Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Methe, Ruth und Hubertus Filmriß
Kriminalroman
Es ist...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Methe, Ruth und Hubertus Filmriß
Kriminalroman
Es ist für die ermittelnden Kriminalisten im Fall der Tötung des siebenjährigen Tom Schulenberg nicht leicht, bei der Vielzahl von Hinweisen aus der Bevölkerung die Spreu vom Weizen zu trennen. Selbstverständlich müssen sie dem mehrfach geäußerten Verdacht, daß es sich bei diesem Verbrechen um die Tat eines Psychopaten handelt, nachgehen. Aus Erfahrung aber wissen sie, wie oft Vorurteile und vom Gefühl ausgelöste Behauptungen Unschuldige treffen. Deshalb ziehen sie bei ihren Recherchen von Anfang an auch andere Aspekte in Betracht. Nicht so Fred Makus, ein bekannter Fotograf und Freund der Schulenbergs. Er betätigt sich als Privatdetektiv und verfolgt beharrlich, jedoch mit untauglichen Mitteln die Spur eines kranken Mannes, verfehlt aber sein Ziel.
Ruth und Hubertus Methe
Filmriß
Verlag Das Neue Berlin
Als der Fotograf Fred Makus im Operncafé Belgrader Steak mit Heidelbeeren verzehrte, ahnte er nicht, daß er gleich in ein Gespräch verwickelt sein würde, das, flüchtig besehen, nichts als Klatsch war, jedoch Ereignisse berührte, die bald nicht nur ihn selbst, sondern fast die ganze Bevölkerung einer Stadt in Aufregung versetzen sollten. Makus war gerade von einer längeren Schiffsreise zurückgekehrt. Ein Verlag hatte ihn beauftragt, für einen Bildband Fotos der Ostseeküste zwischen Warnow und Newa zu schießen. Er startete in Rostock und landete auch wieder bei Käpt’n Braß. Von Warnemünde aus fuhr er mit dem Wagen direkt in die Hauptstadt zu den Berliner Festtagen. Nun sehnte er die Rückkehr in die eigenen vier Wände herbei. Es würde bald Winterwetter geben, dann gönnte sich Makus die meiste Freizeit, um sie im Skiparadies der heimatlichen Berge zu verbringen. Der Mann, der ihn ansprach und sich ungebeten an seinen Tisch setzte, hieß Brandenburg und war Zahnarzt in seiner Heimatstadt. Makus kannte ihn von Kontrolluntersuchungen und einigen kurzen Begegnungen in der Wohnung seiner Freunde, den Schulenbergs. Renate und Thomas Schulenberg waren auch das Thema, dem der Zahnarzt sich gleich mit Eifer widmete. Makus merkte, daß er den lästigen Schwätzer sobald nicht loswerden würde. Wie das oft ist, versuchte der 6
seine Neuigkeiten an den Mann zu bringen, und nichts konnte ihn davon abhalten. Resigniert paßte der Fotograf und ließ schließlich die Tiraden über sich ergehen. „Man sagt, er wäre wegen Tom zurückgekommen. Halten Sie es für möglich, daß sich Schulenberg wegen des Kindes von der schönen Dorothea Wendler abbringen läßt? Das ist dünn, sehr dünn. Wer denkt heute noch an ein Kind, wenn es um die eigenen Gefühle geht. Herr Schulenberg doch zuletzt! Finden Sie nicht auch, daß die beiden eine recht moderne Ehe führen?“ Makus fand, das sei ureigenste Angelegenheit der Schulenbergs, sagte aber, in der Hoffnung, das Gespräch damit zu beenden, daß das möglicherweise zuträfe. Der Zahnarzt hatte sich einen Gin-Tonic bestellt, ein Zeichen, daß er noch lange nicht am Ende war. „Erinnern Sie sich … es war schon eine kleine Sensation, als bekannt wurde, sie würden sich trennen. Wie blühte da der Klatsch …“ Auf deinem Acker bestimmt am kräftigsten, ging es Makus durch den Kopf. „… zumal der Herr Diplomökonom Thomas Schulenberg dann auch noch zu der Wendler zog. Und nun, als sei das nur ein Versuchsballon gewesen, macht man alles wieder rückgängig. Der Zugvogel kehrt in das heimatliche Nest zurück.“ Makus sah sich um, er hoffte, einen Anlaß zu finden, um sich von dem Plagegeist zu befreien. „Wozu erzählen Sie mir das eigentlich?“ fragte er demonstrativ gelangweilt. Der Zahnarzt schlürfte sein Getränk mit Behagen. „Ich dachte, das würde Sie interessieren. Immerhin, Thomas Schulenberg ist wieder bei seiner Frau. Die Wendler, so tuschelt man, verläßt die Stadt und zieht nach Berlin, wo sie als Mannequin sowieso am häufigsten zu tun hat. Wirklich, die Schulenbergs leben zusammen wie in alten Tagen. Vorige Woche wurde die 7
ganze Familie in schönster Eintracht auf dem Teufelsstein gesehen. Äußerlich betrachtet, scheint die Ehe also wieder in Ordnung zu sein. Na ja, Ihnen wird man sicher Näheres erzählen, denn wie man so hört, sind Sie ja nicht nur Schulfreund des Ehemannes, sondern auch Beichtvater der Frau.“ Das Klatschmaul lachte dröhnend und prostete Makus zu. Nun reichte es dem Fotografen. Er sagte unwirsch: „Reden Sie nicht solchen Unsinn, Doktor!“ Leicht pikiert stellte Brandenburg sein Glas auf den Tisch, ohne getrunken zu haben. „Herr Makus, mich geht es ja nichts an. Ich dachte nur, Sie wüßten gern, was sich während Ihrer großen Fahrt zugetragen hat. Aber gut, wechseln wir das Thema. Wie war denn Ihre Reise? Einen Friseur gab es offensichtlich nicht auf dem Kahn. Oder glauben Sie, längere Haare machen auch länger?“ „Nein, wie auch tausend gezogene Zähne nicht klüger machen!“ Nach dieser taktlosen Anspielung auf seine etwas kleingeratene Statur war Makus vollends entschlossen, das Gespräch zu beenden. Schneller, als er zu hoffen gewagt hatte, wurde er erlöst. Der Oberkellner trat an den Tisch. Der Fotograf kannte ihn schon seit Jahren. „Herr Makus, in unserem Büro ist Herr Decker. Es geht ihm nicht gut.“ Decker, ein Journalist aus Erfurt, und der Fotograf hatten ein Doppelzimmer im Hotel belegt. Makus bezahlte seine Rechnung, verabschiedete sich von dem Zahnarzt und folgte dem Ober. Im Büro saß auf einer Couch Decker und stöhnte. „Was ist los mit dir?“ fragte der Fotograf. „Wahrscheinlich ein Gallenanfall“, meinte der Oberkellner. „Es ist ein Gallenanfall“, zischte Decker, der aufge8
sprungen war und umherlief. „Kannst du mich ins Hotel fahren?“ „Besser wäre es, ich würde dich ins Krankenhaus bringen. Nur, mein Trabi ist seit heute vormittag in der Werkstatt. Mit der Lichtmaschine stimmt irgend etwas nicht.“ Der Journalist warf Schlüssel auf den Tisch. „Nimm meinen Wagen. Aber lade mich im Hotel ab. Ich will in kein Krankenhaus … Die wollen immer gleich operieren.“ Wahrscheinlich hätte Makus doch versucht, den Kranken zu überreden, wenigstens einen Arzt zu rufen, wenn er nicht gesehen hätte, daß vor der Tür, die zur Gastronomie führte, der Zahnarzt stand und durch die Scheibe schaute. „Auf deine Verantwortung … ins Hotel!“ Mit Hilfe des Oberkellners brachte er Decker in das Auto. Die Stadt, am Eingang des Gebirges gelegen, gehörte zu den meistbesuchten Gegenden des Bezirkes. Zwar gab es hier in alten Zeiten keine Residenz, die prunkvolle Bauten hinterlassen hatte, kein berühmter Mann erblickte in ihren Mauern das Licht der Welt, nicht einmal Napoleon hatte darin Quartier bezogen, als er den Landstrich heimsuchte. Doch die Natur glich alles aus. Viele Wanderwege über das Gebirge, die Straße, die sich durchs Urseltal schlängelte, öffneten immer wieder neue prächtige Ausblicke. In nicht zu großer Entfernung lagen die berühmten Tropfsteinhöhlen, eine in den Sandstein geschlagene Burg und schließlich die imponierende Talsperre. Auch aus anderem Grund war die Stadt bekannt geworden. Zwei Großbetriebe hatten ihren Namen zu einem Begriff werden lassen, die Textilwerke und die Alte Hütte, ein volkseigenes Werk, das von den Einwohnern noch immer so genannt wurde, obwohl man in den modernen Hallen längst keine Kochtöpfe und Wassereimer mehr produzierte. 9
Die Besucher der Stadt waren meist überrascht, daß sie so viele schöne alte Winkel besaß, die erhalten und gepflegt wurden. Sie staunten nicht weniger, wenn sie das Neubauviertel sahen, das sich allmählich dicht an die Wälder heranschob. Nicht nur im Sommer hatte die Landschaft ihre Reize. In den letzten Jahren kamen im Winter ebenso viele Gäste wie in der warmen Jahreszeit. Wenn der Schnee auf den Wäldern lag, wenn lange Eiszapfen an den Tannen hingen, tummelten sich Anfänger und Fortgeschrittene in der weißen Pracht. Abends gab es dann in den Gaststätten keinen freien Platz mehr. Und selbst im Herbst lockten das angenehme Klima und die Möglichkeiten zum Wandern viele Erholungsuchende an. An einem fast sommerlich warmen Herbsttag wurde Tom Schulenberg zum letzten Mal in der Schule gesehen. Inzwischen dauerte die Suche schon mehrere Tage. Die Volkspolizei war ununterbrochen im Einsatz, unterstützt durch Angehörige von Jagdkollektiven, die Wälder durchkämmten und in die Felsmassive stiegen. Andere suchten die Gewässer ab, tauchten in die Tiefen des Flusses, der gleich hinter dem Teufelsstein mehrere Kessel bildete. In der Presse wurde die Beschreibung des Jungen und sein Bild veröffentlicht. Zahlreiche Hinweise, nach denen Tom an verschiedenen Orten gesehen wurde, gingen ein. Einer wollte ihm in der Eisenbahn begegnet sein, ein anderer hatte ihn angeblich in einem Auto erkannt, das an der Tankstelle hielt. Ein „absolut sicherer Beobachter“ sagte aus, der Kleine wäre in Begleitung einer jungen Frau auf den Schneekopf gestiegen. Hauptmann Rüdiger lag auf der Couch in seinem Räuberzimmer und las in einem Buch, das chronologisch die Besteigung aller Berge der Erde schilderte, die über achttausend Meter hoch waren. 10
Rüdiger hatte Urlaub. Da er in diesem Jahr nicht verreisen wollte, hatte der Kriminalist allen Kollegen den Vortritt gelassen und sich auf ruhige Herbstferien eingestellt. Mit dem Räuberzimmer hatte es eine besondere Bewandtnis. Der letzte Tausch brachte den Rüdigers eine Wohnung ein, die einen Raum mehr enthielt, als dem kinderlosen Ehepaar zustand. Mit Augenzwinkern hatte es Frau Rüdiger zugelassen, daß der Hauptmann ein Zimmer für sich beanspruchte, um es, wie er sagte, als „Club“ zu nutzen, an dessen Schwelle die Macht der Hüterin von Teppichen und Gardinen endete. Hier wurde nicht auf Flecke in der Tischdecke geachtet, hier standen leere Flaschen herum, wenn es dem Hausherrn gefiel. Hier hing auch der vergilbte Druck an der Wand, der bereits zu jener Zeit, als er noch die gute Stube von Rüdigers Großeltern zierte, von den damals Jungen belächelt wurde. In diesem Raum durfte jeder nach Gefallen mit Straßenschuhen, in Pantoffeln oder barfuß laufen. Auch Robin Hood, eine Mischung aus Rottweiler, englischem Vorstehhund und deutschem Boxer, den Rüdiger einmal im Stadtpark aufgelesen hatte, fand stets einen Platz im Sessel oder auf der Couch. Der Hauptmann war ein zahmer Tyrann, der geflissentlich darüber hinwegsah, daß die angetraute Geliebte während seiner Abwesenheit – und Rüdiger war oft abwesend – das eine und das andere, eigentlich alles in Schuß hielt, ohne dabei die gezielte Unordnung, die für den Raum bestimmend sein sollte, zu zerstören. Rüdiger hatte sich jahrelang bemüht, die Bergsteigergeschichten zu bekommen. Vor einigen Tagen entdeckte er das Buch endlich im Antiquariat. Heute jedoch überlas er Seiten, blätterte immer wieder zurück oder sah grübelnd zum Fenster hinaus. Ihn beschäftigte nur eine Frage: War das verschwundene Kind überhaupt noch am Leben? 11
Er rechnete fest damit, daß in jedem Augenblick das Telefon läuten und er in die Dienststelle zurückgerufen würde. Katharina Rüdiger war figürlich ganz das Gegenteil ihres Mannes. Während der Hauptmann bei stattlicher Länge gute (knappe, wie er behauptete) zwei Zentner Gewicht herumschleppte, hatte sich seine einen Kopf kleinere Frau während ihrer fast dreißigjährigen Ehe die tadellose Figur erhalten. Sie arbeitete als Dolmetscherin in der Auslandsabteilung der Alten Hütte. Als Katharina Rüdiger das Räuberzimmer betrat, bemerkte sie das lang gesuchte Buch am Boden, daneben aufgeschlagene Zeitungen und eine Wanderkarte des Gebirges. Ihr Mann lag ausgestreckt auf der Couch und starrte zur Decke. Sie erinnerte Rüdiger an sein Versprechen. „Wir wollten heute angeln. Das war abgemacht.“ „Was wollten wir?“ „Angeln!“ „Ach so“, brummte er. Doch dann kam Bewegung in seinen Körper. Mit einem Ruck richtete er sich auf. „Hast du etwas über das Kind gehört?“ „Nur Gerüchte, die haben dich nie interessiert.“ „Ich verstehe die Dienststelle nicht. Warum meldet sich keiner?“ „Weil du Urlaub hast. Ich kann mir gut vorstellen, daß sie auch einmal ohne dich auskommen.“ Der Hauptmann begann durchs Zimmer zu laufen. „Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Oder willst du damit sagen, die zählen mich schon zum alten Eisen? Veteranenanwärter!“ Rüdiger machte Anstalten, das Zimmer aufzuräumen. Er stapelte Zeitschriften, legte sie auf die Truhe, nahm Schachfiguren, die dort gestanden hatten, beförderte alle, bis auf die schwarze Königin, auf der Robin Hoods Schnauze ruhte, in eine Pappschachtel. Die schob er 12
dann unter die Couch. Ungeordnete Fotos stopfte er in eine Tüte, aus der er zuvor Schrauben und Nägel in einen Aschbecher schüttete. Katharina Rüdiger stieß dem Dicken ihren Zeigefinger in den Bauch. „Geh lieber spazieren. So reagierst du dich nicht ab.“ „Meine Frau schickt mich Spießruten laufen. Der Fettkloß läßt den Herrgott einen lieben Mann sein, wird es heißen. Niemand würde begreifen, daß ich die Hände in den Schoß lege, während die Bevölkerung auf den Beinen ist!“ „Wenn sie dich brauchen, werden sie dich holen. Übrigens solltest du die Schallplatte nicht zwischen Bücher stecken, das verträgt selbst Theo Adam nicht.“ „Erstens kann ich in diesem Zimmer laut Familienabmachung tun, was mir gefällt und paßt. Zweitens wie ich mich entspanne, ist ganz allein meine Sache.“ Rüdiger hatte es geschafft: Auf dem Tisch lag ein Durcheinander von Schrauben, Nägeln, Fotos und Karten, bedeckt von in Rillen gepreßten Arien des Hans Sachs aus Dresden. „Das Telefon ist nicht gestört?“ fragte der Hauptmann, ging ins Nebenzimmer, um es sicherheitshalber auszuprobieren, und wunderte sich, als er mit dem Wetterbericht überrascht wurde. „Man weiß, wo wir wohnen, und die Straßennamen hat auch niemand vertauscht“, rief Katharina Rüdiger ihrem Mann zu, der schimpfend zurück in das Räuberzimmer kam. Er setzte sich auf die Couch, wo jetzt der grunzende Hund lag. Eines der langen, mit welligem Fell bewachsenen Ohren nahm er in die Hand und streichelte es. „Nichts ist scheußlicher als ein Verbrechen an Kindern. Wenn so etwas passiert und der Vater den Kerl erschlägt … ich würde keinen Finger krümmen, um ihn vors Gericht zu bringen.“ 13
„Das glaube ich dir nicht. Du könntest den Mann verstehen … ja, aber billigen würdest du seine Handlung nicht.“ Der Hauptmann sprang wieder auf und lief an das Fenster. „Ob es richtig ist, wenn ich mich erkundige?“ „Hast du je danach gefragt? In der Beziehung sind deine Kollegen einiges von dir gewöhnt.“ Er warf sich in einen Sessel, der schon auf sein Gewicht eingepegelt war, so daß die Federn nicht mehr krachten. „Fahre allein zum Angeln. Forellen hatten wir schon lange nicht.“ „Ich kenne einen Mann, der im Urlaub endlich einmal das einhalten wollte, was er sich mit seiner Frau gemeinsam vorgenommen hat.“ „Vergiß ihn.“ In dem Augenblick richtete sich Robin Hood auf und sprang mit einem Satz über Couch und Tisch in Richtung Korridor. Es klingelte. „Das ist die Bathe. Die läutet immer Sturm.“ „Wo wurde der Junge gefunden?“ Der massige Rüdiger hockte auf seiner Couch wie ein Schwergewichtsboxer in der Ringecke vor dem letzten Gongschlag. „Wirklich auf dem Schrottplatz?“ fragte er. „Der Täter hat das Kind erschlagen und den Körper gewaltsam zwischen den Schrott geschoben. Die Entdeckung war ein Zufall. Die Jugendlichen wären nie dorthin gekommen, hätten sie nicht für ein Exponat zur Schulmesse Elektroteile gesucht. Aber das werden Sie alles auf der Dienststelle erfahren.“ Rüdiger stemmte sich hoch. „Sie rufen mich auf jeden Fall zurück?“ „Ja, das steht fest. Ich kam nur vorbei, um Sie auf einen verpatzten Urlaub vorzubereiten.“ Der Hauptmann schlug auf den Tisch, als hätte er ei14
nen ertappten Rückfalldieb vor sich, der hartnäckig lügt. „Verpatzt? Das wäre er, müßte ich hier weiter angebunden sitzen.“ Helga Bathe kannte diese Ausbrüche Rüdigers. „Die Bevölkerung nimmt großen Anteil an dem Geschehen. Seitdem das Verbrechen an dem Jungen entdeckt wurde, sind zahlreiche Hinweise eingegangen, und die kamen nicht nur von Sensationshungrigen. Übrigens war der Schrottplatzmeister bisher noch nicht vernehmungsfähig. Er befand sich im Vollrausch.“ Rüdiger war schon dabei, die Dinge zusammenzupacken, die er für seine Arbeit benötigte. „Den bekomme ich bald nüchtern, darauf kannst du dich verlassen. Es wird am besten sein, ich fahre gleich mit dir.“ „Einen Auftrag, Sie zu holen, habe ich nicht.“ „Dann lege mir den Vorgang, mit allem, was irgendwie dazu gehört, zurecht. Die Aussagen der Eltern, Verwandten, Freunde, auch die der Lehrer des Jungen interessieren mich. Und sucht inzwischen die Akten über einschlägig Vorbestrafte heraus.“ Leutnant Bathe lächelte. „Das ist bereits veranlaßt.“ Sie zog den Mantel wieder an, den der Hauptmann vorher achtlos auf die Truhe geworfen hatte. Rüdiger gab der jungen Frau einen weder dienstlich noch privat zu vertretenden Klaps. „Du bist eben eine gute Schülerin.“ Helga Bathe, die sicher mancher auf den ersten Blick als Leistungssportlerin oder Tänzerin eingeschätzt hätte, reichte dem Hauptmann die Hand. „Das ist nicht mein Verdienst. Oberleutnant Bormann bearbeitete die Sache zur Zeit.“ „Der muß es wissen, war lange genug in meiner Truppe.“ Fred Makus versäumte nie das Abschlußkonzert der Festtage. In diesem Jahr verzichtete er auf das Erlebnis. 15
Zwei Tage nach der Begegnung mit dem Zahnarzt hatte Renate Schulenberg bei ihm im Hotel angerufen. „Grusinischer Tee schmeckt besonders gut aus dem Samowar. Und der rollt für dich an!“ rief Fred Makus ins Telefon, als er merkte, wer am Apparat war. Doch eine Antwort darauf blieb aus. Er dachte schon, das Gespräch sei unterbrochen, da hörte er: „Tom ist verschwunden.“ Renate Schulenberg hatte die unsinnige Hoffnung gehegt, Tom könnte, wie auch immer er es geschafft haben mochte, in Berlin bei Makus sein. Kein Mensch verstand sich mit dem Jungen besser als der Fotograf. Ihm hatte er seine geheimsten Wünsche anvertraut, und fast immer war Makus dabei, wenn der Kleine einen seiner Streiche vollbrachte. Doch in dieser Situation wußte offenbar auch er nicht, wie er helfen sollte. Er versuchte es nicht einmal mit Trostworten, als er Renate Schulenbergs Verzweiflung spürte, versprach aber, sich so bald als möglich ins Auto zu setzen und zu ihr zu kommen. Im letzten Ort vor der Autobahn tankte Makus noch einmal und fuhr dann ohne Pause durch. Als er endlich die Konturen des Gebirges auftauchen sah, sagte ihm ein Blick auf die Uhr, daß er die zugelassene Geschwindigkeit ständig überschritten hatte. Trotzdem war es spät geworden. Da er seit Stunden nichts gegessen hatte, hielt er vor der nächsten Gaststätte an. Im Gastzimmer der „Kutscherkneipe“ hörte er es dann: Tom Schulenberg war tot auf dem Schrottplatz aufgefunden worden. Obwohl ihn die furchtbare Nachricht nicht unvorbereitet traf und er während der ganzen Autofahrt mit nichts anderem beschäftigt war, als sich innerlich darauf einzustellen, zeigte er sich ihr nun doch nicht gewachsen. Für einen Moment hatte er das Gefühl, in einem Karussell zu sitzen. Die Stimmen drangen zu ihm wie 16
durch Watte. Jemand berührte ihn an der Schulter. Er blickte auf und sah in das besorgte Gesicht der Kellnerin. „Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie haben ja noch gar nichts gegessen.“ Makus schüttelte den Kopf und sagte matt: „Lassen Sie mich doch in Ruhe.“ Er stand auf, legte zehn Mark auf den Tisch und verließ das Lokal. Die frische Abendluft wirkte, er wurde ruhiger. Makus setzte sich ins Auto, ließ die Tür geöffnet und zündete sich eine Zigarette an. Er bildete sich ein, die Stimme des Jungen zu hören: „Onkel Mak, fahren wir auf den Teufelsstein?“ Nein, Makus schüttelte unbewußt den Kopf, er wird dir nie wieder entgegenlaufen. Wird dich nie mehr mit unzähligen Fragen quälen, die Schulhefte vorlegen. Ihm wurde klar, daß der Tod des kleinen Tom auch sein eigenes Leben verändern würde. Er wünschte sich, dem, was jetzt unweigerlich auf ihn zukam, aus dem Wege gehen zu können. Hätte ich doch nur die Einladung der Leningrader angenommen und zehn Tage Urlaub am Ilmensee gemacht, dachte er. Dann wäre mir das erspart geblieben. – Ich muß mit Renate sprechen. Er warf die Carmen weg, lief hinterher und trat sie aus. Dann fuhr er an. Auf den Straßen sah er nur noch wenige Menschen. Die Wohnung der Schulenbergs lag im Dunkeln, ein Besuch war nicht mehr möglich. Er steuerte ziellos durch die Stadt. Nur nicht nach Hause. Da fällt mir die Decke auf den Kopf. Außer den Schulenbergs besaß Makus nicht viele Freunde. Das hing auch mit seinem Beruf zusammen, der ihm wenig Zeit ließ, Freundschaften zu pflegen. Schon als Kind war es sein Wunschtraum gewesen, Fotograf zu werden. Schnell entwickelte er sich über einen 17
begabten Amateur zum gefragten Fachmann. In den ersten Jahren hatte er sich auf Künstleraufnahmen spezialisiert und fotografierte bald alle Hauptproben der Theater im Bezirk. Später wandte er sich noch der Landschaftsfotografie zu, der erste Bildband erschien. Gern wurde Makus auch zu besonderen Anlässen, Empfängen und Großveranstaltungen eingeladen. Seine Aufnahmen waren originell und zeigten Gespür für effektvolle Situationen. Ein bißchen Glück gehörte natürlich zum Handwerk. Man mußte eben die Kamera im rechten Moment startklar haben. Preisgekrönt wurde die Bildserie, die er „Das Kleine im Großen“ genannt hatte. Neben dem Foto des Innenministers, dem die Ehefrau die Krawatte zurechtrückt, gab es das Bild eines Filmstars, der hinter einem Gebüsch sein Kind abhält, und das Konterfei einer Olympiasiegerin im Schwimmen, die in einer Pfütze ausgerutscht war. Mit Thomas Schulenberg war Fred Makus viele Jahre zur Schule gegangen. Der große, kräftige Thomas hatte stets den Beschützer des kleinen Fred gespielt. Als Däumling stand Makus meist hinter den anderen, wurde gehänselt, ausgelacht. Dann trat Thomas für den Freund ein, raufte sich mit den Jungen, half dem Knirps. Daß der wiederum viele kleine Dienste für den Großen ausführte, nahm dieser als Selbstverständlichkeit hin. Später studierte Schulenberg in Berlin Ökonomie. Als er in die Heimatstadt zurückkehrte, verkündete er dem überraschten Makus die bevorstehende Heirat mit Renate Schilling. Das Mädchen war das weibliche Pendant zu Thomas. Auch Renate war während der Schulzeit Mittelpunkt ihrer Klasse. Hätte die Stadt einen Schönheitspreis zu vergeben gehabt, wäre dem Fräulein Schilling der erste Platz sicher gewesen. Es gab jedoch keinen Schönheitspreis. Renate lernte 18
in der Rathausapotheke, danach studierte sie in Leipzig und arbeitete jetzt als Pharmazieingenieur. Vor dem Haus des Kulturbundes hielt Makus an. Vielleicht treffe ich Ernst Pfeil, hoffte er. Falls er nicht dienstlich unterwegs ist, müßte er eigentlich im Klub sein. Ernst Pfeil war der Lokalredakteur der Bezirkszeitung. Er saß tatsächlich auf seinem Stammplatz, einem Sofa aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Wenn sich nicht gerade Besucher einer der Veranstaltungen des Hauses in die Klubräume verirrten, war man immer unter sich, ein Kreis, dem fast nur Alleinstehende angehörten. „Ist dir die Reise nicht bekommen?“ fragte der Journalist und reichte dem Fotografen die Hand. „Du siehst aus, als hättest du noch die Seekrankheit in den Knochen oder wie einer, der reif für eine Kur ist.“ „Kur wäre nicht schlecht“, meinte Makus. „Ich hätte auf den anstrengenden Ostseetrip verzichten sollen, zumal ich gerade eine Grippe überwunden hatte. Und nun diese fürchterliche Geschichte mit Tom. Ich kann das einfach nicht begreifen!“ Pfeil hob einen Stapel Zeitungen vom Stuhl. „Nimm erst mal Platz. Wir sind alle genauso geschockt wie du.“ Makus bemerkte, daß an der einen Seite des Tisches ein halbvolles Bierglas stand. „Sitzt da wer?“ erkundigte er sich. „Der ist gerade weggegangen. Die Bedienung hat noch nicht abgeräumt.“ „Auch wenn ich mich jetzt um Renate und Thomas kümmern muß, die versprochenen Schnappschüsse bekommst du trotzdem. In einigen Tagen hast du sie.“ Makus zog einen Taschenkalender hervor und verglich Daten. „Schon wieder neue Aufträge?“ fragte Pfeil und deutete mit Daumen und Zeigefinger die Bewegung des Geldzählens an. 19
„Aufträge? Wie kommst du darauf?“ Fred Makus verstand nicht, was der Redakteur meinte. „Du sitzt da wie ein Buchhalter, der Bilanz zieht.“ „Nein, so ist es nicht.“ Makus steckte den Kalender wieder ein. Der Kellner erschien, der Fotograf bestellte. Hinterher fiel ihm auf, es war das gleiche Gericht wie zuvor in der „Kutscherkneipe“. „Du fragst dich sicher, warum ich noch nicht bei Renate und Thomas war. Aber ich weiß einfach nicht, was ich ihnen sagen soll. Soll ich sie vielleicht mit banalen Beileidsworten trösten – nach dem Motto: Die Zeit heilt alle Wunden? Wie kann ich ihnen denn helfen …“ Pfeil verstand den Mann gut. „Du mußt nur zu ihnen gehen. Das ist wichtig. Selbst wenn es dir noch so schwerfällt; sie brauchen dich.“ So wie vor einer Stunde legte Makus, kaum daß er etwas gegessen hatte, Messer und Gabel zur Seite. „Die brauchen doch jetzt niemanden …“ „Nein, mein Junge. Das ist ein Irrtum. Ich bin kein Polizist, versuche nur, klar zu denken. Überleg doch mal: Schulenbergs Ehe war so gut wie kaputt. Aber weil angeblich keiner auf das Kind verzichten wollte, machten sie die bereits vollzogene Trennung wieder rückgängig. Ein paar Wochen später wird der Junge tot aufgefunden …“ „Verdächtigt man etwa die Eltern? Daß sie es noch einmal miteinander versuchten, spricht doch für sie?“ „Wenn man es so betrachtet, ja. Doch man kann es wohl auch anders sehen. Als der Kleine verschwunden war, wurde die Bevölkerung über die Presse um sachdienliche Hinweise zum Verbleib des Jungen gebeten. Obwohl wir ausdrücklich darauf hingewiesen haben, daß alle Angaben bei der K zu machen sind, erhielten wir viele Briefe. Neben gutgemeinten Ratschlägen haben wir da einiges zu lesen bekommen, was eben nicht gerade für die Schulenbergs spricht.“ Fred Makus wollte den Redakteur unterbrechen, doch 20
der redete weiter. „Ein ganz Böser schrieb zum Beispiel, Ehekrisen hätten schon Kriege ausgelöst, wie die Geschichte beweist.“ „Das gibt’s doch nicht. Thomas und Renate lieben den Jungen über alles!“ Der Fotograf trommelte auf den Tisch. „Hat die Polizei etwas gegen sie unternommen?“ „Keine Ahnung. Wir haben die Schreiben weitergegeben, damit hat sich die Sache für uns erledigt. Ich hörte, die K steht noch am Anfang. Ob es stimmt? Ich weiß es nicht.“ Der Redakteur bestellte noch ein Bier. Makus trank einen Juice. Wenn Renate und Thomas verdächtigt werden, muß ich handeln. Fred Makus überlegte. Ihm war ziemlich unklar, wie seine Hilfe aussehen könnte. „Allerdings gibt es auch etliche Zuschriften, in denen die Wendler verdächtigt wird“, fuhr Pfeil fort. „Bei ihr lag ja tatsächlich ein Grund vor, den Jungen zu hassen. Seinetwegen hatte Thomas Schulenberg die Verbindung zu dem Mannequin gelöst. Mit dem Tod des Jungen ist das Hindernis, das zur Trennung führte, beseitigt, sagen nicht wenige.“ Fred Makus sah den Redakteur überrascht an. „Da ist etwas dran!“ Er drängte den anderen: „Erzähle weiter!“ „Mehr weiß ich nicht. Nur … an dem Tag, an dem Tom verschwand, war die junge Dame verreist. Damit hat sie zunächst ein Alibi; das noch dazu recht sicher zu sein scheint, weil sie nicht mit dem Auto, sondern mit der Bahn gefahren war. Sie hatte sich, wie ich hörte, den Fuß verstaucht. Aber bitte, nimm das alles nicht für bare Münze. Es wird sehr viel geredet.“ „Ein Fünkchen Wahrheit ist meist dabei. Ich könnte auch einiges erzählen, doch alles zu seiner Zeit. Bekommt ihr immer noch Briefe?“ „Jetzt, nach der Entdeckung auf dem Schrottplatz, wird der Eingang sicher wieder ansteigen. Aber ich sagte ja, wir geben die Zuschriften weiter.“ 21
„Spricht denn alles nur gegen Schulenbergs und die Wendler? Gibt es nicht auch andere Hinweise?“ Der Redakteur lachte. „Wenn du wüßtest, wie viele Leute plötzlich Detektiv spielen! Was haben sie nicht alles beobachtet! Doch damit soll sich die Polizei befassen. Es ist schließlich nicht unsere Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen.“ Makus und Pfeil nahmen erst jetzt den Mann wahr, der sich ihrem Tisch genähert hatte. Er war leicht angetrunken. „Habe ich Ihnen nicht neulich im Prinzessinnenpalais gesagt, daß mit Ihren Freunden etwas nicht in Ordnung ist!“ Zahnarzt Brandenburg schlug dem Fotografen auf die Schulter und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Sie gestatten doch?“ fragte er, nachdem er bereits saß. Fred Makus stand abrupt auf. „Ich bringe dir die Fotos in den nächsten Tagen“, sagte er zu Pfeil, reichte ihm die Hand und ging. „Komischer Mensch.“ Der Zahnarzt schüttelte den Kopf. „Der verschwindet immer, wenn man sich mit ihm unterhalten will.“ Makus fuhr am nächsten Morgen zu seinen Freunden. Nachts hatte er unerwartet fest geschlafen, dennoch fühlte er sich matt wie nach einer längeren Krankheit. Obwohl der Fotograf jede Kreuzung und alle Einbahnstraßen, die Fußgängerschutzwege und Verkehrsregelungen der Innenstadt genau kannte, hatte er die Fahrbahn nicht so unter Kontrolle, wie es die Straßenverkehrsordnung verlangte. Was sage ich bloß, überlegte er immer wieder. Früher habe ich Renate Blumen mitgebracht … das geht doch heute nicht. Er dachte an den Samowar, der sich in einem seiner noch unausgepackten Koffer befand. Makus merkte, daß er nicht rechtzeitig abgebogen war. Trotzdem trat er aufs Gaspedal und fuhr geradeaus. Wieder eine Gal22
genfrist, sagte er sich. Schlimmeres kann es nicht geben als das, was mir jetzt bevorsteht. Schließlich wendete er doch und hielt bald darauf an. Er wollte Zigaretten kaufen. Sein Stammgeschäft, ein kleiner Tabakwarenladen, sah noch immer so aus wie vor Jahren, als er hier die ersten Glimmstengel erwarb. Selbst der Mann hinter dem Ladentisch hatte sich kaum verändert. „Was sagen Sie zu dem Mord an dem Jungen?“ fragte ihn der Alte, noch bevor er sich nach seinen Wünschen erkundigte. Fred Makus reagierte nicht auf die Frage, er verlangte eine Schachtel Carmen. „Sie sollen den Täter schon haben. Einen Verrückten, der noch nie zuvor in unserer Stadt war“, schwatzte der Mann hinter dem Ladentisch weiter. „Und wissen Sie …“, er sah sich vorsichtig um, als wollte er gleich ein Geheimnis preisgeben, „der war in meinem Geschäft. Früh … ich hatte gerade geöffnet … da stand er plötzlich neben der Vitrine und starrte mich an. Wenn Sie dagewesen wären, Sie hätten ihn bestimmt fotografiert. Wer so wie ich vierzig Jahre an diesem Platz steht, der kennt seine Leute.“ Fred Makus kramte in seinen Taschen, er suchte nach Kleingeld. „Wie sah der Mann denn aus?“ „Das ist schwer zu beschreiben. So genau achtet man nun auch wieder nicht auf jeden Kunden. Groß war er nicht, aber die Augen …“ „Was für Augen?“ „Richtige Verbrecheraugen!“ Der Fotograf hatte das Geld beisammen, er legte es auf den Ladentisch. „Kein Mensch kann sagen, wie Verbrecheraugen aussehen.“ „Vierzig Jahre als Geschäftsmann schärfen den Blick, Herr Makus.“ Er beugte sich über den Ladentisch. „Machen Sie das mal, dann wissen Sie, was ich meine.“ „Wie sah er nun wirklich aus?“ wiederholte Makus seine Frage. 23
„Eben anders. Nicht ganz normal.“ Der Fotograf zündete sich eine Zigarette an. „Ich würde jeden Verbrecher als anormal bezeichnen, aber nur den wenigsten steht’s im Gesicht geschrieben.“ Der Alte ließ sich nicht beirren. „Der war nicht richtig im Kopf. Das sah ich gleich, als er mein Geschäft betrat. Sein Benehmen bestätigte dann den ersten Eindruck.“ „Und wie benahm er sich?“ „Anders! Ja, das ist der entsprechende Ausdruck. Wissen Sie, was er verlangte? Feuersteine!“ „Na und?“ „Von tausend Kunden, die morgens zu mir kommen, kaufen neunhundertneunundneunzig Zigaretten, Zigarren oder Tabak. Feuersteine kauft man nachmittags.“ Fred Makus merkte, daß er sich in ein unnützes Geschwätz eingelassen hatte. Er grüßte und ging. Während der nächsten Minuten beschäftigte ihn dennoch ein Unbekannter mit „Verbrecheraugen“. Er sagte sich, daß der doch irgendwo zu finden sein müßte. Das Haus, in dem die Schulenbergs wohnten, lag am Stadtrand. Nichts deutete darauf hin, daß hier ein Kind vor Tagen aus der Tür gegangen war und nie wiederkommen würde. Unmittelbar neben dem Eingang stand ein Kiosk, in dem Zeitungen und Souvenirs verkauft wurden. Fred Makus starrte in das Fenster, wo Strohhexen, auf Besenstielen reitend, versammelt waren. Mein Gott, dachte er, gleich stehe ich Renate und Thomas gegenüber, und ich habe mir nichts überlegt. „Was darf’s sein?“ rief eine Stimme aus dem Inneren des Häuschens. „Der ‚Eulenspiegel‘ ist auch da!“ Die Verkäuferin wedelte hinter ihrem Schalter mit dem bunten Blatt. „Danke.“ Fred Makus winkte ab und ging langsam auf die Haustür zu. 24
Im Treppenflur begegnete ihm eine Frau, die in der oberen Etage wohnte, und Makus wußte aus Erfahrung, daß er nur mit einem „Guten Tag“ nicht an ihr vorbeikommen würde. Wie vorausgesehen, blieb sie auch gleich stehen, als sie den Fotografen erkannte. „Herr Schulenberg ist vorhin weggefahren, Frau Schulenberg ist oben. Ist es nicht schrecklich?“ „Ja“, sagte Makus. „Furchtbar.“ „Hätte ich jetzt Kinder, ich ließe sie nicht mehr von der Hand, bis sie groß sind.“ Beinahe hätte Makus gelacht. Er stellte sich vor, was geschehen müßte, um die kurzatmige Matrone noch einmal in die Wochen zu bringen. Die Frau ereiferte sich: „Solche krankhaften Menschen sollten immer unter Kontrolle bleiben. Erinnern Sie sich noch an den Bonbonmann? Als vor einigen Jahren die Geschichte am Wehr passierte, haben wir verlangt, daß der Kerl nicht wieder aus Fichtenhain zurückkommt. Es hat nichts genutzt. Angeblich war alles harmlos gewesen. Und heute läuft dieser Becker immer noch frei herum.“ Merkwürdig, dachte Makus, schon wieder der Verdacht auf einen Irren. Ob denn die Polizei bereits in dieser Richtung sucht? Die Frau hob drohend die Hand. „Dieses Mal ruhen wir nicht eher, bis der Kerl auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Nicht wahr, Frau Bunse?“ Die angesprochene ältere Frau, die gerade den Hausflur betreten hatte, sah die Nachbarin verwundert an, und diese erklärte ihr wortreich, worum es ging. „Dann sollen sie aber auch die Flittchen festnehmen, die Ehen zerstören.“ Frau Bunse stieg die Treppe hoch, und Makus nutzte die Gelegenheit, um ebenfalls weiterzugehen. Einer, bei dem’s im Kopf nicht stimmt. Sogar Namen werden genannt. Makus wußte, wer damit gemeint war. 25
Eigentlich ist der harmlos. Ich werde Renate fragen, was sie davon hält. Nein, ich werde überhaupt nichts fragen. Wenn sie etwas darüber gehört hat, wird sie es mir von allein sagen. Als er den Finger auf den Klingenknopf legte, wünschte er sich, daß dieser Besuch bereits beendet wäre, daß er das Haus, in dem er viele schöne Stunden verlebt hatte, wieder verlassen könnte. Renate Schulenberg öffnete. Der Fotograf nahm sie in die Arme und gab ihr wie immer einen Kuß auf die Wange. „Komm“, sagte die Frau und führte den Gast in das Wohnzimmer. Seltsam, dachte Makus, hier hat sich nichts verändert. Er setzte sich auf die Couch. Renate Schulenberg stellte eine Schale mit Obst vor ihn auf den Tisch. „Erzähl von deiner Fahrt“, forderte sie ihn auf. Wie kann sie jetzt danach fragen, warum sagt sie kein Wort über Tom? Makus war verwirrt. „Ich glaube“, begann er zögernd, „sie war ganz erfolgreich. Wenn man eine solche Reise unternimmt, die Landschaft und ihre Menschen kennenlernt, ich meine, nicht als Tourist, dem man ja meist nur das Sonntagsgesicht präsentiert, erhält man Einblicke, die …“ Makus bemerkte, daß Renate nicht zuhörte. „Das kann dich doch gar nicht interessieren.“ Die Frau blickte auf. „Doch“, erwiderte sie. „Doch, doch.“ Makus ging ans Fenster, schaute auf die Straße. So geht es nicht. Am Ende denkt sie, ich hätte einen Grund, dem Gespräch über das schreckliche Geschehen auszuweichen. Er fühlte, daß sein Verhalten nicht normal wirken mußte. Entschlossen drehte er sich um. „Ich hatte Angst, zu euch zu kommen.“ „Du, Makus, du? Wir sind froh, daß du endlich da bist.“ Von einer Last befreit, ging Fred Makus zu der Frau, 26
setzte sich neben sie. Renate Schulenberg ergriff seine Hand. „Wenn du wüßtest, was geredet wird. Kein Rauch ohne Feuer, sagen viele. Sie meinen, wenn zwischen mir und Thomas alles in Ordnung gewesen wäre, würde Tom noch leben.“ „Das ist doch Unsinn. Ihr dürft euch nicht verrückt machen lassen. Alles andere ist Sache der Polizei.“ „Aber so unrecht haben die Leute vielleicht gar nicht. Tom war in den letzten Wochen tatsächlich sehr verstört. Es begann, als Thomas auszog. Zuerst konnte ich Toms Fragen immer noch ausweichend beantworten, ich wollte ihn ja keinesfalls belügen. Später holte Thomas den Jungen von der Schule ab, ging mit ihm in die Milchbar und brachte ihn bis an die Haustür. Ja, und als Tom dann wissen wollte, warum das so ist, mußte ich ihm die Wahrheit sagen. Wenn du dagewesen wärst … Vielleicht hättest du es geschafft und ihn auf andere Gedanken gebracht. Du weißt es selbst. Wir hatten oft keine Zeit für Tom.“ Fred Makus stützte den Kopf in die Hände und grübelte. „Wenn ich dagewesen wäre? Mag sein, daß dann manches anders gelaufen wäre. Doch jetzt muß man von den Tatsachen ausgehen. Niemand kann euch aber einen Vorwurf machen, weil ich mich gelegentlich um den Jungen gekümmert, mit ihm Hausaufgaben erledigt oder Ausflüge gemacht habe. Das ist nichts Besonderes. In den meisten Familien gibt es jemanden, einen Onkel oder eine Tante, einen Opa oder eine Oma, der, wenn es nötig ist, hilft. Tom hat euch deshalb nicht weniger geliebt. Oder denkst du das etwa?“ „Nein, aber Tom war ganz anders in der letzten Zeit. Nicht so, wie du ihn kanntest. Du glaubst nicht, wie er mich gequält hat mit seinen Fragen. Warum? Wieso? Weshalb? Wenn ich zuerst dachte, die Trennung wäre die Lösung für unsere Probleme …“ „War sie es nicht?“ 27
„Nicht, solange Tom da war.“ Und jetzt? dachte Makus. Renate Schulenberg war von der Couch aufgestanden und lief unruhig durchs Zimmer. Wie oft schon hatte sie sich dem Freund mit ihren Sorgen und Nöten anvertraut. Sie wußte, Makus war stets bereit, zuzuhören und zu helfen, wenn er konnte. Mehr als einmal hat er die vermittelnden Worte für sie und Thomas gefunden. Doch mißbrauchte sie seine Freundschaft nicht, wenn sie ihn ständig mit ihrem Kummer belastete? Bei ihrer letzten Begegnung vor Makus’ Reise glaubte sie zu spüren, daß er seine Vermittlerrolle leid war. Vielleicht wäre Tom noch am Leben, wenn Makus ihre Bitte, mit Thomas zu sprechen und ihn zur Rückkehr zu bewegen, erfüllt hätte. Nein! Das war Unsinn. Thomas war ja zurückgekommen, auch ohne Makus’ Fürsprache. Wie konnte sie so etwas nur denken. Sicher, sie war damals enttäuscht gewesen, als er sich nicht wie sonst für eine Versöhnung engagierte und statt dessen zu bedenken gab, ob nicht ein Ende mit Schrecken besser wäre als ein Schrecken ohne Ende. Und er hatte ja recht. Wie oft hatte sie sich das schon selbst gesagt, aber nie die Kraft zur Konsequenz aufgebracht. Wegen Tom. Der Junge hing doch nicht weniger an Thomas als an ihr. Sie wußten beide, wie sehr Tom unter einer Trennung seiner Eltern leiden würde. Das war auch der Grund, warum sie nicht schon längst geschieden waren. Und nun dieses schreckliche Ende. Das hatte Makus gewiß nicht geahnt, als er empfahl, endlich einen Schlußstrich zu ziehen. Sie zuckte zusammen. Ob er etwa vermutet, einer von uns hätte so für eine Lösung gesorgt? Nein, niemals. Warum sollte er so etwas denken? Makus hatte ihre ruhelose Wanderung durchs Zimmer besorgt beobachtet. Er machte sich Vorwürfe, daß er durch seine Fragen das Leid der Frau aufgewühlt hatte. Er wollte sie trösten, ihr irgend etwas sagen. Doch je 28
angestrengter er nach Worten suchte, um die beklemmende Stille zu durchbrechen, desto unfähiger wurde er, einen klaren Gedanken zu formulieren. Da endlich setzte sich Renate Schulenberg ihm gegenüber in einen Sessel und begann zu erzählen, was sie seit Wochen quälte. Sie schilderte die Sachlichkeit, mit der Thomas die Trennung vollzog, seine Haltung, als er zurückkam. „ ‚Ich tue es für Tom‘, war seine Begründung. Dann setzte er sich auf seinen alten Platz, faltete die Zeitung auseinander und las. Eines Tages stand Dorothea Wendler vor der Tür. Sie bestürmte mich, meinen Mann freizugeben, drohte mit Selbstmord. Als Thomas sie bat, den seelischen Zustand des Jungen zu berücksichtigen, reagierte sie aggressiv, unsachlich, fragte, wer auf ihren Zustand Rücksicht nehmen würde. Schließlich zeigte sie ihm einen von ihr noch nicht unterschriebenen Vertrag, der sie ab Jahresbeginn an das Modeinstitut in Berlin binden würde. Es schien ihn nicht zu beeindrucken. – Interessiert dich das überhaupt?“ Renate Schulenberg unterbrach ihren Redeschwall und sah Fred Makus an. Der Fotograf überlegte, ob sich nicht aus dem soeben Gehörten eine Verbindung zu dem Verbrechen ergeben könnte. Er wollte die Frau jedoch damit nicht beunruhigen und sagte: „Es ist gut, daß du dir alles von der Seele redest. So wird es leichter sein, zu entscheiden, was zu tun ist.“ Renate Schulenberg sah ihn verständnislos an. „Was ist denn jetzt zu tun?“ „Eure Probleme bleiben, Renate.“ „Begreifst du nicht, daß ich jetzt nicht daran denken kann!“ Der Fotograf war betroffen über ihre unerwartet heftige Reaktion. Er ärgerte sich – nicht über die Frau, sondern über sich selbst. – Mein Gott, schalt er sich, warum benehme ich mich ständig wie ein Elefant im Porzellanladen. 29
Da Renate Schulenberg schwieg, fragte er nach einigen Sekunden leise: „Hat sich denn die Polizei schon über ein mögliches Motiv geäußert?“ „Ich weiß nichts“, sagte sie. „Nun, ich bin erst gestern abend angekommen und habe schon etliche Varianten gehört.“ „Kein Rauch ohne Feuer!“ wiederholte Renate Schulenberg. „Du sollst dir keine Vorwürfe machen. Es ist immer so; hinterher weiß man alles besser. Es geht doch jetzt nicht darum, eure Ehe zu analysieren, sondern den Täter zu finden. Vielleicht ist der Kerl ein Triebmörder und versucht es in den nächsten Tagen an einem anderen Kind!“ „Mir ist es gleich, ob sie den Täter finden. Tom bringt nichts wieder. Nein, Makus, ich muß erst einmal mit mir ins reine kommen. Du wärst nicht der erste, der sagt, es ist unnormal, sich nicht für den Mörder zu interessieren. Im Grunde weiß ich’s ja selbst, aber mir fehlt die Kraft.“ Renate Schulenberg stand auf, öffnete das Fenster. Fred Makus begriff, daß solch passives Verhalten zwangsläufig den Verdacht auf die Familie lenken mußte. Das werde ich keinesfalls zulassen, sagte er sich. Wenn sie sich nicht selbst wehren können oder wollen, muß ich dagegen einschreiten. Wer, wenn nicht ich, kann ihnen helfen. „Renate, auch wenn es Tom nicht wiederbringt, der Täter muß gefunden werden! Und zwar bald. Denn sonst sind die Spuren verwischt, und du wirst dich ewig mit unbeantworteten Fragen quälen.“ Die Frau setzte sich wieder. „Begreife es doch“, sagte sie leise, „egal, wer Tom getötet und warum er ihn getötet hat, ich fühle mich schuldig. Seit Jahren war ich nur darauf bedacht, allen eine heile Ehe vorzuspielen. Spießig wie in Großvaters Zeiten habe ich mich verhalten. Hätte ich nur ebensoviel Aufmerksamkeit auf Tom verwandt.“ 30
