicht des Russen auf dem Boden. Seine Augen waren weit hervorgetreten, und die Zunge hing ihm dick aus dem Mund. Er wandte sich wieder Pawel zu. »Ich … ich dachte, er … er hätte vermutet, wer ich bin …«, stotterte er mit schwacher Stimme. »Sie sind ja gemeingefährlich, Gant!« zischte Pawel. »Das kann für uns alle den Tod bedeuten, ist Ihnen das klar?« Wie hypnotisiert starrte er einen Augenblick lang auf die Leiche und beugte sich dann zu ihr hinab, um ihr das Handtuch vom Hals zu wickeln. Darauf packte er den toten Russen unter den Achseln und schleppte ihn über den Boden des Waschraums in eine leere Toilette. Nachdem er die Taschen des KGB-Mannes durchsucht hatte, verriegelte er die Tür. »Ist die Luft rein?« hörte ihn Gant fragen. »Ja«, erwiderte er, kaum seiner Stimme mächtig. Darauf sah er Pawel über die Tür der Toilette klettern und neben ihm zu Boden springen. Er wischte sich die Hände, die von dem Staub auf der Oberkante der Tür schmutzig waren. Dann klopfte er mit der Handfläche leicht auf seine Tasche. 59
»Ich habe versucht, Ihre Dummheit – zu vertuschen, indem ich den Anschein erweckt habe, als wäre der Mann ausgeraubt worden.« Er rümpfte die Nase. »Und jetzt«, fügte er hinzu, »gehen Sie rasch die Treppe nach oben und zum Ausgang. Falls Sie irgend jemand – ganz gleich wer – auffordert, stehen zubleiben, dann tun Sie das. Zeigen Sie Ihre Papiere und tun Sie so, als wäre Ihnen übel. Haben Sie verstanden?« »Ja. Er … er hat gemeint, meine Papiere wären nicht in Ord nung.« »Sie Idiot! Deswegen haben Sie ihn umgebracht? Sie sind in Ordnung. Er wollte Sie doch nur auf die Probe stellen. Das ist ein ganz billiger Trick.« »Ich … wußte doch nicht, wo Sie waren …« »Ich bin vom KGB angehalten worden. Aber meine Papiere waren ebenfalls in Ordnung.« Er stieß Gant vor sich her. »Und jetzt, sehen Sie schon zu, daß Sie zum Ausgang kommen. Der Tote kann jeden Augenblick entdeckt werden, und dann wird niemand mehr die Station verlassen dürfen!« Auf dem Weg zum Ausgang wurde Gant zweimal von nied rigen KGB-Offizieren aufgehalten, die sich seine Papiere ansa hen, sich nach seinem Befinden und dem Zweck seiner Reise erkundigten und ihn dann gehen ließen. Langsam näherte er sich der provisorischen Sperre am Ausgang. Er hatte keine Ahnung, wie weit hinter ihm Pawel war. Er würde auf ihn warten müssen – falls er durch die Sperre kam. Die Männer an der Sperre schienen einen höheren Rang ein zunehmen als der Tote in der Toilette. Gant reichte seine Pa piere einem jüngeren Mann, der vor einem großgewachsenen, grauhaarigen Offizier mit einer auffälligen Narbe auf einer Gesichtshälfte – vermutlich eine Kriegsverletzung – stand. Er gab sich Mühe, nicht auf das zernarbte Gesicht zu starren, ob wohl er unwiderstehlich davon angezogen wurde. Der große 60
Mann lächelte leicht und rieb sich mit einer langfingrigen Hand seine chirurgisch notdürftig geglättete Wange. »Engländer?« fragte der jüngere Mann. »Wie bitte? Ach so … ja.« »Mhm. Mr. Grant, wir müssen Sie leider bitten, eine Weile an einem der Tische hier zu warten, bis wir in Ihrem Hotel an gerufen haben.« »Aber hier sind doch meine Papiere …« »Ich weiß, und Ihre Papiere sind auch schon vom Sicher heitsdienst abgestempelt. Ich muß Sie jedoch trotzdem bitten, einen Augenblick zu warten.« Der junge Offizier hob eine Schranke innerhalb der Absper rung hoch, und Gant wurde hindurchgeschoben. Insgesamt saßen etwa ein halbes Dutzend Personen an den Tischen, an die er nun geführt wurde. Nicht alle von ihnen waren Russen. Er hörte eine amerikanische Stimme, die offensichtlich einem älteren Mann gehörte. »Um nichts in der Welt können Sie mir diesen Paß und meine restlichen Papiere anzweifeln, Sonny!« Der so betitelte junge KGB-Mann mit dem militärischen Bür stenhaarschnitt überhörte diese Bemerkung jedoch geflissent lich und blieb weiter in seine Telefonunterhaltung vertieft. Schwerfällig ließ Gant sich an dem ihm zugewiesenen Tisch nieder. Er schluckte mühsam, und als er seinen Blick der Ab sperrung zuwandte, sah er, wie Pawel seine Papiere wieder ausgehändigt wurden und er, ohne einen Blick zurückzuwer fen, nach draußen auf die Straße trat. Plötzlich fühlte sich Gant verlassen, allein. Schon wieder hatte er die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Er starrte auf das schwarze Telefon, das völlig verlassen auf dem kahlen Tisch stand. Darauf glitt der junge Mann mit einem Lächeln in den Stuhl ihm gegenüber. »Hoffen wir, daß es nicht allzu lange dauern wird, Mr. Grant«, beruhigte er ihn. 61
Während der junge KGB-Mann nun die Nummer des Hotels Warschau wählte, wurde Gant zum erstenmal in voller Deut lichkeit bewußt, wie schlecht seine Chancen standen. Im Au genblick hatte er den umfangreichsten, rücksichtslosesten und gründlichsten Sicherheitsdienst gegen sich, den die Welt je gesehen hatte. Angesichts dessen stellte es nur einen schwa chen Trost dar, daß ihm Aubrey den KGB gerade aufgrund seines Umfangs als bekanntermaßen äußerst ineffektiv geschil dert hatte. Während Gant nun an diesem Tisch in der kalten Eingangshalle der U-Bahn-Station saß, war ihm dies nicht der geringste Trost – nichts als Platitüden eines Mannes in einem Hotelzimmer im Herzen Londons. »Hotel Warschau?« fragte der junge Offizier in Russisch. Gant hielt seinen Blick auf den Tisch gerichtet, um nicht durch seine Augen zu verraten, daß er das Gespräch belausch te. »Ja, hier Staatssicherheitsdienst. Könnte ich bitte Prodkow sprechen?« Prodkow war sicher der KGB-Mann unter der Be legschaft des Hotels. Möglicherweise arbeitete er nur als Kell ner, Portier oder Tellerwäscher, aber er verfügte über wesent lich mehr Macht als der Geschäftsführer. Darauf entstand eine ziemlich lange Pause, bis der junge KGB-Offizier fortfuhr: »Prodkow, ich habe hier einen Touri sten, einen Engländer; er heißt Michael Grant. Er wohnt auf Zimmer dreihundertacht … Ja, Sie kennen ihn? Können Sie ihn mir ungefähr beschreiben? Würden Sie mich bitte einen Mo ment ansehen, Mr. Grant? Vielen Dank. Ja, weiter Prodkow … Mhm. Ja … ja … ich verstehe. Und er ist gerade nicht im Ho tel?« Eine zweite, noch längere Pause. Gant wartete, ungläubig. Aubrey konnte doch unmöglich vorausgeplant haben, was ihm jetzt widerfuhr. Nun würde sich herausstellen, daß Grant ganz anders aussah oder bereits im Bett lag. »Gut. Danke, Prodkow. Wiedersehen.« Der junge Mann lächelte leutselig, als wäre eben nichts wei 62
ter als eine ganz gewöhnliche Routineüberprüfung der Papiere eines Touristen vorgenommen worden, als hätte es nie irgend eine Art von Verdacht gegeben. Er händigte Gant den Paß mit den restlichen Dokumenten darin wieder aus. »Vielen Dank, Mr. Grant, und entschuldigen Sie bitte die Verzögerung. Wir ermitteln im Augenblick gegen ein paar Verbrecher oder wie man es nennen will. In Ihrem Fall hat es sich dabei natürlich nur um eine reine Routineuntersuchung gehandelt. Es steht Ihnen jetzt frei, Ihre nächtliche Besichti gungstour durch die Stadt fortzusetzen.« Der junge Mann war auf sein Englisch offensichtlich stolz. Er erhob sich, schüttelte Gant feierlich die Hand und winkte ihn, vorbei an dem grau haarigen Offizier mit der Narbe, durch die Absperrung. Endlich im Freien, spürte Gant plötzlich den beißenden, kal ten Wind. Sein Körper war vor Erleichterung in Schweiß geba det. Er sah kurz um sich und erblickte Pawel. »Na endlich«, sprach er ihn an. »Wir haben sowieso schon viel zuviel Zeit verloren. Bald wird es trotz unserer tadellosen Papiere äußerst gefährlich sein, auf der Straße gesehen zu wer den. Kommen Sie! Wir müssen erst ein kurzes Stück zu Fuß gehen. Gehen Sie mir voraus – die Kirowstraße hinunter. Wenn wir uns etwas von der Station hier entfernt haben, werde ich Sie einholen und Ihnen zeigen, wohin wir weiter müssen. Ver standen? Und jetzt gehen Sie schon los!« Sie verhafteten zwei der bekannten Helfer von Pawel Upenskoj und Wassilij Lewin kurz vor sechs Uhr früh. Beide Männer waren verheiratet und lebten in demselben Wohnblock des Mira-Prospekts im Norden Moskaus. Der Morgen graute langsam, als die schwarzen Limousinen von Kontarskijs Leu ten vor dem Wohnblock vorfuhren. Die ganze Operation dauer te kaum mehr als drei Minuten, einschließlich der Zeit, welche
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die Männer brauchten, um mit dem Lift zum vierzehnten, be ziehungsweise sechzehnten Stock hochzufahren. Als die Män ner mit zwei zusätzlichen Personen zurückkehrten, die gründ lich verwirrt, kaum wach und offensichtlich erheblich veräng stigt erschienen, wußte Prjabin, daß sein Chef zufrieden sein würde. Prjabin grinste in die verängstigten, blassen Gesichter der zwei Männer, die eben aus ihren Betten verhaftet worden wa ren, als sie mit nervösen Seitenblicken an ihm vorbeidefilier ten. Er spürte, daß sie wußten, weshalb er sie hatte holen lassen – und daß ihnen auch klar war, was sie erwartete, wenn sie in die Zentrale eingeliefert wurden. Er beobachtete, wie die zwei Männer in die wartenden Limousinen verfrachtet wurden, und sah dann an dem Wohnblock hoch. Im sechzehnten Stock konnte er ganz schwach ein blasses Gesicht am Fenster erken nen – die Frau, oder vielleicht auch ein Kind. Aber wen küm merte das. Sein Atem dampfte in der kalten Morgenluft, als er zu sei nem Wagen zurückkehrte. Er neigte seinen Kopf zum Fenster auf der Beifahrerseite herunter und sagte zum Fahrer: »Alles bestens; erteilen Sie jetzt dem Überwachungsteam Order, im Lagerhaus zuzuschlagen. Und dann schnappen wir uns auch noch Upenskoj.« Gant erwachte aus unregelmäßigem, traumreichem Schlaf, als Pawel Upenskoj die Türen des Lastwagens geräuschvoll öffnete. Kopfschüttelnd und leise vor sich hin murmelnd setzte er sich auf. Er hatte auf einer Matratze geschlafen, die direkt hinter dem Führerhaus auf der Ladefläche des Lasters lag, der im Lagerhaus einer Gesellschaft für die Produktion sanitärer Anlagen in Moskau stand. Die Waschbecken und Kloschüsseln, zwischen denen Gant
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lag, sollte Pawel an diesem Tag nach Kuibischew bringen; die se Stadt lag mehr als hundertfünfzig Kilometer südlich von Biljarsk und über tausend Kilometer von Moskau entfernt. Die Waschbecken waren für ein Hotel gedacht, das in Kuibischew gerade gebaut wurde. »Gant, sind Sie wach?« »Ja«, erwiderte Gant mühsam und versuchte, seinen trocke nen Mund mit Speichel zu befeuchten. »Wie spät ist es?« »Fast halb sechs. Wir fahren kurz vor sechs nach Biljarsk los. Der alte Mann hat etwas Kaffee gekocht. Wenn Sie also wollen, kommen Sie und trinken Sie eine Tasse.« Gant hörte, wie sich die schweren Tritte über den Betonfuß boden des Lagerhauses entfernten und ein paar Stufen hinauf stiegen. Dann fiel eine Tür krachend ins Schloß. Gant hatte nicht gut geschlafen. Pawel hatte ihn am Abend zuvor von der Komsomolskaia-Station zu dem Lagerhaus ge bracht, das etwas abseits der Kirowstraße lag. Immer wieder hatte ihm Pawel dann die Fakten und Nuancen seiner neuen und dritten Identität als Boris Glasunow, Beifahrer, eingehäm mert, als der er in einem Wohnblock des Mira-Prospekts wohn te und eine Frau und zwei Kinder hatte. Der wirkliche Boris Glasunow, erklärte ihm Pawel, würde sich in seiner Wohnung versteckt halten, während Gant ihn auf seiner Tour nach Bil jarsk begleitete. All diese Instruktionen waren Gant in Russisch erteilt worden. Erst nachdem Gant dann in der Lage gewesen war, seine an gebliche Lebensgeschichte ohne Stocken vorzutragen und die Papiere aufzuzählen, die er bei sich trug, hatte Pawel ihm er laubt zu schlafen – soweit das seine Aufregung und Nervosität überhaupt zuließ. Nun stand Gant also auf und quetschte sich zwischen den Waschbecken hindurch ins Freie. Er versuchte dabei an das zu 65
denken, was vor ihm lag, um die schrecklichen Bilder der Ver gangenheit von sich fernzuhalten. Zumindest war ihm inzwi schen klar, daß er sich auf Pawel Upenskoj voll und ganz ver lassen konnte. Obwohl er hinter jedem Wort, mit dem ihm der große Russe am Abend zuvor in dem Moskauer Lagerhaus seine Instruktio nen erteilt hatte, dessen Verachtung spüren konnte, ließ er die grobe Behandlung geduldig und gleichmütig über sich ergehen. Ihm genügte das Wissen, daß dieser Mann seine Sache wirklich gut machte. Gant betrat den kleinen, kalten Aufenthaltsraum, wo Pawel und der alte Mann, der Nachtwächter des Lagerhauses, saßen. Er nahm eine abgestoßene Tasse vom Tisch und schenkte sich etwas schwarzen Kaffee ein. Ohne Zucker schmeckte er zwar bitter, aber er war zumindest heiß. Verlegen, als wäre er uner wünscht, setzte Gant sich zu den Männern an den Tisch, wor auf der alte Mann, wie auf ein Zeichen hin, seinen Kaffee aus trank und den Raum verließ. »Er geht nachsehen, ob wir auch nicht überwacht werden«, erklärte Pawel Gant, ohne ihn anzusehen. »Sie meinen, sie …?« begann Gant hastig. »Nein, ich glaube nicht, daß sie wissen, wo Sie sind«, fiel ihm der Russe ins Wort. »Aber – werden sie dann wissen, daß ich auf dem Weg nach Biljarsk bin?« »Nicht unbedingt. Sie werden uns nur im Auge behalten.« »Und wenn sie uns anhalten?« beharrte Gant. »Dann wird al les in die Hose gehen, bevor ich überhaupt Moskau verlassen habe.« »Nein! Wenn wir angehalten werden, müssen wir unseren Plan ändern.« Pawel schien bei diesen Worten in ihm aufstei
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gende Zweifel niederzukämpfen. »Und wie soll das dann genau aussehen?« drang Gant weiter in ihn. »Schließlich muß ich heute noch tausend Kilometer zurücklegen. Wie soll ich das schaffen? Fliegen vielleicht?« Gant lachte schrill. Pawel bedachte ihn mit einem verächtli chen Blick. »Ich habe den Befehl, nötigenfalls mein Leben aufs Spiel zu setzen, damit Sie durchkommen«, entgegnete Pawel leise. »Und Sie müssen nicht denken, daß mir die Höhe dieses Prei ses der Sache angemessen erscheint … Jedenfalls, wenn wir hier sicher herauskommen, werden wir auf keinen Fall angehalten werden, bevor wir die Ringstraße erreicht haben, wo ein anderes Fahrzeug auf Sie warten wird, falls es Schwierigkeiten geben sollte. Falls dem nicht so sein sollte, fahren Sie mit mir weiter. Verstanden?« Gant schwieg eine Weile und antwortete dann: »Ja.« »Gut, und jetzt gehen Sie nebenan und rasieren sich. Machen Sie sich ein bißchen zurecht, ja?« Gant nickte und durchquerte den Raum. Als er eben die Tür hinter sich schließen wollte, hörte er Pawel sagen: »Gant, können Sie dieses Flugzeug denn wirklich fliegen?« Gant steckte seinen Kopf durch die Tür. Pawel starrte auf seine Tasse, die er mit beiden Händen umklammert hielt, die Ellbogen auf dem hölzernen Tisch aufgestützt. Irgendwie schien seine riesige Gestalt in dem blauen Overall, den er sich inzwischen übergestreift hatte, merkwürdig geschrumpft. »Ja«, erwiderte Gant. »Ich kann es fliegen. Und es gibt nie manden, der das besser könnte als ich.« Pawel blickte von der Tasse auf und sah in einem langen Moment des Schweigens in Gants Augen. Dann nickte er kurz. »Gut. Ich möchte nämlich auf keinen Fall fehlerhafte Produkte nach Biljarsk liefern.« 67
Er blickte wieder auf seine Kaffeetasse hinab, und Gant schloß die Tür hinter sich. Er schaltete das Licht an – eine nackte Glühbirne, die von der Decke herabbaumelte –, ließ das Wasser laufen, bis es lauwarm war, und betrachtete sich in dem fleckigen Spiegel über dem Waschbecken. Pawel hatte ihm am Abend zuvor das Haar geschnitten und dann gewaschen. Es war nun kurz und stand ihm auch ohne Pomade nicht mehr vom Kopf ab. Er sah jünger aus, fast wie damals als junger Bursche in Clarkville, sah man einmal von dem lächerlichen Schnurrbart ab, der ihm noch aus seiner Rolle als Orton und Grant geblieben war. Er seifte sich das Gesicht ein und entfern te nun auch noch den letzten Überrest seiner beiden letzten Rollen. Als er in den Aufenthaltsraum zurückkehrte, war Pawel be reits aufbruchbereit. Der alte Mann war zwischendurch kurz zurückgekehrt, um Meldung zu erstatten, war aber bereits wie der losgegangen, um Wache zu halten. »Sie sind da«, sagte Pawel leise. Gant fiel eine Anspannung an dem großen Russen auf, die er bis dahin nicht bemerkt hatte. »Wie viele?« wollte Gant wissen. »Drei … sie sind in einem Wagen hier. Der Alte hat sie schon früher einmal gesehen. Sie gehören zu dem Team, das für die Sicherheit in Biljarsk zuständig ist. Der Alte glaubt, daß sie nur gekommen sind, um uns zu überwachen. Wenn sie uns verhaften wollten, wären sie zu mehreren gekommen.« Gant nickte. Doch dann breitete sich auf seinem Gesicht mit einem Mal ein Ausdruck der Überraschung aus. Pawel holte aus der Tasche seines Overalls eine Automatik hervor. »Was …?« »Sie werden das Ding vielleicht brauchen können.« Er reichte Gant die Waffe, worauf dieser sie sorgfältig be gutachtete. Es war eine Makarow – ein Typ, mit dem er bisher 68
noch nicht vertraut war –, aber sie schien sich nicht allzusehr von einer Walther P-38 zu unterscheiden, die er schon mehr als einmal verwendet hatte, wenn auch nur im Schießstand. »Aber benutzen Sie das Ding wirklich nur, wenn es sich ab solut nicht umgehen läßt, ja?« »Ja.« »Sind Sie fertig?« »Ja.« »Dann sehen wir zu, daß wir hier wegkommen. Es ist jetzt kurz vor sechs. Es wird jeden Augenblick hell werden, und wir haben noch tausend Kilometer vor uns.« Sie stiegen in das Führerhaus des großen Lasters, worauf Pawel den Motor anließ und die Scheinwerfer einschaltete. Gant sah den alten Nachtwächter am Tor stehen, das auch schon im nächsten Augenblick aufzuschwingen begann. Lang sam rollten sie in das Grau des anbrechenden Tages hinaus. Draußen auf der schmalen Seitenstraße erhaschte Gant noch einen kurzen Blick auf eine schwarze Limousine, die ein Stück hinter ihnen am Straßenrand geparkt stand. Und dann bogen sie auch schon in die grau und verlassen daliegende Kirowstraße ein. In der KGB-Limousine hinter ihnen blieb alles ruhig. Nie mand geriet in Hektik, ließ den Motor an. Statt dessen hatte einer der drei Insassen, der älteste und größte, den Hörer des Autotelefons abgenommen, um schon in wenigen Sekunden in direktem Kontakt mit KGB-Oberst Mihail Kontarskij zu ste hen. »Sie sind eben losgefahren – zu zweit, in einem Laster mit sanitären Anlagen. Was sollen wir jetzt tun, Genosse Oberst?« Nach einer kurzen Pause kam die Antwort: »Ich werde mich erst mit Prjabin im Mira-Prospekt in Verbindung setzen. Im
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Augenblick können Sie ihnen ja einmal folgen, aber halten Sie Abstand!« »Jawohl, Genosse Oberst.« Er nickte dem Fahrer zu, worauf dieser den Motor anließ. Der Wagen glitt an den inzwischen wieder geschlossenen Toren des Lagerhauses vorbei und hielt an der Kreuzung zur Kirowstraße. Der Laster war in der Ferne nur noch als schwarzer Fleck zu erkennen; er fuhr nach Nord osten in Richtung Sadowaja, der inneren Ringstraße um die Stadt. »Fahren Sie dem Lastwagen nach«, ordnete der verantwort liche KGB-Mann an. »Aber kommen Sie ihnen nicht zu nahe. Nur, daß wir sie dann auf der Sadowaja nicht aus den Augen verlieren.« »Jawohl!« Der Fahrer stieg aufs Gaspedal, und binnen kur zem hatte sich der Abstand zwischen der Limousine und dem Laster erheblich verringert. Als die Entfernung zwischen den beiden Fahrzeugen nur noch hundert Meter betrug, verlangsamte der Laster an der Kreuzung von Kirowstraße und Sadowaja seine Fahrt und bog in südöstlicher Richtung in die Ringstraße ein. Der Laster gewann wieder an Vorsprung, bis der Mann auf dem Beifahrersitz der KGB-Limousine dem Fahrer neuerlich zunickte. »Schließen Sie auf.« Der Fahrer schwenkte auf die Überholspur hinüber und beschleunigte seine Fahrt. In diesem Augenblick meldete sich Kontarskij wieder. »Prjabin hat gerade gemeint, Sie sollen Upenskoj festnehmen. Er hat Glasunow und Riassin, die anderen beiden, bereits. Wer ist eigentlich der andere Mann im Laster?« »Ich weiß nicht, Genosse Oberst. Es sollte … eigentlich …« »Genau! Es sollte eigentlich Glasunow sein, falls Upenskoj wirklich eine Lieferung mit Sanitäreinrichtungen ausfährt, oder nicht?« 70
»Jawohl, Genosse Oberst. Der Lastwagen ist inzwischen in die Karl-Marx-Straße eingebogen. Es sieht ganz so aus, als wollten sie die Stadt verlassen.« »Wen müßte Upenskoj heute planmäßig beliefern?« »Das weiß ich nicht, Oberst; aber es läßt sich sicher ohne weiteres herausfinden.« »Er wird sein Reiseziel ja an den Kontrollstellen auf der Au tobahn angeben müssen, Borch; dann werden wir ja sehen. Sie folgen ihnen bis zum nächsten Kontrollpunkt, und dann werden wir entscheiden, was am besten zu tun ist. Prjabin wird jetzt gleich mit Glasunow und Riassin in die Zentrale kommen. Vielleicht können sie uns ja auch ein wenig erzählen.« Der Mann im Wagen hörte Kontarskij lachen, gefolgt vom Klicken des Hörers. Borch hängte ebenfalls ein und beobachte te den Laster, der inzwischen wieder nur etwa hundert Meter vor ihnen fuhr. »Der Oberst scheint heute morgen ja bester Laune zu sein«, bemerkte der Fahrer. »Na ja, er hat die Nacht eben auch nicht im Auto verbracht.« »Was denkst du nur von unserem Oberst, Ilja.« Borch setzte einen betont vorwurfsvollen Gesichtsausdruck auf und grinste dann verschwörerisch. »Ich hab’ doch gar nichts gesagt … Hoppla! Unser Freund biegt nach links ab. Glaubst du, sie haben uns entdeckt?« »Nicht unbedingt. Vielleicht wollen sie die Gorkistraße nehmen. Siehst du, habe ich mir’s doch gedacht. Er fährt in Richtung Gorkistraße.« »Und nach Kasan – und dann nach …?« fragte der Fahrer mit einem Grinsen. »Mal sehen. Darüber soll sich dann mal unser guter Oberst Gedanken machen.«
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»Und Gedanken wird der sich auch machen, darauf könnt ihr Gift nehmen«, meldete sich der dritte Mann zu Wort, der sich bequem auf dem Rücksitz ausgestreckt hatte. »Oh, du bist ja schon wach?« stichelte Borch. »Na ja, so halbwegs«, erwiderte der Mann auf dem Rücksitz. »Das muß wohl an diesem stinklangweiligen Leben liegen, das ich führe, und an der langweiligen Gesellschaft, in der ich mich immer befinde.« »Sie werden an diesem Kontrollpunkt fotografiert werden«, wandte Pawel sich an Gant, während er den Laster an den rech ten Straßenrand lenkte, der für den Güterverkehr abgetrennt war. Gant blickte nach vorn und stellte fest, daß sie sich einer Art Zollstelle näherten, als bildete die Ringstraße um Moskau die Grenze zu einem anderen Land. »Sind das hier auch Leute vom KGB?« fragte Gant, als das Gesicht eines Soldaten in brauner Uniform am Seitenfenster vorbeiglitt. »Nein, Rote Armee. Aber sie unterstehen einem KGB-Mann; er wird in der Hütte dort drüben sitzen.« Gant folgte dem Nik ken von Pawels Kopf und erblickte einen jungen Mann in Zi vilkleidung, der lässig gegen die Tür der kleinen hölzernen Hütte gelehnt stand und eine lange Zigarette rauchte. Da sich die Sonne im Fenster der Hütte spiegelte, konnte Gant nicht in ihr Inneres sehen. »Was passiert jetzt? Überprüfen sie einfach nur die Papie re?« erkundigte er sich. »In der Regel schon. Außerdem werden sie uns fotografieren – von der kleineren Hütte aus, die dort neben dem Büro steht. Aber lächeln Sie nicht. Sonst denken die noch, Sie hätten etwas zu verbergen.« Pawel grinste hämisch und zog geräuschvoll die Handbremse an. »Und jetzt steigen Sie aus«, forderte er Gant 72
auf. Dieser öffnete die Tür und kletterte nach draußen. Die Span nung in seinem Magen kehrte zurück – aber in erträglichem Maße. Mit Mühe widerstand er dem Verlangen, hinter sich zu blicken, um nach den Gesichtern hinter der Windschutzscheibe der KGB-Limousine zu schauen. Ein Posten trat auf sie zu, nahm ihre Papiere entgegen und entfernte sich dann damit in das Büro. Scheinbar unbeteiligt beobachtete Gant die Wagen und Laster auf den drei Fahrspu ren, die für den stadtauswärts gerichteten Verkehr bestimmt waren. »Einer der Männer aus dem Wagen ist eben ins Büro gegan gen«, flüsterte Pawel. »Wissen Sie, wo der andere Wagen ist, falls es hart auf hart geht …?« »Glauben Sie, es könnte soweit kommen?« »Nein. Im Augenblick sind Sie für die Leute vom KGB noch ein völlig unbeschriebenes Blatt, und … ach, da kommen ja unsere Papiere schon.« Der Posten von vorhin kam aus dem Büro auf sie zu und händigte ihnen ihre Papiere wieder aus. Sie waren mit einer Fahrerlaubnis bis Gorkij abgestempelt. Dort würden sie dann eine neue Genehmigung einholen müssen, um weiter bis Kasan fahren zu dürfen – und dann bis Kuibischew. Sie kletterten in das Führerhaus hoch, und Pawel legte den ersten Gang ein und fuhr los. Vor ihnen klappte ein rotweiß gestreifter Schlagbaum hoch und gab ihnen den Weg frei. Pawel sah zu Gant hinüber und sagte: »Bis zum Mittagessen werden wir in Gorkij sein – und zum Tee dann in Kasan. Oder trinken Sie in Amerika keinen Tee?« Bemüht, Gant etwas auf zuheitern, lachte er. »Werden wir eigentlich beschattet?« wollte Gant jedoch nur
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wissen. Pawel sah in den Außenrückspiegel. »Nein, noch nicht. Aber später werden sie uns sicher jemanden hinterherschicken. Ma chen Sie sich mal keine Sorgen. Die vom KGB sind nicht be unruhigt – nur neugierig. Sie würden gerne wissen, wer Sie sind.« »Sie meinen, sie glauben nicht, daß ich dieser Glasunow bin.« »Zumindest werden sie das nicht mehr lange, falls sie es jetzt immer noch glauben sollten. Bis zum Nachmittag werden die Kontrollstellen ein Bild von Ihnen haben, das sie mit den exi stierenden Fotos von Glasunow vergleichen werden. Und dann werden sie wirklich neugierig werden, wer Sie sind.« »Und ist es möglich, daß sie uns anhalten und mich fragen werden?« drang Gant weiter in ihn. »Schon möglich. Aber sie sind in Biljarsk sehr zuversicht lich. Wir haben uns für den Notfall an jeder Kontrollstelle eine Alternativmöglichkeit für Sie ausgedacht. Also machen Sie sich keine unnötigen Gedanken. Und falls sie uns mitten auf der Straße anhalten sollten, dann gäben sie damit doch zu ver stehen, daß sie sich mit uns anlegen wollen, oder nicht?« Pawel grinste. »Und das können sie durchaus haben. Aber erst einmal hoffen wir, daß sie uns in Frieden lassen. Gefährlich wird es für uns erst, wenn sie es ein bißchen mit der Angst zu tun be kommen – und das kann beim KGB lange dauern.« Es war früher Nachmittag, als David Edgecliff mit einer Miene ernster Würde und tiefsten Bedauerns die Leiche seines Agenten Fenton als die sterblichen Überreste von Alexander Thomas Orton identifizierte. Er stand neben Inspektor Tortjew von der Moskauer Polizei in einem kahlen, deprimierenden Raum des Leichenschauhauses und starrte auf das zu fast völli 74
ger Unkenntlichkeit entstellte Gesicht hinab, um nach einer entsprechenden Pause und dem gehörigen Würgen in der Kehle zu nicken. Die Verletzungen überraschten ihn jedoch keines wegs. Fenton sah nun genauso aus, wie Gant in seiner Verklei dung als Orton ausgesehen hatte. Von den Gesichtszügen war nicht mehr genügend übriggeblieben, um einen Unterschied zwischen dem Amerikaner und dem Engländer festzustellen. »Ja«, sagte Edgecliff leise. »Soweit ich das beurteilen kann, handelt es sich bei diesem Mann um Mr. Orton.« Er sah zu Tortjew auf, der die Decke wieder über Fentons entstelltes Ge sicht zurückzog. »Und Sie sind sich auch sicher, daß Sie sich nicht täuschen, Mr. Edgecliff?« fragte der Inspektor. »Natürlich ist sein Gesicht übel entstellt.« Edgecliff zuckte leicht mit den Achseln. »Aber ich bin mir ziemlich sicher.« »Ja, es scheint fast so, als hätten es seine früheren Partner darauf angelegt, daß sich nicht mehr feststellen läßt, um wen es sich bei dem Toten handelt.« »Das stimmt. Aber welchen Grund sollten sie dafür gehabt haben?« Edgecliff kannte sein Gegenüber zwar nicht, aber er war sich sicher, daß Tortjew trotz seines Auftretens als gewöhnlicher Polizeiinspektor dem KGB angehörte. »Das weiß ich nicht, Mr. Edgecliff – genausowenig wie Sie, wie ich annehme.« Tortjew lächelte. Auf diesen Mann müssen wir aufpassen, dachte Edgecliff insgeheim, während er erwi derte: »Tja, ich wünschte, ich könnte Ihnen in dieser Sache irgendwie weiterhelfen, Inspektor. Abgesehen davon, werden wir damit zu Hause noch eine Menge Scherereien haben.« »Und was das erst hier in Moskau noch für Scherereien ge ben wird, Mr. Edgecliff«, erwiderte Tortjew scharf. »Wir wer den unbedingt die Männer finden müssen, die ihn umgebracht 75
haben!« Dann beruhigte er sich jedoch wieder und fuhr jovial fort: »Aber jetzt kommen Sie, Mr. Edgecliff; ich bin mir sicher, daß Sie jetzt etwas zu trinken vertragen können. Schließlich war das eben nicht gerade eine angenehme Aufgabe. Bitte, nach Ihnen.« Damit begleitete er Edgecliff mit einem gewinnenden Lä cheln aus dem Raum. »Und wer ist dann dieser Mann?« fragte Kontarskij und hielt das Foto, auf dem Gant zu sehen war, wie er an dem Kontroll punkt neben dem Laster stand, Borch und Prjabin unter die Nase. »Hat einer von Ihnen irgendeine Idee?« »Nein, keine Ahnung, Oberst.« Prjabin schüttelte den Kopf. Kontarskijs allgemeine Zuversicht war noch keineswegs ge brochen, und auch dieser Zwischenfall brachte ihn nicht aus dem Konzept. Er war sich seiner Sache absolut gewiß. Den noch wollte er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, seine Untergebenen seinen Unmut spüren zu lassen. »Sie er zählen hier, Sie hätten keine Ahnung, und dabei haben wir die ses Foto nun schon seit Stunden!« »Wir gehen der Sache ja bereits auf den Grund, Genosse Oberst«, fühlte Borch sich bemüßigt, dem entgegenzuhalten. »In der Computerzentrale nehmen sie sich der Sache bereits mit vorderster Dringlichkeit an.« »Tatsächlich? Und warum ausgerechnet die Computerzentra le?« »Weil wir vermuten, daß es sich bei diesem Mann um einen ausländischen Agenten handelt, Herr Oberst«, meldete sich nun Prjabin zu Wort. »Möglicherweise um einen Engländer.« »Aha. Das glauben Sie also.« »Warum halten wir den Laster nicht einfach an und fragen
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ihn selbst, Genosse Oberst?« platzte Borch heraus. Kontarskij bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Idiot!« war alles, was er darauf erwiderte. Nun begriff Prjabin. Kontarskij spekulierte auf einen aufse henerregenden Triumph. Er spürte instinktiv, daß der Mann, der Upenskoj begleitete, wichtig war, aber er reagierte darauf so, als könnte niemand unerkannt nach Biljarsk gelangen – womit er auch durchaus recht hatte, wie Prjabin zugeben muß te. Kontarskij hoffte, durch diesen Mann auf die Spur anderer geführt zu werden und auf diese Weise vielleicht eine großan gelegte SIS- oder CIA-Operation aufdecken zu können. Prjabin war leicht beunruhigt, obwohl auch er nicht einsehen wollte, wie ein einzelner Mann, auch wenn er in Richtung Biljarsk unterwegs war, eine Bedrohung darstellen sollte, die sonderlich ernst zu nehmen gewesen wäre. Für Kontarskij war die Sache vorläufig erledigt, und er wandte sich anderen Dingen zu. »Was ist bei den Verhören herausgekommen?« wollte er wissen. »Bis jetzt noch nichts. Bis jetzt halten sie noch durch.« »Sie halten durch, Dmitri?« »Jawohl, Herr Oberst.« »Sie haben Glasunow doch das Foto des Mannes gezeigt, der sich für ihn ausgibt. Ist er darüber nicht aus der Fassung gera ten?« Prjabin hielt es an diesem Punkt nicht für angebracht, zu lä cheln, und so erwiderte er geduldig: »Genosse Oberst, ich glaube nicht, daß er weiß, wer sich mit Upenkoj in dem Laster befindet.« »Aber – aber Sie sind doch mit mir einer Meinung, daß die beiden in Richtung Biljarsk fahren?«
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»Ja, Genosse Oberst, der Ansicht bin auch ich.«
»Dann muß dieser Mann, wer auch immer er ist und woher
auch immer er kommen mag, ein Saboteur sein.« »Wahrscheinlich.« »Zweifellos, Dmitri.« Kontarskij rieb sich den Hals. »Aber was könnte dieser eine Mann gegen die Mig-31 machen, wozu nicht auch Baranowitsch oder einer von den anderen, die ja bereits an Ort und Stelle sind, fähig wäre, hm?« Er dachte kurz nach und fuhr dann fort: »Was könnte dieser Mann vorhaben? Wenn wir wüßten, wer er ist, könnten wir vielleicht noch eine ganze Reihe anderer wichtiger Dinge in Erfahrung bringen.« Er lächelte. Kontarskij machte das Ganze richtig Spaß; daran be stand kein Zweifel. Er erwartete sich in Verbindung mit diesem mysteriösen Fremden irgendeinen zusätzlichen Erfolg – aber welcher Art? Prjabin hätte inzwischen den Lastwagen längst anhalten lassen. Kontarskij fuhr jedoch fort: »Ich werde erst ein paar Stunden später als geplant nach Biljarsk fliegen. Machen Sie inzwi schen die dortigen Sicherheitskräfte auf diesen Laster aufmerk sam … Borch, ich möchte gern mit Oberst Leprow von der Computerzentrale sprechen. Dieser Mann muß so schnell wie möglich identifiziert werden. Und Sie, Dmitri, können sich inzwischen ja wieder mit unseren Freunden unterhalten. Viel leicht verraten sie Ihnen diesmal, wer er ist.« Kontarskij tippte mit dem Finger auf Gants Foto, während Borch den Telefonhörer ergriff und Prjabin den Raum verließ. Gant war müde von der langen Fahrt. Es war inzwischen dunkel, und Upenskoj hatte das Licht eingeschaltet. Die KGBLimousine folgte ihnen in einem stetigen Abstand von fünf hundert Metern. Der Wagen hatte sich in den Außenbezirken von Kasan an sie gehängt, und obwohl er ohne Licht fuhr, 78
wußten sowohl Gant wie Pawel, daß er ihnen folgte. »Wie weit ist es noch?« wollte Gant wissen, nachdem beide lange geschwiegen hatten. »Bis zur Abzweigung noch etwa sieben Kilometer, und dann sind es noch zwanzig Kilometer bis Biljarsk.« »Und ich werde dann auf dieser Straße abgeholt werden – an der Stelle, die Sie mir auf der Karte gezeigt haben?« »Ja.« »Dann wird es ja allmählich Zeit, daß wir uns trennen …«, meinte Gant. »Noch nicht ganz.« »Und ob. Sobald wir wieder durch einen Wald kommen, werde ich mich auf die Socken machen«, entgegnete Gant be stimmt. »Na gut.« Pawel sah ihn kurz an. »Ich werde dann versu chen, daß sie mich erst möglichst weit hinter dem Kontrollpo sten überholen. Mit einem bißchen Glück werde ich ihnen so gar entwischen können, wenn ich mein treues Gefährt hier al lein zurücklasse, welches dem Hotel Wolga in Kuibischew den Segen der modernen Sanitärtechnik bringen soll!« Aus für Gant völlig unerfindlichen Gründen lachte Pawel schallend los. »Sehen Sie zu, daß Sie nicht erwischt werden.« »Na ja, ich werde mich bemühen«, erwiderte Pawel. »Seme lowskij wird den Kontrollposten vor knapp fünfzehn Minuten passiert haben.« »Woher wissen Sie das?« »Ich habe ihn an der Tankstelle in Kasan gesehen. Ich habe zwar nicht mit ihm gesprochen, aber er war dort.« »Wie ist er denn aus Biljarsk herausgekommen? Ich dachte, die Stadt wäre bis nach Abschluß der morgigen Show herme tisch abgeriegelt.« 79
»Das ist sie auch. Aber er ist aus Kasan. Seine Mutter liegt im Sterben; deshalb haben sie ihn herausgelassen, natürlich nur in Begleitung eines KGB-Mannes. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wegen Semelowskij machen sich die Leute vom KGB keine großen Gedanken. Sie wissen, daß er zu uns gehört, und erwarten, daß er nach Biljarsk zurückkehrt.« »Seine Mutter – liegt sie wirklich im Sterben?« »Es scheint so – zumindest für den Arzt, der sie behandelt. Sie ist allerdings eine verdammt zähe alte Dame …« Er lächel te. »Semelowskij wird Sie an der Straße erwarten.« Gant gewann den Eindruck, daß jedem, mit dem er bisher in Kontakt gekommen war, der Tod drohte – ein Schicksal, das alle von ihnen zu akzeptieren schienen. Gant hätte in der Selbstlosigkeit dieses Augenblicks gerne etwas zu Pawel ge sagt. Pawels Stimme riß ihn jedoch schon im nächsten Augenblick aus seinen Gedanken. »Dort vorne kommen die ersten Bäume, und die Straße macht ein paar Kurven, damit die Fernfahrer nicht über dem Steuer einschlafen!« Er sah zu Gant hinüber und fügte hinzu: »Sagen Sie jetzt nichts. Ihre Worte würden jetzt nichts nützen. Aber schaffen Sie dieses verdammte Flug zeug aus Rußland raus!«
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3. Verdachtsmomente Im harten Licht der Bürobeleuchtung stand ein Paar Männer schuhe auf Inspektor Tortjews Schreibtisch; sie schienen die Aufmerksamkeit des jungen Beamten wie magisch auf sich zu ziehen. Er hatte sich inzwischen bereits über eine halbe Stunde allein in sein Büro zurückgezogen, um nachzudenken, und war noch immer zu keiner Entscheidung gelangt, was er hinsicht lich der Schuhe unternehmen sollte. Sein Stuhl knarzte, als er sich vorbeugte und das Etikett in die Hand nahm, das an einem der Schuhe befestigt war und besagte, daß sie Alexander Thomas Ortons Eigentum waren. Kopfschüttelnd stellte er den linken und den rechten Schuh nebeneinander; sie bildeten jedoch kein Paar; der eine war schwarz und eineinhalb Nummern größer als der andere, der braun war. Der schwarze Schuh von Ortons Leiche war immer noch leicht feucht vom Wasser der Moskwa. Dagegen stammte der andere Schuh – er war sauber geputzt und noch kaum ge tragen – aus Ortons Hotelzimmer im Hotel Moskwa. Leise pfiff der Inspektor vor sich hin und schob die Schuhe auf dem Schreibtisch vor sich hin und her, als könnte er ihnen auf diese Weise das Geheimnis ihrer unterschiedlichen Größe entlocken. Die Hutgröße und die Kragenweite waren dieselbe gewesen; der Mantel aus dem Hotel hatte dem Toten gepaßt, ebenso die Anzüge, die Socken … aber nicht die Schuhe. War um nicht? Gab es jemanden, der Schuhe von so unterschiedli cher Größe hatte? Warum? Jedenfalls war das Ganze höchst seltsam. Und die einzige mögliche Lösung dieses Problems, auf die er bis dahin ge kommen war, bestand darin, daß der Mann, der tot aus der Moskwa gefischt worden war, nicht mit dem Mann identisch 81
war, der sich das Zimmer im Hotel Moskwa genommen hatte. Und weshalb war das nicht derselbe Mann? War einer der drei Männer, die sich mit Mr. Orton getroffen hatten, an seiner Stelle in die Moskwa geworfen worden? Warum? Einen gewöhnlichen Polizeiinspektor hätte diese Frage ver mutlich nicht so vordringlich interessiert, wie sie Tortjew be schäftigte. Aber andererseits war Tortjew auch kein gewöhnli cher Inspektor; er gehörte vielmehr dem KGB an. Tortjew hatte sich von Anfang an mit dem Fall Orton befaßt, nachdem die ersten Suchtfälle bekannt geworden waren. Er war mit dreiunddreißig zum Inspektor ernannt worden und hat te verschiedene Sondervollmachten erhalten, um wirkungsvol ler gegen den Ring von Rauschgifthändlern vorgehen zu kön nen. Tortjew haßte Drogen und die Händler, die sie unter die Leu te brachten. Und er haßte Orton. Als ihn Holokow über den Tod des Engländers informiert hatte, freute ihn das, wenn es ihn zugleich auch frustrierte. Er hätte ihn zu gern verurteilt gesehen. Aber nun war Orton keineswegs tot, mußte er feststellen. Er nahm den Hörer seines Telefons ab und ließ sich mit dem Büro von Oberst Ossipow vom 7. Direktorium verbinden, das für die Überwachung der englischen Touristen zuständig war. Er for derte von dem KGB-Oberst in Form einiger seiner Leute Un terstützung an, die ihm auch sofort bewilligt wurde. Tortjew wurde vom 7. Direktorium bevorzugt behandelt. Da ihm nun mehr Männer zur Verfügung standen, hinsicht lich Ortons Verbleib Nachforschungen anzustellen, konnte er Stetschko, Holokow und möglicherweise auch Filipow, obwohl er Jude war, dazu abbeordern, ihre Aufzeichnungen über Or tons frühere Besuche in Moskau, seine Kontakte und seine Gewohnheiten zu überprüfen.
