Amadeus Firgau, geboren 31. 12. 1943, studierte in Berlin, arbeitete in Stuttgart und lebt heute mit seiner Familie in ...
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Amadeus Firgau, geboren 31. 12. 1943, studierte in Berlin, arbeitete in Stuttgart und lebt heute mit seiner Familie in einem Dorf nahe Saarbrücken. „Sorla Flusskind“ ist sein erster veröffentlichter Roman und erschien zunächst 1990 im Stendel-Verlag. 1995 folgte dort der zweite Band der Sorla-Reihe, „Sorla Schlangenei“. Beide Bände ernteten begeisterte Zustimmung und haben eine große Fangemeinde. „Sorla Drachenvetter“, der dritte Band, wurde allerdings nicht in der erwarteten Zeit fertig, so dass der Verlag die Zusammenarbeit beendete. Inzwischen liegen mit “Sorla Feuerreiter“ und „Sorla Schlangenkaiser“ alle fünf Bände der Sorla-Reihe vor und werden bei Lulu veröffentlicht. Sorla Feuerreiter: Sorla ist der Thronerbe der hernostischen Dynastie, muss dies der vielen Feinde wegen aber verheimlichen und sich zunächst seinen Platz in der Kaiserstadt erkämpfen. Dabei helfen ihm sein Vater, einige treue Freunde und oft genug die Gunst der launischen Glücksgöttin Atne …
Amadeus Firgau:
SORLA FEUERREITER Ein fantastischer Roman
Band IV des Sorla-Zyklus
Alle Rechte beim Autor. Kartenzeichnungen vom Autor. Das Titelbild basiert auf Fotolia_874995_X © mula Fotolia.com Gedruckt bei Lulu (www.lulu.com).
INHALTSVERZEICHNIS 1) Die Feuerreiter
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Der Rufer Taras – Geier sehen mehr – Erotische Kleinskulpturen – Rettung der Waisenkinder – Sorlas Regenszepter 2) Die Brunnenjungfrau
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Das Ansehen der Feuerreiter – Beschattung der Beschatter – Der Falke greift ein – Der geplante Mord – Wasseratmung – Der Wassertroll – Wächter des Brunnens – Die Zeitfalle – Ein gefährliches Fläschchen 3) Der dunkle Saal
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Besuch bei Agishs Vater – Im Tempel Anods – Nachts an der Küste – Wiedersehen in der Grotte – Die lichtverliebte Krake – Das Zeichen der Schwarzen Dreiheit – Freund oder Fressen – Der fünfeckige Raum – Der abtrünnige Sonnenpriester – Schwarze Blitze und Ewiges Licht – Der Schwarze Woul holt sein Opfer 4) Irkansels Turm
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Falkenpost – Überraschender Besuch – Mäuse in der Bibliothek – die Geliebte des Zauberers – Viele kleine Mannsbilder – Der knochige Diener – Blutfutter – Eine grünblaue Maus – Irkansels mehrfache Wiederkehr – Flucht vor der schwarzen Wolke – Die versteinerte Brücke – Das Licht im Wasser 5) Die große Spinne
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Dankfeier für Anod – Agishs Misstrauen – Verpuffte Leichen – Hebel der Macht – Benilis praktisches Schlafgemach – Der falsche Kaiser Takilis – Das Jahr im Kokon – Das Pfeifen der Rückverwandlung – Der Tanz der Diebe – Bunte Fledermäuse 6) Das Kind im Baum
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Die winzige Buche – Verpflanzung in den Tempel – Erste Vaterpflichten – Sorla wird weitergereicht 7) Die Rundreise
Myrna – Syrte – Mynnenlete – Mirre-wyn – Hyldol – Ildryste – Hirrendhyl – Noondhyl – Syardra – Tsyrryfx – Dha-sy-Bato – Gmyndars
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8) Die Hebel der Macht
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Sachverständige Gnome – Beratung mit dem Goldenen Drachen – Syardra denkt voraus – Die Rettung Murlingirs – Der dritte Hebel der Macht – Horells Sicherheitsmaßnahmen – Auch Agish kommt mit – Der leblose Glygi – Gerippe im Gang – Schreckliche Stimmen – Agish als lebender Pfeil – Das Schwert und der Dolch – Lebendig im Sarg – Die Aufzeichnungen von Agishs Familie – Der ungebärdige Gnom – In die eigene Falle geraten 9) Die Hurknischen Sümpfe
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Sorla kennt sich aus – Bitterwurzeln – Das eigensinnige Schwert Giftige Pfeile – Agish hält Wache – Belehrung über Svampi – Belauschte Fledermäuse – Rettender Gesang – Die Burg im Sumpf – Zlenken und Tlofen – Seltsame Kerkergenossen – Liebe unter Blutsaugern – Eisen zu Wasser – Der Chor der Frösche – Unrühmliches Ende eines Ratgebers Glossar
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Erstes Kapitel:
DIE FEUERREITER Die Morgensonne blitzte hinter den Hügeln der kaiserlichen Gärten auf und tauchte das Häusermeer in rosiges Licht – Hütten aus Lehmziegeln, herrschaftliche Bauten, Behördenpaläste. Noch lag Ekritmea, die hernostische Kaiserstadt, im Schlaf. Nur im Hafen herrschte Leben, denn die Fischerboote waren heimgekehrt, der zappelnde Fang wurde versteigert und mit Karren davongefahren. Auf einer der Kisten saß ein merkwürdig zerzauster Mann und kaute an einem rohen Fisch, den ihm die Fischer lachend zugeworfen hatten. Dutzende kleiner Zöpfe standen ihm wirr vom Kopf ab. Auf seiner Schulter saß ein Falke, er zerrte mit seinem Krummschnabel missmutig kleine Fetzen von einem Stück Fisch, das er mit seinen Krallen festhielt. Doch der Mann schien die spitzen Krallen nicht zu spüren, denn er war in braunes Wildleder gekleidet, geschmückt mit Fransen und Holzperlen. Mittags stand der Mann inmitten des Menschengewühls des Tempelplatzes „Ehrt die Sonne“ auf einer Kiste – vielleicht derselben, auf welcher er heute Morgen gesessen hatte. Er hielt eine Rede, die Vorübereilenden lachten, manche ließen Kupfermünzen in seine Bettelschale fallen, manche warfen Kastanien nach ihm. „Ihr Schlafmützen von Hernoste!“ schrie der Mann. „Bewegt euch, denn ihr versinkt im Sumpf! Seht ihr nicht das Unheil rings um euch? Wo ist der Retter, der euch wachrüttelt, der den Sumpf austrocknet?“ Der Falke hatte sich auf einen der vielen Spatzen gestürzt und trug sein kreischendes Opfer auf die Schulter des Mannes zurück, um es auszuweiden. Der Mann schrie: „Seht das Zeichen Taras der Falkenäugigen! Die Mutigen belohnt sie, die Trägen verachtet sie! Seid mutig und kämpft gegen den Sumpf!“ Die Zuschauer lachten und klatschten. Abends hockte der Mann unter einem Orangenbaum vor
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einem der besseren Häuser. Die Tür öffnete sich, ein Diener rief: „Fort mit dir, Strolch!“ Der Mann blickte hoch und nickte: „Ich muss sowieso gehen. Möge das Feuer euer Haus verschonen!“ Und als der Diener verdutzt dem Mann nachblickte, sah er am Ende der Straße Flammen aus dem Dachstuhl des Waisenhauses schlagen. Bewohner rannten schreiend aus der Tür, Nachbarn kamen dazu. Der Mann stellte sich dazu und wartete. * Unter dem Zitronenbaum im Kasernenhof saßen die Feuerreiter und würfelten darum, wer heute Nacht umsonst die Mädchen im Marushu-Tempel besuchen dürfe. Plötzlich hob einer von ihnen, jung, schlank, mit kräftiger Figur und blonder Mähne, den Kopf und lauschte. „Was ist, Sorla?“ fragte sein Nachbar. Sorla aber ließ sich nicht ablenken. Hoch über ihnen kreisten zwei Geier. Ihre Schreie klangen fern und dünn. Sorla rief: „Auf die Pferde, Leute! Nahe dem Platanenplatz brennt es!“ Alle sprangen auf, einer murrte, weil er fast gewonnen hätte. Ein junger Rothaariger fragte: „Wie machst du das, Sorla?“ Dieser lachte: „Ich höre, was die Vögel rufen, Agish!“ Agish schüttelte den Kopf. „Erzähle keinen Unsinn.“ Aber Sorla hatte die Wahrheit gesagt – und es war nur eine der Fähigkeiten, die er anderen Menschen voraus hatte. * Um die Ratten in seinem Keller zu bekämpfen, wo sie die private Sammlung erotischer Kleinkunst annagten, hatte sich der
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Beamte Hokatoudes zwei Fässchen Lampenöl anliefern lassen, deren Inhalt er in die Rattengänge füllte. Dann legte er Feuer daran. Die brennenden Ratten rannten als kleine Fackeln umher und setzten die Holzregale in Brand, auf denen die erotischen Skulpturen aufgereiht standen. Eines dieser Bildnisse war in Wirklichkeit ein Fruchtbarkeitsgeist, der früher in einem Dorf in Tuneg-la, wo Hokatoudes ihn nichtsahnend erwarb, für Kindersegen gesorgt und im Frühjahr den Wasserstand angehoben hatte, um die Felder zu bewässern. Nun fühlte er sich mit Recht bedroht, ließ das Grundwasser in den Keller strömen und brachte so sich und die meisten erotischen Kleinkunstwerke in Sicherheit. Einige Skulpturen aber vertrugen kein Wasser und lösten sich auf, andere bestanden aus Holz und trieben davon. Das brennende Lampenöl jedoch wurde durch die Rattengänge in den Keller zurück gespült und schwamm obenauf, erreichte das Erdgeschoss und floss, ohne in diesem Haus weiter Schaden anzurichten, über die Steinfliesen nach draußen und durch den Rinnstein die Straße hinab. Die mitgeführten hölzernen Figürchen blieben halbverkohlt liegen und sorgten später für eine Aufmerksamkeit, die dem Beamten Hokatoudes sehr peinlich schien. Schlimmer jedoch war, dass das brennende Öl nun das Waisenhaus erreichte. Als erstes geriet ein Vorbau in Brand, der in alter Manier aus Holz und lehmdurchsetztem Binsengeflecht errichtet war. Niemand merkte es zunächst, da hier nur altes Gerät aufbewahrt wurde. Bald griff das Feuer auf das Hauptgebäude über. Nun erhob sich Geschrei; die Frena-Priesterinnen, die das Heim leiteten, eilten hin und her, um ihre kleinen Schützlinge aus den sich rasch ausbreitenden Flammen zu retten. Viele dieser Bündelchen lagen schon auf der Straße aufgereiht wie Ameisenpuppen, doch die Priesterinnen rannten immer wieder ins brennende Gebäude zurück, um weitere Kinder herauszuholen. Erst als das Dach einzustürzen drohte, wagten sie sich nicht mehr herein; nun standen sie da und klagten im Chor mit den inzwischen zahlreich versammelten Nachbarn. Jetzt trafen die Feuerreiter ein. Sie sprangen ab, stellten fest,
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wo der nächste Ziehbrunnen war, und riefen nach Eimern. Zwei stellten die Umstehenden zu einer Eimerkette zusammen. Sorla und der rothaarige Agish rannten zum Eingang des brennenden Waisenhauses. „Wer hier reingeht“, rief Agish, „bringt sich um.“ „Wer hier nicht reingeht“, erwiderte Sorla, den es ärgerte, nicht früher gekommen zu sein, „lässt ein Dutzend Kinder sterben.“ Kurz entschlossen warf er sich eine nasse Decke um die Schultern. Den Kopf mit einem Helm geschützt, die Axt in der Hand, trat er durch die Tür. Hitze schlug ihm entgegen, beißender Rauch ließ seine Augen tränen. „Warte, Sorla!“ rief Agish und eilte, gleichfalls geschützt, ihm nach. „Bei Frena!“ flüsterte die älteste der Priesterinnen, entriss einem zögernden Feuerreiter Helm und nasse Decke, und schloss sich Agish an. Zu dritt tasteten sie sich vorwärts. Die Priesterin wies durch den Qualm auf eine der Türen: „Dort sind die Betten!“ Am Türrahmen züngelten kleine Flammen hoch, dahinter schimmerte rötlicher Feuerschein, man hörte kleine Kinder schreien. Sorla nickte und ging vorsichtig voran. „Atne“, flehte er leise, „gib, dass die Balken halten, bis wir wieder draußen sind!“ Damit trat er durch die Tür, bemüht, sich von den Flammen fernzuhalten. Im Schlafsaal brannten etliche Dachbalken, Funken regneten herab und erloschen zischend auf Sorlas nassem Umhang. Die Luft zog nach oben ab, so war es weniger heiß als befürchtet. Sorla stellte seine Axt an der Tür ab, riss zwei schreiende Säuglinge aus ihrem gemeinsamen Bett und reichte sie Agish durch die Tür, zwei weitere der alten Priesterin. Als er die nächsten geholt hatte – zwei heulende Krabbelkinder, die ihm die Ärmchen aus dem Gitterbett entgegen streckten – war Agish schon zurück und nahm sie ihm ab. Auch die Priesterin erschien hustend und reckte ihre Arme durch die Tür, um zwei ihrer Schützlinge entgegenzunehmen. In einigen Betten hatten herabfallende Funken die Laken in Brand gesetzt. Sorla holte die schreienden Kinder heraus und brachte sie zur Tür. Dann wollte er zurück zu den brennenden Betten, doch
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ein paar Zweijährige klammerten sich entsetzt an seinen Beinen fest und wollten ihn nicht gehen lassen. Eben wollte er sie abschütteln, da sah er, dass in einer Ecke des Schlafsaals ein kleiner Junge hockte. „Komm her!“ rief Sorla ihm zu. Der Kleine aber presste die Hände vors Gesicht, sein Körperchen zitterte. „Schnell! Ich helfe dir!“ Doch das Kind schüttelte nur den Kopf. Sorla merkte, wie hinter ihm Agish die Kinder durch die Tür holte und die Zweijährigen von seinen Beinen zog. Sorla rannte in die Ecke, riss das Kind vom Boden hoch und trug es durch den Funkenregen quer durch den Saal. „Gib ihn mir!“ sagte die Priesterin. Erst jetzt merkte Sorla, dass sie sich zu ihm durch die brennende Tür gewagt hatte. Er nickte und eilte hinüber zu dem letzten Bett, in dem noch ein Kind lag. Mit ihm im Arm kämpfte er sich durch den Qualm zur Tür. Die Priesterin stand noch schreiend davor – da sah er, dass die Tür in Flammen stand, der Weg war versperrt. „Oh Frena!“ jammerte die Priesterin, das heulende Kind im Arm. Sorla reichte ihr das andere Kind, schlug die Hände ineinander – plötzlich hielt er einen dunkelblauen Stab in der Rechten. Wasser sprudelte hervor, strömte über Sorla, die Priesterin, die beiden Kinder. Es bildete Pfützen, dampfte und drängte Rauch und Flammen zurück. Nun sah er, dass der Querbalken der Tür verkohlt und entzwei gebrochen war. Er hing schief in der Tür. Hier war kein Durchkommen. Doch Sorla rammte seine Axt gegen den Balken, wuchtete ihn damit ein wenig hoch und verkeilte sie gegen die Bodenbretter. So war genug Platz zum Durchkriechen. Sorla nahm das Kind in den freien Arm, ließ die Priesterin mit ihrem Schützling voraus und kroch hinterher. In der Halle dahinter empfing sie dicker Rauch, der Ausgang war nicht mehr zu sehen. Doch da erschien Agish vor ihnen, ein Seil in der Hand, und führte sie an diesem zurück durch Rauch und Feuer in Sicherheit. Als sie ins Freie kamen, wo ihnen die Menschen entgegen jubelten, hatte Sorla den Stab längst wieder verschwinden lassen. Nicht einmal Agish hatte ihn bemerkt.
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* Die Feuerreiter konnten mit ihren Löscharbeiten verhindern, dass das Feuer auf die benachbarten Häuser übergriff. Das Waisenhaus konnten sie nicht retten, doch alle Kinder waren, von kleineren Brandwunden abgesehen, um die sich die Priesterinnen jetzt mit Trost und Salben kümmerten, wohlbehalten ins Freie gebracht worden. Der Mann mit dem Falken hatte alles beobachtet. Nun trat er auf Sorla zu: „Du hättest umkommen können.“ Sorla wischte sich wortlos den Schweiß aus den vom Qualm geröteten Augen. „Solche Taten gefallen Tara!“ „Wem?“ fragte Sorla. Er goss sich zwei Hände voll Wasser über den Kopf. „Tara. Die Göttin der Jagd. Die Falkenäugige – du kennst sie nicht?“ „Ach ja“, erinnerte sich Sorla. „Ich wurde in der Nacht Taras geboren. Das ist die Tag-und-Nacht-Gleiche im Vorfrühling.“ „Eine gefährliche Nacht, wenn Tara auf Jagd geht!“ nickte der Mann. „Dann bist du ihr geweiht!“ Sein Falke musterte Sorla mit harten gelben Augen. Sorla zuckte die Achseln. „Ich denke eher, ich habe Atne viel zu verdanken, der Göttin des Glücks und des Schicksals.“ „Atne ist die Mutter“, nickte der Mann. „Sie hat die Macht. Aber Tara liebt es, wenn Dinge auf Messers Schneide stehen. Und Helden, die sich auf solche Gefahren einlassen.“ „Manche kommen dabei um.“ „Natürlich; auch das gefällt Tara.“ Sorla lächelte dem merkwürdigen Mann zu, der so eifrig über Tara redete, und ging quer durch die Umstehenden, die ihn alle anfassen wollten, zu Agish: „Dank dir, Agish, du warst sehr tapfer!“ Dieser strich sich die roten Haare aus der Stirn und murmelte: „Ich kann dich nicht alleine lassen, mein Anführer.“
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Ihre Blicke trafen sich, und Agish errötete. * „Die verehrte Mutter will dich sprechen“, sagte eine der jüngeren Frena-Priesterinnen. Sorla war voller Ruß und Schweiß, doch nickte er höflich und erhob sich, um der jungen Frau zu folgen. In einem Nebengebäude des Waisenhauses, wo jetzt die Kinder notdürftig untergebracht waren, empfing ihn die alte Priesterin, die mit ihm zusammen die Kinder gerettet hatte. „Die ehrwürdige Mutter“, flüsterte die junge Priesterin und zog sich zurück. Sorla verneigte sich und wartete ab. „Ich bin Vinesha“, sagte sie. „Wir danken dir, junger Feuerreiter!“ empfing sie ihn. „Dir und deinen Gefährten. Doch diesen Dank wird unser Tempel morgen öffentlich kundtun. Auch werden wir durch Spenden dafür sorgen, dass ihr auch weiterhin eure segensreiche Arbeit tun könnt.“ Sorla verneigte sich erneut. „Worüber ich wirklich mit dir reden will, junger Mann, ist der interessante Stab, mit dem du vorhin Wasser hervorzaubertest.“ Aha, dachte Sorla. Sie hat es doch bemerkt, trotz Qualm und Aufregung. „Diesen Stab, mein Lieber, habe ich vor langen Jahren gesehen – als noch die Schlangenkaiser hier regierten. Ich sah Agla Schlangenfreund auf seinem Thron, da war ich ein kleines Mädchen.“ Als sie Sorlas verblüfftes Gesicht sah, lachte sie: „Ja, vor über hundert Jahren, ich weiß. Und es war dieser Stab, den er als Zeichen seiner Würde in seiner Rechten hielt, oder ich müsste mich sehr irren.“ Sorla grinste. „Du irrst dich nicht, ehrwürdige Mutter.“ „Ich weiß aber auch, dass dieser Stab so beschaffen und geschützt ist, dass keiner ihn erwerben, kein Dieb ihn stehlen, kein
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Verbrecher oder Thronräuber ihn an sich reißen kann. Nur der jeweils rechtmäßige Herrscher kann ihn führen.“ „Das stimmt, ehrwürdige Mutter.“ Die alte Priesterin sah ihm streng in die Augen. „Du bist also der Thronerbe, Sorla. Keine Sorge, ich werde dein Geheimnis nicht verraten, denn du hast viele Feinde. Aber ich wünsche dir Glück und Frenas Segen, dass du die Verbrecher, die unser Land zerstören, besiegst und den Thron wieder gewinnst.“
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Zweites Kapitel:
DIE BRUNNENJUNGFRAU Beim Eselverleiher Chastoides herrschte lebhafter Andrang, denn an diesem vorsommerlichen Tag wurde in den Bergen nördlich Ekritmeas, der Kaiserstadt, das Fest der Brunnenjungfrau gefeiert, und viele zogen es vor, den mühseligen Pfad nicht zu wandern, sondern zu reiten. Sorla ritt das Pferd, das ihm als Feuerreiter zustand. Belustigt bahnte er sich seinen Weg durch die Ansammlung ungeübter Eselreiter, welche dem eben gemieteten, ihnen unvertrauten, trotzigen Tier ihren Willen aufzwingen wollten. Einige jedoch kamen mit ihren Eseln recht gut zurecht. Ein Mann mittleren Alters, schlank, dunkelhaarig, mit klugen Augen, trieb mit den Füßen sein Grautier an und schloss zu Sorla auf. „Ein guter Tag, um zur Brunnenjungfrau zu pilgern, junger Herr!“ Sorla nickte. „Ja, viele sind heute unterwegs.“ Weiter achtete er nicht auf den Fremden, der sich auch bald in der Menge verlor. Noch oft wurde er freundlich begrüßt, denn viele erkannten ihn als den mutigen jungen Mann, der vor einem halben Jahr den Feuerreitern beitrat und aus einem enttäuschten und verängstigten Haufen eine entschlossene Einsatztruppe schmiedete, welcher bald auch eine erhebliche Anzahl junger Männer beitrat, die nicht nur Abenteuer und Ehre suchten, sondern hier einen Weg sahen, ihrer Heimatstadt zu dienen. Sorla war ihr unbestrittener Anführer. Am Straßenrand boten Händler die ersten Melonen feil. Als sie Sorla sahen, winkten sie ihm zu: „Hier, junger Herr! Eine süße Melonenscheibe umsonst für den mutigen Feuerreiter!“ Lachend nahm Sorla zwei Scheiben an – eine in jeder Hand – und ließ das Pferd zügellos weiter gehen, während er in die Scheiben biss, dass der Saft tropfte. Die Umstehenden klatschten ihm zu. Ein hagerer Mann mit schwarzem Bart beugte sich von seinem Pferd zu Sorla herüber: „Du hast viel Ansehen im Volk gewonnen, junger Feuerreiter. Wir sind auf dich aufmerksam
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geworden!“ Sorla wischte sich den Mund an einem Tuch, das ihm ein Händler gereicht hatte. „Wer ist das – ‚wir‘?“ „Die Sechs Familien, von denen hast du doch gehört?“ „Nur wenig“, log Sorla. „In den Palästen der Sechs Familien hat es bisher nicht gebrannt.“ Der Hagere lächelte dünn: „Immer einen Scherz auf den Lippen, nicht wahr, junger Mann? Es wird aber Zeit, dass wir uns ernsthaft unterhalten.“ Sorla schwieg. Dass ihm ein Treffen dieser Art bevorstand, hatte er schon lange geahnt, seit er mit seinen Feuerreitern so erfolgreich war und bekannt wurde. „Wir könnten dich gebrauchen, Sorla. Du siehst, wir kennen bereits deinen Namen. Du hast Einfluss, das Volk liebt dich. Du kannst es weit bringen, wenn du dich mit uns zusammentust.“ „Ach, ich weiß nicht ...“ Das Gesicht des Hageren verdunkelte sich. „Vielleicht weißt du noch nicht, was gut für dich ist. Du wirst wieder von uns hören.“ Damit riss er die Zügel seines Pferdes herum und verschwand in der Menge. Sorla ritt nachdenklich weiter. Ihn konnte nicht einmal der Anblick eines erbitterten Städters erheitern, der seinen Mietesel den Berg hinauf schob. Eine Zeitlang ging es durch Olivenhaine und kleine Wäldchen mit Korkeichen, gesäumt von Granatapfel-Hecken. Dann begann der Bergwald aus Kiefern und Steineichen, weiter oben abgelöst von Ginster und Rosmarin. Der Schatten tat gut, doch die Pfade, die wie ein Netzwerk kreuz und quer unter den Bäumen und durchs Gebüsch führten, wurden immer schmaler, steiniger, steiler. Schließlich stieg Sorla ab und führte sein Pferd am Zügel. Weiter vorne ritt der schwarzbärtige Hagere. Sein Pferd schwitzte und zitterte, doch schien das seinen Reiter nicht zu kümmern. Er blickte angestrengt weit voraus, und Sorla sah, wen er so aufmerksam beobachtete: jenen Mann mit den klugen Augen, der ihn an diesem Morgen so freundlich angesprochen hatte. Das beunruhigte Sorla; er wandte seinen Blick nicht von dem Hageren. Da sah er, wie dieser sich mit einem anderen Mann, der sich ohne
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Reittier in der Nähe bewegte, einem jungen Kerl mit öligen Locken, durch Zeichen verständigte. Das geschah unauffällig, doch Sorlas Blick war für derlei geschärft, auch hatte er während seiner Lehrzeit bei den „Verteilern des Reichtums“, einer Diebeszunft im Herzogtum Ailat, die meisten dieser geheimen Zeichen kennengelernt. So verstand er, dass der mit den öligen Locken sich erkundigte, was der „Plan“ sei, und den Befehl erhielt abzuwarten. Schließlich bekam der Junge das Zeichen, den Hageren bei der Beschattung abzulösen. Letzterer ritt davon, und Sorla verlor ihn aus den Augen. „Sorla!“ riss eine fröhliche Stimme diesen aus seinen Gedanken. Agish, der rothaarige Feuerreiter, hielt ihm eine Lederflasche entgegen: „Hier, du bist sicher durstig, mein Anführer! Wir haben alles erledigt, du wirst zufrieden sein!“ Seine grüngelben Augen strahlten. „Davon bin ich überzeugt, Agish!“ „Wir haben die freien Flächen um die Feuerstellen vergrößert, gegen den Funkenflug. Wir haben Wachen aufgestellt, dass niemand woanders ein Feuer anzündet, und wir haben den Teich vor der Heiligen Quelle gereinigt, damit wir im Ernstfall das Löschwasser schneller schöpfen können.“ Sorla lächelte über den Pflichteifer. „Und, Sorla ...“ „Was, Agish?“ „Der Teich ist fast voll. Das Wasser der Heiligen Quelle fließt so klar und reichlich wie schon lange nicht mehr.“ „Schön.“ „Sorla, du bist nicht hier aufgewachsen, daher verstehst du das nicht. Seit vier, fünf Generationen fließt das Wasser immer dürftiger. Damals verschwand der letzte Schlangenkaiser, Agla Schlangenfreund. Die Leute sind jetzt alle ganz aufgeregt, dass die Quelle neue Kraft hat. Man sagt, vielleicht gibt uns die Brunnenjungfrau ein Zeichen.“ „Und du, Agish? Glaubst du das auch?“ „Ich gehöre zu den Sechs Familien.“
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Sorla sah ihn verwundert an: „Das wusste ich nicht, Agish.“ „Ich prahle damit nicht herum. Das Volk liebt uns nicht. Angeblich haben meine Vorfahren Agla Schlangenfreund ermordet. Ich weiß, welche Rolle die Sechs Familien in unserem Land spielen. Ich habe mich deshalb schon oft mit meinem Vater gestritten.“ „Und dass du Feuerreiter wurdest ...?“ „Auch darüber gab es Streit. Es hieß, ich solle lieber lernen, wie man Reichtümer verwaltet, Macht ausübt, die Kunst der Intrige beherrscht. Ich solle mir bewusst sein, dass ich über dem Volk stehe, sagte mein Vater." So gesprächig hatte ihn Sorla noch nie erlebt. Schließlich sagte er: „Es ist nicht leicht, Agish, mit seinem Vater zerstritten zu sein.“ „Wie er will ich nicht werden. Ich habe mir einen anderen zum Vorbild gewählt.“ Seine grüngelben Augen suchten Sorlas Blick, dann senkte er errötend den Kopf. * Versteckt in einer von hohen Felsen umgebenen Schlucht schimmerte der Teich. Auf dem freien Platz davor lagerten die Pilger, brieten Fleischstücke und schmausten, denn es war noch Zeit bis zur abendlichen Anrufung der Brunnenjungfrau. Wer Durst hatte, schöpfte sich das frische Wasser, das aus einer handbreiten Felsspalte in den Teich rieselte. Die Felsgrotte mit der eingefassten Quelle konnte man nur durch einen seitlichen Zugang erreichen, der aber noch verschlossen war. Sorla saß im Kreis der Feuerreiter und beobachtete die Menge. Den merkwürdigen Verehrer Taras sah er, wie er, den Falken auf der Schulter, umherging und zum Kampf gegen den Sumpf aufrief. Dann sah er den Hageren, unweit von diesem auch den jungen Mann mit den öligen Locken. Die beiden taten, als kannten sie sich nicht, doch verzehrte jeder das gleiche mitgebrachte Fladenbrot mit Salatblättern, Schinken und Zwiebeln – ganz
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offensichtlich von derselben Hand hergestellt und in blau kariertes Tuch gewickelt. Sorla lachte heimlich über diesen Kunstfehler. Dann aber fielen ihm noch weitere solcher belegter Brote auf – vielleicht gab es einen Händler, der sie massenhaft verkaufte. Der Mann mit den klugen Augen saß an einer Feuerstelle zusammen mit ein paar Bauern, die sich laut über die Vorzüge des Farren in ihrem Dorf unterhielten. Mit weit ausholenden Gesten und Körperbewegungen untermalten sie ihre Darstellungen. Auch von ihnen hatten zwei ihre Brote in blau kariertes Tuch gewickelt. Als der Mann mit den klugen Augen aufstand, um hinter den Büschen sein Wasser abzuschlagen, blickte der Hagere zwar auf, blieb aber sitzen. Sorla jedoch erhob sich beiläufig und verschwand in eine andere Richtung. Hinter den Bäumen umrundete er den Platz und kam so zu der Stelle, wo der Mann stand und seine Kleider ordnete. „Die haben was vor. Pass auf!“ flüsterte Sorla. „Ich weiß. Ich habe Kurtis gesehen.“ „Da ist noch einer, ein junger Mann mit öligen Locken.“ „Das muss Melfas sein. Er macht für die Sechs Familien die dreckige Arbeit. Danke für die Warnung!“ Sorla ging zurück zum Feuer. Er bedauerte, seinen Vater nicht umarmen zu dürfen, ja, nicht einmal seinen Namen – Tok-aglur – nennen zu können, aus Angst vor den Spitzeln der Sechs Familien. Offensichtlich hatten die Sechs Familien herausgefunden, dass der letzte hernostische Prinz wieder in der Stadt war. Aber dass Sorla Tok-aglurs Sohn war, das sollte zu Sorlas Sicherheit geheim bleiben. Nur die alte Frena-Priesterin wusste Bescheid, auch dass das Thronrecht bereits auf Sorla übergegangen war. Sorla erinnerte sich an das Gespräch, das er mit seinem Vater vor einem halben Jahr führte. „Wieso ich, Vater?“ hatte er gefragt. Tok-aglur hatte gelächelt, doch seine Augen waren traurig. „Weißt du, mein Sohn, ich habe mein Leben verbracht, den Zugang zum Herzen von Batiflim zu finden. Wie sonst hätten wir das Regenszepter wiedergewonnen? Ich musste mich zum Meisterdieb ausbilden, um dem Schlüssel nachzujagen, den dann du gefunden hast. Ich war einsam und durfte keinem trauen. Nun bin ich ein