„Renate, mit mir kannst du so sprechen. Ich kenne euch und eure Probleme. Aber bedenke doch, die Polizei könnte aus deinen Selbstvorwürfen Rückschlüsse ziehen, die überhaupt nicht stimmen. Im übrigen finde ich es unverantwortlich, daß Thomas dich in dieser Situation allein läßt. Das werde ich ihm auch mit aller Deutlichkeit sagen. Gott sei Dank habe ich noch nicht allzuviel am Hals, da kann ich dir manches abnehmen.“ „Du verstehst Thomas falsch. Ich habe ihm zugeredet, wieder arbeiten zu gehen. Glaube mir, wir saßen uns hier gegenüber, als wären wir Gespenster. Das hält keiner aus. Ab morgen bin ich auch wieder in der Apotheke.“ „Sag mal“, fragte der Fotograf zögernd, „wie hat sich eigentlich die Wendler verhalten, nachdem …“ „Wir wollen sie vergessen.“ Warum? dachte Makus. Warum die Wendler vergessen? Mit der fing es doch an. „Außerdem“, fügte Renate hinzu, „hast du vorhin selbst gesagt, es ist das Beste, alles der Polizei zu überlassen.“ „Das meine ich, ja. Und was hat sie bisher unternommen?“ „Am Anfang, als wir das Verschwinden Toms meldeten, da waren sie noch der Meinung, daß wir uns unnötige Sorgen machen, weil Kinder wohl heute oft Ausflüge unternehmen, ohne die Eltern zu informieren. Dann, nach zwei Tagen, als feststand, daß mit Tom etwas passiert sein mußte, wurden sie aktiv. Sie fragten auch nach Verwandten und Freunden, notierten ihre Anschriften und suchten sie auf. Zu dir werden sie sicher noch kommen.“ „Ich war doch gar nicht da!“ „Sie lassen nichts aus. Wahrscheinlich gehört das zu ihrer Routinearbeit.“ „Und nachdem Tom gefunden wurde, hat die Polizei 31
da schon einen Verdacht geäußert, sich konkret nach jemandem erkundigt?“ „Nein, wen hätte ich auch nennen sollen?“ Sie schwiegen. Makus grübelte. Nach einer Weile sagte er nachdenklich: „Es ist durchaus möglich, daß es ein Fremder getan hat, dem Tom aus irgendeinem Grund gefolgt ist. Wir haben es doch erlebt. Wenn er etwas sah, das ihn interessierte, vergaß er alles um sich herum. Denke doch nur an unseren Besuch im Verkehrsmuseum. Der Saal mit den Kleinbahnlokomotiven. Immer wieder entwischte er uns und lief dorthin zurück.“ „Das sagt doch gar nichts. Als er uns nur einen Augenblick vermißte, heulte er los wie ein hungriger Wolf, und der Aufseher brachte ihn angeschleppt.“ Makus wollte widersprechen, unterließ es dann aber und stand auf. „Ist es schlimm, wenn ich mich jetzt verabschiede? Ich komme nachmittags oder am Abend noch einmal vorbei. Wenn du mich vorher brauchst, bitte, rufe an. Ich bin sofort da.“ Fred Makus stieg langsam die Treppe hinab. Er spürte, daß er jetzt noch unsicherer und unruhiger war als vor dem Besuch. Zum ersten Mal hatte sich Renate Schulenberg, die fast alles mit ihm besprach, Vorwürfe über die Verhältnisse in der Familie gemacht. Zu spät. Denn was geschehen war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Es sieht beinahe so aus, als würde sie den Kreis der Verdächtigen auf ein paar Menschen in unmittelbarer Nähe einschränken. An wen könnte sie dabei denken? Die Wendler hatte auf jeden Fall ein Motiv! Er blätterte in seinem Notizbuch und fand die Adresse des Mannequins. Fred Makus hatte sie sich vor seiner Abreise notiert, weil er nach seiner Rückkehr Aufnahmen von einer Modenschau machten sollte. Dorothea Wendler sollte dabei für eine Reportage „Der Tag eines 32
Mannequins“ fotografiert! werden. Makus hatte versprochen, sich gleich nach seiner Ankunft bei ihr zu melden. Die Frau im Treppenhaus und der Zigarrenverkäufer brachten allerdings eine ganz andere Person ins Spiel. Den stadtbekannten Kindernarr und Sonderling Becker. Der könnte einem Jungen schon etwas einreden. Bisher war ihm allerdings nie etwas Konkretes nachzuweisen. Was nicht heißt, daß er es diesmal nicht doch gewesen sein könnte. Immer mehr setzte sich in Makus der Gedanke an den kranken Mann fest. Er fuhr quer durch die Stadt, benutzte dann die Ausfallstraße nach Norden und bog später in den Weg ein, der durch unbebautes Gebiet zum Schrottplatz führte. Am Tor hielt der Fotograf. Er kurbelte die Scheibe herunter und sah sich um. Das Gelände wirkte chaotisch. Makus erinnerte sich, daß die Verwaltung oft kritisiert wurde, weil hier mitunter Material lagerte, das den Hochöfen voreilig zum Fraß geboten wurde. Inmitten der „Idylle“ stand ein ausrangierter Omnibus, an dem noch die Bestimmung PLATTNERS RUNDREISEN zu erkennen war. Makus starrte lange auf das Durcheinander und versuchte, sich einen Mann vorzustellen, der diesen Platz gewählt haben konnte, um das letzte Kapitel der kurzen Geschichte Tom Schulenbergs zu schreiben. Er schreckte auf, als an den Wagen geklopft wurde. Vor dem Auto stand eine schlanke junge Frau. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ fragte sie ihn. Makus schüttelte die Gedanken von sich. Es gelang ihm sogar, zu lachen. „Nein. Wollen Sie in die Stadt mitgenommen werden?“ „Sie sind Herr Makus, der Fotograf?“ Makus hatte die Frau nie gesehen. Wahrscheinlich eine, die aus Sensationsgier hier ist, dachte er. 33
„Sie kennen mich?“ fragte er zurück. Die Frau zeigte ihm einen Ausweis, auf den er nur einen flüchtigen Blick warf. „Leutnant Bathe. Wir ermitteln im Fall Schulenberg.“ Der Fotograf stieg aus dem Auto. „Suchen Sie hier den Täter?“ „Hier wie überall. Aber was treibt Sie an diesen Ort?“ Der Fotograf fand nicht gleich eine Antwort. Aus Verlegenheit wischte er über die Windschutzscheibe. „Ich mußte mir die Stelle ansehen, an der es geschah. Ich komme gerade von Frau Schulenberg.“ Helga Bathe lehnte sich an den Trabant. „Daß wir Sie treffen, ist günstig. Hauptmann Rüdiger, der die Untersuchung leitet, hätte Sie heute noch aufgesucht. Da Sie der Familie sehr nahestehen, wissen Sie vielleicht etwas, das uns weiterhelfen kann.“ Makus warf den Putzlappen in den Wagen. „Natürlich stehe ich zu Ihrer Verfügung“, versicherte er. „Nur viel werde ich dazu nicht sagen können. Ich war einige Wochen dienstlich unterwegs und bin erst seit gestern wieder in der Stadt. Allerdings habe ich schon einiges gehört, zum Beispiel, daß es sich bei dem Täter um einen Geistesgestörten handeln soll.“ Die Kriminalistin rieb sich einen Fleck vom Mantel. „Die Vermutung liegt immer nahe, wenn ein Kind getötet wird. Wenn es Ihre Zeit erlaubt, kommen Sie mit zu Hauptmann Rüdiger. Er ist gerade in der Verwaltungsbaracke. Sie könnten gleich einen Termin mit ihm ausmachen.“ Makus merkte, daß die Kriminalistin zu weiteren Auskünften nicht bereit war und folgte ihr zu der windschiefen Bretterbude. Josef Konrad arbeitete seit fünfzehn Jahren als Platzwart. Sein eigentlicher Beruf war Maschinenschlosser. Er hatte einen sicheren Blick für noch nutzbares Materi34
al unter all dem Schrott, der hier fast täglich angeliefert wurde. Diesem Umstand hatte er es zu verdanken, daß ihm, obwohl er ständig betrunken war, noch nicht gekündigt wurde. Zu ihm kamen Handwerker und Bastler, wenn sie Ersatzteile suchten, die im Handel nicht zu erhalten waren. Konrad konnte oft helfen, und – das war Voraussetzung und wurde stillschweigend geduldet – über den geforderten Preis sprach kein Mensch. Obwohl er eine kleine Wohnung in der Innenstadt besaß, lebte er seit dem Tod seiner Frau meist in der Baracke auf dem Platz. Hier hatte er sich eine alte Matratze aufgestellt, einen Kochherd installiert und ein kellerähnliches Versteck für einen nie versiegenden Vorrat an Bier angelegt. In einer Ecke standen ein paar Flaschen Schnaps, sie fristeten im allgemeinen ein längeres Dasein. Scharfe Sachen trank Konrad nur, wenn ihm wegen seines übermäßigen Bierkonsums wieder einmal die Entlassung angedroht worden war. In der Leitung des Betriebes hatte man schon oft an seine Ablösung gedacht, da jedoch bei dem Mangel an Arbeitskräften nie Ersatz gefunden wurde, blieb es stets bei dem Vorsatz. Im Augenblick befand sich Konrad im Zustand einer unheimlich wirkenden Nüchternheit. Er bot keinen erfreulichen Anblick. Die faltige Haut des eingefallenen Gesichtes wirkte noch grauer und lederner als sonst, seine Hände zitterten. Bei jeder Frage der Kriminalisten faßte er sich an den Kopf und bearbeitete die Stirn mit den Fingern, als wolle er die Antwort auskneten. Da es in dem Raum nur zwei Stühle gab, auf die sich Hauptmann Rüdiger und Oberleutnant Helm vorsichtig niedergelassen hatten, hockte Konrad auf einem umgestülpten Eimer und mußte so zu den beiden aufblicken. Oberleutnant Helm erklärte zum wiederholten Mal: „Uns interessiert der Freitag. Freitag, der siebenundzwanzigste Oktober.“ 35
„Abholetag! Freitags wird abgeholt. Annahme ist Montag bis Donnerstag. Das habe ich bereits ausgesagt.“ „Darum geht es jetzt auch nicht. Wir wollen von Ihnen wissen, wann hier welche Wagen am siebenundzwanzigsten Oktober Schrott aufluden.“ Die Stirn des Platzwarts war gerötet, jetzt trommelte er noch gegen die Schläfen. „Das ist die Frage! Sie glauben mir nicht? Das ist wirklich die große Frage, mein Herr. Manchmal sind es viele Wagen, da kann einer allein nicht durchsehen.“ Oberleutnant Helm blickte zum dicken Rüdiger, der in einem Heft blätterte, das er vom Tisch genommen hatte. „Herr Konrad, wollen Sie behaupten, manchmal braust eine Karawane von Lastwagen an, die Sie gar nicht erfassen können?“ „Karawane? Karawanen! Lange Karawanen! Versteht sich? Nein? Ich werde es Ihnen erklären. Die Schrotter haben drei, nein … vier, warten Sie … fünf Wagen. Manchmal sogar sechs. Erst kommt einer, dann fahren viele vor. Andere noch dazu.“ „Andere?“ Konrad hustete. „Sie müssen entschuldigen, meine Kehle ist wie ausgetrocknet.“ „Wohl ein seltener Zustand?“ sagte Rüdiger. „Aber zur Sache. Welche Wagen meinen Sie?“ „Hier kann man noch immer besser seinen Ersatzteilbedarf decken als an anderen Stellen. Ja, Chef, etliche Betriebe hätten sonst vielleicht schon schließen müssen. Nun kommt es vor … ich bin im hinteren Bezirk, und vorn laden die Schrotter. Wir kennen uns alle seit Jahren. Das müssen Sie wissen, weil die Vertrauensbasis da ist. Versteht sich? Die Schrotter legen dann einfach einen Zettel auf den Tisch. Auf den Tisch, vor dem Sie jetzt sitzen.“ „Dann?“ 36
„Fahren sie ab.“ „Während Sie in einer Ecke hocken und Ihre Privatgeschäfte betreiben?“ „Sagen wir Hilfe, nennen Sie’s Unterstützung! Würden Sie zusehen, wenn eine Bäckerei nicht liefern kann, weil eine popelige Welle am Teigkneter fehlt, und die gleiche Welle liegt als Abfall vor Ihrem Fenster? Sie essen bestimmt auch gern frische Brötchen. Oder?“ „Wie war das nun an dem Freitag? Wurde da vorn und hinten geladen?“ Konrad bearbeitete verzweifelt die Stirn. „Kann sein … kann nicht sein. Ist möglich … ist nicht möglich!“ „Sie müssen doch wissen, ob die Schrotter da waren! Wenn Sie schon nichts von einer ordentlichen Buchführung halten, wird es doch wohl wenigstens ein paar Notizen geben?“ „Die Schrotter waren da. Jawohl, die waren da!“ „Lassen Sie das jetzt“, sagte der Hauptmann. „Wir sehen uns die Fahraufträge im Betrieb an.“ Konrad grinste. „Da haben Sie’s genau. Aber das mit der Buchführung stimmt nicht. Das erledigt Egon alle vierzehn Tage.“ „Wer ist Egon?“ „Egon Kraak. Sympathischer Mensch. Rentner und Abstinenzler. Das gibt es auch! Der verdient sich hier und woanders noch ein paar Pfennige dazu.“ „Und unterstützt Ihre Schweinereien?“ Rüdiger hatte sich Notizen gemacht und blickte kurz auf. „Also die Schrotter waren hier“, sagte Helm. „Wer außerdem?“ „Wenn ich mich recht erinnere, der Klempner aus der Fleischergasse.“ „Wie heißt der Mann?“ Konrad zuckte mit den Schultern. „Er wohnt neben der Bäckerei. Wenn Sie den suchen, der stöbert oft hier herum.“ 37
Der Platzwart schien nachzudenken. Plötzlich sprang er auf. „Hat es am Freitag geregnet?“ „Nein, am Freitag hat es nicht geregnet.“ „Dann war’s auch nicht Freitag, muß Donnerstag gewesen sein. Hat’s da geregnet?“ Rüdiger mischte sich wieder ein. „Am Donnerstag goß es wie aus Kübeln.“ Der Hauptmann erinnerte sich, daß er an dem Tag mit Katharina den Schneekopf bestiegen hatte und sie vom Unwetter überrascht wurden. „Sehr gut! Also war Erwin am Donnerstag hier. Braucht für seine Feierabendarbeit immer mal ein Stück Rohr. Feierabendarbeit! Dabei ist der meistens krank geschrieben.“ „Und wer ist Erwin?“ „Ein junger Bengel. Fragen Sie mich nicht nach dem Familiennamen, den merke ich mir nie. Meinen Sie nicht auch, es ist besser, der noch brauchbare Kram wird von der Bevölkerung genutzt, als daß er hier verrottet?“ „Über diesen Punkt wird man sich an anderer Stelle mit Ihnen unterhalten.“ Hauptmann Rüdiger räusperte sich, und dann stand er mit einem Ruck auf. Daß der Stuhl dabei in die Ecke flog, war beabsichtigt. Oberleutnant Helm wußte, was folgen würde. Der Hauptmann ging um den Tisch herum, fegte mit einer Handbewegung die schmutzigen Gläser und Speisenreste weg. Dann flüsterte er sanft wie eine Mutter zum einschlafenden Kind: „Wer war nun wirklich am Freitag hier? Das interessiert uns nämlich, mein Freund!“ Er beugte sich zu dem zitternden Platzwart und brüllte los: „Am meisten aber interessieren Sie uns! Sie! Sie! Sie! Ich verspreche Ihnen, wenn Sie auch nur das kleinste Zipfelchen verschweigen, werden Sie dieses Paradies nie wieder betreten. Dann kommen Sie dorthin, wo Sie so viel trinken können, wie Sie wollen. Ein Gesöff aus Heu und Huflattich. Ein Trunk, an den eine ausgepichelte Säuferseele wie Sie nur mit Schaudern denken sollte! 38
Also, wer war am Freitag noch hier? Wen haben Sie gesehen? Wer hat im Schrott gewühlt?“ Konrad griff entsetzt an seinen Hals. Ob er Angst hatte oder schon das schaurige Getränk schmeckte, war unklar. „Der Klempner“, sagte er schnell. „Den hatten wir schon am Donnerstag.“ „Am Freitag war er wieder hier. Er stand plötzlich im Büro und sagte, er holt einen Gashahn, den er draußen gesehen hat.“ „Gut. Wer noch?“ „Ellert. Walter Ellert. Der kommt immer freitags. Meistens mit einem Handwagen. Den Schleicher können Sie sich ruhig einmal näher ansehen. Ich werde mit dem nicht mehr fertig. Hundertmal habe ich ihm gesagt, daß jetzt Schluß ist. Wissen Sie, was er dann macht? Er droht mit dem Gesetzbuch. Das muß der immer in der Tasche mit sich herumschleppen. Der kennt alle Paragraphen.“ „Und legt sie für sich aus?“ Hilfesuchend blickte der Platzwart zu Oberleutnant Helm. Der schaute, soweit das bei dem verschmutzten Fenster möglich war, auf den Vorplatz. „Er wohnt in der Kleiststraße. Vis-à-vis vom Denkmal.“ „Der ist das? Wozu braucht der Schrott? Als wir ihn das letzte Mal besuchten, hielt er Bienen.“ „Das ist es ja. Er braucht nicht ein Stück Schrott. Alles versilbert er in der Kleinannahmestelle, dieser geldgierige Leisetreter. Aber ich weiß nichts davon.“ „Trotzdem behaupten Sie es?“ „Es ist doch so, Chef.“ Konrad schielte vorsichtig nach dem Riesen über sich. Er fürchtete einen neuen Ausbruch und rückte den Eimer zur Seite. „Habe ich schon ausgesagt, daß der Klempner einen Mann mitbrachte? Der stöberte nach einem Trittbrett. Verarschen lasse ich mich nicht. Wer braucht heute noch Trittbretter?“ „Beschreiben Sie nachher dem Oberleutnant genau, 39
wie der Mann aussah, oder Sie haben zum letzten Mal …“, der Hauptmann deutete auf das Bierlager, „aus dieser Budike eine Flasche gefischt!“ „Woher wissen Sie das?“ flüsterte Konrad und stellte sich schützend vor seinen kostbaren Besitz. Leutnant Bathe trat in die Baracke und wies mit dem Daumen auf den Vorplatz. „Wer ist da?“ fragte Rüdiger, der nicht gleich verstand, was sie meinte „Makus. Sie wollten ihn doch sprechen.“ „Der ist hier?“ „Ich traf ihn am Tor. Er wollte sich die Stelle ansehen, an der …“ „Manche Menschen scheinen sich nicht von Pinguinen zu unterscheiden.“ „Ich glaube, der doch. Ins Handwerk will er uns pfuschen, das ist es.“ „So einer fehlt mir noch.“ Der Hauptmann sah Konrad drohend an und ging hinaus. Rüdiger und Makus kannten sich flüchtig. Sie setzten sich auf die wackelige Bank, die vor der Baracke stand. „Wollten Sie hier fotografieren?“ fragte der Hauptmann spitz. Makus schüttelte den Kopf. „Ich war vorhin bei Renate … Frau Schulenberg, und da … Wissen Sie inzwischen schon Näheres?“ Rüdiger schoß eine herumliegende Sprungfeder wie einen Ball weg. „Nichts. Es fehlt das Motiv, es fehlt der Täter. Wir stehen erst am Anfang. Und darum wollte ich Sie gern sprechen. Sie kennen die Familie schon lange. Wie erhoffen uns von Ihnen Auskünfte, Hinweise, die uns vielleicht weiterbringen.“ „Was gibt es da zu erzählen? Das Kind wurde erzogen, wie vernünftige Eltern heutzutage ihre Sprößlinge erziehen. Selbstverständlich war Tom ihr Abgott.“ Rüdiger winkte ab. „Hier ist nicht der richtige Platz. 40
Kommen Sie doch bitte in meine Dienststelle. Paßt es heute noch, um siebzehn Uhr?“ „Es muß passen.“ Fred Makus blickte auf die Überreste von Maschinen und Geräten. „Ein bedrückender Ort. Er erinnert an Friedhöfe“, sagte er leise. Rüdiger nickte. „Für das, was hier lagert, ist es die letzte Station.“ Der Hauptmann stand auf und wollte sich verabschieden. Der Fotograf hielt ihn jedoch zurück. „Wissen Sie, der Tom war ein aufgeweckter, intelligenter Bursche. Ich kann mir deshalb kaum vorstellen, daß er mit einem abnorm veranlagten Menschen mitgegangen sein soll, wie es jetzt behauptet wird. Allerdings sieht man es so einem natürlich nicht immer an, aber …“ Der Hauptmann ließ sich nicht aufhalten. „Wir sehen uns heute nachmittag.“ Er ging zurück zu Konrad in die Baracke und blickte dem Fotografen durchs Fenster nach, als der über den Platz zu seinem Auto ging. „Ich möchte wetten, der kommt uns noch ein paar Mal in die Quere“, brubbelte er vor sich hin. „Diese Amateurdetektive liebe ich besonders.“ Helga Bathe grinste. „Was tust du jetzt?“ schnauzte Rüdiger sie an. „Ich lasse mir vom Genossen Helm die Namen geben, die Sie aus dem Schrott-Josef gekitzelt haben, und suche die Herrschaften auf. Gute Schülerin!“ „Prima Lehrer! Wir können fahren. Helm ist fertig.“ Sie verließen einen dienernden Schrottplatzwart, der in seinen unnatürlichen Verrenkungen wie ein Fossil aus vergangenen Zeiten wirkte. Das Auto brachte die Kriminalisten in die Stadt. Hauptmann Rüdiger saß neben Helga Bathe auf dem Rücksitz, der Oberleutnant neben dem Fahrer. „Verstehen Sie, warum man diesen Konrad so lange sein Unwesen treiben läßt?“ 41
Rüdiger knöpfte seinen Mantel zu und kurbelte die Scheibe der Wagentür einen Spalt herunter. „Mädchen, wenn wir alles verstehen würden, hätten wir den falschen Beruf. Aber das schwöre ich dir, der Sauhaufen wird in Ordnung gebracht. Trotzdem – das Verbrechen wäre auch geschehen, wenn es dort zugehen würde wie in einem OP.“ Oberleutnant Helm zeigte auf die Straße. „Hier entlang muß der Täter mit dem Kind gekommen sein. Unverständlich, daß es niemand beobachtet hat, so unbelebt ist die Gegend doch nicht.“ „Er kann auch von der Rückseite über den Bach gesetzt sein. Das macht Kindern Spaß. Außerdem … wir sprechen immer von einem Er, warum kann es nicht eine Sie gewesen sein?“ Leutnant Bathe widersprach dem Hauptmann sofort. „Das kann ich nicht glauben. Zugegeben, wir haben zum Glück kaum vergleichbare Fälle, aber ich behaupte, daß eine Frau diese Brutalität nie aufbringen würde. Und jetzt sagen Sie bloß nicht, das sei lediglich eine gefühlsbetonte Meinung.“ „Ist aber Gefühl. Sei froh, daß du das hast.“ Hauptmann Rüdiger beugte sich zu dem Fahrer. „Am ThomasMann-Platz halten Sie.“ Er zog aus seiner Aktentasche eine Brotbüchse. „Frühstücken Sie nicht?“ fragte er seine Mitarbeiter. Der Oberleutnant und Helga Bathe murmelten etwas, das wie „später“ klang. Bis auf das Summen des Motors war es für einige Minuten recht still im Auto. Helm sah seine Aufzeichnungen über das Gespräch mit Konrad durch. Helga Bathe hatte die Augen geschlossen, was bei ihr nicht unbedingt ein Zeichen von Müdigkeit sein mußte. Sie behauptete, so am besten nachdenken zu können. Rüdiger war mit dem Frühstück beschäftigt. Nachdem er den letzten Bissen seiner Semmel ver42
zehrt hatte, tippte er Helm auf die Schulter. „Wie benehmen sich eigentlich Kinder, wenn sie aus der Schule kommen? Sie haben doch sicher Erfahrungen.“ „Unterschiedlich. Die jüngeren Jahrgänge stürmen meistens davon, treiben gleich Unsinn. Psychologisch ist das völlig verständlich, der Unterricht mit seinen Pflichten und Zwängen liegt hinter ihnen. Die Größeren, das habe ich bei meinen bemerkt, nehmen sich gern Zeit. Sie analysieren, kritisieren, vergleichen.“ „Man kann also sagen, auf dem Rückweg sind Schüler aufgeschlossener als in der Frühe, wenn sie in die Schule gehen?“ „Es ist wie bei Erwachsenen. Hat man eine Arbeit erledigt, fühlt man sich freier.“ Der Fahrer stoppte. „Thomas-Mann-Platz.“ Die Kriminalisten stiegen aus. Der Hauptmann hatte diesen Platz schon oft überquert, ohne ihm allzuviel Aufmerksamkeit zu widmen. Und nun sah er sich jetzt dort um, als bemerkte er ihn zum ersten Mal. „Hier ’rüber mußte Tom Schulenberg gehen, um nach Hause, in die Pestalozzistraße, zu kommen. Von hier aus gelangt man aber auch direkt zum Schrottplatz. Vielleicht stehen wir jetzt an der Stelle, wo er den Täter traf.“ „Dort kreuzt die F 79, Anschlußstraße nach Halle, Magdeburg, Leipzig.“ Oberleutnant Helm zeigte auf die breite Allee, die ihnen gegenüber auf den Platz stieß. „Es kann also auch ein Ortsfremder zugepackt haben.“ „Kann, kann, kann!“ In seiner poltrigen Art wirkte Rüdiger manchmal ein wenig komisch. „Erstens glaube ich nicht, daß ein aufgeweckter Junge mit einem Fremden geht oder fährt. Zweitens: angenommen, er tat’s doch, woher weiß dieser, daß man nur abzubiegen braucht, um den Schrottplatz zu erreichen, der sich für ein Verbrechen geradezu anbietet?“ Der Hauptmann ging zum Wagen zurück. Helm ver43
abschiedete sich. Er sollte sich Thomas Schulenbergs Kaderakte ansehen. „Vergessen Sie nicht zu fragen, ob er auch heute noch der Wunschtraum aller weiblichen Lehrlinge ist“, gab ihm Rüdiger mit auf den Weg und brüllte dann noch hinterher: „Aber taktvoll! Taktvoll!“ Je länger Makus darüber nachdachte, um so mehr beunruhigte ihn das kurze Gespräch mit den Kriminalisten. Wie er auch die Dinge betrachtete, er kam immer zum gleichen Ergebnis: Sie vermuten ein Verbrechen im Familienkreis. Er fragte sich, was er tun könnte, um einen solchen Verdacht zu entkräften. Er versuchte wieder, alle Personen durchzugehen, die für die Tat in Frage kommen könnten. Der kranke Mann! Unter den Verwandten und Bekannten der Schulenbergs war eine in diesem Sinne auffällige Person bestimmt nicht zu finden. Makus war so viele Jahre mit Renate und Thomas Schulenberg befreundet, daß er genau wußte, mit wem die beiden Kontakt pflegten und mit wem nicht. Und er kannte auch die üblichen Familienquerelen. Um größere Beträge war es nie gegangen. Er überlegte, wie und wo Tom ansonsten einen solchen Mann kennengelernt haben könnte. Vor Jahren hatte er einmal gelesen – er wußte nicht mehr, war es eine Zeitungsnotiz oder stand es in einem Roman –, daß ein Sittlichkeitsverbrecher Kinder vor der Schule abgefangen hatte. Das wäre sicher bemerkt worden. Und selbst, wenn sich nachweisen ließe, daß eine solche Person, vielleicht sogar dieser Becker, doch Kontakt zu dem Jungen hatte – was wäre damit gewonnen? Man hat sich an dem Kind nicht vergriffen, und damit wird die Polizei ein solches Motiv ausscheiden … Aber vielleicht läßt sich das so eindeutig gar nicht feststellen? Makus bedauerte, daß er sich mit solchen Problemen 44
noch niemals befaßt hatte, und nahm sich vor, das nachzuholen. Vorerst lenkte er seine Gedanken in eine andere Richtung. Was könnte die Polizei von ihm erfahren wollen? Sie werden sich nach den Verhältnissen bei den Schulenbergs erkundigen. Das stand für Makus fest. Und deshalb begann er, sich zurechtzulegen, was erzählt werden konnte und was nicht. Über die Beziehungen von Thomas zu der Wendler weiß ich zum Glück sehr wenig, sagte er sich. Doch dann erschrak er. Wenn nun das Mannequin bereits Dinge ausgesprochen hat, über die ich schweigen will? Vielleicht hat sie bereits andere belastet, um sich selbst aus der Geschichte herauszubringen? Er beschloß, sie auf der Stelle aufzusuchen. Er war ja ohnehin mit ihr verabredet, so daß sie von seinem Besuch kaum überrascht sein konnte. In der Stadt gab es drei nebeneinanderstehende Appartementhäuser. Im neunten Stock des mittleren lag die Wohnung Dorothea Wendlers. „Endlich sind Sie wieder da!“ Das Mannequin zog den Fotografen in den Korridor. „Ich hatte schon befürchtet, aus unserer Reportage würde nichts. Dabei brauche ich gerade jetzt viel Publicity. Ich gehe doch demnächst nach Berlin.“ „Haben Sie sich verletzt?“ Fred Makus sah, daß Dorothea Wendler ein Bein nachzog. „Eine Zerrung. Aber es ist schon wesentlich besser geworden. Nehmen Sie Platz, und bedienen Sie sich.“ Die junge Frau trug eine Schüssel mit Wasser, in der sie den Fuß gekühlt hatte, in das Badezimmer. Fred Makus sah sich um. Nichts erinnerte an Thomas Schulenberg, der bis vor kurzem noch hier gewohnt hatte. „Trotzdem“, sagte das Mannequin, als sie wieder ins Zimmer kam, und zeigte auf den Fuß, „trotzdem steht der Fahrplan für unsere Geschichte. Es war bereits einer 45
von der Redaktion hier, ein gewisser Wilke. Kennen Sie ihn? Er hat sich meine Vorschläge angesehen und meinte, sie wären ganz gut. Ich will unbedingt, daß jeder merkt, der Tag eines Mannequins besteht nicht nur aus ein paar Schritten über den Laufsteg, sondern aus harter Arbeit.“ Fred Makus nickte. „Genauso habe ich mir die Sache vorgestellt.“ „Das schaffen wir natürlich nicht mit einem Schlag. Ich denke, bei der Modenschau konzentrieren wir uns auf die Probe, die Kleiderwechsel und auf ein paar ausgefallene Modelle.“ Der Fotograf sah sich die Aufstellung der Wendler an. „Gut. Wissen Sie, was mir noch fehlt?“ Das Mannequin lachte. „Nun kommen Sie bloß nicht mit Sex. In der Hinsicht habe ich schon Wilke abfahren lassen.“ Fred Makus goß sich aus einer Karaffe Fruchtsaft ins Glas und spritzte aus dem Heimsprudler Wasser nach. „Wenn die Serie wird, wie ich sie mir vorstelle, enthält sie so viel natürlichen Sex, daß wir auf alle Extras gut verzichten können. Ich meine, man sollte, ohne daß es dominiert, zeigen, auch Sie haben Alltagssorgen und Probleme. Gerade das macht einen solchen Bericht erst interessant.“ „Genau“, bestätigte die Frau. Makus griff nach seinem Glas und trank einen Schluck von dem Saft. „Zum Beispiel könnte man fragen, welche Gedanken Sie bewegen, wenn Sie an einer Konditorei vorbeikommen und die Näschereien sehen, die für Sie tabu sind. Wie sieht Ihre Speisekarte aus?“ Dorothea Wendler lachte. „Das fällt mir nicht schwer, daran habe ich mich gewöhnt. Nein, solche Probleme meine ich nicht. Wir müßten etwas finden, das tiefer geht. Sehen Sie, in unserem Beruf muß man immer lächeln, selbst wenn der Vater im Sterben liegt. Das ist 46
natürlich Kitsch, aber aus dieser Schublade müßte etwas kommen.“ Einhaken, sagte sich Makus. Jetzt kommt sie von allein auf das Thema. „Sprechen wir offen. Ich kann mir vorstellen, daß der Tod des kleinen Schulenberg Sie sehr belastet. Ich weiß vielleicht als einziger, was Sie Thomas bedeutet haben.“ „So? Wenn Sie sich da nur nicht irren. Vielleicht ging Thomas wirklich weg, weil der Junge zwischen uns stand. Vielleicht ist er aber auch schon so bequem und wollte nicht aufgeben, was sein bisheriges Leben angenehm machte. Jedenfalls an dem Tag, an dem die Tür hinter ihm zuschlug, habe ich geheult und hätte am liebsten den Gashahn aufgedreht.“ Der Fotograf tippte auf die Reportagekonzeption. „Da haben wir doch ein echtes Problem.“ Dorothea Wendler nahm den Zettel an sich. „Sie bringen es fertig und schreiben das tatsächlich.“ Makus wurde ungeduldig. „Natürlich kann man das nicht machen. Außerdem würde es unnütze Fragen aufwerfen.“ „Welche Fragen? Ich sehe keine“, sagte sie kurz. „Dann will ich es erklären. Daß ich mich in der Sache engagiere, werden Sie hoffentlich akzeptieren. Sie wissen, wie die Schulenbergs und ich zueinander stehen. Auch wenn ich die Verbindung von Thomas zu Ihnen nie gebilligt habe, so ist das für mich kein Grund, ihm die Freundschaft aufzukündigen. Außerdem geht es nicht nur um Thomas und Renate, sondern vor allem um das Kind. Was mir der Junge bedeutet hat, werden Sie vielleicht nicht begreifen. Ihnen stand er ja im Wege. Um es also kurz zu machen, die Frage lautet doch: Wem nutzt es? Wer hat durch den Tod des kleinen Kerls Vorteile? Schalten Sie einmal alle Spekulationen von Sensationsgierigen aus. Es bleiben …“ 47
„Nein!“ Das Mannequin war empört aufgesprungen, packte Makus an den Schultern, schüttelte ihn. „Setzen Sie sich wieder“, sagte der Fotograf betont ruhig. „Es ist ganz gut, daß wir auf das Thema gekommen sind. Wir leben nicht in einem Staat, in dem eine Mafia Blutrache ausübt oder Entführungen an der Tagesordnung sind. Tatsache ist doch, daß Thomas kein Hehl daraus gemacht hat, warum er Sie verließ. Es war wegen des Jungen …“ „Nicht allein, ich könnte …“ „Wird man Ihnen glauben, wenn Sie jetzt sagen, wir trennten uns, weil … Von einem solchen Versuch würde ich abraten. Also noch einmal: Wem nutzt es?“ Dorothea Wendler setzte sich. Sie zupfte den Rock zurecht und strich das Haar glatt. Sie ist nervös, dachte Makus. „Glauben Sie wirklich an das, was Sie eben sagten?“ Die Stimme der Frau klang müde, deprimiert. „Fräulein Wendler, ob ich daran glaube, ist absolut nebensächlich. Entscheidend sind die Überlegungen der Kriminalisten. Damit müssen sich alle abfinden, die Kontakte zu Schulenbergs hatten oder haben. Auch Sie. Gerade Sie!“ „Ich?“ „Sie haben natürlich ein gutes Alibi, den verletzten Fuß. Aber sind Sie damit wirklich aus dem Schneider? Ich will mal weiterspinnen. Thomas braucht nur zu sagen, der Herr XYZ hat meiner Frau auch den Hof gemacht. Um anzudeuten, daß nicht allein er … Schon wird der Herr XYZ ins Visier genommen.“ „So hat Thomas nie gesprochen!“ „Kann er auch nicht. Verstehen Sie mich doch. Ich will damit sagen, wenn es um die internen Geschichten geht, sollten wir ruhig ein wenig Zurückhaltung üben, falls wir danach gefragt werden. Sie wurden doch bestimmt schon verhört?“ 48
„Ja“, bestätigte das Mannequin. „Dabei ging es vor allem um meine Reise nach Halle. Ich habe erzählt, wie es war.“ „Sonst nichts? Haben Sie die Schulenbergs nicht doch irgendwie …“ „Man hat sich ausgiebig nach meiner beruflichen Entwicklung erkundigt. Das hatte mit Thomas und seiner Frau bestimmt nichts zu tun.“ Aus dem Reportageplan war in den Händen von Dorothea Wendler Knüllpapier geworden. Fred Makus nahm ihr den Zettel aus der Hand und glättete das Blatt. Er bediente sich noch einmal aus der Flasche mit dem Fruchtsaft. „Ich denke, wir haben uns verstanden.“ Dann zog er sein Notizbuch aus der Tasche. „Und nun kommen wir zur Arbeit.“ Zu Hause versuchte Makus, seine Gedanken zu ordnen. Er merkte, daß es nicht viel war, was er bei der Wendler erreicht hatte, und wurde ärgerlich auf sich selbst. Ich bringe mich am Ende noch in Schwierigkeiten, wenn ich überall aufkreuze und wie ein Polizist Fragen stelle. Um sich abzulenken, begann er seine Koffer auszupacken. Er verstaute Wäsche und Anzüge in die Schränke. Aus einem Spezialkoffer holte er das Fotogerät hervor. Mit einem weichen Lappen reinigte Makus Kamera und Zusatzobjektive, eine Beschäftigung, die bei ihm vor Essen und Trinken kam. Doch diesmal war er nicht so recht bei der Sache. Die Wendler hat kein Wort darüber verloren, wie sie jetzt zu Thomas steht. Der Schrottplatz wurde überhaupt nicht erwähnt. Der Schrottplatz! Aus Konrad müßte etwas herauszubekommen sein. Er nahm sich vor, noch einmal dorthin zu fahren. Fred Makus stellte zum wiederholten Male fest, daß er eigentlich nicht in der Verfassung war, ein Auto sicher 49
durch den Verkehr zu steuern. Er mußte ziemlich heftig auf die Bremse treten, um seinen Trabant einen knappen Meter hinter einem Linienbus, der an der Haltestelle gestoppt hatte, zum Stehen zu bringen. Es dauerte eine Weile, ehe der Fotograf den Schreck überwunden hatte. Der Bus war nicht mehr zu sehen, als er mit immer noch zitternder Hand den Zündschlüssel herumdrehte. Gerade als der Motor ansprang, klopfte jemand an die Frontscheibe. Makus blickte auf und sah in das Gesicht einer ihm bekannten älteren Frau. Er öffnete die Tür. „Kann ich Sie mitnehmen, Frau Anstett?“ „Ja, Fred, ich muß noch einmal in die Wohnung“, antwortete sie und stieg zu dem Fotografen in den Wagen. „Ich wollte in die Reinigung und habe den Schein vergessen. Nachher muß ich noch Sibylle abholen, sie ist zur Schwimmstunde. Schön, daß ich dich getroffen habe, da klappt noch alles.“ „Ich bringe Sie dort hin, Frau Anstett.“ Makus war froh über das Zusammentreffen. Schon als Kind hatte er sich gern mit ihr unterhalten und sie auch später hin und wieder mal besucht. Fritz Anstett, ihr Sohn, war ein ehemaliger Schulkamerad von ihm wie Thomas Schulenberg. Seit einem halben Jahr arbeitete er mit seiner Frau in Sibirien. Sibylle, die kleine Tochter, lebte bei der Großmutter. Der Fotograf wußte, daß er gleich mit Zimtplätzchen bewirtet werden würde, denn die gingen bei Frau Anstett nie aus. Die Voraussage trat auch prompt ein, nachdem sie die Wohnung am Stadtrand betreten hatten. „Die Kinder kommen nun doch erst Silvester, bleiben aber sechs Wochen“, erzählte Frau Anstett und drängte: „Nun iß schon!“ Makus schob den Küchenteller zur Seite. „Seit die Sache mit Tom passiert ist, habe ich überhaupt keinen Appetit mehr.“ 50
„Schrecklich“, klagte die alte Dame. „Wenn du wüßtest, Fred, wieviel Angst ich jetzt immer um Sibylle habe. Ich lasse das Kind nirgends mehr allein hingehen. Ich habe schon daran gedacht, Thomas und Renate meine Hilfe anzubieten. Aber das ist sicher überflüssig, denn du kümmerst dich doch bestimmt um die beiden, nicht wahr?“ „Ich bin gerade erst zurückgekommen.“ Frau Anstett schüttelte den Kopf. „Fred, ich kenne dich doch. Ich habe es dir immer hoch angerechnet, daß du in all den Jahren zu den Schulenbergs gehalten hast. Obwohl es dir doch bestimmt nicht leichtgefallen ist, damit fertigzuwerden, daß die Renate den Thomas geheiratet hat.“ „Ach, nein. Es ist schon alles richtig gelaufen. Mich bedrückt nur, daß die beiden wahrscheinlich verdächtigt werden.“ Frau Anstett winkte ab. „Davon habe ich nichts gehört. Nun rede dir bloß nicht einen solchen Unsinn ein. Aber weißt du, Fred, was ich nicht verstehe?“ „Ich verstehe vieles nicht.“ „Ein Schrottplatz ist kein Kinderspielplatz, Tom aber durfte da spielen.“ Makus sah die Frau entgeistert an. „Wer sagt das? Weiß die Polizei davon?“ „Von mir nicht. Die werden von allein daraufkommen. Wie konnte Thomas es dem Jungen auch gestatten!“ „Nein, ich kann das nicht glauben.“ „Es stimmt aber! Im Sommer war Tom einmal hier. Er wollte für seinen Vater die Adresse von Fritz in Sibirien haben. Da hat er vor Sibylle geprahlt. Du weißt ja, er gab manchmal ganz schön an. ‚Mir gehört der Omnibus auf dem Schrottplatz.‘ Ich höre seine Worte heute noch.“ Der Fotograf drückte die Zigarette aus und zündete sich gleich darauf eine neue an. 51
„Sei doch nicht so nervös“, rügte Frau Anstett. „Das ist unfaßbar! Was erzählte er denn noch?“ „Große Fahrten wollte er machen. Damals habe ich nicht soviel darauf gegeben. Gewundert hat’s mich natürlich.“ Makus konnte sich nicht beruhigen. „Frau Anstett, das ist doch wichtig. Sagte Tom, wer ihm den Bus gezeigt hat?“ Sie blickte auf die Uhr. „Nein. Ich habe ihn auch nicht danach gefragt.“ Fred Makus stand auf. „Müssen wir fahren?“ Frau Anstett zog sich eine Pelzjacke an. „Es wird Zeit. Also daß ich dich so an die Luft setzen muß. Aber du verstehst sicher …“ Als sie im Auto saßen, erkundigte Makus sich erneut nach der Geschichte mit dem Omnibus. Ihn interessierte, ob Tom vielleicht später noch einmal darüber gesprochen hatte. „Ich habe ihn nach diesem Besuch nicht wieder gesehen. Die Sibylle war jedoch ganz wild. Ich sollte mit ihr zu dem Gerümpel gehen, damit sie sich auch ein Auto aussuchen kann.“ „Das haben Sie bestimmt nicht getan?“ „Natürlich nicht.“ Nachdem der Fotograf Frau Anstett abgesetzt hatte und eine Weile ziellos umhergefahren war, bemerkte er plötzlich, daß er sich inmitten einer nicht zu überblickenden Autokolonne befand. Auf den Bürgersteigen, teilweise auch auf der Fahrbahn, liefen schwatzende, mitunter heftig gestikulierende Menschen. Lieder wurden gesungen und grünweißgrüne Fahnen geschwenkt. „Dynamo ist kein Gegner mehr! Schickt lieber Argentinien her!“ so tönte es vielstimmig durch die Straßen. Die einheimischen Fußballer hatten ein Übungsspiel gegen die Nationalmannschaft bestritten. Das war ein 52
letzter Test für die Elite, die bald zum entscheidenden Spiel über die Teilnahme an der Europameisterschaft anzutreten hatte. Fred Makus gehörte nicht zu den Fußballfanatikern. Er interessierte sich gerade noch für die Ergebnisse der Meisterschaftsspiele. Da werden unsere Rasenkomiker ganz schön was mitbekommen haben, dachte er. Schließlich konnten die Fahrzeuge nur noch im Schritt fahren, so sehr staute sich der Verkehr. „Ahoi, Fred!“ hörte Makus jemand rufen. Er erkannte einen Kollegen, Besitzer eines Fotogeschäftes, und kurbelte die Scheibe herunter. „Willst du einsteigen?“ „Im Freien singt es sich besser“, rief der Mann, den Fred Makus ansonsten als zurückhaltenden, besonnenen Geschäftsmann kannte. „War die Packung so groß?“ „Unentschieden, Junge. Es ist keine Schande, gegen uns ein Remis zu erzielen! Wenn die Kerle doch immer so loslegen würden …“ „Schöne Tore?“ „Mensch, das zweite hättest du sehen sollen. Zucker, Zucker! Molli schlägt ab … nach rechts … Kurtel stand goldrichtig und lief durch … kurze Eingabe, und Muschi Radtke knallte den Ball ins Netz. Beinahe hätte ich’s noch verpaßt. Hinter mir wollte man gerade jemand verdreschen.“ „Der brüllte wohl für die anderen?“ „Nein. Angeblich hatte sich der Kerl an Kinder herangemacht. Hinterher meinten die Jungen, er hätte bloß dumme Reden geführt und auf die Fußballer geschimpft. Bei solchem Spiel! Der muß nicht ganz richtig sein. In diesen Tagen sind eben alle etwas hysterisch wegen der Schrottplatzgeschichte. Ich hätte mich jedenfalls schwarz geärgert, wenn mir das Solo von Kurtel entgangen wäre. 53
Eigensinnig spielt der ja immer, aber heute stimmte es mal.“ Makus lehnte sich aus dem Fenster. „Haben sie den Mann erwischt?“ „Nein, als das Tor fiel, hat er die Gelegenheit genutzt und ist abgehauen. Wer was auf dem Kerbholz hat, findet in einer solchen Menschenmenge immer einen Durchschlupf. Man behauptet übrigens, es war der Heizer von Wirkwaren. Du kennst doch den Verrückten, er läuft immer in ’ner roten Kutte herum. Es wundert mich überhaupt, daß die Polizei den nicht schon längst auf Nummer Sicher gebracht hat. Kann auch sein, sie wissen, daß er es nicht war. Es wird ja so allerhand geredet, zum Beispiel über die Eltern des Jungen.“ „Aber wenn sich der Becker in der Öffentlichkeit so benimmt … das sagt doch genug!“ Makus wollte gern Genaueres über den Vorfall erfahren, doch der Fußballfan zuckte bedauernd mit den Schultern. „Wer weiß, ob er es wirklich war? Alle wollen ihn gesehen haben, aber niemand kann den Kerl beschreiben. Exakt beschreiben. Na ja, das Interesse galt natürlich in erster Linie dem Match.“ Hinter Makus wurde gehupt. Die Autokolonne fuhr inzwischen wieder flüssiger. „Ich halte den Verkehr auf. Ahoi!“ Er winkte seinem Kollegen zu. Dann bog er in die nächste Seitenstraße ein. Auch hier tobte noch die dritte Halbzeit. Er hatte Mühe, eine freie Stelle zum Parken zu finden. Makus stellte den Motor ab und sah nachdenklich in das Getümmel der begeisterten Fußballanhänger. Trotz dieses Spektakels hat man den Tod des Jungen nicht vergessen. Und immer wieder kommt der Becker ins Spiel. Offensichtlich traut man ihm einiges zu. Die Polizei wird hoffentlich auch von der Sache erfahren. Sie kann mir also keinesfalls unterstellen, daß ich den Heizer unbegründet verdächtige, um Renate und Thomas zu 54
schützen. Und selbst wenn sie es täte, den Becker gucke ich mir trotzdem genauer an. Wer, wenn nicht er, käme als Täter in Frage. Daß es keiner von den Schulenbergs war, muß die Polizei früher oder später einsehen und … Makus schloß erschöpft die Augen. Schluß, ermahnte er sich. Du wirst vorerst gar nichts unternehmen. Du wirst abwarten, was die Polizei von dir will, und dann weitersehen. In dem Moment, da ihm das bevorstehende Gespräch mit Hauptmann Rüdiger einfiel, wurde ihm klar, daß er den Kriminalisten über das von Frau Anstett Gehörte Mitteilung machen mußte. Wenn ich es nicht erzähle, erfahren sie es von anderer Seite, vielleicht sogar, daß ich davon wußte. Sie werden dann vermuten, ich hätte geschwiegen, um etwas zu verschleiern, was schwerer wiegt als Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Außerdem, überlegte er, werden Thomas und Renate sicher nachweisen können, daß sie Tom nie gestattet haben, auf dem Schrottplatz zu spielen. Wenn Tom ihnen jemals etwas über den Omnibus erzählt hätte, wüßte ich es. Makus fühlte sich unwohl. Er öffnete die Tür und stieg aus. Die frische Luft tat gut. Abschalten, sagte er sich. Abschalten, dann noch einmal alles in Ruhe durchdenken. In der Nähe erklangen in wirrem Durcheinander Schlager, Walzer, Märsche. Jahrmarktsmusik. Makus verschloß das Auto und bummelte durch die Straßen. Dabei versuchte er sich auf das zu konzentrieren, was er einmal in einem Vortrag über autogenes Training gehört hatte. Plötzlich tauchte vor ihm die bunte Budenstadt des Rummels auf. Auffallend waren die vielen Bilder und Zeitungsausschnitte an den Wänden, sogar ein primitives Ölgemälde befand sich in der Sammlung. Alle zeigten Kindergesichter. Über dem Bett hing die Fotografie eines kleinen Jungen. 55
Frau Brehmer, die Leiterin des Ferienheimes, kam selten in das Zimmer ihres Heizers. Als sie jetzt eintrat, hatte Rainer Becker sich gerade umgezogen. „Brennt’s nicht richtig?“ fragte er. „Gibt es das bei dir, Rainer?“ Es roch im Zimmer nach Birkenhaarwasser. Becker stand im Sonntagsanzug vor dem Spiegel. Er zog den Scheitel gerade und bürstete dann hartnäckig an einem Wirbel, der sich immer wieder aufrichtete. „Ich gehe zum Herbstmarkt. Wenn Wilhelm Tell noch ein paar Tage da ist, hole ich ihm alle Blumen weg.“ Frau Brehmer schüttelte den Kopf. Sie strich die Bettdecke glatt, zog die Gardinen zu und klopfte auf den Anorak, der am Schrank hing. „Rainer“, sagte sie eindringlich, „wirf doch dein Geld nicht so weg. Du brauchst einen Wintermantel, warme Schuhe.“ Die Heimleiterin sah, daß die Kutte nicht zerrissen war. Das beruhigte sie. In ihrem Büro saß Oberleutnant Helm, der nach den Ereignissen auf dem Fußballplatz Becker überprüfen sollte. Zeugen der Szene dort hatten die Vermutung geäußert, daß die Auseinandersetzung sichtbare Spuren an der Kleidung des Mannes hinterlassen haben könnte. Endlich war der Heizer mit seiner Frisur zufrieden, er setzte sich die Mütze auf. „Das Ballwerfen macht wirklich Spaß, und die Kleinen freuen sich über die Blumen.“ „Nicht alle Eltern sind damit einverstanden, wenn ihre Kinder Geschenke von Fremden erhalten.“ Becker lachte laut. „Geschenke! Das sind doch keine Geschenke!“ „Heute soll hier ein großes Fußballspiel gewesen sein.“ Frau Brehmer sagte es ganz beiläufig. „Warst du dabei?“ Der Heizer lachte noch lauter als zuvor. „Ich soll da hingehen? Zum Fußball? Ich bin doch nicht verrückt!“ Frau Brehmer nahm die Kutte vom Bügel. „Die hast 56
du ganz schön zerknautscht. Ich streiche schnell mal mit dem Eisen drüber. Kannst sie gleich bei mir abholen.“ „Danke“, sagte der Heizer und wischte über seine Schuhe. „Fußball! Ich wär doch blöde, wenn ich zum Fußball ginge.“ Frau Brehmer gab dem Oberleutnant die Kutte. „Er sagt, er wäre nicht im Stadion gewesen.“ Der Kriminalist betrachtete das Kleidungsstück von allen Seiten. „Fehlanzeige“, stellte er fest. „Ich konnte es mir auch nicht vorstellen, daß Rainer plötzlich Gefallen am Fußball finden soll.“ „Beim Fußball sind immer eine Menge Kinder“, bemerkte der Oberleutnant und vergewisserte sich: „Eine zweite Kutte besitzt er nicht?“ „Nein. Der trägt seine Sachen manchmal so lange, bis ich ihn an die Hand nehme und in die Geschäfte schleppe. Sie können mir wirklich glauben, er ist der friedlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Wenn der heiraten würde, der gäbe alles für die Familie. Aber … wer nimmt ihn schon? Überall wird er ausgelacht und dazu noch ausgenutzt. Ich höre es oft, wenn selbst meine Mitarbeiter fragen, ob er am Sonntag zu ihnen kommen kann. Gärten umzugraben oder Kohlen zu schippen, dafür ist er gut. Und Rainer macht alles, ist zufrieden, wenn er ein paar Pfennige dafür erhält. Es gibt noch ganz schöne Lücken im Denken mancher Leute.“ Der Oberleutnant dachte über die Worte der Frau nach. „Aber der Mann ist doch selbst schuld, wenn er so behandelt wird.“ „Der kann sich nicht mehr ändern. Er will den Kindern eben Freude bereiten. In Fichtenhain hat man versucht, ihn zu behandeln. Er hat Schuldkomplexe. Die Ursache ist der Tod des kleinen Bruders. Der Vater fiel neunzehnhundertdreiundvierzig an der Front, die Mutter kam bei einem Fliegerangriff ums Leben. Dann geriet 57