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Als er über die Sprechanlage seine Untergebenen in sein Bü ro bestellte, starrte er immer noch die beiden ungleichen Schu he an. Er lächelte, als stellten sie eine Herausforderung für ihn dar. Und während er dann ungeduldig auf ihr Eintreffen wartete, fiel ihm plötzlich das Transistorradio ein, das bei der Zollkon trolle am Flughafen auf Drogen hin überprüft worden war. Es war weder im Hotelzimmer noch an der Leiche gefunden wor den. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß es auf dem Grund der Moskwa lag. Wo war dieses Radio? Semelowskij wartete auf ihn. Der kleine Moskwitsch stand, die Kühlerhaube offen, am Rand der schmalen Straße, die nach Biljarsk führte. Von der Böschung, welche die Straße säumte, konnte Gant die schwachen Umrisse von Semelowskij erken nen, wie er sich über den Motor beugte. Er wartete. Der Mann war weiter mit dem Motor des Wagens beschäftigt – oder zu mindest erweckte er diesen Eindruck. Gant ließ sich zehn Mi nuten Zeit, um zu überprüfen, daß der Mann allein und die Straße verlassen war. Als sich der Mann plötzlich aufrichtete und auf Russisch zu fluchen anfing, duckte Gant sich, so daß er nicht gesehen werden konnte. Semelowskij war klein; er sah die Straße hinauf und hinunter und steckte dann seinen Kopf wieder unter die Kühlerhaube. Darauf erhob sich Gant und schlenderte die Böschung hinunter. Der Mann hatte ihm den Rücken zugekehrt, und wenn er nicht Semelowskij gewesen wäre, dann … »Wie lange haben Sie mich schon beobachtet?« fragte der kleine Mann in Russisch, ohne seinen Kopf unter der Kühler haube hervorzuziehen. Gant hielt mitten im Schritt inne. »Semelowskij?« fragte er, nachdem er sich von seinem
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Schock erholt hatte. Der Mann kam unter der Kühlerhaube hervor und wischte sich an einem Lumpen die Hände ab. Er betrachtete Gant im Licht des eben aufgegangenen Monds prüfend, nickte dann, offensichtlich zufriedengestellt, wie zu sich selbst und schloß geräuschvoll die Kühlerhaube. Der Mann war Ende Vierzig, vielleicht auch Anfang Fünfzig. Bis auf einen grauen Haar kranz war sein Schädel kahl. Über seinem grauen Anzug trug er einen Regenmantel. Er war kaum größer als einen Meter fünfzig. Das Mondlicht spiegelte sich in den Gläsern seiner Brille, als er zu Gant aufsah. »Sie sind spät dran«, sagte er schließlich. »Tut mir leid«, schnappte Gant zurück, der durch den Mann irgendwie irritiert war. »Es ist wegen der Posten«, erklärte Semelowskij dem Ame rikaner wie einem kleinen Kind. »Ein bißchen später, und einer der Wachtposten wäre entweder von der Abzweigung oder vom anderen Ende der Straße hierher geschickt worden, um nachzusehen, wo ich so lange bleibe. Es ist schon fast eine Stunde her, daß ich den ersten Kontrollposten passiert habe. Deshalb habe ich auch so getan, als wäre etwas mit dem Wa gen.« Gant nickte: »Und wie komme ich jetzt nach Biljarsk rein?« »Im Kofferraum des Wagens natürlich.« »Werden sie dort nicht nachsehen?« »Vermutlich nicht. Ich bin schon an der letzten Kontrollstel le durchsucht worden – und zwar gründlich. Der KGB arbeitet nämlich meistens sehr mechanisch und wenig intuitiv«, fügte der Russe hinzu. »Wenn sie zum Beispiel an der einen Kon trollstelle den Auftrag haben, alle ankommenden Fahrzeuge zu durchsuchen, und an der anderen, alle abfahrenden, dann halten sie in der Regel auch stur an diesem Modus fest, obwohl sie ja 84
in den letzten Tagen die Wachen in der Stadt erheblich ver stärkt haben. Haben Sie mitbekommen, daß an dem Kontroll posten an der Abzweigung von der Hauptstraße mindestens ein Dutzend Männer herumgestanden sind?« Über Semelowskijs Züge breitete sich plötzlich ein strahlendes Lächeln aus. »Die müssen wohl mit einer Menge Scherereien rechnen, wenn sie auch keine Ahnung von der Art der Scherereien haben!« Er ging um den Wagen herum und öffnete die Klappe des Kofferraums. Er winkte den Amerikaner neben sich. Der Kof ferraum bot wenig Platz. Gant steckte die Pistole, die er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, in seine Tasche und kletterte hinein. Nachdem er sich so zusammengekauert hatte, daß er Platz fand, nickte er. Der Russe sah noch einen Augen blick auf ihn herab und nickte dann ebenfalls. Der Deckel des Kofferraums klappte zu, und Gant lag in völliger Dunkelheit eingequetscht. Er ging davon aus, daß Semelowskij den Kof ferraum so präpariert hatte, daß er nicht erstickte. Schließlich hörte er, wie der Motor ansprang. Semelowskij hatte sogar da für gesorgt, daß er nur auf drei Zylindern lief, und dann wurde Gant gegen das kalte Metall der Kofferraumklappe gepreßt, als der Moskowitsch losfuhr. Während der letzten Kilometer Fahrt nach Biljarsk ver schwendete Semelowskij kaum einen Gedanken an seinen Mit fahrer; ihm ging es nur um die Erfüllung seiner Mission, die darin bestand, Gant und die Mig-31 in größtmögliche Nähe zueinander zu bringen. Die zweite Kontrollstelle lag an dem Punkt, wo die Straße nach Biljarsk den hohen Drahtzaun erreichte, der um das ge samte Forschungsgelände, einschließlich des Flugfelds, gezo gen worden war. Der ursprüngliche Ort Biljarsk lag außerhalb dieses umzäunten Bezirks – eine ländliche Gemeinde aus arm seligen Holzhäusern. Die im Zuge des Forschungsprojekts aus dem Boden gestampfte neue Stadt Biljarsk wirkte daneben wie 85
ein Fremdkörper. Semelowskij verlangsamte seine Fahrt, als er sich dem Tor in der Umzäunung näherte; ihm fiel auf, daß die Wachen ver stärkt worden waren, was ihn jedoch angesichts seiner Beob achtungen an der Kontrollstelle an der Abzweigung von der Hauptstraße nicht weiter überraschte. Zwei Posten – nicht wie sonst nur einer – traten auf den Wagen zu. Der Lichtkegel eines Suchscheinwerfers, der auf einem der Wachtürme neben dem Tor montiert war, wurde auf ihn gerichtet. Geblendet von dem kalten, weißen Licht, kurbelte Semelowskij das Fenster herun ter und streckte seinen Kopf nach draußen. Er kannte den Wachposten. »Tag, Fjodor, was habt ihr denn da für ein neues Spielzeug? Mit dieser Lichtkanone macht ihr ja die Nacht zum Tag.« Se melowskij lachte über seinen Witz, zufrieden über seine Kalt blütigkeit. »Wo haben Sie denn gesteckt, Dr. Semelowskij? Sie sind doch schon vor über einer Stunde beim letzten Kontrollpunkt durchgekommen.« Der Posten machte eine ernste Miene, was Semelowskij jedoch weniger auf irgendeinen Verdacht von seiner Seite zurückführte als vielmehr auf den Umstand, daß er von einem ihm unbekannten Offizier beobachtet wurde. Semelowskij streckte seine Hände aus, so daß im grellen Licht des Suchscheinwerfers die Schmierflecken darauf deut lich zu sehen waren. »Ich hatte mit diesem verdammten Motor Schwierigkeiten«, schimpfte er los. »Mit dem letzten Fünf-Jahres-Plan mögen wir ja einiges erreicht haben, aber dieser Moskwitsch taugt trotz dem nicht sonderlich viel.« Er lachte von neuem, und diesmal ließ sich auch der Posten ein Lächeln entlocken. Darauf trat der zweite Posten zu ihnen und forderte Seme lowskij auf: »Lassen Sie bitte mal den Motor an.« Semelowskij
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kannte den Mann nicht. Er sah Fjodor kurz an, zuckte dann mit den Achseln und drückte auf den Anlasser. Der Motor sprang geräuschvoll an, und es war deutlich zu hören, daß er nur auf drei Töpfen lief. Der Posten gab ihm zu verstehen, er sollte die Kühlerhaubenverriegelung lösen, worauf er die Motorhaube aufklappte und darunter verschwand. Semelowskij riskierte einen kurzen Blick auf den Offizier, der an der Situation nichts Ungewöhnliches zu finden schien. Er rauchte und erweckte einen gelangweilten Eindruck. Semelowskij beugte sich aus dem Fenster. »Haben Sie eine Ahnung, was das sein könnte?« Der zweite Posten knallte die Kühlerhaube wieder zu und fuhr Semelowskij barsch an: »Der Motor ist ganz schön ver dreckt. Sie sind doch Wissenschaftler – Sie sollten ihn besser pflegen.« Sein plötzlicher Wechsel im Tonfall ließ Seme lowskij darauf schließen, daß dieser Mann, ungeachtet der Uni form, die er trug, entweder dem KGB oder dem GRU angehör te. »Tja, wenn uns die Arbeit etwas mehr Zeit ließe …«, wollte er eben zu seiner Entschuldigung vorbringen, aber der zweite Posten wandte sich bereits dem Offizier hinter ihm zu, um ihm mit dem Kopf ein Zeichen zu geben, worauf dieser mit einem lässigen Wink seiner Hand das Signal zum Öffnen des Tors gab. Semelowskij legte den ersten Gang ein und fuhr los. Erst nachdem er das Tor passiert hatte und dieses sich bereits wie der hinter ihm geschlossen hatte, überkam ihn plötzlich ein heftiger Anfall von Angst. Erst an diesem Punkt wurde ihm die Gefährlichkeit dieser Situation bewußt. Aber jetzt hatte er es geschafft. Er hatte Gant auf das Werksgelände geschmuggelt. Seine Mission war erfüllt. Er steuerte den Wagen durch die schnurgeraden Straßen der
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Wohnviertel, in dem jedes der datscha-artigen, einfachen Holzhäuser dem anderen glich. Nach einer Weile verlangsamte er in der Tupolew Avenue die Fahrt und bog in die Auffahrt zu einem der unscheinbaren Häuser ein, um den Wagen in der offenen Garage abzustellen. Semelowskij war die schwarze Limosine nicht entgangen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt stand. Plötzlich bekam er wieder Angst. In diesem Augenblick nützte es ihm absolut nichts mehr, daß Baranowitsch ihm wiederholte Male eingeschärft hatte und daß auch er selbst haargenau wuß te, daß man sie erst nach den Tests des Bewaffnungssystems verhaften würde – denn wer hätte sonst die Bewaffnung des Flugzeugs besorgen sollen? Nachdem er den Zündschlüssel abgezogen und die Handbremse angezogen hatte, blieb er noch einen Augenblick tief ein- und ausatmend sitzen, als hätte er Gant im Kofferraum des Wagens ganz vergessen. Dann öffnete er die Tür, stieg aus und schloß das Garagen tor, bevor er den Kofferraum öffnete. »Und Sie haben immer noch nichts aus ihnen herausgekriegt, Dmitri? Immer noch nichts?« Aus Kontarskijs Stimme war die zuversichtliche Sanftheit inzwischen gewichen und machte zusehends einer nörgelnden Ungeduld Platz. Es war zehn nach sieben. Prjabin war erst wenige Minuten zuvor aus dem Keller raum in der Zentrale in der Dserschinskijstraße in Kontarskijs Büro hochgekommen. Riassin, der von den beiden Männern, die an diesem Morgen aus dem Mira-Prospekt abgeholt worden waren, am ehesten den Eindruck erweckte, als würde er dem Druck nachgeben, hatte neuerlich das Bewußtsein verloren. Prjabin blieb zu seinem Bedauern nicht die Zeit, auf die von ihm bevorzugten feineren Verhörmethoden zurückzugreifen. In diesem Fall hatte er die beiden Männer brutal einschüchtern
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müssen, begleitet von einem übermäßigen Gebrauch von Pen tathol. Und doch hatten sie immer noch nichts aus den beiden herausbekommen. Prjabin war inzwischen auch der Überzeu gung, daß aus den beiden Männern nicht mehr herauszube kommen war, als daß sie Pawel Upenskoj kannten und daß einer von ihnen, Glasunow, als Beifahrer mit ihm arbeitete. Glasunow hatte Anweisung erhalten, an diesem Tag zu Hause zu bleiben, obwohl Upenskoj eine größere Lieferung nach Kuibischew bringen sollte. Er sagte jedoch auch unter Drogen einfluß aus, den Grund hierfür nicht zu kennen. Kontarskij war jedoch immer noch der Auffassung, daß Prjabin einfach nicht genügend hart vorgegangen war. Er war nach wie vor der festen Überzeugung, daß die beiden Männer etwas wissen mußten. Prjabins Augen folgten Kontarskij, der nervös im Raum auf und ab ging. Wie sein Chef konnte er sich zusehends weniger des unguten Gefühls erwehren, daß dieser zweite Mann in dem Laster von eminenter Wichtigkeit war. Aber was konnte dieser Mann vorhaben, was nicht Baranowitsch oder auch einer von den anderen hätte durchführen können, zumal sie doch alle während der letzten Nacht noch direkten Zugang zu der Ma schine hatten? Ein Fremder hätte doch unmöglich in die Nähe der Mig gelangen können. Und die Vorstellung, daß er nur ein bißchen spionieren und ein paar Fotos machen wollte, war ein fach absurd. Plötzlich blieb Kontarskij vor Prjabin stehen. Der Oberst hät te schon vor Stunden nach Biljarsk fliegen sollen, aber er woll te erst Gewißheit hinsichtlich der Identität des zweiten Mannes in Upenskojs Laster haben. Schon seit dem frühen Nachmittag stand am Stadtrand ein KGB-Hubschrauber und wartete auf ihn. »Also gut«, sagte Kontarskij schließlich; er schien eine Ent scheidung gefällt zu haben. »Nehmen Sie das Telefon, und 89
lassen Sie sich mit dem Wagen in Verbindung setzen, der die beiden beschattet. Sie sollen Upenskoj und den anderen Mann sofort festnehmen – auf der Stelle!« »Jawohl, Herr Oberst.« Prjabin nahm den Hörer ab und ließ sich mit der KGBZentrale in Kasan verbinden, welche die Durchsage an den Wagen weiterleiten würde, der dem Laster folgte. »Sagen Sie ihnen auch, sie sollen sich an den Kontrollpunkt an der Abzweigung nach Biljarsk wenden, wenn sie Hilfe brauchen«, fügte Kontarskij noch hinzu. »Wie viele Männer sind in dem Wagen?« »Drei«, antwortete Prjabin. »Der Laster ist bereits an der Abzweigung nach Biljarsk vorbeigefahren. Er hat weder die Fahrt verlangsamt, noch hat er angehalten …« Prjabin hielt den Hörer lose in der Hand. Kontarskij wirbelte herum. »Dann sollen sie ihn sofort anhalten. Ich will wissen, ob sie immer noch zu zweit sind!« Sobald er in der Dämmerung den Kontrollpunkt an der Ab zweigung nach Biljarsk passiert hatte, war sich Pawel Upenskoj darüber im klaren, daß seine Zeit von nun an be grenzt war. Ohne die Fahrt zu verlangsamen, nahm er eine Hand vom Steuer des Lasters, öffnete den Reißverschluß seines Overalls und zog eine alte Automatik daraus hervor. Vorsichtig legte er die Waffe neben sich auf den Beifahrersitz, wo bis vor kurzem noch Gant gesessen war. Inzwischen hatte auch der Fahrer der KGB-Limousine hinter ihm die Lichter eingeschaltet. Pawel überlegte, ob sie wohl an der Kontrollstelle halten würden, um sich nach ihm zu erkun digen. Dies war jedoch unwahrscheinlich, da sie mit dem Po sten in Funkkontakt standen. Auf diese Weise würden sie in Erfahrung bringen, daß er weder langsamer gefahren war noch 90
angehalten hatte, und das würde ihnen sicher einiges Kopfzer brechen bereiten. Upenskoj rechnete sich aus, daß er vielleicht noch etwa fünf zehn Kilometer würde fahren können, bevor sie Verdacht schöpften oder Order erhielten, sich seinen mysteriösen Fahr gast aus der Nähe anzusehen. Sie würden ihn überholen und an den Straßenrand winken. Pawel kannte die Strecke zwischen Kasan und Kuibischew recht gut. Die Gegend war ziemlich verlassen; nur ab und zu lag inmitten der weiten Felder ein kleines Dorf, und die nächste Stadt war Krasnij Jar, das seiner seits nur etwa zwanzig Kilometer vor Kuibischew lag. So weit würden sie ihn allerdings nicht kommen lassen. Er war sich der Risiken seines Auftrags voll bewußt gewe sen, wie er auch gewußt hatte, welche Bedeutung das BiljarskProjekt für die Sowjets – und damit auch für die NATO – hatte. Er verstand die Verzweiflung, mit der die Engländer dieses Flugzeug stehlen wollten – die Verzweiflung, die Edgecliff veranlaßt hatte, ihn selbst und den armen Fenton und die ande ren zu opfern. Er war stolz darauf, daß Edgecliff seinen Wert zu schätzen wußte und sein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzte. Aber nun war doch der Augenblick gekommen, da er ersetzbar war – und ganz auf sich allein gestellt. Er mußte, wenn möglich, während der nächsten zwölf Stunden auf jeden Fall seiner Verhaftung entgehen, bis Gant … Er entschloß sich, es einfach darauf ankommen zu lassen. Bis Krasnij Jar würde es vermutlich keine Straßenabsperrungen mehr geben. Er mußte nur dafür sorgen, daß er nahe genug an die Stadt herankam, um sich dort dann verbergen zu können. Er kannte dort zwar niemanden, aber das beunruhigte ihn nicht weiter. Irgendwo würde er schon zum Schlafen unterschlüpfen können, und etwas zum Essen würde er sich stehlen. Und dann … Er spürte jedoch, daß es keinen Sinn hatte, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Nein, er würde nicht mehr dar 91
über nachdenken; statt dessen würde er einfach handeln, sobald die Männer in der Limousine hinter ihm in Aktion traten. Ein Blick in den Rückspiegel sagte ihm, daß der Wagen nä her gekommen war. Er blickte kurz neben sich, um sich zu vergewissern, daß die Automatik auf dem Beifahrersitz nicht verrutscht war. Der Griff lag immer noch ihm zugewandt, so daß er die Waffe sofort ergreifen konnte. Er sah neuerlich in den Rückspiegel. Der Fahrer des Wagens ließ die Lichter meh rere Male hintereinander aufleuchten, als wollte er überholen. Pawel lächelte grimmig. Sie wußten, daß er wußte, wer sie waren, und nahmen in ihrer halbgöttlichen Arroganz an, daß er nun, da sein Spiel ausgespielt war, wie ein Kartenhaus zusam menfallen würde. Er preßte seinen Fuß aufs Gaspedal, so daß die Lichter des Wagens hinter ihm kurz zurückfielen, um dann jedoch rasch wieder aufzuholen. Sie hatten gemerkt, daß er versuchte, ihnen zu entkommen. Sie fuhren nun auf einem geraden Stück Straße, das jedoch noch nicht zweispurig ausgebaut war. Die Limousine hätte zum Überholen also nur sehr wenig Platz gehabt. Pawel hoffte je doch, daß die KGB-Männer aus verletztem Stolz versuchen würden, ihn zu überholen, wenn er es nur lange genug schaffte, vor ihnen herzufahren. Im Moment versuchten sie noch, ihn durch das Aufblenden der Scheinwerfer des Wagens zum An halten zu bewegen. Er beschleunigte auf hundert Stundenkilo meter. Neuerlich fielen die Lichter ein Stück zurück, um dann plötzlich mit enormer Geschwindigkeit auf ihn zuzukommen. Pawel wußte, daß die Männer in der Limousine inzwischen bereits kochten vor Wut. Sie waren es nicht gewohnt, so re spektlos behandelt zu werden. Angespannt beobachtete Pawel die Straße vor sich. Nirgendwo waren Bäume zu sehen. Die weiten Weizenfelder zu beiden Seiten der Straße waren nur durch flache Aufschüttungen von der Fahrbahn getrennt. Aber 92
auch sie würden für sein Vorhaben ausreichen. Die Limousine schwenkte vorsichtig auf die Gegenfahrbahn hinaus. Immer noch mit regelmäßig aufblinkenden Scheinwer fern fiel der Fahrer wieder ein Stück zurück, um dann plötzlich ganz enorm zu beschleunigen. Die Limousine schien fast nach vorn zu springen und befand sich bereits auf gleicher Höhe mit dem Führerhaus des Lasters, bevor Pawel reagierte. Er riß das Steuer herum, so daß der Lastwagen nach links schoß. Kra chend stießen die beiden Fahrzeuge gegeneinander, und wäh rend Pawel den Laster wieder zurückriß, beobachtete er bereits, wie die Scheinwerfer der Limousine vor ihm wild über den Asphalt tanzten, bevor der Wagen in die Seitenböschung krachte. Pawel nahm den Fuß vom Gas und bremste scharf. Quietschend kam der Laster zum Stehen. Pawel kurbelte das Fenster herunter und lauschte nach draußen. Stille. Der Motor war beim Aufprall gegen die Böschung abgestorben. Pawel ergriff die Automatik und kletterte aus dem Führerhaus. Die Limousine stand etwa hundert Meter weiter, die Führerhaube in die Böschung gebohrt. Als er darauf zuging, konnte er die Leiche eines Mannes auf der Kühlerhaube liegen sehen. Er war offensichtlich bei einer Geschwindigkeit von hundert Stunden kilometern durch die Windschutzscheibe geflogen. Er war völlig perplex, als plötzlich eine der Hintertüren auf ging und eine dunkle Gestalt nach draußen glitt. Das grelle Aufblitzen und das scharfe Krachen der zwei Schüsse erschie nen Pawel völlig fehl am Platz. Ein Geschoß verfehlte ihn, das andere durchschlug seine Schulter. Ungeachtet seiner Verlet zung hob Pawel seinen Arm und schoß ebenfalls zweimal. Die dunkle Gestalt sank langsam, fast theatralisch, auf den Asphalt nieder. Pawel brauchte seine Wunde gar nicht erst lange zu untersu chen, um zu wissen, daß er den schweren Laster unmöglich noch würde fahren können. Mit letzter Kraft kroch er jedoch 93
trotzdem ins Führerhaus hoch und legte den ersten Gang ein. Seinen Oberkörper über das Lenkrad gelegt und aufgrund der Schmerzen und des Blutverlusts einer Ohnmacht nahe, fuhr er schließlich los. Er hatte nur zwei Gedanken im Kopf – nach Krasnij Jar zu kommen, bevor er das Bewußtsein verlor, und das Gesicht seiner Frau Maria. Pawel Upenskoj starb, als der Laster fünfzehn Kilometer von der Stelle des Zusammenstoßes mit dem KGB-Wagen aus einer Kurve getragen wurde. Er wurde, bereits bewußtlos, aus dem Führerhaus geschleudert, worauf der Laster, der halb die Sei tenböschung hinaufgeschossen war, umkippte und auf ihn stürzte. Pjotr Wassilijewitsch Baranowitsch war nicht mehr länger verwundert über den Amerikaner Gant. Zuerst – während der ersten Stunden nach seinem Eintreffen in Kreschins Haus in der Tupolew Avenue – hatte ihn sein Verhalten zunehmend beunruhigt. Er hatte den Amerikaner beim Essen beobachtet. Er hatte ihn studiert, während sie sich über seine Reise unter hielten – und über Pawel, der inzwischen irgendwo auf der Straße nach Kuibischew war, oder in den Händen des KGB. Aber er wurde aus dem Mann nicht schlau. Dann hatten sie begonnen, über die Mikojan Mig-31 zu sprechen, den Firefox, wie er in eingeweihten Kreisen der Nato hieß. Als er jedoch dabei den gierigen, fast wollüstigen Ausdruck in den Augen des Mannes bemerkte, waren seine Zweifel hinsichtlich Buck holz’ Wahl des Piloten mit einem Mal ausgeräumt. Er spürte, daß Gant aus irgendeinem unerfindlichen, persön lichen Grund diese Maschine fliegen mußte. Der Mann vor ihm war durch die halbe Welt verfrachtet worden – von Amerika nach England, und dann weiter nach Rußland, schließlich von Moskau nach Biljarsk; und er hatte all das über sich ergehen
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lassen, weil ihm am Ende dieser Reise als Belohnung ein gro ßes, glänzendes und enorm aufregendes Spielzeug in Form der Mig winkte. Semelowskij war praktisch sofort, nachdem er den Amerika ner abgeliefert hatte, wieder gegangen, um zu sich nach Hause zu fahren. Sie sollten sich nicht mehr sehen, bis sie sich im Hangar einfinden würden, um die Maschine für den Probeflug am darauffolgenden Tag fertig zu machen. Baranowitsch war sich im klaren darüber, daß er, Kreschin und Semelowskij die ganze Nacht über aufs schärfste durch den KGB überwacht werden würden. Und man würde sie mit Sicherheit verhaften, noch bevor die Mig zu ihrem ersten Flug startete. Das war zu erwarten gewesen. Aber so lange die Ar beit an der Bewaffnung des Flugzeugs nicht abgeschlossen war, würde niemand sie behelligen. Man würde Baranowitsch lediglich von der anderen Straßenseite aus beobachten. Dies war auch der Grund, weshalb Baranowitschs Haus letztlich in Biljarsk das sicherste Versteck für Gant war. Hier würden sie zuallerletzt nachsehen. »Wie eingehend hat man Sie mit diesem Flugzeugtyp ver traut gemacht?« wandte Baranowitsch sich schließlich an Gant. Sie saßen in Kreschins gemütlichem, kleinem Wohnzimmer. Der jüngere Mann hatte sie dort allein zurückgelassen. Bara nowitsch vermutete, daß er sich gerade in dem Raum daneben mit der Frau liebte, mit der er zusammenlebte. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, habe ich ein paar von den Mig-25 geflogen, die wir in den Staaten für ein paar Jahre nachgebaut haben. Und dann habe ich mehrere Monate im Mig-31-Simulator trainiert«, beantwortete Gant die Frage sei nes Gegenüber. Er war von Baranowitsch sichtlich beein druckt. Das patriarchalische Auftreten, das weiße Haar mit dem Spitzbart und die klaren, blauen Augen verfehlten auf Gant
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keineswegs ihre Wirkung. »Demnach dürfte Ihre Ausbildung also sehr gründlich gewe sen sein.« Baranowitsch sog lächelnd an seiner Pfeife. Er schien so locker und entspannt, als diskutiere er gerade in ei nem Seminarraum der Universität ein interessantes wissen schaftliches Problem. »Das kann man wohl sagen«, stimmte ihm Gant zu, um nach kurzem Zögern fortzufahren: »Das Waffensystem … Sie müs sen mir darüber noch Genaueres erzählen.« Baranowitsch schien durch Gants Direktheit ungerührt. Im Gegenteil, er wußte sie sogar zu schätzen. Dies war nicht der Zeitpunkt, lange um den heißen Brei herum zu reden. »Selbstverständlich. Ich muß Ihnen jedoch gleich zu Beginn sagen, daß es sich dabei nicht um meine eigene Entwicklung handelt; ich war lediglich für den Bereich der elektronischen Umsetzung zuständig.« Er sog an seiner Pfeife. »Sie sind buch stäblich an das Bewaffnungssystem angeschlossen. Die Senso ren, die auf Ihre gedanklichen Abläufe und Ihre Augenbewe gungen reagieren, sind in den Helm eingebaut, den Sie tragen werden. Diese zerebralen Impulse werden dann durch eine ein zelne Leitung an die Abschußmechanismen weitergeleitet. Die ses Kabel wird manuell am Instrumentenbrett befestigt. Wissen Sie übrigens, wo sich der Stecker genau befindet?« Gant nick te, und Baranowitsch fuhr fort: »Gut. Wie das alles genau vor sich geht, ist für Sie letztlich unwichtig. Für Sie zählt nur das Ausgangsprodukt, das Ergebnis, Die Radaranlage der Maschi ne wurde speziell zu dem Zweck entwickelt, sich mit dem Be waffnungssystem gleichschalten zu lassen. Im Grunde genom men wird dadurch ein schnelleres Feuern ermöglicht. Sie emp fangen also schneller, als das Auge reagieren kann, vom Ra darschirm einen Impuls, der jedoch in Ihrem Gehirn sofort eine Reaktion hervorruft, auf die wiederum das Bewaffnungssystem anspricht. Dadurch wird natürlich das Abfeuern der Luftge 96
schosse oder der Bordkanonen wesentlich beschleunigt … Und auch was den visuellen Kontakt im Gegensatz zum Radarkon takt betrifft, sind Sie einem Piloten in einem normalen Flug zeugtyp um Sekunden voraus. Wenn Sie also mit den Augen ein Ziel sehen, wird dieser Impuls sofort vom Gehirn an das Bewaffnungssystem weitergeleitet; und für welche Waffe Sie sich dann auch entscheiden mögen – sie wird sofort abgefeuert. Und dann können Sie die Rakete während ihres Anflugs auf das Ziel rein durch Ihre gedankliche Aktivität steuern.« Gants ungläubiger Blick belustigte Baranowitsch. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, mein Freund; einige unserer Piloten sind wirklich nicht sehr intelligent. Und das Ganze funktioniert nur, so lange sie den Helm tragen und das Kabel eingesteckt haben. Außerdem«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »ist das bereits alles, was ich Ihnen darüber sagen kann. Die Sache steht natürlich unter strengster Geheimhaltung.« Baranowitsch nahm seine Pfeife aus dem Mund und lachte schallend los, um dann, immer noch lächelnd, hinzuzufügen: »Es gibt jedoch auch noch einen Hauptschalter, mit dem Sie sich daran hindern können, mit Ihren bösen Gedanken Ihre Freunde vom Himmel zu fegen.« Nach einer kurzen Pause fuhr Baranowitsch fort: »Ihre Re gierung ist sich natürlich der enormen Bedeutung dieses Be waffnungssystems voll bewußt. Natürlich könnte ich Ihnen viel darüber erzählen, aber Sie werden mich kaum aus der Sowjet union herausbringen können. Die Mig zu stehlen dürfte einfa cher sein …« Er sog an seiner Pfeife, die inzwischen ausge gangen war. »Die Vereinigten Staaten haben noch kaum mit der Entwicklung eines solchen Systems begonnen. Und wenn sie nicht bald in den Besitz eines solchen Systems gelangen, das ja gegenwärtig auch bei uns noch in den Kinderschuhen steckt, dann werden sie diesen Rückstand angesichts der Flut von Verbesserungen und neuen technischen Anwendungsmög
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lichkeiten, die so etwas ja bekanntlich immer nach sich zieht, nie mehr aufholen können. Sie werden also wohl oder übel zusehen müssen, daß sie in den Besitz der Mig gelangen, wenn sie schon nicht mich haben können. Dieses System eröffnet mit seiner Weiterentwicklung ja eine unendliche Fülle der unter schiedlichsten Anwendungsmöglichkeiten. Sie sind daran na türlich nur als Pilot interessiert und nicht als Wissenschaftler. Im Augenblick wird es noch mit konventionellen Waffen ge koppelt. Aber wer weiß? Vielleicht werden schon in Kürze Waffen entwickelt, die eine noch effektivere Nutzung des ge dankengesteuerten Systems ermöglichen …« Baranowitsch sah Gant scharf an, der sich rasch bemühte, sich sein mangelndes Interesse nicht anmerken zu lassen. Mit einem sichtlich gequälten Blick in den Augen fuhr Barano witsch fort: »Natürlich langweile ich Sie mit diesen Überle gungen nur. Vielleicht ist es auch Selbstmitleid. Ich würde ger ne noch weiterleben – vielleicht in den Vereinigten Staaten …« Gant unterbrach ihn vorsichtig: »Das … äh … Anti-Radar …?« »Ach ja.« Baranowitsch schüttelte den Kopf. »Darüber weiß ich absolut nichts. Das ist der geheimste Aspekt des gesamten Projekts. Dazu würden sie einen Juden und dazu noch notori schen Dissidenten wie mich auf keinen Fall zulassen.« »Dann muß ich noch wissen«, erkundigte sich Gant weiter, »ob es die Russen, während ich in der Luft bin, per Fernsteue rung abschalten können – oder ob ich es aus Versehen abschal ten kann?« »Nein«, antwortete Baranowitsch nach kurzem Nachdenken. »Soviel ich gehört habe – und es handelt sich dabei nur um Gerüchte –, scheint es so, als wäre dieser Anti-Radar-Effekt alles andere als mechanischer Natur.« »Was, zum Teufel …?«
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»Ich kann Ihnen hierzu nur sagen, was ich gehört habe«, wiederholte Baranowitsch gelassen. »Es ist etwas – mögli cherweise eine Art Mantel, vielleicht sogar ein spezieller Lack oder etwas in der Art – wie zum Beispiel diese Low-frictionHaut, die sie für bestimmte Flugzeugprojekte in den Vereinig ten Staaten entwickelt haben.« Gant blickte den alten Russen überrascht an. »Ja, sogar wir wissen darüber Bescheid. Der amerikanische Sicherheitsdienst ist keineswegs so gut, wie man im Pentagon gerne glauben möchte. Aber, um zurück zum Thema zu kommen – vermutlich dürfte unser Anti-Radar von solch einem System hergeleitet worden sein, so daß der Radar strahl einfach an der Oberfläche des Flugzeugs entlanggleitet und nicht zurückgeworfen wird, womit er auch nicht auf dem Radarschirm sichtbar wird. Ich weiß zwar, daß dieses System im Notfall neutralisiert werden kann – wenn der Pilot zum Bei spiel bei sehr schlechten Witterungsbedingungen landen will; aber ich weiß nicht, wie das geschieht.« Seine Miene verfin sterte sich. »Sie werden also nicht davon Gebrauch machen können, Mr. Gant. Und wie gesagt, ich kann hier nur wiederho len, was ich gehört habe. An diesem Teil des Projekts wurde nämlich anderswo gearbeitet, nicht in Biljarsk.« Nach kurzem Schweigen fragte Gant: »Wieviel Zeit werde ich im Cockpit noch haben?« »Ich fürchte, gar keine. Die Sicherheitsvorkehrungen sind schärfer denn je. Sie werden vermutlich wissen, daß der Erste Sekretär morgen nach Biljarsk kommt, um diesem Triumph der sowjetischen Technologie beizuwohnen. Er wird von Andro pow, dem Vorsitzenden des KGB, und anderen hohen Partei mitgliedern begleitet werden. Und deshalb – oder auch viel leicht unseretwegen, Semelowskijs, Kresehins und meinetwe gen – werden wir natürlich mit den massivsten Sicherheitsvor kehrungen rechnen müssen.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Gestern wurde eine Sonderabteilung von GRU-Leuten
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eingeflogen. Sie werden selbstverständlich dem KGB unter stellt sein, aber sie sind immerhin hundert Mann, und das zu sätzlich zu der schon nicht unbeträchtlichen Garnison, die be reits hier stationiert ist. Das ist auch der Grund, weshalb wir zum äußersten gezwungen sind, um Sie in die Flughalle zu schaffen …« Baranowitschs Augen blinzelten leicht, und dann lächelte er. »Sie werden sich Ihr Haar noch kürzer schneiden müssen, damit die Funktionstüchtigkeit der Sensoren in Ihrem Helm nicht beeinträchtigt wird, und dann müssen wir noch für ein paar Spezialpapiere ein Foto von Ihnen machen. Aber das wäre dann auch schon alles.« Gant zuckte mit den Achseln. »Und wie soll ich dabei vor gehen? Wie sieht das Gebiet um die Hangars ungefähr aus?« erkundigte er sich geradeheraus. Einen Augenblick lang betrachtete Baranowitsch das Gesicht des Amerikaners eingehend, bis er schließlich zufrieden nickte und aufstand, um Gant an den kleinen Eßtisch zu winken, über den, fast wie eine Tischdecke, eine große, bleistiftgezeichnete Karte des umfangreichen Geländes hing. Kreschin hatte sie dorthin gelegt, nachdem Gant mit dem Essen fertig war. Sorgfältig strich Baranowitsch die Karte glatt und begann dann, sie Gant zu erklären. »Wir befinden uns jetzt hier, ziemlich genau im Zentrum der Wohnviertel, und sämtliche Techniker und Wissenschaftler betreten das Werksgelände und den Hangar durch dieses Tor.« Sein Finger fuhr über die Karte und stoppte an einer roten Li nie, die in regelmäßigen Abständen mit roten Kreuzchen ge kennzeichnet war. »Es gibt nämlich noch einen zweiten Zaun; er ist elektrisch und wird von diesen Wachttürmen aus kontrol liert.« Er tippte mit dem Finger auf die roten Kreuze. »Er liegt innerhalb der Umzäunung, die das gesamte Projekt vom ur sprünglichen Dorf abtrennt. Und in diesem zweiten Zaun gibt es nur noch ein weiteres Tor; es liegt hier drüben, auf der ande 100
ren Seite des Flugfelds.« Sein Finger tippte neuerlich auf die Karte. »Dieses Tor ist ausschließlich für das Sicherheitsperso nal bestimmt. Und durch dieses Tor werden Sie auf das Werks gelände kommen.« »Und wie stellen Sie sich das vor?« Baranowitsch lächelte. »Mit der entsprechenden Frechheit und Courage natürlich – und mit etwas Unterstützung von mir und den anderen. Machen Sie sich deshalb mal keine Sorgen.« Baranowitsch sog heftig an seiner Pfeife und paffte eine dicke Rauchwolke in die Luft. Gant verzog darauf leicht die Nase. »Rauchen Sie eigentlich?« erkundigte sich darauf Baranowitsch. »Nein, nicht mehr.« Mit einem Nicken griff Baranowitsch in die Tasche seiner abgetragenen Jacke und holte ein Päckchen amerikanischer Zigaretten hervor. »Dann lernen Sie es wieder – und zwar jetzt sofort«, meinte er. »Wie bitte?« »Sie sollen sich während der nächsten Stunde, bevor Sie sich schlafen legen, wieder ans Rauchen gewöhnen.« Gant verzog das Gesicht. »Das sind doch keine russischen.« »Eben. Zwischen den Lippen der Person, die Sie darstellen werden, werden diese ausländischen Zigaretten mehr überzeu gen als sonst irgend etwas – sogar mehr als Ihre Papiere. Ame rikanische Zigaretten sind bei uns so etwas wie ein Statussym bol.« Mit einem verschmitzten Lächeln wandte Baranowitsch sich wieder seiner Karte zu, während Gant das Päckchen Ziga retten nahm und in die Brusttasche seines Overalls gleiten ließ. »Von diesem Tor werden Sie dann hier herüber gehen, auf die andere Seite des Flugfelds. Dieses Gebäude hier ist der Haupt
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hangar, wo die beiden Prototypen untergebracht sind. Wir wer den hier die ganze Nacht durcharbeiten, um eine Maschine für den Probeflug vorzubereiten. Direkt an den Hangar schließen sich die Sicherheitsbüros an, und auch die Unterkünfte der Pi loten. Sehen Sie?« Gant nickte. »Gut«, fuhr Baranowitsch fort. »Sie werden in den ersten Stock hochgehen und diesem Korri dor folgen.« Baranowitschs Finger wanderte nun über eine Grundrißzeichnung für das Obergeschoß der Gebäude, die sich an den Hangar anschlössen. »Bei den restlichen Bauten handelt es sich lediglich um Labors, Windkanäle und ähnliches. Sie brauchen Sie nicht zu interessieren. Sehen Sie zu, daß Sie so schnell wie möglich in den Ankleideraum der Piloten kommen. Oberstleutnant Juri Woskow wird dort schon mehrere Stunden vor dem Flug eintreffen. Sie müssen also bereit sein, wenn er kommt.« »Was ist, wenn jemand vorbeikommt?« wollte Gant wissen. »Ich werde mich dort dann ja drei oder vier Stunden aufhal ten.« Wie einem kleinen Kind erklärte ihm Baranowitsch gedul dig: »Verstecken Sie die Leiche. Es gibt dort eine ganze Reihe von abschließbaren Schränken.« Er lächelte. »Die Piloten ha ben sich nämlich beschwert, daß ihnen immer wieder irgend welche westlichen Luxusartikel gestohlen worden wären, die sie als zusätzliche Motivation bewilligt bekommen. Und des halb sind die Schlösser ihrer Schließfächer wirklich alles ande re als einfach zu knacken. Und was Sie betrifft – Sie sehen Woskow, abgesehen von der Statur, ja kaum ähnlich – werden Sie sich duschen.« »Drei Stunden lang?« »Sie werden eben so tun, als duschten Sie. Sobald dann der Zeitpunkt für unser kleines – Täuschungsmanöver näherrückt, werden Sie sich ankleiden, und dann wird das Visier des Helms Ihr Gesicht sowieso verdecken. Wir vom Bewaffnungsteam 102
verlangen, daß die Piloten die Helme so lange tragen, bis sie ihnen im Labor abgenommen werden. Es wird also niemandem ungewöhnlich vorkommen, wenn Sie den Helm schon eine Stunde vor dem Flug aufhaben.« Gant nickte. »Und wie sieht unser kleines Täuschungsmanö ver aus?« »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Ich verfüge über ein sehr kleines Funkgerät, vermittels dessen ich Ihnen mitteilen kann, wann genau Sie von Ihrem Zimmer in den Hangar herunterzukommen haben. Was Sie dort dann sehen werden, wird es Ihnen ermöglichen, ins Cockpit zu steigen und die Maschine aus dem Hangar zu fahren, ohne daß jemand auch nur den geringsten Verdacht schöpft.« Gant starrte einen Moment nachdenklich vor sich hin und fragte dann: »Und was wird mit Ihnen passieren, sobald ich in der Luft bin?« Seine Stimme klang leise, fast gehaucht, als wüßte er die Antwort bereits. »Das ist im Augenblick völlig egal«, erwiderte Barano witsch. »Das ist überhaupt nicht egal, verdammt noch mal!« stieß Gant aufgebracht hervor. »Verdammt noch mal!« Heftig mit den Armen gestikulierend fing er an, auf den alten Russen ein zureden: »Was ist das eigentlich mit Ihnen? Sie scheinen hier ja alle richtiggehend sterben zu wollen. Das verstehe ich ein fach nicht. Warum lassen Sie sich das einfach so ohne weiteres gefallen, von diesen Leuten in London in den Tod geschickt zu werden?« Baranowitsch schwieg lange, bevor er entgegnete: »Für Sie ist es einfach, sich so zu ereifern, Mr. Gant. Sie sind Amerika ner. Für Sie stellt im Grund jeder Befehl ein Ärgernis dar, oder nicht? Sie sind ein freier Mensch …« Darauf lächelte Gant nur zynisch, was Baranowitsch zu verärgern schien. »Sie sind frei!
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Aber ich bin es nicht. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Wenn ich mich daher gegen Ihre Leute in London auflehnen sollte, die meinen Tod anordnen, dann ist dieses Widerstreben gegen sie nichts im Vergleich zu dem Widerstreben, das ich gegen über dem KGB empfinde!« Gedankenverloren starrte Barano witsch mit angespanntem Gesicht auf die Karte vor sich, und es dauerte lange, bis er sich wieder aufrichtete und Gant anlächel te. »Es tut mir leid …«, fing Gant an, sich zu entschuldigen. »Unsinn. Wie sollten Sie sich auch unserer kleinen Probleme bewußt sein? Aber jetzt zurück zur Bewaffnung der Maschine. Zum Glück für Sie wird sie für den ersten Testflug mit Luftab fangwaffen bestückt werden, und nicht für einen Tiefangriff.« Er winkte Gant zu seinem Stuhl zurück. »Bitte versuchen Sie jetzt zu rauchen«, forderte er ihn auf. »Die ganze Sache soll doch wohl nicht daran scheitern, daß Sie am Tor wie ein bluti ger Anfänger zu husten anfangen.« Inzwischen lächelten auch seine Augen wieder. Inzwischen hörte Kontarskij während seines Flugs von Mos kau nach Biljarsk das Knattern der Rotorenblätter über sich kaum mehr. Es war zehn Uhr, und sie hatten etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Hinter Kontarskij, der hinter dem Piloten und dem Co-Piloten saß, waren noch Sitzplätze für achtundzwanzig weitere Passagiere, von denen jedoch nur drei besetzt waren, von Kontarskijs Leibwächter, seinem Sekretär und einem Funker – lauter Angehörige des KGB. Trotz seiner inneren Anspannung fühlte sich Kontarskij schläfrig. Er hatte seinen Abflug so lange wie möglich hinaus gezögert, um zumindest nicht völlig ahnungslos hinsichtlich der Identität und der Mission des Mannes, der die Verkehrs kontrollpunkte in Moskau, Gorki und Kasan als Glasunow pas
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siert hatte, in Biljarsk einzutreffen. Prjabins Ermittlungen hat ten jedoch zu keinerlei Ergebnis geführt. Natürlich hatte man ein paar Kilometer hinter der Abzweigung nach Biljarsk die KGB-Limousine gefunden, und man hatte auch ein Stück wei ter den umgestürzten Lastwagen und die zerquetschte Leiche von Pawel Upenskoj entdeckt. Aber von dem zweiten Mann keine Spur. Und demnach stand für Kontarskij wie Prjabin in zwischen völlig außer Zweifel, daß dieser Mann nun nach Bil jarsk unterwegs war. Der alte Mann war gestorben, kaum daß sie angefangen hatten, aus ihm herauszuprügeln, was er viel leicht wußte. Inzwischen war per Funk ein Foto des Mannes nach Biljarsk durchgegeben worden, und man hatte die Wachen alarmiert. Kontarskij hatte sich umgehend entschlossen, nach Biljarsk zu fliegen, um dort persönlich die Durchführung der Gegenmaß nahmen zu überwachen. Zur gleichen Zeit ließ Prjabin in der Computerzentrale in der Dserschinskij Straße das Aktenarchiv nach einem Engländer oder Amerikaner abfragen, der vor kurzem unter falschem Namen und mit einem gefälschten Paß in die Sowjetunion ein gereist war und möglicherweise Geheimagent war. Prjabin war keineswegs wohl bei dem Gedanken, nun einzig und allein auf den Computer angewiesen zu sein, da es galt, diesen Mann zu identifizieren. Und er wußte auch, daß es seinem Chef, Kon tarskij, in dieser Hinsicht nicht anders ging. Aber ihnen blieb keine andere Wahl. Pawel Upenskoj war tot, und somit gab es keine lebende Person mehr, die ihnen bei der Lösung ihres Problems irgendwie hätte weiterhelfen können. Daneben sah sich Kontarskij noch vor ein weiteres Problem gestellt. Wenn er die drei Dissidenten, die für CIA und SIS arbeiteten, daran hinderte, ihre Arbeit an der Mig zu vollenden, fiele der Probeflug am nächsten Tag ins Wasser. Er räusperte sich. Er durfte auf keinen Fall zulassen, daß es 105
vor den Augen des Ersten Sekretärs und Andropows zu einem Sabotageversuch kam … Er entschloß sich, mit dem Verhör der Dissidenten minde stens zwei Stunden vor dem Eintreffen Andropows zu begin nen. Er sah auf seine Uhr. Viertel nach zehn. Er konnte es nun nicht mehr erwarten, an Ort und Stelle zu sein, etwas zu unter nehmen. Inspektor Tortjew inspizierte ein Dossier mit Fotos von Alexander Thomas Orton. Ungeachtet des Aufnahmezeitpunkts und -orts hatte er die Bilder über seinen Schreibtisch verstreut und sah sich wahllos jeweils eines an. Seine Mitarbeiter hatten drei Stunden gebraucht, um aus den Archiven des 2. KGBDirektoriums dieses Dossier zusammenzustellen. Die Benut zung des Computers war ihm nicht bewilligt worden, was seine Ermittlungen natürlich erheblich vereinfacht und verkürzt hät te. Offensichtlich wurde er gerade im Zuge dringlicherer Er mittlungen benötigt. Fast wie beiläufig wählte Tortjew nun zwei Fotos aus. Eines davon war vor zwei Tagen am Flughafen Tscheremetiewo auf genommen worden; das andere war bereits achtzehn Monate alt und zeigte Orton beim Verlassen eines Geschäfts in der Mos kaustraße. Tortjew hielt die beiden Fotos kurz nebeneinander und reichte sie dann schweigend Holokow und Filipow, die ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaßen und weitere An weisungen erwarteten. »Was halten Sie davon?« wandte er sich an Holokow. Der dicke Mann betrachtete die beiden Aufnahmen eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Was erwarten Sie jetzt, daß ich sage, Inspektor?« »Was Sie wirklich denken.« Tortjew lächelte. »Selbst wenn Ihnen diese Bitte etwas ungewöhnlich erscheinen mag.« 106
»Mhm.« Holokow warf Filipow einen kurzen Blick zu und streckte ihm dann die Bilder entgegen, um sich dann wieder seinem Chef zuzuwenden: »Das ist nicht derselbe Mann.« »Sehr gut, Holokow, sehr gut.« Und ohne sonderliches Inter esse fügte er hinzu: »Finden Sie nicht auch, Filipow?« Filipow setzte eine zweifelnde Miene auf und erwiderte: »Ich – ich bin mir nicht sicher, Inspektor.« »Natürlich. Aber ich bin mir sicher. Sie nicht auch, Holo kow?« Der dicke Mann nickte. »Womit wir vor der Frage stünden: Wer von den beiden ist der Tote?« »Wie sollen wir das feststellen? Die beiden sehen sich sehr ähnlich«, warf Filipow ein. »Sie sehen sich nur wegen ihrer gleichen Kleidung ähnlich«, fuhr ihn Tortjew an. »Das Gesicht des Toten war deshalb zur Unkenntlichkeit entstellt, damit wir nicht merken sollten, daß in den Fall eigentlich zwei Männer verwickelt waren. Aber warum waren es zwei?« Tortjew stand von seinem Stuhl auf und begann, durch den Raum zu wandern. Plötzlich überkam ihn eine unerklärliche Nervosität. Er sah auf die Uhr an der Wand seines Büros. Es war halb elf. Er wandte sich Holokow zu. »Was ist eigentlich mit diesem KGB-Mann, der gestern abend in der Komsomolskaiastation umgebracht wurde – wer hat ihn umgebracht?« »Einer von Ortons Partnern vielleicht?« warf Filipow ein. »Warum nicht Orton selbst. Er ist doch mit ziemlicher Si cherheit noch am Leben!« entgegnete Tortjew und neigte sich zu Filipow herunter, der immer noch vor seinem Schreibtisch saß. »Warum nicht Orton selbst?« Filipow zuckte mit den Ach seln, als wüßte er keine Antwort auf diese Frage. »Wer sind Ortons Partner? Sie haben da ein paar Leute an Land gezogen –
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das übliche Volk, die Namen aus Ortons Akte –, Sie haben ihre Wohnungen und ihre Verstecke durchsucht. Und was haben Sie gefunden, hm? Nichts – absolut nichts!« Er nahm seine Wanderung durch das Büro wieder auf und fing an, laut zu denken. »Wo steckt Orton? Wo haben sie ihn versteckt? Warum wollte er den Anschein erwecken, er wäre ermordet worden? Um uns von sich abzulenken? Warum ist er dann nicht in London umgekommen, wo wir der Sache nicht so gründlich auf den Grund hätten gehen können, wo wir keine Leiche in Händen gehabt hätten?« Er blieb stehen, wandte sich um und durchquerte einmal schweigend den Raum. »Eines scheint also zumindest klar. Orton mußte hier verschwinden – hier in Rußland, hier in Moskau. Aber warum?« Er blieb in der Mitte des Raums neuerlich stehen und sagte ganz ruhig: »Wenn wir nicht zu der Überzeugung gebracht worden wären, daß Mr. Alexander Thomas Orton ein Rausch gifthändler ist, worauf würden wir dann zuallererst schließen? Hm? Angesichts der darauffolgenden Ereignisse – einschließ lich des Mordes an dem KGB-Mann, der ja mit dieser Sache ganz offensichtlich in irgendeinem Zusammenhang stehen muß. Die Sache hat mittlerweile ganz beachtliche Ausmaße angenommen – zwei Tote, nämlich ein falscher Orton und ei ner von unseren Leuten. Wenn Sie all das in Erwägung ziehen, was folgt daraus?« Tortjew stand in der Mitte des Raums und starrte seine bei den Untergebenen an – in der Hoffnung, sie würden dieselbe Schlußfolgerung ziehen wie er gerade. Holokow räusperte sich und brachte schüchtern vor: »Ist er vielleicht ein Agent?« »Genau!« Tortjew lächelte zufrieden. »Er ist ein Spion der Engländer – oder der Amerikaner. Wir haben uns durch diese Drogen Sand in die Augen streuen lassen. Und nun, da er ver
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schwunden ist – was wird er jetzt wohl vorhaben, hm? Wo steckt dieser Mann – was hat er vor? Können Sie mir das viel leicht sagen?« Keiner der beiden anderen Männer schien hinsichtlich dieser Frage irgendwelche Ideen zu haben. Tortjew raffte die Fotogra fien zusammen und ging damit auf die Tür zu. »Holokow, Sie kommen mit mir. Ich will dieses Gesicht so fort in den Zentralcomputer eingeben – jetzt auf der Stelle! Dieser Mann ist gefährlich, und ich möchte wissen, wer er ist. Vielleicht kann uns darüber das Sammelregister bekannter und mutmaßlicher Agenten irgendwelche Aufschlüsse geben.« Und an Filipow gewandt fuhr er fort: »Setzen Sie sich sofort mit unseren Leuten in der britischen Botschaft in Verbindung. Sa gen Sie ihnen, daß Sie durch mich zu Ihren Ermittlungen er mächtigt sind, und machen Sie ihnen vor allem klar, daß die Sache äußerst dringend ist. Ich möchte wissen, wer Ortons Kontaktmann ist – und zwar sofort!« Filipow nickte, aber die Tür hatte sich bereits hinter dem In spektor und dem dicken Assistenten in seinem Gefolge ge schlossen. Filipow hob ein Foto vom Boden auf, das Tortjew wieder entfallen war, und betrachtete es eingehend. Zufällig war es eine Aufnahme Gants in seiner Rolle als Orton; sie zeig te also nicht Fenton. Während Filipow das Foto studierte, schienen seine dunklen Gesichtszüge merkwürdig besorgt und beunruhigt. Filipow wußte, daß es nicht lange dauern würde, falls Tort jew den KGB-Informanten, die in den verschiedensten unter geordneten Stellen der britischen Botschaft beschäftigt waren, seine Fragen zu stellen begann, daß zwischen Edgecliff und Lansing von der Botschaft einerseits und Fenton in seiner Rolle als Orton eine Vielzahl von Verbindungen deutlich wurden. Fenton gehörte dem SIS, mit Standpunkt in London, an. Er war diesmal ungetarnt als gewöhnlicher Tourist mit einer Reise 109
gruppe nach London gekommen, um sich dann noch etwa eine Stunde vor seinem Tod in der Botschaft einzufinden und sie als Orton wieder zu verlassen. Dabei könnte ihn ohne weiteres jemand gesehen haben. Vielleicht fanden sie heraus, daß der Mann, der nun mit der Reisegesellschaft weiter nach Leningrad gereist war, nicht der Mann war, der in Tscheremetiewo einge troffen war. Edgecliff mußte davon auf der Stelle in Kenntnis gesetzt werden. Er konnte jedoch unmöglich von Tortjews Büro aus anrufen, da der Anruf überwacht würde. Andererseits konnte er das Gebäude nicht verlassen, und Tortjew würde binnen zehn Minuten – vielleicht sogar schon früher – wieder zurückkom men. Soweit er wußte, wurden die Apparate in den Aufent haltsräumen im zweiten Stock des Gebäudes nachts nicht ab gehört. Er mußte es riskieren. Er mußte Edgecliff erreichen, bevor Tortjew von den Spitzeln in der britischen Botschaft irgendwelche Auskünfte erhielt. Geräuschlos schloß er die Tür des Büros hinter sich. Auf direkte Anordnung des Chefs des Geheimdienstes, ›C‹, war Kenneth de Vere Aubrey aus seinen üblichen Büros der Abteilung für Sonderaufgaben innerhalb des SIS vorüberge hend ausquartiert und in einem speziell für ihn vorbereiteten Raum im Gebäudekomplex des Verteidigungsministeriums untergebracht worden. Aubrey hatte für das Verteidigungsmi nisterium nicht viel übrig. Zusammen mit seiner Nummer zwei, Shelley, hielt Aubrey sich fast die ganze Zeit des Tages und des Abends in diesem Raum auf, der mit einer Funkfotoanlage und sicheren Telefonen ausgestattet war. Die Wände waren über und über mit Landkarten behängt – vom europäischen Rußland, von der Barentssee und den südlichen Teilen des Nördlichen Eismeeres, vom Moskauer U-Bahn-Netz und einem Stadtplan von Moskau. Inzwischen mußten sie sich den Raum 110
noch mit zwei Neuankömmlingen teilen – mit den Amerika nern Buckholz und seinem Adjutanten Anders. Als Shelley von einem kurzen Ausflug in die Küche wieder in das Büro zu rückkehrte, fiel sein Blick auf eine Karte von Rußland, mit der Buckholz sich gerade zu beschäftigen begonnen hatte, als er mit dem Geschirr vom Abendessen in die Küche aufgebrochen war. Aubrey hatte nämlich außer Shelley und den zwei Ameri kanern, die kurz nach acht Uhr eingetroffen waren, jedem den Zutritt zu dem Raum verwehrt. Inzwischen war es in London neun Uhr vormittags, zwei Stunden früher als nach Moskauer Zeit. Shelley trat auf Aubrey zu und sah zu der riesigen Landkarte auf, die hinter ihm an der Wand hing. Buckholz hatte darauf das russische Abfangsystem eingezeichnet, das es für Gant zu überwinden galt, falls er überhaupt in Biljarsk mit der Firefox in die Luft kam. Das meiste von dem, was Buckholz eben in Form farbiger Fäden und Nadeln auf der großen Karte einge zeichnet hatte, wußte Shelley bereits; nun aber in so handgreif licher Form damit konfrontiert zu werden, jagte ihm einen be trächtlichen Schock ein. Plötzlich sah er auch wieder das Bild vor sich, wie damals Gant feindselig in diesem Hotelzimmer vor ihm gestanden war, und er bedauerte nachträglich seine törichte und kleinliche Abneigung gegen den Amerikaner. Ganz am oberen Ende der Karte erstreckte sich ein gelber Faden in weiten Schleifen bis tief ins polare Packeis hinein. Er zeigte die Reichweite der sowjetischen DEW-line an, dem letz ten Hindernis, das sich Gant auf seinem Weg in den Westen entgegenstellen würde. Was seinen Blick jedoch wirklich ma gisch auf sich zog, waren die unzähligen kleinen, bunten Na delköpfe, welche die Abfangjägerstützpunkte – bekannte und mutmaßliche – und die Raketenbasen kennzeichneten. Die Ab fangjägerstützpunkte, die rund um die Uhr in Alarmbereitschaft standen, konnten mit Sicherheit binnen weniger Minuten min
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destens ein Dutzend Maschinen in die Luft schicken. Diese Basen waren blau gekennzeichnet und erstreckten sich entlang der Nordküste der Sowjetunion von Murmansk und Archan gelsk im Westen bis zur Taimir-Halbinsel, zweitausendfünf hundert Kilometer weiter östlich. Die Stützpunkte lagen in Ab ständen von knapp zweihundert Kilometern voneinander ent fernt. Unterhalb dieser blauen Nadeln befanden sich zwei Streifen aus roten Kreisen, die den Standort der Raketenbasen anzeig ten. Diese lagen etwa hundertfünfzig Kilometer voneinander entfernt und erstreckten sich ebenfalls über die gesamte Breite der Karte. Zwischen jeweils zwei Basen waren, wenn auch auf der Karte nicht eigens eingezeichnet, zusätzlich bewegliche Abschußbasen stationiert. Die Radarüberwachungssysteme befanden sich bei den Raketenbasen und standen samt und sonders mit der zentralen Radarüberwachung in Verbindung, welche die von der DEW-line eingehenden Informationen wei ter verarbeitete. Shelley fühlte sich durch diese beiden Streifen aus roten Kreisen regelrecht hypnotisiert; der erste verlief entlang der Küste, der zweite – parallel zum ersten – etwa fünfhundert Ki lometer weiter südlich im Landesinnern. Das Ganze sah aus wie ein klassischer Schlachtenplan – eine Armee, die in zwei parallelen Linien Aufstellung bezogen hatte, eine Armee von Raketen in diesem Fall; und diese Raketen waren an ein Ra darüberwachungssystem gekoppelt, das jeden Kubikmeter Luft über der Sowjetunion unter Kontrolle hatte. Gant würde jede dieser beiden Linien überqueren und zugleich den Jagdflug zeugen entkommen müssen, die sich ihm im Firefox auf die Fersen heften würden. Und dabei, dachte Shelley, hatte Buckholz noch gar nicht die Position der sowjetischen Aufklärungsschiffe, raketenbestück ten Kreuzer und U-Boote im Nördlichen Eismeer und der Ba 112
rentssee eingetragen. Shelley merkte, daß Aubrey ihn fragend – vielleicht sogar leicht gequält – ansah. »Eine ganz schöne Menge, was, Shel ley?« »Einfach zu viele«, platzte Shelley heraus. »Einfach viel zu viele! Er hat nicht die geringste Chance!« Er senkte schuldbe wußt seinen Blick, als er Aubreys Entrüstung über seinen un angebrachten Gefühlsausbruch bemerkte. »Der arme Teufel«, murmelte er leise.
4. Die Vertuschung Gant war zwar müde, aber seine Gedanken wollten nicht zum Stillstand kommen. Baranowitsch und Kreschins Geliebte waren mit seiner Verkleidung beschäftigt. Kreschin selbst saß auf einem der niedrigen, billigen Sessel im Wohnzimmer und beobachtete den Amerikaner aufmerksam, als erwartete er, aus der Art, wie er sich bewegte und stillstand, etwas zu lernen. Gant war wütend über die wachsende Aufregung und An spannung in ihm. Genau das konnte er nicht brauchen. Aber wie sehr er sich auch bemühte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, kam er doch nicht umhin, immer wieder in den Abgrund der nächsten Stunden zu starren, die nun unmittelbar vor ihm lagen. Seine Verkleidung war, wenn er es sich genau überlegte, die einzige Möglichkeit, durch die Kontrollen zu gelangen. Er mußte sich als Bestandteil der kontrollierenden Instanz ausge ben. Baranowitsch erhob sich von den Knien und trat ein paar Schritte zurück, um, die Hände in die Seiten gestemmt, wie ein Couturier seine neueste Kreation zu begutachten. Sich seiner neuen Rolle noch nicht ganz sicher, zog Gant die Uniformjacke
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an den Hüften gerade, rückte den Gürtel zurecht und besah sich dann im Spiegel. Die Mütze, die er nun trug, verbarg sein ex trem kurz geschnittenes Haar. Das Gesicht, das ihn darunter hervor anstarrte, wirkte schmal, zerfurcht, müde und kalt. Obwohl nichts an ihm verän dert worden war, war es das Gesicht eines Fremden. Sonst konnte er in dem kleinen Wandspiegel nur noch den Kragen des braunen Hemds, die dunkle Krawatte und die Kragenspie gel seiner Uniformjacke sehen. »Gut so«, nickte Baranowitsch schließlich zufrieden. »Nach Natalias kleinen Änderungen ist jetzt nichts mehr daran auszu setzen.« Er lächelte der Frau über Gants Schulter zu; sie saß neben Kreschin auf der Lehne seines Sessels und hatte ihren Arm um seinen Hals geschlungen. »Hauptmann Grigorij Tschechow von der Sicherheitshilfs einheit des GRU, im Augenblick dem Befehl von …« »Major Tsernik, verantwortlicher KGB-Offizier für die Si cherheit des Mikojan-Projekts in Biljarsk, unterstellt«, vollen dete Gant mit einem schwachen Lächeln den Satz für Barano witsch. Dieser nickte. »Was hältst du von ihm, Ilja?« »Sehr – überzeugend«, lobte Ilja Kreschin, die Hand des Mädchens an seiner Schulter haltend. »Zumindest ängstigt er Natalia, nicht wahr?« Er wandte sich lächelnd dem Mädchen zu, das zurückzulächeln versuchte. »Seht ihr?« fügte er, wieder an Gant und Baranowitsch gewandt, hinzu. »Obwohl sie die Verkleidung selbst genäht hat, hält sie sie inzwischen für wirk lich!« Er lachte lauthals los und tätschelte dem Mädchen auf munternd die Hand. »Haben Sie auch den Rest behalten – wofür Sie zuständig sind, und mit welchen Leuten Sie zusammenarbeiten?« erkun digte sich Baranowitsch. Gant nickte. »Gut. Dann setzen Sie 114
sich jetzt; oder gehen Sie ein wenig auf und ab, damit die Uni form nicht ganz so neu aussieht. Stolzieren Sie ein bißchen!« In Baranowitschs blauen Augen lag fast so etwas wie hämische Schadenfreude. Gant lächelte und begann, im Raum auf und ab zu gehen. Baranowitsch beobachtete ihn eine Weile und sagte dann: »Nein, Sie müssen die Daumen in den Gürtel haken – so …« Er zeigte Gant, was er meinte, worauf dieser es ihm gleich tat. »Ja, so ist es richtig. Sie müssen immer nur daran denken, daß Sie Ihr wahres Selbst nur dann wirklich aufgeben werden müssen, wenn Sie sich nicht so verhalten, wie das die Wachen am Tor erwarten. Und diese Burschen wollen einen Haupt mann sehen, der vor Arroganz und Wichtigtuerei nur so strotzt. Wenn möglich, weisen Sie auch gleich mindestens einen oder zwei von ihnen wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zurecht – wenn irgend etwas mit einer Uniform nicht in Ordnung ist, oder wenn einer rauchen sollte.« Gant konnte wieder nur nik ken. Dieser Mann wußte wirklich, wovon er sprach. Und so gab Gant auch noch den letzten Rest seines Ego auf und warf sich voll und ganz in die ihm vorgezeichnete Rolle. »Und jetzt setzen Sie sich. Im Stehen sind Sie schon recht beeindruckend, findest du nicht auch, Ilja?« Bevor Gant sich setzte, wischte er erst noch flüchtig mit der Hand über die Sitzfläche des leeren Sessels und inspizierte dann seine Fingerspitzen nach etwaigem Staub. Dann machte er es sich, entspannt ein Bein über das andere geworfen, in dem Sessel bequem. Ohne die anderen auch nur eines Blickes zu würdigen, holte er ein silbernes Zigarettenetui und ein vergol detes Feuerzeug aus seiner Tasche hervor, nahm eine amerika nische Zigarette heraus, steckte sie sich an, blies den Rauch geräuschvoll in die Luft, stippte sich einen Tabakkrümel von der Zunge und wandte sich dann Kreschin zu, um ihn mit ei nem steinernen Blick zu bedenken. Der junge Mann klatschte begeistert.
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»Großartig«, bemerkte Baranowitsch. »Wie melodramatisch das alles war – und wie absolut lebensecht! Das war wirklich hervorragend, Mr. Gant. Sie haben ja wirklich die Gabe zum Schauspieler. Sie können ohne große Anstrengung einfach je mand anderer werden …« Gant nickte mit frostiger Höflichkeit. »Was habt ihr übrigens vorhin alles feststellen können, als ihr beide euren lauschigen Abendspaziergang gemacht habt?« wandte er sich mit kalten Augen an Kreschin. Das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Gant hatte gemerkt, daß er das Adre nalin, das bisher seinen Körper gefährlich und vor allem sinn los in Aufruhr gebracht hatte, in die Perfektionierung seiner Rolle als Hauptmann Tschechow kanalisieren konnte, dessen sämtliche gefälschte Papiere in der Brusttasche seiner Jacke steckten – gelber GRU-Ausweis, Passierscheine und so weiter. Baranowitsch hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Lächelnd erwiderte Kreschin: »Die Wache am Tor ist ver stärkt worden; es sind zwar die üblichen KGB-Posten, aber mehrere von ihnen. Die Truppe des Sicherheitshilfsdienstes ist bis jetzt noch nicht zum Einsatz gelangt. Vielleicht ist Tsernik beleidigt, daß man den GRU überhaupt hinzugezogen hat. Sie kennen das ja.« »Und was ist mit der Außenumzäunung?« »Die Wachttürme brechen schon fast unter ihrer Last an Wachtposten zusammen, und an der Innenseite des Zaunes kommt ungefähr alle zehn Minuten eine Hundepatrouille vor bei. Es ist übrigens ein doppelter Zaun, und zum Zeitpunkt Ihrer Ankunft werden sie die Hunde frei laufen lassen, damit niemand auf die Idee kommt, ein Loch in den Zaun zu schnei den. Die Wachttürme stehen etwa in einem Abstand von hun dert Metern. Sie werden an mindestens vier davon vorbeikom men.«
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»Sie müssen den Eindruck erwecken, als würden Sie den Zaun selbst überprüfen. Und vergessen Sie nicht, die Wachen ein bißchen anzuschnauzen«, unterbrach ihn Baranowitsch. »Gut. Dann mach weiter, Ilja.« »Das Tor wird hell erleuchtet sein. Man wird Sie also schon aus ziemlicher Entfernung näher kommen sehen. Das Außentor dient nur als Sperre. Sie werden dort Ihre Papiere zeigen müs sen. Die Wachen werden sicher etwas neugierig sein, da sie Sie nicht erkennen werden, aber die GRU-Abzeichen an Ihrer Uni form werden alle ihre Zweifel ausräumen. Wenn Sie also das äußere Tor passiert haben, werden Sie an ein verschlossenes Drahtgittertor kommen. Der Posten wird sich hier hinter dem Tor befinden, und Sie werden von neuem Ihre Papiere zeigen müssen, bevor man Sie einlassen wird.« »Werden sie mich denn hineinlassen?« fragte Gant leise. »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken«, beruhigte ihn Baranowitsch. »Wir sind genauestens über die neuesten Papie re und Ausweise der GRU-Offiziere der Spezialeinheiten in formiert. An Ihren Papieren wird absolut nichts auszusetzen sein.« Gant nickte nur. Nun übernahm Baranowitsch wieder seine Instruktion, während Kreschin nachdenklich wieder dazu überging, Natalias Hand zu streicheln, die immer noch auf sei ner Schulter ruhte. »Sobald Sie durch das zweite Tor sind, soll ten Sie so schnell wie möglich das Flugfeld überqueren. Ir gendwelchen Hubschraubern über Ihnen brauchen Sie keinerlei Beachtung zu schenken. Ihre Uniform wird sie zur Genüge beruhigen. Wenn Sie dann den Wachtposten vor dem Verwal tungsgebäude erreichen, das, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, direkt mit dem Hangar, in dem sich die Mig befindet, verbun den ist, werden Sie neuerlich Ihre Papiere vorzeigen müssen, aber da Sie in diesem Augenblick das Hauptquartier des KGB in Biljarsk betreten werden, wird niemand auf die Idee kom men, Sie könnten dorthin vielleicht gar nicht gehören!« Bara 117
nowitsch lächelte. »Sobald Sie sich im Innern des Gebäudes befinden, gehen Sie in den Aufenthaltsraum für die Piloten im ersten Stock hinauf. Um diese Zeit wird sich dort niemand be finden.« »Wo ist der Pilot – Woskow?« fragte Gant scharf. »In diesem Augenblick?« fragte Kreschin und sah mit einer übertriebenen Geste auf seine Uhr. »Er wird wohl im Bett lie gen.« »Er ist in einem speziellen Bezirk untergebracht, wo die Leute vom KGB und die zuverlässigen Mitarbeiter des For schungsteams wohnen.« Für einen Augenblick war Barano witschs Verachtung zu sehen, als hätte er kurz einen Schleier gehoben und sie in die hintersten Winkel seiner Seele blicken lassen. »Dort leben auch die Leute, die an dem Anti-RadarSystem arbeiten. Deshalb sind darüber während der letzten Monate ja auch keinerlei Gerüchte zu uns durchgedrungen.« »Aber er wird doch auf jeden Fall in den Aufenthaltsraum kommen?« beharrte Gant. »Ja. Er wird sich dort umkleiden – und vielleicht auch etwas essen. Allerdings bringt Woskow vor so einem Flug meistens nicht allzuviel hinunter … Wie ist das bei Ihnen, Mr. Gant?« Baranowitsch zwinkerte ihm belustigt zu. »Bei mir ist das ähnlich«, erwiderte Gant. »Aber ich kann zumindest schlafen.« »Ja, natürlich. Wir werden um halb drei aufbrechen. Bis da hin werden Ihnen nur noch ein paar Stunden bleiben.« »Das macht nichts.« Gant unterdrückte ein Gähnen. »Ich würde gerne noch einmal alles durchgehen.« »Die Sicherheitsvorkehrungen?« »Nein. Das Flugzeug, das Bewaffnungssystem … Erzählen Sie mir noch einmal alles.«
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Dmitri Prjabin und Alexei Tortjew kannten sich; sie waren gleich alt und hatten nach ihrer Ausbildung in derselben Abtei lung des KGB gearbeitet, bis Prjabin, welcher als der vielver sprechendere von den beiden galt, als Kontarskijs Adjutant in die Abteilung M befördert wurde, während Tortjew, dessen brillantem Verstand von offizieller Seite mißtraut wurde, zur Moskauer Polizei gegangen war, wo man ihn vermutlich in seinem gegenwärtigen Dienstgrad bis ans Ende seiner Tage dahinschimmeln lassen würde. Daher war auch nichts Ungewöhnliches daran, daß die bei den auch begannen, sich über die Fälle zu unterhalten, an de nen sie jeweils gerade arbeiteten, als sie sich im Keller der Dserschinskij Straße im zentralen Computerraum zufällig tra fen. In diesem Zusammenhang entging ihnen auch keineswegs, daß sie beide nach demselben suchten – nach einem ausländi schen Geheimagenten. Prjabin, der die Dienste des Computers inzwischen ja schon mehrere Stunden in Anspruch genommen hatte, zeigte sich reichlich frustriert. Der Computer hatte bisher noch mit keinem einzigen sachdienlichen Hinweis aufwarten können. Wütend sog Prjabin an seiner Zigarette, während Tort jew sich damit begnügte, nervös mit den Fingern gegen die Lehne des Stuhls zu klopfen, auf dem er saß. Womit befaßte Tortjew sich doch gleich wieder? Mit einer Leiche aus der Moskwa, deren Gesicht zur Unkenntlichkeit entstellt war? »Was ist das für ein Mann, hinter dem du her bist?« fragte er Tortjew – teils aus echtem Interesse, teils einfach aus dem Wunsch heraus, ihre Unterhaltung nicht ersterben zu lassen. »Ach ja«, erwiderte Tortjew gedankenversunken, »genau das hätte ich gerne von dieser herrlichen Maschine gewußt. Der Mann hat sich Orton genannt …« Nachdenklich runzelte Prjabin die Stirn. »Und was soll er
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getan haben?« »Er hat aufgrund seiner Aktivitäten im Drogenhandel meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.« Prjabin nickte, verlor aber offensichtlich gleichzeitig zuse hends sein Interesse an der Sache. Vielleicht kränkte es Tort jew, daß Prjabin seine Probleme für unwichtig erachtete, denn er erzählte weiter: »Das Komische ist nur, daß dieser Orton, der von seinen Partnern umgebracht wurde – das haben wir zumindest bis vor kurzem geglaubt –, nicht der Mann ist, der vor zwei Tagen in Tscheremetiewo angekommen ist.« Prjabin saß plötzlich kerzengerade in seinem bequemen Ses sel. »Wann?« platzte er heraus. »Vor zwei Tagen …« »Und wann ist er – gestorben?« Prjabins Stimme zitterte vor Erregung, obwohl er sich einzureden versuchte, er ließe nur seine Fantasie mit sich durchgehen. »Noch in derselben Nacht.« »Hast du die Mörder gefaßt?« »Wir haben alle bekannten Kontaktmänner Ortons überprüft, konnten aber nichts finden, um sie mit seinem Tod in Verbin dung zu bringen«, erklärte Tortjew, sichtlich erfreut, doch noch das Interesse Prjabins geweckt zu haben, wenn er auch aus sei ner plötzlichen Aufmerksamkeit nicht ganz klug wurde. »Wer hat ihn umgebracht, Alexei?« »Das wissen wir nicht. Wir wissen ja nicht einmal, wer nun eigentlich dieser Tote ist.« »Was?« »Ich habe dir doch schon gesagt: Der Tote war nicht der Or ton, der am Flughafen angekommen ist.« »Aber wer, zum Teufel, war er dann – oder, wer waren die beiden?« 120
Tortjew breitete in einer Geste der Ratlosigkeit die Hände aus. »Genau das herauszufinden, habe ich um die Hilfe dieses glorreichen Wunderwerks der Technik angesucht.« Prjabin nickte. Schließlich sagte er mit unterdrückter Aufre gung in der Stimme: »Also gut, du glaubst also, daß uns da eine falsche Leiche untergeschoben werden sollte, oder nicht?« Tortjew nickte. »Und aus welchem Grund?« fragte Prjabin. »Für mich gibt es dafür nur eine vernünftige Erklärung. Der Mann, der vor zwei Tagen auf dem Flughafen angekommen ist, ist ein Agent, dessen Spur durch diese Leiche verwischt wer den sollte.« Prjabin schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. Sein Gesicht war vor Aufregung dunkel gerötet, um im nächsten Moment mit den in ihm aufsteigenden Zweifeln auch schon wieder blaß zu werden. Schließlich lächelte er Tortjew an. »Was war mit den beiden Männern, die die Leiche zurückge lassen haben?« »Sie sind weggerannt.« »Wohin?« »Zur nächsten U-Bahn-Station, zur Pawolets.« »Und dann?« »Wir haben sie aus den Augen verloren, und außerdem ha ben wir damals ja nicht nach Orton gefahndet.« »Wir suchen nach einem Mann – es muß sich dabei um ei nen Agenten handeln«, summierte Prjabin seine Gedanken. »Er ist uns gestern am frühen Morgen zum erstenmal aufgefallen – er ist in einem Laster aus Moskau losgefahren und …« Plötz lich wich alle Farbe aus Prjabins Gesicht. »Halt …«, hauchte er kaum hörbar, als würde er sich zum erstenmal voll bewußt, worauf er da eben gestoßen war. »Halt …« 121
Tortjew dachte demnach also in denselben Bahnen wie Prja bin, was diesen sichtlich bestärkte und zuversichtlich stimmte. »Du glaubst also …« »Wir verfügen über keinerlei Aufzeichnungen, daß während der letzten zwei Wochen ein Mann seines Aussehens in die Sowjetunion eingereist ist. Er könnte sich natürlich schon län ger hier aufgehalten haben, aber wie hätte er selbst dann ins Land kommen sollen? Ich werde jetzt den Computer alle be kannten oder mutmaßlichen amerikanischen und englischen Agenten durchgehen lassen, ob vielleicht einer von ihnen mit dem Mann auf dem Foto identisch ist.« »Und ich suche nach Orton«, fügte Tortjew hinzu. »Wo treibt sich euer Agent denn gerade herum?« »In Biljarsk.« »Mein Gott! Du willst doch nicht etwa sagen …« »Vermutlich hat er sich inzwischen in irgendeiner anderen Verkleidung sogar schon Zugang zum Werksgelände ver schafft«, unterbrach ihn Prjabin. »Und was, denkst du, hat er dort vor?« »Keine Ahnung. Vielleicht sprengt er dieses verdammte Flugzeug in die Luft, oder was weiß ich?« Als Tortjew nun Prjabin anstarrte, fiel ihm die Angst auf, die in seine Augen wiedergekehrt war und seine Begeisterung von eben zusehends verdrängte. Jemand klopfte an die Tür. »Herein«, sagte Prjabin abwe send. Einen Stapel Fotografien in der Hand, trat ein Mann in ei nem schmutzigen, weißen Arbeitsmantel ein. Offensichtlich mit dem Ergebnis seiner Arbeit zufrieden, stand er vor Prjabin. »Wir haben den Mann, den Sie suchen, noch nicht gefunden …«, fing er an. 122
»Immer noch nicht?«
»Nein. Wir haben nichts über ihn in den Akten, zumindest
nicht unter Engländern und Amerikanern.« »Dann fangen Sie an …« »Was wir jedoch in der Zwischenzeit außerdem noch getan haben«, unterbrach ihn der Mann, »wir haben Ihnen eine Serie von Identifit-Bildern angefertigt, wie der Gesuchte in den ver schiedenen möglichen Verkleidungen aussehen könnte – ohne daß er dabei geschminkt oder durch einen chirurgischen Ein griff verändert worden wäre. Diese Bilder geben wir jetzt dem Computer ein, ob er nicht vielleicht in irgendeiner Verkleidung in den Akten auftaucht. Das wird allerdings einige Zeit dauern, fürchte ich.« Prjabin sah zu dem Mann vor ihm auf und knurrte ihn an: »Dann klemmen Sie sich gefälligst mal dahinter!« Offensichtlich leicht gekränkt, drehte sich der Mann um und schlurfte aus dem Raum. Die Bilder hatte er in Prjabins Schoß zurückgelassen, der sie sich nun noch einmal mürrisch durch sah. »Also?« fragte Tortjew, auf der Kante seines Stuhls sitzend. »Was also?« »Mensch, dann sieh dir doch diese verdammten Bilder an!« fuhr ihn Tortjew wütend an. »Ach, wozu das Ganze?« Tortjew stand auf und trat auf Prjabin zu, um ihm die Bilder aus der Hand zu reißen und sie durchzusehen. Ein paarmal sah er sich ein Bild länger an, um schließlich den ganzen Stapel auf den Tisch neben sich zu knallen. Prjabin amüsierte seine Ge reiztheit – bis er Tortjews Gesicht sah und feststellte, daß er ein Bild in seiner Hand behalten hatte. »Das ist er – Orton«, sagte Tortjew leise und streckte Prjabin
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das Bild eines heruntergekommenen, matten Individuums mit Schnurrbart und Brille entgegen. »Das ist er …« Prjabin starrte ihn ungläubig an. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn ruckartig hochfahren, als hätte man ihn bei etwas Verbote nem ertappt. Die Tür ging auf, und herein kam, völlig außer Atem und in Auflösung, Holokow. »Was ist los?« fragte Tortjew scharf und stand auf. »Stetschko …«, fing Holokow keuchend an. »Eben ist ein Anruf vom Hauptquartier reingekommen. Dieser verdammte Jude, Filipow, hat sich mit der Britischen Botschaft in Verbin dung gesetzt.« »Was?« »Ja. Sie haben die Telefone in den Aufenthaltsräumen abge hört, und er hat von dort aus angerufen. Stetschko hat ihn jetzt in Ihrem Büro festgenagelt.« Tortjew starrte Holokow noch eine Weile an, um diese Mit teilung zu verdauen. Dann wandte er sich wieder Prjabin zu. »All unsere Probleme in einem Aufwasch gelöst, was, Dmitri? Dieser verdammte Verräter muß auf jeden Fall wissen, wer Orton ist und was er in Biljarsk vorhat. Er hat die Engländer gewarnt, daß wir kurz davor stehen, herauszufinden, wer er ist. Wir haben die Antwort direkt hier auf der Hand.« Auf Prjabins Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Los«, sagte er. »Wartet dein Wagen noch auf dich?« Tortjew nickte. »Dann werde ich mit dir kommen – natürlich nur, wenn du erlaubst.« Tortjew grinste. »Aber selbstverständlich, Dmitri.« Auf dem Weg nach draußen meinte Prjabin: »Zu was so ein kleiner, unschuldiger Schwatz nicht führen kann, was?« Er hieb Tortjew klatschend auf die Schulter, und die beiden lach ten schallend los.