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Meisterdieb, aber kein Herrscher. Meine Arbeit war nötig, denn sie bereitete dir den Weg. Du dagegen lerntest dies und das, du hast dir Freunde geschaffen innerhalb und außerhalb des Kaiserreiches, selbst bei den Zwergen, den Drachen ... Kurz, mein Lieber, das Recht auf den Thron gebührt dir weit mehr als mir.“ Sorla nickte; er verstand, was sein Vater sagen wollte. Aber was nützte das Recht auf den Thron, wenn die Feinde der Dynastie die Macht im Staate hatten und skrupellos zu ihrem Vorteil zu nutzen verstanden? „Wir müssen die Feinde besiegen!“ hatte Sorla gesagt, ohne zu wissen, wie das zu bewerkstelligen sei. „Zuerst musst du das Volk für dich gewinnen, mein Sorla“, hatte Tok-aglur entgegnet. „Weshalb sollten sie dich als Kaiser anerkennen, wenn sie nicht wissen, ob du wirklich mehr wert bist als Takilis, dieser jämmerliche Ersatzkaiser, den ihnen die Sechs Familien vorgesetzt haben? Aber wenn du ihnen beweist, dass du ein guter Herrscher sein könntest, dann helfen sie dir vielleicht sogar. Die einfachen Leute – Handwerker, Bauern – sind wichtig, aber auch die Händler und Kaufleute, denn sie wollen Sicherheit und Gerechtigkeit, damit der Handel wieder gedeihen kann.“ So planten sie, dass Sorla als Feuerreiter die Eigenschaften beweisen sollte, die man von einem Herrscher erwarten kann: Entschlossenheit, Selbstlosigkeit, Klugheit, Hilfsbereitschaft, Führerschaft – das alles zum Wohle der Gemeinschaft. Der Vorteil war, dass sein öffentliches Wirken ihn bald bekannt machte. „Dann, Sorla, wird jede Waschfrau, jeder Bäcker sagen können: Sorla – das ist doch der mutige Mann, der sich für uns eingesetzt hat. Ja, einen solchen Herrscher wollen wir!“ „Aber ist es richtig, dass ich ihnen als Feuerreiter etwas vorspiele, nur damit sie mich kennenlernen?“ „Unsinn. Du kannst da nur zeigen, was du wirklich bist und kannst. Ein Feigling könnte keinen Mut zeigen, ein Dummer keine Klugheit. Du tust etwas Gutes, und wenn das den Leuten gefällt, umso besser.“ Als ein weiterer, unerwarteter Vorteil stellte sich heraus, dass Sorla eine Gruppe fähiger und mutiger junger Leute um sich
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sammelte, die ihm treu ergeben waren. Ein bisschen mulmig wurde ihm manchmal, wenn sie ihm so völlig vertrauten; sie wussten ja nicht einmal, wer er wirklich war. Ein heftiger Wortwechsel riss Sorla aus seinen Gedanken. In der Mitte des Platzes hatte der Tara-Prediger wie üblich gegen den Sumpf gewettert. Plötzlich war Melfas aufgesprungen, der junge Mann mit den öligen Locken. „Wen meinst du, wenn du vom Sumpf faselst, du Narr?“ rief er und sah sich beifallheischend um. „Giftkröten und Schlammblasen, Leute wie dich!“ kam die Antwort. „Und deine Herren, die sich mästen!“ Da packte Melfas den Tara-Prediger am Arm und zog sein Messer. Im selben Augenblick schrie er auf, denn der Falke hatte sich auf ihn gestürzt und ihm seine Krallen ins Gesicht geschlagen. Melfas taumelte, mit den Armen fuchtelnd, nach hinten und stürzte über einen dort liegenden Esel. Im Gebrüll des erschreckten Tieres und dem Gelächter der Menge ging sein Wutschrei unter; Sorla aber sah sein Gesicht, verzerrt von Schmerz und Wut, als er sich davon stahl. Die Beherrschung zu verlieren, sich von Wut zu undurchdachtem Tun hinreißen zu lassen, war nicht nur ein Kunstfehler, dachte Sorla. Melfas würde von seinen Auftraggebern Entsprechendes zu hören bekommen. Und wirklich sah er, wie Kurtis – scheinbar sich die Fingernägel betrachtend – die Zeichen „Fehler“, „Tadel“ und danach dreimal „Geduld“ machte. * Es war früher Abend, bald sollte die Anrufung der Brunnenjungfrau beginnen. „Wie geht diese Anrufung vor sich?“ fragte Sorla einen der neben ihm sitzenden Feuerreiter. „Nun, die alte Priesterin wird sagen, dass eine Zeit der Dürre herrscht. Sie wird auf die Sechs Familien anspielen. Deshalb ist bei denen das Fest nicht beliebt.“ „Und was tun die dagegen?“
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„Sie können dem Volk nicht verbieten, hierher zu kommen. Die staatlichen Mittel zur Instandhaltung der Tempelgrotte haben sie aber gestrichen.“ Sorla nickte. „Was geschieht sonst noch?“ „Sie wird die Pforte zur Inneren Grotte öffnen und alle einladen, zu kommen und zu trinken. Das Wasser hat heilende Wirkung, manchmal geschieht auch ein Wunder.“ „Und dann?“ „Das war’s, Sorla. Aber jeder kommt gerne. Pech für die zehn von uns, die in der Stadt bleiben mussten.“ Sorla lächelte und sah sich dann wieder um. Kurtis formte eben mit seinen Händen ein paar Diebeszeichen, die besagten: „Bald – im Haus – zuschlagen – keine Zeugen.“ Mit „Haus“ war wohl die Tempelgrotte gemeint. Das Opfer war Tok-aglur; er wurde ja schon morgens beschattet. Offensichtlich wollten die Sechs Familien den Thronerben, für den sie Tok-aglur hielten, aus dem Weg räumen. Die Brunnenpriesterin befand sich, wie man Sorla sagte, in einem Zelt am Rande des Teiches. Zwei Frauen bewachten den Eingang. Sorla ging auf sie zu mit der Bitte, er müsse die Priesterin dringend sprechen. „Du kannst sie jetzt nicht stören, junger Feuerreiter. Sie bereitet ihre Predigt vor.“ „Er soll hereinkommen!“ erklang von innen eine Mädchenstimme. „Es ist doch der junge Sorla, nicht wahr?“ Drinnen war es kühl, die Luft roch nach Algen. Eine Ausbuchtung des Teiches ragte in das Zelt hinein; das Wasser warf grün leuchtende Kringel an die Decke des Zeltes. Eine alte Frau hockte mit gekreuzten Beinen auf einer Decke und blickte auf. Die Augen in ihrem faltigen Gesicht waren grün und überraschend klar. „Nun?“ fragte sie. Ihre Stimme klang wie die eines Mädchens oder einer jungen Frau. „Verehrte Mutter, in der Tempelgrotte ist ein Mord beabsichtigt. Erlaubt mir, mich dort zu verstecken, um die Tat zu verhindern.“ Sie unterbrach ihn mit einer Bewegung ihrer schmalen
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Hand. „Nicht so aufgeregt, mein Junge. Meine Freundin Vinesha hat mir von dir erzählt.“ „Die Frena-Priesterin?“ Die alte Frau lächelte. „Keine Sorge wegen deines Geheimnisses, mein Junge. Wenn jemand über das Regenszepter Bescheid wissen darf, dann wohl ich.“ Sie streckte ihren Arm aus: „Zeig es mir. Ich will wissen, ob Vinesha sich nicht doch geirrt hat!“ Sorla zögerte zunächst, dann legte er die eine Hand auf die andere – das Regenszepter erschien. „Schön!“ flüsterte die Alte mit ihrer jungen Stimme. „Wie lange habe ich dich nicht mehr gesehen!“ Und zu Sorla gewandt: „Es ist also richtig: du sollst der Thronerbe sein. Da hast du noch viel vor dir, mein Junge. Ich muss aber sagen, dass du dich tüchtig anstellst.“ Sorla ließ den Stab wieder verschwinden. „Danke, verehrte Mutter, aber der geplante Mord ...“ Sie winkte mit ihrer schmalen Hand beruhigend ab, ihre grünen Augen blitzten. „Nicht so aufgeregt, mein Junge.“ „Ich muss unbedingt heimlich in die Tempelgrotte ...“ „Das ist dein gutes Recht als Träger des Szepters. Jederzeit bist du hier willkommen.“ Sie beugte sich vor und blickte ihn eindringlich an. „Höre gut zu. Dieser Stab hat große Macht, mehr als du jetzt bändigen könntest, denn du bist noch jung, unerfahren und oft aufgeregt. Eines aber will ich dir verraten: Als Träger des Regenszepters kannst dich im Wasser bewegen und es atmen, so gut wie Luft. Also steige hier in den Teich und gehe in die Tempelgrotte, wie du es wünschst.“ „Wasser einatmen?“ „Der Kniff ist zu wissen, dass du im Wasser zu Hause bist.“ Sorla sah sie verdutzt an. Sie lächelte und schob ihn mit ihrer schmalen Hand vorwärts: „Es ist kalt, aber sehr erquickend!“ Sorla stieg über den Rand hinein ins Wasser; es ging ihm gleich bis an den Hals. Er tauchte den Kopf hinein, das Wasser drückte ihm unangenehm in die Nasenlöcher. Nach Luft ringend kam er wieder hoch und blickte in die grünen Augen der alten Priesterin. „Du zweifelst noch, mein Junge. Habe Vertrauen!“ Damit
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stieß sie ihm wieder den Kopf unter Wasser. Er wollte schreien, verschluckte sich, versuchte nach Luft zu schnappen, doch die schmale Hand hielt ihn unerbittlich fest. Verzweiflung überschwemmte seinen Verstand, er schlug um sich, und als ihm die Sinne schwanden, schien ihm, er sei nach Hause zurückgekehrt. Er atmete tief ein. Das Seltsame war, dass er den Unterschied zur Luft nicht einmal bemerkte. Schnell erholte er sich. Nach zwei Schritten schon war er außerhalb des Zeltes. Der Grund des Teiches war mit runden Steinen ausgelegt, die mit glitschigen grünen Algen bewachsen waren. Von oben leuchtete die Sonne herunter und warf zitternde Muster auf die Steine. Das Wasser roch klar und erfrischend. Sorla tastete sich vorsichtig von Stein zu Stein immer tiefer hinab. Ihn wunderte, dass er nicht nach oben trieb, bis ihm einfiel, dass seine Lungen ja voller Wasser waren. Ein paar Fische huschten an ihm vorbei, bei ihren Kehrtwendungen blitzten die silbrigen Flanken. Ich bin hier zu Hause, dachte Sorla mit neuer Überzeugung. Und er sprach es auch aus, im Wasser: „Ich bin hier zu Hause!“ Die Fische schienen davon nicht beeindruckt. Am anderen Ende war eine dunkle Öffnung zu sehen, die Oberkante wohl zwei Armeslängen unter Wasser. Das musste der geheime Eingang zur Tempelgrotte sein. Sorla trat hinein und hoffte, dass niemand beobachtet hatte, wie er auf dem Grunde des Teiches herum wanderte. Hinter der Öffnung führte ein dunkler Gang aufwärts. Ein schwacher Lichtschimmer war an seinem Ende zu ahnen. Sorla trat ein, da erhob sich vor ihm eine Gestalt, deren Umrisse kaum zu ahnen waren. Zwei Augen leuchteten blassgrau. Darunter schimmerten undeutlich zwei Reihen riesiger Zähne. „Halt, Fremdling!“ gurgelte das Wesen. „Olghûrq lässt dich nicht vorbei!“ „Ich bin hier zu Hause!“ behauptete Sorla, obwohl er nicht so recht überzeugt war. Schließlich hatte er sich von der frischen Erfahrung des Wasseratmens kaum erholt, und dieser Olghûrq war deutlich im Vorteil. „Du bist nicht die Priesterin“, stellte das Wesen fest. „Das stimmt“, erwiderte Sorla. „Du bist ein sehr kluger und
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pflichteifriger Wächter.“ „Ja, es ist jedoch sehr langweilig“, murrte das Wesen. „Seit langer Zeit ist außer der Priesterin niemand mehr vorbei gekommen! Aber wer bist du?“ „Mein Name ist Sorla.“ „Olghûrq frisst dich nur ungern, Sorla, denn mit dir kann man sich gut unterhalten.“ Jetzt erhob sich ein langer Arm; im dämmrigen Gegenlicht zeichnete sich eine riesige Pranke ab. Das erinnerte Sorla an ein früheres Abenteuer mit Trollen. Auf gut Glück sagte er: „Halt, Olghûrq! Tu nichts Unbedachtes, bei Ûr-gqâschps!“ Da hielt das Wesen in seiner Bewegung inne und rief: „Du kennst den Gott der Trolle? Du weißt, dass Olghûrq ein Wassertroll ist?“ „Ja, natürlich“, erwiderte Sorla, als sei es ganz selbstverständlich. „Ich habe viele Trolle und Halbtrolle kennengelernt; und ein Flusstrollweib war meine Ziehmutter.“ Der Wassertroll schwieg eine Zeitlang beeindruckt. Dann sagte er: „Gut, Olghûrq frisst dich nicht. Du musst aber gehen.“ „Warte!“ Sorla schlug mit der flachen Linken auf die geballte Rechte – da hielt er das Regenszepter. „Sieh her!“ sagte er. „Ich bin zu Hause hier!“ „Bei Ûr-gqâschps!“ gurgelte das Trollwesen. „Der Stab der Kaiser! Aber du bist nicht Agla Schlangenfreund! Hast du ihn umgebracht?“ „Ich bin sein Nachkomme und trage das Regenszepter zu Recht.“ „Olghûrq glaubt das, wenn du eine Frage richtig beantwortest. Wenn du lügst, wird Olghûrq dich mit Freude fressen.“ Die Brunnenpriesterin hätte mich warnen sollen, dachte Sorla. Laut sagte er: „Nur zu, Olghûrq, frage mich!“ „Wer hat bestimmt, dass du den Stab tragen darfst?“ Sorla atmete auf. Deutlich war ihm die Erinnerung an das riesige geflügelte Wesen, das als Wärter jener unterirdischen Gewölbe von Batiflim ihm und seinem Vater Tok-aglur entgegentrat. „Du wirst ihn nicht kennen, Olghûrq. Es war ein Wesen
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namens Azluthos.“ Da fuhr die Pranke auf Sorla zu – so schnell und überraschend, dass dieser sich nicht wegducken konnte. Er wurde gepackt –Olghûrg drückte ihn an seinen kalten, bemoosten Wanst und gurgelte: „Willkommen in der Tempelgrotte!“ Dicht vor Sorlas Augen grinsten die Zahnreihen. Sorla brauchte mehrere Atemzüge, um sich von dem Schrecken zu erholen. * Als Sorla auftauchte, musste er noch ein paar Steinstufen hinaufsteigen, dann zwängte er sich an einem Felsen vorbei und befand sich am hinteren Ende der dunklen Tempelgrotte. Ein Rest Dämmerlicht drang durch die Ritzen der geschlossenen Pforte. Das reichte Sorla, sich zurecht zu finden, denn von seiner Mutter Taina hatte er die Elfensicht geerbt: die Gabe, bei fast völliger Dunkelheit noch ausreichend zu sehen. In der Mitte der Grotte befand sich ein kleines Becken – die eingefasste Quelle – von wo aus ein kleines Rinnsal zu einer Felsspalte floss, durch die es nach draußen verschwand. Hier also sollte Tok-aglur ermordet werden, laut Anweisung ohne Zeugen. Sorla überlegte, wie Melfas das durchführen wollte, denn wenn nach der Rede der Priesterin die Pforte geöffnet wurde, dann würden die Leute in einer ununterbrochenen Schlange hereinströmen, einer dicht hinter dem anderen, um an der Quelle einen Schluck des wunderkräftigen Wassers zu trinken. Sie würden dann das Becken umrunden und durch dieselbe Pforte die Grotte verlassen Unter ihnen würde sicher auch Tok-aglur sein – aber eben nicht alleine. Sorla beschloss, sich hinter einer der Skulpturen zu verstecken, welche irgendwelche Menschen in altertümlicher Tracht darstellten. Wie er da stand, hörte er undeutlich die mädchenhafte Stimme der Priesterin, die mit ihrer Rede schon begonnen hatte. Er verließ sein Versteck und eilte hinüber zur Pforte, durch deren
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Ritzen er besser hören konnte. „... stärker fließt als seit langem“, sagte sie eben. „Möge auch das Kaiserreich neue Kraft schöpfen! Und einige von euch sagten mir, sie hätten eine Gestalt am Grunde des Teiches wandeln gesehen – nehmt dies Wunder als Zeichen der Hoffnung! So geht und schöpft Kraft von der Quelle, aus der einst schon Zusnild trank, die Brunnenjungfrau, die Schlangenfee, die Ahnherrin der hernostischen Dynastie! Doch bedenkt, dass dies heiliger Boden ist! Wer den Frieden stört, den ereilt die Strafe, doch wer die Grotte ehrt und ihren Frieden wahrt, dem möge das Wasser gedeihlich sein. Dankt der Brunnenjungfrau für die Gnade des Wassers! Bittet sie um Hilfe, so ihr sie braucht! Möge sie uns gnädig sein!“ Sorla schöpfte sich etwas von dem gepriesenen Wasser, murmelte: „Zusnild, ich grüße dich!“ und huschte zurück in sein Versteck. Wo er stand, konnte er leicht für einen Schatten gehalten werden, er selbst aber hatte einen guten Überblick und konnte jederzeit sein Wurfmesser schleudern, sollte dies nötig werden. Der Riegel der Pforte wurde geräuschvoll beiseite geschoben, der Eingang langsam und feierlich geöffnet. Umstrahlt vom letzten Tageslicht schritt die Priesterin hindurch. Sie trug eine Lampe, die sie am Rand der eingefassten Quelle nahe dem Rinnsal absetzte. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie sich, wie Sorla bemerkte, unauffällig um, entdeckte ihn in seinem Versteck und zwinkerte ihm zu. Kurz hatte Sorla den Eindruck, sie sei in Wahrheit ein Mädchen, das nur unzureichend die Rolle einer alten Frau spielte. Doch schon ging sie würdevoll weiter, umrundete das Becken und verließ die Grotte. Nun kamen die Besucher der Quelle. Voller Erwartung und Andacht traten sie heran, einer nach dem anderen, beugten sich bei der Lampe zum Rinnsal, äußerten eine Bitte oder sprachen ein Gebet und schöpften eine Handvoll des wundertätigen Wassers. Genauso still und feierlich schritten sie wieder hinaus, im offenkundigen Bewusstsein, einer uralten Tradition Genüge geleistet und etwas Gutes für sich getan zu haben. Im flackernden Licht der Lampe schien es manchmal, als ob die altertümlich gewandeten Steinfiguren sich regten. Dies machte
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die Stimmung in der Tempelgrotte noch geheimnisvoller und wunderbarer. Sorla, der hinter einer dieser Figuren stand, konnte sich dem Zauber des feierlichen Heranschreitens, Betens und Wasserschöpfens kaum entziehen, obwohl er nicht teilnahm, sondern nur beobachtete. Jetzt erschien auch sein Vater und kam, gemäß seinem Platz in der Warteschlange, immer näher. Sorla war überrascht, wie ernst er wirkte. Als Tok-aglur bei der Lampe ankam, kniete er nieder. Sorla hörte ihn flüstern: „Oh Zusnild, verehrte Ahnin! Gib, dass ich meinen Verzicht würdig trage und meinem Sohn eine Hilfe bin, unserem Lande zu dienen!“ Eine Welle von Schamgefühl durchflutete Sorla. Er hatte seinen eigenen Vater belauscht, dessen innerste Gedanken ausgehorcht! Zugleich war er voller Liebe und Stolz, diesen Mann zum Vater zu haben. Jetzt erst erschien Melfas in der Pforte, viel zu weit entfernt, um Tok-aglur angreifen zu können, außerdem befanden sich noch zehn weitere in der Grotte – wie sollte es da ohne Zeugen abgehen? Dennoch griff Sorla, um bereit zu sein, nach seinem Wurfmesser. Da spürte er, wie eine kalte Hand seine Rechte packte. Zugleich hielt ihm eine riesige Pranke den Mund zu. „Nicht den Frieden stören!“ murmelte Olghûrg ihm ins Ohr, denn er war es, der sich lautlos herangeschlichen hatte. „Kein Messer!“ „Ich muss meinem Vater helfen!“ versuchte Sorla zu flüstern, doch die Pranke machte es ihm unmöglich. Hilflos sah Sorla zu, wie Melfas die Pforte hinter sich zuzog. Zugleich fielen die Männer, die in der Reihe vor oder hinter Tok-aglur gingen, über diesen her. Tok-aglur duckte sich, schlug um sich, machte sich frei, aber die übrigen eilten hinzu – alle zehn in der Grotte – und hielten ihn fest. Ich habe Melfas unterschätzt, durchfuhr es Sorla. Ein Kunstfehler! Was hätte ich gegen die ganze Mörderbande ausrichten können? „Die stören deinen schönen Frieden, Olghûrq!“ murmelte er erbittert in dessen Pranke. Der Wassertroll schien ihn verstanden zu
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haben, denn er gurgelte leise in Sorlas Ohr: „Es geht alles seinen Gang!“ Was mochte das wieder bedeuten? „Nun, Prinz!“ höhnte Melfas. „Bist du uns endlich in die Falle gegangen! Hattest du gedacht, wir schauen tatenlos zu, wie du versuchst, die Dynastie wieder zu beleben?“ „Wie wollt ihr mich töten, ohne Spuren zu hinterlassen?“ fragte Tok-aglur scheinbar unbeeindruckt. „Berufliches Interesse, Herr Meisterdieb? Es ist ganz einfach. Mein Freund, der Zauberer Irkansel, hat mir dies hier mitgegeben!“ Prahlerisch hob Melfas eine Glasphiole hoch, in der eine bräunliche Flüssigkeit schwappte: „Damit wirst du eingerieben, und du löst dich in Luft auf. Puff – weg bist du!“ „Nicht schlecht!“ lobte Tok-aglur, als ob es nicht ihn beträfe. Melfas grinste und drehte den Stöpsel aus der kleinen Flasche. Im selben Augenblick warf sich Tok-aglur zurück und trat gegen die Flasche, so dass diese in die Luft flog, in der Luft sich drehte ... Da geschah plötzlich etwas ganz Seltsames. Alle Bewegung erstarrte, die Männer standen wie gefroren da, selbst das Wasser hörte auf zu plätschern, seine Wellen standen still wie aus Stein gemeißelt. Die Flasche schwebte noch immer in der Luft. Nur Olghûrq war nicht betroffen. Er ließ von Sorla ab, der ebenfalls festgebannt da stand, ohne auch nur eine Wimper zu rühren oder zu atmen. Dann watschelte er zur Mitte der Grotte und stellte sich neben die Gruppe um Tok-aglur. „Gerade im richtigen Augenblick, verehrte Brunnenwächter!“ stellte er fest. Da merkte Sorla, dass die altertümlichen Steinfiguren in Wahrheit lebten und sich bewegten. „Willst du sie alle, Olghûrq?“ fragte ein Mann mit hoch gezwirbeltem Schnurrbart. „Einer reicht“, gurgelte dieser. „Der dort!“ Damit deutete er mit seiner Pranke auf Melfas und öffnete sein Maul zu einem riesigen Grinsen. Und Sorla dachte, wie entsetzt dieser jetzt sein musste, denn sicher bekam er trotz seiner Starrheit alles genauso mit wie Sorla selbst. „Du kannst ihn haben“, nickte der Wächter. „Sonst etwas?“
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„Olghûrq bittet, den jungen Mann dort hinten aus der Zeitfalle zu lösen und zu befragen, bevor ihr mit der Bestrafung beginnt.“ „Es sei!“ nickte der Schnurrbärtige. Da konnte Sorla sich wieder bewegen. Seine Knie waren aber schwach vor Entsetzen; er musste sich bemühen, nicht zu stolpern, als er nach vorne zu Olghûrq ging. „Verehrte Wächter dieser Grotte“, begann er mit heiserer Stimme. Dann erzählte er alles, was auch schon Olghûrq, die Brunnenpriesterin und die alte Vinesha wussten, und mehr: Name, Herkunft, Thronrecht, Absichten und schließlich, weshalb er hier in der Brunnengrotte war. Die Wächter hörten zu und wollten nur manchmal Genaueres wissen. „Gute Neuigkeiten!“ sagte der Schnurrbärtige, zu den anderen Steinfiguren gewandt. Diese murmelten zustimmend. „Leider können wir dem jungen Thronerben außerhalb der Grotte nicht helfen.“ „Was die Friedensstörer betrifft“, meldete sich eine ältere Frau zu Wort, „liegt die Art der Bestrafung diesmal auf der Hand, nicht wahr?“ Alle nickten, und die Frau trat vor, griff sich die Flasche aus der Luft und beträufelte die zehn Männer, die Melfas geholfen hatten, mit der bräunlichen Flüssigkeit. Es dauerte nur ein, zwei Atemzüge, da waren sie einer nach dem anderen in der Reihenfolge, wie sie beträufelt wurden, – puff – verschwunden. Es war schrecklich und komisch zugleich anzusehen. Nun packte sich Olghûrq Melfas und verschwand mit ihm nach hinten, wo der geheime Gang aus dem Teich mündete, um ihn sich, wie er sagte, in Ruhe schmecken zu lassen. Tok-aglur stand als einziger noch reglos da, nach hinten gekippt, ein Bein nach oben geworfen. Obwohl ihn nichts stützte, fiel er nicht. „Und dieser?“ fragte die Frau. „Auslöschung der Erinnerung an das Vorgefallene?“ „Nein!“ mischte sich Sorla ein. „Prinz Tok-aglur ist in der Lage, das Erlebte zu überstehen und für sich zu behalten. Wer sonst
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als ein Angehöriger der alten Dynastie hat das Recht, über die Geheimnisse der Brunnengrotte Bescheid zu wissen?" „Und das gilt sicher auch für dich“, lächelte der Schnurrbärtige. „Es sei.“ Da plötzlich plätscherte wieder das Wasser, Tok-aglur fiel nach hinten, doch Sorla sprang hinzu und konnte ihn gerade noch auffangen. Die Steinfiguren aber standen starr wie eh und je. Tok-aglur sah seinen Sohn an, ohne zu lächeln. „Ich hätte das geschafft, Sorla! Die Flasche hätte sie alle bespritzt – und puff!“ Sorla nickte mit ebenso ernstem Gesicht. „Aber klar, keine Frage.“
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Drittes Kapitel:
DER DUNKLE SAAL „Mein Vater möchte dich kennenlernen“, sagte Agish. Er strich sich die roten Locken aus der Stirn. Sorla wandte sich ihm zu, den Arm um den Hals des Pferdes gelegt, das er eben gestriegelt hatte. „Was will er? Kürzlich sagtest du, er möchte dich nicht bei uns sehen!“ „Er hat seine Meinung geändert, Sorla. Er sieht, dass die Arbeit mir Freude macht. Und jeder in der Stadt spricht lobend über uns.“ Nachdenklich blickte Sorla in Agishs stolz glühendes Gesicht. Hier war keine Arglist zu erkennen, aber das sagte nichts über die Absichten des Vaters. Andererseits war eine Falle kaum zu befürchten, solange die Sechs Familien nicht wussten, dass Sorla Tok-aglurs Sohn war. „Nun gut, Agish“, sagte er. „Dir zuliebe.“ „Danke!“ Agishs grüngelbe Augen strahlten. „Du wirst sehen, mein Vater hat seine guten Seiten. Vielleicht entschließt er sich, unsere Arbeit zu unterstützen!“ * Der Saal aus weißem Marmor öffnete sich zu einer Veranda, von der breite, anmutig geschwungene Stufen hinab auf eine weite Parklandschaft führten. Die sanfte Brise duftete nach Jasmin. „Bitte setzt euch!“ sagte der alte Diener und wies auf die weichen Kissen im Schatten der Veranda. „Prinz Hoglesh wird gleich Zeit finden, euch zu begrüßen.“ Prinz Hoglesh? Sorla wußte von keinem hernostischen Prinzen außer seinem Vater. Nachdenklich sah er Agish an, der ihm aus einer Karaffe gekühltes Zitronenwasser einschenkte. „Mein Vater ist immer sehr beschäftigt“, sagte dieser. „Aber
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da ist er schon!“ Ein weißgekleideter schlanker Mann um die Fünfzig durchquerte den Saal und kam lächelnd auf sie zu. Er hatte die gleichen grüngelben Augen und roten Haare wie Agish. „Ah, mein Sohn!“ begrüßte er Agish und ließ ihn seine Hand küssen. „Und dies muss dein Freund Sorla sein, von dem du so viel erzählt hast!“ Nach dem gebührenden Austausch weiterer Höflichkeiten setzten sie sich. Prinz Hoglesh reichte ein Schälchen gewürzter Oliven herum, während er freundlich mit Agish und Sorla plauderte. Dabei kam er – recht geschickt, wie Sorla fand – vom Wetter über das Wirken der Feuerreiter auf Sorla selbst zu sprechen. „Ich höre, dass du erst vor einem halben Jahr zu den Feuerreitern gestoßen bist. Inzwischen kennt dich jeder in dieser Stadt. Es gibt Töchter aus gutem Hause, die wollen ein Kind von dir.“ „Nun ja.“ „Du bist ein vielversprechender junger Mann! Hättest du Lust, uns bei schwierigen Aufgaben zu helfen, wo es um Findigkeit und persönlichen Einsatz geht?“ Sorla lächelte höflich. „Einen ähnlichen Vorschlag hörte ich vor ein paar Wochen. Ein Mann namens Kurtis sprach mich an, die Sechs Familien hätten Verwendung für mich. Ich habe aber nichts mehr von ihm gehört.“ „Ach, Kurtis!“ sagte Prinz Hoglesh wegwerfend. „Er hat damals eine wichtige Sache völlig vermasselt.“ Wie eine finstere Wolke überflog eine kaum verdeckte Wut sein Gesicht, dann glättete es sich wieder. „Aber nichts ist endgültig verloren. Ich hätte da einen Vorschlag ...“ Es lief darauf hinaus, dass die Sechs Familien den Feuerreitern hundert Goldstücke spenden wollten, wenn es Sorla gelänge, den Aufenthalt von Tok-aglur, einem flüchtigen Verbrecher, auszukundschaften, der sich zu allem Übel für einen hernostischen Prinzen ausgab. „Er soll aber sehr geschickt und gefährlich sein, also Vorsicht!“ „Ist dafür nicht die Stadtwache zuständig?“ fragte Sorla harmlos.