Rainer mit dem Kleinen, er war eigentlich selbst noch ein Kind, in die Kämpfe. Sie wollten sich auf ein Schiff retten, dabei ertrank der Bruder. Das hat Rainer nie überwunden. Seitdem hat er das unwiderstehliche Bedürfnis, Kindern Gutes zu tun. Leider macht er das so ungeschickt, daß viele ihn für … für nicht ganz zurechnungsfähig halten.“ Helm überlegte, wie er reagieren würde, wenn seine Kinder von einem Mann wie dem Heizer Geschenke annehmen würden. „Haben Sie ihm gesagt, daß er herkommen soll?“ fragte er. „Er muß den Anorak holen. Manchmal sehe ich ihn tagelang nicht. Da steckt er in seinem Keller und baut an der Heizung oder bastelt etwas für Kinder. Keine aufregenden Sachen; Stoffpuppen, im Herbst Drachen. Als er von dem Verbrechen hörte, war er sehr aufgebracht. Jetzt blättert er täglich in der Zeitung, um etwas Neues zu erfahren. Aber Sie wissen ja selbst, viel wird bei uns nicht aktuell berichtet. Da nervt er mich dann mit seinen Fragen.“ Vor der Tür wurde ein Schlager gepfiffen, gleich darauf klopfte es. „Das ist Becker, die Melodie scheint es ihm angetan zu haben“, sagte Frau Brehmer. Sie rief: „Komm ’rein!“ Der Heizer machte vor dem Besucher eine kleine Verbeugung. Der Mann sieht doch ganz vernünftig aus, dachte der Oberleutnant. Er beobachtete Becker, der seine Mütze auf den Tisch legte und den Anorak überzog. „Sieht aus wie neu, Frau Brehmer.“ „Darüber wollen wir lieber nicht sprechen, Rainer.“ Unvermittelt fragte Becker den Oberleutnant: „Mögen Sie etwa Fußball?“ „Selbstverständlich! Wer läßt sich nicht davon begeistern?“ „Ich nicht! Fußball ist roh! Im Fernsehen kann man es 58
oft genug sehen, wie einer, den sie fertiggemacht haben, auf der Trage fortgeschleppt wird. Das ist eine Schande!“ Die Worte Beckers klangen einen Grad zu laut. „Schauen Sie sich gute Spiele an. Da dominiert die Technik. Heute probte in unserer Stadt die Nationalmannschaft. Das war schon sehenswert.“ „Ich sagte schon, Fußball mag ich nicht.“ Der Heizer wandte sich an seine Chefin: „Wenn ich zurück bin, werfe ich noch drei Schaufeln Kohle auf. Dann reicht es für die Nacht.“ Oberleutnant Helm machte einen letzten Versuch. „Es gibt heute eine Menge Möglichkeiten, sich außerhalb der Schule zu betätigen. Für viele Kinder bleiben trotzdem die Fußballer Vorbilder, denen sie nacheifern wollen.“ Rainer Becker schaute zu Helm, dann zu Frau Brehmer. „Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich Sie aufhalte, Chefin. Ich will dem Herrn nur sagen, wie ich das sehe.“ Er zog ein Kuvert aus der Tasche, in dem Bilder steckten, die er aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte. „Sie müßten einmal erleben, wie die Kleinen staunen, wenn ich ihnen erkläre, was auf den Bildern zu sehen ist. Der Fernsehturm in Berlin: Eine Minute braucht der Fahrstuhl, schon ist man oben. Oder hier … Dresden, der Zwinger: Da liegen märchenhafte Schätze, die sich jeder ansehen kann. Leipzig: der große Bahnhof mit den vielen Gleisen.“ Er steckte den Umschlag wieder ein und zog den Reißverschluß des Anoraks hoch. „Ich kenne das zwar selbst nicht, aber ich lese viel. Und darum verschenke ich die Bilder, denn die Kinder können davon lernen. Es müssen nicht immer große Sachen sein, die Freude machen.“ Becker setzte die Mütze auf und verbeugte sich. Ohne sich weiter um Frau Brehmer und deren Besucher zu kümmern, verließ er das Büro. 59
Gleich darauf verabschiedete sich auch der Oberleutnant von der Heimleiterin. „Es klingt alles recht vernünftig, was der Mann erzählt. Trotzdem kann ich verstehen, daß Menschen, die ihn nicht so gut kennen wie Sie, sein Verhalten etwas merkwürdig finden.“ Die Eröffnung des Herbstmarktes galt früher als die Ankunft des Winters. Damals fiel oft schon in den letzten Tagen des Oktobers Schnee. Dann trafen bald die ersten Gäste für Ski und Rodel ein. Diese versäumten trotz aller Sportbegeisterung nie, auf dem Rummel tütenweise den berühmten Schmalzkuchen zu essen und eine Fahrt mit der Achterbahn zu wagen, von deren Höhe aus sich ein imposanter Anblick des Gebirgsmassivs darbot. Manches der alten Jahrmarktromantik hatte sich bis in die heutige Zeit erhalten. Das Schmalzkuchengeschäft florierte noch immer großartig. Der Luftballonverkäufer stand nach wie vor am Eingang und wirkte wie ein Abgesandter aus der am Teufelsstein gelegenen Gnomenhöhle. Neben dem modernen Autoskooter drehte sich nach den Klängen schadhafter Schallplatten ein kleines Karussell, auf dessen Pferdchen, Schwänen, Löwen schon die Großmütter und Großväter als Kinder gesessen hatten. Makus drängte sich ziellos durch die Menge. Die Tombola, wo außer Spielzeug, Weinflaschen und mit Konfekt gefüllte Tassen sogar lebende Gänse als Preise winkten, hatte ihn noch nie interessiert. Auch in das Bierzelt und den Ausschank des echten „Höhlentropfen“ warf er nur einen flüchtigen Blick. Am Kinderkarussell erinnerte er sich, daß Tom im vorigen Jahr kategorisch eine Fahrt abgelehnt hatte, als er ihn auf einen Bären setzen wollte. Der Junge gab erst Ruhe auf der Rakete nebenan. Im Zeitalter der modernen Technik hatten selbst die Kleinsten wenig Interesse für die zerschlissenen Tiere, die meistens ohne Reiter ihre Kreise zogen. Auch heute waren nur die Raumschiffe, Flugzeuge und 60
Motorräder besetzt. Viele Kinder standen dicht gedrängt und hofften, bei der nächsten Fahrt einen Platz zu finden. Betrunkene torkelten vorüber und krakeelten. Zwei junge Männer bahnten sich rücksichtslos ihren Weg, beschimpften und bedrohten die Leute. Das ist schon ein Ort, an dem ein Kind einem solchen Kerl in die Hände fallen kann, ging es Makus durch den Kopf, und er sah sich im gleichen Augenblick bestätigt. Die Burschen hielten ein Mädchen fest, das mit einem kleinen Jungen, wahrscheinlich dem Bruder, vor der Eisbar stand. Das Mädchen blickte sich hilfesuchend um. Die Rowdys störte das nicht. Einer stieß seinen Zeigefinger gegen ihre Brust, der andere lachte laut. Geht denn keiner dazwischen, empörte sich Makus und wollte sich schon einmischen. Plötzlich stand Rainer Becker vor den Krakeelern. Makus erkannte ihn sofort. Er hörte, wie der Heizer schimpfte und die beiden höhnisch lachten. Einer versuchte, Becker zur Seite zu schieben, aber der versetzte ihm eine Ohrfeige, daß er gegen seinen Freund fiel. Nun wollten die zwei gegen den Heizer vorgehen, drehten sich dann aber schnell um und gingen weiter. Eine VP-Streife kam vorüber. Die Burschen liefen dicht an Makus vorbei. „Hattest du Lust zu einer Fahrt im Bullentaxi?“ fragte der größere. „Ich muß heute noch woanders meinen Plan erfüllen, hab’ keine Zeit für eine Freifahrt“, meinte der andere. Eigentlich ist solchen Typen die Tat auf dem Schrottplatz viel eher zuzutrauen als Becker, überlegte Makus, folgte aber trotzdem dem Heizer. Fast am Ende der Verkaufsstände, wo Getränke, Würstchen, Zuckerwatte und Eis angeboten wurden, stand eine Bude, die vom Zahn der Zeit arg angenagt war. Hier wurde mit Bällen auf leere Konservendosen 61
geworfen. Ein alter Mann mit einem Tiroler Hütchen auf dem Kopf, der unentwegt rief: „Wer trifft jetzt schnell bei Wilhelm Tell?“, baute aus den Büchsen Pyramiden, die mit drei Würfen völlig abgeräumt werden mußten. Wer das schaffte, erhielt eine „Jagdtrophäe“ aus Papier. Eine Schar kleiner Jungen wartete schon auf den Heizer. Rainer Becker begrüßte den Wilhelm Tell des Jahrmarktes wie einen alten Bekannten und legte eine Mark auf den Tisch. „Heute wollen wir mal abräumen“, rief er und ergriff drei Bälle. Jedesmal, wenn er einen Volltreffer landete und der Mann hinter dem Tisch rief: „Das ist ein Meisterschuß, wie Wilhelm Tell bekennen muß!“, drückte Becker die gewonnenen Blumen einem Jungen in die Hand. Fred Makus beobachtete, daß der Heizer dabei die Kinder streichelte und auf sie einsprach. Das müßten die Polizisten sehen, wünschte er und fotografierte die Szene mit einer kleinen Kamera, die er immer bei sich trug. Nach einer Viertelstunde gingen die Kinder auseinander. Becker stand allein im Halbdunkel. Langsam zog er sich die Handschuhe an. und stülpte die Kapuze über den Kopf. In der Nähe stritten sich ein paar Halbwüchsige. Als der Lärm heftiger wurde – man diskutierte immer noch über das Fußballspiel – ging Becker zu der Gruppe. Er unterbrach die Streitenden, sagte etwas zu ihnen und zog das Kuvert mit den Bildern aus der Tasche. Doch plötzlich waren sich die Jungen einig. Einer rief laut: „Hau ab, Fatti!“ Die anderen brüllten dazu: „Tempo! Tempo!“ Der Heizer zog sich zurück. Dann setzte er sich auf eine Bank und betrachtete die Zeitungsausschnitte. Selbst die scheinen ihn zu kennen. Sie rufen ihn sogar beim Spitznamen. Fred Makus fand, daß er jetzt An62
haltspunkte genug gefunden hatte, die auch die Polizei nicht beiseite schieben konnte. Helga Bathe ging den langen Korridor entlang, der zu den Diensträumen führte. Bereits auf der Treppe hatte ein Kollege gefragt, ob Rüdiger der Kurzurlaub nicht bekommen sei. Er würde brüllen, daß man es auf der ganzen Etage hören könnte. Die junge Frau öffnete die Tür und sah den Hauptmann in Hemdsärmeln am Fenster stehen. Oberleutnant Helm saß am Schreibtisch und ordnete kleine Karteikarten, die er seinen Wissensspeicher nannte. Rüdiger brummte kurz: „Setzen!“ und nahm den Marsch, den er Sekunden vorher unterbrochen hatte, wieder auf. Kreuz und quer lief er durch den Raum. „Darüber muß Klarheit herrschen, so geht es nicht!“ brüllte er. „Im Heringsladen, an der Museumsmauer, im Friseurgeschäft ‚Flotte Locke‘ …“ „Modische Welle“, korrigierte der Oberleutnant. „Meinetwegen ‚Modische Welle‘! Vor dem Hauptfriedhof, in der Mitropa, Mitropa ist immer im Spiel, wenn es um Verbrechen geht, sogar auf dem Schillerturm wurden angeblich verdächtige Gestalten gesehen. Alles Verrückte!“ „Hinweise aus der Bevölkerung?“ Leutnant Bathe holte aus dem Schrank einen Tauchsieder, um Kaffee aufzubrühen. „Zuschriften an die Zeitung. Und wie wird der Kerl da beschrieben?“ Rüdiger wühlte in den Briefen. „Klein, sogar zwergenhaft. Semmelblond, gepflegte Kleidung. Schwarzhaarig wie ein Italiener, aber mit ausgefransten Hosenbeinen!“ Oberleutnant Helm ergänzte: „Allein siebenundzwanzig Absender zielen auf einen Anormalen.“ Rüdiger wurde plötzlich sachlich. „Wir dürfen uns auf keinen Fall von dem anstecken lassen, was da massiert 63
an uns herangetragen wird. Heute wäre ein Mann beim Fußballspiel beinahe verprügelt worden. Der immer wieder genannte Becker war, soweit Helm das feststellen konnte, nicht im Stadion. Das noch einmal zu diesem Punkt.“ Der Hauptmann legte ein Blatt Papier auf den Tisch. „Bitte, bedient euch. So sehe ich im Augenblick das Problem.“ Auf dem Bogen waren Kreise gezogen. „Wir müssen weiterhin in verschiedenen Richtungen sondieren. Vom derzeitigen Stand ausgehend, in drei. Dabei klammere ich den immer wieder erwähnten kranken Mann zunächst aus.“ „Warum?“ fragte Helge Bathe spontan. Der Dicke ergriff ein Schriftstück. „Die Obduktion hat einwandfrei ergeben, daß an dem Jungen kein Sittlichkeitsverbrechen verübt wurde. Natürlich, ich weiß, was ihr jetzt einzuwenden habt; die krankhafte Veranlagung eines Unbekannten kann trotzdem Ursache für die Tat sein. Anhaltspunkte dafür gibt es jedoch nicht.“ „Ist aber nicht auszuschließen!“ Leutnant Bathe dachte an die Briefe, die Rüdiger eben noch so in Harnisch gebracht hatten. Der Hauptmann blinzelte über die Brillengläser. „Ich hatte gebeten, den Punkt zurückzustellen. Also, wir wissen, daß der Tod infolge eines Schädelbasisbruches eingetreten ist. Verursacht durch einen scharfkantigen Gegenstand. Den haben wir. Einen Basaltbrocken.“ „Ist es nicht doch möglich, daß ein Unfall vorliegt, daß der Junge gestürzt ist? Nach dem Bericht …“ „Sicher, er könnte auch auf den Stein gefallen sein. Aber bestimmt nicht aus purer Ungeschicklichkeit. Im Gesicht des Kindes wurden Schlagverletzungen festgestellt. Abgesehen davon, ist ja wohl kaum anzunehmen, daß er von allein unter den Schrott gekrochen ist. Ein Unfall ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen. 64
Bleibt zu klären, ob es sich um vorsätzlichen Mord oder Totschlag im Affekt handelt. Doch das ist im Moment noch zweitrangig. Zunächst müssen wir erst mal den finden, der sich für das Verbrechen zu verantworten hat. Man kann nach Lage der Dinge davon ausgehen, daß Tatort und Fundort identisch sind. Der Tod trat an dem Tag ein, an dem Tom zum letzten Mal in der Schule gesehen wurde, also am siebenundzwanzigsten Oktober.“ Der Leutnant nickte. „Ja. Wüßten wir nur halb soviel darüber, wie Tom an den Tatort gekommen ist.“ Der Hauptmann klopfte mit dem Kugelschreiber auf das Blatt. „Vielleicht bringt uns das ein Stückchen weiter. Ich sprach eingangs von drei Richtungen, auf die wir uns konzentrieren müssen. Guckt euch das hier an. Damit kein Irrtum aufkommt, die Zahlen vor den Kreisen sagen nichts über die Gewichtigkeit der Verdachtsmomente aus. Um eine gewisse Ordnung herzustellen, bin ich zuerst auf die familiären beziehungsweise privaten Verbindungen eingegangen. Also laßt euch durch die Reihenfolge nicht irritieren.“ An erster Stelle stand dick umrandet: ELTERN UND FAMILIENANGEHÖRIGE. Helga Bathe schien überrascht. „Was spricht denn nun wirklich gegen die Eltern?“ „Nehmen wir uns zuerst den Vater vor: Thomas Schulenberg. Er ist zu seiner Familie zurückgegangen, das ist Tatsache. Damit hat er aber gleichzeitig etwas anderes getan: Er verließ Dorothea Wendler. Diese Heimkehr könnte allerdings ein raffinierter Schachzug gewesen sein, um das Streitobjekt zu beseitigen. Es gibt analoge Fälle, wo etwas vernichtet wurde, nur damit ein anderer es nicht bekommt.“ Oberleutnant Helm klopfte auf den Tisch, um sich bemerkbar zu machen. „Das mag auf ein Haus oder ein Auto zutreffen, aber auf ein Kind?“ Rüdiger klopfte seinerseits. „Lassen Sie sich nicht von 65
Ihren Vatergefühlen überrollen. Die Möglichkeit besteht. Außerdem, vielleicht hat der in Fragen Treue nicht ganz sattelfeste Thomas inzwischen eine neue Eroberung in der Hinterhand.“ „Nun machen Sie aus dem Mann bloß keinen Blaubart!“ Die junge Kriminalistin sträubte sich gegen den Gedanken, daß Unentschlossenheit und Leichtsinn am Ende zu einem Mord geführt haben. Oberleutnant Helm stimmte sofort zu: „Das meine ich auch.“ Solche Allgemeinplätze vertrug Rüdiger nicht. „Was meinen Sie auch?“ „Ich finde es eben absurd …“ „Das hilft uns nicht weiter“, wetterte Rüdiger und fuhr fort: „Ähnliche Gründe könnten auch für die Mutter zutreffen, wobei ich gestehe, daß das wiederum ich nicht recht glaube. Ich räume ein, eine Affekthandlung wäre möglich. Der Junge bekennt sich zum Vater, unbarmherzig und ungeschminkt, so wie Kinder eben sind. Die Mutter tut das, was sie wahrscheinlich vorher nie getan hat, sie schlägt ihn. Da kann es passiert sein. Es fragt sich nur, was wollte sie auf dem Schrottplatz?“ Helga Bathe sah den Hauptmann an, als habe der gerade bekanntgegeben, daß soeben am Teufelsstein eine Saurierherde eingetroffen sei, um dort im Freigehege des Bergzoos Quartier zu beziehen. „Das halte ich aber sehr weit aus dem Hinterkopf geholt! Viel naheliegender wäre die Täterschaft eines Familienangehörigen oder weitläufigen Verwandten.“ Rüdiger nickte. „Zu denen kommen wir jetzt, das heißt eigentlich doch nicht. Es gibt nämlich so gut wie keine. Eltern und Schwiegereltern leben nicht mehr. Herr Schulenberg hat keine Geschwister, die Frau eine Schwester, die mit ihrem Mann zur Zeit in Angola tätig ist. Es gibt da nur Herrn Fred Makus, der den Schulenbergs mehr verbunden ist als die Anverwandten. Und es gäbe für ihn ein Motiv.“ 66
„Nanu!“ sagte der Oberleutnant überrascht. „Da bin ich aber gespannt.“ Helga Bathe wunderte sich nicht weniger. „Makus wird übereinstimmend als langjähriger Freund der Schulenbergs bezeichnet. Ganz exakt ist das jedoch nicht. Ihn verbindet zwar mit Thomas Schulenberg eine lange Freundschaft, die bis in die Schulzeit zurückgeht, aber für Frau Schulenberg empfindet er meiner Meinung nach etwas mehr.“ „Unter uns gesagt, ich finde, der spinnt.“ Helga Bathe wußte, daß ein strafender Blick Rüdigers folgen würde, der sie auch prompt traf. „Makus ist eine Kapazität in seinem Beruf. Man sagt von ihm, daß er mit größter Sorgfalt an seine Arbeit geht.“ „Das stimmt allerdings. Ich habe erfahren, daß er bei den Theaterregisseuren gar nicht gern gesehen ist, weil er immer so viel Zeit für seine Aufnahmen beansprucht.“ Rüdiger knüpfte an das vom Leutnant Gesagte an. „Richtig. Der Mann ist kein Schwätzer, der überlegt gründlich. Wenn er nun geglaubt hätte, daß ein großer Konflikt nur durch einen – wenn auch für ihn selbst schmerzlichen – rigorosen Schnitt gelöst werden kann?“ „Sie meinen, um Entscheidungsfreiheit für die Schulenbergs zu schaffen? Das hieße doch die Kirche anzustecken, um die Orgel zu vernichten!“ „Fred Makus war in Berlin. Laut Auskunft des Festtagsbüros besuchte er an dem fraglichen Tag nachmittags ein Ballett und abends eine Premiere im MetropolTheater. Er hatte dort Pressekarten bestellt. Am Abend zuvor saß er im Palast und anschließend im Operncafé.“ Oberleutnant Helm las aus seinem Wissensspeicher vor. „Du hast vorhin in deiner so unnachahmlich saloppen Art behauptet, daß der Mann spinnt. Vielleicht hast du recht. Berlin liegt nicht aus der Welt. Auf seiner wochenlangen Reise könnte er sich durchaus zu einem Entschluß 67
durchgerungen haben, der diese entsetzlichen Folgen hatte …“ „Das würde bedeuten, er hätte stabsmäßig geplant und das Risiko, in Berlin vermißt, hier wiederum gesehen zu werden, einkalkuliert. Nein, so dumm ist der nicht. Er hätte für die Tat nach seiner Rückkehr günstigere Gelegenheiten gefunden.“ Der Leutnant sagte das mit Nachdruck. Rüdiger knurrte ein kurzes: „Stimmt.“ „Zählen Sie die Wendler zu den Familienangehörigen?“ fragte Helm. „Spaßvogel.“ Rüdiger unterstrich in dem zweiten Kreis DOROTHEA WENDLER. „Die Frau konnte hoffen, daß mit dem Tod des Kleinen das Hindernis zur endgültigen Bindung an Thomas Schulenberg beseitigt ist. Allerdings war auch sie am Tattag nicht hier. Medizinische Untersuchungen in Halle. Aber die fanden vierundzwanzig Stunden vorher statt. Weil sie einen lädierten Fuß hatte, blieb sie dort länger und reiste auch ausnahmsweise nicht mit dem Auto, sondern per Reichsbahn.“ „Das ist einwandfrei bestätigt.“ Helm war in Halle gewesen, um die Angaben des Mannequins zu überprüfen. „Richtig! Trotzdem setze ich ein Ausrufungszeichen hinter ihren Namen.“ „Warum?“ wollte die Bathe wissen. „Ihr habt zwar festgestellt, daß beim Kraftverkehr Halle an diesem Tag keine Taxe für eine Fahrt in unsere Gegend gebucht wurde, aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Für sie trifft das nicht zu, was du vorhin zu Makus gesagt hast. Wäre die Wendler hier gesehen worden, was täte es? Allein aus ihrer Anwesenheit in der Stadt zur Tatzeit ergäbe sich in ihrem Fall noch lange kein Verdachtsmoment. Sie wäre eben, wie ursprünglich geplant, am gleichen Tag zurückgekommen.“ „Außerdem“, meldete sich Helm zu Wort, „stellt sich doch die Frage, wie sie es geschafft haben könnte, den 68
Jungen zum Schrottplatz zu bringen. Oder hat jemand dafür eine plausible Erklärung?“ Rüdiger überlegte. „Nein, das habe ich nicht. Trotzdem … wie oft haben wir schon überraschende Wendungen erlebt!“ „Mehr als einmal.“ Helm hatte gerade notiert: In Halle nach Privattaxen erkundigen. „In den dritten Kreis müßte ich eigentlich solche Personen setzen, die wegen ähnlicher Gewaltverbrechen bereits in Erscheinung getreten sind. Da habt ihr aber Fehlanzeigen gemeldet. Trotzdem sollten wir, um absolut sicher zu gehen, alle erfaßten Touristen überprüfen. Doch die nehme ich jetzt hier nicht auf. Als nächstes kommen also KONRAD UND KUNDEN an die Reihe. Wobei wir gar nicht genau wissen, wer außer denen, die der Suffkopp uns nannte, noch zu der Gilde gehört.“ „Motiv?“ fragte Helm lakonisch. „Falls der Junge aus eigenem Antrieb den Schrottplatz aufsuchte, ist nicht auszuschließen, daß er Zeuge der dort üblichen dunklen Geschäfte wurde. Sicher, Tom verstand von diesen Dingen absolut nichts, aber einer der Gauner kann in Panik geraten sein. Wir kennen ja das Ausmaß der Schiebereien noch gar nicht. Warum soll da einem Beteiligten nicht die Sicherung durchgebrannt sein? Vielleicht warf er nur mit dem Stein, vielleicht schlug er auch gleich zu.“ „Dann käme in erster Linie Konrad ins Gespräch. Bei seiner Dauertrunkenheit muß er ja die Kontrolle über sich längst verloren haben! Das ist übrigens unsere Version.“ Helga Bathe hielt viel von dieser Auslegung, denn sie sträubte sich dagegen, daß die Menschen, deren Namen im ersten und zweiten Kreis standen, zu solchem Verbrechen fähig sein sollten. Der Hauptmann kannte die junge Frau genau. Er wußte, daß sie mitunter noch sehr gefühlsbetont an die Probleme heranging. 69
„Es wäre eine Möglichkeit. Meiner Meinung nach nicht die naheliegendste. Da stehen nun einmal ganz oben auf dem Blatt andere Namen.“ „Muß man heutzutage ein Kind töten, wenn man sich aus einer Ehe lösen will?“ wandte Helm ein. Der Leutnant kam in Fahrt. „Eben nicht! Wo leben wir denn! Ich finde, manche Ehe wird viel zu früh geschieden. Ich kenne genug Beispiele, wo Menschen aus nichtigem Anlaß auseinandergingen. Und das mit dem Segen eines Richters, der ein Stockwerk höher sitzt als der Standesbeamte, der sie vor gar nicht langer Zeit traute.“ „Wer bleibt also?“ beendete Rüdiger die Diskussion. „Vielleicht doch ein Unbekannter oder … der kranke Mann!“ Helga Bathe war nicht einverstanden, daß der Hauptmann die Hinweise auf diese Person so konsequent zur Seite schob. Sie versuchte noch einmal, ihre Meinung zu sagen. „Becker hat ein ganz schwaches Alibi. Arbeit im Kohlenkeller.“ Der Oberleutnant erhob Einspruch. „Seine Chefin hat es bestätigt.“ „Die wird nicht den ganzen Vormittag neben ihm gestanden haben, während er schippte! Wer von uns kann sich denn in die Gedankenwelt eines solchen Mannes hineinversetzen?“ „Ich bin sicher, der Mann ist nicht geistesgestört!“ „Das kann man doch nicht aus einem Gespräch schlußfolgern“, widersprach Leutnant Bathe. „Warum denken denn so viele Leute an ihn, wenn sie ihre Kombinationen zu dem Fall anstellen? Könnten wir seinen Zustand genau analysieren, fänden wir vielleicht einen Grund, der überzeugender ist als die möglichen Motive der Leute, deren Namen wir auf diesem Zettel notiert haben.“ „Schluß!“ entschied der Hauptmann. „Ich bin kein Orakel und du nicht die Pythia. Wir werden uns an kompetenter Stelle erkundigen.“ 70
Die junge Frau gab sich nicht geschlagen. „Ich bin nicht verbohrt und behaupte, der und kein anderer …“ „Schluß, habe ich gesagt. Wirst du endlich den Kaffee eingießen!“ brummte der Hauptmann. „Der steht vor Ihnen.“ Freundlich klang das nicht. „Verdammt, ist das Gesöff heiß!“ polterte Rüdiger und blies auf seine Finger, die einen Spritzer abbekommen hatten. „Manches wird eben doch so heiß gegessen beziehungsweise getrunken, wie es gekocht wird“, sagte Helga Bathe schadenfroh und gab jedem eine Mohnschnecke. Rüdiger biß gierig in das Gebäck, stutzte und sprang auf. „Habe ich dich zum Klempner geschickt oder zum Bäcker?“ „Der Bäcker hat seinen Laden im selben Haus“, erklärte der Leutnant ungerührt. „Und der Uhrmacher nebenan lobte den Kuchen des Nachbarn.“ Im gleichen Augenblick läutete das Telefon. „Ich will jetzt nicht gestört werden“, sagte der Hauptmann. Oberleutnant Helm nahm den Hörer ab. „Der Fotograf! Er ist pünktlich, wie wir sehen.“ Kurz darauf klopfte es. „Unser Maigret“, flüsterte Leutnant Bathe. „Männer, keep smiling, gleich flammen die Blitzlichter auf.“ Helm fragte schnell: „Bleibt er im ersten Kreis?“ „Natürlich, aber nun herein mit ihm.“ Makus begrüßte die Kriminalisten und eröffnete ohne Umschweife das Gespräch. „Etwas Neues?“ fragte er. Verblüfft sah Rüdiger auf den Besucher. „Ich habe Sie nicht hergebeten, damit wir Neuigkeiten austauschen. Wenn Sie allerdings etwas wissen, dann rücken Sie gleich damit heraus.“ „Es wird viel geredet und geklatscht, aber das, was ich da vom Fußballplatz hörte, scheint ganz wichtig zu sein.“ 71
Rüdiger nahm sich Zeit. Er trank seinen Kaffee und reichte dem Leutnant die Tasse zurück. „Was haben Sie denn gehört?“ „Ein Bekannter erzählte von einem Kerl …“ „Bitte“, sagte Rüdiger, „bitte, präzise Angaben!“ „Da soll einer Kinder belästigt haben. Das scheint festzustehen.“ „Es steht überhaupt nichts fest. Wenn Sie sagen würden, der Schiedsrichter wurde belästigt, würde ich es sofort glauben. Ich kenne das Temperament unserer Experten. Im übrigen bin ich der Meinung, guten Fußball kann man in unserer Gegend nur am Bildschirm erleben. Also wollen wir uns lieber erst gar nicht auf den grünen Rasen begeben.“ Makus nickte zustimmend. „Ich bin ganz Ihrer Meinung. Fußball interessiert mich ohnehin nicht besonders. Wenn schon Sport, dann Tennis. Ich habe mit Thomas Schulenberg zusammen einige Jahre gespielt. Der war mal ganz gut. Mit ein bißchen mehr Ehrgeiz hätte er es weit bringen können. Aber Thomas reizte eigentlich nur die Exklusivität der Sache. Er hatte schon immer eine Schwäche für das Besondere. Als wir damals in der Schulzeit …“ „Interessant“, meinte der Hauptmann. „Kann man das vielleicht auch auf das Verhältnis zu Fräulein Wendler beziehen?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Das Mannequin ist eine äußerst attraktive Erscheinung und fällt auf.“ Der Fotograf rieb sich das Kinn. „Wer hat keine Schwächen? Ich zum Beispiel kann mich immer wieder an meinen besten Fotos begeistern. Die hängen an einer Wand in meiner Wohnung. ‚Ruhmeshalle‘ nenne ich das Zimmer. Sicher gibt es ähnliches auch bei Ihnen?“ „Klar“, bestätigte Rüdiger. „Ich esse gern.“ „Da passen wir zusammen. Ich esse auch gern … gut.“ 72
Der Hauptmann schlug einen Aktendeckel auf. „Sie sagten selbst, daß Sie seit langem freundschaftliche Beziehungen zu den Schulenbergs pflegen und auch guten Kontakt zu dem Jungen hatten. War Toms Fortlaufen nicht vielleicht doch eine Flucht aus dem Elternhaus?“ „Ja, ist das denn bewiesen?“ „Es ist lediglich eine Vermutung. Deshalb würde mich Ihre Antwort interessieren.“ „Denken Sie ja nicht, daß die Ehe der Schulenbergs nur aus Krach und Kopfeinschlagen besteht. Mitnichten. Es fällt kaum mal ein lautes Wort zwischen den beiden. Natürlich gab es Spannungen. Die Affäre zwischen Thomas und der Wendler ist ein beredter Beweis dafür. Aber ich glaube nicht, daß Tom das gemerkt hat. Der Junge liebte seine Eltern. Und er hatte außerdem noch mich.“ Der Hauptmann machte sich eine Notiz. Makus hätte gern gewußt, was Rüdiger so bemerkenswert fand, um es aufzuschreiben. Er konnte jedoch nichts entziffern. Er überlegte, wie er dem Gespräch eine Wendung geben konnte – in eine Richtung, die von den Schulenbergs wegführte. Schließlich fragte er: „Läßt man eigentlich diesen Konrad völlig unbehelligt? Ich erinnere mich, daß sogar schon in der Presse die Mißstände auf dem Schrottplatz kritisiert wurden. Die gehen doch einwandfrei auf das Konto des Platzverwalters.“ „Eigentlich wollten wir mit Ihnen über Tom reden …“ Rüdiger schrieb noch immer, und das beunruhigte Makus. Endlich legte er den Stift beiseite und sagte: „Also zurück zum Thema. Wir haben zwar die Eltern befragt, doch daß in dieser Situation kein objektives Urteil zu erwarten ist, liegt auf der Hand. Wie war Tom eigentlich? War er jähzornig oder ausgeglichen, temperamentvoll oder scheu? Wurde er verzogen, wie das bei Einzelkindern nicht selten der Fall ist?“ „Natürlich war zu merken, daß er allein aufwuchs. Er hatte ein großes Bedürfnis, andere Leute kennenzuler73
nen. Jeder neue Spielfreund wurde zum Erlebnis. Wenn Handwerker kamen, wich er ihnen nicht von der Seite. Der Briefträger war für ihn der Größte. Im letzten Sommer habe ich ihn beobachtet und fotografiert, wie er dem Scherenschleifer, entschuldigen Sie den Ausdruck, ein Loch in den Bauch fragte.“ Makus stand auf und trat an das Fenster. Hauptmann Rüdiger wartete einen Augenblick. „Ist Ihnen nicht wohl? Brauchen Sie frische Luft?“ Makus schüttelte den Kopf und kam zum Schreibtisch zurück. „Mir ist bei meinen Worten nur klargeworden, wie leicht es dem Täter gefallen sein muß, Tom anzulocken.“ Der Kriminalist deutete mit einer Handbewegung an, daß der Fotograf wieder Platz nehmen sollte. „Es gibt immerhin Unterschiede zwischen diesem überall bekannten Scherenschleifer und Stadtunikum Opa Kreutzer und … nennen wir völlig unverbindlich einen Namen … solchem ständig betrunkenen Schmutzfinken wie Konrad.“ „Aber der Junge wußte doch, daß es bei Konrad einen alten Omnibus gibt!“ Jetzt stand, vielmehr sprang Rüdiger auf. „Das sagen Sie bitte noch einmal! Was war mit einem Omnibus?“ „Auf dem Schrottplatz steht ein ausrangierter Bus. Tom betrachtete ihn als sein Eigentum. Ich weiß es seit heute.“ „Von wem?“ „Von der Mutter eines ehemaligen Schulkameraden. Tom hat bei einem Besuch dort mit dem Vehikel geprahlt.“ „Heute haben Sie das erfahren?“ Der Fotograf rückte die Krawatte zurecht, strich sich über das Haar. „Durch einen Zufall.“ Er sagte es fast entschuldigend. „Von Frau Franziska Anstett. Sie wohnt am Hainberg sechs.“ Helga Bathe notierte die Anschrift. 74
Der Hauptmann blätterte im Protokoll. Nach einigen Sekunden hatte er gefunden, was er suchte. „Hören Sie bitte zu. Frau Schulenberg sagte uns, Tom hätte mal von einem Geheimnis gesprochen. ‚Onkel Makus und ich haben ein großes Geheimnis! Ihr werdet Weihnachten staunen!‘ Könnte er damit den Omnibus gemeint haben? Haben Sie ihm vielleicht, natürlich im Scherz, diesen Bus als Weihnachtsgeschenk versprochen?“ Makus sah den Hauptmann erschrocken an. „Um Himmels willen, nein. Vom Schrottplatz hat er mir kein Wort erzählt. Das Geschenk, das er von mir bekommen sollte, liegt schon lange in meinem Schreibtisch: eine kleine, aber doch recht gute Kamera. Jetzt fällt mir allerdings etwas ein. Vor meiner Reise sagte ich Tom, ich würde ihn zu meinem Assistenten ausbilden, sobald ich zurück bin. Und zu Weihnachten könnte er seine Eltern dann mit selbstgeschossenen Fotos überraschen. Er war sehr traurig, weil ich so lange fort sein würde, und ich wollte ihn damit trösten.“ Der Hauptmann lächelte. „Schon Nachwuchswerbung für Ihren Beruf?“ „Fürs Fotografieren interessierte er sich. Kein Wunder, er hat mir ja oft genug dabei zugesehen.“ „Gut.“ Rüdiger legte das Protokoll beiseite. „Für den Hinweis sind wir Ihnen dankbar. Sie entwickeln sich tatsächlich zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz für uns, Herr Makus! Wenn Sie in Ruhe nachdenken, wird Ihnen bestimmt noch mehr einfallen. Uns interessiert alles, was Tom betrifft.“ „Wie wär’s“, sagte der Fotograf spontan, „wie wäre es, wenn Sie bald einmal in meine Wohnung kommen? Ich habe unzählige Fotos von dem Jungen in den unterschiedlichsten Situationen. Mein Gott, wie viele Meter Film habe ich von dem Kind belichtet!“ Im Zimmer war es kühl geworden. Der Hauptmann zog sich seine Jacke über. Helga Bathe schaltete die De75
ckenbeleuchtung ein und schloß die Vorhänge. Der Fotograf zündete sich eine Zigarette an. Obgleich Makus keineswegs den Eindruck hatte, daß es sich bei diesem Gespräch um ein Verhör handelte, wünschte er, er könnte den Raum bald verlassen. Hier sah es nicht anders aus, als in allen Verwaltungsräumen, trotzdem empfand er die Umgebung bedrückend. Daß man auf die Idee gekommen war, ihn mit Toms Omnibus in Verbindung zu bringen, hatte ihn doch, wie er selbst merkte, ein bißchen aus der Fassung gebracht. Er war froh, daß er wenigstens in der Lage war, Toms „Geheimnis“ zu deuten. Aber glaubte man ihm überhaupt? Er fragte sich unwillkürlich, wie viele Menschen schon auf seinem Stuhl gesessen hatten, um sich für ein Vergehen zu verantworten. Hauptmann Rüdiger unterbrach die Gedankengänge des Fotografen. „Wenn es bei Ihrem Freund Schulenberg …“ „Entschuldigen Sie“, fiel ihm Makus ins Wort, „ich kann Ihnen zwar keine Vorschriften machen …“ „Nein“, Rüdiger nickte bekräftigend, „das können Sie nicht. Doch, wie ich schon bemerkte, für jeden Hinweis sind wir dankbar. Aber was wollten Sie noch sagen?“ Man merkte es Makus an, daß er nach Worten suchte, bevor er weitersprach. „Eigentlich wollte ich mich ja dazu nicht äußern. Besonders bei Namen bin ich vorsichtig. Aber es gibt einen gewissen Rainer Becker. Er arbeitet im Ferienheim der Sächsischen Wirkwaren … Haben Sie schon von ihm gehört?“ „Wir kennen ihn.“ „Viele bringen den Mann mit der Tat in Verbindung. Ehrlich gesagt, ich finde sein Verhalten Kindern gegenüber auch recht ungewöhnlich.“ Rüdiger sah zu Leutnant Bathe. „Haben wir für unseren Gast noch einen Kaffee?“ Makus lehnte jedoch ab. Er erklärte, daß er nach dem Mittagessen keinen Kaffee mehr trinken würde. 76
Der Hauptmann lächelte. „Nerven?“ „Das Herz. Es macht mir schon manchmal Schwierigkeiten. Um noch einmal Becker zu erwähnen …“ Rüdiger wischte mit der Hand über die Schreibtischplatte. „Sie haben einen schönen Beruf. Wo es interessant ist, sind Sie dabei. Andere müssen Reisen teuer bezahlen, Sie bekommen dienstlich Winkel unserer Erde zu sehen, an die der Normalverbraucher niemals geführt wird. Oder die Berliner Festtage! Wir erleben einen Abklatsch im Radio oder Fernsehen, Sie haben alles original. Wunderbar!“ „Ach …“, der Fotograf winkte ab, „so, wie Sie sich das vorstellen, ist es auch nicht. Jeder Beruf hat seine Vorzüge und seine Schattenseiten. Natürlich sehen wir viel, dafür haben wir auch wenig Ruhe. Und irgendwann kommt bei jedem einmal der Tag, an dem er seine Füße unter einen gedeckten Tisch stecken möchte.“ Rüdiger stimmte ihm zu, das heißt, er nickte wieder mehrmals. Dabei malte er unentwegt Buchstaben auf ein Blatt Schreibmaschinenpapier. „Sie haben mich vorhin unterbrochen. Wenn es bei Ihrem Freund Thomas Schulenberg eine Dorothea Wendler gab, existierte bei Renate Schulenberg vielleicht ein männliches Pendant?“ „Ich glaube, das müßte ich wissen“, entgegnete der Fotograf abweisend. „So?“ fragte Rüdiger und faltete die Hände über dem Bauch. „Sie kennen Renate nicht, sonst hätten Sie solche Frage gar nicht gestellt“, beteuerte Makus. Der würde mir jetzt am liebsten eine kleben, dachte Rüdiger. Er klopfte dem Fotografen beruhigend auf die Schulter. Dann zerriß er das bekritzelte Blatt und stand auf. „Das war alles, was ich von Ihnen hören wollte.“ „Alles?“ Makus sah den Kriminalisten verständnislos an. „Warum interessieren Sie sich nur für die Schulen77
bergs? Renate, Thomas, Thomas, Renate! Was werfen Sie denen eigentlich vor?“ Rüdiger blickte erstaunt auf. „Den Eindruck hatten Sie von unserem Gespräch?“ „Den! Keinen anderen! Meine Freunde sind die Leidtragenden, oder wie Sie das nennen. Bei allem, was an der Ehe der beiden zu kritisieren wäre, man sollte sie doch endlich in Ruhe lassen. Gibt es denn gar keine anderen Personen, die bei Ihren Ermittlungen berücksichtigt werden müssen?“ „Können Sie sich nicht vorstellen, daß der Weg zu denen möglicherweise über die Eltern des getöteten Kindes führt?“ Fred Makus stand auf, knöpfte den Mantel zu. „Wahrscheinlich meinen wir doch das gleiche.“ „Sicher“, bestätigte Rüdiger und gab dem Fotografen die Hand. Makus verabschiedete sich von den beiden anderen Kriminalisten mit einem knappen Kopfnicken. „Ich werde weiter nachdenken“, sagte er zu Rüdiger, als er zur Tür ging. „Tun Sie das. Oberleutnant Helm wird Sie bis an die Wache begleiten.“ Sobald der Fotograf das Zimmer verlassen hatte, stöhnte Helga Bathe laut: „Uff“, ging an das Fenster und zog den Vorhang zurück. Sie wartete, bis Fred Makus auf die Straße trat. „Sehr eilig scheint er es nicht zu haben. Ich möchte gern wissen, wo der mit den Gedanken ist.“ „Bei den Schulenbergs, wo sonst. Vor allem bei Renate. Er himmelt die Frau an und ist damit als Informant nicht sehr ergiebig. Wichtig war tatsächlich nur das, was er über den Omnibus sagte.“ Der Hauptmann überflog bei seinen Worten noch einmal die Aufzeichnungen. „Den gibt es tatsächlich“, bemerkte der Leutnant. „Womit erwiesen ist, daß eine Beziehung Toms zum 78
Schrottplatz bestand. Trotzdem bleibt im dunkeln, wie der Junge am Freitag dorthin kam.“ Der Oberleutnant meldete sich zurück. „Alles hat der uns nicht gesagt. Noch auf der Treppe war er so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er beinahe gestürzt wäre.“ „Das glaube ich gern“, meinte Rüdiger und polterte dann unvermittelt heraus: „Nun will ich endlich wissen, was du bei dem Klempner erreicht hast!“ „Klempner?“ Die junge Frau lachte. „Männer, der ist gar kein Klempner. In der ganzen Fleischergasse gibt es keinen Klempner. Aber ein Herr Franz ist dort ansässig. Klein, schwammig, pomadiges Haar, etwa vierzig Jahre. Geschieden ist er auch. Seine Wohnung gleicht einem Ausstellungsmuster auf der Leipziger Messe. Aus dem eingebauten Kühlschrank, der Hausbar, bot er mir einen Schnaps an, dessen Preis jedes Interhotel als Wucher ablehnen würde. Farbfernseher aus dem Intershop, Stilmöbel, die vom staatlichen Antiquitätenhandel stammen sollen. Kurz, Franz ist Bienenzüchter. Ich weiß …“, Helga Bathe stoppte mit einer Handbewegung den Oberleutnant, der etwas sagen wollte, „ähnliches hatten wir schon. Die Bienen hält er bei seinem Bungalow, wie er mir erklärte. Er schwingt aber auch die Maurerkelle auf freischaffender Basis. Außerdem verlegt der Wunderknabe Wasserrohre beim Datschenbau, repariert Leitungsbrüche und mauschelt bestimmt an Gasgeräten herum.“ Der Hauptmann unterbrach den Leutnant. „Welchen Beruf übt er tatsächlich aus? Irgendein Feigenblatt muß es doch geben?“ „Gibt es! Aber lachen Sie nicht. Herr Franz ist Außenassistent bei der Konzert- und Gastspieldirektion. Eine Tätigkeit, die nicht viel Zeit erfordert, wie er mir. sagte. ‚Man muß nur die richtigen Pferdchen an der Leine halten‘, lautet sein Erfolgsrezept.“ „Das Klempnermaterial bezieht er von Konrad?“ 79
„So ist es. Er behauptet, es wären legale Geschäfte. Tatsächlich besitzt der Knabe Quittungen, die Konrad unterschrieben hat. Allerdings nicht im Namen des Betriebes.“ „Was hast du über seinen Aufenthalt an dem bewußten Freitag erfahren?“ „Er gab sofort zu, auf dem Schrottplatz gewesen zu sein, um einen Hahn abzumontieren. Genau das, was Konrad sagte. Und Franz war nicht allein dort. Es existiert da ein Oldtimerfan, der ein Trittbrett suchte. Franz hatte sich mit ihm verabredet, um ihm die Stelle zu zeigen, wo geeignetes Material liegen könnte. Dieser Mann kann bezeugen, so Franz, daß er mit seinem Shiguli zum vereinbarten Zeitpunkt am Platz eintraf, dort den Gashahn abschraubte, dann den anderen ‚einwies‘ und wieder abbrauste. ‚Wie die dressierten Affen Fölschis!‘ Das war noch ein Originalzitat.“ „Der Oldtimerfan?“ „Blieb dort.“ „War also vor und nach Franz da?“ „Ja. Er scheint die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt zu haben. Beschäftigt ist dieser Herr mit dem Namen Ernst Anders als Geologe bei Erdgas Leipzig, genauer gesagt, im hiesigen Betriebsteil. Heute war er unterwegs, kommt abends zurück. Anders wohnt mit seiner Schwester und deren Tochter zusammen. Die Frau pflegt zur Zeit eine schwerkranke Tante in einem Ort irgendwo hinter Wittenberg. Der Mann versorgt die kleine Nichte, an der er ohnehin Vaterstelle vertritt. Seine große Schwäche scheinen Frauen zu sein. Die müssen auf ihn wirken wie ein Ferienplatz von Hiddensee auf Urlauber. Aber das ist schließlich nicht strafbar, sonst müßten wir neunzig Prozent aller Männer einsperren, und ich wäre hier Chef!“ „Wann ist er wieder da?“ „Gegen zwanzig Uhr.“ „Wo bleibt das Kind solange?“ 80
„Bei der Nachbarin, das ist alles geregelt und in Ordnung.“ Am Telefon wurde Leutnant Bathe verlangt. „Wenn ich es richtig verstanden habe, ist es die ‚Dollybar‘ “, meinte Helm, der das Gespräch angenommen hatte. „Das muß ein Irrtum sein“, flüsterte die Bathe, bevor sie sich meldete. Es war kein Irrtum. Die Männer lachten, als aus dem Hörer ein Geschnatter ertönte, das der Leutnant trotz aller Bemühungen nicht zu stoppen vermochte. „Bestimmt der Klempner“, behauptete Rüdiger und grinste, als er die Bathe ins Telefon schreien hörte: „Nun halten Sie doch endlich die Luft an!“ Es klang wie ein Befehl und wirkte. Sie kam endlich zu Wort. „Ich kenne keinen Conny Zimmer … ich kenne überhaupt keine Popstars … nein … das geht nicht! Wenn es sehr wichtig ist, erwarten wir Sie hier … dann bei Ihnen … ja! Ende!“ Sie legte den Hörer auf und ließ sich in einen Sessel fallen. „Das Universalgenie? Einladung zum Barbesuch …“ „Ungefähr. Er hätte noch etwas mitzuteilen, was uns interessieren würde. Momentan ist Franz unabkömmlich. In der ‚Dollybar‘ tritt heute der Popstar …“ „Conny Zimmer. Den Namen kenne ich durch meine Kinder.“ Der Oberleutnant kam der Kollegin zu Hilfe. „Ja. Also, der tritt heute auf, ist aber noch nicht da. Da Franz ihn gemanagt hat, muß er warten, bis er eintrifft. Dabei kamen ihm wahrscheinlich die klugen Gedanken. Kurz … wir haben uns geeinigt und einen Treff in seiner Wohnung vereinbart.“ Der Hauptmann verzog sein Gesicht. „Der Kerl will sich interessant machen, das ist alles. Aber hin müssen wir. Außerdem wäre dieser Anders aufzusuchen, den übernehmen Sie, Helm.“ 81
Der Oberleutnant notierte sich die Anschrift des Geologen. Rüdiger zog inzwischen ein erstes Resümee. „Von den uns bekannten Personen, die am Freitag auf dem Schrottplatz waren, bleiben Franz und Anders am interessantesten.“ „Vergessen Sie Konrad nicht“, erinnerte der Oberleutnant. „Konrad, selbstverständlich. Bloß … nach wie vor kann ich mir nicht denken, daß Tom gerade ihm gefolgt ist, der doch absolut kein Vertrauen einflößt.“ „Gefolgt? Makus bestätigte, daß der Junge überall Abenteuer witterte. Damit könnte Konrad der Mann für ihn gewesen sein, der über die Schätze des Schrottplatzes und den alten Bus verfügte. Denken Sie daran, was der Fotograf über die Interessen des Kleinen sagte. Dann reimt sich einiges zusammen.“ Auch der Leutnant stimmte dem zu. Rüdiger hatte bereits seinen Schreibtisch aufgeräumt, er schloß die Schubladen ab. „Gut. Konrad ist vorbestraft. Welche Delikte waren das? Trunkenheit am Steuer eines Fahrzeuges, sprich Moped. Dann Sachbeschädigung unter Alkoholeinfluß, da hat er die Scheibe eines Miederwarengeschäfts eingeschlagen und den davorstehenden Mandelbaum mit Damenwäsche dekoriert; Zechprellerei. Und nun kommen sicher noch Unterschlagung, Hehlerei dazu. Ansehnlich, aber nicht passend zum Bild eines Mörders oder Totschlägers!“ Helga Bathe malte mit einem Finger drei Kreise in die Luft. „Tatsache ist, alle Motive der bisher von uns erfaßten Personen sind absolute Spekulationen, aber auch die Alibis sind zu erschüttern. Aus diesem Grund muß ich noch einmal auf Becker zurückkommen …“ Der Hauptmann zog wortlos sein Notizbuch aus der Tasche und legte es aufgeklappt vor seine Mitarbeiterin. „Da, lies, damit du endlich Ruhe gibst!“ „Fachkrankenhaus Fichtenhain?“ 82
