Andrzej Szczypiorski Feuerspiele
Roman
Fürst Kyrill, der in Paris lebende Exilrusse, Graham Wilson III, ein amerikanis...
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Andrzej Szczypiorski Feuerspiele
Roman
Fürst Kyrill, der in Paris lebende Exilrusse, Graham Wilson III, ein amerikanischer Großindustrieller, und sein Faktotum, der Ungar Dr. Kovács, planen eine große Kunstausstellung im idyllischen Kurort Bad Kranach. Es werden Kunstsammler aus aller Welt daran teilnehmen, beispielsweise der polnische Jude Joël Weiss und der deutsche Baron Kugler. Die Ausstellung, die die schönsten Kunstschätze Europas zeigen soll, könnte ein Beweis dafür sein, wie haushoch überlegen die schönen Künste doch kleinkariertem Nationalismus gegenüber sind. Doch bald stellt sich heraus, dass die wahren Interessen der Beteiligten in Wirklichkeit ganz woanders liegen... Andrzej Szczypiorski Feuerspiele Roman Deutsch von Barbara Schaefer Originaltitel: Gra z ogniem Umschlagillustration: Alexej Jawlensky Diogenes Verlag AG Zürich 2000 ISBN 3-257-06253-2
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Das Buch
Fürst Kyrill, der in Paris lebende Exilrusse, Graham Wilson III, ein amerikanischer Großindustrieller, und sein Faktotum, der Ungar Dr. Kovács, planen eine große Kunstausstellung im idyllischen Kurort Bad Kranach. Es werden Kunstsammler aus aller Welt daran teilnehmen, beispielsweise der polnische Jude Joël Weiss und der deutsche Baron Kugler. Die Ausstellung, die die schönsten Kunstschätze Europas zeigen soll, könnte ein Beweis dafür sein, wie haushoch überlegen die schönen Künste doch kleinkariertem Nationalismus gegenüber sind. Doch während Fürst Kyrill und Graham Wilson III. in einem Telefongespräch ihre wahren Interessen – einen Versicherungsbetrug auf höchstem Niveau – andeuten, bereitet sich ein deutscher Sicherheitsbeamter mit unrühmlicher Vergangenheit ebenfalls auf das Kulturereignis vor. Auch der Pole Jan, den seit dem Tod seiner Frau die Vergangenheit in nächtlichen Visionen heimsucht, die nach Gerechtigkeit schreien, macht sich auf nach Bad Kranach. So treffen Menschen aufeinander, die eine gemeinsame Vergangenheit haben, die sie beim Spiel mit dem Feuer wieder einholt. Das weise Alterswerk eines großen europäischen Homme de Lettres, das die großen Themen des letzten Jahrhunderts noch einmal aufgreift: Verfolgung und Mord an Andersgläubigen, Krieg gegen die eigenen Nachbarn, Haß und Liebe, Gewissenlosigkeit und Gerechtigkeit, Verachtung und Mitgefühl – und ›die Unfähigkeit zu trauern‹. »Er gehört zu den hervorragenden Schriftstellern, und grimmig sind die historischen Lektionen, die er erteilt.« Der Spiegel, Hamburg »Szczypiorski, der ja eigentlich nur von Trübem, Bitterem, Qualvollem zu berichten hat, vermag eine Leichtigkeit ohne Trivialität, einen Anflug von Humor ohne Verlogenheit zu bewahren.« Die Zeit, Hamburg
Der Autor
Andrzej Szczypiorski; Foto: Isolde Ohlbaum
Andrzej Sczypiorski wurde 1928 in Warschau geboren. Er nahm 1944 am Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung teil und kam ins KZ. Nach dem Krieg wurde er Schriftsteller und Publizist. 1989 wurde er von der Solidarność als Kandidat aufgestellt und vom Volk in den Senat gewählt. Im gleichen Jahr Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur. 1995 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für seine Bemühungen um die deutsch-polnischen Beziehungen verliehen, ebenso der Andreas-Gryphius-Preis der Künstlergilde e.V., und er wurde in den deutschen Orden ›Pour le mérite‹ aufgenommen. Andrzej Szczypiorski starb am 16.5.2000 in Warschau.
Andrzej Szczypiorski
Feuerspiele Roman Aus dem Polnischen von Barbara Schaefer
Diogenes
Titel der 1999 bei Sens, Poznań, erschienenen Originalausgabe: ›Gra z ogniem‹ Copyright © 1999 by Andrzej Szczypiorski Umschlagillustration: Alexej Jawlensky, ›Kornfeld‹, 1905 Copyright © 2000 ProLitteris, Zürich Foto: Alexej von Jawlensky-Archiv, Locarno
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2000 Diogenes Verlag AG Zürich 400/00/52/1 ISBN 3 257 06253 2
1
A
n jenem Abend, als Monika, seine Frau, gestorben war – mit der er viele schöne und unbeschwerte Jahre verlebt hatte, um nun zum Schluß, wegen ihrer Krankheit, großes Leid zu erfahren –, betrat Jan den dunklen Raum auf dem Dachboden des Hauses, wo sie seit langem wohnten, machte sorgfältig die Tür hinter sich zu, setzte sich in den abgewetzten Sessel und beschloß zu sterben. Was er in der Stunde nach dem Tod seiner Frau tat, wiederholte er dann über lange Wochen hinweg mit einer steten Regelmäßigkeit, die seinen Schmerz linderte. Es gab Tage, da wartete er ungeduldig auf die Dämmerung und darauf, daß es still wurde im Haus, stieg dann völlig im Dunkeln, vorsichtig, um jegliches Knarren zu vermeiden, die Stufen hoch, betrat den Dachboden des Hauses, machte die Tür hinter sich zu, fand tastend den alten tiefen Sessel und ließ sich schwerfällig darin nieder. Schweigend, fast andächtig wie beim Gebet, saß er da und forderte vom Tod, er möge kommen und ihn von dieser Welt abholen. So verharrte er fast reglos manchmal eine Stunde, manchmal sogar länger, Tag für Tag, Woche für Woche, aber der Tod kam nicht; denn er bestimmt immer selbst den Augenblick seines Besuches und erscheint niemals auf Bestellung, es sei denn, ein Mensch zwingt ihn herbei. Aber Jan wollte sich nicht das Leben nehmen, da er das für einen Akt der Feigheit und der Flucht vor dem ihm vom Schicksal auferlegten Leid hielt. Er war in einer Welt sehr intensiver und tiefer Gefühlsbeziehungen aufgewachsen, in der die Menschen dem Leid als eine reinigende Kraft großen Wert beimaßen. Das Leid -6-
war für sie der sichtbare Beweis all dessen, was man verloren, wovon man sich hatte trennen oder was man hatte zurücklassen müssen. Seit jeher besaß man wenig, deshalb schätzte man auch das, was man besaß, mehr als andere mit mehr Glück und weniger harten Lebenserfahrungen. Im allgemeinen glaubte man an die Unsterblichkeit der Seele, an ein süßes ewiges Leben im Himmel oder an die ewige Verdammnis in der Hölle sowie an künftige Begegnungen der Toten im Jenseits, was für eher nüchterne und nachdenklichere Menschen etwas unklar, rätselhaft und wohl auch von Gott schlecht bedacht war, da niemand voraussehen konnte, wohin er nach dem Tod geschickt würde. Der eine konnte in die Hölle kommen, der andere hingegen in den Himmel, und in einer solchen Situation war ein Zusammentreffen ihrer Seelen wegen der unüberwindlichen Hindernisse für alle Ewigkeit so gut wie unmöglich. Aber trotz dieser Zweifel und Unklarheiten über Jahrhunderte hindurch war ihr Glaube beispielhaft, und sie wurden darin auch bestärkt dank ihrem irdischen Leid und all dem Teuflischen, das sie erlebt hatten. Immer hegten sie in sich die hehre Überzeugung, daß das Böse, das ringsumher wucherte, nicht ihre Schuld war, sondern durch andere bereitet und aufgezwungen wurde. Das war recht angenehm, erforderte aber auch eine enorme geistige Anstrengung, um auf der Illusion der ewigen polnischen Unschuld beharren zu können. Jans Welt war also Teil dieser vom Vater an den Sohn weitergegebenen erhabenen und geheimnisvollen Überlieferung. Er wußte seit jeher, was gemeinsames Leid bedeutet, das allen ringsum durch eine Folge von Zufällen auferlegt wird, aber in seinem eigenen Leben hatte er das persönliche Leid, das nur ihm durch sein eigenes Schicksal bereitet wurde, lange nicht erfahren. Und plötzlich, als Monika gestorben war, trat er in den Kreis dieses persönlichen und dadurch erstaunlichen Leides ein. Es gehörte ausschließlich ihm, keiner außer ihm hatte Zugang dazu. Und plötzlich stellte Jan fest, daß alles andere seine -7-
frühere Bedeutung verloren hatte. So war es am Anfang, direkt auf der Schwelle zur Dunkelheit, die er plötzlich betrat, als die letzten Trauergäste auseinandergingen. Ihre Silhouetten lösten sich in der grünen, schattigen und schwülen Weite des Friedhofs auf, und Jan blieb allein am Grab seiner Frau zurück. Da genau überschritt er die Schwelle, hinter der sich nur noch sein einsamer Schmerz befand. Er isolierte ihn so stark von den Dingen der Welt, daß Jan weder die Menschenmassen auf den Straßen der Städte noch einzelne um Hilfe rufende Stimmen hörte. Aber als er, betäubt vom Schmerz, am Grab der Verstorbenen stand, hatte er das merkwürdige Gefühl, daß diese Einsamkeit nicht allzulange dauern würde. Schon damals erfaßte ihn eine dumpfe Unruhe, und er spürte ein gewisses Schwanken, als betrete er einen Steg über einen reißenden Strom, der ihn vom anderen Ufer trennte. Solange er mit Monika zusammengewesen war, hatte er die Vergangenheit nicht gebraucht, da die Liebe sein Leben ausfüllte. Das war sehr einfach, jedenfalls war es ihm damals so vorgekommen. Tage und Jahre vergingen ruhig und still, verloschen irgendwo am westlichen Horizont vor den Fenstern und nahmen Gegenstände, Menschen und Ereignisse mit sich fort. In der Abenddämmerung blieb dann immer nur Monika mit ihrem Duft, dem Klang ihrer Stimme, ihrer Berührung. Und wenn sie mal wegging, wußte Jan, sie würde bald zurückkommen. Nach wie vor spürte er ihre Gegenwart, denn die Luft, die sie geatmet hatte, war noch da, die Gegenstände, die sie berührt hatte, und ihre Blicke waren auch noch an den früheren Stellen, als hätten sie sich auf den Wänden, den Möbeln, den Gegenständen, den Ästen niedergelassen und seien dort geblieben, auch wenn Monika nur kurz weggegangen war. Er hatte also außer dieser Frau zum Leben nichts mehr gebraucht, am wenigsten die Vergangenheit, die er wie ein versenktes, während einer Katastrophe verlassenes Wrack -8-
behandelte. Bei dem Gedanken an die Vergangenheit kamen ihm Chaos, Ängste und Verletzungen in den Sinn. Dann fühlte er sich wie ein Schiffbrüchiger. Aber das sollte sich ändern. Nach einer gewissen Zeit zeigte sich, daß Monikas Tod den Damm niedergerissen hatte, der Jan von seiner Erinnerung getrennt hatte. Bald überflutete ihn eine kühle Woge, die ihn dann in die von den anderen verlassene Vergangenheit trug. Aber bevor es soweit war, litt er zurückgezogen und in stiller Wut darüber, daß die Welt immer noch existierte, obwohl sie es nicht sollte. Jeden Tag spürte er von neuem den Verlust Monikas. Er suchte sie unaufhörlich. Wenn er eine Straße entlangging, dachte er, es müßte doch ein Wunder passieren und Monika plötzlich auftauchen, aus dem nächsten Haus herauskommen, aus dem Laden, vom Friseur, aus dem Café. Er sah ein, daß das verrückte Wünsche waren, konnte sich aber nicht von ihnen befreien. Sogar in einer fremden Landschaft suchte er Monika oder ihre Spuren. Aber im Grunde blieb er vernünftig und besonnen. Er hatte zuvor in seinem Leben schon viele Menschen begraben, Abschied von ihnen genommen, ihren Verlust verwunden, ihre Gegenwart im Gedächtnis behalten und in seinem Herzen um sie getrauert. Auch diesmal war er sich darüber im klaren, daß Monika sowie die anderen Verstorbenen unwiderruflich fortgegangen waren. Aber dennoch wartete er ungeduldig auf sie, hielt Ausschau nach ihr und suchte sie. Es begleitete ihn eine zu nichts führende Wut auf die Welt. Die Bäume wuchsen und rauschten an ihren angestammten Plätzen. Die Fensterscheiben der Mietshäuser zitterten, wenn Lastwagen die Straße entlangfuhren. Die Ampeln blinkten an den Kreuzungen. Die Winde wehten und nahmen den Straßenstaub mit sich fort. Kinder schrien auf den Spielplätzen. Mit alldem konnte er sich nicht aussöhnen. -9-
Einmal fuhr er in die Stadt, in der Monika als kleines Mädchen gewohnt hatte. Zufällig war er dorthin gekommen, und während er die Straße entlangging, vergegenwärtigte er sich, daß sie ja hier ihre Kindheit und die ersten Schuljahre verbracht hatte. Ihm fiel eine Fotografie Monikas aus jenen Tagen ein. Sie war ein hübsches Mädchen gewesen mit einem wachen Gesicht und einem dunklen, über der Stirn gleichmäßig abgeschnittenen Pony. Sie trug ein Kleid, von dem sie noch nach Jahren erzählte, es sei kirschrot, sehr weich und angenehm anzufassen gewesen. Jan erinnerte sich an Monikas Adresse aus ihren Kindertagen. Er kramte die Straße und das Haus aus dem Abfallkorb seines Gedächtnisses hervor, wo haufenweise Gegenstände und Gesichter lagen, darunter auch eine offene Tür zu einer Veranda, die in einen vergessenen Garten führte, Menschen mit weitaufgerissenen, erschrockenen Augen, Pferde im Galopp, Kachelöfen, bunte Schleifen, aus Pappe ausgeschnittene Engel, Geschrei und Gepolter. Aus diesem Schutthaufen kramte Jan ein dreistöckiges, stattliches, dunkles Gebäude an einer belebten Straße, über die die Straßenbahnen ratterten, umgeben von hohen, mit Staub bedeckten Bäumen, dem hektischen Treiben von Passanten und auf den Bürgersteigen auseinanderstiebenden Tauben. Als er vor dem Haus stehenblieb, sah er auf dem Balkon im ersten Stock ein Mädchen in einem kirschroten Kleid, mit dunklen Haaren und blasser Haut. Er wußte natürlich, daß das nicht Monika war, betrachtete sie aber zärtlich, und ein süßer Wahn erfüllte sein Herz. Einen Augenblick später war das Mädchen vom Balkon verschwunden. Mit seinem Schicksal versöhnt, wollte er bereits weitergehen, als sie aus dem Torbogen des Mietshauses kam. Sie trug nun Jeans und eine Jacke und schien ihm plötzlich älter und etwas größer, sah aber Monika auf der alten Fotografie ähnlich. Er wußte nicht, weshalb, aber dennoch ging er auf das Mädchen zu und betrachtete sehr genau ihr Gesicht. Sie war fünfzehn, vielleicht auch sechzehn Jahre alt und hatte einen -10-
angewidert verzogenen Mund mit einem abschätzigen Ausdruck. Noch bevor er sich ihr genähert hatte, rief sie ihm schnippisch zu: »Du willst mich sicher vögeln, du Arsch...« Er empfand ein Gefühl der Entweihung, so als habe jemand in seiner Gegenwart in einen Meßkelch gespuckt. Aber sie kannte nur ihre eigene Welt, so war ihr Leben, also sagte sie in ihrem aggressiven Tonfall: »Mein Arsch ist nicht für dich, du Lackaffe...« Und schon war sie zwischen den Leuten verschwunden, die den Bürgersteig bevölkerten. Ausgerechnet da, genau in dem Moment – was ihm später merkwürdig und krank vorkam –, als das Mädchen in der Menschenmenge der Straße verschwunden war, erlebte Jan zum ersten Mal nach Monikas Tod wieder sinnliche Begierde, gemischt mit Furcht und Ekel. Er empfand Haß dem Mädchen gegenüber, dachte aber gleichzeitig, er könnte ihr sofort die Jeans vom Leib reißen, mit Kraft ihre Schenkel auseinanderdrücken und gewaltsam in sie eindringen, mit einem Schrei und einem Stöhnen, das in ihm anwuchs. Lange danach, als er zwar immer noch litt, aber nicht mehr so verletzlich war wie in den ersten Monaten nach dem Tod seiner Frau, denn es erfüllten ihn auch Selbstmitleid und Rührseligkeit gegenüber dem eigenen Unglück, verwandelte sich sein Schmerz allmählich in blinde Wut, und die Nächte waren erfüllt von Gepolter, Geschrei und Verwünschungen. Sehr lange also nach diesem Erlebnis hatte er ähnliche Gefühle. An jenem Tag saß er im Sessel inmitten von Büchern, dunklen Gardinen an den Fenstern, trockener Luft und tickenden Uhren, als plötzlich ohne Vorankündigung Irena, die Witwe seines vor Jahren verstorbenen Freundes, auftauchte. Sie war eine temperamentvolle und unberechenbare Frau, bekannt für ihren eigenwilligen Lebensstil. Sie zeichnete sich durch große Willenskraft aus, worin sie Monika sehr ähnlich war. Aber Monika konnte ihre Herrschsucht bremsen und im Zaum halten, -11-
unter Leuten blieb sie schweigsam und kühl, wie nicht ganz anwesend, Irena hingegen zog fast in jeder Situation die Aufmerksamkeit auf sich, kleidete sich herausfordernd, zeigte ihre Reize. Und sie hatte viel zu zeigen, denn sie war eine auffallend schöne Frau. Aber Jan mochte sie nicht besonders, da er wußte, daß sein Freund kein leichtes Leben mit dieser Person gehabt hatte, und außerdem war Monika ihr mit Abneigung begegnet, hatte sie für eine zu herausfordernde Frau mit schlechten Manieren gehalten. Irena kam also zu Jan, als er in seinem Sessel saß und nicht die geringste Lust auf ein Gespräch mit einem anderen Menschen verspürte, weil ihm die Menschen auf die Nerven gingen und ihn langweilten. Irena saß zunächst auch schweigend neben ihm, als wollte sie zu verstehen geben, daß sie Jans Trauer teile und nur deshalb gekommen sei, um ihm in seiner Trauer beizustehen. Dann aber fing sie an, sich in der ganzen Wohnung zu schaffen zu machen, ließ einige Bemerkungen bezüglich des Staubes, der Unordnung und der fehlenden Frischluft fallen, verkündete schließlich, es sei nun schon genug Zeit seit Monikas Tod verstrichen, und Jan müsse, da er angefangen habe, sich immer mehr zurückzuziehen, zur Normalität zurückkehren, weil seine Zurückgezogenheit unangenehme Kommentare hervorrufe. Sie ging sogar so weit, zu behaupten, gewisse Personen kreideten ihm diese Isolierung vom Leben an, jemand habe dieses Verhalten sogar als Marotte bezeichnet. Sie teile zwar eine derart extreme Meinung nicht, beginne aber auch, zu vermuten, daß es sich wohl eher um eine theatralische Pose als um tiefe Trauer handle. Als sie dies sagte – wobei sie direkt neben dem Sessel stand, in dem Jan saß –, knöpfte sie plötzlich ihr Kleid auf und zog es sehr langsam aus mit der ruhigen und natürlichen Bemerkung, sie fühle sich in dem Kleid unwohl, da es im Zimmer unerträglich heiß sei. Und nachdem sie fast nackt war, rief sie spöttisch aus: »Siehst du mich denn überhaupt?!« -12-
»Ja«, antwortete er. Er sah eine schöne Frau vor sich und spürte die Begierde. Sein Glied wurde plötzlich steif. Irena bemerkte es sofort, lachte und legte ihre Hand darauf. Er stöhnte fast auf vor Schmerz. Rittlings setzte sie sich auf seine Schenkel und küßte ihn leidenschaftlich auf den Mund. Jan, der fortwährend an Monika dachte, war über das, was passierte, entsetzt und beschämt, war machtlos und voller Selbsthaß, zitterte aber auch vor Mitleid mit dem eigenen elenden Schicksal; gepackt von Begierde, Verzweiflung und Torheit, empfand er einen Moment großer Wollust. Es war sehr kurz, wie das krampfartige, vergebliche Schnappen nach Luft eines Ertrinkenden. Später litt er vor Scham und Widerwillen. Aber allmählich kehrte er zum Alltag zurück. Er litt zwar immer noch, aber es war bereits ein anderes Leiden, ein fast angenehmes, vertrautes, an das man sich gewöhnt hat, wie an ein altes Möbelstück oder den Blick aus dem Fenster. Irena mied er wie das Feuer. Auch sie hatte es überhaupt nicht eilig mit ihren nächsten Besuchen. Seit diesem Vorfall jedoch, der ihn mit Scham und gleichzeitig mit einer gewissen falschen Befriedigung erfüllte, starb Jan nicht mehr täglich, sondern lebte nun einfach irgendwie, wenn auch ohne größere Lust. Am Morgen wachte er mißmutig auf, und am Abend schlief er in der gleichen Stimmung wieder ein. Seine Wunden vernarbten. Es folgte dann das, was er für die härteste Strafe hielt. Er ertrank in dem trüben, warmen Wasser des Gewöhnlichen, der Banalität, der Trivialität, der Langeweile, der Dummheit und der fehlenden Hoffnung auf ein Erdbeben, das alldem ein Ende bereiten würde. Aber auch da suchte er, wie früher, den Dachboden auf. Es war ihm zur täglichen Gewohnheit geworden. Er saß in dem alten, abgewetzten Sessel. Und wartete. Immer mehr von der Sinnlosigkeit solcher Gedanken überzeugt, wartete er auf die Ankunft eines anständigen Todes. -13-
Der kam jedoch nicht. Nicht einmal, wenn er im Sessel einschlief, um von seiner verstorbenen Frau zu träumen, klopfte er an die Tür. Aber in jener Zeit verlief sein Leben bereits wieder normal, denn indem er scheinbar auf den Tod wartete, fürchtete er sich vor ihm. Und schließlich kam der Tag, als er sich verzweifelt sagte, er wolle überhaupt nicht sterben, und empfand dies als den schwersten Verrat an seiner verstorbenen Frau. Aber obwohl er sich als Verräter fühlte, wollte er fortan nicht mehr sterben. Die ganz gewöhnlichen Ängste – vor Schmerz, Krankheit und Tod – waren zu ihm zurückgekehrt. Und noch etwas war zu ihm zurückgekehrt. Ohne Namen und Gestalt. Zuerst schlich es zaghaft und auf leisen Sohlen durch das Haus, verrückte ein wenig die Möbel, raschelte mit den Büchern. Dann fing es im Kopf an, zu hämmern, zu rumpeln, zu poltern und zu schubsen. Da flüchtete er auf den Dachboden. Nicht mehr, um auf den Tod zu warten, sondern in der Hoffnung, zusammen mit der Gegenwart durchzuschlafen, sich mit ihr zusammen dort zu verbarrikadieren und die schlechten Stunden vorübergehen zu lassen. Aber es gab kein Entrinnen, denn er schaffte es nie, hinter sich die Tür zu schließen, ohne daß er Gesellschaft auf dem Dachboden hatte. Manchmal döste er vor sich hin. Manchmal schlief er sogar fest ein. Es kam vor, daß er konzentriert wachte, seinen Gedanken über den Verrat, den er Monika gegenüber zugelassen hatte, lauschte. Das war sogar tröstlich, weil es an anderen Tagen viel schlechter verlief. Da dachte er an längst verstorbene Menschen oder an seine Taten, die zu ihm auf den Dachboden kamen, sich zu seinen Füßen legten wie treue Hunde oder auf Zehenspitzen herumspazierten, so leicht, still und unbestimmt, daß er nicht einmal das Knarren der Dielenbretter hörte.
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2
I
ch halte es nicht für gut, die Entscheidung hinauszuschieben«, sagte Graham Wilson III. während des Telefongesprächs mit dem Fürsten Kyrill, zwei Monate bevor die Vorbereitungen zur Ausstellung in Bad Kranach begannen. »Falls Sie irgendwelche Bedenken haben, dann rate ich Ihnen ab, die Sache überhaupt anzupacken.« »Ich habe keinerlei Bedenken, ich bin nur nicht ganz sicher, ob es klappen wird«, sagte der Fürst in den Hörer. Dabei betrachtete er den Himmel vor dem Fenster seines Arbeitszimmers. Er war strahlend blau, und weiße Wolken zogen an ihm vorüber, die an dem noch weißeren, schneebedeckten Gletschergipfel auf der anderen Seite des Sees hängenblieben. »In Geschäftsangelegenheiten ist nie klar, ob alles klappen wird«, sagte Graham Wilson mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. Auch er betrachtete die Aussicht aus seinem Fenster, aber bei ihm war der Himmel bewölkt, auf die Baumkronen der Parkbäume ging ein Platzregen nieder. Man hörte das gewaltige Rauschen der Wassermassen, die sich von einer Anhöhe auf die Blumenbeete vorm Eingang des Firmensitzes ergossen, wo auf dem bereits unter Wasser stehenden Parkplatz teure Limousinen standen. Unten bellte irgendwo ein Hund. Fürst Kyrill fragte plötzlich interessiert: »Sie haben einen Hund, lieber Herr Wilson?« »Ja«, erwiderte Graham Wilson III. gereizt. Er kannte dieses -15-
Gefühl, da bei ihm trotz seiner langjährigen Übung im Umgang mit Menschen immer wieder seine Wurzeln zum Vorschein kamen. Diese Wurzeln waren wichtiger als geschicktes Auftreten in der Öffentlichkeit, da Graham Wilson sehr verbunden war mit seiner Familie, und sie gerade hatte ihm diese Direktheit mit auf den Weg gegeben. »Ich habe einen Hund, aber das gehört wohl nicht zur Sache. Ich möchte unterstreichen, daß man sich des Risikos bewußt sein muß, aber auch des Erfolges. Andernfalls lohnt es sich nicht, die Sache überhaupt anzupacken. Wir werden weder die ersten noch die letzten sein. Solche Dinge macht man seit ewigen Zeiten. Sicher, man muß etwas riskieren.« Er unterbrach sich, schaute aus dem verregneten Fenster und ergänzte in literarisch perfektem Französisch, auf das er immer stolz war: »À la guerre comme à la guerre!« In dem Moment brach Dr. Kovacs in lautes Lachen aus. Er war der Graham Wilson III. am nächsten stehende Berater, aber auch dessen falscher Freund, der ihn insgeheim haßte und am liebsten ins Jenseits befördert hätte. Dr. Kovacs war ein gutaussehender Mann, der durch sein markantes Gesicht und den dunklen Teint an einen Indianer aus alten Kinderbuchillustrationen erinnerte. Er war groß, schlank und elegant, dafür fiel um so stärker seine Behinderung ins Auge: Ihm fehlte der linke Unterarm; der Ärmel seines geschmackvollen Sakkos steckte immer in der Jackentasche, aber das machte aus Dr. Kovacs eine Person von allgemeinem Interesse und Faszination. Von seiner Herkunft her war er Ungar, vielleicht aber auch etwas ganz anderes, denn in seiner Biographie war nichts bis ins letzte geklärt, und gleichzeitig erweckte nichts Argwohn. Kovacs saß in einem Sessel inmitten des riesengroßen Arbeitszimmers von Graham Wilson III. und verfolgte aufmerksam das Gespräch seines Freundes mit dem Tausende von Meilen entfernten Fürsten Kyrill. Das kalte Herz des Dr. Kovacs, das ausgedorrt war durch Enttäuschungen, -16-
unerfüllte Erwartungen und alle Sünden, die sich ein Mensch überhaupt erlauben kann, wurde von Zeit zu Zeit überflutet von einer warmen Welle des Hasses allen sichtbaren und unsichtbaren Dingen, vor allem jedoch Graham Wilson III. gegenüber, was man für natürlich halten kann, da bekanntlich die Menschen oft diejenigen am stärksten hassen, die ihnen Gutes tun. Gerade diese warme Welle der Wut, der Verachtung und des Hasses machten das Leben von Dr. Kovacs an Wilsons Seite erträglicher und sogar vollkommen angenehm. Graham Wilson wiederholte nochmals auf französisch, daß es eben so im Krieg sei, was Fürst Kyrill unwillig zur Kenntnis nahm. »Sie müssen mich wahrlich nicht belehren«, sagte er milde, aber mit einem deutlichen Tadel. »Ich bin nicht erst seit gestern im Geschäft. Sie denken doch wohl nicht, daß ich ein Amateur bin.« »Das denke ich nicht«, erwiderte Wilson. Er wußte ja – und das war für ihn etwas bitter –, daß dieser stämmige, nicht sehr große, zur Glatze neigende Fürst auf seinen Bankkonten ein solides Vermögen hatte. Natürlich noch sehr weit entfernt von dem Vermögen Graham Wilsons III., aber wie dem auch sei, Kyrill war nur ein russischer Emigrant in Europa, und demzufolge mußte man an ihn etwas bescheidenere Maßstäbe anlegen. Dies war bereits das vierte oder vielleicht sogar das fünfte Gespräch, während dessen sie sich um eine Einigung in der brisanten Angelegenheit eines großen Betruges bemühten. Die Schwierigkeit bestand nicht in den Skrupeln auf seiten des Fürsten, noch weniger auf seiten Graham Wilsons III., ganz zu schweigen von Dr. Kovacs. Alle waren gestandene Geschäftsleute, die sich seit Jahren mit der Umsetzung von Projekten befaßten und sich darüber im klaren waren, daß sie ein Glückslos in der Lotterie des Lebens gezogen hatten. Denn sie -17-
nahmen an dem heiligen und unblutigen Krieg des freien Marktes teil. Dies verlangte Mut, Entschlossenheit, einen kühlen Kopf, ein warmes Herz, Kampferfahrung, Geduld, aber auch ein bißchen Haß auf den Gegner und einen Funken Glaube an die allgemein-menschliche Richtigkeit der eigenen Sache. Ohne diesen Glauben an die edle und humanistische Grundlage hätte sich der Fürst für einen unvollkommenen Menschen gehalten, da er von Kindesbeinen an in schönen Idealen und in der Überzeugung erzogen worden war, daß die Demokratie und der Kapitalismus einer besseren Zukunft aller Menschen dienen. Graham Wilson III., vielleicht eben aus dem Grund, daß er bereits der dritte in der Reihe der Besitzer des Familienvermögens war, hatte keine so hehren Meinungen und Vorstellungen, aber auch er entdeckte in seiner Tätigkeit altruistische Züge. Über die Meinung und die Ansichten von Dr. Kovacs in dieser Frage ist nichts bekannt. Was jedoch das bißchen Haß betraf, den jeder von ihnen den Gegnern gegenüber empfand, so erschien er immer irgendwie gerechtfertigt. Es unterlag ja keinem Zweifel, daß sie einen Kampf darum führten, wer mehr verdiente, wer sich als vorausschauender erwies und folglich siegte oder aber auch fiel und niedergetrampelt wurde. In einer solchen Situation erwies sich eine Spur Haß als notwendig für die Erhaltung der psychischen Gesundheit und der Lebensfreude. Die Aufgaben, die sie in Angriff nahmen, waren, wenn auch von einigen Sonderlingen und Idealisten als moralisch zweifelhaft betrachtet, doch hundertmal besser als echte Kriege, in denen Menschen starben, aufgeschlitzt durch ein Schwert, zerfetzt durch eine Granate oder begraben unter den Trümmern einer Bombe. Heutzutage nämlich erlitten die besiegten Konkurrenten höchstens einen materiellen Schaden, aber der hielt sich in Grenzen, denn in Wirklichkeit verlor nie jemand restlos alles. Was allerdings den geplanten Betrug betraf, so hätten weder der Fürst noch Graham Wilson III. und am wenigsten Dr. -18-
Kovacs in ihren geheimsten Gedanken für ihr Unternehmen ein so ordinäres Wort in den Mund genommen. Denn sie waren gebildete und kultivierte Leute. Natürlich waren sie sich darüber im klaren, daß sie diesmal die Grenze der allgemein üblichen Rechtschaffenheit, die anständige Leute zu respektieren versuchen, überschritten. Aber eine solche Grenze ist ja nie eindeutig festgelegt, immer erstreckt sich dort ein Niemandsland, ein Gebiet, das man einnehmen und als Brückenkopf für weitere Unternehmungen nutzen kann. Folglich waren sie auch jetzt nicht der Meinung, sich eines schlimmen Vergehens schuldig zu machen. Natürlich waren sie nicht dumm. Sie wußten, daß ihr Vorhaben nicht erlaubt war, sogar im Gegenteil besonders hart bestraft wurde. Die Sache roch meilenweit nach einem Verbrechen, aber diese Leute waren keine Kriminellen, sondern angesehene Geschäftsleute, was ihnen zu hoffen erlaubte, daß, wenn man über bestimmte Maße und Grenzen hinausging, Taten eine neue Bedeutung bekamen. Auch die Rechtsvorschriften sind fließend, was dem kultivierten Menschen eher klar ist als dem Verbrecher an einer finsteren Straßenecke. Was gestern noch recht und billig war, gilt heute als gewissenlos, und was den Vätern noch als verwerflich galt, gehört für die Söhne zum Alltag. So muß sich also das Recht seit ewigen Zeiten mühsam an die neuen Realitäten anpassen. Fürst Kyrill und Graham Wilson III. hatten einen eleganten und gleichzeitig riskanten Schachzug vor sich, und damit machte man seit ewigen Zeiten das große Geld. Es könnte sich allerdings herausstellen – obwohl sie diesen Gedanken nicht zuließen –, daß sich die Gerissenheit der anderen als erfolgreicher erwies. Schließlich hatten beide seit Jahren Übung in zweideutigen Angelegenheiten, wußten daher, wie der Hase läuft. Übrigens konnte man bei aller Skepsis und allem moralischen Abwägen sagen, daß sie ihr Geld auf recht anständige Weise verdienten. Die Einzelheiten mußten nicht immer kristallklar sein, aber das Ganze sah nicht nur ordentlich -19-
aus, sondern war in sich auch ordentlich und anerkennenswert. Sie hatten es durchaus nicht auf die über Jahrzehnte angesparten Rücklagen von alten Frauen abgesehen, um sie ihnen trickreich aus der Tasche zu ziehen. Ganz im Gegenteil! Man brachte ihnen Achtung entgegen, und im täglichen Umgang war man ihnen wohlgesinnt, denn indem sie Geschäftsrisiken eingingen, vermehrten sie auch das Glück Tausender ihrer Nächsten, die wesentlich weniger riskierten und oft nicht einmal eine Ahnung davon hatten, daß sie überhaupt mit einem Risiko welcher Art auch immer in Berührung kamen. Letzten Endes war die Welt ganz gut eingerichtet. Jedenfalls machte sie diesen Eindruck. Wohl deshalb waren fast alle, Frauen und Männer, Alte und Junge, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, seit einer gewissen Zeit zufrieden. Fast jeder hatte das Recht, über sich mit Genugtuung zu denken, daß er moralisch einwandfrei und glänzend wie ein Kristallglas sei, nachdem man es sorgfältig unter Verwendung eines virtuellen Geschirrspülmittels gereinigt hatte. Darin beruht gerade der Reiz der Epoche, in der es ihnen vergönnt war, zu leben. Dennoch war es eine äußerst erstaunliche und zugleich selbstverständliche Tatsache, daß weder Fürst Kyrill und noch weniger Graham Wilson III. es nötig hatten, mit Hilfe eines Betrugs oder einer Gesetzwidrigkeit sich etwas dazuzuverdienen, denn sie besaßen eine Menge Geld und wußten seit langem nicht, was sie noch alles damit anfangen sollten, damit sie es überhaupt noch wahrnahmen. In dieser Hinsicht war wahrscheinlich nur Dr. Kovacs ein anderer Mensch, denn er verfügte zwar über bedeutende materielle Mittel, aber im Vergleich zu Wilson war er nur ein blinder, von Hunden malträtierter Bettler, der in den Zeiten der Pest an der Tempelpforte wehklagt. Im Grunde konnte nur er ohne Gewissensbisse an die gute Sache ihres gemeinsamen Unternehmens glauben, denn er war nicht so unanständig reich. Der Fürst und Wilson hingegen hätten sich eigentlich schämen -20-
müssen. Aber sie schämten sich kein bißchen. Sie planten einen großen Versicherungsbetrug, bei dem nicht alles stilvoll verlaufen würde. Einerseits wirkte die Chance, ein Geschäft zu machen, auf sie erregend, andererseits jedoch verdarb die Banalität der Tat diesen sensiblen, mit Sinn für das Schöne ausgestatteten Seelen den Geschmack. Mit einem Wort, das Ganze war eher eine Frage der Ästhetik als eine der Moral. Weder Fürst Kyrill noch Graham Wilson III., und am wenigsten Dr. Kovacs, gehörten zu den Leuten, die an Überlegungen rein ethischer Natur interessiert waren. Kyrill nahm das Leben recht leicht, suchte darin Ruhe, Heiterkeit, Zufriedenheit und Anerkennung von seiten derjenigen vor allem, die ihn umgaben und sich vom selben Verhaltenskodex leiten ließen. Wenn sich der Fürst in etwas von seiner Umgebung unterschied, dann darin, daß er zum Maßhalten neigte, gepflegte Umgangsformen besaß und sich weigerte, an Diskussionen über die menschliche Natur teilzunehmen. Er war zwar ein Russe, hatte jedoch in Frankreich und in der Schweiz eine sehr moderne Erziehung genossen und auch nie die Ansichten Dostojewskis geteilt. Graham Wilson III. besaß ebenfalls eine ausgezeichnete Bildung, war viel gereist und hatte sich eine Zeitlang, als er noch der Kronprinz gewesen war, also zur Zeit Graham Wilsons II., leidenschaftlich dem Sammeln von Kunstwerken gewidmet. Dann gab er dies auf, denn er war einige Male Opfer von Betrügereien geworden. Das hatte Spuren in seinem Herzen hinterlassen, und nun war er erfüllt von dem Wunsch nach Rache. Ab dem Zeitpunkt, da er den Thron bestiegen hatte, beschäftigten ihn die großen Aufgaben. Deshalb übertrug er viele Angelegenheiten von geringerer Bedeutung Dr. Kovacs. Unlängst war Graham Wilson zu der Überzeugung gelangt, daß die Zeit gekommen sei, sich für frühere Demütigungen zu rächen. Aus ebendiesem Grund hatte er sich der heiklen Unternehmung mit Fürst Kyrill angeschlossen. Jedoch war er -21-
ein Machtmensch und wollte alles persönlich lenken, um sich am Ende Genugtuung verschaffen zu können. Was Dr. Kovacs betraf, so widmete er seinem Innersten keine tiefere Betrachtung, denn er hielt dies für Albernheit und Zeitverschwendung. Er erwartete also auch jetzt, während des Telefongesprächs, eine konkrete Entscheidung, ohne die er seine Arbeit nicht würde aufnehmen können. Er stand vom Sessel auf, ging zum Schreibtisch seines Freundes, unterstrich auf einem Zettel ein Wort und schob ihn Wilson hin. Auf dem Zettel stand das Wort ›Zeit‹. »Die Zeit! Wir haben nicht viel Zeit!« sagte Graham Wilson III. »Zaudern Sie also nicht.« »Ich zaudere nicht«, erwiderte der Fürst. »Was für eine Rasse ist denn eigentlich Ihr Hund?« »Ein deutscher Schäferhund«, sagte Graham Wilson III., und da zog Dr. Kovacs die Brauen zusammen. Der Hund unten fing erneut an, heftig zu bellen. »Ich bin einverstanden«, sagte der Fürst, aber da der Hund bellte, verstand es Wilson nicht genau und rief: »Was sagten Sie?« »Ich sagte, ich bin einverstanden, mein Freund. – Und welche Farbe hat er?« »In Ordnung«, rief Wilson. »Ich denke also, daß wir anfangen können. – Dunkler Rücken, hellbrauner Bauch.« »Ein sehr schönes Tier«, sagte Fürst Kyrill. »Und wie heißt er, das haben Sie mir noch nicht verraten!« »Es ist ein Weibchen«, erwiderte Wilson etwas ärgerlich, »und heißt Assa.« Als habe er plötzlich eine Eingebung in der Art des kategorischen Imperativs gehabt, sagte der Fürst in dem Moment sehr laut und entschlossen: »Sie müssen wissen, daß ich ein recht konservativer Mensch bin. Ich mag die heutigen -22-
Vorgehensweisen nicht. Alles läßt sich doch auf anständige Art, ohne Mobiliar zu zerschlagen, organisieren.« »Ich sehe keinen Grund, Mobiliar zu zerschlagen«, sagte Graham Wilson III. versöhnlich. »Seien Sie ganz beruhigt. Schließlich machten die Leute im neunzehnten Jahrhundert auch große Geschäfte, wir können uns also an die alten, erprobten Methoden halten.« »Genau darum geht es mir«, sagte der Fürst und war erleichtert. Denn er war zwar in einer Atmosphäre maßvoller Rechtschaffenheit erzogen worden, jedoch spielte für ihn die Ehre bis jetzt eine große Rolle. Aber er empfand keine völlige Erleichterung, so wie man mitunter keinen völligen Ablaß erhält, sondern nur einen teilweisen. Der Fürst hatte schon ein gewisses Alter, und er hatte so manches gesehen und erlebt. Er wußte auch sehr gut Bescheid über die jüngste Vergangenheit seiner Familie, die so viel durchgemacht hatte für eine bessere Zukunft der Welt, und dennoch waren zahlreiche Familienmitglieder erbarmungslos umgebracht worden. Sie hatten die Rolle der Elite in der Geschichte zu spielen gehabt, oder eher das Fundament der Vergangenheit, die durch das wütende Volk mit den Wurzeln ausgerissen worden war. Im Grunde hatte es sich so abgespielt, denn niemand auf der Welt wußte, wo ihre sterblichen Überreste begraben worden waren und welcher Wind ihre Asche mit sich fortgetragen hatte. Es waren jedoch Leiden voller Pathos und Erhabenheit. Schließlich konnte man damals Versuche von heldenhaften Taten auf sich nehmen, was übrigens die Verwandten des Fürsten erfolgreich getan hatten. Im Kampf gegen die Bolschewiken hatte sein Onkel, Fürst Sergius, in Freikorps die deutschen Panzerangriffe bei Kursk unterstützt. Dort war er schwer verwundet worden. Nachdem er später von sowjetischen Partisanen gefangengenommen worden war, erhängten sie ihn am Ast eines ausgebrannten Baums. Er war ein Mensch von hohem Wuchs, hervorragenden Manieren und einem unversöhnlichen -23-
Antikommunismus gewesen. Ein anderer Verwandter von Fürst Kyrill wiederum hatte sich durch seinen Mut und seine Widerstandskraft ausgezeichnet, mit denen er die langen Jahre der Verbannung in der Gegend von Kolyma hatte ertragen können. Nicht einmal die Qualen und der Hunger hatten erreicht, daß er sich gegen die Rechtschaffenheit, die Unabhängigkeit der Gerichte und eine tolerante Haltung gegenüber der Welt ausgesprochen hatte. Er war gestorben, wobei er dem Schöpfer eine freie und rechtschaffene Seele übergab. Auch Fürst Kyrill selbst zeichnete sich durch viele Akte der Tapferkeit aus. Es hatte Jahre gegeben, in denen er zu seinen bescheidenen Mahlzeiten nur billigen Tafelwein getrunken und die Verachtung der Neureichen hatte ertragen müssen, was er jedoch erhobenen Hauptes und im Glauben an eine bessere Zukunft getan hatte. Dann kam er zu Vermögen, gewann ein Gefühl der Sicherheit und wurde ein Kunstkenner. Allmählich vergaß er sogar seine Herkunft und wurde nach einer gewissen Zeit der gewöhnlichste russische Aristokrat unter der Sonne. Er empfand nicht einmal die früheren moralischen Verpflichtungen gegenüber Rußland. Immer mehr kam Rußland selbst zurecht und wartete nicht auf die Erlösung durch seine Hand. Die Welt, in der er lebte, erfüllte den Fürsten mit einer gewissen Verbitterung, die von der Ansicht herrührte, daß jetzt die Ära der kleinen Leute angebrochen sei, um nicht zu sagen, der Schlitzohren! Selbst wenn er es sehr gewollt hätte, hätte der Fürst keine erhabenen Taten mehr vollbringen können, die wahren Mut erfordert hätten. Alles war seit langem so angenehm und wohlig, daß selbst die Juden sich eingerichtet hatten, einige geradezu prächtig. Sie wohnten in Pariser Residenzen und in New Yorker Appartements, und die alten Diamanten- und Immobilienhändler hatten junge, hübsche Geliebte, die den besten europäischen Familien entstammten, was im Grunde genommen nicht dem guten Ton entsprach und den Fürsten ein wenig irritierte. Es gab eigentlich keine Chance -24-
zu einer Geste, zu einem Opfer, zu Heldentum, Pathos oder Erhabenheit. Man konnte höchstens so einen Betrug zusammen mit Graham Wilson III. und seinem Faktotum, dem hündischen Dr. Kovacs, begehen, was den Fürsten mit Widerwillen erfüllte, aber nicht in dem Maße, daß er auf das Geschäft verzichtet hätte. Denn dieser Betrug bedeutete ein gewisses Risiko, eine Herausforderung des Schicksals, und der Fürst fühlte sich ganz einfach absolut sicher. Gerade das machte ihn zum Komplizen dieser Schandtat. Während er jetzt, den Hörer am Ohr, die Baumkronen im Park vor den Fenstern seines Arbeitszimmers betrachtete, dachte er, daß nun die Zeit gekommen sei, eine grundsätzliche Befürchtung zu äußern und harte Bedingungen zu stellen. Also sagte er: »Gemäß unseren früheren Vereinbarungen möchte ich Sie daran erinnern, daß niemand in Bad Kranach selbst einen Verlust erleiden sollte. Das ist uns wohl allen klar.« »Klar«, sagte Graham Wilson III. locker. »Aber kaum realistisch. Ich bitte zu bedenken, daß das Vorhaben als solches riskant ist. Ich spreche nicht von einem echten Fehlschlag, ich spreche vom Verlauf der Ereignisse.« »Woran denken Sie?« fragte der Fürst vorsichtig, obwohl er natürlich wußte, woran der andere dachte, denn er war ein intelligenter und erfahrener Mensch. »Wir legen schließlich ein Feuer unter diesen alten Plunder«, sagte Graham Wilson III. ruhig, aber mit Nachdruck. Dr. Kovacs zischte jedoch warnend, denn sein an Erfahrungen reiches Leben machte ihn gegenüber Telefonen, laut geäußerten Worten und sogar eindeutigen Gedanken mißtrauisch. Gerade das war Wilson nicht imstande zu begreifen. Er redete immer Klartext, was ihn taub für die Lyrik und für jede Art von Metaphern machte. Wenn er davon sprach, Feuer unter diesen alten Plunder zu legen, dann meinte er das überhaupt nicht euphemistisch, denn er war ein nüchterner Mensch und auf seine Art redlich. Die Dinge beim Namen zu nennen, hielt er für eine Ehrensache. -25-
Nun betrachtete er die Bäume vor den Fenstern. Der Sturm tobte, der Regen peitschte mit voller Wucht die Baumkronen, die Äste der Ahornbäume schlugen krachend gegen die Hauswand, berührten die dicht geschlossenen Fenster seines Arbeitszimmers, und innen wurde es fast vollkommen dunkel. »Was sagen Sie denn da!« rief ihm der Fürst aus dem sonnigen Europa zu. »Ich sage, was ich sage«, erwiderte Wilson kühl. »Das ganze besteht im Grunde darin, mit Verstand und Präzision das Feuer zu legen. Aber selbst bei bester Organisation und hervorragender Pyrotechnik kann niemand garantieren, daß wir nur unseren wertlosen Plunder in Rauch aufgehen lassen und all die anderen Dinge verschonen. Das ist nicht machbar.« »Ich will das nicht hören!« schrie der Fürst auf. »Mir tut das Herz weh.« »Wir können auf die ganze Sache verzichten«, sagte der Millionär jenseits des Ozeans kühl. »Wir zögern ja fortwährend, und immer werden wir von Zweifeln geplagt. Wer weiß, vielleicht sogar von Gewissensbissen? Es ist also noch Zeit. Aber sobald die Entscheidung gefallen ist, dürfen wir nicht mehr zögern, um keinen Fehler zu begehen. Ich kann jedoch nicht dafür garantieren, daß niemand Schaden erleidet. Was mich angeht, so habe ich in meinem bescheidenen Rahmen bereits die Wahl getroffen. Ich habe hervorragende Kopien anstelle der Originale, die ich gut versteckt habe. Ich nehme an, Sie haben das gleiche getan. Eine Frage der Leichen, wenn ich so sagen darf. Wo keine Leiche – da kein Mord.« »Sagen Sie nicht solche Dinge!« rief der Fürst, fügte aber sofort in einem weniger angespannten Ton hinzu: »Die anderen werden schließlich auch versichert sein.« Während er dies sagte, empfand er ein Gefühl von Stolz darüber, daß er so sehr um das Schicksal der anderen besorgt war. »Eben«, sagte Graham Wilson. »Sie werden versichert sein, -26-
denn sie sind ja nicht auf den Kopf gefallen. Aber im Ernst, wir laufen ja auch Gefahr, etwas zu verlieren. Einige Originale müssen wir opfern. Nicht alles, was wir in Rauch aufgehen lassen, wird gefälscht sein.« »Mein Gott«, sagte der Fürst melancholisch. »Ich will nicht zu viele schöne Sachen verlieren.« »Wir können doch die anderen nicht für komplette Trottel halten«, sagte Graham Wilson III. mit der brutalen Offenheit eines Nachkommen von Büffeljägern. »Ich erinnere daran, daß das hervorragende und bekannte Fachleute sind. Die crème de la crème unter den Sammlern. Denken Sie denn, daß wir sie einfach mit irgendwelchem wertlosen Plunder betrügen können? Den Leuten muß man immer Raum für Illusionen lassen.« »Weiß ich, weiß ich«, sagte Fürst Kyrill. »Illusionen sind ganz einfach notwendig. Und dennoch tut mir das Herz weh.« Einen Moment lang schwieg er, denn er hatte Angst vor seiner nächsten Frage, die er aber dennoch stellen mußte. Schließlich fragte er: »Können Sie mir sagen, ob Joël Weiss sich entschlossen hat teilzunehmen?« »Aber was glauben Sie denn?« sagte Wilson. »Kann denn irgend etwas ohne Joël Weiss stattfinden? Kann die Welt überhaupt ohne Joël Weiss existieren?« »Sie sind unverbesserlich!« rief der Fürst aus und lachte leicht gezwungen, vielleicht sogar ängstlich. »Sie sind schrecklich, lieber Freund.« Er schaute aus dem Fenster und sah die Gletscher, auf denen die goldenen Sonnenstrahlen lagen. Wildbäche kamen die Felsspalten herab. Der blaue Himmel breitete sich wie der Königsbaldachin der Bourbonen über den Bergen und dem See aus, spiegelte sich in der vom Wind leicht gekräuselten Oberfläche des Sees. Vom französischen Ufer her kam ein Ausflugsschiff, und der Fürst sah deutlich die miniaturhaften Silhouetten der Passagiere an Bord. So war die Welt also -27-
weiterhin schön, obwohl geschah, was geschah. Joël Weiss, dachte der Fürst mit großem Bedauern. Guter Gott! Nie hatte, habe und werde ich Vorurteile haben gegen irgend jemanden unter der Sonne, dachte er weiter, nicht ohne Genugtuung, die ihn jedesmal dann begleitete, wenn er sich klarmachte, er habe ein weites, gutes, aufrichtiges und mitfühlendes Herz. Ich habe wirklich keine Vorurteile, dachte er gerührt und auch etwas stolz. Das, was mit ihnen geschehen ist, hätte nicht geschehen dürfen. Aber ich habe doch nicht Hand angelegt, dachte er immer tiefer gerührt, ich habe doch nie auch nur mit dem Finger einen Juden berührt. Weshalb sollte ich also ständig Gewissensbisse haben und zur Seite blicken, wenn Joël Weiss mich anschaut? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, und dennoch finde ich in seinen Augen etwas wie einen stummen Vorwurf, dachte der Fürst mit dem Gefühl einer gewissen Resignation. Eigentlich hätte ich das Recht, das für eine Ungerechtigkeit zu halten, aber mit Sicherheit kann man es als einen Mangel an Takt und Selbstbeherrschung sehen. Ich finde wirklich nichts Schlechtes an der Tatsache, daß jemand als Jude geboren wurde, dachte er weiter mit tiefer Überzeugung. Aber muß ich denn darin immer etwas Gutes sehen? Ich gebe mit Bedauern zu, daß das Judentum lange ein Fluch war. Aber das bedeutet nicht, daß es heute ein Privileg sein muß. In den Juden steckt eine gewisse Überempfindlichkeit, dachte er besorgt, aber auch ein wenig angewidert. Immer verlangen sie eine Vorzugsbehandlung. Deshalb gehe ich ihnen aus dem Weg. Was noch schlimmer ist, die Einladung an Joël Weiss kann sich als ein Fehler herausstellen, denn er hat einen stechend scharfen Blick und ein absolut zuverlässiges Gehör. Hinters Licht führen kann man Baron Kugler, der zwar ein großer Sammler und ein Mann von Welt ist, aber zu sehr mit sich und seiner Eitelkeit beschäftigt, um überhaupt auf Details zu achten, in denen immer das Wesen einer Sache steckt. Sogar Laski läßt sich aufs Glatteis führen. Er ist scharfsinnig, aber chaotisch, auf polnische Art -28-
zerstreut. Andere kann ich immer einlullen, weil sie mich mögen und schätzen mit dieser Spur von Angst, die ich meiner russischen Wiege verdanke. Vielleicht hätte man Joël Weiss nicht einladen sollen, dachte der Fürst weiter. Er allein ist ein Unsicherheitsfaktor, denn er ist zu scharfsinnig. So also dachte der Fürst. Und nach einer Weile bemerkte er: »Sagen Sie mir, lieber Freund, ist die Sache mit der Beaufsichtigung schon organisiert?« »Das ist wichtig«, erwiderte Graham Wilson III. eilfertig. »Die Beaufsichtigung übernimmt Dr. Kovacs. Und überwacht wird das Ganze von Westermann.« »Von diesem Westermann?« »Gibt es denn noch einen anderen?« sagte Graham Wilson III. kühl. Der Fürst schloß die Augen. Er spürte das Gewicht seiner Jahre, vielleicht sogar etwas mehr. Er verlor den Humor und wollte sagen, daß er einen Rückzieher mache. Wozu brauche ich das eigentlich? dachte er. Habe ich nicht genug von allem? Worum kämpfen wir? Weshalb setzen wir uns der Gefahr aus ? Ist nicht die Zeit gekommen, in der Einsamkeit zu Gott zu beten, der vielleicht doch existiert? »Ich bin müde«, sagte der Fürst ins Telefon. »Das verstehe ich«, erwiderte Graham Wilson III. Er blickte auf und schaute Dr. Kovacs ins Gesicht. »Sagen Sie ihm, daß alles gut verlaufen wird«, flüsterte Dr. Kovacs, der begriffen hatte, daß der Seelenzustand des Fürsten eine Stärkung seines Glaubens verlangte. »Alles wird hervorragend verlaufen«, sagte Wilson. »Stellen Sie sich vor, daß mein Freund, Dr. Kovacs, phantastische Brandexperten ausfindig gemacht hat.« »Was heißt das?« »Sie beschäftigen sich seit ewigen Zeiten damit. Ihr ganzes -29-
Leben hindurch lassen sie etwas in Rauch aufgehen.« »Profis oder Pyromanen?« fragte der Fürst, plötzlich von Neugier gepackt. »Pyromanen bis zu dem Grad, daß sie dank dem Profis wurden und sich ein schönes Leben eingerichtet haben. Halten Sie sich vor Augen, daß diese Leute einst eine ganze Stadt in Rauch aufgehen ließen.« »Und sie sind bei diesem Unternehmen nicht geschnappt worden?« fragte der Fürst geistesgegenwärtig. »Eben nicht«, sagte Graham Wilson III. »Es wurde auf die Tragik der Geschichte abgewälzt.«
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3
A
uf dem Dachboden, mitten in der Nacht, oder vielleicht auch am hellichten Tag, hörte Jan, beklommen und reglos, oder vielleicht sagte er es auch selbst: »Faß an!« »Wie?« entgegnete er. »Soll ich es leicht mit den Fingerspitzen berühren? Oder vielleicht mit der Handoberfläche? Oder mit dem Arm?« »Faß an!« sagte es entschieden. Er saß im Dunkeln, hatte Angst, sich zu rühren, da er um sich herum nichts erkennen konnte. Nur irgendwo in der Ferne, aber vielleicht auch in der Nähe, wie durch einen Spalt zwischen den nachlässig befestigten Brettern, schien ein hauchdünner, kaum sichtbarer Lichtstreifen. Aber auch er konnte eine Täuschung sein. »Faß an!« sagte es. »Ich kann nicht«, erwiderte er. »Ich sehe nichts. Ich fürchte mich vor jeder Bewegung.« »Wenn du nicht anfaßt, wird es keinerlei Beweise geben«, sagte es. »Wenn mehr Licht wäre«, sagte er leicht weinerlich. »Der Spalt zwischen den Brettern ist etwas zu schmal.« »Dort sind Fenster. Wenn du angelangt bist, faß sie an. Dann wirst du die Fenster öffnen und etwas sehen.« »Es gibt doch keine Fenster«, erwiderte er. »Schon vor langer Zeit wollte Monika sie nicht mehr, also wurden sie mit Brettern zugenagelt.« -31-
»Vielleicht sind sie mit Brettern zugenagelt, vielleicht auch nicht. Aber faß sie an, denn sonst wird es keinerlei Beweise geben.« »Auch so gibt es keinerlei Beweise!« rief er wütend. »Und dennoch hörst du etwas«, sagte es. »Nein«, erwiderte er. »Nur Stille. Und meine Gedanken. Nur meine eigenen Gedanken höre ich. Ein Rauschen. Und ich sehe einen Lichtstreifen. Er ist wie ein Spinnfaden.« »Hör zu«, sagte es. »Hör aufmerksam zu!« Reglos saß er im Dunkeln, nahm aber mit seinem Körper die vertrauten Formen des Sessels nicht wahr. Vor sich sah er den hauchdünnen Lichtstreifen. Er dachte, daß, selbst wenn er den Arm ausstreckte, er ihn nicht würde berühren können. Aber nun war er in Reglosigkeit erstarrt, um etwas zu hören. »Du hörst also schon etwas«, sagte es. »Nein. Nur meine Gedanken. Ein Rauschen und Plätschern.« »Gut. Ein Rauschen und Plätschern. Aber doch nicht nur...« »Nicht nur«, rief er, plötzlich erfüllt von einem Klang, den er zunächst nicht erkannte, aber nach einem Augenblick wußte er bereits, was er bedeutete. Er rief also fast freudig: »Ich höre das Plätschern von Wasser und das Wiehern von Pferden.« »Faß an!« »Ich sehe doch nichts«, rief er gereizt, weil er so viel machen sollte. »Ich bin vollkommen allein.« »Ich bin bei dir. Du hörst doch etwas!« »Ja«, erwiderte er, »ich höre das Plätschern von Wasser, das Wiehern von Pferden und die Schreie von Menschen.« »Erzähle!« sagte es. »Ich sehe nichts«, rief er voller Angst und Verzweiflung. »Erzähle, denn es wird sonst keinerlei Beweise geben.« »Herr Jesus Christus!« schrie er. »Weshalb gerade ich? Ich -32-
sehe und fühle doch nichts.« »Tu nicht so, als ob du nicht verstehst, weshalb gerade du und kein anderer. Du selbst hast es doch gewollt. Und du weißt, daß du dich nicht entziehen darfst. Übrigens, du hörst schon mehr!« »Ich höre ein Knirschen«, sagte er nach einem Augenblick der Konzentration und Überlegung. »Wie Schritte im Schnee. Und ich höre Gepolter. Jemand ist kraftlos in sich zusammengesunken.« »Du siehst also etwas«, sagte es. »Nein! Ich bin im Dunkeln.« »Aber trotzdem siehst du etwas«, sagte es. »Erzähl, was du siehst und hörst.« »Es gibt kein Fenster und keine Sicht«, erwiderte er erregt. »Es gibt nichts außer diesem Spinnfaden vor mir. Ich kann ihn nicht berühren, denn ich bin blind und allein.« »Du bist überhaupt nicht allein.« »Ich höre nur etwas«, erwiderte er, aber als er dies sagte, spürte er mit einem Mal Kälte, aber vielleicht auch Hitze, und das ermutigte ihn. Er sagte: »Ich spüre Kälte, aber ich spüre auch Hitze. Auf dem Gesicht spüre ich die in der Luft umherwirbelnden Schneeflocken, die sich auf meinen Wangen niederlassen und an meinem Bart und meinem Hals herunterlaufen. Und ich spüre im Nacken und auf den Schultern die kräftig wärmende Sonne. Wind kommt auf im Schilf und streicht über die Wasseroberfläche.« »Siehst du!« sagte es. »Ich sehe ein Flußufer und einen Sowjetsoldaten, der dort Pferde tränkt.« »Er tränkt vier ungesattelte Pferde«, sagte es. »Es sind Militärpferde«, sagte er. »Die Pferde sind von dem großen Feldzug erschöpft. Sie haben Kanonen aus der Steppe bis nach Berlin gezogen. Jetzt ist der Krieg schon zu Ende.« -33-
»Erzähl, was du siehst«, sagte es. »Ein Flußufer. Einen Birkenwald. Aber ich sehe verschwommen, alles ist von einer Wolke verdeckt, und diese Wolke ist der Atem eines Menschen, der erzählt hat. Denn nicht ich war dort, sondern jemand anders. Und er hat die Geschichte ersonnen, um mir sein Schicksal mitzuteilen. Ich sehe also nichts.« »Doch!« sagte es ärgerlich und gebieterisch. »Ich sehe nichts. Ich war nicht dort. Der Atem des anderen, desjenigen, der erzählt hat, verdeckt mir die Sicht auf das, was ich sehen sollte...« »Das stimmt nicht«, sagte es streng. »Du warst nicht mit Monika dort, wo sie war, und sie war nicht mit dir dort, wo du warst, und dennoch wart ihr zusammen, und du weißt alles über ihr Leben, so wie sie alles über das deinige weiß. Was siehst du also hinter dem Atemnebel des Menschen, der erzählt hat? Irgendwo und irgendwann hat er erzählt, und du hast irgendwo und irgendwann zugehört. Das ist die Wahrheit.« »Das ist nicht die Wahrheit, denn er erzählte es anders, als er es gesehen hatte. Und ich sehe es anders, als ich es damals beim Zuhören sah, als er es erzählte. Es ist also nicht die ganze Wahrheit, nicht die reine Wahrheit, sondern nur ein Stück Wahrheit und ein Stück Hoffnung, es möge sich als wahr herausstellen.« »Soviel Wahrheit, um einen Tempel der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit zu errichten«, sagte es sanfter, »und streite nicht mit mir, denn es ist zu spät für jeglichen Streit. Erzähl also, was du siehst.« »Ich sehe sanfte, mit Kiefern bewachsene Hügel. Über den Kiefern hängt eine kleine Rauchwolke, aber das ist kein Feuer, sondern ein Zeichen dafür, daß sich hinter dem Wald ein Dorf befindet. Am Ufer zieht sich ein Schilfgürtel entlang, und etwas weiter sieht man Sumpfwiesen. Von der Anhöhe, zwischen den -34-
Kiefern, kommen zwei Frauen aus dem Dorf herunter zum Fluß und bringen den Pferden Wasser oder vielleicht Milch. Sie bringen auch in Klettenblätter eingewickelte Brote. Es sind polnische Frauen, die den Sowjetsoldaten etwas zu essen bringen. Ich sehe einen klaren blauen Himmel, nur einige kleine Wolken am Horizont. Ein heißer Tag. Ein Sommernachmittag, denn die Sonne steht hoch am Himmel, und die Bäume werfen kurze Schatten. Ein sowjetischer Soldat sitzt auf einem Baumstumpf am Flußufer und spielt auf einem Akkordeon. Ein zweiter daneben raucht eine Zigarette, und ein dritter Soldat tränkt die Pferde im Fluß. Dieser Soldat heißt mit Vornamen Iwan und mit Nachnamen Semjaschkin. Er war verwundet, ist jetzt aber geheilt. Er wird grausam sein, aber dann menschlicher werden. Er wird ein Tyrann sein, dann in die Hände eines noch größeren Tyrannen geraten, aber sich im letzten Augenblick retten, um weiter zu sündigen. Jetzt tränkt er die Pferde. Sie stehen unbeweglich da, das Wasser reicht ihnen bis zum Hinterteil. Eines wiehert auf und schüttelt die Mähne, ein zweites antwortet mit einem Wiehern. Jetzt schnauben alle, der Soldat schreit ab und zu etwas, aber ich verstehe nichts, kenne seine Sprache nicht, vielleicht ist es Russisch, vielleicht Kasachisch oder Tadschikisch. Wer wußte damals schon, in welchen Sprachen bei uns geredet wurde, in welchen Sprachen den Pferden etwas zugerufen wurde, wenn sie in unseren Flüssen getränkt wurden. Wer wußte damals schon, was man über uns und unser verfluchtes Schicksal dachte, das jedoch erst später verflucht war, aber selbst als es bereits verflucht war, wußte man nicht, daß es verflucht war, so wie ich davon nichts wußte.« »Du siehst und hörst also etwas!« sagte es. »Jetzt sehe ich wesentlich genauer etwas anderes, denn derjenige, der es erzählt hat, lebt bereits nicht mehr, sein Schatten fällt nicht mehr auf den Weg. Der ganze Weg ist zugeschneit, eisiger Wind, in den Schneeverwehungen die -35-
Körper von Toten. Junge Burschen. Polen. Diejenigen, die noch leben, gehen mitten auf dem Weg, im Schneegestöber, Richtung Osten. Sie sind ausgemergelt. Aber es wird niemanden geben, der dies bestätigt, aufschreibt oder sich daran erinnert. Jene Schneemassen sind geschmolzen, und die Menschen sind in die Ewigkeit eingegangen. Jetzt sind sie noch hungrig und durchgefroren, ihre Kleidung ist ärmlich und zerschlissen. Aber bald wird niemand mehr dasein, der erzählen wird, daß die Sonne mit einem roten Schein im eisigen Nebel leuchtet. Und auf dem Seitenstreifen fährt ein sowjetischer Geländewagen mit einem roten Stern auf dem Armaturenbrett. Nie wird es Beweise dafür geben.« »Es wird Beweise dafür geben«, sagte es. »Schau nur, hör zu und schau noch mal und hör zu. Und faß an!« »Das ist unmöglich, denn die Lastwagen sind weit weg, mitten auf der Straße, in der ausgefahrenen Reifenspur. Und diese Leute gehen am Straßenrand entlang, in den Schneeverwehungen. Bis zu den Knien und bis zu den Hüften sinken sie in den Schnee ein, die armen Verurteilten. Aber niemals wird es Beweise geben. Ich könnte mich sogar unter die Räder eines dieser Lastwagen werfen, aber auch das würde zu nichts führen. Hinter dem einen Lastwagen fährt ein sowjetischer Geländewagen. Darin Soldaten in Pelzen, mit Kapuzen und Schaftstiefeln. Als einer der Polen in den Schnee fällt, weil er keine Kraft mehr hat, um weiterzumarschieren, schießt der Sowjetsoldat ihm mit der Pistole in den Hinterkopf.« »Faß an, damit es Beweise gibt!« »Das wird es nicht, denn es gibt kein Licht, keine Farbe, keinen Geruch, keinen Laut und keine Berührung«, sagte er ärgerlich. »So wie es keinerlei Beweise dafür geben wird, daß an einem anderen Tag, zu einer anderen Stunde, an einem anderen Ort die Sonne in der Hitze auf dem Westufer des Flusses lag; sie lag und keuchte wie ein atemloser Hund, und der Himmel war rot, als verglühe Kohle an ihm. Dunkle Wolken -36-
zogen über die Kiefernwipfel hinweg. Es wird keinerlei Beweise geben, denn es gibt weder den Geruch von Rauch noch den Blick auf die Kiefern noch das laute Geschrei der Wachmänner. Aus der kleinen Stadt Skorczyn traf am Flußufer ein Gefangenentransport auf Pferdefuhrwerken ein. Das ausgetrocknete Gras reichte den Fuhrwerken bis zur Achse. Die Pferde zitterten am ganzen Leib, und ihre Nüstern waren durch die Hitze und die Anstrengung mit Schaum bedeckt. Die Deutschen befahlen den Gefangenen, von den Fuhrwerken abzusteigen. Aber vielleicht war es auch ein regnerischer und feuchter Tag, am Himmel zogen Wolken, ein Pferdewagen sank bis zur Achse in der sumpfigen, aufgeweichten Erde ein und blieb nicht in den von der Sonne ausgetrockneten Erdklumpen stecken. Es wird keinen Beweis dafür geben. Und dennoch war am frühen Nachmittag oder vielleicht gleich in der Morgendämmerung, noch in der grauen Morgenstunde, dieser Transport auf dem Marktplatz der kleinen Stadt beladen worden; mit Geschrei und Gewehrkolbenschlägen waren die Menschen zusammengetrieben worden, damit sie sich schneller auf die Fuhrwerke zwängten; dann schwangen sich ihre Bewacher auf die Fahrräder und lenkten den Transport zum Fluß. Ein Priester, dessen Name sich nicht eingeprägt hat, war dort dabei, ein frommer und gütiger Mann. Ein Rechtsanwalt, ein hochgewachsener Herr in einem eleganten, wenn auch etwas altmodischen Anzug. Zwillingsbrüder waren auch dabei. Der ältere von beiden führte eine Apotheke, der jüngere hatte ein Sägewerk und handelte mit den Juden aus der Gegend mit Holz. Vielleicht war auch einer von ihnen Lehrer und trug eine Melone und ein Binokel, das ihm von der Nase ins Gras fiel. Das behielt jedoch ein anderer im Gedächtnis, um mit ebendiesem Bild vor Augen in Leiden und Scham, irgendwann in einer noch nicht vollendeten Zukunft seinen letzten Atemzug zu machen. Aber auch dann wird es keinerlei Beweise geben. Ebensowenig wie dafür, daß sich bei dem Transport ein Jude mit -37-
Namen Obrazek befand, der Schwiegervater von Grynszpan aus Warschau, der Vater von Frau Grynszpan aus Warschau, von der keine Spur geblieben ist und an die sich keiner mehr erinnert, denn derjenige, der sich erinnert hat, starb auch mit seiner Erinnerung, und so ist von Frau Grynszpan nur eine leere Stelle geblieben, etwas zwischen Wind und Blatt oder etwas, was den Blick vom Erkennen oder die schauende Pupille von der erblickten Sache trennt. Und nur dort oder dazwischen ist Frau Grynszpan. Was bedeutet, daß sie ein Nichts ist. Wie kann man also auf einer solchen Welt leben? Dieser alte Jude aus Skorczyn mit Namen Obrazek, der Schwiegervater von Grynszpan aus Warschau, war sehr klein und mager, aber umgeben von der Legende, der reichste Mann des ganzen Umkreises gewesen zu sein, was sich allerdings nur teilweise als wahr erwies. Jedenfalls fanden die Deutschen nichts, als sie sein Haus plünderten. Der arme Kamerad Westermann hatte damit gerechnet, sich im Hause Obrazeks ordentlich die Taschen vollstopfen zu können. Als er gegen Abend, bereits jeglicher Hoffnung beraubt, schließlich feststellte, daß er erneut mit leeren Händen zurückgeblieben war, da er bei Obrazek gerade mal einige Zarenmünzen und ein paar ein halbes Jahrhundert alte Silberdollar gefunden hatte, betrank er sich vor lauter Verdruß und verwünschte laut alle Juden der Welt. Viel Zeit war, ohne Spuren zu hinterlassen, vergangen, bis ein Pole, von dem weder Vor- noch Nachname bekannt sind, zufällig nach Skorczyn in das Haus von Obrazek zog und unvermittelt zu großem Reichtum kam. Der Mann wohnte in dem alten Haus am Stadtrand und verfluchte sein elendes Schicksal. Denn er mußte dort mitten unter den Seelen lange verstorbener Juden leben, mußte die steilen Treppen zum Obergeschoß des Hauses hinaufsteigen, wo er ein hoffnungsloses Dasein fristete, umgeben von armseligem Hausrat, in Armut und Verwünschungen, als er plötzlich eines Tages beim Streichen der verwohnten und schmutzigen Wände eine geheime -38-
Vertiefung entdeckte und darin einen unermeßlichen Gold- und Schmuckschatz. Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, war er ein vermögender Mann geworden. Und das stürzte ihn ins Verderben. Zuerst wurde er wegen Trunksucht und eines liederlichen Lebenswandels aus der Partei hinausgeworfen. Dann rückte ihm die alles durchdringende und wachsame Volksgewalt auf die Pelle und setzte ihn wegen feindlicher Gesinnung gegenüber der Arbeiterklasse und der arbeitenden Bauernschaft sowie wegen Komplizenschaft mit dem Kapitalismus auf die Anklagebank, dann landete er in Warschau im Gefängnis. Da er aber vorausschauend gewesen war, hatte er zuvor rechtzeitig seinen Schatz im Garten vergraben. Als er wieder auf freiem Fuß war, gab er sich der hemmungslosen Ausschweifung, der Trunksucht und der Völlerei hin. Er starb dann irgendwo und irgendwann. Es gibt weder Spuren von ihm noch von dem riesigen Vermögen Obrazeks, den der arme Kamerad Westermann erschossen hatte, in der Hoffnung, sich zu bereichern. Jedoch wird man von der Existenz des armen Kameraden Westermann auch nichts erfahren, denn er tauchte zwar danach noch auf, war aber bereits ein anderer. Es gibt heute nicht mehr diesen Geruch der von der Sonne versengten Gräser, und es gibt nicht mehr das Summen der Insekten, auch nicht mehr den tödlichen Schweiß all dieser ehrbaren und gottesfürchtigen Leute, die die Deutschen auf dem Marktplatz auf die Fuhrwerke geladen und zum Flußufer gefahren hatten, um sie dann in den Wald zu jagen. Dort warteten bereits die Bauern aus der Gegend, die ab dem frühen Morgen, in der Hitze, im Schweiße ihres Angesichts und voller Angst, tiefe Gruben gegraben hatten, damit die Deutschen die Leute von Skorczyn an diese Gruben stellen und erbarmungslos erschießen konnten, und zwar so, daß die Getöteten in die Gruben fielen und sich dort nicht mehr rührten, in der Abendglut, in der Stille, die nach der Hinrichtung herrschte, inmitten von Insektensummen und Schwalbengezwitscher, beim leichten -39-
Rauschen des Windes, der die Kiefernwipfel streifte. Es wird aber keinerlei Beweise geben, denn es gibt dieses Geräusch der Schaufeln und das dumpfe Gepolter des Sandes nicht mehr, als die Bauern auf Befehl des armen Kameraden Westermann sich daranmachten, die Leichen zu verscharren. Für nichts wird es Beweise geben, und vieles wird man sogar als Fälschung, Aberglaube und Mythos bezeichnen. Es wird keinerlei Beweise dafür geben, daß die Pferde neben den Fuhrwerken das von der Julisonne versengte Gras rupften und träge ihre Mähnen schüttelten, um die Fliegen zu vertreiben. Aber vielleicht dampften die Hälse und die Hinterteile der Pferde damals vor Kälte, denn ein lästiger herbstlicher Nieselregen ging nieder, und die Sonne war überhaupt nicht zu sehen, da sie hinter dunklen Wolken verschwunden war. Die deutschen Wachmänner machten damals finstere und mißmutige Gesichter, vielleicht sogar traurige und angsterfüllte angesichts dessen, was geschah, denn der Krieg hatte unlängst erst begonnen, und sie hatten somit weder Erfahrung noch kräftig abgehärtete Seelen. An jenem Abend fühlten sie sich außerdem verstrickt in das Übel und in die Widerwärtigkeiten, die sie weder gewählt noch gewollt hatten. Unter diesen Wachmännern befand sich sogar einer, der zwar bei den Erschießungen immer dabei war, dann aber stets inbrünstig betete, sein Ziel zu verfehlen, keinen der ›Verurteilten‹ zu treffen, und als alles dem Ende zuging, hatte er das Recht, sich der Hoffnung hinzugeben, keinen jener erschossenen Menschen getötet zu haben. Das war zwar eine erbärmliche Ausrede und vielleicht sogar feiger als die aktive kaltblütige Teilnahme am Mord, aber für diesen Mann blieb ein Trost. Es war geschehen. Die Menschen lebten nicht mehr. Sie waren tief in den Wald hineingebracht worden, von der kleinen Stadt aus, wo sie aus ihren Häusern gezerrt worden waren, getrennt von ihren Frauen und Kindern, mit dem strengen Befehl, zu schweigen und nicht den Herrgott um Hilfe anzurufen. Sie taten es dennoch – trotz der Ermahnungen des -40-
armen Kameraden Westermann und vielleicht auch Kassners, obwohl dieser das nicht im Gedächtnis behielt –, denn sie wollten würdig und auf polnisch den Tod empfangen. Also beteten sie leise, und sogar die Zwillingsbrüder beteten, obwohl sie zuvor überhaupt nicht an den Herrgott geglaubt hatten, da sie Agnostiker, Freimaurer und Freigeister waren, wofür es auch keinen Beweis geben wird. Und für nichts wird es einen Beweis geben, denn der Tod versöhnt alle, und das, was geschehen ist, deckt er mit einem Leichentuch zu, das Leichentuch wird jedoch von einem Stein erdrückt, und auf diesem Stein sät der Wind Gras des Vergessens, des Zweifels und neuer Freude. Amen.« »Nein«, sagte es, »das wird nicht vergessen werden.« Er sah und hörte nichts mehr. Er saß im Sessel und weinte still vor sich hin. Dieses Weinen läuterte ihn auf sonderbare Weise. Das gerade war die Grausamkeit des Lebens. Zum ersten Mal nach Monikas Tod spürte er wieder stark die Last des Lebens. Jetzt waren die Gespenster aus dem Jenseits gekommen, um ihn zu besuchen, an seinem Tisch Platz zu nehmen, in den Ecken seines Hauses zu stehen, sich mit ihm zu unterhalten und Gerechtigkeit zu fordern.