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„Sicher. Aber sie haben ihn nicht gefunden. Dieser Verbrecher hält sich versteckt. Wir haben bereits eine Belohnung von zwanzig Goldstücken ausgesetzt und entsprechende Plakate aufgehängt – ohne Erfolg. Nein, da braucht es jemanden mit Glück und Eingebung, jemanden wie dich.“ Er lächelte Sorla an und stand auf. „Entschuldigt mich, meine Arbeit ruft mich!“ Kaum war er gegangen, wandte sich Agish voll Stolz an Sorla: „Ist das nicht herrlich? Hundert Goldstücke – dafür können wir das Stalldach ausbessern, die acht Pferde für unsere Neuen besorgen, Futter für das ganze Jahr, und wir haben noch gut die Hälfte übrig!“ „Aber ich will nicht auf Verbrecherjagd gehen, Agish.“ „Was meinst du damit? Es ist nur ein kleiner Gefallen, Sorla. Außerdem, wenn mein Vater etwas will ...“ * Als Sorla den Alten Wall, wie man die Prachtstraße zwischen dem Hafen und dem Tempel-Platz „Ehrt die Sonne“ nannte, entlang ritt, umringte ihn eine Gruppe von FrenaPriesterinnen, um ihn zu begrüßen. Sorla stieg ab und erwiderte ihre Umarmungen. „Die Sechs Familien haben ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt!“ murmelte er einer davon ins Ohr, während er eine andere Priesterin anlächelte, die aber sein Spiel mitspielte. „Sie haben sogar mich beauftragen wollen!“ Tok-aglur, glatt rasiert und auch sonst von den halb verschleierten Priesterinnen kaum zu unterscheiden, nickte. „Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen. Ich kann mich nicht ewig nur verstecken.“ Er rückte den einen Busen zurecht, der etwas ins Rutschen gekommen war. „Wie können wir den Sechs Familien beikommen?“ „Wir müssen ihren wunden Punkt herausfinden, sie schwächen.“
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„Sollen wir uns diesen Irkansel vornehmen?“ schlug Sorla vor. „Von ihm hatte Melfas das Zaubermittel. Vielleicht hilft er auch sonst den Sechs Familien.“ „Eine Nummer zu groß für uns, fürchte ich. Ich melde mich wieder.“ „Grüße die ehrwürdige Mutter Vinesha von mir.“ Sorla stieg wieder auf und ritt weiter. Von dem Platanenzweig über ihm löste sich ein Falke und flog, einen Schwarm Tauben aufschreckend, hinauf und über die Dächer davon. Das gab Sorla zu denken, denn Falken wagten sich gewöhnlich nicht in die Stadt. Kurze Zeit später, am Hafen, winkte ihm der Verehrer Taras zu, seinen Falken auf der Schulter. „Tara zum Gruß, mein Freund. Ich muss dich sprechen!“ „Ich sah deinen Falken!“ sagte Sorla. „Er hat euch belauscht“, flüsterte der Mann, obwohl sonst keiner in der Nähe war. „Dich und den verkleideten Mann. Ist das der Verbrecher, den die Sechs Familien suchen?“ „Was geht’s dich an? Wer bist du überhaupt?“ „Nenne mich Tara-engu – den Diener Taras. Wir haben gemeinsame Feinde und müssen zusammenarbeiten.“ „Nun, ich heiße Sorla. Aber was willst du von einem Feuerreiter? Und welche Feinde meinst du?“ Tara-engu runzelte die Stirn. „Für vorgetäuschte Dummheit ist nicht die Zeit. Irkansel bereitet etwas Großes und Furchtbares vor, von dem er sich weitere Macht erhofft. Viele Mitglieder der Sechs Familien werden daran teilnehmen. Wir müssen herausfinden, was da vorgeht, und vielleicht Schlimmes verhindern.“ „Du scheinst mehr zu wissen als nur das, Tara-engu.“ „Ich sehe manches voraus – Feuer zum Beispiel, alle Arten von Gefahren, in denen ein Held sich bewähren muss, wenn Tara an ihm Freude finden will. Ich erkenne, wer zu einem solchen Helden taugt. Vor allem aber spüre ich dem Bösen nach.“ Er rollte bedeutungsvoll die Augen und sah dadurch nur verwirrter aus. „Sind die Sechs Familien böse?“ „Pah, das sind bloß Menschen. Der Sumpf ist es – den müssen wir bekämpfen.“ Tara-engu ballte zitternd die Faust.
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Sorla schaute den Eiferer zweifelnd an. Wie sollte dieser sonderbare Mensch ihm helfen – und war ihm überhaupt zu trauen? Tara-engu musste seine Zweifel gespürt haben; er legte die Hand auf den Arm und flüsterte: „Frage Mutter Vinesha, wenn du an mir zweifelst.“ „Das werde ich tun.“ Sorla ritt weiter zum Platz „Ehrt die Sonne“. Dort stand der alte Anod-Tempel, ein ehemals prächtiges Gebäude, jetzt aber heruntergekommen. Die Außenwände waren bekritzelt und mit allerlei Plakaten beklebt, auch dem Aufruf, den flüchtigen Verbrecher Tok-aglur gegen Belohnung aufzuspüren. Die farbigen Mosaike auf dem Vorplatz, welche die Sonne verherrlichten, waren schadhaft, in den Lücken hatte sich Unkraut angesiedelt. Zwischen den Säulen tummelten sich herrenlose Hunde. Das große Portal war mit Brettern vernagelt. Sie ließen nur einen kleinen Durchgang. Hier gab Sorla einem Jungen die Zügel seines Pferdes zum Halten. „Wird gemacht, Sorla!“ Bewundernde Augen blickten ihn an. Sorla schob die Behelfstür beiseite und trat in die dämmrige Vorhalle ein. Von hier führten zwölf Stufen hinab zum eigentlichen Tempel. Im Unterschied zum Äußeren des Tempels wirkte das Innere sauber, alles war in Stand. Allerdings merkte man, dass gespart werden musste. Es fehlte an Kerzen, in den Ampeln war kein Öl. Nur in einer Nische schimmerte es hell; dort leuchtete das Ewige Licht Anods über einem kleinen Altar. Ein Priester in abgetragenem Gewand, der beschäftigt war, den Boden nass zu schrubben, wandte sich überrascht dem Eintretenden zu, als dieser ein herzliches „Anod zum Gruß!“ durch den Raum hallen ließ. „Anod zum Gruß!“ kam es mürrisch zurück. „Du bist der Feuerreiter, von dem die Leute reden. Was willst du hier?“ Der Priester musterte ihn kritisch. „Ich will den Obersten Priester sprechen.“ „Ach, und weshalb?“ „Wichtige Angelegenheiten des Landes.“
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Der Priester legte den Scheuerlappen über den Rand des Eimers und richtete sich auf. „Der Oberste Priester ist nicht zu sprechen.“ „Wann kann ich ihn sprechen?“ „Giaruron ist verreist. Du musst schon mit mir vorlieb nehmen.“ „Oh!“ sagte Sorla, „Verzeiht!“ und betrachtete den ärmlich gekleideten Priester mit seinem Putzeimer genauer. „Wir sind bloß noch zu zweit hier“, fuhr dieser bissig fort. „Der andere Priester ist gerade unterwegs, Spenden erbetteln.“ „Ich war letztes Jahr in Kaharad“, sagte Sorla. „Der AnodTempel dort ist reich und prächtig, er wimmelt von Priestern. Wieso ist es hier in Ekritmea so ... anders?“ Der Priester bückte sich nach seinem Scheuerlappen – ein deutliches Zeichen, dass er lieber weiter aufgewischt hätte als dieses Gespräch zu führen. „Wenn du länger in Ekritmea gelebt hättest als nur dieses halbe Jahr, dann wüsstest du, dass es hier einflussreiche Kreise gibt, die, um es gelinde auszudrücken, am Kult Anods kein Interesse haben.“ „Der Anod-Kult ist doch die staatstragende Religion in Hernoste – der Sonnenheld, der uns wärmt und erleuchtet!“ „Stimmt durchaus, aber die genannten einflussreichen Kreise ...“ „Die Sechs Familien?“ „Wie auch immer. Diese Kreise scheinen die Sonne nicht zu lieben.“ Er hing kurz seinen Gedanken nach, dann setzte er hinzu: „Oder sie lieben diesen Staat nicht. Und dies bringt mich zurück zu meiner Frage: Was willst du hier? Was meinst du mit ‚wichtige Angelegenheiten des Landes‘?“ „Wie steht der Anod-Tempel zu Takilis?“ „Nun, er ist unser Kaiser, oder?“ Sorla lächelte bitter. „Ich hörte, er wurde von den Sechs Familien eingesetzt, nachdem der rechtmäßige Kaiser ermordet wurde.“ „Takilis ist nicht der erste Kaiser nach Agla Schlangenfreund, und dessen Ermordung ist übrigens nicht
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bewiesen. Bist du hier, um mich auszuhorchen?“ „Niemand hat mich beauftragt. Aber ich möchte wissen, was du denkst.“ Der Priester blickte ihn nachdenklich an. „Kürzlich kam ein Bote aus Kaharad, von dem Tempel, den du erwähntest. Er berichtete viel Wunderbares und sprach auch über dich. Mehr mag ich nicht andeuten, denn die Wände haben Ohren.“ „Es scheint, dass dieser Anod-Tempels wahrhaftig sehr viel Macht eingebüßt hat, wenn du dich im eigenen Hause fürchtest, deine Meinung zu sagen.“ Der Priester sah ihn zornig an. „Wenigstens gibt es den Tempel noch. Solange wir uns ruhig verhalten ...“ Er wurde unterbrochen durch das Geräusch von Schritten und horchte. Dann entspannte sich sein Gesicht. „Es ist nur der andere Priester.“ „Ostarfindis!“ klang es von der Treppe her. „Weniger als ein Goldstück! Die Leute lachten bloß, als ich sie ansprach!“ Jetzt war der Sprechende zu sehen: ein kleiner, dicker Mann, der trotz seines enttäuschten und wütenden Gesichtes den Eindruck machte, als wäre er im Grunde ein fröhlicher Mensch. Überrascht sah er Sorla an. „Bei Anod! Welch erfreulicher Besuch! Du bist doch Sorla, der Feuerreiter, oder? Ich bin Plosek, der Rest der Priesterschaft.“ Sorla nickte lächelnd. „Wir haben uns über die Geschicke des Landes und den Machtverlust des Anod-Tempels unterhalten.“ „Hah!“ rief Plosek. „Mein verehrter Freund Ostarfindis hofft, das Überleben unseres Tempels zu retten, indem wir nicht auffallen. Das ist falsch! Die Leute nehmen uns nicht ernst! So erreichen die Anod-Gegner, was sie wollten.“ „Aber wenn sie uns auslöschen – was soll uns das helfen, Plosek?“ „Wir müssen den Leuten zeigen, dass man sich wehren soll, Ostarfindis!“ „Dann sehen sie nur, wie schwach wir sind!“ „Das sehen sie schon jetzt, wenn sie sich noch die Mühe machen, auf uns zu achten!“ Erstaunt lauschte Sorla diesem Meinungsaustausch. Es
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klang so eingeübt, als sei dasselbe schon oft gesagt worden. Er schaltete sich ein: „Ich dachte, Anod sei ein mächtiger Gott und verleihe seinen Priestern Kraft, seinem Kult Ansehen zu verleihen? In Kaharad sah ich, wie große Macht ausgeübt wurde.“ Ostarfindis seufzte. „Junger Feuerreiter! In Kaharad wird Anod mit großer Kraft verehrt. Also gewährt er seinen Priestern große Macht. Aber hier ...“ „Ich verstehe“, sagte Sorla. „Vergesst, dass ich hier war.“ Damit wandte er sich ab und ging. Er war so enttäuscht und zornig, dass er zunächst gar nicht merkte, wie ihm draußen der Junge die Zügel seines Pferdes hinhielt. * Hinter dem riesigen Materialhof des Bauunternehmers Standoris wurde abends Abfall verbrannt. Als überraschend Wind aufkam, flogen Funken in das gestapelte Bauholz und setzten es in Brand. Die Flammen loderten hoch auf; dahinter schliefen die Bausklaven in ihren schäbigen Baracken. Jetzt rannten sie schreiend heraus – vor ihnen das Flammenmeer, hinter ihnen der senkrechte Hang des ehemaligen Steinbruches, in den die Baracken hinein gebaut waren. Sie versuchten hochzuklettern, aber vergeblich, an dem bröckeligen Gestein fanden sie keinen Halt und fielen regelmäßig zurück. Sorla und seine Leute versuchten gar nicht erst, das Feuer zu löschen; es gab weit und breit kein Wasser, und der Ochsenkarren mit Wasser war zwar unterwegs, doch das konnte noch dauern. Stattdessen schlugen sie einen weiten Bogen, um von hinten auf die obere Kante des Steinbruchs zu gelangen. Vom Materialhof hatten sie Seile mitgebracht, die banden sie an den Stämmen der kleinen, stachligen Steineichen fest und ließen sie zu den Leuten unten herunter, die schon die Arme reckten. Einer jedoch schaffte es nicht hochzuklettern, denn er hatte zwei Tage zuvor seinen Arm gebrochen. Nun stand er dort unten, als
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letzter, und schrie um Hilfe, während der Qualm ihn schon umwaberte und zunehmend verbarg. Sorla packte eines der Seile und schwang sich über die Kante. Der Mann war in den dunklen Schwaden nicht mehr zu sehen, doch hörte man seine von Hustenanfällen unterbrochenen Schreie, Flammen züngelten durch den Rauch. Sorla hangelte sich am Seil hinab, hinein in Qualm und Hitze, bis er festen Boden unter den Füßen spürte. Er ließ das Seil fahren, schlug die Hände ineinander – da hielt er das dunkelblaue Regenszepter. Wasser sprudelte hervor, strömte über Sorla und den Mann, der bewusstlos am Boden lag, bildete Pfützen, dampfte und drängte Rauch und Flammen zurück. Sorla wand das Seil um den reglosen Leib des Mannes und ließ ihn hochziehen, während die Flammen schon gierig nach ihm züngelten. Er selbst kletterte an einem anderen Seil hinterher. Den Stab hatte er wieder verschwinden lassen. Als endlich der Ochsenkarren mit den vollen Wasserfässern heran rumpelte, waren die Baracken zu Asche verbrannt, aber alle Männer gerettet. Der Mann mit dem Falken trat an Sorla heran und schlug ihm auf die Schulter: „Gut gemacht, bei Tara!“ Sorla lachte. „Ich habe mich bei Vinesha erkundigt, Taraengu. Was willst du also?“ „Heute Abend treffen sie sich.“ Tara-engu rieb sich die Hände, als wäre dies eine freudige Nachricht. „Im Turm des Zauberers Irkansel. Etwas Grauenhaftes wird geschehen, wenn wir es nicht verhindern.“ „Dieser Turm steht auf einem hohen Felsen“, entgegnete Sorla. „Wie kommen wir unbemerkt hinein?“ „Ich habe mich umgesehen. Es gibt einen geheimen Zugang. Aber ob wir lebend wieder herauskommen, ist eine andere Frage, bei Tara!“ Am selben Abend trafen sie sich am Hafen, wo Tara-engu ein Ruderboot gemietet hatte. Im abendlichen Dämmerlicht ruderten sie aus dem Hafen heraus und dann die felsige Küste entlang. Bald brach die Nacht herein, die Klippen ragten schwarz in den dunklen Himmel.