„Dort war Becker schon ein paarmal zur Behandlung. Ich bin überzeugt, die Ärzte werden uns Auskunft über den Heizer geben können, unbeeinflußt von Klatsch und Hysterie.“ Helm hob warnend den Finger. „Kennen Sie den Slogan: ‚Wirste nicht gehorsam sein, kommste gleich nach Fichtenhain‘? Makaber, aber das haben wir als Kinder tatsächlich gesungen.“ Rüdiger nahm den Mantel aus dem Schrank und gab der jungen Frau einen leichten Klaps auf die Schulter. „Siehst du, so ist das. Darum fährst du jetzt auch mit.“ Fichtenhain lag zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt. Offiziell hieß die medizinische Einrichtung dort „Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie“. Leutnant Bathe saß am Steuer des Wagens. Gewöhnlich fuhr der Hauptmann selbst, heute hatte er die junge Frau darum gebeten. Er wollte noch verschiedene Berichte lesen. Das ehemalige Jagdschloß Fichtenhain wurde um die Jahrhundertwende als „Heil- und Pflegeanstalt für Gemüts- und Nervenkranke“ eingerichtet. Nach und nach gruppierten sich um das Schlößchen mehrere kleine Bettenhäuser für Patienten. In den sechziger Jahren wurde die Anlage rekonstruiert und auch der Park in seinen ursprünglichen Zustand versetzt. Schloß und Gebäude erhielten hinter renovierten Fassaden moderne Behandlungsräume. In einem Neubau, der abseits bei den Wirtschaftsgebäuden lag, zogen Röntgenabteilung und Labor ein. Das Schlößchen blieb Mittelpunkt der ganzen Anlage. Es enthielt Beschäftigungsräume, Lesezimmer, einen Musiksalon und den Saal. Hier aßen die Patienten, hörten Konzertveranstaltungen, literarische Abende wurden durchgeführt und Filme gezeigt. „Ob wir jetzt überhaupt noch reingelassen werden?“ 83
Helga Bathe hatte nie in Fichtenhain zu tun gehabt und kannte die dortigen Gepflogenheiten nicht. „Wichtiger ist es, wieder rauszukommen, Mädchen!“ Das Auto hielt vor der Freitreppe am Schlößchen. Die Kriminalistin sah sich interessiert um. „Das soll eine Nervenklinik sein? Habe ich mir eigentlich anders vorgestellt.“ Rüdiger, der kein Freund langer Fahrten war, reckte sich in der Abendluft und machte ein paar Kniebeugen. „Chef! Mehr Respekt! Hier wandelte schon Goethe.“ „Na und? Woher weißt du das überhaupt?“ „Da steht’s.“ Helga Bathe zeigte auf eine Bronzetafel mit der Aufschrift: HIER WEILTE JOHANN WOLFGANG VON GOETHE WÄHREND SEINER HARZREISE IM JAHRE 1777. Hinter einer Doppeltür lag eine kleine Halle mit einem plätschernden Zimmerspringbrunnen. Die Kriminalisten hörten Musik und gingen in die Richtung, aus der die Klänge kamen. Im Saal saßen Patienten und lauschten dem Spiel eines Bläserquintetts. Auf der Bühne brannten Kerzen. Es war sehr feierlich. Dann trat ein etwas beleibter Herr auf und verkündete, er wäre der Knab’ vom Berge. „Kehrt!“ flüsterte Rüdiger. „Hier sind wir falsch.“ In der Halle wandten sie sich der anderen Seite zu. Über dem Schalter einer Tür hing das Schild: Anmeldung. Rüdiger klopfte an das Fenster. Gleich darauf zeigte sich das freundliche Gesicht eines Fünfzigjährigen, das sich auch nicht veränderte, als der Hauptmann sein Anliegen vortrug. Er wünschte den Chefarzt zu sprechen. „Bitte, kommen Sie herein“, forderte der Mann die Besucher auf und stellte sich vor: „Direktor für Ökonomie und Planung, Wedekind.“ „Schöner Titel, berühmter Name“, sagte Rüdiger mit leicht ironischem Unterton, doch das schien den anderen nicht zu stören. 84
„Mit dem genialen Frank bin ich nicht verwandt, aber trotzdem ein großer Verehrer von ihm.“ Rüdiger und seine Begleiterin sahen sich um. Angefangen von den in Blei eingefaßten Scheiben über einen Kamin, den Kerzenhalter an der Wand bis zu den Lutherstühlen wirkte der Raum leicht angestaubt. Ein Eindruck, den die Attribute der Neuzeit, das Telefon auf dem mit Intarsien geschmückten Tisch und der verschämt in eine Ecke gedrängte Panzerschrank, nicht mindern konnten. Wedekind bot Zigaretten an und fragte: „Ein Bierchen?“ „Nichtraucher, die motorisiert sind“, brummte der Hauptmann. Wedekind drückte Helga Bathe und Rüdiger ein bedrucktes Blatt in die Hand. „Unsere Kurordnung. Der Herr Obermedizinalrat hat sie gerade überarbeitet. Er schreibt auch die Geschichte des Schlößchens. Ist Ihnen bekannt, daß schon Goethe hier weilte? In diesem Raum hat er geschlafen. Bis auf das Bett ist noch die gesamte Ausstattung vorhanden. Herr Obermedizinalrat achtet sehr darauf, daß alles erhalten bleibt. Kennen Sie das herrliche Gedicht von Frank über das Goethezimmer? Wenn Sie’s interessiert, suche ich es heraus.“ Helga Bathe setzte ein höfliches Lächeln auf. „Können Sie bitte Ihren Chef über unsere Anwesenheit unterrichten?“ Wedekind rührte sich nicht. „Der Herr Obermedizinalrat läßt sich ungern stören. Es sei denn, es handelt sich um Belange der Patienten. Unser Chef trägt, was bezeichnend für ihn ist, den Kugelschreiber und das Stethoskop stets in einer Tasche!“ „Treffen wir ihn eine Treppe höher?“ Rüdiger hatte sich erhoben, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Wedekind ergriff den Telefonhörer, mahnte jedoch vor85
her: „Vom medizinischen Standpunkt aus ist die Hast der Vater vieler Leiden. Frank nannte sie einmal Kilometereuphorie!“ Das Gespräch des unverändert freundlichen Mannes mit dem ärztlichen Direktor dauerte nicht lange. „Der Herr Obermedizinalrat wird Sie gleich empfangen. Er bittet Sie, in der Halle auf ihn zu warten.“ Dann führte er die Kriminalisten hinaus. Rüdiger lief hin und her. „Also warten wir.“ Helga Bathe entnahm den Worten, die aus dem Saal wohltönend herüberklangen, daß mit Pfeil und Bogen der Schütz gekommen war. Danach kam, nein, schritt die Treppe herab der Herr Obermedizinalrat, ein Mann, der gewiß schon kurz vor den Sechzigern stand. Sein dunkler Kinnbart, das schüttere Haupthaar und ein aus der Tasche baumelndes Stethoskop zogen die Blicke der Kriminalisten an. Der Chefarzt begrüßte die Besucher, fügte leise „Einen Augenblick, bitte …“ hinzu und lauschte sekundenlang den Tönen im Saal. „Immer wieder schön!“ Er sprach langsam und feierlich. Rüdiger versuchte, den Schwärmer in die Wirklichkeit zurückzurufen. „Doktor, ich weiß, wir kommen sehr ungelegen …“ „Aber nein!“ rief der Hausherr fröhlich. „Wir kennen keinen Achtstundentag!“ Aesculap sei Dank! Helga Bathe atmete erleichtert auf. Der scheint doch ganz vernünftig zu sein. „Wir gehen am besten in mein Arbeitszimmer.“ Der Raum, im ersten Stockwerk gelegen, unterschied sich nicht wesentlich von dem des Kollegen Wedekind. Er war etwas größer und persönlicher eingerichtet. „Ist Ihnen bekannt, daß im Schlößchen auch Goethe weilte?“ Rüdiger nickte ergeben. „Wissen wir!“ 86
„Ich amtiere, darin liegt eine gewisse Pikanterie, in dem ehemaligen Schlafgemach der Gräfin von Ballenstedt. Böse Zungen behaupten, von der Prominenz der damaligen Zeit wäre außer Jean Paul jeder einmal hier gewesen.“ Gleich explodiert der Chef, dachte der Leutnant besorgt. Doch der Hauptmann bewies, daß er Humor besaß. „Wenn das nicht stimulierend auf die Schaffenskraft wirkt! Aber trotzdem, Ihre Zeit ist knapp, unsere auch. Ich möchte zur Sache kommen.“ Der Obermedizinalrat nahm die Brille ab, putzte sie lange und bedächtig. „Bitte“, sagte er höflich. „Ich unterhalte mich gern mit Menschen, die interessante Berufe ausüben. Für einen Psychiater ergeben sich ungeheure Studienmöglichkeiten. Worum geht es?“ „Sie haben von dem getöteten Kind auf dem Schrottplatz gehört?“ Der Arzt setzte die Brille wieder auf. Dann rückte er die Schreibtischgarnitur zurecht und wartete auch danach noch einen Augenblick, bevor er antwortete. „Es ist schrecklich. Man will es gar nicht glauben, was immer noch möglich ist.“ „Sie leben auf einer Insel, Doktor. Die Wirklichkeit hat noch ihre Klippen. Es gibt Menschen, die nicht mitziehen können, nicht mitziehen wollen.“ „Protest!“ Wie anklagend, hob der Obermedizinalrat beide Arme in die Höhe. „Wir leben hier etwas eingesponnen, zugegeben. Das bringen die Aufgaben und ihre Bewältigung mit sich. Unsere Kunst besteht darin, davon nichts merken zu lassen. Kein Patient hat jemals daran gedacht, daß er sich eines Tages bei uns in Behandlung begeben muß. Er darf die Therapie überhaupt nicht spüren. Wir führen ihn unmerklich dort hin, wo er stehen muß, wenn er seine Position im alltäglichen Prozeß wieder einnehmen will. Natürlich spreche ich nicht von solchen Erscheinungen, die Sie als kriminell bezeichnen würden.“ 87
Rüdiger ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Sie werden doch vielleicht zugeben müssen, daß es zwischen Kriminellen und Kranken manchmal nur einen kleinen, einen ganz geringfügigen Spielraum gibt. Oder sind Sie anderer Meinung?“ „Leider wird das Kriminelle oft als Krankheit bezeichnet. Umgekehrt kennen wir’s auch. Das ist grundfalsch, denn dadurch geraten Kranke, wie wir sie hier haben, leicht in ein unqualifiziertes Gerede, das ihre Leiden verstärkt und den Heilungsprozeß behindert. Wir haben Patienten im Haus, die, weil sie mit ihrer Umwelt nicht zurechtkommen, schon zum dritten oder vierten Mal hier sind und am liebsten für immer bleiben würden. Draußen werden ihnen oft Beleidigungen zugefügt, die sie einfach nicht verkraften.“ Das Thema interessierte Helga Bathe. „Dabei handelt es sich doch bestimmt um Ausnahmen. Wer weiß schon, ob dieser oder jener in einem solchen Krankenhaus behandelt wurde. Vor allem, wer nutzt das zu Schikanen aus?“ Der Obermedizinalrat lächelte. Es sah aber recht traurig aus. „Schikanen? Liebe junge Frau! So weit gehen wir nicht. Jeder Patient kann nach der Entlassung wieder in seinen Beruf zurückkehren, oder er wird, wenn das nicht möglich ist, eine ihn befriedigende Beschäftigung erhalten. Aber dann kommen die unbedachten Äußerungen der Kollegen, Nachbarn und so weiter. Sie können sich denken, was ich meine. Schon gerät der Mensch, der sich gerade gefangen hatte, wieder aus der Bahn. Der Kreislauf beginnt von vorn. Wir operieren ja nicht, stecken die Kranken nicht in Betten. Wir lösen sie nur behutsam aus einem Stadium, in das sie durch besondere Umstände oder eigenes Fehlverhalten geraten sind. Wenn Sie so wollen, wir heilen etwas, von dem niemand weiß, was es ist: die Seele!“ „Sie sprechen von besonderen Umständen, was ver88
stehen Sie darunter? Eine Streßsituation? Gibt es für solche Erkrankungen eine Veranlagung?“ Der Arzt betrachtete seine Hände, er suchte nach Worten. „Wenn Sie mich fragen, ob ein Mensch als Mörder geboren wird, dann muß ich sagen: nein! Ich halte auch nichts davon, von sogenannten Berufsverbrechern zu sprechen. Es gibt Personen, ohne Zweifel, denen das Verbrechen zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dafür lassen sich jedoch immer Gründe finden, auch sozialbedingte …“ Der Hauptmann fiel dem Arzt ins Wort. „Ich möchte die Frage konkreter stellen. Exakt: Der Schüler Tom Schulenberg wurde getötet. Bisher gibt es keinen eindeutigen Hinweis auf einen mutmaßlichen Täter, ein überzeugendes Motiv ist ebenfalls nicht erkennbar. Aber in der Stadt hält sich hartnäckig das Gerücht, die Tat hätte ein Mann mit krankhafter Veranlagung begangen. Es liegen sogar Eingaben mit Namensnennung vor.“ Rüdiger schlug sein Notizbuch auf und las dem Arzt vor: „Rainer Becker, geboren am zwanzigsten Mai neunzehnhundertsiebenunddreißig im ehemaligen Stolp, dem jetzigen Slupsk.“ Der Kriminalist beugte sich über den Schreibtisch. „Sie kennen den Mann?“ „Ich kenne den Mann und den Fall. Becker befand sich einige Male zur stationären Behandlung in diesem Fachkrankenhaus. Das ist eine schwierige Geschichte, eine ganz schwierige Geschichte.“ „Wie äußert sich die Krankheit? Würden Sie dem Mann die Tat zutrauen?“ Helga Bathe verlor jetzt die Ruhe und bedrängte den Arzt mit Fragen. „Sie werden bald mehr wissen.“ Der Obermedizinalrat stand auf und schob einen Vorhang zurück, der hinter seinem Rücken die ganze Breite des Raumes verdeckte. Zwei Panzerschränke, die mit einer Schiene zusätzlich gesichert waren, kamen zum Vorschein. „Unser Archiv“, erklärte der Chefarzt. 89
Umständlich öffnete er einen Schrank und suchte eine Akte hervor. Ebenso bedächtig verschloß er die Tür wieder und zog den Vorhang zu. Der Leutnant blickte auf den Aktendeckel. „Rainer Becker, 20. 5. 1937“ war in gotischer Schrift darauf geschrieben. „Beckers Krankengeschichte?“ Rüdiger griff nach der Akte. „Sie haben eine Genehmigung?“ fragte der Obermedizinalrat und hielt den Pappdeckel fest an den Bauch gepreßt, als sicherte er ein Testament, das ihn zum Alleinerben eines Millionärs bestimmt. „Haben wir nicht!“ knurrte der Hauptmann. „Müssen Sie nicht gerade mal nach einem schweren Fall sehen?“ Der Arzt lächelte. „Dann würde ich erst das Schriftstück verschließen.“ Er schlug die Mappe auf und blätterte in den Papieren. Manches las er, anderes überflog er nur. Die Besucher schien er völlig vergessen zu haben. Helga Bathe stand auf, sie ging zum Fenster, sah hinaus in den Park und kam langsam an den Schreibtisch zurück. Scheinbar interessiert betrachtete sie ein Gemälde, brachte sich dabei aber in eine Position, die es ihr ermöglichte, dem Arzt über die Schulter zu schauen. „Ein echter Womacka“, erläuterte der Obermedizinalrat, ohne dabei aufzublicken, „Das Geschenk eines Patienten.“ Er drehte sich zur Seite, die Papiere entschwanden dem Blickfeld der Frau. Helga Bathe setzte sich wieder. Sie stieß Rüdiger mit dem Knie an. Auch das bemerkte der Obermedizinalrat. „Nicht nervös werden, ich stehe gleich zur Verfügung.“ Er ließ sich nicht stören. Erst nach fünf Minuten schloß er die Akte. „Ein so schwerer Verdacht wie der, der gegen Rainer Becker ausgesprochen wird, erfordert für den Arzt nochmals gründliche Information. Es wäre für Sie wertlos und für den Mann schädlich, fände ich Sie mit Allgemeinplätzen ab. Also … Becker verlor im Krieg die Eltern …“ 90
Rüdiger unterbrach ihn. „Wir kennen die Vorgeschichte.“ Der Chefarzt ließ sich nicht beirren. „Ich nehme an, Sie wollen umfassend informiert werden?“ Der Hauptmann entschloß sich zu einem „Bitte“, das nicht mehr ganz höflich klang. „Becker wurde in einem Kinderheim bei Dessau erzogen. Bereits hier zeigte es sich, daß seine ganze Liebe und Hingabe der Pflege kranker Kinder galt. Dagegen blieben seine schulischen Leistungen unter dem Durchschnitt. Neunzehnhundertneunundvierzig wurde er in ein anderes Heim überwiesen. Die Leitung in Dessau konnte einen längeren Aufenthalt nicht mehr verantworten. Er nutzte jede Möglichkeit, um an die Elbe zu laufen. Wie er sagte, betrauerte er dort seinen toten Bruder. Später lernte er in einer Weberei, legte die Teilprüfung zum Facharbeiter ab, arbeitete danach jedoch als Heizer. Das macht er noch heute. Becker ist ein freundlicher, hilfsbereiter Mann, dessen Trauma es ist, Kinder beschützen zu müssen, selbst dann, wenn keine Gefahr besteht, und der ihnen Freude bereiten möchte, auch dort, wo es nicht erwünscht ist.“ Der Arzt wartete auf eine Reaktion seiner Gesprächspartner. Da diese schwiegen, fuhr er fort: „Es würde Ihnen gar nichts geben, wenn ich Sie über die Ergebnisse der verschiedenen Tests unterrichte. Nein, Herr Hauptmann, dieser Mensch würde sein Leben für ein Kind opfern, ihm aber niemals ein Leid zufügen. Wenn Sie mich richtig verstanden haben, kennen Sie damit sein Krankheitsbild.“ Die Kriminalisten hatten aufmerksam zugehört. Helga Bathe blickte vom Arzt zum Hauptmann. Rüdiger hatte sich wie immer Notizen angefertigt. Er war noch nicht zufrieden. „Besteht nicht die Möglichkeit, daß aus irgendeinem Grund ein Umschlag im Verhalten Beckers eingetreten ist? Wir wissen, er leidet unter einem Schuldkom91
plex, der durch den Tod des kleinen Bruders hervorgerufen wurde. Wäre es nicht denkbar, daß er plötzlich Haßgefühle auf gesunde, besonders aufgeweckte Kinder entwickelt? Das könnte zu unkontrollierten Handlungen führen. Oder …“ „Eine solche Hypothese ist abzulehnen. Schuldkomplexe führen zu Depressionen, diese wiederum können mit einem Selbstmord enden, niemals mit Aggressionen gegen andere. Abzulehnen wäre auch eine Theorie, die etwa darauf hinausläuft, er sei sich der Absurdität seines Verhaltens bewußt geworden und habe, um sich zu beweisen, die Tat verübt. Ich hörte nie, auch nicht in harmloser Form, von einem solchen Fall.“ Der Hauptmann blieb hartnäckig. „Was trotzdem nicht ausschließt, daß das Unwahrscheinliche eines Tages doch eintritt?“ Der Arzt verlor etwas von seiner Verbindlichkeit. „Es widerspricht all unseren Erfahrungen.“ „Doktor! Überall werden Erfahrungen durch Erkenntnisse ersetzt. Warum nicht auch in der Medizin?“ Der Obermedizinalrat schlug die Akte zu. „Sie verwechseln Begriffe. Natürlich, auch wir erleben eine Revolution. Möchten Sie noch etwas hören?“ „Rausschmiß?“ fragte der Kriminalist ungeniert. „Wenn Sie es so auffassen? Aus der Krankengeschichte läßt sich kein Motiv ableiten. Hat Becker etwas mit der Tat zu tun, so müssen Sie andere Gründe suchen. Die zu finden obliegt nicht mir. Ihre Sache, bitte!“ Der Hauptmann gab dem Arzt die Hand. „Sie haben uns sehr geholfen. Bisher sind es ja auch nur Gerüchte.“ Der Obermedizinalrat begleitete seine Gäste in die Halle. Rüdiger blieb an der Tür noch einmal stehen. „Können Sie uns vielleicht andere Namen nennen?“ „Nein, selbstverständlich nicht.“ Das war eine glatte Abfuhr, fand der Leutnant. 92
Der Chefarzt legte den Zeigefinger an den Mund. Lauschend flüsterte er: „Hören Sie’s?“ „Was?“ „Im Saal! Das Turmwächterlied aus dem ‚Faust‘. Goethe!“ Rüdiger und Helga Bathe gingen zu ihrem Wagen. Der Obermedizinalrat winkte freundlich, aber gemessen einen Abschiedsgruß. „Nun wird er sich erst mal richtig in den Fall vertiefen“, sagte Helga Bathe, nachdem sie Fichtenhain verlassen hatten. „Wie kommst du darauf?“ „Wozu hat er sonst die Krankengeschichte auf dem Schreibtisch liegenlassen?“ Der seidene Schlafrock war himmelblau und glänzte wie gefrorener Tau am Wintermorgen. Auf der Brusttasche mit dem innen angenähten Ziertuch prangte ein Wappen, das sehr viel Phantasie verlangte, um es zu deuten. Nachdenklich hängte Karl-Heinz Franz „das gute Stück“ auf einen Bügel und diesen in den Schrank. Er liebte den Mantel, erinnerte sich jedoch, daß in einigen Fernsehkrimis die Gauner daheim meistens in ähnlicher Bekleidung liefen. Da Franz eine Polizistin erwartete, entschloß er sich zu einem mausgrauen Rollkragenpullover und Jeans. So hoffte er, eine Mischung von Sportler und Arbeiterklasse demonstrieren zu können. Die Frau ist nicht leicht zu durchschauen, fand er. Würde sie nicht den Ehering tragen, hätte ich sie in die „Dollybar“ eingeladen. Aber so! Nein, da wäre jeder Versuch eine Selbstbezichtigung. An der Korridortür ertönte der Gong. Franz nahm noch schnell eine Dusche Mundspray und öffnete mit lautem, dem letzten großen Unterhaltungsprogramm abgelauschtem „Hereinspaziert! Hereinspaziert …“ Die zweite Hälfte des Spruches: „Ver93
gnügt euch heute ungeniert!“, blieb ihm im Hals stecken. Nicht die junge Frau stand vor ihm, sondern der Schrottplatzverwalter Konrad. „Bist du allein?“ fragte der. „Ich erwarte die Polizei!“ Franz wollte den ungebetenen Gast wieder aus dem Korridor drängen, doch der hatte die Tür bereits zugeschlagen und die Kette davorgelegt. „Den Scheißern soll die Luft ausgehen. Einen haben sie dabei … Heute früh sah er ganz harmlos aus, aber dann … Der läßt nicht locker, der Blutsauger!“ Ohne sich um den Wohnungsinhaber zu kümmern, ging Konrad ins Wohnzimmer und öffnete die Hausbar. „Wenn ich jetzt nicht abhaue, krallen sie mich. Der Schnüffler weiß alles. Bier ist wohl nicht da?“ Franz registrierte überrascht, daß Konrad ausnahmsweise fast nüchtern war. „Wenn du verschwindest, gebe ich dir eine Flasche.“ Im gleichen Augenblick bereute er sein Versprechen und schränkte ein: „Mensch, Eisenfresser! Die Kriminalisten kommen! Sollen die uns beide hier saufend antreffen?“ Konrad krakeelte: „Zum Teufel mit ihnen!“ und griff ersatzweise zum Kognak. Franz nahm ihm die Flasche aus der Hand und setzte sich demonstrativ auf die Bar. „Finger weg!“ mahnte er. Aber der Platzwart lachte laut. Es klang häßlich, es klang sogar, wenn einer dafür empfänglich war, drohend. „Nein, Klempner! Die Tour zieht bei mir nicht!“ Konrad schob die Gardine ein Stück auseinander. „Dein Besuch kommt wohl nicht, oder wolltest du mich nur verarschen?“ Er drehte sich um. „Ich brauche Geld!“ Franz versuchte, das Gespräch ins Scherzhafte zu ziehen. „Die Weltmarktpreise steigen.“ „Laß das Predigen, Klempner!“ zischte der Platzwart. „’raus mit dem Zaster! Gleich!“ „Wozu brauchst du Geld?“ 94
Konrad ließ sich in einen Sessel fallen, streckte weit die Beine aus. Sein Blick wanderte ruhelos durch das Zimmer. „Für den Anfang! Versteht sich.“ Der Klempner gab sich unbeeindruckt. „Versteht sich überhaupt nicht.“ Konrad stützte für einen Moment nachdenklich den Kopf in die Hände. Dann brüllte er los: „Du begreifst auch gar nichts, du kleiner Pisser!“ Lauernd fügte er hinzu: „Such dir schon einen guten Rechtsanwalt!“ Franz rutschte unruhig hin und her. „Ich? Du spinnst, oder hast du uns etwas eingebrockt?“ Der Platzwart schnaufte. „Verdammt, hätte ich bloß ein Bier.“ Franz drängte: „Was wolltest du mit dem Rechtsanwalt sagen? Nun quatsch dich endlich aus!“ „Sie kriegen alles ’raus, Klempner! Alles! Es sind nicht nur Schrauben und Hähne, die in den Büchern fehlen.“ „Was? Du kannst richtige Dinger drehen?“ Franz hätte nie geglaubt, daß Konrad zu wirklich großen Geschäften fähig wäre. Für ihn war der Platzwart immer ein kleiner Gauner gewesen, der sich leicht übers Ohr hauen ließ. Konrad fuhr sich mit der Hand über den Mund. „Muß ja nicht jeder wissen, soll ja nicht jeder wissen.“ „Ich sage trotzdem, du spinnst, Eisenfresser! Willst angeben und eine Kleinigkeit erpressen.“ Konrad schlug sich vor den Kopf. „Da muß man’s haben. Ich sage nur: Kleinschrott! Sammeln lohnt. Ich habe besten Haushaltsschrott aus altem Eisen gemacht. Das bringt was. Fünfzig Zentner waren’s. Hundert! Tausend! Eine Million! Und ihr habt geholfen!“ Langsam ging der Platzwart auf Franz zu, der es vorzog, hinter dem Sofa zu verschwinden. Hier fühlte er sich wenigstens im Rücken vor dem tobenden Konrad gedeckt. „Mitgegangen, mitgefangen!“ sagte der Platzwart. 95
„Ich habe mit deinen Geschichten nichts zu tun“, gab Franz zurück. „Weißt du das genau? Auf den Quittungen stehen Namen. Vom jeweiligen Ablieferer! Ich habe gründlich nachgedacht, bis mir einige einfielen.“ Darauf wäre Franz nie gekommen. „Steht da etwa auch meiner?“ „Rate mal! Wenn ich weg bin, kannst du sagen, alles ist Schwindel. Mir ist’s scheißegal.“ „Wo willst du denn hin?“ Konrad grinste. „Kennst du noch Genglein, den Ladendieb? Drei Wochen hat der im Bergtheater gehaust. Wäre er nicht so dämlich gewesen, hätte es noch ein halbes Jahr dauern können. Verstehst du? Da warte ich eine günstige Gelegenheit ab …“ „Über die Grenze?“ „Halt’s Maul! Die Zettelchen nehme ich mit. Niemand soll glauben, daß er mich verpfeifen kann, ehe ich’s geschafft habe.“ Franz schob Konrad mit ausgestreckten Armen von sich. „Unterschätze die nicht, es geht immerhin um einen Mord!“ „Hast du Mord gesagt? Wenn ich das Wort noch einmal höre, schlage ich dir den Schädel ein!“ Der Platzwart setzte einen Boxhieb gegen Franz, der wie ein Sportler mit Sidestep auswich. „Benimm dich, oder du fliegst!“ tobte nun auch der Klempner. Konrad rieb sich wieder die trockenen Lippen und feuchtete sie mit der Zunge an. „Hast du wirklich kein Bier für mich?“ „An deiner Stelle würde ich mich ganz schön zurückhalten. Mensch, vergiß wenigstens jetzt das Saufen! Ich wette, die Sache mit Neudeckers Bengel wissen sie auch schon. Wenn nicht, das merke dir mal gut, können sie auch einen Wink bekommen. Also mach lieber keine Zicken.“ 96
Franz verließ seine Festung und setzte sich auf die Lehne des Sessels, in den sich Konrad geworfen hatte. „Es paßt nämlich haarscharf zu der Sache Schulenberg!“ Der Platzwart stierte verständnislos den Kumpel an. „Was sagst du da? Ich habe …“ Konrad zog Franz zu sich heran, so daß dessen Beine in der Luft schwebten. „Du warst es, du Schwein! Du, du, du! Geohrfeigt hast du ihn, weil er zugesehen hatte, wie du beim Klauen warst. Ich habe bloß aus Freundschaft meinen Kopf hingehalten, den Alten mit einem tadellosen Wagenheber beschwichtigt. Gut, du hast dich erkenntlich gezeigt, aber wenn es hart auf hart kommt …“ „Kannst du dich vielleicht damit retten, daß du denen sagst, man hätte dich an allen Ecken und Kanten bestohlen. Überall kannst du nicht sein, da ist eben deine Hand ausgerutscht. Vor Gericht wird Neudecker jeden Eid darauf leisten, daß du gedroschen hast. Dann kannst du nichts mehr machen, dann bist du fällig. So wird ein Schuh daraus, darüber sei dir klar.“ Der Platzwart fiel zusammen. Er wimmerte: „Ihr seid Schweine, du, der Neudecker, alle, alle!“ Hatte Konrad eben noch Franz fast geschlagen, lag er jetzt auf den Knien vor dem Mann in Jeans und heulte. „Reiß dich zusammen“, zischte Franz. Der Platzwart stand langsam auf, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und klammerte sich noch einmal an den Klempner. „Ich werde die Schnauze nicht halten. Die Suppe löffeln wir zusammen aus. Keiner kann abspringen!“ Franz ließ sich nicht mehr einschüchtern. Er fühlte sich durchaus Herr der Lage und stieß Konrad zurück. „Quatsche nicht. Den, der das Kind umgebracht hat, kriegen sie. Dämlich ist nur, daß deine Geschäfte dabei ans Tageslicht kommen.“ Konrad hatte eine zerknautschte Zigarette in seiner Tasche entdeckt, zündete sie an und paffte hastig. „Wenn 97
ich nur wüßte, wer das Weib war neulich bei mir auf dem Platz!“ Er rieb sich die Stirn und versuchte, sich zu konzentrieren. „Fang jetzt nicht an zu spinnen. Erzähle der Polizei bloß keine Märchen, dann sitzt du gleich im Dreck!“ „Im Sommer habe ich ein Weib auf ‚Plattners‘ Omnibus gesehen. Als ich sie runterjagen wollte, war sie verschwunden. Weg wie die Brockenhexe bei Walpurgis. Gibt’s eigentlich Hexen?“ „Nee, bloß Weiber, die Hexen sein können. Was war das für eine Frau in dem Bus? Hatte sie braunes Haar?“ Der Platzwart überlegte. Gewohnheitsmäßig rieb er sich die Stirn. Franz drängte. „Bestimmt war sie braun?“ „Blond war sie nicht. Auf Blond stehe ich immer noch. So eine hätte ich nicht fortgescheucht. Wird wohl braun gewesen sein.“ Franz grinste. „Manchmal bist du auch ein kluger Junge.“ Dem Platzwart kam ein Gedanke. „Mensch, Klempner! Der Vater von dem Bengel soll doch eine andere haben!“ „Neudecker? Quatsch, der schafft kaum seine Alte.“ „Dussel! Von dem Bengel, den sie umgelegt haben.“ „Du meinst Schulenberg? Daß der fremdgeht, weiß alle Welt!“ „Kennst du die Matratze?“ Franz sah eine Möglichkeit, Konrad schnell loszuwerden. „Und ob! Die macht’s mit jedem. Auf so eine hat die Polizei bestimmt ein Auge geworfen. Im neuen Zeigefinger wohnt sie. Mensch, das würde passen! Wendler heißt sie, Wendler!“ Franz zog den Pullover zurecht, der bei dem Handgemenge verrutscht war. Er beobachtete den Platzwart, der grübelnd und sabbernd an der Wand stand. Dann holte er aus seiner Hosentasche Kleingeld und drückte es dem anderen in die Hand. Schnell kritzelte er noch 98
den Namen des Mannequins und ihre Adresse auf einen Zettel: „Damit du’s nicht vergißt!“ Er begann den ungebetenen Gast aus dem Zimmer zu schieben, schaffte es auch fast, doch an der Tür riß sich Konrad los. „Ich habe Schiß! In den Knast gehe ich nicht!“ Gierig zählte er die Geldstücke in der Hand. „Mehr gibst du mir nicht? Du Sau, du Lump! Judas!“ Vor sich hin schimpfend, kramte Konrad in dem alten Brotbeutel, den er umgehängt hatte. „Wenn du mich nicht verrätst, könnten wir noch mal ins Geschäft kommen. Eigentlich wollte ich’s woanders verscheuern …“, sagte er, während er einen Gegenstand hervorzuziehen versuchte. „Du hast wohl einen Knoten im Gehirn! Jetzt ein Ding drehen!“ Der Klempner öffnete die Tür und beförderte Konrad auf den Flur. „Du hängst drin! Ich sorge dafür, daß du nicht auf meinem Buckel aus dem Dreck kletterst!“ schrie Konrad und rumorte noch eine Weile vor der Tür. Franz, der im Korridor lauschte, war erst beruhigt, als der Mann die Treppe hinuntertapste. Warum gerät der bloß so in Panik? Aber die Quatscherei über die Frau paßt haarscharf. In Gedanken überschlug er, was ihm selbst nachgewiesen werden konnte. Er brachte schnell die Wohnung in Ordnung und legte eine Platte auf. Der angesagte Besuch mußte nun bald kommen. „Was halten Sie von dem Obermedizinalrat?“ fragte Helga Bathe den Hauptmann auf der Rückfahrt von Fichtenhain. „Der Arzt ist schon in Ordnung. Im Grunde hat er alles bestätigt, was ich vermutete.“ Draußen war es dunkel geworden. Sie fuhren durch kleine Dörfer, die eigentlich nur Ansiedlungen waren und aus wenigen Gehöften bestanden. Rechts von ihnen 99
erhob sich die Wand des Gebirges, links fiel die Gegend in die Ebene ab. Auf einigen Zuckerrübenfeldern wurde noch gearbeitet. „Er ließ immerhin die Möglichkeit offen, daß ein Mann wie Becker eine solche Tat begehen kann“, sagte der Leutnant nach einer Weile. „Ja, so wie du, wie ich, wie er selbst“, schränkte Rüdiger ein. „Seine Neurose spielt, nach Ansicht des Doktors, dabei keine Rolle.“ An einem geschnitzten Wegweiser wies ein lustiger Teufel mit einem Weinglas in der Hand darauf hin, daß hier die Autostraße zum Teufelsstein begann. „Jetzt da oben sitzen, Hexenragout genießen und danach einen doppelten ‚Höhlentropfen‘. Das wäre nach meinem Geschmack!“ Der Hauptmann schnalzte mit der Zunge bei dem Gedanken an die Spezialitäten des Gasthauses auf dem Berge. „Unser Klempner bietet exquisitere Sachen. Der begnügt sich nicht mit der simplen heimatlichen Küche.“ „Möge er eines Tages daran ersticken!“ nuschelte der Hauptmann. Der Gong an der Tür des Herrn Karl-Heinz Franz hauchte einen dezenten C-Dur-Dreiklang. Rüdiger und seine Mitarbeiterin brauchten nicht lange zu warten. Weit öffnete sich die Tür, eine Stimme tönte: „Hereinspaziert! Hereinspaziert …“ Auch diesmal kam der Hausherr nicht dazu, seinen Spruch zu Ende zu bringen. Der massige Hauptmann war schon in der Wohnung. Der Anblick des Hünen verschlug Franz offensichtlich die Sprache. Rüdiger wies sich aus und ging wie zuvor Konrad schnurstracks in das Wohnzimmer, allerdings nicht an die Bar. In der Mitte des Raumes blieb er stehen, drehte sich einmal um die eigene Achse. 100
Leutnant Bathe hatte nicht übertrieben, die Einrichtung verblüffte. Neben manchem bemerkenswerten Stück dominierte der Kitsch. Am bescheidensten nahm sich die Bücherecke mit dem Plattenspieler aus. Franz, der neben Helga Bathe stand und nicht wußte, was er von dem staunenden Hauptmann halten sollte, stellte die Musik ab. „Klänge für Mußestunden“, flüsterte er. Rüdigers Hand beschrieb einen Bogen. „Etwas viel Tinnef!“ Der Klempner grinste. Der schweigende Polizist war ihm unheimlich gewesen, jetzt fühlte er sich erleichtert. „Früher kannte die Polizei nur Fragen, heute auch Scherze. Ein angenehmer Wandel!“ „Sie werden gleich merken, ob das so ist.“ „Für den, der nichts zu verbergen hat … bestimmt! Sie können mir glauben, ich sage alles viel lieber mit Humor.“ „Dann versuchen Sie es jetzt einmal mit Ernst.“ „Beim Geschäft hört der Spaß auf, das weiß ich“, versicherte der Klempner und grinste schon wieder. „Wir haben keineswegs die Absicht, mit Ihnen Geschäfte zu betreiben. Dazu haben Sie zu viele Berufe. Hauptamtlich sind Sie ja wohl Außenassistent der Konzert- und Gastspieldirektion? Ich habe mir sagen lassen, das sind Leute, die etwas verhökern, wovon sie keine Ahnung haben.“ Franz schnitt eine Grimasse. „Unsere Erfolge strafen den schlechten Ruf, der uns leider umgibt, Lügen. Wir sind Kinder der Praxis. Die Kunst muß ihre tiefen Wurzeln im Volk haben. Da versagt alle Schulweisheit.“ Der Hauptmann setzte sich in den Sessel, in dem kurz vorher Konrad gehockt hatte. Das Kind der Praxis bot Helga Bathe ebenfalls Platz an und ließ sich dann schweigend auf dem Sofa nieder. Rüdiger griff nach einem buntbemalten Ast, auf dem ein Plastvogel saß. Der Vogel zwitscherte tatsächlich los. 101
„Schrecklich!“ stöhnte der Kriminalist und nahm den Hausherrn ins Visier. „ ‚Auch was Geschriebenes forderst du, Pedant? Hast du noch keinen Mann, nicht Manneswort gekannt?‘ “ „Gut!“ Franz klatschte Beifall. „Was war denn das?“ Der mit Kunst handelnde Klempner war nicht aus der Ruhe zu bringen, solche Klippen umschiffte er täglich mit Frechheit. „Ich würde sagen, etwas Klassisches! Aber, um ehrlich zu sein, ich habe nicht bei Ihnen angerufen, um eine Literaturdiskussion zu führen, sondern ich wollte …“ Hauptmann Rüdiger kümmerte sich nicht um den Einwand des pomadigen Mannes, er wiederholte: „ ‚Auch was Geschriebenes forderst du, Pedant …‘ “ und setzte fort: „Geben Sie mir die Quittungen Ihres Busenfreundes Konrad.“ Der Besuch des Platzwarts hatte Karl-Heinz Franz immerhin so beunruhigt, daß er das Thema „Schrottplatzgeschäfte“ gar nicht erst aufkommen lassen wollte. Er faltete eine Zeitung auseinander und schielte über den Rand. „ ‚Hinweise aus der Bevölkerung‘ “ las er vor. „Vielleicht habe ich den Täter gesehen.“ Die erwartete Reaktion blieb aus. Der dicke Hauptmann verlangte: „Konrads Quittungen, bitte!“ Franz rührte sich nicht. „Damit ist alles in Ordnung. Das Fräulein hat sich von der Echtheit überzeugt. Sie wird es jederzeit bestätigen. Nicht wahr?“ „Sie müssen schon tun, was der Hauptmann verlangt.“ Helga Bathe sah keinen Anlaß, dem Mann zu Hilfe zu kommen. Langsam und akkurat faltete Franz die Zeitung zusammen. „Warum wollen Sie sich mit solchen Kleinigkeiten abgeben, Herr Hauptmann? Wir beide wissen, daß Konrad krumme Sachen dreht. Ihnen ist sicher auch bekannt, daß der Mann schon Kinder geschlagen hat, die zwischen dem Schrott ein paar Teilchen suchten?“ „Die Quittungen!“ sagte Rüdiger grollend. 102
Franz blickte nochmals hilfesuchend zu der jungen Frau, aber die sah ihn ebenfalls auffordernd an. Als er merkte, daß es anders nicht ging, stand er auf und holte aus dem Schreibsekretär die Papiere. Der Kriminalist steckte die Quittungen ein. „Das ist ein Punkt, für den Sie sich verantworten werden“, sagte er gelassen zu dem „freischaffenden“ Klempner. Der nahm einen erneuten Anlauf. „Kann ich nun …“, begann er, wurde aber gleich wieder von Rüdiger unterbrochen. „Also, Konrad schlägt Kinder? Waren Sie dabei?“ Franz hätte sich am liebsten geohrfeigt. Um von der Quittungsgeschichte abzulenken, war ihm nichts Besseres eingefallen als die Prügelei. Nun war es zu spät. „Wäre ich dabeigewesen, hätte ich eingegriffen. Mir ist bekannt, welche Bedeutung unser Staat der Entwicklung und Erziehung einer tüchtigen Jugend beimißt.“ „Woher wissen Sie das?“ „Man kann es doch fast jeden Tag in der Zeitung lesen.“ Rüdiger war nicht klar, ob Franz ihn verschaukeln wollte oder ihn tatsächlich mißverstanden hatte. Er unterdrückte eine scharfe Bemerkung und erklärte: „Ich sprach von Konrad, der angeblich Kinder verprügelt hat.“ „Das habe ich auf dem Schrottplatz gehört.“ Bedächtig zog Rüdiger sein Notizbuch aus der Tasche und legte es vor sich auf den Tisch. „Von wem?“ „Lassen Sie mich nachdenken!“ Franz faltete die Hände und sah die Kriminalisten bittend an. Jetzt betet der Kerl auch noch, dachte Rüdiger erbost, gewährte ihm aber einen Augenblick Bedenkzeit. Dann sagte er fordernd: „Also?“ „Ich weiß es nicht mehr. Keineswegs möchte ich Sie mit Fehlinformationen beliefern.“ Sein rettender Hafen 103
sollte die Hausbar sein. „Machen wir eine Pause. Etwas Erfrischendes?“ Lockend wie die Knusperhexe warf Franz mit elegantem Schwung eine Flasche in die Höhe, auf deren Etikett fünf Sterne winkten. „Für liebe Besucher!“ Seine Stimme klang gequält. Rüdiger schlug auf den Tisch. „Sie haben ein Gemüt wie der Notar vom Lotto. Machen Sie den Trick noch mal, aber retour!“ Mit einem gemurmelten „Schade, schade“ ließ Franz die Flasche wieder verschwinden. Die Kriminalisten schwiegen. Das gefiel dem Klempner gar nicht. Er spielte verlegen mit dem Mixbecher aus der Bar. Es verging fast eine Minute, dann hielt Franz es nicht länger aus. „Ist sonst noch etwas?“ Wieder hatte er das Gefühl, daß der Rollkragen den Hals wie ein Ring umschloß. „Sie hatten etwas auf dem Herzen. Darum sind wir hier.“ Der Hauptmann sah gespannt auf Franz, als betrachte er ein interessantes Spiel am Bildschirm. „Natürlich! Das kann sogar von großer Wichtigkeit sein. Wie Sie wissen, habe ich oft auf dem Schrottplatz … zu tun. Fahrzeuge vom Altstoffhandel, die dort regelmäßig verkehren, sind mir zum größten Teil bekannt. Andere kommen kaum. Wer verirrt sich schon in das Durcheinander? Personenautos überhaupt nicht. Ausgerechnet an jenem Freitag fiel mir ein Škoda auf, der mir mit überhöhtem Tempo entgegenkam. Ich konnte gerade noch ausweichen. Nun frage ich Sie: Ist es nicht verdächtig, wenn einer gerade an solchem Tag daherbraust, als hätte er den Teufel im Nacken?“ „Weiter!“ Franz hatte einen Dank, eine Belobigung erwartet. Verwundert schaute er den Hauptmann an. „Weiter? 104
Weiter war eigentlich nichts. Ich hatte mit meinem Wagen genug zu tun, bemerkte nur, daß eine Frau über dem. Lenker hing wie ein Rennradler bei der Abfahrt. ‚Idiot!‘ werde ich wohl gebrüllt haben, das ist einem schon so in Fleisch und Blut übergegangen.“ „Haben Sie sich die Wagennummer gemerkt?“ „Ich wollte sie aufschreiben, weil ich immer bemüht bin, unseren Staatsorganen die Arbeit zu erleichtern. Es ging zu schnell.“ Rüdiger unterbrach ihn. „Merkwürdig. Wieso konnten Sie wissen, daß wir vielleicht an dem Auto interessiert sind?“ Franz deklamierte: „Jeder Bürger ist aufgerufen, darauf zu achten, daß …“ „Nun bremsen Sie sich mal. Haben Sie die Nummer oder nicht?“ Franz reckte beteuernd die Arme zum Himmel. „Es war ein grauer Škoda S 100. Das nehme ich auf meinen Eid!“ „Die Nummer …“ Die Arme sanken herab. „Weiß ich nicht.“ Treuherzig blinzelte er den Hauptmann an. „Das sind doch Hinweise! Überhöhte Geschwindigkeit, und das in der Nähe der Mordstelle! Habe ich damit nicht mehr geliefert, als die Justiz von einem unbescholtenen Bürger, der sich überhaupt nicht mit Kriminalistik befaßt, verlangen kann?“ „Würden Sie die Person erkennen, wenn wir sie Ihnen gegenüberstellen?“ „Herr Hauptmann! Sie werden bemerkt haben, daß ich nur eines im Sinn führe, der Polizei zu helfen. Zuerst waren Sie nicht davon überzeugt! Stimmt’s? Ich nehme es Ihnen nicht übel. Jetzt spüre ich …“ Rüdiger schlug auf die Tischplatte. Der verdutzte Freizeitklempner zog sich vor Schreck in eine Sofaecke zurück, der Redefluß versickerte. „Halten Sie uns nicht mit dem Geschwätz auf. Wie sah die Frau aus?“ 105
„Die Person im Auto?“ „Ja. Ungefähres Alter, besondere Kennzeichen!“ „Der Wagen flog an mir vorbei. Das habe ich schon erwähnt. Würde ich mehr sagen, ging es gegen mein Gewissen.“ „Da käme es wohl kaum zu einer Karambolage. Wo trafen Sie das Fahrzeug?“ „Ungefähr hundertundfünfzig Meter vor dem Schrottplatz. Es können auch zweihundert gewesen sein. Wenn Sie es wünschen, fahre ich Sie an die Stelle.“ „In dem Punkt sind Sie absolut sicher?“ „Ich schwöre es, Herr Hauptmann! Feierlich! Das Fräulein als Zeugin genügt mir. Notieren Sie das, bitte!“ Rüdiger fuhr dem Kulturhausierer über den Mund. „Sie ist Leutnant. Merken Sie sich das!“ „In welchem Zustand trafen Sie Konrad an?“ „Normal, ganz normal. Blau wie immer.“ Franz glaubte herauszuhören, daß die eigene Person nicht mehr im Mittelpunkt des Gesprächs stand. Das wollte er nutzen. Schnell trug er vor, was er sich eigentlich für einen späteren Zeitpunkt vorbehalten hatte. „Wir wissen alle, daß auf den alten Säufer kein Verlaß ist. Der Kerl sieht in seinem Delirium oft Gespenster. Fakt ist jedoch, er hat auf dem Platz auch mal eine Frau beobachtet!“ „Mit einem Škoda S 100?“ Der Klempner wehrte ab. „Das habe ich nicht gesagt. Konrad will im Sommer eine braunhaarige Frau in dem alten Bus gesehen haben … am Steuer! Ist das nicht brisant?“ Rüdiger steckte das Notizbuch ein. „Hat sich der Besuch für Sie gelohnt, Herr Hauptmann?“ Gönnerhaft hob Franz noch einmal den Deckel der Hausbar. „Was treiben Sie morgen?“ fragte Rüdiger abschließend. 106
„Ich bin im Kulturhaus. Die Modenschau braucht noch eine Topnummer. Muß mich da umsehen.“ „Vorher sehen Sie sich bei uns um. Zehn Uhr in meinem Dienstzimmer. Bis dahin ist Ihnen sicher noch einiges eingefallen.“ Die Kriminalisten standen auf. Franz blickte lauernd auf den Hauptmann. „Von der Frau oder …“ „Beides! Die Frau und oder!“ Hinter der Korridortür, brannte Licht. Es vergingen jedoch Minuten, bis geöffnet wurde. Oberleutnant Helm hielt dem Mann im Bademantel seinen Ausweis vor die Nase und bat um Beantwortung einiger Fragen. Ernst Anders entschuldigte sich für den Aufzug und führte Helm in sein Zimmer. „Ich wollte eben in die Wanne steigen.“ Er lachte und reckte sich wie ein Sprinter nach einem gewonnenen Hundertmeterlauf. „Setzen Sie sich doch.“ Der Geologe schob ein paar Kleinigkeiten zusammen, die auf dem Tisch lagen, und räumte Gläser und Tassen fort. „Männerwirtschaft! Meine Schwester ist seit vierzehn Tagen bei unserer kranken Tante. Nun hause ich hier mit der kleinen Antje allein. Schrecklich, würde Ilse sagen. Meine Schwester ist ein bißchen pedantisch. Der Beruf bringt es mit sich, daß ich in mancher Hinsicht großzügiger, sie sagt schlampiger, bin. Wenn wir dienstlich unterwegs sind, ist oft der Wohnwagen, manchmal nur ein Zelt unser Zuhause.“ In einer Vitrine lag eine Steinsammlung. Der Oberleutnant sah sich die schillernden Brocken an. „Erinnerungen an Expeditionen?“ „Nein, alles aus heimatlichem Mutterboden: Kalzit, Fluorit, Azurit, Galenit, Wavellit. Gewöhnlicher Gips, Quarz.“ „Sie waren heute in Halle?“ 107
„Beim alten Martin Luther. In der Uni. Es steht ein Kongreß bevor. Dieses Mal in Ulan-Bator.“ „Beneidenswert. Wir freuen uns schon, wenn es dienstlich nach Rostock geht.“ „Im Sommer tagen wir dort auch gern.“ Der Mann gefiel Helm. Obwohl der Oberleutnant stets warnend seine Stimme erhob, wenn sich ein Kollege von äußeren Eindrücken beeinflussen ließ, glaubte er jetzt doch, einem sympathischen Zeitgenossen gegenüberzusitzen, auch wenn dieser ein kleiner Luftikus zu sein schien. Der Oberleutnant hatte längst hinter der Liege verstreute Kleidungsstücke entdeckt, die bestimmt nicht ein Geologe, sondern höchstens eine Geologin ausgezogen hatte. Rüdiger würde jetzt ein endloses Gespräch führen und die beiden auf die Folter spannen, dachte er. „Wir müssen uns damit abfinden, daß ein Beruf in ferne Galaxien führt, ein anderer höchstens zum Bahnhof der eigenen Stadt, wo man den Zügen nachwinken kann, wenn sie abdampfen.“ Anders sah zwischendurch immer wieder zu der Tür, die ins Nebenzimmer führte. Da steckt sie also? Hoffentlich erkältet sie sich nicht, wenn sie so pudelnackt herumläuft. Helm überlegte schon, ob er dem Mann nicht einen Wink gehen sollte. Doch offensichtlich war dem das Stilleben hinter der Couch gerade selbst aufgefallen. „Nun schauen Sie bloß, was hier herumliegt! Eben Männerwirtschaft!“ Anders raffte Kleid, Wäsche und Strümpfe zusammen. „Ich bin gleich wieder da.“ Er verschwand. Doch keine Lungenentzündung. Helm fühlte sich beruhigt. Der breitschultrige Erfolgsmensch kam nach wenigen Sekunden zurück. „Ich hörte bereits, daß man mich sprechen will. Wahrscheinlich hängt es mit dem Tod Tom Schulenbergs zusammen?“ 108
„Wie kommen Sie darauf?“ „Ich wüßte nicht, was die Polizei sonst bei mir will. Das Interessante in meinem Leben spielt sich außerhalb unserer Grenzen ab. Selbst ein Verkehrsdelikt kommt bei mir kaum in Frage. Ich kutschiere einen Oldtimer, meinen Tobbi. Wenn Sie sich für Fahrzeuge interessieren, sollten Sie sich das Prachtstück ansehen.“ „Die Ersatzteile suchen Sie auf dem Schrottplatz zusammen?“ „Oft.“ „Am Freitag voriger Woche waren Sie auch da?“ Der Geologe zündete sich eine Zigarette an. „Mögen Sie?“ fragte er den Kriminalisten und hielt ihm die Schachtel hin. Der lehnte ab. „Ich war mit Herrn Franz verabredet. Der Klempner, so wird er überall genannt, hatte mich angerufen und gesagt, daß dort etwas liegt, das sich gut als Trittbrett für Tobbi eignen würde.“ „Fuhren Sie gemeinsam hin?“ „Nein. Ich benutzte den Bus. Tobbi kann ich ein solches Gelände nicht zumuten. Das letzte Stück bin ich gelaufen und mußte dann lange auf Franz warten. Schätzungsweise eine halbe Stunde. In der Zeit bemühte ich mich, mit Konrad ins Geschäft zu kommen. Wie immer, wenn ich erscheine, hatte er erst einmal Funkstille. Franz zeigte mir dann die Stelle, ich montierte das Stück Blech ab. Es ging relativ schnell. Was der Klempner suchte, weiß ich nicht. Als ich dann mit dem betrunkenen Verwalter den Preis aushandelte, war Franz schon wieder weg. Das muß gegen elf Uhr dreißig gewesen sein. Ich verschwand dann auch bald.“ „Haben Sie noch andere Leute getroffen?“ „Nein.“ „Fahrzeuge?“ „Ich kann mich nicht erinnern.“ „Den Jungen sahen Sie auch nicht?“ 109