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Prjabin stand an Tortjews Schreibtisch und wartete auf den Anruf aus dem Code-Raum der Zentrale. Sein Blick ruhte auf Filipow, der, nur an zwei Riemen an den Handgelenken gehal ten, bewußtlos in einem Stuhl hing. Die dunklen, asketischen Gesichtszüge des Mannes waren blutig verschwollen. Stetsch ko und Holokow, deren Werk dies war, standen in Erwartung weiterer Befehle in derselben Ecke des Raums, während Tort jew in seinem Büro auf und ab schritt. Es war bereits nach ein Uhr früh. Prjabin hatte sich bereits mit Kontarskij in Verbindung ge setzt und ihm mitgeteilt, daß der Mann in dem Lastwagen of fensichtlich ein Agent war und daß er sich vom Verhör des Verräters Filipow rasch weitere Informationen erhoffte. Um zwölf Uhr fünfzig hatte er seinen Chef noch einmal angerufen, um ihm mitzuteilen, daß Filipow nichts gesagt hatte, obwohl er zugab, für die Engländer zu arbeiten. Sogar die ganze Ge schichte seiner Anwerbung durch Lansing, den Kulturattache, hatte er ihnen erzählt. Darüber, wofür sie sich jedoch so bren nend interessierten, hatte er ihnen kein Sterbenswörtchen ge sagt. Damit tappte Kontarskij hinsichtlich des gegenwärtigen Er scheinungsbildes dieses Orton plötzlich wieder im dunkeln, obwohl ihm Prjabin Funkfotos von Orton hatte durchgeben lassen. Darüber hinaus verfügte Kontarskij auch über die Fotos von Upenskojs Begleiter, die an den Verkehrskontrollpunkten in Moskau, Gorkij und Kasan aufgenommen worden waren. Prjabin war klar, daß Kontarskij inzwischen am Rand einer Panik stand. Er wußte, daß sich irgendwo in Biljarsk eine menschliche Bombe befand, hinsichtlich deren Auslösezeit punkt, Ziel und Sprengkraft völlige Unklarheit herrschte. Auf jeden Fall hatte er sich per Funkfoto sämtliche Identifit-Bilder von Orton nach Biljarsk durchgeben lassen.
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Als sich der Code-Raum schließlich meldete, erteilte Prjabin den Leuten dort den Auftrag, den zuständigen KGB-Leuten an den sowjetischen Botschaften in Washington und London ko dierte Anweisungen zu übermitteln, sämtliche verfügbaren Informationen über Personen, die in jüngster Vergangenheit im CIA-Hauptquartier in Langley, Virginia, oder im Verteidi gungsministerium in London eingetroffen waren, an Moskau weiterzugeben. Dies konnte sich sehr leicht als ein aufwendiger Schlag ins Wasser erweisen, aber er hatte keine andere Wahl, zumal er, im Gegensatz zu Tortjew, allmählich bezweifelte, daß Filipow überhaupt etwas über die tatsächliche Identität des Mannes wußte, der sich als Orton ausgegeben hatte und dann in Glasunows Rolle geschlüpft war. Er konnte lediglich hoffen, daß er auf diese Weise irgendeinen Anhaltspunkt bekam, um welche Art von Agent es sich bei diesem Mann handelte, so daß sich daraus auf seine Absichten in Biljarsk hätte schließen lassen können. »Hallo, hier Prjabin, Abteilung M«, meldete er sich. »Ich soll Sie im Auftrag Oberst Kontarskijs bitten, folgende kodierte Nachrichten an unsere Botschaften in Washington und London zu übermitteln – und zwar so schnell wie möglich …« Der Anruf nahm mehrere Minuten in Anspruch, und als Prjabin schließlich damit fertig war, legte er nachdenklich den Hörer auf. Er sah zu Tortjew hinüber, der gerade damit be schäftigt war, Filipow wieder ins Bewußtsein zurückzuholen, um ihn weiter verhören zu können. »Laß ihn noch eine Weile, Alexei«, winkte er ab. »Ich habe eine Idee.« Widerstrebend wandte Tortjew sich von Filipow ab. »Und die wäre?« »Summieren wir noch einmal, was bis jetzt unternommen worden ist«, schlug er vor. »Wir haben sämtliche Agenten der
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westlichen Geheimdienste überprüfen lassen, die an dem Pro jekt in Biljarsk interessiert sein könnten und imstande wären, eine solche Operation durchzuführen.« Tortjew nickte. »Da der Mann offensichtlich enorm clever ist, sind wir davon ausge gangen, daß es sich um einen ihrer Spitzenleute handelt, was wiederum bedeutet, daß wir inzwischen eigentlich längst he rausgefunden haben müßten, wer dieser Mann ist, oder nicht?« »Ja. Es handelt sich also offensichtlich um einen Newcomer oder jemanden, der eigens für diese Aufgabe aufgespart wor den ist. Wichtig genug wäre die Sache ja, um das zu erklären.« »Allerdings«, bestätigte ihm Prjabin brummig. »Genau. Warum haben wir ihn also dann noch immer nicht ausfindig gemacht – und wo forschen wir eigentlich nach?« »Das habe ich eben auch gedacht. Wie ich schon gesagt habe – er ist entweder ein Spitzenagent, oder er ist gar kein Agent.« »Aber er muß doch ein Agent sein – bei diesem enormen Aufwand.« Tortjew deutete mit dem Kopf auf die zusammen gesunkene Gestalt Filipows. »Sie haben von Anfang an ge wußt, daß Filipow bei diesem Job vielleicht dranglauben muß. Und sie haben noch einen weiteren Spitzenmann geopfert – diesen Lasterfahrer. Das sind schon zwei. Und die Engländer gehen sonst keineswegs großzügig mit ihren Leuten um, Dmi tri. Daraus läßt sich demnach also unschwer ersehen, welche Bedeutung sie dieser Sache offensichtlich beimessen.« »Nein. Ich wollte damit ja nicht sagen, er würde nicht für die Engländer oder Amerikaner arbeiten – er kommt einfach aus einem anderen Fach. Überleg doch mal. Was könnte ihnen schon viel daran gelegen sein, das Projekt zu sabotieren? So weit wir wissen, liegen die Amerikaner auf diesem Gebiet mindestens zehn Jahre hinter uns zurück, obwohl sie vor vier Jahren durch Belenko in den Besitz einer Mig-25 gelangt sind.«
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»Das stimmt.« »Und da es uns geglückt ist, das meiste, was aus Biljarsk an Informationen nach Washington und London hätte durchgege ben werden sollen, abzufangen, sind die Amerikaner wie die Briten natürlich begierig darauf, mehr über das Projekt zu er fahren. Sie wollen, wenn möglich, einen Bericht aus erster Hand – vielleicht sogar ein paar Fotos …« »Du glaubst also, bei dem Mann könnte es sich um einen wissenschaftlichen Experten handeln?« »Ja!« Prjabins Stimme wurde plötzlich wieder lauter. »Viel leicht haben sie einen Mann geschickt, der sich mit Aeronautik auskennt, der weiß, was er sich anzusehen und wonach er zu fragen hat.« »Mein Gott! Dann könnte er ja irgend jemand sein – jemand, den wir überhaupt nicht kennen!« Darauf schwiegen die beiden Männer eine Weile. »Ich denke nicht, daß er etwas darüber weiß«, brach Prjabin schließlich mit einem Nicken in Richtung Filipows, der lang sam wieder das Bewußtsein zu erlangen schien, das Schwei gen. »Er könnte aber etwas wissen«, erwiderte Tortjew. »Außer dem«, fügte er in drohendem Ton hinzu, »bin ich mit diesem mickrigen, kleinen, jüdischen Scheißkerl noch lange nicht fer tig.« Prjabin zuckte mit den Achseln. »Wie du meinst. Aber laß ihn erst mal noch in Frieden, bis ich diesen zweiten Anruf ge macht habe. Ich will den Computer noch die gesamte amerika nische und britische Raum- und Luftfahrtindustrie überprüfen lassen.« »Das wird doch Stunden dauern!« protestierte Tortjew. »Nicht länger, als deine beiden Gorillas brauchen werden, es
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aus Filipow herauszuprügeln. So viele Namen werden dafür gar nicht in Frage kommen. Laß mich also erst mal telefonie ren, dann kannst du ja probieren, ob du mit deiner Methode weiter kommst.« Tortjew resignierte. Prjabin nahm den Hörer ab. Der Lichtkegel des Scheinwerfers erfaßte ihn schon sehr früh. Er mußte noch mindestens fünfzig Meter bis zum Tor zurücklegen. Er gab sich alle Mühe, gelassen, wenn auch leicht gereizt zu erscheinen, und beschattete sich mit der einen Hand die Augen. Jeder weitere Schritt bereitete ihm mehr Mühe; er mußte sich zwingen, nicht stehen zu bleiben. Da war auch wie der dieses Gefühl in seinem Magen. Er wußte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand und seine Hände zitterten. Gant fühlte sich mit einemmal seiner letzten psychischen Kräftere serven beraubt, und er glaubte nicht mehr daran, daß er es schaffen würde. Das war schlimmer als das Fliegen. Er kam sich vor wie ein an Land gespülter Fisch. »Weisen Sie sich aus«, rief ihm eine Stimme entgegen, und er stellte erschrocken fest, daß er bereits unmittelbar vor dem Tor stand. Ein Posten hatte sein Gewehr auf ihn gerichtet. »Weisen Sie sich aus!« Seine Stimme klang alt und schwach, als er den Posten an fuhr: »Weisen Sie sich aus, Herr Hauptmann! Soldat!« Das war genau das, was der Wachtposten von einem GRUOffizier erwartete, obwohl er ihn nicht kannte. »Weisen Sie sich bitte aus, Herr Hauptmann«, forderte er Gant diesmal höflich auf. Gant holte seine Papiere – den gelben GRU-Ausweis ganz oben – aus seiner Tasche und reichte sie dem Posten, der sie sich ansah. Gant wußte, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen war, sich eine Zigarette anzustecken, um sich zu beruhigen und 129
vor allem auch seine Hände zu beschäftigen, die ihn sonst hät ten verraten können. So gelassen wie möglich griff er in die Seitentasche seiner Jacke und holte das Zigarettenetui daraus hervor. Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief, daß er fast an dem Rauch erstickt wäre. Mit Mühe ein Husten unterdrückend, blies er den Rauch wieder aus. Dann begann er, die Sicherheitsvorkehrungen am Tor zu inspizieren. Insgesamt waren sechs Wachen zu sehen, die in dem grellen Scheinwerferlicht fast unwirklich erschienen. Zwei, die hinter dem rot-weißen Schlagbaum postiert waren, hatten ihre Ge wehre in seine Richtung gerichtet. Ihren Uniformen nach zu schließen, gehörten alle Wachen jedoch dem KGB an. Es war niemand von der GRU-Sicherheitstruppe dabei, was als Erklä rung dafür herhalten konnte, daß ihn niemand kannte. »Warum haben Sie sich außerhalb des Zauns aufgehalten, Herr Hauptmann?« Nach kurzem Schweigen entgegnete Gant: »Sie haben Ihre Befehle, Soldat – und ich meine. Sie wissen doch, daß sich ein Agent hier irgendwo in der Nähe befindet!« Er beugte sich vor, sah dem Soldaten scharf in die Augen und lächelte. »Oder etwa nicht?« Der Posten verstummte für einen Augenblick und sagte dann: »Jawohl, Herr Hauptmann; wir sind alarmiert worden.« »Na gut. Darum würde ich vorschlagen, daß Sie einen Hund hier rausschicken und während der nächsten Stunden regelmä ßig dieses Gehölz dort drüben überprüfen lassen.« Gant beobachtete die Augen des Soldaten. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf sie konzentriert. Langsam, unendlich langsam, spürte er, wie dieser entscheidende Moment sich wie eine ganze Welt weiterdrehte und verschwand. Der Soldat nahm Habachtstellung ein und nickte. »Jawohl, Herr Hauptmann. Gute Idee, Herr Hauptmann.« 130
Mit einem ironischen Lächeln tippte Gant an seine Mütze. Der Schlagbaum schwang hoch, und Gant setzte mit einem leichten Nicken seinen Weg fort. Seine Beine fühlten sich schwach und teigig an, als hätten sie nicht das geringste mit seinem restlichen Körper zu tun. Plötzlich stach das laute Knattern der Rotorblätter eines Hubschraubers in seine Ohren. Bemüht, möglichst gelassen zu wirken, sah Gant zu ihm hoch. Dann erreichte er das zweite Tor, das geschlossen war. Er sah den Posten, Gewehr im An schlag, dahinter stehen. Dann kam ein zweiter Posten aus dem Wachhäuschen und gab ihm ein Zeichen, das Tor zu öffnen. Gant holte seinen Ausweis hervor, warf die Zigarette zu Boden und trat sie mit dem Absatz aus. Die Hände in die Seiten ge stemmt, erweckte er den Eindruck, als sei er über diese noch malige Verzögerung gereizt. Zu seiner Beruhigung stellte er fest, daß der Posten rein gewohnheitsmäßig reagierte. Er sah sich mit einer Uniform konfrontiert, die noch dazu einem we sentlich ranghöheren Offizier gehörte, und der Fall war für ihn erledigt. Er öffnete eine kleine Tür in dem großen Tor, durch die Gant mit einem gereizten Nicken trat. Er schenkte den beiden Wachtposten keinerlei weitere Beachtung, sondern schritt auf der Straße, die entlang des Flugfeldes verlief, direkt auf den Hangar zu. Er mußte sich alle Mühe geben, nicht loszurennen. Wahrscheinlich hatten ihn die Wachen am zweiten Tor längst vergessen, aber für ihn bohrten sich doch ihre Augen in seinen Rücken. Sein Hemd klebte ihm vor Schweiß am Rücken fest. Sein Herz schlug ihm bis in die Ohren herauf. Er wollte losren nen … Nach einer Weile verließ er die Straße und überquerte das Flugfeld. Der Hangar lag inzwischen näher vor ihm. Er folgte dem Taxi-way, der von der eigentlichen Landebahn auf die Flugzeughalle zuführte. 131
Ein Hubschrauber kreiste über ihm. Der Luftzug zerrte an seiner Mütze und seiner Jacke und brachte seine Hosenbeine zum Flattern. Er drückte sich die Mütze auf den Kopf und blickte hoch. In der offenen Tür des Hubschraubers tauchte ein Gesicht auf, dem er mit dem abrupten Winken eines Offiziers, der sich völlig zu Recht an seinem gegenwärtigen Aufenthalts ort befand, zuwinkte. Das Gesicht winkte grinsend zurück, und der Hubschrauber schwenkte ab. Gant drückte sich seine Mütze fester auf den Kopf und ging weiter. Jetzt sind es nur noch knapp hundert Meter, dachte er. Er konnte bereits die Wachen an den Toren des Hangars erkennen, aus dem das Hallen metallischer Geräusche drang. Und als sich dann das Hangartor vor ihm auftat, fühlte er seinen Puls ra scher schlagen – aber nicht, wie zuvor, aus Angst. Diesmal war es ein erhebendes Gefühl, fast ein wollüstiges Gefühl der Erre gung. Er konnte unmöglich stehen bleiben, um mit offenem Mund ins Innere des Hangars zu starren. Gant war in diesem Augenblick wie ein kleines Kind an Weihnachten. Er war keine vielschichtige, komplizierte Persönlichkeit. Sein einziges wirk liches Interesse galt der Fliegerei. Und nun erhaschte er in der warm erleuchteten Tiefe des Hangars einen kurzen Blick auf den Firefox. Seine lange, spitze und nach oben gereckte Nase war ihm zugewandt, und er sah die ameisenartigen Gestalten der Mechaniker und Ingenieure geschäftig auf seinem silbernen Rumpf und den elegant geschwungenen Tragflächen herum krabbeln. Zwei riesige, schwarze Düsenöffnungen starrten ihm entgegen – und dann hatte er sich schon wieder abgewandt. Wesentlich andere Gefühle stiegen jedoch schon im nächsten Augenblick wieder in Gant hoch, als er sich dem angrenzenden Verwaltungsbau näherte. Die Wachen am Eingang nahmen Habachtstellung ein. Dann ging die Tür auf, und er stand KGBOberst Mihail Kontarskij, dem Sicherheitschef des MikojanProjekts, gegenüber. Seine Hand schoß in einer zackigen Be
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wegung an den Mützenschirm, und gleichzeitig fiel ihm der nervös besorgte Ausdruck in den Augen des zierlichen kleinen Mannes vor ihm auf. Kontarskij starrte Gant an. »Jawohl, Hauptmann?« In diesem Augenblick wurde Gant sein Fehler auch schon bewußt. Er hatte durch die Art seines Grußes den Eindruck erweckt, als wollte er Kontarskij Meldung erstatten. Hinter Kontarskij stand Tsernik, der ihn verwundert ansah. Er kannte den Hauptmann nicht, aber Gant wußte, daß er Tsernik eigent lich nicht hätte unbekannt sein sollen. Wäre er wirklich am Tag zuvor mit der GRU-Abteilung in Biljarsk angekommen, wäre Tsernik ihm sicher begegnet, oder er hätte zumindest seine Akte und sein Foto gesehen. Die Begegnung schlug Gant buchstäblich auf den Magen. Er war keine hundert Meter mehr von seinem Ziel, dem Fire fox, entfernt und lief ausgerechnet dem Sicherheitschef persön lich in die Arme. »Herr Oberst, ich habe ohne Ihre Genehmigung einen Hund für die Wachen am Eingang angefordert – um das kleine Ge hölz dort gründlich durchsuchen zu lassen.« Gants neutraler Stimme war sein innerer Aufruhr nicht anzumerken. Alles in ihm schrie danach, sich umzuwenden und einfach loszulaufen. Kontarskij schien erst einen Augenblick zu brauchen, um das Gesagte zu verstehen, als hätte er sich in Gedanken gerade mit etwas anderem beschäftigt. Dann nickte er. »Sehr aufmerksam, Hauptmann – meine Anerkennung.« Kontarskij tippte leicht gegen den Rand seiner Mütze und ging weiter. Gant ließ seine Hand sinken, um sie neuerlich zum Gruß zu heben, als Tsernik an ihm vorüberging. Mit einem unendlichen Gefühl der Erleichterung wurde ihm bewußt, daß auch Tsernik nichts an ihm auszusetzen hatte. Er nickte nur – aus seinem Gesicht war der verwunderte Ausdruck inzwischen
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gewichen – und ging ebenfalls an Gant vorbei. Im Weggehen hörte Gant noch Kontarskij sagen: »Die ande ren haben wir jetzt alle hier drinnen; müssen wir also nur noch Dherkow abholen. Was denken Sie, Tsernik?« »Ja, natürlich, Herr Oberst. Ich werde mich sofort darum kümmern. Und seine Frau nehmen wir natürlich auch gleich mit.« Mehr hörte Gant nicht mehr. Er trat durch die Tür ins Innere. Die Wachen vor der Tür standen immer noch stramm. Voller Erleichterung lehnte Gant sich in dem schmalen Korridor ge gen die Wand und bemerkte kaum den dort postierten Mann, bis dieser ihn ansprach: »Fehlt Ihnen etwas, Herr Hauptmann?« Gant blickte ihn überrascht an. Der Posten sah ein kalkiges, schweißüberströmtes Gesicht vor sich, eine Hand, die sich ge gen den Bauch krampfte – und die Uniform. »Es – es ist nur meine Verdauung. Ich glaube, ich habe ein Magengeschwür.« »Möchten Sie etwas zu trinken, Herr Hauptmann?« erkun digte sich der Posten dienstbeflissen. Gant schüttelte den Kopf. Er mußte zusehen, daß er hier wegkam. Wenn er noch öfter auf diese Weise auffiel, würde man am Ende doch noch auf ihn aufmerksam werden. Er lä chelte gequält und richtete sich wieder auf. »Nein, vielen Dank. Das ist nicht nötig. Diese Anfälle gehen ebenso schnell, wie sie kommen …« Und dann wurde ihm be wußt, daß sein Verhalten viel zu menschlich war, als hätte er tatsächlich ein Magengeschwür. Er strich seine Jacke zurecht, drückte die Mütze fester auf den Kopf und funkelte den Posten an, als hätte er ihn eben in seiner Würde verletzt, indem er das Leiden eines Vorgesetzten bemerkt hatte. Und dann schritt er aufrecht – seine Absätze klickten laut auf dem Linoleum – den Gang hinunter. Vor ihm lag die Treppe, die zur Offiziersmesse 134
und zum Aufenthaltsraum der Piloten hinaufführte. Während er die Stufen hinaufstieg, hoffte er inbrünstig, daß Dherkow, der Kurier, nicht wußte, wie er aussah. Er sah auf seine Uhr. Es war immer noch nicht drei Uhr. Noch mehr als drei Stunden. Er fragte sich, wie tapfer der Lebensmittelhändler wohl sein würde. Inzwischen hatte sich zu den vier Männern in Aubreys Büro ein fünfter Mann gesellt; er trug die Uniform eines Kapitäns der US Navy, und sein Name war Eugene Curtin. Curtin hatte den Plan für das Auftankmanöver des Firefox ausgearbeitet. Curtin war Mitte Vierzig, breit gebaut, und trug sein Haar so kurz, als wäre er eben aus einem Internierungslager für Kriegs gefangene entlassen worden. Sein kantiges, großflächiges Ge sicht wurde von einem Paar auffallend blauer Augen be herrscht. Curtin hatte eben ein paar Korrekturen an der Karte ange bracht, auf der Gants Fluchtweg eingezeichnet war, und nun beobachtete er Aubrey, der sie mit sorgengefalteter Stirn stu dierte. »Sieht verdammt schlecht aus, hm?« meinte er mit einem Lächeln. Aubrey erwiderte nichts, sondern starrte nur weiter auf die Karte. Ihm mißfiel die Ehrlichkeit, die Curtin – wie im übrigen auch Buckholz und die anderen Amerikaner – hinsichtlich ihrer Geheimdiensttätigkeit an den Tag legten. Diese Amerikaner hatten einfach kein Recht dazu, von Anfang an so schwarz zu sehen. Es war keineswegs damit getan, den Fall mit der Fest stellung abzutun, Gant hätte sowieso keine Chance. Man durfte in solch einem Fall einfach nicht zu weit vorausdenken. Alles zu seiner Zeit, lautete Aubreys Devise. Curtin trat darauf an Buckholz’ und Anders’ Schreibtisch. 135
»Und?« erkundigte er sich, mit einem Seitenblick auf Au brey. Buckholz sah von seinem Studium der neuesten Wettervor hersagen und Satellitenfotos zu ihm auf. »Es sieht gar nicht so übel aus.« »Allerdings kann das Wetter in diesen Breiten wie nichts umschlagen«, warf Curtin ein und schnippte leicht mit Daumen und Mittelfinger. »Diese günstige Witterung hält aber nun schon vier Tage an«, bemerkte Buckholz. »Das hat nichts zu besagen«, trampelte Curtin weiter gna denlos auf seiner Zuversicht herum. »Letztlich bedeutet das nur, daß wir vier Tage gutes Wetter weniger haben, mit dem wir rechnen können.« Buckholz warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Und wie schlecht kann es schlimmstenfalls werden?« »Jedenfalls schlecht genug, daß er nie zum Auftanken kom men wird, falls er in Biljarsk überhaupt in die Luft kommt. Was hat da übrigens Aubrey für neue Informationen hereinbe kommen?« »Ich weiß nicht.« Buckholz zuckte mit den Achseln. »Unser englischer Freund ist im Moment nicht sonderlich mitteilsam.« Curtin nickte. »Allerdings. Ich verstehe nur nicht, warum ei gentlich. Aber falls sie wirklich diesen Gant betreffen – wie stehen eigentlich seine Chancen?« »Zumindest ist die Sache nicht aussichtslos«, mußte Buck holz widerstrebend eingestehen. »Diese Leute, die Aubrey in Biljarsk für sich arbeiten hat, sind keineswegs zu unterschät zen, Curtin.« »Das habe ich auch nie behauptet. Allerdings habe ich auch gehört, daß der KGB recht gute Arbeit geleistet hat. Falls die
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spitzkriegen, daß wir einen Piloten nach Biljarsk geschickt haben, wird Gant nicht einmal bis auf einen Kilometer an die ses verdammte Flugzeug herankommen.« »Ich weiß.« Mit einemmal schien Buckholz über Curtins Of fenheit und Objektivität verärgert, die wie ein kalter Wind über die Hoffnungen hereinbrach, welche die vier Männer in der Abgeschiedenheit ihres Büros liebevoll gehegt hatten und die nun durch diesen eisigen Wind in ihrem Wachstum gebremst wurden. »Es tut mir leid«, entschuldigte sich Curtin, dem seine Wir kung auf Buckholz keineswegs entgangen war. »Aber ich bin schließlich nur der Botenjunge der Navy; ich habe Ihnen nur Fakten zu übermitteln.« »Ja, auch das ist mir bewußt.« Curtin sah auf den Papierkram auf Buckholz’ Schreibtisch herab. »Meine Güte, aber das Ganze ist doch nur eine halbe Sache, wie die Engländer das aufgezogen haben.« »Ja?« »Also, ich finde schon. Warum haben Sie eigentlich die gan ze Planung den Engländern überlassen; das frage ich mich manchmal wirklich.« »Sie hatten nun mal die Leute, um die ganze Operation durchzuführen, verstehen Sie?« »Aber es hängt doch so viel von so vielen Leuten ab.« »Das nennt man eben das Überraschungsmoment, Curtin.« »Sie meinen, es wäre eine Überraschung, wenn es klappt?« entgegnete Curtin und hob mit einem ironischen Lächeln die Augenbrauen. »Schon möglich.« Buckholz sah wieder auf die Papiere auf seinem Schreibtisch, als wollte er ihr Gespräch damit für been digt erklären. Curtin sah ihn aber nach wie vor neugierig an.
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Niemand wußte besser als Curtin, wie effektiv die Sowjets die Gewässer im Norden Rußlands unter Kontrolle hatten, und wenn das Schiff, das aufgebrochen war, um den Firefox mit neuem Treibstoff zu versorgen, auch noch nicht entdeckt wor den war – oder zumindest waren die Russen noch nicht dage gen eingeschritten –, so hatte das noch nicht viel zu besagen. Entscheidend würden in dieser Hinsicht erst die Stunden nach dem Diebstahl des Firefox werden, wenn die Raketenkreuzer, Aufklärungsschiffe und U-Boote in diesem Gebiet unter höch ster Alarmbereitschaft stehen würden. Als Curtin sich schließlich doch von Buckholz abwandte, der ihn nach wie vor betont ignorierte, und auf die Kaffeemaschine zustrebte, die auf einem Teewagen in der Ecke des Raumes stand, konnte er sich doch nicht eine letzte Bemerkung verknei fen. »Der arme Teufel hat absolut keine Chance – nicht die geringste.« Es war kurz nach halb vier, als Oberstleutnant Juri Woskow die Tür zum Aufenthaltsraum der Piloten im ersten Stock des Anbaus an den Hangar öffnete. Er blieb kurz stehen, und seine Hand streckte sich nach dem Lichtschalter aus. Als diese Hand jedoch statt dessen auf eine andere Hand stieß, die sich schüt zend über den Lichtschalter gelegt hatte, blieb seiner Überra schung nicht mehr genügend Zeit, um sich irgendwelche Ge danken darüber zu machen und in Panik auszubrechen, da Woskow schon im nächsten Augenblick von einem tödlichen Schlag hinter dem Ohr getroffen wurde. Nicht einmal das Ge sicht seines Mörders sollte er mehr sehen, als er lautlos zu Bo den stürzte. Gant schaltete das Licht an und rieb sich die Hand, mit der er zugeschlagen hatte, während er auf den reglosen Körper zutrat. Und dann wurde sein Körper plötzlich von einem heftigen
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Zucken geschüttelt. Er war in der Lage gewesen, Woskow kaltblütig und mechanisch mit seinen bloßen Händen zu töten, was selbst Buckholz manchmal bezweifelt hatte. Aber nun wa ren die Nachwirkungen so vehement, daß es ihm Minuten zu dauern schien, bis er sich endlich ruhig neben den Toten knien konnte. Dann fühlte er ihm den Puls, obwohl er wußte, daß dies nicht mehr nötig war. Woskow war tot. Gant rollte die Leiche auf den Rücken und sah in Woskows starres Gesicht. Der Mann war älter als Gant – ungefähr An fang Vierzig. Gant verspürte keine Reue. Er hatte lediglich ein Hindernis beseitigt, das beseitigt werden mußte. Er fragte sich nur, wie gut Woskow als Pilot wohl gewesen war. Plötzlich wieder voller Energie, schleppte Gant die Leiche dann über den Teppich auf die hohen, schmalen Schließfächer zu, die an einer Wand aufgereiht standen. Er kramte in seiner Tasche nach dem Schlüssel dafür – er hatte ihn von Barano witsch erhalten – und öffnete einen der Schränke. Er war, wie man ihm gesagt hatte, leer. Darauf hielt er mit dem Fuß die Tür auf und schob die Leiche, mit dem Kopf voran, in den Schrank, um sie dann unter den Armen zu packen und mühsam aufzu richten, bis sie aufrecht in dem Fach stand. Er beeilte sich, die Tür zu schließen und den Schlüssel im Schloß umzudrehen, um im nächsten Augenblick auch schon das schwache, dumpfe Rumpeln zu hören, mit dem Woskows Leiche nach vorn gegen die Tür fiel. Dann steckte Gant den Schlüssel in seine Tasche. Als nächstes öffnete er ein weiteres Schließfach und besah sich den Fliegeranzug, der dort hing; er hatte Woskow gehört. Woskow hatte in etwa seine Statur und Größe gehabt. Jeden falls paßte ihm der Anzug, bei dem es sich zum Glück nicht um eine Maßanfertigung handelte, wie sie zum Beispiel die Astro nauten der NASA trugen. Wäre das nämlich der Fall gewesen, hätte Gant Woskows Anzug unmöglich tragen können. Dann begann Gant, sich seine Uniform auszuziehen. Es war 139
inzwischen drei Uhr sechsundvierzig. Gant spürte, wie seine Nerven seinem Magen zu schaffen machten. Während er sein Hemd abstreifte, sah er auf den Piepser, der mit Heftpflaster unter seinem Arm befestigt war und ihn in den Hangar hinun terrufen würde. Er hatte noch zweieinhalb Stunden Zeit.
5. Der Coup Kontarskij sah auf seine goldene Armbanduhr. Es war vier Uhr. Von seinem Standort im offenen Tor des Haupthangars konnte er das geschäftige Treiben im Innern der Halle bestens überblicken. Er hatte beobachtet, daß die Wachen – nicht nur an den Toren, sondern auch in der unmittelbaren Umgebung der Maschine – auf ihn aufmerksam geworden waren und sich daraufhin noch größerer Wachsamkeit befleißigten. Die Mehr zahl der Techniker und Wissenschaftler hingegen schenkte ihm keinerlei Beachtung. Allerdings hatte er Kreschin einmal kurz aufblicken und Semelowskij, der neben ihm stand, etwas zuflü stern gesehen. Die geduckte Gestalt Baranowitschs war halb im Cockpit verschwunden, wo er einem Techniker, der im Piloten sitz saß, Anweisungen erteilte. Kontarskij kaute an einer Tablette gegen Magenbeschwerden, während er so am Eingang zum Hangar stand. Sie schien jedoch keinerlei Wirkung auszuüben. Die Mig-31 stand weniger als dreißig Meter von ihm ent fernt. Dahinter befand sich, von den konzentriert arbeitenden Technikern gänzlich vernachlässigt, eine zweite Maschine des selben Typs – Prototyp Nummer zwei. Kontarskij überlegte, ob er mit den Posten in der Nähe der Maschine sprechen sollte, entschied sich jedoch schließlich
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dagegen. Es handelte sich dabei ausschließlich um sorgfältig ausgewählte Männer, die bereits vor Dienstantritt umfassend instruiert worden waren. Sich jetzt noch einmal an sie zu wen den wäre nur ein Zeichen fehlenden Vertrauens und ein Einge ständnis eines Versäumnisses von seiner Seite gewesen. Wi derstrebend trat er deshalb auf seinen persönlichen Leibwäch ter zu, der sich gerade mit einer der Wachen am Tor unterhielt. Mit einem Nicken gab er ihm zu verstehen, ihm zu folgen, und machte sich auf den Weg zu der zweiten Flugzeughalle, in der die Mig-31 gebaut worden war. Sie lag im Dunkeln und war abgeschlossen, aber es konnte nicht schaden, sie von den Wa chen, die sie umringten, noch einmal durchsuchen zu lassen. Nachdem er seine Inspektion des Produktionshangars abge schlossen hatte, entschloß er sich, für alle Fälle auch hinter die Umzäunung ein paar Hundepatrouillen abzubeordern. Trotzdem hatte er jedoch das Gefühl, daß sich der Mann, den er suchte, innerhalb der Umzäunung befand – und zwar in ir gendeiner Verkleidung. Er würde das ganze Areal noch einmal durchsuchen lassen. Baranowitsch beobachtete die Gestalt, die, wie er wußte, Kontarskij war, wie sie in Richtung Produktionshangar im Dunkel der Nacht verschwand. Als er schließlich wieder in den Cockpit des Firefox hinunterblickte, sah er den Mechaniker auf dem Pilotensitz zu sich hochgrinsen. Mit aller Gelassenheit, der er fähig war, grinste Baranowitsch zurück, worauf sich der Mechaniker, der in seinem Gesicht Furcht, wenn nicht zumin dest Beunruhigung zu sehen erwartet hatte, sich stirnrunzelnd wieder seiner Arbeit zuwandte. Baranowitsch wußte, daß der Mann vom KGB war. Barano witsch arbeitete nun schon seit Monaten im selben Team mit ihm. Er hieß Grosch und war ein äußerst fähiger Elektronik spezialist. Grosch war der Sohn eines deutschen Wissenschaft lers, der Anfang 1945 in russische Kriegsgefangenschaft ge 141
langt war. Man hätte sich kein loyaleres Parteimitglied vorstel len können. Baranowitsch hegte keinen Groll gegen den Mann – weder weil sein Vater ein Nazi gewesen war, noch weil er dem Ge heimdienst angehörte. In seinem Gesicht lag nur ein Ausdruck schmerzlichen Wissens und allgemeinen Mitleids, als er auf Groschs Kopf mit dem kurzgeschnittenen Haar hinabblickte. Unauffällig warf Baranowitsch einen Blick auf seine Uhr. Es war vier Minuten nach vier. Er war sich bereits im klaren, wel chen Ablenkungsmanövers er sich bedienen würde. Baranowitsch wandte sich zu dem zweiten Prototyp des Fire fox um, der scheinbar vernachlässigt in einer hinteren Ecke des Hangars stand. Aber obwohl die Maschine von ihrem äußeren Eindruck deutlich gegen den ersten Prototyp abfiel, der im hel len Scheinwerferlicht majestätisch schimmerte, war sie doch fertig aufgetankt und – im Fall eines Luftangriffs auf das Pro duktionsgelände – voll startbereit. Sämtliche sowjetischen Mi litärmaschinen – ganz gleich, ob es sich dabei um einen Proto typ oder eine normale, im Einsatz befindliche Maschine han delte – mußten jederzeit startbereit sein. Daher schloß Baranowitsch, daß Gant sofort diese zweite Maschine hinterhergeschickt werden würde, falls ihm die Flucht mit dem ersten Firefox gelang. Natürlich würden sie noch mindestens eine Stunde brauchen, um die zweite Maschi ne entsprechend zu bewaffnen, aber dafür konnte sie im Ge gensatz zu Gant aus der Luft aufgetankt werden. Wenn es ihm, Kreschin und Semelowskij also nicht gelang, die zweite Ma schine außer Kraft zu setzen, konnte sie Gant als einzige viel leicht noch einholen und zerstören. Feuer, lautete die Antwort. Ein Brand im Hangar würde eine Panik verursachen, so daß Gant unerkannt ins Cockpit steigen und die Maschine auf die Startbahn rollen konnte. Zwei Flie gen mit einer Klappe, dachte Baranowitsch zufrieden. Gant 142
über alle Berge, und zugleich seine Verfolgung verhindert. In der Flugzeughalle gab es neben dem Treibstoff so viele andere brennbare Stoffe, daß es keinerlei Schwierigkeiten bereiten konnte, einen Brand auszulösen. Ein Feuer war nur eine der verschiedenen Möglichkeiten, die er mit seinen Freunden in Erwägung gezogen hatte. Nun würde er ihnen mitteilen, daß seine Entscheidung zugunsten dieser Methode gefallen war. Baranowitsch verschwendete keinen Gedanken daran, ob Gant den Flug überleben würde. Er würde auf keinem Radar schirm zu sehen sein, so daß ihn die Russen erst mit bloßem Auge ausmachen mußten, um ihm ein anderes Flugzeug hin terherzuschicken oder ihn mit Raketen zu beschießen. Er sah nach hinten, zum Heck des Firefox, wo Semelowskij gerade den Einbau des Spezialabwehrsystems überwachte, das er, mit Kreschin als seinem Assistenten, entwickelt hatte. Semelowskij hatte behauptet, daß es funktionieren würde, obwohl es bisher nur an einem RPV getestet worden war. Für Baranowitsch stand völlig außer Zweifel, daß Gant das Raketenabfangsystem und die ECM-Anlage, die in diesem Heckteil eingebaut war, brauchen würde. Das Ganze war eine Frage des richtigen Timings. Die Ma schine des Ersten Sekretärs würde um neun Uhr eintreffen. Zu diesem Zeitpunkt würde man ihn und die anderen jedoch be reits verhaftet haben. Sie würden spätestens bis halb sieben mit ihrer Arbeit fertig werden. Das bedeutete, daß das Ablen kungsmanöver bis spätestens zu diesem Zeitpunkt eingeleitet werden mußte. Er würde während der nächsten Kaffeepause, die für fünf Uhr angesetzt war, mit den anderen den genauen Zeitplan ausarbeiten. Die Sicherheitsvorkehrungen waren so strikt, daß ihm vor einer Stunde sogar auf die Toilette eine Wache gefolgt war. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis Grosch auf den defekten Transistor stieß, der noch einmal eine kurze Verzögerung ver 143
ursachen würde. In diesem Augenblick mußte Baranowitsch unwillkürlich an die Pistole denken, die er in seiner Achselhöhle versteckt hatte. Er war beim Betreten des Werksgeländes nicht durchsucht worden. Die Waffe bedeutete für ihn, wie er mit einem leichten Schock feststellte, daß er es hingenommen hatte, daß dies das Ende war. Er hatte sich damit abgefunden, daß er diesen Tag nicht überleben würde. Baranowitsch lächelte, als Grosch das defekte Teil entdeckte und zu ihm aufsah. Der KGB-Mechaniker streckte ihm das kleine Plastikviereck mit seinen siebenunddreißig vergoldeten Steckstiften entgegen. »Sieht aus wie der Power-Transistor, Genosse Direktor Ba ranowitsch«, meinte er. Baranowitsch lächelte über Groschs betonte Höflichkeit. Also wußte auch er, daß dies das Ende war. »Mhm.« Baranowitsch drehte das Plastikteil in seiner Hand hin und her und nickte. Dann reichte er es wieder Grosch. »Werfen Sie’s weg. Ich werde ein neues holen.« »Aus dem Lager, Genosse Direktor?« fragte Grosch lä chelnd. »Ja, Grosch. Aber Sie brauchen Ihren bequemen Sitz nicht zu verlassen, um mir Gesellschaft zu leisten. Mich wird schon einer von den Wachen begleiten.« Bevor Grosch noch etwas erwidern konnte, stieg er bereits mit jugendlicher Geschmeidigkeit und Frische die Leiter zum Boden des Hangars hinunter. »Stetschko, Sie blöder Idiot! Er ist tot! Sie haben ihn umge bracht!« explodierte Tortjew. Verwirrt und verlegen trat der große Polizist unwillkürlich einen Schritt von seinem Vorge
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setzten zurück. Tortjew kniete immer noch über dem leblosen Körper Filipows und funkelte Stetschko wütend an. Sie hatten es zu weit getrieben. In seinem verzweifelten Bemühen, Fili pow zum Reden zu bringen, hatte er Stetschko und Holokow ihn töten lassen. In ohnmächtiger Wut ballte Tortjew die Fäuste und erhob sich vom Boden. Als er sich darauf Prjabin zuwandte, stand dieser bereits am Telefon. Seine Gleichgültigkeit schien Tortjew noch mehr zu reizen. Er durchquerte den Raum und blieb vor Holokow ste hen, der auf einem Stuhl saß und die Leiche angestrengt beo bachtete, als könnte er doch noch ein Lebenszeichen an ihr entdecken. »Sie blödes, fettes Arschloch!« zischte ihn Tortjew mit blit zenden Augen an. »Sie inkompetente, dumme Ratte!« »Sie haben uns dazu getrieben …«, wollte Holokow zu sei ner Entschuldigung vorbringen, aber Tortjew schlug ihm mit dem Handrücken übers Gesicht. Schockiert griff Holokow an seine aufgeplatzte Lippe und besah verdutzt seine blutver schmierten Finger. »Er hat nichts gewußt«, hörte Tortjew Prjabin ruhig sagen. Prjabin hielt eine Hand über dem Telefonhörer und lächelte. Sein Lächeln reizte Tortjew aufs Blut. »Was, zum Teufel, soll das nun wieder bedeuten?« knurrte er ihn an. »Er hat nichts gewußt. Wenn der arme Teufel etwas zu sagen gehabt hätte, hätte er das längst zuvor gesagt.« »Du klugscheißerisches Arschloch – und kannst du mir dann vielleicht auch sagen, was das bedeutet? Dieses verdammte Flugzeug ist immer noch in Gefahr, oder hast du das inzwi schen schon vergessen?« Tortjew wischte sich den Schaum vom Mund. Prjabin lächelte weiter ungerührt und winkte mit dem Hörer 145
in seiner Hand in Tortjews Richtung. »Warum, denkst du, will ich wohl mit der Computerzentrale sprechen?« entgegnete er ruhig. Tortjew sah auf die Uhr und drängte: »Dann beeil dich gefäl ligst mal ein bißchen! Es ist schon halb fünf, oder hast du das noch nicht gemerkt?« Langsam kehrte in seine Stimme wieder Selbstvertrauen zurück. Er hatte alles in seiner Macht Stehende versucht. Nun war Prjabin an der Reihe. »Hallo?« sprach Prjabin in den Hörer. »Hier Prjabin. Irgend etwas Neues?« Er lauschte eine Weile und sagte dann: »Wie schnell können Sie herausfinden, wo sich diese Personen gera de aufhalten?« Sein Gesicht nahm einen verärgerten Ausdruck an. »Das ist mir egal. Irgendwo im Bauch dieser verdammten Maschine steckt diese Information. Also sehen Sie zu, daß Sie an sie herankommen!« Er knallte den Hörer auf die Gabel, was nun seinerseits Tortjew ein Lächeln entlockte. »Was ist denn los? Kann sie offensichtlich doch keine Wun der vollführen, diese Maschine, hm?« Prjabin überhörte die Bemerkung einfach, um schließlich nach kurzem Nachdenken zu sagen: »Schneller könnte es un möglich gehen – höchstens sehr viel langsamer.« Und mit ei nem Blick auf Filipows Leiche fügte er hinzu: »Und jetzt schaffen Sie endlich diese Leiche hier raus.« Holokow sah sei nen Chef fragend an, worauf dieser kurz nickte. Die beiden Detektive packten die Leiche an Armen und Beinen und trugen sie nach draußen. Diese Unterbrechung schien die beiden Männer zu beruhi gen. Als sie sich schließlich allein im Raum befanden, fragte Tortjew: »Was läßt du jetzt eigentlich durch den Computer überprüfen?« »Sie haben eine Liste mit einem knappen Dutzend von abso luten Spitzenexperten auf dem Aeronautiksektor zusammenge 146
stellt, die jung und fit genug sind, so daß einer von ihnen unser Mann sein könnte. Inzwischen überprüfen sie, wo sich jeder von ihnen im Moment gerade befindet. Aber das dauert natür lich seine Zeit – zu viel Zeit«, fügte er mit gequälter Stimme hinzu. »Sie haben inzwischen auch den Computer im Ersten Direktorium hinzugezogen, in dem umfangreiches Datenmate rial über wichtige Personen des öffentlichen und wissenschaft lichen Lebens im Westen gespeichert sind. Wir werden also bald Weiteres hören …« »Aber vielleicht doch zu spät.« »Ja.« Prjabin fing an, im Raum auf und ab zu gehen. Erst nach mehreren Minuten fing er wieder zu sprechen an. »Ich kann diesen Ermittlungsprozeß nicht beschleunigen. Entweder be kommen wir die Information rechtzeitig oder nicht. Wobei ich mir gar nicht erst ausmalen möchte, was geschieht, sollte letz teres der Fall sein. Aber was könnten wir sonst noch tun … Was könnte dieser verdammte Computer noch überprüfen?« In seinen Augen lag ein fast flehentlicher Ausdruck, als er vor Tortjew stehenblieb. Dieser schwieg eine Weile und sagte schließlich: »Alles, was mit Flugzeugen zu tun hat. Laß einfach alles und jeden über prüfen, Dmitri.« »Und wie?« »Laß die Akten jeder Person überprüfen, von der wir wissen, daß sie innerhalb eines amerikanischen oder europäischen Luftfahrtprojekts eine wichtige Funktion innehat – bezie hungsweise innegehabt hat.« Tortjews Gesicht schien plötzlich von innen her aufzuleuchten. »Sie haben einen jungen, körper lich absolut fiten Mann losgeschickt, der außerdem nicht auf den Kopf gefallen ist. Warum nicht einen Astronauten? Einer von unseren Kosmonauten wüßte doch sicher, wonach er in
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Biljarsk Ausschau zu halten hätte. Und der wäre auch in der Lage, entsprechend mit den Informationen umzugehen, die er von jemandem wie diesem Baranowitsch bekäme.« Prjabin schwieg einen Moment. »Aber das hört sich doch reichlich unwahrscheinlich an, oder nicht?« Er erweckte den Eindruck, als wollte er vom Gegenteil überzeugt werden. »Wieso eigentlich? Überleg doch mal. Du suchst nach einem Mann, Mitte Dreißig, körperlich fit, intelligent, schwer zu fas sen … Erst dachtest du doch, er wäre ein Agent. Und über die Qualitäten eines Agenten muß er zum Teil ja auch verfügen, verbunden mit denen eines Wissenschaftlers. Die NASAAstronauten sind in dieser Hinsicht die am besten ausgebilde ten Leute auf der ganzen Welt. Warum also nicht einer von ihnen?« Prjabin schien immer noch nicht recht überzeugt. »Tja, zu mindest sollte man sich das mal durch den Kopf gehen lassen.« »Zum Nachdenken bleibt jetzt nicht mehr viel Zeit, Dmitri«, drängte Tortjew. »Ich weiß! Aber laß mich trotzdem kurz überlegen …Wie viele Akten haben wir wohl über Astronauten, Piloten der Luftwaffe und dergleichen?« »Hunderte, vielleicht sogar Tausende.« »Na gut, dann machen wir uns eben an die Arbeit.« »Wunderbar«, strahlte Tortjew, froh darüber, daß es zumin dest wieder etwas zu tun gab. »Ich werde dir dabei helfen.« »Danke.« Es war vier Uhr vierzig, als die beiden Männer gemeinsam den Raum verließen. Gant hatte einen Stuhl in die Duschkabine gestellt und den Plastikvorhang so drapiert, daß er ihn vor dem spritzenden 148
Wasser schützte. Die Kabine war voller Dampf. Für ihn stand völlig außer Zweifel, daß Pawel inzwischen tot war oder sich in einem KGB-Keller befand, wo man seinen Namen und seine Mission aus ihm herausprügelte. Gant beun ruhigte der Gedanke, daß Pawel einiges über sich würde erge hen lassen, bevor er redete – wenn er überhaupt je redete. Gant fühlte sich verantwortlich. Mehr als Pawels wegen, der möglicherweise auch in einer Schießerei rasch den Tod gefunden hatte, machte er sich jedoch Baranowitschs und der anderen wegen Sorgen. Er hatte noch nie Menschen mit solch bedingungsloser Entschlossenheit und selbstverleugnendem Mut gesehen. Gant hatte die Uniform ausgezogen und saß in Unterhosen in der Duschkabine. Die GRU-Uniform, die ihm von nun an nur gefährlich werden konnte, hatte er nachträglich noch in das Schließfach mit Woskows Leiche gepackt. Nachdem er diese unangenehme Aufgabe – er vermied dabei tunlichst, in Woskows totenstarres Gesicht zu blicken – hinter sich gebracht hatte, hatte er die Dusche angestellt. Obwohl ihm der Dampf das Atmen erschwerte, hielt er ihn doch warm. Er saß rittlings auf dem Stuhl, die Arme überkreuzt auf die Lehne gestützt, sein Kinn auf den Armen ruhend, und ließ sich mit geschlosse nen Augen von dem gleichmäßigen Geräusch des fließenden Wassers einlullen. Er konnte zwar nicht schlafen, aber er ver suchte zumindest, seine gedankliche Aktivität in einem schlaf ähnlichen Zustand möglichst einzuschränken. Deshalb hörte er die Stimme aus dem angrenzenden Aufent haltsraum zunächst gar nicht. Erst beim zweiten Ruf sprang er vom Stuhl auf. »Ja?« rief er nach draußen. »Sicherheitskontrolle, Oberstleutnant; es ist wichtig.« Das mußte der KGB sein – Kontarskijs letzter, verzweifelter 149
Versuch, den Agenten doch noch aufzuspüren, von dem er in zwischen mutmaßte, daß er sich bereits auf dem Werksgelände befand. »Was wollen Sie?« »Ihren Ausweis.« Gant geriet in Panik. Er hatte Woskows Papiere in seiner Ta sche gelassen, als er die Leiche so rasch wie möglich in dem Schrank verstaut hatte. Und jetzt wollten sie seine Papiere se hen. Und wenn sie seine Papiere nicht zu sehen bekamen, wür den sie ihn persönlich sehen wollen … Gant überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Obwohl er einem Zusammenbruch nahe war, arbeitete sein Verstand, scheinbar unbehelligt, mit absoluter Präzision und Klarheit. Woskow war sicher ein gehörig verhätscheltes und von sich selbst einge nommenes Individuum gewesen, das auch entsprechend gereizt auf einen solchen Einbruch in seine Privatsphäre reagiert hätte. Ärgerlich rief Gant deshalb nach draußen: »Ich stehe gerade unter der Dusche. Lassen Sie mich also mit Ihrer dummen Kontrolle in Ruhe.« Ihm selbst schien seine Stimme in der dampfgeschwängerten Kabine unüberzeugend, schrill und hoch. Er hörte den Mann im Aufenthaltsraum verlegen husten, worauf er durch den Dampf und einen schmalen Spalt im Duschvorhang vorsichtig nach draußen spähte. Zwischen ihm und dem Schatten lagen nur zwei oder drei Schritte Abstand. »Tut mir leid, Herr Oberstleutnant, aber …« »Das war doch sicher Ihre Idee, Soldat? Oder hat vielleicht Oberst Kontarskij den direkten Befehl erteilt, den Aufenthalts raum zu kontrollieren und mich zu überprüfen?« Gant spürte, wie er zusehends überzeugender in Woskows Rolle schlüpfte – vielleicht, weil ihm die Arroganz, die er dem Toten unterstellte, auch aus eigener, persönlicher Erfahrung nicht ganz unbekannt war. 150
»Ich – Befehl, Herr Oberstleutnant.« Gant wußte, daß der Mann log. Er zögerte noch einen Augenblick lang, bis er schon fast dachte, es wäre bereits zu spät, und dann bellte er los: »Los, jetzt scheren Sie sich schon zum Teufel, oder wollen Sie, daß ich Sie melde?« Er wartete. Zweifellos konnte der Mann seine Umrisse er kennen, wie sich der Duschvorhang, von der Hitze nach innen gezogen, gegen seine Haut legte. Er überlegte, ob sich der Mann wohl über den Fliesenboden vor der Dusche wagen wür de, um ganz sicherzugehen. Er hatte seine Waffe, Tschechows Makarow-Automatik, in der Tasche von Woskows Bademantel gelassen, der an einem Haken an der Badezimmertür hing. Er schimpfte wegen dieser Nachlässigkeit auf sich selbst, überleg te jedoch zugleich, ob er den Mann mit bloßen Händen außer Gefecht setzen könnte, bevor er einen Schuß abfeuern konnte. Und dann schien dieser unendlich angespannte Augenblick schließlich mit unvorstellbarer Langsamkeit vorüberzugehen, um Gant völlig ausgelaugt und zugleich voller Erleichterung zurückzulassen. »Entschuldigen Sie, Herr Oberstleutnant – selbstverständ lich. Aber seien Sie vorsichtig. Der Oberst hat Schießbefehl erteilt. Der Mann ist gefährlich. Und viel Glück für Ihren Flug, Herr Oberstleutnant«, fügte der Mann noch schmeichlerisch hinzu. Gant hörte kaum, wie sich die Badezimmertür hinter dem Mann schloß. Nach einer Weile trat er schließlich hinter dem Duschvorhang hervor und griff in die Tasche von Woskows Bademantel. Er umklammerte den Griff der Automatik mit beiden Händen und drückte dann ihren Lauf gegen seine Schlä fe. Darauf hielt er seine linke Hand vor seine Augen; sie be gann, erst leicht und dann immer stärker zu zittern. Seine Au
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gen registrierten die Angst, als betrachteten sie etwas außerhalb seiner selbst Befindliches – etwas Unvermeidliches, gegen das er machtlos war. Schweißüberströmt sank er auf die Kloschüs sel nieder, die Automatik schlaff zwischen seinen Knien her abbaumelnd, den Kopf gesenkt. Gant hatte Angst. Er wußte, daß er den Traum wieder haben würde, nachdem ihm die letzten Minuten seine letzten psychi schen Kraftreserven geraubt hatten. Er war nur noch ein schlaf fer Sack, bereit, den Traum in sich aufzunehmen. Er konnte ihm nichts mehr entgegensetzen. Er spürte, wie sich unterhalb seiner Knie die Muskeln zu sammenzogen. Er wußte, daß er sich abtrocknen und Woskows Fliegermontur anlegen mußte, solange er sich noch bewegen konnte und bevor ihn die Lähmung, welche diese Bilder un weigerlich begleitete, an Ort und Stelle festnagelte. Gant ver suchte aufzustehen, aber seine Beine schienen endlos weit von seinem Gehirn entfernt und fühlten sich schwach und kraftlos an. Er sackte wieder auf die Klobrille zurück. Er schlug auf seine Oberschenkel ein, als wollte er sie für diese Befehlsver weigerung bestrafen – er hieb sogar mit der Automatik auf sie ein, ohne viel dabei zu spüren. Die hysterische Lähmung war zurückgekehrt, hatte Besitz von ihm ergriffen … Er saß in der Falle. Er konnte nur hoffen, daß der Traum – und die Lähmung – rechtzeitig vorübergingen. Brandgeruch drang in seine Nase; das Geräusch der Dusche klang in seinen Ohren wie das Knistern eines Feuers. Er roch verbranntes Fleisch … Baranowitsch, Kreschin und Semelowskij bekamen ihren Kaffee und die belegten Brote mit fast grotesk übertriebener Höflichkeit serviert, als sie zur Kaffeepause neben dem Firefox standen. Während die restlichen Techniker – unter ihnen auch
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der immer noch grinsende Grosch – den Hangar verließen, um in die Kantine in dem angrenzenden Verwaltungsbau zu gehen, erhielten die drei verdächtigen Männer keine Erlaubnis, den Hangar zu verlassen. Die Wachen in ihrer Nähe hatten aus nahmslos betont gleichgültige Mienen aufgesetzt. Zu seiner Beruhigung stellte Baranowitsch fest, daß der KGB offensichtlich noch nicht recht wußte, wie er mit ihnen verfahren sollte. Anscheinend hatten sie den einfachsten Weg gewählt, indem sie einfach dafür Sorge trugen, daß die drei unter ständiger Aufsicht standen. Baranowitsch lächelte Kre schin an, dessen Lippen jedoch nur hilflos zitterten, als er ver suchte, diese Geste zu erwidern. Baranowitsch sagte: »Ich weiß, Ilja; das alles sieht hier sehr nach einer Exekution aus – wie wir drei hier mit dem Rücken zu der Mig stehen – und die Wachen, mit ihren Gewehren im Anschlag.« Kreschin nickte schluckend und versuchte immer noch zu lächeln. »Aber hab keine Angst«, fügte Baranowitsch leise hinzu. »Ich kann aber nicht anders, Pjotr«, erwiderte Kreschin. Baranowitsch nickte. »Ich habe schon vor langem aufgehört, Angst zu haben. Aber das war auch erst, als die Lockungen des Fleisches zusehends an Reiz für mich verloren.« Er legte Kre schin die Hand auf die Schulter und spürte dabei, wie der junge Mann am ganzen Körper zitterte. Baranowitsch sah ihn an und schüttelte traurig den Kopf. » Du liebst sie also sehr?« »Ja …« Kreschins Augen schimmerten feucht, und seine Zunge fuhr über die Oberlippe. »Schade«, murmelte Baranowitsch. »Das wird es sehr schwer für dich machen.« Kreschin schien zu einem Entschluß zu gelangen. Barano witschs Hand ruhte nach wie vor auf seiner Schulter, und der 153
alte Mann konnte spüren, wie sich Kreschin bemühte, sein Zit tern unter Kontrolle zu bekommen. »Wenn – wenn du es kannst, dann werde auch ich es können …«, brachte er schließlich mühsam hervor. »Gut. Dann trink jetzt deinen Kaffee, damit dir warm wird. Der Posten dort drüben denkt, daß du Angst hast. Laß ihm die se Genugtuung nicht.« Doch schon im nächsten Augenblick fügte er hinzu: »Das ist natürlich Blödsinn, aber …« »Was soll das eigentlich alles?« fiel ihm Semelowskij ins Wort, als wollte er diese Abschiedsszene möglichst schnell hinter sich bringen. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Kreschin und ich haben die Arbeit am Heckteil sowieso schon soweit wie möglich verzögert, aber wir werden trotzdem gleich fertig sein.« Baranowitsch nickte. »Ich verstehe. Grosch, mein bête noir, wird auch Verdacht schöpfen, wenn wir nicht innerhalb der nächsten halben Stunde fertig werden.« Er nahm einen Schluck Kaffee und biß von einem dick belegten Schinkenbrot ab, das man ihm in den Hangar gebracht hatte. »Aber euch ist klar, daß unsere Freunde dort drüben keinen Zweifel daran lassen, daß unsere Zeit abgelaufen ist?« »Natürlich wissen wir das. Es war doch von Anfang an klar, daß die Waffentests unser letzter Termin sind«, entgegnete Semelowskij. »Und es macht dir nichts aus?« »Macht es dir denn etwas aus?« gab Semelowskij die Frage zurück. Baranowitsch sah kurz zu den Wachen hinüber, die sich leise unterhielten. Er hätte die Frage gern mit einem Ja beantwortet, zumal er wußte, daß es nur jungen Menschen beschieden ist, sich begeistert für eine Sache zu opfern. Aber aus einem Ge fühl der Verantwortung und der Schuld heraus gab er die Ant 154
wort, die seine beiden Gefährten hören wollten. »Nein«, sagte er deshalb. Semelowskij nickte. »Na, dann gut.« Mühsam schluckte Baranowitsch die Schuldgefühle hinun ter, die mit einem galligen Beigeschmack seine Kehle hoch stiegen. Er war es gewesen, der sie hierher, in diese Flugzeug halle, gebracht hatte; und er würde es auch sein, der ihnen in die Keller voranschreiten würde – zu den Fragen und zu den Schmerzen. Baranowitsch war anderen gegenüber ebenso unerbittlich wie sich selbst gegenüber. Mit einem Achselzucken fegte er seine Gewissensbisse hinweg und beschloß, ihnen zumindest zu einem raschen Tod zu verhelfen. »Wir werden einen Brand legen – dort drüben. Nein, nicht hinsehen! Dort drüben beim zweiten Prototyp. Einer von uns muß sich zu dem Zeitpunkt, zu dem wir die Operation starten wollen, dort aufhalten. Was glaubt ihr? Wann sollen wir zu schlagen?« »Spätestens um halb sieben!« platzte Semelowskij in seiner typischen gereizten Art heraus. »Ich habe mir schon gedacht, daß wir uns für diese Möglichkeit entscheiden würden.« »Ich halte das für die beste Stelle«, fuhr Baranowitsch fort. »In der unmittelbaren Umgebung des zweiten Prototyps. Wie ich bereits gesagt habe, wird dadurch auch die Maschine zu Schaden kommen, was für unseren amerikanischen Freund nur von Vorteil sein kann. Es wird auf jeden Fall zur Folge haben, daß diese Maschine«, er tippte gegen den Rumpf des Firefox, »sofort aus dem Hangar gerollt werden wird. Wenn Gant also zum richtigen Zeitpunkt auftaucht und in das Cockpit klettert, wird in der allgemeinen Aufregung niemand auf die Idee kommen, ihn nach seinem Ausweis zu fragen und sein Gesicht sehen zu wollen.« Er studierte ihre Gesichter, in denen bereits 155
die Nähe des Todes zu spüren war. Semelowskij nickte, und sein Gesicht nahm weichere Züge an. »Was meine Person betrifft, ist mir alles andere als wohl bei dem Gedanken, daß Oberst Kontarskij seine Wut und Fru stration über seine ruinierte Karriere an mir abreagieren wird.« »Hast du verstanden, Ilja, was ich gesagt habe?« wandte sich Baranowitsch an den jüngeren Mann. Dieser schwieg eine Weile, bevor er erwiderte: »Ja, Pjotr Wassilijewitsch, ich habe verstanden.« »Gut. Hast du deine Pistole?« Kreschin nickte. »Das heißt, daß du, Maxim Iljitsch, das Feuer auslösen wirst. Außerdem bist du derjenige«, fügte Baranowitsch mit einem Lächeln hin zu, »der von uns am wenigsten gefährlich aussieht.« »In Ordnung. Um zehn nach sechs werde ich auf die Toilette gehen. Falls mich eine Wache dorthin begleiten sollte, Pech für ihn!« Der kahle kleine Mann wirkte etwas lächerlich, wie er nun schwer ausatmete und sich in den Schultern aufreckte. Aber Baranowitsch wußte, daß er zu töten fähig war, falls sich dies als nötig erweisen sollte. »Bring die Wache aber nur um, wenn es absolut nicht anders geht«, schärfte Baranowitsch ihm ein. »Wir wollen nicht, daß dir etwas zustößt.« »Zumindest nicht, bevor ich den Brand ausgelöst habe, wie?« zwinkerte Semelowskij zynisch. »Nein, davor auf keinen Fall.« Baranowitsch ließ sich von Semelowskijs Ehrlichkeit anstecken. »Wenn du aus der Toilet te kommst, wirst du das nötige brennbare Material an der Rückwand des Hangars aufgestapelt sehen – hinter dem zwei ten Prototyp. Es sind ein paar Fässer mit Treibstoff.« »Ich weiß schon allein, wie man einen Brand auslöst, Pjotr Wassilijewitsch«, warf Semelowskij leicht ärgerlich ein.