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„Hier irgendwo muss die Grotte sein“, sagte Tara-engu. „Wenn es nur nicht so dunkel wäre!“ Sorla konnte die Felsen noch gut erkennen und deutete auf ein schwarzes Loch, neben dem rechts und links die Gischt weiß gegen die senkrechten Klippen schäumte: „Hier hinüber!“ Sie ruderten näher, hielten sich von den muschelbewachsenen Felswänden fern und erreichten die Grotte. Der Falke auf Tara-engus Schulter duckte sich tiefer. Da glomm etwas in hellblauem Schimmer auf – ein kleiner Stein, der ihnen voraus schwebte und mit seinem Licht die Grotte freundlich erhellte. „Was ist das?“ flüsterte Tara-engu. „Mein Gnomenstein“, antwortete Sorla. „Mein Glygi, den ich als Kind bekam. Jeder Gnom hat so einen, und ich lebte bei ihnen.“ „Aha“, sagte Tara-engu beeindruckt. „Von Glygis habe ich gehört. Sollen richtig klug sein, diese Dinger. Endlich sehe ich einen.“ Sorla lächelte und ruderte weiter. Solange sein Glygi friedlich leuchtete, war nicht zu befürchten, überrascht zu werden, denn dieser kleine Gnomenstein spürte jede fremde Anwesenheit. Die Grotte stellte sich als Höhle heraus, die tief in den Berg hinein führte. Die Brandung war nur von fern zu hören; nur schwach kräuselte sich das dunkle Wasser, auf dem sich das blaue Licht des Glygi zitternd spiegelte. Plötzlich hob Tara-engu die Hand. Auch Sorla hörte es jetzt: Von weiter vorne, hinter der nächsten Ecke, klang merkwürdiges Platschen, und immer wenn es gerade nachließ, hörte man gedämpft streitende Stimmen. Sorlas Glygi war erloschen, doch von vorne, aus der Richtung der Stimmen, schimmerte es hell. „Wie konntest du so ungeschickt sein!“ sagte jemand wütend. „Bei Anod! Wie soll ich sehen, wohin ich rudere? Du hättest mich warnen sollen!“ „Es war eine Dummheit, hierher zu kommen, Plosek. Du hast uns ins Verderben geführt!“ „Ostarfindis!“ kam es erbittert zurück. „Wessen Traum war
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es, der uns diesen Auftrag gab?“ „Nur ein Traum! Ich hätt’s dir nicht erzählen dürfen. Nun ist das Ewige Licht verloren!“ Sorla nickte Tara-engu beruhigend zu. „Ich kenne die beiden!“ flüsterte er. Sie ruderten weiter. Hinter der nächsten Ecke weitete sich die schmale Höhle zu einer großen Halle, einem Höhlensee, aus dessen Tiefe ein seltsames weißes Licht strahlte und die ganze Halle erhellte. In der Mitte des Sees ragte ein kleiner Fels hervor, daneben standen die beiden Anod-Priester bis zum Hals im Wasser und schöpften Wasser aus ihrem vollgelaufenen Boot. Als sie die Neuankömmlinge sahen, hielten sie erschreckt inne. „Anod zum Gruße!“ sagte Sorla, und Tara-engu winkte ihnen freundlich zu, wobei der Falke fast den Halt auf seiner Schulter verlor. „Der junge Sorla!“ murmelte Ostarfindis erbittert, als ob alles dessen Schuld sei. „Mir träumte, ich sollte dich hier treffen. Das Ewige Licht Anods sollte ich mitnehmen – nun sieh, was geschehen ist!“ Er wies ins Wasser vor ihm: „Dort unten liegt es, weil Plosek, dieser Tölpel, unser Boot gegen den Felsen gefahren hat!“ „Ostarfindis!“ wandte der Gescholtene ein. „Dass Sorla tatsächlich hier ist, beweist, dass wir Recht hatten, deinen Traum ernst zu nehmen. Es war Anods Wille; wir dürfen nicht lästern!“ Tara-engu war bisher beschäftigt gewesen, seinen Falken zu beruhigen. Nun flüsterte er geheimnisvoll: „Wisst ihr, weshalb Anod euch hierher geführt hat?“ Die beiden Priester sahen ihm erwartungsvoll in die weit aufgerissenen Augen. „Das Böse lauert hier!“ murmelte Tara-engu. „Wir müssen es besiegen, auch wenn es unser Leben kostet!“ „Unser Leben?“ wiederholte Plosek mit bedenklichem Gesicht. „Unser Leben“, entgegnete Ostarfindis mit plötzlicher Entschlossenheit und straffte seine Haltung, „würde wieder einen Sinn gewinnen. Was sind wir denn? Anod-Priester ohne Macht und Aufgabe. Ob Anod uns strafen will oder uns zum Sieg führt, wir
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müssen ihm gehorchen.“ Tara-engu schlug ihm zustimmend auf die Schulter, sein Falke flatterte wild, um das Gleichgewicht zu halten. „Kommt, steigt in unser Boot. Das eure ist sowieso zu klein und wir haben nicht die Zeit, es leerzuschöpfen.“ Plosek nickte widerstrebend. „Schön, du hast Recht. Wir gehen mit. Aber nur ungern lassen wir das Ewige Licht Anods auf dem Grunde dieses Sees zurück!“ Da fiel Sorla ein, was er beim Fest der Brunnenjungfrau gelernt hatte. „Keine Sorge“, sagte er und ließ sich über den Rand des Bootes ins Wasser gleiten. Das Wasser kroch ihm kalt unter den Kleidern hoch, und wie Sorla mit dem Kopf untertauchte, kostete es ihn kurz Überwindung, doch dann atmete er wie selbstverständlich, ließ sich auf den sandigen Grund hinab gleiten, wobei er einen kleinen Schwarm silbern glitzernder Fische aufscheuchte, und ging auf die Quelle des Lichtes zu. „Wie einfach!“, dachte er. „Jeder hätte hier hinab tauchen können, auch ohne Wasser zu atmen.“ Doch wie er näher heran kam, sah er, dass neben dem Ewigen Licht eine riesige Krake saß. Jeder ihrer sich windenden Arme maß mindestens zwei Klafter und war mit einer Doppelreihe von handtellergroßen Saugnäpfen bedeckt. Sie sah Sorla aus großen, flachen Augen entgegen. Ihr Körper war hell und gegen den Sandboden kaum auszumachen, nur ab und zu spielten dunkle Schatten darüber hin, dann zuckten auch ihre Fangarme in unterdrückter Aufregung. Sorla achtete darauf, außer Reichweite dieser Fangarme zu bleiben, versuchte aber doch so nahe wie möglich an das Ewige Licht zu gelangen. Da schlug ein Fangarm nach ihm und verfehlte ihn nur knapp. Er sprang einen Schritt zurück. Was sollte er tun? Sein Messer zu werfen würde die Krake nicht töten, schon weil er unter Wasser nicht die erforderliche Wucht aufbrachte. Es würde die Krake zum Angriff reizen, und hier unten war sie ihm überlegen. Da fiel ihm sein Gnomenstein ein. „Glygi“, flüsterte er. „Hilf mir und leuchte dort drüben!“ Schon glomm in einiger Entfernung das vertraute Licht auf – nicht so hell wie das Ewige Licht, doch wie es bläulich schimmernd auf und ab schwebte, wurde
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die Krake aufmerksam und kroch darauf zu. Sorla packte das Ewige Licht – es fühlte sich körperlos an, geballtes kühles Leuchten, sonst nichts – und eilte zurück, halb schwimmend, halb springend. Mühsam war es, unter Wasser voranzukommen, es war wie in gewissen schlimmen Träumen, schon kam die Krake hinterher, und als Sorla beim Boot ankam und sich über den Rand ins Innere fallen ließ, schnellten zwei Tentakel hoch, klammerten sich am Bootsrand fest und drohten es zum Kentern zu bringen. Plosek wich erschreckt zurück und fiel aus dem Boot. Ostarfindis aber griff nach dem Ewigen Licht in Sorlas Hand und hielt es hoch. „Bei Anod!“ rief er. „Weiche zurück in die Tiefen, aus denen du kamst!“ Die Tentakel zogen sich zurück, doch aus dem Wasser klang ein leises ärgerliches Blubbern. Keinem fiel es auf, außer Sorla, obwohl es über zwei Jahre her war, dass er viele Wochen in einem fürchterlichen Sumpf umher irrte und dabei die Sprache der dort lebenden L’Fumpai lernte: das Glucksen bedeutsamer Blasen. So verstand er, wie die Krake klagte: „Soll ich wieder im Dunkeln leben, nachdem ich das helle Wunder sah?“ Rasch steckte Sorla den Kopf und rief in derselben Sprache: „Warte, lass‘ uns reden!“ „Du verstehst mich, du Dieb meines hellen Wunders?“ gluckste die Krake aufgeregt zurück, die Arme aufgeregt verknotet. „Du hörst doch. Woher aber kennst du die Sprache der L’Fumpai?“ „Von solchen Wesen weiß ich nichts, du Dieb meines hellen Wunders. Aber wer im Wasser lebt und klug ist, gluckst bedeutsame Blasen.“ „Gut, wenn du klug bist, dann greife uns nicht wieder an. Aber vielleicht weiß ich Rat für deinen Kummer.“ „Du willst mir das blaue Licht geben, mit dem du mich weg locktest?“ „Das nun nicht gerade.“ Als er sich wieder aufrichtete, blickte er in Ostarfindis‘ erstauntes Gesicht. „Wenn du Plosek suchst“, sagte dieser, „er ist auf der anderen Seite ins Wasser gefallen. Du könntest ihm helfen
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herauszukommen, statt nutzlos ins Wasser zu starren.“ Dieser Priester konnte wohl nicht anders als mürrisch sein. Er schien nicht erstaunt zu sein, dass Sorla so lange unter Wasser aushielt. Nicht einmal bedankt hatte er sich, dass Sorla ihm das Ewige Licht zurückgebracht hatte! Nun aber wurde Plosek von Tara-engu über den Rand des Bootes gezogen und ließ sich hinein plumpsen. „Oh Sorla!“ sagte er. „Anod wird dich belohnen, dass du uns das Ewige Licht aus den Tiefen des Meeres holtest. Wie hast du das überhaupt angestellt?“ Sorla lächelte. „Das erkläre ich später. Jetzt muss ich euch um Rat fragen.“ Er erzählte, was er auf dem Meeresgrund erlebt hatte, und erklärte das Anliegen der Krake. „Es wäre nicht schwierig“, räumte Ostarfindis widerwillig ein, „mit Anods Hilfe ein kleines Licht herzustellen. Nicht so schön hell wie unser Ewiges Licht, aber in der Dunkelheit hier wäre es gut zu sehen. Doch weshalb sollten wir das tun?“ Sorla hatte viele Antworten auf der Zunge, auch bissige, aber er beschränkte sich darauf zu sagen: „Es ist besser, jemanden zur Dankbarkeit zu verpflichten, als ihn im Zorn zurückzulassen.“ „Sehr schön gesagt“, lobte Plosek. „Gesprochen wie ein wahrer Prinz, nicht wahr, Ostarfindis?“ „Lassen wir das“, murrte dieser. „Wer weiß, ob dieser junge Mann je den Schlangenthron besteigt.“ „Aber es wäre schön, oder?“ „In dieser Welt muss man sich abgewöhnen zu hoffen. Dann wird man nicht enttäuscht.“ „Und das sagt ein Priester Anods!“ rief Plosek mit verzweifelt erhobenen Armen aus. „Hoffnung ist doch das Geheimnis des Lebens!“ Tara-engu nickte bedächtig. „Selbst wenn wir sicher sterben, können wir hoffen, würdig zu sterben.“ „So habe ich es nicht gemeint“, verwahrte sich Plosek und wollte zu längeren Ausführungen ansetzen, doch Sorla hob die Hand. „Halt! Erstens bitte ich darum, über mich und meine Absichten nicht derart leichtfertig zu plaudern. Zu viele wissen schon Bescheid. Und zweitens bitte ich darum, dass ihr das kleine
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Licht herstellt.“ Ostarfindis verzog den Mund. „Es gibt noch eine Schwierigkeit. Seit Anod sich von uns entfernt hat, gelingen uns keine Wunder mehr.“ „Und der Traum, Ostarfindis?“ wandte Plosek aufgeregt ein. „War das kein Zeichen, dass Anod sich uns wieder zuwendet?“ „Ich kann’s ja versuchen“, murrte dieser. „Aber es wird nichts nützen.“ Er murmelte ein paar Beschwörungen, da wuchs vor ihm aus dem Nichts ein kleines strahlendes Etwas, das er einfing und Sorla in die Hand legte. „Das ging aber schnell“, sagte dieser. „Nun ja, besser als erwartet“, räumte Ostarfindis widerwillig ein. „Und wie lange hält es an?“ „Ein paar Tage, weil keiner hier zu Anod betet, wenn wir fort sind.“ „Ich verstehe.“ Sorla tunkte den Kopf unter Wasser und hielt der Krake das Licht hin: „Hier, Krake, für dich.“ Über den Leib der Krake liefen dunkle Farbschauer, so aufgeregt war sie. „Dies ist ein großes Geschenk. Ich werde dich nicht mehr Dieb nennen! Mein Name ist Ohkxepe. Was ist der deine?“ „Sorle-a-glach. Denke aber daran, täglich Anod zu loben, den Sonnengott; dann wird dieses Licht nie verlöschen.“ „Von diesem Gott habe ich bislang nicht gehört, Sorle-aglach. Hier unten herrscht Wendualo.“ „Der Gott der Meere, ich weiß. Aber Anod schenkt sein Licht allen; Wendualo wird es nicht stören.“ „Ich werde daran denken, Sorle-a-glach, bei Wendualo und bei Anod. Für das Licht und die freundlichen Worte bin ich dir verpflichtet.“ Damit ließ sich die Krake in einen tieferen Bereich hinab sinken, in einer ihrer Tentakel das Licht sorglich mit sich führend. *
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Sorla richtete sich auf und drückte das Wasser aus seinen Haaren, da hörte er, wie Tara-engu ärgerlich sagte: „Genug von diesen Spielereien! Wir haben Wichtigeres vor, die Zeit drängt!“ Plosek nickte und griff nach den Rudern. Ostarfindis aber fragte: „Was ist euer Plan?“ „Wir haben keinen“, sagte Tara-engu. „Wir werden hingehen und sehen, wie wir das Böse besiegen.“ „Möge Anod dich erleuchten! Das ist doch Dummheit!“ „Ich diene Tara. Sie liebt den, der sich rasch entschlossen in die Gefahr stürzt, nicht den, der lange plant und sich dann doch nichts traut.“ „Ist ja gut“, sagte Plosek versöhnlich. „Wir sollten aber wenigstens wissen, welche Richtung wir wählen müssen, um uns in die Gefahr zu stürzen.“ Tara-engu zeigte nach hinten, wo die Höhle in die Tiefen des Berges führte. Schweigend ruderten sie weiter. Nach einiger Zeit aber fragte Tara-engu: „Was ist mit eurem Obersten Priester? Wieso ist er nicht dabei?“ „Giaruron? Er ist verreist.“ antwortete Ostarfindis. „Ach? Wie lange schon? Ich habe ihn nie gesehen!“ „Ein Jahr vielleicht“, gab Ostarfindis widerwillig Auskunft. „Wir kennen weder Ziel noch Grund seiner Reise. Doch er wird wissen, was er tut.“ „Ich finde, er hat den Tempel ziemlich lange im Stich gelassen.“ Ostarfindis biss die Zähne zusammen und legte sich mit wütender Entschlossenheit stärker in die Riemen. „Eine Frage ist noch offen“, sagte er nach einiger Zeit. „Wir haben den letzten Sproß des alten Kaisergeschlechtes unter uns. Er scheint mir von allen möglichen Bewerbern um den Thron auch der geeignetste. Das Volk liebt ihn. Dürfen wir ihn der Gefahr aussetzen?“ „Gerade weil ...“ fing Tara-engu an, aber Sorla unterbrach ihn: „Ich kann selbst für mich reden. Was wir vorhaben, ist nur einer von vielen Schritten, dem Kaiserreich zu helfen. Das ist vor allem
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meine Aufgabe, auch wenn ich mich über eure Hilfe freue. Wenn wir scheitern, gibt es auch für das Kaiserreich keine Hoffnung. Ich glaube auch, dass Atne mir diesen Weg bestimmt hat. Und mit ihrer und Anods Hilfe werden wir Erfolg haben.“ „Eine schöne Rede!“ murmelte Plosek. „Nun lasst diesen Worten Taten folgen!“ rief Tara-engu. „Bei Tara!“ Es dauerte nicht lange, da lief das Boot knirschend auf Sand auf. Sorla sah sich um. Hinter einem schmalen Uferstreifen mit Sand und leeren Muschelschalen erhob sich eine Felswand – das Ende der Höhle. Auf dem Sand lag ein kleines Boot bereit. „Hier muss irgendwo eine Tür verborgen sein“, flüsterte Tara-engu. Er ruckte mit dem Kopf seitlich hin und her und äugte, als sei er selbst ein Falke. „Ein gelernter Dieb sollte sie finden können, nicht wahr, Sorla?“ Erstaunlich, was dieser merkwürdige Mann alles über ihn wusste, dachte Sorla. Er nickte und begann die Felswand zu untersuchen. Im unteren Bereich, wo sie an den angeschwemmten Sand grenzte, war sie mit kleinen, schwarzen Muscheln übersät, auf denen bleiche Krabben herum krochen. Algen gab es keine – sie hätten in der Finsternis, die hier gewöhnlich herrschte, auch nicht gedeihen können. Oberhalb der Muscheln war der Fels trocken, bis auf einen Streifen, der feucht war von dem Wasser, das aus einem dünnen Spalt hervor sickerte. Sorla trat näher; nun sah er im Licht seines Gnomensteins, dass der Spalt weiter ging, um mehrere Ecken, und, indem er ein unregelmäßiges Viereck bildete, in sich selbst zurück führte. „Hier!“ sagte Sorla. Behutsam drückte er gegen die vom Spalt abgegrenzte Felsplatte – ohne Ergebnis. Nun schob er die Klinge seines Messers in den Spalt, im Bemühen, die Platte nach außen zu ziehen – ohne Ergebnis. Er erinnerte sich an Türen, die man an der einen Stelle drücken und gleichzeitig an einer anderen Stelle heben oder schieben musste, und versuchte es auch hier – ohne Ergebnis. „Bei Ak’men!“ murmelte er verärgert. Er blickte sich um: überall nur grauer Fels, uneben, zerfurcht, unnahbar. Er wandte sich
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zu Tara-engu: „Was weißt du über diejenigen, die diese Tür benützen?“ „Es sind Feinde Anods. Manche verabscheuen das Licht so sehr, dass sie es vorziehen, in ewiger Finsternis zu leben.“ „Gut, dann wollen wir einmal die Dinge aus ihrer Sicht sehen. Verhüllt das Ewige Licht, und du, mein lieber Glygi, verbirg dich für kurze Zeit!“ „Was soll das?“ erregte sich Tara-engu. „Mein Falke ist keine Fledermaus!“ Doch keiner achtete auf ihn. Der Glygi erlosch, und Plosek und Ostarfindis gelang es nach einigen Versuchen, ihr Ewiges Licht so in den Falten ihrer Kutten zu verbergen, dass auch der winzigste Lichtstrahl verschwand. Nun waren sie von völliger Schwärze umgeben. Auch Sorla konnte trotz seiner angeborenen Elfensicht nichts erkennen. Es war so schwarz, als gäbe es nichts mehr. Doch als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, gewahrten sie, dass die Finsternis nicht überall gleichmäßig schwarz war. Der Spalt, den Sorla entdeckt hatte, zeichnete sich ab in einer anderen Art Finsternis – nicht heller, aber irgendwie rauher, so dass man sehr wohl ahnen konnte, wo die Tür war. Und einen halben Schritt links davon war noch eine solche rauhe Stelle, drei im Kreis angeordnete Punkte. „Das Zeichen der Schwarzen Dreiheit!“ flüsterte Tara-engu. „Die Besser Ungenannten, wolltest du sagen!“ verwies ihn Ostarfindis. „Gleich viel!“ sagte Sorla. Er näherte sich dem Zeichen, da begann es ihn zu schaudern. „Anod beschütze mich!“ flüsterte er, dann zwang er sich, die drei Punkte zu berühren, je einen mit einem Finger seiner linken Hand. Kalt kroch es seinen Arm hoch, doch zugleich hörte er, wie die Tür im Fels knirschend aufschwang. „Sehr gut!“ lobte Plosek. „Da können wir das Ewige Licht ja wieder auswickeln!“ „Nein!“ flüsterte Sorla. „Wir dürfen nicht auffallen. Folgt mir!“ Damit tastete er sich zu der offenen Tür und trat hinein. Zunächst prallte er gegen ein Hindernis, das sich durch Betasten als kleines Ruderboot herausstellte. „Ob das Irkansel gehört?“ mutmaßte Sorla.
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„Na sicher“, antwortete Tara-engu. „Falls er mal unerkannt verreisen muss.“ Plosek lachte leise, und Sorla spürte, dass bei allen die Anspannung etwas nachließ. Mit mehr Zuversicht als zuvor tastete er sich in das Innere hinter der Tür vor. An der Art, wie die Geräusche von den Felswänden zurückgeworfen wurden, spürte er, dass es ein enger, langer Gang war, dem sie jetzt folgten. Schritt für Schritt, sich an den Händen haltend, erkundeten sie den Weg mit ihren Füßen, denn weder Hindernisse noch ein heimtückisches Loch im Boden hätten sie erkennen können. Tatsächlich stießen Sorlas Zehen bald an Stufen, und nun ging es aufwärts, scheinbar endlos. „Wie lange noch?“ schnaufte Plosek. „Wir wollen zu Irkansels Turm“, sagte Tara-engu, „und der steht auf einem hohen Felsen, wie du weißt.“ Schweigend stiegen sie weiter in die Höhe. Plötzlich blieb Sorla stehen, denn vor ihm zeichnete sich wieder etwas durch die rauhere Dunkelheit von der übrigen Finsternis ab. In großen Lettern stand da: „Denkt daran – Irkansel ist mächtig!“ „Bei Anod!“ murrte Ostarfindis. „Soll das eine Drohung sein?“ „Vielleicht“, sagte Sorla. „Andererseits kann kein Eindringling das lesen, der ein Licht benützt.“ „Klar“, sagte Plosek. „Wer sonst wäre so blöd, wie wir im Dunkeln herum zu tappen?“ „Das hieße, dass es an Irkansels lichtscheue Freunde gerichtet ist“, folgerte Tara-engu. „Aber es ergibt keinen Sinn, denn seinen Freunden muss man nicht drohen.“ Sorla zuckte die Schultern und tastete sich weiter von Stufe zu Stufe vorwärts. Eine kurze Zeit später schien es ihm, als würde der Gang breiter – zumindest kamen die Geräusche anders zurück als zuvor, gedämpfter. Es roch faulig, nach verwestem Fleisch. Sorla sträubten sich die Haare am ganzen Körper. Da fasste er mit der vorgestreckten Hand an etwas Nachgiebiges, wie feuchtes Leder. Ein Schmatzen ertönte, dann ein tiefes Grunzen: „Was seid ihr? Freunde oder Fressen?“ Gleichzeitig fühlte Sorla sich von riesigen Pranken gepackt und mit seinen Begleitern als hilfloses
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Bündel zusammengedrückt. „Freunde natürlich!“ antwortete Sorla. „Das hat all mein Fressen bisher gesagt. Was ist die Losung?“ Atne hilf! seufzte Sorla insgeheim. „Was meinst du mit Losung?“ fragte er, um Zeit zu gewinnen. „Schon falsch!“ Der Geruch verfaulten Fleisches wehte jetzt direkt von vorne. „Nein, warte!“ rief Sorla. „Ich habe dich etwas gefragt!“ Das Grunzen klang höhnisch: „Dummes Fressen! Wenn du ein Freund Irkansels wärest, hättest du gewusst, woran du denken musst, wenn du mir entgegen kommst.“ Das war es! Denke daran – das stand im Gang geschrieben. Und Sorla sagte: „Die Losung ist: Irkansel ist mächtig!“ „Wie schade, beim Schwarzen Goul!“ grunzte das Untier enttäuscht. „Vier Brocken sind mir entwischt. Wenn ihr Irkansel trefft, sagt ihm, er soll mehr Fressen schicken!“ Sorla fühlte sich hochgehoben und an einer anderen Stelle abgesetzt. Dann lockerte sich der Griff der Pranke – sie waren frei. Sorla versuchte sich in der Finsternis zurechtzufinden. Er lauschte. Hinter ihm gab es kein Echo, dort schien es in die Tiefe zu gehen. Hatte das Untier sie über einen Abgrund hinweg gehoben? In einiger Entfernung vor ihnen aber zeichnete sich ein Umriss aus der schon bekannten rauhen Finsternis ab: ein hohes Rechteck ähnlich dem, das die geheime Tür in der Höhle bezeichnet hatte. Sorla bewegte sich vorsichtig darauf zu, an der Hand Plosek führend, der wieder einen anderen führte. Als sie dort ankamen, stellten sie fest, dass es tatsächlich eine Tür war, die sogar einen Knauf zum Öffnen hatte. „Und nun?“ flüsterte Plosek. „Wir werden da hinein müssen“, antwortete Sorla. „Deswegen sind wir hier.“ Er untersuchte den Knauf. Dieser ließ sich nicht drehen, aber als Sorla vorsichtig daran zog, schwang die Tür lautlos auf. Der große Raum war in düsteres, fahlgelbes Licht getaucht. Niemand war zu sehen. „Aha!“ murmelte Ostarfindis. „Selbst der große Irkansel
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kommt nicht ganz ohne Licht aus!“ „Aber ich denke“, fügte Plosek hinzu, „er arbeitet daran, diese menschliche Unzulänglichkeit zu überwinden.“ Er schüttelte sich. „Scheußliche Beleuchtung hier!“ Tara-engu nutzte die Zeit, seinem Falken beruhigend über das Gefieder zu streichen und in Falkenlauten zu ihm zu sprechen. Der kleine Raubvogel saß ganz starr und wirkte verstört. Sorla sah sich um. Der Raum war fünfeckig und weitgehend leer. Woher das fahlgelbe Licht rührte, war nicht ersichtlich; es füllte den Raum ohne erkennbare Quelle. Die fünf Wände bestanden aus nacktem Fels, es gab jeweils eine Tür gleich jener, durch die sie hereingekommen waren. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, auf dem ein Bogen Pergament lag. Sorla nahm ihn und las vor: „Werter Irkansel! Die Anhänger des wahren Glaubens treffen sich in der Krypta!“ „Wahrer Glaube!“ wiederholte Ostarfindis. „Ich wusste nicht, dass wir hier auf Anhänger Anods treffen!“ „Vielleicht sind die Diener Taras gemeint?“ entgegnete Plosek und schlug Tara-engu auf die Schulter, dass der Falke erschreckt hochflatterte. „Genug gescherzt!“ sagte Tara-engu verärgert. „Wir müssen uns beeilen. Also welche Tür?“ Sie sahen sich die fünf Türen genauer an; jede war mit einem anderen Bild versehen. Auf der Tür, durch die sie herein gekommen waren, war die Steilküste mit schäumenden Wogen abgebildet. Eine andere Tür zeigte das kaiserliche Schloss oberhalb der Palastgärten. Es gab eine Abbildung von Irkansels Turm auf einem hohen Felsen. Auf einem weiteren sah man die Kaiserliche Bibliothek. Die fünfte Tür trug statt eines Bildes ein schwarzes Relief, das einen Kuppelsaal mit hohen Säulen und in der Mitte einem Tisch oder Altar darstellte. „Alles klar“, sagte Tara-engu. „Das ist die Krypta.“ Sorla nickte und öffnete vorsichtig die Tür mit dem schwarzen Relief. Dahinter war kein Gang, wie vermutet, sondern ein kleiner Raum. Sie traten ein und schlossen die Tür hinter sich. Dann stellten sie fest, dass sonst keine Tür zu sehen war.