„Tom? Das hätte ich längst gesagt.“ „Denken Sie gut nach. Sie waren immerhin zu einer Zeit auf dem Schrottplatz, während der die Tat geschehen sein kann!“ „Ich weiß es genau. Es kamen keine Fahrzeuge, und außer Konrad und Franz waren auch keine Menschen auf dem Gelände. Das heißt, soweit ich es einsehen konnte.“ Im Nebenzimmer waren Geräusche zu hören. „Das ist unser Kater“, sagte der Geologe rasch. „Natürlich“, erwiderte Helm und kam sich veralbert vor. „Ich hoffe, Sie ziehen keine falschen Schlüsse, wenn ich Ihnen sage, daß ich Frau Schulenberg recht gut kenne.“ Der Oberleutnant horchte auf. „Frau Schulenberg?“ „Es liegt schon zwei Jahre zurück. Antje und Tom waren im gleichen Kindergarten. Ich lernte Frau Schulenberg bei Elternversammlungen kennen. Sie müssen wissen, meine Schwester arbeitet im Schichtdienst. Da vertrete ich sie manchmal, das kommt auch heute noch vor. Obwohl ich nur als Ersatzmann beziehungsweise Befehlsempfänger dort aufkreuzte, interessierten mich die Probleme, die es bei den kleinen Gesellen gab. Dadurch kam ich auch mit Toms Mutter ins Gespräch. Wir tranken hinterher eine Tasse Kaffee zusammen, und ich brachte sie mit Tobbi nach Hause. Das wiederholten wir hin und wieder. Viele halten die Schulenberg für kühl, unnahbar, überheblich. Aber so ist sie nicht. Ich sage es ganz ehrlich, hätte die Frau nicht solche eisernen Grundsätze, ich würde mich mehr um sie bemühen.“ „Ist Ihnen in letzter Zeit an Frau Schulenberg etwas aufgefallen? War sie verändert, bedrückt?“ Der Geologe zögerte mit der Antwort, und Helm überlegte, warum. „Wann habe ich Renate Schulenberg zum letzten Mal 110
gesehen? Im Sommer. Ja, im Waldbad mit Tom. Und sonst? Man trifft sich auf der Straße, meistens bleibt es bei einem Gruß. Nein, ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Jedes Wort wäre Spekulation.“ „In Ordnung. Es ist möglich, daß wir uns noch einmal sehen müssen.“ „Werde ich wegen der Schrottgeschichte Ärger bekommen? Ich bin mit meinem Tobbi immer auf Abfälle angewiesen. Bis Suhl und Putbus bin ich gefahren, als ich anfing, ihn aufzubauen. Dann nahm mich Franz mal mit auf den Schrottplatz. Ich habe natürlich gemerkt, daß Konrad ein Trunkenbold ist, aber für mich bleibt er trotzdem der Hüter eines ‚Tischleindeckdich‘ Schade, wenn die Quelle versiegen würde.“ „Das kann passieren“, erklärte der Oberleutnant und fixierte dabei einen Schiwa, der auf einer kleinen Konsole stand. „Echt?“ „Total. Das Geschenk eines indischen Kollegen, mit dem ich schon als Student korrespondierte.“ Helm schaute noch einmal auf die kleine Statue und verabschiedete sich dann. Als er dem Geologen die Hand reichte, sagte er mit todernster Miene: „Nun habe ich Sie viel zu lange von Ihrem Vergnügen abgehalten. Genießen Sie die Planscherei!“ „Es ist schön“, meine der Geologe ebenso sachlich, „es ist sogar schön beruhigend, zu wissen, daß unsere Polizei sich auch darum sorgt.“ Ach ja, dumm ist der Junge nicht, dachte Oberleutnant Helm, als er die Treppe hinunterstieg. Makus stand in der „Ruhmeshalle“. Es gibt Menschen, die legen sich ein Aquarium an und schauen auf das Spiel der Fische, um zu entspannen. Andere sammeln Briefmarken oder Zündholzschachtelaufkleber. Für Makus war das Betrachten seiner Sammlung 111
der beruhigende Ausgleich. Die besten Fotos zierten eine ganze Wand in seinem Arbeitszimmer, eben die „Ruhmeshalle“, wie sie von einem Freund im Scherz getauft wurde. Es war dort fast alles zu sehen, was Rang und Namen besaß. Neben dem berühmten Chirurgen hing ein Filmstar, der schon wieder in Vergessenheit geraten war. Darunter schaute ein prominenter Sportler auf die Bindung seiner Laufschuhe und zog dabei ein Gesicht, als gelte es, das Geheimnis der Osterinsel zu lösen. Der indische Botschafter lachte in den Tag, und die beiden Außenminister aus den gegensätzlichen Lagern, die gerade einen Händedruck tauschten, zeigten nachdenkliche Gesichter. Der Fotograf kannte von jedem Bild das Aufnahmedatum. Er nannte auf Anhieb die Namen der dargestellten Persönlichkeiten, erzählte kleine Geschichten und Anekdoten, konnte auf Wunsch auch Kurzbiographien liefern. Mitunter spazierte er an den Porträts entlang und ließ dabei angenehme Erinnerungen aufleben. Nicht selten klang dann ein lautes Lachen durch den Raum. Das erprobte Ablenkungsmanöver nutzte dieses Mal nichts. Das Gesicht Toms ließ sich ebensowenig verdrängen wie der massige Schädel des Hauptmanns, der sich ständig dazwischen schob. Er erinnerte sich an den phantasievollen Bericht des Alten im Tabakladen, hörte Konrads zusammenhangloses Geschwafel und sah Becker an der Bude auf dem Herbstmarkt stehen. Jedes Wort der Unterredung mit dem Mannequin fiel Makus wieder ein, auch das, was Frau Anstett über den Omnibus erzählt hatte. Punkt für Punkt ging er das Gespräch bei den Kriminalisten durch, fragte sich, was sie eigentlich von ihm gewollt hatten. Alle Gedanken führten zu Renate und Thomas Schulenberg. Makus zog die Jacke aus, warf sie achtlos auf einen Stuhl. Er ging ins Badezimmer, hielt die Hände und dann die Arme bis zu den Ellenbogen unter das fließende Was112
ser, schließlich auch den Kopf. Es nutzte nicht viel. Er fand nichts, was ihn auf andere Gedanken brachte, und zwang sich deshalb, die Post zu sichten, die noch auf dem Schreibtisch lag. Während seiner Abwesenheit hatte sich viel angesammelt. Einiges zerriß er sofort, warf es in den Papierkorb. Ansichtskarten waren gekommen, aber auch Rechnungen. Makus haßte es, wenn Finanzdinge unerledigt blieben. Er schrieb Überweisungen, die er am nächsten Tag zur Bank bringen wollte. Anschließend verglich er Kontoauszüge mit seinen Unterlagen. Es geht ja an, sagte er sich, als er den Stand seines Guthabens exakt ermittelt hatte. Die Post war bald zum größten Teil abgeheftet. Briefe, die zu beantworten waren, ließ Makus auf dem Schreibtisch liegen. Im Korridor türmten sich noch Zeitungen. Auch die ordnete er. „Berliner Festtage glanzvoll eröffnet.“ Er las die Überschrift und erinnerte sich an die Hauptprobe des Konzertes, auf der er fotografiert hatte. Makus suchte einige Zeitungen heraus und legte sie auf den Schreibtisch. Plötzlich war der Gedanke an Tom Schulenberg wieder da. Wer ahnt eigentlich, was mir der Junge bedeutete? Der dicke Hauptmann bestimmt nicht. Warum sperrt er sich nur so dagegen, an die Tat eines kranken Mannes zu glauben? Aber wenn es nicht Becker gewesen sein kann, wer dann? Makus nahm Zettel und Bleistift und schrieb Namen auf: Thomas, Renate, Wendler, Konrad, Schrottfahrer. „Unter denen werden sie den Täter suchen“, sprach er vor sich hin und umrandete den Namen Konrad mit Rotstift. Er starrte gebannt auf das Blatt, als müßte er einen Code dechiffrieren. Nach einer Weile griff er erneut zum Rotstift und strich das Wort Renate dick durch, bis es 113
nicht mehr zu erkennen war. Man wird doch die Mutter eines getöteten Kindes nicht zwischen die Mühlsteine nehmen! Sicher ist es jedoch nicht, sagte er sich und dann entschlossen: Gerade darum muß ich dranbleiben. Dorothea Wendler erledigte im Warenhaus einige Einkäufe und ging dann nach Hause. Es kam ihr vor, als würden die Menschen, die ihr früher bewundernd nachgesehen hatten, jetzt zur Seite blicken. Nein, in dieser Stadt hält mich nichts mehr, redete sie sich zu. Am liebsten hätte sie die Modenschau im Kulturhaus abgesagt. Die Furcht, daß die Polizei mißtrauisch werden könnte, wenn sie so schnell wieder fit war, sprach dafür, aber der Gedanke an die Publicity, die sie für ihren Start in Berlin brauchte, gab schließlich den Ausschlag, daß sie es nicht tat. An dem Tag sollte Makus die meisten Aufnahmen für die Bildserie fotografieren, ein Ausfall hätte längeren Aufschub bedeutet. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren. Dorothea Wendler war ehrgeizig. Das Ziel, das sie sich gestellt hatte, wollte sie unbedingt erreichen. Zum Ehrgeiz gesellte sich Eitelkeit, was sie auch zugab. „Eigentlich wird meine Eitelkeit nur von deiner übertroffen“, hatte sie einmal zu Thomas Schulenberg gesagt. Der hatte schallend gelacht und dann geantwortet: „Warum soll ich nicht eitel sein, wenn eine Frau wie du neben mir geht? Ich erkenne es doch an den Nasen unserer Spießbürger, wie sie mich beneiden.“ „Wenn du das so siehst, bist du keinen Deut besser, mein Lieber“, hatte sie dem Mann erklärt, der dann eine Weile verstimmt war. Als der Fahrstuhl in ihrem Stockwerk hielt, bemerkte sie, daß vor ihrer Wohnung ein Mann stand. Er machte keinen guten Eindruck. Der Overall, den er trug, war beschmutzt, die Haare ungekämmt. Schläft der Kerl im Stehen? überlegte die junge Frau. Sie ging an der Gestalt 114
vorbei. Als sie aufschloß, fühlte sie sich plötzlich am Arm gepackt. „Sind Sie verrückt!“ Sie schrie und wollte sich losreißen, doch der Mann hielt ihr den Mund zu. „Ich tue Ihnen nichts. Brauchen keine Angst zu haben. Komme bloß wegen Ihrem Freund. Sie wissen, welchen ich meine?“ Dorothea Wendler verspürte Ekel vor dem Mann. „Verlassen Sie meine Wohnung!“ forderte sie empört. „Das kommt auf Sie an! Trinken wir eine Flasche zusammen?“ „Sie sollen auf der Stelle verschwinden!“ Das Mannequin versuchte die Tür zu öffnen, mit einem Sprung war der Fremde dazwischen. „War nicht leicht, Sie zu finden. Man muß schon gute Kumpel haben. Sie kennen mich doch?“ Er zog die Frau von der Tür weg. „Konrad! Erinnern Sie sich nun? Konrad vom Schrottplatz.“ Dorothea Wendler trat einen Schritt zurück. Der Platzwart ging an ihr vorbei in die Küche und setzte sich dort auf einen Stuhl. Er zog eine Bierflasche aus der Tasche und riß den Verschluß auf. „Wollen Sie?“ Ehe das Mannequin ein Wort sagen konnte, hatte Konrad die Flasche angesetzt. Er trank sie in einem Zug aus. „Läuft wie Öl?“ Er schnalzte laut mit der Zunge. Neben dem Kühlschrank stand ein Papierkorb. Mit gezieltem Wurf warf der Platzwart die leere Flasche hinein. „Ordnung muß sein, wo Ordnung ist. Mich hat die Polizei beim Arsch, weil ich nicht für Ordnung bin. Aber Ordnung muß sein, wo Ordnung ist. Das habe ich wohl schon gesagt?“ Er sah Dorothea Wendler fragend an. Es kommt etwas auf dich zu, mit dem du nicht gerechnet hast, etwas, das mit dem Tod Tom Schulenbergs zusammenhängt. Was kann der Mann wissen? hämmerte es im Kopf des Mannequins. Sie fragte scharf: „Was wollen Sie eigentlich?“ 115
„Darauf kommen wir noch zu sprechen. Ich sage bloß: Man soll Ärger aus dem Weg gehen, wenn’s ’ne Umleitung gibt. Versteht sich?“ Das Gefühl des Angewidertseins verstärkte sich in Dorothea Wendler. Der Mann zog sie mit seinen Blicken aus und sie konnte sich nicht dagegen wehren. „Hübscher Käfer sind Sie!“ Konrad tastete nach der Frau, die rasch auswich. „Glauben Sie ja nicht, daß ich das heute nicht mehr bemerke. Meine Frau ist tot. Schon lange. War ein braves Weib. Wenn so ein Aas weg ist, hat der Mann das Recht, sich wieder nach anderen umzusehen. Er ist nicht mehr verheiratet. Er geht nicht mehr fremd wie gewisse andere Herren. Verstehen Sie? Verstehen Sie! Das weiß ich. Muß ja sein, ist menschlich.“ Nur nicht zeigen, wie sehr du dich fürchtest. Dorothea Wendler zog sich eine Schürze über das Kleid. Ein altes Stück, das sie trug, wenn sie die Wohnung putzte. „Sagen Sie, was Sie wollen, dann verschwinden Sie!“ „Ich bin kein Sittenstrolch, war immer treudeutsch. Ihr Haar gefällt mir. Schönes, langes, sehr langes Haar. Ist doch echt?“ Er versuchte nach dem Kopf des Mannequins zu greifen, es gelang ihm nicht. „Braunes Haar habe ich schon einmal gesehen. Kastanienbraun. Wie das hier, Madam. Wissen Sie, wo?“ „Sie brauchen nur auf die Straße zu gehen, da sehen Sie es hundertfach!“ „Aber, aber. Wozu auf die Straße? Direkt vor mir habe ich’s gesehen … auf dem Schrottplatz in einem alten Auto. Das Haar gehörte einer Madam, und die Madam gehörte bestimmt zu dem Vater eines gewissen kleinen Jungen. So einfach ist die Geschichte.“ Dorothea Wendler schwieg. „Jetzt sind Sie stumm! Kann ich verstehen. Glauben Sie ja nicht, daß ich den Kerl von der Polizei mag. Aber der muß auch sein Geld verdienen und will mir darum an den Kragen. Winken Sie nicht ab, es ist schon so. In 116
ein paar Tagen bin ich arbeitslos. Bestimmt! Ernsthaft arbeitslos. Trotzdem habe ich den Bullen nichts gesagt. Heute früh nicht, später auch nicht. Aber wer kann wissen, was morgen ist? Ich nicht, Sie nicht, keiner!“ Er torkelte durch die Küche. „Haben Sie vielleicht irgendwo ’ne Flasche Bier? Kann auch eine Büchse sein!“ Was will der Mann überhaupt? überlegte die Wendler. Ich muß etwas tun. Irgend etwas, als wäre er gar nicht da. Sie nahm ein Netz mit Kartoffeln aus der Speisekammer und fing an, diese zu schälen. „Ich habe Arbeit“, sprach sie wie nebenbei. „Wenn Sie alles gesagt haben, was Sie loswerden wollten, können Sie jetzt gehen.“ Sie gab ihm ein Geldstück. „Da sind zwei Mark, kaufen Sie sich meinetwegen Bier. Bei mir gibt es nichts.“ „Danke für die Anzahlung“, posaunte Konrad und öffnete den Kühlschrank, sah hinein. „Tatsächlich! Kein Bier da. Habe ich eben Anzahlung gesagt? Ich glaube, ich habe es gesagt. Wollen Sie wissen, wie ich das meine? Daß ich im Dreck stecke … wie andere auch … haben Sie schon bemerkt? So dumm sind Sie nicht. Da kommt eine Revision und noch eine Revision. Ein Schrottplatz ist keine Entbindungsstation, wo alles aufs Gramm gewogen wird. Aber, Madam, was ich weiß, das weiß ich! Die Frau mit den braunen Haaren, die gibt’s. Schade, Sie gefallen mir sonst gut.“ Dorothea Wendler warf eine Kartoffel in das Spülwasser, daß es aufspritzte. Ohne den unheimlichen Besucher anzusehen, sagte sie laut: „Sie müssen wissen, was Ihre Pflicht ist!“ „Jaja“, lallte Konrad. Er zog aus der Hosentasche Geld, zählte es. „Vier Mark dreißig! Nicht viel. Braune Madam, ich schlage Ihnen vor, ich sage gar nichts. Still ruht der See, und Konrad hält sowieso lieber den Mund. Den öffnet ein Gescheiter nur zum Trinken. Dann aber weit! So weit! Gut, was?“ 117
Laß dich auf nichts ein. Die Polizei wird solchem Kerl doch nicht glauben! Dorothea Wendler goß das Wasser ab und beachtete Konrad nicht. „Ob Sie mich verstanden haben, will ich wissen!“ Konrad schlurfte durch die Küche. Plötzlich hielt er das Messer, das auf dem Tisch gelegen hatte, in der Hand. „Packen Sie das Messer weg“, sagte die Frau bestimmt. Sie wunderte sich selbst, wie ruhig sie blieb. „Keine Angst, ich tue Ihnen nichts. Sollen nur sehen, wie schnell so ’n Ding passieren kann. Oder wissen Sie das auch … aus Erfahrung?“ Er warf das Messer in eine Ecke. Dorothea Wendler öffnete die Tür. „Gehen Sie jetzt. Verschwinden Sie, schnell!“ Der Platzwart rührte sich nicht. „Das ist es genau, was ich will. Verschwinden. Abhauen. Versteht sich? Und Sie werden mir dabei helfen!“ Mit einemmal klangen seine Worte fast flehend: „Bitte, helfen Sie mir doch …“ Die Wendler legte die Schürze ab. Sie räumte die Schüssel mit den geschälten Kartoffeln weg, wischte mit einem Tuch über den Tisch, hob das Messer auf und legte es in das Abwaschkörbchen. Dann ging sie in den Korridor. Sie betrachtete im Spiegel flüchtig ihr Gesicht und fand, daß es abgespannt, müde aussah. Hinter ihr schwankte der Platzwart. Ohne sich um den Mann zu kümmern, nahm sie den Mantel vom Bügel. „Was soll das?“ lallte Konrad und sah sie verblüfft an. Er verstand nicht, daß die Frau sich benahm, als wäre er überhaupt nicht anwesend. Dorothea Wendler öffnete die Korridortür. „Ich hole die Polizei. Meinetwegen können Sie warten.“ „Mörderhure! Nicht die Polizei!“ brüllte Konrad, verfiel aber gleich wieder in den bittenden Ton. „Nicht noch einmal die Polizei!“ Das Mannequin fühlte, daß es jetzt eine Chance gab, den Betrunkenen loszuwerden. Sie ließ die Tür weit ge118
öffnet. Wie ein Pfeil schoß Konrad aus der Wohnung, sein Keuchen war noch zu hören, als er auf der Treppe nicht mehr zu sehen war. Die Wendler ging in die Wohnung zurück. Sie trat ans Fenster und atmete die frische, kalte Herbstluft ein. Konrad stand in der Nähe des Hauses. Er redete unentwegt auf einen Mann ein, der ihn offenbar zu beschwichtigen versuchte. Konrad zeigte immer wieder auf das Haus und schüttelte drohend die Faust. Schließlich schwang er sich auf ein Fahrrad, kippte um, schob das Vehikel ein Stück, stieg erneut auf und bog um die Ecke. Dorothea Wendler schaute zum Gebirge. Auf dem Teufelsstein sah sie noch Lichter in der Gaststätte. Das Urseltal, tief eingeschnitten zwischen den Gipfeln, erschien wie ein Sattel, der die eine Höhe mit der anderen verband. Sie begriff, daß der schmutzige Gast die Drohungen nicht nur ausgestoßen hatte, weil er betrunken war und die Kontrolle verloren hatte. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen und überlegte, mit wem sie darüber reden könnte. Ein, Satz hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt: Die Frau hatte langes, braunes Haar! Einem Mann in dem Zustand kann die Polizei nicht glauben! sagte sie sich immer wieder, um sich zu beruhigen, doch stets meldeten sich Zweifel. Dorothea Wendler wußte, daß es nur einen Menschen gab, mit dem sie jetzt sprechen konnte, aber sie zögerte noch. Nach einer Weile fuhr sie doch nach unten. Die Telefonzelle stand direkt vor dem Haus. Dorothea Wendler wählte die Nummer der Schulenbergs. Obwohl sie nicht darüber sprachen, wußten Renate und Thomas Schulenberg, daß sich ihr Leben grundsätzlich verändern würde. Probleme, die zwischen ihnen standen, hatten sie bisher über lange Zeit vor sich hin und damit 119
ungelöst beiseite geschoben. Jetzt begriffen sie, daß die Auswege, die sie gesucht hatten, keine Basis dafür sein konnten, um die Ehe zu sichern. Thomas Schulenberg hatte sich außerhalb der eigenen vier Wände eine Welt aufgebaut. Renate vertraute sich in allen Dingen Fred Makus an. Wenn auch der Fotograf stets bereit war, die Sorgen der Frau anzuhören, ihr einen Rat zu geben, so merkte Renate Schulenberg nun, daß dieser Weg niemals zu einer Lösung der Konflikte führen konnte, daß das nur durch eine rückhaltlose Klärung der Probleme zwischen den Eheleuten zu erreichen war. Den Mut dazu hatten sie bisher noch nicht gefunden. Als Dorothea Wendler anrief, meldete sich Schulenberg. „Ich bin es“, sagte das Mannequin. „Erkennst du mich?“ Thomas Schulenberg war dem Mannequin seit ihrer Trennung konsequent aus dem Weg gegangen, und auch sie hatte nach dem letzten Gespräch zu dritt nie wieder seine Nähe gesucht. Um seine Überraschung über ihren Anruf zu verbergen, sagte er kurz: „Was willst du?“ Die Wendler schwieg. Schulenberg wurde ungeduldig. „Was ist denn?“ Er ahnte nicht, daß die Frau angestrengt überlegte, wie sie es aussprechen müßte, damit der Mann verstand, was sie quälte. Er rief: „Hallo! Bist du noch da?“ und dann: „Wolltest du nur prüfen, ob ich deine Stimme erkenne? Das wäre ein dummer Scherz!“ „Nein, natürlich nicht“, sagte die Wendler leise. – „Der Schrottplatzverwalter war bei mir. Der schmutzige Kerl …“ Schulenberg ließ die Frau nicht ausreden. „Konrad? Was wollte der bei dir?“ „Er wollte Geld. Es war so häßlich, Thomas. Er bedrohte mich, beschimpfte dich und sagte schließlich, er hätte einmal … eine Frau an der Stelle gesehen …“ 120
„An welcher Stelle?“ „An der … wo … am Tatort. Vorher … und dann sprach er immer von braunen Haaren. Und daß er der Polizei noch nichts gesagt hätte.“ „Was geht das uns an? Ich weiß wirklich nicht …“ Jetzt fiel ihm das Mannequin ins Wort. „Thomas, wenn der Mann auch betrunken war, er wußte genau, was er sagte. Das hatte Sinn!“ Schulenberg begriff nicht. „Sinn? Ich sehe keinen Sinn!“ Nun schrie die Wendler wirklich. „So weit wirst du dich doch noch erinnern: Ich habe braunes Haar!“ Mit einemmal verstand der Mann, warum die Frau so erregt war. Er versuchte sie zu beruhigen. „Das ist doch lächerlich! Viele Frauen haben braunes Haar. Auch Renate!“ Erneut blieb es für Augenblicke still am anderen Ende der Leitung. Dann sagte das Mannequin: „Daß ich mit dem Verbrechen nichts zu tun habe, weiß ich.“ „So ist das!“ Schulenberg wurde wütend. „Soll das eine Anspielung auf meine Frau sein? Das ist unfair!“ Am liebsten hätte er den Hörer eingehängt, bemühte sich dann aber doch noch um ein paar Worte im sachlichen Ton. „Wenn diese Gestalt etwas mit Toms Tod zu tun hatte, vorausgesetzt, es gibt sie wirklich, werden die Kriminalisten schnell reagieren. Handelt es sich um einen kläglichen Erpressungsversuch des Platzwarts, wird das genauso rasch nachzuweisen sein. Ich glaube, dein Anruf war überflüssig!“ Er legte den Hörer auf und bereute es im gleichen Augenblick, das Gespräch so abrupt abgebrochen zu haben. Aus dem Wohnzimmer rief Renate. „Ich komme gleich“, sagte er und überlegte, ob er seine Frau darüber informieren sollte, was er eben erfahren hatte. Das Ferienheim der Sächsischen Wirkwaren unterschied sich in mancher Hinsicht von anderen Gebäuden, die 121
dem gleichen Zweck dienten. Deutlich wurde das besonders im Vergleich zum benachbarten Haus, das dem Fischkombinat gehörte. Die Leute von der Küste hatten den alten Bau in ein modernes Hotel umgewandelt. Bei den „Wirkern“, wie sie allgemein genannt wurden, war man von einer anderen Konzeption ausgegangen. Intimität herrschte überall vor, Folklore dominierte. Liebevoll war manches zusammengetragen worden, das die Räume der unteren Etage, zu denen das Speiserestaurant, ein Aufenthaltsraum, Lesesaal und die beliebte Punschstube gehörten, in ein kleines Museum verwandelt hatte. Auch die Gästezimmer des Hauses waren dem Stil angepaßt, und Urlauber, die das Heim kannten, bemühten sich meistens, hier unterzukommen. Seit einigen Jahren gab es noch den Südflügel. Das war ein Anbau, der zum allgemeinen Leidwesen, besonders dem der Heimleiterin, im Bauhausstil gehalten war. Dafür bot er andere Vorteile, vor allem einen glänzenden Blick auf das Massiv des Teufelssteins und auf die, an dessen Fuß errichtete Sprungschanze. „Ehrenloge kostenlos“, sagte Frau Brehmer. Im Südflügel lagen auch die modernen Wirtschaftsräume, in denen andere Ferieneinrichtungen mitversorgt wurden. Das war wieder ein langer Tag, stellte Frau Brehmer fest, die noch spät am Schreibtisch saß und schriftliche Arbeiten erledigte. Vor ihr standen fünf Vasen, die Preise für das Urlaubersportfest, das am nächsten Tag stattfinden sollte. Schön sind die nicht, fand die Heimleiterin. Sie nahm sich den Plan der Wettkämpfe vor. Dreierhopp, Weitsprung und Hantelstemmen standen auf dem Programm. „Die Hanteln!“ Frau Brehmer stöhnte. Ihr war eingefallen, daß vor Wochen Sportgeräte ausgeliehen wurden und bei der Rückgabe die Hanteln nicht dabei waren. Die Angelegenheit ließ ihr keine Ruhe, sie ging in den 122
Keller. Hier gab es einen Durchbruch zum Südflügel, wo der Raum lag, in dem Sport- und Spielsachen aufbewahrt wurden. Sie erblickte Skier und Schlitten aufgereiht, daneben hingen an der Wand Luftgewehre, Tennisschläger und einige Sprungseile. Im unteren Fach eines Regals mit Trainingsanzügen lagen die Hanteln. „Eine Sorge weniger“, sagte Frau Brehmer erleichtert. Sie ging zurück und kam durch das Reich Rainer Beckers, den Heizungskeller. Der war wie immer sauber und aufgeräumt. Auch hier hingen Kinderbilder an der Wand. Eigentlich hätte ich dem Oberleutnant das einmal zeigen sollen, dann hätte er noch einen anderen Eindruck von Rainer bekommen. Wie es ihre Gewohnheit war, schaute sie auf Druckmesser und Wasserstandsanzeiger der Heizungsanlage. Es war alles in bester Ordnung. An einem Haken hing der Arbeitskittel des Heizers. Der ist nicht gerade ein Aushängeschild, dachte die Frau, nahm aus einem Spind einen sauberen Mantel und vertauschte ihn gegen den verschmutzten. Im Keller war auch die Wäscherei untergebracht. Im Vorraum standen Behälter, in die die schmutzige Wäsche geworfen wurde. Frau Brehmer legte Beckers Kittel dazu. Sie hatte schon die Türklinke in der Hand, als sie noch einmal zurückging. Vielleicht ist etwas in den Taschen, das wandert dann mit in die Maschine. Sie fand ein paar Pfennige, Schrauben und eine abgerissene Eintrittskarte. „Sieh mal an, Rainer geht ins Kino!“ Als sie genauer hinsah, erschrak sie. In der Hand hielt sie die Eintrittskarte für ein Fußballspiel. Das Datum war mit einem normalen Bürostempel daraufgedruckt. Es stammte vom gleichen Tage. Hauptmann Rüdiger, sonst immer vor seinen Mitarbeitern im Dienst, kam erst, als diese alle schon anwesend 123
waren. „Sie haben sicher gut geschlafen?“ fragte er den Oberleutnant. „Ganz im Gegenteil. Unser Jüngster ist krank.“ „Was gibt es Neues?“ „Nichts.“ „Was Sie nicht sagen.“ Helga Bathe registrierte den ironischen Unterton, der in der Stimme ihres Chefs mitschwang. Sie erwartete, daß der Hauptmann eine Überraschung servieren würde. Doch der rieb sich das Kinn und schnauzte ärgerlich: „Wann wird man es in diesem Land, das Maschinen von höchster Präzision baut, endlich fertigbringen, vernünftige Rasierklingen zu fabrizieren!“ Die junge Frau stellte vor den Hauptmann eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Der Dicke trank, wandte sich dann zu Helm und sagte freundlich: „Becker war auf dem Fußballplatz.“ Der Oberleutnant verzog sein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Das ist unmöglich!“ rief er impulsiv. „Doch!“ Rüdiger zog gelassen eine Eintrittskarte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. „Hier ist der Beweis!“ „Die stammt von Becker?“ „Aus seinem Arbeitskittel. Wahrscheinlich hat er gestern noch spät nach den Öfen gesehen, dabei den Kram aus dem Anorak in die Kitteltasche gesteckt. In der Nacht rief die Brehmer, sie hat die Sache entdeckt, beim Wachhabenden an und verlangte Sie zu sprechen. Da Sie Glücklicher kein Telefon besitzen, war ich Mode. Weil mir die Geschichte wichtig genug war, habe ich mich früh auf den Weg gemacht und bin ihr nachgegangen. Becker stellt sich dumm und betont immer wieder, was die da mit dem Ball machen, interessiere ihn nicht. Das mag schon stimmen, nur an diesem Tag offensichtlich doch.“ 124
Der Oberleutnant hieb mit einem Lineal durch die Luft. „Das ist ja ein starkes Stück. Jetzt sollten wir wirklich …“ „Immer mit der Ruhe!“ Rüdiger kannte die gelegentlichen Temperamentsausbrüche des Kollegen. „Mit Schreien kommen wir nicht weiter. Ordnen Sie bitte die Geschichte da ein, wohin sie gehört. Kein Mensch kann beweisen, daß im Stadion Kinder belästigt wurden. Denken Sie nur an den angeblich zerrissenen Anorak. Es wurde alles maßlos übertrieben.“ Der Oberleutnant fuchtelte immer noch mit dem Lineal herum. „Offen bleibt trotzdem, warum lügt der Heizer?“ „Ich denke, das werden wir heute noch erfahren.“ Die Wache meldete, daß der Betriebsleiter des VEB Schrott und ein weiterer Mitarbeiter des Betriebes Hauptmann Rüdiger sprechen wollten. „Es sei sehr wichtig, wird behauptet“, fügte der Posten hinzu. „Den kenne ich. Das ist einer, der nach Paragraphen lebt und glaubt, nur so läßt sich leiten. Jetzt ist er geschafft, weil er eventuell verantwortlich gemacht werden kann für die Schlamperei da draußen!“ Helms Zorn entlud sich auf den angekündigten Besucher, den er bei den ersten Ermittlungen kennengelernt hatte. „Eventuell?“ sagte Rüdiger. „Na, das werden wir gleich richtigstellen.“ Der Direktor war ein älterer Mann, sein Begleiter wesentlich jünger. „Wir kennen uns noch nicht …“, sagte er zu Rüdiger und stellte sich vor. „Das ist der Kollege Sennewald aus unserem Stadtlager“, fügte er hinzu. Rüdiger bot den beiden Männern Platz an und eröffnete das Gespräch. „Also, Sie wollten mich sprechen?“ „Ja, man hat mir gesagt, daß Sie die Geschichte bearbeiten, die bei uns passiert ist.“ „Gibt es etwas zu berichten?“ Sennewald wollte sprechen, doch der Direktor winkte 125
ab. „Natürlich. Da es Konrad betrifft, nach dem sich Ihre Kollegen ausführlich erkundigten, hielt ich es für richtig, Sie umgehend zu informieren.“ „Bitte“, sagte der Hauptmann. „Schießen Sie los!“ „Konrad ist weg.“ Sennewald schaltete sich ein. „Ich habe es heute früh bemerkt. Wir hatten …“ Der Direktor gab seinem Kollegen erneut ein Zeichen, daß zunächst er reden wollte. „Wir hatten gestern einen Leitungsbeschluß herbeigeführt, nach dem Konrad sofort abgelöst werden soll.“ „Das wurde wohl auch Zeit“, sagte der Hauptmann. „So einfach ist die Sache nicht. Man kann gegen Konrad sagen, was man will, ein Fachmann ist er. Nun brauchen wir jemand, der ihn vollwertig vertritt. Kollege Sennewald kommt aus unserem Stadtlager. Das sagte ich schon. Dort wird Spezialschrott angeliefert. Es würde zu weit führen, das System zu erläutern. Kurz gesagt, Kollege Sennewald übernimmt ab heute den großen Platz.“ „Einen Augenblick“, bat der junge Mann. „Vorübergehend! Nur vorübergehend!“ „Auf diese arbeitsrechtlichen Aspekte brauchen wir doch hier nun wirklich nicht einzugehen, Kollege Sennewald!“ Der Direktor wollte seine Ausführungen fortsetzen, fand aber den Anschluß nicht. Sennewald merkte, daß er jetzt endlich zum Zuge kommen konnte. „Wie es sich gehört, ging ich heute morgen um sechs Uhr zum Platz. Zum großen Platz. Unser Abteilungsleiter sollte dort sein und ein Kollege von der Gewerkschaft. Wegen Konrad …“ „Richtig!“ Der Direktor erinnerte sich wieder. „Sie waren alle da, bloß Konrad fehlte. Weg war er, und weg blieb er.“ „Moment“, unterbrach der Hauptmann. „Gestern sprachen wir ihn noch draußen, lange kann er demnach 126
nicht fort sein. Liegt er vielleicht irgendwo und schläft einen Rausch aus?“ „Das dachte ich auch, als die Kollegen anriefen. Doch die Situation …“ Sennewald schlug die Hände zusammen. „Das habe ich noch nicht gesehen, was da los war! Sonst hätten wir den Chef gar nicht benachrichtigt. Wenn das kein klares Geständnis ist! Konrad hat bestimmt mehr mit dem Kindermord zu tun, als wir ahnen. Von seiner Ablösung wußte er nämlich nichts.“ Rüdiger klopfte auf den Tisch. „Bitte sachlich und der Reihe nach. Außerdem möchte ich daran erinnern, daß bei uns so leicht kein Mensch verlorengeht.“ Der Direktor nickte zustimmend. „Das weiß ich auch. Bloß, Konrad hat draußen alles kurz und klein geschlagen.“ Sennewald fuchtelte wild mit den Händen. „Er hat das Büro völlig zertrümmert!“ „Die Bude“, korrigierte die Bathe, wofür sie einen mißbilligenden Blick des Hauptmanns kassierte. Doch der Direktor stimmte zu. „Wir nennen sie Verwaltungsbaracke, wissen natürlich, daß sie diese Bezeichnung nicht verdient. Nun, was noch daran heil war, ist jetzt kaputt. Fenster, die Tür, Stühle, der Tisch, die Regale. Problematisch wird es vor allem dadurch, daß der Mann fast alle schriftlichen Unterlagen vernichtet hat. Es gibt draußen zwar keine wichtigen Akten, aber doch Abrechnungen, Lieferscheine, Quittungen. Also Buchhaltungsmaterial. Zum Teil hat er die Papiere verbrannt, zum Teil zerrissen und im Gelände verstreut. Und das alles zu einem Zeitpunkt, an dem die Tiefenprüfung angesetzt war.“ „Diese Revision“, sagte Rüdiger, „erfolgte erst auf Anstoß meiner Kollegen, die unmittelbar nach der Entdeckung des toten Kindes auf dem Platz waren.“ „Fällig war sie natürlich schon lange. Ich weiß auch nicht, warum sie immer wieder aufgeschoben wurde. 127
Arbeitskräftemangel da, dort, hier!“ Der Direktor machte ein bekümmertes Gesicht. „So kann man es auch sehen und alles entschuldigen. Ehrlich, Direktor … gründlich kontrolliert wurde nie. Über den Punkt wollen wir jedoch heute nicht streiten. Es ist richtig, daß Sie zu uns gekommen sind. Ob das geschilderte Durcheinander etwas mit unserem Fall zu tun hat, läßt sich jetzt noch nicht sagen. Sicher wollte Konrad alle Spuren seiner üblen Geschäfte verwischen.“ Der Gerügte murmelte jaja und senkte schuldbewußt sein Haupt. „Jetzt interessiert mich noch, wann Konrad zum letzten Mal gesehen wurde.“ Der Direktor und Kollege Sennewald verständigten sich durch Blicke. „Gestern abend gegen zwanzig Uhr“, erklärte der Meister. Der Direktor fügte hinzu: „Unser Hauptbuchhalter traf ihn sternhagelvoll in der Nähe des Springbrunnens bei den Hochhäusern.“ „Sternhagelvoll stimmt nicht ganz“, meinte Kollege Sennewald. „Er muß es ja gewesen sein! Wenn einer das tut!“ ereiferte sich der Direktor, schränkte dann aber ein: „Jedenfalls im Stoff stand er.“ „Das fällt doch wieder auf unseren Betrieb, dachte sich unser Kollege. Weil er Aufsehen vermeiden wollte, versuchte er Konrad in seinen Wagen zu ziehen. Zum Schrottplatz wollte er ihn fahren. Aber der Kerl wurde rabiat und kletterte schließlich auf ein altes Fahrrad, von dem er erst ein paarmal runterfiel. Schließlich muß er’s doch geschafft haben und ward seitdem nicht mehr gesehen!“ Rüdiger stand auf. „Ja, das wär’s wohl. Nein! Noch etwas. Ist der Platz gesichert?“ Sennewald warf sich in die Brust. „Selbstverständlich, man weiß doch, was in solchen Situationen zu tun ist. Ich ließ das Tor sofort schließen. Nur angemeldete Fahr128
zeuge kommen durch, aber nicht an die Baracke heran. Drei, vier Krauter haben wir weggeschickt, auch einen Typ, der bestimmt wegen Privatgeschäften aufkreuzte. Das fällt von nun an sowieso flach!“ Zur Bekräftigung hieb der Meister auf den Schreibtisch. Rüdiger reichte dem Mann die Hand und sagte: „Achten Sie unbedingt darauf, daß von Ihrer Seite aus keine Gerüchte in die Welt gesetzt werden. Merken Sie sich: Bisher ist nichts weiter passiert, als daß ein Trinker randalierte und seinen Arbeitsplatz verließ.“ Sennewald wie der Direktor versprachen, diesen Hinweis strikt zu beachten. Schon beim Hinausgehen gab der Betriebsleiter seinem Mitarbeiter erste Anweisungen. Als die beiden das Zimmer verlassen hatten, legte der Hauptmann die nächsten Schritte fest. „Warten wir noch. Sollte sich Konrad allerdings bis dreizehn Uhr nicht gemeldet haben, wird die Fahndung eingeleitet.“ Oberleutnant Helm schob dem Hauptmann über den Tisch ein Blatt Papier zu. „Kann ich nun endlich meinen Bericht über den Geologen loswerden?“ „Damit rücken Sie erst jetzt heraus!“ brummte Rüdiger und vertiefte sich in die Notizen. „Sieh mal an!“ rief der Hauptmann, nachdem er die ersten Absätze gelesen hatte. „Der Herr ist doch interessant! Es gibt Zusammenhänge!“ „Geringe. Pech für den Mann, daß er ausgerechnet auch an dem Tag, auf den es ankommt, auf dem Schrottplatz war. Er hatte sich mit Franz getroffen …“ Rüdiger tadelte: „Steht ja hier, lese ich selbst!“ Bald unterbrach er die Lektüre erneut. „Wissen Sie, was mir fehlt? Angaben über weitere Personen, die sich dort tummelten.“ Helm war mit seinen Gedanken bei dem Heizer. Der Oberleutnant kam einfach nicht darüber hinweg, daß er dem Mann auf den Leim gegangen war. Der Hauptmann stieß den Oberleutnant mit einem 129
Lineal an. „Ich fragte Sie, wer außer den hier Genannten unserem Erdölcasanova auf dem Platz noch begegnet ist?“ „Ich hätte es erwähnt, hätte er mir jemand genannt.“ „Manchmal kann man etwas vergessen.“ „Wenn Sie denken, daß mit Frau Schulenberg mehr ist, als er sagte, irren Sie. Die Dame in der Wohnung war die Schulenberg nicht, und die Wendler steht nicht zur Diskussion.“ „Haben Sie durchs Schlüsselloch gelinst?“ „Ich habe umgehend bei den Schulenbergs angerufen und bekam die Frau auch gleich an den Apparat.“ Rüdiger verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben angerufen! Was haben Sie denn gesagt?“ „Das, was ich im ersten Studienjahr lernte: Entschuldigen Sie, falsch verbunden.“ Helga Bathe, bisher nur Zuhörerin, mischte sich ein. „Trotzdem stimmt etwas nicht. Erstens: Bemerkte Franz die Person im Škoda, muß Anders sie auch gesehen haben. Er war vor dem Klempner draußen und blieb auch noch, als der wegfuhr. Hat der Mann die Person erkannt und will sie oder sich selbst aus dem Spiel halten? Zweitens: Wenn Anders wirklich keinen Menschen sah, schwindelt der Klempner und macht sich äußerst verdächtig. Es gibt aber noch ein Drittens! Der Škoda fuhr nicht bis zum Haupttor. Das würde Konrad, Anders und Franz entlasten, denn möglicherweise saß der Täter am Steuer. Ich schlage vor, nach den Angaben des Klempners eine Zeichnung von dem Škodafahrer anzufertigen.“ Rüdiger starrte nachdenklich vor sich hin. „Punkt drei würde bedeuten, wir haben eine Unterlassungssünde begangen …“ Die junge Frau widersprach. „So sehe ich es nicht. Bisher haben wir uns immer nur gefragt, wie der Junge auf den Platz gekommen ist. Mit wem? Allein? Ob er durch 130
das Haupttor ging, spielte kaum eine Rolle. Jetzt glaube ich, das muß man unbedingt klären. Die Person im Škoda, vorausgesetzt, es gibt sie, wird immer interessanter. Wir brauchen die Zeichnung. Finden wir diesen ‚fliegenden Holländer‘, könnte der Fall gelöst sein.“ „Entpuppt er sich als Phantom?“ „Dann müssen wir uns gründlich mit Karl-Heinz Franz befassen!“ Der November versprach schön zu werden. Die renovierten Fassaden der alten Fachwerkhäuser auf dem Marktplatz leuchteten in der Sonne, und plötzlich waren auch wieder Touristen da. Helga Bathe nannte sie immer die „Bauchlinsen“, das bezog sich auf die umgehängten Fotoapparate. Auch zum Teufelsstein brachen die Wanderer auf. Da wird Leichsenrings Mut zum Risiko belohnt, dachte der Leutnant und freute sich für den Gaststättenleiter auf dem Berg, der selbst in Zeiten, wo andere Ausflugslokale das Schild „Geschlossen“ zeigten, eine umfangreiche und den Gaumen anregende Speisekarte vorlegte. Alle Gespräche der Kriminalisten mit den Schulenbergs fanden mit Rücksicht auf den Zustand der Frau bisher in deren Wohnung statt. Dieses Mal war der Besuch vergeblich. Helga Bathe erfuhr im Haus, daß Renate Schulenberg wieder zur Arbeit gegangen war. Die Apotheke lag in einem Anbau des Rathauses. Über der Eingangstür, die noch Züge der Gotik zeigte, war das Gründungsjahr eingemeißelt: 1509. Die Rezeptur schloß sich an die Offizin an. Sie wurde von einer schönen Kreuzdecke überwölbt. Eine ältere Apothekerin arbeitete allein im Raum. „Frau Schulenberg ist fortgegangen. Sie wollte nicht lange wegbleiben.“ Die Frau im weißen Kittel, die mit Mörser und Pistill beschäftigt war, machte einen Lutherstuhl frei, der so recht in den Raum paßte. 131
„Wieviel Generationen mögen hier schon gearbeitet haben?“ fragte Helga Bathe, die sich interessiert umsah. „Das können wir Ihnen ganz genau sagen, Apotheker sind gründliche Leute. Hier wird eine Chronik geführt, die bis in das Gründungsjahr zurückreicht. Leider fehlen aus dem Dreißigjährigen Krieg die Angaben. Man kann behaupten, daß in diesen Wänden schon Mittel gegen Cholera und Pest gemixt wurden, aber auch Pülverchen gegen den bösen Blick und Tinkturen zum Bespritzen von Schränken, in denen Klopfgeister hausten.“ Trotz der Unterhaltung ließ sich die Frau in ihrer Arbeit nicht stören. „Sind Sie mit den Ermittlungen schon weitergekommen?“ erkundigte sie sich. „Das wissen wir selbst nicht.“ „Für Renate Schulenberg ist alles unfaßbar. Ich fürchte, sie wird den Schock nie überwinden. Vor allem lassen sie die vielen Gerüchte nicht zur Ruhe kommen.“ Die Kriminalistin sah zu, wie die Apothekerin Pulver auf die Balkenwaage häufte und dann konzentriert die Skale prüfte. Dann erzählte die Frau weiter. „Am unsinnigsten halte ich das Gerede über den Geisteskranken, aber gerade die Geschichte scheint Frau Schulenberg am meisten zu beunruhigen.“ „Warum?“ „Wie kam Tom an solchen Kerl? Es bedeutet doch, die Eltern hätten nicht genügend aufgepaßt. Ein solcher Vorwurf würde jede Mutter belasten, und meine Kollegin ist besonders sensibel. Was nutzt es, wenn wir ihr sagen, daß ihre Selbstvorwürfe unsinnig sind. Sehen Sie, Tom war ein Kind, das sich trotz aller Phantasie an Realitäten hielt.“ Die Kriminalistin fand Gefallen an der Frau. „Wir haben allerdings gehört, daß er – nennen wir es mal so – ‚romantische Begegnungen‘ geradezu suchte.“ „Genau das meine ich“, bestätigte die Apothekerin. „Ich habe es an meinem eigenen Jungen oft genug beo132
bachtet; ein modernes Gebäude, etwa der Fernsehturm, fasziniert, aber erkundet wird zuerst der finstere Gang, der von einer Kasematte übrigblieb. Da lockt das Abenteuer, es gibt etwas zu entdecken!“ „Stimmt! Wenn ich selbst einige Jahre zurückblicke …“ Helga Bathe schaute auf die Uhr. „Ist Frau Schulenberg mit dem Wagen unterwegs?“ „Nein. Herr Makus holte sie ab. Ihr Mann ist heute auswärts.“ „Ich weiß.“ Wenige Augenblicke danach kamen Renate Schulenberg und Fred Makus. „Ich war schon bei Ihnen“, erklärte die Kriminalistin, als sie den erstaunten Blick der Frau bemerkte. „Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?“ Fred Makus, der noch an der Tür stand, merkte, daß er überflüssig war. „Bis dann …“, sagte er und ging. Auch die ältere Apothekerin verabschiedete sich. „Ich bin im Labor, wenn ich gesucht werde“, rief sie der Kollegin zu. Renate Schulenberg zog den Mantel aus und den Kittel an. „Warten Sie schon lange?“ fragte sie. Die Kriminalistin überging die Frage. „Macht es eigentlich Freude, in solchem historischen Gemäuer zu arbeiten?“ „Es kommt wohl weniger auf den Raum als auf die Menschen an, die man darin trifft. Ich fühle mich hier sicher.“ „Schön, wenn man das sagen kann“, meinte die Kriminalistin. „Ich will Sie auch nicht lange stören, und schon gar nicht möchte ich Sie mit meinen Fragen quälen. Es ist jedoch nach wie vor wichtig für uns, zu wissen, wie Tom auf den Schrottplatz kam. Ist Ihnen dazu noch irgend etwas eingefallen?“ „Daß wir es nicht wissen, haben wir oft genug erklärt“, sagte Renate Schulenberg bestimmt. 133
„Natürlich. Uns ist jetzt aber bekannt, daß Tom zu anderen Kindern von einem alten Omnibus gesprochen hat, der da draußen steht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er zu Hause nichts davon erwähnte.“ „Der Junge redete oft über alte Fahrzeuge. Ihm genügte ein abgefahrener Reifen, um sich das dazu passende Auto vorzustellen. In dem Punkt kannte seine Phantasie keine Grenzen. Von einem Bus auf dem Schrottplatz hat er nie gesprochen. Wer hat Ihnen das eigentlich erzählt?“ „Herr Makus. Allerdings weiß der auch erst seit gestern davon.“ „Was Fred sich da wieder zusammengereimt hat! Daß es überall Schrottplätze gibt, ist mir bekannt. Wo sich einer in unserer Stadt befindet, wußte ich bis zur vorigen Woche nicht.“ Die Apothekerin griff in die Tasche ihres Kittels und zog eine Zigarettenschachtel hervor. „Wir rauchen eine Zigarette. Ich öffne das Fenster.“ Auf der Straße stand Fred Makus. Hoffentlich wartet der nicht auf mich, dachte die Kriminalistin. Sie legte die Zeichnung auf den Tisch, die nach den Angaben des Klempners angefertigt worden war. „Wir erhielten einen Hinweis, daß zur Tatzeit ein Škoda S 100 in der Nähe des Schrottplatzes gesehen wurde, wahrscheinlich fuhr ihn eine Frau.“ Sie schob der Apothekerin die Skizze zu. „Erinnert Sie die Abbildung an jemanden?“ Hauptmann Rüdiger hatte nicht unrecht, als er meinte, eigentlich wäre es ein nutzloser Versuch. Außer den Haaren, auf denen eine Mütze saß, einem Stück Nase und dem Ohr war vom Kopf nicht viel zu sehen. Renate Schulenberg nahm das Bild in die Hand und betrachtete es lange. Die Kriminalistin ließ ihr Zeit. „Nein!“ Die Apothekerin schob das Blatt zurück. „Wer soll das sein?“ „Wüßten wir’s, brauchten wir Sie nicht zu fragen.“ Renate Schulenberg paffte drei, vier Züge hinterein134