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G
raham Wilson III. betrachtete gern seine Welt aus einer gewissen Höhe, ähnlich dem Herrgott selbst, der sich über den Wolken aufhält, unsichtbar und allgegenwärtig. Indem er den Wolkenvorhang leicht beiseite schiebt, kann er in jedem Augenblick das von ihm Erschaffene begutachten. Vielleicht auch, und das zeugt vom Verstand des Ewigen, sich sehr genau anschauen, was einzelne treiben. Ob sie sich so benehmen, wie es sich gehört, oder ob im Gegenteil die Art und Weise ihres Verhaltens einiges zu wünschen übrigläßt. Graham Wilson III. verhielt sich also gottähnlich. Aber das war reiner Zufall, da jeglicher Nachahmungstrieb seiner unabhängigen und schöpferischen Natur fremd war. Dennoch war das sein Stil. Die Leute aus seiner Umgebung, die einen offen, die anderen recht versteckt, stellten des öfteren eine gewisse Ähnlichkeit Wilsons mit dem Herrgott fest. Wilson hatte sich sein neues Firmengebäude so bauen lassen, daß es die Vorstellung von einem großen hellen und sauberen Aquarium weckte. Eine leichte, elegante Konstruktion stützte das dreißig Etagen hohe Gebäude. Fast alle Wände, sowohl die Außen- als auch die Innenwände, bestanden aus Spezialkunststoff und Glas. Dadurch war das Gebäude wunderbar transparent. Bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang, durch und durch lichtdurchflutet, brannte es von innen wie eine Fackel oder wie ein riesiges pathetisches Lagerfeuer in der Höhle der Betonstadt. Die Menschen, die sich in dem Gebäude aufhielten, paßten sich dessen Architektur an und bewegten sich leicht, frei und tänzelnd, wie ihre eigenen -42-
Schatten. Sie eilten über die durchbrochenen, leichtgebauten Treppen oder ließen sich in gläsernen, mit diskretem Licht beleuchteten Aufzügen nach oben bringen. Es schien, als strahlten die Menschen selbst eine gewisse innere Kraft, eine Freude und außergewöhnliches Talent aus. Alles in diesem riesigen Bau war hell, die ganze Konstruktion schien schwerelos, jede Etage erstrahlte in einem anderen sanften Glanz. Die Firma GWT hatte für ihre Mitarbeiter ganz einfach ideale Arbeitsbedingungen geschaffen. Alles hier war klar, sauber und sichtbar. Es gab keine Geheimnisse, keine Heimlichkeiten, aber auch keine überflüssigen Worte oder Laute. In jeder Etage, ungeachtet der dort untergebrachten Abteilung, der Eigenschaften der Vorgesetzten und der Lebensgewohnheiten der Angestellten, herrschten Redlichkeit und Offenheit, Bescheidenheit und das Gefühl, mit Hingabe seine Pflicht zu erfüllen. Graham Wilson III., der in der dreißigsten Etage des Gebäudes residierte, wie der Kapitän auf der Kommandobrücke, konnte ohne Schwierigkeiten die entferntesten Winkel dieser von der Architektur und der Organisation her schönen Konstruktion beobachten. Wenn er sich die Personen in einer weiter entfernten Etage anschauen wollte, mußte er sich natürlich eines Fernglases bedienen. Er tat dies jedoch höchst ungern, es war ihm sogar etwas peinlich, da doch seine Firmenphilosophie auf der Devise ›Treu und Glauben‹ beruhte. In dem geräumigen Büro von Graham Wilson III. herrschte eine Atmosphäre von steriler Schlichtheit. Die Möbel waren aus Stahlrohr und Kunststoff, auf dem Schreibtisch befand sich nichts außer den modernsten Geräten zur zwischenmenschlichen Kommunikation. Wilson selbst war immer für jeden sichtbar, für seine Untergebenen mit den Augen erreichbar. Um ihn jedoch sehen zu können, mußten alle selbstverständlich nach oben schauen, wodurch sie sich von ihrer Arbeit losreißen mußten; das taten sie jedoch so selten, wie wir im Laufe eines -43-
Tages uns an den Tod zu erinnern pflegen oder an die ewige Erlösung. Aber allein das Bewußtsein, daß es irgendwo über unseren Köpfen etwas gibt, genügt ja zur Stärkung des Seelenfriedens. Alle in dem Gebäude Beschäftigten wußten sehr genau, daß sich in dem großen Büro von Graham Wilson III. ein Raum befand, der nur den Personen aus der nächsten Umgebung des Chefs bekannt war. Dieser Raum war fast als einziger in diesem Gebäude durch altmodische Wände von der Außenwelt abgetrennt. An den Wänden des Innenraums hingen einige ausgesuchte Werke weltberühmter Maler. Die Möbel waren solide, robust, bequem, aber schon ein wenig mitgenommen, denn Graham Wilson III. hatte sie aus seinem Elternhaus hierhergebracht. Auf einer Etagere standen kleine Porzellangegenstände und auch einige Briefbeschwerer aus Nefrit, Onyx und Malachit, nicht besonders wertvoll, aber schön fürs Auge. Es gab hier auch Bücher, und in einer Ecke, auf einem eigens angefertigten kleinen Tisch, stand ein Grammophon mit Platten, ein alter und schon lange nicht mehr benutzter Gegenstand, einst Eigentum von Graham Wilson I. Das waren alles Gegenstände, die Graham Wilson III. mit seiner verlorenen Vergangenheit verbanden. Von ihnen umgeben, konnte er sich entspannen und sich gestatten, sich seinen Erinnerungen und auch seinen Gedanken von strategischer Bedeutung hinzugeben. Er verbrachte dort jedoch nicht allzuviel Zeit, denn er mußte sich um die täglichen Geschäfte kümmern. In diesem kleinen, stillen und etwas düsteren Raum überfielen ihn außerdem manchmal trübe Gedanken, wenn er im Sessel seines verstorbenen Vaters, Graham Wilsons II., saß und die Augen geschlossen hatte. Er gelangte dann beispielsweise zu der Überzeugung, daß er im Grunde gar nicht mehr an der Weiterführung der ausgedehnten Geschäfte interessiert sei und sich viel lieber für immer auf seinen Landsitz am Pazifik zurückziehen würde, am Morgen -44-
zum Angeln hinausfahren und erst am Abend bei Sonnenuntergang zurückkehren, lange Spaziergänge am Strand entlang unternehmen oder sich die Vögel und Bäume anschauen und auch eine junge und hübsche Frau, die er seit langem liebte. Es war eine unverbindliche und auf die Zukunft gerichtete Liebe, denn diese Frau war ihm bis jetzt noch nicht begegnet. Ihr Aussehen wechselte häufig, da Wilson sie sich mal als groß und blond, mal als klein und dunkelhaarig, mit dunklem Teint, zierlichen Händen und Füßen vorstellte. Wilson erwartete nicht, daß diese Frau ungewöhnlich schön, sehr elegant und gleichzeitig auch leidenschaftlich, witzig und gebildet war, mit einem Wort: perfekt – in jeder Hinsicht. Er neigte eher zu der Ansicht, daß sie durchschnittlich sein, das heißt recht hübsch und nett, aber nicht zu sehr ins Auge stechen sollte, natürlich nicht schlecht ausgebildet und mit gutem Benehmen, aber auch mit einer kleinen Schwäche, einem gewissen Fehler behaftet, zum Beispiel der Neigung zu Exaltiertheit oder daß sie zu kühl war oder etwas zu nonchalant. Er hatte von ihr ganz und gar keine übertriebenen Vorstellungen, denn von sich selbst hatte er auch eine gemäßigte Meinung, war kein eingebildeter Mensch, erhob sich nicht über andere, ganz im Gegenteil. Er hörte gern zu, erkundigte sich gern nach etwas, stand gern vor Rätseln, die schwer oder überhaupt nicht zu lösen waren. Also sollte auch diese Frau kein Idealbild sein, und er liebte sie seit langem mit dem ganzen Ballast ihrer Unvollkommenheit. Ihre Ansprüche sollten jedoch recht bescheiden sein, so wie die der Frauen aus seiner Kindheit: der Großmutter und der Mutter. Diese beiden Frauen hatten ein ganz gewöhnliches Leben geführt und es verstanden, sich so einzurichten, daß sie immer genug Zeit hatten für ein Gebet und für die Kinder. Sie nahmen so sehr Anteil am Leben anderer Menschen, daß zum Beispiel die Großmutter von Graham Wilson III. Dutzende der in der Firma von Graham Wilson I. beschäftigten Personen mit Vornamen kannte, zu Weihnachten ihren Frauen und Kindern Geschenke -45-
machte und an ihren Beerdigungen teilnahm. Wilson wollte genau so eine Frau lieben, denn er lebte in der festen Überzeugung, daß er an ihrer Seite ein besserer Mensch werden würde. Natürlich hielt er sich durchaus nicht für einen Menschen mit schlechten Anlagen und einem niederträchtigen Charakter. Aber er wußte, daß man jedes Produkt verbessern und vervollkommnen kann. Er bedauerte es sehr, derjenigen, die er mit jeder Woche und jedem Monat immer stärker liebte, noch nicht begegnet zu sein. Seine Beziehungen zu Frauen waren eher flüchtig, nicht von Dauer, und er hielt sie für unmoralisch, weil sie sich auf Sex beschränkten, ohne tiefere Gefühle. Wilsons Meinung nach waren die Frauen, die er kannte, auch unmoralisch, da sie Sex als Zeitvertreib ansahen, als ein Mittel, um Karriere zu machen, oder als eine Art finanzieller Absicherung für die Zukunft, wenn sie nicht mehr so attraktiv waren und keinen reichen Partner gefunden hatten. Wilson war vielleicht in seinen eigenen Augen nicht besonders interessant als Mann, aber er war doch kein Ekel und keine abstoßende Figur. Er besaß die richtige Größe und Statur, bewegte sich frei, mit einem gewissen Charme und einer Eleganz, die einem durch viel Geld verliehen werden. Er verstand es, nett in Gesellschaft zu sein und interessant über die Kunstwerke zu plaudern, die er über all die Jahre hin gesammelt hatte. Ein Verführer war er nie gewesen, er zeichnete sich sogar eher durch eine gewisse Zurückhaltung Frauen gegenüber aus, was von seinem ständigen Wunsch herrührte, endlich diejenige zu finden, die er schon so lange liebte. Eine etwas erstaunliche Sache, aber Wilson war in der Tiefe seines Herzens ein altmodischer Mensch. Er hegte in sich die Sehnsucht nach den alten Zeiten, von denen er wußte, daß sie unwiederbringlich vergangen waren. Er hatte nie er selbst sein wollen, das heißt Graham Wilson III., da es sein Traum war, das Leben Graham Wilsons II. zu führen, und sogar, wozu er sich eher ungern bekannte, das Leben Graham Wilsons I. Das war überhaupt -46-
nicht irgend so ein flüchtiger sentimentaler Gedanke, so ein nostalgischer Wunsch, der die leeren Augenblicke ausfüllte, in denen er keine wirklichen Entscheidungen treffen mußte, sondern ganz einfach eine in seinem Herzen heimisch gewordene schöne Vision des eigenen Lebens. Graham Wilson III. war nicht zufrieden mit der Zeit, in der er lebte, aber das war natürlich nicht originell, da viele in seiner näheren und weiteren Umgebung dieses Mißfallen an der Gegenwart erlebten, obwohl nur wenige den Mut hatten, sich zu derart unpassenden Neigungen zu bekennen. Schließlich waren die Zeiten hundsmiserabel, und allen war das seit langem bewußt. Graham Wilson III. erinnerte sich an seinen Großvater, Graham Wilson I., auf dessen gutes und sinnvolles Leben er neidisch war. Der Großvater war ein hagerer, großer Mann mit einfachen Manieren gewesen, die jedoch in seiner Zeit überhaupt nicht als einfach gegolten hatten, da die Menschen damals anders über das Leben und ihre Nächsten dachten. Der Großvater hielt die Feiertage hoch, was damals natürlich war, heutzutage als einfältig gilt. Aber das war nicht nur eine Frage der Frömmigkeit oder der Lebensweise, denn schließlich war Graham Wilson III. nicht dumm und wußte sehr genau, daß sein Großvater ein Schlitzohr gewesen war und sich eine Menge widerrechtlicher Dinge erlaubt hatte. Dennoch war dieser talentierte, verschlossene und rücksichtslose Alte nie ein Heuchler gewesen, und mit einer verblüffenden Schlichtheit hatte er dazu gestanden, daß nicht alles in seinem Leben des Lobes wert gewesen sei. Die Sache war ganz einfach die, daß der Großvater ein Kapitalist vom alten anständigen Schlage gewesen war. Graham Wilson III. erinnerte sich an einen für sein Leben wichtigen Tag, an dem der Großvater mit seinem Enkel die hohe Mauer einer seiner hervorragend prosperierenden Fabriken entlangging und sich an das Kind mit der Aufforderung wandte, -47-
seine Hand auf die kalte Oberfläche der Fabrikmauer zu legen. Graham Wilson tat dies ängstlich und voller Andacht, da er sich darüber im klaren war, daß auch der Großvater andächtig war. Graham Wilson I. trug an jenem Tag einen hellen feinen Wollanzug, Wildledergamaschen bis zu den Knöcheln, um den Hals eine rot-weiß gepunktete Krawatte und auf dem Kopf einen Strohhut. Der Großvater, der damals noch überhaupt kein langweiliger, verdrießlicher Greis war, sondern ein stattlicher Mann, mit leicht graumeliertem Haar und dunklem Bartwuchs, blieb dicht an der Fabrikmauer stehen. Mit einer Armbewegung befahl er seinem Enkel, auch so dicht wie möglich an der Mauer stehenzubleiben, und dann sagte er mit leiser, aber spannungsgeladener Stimme: »Faß an!« »Was soll ich machen?« fragte der Junge unsicher. »Faß an. Fahr mit der Hand über die Maueroberfläche.« Der Junge legte seine Hand auf die Maueroberfläche und fuhr mit ihr rauf und runter, so wie es ihm der Großvater befohlen hatte. »Was spürst du?« fragte Graham Wilson I. »Die Mauer ist kalt«, erwiderte das Kind. »Nein«, sagte der Großvater. »Die Mauer ist dein Eigentum. Und alles hinter dieser Mauer ist dein Eigentum. Und alles wird dir ganz gehören, sobald du erwachsen bist. Jetzt berühre die Mauer mit der Wange.« Der Junge legte seine Wange an den kalten, rauhen Stein. »Was spürst du?« fragte Graham Wilson I. erneut mit derselben spannungsgeladenen Stimme. Und Graham Wilson III., der ein gelehriges Kind war, erwiderte: »Ich spüre, daß das mein Eigentum ist.« Und das war die Wahrheit. Nie mehr im Leben sollte er ein so total erhebendes und herrlich beflügelndes Gefühl für seinen Besitz empfinden. -48-
Aber noch wesentlicher und beunruhigender war die Tatsache, daß er, als er Graham Wilson III. wurde, nach einer gewissen Zeit nichts mehr besaß, was man hätte anfassen, was man hätte anschauen und hören können. Die alten Fabriken von Graham Wilson I. und auch die neuen Fabriken von Graham Wilson II. gab es nicht mehr. Es gab keine Gegenstände mehr, die von Graham Wilson III. hergestellt wurden, und es gab buchstäblich nichts, worauf irgend jemand seine Hand hätte stützen können. Wilson führte selten wichtige Gespräche, und wenn, dann nur mit Dr. Kovacs, den er für einen vernünftigen und treu ergebenen Freund hielt. Das war eine naive Ansicht, da Kovacs Graham Wilson III. haßte, ihn verachtete und ihm einen schmerzhaften und gewaltsamen Tod wünschte. Das sollte bald geschehen, und zwar auf Veranlassung von Dr. Kovacs selbst, obwohl Kovacs im Augenblick dieser verbrecherischen Tat Erstaunen empfand über den eigenen Mut und die Entschlossenheit. Er wäre ein glücklicher Mensch gewesen, wenn ihm das Schicksal erlaubt hätte, sich länger an diesem unerwarteten und wahrhaft mörderischen Erfolg zu freuen. Es kam jedoch anders. In dem Augenblick, nach dem gewaltsamen Ende von Graham Wilson III., wollte Dr. Kovacs über die Seitentreppe des Astoria nach unten gehen, um zu seinem Zimmer zu gelangen, sein Bündel zu packen, durchs Fenster zu flüchten und ein für allemal in der weiten Welt unter einem neuen falschen Namen zu verschwinden. Aber wir sind nicht die Herren unserer Taten, obwohl Dr. Kovacs über viele Jahre hinweg ein so dummes Hirngespinst in seinem Kopfe hegte. Die Seitentreppe stand in Flammen, so wie das ganze Hotel Astoria und vielleicht sogar ganz Bad Kranach. Als sich also Dr. Kovacs auf der Treppe befand, war ihm der Rückweg bereits abgeschnitten. Von Angst gepackt, lief er wie ein Verrückter nach unten, als ihn plötzlich auf dem Treppenabsatz des vierten Stocks ein von oben herabstürzender Deckenbalken, der Feuer -49-
gefangen hatte, am Kopf traf. Verzweifelt und halb bewußtlos nach Rettung suchend, ergriff er das Treppengeländer, aber das Geländer, das auch von den Flammen erfaßt worden war, hielt dem Gewicht nicht stand, und Dr. Kovacs stürzte ein Stockwerk tiefer, dem Tod direkt in die Arme. Vielleicht war sein vorletzter Gedanke die Erinnerung an das wunderschöne Gebäude der Firma GWT, einen Bau aus Glas, Licht, Glanz und voll lebendigen Charmes, wo er dank der Fürsorge und der Unterstützung seines Freundes Tage und Wochen süßen Nichtstuns und brennend vor verstecktem Neid im Herzen verbracht hatte. Viel früher jedoch, als weder Kovacs noch Wilson das nahende Ende ihrer irdischen Wanderung in Bad Kranach vorausgesehen hatten, hatten die beiden oft in dem den Augen anderer Leute verborgenen Raum hoch oben in dem gläsernen Wolkenkratzer gesessen und sich über die laufende Politik, aber auch über Wilsons karitative Tätigkeit unterhalten. Denn Wilson unterstützte die Musikwelt, verarmte Veteranen des Vietnamkrieges, junge Forscher auf verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaften sowie strenge Moralapostel, da Graham Wilson III. kein Anhänger liberaler, relativistischer Ausschweifungen war. Sie unterhielten sich auch oft über die wertvollen Gegenstände von Wilsons Sammlung sowie über die sich wandelnden Zeiten, die es nicht verdienten, überhaupt noch länger anzudauern. Während eines dieser offenen Gespräche hatte Graham Wilson III. einmal zu Dr. Kovacs gesagt, daß in großen Geschäften heutzutage eine gewisse Metaphysik stecke, denn sonst wäre es überhaupt kaum vorstellbar, daß es eine Welt gibt, in der nicht produziert, nicht gelagert, nicht verteilt, nicht transportiert, nicht gekauft und verkauft wird und dennoch sich alles mit einer immer schwindelerregenderen Schnelligkeit dreht, und er selbst, Graham Wilson III., mache damit das große Geld. Dr. Kovacs hatte damals erwidert, daß das zwar völlig natürlich sei, aber für ihn auch ein wenig unverständlich, und -50-
hinzugefügt, daß, im Gegensatz zu früher, nur inbrünstig gläubige Menschen oder komplette Idioten – was möglicherweise auf dasselbe hinauslaufe – die heutige Welt verstünden. Da hatte Graham Wilson III. gesagt, daß, falls ihm im Leben etwas abgehe, es eben diese geradlinige Dummheit sei, die es noch einigen erlaube, das Gute und das Böse zu unterscheiden. Daraufhin war Kovacs in spöttisches Gelächter ausgebrochen.
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B
ei Tagesanbruch waren alle schon sehr schwach. Einige Frauen gingen schweigend ihrem Tod entgegen. Ein hochgewachsener, breitschultriger Jude mit Spitznamen Känguruh, der als Möbelpacker in den Mirowska-Hallen das halbe Leben mit dem Schleppen von Lasten, mit Fluchen und Schlägereien zugebracht hatte, verlor langsam das Bewußtsein und führte Gespräche mit seinen verstorbenen Vorfahren. Sein Bruder, der aus unerfindlichen Gründen den Spitznamen Mäuserich trug, weinte leise vor sich hin; über den sterbenden Känguruh gebeugt, schwor er, dessen Tod zu rächen. Er hatte jedoch keine Ahnung, wie, und als er versuchte, die Situation, in der sich alle befanden, etwas vernünftiger einzuschätzen, gelangte er zu der Überzeugung, daß er verlassen und verdammt sei, ohne jegliche Hoffnung auf Rettung, ohne eine Chance, die Würde zu bewahren. Mäuserich versuchte, diesen so schmerzlichen Gedanken zu vertreiben. In seiner Phantasie packte er einen x-beliebigen Deutschen am Kragen, warf ihn zu Boden und stand dann mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf dessen verbrecherischem deutschen Hals. Der Deutsche machte den letzten Atemzug, wie ein Bettler flehte er um Erbarmen, das ihm Mäuserich niemals gewähren würde. Aber er kehrte umgehend wieder zur Realität zurück, beugte sich über seinen älteren Bruder, der einsam seinem Ende entgegenging. Känguruhs Gesicht war blaß und mit Schweißtropfen bedeckt, die Lippen ausgetrocknet und die Augen halb geschlossen. Seinem Mund entströmten rätselhafte, geheimnisvolle Worte, denn Känguruh verfluchte die Welt und suchte Aussöhnung mit -52-
seinen Vorfahren, an die er früher keinen Gedanken verschwendet hatte, obwohl sie es wert gewesen wären. Mäuserich wollte seinem Bruder etwas Linderung verschaffen, wußte aber nicht, was tun. Wie die anderen im Waggon war auch er hungrig und durstig und sich darüber im klaren, daß er bald durch Gewehrkolbenschläge sterben würde. Da packte ihn erneut das Verlangen nach Rache, und der Gedanke der Unmöglichkeit war eine größere Tortur als der Hunger und der Todeskampf seines älteren Bruders. Zu dem Zeitpunkt frühstückte Kugler gerade auf der Terrasse seines von einem kleinen, aber hübschen Garten umgebenen Hauses. Die Sonne stand schon am klaren Himmel, und ein leichter Luftzug bewegte die Gardinen der angelehnten Fenster. Kugler ließ sich Zeit beim Frühstück, und mit verhaltener Befriedigung dachte er darüber nach, was der Tag wohl bringen werde. Da kam Ackermann, sein Stellvertreter, auf die Terrasse. Ein mürrischer Mann, den Kugler nicht mochte, mit dunklem Teint und graumeliertem Haar, der Welt und den Menschen feindlich gesinnt. Ackermann sagte, daß der Transport näher komme und in einer Viertelstunde bereits an Ort und Stelle sein werde. Kugler wischte sich nun den Mund an der Serviette ab, nickte und stand langsam vom Tisch auf. Er rief nach der Köchin, und als diese, ein wenig verängstigt wie alle, wenn sie von Kugler herbeigerufen wurden, erschien, sagte er mit leiser Stimme, sie solle die Krümel von der Tischdecke wischen und den Vögeln hinstreuen. »Denken Sie nur«, sagte er zu Ackermann, »wieder erwartet uns ein ganzer Tag voll schwieriger und undankbarer Arbeit.« Aber er war nicht schlecht gelaunt. Im Gegenteil. Der Gedanke an die Selektion erfüllte ihn mit einer gewissen Erregung, die jetzt auf der Terrasse noch nicht so stark war und sein Herz nicht völlig erfüllte. Er wußte jedoch, daß er bald ein sehr erhebendes Gefühl haben würde, vielleicht sogar eine Erleuchtung, dank der er sich mühelos mit gewissen -53-
moralischen Bedenken würde aussöhnen können. Manchmal quälte ihn der Anblick der jüdischen Frauen, Kinder und Greise. Die Bedenken waren jedoch nie so stark, daß sie ihn von den beabsichtigten Taten abhielten. Im übrigen fühlte er sich keineswegs gemein, schlecht oder schuldbeladen, weil die Juden auf seinen Befehl hin starben. Durch ebendiese Macht, Leben zu geben und zu nehmen, war er irgendwie rein und weit entfernt von den normalen, alltäglichen Maßstäben. Das betraf jedoch nicht alle. Man denke nur an diesen Ackermann. Der Mensch lief ständig mit einem vor Ekel, vielleicht sogar vor Wut verzerrten Gesicht herum, was bewirkte, daß die Juden bei seinem Anblick zitterten. Von Kuglers Gesicht fühlten sie sich zwar eingeschüchtert, aber es erfüllte sie nie mit einem solch großen Entsetzen. Bestimmt waren sie der Meinung, vielleicht nicht ohne Grund, daß Ackermann Lust habe, wie ein wildes Tier jeden Juden mit Zähnen und Klauen in Stücke zu reißen, Kugler sie hingegen ruhig behandle, ohne Haß und ohne Abscheu. Da konnte er ihnen nur recht geben, weil es genau so war. Jedenfalls schätzte er den Wahnsinn, der sich in Ackermanns Seele eingenistet hatte, ähnlich ein. Seiner Meinung nach war Ackermann ein Schwächling, ein Mensch mit ständigen Skrupeln und Gewissensbissen, der sich jeden Morgen von neuem ein meisterhaftes Gebäude der Rechtfertigung zusammenbastelte. Dadurch wirkte er in Kuglers Augen lächerlich und jämmerlich, da dieser sich bewußt war, daß es eine solche Rechtfertigung für ihr Tun nicht gab. Für Ackermann spielten jedoch ideologische Begründungen eine wichtige Rolle. Oft sprach er recht emphatisch und pathetisch davon, als halte er eine Rede, obwohl er gerade bei Bier und Würstchen saß. Das ärgerte Kugler. Einen solchen Kerl wie Ackermann, der sich einfach aus der Verantwortung stehlen wollte, indem er blinden, inbrünstigen Glauben an die Prinzipien der Rassereinheit vorschützte, konnte Kugler nicht ausstehen. Er begegnete derartigen Fragen mit -54-
großer Skepsis. Woher soll ich wissen, wer sich einst über meine Mutter hergemacht hat? dachte er manchmal und amüsierte sich köstlich dabei. Seine Mutter war tatsächlich eine Person mit einer zweifelhaften Biographie. In ihrer Jugend war sie als Zirkusakrobatin aufgetreten, war lange irgendwo auf dem Balkan herumgetingelt, durch Italien und Galizien vagabundiert und hatte sich dann in Bayern niedergelassen, wo Kugler zur Welt kam, als Frucht einer flüchtigen, aber wohl sehr leidenschaftlichen Beziehung. Seinen Vater kannte er nur von einer Fotografie her. Sie zeigte einen gutaussehenden, eleganten Herrn mit vorzeitiger Glatze und blassem Gesicht, in einer österreichischen Offiziersuniform. Die Mutter hatte behauptet, er sei ein Baron und der Besitzer großer Güter gewesen. Aber die Mutter hatte so manches behauptet. ›Die kleine Kugler, das ist eine Possenreißerin‹, wie sich die Leute wohlwollend, aber respektlos ausdrückten. Woher soll ich wissen, ob nicht irgendwann einer sich über sie hergemacht hat? dachte Kugler nach Jahren, nicht ohne eine gewisse Rührseligkeit. Vielleicht bin ich ein polnischer, ein jüdischer oder ein ungarischer Bankert. Und falls auch nur ein Fünkchen Wahrheit in ihrer Behauptung steckt, mein Vater sei ein Baron gewesen, dann kann ich zumindest den Mann von aristokratischer Herkunft und ausgesuchten, gesellschaftlichen Kontakten spielen. Aber es kann sich genausogut herausstellen, daß mein lieber Papa ein vagabundierender Zigeuner war. Und das würde mich keineswegs stören. Ackermann hätte es jedoch erheblich gestört. Die beiden mochten sich nicht. Kugler reizte Ackermanns Hingabe an die ideologische Sache, seine pathetische und eifrige Haltung, die er gegenüber den Aufgaben, dem Volk und sogar der Geschichte an den Tag legte. Die Welt wäre nicht so schlecht, dachte Kugler damals mit einer gewissen Abscheu, wenn die Menschen sie nicht ständig verändern wollten. -55-
Was die Vernichtung betraf, so hatte er eine kühle, zynische Haltung voll verstecktem Widerwillen. Er hielt den Krieg für Idiotie. Aber um ihn herum war Krieg, und er wollte sich irgendwie darin einrichten. Zur SS war er per Zufall gekommen, so wie er auch dem Zufall seine Karriere verdankte. Er hatte sie nicht machen wollen, aber wenn schon rund um ihn etwas seinen Anfang nahm, dann hatte er nicht vor, abseits zu stehen, denn das war einfach zu riskant. So war er also im Lager gelandet, an der Rampe, und war jeweils für eine Viertelstunde ein Gott, wie er über sich zu denken pflegte. Jetzt gingen er und Ackermann nach unten, einen dunklen Korridor entlang und fanden sich dann in einem kleinen Garten wieder. Es wehte ein leichter, warmer Wind. Die Sonne war vor einer Stunde aufgegangen, es versprach ein heißer Tag zu werden. In der Luft lag ein unangenehmer Geruch nach halb verbrannten Leichen. »Ständig dieser Gestank!« sagte Kugler angeekelt. In dem Moment kam Känguruh zu sich und sagte zu seinem Bruder: »Einst waren wir echte Kämpfer.« Mäuserich freute sich ungeheuer. Sein Bruder hatte zum ersten Mal nach einigen Stunden etwas gesagt, und das war ein Beweis dafür, daß es ihm schon viel besser ging. Auf Känguruhs Gesicht fiel ein milder Sonnenschein, der in den Waggon durch das mit Stacheldraht vergitterte kleine Fenster durchgedrungen war. Känguruh sah nun jung und gesund aus, als ob er überhaupt nicht seiner schrecklichen Bestimmung entgegenfahre. »Einst waren wir echte Kämpfer«, wiederholte er. »Ja«, erwiderte Mäuserich. »Das waren wir immer.« Er dachte, daß vor nicht allzu langer Zeit, vor kaum zwei Jahren, beide in einen ernsthaften Kampf verwickelt gewesen waren. Das war zu der Zeit gewesen, als das Ghetto noch nicht von einer Mauer umgeben war. In der Niska-Straße waren Leute der Firma Kassner aufgetaucht, leicht angetrunken, wie bei -56-
polnischen Möbelpackern üblich, die nie in der Lage waren zu sparen. Unter ihnen war ein großer zorniger Mensch, der ohne ersichtlichen Grund Känguruh ins Gesicht schlug. Dieser schrie auf, und eine anständige Schlägerei begann. Kassners Leute warfen ihre Jacken und Mützen ab und schlugen auf Tennenbaums Leute ein. Aber Tennenbaums Möbelpacker waren stark, wohl die stärksten in ganz Warschau, furchterregende Kerle, in Drillichhosen, die in hohen Lederschaftstiefeln steckten. Tennenbaum mußte manchmal diese Drillichhosen für einige von ihnen, für Känguruh und seinen Bruder beispielsweise, in einer Schneiderwerkstatt in der Nowolipie-Straße nach Maß anfertigen lassen, da die beiden ganz einfach Bullen und keine Menschen waren, mit breiten Hinterteilen, Schenkeln und Waden wie Steinsäulen: furchterregende Kerle, die mit einem Faustschlag einen Ochsen zu Boden werfen konnten und Angst und Schrecken in der ganzen Gegend verbreiteten. Und Känguruh war der Schlimmste von ihnen, ein Raufbold und Radaubruder, um den die Polizisten sicherheitshalber einen weiten Bogen machten – die Transportfirmen hingegen rissen sich geradezu um ihn. Aber Känguruh blieb der Firma Tennenbaum treu. Zu dem Zeitpunkt jedoch, als es zu dieser letzten Schlägerei kam, arbeitete er in der Firma Wesoły. Der Firmenchef, Herr Wesoły, hatte von Tennenbaum die Fuhrwerke, Pferde und das gesamte jüdische Personal übernommen. An jenem Tag, während dieses Kampfes, schlug Känguruh drei Angreifer zusammen und sein Bruder Mäuserich sogar vier, aber etwas schwächere und nicht so kampferprobte. Schließlich tauchte Tennenbaum und hinter ihm Wesoły auf. Beide trugen Lederjacken und Schirmmützen. Tennenbaum rief, sie sollten aufhören, und da er sich bei allen großer Achtung erfreute, stellten sie den Kampf sofort ein. Allerdings war auch keiner mehr da, den sie hätten verprügeln können. Dann rief Wesoły den polnischen Möbelpackern zu: »Ihr seid wohl nicht ganz bei -57-
Trost, Jungs! Wer hat euch erlaubt, euch hier herumzutreiben und eine Prügelei anzufangen?« »Herr Wesoły«, sagte einer aus dem Stadtteil Żelazna Brama, der Anführer der polnischen Möbelpacker, »friedlich wie Kinder sind wir dahergekommen, aber die Jidden haben uns überfallen.« »Zum Teufel mit euch!« schrie Wesoły wütend. »Ich habe es von meinem Bürofenster aus beobachtet. Ihr selbst habt angefangen.« »Schreien Sie nicht«, sagte der Möbelpacker versöhnlich. »Wozu das Geschrei wegen einer solchen Sache...« »Weil es eine Schande ist«, sagte Wesoły. »Früher habt ihr euch mit ihnen prügeln können, heute nicht mehr. Seht ihr nicht, was ringsum geschieht?! Seht ihr nicht, was die Deutschen jetzt mit den Juden machen?« »Doch«, erwiderte der andere. »Aber wir sind Möbelpacker, Herr Wesoły, und Sie wissen, wie das Leben eines Möbelpackers ist.« »Weiß ich«, sagte Wesoły ruhig und schneuzte auf den Bürgersteig. »Aber gebt während des Krieges Ruhe. Wenn der Krieg vorbei ist, wird es wieder wie früher sein.« »Wann ist dieser beschissene Krieg endlich vorbei?« rief ein anderer polnischer Möbelpacker, wobei er sich den blutverschmierten Mund abwischte. »Bei Kassner sagt man, daß so, wie die Franzosen geschlagen wurden, alle geschlagen werden.« »Nu, nu«, sagte Wesoły. »Und uns, haben sie uns wirklich geschlagen? Was meint ihr?« »Nein«, erwiderte der Möbelpacker, »nicht ganz, Herr Wesoły.« Da fing Herr Tennenbaum an, mit Känguruh und dessen Bruder Jiddisch zu sprechen, fügte aber sofort auf polnisch -58-
hinzu, daß es darum gehe, bis zum Kriegsende irgendwie miteinander auszukommen und keine Prügelei mehr anzufangen. Daraufhin ging man auseinander, jeder in seine Richtung. Damals hatten Känguruh und Mäuserich Wesoły zum letzten Mal aus der Nähe gesehen, denn bald nach diesem Vorfall kam er bei einem Großbrand in den Pferdeställen um. Zusammen mit ihm verbrannten Tennenbaum, die Pferde, die Fuhrwerke und die Unterlagen der Firma. Danach arbeiteten Känguruh und sein jüngerer Bruder nur noch eine kurze Zeit als Möbelpacker in der Firma Tancerz & Co., denn das Ghetto wurde bald von einer hohen Mauer umgeben, Wachposten standen am Eingang, und alle Menschen im Ghetto waren unwiderruflich zum Tode verurteilt. Jetzt sagte Mäuserich zu seinem älteren Bruder: »Die Möbelpacker von Żelazna Brama haben eine ordentliche Tracht Prügel bekommen. Wir waren echte Kämpfer.« »Wir waren echte Kämpfer«, sagte Känguruh. »Vor sehr langer Zeit.« »Ach«, sagte daraufhin Mäuserich, »ich kann das nicht begreifen.« »Ich sterbe«, sagte Känguruh, »und das darf nicht ungesühnt bleiben.« »Bleibt es auch nicht«, sagte Mäuserich. In dem Moment verlangsamte der Zug sein Tempo, rollte noch eine Zeitlang; man hörte das gleichmäßige, immer langsamere und dumpfe Rattern der Räder auf den Schienenstößen, das deutliche laute Geschrei der Deutschen, aber auch das Stöhnen und Weinen der Juden in den geschlossenen Waggons, bis schließlich alle einen gewaltsamen Ruck spürten und das laute Zischen der Dampflokomotive vernahmen, dann stand der Zug. Sofort fielen Schüsse, einer, zwei, drei, dann wieder schrilles, heiseres Geschrei auf deutsch, mit Gepolter ging die Waggontür auf, deutsche Wachposten -59-
erschienen mit Gewehren, die auf die zusammengepferchten Menschen gerichtet waren. Es wurde allen befohlen, schnell auszusteigen. Die Menschen stiegen also schnell aus, da sie immer noch dachten, Gehorsam würde ihnen das Leben retten. Sie sprangen aus den Waggons auf die Betonplatten des Bahnsteigs, fielen hin, standen weinend wieder auf, während die Deutschen mit Gewehrkolben auf sie einschlugen und brüllten, alle sollten sich in einer Marschkolonne aufstellen. Jedoch verstanden nicht alle Juden diesen Befehl, einige hatten nicht die Kraft, überhaupt irgend etwas zu verstehen, zögerten erneut, legten sich vor Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit auf den Bahnsteig, um nach Luft zu schnappen, nach Luft zu schnappen, nach frischer Luft zu schnappen. Da schlugen die Deutschen mit Gewehrkolben und Peitschen so lange auf sie ein, bis sie wieder auf den Beinen standen und sich der Kolonne anschlossen, die sich unter Geschrei, Gebrüll, Gestöhn, Gepolter und Tränen langsam formierte. Schwankend bewegte sie sich auf eine Gruppe von Offizieren zu, die, eingehüllt in leicht schwebende, aus der Lokomotive strömende Dampfwolken, am Ende des Bahnsteigs stand. Mäuserich nahm seinen Bruder Känguruh in die Arme und hob ihn aus dem Waggon auf den Bahnsteig. Sehr behutsam legte er den Körper auf die Betonplatten. Er wollte den Schweiß von Känguruhs Gesicht wischen; als er mit der Hand dessen Stirn, Wangen und Hals berührte, hatte er das Gefühl, als berühre er Schnee oder eine mit Reif beschlagene Fensterscheibe an einem Winterabend. »Wir sterben«, sagte Känguruh flüsternd. »Wir alle sterben, und das darf nicht ungesühnt bleiben.« »Das darf es nicht«, sagte auch Mäuserich leise. Er beugte sich zu seinem Bruder hinunter, um zu hören, ob dieser noch atmete. Er wollte die einzige, ungewöhnliche Sekunde des Todes erkennen, um sie würdig im Namen des Sterbenden zu bewahren. Plötzlich hörte er ein Geräusch, und ein Schatten fiel -60-
auf Känguruhs Gesicht. Mäuserich dachte, der Todesengel habe sich genähert, und er hob leicht den Kopf, um ihn in seinem ganzen Glanz und Grauen zu erblicken. Über ihm stand Ackermann mit einer auf Känguruhs Kopf gerichteten Pistole. Ackermann sagte sehr laut: »Aufstehen! Aufstehen!« Mäuserich schloß mit großer Konzentration die Augen. In diesem Moment verstummte Känguruhs Atem vollends, ausgelöscht von den Fingern des Todes, und sofort fiel ein Schuß aus Ackermanns Pistole. Der Schuß zertrümmerte den Schädel des Toten. Känguruhs Blut spritzte Mäuserich ins Gesicht. Das ist das Blut meines Bruders, dachte er. Einst waren wir echte Kämpfer. Das darf nicht ungesühnt bleiben. Genauso dachte er mit einer seltsam freudigen Entschlossenheit. In diesem Augenblick sah er ungewöhnliche Dinge, die zuvor weder er noch sein Bruder Känguruh je gesehen hatten, noch sonst ein Jude unter all den Juden, die Mäuserich seit dem Moment seiner Geburt bis zu ebendiesem Augenblick kennengelernt hatte. Er sah eine aus Gold und Smaragden bestehende Pforte, und in ihrer Nähe flossen breite reine und stille Ströme. Es waren derer vier. Der eine war ein Strom aus Milch, der zweite aus Honig, der dritte aus Wein und der vierte aus Olivenöl. Und alle flossen sie von einem hohen Berg herab, von dem Mäuserich wußte, daß es der Berg Zion war. So befand er sich also im Paradies. Er erhob sich und richtete sich auf. Er spürte, wie ihm das Blut seines Bruders über das Gesicht lief, und er flehte laut zum Himmel. Mit dem rechten Arm packte er Ackermann im Genick. Dieser stieß einen Schrei aus und wollte abdrücken, aber Mäuserich schlug ihm mit einer schnellen Bewegung der Linken die Waffe aus der Hand. Ackermann stieß heiser -61-
unverständliche Worte hervor. Drei Deutsche stürzten im Laufschritt auf ihn zu. Mäuserich hörte das Gepolter ihrer beschlagenen Stiefel auf den Betonplatten des Bahnsteigs, und er freute sich über seine Tat. Sehr langsam, als habe er Angst, es könne ihm etwas geschehen, hob er Ackermann fast bis in Höhe seines Gesichts, über das immer noch ein dünner Streifen Blutes seines toten Bruders rann. Ackermann sah nun aus wie ein Kind in den Armen eines mächtigen Beschützers. Mäuserich schaute ihm in die Augen. Ackermann hatte kleine Augen, dunkel wie Pflaumen, und über das blasse Gesicht rann der Schweiß. Er zitterte. Sein Mund stieß ein Winseln hervor wie ein Welpe, der die Mutter verloren hat. Mit Stiefelgepolter kamen die drei SSMänner über den Bahnsteig gelaufen. Plötzlich fiel aus einem Karabiner ein Schuß, die Kugel pfiff an Mäuserichs Kopf vorbei, hinter ihm ein durch Mark und Bein gehender Schrei. Mäuserich sagte zu Ackermann: »Das ist der Anfang der großen Rache!« Obwohl Ackermann die Sprache des jungen Juden nicht verstehen konnte, hatte er dennoch den Sinn der Worte begriffen, denn er stieß einen flehentlichen Schrei aus wie beim Gebet, mit dem er all seine bisherigen Taten widerrief, entschieden verurteilte und demütig Besserung gelobte. Mäuserich, der eine große Aufgabe zu erfüllen hatte, ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Ein zweiter Schuß fiel, wieder daneben, und es ertönte der gellende, furchterregende Schrei Kuglers, der von der Seite, wo die Lokomotive stand, angelaufen kam: »Nicht schießen! Nicht schießen!« schrie er voll verzweifelter Erregung und Angst. Mit äußerster Anstrengung und innerlich zitternd, so als müßte nicht Ackermann sofort im Griff dieses riesengroßen Juden sterben, sondern er, lief er hinter den drei SS-Männern her. Er bekam kaum Luft, schrie aber erneut, man solle nicht schießen. In dem Augenblick hörte er, oder es schien ihm, daß er das hörte, worauf er schon länger gewartet hatte: Er hörte, wie bei -62-
Ackermann, der schlaff – wie ein zerlumpter Hampelmann – in den Armen des großen Juden hing, die Knochen knackten und die Wirbel krachten. Mäuserich holte tief Luft, beugte sich vor und legte sorgfältig, als wolle er Ackermann keinen weiteren Schmerz zufügen, den leblosen Körper neben den seines Bruders. Dann richtete er sich wieder auf, blickte die drei Deutschen an, die ihn gerade erreicht hatten und mit Karabinern auf seine Brust und seinen Kopf zielten. Hinter ihnen näherte sich Kugler. »Zurück«, sagte dieser zu den SS-Männern. Und als sie, aus verständlicher Angst um Kuglers Leben, zögerten, brüllte er wütend: »Zurück! Sofort!« Er und Mäuserich standen sich nun Auge in Auge gegenüber. Kugler war aber nicht so unvorsichtig wie Ackermann und hielt die Pistole in sicherem Abstand. »Es ist alles in Ordnung«, rief er. »Holt Grynszpan her.« Mäuserich konnte nun freier atmen. Auf seinem Gesicht spürte er immer noch das Blut seines Bruders, was bei ihm ein Gefühl von Zärtlichkeit, Ruhe und einer zuvor nicht gekannten Pein hervorrief, aber auch ein Gefühl voller Hoffnung und Klarheit. Das sind die Engel, dachte er. Schweigen. Auf dem ganzen Bahnsteig herrschte nun Stille, obwohl sich in einigem Abstand eine große Menge Juden angesammelt hatte. Alle standen reglos da, oder es kam Mäuserich nur so vor, da er nichts mehr hörte und auch, außer Kuglers Gesicht, nichts mehr sah. Er dachte, daß es ihm nun nicht mehr gelingen werde, diesen Deutschen zu töten, weil nun alle vorsichtiger seien. Jedoch war er weder enttäuscht noch verbittert, weil das, was hatte geschehen müssen, geschehen war. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Grynszpan erschien. Kugler hatte ihn als Übersetzer beschäftigt. Er mochte Grynszpan und schickte ihn nicht ins Gas; er hatte sogar beschlossen, ihn nie ins -63-
Gas zu schicken, sondern ihn immer bei sich zu behalten, so lange, bis Grynszpan aus Altersgründen sterben würde, so wie alte, treue Hunde sterben. Grynszpan wußte dies, verhielt sich jedoch nicht wie ein Hund, war sogar unzufrieden mit Kuglers Entscheidung. Nachdem er ins Lager gekommen war, hatte er sich eine Zeitlang noch ans Leben geklammert und versucht, irgendwie als Übersetzer durchzukommen. Dann hatte er jedoch genug von allem. Fast täglich mußte er mit ansehen, wie Tausende Menschen auf Kuglers Befehl starben. Manchmal mußte er irgend so einem armen Juden völlig überflüssige verlogene Worte übersetzen, weil Kugler den Menschen nicht die Wahrheit sagte, sondern ihnen ständig etwas vormachte, was lächerlich und jämmerlich wirkte, da doch alle die Wahrheit kannten und sich längst mit ihr abgefunden hatten. Es war daher sinnlos, sich in Lügen zu verstricken, denn das war gemeiner, als vergast zu werden. So oder so war die Vergasung unausweichlich, und die Lügerei hätte man sich sparen können. Grynszpan hatte bereits genug vom Leben an Kuglers Seite. Jedoch war er nicht so mutig auszurufen: »Kugler, du elender Mörder... Ich hab genug von dir, heut geh ich ins Gas.« Zu dieser Entscheidung hatte sich Grynszpan noch nicht durchringen können. Aber er versuchte nicht, vor Kugler zu kuschen, war sogar eher etwas nachlässig bei der Arbeit, nahm das Übersetzen auf die leichte Schulter und brachte Kugler keine besondere Achtung entgegen. Das war ganz offensichtlich. Kugler, gewitzt wie er war, wußte also, was Grynszpan über ihre Beziehung zueinander dachte, und es amüsierte ihn. Vielleicht verdankte gerade diesem Umstand Grynszpan sein Leben. Als er nun an der Rampe erschien, sah er Kugler in einer geradezu lächerlichen und unnatürlichen Haltung. In sicherer Entfernung, aber höchst konzentriert und wachsam, zielte er auf einen hünenhaften jungen Juden. Der Jude stand reglos, aufrecht, mit erhobenem Haupt, sehr ruhig, fast beleidigend ruhig da, und Grynszpan dachte damals bestimmt, daß man ihm -64-
allein schon dafür eine Kugel in den Kopf jagen werde. Etwas weiter entfernt erblickte er drei SS-Männer mit schußbereiten Gewehren. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß in dieser merkwürdigen Situation Grynszpan zu dem Schluß kam, daß alles ringsum keinerlei Bedeutung mehr habe. Gleichzeitig bereute er seine Nachgiebigkeit gegenüber seiner Frau und den Kindern. Das war vor einiger Zeit, noch im Ghetto, gewesen, und Grynszpan kehrte in Gedanken ständig zu dieser Sache zurück, immer stärker von der eigenen Familie enttäuscht. Damals hatte man sie aus einem Hinterhof, auf dem die Deutschen einige Dutzend Juden aus den anliegenden Mietshäusern der Miła-Straße versammelt hatten, hinausgetrieben. Die Kolonne ging mühsam unter dem gewölbten Torbogen durch und dann mitten auf der Straße. Die Menschen hatten keinerlei Gepäck, da sie von dem Befehl überrascht worden waren, jeder war auf den Hof gelaufen, wie er gerade war, alle versammelten sich demütig, die Frauen riefen ärgerlich ihren Kindern zu, sofort zu kommen, statt ihnen zuzurufen, sich in einem Mauseloch zu verstecken. Die Männer verneigten sich vor den Deutschen und schlugen die Hacken zusammen. Grynszpan war klar, daß es diesmal kein Entrinnen wie bisher geben würde. Keinerlei Beziehungen im Judenrat spielten nunmehr eine Rolle, alles war zu Ende, nun war auch die Reihe an Grynszpan gekommen, wovon er seit langem gewußt hatte, denn er hatte sich keinerlei Illusionen hingegeben und seinen gesunden Menschenverstand bewiesen, im Gegensatz zu vielen anderen Juden. Als sie aus dem Tor herausgekommen waren und die Deutschen ihnen befahlen, schneller zu gehen, was sehr schwierig war, da die Menschen auf den Straßenbahnschienen ausrutschten, sagte Grynszpan flüsternd zu seiner Frau, sie solle aus der Kolonne hinauslaufen und die Kinder, die sie an den Händen hielt, mit sich ziehen, worauf seine Frau erwiderte, daß die Deutschen sie doch sofort erschießen würden. »Eben«, sagte -65-
Grynszpan, »darum geht es, daß sie uns sofort erschießen, damit wir uns nicht länger quälen müssen.« Seine Frau war jedoch, nach einem Moment des Zögerns, nicht einverstanden und ging in der Kolonne weiter, die Kinder an den Händen haltend. Nach einer gewissen Zeit wurden sie voneinander getrennt, und von diesem Moment an sah Grynszpan seine Familie nie mehr wieder. Er war sicher, daß alle längst nicht mehr am Leben waren. Aber ihn quälte der Gedanke am meisten, daß seine Frau und auch seine Kinder vor dem Tod sehr gelitten hatten, wenn seine Frau jedoch damals auf ihn gehört hätte, wäre alles schnell und ohne großen Schmerz zu Ende gegangen. Er nahm seiner Frau übel, daß sie ihn mit dieser Ungewißheit zurückgelassen hatte. Grynszpan sah ständig die Leichen der vergasten Menschen, und niemand konnte ihm mehr weismachen, daß dies ein sanfter Tod sei. Eine Kugel in den Kopf, das war etwas anderes. Schlecht, daß seine Frau damals nicht auf ihn gehört hatte. Er selbst hatte natürlich aus der Kolonne laufen wollen, aber dies seiner Familie nicht antun können, hatte Frau und Kinder diesem Schmerz nicht aussetzen wollen. Jetzt jedoch empfand er Groll und Mißmut, war böse auf diese Frau, die eigentlich nie auf ihn gehört, immer ihre eigene Meinung in verschiedenen Dingen vertreten hatte. Dabei war sie doch gar nicht so klug gewesen und auch eher leichtfertig und kapriziös, ganz einfach schlecht erzogen von ihrem reichen Vater in dem Kaff Skorczyn, dort, wo die Welt mit Brettern vernagelt war; und genau das war auch der Grund gewesen, warum sie nicht so gestorben war, wie es sich gehört hätte. Als er sich nun Kugler näherte, sagte dieser ärgerlich, Grynszpan solle den Juden fragen, wer er sei. Grynszpan neigte leicht den Kopf, aber statt zu fragen, sagte er recht schroff, es sei doch bekannt, wer dieser sei: ein gewöhnlicher Jude und Schluß. Kugler jedoch schrie, er wolle mit ihm sprechen. Also wandte sich Grynszpan an Mäuserich und fragte auf jiddisch: »Wer bist du? Woher kommst du?« -66-
»Ich bin Möbelpacker. Aus Warschau.« Grynszpan übersetzte. Da fragte Kugler, weshalb Mäuserich Ackermann umgebracht habe. Mäuserich erwiderte mit großer Gelassenheit und vielleicht sogar mit einer gewissen Sanftmut, daß er Rache geübt habe, da die bösen und verbrecherischen Taten, die sich die Deutschen erlaubten, nach Rache verlangten. Grynszpan gab dies an Kugler weiter, und in seinem Ton schwang Triumph mit. Da sagte Kugler zu Grynszpan, er sei ein dummer Jude, wenn ihn solche Taten wie Ackermanns Ermordung beflügelten. Das könne doch keinerlei Einfluß auf das Schicksal irgendeines Menschen unter der Sonne haben – und schon gar keinen auf seine und Mäuserichs Zukunft. Worauf Grynszpan, etwas zornig – da er plötzlich in Kugler eine Art Komplize erblickte, der jedoch dummes Zeug redete und das Geschäft verdarb –, worauf also Grynszpan frank und frei erwiderte, daß es so nicht sei, weil Mäuserich bereits auf sein Schicksal Einfluß genommen habe. Wie dem auch sei, er stehe über Ackermanns Leiche, und es unterliege daher keinem Zweifel, daß er der Sieger sei. Vielleicht werde dies nicht lange dauern, so Grynszpan, aber dennoch habe sich während der letzten Augenblicke etwas verändert auf dieser Welt, worüber man gründlicher nachdenken müsse. Da lachte Kugler spöttisch auf und fragte: »Wie ist er darauf gekommen? Was hat er sich dabei gedacht, als er diesen armen Menschen umbrachte?« »Ich war nicht hier«, erwiderte Mäuserich ruhig, was sogar Grynszpan verwunderte, und er fragte schnell auf jiddisch: »Wo warst du denn?« Kugler rief in einem sehr dramatischen Ton: »Was sagt er?! Wovon spricht er?!« »Ich war im Paradies«, sagte Mäuserich sehr ernst. »Er war im Paradies«, übersetzte Grynszpan. »Halt mich nicht zum Narren!« schrie Kugler. »Er glaubt daran«, sagte Grynszpan. -67-
»Wenn es so ist, dann soll er mir sagen, ob er auch mich in diesem Paradies gesehen hat und ob die Eisenbahnrampe ebenfalls da war«, schrie Kugler wütend, aber auch mit einem falschen und kläglichen Spott. »Nein«, erwiderte Mäuserich, »dich hab ich dort nicht gesehen. Ich schritt durch eine Pforte aus Gold und Smaragden, und dort war keiner von euch. Dort sind nur gerechte Juden.« Grynszpan übersetzte Mäuserichs Worte mit einem Gefühl großer Rührung. Was geschieht hier, dachte Grynszpan in diesem erstaunlichen Augenblick zu Recht, was geschieht hier, daß ich so ergriffen bin? Glaube ich an das dumme Zeug, von dem er gerade gesprochen hat? »Vielleicht gibt es noch irgendeine andere Pforte als die, durch die du hindurchgeschritten bist«, schrie Kugler pathetisch, aber auch mit Zorn und Spott. »Es kann unmöglich so dumm eingerichtet sein. Aber ich habe nicht die Absicht, zu streiten. Ich denke mir, daß es für Leute wie dich und mich zwei verschiedene Paradiese gibt. Das ist doch völlig logisch.« »Dich hat nicht derselbe Gott geschaffen«, sagte Mäuserich. »Es ist also möglich, daß dieser andere, der böse Gott für die Deutschen eine völlig andere Welt eingerichtet hat.« Als er dies sagte, wurde ihm plötzlich klar: Ja, auch hier auf der Erde gab es zwei verschiedene Welten. Der Mensch, vor dem er jetzt stand wie vor dem Jüngsten Gericht, gehörte überhaupt nicht zu seiner Welt. Plötzlich hörte er sehr deutlich Känguruhs Stimme, als befinde sich Känguruh auf seinen Schultern oder über seinem Kopf. Sein älterer Bruder sagte zornig: »Bruder, verliere keine Zeit mit diesem Deutschen, der überhaupt nicht lebt.« »Du lebst überhaupt nicht«, sagte Mäuserich zu Kugler. »Du hast nie gelebt.« »Er meint, daß Sie nicht leben«, sagte Grynszpan in einem ausgesucht höflichen Ton zu Kugler. »›Du hast nie gelebt‹, sagt er.« -68-
»Nun ja«, rief Kugler. »Wenn du denkst, daß der Zirkus, den du hier veranstaltest, irgendeinen Einfluß auf den weiteren Verlauf der Dinge haben wird, dann hast du dich getäuscht. Im übrigen bist du Jude und solltest daher wissen, daß alles vor langer Zeit schon entschieden worden ist.« »Sprechen Sie nicht so hektisch«, sagte Grynszpan. »Ich kann nicht so schnell übersetzen. Das ist zu schwierig für mich.« »Schnauz mich nicht an!« schrie Kugler wütend. »Du steckst mit dem unter einer Decke, Grynszpan. Du steckst mit ihm unter einer Decke gegen mich. Das ist doch unglaublich!« »Ich stecke nur mit mir unter einer Decke«, erwiderte Grynszpan würdevoll. »Wie war das also? Soll ich ihm jetzt sagen, daß er Jude ist und deshalb wissen sollte, daß alles schon vor langer Zeit entschieden worden ist?« »Genau! So sollst du es ihm sagen! Haargenau«, rief Kugler. »Nun ja«, sagte Grynszpan mit deutlichem Spott, übersetzte aber sorgfältig jedes Wort Kuglers. »Ja«, erwiderte Mäuserich und fühlte sich erleichtert. »Es wurde entschieden, daß es Leute wie dich im Jenseits nicht geben wird. Du wirst für immer hier stehen, bei Regenwetter und in der Bullenhitze, bei Sturm und Nebel, am Tag und in der Nacht. Du wirst hier stehenbleiben bis ans Ende der Welt.« »Und dann?« fragte Kugler ironisch. »Dann wirst du immer noch hier stehen«, sagte Mäuserich, und Grynszpan hatte vielleicht für einen Augenblick das seltsame Gefühl, daß er selbst das zu Kugler sagte, daß er ihm seine eigenen Gedanken übermittelte. »Für dich wird es nie enden. Die Sterne werden verlöschen, aber du wirst immer noch an diesem Platz stehen, an dem du jetzt stehst. Die Winde werden zu wehen aufhören, aber du wirst weiterhin hier stehen.« Da trat Kugler einen Schritt zurück und brach in Gelächter aus. -69-
»Was ist dein dummes jüdisches Geschwätz schon wert!« sagte er im Ton eines zänkischen Weibes. »Du siehst doch selbst, daß ich mich bewege.« »Du bewegst dich nicht«, erwiderte Mäuserich ruhig und mit einem Achselzucken. »Es kommt dir nur so vor.« »Er hat genug geredet.« Kugler wandte sich an zwei SSMänner, die in der Nähe standen. »Erschießt ihn!« Grynszpan wollte noch etwas sagen, vielleicht sogar schreien, verlor aber plötzlich die Kraft. Er stand reglos da. Einer der SS-Männer zog seine Pistole aus dem Halfter, kam aber nicht näher, da er Angst hatte, Mäuserich könnte ihn töten, so wie er vor einem Augenblick Ackermann getötet hatte. Der SS-Mann bewunderte Kugler, daß dieser, nach all dem, was passiert war, noch den Mut hatte, so nah da zu stehen und so frei mit dem jungen, kräftigen Juden zu reden, der sich auf ihn stürzen, ihn zu Boden werfen und ihm den Hals umdrehen konnte. »Tötet ihn«, sagte Kugler. »Wir werden nicht länger Zeit mit diesem Menschen verlieren.« Wie geistesabwesend nickte er. Plötzlich wandte er sich an Grynszpan und sagte in einem seltsamen Tonfall: »Herr Grynszpan, Sie sind frei.« Grynszpan stand reglos da, als sei er versteinert oder tot. Dann ging Kugler zurück in Richtung Lokomotive, wo niemand auf dem Bahnsteig war, nur etwas weiter entfernt standen zwei Wachposten, die lässig Zigaretten rauchten. Sich bereits abwendend, erwartete er angespannt und unruhig den Schuß, aber im nächsten Augenblick wurde er von Angst gepackt, so als sei er das Ziel. Ein Kribbeln lief ihm über den Rücken, sein Nacken wurde feucht, er wollte sich jedoch nicht umdrehen, aus Furcht, man könne seine Angst bemerken. Langsam machte er noch zwei Schritte, dann blieb er stehen -70-
und schrie: »Nein! Noch nicht!« Erst jetzt drehte er sich um, da er merkte, daß er wieder Herr der Lage war. Er sah den Juden, der reglos dastand, mit einem abschätzigen Grinsen um den Mund. Daneben stand Grynszpan. Die SS-Männer rührten sich nicht. Einer von ihnen hielt die Waffe in der Hand, als warte er darauf, daß Kugler seinen Befehl ändern würde. Und so geschah es auch. Der Befehl wurde geändert. Wie hätte es anders sein können, da alle wußten, daß sie Zeugen eines außergewöhnlichen Ereignisses waren. Noch nie zuvor war ihnen etwas Ähnliches passiert. Hier lag ein deutscher Offizier tot auf dem Bahnsteig, und über ihm stand, lebendig, ein hochgewachsener, kräftiger und ungewöhnlich ruhiger junger Jude, der wohl meinte, hier Herr der Lage zu sein. Durfte es so etwas überhaupt an diesem Ort unter der Sonne geben? Das durfte es nicht geben, und dennoch war es so. Deshalb waren alle überzeugt, daß die Welt sich verändert hatte, hier war etwas geschehen, was es undenkbar machte, ohne eine genaue Erklärung der Sachlage zur Tagesordnung überzugehen. Sicher aus ebendiesem Grund hatten die SS-Männer nicht sofort auf Mäuserich geschossen, und Kugler war zurückgekommen und stand wieder vor ihm, von Angesicht zu Angesicht. Kugler spürte, wie ein Rinnsal aus Schweiß ihm über den Nacken unter den Kragen seiner Uniform lief. Ich muß mich doch nicht fürchten, dachte er und stellte sofort fest, daß eben darauf das ganze Leben beruht. Wir müssen uns nicht fürchten, und dennoch fürchten wir uns. Genau das hatte ihn veranlaßt, umzukehren, um sich erneut an den Juden zu wenden. »Nun gut«, sagte er leise. »Meinetwegen hast du das alles gesehen und im Gedächtnis behalten, obwohl ich dir das überhaupt nicht abnehme, denn du verheimlichst das Wesentliche. Übersetzen Sie, Herr Grynszpan.« Grynszpan hatte Mühe, Kuglers Worte zu übersetzen. -71-
»Ich verheimliche nichts«, erwiderte Mäuserich. Von dem Moment an, da Kugler sich umgedreht hatte, um sich ihm erneut zu nähern, empfand Mäuserich Siegesfreude. »Sag mir also« – Kugler sprach schleppend und etwas unsicher –, »ob du in deinem smaragdfarbenen Paradies den Messias gesehen hast.« »Was haben Sie gefragt?« sagte Grynszpan in einem unwilligen, sogar herausfordernden Ton. »Was haben Sie den Mann gefragt?« »Ob er den Messias gesehen hat«, wiederholte Kugler mit Nachdruck. »Ihr glaubt doch an diesen Messias – oder nicht?« »Hast du den Messias gesehen?« fragte Grynszpan. »Ich habe den Messias gesehen. Mitten im Paradies. Er war dort«, erwiderte Mäuserich. »Was du nicht sagst, was du nicht sagst! Nun ja!« rief Kugler. »Und was hat dieser dein Messias gemacht?« »Geweint hat er«, erwiderte Mäuserich. »Über dein Schicksal«, sagte Kugler. »Einverstanden.« »Das weiß ich nicht«, entgegnete Mäuserich. »Vielleicht auch über dein Schicksal. Er hat über uns alle geweint.« »Das heißt, daß er noch nicht gekommen ist und auch nicht kommen wird«, sagte Kugler wütend. »Wovon sprechen Sie überhaupt!?« schaltete sich Grynszpan plötzlich voller Überdruß und vielleicht sogar Verzweiflung ein. Aber Kugler gab ihm keine Antwort. Erneut drehte er sich um und entfernte sich einige Schritte. Dann sagte er sehr laut, eigentlich brüllte er mit scharfer und heiserer Stimme, man solle den Juden sofort töten. Augenblicklich fielen zwei Schüsse. Kugler schaute hinter sich. Der junge Jude lag tot auf dem Betonboden. Der blasse SS-Mann steckte die Waffe in die Pistolentasche zurück. Seine Lippen zitterten. Grynszpan stand ganz dicht neben dem Leichnam. Er hatte -72-
den Kopf gesenkt, in seinem Herzen brannte jedoch eine große Glut, wie er sie seit langem nicht erlebt hatte. Vielleicht sogar noch nie. Er sagte zu Kugler: »Tun Sie es mir zuliebe und befehlen Sie, jetzt mich zu erschießen.« Kugler schaute ihn aufmerksam an. Dann warf er die Lippen auf und erwiderte: »Oh, nein. Sei nicht so gerissen, du Jude!«
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6
E
dek Laski saß zusammengekauert auf den Treppenstufen und versuchte aufmerksam, die Geräusche der Straße aufzufangen. Das war eine wichtige Beschäftigung, vieles hing davon ab, denn es war immer noch Krieg, und Typen mit dunklem Kraushaar und blassen Gesichtern waren ernsthaften Schwierigkeiten ausgesetzt. Edek Laski war als kleiner, schmächtiger Mensch mit dunklem Haar auf die Welt gekommen und erinnerte von seinem Aussehen her sehr an einen Juden, was die dümmste Täuschung auf der Welt war, denn wenn irgend jemand echt polnisches, um nicht zu sagen urpolnisches, römisch-katholisches Blut in den Adern hatte, dann mit Sicherheit Edek Laski. Sein Vater war Schmied in der Gegend von Sochaczew gewesen, hatte die Pferde des Ortes beschlagen, gesoffen, was das Zeug hält, war über lange Jahre von einem trockenen Husten geplagt worden und in der Blüte seines Lebens, im Alter von noch nicht vierzig Jahren, an Schwindsucht gestorben. Edeks Mutter war daraufhin zusammen mit ihrem Sohn nach Warschau gezogen, wo sie für bessergestellte Leute die Wäsche wusch und ihnen die Kachelöfen anheizte. Edek Laski wuchs in der Śliska-Straße auf, unter Juden, die überhaupt nicht oder nur miserabel Polnisch sprachen. Sein Kamerad aus Kindertagen war ein gewisser Chaim Herzog, der dann später in der Smocza-Straße einen Kurzwarenladen führte und allgemein für einen Idioten gehalten wurde, aber Edek Laski teilte diese Meinung nicht, denn er kannte Herzog besser als die anderen und wußte, daß die Nähseide nicht sein einziger Lebensinhalt war. Edek hatte auch -74-
einen Kameraden namens Sachs, mit Vornamen Marianek, was auf eine falsche Spur führte, da der Papa jenes Kameraden ein allgemein bekannter jüdischer Kürschner war, und jegliche Versuche, aus seinem Sohn einen polnischen Marianek zu machen, mußten bei den Katholiken Spott und bei den Alttestamentarischen Angst und Schrecken hervorrufen. Als Junge und als Jugendlicher hatte Edek Laski Herzog als typischen Vertreter des polnisch-jüdischen Warschauer Wahnsinns betrachtet. Marianek Sachs hingegen spielte die Rolle des armen Opfers in Edeks Seele, die manchmal aufgewühlt wurde von der Abneigung gegen alles Fremde. Edek sagte manchmal von Marianek, daß er ein gräßlicher Jidde sei, was er nie von Chaim Herzog gesagt hätte. Wo doch Marianek immer so ordentlich wie ein Goj gekleidet war und Edeks Mutter einen Handkuß zu geben pflegte, um auf diese Art seine ritterlichen, altpolnischen Manieren zu unterstreichen. Als erwachsener Mann verfügte Edek Laski über eine ungeheure Körperkraft, die ihm keiner zugetraut hätte. Alle wunderten sich, woher die in diesem schmächtigen, kleinen Körper schlummernde Energie kam. Edek Laski konnte mit den Armen ein Fuhrwerk für Möbeltransporte der Firma Tennenbaum aufhalten, das von zwei kräftigen Pferden gezogen wurde. In jener Zeit arbeitete er als Möbelpacker bei Węgiełek, was ihn zu einem Grafen oder gar Fürsten unter den Warschauer Möbelpackern machte. Denn Węgiełek war eine katholische Firma und im ganzen Stadtgebiet tätig. Die Möbelpacker mußten kräftig sein, aber nicht nur, denn die Firma machte die Umzüge für vermögende und gebildete Leute, die stilvolle Möbel, Kunstwerke sowie kostbaren Schmuck besaßen. Tennenbaums Arbeiter sahen nicht einmal im Traum solche wunderbaren Sachen, mit denen Edek Laski täglich in Berührung kam. Aus diesem Grund galt er in der Branche als ein Mann von Welt mit einem hervorragenden Geschmack und feiner Bildung. -75-
In jener Stunde der Abenddämmerung und der allmählich sich auf die Stadt senkenden Stille, als Edek Laski zusammengekauert auf den Treppenstufen eines Jugendstilmietshauses in der Krucza-Straße saß, tobte ringsum ein schrecklicher Krieg, und jeder dunkelhaarige Mensch trug den Keim des plötzlichen Todes in sich. Edek befand sich zufällig an diesem Ort, da er vor einem dummen Polizisten geflüchtet war, der ihn unbedingt als einen aus dem Ghetto geflohenen Juden auf der Straße hatte erschießen wollen. Edek war sich darüber im klaren, daß, wenn er von dem Polizisten erwischt worden wäre, dieser ihn möglicherweise erschossen hätte – sogar nach einem unbestreitbaren Nachweis seiner arischen Abstammung. Diese Überprüfung wurde in jenen Zeiten, weiß der Himmel warum, sehr diskret, mit fast viktorianischer Prüderie, in den Torbögen der angrenzenden Häuser, hinter einem Zaun oder im nächstgelegenen Schuppen durchgeführt, wobei man die Hose aufknöpfte und das männliche Glied zeigte, das sorgsam von einem Deutschen begutachtet wurde, indem er sich mit gesenktem Kopf vor jeden x-beliebigen jüdischen Schwanz stellte, als sei dies eine germanische Heiligkeit oder ein seltenes Kunstwerk. Edek Laski hatte in der Hose alles, wie es sich gehörte, er wußte jedoch sehr gut, daß es Polizisten gab, die nach einer langen Verfolgungsjagd, außer Atem und ins Schwitzen gekommen, keine Lust hatten, sich einzugestehen, daß ihre Anstrengung für die Katz war, und auch angesichts vollkommen arischer Schwänze ihre Waffe entsicherten. Edek Laskis Polizist jedoch war ein altväterlicher Kerl gewesen, dem das Laufen schwergefallen war und der einen rechten Lärm dabei gemacht hatte. Außerdem hatte er so unbeschreiblich dumm dabei ausgesehen, daß er bei den Passanten eher spöttisches Mitleid als Furcht erregt und man ihm nicht sehr bereitwillig und schnell den Weg frei gemacht hatte, so daß es der Polizist schließlich aufgab, sein Tempo verlangsamte und dann fluchend -76-
stehenblieb, aber da hatte er Edek Laski bereits aus den Augen verloren, als dieser einen Haken geschlagen hatte und sich im Torbogen eines großes Mietshauses wiederfand. Edek lief nun über den Hof, betrat das Treppenhaus eines Hinterhauses, setzte sich auf eine Treppenstufe und lauschte, ans Geländer gelehnt, aufmerksam, was auf der Straße passierte. Dort passierte jedoch nichts mehr; nur die Abenddämmerung brach allmählich herein, und es wurde immer stiller, bis schließlich nur noch das Poltern der Tore, die geschlossen wurden, und die Schläge der Turmuhren, die die Polizeistunde einläuteten, zu hören waren. So hatte Edek Laski hier eine einsame Nacht voller Erinnerungen, Phantasien und Träume vor sich. Es waren Zeiten, da die Menschen viel und bunt träumten, sogar das graueste Dasein verwandelte sich nachts in grelle, farbige Träume, denn ein offensichtlich guter Gott wollte auf ebendiese Art die Erniedrigten und Beleidigten belohnen. So träumte Edek also damals, daß er sich in einem Café befinde. Überall roch es nach Süßwaren und Getränken, die Edek Laski in Wirklichkeit nur vom Erzählen kannte, denn selbst als Möbelpacker in der Firma Węgiełek hatte er jeden Tag nur Malzkaffee getrunken, und seit der Kriegszeit, als er die frühere hervorragende Beschäftigung verloren hatte und gelegentlich in der Firma Tancerz & Co. sowie in der Firma Kassner arbeitete, die Schritt für Schritt alle Positionen früherer jüdischer Firmen übernahm, trank er nicht einmal mehr Malzkaffee, gab sich statt dessen mit einer schrecklichen Mischung zufrieden, die den Namen Rumtee trug, jedoch weder mit Tee noch mit Rum etwas gemein hatte. Viele Jahre später lernte Edek Laski eine kultivierte Dame kennen, die ihm berichtete, daß man in den Kriegsjahren außer Rumtee auch Zitronentee hatte bekommen können, freilich ebenfalls weit entfernt von Tee und Zitrone, aber vom Geschmack her angenehmer und nicht so deprimierend wie der Geschmack von -77-
Rumtee, der Karbidgeruch oder der Anblick der raschelnden schwarzen Verdunklungsrollos an den Fenstern, die die Piloten der Alliierten in die Irre leiten sollten. Edek Laski war den Worten dieser Dame zunächst mit Zweifeln begegnet, obwohl sie eine glaubwürdige und solide Frau war. Nach einiger Zeit erkannte er allerdings, daß, wenn er in den Kriegsjahren statt Rumtee Zitronentee getrunken hätte, sein Schicksal vollkommen anders verlaufen wäre. Und das war überhaupt keine dumme oder fatalistische Überzeugung, da in diesen undenklichen, von allen schon vergessenen Zeiten es eben so war, daß die Ausnahme zur Regel wurde und die Regel überhaupt nicht existierte. Man konnte nach links einbiegen und sein Leben retten, um weiter zu sündigen, wenn man jedoch nach rechts einbog, dann bekam man sofort eine Kugel in den Kopf und die ewige Erlösung. Edek wußte das sehr gut und konnte somit zu Recht annehmen, daß Zitronentee sein Schicksal wesentlich hätte beeinflussen können. An jenem Abend, als Edek Laski auf den Treppenstufen eines Hinterhauses in der Krucza-Straße kauerte, döste er ermattet, aber voll innerer Unruhe vor sich hin, da er nicht wußte, was ihm der nächste Tag bringen würde, und die Aussichten waren insgesamt gesehen eher lausig. Aber bald schlief er fest ein. Und er träumte von einem Café. Er wußte jedoch nicht, daß dies ein prophetischer Traum war. Genau an dieser Stelle sollte sich etwas in seinem Leben ereignen. Aber es lag verborgen hinter Bergen von Jahren, hinter Wäldern von Dingen, hinter Flüssen von Ereignissen, die Edek erst noch durchleben mußte. Die Krucza-Straße wurde nach einiger Zeit dem Erdboden gleichgemacht, und nicht einmal eine Spur war von dem Hinterhaus geblieben, geschweige denn von den Treppenstufen, dem Geländer oder den Geräuschen hinter der Wand, die in jener Nacht, nachdem er dem Polizisten entwischt war, in Edek Laskis Traum eindrangen. Grün überwucherte die Krucza-78-
Straße, frische Gräser bedeckten die Gräber, und auf den Trümmern der Häuser wuchsen schlanke, junge Bäume. Die Straße war eine enge Schlucht geworden, in die sogar die Sonne selten einen Blick hineinwagte, da die hohen Trümmerhaufen Schatten auf die Stellen warfen, wo sich einst Fahrbahn und Bürgersteige befunden hatten. Es war geradezu unglaublich, aber wahr, daß sich in der Krucza-Straße kein einziger Damenhut erhalten hatte. In jeder anderen Straße hätte man dies irgendwie hinnehmen können, nicht jedoch in der KruczaStraße, wo während hundert Jahren, nebeneinander, Ateliers und Geschäfte für Damenhüte untergebracht waren und elegante Modistinnen und Verkäuferinnen von morgens bis abends auf den Bürgersteigen mit ihren Absätzen geklappert hatten. Und plötzlich war kein einziger Hut mehr da, und man hatte sogar vergessen, daß Hüte irgendwann einmal existiert hatten, weil die Frauen nun mit Kopftüchern, Baretten, Mützen und Kapuzen herumliefen wie Straßenräuberinnen oder Vagabundinnen. Im übrigen lief damals in der Krucza-Straße ohnehin niemand herum, denn im Dunkel der Ruinen nisteten nur Schamlosigkeit, Grauen und Unglück. Nach langen Jahren jedoch ebneten große Baumaschinen, Bagger und Walzen die Straße ein. Es entstanden dort neue Häuser: hohe, häßliche, die an Schachteln oder an Kästen erinnerten. In den Gebäuden waren verschiedene Behörden und Büros untergebracht. Nach Dienstschluß war die Straße wie leer gefegt, weil niemand dort wohnte; keiner erinnerte sich daran, daß dies einst eine Straße war voll von geschäftsmäßigem Stimmengewirr, umtriebigen Händlern, schönen Frauen mit neuen Hüten, dunklen Innenhöfen, hohen Hinterhäusern, Jugendstilornamenten, Kronleuchtern in den Räumen – und in den Mansarden die Seufzer verliebter Mädchen, die von großen Dichtern zum Thema ihrer Lyrik gemacht wurden. Jedoch genau an der Stelle, wo Edek Laski auf der Flucht vor dem dummen Polizisten Schutz gefunden hatte, war nach -79-
Jahrzehnten ein Café, und vor dem Café standen auf dem Bürgersteig kleine Tische unter bunten Sonnenschirmen. An einem dieser Tische saß Edek Laski zusammen mit Jan, und die beiden unterhielten sich. Die Kellnerin brachte Kaffee und Cremeschnitten, eine Spezialität des Hauses. Der Wind trug den Staub vom Bürgersteig mit sich fort, die Autoabgase erschwerten das Atmen, die Fahrzeuge standen in endlosen Kolonnen auf der Fahrbahn, in den Fensterscheiben eines hohen Bürogebäudes spiegelte sich – grell wie ein Flakscheinwerfer – die Sonne, unter dem Belag des Bürgersteiges bewegte sich lautlos die Asche der Erschossenen, Gequälten und unter den Trümmern Verschütteten. Passanten unterhielten sich per Mobiltelefon über Geschäfte oder über ein Treffen mit ihren Geliebten, aber weil die Liebe auch käuflich geworden war, redeten alle so oder so eigentlich nur über das Geld. Es war ein warmer Tag, so wie damals, als Edek Laski dem Polizisten entkommen war. Edek erinnerte sich jedoch nicht einmal mehr daran. Denn er war seit sehr langer Zeit ein völlig anderer Mensch, was sogar ihn manchmal verlegen machte. »Ich fahre mit Ihnen nach Bad Kranach«, sagte Jan und stach mit der Kuchengabel in die Cremeschnitte. »Sie sind wohl verrückt geworden«, erwiderte Edek. »Wozu zum Teufel tun Sie sich das an? Alte Weiber, Großväter, am Abend Tango tanzen, Bridge spielen und Geschichten über Liebesabenteuer von vor hundert Jahren. Wozu zum Teufel tun Sie sich eine solche Gesellschaft an?« Es roch immer stärker nach Autoabgasen und Kaffee. Edek Laski dachte, daß sich sogar die Gerüche verändern, je nach historischer Situation. Was hatte er nicht schon alles in dieser Gegend gerochen? Einst war er hier über einen Pferdekadaver gestolpert. Dann lungerten hier schlechtrasierte, unausgeschlafene, ewig müde und streitsüchtige Männer herum, von Tag zu Tag wütender auf sich selbst. Das war einige Generationen lang so gewesen, so daß man sich schon daran -80-
gewöhnt hatte. Alles ringsum hatte sich irgendwie verändert, es waren sogar große, hohe Bäume dort gewachsen, wo einmal Haufen herabgestürzter Ziegeln gelegen hatten. Und nur die Bosheit der Menschen war die gleiche geblieben. Dann jedoch kamen junge Leute hierher. Sie hielten sich im angenehm kühlen Schatten der Bäume auf. Sie küßten sich. Die Männer trugen Jeans, und auch die Frauen trugen Jeans. Die Männer legten ihre Hand auf den Po der Frauen, ihre weit gespreizten Finger preßten sie an den weiblichen Körper mit einer Verbissenheit und Gier, als sei jede ihrer Begegnungen die letzte. Edek verstand nicht, weshalb diese jungen Leute sich mit einer solchen Panik und Besessenheit liebten. Glaubten sie etwa nicht, daß ihnen noch eine gewisse Zeit bleiben würde? »Ich werde mit Ihnen fahren«, sagte Jan. »Dort kann ich bestimmte Personen treffen, die für mich wichtig sind.« »Sie sollten lieber heiraten«, rief Edek. »Sie brauchen eine Frau.« »Sprechen Sie bitte nicht so«, sagte Jan, wunderte sich aber selbst ein wenig, daß sein Protest nicht besonders überzeugend geklungen hatte. »Wen wollen Sie in dem Kurort treffen, wo reiche Leute zusammenkommen, um ihre Sammlungen zu bewundern?« fragte Edek Laski. »Sie haben doch keine blasse Ahnung von diesen Kunstwerken.« »Ich habe gehört, daß gewisse sehr interessante Personen nach Bad Kranach kommen.« »Wer zum Beispiel?« »Kennen Sie Joël Weiss?« »Sie machen wohl Witze«, erwiderte Laski etwas irritiert. »Natürlich kenne ich ihn. Seit hundert Jahren. Vielleicht sogar noch länger.« »Ich denke«, sagte Jan vorsichtig, »daß auch Baron Kugler -81-
dort sein wird.« Edek Laski wurde leicht blaß. Sie sahen sich scharf in die Augen wie zwei Geheimagenten. »Was sagen Sie da?« fragte Edek leise. »Aber selbst wenn, was haben Sie von einer Begegnung mit diesem Kerl?« »Ich habe ihn auf meiner Liste«, sagte Jan. »Er ist auf meiner Liste.« »Auf was für einer Liste denn schon wieder, zum Teufel?« »Auf meiner Liste eben.« »Woher haben Sie die?« »Ich habe sie auf dem Dachboden gefunden.« »Hören Sie zu, mein Freund«, sagte Edek Laski ernst, was überhaupt nicht zu ihm paßte. »Dachböden, auf denen man einst solche Listen gefunden hat, gibt es nicht mehr. Sie sind vor langer Zeit in Flammen aufgegangen. Sie waren dabei. Sie hatten sogar Ihren Anteil daran. Jetzt werden Häuser mit Dachterrassen gebaut, manchmal sogar mit Wintergärten. Aber Dachböden gibt es keine mehr, denn niemand trocknet mehr dort seine Wäsche, und niemand glaubt mehr an Gespenster.« »Aber es heißt, Baron Kugler kommt nach Bad Kranach. Für diesbezügliche Informationen wäre ich Ihnen sehr dankbar. Falls er beabsichtigt, dort hinzufahren, werde ich unbedingt mit Ihnen kommen.« »Das bedarf noch einer Überprüfung«, sagte Edek Laski etwas verlegen, da ihm klar war, daß Jan nicht davon ablassen und sich irgendwie in Bad Kranach einschmuggeln würde. »Bedenken Sie bitte, daß man dort nicht ohne Einladung erscheinen kann und auch nicht, ohne an der Ausstellung teilzunehmen. Aber was können Sie schon in Bad Kranach ausstellen? Nun, sagen Sie selbst. Fotografien aus Kindertagen? Keineswegs, denn sie sind seinerzeit verbrannt. Also vielleicht Briefmarken? Aber das ist keine philatelistische Ausstellung.« -82-
»Ich sammle keine Briefmarken. Ich weiß selbst nicht, wie ich es anpacken soll. Ich wollte mich eben in dieser Angelegenheit mit Ihnen beraten. Sie haben doch eine riesige Sammlung und sind bekannt in diesen Kreisen. Vielleicht können Sie mir einen Gefallen tun und mir einen Teil Ihrer Sammlung, die Sie auf die Ausstellung nach Bad Kranach geschickt haben, abtreten. Was spielt das schon für eine Rolle für Sie, lieber Edek? Das ist nur eine kleine Gefälligkeit für einen alten Bekannten.« »Sie sind vollkommen verrückt geworden«, sagte Edek. »Man kann doch nicht innerhalb von fünf Minuten zum Kunstsammler werden. Ich habe zweihundert Jahre dafür gebraucht.« »Sie übertreiben ein wenig«, rief Jan. »Überhaupt nicht. So etwas braucht seine Zeit... Und um glaubwürdig die Rolle spielen zu können, muß man sich auf diesem Gebiet schon ein bißchen auskennen. Sie wissen buchstäblich nichts von diesen Dingen. Solche Leute von Rang und Namen wie Fürst Kyrill oder Graham Wilson III. wird es wundern und nachdenklich stimmen, daß eine vollkommen neue Person in diesen Kreisen als Aussteller von allgemein bekannten Kunstwerken auftritt, von denen man weiß, daß sie seit langem in meinem Besitz sind. Das läßt sich doch nicht verheimlichen, Mann. Jeder x-beliebige Schuljunge wird Sie in Bad Kranach bereits beim ersten Gespräch entlarven.« »Ich werde so tun, als wäre ich stumm«, sagte Jan. Edek Laski lachte auf. Er drehte den Kopf und schaute seinem Gesprächspartner direkt in die Augen. Einen Moment schwieg er. Dann sagte er: »Es gibt keine solche Lüge, die man nicht aussprechen darf, um zur Wahrheit zu gelangen. Es gibt keinen solchen Schwur, den man nicht brechen darf, um die Treue zu retten. Ich weiß das genausogut wie Sie.« »Und jetzt?« fragte Jan. »Die Sache kriegen wir schon hin«, erwiderte Edek Laski, nachdem er einen Moment überlegt hatte. »Wir müssen uns -83-
etwas einfallen lassen. Ich weiß nur noch nicht, was, aber es wird uns etwas einfallen. Das ist der halbe Erfolg, meinen Sie nicht?! Irgendwie kriegen wir das schon hin. Sie müssen sich nicht taubstumm stellen, es reicht schon, wenn Sie keinen Blödsinn verzapfen. Haben Sie auf Ihrer Liste nur Kugler?« »Es ist auch noch Westermann drauf. Und auch Semjaschkin, wenn Ihnen diese Namen etwas sagen«, erwiderte Jan. Edek Laski schloß die Augen. Nach einer Weile sagte er leise: »Ziehen Sie mich ja nicht in diese Sache mit hinein. Verschonen Sie mich. Man sollte ein wenig Respekt vor meinem Alter haben, vor dem, was ich erlebt habe und vor meiner Erinnerung. Wie Sie wissen, gehe ich sonst immer aufs Ganze, aber gerade mit dem sollten Sie mich verschonen.« »Das kann ich nicht«, erwiderte Jan. »Zu bestimmten Sachen muß man stehen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.« »Es gibt noch so viele andere. Muß es unbedingt Semjaschkin sein?« »Alles ist in Gottes Hand. Oder Zufall, falls Ihnen das besser paßt«, sagte Jan. »Sie nehmen sich zuviel heraus«, erwiderte Edek Laski. »Das ist nicht in Ordnung. Warum denn ausgerechnet Sie?« »Ich weiß es nicht«, sagte Jan. »Glauben Sie denn allen Ernstes, daß ich zufrieden bin mit einem solchen Verlauf der Ereignisse? Denken Sie denn nicht, daß ich lieber unter ruhigen, stabilen Bedingungen leben würde, die Privilegien meines Alters auskosten, mich auf den Abgang vorbereiten, der sich ja unweigerlich nähert? Glauben Sie wirklich, daß ich aus einer Laune heraus all diese Dinge tue?« »Schon gut«, sagte Edek Laski unwillig. »Ich hoffe, daß Sie kein Glück haben werden. Es werden nicht alle dort sein.« »Doch«, sagte Jan. »Ich kann Ihnen versichern, daß alle kommen werden. Ich glaube, Sie kennen Dr. Kovacs?« -84-
»Natürlich. Er organisiert das Ganze in Bad Kranach.« »Dann fragen Sie also Dr. Kovacs, ob er vermutet, daß gewisse Personen nicht anwesend sein werden. Ich bin gespannt, was er darauf sagt.« »Ich kann ihn fragen. Das kostet nichts«, entgegnete Edek Laski barsch. Dann fügte er etwas unerwartet hinzu: »Suchen Sie sich eine Frau. So kann man doch nicht leben.« »Das kann man«, sagte Jan. »Das kann man nicht. Ich würde mich lieber in einen Sarg legen, als ohne Frau zu leben. Im Leben braucht man jemanden, zu dem man in der Frühe ›Guten Morgen‹ sagen kann.« Plötzlich änderte er den Ton. Er sagte voller Ernst und mit einer gewissen Strenge: »Wenn Sie nach Bad Kranach fahren, dann ist das so, als würden Sie sich ins Jenseits begeben. Auf einer solchen Reise sollte der Mensch nicht völlig allein sein. Schließlich braucht man am Grab ein bißchen Mitgefühl und Zuwendung.« Als er das sagte, befand er sich im Dunkeln. Er erschrak und versuchte, die Augen zu öffnen, hatte jedoch Schwierigkeiten damit, denn er spürte zwar, daß er sie öffnete, aber es umgab ihn weiterhin völlige Dunkelheit. Die Sonne ist erloschen, dachte Edek. Und er stellte sich die vollkommen vernünftige Frage, weshalb eigentlich der Herrgott die Sonne hatte erlöschen lassen. Vielleicht war es jedoch überhaupt nicht der Herrgott, sondern ein armer, unglücklicher und einsamer Mensch, erfaßt von der Obsession der Schöpfung. In dem Moment erblickte Edek einen hauchdünnen Lichtstreifen mitten in der sanften Dunkelheit. Ich bin nicht erblindet, dachte er erleichtert. Aber wo bin ich eigentlich jetzt? Ich hatte einen merkwürdigen, unverständlichen und sehr dummen Traum von einem Mann, der mit mir irgendwohin fahren wollte. Vielleicht nach Świder oder nach Otwock, aber -85-
die Ortschaft hieß anders, wie das gewöhnlich so ist im Traum. Denn im Traum halten wir uns an unbekannten Orten mit unbekannten Leuten auf, und das ist manchmal sehr angenehm, vielleicht sogar angenehmer als die Wirklichkeit. Der Mann im Traum verwechselte mich mit einem eleganten Herrn, der wertvolle Dinge sammelt. Aber was für wertvolle Dinge kann ich in meinem armseligen Leben schon sammeln? Plötzlich wurde Edek Laski böse auf den Herrgott. Mein Gott, dachte er, weshalb schickst Du mir so dumme Träume, anstatt mir den Weg nach Hause zu zeigen? Aber bereits im nächsten Augenblick vergaß er Gott und beschäftigte sich ausschließlich mit seiner persönlichen, ziemlich beschissenen Realität. Woher kommt das Licht? dachte er beunruhigt. Es ist bläulich, also muß hier irgendwo eine Karbidlampe brennen. Wenn die Schwaben∗ das sehen, dann ist die Hölle los. Und ich sitze hier, weiß nicht, wie ich hinauskommen soll, das Tor ist verriegelt, es ist mir zwar gelungen, vor diesem Polizisten auf der Straße abzuhauen, aber wegen der Karbidlampe können sie mich nun schnappen wie ein Kaninchen in einem Käfig. Verdammt, weshalb hab ich mich überhaupt in der Krucza-Straße herumgetrieben? Was will ich mit der Krucza-Straße? Das ist nicht meine Gegend, ich kenne hier niemanden, in den Häusern hier wohnen elegante Leute, die teure Bilder, Porzellan, Stiche und alte Bücher sammeln. Dem Kerl in meinem Traum ging es um etwas in der Art. Er muß aus dieser Gegend sein, sicher wohnt er irgendwo in der Nähe. Das ging Edek Laski durch den Kopf, als er zusammengekauert auf den Treppenstufen eines Hauses in der Krucza-Straße saß, das es dann nicht mehr geben sollte, außer in Edeks Erinnerung. Und dennoch hatte er gerade dort seinen prophetischen Traum gehabt, worüber man sich nicht wundern darf, denn die Welt ist voller Rätsel, und vor allem ist die ∗
In Polen ein Schimpfwort für Deutsche.