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„Schon wieder verborgene Türen!“ murrte Tara-engu. „Vielleicht dort drüben?“ Damit ging er quer durch den Raum auf eine Nische zu. Doch plötzlich war er verschwunden. „Eine Falltür?“ keuchte Plosek. „Armer Tara-engu!“ Doch der Boden hatte sich nicht bewegt. Nun erst sahen sie das merkwürdige Muster, das den mittleren Bereich des Bodens bedeckte. „Ich denke“, sagte Sorla, „wir alle müssen Tara-engu folgen.“ Ostarfindis nickte. „Ich habe von solchen magischen Stellen gehört, die einen an ferne Stellen befördern. Ich hatte mich schon gewundert, wie Irkansel von hier aus den Palast oder die Bibliothek erreichen will.“ Das leuchtete ein, dennoch zögerten die beiden Priester, bis Sorla sie an den Händen in die Mitte des Raumes mitnahm. Im nächsten Augenblick war es finster um sie. Sie spürten, wie Anwesende – ob es Menschen waren, konnten sie ja nicht sehen – sich rings um sie drängelten oder an ihnen vorbei schoben. Sie hörten Murmeln, Grunzen, Zischeln nah und fern, das von weither widerhallte – dies war der hohe Kuppelsaal, den sie auf dem Relief gesehen hatten, und die Opferung musste bald bevorstehen, denn das Gedränge war groß. Eben schob sich etwas Großes, Stinkendes an ihnen vorbei, Sorla fühlte lappige Anhängsel sein Gesicht streifen. „Wir müssen zusammenbleiben“, wisperte er und hielt die beiden Priester weiterhin fest. Ostarfindis drückte Sorlas Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, die Hand Ploseks zitterte und war schweißnass. Insgeheim murmelte Sorla ein Stoßgebet: „Hilf, Atne, Mächtige, der ich schon so viel verdanke! Hilf uns, die Machenschaften der Sklaven der Schwarzen Dreiheit zu durchkreuzen!“ Er hörte auch Ostarfindis und Plosek tonlos etwas murmeln; sie richteten wohl entsprechende Gebet an Anod. Das war gut, sie konnten wirklich jede Hilfe brauchen in einer Lage, die nach menschlichem Ermessen aussichtslos war. Aber wo war Tara-engu in all dem Gedränge? Sorla blickte sich in der Dunkelheit um, da erkannte er hinter sich, hervorgehoben
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durch die rauhere Finsternis, ein großes fünfeckiges Zeichen. Die Wand, an der es sich befand, mochte zwanzig oder hundert Schritte entfernt sein, das war in der Finsternis nicht abzuschätzen. Wenn es für den fünfeckigen Raum stand, dann war zumindest der Fluchtweg klar, wenn sie auch sonst keinen Plan hatten. Auch fielen ihm einige Zeichen der Schwarzen Dreiheit auf, jeweils drei Punkte im Kreis. Und da sie sich nicht bewegten, waren damit wohl die Säulen geschmückt, die das Relief gezeigt Weit vor ihnen, ja, wie es Sorla schien, unter ihnen, loderte eine schwarze Flamme, erkennbar durch die rauhere Finsternis, weit rauher noch und bedrohlicher als die sie umgebende Dunkelheit. Jetzt ertönte ein dumpfer Gong – schlagartig wurde alles still. Ein paar Atemzüge herrschte Schweigen, dann begann jemand mit tiefer, wohltönender Stimme zu sprechen: „Freunde der Finsternis!“ Sorla spürte, wie Ostarfindis und Plosek zusammenzuckten. Ihre Hände verkrampften sich so, dass es ihn schmerzte. Doch bevor er sie darauf hinweisen konnte, sprach die wohltönende Stimme weiter: „Wir verehren die Schwarze Dreiheit, weil sie uns die Macht verleiht, die Gebote der Götter zu verlachen. Durch die unergründliche Gnade der drei erhabenen Schwarzen sind wir eingeweiht in Geheimnisse, die Anhängern eines armseligen Sonnengottes verborgen bleiben müssen.“ Jetzt hörte Sorla deutlich, wie Ostarfindis mit den Zähnen knirschte. Ploseks Hand zitterte und war eiskalt. Die dunkle Stimme erklang wieder: „Lasset uns sprechen: Wir sind die Eingeweihten.“ „Wir sind die Eingeweihten“, wiederholte die Menge in der Dunkelheit. „Wir folgen der Finsternis ...“ Die Menge wiederholte es, und ebenso die folgenden Zeilen: „Die da war vor allem Licht ...“ „Die herrscht, wo das Licht versagt ...“ „Und die sein wird nach allem Licht.“ „In alle Ewigkeit.“
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„Wir verehren die Mächte der Finsternis“ „Den Großen Woul“ „Den schrecklichen Goul“ „Die unergründliche Shurloum“ „Die da waren vor allen Göttern ...“ „Und die sein werden nach diesen und ihren Geschöpfen“ „In alle Ewigkeit.“ „Ehre sei der schrecklichen Finsternis“ „Denn uns wird sie verschonen“ „Und mit Macht und Wissen belohnen.“ „In alle Ewigkeit.“ Die Menge schwieg wieder, wartend, was die dunkle Stimme weiter sagen würde. „Ist das Irkansel?“ flüsterte Sorla Ostarfindis ins Ohr. „Nein“, kam es bitter zurück. „Es ist Giaruron, unser Oberster Priester.“ Neben ihnen entstand Unruhe. „Seid leise!“ zischte ihnen jemand entgegen. Sorla und seine beiden Begleiter schwiegen, vor Angst zitternd, entdeckt zu werden. Jetzt sprach der ehemalige Anod-Priester wieder: „Heute kommen wir zusammen, um dem Großen Woul zu opfern. Und eine vortreffliche Gabe haben wir zu bieten, denn in unserer Mitte befindet sich der letzte Sproß des hernostischen Kaisergeschlechtes. Lange hat er sich zu verbergen versucht, ja, er wollte dem Geschlecht der Schlangenkaiser wieder den Thron gewinnen, doch mit Hilfe der Schwarzen Dreiheit ist er in unsere Hände gefallen, damit wir seine Anmaßung bestrafen.“ Überraschtes Gemurmel wurde laut. Sorlas Herz begann zu rasen. Wann waren sie entdeckt worden? Wer hatte sie verraten? Wie konnten sie jetzt noch der Falle entkommen? Die Stimme Giarurons erhob sich wieder, die Menge verstummte: „Oh Großer Woul! Unwürdige Sklaven sind wir, doch du hast uns ausgezeichnet vor allen mit Macht und geheimem
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Wissen. Dieses Opfer ist nur ein Zeichen unserer Dankbarkeit, denn mit unserem Leben stehen wir in deiner Schuld. Und du wirst es dir nehmen, sollten wir je versäumen, dir dieses Opfer zu bringen.“ Die Menge murmelte: „Mit unserem Leben stehen wir in deiner Schuld, oh Großer Woul!“ Nach einer kurzen Pause redete Giaruron weiter: „Damit ihr alle seht, wie das Gezücht der Schlangenkaiser ausgetilgt wird, werden wir das Erlaubte Licht entzünden.“ Da erglühte ein Funke in der Finsternis, von ihm ausgehend waberte fahlgelbes Licht und erhellte einen kleinen Bereich, in dessen Mitte die schwarzgewandete Gestalt Giarurons neben einem breiten Steintisch zu sehen war. Aus einer Schale daneben loderte die schwarze Flamme, die Sorla zuvor aufgefallen war. All das lag tiefer als wo Sorla stand. Der Boden des Kuppelsaales, der noch immer fast völlig im Dunkeln lag, war nicht eben, sondern in Rängen gestaffelt, zu deren Mitte mit Flamme, Altar und Priester alle hinabschauen konnten. Dazwischen ragten die mächtigen Säulen in die Höhe. Sorla schob sich, die Priester an der Hand, unauffällig weiter zurück, um in die Nähe des fünfeckigen Zeichens zu kommen, denn jeden Augenblick musste der Befehl kommen, ihn zu ergreifen, da erscholl der Ruf: „Seht her!“ Unwillkürlich blickte Sorla zurück, da sah er eine gefesselte Gestalt, die zum Steintisch geschleppt wurde. Das war Tok-aglur! Sein eigener Vater! „Seht den letzten Sproß der Schlangenkaiser und frohlockt!“ rief Giaruron. Die Menge jubelte und höhnte. Sorlas Herz krampfte sich zusammen. Tok-aglur wurde auf den steinernen Altar gestoßen und festgehalten. Giaruron hob einen Dolch, bereit, ihn mit beiden Händen in Tok-aglurs Herz zu stoßen. Was konnte Sorla tun? Hinab eilen im fruchtlosen Versuch, seinen Vater zu retten? Und dann mit ihm sterben? War es nicht längst zu spät? Da drängte sich eine zottelige Gestalt zum Altar: Tara-engu! Er schrie: „Bei Tara! Ihr werdet diesen Mann nicht opfern, wenn ich es verhindern kann!“
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Giaruron lachte, winkte, da wurde Tara-engu von zwei schleimigen Ungeheuern gepackt und festgehalten. Doch dieser schrie: „Mein Falke! Fliege und bringe das Licht Anods!“ Da stieg sein Falke auf und flog suchend in den weiten, dunklen Saal. Giaruron lachte höhnisch: „Da kann dein Vogel lange fliegen! Bindet den Störenfried – wir werden ihn bestrafen!“ „Holt das Licht heraus!“ flüsterte Sorla. „Schnell!“ Plosek kramte aufgeregt in seiner Kutte, plötzlich ergossen sich weiße Lichtstrahlen aus seinem Ärmel, und als Plosek das Ewige Licht hoch über sich hielt, war alles ringsumher in Helligkeit getaucht. Die Menge um sie – Menschen in dunklen Kutten, aber auch unförmige Wesen ähnlich den schleimigen Schergen Giarurons, lauter schwarzes Gewimmel – wich aufheulend zurück. Doch da schoss der Falke heran und riss mit seinen Krallen das Ewige Licht aus Ploseks Hand. Wieder waren Sorla und seine Begleiter der Finsternis überlassen, und die Menge drängte auf sie ein. Jemand schrie: „Packt die Verräter! Zerreißt sie!“ „Schnell, zum Altar!“ rief Sorla seinen Begleitern zu, zog Schlangenzahn, seinen Dolch, und drängte sich, in der Dunkelheit wild um sich stechend, nach vorne durch die dichtgedrängte Menge. Auch die beiden Priester erwehrten sich mit ihren Waffen der dunklen Menge, während sie sich nach vorne durchkämpften. Doch es war eine weite Strecke, noch lagen viele Ränge vor ihnen, riesige Stufen, die sie im Dunkeln hinabspringen mussten, nur das ferne fahlgelb erleuchtete Ziel vor Augen. Hoch über ihnen flog der Falke, das Ewige Licht in seinen Krallen, und kam beim Opfertisch an, wo er rüttelnd außer Reichweite von Giarurons Schergen verhielt. Doch hier wirkte das weiße Licht schwach – es konnte sich gegen das fahlgelbe Licht und die schwarze Flamme nicht durchsetzen. Die schleimigen Wesen, die Tok-aglur und Tara-engu festhielten, schienen das Licht Anods jedoch nicht zu ertragen und ließen von ihren Gefangenen ab, um ins Dunkle zurückzuweichen. Giaruron brüllte wütend auf und hob seinen Stab, doch Tara-engu entriss ihm diesen. „Nimm dies, du abtrünniger Schurke!“ rief er und stieß den Stab Giaruron in den Bauch, dass dieser zusammenbrach.
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Nun aber drängten Menschen in dunklen Kutten heran – ihnen schien das Ewige Licht hoch über ihnen, schwach wie es war, nicht viel auszumachen – und überwältigten Tara-engu trotz dessen heftiger Gegenwehr. Giaruron hatte sich ächzend erhoben und seinen Stab wieder an sich genommen. Tara-engus Lage wurde aussichtslos, wenn nicht schnellstens Hilfe kam. Immer noch kämpften sich Sorla und seine Begleiter von Stufe zu Stufe abwärts zum Opfertisch vor. Sie waren schon auf ein paar Dutzend Schritte herangekommen und jetzt im fahlgelben Licht gut zu sehen. Da zeigte Giaruron auf sie und rief: „Die Störenfriede sollen uns nicht aufhalten! Lasst uns das Opfer schnell bringen!“ Er trat wieder an Tok-aglur heran, der gefesselt am Boden lag, und zückte seinen Dolch. Da warf Sorla sein Messer. Schlangenzahn zischte durch die Luft und traf Giaruron, der getroffen zusammenbrach. Die Menge heulte auf und wollte sich auf die Eindringlinge stürzen. In diesem Augenblick erscholl ein Brausen, aus Giarurons Stab verbreitete sich eine dunkle Wolke, wurde breiter und verschluckte das fahlgelbe Licht. Selbst Anods Ewiges Licht schrumpfte zu einem schwachen Fünkchen zusammen. In der Dunkelheit hörten sie Giarurons Stimme: „Dank euch, erhabene Herrscher der Finsternis!“ Nun sank die schwarze Wolke wieder zusammen; im fahlgelben Licht sahen sie Giaruron neben dem Altar stehen, größer als zuvor! Sorlas Dolch lag unbeachtet neben seinen Füßen. Giaruron hielt seinen Stab mit beiden Händen und rief: „Seht die Macht der Schwarzen Dreiheit! Seht, wie sie die Getreuen schützt und stärkt!“ Er lachte, aus dem oberen Ende seines Stabes schossen schwarze Blitze. Die Menge starrte und erwartete schweigend, dass er die Eindringlinge bestrafe. Giaruron trat auf Tara-engu zu, dessen Arme von den schwarzen Schergen nach hinten gezwungen waren, und rief: „Dieser hat uns als erster gestört – er wird als erster bestraft!“ Er richtete seinen Stab auf Tara-engu, da rollte sich Tokaglur heran, um Giaruron zu Fall zu bringen. Doch dieser schwebte lachend in die Höhe, die schwarzen Blitze schossen aus seinem Stab und umhüllten die zottelige Gestalt Tara-engus. Er fiel aufschreiend auf die Knie. Wieder trafen ihn die schwarzen Blitze, da schrie er:
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„Tara, schaue gnädig auf mich!“ und brach reglos zusammen. Sein Falke sank herab und schmiegte sich an seinen Herrn, das Ewige Licht lag auf dem Boden. Sorla und die beiden Priester hatten sich weiter vorgedrängt; die Menge hinderte sie nicht. Giaruron rief ihnen entgegen: „Kommt, ihr Auswurf Anods, dass ich euch vernichte!“ Er richtete seinen Stab, bereit, schwarze Blitze auf sie zu schleudern. Doch Ostarfindis hob seinen Priesterstab und rief: „Bei Anod! Möge sein Licht leuchten und uns stärken!“ Da strahlte das Ewige Licht wieder heller. Ostarfindis bückte sich und hielt es mit der Linken in die Höhe: „Sieh, Giaruron, das Licht Anod, den du verrietst!“ „Du Schwachkopf!“ höhnte Giaruron. „Was hältst du dich am vergänglichen Licht fest? Spüre die Macht der Finsternis!“ Er richtete seinen Stab gegen Ostarfindis, schwarze Blitze schossen hervor und hüllten Ostarfindis in eine dunkle Wolke. Doch dieser, den Stab in der Rechten, das Licht in der Linken, schüttelte die Finsternis ab. Zwar wankte er ein wenig, doch rief er laut: „Anod! Steh uns bei!“ Da kam das Licht zu neuer Kraft, konnte aber weder die schwarze Flamme noch das fahlgelbe Licht überstrahlen. Von hinten schlichen sich zwei dunkle Gestalten an Ostarfindis heran. Plosek sah das; mit dem Rücken gegen Ostarfindis richtete er seinen Stab, aus dem weißes Licht brach, gegen die Angreifer und scheuchte sie zurück. Nun wogte das Kräftemessen zwischen Ostarfindis und Giaruron hin und her, keiner sonst konnte eingreifen. Ostarfindis hielt sich tapfer, doch Sorla wurde klar, dass er nicht gewinnen konnte, denn zu stark war hier die Finsternis mit all ihren Anhängern. Da beobachtete Sorla, wie Tok-aglur das Messer Schlangenzahn, das neben dem Opfertisch lag, benutzt hatte, um sich heimlich die Fesseln zu zerschneiden. Nun richtete er sich hinter Giaruron auf – langsam, damit dieser nicht auf ihn achtete –und stieß mit Schlangenzahn zu. Der dunkle Priester schrie, aus seinem Stab breitete sich erneut die schwarze Wolke aus und hüllte ihn und Tok-aglur ein. Doch Sorla hörte seinen Vater rufen: „Du kannst dich nicht
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verstecken, Verräter!“ Wieder schrie Giaruron auf, und noch einmal. Die schwarze Wolke fiel in sich zusammen und verschwand. Giaruron lag röchelnd am Boden, Tok-aglur, den blutigen Dolch in seiner Rechten, neben ihm. Plosek beugte sich zu Giaruron herab: „Schurke! Was hast du mit den Priestern gemacht, die dich begleiteten?“ Doch Giaruron antwortete nicht mehr. Ostarfindis aber stand, den Stab in der Rechten, das Ewige Licht in der Linken, und jubelte: „Ehre sei Anod!“ Das Licht Anods badete im weiteren Umkreis alle in seiner weißen Helligkeit. Die dunklen Gestalten wichen geblendet zurück. Plötzlich erhob sich ein Brausen, so dumpf und grässlich, dass Sorla die Haare zu Berge standen. Unwirklich drängte er sich näher an das Ewige Licht, neben Plosek und seinen Vater. Aus der dunklen Menge stiegen Schreie: „Oh Großer Woul! Verschone uns!“ Doch das Brausen steigerte sich zu wütendem Heulen. Nun stieg dunkler Nebel aus dem Boden, aus den Wänden, von der hohen Kuppel her und verschluckte die dunklen Gestalten. Wieder hörte man verzweifelte Schreie, Gebete und Flüche, doch langsam verstummten sie. „Was ist das?“ flüsterte Sorla. „Die Wut der Besser Ungenannten. Sie haben ihr versprochenes Opfer nicht erhalten“, flüsterte Plosek zurück. „Sie töten ihre eigenen Anhänger?“ Sorla schüttelte sich, sein Vater hielt ihn an sich gepresst. „Gerechtigkeit und Vernunft sind nicht die Sache der finsteren Gewalten“, murmelte Ostarfindis. „Lob sei Anod, der uns beschützt!“ Als die Dunkelheit sich schließlich verzog, war das fahlgelbe Licht erloschen, ebenso die schwarze Flamme. Nur noch das Ewige Licht Anods strahlte, doch so siegreich und hell, dass es den ganzen Kuppelsaal erfüllte. Alle dunklen Gestalten waren verschwunden. Auch von Giaruron war nichts mehr zu sehen, nur sein Stab lag noch auf den Steinfliesen. Ostarfindis bückte sich und hob ihn auf. „Wie konnte dieser herrliche Stab so missbraucht werden!“ murrte er. „Wir werden lange brauchen, um ihm das Böse
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wieder auszutreiben!“ „Ich werde Zanolphis benachrichtigen, den Obersten Priester im Anod-Tempel zu Kaharad“, sagte Tok-aglur ruhig. „Er hat Übung darin.“ Ostarfindis runzelte die Stirne. „Ich habe dich nie zuvor gesehen. Bist du wirklich der Thronerbe? Ich dachte ...“ Sorla unterbrach ihn: „Dies ist Prinz Tok-aglur, mein Vater und der einzige Überlebende, als die kaiserliche Familie ausgelöscht wurde.“ „Entschuldige, Prinz!“ sagte Ostarfindis und verbeugte sich leicht. „Ich nehme deinen Rat an. Zanolphis ist über alle Zweifel erhaben.“ Tok-aglur lächelte. „Ich danke dir, Anod-Priester. Und ich danke euch allen, dass ihr mich gerettet habt. Ich hatte keine Hoffnung mehr.“ Sorla beugte sich zu Tara-engu herab, der noch immer vor ihnen lag, und sah, dass dieser tot war. „Tapferer Mann!“ flüsterte Sorla. „Du hast uns den Weg gewiesen und den Tod nicht gescheut! Möge Tara dich belohnen!“ Vorsichtig griff er nach dem Falken, der wie benommen auf dem Boden hockte, und barg ihn unter seinem Hemd. Plosek, der kräftiger war, als es seine kleine, plumpe Gestalt vermuten ließ, lud sich Tara-engus Körper auf den Rücken. „Wir können ihn ja nicht liegen lassen“, sagte er, als müsse er sich entschuldigen. Er wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. „Man muss ihn im Wald bestatten. Ich kenne in den Bergen nördlich der Stadt ein Heiligtum der Göttin Tara.“ „All das ist wichtig“, sagte Tok-aglur nachdenklich. „Aber wir lassen hier die Zeit verstreichen und wissen nicht, was Irkansel inzwischen tut.“ Das war richtig. Nun erst fiel den anderen auf, dass ihre Schlacht noch nicht gewonnen war. Denn wo war Irkansel, der Zauberer? Bei der beabsichtigten Opferung war er nicht anwesend gewesen. Oder war er unerkannt in der Menge gestanden und mit dieser umgekommen? Während Plosek, Tara-engus erkaltenden Körper neben sich, auf einer der Stufen saß, standen die anderen
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herum und sahen sich ratlos an. „Irkansel ist zu schlau, als dass er sich mit den Besser Ungenannten ernsthaft einließe“, sagte Ostarfindis. „Er hat Giaruron benützt, um Einfluss zu gewinnen.“ Tok-aglur nickte. Er wischte Sorlas Wurfmesser sauber und gab es seinem Sohn zurück. Dieser wies nach oben, wo hinter dem obersten Rang eine Tür mit eingraviertem Fünfeck sichtbar war. „Ich denke, dort ist ein Ausgang. Aber mir ist nicht klar, wie all die Menschen hierher gelangten. Sie konnten nicht alle den Raum mit fünf Türen benützt haben, durch den wir hierher kamen. Und sie hätten nicht alle durch diese eine Tür den Saal verlassen können. Das Gedränge wäre zu groß gewesen. Und woher kamen die anderen Wesen, die schleimigen Ungeheuer?“ „Du hast recht, mein Junge“, sagte Tok-aglur. „Als man mich hierher schleppte, kam ich durch keinen Raum mit fünf Türen. Da war ein Keller, und als jemand seine Hand auf ein Zeichen an der Wand legte, waren wir plötzlich hier.“ „Aber natürlich!“ rief Sorla. Er zeigte auf die Säule neben ihnen. Das Zeichen der Schwarzen Dreiheit war deutlich zu sehen. „Die Säulen! Sie sind die Türen!“ „Grauenhaft!“ rief Plosek und schüttelte sich. „Sobald wir weg sind, kommen die schleimigen Ungeheuer da raus gekrochen, und alles ist wie zuvor!“ „Ich denke“, sagte Tok-aglur, „die meisten haben die Wut der Besser Ungenannten nicht überlebt.“ Ostarfindis nickte. „Und den wenigen, die entwischt sind, werden wir die Rückkehr unmöglich machen.“ Er hob die Arme und schuf ein Licht, ähnlich dem Geschenk an die Krake. Es fiel allerdings weit größer und heller aus, was Ostarfindis sichtlich stolz machte. Dieses Licht legte er in die Schale, wo zuvor die dunkle Flamme loderte. „Nie mehr soll die Finsternis hierher zurückkehren!“ rief er. „Dann müssen wir aber gelegentlich vorbeikommen und beten“, wandte Plosek ein. „Sonst hält es nicht lange.“ „Natürlich!“ sagte Ostarfindis ernst. „Es wird die Aufgabe unseres Tempels sein, das Böse in Schach zu halten und von hier aus
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zu bekämpfen, bei Anod!“ Plosek schüttelte sich. „Entsetzlich! Wir müssen also durch alle Säulen gehen, um ...“ Sorla mischte sich ein. „Später! Jetzt geht es um Irkansel. Ich denke, die Tür dort oben“, er zeigte auf das fünfeckige Zeichen, „ist für ihn bestimmt.“ „Dann werden wir ihn dort aufsuchen!“, sagte Ostarfindis. Sorla schüttelte den Kopf. „Er ist zu stark für uns, denn wir haben von Magie keine Ahnung. Und er ist gewarnt. Wir haben für diesmal unser Ziel erreicht. Lasst uns zur Stadt zurückkehren, dann werde ich einen Weg finden, ihn unschädlich zu machen.“
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Viertes Kapitel:
IRKANSELS TURM Sorla schrieb einen Brief: „Mein lieber Horell! Hier in Ekritmea geht es um große Dinge. Ich werde gegen einen Zauberer namens Irkansel vorgehen müssen. Er steht den Besser Ungenannten nahe, durch die auch deine Familie viel Unglück erfuhr. Kannst du mir raten? Dein Brief erreicht mich im hiesigen Anod-Tempel. Dein Freund Sorla, der hofft, hernostischer Kaiser zu werden.“ Er faltete das feine Papier ganz klein zusammen und steckt es in eine metallene Hülse, die er mit Wachs verschloss. Dann wandte er sich an den Falken, der vor ihm auf dem Tisch saß und ihn aus goldgelben Augen fixierte. „Komm her, Falke. Ich habe einen Auftrag für dich.“ Der kleine Raubvogel trippelte näher, denn er hatte bei Tara-engu gelernt, die menschliche Sprache zu verstehen. Er gab ein Krächzen von sich. Sorla lächelte. „Nein, du sollst keine Mäuse fangen, Falke.“ Er band die Hülse am Bein des Falken fest. Dann sagte er: „Ich bitte dich, Folgendes zu tun.“ Und er beschrieb ihm den weiten Weg zu Horells Turm, in dem einst der berüchtigte Zauberer Stiousto sein Unwesen getrieben hatte: an der Küste entlang nach Westen bis zur Mündung des Flusses Ailat, dann nach Norden durch den alten Elfenwald von Rhosmea. Jenseits der angrenzenden Sümpfe steht auf einem Berg der Turm Horells. „Du wirst ans Fenster klopfen müssen. Meinen Freund Horell erkennst du an seiner langen, dünnen Gestalt.“ Der Falke krächzte missmutig und legte den Kopf schief. „Nein“, antwortete Sorla. „Der direkte Weg führt über die Weißen und die Grauen Berge. Das wäre zu gefährlich.“ Da flog der Falke durchs offene Fenster davon. *
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Agishs Augen waren vom Weinen gerötet. „Mein Vater ist verschwunden. Ich glaube, er ist tot.“ „Weshalb denkst du?“ fragte Sorla. „Er wird verreist sein.“ „Nein. Hast du nicht gehört? Die Oberhäupter der Sechs Familien sind sämtlich verschwunden – spurlos, alle zur gleichen Zeit. Und nicht nur sie! Viele Söhne der Sechs Familien fehlen ebenfalls. Auch mein älterer Bruder.“ Sorla hatte es gehört. Als sie Giaruron bei seiner Opferfeier störten und die Schwarzen Mächte in ihrer Wut ihre Anhänger vernichteten, starben die Mächtigen Ekritmeas, soweit sie Feinde Anods waren. Das war nicht geplant, aber nützlich. Der Einfluss der Sechs Familien war dahin. Und niemand wusste, dass Sorla damit zu tun hatte. „Es tut mir leid“, sagte Sorla. „Nun musst du deiner Mutter zur Seite stehen.“ Agish nickte. „Wir haben nächste Woche eine Zusammenkunft der Sechs Familien. Da werde ich unsere Familie vertreten. Es werden wohl nur Jugendliche kommen.“ Seine Stimme senkte sich, als er fortfuhr: „Unsere Väter haben sich mit merkwürdigen Dingen befasst, mit schlimmen Geheimnissen. Wir Kinder wissen, wie schlecht sie träumten, wie sie oft sie im Schlafe schrien. Nun ist ihnen das zugestoßen, wovor sie sich fürchteten. Das ist, was wir glauben.“ * Hoch über dem Alten Wall erschien aus heiterem Himmel eine golden leuchtende Kugel, schwebte über den Wipfeln der Platanen die Prachtstraße entlang bis zum Platz „Ehrt die Sonne“ und verharrte vor dem Anod-Tempel. Scharen herrenloser Köter rannten kläffend davon. Die Leute sahen sich um, was die Hunde aufgeschreckt hatte, blickten hoch und erschraken ebenfalls.