ander, blies den Rauch in den Raum. „Zwecklos, wirklich zwecklos!“ sagte sie und drückte die Zigarette aus. „Schade“, meinte die Bathe. Sie hatte ihr Notizbuch hervorgeholt und blätterte darin. „Bei unseren Ermittlungen erfuhren wir auch, daß Tom sich mit einem kleinen Mädchen, das er aus dem Kindergarten kannte, angefreundet hatte. Antje Anders meine ich. Bestand die Freundschaft zwischen den beiden bis zuletzt?“ „Die kleine Anders?“ Renate Schulenberg lehnte sich zurück. Sie überlegt ein wenig lange, fand die Kriminalistin. „Sie fragen mich doch nicht nach Antje, sondern nach ihrem Onkel … Ernst Anders? Ich kenne ihn gut. Allerdings nicht so, wie es wahrscheinlich manche Tratschmäuler annehmen. Anders ist ein Mann, der eigentlich nicht in unsere Kleinstadt paßt. Das Solide an ihm ist seine Unsolidität, aber auch das ist nicht richtig ausgedrückt. Er bringt es eben fertig und lädt nach einer Elternversammlung alle Frauen zu einem Drink ein. Sensationell für unsere Verhältnisse!“ „Natürlich tut er es nur, weil er mit einer bestimmten zusammen sein will?“ „Möglich. Daß er es macht, das imponiert mir! Glauben Sie mir, ich möchte auch so unbeschwert, so ohne Bedenken leben können.“ „Das möchten viele und können dann doch nicht über ihren Schatten springen.“ „So ist es, ja, denn auf die Dauer würde ich den Mann sicher nicht ertragen.“ „Vielleicht glauben Sie es nur, weil er überhaupt nicht zur Diskussion steht. Wissen Sie, welche Frau Herrn Anders zur Zeit etwas näher steht?“ „Der Punkt war nie Thema unserer Gespräche. Mich geht es nichts an, außerdem mag ich’s auch nicht, wenn sich ein anderer mit meinen Privatangelegenheiten befaßt.“ Frau Schulenberg sah aus dem Fenster und die 135
Kriminalistin ihr über die Schulter, Makus stand immer noch dort. „Herr Makus ist jetzt sicher eine gute Stütze für Sie. Die braucht man auch, ich weiß das aus eigener Erfahrung.“ „Mein Mann und Fred ergänzen sich gut. Manchmal wünschte ich mir, Thomas mit seinem Phlegma hätte etwas von Freds Temperament. Sie merken, ich bin nicht wunschlos …“ „Sie sagten, daß Tom sehr an Herrn Makus hing. Legten die vielen Geschenke den Grundstein dazu?“ Frau Schulenberg schüttelte den Kopf. „Makus gehört einfach zu uns, zur Familie. Mitunter ist er ein wenig anstrengend. Aber das kann man ihm nicht sagen. Er hat ja keinen anderen Menschen als uns, und wir haben eigentlich auch nur ihn“, fügte sie leise hinzu. Renate Schulenberg setzte sich und stützte den Kopf in die Hände. „Ist Ihnen doch noch etwas eingefallen?“ fragte Helga Bathe, die das Gefühl hatte, Frau Schulenberg wollte etwas sagen. „Nichts von Bedeutung. Sie werden es außerdem schon wissen. Gestern abend rief Frau Wendler an und erzählte meinem Mann, dieser Konrad wäre bei ihr gewesen. Angeblich hätte er vor Monaten eine Frau an jener Stelle gesehen, an der mein Junge gefunden wurde. Thomas hat sich sehr aufgeregt. Er sprach von Erpressung und wollte Sie informieren.“ „Von dem Vorfall hat Ihr Mann leider nichts erwähnt, als ich früh wegen der Skizze bei ihm war. Allerdings traf ich ihn schon in Mantel und Hut, fertig zur Abfahrt. Im übrigen wäre es Frau Wendlers Pflicht gewesen, uns sofort zu benachrichtigen. Wir werden sie danach fragen.“ Die Kriminalistin verabschiedete sich. Als die Kollegin aus dem Labor kam, stand Renate Schulenberg am Fenster und schaute auf die Straße. 136
Fred Makus war nicht mehr zu sehen. Gerade jetzt ist er nicht da, wo ich ihn so dringend sprechen möchte. „Sie haben auf mich gewartet?“ fragte Helga Bathe, die nicht sehr erfreut war, als der Fotograf vor der Apotheke auf sie zukam. „Hätte ich Sie vorhin nicht gesehen, hätte ich Sie später aufgesucht.“ Makus warf die Zeitung, in der er geblättert hatte, in einen Papierkorb. „Ich glaube, ich kann Ihnen nützlich sein. Wo gehen wir hin?“ „Am besten in die Dienststelle“, schlug die Bathe vor und dachte, hoffentlich fängt er nicht wieder von dem kranken Mann an. „Bitte, lieber in die Ratsstube, da sitzt sich’s angenehmer.“ Der Fotograf hakte die junge Frau ein und zog sie mit sich. Die Kriminalistin protestierte vergeblich: „So viel Zeit habe ich wirklich nicht.“ Makus schien in der Gaststätte gut bekannt zu sein, die Bedienung erschien sofort und servierte auch gleich das Bestellte. Makus legte ohne Kommentar die Rummelplatzfotos vor dem Leutnant auf den Tisch. „Was sagen Sie dazu?“ „Herbstmarkt! ‚Wer trifft schnell bei Wilhelm Tell?‘ Was wollen Sie von dem?“ „Nichts. Aber sehen Sie sich mal diesen Mann an. Hier wirft er, da hält er eine gewonnene Blume hoch … Er spricht mit Kindern. Bemerken Sie, wie unnatürlich der Mann die Kleinen anstarrt? Ich habe die Bilder gestern geschossen. Das ist der Kerl, über den so viel gesprochen wird.“ Helga Bathe schob die Fotos zusammen. „Sie stellen gewagte Behauptungen auf, Herr Makus!“ Die Kriminalistin rührte in der Tasse und beschäftigte sich intensiv mit den Zuckerstücken. „Wir kennen den Mann und haben ihn überprüft.“ 137
„Auch seinen Umgang mit Kindern?“ „Herr Makus, ich verstehe nicht, daß Sie sich immer wieder um fragwürdige Dinge bemühen!“ „Nein“, sagte Makus, „das können Sie auch nicht verstehen. Ich bin kein dummer Junge, der aus purer Abenteuerlust Detektiv spielt. Das sollten Sie bedenken und sich nicht über mich lustig machen. Außerdem … interessiert Sie die Meinung der Bevölkerung so wenig?“ Der Fotograf steckte die Fotos wieder ein und schwieg. Worüber mag er jetzt nachdenken? Die Kriminalistin betrachtete den Mann, der den Kopf gesenkt hielt und sie nicht zu beachten schien. Plötzlich richtete er sich entschlossen auf. „Glauben Sie etwa, ich beschäftige mich mit der Tat, um mich interessant zu machen? Wenn es so wäre, würde ich Ihnen irgendein Gewäsch auftischen. Vielleicht … in unserem Staat ist jeder verpflichtet, der Polizei zu helfen. Oder … ich kann nicht schlafen, bis der Mörder, der diese Gegend unsicher macht, hinter Schloß und Riegel sitzt. Nein, nein, nein! Meine Gründe sind so simpel, daß sie Ihnen eigentlich verständlich sein müßten.“ Er verstummte und verfiel erneut ins Grübeln, schien die Worte gründlich zu überlegen, die er jetzt sagen wollte. Die Kriminalistin empfand Mitleid für den Fotografen. Natürlich ist er betroffen, sagte sie sich, wahrscheinlich mehr, als wir bisher annahmen. Makus räusperte sich. „Ich habe Tom den Autobus auf dem Schrottplatz gezeigt.“ Seine Stimme klang heiser. Helga Bathe beugte sich über den Tisch. „Sie! Warum haben Sie uns belogen?“ „Was heißt denn belogen? Im Frühjahr war es wohl, da bin ich mit dem Jungen eines Tages kreuz und quer herumgefahren als Belohnung für irgend etwas. Wir kamen auch am Schrottplatz vorbei. Das alte Vehikel sehen und in Begeisterung ausbrechen war bei Tom eins. Und dann 138
hatte er die Idee, den Bus seinem Vater Weihnachten zu schenken. Weil er doch selbst noch keine Fahrerlaubnis besitzt, wie er sagte. So wurde daraus das große Geheimnis.“ „Das hat Sie also gequält? Aber darüber hätten Sie doch mit uns sprechen können.“ „Jetzt sehe ich es auch ein. Ich dachte eben …“ „Was?“ „Ich hatte Angst, daß, wenn ich es Ihnen erzähle, Renate und Thomas davon erfahren und dann … Verstehen Sie mich noch immer nicht?“ Die Kriminalistin schaute auf die Uhr. „Ich nehme an, über die Sache wird der Hauptmann noch einmal mit Ihnen reden wollen. Doch jetzt habe ich auch etwas.“ Sie legte die Skizze auf den Tisch. „Was sagt Ihnen die Zeichnung?“ Makus schüttelte den Kopf. „Nichts, absolut nichts. Das Bild gibt nichts her.“ „Leider!“ stimmte ihm die Bathe zu. „Kennen Sie aus Ihrem oder Schulenbergs Bekanntenkreis Personen, die einen Škoda fahren?“ „Škoda fahren viele.“ Er dachte nach. „Seltsam. Jetzt, wo ich direkt darauf gestoßen werde, fällt mir kein Škodabesitzer ein. Mit Trabant, Wartburg, Lada, Moskwitsch könnte ich dienen … aber Škoda? Nein! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ „Denken Sie in Ruhe nach. Oft kommt man nicht gleich auf das, was nahe liegt. Rufen Sie uns an. Das kann zu jeder Zeit sein.“ Makus blätterte im Kalender. „Jetzt muß ich mich erst einmal um meine Angelegenheiten kümmern. Die Leute in der Kreisredaktion warten, unsere Supermodenschau frißt auch einen ganzen Tag, von dem, was in der Dunkelkammer liegt, will ich gar nicht erst reden.“ „Vielleicht ist es trotz des vollen Programms möglich? Ja oder nein genügt zunächst.“ 139
„Sie sind gut! Erst machen Sie sich über den Amateurkriminalisten lustig, nun drängen Sie.“ Helga Bathe hatte es eilig. Da die Bedienung nicht gleich kam, verabschiedete sie sich von Makus. Der Fotograf saß noch eine Weile an seinem Platz. Mit einem Bleistift malte er auf der Speisekarte. Doch es gelang ihm nicht, die Porträtzeichnung aus dem Gedächtnis zu wiederholen. Eigentlich ist es merkwürdig, überlegte Helga Bathe. Makus kennt Gott und die Welt, nur keine Škodafahrer. Sie bedauerte schon, den Vorschlag mit der Zeichnung gemacht zu haben, trotzdem wollte sie auch Frau Anstett aufsuchen. Die alte Dame arbeitete im Vorgarten, als die Kriminalistin aus dem Wagen stieg. „Sie kommen gewiß wegen der Busgeschichte?“ fragte sie und führte Helga Bathe in das Wohnzimmer. „Ich habe es erwartet, Herr Makus war doch so aufgeregt.“ Frau Anstett schob der Besucherin die Schale mit den Zimtplätzchen zu. „Ich wasche mir bloß die Hände, dann können wir uns unterhalten. Probieren Sie indes meine Spezialität, das muß jeder, der zu mir kommt.“ Sie ließ die Tür offen, Helga Bathe hörte das Rauschen der Wasserleitung. „Schmeckt ja prima“, lobte die junge Frau, als Frau Anstett wieder ins Zimmer trat. „Kann ich das Rezept bekommen?“ „Selbstverständlich“, versprach Frau Anstett. „Allerdings behauptet mein Junge, die Plätzchen bringt keiner so gut wie Mutter. Einen Stolz darf man doch haben, nicht wahr?“ „Wir erfuhren Ihre Adresse tatsächlich durch Herrn Makus …“ Frau Anstett fiel der Kriminalistin ins Wort. „Ist er immer noch so durcheinander?“ 140
„War er es?“ „Das kann man wohl sagen, vor allem, als er hörte, daß Tom auf dem Schrottplatz gespielt hat.“ „Das stimmt also?“ „Der Junge hat doch damit angegeben.“ „Sagte er, daß er oft da draußen war?“ „Daran erinnere ich mich nicht. Ich verstehe auch nicht, warum Fred – ich meine Herrn Makus – deshalb so aufgeregt ist?“ „Er hat eben seine Eigenarten.“ Frau Anstett nickte. „Da haben Sie recht. Damit macht er es sich immer selbst schwer. Schon als Junge wollte er stets die anderen übertrumpfen. Da er in der Schule nicht der Stärkste, Schnellste, schon gar nicht der Größte war, wollte er in anderer Beziehung voranstehen. Die Jungen spielten noch Indianer, da steckte er sich die erste Zigarette an. Zugegeben, die anderen werden es wenig später auch getan haben, aber er qualmte öffentlich und nahm selbst eine Tracht Prügel für die Schau in Kauf.“ „Ein bißchen davon, scheint mir, ist bis heute hängengeblieben!“ Mit einemmal sah die Kriminalistin eine Erklärung für Makus’ Verhalten. „In seinem Beruf hat er es immerhin weit gebracht. Vergleiche hinken, ich weiß, aber der Fotograf Makus ist bekannter als der Ökonom Thomas Schulenberg.“ Frau Anstetts Sympathie für Makus war deutlich. „Wir finden, er nimmt sich sehr wichtig.“ „Der Fred ist schon ein feiner Kerl. Haben Sie wirklich nicht bemerkt, was Renate für ihn bedeutet? Wenn er jetzt über das Ziel hinausschießt, tut er es doch nur für sie.“ „Sie haben uns mit dem Hinweis auf den alten Omnibus sehr geholfen. Gibt es in dem Zusammenhang vielleicht noch mehr zu sagen? Ich meine, erzählte Tom nicht, was er mit dem Bus vorhatte?“ „Ich kann es nur wiederholen: Nein! Ich sagte es 141
schon dem Fred. Es hat mich halt ein bißchen gewundert, daß der Junge dort spielen durfte.“ „Wir haben die Eltern deshalb befragt. Frau Schulenberg war überrascht, ihr Mann entrüstet. Der machte ein Gesicht, als würde er Kinder nur durch Renaissancepaläste und Barockgärten führen.“ Frau Anstett lachte. „Das ist nun wieder seine Eigenart. Thomas würde selbst nie einen Blick auf den Schrottplatz werfen. Es sei denn, dort stünden ausgediente Rolls-Royce.“ Als Helga Bathe der freundlichen Frau die Zeichnung vorlegte, fragte diese ähnlich wie die anderen: „Wer ist das?“ „Wir würden es sehr gern wissen. Das Bild wurde nach dürftigen Angaben gemacht. Angeblich fuhr die Person gerade zu dem Zeitpunkt in einem Škoda am Schrottplatz vorüber, als die Tat geschehen sein muß.“ Frau Anstett hauchte auf die Brillengläser und putzte sie gründlich, bevor sie das Bild noch einmal in die Hand nahm. „Wissen Sie, der das gezeichnet hat, war bestimmt kein Meister. Es ist ja nicht mal zu erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.“ „Wir können eben nur das darstellen, was uns beschrieben wird.“ „Aber solche ungenauen Angaben müssen doch Ihre Arbeit erschweren!“ Frau Anstett ereiferte sich. „Oder will Sie da jemand bewußt in die Irre führen?“ „Möglich ist alles!“ „Ich habe in meinem ganzen Leben nie schlecht über andere gesprochen. An Hand der Skizze einen Namen zu nennen wäre geradezu sündhaft.“ „Ist Ihnen denn einer eingefallen?“ Die Kriminalistin ließ nicht locker. „Nein.“ „Die Person sitzt am Steuer eines Autos. Das kommt, 142
glaube ich, zum Ausdruck. Sie hängt im wahrsten Sinne des Wortes über dem Lenker. Unser Kollege, der das Bild anfertigte, meinte, sie sitzt da wie ein Rennfahrer. Vielleicht erinnert Sie das an jemanden, der tatsächlich so fährt?“ „Da brauche ich nicht lange nachzudenken.“ „Wirklich?“ „Der kommt aber zum Glück nicht in Betracht. Er bohrt irgendwo in der Taiga oder fischt im Baikalsee, wenn er einen freien Tag hat. Mein Sohn Fritz! Der Junge machte die Fahrprüfung bei dem alten Lingnus, der früher Rennfahrer war. Er impfte seinen Schülern ein, daß nur der den Wagen richtig im Griff hat, der sich so über das Lenkrad beugt. Mir wäre das nie aufgefallen, aber mein Mann mochte es nicht, er schimpfte. Ausgetrieben hat er es Fritz allerdings nie.“ „Schade“, stöhnte Helga Bathe enttäuscht. „Endlich bekommt man einen Fingerzeig …“ „Erlauben Sie mal!“ Frau Anstett guckte nicht gerade freundlich über den Brillenrand. „So war es nicht gemeint“, entschuldigte sich die Kriminalistin. „Ich verstehe Sie ja“, lenkte Frau Anstett ein, als sie die Besucherin an die Gartentür brachte. „Wir haben es gelernt, mit Enttäuschungen zu leben“, sagte Helga Bathe und stieg ins Auto. „Jetzt hat sie tatsächlich das Backrezept vergessen!“ Die alte Dame hob bedauernd die Schultern, als sie sah, daß die Kriminalistin nicht mehr zurückzurufen war. Eine winzige Hoffnung, vielleicht doch noch hinter die Identität des Škodafahrers zu kommen, bot Dorothea Wendler. Bevor Helga Bathe jedoch das Mannequin aufsuchte, wollte sie sich den Schrottplatz ansehen. In der Baracke war ihr Kollege Weiß am Werk. Der Polizeimeister schimpfte auf Konrad und die Sisyphus143
arbeit, zu der er abkommandiert war. Mit Unterstützung Sennewalds wurde alles sichergestellt, was vom Vernichtungswerk des Platzwarts übriggeblieben war. Dazu gehörte auch das Sammeln der teilweise weit ins Gelände verwehten Belege und Quittungen. Im Innern der Baracke sah es aus wie nach einer Explosion. Der Flüchtige hatte tatsächlich fast nichts ganz gelassen, lediglich ein Kasten mit leeren Bierflaschen stand unversehrt da, ein Beweis für die große Rolle, die der Gerstensaft bisher in diesem Raum gespielt hatte. Auf einer Kiste lagen Mappen mit sichergestellten Unterlagen und Geschäftspapieren. „Interessantes dabei?“ fragte die Kriminalistin. „Schon möglich. Darum müssen sich die Kollegen kümmern, die für Unterschlagung und Hehlerei zuständig sind.“ Der Polizist zeigte auf die Bretterwand zwischen den total zertrümmerten Fenstern. „Ich denke, für uns ist das wichtig.“ Mit Kreide war da in ungelenken Druckbuchstaben geschrieben: Schweine, sucht mich. „Ist das Konrads Handschrift?“ Weiß nickte. „Glaub schon. Genaues müssen natürlich erst die Experten feststellen.“ Er legte auf dem Tisch, der behelfsmäßig für die Arbeit der Sicherungsgruppe hergerichtet war, Papierschnitzel zusammen. „Und nun sehen Sie mal hierher, jetzt kommt nämlich der Knüller!“ Es dauerte eine Weile, bis alles zusammenpaßte. Helga Bathe erkannte, daß es ein Telegramm war, an dem eine Ecke und der obere Rand fehlten. Der Text lautete: ANLIEFERUNG DONNERSTAG FRÜH NICHT MÖGLICH • STOP • GEBT NACHRICHT OB AUSNAHMSWEISE TERMIN DONNERSTAG 18.00 UHR MACHBAR • STOP • MASCHINENDRUCK ASCHERSLEBEN. Die Kriminalistin verstand nicht, was an dem Telegramm so wichtig sein sollte. Sie sah keine Verbindung zum Fall Schulenberg. „Maschinendruck Aschersleben? Der Betrieb ist bekannt. Was ist da auffällig?“ 144
Weiß tippte auf das Aufgabedatum. „Es wurde gestern mittag aufgenommen. Anschrift: Schrottplatz.“ „Und …“ „Da hat es die Post verständlicherweise nicht an den Betrieb, sondern direkt hierher geleitet. Das ist alles normal. Aber jetzt … aufgepaßt!“ Die Schnitzel lagen auf einem Pappdeckel. Weiß gelang es, mit einem Griff das Puzzle umzudrehen. „Das meine ich!“ sagte er, nachdem er die verrutschten Teile wieder aneinandergeschoben hatte. Auf der Rückseite des Telegramms standen Notizen. „Die gleichen Druckbuchstaben wie an der Wand“, stellte die Bathe fest. „Lesen Sie, was der alte Trinker aufgeschrieben hat“, drängte Weiß. Mittwoch: Nachmittag Klempner abrechnen (erl.) Donnerstag früh: Bier holen Donnerstag abend: Aschersleben Freitag früh: Schrotter Feld 3 einweisen Sonnabend: Bei Neudecker gehen „Aufschlußreich, was?“ meinte Meister Weiß. „Konrads Arbeitsplan für diese Tage.“ „Kapiert!“ Helga Bathe lachte. „Mann, seid ihr tüchtig!“ „Gestern gegen zwölf Uhr wurde das Telegramm aufgenommen und eine Stunde später zugestellt …“ „… nachdem wir den Platz schon verlassen hatten. Also kann Konrad seinen Arbeitsplan erst später notiert haben und dachte somit zu diesem Zeitpunkt noch nicht daran, sich zu empfehlen und diese Verwüstungen anzurichten.“ „Genau!“ „Damit steht fest, es war nicht unser Besuch, der ihn zu dieser irrsinnigen Tat trieb.“ Weiß fischte aus einer Mappe weitere Zettel. „Sehen Sie, auch aus den Wochen davor gibt’s solche Notizen. Konrad tat also das, was ihm Gewohnheit war.“ 145
Die Kriminalistin schob die Schnitzel in einen Umschlag und steckte ihn ein. „Weitere Aufzeichnungen, die sich auf den Nachmittag beziehen, fanden Sie nicht?“ „Nein. Vielleicht entdeckt man unter dem Zettelgewirr noch etwas. Der Kram müßte eben schnellstens gesichtet werden.“ Helga Bathe informierte sofort Hauptmann Rüdiger, der umgehend die Fahndung nach dem verschwundenen Platzwart einleitete. „Raten Sie mal, wo ich Becker traf“, fragte Helm den Hauptmann, als er ins Zimmer stürmte. „Vermutlich im Heizungskeller.“ „Stimmt! Allerdings in dem vom Kreiskulturhaus.“ Rüdiger klappte die Akte zu, in der er gelesen hatte. „Und was macht er da?“ „Er hilft aus. Die Zuschauer beim Ereignis des Jahres würden sonst kalte Füße bekommen, beide Heizer des Hauses haben die Grippe. Becker sprang in die Bresche.“ „Und?“ „Erfolg: Bullenhitze. Ich habe ihn gleich mitgebracht.“ „Machte er Schwierigkeiten?“ „Nein. Komplizierter war es vorher bei Frau Brehmer. Die forderte hartnäckig, wir sollten unbedingt den Chefarzt aus Fichtenhain hinzuziehen.“ „Vielleicht müssen wir ihn hinterher tatsächlich sprechen. Jetzt kommt’s darauf an, dem Becker knallhart zu sagen, in welche unnötigen Schwierigkeiten er sich selbst gesteuert hat. Bringen Sie ihn ’rein.“ Der Heizer grüßte höflich, dann sah er sich sehr interessiert um. „Setzen Sie sich hierher“, forderte der Hauptmann den jungen Mann auf. „Danke sehr“, sagte der freundlich und nahm auf dem Stuhl vor Rüdigers Schreibtisch Platz. „Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht erst lange zu er146
läutern, wo Sie sich befinden und warum wir Sie hierhergebeten haben. Es geht darum, den Tod eines kleinen Jungen aufzuklären. Sie könnten dazu beitragen, tun aber alles, um uns im unklaren zu lassen. Unser Gespräch kann kurz sein, es kann aber auch länger dauern, sehr lange. Überlegen Sie, was Ihnen lieber ist.“ Rainer Becker sah den Hauptmann verwundert an. „Ich kann Ihnen überhaupt nicht helfen. Wenn ich den Mann kennen würde, der das getan hat, hätte ich ihn schon erschlagen.“ „Sie sollen keinen Menschen töten. Sie sollen uns sagen, wo Sie Tom Schulenberg zum ersten Mal begegnet sind.“ „Ich bin ihm nie begegnet. In der Zeitung las ich …“ „Was haben Sie gelesen?“ „Alle wurden aufgerufen, bei der Suche nach dem Mörder behilflich zu sein. Da bin ich zum Schrottplatz gegangen und habe mich dort umgesehen.“ „Wann waren Sie auf dem Platz?“ „Gleich danach. Das ist keine gute Gegend. Schon gar nicht für Kinder.“ „Was haben Sie da draußen gemacht?“ „Nichts. Ich bin gleich wieder umgekehrt. Es sieht aus wie damals im Krieg. Alles ist tot, nutzlos, kaputt.“ Der Hauptmann klopfte auf den Tisch. „Herr Becker, lenken Sie doch nicht ab. Warum gingen Sie gestern zum Fußballplatz. Ich denke, das Spiel mögen Sie nicht.“ „Nein, das ist nur Schlägerei, sonst nichts.“ „Trotzdem waren Sie da. Wenn Sie es leugnen, werden wir es Ihnen eben beweisen. Die Jungen erkennen Sie bestimmt wieder. Herr Becker, dann bekäme auch Ihr Besuch auf dem Schrottplatz ein ganz anderes Gewicht. Begreifen Sie das doch endlich! Was wollten Sie ausgerechnet gestern im Stadion?“ Rainer Becker zog ein Tuch aus der Tasche und rieb sich die Augen. „Muß ich wieder nach Fichtenhain?“ fragte er ängstlich. 147
„Das hängt von Ihnen ab.“ „Fichtenhain ist gut. Wer dort ist, weiß gar nicht, wie ruhig sich’s da lebt. Aber sie haben einen hohen Zaun. Herr Hauptmann, wenn doch der Zaun nicht wäre! Draußen laufen die Menschen, wohin sie wollen, Autos fahren vorbei und Züge. In Fichtenhain gibt es nur ein paar Wege. Rund um den Park, quer durch den Park! Die Betten sind gut, doch um neun muß jeder drinliegen, die Lampen gehen aus. Das Essen schmeckt wie im Hotel, bloß wenn einer keinen Hunger hat, wird er gleich zum Herrn Chefarzt bestellt.“ Wieder rieb sich Becker die Augen mit dem Taschentuch. „Was war auf dem Fußballplatz?“ verlangte Rüdiger zu wissen. Becker heulte wie ein geschlagenes Kind. „Ich schäme mich, Herr Hauptmann.“ Noch einmal klopfte Rüdiger auf den Tisch. „Reißen Sie sich zusammen, Mann! Beantworten Sie endlich meine Frage!“ „Ich suchte nach dem Mörder des kleinen Jungen.“ „Im Stadion? Das erklären Sie mir ganz genau.“ Ein Ruck ging durch den Körper Beckers. Er richtete sich auf, wischte sich noch einmal über die Augen, steckte das Tuch ein. „Wo denn sonst?“ „Warum?“ „Ich bin extra dahin gegangen, wo kleine Jungen standen. Weil ich mir dachte, da muß auch der Kerl sein, der es auf sie abgesehen hat.“ Jetzt schlug Becker auf den Tisch. „Das dumme Spiel hat mich überhaupt nicht interessiert. Wenn ich wirklich einmal hinsah, lag einer auf dem Boden und wimmerte.“ Rüdiger verschränkte die Arme und musterte den Heizer. „Warum suchen Sie den Täter? Vertrauen Sie uns überhaupt nicht?“ „Herr Hauptmann! Denken Sie, ich weiß nicht, wie 148
die Menschen über mich reden? Bisher war es mir egal, denn ich will den Kindern nur Freude machen. Was hatte denn mein kleiner Bruder vom Leben? Nichts! Und ich tue alles, damit keinem Kind so etwas passiert. Wenn Sie wüßten, wie mich die meisten ansehen! Und jetzt erst … Das habe ich doch auf dem Fußballplatz wieder erlebt.“ „Darum suchen Sie den Täter?“ „Sie können es glauben.“ „Uns haben Sie es damit schwer gemacht.“ „Ich will keinem Menschen Schwierigkeiten bereiten, auch Ihnen nicht. Aber denen, die Kinder quälen, werde ich es heimzahlen.“ Rüdiger gab Becker die Hand. „Sie können jetzt gehen. Es ist möglich, daß wir Sie noch einmal herbitten müssen.“ „Geben Sie Herrn Chefarzt einen Bericht?“ „Warum? Ich sehe keinen Grund dafür, wenn Sie uns jetzt die Wahrheit gesagt haben.“ „Ich werde Sie nicht mehr belügen.“ „Das erwarten wir von Ihnen, und überlassen Sie die Suche nach dem Täter uns.“ „Und wenn Sie ihn nicht finden, was ist dann?“ „Wir werden ihn finden.“ Der Oberleutnant brachte Becker bis an die Treppe. „Maigret drei“, spottete er, als er wieder ins Zimmer trat. Eine Modenschau in Berlin, Leipzig, Dresden oder Magdeburg ist kein besonderes Ereignis. Für die kleine Kreisstadt am Gebirge aber war die Veranstaltung ein gesellschaftlicher Höhepunkt. Es wurde nicht nur ein Ausblick auf die kommende Modesaison geboten, sondern auch ein Programm mit Prominenten der Unterhaltungskunst. Volkskunstgruppen des Ortes trugen ebenfalls zum Gelingen bei. Außerdem wurden kleine Ausstellungen durchgeführt und Verkaufsstän149
de der Buchhandlungen und des Musikhauses errichtet. Im kleinen Saal gab es Kostproben gesunder Ernährung, vor dem Haus Vorführungen der Sportler. Abends beschloß dann traditionsgemäß der „Ball des Jahres“ den ereignisreichen Tag. So war es nicht verwunderlich, daß erstmals seit Tagen das Geschehen auf dem Schrottplatz nicht im Mittelpunkt stand, man sprach über das, was die „Schau“ bringen würde. Einer der geschäftigsten Akteure auf der Probe im Kreiskulturhaus war der Programmvermittler Franz. Noch im letzten Augenblick war es ihm gelungen, den Sieger des letzten Schlagerfestivals zu verpflichten. Jetzt ging es darum, den Topstar wirkungsvoll in der Veranstaltung zu placieren. Aufgeregt diskutierte Franz mit dem Hauptregisseur, einem Instrukteur des Kulturhauses. „Blumen brauche ich! Blumen rechts und links vom Laufsteg! Chrysanthemen, viel junges Grün!“ „Tannenzweige können Sie sich holen, anderes gibt’s in dieser Jahreszeit nicht!“ warf ein Dekorateur in die Debatte und trieb Franz damit zu einem Wutausbruch. Dorothea Wendler, mit einem kurzen Bademantel bekleidet, zog die Blicke der Männer auf sich. „Die hat Beine! Junge, Junge!“ schwärmte ein Elektriker, der Scheinwerfer anschloß. „Mensch, da fängt’s doch erst an!“ übertrumpfte ihn sein Kollege und starrte auf das Mannequin wie der Buskontrolleur auf den Schwarzfahrer. Die Wendler tänzelte über den Laufsteg. Manchmal hüpfe sie, dann wieder bohrte sie die Zehenspitze in eine Spalte. „So geht das nicht! Der Boden federt zu stark. Überall stehen Nägel hervor, auch die Stöße sind nicht zusammengefügt!“ schimpfte sie. Am Eingang erschien Fred Makus. Als er das Mannequin auf dem Laufsteg sah, kam er quer durch den Saal 150
herüber. „Haben Sie fünf Minuten Zeit für mich?“ rief er ihr über die Köpfe der Handwerker hinweg zu. Dorothea Wendler kletterte vorsichtig herunter. Makus erkundigte sich nach dem kranken Fuß. „Es geht schon wieder.“ Dorothea Wendler streckte das Bein und kreiste mit der Fußspitze. „Ich möchte heute nämlich doch mehr für die Reportage machen, als wir uns eigentlich vorgenommen hatten“, erklärte Makus. „Läßt es sich einrichten, daß wir vorher oder nachher einige Modelle gesondert aufnehmen können?“ Die junge Frau schien sich bei den Lockerungsübungen doch etwas übernommen zu haben, sie lehnte am Laufsteg und winkte ab. „Ich werde froh sein, wenn ich diese Veranstaltung hinter mich gebracht habe.“ „Zwischen dem ersten und zweiten Auftritt liegen gut anderthalb Stunden. Ob es da nicht möglich ist?“ „Abwarten. Wie es jetzt aussieht, werde ich die Pause brauchen.“ Makus nahm die Wendler beim Arm, führte sie zur Seite und fragte leise: „Haben Sie eigentlich etwas Neues erfahren …“ „Fangen Sie doch jetzt nicht davon an!“ Das Mannequin schüttelte den Kopf. „Oder vielleicht doch? Dieser Irre, über den soviel gemunkelt wird …“ „Becker?“ „Genau! Der scheint aus der Sache ’raus zu sein, ich habe es vorhin gehört. Der ist nämlich heute hier aushilfsweise beschäftigt.“ Wie aufs Stichwort erschien der junge Mann, um die Heizungskörper zu überprüfen. Lächelnd pfiff er ein Lied vor sich hin. „Hören Sie sich das an. Die ewige Pfeiferei geht mir allmählich auf die Nerven“, ereiferte sich die Wendler. Der Fotograf hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und starrte auf Becker. 151
„Schrecklich, nicht?“ fragte das Mannequin. „Ich bin ein Idiot!“ sagte Makus unvermittelt. „Sie müssen’s wissen“, spottete die Wendler. „Unsinn! Ich habe nämlich auch etwas gehört. Der Verwalter vom Schrottplatz ist verschwunden. Da fällt’s einem wie Schuppen von den Augen.“ „Das regt Sie auf? Als Tom gefunden wurde, da hätten Sie mal hier sein sollen!“ Makus nickte. „So wie ich zu den Schulenbergs stehe …“ „Das Thema bitte nicht“, unterbrach ihn das Mannequin. „Ach was! Ich dachte bisher, einer, der alles nicht miterlebt hat, sieht vielleicht klarer. Der kranke Mann! Das war doch etwas Handfestes, und Becker ist nun einmal Realität. Jetzt sieht natürlich alles ganz anders aus, und ich bin unsterblich blamiert. Bis auf den Herbstmarkt bin ich dem armen Kerl gefolgt, bloß um Beweise zu sammeln.“ „Wenn Sie soviel Zeit haben, kann Sie keiner daran hindern.“ „Eben nicht. Falls Sie vermuten, daß ich nun Konrad suchen werde, der’s ja wahrscheinlich gewesen ist, wie es jetzt aussieht, irren Sie sich. Aus! Fini!“ Blitzschnell machte der Fotograf seine Kamera schußbereit und rief: „An die Arbeit!“ „Aber nicht in dem Aufzug!“ Die Wendler rauschte davon, und Makus versuchte, den Abgang auf den Film zu bannen. „So prominent möchte ich auch einmal sein, um in allen Lebenslagen geknipst zu werden!“ Verblüfft sah sich der Fotograf um. Hinter ihm stand Helga Bathe. „Sie werde ich aufnehmen, wenn Sie an der Harzchaussee Kirschen klauen“, gab Makus zurück. „Hier soll nachher alles klappen?“ Die Kriminalistin betrachtete skeptisch das Durcheinander im Saal. Der Fotograf zeigte sich optimistisch. „Es wird wie am 152
Schnürchen laufen, bis auf ein paar Kleinigkeiten, die von den Zuschauern kaum bemerkt werden. Nervenkitzel gehört dazu. – Weht Sie der Zufallswind herein, oder kann ich Ihnen behilflich sein?“ Die Kriminalistin sah sich suchend im Saal um. Das Mannequin konnte sie nirgends entdecken. Makus schaltete. „Darf ich Sie zu Frau Wendler bringen? Die sitzt jetzt bestimmt am Schminktisch.“ „Danke“, erwiderte die Bathe. „Ich kenne das Haus genau.“ Makus wies ihr trotzdem den Weg. „Dort geht’s lang.“ „Was treiben Sie eigentlich schon hier?“ fragte die Kriminalistin, als sie sah, daß der Fotograf nicht von ihrer Seite wich. „Arbeiten“, antwortete er lakonisch. „Als Maigret eigne ich mich ja nicht.“ „Haben Sie das endlich eingesehen?“ Bloß nicht wieder ins Fettnäpfchen treten, dachte Makus. Er machte ein zerknirschtes Gesicht und sagte: „Der kranke Mann war eine fixe Idee von mir. Ich wurde einfach überrollt. Das Verschwinden Konrads ist natürlich ein Schuldbekenntnis, das alles andere aus der Akte fegen muß.“ „Ach, das wissen Sie auch schon?“ „In dieser Stadt wissen alle alles, damit muß man sich abfinden.“ „Soso.“ „Inzwischen ist mir auch klargeworden, warum Becker es nicht gewesen sein kann. Gerade vormittags hat ein Heizer immer zu tun, seine Abwesenheit wäre mit Sicherheit bemerkt worden. Als ich ihn hier bei seiner Arbeit beobachten konnte, habe ich das erst richtig begriffen. Jedenfalls, von jetzt an kümmere ich mich nicht mehr um ungelegte Eier, doch könnte ich Beweise für die Schuld dieses Konrad finden … ich würde …“ Makus verhaspelte sich, und Helga Bathe blieb ste153
hen. „Herr Makus, fotografieren Sie doch lieber die schönen Modelle, die hier heute gezeigt werden. Ich nehme Ihnen die Bilder ab, denn ich habe keine Zeit dabeizusein.“ Die Kriminalistin ging quer durch den Saal, stolperte über Kabel und mußte Mitarbeitern des Hauses ausweichen, die Tische und Stühle umherschoben. Makus blieb ihr auf den Fersen. Am Podium für die Kapelle, das ganz in eine Ecke gequetscht war, trafen sie auf den Klempner, der gestikulierend um eine Veränderung dieses Standplatzes kämpfte. Als Franz die Kriminalistin erblickte, ließ er die Handwerker stehen und grüßte mit einer Verbeugung, die dem Empfangschef eines Grandhotels wohl angestanden hätte. „FÜR SIE! FÜR IHN! FÜR ES! – FÜR SIE! heißt, auch für Sie ist etwas dabei. Herzlich willkommen, meine Dame!“ Helga Bathe erwiderte den Gruß kurz und hatte danach zwei Männer im Gefolge. „Haben meine Hinweise schon zum Erfolg geführt?“ wollte Franz wissen. „Und wie steht’s nun wirklich mit Konrad? Sie wissen ja, daß uns Geschäftsinteressen verbunden haben, doch die müssen ja nicht immer mit Sympathie gekoppelt sein. Oder?“ Helga Bathe blieb stehen und winkte Franz zu sich heran. „Gerade jetzt habe ich eine wichtige Entdeckung gemacht“, sagte sie mit todernster Miene. „Welche?“ fragte der Klempner und verbarg die aufsteigende Angst hinter einem gequälten Lächeln. „Da drüben werden Sie gesucht!“ Bevor Franz ein Wort entgegnen konnte, machte Makus eine nicht mißzuverstehende Daumenbewegung. Der Klempner verschwand tatsächlich, jedoch nicht ohne einen vollendeten Bückling. „Ich mag den Kerl nicht“, erklärte Makus dem Leutnant. „Daß der sich für Konrad interessiert und ihm das Hinterteil langsam zu eng wird, ist wohl klar, nicht?“ 154
Wie klar das für Helga Bathe war, erfuhr Makus nicht. Sie betrat die Garderobe des Mannequins und ließ einen verdutzten Fotografen zurück, der sich nachdenklich an einen kleinen Rauchtisch setzte, der gegenüber der Tür in einer Nische stand. Das Mannequin hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht. Die Beine lagen auf dem Tisch, neben ihr stand eine Cola. Helga Bathe setzte sich auf einen Stuhl. „Müssen Sie mich unbedingt jetzt und hier sprechen?“ Dorothea Wendler hatte den Gruß der Kriminalistin nur knapp erwidert und machte keinen Hehl daraus, daß ihr der Besuch nicht paßte. „Wir suchen alle auf, die Tom Schulenberg kannten oder in Verbindung zu seinen Eltern stehen oder standen. Leider verträgt unser Anliegen keinen Aufschub, sonst hätte ich Sie hier nicht gestört.“ Die Wendler legte ein Erfrischungstuch auf die Stirn. „Ich fühle mich nicht gut und kann jetzt Aufregungen überhaupt nicht gebrauchen. Sie ruinieren die Nerven und schaden der Haut, letzteres ist in meinem Beruf noch übler. Sie kommen wegen Konrad?“ „Warum haben Sie uns nicht über seinen Auftritt bei Ihnen unterrichtet?“ Das Mannequin wechselte das Tuch. „Ich dachte, das würde Herr Schulenberg für mich übernehmen. Ich muß mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren. Soll ich Ihnen etwa die Geschichte noch einmal von Anfang bis Ende erzählen?“ Die Kriminalistin hatte bereits die Zeichnung hervorgeholt und hielt sie der Frau hin. „Kennen Sie die Person?“ Dorothea Wendler betrachtete das Bild lange. Als sie es zurückgab, sagte sie: „Vielleicht!“ Mit dieser Antwort hatte Helga Bathe nicht gerechnet. Nach den bisherigen Erfahrungen stand es für sie fest, 155
daß der Test nicht mehr war, als der berühmte Griff nach dem Strohhalm. Nun saß da plötzlich eine junge Frau vor ihr und sagte mit unbewegter Miene: „Vielleicht!“ „Wer könnte es nach Ihrer Meinung sein?“ Helga Bathe sah das Mannequin erwartungsvoll an. Dorothea Wendler ließ sich Zeit. Sie legte sich ein neues Tuch auf die Stirn und warf das benutzte achtlos zu Boden. Dann endlich sagte sie ungnädig: „Jeder! Solche Fratzen malen Kinder im ersten Schuljahr und sagen: ‚Das ist mein Opa!‘ Wenn Sie mit diesen Mitteln Ihren Täter suchen, werden Sie ihn bestimmt nicht finden! Mit etwas Phantasie könnte ich behaupten, das ist das Porträt meiner Friseuse oder des Herrn, der über mir wohnt, von dem ich nicht einmal den Namen kenne.“ Wortlos steckte Helga Bathe das Blatt wieder ein und stand auf. Das Mannequin rührte sich nicht. „Unzufrieden?“ fragte sie nach einer Weile. „Sie sehen hoffentlich ein, daß ich Ihnen nicht helfen kann.“ Langsam trank sie die Cola aus und begann, den verletzten Fuß zu massieren. „Immer noch Schmerzen?“ erkundigte sich die Kriminalistin. „So ist es. Aber setzen Sie sich wieder. Sie wollen doch hören, was sich gestern abend zugetragen hat.“ Die Gaststätte auf dem Teufelsstein erfreute sich weit und breit eines guten Rufes. Georg Leichsenring und seine Frau hatten es verstanden, ein Kollektiv um sich zu versammeln, das jenes Wort vom Gast, der König ist, täglich immer wieder groß schrieb. Selbst dann, wenn die Versorgungsfahrzeuge ihre Waren abgeladen hatten, setzte sich Leichsenring noch in seinen B 1000, um Zutaten zu besorgen, mit denen er vielen Gerichten, die auf seiner Speisekarte standen, einen besonderen Pfiff gab. Ein prominenter Satiriker schrieb bei einem Besuch auf 156
dem Teufelsstein in das Gästebuch: „In diesem Lokal wird sogar die Gulaschsuppe extra zubereitet!“ Der Teufelsstein und auf der anderen Seite der Schneekopf standen als Wächter vor dem tief eingeschnittenen Urseltal. Beide Berge waren durch Sättel mit dem dahinterliegenden Massiv verbunden und beherrschten unübersehbar die Gebirgsszenerie. Der Teufelsstein überragt sein Pendant noch um fünfzig Meter. Seine besondere Attraktion war eine Vertiefung auf dem Gipfelplateau, in der phantasievolle Naturen Urians Fußabdruck erkennen wollten. Andere, vor allem die Heimatforscher, meinten, es wäre eine vorgeschichtliche Opferstätte. Ganz prosaische Gesellen vertraten die Ansicht, der erste Gastwirt, der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einen kleinen Ausschank auf dem Berg errichtete, hätte mit einem soliden Hammer das Rätsel in den Boden geschlagen, um die Wanderer, für die damals die Gipfelbesteigung noch ein Abenteuer bedeutete, besonders zu motivieren. Egal, was sie auch darstellte, die Pferdehufvertiefung avancierte zur internationalen Sehenswürdigkeit und behauptete sich durchaus neben Luthers Tintenklecks auf der Wartburg. Nur mußte sie nicht immer wieder erneuert werden, das Loch hielt allen Stürmen stand. Im Volksmund gab es dazu eine schöne Sage, die die Erklärung auf ihre Weise bot. Da verfolgte auf einem gewaltigen Rappen der Riese Bodo eine gleichfalls berittene Jungfrau, um sie auf seine Burg zu entführen. Das Mädchen floh bis auf den Schneekopf, wo der Verfolger es fast einholte. In höchster Not gab die Maid dem Schimmel die Sporen, der darauf mit einem gewaltigen Satz über den tiefen Abgrund sprang und glücklich auf dem Teufelsstein landete. Dabei grub sich ein Huf so tief in den Felsen ein, daß sein Abdruck die Zeiten überdauern sollte. Der Riese dagegen stürzte ab, wurde in einen schwarzen Hund verwandelt und bewacht seitdem in der 157
Tiefe der Ursel die Krone, die dem Mädchen vom Kopf gefallen war. Sowohl auf den Teufelsstein wie auf den Schneekopf führten Wanderwege, die von den Einheimischen Schurren genannt wurden. Es waren Zickzackpfade, die in der Fallinie zum Gipfel anstiegen. Die Straßen auf der rückwärtigen Seite der Berge waren wesentlich bequemer, allerdings weniger romantisch und bedeutend länger. Die Schurre zum Teufelsstein ließ sich leichter begehen als die zum Schneekopf. Sie stieg weniger steil an, ihre einzelnen Abschnitte waren dafür länger und führten fast immer durch Wald. Hatte der Wanderer den Aufstieg zur Hälfte geschafft, erblickte er vor sich ein Holzkreuz. Die geschnitzte Inschrift war nur noch schwach zu erkennen, die Witterung hatte ihr arg zugesetzt: HIER WURDE DIE EHRBARE JUNGFRAU FRIDA SANDER IN DIE TIEFE GESTÜRZT DURCH DEN TAGEDIEB UND TRINKER ALFRED HEUNIK. EIN SCHURKE, IHRER NICHT WERT! Niemand wußte genau, warum der Schurke Alfred sein Mädchen so mörderisch behandelt hatte, aber allen war bekannt, daß er dazu verdammt wurde, gemeinsam mit der unschuldigen Frida an diesem Ort zu spuken. Er als feuerspuckender Gnom, Frida im weißen Gewand mit Rosmarin im Haar. Monika Leichsenring kannte die Schurre genau. Morgens zum Schulbeginn fuhr der Vater sie oft über die Landstraße in die Stadt. Mußte sie laufen, benutzte sie immer den Zickzackweg. Heute kam sie vom Auftritt des Tanzzirkels während der Modenschau im Kreiskulturhaus. Es war etwas später als gewöhnlich, einen Blick auf die Kleider und einen kurzen Abstecher zum Herbstmarkt hatte sich Monika nicht entgehen lassen. Wie immer blieb sie dort stehen, wo das dichte Unterholz begann. Hier beobachtete sie oft Rehe, die besonders in der 158
kalten Jahreszeit sehr zahm waren. Heute wartete Monika vergeblich, die Tiere ließen sich nicht blicken. Sie ging weiter. Plötzlich erklang im Tannendickicht ein Pfeifen. Das Mädchen rief: „Hat sich jemand verirrt?“ Statt einer Antwort wurde das Pfeifen lauter. „Wollen Sie auf den Stein? Dann kommen Sie, ich kann Sie führen!“ Niemand ließ sich sehen, aber das Pfeifen verstummte nicht. Monika war nicht ängstlich. Als sie noch kleiner war, wurde sie oft gefragt, ob es auf dem Teufelsstein wirklich spuken würde. Sie hatte dann nur gelacht und verraten, daß sie in mancher Nacht am Fenster stand, um die schwebende Frida oder den schlurfenden Heunik vielleicht aus der Nähe beobachten zu können. Auch jetzt fürchtete sie sich nicht. Sie ging weiter. Vielleicht war’s der Alfred, der soll ja immer Durst haben. Monika erinnerte sich an die Bergchronik. Darin stand, was Heunik so vertragen hatte. Die Schurre wendete sich in einer spitzen Kehre, an der nächsten Kurve stand das Kreuz. Kein Geräusch störte mehr die Stille. Das Mädchen lief schneller und drehte sich nicht mehr um. Dann erblickte sie die Gestalt. Sie stand direkt am Kreuz, hatte sich wahrscheinlich sogar angelehnt. Doch das konnte Monika nicht genau erkennen, der Mond hatte die Bergkuppe noch nicht überstiegen. Die Gestalt ging ein paar Schritte zurück, stellte sich in den Schutz einer hohen Tanne und winkte. Monika glaubte, die ganze Sache wäre ein Scherz. Sie konnte immer noch nicht unterscheiden, ob es ein Mann oder eine Frau war, was da als vermummtes Etwas wenige Meter vor ihr stand. „Sind Sie Heunik oder Frida?“ rief sie laut, und da verschwand dieses Etwas plötzlich. Monika wartete kurze Zeit, bevor sie weiterging. Auf einmal kam das unheimliche Wesen wieder auf sie zu. Es bewegte sich am 159
Waldrand abwärts, und mit einem Schlage erinnerte sich das Mädchen an das, worüber in den letzten Tagen in der Berggaststätte so oft gesprochen wurde; an das Verbrechen auf dem Schrottplatz. Das Pfeifen verklang, die Gestalt verschwand, Monika drehte sich um und lief die Schurre ein Stück abwärts. Jetzt erschien eine menschliche Silhouette an der tieferen Wegbiegung. Laut erklang das Pfeifen. Monika hielt sich die Ohren zu. Das schreckliche Spiel wiederholte sich in umgekehrter Richtung, die Erscheinung bewegte sich am Waldrand aufwärts … Georg Leichsenring betrachtete seine Frau bereits eine Weile. Unzählige Male hatte sie schon prüfend zur Uhr über der Theke und dann erwartungsvoll zur Gaststättentür geschaut. „Machst du dir Sorgen wegen Monika?“ fragte Leichsenring. „Das Kind müßte längst da sein. Hoffentlich ist nichts passiert. Gerade in diesen Tagen …“ Der Objektleiter versuchte, seine Frau zu beruhigen. „Monika kennt den Weg genau. Sie geht ihn fast jeden Tag bei Wind und Wetter!“ „Du hättest sie lieber mit dem Wagen abholen sollen.“ Ein leiser Vorwurf klang aus den Worten der Frau. „Das war doch nicht möglich. Sieh hin, der Stammtisch ist noch immer besetzt.“ Die Gaststätte hatte eigentlich längst Feierabend, eine lustige Runde hielt sich aber hartnäckig. Leichsenring räumte hinter der Theke auf und brachte den Gästen noch eine Lage. „Dann ist aber wirklich Schluß“, verkündete er beim Servieren. Er band die Schürze ab. „Wenn es dich beruhigt, gehe ich ihr entgegen“, sagte er zu seiner Frau. „Sie kann nur über die Schurre kommen. Mit einem Auto verirrt sich 160
jetzt niemand mehr auf den Stein.“ Er zog den Mantel an, setzte eine Mütze auf und ging über das Gipfelplateau bis an die Schurre. Laut rief er: „Monika! Monika!“ Am Berg war es ruhig. Der Mond stand jetzt schon so hoch, daß sein Licht auf den Hang fiel, doch die Wälder waren dicht, von dem Weg war nicht viel zu sehen. Dann hörte Leichsenring lautes Rascheln. Im Gebüsch bewegte sich etwas schnell vorwärts. Georg Leichsenring ging den Geräuschen entgegen und rief den Namen des Kindes. Endlich bekam er Antwort. Wenige Sekunden noch, dann fiel Monika dem Vater in die Arme. Ihr Gesicht war zerkratzt, der Mantel zerrissen, die Mütze saß tief im Genick. Die Fahndung nach dem verschwundenen Schrottplatzwart Josef Konrad hatte noch keinen Erfolg gebracht. Ein ernst zu nehmender Hinweis führte auf den Regenstein, eine abseits liegende Ruine, die nicht so häufig besucht wurde wie das Urseltal. Bereits vor der Zeitrechnung hatte es hier in den Sandstein getriebene Behausungen gegeben. Später wurden diese Löcher vertieft und ausgebaut, Verliese angelegt, ein Brunnen gebohrt. Noch später errichtete die Staatsgewalt auf Felsen Kasematten, die aber bald wieder verschwanden. Heute waren nur noch die Höhlen und ein halbzerfallener Bergfried vorhanden, aber alles war unübersichtlich und mancher Winkel als Versteck durchaus geeignet. Mit Hunden wurde das Gelände durchkämmt. Selbst in das große und das kleine Verlies kletterten die Männer, von Konrad fand sich keine Spur. Danach wurde die Suche am „Verlorenen Posten“ fortgesetzt. Auf dieser äußersten Erhebung des Gebirgszuges war im achtzehnten Jahrhundert ein Wachposten vom Sturm in die über hundert Meter tiefer liegenden 161