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Wahrheit mit der Unwahrheit vermischt, die Wirklichkeit mit dem Traum, die Vergangenheit mit der Zukunft, die Dunkelheit mit dem Licht und das Leben mit dem Tod. Jene Nacht war jedoch überhaupt noch nicht zu Ende, sie hatte eine für Edek erstaunlich erfreuliche Fortsetzung, dergestalt, daß sich bereits am nächsten Tag fast alles in seinem Leben veränderte. Mein Gott, dachte Edek nach Jahren, voll inniger Dankbarkeit für den Schöpfer, wie gut, daß ich damals den Lichtstreifen der Karbidlampe gesehen habe. Mein Gott, wie gut, daß Du mir in jenem Treppenhaus den geheimnisvollen Traum gesandt hast über das, was sich irgendwann in der Zukunft ereignen sollte, denn als ich erwachte, sah ich einen dünnen Lichtstreifen, und er sollte mir den Weg zeigen, wie der Stern von Bethlehem den Heiligen Drei Königen. Indem ich diesem Zeichen folgte, fand ich mein Gold, meinen Weihrauch und meine Myrrhe. Edek Laski war kein sentimentaler Mensch, er mochte keine Übertreibungen, weder in seiner Ausdrucksweise noch in seinem Benehmen und auch nicht im Zeigen seiner tiefsten Gefühle. Aber in jener Nacht entbrannte in ihm eine große Leidenschaft, entfacht durch die kleine Flamme einer Karbidlampe. Da er vom Verstand und vom Gefühl her wußte, daß seine Sicherheit bedroht war, beschloß er, die Lichtquelle zu finden, um einer Überraschung zuvorzukommen. Er ging also die Treppen hinunter, vorbei an dem schwarzen Schlund des Tores, und fast tastend, nur beim schwachen Schein eines Sterns, den die Wolken am dunklen Himmel vergessen hatten, ging er über den Hof, um sich schließlich vor einer Wohnungstür im ersten Stock des nächsten Hinterhauses wiederzufinden. Genau von dort drückte sich durch einen Spalt der leichtsinnige Schein einer Karbidlampe. Edek klopfte leise. Hinter der Tür war das Geräusch von Schritten zu hören. In dem Augenblick erstarrte Edek, da er -87-
dachte, daß, wenn die Tür aufgehe, sich ein verrückter silbrigblauer Lichtschwall ergießen und man dies mit Sicherheit in allen angrenzenden Straßen bemerken werde, denn eine solche Karbidlampe war mitten in einer Warschauer Nacht in diesen undenklichen Zeiten wie das Feuer in Rom zur Zeit Neros oder wie später die Atomexplosionen auf dem BikiniAtoll. Um also eine solche Katastrophe zu vermeiden, flüsterte Edek erregt: »Die Karbidlampe ausmachen, verdammt noch mal.« »Oje!« sagte eine Stimme hinter der Tür. Wieder war irgendein leises Geräusch zu hören, dann ein Schlurfen, und plötzlich war das Licht aus. Edek wollte gehen und machte ein paar Schritte zurück in Richtung Treppe, da er nach der Erfüllung seiner Pflicht beschlossen hatte, wieder zu seinem früheren Platz zurückzukehren und erneut irgendeinen interessanten Traum herbeizurufen. Aber in dem Augenblick ging die Tür weit auf, und auf der Schwelle stand ein Mädchen mit kupferfarbenem Haar, schlank, hochgewachsen und so unbeschreiblich schön, daß sogar im Dunkel der Nacht die ganze Welt heller wurde. »Oje«, sagte sie. »Was bin ich doch dämlich! War es weit zu sehen?« »Ich denke, bis Berlin oder noch weiter«, erwiderte Edek. »Oje«, sagte das Mädchen. »Oje.« Dann sollte sich aber zeigen, daß sie doch imstande war, Polnisch zu sprechen. Als am nächsten Tag Edek bei ihr erschien, sagte sie jedoch immer nur ›oje‹. Aber sie war vergnügt. Edek sah im Vergleich zu ihr wie ein kleiner Käfer oder wie eine ausgehungerte Wanze aus, dennoch verliebte sie sich schnell und heftig in ihn, nicht in seine Statur, in seinen Charme oder seine kräftigen Arme, sondern in seinen feinen, guten Charakter, der die Harmonie mit der Welt suchte, in seinen tiefgründigen Verstand und in sein -88-
Herz, das voll der wärmsten und innigsten Gefühle war, die ein Mensch überhaupt in sich tragen kann. Denn Edek Laski war ein anständiger Mensch, und sie war ein anständiges Mädchen, und wohl gerade deshalb hatten sie sich mitten in jener schrecklichen Nacht des Todes und der Erniedrigung gefunden. Sie wurde also die geliebte Ehefrau von Edek Laski, und er betrog sie später nach Strich und Faden. Aber er liebte immer nur sie, und für sie wurde er auch ein anderer Mensch. Sie brachte es fertig, daß er an Ansehen gewann, anfing, auf sein Benehmen zu achten, nur noch in Maßen trank und lediglich leise fluchte und daß sein Herz noch sanfter und edler wurde. Die Schönheit mit dem kupferfarbenen Haar hieß Władzia. Aber nachdem Edek Laski nach einer gewissen Zeit ein vornehmer Kunstsammler geworden war, ein Mann von Welt und ein Freund der größten Köpfe der Epoche, nannte er sie Izolda und dachte sich sogar einen passenden Lebenslauf für sie aus. Sie nahm das jedoch nie zur Kenntnis, denn sie war nicht nur schön, sondern auch aufrichtig und unkompliziert. Manchmal verließ Edek Laski sie, ging weg, zerriß die Bande, warf ihr Worte der Verachtung und sogar des Hasses an den Kopf. Es dauerte jedoch nicht lange. »Ich existiere nicht ohne meine Izolda«, pflegte er damals zu Jan zu sagen. »Sie hat eine geheime Macht über mich.« »Vielleicht ist das Liebe«, erwiderte Jan, was nichts Neues war, da jeder in der Stadt wußte, daß Edek Laski seine Frau mit dem kupferfarbenen Haar wahnsinnig liebte. Er kehrte also immer wieder zu ihr zurück. Mit dem abgewetzten Stoffkoffer aus dem kleinen Zimmer in der Wiejska-Straße stand er stets reumütig auf der Schwelle ihrer Wohnung. Seine kupferfarbene Schönheit öffnete ihm jedes Mal weit die Tür, wie in jener Nacht, als sie sich zum ersten Mal in der Dunkelheit begegnet waren. Edek Laski pflegte dann zu -89-
sagen: »Hier bin ich!« Worauf sie stets erwiderte: »Oje!« Und wieder war für eine gewisse Zeit dieser kleine Mann, Träger menschlichen Unglücks und Sammler nicht vergessener Verbrechen, ein treuer Ehegatte und Geliebter.
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7
K
assner fühlte sich müde und gereizt. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht, sein nasses Hemd klebte ihm am Rücken fest. Unter dem engsitzenden Helm, rund um den Kopf, hatte er einen nicht besonders starken, aber hartnäckigen Schmerz. Er dachte, daß es vielleicht irgendeine neue, unbekannte Krankheit sei, so etwas wie die Zersetzung des Gehirns, das im Kopf auseinanderfließt und wie eine leblose Gallertmasse zergeht. Kassner hatte keine medizinische Ausbildung, aber er war ein belesener und zu kultivierter Mensch, um nicht genau zu wissen, daß das eine fixe Idee war, dennoch konnte er sich seit einiger Zeit nicht davon freimachen. Jetzt stieg er vom Fahrrad und verspürte sofort eine Erleichterung. Er sagte zu Halberstamm: »Es ist herrlich, wenn man nicht in die Pedale treten muß.« »Wart's ab«, erwiderte Halberstamm. »Jetzt wirst du das Scheißfahrrad noch lange genug schieben.« »Mir auch recht«, sagte Kassner. Natürlich war es nicht leicht, denn die schmalen Reifen rutschten auf dem aufgeweichten, lehmigen Weg aus. Kassner selbst war recht schwer, deshalb konnte er nur unter größten Schwierigkeiten das Gleichgewicht halten. Der Weg war glitschig, schmal und voller Pfützen. Es regnete ununterbrochen. Aber es war kein starker, strömender Regen, wie man ihn vielleicht manchmal als angenehm empfindet und sich sogar darüber freut, sondern ein unerträglicher Nieselregen, eher eine Nebelnässe, die überall eindrang, so daß Kassner eine durchdringende Feuchtigkeit an Bauch und Hintern spürte. -91-
Nach einigen Schritten war er überhaupt nicht mehr sicher, ob die Idee, vom Fahrrad abzusteigen, gut gewesen war. Er spürte die Feuchtigkeit nun auch in den Stiefeln, die immer mehr im Lehm einsanken. Aber Halberstamm stieg ebenfalls vom Fahrrad ab. Jetzt gingen beide, hin und her schwankend, unbeholfen zu Fuß weiter, und der Wagen fuhr mit einem monotonen Quietschen vor ihnen her. Im Nebelgrau sah Kassner auf dem Fuhrwerk die Umrisse der geduckten Menschen, etwas weiter vorn die Hinterteile der Pferde und – in Uniform und Helm, das Gewehr über der Schulter – drei Kameraden, die auch von den Fahrrädern abgestiegen waren und sie unbeholfen die leichte Steigung hinaufschoben. Nur Westermann, irgendwo ganz an der Spitze des Zuges, saß immer noch auf dem Fahrrad, was Kassner dumm vorkam, ja sogar nicht ganz in Ordnung. Er dachte, daß Westermann wenigstens in dieser Situation eine Spur Kameradschaft und Solidarität hätte zeigen können. Ringsum umgab sie ein sehr stiller dunkler, in Nebel und Regen gehüllter Kiefernwald. Es wäre besser gewesen, wenn im Wald eine trockene Hitze geherrscht, ein heißer Juliwind die Kiefernwipfel gestreift und wenn unter Kassners Füßen sich das von der Sonne braun gewordene, verdorrte Gras umgelegt hätte. Es wäre besser gewesen, wenn das Fuhrwerk voller Menschen in einer harten Wagenspur hin und her schwankend gefahren und die Pferdehufe laut auf ausgetrockneten Erdklumpen aufgeschlagen wären. An jedem anderen Ort und zu jeder anderen Zeit wäre es besser gewesen, aber es geschah nur das, was geschah, und nichts anderes. Als der im bräunlichen glitschigen Lehm kaum sichtbare Weg sie mit einemmal seitwärts über einen sanften Berghang führte, sah Kassner die Umrisse eines Flußufers und das dunkle, moorige Wasser. »Ich habe ein beschissenes Schicksal«, sagte er zu Halberstamm. »Nichts gelingt mir in meinem beschissenen Leben.« -92-
»Nun übertreib mal nicht!« erwiderte Halberstamm. »Mein beschissenes Leben«, wiederholte Kassner mit einem gewissen Wohlgefallen. »Nichts kriege ich geregelt. Zum Beispiel jetzt. Weißt du überhaupt, was ich in meinem schönen und interessanten Leben machen wollte?« Jetzt mußten sie ihre Fahrräder kräftig festhalten, da sie am Berghang abrutschten. In Nebel gehüllt, vor ihnen der quietschende und schlingernde Wagen, auf dem die Silhouetten der schweigenden, gebeugten Menschen hin und her schwankten. Der Fluß sah aus der Nähe noch trüber aus. Sicher hatten sich hier irgendwann in einer fernen Vergangenheit oder in besseren Träumen gelbliche Sandbänke am Ufer entlanggezogen, hatten Korbweiden gerauscht, waren im hohen Schilf Wasservögel gewatet auf der Jagd nach Fröschen; vielleicht waren auch Frauen hierhergekommen, um am Fluß ihre Wäsche zu waschen, oder die Burschen des Dorfes waren lärmend über den sanften Berghang zum Fluß gelaufen, hatten sich voller Freude in die Strömung geworfen, und schimmernde Wasserfontänen waren in die Höhe gespritzt. Vielleicht hat es sich auch so zugetragen oder sollte sich zutragen, daß andere Soldaten die Pferde im Fluß tränkten und dabei ihre wilden, fremden Siegeslieder sangen, die dennoch unbeschreiblich traurig waren. Jetzt jedoch war überall ringsum ein tückischer Sumpf, dunkel und reglos wie alles in dieser Landschaft. »Ich weiß von nichts«, antwortete Halberstamm. »Du hast mir nie etwas davon erzählt.« »Ich hatte mal einen Traum, daß ich ein berühmter Sammler von schönen Kunstgegenständen sei. Ich nahm sogar an verschiedenen Ausstellungen teil und tauschte diese Kunstgegenstände mit sehr vermögenden Leuten, die mich schätzten und zu mir sagten, daß ich eine hervorragende Kunstsammlung besitze...« »Was für eine Kunstsammlung?« fragte Halberstamm, der -93-
vom Land war, als Kind Kühe gemolken, sie jeden Morgen, unabhängig vom Wetter, mit zwanghafter Regelmäßigkeit auf die Weide getrieben hatte, wo er stundenlang im Gras gelegen, die Wolken am Himmel betrachtet und davon geträumt hatte, Lehrjunge und dann Geselle bei einem Müller zu werden. »Von was denn schon wieder für einer Kunstsammlung hast du geträumt, lieber Kamerad Kassner?« »Von verschiedenen, sehr schönen Kunstgegenständen«, erwiderte Kassner. »Das ist doch jetzt ohne Bedeutung. Aber alle waren wertvoll und wunderschön. Es war aber kein prophetischer Traum, kann ich dir sagen. Nichts ist daraus geworden, denn ich habe nicht einmal einen eigenen anständigen Becher. Mein Leben ist vollkommen beschissen. Muß ich denn jetzt das Fahrrad hinter diesem Fuhrwerk herschieben, während andere Karten spielen, wunderschöne Kunstgegenstände sammeln oder reizende junge Mädchen begrapschen? Sag selbst, ist das gerecht?« »Aber nein«, erwiderte Halberstamm, der einen recht sanften, in gewisser Weise auch schwachen Charakter hatte. Halberstamm war gern mit jedem in Harmonie, was nicht immer von Nachteil sein muß. Schließlich sehnte er sich danach, mit sich selbst auch im reinen zu sein, was aber überhaupt nicht so einfach war. Halberstamm konnte ein Lied davon singen, da es ihm nicht immer gelang. Als er die Kühe gemolken und auf den grünen Weiden gehütet hatte, war es sein sehnlichster Wunsch gewesen, Geselle bei einem Müller zu werden, woraus allerdings nichts geworden war. Das Schicksal hatte es gewollt, daß Halberstamm Soldat und Henker unschuldiger Menschen wurde, und in späterer Zeit – wovon er jedoch noch nichts wußte, als er das Fahrrad den Berghang hinunterschob zu einem unbekannten Fluß – sollte er ein allgemein geachteter Geheimdienstfunktionär werden. Die Pferde, die das Fuhrwerk zogen, schüttelten heftig ihre Mähnen, eines wieherte leise. Der Wagen quietschte und blieb -94-
unerwartet stehen. Kassner hörte die Rufe des Kutschers, sah im Nebel, wie eine Peitsche auf die Hinterteile der Pferde niederging; die Pferde zerrten, das Fuhrwerk blieb jedoch mit der Achse fast im lehmigen, aufgeweichten Gras stecken. Irgendwo vorn ertönte der durchdringende Ruf Westermanns: »Vom Wagen runter!« Die Leute stiegen unsicher und schweigend vom Wagen ab. Sie waren eng aneinandergepreßt, als wollten sie sich mit den Schultern berühren. Im Nebel hatten sie undeutliche, verschwommene Gesichter, die wie graue Flammen vor einem grauen, etwas dunkleren Hintergrund aussahen. Plötzlich erblickte Kassner einen dieser Menschen, der sich abrupt zur Erde bückte. Er rief ihm sofort zu: »Nicht bücken! Aufrecht stehen!« Der Mensch richtete sich hilflos auf. Kassner schob sein Fahrrad weiter, war jetzt näher und sah deutlicher sein Gesicht. Es war schmal, fast asketisch. Der Mann trug einen kurzgeschnittenen Spitzbart sowie einen Oberlippenbart und sah aus wie ein Lehrer aus der Provinz. Und er war auch ein Lehrer aus der Provinz. Er hatte in seinem Heimatort am Gymnasium Mathematik unterrichtet. Jetzt stand er aufrecht vor Kassner. Er trug einen dunklen Wintermantel mit Biberpelzkragen, auf dem Kopf eine Melone, um den Hals einen mit viel Sorgfalt und Liebe gestrickten Wollschal. Reglos stand er da. Kassner rief jedoch: »Es ist nicht erlaubt, sich zu bewegen!« »Ich habe mein Binokel verloren«, sagte der Mann. »Ich möchte mein Binokel aufheben.« Kassner trat zurück und zog das Fahrrad zu sich heran. »Wo ist das Binokel?« fragte er. »Ich wollte es gerade suchen«, erwiderte der Mann. »Nun gut«, sagte Kassner, und der Lehrer bückte sich, um das Binokel aufzuheben. Es lag direkt vor seinen Füßen, die in abgetragenen schwarzen Gamaschen steckten. Er setzte das -95-
Binokel auf die Nase, und sofort nahm sein Gesicht einen würdigeren, ernsteren Ausdruck an. Kassner wurde verlegen. Erneut spürte er, wie ihm der Schweiß an den Schläfen herunterlief. Es regnete weiterhin, die Kiefern standen reglos da, ein Pferd wieherte; der Morgen war recht warm für diese Jahreszeit, vielleicht war es November, vielleicht März, ein feuchter und scheußlicher Tag. Kassner hatte plötzlich das Gefühl eines allgegenwärtigen Betrugs. Die Pferde zerrten, und der Wagen rollte langsam den Abhang hinunter. »Aufsteigen, aufsteigen!« rief Westermann, und die Menschen fingen an, auf den Wagen zu klettern, aber erneut, wie zuvor, waren sie sehr eng aneinandergepreßt, einer neben dem anderen, hautnah, Schulter an Schulter, einige hielten sich sogar an der Hand wie kleine Kinder. Kassner schob sein Fahrrad durch das hohe, dichte Gras, dort war es doch etwas leichter. Das Wasser gluckerte unter dem Gewicht der Soldatenstiefel, aber dennoch war es leichter als auf dem Weg, denn das Fahrrad leistete nicht mehr so starken Widerstand. Halberstamm sagte: »Jetzt können wir wieder fahren.« Aber er stieg nicht aufs Rad, als wenn er auf Kassner warten wollte. Kassner sagte jedoch: »Was hab ich für ein beschissenes Leben! So sieht mein beschissenes Leben aus.« Eine Viertelstunde später taten sie das, was sie mußten. Sie konnten sich dem nicht entziehen. Allerdings läßt sich nicht mit letzter Gewißheit sagen, ob sie sich dem hätten entziehen wollen, wenn eine solche Möglichkeit damals bestanden hätte. Sicher handelten sie so, da sie zu einer geheimnisvollen Täuschung ihrer Seelen imstande waren, denn sie befanden sich damals an einer Grenze, die immer rätselhaft und unklar bleibt und schwer zu finden ist. Dort, wo sie sich befanden, erstreckte sich ein Niemandsland. Zum Teil gehörte es zu einem jeden von -96-
ihnen, denn auf der einen Seite war ihr eigenes Leben, ihre Wahl, Schwäche, Furcht und ihre eigene Unwissenheit, aber auf der anderen Seite erstreckte sich ein Land der Gemeinschaft, über dem niemals weder die Sonne noch Sterne scheinen, und dort ist es immer kalt durch eine Anhäufung des Bösen. Indem sich Halberstamm auf dieser Grenze befand, und vielleicht auch Kassner, erinnerten sie sich überhaupt nicht daran, daß sie einst eine Mutter, einen Vater und Geschwister gehabt hatten. Sie vergaßen sogar für eine gewisse Zeit ihre Bedenken und Zweifel, ob Gott möglicherweise existiert, obwohl sie doch zur Gottesfurcht erzogen worden waren und die Zehn Gebote auswendig kannten, da sie sie einst hatten aufsagen müssen, um eine anständige Note zu bekommen und in die nächste Klasse versetzt zu werden. An dieser Grenze jedoch erinnerte sich keiner an diese Art von Fragen, denn mit dem einen Fuß befand er sich wohl auf seinem eigenen Land, voller Angst, Erniedrigung und Schmerz, aber mit dem anderen Fuß steckte er in irgendeinem unvorstellbaren Dickicht kollektiver Verstrickungen, von denen niemand bis heute eine Ahnung hat, obwohl doch so viele schon dort waren, so viele heute dort sind und so viele in Zukunft dort sein werden. Dann rief Westermann den Bauern zu, sie sollten die Leichen mit Schaufeln zuschütten und die große Grube einebnen. Die Pferde, die vor den leeren Wagen gespannt waren, schüttelten ihre Mähnen. Der Nebel sank, aber die Feuchtigkeit lag immer noch in der Luft. Es gab keine Sonne, nur graue, dunkle Wolken zogen über die Köpfe hinweg. Als sie von dort weggingen, trat Kassner mit dem Stiefel auf das Binokel, das noch auf der Wiese lag. Dieser Mensch, jetzt wieder ohne Binokel, war in der Grube, zum Teil von Gras und frischer, feuchter Erde bedeckt. Kassner bückte sich, hob das Binokel auf und warf es dann mit einem leichten Seufzer in die große Grube. Er dachte mit Bedauern und Mitgefühl an den Menschen, der dieses Binokel verloren hatte. Er dachte, daß er -97-
selbst, Kassner, ein beschissenes Leben habe. Er warf einen Blick auf Halberstamm, der ihm weniger vom Pech verfolgt zu sein schien. Und Westermann erst, der war mit Sicherheit ein Auserwählter des Schicksals. Genau so dachte Kassner. In dem Augenblick tauchte Westermann vor ihm auf. Sein Gesicht war müde und blaß. Er sagte: »Wegen alldem muß etwas unternommen werden. So kann es nicht weitergehen.«
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E
dek Laski sagte: »Als Kind hatte ich eine tolle Nummer mit einem Ei.« Er sagte das so, als ob es sich um eine Angelegenheit sexueller Natur gehandelt habe, was Jan überhaupt nicht erstaunt hätte, da Edek Laski als ein großer Schürzenjäger galt. In jungen Jahren hatte er ein ungewöhnlich schönes Mädchen mit kupferfarbenem Haar und länglichen grünen Augen geheiratet – geradezu das Modell, das Symbol und die Verkörperung wunderbarer Weiblichkeit – während Laski klein, schmächtig und dünn war, mit dunklem Kraushaar und dazu ein Draufgänger, Schwerenöter und Säufer. Er heiratete also diese schöne Person, hatte dann aber verschiedene Liebschaften mit sehr häßlichen Frauen. Jan traf ihn damals oft in den Kneipen inmitten der Warschauer Ruinen. Laski zeigte sich jedes Mal mit einer anderen, wenig anziehenden Begleiterin. Einmal fragte Jan voller Neugier, die er nicht verbergen konnte: »Wie kommt es, daß Sie so eine reizende Gattin haben, sich aber mit verschiedenen Weibern herumtreiben, die es nicht einmal anzuschauen lohnt?« Da fing Laski hemmungslos und mit einer gewissen Überlegenheit an zu lachen und gab ihm dann zur Antwort: »Mein lieber Freund, wichtig ist, daß es eine andere ist. Unwichtig, was für eine, Hauptsache, es ist eine andere.« Und genau darauf beruhte seine Lebensphilosophie. Als er also sagte, er habe ein Ding mit einem Ei gehabt, hätte man natürlich denken können, daß es um ein Abenteuer mit einer Frau gegangen war. Es war aber nicht um eine Frau gegangen. -99-
Edek Laski sagte: »Ich hatte ein Ding mit einem Ei. Die Erinnerung daran mildert meinen Schmerz. Ich war so ein kleiner Dreckspatz mit rosigem Popo, von vielleicht zwei, drei Jahren. Und ich erinnere mich noch hervorragend daran, erinnere mich so daran, daß noch alles direkt greifbar ist, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich trug einen Samtanzug. Dieser Anzug war dann über viele Jahre auf einer Fotografie von mir zu sehen, bis sie zusammen mit der ganzen Stadt und vielleicht mit der ganzen Welt in Flammen aufgegangen ist. Das wissen wir bis heute nicht. Immer hab ich mir gerührt diese Fotografie angesehen. Sogar als ich schon vollkommen erwachsen war, die Weiber vögelte, eine nach der anderen, hing über meinem Bett in der Wohnung in der Śliska-Straße immer noch das Bild des kleinen Jungen im Samtanzug. Dort hing sonst nichts mehr, ich kann mich jedenfalls an nichts anderes mehr erinnern. Auf den Anzug war eine kleine Halskrause gestickt. Vielleicht hat meine Großmutter sie gestickt, das weiß ich nicht, ich könnte es jedenfalls nicht beschwören. Meine Großmutter wurde später zufällig in der Długa-Straße getötet, während einer chaotischen Schießerei. Sie war zu ihrer Bekannten, einer Wäscherin, gegangen, die noch schwarz mit Fleisch handelte. Als Großmutter bereits auf dem Nachhauseweg war, geriet sie plötzlich in eine Schießerei. Die Deutschen wollten einen aus dem Untergrund schnappen, und der leistete Widerstand. Großmutter war schon sehr alt, vielleicht war ihr Alter daran schuld, daß sie dieser Schießerei nicht entkommen konnte. Aber ich bin jetzt noch älter, als sie damals war. Und gerade das verstehe ich nicht, daß plötzlich ein Mensch älter ist als die eigene Großmutter oder der eigene Großvater. Nun, ist es nicht so auf der Welt, daß das vorkommt, und dann kann der Mensch für sich keinen Platz finden?« Da meldete sich Dr. Skowronek zu Wort. Er war ein breitschultriger und kräftiger Mann mit dunklem Teint, dunklen Haaren und dunklen Augen, einem Zigeuner -100-
ähnlich, aber vielleicht auch einem kräftigen Juden aus früheren Zeiten, als es auf der Welt noch jüdische Möbelpacker, Ringkämpfer und sogar Schwergewichtsboxer gab, die in den Farben der verschiedenen jüdischen Sportklubs auftraten. Daran konnte sich nur Edek Laski noch erinnern, und wenn auch Jan sich daran erinnern konnte, dann nur aus zweiter Hand, wie an ein Bruchstück aus einer uralten Erzählung, die man irgendwo und irgendwann mal gehört hat und die derart anachronistisch ist wie damals die Sache mit dem Kameraden Westermann, als er Joël Weiss denunzierte, dieser habe das Eiserne Kreuz mißachtet und sogar aufs gemeinste entehrt. Das sollte den beiden Menschen vor undenklichen Zeiten widerfahren und sollte später wieder in Erinnerung gerufen werden, um immer noch gegenwärtig zu sein, im Gegensatz zu den Möbelpackern, Ringkämpfern und Boxern, die nicht mehr zurückkehrten, oder höchstens in Jans Phantasie. Denn das Schicksal hatte ihm dieses Privileg verliehen oder vielleicht eher diesen Fluch, sich die vergangenen, verblaßten, vergessenen, versteckten, unsichtbaren, aber dennoch ständig in den menschlichen Träumen präsenten Dinge in Erinnerung zu rufen, kurz vor dem Morgengrauen, wenn meist die Gespenster kommen. Dr. Skowronek war also diesen jüdischen Möbelpackern oder Boxern der Vorkriegszeit äußerlich sehr ähnlich, was jedoch nichts besagt, da er ein modern denkender und empfindender Mensch war, frei von Ressentiments und unbelastet von Erinnerungen. Dr. Skowronek wandte sich an Edek Laski mit besorgter Stimme, aber auch mit Nachdruck: »Sprechen Sie nicht soviel, denn das nimmt Sie zu sehr mit.« Dr. Skowronek und Jan saßen in den Sesseln an der Wand, und ihnen gegenüber lag Laski in einem breiten Bett, das sehr bequem und weich wirkte; aber so war es vielleicht nur in der Erinnerung derjenigen, die nicht darin lagen, sondern auf den Sesseln saßen und mitfühlend Edek Laski ansahen. Dieser hatte einen kleinen Kopf und kleine Hände, die auf der Bettdecke -101-
ruhten. Jan dachte damals, daß diese Hände wie tote Vögel aussahen. »Es wird nicht lange dauern«, sagte Laski, »bis es mir wieder gutgeht, ich bin überhaupt nicht erschöpft. Sobald ich erschöpft bin, sage ich es Ihnen. Im Moment habe ich nicht die Absicht, zu sterben, ich habe noch bestimmte Dinge zu erledigen.« »Gut«, sagte Dr. Skowronek und seufzte biblisch. Laski lachte unbefangen auf: »Sie denken, daß ich schon den Geist aufgegeben habe, Herr Doktor. Aber wenn ich in den letzten Zügen liege, dann wird es dunkel. Im Moment ist es noch hell.« »Nun ja«, sagte daraufhin Jan etwas skeptisch, denn im Zimmer war es überhaupt nicht hell, es herrschte eher Halbdunkel, der Herbst ging seinem Ende entgegen, aber vielleicht war es auch ein bewölkter Sommer- oder Frühlingstag, es wehte ein scharfer Wind, der die Wolken am Himmel jagte. Der Wind bog die Bäume um, sie verloren ihre Blätter, und überhaupt war es ein unangenehmer Tag. Jan war gekommen, weil Dr. Skowronek ihn angerufen und ihm gesagt hatte: »Kommen Sie zu Laski, er hat nur noch sehr wenig Zeit vor sich, es besteht sogar die Möglichkeit, daß er den Abend nicht mehr erlebt...« Als Jan das hörte, wollte er sofort aus dem Haus gehen und mit dem Auto zu Edek Laski fahren, um ihn ein letztes Mal zu besuchen. Das kam jedoch Monika zu Ohren. Sie sollte bald nach dem Tod ihrer kleinen Tochter so sterben, wie diese gestorben war: still und unbemerkt und dadurch viel schrecklicher als andere, zum Beispiel diejenigen, die im Krieg umgekommen oder an der Wand eines Mietshauses erschossen worden waren oder den Todesstoß durch einen Aufpasser im Schneegestöber am Polarkreis bekommen hatten – oder noch anders: als jüdischer Möbelpacker mit dem Spitznamen Känguruh, der ganz einfach vor Hunger und Durst beim -102-
Transport in die Gaskammer gestorben war, was man für eine große Vorzugsbehandlung und Gnade Gottes halten kann. In dem Augenblick also, als Jan die Absicht hatte, aus dem Haus zu gehen, um den schwerkranken Edek Laski zu besuchen, stand Monika in der Tür. Damals war sie noch am Leben und noch nicht erfüllt von der Trauer und dem Schmerz der Mutter einer toten Tochter, sondern sie erwartete gerade ein Kind. Sie sagte, es gebe keinen Grund, Edek Laski, diesen leichtsinnigen Menschen, so oft zu besuchen. Als jedoch Jan verkündete, daß Laski möglicherweise nicht einmal den Abend erleben werde, erwiderte Monika kühl, daß man Laskis Worten keinen Glauben schenken dürfe, denn er habe eine seltsame Einstellung zum Leben, habe schon mehrmals überall herumerzählt, er liege im Sterben. Bald darauf habe sich jedoch gezeigt, daß es sich nur um einen schlechten Witz dieses unerträglichen Menschen gehandelt habe. Jan entgegnete jedoch, daß ihn die Freundschaft verpflichte, und fuhr in die Wiejska-Straße, wo in einem großen Jugendstilmietshaus, das den Krieg überstanden hatte und das später die ganzen Jahre hindurch in seinen von Kugeln und Granatsplittern pockennarbigen Mauern die Spuren der Vergangenheit trug, wo sich also im Parterre des Hinterhauses, in einem dunklen, armselig möblierten Zimmer in selbstgewählter Agonie, die sich bald als vorübergehend erweisen sollte, sein Freund Edek Laski befand. »Ich hatte also so einen Anzug«, sagte der Sterbende. »Und später trug ich auch so einen, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Unterbrechen Sie mich nicht, denn es ist kurz und wichtig.« »Ich unterbreche Sie nicht«, sagte Dr. Skowronek. »In diesem Anzug saß ich am Tisch in einem Speisesaal so groß wie eine Scheune. An den Wänden bewegten sich riesige Schatten, und zwischen den Schatten hingen irgendwelche Bilder. Mitten im Zimmer ein Tisch, groß, schwer und mit einem Tischtuch bedeckt. Auf dem Tischtuch verschiedene -103-
Teller und Silber. Der Glanz der Beleuchtung spiegelte sich darin. Wie heißt das? Vielleicht sagt ihr es mir...« »Wie heißt was?« fragte Dr. Skowronek, aber Jan, der Edek Laski gut kannte, sagte sofort wohlwollend: »Das heißt Tafelgeschirr, aber das mußten Sie damals noch nicht wissen, es genügte, sich einfach auszudrücken, daß das ein Teller, ein Löffel, daß das weiß der Teufel was war, natürlich wenn Sie Ihre Erzählung auf die uralten Zeiten beziehen, als Sie noch das Kind armer Eltern waren und nicht so eine berühmte Person wie heute, für die das Tafelgeschirr ein Untersuchungsobjekt ist, ich würde fast sagen, ein wissenschaftliches.« Dr. Skowronek nickte, und Laski sprach weiter: »Sie wissen ja, daß das, wovon ich spreche, sich auf die damalige Zeit bezieht und nicht auf die heutige, denn alles bezieht sich auf das, was war, und nicht auf das, was ist oder sein wird, falls natürlich wir selbst dem Leben mit dem nötigen Ernst begegnen. Ich stimme Ihnen zu, daß ich heute mehr über Tafelgeschirr sagen könnte als Sie beide zusammen, aber ich will die Atmosphäre jener Zeit bewahren. Wie ich also bereits gesagt habe, hatte ich eine Nummer mit einem Ei. Ich aß ein ›Ei im Glas‹, das mir sehr gut schmeckte. Und da fragte mich eine hochgewachsene, hellblonde und schöne Dame, wie aus irgendeinem Märchen, ob ich ein zweites so leckeres Ei essen wolle. Ich nickte mit dem Kopf. Damals hatte ich noch einen kleineren Kopf als heute. Denn es verhält sich so merkwürdig mit dem Menschen: Es kommt eine Zeit, da er schrumpft. Neuerdings bin ich schon sehr viel weniger geworden. Aber damals war ich noch weniger. Ich nickte also mit dem Kopf und freute mich auf das nächste Ei. Aber jemand lenkte mich ab, dann sah ich das Ei, und die schöne Dame sagte, ich solle es essen. Sie sagte wohl so: ›Edek, iß das zweite Ei...‹ Na, so was, mir eine solche Nummer zu bereiten, bis auf den heutigen Tag kann ich das nicht begreifen. Ich war doch noch ein kleines Kind, zwei, drei Jahre alt. Stellen Sie sich bitte vor, daß, als ich nur auf die Eierschale klopfte, -104-
diese ins Glas fiel, denn sie war innen leer – jemand hatte das Ei bereits gegessen und die leere Eierschale im Glas umgedreht. Das sollte ein kleiner Streich dieser Dame sein, vielleicht sogar ein pädagogischer, eine Lehre, sich bei Tisch gut zu benehmen, oder so was Ähnliches. Aber ich fing an zu weinen. Nie mehr im Leben habe ich später so geweint.« Als er dies jedoch sagte, fing er auch an zu weinen. Seine Hände blieben reglos auf der Bettdecke liegen, er bewegte nur leicht den Kopf, weinte aber heftig und herzzerreißend. »Weinen Sie nicht«, sagte Jan. »Was bedeutet für Sie schon ein Ei...« »Ich sterbe«, sagte Laski. »Noch nicht«, widersprach ihm Dr. Skowronek. »Die Zeit dafür kommt erst noch.« »Ich habe viel erlebt, habe verschiedene Frauen gehabt, Kriege und Irrfahrten hinter mir und bereue nichts«, sagte Laski. Er schneuzte sich in sein Taschentuch, einmal und ein zweites Mal. Er weinte nicht mehr, sondern lag reglos da und schaute zur Decke. »Verflixt noch mal«, sagte er nach einer Weile in einem etwas anderen, ruhigeren Ton. »Ein wenig freut mich eine Sache.« »Was denn?« fragte Dr. Skowronek freundlich. »Wissen Sie«, sagte Laski, »diese Dame, sie war damals erwachsen, ich aber war noch ein Knirps. Sie ist mir schon lange vorangegangen. Vielleicht war das sogar diese berühmte Frau Winowska.« »Was denn schon wieder für eine berühmte Frau Winowska?« fragte Dr. Skowronek, denn er persönlich hielt sich für sehr präzis. Er wollte alles einordnen, sogar die Worte von Sterbenden oder von Menschen, die im Leben nicht zurechtkommen. Deshalb erkundigte er sich nach dieser geheimnisvollen Person, die er später in seinen ärztlichen -105-
Memoiren erwähnen wollte als eine rätselhafte Gestalt, die auf sonderbare Weise mit einem Ei sowie mit Laskis Kindheit und Alter verbunden war. Darauf sagte der Kranke: »Frau Winowska war die Besitzerin des Hauses, in dem meine Mutter wohnte, als ich ein kleines Kind war. Wenn es Sie interessiert, Frau Winowska war weiß der Teufel wie reich, sie hatte einige Mietshäuser in der Stadt, aber auch, wie es schien, ein überaus gutes Herz, und deshalb lud sie manchmal, aus einer Laune heraus, arme Kinder zu sich ein. Sie soll ein außerordentlich schönes Gesicht gehabt haben, und die gebildeteren Leute aus ihrer Umgebung sagten, sie habe wie die Sixtinische Madonna ausgesehen. Ich weiß nicht, ob das gestimmt hat, denn an das Gesicht kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber wenn es Frau Winowska war, dann ist sie ohne Frage während des Krieges umgekommen. Damals war ich Möbelpacker in der Firma Kassner. Ich schleppte die schweren Lasten für die Deutschen und konnte irgendwie leben. Und ich lebe immer noch, obwohl ich nicht einmal mehr die Kraft habe, die Bettdecke hochzuheben. Aber zu der Zeit konnte ich riesige Kisten heben. Ich bin nicht groß und eher schmächtig gebaut, und dennoch war ich einst ein hervorragender Möbelpacker. Was für Zeiten, was für Zeiten... Zum Beispiel die Firma Wesoły und Tennenbaum. Sagt Ihnen das was?« »Und ob«, entgegnete Jan, der sich an die gelben Fuhrwerke und die überaus kräftigen Pferde der Firma erinnerte und sogar an einiges mehr, was er aber während des weiteren Gesprächs nicht erwähnte. »Sehr viel sagt mir das.« Dr. Skowronek beging jedoch eine grobe Taktlosigkeit, da er sich bei diesen Worten einschaltete: »Was denn schon wieder für ein Wesoły?! Meine Herren, einen letzten Rest an Ehrlichkeit sollte man bewahren. Das gehörte doch alles Tennenbaum. Wesoły war ein ganz gewöhnlicher Dieb und Kollaborateur.« »Verlassen Sie mein Haus!« schrie da mit kräftiger Stimme -106-
Edek Laski. »Wenn Sie das nicht zurücknehmen, dann will ich nichts mehr mit Ihnen zu tun haben! Ich werde sogar zu einer anderen Zeit und an einer ganz anderen Krankheit sterben, wenn nur Sie nicht dabei sind. Wie können Sie es überhaupt wagen, solche unüberlegten Dinge von sich zu geben! Wo haben Sie nur diesen Blödsinn gehört? Ich bin Zeuge des Ereignisses. Deshalb fühle ich mich beleidigt. Sind wir schon so weit, daß jeder xbeliebige Grünschnabel ungestraft die Geschichte verdrehen darf, da alle Zeugen bereits unter der Erde liegen und es niemanden mehr gibt, der ihm dafür eine in die Fresse haut? Woher haben Sie das, daß Wesoły den alten Tennenbaum bestohlen hat? Die beiden waren Kompagnons, haben anständig zusammengearbeitet, später gab es einen schrecklichen Brand, und die beiden kamen im Feuer um. So also sieht die Wahrheit aus...« Dr. Skowronek senkte schuldbewußt den Kopf und sagte leise: »Ich entschuldige mich für die unverantwortlichen und ungerechten Worte. Jemand hat mir diesen Schwachsinn erzählt, und ich wiederhole ihn völlig unkritisch, wodurch ich Ihnen nicht die nötige Achtung entgegenbringe. Es ist gar keine Frage, daß Sie es besser wissen, denn Sie können sich erinnern.« »Das ist gar nicht so eindeutig«, sagte Jan, da ihm bestens bekannt war, daß irgendwann in der Zukunft die Erinnerung nicht eindeutig der Wahrheit entsprechen wird, daß sich im Gegenteil das Gedächtnis nicht nur als trügerisch erweisen wird, sondern auch als trügerischer denn jegliche Vorstellung, derart, daß bei manchen Menschen der brennende Wunsch entsteht, alles, was sie im Gedächtnis behalten haben, noch einmal zu wiederholen, um es diesmal noch schmerzlicher zu erleben, denn sonst wird sich alles, woran man sich erinnert, als reine Fiktion erweisen. »Nun gut«, sagte Edek Laski. »Wie dem auch sei... Damals schleppte ich so viele Kisten, genug für den Rest meines Lebens. Bei Wesoły und Tennenbaum schleppten wir armselige -107-
Sachen. Manchmal ist die Armut verdammt schwer, mehrere Mann vermögen sie kaum hochzuheben. Sogar Känguruh, der Stärkste von uns, keuchte oft.« »Dieser Känguruh sollte später auf dem Transport an Hunger, Durst und Erschöpfung sterben«, sagte Jan. »Nein«, entgegnete Edek Laski. »Er wurde von dem Deutschen Oskar Kugler an der Lagerrampe getötet.« »Nein«, widersprach Jan. »Er starb an Hunger im Waggon. Kugler tötete Känguruhs Bruder. Der hieß Mäuserich oder so ähnlich.« »Nein«, sagte Edek Laski nochmals zornig. »Der jüdische Möbelpacker Känguruh wurde von dem deutschen Offizier Kugler getötet.« »Waren Sie etwa dabei?!« rief Jan anklagend. »War ich nicht«, erwiderte Laski. »Aber ich habe alles genau im Gedächtnis behalten.« »Vielleicht hat es Ackermann getan«, sagte Jan versöhnlich. »Sie werden diese Lücke nicht mehr schließen können, lieber Edek. Und ich auch nicht. Wir wissen nur, was sich ereignen kann. Aber das, was sich bereits ereignet hat, wissen wir nicht. Und werden wir auch nie wissen.« »Ja, ja«, sagte Edek Laski, von Jans Haltung beeindruckt. »Sie haben recht. Die Zeit fließt dahin, aber wir treten auf der Stelle, verankert, an einen Felsen am Ufer geschmiedet, und starren nur auf diese unheilverkündende, silbrige Strömung, die uns vor den Augen flimmert wie die Schuppe eines riesigen Ewigen Fisches oder vielleicht wie der Fehdehandschuh des Herrgotts, den er uns als Herausforderung zuwirft. Und deshalb kommt mir manchmal der merkwürdige Gedanke, daß ich weiß, was sich in den riesigen Kisten der Firma Kassner befand, die ich während des Krieges abladen mußte.« »Und was war in diesen Kisten, mein Lieber?« fragte Dr. -108-
Skowronek. Aber gerade in dem Augenblick quietschten die Sprungfedern des Betts, in dem der kranke Edek Laski lag, und durch dieses Quietschen verschwand sofort die ganze Metaphysik aus dem Zimmer, und nur ihr Geruch blieb, vermischt mit dem Staub und dem Zigarettenrauch, da Edek Laski ein leidenschaftlicher Raucher war. »Was sich in diesen Kisten befand, weiß ich jedoch bis heute nicht, verflucht noch mal«, sagte der Kranke mit sehr kräftiger, deutlicher, vielleicht sogar zorniger Stimme. »Da waren sicher Südfrüchte drin«, sagte Dr. Skowronek versöhnlich, womit er sich jedoch erneut historisch im Irrtum befand und den Patienten verärgerte. »Sind Sie verrückt geworden!?« rief Laski. »Südfrüchte? Damals? Ich sage Ihnen, dann lieber sterben, als sich einen solchen Blödsinn anhören zu müssen. Es war Krieg. Hitler. Und Sie kommen mir mit Orangen.« »Regen Sie sich nicht so auf, mein Lieber«, versuchte Dr. Skowronek ihn zu beruhigen. Jan hingegen zeigte sich unnachgiebiger. Er sagte: »Das mit den Orangen ist gar nicht so abwegig. Schließlich war es eine deutsche Firma, die für wichtige Persönlichkeiten im Generalgouvernement arbeitete; diese Persönlichkeiten konnten doch ein unstillbares Verlangen nach Orangen gehabt haben, und dann schaffte die Firma sie sofort herbei, denn zu der Zeit konnten diese Leute alles bekommen, was sie wollten, außer dem Seelenheil.« Genau so hatte sich Jan ausgedrückt, als er zusammen mit Dr. Skowronek am Bett von Edek Laski saß, der damals mal wieder von der Laune gepackt worden war, zu sterben. Einige Zeit später wurde Edek Laski gesund und kehrte zurück zu seiner Beschäftigung als großer und scharfsinniger Kunstsammler, der von Zeit zu Zeit sogar mit dem Fürsten Kyrill korrespondierte. Damals freilich, als das Gespräch über -109-
das Ei stattgefunden hatte, hatte Edek Laski seine Korrespondenz noch auf Umwegen schicken müssen, denn es hätte sonst buchstäblich keine Chance bestanden, daß sie Fürst Kyrill und seinesgleichen, die in der weiten Welt lebten, erreicht hätte, während Edek Laski, Jan, Dr. Skowronek und auch Semjaschkin, der noch in Erscheinung treten wird, in einer engen, beschränkten, dunklen, abgeriegelten Welt lebten, wo die Herzen der Menschen ausgetrocknet waren, in einem Klima der Nichtigkeit eingefroren. Nur die schreckliche, ohnmächtige Wut und die Erinnerung an die Vergangenheit erwärmten ihre verfluchten Seelen.
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9
I
m Morgengrauen kochte er sich stets seine Suppe auf einem kleinen Spirituskocher, den er sich durch eine Erpressung verschafft hatte. Dieser Methode hatte er sich schon oft erfolgreich bedient, denn mit den Jahren hatte er eine rechte Übung bekommen und auch Gefallen daran gefunden. Manchmal dachte er, daß so etwas Ähnliches in früheren Zeiten die großen Eroberer wohl auch empfunden haben mußten. Aber er hatte weder sein Cusco noch sein Eldorado, er hatte sich einfach einen Spirituskocher verschaffen müssen; so hatte er einem Weib in der Siedlung Kamienna Angst eingejagt und war sofort mit dem Spirituskocher unterm Arm zurückgekehrt. Im Morgengrauen kochte er sich also seine Suppe, aber zum Frühstück begnügte er sich mit Käse, Brot und geräuchertem Fisch. Erst gegen Abend, wenn die Dämmerung anbrach, wärmte er die Suppe auf und aß sie, auf der Veranda sitzend, mit großem Appetit. Die Natur war jedoch rauh, bei Sonnenuntergang wurde es immer kühl, und Semjaschkin konnte nicht so lange auf der Veranda bleiben, wie er gern gemocht hätte. Die Veranda war klein und aus Holz, um das Haus herum standen junge Kiefern. Wenn er auf der Bank saß, mit dem Rücken an die sonnengewärmte Bretterwand des kleinen Hauses gelehnt, konnte er in Ruhe die Kiefern und die Sandhügel am Horizont betrachten. Weiter entfernt erstreckte sich ein dichter Wald. So verbrachte er oft die Abende, denn er liebte die Stille und den Anblick der Sonne, die langsam zwischen den Kiefernwipfeln unterging, dann auf die Sandhügel herabsank, -111-
um am Ende vollkommen zu verschwinden und nur noch einen roten, immer dunkler werdenden Streifen hinter den Bäumen von sich erkennen zu lassen. Es wurde kühl, und Semjaschkin mußte ins Haus gehen. Das Holzhaus, in dem er wohnte, war nicht sehr groß, aber Semjaschkin wohnte darin ganz angenehm und bequem, denn er war nie an großen Luxus gewöhnt. In dem kleinen Raum unten herrschte sanfte violette Dämmerung, und in der Luft hing der Duft von Kiefernnadeln, warmem Sand und verstaubtem Gerümpel, denn Semjaschkin fegte nicht gern seine Wohnung, und den Staub wischte er auch fast nie von den Möbeln, da er mit einer baldigen Veränderung seines Schicksals rechnete. Im oberen Stockwerk hatte er einen bequemen Platz zum Schlafen und Nachdenken – einen kleinen Raum, etwas stickig, da er sich tagsüber durch das Dach aufheizte. In dem Raum stand ein Schrank, nicht groß, aber geräumig genug, daß die ganze Kleidung darin Platz fand, an der Wandschräge ein Bett, das immer mit einem Plaid bedeckt war. Wenn er schlafen ging, legte er es sorgfältig zusammen, wie man einst die Pferdedecken zusammengelegt hatte, und verstaute es im Schrank. Er war nämlich von Natur aus akkurat und sogar ein wenig pedantisch, jedenfalls liebte er Ordnung um sich herum. Das kam wohl von seinem Hang zur Disziplin und seiner Vorliebe für Hierarchie, wie sie in der Welt herrschen muß. Deshalb mochte er weder Unordnung noch Pfuscherei. Die Gegenstände sollten sich den Menschen unterordnen, und die Menschen wiederum anderen Menschen, worüber die Obrigkeit und das historische Zeitalter entschieden. Beispielsweise herrschten einmal die einen über die anderen, und später wieder die anderen über die einen. Genau daran dachte er, als er das Plaid zusammenlegte und das Bett zum Schlafen herrichtete. Dann legte er sich hinein, löschte das Licht und versank sofort in einen tiefen Schlaf. Er schlief hervorragend, wie das Leute mit einem reinen Gewissen zu tun pflegen. -112-
Wenn er an Sommer- und Herbsttagen von der Veranda ins Haus zurückkam, schloß er sorgsam die Tür, um sich in der Nacht vor den Mücken zu schützen. Manchmal zog er sogar die Vorhänge vor und zündete dann vorsichtig und genußvoll die Petroleumlampe an, die auf der Tischplatte des großen, schweren Tisches stand. Immer wenn er die Lampe anzündete und den Docht regulierte, kam ihm seine Kindheit, die er in einem ähnlichen Haus und in ähnlicher Umgebung verbracht hatte, in den Sinn; von dort war er vor Jahren weggegangen, um nie mehr das Gefühl von Wärme und Geborgenheit zu erleben, denn überall kam er sich als ein Fremder vor, und die Menschen sahen ihn bestimmt auch als solchen. Beim Aufleuchten der Petroleumlampe bewegten sich lange, wellenförmige Schatten auf den Wänden des Raumes. Das versetzte ihn in eine gute Laune, und er spürte nicht mehr, wie tagsüber, die große Einsamkeit. Gewöhnlich saß er recht lange am Tisch, schaute auf die beweglichen Schatten der Gegenstände, die lautlos über die schrägen Wände des kleinen Hauses glitten, und dachte an verschiedene Dinge in seinem Leben. Gern erinnerte er sich an frühere Erlebnisse, fühlte sich aber am wohlsten in solchen Schlupfwinkeln der Erinnerung, wo er die Schlichtheit, die Frische der Natur, die Gerüche und sehr einfache Gegenstände wiederfand sowie eine ruhige und vertraute Aussicht. Oft erinnerte er sich an die in Polen verbrachten Tage, und sie stimmten ihn irgendwie wehmütig, obwohl er die Polen überhaupt nicht mochte. Jedoch war ihm diese Zeit als unbeschwert, hell und hoffnungsvoll im Gedächtnis geblieben. Wohl nie in seinem Leben hatte er soviel menschliche Zuwendung erfahren. In dem Dorf, wo seine Kompanie auf dem Rückweg aus dem fernen Deutschland nach Hause eine Ruhepause eingelegt hatte, erwiesen ihm alle Dankbarkeit und Wohlwollen. Die Menschen dort waren einfach, wie er selbst, mochten die gleichen einfachen Speisen und verbrachten ähnlich ihre Zeit. Abends saß man mit den -113-
Frontkameraden unter einer Kiefer, ringsum scharten sich die Dorfbewohner, Frauen und Männer, alle heiter, einige sogar von aufrichtiger Herzlichkeit und Fröhlichkeit. Einer spielte auf dem Akkordeon, jemand sang leise, wehmütige Lieder. Die Erde war von der Sommersonne erwärmt, am Fluß flüsterte das Schilfrohr, das moorige Wasser floß träge und ruhig dahin, der Wind bewegte die Baumkronen, und die Rauchwolken aus dem nahen Dorf zeichneten graubraune Streifen an den Himmel. Die Welt war damals rundum in Ordnung gewesen. Der Frieden war eingekehrt, und die Menschen rochen ihn in der Luft. In jeder Geste der dortigen Frauen, wenn sie ihre Säuglinge wickelten, in jeder Bewegung der Männer, wenn sie ihren Tabak rauchten, war die Erhabenheit des kürzlich eingekehrten Friedens zu spüren. Semjaschkin tränkte die Pferde, spielte auf dem Akkordeon, ging im Wald spazieren, plauderte mit den Dorfbewohnern über ihr Leben und auch über das seine. Er sehnte sich nach Rußland, aber er war ihm ja schon ziemlich nahe, dachte sich also, vielleicht am nächsten Tag aufzubrechen, dachte aber auch, daß es gut wäre, noch ein wenig hierzubleiben, in dem polnischen Dorf, fern von jenen riesigen, unermeßlichen Weiten, wo der Mensch soviel bedeutet wie ein Blatt, ein Wurm, ein Strohhalm, ein Regentropfen oder nicht einmal soviel. Es wäre also vielleicht auch besser, noch eine gewisse Zeit in diesem Polen unter Bäumen zu liegen, die Pferde in der dunklen Strömung des Wassers zu tränken und sich in der Dämmerung ein unvorsichtiges Weib zu schnappen, sie ins trockene Gras zu stoßen, ihr den Rock aufzureißen, über den Kopf zu werfen und sich Erleichterung zu verschaffen, wie es sich für einen Soldaten angeblich gehört. Aber es herrschte kein Krieg mehr, solche Vergnügungen waren äußerst riskant geworden. In Deutschland war es etwas anderes gewesen als in Polen, wo Semjaschkin eine großschnauzige und selbstsichere Welt vorfand, denn die Polen, sogar die einfachen Bauern, zählten sich damals -114-
gleichzeitig zu den Geretteten und den Siegern, verlangten also Rechte und Privilegien für sich, woran die Deutschen nicht einmal zu denken wagten. Die Dörfer waren voll von hochmütigen und jähzornigen Bauern, deshalb konnte ein Soldat nur in der Phantasie seine Gelüste befriedigen, und falls er sich eine Sünde erlaubte, dann mußte er, um seine Haut zu retten, sofort in Richtung Osten abhauen, und dort warteten auf ihn bereits die Männer der Sicherheitsorgane. Nachts konnte Semjaschkin in diesem Polen nur schwer einschlafen. Denn als der Krieg zu Ende und der Frieden da war, empfand er in seiner bedrückten Seele zwei verschiedene Arten von Frieden. Der eine war heiter und sanft, der andere düster und rätselhaft. Dieser zweite schlich sich in der Dunkelheit an ihn heran, wenn schon überall die Kerzen und Petroleumlampen erloschen waren, die Frösche im Schilf verstummt, die polnischen Bauern wie die Offiziere oben in der Mühle eingeschlafen waren, er aber noch keinen Schlaf gefunden hatte; dann befiel ihn die Angst der Friedenszeit, der unklare und schreckliche Gedanke, was wohl bei seiner Rückkehr nach Rußland mit ihm geschehen werde. Wenn er so grübelte, kam mit dem Wind aus den fernen Wolgasteppen über die polnischen Hütten ein unterdrückter Schrei der Angst, des Schmerzes und der Verzweiflung angeflogen. Als er am Ende dorthin zurückkehrte, wußte er in seinem Innersten, daß er sich werde unterordnen müssen, unterordnen und nochmals unterordnen, mehr als an der Front, in den Schützengräben oder während eines Angriffs der Infanterie in der Deckung der auf die deutschen Stellungen gerichteten Panzer, denn damals hatte er für sich denken müssen, auf eigene Rechnung, schnell und selbständig, andernfalls hätte auf ihn der Tod gewartet, ein heldenhafter zwar, aber überhaupt nicht ersehnt. Nach dem Krieg hingegen lief sein Gedanke bereits immer in der gleichen Richtung, entsprechend dem Willen der Sicherheitsorgane, denen er nach seiner Rückkehr beigetreten -115-
war. Um die Wahrheit zu sagen: Er kaufte sich mit seiner revolutionären Wachsamkeit dort ein, denn an entsprechender Stelle machte er entsprechend Meldung und bekam als Gegenleistung eine entsprechende Bezahlung. Aber er hielt sich nicht für einen Schuft oder einen Judas. Er gelangte zu der Überzeugung, daß er ein kluger Mensch sei, der sich eben in der heutigen Zeit zurechtfinde. In seinem Herzen hatte er sich jedoch stets Sanftmut und Verständnis, besonders für einfache und aufrichtige Menschen, bewahrt. Von früher waren ihm gewisse Gewohnheiten und Neigungen geblieben: Er liebte die polnische Sprache, denn sie erinnerte ihn an die ersten Monate nach dem Krieg, und deshalb freute er sich besonders, als er nach einigen Jahren wieder nach Polen kam, diesmal als Berater der dortigen Sicherheitsorgane. Er war so mit den angenehmen Erinnerungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit verbunden, daß er in seinem Büro am liebsten beim Schein einer Petroleumlampe saß, was bei Fremden Neugier weckte. Er führte sogar dienstliche Gespräche mit den verschiedensten Leuten beim Schein dieser Lampe. Während er mit großer Sorgfalt den Lampendocht putzte, sagte er in einem zischenden Flüsterton zu Edek Laski, er werde ihm die Eingeweide herausschneiden, falls er nicht die Einzelheiten über die Geheimorganisation erfahre, zu der Edek Laski zweifellos gehöre. Als Edek jedoch entschieden widersprach, wobei er im Halbdunkel vor dem Schreibtisch stand, sagte Semjaschkin zu ihm, immer noch mit dem Docht der Petroleumlampe beschäftigt: »Was bist du für ein Pole, was bist du für ein polnischer Patriot, du jämmerlicher Schwanz, wenn du nicht dazugehörst!« Dann jedoch – immer noch über die Flamme der Lampe gebeugt, um dort, in diesem flackernden und etwas geheimnisvollen Licht den Sinn seiner Beschäftigung zu finden – fuhr er mit einem nachdenklichen Blick und einer gewissen Sanftheit in der Stimme fort: »Du siehst aus wie ein Gockel, bist -116-
zäh wie ein Gockel, mit den Weibern treibst du's auch wie ein Gockel, du stehst also sicher gern wie ein Gockel da. Ich sag dir jetzt, steh auf einem Bein, du Hurensohn!« Das nannte sich in Semjaschkins Sprache ›die Gockelstellung‹. Er trieb keinen Mißbrauch mit dieser Methode, verzichtete aber auch nie auf ihre Anwendung, wenn die ideologische oder politische Notwendigkeit dazu bestand. So brachte er also Edek Laski dazu, für einige Wochen auf einem Bein zu stehen, Tag für Tag, und er tat dies nicht aus innerer Bosheit, sondern aus Pflichtgefühl. Als Edek Laski nicht nur das Gleichgewicht, sondern auch das Bewußtsein verlor, sagte Semjaschkin aufrichtig: »Glaubst du denn, daß es angenehm für mich ist, dich leiden zu sehen? Kommt es dir nicht in den Sinn, daß ich viel lieber mit dir in einer Kneipe sitzen, essen und trinken, über dies und jenes plaudern würde, kein Wort über Politik, nur über Weiber, gutes Fressen und sympathische Leute auf dieser Welt? Ich versichere dir, das ist absolut möglich. Sag, was du weißt, beuge dich zu mir herüber, wenn du nicht laut sprechen willst, dann red im Flüsterton, ich hör's auch so; wirf die Last des Verrats von deiner Seele ab, es wird dir sofort bessergehen, und mir erlaubst du, wonach ich mich sehne zu zeigen: meine Menschlichkeit in ihrer ganzen Pracht. Sei kein Schwein, gib deine Aussage zu Protokoll...« Während er dies sagte, war er überhaupt nicht um Spott bemüht, denn im Grunde hatte er nichts im Sinn mit diesem Gockel, der auf einem Bein vor seinem Schreibtisch stand, in dem dunklen Zimmer, wo die Fenstervorhänge zugezogen waren und die dunkelblauen Schatten sich an den Wänden in dem Rhythmus bewegten, wie er ihnen von der Flamme der Petroleumlampe aufgezwungen wurde. »Ich lege niemals Hand an jemanden«, pflegte er bei der Arbeit zu sagen, »denn die Volksgerechtigkeit braucht solche Methoden nicht. Wir spielen das Gockelspiel einen Tag, zwei, drei, und wenn es nötig ist, auch zehn Jahre lang, und eines -117-
Tages werden wir sowieso alles herauskriegen.« Im Grunde hatte er recht. Er war konsequent, verlor nie die Beherrschung. Und am Ende konnte er fast alle zum Nachgeben bewegen. Sie waren sich darüber im klaren, daß Semjaschkin Zeit hatte. Sehr viel Zeit, unendlich viel Zeit. Die Menschen waren ja nicht dumm, sie hatten sehr wohl begriffen, worin der Unterschied zwischen Semjaschkin und einem Deutschen in einem Gestapo-Keller bestand. Des Deutschen Zeit war beschränkt gewesen. Alle hatten das gewußt, und dem Deutschen war es wohl am meisten klar. Es war noch Krieg, sein Ausgang schien aber bereits entschieden. Es hatte also genügt, auszuharren. Eine Woche, vielleicht einen Monat, vielleicht sogar ein Jahr. Aber eines Tages mußte das unausweichliche und für alle offensichtliche Ende kommen. Mit dieser Überzeugung ließ sich sehr viel aushalten. Selbst wenn der Mensch die Last des Leidens nicht mehr ertragen konnte und für immer ging, so wußte er doch auch so, daß sein Opfer nicht umsonst war. Aber beim Schein von Semjaschkins Petroleumlampe war es schon etwas vollkommen anderes. Es schien den Menschen, daß die Lampe nie erlöschen wollte, jetzt mußte man sich mit der Ewigkeit messen, denn die Welt würde immer so bleiben, wie sie war. Und jeder Mensch hat ja nur das eine, sehr kurze Leben. Semjaschkin hatte das begriffen, ging daher überlegt, ruhig, vielleicht sogar ein wenig träge vor, denn er war Herr über die Zeit, und wer das ist, der kann mehr erreichen, als es sich Philosophen jemals hätten träumen lassen. Aber er fand in dieser Arbeit keineswegs eine angenehme Befriedigung, und ohne Bedauern kehrte er nach einigen Jahren geduldiger Arbeit in sein Heimatland zurück. Ausgerechnet da widerfuhr ihm eine Ungerechtigkeit, denn nun bekam er von den Sicherheitsorganen einen Tritt in den Hintern, angeblich wegen illegaler Tätigkeiten, in Wirklichkeit jedoch aus rein politischen Gründen, denn in dem Augenblick, als sich der politische Kurs -118-
änderte, mußte ja irgend jemand für die Vergangenheit verantwortlich sein. So befand er sich also in einer erträglichen Verbannung, inmitten von Wäldern, einem klaren Himmel, Tieren in freier Wildbahn, unbescholtenen, aus der Gegend stammenden Leuten und dem Geruch erwärmten Gebälks, wenn er in seinem kleinen Haus einschlief, fern vom Lärm der Welt. Er wußte, daß es nicht lange dauern würde, und so war es auch, denn schon nach einem Jahr war er wieder in den zentralen Machtorganen, arbeitete eifrig, äußerst gründlich und ohne viele Worte zu machen, weiter, war sehr ordentlich gekleidet, pünktlich, tiefgründig, bescheiden im Umgang und doch voll inneren Ungestüms, denn er hatte immer unerfüllte Träume, die vor allem mit seinem Gefühl für Gerechtigkeit verbunden waren. So kochte er sich also im Morgengrauen seine Suppe, aß aber nur Brot, Fisch sowie ein Stück Käse und ging in den Wald, wo er genug Zeit zum Nachdenken hatte. Gegen Abend aß er auf der Veranda mit Appetit die am Morgen gekochte Suppe und war mit seinem Schicksal versöhnt. Als das System zusammenbrach, reagierte er mit einer gewissen Wehmut, aber ohne Verwunderung, da er seit langem die bedrohlichen Risse in dem scheinbar mächtigen, imponierenden, aber im Grunde morschen Bau gesehen hatte. In der neu entstandenen Welt hatte er viel weniger Macht, jedoch viel mehr Freiheit, aber die Macht hatte ihn ohnehin nie gereizt, er hatte sich ihrer nicht für sich, sondern im Namen der Pflichten, die er auf seinen Schultern getragen hatte, bedient. Sobald diese Pflichten ein Ende hatten, schien auch die Macht nicht mehr besonders wichtig und der Mühe wert zu sein. Plötzlich stellte er fest, daß Geld viel besser war als Macht, wenn man nur genug davon hatte und es sich an einem sicheren Ort befand. Da er im Grunde nach wie vor ein Mann der ehemaligen Machtorgane geblieben war, mit großer Lebenserfahrung und einem ausgedehnten Beziehungsnetz, -119-
wunderte sich niemand, daß er rasch zu beträchtlichem Vermögen kam. Das wiederum erlaubte ihm, sich der Anerkennung seiner Umgebung, der Achtung verschiedener Personen und der Gunst schöner Frauen zu erfreuen, was in der Vergangenheit schwer zu erreichen gewesen war. Der neue Lebensstil behagte ihm also. Außerdem entdeckte er in sich viel Mitgefühl und ein Gespür für menschliches Unrecht. Aus ebendiesem Grund verteilte er eine Menge Geld an die Armen. Er unterstützte auch einen angehenden Kunstmaler in St. Petersburg. Ihn rührten die ausgesetzten Kinder, und er stellte sogar Überlegungen an, was er für sie tun könne, aber dann reiste er geschäftlich nach Paris und mußte den Gedanken verwerfen. Geblieben war aber in seinem Herzen das Bedauern, daß er zuwenig tat für diejenigen, die kein Glück hatten. Er erwog jedoch sehr ernsthaft, sich nach einiger Zeit aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen, sich irgendwo im Inneren Rußlands niederzulassen, dort ein kleines Haus für ausgesetzte Kinder oder für hilflose und kranke alte Menschen zu bauen, auch eine kleine Kirche zu errichten, nicht allzu kostspielig, denn es war besser, die Mittel für irdische, praktische Aktivitäten zum Wohle armer Menschen zu verwenden. Doch auch eine kleine Kirche wäre nützlich, denn sie würde ihn an seine Knabenjahre erinnern, als er zum Herrgott gebetet und sich sogar tiefergehenden Überlegungen theologischer Natur hingegeben hatte, weil er als Junge manchmal eine Antwort darauf gesucht hatte, wo Christus nach seinem qualvollen Tod am Kreuz und vor seiner Auferstehung war und wo Gott damals, am Tag nach dem düsteren Karfreitag und vor dem freudigen Ostersonntag, gesteckt hatte. Er war zu der Überzeugung gelangt – in Übereinstimmung übrigens mit dem Studium der Heiligen Schrift –, daß sich Gott am Karsamstag in der Hölle aufgehalten habe. Später verwarf er jedoch diese erhabenen und tiefgründigen Gedanken, er verlor seinen Kinderglauben und trat in die Partei ein, um sich in ihren Reihen um die Erlösung der Welt zu kümmern. -120-
Er konnte nicht länger als eine viertel oder eine halbe Stunde auf der Veranda sitzen, dann zogen sich schwarze Mückenschwärme zusammen, und es wurde empfindlich kalt. Er ging also zurück ins Haus, goß aus einem Kübel Wasser in eine Schüssel und wusch sorgfältig den Teller, das Messer und den Löffel ab, damit das schmutzige Geschirr über Nacht nicht stehenblieb. Das machte er schon lange so, da er wußte, daß über Nacht die Essenreste auf dem Teller eintrockneten und später, wenn man sie nicht mit warmem Wasser abspülte, schwer zu entfernen waren. Eine größere Menge Wasser zu erhitzen war mühsam, denn im Ofen mußte Feuer gemacht werden. Im Winter heizte er ohnehin den Herd an, aber sobald die warmen Tage kamen, entfernte er die Asche, und der Herd blieb für lange Monate kalt. Er führte ein träges Leben, ein- oder zweimal in der Woche ging er durch den Wald zum Dorf, um Brot, Käse geräucherten Fisch und – wenn er gerade Glück hatte – auch einige Dosen Corned beef zu kaufen, und so lebte er in der Einöde, wusch sich mit kaltem Wasser, streifte im Wald umher und starrte die Erde, die Wolken und die Bäume an. Es ging ihm nicht schlecht, jedenfalls nicht schlechter, als er bei seiner Ankunft in dieser durchaus erträglichen Verbannung erwartet hatte. Nie war er ein brutaler Mensch gewesen, er empfand sogar eine starke Abneigung gegen Brutalität, wenn er damit konfrontiert wurde. Das kam übrigens recht oft vor, da er ein abwechslungsreiches Leben hatte, mit vielen Dingen in Berührung kam, sonderbaren Leuten begegnete, was dazu führte, daß er nach einer gewissen Zeit schon kräftig abgehärtet war. Er verschloß nicht die Augen vor einer Bedrohung, und sogar bösen Geistern konnte er ohne Furcht in die Augen schauen. »Es muß so sein auf der Welt, daß die Leute sich vor mir fürchten«, pflegte er zu sagen. »Selbst wenn ich vor Angst in die Hosen scheiße, darf ich das nicht zeigen.« Im übrigen war er -121-
nicht ängstlich. Seit langem wußte er, daß die beste Medizin gegen die eigene Angst ein loses Mundwerk, eine kräftige Faust und eine stets entsicherte Pistole waren. Deshalb trug er auch Tag und Nacht eine Waffe bei sich. Genauer gesagt, die Pistole trug er tagsüber in der Hosentasche, und wenn er sich schlafen legte, verwahrte er sie unter dem Kopfkissen. Falls er natürlich überhaupt ein Kopfkissen hatte, denn sein Schicksal war alles andere als glücklich gewesen; es kam vor, daß er weiß Gott wo schlief, manchmal sogar unter freiem Himmel. Da trug er die Waffe direkt am Körper. Er war jedoch von Natur aus nicht brutal und gefühllos. Besonders die Leiden von Frauen und Kindern sowie von Alten und Schwachen nahm er sich zu Herzen. Vielleicht gerade deshalb diente er so hartnäckig und eisern dem, was er für historische Gerechtigkeit und eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft hielt. Sogar dann, als sich herausstellte, daß diese Ideale einen Dreck wert waren, erlebte er keinen moralischen Zusammenbruch. Er sagte sich, daß die Menschen aus Dummheit und Böswilligkeit das kluge und schöne Programm zur Weltverbesserung ruiniert hätten. Den Glauben an die Zukunft verlor er deswegen nicht, obwohl er seine Beschäftigung änderte und sich nicht mehr so sehr um die öffentliche Ordnung, die Disziplin und den Gehorsam, sondern mehr um persönliche Interessen kümmerte. Das geschah jedoch später, zu einer Zeit, als er nicht mehr an dem Docht der Petroleumlampe herumspielte. Als er dann in Paris den Fürsten Kyrill kennenlernte, war er ein Mann in hervorragender Position. Er wohnte in einem Hotel in der Rue de Rivoli, hielt sich zwei hübsche Mädchen, die ihn auf eine Art befriedigten, die er geil und gleichzeitig auch schick fand. Er pflegte in sehr teuren Restaurants zu essen, und es amüsierte ihn, wenn man ihm auf Schritt und Tritt mit Unterwürfigkeit und Hochachtung begegnete. Seine Umgebung hielt er für eine Bande von Idioten, in dem Maße, daß er -122-
manchmal eine ungeheure Lust verspürte, ihnen nacheinander ordentlich in die Fresse zu hauen, damit sie zur Besinnung kämen. Bereits beim ersten Gespräch mit Kyrill konnte er sich nicht zurückhalten, diesem einen Gedanken, den er schon recht lange mit sich herumtrug, anzuvertrauen. »Hier laufe ich auf Schritt und Tritt solchen Arschlöchern über den Weg«, sagte er, »die meinen, daß ich so einer bin wie sie. Die haben keine Ahnung, was ich mit ihnen unter bestimmten Umständen machen könnte.« »Wir wollen es mal besser mit unserer Originalität nicht übertreiben, mein lieber Herr Semjaschkin«, erwiderte da Fürst Kyrill. »Die wären unter den Umständen, die Sie meinen, auch zu sehr viel in der Lage.« Semjaschkin war ein wenig verlegen, aber nicht lange. Er kam nämlich zu der Überzeugung, daß der Fürst nur deshalb so dachte, weil er wenig Ahnung vom Leben hatte. Dennoch hätte man meinen können, daß in dieser Frage Fürst Kyrill mehr Scharfblick und Kenntnis von der Welt an den Tag legte. In seinem Benehmen war Semjaschkin grob, aber das rührte nicht von seinem Charakter her, sondern von der Gewohnheit. Das Schicksal hatte es gewollt, daß er lange Zeit den Menschen mit Härte und Verachtung hatte begegnen müssen, was ihm in Fleisch und Blut übergegangen war, und stets hatte er irgendeinen deftigen Fluch auf den Lippen. Aber er mochte dies nie, fand überhaupt keinen Gefallen an seiner eigenen Rüpelhaftigkeit, entdeckte in sich gelegentlich eine Sehnsucht nach einem etwas besseren Leben, nicht nur im materiellen Sinne, denn das war selbstverständlich, aber nach feineren Umgangsformen und vielleicht sogar nach mehr Zartgefühl. Er bemühte sich um ein solches Verhalten, vor allem den Frauen gegenüber, die mit ihm schliefen, aber er hatte nicht genügend Geduld, um an diesem Entschluß festzuhalten. Im übrigen -123-
zeigten sich diese dummen Weiber auch erstaunt und verloren ihre Selbstsicherheit, wenn Semjaschkin ihnen Zärtlichkeit entgegenbrachte. Sofort begegneten sie ihm mit Argwohn. Dadurch wurde Semjaschkins Rüpelhaftigkeit erst recht kräftig angestachelt, denn wenn er manchmal den Wunsch verspürte, eine Frau sanft zu umarmen, ihr leicht über das Haar oder die Wange zu streicheln, dann wich sie gewöhnlich vor ihm zurück, und in ihren Augen waren Unsicherheit und die Angst, Semjaschkin werde ihr im nächstenAugenblick mit der Faust ins Gesicht schlagen. Wenn er einen solchen verstörten Blick sah, packte ihn sofort die Wut, ihm war die Lust auf Sanftheit vergangen, und das Ganze endete gewöhnlich mit einer kräftigen Tracht Prügel, Geschrei, Tränen und dann mit einer Menge Weibertratsch um Semjaschkin herum. Auch gegenüber Männern legte er ein unangenehmes und auffälliges Verhalten an den Tag, lag ständig mit jemandem im Clinch oder prügelte sich, weshalb er oft seine Beschäftigung wechselte, aber stets im Rahmen des gleichen beruflichen Umfelds. Dennoch verstand er es, sich eine gewisse stille Sehnsucht nach einem besseren, manierlicheren Leben zu bewahren. Um so mehr wurmten ihn die Beziehungen in Paris. Der Ausnahmezustand, der die ganzen vorangegangenen Jahre hindurch von einem Menschen verlangt hatte, überall Augen zu haben, auch hinten am Kopf, war ein für allemal vorbei. Jetzt genügte ihm ein Augenpaar, mit dem er vor sich schaute. Er mußte nicht einmal eine Pistole in der Hosentasche tragen. Es genügte die Brieftasche. Alles ringsum war recht sanft, fein und bequem. Er hätte längst seine langgehegten Wünsche befriedigen können, sich als angenehmen Gesprächspartner, höflichen Kontrahenten und zärtlichen Liebhaber zeigen können. Doch erwarteten alle von ihm die frühere Brutalität. Nur sie war gefragt und gab seinem Leben in den Augen dieser neuen Umgebung einen Sinn. Wenn er gutmütig, liebenswürdig -124-
und sanftmütig gewesen wäre, wie er sich das gewünscht hätte, dann hätten die Leute sicher gefunden, daß er seine Originalität verloren habe. Semjaschkin war nicht groß, eher gedrungen, zeichnete sich nicht durch ein besonderes Aussehen aus, verfügte aber über gewisse reizvolle Züge. Er hatte einen leisen, gleichmäßigen und gemächlichen Gang wie ein Tiger, den er bei seiner verantwortungsvollen Tätigkeit jahrelang bewußt geübt hatte. Sein Blick war fast etwas träge und abwesend, aber dennoch war in ihm ein Funke ständiger Wachsamkeit. Er schaute die Leute so an, als würde er sie durchsuchen: peinlich genau, ruhig, ohne Eile, Zoll für Zoll. Wohl wegen der Unstimmigkeiten, die er im Umgang mit den Franzosen empfand, nahm er, ohne lange zu zögern, den Vorschlag zur Zusammenarbeit mit dem Fürsten Kyrill an. Dieser war zwar in Semjaschkins Augen kein waschechter Russe, aber immerhin eine Art Russe, ein Mensch, der Russisch sprach, dem Semjaschkins heimliche Sehnsucht nach einem geruhsameren, herrschaftlicheren Leben nicht fremd war. Es war klar, daß die beiden von ganz unterschiedlichem Kaliber waren und sich wohl auch nicht riechen konnten, was in der Natur der Sache lag. Semjaschkin gab sich bereits keinerlei Illusionen mehr hin, er hatte genug erlebt, wußte also, was Wahrheit und was Lüge bedeutet, wovon der Fürst keine Ahnung hatte, denn der war immer noch der Meinung, daß die Wahrheit in der Natur vorkomme, sehr selten zwar, so selten wie ein Diamant, man ihr aber doch hie und da begegnen könne. Eine solche Ansicht erfüllte Semjaschkin mit einem Gefühl bitterer Einsamkeit. Das zweite Problem war sogar noch unangenehmer, denn es betraf eine Banalität. Hier stritt Kyrill überhaupt nicht mit Semjaschkin, und es konnte von keinerlei Einwand seinerseits die Rede sein, was Semjaschkin ungemein ärgerte, denn er hielt Kyrill für einen Feigling und einen Schwächling; aber andererseits fand er in dieser Betrachtung etwas -125-
Beunruhigendes, was ihn gegenüber dem Fürsten wehrlos machte. Er konnte natürlich nicht ahnen, daß der Fürst in der Kindheit eine sorgfältige Erziehung genossen hatte, derzufolge als ein Mensch mit vornehmen Manieren nie die Meinung eines Lakaien korrigierte und sich nie mit einem Kutscher stritt. Als Semjaschkin schließlich die Entdeckung machte, daß der Fürst ein alter, bestechlicher Heuchler war, da war es bereits für jegliche Kontroversen zwischen ihnen zu spät. Wie jeden Tag in der Abenddämmerung setzte sich Semjaschkin also hin und begann seine Suppe zu löffeln, die er im Morgengrauen gekocht hatte. Sie war schmackhaft, genau so, wie er sie am liebsten mochte, mit Kartoffeln, Bohnen und dem Duft von Räucherspeck. Er aß mit großem Appetit und dachte dabei, daß Gott alles in der Welt gut eingerichtet habe mit Ausnahme der Mücken. Wozu es überhaupt Mücken gab, konnte Semjaschkin sich nicht erklären. Alles hatte irgendwie seinen Sinn, manchmal seinen offensichtlichen, manchmal seinen versteckten, aber die Mücken hatten überhaupt keinen. Das hatte er während eines Abendessens bei Fouquet zu dem Fürsten Kyrill gesagt und dabei mit der Serviette nach einer Mücke geschlagen. Der Fürst hatte erwidert: »Ich beneide Sie. Sie haben die Sorgen eines Kindes« – und den Kellner herbeigerufen, damit dieser das Tischtuch und das Gedeck wechselte, da Semjaschkin, als er das Urteil über die Mücke vollstreckte, die Weingläser umgeworfen hatte. Sehr schade, daß in dieser Suppe kein Rippenstück ist, dachte Semjaschkin und wischte den Teller mit einem Stückchen Brot aus. Dann schaute er aus dem Fenster, vor dem die Kiefern bereits nicht mehr zu sehen waren. Dort herrschte tiefschwarze Nacht. Und zu hören waren die fernen Rufe einer Eule.