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„Anod ist erschienen!“ stöhnte eine Frau verzückt, bevor sie ohnmächtig hinsank. Die Kugel senkte sich tiefer, und als sie in Bodenhöhe angekommen war, löste sie sich spurlos auf. Stattdessen stand da, mit einer Reisetasche in der einen und einem langen Stab in der anderen Hand, ein großer, aber schmächtiger junger Mann in merkwürdig feierlicher Gewandung. Ein Äffchen saß auf seiner linken Schulter, ein Falke auf seiner rechten. Er betrachtete erstaunt den Bretterverschlag vor dem Portal des Tempels. Zu den Gaffern sagte er in gebrochenem Hernostisch: „Lasst euch nicht stören, liebe Leute! Geht einfach weiter, hier ist nichts Besonderes geschehen!“ Er nickte ihnen freundlich zu und trat durch die Behelfstür in den Anod-Tempel, wobei er sich bücken musste. Der Falke aber war schon in den blauen Himmel davongeflogen. Sorla hörte, was die Spatzen von den Dächern pfiffen: eine kleine Sonne sei über dem großen Platz in der Stadt erschienen und habe einen Mann gebracht. Er sprang auf sein Pferd und erreichte bald den Anod-Tempel. Noch immer wirkte das Gebäude vernachlässigt, aber das Innere war hell erleuchtet von zahllosen Lichtkugeln, die in Schalen schwebten. „Horell!“ rief er, als er die dünne, leicht vornüber gebeugte Gestalt seines Freundes erkannte. „Mein lieber Freund!“ Da sprang das Äffchen von der Schulter des Ankömmlings und kletterte schnatternd an Sorla empor, um ihn mit Küssen zu bedecken. „Oh, Lamponu!“ lachte Sorla. Horell wartete, bis das Äffchen mit seinen Zärtlichkeiten fertig war und den Tempel zu erkunden begann. Dann trat er auf Sorla zu und umarmte ihn. „Ich dachte, ich komme besser selbst“, sagte er verlegen in der Sprache Ailats, wo Sorla seine Kindheit verbracht hatte. „Von Irkansel habe ich gehört. Weißt du, mit Zauberern ist nicht zu spaßen. Er wird nicht unvorbereitet sein.“ *
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Die Kaiserliche Bibliothek war ein prächtiges mehrstöckiges Gebäude, vom Fluss Bato nur durch die Uferpromenade getrennt. Nach Norden schloss sich die Hochschule der Wissenschaften an, und früher, so hatte Tok-aglur seinem Sohn erzählt, sah man den ganzen Tag Studenten und ihre Lehrer durch den Park zwischen den beiden Gebäuden hin und her eilen, wenn sie nicht, bei schönem Wetter, auf den Bänken am Ufer saßen und diskutierten. Nun lag der Park verödet und ungepflegt, die Bibliothek hatte man schließen müssen, weil Kaiser Takilis dafür kein Geld erübrigen mochte. Es gab jedoch ein paar Bibliothekare und Freunde des Wissens, die sich dennoch, weil sie die Bücher liebten, auch ohne Entgelt um das Nötigste kümmerten. Eine davon war, wie Sorla gehört hatte, Benili, Studentin der hernostischen Geschichte. Seit ihr Lehrer wegen Verkündung unliebsamer Wahrheiten öffentlich hingerichtet worden war, hatten sich seine Schüler in allerlei Berufen versteckt. Auch Benili arbeitete täglich in der Markthalle als Lohnschreiberin, aber abends ging sie in die Kaiserliche Bibliothek, um Bücher zu ordnen und ihre Studien fortzusetzen. „Kannst du uns heute abend in die Bibliothek mitnehmen?“ fragte Tok-aglur zu ihr, als sie auf den Stufen der Markthalle auf einen Kunden wartete. „Ich möchte herausfinden, wie sich die Wasserpreise seit dem letzten Schlangenkaiser entwickelt haben.“ Benili sah ihn entsetzt an. „Wollt ihr eure Köpfe riskieren? Für diese Frage wurde mein Lehrer, der große Akritiles, enthauptet.“ „Sicher nicht für die Frage“, entgegnete Tok-aglur, „sondern für die Antwort darauf.“ Benili nickte. Dann merkte sie, dass Tok-aglur lächelte. „Ihr wollt nicht wirklich die Wasserpreise erkunden, oder?“ „Nein.“ Er erklärte, was sie vorhatten, und als sie die Tragweite dessen erkannte, begannen ihre Augen zu funkeln und sie nickte. Am selben Abend öffnete Benili die Hintertür der Kaiserlichen Bibliothek für Sorla und Tok-aglur, Ostarfindis und Plosek, Horell mit Lamponu. Das Mädchen setzte sich an ihren
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Schreibtisch, um Bücherstapel umzuschichten, Horell stand dabei, leicht vornüber gebeugt und die Arme dicht an den Körper gelegt, und leistete ihr Gesellschaft. Sie lächelte ihn manchmal von unten her an, ihre Wimpern bewegten sich sachte wie dunkle Flügel kleiner Schmetterlinge, und es erstaunte Sorla nicht, dass Horell ganz vergaß, weshalb sie eigentlich gekommen waren. Das Äffchen aber begann sofort herumzustöbern und förderte verstaubte Mäuse zutage, die unter den Regalen gestorben waren. „Ich habe da mal Gift ausgelegt“, erklärte Benili errötend. „Sonst nagen die Mäuse die Bücher an.“ Die beiden Anodpriester machten sich auf die Suche nach Büchern und Schriften über den Kult der Besser Ungenannten. Sorla und sein Vater suchten das Gebäude nach Kammern und Winkeln ab, die einen Zugang zu Irkansels Turm darstellen konnten. „Hast du das richtig gesehen?“ fragte Tok-aglur. „War im Raum mit den fünf Türen wirklich die Bibliothek abgebildet?“ Sorla nickte und öffnete einen Wandschrank, aus dem aber nur ein alter Besen herauskippte. In der Ecke lagen zusammengekehrt drei tote Mäuse. Das Äffchen hatte hinter der Wandvertäfelung ein zusammengerolltes Schriftstück gefunden und stolz zu Horell gebracht. Aber Benili griff errötend danach: „Das sind Abschriften der Vorlesungen des großen Akritiles. Ich habe sie dort versteckt.“ „Ach so“, sagte Horell. Er schien sich nun auf seine Aufgabe zu besinnen, denn er sagte: „Ich muss was tun!“ und ging langsam durch die Flure. Manchmal bewegte er seinen Stab wie suchend umher. Als er Sorla aus einem der Gänge entgegenkommen sah, beugte er sich zu diesem herunter und murmelte: „Irgendwas stimmt nicht. Irkansel scheint nicht hier zu sein, aber ich spüre eine magische Kraft, die uns beim Suchen hemmt.“ Da kam Lamponu angesprungen, mit einem kleinen Stab in der Pfote. „Ein Zauberstab!“ sagte Horell überrascht. „Sonderanfertigung. Wo hast du den gefunden?“ Das Äffchen führte ihn schnatternd zu Benilis Schreibtisch,
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wo eine Schublade offen stand. Benili kam errötend dazu und sagte: „Oh, mein Rückenkratzer! Was wollt ihr damit?“ Sie nahm mit freundlichem „Danke!“ dem verblüfften Horell den Stab weg. Fünf Schritte weiter war es Tok-aglur eben gelungen, mit einem Dietrich eine verschlossene Tür zu öffnen. Dahinter öffnete sich ein hübsch eingerichtetes Schlafgemach. „Wer wohnt denn hier?“ fragte er Benili. „Oh, das ist meines“, sagte sie errötend. „Ich arbeite abends oft lange, da mag ich nicht mehr durch die finsteren Straßen nach Hause gehen.“ Sorla fiel auf, dass auf der Bettstatt zwei Kissen lagen. Unter der breiten Decke zeichneten sich merkwürdige Umrisse ab. „Komm her!“ flüsterte er Horell zu, der noch draußen stand. „Da ist jemand versteckt!“ Horell trat herbei, seinen Stab bereit haltend. Sorla riss die Bettdecke zu Seite, doch darunter lag ein Haufen Bücher. Sie enthielten Titel wie „Zauberkunde für Fortgeschrittene“ und „Gifte und Gegengifte, leicht hergestellt“. „Was soll das?“ wunderte sich Sorla. Da sah er aus den Augenwinkeln, wie Benili von hinten heran kam und ihren kleinen Stab auf Horell richtete. Sorla stieß seinen Freund zur Seite. Ein Funkenregen zischte an ihnen beiden vorbei und traf Tok-aglur, der verschwand. Horell wirbelte herum, da traf auch ihn ein Funkenregen. Doch er prallte wirkungslos von ihm ab und wurde auf Benili zurückgeworfen. Da verschwand auch sie. „Von einem Mädchen reingelegt!“ murmelte Horell wütend. „Wo ist sie hin?“ Sorla machte sich eher Sorgen um seinen verschwundenen Vater, da sah er auf dem Bettvorleger zwei kämpfende Mäuse. Er trat näher; die eine Maus wollte wegrennen, die andere hielt sie fest. „Ich glaube, hier sind die Verschwundenen!“ Sorla bückte sich zu den Tierchen herab, packte mit zwei Fingern dasjenige, das weglaufen wollte, beim Schwanz und ließ es in der Luft baumeln. Die Maus versuchte zu beißen, kam aber nicht an ihn heran. Die andere Maus saß still da und schien abzuwarten. Auf diese richtete
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Horell seinen Zeigefinger und murmelte etwas, da stand Tok-aglur wohlbehalten vor ihnen. „Danke“, sagte er knapp. „Ich war besorgt, dass ihr mich platt tretet.“ „Und was machen wir mit Benili?“ fragte Sorla, das Mäuschen hin und her schwenkend. „Platt treten?“ schlug Tok-aglur vor. Das Mäuschen quiekte entsetzt. „Vielleicht ist noch Rattengift übrig“, warf Horell ein. „Ich beginne mich zu fragen, ob die beiden toten Mäuse, die Lamponu fand, tatsächlich bloß Mäuse waren.“ Da fiel Sorla etwas ein. „Ostarfindis! Plosek! Wo seid ihr?“ Niemand antwortete, aber aus dem Lesesaal klang leises Piepsen. „Alles klar!“ murmelte Horell und ging los, um die beiden Anodpriester von ihrer Mäusegestalt zu befreien. Als er zurückkam, zwei dankbare Priester im Gefolge, schüttelte er den Kopf: „Es waren weiße Mäuse, weiße! Hat man so was schon gesehen?“ „Wir sind eben Priester Anods!“ beschwichtigte ihn Plosek und begann schon wieder zu lächeln. Lamponu hatte sich mit dem Stäbchen beschäftigt, das auf dem Boden vor dem Bett lag. Plötzlich sprühte ein Funkenregen hervor, traf das Mäuschen in Sorlas Hand – da stand Benili in voller Größe und riss das Stäbchen an sich. „Keine Bewegung!“ mahnte Horell. Sie schüttelte den Kopf: „Ich bin ganz brav“ und lehnte sich an die Wand, die Hände ausgestreckt. „Was machen wir mit ihr?“ fragte Horell. „Lasst mich laufen“, schlug Benili vor. Alle lachten. „Wieso behinderst du uns?“ fragte Tok-aglur. „Ich dachte, du verehrst den Lehrer Akritiles?“ Sie errötete. „Akritiles ist tot. Aber Irkansel ist auch sehr ansehnlich, und er ist mächtig.“ „Das erklärt manches“, sagte Plosek. „Zauberer sollte man sein.“ Das brachte ihm einen verweisenden Blick durch Ostarfindis ein.
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Benili stand noch immer mit ausgestreckten Händen an der Wand. Nun drückte sie mit drei Fingern dagegen, eine geheime Tür schwang nach hinten auf, und Benili war verschwunden. Die Tür fiel wieder zu. Sorla war hingesprungen, doch da war nur noch die Wand, und als er genauer hinsah, fielen ihm drei abgegriffene Stellen auf, die sich schwach von der hell getünchten Wand abhoben – drei Punkte wie jene bei Irkansels geheimem Eingang an der Küste. „Hinterher!“ rief Tok-aglur. „Bevor sie Irkansel warnen kann!“ Er drückte auf die Punkte, wieder schwang ein Stück der Wand nach hinten weg, und sie schauten in eine kleine Kammer, dessen Boden von einem merkwürdigen Muster geschmückt war. Tok-aglur trat als erster darauf und war verschwunden. Sorla folgte ihm. Fünf Atemzüge später fanden sich alle im fünfeckigen Raum mit dem scheußlich fahlgelben Licht wieder, auch Lamponu, den Horell unter den Arm geklemmt hatte. Benili war nicht zu sehen. Alle Türen waren geschlossen. „Sie wird bei Irkansel sein“, sagte Sorla und wies auf die Tür mit dem Relief des Turmes auf dem Felsen. „Dann ist er gewarnt“, murmelte Horell düster. Er ließ Lamponu zu Boden fallen und packte seinen Stab fester, wobei er Unverständliches murmelte. Da begannen seine Umrisse zu verschwimmen, bis er nicht mehr zu sehen war. „Eure Aufgabe“, ertönte seine gestaltlose Stimme, „ist es, Irkansel abzulenken, damit ich ihn besiegen kann.“ „Kannst du auch mich unsichtbar machen?“ fragte Sorla. „Dann gehe ich voraus und erkunde die Lage.“ „Du wagst viel, Thronerbe!“ warnte Ostarfindis. „Es liegt in Atnes Hand“, entgegnete Sorla. Das Murmeln ertönte wieder, es kribbelte Sorla am ganzen Leib, und er sah, wie seine Arme, sein Körper verschwanden, selbst die Nase dicht vor seinen Augen. „Danke“, sagte er und schlich hinüber zur Tür mit dem Turm-Relief. Vorsichtig öffnete er sie, dahinter befand sich, wie erwartet, ein kleiner Raum. Im Fußboden war in schwarzen Intarsien ein Muster eingelassen. Doch Sorla zögerte, darauf zu treten, und blickte sich weiter um. Als ihm nichts
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auffiel, zog er die Tür hinter sich zu und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In der völligen Finsternis zeichneten sich an der Wand links neben ihm Striche rauherer Schwärze ab und bildeten ein verwickeltes Muster. Sorla holte tief Luft, flüsterte: „Atne, steh mir bei!“ und berührte es. Da spürte er, dass die Mauer durchlässig wurde, seine Hand tauchte tief hinein und er folgte ihr durch die Wand hindurch. Nun stand er in einem kleinen Gemach. Ein Öllämpchen flackerte auf einem kleinen Tisch, sein gedämpftes Licht fiel auf ein Lager mit Decken und vielen Kissen – dies musste das Schlafgemach sein. Weiche Teppiche bedeckten den Boden. Durch eine offene Tür gegenüber fiel fahlgelbes Licht, und Sorla hörte leise Stimmen. Er schlich hin und lauschte. „Ob sie noch kommen?“ erklang Benilis Stimme. „Es dauert so lange.“ „Bestimmt“, antwortete eine dunkle Stimme. „Die Dummköpfe werden glauben, dies sei ihre Gelegenheit.“ „Fast hätte ich es geschafft, sie alle in Mäuse zu verwandeln. Dann hätte ich dir die Arbeit erspart, mein Liebster.“ „Fast reicht nicht“, war die schroffe Antwort. „Aber, beim Großen Woul, ich werde sie vernichten.“ „Du bist so mächtig, mein Liebster, so wunderbar!“ „Nun sei still, ich muss mich konzentrieren!“ Sorla spähte vorsichtig um die Ecke in den anderen Raum. Dies war ein großer Saal, fahlgelb erleuchtet, und obwohl viele Regale mit dicken Büchern und Tische mit allerlei blitzenden und dampfenden Geräten herumstanden, war der größte Teil leer. In der Mitte des Saales stand Benili, ihren kleinen Zauberstab in der Hand. Neben ihr schwebte eine dunkle Wolke, weit größer als ein Mensch und dreimal so breit wie hoch. Manchmal schlängelten sich fette, wurmförmige Tentakeln hervor, schwarz glänzend und am Ende mit scharfen Klauen versehen. Wie konnte Benili nur so was Scheußliches lieben? Aber das war jetzt zweitrangig; Sorla blickte sich um, ob er etwas Wichtiges, den bevorstehenden Kampf Entscheidendes entdecken konnte. An einem der Tische lehnte ein Zauberstab, aber Sorla hatte
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nicht gelernt, mit solchen Dingen umzugehen – außer mit seinem Regenszepter natürlich. Im Vertrauen darauf, dass er unsichtbar war, schlich er sich in den Saal hinein und bewegte sich vorsichtig an der hinteren Wand entlang, um mehr zu erkunden. Auf einem der Tische standen viele Glasschalen in langen Reihen, gefüllt mit klarer Flüssigkeit. In jeder schwamm reglos eine handgroße menschliche Gestalt. Diese Gestalten sahen alle gleich aus, sie waren das kleine Abbild eines Mannes mit langem schwarzem Bart. In einer Ecke standen Käfige aufgestapelt, in denen sich Dutzende von Mäusen drängten. Einige darunter waren weiß. In einer anderen Ecke hing von der Decke reglos ein menschlicher Körper – mit dem Kopf nach unten, die Füße an zwei Fleischerhaken aufgespießt, die man an Ketten hochziehen konnte. Aus einer Schnittwunde am Hals tropfte Blut in eine Schale. Diese war fast randvoll, die Tropfen fielen spärlich, so dass Sorla wusste, der Mann war tot. Sorla fand es an der Zeit zurückzukehren und den Gefährten Bescheid zu geben. Als er an den Käfigen vorbeikam und die Mäuse sah, dachte er, es könne ja nichts schaden, und schob leise alle Riegel zurück. Dann schlich er weiter, stolperte über einen Handfeger, der gerade eben noch nicht da war, und fiel zwischen zwei Tischen zu Boden. Eine Blechschale fiel klappernd vom Tischrand hinterher. „Bei Ak’men!“ dachte Sorla. „Wie kann ein gelernter Dieb so tölpelhaft sein!“ Nun erst sah er das dienstbare Skelett, das auf Knochenhänden und Kniescheiben umher kroch und den Boden säuberte. „Schau nach, Benili!“ erklang die schroffe Stimme. Sorla hörte schon die Schritte näherkommen, ihm war der Weg zum Schlafgemach abgeschnitten. Also wich er zur Mitte des Saales hin aus und beobachtete, wie Benili auf das Skelett traf und ihm vorhielt, wie ungeschickt es sei. Dieses blickte aus leeren Augenhöhlen hoch und klapperte hilflos mit dem Unterkiefer. Plötzlich schrie Benili auf: „Mäuse!“ Und zwei Augenblicke später: „Die Gefangenen sind frei!“
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„Du hast vorhin die Käfige nicht wieder verschlossen.“ „Doch, Liebster! Außerdem habe ich nur den einen geöffnet, als ich Hubarik fürs Blutfutter holte. Du hast ihn rückverwandelt und aufgehängt, ich habe den Käfig verriegelt, das weiß ich genau!“ „Dann ist hier ...“ Sorla duckte sich tief hinter einen Steintisch, denn er ahnte Schlimmes. Und tatsächlich erscholl die Stimme: „Unsichtbares, werde sichtbar!“ Sorla sah wieder seine Hände, seine Nase, und da er geduckt war, dicht vor sich auch seine Knie. Er blieb in Deckung und schaute unter dem Steintisch durch. Einige Schritte weiter bewegten sich, in schwarzen Samt und edle Männersandalen gekleidet, zwei Beine. Sorla wagte einen Blick um die Tischecke; dort stand ein stattlicher Mann in schwarzer Robe, den Zauberstab, der am Tisch lehnte, lässig umfasst. Das war Irkansel! Er hatte schon immer unsichtbar da gewartet, wo Sorla nur den Zauberstab gesehen hatte! Und die eklige Wolke mit den Wurmtentakeln war nicht er, sondern ein Ungeheuer, das ihm beistand und Angriffe von ihm ablenkte! Gut zu wissen, dachte Sorla, das muss ich Horell sagen. Doch da spürte er ein brennendes Prickeln im Rücken, und vor ihm wuchs der Tisch in riesenhafte Ausmaße. Selbst das Tischbein war so riesig hoch und breit, dass Sorla sich dahinter verstecken konnte. „Ich hab ihn!“ jubelte Benili hinter ihm. Erschreckt huschte Sorla um das Tischbein herum. Seine Schnurrhaare zitterten vor Angst. Gerade merkte er, dass der lange Mauseschwanz noch hinter dem Tischbein hervor lugte, da traf ihn wieder ein Schmerz, und er sackte gelähmt zusammen. „Liebster, da schau!“ jubelte Benili und hielt ihn mit zwei Fingern am Schwanz hoch. „Das ist Sorla, du weißt doch!“ Ein riesiges bärtiges Gesicht beugte sich über ihn. „Gut gemacht, Benili. Tu ihn zu den übrigen.“ „Sieh doch, Liebster! Seine Farbe!“ „Ja, grau oder grün. Bei dem gelben Licht kann man nicht ...“
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In diesem Augenblick erschienen Sorlas Gefährten im Raum. Ein Knall ertönte, alles war finster, Blitze zuckten hin und her. Benili schrie auf und ließ Sorla fallen. Er landete auf etwas Hartem. Das schmerzte, doch Sorla konnte sich nicht regen. Nur mit Mühe atmete er, ganz flach und wenig; er hatte das Gefühl, langsam zu ersticken. „Liebster!“ röchelte Benili. „Hilf mir, ich sterbe!“ Doch niemand schien sich darum zu kümmern. Seit dem Knall waren vielleicht fünf, sechs Atemzüge vergangen, nun erstrahlte weißes Licht am anderen Ende des Saales; das waren die beiden Anod-Priester mit ihren Stäben. „Bei Anod!“ rief Ostarfindis und sandte wieder einen Blitz, der jedoch wirkungslos an Irkansel abprallte. Dieser schrieb mit seinem Stab ein Zeichen in die Luft, da lohte eine gelbe Flamme auf und schoss auf Ostarfindis zu, dass er aufschrie und verglühte. All das konnte Sorla, gekrümmt auf der Seite liegend, aus den Augenwinkeln beobachten. Wo war Horell? Richtig, er hatte sich ja vorher unsichtbar gemacht. Eben bildete sich mitten im Saal eine rotglühende Kugel und schwebte zu Irkansel hinüber. Dieser lachte und ließ sie mit einem Wink seines Stabes zerplatzen. Feuer regnete herab, Plosek brüllte vor Schmerz und wand sich am Boden. Schon hatte sich eine zweite feurige Kugel gebildet und rollte auf Irkansel zu. Wie er sie abwehren wollte, traf ihn ein Blitz aus Ploseks Stab. Irkansel zuckte zurück, da erreichte ihn das Flammengebilde, brach über ihm in glühendem Rot auseinander, und Irkansel brach verkohlt zusammen. „Sieg!“ rief Plosek, der sich wieder auf seine Knie erhoben hatte. „Anod sei Dank!“ Doch mit lautem Lachen erschien Irkansel wieder und war unversehrt. Wie konnte das sein? Neben ihm verglühten noch die Reste seiner Leiche! Tok-aglur schoss Pfeil auf Pfeil gegen das Ungeheuer in der schwarzen Wolke und bemühte sich, außer dessen Reichweite zu bleiben. Ob er diesem irgendwelchen Schaden zugefügt hatte, war nicht festzustellen, aber bald würde sein Köcher leer sein. Plötzlich schoben sich in Sorlas Gesichtsfeld weitere Schnurrhaare. Ein Mäusegesicht schnupperte ihm besorgt entgegen.