Wälder geweht worden. Doch nichts deutete darauf hin, daß es dem Schrottplatzwart ähnlich ergangen war. Als Hauptmann Rüdiger den Bericht dieser Aktion bekam, polterte er los. „In der Ruine wird sich nicht einmal ein Schwachkopf verstecken. Jedes Loch ist bekannt, wer darin sitzt, hockt in einer Mausefalle, aus der es kein Entkommen gibt.“ Helga Bathe griff zu einer Tabelle, die den genauen Zeitablauf des vergangenen Tages enthielt. „Was geschah gestern nachmittag auf dem Schrottplatz und veranlaßte Konrad zu diesem überstürzten Abgang?“ überlegte sie laut. „Was oder wer? Wer hat ein Interesse, daß Konrad verschwindet? Wodurch wurde der Mann in die Flucht getrieben?“ „Wahrscheinlich wissen wir mehr, wenn die sichergestellten Papiere ausgewertet sind“, meinte Rüdiger. „Nein!“ Die junge Kriminalistin zeigte auf die Tabelle. „Als wir dort waren, mußte Konrad schon damit rechnen, daß seine Schweinereien aufgedeckt werden. Doch er reagierte kaum darauf. Wahrscheinlich war er sich über Umfang und Folgen nicht einmal im klaren. Wenn der seinen Kasten Bier bekam, war der Fall für ihn erledigt.“ Der Hauptmann schob der Kollegin die Kaffeetasse hin. „Bitte … ich bringe morgen ein ganzes Pfund mit.“ Die Bathe goß den Kaffee ein, stellte die Kanne vorsichtig auf den Tisch und sagte nachdenklich: „Aus welchem Grund ändert man plötzlich radikal seine Meinung?“ Rüdiger verstand nicht, was die Frau meinte, und sah sie, um Erklärung bittend, an. „Ich meine Makus. Heute früh versuchte er noch, mir Beweismaterial gegen Becker ins Jackett zu fegen, zwei Stunden später schwang er sich zum Verteidiger für den Heizer auf. Und das, obwohl kein Mensch ein Wort gegen Becker gesagt hatte. Das kam nicht von ungefähr, 162
wenn er auch behauptet, nach dem Verschwinden des Platzwarts endlich klar zu sehen.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Konrad für Makus interessant ist. Gut, Makus gab zu, daß er es war, der dem kleinen Jungen vor Monaten den Schrottplatz zeigte. Daß er uns zunächst belog, kann ich sogar verstehen. Konrad hat aber nie ein Wort über den Fotografen verloren, auch nicht im Zusammenhang mit Tom. Und an den Schiebereien war unser Maigret bestimmt nicht beteiligt. Das wüßten wir längst.“ Helga Bathe stellte Topf und Tauchsieder in den Schrank. „Ich finde für sein Verhalten nur eine plausible Erklärung, die Makus übrigens schon selbst halb und halb beigesteuert hat. Er stellt sich schützend vor einen Dritten.“ Der Hauptmann klopfte auf den Tisch. „Begründung?“ „Nach seiner Darstellung bleibt offen, ob Tom seiner Mutter das große Geheimnis um Schrottplatz, Omnibus, Weihnachtsgeschenk preisgab. Die Schulenberg verneint es. Weiß Makus mehr?“ „Das wird er uns nicht sagen!“ „Wenn er nun sogar das Verschwinden Konrads irgendwie begünstigt hat?“ Rüdiger hüstelte. „Nun ist der Kaffee wieder kalt …“ „Aber das Thema heiß. Makus rückt von Becker ab, die Verdächtigungen sind nicht mehr aufrechtzuerhalten, und schießt dafür Breitseiten gegen Konrad, der sich möglicherweise auf Nimmerwiedersehen irgendwohin abgesetzt hat.“ Der Hauptmann ließ die Worte der Mitarbeiterin im Kopf kreisen. Er fühlte, daß ihre Darlegungen keineswegs absurd waren und auch zu der Theorie paßten, die ihn selbst beschäftigte. Als Oberleutnant Helm von einer Absprache bei der Einheit der Grenztruppen zurückkehrte, fand er nachdenkliche Kollegen vor. 163
„Wird die verstärkte Kontrolle fortgesetzt?“ wollte Rüdiger wissen. „Da kann kein Konrad durchschlüpfen. Eigentlich ist es unbegreiflich, daß der Mann bisher noch nicht gefaßt wurde.“ Die Kriminalisten wurden unterbrochen, sie erhielten einen Bericht von dem Geschehen auf dem Teufelsstein. „Konrad!“ rief Helm aus. Der Hauptmann packte schon seine Sachen zusammen. „Fahren wir hin?“ fragte die Bathe. „Du stellst sofort fest, wo sich Becker befindet und was er in den letzten Stunden getrieben hat.“ Rüdiger zog seinen Mantel an und warf dem Oberleutnant den Hut zu, den Helm gerade im Schrank abgelegt hatte. „Wir beide fahren in das Gebirge.“ Helga Bathe hätte die beiden Männer lieber zum Teufelsstein begleitet, sie unternahm einen schwachen Versuch. „Becker ist doch bei der Modenschau im Kreiskulturhaus …“ „Trabe, Mädchen, trabe! Und rufe sicherheitshalber deinen Mann an, er soll schon essen. Es kann ein langer Abend werden.“ Bevor die Kriminalistin die Dienststelle verließ und das zweite Mal an diesem Tag zum Kreiskulturhaus fuhr, ging sie noch einmal in die Kantine. Sie dachte an den Rat Rüdigers und kaufte ein paar Kleinigkeiten ein. „Laß ja den Neptun nicht verhungern!“ dröhnte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um, und da saß an einem Tisch, wie immer nach Dienstschluß, Duden-Krause und trank sein Bier. Der Zivilangestellte Krause war schon Rentner. Als Kraftfahrer hatte er bei der Polizei angefangen, verlor im Krieg ein Bein und wurde später als Bürokraft der Verkehrspolizei wieder eingestellt. Bald erwarb er sich den 164
Spitznamen, der mit seinem nie versagenden Gedächtnis zusammenhing. Böse Zungen behaupteten, selbst gelöschte Stempel oder gebührenpflichtige Verwarnungen für Kraftfahrer wären zwar nicht mehr in den Akten, wohl aber für alle Ewigkeit in Dudens Kopf vermerkt. „Mein Neptun setzt ganz schön Fett an“, klagte die junge Frau. Ihr Mann trug einen Vollbart, der sehr an den des Meeresgottes erinnerte und ihm deshalb jenen Namen einbrachte. „Komm einmal her zu mir, Madam!“ Duden-Krause rückte einen Stuhl zurecht. Helga Bathe wollte mit einem Scherzwort vorbeilaufen, kam aber nicht weit, der alte Kollege hielt sie fest. „Fünf Minuten lang können deine Gangster warten. Setz dich.“ „Was gibt es denn, Duden?“ „Ich will dir nur die Geschichte von Hammerschmidt erzählen. In Auszügen! Dem haben wir dreimal die Fahrerlaubnis entzogen. Immer wegen überhöhter Geschwindigkeit. Neunzehnhunderteinundfünfzig, neunzehnhundertsechsundfünfzig und am zehnten Oktober neunzehnhundertsechzig!“ „So genau wissen Sie das?“ „Wetten, daß …“, schlug Duden-Krause vor. „Jedesmal erwischten wir ihn beim Bierholen. Was lehrt uns das? Bier muß immer im Hause sein. Oder … noch besser“, er grinste, „man trinkt es im Dienst.“ Der jungen Frau kam ein Gedanke. „Sagen Sie, Duden, können Sie sich an den Fahrlehrer Lingnus erinnern?“ Duden-Krause schlug auf den Tisch und lachte dröhnend. „Lingnus mit dem Lorbeerkranz! Natürlich kannte ich den! Er wohnte bei Frau Else Prahmann, Am Markt drei. Vorher war er Rennfahrer, nachher soll er’s auch wieder geworden sein. Dabei hat er sich dann irgendwo das Genick gebrochen. Ein verrückter Kerl. Lange war der 165
hier nicht tätig. Warte mal … vom ersten Februar … nein, nein … vom ersten März neunzehnhundertvierundsechzig bis zum einunddreißigsten Januar neunzehnhundertfünfundsechzig. Er schwor auf seine Spezialausbildungsmethoden, die er besonders dann gern anwandte, wenn der Fahrschüler eine Frau war.“ „Ob es sich feststellen läßt, wer bei diesem Kauz die Fahrprüfung ablegte? Ich brauche aber nur die, die heute noch hier wohnen.“ „Zwei halbe Liter, dann weiß ich’s wieder. Viele Menschen waren damals nicht darauf versessen, ihr Leben zu riskieren.“ „Schönen Dank, Duden.“ Helga Bathe stand auf. „Ich komme morgen früh vorbei und hole mir die Namen.“ Der Allwissende hinkte an die Theke und nahm sich noch eine Flasche Pils. „Die jungen Leute müssen immer rasen. Fließen soll der Verkehr wie das Bier … zügig und konstant“, erklärte er der Frau an der Kasse und prostete ihr zu. Das Bergtheater war nach klassischem Vorbild erbaut worden. Über dreißig Meter hoch stieg der Zuschauerraum im Halbrund an. Rechts und links begrenzten Felsen die Spielflächen, aber selbst dort noch hatte ein befähigter Baumeister Möglichkeiten für Auftritte geschaffen, die nach Begabung und Phantasie der Regisseure in die Handlung einbezogen werden konnten. Die Geschichte der Bühne war fast schon Legende, es gab kaum einen Sommerurlauber, der sich einen Besuch entgehen ließ. Die tapferen Mimen spielten dafür bei Wind und Wetter alles, was für eine Aufführung im Freien geeignet war, wechselnd mit witterungsbedingter Länge und Lautstärke. Jetzt, nachdem das Ensemble wieder für das Jahr seine Pflicht erfüllt hatte, lag das Theater verlassen. Wer über den Zaun schaute, konnte noch letzte Überreste von 166
Etzels Halle und Pedros Mühle erkennen. Unsichtbar für den Besucher, befanden sich unter dem Zuschauerraum Garderoben und Magazine, mit allem möglichen vollgestopft, was während der Saison im Dienste Thaliens gestanden hatte. Hier unten gab es auch eine kleine Kantine und ein Verwaltungszimmer. Mit einem alten Fahrrad war Konrad morgens davongeradelt, danach kreuz und quer durch die Wälder gelaufen, immer auf der Hut, keinem Menschen zu begegnen. Kurze Zeit versteckte er sich in einem Schober, den die Förster für die Winterfütterung angelegt hatten. Aber schon bald setzte er seinen Weg fort, um das Ziel zu erreichen, das er sich als Ausgangspunkt seiner Flucht erwählt hatte, das Bergtheater. Nun hockte er bereits seit Stunden zwischen alten Kulissenteilen. Dem Platzwart war klar, daß er hier nicht lange bleiben konnte. Bis zur Station der Schmalspurbahn war es nicht weit, er traute sich jedoch nicht, dorthin zu gehen. Jetzt habe ich zwar Geld, aber nicht mal einen Fingerhut voll Bier. Konrad betrachtete, von Hunger und Durst gepeinigt, verzweifelt die Scheine, die ihm sein letztes Geschäft eingebracht hatte. Immer wieder lasse ich mich bescheißen, lamentierte er und fürchtete im gleichen Augenblick, schon verraten zu sein. „Ein krummer Hund bleibt krumm, und wenn er zentnerweise Knoblauch frißt!“ schimpfte Konrad. Vorsichtig steckte er den Kopf aus dem Versteck, um nachzusehen, wie es draußen aussah. Als es dunkel wurde, hielt er es nicht mehr aus. Die Angst trieb ihn weiter, der Grenze zu. Konrad kletterte aus seinem Unterschlupf und lief schnell über die Bühne. Er duckte sich vor einer Wand, die im Schatten lag. Noch einmal beobachtete er die schlafende Landschaft. Er erschrak. Rascheln und Schnauben erklang unweit von ihm. Ein Rudel Wildschweine näherte sich den Bret167
tern, die im Sommer die Welt bedeuteten, zog aber bald weiter. Der Platzwart hatte im Souffleurkasten ein ausgedientes Kostüm gefunden und sich das imitierte Lederwams als Kälteschutz übergezogen. Jetzt streifte er die Jacke ab und warf sie im hohen Bogen fort. Vorsichtig und nicht aus dem Schatten tretend, schlich er an den Zaun, der das Theatergelände vom Wald trennte. Schnell sprang er hinüber. Zuerst benutzte er keine Wege. Das Unterholz war in der Gipfellage nicht mehr so dicht und verwachsen. Konrad kam zügig voran. Hin und wieder blieb er stehen, um zu lauschen. Er wußte, daß die Grenze über zehn Kilometer entfernt war und hier noch keine Streifen gingen. Trotzdem bemühte er sich, in Deckung zu bleiben. Wenn er Geräusche hörte, die von Menschen stammen konnten, bewegte er sich nicht von der Stelle. Manchmal warf er sich auf den Boden, kroch ins Gestrüpp und verhielt sich so, wie er es vor Jahrzehnten gelernt hatte, als es auf gefährlichen Rückmarschstraßen um das Leben ging. Er haderte mit seinem Schicksal, verfluchte den Kerl, der ihn in diese hoffnungslose Situation getrieben hatte. „Sie werden Ihrer Bestrafung nicht entgehen. Merken Sie nicht, daß Ihre Lage hoffnungslos ist?“ hatte der gesagt. Da hatte Konrad noch gelacht, großmäulig erwidert: „Mich können alle am Arsch lecken, wenn sie nicht schon drinstecken.“ Später wurde er kleinlauter, als ihm nämlich prophezeit wurde: „Wissen Sie nicht, daß Ihre Rolle auf dem Schrottplatz für alle Zeiten vorbei ist? Sie werden unter Kontrolle kommen, werden dort arbeiten, wo Alkoholismus wie eine Seuche bekämpft wird.“ Er hatte sich zu wehren versucht, gesagt, daß ihm nichts nachzuweisen wäre. Doch bald merkte er selbst, 168
in welcher Klemme er saß, daß die Kumpane auspacken würden, um die eigene Haut zu retten. Ihre Worte waren deutlich genug. „Schweine sind es!“ schimpfte Konrad vor sich hin. Er hatte gerade eine Verschnaufpause eingelegt und dachte wohl zum hundertsten Mal an diesem Tag über seine Lage nach. „Parasiten, die sich noch einen Judaslohn an mir verdienen wollen.“ Wütend riß er einen Strauch aus dem Boden, zerbrach die schwachen Äste. „Wenn ich doch diesen Bullen so unter die Finger bekäme.“ Es half nichts, die Worte waren nicht auszulöschen: „Es steht jetzt einwandfrei fest, daß Sie als einziger zur Tatzeit auf dem Schrottplatz waren. Was wollen Sie denn zu Ihrer Entlastung vorbringen? Einem Alkoholiker, Dieb, Hehler traut jeder auch einen Mord zu. Legen Sie endlich ein Geständnis ab. Schweigen verschlimmert nur Ihre Lage.“ Verzweifelt hatte er nach einem Ausweg gesucht, aber das benebelte Gehirn hatte keinen Gedanken hergegeben. Er hatte immer nur denken können: Sie holen dich. Sie bringen dich vor ein Gericht. Der Wald lag ruhig, nichts rührte sich außer den Baumkronen, durch die der Wind strich. In seiner Jugend und in den ersten Jahren seiner Ehe hatte Konrad manchen Tag im Gebirge verbracht. Wenn er sich auch zuletzt kaum vom Schrottplatz und der jämmerlichen Baracke entfernt hatte, er wußte noch Bescheid, fand sich gut in der Gegend zurecht. Gott sei Dank, ich bin auf der richtigen Fährte. Der Platzwart stöhnte erleichtert auf. Vor ihm lag ein Grab, an dessen Kreuz ein alter Stahlhelm hing. Ein unbekannter Soldat war noch am ersten Tag des Friedens hier ums Leben gekommen. Da, wo er starb, hatte er seine Ruhestatt gefunden. Konrad setzte sich auf den Hügel. Er suchte die Ta169
schen durch, kramte im umgehängten Beutel, obwohl er wußte, daß er nichts besaß, um Hunger und Durst stillen zu können. Die fröhlichen Zecher hatten den Teufelsstein längst verlassen. Als die Kriminalisten eintrafen, war Leichsenring mit der Tageskasse beschäftigt. Seine Frau und Monika saßen am Tisch unter einem Bild, das eine, nur mit Schleier und Walkürenhelm bekleidete Reiterin zeigte, jene Dame, die für den Pferdehufabdruck verantwortlich sein sollte. Rüdiger bestellte einen Mokka, Helm murmelte dazu im Ton eines Bildschirmkriminalisten: „Herzinfarkt.“ „Ich würde mich gerne gleich mit Ihrer Tochter unterhalten“, sagte Rüdiger. „Ob ich es nicht zuerst darlegen sollte?“ bot die Mutter an. Leichsenring machte eine abwehrende Handbewegung. „Du warst doch überhaupt nicht dabei!“ Für alle Fälle legte Frau Leichsenring den Arm um die Schulter der Kleinen. „Ihr seid also in der Nachmittagsvorstellung der Modenschau aufgetreten?“ begann Rüdiger das Gespräch. „Ja“, bestätigte Monika. Sie löffelte an einer Schale Götterspeise. „Sie müssen wissen, daß Monika schon seit drei Jahren im Tanzzirkel mitwirkt. Das war heute nur ein Gelegenheitsauftritt. Tingeln nennen’s die Großen.“ Frau Leichsenring errötete vor Stolz. „Und danach?“ „Daß die Kinder noch zum Herbstmarkt gegangen sind, war natürlich nicht vorgesehen.“ Monika widersprach. „Bis auf Hilde ging die ganze Gruppe. Ihr habt noch nie etwas dagegen gehabt?“ „Sie sehen, wo es hinführt, Herr Hauptmann!“ Frau Leichsenring zog das Mädchen noch fester an sich. „Seid ihr mit dem Karussell gefahren?“ „Nein.“ 170
„Habt ihr vielleicht an einer kleinen Bude mit Stoffbällen nach Blechbüchsen geworfen?“ „Eis haben wir uns gekauft, sonst nichts.“ „Eis. Bei dieser Jahreszeit!“ Mahnend wackelte ein Zeigefinger vor Monikas Nase. „Seid ihr alle zusammen nach Hause gegangen?“ „Bis zur Chaussee.“ „Und du gehst nach den Trainingsstunden immer den gleichen Weg?“ „Immer“, erwiderte Monika. „Bis zu Frida Sanders Kreuz hast du also auf der Schurre nichts bemerkt?“ „Es war schon ziemlich dunkel.“ „Auch keine Geräusche, keine Schritte?“ „Nein, bestimmt nicht“, beteuerte das Kind. „Im Wald überhöre ich nichts. Ich kenne alle Vogelstimmen. Soll ich sie vorführen?“ „Wir haben sie auf Tonband“, erklärte der Vater und fügte hinzu, daß Ornithologie das Familienhobby wäre. „Hinter dem Kreuz stand dann ein Mann. Kannst du beschreiben, wie er aussah, wie groß er war?“ „Eine Gestalt stand da, ob es ein Mann war, weiß ich nicht. Sie pfiff laut. Ach, richtig. Das Pfeifen habe ich schon vorher gehört.“ „Kann es nicht der Wind gewesen sein?“ „Der Wind pfeift keine Schlager.“ Monika wies den Einwand entschieden zurück. „Passen Sie mal auf!“ Monika spitzte die Lippen und pfiff. „Haben Sie das schon gehört?“ „Leider nicht“, bedauerte Rüdiger. Mit einem Mal pfiff auch der Oberleutnant. Der Hauptmann sah seinen Kollegen überrascht an. „Sie interessieren sich für solche Musik?“ „Nicht direkt, doch …“, Helm winkte ab. „Ich erklär’s später.“ Monika war jetzt ganz mobil. „Gesprochen hat die 171
Gestalt überhaupt nicht. Sie lief immer nur hin und her.“ „Vielleicht hat dich ein Schulfreund necken wollen?“ gab der Hauptmann zu bedenken. „Nein. Die dürfen so spät nicht mehr auf die Schurre gehen.“ Rüdiger wandte sich an die Eltern. „Wer weiß eigentlich davon, daß Monika Mitglied des Tanzzirkels ist, und kennt den Zeitpunkt der Übungsstunden?“ „Die kann man gar nicht alle aufzählen“, meinte der Gastronom. „Bedenken Sie doch, es sind mindestens dreißig Kinder. Sie haben Freunde, Freundinnen, es gibt Omas, Opas, Tanten. Und jeder spricht gern vom nächsten Auftritt.“ „Hm!“ machte Rüdiger und schaute nachdenklich auf das Mädchen. Er rückte mit seinem Stuhl ein Stück näher an den Tisch heran und beugte sich zu Monika vor. „Wer hat euch eigentlich gesehen, als ihr das Kreiskulturhaus verlassen habt?“ „Alle, die in der Nähe der Tür gestanden haben. Wir mußten uns mächtig beeilen, weil es schon spät war. Da haben wir uns durchgedrängelt. Der Kohlenschipper, der auch hinaus wollte, fragte neugierig: ‚Holt euch denn keiner ab? Müßt ihr ganz allein gehen?‘ “ Monika lachte empört auf. „Als wenn wir Kleinkinder wären.“ Rüdiger blickte zu Helm, der die Worte des Mädchens notierte, und dann zurück zu Monika. „Wie man sieht, hatte er gar nicht so unrecht.“ „Ich war immer dafür, das Kind abzuholen, aber Männer wissen ja alles besser!“ Frau Leichsenring ließ durchblicken, daß die Rüge nicht nur ihrem Mann galt. „Ist Ihnen der Schrottverwalter Konrad bekannt?“ fragte Rüdiger unvermittelt. Frau Leichsenring lief rot an. „Und ob wir den kennen! Der versoffene Kerl war der Mann meiner Schwester. Sie starb nur, weil der Suffkopp sie immer so drangsalierte.“ 172
„Eigentlich war’s eine Lungenentzündung“, widersprach der Gastwirt. „Die kam noch dazu. Also … hier läßt der sich nicht mehr sehen, er weiß, was ihm blüht.“ Die Frau zog Monika wieder an sich. „Sollte er trotzdem hier auftauchen, benachrichtigen Sie uns bitte sofort“, bat Rüdiger und erkundigte sich dann, ob Konrad Kinder hatte. „Das hätte noch gefehlt. Die armen Würmer könnte man nur bedauern.“ Frau Leichsenring schüttelte sich bei dem Gedanken vor Entsetzen. „Du sollst nicht so reden“, mahnte Leichsenring. „Ich erinnere mich, daß Josef anfangs gern einen Jungen haben wollte. Aber deine Schwester …“ „Weil’s da mit der Trinkerei anfing. Er kam doch tagelang nicht nach Hause, und wenn doch, dann sternhagelvoll!“ Der Hundeführer, der auf der Schurre nach Spuren gesucht hatte, meldete sich. „Bis zum Kreuz lief vieles durcheinander. Unmittelbar danach konnte Senta Witterung aufnehmen, aber die Spur gehörte dem Kind. Weiter war nichts auszumachen. Vor dem Kreuz fanden wir das hier. Es kann noch nicht lange dort gelegen haben.“ Der Mann übergab Rüdiger eine Plasttüte mit dem abgerissenen Teil einer Blechkette. „Sanitärmaterial, würde ich sagen“, kommentierte er seinen Fund. „Gut“, lobte Rüdiger und entschied: „Fahren Sie voraus, wir treffen uns am Einstieg bei der Chaussee. Sehen Sie sich dort noch einmal um.“ Der Oberleutnant hatte das Fundstück betrachtet. „Solche Ketten gibt’s überall im Haushalt, meistens als Halt für Spülbecken und Badewannenstöpsel, auch im Klo.“ Leichsenring ergänzte: „Man findet die Dinger auch an den Klappen von Zentralheizungsöfen. Taugen tun sie nicht viel, reißen oft und müssen laufend ausgewechselt werden.“ 173
Rüdiger nickte. „Klempner werden die Ketten noch bei sich haben. Wer außerdem?“ Leichsenring kam auf sein Beispiel zurück. „Heizer!“ „Sie sagen es!“ stimmte Helm zu. Der Gastronom holte eine Flasche Wodka vom Ausschank. „Mögen Sie?“ fragte er. Er goß sich ein Glas voll, die Kriminalisten lehnten ab. Leichsenring wollte seine Theorie unbedingt noch an den Mann bringen. „Für diese ganze Spukerei gibt es nur eine Erklärung. Es kann sich nur um den Mann handeln, der das Verbrechen auf dem Schrottplatz verübt hat. Nur ein Verrückter kann dahinterstecken. Sie sollten ja bereits einen bestimmten Burschen im Visier haben.“ Hauptmann Rüdiger zeigte auf den „Ölschinken“ mit der fülligen Amazone. „Die Dame wurde in dieser Gegend von einem Bösewicht verfolgt. Frida Sander ging es sogar an den Kragen. Ich rate Ihnen dringend, lassen Sie Monika in den nächsten Tagen nicht allein über die Schurre gehen.“ „Das ist doch selbstverständlich“, beteuerte Frau Leichsenring, und Rüdiger wußte, daß er sich darauf verlassen konnte. „Wahrscheinlich werden Sie morgen einen Umsatz wie nie in dieser Jahreszeit machen. Aber auch auf die Gefahr hin, daß sich meine Prognose nicht erfüllt, möchte ich Sie bitten, nicht über die Geschichte zu sprechen. Wenn Sie etwas hören, das wichtig ist, rufen Sie uns an, und sollten sich bei Monika nachträglich Schockwirkungen einstellen, informieren Sie sofort einen Arzt.“ Leichsenring begleitete die Kriminalisten bis an das Auto. Als er zurück in die Gaststätte kam, überprüfte er alle Fenster und verriegelte die Tür. Der Schalter des Kassenraums im Kreiskulturhaus war geschlossen, doch die Tür stand nur angelehnt. Als Helga Bathe im Vorbeigehen laute Stimmen hörte, die ihr 174
gut bekannt waren, blieb sie stehen. Karl-Heinz Franz und Fred Makus stritten sich. „Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie den Apparat gekauft haben. Nein, mein Lieber, hier liegt ein Diebstahl vor. Gerade Sie müßten es wissen, auch der Hehler macht sich strafbar!“ Makus’ Stimme überschlug sich fast. Daß der so brüllen kann, wunderte sich die Bathe. Franz dagegen flüsterte fast. „Es handelt sich um einen völlig korrekten Kauf. Ich zahlte das, was der frühere Besitzer verlangte. Sie wissen bei Kameras natürlich besser Bescheid, ich muß mich nach dem Angebot richten.“ „Angebot ist gut!“ Makus lachte höhnisch. „Die Kamera gehört mir, und jedes Gericht wird das anerkennen. Darauf können Sie sich verlassen!“ „Das wollen wir erst einmal sehen!“ Franz lachte nun auch – triumphierend. „Ich glaube nämlich nicht, daß Sie zum Kadi laufen werden. Ich weiß doch Bescheid!“ Irgendwie hätte es Helga Bathe schon interessiert, zu erfahren, worüber Franz Bescheid wußte. Daß Makus mit Franz in Geschäftsverbindung stand, hätte sie nie vermutet. Makus schien eine neue Taktik zu wählen, er sprach ganz ruhig. „Mann, ahnen Sie wirklich nicht, was auf Sie zukommt, wenn Sie sich so stur stellen?“ „Was auf Sie zukommt, wenn Sie bei Ihrer Behauptung bleiben, ist auch nicht von Pappe“, konterte Franz. „Schluß!“ Der Fotograf schrie wieder. „Rücken Sie den Apparat ’raus oder …“ „Oder“, entschied Franz. Gleich darauf schoß Makus aus dem Kassenraum und verschwand im Saal, die Kriminalistin hatte er nicht bemerkt. Der nach dem Fotografen erscheinende Klempner sah die junge Frau sofort. „Hoher Besuch.“ Franz schien den Streit völlig ver175
gessen zu haben. Er strich sich mit beiden Händen die Haare glatt und zeigte sein Standardlächeln. „Eine Freikarte gefällig?“ fragte er und fügte seine einstudierte Verbeugung hinzu. „Ist doch schon Feierabend“, erwiderte die Bathe. Durch die Tür konnte sie sehen, wie auf dem Laufsteg das Finale ablief. „Dann folgt der Ball. Wie wär’s?“ „Ich würde Ihnen bestimmt auf die Füße treten.“ Der Klempner verstand den Doppelsinn der Worte und fand, daß es besser wäre, das Thema zu wechseln. Als er merkte, daß Helga Bathe zur Garderobe wollte, hielt er sie zurück. „Behalten Sie lieber den Mantel an, im Saal ist’s recht kühl geworden.“ Die Kriminalistin sah sich um. „Ist Becker nicht da?“ „Der montiert immerzu an den Heizkörpern herum. Da, sehen Sie.“ Der Klempner zeigte in die Saalecke, wo der Heizer mit Zange und Schraubenzieher an einem Ventil hantierte. Inzwischen war der Beifall versickert, die Zuschauer aufgestanden. Einige gingen in die Nebenräume, andere vertraten sich im Freien die Füße, damit sie beim Tanz wieder fit sein würden. Um den wie eine Klette anhänglichen Franz loszuwerden, steuerte die Kriminalistin auf Fred Makus zu, der wiedermal mit irgendwem über irgendwas heftig diskutierte. „Haben Sie Ihr Versprechen gehalten, sind die schönsten Modelle im Kasten?“ „Die können Sie überhaupt nicht bezahlen, wer sich das leisten will, muß freischaffend sein.“ „Ich nähe selbst.“ „Wenn das so ist, bekommen Sie die Abzüge gratis.“ „Wie war das Programm?“ erkundigte sich Helga Bathe. „Hatte Ihr Freund Franz gut eingekauft?“ Makus setzte sich auf einen Hocker und sah die Kriminalistin erstaunt an. „Nun sagen Sie bloß noch, Sie 176
interessieren sich dafür. Oder geht es um einen neuen Fall?“ „Sie haben es erraten, aber machen Sie uns nicht wieder Konkurrenz!“ Makus hob abwehrend die Hände. „Ich werde mich hüten. Ein Reinfall genügt mir bis an mein Lebensende.“ Die Kriminalistin machte ein skeptisches Gesicht. Sie hätte gar zu gern den wahren Grund seines Meinungswechsels gewußt. Aber der Fotograf würde ihre Neugier wohl kaum befriedigen. Für ihn schien das Thema ohnehin abgeschlossen zu sein. Er deutete ungeniert auf einen salopp gekleideten jungen Mann, der mit einem hübschen rothaarigen Mädchen vorüberging. „Da haben Sie Ihre Schäflein beisammen.“ „Wer war das?“ fragte die Bathe. „Den kennen Sie nicht? Das wundert mich aber. Sie sehen Herrn Anders mit seiner neuesten Eroberung. Aber jetzt muß ich wirklich arbeiten, nicht nur, weil Sie es mir immer wieder empfehlen. Ich tu’s grundsätzlich gern.“ „Das ist ein Wort“, sagte die Kriminalistin. In den Nebenräumen herrschte noch immer oder schon wieder das Durcheinander vom Vormittag. Die Artisten hatten ihr Gepäck abgestellt, Musiker eine Theke improvisiert, und wo dann noch Platz war, standen die Schrankkoffer mit den bereits eingepackten Modellen. Wahrscheinlich hatte sich Dorothea Wendler tatsächlich zuviel zugemutet. Als Helga Bathe die Behelfsgarderobe betrat, lag die junge Frau in eine Decke gewickelt auf der Couch. „Was wollen Sie denn nun schon wieder?“ fragte sie unwirsch. „Erstens wollte ich mich erkundigen, ob alles gut verlaufen ist, und zweitens macht uns der Platzwart Sorgen. Er hat Sie schon einmal belästigt, da wäre es möglich, daß er hier …“ 177
„Das wird er nicht wagen“, sagte das Mannequin müde. „Sind Sie so sicher?“ „Was soll er denn hier suchen?“ Auch das klang recht kleinlaut. „Geld, natürlich!“ „Das heißt also, der Kerl ist noch immer frei?“ „Ja. Wir nehmen an, daß er umherirrt, um sich Mittel zu beschaffen.“ „Zu mir kommt der bestimmt ‚nicht. Es wäre einfach dumm von ihm“, sagte die Wendler und stand langsam auf. Sie nahm ein Handtuch und frottierte die Schultern. Die Tür wurde aufgerissen, der Fotograf stürmte herein. „’raus!“ befahl das Mannequin mit ausgestreckter Hand. Makus schloß die Tür von innen. „Seien Sie nicht so zickig. Ich habe Sie schon geknipst, da hatten Sie wesentlich weniger an.“ Als er die Bathe bemerkte, ließ er sich in den Sessel fallen. „Ach, Sie sind auch noch da? Na, wo sind Sie nicht!“ Die Kriminalistin konterte. „Das könnte ich Sie auch fragen.“ Ohne den Leutnant weiter zu beachten, redete Makus auf Dorothea Wendler ein. „Unsere Reportage können wir in den kalten Schornstein dieses Kulturschuppens schreiben. Thema der Schose war schließlich ‚Ein Tag im Leben eines Mannequins‘. Bilder vom Laufsteg und Ihr Chlorodontlächeln wird nur ein Bruchteil vom Ganzen.“ Makus fuchtelte erregt mit den Händen in der Luft herum. „Falls Sie den nötigen Grips haben, um das zu begreifen.“ Die Wendler drehte dem Fotografen den Rücken zu, worauf der sich an die Kriminalistin wandte. „Finden Sie nicht auch, so ein Blick hinter die Kulissen ist doch et178
was anderes? Was macht ein Mannequin in den Stunden, wo es nicht auf dem Laufsteg steht? Immer nur mit Lippenstift und Wimperntusche pinseln? Mit Schleppen wedeln, auf neuen Schuhen wippen …“ „Heute tat ich etwas ganz Prosaisches“, unterbrach ihn die Wendler schnippisch. „Ich kühlte den Fuß und legte Eisbeutel auf meinen Kopf.“ „Das eben wollte ich. Genau das!“ Das Mannequin goß sich eine Cola ein. Makus redete sich weiter in Rage. „Ich habe in der Pause gewartet. Ihre Idee war es, ein paar Aufnahmen im Freien zu machen: ‚Wie sich der Star entspannt.‘ Wer nicht kam, war die Dame. Wollen Sie behaupten, immer nur gekühlt zu haben. Oben gefrorenes, unten fließendes Wasser? Das reinste Eis am Stiel. Aber Himbeer mit Vanille.“ „Sie werden geschmacklos. Außerdem wollten Sie mich abholen.“ Die Wendler war noch immer sparsam bekleidet, es schien ihr nun nichts mehr auszumachen. Sie saß vor dem Spiegel und beschäftigte sich mit ihrer Frisur. Plötzlich entlud sich ihre Wut. Sie herrschte Makus an: „Was stehen Sie denn hier noch ’rum! Sehen Sie zu, daß Sie rauskommen!“ Da der Fotograf keine Anstalten machte, ihrer Aufforderung Folge zu leisten, griff sie nach einer Haarbürste und warf sie ihm vor die Füße. Ob das die berüchtigten. Starallüren sind, fragte sich Helga Bathe verwundert. Etwas Unerwartetes trat ein. Fred Makus zückte seine Kamera und fotografierte. „So will ich Sie haben! Das ist es, was wir brauchen!“ rief er begeistert und stieg auf einen Stuhl. „Lassen Sie das!“ schrie das Mannequin hysterisch und fuhr dann auch noch Helga Bathe an: „Stehen Sie doch nicht so herum!“ „Mir reicht es“, sagte die Kriminalistin und verließ die Garderobe. Im Saal setzte sie sich auf einen Stuhl und 179
holte tief Luft. Dann aber wurde sie nachdenklich: Und wo waren die beiden in der Pause wirklich? Ein wohlbekanntes Organ in überzogener Phonstärke ließ der Bathe keine Zeit zum Überlegen. Karl-Heinz Franz stritt sich schon wieder, jetzt mit dem Leiter des Kulturhauses. „Sie irren sich gewaltig. Ich bin verantwortlich für den künstlerischen Sektor, und der läuft. Soll ich etwa auch noch die Kohlen einschippen, die vor den Öfen liegen? Das ist Ihre Hochzeit, mein Lieber, Ihre Hochzeit ganz allein!“ Na, da hat er tatsächlich mal recht, fand die Kriminalistin. Heute morgen war’s hier wie in den Tropen, und jetzt könnte man Pinguine züchten. Der Kulturhausleiter versuchte den aufgebrachten Mann zu beschwichtigen. „Hätten Sie doch ein Wort gesagt. Sie saßen schließlich die ganze Zeit im Saal.“ „Bitte, bitte, bitte! Stellen Sie es nur auf den Kopf, die Beine wackeln trotzdem nicht. Wenn ich nicht soeben persönlich in den Keller gestiegen wäre, wüßten wir nicht mal, daß der Heizer seine Arbeit einfach liegengelassen hat.“ „Das ist doch Blödsinn! Der Mann hat bemerkt, daß ein Ventil defekt ist. Er wollte den Schaden beseitigen, so etwas kostet Zeit!“ „Und Sie kostet’s die halbe Saalmiete. Ich verstehe mehr von solchen ‚Defekten‘, als Sie ahnen. Hier liegt ein Vertragsbruch vor, der zu Lasten des Vermieters geht.“ „Es wird wärmer.“ Der Kulturhausleiter nahm die Hand des Klempners und legte sie auf den Heizkörper. „Beruhigt?“ fragte er und ließ den aufgebrachten Mann stehen. Franz hatte die Kriminalistin längst gesehen. „Haben Sie das gehört?“ fragte er erbost. „Hier scheint ein allgemeines Streiten ausgebrochen zu sein“, entgegnete die Frau, die das Rededuell so uninteressant gar nicht gefunden hatte. 180
„Es ist eine bodenlose Schlamperei. Der Sache gehe ich nach. Ein Ventil war kaputt! Das wagt man einem Mann zu sagen, der in seinem Leben mehr Ventile repariert hat, als die hier überhaupt gesehen haben. Gepennt hat der Heizer, sich irgendwo aufs Ohr gelegt. Aber die hier merken nichts. Und mir wollen sie Makrelen als Delikatware verkaufen. So nicht mit der Konzert- und Gastspieldirektion! So nicht!“ Helga Bathe knöpfte den Mantel zu. „Sie werden schon recht bekommen. Trotzdem, an Ihrer Stelle hätte ich mich gleich bemerkbar gemacht, als die Temperatur sank.“ Die Kriminalistin verließ einen verblüfften Karl-Heinz Franz, der erst, als die Frau schon lange außer Sichtweite war, stammelte: „Aber die Kunst. Die Kunst braucht auch Kontrolle.“ Etwa hundert Meter unterhalb der Gaststätte lag der Parkplatz. Oberleutnant Helm lenkte den Wartburg darauf und stoppte. „Was halten Sie von der Sache?“ fragte er den Hauptmann. Rüdiger antwortete ausweichend mit einer Gegenfrage. „Wie denken Sie darüber?“ „Es ist möglich, daß sich die Geschichte lediglich in der Phantasie des Kindes abgespielt hat. Die Kleine hat von Tom Schulenbergs Tod gehört. Wahrscheinlich wurde in der Gaststätte ausgiebig über den Fall diskutiert, bestimmt gaben die Eltern Verhaltensregeln mit auf den Weg. Dazu kommt die Mär von der unglücklichen Frida. Am Kreuz fing’s an.“ „Darüber lacht die Monika nur.“ Der Oberleutnant öffnete das Wagenfenster. Er zeigte auf den Wald. „Sehen Sie hinaus. Ich kann mir vorstellen, daß empfängliche Gemüter in den verkrüppelten Bäumen oder den Felsgruppen Gestalten erkennen.“ Rüdiger stieg aus. Er ging an den Rand des Plateaus, Helm folgte ihm. 181
Der Hauptmann war ihm noch eine Antwort schuldig, doch der stützte sich auf das Geländer und schwieg. Nach einer Weile hatte der Oberleutnant das Gefühl, Rüdiger hätte ihn vergessen. Er räusperte sich. „Trotzdem. Ich kann nicht an einen Zufall glauben, wenn die Gestalt ausgerechnet den Schlager von sich gibt, den nach den Worten Frau Brehmers Becker von morgens bis abends pfeift.“ Rüdiger streckte die Arme weit von sich und atmete tief die Gebirgsluft ein. „Man sollte tatsächlich mal nachts einen Waldspaziergang machen. Dem Zauber wird sich selbst der abgebrühteste Polizist nicht entziehen können.“ Der Dicke drehte sich langsam um. „Sie wissen’s genau?“ „Was?“ „Das mit dem Schlager und Becker?“ Helm pfiff ein paar Takte. „So fängt er an. ‚Glaub ja nicht, daß ich weine!‘ lautet der dämliche Text dazu.“ „Haben Sie den von Ihren Kindern?“ „Allerdings. Man könnte überschnappen, denn nun kommt der Heizer erneut ins Gespräch. Der kranke Mann feiert Auferstehung!“ Rüdiger sammelte Tannenzapfen und warf sie nach einem nicht auszumachenden Ziel. „Sie meinen Becker? Warum kann’s nicht auch Konrad gewesen sein, der sich hier irgendwo herumtreibt? Konrad braucht Geld. Ein paar Mark sind in seiner Situation ein Vermögen. Vielleicht wollte er dem Kind die Tasche abnehmen?“ Helm beteiligte sich an den Zielübungen des Hauptmanns. „Wir drehen uns doch im Kreise. Becker – Konrad, Konrad – Becker. Wem ist dieser Humbug denn nun zuzutrauen?“ Rüdiger schoß den letzten Zapfen wie einen Fußball in den Wald. „Keinem von beiden. Die Gestalt war ein ganz gesundes Wesen mit klugem Köpfchen, das uns für dumm verkaufen will. Die Vorstellung war viel zu theat182
ralisch aufgezogen. ‚Der kranke Mann schlug wieder zu‘, das zu suggerieren wurde bezweckt. ‚Der Unhold, vor dem kein Kind sicher ist, treibt sich noch herum!‘ Ich meine, die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen heißt, vom Gegenstand auszugehen. Tun wir es nicht, drehen wir uns tatsächlich im Kreis. Kommen Sie, wir müssen weg. Jetzt möchte ich gern genau wissen, was im Kulturhaus los war.“ Das Telefon läutete anhaltend. Unerbittlich schrillte es durch die Wohnung. „Aufstehen“, murmelte Rüdiger im Halbschlaf. Er fand die Hausschuhe nicht, stieß mit dem Knie gegen die Bettkante und fluchte mit zusammengebissenen Zähnen. In der Zwischenzeit hatte Katharina Rüdiger schon den Hörer in der Hand. „Er kommt gleich“, hörte der Hauptmann seine Frau sagen. Immer noch barfuß, tapste er zum Apparat und meldete sich. Er hielt die Muschel ans Ohr gepreßt und sah mit einemmal hellwach aus. Seine Anweisung war kurz. „Den Wagen. Sofort. Wenn möglich, Helm vorher benachrichtigen. Nein, nur Helm.“ Er legte auf und bemerkte, daß seine Frau mit nackten Füßen wie er selbst neben ihm stand. „Geh ins Bett. Ich muß fort.“ „Wann?“ „In zehn Minuten wird der Wagen hier sein.“ Katharina Rüdiger ging in die Küche, setzte einen kleinen Wasserkessel auf den Herd. Sie hörte das Rauschen der Dusche. In ein Badetuch gewickelt, rannte der Dicke ins Schlafzimmer. Seine Frau brachte ihm frische Wäsche. „Der Kaffee ist fertig“, sagte sie. „Du bist doch die Beste! Schmier mir noch ’ne Stulle.“ „Gefährliche Fahrt?“ fragte sie besorgt. 183
„Gefährlich nicht, unangenehm. Sie haben den Konrad im Gebirge gefunden. Wirbelsäulenbruch.“ „Wie ist das passiert?“ „Weiß ich nicht. Es soll in der Nähe der Steinbachspitze geschehen sein.“ Rüdiger fuhr zur Wohnung des Oberleutnants. Helm stand bereits auf der Straße, er sah übernächtig aus. „Waren Sie überhaupt schon im Bett?“ fragte der Hauptmann. „Der Jüngste hat nun doch eine Lungenentzündung. Die Kerle sind tatsächlich noch einmal in die Ursel gesprungen. Mutprobe!“ Unterwegs informierte Rüdiger den Oberleutnant. Ein Schichtarbeiter aus der Hütte, der nach Steinbach fuhr, wurde durch Schreie aufmerksam. Die Hilferufe kamen aus der Wand der Steinbachspitze. Der Mann alarmierte sofort die zuständigen Stellen, kurze Zeit darauf stiegen Angehörige der Bergwacht in das Massiv. Gegen 2 Uhr wurde Konrad gefunden, er lebte noch. Außer Abschürfungen und Brüchen schien er innere Verletzungen erlitten zu haben. Unter größter Vorsicht hatte man ihn dann ins Krankenhaus transportiert. Als man dort seine Personalien feststellte, wurde sofort eine entsprechende Meldung weitergegeben. „Ausgerechnet die Steinbachspitze. Das Kletterparadies für Lebensmüde. Wer da stürzt … Na, sterben müssen wir alle einmal.“ Oberleutnant Helm schien wirklich nicht sehr munter zu sein. Rüdiger schnauzte. „Selbstmord! Völlig absurd! Den hätte Konrad daheim bequemer haben können. Dazu brauchte er nicht über zwanzig Kilometer weit fortzuschleichen.“ Helm wickelte sich in seinen Mantel. Er sorgte sich um seinen Jungen. Als er die Wohnung verließ, war der Kranke gerade eingeschlafen, das Fieber etwas gesunken. 184
„Selbstmord ist völlig ausgeschlossen. Glauben Sie es mir.“ Rüdiger verstand nicht, wieso der Gedanke überhaupt auftauchen konnte. „Vielleicht kann er uns noch etwas sagen.“ Helm war keineswegs überzeugt, daß dieser Wunsch in Erfüllung ging. Der Pförtner des Krankenhauses hatte bereits die Einfahrtschranke geöffnet. Vor dem Haupteingang stand ein Wachtmeister, der den Kriminalisten Meldung erstattete und sie zum Chefarzt führte. Dr. Petermann, ein Mann, der Ruhe und Souveränität ausstrahlte, teilte den Kriminalisten das mit, was sie befürchtet hatten. „Wir konnten nichts mehr machen“, sagte er und hob bedauernd die Schultern. „Als er eingeliefert wurde, lebte er da noch?“ „Da lebte er noch“, bestätigte der Arzt. Eigentlich hätte ich nicht aus meinem Bett zu klettern brauchen, identifizieren können den Toten auch andere, dachte Rüdiger. Aber da er nun einmal da war, ging er zur Tagesordnung über. „Mich interessiert jetzt nicht die genaue Diagnose. Wichtig ist, was liegt hier vor. Unglück, Selbstmord oder ein Verbrechen.“ „Der Tod trat als Folge eines Wirbelsäulenbruchs ein, den sich der Mann bei dem Absturz zuzog. Festzustellen, wie es dazu kam, ist nicht meine Aufgabe. Allerdings haben wir keine Spuren entdeckt, die darauf schließen lassen, daß der Mann in ein Handgemenge verwickelt war. Es gibt natürlich Schrammen und Risse, die ich jedoch auf den Sturz zurückführe. Genaueres werden Ihnen dann die Gerichtsmediziner sagen können.“ „War er betrunken?“ „Nein. Wahrscheinlich sogar völlig nüchtern. Unabhängig davon ist nicht zu übersehen, daß es sich um einen Alkoholiker handelt.“ Dr. Petermann nahm ein Blatt Papier in die Hand, das auf dem Schreibtisch lag. Er setzte die Brille auf. 185
„Kurz bevor der Mann starb, hat er noch etwas gesagt.“ Der Doktor hielt die Notiz in die Höhe, so daß er besser sehen konnte. „Ich habe es wörtlich notiert. Allerdings sprach der Mann sehr leise und stockend.“ „Bitte, lesen Sie“, forderte der Hauptmann den Chefarzt ungeduldig auf. „Er sagte: ‚Das mußte so kommen. Seit meine Frau nicht mehr lebt, ging’s abwärts …‘ “ Dr. Petermann ließ das Blatt sinken und versicherte noch einmal: „Alles war schwer zu verstehen, aber es stimmt Silbe für Silbe.“ „Weiter!“ drängte Rüdiger. „ ‚Dieser mickrige Bulle hat mich in den Tod gehetzt. Der Kerl ist viel schlimmer als das fette Schwein.‘ “ Der Hauptmann trommelte ungeduldig auf den Tisch. „Weiter, Doktor, weiter!“ Der Arzt gab ihm das Blatt. „Das war alles. Da stehen die letzten Worte des Josef Konrad.“ Rüdiger legte den Kopf in die Hände und grübelte. Auch Helm fand keinen Sinn in der Anschuldigung des Platzwarts. Meinte der Mann etwa mich? überlegte er und versuchte, sich die Begegnungen, die er mit Konrad hatte, zu vergegenwärtigen. Der Hauptmann steckte den Zettel ein. „Ich danke Ihnen, Herr Chefarzt. Jetzt will ich mir erst mal die Absturzstelle ansehen.“ Er reichte dem Doktor die Hand, doch der ließ sich von Rüdigers Eile nicht beeinflussen. „Konrad wollen Sie nicht sehen?“ fragte er erstaunt. „Nein. Der kann uns jetzt auch nichts mehr mitteilen.“ Während der Fahrt zur Steinbachspitze sprachen die Kriminalisten kein Wort. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt, bis der Wachtmeister dem Fahrer das Zeichen zum Anhalten gab. „Hier wurden die Schreie gehört. Wir mußten uns dann 186
über ziemlich schwieriges Gelände den Weg zu dem Verunglückten suchen. Der Abtransport war sehr kompliziert.“ „Das zeigen Sie uns später“, entschied der Hauptmann und rief dem Fahrer „Weiter!“ zu. Im Gegensatz zu den breiten Straßen, die auf den Schneekopf und den Teufelsstein führten, gab es hier nur eine Fahrspur. Das war jedoch kein Hindernis, eine Abfahrt war wegen der Steilheit sowieso nicht zugelassen. So konnten sich keine Wagen begegnen, und ans Überholen dachten bestimmt die wenigsten, die per Auto auf den Berg wollten. Wie auf dem Teufelsstein lag auch auf der Steinbachspitze der Parkplatz unterhalb der Gipfelregion. Ein Gasthaus gab es nicht. Die Kammstraße führte über den Berg hinweg, senkte sich, um dann vor dem nächsten Massiv wieder anzusteigen. Die Kriminalisten liefen noch einige Minuten, bis sie an die Unglücksstelle kamen, die von Polizeihelfern gesichert wurde. Auf dem Gestein hatte sich eine Schicht gehalten, die aus spärlichem Moos und Erde bestand. Rüdiger beugte sich vorsichtig über den Abgrund und leuchtete in die Tiefe. Der Oberleutnant hockte neben dem Hauptmann. „Nichts zu erkennen.“ Die Kriminalisten standen auf und klopften sich den Schmutz von den Hosenbeinen. „Das fanden wir in unmittelbarer Nähe des Verunglückten.“ Ein junger Mann in Uniform gab dem Oberleutnant einen zerfransten, arg beschmutzten Beutel. „Irgend etwas scheint da nicht zu stimmen“, meinte er. „Ja?“ sagte Rüdiger erstaunt. „Es sieht immerhin so aus, als ob der Mann das Weite suchen wollte. In dem Beutel befinden sich eine Landkarte, Strümpfe und ein Löffel. Außerdem drei Hundertmarkscheine. Meistens nehmen solche Leute auch 187