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A
ls Jan die riesige Hotelhalle des Astoria in Bad Kranach betrat, war es früher Nachmittag, über den Hügeln zogen am Himmel leichte Federwolken, ein sanfter, aber für diese Jahreszeit erstaunlich warmer Wind streifte die Kiefernwipfel am Hang gegenüber dem Hotel, und an der Rezeption stand ein großer, gutaussehender, eleganter Herr mit graumeliertem Haar. Sein linker, leerer Ärmel des Flanellanzugs war in die Tasche des Sakkos gesteckt. Es war Dr. Kovacs, der die Oberaufsicht hatte, die Schirmherrschaft und, wie er naiverweise glaubte, die Kontrolle über das, was in Bälde stattfinden sollte. Dr. Kovacs lächelte zuvorkommend. Als aber Jan an der Rezeption seinen Namen nannte, lächelte er noch deutlicher und aufmunternder. Und er sagte: »Wie ich mich freue!« Nach einem Moment fügte er hinzu: »Ich freue mich sogar sehr.« Jan war etwas unschlüssig, wie er sich Kovacs gegenüber verhalten solle. Er erschien hier als Kunstsammler, kam aber aus einem vergessenen Land, wo bis vor kurzem ausschließlich Niedertracht, Heldentum und feurige Gefühle gesammelt worden waren. Mit Kunstwerken war es schlechter bestellt, obwohl es rühmliche Ausnahmen wie die Sammlung von Edek Laski gab. Jan sagte also zur Begrüßung: »Ich bin ein Freund von Herrn Laski.« »Ich freue mich sehr«, erwiderte Dr. Kovacs, als ob er nur diese eine Redewendung beherrschte. Der Empfangschef, hager, hochgewachsen und elegant, mit leichter Glatze und einer Warze auf der Nase, sagte, wobei er -127-
die Worte leise, aber mit Nachdruck aussprach, als sei dies eine ärztliche Anweisung für einen Kranken: »Es steht ein Zimmer im zweiten Stock für Sie zur Verfügung. Sehr sonnig. Mit Balkon.« »Bezüglich Ihrer Teilnahme an unserer Zusammenkunft werden wir uns wohl später unterhalten, wenn Sie sich von der Fahrt ein wenig ausgeruht haben«, sagte Dr. Kovacs lächelnd. »Natürlich«, erwiderte Jan. »Das eilt nicht.« »Das kann man im voraus nicht wissen«, entgegnete Dr. Kovacs. Jan bekam den elektronischen Schlüssel. »Zimmer 222 im zweiten Stock«, sagte der Empfangschef in einem weniger nachdrücklichen Ton. »Kann ich Ihren Autoschlüssel haben?« »Ja«, sagte Jan und gab ihm den Schlüsselbund. Und indem er sich an Dr. Kovacs wandte, fügte er hinzu: »Eine schreckliche Hitze hier.« »Wir haben einen wunderschönen Sommer«, entgegnete Dr. Kovacs. Und dann sagte er, als seien seine Worte an eine andere, nicht anwesende Person gerichtet: »Der Fürst ist auch schon angekommen. Herrn Wilson erwarten wir heute abend.« Da entgegnete Jan: »Vielleicht wird Herr Wilson heute nicht kommen, vielleicht hält ihn unterwegs etwas auf.« »Ausgeschlossen«, erwiderte Dr. Kovacs. »Herr Wilson hält Wort und ist pünktlich. Er hat mir versichert, heute abend hier zu sein.« Als sie sich dem Lift näherten, öffnete sich die Tür gerade, und Joël Weiss trat heraus. Über diesen Menschen wußte Jan alles, da Joël Weiss in seinem Gedächtnis existierte als eine der wichtigsten Personen und auch als Schicksal, das einen Einfluß auf das Handeln vieler Menschen gehabt hatte. So zumindest sah es Jan, und deshalb dachte er oft an Joël Weiss, sogar in der -128-
Zeit, als Monikas Anwesenheit und ihre gemeinsame Liebe sein Leben erfüllt hatten. Joël Weiss war sehr klein, und die Art, wie sich sein Kopf auf dem mageren Hals bewegte, machte ihn einem exotischen Vogel ähnlich. Joël Weiss lächelte, sagte »Entschuldigung« und ging über den weichen, auffälligen Teppich in Richtung Bar. »Das ist Joël Weiss«, sagte Jan. »Ich kenne ihn nicht«, erwiderte Dr. Kovacs. »Ich kann unmöglich alle Teilnehmer unserer Zusammenkunft kennen.« »Ich verstehe«, sagte Jan. Aber er wußte, daß Dr. Kovacs log. Am Lift trennten sie sich. Der Aufzug hielt in der zweiten Etage. Die Tür öffnete sich. Jan sah einen langen, hellen Flur. Er ging über den lachsfarbenen Teppich in Richtung Zimmertür. Als er eintrat, nahm er einen merkwürdigen Geruch wahr. Er dachte, man habe ihm ein Zimmer für Raucher gegeben. Aber das war wohl nicht der Geruch von Zigaretten. Dann setzte er sich in den Sessel, der bei der angelehnten Balkontür stand. Eine Zeitlang schaute er sich den klaren Himmel und die weißen, überhaupt nicht bedrohlichen Wolken an. Nach einigen Stunden strömte die Sonne immer noch als breiter Streifen ins Zimmer, durch das Fenster waren die Kronen der Platanen zu sehen, und etwas weiter entfernt auf den Berghängen zeichneten sich die schlanken Umrisse der Kiefern ab. Der Himmel war immer noch sehr klar und blau, im Hintergrund sah er ein Flugzeug. Es war sehr heiß. Und still war es überall, wie am Ende der Welt. »Ich bin also hier«, sagte Jan flüsternd. »Bist du bei mir, meine Liebe?« Sie war ein Mädchen mit wunderschöner Haut und einer bezaubernden Art gewesen. An jenem Abend hatte er gedacht, -129-
daß sie füreinander geschaffen seien. Monika hatte diese Ansicht jedoch nicht geteilt. Lange Zeit hatte er den unangenehmen, aber erregenden Eindruck gehabt, daß sie ein wenig auf ihn herabblickte und an der Nase herumführte, wie einen Jungen behandelte, in ihm noch nicht den Mann sah, während sie sich selbst für eine erwachsene Frau hielt. Dabei traf das überhaupt nicht zu, da Jan bereits das Leben ein wenig kennengelernt hatte. Er hatte nicht nur flüchtige Liebesbeziehungen hinter sich, sondern auch Hunger, Angst und Schmerz erlebt. Monika hatte das kaum erfahren, sie hatte das Leben aus den Erzählungen ihrer liebevollen Mutter und ihres klugen Vaters erfahren, die sie beschützten, wie sie nur konnten. Sogar in den schwierigsten Zeiten hatten sie stets versucht, ihre Tochter zu schonen, obwohl das nicht immer leicht gewesen war. Im Grunde genommen wußte Jan mehr über das Leben, aber er war nicht in der Lage, sein Wissen zu nutzen, großes Unglück verflocht sich in seinem Herzen mit kindlicher Naivität, und die Erinnerung an erfahrenes Leid veranlaßte ihn, Vergnügungen um jeden Preis zu suchen. Er verhielt sich laut, aufdringlich, heftig, launisch, nahm jedes Risiko in Kauf, sogar in ganz nichtigen Angelegenheiten, und war nicht in der Lage, Ernst und Entschlossenheit zu zeigen, wenn es nötig gewesen wäre. Niemand um ihn herum wunderte sich also, daß Monika ihn wie einen Jungen behandelte und nicht ernsthaft an eine gemeinsame Zukunft mit ihm dachte. Ebendeshalb fühlte er sich oft geringgeachtet. Damals hatte es vor den Fenstern des düsteren Zimmers geregnet. Monika stand da, an den warmen Ofen gelehnt, der vor kurzem eingeheizt worden war. Es war Frühling, kurz nach dem Krieg, und die Menschen waren noch nicht richtig durchgewärmt, immer noch war in ihnen eine unerträgliche Kälte der Angst und der Unruhe. An jenem Tag hatte sie ein kirschrotes Wollkleid getragen, in dem vorn unterhalb des Kragens ein kleines, von einer Zigarette -130-
eingebranntes Loch war. Damals waren die Menschen sehr arm, trugen, was es gab, sogar löchrige, verschossene, geflickte, zu kleine oder zu große Sachen. Alle rauchten Zigaretten, konnten einfach ohne Zigaretten nicht leben, jeder war bereit, das letzte Stück Brot für eine Zigarette herzugeben. Vielleicht war das auch eine Spur des Krieges, denn der Krieg war eine große Rauchwolke und ein großes Feuer gewesen, und jetzt, als er bereits zu Ende war, blieb den Menschen nur die kleine Rauchwolke und das kleine Feuer der Zigaretten. Monika hatte ein blasses Gesicht, ein wenig zornige Augen und einen schönen Mund. Jan sagte: »Sie sind wunderschön. Und gerade so eine Frau habe ich mir während des Krieges erträumt.« »Es ist aber kein Krieg mehr«, erwiderte sie mit einem kühlen Lächeln. »Vielleicht denken Sie sich also was anderes aus.« Etwas zögerlich ging sie vom Ofen weg. Es tat ihr wohl leid um die Wärme und den behaglichen Ort in dem von Menschen überfüllten Zimmer. Sie stellte sich ans Fenster. Die Regentropfen rannen über die Fensterscheiben. Jan näherte sich ihr erneut und sagte, daß er hartnäckig sei und folglich nicht die Absicht habe, auf seine Träume zu verzichten. Da lächelte sie etwas sanfter. Er bemerkte, daß sie sehr dunkles, fast schwarzes Haar hatte. Und er dachte, daß er sie wohl lieben werde, obwohl er noch nicht einmal ihren Vornamen kannte. Das war in einer merkwürdigen Zeit geschehen, als der Krieg schon an vielen Fronten zu Ende war, aber immer noch in den Menschen andauerte. In jener Zeit kam es vor, daß er wilder und barbarischer verlief als ein Jahr zuvor, als noch die Ruinen in Hunderten von Städten geraucht und die Leichen in den Straßengräben gelegen hatten. Die Überlebenden waren sich gar nicht sicher, ob sie überlebt hatten. Sehr viele Menschen verhielten sich seltsam und waren verzweifelt. Erst später, nach vielen Jahren, sollte sich zeigen, daß alle erfüllt waren vom sogenannten Geist der Hoffnung, dem Wunsch, zu überleben, -131-
der Sehnsucht nach Normalität und dem Verlangen, sich schnell wieder an die Arbeit zu machen. In Wirklichkeit kam es nicht so. Auf den Bürgersteigen, an den Häuserwänden standen Juden, die nicht wußten, wohin und wo anfangen, falls sie überhaupt Lust hatten, was auch immer anzufangen. Neben ihnen standen auf denselben Bürgersteigen Polen, die der Meinung waren, betrogen, beraubt, verlassen, verwaist, belogen, verkauft, verraten, verhöhnt, verschüttet unter den Trümmern und immer noch unauffindbar zu sein. Und vielleicht hatten sie recht gehabt. In jener Zeit starben viele Menschen, indem sie den Gashahn aufdrehten oder aus einem oberen Stockwerk sprangen, da sie sich nicht an das Leben, das sie plötzlich überrascht hatte, gewöhnen konnten. Jan hatte damals auch solche Nächte erlebt, in denen er nicht hatte einschlafen können und daran gedacht hatte, aus dieser Welt zu scheiden. Um so stärker brach dann seine Liebe zu Monika aus, als er ihr an jenem Tag begegnete. Aber jetzt lebte sie nicht mehr. »Monika«, sagte er flüsternd, als wollte er sie vom Balkon herbeirufen, auf den sie gegangen war, die Tür hinter sich leicht angelehnt gelassen. »Ich bin also hier, um von neuem zu beginnen. Aber ich habe Angst vor dem Versuch. Wäre es nicht besser, wenn ich nach Hause zurückkehren, mich verstecken und die Dunkelheit abwarten würde, inmitten von Büchern, Stille und unverständlichem Geflüster hinter der Wand? Ist es nicht Wahnsinn, daß ich mich hier eingefunden habe, um die Erinnerung wachzurufen, Spuren zu verfolgen und Entscheidungen zu treffen? Wozu das alles? Wie gut ging es mir doch in der Abgeschiedenheit, die ich dank dir wiedergewonnen habe! Ich war frei in dieser unserer Liebe. Alles andere wurde mir aufgedrängt, je polnischer ich wurde, je mehr Ideen, Aufgaben und Pflichten mir zufielen. Und immer weniger war ich dabei ich selbst.« -132-
Genau in dem Moment klingelte laut und fast unverschämt das Telefon. Es war Dr. Kovacs. Er sagte: »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich zu dieser Zeit störe, aber Sie haben die Verspätung von Herrn Wilson erwähnt. Bis jetzt ist er noch nicht eingetroffen, und ich bin beunruhigt. Haben Sie diesbezüglich irgendwelche Nachrichten?« »Nein«, erwiderte Jan. »Ich weiß nichts.« »Ich kenne Herrn Wilson seit langem«, sagte Kovacs. »Er ist ein Vorbild an Präzision. Entschuldigen Sie.« Damit war die Verbindung unterbrochen. Graham Wilson traf am selben Tag spätabends noch ein. Er sagte, es hätten ihn unterwegs dringende Angelegenheiten aufgehalten, nannte aber keine Einzelheiten. Da hatte Dr. Kovacs zum ersten Mal nach vielen Jahren Probleme mit dem Einschlafen. Lange schaute er in der Nacht auf das Fenster von Wilsons Zimmer, wo er einen schwachen Lichtschein wahrnehmen konnte. Wilson hatte nämlich die Nachttischlampe nicht gelöscht. Er saß im Halbdunkel des großen Zimmers, im Sessel versunken, den Kopf auf der Brust, als wäre er eingenickt. Aber es schien nur so, denn er dachte nach, und seine Gedanken waren unangenehm, zuweilen schmerzlich. Nach einiger Zeit öffnete er immer wieder die Augen, hob den Kopf und schaute in die Dunkelheit vor dem offenen Fenster. Er hatte dann stets den Eindruck, zwei kleine Punkte zu sehen, und vermutete, das seien die wachsamen, unruhigen Augen von Dr. Kovacs. Ein Stockwerk höher, in einem dunklen Zimmer, wo die Rollos so weit heruntergelassen worden waren, daß nicht einmal der Schein des Mondlichts ins Innere dringen konnte, schlief zu der Zeit Semjaschkin. Er hatte einen ruhigen, gesunden und tiefen Schlaf. Die Gespenster, die wie große, fette Spinnen an den Zimmerwänden umherkrochen, an der Decke hingen, auf dem Fußboden umherkrabbelten, hatten überhaupt keinen -133-
Zugang zu Semjaschkins süßen Träumen. Es war nämlich so eine Fügung des Schicksals, daß die Person Semjaschkin für sich existierte, und ihre Taten existierten auch für sich. Natürlich würde jeder gern so leben, aber nur Semjaschkin war das großzügige Privileg zugestanden worden, seine Vergangenheit fein säuberlich von sich selbst zu trennen. Und während der arme Kamerad Westermann an der Vergangenheit klebenblieb wie eine Fliege am Honig, angenagelt wie Christus ans Kreuz, festgeschraubt wie der Sargdeckel an den Sarg, schwebte Semjaschkin über der Vergangenheit, wendig und leicht wie eine Lerche über einem abgemähten Feld oder ein Schmetterling über einer Wiese mit bunten Blumen. So sanft also schlief er in seiner Gegenwart, und seine früheren Taten, verwaist und verlassen in dunklen Ecken, wagten es nicht einmal, ihr Recht zu fordern, nämlich im Gedächtnis eines Menschen zu existieren. Vielleicht gerade deshalb hätte es Semjaschkin keine allzu große Mühe bereitet, alles von Anfang an zu wiederholen, genau so, wie es einst passiert war. Ach, wenn er nur Lust dazu gehabt hätte! Er war jedoch frei von jeglichem Verlangen. Er gab sich seit langem mit einem tiefen Schlaf, reizenden Frauen sowie gutem Essen zufrieden, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit entdeckte er in sich sogar eine gewisse metaphysische Sehnsucht. Wenn er die Schwelle einer Bank überschritt – besonders einer Schweizer Bank, wo man in einem andächtigen Flüsterton spricht, mit leicht gesenkten Augenlidern, als ob der Mensch es stets bedauere und sich für die schreckliche Sünde schäme, einen zu niedrigen Kontostand zu haben –, wenn Semjaschkin also die Schwelle einer Bank überschritt, kehrte für einen Augenblick ein Fünkchen des längst verlorenen Glaubens an eine höhere, die Welt lenkende Kraft zurück, und außerdem empfand er Dankbarkeit dafür, daß die anderen ringsum, und zum Teil auch er selbst, das Gedächtnis verloren hatten. Er war ein Auserwählter des Schicksals. Konnte sich Graham -134-
Wilson III., der ständig neu entstehenden Skrupeln ausgeliefert war, mit ihm vergleichen? Aber es gab eine gewisse Gerechtigkeit in dieser ungleichen Verteilung des Leidens und der Angst. Wilson hatte nie eine andere Waffe als das Internet in der Hand gehabt. Wenn er wenigstens einmal im Leben Abscheu, Wollust oder Verblüffung angesichts der Hinfälligkeit des menschlichen Körpers erfahren hätte und somit dieses merkwürdige Gefühl, das über all die Jahre Semjaschkin bei seiner schweren Arbeit als Henkersknecht begleitet hatte, wäre es ihm vielleicht auch ein Vergnügen gewesen, Macht über andere Menschen zu besitzen. Aber Wilson hatte immer die sonderbare und lächerliche Überzeugung gehabt, daß zwar die anderen im perfekten Käfig seiner elektronischen Entscheidungen gefangen waren, er selbst aber auch in diesem Käfig saß, umsponnen von Tausenden unsichtbarer Fäden, und irgendwo über ihm, hinter ihm, vielleicht direkt hinter der Wand oder auf der anderen Seite des Ozeans es einen noch Mächtigeren gab, der jede seiner Bewegungen sah, jeden seiner Gedanken und Gefühle kannte und wartete, geduldig wartete, um ihm irgendwann einmal einen lautlosen Schlag zu versetzen. Vielleicht ist das Kovacs, dachte Wilson manchmal, er verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder, denn er mußte doch einen haben, dem er vertrauen konnte. Ich bin mit ihm verbunden, dachte er nun, während er im Sessel in dem halbdunklen Zimmer des Astoria saß, ich bin mit ihm verbunden, vielleicht sogar auf Leben und Tod. Wenn er nicht wäre, hätte ich mich nicht auf dieses idiotische Geschäft eingelassen. Ich habe genug Geld, um ein anständiges Leben zu führen. Ich bin mir natürlich darüber im klaren, daß ich bis jetzt nicht frei von Sünden war. Aber wer ist das schon, um Gottes willen? Und weshalb kommen den Menschen die Sünden der Armen weniger sündhaft vor? Wenn ich eine geliebte Frau an meiner Seite hätte, dann sähe die ganze Welt anders aus, und die Menschen verhielten sich mir gegenüber auch anders. Hätte -135-
Kovacs dann den Mut gehabt, mich zu einer solchen Schandtat zu überreden? Meine schlimmste Last, dachte Graham Wilson III., ist meine Einsamkeit. Sie ist schuld an jeder Sünde und jeder Schwäche. Ich könnte mir das Leben ordentlich einrichten, nicht nur mein eigenes, ganz klar. Ich will nicht übertreiben und behaupten, die ganze Welt gehöre mir, aber es besteht kein Zweifel, daß ein schönes Stück dieser Torte auf meinem Teller liegt. Viel hängt davon ab, was ich für einer bin, was ich für einer sein will, wie ich denke, was ich plane, was ich erstrebe. Aber unterdessen fühle ich mich unbeschreiblich schwach und den Launen verschiedener Personen ausgeliefert, mit denen mich doch fast nichts verbindet. Schwer zu glauben, aber so ist die banale Wahrheit. Die Leute haben den Eindruck, daß ich unabhängig bin, einen kolossalen Freiraum besitze, aber statt dessen hocke ich seit Jahren in einem Käfig dialektischer Abhängigkeiten. Ich bin genauso angewiesen auf die Gnade des Zufalls wie der letzte Bettler in Pakistan. Und mein Geld bewirkt nur, daß die Leute sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie mich übers Ohr hauen, wie sie mich ruinieren oder mir diesen armen Millionärsschädel einschlagen können. Im Grunde genommen bin ich den anderen etwas schuldig, eben weil ich mehr habe. Aber ich kann den Weg nicht finden, der zur Aussöhnung mit mir selbst führt. Mein Großvater war dazu irgendwie in der Lage. Mein Vater auch noch. Aber ich gelange immer mehr zu der Überzeugung, daß das auch eine Illusion war. Sie hatten ganz einfach kein Gewissen, ich hingegen habe es mir mit Mühe erworben. Daher meine Schwäche. Aber vielleicht ist es besser, schwach zu sein, und dafür der Liebe würdiger? Wie gern wäre ich gütig, mitfühlend und barmherzig! Ich wünsche mir das von ganzem Herzen. Aber die Welt erlaubt es mir nicht. Die Welt hat befunden, daß ich ein Schuft sein soll, denn dann erweisen sich die anderen als besser. Selbst wenn es -136-
nur eine Illusion für Millionen meiner Nächsten sein sollte, so ist sie doch herrlich. Es wird also niemand auf diese Illusion verzichten. Mir ist die Rolle einer finsteren Gestalt zugedacht. Ich muß sie gut spielen. Wilson dachte, daß trotz allem die Welt sich ihm gnädig erweisen werde. Er lebte in einer Zeit kleiner Lügen, kleiner Schweinereien und kleiner Gaunereien. Vielleicht ist das nicht so pathetisch, wie Tausende Menschen in den Tod zu schicken, aber es erlaubt, die Hoffnung auf Besserung zu nähren. Schließlich ist es bedeutend einfacher, Genugtuung gegenüber kleinen Gaunereien zu empfinden als Genugtuung gegenüber Verbrechen. Die kleinen Lügen sind leichter zurückzunehmen, die kleinen Betrügereien einfacher wiedergutzumachen, und außerdem erregt es weniger Aufsehen. Es ist also gerade gut so. Jan schlief im Morgengrauen ein. Wilson auch. Da erloschen alle Lichter und Gedanken. Nur die Schatten nicht existierender Frauen liefen lautlos über den Rasen vor der Fassade des großen Hotels.
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as Grynszpan und Halberstamm widerfuhr, geschah zweifellos durch Ritas Vermittlung, vielleicht aber auch dank ihrer Fürsprache. So ganz sicher ist das jedoch nicht. Im Laufe ein und desselben Tages machte Halberstamm die Erfahrung, daß Gott nachsichtiger sein kann, als er bis jetzt geglaubt hatte; Grynszpan hingegen hatte einen prophetischen Traum von seinem eigenen Tod, und dank diesem Traum ist überhaupt etwas von ihm erhalten geblieben. Grynszpan war der Schwiegersohn eines aus Skorczyn stammenden Juden namens Obrazek, der gleich zu Kriegsbeginn getötet worden war. Die kleine Stadt bewahrte sein Andenken, weil er ein reicher und frommer Mann war, und außerdem, weil er aufgrund eines anderen Paragraphen erschossen worden war, nämlich nicht als gewöhnlicher Jude, sondern zusammen mit einer Gruppe angesehener christlicher Bürger, unter denen sich auch fromme Katholiken mit nationaler Gesinnung befanden. Obrazek jedoch, der in Skorczyn einen guten Ruf hatte, enttäuschte seinerzeit nicht nur den armen Kameraden Westermann, sondern etwas früher und noch offensichtlicher auch Grynszpan, seinen eigenen Schwiegersohn. Denn Obrazek hatte seiner Tochter keinen Groschen gegeben, ihr das väterliche Gespräch und seinen Segen verweigert und ihr die Tür seines Hauses vor der Nase zugeschlagen. Obrazek hatte nämlich gehofft, seine Tochter mit einem Sägewerksbesitzer aus der Gegend zu verheiraten – einem ehrlichen, anständigen und vermögenden Juden –, dessen Name bereits vergessen ist. Aber die Tochter heiratete Grynszpan, einen Warschauer Halunken, -138-
der in der Miła-Straße in einem Hinterhaus im dritten Stock wohnte, sich mit wer weiß was beschäftigte, Obrazek keinen Respekt entgegenbrachte, ihm sogar mit Skepsis und Kälte begegnete. Dadurch wollte er zeigen, daß er als ein Mensch mit fortschrittlichen Ansichten und einem freien Geist Obrazek für beschränkt hielt. Das Verhältnis zwischen den beiden war also gespannt bis feindselig. Daß sein Schwiegervater geizig war, nahm Grynszpan ihm jedoch nicht übel. Klar hätte er gern mehr gehabt, als er in Wirklichkeit hatte, aber er kam auch so zurecht und konnte dadurch seine geistige Unabhängigkeit bewahren. In Grynszpans Augen war Obrazek einfach altmodisch und rückständig und darüber hinaus seiner einzigen Tochter ein schlechter Vater. Vom gewaltsamen Tod seines Schwiegervaters erfuhr Grynszpan nie, da er sich in einer Zeit ereignet hatte, als Skorczyn von Warschau weiter entfernt war als eine Galaxie von der anderen. Einige Zeit später landete Grynszpan im Lager, wo er eine ungeheure Wandlung durchmachte. Er war ein sehr sensibler und intelligenter Mensch, hatte zwar keine besondere Bildung genossen, aber schon ein halbes Jahrhundert voller Entbehrungen erfahren und mit dem Gefühl der Bedrohung gelebt. Das hatte dazu geführt, daß er wie ein Hase schlief, nicht nur die Gesichter der Menschen sah, sondern auch deren Gedanken und Gefühle, sich behende und schnell bewegte und sich von sehr wenig und irgend etwas ernähren konnte. Mit anderen Worten: Er war ein an die Welt hervorragend angepaßter Mensch. So sah er es auch. Aber dennoch hatte er sich in einer früheren Zeit, als er zusammen mit seiner Familie noch im Warschauer Ghetto lebte, durch eine milde Grausamkeit ausgezeichnet. Damals hielt er sich für einen ungewöhnlich barmherzigen Menschen und wäre erstaunt gewesen, zu hören, daß die anderen ihn ein Ungeheuer -139-
nannten. Aber selbst wenn ihm zu Ohren gekommen wäre, was allgemein über ihn gesagt wurde, so hätte er nur mit einem abschätzigen Achselzucken darauf reagiert, da er wußte, was er tat, und überzeugt war, so zu handeln, wie es ihm seine Anständigkeit gebot. Er wohnte, wie früher, in einer elenden Behausung im dritten Stock eines Hinterhauses. Die Toilette – eine für alle Bewohner eines Stockwerks – befand sich im Treppenhaus. In der Wohnung, die Grynszpan mit seiner Frau und seinen beiden Kindern teilte, gab es einige wenige armselige Möbel, einen Spülstein in der Küche und staubige Fenster, die auf einen dunklen, schachtähnlichen Hinterhof hinausgingen. Früher war Grynszpan ein liebender Vater und Ehemann gewesen. Vor dem Krieg hatte er einen kleinen Hausierhandel betrieben; es war ihm mies gegangen, aber allen anderen in der Gegend war es auch mies gegangen, und wohl niemand hatte eine wesentliche Besserung seines Schicksals erwartet. Die Menschen in Grynszpans Umgebung waren überzeugt, daß das Schicksal, das ihnen auferlegt worden war, das einzig mögliche sei, beklagten sich darüber, aber nicht ohne sich gleichzeitig auch etwas zu schämen. Schließlich ging es anderen noch schlechter. Als die Deutschen kamen und das Ghetto errichteten, veränderte sich Grynszpans Leben radikal. Er war ein Mensch mit Erfahrung, war scharfsinnig und schlau, wußte also praktisch von Anfang an, womit das alles enden mußte. Er gab sich keinerlei Illusionen hin, und die Illusionen der anderen machten ihn wütend. Immer, schon von frühester Jugend an, hatte er das seltsame Gefühl gehabt, daß die Juden dumm und naiv seien, sogar noch dümmer und naiver als die Polen, mit denen er ja fast täglich in Berührung kam, weil er in der MiłaStraße wohnte, sich im ganzen Nordteil der Stadt herumtrieb. Er kannte die verschiedensten Polen: Tischler, Möbelpacker aus den Lagerhallen, Ofensetzer, Bäcker, Schuster, und sogar mit gebildeten Leuten hatte er zu tun, weil er ihnen gelegentlich -140-
etwas besorgte. Er entdeckte in den Gojim∗ einen größeren Scharfsinn. Sie waren zwar im Denken weniger geübt als die Juden, schwerfälliger, äußerlich nicht so beweglich, und dennoch hatten sie nicht diese jüdischen Illusionen. Grynszpan war in der tiefen Überzeugung aufgewachsen, zu einer verrückten Rasse Verurteilter und vom Pech Verfolgter zu gehören, denen jedes nur erdenkliche Unheil zustoßen konnte, selbst die banalste glückliche Fügung des Schicksals würde mit Sicherheit einen weiten Bogen um sie machen. Seine Erfahrungen als Kind und als Jugendlicher veranlaßten ihn dazu, diesen Ansichten recht zu geben, denn Grynszpan hatte wirklich keinerlei Grund zur Freude, und Sorgen trafen ihn fast täglich. So war es überall ringsum, in dem ganzen Mietshaus in der Miła-Straße, wo auf engstem Raum arme Juden wohnten, zänkisch, mürrisch, schlecht ernährt und ärmlich gekleidet, immer bereit, den nächsten Schlag in Empfang zu nehmen. Aber dennoch machte sich, vielleicht gerade wegen dieser ewigen Erwartung, bei den Menschen der seltsame Aberglaube breit, daß unmittelbar auf der Schwelle, an der letzten Grenze, auf der letzten Stufe, im letzten Augenblick doch etwas Glückliches passieren werde, was ihr Schicksal wenden und ihnen erlauben werde, in Ruhe und Frieden weiterzuleben. Unter den Polen konnte Grynszpan eine solche Hoffnung nicht erkennen. Mit Sicherheit hatten sie weniger Phantasie, aber mehr von diesem einfachen Lebensinstinkt. Sie gaben sich mit irgendwas zufrieden, Essen, Wohnung und Kleidung waren miserabel; bezüglich der Zukunft machten sie sich keine Illusionen, waren, im Gegensatz zu den Juden, überhaupt nicht hinter einer besseren Zukunft für ihre Kinder her, denn sie waren überzeugt, daß die Welt aus sich selbst heraus keine Veränderungen erfahren werde und daß man den Lauf der irdischen Dinge nicht dem Zufall überlassen dürfe. Sie hegten ∗
Jüdische Bezeichnung für Nichtjuden.
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also keinerlei Hoffnung, dafür viel Zorn, waren gewalttätig, besoffen sich, griffen die Polizei an, rebellierten hartnäckig und wütend, drohten den Reichen und kündigten den Tag des Jüngsten Gerichts an. Die Juden hingegen ertrugen alles demütig, und das war der beste Beweis dafür, daß sie insgeheim überzeugt waren, das allergrößte Unheil werde ihnen erspart bleiben. Das trat gerade dann zutage, als die Deutschen das Ghetto errichteten und später eine Mauer darum bauten. Jeder vernünftig denkende Mensch hätte schon damals voraussehen können, was später passieren sollte. Die Juden starben an Hunger, waren durch grassierende Krankheiten zur Ausrottung verurteilt, wohnten in einer unbeschreiblichen Enge, waren isoliert von der Welt, wurden geschlagen und getötet und auch systematisch, Tag für Tag, irgendwohin, weit weg, transportiert, an nicht genannte Orte, wo sie zweifelsohne umgebracht werden sollten. Grynszpan wußte bestens Bescheid darüber, und auch der dümmste Jude im Ghetto wußte darüber bestens Bescheid, und dennoch hofften fast alle, daß etwas passieren würde, was im letzten Augenblick ihr Schicksal wenden und dazu führen würde, daß die Deutschen sich nur als gemäßigte Mörder erwiesen. In dieser Zeit gehörte Grynszpan bereits zum Kreis der einflußreichen Mitarbeiter des Judenrates. Zum Teil verrichtete er Büroarbeit, und zum Teil war er Ordnungshüter im Ghetto, in unmittelbarer Nähe zur höchsten Leitung des Rates, die über eine sehr ausgedehnte Macht über die Juden verfügte. Der eigenen Bequemlichkeit wegen hatten die Deutschen der Leitung des Rates diese Macht übertragen. Die Deutschen erwiesen sich als viel gewitzter als die Juden, und das war in Grynszpans Augen am erstaunlichsten. Mit Erfolg und Verachtung spielten sie mit der jüdischen Dummheit, Naivität, Gutgläubigkeit und Hoffnung. Fast täglich gaben sie strengere Anweisungen, forderten ihre unbedingte Ausführung, auch -142-
wenn das die Vernichtung weiterer armer und wehrloser Menschen bedeutete. Die Mitarbeiter des Judenrates, immer noch zuversichtlich, daß sich ihr Schicksal wenden werde, fest davon überzeugt, daß nur Unterwürfigkeit und Gehorsam die Deutschen von weiteren Grausamkeiten abhalten könnten, erfüllten peinlich genau jede einzelne der verbrecherischen Anweisungen. Grynszpan, wie auch die anderen, arbeitete loyal mit den Deutschen zusammen, obwohl er wußte, daß er ein Komplize der Vernichtungsmaschinerie war. Er erledigte seine Aufgaben mit vorbildlicher Aufrichtigkeit, sogar mit einer gewissen Hingabe, nur um den Deutschen verschiedene unangenehme Dinge vom Hals zu halten und sie auf diese Art in bessere Laune zu versetzen. Eine bessere deutsche Laune zeigte sich darin, daß statt hundert Menschen nur neunundneunzig getötet wurden und der hundertste für den nächsten Morgen übriggelassen wurde. Grynszpan wußte, daß das Problem der Vernichtung endgültig entschieden war, da war nichts mehr zu machen, und selbst wenn ein Deutscher in dieser Hinsicht guten Willen gezeigt hätte, wären seine Bemühungen im Sande verlaufen. Und dennoch versetzten ihn keineswegs die schrecklichen, dickfelligen Deutschen in Erstaunen. Wenn ihn jemand verwunderte, dann nur er selbst. Er wußte, daß die Juden auf den Transporten ihrem sicheren Tod entgegenfuhren, aber allen ringsum versuchte er weiszumachen, daß ihre Befürchtungen töricht seien und von einer törichten Neigung zu Gerüchten herrührten. Wenn Grynszpan, manchmal brutal, manchmal überaus zuvorkommend, Juden zum Umschlagplatz führte, bemühte er sich immer, sie zu beruhigen und zu überzeugen, daß zwar etwas Schlimmes passiere, aber daß das, was passiere, noch lange nicht das Schlimmste sei. Im Grunde glaubte man ihm, jedenfalls unternahm man eine enorme Anstrengung, um ihm zu glauben. Und dieser Glaube an sich war schon gut. Die Menschen, die Grynszpan zu den Transporten führte, -143-
befürchteten das Schlimmste, aber gleichzeitig befürchteten sie nicht das Allerschlimmste, da sie Juden waren, und bestimmt deshalb – auf Veranlassung Gottes – hatten sie so viele unerschöpfliche Reserven törichter Hoffnung in sich. Die Polen auf der anderen Seite der Mauer hatten dafür nur Abscheu, Schadenfreude und Verachtung übrig. Sie machten sich keinerlei Illusionen, was das weitere Schicksal der Juden betraf, das sie im übrigen herzlich wenig interessierte, denn sie hatten genug eigene Sorgen. Hinter einer paradoxen Tücke des Schicksals schürten sie ihren eigenen Antisemitismus, der einst nur dumm und gemein war, sich jetzt aber als grausam erwies. Die Polen glaubten nicht, daß sich die Juden würden retten können, aber deshalb sollten sie kämpfen, schießen, Granaten werfen, den Deutschen die Kehlen durchschneiden, ihnen die Eingeweide herausreißen. Wenn sie dies nicht taten, dann hieß das offensichtlich, daß sie kein besseres Schicksal verdient hatten. Die Menschen auf der arischen Seite der Mauer fühlten sich daher im Recht, wenn sie den Juden als feigen und würdelosen Wesen Verachtung und Abscheu entgegenbrachten. Die Polen sagten untereinander, daß in der jiddischen Sprache das Wort Würde wohl überhaupt nicht existiere. Denn die Juden dürften doch keinerlei Illusionen haben, alles sei klar und offensichtlich. Weshalb leisteten sie also keinen Widerstand? Freilich habe ein solcher Widerstand keinen Sinn, so die Meinung der Polen, aber gerade deshalb habe er einen Sinn. Grynszpan, der sich über diese Stimmung auf der polnischen Seite der Mauer im klaren war, nahm dies mit einem Achselzucken zur Kenntnis und verzog verächtlich den Mund. Die Polen erwiesen sich als dümmer, als er bis jetzt vermutet hatte. Sie wiegten sich noch immer in der Illusion von vor sehr langer Zeit, als sie zur Waffe gegen stärkere Feinde gegriffen hatten, beharrlich und regelmäßig Niederlagen hatten einstecken müssen und dann verstümmelt nach Hause zurückgekehrt waren, aber voll und ganz von dem Gefühl beseelt, gut ihre -144-
Pflicht erfüllt zu haben, und dann bis ins hohe Alter weiterlebten. Aber diesmal war es anders. Die Polen mußten sich darüber im klaren sein, daß diese neuen Deutschen hier keine Ritterspiele mehr veranstalteten. Sie waren bereit, diejenigen unter den Polen, die Unterwürfigkeit und Gehorsam zeigten, mitleidslos auszunutzen, jedoch am Leben zu lassen. Aber allen, die es wagten, Widerstand zu leisten, trennten sie auf jede erdenkliche Art die Eingeweide heraus. Viele Polen hatten dies bereits am eigenen Leib erfahren, und dennoch taten sie so, als seien sie bereit, die Helden zu spielen, was diesmal, anders als in der Vergangenheit, für sie nicht nur fatal enden – denn daran waren sie gewöhnt –, sondern zu einer beispiellosen Niederlage führen sollte, von der sie sich dann über einige Generationen nicht erholen würden. Als ein kluger Jude machte sich Grynszpan natürlich keinerlei Illusionen. Ihm war nicht dieses Polentum gegeben, das, wenn es sich dazu durchrang, Demut und Unterwürfigkeit zu zeigen, die Chance gab, am Leben zu bleiben. Als Jude war er unwiderruflich verurteilt. Aber solange er noch lebte und die Chance hatte, das Leben seiner Familie zu verlängern, wußte er, was er zu tun hatte. Ebendeshalb verhielt er sich den Deutschen gegenüber loyal. Eines Tages griffen die Juden zu den Waffen, aber da war Grynszpan schon längst zum Helfershelfer von Kugler geworden. Im Lager veränderte er sich von Grund auf. Er hatte niemanden um sich herum, der belogen werden mußte, um nicht restlos die Hoffnung zu verlieren. Alles war klar. Die Krematorien rauchten von früh bis spät. Die Menschen starben zu Tausenden. Keiner gab sich irgendwelchen Illusionen hin. Die Juden waren endlich vollkommen frei und konnten ruhig den Tod entgegennehmen. Grynszpan war auch viel ruhiger. Er mußte niemanden belügen, mußte nicht einmal mit der -145-
Vernichtungsmaschinerie zusammenarbeiten, denn er befand sich mittendrin, alles war Vernichtung geworden, der Plan wurde in die Tat umgesetzt. Kugler erschien ihm, im Gegensatz zu den schrecklichen, heuchlerischen, durchtriebenen und brutalen Deutschen im Ghetto, als vollkommen gewöhnlicher und banaler Mensch. Er empfand sogar eine gewisse Schwäche für Kugler, der dachte, er sei der Herrgott, aber in Wirklichkeit nur ein kleiner Bandit war. Das geschah jedoch in einer Zeit, die erst noch kommen sollte, im Augenblick hingegen war Grynszpan noch im Ghetto und erfüllte vorbildlich seine Pflichten als rangniedrigster Todesengel. Theoretisch gehörte er zu den jüdischen Oberaufsehern, aber praktisch war jeder Deutsche, der ihm über den Weg lief, Herr über sein Leben und seinen Tod. Und gerade diese groteske Hierarchie, die so gar nicht den deutschen Gewohnheiten und Regeln entsprach, versetzte das ganze Ghetto in einen Zustand leichter Schizophrenie. Der wichtigste jüdische Funktionär bedeutete im Ghetto tausendmal weniger als der primitivste, betrunkenste und korrupteste Polizist, was die Deutschen selbst unsäglich ärgerte, denn es widersprach der Natur ihrer geordneten Existenz. Grynszpan wußte jedoch, daß in dieser schrecklichen, zufälligen und unergründlichen Struktur Ausnahmen vorkamen, Abweichungen von der Regel und auch jegliche Formen von Idiotie, die daher kamen, daß die menschlichen Charaktere nicht zu der Situation paßten. Es konnte also passieren, und passierte sogar, daß der arme Kamerad Westermann, ein Mensch mit dem strengen Profil römischer Kaiser, den Rechtsanwalt Fajfer, der der meistgeachtete und einflußreichste unter den geachteten und einflußreichen Juden im Ghetto war, bis zur Bewußtlosigkeit schlug. Aber es konnte auch vorkommen, daß Chaim Herzog, ein kleiner Mistfink, den niemand auf der Welt beachtete, auf der Straße zu Halberstamm ging, ihn um ein Stück Brot bat und einen ganzen Laib bekam, was später Gegenstand lebhafter -146-
Kommentare unter den Leuten war und dazu führte, daß Halberstamm, um seinen geschädigten Ruf zu retten, sicher auf den Rat von Kassner hin, zwei Tage lang mit entsicherter Pistole durch die Straßen lief und auf jeden ihm über den Weg laufenden Passanten schoß. Weil er dies jedoch in nervöser Erregung tat, traf er keinen. Grynszpan hatte es sehr lange Zeit verstanden, einen Ausweg aus jeder Situation zu finden. Später sollte sich das ändern. Bis schließlich der Tag seines Traumes kam, der alles ist, was von diesem Menschen übrigblieb. In der nächsten Nacht wurde Halberstamm von dem ergreifenden Gefühl erfaßt, daß Gott auf ihn blicke. Der Blick Gottes war zwar recht kritisch, aber sein gütiges Angesicht drückte Gnade und Verzeihen aus. Es dauerte nicht lange, war aber dennoch von Bedeutung. Vielleicht war gerade dieser flüchtige Augenblick in der Finsternis bestimmend für Halberstamms weiteres Schicksal. Die Nacht davor, kaum vierundzwanzig Stunden früher, beim ersten nebligen Morgengrauen, kaum einige Straßen von Halberstamm entfernt, hatte Grynszpan einen sehr wichtigen Traum gehabt. Er träumte, der Tod sei gekommen, um ihn zu holen, und er starb. Später starb dann Grynszpan tatsächlich, aber in dieser Frage sind die Einzelheiten unklar, es gibt hier keine Sicherheit, was den Gang der Ereignisse betrifft, und deshalb kann sich jeder Grynszpans Tod nach Belieben vorstellen. Hingegen Grynszpans Traum vom Sterben bleibt unverändert und muß nicht dagegen ankämpfen, daß andere ihn sich unrechtmäßig zu eigen machen, denn er wurde einer Frau namens Rita erzählt, sie behielt ihn im Gedächtnis und gab ihn an andere weiter. Grynszpans Traum ist die einzige Spur seines Lebens. Dagegen sind die Stunde und die Umstände seines Todes bis heute geheimnisumwittert. Es ist daher möglich, daß Grynszpan am Ende seines Lebens in der Gaskammer landete, aber es kann -147-
auch anders gewesen sein, denn Grynszpans Schicksal hängt von Personen ab, die sich weiter mit ihm beschäftigen wollen, deren Gedanken weiter um ihn kreisen, die ihn dem Vergessen entreißen wollen. Es kann auch so gewesen sein, daß er ein unzertrennlicher Schatten Kuglers wurde, sein Vertrauter, sein Diener sowie eine Art Absolution für Kugler, was durchaus in den üblichen Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen passen würde. Als jedoch Kugler feststellte, daß eine bestimmte Grenze überschritten war, erschoß er Grynszpan auf der Eisenbahnrampe, so wie dieser es in einem zänkischen und fast hochmütigen Ton von ihm verlangt hatte. Es kann aber auch sein, daß Grynszpan die Zeit der Vernichtung überlebt hat, einen Schwindelanfall erlitt aufgrund der Freiheit und der Rettung und, erfüllt von einem vollkommen verständlichen und vielleicht sogar gerechtfertigten Haß auf die Menschen und auf die ganze Welt, von einem Tag auf den anderen ein hohes Tier bei den Kommunisten an der Kampflinie gegen den Kapitalismus wurde und dann bei verschiedenen dubiosen Machenschaften die Finger im Spiel hatte. Vielleicht war er Tag und Nacht in düsteren Verhörzimmern beschäftigt, wo er gänzlich unschuldige, arglose Menschen malträtierte, die der ungewöhnlichsten Verbrechen verdächtigt wurden, zu denen sie sich natürlich bekannten, denn Grynszpan hatte ja seine erprobten Methoden. Oder er verwaltete hinter einem schweren Eichenschreibtisch eine Textilfirma, eine Filmproduktion oder das gesamtstaatliche Bäckerhandwerk. Am Ende starb er, so wie es sich gehört, in einem Bett mit weicher Bettwäsche. Über diesem Bett hing ein Bild des pfeiferauchenden Stalin. Aber vielleicht rauchte Stalin gar keine Pfeife, sondern war umgeben von fröhlich lachenden sowjetischen Jungen Pionieren. Und auf diesen Kindergesichtern erlosch der letzte Blick Grynszpans, der dachte, daß dennoch, gegen seinen Wunsch, die Welt weiterexistieren werde. Gleichwohl kann es sein, und das hängt auch davon ab, wie -148-
verschiedene Leute sich das vorstellen, daß Grynszpan, nachdem er den Krieg überlebt hatte, ein anständiger, geradliniger und verzeihender Mensch wurde. Wenn das so war, und es kann durchaus so gewesen sein, dann lebte er vorbildlich als Herrenschneider in Breslau, betrog ein bißchen das Finanzamt, handelte ein bißchen illegal mit Devisen, um sein Einkommen aufzubessern, kniff hübschen jüdischen Mädchen, die im gleichen großen, lärmerfüllten Mietshaus wohnten, im Treppenhaus in den Hintern. Aber nach einer gewissen Zeit, als sich herausstellte, daß seine jüdische Nase nicht mehr in die polnische Landschaft paßte, wanderte Grynszpan in die Welt hinaus, zum Beispiel nach Düsseldorf oder nach Stuttgart. Dort verkaufte er den deutschen Passanten Würstchen vom Grill mit Senf und knusprigen Brötchen, und die Passanten kauften gern gerade bei ihm diese Leckerbissen, da sie das für eine Art moralische Wiedergutmachung hielten, was ein guter Beweis für ihr Gewissen war. Es gab darunter auch solche, die lautstark erklärten, daß sie bei Grynszpan kauften, da er Jude sei, und man ja wisse, wieviel die Juden gelitten hätten. Es ist jedoch auch wahrscheinlich, daß ein besonders Wählerischer einen ganz anderen Verlauf der Dinge zur besten Lösung für Grynszpan erklärte: ihn auf die Reise nach Israel schickte, wo er mit Würde und im Schweiße seines Angesichts in einem Kibbuz arbeitete, für die Festigung des jungen Staates kämpfte und auch mit Pistole, Faust und Fußtritten die dort ansässigen Palästinenser zur Ordnung aufrief. Schließlich starb er oder auch nicht, denn er lebte zum Beispiel weiter, umgeben von einer Reihe reizender und glücklicher Enkelkinder. So befand sich also der Tod oder das Leben Grynszpans in den Händen anderer Menschen, und das einzige, was unversehrt, dauerhaft und wirklich erhalten geblieben ist, das ist sein Traum vom Sterben. Diesen Traum hatte er im Morgengrauen, in der Küche neben dem Spülstein, als er auf einem quietschenden, mit einem alten -149-
Strohsack ausgelegten Metallbett schlief, die Jacke überm Kopf, und sich in seine oberflächliche, schmerzhafte Bewußtseinstrübung ein paar rätselhafte Laute einschlichen. Er hörte das Tropfen von Wasser, das aus einem löchrigen Topf in einen Eimer tropfte, aber er hatte den Eindruck, es seien Schritte. Genauso begann sein Traum. Der Tod stand auf der Schwelle zur Küche. Er kam in Gestalt Chaim Herzogs, der einst einen kleinen Kurzwarenladen in der Smocza-Straße geführt hatte. Chaim Herzog schuldete Grynszpan noch von vor dem Krieg fünf Złoty und zwanzig Groschen, stritt dies aber in Gegenwart anderer ab, behauptete stets, das Geld längst zurückgegeben zu haben. Und dann kam er zu Grynszpan, sah ihn mit seinen feuchten, traurigen Hundeaugen an und sagte: »Wozu über Geld reden, wir sterben ja sowieso alle!« Im Traum stand Herzog auf der Schwelle zur Küche und sagte in einem aggressiven Ton: »Jetzt ist es Zeit zu sterben.« »Weshalb?« fragte Grynszpan. »Weil ich dein Tod bin«, erwiderte Chaim Herzog, aber Grynszpan erkannte dies nicht als ausreichende Erklärung an und fragte wieder, weshalb es jetzt Zeit zum Sterben sei. »Das weiß ich nicht«, entgegnete Herzog. »Aber ich bin dein Tod.« »Was heißt meiner? Tod ist Tod«, sagte Grynszpan. »Überhaupt nicht«, widersprach ihm überheblich der Tod in Gestalt Chaim Herzogs. »Jeder Mensch hat seinen eigenen Tod, es gibt nicht nur einen, es gibt so viele Tode, wie Menschen auf der Welt leben.« »Nun ja«, sagte Grynszpan argwöhnisch, denn er hatte Herzogs Äußerungen nie ernst genommen. »Und ich dachte, daß es einen für alle gibt.« Aber als er dies sagte, lag er bereits nicht mehr in seinem -150-
Bett, sondern stand im Hinterhof des Mietshauses, in dem er wohnte. An einer hohen, durch viele Jahrzehnte schwarz gewordenen Wand des Hinterhauses befand sich eine Teppichstange aus Holz und daneben eine Kiste, in der einst die Mieter ihr Brennholz aufbewahrt hatten. Etwas weiter entfernt waren in das Hofpflaster zwei Metallpflöcke eingeschlagen, an die in früheren Zeiten reisende jüdische Kaufleute aus anderen Teilen der Stadt und des Landes ihre Pferde angebunden hatten. Grynszpan stand direkt neben diesen Pflöcken. Da sagte der Tod: »Die Pflöcke nehme ich mit!« Und schon waren sie weg. Auch das Hofpflaster war weg; es entstand vollkommene Dunkelheit an dieser Stelle. Grynszpan blickte sich um, sah aber weder die Teppichstange noch die hohe Wand des Hinterhauses. »Wo ist das Ganze?« rief er verzweifelt, denn er hatte plötzlich begriffen, daß er rundum alles verlor. »Es ist nicht mehr da«, sagte Chaim Herzog, aber er selbst war auch nicht mehr da, geblieben war nur seine ferne Stimme. Da erlosch plötzlich die Sonne, hinter der Sonne erloschen alle Sterne, der Wind hörte auf zu wehen, und die Blätter an den Bäumen bewegten sich nicht mehr, es gab dann auch keine Blätter und keine Bäume mehr, keine Gräser, keine Insekten, keine Wölfe und keine Tiger in den tiefen Wäldern, keine Löwen in den Höhlen, keine Wolken am Himmel, keinen Himmel und keine Erde, auch Grynszpan gab es nicht mehr, sondern nur noch seinen Gedanken, daß er jetzt sterben und daß zusammen mit ihm die Welt aufhören würde zu existieren. Da verstand Grynszpan, was ihm Chaim Herzog hatte sagen wollen, als er ihm mit einer gewissen Überlegenheit verkündet hatte, daß jeder Mensch seinen eigenen Tod habe, der nur für ihn sei, ihm zugeschrieben, für ihn gemacht und ihm geschickt. Grynszpan kam zu dem Schluß, vielmehr nicht er kam zu dem Schluß, sondern nur sein Gedanke, der noch nach ihm im Traum erhalten blieb, daß die Welt so lange existiert, wie der Mensch -151-
existiert, und wenn der Tod dieses Menschen kommt, dann nimmt er alles mit, was diesem Menschen gehört hat, sogar die Pflöcke zum Anbinden der Pferde, sogar den löchrigen Topf, aus dem das Wasser in den Eimer tropft, denn es gibt auch nicht mehr dieses eine, besondere Wasser, das ausschließlich Grynszpan gehört und keinem anderen außer ihm. Als er erwachte, herrschte rundum trübes, schmutziges Morgengrauen. Das Wasser tropfte immer noch, aber Grynszpan wußte bereits, daß es nicht für sich existiert. Als er von seinem Bett aufstand, erinnerte er sich, daß Chaim Herzog am vorangegangenen Tag erschossen worden war und lange an der Wand des Mietshauses in der Chłodna-Straße gelegen hatte, bis am Abend erst der kleine, klapprige Wagen angefahren kam, von zwei streitsüchtigen Juden gezogen, die den toten Körper von der Straße wegräumten. Grynszpan stand von seinem Bett auf und sagte leise, wobei er sich dem Spülstein zuwandte: »Wo bist du, Herzog? Was geschieht jetzt mit dir?« Und er wunderte sich, daß er eine solche Frage stellte, denn er wußte seit langem, daß, wenn der Mensch stirbt, es ihn dann einfach überhaupt nicht mehr gibt. Aber Grynszpan lebte und hatte die Erfüllung ernsthafter Aufgaben vor sich, um seine Frau und die Kinder zu retten. Er mußte ihnen die Chance einräumen, den nächsten Tag und vielleicht sogar die ganze Woche zu überleben. Grynszpan trug die komplizierte Liebe zu seiner Familie in sich. Wenn er vielleicht vollkommen allein gewesen wäre, wäre der Abschied von der Welt für ihn keine schwere Prüfung gewesen. Schließlich war das Leben nicht soviel wert, und die Welt hatte ihm nie so sehr gefallen. Er hatte jedoch diese arme, ewig eingeschüchterte Frau und die beiden kleinen Kinder am Hals, einen Jungen und ein Mädchen, die krank vor Angst, Erschöpfung und Hunger waren, und er war verantwortlich für ihr Schicksal. Er wollte nicht auf den Tag warten, an dem er mit -152-
seiner Familie zum Umschlagplatz gehen und zu Kassner oder zu Westermann sagen mußte, daß er bereits seine Aufgabe erfüllt habe, nichts weiter mehr tun könne, es keine anderen Juden weit und breit mehr gebe, daß alle Juden bereits abtransportiert worden seien, er also jetzt selbst gekommen sei zusammen mit seiner Familie und sich erkundige, in welchen Waggon sie einsteigen müßten; ob Westermann sie vielleicht hier erschieße, auf der Stelle, um nicht unnötige Probleme zu verursachen. Er wollte nicht auf diesen Tag warten, obwohl er wußte, daß er bald kommen würde. Aber er schob den Augenblick hinaus. Seine seelische Verfassung verstanden damals und verstehen auch heute nur diejenigen, die begreifen, wie wesentlich der Unterschied zwischen dem Tod am Montag und dem Tod am nächsten Donnerstag ist. Das ist zwar nur eine Frage von drei Tagen, aber so sieht es aus der Perspektive des Lebens und nicht aus der des Todes aus. Wenn Grynszpan am Morgen aus dem Haus ging, sagte er immer zu seiner Frau, er habe im Judenrat Papierkram zu erledigen und sei gegen Abend zurück. Aber sie kannte auch so die Wahrheit. Sie verabschiedete sich schweigend von ihm, ohne ihm dabei in die Augen zu schauen. So war es auch, nachdem Grynszpan seinen Tod in der Person Chaim Herzogs geträumt hatte. Anfangs lief er durch die Straßen und Hinterhöfe wie ein großer, bösartiger Hofköter, die Nase am Boden. Er horchte wachsam und schaute sich genau um, traf aber nur auf Leere und Stille. Am Nachmittag jedoch, als die Sonne hoch am Ghettohimmel stand und die Leute, die sich zum Umschlagplatz begaben, ein angenehmer, warmer Wind umwehte, fand Grynszpan Rita in ihrem Versteck. Rita war nicht sehr einfallsreich gewesen. Sie saß in einem Schuppen für Brennholz, neben der früheren Hausmeisterwohnung in einem Hinterhof in der NowolipieStraße. -153-
An diesem Tag ging es ihr nicht gut. Sie konnte einen heftigen, lauten Husten nicht unterdrücken, der Grynszpan zu dem Schuppen lockte. Er rannte die altersschwache Tür mit der Schulter ein, schaute hinein, erblickte Rita und sagte: »Weib, mach daß du rauskommst. Deine Zeit ist gekommen...« »Tun Sie das nicht«, flehte sie ihn an, wobei sie sich vom Boden erhob. »Lassen Sie mich hier.« »Das ist unmöglich«, erwiderte er. »Du mußt gehen, Weib.« In den Schuppen strömte Sonnenlicht, und erst jetzt sah Grynszpan Ritas Gesicht und sie das seine genau. Sie erkannte Grynszpan, der eine bekannte Person in der Gegend war und dessen schlechter Ruf viele mit Schrecken erfüllte. »Herr Grynszpan«, sagte Rita. »Ich bin jung und kann noch ein bißchen leben. Haben Sie doch ein klein wenig Erbarmen mit mir.« »Es ist bereits höchste Zeit zu gehen, Weib«, entgegnete Grynszpan kalt. Da erklärte sie in einem völlig anderen Ton: »Hören Sie, was ich jetzt sage. Und denken Sie daran, was ich sage. Es ist recht warm hier, und ich mache meinen Mantel auf, ich kann ihn sogar ganz ausziehen. Sie sehen doch, daß ich jung und hübsch bin, einen sehr netten Körper habe; Sie können also ihre beiden Hände auf meine nackten Brüste legen und sie nach Herzenslust streicheln, Sie können sie auch drücken, Sie können Ihre Hände auch unter meinen Rock schieben, meinen Bauch berühren und noch weiter, wenn Sie nur wollen. Und ich bitte Sie nun, Ihre Hose aufzuknöpfen, oder ich selbst mache es und nehme dieses große Ding, das Sie da zwischen den Beinen haben, in den Mund und werde an ihm saugen, es küssen, lecken und wieder daran saugen, bis es mir in den Hals spritzt. Und Sie lassen mich dann am Leben, Herr Grynszpan.« »Nein«, erwiderte er. »Das geht nicht. So was kann es -154-
zwischen uns nicht geben. Es ist Zeit, zu gehen und zu sterben. Ob der Mensch sich fürchtet oder nicht, ganz gleich, er muß gehen und sterben.« »Herr Grynszpan«, sagte Rita, wobei sie ihren Mantel auszog. »Bedeutet das, daß Sie sich fürchten? Ich werde so lange saugen, bis es bei Ihnen rausspritzt und all Ihre Ängste wie die Milch bei einem gemolkenen Euter aus Ihnen herausfließen.« Während Rita dies sagte, beugte sie sich vor, um die Knöpfe an Grynszpans Hosenschlitz aufzumachen, aber er wich einen Schritt zurück, stand auf der Schwelle des Schuppens, verdeckte fast ganz die Sonne, und ringsum wurde es wieder dunkel. »Man kann die Angst heraussaugen«, sagte er bitter. »Aber man kann nicht das Böse, das im Menschen steckt, heraussaugen. Mach dich fertig, Weib, wir gehen, um sofort deinem Tod zu begegnen.« »Ach, Herr Grynszpan!« rief sie. »Selbst wenn es so sein soll, wie Sie sagen, dann können wir es uns doch wohl zuerst hier zu zweit noch schön machen. Ach, Herr Grynszpan, wenn ich schon in den Tod gehen muß, dann kann ich doch noch für einen Augenblick Ihr Ding in den Mund nehmen...« »Kommt nicht in Frage«, sagte Grynszpan. »Du willst mich übertölpeln, Weib. Wir gehen zum Umschlagplatz. Dir und mir ist vom Schicksal der Tod verordnet.« »So sterben wir also zusammen?« rief sie. »Was reden Sie da, Herr Grynszpan!« Da ging er wieder bis zur Mitte des Schuppens, und hinter ihm schlich sich auf Zehenspitzen das Licht ein. Er duckte sich ein wenig, denn die Decke war niedrig, und er sagte leise: »Nun, Weib, dann erzähle ich dir meinen Traum.« Und er erzählte ihr alles von seinem Traum, sogar die Schulden Chaim Herzogs erwähnte er und sprach auch von den täglichen Sorgen und Nöten mit der Familie und der schweren Arbeit, die er im Auftrag des Judenrates ausführte. -155-
Rita weinte leise, aber sie wußte nicht, ob das ein Weinen aus Mitleid war, das sie für Grynszpan empfand, oder ob vielleicht die Angst um ihr Leben ihr diese bitteren Tränen aus den Augen preßte. Als Grynszpan mit dem Erzählen fertig war, verlosch das goldene Licht des Tages schon langsam hinter seinem Rücken, und die Kühle des Nachmittags strömte in den Schuppen, vermischt mit dem fernen Geräusch der rollenden Züge. »Nun, dann gehen wir, Weib«, sagte Grynszpan. »Was ich erzählt habe, gehört dir, aber jetzt ist die Zeit für uns gekommen.« Und sie gingen zusammen zur deutschen Wache in der Nähe des Umschlagplatzes, von wo die mit Juden gefüllten Transportwaggons abfuhren. Die Sonne legte sich träge auf die Dächer der Mietshäuser, glitt mit rötlichen Streifen über die schmutzigen Fensterscheiben und floß in der Nähe der Wache wie ein Strahl himbeerfarbenen Saftes in eine Pfütze. Grynszpan schwieg, denn nach der langen Erzählung über Träume und ein Leben voller Gespenster hatte er wohl nicht mehr genug Kraft für weitere Worte. Rita hingegen nahm Abschied von der Welt. Sie war nicht sehr verzweifelt, sondern erstaunt, daß sie das Abschiednehmen recht kühl, fast gleichgültig hinnahm, so als müsse sie morgen wieder zu dem Schuppen in der Nowolipie-Straße zurückkehren, zu dem Schmutz, der Kälte, dem Hunger und den Schritten hinter der Wand. Aber sie wollte ja gar nicht dorthin zurückkehren. Vielleicht deshalb verließ sie diese Welt mit einem geringeren Gefühl des Verlustes, als sie es früher für möglich gehalten hätte. Aber dennoch hatte sie nicht die Absicht, sich kampflos zu ergeben. Als sie auf die Wache kamen, war Halberstamm dort. Er saß an einem Schreibtisch, auf dem ein Tintenfaß und ein Tintenlöscher standen, aber es gab weder Federhalter noch Stahlfedern, lediglich einige gelbe gespitzte Bleistifte, die in einem Senfglas steckten. Halberstamm saß auf einem Stuhl und -156-
schaute sich die Straße vorm Fenster an. Der Bürgersteig war leer, und auf der Fahrbahn stand ein Polizist, der eine Zigarette rauchte. Über seinem Helm schwebte ein grauer Rauchring – wie eine Aureole über dem Kopf einer Heiligenfigur in früheren Zeiten. Halberstamm hörte, daß die Tür zu seinem Zimmer aufging. Er drehte den Kopf. Auf der Schwelle stand Grynszpan und direkt neben ihm Rita. Grynszpan hielt die Frau am Ellbogen fest, wie aus Angst, sie würde ihm im letzten Moment entwischen. Halberstamm fragte: »Nun, was tut sich um diese Zeit?« »Ich bin spät«, erwiderte Grynszpan. »Es ist so, daß ich mich manchmal sehr bemühe, aber ich komme zu spät. Und manchmal läuft alles, wie es sich gehört.« »Genau«, sagte Halberstamm etwas träge. Wieder schaute er aus dem Fenster. Der Polizist war verschwunden. Der Bürgersteig und die Fahrbahn waren leer. Die Sonne ging in den Rauchwolken der Brände unter, die noch nicht ausgebrochen, aber schon gegenwärtig waren. Irgendwo wieherte ein scheu gewordenes Pferd und schlug mit dem Huf auf das Pflaster der Straße. Es waren Schritte zu hören, aber auch ein übles Gefluche auf deutsch, jemand ging in dem Stockwerk, wo die Wache untergebracht war, schwerfällig hin und her. Halberstamm empfand deswegen so etwas wie Scham. Er fragte laut: »Nun, was soll ich jetzt machen, Grynszpan?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Grynszpan. »Vielleicht gehe ich schon mal, denn es gibt viele Dinge im Büro zu erledigen, und Sie, meine Herren, werden sich ärgern wegen der Verzögerung.« »Ja«, sagte Halberstamm. »Es gibt eine Menge Ärger mit euch. Ihr seid an allem schuld.« »Das ist klar«, sagte Grynszpan. »Es ist schon so. Wenn Sie also erlauben, dann mache ich mich an die Arbeit.« -157-
»Bring sie in die Zelle, Grynszpan!« sagte Halberstamm. »Jetzt ist es schon ganz leer auf dem Platz. Die Verspätung war erheblich und ist strafbar. Sie wird in der Zelle bis morgen früh warten.« »Ja«, sagte Grynszpan und wollte los, aber in dem Augenblick meldete sich Rita zu Wort: »Ich kann das ganze Büro abstauben und den Fußboden putzen. Ich brauche nicht einmal einen Lappen. Die Fenster sind so schrecklich schmutzig, daß ich einfach nicht begreife, wer sich hier um diese Dinge kümmert.« Da betrachtete Halberstamm die Frau genauer. Vor dem grauen Hintergrund kam sie ihm jung und hübsch vor, aber er sagte in einem scharfen Ton: »Komm näher!« Sie kam näher, und erst da konnte er sehen, daß sie außergewöhnlich schön war. »Grynszpan!« rief er. »Verschwinde!« Grynszpan ging sofort hinaus und machte beflissen die Tür hinter sich zu. Dann hörte man, wie er einige Treppenstufen nach unten ging, die Tür zur Straße öffnete, sie wieder schloß und unter dem Fenster auf dem Bürgersteig auftauchte. Sofort war er auch schon hinter einer Mauereinbuchtung verschwunden, und in Halberstamms Erinnerung verschlangen ihn für immer die trüben Wasser des Nichtvorhandenseins. Dann machte Halberstamm seinen Gürtel auf und warf ihn geräuschvoll auf die Tischplatte. Er sagte zu Rita in einem sehr zornigen Ton: »Hinter dem Wandschirm ist eine kleine Kammer. Dort steht ein Bett. Geh zu der Kammer und zieh dich nackt aus. Ich komme sofort, und dann werden wir vögeln!« Sie senkte den Kopf. Sofort zog sie ihren Mantel aus und wollte ihre Strickjacke aufknöpfen, aber Halberstamm schrie noch zorniger: »Schämst du dich nicht, du Hure! Wie kannst du es überhaupt wagen, dich mir gegenüber so zu benehmen.« -158-
»Sie haben es doch befohlen«, sagte Rita. »Ich kann nicht vögeln in Rock und Mantel. Aber wenn Sie wollen, dann natürlich...« »Maul halten!« fiel ihr Halberstamm ins Wort. »Angeblich eine Frau, ja?! Und das soll eine Frau sein?! Wo gibt es in Deutschland solche Frauen?! Die gibt es nicht! Niemals hat es in Deutschland solche Frauen gegeben! Die deutschen Frauen sind bescheiden, maßvoll und empfinden Achtung vor dem eigenen Geschlecht. Der Umgang mit den deutschen Frauen ist für einen Mann eine wahre Freude, denn das Angenehme verbindet sich mit einem Gefühl der persönlichen Würde und des Verständnisses. Du bist eine dumme Hure, wenn du dir einbildest, daß ich dir die Gnade und Ehre erweise, mit meinem wunderbaren germanischen Schwanz deinen verdorbenen Arsch zu ficken.« Plötzlich fing er an, sehr laut zu fluchen und mit seinen beschlagenen Stiefeln aufzustampfen. Dann brüllte er: »Ich halt das nicht aus! Ich wollte dich bumsen, wie es sich gehört, aber nicht so. Ich sage ruhig und höflich zu dir: ›Du Hure, geh hinter den Wandschirm!‹ – und du, statt zu gehorchen, ziehst sofort deine Unterhose aus!« »Ich wußte nicht, daß Sie es anders wollen«, entgegnete Rita, die sich plötzlich bedroht fühlte. »Ich kann auch anders. Bevor Sie mir Ihr Ding reinstecken, werde ich beißen und heulen.« »Halt's Maul!« brüllte Halberstamm. »Noch ein Wort, und ich erschieße dich in diesem Zimmer.« »Nein«, rief Rita. »Beruhigen Sie sich ein wenig. Vielleicht kommt es daher, daß ich schlecht Deutsch verstehe. Es handelt sich um ein Mißverständnis. Wenn Sie es wünschen, dann gehe ich hinter den Wandschirm und ziehe mich dort ganz leise aus.« »Ich kann nicht mehr«, rief daraufhin Halberstamm. »Vielleicht kapierst du wirklich nicht, worum es geht. Aber ich werde deinetwegen nicht Jiddisch oder Polnisch lernen. So blöd -159-
bin ich nicht. Jetzt gehst du in die Zelle und morgen früh zum Transport. Und damit Schluß!« »Gut!« erwiderte Rita. »Aber ich kann während der Nacht in diesem Büro aufräumen. Was macht Ihnen das aus, wenn es morgen früh hier sauber und ordentlich ist? Ich kann, ohne heute nacht geschlafen zu haben, zum Transport gehen. Das hat für mich keine größere Bedeutung mehr. Aber dieser Schmutz hier ist für Sie sehr unangenehm.« Halberstamm ließ sich schwer auf den Stuhl am Schreibtisch fallen. »Nichts kapierst du. Aber in Ordnung. Wie du willst.« »Ach, danke. Das heißt, ich soll mich ans Aufräumen machen?« »Nein, du dumme Gans. Geh hinter den Wandschirm und leg dich nackt ins Bett. Ich komm sofort und besorg's dir. Und dann verschwindest du, wohin du willst.« Da fing Rita vor lauter Freude an zu weinen. »Sie lassen mich frei, Sie lassen mich frei«, sagte sie ein ums andere Mal unter Tränen, hoffnungsvoll und ungläubig zugleich. »Ja«, sagte Halberstamm und empfand plötzlich Trauer und Furcht. Gerade ging die Sonne unter. Das ist die Todesstunde, dachte er. »Heul nicht!« sagte er zu Rita. »Du mußt nicht hinter den Wandschirm gehen. Ich will nicht mit dir schlafen. Ich bin überhaupt nicht so schlimm, wie die Leute behaupten. Ich bringe dich jetzt in die Zelle, und morgen früh laß ich dich laufen.« Da hörte sie auf zu weinen, denn sie begann erneut irgendeine Hinterlist zu wittern. Er konnte wirklich nicht so sein, sollte nicht so sein. Das ist untypisch für einen Deutschen, dachte sie. Halberstamm spürte, daß Rita ihm nicht glaubte. »Was willst du? Du denkst wohl, daß ich dich anlüge? Sei nicht blöd. Ich muß doch nicht lügen, denn ich kann mit dir -160-
machen, was mir gefällt. Ich kann dich erschießen, dich dem Transport übergeben, dir die Kehle durchschneiden oder mich mit dir im Bett vergnügen und dich dann einem anderen überlassen. Eigentlich darf man das mit einer Jüdin nicht machen, aber wen kümmert so etwas. Was willst du also?« Rita schwieg. Gerade war die Sonne untergegangen. Eine fahle, leblose Abenddämmerung brach an. Die Ängste des Tages verstummten, und die Ängste der Nacht flüsterten noch nicht. Halberstamm sagte: »Gut. Geh hinter den Wandschirm. Schlaf dich aus bis morgen früh. Dann gehst du dorthin, von wo du auf die Wache gekommen bist. Bis zum nächsten Mal lassen wir es gut sein.« »Und Sie?« fragte Rita. »Was ich!?« »Wo werden Sie schlafen?« »Ich werde hier sitzen bleiben«, erwiderte Halberstamm. Sie nickte und ging sofort hinter den Wandschirm. Es war dunkel dort, aber warm und ganz gemütlich. Sie ließ ihren Mantel auf den Boden fallen, dann zog sie Strickjacke, Schuhe und Strümpfe aus. Nur noch im Hemd, zum ersten Mal seit vielen Tagen und Nächten, legte sie sich auf das schmale Feldbett. Sie stieß einen freudigen Seufzer aus und dachte, daß es sich in einem solchen Bett angenehm sterben lasse. Als sie unter die Militärdecke schlüpfte, stieg ihr der Geruch von Männerschweiß, Tabak und irgendwelchem Essen in die Nase. Erst da fiel ihr der schreckliche Hunger wieder ein. Aber Halberstamm hatte das schon früher begriffen und kam deshalb hinter den Wandschirm mit einer großen Scheibe Brot und einem Becher heißen Wassers. Rita aß schweigend das Brot und trank das Wasser. Halberstamm stand neben ihr, schaute sie an. Dann nahm er den Becher und ging ohne eine Wort in sein Büro nebenan. Rita schlief fast sofort ein. Beim Einschlafen dachte sie noch, daß, so wie Herzog Grynszpans Tod war, sich -161-