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„Du warst nicht im Käfig bei uns“, stellte das Tier fest. „Eine grüne Maus wäre uns aufgefallen.“ „Nicht grün“, mischte sich eine zweite Maus ein. „Eher blau.“ „Nun, grünblau vielleicht.“ „Blaugrün.“ Sorla atmete nur, mehr war ihm nicht möglich. „Warst du derjenige, der unsere Käfige entriegelte?“ Eine dritte Maus kam hinzu, sie war weiß. Nun wurde es eng über Sorlas Gesicht. „Wer ist diese graue Maus?“ „Grünblau!“ „Blaugrün!“ Das weiße Mäusegesicht beugte sich tiefer über Sorla. „Ihr habt Recht. Sehr ungewöhnlich.“ Sie strich sich nachdenklich mit den Pfoten die Schnurrhaare nach hinten. „Hier überlappen sich die Wirkungen zweier Magiefelder. Die Mäusegestalt, nun gut, wir alle können ein Lied davon singen. Aber blaugrün? Hat diese Hexe etwas Blaugrünes gezaubert?“ Die anderen Mäuse schüttelten verneinend ihre spitzen Nasen. Um sie herum zuckten Blitze, Plosek schrie einmal siegessicher, einmal vor Schmerzen, Irkansel lachte, aber nicht ganz so siegessicher wie anfangs; die weiße Maus jedoch kümmerte sich nur um das Problem, das ihr in Gestalt der blaugrünen Maus vorlag. „Hm, vielleicht ein Froschzauber? Moos? Wasser? Schlange?“ Dabei schaute sie Sorla prüfend in die Augen. Bei „Schlange“ durchfuhr es Sorla. Natürlich! Er rollte die Augen, so deutlich er konnte. Die weiße Maus nickte. „Aha. Schlange. Nicht sehr anheimelnd, wenn man nicht gerade ein Schlangenkaiser ist.“ Wieder rollte Sorla die Augen. Die weiße Maus beugte sich tiefer, so dass ihre Schnurrhaare in Sorlas Ohren kitzelten. „Diese blaugrüne Maus will mir etwas sagen. Ach, wenn ich nur meine wahre Gestalt hätte, bei Anod! Dann wärest du deine Lähmung sofort los und den Mäusezauber dazu!“ Eben hüpfte Lamponu vorbei, entdeckte die Mäuseansammlung, stülpte überrascht die Oberlippe hoch und strich
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mit einem Finger sachte über Sorlas gekrümmten Leib. Dann hüpfte er mit aufmunterndem Geplapper weiter. Die weiße Maus sah ihm verärgert nach. „Wie soll man da seine Gedanken beisammen halten?“ Wieder zu Sorla gewandt sagte sie: „Höre, in dir steckt also ein Schlangenzauber, der will sich verwirklichen. Ist das ein guter Zauber, einer, dem man trauen kann?“ Sorla rollte die Augen und hörte erst auf, als er zu ersticken drohte, weil er das Atmen vergessen hatte. „Nun gut. Wunder wirken kann ich jetzt nicht, aber beten.“ Damit hob die Maus ihre Pfoten und rief Anod an, den Herrlichen, Mächtigen, Strahlenden, ihnen in dieser schlimmen Not Beistand zu gewähren und dieser blaugrünen Maus die Kraft zu geben, ihrem inneren Drang zu folgen. Sorla spürte, dass er leichter atmete. Er dehnte sich, bog den Rücken hin und her, hörte noch, wie die Mäuse erschreckt pfeifend auseinander sprangen, da glitt er schon zwischen Mörsern und Tiegeln hindurch, wand sich am Tischbein herab und schlängelte am Boden entlang ins nächste dunkle Versteck. Das alles hatte nur wenige Augenblicke gedauert, denn Mäuse können sehr schnell reden. Noch immer tobte der Kampf. Eben verwandelte sich Irkansel in einen schwarzen Panther und sprang Plosek an, da traf ihn von der Seite eine riesige Faust und schmetterte ihn zu Boden, wo er leblos liegen blieb. Das musste von Horell gekommen sein, der noch immer nicht zu sehen war. Doch Irkansel erschien schon wieder, lachend, auf dem toten Körper des Panthers. Wie konnte das sein? Sorla schlängelte näher, schnellte hoch und schlug seine Giftzähne in Irkansels Bein. Dieser schrie auf und brach tot zusammen. Aber schon stand ein neuer Irkansel da, auf seinem eigenen toten Körper! Der am Boden liegende Stab schnellte in seine Hand. Irkansel war, rechnete Sorla nach, schon mindestens viermal gestorben und erschien doch immer wieder in neuer, unversehrter Gestalt. Als der Zauberer sich umsah, wer ihn eben gebissen hatte, war die kleine Schlange längst wieder ins Versteck geschlüpft. Ein paar Schritte weiter kämpfte Tok-aglur mit Schwert und Dolch gegen das grässlichen Ungeheuer. Eine abgetrennte Tentakel
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lag zuckend am Boden, und schwarzer Schleim bedeckte den Boden, doch auch Tok-aglur war an mehreren Stellen von den Klauen und peitschenähnlichen Tentakeln schwer getroffen worden. Wie gerne hätte Sorla seinem Vater beigestanden! Doch sah er keine Möglichkeit, dem Ungeheuer in seiner Wolke beizukommen. Eben schwebte Irkansel in die Höhe, ins Riesengroße aufgebläht, und schleuderte Blitze herab. Da erschien Horell als großer blauer Adler und hieb ihm die Krallen in den Rücken. Irkansel verwandelte sich in einen roten Greif, wand sich in Horells Griff diesem zu und hackte mit seinem Schnabel auf ihn ein. Nun taumelten die beiden riesigen Vögel durch die Luft, kopfüber, kopfunter, kreischend und sich gegenseitig zerfetzend. Plosek versuchte Horell beizustehen, doch so, wie die beiden Vögel umeinander herum wirbelten, hatte er Mühe, mit seinen Blitzen nicht den Falschen zu treffen. Für Sorla gab es hier nichts zu tun. Er ahnte aber, dass Horell nicht siegen konnte. Selbst wenn er stärker war und wenn Plosek mit seinen Blitzen Erfolg haben sollte – was nützte es, Irkansel anzugreifen, wenn er doch wieder neu erschien? Es war, als habe Irkansel irgendwo eine geheime Quelle der Kraft, die ihn stets neu erstehen ließ. Da fiel Sorla etwas ein. Natürlich, das war die Erklärung! Rasch glitt er im Schutze der Tische quer durch den Saal nach hinten. Er wand sich an einem Tischbein hoch; da waren sie, die vielen Glasschalen, in denen die Abbilder Irkansels schwammen! Sechs Schalen waren leer – klar, die hatte Irkansel mittlerweile verbraucht. Man müsste die übrigen Abbilder zerstören, nur wie? Sorla stemmte sich gegen eine der Schalen, um sie umzustürzen. Doch sie war zu schwer, sein Schlangenleib zu klein und schwach. Er sah sich nach Hilfe um. Die Mäuse würden ihm auch nicht helfen können. Da erblickte er ein paar Tische weiter Lamponu, der vor der ausgebluteten Leiche hockte und sich schreckensstarr den Kopf hielt. Sorla glitt hinüber, da zuckte der Affe vor ihm zurück. Sorla sprach ihn an, aber das war nur Schlangengezisch. Angespitzte Gänsefedern zum Schreiben lagen herum, auch
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ein Tintenfass stand dabei, war aber verschlossen. In seiner Verzweiflung nahm Sorla einen Federkiel ins Maul und tunkte ihn in die Schale mit dem Blut. In groben Lettern malte er „SORLA“ auf den Tisch. Lamponu schnatterte aufgeregt und klatschte in die Pfoten. Atne sei Dank, seufzte Sorla innerlich und glitt davon, Lamponu hüpfte hinterher. Als die kleine Schlange sich nun gegen eine der Schalen stemmte, begriff Lamponu sofort. Begeistert küsste er Sorla auf den Schlangenkopf, dann stürzte er eine Schale nach den anderen um, dass die Flüssigkeit auf den Boden strömte, und biss den kleinen Gestalten, die dort vor sich hin gedämmert hatten, den Kopf ab. Der rote Greif schrie auf und hing schlaff in den Krallen des blauen Adlers. Auf dem Boden erstand Irkansel in seiner menschlichen Gestalt neu, doch bevor er zaubern oder sich nur bewegen konnte, brach er tot zusammen, erstand neu, starb – es war schaurig anzusehen. Sorla aber schaute zu, mit tiefer Befriedigung im Herzen, wie Irkansel an seinen eigenen Machenschaften zugrunde ging. Plosek hatte sich zu Tok-aglur gesellt, um ihm gegen das schwarze Ungeheuer beizustehen – gerade rechtzeitig, denn Tokaglur war schwer verwundet und konnte sich nur noch schwach verteidigen. Vor Ploseks Blitzen aber wich das Ungeheuer langsam zurück, eine breite Spur schwarzen Schleims zurücklassend. Horell, der blaue Adler, hatte den toten Greif fallen gelassen, um sich auf die neue Verkörperung Irkansels zu stürzen. Dann aber sah er, wie dieser starb und erschien, starb ... Da schwebte er zur Mitte des Saales und verwandelte sich in seine menschliche Gestalt zurück. „Sorla!“ rief er. „Wo bist du?“ Die kleine Schlange hatte ihn beobachtet und glitt auf ihn zu. Horell streckte seinen Stab aus und murmelte etwas, da stand Sorla wieder aufrecht da und umarmte seinen Freund. Horell lächelte erschöpft. „Viel zaubern kann ich nicht mehr“, murmelte er. „Diese Rückverwandlungen sind sehr anstrengend.“ „Und die Mäuse?“
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„Welche Mäuse?“ Sorla erzählte von den Gefangenen, die in Käfigen gehalten wurden, um der Reihe nach geopfert zu werden. „Ich kann ihnen jetzt nicht helfen, Sorla. Wir müssen sie einsammeln und so mitnehmen.“ Eben hatte Lamponu die letzte Schale umgestürzt. Mit einem grässlichen Aufschrei brach Irkansel das letzte Mal zusammen, rollte herab vom Berg all seiner vorigen Verkörperungen, und starb endgültig. „Nicht schlecht, Lamponu“, murmelte Horell. „Deine Idee?“ Doch Lamponu zeigte auf Sorla und schnatterte etwas. Horell lächelte anerkennend. Die Mäuse musste man nicht suchen, sie kamen jetzt in Scharen und versammelten sich piepsend um Sorla. Dieser schüttelte den Kopf. „Ich denke, mit eurer Rückverwandlung müsst ihr warten. Ich nehme euch aber gerne mit.“ Da krochen sie an seinen Beinkleidern hoch und verschwanden in seinen Taschen und Ärmeln. Plosek hatte das schwarze Ungeheuer durch den halben Saal vor sich her getrieben. Tok-aglur humpelte neben ihm her, konnte jedoch wegen seiner Wunden kaum noch etwas ausrichten. Sie waren aber beide recht siegessicher. Sorla wunderte sich fast, wie leicht das Ungeheuer es ihnen machte, denn Tok-aglur war kein ernst zu nehmender Gegner mehr, auch Plosek wirkte erschöpft. Er konnte keine Blitze mehr schleudern, sondern benutzte seinen Stab nur noch, um auf das Ungeheuer einzuschlagen. Da sah Sorla, dass das Ungeheuer in die Nähe der mit Blut gefüllten Schale gekommen war. Es senkte eine seiner Tentakel hinein, während es mit den übrigen Plosek und Tok-aglur abwehrte. Da begann es langsam anzuschwellen, dann schneller, schon war es doppelt so groß wie zuvor und wuchs noch immer. Die schwarze Wolke waberte gierig. „Horell! Sieh dort!“ rief Sorla. Horell begriff sofort. „Los, wir müssen fliehen!“ Er rannte los, Sorla und Lamponu hinterher, Plosek und Tok-aglur schlossen sich an. In wilder Flucht stürzten sie zu der Tür mit dem fünfeckigen
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Zeichen, drängten sich hindurch und waren schon im fahlgelb erleuchteten Raum mit den fünf Türen. „Welche nehmen wir?“ fragte Sorla. „Na, die zur Bibliothek“, antwortete Horell. In diesem Augenblick erschien das schwarze Ungeheuer mitten unter ihnen, sie sprangen erschreckt zur Seite. Die Wolke füllte ein Drittel des Raumes, riesige Tentakel wanden sich am Boden. Der Weg zur Bibliothekstür war versperrt. „Was nun?“ japste Plosek. „Schnell!“ Sorla zeigte auf die Tür hinter sich, die mit der Steilküste und schäumenden Wogen. Sie hatten keine Wahl, alle stürzten hinter Sorla hindurch, Horell als letzter. Er wandte sich um und schuf eine Feuerlohe, womit er die Tür versperrte. Dann eilten sie den anderen in die Dunkelheit hinterher. „Das hält aber nicht lange“, murmelte er Sorla zu. „Ich habe zu wenig Kraft.“ „Sehr schlimm“, sagte Sorla. „Denn weiter vorne lauert ein Wächter. Entweder hilft er uns über den Abgrund, oder er frisst uns.“ Plosek hatte sie gehört. „Da weiß ich was“, sagte er. „Ich habe noch den Stab von Ostarfindis, der ihn nun leider nicht mehr braucht. Da steckt noch allerhand Wunderkraft drin!“ Mit diesen Worten wirkte er ein kleines Lichtwunder am Ende seines eigenen Stabes, denn das Feuer hinter ihnen war zu weit entfernt, um ihnen noch den Weg zu leuchten. „Und wenn uns dieser Wächter sieht?“ fragte Horell. „Meine Zauberkraft ist verbraucht.“ „Keine Bange.“ Plosek ging nun, in jeder Hand einen Stab, voraus. Bald kamen sie an den Abgrund. Am jenseitigen Rand saß ein riesiges Geschöpf, braungrau wie die Felsen ringsum, fett und langarmig wie die Kreuzung eines Affen und eines Frosches, doch so gewaltig groß und scheußlich, als wäre es einem schlimmen Albtraum entsprungen. „Mein Fressen kommt!“ schmatzte es mit einem Maul so breit wie ein Scheunentor. „Oder wisst ihr die Losung?“ „Das ist wohl der Wächter“, sagte Tok-aglur halb fragend.
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„Es ist eine Felsgeburt“, erläuterte Horell. „Man stellt sie durch Zauberkraft aus den umliegenden Felsen her. Sehr praktisch, wenn man einen zuverlässigen Wächter braucht.“ „Richtig!“ nickte Plosek. „Ich hab’s zu Hause nachgelesen. Leider gehorcht dieser Wächter Irkansel und nicht uns.“ „Aber wir wissen die Losung!“ warf Sorla ein. „Möchtest du es darauf ankommen lassen?“ entgegnete Plosek. „Vielleicht ist er zu hungrig. Vielleicht passt ihm unser helles Licht nicht. Vielleicht wurde die Losung geändert. Vielleicht hat ihm Irkansel in den letzten Tagen eingeschärft, uns nicht durchzulassen. Ich habe eine bessere Idee.“ Er stellte sich nahe dem Abgrund hin und rief: „He du, strecke den Arm herüber! Wir wollen gefressen werden!“ „Ja, gut!“ kam es in tiefem Grunzen zurück. Ein riesig langer und breiter Arm reckte sich quer über den Abgrund, eine Pranke, groß wie ein Fuhrwerk, öffnete sich vor Plosek. Dieser hob Ostarfindis‘ Stab und rief: „Beim Lichte Anods! Nun gib alles! Bein zu Stein!“ Da glühte der Stab in weißem Licht auf und verschwand mit einem sirrenden Geräusch. Plosek rieb sich die Hand, als habe er sie sich verbrannt. Ansonsten geschah nichts. Noch immer reckte sich ihm die offene Pranke entgegen. Nur Horell murmelte leise: „Sehr gut gemacht für einen Priester!“ Plosek lächelte über das Lob. „Schade um den schönen Stab“, sagte er. „Zuviel Felsmasse musste rückverwandelt werden. Aber es hat sich gelohnt.“ Mit dem eigenen Stab tippte er auf die breite Pranke und sagte: „Sieht haltbar aus, nicht wahr?“ Alle lobten ihn, und wie geschickt war es doch, dass der steinerne Arm wie eine Brücke über den Abgrund ragte! Schnell kletterten sie auf die reglose Pranke und bewegten sich vorsichtig hintereinander über den felsigen Arm. „Nicht nach unten schauen!“ flüsterte Tok-aglur. „Schaut vor euch auf den Weg, sonst wird euch schwindlig!“ Das stimmte. Sorla hatte kurz in die Tiefe geblickt, da bebten schon seine Knie. Den anderen ging es wohl ähnlich. Drüben angekommen, sahen sie sich aufatmend um. Da bot sich ihnen ein schlimmer Anblick, denn jenseits des Abgrundes kroch in seiner schwarzen Wolke das
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Ungeheuer heran und erreichte schon die steinerne Pranke! Also war Horells Feuerwand niedergebrannt, und nichts schützte sie mehr vor diesem schrecklichen Verfolger! Sie eilten weiter den Gang hinab, all die vielen Stufen, die sie vor sich einigen Wochen empor getastet hatten. Plötzlich war der Gang zu Ende und vor ihnen nur Felswand. Daneben aber lag das kleine Ruderboot Irkansels bereit. „Schnell!“ rief Plosek. „Das Wolkenbiest kommt!“ Tatsächlich glitt das schwarze Ungeheuer bereits auf seinen vielen Tentakeln die Stufen herab, den Gang von Wand zu Wand ausfüllend, und warf sich auf Plosek und Tok-aglur, die am weitesten hinten standen. Die beiden verteidigten sich mit Schwert und Stab, doch schon schrie Plosek getroffen auf. Sorla untersuchte fieberhaft die Felswand – irgendwo musste die Geheimtür sein! Er hatte sie doch selbst geöffnet! „Bei Ak’men!“ flüsterte er verzweifelt. „Sie muss doch zu finden sein!“ Horell trat zu ihm und murmelte: „Kann sein, dass Irkansel ein Trugbild darauf gezaubert hat. Dafür hat Lamponu ein Gespür.“ Schon rannte das Äffchen los, um den Felsen zu untersuchen, und zwei Atemzüge später wies er schnatternd auf eine Stelle, die so aussah wie aller Fels rundum auch. Wie aber Sorla genau hinsah, war es, als erwache er aus einem Traum, alles fügte sich vor seinen Augen klar zusammen: da war der Hebel, hier musste man drehen, dort war die Tür. „Danke, Lamponu!“ flüsterte er. Schon hatte er die Tür geöffnet und blickten hinaus in die Meeresgrotte. Horell und er schleiften das Boot hinaus ans Wasser, dann rannten sie zurück, um Plosek und Tok-aglur beizustehen. Von allen Seiten schlugen sie auf die umher peitschenden Tentakel ein und erreichten, dass Plosek und Tok-aglur sich aus dem Nahkampf lösen konnten. Alle sprangen in das Boot und stießen ab, aber nicht schnell genug – schon drängte das Ungeheuer hinterher. Die fetten Tentakeln schlangen sich um sie, die dunkle Wolke begann sie einzuhüllen. Sorla spürte, wie ihm die Kräfte schwanden, als würden sie ihm ausgesaugt. Da schien es ihm, als habe er einen hellen Schein aus dem Wasser leuchten sehen, und er erinnerte sich.
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„Ohkxepe!“ rief er mit letzter Kraft. „Im Namen Anods! Hilf uns!“ Dann schwanden ihm die Sinne. * Als er wieder erwachte, trieben sie auf dem offenen Meer. Plosek versuchte gegen die Wellen anzurudern, aber hatte allein nicht die nötige Kraft. Er sah schlimm aus mit seinen Brandwunden und anderen Verletzungen. Nun sah er, dass Sorla wach war, lächelte und sagte, alles sei gut. Auch die beiden anderen erholten sich nach und nach von ihrer Schwäche, verbanden sich gegenseitig die Wunden und konnten Plosek beim Rudern helfen – nicht viel, aber es reichte, um den Kurs zum Hafen von Hernoste zu nehmen. Plosek erzählte, dass er als einziger sich gegen die Schwäche wehren konnte, die von der dunklen Wolke ausging, wohl weil er Anod-Priester war. So sah er, wie die riesige Krake heran geschossen kam und das schwarze Ungeheuer über Bord ins Wasser zog. Es habe einen fürchterlichen Kampf dort unten gegeben, doch die Krake habe gesiegt. Sie habe dann den Kopf aus dem Wasser gestreckt, um zum Abschied etwas zu sagen. Aber leider verstand Plosek nicht das Glucksen bedeutsamer Blasen. Er habe ihr nur die Hand reichen können, die sie mit einer ihrer Tentakel zart berührte. Noch jetzt wusste er nicht, ob er sich deshalb schütteln oder freuen sollte.
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Fünftes Kapitel:
DIE GROSSE SPINNE Achtundzwanzig ehemalige Gefangene Irkansels verbreiteten in Ekritmea die Kunde von Irkansels üblen Machenschaften und dem heldenhaften Kampf Sorlas und seiner Freunde. In der Stadt brandete eine Woge der Zuversicht und des Aufbruchs – alles sollte jetzt besser werden! Der von den Sechs Familien eingesetzte Kaiser Takilis zog es vor, nicht in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Im Tempel Anods drängten sich die Andächtigen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Plosek leitete die Trauerfeier für Ostarfindis. Neben ihm standen die fünf Priester, welche Sorla aus Irkansels Käfigen befreit hatte. Danach begann der zweite – viele glaubten, wichtigere – Teil: eine Andacht, um Anod zu preisen und den neu erstarkten Glauben in der Bevölkerung zu feiern. Zu Gast war Zanolphis, der ehrwürdige Oberpriester des Anod-Tempels zu Kaharad, um Plosek in sein Amt als neuer Oberpriester einzuführen. Denn wie Giaruron geendet hatte, der den Mächten der Dunkelheit anheimgefallen war, hatte sich inzwischen herumgesprochen. * „Mein lieber Sorla“, sagte Zanolphis und umarmte diesen. „Welch vielversprechender Anfang! Die Bevölkerung liebt dich. Die Feinde sind geschlagen. Die Priesterschaft Anods steht hinter dir, was immer du vorhast.“ Sorla nickte. Ihm war schwindlig von all den Glückwünschen, die ihm heute schon gespendet wurden. „Danke für das Lob, ehrwürdiger Zanolphis. Aber Ekritmea ist nicht das Kaiserreich. Ich glaube nicht, dass die Feinde besiegt sind. Man muss sie aufspüren, bevor sie einem in den Rücken fallen.“
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„Du hast Recht, mein junger Held.“ Aber Sorla hatte noch nicht geendet. „Zweitens muss vieles wieder aufgebaut werden, damit möchte ich schon jetzt beginnen.“ Zanolphis lächelte. * Agish stand in der Tür, sein Gesicht bleich unter den roten Haaren. Als Sorla ihn sah, ahnte er Schwierigkeiten. „Sorla“, begann Agish, „ich weiß jetzt, wie mein Vater und mein Bruder umkamen.“ Als Sorla antworten wollte, hob Agish die Hand: „Lass' mich aussprechen! Es stimmt, dass nicht du sie getötet hast, sondern es waren die Besser Ungenannten, die sich ihr Opfer holten. Und sowieso war es schlimm, sich mit diesen Gewalten einzulassen. Aber weshalb hast du mir das nicht gesagt? Weshalb hast du mich behandelt wie ein dummes Kind, dem man die schlimme Wahrheit vorenthält?“ Sorla sah ihm betroffen in die vertrauten grüngelben Augen. „Lieber Agish!“ Dieser schüttelte zornig den Kopf: „Wir Feuerreiter sind dir in alle Gefahren gefolgt, weil wir helfen wollten. Du warst unser Vorbild. Aber seit Wochen haben wir dich nicht mehr gesehen. Hast du jetzt was Besseres zu tun? Diente die ganze Feuerreiterei nur dazu, dich bei den Leuten beliebt zu machen?“ „Agish!“ „Nein, hör‘ zu! Deine Erfolge waren gut für dich, aber auch für uns alle. Wenn du keine Zeit mehr hast, Brände zu löschen, weil du Leute wie Irkansel oder Giaruron unschädlich machst, werfe ich dir das nicht vor. Es ist gut und notwendig. Wir anderen machen bei den Feuerreitern weiter, denn auch das ist gut und notwendig. Aber wenn du bloß an deinem Ruhm interessiert bist, auf Kosten des Gemeinwohls, dann kriegst du mit uns Ärger, Sorla. Wir werden dich im Auge behalten.“ Abrupt drehte sich Agish um und ging.
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* Horell beugte sich vor, die Arme an den Leib gedrückt, als wolle er nicht unnötig viel Raum einnehmen. „Ich bin dabei, in Irkansels Turm aufzuräumen, Sorla“, murmelte er. „Du weißt, Leichen entfernen und so.“ „Wo sind sie jetzt?“ „Den Haufen von Irkansels Verkörperungen habe ich verpuffen lassen – soll heißen, ich hab‘ sie in harmlose Luft verwandelt und die Fenster geöffnet. Benili aber wurde in der Stadt beerdigt, ganz normal. Plosek half mir dabei.“ Er räusperte sich. „Schade um das Mädchen, diese Benili. Sie war nicht unbegabt, leider auf der falschen Seite.“ Sorla nickte und wollte eben etwas Mitfühlendes ausdrücken, da beugte sich Horell wieder vor: „Der Grund, weshalb ich herkam, ist folgender. Unter dem Leichenberg fand ich eine Falltür, die öffnete ich. Da ist eine Treppe, die führt hinunter in einen zweiten Saal. Dort befindet sich eine riesige metallene Platte mit eingravierten Zeichen. Dies sei, so steht da, ein Hebel der Macht. Sagt dir das was?“ Hebel der Macht? Sorla erinnerte sich dunkel, diesen Begriff schon einmal gehört zu haben. Dann fiel ihm ein, wie er im vorigen Jahr beim Dienenden Zwerg Murlingir zu Gast war, der ihm sagte, er bewache einen solchen Hebel der Macht. Das war aber weit oben im Norden des Reiches, nahe den Bergen von Batiflim. Nun hatte Horell hier bei Ekritmea einen zweiten Hebel gefunden. Wozu dienten sie? „Konntest du die Zeichen lesen, Horell?“ „Nicht die auf der Platte selbst. An der Wand fand ich eine hernostische Inschrift, die besagt, dass dieser Hebel der Macht von Sinn-he Fala dem Leuchtenden geschaffen wurde; doch von dem habe ich noch nie gehört.“ „Sinn-he Fala der Leuchtende war der Begründer der
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hernostischen Dynastie. Er warb um Zusnild, eine Königstochter. Laut Überlieferung war sie eine Schlangenfee; deshalb wollte sie sich keinem Manne hingeben und stellte ihren Freiern eine unerfüllbare Bedingung. Nur wem es gelänge, die Wasser des Tales von Batiflim nach Hernoste zu lenken, dem würde sie sich hingeben.“ „Batiflim ist ein Hochland, kein Tal“, wandte Horell ein. „Jetzt schon – höher gelegen als die Berge ringsum. Damals war es ein blühendes Tal, fruchtbar und reich an Wasser, eingebettet zwischen schützenden Gebirgszügen. Menschen lebten friedlich zusammen mit Zentauren. Auch Sinn-he Fala, ein mächtiger Zauberer, stammte von dort. Aber die Liebe zu Zusnild brachte ihn dazu, gewaltige Wunder zu wirken und das Tal in die Höhe zu heben, bis die Wasser herabflossen, in den Fluss Bato strömten und Ekritmea erreichten. So erwarb er die Gunst Zusnilds und wurde der Stammvater der hernostischen Dynastie.“ „Toll, was du alles weißt.“ Sorla lächelte, denn das Wissen um seine eigenen Vorfahren hatte ihn sein Vater gelehrt. Aber über Hebel der Macht hatte er nicht gesprochen. * Es war jetzt einfach, über Benilis ehemaliges Schlafgemach in der Kaiserlichen Bibliothek den Turm Irkansels zu erreichen. Diesen Weg nahmen Sorla und Tok-aglur, um Horell aufzusuchen, der noch immer Irkansels Hinterlassenschaft durchstöberte. Denn da fand sich einiges, was auch für Horell interessant und lohnend war. Das scheußlich fahlgelbe Licht hatte er durch weiß strahlende Kugeln ersetzt. „Hier unten“, sagte Horell und klappte die Falltür hoch. Sorla und Tok-aglur stiegen die steilen Stufen hinunter in einen dunklen Saal. Sorlas Glygi erschien und tauchte alles in freundlich hellblauen Schimmer. Nun sahen sie die riesige Metallscheibe, die
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wie ein liegendes Rad fast den ganzen Raum bedeckte. Horell war nachgekommen und blickte ihnen über die Schulter. „Ah ja!“ sagte Tok-aglur. „Gnomenzeichen! Aber lesen kann ich sie nicht.“ Sorla ging es ebenso. Er erinnerte sich an seine Kindheit bei den Gnomen und wie sie ihn die Gute Sprache der Berge lehrten, aber sich weigerten, die dazugehörigen Gnomenzeichen zu erklären – mit der Begründung, es gehe um geheime Mysterien und Magie. „Wir brauchen die Hilfe eines Gnoms“, sagte er. „Doch die Gnomlande sind weit entfernt.“ „Dann kommen wir damit nicht weiter“, meinte Tok-aglur. „Es gibt noch andere, dringlichere Aufgaben für uns.“ * Dringlich schien es Tok-aglur beispielsweise, sich um Takilis zu kümmern, den Kaiser, welchen die Sechs Familien eingesetzt hatten, damit er in ihrem Sinne herrsche. Seit aber die Oberhäupter der Sechs Familien den Dunklen Gewalten zum Opfer gefallen waren, lebte er zurückgezogen im kaiserlichen Palast. „Es gibt in Irkansels Turm, im Raum der fünf Türen, einen Zugang dorthin“, sagte Sorla. „Ich weiß, mein Junge. Aber wir könnten in eine Falle laufen, denn er ist gewarnt.“ Also beschlossen sie, die Lage vor Ort zu erkunden, und verabredeten sich für abends am Rande des kaiserlichen Palastgartens. In der spätsommerlichen Abendsonne also spazierte Sorla den Weg durch die weiten Parkanlagen hinauf zum Palastgarten, vorsichtshalber in weibliche Tracht gekleidet, die bis zum Boden reichte, und das Gesicht verschleiert. Nur sein Messer hatte er mitgenommen, am Bein versteckt, das Schwert wäre aufgefallen. Noch befand er sich im öffentlichen Bereich der Anlagen, doch die meisten Besucher waren bereits gegangen, nur hier und da saßen Verliebte im Gras. Aus den Büschen sangen die
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Nachtigallen von Liebe und nahrhaften Insekten, aber Sorla achtete nicht darauf. Zwischen den Bäumen wurde der Palast sichtbar, alle Fenster hell erleuchtet. Vor den Eingängen standen Wachen. Sorla war zu früh zum Treffpunkt gekommen. Er sah sich um, konnte aber seinen Vater nicht erblicken. Er setzte sich, geschützt von einem Baumstamm, ins Gras und wartete. Einmal schien ihm aus den Augenwinkeln, als sei weiter vorne, im Palastgarten, etwas Großes von einem Baum zum nächsten geschwebt. Aber dort war es dunkel, und bevor er richtig hinsah, war es verschwunden. Vielleicht war es nur eine Sinnestäuschung. Dennoch schien es Sorla ratsam, aufzustehen und weiterzugehen. Eine Abteilung Palastwachen trabte den Weg entlang. Als sie an Sorla vorbeikamen, hielten sie an. „Eine Hübsche“, grinste der Anführer, „die noch keinen Liebsten hat!“ Die Männer lachten. „Dienst du Marushu?“ fragte einer, andere gingen um Sorla herum, um seine Gestalt zu begutachten: „Ein bisschen mager!“ „Wer von uns würde dir gefallen, Süße?“ fragte der Anführer. Sorla schwieg. Er drängte sich zwischen den Palastwachen hindurch, da packten sie ihn. Er wehrte sich, trat und schlug um sich, doch es waren zu viele und er hatte nicht den Raum, um sich wirksam verteidigen zu können. Sie hielten ihn an den Füßen hoch, zwangen seine Arme auf den Rücken, fesselten seine Handgelenke, jemand stülpte ihm einen Sack über den Kopf. Dann trugen sie ihn weg, und Sorla wurde klar, dass sie eben dies von Anfang an bezweckt hatten. * Der Sack wurde ihm vom Kopf gezogen, der Schleier vom Gesicht gerissen. Sorla fand sich in einem hell erleuchteten Saal
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wieder. Einer der vielen Palastwachen, die ihn umringten, hielt das Ende des Strickes, mit dem Sorla gefesselt war. „Oh Takilis!“ rief der Anführer. „Hier ist der Gesuchte!“ Am Ende des Saales saß auf einem Thron der Angeredete, schmächtig und in grauem Umhang. Sein Haar war dünn und rötlich blond, die Augen glotzten wasserhell. Er winkte die Gruppe näher heran. Sorla wurde vorwärts gestoßen, bis er die Stiefel des auf dem Thron Sitzenden dicht vor sich sah. „Knie nieder!“ befahl der Anführer und stieß Sorla zu Boden. „Die Spinne wartet“, höhnte Takilis über ihm mit dünner Stimme. „Sie weiß, die Beute kommt von selbst. Wozu ihr nachjagen?“ Er kicherte. „Und nun durchsucht ihn!“ Sie rissen das weite Frauengewand herunter. Schlangenzahn steckte in Sorlas Stiefelschaft und war sofort gefunden. Takilis steckte das Messer in den eigenen Gürtel und sagte: „Gut, das ist sein Wurfmesser. Es soll immer treffen, hört man. Aber wo ist das Regenszepter?“ Wieder durchsuchten die Wachen Sorlas Kleider. Sie schauten ihm in den Mund, zogen ihn aus, einer fuhr ihm mit dem Mittelfinger in den After. Die anderen feuerten ihn an, aber er fand nichts. „Wir können ihn nicht töten, bevor wir das Szepter nicht haben!“ rief Takilis wütend. „Werft ihn in den Schacht! Man wird sich um ihn kümmern!“ Sie schleiften Sorla an seinen Ellbogen über den Boden bis zu einem Vorhang, den sie zur Seite zogen. Dahinter war eine dunkle Öffnung – ein Loch, nachträglich in die Wand gebrochen und mit feinem, grauem Gespinst ausgekleidet, so dass man das Mauerwerk nicht sehen konnte. Es roch kühl und modrig. Ein Stoß in den Rücken ließ Sorla vorwärts in das Loch taumeln, er hatte plötzlich keinen Boden unter den Füßen und fiel in die Tiefe. Er landete in einem weich nachfedernden Netz und war überrascht, noch zu leben. Hier herrschte diffuses Dämmerlicht. Es kam von den Fäden des Netzes her, und wo kein Netz war, lag alles im Dunkel. Etwas – eher eine Ahnung als ein Geräusch – ließ ihn
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herumfahren. Da saß wenige Schritte vor ihm eine riesige, bleiche Spinne, größer als er selbst. Quer über ihren Kopf waren schwarze Augen verteilt, aus denen sie Sorla anfunkelte. Er riss an seinen Fesseln, doch die Stricke schnürten nur tiefer in die Handgelenke, die hinter seinem Rücken zusammengebunden waren. Er ließ sich seitlich rollen, weg von der Spinne. Die rührte sich nicht, sondern beobachtete ihn. Erst am Rand des Netzes hielt er inne. Hinunterfallen und sich den Hals brechen oder da bleiben und gefressen werden, diese Wahl wollte überlegt sein. Dann aber merkte er, dass er sich nicht mehr bewegen konnte; die Fäden am Rande des Netzes waren klebrig und hielten ihn fest, so sehr er auch daran ruckte. Nun kam die Spinne heran und begann, ihn mit neuen Fäden zuzuspinnen. Und als er erschöpft innehielt mit seinem Zappeln, Zucken, Zerren, spürte er einen brennenden Stich in seinem Bein und verlor das Bewusstsein. * Es war dunkle Nacht. Die Binsenbüschel waren zu fühlen, doch kaum zu sehen, als er sich vorwärts mühte, kriechend, denn seine Arme waren am Rücken wie festgewachsen. Auf dem Bauch rutschte er durch Schlamm und über die stachligen Binsen. Er musste eine alte Bekannte dringend um Rat fragen, doch hatte er ganz vergessen, wie sie aussah oder hieß. Zwischen den Binsen gluckste das Wasser aus den Wurzelballen, oder es waren verschlafene Blässhühner. Hier war der Uferrand, daneben strömte, in der Finsternis kaum zu ahnen, der Norfell-Fluss. Ratlos hockte er am Ufer, er wusste nicht weiter. Die verwünschte Schwäche überkam ihn wieder, diese Lähmung, die ihn in allem behinderte. Jemand hatte sie ihm angetan, angehext vielleicht – an ihm sollte er sich rächen. Nur wann? Wie? Er dämmerte weg, kam erschreckt zu sich – doch nichts war besser oder auch nur anders. So schlief er wieder ein.