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»Ja, natürlich. Und sieh zu, daß es auch ordentlich zu bren nen anfängt.« »Dafür werde ich schon sorgen.« »Das wird um sechs Uhr zwölf sein«, instruierte sie Barano witsch weiter. »Dann werden wir beide, Ilja, zusehen müssen, daß wir die zweite Maschine erreichen, bis das Feuer groß ge nug ist, alle Wachen abzulenken – alle, habt ihr verstanden?« »Ja. Wir sollen sie also auch ablenken, oder nicht?« Baranowitsch nickte. Darauf wurden die Stimmen der in den Hangar zurückkehrenden Techniker hörbar. »Machen wir uns also wieder an die Arbeit.« Baranowitsch sah auf seine Uhr. »Jetzt ist jede Minute kostbar. Und synchronisiert eure Uhren, wenn euch gerade niemand dabei beobachten kann. Es ist jetzt fünf Uhr dreiundzwanzig.« Plötzlich legte sich ein leichter Schleier vor seine Augen, als er nun noch einmal seine Gefährten ansah. »Viel Glück, meine Freunde.« Und damit trat Baranowitsch an die Leiter, die zum Cockpit hinaufführte, und begann, sie hinaufzuklettern. Kre schin beobachtete ihn dabei noch kurz und folgte dann Seme lowskij zum Heck des Firefox. Er warf einen Blick in Richtung der Wachen, die sich nun wieder zu entspannen schienen und ihrem Vorgesetzten Meldung erstatteten. Konzentriere deinen ganzen Haß auf sie, redete er sich ein. Hasse sie. Hasse, was sie repräsentieren und was sie tun. Hasse sie … Kontarskij sah auf seine Uhr. Es war sieben Minuten nach sechs. Er hatte eben Nachricht erhalten, daß die Tupolew TU 144 mit dem Ersten Sekretär, dem Vorsitzenden des KGB und dem Marschall der sowjetischen Luftwaffe an Bord in Moskau gestartet war und für sechs Uhr dreißig in Biljarsk erwartet wurde. Diese Nachricht brachte Kontarskij sichtlich aus dem 157
Konzept. Ursprünglich hatte die Maschine auf keinen Fall vor neun Uhr eintreffen sollen. Er war sich über den Grund hierfür nicht im klaren, vermutete aber irgendeine Schikane gegen sich. Ihm blieb nichts anderes zu tun übrig, als wie bisher seine Leute zu verstärkter Wachsamkeit anzuhalten und sich neuer lich mit Prjabin in Verbindung zu setzen, ob dieser etwas Neues über den Agenten in Erfahrung hatte bringen können. In dem kahlen Einsatzraum des Verwaltungsbaus saßen die Männer seines Stabs an ihren wackligen Tischen und analysier ten die Berichte der Trupps, die das Werksgelände aufs sorgfäl tigste durchkämmt hatten. Die letzte Inspektion war eben abge schlossen worden, hatte aber, wie die anderen zuvor, zu keinem Ergebnis geführt. Unter ihnen, in einem kleinen Raum mit weißen Wänden und grellem Licht, wurden gerade Dherkow und seine Frau verhört. Beide hatten die Qualen des anderen mit ansehen müs sen – und beide hatten nicht gesagt, was Kontarskij wissen wollte. Er war außerstande, sich einzugestehen, daß sie viel leicht gar nichts von Bedeutung wußten. Kontarskij hatte sich in den letzten Tagen schon in zu viele Sackgassen verrannt. Ihm – und den Männern, die das Verhör führten – schienen die beiden nur stur und hartnäckig. Der Arzt hatte Drogen angewendet. Damit hatte er den Verstand des Mannes fast augenblicklich ruiniert; er konnte, als er aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit aufwachte, nur noch unzusammenhängend denken und sprechen. Trotz des Schocks, den es für seine Frau darstellen mußte, dies mit anzusehen, weigerte sie sich doch, etwas über den Verbleib oder die Identität des Agenten auszusagen. Kontarskij hatte angeordnet, das Pentathol noch einmal anzuwenden – und zwar diesmal an ihr –, obwohl der Arzt sich dagegen aussprach. Kontarskij tobte, zumal er auch argwöhnte, daß die Dosen zu schwach waren. Nun trommelte Kontarskij nervös mit seinen Fingern auf 158
dem Schreibtisch, während er darauf wartete, mit seinem Büro in der Zentrale verbunden zu werden. Prjabin war im Moment jedoch nicht aufzutreiben, worauf man Kontarskij zum Compu ter-Raum durchstellte. Während er wartete, glitten seine Blicke über die Männer seines Stabs, welche – die meisten von ihnen hemdsärmelig – über ihre Tische gebeugt standen und fieber haft arbeiteten. Kein Gesicht wandte sich ihm zu. Kein Gesicht wußte eine Antwort. Kein Gesicht konnte einen Vorschlag ma chen, was weiter zu tun sei. Die ganze Nacht hindurch hatte Kontarskij das Gefühl gehabt, er brauchte nur zuzugreifen, um die Antwort in Händen zu halten. Und doch war ihm jede wie Sand in den Händen zerronnen. Prjabin war außer Atem, als er schließlich ans Telefon kam. Kontarskij konnte seine Stimme trotz der Entfernung klar und deutlich hören. »Herr Oberst, wir haben ihn. Wir haben ihn identifiziert!« keuchte Prjabin ins Telefon. »Herr Oberst, sind Sie noch da?« »Rasch, Prjabin, schießen Sie schon los!« Einige der Kon tarskij am nächsten stehenden Männer hoben auf das erstickte, leise Flüstern ihres Chefs neugierig die Köpfe. Auch sie spür ten, daß der Durchbruch geschafft war. »Er ist ein Pilot – Mitchell Gant, ein Amerikaner …« »Ein Amerikaner?« wiederholte Kontarskij mechanisch. »Ja, ein Mitglied der Mig-Schwadron, der Apatschen, wie sie die Amerikaner nennen. Sie wissen doch, daß die Amerika ner ein paar Migs nachgebaut haben, um ihre Piloten auf einen Kampf mit unseren Maschinen vorbereiten zu können.« »Erzählen Sie schon weiter, Prjabin. Und warum ausgerech net dieser Mann?« »Offensichtlich kennt er sich mit unserer Maschine aus wie kein zweiter. Ganz gleich, ob nun ein Akt der Sabotage oder der Spionage geplant ist, wäre er in beiden Fällen der geeignete 159
Mann. Vielleicht hat er vor, sich die Mig-31 aus nächster Nähe anzusehen.« Am anderen Ende der Leitung entstand ein Schweigen. Erschreckend und übermächtig stand plötzlich bei den Männern die Wahrheit vor Augen. In dieses schreckliche Schweigen fiel nun Kontarskijs Stimme wie ein Stein in einem Brunnenschacht. »Er – er wird doch nicht versuchen wollen …?« »Nein, Herr Oberst, das ist völlig ausgeschlossen.« Kon tarskijs Stimme zitterte, als er sagte: »Vielen Dank, Dmitri, vielen Dank. Das haben Sie wirklich gut gemacht.« Langsam legte Kontarskij den Hörer auf, um ihn nach einem kurzen Blick auf seine Mitarbeiter neuerlich abzunehmen. Er wählte die Nummer des Postens am Hangareingang und trommelte nervös mit den Fingern, während er wartete, bis jemand ab nahm. »Tsernik, sind Sie’s? Verhaften Sie Baranowitsch und die anderen jetzt sofort.« »Irgendwelche Neuigkeiten, Herr Oberst?« »Ja, verdammt noch mal, ja! Ich möchte von Ihnen wissen, wo sich dieser Agent versteckt hält, und zwar sofort! Und las sen Sie niemanden in die Nähe der Maschine – niemanden, haben Sie verstanden?« »Jawohl, Herr Oberst.« Tsernik legte den Hörer auf. Kon tarskij ließ neuerlich seine Blicke über die Männer an den Ti schen gleiten und sah dann auf seine Uhr. Elf Minuten nach sechs Uhr. »Ein paar von Ihnen – nein, alle!« brüllte er plötz lich los. »Sofort in den Hangar – nein, eine Hälfte bleibt hier und durchsucht dieses Gebäude … Los, schnell!« Der Einsatzraum war ganz hektisches Getriebe, als die Män ner aufsprangen, nach ihren Jacken und Mänteln griffen, ihre Waffen überprüften. Aus dem hinteren Teil des Raums wurde eine Stimme ver 160
nehmbar. »Nach wem suchen wir eigentlich, Herr Oberst?« »Nach einem Piloten, verdammt noch mal, nach einem Pilo ten!« Kontarskijs Stimme klang schrill; sie war fast dem Über schnappen nahe. Baranowitsch beobachtete Semelowskijs kleine Gestalt, als er aus der Toilette im hinteren Teil der Flugzeughalle kam. Ein Wachtposten war Semelowskij auf die Toilette gefolgt. Bara nowitsch fragte sich, wann er wohl auftauchen würde. Semelowskij hatte inzwischen bereits den Schatten des zwei ten Firefox erreicht, und die Wache war immer noch nicht in der Tür der Toilette erschienen. Auf Baranowitschs Lippen breitete sich ein wildes Lächeln aus. Semelowskij hatte die Wache, vermutlich mit einem Schraubenschlüssel, getötet. Er knöpfte sich den weißen Arbeitskittel auf, den er über seinem Overall trug – allerdings nicht wegen der Kälte, sondern um die Automatik zu verbergen, die er sich in den Bund seiner Hose gesteckt hatte. Dann nickte er, ohne in Kreschins Rich tung zu blicken. Er wußte, daß der jüngere Mann auf sein Zei chen wartete. Die Arbeiten an der Maschine waren kurz nach sechs been det worden. Grosch, der durchaus merkte, daß Baranowitsch Zeit zu schinden versuchte, dies aber als Zeichen seiner Angst interpretierte, hatte bereits mit den meisten anderen Technikern den Hangar verlassen, um in die Kantine zu gehen. Einer von ihnen, ein Elektronik-Fachmann namens Pilak, war dabei noch an Baranowitsch vorbeigekommen, um etwas verlegen und hilflos in seine Richtung zu nicken. Baranowitsch griff in seine Tasche und schaltete den Sender ein, den er dort versteckt hatte. Er drückte die Taste, welche den Piepser an Gants Arm in Abständen von einer Sekunde kurz aufpiepen lassen würde – das Zeichen, daß das Ablen
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kungsmanöver eingeleitet war. Wenn Baranowitsch dann auf die zweite Taste drückte, würde das Gerät ein kontinuierliches Geräusch von sich geben, das Gant zu verstehen gab, daß er nun so schnell wie möglich in den Hangar herunterkommen sollte. Baranowitsch wandte seinen Kopf, um die Entfernung zwischen sich und dem nächsten Posten abzuschätzen. Sie be trug etwa zwölf Meter. Die Wachen waren immer noch sehr zahlreich vertreten; er zählte innerhalb der nächsten fünfund zwanzig Meter insgesamt vier Mann, und sie erweckten trotz der frühen Morgenstunde keineswegs einen müden oder un achtsamen Eindruck. Sie waren zu häufig ausgewechselt wor den, um schläfrig zu werden oder sich zu langweilen. Er sah in den hinteren Teil des Hangars. In freudiger Vor wegnahme glaubte er bereits das Aufflammen von Seme lowskijs Feuerzeug erkennen zu können, und im nächsten Au genblick schoß auch schon eine beachtliche Stichflamme in die Höhe. Er konnte Semelowskijs gebeugte Gestalt nicht mehr länger sehen und fragte sich, ob dieser sich bereits selbst in die Flammen gestürzt hatte. Er zog seine Waffe und drehte sich um. Schon in dem Mo ment, bevor die Stichflamme hochgeschossen und unter dem Hangardach ins Freie gefahren war, hatte er von dem Wach häuschen hinter sich Schreie gehört. Die Automatik auf seinen linken Unterarm aufgestützt, schoß er den ihm am nächsten stehenden Wachtposten in den Bauch und eilte dann auf Kre schin und das andere Ende der Flugzeughalle zu. Eine Kugel krachte gegen den Rumpf der Mig, als er geduckt losrannte, und dann erteilte jemand laut brüllend den Befehl, mit dem Schießen aufzuhören, um das Flugzeug nicht zu gefährden. Er lächelte in sich hinein, als er Kreschin, der ihn wie festgewur zelt an seinem Platz stehend erwartete, anstieß, worauf sie bei de inmitten verschiedener anderer Gestalten auf das Feuer zu hetzten.
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Die Alarmglocke brach in ihr schrilles Gebimmel aus, und Baranowitsch gewann den Eindruck, als stürzten alle trotz der endlosen Feuerlöschübungen auf die aufzüngelnden Flammen zu. Für einen kurzen, schockierenden Augenblick nahm er das Bild einer zierlichen Gestalt in einem weißen Mantel wahr, die lichterloh in Flammen stand, und er wußte, daß die Gestalt Se melowskij sein mußte. Er steckte die Automatik in seine Ta sche zurück und blieb, Schulter an Schulter mit Kreschin, in mitten einer ratlosen Gruppe weiterer Gestalten stehen, als ih nen die Hitze von den Flammen wie ein heißer Wüstenwind entgegenschlug. Dann drückte er die zweite Taste an seinem Sender und hoffte, daß Gant das kontinuierliche Piepen über mittelt bekam. Bei einer Wache, die sich mit einem Wasser schlauch von hinten an ihm vorbeidrängte, konnte Barano witsch auf die Uhr sehen. Sechs Uhr dreizehn. Er blickte hinter sich. Über die Köpfe der hinter ihm nachdrängenden Männer hinweg konnte er die Leiche des Postens auf dem Boden in der Nähe des Firefox liegen sehen, der inzwischen von den Män nern der Sicherheitstruppe umringt war. Er wußte, daß sie nun herausgefunden hatten – oder zumindest ahnten, was dieses Ablenkungsmanöver bezwecken sollte und wer der Agent in Biljarsk war, beziehungsweise was er vorhatte. Das Ablenkungsmanöver war also als solches erkannt wor den, so daß die Maschine auch nicht für einen Augenblick un bewacht blieb. Tsernik erteilte den um die Mig postierten Männern Anweisungen, während ein anderer Offizier, der für die Sicherheit des Hangars zuständig war, Männer zur Be kämpfung des Feuers abbeorderte. Inzwischen kam auch von einem anderen Hangar ein Feuerwehrwagen angeschossen. Nun gab es für ihn nur eines zu tun, stellte Baranowitsch fest. Er mußte die Wachen, die um die Mig postiert waren, auf sich aufmerksam machen und sie, wenn möglich, von der Ma schine fortlocken. In die Menge der um das Feuer versammel
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ten Schaulustigen eingekeilt, zog Baranowitsch sich mit ihnen zurück, während der Feuerwehrwagen sich langsam seinen Weg durch sie hindurch bahnte. Immer wieder stellte er sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge hinweg nach dem Tor des Hangars zu schielen, durch das Gant hätte kommen müssen. Aber von ihm war nichts zu sehen. Zuerst machte sich das Signal des Piepsers nicht so sehr als Geräusch denn als ein Zucken der Muskeln bemerkbar, wäh rend Gant gerade von den Flammen seines Traumes verzehrt wurde. Er saß immer noch reglos zusammengesunken auf der Kloschüssel, sein ganzer Körper naß von Schweiß. Irgend et was pulste in seinem Arm, aber er war nicht imstande, seine Hand an die Stelle zu führen, um sich zu kratzen. Der Traum neigte sich seinem Ende zu. Es hatte keinen Sinn mehr, gegen ihn anzukämpfen. Er wartete geduldig, bis er langsam verebbte und die letzten Bilder wie in einem gerissenen Film flackernd an ihm vorbeizogen. Und allmählich fraß sich das Geräusch, die einzelnen, in re gelmäßigen Abständen aufeinanderfolgenden Pieptöne, bis in sein Gehirn vor. Der Teil von Gants Verstand, der stets kalt und unbeteiligt den Ablauf des Traums mitverfolgte, ohne ihn freilich stoppen zu können, erkannte das Geräusch als eine Art Signal und versuchte angestrengt, sich über seine Bedeutung Klarheit zu verschaffen. Es hatte irgend etwas mit einem Alarm zu tun – allerdings nicht mit einem Alarm im gewohnten Sinn … Und dann wußte er ganz plötzlich mit erschreckender Klar heit, was es bedeutete, und das Bild des Firefox, wie er es von einer Fotografie her kannte, sprang ihm vor die Augen – ge folgt von seinen Erinnerungen an den Cockpit-Simulator, den man eigens für ihn angefertigt hatte, in dem er trainiert hatte …
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Er wußte, was das Signal bedeutete. Baranowitsch. Er sah das weise Gesicht voller olympischen Mitleids freundlich durch die Flammen blicken. Das Zucken und das Geräusch wurden eins. Der Piepser, den Baranowitsch mit Heftpflaster an seinem Arm befestigt hatte. Langsam drangen auch die damit verbundenen Instruktionen in sein Bewußtsein durch. Warte auf das kontinuierliche Ge räusch, das dich in die Flugzeughalle hinunterruft. Mühsam richtete Gant sich auf, während er allmählich auch seine Umgebung wieder deutlich wahrzunehmen begann. Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit steifen Händen das Ge sicht. Er hatte immer Angst davor gehabt, sich bewegen zu müssen, bevor der Traum völlig von ihm gewichen war. Aber nun hatte er keine andere Wahl. Seine Hand, kaum in der Lage, den Türgriff zu umfassen, öffnete Gant die Badezimmertür, um sie hinter sich krachend wieder zuzuwerfen. In seinem Schenkel spürte er einen fernen, dumpfen Schmerz. Er sah an sich hinab. Quer über seinen rech ten Oberschenkel lief eine Schramme – vermutlich eine Verlet zung, die er sich – offensichtlich vor unerdenklichen Zeiten – selbst zugefügt hatte. Steif trat er auf den Schrank zu, in dem sich, wie er sich nun wieder erinnern konnte, Woskows Fliegermontur befand. Er mußte sie sich nun anlegen … Der Anzug entglitt ihm und fiel zu Boden, als er ihn aus dem Schrank nahm. Mühsam bückte er sich – wie es ihm schien, endlos weit hinunter –, um ihn wieder aufzuheben. Er riß sich den Piepser vom Arm und befestigte ihn an der Schranktür. Dann fing er an, sich – mit den Beinen zuerst – mühsam in den steifen, spröden Anzug zu zwängen. Der Schweiß floß ihm in Strömen vom Körper. Ein weiteres Geräusch drang an sein immer noch benebeltes
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Bewußtsein – ein Alarm, ein Feueralarm, entschied er. Das war also das Ablenkungsmanöver, schloß er gleichzeitig. Er wußte, daß er sich beeilen mußte. Verzweifelt schlug er sich mit der Verschnürung herum – mit der lebensnotwendigen Verschnü rung, die den einzigen Schutz gegen die verheerende Wirkung der Schubkräfte darstellten, denen er im Firefox ausgesetzt sein würde. Dies war eine Aufgabe, die im Augenblick seine Kräfte und Fähigkeiten eindeutig zu übersteigen schien. Aber er muß te sich den Anzug ordnungsgemäß anlegen, da dies sonst sei nen Tod bedeuten konnte, und zwar mit größerer Gewißheit, als dies bei einem technischen Defekt des Flugzeugs der Fall gewesen wäre. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Wenn es auch nicht einfach war, so doch vertraut. Er wußte, was er tat. Er zwang sich dazu, sich voll auf das zu konzentrie ren, was er tat, während sein heiserer Atem in seinen Ohren kratzte. Schließlich hatte er es geschafft. Er nahm den Pilotenhelm und warf einen kurzen Blick in sein Inneres, ohne jedoch aus den Kontakten und Sensoren des Gedankenübertragungssy stems schlau zu werden. Er mußte sich darauf verlassen, daß Baranowitsch sie am Tag zuvor auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft hatte. Er stülpte sich den Helm über den Kopf, klappte das Visier herunter, und dann traten ihm in einem letzten Aufflackern des Traums plötzlich wieder Bilder von lodernden Flammen vor Augen. Er merkte, daß das regelmäßige Piepen aufgehört hatte. Statt dessen gab das winzige Gerät an der Schranktür nun einen kon tinuierlichen Ton von sich. Gant griff ins Innere des Schranks und nahm die Innereien des Transistorradios daraus hervor. Er wog das kleine schwarze Objekt kurz in seiner Hand; nun, da es seiner Tarnung von Transistoren und Batterien beraubt war, hatte es eher die Form und Größe eines Zigarettenetuis. Im 166
Radio hatte es den Anschein erweckt, eine ganz gewöhnliche Transistorplatte zu sein. Das kontinuierliche Geräusch ruft dich in die Flugzeughalle hinunter. Steif bewegte Gant sich auf die Tür zu. Wie durch einen plötzlich von unsichtbarer Seite erteilten Befehl teilte sich die Menge und wich von den beiden Männern zurück. Deutlich sichtbar standen sie ganz allein auf dem Be tonboden des Hangars. Es gab keinen Ort, an dem sie sich ver stecken, Schutz finden hätten können. Durch den Rauch, der den Hangar füllte, trat im Halbkreis langsam eine Gruppe von Wachen auf sie zu. Tsernik erteilte ihnen über ein Megaphon Anweisungen. »Legen Sie Ihre Waffen nieder – auf der Stelle! Oder ich las se meine Männer das Feuer auf Sie eröffnen!« Sie schienen keine andere Wahl zu haben. Inzwischen war ein zweiter Feuerwehrwagen im Hangar eingetroffen, und die Löscheinheiten besprühten das Flugzeug und den Hangarboden mit Schaum. Baranowitsch und Kreschin standen zwischen den im Halbkreis auf sie zukommenden Wachen und den Feuer wehrmännern in ihrem Rücken. Baranowitsch konnte den Temperaturabfall spüren, als das Feuer unter der zweiten Mig langsam erstickt wurde. Um Gants Maschine stand nach wie vor ein Ring von Wachen, der zwar nicht mehr so dicht war wie kurz zuvor, es aber dennoch absolut unmöglich erscheinen ließ, sich dem Flugzeug unbemerkt zu nähern. Wo steckte Gant? Er hatte doch auf die zweite Taste ge drückt. Er sollte längst im Hangar aufgetaucht sein. Wenn er nicht bald in der Tür des angrenzenden Verwaltungsbaus er schien, in dem der Aufenthaltsraum der Piloten lag, würden die Wachen sie festgenommen haben und wieder an ihre Plätze um den Firefox zurückgekehrt sein. Die Treibstofftanks der zwei
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ten Mig hatten nicht, wie Baranowitsch gehofft hatte, Feuer gefangen. Mit einem bißchen Glück für die Sowjets würde die Maschine nach wie vor flugfähig sein. Plötzlich schien von hinten ein Lärm wie eine Wand mit fast physischer Gewalt gegen ihn zu drücken. Vor ihm lag ein Ke gel der Stille, dessen Spitze er und Kreschin bildeten und der auch die in einem Halbkreis postierten Wachen einschloß. Dies war eines der eindrucksvollsten Bilder seines ganzen Lebens – die näher kommenden Wachen und dann diese gegen seine Ohren schmetternde Stille von fast körperlicher Präsenz. Neben ihm krachte eine Schußwaffe auf, doch auch dieses Geräusch schien aus großer Entfernung zu kommen. Er sah eine Wache zu Boden sinken und eine zweite zur Seite sprin gen. Es war ganz einfach, dachte er; sie stehen zu nahe neben einander – ähnlich den Deutschen in Stalingrad, als sie angrif fen, erinnerte er sich. Sein Gehirn sendete keinerlei Impulse aus, das Feuer zu eröffnen. Seine Automatik blieb unangetastet an ihrem Platz in seiner Tasche. »Lassen Sie Ihre Waffen fallen, oder ich lasse das Feuer er öffnen!« hörte er wie aus weiter Ferne die blecherne Mega phonstimme. Er hörte den Befehl nicht, aber er sah die Flammen in den Mündungen der Gewehre aufzucken; und er spürte mehr, als daß er sah, wie Kreschin von seiner Seite gerissen wurde. Und dann fühlte er, wie sein eigener Körper von den Kugeln durch löchert wurde; sein Arbeitskittel zerfetzte wie unter kleinen Detonationen. Er fühlte sich alt. Das Gleichgewicht verlierend, stolperte er hilflos ein paar Schritte nach rückwärts und plump ste wie ein Kind, das des Gehens noch nicht mächtig ist, in sitzender Haltung auf den Boden. Dann schienen die Lichter im Hangar auszugehen, und sein Oberkörper kippte zur Seite. Sei ne Augen waren krampfhaft geschlossen, als könnte er so noch dem schrecklichen Augenblick des Todes entrinnen, und sein 168
Kopf schlug dumpf auf den Betonboden des Hangars. Er sah Gant nicht mehr, wie er in dem mattgrünen Druckanzug im Eingang des Verwaltungsgebäudes stand. Baranowitsch starb in dem Glauben, Gant würde nicht mehr auftauchen. Von der Stelle, an der er stehen geblieben war, konnte Gant eine Gestalt in einem weißen Kittel auf dem Boden liegen se hen. Die Wachen, immer noch in einem Halbkreis, traten vor sichtig näher. Und auch den Blondschopf und die im Todes kampf verzerrten Glieder Kreschins konnte Gant erkennen. Das Flugzeug war dreißig Meter von ihm entfernt – nicht mehr. Im hinteren Teil der Flugzeughalle hatte es gebrannt. Er konnte die zwei Löschwagen sehen und den über und über mit Schaum bedeckten Rumpf des zweiten Prototyps, der gerade von den brennbaren Materialien fortgerollt wurde, an denen sich das Feuer entfacht hatte. Die im Hangar Anwesenden wandten ihre Aufmerksamkeit bereits wieder mehr dem Fire fox zu. Vielleicht war es schon zu spät, durchzuckte es ihn. Da das Feuer praktisch unter Kontrolle war, bestand fast kein Grund mehr, die Maschine aus dem Hangar zu rollen. Dann sah er in der Nähe der Rückwand der Flugzeughalle eine Stich flamme aufleuchten, und ein Feuerwehrmann in einem Asbest anzug wurde von ihr rücklings zu Boden geschleudert. Und dann drang der dumpfe Explosionsknall eines Treibstoffasses an sein Ohr. Der zweite Prototyp wurde dadurch zwar nicht mehr unmittelbar gefährdet, aber die Männer, die damit be schäftigt waren, ihn mit einem kleinen Traktor abzuschleppen, beeilten sich doch, ihn aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Das war seine Chance. Infolge der hysterischen Lähmung in Verbindung mit dem Traum waren seine Beine zwar immer noch steif und wider spenstig, aber er zwang sie zum Ausschreiten, um die dreißig Meter Beton zum Firefox zu überqueren. Die Leiter, von der aus Baranowitsch Grosch bei der Arbeit 169
beaufsichtigt hatte, stand immer noch an ihrem alten Platz. Gant begann, sie hochzuklettern. Als er sich über den Cockpit beugte, rief vom Fuß der Leiter eine Stimme zu ihm hoch. »Oberstleutnant Woskow?« Gant wandte sich um und nickte dem nervösen, schweiß überströmten Gesicht unter ihm zu. Der junge Mann trug die Uniform eines KGB-Offiziers. Er hielt eine Waffe in seiner Hand. »Ja?« erwiderte Gant. »Was machen Sie da, Herr Oberstleutnant?« »Was glauben Sie wohl, daß ich hier mache, Sie Idiot? Wol len Sie vielleicht, daß diese Maschine hier auch noch zu Scha den kommt? Ich schaffe sie hier raus – das tue ich.« Er schwang seine Beine über den Rand des Cockpits und ließ sich in den Pilotensitz gleiten. Während er immer noch auf den KGB-Mann hinuntersah, tastete er mit den Händen bereits nach den Fallschirmriemen und schnallte sich fest. Der junge Offizier war inzwischen ein paar Schritte zurück getreten, um Gant besser sehen zu können. Das getönte Helm visier und die Sauerstoffmaske machten es ihm absolut unmög lich zu erkennen, ob der Mann im Cockpit der Mig tatsächlich Oberstleutnant Woskow war. Er wußte nicht, was er tun sollte. Nervös blickte der junge Mann um sich. Die zweite Mig-31 wurde tatsächlich gerade vom hinteren Teil des Hangars in Richtung Ausgang geschleppt, und obwohl das Feuer unter Kontrolle schien, züngelten doch hin und wieder noch einige Flammen auf. Tsernik hatte darauf hingewiesen, daß auf Kon tarskijs ausdrücklichen Befehl niemand in die Nähe der Ma schine gelassen werden durfte. Doch bezog sich das auch auf den Piloten? Gant ignorierte den KGB-Mann und ging, so rasch er konn te, die vor dem Start nötigen Checks durch. Er steckte den 170
Funk und die Sprechanlage ein. Nun zeigte sich der Wert des Simulators, der nach Baranowitschs Angaben im CIAHauptquartier in Langley, Virginia, gebaut worden war. Gant fand die Anschlußbuchse wie im Schlaf, als wäre er mit dieser Maschine völlig vertraut. Als nächstes steckte er das Kabel ein, das seinen Helm mit dem Bewaffnungssystem verband. Der Anschluß befand sich an der Seite des Schleudersitzes, so daß der Pilot, falls er sich gezwungen sah, sich aus der Maschine zu katapultieren, dennoch den Zerstörungsmechanismus für das System betätigen konnte, damit kein Teil davon in Feindeshand fallen konnte. Flüchtig blickte Gant zu dem KGB-Mann hinunter, der im mer noch unschlüssig schien. Als nächstes schloß Gant die Sauerstoffversorgung und die Anti-Schubvorrichtung an, welch letztere über ein Kabel mit einem Stecker unterhalb des linken Knies mit dem Druckanzug verbunden war. Dadurch würde Luft in den Anzug gepumpt werden, um der Auswirkung der Schubkraft auf seinen Kreislauf entgegenzuwirken, wenn er die Maschine plötzlich abdrehte, beschleunigte oder absacken ließ. Vorsichtig testete er den Mechanismus, ließ etwas Luft ein strömen und überprüfte die Meßuhren, die seine Körperreak tionen wiedergaben. Es funktionierte. Er war sich bewußt, daß er die vor dem Start nötigen Checks auf das allernötigste reduzierte, aber er hatte absolut keine Zeit zu verlieren. Seine Augen waren auf die Meßuhren und Anzei ger geheftet – Landeklappen, Bremsen, Treibstoff. Die Tanks waren voll, und das war gut so, da er in diesem Augenblick noch nicht einmal wußte, wo die Maschine eigentlich neu auf getankt werden sollte. Und da war noch etwas. Er zog die Innereien des Transistor radios aus einer Tasche am Bein seines Druckanzugs und befe stigte die Ansammlung von Schaltkreisen in ihrem waffeldün nen, schwarzen Schutzbehälter – sie waren in Farnborough 171
eigens zu diesem Zweck angefertigt worden – an einer Ecke des Armaturenbretts. Währenddessen schickte Gant ein stilles Gebet zum Himmel empor, daß die Apparatur während der letzten drei Tage keinen Schaden erlitten hatte. Falls dem so war, würde er keine Zeit mehr haben, dies festzustellen. Er war fertig. Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedau ert. Der zweite Firefox wurde eben nur wenige Meter von ihm entfernt in Richtung Ausgang geschleppt. Jetzt galt es, den Mann am Fuß der Leiter endgültig zu überzeugen. Er beugte sich vor und winkte mit der Hand, er solle aus dem Weg gehen. Gleichzeitig schrie er: »Sie werden Ihren Kopf abgesäbelt bekommen, wenn Sie noch länger da unten rumstehen!« Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle und deutete auf die Tragfläche und die Düsen öffnung hinter dem jungen Offizier. Dieser sah sich verwirrt um, und als er begriff, was der Pilot gemeint hatte, ließ ihn der Selbsterhaltungstrieb zur Seite treten, nicht ohne vorher noch die Leiter wegzuziehen. Gant lächelte erleichtert und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Flugzeug zu. Dabei streifte sein Blick über das Tor der Flugzeughalle, durch das er vor einer Minute eingetreten war. Nun stand dort Kontarskij, das Gesicht schneeweiß, und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger in seine Richtung. Er war von etwa einem halben Dutzend anderer Männer umringt. In einer reinen Reflexhandlung drückte Gant auf die Hauben verriegelung, worauf sich die Glashaube automatisch herab senkte und elektronisch verschloß. Danach verriegelte er sie auch noch manuell, eine allgemein gebräuchliche Sicherheits vorkehrung. Nun war er in der Maschine isoliert – ein Teil von ihr. Das benebelte Gefühl, die Lethargie, die von dem Traum herrührende Übelkeit waren nun gänzlich von ihm gewichen. An ihre Stelle war jedoch auch kein Gefühl der Freude oder 172
Euphorie getreten. Jetzt galt es nur, zu funktionieren. Er überprüfte den Luftdruck im Cockpit; dann griff er nach vorn, schaltete die Zündungen, die Anlassermotoren und den Hochdruckhahn ein und drückte schließlich, ohne zu zögern, auf den Starter. Irgendwo hinter ihm ertönte das Geräusch einer Doppelex plosion. Zwei rußschwarze Rauchwolken stiegen von den bei den Düsen auf. Mit einem rasch ansteigenden Sirren liefen die Turbinen warm, als ihn ein regelmäßig aufleuchtendes Kontrollämpchen daran erinnerte, daß er die Treibstoffpumpe vergessen hatte. Er setzte sie in Betrieb, worauf das Blinken aufhörte. Dann öffnete er die Drosselventile und beobachtete die Drehzahlmesser, bis sie eine Auslastung von siebenundzwanzig Prozent anzeigten. Nachdem er die Düsen auf diesen Wert einjustiert hatte, warf er einen Blick aus dem Seitenfenster. Gefolgt von zweien seiner Leute, bewegte Kontarskij sich auf die Maschine zu, aber im Vergleich zu der Schnelligkeit seiner Handgriffe und Reaktionen schienen die Männer auf dem Boden des Hangars sich wie unter Wasser zu bewegen – langsam, viel zu langsam, um Gant noch aufhalten zu können. Er sah eine Waffe gegen sich gerichtet, und etwas pfiff – harmlos – am Cockpit vorbei. Mit einem Auge auf die JPT-Anzeige (Jet-pipe-Temperatur) drehte er die Drosselventile weiter auf, bis der Drehzahlmesser fünfundfünfzig Prozent anzeigte und das Heulen der Motoren beruhigend angestiegen war. Er löste die Bremsen. Der Firefox hatte bereits gegen die Bremsen angezerrt und hüpfte nun eher vor, als daß er langsam losgerollt wäre. Durch das offene Tor des Hangars konnte Gant bereits den ersten Lichtstreifen der Dämmerung am Horizont erkennen. Er sah, wie mehrere Männer auf die Torflügel zustürzten, um sie zu schließen. Aber auch sie bewegten sich mit lächerlicher, ge quälter Langsamkeit, und auch für sie war es zu spät – viel zu 173
spät. Gant überprüfte die Meßuhren und die Treibstoffpumpen, und dann war er auch schon durch das Tor des Hangars und auf dem Taxi-way. In seinem Rückspiegel konnte er die zahlrei chen hinter ihm herstürzenden Gestalten erkennen, die jedoch mit beruhigender Schnelligkeit immer weiter hinter ihm zu rückfielen, während der Firefox auf die Startbahn zurollte. Nachdem Gant die Maschine mit Hilfe des Ruders und der Differentialbremsen in Startposition gebracht hatte, überprüfte er noch einmal die Instrumente. Er atmete einmal tief durch und öffnete dann die Drosselven tile bis zum Anschlag. Er löste ihre Arretierung, und spürte schon im nächsten Augenblick den gewaltigen Schub der lei stungsstarken Düsen mit einer fast sexuellen Intensität in sei nem Rücken. In einem Augenblick übermächtiger, reiner Freu de beschleunigte das Flugzeug. Mit hundertsechzig Knoten hüpfte es an den Kanten der Platten der Startbahn. Mit hundert fünfundsechzig Knoten schaltete Gant die Lift-Kontrollen ein, und der Firefox hob vom Boden ab. Die Maschine beschleunig te neuerlich erheblich, nachdem sie in der Luft war und die Reibung der Räder auf dem Rollfeld nicht mehr bremsend wirkte. Dann fuhr Gant das Fahrwerk ein. Da Gant nicht an die außerordentliche Feinheit des PowerKontrollsystems gewöhnt war, gerieten die Tragflächen des Firefox leicht ins Vibrieren, als er nicht exakt genug aussteuer te. Die Maschine stieg inzwischen binnen weniger Sekunden steil in den Himmel auf. Gegen die aufgehende Sonne sah er plötzlich rechts vor sich ein metallisches Aufblitzen. Er drückte den Steuerknüppel nach rechts und fühlte auch schon im nächsten Augenblick den Druck der Anti-Schubkraft, als die übersteuerte Maschine ab drehte und dabei fast überrollte, um dann jedoch fast ebenso rasch wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Gant sah links hinter sich, wo eine Tupolew Tu-144 mit dem Ersten Sekretär 174
an Bord gerade zur Landung in Biljarsk ansetzte. Er warf einen kurzen Blick auf den Höhenmesser. Er befand sich bereits auf fast zweieinhalbtausend Meter Höhe. Seit die Maschine vom Boden abgehoben hatte, waren fünf zehn Sekunden vergangen. Er war tausend Meilen von der rus sischen Grenze entfernt – von jeder beliebigen russischen Grenze. Während ihm noch von seinem Beinahe-Zusammenstoß mit der Tupolew der Schweiß an den Seiten unter seinen Armen herunterlief, grinste Gant in sich hinein. Er hatte es geschafft. Er hatte den Firefox gestohlen.
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Zweiter Teil
DER FLUG
6. Gegenmaßnahmen Bis zu dem Zeitpunkt, da Kontarskij unmittelbar nach der Landung der Tupolew Tu-144 des Parteichefs an Bord der Ma schine erschien, wußte dieser über Funk bereits vom Diebstahl der Mig-31. Als Kontarskij nun nach hinten in die militärische Kommandosektion der Maschine geleitet wurde, traf er dort auch tatsächlich auf eine Art Kriegsrat. Der Raum war bereits schwer von Zigarrenrauch. Kontarskij salutierte steif und hielt seine Augen geradeaus gerichtet. Nur der Hinterkopf eines Funkers im rückwärtigen Teil des zigarrenförmigen Raums fiel in sein Blickfeld. Und doch wußte er, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren. Er spürte körperlich, wie jeder der mächtigen Männer ihn intensiv beobachtete. Und er war sich auch im klaren, was ihre Mienen im einzelnen bedeuteten. Direkt vor ihm, an dem runden Kommandotisch, auf den vermittels einer speziellen Projekti onsvorrichtung eine Reliefkarte der gesamten Sowjetunion und jedes beliebigen anderen Teils der Welt geworfen werden konnte, saß der Parteichef persönlich; zu seiner Rechten saß Kutusow, Marschall der sowjetischen Luftwaffe, ehemaliger Weltkriegspilot und Kommunist stalinistischer Prägung; zu seiner Linken saß Andropow, Vorsitzender des KGB und Kon tarskijs höchster Vorgesetzter. Es war diese Dreifaltigkeit, die 176
ihn so einschüchterte, die wenigen Momente seit Betreten die ses Allerheiligsten wie Minuten, Stunden – endlos erscheinen ließ. Schließlich brach der Parteichef das Schweigen. Kontarskij, der immer noch Habachtstellung einnahm, ohne daraus entlas sen zu werden, bemerkte aus dem Augenwinkel die zurückhal tende Geste des Parteichefs am Ärmel von Andropows Anzug. »Oberst Kontarskij, erklären Sie uns bitte, was geschehen ist«, sagte der Parteichef in leisem, jedoch durchaus gebieteri schem Ton. Er schien nicht im geringsten in Eile. Außer dem ununterbrochenen Rauschen eines Funkgeräts war in dem Raum nicht das geringste Geräusch zu hören. Seit Gant mit der Mig abgehoben hatte, waren etwa drei Minuten vergangen, ohne daß irgendwelche Gegenmaßnahmen ergriffen worden waren. Nach seinem Versagen war Kontarskij fast hysterisch darauf versessen, die Bemühungen zur Wiedererlangung – be ziehungsweise Zerstörung, wie er vermutete – der gestohlenen Maschine voranzutreiben. Er schluckte. »Ein Amerikaner …«, fing er an und hustete. Seine Augen blieben nach wie vor auf den sauber gekämmten Hinterkopf des Funkers gerichtet. »Ein amerikanischer Pilot namens Gant ist verantwortlich für den Diebstahl der Mig-31, Herr Parteisekretär.« »Ganz im Gegenteil, Oberst; dafür sind Sie verantwortlich«, erwiderte der Parteichef mit einer Stimme bar jeder Drohung wie bar jeder Menschlichkeit. »Fahren Sie fort.« »Er konnte mit Hilfe verschiedener Dissidenten in das Werksgelände eindringen. Die Dissidenten sind inzwischen alle tot.« »Mhm. Aber doch nicht, bevor sie Ihnen gesagt haben, was Sie wissen wollten, nehme ich an?« Kontarskij sah zum erstenmal in das breite, faltige Gesicht – 177
ein energisches Gesicht, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Die Augen waren wie graue Kiesel. »Wir – haben nichts herausbekommen …«, brachte er schließlich mit Mühe hervor. Darauf trat ein Schweigen ein. Kontarskij fiel auf, daß der Funker plötzlich aufrechter auf seinem Stuhl saß. Als seine Blicke zu dem runden Tisch zurückwanderten, konnte er die kräftige Hand des Parteichefs auf den Ärmel von Andropows dunklem Anzug klopfen sehen, als wollte er ihn zurückhalten. »Sie wissen demnach also auch nicht, was das Ziel der Mig 31 ist?« hielt ihm der Parteichef vor. »Sie wissen überhaupt nichts?« fiel Kutusow sichtlich schockiert ein. Der Parteichef warf dem alternden Marschall, in voller Uniform und mit ordengeschmückter Brust, einen kurzen Seitenblick zu, worauf dieser wieder schwieg. »Nein«, erwiderte Kontarskij betreten. »Sehr gut«, intonierte der Parteichef nach einem Augenblick bedrückender Stille. Und in diesem Moment konnte Kontarskij seinen Untergang sehen. Für den Parteichef und sein Gefolge hatte er einfach aufgehört zu existieren. »Sie werden sich jetzt selbst unter strengste Bewachung stellen, Oberst«, ordnete der Parteichef an. Kontarskijs Lippe zitterte, als er ihm in die Au gen sah. Es war, als blickte er in einen Spiegel, der sich weigerte, seinen physische Präsenz widerzuspiegeln. »Sie sind entlassen.« Nachdem Kontarskij den Raum verlassen und die Tür sich leise wieder hinter ihm geschlossen hatte, blickte der Parteichef in Richtung des Marschalls. Er nickte kurz und wandte sich dann dem KGB-Chef zu. »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, Anschuldigungen vorzubrin gen. Das später. Eines scheint mir jedenfalls klar: Es handelt sich hier um einen verzweifelten Versuch des CIA, den gewal 178
tigen Vorsprung nichtig zu machen, den dieses Flugzeug für die Sowjetunion bedeutet hätte. Wir wissen nichts weiter als den Namen dieses Mannes und was in seiner offiziellen Akte steht, wobei letzteres von keinerlei Nutzen für uns sein dürfte. Mit jedem Augenblick, den wir hier sitzen, entfernt sich die Mig-31 weiter von uns – und in welcher Richtung, Mihail Il jitsch?« Der Marschall der sowjetischen Luftwaffe blickte sich zu ei nem Funker hinter seinem Rücken um. »Schnell! Geben Sie uns die ›Wolfsrudel‹-Karte von der UdSSR!« ordnete er an. Beflissen drückte der Funker auf der Stelle ein paar Knöpfe, und während die um den Tisch sitzenden Männer noch ihre Zigarettenschachteln und Aschenbecher forträumten, erschien auf der Tischplatte die Projektion einer Karte der Sowjetunion, die über und über mit kleinen, verschiedenfarbigen Punkten übersät war, welche die unterschiedlichen Verteidigungsanla gen der Sowjetunion anzeigten. Der Parteichef beugte sich über den Tisch und tippte auf einen Punkt der Karte. »Biljarsk liegt hier.« Sein Finger beschrieb einen kleinen Kreis. »Und in welcher Richtung fliegt er jetzt?« »Das wissen wir nicht«, entgegnete Kutusow mit rauher Stimme. Er war vor zwei Jahren wegen Kehlkopfkrebs operiert worden, und seitdem war seine Stimme nur noch ein schwa ches, rauhes Wispern. Er sah quer über den Tisch, wo Wladimirow saß, ein großer, schlanker Offizier mit grauem Haar und wäßrig blauen Augen. Das rücksichtslose Selbstvertrauen, das dieses Gesicht aus strahlte, half ihm, nach diesem Schlag, den der Diebstahl der Mig darstellte, wieder etwas zu seiner Ruhe zurückzufinden. Vorübergehend war er davon wie gelähmt gewesen. Dies war ein noch wesentlich schlimmerer Schlag als damals Belenkos
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Flucht mit dem Foxbat. Vor seinem geistigen Auge sah er im mer noch das kurze, helle Aufblitzen des Flugzeugrumpfs, als die Maschine rasch steigend der Tupolew ausgewichen war. Und dann war über Bordfunk die Nachricht gekommen, daß unter ihnen eben ein Flugzeug irregulär gestartet war. Und dann hatte er mit ebenso unerbittlicher wie schrecklicher Ge wißheit gewußt, was für ein Flugzeug das gewesen war. Irgend jemand, ein Amerikaner, hatte das großartigste Flugzeug, das die Sowjetunion je gebaut hatte, gestohlen – er hatte es gestoh len. »Was denken Sie, Wladimirow?« sagte er schließlich. Der große Mann mit dem schmalen Gesicht betrachtete die Karte und sah dann auf, um seine Äußerungen an den Partei chef zu richten. General Med Wladimirow, Kommandant des sogenannten »Wolfsrudels«, der taktischen Angriffstruppe der sowjetischen Luftwaffe, war beunruhigt. Auch er war sich über das Problem im klaren – wie ein mit Anti-Radar ausgerüstetes Flugzeug aufspüren? –, aber er wollte sich vor dem Parteichef seine Bedenken nicht anmerken lassen. Als seine Lethargie schließlich von ihm gewichen war, fing er an zu sprechen. »Ich schlage eine sektorenweise Zickzack-Durchsuchung vor, Herr Parteisekretär, und zwar in zwei Abschnitten. Wir müssen entlang unserer nördlichen und südlichen Grenzen so viele Maschinen wie möglich in die Luft schicken.« »Warum ausgerechnet dort?« »Weil dieser Verrückte einmal auftanken muß, wenn er die Maschine an einen absolut sicheren Ort bringen will.« Wladi mirow senkte seinen Blick wieder auf die Karte. »Und er kann nicht in der Luft auftanken. Falls ein Mutterflugzeug über neu tralem oder feindlichem Gebiet auf ihn warten würde, würden wir dieses auf jeden Fall orten können.« »Wie groß ist die Reichweite der Maschine?« wollte General 180
Leonid Borow wissen, der neben Wladimirow saß. Borow war Kommandant der ECM-Abteilung (Electronic CounterMeasures – Elektronische Gegenmaßnahmen) der sowjetischen Luftwaffe. Ihm würde im Falle eines Angriffs von Seiten des Westens die Aufgabe zufallen, die Radar- und Raketenabwehr mit der Luftabwehr zu koordinieren. »Wenn sie vollständig aufgetankt ist, was ich annehme«, er klärte Kutusow, »dürfte die maximale Reichweite der Maschi ne knapp fünftausend Kilometer betragen – je nachdem, wie der Amerikaner mit dem Flugzeug umzugehen versteht.« »Womit er entweder bis hierher käme – oder bis hierher.« Wladimirows Hand schwenkte erst über das Nördliche Eismeer und glitt dann über den Tisch zur Grenze des Iran und zum Mittelmeer. »Wieso glauben Sie, daß er nur entweder nach Norden oder Süden fliegt, Wladimirow?« erkundigte sich der Parteichef. Seine Stimme klang inzwischen ungeduldig. »Weil jeder Pilot, der sich in den Verteidigungsgürtel um Moskau wagte, damit Selbstmord beginge – selbst in einem Flugzeug, das mit Radar nicht geortet werden kann!« Darauf trat kurzes Schweigen ein. Alle im Raum Anwesen den – die fünf Männer an dem runden Tisch wie die Wachen, Funker, Code-Spezialisten und Adjutanten –, alle waren sich darüber im klaren, daß das Unaussprechliche ausgesprochen war. Nachdem dieser Amerikaner also die Mig gestohlen hatte, gereichte ihm nun auch noch die Tatsache zum Vorteil, daß die Maschine über eine Anti-Radar-Vorrichtung verfügte. »Ja, und es funktioniert auch tatsächlich!« hauchte Kutusow heiser. »Es funktioniert sogar verdammt gut!« »Weiß der Amerikaner darüber Bescheid?« meldete sich Andropow zum erstenmal zu Wort. Alle Köpfe wandten sich dem sympathischen, umgänglichen Vorsitzenden des KGB zu. 181
Er schien von der Tatsache gänzlich unberührt, daß einer seiner Offiziere eben monumental versagt hatte. Wladimirow lächelte schmallippig und betrachtete den Mann auf der anderen Seite des Tisches prüfend – Andropow, der eher wie ein aalglatter, wohlhabender Geschäftsmann aus dem Westen wirkte und in dem niemand den Chef des einflußreichsten Geheimdiensts der Welt vermutet hätte. »Natürlich weiß er davon«, entgegnete Wladimirow mit eisi ger Stimme. »Ihr Sicherheitsnetz muß eine ganze Menge Lö cher gehabt haben, daß der CIA überhaupt so weit kommen konnte.« Der Parteichef schlug mit der Handfläche klatschend auf den Tisch, so daß die Projektionsfläche leicht ins Vibrieren geriet. »Keine Anschuldigungen, habe ich gesagt. Ein für allemal Schluß damit! Ich denke, wir sollten lieber etwas unternehmen, Wladimirow – und zwar schnell! Wieviel Zeit haben wir noch?« Wladimirow sah auf seine Uhr. Es war sechs Uhr zweiund zwanzig. Die Mig war vor sieben Minuten gestartet. »Er hat mindestens eineinhalbtausend Kilometer vor sich, bis er irgendeine russische Grenze erreicht, Herr Parteisekretär. Um Treibstoff zu sparen, wird er größtenteils nicht mit Schall geschwindigkeit fliegen, zumal er auf diese Weise auch we sentlich weniger leicht aufzuspüren sein wird. Wir haben also mehr als eine Stunde Zeit, selbst wenn er direkt …« »Eine Stunde?« Dem Parteichef wurde in diesem Augen blick bewußt, daß er sich hier in einem fremden Element be fand, in dem andere Zeitmaßstäbe galten, und er fügte hinzu: »Das wird reichen. Was schlagen Sie vor, Kutusow?« »Wie schon Wolfsrudel-Kommandant Wladimirow gesagt hat, Herr Parteisekretär, eine sektorenweise ZickzackDurchsuchung. Wir müssen eine Suchaktion für dieses Flug 182
zeug einleiten, und zwar eine Suchaktion, die auf rein visueller Basis operiert. Wir müssen ein regelrechtes Netz von Flugzeu gen in die Luft schicken, damit er sich darin verfängt. Unsere Wolfsrudel- und Bärenjagd-Geschwader wissen, was sie zu tun haben. Sie werden in der Richtung, in der er fliegt, den Luft raum so effektiv abdecken, daß er keine Chance hat, durchzu kommen. Sie müssen nur in umgekehrter Reihenfolge wie bei einem normalen Feindangriff in Aktion treten. Die BärenjagdGeschwader werden etwa fünfhundert Kilometer innerhalb unserer Landesgrenzen mit der Suche nach dem Amerikaner beginnen, und dann wird das Wolfsrudel an der Grenze selbst einschreiten.« »Ich verstehe.« Für eine Weile versank der Parteichef in nachdenkliches Schweigen und fügte schließlich hinzu. »Also gut, einverstanden.« Mit diesem kurzen Satz nahm die gequälte Spannung, die über dem Raum lag, mit einemmal merklich ab. »Vielen Dank, Herr Parteisekretär«, sagte Wladimirow und stand auf, um die Karte auf dem Tisch vor sich zu studieren. »Blenden Sie die Bärenjagd-Positionen ein«, ordnete er nach einer Weile an. Während er nun beobachtete, wie sich die Anzahl der farbi gen Punkte auf der Karte zusehends vermehrte, strich er mit der Hand kurz über den Tisch und sagte mit einem grimmigen Lächeln: »Luftraumdurchsuchung in SSS-Folge, Geschwader in Weiß durch rote Sektoren und Grün durch braune Sektoren. Die Bärenjagd-Geschwader gehen nach demselben Schema vor – G durch N.« Er rieb sich das Kinn und lauschte dem Rattern der Kodierapparate, die ein junger Oberst mit drei weiteren Leuten hinter ihm bediente. Dann wandte er sich wieder dem Parteichef zu und fragte: »Was ordnen Sie an, wenn sie die Mig sichten?«
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Dieser sah ihn mit blitzenden Augen an und erwiderte: »Ich möchte mit diesem Amerikaner sprechen. Sehen Sie zu, daß Sie die Frequenz herausfinden. Und wenn er das Flugzeug nicht unseren Anweisungen gemäß landet, werden wir es zer stören müssen – und zwar vollständig!« Der Inertial-Navigator des Firefox war im Instrumentenbrett durch eine kleine Anzeigetafel, ähnlich einem Taschenrechner, repräsentiert. Sie war auch mit einer Reihe von Knöpfen verse hen, deren Aufschrift zum Beispiel lautete: »Flugbahn«, »Ziel richtung«, »Bodengeschwindigkeit« und »Koordinaten«. Der Pilot konnte damit die jeweiligen navigatorischen Informatio nen in den Bordcomputer eingeben, worauf dieser zum Bei spiel die Entfernung berechnete und anzeigte und die dafür benötigte Zeit angab. Wurden diese Daten nun von einem be stimmten Ort und Zeitpunkt an dem Computer eingegeben, registrierte dieser Richtungs- und Geschwindigkeitsänderungen und legte sie der Positionsbestimmung der Maschine zugrunde. Dabei war es jedoch üblich, diese Positionsbestimmung durch konventionellere Mittel zu überprüfen – wie zum Beispiel die visuelle Orientierung an der Landschaft unter der Maschine. Gant hatte nun eine Verabredung im Luftraum nordwestlich von Wolgograd einzuhalten, und zwar mit der Morgenmaschi ne aus Moskau. Falls nämlich diese Maschine ihn sichtete, würde daraus allgemein geschlossen werden, daß er auf die südliche Grenze der Sowjetunion zustrebte. Und ihm war sehr viel daran gelegen, die Männer, welche die Suche nach ihm organisierten, in diesem Glauben zu lassen. Er drosselte die Geschwindigkeit auf knapp über sechshun dertfünfzig Knoten herunter. Bis jetzt hatte er mit dem Firefox die Schallmauer noch nicht überschritten, da er in seiner ge genwärtigen Flughöhe von fast viertausendfünfhundert Metern
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eine akustische Spur hinterlassen hätte, die jeden, der nur Oh ren hatte, schnellstens auf ihn aufmerksam gemacht hätte. Bis zu seinem Rendezvous in der Luft waren es noch dreiund zwanzig Minuten. Der Himmel vor ihm erstrahlte in einem klaren, blassen Blau. Die aufgehende Sonne brach sich in dem getönten Visier seines Helms. Gant hatte kein Interesse für die endlose Step penlandschaft unter ihm. Seine Augen lösten sich kaum einmal vom Armaturenbrett, wobei sein besonderes Augenmerk dem Radarschirm galt, der ihn auf nahende Flugzeuge oder Raketen aufmerksam gemacht hätte. Eine der ECM-Apparaturen, hin sichtlich deren Funktion ihn Baranowitsch noch am letzten Abend aufgeklärt hatte, zeichnete sämtliche Radar-Emissionen in dem Terrain, das er jeweils überflog, auf. Die Nase, wie Ba ranowitsch diesen Mechanismus genannt hatte, erschnüffelte sozusagen alle nach ihm ausgesandten Radarsignale. Gant er schien die Nase nutzlos, da der Firefox aufgrund seiner AntiRadar-Ausstattung sowieso auf keinem Radarschirm zu sehen sein würde. Gant wußte bereits, welche Formen die Jagd auf ihn anneh men würde. Die Russen würden schließen, daß er entweder in nördlicher oder in südlicher Richtung zu entkommen versuchen würde. Er wußte, daß die Bärenjagd-Geschwader nach ihm suchen würden, und er vermutete auch, daß die Russen ihre Geräuschdetektionsanlagen – in Nato-Kreisen unter der Be zeichnung »Große Ohren« bekannt – einsetzen würden, die im dünn besiedelten Inneren Rußlands errichtet worden waren, um niedrig fliegende Flugzeuge aufzuspüren, die durch das Radar abfangnetz geschlüpft waren. Gant hatte keine Ahnung, wie viele es von diesen Anlagen gab oder wie genau sie Maschinen orten konnten, die schneller als tausend Stundenkilometer flo gen. Ebensowenig wußte er, ab welcher Höhe sie außer Kraft gesetzt waren.