Halberstamm als ihr Tod erweisen könnte. Dieser Gedanke verschaffte ihr Erleichterung. Dann, als es ganz dunkel war, kam Halberstamm und umarmte sie vorsichtig. Sie empfand keine Feindseligkeit oder Abneigung und sagte: »Machen Sie, was Sie wollen. Möge das Schicksal Ihnen gnädig sein.« »Schlaf«, sagte Halberstamm flüsternd. Er wollte sich neben Rita legen und seine Hand unter ihr Hemd schieben, aber plötzlich hatte er das Gefühl, daß jemand ihm zuschaute. Er dachte voller Furcht und mit einem Funken Hoffnung, daß Gott vermutlich doch existiere. Er stand also einen Augenblick über diese jüdische Frau gebeugt, die ihm geschickt worden war, und dann kam er hinter dem Wandschirm hervor, setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch, stützte seinen Kopf in die Hände und erstarrte. Die schwarze Nacht lag über der Stadt. Plötzlich fiel in der Ferne ein einsamer Schuß aus einem Karabiner, und noch etwas weiter entfernt war der Pfiff einer Lokomotive zu hören. Am Himmel, in sicherer Entfernung von der Stadt, schien der blinde und taube Mond. Irgendwo wieherte ein scheu gewordenes Pferd, man hörte schwere Schritte auf der Straße, den heiseren Schrei eines Polizisten und hinter Halberstamms Rücken, hinter dem Wandschirm, den Atem der Jüdin, die, warm und satt, schlief. Halberstamm döste vor sich hin. Aber er stellte auch Überlegungen über sein Leben an. Merkwürdige Gedanken gingen ihm durch den Kopf, traurige und aufmunternde zugleich. Er dachte, daß es ringsum viel Böses gab, das tief in den Menschen eindrang, Besitz ergriff von seinem Geist und seinem Herzen. Aber er, Halberstamm, war noch recht stark, um sich zu schützen, zurückzuweichen, und falls das Böse in ihn eindrang, dann doch nur oberflächlich. Es hat sich in mir überhaupt nicht eingenistet, sagte Halberstamm zu sich, und selbst wenn, dann nur vorübergehend, wie ein Mensch auf Reisen, der in einem zufälligen Hotel übernachtet hat. -162-
Aber er war nicht ganz sicher, ob er sich wirklich geschützt hatte, ob er geschickt genug zurückgewichen war. Bis jetzt habe ich niemanden getötet, dachte er und suchte in seinem Gedächtnis einen solchen unklaren Augenblick, gestört von Bewegung, Lärm und Chaos, wo er etwas Unumkehrbares getan hatte. Ich habe nicht getötet, sagte er sich schließlich mit vollkommener Sicherheit. Aber da kam ihm in den Sinn, daß das noch nichts zu bedeuten hatte, jedenfalls nicht viel, denn er hatte vielen Leuten schmerzhafte Schläge verpaßt. Es gab solche, die er mit den Fäusten verprügelt und dann mit den eisenbeschlagenen Stiefeln getreten, denen er Peitschenhiebe ins Gesicht verpaßt und auf deren Rücken und Schultern er mit dem Gewehrkolben eingeschlagen hatte. Was bin ich doch für ein schrecklicher Schuft! dachte er im Halbschlaf. Aber er vergegenwärtigte sich sehr genau, daß er, sooft er Leute schlug, sie antrieb, anbrüllte oder Flüche ausstieß, nie allein war, immer befand sich Kassner, Westermann oder ein wachsamer, dienstbeflissener jüdischer Hilfspolizist in seiner Nähe, jeden Augenblick bereit, von sich aus noch einen Stockschlag oder Peitschenhieb hinzuzufügen. Ich war also nicht allein, sagte Halberstamm zu sich mit einer gewissen merkwürdigen, erbärmlichen Erleichterung. Nie war ich in einem solchen Augenblick ganz allein. Ohne zu wissen, weshalb ihn das eigentlich mit seinem Gewissen versöhnte, schlief er ein. Grau und trüb brach der Tag an. Wie immer weckte er die Ghettobewohner zum gewaltsamen Tod. Die glanzlose Sonne kam hinter den Dächern der Mietshäuser hervor. Zu hören war bereits der durchdringende Pfiff einer Lokomotive auf einem Nebengleis. Halberstamm stand von seinem Stuhl auf. Ihm tat der ganze Körper weh, denn er hatte einige Stunden am Schreibtisch in einer unbequemen, gekrümmten Haltung verbracht. Einen Augenblick lang massierte er sich mit der Hand den Nacken. Das half ein wenig. Schließlich ging er hinter den Wandschirm, -163-
wo er Rita erblickte. Sie saß auf dem Bett und fuhr mit einem Kamm durch ihr Haar. Halberstamm sagte: »Jetzt gehen wir schnell los.« »Bringen Sie mich zum Umschlagplatz?« fragte sie, ohne ihm in die Augen zu schauen. »Nein«, erwiderte er. »Das werde ich nicht tun. Ich kenne da einen Weg.« Sie stand sofort vom Bett auf, und da sie bereits ihren Rock und ihre Strickjacke anhatte, warf sie sich nur noch ihren Mantel über die Schultern und sagte ruhig: »Ich bin fertig, Herr Wachtmeister.« »Ich tue so, als ob ich dich abführe, und du tust so, als ob du Angst hast, wir gehen wie ein Polizist mit einer Jüdin, du weißt schon... Dort treiben sich Leute herum, Deutsche, Juden, Polen. Paß also auf, Weib.« »Ja«, sagte sie und kam sofort heraus in sein Büro. Ein heller Sonnenstrahl lag auf dem Bretterboden. Rita sagte: »Ich hätte noch ein wenig aufräumen können. Wie es hier aussieht...« »Ist doch egal«, erwiderte Halberstamm, wobei er den Gürtel um den Bauch schnallte. Sie gingen hinaus ins Treppenhaus, die Treppen nach unten und weiter über die Türschwelle auf die sonnenüberflutete Straße. Zwei Deutsche standen, Zigaretten rauchend, in der Nähe, sprachen leise, fast flüsternd miteinander, so wie man gewöhnlich in einem Trauerhaus spricht. Sie beachteten Rita und Halberstamm nicht einmal. Die beiden gingen mit schnellen Schritten in Richtung GęsiaStraße. Halberstamm – mit einem unfreundlichen Gesichtsausdruck – hielt Rita fest und kräftig am Arm. Er wirkte wachsam, vorsichtig und voller Entschlossenheit, sie dagegen gefügig und still. Sie schritten laut und schnell aus, wie beim Marschieren oder auf der Flucht. Sie gingen die Gęsia-Straße -164-
entlang zur Okopowa-Straße, dann noch weiter, durch enge Häuserschluchten, mal nach links, mal nach rechts, bis Halberstamm plötzlich in das Tor eines ihr unbekannten Mietshauses einbog. Ihre Schritte hallten dumpf unter dem Torbogen. Er sagte: »Dieses Haus ist schon ganz leer, vom Keller bis zum Dachboden wohnt da keiner mehr.« »Soll ich hier bleiben?« fragte sie etwas ängstlich, denn sie wußte besser als er, welche Gespenster sich in solchen leeren Häusern verbergen. »Nein«, erwiderte er. »Das ist ein Durchgang.« »Was für ein Durchgang?« »Ein Durchgang«, wiederholte er. Er kannte diesen Ort seit zwei Tagen. Hier hatte jemand für sich einen Fluchtweg vorbereitet, war aber im letzten Augenblick geschnappt und zum Umschlagplatz gebracht worden. Es mußte ein sehr wendiger, flinker Mensch gewesen sein, leicht wie der Wind, aber auch völlig verrückt. Sie stiegen die dunklen, ausgetretenen Treppen hoch in den vierten Stock, ihre Schritte hallten dumpf im Treppenhaus. Halberstamm stieß eine Tür auf, und die beiden stiegen über ein wackeliges Holzbrett auf das Dach. Es war steil und mit altem Teer überzogen, der rissig war und abblätterte. »Jetzt wirst du allein weitergehen«, sagte Halberstamm. »Ich komm hier nicht durch, denn ich bin zu groß und zu schwer.« Er zeigte ihr den Weg. Dort, wo das Dach endete und über dem Abgrund abbrach, ganz am Ende der Dachschräge, nur abgestützt auf der Regenrinne, lag eine Holzleiter, der einige Sprossen fehlten. Am anderen Ende lag die Leiter auf dem etwa drei Meter entfernten Dach des nächsten Mietshauses auf. Unter der Leiter gähnte eine enge schwarze vier Stockwerke tiefe -165-
Schlucht, die zwei Giebelwände trennte. »Du nimmst diesen Weg«, sagte Halberstamm. »In dem Haus dort im ersten Stock gehst du in die Wohnung auf der linken Seite. Und dort werde ich in einer halben Stunde auf dich warten. Das ist bereits die arische Seite, Weib...« »Das schaffe ich nicht«, sagte Rita, während sie sich die Leiter ansah. »Doch, das schaffst du«, sagte Halberstamm und ging sofort weg. »Das schaffe ich nicht!« rief sie, aber er hörte sie schon nicht mehr. Schnell stieg er vom Dach hinab, dann das Treppenhaus nach unten mit einem gleichmäßigen, festen, deutschen Schritt. Dann ging er wieder die Gęsia-Straße entlang ins Ghetto, das jetzt voller Menschen, Geschrei, Abwarten und vergeblicher Hoffnungen war, befand sich in der Stawki-Straße, ging an der Wache vorbei, in Richtung Ghettotor, nickte den Polizisten zu, schnauzte einen lettischen Soldaten an, der ihm den Weg versperrte. Der Soldat antwortete ihm etwas in seiner Sprache und schlug die Hacken zusammen. Halberstamm betrat die arische Seite der Straße. Kein Mensch war zu sehen. Auf dem Bürgersteig, an der Ghettomauer verstreut, lag zerschlagenes Glas. Das Sonnenlicht glitzerte unter den Füßen, das Glas knirschte. Er ging schnellen und entschlossenen Schrittes, schien sehr ruhig und selbstsicher, ein echter deutscher Krieger in einer unterworfenen, zum Untergang verurteilten Welt. Aber sein Herz klopfte vor Angst. Entlang der Mauer umgaben das Ghetto einige Straßen auf der arischen Seite. Sie waren fast menschenleer und still, er begegnete kaum Passanten auf seinem Weg. Dunkle, kaputte Häuser mit helleren Flecken, wo der Verputz abgeblättert war, mit schmutzigen Fensterscheiben sahen wie nackte, auf den Weg geworfene Leichen aus. Endlich befand sich Halberstamm am Ziel. Das Haus war -166-
groß, wie die anderen ringsum heruntergekommen und düster. Es wirkte unbewohnt, aber das schien nur so, denn hier hausten auf engstem Raum arme Polen. Zur Straße hin war eine Sargschreinerei und daneben eine Werkstatt, die künstlichen Grabschmuck herstellte. Auf der anderen Seite der mit Kopfsteinpflaster belegten Straße zog sich die Friedhofsmauer entlang. Vor der Schreinerei saß auf einem kleinen Schemel ein Mann und rauchte träge eine Zigarette. Es sollte sich bald herausstellen, ob er ein Schuft oder aber ein sehr anständiger Mensch war. Als er Halberstamm sah, murmelte er unverständlich etwas vor sich hin, aber Halberstamm verstand sehr wohl, daß dieser Mensch ihn verfluchte und verwünschte. In einem Hinterhof spielten Kinder. Als sie den deutschen Polizisten sahen, nahmen sie eine starre Haltung voller Bewunderung und Achtung an. Aber auch das erwies sich nur als Schein, denn kaum hatte er das Treppenhaus betreten, fingen die Kinder an, Grimassen zu schneiden, streckten die Zunge heraus und wiederholten in einem boshaften, unheilverkündenden Flüsterton »Heil Hitler! Heil Hitler!« Als er sich vor der Eingangstür zu der Wohnung im ersten Stock befand, vernahm er oben leise, unsichere, schnelle Schritte. Er drehte den Kopf und sah Rita, die vom obersten Stockwerk herunterlief. Als sie ihn erblickte, blieb sie abrupt stehen. Ihr Gesicht war blaß, ihre Lippen bläulich unterlaufen und ihr Blick geistesabwesend. Krampfhaft hielt sie sich am Treppengeländer fest. Flüsternd sagte sie: »Ich hab es geschafft!« Und sie begann leise und verzweifelt zu weinen. Halberstamm schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Jetzt kannst du gehen, wohin du willst.« »Ja«, sagte sie unter Tränen. »Ich hab es geschafft. Ich dachte, ich würde es nicht schaffen. Aber ich hab es geschafft...« »Du kannst gehen«, sagte er noch einmal. »Du siehst nicht aus wie eine Jüdin. Jetzt wirst du leben. Du wirst alt werden, Weib, und du wirst leben.« -167-
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J
oël Weiss war ein hervorragender Kunstsammler, hatte aber ein merkwürdig deformiertes Gedächtnis, denn es war von Gerechtigkeitssinn und der Sehnsucht nach Wahrheit verbildet. Und das paßt wohl nicht zusammen. Schließlich erinnert sich der Mensch nicht deshalb, um Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern gewissermaßen, weil ihn das tägliche Leben dazu zwingt. Während wir vergessen, was gestern geschah, vergraben wir den heutigen Tag in den Ruinen unserer Ignoranz. Man kann also die Hypothese aufstellen, daß Joël Weiss bei all seiner Klugheit überhaupt nicht so klug war. Er war der Sohn von Dr. Anselm Weiss. Dr. Anselm Weiss hatte eine Anwaltskanzlei in Berlin Dahlem gehabt, aber bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war er sofort an die Front gegangen. Dort vollbrachte er viele außergewöhnliche Taten, zeichnete sich durch Tapferkeit und Heldenmut aus. In der Schlacht an der Somme, von Kugeln durchsiebt, wollte er den Franzosen nicht den Schützengraben überlassen. Er verteidigte ihn ganz allein, und als die Ablösung kam, hatte er noch genug körperliche und geistige Kraft, um sich zu einem weiteren Kampf aufzuraffen. Er nahm auch an einem Gemetzel mit dem Bajonett teil, was ihm zahlreiche schmerzhafte Verwundungen beibrachte, die ihn zum Invaliden machten. Er konnte sich später nicht mehr richtig bewegen und war nach einigen Jahren derart hilflos, daß er, als er in Auschwitz ankam, um vergast und verbrannt zu werden, fürsorglich untergehakt vom Zug in die Gaskammer geführt wurde. Aber im Ersten Weltkrieg war er Träger des Eisernen Kreuzes geworden, und Kaiser Wilhelm -168-
persönlich soll sich mit folgenden Worten über ihn geäußert haben: »Wenn ich nur solche Soldaten und Offiziere wie diesen Rechtsanwalt Weiss hätte, dann könnte ich den Krieg in zwei Monaten beenden...« Es war aber anders gekommen. Offensichtlich war der Rechtsanwalt in der Armee eine Ausnahme gewesen. Nach dem Krieg führte er weiterhin seine Kanzlei in Dahlem, und Joël Weiss ging dort zur Schule. Sein bester Freund hieß Westermann; mit ihm unternahm er oft Ausflüge außerhalb der Stadt und auch Museums-, Theater- und Konzertbesuche. Rechtsanwalt Weiss war in puncto Geld dem Sohn gegenüber nicht knauserig, und da die Familie Westermann arm war, finanzierte Joël Weiss die gemeinsamen Ausgaben der beiden Knaben. Die jungen Leute waren echte Freunde gewesen, über viele Jahre hin, und das ist vielleicht der beste Beweis dafür, daß die Meinungen hinsichtlich der außergewöhnlichen Klugheit von Joël Weiss übertrieben waren und nicht allzusehr den Tatsachen entsprachen. Eines Tages, in den Jahren, als sie noch Halbwüchsige gewesen waren, spielten Joël Weiss und sein armer Kamerad Westermann in einem geräumigen, etwas dunklen Parterrezimmer in der Villa von Rechtsanwalt Weiss. Durch die Fenster schaute das üppige Grün des Frühherbstes herein. Die Luft roch leicht feucht. In das Zimmer drangen die Laute des Familienlebens, und Joël Weiss hörte deutlich die Worte der Köchin, die der noch ganz jungen Küchenhilfe eine Rüge erteilte. Bestimmt war es um das Suppengemüse gegangen. Der arme Kamerad Westermann schlug Weiss vor, die Front bei Tannenberg zu durchbrechen, was erlaubte, einen gemäßigten Optimismus in der Frage weiterer Perspektiven zu nähren. Weiss sagte damals, er verstünde gern Samsonow, über den er im übrigen oft nachdenke, weil ihn dessen Selbstmord als Folge der befleckten Ehre fasziniere. Westermann, der dazu neigte, dem Freund seinen Willen aufzuzwingen, auch dazu -169-
neigte, die Führungsrolle zu übernehmen und sich sehr entschieden, in einem scharfen, manchmal sogar unfreundlichen Ton auszudrücken, Westermann also sagte damals, daß diese Komödie mit dem Selbstmord des Generals Samsonow ihn überhaupt nicht interessiere und er damit einverstanden sei, daß Joël Weiss die russische Armee befehlige, er hingegen führe als Hindenburg die Deutschen an. Jedoch sei letzterer jetzt Präsident der Republik, es wäre also gut, seine Person gebührend zu würdigen, weshalb Westermann Joël Weiss vorschlug, ihm das Eiserne Kreuz zu leihen, damit er, Westermann, es sich ans Revers heften könne, um es, solange er die Führungsrolle habe, zu tragen. So geschah es auch. Joël Weiss begab sich ins Arbeitszimmer des Rechtsanwalts im ersten Stock der Villa. Der Rechtsanwalt befand sich natürlich zu der Zeit in seiner Kanzlei, zwei Querstraßen von seinem Wohnhaus entfernt. Das Arbeitszimmer seines Vaters stimmte Joël Weiss immer nachdenklich. Er träumte davon, einst auch Rechtsanwalt zu sein; all sein Wissen würde er dann den oft von der Bourgeoisie ausgebeuteten Armen zur Verfügung stellen. Joël Weiss mochte die Bourgeoisie nicht, und er war ihr gegenüber derart kritisch eingestellt, daß ihn gelegentlich ein unangenehmes Gefühl des Befremdens und der Scham befiel bei dem Gedanken, selbst dieser Schicht anzugehören. Besonders im Arbeitszimmer seines Vaters, umgeben von alten, dunklen, schweren Möbeln, die von Beständigkeit und Wohlstand seiner Familie zeugten, empfand der junge Joël Weiss Trauer wegen der Ungerechtigkeit, an der er sich unfreiwillig beteiligen mußte. Um so stärker hatte er das Bedürfnis, seinem armen Kameraden Westermann, der ärmliche, abgelaufene Schuhe trug, eine abgewetzte Schuluniform und einen Mantel, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, seine Zuneigung und Ergebenheit entgegenzubringen. Dennoch wagte es Joël Weiss nie, seinem Kameraden Westermann materielle Hilfe anzubieten, nicht einmal in kleinen Dingen, die über ihre -170-
gemeinsamen Ausflüge zum Wannsee und die Theater- oder Konzertbesuche hinausgingen, da er der Meinung war, dies verletze Westermann und könne das Ende ihrer Freundschaft bedeuten. Als er daher dem armen Kameraden Westermann zum Zeitvertreib das Eiserne Kreuz, das Rechtsanwalt Weiss vom Kaiser erhalten hatte, auslieh, empfand Joël Weiss dies als eine Art Genugtuung dafür, daß das Kaisertum es nicht geschafft hatte, die Armut der Familie Westermann weniger drückend, peinlich und erniedrigend werden zu lassen – sowohl für den Kameraden Westermann als auch für ihn selbst, der sich so sehr nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit sehnte. Im Arbeitszimmer herrschte angenehmes grünliches Halbdunkel, an den Fenstern hingen Vorhänge mit üppigem Faltenwurf sowie bestickte Gardinen. Der Teppich im Arbeitszimmer war vom selben Kirschrot wie die Bezüge der Sessel und des Sofas, auf dem Rechtsanwalt Weiss manchmal mit einem Buch in der Hand saß. Joël Weiss nahm den Orden seines Vaters aus der dunkelgrünen Schachtel, die Rechtsanwalt Weiss in dem verglasten Bücherschrank aufbewahrte. Im Schrank roch es nach Tabak. Der Rechtsanwalt war ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher und besaß eine umfangreiche Pfeifensammlung. Wenn er aus dem Haus ging, nahm er immer drei oder vier Pfeifen mit, um nie eine noch warme rauchen zu müssen, was von seiner Sachkenntnis zeugte. Joël Weiss liebte seinen Vater über alles. Um so stärker, als er seine Mutter in frühester Kindheit verloren hatte. Er konnte sich überhaupt nicht mehr an sie erinnern, und seine ganze Zuneigung gehörte dem Vater, der für ihn nicht nur ein liebevoller Vormund und Erzieher, sondern auch ein echtes Vorbild war. Als Joël Weiss die Kriegsauszeichnung aus der Schachtel nahm, war ihm unbehaglich zumute, denn auf diese Weise machte er die Tapferkeit des Vaters zum Gegenstand heiteren Spiels und ging zu leichtfertig mit den Leiden des ihm so nahen und so sehr geliebten Menschen um. Jedoch empfand er Erleichterung und -171-
Befriedigung bei dem Gedanken, daß dieses Kreuz ein Zeugnis seiner Tapferkeit war und von Verdiensten, deren sich nicht viele rühmen konnten. Als Joël Weiss mit dem Eisernen Kreuz ins Parterrezimmer zurückkehrte, heftete es sich der arme Kamerad Westermann sofort an die Brust und fing an, der deutschen Armee die ersten Befehle zu erteilen. Die Anhänglichkeit, die Joël Weiss für seinen Kameraden empfand, hatte jedoch keinerlei Einfluß auf einen günstigeren Verlauf der Ereignisse bei Tannenberg, da Joël Weiss schon als Junge alles, was er in die Hand nahm, sehr gewissenhaft machte, und so bewies er auch, was die Schlacht betraf, Geisteskraft und Unnachgiebigkeit. Obwohl er wußte, daß er sich auf verlorenem Posten befand, kämpfte er tapfer, seine Bleisoldaten zogen sich langsam und in geschlossenen Reihen zurück, keiner ergriff chaotisch die Flucht; erst als es draußen merklich dunkler wurde und der Kamerad Westermann verkündete, er müsse nun nach Hause gehen, warf Joël Weiss einige der letzten Figuren, die sich am Teppichrand zusammengezogen hatten, um, verstaute die Bleikanonen im Pappkarton und begab sich ins Badezimmer, um als General Samsonow Selbstmord zu begehen. Als er ins Zimmer zurückkam, war der Kamerad Westermann schon im Begriff zu gehen. Beinahe im letzten Augenblick erinnerte sich Joël Weiss an das Eiserne Kreuz seines Vaters, das immer noch das Revers der abgetragenen Schuluniform des Kameraden Westermann schmückte. Der arme Kamerad Westermann gab den Orden zurück und verabschiedete sich sofort, da er sich bestimmt ohne das Eiserne Kreuz wie ohne Hose fühlte oder – schlimmer noch – wie ein junger Bursche, dem am Hosenschlitz die Knöpfe abhanden gekommen sind. Die Ansicht, daß gerade an jenem Tag, in der Abenddämmerung, bei dem armen Kameraden Westermann Neid aufkam und ihm sein persönliches schlimmes Schicksal bewußt wurde, ist keine gewagte Vereinfachung. Von -172-
ebendiesem Moment an veränderte sich Westermann grundlegend. Seine Besuche bei seinem Schulkameraden Weiss wurden seltener, und von Ausflügen ins Grüne sowie gemeinsamen Theaterbesuchen konnte überhaupt keine Rede mehr sein. Der arme Kamerad Westermann verschanzte sich hinter seiner Armut, und auf die Wälle vor den Schützengräben, die er mit dem Sand seiner Hirngespinste aufgeschüttet hatte, steckte er die Fahne des kollektiven deutschen Stolzes. Zu seiner Verwunderung blieb Joël Weiss außerhalb dieses Erdwalls. Im übrigen war er dort nicht allein. Er wurde dabei von seinem geliebten Vater und einer recht beachtlichen Gruppe anderer Personen begleitet, die auch erstaunt waren, daß sie sich nicht dort befanden, wo sie bis jetzt geglaubt hatten, daß ihr eigentlicher Platz sei. Als der Erinnerung wert könnte sich der Tag erweisen, an dem der arme Kamerad Westermann, geleitet von seinem starken Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Volksgemeinschaft, sich auf dem Polizeiposten in Dahlem meldete. Dieser Tag wäre für alle peinlich gewesen, wenn sie sich daran erinnert hätten. Es wehte ein starker Wind. Er fegte die letzten Blätter von den Bäumen, und über die Dächer jagte er dunkle Regenwolken. Schon vom Morgen an fiel ein feiner, aber lästiger Regen, ähnlich dem, wie er später Westermann bei seinen Tätigkeiten am Ufer des Flusses mit dem moorigen Wasser begleiten sollte, wo Kassner sich noch in letzter Minute auf den sinnlosen Streit wegen des Binokels einließ. Es liegt etwas Geheimnisvolles in der Natur, daß sie gewöhnlich eine Szenerie schafft, die unserem Seelenzustand entspricht. Verbrechen geschehen meist in der Dunkelheit, und die Verbrecher schleichen sich heran und kriechen aus dem Dunkel der Nacht hervor. Denunziert wird an bewölkten Tagen. Ein regnerischer, windiger Herbst ist im allgemeinen viel besser als ein Frühling, wenn es um die dunklen, übelriechenden Schlupfwinkel der Menschenherzen geht. Zum Beispiel ist -173-
allgemein bekannt, daß böse Gedanken von gewaltigen Stürmen begleitet werden, jedoch nicht die dann ausgeführten Taten. Erst dann, wenn der Sturm sich legt, meist im Morgengrauen, bei glasklarer Luft, die von Ozon, frischer Feuchtigkeit und Kühle durchdrungen ist, werden die aus den bösen Gedanken geborenen Taten Wirklichkeit. Manchmal pflegt es auch anders zu sein, sozusagen gegen die Regeln, wie sie uns die Natur der Welt aufzwingt, und somit kann es manchmal passieren, daß das Böse bei vollem Sonnenschein wuchert, unter einem heiteren Himmel, und ein sanfter, freundlicher Wind umweht das Gesicht eines Mörders. Aber in dem Falle ist es viel schwieriger für das menschliche Gedächtnis, die Ereignisse einzuordnen. Es kann sogar passieren, daß der Henker vergessen wird und das Opfer eine Mitschuld trägt. Es ist also besser, sich an eine solche Welt zu erinnern, wie sie unserer bedrückten Seele gefällt. Denn wir finden dann in der Natur, deren kleiner Teil wir immer sind, eine gewisse Bestätigung der Unabänderlichkeit. Es wäre völlig sinnlos, sich ihr entgegenzustellen, oder etwa nicht?! Aber vielleicht spüren wir sogar manchmal, daß unsere Taten von der Laune einer höheren Kraft gelenkt werden. An jenem Tag also fiel ein lästiger Regen, und es wehte ein unangenehmer, schneidender Wind. Der arme Kamerad Westermann trug seinen abgetragenen, schäbigen Anzug, sein nicht ganz frisches Hemd war zerknittert und die Gamaschen ungeputzt und feucht. Als er die Amtsstube betreten hatte, hängte er seinen dunkelblauen Mantel und die alte Melone, die seinem Vater gehörte, an einen Kleiderhaken in der Ecke. Neben dem Kleiderhaken stand ein weißer einladender Spucknapf aus Porzellan, was ein gutes Zeichen war für die Hygiene des Büros. Das Zimmer war düster und eher klein. Auf dem Schreibtisch brannte eine Lampe, die von einem flachen Lampenschirm aus mattgrünem Glas umgeben war. Hinter dem Schreibtisch saß ein Polizeibeamter mit unbekanntem Namen. Er hatte ein breites, aufgedunsenes Gesicht, trug einen dunklen Schnurrbart, und -174-
sein graumeliertes, sehr dünnes und spärliches Haar, das von Brillantine glänzte, lag dicht am Kopf an. Der Beamte hatte vor sich auf dem Schreibtisch einen weißen, sorgfältig linierten Stapel Papier sowie ein Tintenfaß, und in der rechten Hand hielt er einen Federhalter. »Sagen Sie also endlich, worum es eigentlich geht in dieser ganzen merkwürdigen Angelegenheit«, sagte er mit einem entschiedenen, unwilligen Ton, denn er war ein Mensch vom alten Schlage, hatte im Kopf ordentlich zurechtgelegte Vorstellungen über die Welt und war noch nicht an die neuen Verhältnisse gewöhnt, obwohl er sich darum bemühte und ihn die Entwicklung der Ereignisse in keiner Weise empörte. Jedoch schien ihm die Sache, mit der er im Zusammenhang mit der Denunziation des armen Kameraden Westermann in Berührung kam, unklar, und er empfand anfänglich ein moralisches Unbehagen wegen dieser ganzen, so unbeschreiblich dummen Schweinerei. Er selbst war auch mal Schüler gewesen, erinnerte sich noch an seine Klassenkameraden, ihre verschiedenen Spiele und Späße. Aber weder damals noch jetzt, nach so vielen Jahren, wäre es ihm in den Sinn gekommen, daß man jemanden wegen eines Lausbubenstreiches politisch anklagen und ihm gefährliche Absichten gegenüber dem Staat hätte unterstellen können. Er verstand jedoch, daß neue Zeiten angebrochen waren, in denen er selbst sich irgendwie zurechtfinden und einrichten mußte. Mehr noch, sein Betätigungsfeld als Polizist war nicht allzugroß; als erfahrener Beamter kannte er außerdem die Bewohner aus seiner Umgebung nicht schlecht und folglich auch das Haus und die Familie des Rechtsanwalts Weiss. Er konnte mit Recht davon ausgehen, daß Westermann das sehr wohl wußte. In der Situation, wie sie plötzlich entstanden war, durfte man solche Bagatellen nicht verharmlosen, denn sie waren folgenschwer. Der Tatbestand sah folgendermaßen aus: Der in der Gegend bekannte Rechtsanwalt Weiss war Jude. Der junge Mann, der -175-
auf der Polizeidienststelle erschienen war, gab seiner patriotischen Empörung Ausdruck. Das Eiserne Kreuz ist zwar nur ein Gegenstand aus Metall, aber es symbolisiert und vereinigt in sich gewissermaßen die Bindung an das Vaterland und an die allerwichtigsten nationalen Tugenden, die dem deutschen Herzen lieb und teuer sind, und gleichzeitig wecken sie Abneigung, Mißgunst und Feindseligkeit bei den Juden, für die solche Tugenden etwas äußerst Hassenswertes sind. Schließlich ist es eine Selbstverständlichkeit, daß jeder Staatsbeamte ab einem gewissen Alter intensiv an seine bescheidene Pension denken und sich um das leidliche Schicksal seiner großen Familie kümmern muß. Ein entsprechendes Protokoll abzufassen und es dem Dienstweg zu übergeben schien also unausweichlich zu sein. Im übrigen war dies nicht die erste Angelegenheit dieser Art, die über diesen Schreibtisch ging. Fürs erste hatte das alles, zumindest in den Augen des Polizeibeamten, den Charakter eines Klassenkampfes im besonderen preußischen Stil, da diejenigen Leute, die bei ihm mit verschiedenen Denunziationen von Juden vorstellig wurden, arm waren, wohingegen die Juden sich im allgemeinen über ihre materiellen Verhältnisse nicht beklagen konnten. Erst in späterer Zeit nahm die Sache einen nationalistischen Charakter an und somit auch einen sehr pathetischen. Ohne zu zögern, und in dem Gefühl, treu seine Pflicht erfüllt zu haben, unterschrieb Westermann seine Aussage. Als er den Raum verließ, begleitete ihn der Beamte mit einem Blick, in dem sich Abscheu mit Bewunderung und Geringschätzung mit einer Spur Angst mischten. Am folgenden Tag fühlte er sich genötigt, die Denunziation weiterzuleiten. Im übrigen fiel immer noch feiner, lästiger Regen.
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13
J
an klopfte leicht an die Tür. Als er eine Stimme hörte, die ihn bat einzutreten, ging er hinein. Die Terrassentür stand weit offen. Baron Kugler saß auf der Terrasse an einem kleinen Tisch im Schatten einer Markise. Er trug eine cremefarbene Sommerhose, ein ebensolches Hemd mit Halbarm und ein weinrotes Halstuch. Eine elegante Erscheinung, aber diese Eleganz hatte etwas Dandyhaftes und Falsches, wie alles im Leben des Barons, der gar kein Baron war. Er war nicht einmal ein echter Hoteldieb, obwohl er über Jahre hin erfolgreich diese Tätigkeit, die seiner dunklen, lasterhaften Seele wohltat, ausgeübt hatte. Der Hoteldiebstahl war eine Art Ersatzmutprobe, eine Spur jämmerlicher Verwegenheit, ein Anflug kleinlichen Streitens mit der Welt gewesen, was diesem Menschen erlaubt hatte, sich vorzumachen, er habe sich bereits mit seinem Schicksal versöhnt. Er hatte also die Safes in Hotelzimmern aufgebrochen, und indem er reiche träge Frauen ausraubte, lebte er auf großem Fuß, zog durch ganz Europa von Taormina über San Remo, Antibes und Cannes, nach Meran und Bad Ischl. Aber ein Hoteldieb im üblichen Sinn war er keineswegs, sondern eine viel dunklere, ominösere Gestalt. Jedoch stellte er dies nie zur Schau. Seine kriminelle Größe war gepaart mit einer Vorliebe für die Anonymität. Diese war jedoch nicht von einer gewöhnlichen Furcht diktiert – denn nichts Gewöhnliches hatte Zugang zu seinem Geist –, sondern ein Gebot seines Charakters. Aber ein Anflug von Angst, zart wie ein Windhauch im Mai, läßt sich auch in dieser Beziehung nicht restlos ausschließen. »Guten Tag, Herr Baron«, sagte Jan von der Türschwelle aus. -177-
In seiner Stimme war kein Spott, obwohl Jan sehr genau wußte, daß der Baron überhaupt kein echter Baron war. Doch selbst ein ordentlicher Hoteldieb war er nur vorübergehend und unregelmäßig gewesen, denn oft hatte er lange Wochen in Kurorten mit unergiebigen Grübeleien über den Verfall der heutigen Welt und die Degenerierung der menschlichen Natur zugebracht. »Guten Tag«, erwiderte der Baron. »Treten Sie doch ein. Bitte nehmen Sie sich einen Stuhl aus dem Zimmer.« Er hatte einen angenehmen, leicht heiseren Bariton. Jetzt sprach er Deutsch. Er war Deutscher, hieß Oskar Kugler und kam aus Bayern. Aber manchmal gab er sich für einen Engländer aus. Wiederum nicht aus Furcht, sondern aus einer Laune seiner unsteten Natur heraus. Er kleidete sich dann äußerst sorgfältig, trug eine Flanellhose und einen Tweedsakko, rauchte Pfeife, sprach langsam und besonnen. Einige Jahre war er so aufgetreten, da er Grund hatte, anzunehmen, daß eine britische Herkunft ihm die Menschen gewogener machte und er in den Augen der vornehmen Gäste in den Hotels und Kurorten eine vertrauenswürdigere Person war, ja sogar eine Zierde der Gesellschaft, wohingegen eine deutsche Abstammung eher einen zweifelhaften Wert hatte. Er war also eine gewisse Zeit Engländer gewesen, aber dann hing ihm das zum Halse raus. Die Leichtigkeit, mit der er in der angelsächsischen Haut von den anderen akzeptiert wurde, half ihm dennoch nicht, sich von seinen Erinnerungen freizumachen. Diese hatten etwas Erhebendes und Dramatisches. Denn Kugler gehörte der Sphäre großer und blutiger Verbrechen mit all ihrem Pathos, Heldentum und ihrer Grausamkeit an. Das hatte ihm immer ein Gefühl für den Sinn des Lebens gegeben. Die Erinnerungen erlaubten ihm, die eigenen Kräfte und Möglichkeiten einzuschätzen, und erfüllten ihn auch mit der Genugtuung, die typisch war für alle, die im Krieg gewesen waren. Von dessen Unersättlichkeit und Metaphysik hatten Menschen, die außerhalb dieses Feuerkreises -178-
geboren worden waren und die sich nie von ihrer banalen Existenz hatten befreien können, keine Ahnung. Als dann später normale Zeiten angebrochen waren, konnte sich Kugler darin nicht zurechtfinden. Aber als falscher Brite konnte er sich auch nicht so ganz an seiner eigenen Vergangenheit freuen, und für ihn war sie sehr wichtig, auf jeden Fall der Erinnerung wert. Eines Tages warf er die britische Pose ab, nicht etwa weil in ihm der Patriotismus erwacht wäre oder die Verbundenheit mit der deutschen Kultur, sondern aus Sehnsucht nach sich selbst. Das Zimmer war sonnendurchflutet. Der Baron saß im Sessel auf der Terrasse, und Jan stand auf der Türschwelle. In der Ferne fuhr ein Zug vorbei. Es war deutlich zu hören, wie hinter dem Kiefernwald der ICE die Bahnstrecke entlangrauschte. Und gerade von dort, von der etwas schattigen Seite, strömte warme Morgenluft heran. Jan sagte von der Türschwelle aus: »Die Hitze ist heute sehr schwer zu ertragen.« Der Baron nickte, und als er sich bewegte, fielen Sonnenstrahlen auf sein Gesicht, die aber sofort wieder verschwunden waren, so daß sich der Kopf des Barons erneut im Schatten befand. Er sagte: »Die Nacht war ziemlich kühl.« »Das hat nichts zu sagen. Die Nächte in den Bergen sind oft kühl«, erwiderte Jan und ging bis in die Mitte des Zimmers. Die Tür zum Flur hinter seinem Rücken war geschlossen. »Ich weiß, ich bin oft in den Bergen«, sagte der Baron. »Stellen Sie sich vor, ich konnte heute bis spät in die Nacht nicht einschlafen. Vielleicht eine Folge der hiesigen Ernährung, ich reagiere ungeheuer sensibel auf solche Dinge.« Er unterbrach sich, faßte sich mit der Hand an die Stirn und fuhr sich dann über das Gesicht. »Oder es ist die Angst, die nachts aufsteigt. Tagsüber kann man sie in den Griff kriegen, aber wenn es dunkel wird, packt sie einen an der Kehle... Kennen Sie das?« -179-
»Kenne ich«, erwiderte Jan und machte einen Schritt vor in Richtung Terrasse. »Die Schlaflosigkeit ist schwer in den Griff zu bekommen«, sagte der Baron. »Früher ließ sich damit leben. Lange Spaziergänge. Manchmal eine Frau. Aber jetzt, seit einiger Zeit, nur noch Einsamkeit und immer dunklere Nächte.« »Ja«, sagte Jan. »Ich kenne das zur Genüge.« Der Baron war über dieses Eingeständnis etwas verärgert, als verüble er Jan, daß dieser im Leben auch Schwierigkeiten hatte. Deshalb sagte er: »Heute habe ich kein Auge zugemacht. Ich stand mitten in der Nacht auf und trank ein wenig Wasser. Dann – ich weiß nicht, weshalb – ging ich raus auf die Terrasse. Es war absolut still, nur der Wind fuhr durch die Kiefernwipfel auf der Anhöhe. Und stellen Sie sich vor, was ich gesehen habe.« »Was haben Sie gesehen?« »Einen Feuerschein. Überall ringsum einen Feuerschein. Der ganze See war mit einem rötlichen Schein bedeckt. Oben auf den Hügeln flammende Lagerfeuer, als hätten dort Tausende von Wanderern biwakiert. Aber es waren keine gewöhnlichen Lagerfeuer. Irgendwo, unbeschreiblich weit weg, vielleicht schon im Jenseits, waren Brände ausgebrochen.« »Brände im Jenseits«, sagte Jan fast flüsternd und spürte den Geschmack von Asche auf seinen Lippen. »Dort brennen unsere Seelen.« »Daran habe ich nicht gedacht«, sagte der Baron und nickte. »Aber das ist absolut möglich. Das Feuer kommt näher.« Er zeigte mit der Hand nach Westen. Aber Jan unterdrückte seine Neugier und ging nicht zur Terrassentür. »Das ist einfach die Hitze«, sagte er. »Kommen Sie doch näher, treten Sie auf die Terrasse...« »Weshalb nicht«, sagte Jan, blieb aber weiterhin reglos mitten im Zimmer stehen. Rechts von ihm ein niedriges Sofa, links ein -180-
kleiner Tisch, zwei Sessel und eine schmale Lampe mit Schirm. »Ich weiß, ich weiß«, sagte der Baron plötzlich etwas müde und mißmutig. »Sie besuchen mich nicht einfach so, wie das unter Kunstsammlern üblich ist. Ich weiß alles, denn ich bin sensibel wie die Saite einer Geige. Ich bin nicht irgend so ein dahergelaufener Kerl.« »Natürlich«, sagte Jan. Wieder spürte er die Asche auf den Lippen und die Feuchtigkeit auf der Stirn. »Gestern habe ich gesehen, wie Sie sich mit gewissen Personen unterhalten haben«, sagte der Baron leise und etwas angestrengt. »Ich habe eine derartige Entwicklung der Ereignisse erwartet. Es ist für mich keine Überraschung, daß Sie hierhergekommen sind, um mir ein Geheimnis zu offenbaren.« »Unsinn!« sagte Jan. »Brände, Geheimnisse. Mein Gott! Wovon reden Sie?« Der Baron nickte, und wieder blitzte die Sonne für einen kurzen Augenblick auf seinem Gesicht auf, um sofort wieder zu erlöschen. Er sagte: »Ich habe euch gestern gesehen. Ihr habt euch flüsternd unterhalten, wie aus Angst, daß sofort die ganze Welt euer schreckliches Geheimnis erfährt. Aber ich sage Ihnen frei von der Leber weg, daß ich an nichts mehr glaube. Was gibt es heute noch für Geheimnisse? Was läßt sich auf dieser so vollkommen offenen, transparenten Welt noch verbergen? Also eure Geheimniskrämerei amüsiert mich schon ein wenig. Ein leises, heftiges, geradezu hitziges Gespräch auf dem kirschroten Sofa am Fenster im Metternichsaal, wo sich die Leute zum Abendessen versammeln. Ich ging zufällig hinein, ich mag solche Orte eigentlich nicht. Ich befand mich dort sozusagen gegen meinen Willen, vielleicht weil ich versuchte, der Einsamkeit zu entfliehen, wie das ausgestoßene Menschen zu tun pflegen. Und da hörte ich hitzige, verrückte Worte. Ihr habt euch unterhalten wie früher mit Dolchen bewaffnete Verschwörer.« -181-
»Unsinn«, widersprach Jan. Der Baron fuhr in einem trägen Ton fort: »Aber ich fürchte mich nicht mehr. In meiner Situation ist das natürlich.« Er schwieg. Sein Kopf befand sich wieder in der Sonne, denn er hatte sich vorgebeugt. Mit leiser Stimme sagte er: »Wissen Sie, daß es niemand mehr auf der Welt gibt, den ich liebe? Alle sind gestorben. Wie sieht das bei Ihnen aus?« »Ähnlich«, erwiderte Jan. Dabei hatte er schon eine Zeitlang den Baron und auch die sonnige Terrasse nicht mehr wahrgenommen, sondern nur noch seine Vergangenheit, die das Gesicht seiner verstorbenen, geliebten Frau angenommen hatte. Monika, wie er sie jetzt sah, hatte ein sehr kleines Gesicht und war insgesamt sehr klein, obwohl er sich doch erinnerte, daß seine Frau in Wirklichkeit eine große, gutgebaute Person mit schlanken Beinen und schönen, leicht gerundeten Schultern gewesen war und einem Gesicht, das durch seine feinen Züge und seinen Ernst Aufmerksamkeit erregt hatte. Aber dennoch sah er jetzt, grau und undeutlich, eine kleine, gebeugte Gestalt, und er empfand das schmerzliche Gefühl, daß diese Frau aufgrund des durch seine Schuld erlittenen Unrechts so abgenommen hatte und so schwach und klein geworden war. Und er dachte nur noch an das ihr einst zugefügte Unrecht. Vielleicht war das nicht ganz begründet, denn tief in seinem Herzen wußte er, daß er seine Frau geliebt und sich immer gewünscht hatte, sie möge nicht leiden, sondern glücklich sein. Es war wohl also nicht alles, was er getan hatte, für sie Unrecht, Leid und Enttäuschung gewesen. Aber sofort verwarf er wütend diesen Gedanken, denn er entdeckte darin den Versuch, sich für seine Taten zu rechtfertigen, er wollte jedoch keinerlei Rechtfertigung. Im Grunde dachte er überhaupt nicht daran, das, was er getan hatte, zu beurteilen, er wollte sich nur selbst Schmerz und Leid zufügen, denn nur so konnte er die Trennung von dieser toten Frau ertragen. -182-
Ein Trost war für ihn der Gedanke, daß Monika, als sie noch gelebt hatte, sich auch an schöne und fröhliche Augenblicke hatte erinnern können. Die Krankheit hatte sehr lange gedauert, und beide hatten sehr gelitten, weil sie wußten, daß sich mit jedem Tag der unausweichliche Moment der Katastrophe näherte. Gerade das war das Schlimmste. Nicht die Krankheit selbst und die mit ihr verbundenen Beschwerden, sondern die düstere Gewißheit, daß es für sie beide keine Rettung gab, machte das Leben so unerträglich. Als Monika gestorben war, wollte er ihren Tod nicht zur Kenntnis nehmen. Er begrub sie, wie sie dies gewünscht hatte, im Familiengrab, unter einer Thuja und einer Kiefer, in einem Dickicht von hohen, duftenden Gräsern. Er setzte dort einen Grabstein hin, von dem er wußte, daß er lange halten würde. Das war ein Trost. Der Stein sollte ungleich länger von der Existenz der Toten zeugen als alles, was ihr Leben, ihr Alltag, ihre Sünden und ihre Tugenden gewesen waren. Dinge verschwanden, Gedanken verflüchtigten sich, Bilder der Erinnerung verblaßten, lösten sich in Nebel auf. Und alles geriet in Vergessenheit. Während Jan jetzt in der Nähe der Terrassentür stand und etwas gedankenverloren in das Gesicht des Barons blickte, gewann er den Eindruck, daß sein ganzes Leben wie ein sinkendes Schiff auf dem Meer war. Es versank unvermittelt im Ozean, die Lichter erloschen, es wurde immer dunkler, am Ende blieb dort nichts mehr, nur noch schwarzes Wasser unter einem schwarzen Himmel. Leere und Stille. Der Baron sagte bitter: »Ach, es wird uns schwerfallen, eine gemeinsame Sprache zu finden, da wir verschiedenen Lagern angehören. Ich möchte nicht allzuviel darüber sprechen – das sind intime Dinge, sogar intimer als die Beziehung zu einer Frau. Aber Sie müssen wissen, daß mir nicht viel am Leben liegt; ich habe genug gesehen und gehört. Und was kann mir noch begegnen? Es wird nie wieder das geschehen, was einst -183-
aus mir einen vollkommenen Menschen gemacht hat. Natürlich werde ich Ihnen nicht sagen, worin es bestand, wann das war und womit ich mich damals beschäftigt habe, denn über solche Dinge spricht man nicht.« Er verstummte, und in dem Moment sah er sich als denjenigen, von dem er gerade gesprochen hatte: auf einem Bahnsteig spazierend, an einem unendlich langen Zug entlang. Der Bahnsteig ist fast leer, aber er weiß, daß er sich sofort bevölkern wird. Ein Wink, ein Wort von ihm genügt, und die Waggons öffnen sich, in der kühlen Stille des Morgengrauens sind die Schreie Hunderter von Frauen, Männern, Greisen und Kindern zu hören; alle klettern bereits unbeholfen aus den Waggons auf den Bahnsteig, die Höhe ist enorm, für die müden Menschen ist es nicht leicht, zu springen, sie helfen sich gegenseitig. Sie müssen sich beeilen, von den brüllenden Wachposten angetrieben; hier und da das Krachen eines Gewehrkolbens, das Knallen einer Peitsche. Die Juden sind im Lager angekommen. Die Selektion wird erfolgen. Er dachte völlig zu Unrecht, daß, wenn er jetzt seinem Gesprächspartner sagen würde, wer er einmal gewesen war und was er damals empfunden hatte, Jan dies nicht verstehen würde. Das war eine völlig falsche Auffassung, da Jan wußte, mit wem er sprach und welche Vergangenheit Kugler hatte. Vielleicht täuschte sich Kugler dennoch nicht, wenn er dachte, daß weder Jan noch irgendein anderer in der Lage gewesen wäre, seine seelische Verfassung in der damaligen Zeit zu begreifen, als die Juden an der Rampe des Konzentrationslagers ankamen. In der Hinsicht war Kugler einzigartig. Er hatte nämlich eine riesige Macht empfunden, sein Herz war ganz davon erfüllt gewesen. Haß hatte er keinen in sich getragen. Keinerlei menschliche Empfindungen – und somit auch keinen Haß. Diejenigen, die heute sagen, er habe sich damals von Haß leiten lassen, kennen die menschliche Natur nicht. Denn das war etwas Großartiges, -184-
Einmaliges gewesen, was man nur dort und damals hatte erleben können, eine solch schreckliche und zugleich heilige Macht über Leben und Tod. Kugler war der Auffassung, daß damals in ihm eine gleichsam ungezügelte Göttlichkeit gesteckt hatte. Einfach eine verrückte, rasende Göttlichkeit. In dem Sinne hatte er recht, wenn er dachte, daß Jan dies nicht verstand. Später dann war der Baron der Meinung, daß er nur dank dem Krieg und der Vernichtung in der Lage gewesen sei, eine so hohe und erhabene Stufe des Selbstbewußtseins zu erlangen. Das war keine Frage der Denkfähigkeit, der Vorstellungen, der Träume oder des Verlangens, sondern ausschließlich eine Frage der Taten. Er hatte so gehandelt! Wie Gott bei der Erschaffung der Welt, so hatte auch er damals gehandelt. Die anderen hatten von der Macht über Leben und Tod nur träumen können, er aber hatte sie gehabt – tagtäglich an der Rampe, wenn ein Zug mit Juden aus den verschiedensten Ecken Europas kam. Er war den Juden überhaupt nicht feindlich gesinnt. Wenn er gewisse Leute auf eine gewöhnliche und banale Weise nicht ausstehen konnte, dann waren das eher die Polen. Sie reizten ihn durch ihren Hochmut und ihre Verwegenheit. Er war mit ihnen im Lager in Berührung gekommen, aber auch außerhalb, und immer hatte er den Eindruck gehabt, durch eine Glasscheibe der Fremdheit von ihnen getrennt zu sein. Aber durch diese Glasscheibe empfand er oft Feindseligkeit. Die Polen glühten meist vor Wut, so daß er in ihrer Gegenwart immer die Hand an der Pistolentasche hatte. Nach Meinung Kuglers trugen die Juden keine solche Wut in sich, sie zeichneten sich eher durch Unterwürfigkeit aus, waren in sich gekehrt und still ihrem Schicksal ergeben. Kugler hatte manchmal gedacht, daß es zu anderen Zeiten wohl einfacher gewesen wäre, mit einem Juden zurechtzukommen, als mit einem Polen, denn in einem Juden konnte er keinerlei Vorurteile entdecken, in einem Polen dagegen eine ganze Menge. Gerade da trat bei Kugler der ganze -185-
Kitsch seiner angeblichen Göttlichkeit zutage. Eine ganz natürliche Sache hatte er nicht begriffen, daß er nämlich für die Juden an der Rampe so fremd gewesen war wie ein Wesen von einem anderen Stern, für die Polen hingegen war er immer ein gewöhnlicher Todfeind geblieben. Die Polen hatten oft Lust verspürt, ihn umzubringen oder ihm die Knochen zu brechen. Einige waren bereit, Geschäfte mit ihm zu machen, aber nur, um ihn aufs Kreuz zu legen und dann im vertrauten Kreis zu erzählen, daß dieser Kugler, typisch für einen Deutschen, ein Halunke und eine Kanaille sei, aber außerdem noch dumm, um nicht zu sagen strohdumm; so strohdumm, daß ein polnischer Hammel hundertmal klüger als hundert Kugler sei. Zweifellos fürchteten sich einige Polen vor ihm, aber sie empfanden in seiner Gegenwart immer eine moralische Überlegenheit, denn sogar der Schlechteste, Gemeinste und Niederträchtigste unter ihnen trug in sich die süße Überzeugung, daß die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und sicher auch der Herrgott auf seiner Seite seien. Ein Pole, selbst wenn er damals schreckliche Dinge getan hatte, war dennoch zutiefst davon überzeugt, daß er ein Engel der Gnade und des Erbarmens sei im Vergleich zum allersanftesten Deutschen, ganz zu schweigen natürlich von Kugler. Und im Grunde hatte dieser Pole recht. Die Juden stellten solche Vergleiche nicht an und hatten auch solche Probleme nicht. Sie waren schon nicht mehr auf der Seite des Lebens, sondern auf der des Todes. Und vielleicht kam von daher ihre Hilflosigkeit. Sein ganzes Leben hindurch war der Baron der Meinung gewesen, daß er absolut nichts gegen die Juden habe. Sie waren für ihn keine Juden. Diese ganze Hetze, die später darin beruhte, theoretische Begründungen für die Vernichtung zu suchen, war ihm immer lächerlich vorgekommen. Und er fühlte sich sogar ein wenig peinlich berührt. Wenn nämlich dieser Mord – denn nach Auffassung des Barons war es natürlich ein unbeschreiblich grausamer Massenmord – sich irgendwie in -186-
rationalen Kategorien, im ideologischen, antisemitischen, nationalsozialistischen, hitlerschen Sinne als gerechtfertigt erweisen sollte, dann hörte der Baron auf, ein Gott zu sein. Dann war er nur noch ein Mörder und ein Narr. Die Juden ins Gas! Natürlich. Bei ihm gingen die Juden ins Gas, aber nicht aus antisemitischen Motiven, die man als eine Sinnesverwirrung oder als eine Folge geistiger Umnachtung bezeichnen kann. Für den Baron waren das keine Juden, sondern lebendige Menschen, seinem launenhaften Urteil überlassen, denn er entschied, wer leben und wer sterben würde. Das gab ihm Augenblicke von Größe, wovon in der heutigen Zeit niemand auch nur zu träumen wagt. Es unterlag für ihn keinem Zweifel, daß andere dies bald wiederholen würden. Vielleicht nicht bei den Juden, aber eine Wiederholung würde es geben, denn im Grunde brennen die Menschen nur darauf. Sie lieben so sehr die Banalität des Todes, sind geradezu begierig, ihn auf dem Bildschirm zu sehen. Reglos und schweigend, dumpf und stumpfsinnig, unbeschreiblich grausam und gedankenlos, in der Zügellosigkeit ihres eigenen Kleinmuts, ohne jedes Risiko, ohne den Schatten der moralischen Doppeldeutigkeit, unter dem eigenen Dach, in Pantoffeln, im Halbdunkel des Zimmers, mit einem Glas Whisky in der schweißnassen Hand, vollgefressen, mitleidslos und entsetzt sitzen sie da und starren mit Vorliebe auf den Tod. Sie wissen nicht, mit was für einem gräßlichen Dreck sie sich vollstopfen. Aber schon bald wird der Tag tieferen Nachdenkens kommen und somit auch der Entscheidung und des Mutes. Dann wird einer von ihnen eine neue große Mordtat begehen. Das alles ging dem Baron durch den Kopf, während er Jan ansah; er verdächtigte ihn als den Rächer, der jetzt in sein Zimmer gekommen war, um ihm nach dem Leben zu trachten. Bestimmt haben mir die Juden den auf den Hals gehetzt, dachte Kugler spöttisch. Endlich haben sie herausgefunden, wer ich -187-
bin. So wie Eichmann haben sie auch mich hartnäckig auf allen Kontinenten gesucht, und jetzt haben sie mich schließlich erwischt. Dumm sind diese Juden. Ich hatte nichts gegen sie. Und auch jetzt habe ich nichts gegen sie. »Ich bin zu Ihnen gekommen«, sagte Jan ruhig, »weil es mich danach drängt, die Wahrheit zu erfahren.« »Halten Sie mich für einen Propheten?« fragte Kugler spöttisch. »Ich will mich auf ihr Gedächtnis berufen.« »Denken Sie dabei an weit zurückliegende Dinge?« fragte der Baron. »Vergessen Sie bitte nicht, daß die Zeit beträchtliche Verwüstungen angerichtet hat und ich Gedächtnislücken habe.« »Ja«, sagte Jan, »das Ganze ist schon ziemlich lange her. Aber vielleicht war es auch gestern. Schwer zu sagen. Ich habe gehört, daß es in der Raum-Zeit-Wahrnehmung gewisse Lücken gibt. Schwarze Tunnel im Weltall, die unendlich weit entfernte Punkte miteinander verbinden. Das ist nicht nur ein physikalisches Problem. Doch wir erinnern uns hervorragend an alles.« »Und jetzt sind wir in einem dieser schwarzen Tunnel?« fragte Kugler. »Das meinen Sie doch? Einverstanden! Was geschieht also in diesem Tunnel?« »Es geht um einen Mann namens Känguruh«, sagte Jan. Der Baron war enttäuscht. Dieser komische Name sagte ihm nichts. Plötzlich war die ganze Vorstellung von dem Rächer banal geworden. »Känguruh«, wiederholte er bedächtig. »Nein. Den habe ich nie kennengelernt. Unter welchen Umständen hätte ich diesem Menschen begegnen sollen?« »Weiß ich nicht«, sagte Jan. »Meine Informationen sind spärlich und kommen aus unsicheren Quellen. Nur Sie könnten diese Zweifel zerstreuen.« -188-
»Wiederholen Sie bitte den Namen...« »Känguruh.« Der Baron schloß konzentriert die Augen und überlegte recht lange. Jetzt ging er sehr vorsichtig diesen Raum-Zeit-Tunnel entlang, sah in alle Winkel, bemühte sich, alles gewissenhaft und ehrlich zu tun, durchsuchte verschiedene Papierfetzen, Leichen, Brandreste, Blumentöpfe, fand aber keine Spur. Er sagte: »Ich finde keine Spur dieses Namens. Aber ich wäre Ihnen gern behilflich. Sie sprechen von unsicheren Informationen. Vielleicht erweisen sie sich als wahr. Wer ist dieser Känguruh?« »War. Dieser Mann lebt nicht mehr«, sagte Jan. »Ein Jude aus Warschau. Ein einfacher jüdischer Möbelpacker. Er starb auf der Lagerrampe, er wurde beim Aussteigen aus dem Eisenbahnwaggon erschossen.« »Ausgeschlossen«, sagte Kugler in einem scharfen Ton. »Glauben Sie nicht an solche Geschichten. Niemand wurde auf der Rampe getötet.« Jetzt empfand er Erleichterung. Jedoch wurde die Sache nun ernst, ihre grausame Bedeutung konnte sich als wirklich mörderisch erweisen. »Ich frage andersherum«, sagte Jan ruhig. »Erinnern Sie sich an Ihren Mitarbeiter namens Ackermann?« Kugler nickte. Er dachte, daß es keinen Grund gebe zu leugnen. Schließlich hatte er nicht die Absicht, die Wahrheit vor diesem Menschen zu verbergen. Die Wahrheit hatte keinerlei Bedeutung. Der Baron war immer der Meinung gewesen, daß eine Lüge nur dann gerechtfertigt sei, wenn sie irgendeinen Sinn und ein Ziel habe. Er sah keinen Sinn und kein Ziel, die Wahrheit vor diesem Menschen zu verbergen, der ohnehin bestimmt sehr viel mehr wußte. Aber selbst wenn er alles wußte, war das ohne Belang. Wir leben nicht in der Zeit der EichmannEntführung, dachte Kugler erleichtert, aber auch mit ein wenig -189-
Verachtung für die ihn umgebende Realität. Die Welt der früheren Sünden und Verbrechen existierte nicht mehr. Und wenn jemand die alten Vorstellungen von Gerechtigkeit wachrufen wollte, machte er sich lächerlich. Dieser schwarze Tunnel verlief irgendwo am Rande, darin konnte sich keiner mehr verirren. Die Juden, um deren Vernichtung der Baron sich einst so erfolgreich gekümmert hatte, gab es nicht mehr. Vielleicht erwies sich das als ein großer Verlust für die Welt, aber da man ihr Verschwinden nicht rückgängig machen konnte, war es am einfachsten, es zu vergessen. Und so war es auch. Alle vergaßen, und es fanden sich sogar verschiedene Schlaumeier, die versuchten, das Ganze, was mit den Juden passiert war, zu leugnen. Kugler mißbilligte das, denn wenn es die Rampe, die Selektion und die Vernichtung nicht gegeben haben sollte, dann war auch er selbst ausgestrichen, zu einem Nichts abgestempelt. All die vergangenen Jahre hindurch hatte er darauf gewartet, daß ein Bote der Gerechtigkeit kommen würde. Ist er es also? dachte er mit einem gewissen Erstaunen und Unwillen, denn er hatte sich eine solche Begegnung erhebender vorgestellt. Indessen war sie eher gewöhnlich ausgefallen. In einem Hotelzimmer, bei angelehnter Terrassentür, bei Sonnenhitze, während einer farblosen Plauderei mit einem Mann, von dem der Baron nichts wußte, außer daß er Ausländer war, eine lausige Kunstsammlung, einen geliehenen Wagen und etwas merkwürdige Umgangsformen hatte. »Meinen Sie den Ackermann von der SS, der bei einem Judenaufstand bestialisch ermordet wurde?« fragte Kugler. Seine Stimme war ruhig, die Worte sprach er deutlich aus, als wollte er so seinen guten Willen betonen. »Von welchem Judenaufstand sprechen Sie?« fragte Jan. »Wann war das?« »Es gab verschiedene Aufstände und Protestaktionen im Lager. Es ging dabei um die Arbeitsbedingungen. Diese Leute -190-
wollten nicht zur Kenntnis nehmen, daß das deutsche Volk um sein Überleben kämpfte. Man mußte mit aller Härte die Widerstände unterdrücken. Der arme Ackermann kam während solcher Unruhen um.« »Herr Kugler«, sagte Jan mit wütendem Spott. »Und Sie glauben diesen Unsinn?« »Ich war dabei«, erwiderte Kugler. »Ich war Zeuge.« Aber plötzlich erschrak er ein wenig. Was wollen sie von mir? dachte er beunruhigt. Was war, das war! In der heutigen Zeit sollten sie andere Sorgen haben. Ich werde mich an die Version von der Unruhestiftung und den blutigen Zusammenstößen halten. Schließlich saßen dort auch Kommunisten, und unter den Kommunisten waren viele Juden, und unter den Juden wimmelte es von Kommunisten. Es ist heute allgemein bekannt, daß die Juden eine verbrecherische Rolle im Kommunismus spielten. In jener Zeit tat ich alles Menschenmögliche, um die Welt vor dem Kommunismus zu bewahren. Ich war kein Helfershelfer Stalins, das kann man mir wirklich nicht vorwerfen. Jeder vernünftige und ehrliche Mensch wird reinen Gewissens bezeugen, daß ich ein entschiedener, unerbittlicher und konsequenter Feind der kommunistischen Tyrannei war. Amerikaner und Briten können das nicht von sich behaupten. Wir kämpften bis zur letzten Patrone, auf verlassenem Posten und von allen verurteilt. Im Grunde waren wir die Verteidiger Europas. Heutzutage gibt es immer mehr Leute, die anfangen, uns gerade dafür ihre Hochachtung entgegenzubringen. Soll dieser Kerl also nicht so verdammt selbstsicher tun. »Sie sagen«, entgegnete Jan, »daß ein Aufstand ausbrach und niedergeschlagen wurde.« »So war es«, erwiderte Kugler ungezwungener. »Während des Aufstands kam mein Kamerad Ackermann ums Leben. Und bestimmt auch der Mann, nach dem Sie gefragt haben. Ich erinnere mich nicht mehr genau an den Verlauf der Ereignisse, aber...« -191-
»Ich werde Ihnen etwas Wichtiges sagen«, unterbrach ihn Jan. »Hören Sie mir zu, Herr Kugler. Es gibt keinen Grund zu Befürchtungen und somit auch keinen für Ausflüchte. Ich bin kein Rächer. Solche Verdächtigungen nehme ich Ihnen besonders übel, denn Sie fallen wieder in diesen deutschen Sentimentalismus und nehmen eine melodramatische Pose an. Ihr seid nie eingestanden für die Achtung gegenüber dem Leben und auch nicht gegenüber den eigenen Taten. Immer mußtet ihr so tun als ob. Und ihr habt die idiotischen Vorstellungen von einem Herrenvolk demonstriert, habt versucht, den anderen ihre sogenannte rassische Minderwertigkeit einzureden, oder Lügen über die Juden verbreitet, um irgendwie eure Mordgier zu rechtfertigen und aus dem Banditentum eine Ideologie zu machen, und dann wieder wolltet ihr unbedingt Primus im Fach Demokratie sein. Mich hat eure rätselhafte Seele immer in Erstaunen versetzt. Denn einerseits versuchten die größten Dichter und Denker, euch zur Mäßigung und zur Selbstbeherrschung anzuhalten, euch die einfache Wahrheit beizubringen, daß der Mensch unvollkommen ist und dies demütig akzeptieren muß, da nur eine solche Haltung ihm die Chance gibt, die Würde angesichts der Größe Gottes und den Geheimnissen der Natur zu bewahren. Aber andererseits führte eure ganze deutsche Erziehung bei euch zu faustischem Denken, zu diesen verrückten und krankhaften Wunschträumen, eine so totale Vollkommenheit mit fast göttlichen Zügen zu erreichen. In eurer Vorstellungswelt kann die deutsche Frau am besten mit Nadel und Faden umgehen, ist sie die beste Sängerin und die treuste Gefährtin ihres launischen Ehemannes; und er versteht sich am besten auf das Roden von Wäldern, ist der beste Schütze, der klügste Denker, der die treffendsten Schlüsse zieht, der sorgfältigste Hersteller und derjenige, der sich am schnellsten etwas merken und es am vollkommensten auch wieder vergessen kann. Ich sage Ihnen, Herr Kugler, daß ich dieser eurer deutschen Geisteshaltung dennoch etwas verdanke, -192-
und zwar die ständige Mahnung. Mein ganzes Leben hindurch haben Leute wie Sie mich nicht nur zu einem harten Kampf gezwungen, sondern auch zu einer gewissen leidenschaftlichen inneren Polemik. Die wertvollsten Lehren konnte ich nicht aus euren Triumphen, sondern gerade aus euren Niederlagen ziehen. Sie sind das legitime Kind Ihrer Vorfahren. Immer wart ihr beherrscht von der Sehnsucht nach Größe und Stärke, immer begleitete euch der Dämon der Vollkommenheit. Ein gewöhnliches Dasein konnte nie diesen Erwartungen genügen. Deshalb wurdet ihr immer von dem verzweifelten oder geradezu hysterischen Kampf zwischen der gewöhnlichen, grauen Alltäglichkeit und dem erhabenen Streben nach Perfektion gequält. Trotz der vielen Niederlagen und Katastrophen steckt bis heute in euch dieser unheimliche und zerstörerische Konflikt. Aber zum Glück gehören Sie bereits zu den letzten Vertretern Ihres Volkes mit diesen Eigenschaften. Ich sage Ihnen also am Ende unseres Gesprächs, des wirklich letzten, das ich mit Ihnen führe, bevor ich Sie endgültig aus meinem Gedächtnis streiche, daß gerade eure Verbrechen, eure Herrschaftsträume und schließlich eure Niederlagen mich die Skepsis und die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung lehrten. In der Polemik mit euch und eurem Fluch habe ich begriffen, daß im Leben des Menschen nicht die Tugenden wesentlich sind, sondern die Werte, denen die Tugenden dienen sollen. Also im Grunde bin ich euch zu ein wenig Dank verpflichtet, denn mit eurem schrecklichen Beispiel habt ihr mich vor der Hölle bewahrt...« »Vielleicht haben Sie recht, vielleicht aber auch nicht«, sagte Kugler leise, ein wenig erstaunt über seine eigene Gelassenheit. »Sie sagen, daß mich der Fluch quält. Aber ich denke jetzt immer öfter, daß wir ganz einfach sehr schwach waren angesichts der Größe, die uns lockte. Die Größe paßt im Grunde nicht zum Menschen, es ist besser, darauf zu verzichten. Wir strebten nach Größe, es schien uns, daß wir ohne sie krepieren -193-
würden wie Fische ohne Wasser. Aber es hat sich gezeigt, daß man leben kann, und sogar ausgezeichnet, in der schrecklichen Enge von Erwartungen und Wunschträumen, die seit Jahren jeden auf dieser armseligen Welt des Wohlstandes, der Ordnung, der Sicherheit und der hervorragenden Perspektiven einschließt. Einst dachte ich, daß ich unter solchen Bedingungen nach einer Woche krepieren würde. Aber nein. Dennoch habe ich gelebt und lebe weiterhin in dieser unserer Zwerghaftigkeit, in dieser unserer modernen Torheit, die sich zwischen der nächsten Bankfiliale, dem nächsten Reisebüro, dem nächsten Autohändler und dem nächsten Friedhof abspielt. Schwäche und Kleinmut feiern in unserem neuen Verhalten Triumphe. Aber manchmal denke ich, das alles hängt an einem dünnen Faden. Nehmen Sie den Leuten doch nur mal diese Bank oder die bunte Reklame für die nächste Reise in ferne Länder weg, dann kann es eine Katastrophe geben. Denn plötzlich zeigt sich, daß, wenn es weniger bequem ist, man wohl doch wieder anfangen muß, die Welt in Brand zu stecken. Ich sage Ihnen mit einer gewissen Wehmut, aber auch mit Befriedigung, daß ich einst überzeugender war. Ich würde sogar sagen, daß ich glaubwürdiger war. Alle wußten, was sie von mir erwarten konnten. Aber heute? Nun, sagen Sie selbst, kann man voraussehen, was mit den Deutschen in einigen Jahren los sein wird?« »Kann man, Herr Kugler«, erwiderte Jan. »Solange in den Deutschen die Scham vorherrscht, das segensreiche Gefühl der Scham, solange noch diese deutschen Gedanken voller Scham über die Vergangenheit existieren, so lange besteht für niemanden eine Gefahr. Scham, das ist das erhabenste Gefühl, zu dem ein Sünder fähig sein kann. Wenn Sie, sogar Sie, nach all dem, was Sie gemacht haben, in der Lage wären, schamrot zu werden, dann würde sich vielleicht sogar Gott Ihnen gegenüber barmherzig erweisen.« »Sie haben natürlich recht, aber verlassen Sie sich bitte nicht -194-
darauf«, sagte Kugler. »Für die Scham ist es zu spät. Wie lange soll im übrigen dieses alberne Getue noch dauern, daß jeder Deutsche unter der Sonne sich gegenüber jedem Juden unter der Sonne schuldig fühlt? Dazu kommen noch die Polen, die Russen und für Anspruchsvollere auch die Holländer, die Franzosen und vielleicht sogar die Schwarzen in Afrika. Für mich hat das alles etwas Komödienhaftes, mein Lieber. Denn was geschehen ist, ist nun mal geschehen! Liebenswürdigerweise haben Sie Gott erwähnt. Falls es ihn wirklich gibt, dann ist doch alles mit seiner Erlaubnis geschehen. Somit hat er sich kompromittiert, die Folge dessen ist mit bloßem Auge sichtbar. Wer nimmt ihn heute noch ernst? Ich sage Ihnen, was ich denke. Ich sage es Ihnen ganz offen. Dann könnt ihr mich auf die raffinierteste Art umbringen. Diese beschissene Welt hat schon die Nase voll von der beschissenen Scham. Diese beschissene Welt ist schon reif für eine Wiederholung. Und Sie denken überhaupt nicht anders. Sie tun doch nur so, als ob Sie die Gerechtigkeit suchen.« »Ich suche keine Gerechtigkeit«, sagte Jan. »Dafür ist es wirklich zu spät. Aber es lohnt sich möglicherweise, zu beten. Vielleicht ist uns nur das geblieben.« »Nun, dann beten Sie. Ich weiß nicht, zu wem«, sagte Kugler, und in seiner Stimme schwang verhaltener bitterer Zorn mit.