ein paar Semmeln mit, der hatte nichts. Für das Geld hätte er aber genug kaufen können.“ „Dreihundert Mark?“ „Glatt und funkelnagelneu!“ Der Polizist hielt die Scheine hoch. Der Oberleutnant nahm die Sachen an sich und packte Konrads letzte Habe in einen Plastbeutel. „Der Mann muß ein Stück gekrochen sein“, erläuterte der junge Mann eifrig und wies auf Abdrücke in der dürftigen Grasnarbe. Rüdiger nickte. „Es ist möglich. Veranlassen Sie, daß die Stelle gesperrt bleibt, bis die Spurensicherung eintrifft.“ „Wie weit ist es noch bis an die Grenze?“ „Knapp vier Kilometer. Dahinten, die Lichter, das ist schon Braunlage.“ Im Wagen hatte Rüdiger eine kleine Leselampe eingeschaltet. Er hielt den Zettel in den Händen, auf dem die letzten Worte des Platzwarts standen. „Eigentlich war heute im Gebirge viel los. An einer Stelle hat’s gespukt, an der anderen bricht sich Konrad das Genick. Zwischen beiden Ereignissen liegen Stunden. Zeit genug, um vom Teufelsstein auf die Steinbachspitze zu kommen.“ Der Oberleutnant hatte erst im Sommer eine Familienwanderung auf der gleichen Strecke gemacht. „Wenn man gut zu Fuß ist, gewiß. Ein ‚mickriger Bulle‘ dagegen?“ gab Rüdiger zu bedenken. Der Oberleutnant zuckte mit den Schultern. „Was er damit sagen wollte, ist mir ein Rätsel. Sie hat er ja mit …“ „Das haben andere auch schon getan. Feststehen dürfte, Konrad floh nicht aus eigenem Antrieb. Übrigens war die Frage unseres jungen Kollegen gar nicht dumm. Warum kaufte sich Konrad keinen Proviant, keinen Alkohol, ohne den er nicht auskommen konnte, wenn er so viel Geld besaß? Ich wüßte auch eine Erklärung. Bei sei188
nem Aufbruch besaß Konrad es noch nicht. Er muß es sich unterwegs beschafft haben.“ „Auf der Straße liegen solche Scheine nicht. Wenn er …“ Der Oberleutnant grübelte. „Bitte. Wenn er … was?“ „Wenn ihm einer seiner Kumpane …“ „So viel Geld? Nein, das war Konrad denen nicht wert. Ich denke da eher an die Theorie unserer lieben Helga. Sie glaubt doch, daß Freund Makus mehr weiß, als er sagt. Vielleicht, daß er der ‚mickrige Bulle‘ war? Was bedeuten würde, er fürchtete, daß der Platzwart etwas ausplaudert, das wir auf keinen Fall erfahren sollen.“ Bevor Helm antworten konnte, schlug sich Rüdiger gegen die Stirn. „Quatsch, das paßt nicht mit dem Geld zusammen. Auf einen Kriminalisten, der Hundertmarkscheine verteilt, wäre selbst Konrad nicht reingefallen. Und außerdem waren wir uns ja einig, daß er erst später zu dem Geld gekommen sein mußte. Dennoch sollten wir uns unbedingt mit Makus unterhalten, und zwar energisch.“ Zehn Minuten vor dem vereinbarten Termin kam Fred Makus in die Lokalredaktion der Tageszeitung. Zu früh, wie er feststellen mußte, der Redakteur war noch nicht da. Hier war nach dem Verschwinden Konrads das Verbrechen an Tom Schulenberg wieder allererstes Thema. Die ältere Sekretärin mit dem bezeichnenden Spitznamen „Barriere“ gab sich ausnahmsweise redselig. „Was meinen Sie, ob jetzt eine Wende eingetreten ist? Die Flucht des Mannes spricht doch Bände.“ „Konrad ist ein so verkommenes Subjekt, daß man jetzt wohl tatsächlich annehmen muß, daß er der Täter war. Ich glaube, es wird wieder ruhiger werden in unserer Stadt. Einsam bleibt nur Frau Schulenberg, der keiner das Kind zurückgeben kann.“ 189
„Barriere“ stimmte zu, besann sich dann auf ihren Beruf und verfiel in einen dienstlichen Ton. „Haben Sie Bilder von der Modenschau mitgebracht? In der Unterhaltungsbeilage der Sonnabendausgabe bekommen Sie eine ganze Seite dafür. Auf Bezirksebene! Das klingelt ganz schön, nicht wahr?“ Ächzend und hustend erschien Pfeil. Er entschuldigte sich für die Verspätung und führte den Fotografen in sein winziges Arbeitszimmer. „Dieser Fall Schulenberg, in den du ja auch verwickelt bist …“ „Erlaube mal!“ protestierte Makus. „Als Freund der Familie, meine ich. Diese Geschichte bringt wohl alle durcheinander. Jetzt soll sogar das versoffene Individuum Heunik aus der Grube geklettert sein.“ „Wer ist Heunik?“ fragte der Fotograf, während er in mehreren Reihen Fotos übereinanderstapelte. „Der alte Gauner vom Frida-Sander-Kreuz. Du ahnst ja nicht, auf welche Ideen manche Leute kommen. Man staunt immer wieder, daß so etwas möglich ist.“ Der Redakteur legte neben die Bilder ein zerschlissenes Buch. „Ich hatte heute früh um sieben Uhr schon Besuch von einem älteren Herrn. Er hätte etwas von Bedeutung in der Schulenbergsache mitzuteilen, kündigte er an, worauf ich ihn an die Polizei verwies. ‚Nein‘, sagte er, ‚Sie sind mein Mann‘. Was blieb mir übrig, ich hörte ihm zu. Da hast du es. ‚Geschichten aus dem Urseltal‘, herausgegeben von Gustav Groh. Das ist der Mann, der bei mir war.“ Pfeil schlug den Wälzer auf und las vor: „ ‚Kein Mensch verstand, warum die ehrbare Jungfrau Frida Sander, die vordem keusch drei Männer abgewiesen hatte, sich in den verkommenen Tagedieb Alfred Heunik verlieben konnte. Sein aufgedunsenes, feistes Gesicht, über dem ein widerborstiger, schwarzer Haarschopf saß, hatte ganz kleine Augen, die der Unhold hinter einer 190
Brille versteckte. Aus seinem Mund strömten dunkle Wolken stinkenden Branntweins. Der Körper war fett und gedrungen. Wenn er daherstampfte, glaubte der friedfertige Bürger, es käme einer jener Unholde aus der Tiefe, die heute noch im Urseltal ihr Unwesen treiben!‘ “ „Hör auf damit!“ Makus riß dem Redakteur das Buch aus der Hand und warf es auf den Schreibtisch. „Ich kann das nicht hören.“ Eine Hustensalve des Journalisten wurde durch lautes Lachen abgelöst. „Herr Gustav Groh verlangt, daß wir diese Mär veröffentlichen. Und nun höre: Fotos, von deiner Hand geschossen, sollen die Spukgeschichte illustrieren. Also, mein Lieber, bestelle die gutmütige Frida und den verkommenen Alfred zum Porträtieren.“ „Und dann erkundigen Sie sich bitte gleich, wer es war, der sich anmaßte, die Ruhe dieser armen Seelen zu stören.“ Im Türrahmen stand Hauptmann Rüdiger, dahinter, fast verdeckt, Oberleutnant Helm. Rüdiger gab dem Redakteur die Hand. „Wir hätten ein paar Fragen an Herrn Makus. Du gestattest?“ Pfeil schob Stühle zurecht und verließ das Zimmer. Fred Makus zeigte sich nicht gerade begeistert vom Anblick der Kriminalisten. „Wie waren mehrmals vergeblich an Ihrer Wohnungstür. Nun sahen wir Ihren Wagen vor der Redaktion stehen. Man muß eben auch einmal Glück haben“, erklärte der Hauptmann sein Erscheinen an diesem Ort. „Wenn Sie meine Gegenwart als Glück empfinden? Bisher war ich eigentlich mehr vom Gegenteil überzeugt.“ Rüdiger nickte. „Sie sagen es, und ich gebe zu, besser wär’s, Sie würden sich auf Ihren eigentlichen Beruf besinnen. Wann waren Sie zuletzt auf dem Schrottplatz?“ fragte er übergangslos. 191
Makus überlegte. „Das wissen Sie doch“, sagte er langsam. „Wir trafen uns draußen und verständigten uns über eine Zusammenkunft. Da wollte ich …“ „Ja. Was wollten Sie?“ „Eigentlich nichts, eigentlich viel. Ich wollte den Ort sehen, wo …“ Der Fotograf rutschte auf seinem Stuhl unruhig hin und her. „Genügte Ihnen der erste Anblick nicht? Also, Sie waren dann erneut draußen.“ Makus schüttelte den Kopf. „Herr Makus! Haben Sie mit Konrad gesprochen?“ Rüdiger ließ den Fotografen nicht aus den Augen. „Vorgestern!“ „Hat das Konrad behauptet?“ „Aus welchem Grund fuhren Sie noch einmal zum Schrottplatz?“ Als wollte er sich vor dem dicken Mann in Sicherheit bringen, lehnte sich Makus zurück. Er betrachtete eine Weile seine Hände und sagte dann zögernd: „Hätte ich darüber geredet, müßte ich wahrscheinlich auch den Namen des Täters nennen.“ Der Hauptmann ließ ihm keine Zeit zum Überlegen. „Sprechen Sie endlich!“ forderte er drohend. „Nein!“ Makus erhob sich impulsiv. „Ich würde es an Ihrer Stelle tun. So schön sind die endlosen Gespräche auf unserer Dienststelle auch nicht.“ Rüdiger trat dicht an den Fotografen heran. „Sie waren schon wieder auf Alleingängen, aber dieses Mal kommen Sie nicht ungeschoren davon.“ Makus gab sich gelassen. „Drohung?“ fragte er ruhig. „Nein. Betrachten Sie’s als einen guten Rat. Sprechen Sie, es ist besser für alle.“ Makus setzte sich wieder. „Ich tu’s unter Vorbehalt. Sollten Sie sich auch jetzt über mich lustig machen, werden Sie nie wieder, das schwöre ich, nie wieder von mir ein Wort in dieser Sache hören. Also, ich war tatsächlich 192
noch einmal draußen. Ich wollte erfahren, was es mit Konrads Behauptung auf sich hat, daß eine Frau mit braunen Haaren …“ „Dachten Sie dabei an Frau Schulenberg?“ „Lassen Sie Renate aus dem Spiel. Ich war fest entschlossen, dem Mann klarzumachen, daß alle Gerüchte und falschen Beschuldigungen, die er in die Welt setzt …“ „Gerüchte und Beschuldigungen? Es gab nur eine Behauptung. Hörten Sie noch mehr?“ „Wissen wir, was er anderen erzählte?“ „Haben Sie solche Angst? Glaubten Sie, es könnte weiteres Belastungsmaterial zusammenkommen?“ „Welches? Gegen wen?“ „Das wollten wir von Ihnen wissen. Sie können uns doch nicht weismachen, wegen dieser simplen Andeutung über eine Haarfarbe hätten Sie sich so erregt, daß Sie gleich wieder ein Privatverhör einleiten mußten. Haben Sie Konrad gedroht?“ „Wenn Sie es als Drohung bezeichnen, daß ich ihm die unausbleibliche Folge seines Handelns vor Augen geführt habe. Ich sehe das nicht so.“ „Welche Folgen meinen Sie. Erklären Sie’s. Sofort, präzise.“ „Ich bin der Meinung, wenn ein Verdächtiger wie Konrad so erbärmlich schwindelt, muß es ihm nachgewiesen werden. Damit er festgesetzt werden kann.“ „Das haben Sie Konrad gesagt? Womit schüchterten Sie ihn denn noch ein? Vielleicht mit dem Galgen oder der Guillotine? Mann, wer tut denn das? Doch nur einer, der irgendwie nicht über einen unbequemen Punkt wegkommt!“ Skandierend schlug der Kriminalist zu seinen Worten auf den Tisch. Der Fotograf ließ sich nicht erschüttern, er parierte. „Was haben Sie denn getan, Herr Hauptmann, um uns vor dem Geschwätz dieses Menschen zu schützen? Wieso konnte er jetzt flüchten?“ 193
Rüdiger ignorierte die Provokation. „Wie ging’s weiter bei Ihrem Gespräch mit Konrad?“ „Es ging überhaupt nicht weiter. Wir brüllten uns nur noch an. Druckreife Worte waren’s nicht, die da fielen. Plötzlich bedrohte mich der angetrunkene Kerl mit einer Eisenstange, daß ich – und nun haben Sie wirklich einmal Grund, über mich zu feixen – die Beine in die Hand nahm und mein Heil in der Flucht suchte. Leider büßte ich dabei eine sehr wertvolle Kamera ein.“ „Das war alles?“ „Hier wird es erst interessant. Ich sah gestern meine Kamera wieder … bei Herrn Franz! Sie können meinetwegen denken, was Sie wollen, für mich liegt hier der Schlüssel zur Lösung aller Fragen. Der sogenannte Klempner, der ja auch die Autofahrerin ins Gespräch brachte, ist der Mann, den Sie suchen.“ „Das behaupteten Sie zuerst von Becker, dann von Konrad. Jetzt ist also Franz an der Reihe. Vielleicht gibt es bald einen vierten?“ „Wie kam er denn zu dem Apparat? Kurz nach unserer Auseinandersetzung muß Konrad sich aus dem Staub gemacht haben. Das bedeutet, Franz hat den Platzwart später noch getroffen.“ „Das wird sich klären. Sind Sie absolut sicher, daß es sich bei dem Gerät um Ihr Eigentum handelt? Immerhin sieht ein Fotoapparat wie der andere aus.“ Der Fotograf zog einen Kassenzettel aus der Brieftasche. „Bitte, die Quittung. Ich erwarb die Kamera erst vorige Woche in Berlin am Alex. Es ist eine Neuentwicklung, die gerade in den Handel kam. Nein, Herr Hauptmann, ein Fachmann ist nicht zu belügen. Außerdem bestritt es Franz ja gar nicht, den Kauf aus dritter Hand getätigt zu haben. Und damit ist ihm ein Fehler unterlaufen, den er nicht wieder ausbügeln kann.“ „Erstatten Sie Anzeige?“ 194
„Wenn es sein muß. Genügt Ihnen der Hinweis nicht, den ein Westentaschenmaigret macht?“ „Doch, doch. Nun aber wieder zu Ihnen. Also, was bezweckten Sie mit Ihrer Attacke auf Konrad?“ „Das habe ich gesagt.“ Der Hauptmann beugte sich weit über den Tisch. „Herr Makus, wenn Sie dabei bleiben, belasten Sie einen Ihnen sehr nahestehenden Menschen. Wollen Sie das wirklich?“ „Nein, zum Teufel! Einzig und allein, weil ich der Meinung war, daß mit Konrad Fraktur geredet werden müßte, habe ich ihn mir vorgenommen.“ „Und wurden fast verprügelt?“ Makus blickte zu Helm, der sich nicht an dem Gespräch beteiligt hatte, aber den Wortlaut offenbar protokollierte. „Verstehen Sie mich wenigstens, Herr Oberleutnant?“ „Ich höre Ihnen zu“, erwiderte der und schrieb weiter. „Herr Hauptmann, der Platzwart erschien bei der Wendler. Er erzählte ungereimtes Zeug über diese braunhaarige Frau. Mit einer ganz bestimmten Absicht. Das ist wohl klar. Ich frage mich, woher hatte er die Adresse des Mannequins, und warum gab er eine Beschreibung, die, also gut, ich spreche es aus, deutlich auf Renate zielt? Weil einer hinter ihm steht, der ihn ganz bewußt lenkt. Und der Fotoapparat sagt, um wen es sich handelt.“ „Warum haben Sie uns nicht benachrichtigt, als Sie zu solchen Schlüssen kamen?“ „Weil Sie mich nie ernst genommen haben. Auch jetzt noch nicht.“ Rüdiger gab dem Fotografen die Quittung zurück. „Sie sollten eigentlich gemerkt haben, daß wir jeden sachdienlichen Hinweis ernst nehmen. Hätten Sie nicht auf eigene Faust gehandelt, sondern uns informiert, wäre Konrad noch am Leben.“ Jetzt war es Makus, der sich weit über den Tisch beugte. „Konrad ist tot?“ 195
„Auf der Flucht verunglückt, zu der Sie ihn trieben. Wird Ihnen endlich klar, wieviel Unheil Sie mit Ihren Eigenmächtigkeiten angerichtet haben. Das hat mit Sicherheit ein Nachspiel für Sie.“ Rüdiger stand auf und verließ grußlos das Redaktionszimmer. Helm folgte ihm auf dem Fuße. In der Tür blieb er jedoch zögernd stehen. Am Ende der Unterredung hatte er nun doch eine Frage: „Wann erfuhren Sie eigentlich, daß Konrad bei Frau Wendler war?“ „Noch am selben Abend. Die Wendler rief bei Schulenbergs an, wenig später ich, um mit Frau Schulenberg Verabredungen für den nächsten Morgen zu treffen. – Warum?“ wollte Makus wissen. „Weil Recht oder Unrecht mitunter nicht nur eine Frage des Standpunkts, sondern auch des Zeitpunkts ist.“ Helm schlug den Mantelkragen hoch und zog die Tür von außen zu. Hauptmann Rüdigers Voraussage war in Erfüllung gegangen. Auf dem Teufelsstein herrschte reger Verkehr, die Gaststätte war bis auf den letzten Platz besetzt. Als Georg Leichsenring Rüdiger und Helm aus dem Auto steigen sah, eilte er ihnen entgegen. Er beteuerte, daß er die Werbetrommel nicht gerührt hätte. Der Hauptmann glaubte ihm das ohne weiteres, und nachdem er es dem Gastwirt versichert hatte, kehrte der beruhigt hinter seine Theke zurück. Der Besuch der beiden Kriminalisten galt nämlich nicht ihm, sondern dem Mann, der auf einer hohen Leiter vor dem Gasthaus stand und Schellen für eine Leitung anbrachte. Karl-Heinz Franz, heute mit Overall und Pudelmütze bekleidet, schlug Haken um Haken in die Mauer und spazierte gekonnt mit der Leiter am Haus entlang. Es hatte Rüdiger kaum gewundert, als er von einem Nachbarn des „Alleskönners“ erfuhr, wo dieser zu finden 196
sei. Die „Vielseitigkeit“ des Mannes war ihm inzwischen hinlänglich bekannt. Nun schwebte der Gesuchte vier Meter hoch über ihm, ein Vorrecht, das an dieser Stelle eigentlich nur der unglücklichen Frida, vielleicht noch dem durstigen Heunik zukam. „Können Sie mal absteigen?“ rief der Oberleutnant Franz zu. Franz hatte in seinem Eifer nicht bemerkt, daß Rüdiger und Helm ihm schon eine Weile bei der Arbeit zuschauten. „Herr Hauptmann! Was treiben Sie heute hier?“ rief er und kletterte abwärts. „Leider mußten wir uns Ihretwegen bemühen.“ „Darf ich Sie zu einem Frühstück einladen?“ fragte Franz höflich, und um unangenehmen Fragen auszuweichen, fügte er gleich hinzu: „Ich helfe manchmal dem Leichsenring, wenn er seine Festivitäten vorbereitet. Walpurgisfeier, Hexendisco beispielsweise. Seit langem wollte er einen Tiefstrahler vorm Haus haben. Aber Sie kennen doch unsere Handwerker. Wann kommen die schon. Nach dem gestrigen Vorfall rief er mich noch nachts an und, wie das so ist, Franz macht’s eben.“ Er verbeugte sich trotz des verschmutzten Arbeitsanzuges mit Grandezza und erkundigte sich ungeniert: „Läuft’s nicht?“ „Wie kommen Sie denn darauf?“ knurrte Rüdiger. „Sonst wären Sie ja nicht hier.“ Franz wischte sich an einem Lappen die Hände ab. „Also, dann wollen wir mal“, meinte er unbekümmert und lud die Kriminalisten mit einer Handbewegung ein, ihm zu folgen. „Falsche Richtung“, Rüdigers Daumen zeigte genau entgegengesetzt. „Hier geht’s lang, wir wollen ein Stückchen laufen. Bewegung beflügelt die Gedanken.“ „Es ist aber Zeit für das Frühstück.“ Franz schien keine große Lust zu verspüren, dem Hauptmann zu folgen. Unterwegs versuchte er noch einmal, über ein unverbindliches Gespräch hinter die Absicht der Kriminalis197
ten zu kommen. „Hat Ihnen Ihre hübsche Kollegin vom großen Erfolg der gestrigen Schau berichtet? Ich würde sagen, es war Kesselniveau.“ Da weder Rüdiger noch Helm reagierten, gab Franz auf und trottete schweigend neben ihnen her. Der Hauptmann steuerte auf eine Sitzgruppe aus Baumstümpfen zu. „Setzen wir uns“, schlug er vor. Als Karl-Heinz Franz keine Anstalten machte, der Aufforderung Folge zu leisten, meinte Rüdiger. „Na, denn nicht. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Ihnen ja kaum die Beine weghauen, denn Sie wissen natürlich längst, daß Konrad tot ist.“ Offensichtlich wäre es doch besser gewesen, Franz hätte die Sitzgelegenheit nicht verschmäht. In seinem Gesicht zeigte sich der hilflos-dümmliche Ausdruck eines erschreckten Kindes. Langsam ließ er sich auf einen der Baumstämme nieder, nicht ohne sich zu vergewissern, ob er ihn auch nicht verfehlte. „Wußten Sie es nicht?“ „Nein, natürlich … nein“, stammelte Franz und starrte angestrengt auf den Boden, als wollte er die Tannennadeln zählen. Es dauerte eine Weile, bis der sonst so wortreiche Tausendsassa die Sprache wiederfand. Was er dann aber von sich gab, klang so forsch wie eh und je: „Eigentlich verwundert’s mich nicht, so ging es mit ihm nicht weiter. Besser für alle ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Rüdiger herrschte ihn an. „Unterlassen Sie die Allgemeinplätze. Interessiert Sie nicht, wie er starb?“ „Doch, doch … wie starb er denn?“ „Einen Sturz von der Steinbachspitze überlebte Ihr Freund nicht. Da Sie ihm eine Kamera abkauften, die erst kurz zuvor in seinen Besitz gelangte, waren Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit der letzte, der ihn gesprochen hat. Und wir möchten nun wissen, wann das war.“ 198
„Die schreckliche Nachricht muß ich erst verdauen. Ich kannte Konrad schon, als er …“ „Antworten Sie!“ „Wann war es gleich?“ fragte Franz und klopfte sich gegen die Stirn. Bevor Rüdiger lospoltern konnte, erklärte Helm betont sachlich: „Sie sollen uns sagen, wann und an welchem Ort Sie dem Platzwart einen Fotoapparat abkauften.“ „Für drei Hunderter.“ Rüdiger hielt dem jetzt k. o. nahen Franz die Scheine vor die Augen, die in Konrads Beutel gefunden wurden. „Ein angemessener Preis“, murmelte Franz. „Konrad brauchte Geld. Ist etwas dabei, wenn man einem Bekannten Gebrauchsgegenstände abkauft?“ „Ja, wenn diese ‚Gebrauchsgegenstände‘ gestohlen wurden und das bezahlte Geld für dunkle Zwecke verwendet werden soll. Da Konrad sich der Grenze näherte, kann angenommen werden, der Handel wurde abgeschlossen, um seine Flucht zu begünstigen.“ Franz grinste. „Zugegeben, da ist etwas dran.“ Er stand auf. „Reden wir offen, Herr Hauptmann, beide.“ Nun konnte auch der Oberleutnant nichts mehr retten. Rüdigers Temperament ging mit ihm durch. „Rasieren Sie uns jetzt nicht mit dem Gurkenhobel! Wofür und wann gaben Sie Konrad das Geld?“ Franz zuckte mit keiner Wimper. Er ging in die Offensive. „Ihre Leute machten den Mann so fertig, daß er nichts anderes mehr im Kopf hatte, als abzuhauen, abzuhauen und nochmals abzuhauen!“ „Wann hat er Ihnen das gesagt?“ „Er kam zu mir nach Hause, und zwar an dem Abend, an dem auch Sie und Ihre Kollegin bei mir waren.“ „Vor uns oder danach?“ „Etwa eine halbe Stunde vor Ihnen. Er forderte Geld. Hinterher wollte er es auch noch bei der Wendler versuchen.“ 199
„Wovon Sie uns kein Wörtchen erzählten“, sagte Rüdiger drohend. „Danach haben Sie nicht gefragt. Außerdem, der Mann war auf dem Marsch und durch nichts aufzuhalten. Ihn anzuzeigen, nein, das brachte ich nicht übers Herz.“ Franz drückte die Hände gegen die Brust. Dann senkte er die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern. „Ich hatte trotzdem eine Sicherung eingebaut: dreihundert Emmchen! Besitzt er Geld, dann säuft er; säuft er, sieht seine Welt gleich anders aus, und er bleibt, so dachte ich. Darum machte ich das Geschäft mit dem Fotoapparat. Taktik, Herr Hauptmann, eiskalte Taktik.“ „Danach wollte er zu Frau Wendler?“ „Er deutete so was an. Wie ich hörte, hat er die Dame tatsächlich belästigt.“ „Setzen Sie sich wieder“, forderte der Hauptmann Franz auf und bugsierte ihn gleich selbst auf einen Baumstumpf. „Jetzt werde ich Ihnen etwas erzählen. Konrad besaß, als er die Wendler aufsuchte, nur noch Pfennige. Er bettelte um ein paar Mark. Tut man das, wenn man dreihundert in der Tasche hat? Nein, Sie taktisches Wunderkind. Die Sache war nämlich ein wenig anders. Als Sie, Herr Franz, auf der Schurre die Spukerei abzogen, um die kleine Leichsenring zu erschrecken, lief Ihnen Konrad über den Weg. So benebelt war er nicht, daß er Sie nicht erkannte und merkte, daß er nun endlich ein handfestes Druckmittel gegen Sie hatte. Gern rückten Sie das Geld bestimmt nicht heraus. Doch was blieb Ihnen anderes übrig? Nun, was sagen Sie zu meiner Version?“ Franz schluckte und riß ein paarmal den Mund auf. Ein Hecht, der aufs Trockne geworfen wurde, dachte Helm. „Nein, so war es nicht, Konrad tauchte während der Modenschau hinter der Bühne auf. Wirklich, das ist 200
Fakt. Sollte ich Sie benachrichtigen? Es gibt ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl, wenn man sich so lange kennt …“ „Lügen Sie nicht. Konrad hätte sich auf jeden Fall etwas Trinkbares besorgt, wahrscheinlich auch ein paar Semmeln und Wurst, wenn er da bereits Geld gehabt hätte. Als er gefunden wurde, hatte er nicht einen Krümel, keinen Tropfen bei sich. Er war nüchtern in jeder Beziehung, und damit dürfte die letzte Möglichkeit die richtige sein.“ „Welche?“ „Konrad stürzte von der Steinbachspitze. So denken wir … noch! Es kann allerdings auch sein, daß ihm einer von seinen Kumpanen folgte, ihn erst beschwichtigen wollte, vielleicht sogar Geld gab. Aber nicht etwa aus Nächstenliebe, nein, aus reinstem Egoismus. Ein Gauner bleibt eben ein Gauner, wenn wir uns nicht um ihn kümmern. Als dieser merkte, daß Konrad die dreihundert Mark nicht als Schweigegeld, sondern als Startkapital für ein neues Leben betrachtete, da gab er ihm einen kleinen Stoß. Und daß es sich von dort sehr leicht fällt, ist leider traurige Gewißheit. – Ist das die Wahrheit?“ Für einen Moment hatte es den Anschein, als wollte sich Franz auf den Hauptmann stürzen. Er war empört aufgesprungen und schrie: „Ich soll ihn umgebracht haben! Trauen Sie mir das zu?“ „Sie haben zuviel geschwindelt“, sagte Rüdiger ungerührt. Diesmal setzte sich Karl-Heinz Franz freiwillig. Seine Sicherheit war verschwunden. Er versuchte nicht einmal einen Trick, um seine Angst zu verbergen. „Zugegeben, ich war hinter ihm her. Zwischen den Vorstellungen. Er machte einige Anspielungen, die waren nicht ohne. Unterschriften hat der Lump gefälscht. Meinen Namen für seine krummen Geschäfte mißbraucht. Es mußte etwas geschehen. Als ich ihn fand …“ 201
Rüdiger zog den Eifernden zu sich heran. „Wußten Sie denn, wo er war?“ „Er hatte es angedeutet. Im Bergtheater. Zuerst wollte ich nur wegen der Fälschungen mit ihm sprechen. Aber Sie hatten den Mann ja so in die Enge getrieben, daß mit ihm nicht mehr zu reden war. Weil ich nicht wollte, daß er noch mehr anstellt, gab ich ihm das Geld für die Kamera. Ich erwähnte meine taktischen Gründe schon, nicht wahr?“ „Lassen Sie endlich die Ausflüchte. Erzählen Sie lieber, wie Sie gestern so schnell in das Bergtheater kamen. Hatten Sie nicht ununterbrochen im Kulturhaus zu tun?“ „Eine Frage der Arbeitsorganisation, verstehen Sie? Außerdem ist’s mit dem Auto nur ein Klacks.“ „Zur Steinbachspitze ist’s auch nur ein Klacks.“ „Ich war nicht auf der Steinbachspitze. Auch wer im Dienste der Kultur steht, muß sich leider hin und wieder mit profanen Dingen des Lebens beschäftigen – gestern waren es die Abrechnungen.“ „Haben Sie Zeugen für Ihren Abstecher ins Bergtheater?“ „Herr Hauptmann, ich habe mich doch gerade bemüht, nicht gesehen zu werden. Es ging mir darum, Konrad zu beschwichtigen, in die Pfanne hauen wollte ich ihn nicht.“ Rüdiger stand dicht vor Franz und sah auf ihn herunter. „Eine dumme Sache, Herr Franz. Sehr dumm für Sie!“ Er wandte sich an den Oberleutnant. „Nehmen wir ihn gleich mit?“ „Denken Sie an Leichsenrings Lampe“, jammerte Franz. Plötzlich klatschte er in die Hände. „Der Leichenwagen“, rief er aus. „Herr Hauptmann, Gevatter Heins Gratiskutsche!“ Mit einemmal war Franz wieder ganz der alte. Es sprudelte förmlich aus seinem Mund. „An der Abzweigung nach Tiefenbrunn stand der Leichenwagen. Der ei202
serne Gustav vom Rost. Panne hatte er und montierte ein Vorderrad. Pech! Aber wie ich jetzt merke, Glück für mich. Stellen Sie’s fest.“ „Wir werden es überprüfen. Darauf können Sie sich verlassen“, versicherte der Hauptmann. Geflissentlich übersah er die ausgestreckte Hand. „Um vierzehn Uhr melden Sie sich bei uns. Sie werden die Kamera mitbringen. Es liegt eine Anzeige gegen Sie vor.“ Helga Bathe saß hinter ihrem Schreibtisch, die Beine weit von sich gestreckt, und gähnte ungeniert. Gerade da wurde die Tür aufgerissen, und herein stürmte der Hauptmann und Oberleutnant Helm. Rüdiger betrachtete kopfschüttelnd seine Mitarbeiterin und sagte mit gespielter Empörung: „Wenn hier jemand müde sein darf, dann sind wir das. Schließlich sind wir heute nacht kreuz und quer durch die Gegend gejagt, während du dich in sanften Träumen gewiegt hast.“ Er warf seinen Mantel über einen Sessel, was die Bathe nun ihrerseits mit einem mißbilligenden Blick quittierte. Sie nahm das strapazierte Stück und hängte es in den Schrank. Als sie sich umdrehte, kramte Rüdiger bereits in den Papieren auf dem Schreibtisch. „Falls Sie den Obduktionsbefund von Konrad suchen, der liegt gleich obenauf; lag, muß ich jetzt wohl besser sagen.“ Sie zog unter einem Aktenordner ein braunes Kuvert hervor und reichte es ihrem Chef. Rüdiger gab ein paar nicht zu deutende Laute von sich und vertiefte sich in den Bericht. Der Oberleutnant und Helga Bathe nutzten die Zeit, um sich über ihre Ermittlungsergebnisse zu informieren. Mit Rücksicht auf den lesenden Hauptmann in gedämpfter Lautstärke, und als dieser ihnen dennoch einen strafenden Blick zuwarf, fast flüsternd. „Übrigens sind es genau tausendsiebenhundertfünfzig 203
Meter vom Kulturhaus zum Schurreeinstieg. Ein rüstiger Mann braucht also höchstens zwanzig Minuten per pedes. Mit dem Auto …“ „Wie wär’s mit einem Fahrrad?“ schlug Helm seiner Kollegin vor. „Und wer, wenn ich fragen darf?“ „Beispielsweise Becker. Im Kulturhaus stehen bestimmt Fahrräder, die man sich ausleihen kann, ohne gesehen zu werden.“ Helga Bathe nickte. „Möglich wäre es schon. Immerhin war es gestern zeitweilig recht kühl im Saal. Den angeblichen Ventildefekt hat niemand kontrolliert, man verließ sich auf den Heizer.“ Rüdiger, der offenbar über ein gutes Gehör verfügte, mischte sich ins Gespräch seiner Kollegen ein: „Und ich sage euch: Selbst wenn tausend Kinder über die Schurre gestiegen wären, die Person hätte keinem ein Haar gekrümmt. Das Spektakel wurde nur veranstaltet, um wieder auf Becker aufmerksam zu machen. Die Pfeiferei beweist es, und es sollte mich nicht wundern, wenn uns noch weitere Beweise dieser Art angeboten werden.“ Helm, der rasch den Obduktionsbefund überflogen hatte, legte den Bericht aus der Hand. „Auch wenn Becker ausscheidet, haben wir immer noch die Qual der Wahl. Spukkandidaten gibt’s genug, zum Beispiel Franz, Konrad, die Wendler, Makus, Anders. Alle waren sie im Kulturhaus oder in seiner Nähe, und jeder von ihnen hatte die Möglichkeit zu einem Abstecher auf die Schurre. Mit absoluter Sicherheit ist von denen leider noch keiner aus dem Schneider, auch Franz nicht.“ „Ich würde sagen, unser Maigret schon“, widersprach die Bathe. „Der glaubte zu dem Zeitpunkt nämlich nicht mehr an die Versionen vom kranken Mann. Aber was ist eigentlich mit den Schulenbergs? Könnte nicht einer von denen das Schurregespenst …“ Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Das Sprech204
funkgerät schnarrte. „Krause, Verkehrspolizei. Bitte Leutnant Bathe!“ „Duden?“ wunderte sich der Hauptmann. „Was will der von dir?“ „Ich wollte etwas von ihm.“ Die Kriminalistin meldete sich. „Haben Sie’s gefunden?“ „PKW-Erlaubnis machten nur fünfunddreißig Personen bei Lingnus, er war hauptsächlich auf Motorräder spezialisiert. Vier davon sind bereits gestorben, vierundzwanzig verzogen. Zwei besitzen keine Fahrerlaubnis mehr. Verbleiben, falls du mitgerechnet hast, fünf Figuren. Es sind Fritz Anstett, Lieselotte Oelze, die heißt jetzt Brandenburg, weil sie den Zahnarzt geheiratet hat, Thomas Schulenberg, Walter Keil und … Jetzt fällt mir doch der fünfte Name nicht mehr ein!“ „Haben Sie ihn nicht notiert?“ „Wer bin ich denn? Du hörst gleich wieder von mir.“ Rüdiger schmunzelte. „Gute Schülerin. Der Einfall könnte ja direkt von mir sein. Allerdings, auch wenn Thomas Schulenberg unter den Genannten ist, es beweist gar nichts.“ „Aber es verblüffend“, meinte Helm. „Warten wir ab. Noch fehlt der fünfte Name.“ Helga Bathe kannte solche Hoffnungsschimmer, die dann doch nur in eine Sackgasse wiesen, zur Genüge. Rüdiger stimmte zu. „Warten wir, gut. Inzwischen sollten wir uns noch einmal die Liste mit den Tatverdächtigen vornehmen. Schlüsselpunkt aller Überlegungen zum jetzigen Zeitpunkt kann nur die Flucht Konrads sein.“ „Vergessen Sie seine dunklen Geschäfte nicht“, gab der Leutnant zu bedenken. Rüdiger schüttelte den Kopf. „Die mögen der Auslöser gewesen sein. Aber Makus hat uns nicht die Wahrheit gesagt. Er behauptet, zum Schrottplatz gefahren zu sein, 205
nachdem er durch die Schulenbergs von Konrads Besuch bei dem Mannequin hörte. Das geht nicht auf. Bevor der Platzwart die Wendler bedrängte, war er bei Franz in der Wohnung. Und dort äußerte er bereits Fluchtpläne wegen des Druckes, den der Polizist, alias Makus, wie ich meine, auf ihn ausübte. Der Fotograf war also viel früher auf dem Schrottplatz. Er hatte einen anderen Grund, Konrad ins Bockshorn zu jagen, und der muß ziemlich gewichtig sein. Warum sonst sollte der Säufer verschwinden?“ „That is here the question. Bestimmt hat Konrad Makus nicht mehr sagen können, als er später von selbst bei Franz und Dorothea Wendler ausgeplaudert hat.“ Helm schob die Kärtchen aus seinem Wissensspeicher hin und her, Zusammenhänge konnte er dadurch nicht feststellen. Helga Bathe goß Wasser in den Kaffeetopf. „Was haltet ihr von einem starken Lebenswecker? Ich habe jedenfalls einen nötig. Mit Schlafen war heute nacht nämlich auch bei mir nichts. Unser Nachbar wollte seine Frau umbringen.“ „Lächerlich! Mit dir Wand an Wand?“ scherzte Rüdiger. „Es war wirklich eine ernste Geschichte. Die Gute hat den Mann elegant an der Nase herumgeführt. Ein Jahr lang trieb sie’s mit ihrem Chef.“ „Soll vorkommen“, meinte Helm lakonisch. „Das hängt doch wohl von dem Chef ab.“ Rüdiger fühlte sich offenbar angesprochen. „Daheim ließ sie kein gutes Haar an besagtem Herrn“, erzählte die Bathe ihre Geschichte weiter. „Dafür platzte die Bombe dann doppelt laut. Unser Nachbar fiel aus allen Wolken. Als das Theater nach Mitternacht so schlimm wurde, daß wir eine ‚Othello‘-Tragödie befürchteten, haben wir die Sünderin zu uns geholt.“ „Das Corpus delicti heißt doch nicht etwa Anders oder 206
Schulenberg?“ erkundigte sich Helm besorgt. Aber Helga Bathe konnte ihn beruhigen. Rüdiger schlürfte mit sichtlichem Behagen seinen Kaffee und sagte, was selten vorkam, nichts. Nach einer Weile meinte er dann: „Eine interessante Taktik, die deine Nachbarin anwandte.“ Was den Hauptmann daran so beeindruckte, erfuhren seine beiden Mitarbeiter vorerst nicht. Duden-Krause steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: „Doktor Krippen.“ „An Bord“, erwiderte Rüdiger. „Nein, der nicht. Ich meine den Hauptpfarrer von Sankt Paul. Er ist der fünfte.“ „Nehmen Sie doch Platz, Duden“, forderte der Hauptmann den alten Kollegen auf und deutete auf einen Stuhl. „Mit Vergnügen“, erwiderte der und trat näher. „Diese Stühle habe ich im Oktober neunzehnhundertvierundfünfzig persönlich im Sitzmöbelwerk Waldheim organisiert. Wir transportierten sie mit einem Garant, der damals noch Granit hieß. Die Robur-Werke …“ „… liegen in Zittau, wo auch die bedeutendste private Uhrensammlung der Republik zu besichtigen ist.“ Rüdiger kannte Dudens Vorliebe für Abschweifungen, bei denen er seine Datenkenntnisse präsentieren konnte. „Wenn es nicht hilft, ein Delikt aufzuklären, ist die Anzahl der Chronometer völlig uninteressant. Man sollte sich nicht damit belasten. Sie haben recht. Ich will auch nicht weiter stören, allerdings könnten Sie mir einen Gefallen tun.“ „Machen wir“, sagte Helga Bathe. „Worum geht’s denn?“ „Um Herrn Fred Makus. Er ist Fotograf …“ „Maigret?“ rief die Kriminalistin überrascht. „Nein, Makus heißt der Mann. Ich habe gehört, daß er wegen der Schrottplatzgeschichte ab und an hier auftaucht. Eigentlich geht es gar nicht um ihn. Wir brau207
chen von ihm lediglich eine, Auskunft. Also, wenn er kommt, schickt ihn doch bitte gleich zu mir.“ Duden stand auf. „Moment.“ Rüdiger hielt ihn zurück. „Was wollen Sie denn von Makus wissen?“ „Ein Bekannter des Herrn hat mit seinem Škoda einen Unfall gebaut. Makus soll etwas zur Entlastung des Freundes sagen können.“ „Mit einem Škoda?“ „Ich glaube, ja. Ich weiß es nicht genau aus dem Kopf. Für Nichtigkeiten hatte ich noch nie ein Gedächtnis.“ „Die Sache interessiert mich. Ich komme mit.“ Rüdiger schob den Kollegen zur Tür. Duden protestierte. „Ich wollte jetzt in der Kantine …“ „Hinterher trinken Sie einen Halben auf meine Rechnung. Lassen Sie anschreiben.“ Der Oberleutnant und Helga Bathe beobachteten verwundert das hektische Treiben ihres Chefs. Für den Hauptmann, wie es schien, ein Grund zur Freude. Er klopfte der Bathe im Vorübergehen leicht auf die Schulter und sagte: „Eigentlich ist deine Nachbarin ein ganz schlimmes Luder. Behauptet einfach das Gegenteil, um von den Tatsachen abzulenken. Ja, andere wissen, wie man es macht, uns muß man erst darauf stoßen.“ Makus hatte einen schlechten Tag. Sein Magen rebellierte, später stellten sich noch Kopfschmerzen ein. Außerdem beunruhigte ihn, daß er seit dem Gespräch in der Redaktion nichts mehr von Rüdiger und dessen Kollegen gehört hatte. Selbst die Schulenbergs wußten nichts Neues. Er versuchte mit Arbeit gegen seinen miserablen Zustand anzukämpfen, doch die Ergebnisse seiner Tätigkeit in der Dunkelkammer befriedigten ihn nicht. Er wußte, kein Foto von denen, die vor ihm im Wasserbad lagen, würde er zu einer Veröffentlichung hergeben. 208
Dann läutete es. „Die ganze Mannschaft!“ sagte er überrascht, als die drei Kriminalisten vor ihm standen. Makus führte sie in die „Ruhmeshalle“. „Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?“ fragte er. „Danke“, erwiderte Rüdiger. „Wir haben Ihnen etwas mitgebracht.“ Helga Bathe reichte dem Fotografen eine Baskenmütze. „Herr Decker bat uns, sie Ihnen zu übergeben. Sie haben die Mütze in seinem Wagen liegenlassen.“ „Decker? Aus Erfurt?“ Rüdiger setzte sich. „Genau der. Es war wirklich ein Zufall. Ein Škoda S 100 mit dem Kennzeichen FD 3791 verursachte am Freitag, dem siebenundzwanzigsten Oktober, auf der Autobahn Magdeburg – Berlin einen Unfall. Es entstand Sachschaden. Die Ursache war überhöhte Geschwindigkeit und zu schnelles Einordnen nach dem Überholvorgang. Der folgende Wartburg mußte bremsen und ein dahinter kommender Wolga fuhr auf. Sie merken es sicher schon, es handelt sich um Herrn Deckers Wagen.“ Das gibt es doch nicht. Das kann nicht sein, dachte Makus, und er beteuerte: „Herr Decker ist ein absolut sicherer Fahrer, ich kenne ihn seit Jahren. Er würde nie Fahrerflucht begehen.“ „Wie kommen Sie darauf? Hat er Ihnen erzählt, daß er weiterfuhr, ohne sich um die Folgen zu kümmern?“ fragte der Hauptmann erstaunt. „Nein, ich habe es Ihren Worten entnommen.“ „Wenn Sie meinen. Also, die Nummer wurde notiert, und Decker muß sich verantworten. Er bestreitet jedoch alles, sagt, daß er an diesem Tag gar nicht fahren konnte. Er hätte nach einer schweren Gallenkolik im Bett gelegen, was Sie bestätigen sollen.“ „Das kann ich. Ich wußte doch gleich, es muß sich um einen Irrtum handeln. Mein Kollege lag tatsächlich schachmatt im Bett. Ich mußte ihn, weil es ihm so schlecht 209
ging, am Abend vorher aus dem Operncafé abschleppen. Der Oberkellner und unser Zahnarzt Brandenburg waren dabei.“ Rüdiger nickte. „Das wissen wir schon, Herr Makus.“ Der Fotograf schaute von einem Kriminalisten zum anderen. „Bitte, wenn das so ist und nur Blechschaden entstand …“ „Es entstand nicht nur Blechschaden. An dem Tag, über den wir reden, starb Tom Schulenberg.“ Wieder blickte Makus die Kriminalisten der Reihe nach an. „Ich begreife die Zusammenhänge nicht. Doch wenn wir schon bei dem Thema sind, hat sich in der Zwischenzeit mit Konrad etwas ergeben?“ „Nein. Sie sagten aber eben Zusammenhänge. Genau die gibt es. Herr Makus, es steht jetzt für uns fest, daß uns Ihre Aktivitäten in den letzten Tagen nicht unbedingt helfen sollten, das Verbrechen an Tom Schulenberg aufzuklären.“ „Erlauben Sie mal“, protestierte der Fotograf. „Lassen Sie mich ausreden. Wir wissen jetzt, daß Ihnen der Name des Täters bekannt ist und Ihr ganzes Vorgehen darauf ausgerichtet war, zu verhindern, daß er ins Gespräch kommt.“ Makus sprang auf und lief erregt hin und her. „Wen decke ich Ihrer Meinung nach?“ Rüdiger forderte Makus mit einer Handbewegung auf, sich wieder zu setzen. „Ich werde die Ereignisse chronologisch wiedergeben.“ Der Fotograf trommelte unbeherrscht auf den Tisch. „Das verlange ich auch. Beginnen Sie mit dem Namen, den ich durchaus verheimlichen will.“ „Fred Makus. – Sie haben Tom Schulenberg getötet.“ Der Fotograf begann hysterisch zu lachen. „Ich? Sie fangen an zu spinnen, weil Sie nicht weiterkommen. Ich war doch überhaupt nicht hier. Dafür gibt’s Zeugen!“ „Denken Sie an die Zusammenhänge, Herr Makus. 210
Sie hörten in Berlin, daß Thomas Schulenberg wieder bei seiner Frau lebt. Damit zerbrach für Sie eine lang gehegte Hoffnung. Sie hatten fest damit gerechnet, daß Renate Schulenberg endlich frei sein würde. Der Mann, der Ihnen die enttäuschende Neuigkeit zutrug, war in Ihren Augen ein Schwätzer. Also wollten Sie sich selbst überzeugen. Ihr eigener Wagen hatte einen Defekt. Sie benutzten Deckers Škoda, ohne daß dieser etwas davon merkte. Er lag ja krank im Bett seines Hotelzimmers. Sicher war es unangenehm, Thomas oder Renate Schulenberg selbst zu befragen, darum warteten Sie, ich nehme an, es war an der Kreuzung, auf Tom. Der Junge war bestimmt Feuer und Flamme, als Sie vorschlugen, zum Schrottplatz zu fahren. Ein idealer Ort für Sie, um nicht gesehen zu werden. Nachdem Sie erkannten, daß der Junge einer Verbindung zwischen Ihnen und Renate Schulenberg genauso im Wege stehen würde wie der Beziehung Ihres Freundes Thomas zu Dorothea Wendler, da … ja, da schafften Sie ihn aus der Welt.“ „Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!“ Makus vergrub das Gesicht in den Händen und wiederholte die Worte erst laut und schrill, dann unter Schluchzen leiser werdend, bis sie kaum noch zu verstehen waren. Rüdiger wartete, bis er sieh etwas beruhigt hatte, und sprach dann weiter. „Als Sie ein paar Tage später hier auftauchten, hörten Sie, daß viele in Becker, dem ‚kranken Mann‘, den Täter sahen. Anstatt sich zu Ihrer Tat zu bekennen, bauten Sie gegen den Heizer Verdachtsmomente auf. Das schlug fehl. Deshalb konzentrierten Sie sich auf Konrad. Sie suchten ihn auf, um zu erfahren, wie weit er verdächtigt wird. Sobald Sie merkten, daß er Sie für einen Kriminalisten hielt …“ „Warum soll er das getan haben?“ „Weil er Sie in unserer Begleitung gesehen hatte. Konrad glaubte also, sie wären Polizist, und da gingen Sie aufs Ganze. Ich weiß nicht, was Sie gesagt haben, um 211
ihn zur Flucht zu bewegen, aber viel gehörte sicher nicht dazu, den angeschlagenen Mann aus der Bahn zu werfen. Der Platzwart machte sich aus dem Staub; das mußte ja einem Geständnis gleichkommen. Da Sie ein vorsichtiger Mann sind, bauten Sie für alle Fälle das Spiel auf der Schurre ein. Wen verdächtigten Sie damit erneut? – Becker. Den gleichen Becker, von dessen Schuldlosigkeit Sie ja überzeugt waren, wie Sie jedem, der es hören wollte, erzählten. Das war gar kein schlechter Trick. Damit katapultierten Sie sich tatsächlich zunächst aus dem Kreis derjenigen heraus, die für den Mummenschanz in Frage kamen. Hätten Sie geahnt, daß Konrad abstürzen würde, wäre es wahrscheinlich nie zu dem Schurreauftritt gekommen. Leider können wir Sie für den Tod des Platzwartes nicht zur Verantwortung ziehen, aber Sie sollten trotzdem immer daran denken, für Konrad war der mickrige …“ „Hören Sie auf!“ Makus fuhr mit einer heftigen Armbewegung über den Tisch. Wohl hundert Fotos, die zu kleinen Stapeln gehäuft darauf gelegen hatten, flogen wie Blätter im Herbst zu Boden. „Ich kann es nicht mehr hören. Nur darum ist es passiert, nur darum? Ja, ich habe gehofft, daß Renate doch noch meine Frau wird, eigentlich bis zu dieser Stunde.“ „Mit der Schuld?“ Rüdiger schüttelte den Kopf. Makus flüsterte fast. „Trotzdem. Behutsam hatte ich Tom an dem Tag über die Verhältnisse im Elternhaus ausgefragt, zeigte ihm Ansichtskarten von meiner Reise und deutete an, daß er und Renate immer mitfahren könnten, wenn sie zu mir ziehen würden. Er fragte mich verwundert: ‚Aber Vati? Kommt Vati auch mit?‘ Ich habe dummes Zeug geschwatzt. ‚Dein Vati ist dann bei der Tante Wendler und bleibt dort. Ich werde dein Vati sein.‘ Da trat er einen Schritt zurück, sah mich von oben bis unten an und sagte: ‚Du bist doch viel zu klein, um ein Vati zu sein!‘ Und ich …“ 212
„Sie schlugen zu.“ „Seine Worte hatten mich verrückt gemacht.“ „Nur darum?“ Helga Bathe begriff nicht, daß so wenig dazu gehörte, um eine Tragödie auszulösen. „Ich habe in meinem Leben immer wieder diese albernen Witze über mein Äußeres hören müssen. Was man dabei empfindet, weiß nur der, den es betrifft.“ Die Kriminalisten schwiegen. In die Stille hinein sagte Makus leise: „Ist es denn so wichtig, wie groß man ist?“ „Warum haben Sie das nicht Tom gefragt, statt zuzuschlagen?“ erwiderte Rüdiger. „Ich weiß es nicht, erinnere mich auch nicht mehr, wie lange ich dort hockte, bis mir klar wurde, was geschehen war.“ „Dann stießen Sie den kleinen Leichnam zwischen den Schrott und fuhren nach Berlin zurück?“ Oberleutnant Helm ergänzte: „Mit der Baskenmütze und den langen Haaren, die Sie da noch hatten, mußten Sie tatsächlich auf Franz wie eine Frau wirken.“ Der Hauptmann stand auf. „Wir wollen gehen. Nehmen Sie mit, was Sie brauchen.“ Makus’ Gesicht wurde starr. Dann ließ er sich vornüber auf den Tisch fallen und schrie: „Alles verdankte Tom mir! Mir und noch einmal mir! Ich habe mich vom ersten Tag seines Lebens an um ihn gekümmert. Ein Vater hätte nicht mehr für ihn tun können. Nein, ich habe nicht geglaubt, daß Sie auf mich kommen würden. Wer bin ich denn? Schon in der Schule waren die anderen immer größer, stärker, klüger! Voran Thomas Schulenberg. Und er machte sich noch lustig über mich. ‚Du bist dafür eben der Schönste‘, spottete er.“ Langsam richtete sich der Fotograf auf. Er trat an die Bilderwand und nahm ein Foto ab, das eine lachende Renate Schulenberg zeigte, die den kleinen Tom in die Höhe hob. „Nur wegen Renate suchte ich nach einem Ausweg. Der kranke Mann paßte so gut. Alle sprachen 213
von ihm, und ich dachte, man wird ihn in eine Heilanstalt einweisen, mehr kann nicht passieren. Es war ein schrecklicher Irrtum.“ Rüdiger öffnete die Zimmertür, sah Makus einen Moment nachdenklich an und sagte dann: „Ich glaube, so falsch waren die Hinweise auf den kranken Mann gar nicht.“
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Die Geschichte ist erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und tatsächlichen Begebenheiten wären zufällig.
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1982 Lizenz-Nr.: 409-160/150/82 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 391 2 DDR 2,- M