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Gant hatte keine Ahnung, wie und wo genau seine Maschine eigentlich aufgetankt werden sollte. Das Ganze war für ihn nur eine Folge verschiedener Koordinaten, die er sich eingeprägt hatte und die er dem Inertial-Navigator eingeben sollte. Er hielt am Funk den Kanal offen, über den er von Biljarsk aus erreicht werden konnte. Gant erwartete, ja hoffte sogar, daß man dort versuchen würde, in Funkkontakt mit ihm zu treten. Sobald er sich meldete, würde im Umkreis von dreihundert Kilometern jeder, der über eine UDF-Anlage verfügte, nicht nur seinen Funkspruch auffangen können, sondern es wurde dadurch auch möglich, mit Hilfe zweier weiterer fixer Linien fast unmittelbar seine Position zu bestimmen, was in seinem Fall wiederum nur dazu beitragen würde, die Sowjets in dem Glauben zu lassen, er flöge nach Süden. Gant vermutete, daß die Funkstille seit dem Start darauf zu rückzuführen war, daß die Leitung der Operation inzwischen von der Kommandozentrale an Bord der Tupolew des Partei chefs übernommen worden war. Und dann erwachte das Funkgerät plötzlich knackend zu neuem Leben. Er erkannte die Stimme aus Nachrichtensendun gen und Interviews – sie gehörte dem Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei. Unwillkürlich flogen seine Augen über die Armaturen vor ihm, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung war. »Ich spreche zu der Person, die das Eigentum der UdSSR gestohlen hat«, meldete sich die Stimme ruhig. »Können Sie mich hören, Mr. Gant? Ich nehme an, daß Sie Ihren militäri schen Rang niedergelegt haben, seit Sie – sollen wir vielleicht sagen, für andere Personen – arbeiten.« Seine Ausdrucksweise und seine Vorsicht entlockten Gant ein Lächeln. Seit dem U-2-Zwischenfall waren die Russen ganz schön vorsichtig, dachte Gant. Obwohl er Amerikaner war, wurde
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noch keineswegs offen ausgesprochen, daß er für den CIA ar beitete. Er antwortete: »Ich höre; sprechen Sie weiter.« »Haben Sie einen guten Flug, Mr. Gant? Gefällt Ihnen Ihr neues Spielzeug?« »Es könnte besser sein«, erwiderte Gant lakonisch. »Aha, Mr. Gant – die Meinung eines Experten.« Fast konnte Gant den kräftigen Mann mit dem ausdrucks starken quadratischen Gesicht vor dem Funkgerät in der Kom mandozentrale sitzen sehen, während um ihn herum hektisches Getriebe herrschte. Zweifelsohne hatte ihm bereits jemand die genauen Angaben seiner augenblicklichen Position auf einem Stück Papier untergeschoben. In diesem Augenblick waren sie beide jedoch allein – der Mann in dem Flugzeug und der ande re Mann, mit der Macht eines Gottes in Händen. Und doch lagen sämtliche Trümpfe in Gants Hand, schien die Stimme auszudrücken. Gant ließ sich nicht täuschen. Er war sich der fieberhaften Intensität bewußt, mit der man ihn jagte. Er sollte wie ein Fisch an der Leine gehalten werden, bis sie ihn fanden. »So könnte man es nennen«, entgegnete Gant. »Wollen Sie mir nicht drohen, oder etwas in der Art?« »Das können Sie durchaus haben, wenn Sie nicht anders wollen«, kam die Antwort gelassen. »Aber zuerst möchte ich Sie nur bitten, daß Sie zurückbringen, was Ihnen nicht gehört.« »Und dann werden Sie so tun, als ob nichts geschehen wäre, wie?« Darauf ertönte am anderen Ende so etwas wie ein leises La chen. »Ich nehme doch nicht an, daß Sie das denken, oder, Mr. Gant? Nein, natürlich nicht. Der CIA wird Sie selbstverständ lich mit allem möglichem Blödsinn über die Lubjanka und den Geheimdienst der Sowjetunion vollgestopft haben. Nein. Alles,
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was ich Ihnen anbieten kann, ist, daß Sie mit dem Leben da vonkommen werden, wenn Sie auf der Stelle umkehren. Unse ren Berechnungen zufolge wären lediglich vierzig Flugminuten erforderlich, um Sie wieder hier über Biljarsk auftauchen zu sehen. Bis jetzt hat ja tatsächlich alles bestens geklappt, Mr. Gant, wie Sie wohl sagen werden, aber nun ist das Spiel mit Sicherheit aus!« Gant wartete eine Weile, bevor er antwortete: »Und was wä ren die Alternativen …?« »Sie werden vernichtet werden, Mr. Gant; nicht mehr und nicht weniger als das. Wir werden nicht zulassen, daß Sie die Mig-31 dem Geheimdienst Ihres Landes aushändigen. Das werden wir auf keinen Fall dulden.« »Ich verstehe. Aber dann lassen Sie mich Ihnen etwas sagen: Ich mag dieses Flugzeug. Es gefällt mir. Und deshalb glaube ich, daß ich es im Augenblick noch behalten möchte …« »Aha. Wie Ihnen wohl klar sein dürfte, Mr. Gant, geht es mir in diesem Fall nicht um das Leben eines zwielichtigen Piloten, um dessen Gesundheit es nicht sonderlich gut bestellt ist. Ich hoffte nur, die Millionen von Rubeln zu retten, die in dieses Projekt gesteckt wurden. Aber davon halten Sie offensichtlich nichts. Dann eben gut. Und vergessen Sie nicht, daß Sie Ihr Ziel, wo immer es auch liegen mag, nicht erreichen werden. Auf Wiedersehen, Mr. Gant.« Gant schaltete den Kanal aus und lächelte. Das einzige, weswegen er sich Sorgen hätte machen müssen, das einzige, was seine Vorteile hätte zunichte machen können, brannte in der Flugzeughalle in Biljarsk – der zweite Firefox. Falls sie es wirklich schafften, ihn aufzuspüren, und ihm die gleichwertige Maschine nachschickten … Er zuckte mit den Achseln. Die Verkehrsmaschine von Moskau nach Wolgograd traf ihn völlig unvorbereitet. Plötzlich blitzte, von einer metallischen
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Fläche reflektiert, ein Sonnenstrahl auf, und schon war er auch darüber hinweggeschossen. Unter den Witterungsbedingungen der frühen Morgenstunde dieses Tages war der Kondensstrei fen erst sehr spät sichtbar geworden. Er schaltete den AutoPiloten ab. Der Firefox neigte sich zur Seite, und während Gant spürte, wie der Druck in seinem Anzug leicht zunahm, um dann wie der nachzulassen, zog er die Maschine herum. Der metallisch hart aufblitzende Rumpf der Tupolew Tu-134 befand sich nun fast direkt vor ihm. Er mußte ihrer Besatzung Gelegenheit bie ten, ihn und den Firefox visuell eindeutig identifizieren zu können – und sie mußten ihn sehen, wie er in südlicher Rich tung flog. Er schwenkte nach backbord und beschleunigte. Er entfernte sich von der Verkehrsmaschine und verlor sie aus den Augen. Sie war nur noch als ein grünes Aufleuchten in der Mitte seines Radarschirms vorhanden. Als er sich sicher war, daß er sich nun wieder hinter der Tupolew befand, beschleunigte er, um sie in einem weiten Bogen zu überholen und dann wieder auf seinen alten Kurs zu gehen. Und als dann die Verkehrsmaschi ne steuerbord wieder auftauchte, öffnete Gant die Drosselventi le und ließ den Firefox im Kollisionskurs auf die Tupolew zu schießen. Er zweifelte keinen Augenblick daran, sich in der Entfer nung verschätzt zu haben. Er legte die Maschine auf die Seite und schwenkte vor der auf ihn zukommenden Tupolew ab. Auf diese Weise mußte ihn die Crew im Cockpit der Verkehrsma schine auf jeden Fall bemerkt haben – und sich wundern, wes halb er auf ihrem Radarschirm nicht zu sehen gewesen war. Der schmale Rumpf und die gewaltigen Düsen eines unbekann ten Flugzeugtyps würde auf diese Weise sicher sehr lebhaft im Gedächtnis des Piloten und seiner Mannschaft haften bleiben. Während er den Firefox nun dreihundert Meter unter die Tupo 189
lew abfallen ließ, konnte er mit einem zufriedenen Lächeln den russischen Piloten bereits per Funk über den Vorfall aufgeregt Meldung erstatten hören. Der Boden schoß mit rasender Geschwindigkeit auf den Fi refox zu, als er aus viertausendfünfhundert Metern Höhe zum Sturzflug ansetzte. Erst sechzig Meter über der flachen Step penlandschaft fing Gant die Maschine ab, während er selbst in seinen Sitz gepreßt wurde und der Druck in seinem Anzug un angenehm anstieg. Für einen Augenblick trübte sich sein Blick, doch dann war er bereits wieder imstande, die Instrumente ab zulesen. Er schaltete den Auto-Piloten wieder ein und fütterte dem Inertial-Navigator die nächsten Koordinaten ein, die er sich genauestens eingeprägt hatte, worauf der Firefox automatisch auf seinen neuen Kurs einschwenkte. Er war gesehen worden, und das würde sie in ihrer Überzeugung bestätigen, daß er nach Süden flog. Aber nun galt es, die Geschwindigkeitskapazität des Firefox zumindest zum Teil etwas besser zu nutzen. Er öffnete die Drosselventile und beobachtete, wie die Drehzahl messer ausschlugen, die zusammen mit dem Mach-Zähler die einzigen Anzeichen waren, daß er schneller als der Schall flog. Er flog nun in östlicher Richtung auf den Ural zu, um dann entlang des Ostabfalls der Bergkette nach Norden zu fliegen. Zwar konnte er nicht das volle Geschwindigkeitspotential des Firefox ausnutzen, aber er beobachtete doch mit Genugtuung, wie der Zeiger des Mach-Zählers immer weiter ausschlug … Mach 1; 1,1; 1,2; 1,3; 1,4; 1,5 … Unter ihm schoß die flache, öde Weite der Steppe immer ra scher davon. Nun kehrte die Klarheit und die Freude, die er während der ersten Momente des Fluges verspürt hatte, wieder zurück. Er flog mit Sicherheit das großartigste Flugzeug, das je gebaut worden war. Und dies war das Zusammentreffen dieses Flugzeugs und des einzigen menschlichen Wesens, das gut 190
genug war, es wirklich zu fliegen. Sein kalt berechnender Egoismus hatte sich erfüllt. Daß er trotz der geringen Flughöhe visuell gesichtet wurde, verlor zusehends an Wahrscheinlich keit, und darüber hinaus war die akustische Spur, die er in einer Höhe von sechzig Metern hinterließ, so verschwindend gering, daß sie in diesen menschenleeren Regionen schwerlich jeman dem hätte auffallen können. Nur die »Großen Ohren« galt es auf jeden Fall zu meiden. Allerdings hatte er hinsichtlich ihrer Lage und Kapazität nicht die geringste Ahnung. Solange er jedoch entlang des Ural flog, würde das von den Berghängen zurückgeworfene Echo die Apparaturen zur Feststellung der Fluggeräusche in ihrer Funktionstüchtigkeit erheblich beein trächtigen. In einem plötzlichen Stimmungsumschwung fühlte sich Gant mit einemmal nackt und schutzlos; sein psychisches Gleichge wicht schien bedroht. Er mußte in Deckung gehen. Wider bes seres Wissen stieß er die Drosselventile nach vorn und beo bachtete mit Genugtuung, wie der Zeiger des Mach-Zählers weiter nach rechts ausschlug. Mach 1,8; 1,9; Mach 2; 2,1; 2,2 … Er wußte, daß er auf diese Weise kostbaren Treibstoff ver schwendete, aber er zog die Drosselventile nicht zurück. Er wartete, bis der Zeiger auf Mach 2,6 stand, um diese Ge schwindigkeit dann konstant einzuhalten. Inzwischen schoß das Gelände nur noch in verschwommenen Fetzen unter ihm hindurch. Er befand sich, in vollkommener Abgeschiedenheit von der Welt, in einem geräuschlosen Kokon. Als er schließ lich TFR (Terrain Following Radar) einschaltete, das nun ver mittels des Auto-Piloten die Funktion seiner Augen und Reak tionen übernahm, begann er sich wieder sicher zu fühlen. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, vor Erreichen der ersten UralAusläufer darauf zurückzugreifen, aber angesichts seiner ge genwärtigen Fluggeschwindigkeit von nahezu dreitausend
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zweihundert Stundenkilometern erwies sich dies als unum gänglich notwendig. Der Firefox flog nun von selbst. Der Ural war nur noch wenige Flugminuten entfernt, und in seinem Schutz würde Gant die Kontrolle über den Firefox wieder selbst übernehmen. Allmählich begann sein Wohlgefühl wieder zurückzukehren. Die bloße Geschwindigkeit des Flugzeugs betäubte seine Nervenenden. Der Zeiger des Mach-Zählers, der reglos über der Ziffer 2,6 stand, lag mit beruhigender Klarheit im Mittelpunkt seines Gesichtsfeldes. Wenn er auch bei dieser Geschwindigkeit unersetzliches Kerosin vergeudete, war im merhin so gut wie ausgeschlossen, daß jemand den Firefox mit bloßen Augen sehen konnte. Er befand sich in Sicherheit … »Würden Sie bitte auf der Stelle die verschiedenen Anlauf stellen zum Wiederauftanken der Maschine alarmieren?« sagte Aubrey freundlich. Er sprach über ein speziell abgesichertes Telefon mit Luftwaffen-Commodore Latchford in der Kom mandozentrale in High Wycombe. Eben hatte er von Latchford die Meldung erhalten, daß Gant in Biljarsk tatsächlich der Start geglückt war. Vermittels AEWR (Airborne Early Warning Ra dar) waren Anzeichen festgestellt worden, daß die Grenzge schwader der Roten Luftwaffe eine großangelegte Suchaktion gestartet hatten. Darüber hinaus zeigten sich innerhalb der Funküberwachung Anzeichen eines äußerst regen kodierten Funkverkehrs zwischen einzelnen Abteilungen der Roten Luftwaffe und zwischen dem Parteichef, dem Admiral der Ro ten Nordmeerflotte und den sowjetischen Schiffen im Mittel meer. Und all dies deutete eindeutig darauf hin, daß Gant in Biljarsk mit dem Firefox vom Boden abgehoben war. Latchford bestätigte die sofortige Alarmierung beider Wie derauftankstationen, die nun mit der Aussendung des Ortungs signals begannen, das auf die spezielle Frequenz der kleinen schwarzen Box einjustiert war, die Gant damals in dem Transi 192
storradio durch die Zollkontrolle geschmuggelt hatte und die Gant jetzt die Flugrichtung anzeigen würde. »Mutter zwei und Mutter drei werden jetzt in Alarmbereit schaft gehen«, sagte der Commodore. »Um Mutter eins müssen Sie sich selbst kümmern. Oder zumindest nehme ich an, daß Sie das tun werden, da ich nicht die geringste Ahnung habe, wo sie sich befindet.« Am anderen Ende der Leitung war ein leises Kichern zu hören. Latchford hatte über den Standort der beiden Ausweichanlaufstellen zum Auftanken des Firefox in Kenntnis gesetzt werden müssen, wohingegen man ihn hinsichtlich der »Tankstelle«, die Gant aller Wahrscheinlichkeit nach benützen würde, im Ungewissen ließ. »Jawohl. Captain Curtin wird sich um Mutter eins küm mern«, versicherte ihm Aubrey und fügte dann noch hinzu: »Und vielen Dank, Commodore; Ihre Nachricht war, wenn ich es einmal so sagen darf, für uns wie ein Sonnenstrahl am düste ren Wolkenhimmel; vielen Dank.« Für einen Moment lauschte Aubrey noch Latchfords kehligem Kichern und legte dann den Hörer auf. Die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, beobachtete Buckholz ihn prüfend, als Aubrey aufsah. »Haben sie es bestä tigt? Deutet das alles nicht nur darauf hin, daß sie unseren Freund geschnappt haben?« wollte er wissen. Aubrey schüttelte den Kopf. »Nein, mein lieber Buckholz. AEW-Radar bestätigt die erwartete Aktivität von Seiten der sowjetischen Luftwaffe, und zwar sowohl an den nördlichen Grenzen wie im Süden. Gant befindet sich in der Luft!« Buckholz atmete tief aus und ein. Als er sich darauf Anders zuwandte, der neben ihm schon fast eingeschlafen war, grinste er mit der Zufriedenheit eines Kindes. »Gott sei Dank«, flüsterte er kaum hörbar. Die darauf eintretende Stille wurde durch Curtin unterbro 193
chen, der unter lautem Knarzen von seiner Leiter stieg. Auf dem Boden angekommen, sagte er zu Aubrey: »Als ich mich für diesen Job gemeldet habe, dachte ich eigentlich nicht, ich müßte hier nur die Botendienste erledigen. Soll ich jetzt Wa shington verständigen, daß sie dort Mutter eins alarmieren, Mr. Aubrey?« Aubrey nickte. »Ja, mein Junge, tun Sie das bitte. Das heißt, falls das Wetter noch so lange anhält.« Curtin ging zu der Karte zurück, ergriff einen Zeigestab und tippte damit auf eine Wetteraufnahme von einem Satelliten, die hoch oben an der Wand befestigt war. »Das ist die letzte – von zwei Uhr. Alles klar.« »Und wie sieht es mit Mutter eins aus?« »Alles bestens. Sie bewegt sich in einer Region mit abbrök kelndem Packeis langsam in Richtung Süden. Sie hält den Kurs.« »Gut, dann lassen Sie sich schon mal mit Ihren Leuten ver binden, Captain. Mutter eins, ab jetzt gilt es.« Bevor Curtin noch den Anruf erledigen konnte, wurden sie durch das Rattern des Fernschreibers aus dem Code-Raum auf geschreckt. Shelley riß den Papierstreifen von der Maschine. »Das hat erst vor wenigen Minuten die Funküberwachung aufgefangen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln auf sei nem müden Gesicht. »Sie haben den Funkverkehr der russi schen Verkehrsmaschinen abgehört.« »Aha«, bemerkte Aubrey. »Und …?« »Er wurde nordwestlich von Wolgograd gesehen – hätte fast eine Verkehrsmaschine gerammt, die ihn dann jedoch aus den Augen verlor. Der Pilot konnte gar nicht mehr zu schreien auf hören, bis ihn schließlich jemand beruhigte.« »Wunderbar!«
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Aubrey besah sich das kleine Stück Papier und reichte es dann Buckholz, der zu ihm herübergekommen war und sich auf seinen Schreibtisch gesetzt hatte. Buckholz starrte den Papierstreifen ungläubig an, als müßte er erst überzeugt werden, und murmelte dann: »Wirklich ver dammt gut.« Er sah Aubrey in die Augen und fügte hinzu: »So weit, so gut also.« »Ganz recht, mein lieber Buckholz. Können wir nur hoffen, daß die Russen jetzt im Süden ordentlich zu suchen anfangen.« Er rieb sich das Kinn. »Ich mache mir allerdings immer noch wegen der ›Großen Ohren‹ Sorgen – Sie wissen ja. Gant wird ja auf dem Weg nach Osten zum Ural einen Höllenlärm ma chen.« »Das ist keine Kriegssituation, mein lieber Kutusow«, erklärte der Parteichef in seinem Sessel vor dem runden Tisch. Sein Blick war fest auf den Marschall ihm gegenüber gerichtet, der seinerseits unfähig schien, den Blick von der Karte vor ihm zu wenden. Scheinbar widerstrebend hob er schließlich doch den Kopf und sah den Parteichef an. »Sie haben angeführt, dies könnte eine Art gigantischer Bluff von Seiten der Amerikaner sein, Genosse Parteisekretär, um uns vom Norden abzulenken, während diese Maschine nach Süden zu entkommen versucht.« Das war keine Frage. Marschall Kutusow meinte seinen Vorschlag offensichtlich ernst. Mit einem Seufzen erwiderte der Parteichef: »Nein, Kutu sow. Es handelt sich dabei um eine reine CIA-Angelegenheit, die natürlich zweifellos durch den Präsidenten und das Penta gon unterstützt wird.« Er hob seine Hände von der Tischplatte, um einer Unterbrechung vorzubeugen. »Aber letztlich handelt es sich dabei um nichts weiter als um einen vereinzelten Hand
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streich. Gut durchdacht, natürlich; langfristig vorbereitet; sorg fältig geplant und durchgeführt – jawohl. An all dem besteht kein Zweifel. Aber das ist keine Kriegssituation! Nein. Die CIA wird sicher dafür gesorgt haben, daß dieser Verrückte ir gendwo auftanken kann – unsere Computer werden uns sicher sagen können, welche Stellen dafür am ehesten in Frage kom men. Aber wenn wir die Mig-31 abschießen – und selbst wenn wir die Auftankstelle vernichten –, werden sich die Amerikaner einfach nur dumm stellen, wie sie das selbst nennen. Sie wer den nichts unternehmen. Und ich möchte, daß Ihnen allen …«, er hob seine Stimme, so daß sich plötzlich aller Augen auf ihn richteten, »… Ihnen allen eines klar ist: Wenn es uns gelingen sollte, die Maschine zu zerstören oder zurückzubekommen, werden wir von der ganzen Angelegenheit nichts mehr hören.« »Sind Sie sich dessen sicher?« warf Kutusow ein. Seine Miene drückte den Wunsch aus, sich von der Auffassung des Parteichefs überzeugen zu lassen. »Ja, ich bin mir sicher. Die Amerikaner und die Briten wol len dieses Flugzeug, weil sie sich des in ihm steckenden Poten tials voll bewußt sind. Beide Länder sahen sich während der letzten Jahre zu einschneidenden Kürzungen ihres Verteidi gungshaushalts gezwungen – und zwar insbesondere, was den Bereich der Forschung anbelangt. Und deshalb haben sie, so viel wir wissen, noch nicht einmal auf dem Reißbrett etwas, was der Mig-31 auch nur annähernd das Wasser reichen könnte – und dies, obwohl vor ein paar Jahren, wie Sie alle wissen, die Mig-25 ohne ihr Zutun in ihre Hände gefallen ist.« In diesem Augenblick warf er kurz einen vorwurfsvollen Blick zu Andropow hoch, der an seiner Seite stand. »Vorsit zender Andropow, die Sicherheitsvorkehrungen für dieses Pro jekt waren – verheerend!« Andropow nickte langsam. Wladimirow, der neben Kutusow stand, spürte, wie aufgebracht der Mann war. Und er verstand 196
auch den unterdrückten Ärger des Parteichefs, der ihn zu dieser eisigen Bemerkung verleitet hatte. »Ja, leider, Herr Parteisekretär. Ich kann mich erinnern, daß Marschall Kutusow und General Wladimirow nach den ersten Tests den Wunsch äußerten, die Sicherheitsmaßnahmen zu intensivieren.« Er lächelte kalt. »Wie es scheint, hatten sie da mit recht.« »Die Amerikaner haben viel zuviel gewußt«, grollte Kutu sow. Der Parteichef hob die Hand. Ihm war bewußt geworden, daß er damit eben wieder eine neuerliche interne Rangelei zwi schen dem Militär und dem KGB initiiert hatte. »Lassen wir das vorerst«, warf er ruhig ein. »Damit können wir uns später näher befassen. Wie aus den ersten Fragen des Vorsitzenden hervorgegangen ist, hat Oberst Kontarskij sich hier auf ein gefährliches Spiel eingelassen – und er hat verlo ren.« Andropow, an der Seite des Parteichefs, nickte bedächtig und blickte dann über den Tisch. Weder Kutusow noch Wladimirow sagten etwas. Kontarskij hatte auf eigene Faust gehandelt. Er hatte versucht, durch das Biljarsk-Projekt seine Beförderung voranzutreiben und sich einen Namen zu machen. Dies war nicht das erste Mal, daß so etwas geschah. 1967 hatte der für die Geheimdienstüberwa chung im Mittleren Osten zuständige KGB-Offizier für den Kreml und Ägypten lebensnotwendige Informationen hinsicht lich der israelischen Kriegsvorbereitungen zurückgehalten, bis ihm die Israelis mit ihrem Angriff zuvorkamen. Der Mann war kurz darauf liquidiert worden. Auch Kontarskij würde sein Versagen mit dem Leben bezahlen. Es klopfte an die Tür. Der KGB-Leibwächter des Parteichefs öffnete und nahm von einem Mann in einem weißen Mantel einen Stoß Papiere entgegen. Darauf wurde die Tür wieder
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geschlossen. »Vielen Dank«, sagte der Parteichef. Er sah die Papiere ei nen Augenblick lang durch, um dann aufzublicken und sie Ku tusow weiterzureichen. »Erklären Sie mir, was das bedeutet.« Der Marschall zog eine alte Nickelbrille aus seiner Brustta sche und machte sich an das Studium der Papiere. Das leise Flüstern der Funker und Code-Leute im Hintergrund reichte kaum aus, um das leise Rascheln zu übertönen, das entstand, wenn der Marschall umblätterte. Schließlich nahm er die Brille wieder ab und reichte die Papiere Wladimirow. Mit einem Husten hauchte er heiser: »Es ist ein Schadensbe richt über die zweite Mig, Herr Parteisekretär, wie Sie sicher schon festgestellt haben werden. Allem Anschein nach ist es den Dissidenten nicht gelungen, die Maschine außer Betrieb zu setzen.« In diesem Augenblick wurde Wladimirow mit einem Schlag bewußt, daß genau dies der deus ex machina war, auf den die im Raum versammelten Männer voller Verzweiflung gewartet hatten. Sie waren der festen Überzeugung, daß sie den fliehen den Amerikaner würden stellen können, wenn es ihnen nur gelang, ihm den zweiten Prototyp rechtzeitig hinterherzuschik ken. Er verkniff sich das Lächeln, das sich bereits auf seinen Lippen hatte breitmachen wollen. »Wie schnell – wie schnell kann die Maschine flugfertig gemacht werden. Wann kann sie frühestens starten?« fragte der Parteichef, und diesmal war die Aufregung in seiner Stimme deutlich zu spüren. »Etwa in einer Stunde – vielleicht auch schon früher«, warf Wladimirow nach einem kurzen Blick auf die Papiere in seiner Hand ein. »Die Maschine wäre an sich startbereit gewesen, aber sie muß erst von dem Löschschaum gesäubert und be waffnet werden.«
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»Aber wir müssen doch erst wissen, wo er genau ist«, warf der Marschall mit seinem heiseren Hauchen ein. Wladimirow nahm zur Kenntnis, daß sein Vorgesetzter offensichtlich nicht den rechten Sinn für die höflich diplomatische Atmosphäre in der Kommandozentrale hatte. Der Parteichef wollte nichts wei ter, als die zweite Maschine in der Luft zu sehen, und daher waren ihm irgendwelche Bemerkungen, die ihn an die prakti schen Schwierigkeiten in Verbindung mit der Suche und der Zerstörung des Firefox erinnerten, nicht unbedingt willkom men. »Das weiß ich, Kutusow!« fuhr der Parteichef den alten Marschall an und brachte ihn zum Schweigen. Dann ließ er seine Blicke in die Runde schweifen, als wüßten die gebeugten Rücken der Funker eine Antwort auf seine Fragen. Wladimirow konnte die Verzweiflung unter der eisig gelas senen Maske, hinter der starken Persönlichkeit des Parteichefs spüren. Für ihn lag alle Hoffnung in der intensiven Durchsu chung des Luftraums, zugleich nagte aber in seinem Hinterkopf ein schwacher Zweifel. Irgend etwas an der Tatsache, daß die Mig-31 nordwestlich von Wolgograd gesichtet worden war, ließ ihm keine Ruhe. Selbst ein ehemaliger Kampfflieger, erweckte alles Offensicht liche seinen Verdacht. Er hatte sich gezwungen gesehen, die Qualitäten dieses amerikanischen Piloten anzuerkennen. Nach dem er seine KGB-Akte studiert hatte, stand für ihn außer Fra ge, daß die Wahl der CIA zurecht auf diesen Mann gefallen war. Und Wladimirow hatte das Gefühl, Gant zu verstehen; er verstand das zwingende Bedürfnis dieses Mannes, die Mig zu stehlen, den Beweis zu erbringen, daß so etwas möglich war. Gant war mit Sicherheit aufs äußerste entschlossen, seine Mis sion zu Ende zu führen und die Mig in Sicherheit zu bringen.
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Nach Angaben des Piloten schien der Amerikaner durch das plötzliche Auftauchen der Verkehrsmaschine überrascht wor den zu sein. Wladimirow wußte jedoch, daß der Radarschirm an Bord des Firefox Gant lange zuvor vor dem Nahen der Tu polew hätte warnen müssen. Und Gant war alles andere als ein schlechter Pilot – vielleicht sogar der beste überhaupt, wenn die Angaben in seiner Akte tatsächlich der Wahrheit entspra chen. Selbst in einer Maschine, die ihm noch nicht vertraut war, hätte ihm unmöglich ein solcher Fehler unterlaufen kön nen. Wladimirow war sich sicher, daß die Amerikaner einen Simulator gebaut hatten, um Gant besser auf seine Aufgabe vorbereiten zu können, und fluchte dabei in Gedanken auf Kontarskij, der im Lauf der Jahre so viele Informationen an die Amerikaner hatte durchsickern lassen. Doch dies gehörte ein für allemal der Vergangenheit an. Jetzt galt es, eine Lösung für die gegenwärtigen Probleme zu finden. Wladimirow rieb sich das Kinn, während er nachdenklich auf und ab ging. Die Stimme eines Funkers, der gerade eine Nachricht wiederholte, drang deutlich an sein Ohr. Die Worte glitten jedoch über sein Bewußtsein, ohne eine Resonanz her vorzurufen. »Positive Geräuschspur, von der Anlage in Orsk …«, sagte die Stimme neben ihm. Aber in Wladimirows Kopf begann sich ein Gedanke zu formen, der ihn die Stille nicht bemerken ließ, die um ihn herum eintrat. Er sah auch nicht, wie sich der Funker umwandte und zu ihm aufsah. Und dann stand die Lösung des Problems plötzlich mit über deutlicher Klarheit vor ihm. Infrarot. Die Piloten würden sich bei ihrer Durchsuchung des Luftraums nicht ausschließlich darauf verlassen müssen, die Mig-31 mit bloßen Augen zu ent decken, sondern sie würden sich auch ihrer wärmegesteuerten Infrarot-Zielvorrichtung bedienen können, mit der sich Punkte starker Erhitzung, wie sie zum Beispiel die Düsen eines Flug 200
zeugs darstellten, feststellen ließen. Nachdem zwar eine Radar erfassung des Firefox aufgrund des Anti-Radar nicht möglich war, würde die Erhitzung seiner Düsen das Flugzeug doch auf jedem Infrarotschirm erscheinen lassen. Dieses System war zwar bei weitem nicht so effektiv wie Radar, würde sich bei der Suche nach der Mig-31 jedoch trotzdem als wertvolle Hilfe erweisen. Und nun wurde Wladimirow sich erst wieder bewußt, daß der Funker schon eine ganze Weile verwundert zu ihm auf schaute. »Ja?« sagte er schließlich. »Was haben Sie da gerade ge sagt?« »General, wir haben eine bislang nicht identifizierte Ge räuschspur von einem tieffliegenden Flugzeug, dessen Ge schwindigkeit über Mach 2 betrug; sie wurde von einer mobi len Anlage westlich von Orsk aufgefangen.« »Wo ist Orsk?« fuhr Wladimirow den jungen Mann am Funkgerät an, dessen Aufregung eine ansteckende Wirkung zu haben schien. Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, wandte sich der General dem Mann zu, der für die Einblendung der verschiedenen Karten auf dem Kommandotisch zuständig war. »Orsk! Legen Sie schon eine Karte von dieser Region ein.« Und dann fiel es ihm plötzlich ein. »Das liegt an der Südspitze des Ural …« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn; schlag artig wurde ihm klar, daß sein Verdacht keineswegs unbegrün det gewesen war. Gant hatte absichtlich dafür gesorgt, daß er von der Linienmaschine nach Wolgograd auf dem Weg nach Süden gesehen wurde! »Was haben Sie denn, General Wladimirow?« hörte er den Parteichef fragen. Ohne sich dessen bewußt zu sein, winkte er abwehrend in Richtung der Stimme.
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»Lassen Sie sich diese Meldung bestätigen, und zwar so fort!« ordnete er in scharfem Befehlston an. Ungeachtet der zunehmenden Aufgebrachtheit, die sich auf dem Gesicht des Parteichefs ausbreitete, trat er auf den runden Tisch zu, auf den nun eine Karte der Südspitze des Ural proji ziert war. Wladimirow war damit jedoch nicht zufrieden und verlangte: »Nehmen Sie die hier wieder raus! Ich brauche eine Karte mit dem ganzen Ural, und von den Gebieten südlich und nördlich davon soll möglichst auch noch ein Stück zu sehen sein.« Unruhig trommelte er mit den Fingern gegen den Tischrand, während er wartete. Die Karte verschwand, und es wurde eine neue eingeblendet. Ohne an den Parteichef zu denken, fuhr Wladimirow nun mit dem Zeigefinger über die neue Karte – erst entlang der Gebirgskette des Ural nach Süden, in Richtung Persien und Mittelmeerraum; und dann, langsamer und nach denklicher, nach Norden. Über Nowaja Semlja machte der lan ge, schlanke Finger halt, um dann weiter nördlich vorzudringen und dann nach Nordwesten einen Bogen zum Nördlichen Eis meer zu beschreiben. Als Wladimirow schließlich wieder aufsah, geschah dies nur, um kurz den Funker anzuhören, der ihn über die Geräuschspur informiert hatte: »Geräuschspur bestätigt, Herr General. Ein Flugzeug, das einer Aufforderung, sich zu erkennen zu geben, nicht nachgekommen ist, bewegt sich in nordöstlicher Richtung auf den Ural zu. Sie haben die Spur nach dreißig Sekunden wieder verloren, bestätigen jedoch Geschwindigkeit und Flug richtung.« Gant war also der erste Fehler unterlaufen, der möglicher weise schwerwiegende Folgen nach sich ziehen konnte. Er war einer Aufforderung, sich zu erkennen zu geben, nicht nachge kommen, und damit hatte er sich verdächtig gemacht. Außer dem flog er viel zu schnell. Bei dieser Geschwindigkeit würde 202
sein Treibstoffvorrat nie so lange reichen, wie er vielleicht ge hofft hatte. Wladimirow studierte neuerlich die Karte. Gant suchte offensichtlich den Schutz der Berge des Ural. Und das konnte nur bedeuten … ja, das konnte nur bedeuten, daß er nach Norden fliegen wollte, in Richtung Barentssee. Er sah auf. Der Parteichef saß immer noch reglos in seinem Sessel. »Und?« sagte er leise. »Wenn Sie bitte auf die Karte sehen wollen, Herr Parteise kretär«, fing Wladimirow an, wobei er spürte, wie Kutusow hinter ihn trat. »Ich werde versuchen, Ihnen meine Schlußfol gerungen plausibel zu erklären.« Rasch umriß er Gants mut maßlichen Kurs. Als er damit fertig war, fügte er hinzu: »Und wir können ihn trotz seiner Immunität gegen Radar aufspüren, Genosse Parteisekretär.« Darauf entstand ein kurzes Schweigen, das Andropow, der mit über der Brust verschränkten Armen hinter dem Parteichef stand, brach, indem er mit leiser Stimme ironisch fragte: »Wie?« Wladimirow erklärte so einfach wie möglich, wie sich die wärmegesteuerten Infrarot-Zielvorrichtungen als Richtungs suchstrahl verwenden ließen. Kutusow klopfte ihm von hinten anerkennend auf die Schulter. Und in der hintersten Ecke sei nes Verstands wurde Wladimirow mit einem Schlag bewußt, daß damit die Frage der Nachfolge geklärt war, daß er der nächste Marschall der Luftwaffe sein würde. Diese Aussicht berührte ihn jedoch nicht weiter. Im Augenblick galt sein gan zes Augenmerk der Eliminierung der militärischen Bedrohung, die Gant darstellte. »Gut, General Wladimirow, sehr gut«, lobte der Parteichef. »Sind Sie einer Meinung mit dem General, Mihail Iljitsch?« Kutusow nickte. »Bedarf es dazu keinerlei Modifizierung die
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ser Infrarotgeräte?« Wladimirow schüttelte den Kopf. »Nein – lediglich einer verschlüsselten Anweisung von Ihrer oder Marschall Kutusows Seite.« Der Parteichef nickte. »Und was schlagen Sie nun also wei ter vor, Wladimirow?« »Sie müssen sofort alle Einheiten der Nordmeerflotte alar mieren, Herr Parteisekretär. Sie müssen ab sofort nach einem über Wasser oder unter Wasser …« Er brach mitten im Satz ab. Nein, ein U-Boot war völlig ausgeschlossen, und selbst ein normales Schiff war relativ unwahrscheinlich. »Sie sollen nach einem Flugzeug Ausschau halten, das die Mig an Ort und Stel le aus der Luft betanken wird.« Der Parteichef nickte. »Dann müssen wir eine Reihe von Wolfsrudel-Geschwadern abbeor dern, um ebenfalls nach diesem Mutterflugzeug zu suchen.« Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter, wo Kutusow stand. Der alte Marschall nickte. »Und schließlich werden wir sämtliche Raketenbasen der ersten Feuerkette alarmieren, da mit sie bereit sind, wenn Gant sich ihnen nähert. Auch sie sol len sich ihrer Infrarotgeräte bedienen, um die Mig aufzuspü ren.« Plötzlich stieß Wladimirow fast unmittelbar vor dem Partei chef seinen Finger auf die Karte. »Hier«, sagte er. »Genau hier. Wenn er dem Verlauf des Ural folgt, dann wird er sich am Ob busen oder an dem Golf westlich der Jamal-Halbinsel orientie ren, bevor er eine Kursänderung vornimmt, um sich mit dem Mutterflugzeug zu treffen. Wie Sie sehen, befindet er sich da mit innerhalb der Reichweite zweier fester Basen der ersten Kette. Außerdem sind da noch die mobilen Raketenbasen zwi schen den beiden stationären und natürlich die auf der Halbin sel stationierten Wolfsrudel-Geschwader.« Mit einem Lächeln auf den Lippen sah Wladimirow auf. »Es wird nur Minuten dauern, alles Nötige in die Wege zu leiten, und dann wird die 204
ser Amerikaner in die gigantischste Falle fliegen, die man sich nur denken kann.« Das Lächeln war immer noch nicht von seinen Lippen gewichen, als er hinzufügte: »Werden Sie die Genehmigung erteilen, daß jedes sowjetische Flugzeug, das die Mig sichtet, als Ziel für die Raketen fungiert – falls sich das als notwendig erweisen sollte?« Wladimirow hörte, wie Kutusow den Atem einsog, hielt sei nen Blick jedoch nach wie vor auf den Parteichef gerichtet. Nun sah er auch in den grauen Augen dieses Mannes die Frage hinsichtlich Kutusows Nachfolger-geklärt. Dieses Mal erfüllte ihn diese instinktive Erkenntnis – wenn auch nur für einen kur zen Moment – mit Freude. Der Parteichef nickte nur. »Selbstverständlich.« »Sehr gut«, bedankte sich Wladimirow. »Dann ist Gant be reits jetzt ein toter Mann.« Für den Flug über den Ural hatte Gant gute zwei Stunden gebraucht, da er inzwischen wieder mit einer Geschwindigkeit von höchstens sechshundert Knoten flog, um Treibstoff zu spa ren. Es war inzwischen kurz nach neun, und der Morgennebel begann langsam, sich aufzulösen, so daß das schwache Blau des Himmels sichtbar wurde. Gant wußte, daß er in wenigen Minuten die Karasee im Westen der Jamal-Halbinsel erreichen würde, wo er dem Inertial-Navigator wieder einen neuen Set von Koordinaten eingeben sollte. Er blickte geradeaus nach vorn. Die Sicht war schlecht. Vom Meer war noch nichts zu sehen – nur verschwommener, eintö nig grauer Dunst. Er wußte, daß er so tief wie möglich gehen mußte, wenn er damit auch riskierte, vom Boden aus gesichtet zu werden oder den Raketenbasen der ersten Feuerkette in die Arme zu laufen, die sich entlang der Nordküste Rußlands hin zog. Aber er hatte keine andere Wahl.
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Auf der Backbordseite tauchte die kleine Stadt Workuta auf, und er wußte, daß er sich auf dem richtigen Kurs befand. Die See konnte nur noch wenige Minuten vor ihm liegen. Langsam ließ er die Maschine in den nach unten zu immer dichter wer denden Nebel absinken. Plötzlich tauchte auf seinem Radarschirm ein anderes Flug zeug auf. Es war eine große Maschine, die in größerer Höhe steuerbords flog. Vermutlich handelte es sich dabei um eine Langstrecken-Aufklärungsmaschine, die möglicherweise gera de von einer Routinepatrouille über der Karasee zurückkehrte. Gant zeigte sich durch das andere Flugzeug nicht weiter be unruhigt, da er annahm, daß die elektronische Ausrüstung an Bord der Maschine, so nahe dem Heimatflughafen, bereits au ßer Betrieb gesetzt war. Doch dann – Gant wollte erst seinen Augen nicht trauen – leuchteten auf dem Schirm drei helloran ge Punkte auf, die in die Höhe stiegen und näher kamen. Eine Infrarot-Quelle. Sie hatten von einer der Basen unter ihm ein paar Raketen abgeschossen. Sie wußten, wo er war. Diese Erkenntnis überkam ihn wie ein Schock, nachdem er sich bisher immer in dem beruhigen den Glauben gewiegt hatte, unmöglich entdeckt und angegrif fen werden zu können. Er konnte es nicht fassen. Die Raketen mußten wärmege steuert sein; sie orientierten sich an den heißesten Stellen des Himmels – in diesem Fall den Auspuffgasen seiner Düsen. Irgendwie mußte er doch sichtbar für sie sein. Und dann wurde ihm auch klar, wie. Die Raketenbasis hatte mit Hilfe ihrer In frarot-Zielvorrichtung den Himmel nach seinen Auspuffgasen abgetastet. Auf einem Radarschirm würde er nach wie vor nicht zu sehen sein, aber auf einem Infrarotschirm erschien er in Form eines orangefarbenen Lichtpunkts. Der Verlust seiner Immunität lahmte ihn. Mit krankhafter
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Faszination beobachtete er, wie die drei orangefarbenen Licht punkte auf dem Radarschirm größer und größer wurden, indem die Raketen sich dem Firefox näherten.
7. Suche und Vernichtung Kontaktzeit – sieben Sekunden. Gants momentanes Gefühl der Unfähigkeit, etwas zu unternehmen, verflog. Er wandte seinen Blick von den drei orangefarbenen Lichtpunkten auf seinem Radarschirm, auf dem nach wie vor der grüne Licht punkt der anderen Maschine zu sehen war, die sich inzwischen unter ihm nach Backbord zu von ihm entfernte. Die Raketen hinter ihm waren in der unteren Hälfte des Schirms, während das Aufklärungsflugzeug in der oberen zu sehen war. Das zweite Flugzeug war seine Rettung, ging Gant plötzlich auf. Es bot ihm eine Gelegenheit, die Raketen in die Irre zu führen, indem er dafür sorgte, daß am Himmel eine Stelle mit größerer Hitzeentwicklung entstand, als dies momentan die Düsen der Mig darstellten. Er mußte die zweite Maschine zer stören, so daß die bei ihrer Explosion entstehende Hitze die Raketen auf sich lenkte. Er brachte den Firefox auf Kollisionskurs mit dem russi schen Aufklärer, wobei er tunlichst vermied, auf die drei Lichtpunkte zu achten, die sich immer mehr dem Zentrum des Schirms näherten. Kontaktzeit – fünf Sekunden. Er stieß die Drosselventile auf. Er mußte näher an das Aufklärungsflugzeug herankommen, bevor er eine seiner Raketen abfeuerte. Der grüne Lichtpunkt wurde größer. Mit dem Daumen drückte Gant die Schalter herunter, die das gedankengesteuerte Be waffnungssystem in Betrieb setzten. Was Gant nun mit seinen Augen – sowohl auf dem Bildschirm wie in der Luft um sich herum – sah und was er von der Rakete verlangte, erzeugte in 207
seinem Gehirn elektrische Impulse, die von den Elektroden seines Helms registriert und an das elektronische Bewaff nungssystem weitergeleitet wurden, das wiederum ein Leitsi gnal an die Rakete weitergab. Als Gant nun den optimalen Ab schußzeitpunkt für gekommen hielt, gab das gedankengesteuer te System automatisch eine der Raketen frei, die unter der Tragfläche befestigt waren. Die Rakete löste sich aus ihrer Hal terung, schwenkte seitlich ab, und dann sah Gant für einen kur zen Augenblick die Stichflamme an ihrem Heck aufleuchten, als ihr Antrieb gezündet hatte. Drei Sekunden bis zum Kontakt. Er begann zu hoffen. Für einen Moment konnte er direkt vor sich die Umrisse der schwe ren Maschine erkennen. Er zog den Firefox scharf nach rechts, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und der russischen Maschine herzustellen. Zwei Sekunden. Auf Gants Schirm schienen die orangefarbenen Lichtpunkte und das grü ne Leuchten fast ineinander zu verschmelzen. Das Aufklärungsflugzeug befand sich nun genau in der Mitte des Schirms, um plötzlich die Gestalt einer riesigen, orangefar benen Blume anzunehmen, die sich langsam öffnete – der hei ßeste Punkt am Himmel. Seine eigene Rakete war detoniert. Kontaktzeit – null Sekunden. Die Blume erblühte in noch leuchtenderen Farben, als die drei Raketen inmitten des Infer nos der explodierenden Aufklärungsmaschine detonierten. Gant spürte mit der Welle der Erleichterung, die seinen Kör per durchwallte, auch den Schweiß, der aus allen Poren drang. Auf den Infrarotschirmen der Raketenbasis unter ihm würde für eine Weile nichts als das helle Licht von der gewaltigen Explosion zu sehen sein. Und wenn das Bild sich langsam wie der geklärt haben würde, befand er sich bereits außer Reichweite. Er hoffte, die Männer am Bildschirm würden daraus den Schluß ziehen, er wäre in dieser gewaltigen Explosion zugrunde gegangen. 208
Während er nun mit einer Geschwindigkeit von knapp tau send Stundenkilometern auf die Küste zuflog, wurde ihm be wußt, daß er nun zum erstenmal von dem gedankengesteuerten Bewaffnungssystem des Firefox Gebrauch gemacht hatte. Und es hatte funktioniert. Es hatte nicht auf den ersten flüchtigen Gedanken angesprochen, sondern es hatte einer bewußten Ent scheidung von seiner Seite bedurft, daß es die äußerste Rakete auf der Backbordseite abgefeuert hatte. Alles, was er gespürt hatte, war ein leichtes Rollen der Maschine gewesen, als das Geschoß sich aus seiner Halterung gelöst hatte. Und schließlich erschien auf dem TFR-Schirm in Form einer unregelmäßigen Linie die Küste, und zwar die Stelle, an wel cher der Golf von Kara am weitesten ins Landesinnere vor drang. Endlich Wasser unter sich, gab Gant die neuen Koordi naten ein, während er tiefer ging und in die graue, unförmige Nebelmasse unter ihm eintauchte. Der Inertial-Navigator zeigte ihm darauf den neuen Kurs an, der ihn zu den zwei Inseln von Nowaja Semlja führte, die nordwestlich von seiner gegenwärti gen Position lagen. Er registrierte, daß der Höhenmesser inzwischen wieder sechzig Meter anzeigte, überprüfte den TFR-Schirm und nahm die Geschwindigkeit zurück. Solange er von Nebel eingehüllt war, hatte er die Möglichkeit, Treibstoff zu sparen und damit auch weniger Lärm zu machen. Falls er dennoch gehört werden sollte, wollte er zumindest möglichst wenig wie ein Dieb auf der Flucht klingen, sondern eher wie ein autorisiertes Aufklä rungsflugzeug. Er war inzwischen auf vierhundert Stundenki lometer heruntergegangen. Gant hob seinen Arm und langte nach der schwarzen Box, die er in dem Transistorradio nach Rußland geschmuggelt hat te. Das kleine Gerät war eine Ortungshilfe, die nach einem au ßerordentlich komplizierten, vorher einprogrammierten Sche ma funktionierte, indem sie nach einem Leitstrahl suchte, der 209
nach demselben Muster angelegt war. Das Signal blieb immer nur so lang auf einer Frequenz, daß es, wurde es von jemand anderem aufgefangen, als statisch oder ohne Bedeutung abge tan wurde. Das Gerät mußte so kompliziert sein, da jegliche verbale Kommunikation über Funk ohne weiteres von den Russen hätte abgehört werden können, wie knapp und ver schlüsselt sie auch hätte sein mögen. Er schaltete das scheinbar nutzlose schwarze Kästchen ein. Nichts – aber etwas anderes war im Augenblick ja auch noch nicht zu erwarten. Er wußte, daß das Gerät nun das gesamte Frequenzspektrum nach einem Signal abtasten mußte und daß vor allem seine Reichweite auch beschränkt war. Und doch begann er sich Sorgen zu machen, kaum hatte er den Schalter umgelegt. Wenn er das von dem Auftankfahrzeug ausgesandte Signal nicht auf fangen und sich dann nicht kontinuierlich von ihm leiten lassen konnte, war er rettungslos verloren. Ihm würde irgendwo über dem Arktischen Ozean der Treibstoff ausgehen, was gleichbe deutend mit dem sicheren Tod war. Das »Hörgerät«, wie Aubrey es einmal mit seinem zynischen Lächeln genannt hatte, war nötig, da niemand mit Sicherheit hätte sagen können, ob die Russen nicht vielleicht in der Lage waren, jeden Sender und Empfänger an Bord des Firefox zu stören, wenn sich dieser in der Luft befand – in welchem Fall Gant nie zu seinem Sprit gekommen wäre. Und selbst wenn die Russen nur jeden Sender und Empfänger abhören konnten, würde Gant sie mit der Nase auf die »Mutter« stoßen. Und sie hatten nicht einmal Gant gesagt, wo er die »Mutter« finden würde – für den Fall, daß er von den Russen geschnappt wurde. Wie verrückt das auch klingen mochte – aber was er nicht wußte, konnte er auch nicht erzählen, ganz gleich, was sie ihm antun würden. Er sah auf den Treibstoffanzeiger. Die Tanks waren nicht einmal mehr viertel voll. Er hatte keine Ahnung, wie weit er 210
noch zu fliegen hatte. Falls und wenn er das Signal auffing, würde er wissen, daß er nicht mehr weiter als fünfhundert Ki lometer von der Auftankstelle entfernt war. Das schwarze Kästchen schwieg beharrlich. Inzwischen hatte Gant den Auto-Pilot, gekoppelt mit dem TFR, wieder eingeschaltet. Nun begann der längste und ner venaufreibendste Teil des Flugs. Nun war er einzig und allein auf eine einzige, winzig kleine, schwarze Trickkiste angewie sen, die noch nie zuvor in der Praxis zum Einsatz gelangt war. Ein Versuchskaninchen – das war er. Gant hatte sich in seinem Fliegerleben schon immer auf die Instrumente verlassen, aber noch nie war er von einem einzigen abhängig gewesen – und dies in diesem Maße, daß ihm seine fliegerischen Fähigkeiten absolut nichts nützen würden, wenn dieses Gerät nicht funktionierte. Er sah auf die Treibstoffanzeiger. Die »Mutter« würde ihn sicher mehrere hundert Kilometer hinter der russischen Küste erwarten; aus Sicherheitsgründen ließ sich dies unmöglich vermeiden. Und die Tanks nicht einmal mehr viertel voll. Gant wollte lieber erst gar nicht wissen, wie weit er mit sei nem Vorrat noch kommen würde, und verfluchte wieder ein mal seine Panik, die ihn um jeden Preis an den Abhängen des Ural hatte Schutz suchen lassen. Was ihm damals ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hatte, konnte jetzt sehr wohl seinen Tod bedeuten. »Was ist los, General Wladimirow?« fragte der Parteichef freundlich. Wladimirow hielt mitten im Schritt ein und wandte sich dem Parteichef zu. »Sie müssen lernen, Erfolg mit mehr Gelassenheit aufzunehmen, mein lieber Wladimirow!« Der Parteichef lachte. Wladimirow lächelte frostig. »Ich wäre mir gern absolut si 211
cher, Genosse Parteisekretär. Aber wie sehr ich auch fürchte, daß ich Sie mit meinen Zweifeln verstimme – ich bin mir nicht sicher …« »Sie meinen, Sie sind nicht gerade erfreut darüber, daß wir die Mig-31 verloren haben?« »Nein, so meine ich das nicht. Ich kann nur nicht recht glau ben, daß wir einen Mann wie Gant so leicht hätten erwischen sollen.« »Aber wir sind doch nach Ihrem Plan vorgegangen, Wladi mirow. Sind Ihnen jetzt diesbezüglich plötzlich Zweifel ge kommen?« meldete sich Andropow mit einem ätzenden Lä cheln auf den Lippen zu Wort. »Ich war mir meines Erfolgs nie gewiß, Genosse Vorsitzen der«, erwiderte Wladimirow. »Kommen Sie«, sagte der Parteichef freundlich. »Was würde Sie jetzt glücklich machen, Wladimirow. Ich fühle mich gerade in sehr großzügiger Stimmung.« Er lächelte väterlich. »Setzen Sie die Suche nach Gant weiter fort, und intensivie ren Sie sie sogar«, stieß Wladimirow, ohne lang zu überlegen, hervor. »Wieso?« »Weil … falls er noch am Leben sein sollte, unsere verfrühte Zuversicht ihm nur das endgültige Entkommen ermöglichen könnte. Finden Sie das Mutterschiff oder -flugzeug oder was immer es ist, das ihn zum Betanken erwartet.« In der darauf eintretenden Stille sah der Parteichef lange nachdenklich vor sich hin, bis er seinen Blick schließlich nicht Wladimirow zuwandte, sondern Kutusow. »Was halten Sie von der Sache, Mihail Iljitsch?« »Ich bin ebenfalls der Meinung, alle nur möglichen Vor sichtsmaßnahmen zu treffen.«
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»Also gut.« Die gute Laune des Parteichefs war verflogen. Er sprach nun wieder in knappem, kaltem Geschäftston. »Was brauchen Sie – abgesehen von den umfangreichen Truppentei len, die Sie bereits in Anspruch genommen haben …?« Zum ersten Mal lag nun auch ein vorwurfsvoller Ton in der Stimme des sowjetischen Führers. »Geben Sie mir die Karte von der Barentssee, und blenden Sie die gegenwärtige Verteilung der einzelnen Flottenkontin gente ein«, rief Wladimirow über seine Schulter zurück. Die Karte der nördlichen Küstenlinie der UdSSR verschwand von der Tischfläche, und an ihre Stelle trat nun eine Projektion der Barentssee. Wladimirow wartete, während der für die Karten zuständige Mann das gewünschte Programm in die Computerkonsole ein tippte, und dann begannen auf der Karte langsam – wie Sterne am Abendhimmel – einzelne Lichtpunkte aufzuleuchten – die Positionen der Schiffe in der Barentssee. Lange starrte Wladi mirow schweigend auf sie hinab. »Wo sind die genauen Positionsangaben?« fragte er schließ lich nach einer Weile. Der Karten-Operator löste sich von sei nem Schaltpult und reichte Wladimirow ein Stück Papier, auf dem die genaue Position und der Kurs jedes der Leuchtpunkte auf der Karte angegeben waren. Wladimirow studierte das Pa pier eingehend und warf ab und zu einen kurzen Blick auf die Karte. Wladimirows Aufmerksamkeit wurde von einem grellroten Punkt im Norden der Barentssee angezogen. Anhand der Liste in seiner Hand ließ sich erschließen, daß es sich dabei um den Hubschrauber- und Raketenkreuzer Riga handelte, das Prunk stück der sowjetischen Nordmeerflotte. Das Schiff befand sich im Augenblick auf Kurs nach Osten und würde binnen einer Stunde vor der Küste von Nowaja Semlja eintreffen, wohin es der Parteichef über Admiral Gorschkow in Leningrad beordert 213
hatte. Weitere Lichtpunkte zeigten die Anwesenheit kleinerer Ra ketenzerstörer an, die auch nicht in dem Umfang bestückt wa ren wie die Riga. Einer von ihnen befand sich nördlich von Nowaja Semlja am Rand der permanenten Eisschicht in der Nähe von Franz-Josef-Land; ein anderer dampfte aus dem Ge biet um Spitzbergen nach Südosten. Die meisten Schiffe der Nordmeerflotte lagen jedoch in Kronstadt vor Anker, der ge waltigen Flottenbasis auf einer Insel in der Mündung der Newa in der Nähe Leningrads. Es war noch zu früh für irgendwelche Operationen oder Manöver in der Barentssee. Zu seiner Erleichterung sah Wladimirow auch noch ein paar gelbe Punkte auf der Karte aufleuchten, welche die Position der sowjetischen U-Boote anzeigten. »Was besagen die Meldungen über die Ergebnisse der Suche nach den Flugzeugtrümmern?« fragte Wladimirow mit lauter Stimme, als hätte er die Lichter auf der Karte endgültig satt bekommen. Es war für Gant unmöglich zu entkommen, und doch – er hätte schon längst tot sein sollen. »Bisher nichts, Herr General. Die Luftaufklärung meldet bisher keinerlei Trümmer – mit Ausnahme derer, die von der Aufklärungsmaschine stammen. Die Bodensuchtrupps sind noch nicht an der Absturzstelle eingetroffen.« »Wie sieht es mit der Suche nach dem Mutterschiff oder -flugzeug aus?« Eine zweite Stimme antwortete: »Meldung negativ, Herr General. In dem Gebiet, in dem die ›Mutter‹ nach Angaben des Computers die Mig-31 erwarten sollte, wurden keine nichtiden tifizierten Schiffe oder Flugzeuge ausgemacht.« Wladimirows Miene spiegelte Wut und Verwirrung wider. In gewisser Hinsicht war dies jedoch genau das, was er zu hören wünschte. Keine Flugzeuge oder Schiffe aus dem Westen, die 214
sich in diesem Gebiet aufhielten. Das war schlechthin unmög lich. Es mußte eine Anlaufstelle zum Betanken der Mig-31 geben. Aber die nächste neutrale oder verbündete Landmasse lag irgendwo in Skandinavien. Natürlich war auch nicht ausge schlossen, daß Gant eine weitere Kursänderung vornahm und entlang der russischen Nordküste auf das Nordkap oder das finnische Lappland zuhielt … Diese Möglichkeit schien ihm jedoch so gut wie ausge schlossen, obwohl er auch dafür Sorge getragen und die ent sprechenden Vorkehrungsmaßnahmen eingeleitet hatte. Nein, die Mig würde irgendwo über dem Nördlichen Eismeer aufge tankt werden. Von einem Flugzeugträger aus konnte dies un möglich geschehen, da sich kein solches Schiff auch nur annä hernd in diesem Gebiet befand. Abgesehen davon war die Mig 31 nicht für eine Decklandung ausgestattet. Oder sollte die An laufstelle eine amerikanische Wetterstation auf dem Eis des Pols sein? Wladimirow setzte sich nur äußerst ungern mit diesem Pro blem des Wiederauftankens auseinander. Bislang hatte er sich vor allem darauf konzentriert, Gant noch über sowjetischem Territorium zu stoppen. Aber nun … »Wo ist es?« fragte er laut. »Wo soll was sein?« wollte der Parteichef mit sorgengefalte ter Stirn wissen. »Das Mutterschiff … oder -flugzeug … oder was immer es ist!« zischte Wladimirow, ohne von der Karte aufzusehen. »Weshalb?« Plötzlich kam Wladimirow ein Gedanke. Ohne auf die Frage des Parteichefs zu antworten, sagte er über seine Schulter zu rück: »Irgendwelche Infrarot- oder Geräuschspuren weiter westlich – entweder von den Raketenbasen oder von den Kü stenpatrouillen?« 215
Nach kurzem Schweigen antwortete eine neutrale Stimme: »Negativ, Herr General. Nichts außer der Luftraumdurchsu chung, die dort gegenwärtig im Gange ist.« »Überhaupt nichts?« hakte Wladimirow mit Verzweiflung in der Stimme nach. »Nein, Herr General. Absolut negativ.« Wladimirow wußte nicht mehr weiter. Er wurde sich bewußt, daß er bisher ausschließlich nach rigiden taktischen Gesichts punkten vorgegangen war, wohingegen die Männer, welche die Entführung der Mig geplant hatten, Experten in der Beschäfti gung mit dem Unvorhergesehenen waren – Geheimdienstleute, Männer wie Andropow. Er warf einen kurzen Blick in Rich tung des KGB-Vorsitzenden und entschloß sich gleichzeitig, ihn nicht einzubeziehen. Obwohl er sich im klaren war, daß er damit möglicherweise dieselbe Schuld auf sich lud wie Kon tarskij, entschloß er sich doch, die Sache allein in die Hand zu nehmen. Es mußte eine Antwort geben, doch er konnte sie nicht fin den. Je länger er über das Problem nachdachte, wie und wo Gant tanken würde, desto mehr gelangte er zu der Überzeu gung, daß dies der Schlüssel zur Lösung seines Problems war. Aber was sollte er tun? Er starrte auf die Karte, als könnte er sie allein durch die In tensität seiner Blicke zwingen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Aber nein – hier war die Antwort auf seine Frage nicht zu finden – nicht auf dieser Karte. Er drosch mit der Hand auf die Tischplatte, daß die bunten Lichter zu flackern begannen. »Wo steckt dieser Kerl nur?« schrie er fast. Nach einem kurzen Augenblick sagte der Parteichef: »Sie sind überzeugt, daß er noch am Leben ist?« Wladimirow sah
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auf und nickte. »Ja, Genosse Parteisekretär, davon bin ich überzeugt.« Da ist es, dachte Aubrey und betrachtete eine einzelne Stecknadel mit orangefarbenem Kopf auf der riesigen Karte an der Wand. Mutter eins, ein unbewaffnetes U-Boot, das sich unter einer riesigen Eisscholle verborgen hielt, die auf ihrer Frühjahrswanderung langsam gen Süden trieb. Die Torpedo kammern und die vorderen Mannschaftsquartiere des U-Boots waren mit kostbarem Kerosin für die leeren Tanks von Gants Maschine gefüllt. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Shelley kam mit einem Teewagen in den Raum. »Frühstück, meine Herren!« rief der junge Assistent Aubreys munter in die Runde, wobei sich seine Miene noch mehr erhell te, als er der freudigen Überraschung im Gesicht seines Chefs gewahr wurde. »Eier mit Speck.« Und an die beiden Amerika ner gewandt, fügte er hinzu: »Leider konnte ich in der Kantine jedoch niemanden auftreiben, der Pfannkuchen oder Waffeln hätte machen können.« Curtin grinste und erwiderte: »Mr. Shelley, Sie müssen wis sen, daß ein echtes englisches Frühstück das erste ist, was wir Amerikaner bestellen, wenn wir in einem Ihrer Hotels ankom men.« In seiner Selbstzufriedenheit über seinen Einfall entging Shelley die Ironie hinter dieser Bemerkung völlig. »Vielen Dank«, sagte Buckholz nur und nahm sich einen Teller mit Eiern. Genüßlich sog Aubrey das Aroma des gebra tenen Specks ein und stand von seinem Stuhl auf, um sich zu den anderen zu gesellen, die bereits den Teewagen umringten. Sie aßen eine Weile unter Schweigen, bis Aubrey sich voller satter Zufriedenheit, seinen Toast mit Butter bestreichend, an Curtin wandte. »Sagen Sie, Captain Curtin, wie sieht es mit 217
dem gegenwärtigen Zustand der Eisscholle aus, unter der sich unser Treibstofftanker versteckt hält?« Curtin, der nach amerikanischer Manier mit der Gabel allein aß, stützte sich mit einem Ellbogen auf dem Tisch ab, um den sie saßen, und antwortete: »Nach den letzten Meldungen spre chen Dicke und Oberflächenbeschaffenheit des Eises einer Landung nicht entgegen, Sir.« Aubrey entlockte seine übertriebene Höflichkeit nur ein Lä cheln. »Sind Sie sich dessen ganz sicher?« »Wie Sie wissen, Sir«, Curtins Gabel stach zur Betonung des Gesagten in die Luft, »empfangen wir sämtliche Signale von Mutter eins über die nächste feste Wetterstation; sie sind für den Fall, daß jemand sie auffangen sollte, als ganz gewöhnli che Wettermeldungen oder Eissondierungen getarnt. Daher wissen wir nicht, was Frank Seerbacker in seinem U-Boot wirklich denkt; wir wissen nur, was er sendet. Aber die Bedin gungen sind günstig, Sir. Die Eisoberfläche hat sich nicht ver ändert, und die Eisscholle hat auch noch nicht begonnen, an Größe zu verlieren. Vermutlich wird sie erst in ein paar Tagen zu schmelzen anfangen, wenn sie noch weiter nach Süden ab getrieben ist.« »Und dick genug ist sie auch?« drang Aubrey weiter in ihn. Shelley, der hinter seinem Chef stand, mußte grinsen. Er kann te das. Wenn Aubrey sich auf einem Gebiet nicht auskannte, was auf die Polarregion mit ihren Witterungsbedingungen of fensichtlich zutraf, fing er an, Fragen ständig zu wiederholen und sich die Zusicherung derer einzuholen, die auf dem betref fenden Gebiet als Experten galten. »Jawohl, Sir«, nickte Curtin mit ungebrochener Höflichkeit. »Und sie ist auch lang und breit genug«, fügte er mit dem An flug eines Lächelns auf seine Lippen hinzu. »Wenn Gant auch nur ein bißchen fliegen kann, wird er diesen Vogel dort ohne
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Schwierigkeiten landen.« »Und das Wetter?« gab Aubrey nicht nach. Buckholz sah auf und fragte grinsend: »Was ist denn mit Ih nen los, Aubrey? Haben Sie Verdauungsstörungen?« »Und das Wetter?« beharrte Aubrey, ohne Buckholz anzuse hen. »Das Wetter ist im Augenblick hervorragend, Sir«, infor mierte ihn Curtin. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Für diese Jahreszeit und für diese Breiten ist es sogar abnorm gut.« »Abnorm?« »Jawohl, Sir. Es könnte umschlagen – wie nichts.« Curtin schnippte mit den Fingern seiner freien Hand. »Und wird es das auch tun?« fragte Aubrey, die Augen zu sammengekniffen, als argwöhnte er, man könnte sich auf seine Kosten einen Heidenspaß machen. »Wird es das?« »Das kann ich nicht sagen, Sir. Zumindest war auf den letz ten Satellitenaufnahmen noch nichts zu sehen, was darauf hin deuten könnte.« »Und wie sieht es mit den Meldungen vom U-Boot selbst aus?« »Bis jetzt nichts Nachteiliges, Sir. Das Wetter ist hervorra gend. Das U-Boot fährt stündlich seine Sensoren aus, und das Wetter in der Gegend ist bestens, Sir – nichts daran auszuset zen.« Aubrey schien noch immer nicht zufriedengestellt. Er wand te sich nun Buckholz zu. »Dieser Plan ist verrückt – das müssen Sie doch zugeben, Buckholz?« Buckholz funkelte ihn über seinen leeren Teller hinweg an. »Ich gebe nichts dergleichen zu, Aubrey. Das mit dem Tanken 219
ist meine Sache. Sie haben ihn so weit gebracht, und ich muß zugeben, das war eine großartige Leistung, falls es das ist, was Sie von mir hören wollen. Aber nach Hause schaffen muß ich ihn, und ich würde Sie bitten, mir in dieser Sache besser zu vertrauen, Aubrey, da ich nicht gewillt bin, plötzlich in letzter Sekunde alle meine Pläne über den Haufen zu werfen, bloß weil Sie plötzlich Bedenken bekommen.« »Mein lieber Freund«, entgegnete Aubrey abwehrend, »nichts läge mir ferner als das.« Er lächelte entwaffnend. »Ich bin nur immer gern im Bilde … ja, ich bin immer gern im Bil de, wenn ich es einmal so ausdrücken darf. Nichts weiter.« Buckholz schien besänftigt. »Sicher ist es ein verrückter Plan, ein Flugzeug auf einer Eisscholle landen zu lassen und es dann von einem U-Boot zu betanken. Aber es wird klappen, Aubrey. Das U-Boot kann unmöglich entdeckt werden, so lan ge es sich unter der Eisscholle aufhält, und selbst im Fall einer Schallortung würde es nur als Teil der Eisscholle in Erschei nung treten. Sobald unser Junge gelandet ist, wird es auftau chen, die Tanks der Mig füllen, und schon ist Gant über alle Berge. Wir können keine Verkleidungen verwenden wie Sie, Aubrey. Da draußen, auf See, können Sie nicht hergehen und ein Schiff als schwangeren Seehund verkleiden.« Nach einem Augenblick des Schweigens entgegnete Aubrey: »Na gut, Buckholz. Ich akzeptiere Ihre Gründe für die Hinzu ziehung dieses U-Boots. Aber eines können Sie mir glauben: Mir wird um einiges wohler zu Mute sein, wenn Gant die Mig aufgetankt hat und wieder in der Luft ist.« »Dagegen ist nichts einzuwenden«, meinte Buckholz jovial und goß sich eine frische Tasse Kaffee ein. »Dagegen ist wirk lich nichts zu sagen.« Kaum waren über der ätzend grauen Oberfläche der Barents
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see die letzten Nebel verflogen, befand sich Gant plötzlich über einem Fischkutter. Mit seinen knapp mehr als dreihundertfünf zig Stundenkilometern flog er für die Verhältnisse des Firefox eher gemächlich auf die Zwillingsinseln Nowaja Semlja zu, seinem nächsten visuellen Koordinaten-Checkpoint, als mit einem Mal der Fischkutter unter ihm auftauchte. Während er in weniger als dreißig Metern Höhe über das Deck hinwegschoß, sah er aus den Augenwinkeln für den Bruchteil einer Sekunde ein Gesicht sich zu ihm aufwenden. Der Mann hatte Küchenab fälle über Bord gekippt. Und im nächsten Augenblick war der Kutter auch schon unter ihm verschwunden, wurde zu einem grünen Lichtpunkt auf dem Radarschirm, während Gant bereits innerlich zu fluchen begann, daß er in seiner Zuversicht beim Überqueren der Küstenlinie sein vorwärts gerichtetes Radar ausgeschaltet hatte. Nun setzte er es – zu spät freilich – wieder in Betrieb. Im Augenblick seines Erfolgs über das Aufklä rungsflugzeug hatte er sich sorglos, freudig erregt gefühlt. In dem Augenblick, da ihm das weiße, zu ihm hochgewandte Ge sicht in die Augen gestochen war, hatte er etwas anderes gese hen – etwas wesentlich Tödlicheres. Als wollte sie diesen Ein druck noch zusätzlich bestätigen, zeigte auch schon im näch sten Augenblick die ECM-Anzeige starke Ausstrahlungen von einer nahen Quelle direkt hinter ihm an. Nicht nur daß er gese hen worden war; der Kutter, den er eben überflogen hatte, war kein gewöhnlicher Fischkutter, sondern ein sogenanntes ElintSchiff, ein Aufklärungsschiff mit hochwertigen elektronischen Anlagen an Bord. Und das bedeutete, daß sie selbst jetzt noch per Infrarot seinen Kurs verfolgen konnten. Er stieß den Steuerknüppel nach vorn, so daß sich die Nase des Firefox senkte und die grau geriffelte See bedrohlich auf ihn zuschoß. Er ging auf fünfzehn Meter Flughöhe, da er sich mit einem bißchen Glück in dieser Höhe elektronisch nicht mehr erfassen ließ. Aber wenn er auch von den Infrarotschir
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men des Aufklärungskutters bereits wieder verschwunden sein mochte, würde der Mann mit dem leeren Abfalleimer bereits zum Kapitän gerannt sein, um ihm vor Aufregung stotternd zu melden, was er eben gesehen hatte. Sie wußten wieder, in wel che Richtung er flog. Denn daß er auf Nowaja Semlja zuhielt, hätte sich sogar ein Blinder zusammenreimen können, ganz zu schweigen von den Männern, welche die Suche nach ihm ko ordinierten. Er warf einen kurzen Blick auf den Treibstoffanzeiger, um nur neuerlich seinen panikartigen Ausbruch zu verfluchen, der ihn mit wesentlich überhöhter Geschwindigkeit auf den Ural hatte zujagen lassen, nachdem er nordwestlich von Wolgograd von der sowjetischen Linienmaschine gesichtet worden war. Wenn nur … Aber es hatte keinen Sinn, stellte er fest, sich hinsichtlich des Unabänderlichen Gedanken zu machen. Ihm blieb nichts ande res zu tun übrig, als seinen vorgeschriebenen Kurs einzuhalten und seine letzte Kursänderung vorzunehmen, sobald er Nowaja Semlja erreichte. Seine Hände schlossen sich fester um die Drosselventile. Es gab auf Nowaja Semlja, ehemals Testgelände für Rußlands Atomwaffen und nun nördlichster Punkt der sowjetischen DEW-line mit ihren Stützpunkten der ersten Feuerkette, mehre re Raketenbasen. Der Firefox erreichte auf Seehöhe eine Ge schwindigkeit von Mach 2,6. Gant hatte keine Vorstellung, wie schnell die Maschine wirklich war, aber er vermutete, daß sie in der entsprechenden Höhe über die angegebenen Mach 5 hin aus möglicherweise sogar an Mach 6 heranreichte. Das hieß also siebentausendzweihundert Stundenkilometer, und in See höhe etwa dreitausendfünfhundert Stundenkilometer. Der Fire fox war ein großartiges Kampfflugzeug. Er öffnete die Drosselventile. Er mußte kostbaren Treibstoff verschwenden. Fast ärgerlich beobachtete er, wie der Zeiger 222
des Mach-Zählers immer weiter über die Ziffern wanderte … Mach 1,3; 1,4; 1,5 … Der Firefox war ein Pelikan, der sich selbst verschlang. Für die Beobachtungsposten der Raketenbasis Matotschkin Schar, südöstlich der schmalen Meerenge zwischen den beiden Inseln von Nowaja Semlja, war der Firefox nur ein schemen haftes Wischen in der Luft, das eine Welle donnernden Lärms hinter sich herzog. Auf den Infrarotschirmen erschien er als plötzlicher Hitzefleck, der ebenso rasch wieder verschwand, wie er sich genähert hatte. Gant flog mit Hilfe des Auto-Piloten und des TFR-Schirms in einer Höhe von weniger als sechzig Metern durch den Meeresarm zwischen den beiden Inseln. Hät te sich ein Schiff in ihm befunden, hätte er, ausschließlich auf seine Augen und sein Reaktionsvermögen angewiesen, keine Zeit zum Ausweichen mehr gehabt. Aber dafür hatte er die TFR-Anlage. Seine Augen waren auf den Radarschirm gehef tet; er wartete auf das orangefarbene Aufglühen, das ihm das Abfeuern einer Rakete angezeigt hätte. Es blieb jedoch aus. Als die ödgrauen Felsklippen der Meeresenge links und rechts von ihm verschwanden und er sich wieder über dem offenen Meer befand, drückte er in einem Gefühl unendlicher Erleichterung die neuen Koordinaten ein. Automatisch ging die Mig-31 auf ihren neuen Kurs, und Gant nahm langsam die Ge schwindigkeit zurück, um seinen tödlichen Treibstoffverbrauch möglichst zu reduzieren und die Maschine wieder manuell zu fliegen. Als der Firefox wieder unter die Schallgrenze herabsank, fiel Gant ein, weshalb man keine Rakete nach ihm abgefeuert hatte. In der Höhe, in der er geflogen war, bestand die Gefahr, daß eine nach ihm abgeschossene Rakete einfach in das gegenüber liegende Kliff gekracht wäre, ohne vorher Gelegenheit gehabt zu haben, Kurs auf ihn zu nehmen. Die Verlassenheit nagte an Gant, als er auf neuem Kurs in 223
Richtung Nordwesten flog. Er fröstelte. Das »Hörgerät« war ihm kein Trost; es gab nach wie vor keinen einzigen Ton von sich. Er begann sich bereits zu fragen, ob es überhaupt funktio nierte. Und er begann zu überlegen, ob da wohl etwas – oder jemand – über ihm war und darauf wartete, neuen Treibstoff in die Tanks des Firefox zu pumpen. Der Radarschirm war leer, der Himmel über ihm war leer, und in der endlosen, grauen Öde des Meeres unter ihm war kein einziges Schiff zu sehen. Der Firefox flog weiter und verzehrte seine letzten Treibstoff vorräte. Die Meldung von dem Elint-Schiff, gefolgt von der Sich tungsbestätigung aus Matotschkin Schar, hatte den Parteichef verärgert. Plötzlich war es, als hätte er Wladimirows Zweifel und Vorsichtsmaßnahmen lediglich in Form einer rein theoreti schen Übung akzeptiert. Aber jetzt wurde ihm bewußt, daß sie notwendig gewesen waren, daß Gant in der Explosion des Auf klärungsflugzeugs nicht umgekommen war. Vielleicht hatte ihn die Tatsache, daß er sich so leicht hatte täuschen und in falscher Sicherheit wiegen lassen, so sehr auf gebracht, daß er plötzlich mit vor Erregung schriller Stimme Wladimirow heftige Vorhaltungen gemacht hatte, die Mig-31 nicht vernichtet zu haben. Als sich sein Zorn wieder gelegt hatte und er zitternd und stumm zu seinem Sessel vor der Karte der Polarregion auf dem runden Tisch zurückgekehrt war, begann Wladimirow wieder zu sprechen. Seine Stimme klang verhalten. Der Ausbruch des Parteichefs hatte ihn gehörig eingeschüchtert. Wladimirow war sich nun bewußt, daß er mit seiner eigenen Zukunft spielte, und zwar mit seiner beruflichen wie mit seiner persönlichen. Gant mußte sterben. So einfach – und zugleich so schwierig – war das Problem.