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n einem zischenden Flüsterton sagte Edek Laski zu Jan, daß etwas Merkwürdiges vor sich gehe und er nicht länger an dem Ganzen beteiligt sein wolle. »Das hier ist eine sehr solide Gesellschaft. Die Leute sind nach Bad Kranach gekommen, um wunderschöne, teure und bedeutende Kunstwerke zu bewundern. Das ist vielleicht die einzig vernünftige Art, dem Leiden ein Ende zu bereiten, auch dem Ihren, lieber Freund. Sie sollten daher die Realität akzeptieren. Erlauben Sie anderen, ruhig zu schlafen. So wunderschöne Kunstwerke wie in dieser Ausstellung hier, die dank den Bemühungen verschiedener Persönlichkeiten aus fast der ganzen Welt zustande gekommen ist, erlauben es, einen Rest Hoffnung zu bewahren. Ich denke, dadurch, daß wir uns auf das Schöne und das Uneigennützige konzentrieren, zeigen wir die beste Seite unseres Charakters. Die Seite, die darüber entscheidet, wozu wir imstande sind. Auch heutzutage, obwohl ich begreife, daß das ziemlich dumm klingt. Aber die Tatsache, daß die Menschen sich heutzutage so abscheulich gebärden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in der Vergangenheit Wunderbares vollzogen hat, was diese erstaunlich schönen Dinge hat entstehen lassen. Sie sind aus Liebe, aus Verzicht und aus einer Sehnsucht nach Gott und der Wahrheit heraus entstanden. Und früher ging man leidenschaftlicher mit Gott und der Wahrheit um. Ich hoffe, daß auch heutzutage etwas Ähnliches entsteht; es ist nur so, daß es überall zu grell geworden ist, um den Schatten des Zweifels zu sehen, zu laut, um das Flüstern eines echten Widerspruchs gegen Lüge und Erniedrigung zu hören. Es ist vielleicht nicht wichtig, -196-
daß wir das nicht sehen, nicht hören und nicht verstehen können. Aber es kommen erhebende Augenblicke, und dann scharen sich sogar solch dumme Sünder wie wir um diese wunderbaren Gegenstände; plötzlich, vielleicht sogar gegen unseren Willen, schaffen wir eine Gemeinschaft von Herz und Verstand, von guten Absichten beseelt. Das gerade ist das Geheimnis der Kunst, meinen Sie nicht? Sie ist die beste Garantie dafür, daß wir noch ein wenig in Frieden leben werden. Mit den Jahren bin ich immer stärker davon überzeugt, daß in unserer barbarischen, chaotischen Welt, wo jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist und das Vergnügen sucht, die Kunst die einzige Chance ist, dem Menschen einen gewissen Halt, eine gewisse Leitlinie zu geben. Von daher rührt die Verantwortung derjenigen wie wir, die die schönen Künste lieben. Und statt dessen versuchen Sie, hier Unordnung zu schaffen und Unfrieden zu stiften. Sie versuchen, in uns etwas zu beleben, was nicht wiederbelebt werden darf. Denn bestimmte Probleme muß man ein für allemal ad acta legen. Ach, ich weiß sehr gut, sogar besser als Sie, daß die Welt das nicht verdient. Aber wenn schließlich nicht die Welt, dann verdienen vielleicht wenigstens wir beide ein bißchen Frieden. Nach so vielen Jahren der schrecklichen Idiotie, der Heuchelei, der Niedertracht und der niederen Instinkte schuldet uns wohl das Leben noch etwas. Wie kann denn die Stunde des Vergessens kommen, wenn wir uns ständig jene Dinge ins Gedächtnis zurückrufen? Sie lagen in Koffern verschlossen auf dem Dachboden, mögen sie dort für immer bleiben. Haben Sie nicht einen Funken Mitgefühl für mich, lieber Freund? Können Sie sich vorstellen, was ich heute erlebt habe?« »Was haben Sie heute erlebt?« fragte Jan kühl. Er war nicht erpicht auf das, was ihm Edek Laski sagen wollte. Betroffen und verbittert mußte er zur Kenntnis nehmen, daß er sogar in ihm einen Verbündeten verloren hatte. »Nach dem Frühstück habe ich einen Spaziergang gemacht; -197-
ich ging auf einem Pfad einen sanften Berghang hinauf, und auf einmal begegnete ich einer Gesellschaft, die auf demselben Weg herunterkam. Zuerst dachte ich, das seien Leute aus unserem Hotel. Ich wollte sie sogar höflich grüßen. Und plötzlich, was sehe ich?! Ich sehe eine Dame mit einem unbeschreiblich schönen und verklärten Gesicht, wie die Sixtinische Madonna. Ich erkannte sie sofort. Frau Winowska. Wie sie leibt und lebt. Für einen Augenblick war ich ungeheuer gerührt. Aber Sie kennen mich ja, wissen, daß ich pathetische Szenen nicht mag. In einer ersten, sozusagen automatischen Reaktion wollte ich sie natürlich wegen dieser Geschichte mit dem verdammten Ei ansprechen. Aber ich gelangte dann zu der Überzeugung, daß es doch etwas zu unhöflich wäre. Schließlich bemüht sich diese Frau nach fast hundert Jahren, mir zu begegnen, und da komme ich ihr während eines Spaziergangs mit dieser Geschichte von dem weichgekochten Ei! Ich bin zwar nicht aus gutem Hause, aber dennoch hat mir meine Mutter Zurückhaltung beigebracht. Ich ließ also kein Wort verlauten, tat so, als sei alles in Ordnung zwischen uns. Und das wäre es dann auch gewesen, wenn sie es nicht für nötig befunden hätte, mich nach dieser Geschichte zu fragen. Sie beugte sich mit ihrem hellen, schönen Kopf zu mir und sagte mit einem sanften Lächeln: ›Edek, mein Junge, wie hat dir also das zweite Ei geschmeckt?‹ Ich gebe zu, daß, wenn das nicht schon eine vor sehr langer Zeit verstorbene Person gewesen wäre, ich sie ordentlich zurechtgewiesen hätte.« »Es tut mir leid«, sagte Jan etwas bitter, »aber ich habe keinen Einfluß auf Ihre Träume, Edek.« »Der Umgang mit den Rätseln dieser Welt ist nicht immer nur ein Traum«, erwiderte Edek Laski. »Im übrigen war nicht nur Frau Winowska dort an dem Berghang. Erinnern Sie sich an Wesoły?« »Natürlich«, entgegnete Jan und empfand ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe, als habe er etwas verpaßt, was der andere erlebt hatte. »Ich habe eine besondere Beziehung zu ihm. Ich -198-
verneige mich vor ihm voller Mitgefühl und Sorge, aber auch mit einem gewissen Neid. Edek, wissen Sie, daß er fast immer eine Lederjacke trug? Er hieß Wesoły, was ja fröhlich bedeutet, aber er sah selten so aus.« Immer hatte er eine Lederjacke an, und die Hosenbeine pflegte er in die Stiefelschäfte zu stecken. Auf dem Kopf trug er gewöhnlich eine Schirmmütze aus Wachstuch. Er sah aus wie fast alle gutbezahlten Arbeiter, die in den großen Lagerhallen Lasten schleppten, Kisten, Säcke, Pakete, Bretter und so weiter herumtrugen. Aber bei der Arbeit zogen sie sich nicht so elegant an, da trugen sie Drillichanzüge oder was auch immer, abgetragene Kleidung, voller Flecken, zerrissen und zu weit, Lumpen ganz einfach, und in dieser Aufmachung schufteten sie. Aber bezahlt wurden sie gut, sie konnten also nach der Arbeit ihre Lederjacken und Schaftstiefel anziehen, wie dieser Mensch namens Wesoły, der jedoch überhaupt kein Arbeiter in den Lagerhallen war, sondern ein selbständiger, vermögender Unternehmer. Er hatte in den Schuppen in der Miedziana-Straße Fuhrwerke stehen und in den Ställen wohlgenährte Zugpferde, mit breiten Hinterteilen, sehr kräftige Pferde, an die sich die Leute aus der Umgebung erinnerten, denn sie zogen eine stattliche Anzahl von Jahren die überladenen Fuhrwerke durch die Gegend, und später, in der Nacht von Wesołys gewaltsamem Tod, wurden die Pferde scheu, überrannten in wildem Galopp mehr als einen Bewohner der Miedziana- und der Śliska-Straße, und sogar in der Żelazna-Straße verbreiteten sie Angst und Schrecken. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen. Es war ein Winterabend im Februar. Keine Sterne und kein Mond waren am Himmel zu sehen. Sogar die Gaslampen auf der Straße gaben nur einen schwachen bläulichen Lichtschein von sich, der sich mit einem stummen, leblosen Kreis um die Laternen legte, so daß die Dunkelheit verräterisch hinter den Hausecken lauern konnte, von niemandem gestört und immer unheimlicher, je -199-
mehr es auf die Stadt herabschneite. Wesoły lag einsam im Bett in seiner Wohnung im ersten Stock eines Holzhauses, in dem er seit ewigen Zeiten lebte. Er war ein alter Junggeselle, ein einsamer Mensch, hart und verträumt zugleich. An die Frauen stellte er derart hohe Anforderungen, daß sie ihn nach einigen Monaten des Zusammenlebens ohne Bedauern und sogar mit einer gewissen Erleichterung verließen, da er von ihnen verlangte, für ihn Filmstars oder russische Fürstinnen zu sein, sie aber waren nur Modistinnen. Im allgemeinen glaubten sie an die Gottesmutter, an das Jesuskind in der Krippe und an den Teufel in der Hölle, wogegen Wesoły fortschrittliche und zutiefst rationale Ansichten hatte, die übrigens indirekt der Grund seines späteren Verderbens werden sollten. Wesoły dachte nämlich recht geradlinig, daß Krieg Krieg und Geschäft Geschäft sei. Er akzeptierte den Krieg, weil er daran nichts ändern konnte, und führte unter der Okkupation sein Unternehmen weiter, sogar mit größerem Schwung und Gewinn als vor dem Krieg. Die Deutschen kamen recht bald auf den Gedanken, in der Stadt ein Ghetto für die Juden zu errichten. Die Leute begannen also, von einem Ort an einen anderen zu ziehen, die Straßen waren voll von Wagen und Fuhrwerken, beladen mit Möbeln und Hausrat, dem Hab und Gut ganzer Generationen. Die Juden zogen in die Wohnungen im Ghetto, die Polen übernahmen die jüdischen Wohnungen außerhalb des Ghettos, die Geschäftstätigkeit war beachtlich. Die Armen machten ihre Umzüge selbst, schleppten irgendwelches armselige, alte Zeug durch die Gegend, durchlöcherte Waschschüsseln, Eimer, Kochtöpfe, abgetragene Kleidung, kaputte Stühle, abgewetzte kleine Sofas, Strohsäcke, aus denen das Stroh auf das Straßenpflaster fiel... Ganze Familien zogen auf den Bürgersteigen und Straßen umher, deutsche Soldaten schauten spöttisch zu, und erst jetzt, als der jüdische Ameisenhaufen ausgeschwärmt war auf der Suche nach einem neuen -200-
gemeinsamen eng begrenzten Ort zum Wohnen, wurde den Menschen in der Stadt klarer, wie eine Niederlage aussah. Wesoły verdiente keineswegs schlecht, sogar immer besser, aber der Teufel, an den er nicht glaubte, flüsterte ihm eine verhängnisvolle Idee ein, nämlich mit einem gewissen Tennenbaum, einem weithin bekannten Fuhrunternehmer, dessen Firma Möbeltransporte Tennenbaum schon zu Wesołys Jugendzeit zu Ansehen gekommen war, zu fusionieren. Damals sah man auf der Miedziana-, der Śliska- und der Twarda-Straße große, rot angestrichene Wagen – vielleicht waren sie aber auch gelb angestrichen, wie es einige in Erinnerung hatten – der Firma Tennenbaum. Wesoły kannte Tennenbaum auch persönlich. Von ihm hatte er sogar die Gewohnheit übernommen, eine weite Lederjacke mit einem Gürtel, der über dem Bauch von einer großen Schnalle zusammengehalten wurde, zu tragen. Daß Tennenbaum, der in den verrückten Zeiten der Neuen Ökonomischen Politik, der sogenannten NEP, in der Sowjetunion Handel getrieben hatte, dieses elegante Detail seiner Kleidung wiederum von den sowjetischen Politkommissaren übernommen hatte, wußte Wesoły nicht einmal. Tennenbaum war ein im Umgang grober und wortkarger, aber mutiger und sehr romantischer Mensch. Nach der Revolution im Jahre 1917 hatte er von großen Geschäften in Sibirien geträumt, hatte irgendwie den Gedanken nicht zulassen wollen, daß andere Zeiten gekommen waren und es bereits keinerlei Geschäfte mit Rußland mehr geben würde. Aber in seiner süßen Illusion hatte er zahlreiche Nachahmer auf beiden Seiten der Erdhalbkugel fast das ganze Jahrhundert hindurch, man kann es ihm also schließlich nachsehen. Wie dem auch sei, er war nur ein ungebildeter Warschauer Jude, kein großer Bankier von der Wall Street oder von der Londoner City, nicht vergleichbar mit Graham Wilson I. oder Graham Wilson II., aber auch sie hatten sich ähnlichen Illusionen hingegeben. Es war also Tennenbaums -201-
gutes Recht gewesen, solche Träume zu haben. Während seines Aufenthaltes in der russischen Provinz hatte er sehr rasch festgestellt, daß die Lederjacke ihm ganz neue Perspektiven eröffnete. Die Leute dort wußten nicht so genau, mit wem sie es zu tun hatten, versuchten daher, für alle Fälle wohlwollend und unterwürfig zu sein, was sich bei Tennenbaums Geschäften sehr bezahlt machte. Als er nach einigen Wanderjahren in Rußland an seinen angestammten Platz in Warschau zurückgekehrt war, brachte er sein Unternehmen in Schwung und machte sich damit in der ganzen Stadt schnell einen Namen. Er hatte schwere Zugpferde und große Wagen auf Gummirädern; er beschäftigte nur jüdische Möbelpacker, weil sie ihm mit ihren schrecklich versponnenen Träumen näherstanden und genau so schroff, ungehobelt und jähzornig waren wie er selbst. Sie trugen Schirmmützen aus Wachstuch, wickelten sich grobe Hanfseile um den Bauch, ohne die es unmöglich war, die Lasten zu schleppen. Aber sie legten diese Seile niemals auf die Seite, außer Reichweite ihrer wachsamen Augen und kräftigen Arme, weil das verlockende Seile waren; jeder in der Umgebung hätte gern solche Seile gehabt: Sowohl ein polnischer katholischer als auch ein jüdischer Möbelpacker von der Firma Tancerz & Co. hätte sie gern gehabt, auch die Jungen hätten sie gern zum Spielen gehabt, und sogar Wesoły hätte sie gern gehabt, bevor er eigene gekauft und sich zur großen Konkurrenz für Tennenbaum entwickelt hatte. Als die Deutschen kamen, war Tennenbaum noch eine Zeitlang in seiner Firma tätig, aber ohne großen Spaß, denn er ahnte bereits, daß etwas im Gange war. Darin war er Grynszpan ähnlich, den er jedoch nicht kannte und auch nie kennenlernte, wenn man das Ereignis nicht berücksichtigt, das sich an einem anderen Ort abspielte und unter Umständen, die Betroffenheit, Angst und auch die Ungläubigkeit kleingeistiger Leute hervorriefen. Aber in der Zeit, von der hier die Rede ist, kannten sich die beiden nicht, denn Tennenbaum war ein ungewöhnlich -202-
vermögender Mann, wohnte wie ein Fürst in drei Zimmern mit Küche, nach vorn mit Blick zur Straße, wo zwei alte Lindenbäume wuchsen; Grynszpan hingegen war ein armer Schlucker und der allergewöhnlichste Hausierer. In seiner Behausung gab es an Möbeln ein paar Hocker und Sprungfederbetten mit Strohsäcken, aber eine Toilette gab es nicht, und die Bewohner mußten zur Verrichtung ihrer Notdurft zum Abort im Treppenhaus laufen. Grynszpan war jedoch – im Gegensatz zu anderen Juden – skeptisch und scharfsinnig, genau wie Tennenbaum. Als man sich wirklich Sorgen machen mußte, fanden die meisten anderen Juden Tausende von Gründen, um immer noch Hoffnung zu haben. An einem Wintertag Ende November kam Wesoły zu Tennenbaum. Die beiden standen sich in Tennenbaums Büro gegenüber und sahen ähnlich aus: beide groß, kräftig, breitschultrig, gut gebaut, mit von Regen, Schnee und Wind geröteten Gesichtern, beide in Lederjacken und Schaftstiefeln sowie Schirmmützen aus Wachstuch auf dem Kopf. Wesoły ging geradewegs in Tennenbaums Büro, ohne die Mütze abgenommen zu haben, und Tennenbaum lief sowieso immer mit ihr herum, das war so eine jüdische Angewohnheit. Wesoły sagte, er komme mit dem Vorschlag einer stillen Teilhaberschaft. Tennenbaum werde bekanntlich bald seine Firma nicht mehr führen können. Alles werde dann den Deutschen in die Hände fallen. Hingegen könne er, Wesoły, den Besitz zur Hälfte übernehmen, was bedeute, das Werkzeug, die Wagen, die Pferde und auch einen Teil der Gebäude, also die Tennenbaumschen Ställe und Schuppen, die man ohne Schwierigkeiten werde überschreiben können. Man werde einen für die deutschen Behörden gefälschten Vertrag machen. Die polnischen Beamten im Magistrat und im Finanzamt erledigten solche Transaktionen unter der Hand gegen eine entsprechende Bezahlung. Tennenbaum schwieg recht lange. Dann sagte er bitter: -203-
»Mensch, ich kenne dich nicht. Ich habe gehört, daß du gerissen bist. Verschiedene Leute sagen, Wesoły ist hinterm Geld her. Bist du hinterm Geld her?« »Bin ich«, erwiderte Wesoły, und erst jetzt nahm er die Mütze ab, aber nicht um seinem Gegenüber Achtung zu erweisen, sondern weil ihm der Schweiß über die Stirn lief, denn in Tennenbaums Büro war eine Bullenhitze, draußen hingegen herrschte klirrender Frost. Den Deutschen in ihren Uniformen und Mänteln aus Tuch machte die Kälte zu schaffen. Ein schrecklicher Winter war im Anzug, und einige sagten, das sei ein Zeichen für Gottes Zorn, eine Strafe für die Deutschen. Aber das war dummes Zeug, denn wenn sich schon die Deutschen die steifgefrorenen Hände warm hauchten und gegen die Kälte wie Spatzen auf den Bürgersteigen herumhüpften, was hätten dann die schlechter ernährten und immer abgehetzten Polen tun sollen oder gar die Juden, die sich nicht mehr auf dieser Erde befanden, sondern bereits auf einer unbelebten Galaxie, irgendwo sehr weit weg, in einem Krater des Universums? Es herrschte also eine Bullenhitze in Tennenbaums Büro. Wesoły wischte sich den Schweiß ab und rief ungehalten: »Ich bin hinterm Geld her, aber nicht so wie der alte Tennenbaum.« Wieder herrschte Stille im Büro, und nur das Feuer loderte in dem kleinen Eisenofen. »So redet man von mir?« fragte Tennenbaum nach einer Weile, bereits in einem sanfteren Ton, denn in ihm erwachte plötzlich eine gewisse rätselhafte Freude, die seit dem Tag der Ankunft der Deutschen eingeschlafen war. »Aber genaugenommen sagt man nicht, Tennenbaum ist hinterm Geld her, man sagt nur, Woroschilow∗ ist hinterm Geld her, denn Sie sind ihm ähnlich wie ein Ei dem anderen.«
∗
Kliment Woroschilow (1881-1969), Sowjet. Marschall und Politiker, organisierte 1917 zusammen mit Dserschinski die Geheimpolizei Tscheka.
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»Von Ihnen wiederum spricht man als Budjonnyj**«, rief Tennenbaum und lachte mit einer gewissen Erleichterung auf, denn ihm kam in den Sinn, daß auch so alles zu Ende ging, es also besser wäre, sich mit diesem Goj zu verständigen, als das bißchen Vermögen seines Lebens Hitler zu überlassen. Und so wurden sie rasch handelseinig. Tennenbaum fuhr nun als Kutscher auf dem Wagen, Wesoły fuhr auch manchmal auf dem Kutschbock, aber hauptsächlich saß er im Büro in der Miedziana-Straße und leitete die Firma. Die beiden teilten sich relativ ehrlich den Gewinn, nicht weil Wesoły so ein edler Mensch war, sondern ganz einfach weil er ein vollkommen gewöhnlicher Mensch war, und gewöhnliche Menschen konnten selbst angesichts der Greuel, die sich damals vor ihren Augen abspielten, nicht voraussehen, daß die Deutschen bald alle Juden durch den Kamin jagen würden. Wesoły war also der Meinung, wie jeder gewöhnliche Mensch, daß der Krieg eines Tages zu Ende gehen, die Deutschen zur Hölle fahren und Tennenbaum in sein Büro zurückkehren würde. Denn das war noch nicht die Zeit der großen Klarheit und Wahrheit, sondern der Dunkelheit, der Hoffnungen und der Täuschungen. Die Winternacht war hereingebrochen, es schneite immer heftiger, der Frost ließ etwas nach. Wesoły lag in seinem Bett, die Augen offen, denn er wußte, daß der Schlaf ihn nicht von seiner merkwürdigen Angst befreien würde. In seinem kleinen und stickigen Schlafzimmer begleitete ihn die ganze Zeit die schmerzhafte Liebe zu der Frau, die er gerade wegen seiner schrecklichen Angst vor dem, was in dieser Nacht passieren sollte, nach Hause geschickt hatte. Er wußte nicht, wovor er sich fürchtete und was ihn erwartete. Während er im Bett lag, dachte er verzweifelt darüber nach, was zu tun sei, um dem Schicksal **
Semjon Budjonnyj (1883-1973), Sowjet. Marschall, bekannt als erfolgreicher »roter« Reiterführer im Kampf gegen die »Weißen« und Polen 1919-21.
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zu entrinnen, der Falle zu entkommen. Aber er hatte keine Ahnung, wann und von welcher Seite ihn der tödliche Schlag treffen würde. Normalerweise lauschte er beim Einschlafen gerührt, wie unten im Stall der Wallach schnaubte oder mit dem Huf gegen die Wandverkleidung schlug. Aber jetzt schliefen die Pferde fest, erschöpft von einem langen Tag voller Arbeit, und keines von ihnen hörte wohl die Schritte. Etwas früher an diesem Abend hatte Wesoły, wie gesagt, eine Frau nach Hause geschickt. Das war jedoch keine gewöhnliche Frau, keine wie alle anderen, sondern ein für ihn besonders wichtiger Mensch, vielleicht sogar der wichtigste, seitdem er vor Jahren seine Eltern begraben hatte; sie waren an einer rätselhaften Krankheit gestorben, die sie sofort nach dem Krieg befallen hatte. Diese Frau hatte einen, für den polnischen Geschmack, provozierenden Namen. Sie hieß Rita, was einen einfachen Menschen wie Wesoły irritierte. In der Krochmalna-Straße, in der er aufgewachsen war, hatten immer nur Zofias, Marias, Józefas, Stefanias, Kazimieras und Janinas gewohnt, nie aber eine Rita. Diese Frau war jedoch für Wesoły von außerordentlicher Bedeutung. Ich liebe sie wohl, dachte er. Vielleicht liebte er sie nicht mit dieser Liebe, wie sie im Kino gezeigt wurde, wo schöne Frauen in den Armen eleganter Herren in Ohnmacht fielen, aber er spürte, daß er ihrer Nähe bedurfte, und wenn sie in seiner Nähe war, dann wurde er sanfter und hatte für alle mehr Verständnis. Sie hatten sich nur kurz gekannt, der Zufall des Krieges hatte sie zusammengeführt, denn Rita hatte ihr früheres Zuhause – und vielleicht auch einen Mann – verloren, aber darüber sprach sie nie. Sie konnte nirgends unterkommen und hatte auch nichts zum Anziehen, denn bereits in den ersten Kriegstagen befand sich ihr ganzes Hab und Gut unter dem riesigen Trümmerhaufen eines zerbombten Mietshauses. Sie war auf der Suche nach Arbeit und einer Bleibe, und so stellte Wesoły sie in seinem Büro für die -206-
Buchführung ein; darin kannte sie sich recht gut aus, denn vor dem Krieg hatte sie in der Buchhaltung der jüdischen Bäckerkooperative gearbeitet. Als ihr Wesoły eines Abends Ende Oktober in dem dunklen Zimmer neben seinem Büro zum ersten Mal näherkam und mit einer etwas fremden Stimme sagte, daß sie ihm sehr gefalle, erwiderte sie, daß sie Jüdin sei. »Herr Wesoły«, sagte sie, »sehen Sie denn nicht, daß ich Jüdin bin?« »Doch«, erwiderte er etwas zornig. »Und ich weiß es. Na und?« »Nun, ich bin es eben«, sagte sie. Aber er begann schon, sie zu küssen. Sie sah nicht wie eine Jüdin aus. Genaugenommen sah sie so aus, aber auch wieder nicht. Das heißt, für Leute wie Wesoły und die ganze Umgebung, in der sie sich bewegte, war sie natürlich eine Jüdin, auch vom Aussehen her, denn die dortigen Leute konnten ihre Herkunft am Ausdruck ihrer Augen erkennen. Sie war sehr schön und hatte blondes Haar, eine schlanke Figur, schmale, schlanke Hände und Füße und lange Beine. Sie hatte kleine, aber volle Lippen, schön geformte Ohren, ein leicht gerundetes Kinn und einen ungewöhnlich schönen Hals, so schön, daß er am stärksten die Leute in die Irre führte, denn an Ritas Hals war nichts Jüdisches, wo man Jüdinnen doch oft gerade daran erkennen konnte. Und schließlich hatte Rita sehr große blaue, nicht vorstehende Augen, und auf dem Blau der Iris flammte etwas Goldenes auf wie bei einer Katze. Also vom Aussehen her war sie sehr ›arisch‹, aber die Leute am Ort wußten, daß sie Jüdin war, denn sie hatte einen jüdischen Blick auf die Welt. Einen etwas traurigen, prophetischen, verächtlichen und fremden. Davon hatten die Deutschen natürlich keine Ahnung, denn sie kamen von weit her, aus einer vollkommen anderen Welt. Wesoły verstand das und wußte, wie Rita zu schützen war. -207-
Bereits einige Tage nach ihrer ersten schönen Nacht, in der Wesoły sinnliche Begierde, aber auch eine ihm zuvor unbekannte Rührung empfunden hatte und er sich ehrlicher vorkam als irgendwann in der Vergangenheit, erhielt Rita sofort arische Papiere. Aber wie sich später herausstellen sollte, war dies überhaupt nicht das entscheidende Moment für ihre Rettung, denn das Schicksal ist hinterlistiger und tückischer als hundert, sogar als tausend Schlauköpfe. Wesoły richtete der Frau eine bescheidene Wohnung ein, schließlich kauften sie noch einige notwendige Dinge für den bevorstehenden Winter. Beide erlebten ab und zu merkwürdige Augenblicke, in denen sie sich sogar darüber freuten, daß der Krieg ausgebrochen war, denn ohne ihn wären sie sich wohl nie begegnet. Ganze Tage und Nächte verbrachten sie in unmittelbarer Nähe zusammen. Rita arbeitete im Büro, und am Abend stiegen die beiden die knarrenden Treppen hoch zu Wesołys Wohnung, wo sie erregende und glückliche Nächte verbrachten. Manchmal kehrte Rita in ihre Wohnung zurück, was sie jedoch zu vermeiden suchten, da sie sich nicht gern trennten. An jenem Abend hielten sie sich ebenfalls in Wesołys Wohnung über dem Büro auf. Rita hatte das Abendessen vorbereitet. Sie aßen Rühreier mit Brot, tranken aus Bechern Tee-Ersatz, denn richtigen gab es bereits keinen mehr in Warschau, und dann setzte sich Wesoły auf einen Stuhl in der Küche und sah zu, wie Rita den Tisch abräumte, das Geschirr spülte, es sorgfältig abtrocknete und auf die Regale über dem Spülstein stellte. Während er so dasaß, dachte er, daß sie bald zu Bett gehen und sich lieben würden. In der Küche und im Wohnzimmer war es warm. Die Öfen brannten, die Platte auf dem Küchenherd strahlte noch eine starke Hitze ab, und während sie abkühlte, verlor sie allmählich ihr Rot, wurde bläulich und dann grau, um noch ein wenig später zu ihrem kalten Anthrazit zurückzukehren. Wesoły betrachtete Rita und dachte, er liebe sie so sehr, daß -208-
er sogar bereit war, sie mit ihrem Vornamen Rita anzureden. Und er dachte bestimmt auch an die Nacktheit dieser Frau, die er sehr begehrte. Rita war mit dem Geschirrspülen fertig, legte den Abwaschlappen zusammen, setzte sich auf den Stuhl Wesoły gegenüber und sagte, daß sie jetzt gern eine Zigarette rauchen würde. Aber genau in dem Moment empfand Wesoły ein Gefühl großer Angst um das Leben dieser Frau. Er sagte: »Rauch jetzt keine Zigarette. Es ist zehn Uhr. Geh zu dir nach Hause. Du schaffst es noch vor der Polizeistunde.« Rita sah ihn verwundert an. »Was soll das ? Du wirfst mich aus deiner Wohnung? Was soll das?« Er stand plötzlich vom Stuhl auf, denn die Angst trieb ihn an und zwang ihn zur Hartnäckigkeit. »Du mußt flüchten, Rita!« schrie er. »Wovor, Mann?« fragte sie. Gerade hatte sie sich auf den Stuhl gesetzt; die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, betrachtete sie aufmerksam Wesołys Gesicht. In seinen Augen spiegelten sich Zorn und Befremden. »Ich weiß es nicht!« rief er. Er hatte das Gefühl, sie zu verlieren, wollte sie aber retten. »Was ist?« fragte sie, während sie sich erhob, denn auch sie war nun von Unruhe gepackt. Jetzt waren beide erstarrt, als würden sie lauschen, was sich vor den Fenstern tat. Aber überall war es still, der Schnee fiel träge auf die Stadt, keine Schritte, keine Schreie, kein Hauch. Wesoły ging auf Rita zu, umarmte sie und drückte sie an sich. »Ich weiß nicht, was ist«, sagte er angespannt. »Aber geh in deine Wohnung, Rita. Ich weiß nicht, was ist. Ich habe Angst. Geh sofort zu dir nach Hause!« Er sprach mit einer merkwürdigen Leidenschaft, die er bis -209-
jetzt noch nie gezeigt hatte. Rita dachte, daß da etwas bei ihnen war, hier in diesem Zimmer und in diesem Haus, etwas außerhalb ihrer selbst, aber ganz nah, vielleicht war es Angst, vielleicht der Tod oder die Verdammnis. »Gut«, sagte sie, nachdem sie einen Moment überlegt hatte. »Ich gehe. Und du geh schlafen, mein Liebling.« Sie sagte das, weil sie ihm nicht widersprechen wollte, ihr war daran gelegen, diesen Mann, der von einer großen Angst befallen war, zu beruhigen. Sie begriff das besser als Wesoły selbst, hatte sie doch solche Augenblicke nackten Entsetzens, die sich unerwartet, scheinbar ohne jeden Grund einstellen, bereits am eigenen Leib erfahren. Aber es gab ja einen Grund. Das Leben selbst war Grund genug, um ständig vor Angst zu zittern. Sie war Jüdin, also begriff sie, daß am hellichten Tag in einer lauten Straße oder in einem leeren Haus bei Dunkelheit oder mitten in der Nacht, im Bett während des Liebesspiels, die Angst plötzlich den Menschen überfällt, ihm den Verstand raubt, ihn zur Flucht drängt, von einem sicheren an einen unsicheren Ort treibt, aus vollkommener Einsamkeit in eine Menschenmenge oder von guten zu bösen Menschen, oder diese Angst diktiert eine schreckliche Anspannung und Starre gerade in dem Moment, da man so schnell wie möglich davonlaufen müßte. Und das entbehrt jeglicher Logik, denn es ist müßig, in einer absurden Welt nach einer Logik zu suchen. All das wußte Rita besser als Wesoły, weil sie Jüdin war; er war Pole, und das bedeutete, daß er auf einem anderen Stern lebte als sie. Nachdem Rita überlegt hatte, sagte sie, daß sie zu sich nach Hause gehen werde und er sich ausschlafen solle. Aber während sie das sagte, spürte sie die Lüge in ihren eigenen Worten, denn ihr prophetisches Judentum flüsterte ihr bereits in ihrem Innersten zu, daß in dieser Nacht etwas Unabwendbares geschehen würde. Gepackt von Sorge um ihr Schicksal, schwieg Wesoły. Sie warf den Mantel über die Schultern und über den Mantel noch -210-
ein kariertes Wolltuch und schnürte sorgfältig ihre Schuhe zu. Dann richtete sie sich auf, ging auf ihn zu und küßte ihn auf den Mund. Sie sagte, sie werde am nächsten Morgen um sechs Uhr ins Büro kommen. Er nickte und erwiderte etwas angestrengt, da ihm das Atmen schwerfiel, sie solle nur schnell nach Hause gehen. »Lauf, lauf jetzt!« sagte er. Besorgt und voller Hingabe schaute sie ihn an, wollte ihm im letzten Augenblick widersprechen, begriff aber, daß er keine Ruhe finden würde, solange er sie nicht in Sicherheit wußte. Sie nickte also, lächelte sanft und ging. Sorgfältig verschloß und verriegelte er hinter ihr die Tür, stand reglos da, lauschte, wie sich ihre Schritte auf der Treppe entfernten und wie das quietschende Tor krachend ins Schloß fiel. Stille trat ein. Da empfand er für einen Augenblick eine derartige Ruhe, daß er begann, sich Vorwürfe zu machen, Rita weggeschickt zu haben. Er dachte, daß es eine Dummheit gewesen sei, aber er dachte auch zum Trost an den nächsten Tag mit dieser Frau. So behielt Rita jenen letzten Abend mit Wesoły im Gedächtnis. Sie behielt auch noch im Gedächtnis, daß, als sie zu sich nach Hause ging, immer dichterer Schnee fiel und auf den Treppenstufen des Hauses, in dem sie wohnte, der helle, blaue Schein einer Karbidlampe lag, die die Luft mit einem üblen und merkwürdig geheimnisvollen Geruch erfüllte, wie er manchmal von Särgen ausgeht oder von Orten, an denen sich Tote befunden haben. Sie behielt im Gedächtnis, daß sie es sogar nicht einmal geschafft hatte, sich vor dem Schlafengehen auszuziehen, da von der Straße herauf laute Schreie zu ihr drangen. Und sie wußte, daß diese Schreie mit der wichtigsten Sache ihres Lebens etwas zu tun hatten. Von ihrem Zimmerfenster aus sah sie die zum Himmel schlagenden Flammen eines Brandes. Ein Feuer hatte Wesołys Pferdeställe erfaßt. Später hieß es, den Brand habe ein von der Firma Kassner -211-
bezahlter Mann gelegt. Diese habe die Konkurrenz in dem Stadtteil ausschalten wollen. Es sei ein einarmiger Mann gewesen, hochgewachsen, schlank, mit einem schönen Gesicht und dunklem Teint wie ein Indianer auf den Zeichnungen in den Büchern von Karl May. Er soll angeblich mit einigen Komplizen da gewesen sein, gut bezahlt und zu allem bereit. Aber im Grunde war das nur das Geschwätz dummer Weiber und einfacher Burschen, da keiner diejenigen, die das Feuer gelegt hatten, wirklich gesehen hatte. Tatsache ist, daß in der Nacht ein paar Männer gekommen waren. Sie legten systematisch Feuer an das Haus, die Pferdeställe, die Heuschober und die Schuppen. Dabei gingen sie wohl nicht mit allzu großer Vorsicht ans Werk, da die Polizeistunde bereits vorüber und keine Menschenseele mehr in der Nähe war, sie sich also sicher fühlen konnten. Das Feuer brach mit großer Gewalt aus. Nur in Unterwäsche und einem über die Schultern geworfenen kurzen Schafspelz sprang Wesoły aus dem Obergeschoß seines Hauses. Vor allem wollte er die Pferde retten, denn sie waren sein größtes Vermögen. Er schob das Stalltor auf, schaffte es aber nicht mehr, zur Seite zu springen. Der Schein und der Lärm des Feuers hatten die Pferde aufgescheucht. In Panik und mit Hufgetrappel stürzten sie los. Die ersten Pferde drückten Wesoły gegen die Wand, die weiteren warfen ihn zu Boden und liefen über ihn hinweg, wobei sie seinen Körper mit den Hufen zertrampelten. Vielleicht hatte er nicht gewußt, daß er sterben würde. Vielleicht hatte ihm das Schicksal großen Schmerz im letzten Augenblick erspart, denn er liebte die Pferde, und als sie ihn zu Boden warfen, roch er ihren vertrauten Geruch. Sein letzter Gedanke, der erlosch, als die Pferdehufe ihm die Schläfen zerquetschten, war der Gedanke an die geliebte Frau und die Erleichterung, daß er sie vor dem Feuer gerettet hatte. Die vor Angst scheuenden Pferde jagten mit Gepolter auf die Straße. In ihren Augen spiegelten sich Tod und Feuersbrunst. -212-
Genau in dem Moment trat ihnen, in Lederjacke, Mütze und Schaftstiefeln, Tennenbaum in den Weg – kräftig, trotz seines Alters, voller Entschlossenheit, mit von Wind, Sonne und Regen geröteter Haut und unbeirrter als Wesoły, denn er hatte fast nichts mehr zu verlieren. Anfangs gelang es ihm, einen Wallach bei der Mähne zu packen, ihn mit rauher Stimme anzuschreien, wie seit Jahrhunderten die Kutscher mit scheu gewordenen Pferden zu schreien pflegen, aber das Feuer war zu nah, die Tiere rasten mit lautem Hufgetrappel über das Straßenpflaster. Tennenbaum geriet zwischen ihre Leiber, versuchte sich irgendwie auf den Beinen zu halten, fiel aber sofort hin. Er lag im schmelzenden Schnee, ringsum zischten die brennenden Holzscheite und das von den Hufen niedergetrampelte, in den Pfützen verlöschende Stroh. Vollkommen reglos lag er da, genau wie Wesoły, der schon früher zu Boden gestürzt war, direkt neben der Stalltür. Aber Wesoły war bereits nicht mehr am Leben; sobald die Hufschläge hinter der Straßenecke verklungen waren, versuchte Tennenbaum, sich aufzurappeln. Später hieß es, daß verschiedene Leute in jener Nacht die scheu gewordenen Pferde eingefangen hätten. Einige wurden weit von der Brandstelle entfernt gefaßt. Ein Mann, der in der Żelazna-Straße direkt neben dem Torbogen zum Kino wohnte, hörte Lärm und ging hinaus in die Winternacht, um nachzuschauen, was los war. In dem dunklen Torbogen traf er auf eines der Tiere. Das Pferd war erhitzt, hatte Schaumflocken an den Nüstern, das Fell auf dem Rücken war feucht, der Blick wild. Sein Hinterteil dampfte im Frost. Das Tier stand unter dem niedrigen Torbogen, direkt neben einem Filmplakat, auf dem ein exotischer Strand an einem fernen Ozean abgebildet war. Der Kopf des Pferdes schien in das Wasser des Ozeans eingetaucht. Der Mann erschauerte, denn so etwas hatte er nicht einmal nach dem schrecklichen Krieg mit den Deutschen erwarten können: mitten in der Nacht, im Torbogen eines Hauses in der ŻelaznaStraße, ein Pferd in den Meereswogen einzufangen und es ans -213-
trockene Ufer des gepflasterten Hinterhofes zu bringen. Und genau dann, als jener Mann das Pferd durch den Torbogen führte und das Getrappel der Hufe unter der Torwölbung laut wie die Glocke in einer Kathedrale hallte, erhob sich Tennenbaum von der Straße und richtete sich auf. Das Feuer war ganz nah, es hatte ihm bereits die Haare, angesengt. Tennenbaum wollte sich also in sichere Entfernung bringen, und in dem Moment traf ein Pistolenschuß seinen Kopf und spaltete ihm den Schädel. Er fiel in den Schnee und blieb reglos liegen. Niemand wußte, wer auf Tennenbaum geschossen hatte und weshalb. Vielleicht war es dieser einarmige Mann mit dem schönen, dunklen Teint eines Indianers auf einer Kinderbuchzeichnung gewesen. Aber niemand wußte es mit Sicherheit, da niemand den Vorfall gesehen und im Gedächtnis behalten hatte. Denn es ist doch allgemein bekannt in der Welt, daß jeder nur so viel weiß, wie er wissen will. Und auch nur so viel im Gedächtnis behalten wird. Also wußte niemand etwas und behielt somit nicht im Gedächtnis, wer damals auf Tennenbaum geschossen hatte, weshalb und mit welcher Absicht. So wie in jener Zeit Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen in Hamburg, Berlin, Leipzig und auch auf dem Land, in den Ortschaften, in den Häusern und Hütten des riesigen und siegreichen Deutschland nicht wußten – weil sie nicht wissen wollten –, was sich in Warschau abgespielt hatte, sich später dort abspielte und sich die darauffolgenden Jahre noch dort abspielen sollte, als die Feuersbrunst die Stadt in eine rauchende Ruine verwandelte und die Leichen schweigend zum Himmel schauten und mit weit geöffneten Mündern das Gift des Krieges einsogen. Niemand wußte also etwas, niemand behielt etwas im Gedächtnis, niemand hatte auch nur einen Augenblick eine dumpfe Vorahnung, den Hauch eines flüchtigen Traumes, den -214-
Funken einer Überlegung, ein Herzstechen, niemand wurde von Furcht gepackt durch all das, was damals geschehen war. Als ob dafür nicht die Hände, Gedanken und Entscheidungen von Menschen notwendig gewesen wären, sondern nur der Zufall, ein vorüberziehender Fluch und das Wiehern eines Pferdes ausgereicht hätten. So beschlossen also die beiden Kompagnons ihr Leben in ein und derselben Nacht, am selben Ort, im Feuerschein; der Pole, durch scheu gewordene Pferde getötet, der Jude, von einem unbekannten Täter aus dem Hinterhalt ermordet, was immer und überall hätte geschehen können, aber ausgerechnet damals und dort geschah, im Schein der verlöschenden Feuersbrunst. Vielleicht hatten die beiden ein Glückslos gezogen. Sie hatten zwar gewaltsam ihr Leben verloren, aber aktiv, im Kampf, im Ringen mit dem Schicksal, was wohl für einen Menschen im Augenblick des Todes immer ein Segen ist. Ritas Schmerz war größer, denn sie hatte das Leben noch vor sich. Das hatte Wesoły ihr nicht ersparen können. Am nächsten Tag stand sie auf den Trümmern der Pferdeställe und wußte nicht, wo sie den toten Körper ihres Mannes suchen sollte. Erst nach vielen Stunden fand sie Wesoły unter der liebevollen, und doch scheinheiligen Obhut seiner entfernten Verwandten, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, um ihn zu beerdigen und das zu plündern, was das Feuer übriggelassen hatte. Sie jagten die Jüdin davon. Bald darauf sollten auch sie bei einem Brand ums Leben kommen, aber niemand bedauerte sie, außer vielleicht dieser gekreuzigte Jude, der barmherzige Christus, der jegliches Unglück beklagt. Rita ging irgendwohin, unter Menschen, aber keiner kümmerte sich mehr um sie, denn es waren unglaublich grausame Zeiten angebrochen, und alle bereiteten sich auf den Tod vor. Dennoch hielt sie eisern an dem Gedanken fest, daß sie -215-
irgendwann Wesoły begegnen werde, vielleicht werde es nicht genau derselbe Mann sein, der ein so tragisches Ende in den Flammen der Pferdeställe gefunden hatte, aber ein Mensch, der sich sehr nach Liebe sehnte. Und sie würde ihn retten, würde bewirken, daß dank ihr, an ihrer Seite, in der Wärme ihrer Gefühle, dieser Mann sich mit seinem Schicksal aussöhnen würde. Sie trug in sich eine Kraft, die ihr erlaubte, das Unmögliche möglich zu machen. »Dieser unglückliche Wesoły hatte einst eine Frau«, sagte Edek Laski nachdenklich. »Sie war sehr schön, mit einem außergewöhnlich ›arischen‹ Aussehen. Die schönste Jüdin, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Sie hatte blaue Augen mit einem goldenen Glanz wie bei einer Katze. Ich war wohl heimlich in sie verliebt, sie war für mich jedoch wegen ihrer Liebe zu diesem Menschen unerreichbar.« »Aber sie kam doch nicht bei dem Brand um«, sagte Jan in einem sehr kühlen Ton, und seine Augen blitzten auf wie bei einem Wolf. »Nein«, sagte Edek Laski. »Nach diesem Ereignis habe ich nichts mehr von ihr gehört. Aber es kamen ja später alle um.« »Das Feuer«, sagte Jan und schwieg. Nach einer Weile wiederholte er: »Das Feuer. Spüren Sie nicht, daß hier etwas vor sich geht?« »In solchen Angelegenheiten«, sagte Edek Laski, »kann man einen Betrug nie ausschließen. Sie begreifen vielleicht, daß es hier um Millionen geht. Im Vergleich zu dem, was Wilson hier zeigt, ist meine Sammlung nur wertloser Plunder. Glauben Sie mir, die Leute sind unersättlich. Besonders heutzutage. Solche Bescheißereien, solche schrecklichen Schweinereien sind natürlich immer riskant, denn in diesen Fällen werden Polizisten und Versicherungsdetektive zu Spürhunden. Während der Untersuchungen bekommen sie in der Regel das Maul nicht auf. So soll es im übrigen auch sein. Es geht ja nicht nur um Betrug, -216-
sondern darum, daß wir alle, absolut alle, unersetzliche Verluste erleiden, wir als Menschheit angesichts des ewigen Wertes eines Kunstwerkes. Man darf nicht ungestraft, zur Vermehrung des eigenen Vermögens, das vernichten, was Gemeingut ist und wovon auch dem ärmsten Schlucker etwas gehört. Ich glaube, daß Leute vom Schlage Wilsons oder des Fürsten Kyrill sich nie auf ein schmutziges kleines Geschäft einlassen werden. Aber es gibt auch andere. Ein Feuer, sagen Sie... Das ist natürlich die einfachste Art, jegliche Spuren zu verwischen. Mein Gott! Heute morgen, während dieses Spaziergangs an dem Berghang hatte ich so einen merkwürdigen Eindruck – daß hier in der Nähe etwas passieren wird, daß hier jemand wirklich mit dem Feuer spielt.«
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J
an war auf dem Weg zu der Begegnung, nachdem er schon lange nach dem einzigen dafür in Frage kommenden Ort gesucht hatte. Eigentlich wußte er ja, wo suchen, denn er kannte seine Gefühle und auch die verschiedenen Winkel des Hotels gut. Zur Nordseite hin lagen die Hintergebäude des Astoria; selbst die waren gepflegt und ansprechend, obwohl man sie natürlich nicht mit der Frontseite des Hotels vergleichen konnte. In diesen Hintergebäuden befanden sich, wie das seit je demokratische Sitte ist, die billigeren und schlechter möblierten Zimmer. Dort waren Hotelgäste untergebracht, die nicht an der Zusammenkunft der Kunstsammler aus der ganzen Welt teilnahmen, sondern sich aus ganz banalen Gründen in Bad Kranach aufhielten, nämlich um das hiesige Heilbäderangebot zu nutzen und das angenehm milde Klima zu genießen. In den Hintergebäuden, in denen gewöhnlich eine diskrete Geschäftigkeit des Hotelpersonals herrschte, waren auch die Küche, die Lagerräume und die Waschmaschinen untergebracht. Dorthin begab sich Jan zu seiner einsamen und stillen Begegnung. Sein Weg führte ihn durch das gepflegte Foyer des Hotels, wo neben der Seitentreppe zur Tiefgarage sich der stets offene Durchgang zu den Hintergebäuden befand. Genau dort begegnete er ihnen, wobei er ein merkwürdiges Gefühl der Sehnsucht, gemischt mit Angst und Unruhe, empfand, genau so, wie er in seiner Erinnerung Monika auch immer sah. Sie weckte in ihm Verlangen, Angst und Unruhe. In seiner Erinnerung saß sie gewöhnlich am Fenster, nach vorn gebeugt, und schaute auf die Straße vor ihrem Haus. Es kam -218-
aber auch vor, daß sie sich aus einer noch größeren Entfernung Jan näherte, von dort aus der Zimmerecke, wo sie seinerzeit gestanden hatte, sehr schlank, dunkelhaarig und zornig, umgeben von Zigarettenrauch und Stimmengewirr, und Jan hatte sich den Weg zu ihr gebahnt, schüchtern und unsicher, ob sie ihn überhaupt beachten und sich auf ein Gespräch mit ihm einlassen würde. Sie war verschlossen, erweckte immer den Anschein, leicht ungehalten zu sein, ohne diesen heiteren Charme, der sehr junge, fröhliche, flatterhafte und etwas geschwätzige Frauen gewöhnlich begleitet, als wollten sie unbewußt die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sie hingegen wollte immer im Schatten und eher unbemerkt bleiben; aber dahinter verbarg sich die Absicht, durch diese Abkapselung und Unzugänglichkeit ihre ganze Verführungskraft, der alle erlagen, zu entfalten. Jedenfalls weckte sie in Jan vom ersten Augenblick an eine unstillbare Begierde. Sie war für ihn der Sinn des Lebens. Sie hielt ihn gefangen, er war wie angekettet oder von einem Stein erdrückt, an einem Ort und in einer Zeit. Sie war in seinem Leben immer präsent und dadurch auch vertraut, aber dennoch immer weit weg und geheimnisvoll. Und diese Leute kamen ihm auch sehr vertraut vor, und dennoch empfand er Befremden und Angst. Der erste der Neuankömmlinge, auf den Jan am Ende des Foyers stieß – dort, wo sich der Warenaufzug befand und die Seitentreppe zur Tiefgarage führte –, stieg einige Treppenstufen nach unten, verschwand hinter einer Ecke, tauchte aber sofort wieder auf, als habe er Mut gefaßt. Es war jedoch nicht nur Mut, sondern auch reine Notwendigkeit, denn hinter ihm kamen bereits andere, eine recht große Gruppe; alle hielten sich gegenseitig an Armen und Händen fest, waren wie in einer einzigen großen Umarmung verflochten, fast wie zu einer einzigen Person verschmolzen, was sie aber nicht daran hinderte, sich recht frei zu bewegen, denn sie hatten einen seltsam einstudierten Schritt, ähnlich dem von marschierenden Soldaten bei einer Parade oder dem -219-
feierlichen Begräbnis eines Führers. Sie bewegten sich in einem gemeinsamen Rhythmus, im Gleichschritt, und dennoch war jeder von ihnen in dieser engen Verbindung für sich und einzigartig. Gekleidet waren sie ganz unterschiedlich: Einige trugen warme dunkle Mäntel, die zu ihren Gesichtern paßten, einige weiche Hüte oder Melonen, andere Kappen und Schirmmützen. Sie bewegten sich langsam, aber unbeirrt. Angeführt wurde die Gruppe von einem Mann, der sich zuerst hatte zurückziehen wollen, aber dann entschlossen die Treppe von der Tiefgarage zum Foyer nach oben stieg, wo Jan gerade stand, mit dem Rücken zur Hotelhalle und mit dem Gesicht zur Treppe. Er wollte weitergehen in Richtung Tür zu den Hintergebäuden, aber das war unmöglich, da die Gruppe fast den ganzen Flur einnahm. Die Leute bewegten sich schweigend, recht ungezwungen, dennoch langsam, entschlossen, aber doch nicht sehr sicher, bereitwillig, konzentriert und unsicher gleichzeitig. Jan blieb stehen und kehrte um. Sein erster Gedanke war schmerzhaft, die folgenden schon nicht mehr. Als er in Richtung Rezeption ging, wurde ihm klar, daß die Leute von Bussen in der Tiefgarage abgesetzt worden waren. Er dachte jedoch unwillig, daß es eigentlich keinen Grund gebe, gerade von dieser Seite in der Empfangshalle zu erscheinen, anstatt direkt, wie es üblich war, aus dem Bus vor dem Hoteleingang auszusteigen. Wenn sie das also nicht getan haben, dachte Jan, dann muß etwas Entscheidendes passiert sein, was die Ordnung auf den Kopf stellt und bestehende Regeln ändert. Um einen Blick auf die Neuankömmlinge zu werfen, drehte er sich nochmals um. Sie kamen tatsächlich in Scharen, gingen bereits über den weichen Teppich in der Hotelhalle, wo kräftiges Sonnenlicht durch die großen Fenster hereinströmte. Jan empfand erneut ein unangenehmes Gefühl der Unsicherheit und Überraschung, denn er hatte plötzlich den Eindruck, eine Person zu erblicken, die ihm nicht ganz unbekannt war, im Gegenteil, er kannte sie schon -220-
lange und hatte nicht erwartet, ihr ausgerechnet hier wieder zu begegnen. Aber dann verlor er sie aus den Augen. Mein Gott, dachte er, wenn das dieser Mensch ist, weshalb gehe ich dann weg... Aber sofort war der Gedanke wieder verschwunden, da alles plötzlich unsicher und unangenehm war und eine genauere Überlegung erfordert hätte. Bei der Rezeption, in Ledersesseln versunken, saßen zwei distinguierte Herren, Kunstsammler aus Amerika, beide sehr vermögend, mit einer scheinbaren Lebensfreude, aber auch einer unbeschreiblichen Angst vor der Zukunft, denn sie kannten weder den Tag noch die Stunde. Gedankenverloren saßen sie in ihren Sesseln und betrachteten die Leute, die aus der Tiefgarage kamen. Jan stand in der Nähe der beiden eleganten Herren und hörte, wie der eine zu dem anderen etwas erstaunt, beunruhigt und auch etwas angewidert sagte: »Weshalb trägt er ihn?!« »Wer wen?« fragte der andere amerikanische Kunstsammler. »Dieser Große, Kräftige trägt den in dem fleckigen Arbeitskittel...« Da wandte Jan den Kopf und sah einen sehr großen, kräftig gebauten jungen Mann, der tatsächlich einen Menschen in einem dunklen, stark verschmutzten Arbeitskittel trug, und dieser Mensch schien zu schlafen. Der lange Kerl, erschöpft von der Last, beugte sich vor und legte den Schlafenden behutsam auf den Teppich im Foyer. Das grelle Sonnenlicht fiel auf das Gesicht des am Boden Liegenden. Aber dieser zuckte nicht zusammen, sogar seine Augenlider blieben reglos. Da sagte der eine Kunstsammler zu seinem Begleiter in einem beunruhigten Ton und etwas zu laut, als spreche er über die Kursnotierungen an der Börse, daß der am Boden Liegende überhaupt nicht schlafe, sondern mit Sicherheit tot sei. Ruckartig sprang er vom Sessel auf und ging mit entschlossenen, schnellen Schritten auf die Rezeption zu. Sein -221-
Begleiter eilte ihm sofort mit federnden Schritten hinterher. Möglicherweise wollten sie ihrer Betroffenheit und Empörung bei der Hoteldirektion Ausdruck geben. Die Leute, die aus der Tiefgarage kamen, versammelten sich ruhig und schweigend unter einem Kronleuchter. Aber wie sich bald zeigte, wurden es immer mehr, und in dieser neuen, etwas ungewöhnlichen Situation kam entschlossenere Bewegung in die Menge, und sie begann, die ganze geräumige Hotelhalle einzunehmen. Jan fiel auf, daß einige Personen derart von der Reise erschöpft waren, daß innerhalb kurzer Zeit alle Sessel und Sofas in der Empfangshalle besetzt waren. Einige machten es sich sogar auf dem dicken, weichen Teppich bequem, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, als suchten sie Schlaf. Alles lief fast schweigend ab, denn die Leute sprachen ungewöhnlich leise und diskret miteinander, so daß Jan, obwohl er sich anstrengte, ihre Worte nicht verstehen konnte. Er wollte sich einem der Neuankömmlinge nähern, der sich gerade in einen Sessel setzte, und fragen, was los sei, aber er unterließ es, da ihm plötzlich bewußt wurde, daß die ganze Sache bereits entschieden sein konnte. Mehr noch, er hatte das dumpfe Gefühl, daß jetzt alles von ihm abhing. Und das erschreckte ihn. Unentschlossen blieb er unter dem Kronleuchter stehen – in unmittelbarer Nähe zu dem auf dem Teppich reglos daliegenden Mann im Arbeitskittel. Allmählich wurde ihm klar, daß die Würfel schon vor langer Zeit gefallen waren – die Knochen zerschmettert und zu Staub zermahlen –, damals nämlich an dem Berghang bei Skorczyn, als in der warmen Luft die Insekten gesummt und die russischen Soldaten die Pferde am Flußufer getränkt hatten, oder noch früher, abends bei Sonnenuntergang im violetten Halbdunkel, beim Quietschen der Wagenräder und den Rufen der Wachmänner, die die Leute auf Fuhrwerken gebracht hatten, was jemand im Gedächtnis behielt, um es nie mehr zu -222-
vergessen. Die Würfel waren gefallen im hohen Norden, in der Stille der Abenddämmerung und im Schweigen von Millionen unglücklicher Menschen, die dort gewesen waren, um nie mehr zurückzukehren. Und so dauert das alles an, dachte Jan, nicht nur in meiner Erinnerung und in der Pflicht, die ich übernehmen muß, sondern auch in den sichtbaren Dingen. In dem Moment tauchten drei Leute von der Rezeption auf, als erster der Empfangschef des Astoria, äußerst entschlossen, elegant, in einer Hose mit Goldlitze, einem schwarzen Blazer, darunter ein frisch gebügeltes weißes Hemd und eine silbergraue Krawatte. Direkt hinter ihm sein Stellvertreter, der aber auch Einfluß und Autorität ausstrahlte. Der zweite hatte einen dichten schwarzen Schnurrbart und auf der Nase einige Warzen. Die Herren von der Rezeption gingen auf Jan zu, und der Empfangschef sagte in einem entschiedenen, recht lauten und höflichen, aber mißbilligenden Ton: »Es sind neue Umstände eingetreten, wofür ich Sie sehr um Verständnis bitten möchte.« »Und das wäre?« fragte Jan. »Ein kolossaler und unvorhergesehener Andrang von Neuankömmlingen«, antwortete der Empfangschef. »Wir waren gezwungen, die Rezeption und auch die ganzen Serviceeinrichtungen für die Hotelgäste im obersten Stockwerk unseres Hauses unterzubringen, da alle Räumlichkeiten im Parterre für die Evakuierung reserviert sind.« »Für was für eine Evakuierung?« fragte Jan. »Sie stellen komplizierte Fragen«, erwiderte der Empfangschef. »Es geht um die innere Sicherheit, und deshalb könnte ich Ihnen, selbst wenn ich mehr wüßte, darauf keine Antwort geben.« »Aber was ist denn passiert? Das ist doch wohl kein Geheimnis.« -223-
»Das ist kein Geheimnis«, antwortete diesmal der mit dem Schnurrbart, der bestimmt, außer daß er diesen Schnurrbart zu präsentieren hatte, noch eine andere Funktion in der Hotelverwaltung ausübte. »Sie wissen doch, daß wir in der Umgebung einen Brand haben. Gegenwärtig werden die Ursachen dafür untersucht. Der Ausbruch und die Reichweite des Brandes sind völlig unerwartet für alle. Es wurde eine sofortige Evakuierung in beträchtlichem Umfang angeordnet, was absolut notwendig war; und das verlangt von uns Maßnahmen, um den Menschen gerecht zu werden.« Während dieses Gesprächs stellte Jan fest, daß die in der Hotelhalle versammelten Personen sich langsam in Richtung Haupttreppe, die zu den höheren Etagen führte, schoben, weil der Platzmangel in der Hotelhalle immer unerträglicher wurde. Permanent strömten Neuankömmlinge aus Richtung Tiefgarage hinzu, und auch beim Haupteingang des Hotels erschienen sie. Viele hatten sich bereits im Hof versammelt. Durch die Fenster in der Hotelhalle sah man deutlich die Alleen, die im Schatten der Platanen von der Anhöhe zu den Blumenbeeten vor dem Hotel führten. Durch diese Alleen strömten in einem fort wieder neue Evakuierte herein. Diejenigen, die sich als erste in der Hotelhalle befunden hatten, waren nicht sehr gesprächig. Sie verständigten sich untereinander kaum, wohl nur über die wichtigsten Dinge, die keinerlei Aufschub duldeten. Sie zeigten auch keine Nervosität wegen der mißlichen Situation, in der sie sich befanden. Einige von ihnen hatten Gepäck dabei, aber außerordentlich wenig, auf den ersten Blick sogar beschämend wenig: Reisetaschen sowie kleinere und größere Koffer, die einen ordentlich, die anderen stark beschädigt und staubig von unterwegs. Wie das gewöhnlich so ist in überstürzten und unerwarteten Situationen, wenn man schnell flüchten muß, schnappt man sich, was einem gerade in die Finger kommt, meist vollkommen nutzloses Zeug, das einem jedoch in solchen Augenblicken am wertvollsten erscheint. -224-
Neben den normalen, alltäglichen Geräuschen, vielleicht noch weit entfernt, aber vielleicht auch schon ganz nah, war in der Hotelhalle ein gleichmäßiges Rauschen zu hören, als ob ein starker Wind die Federbüsche der Kiefern auf den Anhöhen umbiege. Als sich das Rauschen entfernte, strömte zwischen die immer zahlreicher versammelten Leute in der Hotelhalle ein unangenehm feuchter Schwall kalter Luft, und als das Rauschen wieder näher kam, staute sich die Hitze. Jan ging in Richtung Haupteingang. Dort waren etwas weniger Neuankömmlinge. Von hellen Sonnenstrahlen umgeben, unschlüssig, ob er in das schattigere Innere gehen oder lieber auf der helleren Seite bleiben solle, stand fast auf der Türschwelle ein recht großer hagerer Mann, mit einem schüchternen Gesichtsausdruck und einem Binokel. Über dem linken Arm trug er einen Mantel, in der rechten Hand hielt er eine abgetragene Melone, und um den Hals hatte er einen – einst mit sehr viel Sorgfalt und Liebe gestrickten – Wollschal geschlungen. Als Jan an ihm vorbeiging, grüßte er ihn mit einem Kopfnicken, und der andere antwortete ihm ebenfalls mit einem Nicken. Der Himmel war sehr klar, fast wolkenlos. Von den Anhöhen rund um das Astoria kamen Leute herunter, und Jan konnte mühelos an ihren Umrissen und an ihrer Kleidung erkennen, ob sie zu den Dauergästen des Hotels gehörten oder ob sie sich auch als Folge der plötzlichen Evakuierung hier aufhielten. Die Evakuierten waren viel wärmer angezogen, fast alle trugen Mäntel oder Jacken und eine Kopfbedeckung, einige auch dickere Schals und schweres Schuhwerk, viele schleppten Gepäck. Die Hotelgäste hingegen, entsprechend der Tageszeit und dem schönen Wetter, waren sommerlich angezogen. Die Damen in leichten Kleidern, Shorts, Bermudas, T-Shirts, und einige, die gerade vom Swimmingpool kamen, waren im Bikini, die Herren, die den Bademantel nicht einmal über die Schultern geworfen hatten, marschierten in den unterschiedlichsten -225-
Badehosen vorbei, je nach Alter, Lebensart und Gewohnheiten. Das alles hatte etwas Komisches, aber auch etwas Beunruhigendes. Keiner unter den Anwesenden zeigte jedoch mangelndes Verständnis für die unerwartete Situation, und alle enthielten sich höflich eines Kommentars. Mit Erstaunen stellte Jan fest, daß, obwohl es Tag war, die großen Lampen vor dem Hotel grell und bläulich leuchteten. Jan ging um die Blumenbeete herum und nahm dann den Kiesweg durch die Allee, da auf den Sandsteinplatten viele Menschen, die mit Gepäck beladen waren, in Richtung Hotel gingen. Jan verlangsamte etwas seinen Schritt. Der Pfad schlängelte sich zunächst nach oben, um bald wieder nach unten über einen Hang abzufallen, umschloß mit einem sanften Bogen das Hauptgebäude und führte weiter zu den Hintergebäuden des Hotels. Hier war es fast menschenleer. Nur in einer gewissen Entfernung waberte feuchter Nebel von einer aus der Hotelwäscherei herausziehenden Dampfwolke, was aber auch Dampf aus einer stehenden Lokomotive hätte sein können oder aber der dichte Nebel, der Bauernfuhrwerke am Flußufer am Tag des Verbrechens und Vergessens eingehüllt hatte. In diesem dichten und tückischen Nebel erblickte Jan menschliche Gestalten, die er jedoch unter keinen Umständen hätte erkennen können, selbst wenn er mehr gewußt und verstanden hätte. In der Nähe war ein schmales Fenster zu sehen. Sie war da. Wie immer. Sie saß im Zimmer, direkt am Fenster, den Blick auf die Straße gerichtet, als hätte sie einen Fernseher oder ein weites Panorama vor sich, aber sie sah nur einen Streifen der Fahrbahn, weil das Fenster zu schmal war. Der Ast einer vor dem Haus wachsenden Kiefer bewegte sich im Wind hin und her, und erst über dem Ast breitete sich der Blick vom Fenster auf die Straße aus, aber eher auf einen sehr kleinen Ausschnitt, auf den Bürgersteig, die Fahrbahn, auf staubiges Gras und etwas weiter auf einige Bäume. Hinter den Bäumen -226-
war eine Grünanlage, die im Frühjahr, Sommer und Herbst nicht zu sehen war, da die Baumkronen die Sicht verdeckten. Sie saß am Fenster und schaute auf einen Punkt auf der Fahrbahn, direkt vor dem Fenster, aber vielleicht schien es ihr nur, daß es genau dort war, wo das kleine Mädchen umgekommen war. Denn in Wirklichkeit war es etwas weiter weg passiert, schon außer Sichtweite, die durch den Fensterrahmen eingeschränkt war. Man wußte nur, daß das kleine Mädchen auf die andere Straßenseite hatte laufen wollen, daß genau in dem Moment ein mit Alteisen randvoller Lastwagen gekommen war und – unter dem lauten Geschrei der Frauen in der Grünanlage – gebremst, aber dennoch das kleine Mädchen mit voller Wucht erwischt hatte. Dann wurde es totenstill. Vermutlich starb das Kind noch im gleichen Augenblick, vielleicht spürte es nicht einmal einen Schmerz. Vielleicht war es auch direkt vor dem Fenster, im Blickfeld, geschehen. Aber vielleicht war es auch anders gewesen. Das wird niemand mehr mit Bestimmtheit feststellen können, da seinerzeit niemand am Fenster gewesen war. »Es ist meine Schuld«, sagte sie. »Ich war damals nicht da.« »So darfst du nicht reden«, erwiderte Jan. »Es war ein Unfall.« »Ein Unfall«, wiederholte sie. Seit sehr langer Zeit saß sie am Fenster, wurde immer blasser und gefühlloser dem Leben gegenüber. Früher war sie bezaubernd gewesen, hatte ein hübsches, rundes Gesicht gehabt, große dunkle Augen und einen schönen, sehr kleinen, aber vollen Mund wie vor Jahrzehnten die Filmstars. Aber dann wurde sie sehr schwach, vernachlässigte sich, war überhaupt nicht mehr imstande, auf ihr Äußeres zu achten. Sie litt sehr unter dem Tod ihrer kleinen Tochter. Sie saß am Fenster und schaute auf die Straße; jedem, der sie damals sah, war sofort klar, daß sie unendlich litt, daß dieser Schmerz sie für immer -227-
begleiten sollte, vielleicht nicht so eindringlich und schwarz wie in den ersten Monaten nach dem Unfall, aber grau und lähmend. Sie hatte keine Lebenslust mehr, und das verändert den Menschen vollkommen. Es scheint alles wie früher zu sein, aber dennoch ist alles anders, und nur der Tod ist nah, er allein erweist sich als eine Rettung. Oft dachte sie, wo ihre kleine Tochter wohl sein könnte. »Wo bist du, Anja?« fragte sie, während sie aus dem Fenster schaute. Manchmal kam ihr der den Schmerz etwas lindernde Gedanke, daß Anja vielleicht irgendwo zwischen den Sternen, unermeßlich weit weg sei, dort, wo man gerade noch den schwachen Glanz eines kleinen Sterns am schwarzen Himmel sehen könne. Genau dort befinde sich ihre tote kleine Tochter. Wenn sie so dachte, wollte sie sich zu diesen Sternen aufmachen. Und für einen Augenblick empfand sie Glück, denn es schien ihr, daß sie nach oben schwebe, zum schwarzen Himmel, da er in solchen Augenblicken immer schwarz wurde, sogar am Tag, wenn die Sonne schien. Es war deshalb so, weil sich das Schweben tief im Inneren ihrer Seele abspielte. Die ganze Welt verschwand dann, sogar die schreckliche Stelle auf der Fahrbahn vor dem Fenster, an der vermutlich ihre kleine Tochter ums Leben gekommen war. Und genau in dem Moment fühlte sie sich sehr glücklich, froh und leicht. Wenn sie aber wieder in die Realität zurückkehrte, war ihr Gesicht tränenüberströmt, und in ihrem Herzen empfand sie eine unendliche Leere. So bereitete sie sich manchmal auf die Begegnung mit Anja vor, die irgendwo auf einer fernen Galaxie stattfinden sollte. Aber im Grunde glaubte sie überhaupt nicht an eine andere Welt. Dann sagte Jan: »Es war doch nicht deine Schuld.« Sie lächelte sanft, aber mit Tränen in den Augen. Sie blieb reglos sitzen, mit dem Gesicht zum Fenster, den Blick auf die Fahrbahn gerichtet. -228-
Jan sagte: »Aber selbst wenn du das denkst, dann können wir dem abhelfen. Ich werde das Fenster zumauern. Das wird das Zimmer verändern. Wir können auf der gegenüberliegenden Wand ein Fenster herausbrechen. Es wird sogar heller werden, denn die Hauswand dort geht nach Osten. Und der Blick auf die Straße ist dann weg.« »Das wirst du nicht tun«, erwiderte Monika mit einem sanften Lächeln. »Das ist doch nicht mehr notwendig.« »Ich liebe dich«, sagte Jan. »Mehr als alles andere, was ich im Gedächtnis behalten habe.« »So darf man nicht lieben«, entgegnete sie. »Denn du bist nur das, was du im Gedächtnis behalten hast. Wenn du vergißt, dann wird es weder dich noch deine Liebe geben.« »Ich liebe dich«, wiederholte er, wobei ihn Ratlosigkeit erfüllte und er einen stechenden Schmerz in der Herzgegend spürte. »Ich existiere nicht mehr«, sagte sie. »Und mein Kummer ist auch nicht mehr da. Ich habe ihn mitgenommen auf die andere Seite der Straße.« »Was gibt es dort?« fragte er und drehte sich um, um einen Blick auf die Grünanlage zu werfen, wo gewöhnlich Kinder, unter den Augen der Kindermädchen, spielten und junge Hunde ausgelassen im Gras umhertobten, während es sich ihre Besitzer auf den Bänken bequem machten, Sonne tankten, sich über gewöhnliche und alltägliche Dinge unterhielten und dabei das Gefühl hatten, noch einmal davongekommen zu sein. Aber als er sich umdrehte, sah er den Kiesweg der Allee, leicht ansteigend in Richtung Hotel. Von dort genau war er vor einer Weile gekommen. Ratlos stand er nun da, das Gesicht einem kleinen, schmalen Fenster im Hintergebäude des Hotels zugewandt. Für einen Moment hörte er das Zischen einer Dampflokomotive, aber vielleicht war es auch ein schrilles Geräusch, das aus der Hotelwäscherei kam, wo die Angestellten wegen der -229-
unerwarteten Evakuierung soviel zu tun hatten. »Ich sehne mich nach dir«, sagte er leise. »Alles liegt hinter uns«, erwiderte sie. »Ich leide nicht mehr wegen Anjas Tod. Ich fühle mich auch nicht mehr krank wie in den letzten Jahren. Es ist besser, mein Liebling. Es ist besser so. Du mußt mich nicht mehr in ein Krankenhaus oder zu einem Arzt bringen, damit dieser komplizierte und langwierige Untersuchungen anstellt, um am Ende mit einem – gleichzeitig bekümmerten wie aufmunternden – Lächeln zu sagen, daß es keine Chance mehr gibt, was wir beide seit langem wissen, vielleicht seit dem Moment, als ich dir das erste Mal, in dem Kleid mit dem eingebrannten Loch, begegnete. Schon damals wußten wir, daß es so enden würde, ohne eine Hoffnung und ohne eine Chance, denn wie könnte etwas anders enden, was in jener Zeit, die niemandem eine Hoffnung und eine Chance gab, begann.« »Und trotzdem haben wir unsere Liebe«, sagte Jan. »Dank ihr war unser Unglück weniger trostlos...« »Du hast recht«, erwiderte sie, wobei ihr Blick immer noch auf die Fahrbahn vor dem Fenster gerichtet war, wo vor sehr langer Zeit, vor so vielen Jahren, ihre kleine Tochter ums Leben gekommen war. »Aber ich kann nichts dagegen tun, daß ich weggegangen bin, so wie sie weggegangen ist.« »Du darfst nicht...«, sagte Jan. »Du darfst mich nicht verlassen.« »Das ist bereits geschehen«, entgegnete Monika. »Ich fühle mich erleichtert und habe keine Angst mehr, Liebling. Kannst du begreifen, daß ich keine Angst mehr habe? Jetzt bin ich ruhig. Ich weiß, wie es war mit unserer kleinen Tochter. Ich weiß, wie es mit uns war. Ich weiß recht viel, Liebling. Nicht alles, freilich, aber mehr als irgendwann sonst.« »Sag mir etwas darüber«, bat er. »Das ist nicht möglich«, erwiderte sie. »Damit mußt du dich -230-
begnügen. Ich weiß, was du empfindest. Aber das ist kein gutes Gefühl.« »Was ist nicht gut?« fragte Jan. »Du möchtest gern für alles büßen, was uns im Leben widerfahren ist. Du möchtest gern leiden und wirfst dir ständig vor, daß du nicht genügend Kraft hast, um das Leiden zu verstärken. Du glaubst, daß in dir irgendein Übel steckt, das dir nicht erlaubt, so zu leiden, wie du willst. Aber das ist ein Vorwand, Liebling. Als ich nicht da war, wolltest du vor Verzweiflung laut schreien, hast dann aber doch nicht geschrien. Du wolltest sterben, bist dann aber doch nicht gestorben. Damals kamst du zu der Überzeugung, daß, wenn du schon weiterleben müsstest, dann nur, um zu leiden. Und du hast auf die dunkle Stunde des Leidens gewartet. Aber sie kam nicht.« Es war so, wie sie sagte. Er erinnerte sich genau. All das, was er hatte vergessen wollen, steckte tief und unauslöschlich in ihm. In der Nacht ihres Todes hatte er erstaunt im Wohnzimmer gestanden, im grellen Schein der Lampe, den Blick auf die beigefarbene Wand gerichtet, und hartnäckig auf den Schmerz gewartet, der sich nicht einstellen wollte. Damals sagte er sich mit einem gewissen Entsetzen, daß er Monika doch über alles geliebt, sie nach den Jahren der Angst, des Wartens und der Hoffnung verloren habe; und plötzlich zeigte sich, daß der Schmerz, der sich unbedingt hätte einstellen müssen, nicht existierte. Es gab keinen Schmerz, er war irgendwohin verschwunden... Damals hatte Jan lange in dem kleinen Zimmer voller Bücher gestanden und war dann zurück zu Monika gegangen, in den von ihrem Tod überschatteten Raum. Im Flüsterton, ohne Angst, aber vielleicht auch ohne Zärtlichkeit, fragte er sie mit einem gewissen Zorn und Trotz, wo dieser Schmerz sei, der sich unbedingt hätte einstellen müssen, sich jedoch nicht einstellte. »Monika, wo ist mein Schmerz?« fragte er in einem überaus zornigen Flüsterton, in der Hoffnung, daß -231-
sie ihm antworten würde. Den Kopf von einem Kissen gestützt, lag sie da, blaß und kalt, mit einem sanften erstaunten Lächeln um den Mund. Gerade dieses Lächeln war das Zeichen ihrer unwiderruflichen Abwesenheit. Jan wußte, daß Monika den Tod mit diesem Lächeln begrüßt hatte. Jan stand also in dem dunklen Raum, über das Sofa gebeugt, auf dem seine tote Frau lag, und voll schutzloser Liebe wartete er auf diesen von der Liebe versprochenen Schmerz. Aber er empfand nur Wut. Er wußte bereits, daß das eine große Falle war, der keiner ausweichen, vor der keiner sich schützen kann. Verzweiflung, Trauer, Einsamkeit, Verlust. Er dachte, das wäre wie ein Peitschenhieb, wie ein Fußtritt des Henkers, wie ein Knochen, zermalmt von herabstürzenden Trümmern, wie ein von einem schweren Stiefel niedergetretener Kehlkopf. Nur wenige kannten den Schmerz so gut wie Menschen von seiner Art. Und dennoch passierte nichts dergleichen. Der schlimmste Schmerz war das Warten, das unstillbare, glühende Verlangen zu leiden, während alles so geblieben war wie früher. Wie sollte man hier leiden in den wohlbekannten, alten Ecken und Winkeln, inmitten derselben Sessel, Teppiche, Schränke und mit demselben Blick aus dem Fenster? Wo den Schmerz finden in dieser Banalität? Monika war nicht mehr da. Die Welt war dieselbe wie zuvor, aber sie war nicht mehr da. Und das ist schon alles? dachte er, verzweifelt über seine Unfähigkeit, echte Trauer zu empfinden, als ob es überhaupt eine andere Trauer hätte geben können außer derjenigen, die alles ringsum erfüllte. Mein Gott, dachte er, den Hintergebäuden zugewandt, wenn es keinen Schmerz gibt, was sollte ich dann im Gedächtnis behalten? Die lachsfarbenen Läufer und Teppiche in diesem Hotel, die hellen Wände, das bläuliche Licht der Lampen, das nichtssagende und erbärmliche Lächeln der Leute, den wolkenlosen Himmel? Was gibt es hier im Gedächtnis zu behalten? »Vielleicht gerade das«, sagte Monika. Aber er sah sie nicht -232-
mehr, sie saß nicht mehr am Fenster, ihre Stimme war auch nicht mehr da. Langsam entfernte er sich auf dem Kiesweg durch die Allee. Er wußte, daß Monika gestorben war. Die früheren Illusionen hatte er verloren. Über all die Jahre, jeden Morgen beim Aufwachen, hatte er die Wände, die Möbel und auch die zur Welt hinausgehenden Fenster gefragt: Wo ist Monika? Nicht jedesmal hatte er eine Antwort bekommen. Auf die Wand war ein sich verschiebender Schatten gefallen, Stunde um Stunde, zusammen mit der Sonne, und Jan wußte, daß es der Schatten seiner Frau war. Bisweilen drangen knarrende Geräusche an sein Ohr, und da wußte er, daß Monika sich hinter der Wand im anderen Zimmer rührte, gerade vom Bett aufstand, sich gierig die erste Zigarette anzündete, nachlässig und fast widerwillig vor dem Spiegel ihr Haar in Ordnung brachte, um sich bereits im nächsten Augenblick, wie jeden Morgen, in den Sessel am Fenster zu setzen und in schweigender Erstarrung auf die Straße zu schauen. Aber gleichzeitig wußte er, daß das alles ein Trug war, denn sie war ja gestorben. Da schloß er die Augen. Er wollte diesen Trümmerhaufen nicht sehen. Als er nach einer Weile die Augen wieder öffnete, sah er die Zimmer in eine Brandstätte verwandelt, die Asche schwelte noch, da und dort züngelnde Flammen der erlöschenden Brände. Rundum spürte er die heiße Luft, nahm den Brandgeruch wahr und empfand eine unstillbare Sehnsucht. Nicht Monikas Tod war für ihn das größte Leid, sondern der Gedanke, sie nie mehr zu sehen, ihre Stimme nie mehr zu hören und ihre Haut nie mehr zu berühren. Darin lag ein sinnliches Verlangen, das er nicht stillen konnte. Mit langsamen Schritten kehrte er auf dem Kiesweg durch die Allee zurück. Sie ist gestorben und nicht mehr da, dachte er. Das, was ihm nun nach so vielen Jahren voller Leiden, -233-
Enttäuschungen, Anstrengungen und Versprechungen auf Besserung widerfuhr, verursachte in ihm nicht Schmerz, sondern Groll auf die Welt.