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Er durfte nun keine Zeit mehr verlieren. Er studierte kurz die Karte vor ihm auf dem Tisch. Falls Gants Kurs nach Verlassen von Nowaja Semlja richtig aufgezeichnet worden war, dann flog er, obwohl er das noch nicht wissen konnte, direkt auf den Raketenkreuzer Riga und die zwei Jägerkiller-U-Boote in sei ner Begleitung zu. Aufgrund dieser Tatsache, falls es sich da bei wirklich um eine Tatsache handelte, ließ sich Gant eine neue Falle stellen. »Weisen Sie die Riga an, ihre gegenwärtige Position zu hal ten«, ordnete Wladimirow ohne lange Absprache mit dem Par teichef und Marschall Kutusow an. »Und die zwei U-Boote ihres Geleitschutzes sollen sofort auftauchen.« »Zu Befehl, Herr General«, erwiderte der zuständige CodeOperator. »Alarmieren Sie sämtliche Schiffe der Nordmeerflotte«, sag te Wladimirow. »Sie sollen sich für eine Kursänderung bereit halten, und geben Sie Gants mutmaßlichen Kurs durch.« »Jawohl, Herr General.« »Wie lange werden Gants Treibstoffvorräte voraussichtlich noch reichen?« Eine andere Stimme antwortete prompt: »Nach Angaben des Computers weniger als dreihundertfünfzig Kilometer, Herr General.« »Wie exakt ist diese Prognose?« »Die maximale Abweichung beträgt dreißig Prozent – nicht mehr.« Das bedeutete, daß Gant noch Sprit für mindestens zwei hundertzwanzig oder maximal vierhundertachtzig Kilometer hatte. Wladimirow rieb sich das Kinn. Demnach würde er selbst nach den großzügigsten Schätzungen unmöglich noch den Rand der Packeiszone erreichen können. Er vermied es
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jedoch, den daraus nötigen Schluß zu ziehen – genau wie Buckholz’ Berater vorausgesagt hatten. Seit den Tagen, da er noch selbst geflogen war, hatte Wladimirow sich zunehmend zu einem vorsichtigen und bedächtigen Mann ohne wirkliche Ideen und Einfallsreichtum entwickelt. Mochte er nach Maß stäben der sowjetischen Heeresleitung durchaus tatkräftig und unkonventionell erscheinen, fehlte es ihm in Wirklichkeit doch an Risikobereitschaft und wirklicher Originalität im Denken. Er schaffte den an diesem Punkt erforderlichen gedanklichen Sprung nicht. Wenn Gants Treibstoffvorräte nicht bis an den Rand der Packeiszone reichten, dann vermochte Wladimirow daraus nur zu folgern, daß Gant mit der Mig ins Meer stürzen würde. Eine andere Möglichkeit gab es für ihn nicht. Er verge wisserte sich noch einmal. »Irgendwelche nichtidentifizierten Aktivitäten in der Luft in diesem Gebiet?« »Keine, Herr General. Immer noch nichts zu sehen.« »Sehr gut.« Er wandte sich wieder dem Studium der Karte zu. Ohne den nötigen Treibstoff, um die Geschwindigkeitska pazität der Mig auszunutzen, würde Gant wie bisher in mög lichst geringer Höhe weiterfliegen müssen. Das hieß, daß er mit etwas Glück von dem Raketenkreuzer aus gesichtet und mit Hilfe der visuellen Feuerkontrolle unter Beschuß genom men werden konnte. Ansonsten würde man sich der infrarotge steuerten Zielvorrichtung bedienen müssen, die zwar nicht das effektivste System dieser Art an Bord der Riga war, aber für diesen Zweck doch hätte ausreichen müssen. Es mußte einfach ausreichen … Sein Gedankenfluß wurde durch eine Stimme unterbrochen. »Meldung aus dem Tower, Herr General. Von Major Tsernik. Der zweite Prototyp ist startbereit, Herr General.« Wladimirows Kopf wandte sich in die Richtung, aus der die
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Stimme gekommen war, und dann, als er seinen Blick wieder auf die Karte heftete, sah er, wie der Parteichef ihn anstarrte. Er spürte instinktiv, daß er etwas Bestimmtes von ihm erwartete, aber er begriff nicht sofort, was das war. Im Augenblick – Gant fünftausend Kilometer entfernt und bald ohne Treibstoff – be stand keine Notwendigkeit, ihm die zweite Mig hinterherzu schicken. Er würde keine Gelegenheit zum Auftanken haben, und daher war es sinnlos, ihn durch die zweite Maschine jagen zu lassen. »Wer ist der Pilot?« fragte der Parteichef direkt. »Ich … ich glaube, ich weiß nicht …«, stotterte Wladimi row, von dieser Frage sichtlich überrascht. »Tretsow«, hauchte Kutusow. »Major Alexander Tretsow.« »Gut. Ich bin mir zwar bewußt, daß die Zeit knapp ist, aber ich möchte mit ihm sprechen, bevor er startet.« Der Parteichef schien im Begriff aufzustehen. Wladimirow wurde plötzlich bewußt, daß der Parteichef von ihm erwartete, Major Tretsow Order zu erteilen, sofort zu star ten und Gants Verfolgung – mit Höchstgeschwindigkeit – auf zunehmen. Wladimirow wußte, daß Tretsow auf diese Weise weniger als eine Stunde bis Nowaja Semlja brauchen würde. Seiner Ansicht nach war dies jedoch reine Zeitverschwendung. Er sah den Parteichef an. »Selbstverständlich, Genosse Parteisekretär«, entgegnete er diplomatisch. Er hatte das Staatsoberhaupt richtig eingeschätzt. Der Parteichef nickte zufrieden, worauf Wladimirow, innerlich erleichtert, über seine Schulter zurück rief: »Holen Sie Major Tretsow hierher – schnell! Und verständi gen Sie den Tower, sich bereit zu halten. Die Mig wird in we nigen Minuten starten.«
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Das »Hörgerät« gab immer noch keinen Ton von sich. Der Zeiger der Treibstoffanzeige stand bereits auf Rot. Vor weni gen Minuten hatte Gant die Reservetanks eingeschaltet. Er war sich hinsichtlich ihres Fassungsvermögens nicht im klaren, aber er war sich bewußt, daß er binnen kurzem dem Tod ge weiht war, wenn er nicht innerhalb der nächsten Minuten ein Signal von seiner Treibstoffanlaufstelle auffing, gesetzt den Fall, diese befand sich dann noch innerhalb seiner Reichweite. Die See war leer. Auch am Himmel zeigte der Radarschirm kein einziges Flugzeug an. Er war tot, durchlief bereits das Verwesungsstadium, während er noch atmete. Plötzlich zeigte der Radarschirm die Anwesenheit eines gro ßen Schiffs vor ihm an. Während sein Arm bereits automatisch die nötigen Handgriffe vollführte, dieses Hindernis zu umge hen, tauchten auf dem Schirm zu beiden Seiten des Schiffs zwei weitere Lichtpunkte auf. Es handelte sich dabei um nichts Geringeres als einen Raketenkreuzer mit einem Geleitschutz von zwei U-Booten. Er wußte, was er vor sich hatte. Nur ein Raketenkreuzer wurde eines Geleitschutzes von zwei U-Booten für würdig befunden. Und er flog direkt auf sie zu. Seine An zeigetafel gab bei einer augenblicklichen Fluggeschwindigkeit die Flugzeit bis zum Zielobjekt mit einer Minute an. Unwill kürlich mußte Gant unter seiner Sauerstoffmaske grinsen. Ziel objekt … Raketenkreuzer … er, Gant, war das Zielobjekt. Zweifellos war er auf den Infrarotschirmen des Schiffs bereits zu sehen; die Daten seines Kurses waren bereits in den Compu ter der Ziel- und Abschußvorrichtung eingegeben. Ihm war bereits jede Möglichkeit eines erfolgreichen Ausweichmanö vers genommen. Wenn er schon sterben sollte, dann wollte er erst noch ein mal sehen, wozu der Firefox wirklich in der Lage war. Er fällte keine bewußte Entscheidung, Selbstmord zu begehen, indem er weiter seinen bisherigen Kurs beibehielt. Er wäre nicht rational 228
zu begreifen imstande gewesen, was er sich nun unter dem Aspekt der Selbstaufopferung zu tun anschickte. Er war ein Flieger, und das feindliche Ziel befand sich direkt vor ihm – eine Minute von ihm entfernt. Und genau in diesem Moment ertönte das schrille Geräusch des »Hörgeräts«. Er erstarrte in seinem Sitz. Er schaffte es nicht, einen Blick auf die visuelle Anzeigetafel des »Hörge räts« zu werfen. Er wollte nicht wissen, wieviel ihm zur Errei chung seines Ziels gefehlt hatte – wie knapp die Spanne zwi schen Leben und Tod gewesen war. Selbst auf dem Radar schirm konnte er den Raketenkreuzer und die U-Boote näher kommen sehen. Die Entfernung betrug noch dreißig Sekunden. Aufgrund seiner extrem geringen Flughöhe würde er plötzlich über den U-Booten sein, bevor er sich dessen richtig bewußt würde. Nun war es zu spät. Das Signal des »Hörgeräts« war ein ständiges, nervtötendes Geräusch in seinem Kopfhörer – ein hysterisches Schrillen, das in seiner spitzen Intensität ohrenbetäubend wirkte. Von dem Wunsch zu sterben beseelt, starrte Gant gerade nach vorn und wartete, daß der Kreuzer vor seinen Augen auftauchen würde.
8. Mutter eins Er konnte nicht mehr als den Bruchteil einer Sekunde gedau ert haben, dieser kurze Zeitraum zwischen Angst und Aktivität, diese verschwindend geringe Spanne, bevor die in mühevoller Arbeit antrainierten Verhaltensweisen, die inzwischen auf einer reinen Instinktebene abliefen, von der gähnenden Leere seiner Niederlage, seiner stumpfen Betäubtheit Besitz ergriffen. Und dennoch hätte Gant innerhalb dieser kurzen Zeitspanne den endgültigen Zusammenbruch erleiden können – dieser über mächtige Anfall von Verzweiflung, plötzlich unterbrochen 229
durch das Schrillen des Leitstrahlsignals und die Anzeige, daß er sich weniger als zweihundertfünfundzwanzig Kilometer von der Stelle entfernt befand, wo der lebensrettende Treibstoff auf ihn wartete. Aber Gant war nicht zusammengebrochen. Es steckte also doch noch etwas in ihm – oder war es nur darauf zurückzuführen gewesen, daß ein Mensch, in dem nichts mehr steckte, der ausgebrannt war – wie Buckholz einmal geäußert hatte –, nicht mehr zusammenbrechen konnte. Gant wurde von eiskalter Wut durchzuckt – einer verhalte nen, gewalttätigen Lust. Er würde es mit dem russischen Rake tenkreuzer aufnehmen. Kühl und sachlich analysierte er kurz die Lage. Das Leit strahlsignal deutete darauf hin, daß die Quelle, die es ausstrahl te, wie immer sie auch beschaffen sein mochte, fast in einer direkten Linie hinter dem Kreuzer lag. Der Treibstoffanzeiger gab ihm unmißverständlich zu verstehen, daß ein Ausweich manöver ausgeschlossen war. Die kürzeste Entfernung zwi schen zwei Punkten … Und er suchte nach der kürzesten Ent fernung. Er hatte keine andere Wahl. Er mußte alles riskieren. Selbst wenn er überleben wollte – und er stellte zu seiner Über raschung fest, als hätte er etwas gefunden, was er seit Jahren vergeblich gesucht hatte: Er wollte leben –, mußte er es den noch mit dem Raketenkreuzer und seinem horrenden Waffen arsenal aufnehmen. Nun, da er keine andere Wahl hatte, führte dieser Weg mit einem Mal nicht mehr in den Tod, sondern zum Leben – eine Vorstellung, die ihn mit grimmiger Zufriedenheit erfüllte. Der Radarschirm zeigte an, daß sich die beiden U-Boote et wa fünf Kilometer seitlich von dem großen Kreuzer befanden. Sie waren aufgetaucht und würden ihre Infrarot- Zielvorrich tungen auf ihn richten. So lange er praktisch in Nullhöhe über dem Wasserspiegel weiterflog, würden sie möglicherweise Schwierigkeiten haben, ihn auf ihren Schirmen exakt zu erfas 230
sen. Mit einem bißchen Glück brauchte er sich also nur des Kreuzers wegen Gedanken zu machen. Das ihm am nächsten gelegene U-Boot – je nachdem, auf welcher Seite er den Kreu zer passierte – würde es nicht riskieren, in so großer Nähe des Raketenkreuzers und seiner gigantischen Turbinen infrarotge steuerte Raketen abzufeuern. Rasch überdachte Gant, welche Waffen der Kreuzer gegen den Firefox einsetzen konnte. Angesichts seiner Geschwindig keit kamen sämtliche Systeme mit visueller Kontrolle nicht in Frage. Die Torpedos eigneten sich nur für den Beschuß von UBooten; das gleiche galt auch für die zwei Zwillingsmörser. Die Jägerkiller-Helikopter mochten zwar bereits aufgestiegen sein, verfügten aber möglicherweise über keinerlei Luftkampf bewaffnung, so daß auch sie ihm unter Umständen nicht ge fährlich werden konnten, obgleich ihre Feuerkontrollsysteme mit der zentralen ECM-Anlage an Bord des Kreuzers gekoppelt waren. Die 60-mm-Geschütze vor der Brücke wurden durch dasselbe System gesteuert. Jedoch konnte er auch sie außer acht lassen, da sie sich nicht genügend senken lassen würden, um auf ihn anzuhalten, wenn er nahe genug an dem Kreuzer vorbeiflog. Schließlich blieb also nur noch eine Waffe des Kreuzers üb rig – die vier hochentwickelten Raketenabschußbasen des Typs Sa-N-3. Die verschiedenen anderen Raketen konnten ihm nichts anhaben, aber die SA-Raketen waren wärmegesteuert und jederzeit abschußbereit. Er konnte nur hoffen, daß das neuentwickelte Abwehrsystem im Heck des Firefox funktionierte. In dem Bestreben, eine möglichst kleine Angriffsfläche zu bieten, hielt der Kreuzer direkt auf die Mig-31 zu. Aber jetzt war auch nicht der Zeit punkt für einen Angriff auf den Kreuzer selbst. Gant verwarf diesen Gedanken ohne irgendwelches Bedauern. Er war jetzt ein Bestandteil der Maschine, die er flog; eiskalt wertete er die 231
Informationen, die er sich hinsichtlich ihrer Funktion einge prägt hatte, aus, um sie unmittelbar darauf in die Tat umzuset zen. Er fragte sich, wie gut wohl der Kapitän des Kreuzers infor miert war? Wußte er Bescheid über das spezielle Abwehrsy stem im Heck des Firefox, über seine Bewaffnung und seine Schnelligkeit? Vermutlich nicht. Angesichts der russischen Vorliebe für strengste Geheimhaltung würde man den Offizier der Roten Flotte nur mit dem Notwendigsten vertraut gemacht haben. Wahrscheinlich hatte er nur einen Befehl erhalten. Stoppen Sie dieses Flugzeug – mit allen Ihnen zu Gebote ste henden Mitteln. Die Entfernung zum Ziel betrug vier Kilometer. Flugzeit: einundzwanzig Sekunden. In wenigen Sekunden würde er die flachen Umrisse des Schiffs vor sich auftauchen sehen. Nun galt es – der Firefox gegen die … Er wünschte, er hätte den Namen des Kreuzers gekannt. Eine Eisscholle schoß, leuchtend weiß gegen das ätzende Grau der Barentssee hervortretend, unter dem Bauch des Fire fox hinweg, und dann sah er den Kreuzer, ein geduckter Sche men am Horizont, der mit beängstigender Geschwindigkeit näher kam. Er spürte, wie die Spannung in ihm wuchs. Er fragte sich, ob der Kreuzer wie ein lauerndes Tier warten würde, um ihn in seinem Feuer zu verschlingen, oder ob er seine Raketen bereits abfeuern würde, so lange er sich noch in mehr als zwei Kilometern Entfernung befand. Die InfrarotErfassung war immer noch ungenau; sie eignete sich nicht für ein exaktes Zielen. Allerdings war das in diesem Fall auch gar nicht nötig. Gant wußte, daß ihn die Männer auf der Brücke inzwischen bereits mit bloßem Auge sehen konnten – ein grauer Sturmvo gel, scheinbar reglos über der eisigen Wasseroberfläche in der
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Luft schwebend. Gant beobachtete den Schirm; er wartete auf das plötzliche Aufblühen, hervorgerufen durch den Abschuß der Raketen. Auf dem Radarschirm war ein Lichtpunkt zu sehen, bei dem es sich vermutlich um einen der Kamow-Hubschrauber des Kreuzers handelte. Er beschloß, zur Ablenkung eine seiner AA-Raketen auf ihn abzufeuern. Sollte das elektronische Ad renalin dieser Information in den Feuerkontroll-Computer ge pumpt werden, sollte die Ablenkung, verursacht durch den Ab schuß des Hubschraubers, dem Schachbrett, über das hinweg er nun auf den Kreuzer zujagte, eine neue Dimension verleihen. Er löste aus. Die Rakete schwenkte seitlich aus seinem Blickfeld ab. Er beobachtete sie weiter auf dem Schirm, wie sie sich quer über diesen hinweg auf den Hubschrauber zubeweg te, der inzwischen das Geschoß auf seinem Schirm hatte und verzweifelt versuchen würde, ihm auszuweichen. Gant bleckte unter seiner Sauerstoffmaske die Zähne. Das Deck des Kreuzers erblühte in blassem Feuer – hellere Lichtflecken auf dem Schirm. In der Annahme, er würde ange sichts der Bedrohung durch die Helikopter und die U-Boote abziehen, hatten sie gewartet. Er hatte jedoch seinen Kurs bei behalten und war direkt auf sie zugeflogen. Und nun war, wie er gehofft hatte, der Feuermechanismus auf der Brücke durch seinen Beschuß des Hubschraubers ausgelöst worden. Der He likopter ging am Himmel über ihm in Flammen auf, aber er sah ihn nur aus den Augenwinkeln – eine orangefarbene Blüte, ihre Blätter fallend … Sie hatten ihn zwischen den Kreuzer und eines der U-Boote abdrängen wollen, aber statt seitlich abzuschwenken oder hochzuziehen, hielt er weiter direkt auf sie zu. Was auch immer der sowjetische Kapitän wissen mochte, er war mit Sicherheit hinsichtlich Gants prekärer Situation informiert worden, was seine Treib Stoffvorräte betraf. Und nun schlug der Kapitän der 233
Riga, von Gant zu dieser Reflexhandlung getrieben, zu. Das Schiff lag nur noch einige hundert Meter vor ihm, als die SA-Raketen von der Zwillingsabschußrampe vor der Brük ke schossen. Gant neigte die Maschine zur Seite und zog an dem Kreuzer vorbei. Auf seinem Schirm konnte er sehen, wie die Raketen von ihrer ursprünglichen Flugbahn abwichen und sich mit erschreckender Schnelligkeit auf ihn zubewegten. Und dann, als er den günstigsten Augenblick für gekommen hielt, löste er durch seine bloße gedankliche Entscheidung das Ab wehrsystem im Heck aus. Hinter ihm entstand ein Aufleuchten, vor dem selbst die Sonne verblaßte, und im nächsten Augen blick schob er auch schon die Drosselventile nach vorn, so daß der Firefox über die Wellen davonschoß. Einen Moment erhob sich der Bug des Kreuzers drohend über dem Cockpit, und dann sah Gant nichts als graues Wasser, während er, nur fünf zig Meter von ihnen entfernt, an den Seitenwänden des Schiffs entlangjagte. Das Abwehrsystem im Heck des Firefox hatte eine Hitze quelle ausgestoßen, die vier Sekunden lang wesentlich mehr Wärme entwickelte als die beiden Turmanskij-Düsen bei nied riger Geschwindigkeit und damit die beiden wärmegesteuerten Raketen auf sich lenkte. Der Lichtfleck, den ihre Explosion auf Gants Schirm hervorrief, erstrahlte in solcher Helligkeit, daß er sogar hinter dem getönten Helmvisier seine Augen zu blenden schien. Und dann erstarb die Lichtblüte. Der Firefox hatte in zwischen die Schallmauer durchbrochen, und der Kreuzer lag, wie auf dem Schirm zu erkennen war, bereits zwei Kilometer hinter ihm. Der Treib Stoffanzeiger zeigte leer an. Der Mach-Zähler hat te sich auf Mach 1,6 eingependelt. Die Flughöhe betrug weni ger als fünfzehn Meter, wo Gant, wie er hoffte, von den Infra rotschirmen der U-Boote nicht erfaßt werden konnte, obwohl sie seine Position mittlerweile sicher von der Riga übertragen 234
bekommen hatten. In diesem Augenblick wurden auf dem Schirm zwei neue orangefarbene Lichtflecken sichtbar, die von einem zweiten Paar SA-Raketen herrührten. Der sowjetische Kapitän war durch den Trick mit dem Spezialabwehrsystem im Heck des Firefox offensichtlich aus dem Konzept gebracht, aber er rea gierte mit dem Abschuß zweier weiterer Raketen … Auf der Backbordseite des Schirms entdeckte Gant noch einmal zwei Raketen, die von einem der U-Boote abgefeuert worden waren und sich ihm nun auf die Fersen hefteten. Gant überprüfte die Anzeige auf dem »Hörgerät«. Es waren immer noch hundertfünfundachtzig Kilometer. Er wußte, daß er unbedingt mit der Geschwindigkeit heruntergehen mußte. Während er dies nun tat, schienen die vier orangefarbenen Punkte auf dem Schirm rasch näher zu kommen. Das Abwehr system im Heck hatte funktioniert. Und diesmal hatte Gant – im Gegensatz zu vorher – eine Wahl. Er konnte den Raketen einfach davonfliegen, bis ihm der Treibstoff ausging. Er stieß die Drosselventile nach vorn, und der Firefox schoß wie ein aufgeschrecktes Tier davon. Das Abwehrsystem stieß neuerlich eine Hitzequelle aus, und die Explosion folgte fast unmittelbar darauf; die Druckwelle erfaßte das Flugzeug, und Gant hatte Mühe, die Maschine zu stabilisieren. Rasch nahm er die Geschwindigkeit wieder zurück und flog mit weniger als hundertsiebzig Knoten weiter. Er achtete nicht auf die Treibstoffanzeige. Seine ganze Auf merksamkeit galt dem Leitstrahlsignal des »Hörgeräts«. Weni ger als hundertfünfzig Kilometer. Trotz der Erleichterung, den Raketen entkommen zu sein, konnte er sich nicht vorstellen, wie er es nun schaffen sollte. Eisschollen, inzwischen größer und zahlreicher, glitten unter dem Bauch des Firefox hinweg, während er weiter nach Nor 235
den flog. Der Parteichef vergeudete keine Zeit, lange an Major Alex ander Tretsows Loyalität als russischer Staatsbürger und als Mitglied der Partei zu appellieren. Er bediente sich einer ande ren Waffe – Angst. Er erklärte Tretsow, was auf dem Spiel stand – sowohl für die Sowjetunion wie für ihn selbst. Tretsow sollte mit Höchstgeschwindigkeit nach Norden fliegen, wo ihn an der Küste ein Tankflugzeug erwartete. Von dort sollte er Kurs auf die Position der Riga einschlagen, von der man bisher noch keine Meldung erhalten hatte. Dort würde ein weiteres Tankflugzeug bereitstehen, falls es sich als nötig erweisen soll te, ein zweites Mal aufzutanken. Die Tankmaschinen waren bereits unterwegs zu ihren Kontaktpositionen. Tretsow war unter der Last, die man ihm auf seine Schultern gelegt hatte, sichtlich nervös geworden. Für einen Testpiloten der Roten Luftwaffe war er mit seinen knapp dreißig Jahren sehr jung, wobei er zudem auch noch einen jüngeren Eindruck erweckte. Wladimirow tat der Mann leid, als er ihn vor der imposanten Gestalt des Parteichefs stehen sah. Aber er war ein hervorragender Pilot, wie Wladimirow aus seiner Personalakte hatte ersehen können. Ob er freilich gut genug war, es mit Gant aufnehmen zu können, falls es tatsächlich noch zu dieser letz ten, entscheidenden Auseinandersetzung zwischen den beiden Migs kommen sollte, war eine andere Frage. Wladimirow ver spürte fast etwas wie Bedauern für den jungen Mann, daß er dieser Feuerprobe ausgesetzt wurde. Aber der erfahrenste Test pilot des Biljarsk-Projekts, Woskow, war tot, von Gant ermor det. Die Leute vom KGB hatten seine Leiche in dem Schließ fach gefunden. Nachdem Tretsow die Kommandozentrale verlassen hatte, besserte sich die Stimmung des Parteichefs wieder. Die Aus
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übung der Macht, verbunden mit dem angstvollen Gehorsam in den Augen des jungen Piloten, beruhigten ihn, bestärkte ihn in der Zuversicht, daß Gant keine Chance hatte – dieser Amerika ner, der es gewagt hatte … Der Parteichef spürte, wie die Wut von neuem in ihm hochstieg, und schaffte es nur mit Mühe, sich wieder zu beruhigen. Vom Löschschaum befreit und bis über die Zähne mit AA-Raketen bewaffnet, wartete die zweite Mig-31 auf dem Rollfeld auf das endgültige Zeichen zum Start. Der Parteichef stellte sich an eines der kleinen Fenster der Tu polew, um die Mig beim Abheben zu beobachten. Auch für Wladimirow waren die wenigen Augenblicke der Unterhaltung des Parteichefs mit dem fast stummen Tretsow mit angstvoller Unruhe beladen. Bis zum Zusammentreffen Gants mit dem Raketenkreuzer konnten es nur noch Minuten sein. Und der Kreuzer mußte Gant stoppen; es war die letzte Chance, da Wladimirow immer noch keine Ahnung hatte, wie Gant seine Treibstoffvorräte aufzufüllen gedachte. Zugleich stand für den General jedoch völlig außer Frage, daß der Ame rikaner irgendwie auftanken mußte. Immer wieder ging er die verschiedenen Möglichkeiten in seinem Kopf durch. Flugzeugträger … polares Packeis … Flugzeug … Wasser landung, um dann von einem U-Boot aus dem Meer gefischt zu werden? Nichts von dem ergab einen Sinn. Für ein U-Boot war es praktisch unmöglich, sich in der Barentssee zu verbergen, und ein Flugzeugträger kam ebenfalls nicht in Frage, da die Mig dort nicht hätte landen können. Nein, es mußte ein Flugzeug sein. Und doch war nirgendwo ein fremdes Flugzeug geortet worden. Daran war nicht zu rütteln. Und wie stand es mit der Möglichkeit, daß Gant mit der Mig notwasserte und darauf hoffte, von einem U-Boot abgeholt und ins Schlepptau genommen zu werden. Das klang zwar mehr als fantastisch, wäre aber praktisch realisierbar gewesen. Und 237
selbst wenn die Mig-31 durch das Meereswasser beträchtlichen Schaden erlitten hätte, würden die Amerikaner aus der Maschi ne doch noch ausreichendes Wissen beziehen können, um den russischen Forschungsvorsprung auf ein beruhigendes Maß zu reduzieren. Es gab jedoch in dem in Frage kommenden Gebiet weder ein U-Boot noch irgendein anderes Schiff, das auch nur binnen mehrerer Stunden Gants letzte Position hätte erreichen können. Blieb also nur noch das polare Packeis. Vielleicht spekulierte Gant darauf, mit seinen letzten Treibstoffvorräten so hoch wie möglich zu steigen und dann den Rest der Strecke im Geleit flug zurückzulegen. Die Vorstellung war verrückt, aber sie lag im Bereich des Möglichen. Für alle tausend Meter Höhe würde eine Maschine vom Typ der Mig-31 etwa zwölf Kilometer im Gleitflug zurücklegen können. Und falls Gant noch ausrei chend Treibstoff hatte, um hoch genug zu steigen, konnte er es bis an den Rand der Packeiszone schaffen. Er wollte sich eben dazu entschließen, dieses Rechenexem pel durch den Computer überprüfen zu lassen, als ihn die Stimme des Code-Operators aus seinen Gedanken schreckte. Der Computer hatte die von der Riga kodiert übermittelte Nachricht entschlüsselt, und der Operator las sie nun von ei nem Papierstreifen ab. »Herr General, Meldung von der Riga …« Der Mann schien unwillig weiterzusprechen, als ihm die im Raum blitzartig an wachsende Spannung plötzlich bewußt wurde. »Was ist?« fuhr Wladimirow ihn an. »Kontakt mit dem nichtidentifizierten Flugzeug hergestellt. Infrarotgesteuerte Raketen abgefeuert; von Kreuzer in zwei Gruppen zu je zwei; von U-Boot in einer Gruppe zu zwei …« »Und weiter?« »Das Flugzeug schien über ein Abwehrsystem im Heck zu 238
verfügen, das die Raketen auf sich gelenkt hat.« Und nach kur zer Pause: »So weit sich das sagen läßt, Herr General, wurde die Mig-31 nicht getroffen. Das Flugzeug befand sich zum Zeitpunkt der Detonation der Raketen bereits außerhalb des Erfassungsbereichs der Infrarotschirme, so daß sich der Kapi tän des Kreuzers zu keiner Äußerung bereit erklären kann.« Der Code-Operator sah Wladimirow an. »Er hätte gern Auf schluß über den Typ und die Kapazitäten des Flugzeugs, das er abzuschießen versucht hat, Herr General.« Wladimirows Kopf zuckte herum, so daß seine Augen voll in das steinerne Gesicht des Staatschefs starrten. Die wütenden und verächtlichen Worte, die eben über seine Lippen fahren wollten, erstarben noch im letzten Augenblick. Das Gesicht vor ihm schien völlig ungerührt und erdrückte die berechtigte Ver ärgerung des Kommandanten des Wolfsrudels unter sich. Er konnte seine Karriere nicht einfach so leicht aufs Spiel setzen, indem er dem Parteichef Vorhaltungen machte. Statt dessen fuhr er den Code-Operator an. »Strengste Geheimhaltung erforderlich. Danken Sie dem Kapitän für seine Bemühungen und fordern Sie ihn auf, sich bereit zu halten, weitere Instruktionen entgegenzunehmen.« »Jawohl, Herr General!« Die Tasten der Kodiermaschine fingen fast unmittelbar dar auf zu rattern an. Indem er eben die in diesem Fall selbstzerstö rerische Geheimhaltungsmanie des Parteichefs nach außen hin ihrer Richtigkeit bestätigt hatte, fühlte Wladimirow sich an die Grenze des für ihn noch Vertretbaren getrieben – eine Erkennt nis, die ihn mit Scham erfüllte. Doch er beeilte sich, dieses Gefühl zu unterdrücken. »Was beabsichtigen Sie jetzt zu unternehmen, Wladimi row?« wollte der Parteichef wissen, sein Gesicht bar jeden Ausdrucks.
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»Ich – ich werde sämtliche verfügbaren Einheiten in die Nä he der Riga beordern.« Der General mußte sich alle Mühe ge ben, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Und was sollen sie dort dann tun?« erkundigte sich Andro pow voller Verachtung. In diesem Augenblick kam ihm Kutusow zu Hilfe. Vielleicht war auch er angewidert von dem, was unterschwellig zwischen den Männern in der Kommandozentrale vor sich ging; oder er spürte einfach nur Wladimirows Anspannung und wollte ihm beistehen, seine Karriere zu retten. Jedenfalls ließ die Verach tung, mit der sich der alte Mann nun an den Vorsitzenden des Geheimdienstes wandte, Wladimirow den Marschall näher ins Herz schließen. »Sie werden, wie Sie eben so schön bemerkt haben, Genosse Vorsitzender, alles in ihrer Macht Stehende versuchen, die Mig-31 zurückzubekommen, die aufgrund Ihrer unverantwort lich laschen Sicherheitsvorkehrungen – sowohl hier in Biljarsk wie in Moskau – von einem einzigen Mann, einem Amerika ner, entführt werden konnte!« Das heisere Hauchen aus der krebszerfressenen Kehle des Marschalls drang mit voller Deut lichkeit an jedes Ohr im Raum. Der Vorsitzende des KGB errötete, und das überhebliche, zynische Lächeln verschwand von seinen Lippen. Wladimirow wandte seinen Blick dem Gesicht des Partei chefs zu. Dieser schien besorgt, als hätte man ihm plötzlich wieder schmerzliche Tatsachen vor Augen geführt. Ohne eine offen ausgesprochene Entschuldigung, jedoch offensichtlich um eine Schlichtung der sich anbahnenden Auseinandersetzung bemüht, wandte er sich dem Marschall zu. »Mihail Iljitsch, ich weiß, daß Sie alles tun werden, was in Ihrer Macht steht. Aber was wollen Sie nun eigentlich genau unternehmen? Was haben Sie vor?« Die Stimme klang ruhig,
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fast besänftigend. Kutusow richtete seinen Blick auf Wladimirow und nickte diesem, fast wie in geheimem Einverständnis, zu, worauf der General wieder zu sprechen begann. »Als erstes muß der Be fehl zum Start von Major Tretsows Mig erteilt werden.« »Natürlich«, erwiderte der Parteichef und wandte sich wie der dem Fenster zu, um einen kurzen Blick nach draußen auf sein Lieblingsspielzeug zu werfen und, immer noch durch das Fenster blickend, weiter zu fragen: »Und was dann?« Wladimirow senkte seinen Blick auf die Karte vor sich. »Er teilen Sie der Riga und den beiden U-Booten Befehl, den Kurs zu ändern und mit voller Kraft hinter der Mig herzufahren.« Über das Klicken der Kodiermaschine hinweg konnte der General den Parteichef murmeln hören: »Gut.« Der Staatschef schien seine Fassung bereits wieder zu erlangen. Dieses Phä nomen war Wladimirow schon des öfteren an den Männern, die sein Land regierten, aufgefallen – es schien eine beruhigende Wirkung auf ihre Nerven auszuüben, wenn sie nur etwas tun – oder besser anordnen konnten. »Rufen Sie sofort die Polarbereich-Suchgeschwader zusam men«, ordnete der General weiter an. Er beobachtete, wie der mächtige Kopf des Parteichefs zustimmend nickte, die Schul tern sich gelöst entspannten. »Lassen Sie die Raketenzerstörer Otlitnji und Slawnij mit voller Kraft auf die Stelle zuhalten, wo Gant am Rand der Packeiszone vermutlich landen wird.« »Jawohl, Herr General.« »Ebenso die drei U-Boote vom Typ V.« »Jawohl, Herr General.« Wladimirow machte eine Pause. Ganz schwach hörte er das Aufheulen der Motoren der Mig ins Innere der Kommandozen trale dringen. Der zweite Prototyp startete. Wladimirow sah
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nicht nach draußen, sondern beobachtete nur die gebeugten Schultern des Parteichefs, während dieser den Start der Mig verfolgte. Dann das unverkennbare Geräusch einer Düsenma schine, die vom Boden abhebt, und der sowjetische Staatschef wandte sich, noch kurz am Fenster verweilend, mit einem kaum sichtbaren Lächeln auf den Lippen wieder in den Raum um. Das »Hörgerät« zeigte immer noch eine Entfernung von hundertdreiundvierzig Kilometern an. Der Treibstoffanzeiger stand auf leer. Gant flog inzwischen mehr oder weniger mit frischer Luft, und er war sich dessen durchaus bewußt. Es war höchste Zeit – und vielleicht war es sogar schon zu spät – rasch an Höhe zu gewinnen und dann im Gleitflug auf die »Mutter« zuzuhalten. Gant war nach langem Überlegen zu der Überzeugung ge langt, daß dies seine einzige Chance war. Er mußte so hoch wie möglich steigen, und dann konnte er nur noch hoffen, daß ihm noch genügend Treibstoff blieb, um das schwierige Kopp lungsmanöver mit dem Tankflugzeug reibungslos abwickeln zu können. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, die »Mutter« könnte ein Schiff sein. Deshalb würde er wohl oder übel aus der Luft betankt wer den. Er wußte, daß die Mig-25 Foxbat, der Vorgänger des Fire fox, einen Höhenrekord von 36 000 Metern aufgestellt hatte und der Firefox imstande war, diese Marke noch zu übertrump fen. Wenn es ihm daher gelang, den Firefox bis auf zwölftau send Meter zu bringen, würde er es bis zum vereinbarten Treffpunkt mit dem Tanker schaffen. Er mußte jedoch ein schreckliches Risiko eingehen. Er muß te sich zum Zeitpunkt des Rendezvous noch in ausreichender Höhe befinden und außerdem über genügend Treibstoff für die
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Abwicklung des Kopplungsmanövers verfügen. Die Triebwerke zu beiden Seiten des schlanken Rumpfs des Firefox liefen nach wie vor ohne Aussetzer. Jedoch waren in zwischen mit Sicherheit bereits die automatischen Notreserven angezapft worden, und Gant hatte nicht die geringste Ahnung, wie weit er damit noch kommen würde. Jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, daß sie noch ausreichen würden, um bis zu dem Treffpunkt mit der »Mutter« zu fliegen. Er drückte die Drosselventile hinein und zog den Steuer knüppel an seinen Körper heran. Die Nase des Firefox hob sich, und dann stieg das Flugzeug, wie Gant auf dem Höhen messer verfolgen konnte, mit zunehmender Geschwindigkeit in den Himmel empor. Er schien während des eineinhalbminüti gen Steigflugs kein einziges Mal zu atmen. Mit zunehmender Höhe vertiefte sich auch das bläßliche Blau des Himmels. Als er schließlich auf neunzehntausend Meter gestiegen war, drosselte er die Triebwerke so weit, daß sie gerade noch die Generatoren betrieben. Von dieser Höhe aus würde er sich immer noch in achttausend Meter Höhe be finden, wenn er auf den Tanker traf. Das würde ausreichen. Er überprüfte den Radarschirm. Nichts. Das »Hörgerät« gab die Entfernung zum Zielpunkt mit hun dertfünfunddreißig Kilometern an. Der Gedanke an seine Treibstoffvorräte, die inzwischen durch den raschen Steigflug fast gänzlich aufgebracht sein mußten, nagte mit ätzender Be harrlichkeit an ihm. Vor ihm, in der Ferne, zog in grauer Schwere eine Wolken bank auf. Auf dem Radarschirm war nach wie vor nichts zu sehen. Geräuschlos glitt der Firefox durch die Leere des Him mels, über sich das tiefe Blau der oberen Schichten der Atmo sphäre, unter sich die graue Öde der Barentssee. Weit vor ihm, noch hinter der bedrohlich sich erhebenden Wolkenbank, kam
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ein weißer Streifen in Sicht – das Packeis. Frank Delano Seerbacker, Captain der United States Navy, lag in seiner engen Koje in seiner engen Kajüte an Bord der USS Pequod, eines atomkraftgetriebenen U-Boots der »Stur geon«-Klasse. Die Pequod trieb nun schon seit fünf Tagen un ter der Eisscholle, auf der Gant landen sollte, in Richtung Sü den. Die bisherige Fahrt der Pequod war durch drei recht unter schiedliche Phasen gekennzeichnet – erst der rasche Aufbruch von der geheimen Flottenbasis an der Küste Connecticuts, dann die klaustrophobische Passage unter dem Eis des Pols, und seitdem, dachte der Kapitän gereizt, trieben sie nun mit stillste henden Motoren mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 3,1 Seemeilen pro Tag unter dieser Eisscholle dahin. Die Pequod war unbewaffnet – für Seerbacker ein weiterer Grund des Ärgernisses. Die Torpedokammern und die vorderen Mannschaftsquartiere des U-Boots waren mit hochwertigem Treibstoff für das Superflugzeug geflutet, das die CIA den Russen klaute. Seerbackers faltige Stirn runzelte sich verächtlich. Er rümpf te seine lange Nase. Er mochte die CIA nicht – vor allem, wenn ihm dieses zwielichtige Gesindel auch noch Befehl erteilte, tagelang unter so einer verdammten Eisscholle zu hocken und darauf zu warten, daß eine Düsenmaschine darauf landete! Er lag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf seiner Koje und starrte gegen die Decke. Er und seine Männer hatten diese Warterei gründlich satt. Man hatte ihnen nicht einmal die kleine Abwechslung ge gönnt, wenigstens selbst eine geeignete Eisscholle ausfindig zu machen, dachte er ärgerlich. Die Scholle war anhand von Hun derten von Satellitenaufnahmen ausgewählt worden, deren An 244
gaben daraufhin noch durch eine Lockheed Orion bestätigt wurden, die besagte Scholle aus nächster Nähe begutachtet hatte. Anhand statistischer Daten aus ozeanographischen Un tersuchungen sahen sich die Experten in Langley dann zu der sicheren Zusage ermächtigt, daß die Scholle das Gewicht des Firefox aushalten würde. Seerbacker hatte man dann nur ge sagt, wo er die Eisscholle finden würde. Und dann hatten ihm diese Dreckskerle noch mit ihrem verdammten Kerosin sein schönes Boot versaut. Ein leises Klopfen an der Tür. »Was ist?« meldete er sich, eher gereizt denn dankbar, aus seinen fruchtlosen Träumereien gerissen zu werden. Ein Besat zungsmitglied reichte ihm ein Stück Papier. Was darauf stand, hatte er bereits erwartet; und nun, da es tatsächlich eingetroffen war, reizte es ihn doppelt. Die Lufttemperatur über der Eis scholle sank viel zu rasch, und es kamen Wolken auf – Wol ken, die Gant die Sicht auf die Scholle und ihre Umrisse ver sperren würden. Wütend nickte Seerbacker auf das Papier in seiner Hand. Das war wieder einmal sein sprichwörtliches, verdammtes Glück! Er entließ den Matrosen. Mehr brauchte er gar nicht zu wissen, und falls es doch irgendwelche Neuigkeiten geben soll te, würde man ihm dies rechtzeitig mitteilen. Jedenfalls war dies alles andere als eine Aufgabe für einen altgedienten Kapi tän, und einen der besten seines Fachs noch dazu. Das rasche Absinken der Lufttemperatur konnte sehr leicht einen rapiden Wetterumschwung nach sich ziehen, nachdem während der letzten Tage die Witterung für diese Jahreszeit und diese Breiten ausgesprochen stabil und mild gewesen war. Der Umschwung konnte, wenn er wirklich kam, ohne weiteres Eisnebel zur Folge haben, und Seerbacker brauchte nicht viel von der Fliegerei zu verstehen, um zu wissen, daß Gant in die sem Fall unmöglich auf der Eisscholle würde landen können. 245
Sie verfügten an Bord über keinerlei navigatorische Hilfsmittel, um eine automatische Landung durchzuführen. Außer dem Sender, der Gant mitteilte, wo sie sich befanden, würde dieser bei der Landung ausschließlich auf seine fliegerischen Fähig keiten angewiesen sein. Und die Wetterstation hatte also örtli che Wolkenbildung gemeldet … Diese Bedenken erinnerten Seerbacker gleichzeitig auch dar an, welche Instruktionen er für einen Notfall erhalten hatte. Das Boot durfte auf keinen Fall in feindliche Hand fallen. Wa shington konnte unmöglich eingestehen, daß ein amerikani sches U-Boot in die Entführung des Firefox verwickelt war. Seerbacker hatte den Befehl erhalten, die Pequod, wenn nötig, zu zerstören, bevor sie in russische Hand fiel. Seerbacker versuchte, möglichst nicht an seine geheimen In struktionen zu denken, die er in einem Umschlag erhalten hat te, den er erst auf See geöffnet hatte. Falls Gant bei der Lan dung auf dem Eis verunglückte oder in die Nähe der Pequod ins Meer stürzte, dann war er angehalten, alles zur Rettung des Piloten zu unternehmen – und vor allem zur Rettung der Ma schine, die im Schlepptau des U-Boots unter dem Eis des Nordpols hindurch in die Vereinigten Staaten gebracht werden sollte. Dies war, wenn auch keineswegs ohne erhebliche Schwierigkeiten, theoretisch durchaus durchführbar, aber er hoffte doch, daß es nicht so weit kommen würde. Einem Pilo ten wie Gant sollte es schließlich keine Schwierigkeiten berei ten, auf dieser Eisscholle zu landen. Das Problem war nur, mußte Seerbacker sich schließlich doch eingestehen, daß Gant sich verspätet hatte. Der Kapitän der Pequod war hinsichtlich der Reichweite der Firefox infor miert, und Gant hätte eigentlich schon vor Minuten über der Eisscholle auftauchen sollen. Und im Falle dieses Flugzeugs bedeuteten Minuten gewaltige Zeitabstände – auf jeden Fall groß genug, um den Tod zu bringen. Er würde erst wissen, ob 246
Gant die Entführung überhaupt geglückt war, sobald die Mig auf dem Infrarotschirm des U-Boots auftauchte, beziehungs weise nicht auftauchte. Die einzige Verbindung der Pequod mit der Firefox bestand in einem einzelnen Metallstab mit dem Sender des Leitstrahlsignals, das Gant mit seinem »Hörgerät« auffing, und dieser Metallstab, zur Tarnung weiß gestrichen, war von unten durch das Eis der Scholle über dem U-Boot ge rammt worden. Sobald Gant über der Eisscholle auftauchte, würde sich die Frequenz des von ihm empfangenen Signals ändern, und er würde ein Geräusch wie von einem Unterwasser-Sonar hören. Daraus würde er hoffentlich schließen können, daß er auf einer Eisscholle landen sollte – bei bedecktem Himmel, dachte Seer backer bitter, vielleicht sogar bei Eisnebel. Das konnte zur Fol ge haben, daß sie den Piloten vom Eis kratzen durften und da nach die Überreste des Flugzeugs versenken und die Tausende von Seemeilen nach Connecticut schleppen mußten. Er gab sich alle Mühe, gar nicht erst an diese Möglichkeit zu denken. Gant hatte sich verspätet. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Zwar nur Minuten – aber er war bereits überfällig. Sein Sprit muß ihm doch schon längst ausgegangen sein, dachte Seerbak ker voller Wut. Er wollte gerade seine langen Beine über den Rand seiner Koje schwingen, um in den Kommandoraum hi nunterzugehen, als er es sich doch noch einmal anders überleg te. Nach fünf Tagen Warten konnte er nicht gleich in Panik ausbrechen, bloß weil dieser Kerl ein paar Minuten verspätet war. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten … Überraschenderweise war es Buckholz, der gelassene, zuver sichtliche, fast stumme Buckholz, der als erster unter dem Druck nachgab. Aubrey war sich der Spannung sehr wohl be
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wußt, die sich seit dem Morgen, nachdem Shelley die Überre ste ihres Frühstücks fortgeräumt hatte, zunehmend im Raum ausgebreitet hatte. Plötzlich hatte es nichts mehr zu tun gege ben. Mit einem Mal galt es nur noch zu warten. Aubrey wußte, weshalb Buckholz so schweigsam, so ange spannt war. Denn auch er teilte seine Beunruhigung; auch er wußte, wie knapp Gants Treibstoffvorräte waren. In der letzten Meldung von der Pequod, von Mutter eins, war nur von der rapide sich verschlechternden Wetterlage die Rede – kein Wort über Gant. Aber es war weniger das Wetter, das Aubrey Sorgen machte, als der Treibstoff. Seiner Meinung nach war Buckholz bereits der festen Überzeugung, daß Gant es nicht geschafft hatte. Au brey sah erst auf die Uhr und dann auf Buckholz. Es war im Moment vielleicht nicht gerade angebracht, Buckholz an etwas zu erinnern, was er offensichtlich vergessen hatte, aber Aubrey sprach den Amerikaner schließlich doch in aller Höflichkeit an. »Ist es nicht langsam an der Zeit, unser U-Boot in die Arena zu schicken, Buckholz?« Nach einem kurzen Moment des Schweigens fuhr Buckholz auf. »Wofür, zum Teufel?« Seine Augen funkelten Aubrey an, als hätte dieser ihn eben in einem feierlichen Ritual gestört, das größter Konzentration bedurfte. Aubrey breitete die Arme aus. »Weil es an der Zeit ist, und außerdem wissen wir noch nicht mit Sicherheit, daß er nicht durchgekommen ist …« »Könnten Sie mir dann vielleicht sagen, was dieses ganze verschlüsselte Gebrabbel bedeuten soll, das zwischen der Riga und Biljarsk hin und her ging?« ereiferte sich Buckholz weiter. »Sie haben ihn erwischt, Aubrey – ihm den Arsch gründlich angesengt!« Aubrey bemühte sich, sein zuversichtliches Lächeln beizu 248
behalten. »Ich weiß nicht; es könnte doch auch genausogut bedeuten, daß sie ihn nicht erwischt haben.« In dem darauf entstehenden Schweigen schien Buckholz noch tiefer in seinem Sessel zu versinken. Anders, einen Papp becher mit Kaffee in der Hand, warf Aubrey über den Raum hinweg einen fragenden Blick zu. Dieser nickte und sagte: »Das Ablenkungsmanöver.« Anders trat an das Telefon in der Ecke, wählte eine Nummer und begann zu sprechen. Als Buckholz seine Stimme hörte, wandte er sich nach ihm um, um ihn scheinbar unbeteiligt zu beobachten; und dann sah er wie der Aubrey an und schüttelte den Kopf. Darauf gab er sich wieder der Betrachtung der Papiere auf dem Schreibtisch vor ihm hin. Anders hatte währenddessen die Kommandozentrale im Verteidigungsministerium verständigt, von wo aus ein Ablenkungs-U-Boot, das westlich vor Spitz bergen lag, und mehrere auf Grönland stationierte Flugzeuge ihren Einsatzbefehl erhalten sollten. Die Flugzeuge würden binnen weniger Minuten auf den rus sischen Radarschirmen zu sehen sein, wie sie in Richtung des Nordkaps flogen, während das U-Boot die Aufmerksamkeit der sowjetischen Schiffe in seiner Umgebung auf sich ziehen und damit von der Pequod ablenken würde, während diese zum Betanken des Firefox auftauchte. Mit einem Mal wurde Aubrey von heftigen Zweifeln befal len. Würde die Pequod überhaupt je auftauchen müssen? Ein Blick auf Buckholz genügte, um zu wissen, wie der Amerika ner darüber dachte. Aubrey rieb sich seine glatten Pausbacken und sinnierte weiter vor sich hin. In sechstausendsechshundert Meter Höhe tauchte der Firefox in die Wolkenbank, die Gant schon seit einer Weile unerbittlich hatte näher kommen sehen. Es war unmöglich gewesen, das
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Ausmaß der Wolkenbank abzuschätzen. Sie konnte sehr leicht bis auf die Wasseroberfläche hinabreichen. Vier Minuten von seinem Ziel entfernt, sank er mit einer Fluggeschwindigkeit von hundertachtzig Knoten pro Minute um tausend Meter. Am Zielpunkt würde er also immer noch in einer Höhe von zwei tausendsechshundert Metern fliegen. Das würde ausreichen. Auf dem Schirm war noch immer nichts zu sehen. Lediglich der TFR-Schirm zeigte die ewig gleichen Eisschollen an, die auf dem Wasser unter ihm langsam nach Süden wanderten. Nichts, was auch nur annähernd wie ein Schiff ausgesehen hät te. Und auch kein Flugzeug. Da war nichts als das unermüdli che, monotone Signal, das eine unbekannte Quelle aussandte. In das Grau der Wolken eingehüllt, fröstelte Grant. Das Si gnal stellte nun seine einzige Verbindung mit der Realität dar, und doch war es nichts weiter als ein Geräusch. Er war unfä hig, sich vorzustellen, es könnte von einer physisch realen Quelle herrühren. Aber Gant war schon immer ein elektroni scher Pilot gewesen, hatte sich schon immer auf Instrumente verlassen. Daher geriet er auch nicht wirklich in Panik. Das Signal mußte einen Ursprung haben, wie fern und geisterhaft dieser auch sein mochte. Es war keine Illusion, und er vertraute ihm. Dennoch begann es in der Kabine des Firefox langsam kalt zu werden – ein Vorgeschmack auf die eisige, salzige Kälte des Meeres. Seerbacker schwang seine Beine von der Koje, als sein Adjutant, der in seiner Aufregung persönlich gekommen war, den Kopf durch die Tür der Kapitänskajüte steckte und von der plötzlichen Anspannung völlig außer Atem meldete: »Wir ha ben ein Flugzeug gesichtet, Herr Kapitän; es kommt direkt auf uns zu.«
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»Entfernung?« knurrte Seerbacker und setzte seine Mütze auf, um sich an dem jungen Mann vorbei nach draußen zu pressen, wo er in den Kommandoraum eilte. »Weniger als sechs Kilometer, Herr Kapitän; Höhe etwa dreitausendsechshundert Meter. Die Maschine fliegt genau auf dem Leitstrahl. Außerdem ist sie nur auf dem Infrarotschirm ganz schwach zu sehen; über Radar keine Anzeige. Sie fliegt vermutlich, ohne die Triebwerke eingeschaltet zu haben.« Ohne sich nach dem Mann hinter ihm umzusehen, sagte Seerbacker: »Dann ist er es.« Und er fügte hinzu: »Was haben wir auf der Eisscholle für eine Temperatur?« »Sie sinkt immer noch, Herr Kapitän. Allerdings liegt sie noch ein paar Grad über dem Gefrierpunkt.« Seerbacker blieb plötzlich stehen und drehte sich zu seinem Adjutanten um. »Ein paar Grad?« wiederholte er. »Jawohl, Herr Kapitän.« »Windstärke?« »Zwischen fünf und zehn Knoten.« »Nicht genügend Turbulenz also?« entgegnete der Kapitän geheimnisvoll. Der jüngere Mann, Lt. Commander Dick Flei scher, verstand jedoch seinen Gedankensprung und nickte. »Aber was ist mit seiner Turbulenz, wenn er zur Landung an setzt, hm? Was wird dann wohl sein?« »Es sollte nicht …«, fing der jüngere Mann an. »Was glauben Sie wohl, Dick – bei dem Glück, das dieser Kerl die ganze Zeit hat? Er wird die Räder aufsetzen, bremsen – und zack! Die Lichter gehen aus!« Er versuchte zu lächeln, aber es wirkte nicht sonderlich überzeugend. Beide Männer wußten, daß der Inhalt dieser witzigen Bemerkung todernst war. Wenn die Temperatur noch um zwei Grad sank, bedeutete dies, daß die Luft über der Eisscholle den Gefrierpunkt erreich
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te; und ab null Grad würde sich Eisnebel zu bilden beginnen. Und die durch den zur Landung ansetzenden Firefox entste henden Turbulenzen konnten ohne weiteres dieses Absinken der Temperatur verursachen. Seerbacker drehte sich wieder um und marschierte den Gang zum Einsatzraum hinunter. Dort angelangt, fragte er: »Wo ist er?« »Fünf Kilometer – etwas über dreitausenddreihundert Meter, Herr Kapitän«, erwiderte der Mann am Radarschirm. »Fliegt er immer noch auf unserem Leitstrahl?« »Jawohl, Herr Kapitän.« »Kann er die Eisscholle sehen?« »Jawohl, Herr Kapitän. Die Wolkendecke beginnt in viertau send Meter Höhe.« »Dann werden wir dem Herren jetzt eine kleine Überra schung bereiten«, sagte Seerbacker mit einem grimmigen Lä cheln. »Befehl zum Auftauchen!« Die Eisscholle war das einzige dort unten, was Gant wirklich sah. Er war in einer Höhe von knapp viertausend Metern unter die Wolkendecke gesunken, noch drei Minuten vom Ziel ent fernt, und da war sie. Er flog direkt auf sie zu, und sie war groß – etwa dreieinhalb Kilometer lang und fast ebenso breit. Auf dem Radarschirm war jedoch weder ein Schiff noch ein Flug zeug zu sehen. Aber das Ziel lag weniger als zehn Kilometer von ihm entfernt. Und diese Eisscholle hatte genau die richtige Entfernung. Er wußte, daß es die Eisscholle sein mußte. Schon lange hat te er irgendwie vermutet, daß nie der Rand der Packeiszone sein Ziel sein konnte und daß auch nicht beabsichtigt worden war, den Firefox von einem Tankflugzeug aus mit Treibstoff zu 252
versorgen; das wäre zu riskant und gefährlich gewesen. Es mußte das Floß sein – und er sollte wohl darauf landen. Seine Augen suchten das Meer vor ihm ab, aber er konnte nichts er kennen. Für einen Augenblick wäre er fast in Panik ausgebro chen. Eine falsche Scholle, wie eine schmutzige weiße Seerose im Grau des eisigen Ozeans. Sie war von anderen, kleineren Eisschollen umgeben. Nirgendwo war ein Anzeichen von Le ben zu sehen! Er spürte den galligen Geschmack der Angst in seine Kehle hochsteigen; er sah sich außerstande, die Situation ruhig zu analysieren. Und dann geschah es. Das Signal aus dem Hörgerät veränderte sich, wurde ein unterbrochenes Piepen, das in Abständen von einer halben Sekunde ertönte. Gant fiel seine Ähnlichkeit mit Schallortungssignalen auf. Das Piepen wurde immer drängender. Er näherte sich dem Ziel. Er studier te den Wellengang auf See und schätzte die Windgeschwindig keit – ja, zwischen fünf und zehn Knoten, nicht mehr. Der Schock, den die plötzliche Änderung des Signals in ihm ausge löst hatte, war noch kaum verflogen, als er sich bereits auf die Landung vorzubereiten begann. Unter dem Einfluß des Entfro sters verschwanden die letzten Eiskristalle auf den Scheiben des Cockpits. Gant musterte die Eisscholle – ihre Oberflächen beschaffenheit, die Länge möglicher Landebahnen; er hielt nach irgendwelchen Markierungen Ausschau, überprüfte die Windrichtung … Und als er es dann sah, überkam es ihn wie ein Schock, als hätte man ihm einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf gekippt. Am westlichen Rand der Eisscholle wölbte sich ein Stück vor ihm das Eis, bis es langsam unter der Spannung zu brechen begann. Der verstärkte Turm eines Atom-U-Boots tauchte auf, und darunter konnte Gant bereits den massigen Rumpf erkennen, während das Eis in gewaltigen Brocken von ihm abglitt. Dann löste sich ein orangefarbener Ballon vom Turm des U
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Boots, gefolgt von einer ebenfalls orangefarbener Rauchfahne, die senkrecht hochstieg, bis der Wind sie niederdrückte und über die Eisscholle trieb. Sobald er den Turm sich durch das Eis bohren gesehen hatte, wußte Gant, daß er ein amerikani sches Boot vor sich hatte. Automatisch sah er auf den Radarschirm. Negativ. Er brach te die Triebwerke wieder ins Spiel, und als er spürte, wie sie das Flugzeug mit einem leichten Ruck beschleunigten, senkte er die Nase der Firefox. Er stabilisierte seine Geschwindigkeit bei zweihundertsechzig Knoten. Der orangefarbene Rauch glitt unter seiner Flügelspitze hindurch, und inzwischen gab das »Hörgerät« ein kontinuierliches Geräusch von sich. Das Ziel befand sich unter ihm – ein U-Boot voll Kerosin; es würde weniger als eine Stunde dauern, bis er wieder aufgetankt hatte und starten konnte. Er zog die Maschine nach links, um in ei ner Richtung mit der Rauchfahne, die vom Turm des U-Boots hochstieg, niedergehen zu können. Er würde ziemlich genau entlang der Nord-Süd-Achse der Eisscholle landen, so daß er fast vier Kilometer schneebedeck ten Eises zur Verfügung hatte, um das Flugzeug zum Stehen zu bringen. Er wußte, daß der Schnee, wenn er nicht hart gefroren war, eine bremsende Wirkung ausüben würde. Fast wie eine Landung auf einem Flugzeugträger, dachte Gant – auch etwas, das er in Vietnam gelernt hatte. Er fuhr das Fahrwerk aus, und dann leuchtete die Kontroll lampe auf – fertig zur Landung. Er ging auf zweihundertzwan zig Knoten herunter und stellte die Tragflächen gerade. Die Eisscholle lag direkt vor ihm, die dunkle Zigarre des U-Boots in ihrem Eis eingebettet. Die Höhe betrug inzwischen dreihundert Meter. Er senkte die Geschwindigkeit noch einmal auf hundertachtzig Knoten. Er verlor nun pro Minute tausend Meter an Höhe. Die grauen Wellen schienen gierig nach ihm zu greifen. Inzwischen fing 254
das Weiß der Eisscholle in zunehmendem Maß zu blenden an; er konnte jedoch trotzdem noch erkennen, daß die Oberfläche einen guten Eindruck machte. Er schloß die Drosselventile, so daß der Firefox plötzlich matt abzusinken schien. Die Landeklappen voll ausgestellt, sackte die Maschine kurz ab und holperte dann gefährlich hin und her, als die Räder in die Schneeoberfläche bissen und mit leichter Verzögerung auch das Vorderrad aufsetzte. Für einen Moment schien das Cockpit in dem aufstäubenden Schnee ein gehüllt, aber kaum eine Sekunde später war der Entfroster in Aktion getreten, und die Scheiben wurden wieder klar. Während Gant noch überlegte, ob die Triebwerke aufgrund des Schnees in den Luftansaugdüsen ausgehen würden, stellte er plötzlich fest, daß er absolut nichts mehr sehen konnte. Ein gehüllt in dichten, grauen Nebel schoß er über eine Oberfläche aus weißem Eis und Schnee.
9. Druck Gant erkannte sofort, was passiert war – der Gefrierpunkt. Fast auf dem Fuß hatte sich entlang seines Landungskurses eine dichte Nebeldecke gebildet. Dieses Wissen linderte seine Angst keineswegs. Die Triebwerke waren nicht ausgegangen, und der Schnee wirbelte hoch ringsum das Cockpit auf – er konnte absolut nichts mehr sehen. Er war völlig hilflos. Der Schnee auf der Oberfläche der Eisscholle bremste zwar den Schwung der Maschine enorm, aber er schlidderte dennoch über das Eis einer Eisscholle auf die eisigen, grauen Wasser der Barentssee zu. Wenn die Länge der Eisscholle nicht aus reichte, wenn sie zu kurz war, wenn er sich verschätzt hatte, wenn …
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Der Firefox holperte inzwischen mit Schrittgeschwindigkeit über die rauhe Oberfläche, deren Unebenheiten durch die Schneedecke nur zum Teil ausgeglichen wurden. Und auch der Nebel lichtete sich bereits wieder, da mit dem Langsamerwer den der Mig auch die Luftbewegung abnahm. Er sah über seine Schulter zurück und bewegte sich dabei vielleicht zum ersten mal seit einer Stunde in seinem Sitz. Er konnte weder den orangefarbenen Ballon noch die orangefarbene Rauchfahne erkennen, die ihm angezeigt hätten, wo sich das U-Boot be fand. Er wendete die Maschine um hundertachtzig Grad und rollte die Strecke, die er gekommen war, wieder zurück, wäh rend er zugleich angestrengt nach irgendwelchen Gestalten, Lichtern oder Markierungen Ausschau hielt, die ihm im Nebel den Weg hätten weisen können. Er spürte, wie die Anspannung langsam von ihm wich. Er war gelandet. Plötzlich glaubte er, eine verschwommene Gestalt durch den Nebel tappen zu sehen. Aber er war sich nicht sicher. Der Ne bel schien wieder dichter geworden zu sein. Die Gestalt hatte keine Lichtquelle bei sich. Er drückte auf einen Knopf und klappte das Dach des Cockpit hoch. Die eiskalte Polarluft, die auf der Stelle in die Kanzel drang, stach wie mit Messern durch den schützenden Druckanzug, als wäre dieser nur aus leichter Baumwolle. Binnen einer Sekunde drang die Kälte bis in seine Knochen, und seine Zähne klapperten haltlos hinter dem getön ten Visier seines Helms. Auch seine Hände zitterten, als hätte sie die Druckwelle einer Explosion erfaßt. Er nahm den Helm ab. Sein kahlgeschorener Kopf schien wie in einem kalten Feu er zu prickeln. Uneingedenk seines Zähneklapperns reckte er seinen Kopf aus dem Cockpit, um angestrengt in die Richtung zu lauschen und zu schauen, in der er die Gestalt im Nebel be merkt zu haben glaubte. Zweimal dachte er kurz hintereinander, zu seiner Linken Stimmen gehört zu haben. Durch den dichten Nebel schienen
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die Stimmen, gleich den Schreien fremdartiger Vögel, verzerrt, und er war sich nicht sicher aus welcher Richtung sie kamen. Dann fiel ihm ein, daß die Männer von dem U-Boot ihn ver mutlich an dem Punkt suchten, wo er die Maschine zum Stehen gebracht haben würde; sie hatten möglicherweise nicht damit gerechnet, daß er sofort gewendet hatte und auf seinen Spuren zurückgefahren war. Und dann erblickte er einen schwachen Lichtschein, der eine formlose Gestalt erhellte, die, eine Lampe an ihrer Hand bau melnd, schwerfällig auf ihn zustapfte. Er hörte den Mann sei nen Namen rufen. Er antwortete nicht, und die Gestalt rief ein zweites Mal. Gant verspürte einen seltsamen Widerwillen zu sprechen, und dies trotz der Kälte, trotz des plötzlichen über ihn hereinbrechenden Gefühls der Einsamkeit, das ihn schon die ganze endlos lange Zeit seit dem Start in Biljarsk begleitet hatte. Die Stimme war die eines Amerikaners. Trotz seines seltsamen Gefühls des Unbeteiligtseins mußte Gant lächeln – ja, das war es: ein Gefühl, als ginge ihn das alles nichts an, als hätte das alles nichts mit ihm zu tun. Es war so gewöhnlich, eine durch den Schnee stapfende Gestalt mit einem New Yor ker Akzent. Wie konnte das etwas mit ihm zu tun haben, mit dem Firefox, und mit dem, was er hinter sich hatte. Der Wind frischte auf und blies ihm die eisige Luft der Rea lität, der Gegenwart, mitten ins Gesicht, um ihn wieder an die Kälte und sein körperliches Mißbehagen zu erinnern. Er bildete mit den Händen einen Trichter vor seinem Mund und rief: »Hierher – hier ist die Maschine!« Seine eigene Stimme er schien ihm dünn, fast unwirklich. »Sind Sie’s, Gant?« antwortete die Gestalt. Erst in diesem Augenblick wurde Gant bewußt, daß er offensichtlich wesent lich besser sah als die Gestalt links unter ihm. Ganz langsam drehte er den Firefox im Nebel und sah dann, wie die Gestalt plötzlich die Orientierung wiederfand. »Meine Güte, ich brau 257
che wohl wirklich eine Brille!« brummte der Schemen vor sich hin. Gant brauchte die Bremsen gar nicht anzuziehen; der Schnee brachte die ausrollende Maschine zum Stehen. Die gewaltigen Triebwerke seitlich hinter ihm dröhnten leise vor sich hin. Nun konnte er hören, wie die lange, dünne Gestalt, der nur der dicke Parka ihr massiges Aussehen verlieh, in ein Walkie-talkie sprach. »Alles in Ordnung, Leute – ich habe ihn gefunden. Kommt hier rüber!« Dann trat die Gestalt vor. Eine behandschuhte Hand tatschte gegen den Rumpf der Firefox, und Gant starrte, über den Rand der Kanzel geneigt, in ein asketisch gefurchtes Gesicht hinab. Unter dem Pelzrand der Kapuze des Parkas blitzte es von der Mütze des Mannes schwach golden hervor. In dem Gefühl, daß es in diesem Augenblick nichts zu sagen gab, konnte Gant nur grinsen. Eine Welle der Erleichterung durchzog seinen Körper, und er begann zu zittern, jedoch we niger vor Kälte als aufgrund des Gefühls, das ihn in diesem Moment überkam. »Tag, alter Junge«, begrüßte ihn Seerbacker. »Tag«, erwiderte Gant mit erstickter Stimme. Er sah ver schiedene andere Gestalten, begleitet vom schwachen Licht schein ihrer Lampen, durch den Nebel auf sich zukommen. »Na, Käptn«, meldete sich eine Stimme, »sollen wir viel leicht jetzt die Ehrenfront bilden?« Seerbacker, offensichtlich aus seiner Betrachtung von Gants Gesichtszügen gerissen, wandte seinen Kopf und brüllte über die Schulter zurück. »Ja, bringen wir das Vögelchen da zu sei ner Mutter rüber; es stirbt ja schon fast vor Durst.« Wieder an Gant gewandt, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: »Sie sehen ja nicht gerade nach was Besonderem aus, Mister, aber ich nehme an, Sie sind wohl …?«
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»Ganz im Gegensatz zu Ihnen, nehme ich an, Captain. Sie sind ja im Moment wirklich eine durchaus imposante Erschei nung«, schoß Gant zurück. Seerbacker nickte grinsend und hob das Walkie-talkie an sein Gesicht. »Hier spricht der Kapitän. Alle Mann bitte melden!« Er lauschte aufmerksam, während sich die einzelnen Männer wie bei einem Appell einer nach dem anderen meldeten. Als schließlich wieder Stille eintrat, sah er zu Gant hoch und sagte: »Ich habe meine halbe Crew auf dieser verdammten Eisscholle herumstehen, Mister, in zwei schönen geraden Linien, und zwar bis zum Schiff. Glauben Sie, Sie können da mittendurch den Weg finden?« »Na, eine Autobahn ist da wohl nichts dagegen«, erwiderte Gant. Seerbacker hob seine beiden Arme und klammerte sich mit Händen und Füßen an den dafür vorgesehenen Vertiefungen im Rumpf des Flugzeugs fest. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich ein Stück mitfahre?« »Ich weiß nicht recht; bisher wurde hier mit Schwarzfahrern recht übel umgesprungen.« »Ich kann’s ja mal riskieren.« Seerbacker grinste. »Also gut, dann fahren wir schon mal los.« Gant löste die Bremsen, und der Firefox setzte sich in Bewe gung. Er hielt auf die ersten beiden Männer zu, ihre Lampen schwach durch den Nebel leuchtend, und rollte dann langsam durch das Lichterspalier, das sich vor ihm auf tat. Er hörte Seerbacker schreien: »Ist ja schon gut, Jungs, kommt ruhig näher ran! Dieser Vo gel beißt schon nicht; es ist einer von uns, verdammt noch mal!«
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Die Lichter vor ihnen rückten näher zusammen, wurden hel ler. Der Weg war nun besser zu sehen. »Danke«, rief Gant zu dem unsichtbaren Seerbacker hinun ter. »Nichts zu danken, Mister. Zum Helfen sind die Jungs ja schließlich da, auch wenn sie absolut keine Lust dazu haben.« Aus dem Ton, in dem der Kapitän den letzten Satz gesagt hatte, spürte Gant instinktiv, wieviel Ärger in diesen Männern zu sammen mit der Erleichterung über seine Ankunft hochge kommen sein mußte – der lange aufgestaute Ärger über dieses endlose, untätige Warten inmitten einer feindlichen See und eine gewaltige Eisscholle über ihnen. »Das tut mir leid«, sagte Gant unwillkürlich. »Was?« fuhr Seerbacker auf, um dann hinzuzufügen: »Ach so. Befehl ist Befehl, Mister; machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken.« Gant sah eine dunkle, flache, längliche Form mit einem Aufsatz vor sich aus dem Nebel auftauchen. »Da ist es«, sagte Seerbacker überflüssigerweise. Gant spürte den Stolz, der bei diesen Worten in seiner Stimme mitschwang – der Stolz eines Kapitäns auf sein Schiff. »Ja, ich seh’s«, erwiderte er. »Stellen Sie Ihre Maschine längs dazu«, wies ihn Seerbacker an. »Wollen Sie im Wagen essen, oder kommen Sie auf ‘nen Sprung rein?« Gant drehte die Maschine parallel zu dem halb im Eis begrabenen Boot und stellte die Triebwerke ab. In der darauf eintretenden absoluten Stille empfand Gant plötzlich ein starkes Gefühl der Zuneigung für das Flugzeug. Es war nicht etwas, das er gestohlen hatte; es war keine Fracht, welche er im Auftrag der CIA beförderte – nein, es hatte ihn aus dem Herzen Rußlands getragen, hatte ihm zur Flucht verhelfen, hatte es mit einem Raketenkreuzer aufgenommen, hatte es … Seerbacker unterbrach diese wilde, kalte, mechanische Liebeserklärung an
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eine Maschine. »Willkommen in ›Joe’s Diner‹. Das Unterhaltungsprogramm läßt zwar etwas zu wünschen übrig, aber die Hamburger dürf ten unseren müden Wanderer durchaus zufriedenstellen. Kommen Sie runter, Mister Gant, kommen Sie runter – und herzlich willkommen.« Gant löste sich aus seinen Gurten. Als er aufzustehen ver suchte, protestierten seine Muskeln und Gelenke erst einmal nachhaltig. Die eisige Kälte nagte an ihm, und er zitterte am ganzen Leib. »Danke«, sagte er. »Vielen Dank.« Nicht länger widerstre bend, kletterte er aus dem Cockpit und auf das Eis herab. »Sämtliche Pol-Suchgeschwader sollen sofort Meldung er statten!« ordnete Wladimirow an. Es dauerte vier Minuten, bis diese Meldungen zusammenge stellt waren – vier Minuten, die der Parteichef nicht zu vergeu den gewillt war, wo auch immer Gant sein mochte und was auch immer er vorhatte. Als schließlich auch der Bericht des letzten Suchflugzeugs eingegangen war, bestand kein Zweifel mehr, daß die Amerikaner nichts unternommen hatten, irgendwo auf dem Eis eine Landebahn vorzubereiten und zu markie ren und Fässer mit Treibstoff zu lagern. In Wladimirows Kopf kreisten die Gedanken wie wild gewordene Insekten. Er hatte die Antwort; sie hielt sich nur irgendwo in einem hintersten Winkel seines Gehirns verborgen – dessen war er sich absolut sicher …! Die kalten Augen des Parteichefs und das Blitzen der Brille des KGB-Vorsitzenden ließen ihn jedoch in seinen Überlegun gen innehalten. »Und jetzt«, ordnete der sowjetische Staatschef an, »beor dern Sie sämtliche verfügbaren Einheiten in die Nordkap 261
Region – alles, was Sie haben!« Wladimirow nickte. »Wolfsrudel-Suchgeschwader im Nordkap-Sektor bis zum Archangelsk-Sektor verteilen«, befahl der General. »ZickzackDurchsuchung für alle Einheiten.« Er brauchte nicht auf die Karte zu sehen; er hatte die Stationierung der einzelnen Kampf- und Verteidigungseinheiten mit absoluter Klarheit im Kopf. »Die Otlitnji und die Slawnij sollen sofort mit voller Kraft mit Kurs auf das Nordkap gehen.« »Jawohl, Herr General!« »Erteilen Sie an alle U-Boote in der Barentssee Befehl, den Kurs zu ändern und ebenfalls mit voller Kraft auf das Nordkap zuzuhalten.« »Jawohl, Herr General.« »Erteilen Sie der Riga, zusammen mit den begleitenden UBooten, Befehl, ebenfalls Kurs auf das Nordkap zu nehmen.« »Jawohl, Herr General.« Obwohl sich Wladimirow der Vergeblichkeit seiner Bemü hungen sehr wohl bewußt war, vergaß er sich doch in diesem plötzlichen Rausch der Macht, über sämtliche Luftwaffen- und Flotteneinheiten in der Barentssee verfügen zu können. Plötzlich wurde Wladimirow bewußt, daß er am ganzen Körper von Schweiß überströmt war. Seine Knie wurden mit einem Mal weich, und er mußte sich in einen der Sessel an dem runden Tisch setzen. Als er aufsah, lächelte ihn der Parteichef über den Tisch hinweg freundlich an. »Nun, mein lieber Wladimirow, das war gar nicht so schlecht, wie?« Er lachte. Wladimirow schüttelte mit einem einfältigen Lächeln den Kopf. Er erinnerte in diesem Augen blick an ein kleines Kind, dem ein besonderes Lob erteilt wur
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de. »Das scheint Ihnen aber Spaß zu machen, Hm? Ich meine, die Macht – oder nicht?« Wladimirow vermochte nichts ande res zu tun, als weiter dumm zu grinsen und mit dem Kopf zu nicken. Dieser peinlichen Szene machte die Stimme eines der Funker ein Ende. »Tretsow meldet, die Mig-31 hat gerade bei Indiga auf dem fünfzigsten Längengrad die Küste überflogen.« Es war, als hätte jemand einen einzigen Stein in die glatte Stille eines Teichs geworfen. Alle um den runden Tisch Ver sammelten wurden plötzlich an das enorme Potential des Dings erinnert, das gestohlen worden war. Seit Tretsows Start waren kaum mehr als fünfundzwanzig Minuten vergangen. Die Ent fernung von Biljarsk zur Küste betrug etwa zweitausend Kilo meter, und die Mig-31 hatte sie bereits erreicht und hielt nun auf den Treffpunkt mit dem Tankflugzeug zu, das bereits über der Barentssee wartete. Wladimirow blickte den Parteichef an und bemerkte das momentane Zögern in seinen Augen. »Soll ich Tretsow Befehl erteilen, den Kurs zu ändern, Ge nosse Parteisekretär?« fragte er müde. Immer noch lächelnd, schüttelte sein Gegenüber den Kopf. »Im Augenblick noch nicht. Soll Tretsow sich erst mit dem Tanker treffen. Sobald wir den Amerikaner dann gesichtet ha ben, werden wir ihn wie einen Pfeil auf ihn loslassen – genau – wie einen Pfeil – was, Wladimirow?« Der Parteichef lachte. Wladimirow spendete dieses Lachen, die Zuversicht, die es in sich barg, keinen Trost. Zwanzig Minuten, nachdem er gelandet war, stand Gant wieder auf dem Eis der Scholle und überwachte das Betanken der Maschine. Trotz der bitteren Kälte und trotz des rauhen Winds, der den Nebel durch die Luft peitschte und ihm den 263
beschlagenen Atem von den Lippen fetzte, verharrte Gant ne ben der Firefox, als wollte er das Flugzeug nicht völlig der Ob hut von Seerbackers Leuten überlassen. Die zwei zehn Zenti meter dicken Schläuche schlängelten sich dunkel über das Eis auf die Maschine zu. Seerbackers Leute arbeiteten mit erbitter tem Einsatz. Eine Pumpe war auf das Eis gehievt worden, und dann öffnete sich eine kleine Luke im Vorderdeck. Kerosinge ruch drang an seine Nase, und in die Luke wurde ein Schlauch eingeführt. Gant wußte, daß es etwa zwanzig Minuten dauern würde, die Tanks der Mig zu füllen. Im Gegensatz zu den riesigen Druck pumpen, wie sie an den Luftwaffenstützpunkten zur Verfügung standen und mit denen sich in einer Minute knapp Zwölftau send Liter Treibstoff in die durstigen Tanks der Kampfmaschi nen pumpen ließen, war diese Karrenpumpe ein lächerliches Gerät. Während Gant in Seerbackers Kajüte noch einen Teller Chili hinuntergeschlungen hatte, war es zu einer weiteren Verzöge rung gekommen. Das Erdungskabel, mit dem der Firefox an der Pequod geerdet werden sollte, um die Gefahr einer Fun kenbildung durch die statische elektrische Ladung des Flug zeugrumpfs zu vermeiden, hatte sich als zu kurz erwiesen. Seerbackers Leute mußten erst ein Verlängerungsstück anbrin gen, bevor sie die große, krokodilmäulige Klammer an der Verstrebung des vorderen Rads anbringen konnten. Erst jetzt konnte mit dem Auftanken begonnen werden. Als die zwei Zivilisten an Bord der Pequod – ein Ingenieur und ein Elektronik-Experte – sich schließlich an der Maschine zu schaffen machten, erklärte sich Gant wieder bereit, in Seer backers Kajüte zurückzukehren. Einmal dort, saß er die ganze Zeit schweigend da. Nur ein mal sah er auf seine Uhr und murmelte: »Noch zehn Minuten.«
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Eine oder zwei Minuten später klopfte es an der Tür. »Ja?« Fleischer steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Der Wetterbe richt, Käpten.« Das schien Gant aufzuwecken. Seine Augen hefteten sich mit einer Eindringlichkeit auf Fleischers Gesicht, daß der junge Mann unwillkürlich stockte. »Und wie sieht es aus?« wollte Gant wissen. »Der Wind frischt auf, Käpten; Böen bis zu fünfzehn Kno ten.« Fleischer sprach mit voller Absicht an Seerbacker ge wandt. »Der Nebel scheint sich zu lichten.« Seerbacker nickte. Gant beruhigte sich wieder. Böen mit fünfzehn Knoten stellten beim Start kein ernsthaftes Problem dar. »Was ist mit dem Flugzeug?« »Sie sind fast fertig, Käpten. Peck schätzt, daß sie noch etwa sieben bis acht Minuten brauchen werden.« Seerbacker nickte. Peck, der Erste Ingenieur der Pequod, würde sich kaum groß verschätzt haben. Er würde seine Leute zur äußersten Sorgfalt angehalten haben, was auch immer er hinsichtlich Gants und der Sicherheit des Schiffs denken mochte. Fleischer zog seinen Kopf zurück, und Gant schickte sich an, von seinem Stuhl aufzustehen. Das nächste, was er mitbekam, war der gewaltige Stoß, mit dem ihm der Boden unter den Bei nen weggerissen wurde. Er wurde kopfvoran über den Tisch geschleudert, fing dabei einen flüchtigen Blick von Seerbacker auf, der von seiner Koje katapultiert wurde und mit seiner lin ken Schulter gegen das Schott krachte. Die Lichter des Schiffs gingen kurz aus und wieder an. Gant lag, Seite und Schulter leicht betäubt, auf dem Boden und spürte das Gewicht Seer backers über sich. Aus dem Gang vor der Kajüte erdröhnte
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lautes, metallisches Scheppern – vermutlich Fleischer, der ebenfalls zu Boden gegangen war. Gant drehte sich herum und sah, wie Seerbacker ihn verdutzt und beunruhigt anstarrte. »Was, zum Teufel …?« schimpfte er mit erstickender Stim me los. »Was war das?« sagte Gant. Leicht angeschlagen, rappelte Seerbacker sich hoch. Aus seinen Mundwinkeln tropfte Blut. Er hatte sich in die Zunge gebissen. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht und starrte für einen Augenblick auf seine geröteten Finger. Und dann schien, ausgelöst durch das Geräusch aufgeregter Schritte draußen auf dem Gang, wieder Leben in ihn zurückzukehren. Er riß die Tür auf. »Was, zum Teufel, geht hier eigentlich vor, Matrose?« knurrte er. Gant stand, sich die Schulter massierend, vom Boden auf. Er hatte wieder ein Gefühl in ihr und stellte fest, daß nichts gebro chen oder verrenkt war. »Das wissen wir nicht, Käpten.« »Was? Und was, zum Teufel, machen Sie dann hier? Los, finden Sie das schon mal raus!« »Zu Befehl, Käpten!« Die Schritte des Mannes entfernten sich über den Gang. »Der Firefox!« In Gants Stimme lag Besorgnis. »Zum Teufel mit der Kiste!« explodierte Seerbacker. »Und was ist mit meinem Boot?« Gant folgte ihm aus der Kajüte. Fleischer lehnte gegen das Schott; aus einer tiefen Platzwunde an seiner Stirn tropfte Blut. Seerbacker überließ ihn seinem leicht benebelten Zustand und quetschte sich an ihm vorbei in den Kommandoraum. Gant blieb kurz bei Fleischer stehen, um seine Wunde zu untersu
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chen. Dann tätschelte er dem jungen Mann beruhigend die Schulter und folgte dem Kapitän. Im Kommandoraum herrschte ein beträchtliches Chaos. Mehrere Männer halfen sich gegenseitig vom Boden auf, und überall lagen umgestürzte Möbel herum. Gant strebte auf die Klappleiter zur Brücke zu. »Los, einen Schadensbericht – schnell!« bellte der Kapitän. Die eisige Luft stach durch Gants Parka, und der Wind peitschte ihm den Atem von den Lippen. Vom Turm aus konn te er – die Sicht hatte sich inzwischen gebessert – den Firefox anscheinend unbeschädigt stehen sehen. Die Männer, die auf dem Eis gearbeitet hatten, lagen zum Teil – offensichtlich ver letzt – noch auf dem Boden, einige standen über sie gebeugt, während wieder andere auf dem Eis hin und her liefen. Einem Matrosen, der in der Nähe des U-Boots stand, schrie Gant zu: »Was ist eigentlich passiert?« Der Mann blickte auf und sah den Kapitän neben Gant ste hen. »Keine Ahnung, Käpten. Wir haben nur dieses Krachen ge hört, und dann bin ich auch schon mit dem Gesicht voraus auf dem Eis gelandet.« »Es war kein Torpedo. Wo ist Mister Peck?« »In der Richtung, Käpten.« Der Matrose deutete nach Nor den. Gant starrte angestrengt in diese Richtung, aber über der Eis scholle lagen noch immer vereinzelte Nebelfetzen, so daß die Sichtweite bestenfalls hundert Meter betrug. Während Gant nun so stand, stieg eine verschwommene, unangenehme Ah nung in ihm hoch. Die Minuten vergingen, und der auffri schende Wind blies ihm ab und zu heftig ins Gesicht, so daß
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seine Augen zu tränen begannen. Er bekam Angst. Und dann sah er Pecks Gestalt aus dem Nebel auftauchen. Als hätte das Erscheinen des Ersten Ingenieurs bereits die Antwort in seinem Kopf zum Kristallisieren gebracht, stürzte Gant auf die vermummte Gestalt zu. »Was ist?« stieß er atemlos hervor, als er vor Peck stand. »Was stimmt nicht?« Peck sah ihn an und sagte nur: »Eine Druckverwerfung.« »Was?« Gants Augen weiteten sich. »Wie groß?« »Einen Meter, vielleicht auch etwas mehr; sie geht über die gesamte Scholle, wenn ich mich nicht täusche.« »Wo, Mann – wo? Zeigen Sie es mir!« Er zerrte an Pecks Ärmel, worauf sich der Ingenieur umwandte und ihm folgte. Gants weißes, verzweifeltes Gesicht beunruhigte ihn. Auch Seerbacker schloß sich ihnen an. Die Verwerfung war fast 1,20 Meter hoch und ragte wie ein kleiner Wall aus der Eisoberfläche empor. So weit Gant in bei den Richtungen sehen konnte, erstreckte sie sich über die ge samte Eisscholle. »Und Sie meinen, sie geht ganz durch?« »Ja. Ich bin in beiden Richtungen ein Stück entlang gegan gen. Ich glaube, daß sie ganz durchgeht.« Gant machte für einen Moment ein ungläubiges Gesicht, aber er wußte, daß sich der Ingenieur hinsichtlich der Bedeu tung der Verwerfung im klaren war und ihre Ausdehnung aus dem richtigen Grund überprüft hatte. »Wie – wie ist es dazu gekommen?« fragte er verzweifelt. »Da gibt es nur eine Möglichkeit«, erwiderte Peck grimmig. »Der Wind hat uns eine der kleineren Schollen voll hintendrauf getrieben – wie bei einem Auffahrunfall. Und das Ergebnis – eine Druckverwerfung.« 268
Gant packte Peck mit beiden Händen an den Ärmeln seines Parkas. »Ist Ihnen klar, was das bedeutet?« Seine Stimme klang verzweifelt. »Ich komme hier nicht weg. Ich kann so unmöglich starten.« Das Resultat seiner Überlegungen, seiner Selbstvorwürfe und seiner wachsenden Gewißheit, daß er recht hatte und der Parteichef im Unrecht war, äußerte sich, wie Wladimirow sich bitter eingestehen mußte, in nichts weiter als in einem kurzen, zögernden Blick in Richtung des mächtigsten Mannes der So wjetunion. Als die breite Gestalt zur Bestätigung ihres letzten Befehls nur nickte, wandte sich Wladimirow zu dem Funkgerät hinter sich um und begann zu sprechen. »Tretsow – Wladimirow.« Obwohl er den Funkspruch nicht verschlüsseln ließ, war die Gefahr, die Mig zu verraten, relativ gering, da er nur den Namen des Piloten nannte. In diesem Augenblick flog Tretsow gerade in fünfzehntau send Metern Höhe wenige Meter hinter dem Tankflugzeug her, an dessen Tankstutzen die Nase seiner Mig-31 gekoppelt war. »Tretsow – kommen«, übertönte die schwache Stimme das Rauschen des Funkgeräts. »Wladimirow an Tretsow. Halten Sie sofort auf die Nord kap-Region zu, sobald Sie mit dem Auftanken fertig sind.« »Nordkap – Nachricht bitte wiederholen.« Der Ärger in Wladimirow Stimme war unverkennbar. Natür lich wunderte sich der Pilot über die plötzliche Änderung ihres Plans! »Ich sagte Nordkap. Setzen Sie sich über Funk mit folgenden Einheiten in Verbindung: Raketenkreuzer Riga, WolfsrudelBodenpatrouille Murmansk. Haben Sie verstanden?« Nach kurzem Schweigen: »Tretsow – habe verstanden. Flie
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ge Richtung Nordkap; setze mich mit Riga und Bodenstation Murmansk in Verbindung – Ende.« »Gut. Halten Sie sich bereit, weitere Instruktionen entgegen zunehmen – Ende.« Wladimirow schaltete das Gerät ab und wandte sich wieder um. Es war völlig gleichgültig, ob die Amerikaner diesen Funkspruch nun auffingen oder nicht. Er informierte sie nur darüber, daß eine weitere Einheit in das Gebiet abbeordert wurde, in dem sie die Russen haben wollten. Er warf einen kurzen Blick in Richtung des Parteichefs, der sich jedoch gera de flüsternd mit Andropow unterhielt. Darauf wandte er sich Kutusow zu. Der alte Mann sah ihm in die Augen und schüttel te ganz leicht den Kopf. Wladimirow dankte ihm mit einem Blick für diese Geste der Sympathie und des Verständnisses. Dann fingen seine Gedanken neuerlich an ihm zu nagen an. Wenn er nur irgendwie Gewißheit haben könnte … Er wußte, daß geschehen war, wonach die Sucheinheiten Ausschau gehal ten hatten. Aber er hatte Angst, auch noch das Wenige, was ihm an Glaubwürdigkeit geblieben war, was seine Karriere noch retten konnte, für solch eine aberwitzige Idee aufs Spiel zu setzen. Er schluckte. Er wußte des Rätsels Lösung – und er wußte, daß der Parteichef nicht auf ihn hören würde. Er verachtete sich wegen seiner mangelnden Courage selbst, denn er lieferte den Amerikanern die Mig-31 mehr oder weni ger auf dem Präsentierteller aus. Aber ihm waren die Hände gebunden – sie würden ihm nicht glauben. Sie hatten die Eisscholle untersucht. Wie Peck befürchtet hatte, zog sich die Verwerfung quer über sie hinweg, und zwar ziemlich genau in der Mitte der Startbahn, die für die Mig vor gesehen war. Und dieses Stück hätte von seiner Länge her un möglich für einen Start gereicht.
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»Wir werden es schon schaffen«, meinte Peck, der neben der schmalen Gestalt von Seerbacker stand. »Verdammt, Jack, haben wir genügend Äxte und Schaufeln an Bord, um das ganze Zeug wegzuräumen?« fragte der Kapi tän. Er warf einen kurzen Seitenblick auf Gant, der ganz in die Betrachtung der Eisscholle versunken schien und nicht auf ihre Unterhaltung achtete. Die offensichtliche Teilnahmslosigkeit des Piloten reizte Seerbacker. »Natürlich haben wir genügend Werkzeug – Brecheisen, schwere Schraubenschlüssel, Äxte – alles mögliche.« Peck schien durch Seerbackers Vorsicht leicht beleidigt. »Und viel leicht könnten wir auch ein paar schwache Sprengladungen anbringen?« fügte er hinzu. »Bloß das nicht, Jack!« »Wieso. Wenn man sie richtig anbringt – und natürlich dür fen sie nicht zu stark sein –, kann dem Eis nichts passieren.« Seerbacker schwieg einen Moment und wandte sich dann an Gant: »Wie breit ist die Fahrspur Ihres Vogels, Gant?« »Sechs Meter sechzig«, antwortete Gant mechanisch. »Sind Sie sicher?« Gant nickte nur, ohne seinen Blick von der Verwerfung ab zuwenden. Ziellos trat er mit seinem Stiefel nach ihr, daß der Schnee von seiner Schuhspitze aufwirbelte. »Wieviel Platz brauchen Sie? Ich meine, wieviel von dem Wall da müssen wir abtragen?« fragte Peck. Gant spürte den herausfordernden Tonfall in der Stimme des Ingenieurs. Bitter lächelnd dachte er kurz nach und erwiderte dann: »Zehn Meter.« Darauf trat bleierne Stille ein, bis Seerbacker schließlich los polterte: 271
»Erzählen Sie hier keinen Blödsinn, Gant. Ich werde hier nicht meine Zeit vergeuden und diesen Vogel aufs Spiel setzen, bloß damit Sie sich vor meinem Ersten Ingenieur großtun kön nen!« Seine Augen wanderten zwischen den beiden Männern hin und her. »Zehn Meter«, beharrte Gant. »Mehr brauche ich nicht.« »Dann werden Sie eben Ihre verdammten zehn Meter krie gen, Mister!« fauchte Seerbacker zurück. »Dann wählen Sie jetzt schon mal die Stelle aus, und dann wird Mister Peck mit seinen Leuten an die Arbeit gehen.« Gant schlenderte davon, und die beiden anderen Männer tappten, scheinbar unwillig, hinter ihm her. Seerbacker bereute bereits, Gant so unwirsch behandelt zu haben, ihn dazu getrie ben zu haben, etwas zu sagen, was er ganz offensichtlich bal digst bereuen würde. Gants Gesicht spiegelte jedoch keinerlei Zweifel wider. Die Tatsache, daß er unter den gegebenen Sichtverhältnissen beim Start auf beiden Seiten nicht mehr als einen Spielraum von gut eineinhalb Metern zur Verfügung ha ben würde, schien ihn nicht im geringsten zu beunruhigen. Soll diesen Kerl doch der Teufel holen! dachte Seerbacker. Gant blieb stehen und wartete, bis die anderen nachkamen. Dann sagte er: »Hier.« Er trat mit der Stiefelspitze hart gegen den Eiswall, so daß ein paar Eisbrocken davonflogen. Peck holte aus der Tasche seines Parkas eine Farb-Spraydose hervor und markierte damit die Stelle. Darauf schritt Gant zehn Meter ab und wartete, bis Peck die zweite Stelle ebenso gekennzeichnet hatte. Dann nick te er. Seerbacker spürte, daß sie sich ziemlich genau in der Mit te der im Schnitt etwa hüfthohen Verwerfung und damit auch im Mittelpunkt der Scholle befanden. Gant hatte also die läng ste Nord-Süd-Achse für den Start ausgesucht. »Wie lange wird es dauern, diese zehn Meter zu säubern, 272
Mr. Peck?« erkundigte sich Seerbacker. »Eine Stunde – und zwar von jetzt an gerechnet.« Gant wollte einwerfen, das wäre zu lang. Aber es hatte kei nen Sinn zu protestieren. »Eine Stunde?« Peck nickte. Seerbacker zog nach kurzem Schweigen sein Funksprechgerät aus der Tasche. Er schaltete es ein und sagte: »Waterson, koppeln Sie mich an das allgemeine Lautsprecher system im Boot, ja?« Er wartete kurz und sprach dann in das Mikrofon: »Hier ist der Kapitän – alle herhören. Es wird eine Stunde dauern, die Eisverwerfung wegzuräumen, und das be deutet, daß wir noch so lange aufgetaucht bleiben müssen. Ich muß deshalb auf größter Wachsamkeit bestehen; Luftraum und See müssen ständig mit absoluter Sorgfalt überwacht werden. Wenn einer von euch etwas übersieht, wird er damit alle von uns umbringen. Ist das klar? Nicht daß ihr also denkt, ihr kämt in diesem Fall nur mit einer kleinen Eintragung in eurer Dienstakte davon. Und haltet euch weiter für Schleichfahrt bereit; wir werden hier oben genügend Lärm machen; also hal tet ihr euch wenigstens schön still. Die Leute, die für die Ma schine zuständig sind – haltet sie vom Eis frei und seht zu, daß sie zum Start rollen kann, sobald ihr diesbezüglichen Bescheid erhaltet. Mr. Peck ist für die Arbeiten zur Beseitigung der Verwerfung zuständig. Ich werde ihn euch gleich mitteilen lassen, wer dafür eingeteilt ist und was für Werkzeug die Be treffenden mitzubringen haben. Nur noch einen Augenblick – Doc?« Darauf entstand eine kurze Pause, und dann: »Ja, Käpten?« »Wie sieht es mit den Verletzten aus?« »Harper hat eine Gehirnerschütterung; er ist mit dem Kopf gegen die Deckplatten geschlagen. Smith hat ein paar Zähne verloren, und im Augenblick nähe ich gerade Rileys Hinter 273
kopf, sonst nichts von Bedeutung.« »Vielen Dank, Doc. Sagen Sie Riley, daß so was immer gut für den Verstand ist – und Smith dürfte damit endlich auch mal ein bißchen interessanter aussehen. Also gut, und jetzt gebe ich euch Mr. Peck, Jungs. Hört ihm gut zu!« Er schaltete sein Gerät aus und steckte es wieder in die Ta sche zurück, während Peck bereits damit begann, die Liste der Namen und des benötigten Werkzeugs herunterzulesen. Seerbacker trat neben Gant. Er sah ihn einen Augenblick lang an und sagte schließlich: »Sind Sie sich immer noch si cher?« Gant nickte. »Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken. Ich lasse mich durch Peck nicht aus der Ruhe bringen. Zehn Meter rei chen mir vollkommen.« »Bei der Sicht?« »Auch wenn sie schlechter wäre.« »Na ja, Mann – schließlich ist das Ihre Beerdigung.« Nach kurzem Schweigen sagte Gant: »Vielen Dank, Seer backer – für die Stunde.« Seerbacker trat etwas verlegen von einem Fuß auf den ande ren. Er spürte, wie Gant sich bemühte, wie er wirklich gemeint hatte, was er eben gesagt hatte. »Ja – klar. Für jeden würde ich das natürlich nicht tun«, er widerte er mit einem Grinsen. »Ich – ich werde mal gehen und nach der Maschine schau en.« »Sicher – tun Sie das.« Gant nickte und ging zur Pequod zurück. Unterwegs kamen ihm durch den Nebel bereits keuchend die ersten Matrosen
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entgegen. Peck, dachte er, hatte seine Leute im Griff; sie ge horchten ihm aufs Wort. Aber das war nicht seine Sache. Peck wußte, was er tat. Schließlich war das Ganze ja auch nicht seine Idee gewesen. Erst mußten die zehn Meter Eis weggeräumt und dann geglättet werden. Letzteres würde mit dem Dampf bewerkstelligt wer den, der die Turbinen des U-Boots betrieb und der über Hoch druckschläuche auf die freigelegte Eisfläche gespritzt werden würde. Der Firefox war frei von Eis. Vier Männer waren damit be schäftigt, ihn ständig mit einer Enteisungsflüssigkeit auf alko holischer Basis einzusprühen. Zwei von ihnen hielten die zwei Schläuche mit den Sprühköpfen, während die zwei anderen ein Wägelchen mit einer Pumpe darauf hinter ihnen herschoben. Sie gingen ihrer Aufgabe mit mechanischer Präzision nach, und Gant konnte im Schnee unter der Maschine das chaotische Gewirr der Räderspuren des Pumpenwägelchens erkennen, wie es endlos im Kreis um den Firefox geschoben wurde. Gant stand lange vor dem Flugzeug und betrachtete es, als würde er unwiderstehlich von ihm angezogen, als weidete er sich an seinem Anblick. Er hatte bisher keine Zeit gehabt, sich die Mig von außen anzusehen, ihre Linien und ihre Form auf zunehmen. Damals, vor wenigen Stunden im Hangar, war alles viel zu schnell gegangen – der Lärm, das grelle Licht, das Feu er im hinteren Teil der Flugzeughalle, Baranowitschs auf dem Beton zusammengesunkene Gestalt … Aber nun stand er in schweigender Betrachtung versunken, ließ seine Blicke über den schlanken Rumpf, die gewaltigen Triebwerke und die extrem kurzen Stummelflügel gleiten, un ter denen die Anab-Raketen angebracht waren. Er sah die dunklen Rußrückstände, wo er zwei davon abgefeuert hatte. Er trat näher. Die zwei Raketen waren ersetzt worden, so daß die Maschine wieder mit insgesamt vier Geschossen bestückt war. 275
Das überraschte ihn nicht wirklich. Er wußte, daß während der Vorbereitungen für diese Operation eine syrische Mig-25 gekapert worden war. Vermutlich war sie mit Anabs bestückt gewesen, die Seerbacker dann in der Pequod mit sich geführt hatte. Buckholz hatte wirklich an alles gedacht. Der Auftankvorgang war abgeschlossen worden, während er noch mit Seerbacker und Peck die Beseitigung der Eisverwer fung diskutiert hatte. Die Schläuche waren aufgerollt, das Er dungskabel entfernt. Nur widerstrebend entfernte Gant sich von der Maschine, und erst als sich sein Abstand zu ihr vergrößerte und sie nur noch als ein schemenhafter Schatten im Nebel sichtbar war, begann er, kräftiger auszuschreiten. Er brauchte fast eine halbe Stunde, um den Südrand der Eis scholle zu erreichen und die Scholle dann in Nord-SüdRichtung entlang der Linie abzuschreiten, auf der er starten würde. Abgesehen von der Verwerfung, hatte die Startbahn durch die Kollision der Eisschollen keinen Schaden gelitten. Er befand sich gerade auf dem Rückweg vom Nordrand der Eis scholle, als das Funksprechgerät, das ihm Fleischer gegeben hatte, in seiner Tasche zu piepen anfing. »Ja?« »Gant?« Seerbackers Stimme klang erschöpft und außer Atem. »Hören Sie, Mister. Wir haben südlich von uns drei So narkontakte – und zwar auf dem Kurs, auf dem Sie gekommen sind.« Gant schwieg einen Moment, bis er sagte: »Ja, das müssen der Kreuzer und die zwei U-Boote sein.« »Meine Güte, Gant, Sie können einem wirklich Scherereien machen, das kann man wohl sagen!« »Wie lange werden sie bis hierher brauchen?«
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»Vierzig, vielleicht auch fünfundvierzig Minuten.« »Das genügt doch.« »Sie können mich mal, Mister! Das reicht vielleicht für Sie, um hier abzuhauen. Aber was ist mit meinem Boot? Was ist mit seiner Besatzung, die sich gerade die Pfoten schwielig schuftet, um Ihre verdammte Startbahn freizumachen?« »Ent… Entschuldigung, Seerbacker; daran habe ich gerade überhaupt nicht gedacht.« Als hätte er sich dadurch Seerbackers Sympathien erworben, entgegnete dieser: »Na ja, sie werden außerdem sowieso etwas länger brauchen. Offensichtlich war Mr. Pecks Prognose doch etwas zu optimi stisch. Wir werden fast genauso lang brauchen, Sie hier wegzu schaffen, wie die brauchen werden, hierherzudampfen.« Gant schwieg, bis Seerbacker schließlich fragte: »Sind Sie noch da, Gant?« »Wie – ach so, ja. Sind Sie sicher, daß sie Kurs auf uns hal ten?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie haben jedenfalls bisher noch nicht Kurs auf uns gehalten.« »Nicht?« »Nein, sie sind in Richtung Westen gedampft – also quer zu dem Kurs, auf dem unsere Scholle treibt; aber auf eines können Sie Gift nehmen, Gant: Wenn wir sie sehen können, dann wer den, verdammt noch mal, auch die uns sehen können!«
10. Das Duell Wladimirow sah sich vor ein unausweichliches Dilemma ge stellt. Zum einen war er sich voll bewußt, daß er seine Karriere
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nicht aufs Spiel zu setzen gewillt war, daß er Kutusows Posten übernehmen wollte, sobald der alte Marschall das Zeitliche gesegnet haben würde. Aber selbst wenn er weiterhin seine ständige zunehmenden Bedenken beiseite schob und vorging, wie man ihm befahl, bestand doch die Möglichkeit, daß man es ihm anlasten würde, falls Gant es tatsächlich schaffen sollte, mit der Mig-31 zu entkommen. Dieses Wissen gab schließlich den Ausschlag, entsprechend auf die Sonarkontakte zu reagie ren, die vor wenigen Minuten von der Riga gemeldet worden waren. »Meiner Meinung nach, Genosse Parteisekretär«, begann er in aller Ruhe, deren er im Moment noch fähig war, »sollen wir diesen Kontakt, wie sehr er durch die Gegenwart von Treibeis in dieser Region auch beeinflußt sein mag, näher überprüfen.« Seine Worte schienen in der allgemeinen Stille unterzuge hen, die in der Kommandozentrale herrschte. Wladimirow war sich im klaren darüber, daß inzwischen jeder, angefangen von Andropow bis herunter zum rangniedrigsten Funker, spürte, daß sich das Geschehen in der Kommandozentrale zunehmend mehr um die beiden Gestalten des Parteichefs und des Ober kommandierenden des Wolfsrudels polarisierte. Sie waren Au genzeugen eines Machtkampfes zwischen diesen beiden Män nern. Dem General schien es, als wüßten die Anwesenden die Tatsache durchaus zu würdigen, daß er nun zu seinem Zug ansetzte – seinem letzten Zug. »Ihrer Meinung nach«, warf der Parteichef nach einer Weile gelassen ein. Unterschwellig schwang in diesen drei Worten jedoch der unverkennbare Vorwurf mit, wie Wladimirow es hatte wagen können, überhaupt etwas zu sagen. Wladimirow nickte. »Ich – ich bin mir sicher, daß ich nun weiß, wie die Amerikaner die Mig mit Treibstoff versorgen wollen …« Der General hatte seine Worte mit Bedacht ge wählt. Er durfte gegen den Parteichef keineswegs zu direkt 278
vorgehen. Aber zumindest hatte er mit diesen Worten einmal Farbe bekannt. Falls seine Annahme sich als korrekt erweisen sollte und die Operation trotz allem fehlschlug, war die Äuße rung seiner Gedanken gleichbedeutend mit beruflichem Selbstmord. Die verrückte Vorstellung hatte immer mehr von ihm Besitz ergriffen; er hatte versucht, sie von sich zu weisen und als absurd abzutun. Nun mußte er sie äußern. Möglicher weise würde dies seine endgültige Verdammnis in den Augen seines Staatschefs zur Folge haben, aber es war die letzte und einzige Chance, doch noch zu verhindern, daß die Mig den Amerikanern in die Hände fiel. Er spürte den Haß auf Gant in seiner Kehle brennen. »Ja – sie haben … Nein, sie verwenden immer noch – eine riesige Eisscholle als Landebahn; und als Tankschiff fungiert zweifellos ein U-Boot. Das ist der Sonarkontakt, den die Riga aufgefangen hat!« In dieser übereilten, knappen Darlegung klang die Idee absurd, nicht überzeugend. Doch in Gedanken konnte Wladimirow den Schauplatz des Geschehens fast vor sich sehen. Die in ihre Parkas gemummten Gestalten, die Treibstoffschläuche, die auf dem Eis abgestellte Maschine … Es gab Tausende von Eisschollen, die sich für die Zwecke der Amerikaner geeignet hätten. »Das Flugzeug soll gelandet sein, Wladimirow?« In diesem Augenblick wußte Wladimirow, daß er verloren hatte. Der Tonfall der Stimme – ruhig und gelassen – gab ihm zu verstehen, daß er nicht zu überzeugen vermocht hatte. Er blickte um sich. Gesichter drehten sich zur Seite, Augenpaare wandten sich verlegen von ihm ab. Selbst Kutusow hielt sei nem Blick nicht stand – die Augen eines Schaulustigen bei einem Verkehrsunfall. »Ja.« Seine Stimme war zu hoch; er wußte es. Verdammt, nicht einmal seine Stimme konnte er noch kontrollieren. Wie
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konnte ihn dieser Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches so einschüchtern? Dieser Mann verfügte über die Macht, ihn so total zu ruinieren, wie man sich das nur vorstel len konnte. Er konnte sogar behaupten, er wäre verrückt. Aber Wladimirow wollte nicht wie Grigorenko in einer Heilanstalt enden. Er setzte zu einem neuerlichen Anlauf an. »Der Kontakt befindet sich auf dem Kurs der Mig, den die Riga festgestellt hat, bevor sie Gant aus den Augen verlor.« Darauf verfiel er wieder in Schweigen. Fast unbeteiligt beo bachtete er nun, wie der massige Mann in dem grauen Anzug scheinbar müßig auf die Karte vor sich starrte. Die Riga und die zwei U-Boote waren inzwischen wieder drei einsame Lichtpunkte inmitten der Weite des Ozeans, während sich alle anderen sowjetischen Schiffe weiter und weiter in Richtung Westen auf das Nordkap zu bewegten. Schließlich sah er wie der auf und Wladimirow in die Augen. Und was dem ungläu bigen General aus den schiefergrauen Augen entgegenschlug, bevor die schweren Lider sich wieder über sie senkten, war die nackte Angst. Er war nicht imstande, diesen spontanen Ein druck gedanklich zu verarbeiten, bis der Parteichef sagte: »Es würde zu lange dauern, die Hubschrauber zurückzurufen und ihnen den Auftrag zu erteilen, dieses Gebiet zu durchsu chen. Aber da Sie nun einmal, mein lieber General, nicht von dieser fixen Idee mit den Eisschollen und Tank-U-Boot loszu kommen scheinen …« Er machte eine Pause, und Andropow, der neben ihm saß, lächelte verkniffen. Er zeigte zwar die er wartete Reaktion, aber seine humorlosen Augen hinter der stahlgeränderten Brille ließen keinen Zweifel daran, daß er sich hinsichtlich der Motive des Parteichefs durchaus im klaren war. »Wie gesagt – um Ihnen, mein lieber Wladimirow, also zu Ihrem Seelenfrieden zu verhelfen, werden wir eines der UBoote abbeordern, um der Ursache dieses höchst dubiosen So 280
narkontakts auf den Grund zu gehen.« »Aber – wenn es …«, begann Wladimirow. Der Parteichef hob seine Hand. »Ein U-Boot, Wladimirow. Wie lange wird es brauchen?« »Vierzig Minuten, nicht mehr.« »Gut. Falls es dann irgend etwas Interessantes melden kann, werden wir die zweite Mig sofort nach ihrem Treffen mit dem Tanker am Nordkap zurückrufen; wenn sie mit Höchstge schwindigkeit fliegt, wird sie ja immer noch rechtzeitig am Schauplatz des Geschehens eintreffen.« Es war vorbei. Wladimirow spürte, wie die Spannung von ihm wich und ihn ausgelaugt und erschöpft zurückließ. Das war zumindest etwas, wenn sich auch alles andere als ein Er folgsgefühl bei ihm einstellte. Er war weiterhin keiner anderen Emotion fähig als der Selbstverachtung. Rasch, als wollte er die Gefühle verbergen, die sich in sei nem Gesicht widerspiegeln mußten, wandte er sich dem Ko diergerät zu, um an den Kapitän der Riga die entsprechenden Anweisungen zu erteilen. Gant hatte den grünen Sonar-Schirm und das unermüdliche Kreisen seines Lichtzeigers so lange beobachtet, bis seine Au gen zu schmerzen begannen. Nach Minuten angespannten Schweigens im Kommandoraum der Pequod, über einen Ma trosen mit Kopfhörern gebeugt, der auf die verstärkten Kon taktsignale lauschte, wurde schließlich deutlich, was die Kon stellation der drei Lichtpunkte auf dem Schirm zu bedeuten hatte. Einer davon – ein U-Boot – war von seinem westlichen Kurs abgewichen und hielt direkt auf die Pequod zu. Die ande ren zwei Lichtpunkte behielten ihren westlichen Kurs bei. Das U-Boot war inzwischen nur noch wenig mehr als fünf
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unddreißig Kilometer von ihnen entfernt. Nach langem Schweigen, nur durchbrochen vom rasch ge henden Atem der Männer der Besatzung und vom nachhallen den Piepen des Kontakt-Echos, sagte Seerbacker an Gants Sei te: »Wie lange wird es brauchen, bis es hierher kommt?« Ohne aufzusehen, antwortete der Mann, der am SonarSchirm saß: »Das kann man schlecht sagen, Käpten. Sie wissen ja, wie das auf größere Entfernungen mit der Schallortung ist. Da muß man mit Abweichungen bis zu zwanzig Prozent rech nen. Bis jetzt läßt sich also noch nichts Genaueres sagen.« »Verdammt!« »Wie schnell sind diese russischen U-Boote denn?« wollte Gant wissen. »Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?« Ärger und Angst im Gesicht, wandte Seerbacker sich ihm zu. »Mann, ich weiß nicht einmal, was das für ein U-Boot ist. Solange wir es nicht auf den Schirm für die Naherfassung kriegen, kann uns der Computer kein 3-D-Bild davon erstellen, anhand dessen wir es identifizieren können.« »Kontakt mit Kurs auf drei-neun-rot; kommt näher«, ver kündete der Mann am Schirm. »Was werden Sie jetzt tun?« fragte Gant. Seerbacker sah ihn kurz an und sagte dann: »Ich habe ein versiegeltes Päckchen für Sie – vermutlich Ih re weitere Flugroute. Das wäre das erste. Und zweitens werde ich jetzt unsere Verkleidung aus der Garderobe holen müssen.« Gant sah ihn leicht verwundert an. »Kontakt immer noch mit Kurs auf drei-neun-rot; kommt näher.« Seerbacker starrte auf den Hinterkopf des Mannes am Schirm, als wünschte er ihm den Tod – oder zumindest, daß er 282
stumm wäre. Dann sagte er: »Geben Sie mir das Mikrophon.« Fleischer drückte dem Kapitän das Mikrophon in die Hand und drückte gleichzeitig den Alarmknopf an der Seite des Senders, der die Mannschaft auf eine Durchsage des Kapitäns aufmerk sam machte. Seerbacker nickte und begann in das Mikrophon zu spre chen: »Alles herhören. Hier spricht der Kapitän. Ab sofort ist jetzt Operation ›Harmless‹ angesagt. Wir haben noch etwa dreißig Minuten Zeit – vermutlich weniger und kaum mehr. Stellt euch also ein bißchen auf die Hinterbeine und legt los, und zwar was das Zeug hält.« Nachdem er etwas von seiner Spannung losgeworden war, indem er die Mannschaft zur Eile angetrieben hatte, wandte Seerbacker sich wieder mit etwas ausgeglichenerem Gesicht Gant zu. Mit einem Lächeln nickte er in Richtung der wasser dichten Tür zu seiner Kajüte und ging darauf zu. Gant folgte ihm. »Was bedeutet Operation ›Harmless‹?« fragte Gant, während ihre Schritte den Gang entlanghallten. Seerbacker schwieg jedoch, bis er die Tür seiner Kajüte hin ter sich und Gant geschlossen hatte. Dann trat er an seinen Wandsafe, drehte an der Kombination und zog die kleine Tür auf. Er reichte Gant ein kleines, in Plastikfolie gewickeltes Päckchen. Unter der durchsichtigen Hülle konnte Gant eine Säurekapsel erkennen, mit der die versiegelten Befehle dann vernichtet werden sollten. Gant nahm einen einzelnen Bogen Papier aus einem Um schlag und studierte ihn sorgfältig. »Was bedeutet Operation ›Harmless‹?« fragte er ein zweites Mal. Seerbacker grinste. »Nur ein kleiner Scherz – allerdings könnte er uns das Leben retten. Aber das werden Sie dann ja 283
selbst sehen.« Gant nickte, als könnte er mit dieser Antwort nicht sonder lich viel anfangen. Seine Anweisungen waren recht einfach. Sie bestanden aus einer Liste von Koordinaten und Zeitab schnitten, die ihn erst, östlich des Nordkaps und der russischen Schiffe und Suchflugzeuge, die finnische Küste hinunterführen würden und dann über die finnischen Seen hinweg in Richtung Stockholm. Am Eingang des Bottnischen Meerbusens in die Ostsee sollte er sich am späten Nachmittag mit dem Linienflug der British Airways von Stockholm nach London treffen. Wenn er knapp hinter der Verkehrsmaschine herflog, konnte er nicht nur von deren Besatzung nicht gesehen werden, sondern würde auch auf keinem Infrarot-Schirm auftauchen, da die bei den Maschinen nur als eine einzige Wärmequelle registriert würden. Und die Verkehrsmaschine würde dann planmäßig die Nordsee überfliegen, so daß er mit dem Firefox praktisch nur visuell gesichtet werden konnte, was höchst unwahrscheinlich war. Kein Elint-Schiff in der Nordsee, das nach ihm Ausschau zu halten alarmiert war, würde feststellen können, wo er sich befand. Sobald er dann eine bestimmte Koordinate vor der eng lischen Küste erreichte, sollte er sich auf einer regulären Fre quenz mit dem R.A.F.-Stützpunkt Scampton in Lincolnshire in Verbindung setzen und sich als eine reguläre Passagiermaschi ne auf einem Testflug zur Bestätigung ihrer Flugtauglichkeit ausgeben. Mit einem bißchen Glück würden ihn die Russen, wenn sie ihn überhaupt je aufspüren sollten, spätestens vor der Ostküste Schwedens aus den Augen verlieren, wenn er sich an die Linienmaschine der British Airways hängte. Er las die Koordinaten noch einmal durch und prägte sie sich genauestens ein. Dann steckte er das Papier wieder in den Um schlag und diesen in die Plastikfolie. Seerbacker hatte bereits einen großen Aschenbecher auf den Tisch gestellt. Gant legte das Päckchen in den Aschenbecher und zerdrückte dann mit
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der Handfläche die darin enthaltene Säurekapsel. Fast unmit telbar darauf drang scharfer Säuregeruch an seine Nase, und das Päckchen begann sich aufzulösen. Gant beobachtete den Zersetzungsprozeß, bis nur noch ein paar sirupartige, schwarze Flecken davon übrig waren. Dann nickte er – mehr zu sich selbst – und sagte: »Gut. Und jetzt los, Käpten. Sehen wir nach, wie weit sie inzwischen mit der Startbahn gekommen sind.« Er schien zu Seerbackers Überraschung sogar verschmitzt zu zwinkern, als er hinzufüg te: »Und ich möchte auch sehen, was Operation ›Harmless‹ bedeutet.« Natürlich, dachte Aubrey, konnte er nicht sicher sein – nein, das im Augenblick noch auf keinen Fall. Trotzdem sah er sich keineswegs in der Lage, die schwache Glut der Hoffnung zu ersticken, die ihm wie ein guter Brandy den Magen wärmte. Der rege verschlüsselte Funkverkehr der Russen, in Verbin dung mit dem erfolgreichen Ablenkungsmanöver in der Nord kap-Region und dem Signal von Seerbacker an Bord der Pe quod, daß die Mig sicher gelandet und fertig aufgetankt war – all dies trug nachhaltig zu seinem kaum unterdrückten Gefühl der Zufriedenheit bei. Auch Shelley konnte sich kaum ein schuljungenhaftes Grin sen verkneifen. Und selbst die Stimmung der Amerikaner, noch vor kurzem auf dem absoluten Tiefpunkt, besserte sich zuse hends. Hätte Seerbacker es riskiert, vermittels eines weiteren Si gnals den Sonarkontakt mit dem sich nähernden russischen UBoot zu melden, oder hätte Aubrey von Wladimirows intuiti vem Gespür für den wahren Sachverhalt gewußt, wäre es um sein psychisches Gleichgewicht sicherlich etwas anders bestellt gewesen. In Aubreys Augen war der erfolgreiche Abschluß der
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Operation nur noch Routinesache. So lange Gant seine Instruk tionen befolgte, konnte nichts mehr passieren. »Nun, meine Herren«, er räusperte sich mit einem wohlgefälligen Lächeln, »mir ist natürlich bewußt, daß sich dies als etwas voreilig erweisen könnte, aber mir scheint inzwischen bereits doch genügend Anlaß gegeben zu sein, diesen Augenblick mit einem edlen Tropfen zu begießen.« Buckholz grinste unverhohlen. »Sehr schön, wie Sie das so vorsichtig ausdrücken, Aubrey; aber ich finde auch, daß wir darauf anstoßen sollten.« »Gut.« Aubrey trat an den Teewagen in der Ecke ihres Büros, aus dem der abgestandene Geruch nach kaltem Zigarrenrauch mit einem Mal gewichen zu sein schien. Auch den Gesichtern der fünf Männer war die Anspannung der vergangenen Stunden nicht mehr anzumerken. Sie wirkten nur ein wenig müde. Ihre Müdigkeit spiegelte jedoch zugleich die Zufriedenheit über den Erfolg wider, der ihre Bemühungen gekrönt hatte. Aubrey öffnete eine Flasche Whisky und goß fünf Gläser mit der mattgoldenen Flüssigkeit voll. Dann reichte er sie auf ei nem kleinen Silbertablett, das er aus seiner eigenen Wohnung mitgebracht hatte, um die Runde. Mit einem wohlwollenden Lächeln hob Aubrey sein Glas und sagte: »Meine Herren – auf den Firefox, und natürlich auf Gant.« »Gant und den Firefox«, wiederholten die vier anderen Männer einstimmig. Mit leichter Mißbilligung beobachtete Aubrey, wie Buckholz sein Glas mit einem einzigen Zug hin unterkippte. Wirklich, dachte er, dieser Mann hat absolut kei nen Geschmack. Während er selbst genüßlich an seinem Glas nippte, wurde ihm mehr und mehr bewußt, daß alles nur noch eine Frage der 286
Zeit war. Er sah zum Telefon hinüber. In ein paar Minuten würde der Zeitpunkt gekommen sein, den Wagen anzufordern, der sie nach Scampton bringen sollte – falls Gant nicht noch vor ihnen dort ankommen sollte, was auf keinen Fall anging. Bei diesem Gedanken trat ein Lächeln auf seine Lippen. Peck stand vor Gant und Seerbacker. Sein Schnurrbart und der Pelzrand seiner Kapuze starrten vor Eis. Sein Gesicht wirk te bleich und erschöpft. »Und?« sagte Seerbacker, die Hand noch an der Strickleiter, die vom Turm der Pequod baumelte. »Wir sind fertig«, nickte Peck. Als er sich dann Gant zu wandte, verhärtete sich der Tonfall seiner Stimme. »Wir haben Ihre verdammte Startbahn freigelegt, Mr. Gant!« »Peck!« warnte ihn Seerbacker. Für einen Moment dachte Gant, der massige Erste Ingenieur würde auf ihn einschlagen, so daß er unwillkürlich zurückzuck te. Und dann sagte er: »Tut mir leid, Peck.« Diese Bemerkung schien Peck aus der Fassung zu bringen. Er sah scharf in Gants Augen, als vermutete er irgendeine Iro nie hinter diesen Worten, und nickte schließlich, nachdem er sich eines anderen überzeugen hatte lassen. Und nun schien er seinerseits eine Erklärung für angebracht zu halten. »Entschul digen Sie, Major …« Gants Augen weiteten sich vor Überra schung. Dies war das erste Mal, daß ihn jemand mit seinem alten Dienstgrad angesprochen hatte. Und in Pecks Fall war dies eindeutig ein Zeichen seines Respekts. »Wir … Wissen Sie, das ist einfach diese ganze Anspannung. Da draußen, bei der Arbeit an dieser verfluchten Eisverwerfung – die Männer und ich – na ja, da denkt man an nichts anderes, als daß wir schon längst hier hätten abhauen können, anstatt uns hier den Buckel krumm zu arbeiten.« Die Stimme des hünenhaften 287
Mannes wurde schwächer, und er starrte beharrlich auf seine Füße hinunter. Gant erwiderte: »Ist schon gut, Peck; und vielen Dank. Aber jetzt sagen Sie schon, wie weit Sie genau sind.« Auf der Stelle verfiel Peck wieder in rein förmlichen Ge schäftston. »Wir haben ein Stück von zehn Metern aus der Verwerfung gehackt. Und jetzt verlegen wir die Schläuche für den Dampf von der Turbine. Da es bis zu der Stelle allerdings ein ganz schönes Stück ist, wird es noch eine Weile dauern.« Gant nickte. »Dann machen Sie mal zu, Peck. Je schneller Sie fertig sind, desto früher können Sie hier abhauen. Wenn Sie mit dem Glät ten des Eises fertig sind – und sehen Sie bitte zu, daß Sie es wirklich glatt kriegen, da ich mit hundertfünfzig Knoten nicht unbedingt über einen Eisbuckel holpern will –, wenn Sie also damit fertig sind, dann besprühen Sie doch noch die Startbahn mit Dampf, und zwar angefangen vom Nordende der Scholle bis zum Startpunkt des Firefox. Natürlich nur, wenn die Zeit dazu noch reicht.« Peck schien leicht verwundert. »Warum, Major?« »Um den Schnee auf der Eisoberfläche etwas wegzuräumen, Peck. Ich kann es mir nämlich nicht erlauben, bei der Kürze der Startbahn zu viel Oberflächenwiderstand zu haben …« »Machen Sie schon, Peck«, schaltete sich Seerbacker ein. »Ich werde mich inzwischen um unser Ablenkungsmanöver kümmern, und dann werde ich mir ansehen, wie weit Sie dann mit der Arbeit gekommen sind.« Peck grinste und ging auf die Luke über den Turbinen der Pequod zu, wo gerade zwei Matrosen einen Schlauch in den Bauch des U-Boots hinunterließen. »Möchten Sie jetzt vielleicht sehen, was ›Harmless‹ ist?«