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16
L
angsam wurde es Abend. Überall ringsum ein etwas unangenehmer, aber dennoch vertrauter Geruch von verkohltem Holz, Ruß und erhitzter Luft. Der Himmel über dem Hotel war dunkel, während am noch blauen Horizont graue Rauchwolken zogen, die wie Schleier zur Erde herabwallten. Ringsum herrschte Stille. Die Bäume, die Vögel und auch die Menschen schienen in Schweigen erstarrt, um aufmerksam jeden Schritt des sich nahenden Feuers auffangen zu können. Aber das Astoria nahm stolz die Herausforderung an. Das Abendessen sollte bald serviert werden, und das Personal bereitete sorgfältig die Speisen zu. Die Chefköche und die Oberkellner verständigten sich untereinander mit beredten Blicken. Es gab weder frisch zubereitete Suppen noch Braten. In weiser Voraussicht hatten die Direktoren des Hotels die entsprechenden Anweisungen gegeben, um so die Vorräte des Hauses für den Ernstfall zu sichern. Für das Abendessen wurde also eine schmackhafte und nahrhafte, aber eher einfache Mahlzeit zubereitet. Im großen Speisesaal, in den durch die venezianischen Fenster neben dem Geruch des entfernten Brandes immer noch das kräftige Sonnenlicht strömte, wurde ein kaltes Büfett aufgetragen: verschiedene Wurst- und Schinkensorten, einige Fischgerichte, leckere Salate – eine Spezialität der hiesigen Küche. Ungeachtet der bevorstehenden Katastrophe war das Astoria auf seinen guten Ruf bedacht. Noch war der Speisesaal fast leer, nur in der Nähe der Terrassentür saßen in aschgrauen Sommeranzügen zwei Herren. Beide waren breitschultrig und hatten kurzgeschnittenes Haar. -235-
Ihre großen braungebrannten Hände lagen auf dem weißen Tischtuch. Vor ihnen standen schlanke Gläser mit Bacardi und Eis. Einer der Herren hieß Kassner, der andere Halberstamm, und beide waren Mitarbeiter des Geheimdienstes. Als Jan den Speisesaal betrat, schauten sie nicht einmal in seine Richtung. Kassner schlürfte seinen Bacardi, und Halberstamm hing lächelnd seinen Gedanken nach. Plötzlich sagte Kassner: »Hab ich dir schon von meinem Abenteuer in Lübeck erzählt?« »Nein«, erwiderte Halberstamm, »diese Geschichte hast du mir noch nicht erzählt.« In dem Moment ging Jan an ihrem Tisch vorbei. »Ich war damals zum ersten Mal in Lübeck«, sagte Kassner, »und im übrigen auch zum letzten Mal. Ich hatte Lust, mir die Stadt anzuschauen. Thomas Mann, Konsul Buddenbrook, du verstehst schon... Schließlich bin ich ein kultivierter Mensch. In Hamburg hatte ich ein reizendes Mädchen kennengelernt. Eine Amerikanerin namens Maddy. Ich sagte also zu Maddy, daß ich sie gern in einer ganz außergewöhnlichen Atmosphäre vögeln würde.« »Das hast du zu ihr gesagt?!« rief Halberstamm ungläubig. »Na und?« erwiderte Kassner. »Wir hatten da keinerlei Hemmungen.« »Nun ja«, sagte Halberstamm und wiegte den Kopf hin und her. »Wir fuhren also nach Lübeck. Der Tag versprach schön zu werden. Aber schon unterwegs bewölkte sich der Himmel, und dann fing es an zu regnen. Wir fuhren mit Maddys Wagen.« Jan setzte sich an einen Tisch in der Nähe. Ein Kellner kam. Er schien etwas verlegen zu sein, was sich darin ausdrückte, daß er sagte, das Feuer bereite immer mehr Probleme. Jedoch -236-
verkündete er auch, wohl nicht ohne Stolz, niemand von den Dauergästen habe das Hotel verlassen und alle Gäste zeigten Entschlossenheit und Optimismus. Man müsse diese schwere Prüfung durchstehen, sagte der Kellner. Worauf Jan erwiderte, daß sich das Durchstehen vielleicht als ganz angenehm erweisen könnte, wenn er jetzt ein Glas Bier vom Faß bekäme. Kassner am anderen Tisch erzählte Halberstamm von seinem Abenteuer in Lübeck, das weder besonders sensationell noch besonders aufregend gewesen war. Sie fuhren also mit Maddys Wagen, bei ziemlich miesem Wetter, denn sofort hinter Hamburg hatte es angefangen zu regnen. Kassner hatte nur Jeans und ein leichtes Hemd getragen, weil er nicht mit einem Wetterumschwung gerechnet hatte. Er hatte zu dem Mädchen gesagt, daß sie sich in Lübeck das Schabbelhaus ansehen würden. »Was ist das, das Schabbelhaus?« hatte Maddy gefragt. Inzwischen brachte der Kellner das Bier und stellte Jan das Glas mit einer Schaumkrone hin. In den Fenstern des Speisesaals, die immer noch hell und voller Sonnenschein waren, tauchten feine Rauchwolken auf. Hinter dem Kellner erschien Joël Weiss. Kassner hatte Maddy erzählt, daß das Schabbelhaus ein wichtiger Ort für die deutsche Kultur sei, im übrigen ein ausgezeichnetes Restaurant, das einst auch Thomas Mann zu besuchen pflegte. Sie fragte, wer das sei. Kassner erzählte ihr die Entstehungsgeschichte des Romans über die Familie Buddenbrook, resümierte ihr auch die Schicksale der Helden aus dem Zauberberg sowie aus den anderen Werken Thomas Manns und erwähnte außerdem noch das Werk, das ihn am meisten berührte, nämlich den Essay über die Entstehung des Doktor Faustus. Maddy war ein wenig erstaunt, daß Thomas Mann in Kalifornien gelebt hatte, da auch sie aus Kalifornien kam, aber bis jetzt noch nie etwas von diesem berühmten Herrn gehört hatte. Was Kassner zu der Bemerkung veranlaßte, daß Maddy zwar wunderbar im Bett sei, ihre Kenntnisse von der Kultur der -237-
Welt allerdings viel zu wünschen übrigließen. Kassner fand es erregend, wie sie die Lippen aufwarf. Kurz zuvor hatte Joël Weiss zu Jan gesagt: »Es ist schön, Sie wiederzusehen, mein Freund.« »Ich freue mich sehr, Sie bei guter Gesundheit zu sehen«, erwiderte Jan. Weiss setzte sich, stieß einen Seufzer aus und lächelte melancholisch. Er sah gesund aus, aber in seinem Blick lag traurige Anspannung. Die deutsche Kultur hatte Maddy mehr und mehr in ihren Bann geschlagen, aber es zeigte sich, daß das Restaurant geschlossen war. Unterdessen war der Regen unerträglich geworden. Kassner war völlig durchnäßt, wie einst unter anderen, aber äußerst bedeutsamen Umständen, an dem namenlosen Fluß, unter einem fremden Himmel, als jener Mann sein Binokel verloren hatte und sich bückte, um es von der feuchten schwarzen Erde aufzuheben, und Kassner ein Gefühl der Angst, der Hemmung und der dienstlichen Verpflichtung empfunden hatte. Gerade das hatte ihn dann all die Jahrzehnte hindurch mit Widerwillen erfüllt, aber auch mit einer gewissen, für ihn selbst erstaunlichen Abneigung gegenüber jenem Mann mit dem Binokel, als habe dieser Kassner dazu gezwungen, etwas wegzuwerfen, was doch den höchsten Wert hatte und nie hätte weggeworfen werden dürfen, nicht einmal für einen Augenblick, und dennoch so schändlich und kleinmütig weggeworfen worden war. Und vielleicht hatte Kassner deshalb plötzlich genug von Thomas Mann und auch von den Buddenbrooks. Er sagte zu Maddy, sie müßten in Lübeck übernachten, sie könnten zwar sofort zurückfahren, aber er wolle ins Bett, und außerdem sei vielleicht die berühmte Kneipe morgen wieder offen. Also fuhren sie zu einem Hotel auf dem anderen Traveufer, stellten den Wagen vor dem Hotel ab, gingen nach oben und liebten sich einfallsreich, auf neue und verschiedene Arten die ganze Nacht hindurch. -238-
Als Kassner davon sprach, war Halberstamm etwas peinlich berührt und wunderte sich selbst darüber. Er blickte über das schlanke Bacardiglas und sah das Gesicht von Joël Weiss. Dieser Anblick erschreckte ihn, weil er wußte, was einst passiert war und was bald mit ihrer beider Beteiligung passieren sollte. Halberstamm erinnerte sich widerwillig an den armen Kameraden Westermann. Er erschauderte und schloß die Augen. In dem Moment bestellte Joël Weiss ein Bier. Und Kassner sagte, daß, als er und Maddy am nächsten Morgen nach dem Frühstück vom Hotel zum Parkplatz gingen, das Auto nicht mehr dagewesen sei. »Das waren Polacken, die uns das Auto aufgebrochen haben!« hatte Kassner voller Wut damals gesagt und sich trotz der fröhlichen Stimmung des Mädchens nicht beruhigen können. Genau das sagte er dann auch beim Bacardi zu Halberstamm. Im übrigen war in Lübeck immer noch lästiger Regen gefallen, und das bekannte Lokal mit der hanseatischen Tradition war nach wie vor geschlossen. Halberstamm fühlte sich unwohl, da er sich nicht losreißen konnte von dem Gedanken an den armen Kameraden Westermann. Dann fragte Joël Weiss Jan, wie er denn mit der gegenwärtigen Situation zurechtkomme. »Was meinen Sie?« fragte Jan. »Das ist wohl nichts Besonderes. Leute wie wir sind an Brände gewöhnt.« »Wie kommen Sie zurecht nach dem Verlust, nach dem Tag, seit dem das Leben sich als wertlos und sinnlos erwiesen hat?« fragte Joël Weiss. Mittlerweile hatte Kassner die Formalitäten im Zusammenhang mit dem Autodiebstahl erledigt. »Die Polizei in Lübeck ist dumm und faul«, sagte er ärgerlich zu Halberstamm. »Erst gegen Abend kam ich nach Hamburg zurück. Hemd und Jeans waren völlig durchnäßt.« »Ich habe Angst vor der Zukunft, aber auch die Hoffnung, daß ich irgendwie zurechtkommen werde. Das schlimmste ist -239-
die Einsamkeit«, erwiderte Jan. Joël Weiss nickte sehr mitfühlend und verständnisvoll. »Und wie geht's jetzt weiter?« fragte Halberstamm sachlich. »Keine Ahnung«, entgegnete Kassner freimütig. »Aber das Ganze ist eine Schweinerei.« »Nun ja«, stimmte ihm Halberstamm zu und trank seinen Bacardi aus. Die Sonne ging gerade unter, und die ganze Landschaft vor dem Hotel Astoria war in rotes Licht getaucht. Es schien, daß nicht nur der in einiger Entfernung gelegene Wald, sondern der ganze Himmel in Flammen stand. »Als ob der Himmel brennen würde«, sagte Halberstamm. In seiner Stimme schwang Faszination, aber auch Angst mit. »Jedesmal, wenn ich mir einen Sonnenuntergang anschaue, denke ich, daß ich einmal sterben werde«, sagte er leise und schloß dabei die Augen. »Ich denke sonst nie daran, aber beim Sonnenuntergang denke ich daran. Ich würde nicht sagen, daß das täglich vorkommt. Nur dann, wenn der Himmel so wie jetzt in Flammen steht.« Jan sah Joël Weiss in die Augen. Weiss sagte mit Nachdruck, daß die Zeit großer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nicht lange dauern werde, das wichtigste sei jedoch, aus dem untätigen Warten herauszukommen; man müsse selbst in dieser Hinsicht etwas unternehmen, dürfe sich nicht dem untätigen Warten ergeben, dürfe nicht dieser Stille und Leere verfallen, die seien wie der vor der Haustür liegende Schnee. »Geben Sie sich nicht dem Unglück hin«, sagte Weiss. »Und lassen Sie sich nicht von dummen Vorurteilen leiten. Menschen, die das nicht erlebt haben, meinen, Ihr oberstes moralisches Gebot, Ihre oberste moralische Verpflichtung müsse nun die Einsamkeit sein. Aber das stimmt nicht.« Kassner sagte zu Halberstamm in einem etwas scharfen Ton: »An dir ist ein Dichter verlorengegangen. Ich denke nie an den -240-
Tod. So oder so kommt er eines Tages, wozu also an ihn denken?« »Ich suche mir das nicht aus«, sagte Halberstamm nachdenklich und schaute wieder zu Joël Weiss und dann in Richtung Fenster, wo unheilverkündend und wunderschön die Sonne unterging. »Das kommt von außen auf mich zu, in solchen Augenblicken wie jetzt. Und weißt du, was ich dann denke?« »Ich bin sehr gespannt«, sagte Kassner ironisch. »Ich denke, daß der Tod dem Menschen den Abschnitt seines Lebens vor Augen führt, der für ihn der wichtigste war.« »Und welcher war für dich der wichtigste?« fragte Kassner. »Das weiß ich nicht. Das werde ich im Moment meines Todes erfahren«, erwiderte Halberstamm ernst. Joël Weiss sagte, daß man die meiste Kraft dafür aufwenden müsse, eine Entscheidung über das weitere Leben unter Normalbedingungen zu treffen. »Welche Normalität meinen Sie?« fragte Jan. »Das wissen Sie selbst«, entgegnete Joël Weiss. »Die Einsamkeit ist nicht der Normalzustand. Jeder braucht zum Leben einen anderen Menschen.« »Und gerade jetzt denkst du an den Tod?« fragte Kassner mit einem Anflug von Spott. »Und ob«, erwiderte Halberstamm. »Und ob.« Joël Weiss legte seine braungebrannte Hand auf die Hand seines Gesprächspartners. Da brachte der Kellner ein zweites Bier für Jan, und Joël Weiss sagte: »Bringen Sie mir auch eins.« Als der Kellner sich entfernt hatte, sagte Joël Weiss mit einem gewissen Stolz: »Das Leben muß man einfach nehmen. Und nicht aufgeben. Ich habe nie aufgegeben und bin nie verzweifelt, obwohl ich vielleicht Grund dazu gehabt hätte.« »Das weiß ich, Herr Weiss«, sagte Jan. »Sie können für viele -241-
ein Vorbild sein.« »Ich will kein Vorbild sein«, entgegnete er. »Ich will nur, daß man sich an mich erinnert.« »Das verstehe ich«, sagte Jan. Kassner und Halberstamm standen von ihrem Tisch auf, nickten Joël Weiss, Jan sowie dem Kellner zu und schritten langsam, gleichmäßig, ruhig und geschmeidig schwingend wie Tiger zu ihren schrecklichen Pflichten. Nach einer Weile bekam Joël Weiss sein Bier und benetzte damit vorsichtig die Lippen, wie jemand, der weiß, daß der seltene Augenblick eines herben kühlen und seit langem bekannten kleinen Vergnügens gekommen ist. »Passen Sie auf, was ich Ihnen zu sagen habe.« Joël Weiss beugte sich dabei über den Tisch, damit Jan deutlich jedes Wort verstehen konnte, da er sicher war, daß es nie mehr eine Gelegenheit geben würde, diese Worte zu wiederholen. »Hören Sie mir aufmerksam zu. Und behalten Sie es im Gedächtnis, lieber Freund. Ich mache Sie sozusagen zu meinem Erben und vielleicht gar zum Vollstrecker meines geistigen Testamentes. Ich weiß nicht, ob Sie das verdienen. Vielleicht nicht. Aber ich habe hier keinen anderen, und die Zeit drängt. Ich möchte, daß Sie die Kraft haben, es zu ertragen. Jemand muß es nämlich, mein Freund. Bald wird etwas sehr Wichtiges passieren.« In dem Moment sagte Jan leise: »Das habe ich immer geahnt, Herr Weiss. Aber ich habe auch immer gehofft, an diesem Tag nicht mehr dazusein. Das ist ein so großer Traum, Herr Weiss, nicht mehr zu existieren, wenn wir uns in die Erinnerung vertiefen und sie uns ins Gedächtnis zurückrufen.« »Dafür ist es zu spät«, entgegnete Joël Weiss. »Und wir müssen uns allem stellen, was kommt. Denken Sie nur, vor einer Viertelstunde bin ich Westermann hier begegnet. Er ging den Flur im zweiten Stock entlang. Mit einem freundschaftlichen Lächeln und einem andächtigen Blick sagte er zu mir: ›Joël, laß -242-
uns alles vergessen!‹ Ich erwiderte ruhig und wahrheitsgemäß, daß ich ihm längst nichts mehr nachtragen würde, wenn er sich laut zu allem, was er getan hat, bekennte. Da sagte er, die ganze Welt habe doch schon längst alles gehört und es schon hundertmal geschafft, zu vergessen. Ich sagte ihm, daß er im Irrtum sei. Andere hätten statt seiner gestanden, sagte ich entschlossen, während er, Westermann, immer beharrlich geschwiegen habe. Er habe nie offen über das gesprochen, was ihn doch belasten müßte. Wenn ihn jedoch nichts belaste, dann um so schlimmer für ihn, für mich und für die anderen. Er lächelte und sagte: ›Joël, was willst du heute von mir? Die Rechnungen wurden total und praktisch global beglichen.‹ Ich sage Ihnen, er hat recht. Darauf genau beruht der schreckliche Fehler. Diese Vergangenheit hat eine Generalabsolution bekommen. Ganze Völker, Staaten, Interessengruppen kamen in deren Genuß. Zuerst die Deutschen, später die Sowjets, also die Kommunisten, die Nazis, Mitglieder des KGB und der SS, Funktionäre verschiedener Staats-, Polizei- und Parteiapparate. Aus der Zugehörigkeit ergibt sich die kollektive Verantwortung, die Mitschuld, die aus einer Parteizugehörigkeit oder Uniform herrührt. Mit einem Satz: Das ist Politik. Und Sie wissen doch, daß dort, wo die Politik am Werk ist, es meistens keine ethischen Grundsätze gibt. Auf diese Weise wurde Westermann schon vor langer Zeit als Deutscher, als Nationalsozialist und als Offizier verurteilt. Was habe ich also noch mehr zu erwarten? Er hat recht, wenn er sagt, daß alles schon ausgesprochen wurde. In der heutigen Zeit macht man sich lächerlich, wenn man nach dem Gewissen seiner Nächsten fragt. Westermann weiß das sehr gut. Daher war sein Lachen auch ganz natürlich. Und eigentlich geht es hier nicht um Westermann. Was sich hier mit seiner und meiner Beteiligung abspielen soll, ist unwiderruflich. Deshalb spreche ich jetzt mit Ihnen. Die Sache betrifft nämlich uns alle, mein Freund. Etwas ist schon passiert. Unwiderruflich. Ist nicht mehr rückgängig zu machen.« -243-
»Was meinen Sie damit?« fragte Jan. »Ich meine, wie es heute mit der Erinnerung steht«, sagte Joël Weiss. »Sie sind sich doch hoffentlich darüber im klaren, daß, wenn wir vergessen, sich dann alles wiederholen wird. Wir haben ja bereits vergessen. Das verschafft den Menschen große Erleichterung.« »Ich habe nicht vergessen«, sagte Jan. »Das ist ein Vorwand«, erwiderte Joël Weiss. »Sie machen sich nur selbst vor, daß Sie sich erinnern. In Wirklichkeit haben Sie sich schon längst damit abgefunden.« Jan wollte widersprechen, aber plötzlich war er sich darüber im klaren, daß Weiss recht haben könnte. Wenn sie noch leben würde, dachte er erschrocken, wäre alles für immer vergessen. Er empfand ein unangenehmes Gefühl des Grolls und vielleicht gar der Abneigung Joël Weiss gegenüber, weil dieser immer noch da war mit dem ganzen Ballast der weit zurückliegenden Ereignisse, und Monika war nicht mehr da. Als ob ihr Tod der Preis war, den es für die Erinnerung zu entrichten galt. ›Ist dieser Preis nicht etwas zu hoch?‹ fragte er sich. »Meine Ängste sind alt«, sagte Joël Weiss. »Sie reichen weit zurück. Sie haben mich geformt, sind von weit hergekommen, aus der Vergangenheit, und daher auch eine Art Ahnung davon oder Erinnerung an das, was sich einst ereignet hat. Ich denke nicht an das, was ich selbst erlebt, auch nicht an das, was ich in Büchern gelesen habe, sondern an etwas Größeres und Ursprünglicheres. Es gibt solche Überlieferungen von unseren Vorfahren, von deren Existenz wir nichts wissen, und dennoch wurden sie im Herzen eines jeden von uns für eine besondere Stunde aufbewahrt. Meine Ängste kommen daher, daß ich zweifellos weiß, daß es in der Vergangenheit immer Unheil gegeben hat. Davon steht nichts in den Geschichtsbüchern, aber es war so. Es wurde immer überliefert. Geflüstert oder mit Geschrei, in der Abenddämmerung oder bei Sonnenlicht. Die Alten überlieferten es den Jungen, versuchten den Sinn -244-
wiederzugeben, der ihnen von ihren Vorfahren anvertraut worden war – als mystische Botschaft und auch als Bekenntnis ihrer ewigen Einsamkeit, Verlassenheit, Mitschuld, Hunger nach Gerechtigkeit und der Angst vor bösen Geistern. Die Alten überlieferten es den Jungen, die Väter den Söhnen und die Söhne ihren Söhnen. Es hieß, der Jude sei der Feind des Menschen. Darin steckt ein metaphysischer Sinn. Andere glaubten an Götzen aus Stein, an trächtige Kühe, an Gold, an Menschen mit Fuchsköpfen oder an Füchse mit Menschenköpfen. Und die Juden glaubten ab dem Augenblick, seit dem die jüdische Welt existiert, an den einen Gott. Dieser führte mit den Juden Gespräche, hatte Geschäfte und verschiedene Angelegenheiten mit ihnen zu erledigen, während er die anderen Menschen kaum beachtete. Zweifellos hat er die Juden auserwählt, ganz besonders an ihnen Gefallen gefunden, einen Bund mit ihnen geschlossen und die anderen in Einsamkeit, Verlassenheit und Angst zurückgelassen. Konnten die anderen das ertragen? Ist das überhaupt zu ertragen? Und zu allem Übel – ich sage Ihnen das voller Schmerz, aber mit einer tiefen Überzeugung – verhielten sich die Juden immer überheblich und beleidigend, da sie wußten, daß sie auserwählt waren. Stellen Sie sich die seelische Verfassung eines Juden vor zweitausend oder vor fünfhundert Jahren oder auch heute mal vor. Die ganze Welt ist im Grunde jüdisch, denn Gott ist jüdisch, und die Welt gehört Gott, der alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge erschaffen hat. Punkt. Schluß. Und stellen Sie sich – das wird Ihnen hundertmal leichter fallen – die seelische Verfassung aller anderen Menschen vor, die seit Tausenden von Jahren dazu verurteilt sind, diese beleidigende und überhebliche seelische Verfassung der Juden zu ertragen. Ich denke dabei an jeden Juden, der einem begegnet, sogar an den abscheulichsten und schlechtesten Juden unter der jüdischen Sonne, der am meisten Armut und Demütigung erfahren hat. Denn sogar der ärmste und elendeste Jude war immer noch -245-
auserwählt, während jeder andere, auch wenn er Macht über die halbe Welt hatte, von Gott überhaupt nicht beachtet wurde. Was soll man dazu sagen... Die anderen ertrugen das zähneknirschend, errichteten ihren Göttern Tempel, brachten ihnen Opfer dar, fragten sie um ihre Meinung, aber die Götter hüllten sich in Schweigen, die Juden hingegen standen daneben, nickten mit verächtlichem Blick und spöttischem Lächeln. Und es bestand nicht die geringste Chance, daß sich der Mensch irgendwie hätte retten können, daß er hätte Jude werden können. Sie begreifen sehr gut, daß man Jude nicht werden kann. Das muß man sein. Zuerst erhält man den Stempel, der einen zum Judentum verflucht, wird Gottes Liebling, und dann erst kommt alles andere, die ganze Last der Gerüchte, Ängste und Besessenheit. Ich meine, das ist eine widerrechtliche Aneignung durch Gott, der für die Juden die Welt zum Leben geschaffen hat, und gleichzeitig hat er ihnen das Leiden, das entsetzliche Privileg, die Auserwählten zu sein, die schreckliche Entfremdung und die Angst der Auserwählten gegeben, denn alle anderen hält Gott für Vagabunden, und deshalb müssen sie, um das ertragen zu können, jeden Juden, der ihnen in die Hände gerät, quälen. Ich glaube sogar, daß in einem bestimmten Moment Gott das alles wiedergutmachen wollte, weil er von der Welt tief enttäuscht war. Einen jeden kann eine solche Enttäuschung treffen, und dann sucht er nach einer neuen Lösung, nach einer Möglichkeit, damit dennoch das gelingt, was ursprünglich beabsichtigt war. Ich kann mir also vorstellen, daß auch Gott einen Moment des Wankelmuts und des Zweifels hatte und damals zu dem Schluß kam, daß man etwas korrigieren müsse, den Juden, deren Schicksal es ist, die Auserwählten und einzig Gerechten zu sein, etwas Linderung verschaffen müsse, da sonst zu befürchten sei, daß sie die Last nicht würden tragen können. Vielleicht hat Gott so gedacht, denn in einem bestimmten Moment begann er, an der jüdischen Geistesstärke zu zweifeln und zu befürchten, daß das ganze -246-
Konzept der Welt sich einfach nicht bewähren würde, weil die Juden von allem die Nase voll haben, auf Abwege geraten oder sich ganz einfach unter die anderen Menschen mischen würden. Versucht hatten sie das bereits, nicht nur einmal übrigens. Sie erinnern sich vielleicht an die Geschichte mit dem Kalb in der Wüste und an überhaupt all die schmerzhaften Unklarheiten, die verschiedene Juden im Laufe der Jahrhunderte plagten, Moses nicht ausgenommen. Daher denke ich, daß das sicherste Zeichen für das Zaudern Gottes die Ankunft Christi war, der, schon seit langem angekündigt, mit der Nachricht erschienen war, mit dieser schönen, erleichternden und freudigen Neuigkeit, daß jeder Grieche, jeder Skythe, jeder Maure seine Seele noch irgendwie werde retten können. Aber ich denke, daß sich Gott etwas zu spät besonnen hat, und deshalb erwies sich der Plan nicht als vollkommen überzeugend. Die große Ankunft hat nichts am Schicksal der Juden verbessert, im Gegenteil, denn zu dieser Zeit fingen die Menschen an, den Juden zusätzlich Gottesmord vorzuwerfen, was zuvor niemand getan hatte, nicht einmal der grausamste Assyrer oder Ägypter. In diesem Sinne kann ich Ihnen nur soviel sagen, daß ich jetzt alles als eine unverzeihliche Schuld Gottes auffasse. Im übrigen weiß ich bereits selbst nicht, was ich davon halten soll. Vielleicht wurde die Welt gerade so erdacht: als ein Abgrund des Leidens, der Sünde und des Blutvergießens, als ein Verlies der Qualen. Läßt sich das alles, was in unserer Erinnerung geblieben ist, anders erklären? Bestimmt übertreibe ich ein wenig, denn eigentlich ist nichts geblieben. Für mich ist das schrecklich und ungerecht. Aber ich habe manchmal den Eindruck, und träume auch davon, daß die Welt versucht, sich gerade durch einen Akt kollektiven Vergessens zu retten. Auf diese Weise gibt die Welt ihrem Fortbestand einen gewissen Sinn. Ich erwache dann mit Tränen in den Augen. Wie soll es also weitergehen? War es wirklich Gottes Wille, daß nichts mehr bleibt von diesem Leiden, daß die -247-
Vernichtung der Vernichtung stattfindet, der Tod des Todes? Für mich ist das unerträglich, ich erlebe eine zweite Vernichtung, ihre Wiederholung, die um so schrecklicher werden wird, da ich doch das unwiderrufliche Ende kenne und auch alles, was danach folgt; ich trage also nicht einmal diesen Hoffnungsschimmer in mir, wie er einst dem Menschen gegeben war, der an der Rampe stand oder an die nächste Hauswand gestellt wurde. Und so habe ich also jeden Tag das Gefühl, auf ratternden Gleisen, in einem dicht verschlossenen Waggon, bei einem Transport, auf der Rampe, bei der Selektion, in der Gaskammer zu sein. Aber andererseits, aus der Perspektive des Lebens, wenn ich so sagen darf, bin ich mir darüber im klaren, daß es nicht anders sein kann. Wäre das alles möglich, was rundum geschieht, wenn die Menschen sich fortwährend erinnern würden? Das wäre nicht möglich. Denn ein Mensch, der sich erinnert, kann keine Musik komponieren. Nicht einmal hören kann er sie, ohne sich schuldig zu fühlen. Angesichts der Erinnerung müßte alles Gewissensbisse hervorrufen. Sie bauen ein Haus, und das läßt Sie nicht schlafen, denn jedes Haus entsteht auf menschlicher Asche. Wenn Sie ein Paar Hosen verkaufen, ist es das gleiche. Ein Gefühl der Absurdität. Wer sollte diese Hose tragen? Derjenige, für den sie bestimmt war, ist gestorben, vernichtet worden. Ist vielleicht also das Vergessen der einzige Ausweg aus der Situation, in die die Welt vor Jahren hineingeraten ist? Vergessen, alles vergessen. Aber dann geschieht etwas Ungeheuerliches. Täglich töten wir aufs neue Menschen. Ich töte meinen Vater, meinen Onkel, meine Schulkameraden, meine Vorfahren, ich töte mich selbst. Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Wirklich, ich weiß nicht, was ich davon halten soll, wie ich mit Gott reden soll, auf welche Weise ich ihn überhaupt weiterhin – nach all dem, was er uns bereitet hat – in -248-
meinem Herzen ertragen soll...« »Es gibt doch einen Ausweg«, sagte Jan bedächtig. »Das kann man ausprobieren. Man muß sich so erinnern, daß man sich ein wenig erinnert, aber nicht total. Das heißt sich erinnern, aber dennoch nicht daran denken, daß es im Gedächtnis gespeichert ist. Eher sogar denken, daß alles vergessen worden ist, und dennoch wissen, irgendwo unter der Haut, irgendwo im Hinterkopf, daß es weiterhin im Gedächtnis existiert. Für immer. Das ist meine ständige Übung seit vielen Jahren. Eine Art Wachtraum. Denn ich lebe, das unterliegt keinem Zweifel. Dagegen sollte es mir nicht erlaubt sein, zu leben mit all dem, was in meinem Gedächtnis existiert. Also, wenn ich lebe, heißt das, daß ich vergessen habe. Aber dennoch erinnere ich mich...« »Ja«, unterbrach ihn Joël Weiss. »Aber das ist wirklich nicht machbar. Ich lebe bereits überhaupt nicht mehr, ich tue nur so vor mir und vor allen anderen. In Wirklichkeit bin ich vor langer Zeit gestorben. Und ich sage Ihnen voller Bitterkeit, daß, wenn ich so tue, als ob ich lebe, dann nur aus Angst. Denn in dem Moment, wenn solche wie wir nicht mehr da sind, kann alles passieren. Wenn der letzte Zeuge unter die Erde gekommen ist, gelangen die Menschen zu dem ermunternden Schluß, daß das alles nicht geschehen ist. Hitler ist erfunden. Stalin ist erfunden. Zyklon B ist erfunden. Der Gulag ist erfunden. Die Krematorien sind erfunden. Die Vernichtung ist erfunden. Von wem, was meinen Sie? Natürlich von den Juden, die mit dieser Legende ein schmutziges Geschäft machen wollten.«
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ch sage Ihnen, das Ganze kann nicht mehr lange so weitergehen«, meinte Edek Laski. »Was kann nicht mehr lange so weitergehen?« fragte Dr. Skowronek. Die beiden saßen bequem auf einem Sofa im Metternichsaal, wo gepflegtes, bernsteinfarbenes Halbdunkel von Sattheit und Erwartung herrschte. Laski rauchte eine Pall-Mall, inhalierte tief und genüßlich und stieß den Rauch in die Luft, wobei er seine schmalen trägen Lippen aufwarf. »Das kann nicht mehr lange so weitergehen«, sagte er und schlug mit dem Arm einen sanften Bogen, als wollte er damit den Metternichsaal, das Hotel, den Park, die Hügel der Umgebung, hinter denen die Eisenbahnlinie verlief, und vielleicht sogar die ganze Welt erfassen. »Ich bin erfahren genug«, sagte er, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, »um zu wissen, daß, wenn es zu gut läuft, ein solcher Zustand nicht lange anhält. Schlecht, natürlich. Schlecht ist es im Leben immer und überall. Aber wenn es gut wird, dann muß man sehr aufpassen und alle Anzeichen berücksichtigen. Die deuten darauf hin, daß es nicht mehr lange so weitergeht.« »Ich verstehe Ihren Pessimismus nicht«, versuchte Dr. Skowronek zu widersprechen. »Gerade jemand wie Sie sollte anders auf diese Welt blicken. Schließlich, lieber Herr Laski, sind Sie dem Tod schon einige Male von der Schippe gesprungen, verschiedenen Höllen entkommen und nach alldem -250-
in einem so eleganten Saal gelandet, rauchen Pall-Mall, obwohl der Arzt Ihnen das Rauchen entschieden verboten hat, schauen sich elegante Damen an, die vielleicht nichts unter dem Rock tragen, und sagen dann, daß das Ganze nicht mehr lange so weitergeht. Ich begreife einen solchen Standpunkt nicht.« »Das kann nicht mehr lange so weitergehen«, wiederholte Laski. »Ich denke nicht an das Hotel, auch nicht an die Unterwäsche, die Sie freundlicherweise erwähnt haben, wofür ich Ihnen dankbar bin. Im übrigen glaube ich das überhaupt nicht. Das sind sehr elegante Damen, sie tragen geschmackvolle Unterwäsche von guter Qualität, wenn Sie wissen, was ich meine... Und die Pall-Mall sind für mich nichts Neues. Ich habe sie gleich nach dem Krieg schon geraucht. Die Päckchen kamen damals aus dem Westen nach Polen, jeder rauchte amerikanische Zigaretten und fraß Schweizer Käse mit großen Löchern. Man mußte allerdings etwas aufpassen, denn die Sowjets dachten, wer solche Zigaretten raucht, ist ein Spion, oder zumindest ein Anhänger von General Eisenhower, und das hat man damals nicht gern gesehen. Ich wurde sogar zweimal wegen dieser Zigaretten verhaftet, aber ich hatte Wodka bei mir und konnte mich freikaufen. Ich sage jedoch, daß all das, was es heute auf der Welt gibt, nicht mehr lange anhält, denn die Menschen mögen es nicht, wenn es gut läuft. Sie tun so, als wären sie schrecklich zufrieden, demonstrieren sogar lautstark ihre Freude, aber in Wirklichkeit knirschen sie vor Wut mit den Zähnen. Denn sie wollen ständig, daß es noch besser wird, weil sie kein Maß kennen. Natürlich taucht dann sofort ein Hitler oder ein Lenin auf, je nach Bedarf... Schauen Sie sich diesen Saal an. Kann das noch lange so weitergehen? So viele hübsche Frauen, und keiner will sie vögeln. Soviel Cognac, und keiner trinkt ihn. So viele weiche Sessel, und keiner wärmt sich den Hintern darin. Sagen Sie selbst, ist das auf die Dauer möglich? Die Leute können es nicht ertragen, daß der eine alles hat und der andere gar nichts.« -251-
»Aber lieber Herr Laski«, rief Dr. Skowronek. »Darauf beruht doch das Ganze, daß gegenwärtig fast alle fast alles haben.« »Genau«, erwiderte Laski und zog an der Zigarette. »Das Wort ›fast‹ klingt wie der Schrei von einem Kerl, dem man die Kehle durchschneidet. Bleiben Sie ganz ruhig, Herr Doktor. Die schönen Frauen, die zur Schlankheitskur hierherkommen, können an alle möglichen Märchen glauben, aber Sie sollten doch nicht so leichtgläubig sein. Immerzu höre ich, daß die Welt hervorragend eingerichtet ist, weil Wohlstand herrscht. Bald werden die Computer alles für uns machen, wir selbst werden nur noch hübsche Mädchen vögeln, Cognac trinken und PallMall rauchen. Scheiß Wahrheit, sag ich Ihnen. Wenn der Mensch das hat, was er hat, will er sofort noch mehr. Als ich ein kleiner Junge war, ging es mir überhaupt nicht schlecht, meine Mutter kaufte mir Brezeln und Zuckerwatte am Stiel; ich lief in schönen Sandalen herum und konnte tun, was mir gefiel. Ich erinnere mich, daß ich einen Kameraden namens Sachs hatte, Marianek Sachs, so ein kleiner häßlicher Jude, wissen Sie... Sein Vater war Kürschner. Und dieser Marianek Sachs hatte immer fünf Groschen mehr in der Hosentasche. Ich kaufte mir Zuckerwatte, und er kaufte sich Zuckerwatte, aber immer hatte er noch diese fünf Groschen in der Hosentasche, die ich nicht mehr hatte. Sie glauben gar nicht, Herr Doktor, wie ich diesen Sachs gehaßt habe. Ich wünschte ihm die Schwindsucht an den Hals. Ich wünschte ihm alles Schlechte. Nicht einmal heute schäme ich mich deswegen, obwohl ich es sollte, und gestehe schweren Herzens, daß ich, als sie Sachs ins Ghetto brachten, eine riesige Erleichterung empfand, obwohl ich hätte leiden und Mitgefühl zeigen müssen. Und deshalb bin ich mir vollkommen bewußt, daß das Ganze nicht mehr lange so weitergeht. Jeden Tag hören wir, daß die Welt hervorragend eingerichtet sei, daß es keinerlei Bedrohung gebe, daß es morgen noch besser werde als heute, obwohl es heute schon wunderbar ist. Das erinnert mich an diese Typen vom kommunistischen wirtschaftlichen -252-
Fortschritt, die sagten, man müsse die erprobte Zuverlässigkeit der Produkte vervollkommnen. Aber in dem, was sie damals sagten, steckte noch ein gewisser Sinn, denn alles fiel auseinander, und jedes ihrer Worte war eine Lüge. Leider hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert. Schalten Sie doch mal den Fernseher ein, Herr Doktor... Und was sehen wir da? Wir sehen, daß wir alle glücklich sind. Und wer nicht glücklich ist, muß es sofort werden, denn wenn er es nicht ist, bekommt er eins in die Fresse. Ich bin gespannt, wann jemand auf dieser perfekten Welt auf die Reklameidee verfällt, daß das beste Waschmittel das aus jüdischer Asche sei... Also sagen Sie mir nicht, daß das Ganze noch lange so weitergeht. Sie wissen das übrigens sehr gut. Sonst hätten Sie nicht so radikal Ihre Lebensweise geändert.« »Was wissen Sie schon von meiner Lebensweise!« rief Dr. Skowronek mit gekünstelter Empörung. »Ich war Arzt, bin Arzt und werde als Arzt sterben. Nichts ändert sich.« »Nun ja«, sagte Laski. »Die schlimmsten sind diejenigen, denen es so schwer fällt, sich zu der traurigen Wahrheit zu bekennen, daß das Leben sie enttäuscht hat, und immer so tun, als sei alles in bester Ordnung.« »Ich höre das ungern«, sagte der Doktor. »Ich fühle mich unwohl. Wenn der Mensch sich einem bestimmten Alter nähert, dann hat er vielleicht schon das Recht, an dem zu zweifeln, was ihm bis jetzt ganz natürlich schien.« Plötzlich lag in seinen Worten Heftigkeit und vielleicht sogar Zorn. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich habe überhaupt nicht auf eine Karriere verzichtet. Falls nötig, bin ich sogar zu einem kleinen Plagiat bereit, vielleicht zu einer kleinen Denunziation. Aber anders als früher, bin ich jüngst zu der Überzeugung gelangt, daß sorgfältige Arbeit und reifliche Überlegung die beste Garantie für Erfolg sind. Um dahin zu gelangen, mußte ich einige Male straucheln. Mir vielleicht sogar einen Strick um den Hals legen, auf einen Hocker steigen und -253-
hinunterspringen. Aber es stellte sich heraus, daß damals eine kräftige Krankenschwester in der Nähe war. Im übrigen bin ich ihr heute dankbar. Nun gut. Ich weiß schon, daß die Welt sehr laut ist, aber der Schrei ist nicht zu hören. Man muß sein Gehör schon mächtig anstrengen, um den Hilferuf von gegenüber zu hören. Sie haben recht. In der Form wird es nicht mehr lange so weitergehen. Ich habe einen jüngeren Bruder, der ein Handelsunternehmen führt. Er schläft täglich fünf Stunden, ernährt sich von Geflügel, Papier und Chemikalien, und wenn er schließlich nach Hause kommt, erkennt er seine eigenen Kinder nicht mehr. Einmal hab ich ihn dazu gedrängt, mit mir einen kleinen Spaziergang zu machen. Als er im Park unter seinen Füßen ein Ahornblatt erblickte, brach er vor Begeisterung in Tränen aus. Das muß ihn wohl geschmerzt haben. – Glauben Sie an Gott, lieber Herr Laski?« »Was für eine Frage!« rief Edek Laski so laut, daß eine Dame im Metternichsaal von ihrem Sessel aufsprang, fast bereit, die Flucht zu ergreifen. »Bin ich nicht ein alter polnischer Romantiker? Wie könnte ich nicht an Gott glauben?!« »Wir wollen mal nicht übertreiben«, sagte Dr. Skowronek. »Ich kenne Romantiker, die älter sind als Sie, aber dennoch nicht an ihn glauben.« »Nicht zu fassen!« rief Laski in einem schmerzlichen Ton. »Nun, nicht nur Sie«, erwiderte Dr. Skowronek und kehrte sofort zu seinem vorhergehenden Thema zurück, als würde ihn tief in seinem Innersten etwas plagen. »Stellen Sie sich vor, daß ich heute weniger Freude und Vergnügen empfinde als noch vor ein paar Jahren, obwohl wir damals unfrei waren und die Kommunisten uns fast die Luft zum Atmen genommen haben, und heute baden wir in der Demokratie wie einst russische Huren in Champagner. Auch ich spüre das Prickeln auf der Haut. Ich sage Ihnen, daß alles ungesagt bleibt, und das ist das Schlimmste. Wenn man solche Worte fände, aber auch nur solche Gedanken, die heute das ausdrücken könnten, was in -254-
meinem Leben soviel Schmerz bereitet hat, dann wäre ich schon gerettet. Vielleicht nicht vollkommen, aber doch ein wenig wäre ich gerettet.« In dem Augenblick, als Dr. Skowronek das sagte, betraten zwei Männer, die sofort die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zogen, den Metternichsaal. Neugierig drehten die Damen ihnen ihre ondulierten Köpfe zu; diese wurden dank dem Shampoo Zwei in einem oder wash and go, das in den Friseursalons auf dem ganzen Globus eine Revolution ausgelöst hat, so hervorragend in Form gehalten. Die Männer, die in den Saal kamen, zeichneten sich jedoch nicht gerade durch besonderen Charme und Eleganz aus, sondern eher durch ihr ungewöhnliches Äußeres. Sie trugen weite schwarze ziemlich abgewetzte Lederjacken ohne Taschen, die in der Taille mit Lederriemen zusammengezogen waren. Die Riemen waren unordentlich gebunden wie Wäscheleinen aus einer Zeit, von der die Damen im Metternichsaal nicht einmal eine Vorstellung hatten. Die Männer trugen Schirmmützen aus Wachstuch, die abgewetzt und stark mit Staub bedeckt waren, als seien die beiden Männer vom Kutschbock einer altmodischen Postkutsche heruntergestiegen oder hätten sich gerade aus den Ruinen eines zusammengestürzten Gebäudes herausgewühlt. Beide waren sehr kräftig gebaut, hochgewachsen, braungebrannt; beide hatten einen Schnurrbart, und auf den Wangen standen Stoppeln. Der eine von ihnen verbarg in seinen Augen Zorn und jüdischen Schmerz, was Edek Laski sofort bemerkte, was ihn aber überhaupt nicht wunderte, da er der einzige Mensch im Metternichsaal war, der die Neuankömmlinge erkannt hatte und sie insgeheim mit warmherzigen Worten der Freundschaft, des Mitgefühls, der Zuneigung und der Trauer begrüßte. Die Männer gingen langsam durch den Saal, in ein leises, längeres Gespräch vertieft. Die Damen warfen ihnen mit den Augen ein Lebewohl zu. Bei einigen Damen entstanden geheime -255-
Sehnsüchte und Wünsche, wofür sie sich hätten schämen müssen, wenn sie diese Gedanken offen und laut geäußert hätten, denn das waren etwas seltsame und etwas unheimliche Sehnsüchte. Sie flossen unter ihren wash and go-Frisuren hinunter zum Hals, dann zum Dekolleté, umspülten die Brust mit einer warmen Welle, krochen über den Bauch, preßten sich schließlich zwischen die Schenkel, wo sie ein süßes Zittern begrüßte. Edek Laski sagte leise, mit einer inneren frommen Andacht: »Ich wußte, daß sie einst zurückkehren würden. Wenn sie bei uns blieben, dann wäre noch nicht alles verloren.« »Was sind das für Typen?« fragte Dr. Skowronek. Aber Edek antwortete nicht. Er ließ den Kopf auf die Brust fallen und erstarrte zu einer Statue, so daß Dr. Skowronek erschrak und Edek am Ellbogen zog. »Was ist los, mein Lieber!« rief er. »Ich wäre beruhigter, wenn ich Ihren Blutdruck messen könnte.« »Nicht nötig«, erwiderte Edek Laski leise. »Das ist nur ein Moment der Rührung.« Dann sagte er nachdenklich, in einem ungewöhnlich sanften und warmherzigen Ton, als rede er mit einem Kind oder mit einer Nonne: »Manchmal kommt es im Leben vor, daß man ruhig die Straße im eigenen Heimatort entlanggeht. Man ist diese Straße schon Hunderte von Malen gegangen. Man sollte meinen, daß man hier jeden Stein kennt. Aber plötzlich, eines Tages, zu einer Stunde, die keine Uhr anzeigt, entdeckt man in der Mauer eines alten Mietshauses eine kleine verschlossene Tür. Und nur man selbst weiß mit absoluter Sicherheit, daß, wenn man diese Tür öffnet und den Weg betritt, den man dort sieht, das ganze bisherige Leben hinter einem liegen wird. Und es wird kein Zurück geben. Aber dafür ist keine geheime Tür notwendig. Denn vielleicht ist hier, unter den Menschen in diesem Saal, ein Zugang zu einem tieferen Sinn. Was meinen Sie, Herr Doktor?« -256-
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s wurde Spargel mit Sauce hollandaise serviert. Die venezianischen Fenster waren zum Park hin offen. Üppiges Grün erlaubte es, sich an der schönen Umgebung zu freuen. Der fast wolkenlose, aber dennoch verfinsterte Himmel – als wäre ihm plötzlich die klare blaue Farbe abhanden gekommen – breitete sich über Bad Kranach aus. Die Sonne stand hoch, es war nach ein Uhr nachmittags. Dem Anschein nach ging es wie gewöhnlich zu, das heißt gesittet und kultiviert, aber dennoch waren an diesem Tag, schon vom frühen Morgen an, alle in einer merkwürdig abwartenden und vielleicht auch unruhigen Stimmung. Es herrschte drückende Hitze, was unnatürlich war für diese Gegend und diese Jahreszeit, denn nach Bad Kranach kam man gewöhnlich, um sich an diesem bezaubernden Ort mit seinem milden Klima zu erholen. Alle wußten freilich bereits, daß in einiger Entfernung ein Feuer ausgebrochen war, das für diverse Unannehmlichkeiten und sogar Störungen verantwortlich war. Die Luft war schlecht, für einige Personen geradezu unerträglich. Über den Kiefernwipfeln auf den sanften Hügeln rund um den See zogen Rauchwolken. Die Hotelgäste fingen an, sich über die Probleme mit den Telefonverbindungen zu beklagen, was in einem so renommierten Haus wie dem Astoria geradezu absurd schien. Graham Wilson III. hielt es sogar für notwendig, sich bei der Hoteldirektion zu beschweren, da in der Nacht seine E-mail-Verbindung nach New York plötzlich unterbrochen worden war, was ernste Finanzprobleme im Fernen Osten nach sich ziehen konnte. Die Direktion versicherte Graham Wilson III., daß der entsprechende -257-
Techniker bereits verständigt sei und bald im Hotel eintreffen werde. Was nicht nur eine glatte Lüge, sondern auch zynisch war, da die Direktion des Astoria schon am frühen Morgen festgestellt hatte, daß das Hotel von der Außenwelt abgeschnitten war. Die Herren von der Direktion wußten natürlich viel mehr über die dramatische Lage. Es bestand für sie kein Zweifel, daß sich etwas Außergewöhnliches anbahnte, da sie bereits seit einigen Stunden große Schwierigkeiten hatten, über die hauseigenen Telefone eine Verbindung zu bekommen, und nur der jüngste Manager, der am schlanksten und am gelenkigsten war, konnte sich mit der Außenwelt verständigen, da nur er die schmale und tückische Treppe zum Dach des Gebäudes hinaufklettern konnte, von wo er Gespräche mit der Polizei und mit der Feuerwehr von Bad Kranach führte. Die anderen Direktoren waren aufgrund ihrer übermäßigen Körperfülle und ihrer langjährigen Gewöhnung an eine sitzende und sorgenfreie Lebensweise zur Einsamkeit in den Sesseln ihrer Büros verurteilt. Die Nachrichten, die der jüngste Direktor von seinem riskanten Abenteuer auf dem Dach des Hauses mitbrachte, stimmten die übrigen Herren nicht gerade optimistisch. Ganz im Gegenteil, immer stärker waren sie sich darüber im klaren, daß das Hotel von Bad Kranach unwiderruflich isoliert war und sie sich deshalb alle zusammen mit dem Personal und den Gästen des Astoria ausschließlich auf ihre eigenen Kräfte verlassen mußten. Die Herren von der Direktion waren kluge Leute mit viel Erfahrung, nicht nur im Hotelbereich. Dem Generaldirektor, der schon viele Höhen und Tiefen hinter sich hatte, war sehr wohl bewußt, daß die einzig mögliche Reaktion auf diese Ereignisse nur Tatenlosigkeit – verbunden mit einem Gebet – sein konnte. Die anderen Herren von der Direktion gaben sich noch immer Illusionen hin, insbesondere der jüngste von ihnen, was um so merkwürdiger war, da er ja Zugang zu detaillierten -258-
Informationen hatte und deshalb als erster die Hoffnung hätte verlieren müssen. Alle waren sich natürlich darüber im klaren, daß sie sogar unter den schwierigsten Bedingungen den Hotelgästen gegenüber keinerlei Hilflosigkeit und Nervosität zeigen durften. Sie verhielten sich wie der Kapitän auf einem Schiff, der angesichts einer Katastrophe noch nach dem Senden des SOSSignals den auf dem Oberdeck umherspazierenden Passagieren versichert, daß zum Abendessen Hummer und Lammkoteletts serviert würden. So logen die Direktoren, wobei sie die Ruhe und einen stets freundlichen Gesichtsausdruck bewahrten. Sie waren dabei bis zu einem gewissen Grad heldenhaft, aber auch unsäglich dumm, denn indem sie nicht über den dramatischen Zustand der Lage informierten, nahmen sie den anderen die Chance, sich zu retten, wenn nicht vor dem Brand, so doch wenigstens vor dem Fegefeuer, da sich in der obersten Etage des Astoria, in der vornehmsten Suite, wie gewöhnlich zu dieser Jahreszeit, Seine Eminenz, der Kardinal, zu einer Inhalationsund Badekur aufhielt. Mit dem Erscheinen einer großen Schar von Evakuierten aus den gefährdeten Gebieten verkomplizierte sich die Lage der Hoteldirektion und des Personals im Astoria zunehmend. Es war jedoch beschlossene Sache, daß weder eventuelle Maßnahmen der Behörden noch humanitäre Erwägungen, die in dieser Situation ganz natürlich waren, die Direktion dazu bewegen konnten, den Service für die Dauergäste zu reduzieren, vor allem für die berühmten Kunstsammler aus aller Welt. Am Vortag, als das Ganze noch nicht so dramatisch erschienen war, hatte diese Frage den Direktoren einiges Kopfzerbrechen bereitet. Man fand jedoch einen Kompromiß. Das bedeutete, daß alles wie bisher weitergehen konnte, und sowohl die Direktion als auch die Hotelgäste drückten Optimismus und Zufriedenheit aus. Zur Rechtfertigung der Direktion sei noch hinzugefügt, daß die Verständigung mit den Evakuierten keine einfache Sache -259-
war. Die Leute erwiesen sich als schwer zugänglich. Sie zeigten gegenüber der Direktion und dem ganzen Personal unangenehmes, hartnäckiges Schweigen. Das war bedauernswert, aber verständlich, denn viele hatten ihr Hab und Gut verloren, waren Flüchtlinge, Brandgeschädigte, vielleicht befanden sich auch Witwen und Waisen unter ihnen, aber auch Verletzte. Es war also nicht verwunderlich, daß sie eine gewisse Unzugänglichkeit an den Tag legten, verschlossen blieben in ihrem Unglück, das den Menschen immer eigen und auch ein wenig fremd werden läßt. Dennoch war die Direktion in der Lage, viele Probleme zu lösen. Die Neuankömmlinge nahmen mit einer irritierenden, aber entschlossenen Langsamkeit, ohne um Erlaubnis zu fragen, die unteren Etagen des Hotels ein, was zeigte, daß die Gäste des Astoria, auf die schonendste Art und auf das hervorragendste organisiert, in die oberen Etagen umquartiert worden waren, wo auf sie Zimmer warteten, die fast genauso aussahen wie diejenigen, die sie hatten verlassen müssen. Die Hotelgäste waren vermögend und distinguiert und hatten in der Kindheit eine gute Erziehung genossen, daher konnten sie die Schwierigkeiten locker und mit Humor nehmen. Sie waren überzeugt, daß sie, indem sie ohne Protest in die oberen Etagen umzogen, ein gutes Werk vollbrachten und auf diese Weise das schwere Schicksal der Brandgeschädigten erleichterten. Voller Mitgefühl dachten sie an die armen Menschen, an manche sogar voller Zartgefühl. Als Folge all dieser unvorhergesehenen und unangenehmen Umstände hatten nur einige wenige Personen das Hotel und Bad Kranach verlassen, was bissige Kommentare derjenigen hervorrief, die beschlossen hatten, den Ereignissen tapfer die Stirn zu bieten. Es wurde also Spargel mit Sauce hollandaise serviert, und fast die ganze Gesellschaft versammelte sich im Speisesaal. Die Damen waren zwanglos gekleidet, nicht so wie zum Diner, wo -260-
die eleganten Kleider, die perfekten Frisuren dominierten und der wertvolle, nur scheinbar sehr schlichte Schmuck – von dem Baron Kugler genau wußte, daß er ein Vermögen gekostet hatte – nicht nur einen Kunstkenner begeistern konnte. Während des Lunchs erschienen alle Damen jünger und sehr verführerisch, ausgenommen diejenigen, die sowieso jeglicher Reize beraubt wirkten. Es wurde also Spargel mit Sauce hollandaise serviert, dazu ein Chablis Premier Cru, gut gekühlt. Ein leichter Luftzug brachte die Kristallüster zum Klingen. Aber das, was normalerweise die Lunchzeit zu einem besonders angenehmen Intermezzo des Tages machte, erwies sich nun als überhaupt nicht angenehm. Deutlich zu hören war das Blätterrauschen an den Bäumen auf dem sanften Berghang, zu dem die offenen Fenster des Speisesaals gingen. Das Rauschen hatte einen metallischen und leicht knirschenden Klang, und aus der Ferne, hinter den Hügeln hervor, kam ein dumpfes, rollendes Echo. Die Leute waren eher schlecht gelaunt. Die Damen hatten zwar nach der entspannenden Liegekur im warmen Sonnenschein auf dem Rasen und auf der Terrasse das Gefühl, etwas für ihre Gesundheit getan zu haben, aber dennoch hatten viele von ihnen Kopfschmerzen. Einige Damen erschienen zum Lunch in leichten Kleidern, die sie über den Badeanzug gestreift hatten, und mit Baseballmützen, die auf den sorgfältig gekämmten Frisuren hübsch und pfiffig aussahen. Aber darunter traten leicht ermüdete Gesichter hervor. Die Herren zeigten ihren Charme und versuchten die Damen zu überzeugen, daß alles in bester Ordnung sei. Es waren gutsituierte Herren, die in großen Städten – in Villen oder eleganten Appartements – wohnten, mit Bankkonten und Kreditkarten, die immer ausreichend gedeckt waren; solche Herren, die nie mit einer Peitsche, einem Stock oder einer Metallstange geschlagen worden waren, nie so lange getreten, bis das Blut floß, nie beschimpft und nie gezwungen worden waren, die eigene Mutter der Folter auszuliefern, die nie -261-
Furcht empfunden hatten wegen all der Gemeinheiten, die sie sich seit langem selbst erlaubten, und die auch nie für ihre grausamen Fehltritte bestraft worden waren und folglich das Recht hatten, zu meinen, daß sie ohne weiteres der kommenden Herausforderung gewachsen seien. Jetzt im Speisesaal trugen die Herren helle, leichte Hosen, Sommerhemden und Sandalen an den bloßen Füßen. Sie hatten vor, erst gegen Abend im Metternich- und im Schwarzenbergsaal im dunklen Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte zu erscheinen, einige sogar im Smoking, um bei Kerzenlicht dem Abendessen eine besondere Note zu verleihen. Aber dafür war es bereits zu spät. Im Saal herrschte ein gedämpftes Stimmengewirr, jedoch etwas lauter als gewöhnlich, da man untereinander seine recht unklaren und rätselhaften Eindrücke vom Vormittag austauschte. Fürst Kyrill und Semjaschkin, die an einem Tisch bei der Terrassentür saßen, wo gewöhnlich um diese Tageszeit ein bernsteinfarbener, warmer Schatten lag, waren in ein hitziges Gespräch vertieft. Ihre Stimmen schienen eine merkwürdige Dichte und Temperatur zu haben, und jemand der damit nicht vertraut war, hätte meinen können, daß aus den Mündern der beiden Gesprächspartner nicht die Worte der melodischen russischen Sprache kamen, sondern zwischen ihren Lippen eine schäumende, glühende Lava des Zorns und der Verzweiflung hervorquoll. Und tatsächlich war es auch so. Als nämlich schließlich die Zeit der Entscheidung gekommen war, zeigte sich plötzlich, daß alles durcheinandergeraten war und Dr. Kovacs die Gründe für das entstandene Chaos nicht erklären konnte. Er gab nervöse und törichte Anweisungen, verlangte ab dem frühen Morgen die Schließung der Ausstellung in den Räumen des Hotels und das Verpacken aller wertvollen Gegenstände, was gegen die vorherigen Vereinbarungen war, genau wie im übrigen auch der -262-
zu früh sowie ganz und gar dilettantisch gelegte Brand. Aber noch am Vortag hatten Fürst Kyrill und Dr. Kovacs ein sehr genaues Szenario des Ablaufs festgelegt, um sicher zu sein, daß alles entsprechend vorbereitet war. Dr. Kovacs schien seiner Sache sicher zu sein wie nie zuvor. Er versicherte, daß die Einzelheiten des Plans termingerecht und mit großer Sorgfalt durchgeführt würden, und zwar so, daß keinerlei Verdacht aufkommen werde. Am Vormittag des vorherigen Tages also, bei drückender Sonnenhitze, hatte Dr. Kovacs – im silbergrauen Seidenanzug unter einem Sonnenschirm mit weiß-blauen Streifen sitzend – den Fürsten mit leiser und ruhiger Stimme überzeugt, daß es keinen Grund zur Beunruhigung gäbe. »Vertrauen Sie mir in der Endphase, Fürst«, sagte Dr. Kovacs, »ich weiß sehr wohl, was ich mache.« »Nichts ist sicher«, erwiderte Fürst Kyrill, gequält von einer düsteren Unruhe, deren Anwesenheit in seiner Seele er einerseits als Beweis für die plötzlich verratene Rechtschaffenheit nahm, andererseits aber auch als etwas Angenehmes und Erhebendes. »Unglaublich, wie die heutige Zeit die anständigen Menschen demoralisiert. Ich kann niemandem mehr vertrauen.« »Überall nur Lug und Trug«, sagte Dr. Kovacs höflich. »Was sagten Sie?!« Der Fürst brachte sein Erstaunen zum Ausdruck. »Ich bin skeptisch, was die Rechtschaffenheit betrifft«, erwiderte Dr. Kovacs. »Gerade deshalb wachsen die Kosten derart an, und die Inflation läßt sich nicht auf einem angemessenen Niveau halten.« »Was sagen Sie da?« fragte der Fürst nervös. »Ich sage nur, daß ich für Schmiergelder viel mehr ausgegeben habe als geplant. Das ist die einzige Schwierigkeit. Sie haben ja keine Ahnung, wie ausgekocht dieses Beamtenpack ist. Unsere Ausgaben gehen in die Hunderttausende.« »Jetzt also zeigt sich, daß es nicht einmal ein Geschäft wird«, -263-
seufzte Fürst Kyrill. »Ich fange an, alles zu bereuen.« »Aber wo denken Sie hin!« erwiderte Dr. Kovacs und lachte auf, wobei sich sein magerer Brustkorb heftig bewegte und genauso ruckartig erstarrte, als hätte Kovacs den letzten Atemzug getan. »Sie können ganz ruhig schlafen. Es ist immer noch ein hervorragendes Geschäft.« In dem Moment kam Semjaschkin auf die beiden zu. Er hatte eine nasse Badehose an, seine breiten Schultern und sein kräftiger Nacken glänzten vor Feuchtigkeit. Semjaschkin war gerade aus dem Swimmingpool gekommen und schüttelte sich wie ein Hund nach dem Regen; leise auf russisch fluchend, schaute er sich nach seinem Badetuch um, bis ihm einfiel, daß er es in seinem Zimmer gelassen hatte. Er fluchte erneut, warf zwei vorbeigehenden jungen Frauen in smaragdgrünen Badeanzügen ein sanftes Lächeln zu, dachte, daß er in besseren Zeiten beide bumsen und ihnen dann über den Kopf streicheln oder Fußtritte verpassen würde, bis das Blut spritzt. Dann fluchte er wieder – bereits zum dritten Mal – bei dem Gedanken an die Veränderung seines Schicksals, das in einen dunklen, geheimnisvollen Abgrund fiel, und er ging auf den Fürsten zu. »Das Wasser im Swimmingpool ist eiskalt«, sagte Semjaschkin zu dem Fürsten und zu Dr. Kovacs. »Ich wundere mich über Sie«, entgegnete Fürst Kyrill. »Daß Ihnen in einem solchen Augenblick der Kopf danach steht, schwimmen zu gehen...« Und gleichzeitig dachte er, daß der Tag wirklich außergewöhnlich sei und von jedem eine innere Veränderung verlange, die bei ihm bereits stattgefunden hatte – er war soweit, daß er Semjaschkin, vor dessen unbändiger Natur er sich immer so sehr gefürchtet hatte, eine Rüge erteilen konnte. Seit diesem Moment waren vierundzwanzig Stunden vergangen, und jetzt, als der Spargel mit Sauce hollandaise serviert wurde, saß Fürst Kyrill, in Cordhose und weißem -264-
Lacoste-Hemd, zusammen mit Semjaschkin an einem Tisch im Speisesaal, im bernsteinfarbenen Schatten und sagte mit einer merkwürdigen Verbissenheit und schmerzerfülltem Herzen: »Dilettantismus. Der Brand ist katastrophal schlecht geplant worden. Kovacs behauptet jetzt natürlich, er habe damit nichts zu tun, spricht von einer Verkettung unvorhersehbarer Umstände. Und zu so einem Mann hat Graham Wilson Vertrauen.« Semjaschkin erwiderte zornig: »Ich habe immer gesagt, daß man mit den Amerikanern keine Geschäfte machen darf! Und wenn es schon unvermeidlich ist, dann müssen sie wenigstens nach unserer Pfeife tanzen.« »Was verstehen Sie darunter?« fragte Fürst Kyrill, der plötzlich begriff, daß die Ausflüchte und die Nervosität der Partner aus Übersee ihn in eine merkwürdige und vielleicht bereits unvermeidliche Abhängigkeit von Semjaschkin drängten, vor der er sich schon seit langem fürchtete, bestimmt ab dem Moment, als sie sich vor drei Jahren unter seltsamen und für den Fürsten unangenehmen Umständen in Paris kennengelernt hatten. Er versuchte, die Erinnerung zu verdrängen, als sei die Angelegenheit damals nicht nur eine Sünde gewesen, sondern auch ein Beweis seiner Charakterschwäche, was er im übrigen für offensichtlich hielt. Um so miserabler ging es ihm jetzt. Sein phänomenales Gedächtnis hatte nur in Erinnerung behalten, daß es damals in Paris geregnet hatte. Die Straßen glänzten von der Feuchtigkeit, auf den Bürgersteigen des Boulevard St. Germain spiegelten sich die vom Nebel eingehüllten Neonreklamen der Firma Ted Lapidus, auf der anderen Straßenseite war die dunkle Kontur eines Gotteshauses zu sehen. Semjaschkin hatte damals zuvorkommend, aber auch etwas spöttisch gelächelt und dabei gesagt, daß es ihn freue, die ihm durch Fürst Kyrill übertragenen Pflichten eines Sekretärs und eines diskreten Bodyguards zu übernehmen, was sich angesichts der Gefahren, denen der Fürst -265-
neuerdings ausgesetzt sei, als notwendig erwiesen habe. Sie waren damals einige Schritte Schulter an Schulter nebeneinander gegangen, von der Tür des Restaurants bis zur Limousine, und der Fürst hatte, zum ersten Mal nach vielen Jahren, die erstaunliche Nähe dieses Menschen, seinen warmen und Sicherheit ausstrahlenden Körper gespürt, was er damals tief in seinem Herzen die Heiligkeit ihrer ethnischen Verbundenheit genannt hatte. Nie mehr später erlebte er eine solche Annäherung von Körper und Seele, wie sie ihn damals auf dem Bürgersteig des Boulevard St. Germain überwältigt hatte, während dieser Sekunden gleichmäßigen, pathetischen Marschschrittes zweier russischer Männer, von der Schwelle des Restaurants bis zu dem dunklen, innen leicht nach Whisky riechenden Wagen. Aber bereits im Wagen verlor Fürst Kyrill die vorherige fast spürbare Heiligkeit seiner ethnischen Verbundenheit mit Semjaschkin, da dieser sagte, er sei es nicht gewöhnt, im Gespräch Adelstitel zu verwenden, halte diese Angewohnheit für veraltet und prophezeie ihr keine Wiedergeburt in der schönen russischen Sprache. Fürst Kyrill müsse daher im Umgang mit ihm eine demokratischere Anrede, ganz einfach eine menschlichere, akzeptieren, so hatte Semjaschkin damals mit Nachdruck betont. Der Fürst widersprach nicht, da er von Natur aus ein sanfter Mensch und im übrigen in demokratischer Manier erzogen worden war, was jemand wie Semjaschkin, der durch ein System kommunistischer Wahnvorstellungen und Denkmuster von der Welt abgeschnitten gewesen war, nicht wissen konnte. Mit seinem wohlwollenden Einverständnis zu einem demokratischen Umgangston bei ihren gemeinsamen Gesprächen keimte jedoch im Herzen des Fürsten sogleich ein kleines Unkraut der Unruhe, der Unsicherheit, wenn nicht sogar der nackten Angst auf. Schon damals in dem Mercedes, der sie von St. Germain des Prés in Richtung Odéon und dann weiter zu -266-
dem schlechtbeleuchteten Hotel gebracht hatte, hatte Fürst Kyrill zum ersten Mal ein Gefühl der Angst vor Semjaschkin erlebt und sich Vorwürfe gemacht, sich überhaupt auf dessen Gesellschaft eingelassen zu haben. Damals hatte er genauso gedacht wie jetzt, als Spargel mit Sauce hollandaise serviert wurde, daß nämlich Semjaschkin eine verdächtige, rätselhafte Person mit einer dubiosen und bestimmt abstoßenden Vergangenheit sei. Aber gerade aus diesem Grund hatte Fürst Kyrill ihn vor Jahren angestellt, denn wenn Semjaschkin eine stille, zuvorkommende, bescheidene Person mit einer eindeutigen Vergangenheit gewesen wäre, hätte der Fürst ihn überhaupt nicht beachtet und ihn nicht als Sekretär beschäftigt. Denn schon damals hatte in ihm der schändliche Gedanke geschwelt, etwas Schreckliches und Niederträchtiges zu wagen, was ihm erlauben würde, wenigstens einige Tage eines solchen Nervenkitzels zu durchleben, woran Leute seiner Art und in seiner Lebenssituation nicht einmal im Traum dachten. Für den Fürsten war die Wahrung der Rechtschaffenheit und des Seelenfriedens kein schwieriges Unterfangen, und dafür hätte er keinen Typen vom Schlage eines Semjaschkin gebraucht. Er hatte also ziemlich lange nach einem wie ihm gesucht und ihn schließlich in einer Gruppe russischer Geschäftsleute aufgestöbert. Diese waren im Hôtel du Louvre abgestiegen, wo sie laut herumkrakeelten, mit Geld um sich warfen und ihre schönen Begleiterinnen – die auffallend teure, wenn auch nicht sehr geschmackvolle, telefonisch bei Dior, Armani und Versace bestellte Kleidung trugen – zur Schau stellten. Fürst Kyrill hatte also Semjaschkin damals in dieser zwielichtigen Gesellschaft aufgestöbert und ihn überredet, den Moskauer Bankier zu verlassen. Das hatte schon damals sein heimliches, aber immer stärker werdendes Verlangen nach einem Vergehen gestillt. Der Fürst, der von Natur aus ein gutmütiger und eher -267-
schwacher Mensch war, fühlte sich im Beisein von Semjaschkin nie frei, war in dessen Gegenwart stets gehemmt, vielleicht, weil er die für seinen Sekretär unangenehmen oder unsicheren Themen nicht berühren wollte, denn er spürte, daß es solche Themen gab und ihre Berührung in einem zufälligen Gespräch in Semjaschkin unheimliche Kräfte freisetzen konnte. Deshalb zog der Fürst ab dem Zeitpunkt, da Semjaschkin sein persönlicher Sekretär geworden war und nie von seiner Seite wich, eine größere Gesellschaft vor, denn nur unter Zeugen konnte er sich ungezwungen benehmen und sich von der Einengung befreien, die ihm die Anwesenheit Semjaschkins auferlegte. Der Fürst mied seinen Blick, war ungern mit ihm allein, und wenn es unumgänglich war, dann verkürzte er die gemeinsame Arbeitszeit auf das notwendige Minimum. Das Erscheinen von Dr. Kovacs hatte er seinerzeit mit Erleichterung aufgenommen. In Gegenwart von Dr. Kovacs wirkte sogar Semjaschkin recht sanft und unentschlossen. Wenn der Fürst an die beiden dachte, dann nicht ohne Neid und Bewunderung dafür, daß sie Halunken waren und zu jeder Schandtat bereit, von der er selbst nicht einmal zu träumen wagte. Er konnte sich auch des Gedankens nicht erwehren, daß die beiden einen tödlichen Haß aufeinander hatten, der jeden Augenblick aufflackern konnte. Darin täuschte er sich jedoch gewaltig, da Dr. Kovacs seinen ganzen Haß schon lange über Wilson ausgegossen hatte; und Semjaschkin war immerhin ein treuer Schüler der Leninschen Partei und hätte daher sogar ohne jegliches persönliche Engagement, dafür aber mit einem Gespür für die historische Mission, einem anderen die Kehle durchschneiden können. Jetzt bei Spargel mit Sauce hollandaise war Dr. Kovacs nicht anwesend. Er erwies sich als miserabler Partner, hatte einen unverzeihlichen Fehler begangen, der den vorzeitigen Ausbruch des Brandes verursacht hatte, schob aber dann die Verantwortung den Kräften der Natur zu, was der Fürst -268-
widerlich fand, da er der Meinung war, daß die Menschen ihre Fehler und Schandtaten nicht dem Herrgott in die Schuhe schieben sollten. Die von Kovacs engagierten Brandstifter, ausgewiesene Fachleute sozusagen, hatten das Feuer stümperhaft gelegt, an unpassender Stelle und zu unpassender Zeit, was natürlich den Erfolg des Unternehmens in Frage stellte. Und in dem Moment, wo es darauf ankam, Entschlossenheit und Geistesstärke zu zeigen, war Kovacs nicht anwesend und lieferte den Fürsten den gemeinsten Anschuldigungen Semjaschkins aus. Am schlimmsten war jedoch der Gedanke, daß er selbst, Kyrill, nun eine wichtige Entscheidung treffen mußte. Vielleicht wäre das gar nicht so unangenehm gewesen, wenn Semjaschkin nicht gewesen wäre. Plötzlich gelangte der Fürst zu der Überzeugung, daß dieser Mensch statt einer Stütze für ihn zu einer Last geworden war. Gleichzeitig erkannte er, daß er sich gegenüber Semjaschkin nicht als Schwächling zeigen durfte. Es war mehr als nur der Wille, das große Unternehmen zu Ende zu führen. Ihn überkam das Gefühl, daß er auf seinen Schultern etwas in der Art einer historischen Verantwortung trug. Ich bin nicht irgendwer, dachte er. Mit einer entschiedenen Handbewegung rief er den Kellner herbei, und als dieser zu ihm an den Tisch kam, verlangte er, ausgelassene Butter statt Sauce hollandaise zu servieren. Das löste jedoch nicht das Dilemma, vor dem er infolge von Kovacs' Abwesenheit stand. Im übrigen lehnte Semjaschkin mit Verachtung die ausgelassene Butter ab und blieb bei der Sauce hollandaise. Für ihn war all dieses Feinschmeckerzeug, mit dem er sich in Bad Kranach – aber auch schon früher in den großen Städten Europas – abgeben mußte, schwer zu ertragen. Er hatte nämlich einen einfachen Gaumen, den er der Revolution verdankte. Was Dr. Kovacs betraf, so gab dieser sich – entgegen den Vermutungen des Fürsten – ganz und gar nicht geschlagen und -269-