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wandte Seerbacker sich an Gant. »Kommen Sie kurz mit.« ›Harmless‹ war an Einfachheit und zugleich Genialität nicht zu übertreffen, mußte Gant neidlos eingestehen. Die fieberhafte Aktivität der Mannschaftsmitglieder, die nicht mit der Beseiti gung der Druckverwerfung beschäftigt waren, schien auf den ersten Blick keinerlei zielgerichteten Sinn zu ergeben, bis Gant schließlich begriff, was vor ihm geschah. Das U-Boot wurde in das Hauptquartier einer arktischen Wetterstation verwandelt. Über sein Funksprechgerät erteilte Seerbacker Anweisung, die Torpedokammern und die vorderen Mannschaftsquartiere mit Seewasser auszuspülen, um die letz ten Kerosinspuren zu beseitigen. Darauf sollte ein Schaden am Rumpf des U-Boots vorgetäuscht werden, um diese Wasser rückstände erklären helfen zu können. Auf dem Eis wurde eine Hütte aufgestellt, in die einfaches Holzmobiliar geschleppt wurde. Die Innenwände wurden mit Land- und Wetterkarten behängt, wie Gant durch eines der Fenster erkennen konnte. Überall lagen Notizblöcke und Listen mit irgendwelchen Tabellen herum. Zwei Masten wurden errichtet; einer sechs Meter hoch, der andere neun. Bei letzterem handelte es sich um einen Funkmast, während auf dem niedrigeren ein Windmesser rotierte, unter dem ein Windrichtungsanzeiger flatterte. Neben diesem Mast stand eine weiße Kiste, welche die ver schiedenen Thermometer und Hygrometer enthielt, und schließlich wurden, um die Verkleidung als Wetterstation per fekt zu machen, noch Löcher in das Eis gebohrt, in die ver schiedene Thermometer gesenkt wurden. Während Gant Pecks Männer beobachtete, wie sie den Schlauch ausrollten und die einzelnen Abschnitte miteinander verbanden, stieg ein orangefarbener Wetterballon in den Him mel auf. Über der Scholle hingen zwar noch vereinzelte Nebel
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schwaden, aber die eigentliche Wolkendecke begann erst in viertausend Metern Höhe. An einer Nylonleine befestigt, schwebte ein zweiter Ballon etwa dreißig Meter über der Pe quod. Die Ballons würden als Erklärung dienen, weshalb man zum Zeitpunkt von Gants Landung einen Ballon aufsteigen lassen hatte. Es dauerte weniger mehr als fünfzehn Minuten, den An schein zu erwecken, als handelte es sich hier um eine Wetter station zur Untersuchung von Eigenschaften und Zielrichtung einer großen Eisscholle auf ihrem Weg nach Süden. Der einzi ge schwache Punkt lag darin, daß die Pequod in der nördlichen Barentssee operierte und nicht, wie eigentlich anzunehmen gewesen wäre, östlich von Grönland. Wie Seerbacker bestätigte, als er sich wieder zu Gant gesell te: »Die werden uns nichts nachweisen können, Gant; zumin dest so lange nicht, bis Sie über alle Berge sind.« Gant starrte nachdenklich auf das Eis zu seinen Füßen. »Was ist mit den Triebwerken? Sie werden die Scholle doch sicher unter Infrarot-Überwachung haben. Die müssen doch etwas merken.« »Ach was, Gant. Ihre Wärmespur können die sich mal wo hochstecken. Sehen Sie mal nur zu, daß Sie Ihren Vogel hier wegschaffen. Um den Rest kümmere ich mich dann schon.« Gant mußte über Seerbackers Galgenhumor lächeln. »Sicher; ich werde mich hier aus dem Staub machen, sobald das nur möglich ist.« »Gut.« Seerbacker fischte das Funksprechgerät aus der Ta sche seines Parkas, preßte es an seine Wange und schaltete es ein. »Hier spricht der Kapitän. Sind Sie da, Fleischer?« »Jawohl, Käpten.« Über Funk wirkte Fleischers Stimme ir gendwie unwirklich – eine Eigenschaft, die für Gant über der ganzen Szenerie zu liegen schien. Die winzige Eisscholle in der 290
öden Weite der Barentssee, das Nahen des sowjetischen UBoots. »Was gibt’s Neues über unseren Besuch?« Nach einer kurzen Pause meldete Fleischer sich wieder. »Wir bekommen gerade eine Computervorhersage, Käpten. Fehlerquelle sieben Prozent …« »Ja, ja – jetzt rücken Sie schon raus mit Ihren schlechten Nachrichten.« »Die Entfernung beträgt siebzehn Minuten.« »Herr im Himmel!« »Das U-Boot kommt direkt auf uns zu.« Für einen Augenblick schien Seerbackers Miene sorgenge plagt, doch im nächsten Moment lächelte er Gant schon wieder an. »Haben Sie das gehört?« Gant nickte. »Also gut, Fleischer, ich lasse mein Gerät von jetzt ab auf Empfang gestellt. Setzen Sie sich jede Minute mit mir in Verbindung. Haben Sie ver standen?« »Jawohl, Käpten.« »Wenn das U-Boot auf dem Schirm für die Nahbereichser fassung auftaucht, geben Sie mir alle dreißig Sekunden die genaue Entfernung und Geschwindigkeit durch.« »Jawohl, Käpten.« Seerbacker befestigte das Funkgerät an der Brusttasche sei nes Parkas, nickte Gant zu und folgte dann den zwei Schläu chen, die sich wie zwei endlos lange Schlangen in den Nebel davonschlängelten. Während Gant dem Kapitän nun folgte, wurde er sich wieder einmal voll der Gefährlichkeit seiner La ge bewußt. Die schmale Gestalt Seerbackers vor ihm schien im Augenblick kaum imstande, die schwere Verantwortung tragen zu können. Das sowjetische U-Boot hielt direkt auf die Eis scholle und die Pequod zu. Und es blieben ihnen noch sech
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zehn Minuten Zeit. An jedem Schlauch hingen zwei Männer und richteten den heißen Dampfstrahl auf das häßliche Loch in dem riesigen Eiswall. Angeblich sollte das freigeräumte Stück zehn Meter breit sein. Aber Gant kam es zu schmal vor. Der Dampf spritz te über die zerkarstete, rauhe Oberfläche der Scholle und glättete ihre Kanten. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis der Boden ausreichend ebenmäßig war. Peck hatte sich einmal kurz umgedreht, um die Anwesenheit Gants und des Kapitäns zur Kenntnis zu nehmen, wandte sich aber sofort wieder seiner Arbeit zu. Sobald die Lücke zu seiner Zufriedenheit geglättet war, bellte er seine Leute an: »Gut, Jungs; und jetzt seht noch zu, daß ihr die Startbahn hinkriegt!« »Wozu, Chef?« »Weil ich es sage. Und außerdem werden Sie sehen, was das für einen Spaß macht, Clemens.« Die Schläuche schleppten sich, den Männern, die sie hinter sich her zogen, unwillig folgend, in den Nebel davon. Lang sam, viel zu langsam krochen sie an Gants Füßen vorbei. Er sah auf seine Uhr, als gerade Fleischers Stimme aus dem Funkgerät zu quäken anfing. »Wir haben das U-Boot jetzt auf dem NaherfassungsSchirm.« Seerbacker neigte seinen Kopf zur Seite. »Dann schießen Sie schon mal los.« »Computeridentifikation: russisch, U-Boot vom Typ Jäger killer, Reichweite 7,5 Kilometer, Entfernung neun Minuten …« »Was?« platzte Seerbacker heraus. »Tut mir leid, Herr Kapitän. Die Abweichung der Schallor tung muß größer gewesen sein, als wir gedacht haben …« »Das sagen Sie mir jetzt!« Einen Augenblick lang schwieg
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Seerbacker, und dann: »Funkkontakt Ende. Peck!« »Ja?« »Haben Sie das gehört?« »Ja. Wir werden diese Startbahn nie vom Schnee freikriegen – jedenfalls nicht die ganze Länge der Scholle.« Seerbacker sah Gant an. »Was sollen wir dann jetzt ma chen?« »Ich – vielleicht hundert Meter auf dieser Seite.« Gant deute te nach Norden. »Das und eine freie Startbahn auf dieser Seite der Lücke.« Er winkte mit der Hand in Richtung des Firefox. Seerbacker wiederholte seine Instruktionen. Peck schien hin sichtlich ihrer Durchführbarkeit seine Zweifel zu haben, wollte es aber zumindest versuchen. Gant starrte in den Nebel, wo die vermummten Gestalten der Männer, welche die Schläuche hin ter sich her zogen, wieder näher kamen. Sie hatten bereits da mit begonnen, seine Startbahn zu glätten und den losen Schnee von der Eisoberfläche zu blasen. Falls er die zum Abheben erforderliche Geschwindigkeit erreichen wollte, war dies uner läßlich. Und er mußte auf jeden Fall so lange warten, bis sie damit fertig waren. Seerbacker sprach wieder in sein Funkgerät. »Geben Sie mir einen Lagebericht zu ›Harmless‹, und daß mir ansonsten ab jetzt keiner mehr etwas anderes redet als über das Wetter! Ha ben Sie mich verstanden?« Er lauschte angespannt, nach vorn gebeugt, auf den Zehenballen wippend. Als die Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts verstummte, nickte er zufrie den. Dann sah er Gant an. »Alles in Ordnung; unsere Tarnung ist perfekt, so lange wir Sie nur in die Luft bekommen.« »Entfernung sieben Minuten.« In Fleischers Stimme schwang etwas mit, was gefährlich nach Panik klang. »Wenn er sich über Funk meldet, dann erzählen Sie ihm mal
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unsere schöne Geschichte, wie verabredet, ja? Alles in Ord nung, Dick?« Seerbackers Stimme klang beruhigend. »Jawohl, Käpten.« Gant beobachtete, wie der Dampfstrahl über den Schnee schoß und in gewaltigen Fontänen durch die Luft wirbelte, so daß die Männer, die an den Schläuchen arbeiteten, wie in einen selbst verursachten Schneesturm eingehüllt schienen, der schließlich auch Gant erreichte. »Entfernung sechs Minuten – immer noch kein Funkkon takt.« Gant hörte Fleischers quäkende Stimme durch den Schneesturm dringen, während Seerbackers schmächtige Ge stalt allmählich wieder deutlicher sichtbar wurde, als die Män ner mit den Schläuchen in Richtung des Startpunktes weiterzo gen und das künstliche Schneetreiben sich wieder legte. Er wischte sich mit dem Rücken seines Fäustlings den Schnee aus seinem stoppligen Gesicht. Gant den Rücken zugekehrt, verfiel Seerbacker in langes Schweigen, während er Pecks Leute beim Säubern der Start bahn beobachtete. Sie kamen viel zu langsam voran. Unfähig, die Anspannung und das Schweigen länger zu ertragen, wandte er sich Gant zu und sagte: »Werden sie’s schaffen?« Gant nickte. »Wir werden sogar noch eine Minute mehr Zeit haben.« »Glauben Sie wirklich, Sie schaffen es in der kurzen Zeit, hier wegzukommen?« »Sogar so weit weg, wie Sie sich das gar nicht vorstellen können«, beruhigte ihn Gant mit einem grimmigen Lächeln. »Dann will ich nur hoffen, daß Sie sich da mal nicht täu schen!«
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»Der Kontakt ist bestätigt, Genosse Parteisekretär!« verkün dete Wladimirow und hieb mit der Handfläche auf den Tisch, daß die Lichter auf der Karte für einen Moment leicht vibrier ten und unscharf wurden. Der Mann vor ihm schien ungerührt, vielleicht sogar leicht verärgert über das Drängen des Generals. Wladimirow wußte, daß er nun alles riskierte. Er hatte gewußt, daß es ein amerika nisches U-Boot war; und er hatte gewußt, zu welchem Zweck es sich dort aufhielt. Aber die Stille im Raum sagte ihm alles. Sein Gesicht war bleich und angespannt, und auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Er spürte, daß von allen im Raum anwesenden einzig und allein Marschall Kutusow auf seiner Seite stand. Aber auch er schwieg. »Wladimirow, beruhigen Sie sich erst einmal!« knurrte ihn der Parteichef an. »Beruhigen – mich beruhigen?« Wladimirows Stimme klang schrill. Er wußte, daß es nun für ihn kein Zurück mehr gab. Er konnte nicht einfach mitansehen, was hier geschah, obwohl er sich schon die ganze Zeit genau dazu zu zwingen versucht hat te, hin und her gerissen zwischen der Sorge um seine Karriere und dem, was er für seine Pflicht hielt. Diese Anspannung hatte ihm so sehr auf den Magen gedrückt, daß er zum Mittagstisch nichts hatte essen können. Vielleicht war es die schreckliche Erkenntnis gewesen, daß er ein Feigling war, daß er Angst hat te, die ihn schließlich doch dazu getrieben hatte, seine Pflicht zu tun. »Ja, beruhigen Sie sich erst einmal!« »Wie soll ich mich beruhigen, wenn dieses Flugzeug auf grund Ihrer Dummheit – ja, Dummheit – an die Amerikaner verloren geht? Sie haben doch seine Akte durchgesehen. Sie wissen doch, was dieser Gant für ein Mann ist. Ihm ist es ohne weiteres zuzutrauen, auf einer Eisscholle zu landen und dann
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wieder zu starten. Ich flehe Sie an: Hören Sie auf mich, bevor es zu spät ist!« Wie ein Hase, vom Blick einer Schlange gebannt, beobachte te Wladimirow nun, wie die unterschiedlichste Emotionen ein ander über das Gesicht des Parteichefs jagten. Der anfängliche Jähzorn sah sich sofort wieder unter Kontrolle gehalten, um wieder dem gewohnheitsmäßigen Ausdruck der Verachtung Platz zu machen. Daneben glaubte Wladimirow auch so etwas wie sadistische Freude zu bemerken – und schließlich auch die Gefühlsregung, die zu wecken er vor allem gehofft hatte: Zwei fel. Und Wladimirow ließ keineswegs locker. Er wußte, daß der Parteichef ihn nun nicht länger einfach nur ignorieren konnte, auch wenn er sich damit in sein sicheres Verderben stürzte. Unfähig, Wladimirows Blick standzuhalten, wandte sich der Parteichef Andropow schräg hinter ihm zu. Die Miene des KGB-Vorsitzenden war unergründlich. »Sie müssen etwas unternehmen, Genosse Parteisekretär. Für politische Erwägungen ist es jetzt zu spät.« Für einen Augenblick schien die massige Gestalt den Ober kommandierenden des Wolfsrudels anspringen zu wollen, bis sich schließlich wieder ein Lächeln über seine Züge legte und er mit gespielter Leichtigkeit sagte: »Nun ja, Wladimirow, wenn Ihnen diese Sache so viel bedeutet …« Der Tonfall seiner Stimme verhärtete sich. »Wenn Sie sich schon unbedingt alles verderben wollen, dann bleibt mir natürlich nichts anderes üb rig, als auf Ihre Wünsche einzugehen.« Er fuhr mit der Hand in einer großzügigen Geste durch die Luft. »Was wollen Sie al so?« »Daß Sie die zweite Mig sofort von ihrem Treffen am Nord kap zurückrufen.« Wladimirow spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Sei
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ne Energie wich langsam von ihm. Nun war ihm nichts mehr geblieben als die Angst und das Gefühl, auf Macht und Ehren verzichtet zu haben. Sein Sieg war nur ein eisig bitterer Mo ment gewesen – nicht mehr. Der Parteichef nickte. All die an deren massierten Flotten- und Luftwaffeneinheiten, die zum Nordkap gelockt worden waren, hatten im Moment keinerlei Bedeutung. Nur noch die zweite Mig-31 und Tretsow konnten jetzt in letzter Minute doch noch das Ruder herumreißen. Und als Entschädigung für das Opfer seiner Karriere wollte Wladi mirow nun zumindest Gants Tod; er wollte, daß Tretsow ihn fertigmachte. Als er darauf wieder auf das Funkgerät zutrat, um Tretsow die entsprechenden Anweisungen zu erteilen, warf er einen kurzen Blick auf Kutusow. Für einen Moment glaubte er in den wäßrigen Augen des alten Marschalls einen Ausdruck wohlge sonnener, ja sogar bewundernder Abgeklärtheit, verbunden mit tiefem Mitgefühl, erkennen zu können. Und im nächsten Au genblick hatte er auch schon wieder den Eindruck, der alte Mann wäre von dem, was um ihn herum vorging, völlig unbe rührt. Er fühlte sich sehr allein – unfähig zu entscheiden, wel cher Eindruck nun der Wahrheit entsprach. Er stieß seine Befehle – möglicherweise die letzten Befehle, die er in seiner Funktion als Oberkommandierender des Wolfs rudels erteilen würde, dachte er voller Verbitterung – kurz und prägnant hervor. Eingedenk der Augenpaare in seinem Rücken, von denen er wußte, daß sie alle auf ihn gerichtet waren, ver suchte er, seiner Stimme einen möglichst neutralen Ton zu ver leihen. In der Stille glaubte man fast, die in der Luft liegende Spannung knistern zu hören. Während Tretsow nun neuerlich den Kurs änderte und mit einer Höchstgeschwindigkeit von über sechstausend fünfhundert Stundenkilometern auf die Eisscholle zuflog, fie berte Wladimirow diesem endgültig entscheidenden Aufeinan 297
dertreffen der beiden Migs entgegen, das die letzte Gelegenheit darstellte, Gant doch noch zu stoppen. »Sie haben sich jetzt mit uns in Verbindung gesetzt, Käpten; sie verlangen, daß wir uns auf der Stelle identifizieren.« Flei schers Stimme quäkte blechern aus dem Funkgerät, das immer noch an der Brusttasche von Seerbackers Parka steckte. »Jetzt lassen Sie sich doch nicht gleich aus der Fassung brin gen, Fleischer. Sie kennen doch das Standardvorgehen in so einem Fall; ist doch alles aufgeschrieben. Und genau so ma chen Sie jetzt alles.« »Der Russe möchte Sie sprechen, Käpten.« »Sagen Sie ihm, ich würde schon kommen – ich wäre gerade mit irgendwelchen Untersuchungen am anderen Ende der Scholle beschäftigt. Sagen Sie ihm, ich würde schon kommen.« »Jawohl, Käpten. Entfernung drei Minuten und vierzehn Se kunden.« Dieses Gespräch hatte sich irgendwo außerhalb Gants abge spielt, unendlich weit von ihm entfernt. Während er und Seer backer nun neben der Maschine standen und beobachteten, wie die Männer mit den Schläuchen langsam auf sie zukamen, er schien es ihm, als stünden sie in Wirklichkeit meilenweit von einander entfernt. Gant wußte fast auf die Sekunde genau, wie viel Zeit sie noch hatten und wieviel sie brauchen würden. Und bei diesem Rechenexempel kam genau eine überschüssige Mi nute für sie heraus. Seerbacker war offensichtlich einer Panik nahe, und Flei schers Stimme trug nicht gerade dazu bei, dem entgegenzuwir ken. Er konnte sich, während die Russen der Pequod immer näher kamen, einfach nicht mehr länger in dem Glauben wie gen, daß diese Bretterbude mit den Pseudo-Aufzeichnungen und die Thermometer und Masten ihn retten würden. Gant da 298
gegen schien völlig ruhig. Er kam Seerbacker nicht mehr, wie bisher, wie ein Mann ohne Vergangenheit vor, der sich auf dem Weg in eine unbestimmte Zukunft befand. Er befand sich in einem Stadium des Übergangs, ähnlich einem TransitPassagier, und die Gestalten in dieser bizarren Szenerie aus Eis und Nebel hatten wenig oder nichts mit ihm zu tun. »Verdammt! Sie werden es nie schaffen!« stieß Seerbacker schließlich hervor, unfähig, die Spannung weiter zu ertragen. »Sie werden es schaffen«, entgegnete Gant gelassen. Seine Stimme, fast ein Flüstern, klang so ruhig, daß Seerbacker ihm einen neugierigen Blick zuwarf. »Mann, Sie haben aber echt die Ruhe weg …« Gant lächelte. »Mir hat mal jemand gesagt, ich wäre schon tot. In Vietnam haben sie mich die fliegende Leiche genannt.« »Und wie fanden Sie das? Hat Ihnen das etwas ausge macht?« »Nein.« Mit einem amüsierten Lächeln schüttelte Gant den Kopf. »Die meisten Kerle, die mich so genannt haben, waren schon tot, bevor sie uns abgezogen haben … Raketen, AAKanonen, feindliche Kampfflugzeuge.« »Tja«, nickte Seerbacker, »das war schon ein verdammt har ter Krieg.« Erschöpft und aufgebracht, Schweißtropfen auf der bleichen Stirn, kam Peck auf sie zu. Inzwischen mußten nur noch etwa hundert Meter Startbahn freigeräumt werden. An Gant ge wandt, keuchte der hünenhafte Ingenieur los: »Wir werden es unmöglich schaffen, Mister. Wenn Sie sich nicht mit Ihrem Vogel aus dem Staub machen, bevor die Russen hier ankom men, sind wir alle reif für die Lubjanka!« Gant schüttelte den Kopf. »Wir haben genau eine Minute üb rige Zeit.« Peck starrte ihn mit offenem Mund an; aber der ver
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dutzte Ausdruck in seinen Augen machte langsam dem der Überzeugung Platz. »Wenn Sie meinen«, murmelte er schließlich und wandte sich um, um wieder zu den Schläuchen zurückzukehren und seine Leute unter wüsten Flüchen zur Arbeit anzuhalten. »Auf unseren Ersten Ingenieur machen Sie ja einen enormen Eindruck«, bemerkte Seerbacker mit einem leichten Lächeln. »Ich hoffe nur, Sie müssen Ihre diesbezüglichen Fähigkeiten nicht auch vor den Russen unter Beweis stellen.« »Entfernung zwei Minuten und dreißig Sekunden«, meldete sich Fleischers Stimme über Funk. »Er verlangt weiter nach Ihnen, Käpten. Er klingt zumindest nicht sonderlich überzeugt. Ich befürchte, daß ich meine Sache nicht sonderlich gut ge macht habe.« »Ach was, Dick. Lassen Sie sich nicht kleinkriegen. Wie sieht es denn aus? Glauben Sie, daß er auftaucht? Hat er schon irgendwelche unangenehmen Fragen gestellt?« »Nein, Käpten. Er scheint nur ganz allgemein argwöhnisch zu sein; er erweckt nicht den Eindruck, als hätte er es auf ir gend etwas Bestimmtes abgesehen.« Pulverschnee wirbelte Gant ins Gesicht. Durch die Stimme abgelenkt, blickte er einen Moment zu dem bewölkten Himmel hoch, der zum Teil durch den Nebel verdeckt war. Und dann erst wurde ihm bewußt, daß dies die ersten Vorboten des von Peck verursachten Schneesturms waren. Die Männer an den Schläuchen hatten ihr Zeitlimit eingehalten. Mit einem Lächeln streifte Gant den Parka ab. Pecks Männer waren nun noch vier zig Meter vom Firefox entfernt. Die Männer des Enteisungs teams kamen gerade mit ihrem Wägelchen an ihm vorbei und blieben mit einem fragenden Blick in seine Richtung stehen. Gant nickte ihnen zu, was sie sichtlich zu erleichtern schien. Schleunigst rollten sie ihre Sprinkleranlage auf die Pequod zu,
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um sie noch vor Erscheinen der Russen an Bord zu hieven und im Bauch des U-Boots zu verstauen. Wie ein Gast, der es eilig hat zu gehen, wartete Gant, bis Seerbacker seine Besprechung mit Fleischer beendet hatte. Der Kapitän schien überrascht, ihn wieder in seinem Druck anzug vor sich zu sehen. Er lächelte verlegen. »Ich – äh, natür lich …« »Bis dann also, Seerbacker – und vielen Dank.« »Sehen Sie zu, daß Sie hier wegkommen, Sie Penner!« schimpfte Seerbacker mit gespieltem Ernst. Gant nickte und schwang seinen Fuß zu der niedrigsten Ver tiefung für Hände und Füße im Rumpf der Mig hoch. Ge schwind kletterte er an dem stählernen Rund der Maschine empor und glitt, mit den Beinen voran, in die Kanzel. Dort stülpte er sich den Integralhelm über und steckte die Sauer stoffversorgung und die Kabel für das Waffenkontrollsystem und den Sprechfunk ein. Zuerst mußte er langsam zum Südrand der Eisscholle rollen, wo der Schnee noch nicht beseitigt wor den war. Dadurch würde seine Fahrt zwar verlangsamt werden, aber er brauchte eine möglichst große Entfernung bis zu der Verwerfung. Rasch ging er die vor dem Start nötigen Checks durch. Völlig automatisch schloß er den Druckausgleichsanzug an, während er die Meßinstrumente ablas, die ihm über den Zustand der Klappen, Bremsen und der Treibstoffversorgung Aufschluß gaben. Die Tanks, stellte er mit einem grimmigen Lächeln fest, waren ausreichend voll. Ihm schien es Äonen zurückzuliegen, über solche immensen Vorräte an Treibstoff verfügt zu haben. Er drückte auf einen Knopf, und die Glas kuppel senkte sich automatisch auf ihn herab und verriegelte sich. Dann sicherte er sie noch einmal manuell. Das Funkgerät, das Seerbacker ihm gegeben hatte, steckte in der Brusttasche seines Druckanzugs. Wie aus großer Ferne hörte er Fleischers
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Stimme: »Entfernung eine Minute und dreißig Sekunden.« »Haben Sie gehört, Gant?« schaltete sich Seerbacker ein. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Viel Glück! Jetzt müssen wir nur noch Mr. Pecks verdächtige Schläuche verstauen. Also sehen Sie zu, daß Sie hier wegkommen!« Gant schaltete die Zündung und die Startermotoren ein, drehte den Hochdruckhahn auf und drückte auf den Anlasser knopf. Zu seiner Erleichterung sprangen die Triebwerke mit einem lauten Doppelknall auf der Stelle an. Und dann folgte dasselbe rasch ansteigende Sirren, das er schon im Hangar in Biljarsk gehört hatte, als die gewaltigen Triebwerke warmzu laufen begannen. Er schaltete die Treibstoffpumpe ein und öff nete die Drosselventile, bis der Zeiger des Drehzahlmessers sich auf siebenundzwanzig Prozent einpendelte. Er zögerte keine Sekunde und stieß die Drosselventile auf, bis der Dreh zahlmesser fünfundfünfzig Prozent anzeigte, und dann löste er die Bremsen. Der Firefox rührte sich nicht von der Stelle. Er drehte die Drosselventile zurück und zog die Bremsen wieder an. Obwohl er wußte, was der Grund dafür war und wie er dem entgegenwirken konnte, ließ ihn die Tatsache, mit die ser Möglichkeit nicht von vornherein gerechnet zu haben, doch in kalten Schweiß ausbrechen. Er klappte das Dach der Kanzel hoch, zog sich die Ge sichtsmaske vom Mund und brüllte in das Funksprechgerät: »Seerbacker, schaffen Sie die Schläuche her – schnell!« »Was, zum Teufel, ist denn jetzt schon wieder, Gant? Kön nen Sie uns denn gar nicht in Frieden lassen …?« »Los, hier herüber! Die Räder sind angefroren.« »Sie hängen fest – mit den Triebwerken?«
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Während Seerbacker noch mit ihm herumstritt, konnte er be reits sehen, wie Peck und seine Leute mit den Schläuchen auf ihn zukamen. »Wenn ich versuchen sollte, mich an den eigenen Haaren hier rauszuziehen, würde ich nur dumm auf meinem Bauch landen!« Über den Rand des Cockpits gebeugt, sah er Seerbacker zu ihm heraufschauen. Der Kapitän der Pequod grinste ganz un verhohlen. Dampf umhüllte die hagere Gestalt, gefolgt von wild aufwirbelndem Pulverschnee, während die Räder vorsich tig losgeeist wurden. Gant hatte Peck nicht eigens darauf auf merksam machen müssen, die Räder der Dampfbestrahlung nicht zu direkt auszusetzen, da sie sonst buchstäblich zu schmelzen begonnen hätten. Als die Räder schließlich frei waren, tauchte Peck unter dem Rumpf auf, sah zu Gant hoch und sprach in sein Funkgerät: »Alles in Ordnung, Major Gant, und jetzt sehen Sie, um Him mels willen, zu, daß Sie hier wegkommen!« Gant streckte ihm seinen erhobenen Daumen entgegen, ver schloß neuerlich das Kuppeldach, überprüfte die Instrumente und öffnete die Drosselventile, bis der Drehzahlmesser wieder auf fünfundfünfzig Prozent stand. Dann löste er die Bremsen, und die Maschine hüpfte aus den Vertiefungen, welche die Räder und der Dampf in das Eis gefressen hatten. Die schwe ren Schläuche hinter sich her schleppend, entfernten sich Seer backer, Peck und die restlichen Männer schnell von dem anrol lenden Flugzeug. Währenddessen kamen aus der Pequod be reits als Wissenschaftler und Techniker verkleidete Matrosen wieder aufs Eis zurück, um für die Ankunft der Russen die »Wetterstation« zu bemannen. Gant wendete die Maschine und rollte in der entgegengesetzten Richtung, in der er starten wür de, über die Eisscholle. Er hielt den Firefox genau auf geradem Kurs. Für den Anlauf zum Start würde er seine Spuren brau 303
chen. Vor ihm tauchte das graue Meer auf. Er hielt nach irgend welchen Spuren des sowjetischen U-Boots Ausschau. Es war jedoch nichts zu sehen. Möglicherweise hatte sich sein Kapitän entschlossen, nicht aufzutauchen, bis er direkt neben der Pe quod zu liegen gekommen war und die Maschinen gestoppt hatte. Vielleicht versprach er sich davon eine Art psychologi schen Überraschungseffekt. Jedenfalls, dachte Gant, konnte das für Seerbacker und seine Besatzung nur von Vorteil sein. Nie mand würde den Firefox zu Gesicht bekommen. Er wendete die Maschine in einem Halbkreis, bis er wieder in der entgegengesetzten Richtung in seinen alten Fahrspuren rollte, und öffnete die Drosselventile. Fast sofort spürte er die Bremswirkung des Schnees auf der Eisoberfläche, der das Flugzeug nicht mit der normalen Geschwindigkeit beschleuni gen ließ. Er durfte nicht zu viel Gas geben, da sich sonst die Nase der Maschine gesenkt und damit der Luftstrom im Um kreis des Flugzeugs verändert hätte, was wiederum zur Folge gehabt hätte, daß der Firefox noch langsamer geworden wäre. Er gewann kaum einen Eindruck von seiner Geschwindigkeit, bis er die Stelle auf dem Eis erreicht hatte, wo er die Maschine abgestellt hatte und wo das gesäuberte, vom Schnee befreite Stück der Startbahn seinen Anfang nahm. Erst jetzt konnte er die Verwerfung vor sich erkennen – ein niedriger Eiswall, der sich quer über die Scholle erstreckte. Aufgrund der schlechten Sicht konnte er jedoch die Lücke nicht sehen. Plötzlich nicht mehr durch den Schnee gebremst, schoß die Maschine davon, als wäre sie bis dahin über Leim oder Sirup gerollt. Jetzt end lich konnte er die Drosselventile öffnen, die Drehzahl erhöhen und beschleunigen. Den einzigen Eindruck von seiner Ge schwindigkeit vermittelten ihm die gekräuselten Ränder der Startbahn, die mit zunehmendem Tempo an ihm vorbeischös sen. Er mußte sich genau in die Mitte der Startbahn halten, da
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er auf dem Eis mit Hilfe der Bremsen unmöglich eine Rich tungsänderung hätte vornehmen können. Sie wären aufgrund der glatten Unterlage völlig wirkungslos geblieben. Und auch das Ruder konnte er erst mit Erfolg einsetzen, sobald er eine Geschwindigkeit von fünfundachtzig Knoten erreicht hatte. Im Augenblick schoß er mit etwas mehr als fünfzig Knoten dahin. Während seine Augen angestrengt in den Nebel vor ihm hin ausstarrten, hörte er aus großer Entfernung, aber mit ziemlicher Klarheit, Seerbackers Stimme. »Viel Glück, Mann. Kann nicht zu reden aufhören – wir ha ben Besuch!« quäkte es aus dem Funksprechgerät. Ihm war kalt, aber er schwitzte. Die Sekunden, die es dauer te, bis er wieder eine Geschwindigkeit erreichte, die es ihm ermöglichte, die Maschine wieder zu lenken, war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Dann erreichte er neunzig Knoten und konnte die Maschine nun genau auf die Mitte der Startbahn zentrieren. Er öffnete die Drosselventile, daß die Drehzahlmes ser über die ganze Skala auszuschlagen schienen. Er sah die Lücke auf sich zurasen. Da seine Augen nun in dem diffusen Weiß aus Schnee, Eis und Nebel endlich einen Fixpunkt hatten, wurde er sich plötzlich seiner Geschwindigkeit bewußt. Bei niedrigen Temperaturen, sagte er sich immer wieder vor, brauchte man zum Abheben eine geringere Distanz, was er jedoch im Augenblick auch mit dem besten Willen nicht zu glauben vermochte. Die Lücke sprang auf ihn zu; die gewaltigen Triebwerke hat ten den Abstand, der ihn von ihr trennte, mit einem Satz ver schlungen. Er passierte die Lücke mit hundertfünfzig Knoten. Zum Abheben mußte er hundertsiebzig erreichen. Er schob die Drosselventile auf ›Reheat‹ und zog den Knüppel auf sich zu. Er konnte es jetzt auf keinen Fall mehr riskieren, wieder durch den Schneebelag auf der Eisoberfläche zu pflügen, wo Pecks Männer die Startbahn nicht mehr hatten säubern können. 305
Er konnte den Schnee sehen – er hätte schwören können, daß er die Stelle sah, wo die Startbahn aus Eis endete und der Schnee begann. Es war unmöglich. Er schoß unter dem Bauch des Flugzeugs hindurch, als er den Steuerknüppel weiter zu rückdrückte. Er wußte, daß sich das Fahrwerk von der Eis scholle gelöst hatte, aber er spürte nicht, daß die Maschine stieg. Im Rückspiegel sah Gant hinter sich eine riesige Schneewol ke aufwirbeln, verursacht durch den plötzlich nach unten ge richteten Rückstoß seiner Triebwerke. Für einen Augenblick schien der Firefox, die Nase zum Himmel emporgereckt, auf der Stelle zu verharren, ähnlich einem Bein, das sich aus zähem Sumpf befreite, um sich dann jedoch doch von der Eisscholle zu lösen. Gant stellte die Klappen hoch und zog das Fahrwerk ein. Der Luftgeschwindigkeitsanzeiger schlug heftig aus, und er stieß die Drosselventile nach vorn. Die Maschine trat ihm in den Rücken, und er spürte, wie sein Anzug den durch den Be schleunigungsschub entstehenden Druck ausglich. Er überprüf te die Treibstoffversorgung und sah, daß alle Nadeln auf Grün standen, worauf er die Maschine steil nach oben zog. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er die Wolkendecke er reichte, und als er in sie eintauchte, wanderte der MachAnzeiger über die Zahl 1 – und dann 1,1; 1,2; 1,3; 1,4 … In 6600 Metern Höhe schoß der Firefox aus den Wolken und in das in strahlendem Sonnenschein sich endlos wölbende tiefe Blau des Himmels. Er hatte genau in nördlicher Richtung von der Eisscholle ab gehoben. Und nun stellte er den genauen Kurs ein, indem er die Koordinaten für seinen vorläufigen Zielpunkt an der finnischen Küste in den Navigator eingab. Immer noch steigend, schwenk te der Firefox auf einen Kurs von 210 Grad. Die maximale Hö
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he, die das Flugzeug angeblich erreichte, betrug 36 000 Meter, und Gant war entschlossen, sich dieses Potential, so gut es ging, zunutze zu machen. Er war sich jedoch im klaren dar über, daß er auch in dieser Höhe einer Erfassung durch Infrarot nicht entgehen konnte. Wenn er jedoch mit der größten Ge schwindigkeit, deren die Maschine fähig war, in einem gewal tigen Satz über die Barentssee setzte, würde man ihn unmög lich noch abfangen können. Kurz vor Überqueren der Küste würde er dann wieder auf Seehöhe heruntergehen und seinen komplizierten Flug über Finnland und den Bottnischen Meer busen nach Stockholm beginnen. In dieser Höhe und bei dieser Geschwindigkeit gab es kein Flugzeug und keine Rakete, die ihm etwas hätte anhaben kön nen. Er lächelte still in sich hinein, als der Höhenmesser 15 000 Meter anzeigte und die Maschine nach wie vor stieg. Nun, dachte er, würde er dieses großartige Flugzeug zum erstenmal wirklich ausfliegen können … Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einer wilden, kalten Freude. Es gab nichts, was mit diesem Gefühl zu vergleichen gewesen wäre, was einer Ekstase nähergekommen wäre. In Saigon hatte er einmal den Bericht des Armee-Psychiaters gelesen; er war nachts in das Büro eingebrochen, wo diese Ak ten aufbewahrt wurden. Als emotional verkrüppelt war er dort, wenn auch in anderen Worten, beschrieben worden – emotio nal verkrüppelt für sein ganzes Leben durch seine Kindheitsund Jugenderfahrungen. Der Psychiater hatte ihn also anhand dieses Blödsinns, den er ihm über Clarkville erzählt hatte, ein gestuft – ihn, einen Mann, der mehr als fünfzig Kampfeinsätze geflogen hatte und dem keiner das Wasser reichen konnte. Und ihn glaubte so ein fettärschiger Doktor beurteilen und einschät zen zu können – ein Schreibstubenhengst, der noch nicht ein mal auf hundert Kilometer einen Vietcong-Soldaten oder eine Raketenabschußbasis gesehen hatte. 307
Er versuchte das Adrenalin einzudämmen, das sich im Blut kreislauf ausbreitete. Es hatte keinen Sinn, sich darüber jetzt aufzuregen. Er war der Beste. Buckholz hatte das gewußt, als er ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Der Firefox erreich te inzwischen 18 000 Meter Höhe. Er dachte kein einziges Mal an Upenskoj oder an Barano witsch, Kreschin, Semelowskij und die anderen. Seit er Bil jarsk hinter sich gelassen hatte, war jede Erinnerung an sie von ihm gefallen. Tretsow sah ihn die Höhenmarke von 18 000 Metern über steigen. Der Kondensstreifen vor ihm hob sich deutlich gegen das dunkle Grau der See ab, die durch ein Loch in der Wolken decke sichtbar wurde. Er wußte, daß er Gant vor sich hatte. Das Flugzeug vor ihm war zwar auf dem Infrarotschirm, nicht aber auf dem Radarschirm zu sehen; es mußte die Mig-31 sein. Tretsows Verstand arbeitete wie das Skalpell eines Chirur gen. Er wußte, was er zu tun hatte. Er wußte über Gants fliege rische Fähigkeiten und seine Kampferfahrung Bescheid. Seine eigene Kampferprobung – in der alten Mig-21 – war auf ein paar Gefechte mit israelischen Phantom-Jägern beschränkt, die er als sehr junger Pilot in den Reihen der ägyptischen Luftwaf fe hinter sich gebracht hatte. Er hatte damals zu den wenigen ausgewählten Piloten der Roten Luftwaffe gehört, die zur Ver stärkung der unzureichend ausgebildeten ägyptischen Piloten eingesetzt worden waren. Gant war besser als er … Auf dem Papier. Gant hatte die Mig-31 inzwischen knapp fünf Stunden geflo gen, während Tretsow bereits über zweihundert Flugstunden in dieser Maschine absolviert hatte. Gant wollte nur seinen Auf trag zu Ende führen. Tretsow dagegen hatte Woskow zu rä chen. Und dann die Angst – die ständige Angst. Er würde Gant
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töten. Er mußte. Er mußte sich direkt hinter die andere Mig hängen, von wo die wärmegesteuerten Raketen am besten auf die gewaltigen Triebwerke zuhalten konnten. Außerdem würde ihn Gants In frarot auf diese Weise erst erfassen, wenn es für ihn bereits zu spät war, noch etwas zu unternehmen. Während er nun beo bachtete, wie die andere Mig stetig in den Himmel stieg, wußte er, daß Gant ihn noch nicht bemerkt hatte; er befand sich im toten Winkel seines Infrarotgeräts. Er würde sich rasch hinter den Amerikaner hängen und dann … Gant hatte inzwischen Tretsows Flughöhe von 21 000 Me tern überstiegen. Sich immer noch an dem Kondensstreifen orientierend, der die Information auf seinem Infrarotschirm bestätigte, änderte Tretsow seinen Kurs. Er hängte sich so hin ter den Amerikaner, daß der orangefarbene Lichtpunkt, der die Position von Gants Mig anzeigte, direkt vor ihm lag. Darauf schoß er über das gedankengesteuerte Bewaffnungssystem zwei der Anab-Raketen ab und beobachtete, wie sich auf dem Infrarotschirm ihre zwei Lichtpunkte auf die heller aufleuch tende Lichtquelle zu bewegten, welche die Triebwerke von Gants Mig anzeigten. Die ECM-Anlage fing schrill in Gants Kopfhörern zu piepen an und riß ihn aus seinen Gedanken. Er sah die zwei Raketen, die direkt auf ihn zukamen. Unmöglich, aber … Sein Verstand überschlug sich, weigerte sich zu begreifen, suchte nach der Herkunft der wärmegesteuerten Raketen – während der Körper bereits reagierte, sich der elektronischen Überlebensmöglich keiten bediente und auf alte Strukturen und Verhaltensweisen zurückgriff. Es gab nur eine Möglichkeit, einer infrarotgesteuerten Rake te zu entgehen – eine einzige. Sie war im Sechstagekrieg von
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israelischen Piloten und in Vietnam von den Amerikanern ge nutzt worden. Wenn er mit ausreichender Plötzlichkeit eine Kursänderung vornehmen konnte, würden die Sensoren der Raketen für einen Moment die Hitzespur seiner Triebwerke verlieren und danach nicht mehr imstande sein, den Firefox weiter zu verfolgen. Er kappte die Drosselventile und riß den Steuerknüppel zu rück, so daß die Maschine steil nach oben stieg, wobei er sie in einem möglichst spitzen Winkel zu seiner bisherigen Flugrich tung zu wenden versuchte, um die Hitzequelle, die seine Triebwerke darstellten, möglichst von den Sensoren der näher kommenden Raketen abzuwenden. Als nächstes kippte er die Maschine nach rechts und schoß im Sturzflug unter die Flug richtung der Raketen. Durch den enormen Druck, der durch dieses Manöver auf Gants Körper ausgeübt wurde, engte sich sein Gesichtsfeld immer mehr ein. Er starrte auf den Druck messer und sah, daß er bereits über 8 G anzeigte. Falls sich sein Blickfeld noch weiter verengen sollte, würde dies darauf hin deuten, daß er jeden Augenblick das Bewußtsein verlieren konnte. Bei zehn Einheiten würde dies auf jeden Fall eintreten und das Flugzeug damit führerlos sein. Alles, was er im Mo ment noch sehen konnte, war dieser ominöse Druckmesser, während der Druckanzug sich nur noch in unendlich weiter Ferne um seine Beine und seinen Bauch zu pressen schien. Er war wütend auf sich selbst, daß er genau zu diesem kritischen Zeitpunkt eine niedrigere Druckverträglichkeit haben mußte. Die Raketen veränderten mit kaum zu glaubender Schnellig keit und Heftigkeit ihre Position auf dem Schirm und glitten auf ihrem ursprünglichen Kurs über den eigentlich erwarteten Kontaktpunkt mit dem Firefox hinaus. Sie hatten die Spur ver loren und würden nun ziellos weiter dahinjagen, bis ihr Treib stoffvorrat zu Ende ging und sie ins Meer stürzten. Er nahm den Steuerknüppel zurück, so daß sich sein Ge 310
sichtsfeld wieder weitete, wie wenn man die Jalousien vor ei nem Fenster langsam hochzieht. Seine Fluggeschwindigkeit ging zurück, und er stellte fest, daß sein ganzer Körper in Schweiß gebadet war. Fast hätte es ihn erwischt – wie einen blutigen Anfänger. Auf dem Schirm war nichts zu sehen. Tret sow war, obwohl Gant dies nicht wußte, immer noch direkt hinter ihm im toten Winkel der Infrarot-Anlage. Ein Anflug von Panik überkam Gant. Er mußte zusehen, daß er den Feind mit dem bloßen Auge aufspürte; eine andere Chance hatte er nicht. Er war blind – ein Blinder im selben Raum mit einem Psychopathen. Die Angst jagte ihm Kälteschauer durch den ganzen Körper. Er argwöhnte bereits, wen er diesmal zum Gegner hatte, wenn er sich auch noch nicht einzugestehen wag te, welche Tragweite diese Erkenntnis hatte. Der Pilot des anderen Flugzeugs – und von einem anderen Flugzeug war diese Attacke auf ihn eben offensichtlich ausge gangen – war ihm genau auf seinem Kurs gefolgt, vermutlich wütend über die verpaßte Gelegenheit, ihn von hinten zu über raschen und auf diese Weise gefahrlos abschießen zu können. Im Rückspiegel sah Gant für den Bruchteil einer Sekunde einen Sonnenstrahl sich an einer metallischen Oberfläche bre chen. Auf dem Radarschirm war nach wie vor nicht das gering ste zu sehen. Und jetzt hatte er Gewißheit. Baranowitsch und Semelowskij war es also nicht gelungen, den zweiten Firefox durch den Hangarbrand fluguntauglich zu machen. Der ent standene Schaden war beseitigt worden, worauf man ihm die Maschine hinterhergeschickt hatte. Ihm wurde zunehmend kälter. Der Schweiß, der ihm in Strömen unter den Achseln auf die Hüfte und den Bauch hi nunterfloß, ließ ihn fröstelnd erschauern. Unter dem Druckan zug konnte er die klamme Kälte seines Unterhemds spüren. Das andere Flugzeug war das genaue Spiegelbild des seinen, diesem völlig gleichwertig, und sein Pilot war im Umgang da 311
mit um vieles erfahrener … Sein Verstand raste weiter in seinen Visionen einer schreck lichen, unausweichlichen Zukunft, während der Körper bereits registrierte, daß der Russe ihn abfangen würde, falls sie weiter ihre Steigkehre fortsetzten. Noch einmal beobachtete er im Rückspiegel ein kurzes Aufblitzen von Sonnenlicht, worauf die Hände die Drosselventile aufstießen und damit seinem Körper durch den gewaltigen Schub der mächtigen Triebwerke Er leichterung verschafften. Er wurde in den Sitz zurückgepreßt. Mechanisch unterbrach er den Steigflug und zog den Firefox sogar noch stärker nach links. Der Russe ließ sich nicht ab schütteln und kam ihm nun von links näher. Gant zog noch stärker nach links und ging dann mit solcher Plötzlichkeit wie der auf geraden Kurs, daß ihn die Trägheit des Kopfs mit dem Helm gegen die Kuppel des Cockpits schlagen ließ. Er verstell te den Sitz, so daß er in der sogenannten »Kampfposition« fast waagerecht zu liegen kam. Im Rückspiegel konnte er sehen, daß ihm der Russe nach wie vor auf den Fersen war und von hinten in die optimale Feuerposition zu kommen versuchte, um Gant, nachdem er bereits zwei seiner Raketen vergeudet hatte, mit seiner Bord kanone zu beschießen. Sein Gegner war gut, registrierte der Verstand, der sich im mer noch wie wild im Kreis drehte – unfähig, sich von der Vergangenheit und Zukunft, von den Augenblicken zuvor und den Augenblicken danach zu lösen. Der Russe hatte ihn ge stellt. Ganz gleich, was er unternehmen würde, der Pilot würde sich weiter von hinten an ihn heranpirschen. Der Körper registrierte das Erscheinen des zweiten Firefox in Form eines orangefarbenen Lichtpunktes auf dem Infrarot schirm. Dies war eine alte Information, für den Körper von keinerlei Wert. Er wußte bereits, was es für ein Flugzeug war,
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das ihn nun jagte. Nun griff der Körper auf eine neue Strategie zurück; die Ma schine des Russen nahm nämlich die »Obersonnenposition« ein. Gant riß den Firefox nach links und setzte zu einer Faßrol le an. Im gleichen Moment sah er im Rückspiegel die Rauch fetzen, die sich von den Tragflächen seines Verfolgers lösten – er hatte ihn mit seinen Bordkanonen unter Beschuß genommen. Scheinbar harmlos langsam trieben auf dem Schirm kleine orangefarbene Lichtpünktchen auf ihn zu, um schließlich, zu nehmend schneller werdend, an ihm vorbeizuschießen. Tretsow hatte sich zu diesem Vorgehen verleiten lassen, da auch an ihm die Anspannung nagte, da auch er dem Ganzen möglichst rasch ein Ende bereiten und Gant möglichst bald erledigen wollte. Aber das enorme Potential seiner Maschine hatte ihn zu vorei ligem Handeln verleitet. Während Gant nun die Rolle ausführte und merkte, daß die Geschosse ihn verfehlt hatten, mußte der Russe davon ausge hen, der Amerikaner würde nun auf Kurs in einer Richtung mit der Sonne gehen. Statt dessen behielt er die Rolle noch neunzig weitere Grad bei – Gant zog am Steuerknüppel, daß der Firefox in seiner ganzen Länge erzitterte. Und Gants Bauchmuskeln krampften sich zusammen, sein Gesichtsfeld verengte sich wieder. Er brüllte in seine Gesichtsmaske – einfach, um die Wirkung der zunehmend anwachsenden Schubkraft zu vermin dern. Der Druckmesser schlug etwas über 9 aus, konnte er an gesichts seines enorm beeinträchtigten Gesichtssinns gerade noch ablesen. Als er schließlich aus der Rolle kam, sah er die Maschine des Russen vor sich. Sein Verstand schrie vor Erleichterung laut auf, zumal er sich nun in optimaler Feuerposition befand. Der Russe flog, etwa sechshundert Meter von ihm entfernt, direkt vor ihm. Auf seinen gedanklichen Befehl hin wurden zwei Anab-Raketen abgeschossen. Die Maschine geriet leicht ins 313
Vibrieren, und während sie sich wieder stabilisierte, beobachte te er, wie die Raketen auf ihr Ziel zuschossen. Da er, wie der Russe, über keine Zielhilfe verfügte – das gedankengesteuerte Zielsystem war nur an das Radar- und nicht an das Infrarotsy stem gekoppelt –, war er ausschließlich auf die visuelle Zielhil fe angewiesen. Ohne ein Radarbild war Tretsow nicht imstande gewesen, die Raketen zu steuern, sobald er sie abgeschossen hatte, und Gant mußte nun zu seiner Bestürzung feststellen, daß auch er dazu nicht imstande war. Er sah, daß der Russe denselben Trick wie er eben anwandte und nach rechts zu einem Steigflug und einer Rolle ansetzte. Die Anab-Raketen schossen gerade aus weiter, um vergeblich nach einer Wärmequelle zu suchen, nachdem ihnen Tretsow mit seiner plötzlichen Richtungsände rung entwischt war. Gant stellte fest, daß der Verstand dem Körper in die Quere gekommen war, ihn infiziert hatte. Dieser Zustand erinnerte ihn an die letzten Tage in Vietnam, bevor er in das Krankenhaus eingeliefert worden war. Ein Gefühl des Versagens – sowohl in der Vergangenheit wie auch jetzt, in der unmittelbaren Gegen wart, drohte ihn für einen Augenblick zu erdrücken. Er flog im Moment ganz einfach nicht gut. Das war auch damals so gewe sen. Er verlor zu schnell die Nerven, verfügte nicht mehr über die erforderliche psychische Energie. Er hatte mit einem Mal wieder Angst. Er würde vielleicht sterben müssen – mögli cherweise hatten die Umstände sich bereits so gegen ihn ver schworen, daß sein Tod bereits unausweichlich, eine abge machte Sache war. Unter Umständen war es bereits zu spät, überhaupt etwas zu seiner Rettung zu unternehmen. Der Körper – er funktionierte diesmal um den Bruchteil ei ner Sekunde langsamer als zu seinen Glanzzeiten – riß die Ma schine nach rechts. Neuerlich betäubte die Schubkraft fast Verstand und Körper. Das Gesichtsfeld engte sich ein. Er folg 314
te dem Russen. Er hatte zu unüberlegt, zu voreilig gehandelt, als er die Raketen durch seinen bloßen gedanklichen Ent schluß, wie durch einen Druck auf den Auslöseknopf, abge schossen hatte. Aber jetzt war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Er war nun voll und ganz bei der Sache. Er war der elektroni sche Schachmeister, der bereits die Hand von der Figur ge nommen hatte, die zu ziehen er beabsichtigt hatte. Es gab kein Zurück; die beiden Raketen waren unwiederbringlich verloren. Er mußte jetzt in dem Zustand fliegen, in dem er sich befand. Unter dem Ansturm dieser plötzlichen, heftigen Emotionen zog sich sein ganzer Körper zusammen; Adrenalin schoß durch seine Adern; und Erinnerungen zogen wie auf einem Bild schirm vor seinem geistigen Auge vorbei. Er lavierte die Maschine wieder in eine normale Flugbahn, so daß das graue Eismeer über seinem Kopf langsam wieder in die gewohnte Lage schwang. Verzweifelt suchte er den Luft raum nach dem Russen ab; er hatte ihn neuerlich aus den Au gen verloren. Die See verschwand langsam in seinem Rücken. Und dann blitzte es im Rückspiegel kurz auf. Da war Tretsow wieder; er hatte sich Gants Trick bedient und eine Faßrolle geflogen. Er befand sich dicht hinter ihm und kam rasch näher – bereit, den Amerikaner zu vernichten. Und diesmal würde er dafür sorgen, daß Gant nicht mehr über die Zeit und den Platz verfügte, den tödlichen Geschossen auszuweichen. Der Körper registrierte, daß der Russe gut war – der Verstand sah für sich keine Chance mehr. Gant trat auf das linke Ruder und riß den Knüppel herum, so daß die Maschine nach links schwenkte, und im gleichen Au genblick sah er auch schon, wie sich in hellem, mesmerischem Orange eine Rakete von der Mig des Russen löste. Er stieß den Knüppel zurück und spürte, wie die Schubkraft ihn tief in sei nen Sitz preßte, für einen schrecklichen Augenblick lang Beine 315
und Bauch zu zerquetschen drohte, ihm die Gesichtsmaske gegen den Mund drückte, den Kopf an die Brust quetschte … Der Verstand trat vor dem plötzlichen Schmerz den Rückzug an und ermöglichte somit die Klarheit der körperlichen Reak tionen, die ihm jetzt allein das Leben retten konnte. Darauf rüttelte die Maschine als Antwort auf seine Hand auf dem Steuerknüppel, und sie begann, über ihre ganze Länge ins Vi brieren zu geraten. Er befand sich in einer waagrechten Trudelbewegung, wobei die Nase des Flugzeugs in beiden Richtungen mehr als fünf zehn Grad über die horizontale Achse ausschlug. In einem kur zen Moment der Erleichterung sah Gant die Anabs ziellos über sich hinwegschießen. Aber dann rief ihn der Druckmesser rasch in die rauhe Wirklichkeit zurück; der Zeiger wanderte über 8,5 auf 9 zu. Seine Luftgeschwindigkeit fiel rapide auf die Hundertknotenmarke ab. In seinen Kopfhörern war ein hektisches Klicken zu hören, das darauf hindeutete, daß die automatischen Zünder verzwei felt ein Ausgehen der gewaltigen Triebwerke hinter ihm zu verhindern suchten. Aufgrund der durch das Trudeln beein trächtigten Luftzufuhr mußten die Motoren jede halbe Sekunde neu gezündet werden. Rasch flog sein Blick über den Dreh zahlmesser, dessen Nadel vibrierend auf sechzig Prozent zu rückgegangen war. Bevor er sich dessen bewußt geworden war, war die Maschine um zweitausendfünfhundert Meter abgesun ken. Der Höhenmesser spielte verrückt. Inzwischen hatte Gant den Russen wieder aus den Augen verloren, aber Tretsow hatte ihn genauestens beobachtet und war ihm im Sturzflug gefolgt. Der Amerikaner bot ein hervor ragendes Ziel. Gant wollte noch einmal zum Trudeln ansetzen und drückte den Steuerknüppel nach vorn. Keine Reaktion. Die Maschine
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sprach nicht mehr an. Der Russe über ihm, der ihm inzwischen sicher folgte, hatte plötzlich keine Bedeutung mehr. Nun galt es nur noch, der eigenen Maschine wieder Herr zu werden, während sie, völlig außer Kontrolle, auf die See unter ihm zu schoß. Er bewegte den Steuerknüppel vor und zurück und ma nipulierte die Drosselventile, um die Nase der Maschine nach unten zu drücken und über die Elevatoren eine bessere Luft strömung zu bekommen. Er versuchte, das Flugzeug stärker nach vorn zu neigen, um an Geschwindigkeit zu gewinnen und die Kontrolle über die Maschine wieder zu erlangen. Etwa zwei Sekunden lang geschah absolut nichts; nur das hektische Knattern der Selbstzündung und das rasende Abfal len des Höhenmessers hielten weiter an. Er war bereits auf neuntausend Meter gesunken und stürzte immer noch dem grauen Meer unter ihm entgegen. In seiner Verzweiflung griff seine Hand nach dem Armaturenbrett vor ihm, und er fuhr das Fahrwerk aus, um dadurch einen plötzlichen Ruck auf die Ma schine auszuüben – eine Methode, an die sich der Körper aus einer lange zurückliegenden Unterhaltung erinnerte. Das Heck hob sich mit einem plötzlichen Ruck, die Nase senkte sich, und er trudelte noch steiler. Er gab Gegenruder und öffnete die Drosselventile. Während der Höhenmesser immer noch fiel, befand er sich inzwischen in sechstausend Metern Höhe, aber zumindest hatte er die Maschine wieder unter Kontrolle. Um wieder in die Horizontale zu gelangen, nahm er den Steuer knüppel stetig zurück und zog das Fahrwerk ein. Dann öffnete er die Drosselventile. Langsam nahm die Maschine wieder eine waagrechte Lage ein. Der Körper schöpfte tief Atem – das er ste Mal, seit er zum Trudeln angesetzt hatte. Aber schon im nächsten Augenblick stellte er unter eiskal tem Erschrecken fest, daß der Russe ein heller Lichtschein auf dem Schirm war. Der Pilot war ihm im Sturzflug gefolgt und stieß nun von hinten auf ihn herab, während er die Maschine
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wieder abfing. Er kam mit mehr als Mach 1,6 auf ihn zu, schätzte Gant. Der Russe war sich im klaren darüber, daß er nahe genug an Gant herankommen konnte, um ihm den Garaus zu machen. Es gab keine mögliche Fehlerquelle mehr; der Amerikaner hatte keine Chance, sei es durch Glück oder durch Können zu entkommen. Gant erblickte ihn im Rückspiegel – ein Schreckensbild, das auf ihn einstürzte. Der Verstand brach in diesem Moment der Konfrontation mit dem Tod in panisch sich überschlagende Schreckensvisionen aus. Die orangefarbenen Feuerkugeln, die aus den kleinen Rauchwölkchen an den Rändern der Tragflä chen schössen, jagten mit beängstigender Geschwindigkeit auf ihn zu und an ihm vorbei. Er riß die Maschine zur Seite, als versuchte er, einem ihn anspringenden Tier zu entkommen, und sah im Spiegel, wie der Russe ihm folgte und sich bereits in die günstigste Ausgangsposition für den Abschuß seiner letzten Rakete brachte. Die Erleichterung, die Gant kurz verspürte, als er den Ge schossen aus der Bordkanone entging, kam ihm schon im sel ben Moment, da sie durch seinen Körper wogte, nichtig und unwirklich vor. Nur ein paar Sekunden, die er noch länger zu leben hatte. In dem Bemühen, über seinen in Panik geratenen Verstand wieder Herr zu werden, kämpfte der Körper verbittert darum, die Kontrolle wieder an sich zu reißen. Seine Hand öffnete die Drosselventile, und er zog den Steuerknüppel nach rechts hin ten. Der Verstand schrie nach etwas, womit er den Russen hin ter sich hätte beschießen können – irgend etwas, mit dem man sich eines Feindes hätte erwehren können, der von hinten an griff. Der Verstand überrannte schließlich mit seinem Drängen den Körper. Es war ein Befehl, der dem Körper nie in den Sinn gekommen wäre. Der Verstand brüllte in äußerster Panik den 318
Befehl an das gedankengesteuerte System hinaus, die letzte der Ablenkungshitzequellen aus dem Abwehrsystem im Heck zu katapultieren. Im Rückspiegel leuchtete es mit einer Helligkeit auf, welche die Augen zu versengen schien, als sich die Ablen kungshitzequelle, eine grell weiße Lichtkugel, aus dem Heck des Firefox löste und für einen Augenblick in der Luft zu hän gen schien. Und dann explodierte der Spiegel in loderndem Licht, heller als die Feuerkugel. Der Körper, durch seine Untä tigkeit wie gelähmt, spürte nur die Druckwelle. Gant hielt die Maschine weiter in der engen Kehre, und als er wieder auf geraden Kurs ging, war in dem Kreis, den er in der Luft eben beschrieben hatte, nichts zu sehen als eine ölige schwarze Rauchwolke, die von innen her durch eine heftig züngelnde, orangefarbene Flamme erleuchtet war. Schimmernde Metallteile trudelten wie fallende Blätter aus der Rauchwol ke dem Meer entgegen. Jetzt erst begriff Gant, was geschehen war. Während der Verstand in seiner unendlichen Erleichterung, seinem unzu sammenhängenden Gefühl des Entkommenseins und des Sie ges sich förmlich überschlug, rekonstruierte er gleichzeitig, wie es zu seinem Triumph gekommen war. Die leuchtende Feuer kugel, die das Abwehrsystem im Heck ausgestoßen hatte, war von den gigantischen Luftansaugdüsen des russischen Firefox gierig aufgesogen worden, worauf die Maschine auf der Stelle explodierte. Gant war nahe daran, sich zu übergeben. Er würgte an sei nem Mageninhalt, der ihm bereits im Hals steckte, um nicht unter seiner Sauerstoffmaske daran zu ersticken. Der Verstand griff wieder auf den Körper über, und er stellte fest, daß er am ganzen Körper zitterte. Solange er noch irgendeiner körperlichen Betätigung fähig war, schaltete er den Auto-Pilot ein und tippte, zögernd und sich nur mühsam erinnernd, die Koordinaten seines neuen Kur 319
ses ein. Der Firefox schwenkte seitlich ab und schlug Kurs auf Finnland ein, während Gant sich matt, ausgelaugt und zitternd in seinem Sitz zurücklegte. Er wußte, daß er sich früher oder später wieder besser fühlen würde. Dann würde er das Flugzeug wieder manuell fliegen. Aber jetzt noch nicht, noch nicht gleich … In einer Höhe von 24 000 Metern und mit einer Geschwin digkeit von Mach 3,7 jagte die Mig-31, das einzige, unbezahl bare Modell seines Typs mit Nato-Codenamen Firefox, auf die finnische Küste zu.
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