zeigte keinerlei Schwäche angesichts der Schwierigkeiten. Er stand nur vor einem Problem. Während der Fürst und Semjaschkin sich im Speisesaal stärkten, überdachte Kovacs, eingeschlossen in seinem Zimmer, die vertrackte Situation. Die Leute, die er beauftragt hatte, Feuer im Astoria zu legen, waren Fachleute der Spitzenklasse. Über viele Jahre waren sie für Regierungen bei der Einführung oder Stärkung demokratischer Strukturen in verschiedenen Teilen der Welt tätig gewesen. Sie agierten geschickt und anonym, wofür sie reichlich entlohnt und geachtet wurden. Es waren hervorragend geschulte und abgehärtete Männer, gut gebaut, mit einem angenehmen Äußeren und intelligent. Gewiß, es fehlte ihnen manchmal an Entschiedenheit und vielleicht auch an dem bißchen Verzweiflung, das das Handeln des armen Kameraden Westermann bestimmt hatte. Auch konnten sie in sich nicht die erhabenen ideologischen Beweggründe finden, von denen einst Semjaschkin erleuchtet gewesen war. Aber es waren Fachleute, die glaubten, daß die Demokratie trotz ihrer Schwäche besser sei als ihr Nichtvorhandensein, und dies machte sie zu einer besseren Sorte Menschen. Ihre Umgangsformen waren jedoch recht rauh, und nicht jeder konnte mit ihnen eine gemeinsame Sprache finden. So ein Fürst Kyrill beispielsweise wäre ihnen gegenüber hilflos gewesen, denn er konnte zwar das ungehobelte und rüde Benehmen Semjaschkins ertragen, betrachtete ihn aber als einen geistigen Krüppel, als ein Monstrum der Geschichte, und akzeptierte daher seinen deformierten Charakter mit dem ganzen Inventar der jüngsten Ereignisse. Diese Leute hingegen waren Kinder seiner eigenen Zivilisation und deshalb eine Erscheinung all dessen, was er für den höchsten Wert erachtete. Für Graham Wilson III. waren diese Leute überhaupt keine Partner, ihre Wege hätten sich nie kreuzen dürfen. Nur in Filmen tummeln sich solche Kerle auf dem gesellschaftlichen Parkett als gerissene, korrupte Bullen und unerschrockene Rambotypen und -270-
machen dunkle Geschäfte mit Senatoren. Im wirklichen Leben warten sie vor der Hintertür und bekommen Aufträge von Hausangestellten oder von drittrangigen Sekretären. In diesem Sinne stellte Dr. Kovacs eine Art Ausnahme dar, weil er Geld hatte und einflußreich war, aber dennoch seine geheimen Kontakte unterhielt. Dieser Mensch verkehrte in vornehmen Häusern genauso wie in Spelunken, man konnte ihn im Foyer eines teuren Hotels antreffen, ihn aber auch in der Gosse finden, er reiste mit dem Privatjet und schlief auch mal in Bahnhofsunterführungen. Niemand wußte, wer Kovacs wirklich war, woher er kam, was er in der Vergangenheit gemacht hatte, wie er zu Geld gekommen war, wo er gewohnt und wie er geheißen hatte. Er war eine rätselhafte Gestalt. Bestimmt deshalb erweckte er Neugier und Furcht. In der vergangenen Nacht waren die von ihm für die Arbeit angeheuerten Leute im Hotel erschienen. Es war zwei Uhr in der Frühe, das Hotel schlief, die Träume flatterten unter seinem Dach wie Tauben auf den Fenstervorsprüngen von Jugendstilhäusern, während im Zimmer von Dr. Kovacs die Stehlampe anging und einen sanften Lichtkegel auf einen Streifen des Sofas, auf die Sessellehne und auf die Muster im Teppich warf. Als Dr. Kovacs die Tür öffnete, trug er einen kirschroten Seidenschlafanzug. Vor ihm auf der Schwelle standen drei Männer. Sie waren breitschultrig, hochgewachsen, alle im gleichen Alter, an der Grenze zwischen endender Jugend und beginnendem Lebensabend. Als sie das Zimmer betreten und sorgfältig die Tür hinter sich geschlossen hatten, sagte der Boss der Gruppe: »Herr Dr. Lang, halten Sie uns nicht zum Narren, denn uns kann niemand zum Narren halten.« »Ich halte Sie nicht zum Narren«, erwiderte Kovacs, der diesen Leuten gegenüber als Dr. Lang auftrat. »Es ist zwar noch dunkle Nacht, aber wir können ein Glas Whisky zusammen trinken.« -271-
»Wir haben nicht die Absicht, Whisky zu trinken!« sagte der Boss kühl. »Wir sind gekommen, um einige unangenehme Fragen zu klären. Was ist los? Wenn Sie sich schon entschlossen haben, mit uns ein Geschäft zu machen, dann halten Sie sich bitte an die Abmachungen.« »Ich halte mich ja daran«, erwiderte ›Dr. Lang‹. »Also, was ist los?« »Ein Brand«, sagte der Boss. »Die ganze Umgebung steht in Flammen!« »Zu früh«, sagte ›Dr. Lang‹ ruhig, aber mit einem gewissen Vorwurf. »Wer hat Ihnen befohlen, den Brand zu legen ohne ein eindeutiges Zeichen?« »Reden Sie kein dummes Zeug, und versuchen Sie nicht, uns zum Narren zu halten«, sagte der Boss mit Nachdruck. »Niemand von uns hat diesen Hühnerstall in Brand gesteckt.« »Nun, dann ist es ja gut«, erwiderte ›Dr. Lang‹ gelassen. »Ich sage lediglich, daß es von allen Seiten brennt. Ein verdammt großes Feuer, Herr Lang.« »Unsinn«, widersprach ›Dr. Lang‹ ärgerlich. In diesem Moment ging einer der Männer zur Balkontür und zog den Vorhang zurück. Dr. Kovacs kam auch näher, schob mit einer entschiedenen, kräftigen Bewegung seiner einen Hand den Vorhang beiseite, stieß die Tür auf und ging auf den Balkon. Ein Brandgeruch durchdrang die Luft. Über den Hügeln zuckte ein roter Feuerball am dunklen Himmel. »Wer hat das gemacht?!« rief Kovacs. »Genau das wollten wir Sie fragen«, erwiderte der Boss. »Wir sind verantwortungsbewußte Leute. Von unserer Seite aus waren die Vorbereitungen beendet. Wir haben auf Ihr Zeichen gewartet! Es war vereinbart, daß wir heute nacht diesen Müllhaufen von den Lagerräumen im rechten Hinterhaus her in Brand setzen. Wir waren bereit! Mittlerweile kommt aber das -272-
Feuer aus der Stadt auf uns zu.« »Was soll das!« schrie Dr. Kovacs, da er plötzlich begriff, daß ihm etwas Entscheidendes außer Kontrolle geraten war. »Schreien Sie nicht herum«, erwiderte der Boss kühl. »Sie sehen doch, was das ist.« »Das ist ein Mißverständnis«, sagte ›Dr. Lang‹ etwas ruhiger. »Ich habe mich nicht für ein Mißverständnis mieten lassen, Herr Dr. Lang. So oder so muß die Rechnung beglichen werden.« »Es geht jetzt nicht ums Geld«, sagte Dr. Kovacs, »sondern um den Erfolg der ganzen Operation.« Er kehrte vom Balkon ins Zimmer zurück, schloß sorgfältig die Tür, setzte sich in den Sessel und bat mit einer Handbewegung die drei Herren, sich auch zu setzen. »Sind Sie in den Lagerräumen mit allem bereit?« fragte er. Die drei Männer ließen sich in den Sesseln nieder. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, sagte der Boss: »Ich weiß, was Sie überlegen, Herr Lang. Aber das läßt sich jetzt nicht mehr machen.« »Weshalb?« »Alles voller Menschen, rund um das Hotel. Wie bei einer Belagerung...« »Die Brandgeschädigten der Stadt«, sagte der zweite Mann. »Vielleicht suchen sie hier Hilfe.« In seiner Stimme war ein Anflug von Mitgefühl. »Treiben sich viele von ihnen herum?« fragte ›Dr. Lang‹. »Ich sage Ihnen, da wird nichts draus. Dutzende von Leuten rund um das Hotel. Besonders bei den Hintergebäuden, denn dorthin werden sie bestimmt von Ordnungskräften gelenkt. Wenn es überhaupt Ordnungskräfte gibt. Ich habe ein komplettes Chaos festgestellt. Ich kann Ihnen keinerlei -273-
Erfolgsgarantie geben. Das Ganze ist zu riskant.« »Ich sterbe vor Lachen«, sagte ›Dr. Lang‹ spöttisch. »Wenn Sie nicht die Hintergebäude in Brand stecken, wofür sollte ich Sie dann bezahlen?« »Herr Lang, das ist nicht möglich! Haben Sie die Güte, sich nach unten zu bemühen. Schauen Sie, was dort vor sich geht.« »Ich bin nicht daran interessiert«, erwiderte ›Dr. Lang‹ kühl. »Ich nehme nicht zur Kenntnis, daß...« »Was nehmen Sie nicht zur Kenntnis, Herr Lang?!« sagte der Boss, und seine Augen drückten kühle Ungeduld aus. »Schauen Sie doch aus dem Fenster. Nehmen Sie das etwa nicht zur Kenntnis?« »Wir sprechen von unterschiedlichen Dingen«, erwiderte ›Dr. Lang‹. »Brand ist Brand, und Arbeit ist Arbeit. Ich habe nicht versprochen, daß es bei den Lagerräumen still und leer sein wird. Soll ich etwa die Polizei mieten, daß sie ausschließlich für Sie den Betrieb vor dem Hotel regelt?! Mir ist klar, daß der Zufall Ihre Pläne durchkreuzt hat. In der Stadt ist ein Brand. Die Leute ziehen umher. Einige sind sogar hier aufgetaucht, in der Nähe des Hotels. Das ändert jedoch nicht im geringsten meine Pläne. Vielleicht ist es sogar besser, daß die Natur uns zu Hilfe gekommen ist und wir in Bad Kranach ein so schönes Feuer haben.« »Herr Lang«, sagte der Boss. »Auf so einfache Weise läßt sich das nicht mehr organisieren. Ihr ganzer Plan muß geändert werden. Vertrauen Sie uns. Wir sind Profis. Das Feuer aus der Stadt kommt direkt auf das Hauptgebäude des Hotels zu. Das sind die letzten Stunden, wo es noch irgendeinen Zugang zum Astoria gibt. Ehrlich gesagt, ich verstehe diese Typen von der Direktion nicht. Und die lokalen Behörden schon gar nicht. Am Morgen, spätestens am Nachmittag, werden wir komplett von der Außenwelt abgeschnitten sein. Die Hintergebäude sind die einzige Rettung für alle im Hotel. Wenn eine Evakuierung -274-
erforderlich wird, und ich versichere Ihnen, daß das unausweichlich ist, dann bleibt nur dieser eine Weg: über die Hintergebäude. Stecken Sie nicht Ihren eigenen Arsch in Brand, Herr Lang.« »Einverstanden«, sagte Dr. Kovacs ruhiger. Er dachte angestrengt nach und war einer brauchbaren Lösung schon sehr nahe. »Tja... Nun gut.« »Was heißt hier gut«, sagte der Boss etwas angriffslustig und zündete sich eine Zigarette an. »Was denken Sie sich schon wieder aus, Herr Lang?« »Die Sache ist einfach«, erwiderte ›Dr. Lang‹. »Sie sagen, daß das Hauptgebäude im Laufe des heutigen Tages in Rauch aufgehen wird. Und wir müssen die Evakuierung über die Hintergebäude vornehmen. Habe ich Sie recht verstanden?« »Ich bin kein Feuerwehrfachmann«, sagte der Boss nach einer kurzen Überlegung. »Eher das Gegenteil. Aber alles deutet darauf hin.« »Das bedeutet«, sagte ›Dr. Lang‹ ruhig, »daß es keine Chance gibt, die hier befindliche Sammlung zu retten, wenn sie am jetzigen Ort bleibt. Man muß deshalb die Objekte durch die Hintergebäude evakuieren. Das bringt bestimmt auch nichts, aber es bleibt wenigstens eine schöne Geste. Eine unglückliche Fügung hat entschieden, daß all die wertvollen Kunstgegenstände vernichtet werden sollen. Zu Schutt und Asche werden. So kann man das dann auffassen. Wir müssen jedoch Mut und Entschlossenheit zeigen bei der Rettung des Kulturgutes von Generationen. Nebenbei bemerkt – wenn Sie nicht unbedingt rauchen müssen, so machen Sie doch bitte Ihre Zigarette aus. Ich kann den Qualm nicht ausstehen.« »Nur mit der Ruhe«, sagte der Boss, drückte aber die Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch aus. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Es ist schon so, daß wir die Natur nicht beherrschen«, sagte -275-
Dr. Kovacs. »Das Vordergebäude des Astoria fällt den unerbittlichen Flammen zum Opfer.« »Nun ja«, sagte der Boss. »Das heißt, wir lassen die Hintergebäude in Ruhe.« »Einverstanden«, erwiderte Dr. Kovacs. »Aber so schnell wie nur irgend möglich bringen wir die Sammlung in die Hintergebäude. Im Schweiße unseres Angesichts bringen wir sie hinüber, beseelt von dem Wunsch, zu retten, was zu retten ist. Was halten Sie davon? Haben Sie damit gerechnet, daß Sie sich gerade hier, unter diesen dramatischen Umständen, Verdienste für die Kulturgeschichte erwerben würden?« »Herr Lang, sagen Sie nichts mehr, sonst kommen mir die Tränen«, entgegnete der Boss. »Und was ist mit der Kohle?« »Alles bleibt so, wie vereinbart«, erwiderte ›Dr. Lang‹. »Bei Tagesanbruch beginnen wir mit dem Verpacken und dem mühevollen Transport der Bestände in die Hintergebäude. Wir sind Leute, die unter Lebensgefahr versuchen, dieses wertvolle Gut zu retten.« »Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen«, sagte der Boss und griff wieder nach einer Zigarette, »daß mit Ihnen selbst so ein einfaches Geschäft wie das Legen von Feuer zu einem Problem und zu einer Überraschung werden könnte.« Ab dem frühen Morgen begann unter dem wachsamen Auge von Dr. Kovacs das Verpacken der Sammelobjekte. Und bereits am Nachmittag brachten die Möbelpacker riesige Kisten, vollgestopft mit menschlicher Kreativität, in die Hintergebäude. Die Herren, die normalerweise für Brandstiftung, Beseitigung und totale Vernichtung zuständig waren, überwachten nun diskret, aber aufmerksam, die Arbeit der Möbelpacker. Diese verrichteten jedoch ihre Arbeit unter großer Mühe. Die Treppen waren zwar breit, der Läufer war zuvor zusammengerollt worden, damit die Möbelpacker nicht an den Treppenstufen -276-
hängenblieben, aber Dr. Kovacs verlangte besondere Sorgfalt und Vorsicht. Ständig rief er, mal mit sanftem Zureden, mal wieder heftig und mit erhobener Stimme, die Möbelpacker sollten Vorsicht walten lassen, keine der Kisten beschädigen und auch die Geländer und Wände des Treppenhauses, an denen riesige und teure Gobelins mit historischen Szenen hingen, schonen. Die Männer taten ihr Möglichstes, um die Kisten und das Treppenhaus nicht zu beschädigen. Über ihren Köpfen klirrte das Gehänge des Kristalleuchters. Mit lose gebundener VersaceKrawatte stand Dr. Kovacs auf dem Treppenabsatz wie ein gewöhnlicher, sich abrackernder Chef einer Möbelspedition, wie etwa einst Wesoły oder gar Tennenbaum. Bereits etwas verschwitzt und nicht mehr ganz frisch stand er da, auf dem elegant gestalteten Treppenaufgang zwischen Foyer und erstem Stock, von der einen Seite durch die kräftige, helle Sonne über dem Astoria angestrahlt, als sei nichts geschehen, und von der anderen Seite schon angeleuchtet vom Feuerschein, und versuchte eine gewisse Ordnung und Harmonie in die kantigen Bewegungen der Möbelpacker zu bringen. Die waren davon nicht begeistert, da sie etwas von ihrer Arbeit verstanden und bemüht waren, sie aufs beste auszuführen. Aber mit jedem Schritt – was diesen Leuten merkwürdig vorkam – wuchs der Widerstand der Materie, als ob sich in den Kisten aufrührerische Kreaturen tummelten, als wanderten die Kisten gegen ihren Willen und gegen ihren Wunsch in die Hintergebäude des Hotels. Mit der ersten ging es nicht schlecht, aber schon die zweite blieb unten am Geländer hängen und hinterließ einen tiefen Kratzer. Die dritte bereitete keine Probleme, aber die vierte fiel fast aus den Tragseilen, was den unten stehenden Fürsten Kyrill in Angst und Schrecken versetzte. Der Fürst reckte den Hals. Das war unbequem, aber er ertrug alles mit Würde, denn er spürte die Last der Verantwortung für -277-
die wertvollen Gegenstände, die nun durch die Hotelhalle zum Durchgang zu den Hintergebäuden des Hotels transportiert wurden. Dort standen diejenigen, die normalerweise für Aufträge anderer Art zuständig waren und denen nun diese ehrenvolle Aufgabe zuteil geworden war. Der Boss der Brandstifter wurde jedoch immer unruhiger. Er war ein erfahrener Mann, der die Situation nüchtern einschätzte. Ihm war klar, daß jede verlorene Minute viele Menschenleben kosten konnte. Nie war er ein großer Kunstkenner gewesen, eher hatten ihn schöne Frauen, schnelle Autos und Bodybuilding interessiert, aber vielleicht gerade deshalb hatte er einen recht gesunden Menschenverstand, der ein Leben höher einordnete als Kisten, die vollgestopft waren mit – wie es schien – geistiger Nahrung von unschätzbarem Wert. Er war also der Meinung, daß man sich nicht mit den Kunstwerken abgeben, sondern sofort mit der Evakuierung der Menschen beginnen solle. Er gab seinem Stellvertreter entsprechende Anweisungen, während er selbst ging, um sich mit der Direktion zu besprechen. Er befand sich in der großen Hotelhalle, voll von Brandgeschädigten, die sich dort versammelt hatten. In dieser anonymen Masse erblickte er Jan, von dem er glaubte, er könne sich bei seinem Unternehmen als hilfreich erweisen. Er ging auf ihn zu und sagte: »Sie sind hier, wie ich denke, sehr wichtig. Vielleicht sogar der Wichtigste. Eine beschissene Situation. Wir sollten die Direktoren des Hotels suchen. Die müssen etwas wissen. Wir haben wenig Zeit. Aber für Hilfe ist es nie zu spät.« »Das klingt aufmunternd«, sagte Jan mit mildem Spott. »Sehr schade, daß ich Ihnen erst jetzt begegne. Jemand wie Sie wäre unter anderen Umständen in meinem Leben Gold wert gewesen. Aber besser spät als nie, wie das Sprichwort sagt.« »Man hat mich jederzeit mieten können«, erwiderte der Boss mit einem deutlichen Vorwurf in der Stimme. »Es hätte genügt, mich anzurufen.« -278-
»Es hatte doch keiner diese Telefonnummer«, entgegnete Jan. »Nun gut, suchen wir die Herren von der Direktion.« Aber es war nicht leicht, sie zu finden, nicht einmal für so einen erfahrenen Spürhund und Jäger in einer Person wie den Boss der Brandstifter. Sie gingen in den obersten Stock, wo die Administration des Hotels untergebracht war. Die Räume schienen leer, aber der Boss war sensibel wie ein Seismograph, kein Geräusch entging seinem Ohr, kein Schatten verbarg sich vor seinem Auge. Als er auf der Schwelle zu den stillen und verlassenen Büroräumen stand, blickte er angespannt um sich, nachdem er in die Stille gehorcht hatte. Es gab keine Geräusche, kein unterdrücktes Atmen, nicht einmal das Ticken einer Uhr, da die Zeiten tickender Uhren vorbei waren. Jetzt zeigten sie lautlos und höflich die Zeit an, um sich niemandem mit ihrer unangenehmen Nachricht von der Vergänglichkeit aufzudrängen. Die beiden betraten das Büro und entdeckten dort, daß die Schubladen ausgeleert und die Dokumente unordentlich über den Teppich verstreut waren. »Diese Kerle haben sich aus dem Staub gemacht«, sagte der Boss. »Die Kohle haben sie mitgenommen, und alles andere haben sie dem Feuer überlassen.« »Bestimmt haben Sie recht«, entgegnete Jan ruhig. »Aber es fällt schwer, sie zu verurteilen. Sie hatten umfassende Informationen. So ist es jetzt wohl immer, meinen Sie nicht?« »Woran denken Sie?« fragte der Boss. »Ist das eine Tatsache, daß besser informierte Leute gewöhnlich Herr der Situation sind?« »Genau!« »Das ist nichts Neues. Das hat es immer schon gegeben. Nur heute ist es so, daß ein großer Teil der Leute nur wenig informiert ist, und ein kleiner Teil ist besser informiert. Früher war keiner informiert.« -279-
»Das haben Sie geschickt auf den Punkt gebracht«, sagte Jan. »Und ich kann Ihnen nur zustimmen. Aber vielleicht war es in der Vergangenheit gerechter und auf jeden Fall etwas anständiger, meinen Sie nicht?« Der andere lachte bitter. »Das kann ich schlecht beurteilen«, erwiderte er, »denn ich war immer bemüht, zu den Besserinformierten zu gehören, und bin immer gut damit gefahren.« Er näherte sich dem Fenster. Jan sah nun seine breiten Schultern, den Rücken und den Hinterkopf auf dem kräftigen, muskulösen Nacken. Sein Körper verdeckte fast das ganze Fenster. Er war ein sehr gut gebauter Mann; von seiner ganzen Gestalt ging Kraft sowie die ungewöhnliche Überzeugung aus, daß man die uns umgebende Welt und zweifellos bereits den einzelnen Menschen zu Unterwürfigkeit zwingen könne. Jan sagte: »Niemand hört uns jetzt, sagen Sie mir also ganz offen, wie oft Sie jemanden zur Gockelstellung gezwungen haben – die Methode, mit der Semjaschkin so erfolgreich war.« Der Boss drehte sich ruckartig um, auf seinem Gesicht zeichnete sich Zorn ab. »Was soll das Geschwätz!« entgegnete er laut. »Ich bin ein Kämpfer für die Freiheit!« »Daran habe ich nie gezweifelt«, sagte Jan sehr ruhig. »Und dennoch habe ich Ihnen die Frage gestellt, wie oft Sie jemanden zur Gockelstellung gezwungen haben.« »Sie erhalten von mir keine Antwort«, sagte der Boss nun in einem ruhigeren Ton. »Überlegen Sie es sich selbst. Aber eines sage ich Ihnen. Die Welt könnte besser sein. Dann wäre auch ich ein anderer.« »Einverstanden«, sagte Jan. »Wir wollen uns darum bemühen.« Beide standen nun nahe am Fenster und hörten die entfernten -280-
Laute, das Rauschen der Blätter draußen, das Stimmengewirr der Leute irgendwo unten, aufgeregte Schritte im Treppenhaus. Durch die Fenster sahen sie die mit Wald bedeckten Hügel, zwischen den Bäumen bewegten sich ziemlich gemächlich und ohne ein deutliches Ziel die Silhouetten von Leuten. Der Himmel war dunkel, Rauchwolken zogen über die Kiefernwipfel hinweg. »Mit einer Ausnahme«, sagte der Boss leise. »Mit Ausnahme von heute«, erwiderte Jan. Der Boss schaute nachdenklich aus dem Fenster und schwieg. Nach einer Weile nickte er leicht. »Ja«, sagte er fast flüsternd, als habe er Angst, jemanden in der Nähe aufzuwecken. »Denn das war schon beschlossene Sache. Und das verstehe ich nicht. Wozu das alles? Was hat das für einen Sinn? Was möchten Sie gern beweisen? Und wem eigentlich? Ich verstehe es nicht.« »Ich verspüre einen krankhaften Zwang«, erwiderte Jan flüsternd. »Vielleicht ist meine Unreife daran schuld, vielleicht aber auch die Welt. Alles, was ich im Gedächtnis habe, ist schrecklich und gleichzeitig beschämend. Der Mensch kann sich von der Scham über das Geschehene nicht befreien. Aber dennoch... Das schlimmste ist die Überzeugung, daß man das Geschehene nie mehr rückgängig machen kann. So wird es immer sein, bis ans Ende der Welt. Alle Zeugen werden sterben, die anderen werden vergessen, und es werden diejenigen bleiben, die mit ganzem Eifer leugnen werden, und dennoch wird das, was geschehen ist, für immer bleiben. Da ist nichts zu machen. Für Sie ist es jedoch leichter, denn Sie verschwinden, ich aber werde mit dem ganzen Gepäck auf dem Rücken bleiben. Gott allein weiß, wie lange ich diese Last noch tragen muß.« »Vielleicht ist das die Strafe für alles, was Sie uns hier beschert haben«, sagte der Boss leise und recht sanft. »Ich bin -281-
kein Philosoph, auch kein Künstler oder Wissenschaftler, sondern ein gewöhnlicher Söldner, aber ich vermute, daß doch einer die moralische Verantwortung für diesen Brand übernehmen muß, für die Opfer, für die Angst und die Leiden all dieser Menschen ringsum, sogar für die Niedertracht der Hotelmanager, die sich aus dem Staub gemacht und alles dem Schicksal und den Flammen überlassen haben. Nun sagen Sie selbst, ist an dem, was ich sage, nicht etwas Wahres dran?« »Doch«, erwiderte Jan. Plötzlich erschien zwischen den Kiefern ein Pferd im Galopp. Sogar hier, in dem weit abgelegenen Büro hörten sie das schwere Getrappel der Hufe auf dem weichen Rasen. Das Pferd lief unter größter Anstrengung, seine Nüstern waren mit Schaum bedeckt. »Was ist hier los?!« rief der Boss, der aus dem Land geistiger Höhenflüge sofort auf den Boden der Realität zurückkehrte, denn er war hervorragend geschult, und keinerlei moralische Dispute konnten seine Wachsamkeit schwächen. »Ich wußte nicht, daß es in Bad Kranach so schwere, riesige Pferde gibt. Das ist kein Rennpferd, da bin ich sicher...« »Das ist ein Zugpferd«, sagte Jan. »Ein Ackergaul, nun ja...«, erwiderte der Boss. »Ist das noch möglich in der heutigen Zeit?!« »Das ist ein jüdisches Pferd«, sagte Jan. »Sie sind wohl verrückt geworden!« entgegnete der Boss. »Es kommt von weit her«, sagte Jan.
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19
B
eim Dessert wurde es plötzlich ganz still in dem großen Speisesaal, und nur wer sehr genau auf das Knistern und Rascheln sowie die Atemzüge der dort versammelten Personen gelauscht hätte, wäre in der Lage gewesen, aus dieser Stille die gemessenen Schritte zweier Leute herauszuhören. Es waren Kassner und Halberstamm, die von ihrem Tisch aufgestanden waren und sich auf die weit offene Terrassentür zubewegten. Da alle Anwesenden ein merkwürdiges Erstaunen gepackt hatte, war Stille eingetreten, und sogar Edek Laski, der nie allgemeinen Gewohnheiten folgte und immer seinen eigenen Weg ging, unterbrach mitten im Satz seine an Dr. Skowronek gerichteten Ausführungen und erstarrte in einer komischen Pose, wobei er einen Löffel mit Himbeeren in Mundhöhe hielt. Was die Himbeeren betraf, so hatte Kassner seine bereits ganz aufgegessen, während Halberstamm kaum die Hälfte seines Nachtischs gegessen hatte, als sein Kamerad Kassner sorgfältig die Serviette zusammenlegte, sie mit der Hand auf dem Tisch glattstrich und sagte: »Wir gehen jetzt.« »Laß mich zu Ende essen«, erwiderte Halberstamm, aber Kassner zog die Augenbrauen zusammen, und sein verzerrter Mund drückte Unwillen aus. »Gehen wir«, wiederholte er. »Es ist neunzehn Uhr null null. So wurde es vereinbart. Zuerst werden wir tun, was getan werden muß, und dann kannst du meinetwegen bis Mitternacht deine Himbeeren löffeln, wenn wir bis dahin noch nicht alle verbrannt sind.« Kassner war rangmäßig höher, aber selbst wenn es nicht so -283-
gewesen wäre, so war er dennoch die stärkere Persönlichkeit, war immer dominierend und zeigte sich immer als der Größere, obwohl er und Halberstamm in Wirklichkeit gleich groß waren, beide über einen Meter neunzig. Zwei hochgewachsene, gutaussehende Männer, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, schön geformten Schädeln, solchen, wie sie überhaupt nie existiert hatten, denn die Menschen waren einst gewöhnlicher und einander ähnlicher, sogar Fürsten hatten die gleichen runden oder platten Schädel wie ihre Untertanen, sogar ein Khan hatte den gleichen Schädel wie der letzte seiner Reiter, aber später, in den darauf folgenden Zeiten, in denen nämlich, die in Vergessenheit geraten sind im Gegensatz zu den vorangegangenen Zeiten, die im Gedächtnis geblieben sind, haben sich die Schädel sehr verändert. Die einen wurden schöner, die anderen hingegen häßlicher, und zwar so häßlich, daß man sie mit Spezialgeräten vermessen mußte, um herauszufinden, ob ihre Besitzer überhaupt noch zur Gattung Mensch gehörten, und wenn ja, dann zu welcher Rasse, zur fortschrittlichen oder zur rückständigen, zur edlen oder zur niederen. Noch später hing in der Schädelfrage viel von der Art der Ernährung, den ausgeübten Sportarten und den verschiedenen Lebensstilen ab, aber auch vom Friseur. In den Schädeln selbst, an ihrem Inhalt also, hat sich nicht viel verändert. Kassner und Halberstamm hatten in diesen nachfolgenden und im Gedächtnis behaltenen Zeiten Schädel von besonderem Reiz; sie bestachen durch ihre Form und ihren Umfang und waren mit einer goldfarbenen Kopfhaut überzogen, die von hellem, apart frisiertem Haar bedeckt war, was dem Reiz dieser gesunden, kräftigen und für verantwortungsvolle Aufgaben geschaffenen Männer entsprach, die in ihrem Denken jedoch nicht komplizierter waren als nötig, um dem Leben eine so schöne Form zu verleihen wie dem Haar auf ihren Köpfen. Obwohl Halberstamm, was seinen Schädel betraf, überhaupt nicht hinter seinem Kameraden zurückstand, hegte er dennoch -284-
stets Zweifel und zeigte Unentschlossenheit angesichts der zu erfüllenden Aufgaben. Er stellte oft Fragen, und obwohl sie sich nicht auf den Sinn und Zweck der Aufgabe bezogen, brachten sie dennoch eine gewisse Unordnung in den allgemeinen Handlungsablauf. So auch jetzt. Anstatt sich vom Tisch zu erheben und sich wie sein besserer Kamerad Kassner aufzurichten und die Aufgabe zu übernehmen, ließ sich Halberstamm von etwas zurückhalten. Die Aufmerksamkeit, die er den Himbeeren schenkte, war nur ein Vorwand, denn in Wirklichkeit gab Halberstamm, der wußte, worum es ging, seinem Unwillen, an der Aktion teilzunehmen, Ausdruck. Kassner hatte das sehr gut begriffen, daher auch sein verzerrter Mund und die bissige Bemerkung wegen der Himbeeren. Die beiden waren also aufgestanden, worauf Stille eintrat. Das war kein gewöhnliches Aufstehen gewesen. Und es hatte auch nicht die banale Tatsache bedeutet, daß man mit dem Lunch fertig war und nun zu anderen Beschäftigungen überging. Das war kein alltägliches, natürliches, zurückhaltendes, höfliches Aufstehen, sondern ein entschiedenes, steifes, grobes, soldatisches, ein Härte und Stärke demonstrierendes, ein solches also, das allen Anwesenden im Gedächtnis bleiben sollte. Kassner war völlig klar, daß er und Halberstamm nun die Aufmerksamkeit der im Saal versammelten Hotelgäste auf sich lenkten. Einerseits bereitete ihm das Vergnügen, andererseits empfand er jedoch Unbehagen, da er der Meinung war, daß er die ihm auferlegten Verpflichtungen diskret erfüllen müsse, ohne viel Aufhebens und überflüssige Kommentare. Diese Verpflichtungen lockten ihn gemeinhin in die Nacht, in Sackgassen, in die Dunkelheit und verlangten ein gedämpftes Flüstern. Diesmal jedoch nicht. Das, was jetzt geschehen sollte, verlangte Licht, Zeugenschaft und allgemeines Erinnern. Nun gingen die beiden in Richtung Terrasse. Ihre Bewegungen waren ruhig, bei Kassner vielleicht etwas einstudiert, bei Halberstamm eher gewöhnlich. Sein -285-
dunkelblauer Sakko spannte an den Schultern, was ihn eher einem Boxer als einem Golfspieler ähnlich machte. Sie schoben sich schweigend zwischen den Tischen durch, wie große Raubtiere in dem Augenblick vor dem entscheidenden Sprung auf das ausgewählte Opfer. Und so war es auch. Der Mann, auf den sie mit untrüglicher Sicherheit zusteuerten, wußte mit der gleichen untrüglichen Sicherheit davon. Es war Joël Weiss. Nachdem sie sich ihm genähert hatten, neigte Kassner leicht den Kopf und sagte leise, aber entschieden: »Herr Weiss, bitte kommen Sie mit.« »Bin ich verhaftet?« fragte Joël Weiss, obwohl er bestens Bescheid wußte. »Ja«, erwiderte Kassner, »Sie sind verhaftet. Und ich bitte, keinen Widerstand zu leisten, da wir sonst Gewalt anwenden müssen.« »Ich leiste keinen Widerstand«, sagte Weiss ruhig. »Ich bin müde und seit langem auf alles vorbereitet.« In dem Moment empfand Kassner ein Gefühl der Enttäuschung und der Niedergeschlagenheit. Er dachte, daß die Verhaftung nicht so verlief, wie sie sollte, und gewissermaßen die Harmonie störte. Halberstamm hingegen dachte, daß Joël Weiss die Würde eines freien Menschen verrate, der doch irgendwie seine bedrohte Freiheit verteidigen müsse. Aber er war sich darüber im klaren, daß er diese Zweifel nicht laut äußern konnte. Deshalb schwieg er, wütend auf Joël Weiss. Dieser erhob sich von seinem Stuhl. Dann sagte Kassner laut und deutlich sowie mit einem gewissen Ernst, der sich tief in das Gedächtnis aller versammelten Personen einprägte: »Sie sind verhaftet. Alles, was Sie sagen, kann ab sofort gegen Sie verwendet werden.« -286-
Im Saal herrschte immer noch gespannte Ruhe. Alle wußten, was geschah, und waren sehr aufgeregt, aber nur einige waren peinlich berührt. Schließlich kommen solche Zwischenfälle täglich vor, gewöhnlich in den Abendstunden, im Halbdunkel eines Wohn- oder Hotelzimmers, wo nur das Flimmern des Fernsehbildschirms den Raum erleuchtet und sich mit einem silbrigen Schatten auf den Gesichtern der Menschen niederläßt. Die drei Männer gingen zwischen den Tischen durch, auf die in die Hotelhalle führende Tür zu. Vorneweg Kassner, hochgewachsen, schlank, aufrecht, mit blassem Gesicht und gekennzeichnet durch eine finstere Eleganz. Ihm folgte Joël Weiss, der von Natur aus ein kleiner, schmächtiger Mann war und jetzt wie ein Junge, ja sogar wie ein Kleinkind wirkte, besonders, da er vollkommen kahl war; dadurch kam das Unförmige und Häßliche seines Kopfes zum Vorschein, wie das manchmal bei Neugeborenen der Fall ist, die unter großen Schwierigkeiten geboren werden. Einen solchen Eindruck machte Joël Weiss gerade, und jeder in dem vom Schein der Abendsonne erfüllten Speisesaal sah, daß der Mensch Joël Weiss irgendwie unfertig, irgendwie verkorkst und verpatzt war. Dies war vorher so nicht sichtbar gewesen, aber jetzt fiel es auf. Hinter Joël Weiss ging Halberstamm. Er war mehr als einen Kopf größer, bewegte sich mit gemäßigten, ruhigen und konzentrierten Schritten, während Weiss kleine Schritte machte, unsicher einen Fuß vor den anderen setzte, als verliere er den Boden unter den Füßen und fürchte umzukippen. Das alles stach jedem unvoreingenommenen Beobachter ins Auge, und jeder konnte bemerken, daß diese Leute nichts miteinander gemein hatten, daß sie völlig verschiedenen Welten angehörten. Während die beiden hochgewachsenen, gutgebauten Männer, die sich sicher und ruhig bewegten, eine Garantie für Beständigkeit und vielleicht sogar eine Weiterentwicklung der Geschichte darstellten, stellte Joël Weiss bereits den Untergang, -287-
den Zerfall, die Degenerierung und eigentlich das vollkommene Nichts dar. Der zwiespältige Eindruck, den die im Speisesaal Versammelten hatten, verstärkte sich noch, als beim Zusammentreffen der drei Männer Westermann hinausging und in der Tür, die zur Hotelhalle führte, stehenblieb. Aber in dem Moment zerstörte Edek Laski die allgemeine Erwartung. Er erhob sich von seinem Tisch und schrie: »Was, zum Teufel, geht hier vor?! Was wollt ihr schon wieder von Joël Weiss?« Dieser Schrei machte auf Kassner und Halberstamm keinen Eindruck. Sie führten Weiss ab, ohne zu zögern, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Die im Saal Anwesenden hingegen hatten das merkwürdige Empfinden, Edek Laski habe sich mit diesem Schrei etwas Profanes erlaubt, das Ritual einer heiligen Handlung gestört und auch den kategorischen Imperativ, dem alle unterlagen, in Frage gestellt. Mit der Autorität seiner Position reagierte Westermann jedoch auf den Schrei Edek Laskis. »Ich bitte, Ruhe zu bewahren«, sagte er entschieden und deutlich. Er hatte die kräftige Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, daß man ihm gehorchte. Edek Laski gehorchte jedoch grundsätzlich nie jemandem, deshalb brüllte er auch jetzt wutentbrannt: »Sie können mich mal mit Ihrer Ruhe! Was wollen Sie von Herrn Weiss? Ich kenne diesen Mann. Wenn nur alle so anständig wären wie er!« »Alles wird sich zu gegebener Zeit aufklären«, erwiderte Westermann gelassen. »So redet man nicht mit mir!« schrie Edek Laski. Dr. Skowronek jedoch erblaßte, da er das Schlimmste befürchtete. Er versuchte, Edek Laski zu beruhigen, zog ihn sogar am Ärmel, aber ohne Erfolg. Edek Laski schrie: »Bei Gott, ein zweites Mal werde ich das nicht einfach so hinnehmen!« -288-
In dem Augenblick fühlte sich Westermann verpflichtet, diesen unangenehmen Zwischenfall zu beenden. Er ging zu Edek Laski. »Bewahren Sie Ruhe«, sagte er leise. »Es gibt sehr ernst zu nehmende Verdachtsmomente, und alles muß geklärt werden.« »Was für Verdachtsmomente?« fragte Laski etwas diskreter, da die ganze Sache plötzlich eine Wende zu nehmen schien: Jetzt sprachen zwei wichtige Männer miteinander. In dem Moment beugte sich Dr. Skowronek zu Edek und sagte flüsternd, als habe er Angst, daß es Westermann hören könnte: »Edek, ich bitte Sie, mischen Sie sich da nicht ein.« »Das ist unmöglich, verdammt noch mal!« schrie Edek Laski. Aber Dr. Skowronek ließ nicht locker. »Ich bitte Sie darum. Und ich beschwöre Sie um Polens willen! Halten Sie sich da raus. Sie selbst haben so oft schon wiederholt, daß die Geschichte nie enden werde. Also geben wir uns doch wenigstens dieses eine Mal eine Chance...« »Ausgeschlossen«, entgegnete Edek Laski, aber schon etwas gezwungen, denn das Argument von Dr. Skowronek erschien ihm plötzlich ganz vernünftig. Er fühlte sich müde und spürte auch die Aussichtslosigkeit. »Der Wald steht in Flammen«, sagte Westermann mit gedämpfter Stimme und neigte vertraulich den Kopf. »Immer mehr Brände.« »Ich weiß«, erwiderte Laski. »Aber was kann Joël Weiss damit zu tun haben?« »Sie scherzen wohl!« entgegnete Westermann und schaute Edek Laski tief und aufmerksam in die Augen. Dieser räusperte sich verwundert. »Sie scherzen wohl!« wiederholte Westermann mit Nachdruck. »Worum geht es?« fragte Laski ganz leise und spürte plötzlich eine Art Verbundenheit, da beide jetzt die Last des Wissens und -289-
der Verantwortung auf ihren Schultern trugen. »Sie werden mir doch wohl nicht sagen, daß Joël Weiss etwas mit dem Waldbrand zu tun hat?!« »Ich kann gar nichts dazu sagen, denn die Untersuchung ist in vollem Gange, und ich bin zur Diskretion verpflichtet. Aber ich möchte nur soviel hinzufügen, daß der Waldbrand nicht alles ist«, sagte Westermann. »Was heißt das?« fragte Edek Laski im Flüsterton. Seine Unruhe wurde immer größer. »Jemand hat in der ganzen Gegend alle Brunnen vergiftet«, sagte Westermann sehr leise, als fürchte er, ein anderer könne diese vertrauliche Mitteilung hören. »Was ist davon zu halten? Wer kann die Brunnen vergiftet haben? Sogar in den abgelegensten Dörfern, wo lauter gottesfürchtige Menschen leben, wurden alle Kreuze verbrannt, die Glocken sind verstummt, und das Weihwasser verwandelt sich in Blut. Nie dagewesene Stürme werfen die Bäume um und reißen die Strohdächer von Haus und Hof. An den Scheidewegen heulen die Wölfe. Das Vieh auf den Bauernhöfen fällt um. Wer widersetzt sich fortwährend den göttlichen Fügungen und dem Lauf der Dinge dieser Welt? Wer hat daran ein Interesse, Herr Laski? Hören Sie, was ich sage! Die Zeit ist gekommen, um eure verfaulten humanitären, demokratischen und beschissenen Wahnvorstellungen in einem Winkel eines mitfühlenden Herzens aufzubewahren, das Maul zu halten, still auf seinem Arsch zu sitzen und die Empfehlungen derjenigen auszuführen, die begreifen, was los ist...« Edek Laski war blaß und konnte kein Wort herausbringen, obwohl er wußte und von ganzem Herzen spürte, daß, wenn er jetzt schwieg, er dann immer schweigen würde. Und dennoch schwieg er. Aber vielleicht geschah dies nicht wegen seiner Schwäche und Ohnmacht, sondern deshalb, weil plötzlich die Fensterscheiben des großen Speisesaals zerbarsten und von der Terrasse, den Blumenbeeten, den Hügeln, den Kiefernwäldern -290-
und dem See eine mächtige Feuersäule zwischen die Tische einbrach. Die beunruhigende Stimme der Flammen war zu hören, als rase zwischen den Leuten ein riesiger brennender Busch hindurch oder als ziehe in der Luft über ihren Köpfen ein großer Feuerwagen dahin. Man hörte einen allgemeinen Schrei der Angst, des Schmerzes und der Verzweiflung. Die Leute sprangen von ihren Plätzen auf und versuchten zu fliehen. Einen Augenblick lang verhielten sich die Herren den Damen gegenüber noch zuvorkommend, aber das dauerte nur kurz und war eine schreckliche Illusion, denn mehr als einer bezahlte auf der Stelle seinen unpassenden Charme mit dem Leben. Jetzt ging es nur noch um Leben oder Sterben. Jeder wollte sich um jeden Preis retten, und keiner achtete auf seine Nächsten. Die faltenreichen, schweren und vor der Sonne schützenden Vorhänge an den riesigen venezianischen Fenstern wurden von dem Feuer ergriffen. Der heiße Luftzug warf sie mitten in den Saal. Wie Fackeln flogen sie über die Köpfe der flüchtenden Menschen hinweg. Mit Getöse und Gezische fielen sie in der Mitte des Speisesaals zu Boden, und von ihren Flammen wurden auch die Servietten, Tischtücher, Teppiche, Sockelleisten sowie die Kleider der Damen und die Anzüge der Herren erfaßt. Plötzlich erschütterte eine schreckliche Detonation das Gebäude. Bestimmt hatte das Feuer die Gasleitung erreicht. In dem Augenblick, nach der Explosion, trat eine scheinbare und trügerische Stille ein, dann war nur noch das Krachen der herabstürzenden Saaldecke zu hören, die verzweifelten Schreie der Verletzten, das letzte Stöhnen der Sterbenden und das unbarmherzige und immer stärker werdende Tosen der Flammen, die von allen Seiten in das Gebäude eindrangen und die Sterbenden ohne die geringste Chance auf Rettung umzingelten. Nur die Brandgeschädigten des Ortes, die sich ursprünglich -291-
ins Astoria begeben hatten, um dem Brand zu entkommen, waren außer Reichweite des Feuers. Denn sie hielten sich nicht in den Gebäuden auf, sondern unter freiem Himmel, an den sanften Berghängen, die das Feuer gemieden hatte. Sie standen reglos und schweigend da. Es gab unter ihnen jedoch auch solche, die weinten, die Mitgefühl und Anteilnahme zeigten.
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r stand auf der Schwelle, sah aber deutlich das ganze Zimmer und die in der Mitte befindliche offene Tür, die bestimmt zum Schlafzimmer des geistlichen Würdenträgers führte. Beharrlich blieb er stehen, obwohl der Sekretär versuchte, ihn sanft, aber entschieden, beiseite zu schieben. »Ich möchte Sie doch sehr bitten zu gehen«, sagte der Sekretär, und sein junges, freundliches Gesicht zitterte vor innerer Erregung und Wut, vielleicht aber auch aus Angst vor einer Auseinandersetzung, denn Jan zeigte sich unnachgiebig. »Bei allem Respekt und aller Zurückhaltung«, wiederholte Jan. »Wir sind von der Außenwelt abgeschnitten. Sie wissen das genausogut wie ich. Die Telefone funktionieren nicht mehr, und Strom gibt es auch keinen mehr. Seine Eminenz verfügt über das einzige Mobiltelefon, das uns den Kontakt mit der Außenwelt ermöglichen würde. Bitte begreifen Sie doch, daß es sich nur um wenige Minuten handelt. Ich habe nicht die Absicht, das Wohlwollen Seiner Eminenz über Gebühr zu beanspruchen.« »Sie sehen doch selbst, daß es nicht möglich ist, da Seine Eminenz ein Gespräch von höchster Wichtigkeit führt.« »Ich bitte ja nur um einige Augenblicke. Es würde reichen, wenn der Kardinal so freundlich wäre, aufzulegen und mir den Apparat für ein, zwei Minuten zu überlassen. Danach kann er sein unterbrochenes Gespräch fortsetzen.« »Dann kann es zu spät sein«, erwiderte der Sekretär. Sein rosiges, etwas zu rundes Gesicht wurde rot. Erneut zitterten seine Lippen. Er wiederholte, daß der Kardinal das gerade -293-
geführte Gespräch nicht unterbrechen könne, da es von ungeheurer Wichtigkeit sei. »Der Kardinal muß verstehen, daß es hier um die Rettung vieler Menschen geht!« schrie Jan energisch, fast wütend und bedrängte den jungen Priester. Dieser wich jedoch nicht zurück. In dem Moment erblickte Jan den Kardinal, der mit dem Telefon am Ohr im Zimmer umherschlenderte. Er war nicht besonders groß, schlank, dunkelhaarig und überhaupt noch nicht so alt, wie Jan es sich bei dem Gedanken an dessen hohes Amt vorgestellt hatte. Bestimmt ging er erst auf die Sechzig zu. Sein Haar war leicht graumeliert und lag in sanften, glänzenden Wellen auf dem schön geformten Kopf. Überhaupt hatte Seine Eminenz ein sehr angenehmes und interessantes Äußeres, etwas von einem Filmschauspieler oder einem Fernsehsprecher. Seine ganze Erscheinung strahlte echte männliche Eleganz aus. Bei näherem Hinsehen war Jan jedoch enttäuscht. Als er den jungen Sekretär mit der Absicht bestürmt hatte, in das Zimmer zu gelangen, war ihm unbehaglich zumute gewesen, und es waren ihm Bedenken gekommen, als erlaube er sich etwas Niederträchtiges, begehe vielleicht sogar ein Sakrileg. Denn der Kardinal konnte ja ein Gespräch mit Seiner Heiligkeit führen, wobei er seinem Gesprächspartner die Sorge um all die Unglücklichen ans Herz legte, die im Astoria vom Feuer, vom Unglück und von der Vergangenheit eingeschlossen waren. Das konnte sogar die Hartnäckigkeit des jungen Sekretärs rechtfertigen, der vielleicht wußte, wieviel von diesem Gespräch auf höchster Ebene abhing. Jan konnte also zu Recht annehmen, daß Seine Eminenz ein Gespräch in frommer Andacht führte, und selbst wenn er sich nicht im Betstuhl befand, dann doch auf jeden Fall in einer Situation, die die höchste Achtung und Ergebenheit für den entfernten, aber omnipotenten Gesprächspartner verlangte. Indessen sah er den Kardinal nun in weltlicher, geradezu lässiger Pose. Das Mobiltelefon am Ohr, den Kopf leicht nach -294-
vorn geneigt, bewegte sich die ganze Gestalt ungezwungen hin und her, mit leichten, fast tänzelnden Schritten, als ob dieser große Geistliche und Seelenhirte ein lockeres Gespräch führe, und das ganze Ambiente, in dem er sich bewegte, war genauso unerträglich weltlich und elegant. Vor dem Fenster erschien zwar ein schrecklicher Feuerschein, überall ringsum sah man die furchterregenden Flammen des Brandes, die Rauchwolken zogen über den dunkel gewordenen Himmel, und das ganze Gebäude wurde durch das Prasseln, Krachen und den angsteinflößenden Lärm des Feuers erschüttert, das Mobiliar im Zimmer hingegen zeugte immer noch vom Luxus der Welt, und der Geruch des teuren Rasierwassers war hier stärker als der Brandgeruch. Deshalb dachte Jan, daß der Kardinal es nicht verdiene, ordentlich behandelt zu werden, denn er führte unnütze Gespräche, statt sich um das Seelenheil der Menschen zu kümmern. Wütend warf er dies dem Sekretär an den Kopf. Der Sekretär erwiderte, daß Jan im Irrtum sei, da das, was der Kardinal tue, die allerwichtigste Sache sei, die ein Mensch überhaupt tun könne. Jan lachte spöttisch und forderte erneut, ihm das Mobiltelefon kurz zu überlassen. In dem Moment ging Seine Eminenz, ohne zu wissen, was auf der Schwelle seiner Suite vor sich ging, unwillkürlich auf die Eingangstür zu. Jan rief: »Ihre Eminenz!« Der Geistliche machte eine beschwichtigende Geste mit der linken Hand und bedeckte dann damit das Telefon, das er für einen Moment vom Ohr genommen hatte. Während er sich an die beiden wandte, sagte er mit entschiedener, aber ganz leiser Stimme: »Ich bitte, mich nicht zu stören. Schließen Sie bitte die Tür.« »Ich weiß mir nicht zu helfen!« rief der Sekretär. »Ich bitte Sie darum!« sagte Seine Eminenz mit Nachdruck, wobei er immer noch mit der linken Hand das Mikrofon bedeckte. Seiner Eminenz ging es zweifellos darum, daß sein Gesprächspartner diesen banalen und belanglosen Wortwechsel -295-
nicht hören sollte. Aber Jan dachte, daß, wenn man vor dem fernen Gesprächspartner des Kardinals so leicht das Wesen der Sache verheimlichen könne, dieser in der jetzigen Situation überhaupt kein Recht auf ein Gespräch habe. Gerade in dem Augenblick ertönte ein gräßliches Klirren hinter Seiner Eminenz, und Jan sah, wie die große Glasscheibe der Terrassentür der Länge nach einen Sprung bekam. Für einen ganz kurzen, aber deutlichen Moment war eine vollkommene und ergreifende Stille eingetreten, so daß man in ihr alles zwischen dem Schrei eines Neugeborenen und dem Flüstern eines Sterbenden hätte hören können. Dann zerbarst die Glasscheibe strahlenförmig und mit einem Knall; die Sprünge zogen sich über ihre Oberfläche wie silberne Schlangen, das Glas zersplitterte auf dem Teppich, und in das Zimmer drang die heiße Luft des Brandes. »Nein!« schrie Seine Eminenz laut auf und drehte den Kopf. Es war ein hilfloser und dramatischer Schrei. Aber der Kardinal wandte sich sofort wieder seinem Telefon zu, wobei er etwas sehr schnell, in heftigem, fieberhaftem Flüsterton sagte, und Jan dachte, daß erst jetzt ein wirklich ernsthaftes Gespräch begonnen worden sei. Er drehte sich um und entfernte sich sofort. Er hörte, wie der junge Priester hinter seinem Rücken laut die Tür zuschlug. Zuerst ging er langsam die Treppe hinunter, da er immer noch unschlüssig war, ob er nicht zurückgehen und noch eindringlicher ein Gespräch mit Seiner Eminenz verlangen sollte. Aber als er sich im Zwischengeschoß befand, begann er schneller hinunterzugehen, da er begriffen hatte, daß hier nichts zu erreichen war. Der Gedanke schmerzte ihn, und er wußte, daß ihm dies eigentlich schon klar gewesen war, als er die Entscheidung zu einer Unterredung mit Seiner Eminenz getroffen hatte. Dennoch war er in die oberste Etage gegangen, um sich später nicht den Vorwurf machen zu müssen, aufgrund alter Vorurteile etwas versäumt zu haben. Aber er hatte -296-
eigentlich nie an den Erfolg seiner Mission geglaubt. Der Brand wütete schon im ganzen Gebäude. Während er auf dem Treppenabsatz stand, sah Jan die rote Feuerwand vor dem Fenster. Mein Gott, dachte er, was wird jetzt aus mir? Weshalb bin ich nicht dort geblieben, wo ich hingehöre, dort, wo mir alles vertraut ist: die Gegenstände, der Blick aus dem Fenster und jeder Laut? Ich hätte mir einen Hund kaufen können, ähnlich dem, den Monika damals hatte, als ich sie kennenlernte. Ein schönes Tier – ich glaube, es hieß Assa. Schade, daß der Hund dann nur noch so kurz gelebt hat. Als ich ihn das erste Mal sah, war er schon sehr alt und hinfällig. Sein Tod, bald darauf, stürzte Monika in eine tiefe Trauer. So war es immer – in meinem Leben alterten nur Tiere, nur Gegenstände verloren ihren Glanz und ihre Bedeutung, Städte und Länder verschwanden im Sturm und im Unglück, Winde legten sich, die Blätter an den Bäumen bewegten sich nicht mehr, aber die Menschen blieben unversehrt, immer dieselben, immer in Bewegung, immer zornig, traurig und unersättlich. Die Verstorbenen altern nie. Lieber Gott, weshalb hast du mir diese Prüfung auferlegt, statt mich dort zu lassen, auf dem Dachboden, in meinem Sessel, mit einem treuen Hund zu Füßen, der ein Trost und eine Erinnerung wäre an das, was vergangen ist? Plötzlich hörte er ein Krachen, und als er nach oben schaute, sah er, wie die Decke riß, aber merkwürdig symmetrisch, wie eine einfache pfeilgerade Linie verlief der Riß über die ganze Wölbung der Decke, und jeden Augenblick würde alles herabstürzen. Instinktmäßig sprang er schnell einige Stufen hinunter, plötzlich von Angst gepackt vor dieser neuen Todesart – im Feuer unter Trümmern. Er war nun ganz dem Leben zugewandt, empfand ein großes Verlangen zu leben, als habe er überhaupt nicht gelitten und keine Gewissensbisse gehabt wegen all dem, was ihn mit Monika verbunden und von ihr getrennt hatte. -297-
Während er nach unten lief, wurde ihm klar, daß er auf das immer heftiger tobende Feuer zusteuerte, aber gleichzeitig flüchtete er vor der Katastrophe oben, denn die Decke des Treppenhauses konnte jeden Augenblick einstürzen. Und wenn er an etwas dachte, dann nur an Rettung, zog verschiedene Möglichkeiten in Erwägung, aber gleichzeitig wurde ihm mit jedem Schritt immer stärker seine Hilflosigkeit bewußt. Wir sind verdammt, dachte er verzweifelt, was ihn etwas wunderte, denn noch vor kurzem hatte er den Tod als Erlösung annehmen wollen. Jetzt jedoch, vielleicht infolge der aussichtslosen Lage, suchte er fieberhaft nach einer Chance für sich. Mit einem Mal wurde er von einer Art Heldenmut gepackt. Immer schneller lief er durch die einzelnen Etagen. Plötzlich war er von schwarzen, würgenden Rauchschwaden umgeben. Noch einen Schritt, und da er das Hindernis vor sich nicht gesehen hatte, stolperte er und fiel hin. Einen Moment lag er reglos da, ohne zu wissen, was mit ihm vor sich ging. Eingehüllt von Rauch und Feuer, sah er eine Straße, wo die Häuser auf beiden Seiten wie riesige Fackeln in Flammen standen. Hell, heiß und stumm. In ihnen war kein Leben mehr. ›Was ist das für eine Stadt ?‹ fragte er sein Gedächtnis, von dem er jedoch keine Antwort erhielt. Es war genauso stumm wie die brennenden Häuser auf beiden Seiten der Straße. In dieser Stadt wollte er aber nicht sterben. Und eigentlich wollte er nirgendwo mehr sterben. Er öffnete die Augen, mobilisierte all seine Kräfte, um die Flucht nach unten zur Hotelhalle fortzusetzen, wo vielleicht noch eine Chance auf Rettung bestand. Das Feuer wütete immer heftiger, die Fensterscheiben zerbarsten krachend, wie vor einem Augenblick in der Suite des Kardinals; dichter Rauch erfüllte das Treppenhaus. Jan richtete sich auf. Erst da erblickte er den auf den Treppenstufen liegenden einarmigen Mann. Erneut bückte er -298-
sich und sah in das leblose Gesicht von Dr. Kovacs. Dieser lag noch genauso da, wie er von einem aus den oberen Etagen herabstürzenden Balken getroffen worden war. Nicht einmal zehn Minuten waren vergangen, seit er mit der Kraft seines jahrelang unterdrückten Hasses Graham Wilson III. in die Flammen gestoßen hatte. Vielleicht hatte er dabei das erhebende Gefühl erlebt, daß sich nun eine Art ausgleichende Gerechtigkeit vollzog. Bestimmt hatte er nicht an eine historische Gerechtigkeit gedacht, die Millionen Menschen beschäftigt, denn in seinem Charakter dominierten Skepsis und Zweifel, was eine bessere Zukunft betraf. Wenn man überhaupt, nach Meinung von Dr. Kovacs, etwas hätte verändern oder verbessern können, dann nur im Einzelfall und nur durch persönliches Bemühen. Er hatte Graham Wilson III. nicht gehaßt, weil dieser reich war und enorme Macht über Menschen hatte, sondern aus einem viel banaleren Grund: weil Wilson ihm überlegen war. Dr. Kovacs hatte es ganz einfach nicht ertragen können, daß Graham Wilson III. ihn ein paarmal am Tag telefonisch oder per E-mail durch sein Sekretariat zu sich rufen ließ, während er, Dr. Kovacs, nie auch nur die geringste Chance gehabt hatte, Graham Wilson III. zu sich zu rufen. Zweifellos war Wilson von Anfang an mächtiger gewesen als Kovacs, und so war es für immer geblieben. Graham Wilson III. war freilich zeitlebens ein gutmütiger, zu Unentschlossenheit neigender Mensch gewesen, aber stets hatte er die Anweisungen gegeben, Dr. Kovacs hingegen hatte sie ausführen müssen. Deshalb waren in dem wunderbaren Gebäude aus Licht und Glas in Übersee, wo Wilsons strategisches Zentrum untergebracht war, fast alle der Meinung, daß Kovacs der böse Geist ihres Chefs sei und daß ohne seinen verhängnisvollen Einfluß auf die launische und schwache Natur Wilsons dieser der beste Vorgesetzte und auch der vorbildlichste Millionär unter der Sonne gewesen wäre. So denken wir jedoch gewöhnlich von denjenigen, die mächtiger sind als wir und die -299-
über unser Schicksal entscheiden. Vielleicht gerade weil jene so mächtig sind, ziehen die Menschen andere, weniger Mächtige vor, um ihnen die Verantwortung für all das ringsum wuchernde Übel zuschreiben zu können. In diesem Sinne war Dr. Kovacs mit seinem schönen indianischen Profil, seiner Behinderung, seinem Haß und seiner Rachsucht vielleicht teilweise ein Opfer der Schwäche und der Bequemlichkeit der anderen. Wer weiß, ob nicht mit Kugler Ähnliches geschehen war, denn es hatte doch irgend jemand damals diesen Augiasstall, wie die Welt einer gewesen war, ausmisten müssen. Obwohl es einigen bequemen Geistern vielleicht so vorkommen mag, daß das damals ein für allemal erledigt worden ist, hatten doch die Vernünftigeren, und zu ihnen gehörte bestimmt auch Dr. Kovacs, solche Illusionen nie gehabt. Zu viel hatten sie erlebt, an zu vielen Schandtaten waren sie beteiligt, Tag und Nacht, in den schönen Wohnzimmern der Reichen und im Schein der Kriegsbrände, Auge in Auge mit Börsenmaklern und Juden, die man im Interesse eines deutschen Transportunternehmers beispielsweise hatte erschießen müssen. Mit seinem scharfen und analytischen Verstand hatte Dr. Kovacs begriffen, daß in den Menschen immer Haß auf andere Menschen und auf die Welt schlummert, auf eine Welt, vergleichbar mit einer vollendeten und ein für allemal in Bewegung gesetzten Konstruktion, die ihre Erwartungen, Phantasien und hemmungslose Wut nicht befriedigt, mit der sie geboren werden, um dann immer so zu tun, als seien sie mit ihrem Schicksal versöhnt. Aber es genügt, daß jemand ihnen das Recht einräumt, ihre Alpträume, die sie quälen, herauszuschreien, und sofort stecken sie ihr eigenes Heim in Brand und werden darin wie eine lebendige Fackel verbrennen. Genau so oder ähnlich dachte wohl Kugler, als er Abschied nehmen mußte von der Welt. Dies war einige Minuten vor diesem erhebenden und bestimmt die Seele reinigenden Wutausbruch geschehen, als nämlich Dr. Kovacs mit -300-
geheuchelter Verzweiflung Graham Wilson III. zurief, über die Seitentreppe zu flüchten. Da gerade drehte sich Wilson, der am Geländer der Galerie stand, um. Kovacs schrie, daß es im nächsten Augenblick bereits zu spät sein könnte. Wilson nickte. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen Kovacs nicht in der Lage war, die Gedanken seines Chefs zu lesen und ihnen zuvorzukommen. Denn vielleicht aufgrund einer Vorahnung, aber vielleicht auch, weil er müde war und sich mit der Tatsache abgefunden hatte, daß sich nichts mehr ändern und sein Leben immer diese Aneinanderreihung von Enttäuschungen, banalen Schweinereien und kleinen Vergnügen bleiben werde, gelangte Wilson zu der Überzeugung, daß so ein etwas ungewöhnlicher und romantischer Feuertod, wenn er nur recht sanft und schnell genug war, ein in gewisser Weise unerwarteter Tod, ohne Schmerz und Angst, gar keine schlechte Lösung sei. Er war nicht verzweifelt, hatte aber erkannt, daß alles, was ihn umgab, nicht herrlich und reizvoll genug war, um es mit übermäßiger Anstrengung zu verteidigen. Er dachte bestimmt, daß Kovacs recht hatte mit der Seitentreppe, da das Haupttreppenhaus bis unter die Decke in Flammen stand. Wenn sie also flüchten wollten, war dies der einzige Weg. Langsam drehte er sich um und machte einen ersten Schritt in Richtung Seitentür zur Galerie. In dem Moment spürte er einen sehr kräftigen Schlag auf den Rücken, verlor das Gleichgewicht und lag über dem Geländer, aber da stieß ihn ein zweiter, noch kräftigerer und entschlossenerer Schlag nach unten. Falls Gott ihm seine Sünden verziehen hatte, dann hatte er vielleicht auch in seiner unendlichen Güte und Barmherzigkeit bewirkt, daß Graham Wilson III., als er aus dieser Höhe nach unten fiel, sich nicht darüber im klaren war, was passierte. Er vermutete nicht, daß gerade Dr. Kovacs ihm nach dem Leben getrachtet hatte. In all den Jahren ihrer engen Bekanntschaft hatte er Dr. Kovacs gemocht und Vertrauen zu ihm gehabt. Und so muß es wohl bis zum Ende geblieben sein. -301-
Die Lage Kuglers, kaum einige Minuten früher, war eine andere gewesen. Niemand hatte ihm nach dem Leben getrachtet, es endete einfach von selbst, durch Ersticken sozusagen, und dann verbrannte und verkohlte das wütende Feuer seinen Körper. In diesem Sinne also, wenn Gott schon erwähnt wurde, kann es vielleicht auch sein, daß, aufgrund seines unerforschlichen Ratschlusses, Kugler am Ende all das, was er zuvor Tausenden Schutzloser und Unschuldiger zugefügt hatte, am eigenen Leib erfahren mußte. Wenn es wirklich so war, dann kann man sagen, wie früher das einfache polnische Volk zu sagen pflegte: ›Gottes Mühlen mahlen langsam, aber trefflich fein.‹ Es kann jedoch auch ganz anders gewesen sein, da Kugler in der Jugend geliebt hatte und geliebt worden war und erst später, nach Jahren der Enttäuschung und der Einsamkeit, ein so schlechter Mensch geworden war. Es kann sein, daß er im Augenblick des gewaltsamen Todes seine Sünden bereut und um Erbarmen gefleht hat. Dann jedoch löschte ein Engel des Himmels sein Leben mit einem Hauch sanft aus, wie einst die jungen Mädchen die Kerze im Leuchter am Bett löschten, und je geschickter sie es machten, um so schönere Träume wurden ihnen gesandt. In all diesen dramatischen Fällen ereignete sich im letzten Moment etwas zwischen Leben und Tod, etwas, was das Leben vom Tod trennt oder vielleicht das Leben mit dem Tod zu einer vollkommenen und untrennbaren Einheit verbindet, was die wehmütige Hoffnung erlaubt, daß keiner bis zum Ende weiß, wo er sich befindet, noch da oder bereits dort, an diesem oder an jenem Ufer, im Diesseits oder im Jenseits. Es ist also gewissermaßen das letzte Glied, eine geheimnisvolle und nie aufgeklärte Sache, die man jedoch nicht stillschweigend übergehen darf. Für Kugler war es eine Kutsche mit zwei Pferden. Vor dem Haus war eine Holzveranda, die ganz in der Sonne lag, denn es -302-
hatte gerade aufgehört zu regnen. Ein heftiger und dichter Regen war gefallen, hatte den Staub von den Bäumen und Sträuchern gespült und das Atmen nach einigen Tagen der Hitze leichter gemacht. Auf der Veranda saß in einem Korbsessel eine rundliche junge Frau – Inga Kugler. Sie trat in Wanderzirkussen als Akrobatin auf, außerdem machte es ihr großen Spaß, mit verschiedenen Männern, die sie nur flüchtig kannte, ins Bett zu steigen; überhaupt hatte sie zu sich selbst und zur ganzen Welt eine freundschaftliche Beziehung, voll nachsichtiger Ironie. Jetzt also, nach den heißen und schwülen Tagen, entspannte sie sich auf der Veranda, wobei sie ihr Kind betrachtete. Es war ein kleiner, schmächtiger und etwas kränklich aussehender Knabe. Er hieß Oskar, aber seine Mutter nannte ihn Pimpi, und er selbst nannte sich als kleiner Junge in Gedanken auch Pimpi. Vor der Veranda, auf dem Weg, der von der Straße zu dem kleinen Haus führte, in dem sie wohnten, spielte er also mit einer Kutsche und zwei Pferden. Seine Mutter beobachtete ihn liebevoll. Plötzlich tauchte Ackermann auf dem Weg auf, zog die Pistole und schoß auf das Kind. Pimpi fiel, ohne zu schreien, auf das verdörrte Gras, das zwischen den Holzschwellen des Eisenbahngleises wuchs. Pimpi Kugler verlor in dem Moment die Orientierung über die Situation. Er wußte nicht mehr, ob er mit der Kutsche vor der Veranda umherfuhr, auf der seine rundliche Mutter sich entspannte, oder ob auch er das Gepolter des Zuges hörte, der mit einem weiteren Transport von Juden zur Vergasung an die Rampe heranrollte. Dr. Kovacs hatte vor seinem Tod eine Vision gehabt, die ihn wegen einer verpaßten Chance mit Trauer erfüllte. Als ihn ein brennender, von oben herabstürzender Balken traf, sah er sich als jungen Mann, der in die Bäckerei in der kleinen Stadt ging, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Die Bäckerei war dunkel und stickig, mit einer niedrigen Decke. Die Tür des Backofens stand offen, im Ofeninneren prasselte ein goldfarbenes Feuer. Der junge Kovacs bat den Bäcker um ein -303-
Brot. Dieser lächelte freundlich und sagte, das sei unnötig, da heute, vor etwa einer Viertelstunde, Kovacs' Frau bereits Brot und frische Hörnchen gekauft habe. Da dachte Kovacs gerührt und froh, daß es nicht schlecht sei, in einer kleinen Stadt zu leben, in der die Menschen immer wissen, wer wann und wo Brot kauft, weil es sie noch interessiert. Er dachte, daß er gerade aus diesem Grund für immer hierbleiben werde. Aber er war nicht geblieben. Er war weggefahren und nie mehr zurückgekehrt. Sein letzter Gedanke war also voller Wehmut, daß er etwas Wichtiges verpaßt hatte. Aber dennoch stand er immer noch in der Bäckerei und schaute in die Flammen im Ofen. Es ist nicht ganz klar, ob auch Graham Wilson III. eine Vision hatte, als sein Körper, überrascht und merkwürdig schwer, auf dem brennenden Trümmerhaufen aufschlug. Aber wenn er eine Vision hatte, dann war sie fröhlich. Sie verband sich mit seiner Großmutter und seiner Mutter, zwei resoluten Frauen mit Gewohnheiten aus der guten alten Zeit, die Gebete sprachen, in einem Chor sangen, ihre Kinder erzogen, sich um ihre Männer kümmerten und auch mal klaglos Schläge hinnehmen konnten. So herrschte also am Ende vollkommene Ruhe. Kugler saß tot und verkohlt im Sessel in dem rußgeschwärzten Zimmer. Nur hier und da krochen noch an den Wänden die letzten Feuerschlangen, und in der ehemals offenen Terrassentür rauchte der Trümmerhaufen der Giebelwand, die erst nach Kuglers stillem Tod mit Gepolter herabgefallen war. Ruhig, erstaunt und versöhnt lag Graham Wilson III. bequem auf der heißen Brandstätte und betrachtete mit blindem Blick die Sterne am Himmel. Dr. Kovacs schien auf den Treppenstufen zu schlafen, den Kopf auf den verkrüppelten Arm gestützt, wie ein sorgloser Säufer, dem die Kraft, sich bis vor die eigene Haustür zu schleppen, gefehlt hat. Und nur noch Jan, der über auf der Treppe verstreuten Schutt nach unten lief, brachte diese geordnete Welt durcheinander. -304-
Er hatte begriffen, daß es nun auf jede Minute ankam. Er war überhaupt nicht sicher, ob er sich würde einen Weg nach draußen bahnen können. Auf jeden Fall mußte er ganz nach unten zum Foyer gelangen, wo die Chance einer Flucht am größten war. Das ganze Gebäude schien ausgestorben. Jan hörte keine menschlichen Stimmen, sogar das Gepolter der herabstürzenden Mauern und das Geräusch des Feuers, das er immer noch in Erinnerung hatte, waren nun leiser, als sei das Feuer schon weitergezogen und habe hier nur Brandruinen zurückgelassen. Aber Jan wußte, daß das nur eine trügerische Ruhe war, denn irgendwo in der Nähe, oben oder unten, sammelte das Feuer Kräfte, um erneut zuzuschlagen. Auf den Treppenabsätzen der ersten und zweiten Etage stieß er auf Trümmerhaufen. Zuerst schien es, daß er sich nicht würde durchkämpfen können, aber er hatte noch genug Kraft, und nach einiger Zeit hatte er es weiter nach unten geschafft. Nur noch einige Schritte trennten ihn vom Foyer. Schließlich stand er auf der Schwelle inmitten der rauchenden Trümmer. In dem Moment stürzte von hoch oben ein bis dahin vom Feuer verschonter Kronleuchter herab. Jan wurde klar, daß ein Durchkommen durch die große Empfangshalle nun nicht mehr möglich war. Ein Trümmerhaufen schnitt ihm den Weg ab. An eine Überwindung dieses Hindernisses war nicht zu denken, denn es war drei Stockwerke hoch, und weiter oben wütete immer noch das Feuer. Brennende Balken fielen nach unten, schwarze Mauern brachen zusammen. Schwarzer Rauch verdichtete sich überall ringsum. In dem Moment, als an Jan das eiskalte Gefühl der Aussöhnung mit dem Schicksal und der Resignation herabfloß, erblickte er im Nebel die Umrisse einer Frau. Ängstlich dachte er, es sei Monika. Zum ersten Mal dachte er ängstlich an seine tote Frau. Er wollte sie bei ihrem Namen rufen, bemerkte aber, daß diese Frau größer war, eine andere Figur und eine andere Gesichtsform hatte. Sie war wunderschön, hatte helles Haar und -305-
blaue Augen wie früher die ehrwürdigen Damen auf den Stichen aus der polnischen Geschichte. Sie stand direkt neben Jan und streckte ihm die Hand entgegen. Das Atmen fiel ihm immer schwerer, der Rauch würgte ihn, die undurchdringliche, glasartige Luft schnürte ihm mit jedem Atemzug immer mehr die Kehle zu. »Gehen wir nach oben«, sagte die Frau. »Ich kenne den Weg.« »Ausgeschlossen«, rief er. »Oben ist eine Feuerwand.« »Ich weiß, wohin wir gehen müssen«, erwiderte sie entschlossen, mit tiefer, innerer Überzeugung, die ihm gebot, für einen Moment zu verstummen. Sie sah Jan aufmerksam an. Ihre blauen Augen, in denen ein katzenartiger goldener Glanz war, blitzten rätselhaft und verführerisch, als würde diese Frau der Welt geheime Zeichen senden. Leise und unsicher sagte er: »Ich komme von oben. Dort besteht keine Chance mehr. Wer sind Sie?« Sie sagte nichts, faßte ihn nur kräftig bei der Hand und führte ihn zurück in Richtung Seitentreppe, von wo er vor einer Weile gekommen war. Das Feuer tobte über ihren Köpfen. Er ging neben dieser Frau, ohne etwas zu begreifen. »Wie heißen Sie? Wer sind Sie?!« fragte er noch einmal, denn plötzlich war das für ihn sehr wichtig geworden, da er ja an ihrer Seite sterben würde. »Ich bin Rita«, erwiderte sie ruhig, als wäre ringsum kein Feuer, als säßen sie in einem Warschauer Café irgendwo in der Nowy-Świat-Straße oder noch weiter weg, in einer Konditorei in der Nowolipie-Straße, wo eine alte Jüdin mit einer schlechtsitzenden Perücke auf dem Kopf hinter dem Büfett hervorkam, um den Gästen Sodawasser mit Himbeersirup oder eine Portion Eis auf den Tisch zu stellen, wo vor dem Schaufenster jüdische Kinder mit Rotznase herumschrien, wo auf der Straße große gelbe Fuhrwerke der Firma Tennenbaum & -306-
Wesoły vorbeirollten, von kräftigen braunen Zugpferden gezogen, und am ewig schmutzigen Himmel die zweitklassige Sonne schien. »Ich heiße Rita und weiß, wohin wir jetzt gehen müssen.« »Ich bin aus dem obersten Stockwerk geflüchtet«, sagte Jan aufgeregt. »Dort besteht keine Chance.« »Es gibt eine Leiter«, sagte Rita ruhig. »Was für eine Leiter?« fragte er in einem leisen, fast demütigen Ton. »Dort gibt es eine Leiter«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Ihr fehlen zwar einige Sprossen, aber man kann auf ihr hinübersteigen. Man braucht nur etwas Mut dazu.« »Wohin?« »Auf die andere Seite«, erwiderte sie. »Und dann über eine Treppe nach unten.« »Mein Gott«, sagte er. »Was ist dort?« »Ein Hof. Etwas weiter ein Tor zur Straße. Auf der linken Seite ist eine Schreinerei, in der wir warten können. Der Schreiner ist ein anständiger Mensch. Ein Säufer. Und er verprügelt oft seine Kinder. Aber er ist ein anständiger Mensch.«
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