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Einmal, halbwach, glaubte er eine ferne, riesige Bewegung im Fluss zu sehen. War das seine Bekannte? Wie sollte er sie auf sich aufmerksam machen? Er spürte, es lag an ihm, an seiner Schwäche, dass sie ihn nicht wahrnahm. Er richtete sich auf langes Warten ein. Einmal – so hoffte er – würde sie dicht bei ihm vorbeikommen und ihn erkennen. Einmal kam jemand vorbei, doch nicht seine Bekannte. Da war er sicher, denn das Wesen war dünn und hatte rötlich blondes Haar und sagte, er solle das Regenszepter hergeben, dann bekäme er zu trinken. Sorla lachte innerlich, denn Durst litt er nicht. Dieses Wesen kam noch zweimal, dazwischen war jeweils lange Zeit vergangen, und wunderte sich, dass Sorla noch immer nicht trinken wollte. Es konnte ja nicht wissen, dass Sorla am Fluss hockte und sich schöpfen konnte, soviel er wollte. Da flog das Wesen weg, aber sagte zuvor, noch einmal ein halbes Jahr, dann käme es wieder und würde ihn fressen. Sorla fand das ungerecht. Dieses erste halbe Jahr am Flussufer war ihm schnell vergangen. Doch seine Bekannte war nicht aufgetaucht. Da musste man sich in Geduld fassen. Übrigens spürte Sorla, dass seine Schwäche allmählich nachließ. Seine Gedanken begannen sich neu zu ordnen, während er am Ufer hockte und dem schwarz dahin strömenden Fluss zuschaute. Ihm fiel sein Pferd Kennan-glai ein, das in der Herde Ramloks durch die Lüfte donnert. Bäume drängten sich aus der Erde und in sein Bewusstsein, auch Ysalde, die schöne Dryade, die ihn in der Liebe unterwies. Sein Freund, der DRACHE schnob Feuer und sagte: Vier Elemente gibt es, mein kleiner Vetter. Da fiel Sorla wieder ein, wen er am Fluss gesucht hatte. Der Vollmond strahlte hinter den jagenden Wolken. Aus dem Wasser tauchte der riesige Kopf der Schlange. Ihr scharfkantiges Maul sah von der Seite aus, als lächle es, doch als die Schlange den Kopf wandte und auf Sorla richtete, war es unerbittlich nach unten gezogen. „Oh Schlange!“ flüsterte Sorla. „Ich habe auf dich gewartet.“ Der Schlangenkopf wiegte hin und her, so dicht vor Sorla, dass er den Nachthimmel verdeckte.
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„Oh Schlange! Hilf mir!“ Die gespaltene Zunge fuhr über seinen Kopf. „Du bist gewachsen in letzter Zeit, kleine Schlange. Hilf dir selbst!“ Damit stieß sie ihn unsanft zurück, dass er zwischen stachligen Binsenbüscheln ins Wasser fiel. * Die kleine Schlange erwachte, weil jemand dabei war, ihren Kokon aufzureißen. Schnell rollte sie sich zusammen, wartend, bis ein Riss entstand, schlängelte hindurch, blitzschnell, sah, wie die Kiefer der Spinne näherkamen, wich ihnen aus und schlüpfte unter den Spinnenbeinen davon. Aber das reichte nicht, denn die Spinne kam mit großen Sprüngen hinterher. So musste die kleine Schlange sich durch das Netz winden, hin und her, stets gefasst, gepackt, gestochen, gefangen zu werden. Höher und höher hinauf ging es, hier ging das Netz über in das Gespinst, das sich an die senkrechten Wände dieser Höhle anschmiegte, und die kleine Schlange kroch zwischen Gespinst und Felsspalten ungesehen weiter hinauf. Der schwere Vorhang ließ nur an den Rändern das Licht des Saales dahinter durch. Die kleine Schlange lugte um die schwere Stoffkante und sah niemanden. So wagte sie sich hervor, kroch dicht an der Wand hinüber zum Thron und verbarg sich unter ihm. Sie sah, dass der Thron innen einige Höhlungen aufwies, wo die Sitzpolster auflagen, da schlüpfte sie hinauf, ließ aber den Kopf ein wenig herabhängen, so dass sie den Raum von ihrem Versteck aus überblicken konnte. Gerade rechtzeitig, denn jetzt beulte sich der Vorhang aus, darunter kroch die riesige Spinne hervor. Sie verharrte, vom Vorhang noch halb verdeckt. Die kleine Schlange hielt ihren Kopf dicht an die Unterseite des Thrones geschmiegt und hoffte, von den vielen funkelnden Augen der Spinne nicht entdeckt zu werden. Die Spinne kam weiter in den Saal herein, der Vorhang
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rutschte herab von ihrem fetten Hinterleib. Nun erfüllte ein dünnes Pfeifen den Saal; die kleine Schlange brauchte ein paar Augenblicke, um zu merken, dass es aus den seitlichen Atemöffnungen der Spinne kam. Ganz seltsam wirkte dies Pfeifen auf die kleine Schlange, es zuckte und ruckte in jeder Windung ihres Leibes, da fielen Sorla seine Arme ein, die er hinter dem Rücken ganz vergessen hatte –sie waren ja nicht mehr gefesselt, die Stricke lagen abgeworfen unten im Netz der Spinne, wo die kleine Schlange davon geschlüpft war. Nun wurde es zu eng unter dem Thron, Sorla musste sich herauswinden, auf die Arme gestützt, und die Beine strecken – nackt, wie er geboren wurde. „Atne hilf!“ flüsterte er und erwartete den Angriff der Spinne. Jemand lachte mit dünner Stimme. Als Sorla aufblickte, sah er Takilis hoch über sich auf der Brüstung einer Balustrade sitzen, und viele andere hockten neben ihm wie Vögel auf der Stange. Nun ließ Takilis sich fallen, breitete den grauen Umhang aus – das waren Flügel! So schwebte Takilis herab auf den Boden des Saales, die anderen folgten ihm. Nun standen sie in weitem Kreis um Sorla, jeder mit einem Dolch in der Hand. Takilis hielt Schlangenzahn wurfbereit. So schlimm die Lage war, Sorla fand Zeit, sich über die Haarfarben zu wundern: manche hatten rötlich blonde Haare, manche weiße oder blassgrüne, alle aber blickten ihn aus den gleichen wasserhellen Augen an. Sorla wusste, dass die Spinne irgendwo hinter ihm war, jedoch Takilis mit dem Wurfmesser durfte er auch nicht aus den Augen lassen. Eben trat dieser einen Schritt nach vorne in den Kreis und höhnte: „Nun, will uns dieser Junge nicht doch noch das Regenszepter geben? Vielleicht lassen wir ihn dann laufen.“ Die anderen kicherten. Sorla antwortete nicht; er heckte eben einen verzweifelten Plan aus: Er würde Takilis reizen, das Messer zu werfen, aber dann ausweichen. Schon einmal war er von Schlangenzahn nicht getroffen worden! Es war also möglich! Dann könnte er Schlangenzahn aufheben und sich durch die Menge ins Freie kämpfen. „Atne hilf!“
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flüsterte er vorbeugend. „Zu stolz zum Antworten?“ erklang Takilis‘ dünne Stimme. „Vielleicht hat er das Szepter überhaupt nicht, ist bloß ein Hochstapler?“ „Du hast recht, Fledermaus“, sagte Sorla. „Ich habe es nicht dabei!“ Takilis kicherte. „Haben wir richtig gehört? Er will uns schmeicheln!“ Und zu Sorla gewandt: „Aber es wird ihm nichts nützen!“ Merkwürdig, wie dieser Takilis sprach! „Höre, Takilis, weshalb sagst du nie ‚ich‘ oder ‚du‘?“ „Ein dummer Mensch ist das! Nur wir sind von Bedeutung. Ansonsten gibt es unwichtige Wesen, die unsere Aufmerksamkeit nur auf sich ziehen, wenn sie nützen oder stören.“ Sorla nickte. „Dann lass‘ mich laufen, Fledermaus. Ich nütze dir nicht, und stören will ich auch nicht.“ Versuchsweise machte er ein paar Schritte rückwärts, wo er den Ausgang vermutete. Takilis kicherte. „Wir wissen, dass manches unwerte Leben dieser Menschenstadt uns los sein will. Wir werden nicht zulassen, dass diese Unzufriedenen sich einen Anführer wählen, um uns anzugreifen.“ Noch während er lächelnd sprach, zuckte seine Hand nach vorne und schleuderte Schlangenzahn. Sorla war darauf gefasst gewesen und hatte sich zur Seite fallen lassen. Das Wurfmesser zischte dicht an ihm vorbei und traf mit dumpfem Geräusch etwas Großes, Weiches. Sorla fuhr herum – das Messer war im Hinterleib der Spinne stecken geblieben, die sich an ihn herangeschlichen hatte. Takilis schrie: „Es hieß, dieses Messer trifft immer!“ „Nicht mich!“ lachte Sorla, während er sich außer Reichweite der Nächststehenden rollte, die mit dem Dolch auf ihn eindrangen. Das war der ‚Tanz der Diebe‘, den er einst gelernt hatte. Er wirbelte herum, schlug mit dem Bein einem Angreifer die Füße weg, sprang auf, schnellte sich seitwärts, wobei er jemandem in den Bauch trat, überschlug sich in der Luft, trat jemandem ins Gesicht und stand nach zwei weiteren Sprüngen auf dem Hinterleib der Spinne. „Ak’men sei Dank!“ rief er und riss Schlangenzahn mit
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weitem Schwung heraus, wobei er einen klaffenden Schnitt hinterließ. Die Spinne sprang hoch und warf ihn ab. Doch bevor sie sich auf ihn stürzen konnte, verkrampften sich ihre haarigen Beine. Das Ungeheuer krümmte sich zusammen, die Beine eng an den Leib gelegt. Und nun ertönte wieder das Pfeifen, doch lauter als zuvor. Grausig durchdrang es Sorlas Körper, hallte in jeder Faser seines Körpers wider als Vorgeschmack auf entsetzlichste Schmerzen und bodenlose Verzweiflung. Sorla krümmte sich neben der Spinne; aus den Augenwinkeln sah er, dass es Takilis und seiner Schar genauso erging. Doch während er sich nur krümmte, schienen sie zu schrumpfen, bis sie sich als merkwürdig gefärbte Fledermäuse am Boden wanden. Als das Pfeifen nachließ, die Spinne sterbend verstummte, richtete sich Sorla benommen auf. Rund um ihn her zappelten die Fledermäuse und begannen jetzt eine nach der anderen hoch zu flattern und durch eines der Fenster davonzufliegen. Ihre Dolche blieben auf den Marmorfliesen liegen. * Sorla schlug auf den kleinen Gong, der neben dem Thron stand. Als die Palastwache eintraf, fanden sie ihn auf dem Thron, und er hielt das Regenszepter. „Was soll das?“ fragte der Anführer der Wache. „Bist du nicht Sorla, den wir hierher brachten? Der Feuerreiter?“ Sorla nickte. „Aber das ist ein Jahr her! Und wo ist Kaiser Takilis?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Sorla. „Aber er ist nicht euer Kaiser und war es nie.“ Der Anführer öffnete den Mund zur Widerrede, überlegte es sich und starrte auf das Regenszepter. „Ich wünsche“, fuhr Sorla fort, „dass ihr Plosek, den Obersten Priester des Anod-Tempels holt.“
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„Zu Befehl.“ „Noch eines: Er soll meinem Vater Nachricht geben, dass ich noch lebe.“
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Sechstes Kapitel:
DAS KIND IM BAUM „Es ist schön hier oben“, sagte Tok-aglur. Sie saßen am Rande der Parkanlagen und überblickten die Stadt, die in der Nachmittagssonne vor ihnen lag. Auch Sorla genoss die Pause von den vielen Gesprächen, Verhandlungen, Sitzungen mit all den wichtigen Vertretern aus Stadt und Land. Die meisten waren froh, Takilis los zu sein, aber manche hatten unter dessen Herrschaft Macht und Reichtum erworben und sperrten sich gegen jede Neuerung. „Es sind jetzt zwei Jahre her, dass wir hier ankamen, mein Junge“, sagte Tok-aglur. „Es war eine schlimme Ankunft. Aber wir haben seither viel erreicht.“ Sorla nickte versonnen, er gedachte des Abends, als sie eben aus dem Norden in die Kaiserstadt gekommen waren und hier saßen. Sie hatten nicht geahnt, dass Sorlas Halbbruder ihm gefolgt war, um ihm einen Pfeil in den Rücken zu jagen. Er traf aber Tok-aglur, und Sorla warf sein Messer, ohne den Angreifer zu erkennen. So starb sein Halbbruder. Wo sein Blut in den Boden gesickert war, hatte Sorla eine Buchecker in den Boden gesteckt, die letzte von denen, die ihm die Dryade Ysalde gegeben hatte, damit er sie unterwegs verteile. Sorla sah sich um; tatsächlich, ein kleines Bäumchen wuchs aus dem Gras, wenige Buchenblätter stolz in die Luft reckend. Er lächelte und berührte es sachte ... * Er kam zu sich in einem hellen Raum. Keine Wand war zu sehen, nur sanfte Helligkeit. Ihm gegenüber saß ein kleines Mädchen mit blonden Locken. „Geh weg!“ sagte sie, erschrocken und wütend zugleich.
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„Wo bin ich?“ „Na hier, du Dummer! In meiner Buche.“ „Buche?“ „Na, meine hier! Und hoffentlich trampelt dein Vater nicht auf uns drauf!“ Das Kind bewegte den Arm, als ziehe es einen Vorhang beiseite. Da erschien die abendliche Wiese, ganz in der Nähe stand Tok-aglur und schaute sich verstört um – offensichtlich Sorla vermissend. Sorla rief ihn, doch sein Vater hörte ihn nicht. Da begriff er. So wie er im fernen Wald von Rhosmea einige Zeit in einer Buche gelebt hatte – als Gefangener und Liebhaber Ysaldes – genau so war er auch jetzt er in die Buche hineingezogen worden, die aus Ysaldes Buchecker gewachsen war. Dies war Ysaldes Tochter! So klein das Bäumchen war, er stak darin fest. Die Neugier überwog aber seine Angst. „Ich bin Sorle-a-glach“, sagte er freundlich. „Und wie heißt du?“ „Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht“, kam es altklug zurück. „Wie bist du hier rein gekommen?“ „Keine Ahnung. Ich habe deine Buche gestreichelt.“ „Ja, ich hab’s gespürt.“ Und nach kurzem Bedenken: „Es hat mir gefallen. Du kannst mich noch einmal streicheln.“ Sie hielt ihm ihren Kopf hin, und er strich dem Dryadenkind über die Locken. Sie summte vor sich hin. Schließlich fragte er: „Woher wusstest du, dass der Mann da draußen mein Vater ist?“ „Ich höre, was du denkst.“ Ach richtig, jetzt fiel es Sorla wieder ein, dass man Dryaden nichts vormachen konnte. Das Mädchen bohrte ein bisschen in der Nase und sah ihn nachdenklich an. „Weshalb hast du meine Buche gerade hier gepflanzt?“ „Hier starb mein Bruder. Es ist ein besonderer Ort.“ „Ist es wichtig, Brüder zu haben? Habe ich welche?“ „Eigentlich nicht, denn Dryaden sind weiblich.“ Dann fiel ihm etwas ein: „Aber Schwestern hast du sicher, denn ich habe noch viele dieser Bucheckern eingepflanzt – an ganz verschiedenen
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Orten.“ Ihm fiel die Lichtung nahe dem Gnomfluss ein, wo er aufgewachsen war; dann die Ebene mit dem einsamen Holzapfelbaum; der sonnige Waldrand nahe den Weißen Bergen, wo das kleine Volk der Minhiol eine neue Heimat gefunden hatte; der Garten seines Halbbruders in Agra; der geheimnisvolle Garten des goldenen Drachen; die geschützte Schlucht, welche der Fluss Bato in seinem Oberlauf bildete; die Wassergrotte auf der Hochebene von Batiflim; die Gärten des Heilbades zu Kalahad ... und noch viele andere. Zum Beispiel hatte er, als er mit dem DRACHEN zu den Grauen Bergen flog, einzelne Bucheckern aus der Luft auf vielversprechende Stellen hinunter geworfen. Das kleine Mädchen griff sich an den Kopf. „Hör‘ auf, so hin und her zu denken, mir wird ganz schwindelig. Streichle mich lieber!“ Sorla strich ihr wieder übers Haar, aber ungeduldiger als zuvor. „Höre ...“, fing er an. „Du willst hier raus, ich weiß“, unterbrach sie ihn. „Ich erlaube das nicht. Du sollst immer bei mir bleiben und mich streicheln.“ „Aber ..“ „Nein!“ Das Kind wandte sich trotzig weg. „Wenn du mich nicht mehr streicheln magst, dann musst du sterben.“ Ganz wie Ysalde, dachte Sorla erbittert. Da sah er das Mal auf der Hinterbacke des Kindes – wie ein umgekehrtes Herz sah es aus. „Oh nein!“ flüsterte er. Ihm fielen die Stunden der Liebe mit Ysalde ein. Das Mädchen fuhr herum. „Was heißt das, du bist mein Vater?“ „Ich habe auch so ein Mal auf meinem Hintern; mein Vater genauso.“ „Aha. Und wozu nützt ein Vater?“ Sorla musste sich erst einmal fassen. Dass er so plötzlich eine Tochter hatte – und womöglich noch viele weitere auf der halben Welt verstreut – hatte ihn wie ein Schlag getroffen. Schließlich sagte er: „Ich denke, er muss sich um seine Kinder kümmern, ihr Bestes im Sinn haben.“
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„Und sie streicheln!“ Sorla zog das Kind an sich und streichelte es. „Du hast Recht. Deine Mutter Ysalde ist ja nicht hier. Aber es gibt noch mehr. Zum Beispiel bist du hier nicht sicher. Jeder könnte dein Bäumchen zertreten oder ausreißen.“ Sie sah ihn erschreckt an. „Daher“, fuhr er fort „werde ich dich samt deinem Baum verpflanzen – und ich weiß auch schon wohin.“ „Bin ich dann sicher, Vater?“ Er nickte und drückte sie an sich. * Der Tempel der Brunnenjungfrau lag im Wald versteckt nahe der Brunnengrotte, wo jährlich das Fest stattfand. Zwei junge Priesterinnen empfingen Sorla am Eingang. Neugierig schauten sie auf das Bündel, das er im Arm trug, aber da sie Bescheid wussten, führten sie ihn, ohne weiter zu fragen, durch das Gebäude in den großen Garten dahinter. Hier war nahe einem Springbrunnen eine Pflanzgrube ausgehoben worden. Die Brunnenpriesterin wartete schon. Neben ihr stand zu Sorlas Überraschung Vinesha, die Oberpriesterin des Frena-Tempels. „Frena sei mit dir, Sorla!“ grüßte sie ihn. „Meine Freundin hier hat mir von deiner kleinen Tochter erzählt.“ „Sei gegrüßt, ehrwürdige Mutter. Ich hatte zunächst an den Frena-Tempel mit seinem Waisenhaus gedacht. Aber eine Dryade gehört in den Wald, nicht in die Stadt.“ Die Brunnenpriesterin nickte. „Wir werden uns um sie kümmern.“ „Sie will viel gestreichelt werden.“ „Keine Sorge.“ Ihre grünen Augen funkelten in freundlichem Spott. „Meine Priesterinnen freuen sich schon darauf. Und meine Freundin Vinesha will sich um ihre Erziehung kümmern.“
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„Danke euch!“ Sorla legte vorsichtig sein Bündel auf den Boden und wickelte die Tücher auseinander. Ganz behutsam umfasste er den Wurzelballen der kleinen Buche und senkte ihn in das Pflanzloch. Die umstehenden Frauen sahen zu, wie er Erde um den Wurzelballen festdrückte und schließlich das frisch gepflanzte Bäumchen wässerte. „Kann sie sich nicht mal hier draußen zeigen?“ fragte die Brunnenpriesterin. „Ich würde sie gar zu gerne sehen.“ Sorla schüttelte den Kopf. „Sie muss sich erst eingewöhnen, denke ich.“ Zart berührte er die Rinde des Setzlings und flüsterte: „Lass' mich eintreten, meine Tochter!“ Da fand er sich wieder in dem hellen Raum ohne Wände. Die Kleine stand zitternd da, die Arme um den Leib geschlungen. „Meine Tochter“, wiederholte Sorla leise. „Mein Liebes! Komm zu mir!“ Er nahm sie in die Arme und trug sie umher. Das Mädchen sah aus tränengefüllten Augen hoch. „Es war so schrecklich, Vater!“ Sorla murmelte tröstliche Worte. „Ich habe alles mit angesehen – wie du und dein Vater meine Buche ausgegraben habt – es war furchtbar.“ Sie schluchzte. „Und den Boden zu verlieren – ich wusste nicht, wo ich hingehöre – ich dachte, jetzt muss ich sterben.“ „Jetzt ist alles gut“, flüsterte Sorla. „Diese Frauen werden dich lieben. Und ich habe ein Geschenk – einen Namen für dich.“ „Einen Namen für mich?“ Sie blickte neugierig hoch. „Wie weißt du, was mein Name sein soll?“ „Ich bin dein Vater, und ich nenne dich Myrna – das ist ein Wort aus meiner Heimat Ailat und bedeutet ‚Sie wird wachsen‘.“ „Myrna?“ Das Mädchen wischte sich die Nase an Sorlas Unterarm. „Das klingt schön. So will ich heißen.“ Als Sorla sie zum Abschied an sich drückte, fragte sie: „Kommst du wieder, Vater?“ „Ja, Myrna. Nicht heute oder morgen, aber ich werde kommen.“
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* Die nächste Zeit verbrachte Sorla bei den Feuerreitern. Einmal brannte eine Seilerwerkstatt ab, wo unbearbeitetes Hanfstroh lagerte. Die Umwohnenden waren von den Rauchwolken berauscht, doch das Feuer wurde gelöscht, bevor es auf die benachbarten Häuser übergreifen konnte. Ansonsten ereignete sich nichts von Bedeutung. Die Feuerreiter waren froh, Sorla wieder dabei zu haben, hielten aber ihm gegenüber einen Abstand ein, den er von ihnen nicht gewohnt war. Nach drei Tagen ritt Sorla hinaus in die Wälder, um nach Myrna zu sehen. Am Eingang des Tempels der Brunnenjungfrau begrüßte ihn eine Priesterin. „Geh in den Garten, du kennst ja den Weg.“ Sorla fragte sich, weshalb sie so wissend lächelte, doch als er ins Freie trat, sah er den Grund: Vier junge Priesterinnen saßen im Kreis um die kleine Dryade, sie lachten und sangen. Ein paar Schritte weiter, durch ein Mäuerchen sorgsam abgeschirmt, reckte der Buchensetzling seine vier Blätter in die Sonne. Die Brunnenpriesterin kam Sorla entgegen, ihre grünen Augen funkelten. „Dieses Kind ist eine Bereicherung und ein Geschenk, Sorla“, sagte sie. „Wie alt ist es?“ Sorla nickte. Er wusste selbst, dass sie bereits aussah wie ein sechsjähriges Mädchen. „Ich habe die Buchecker vor zwei Jahren gepflanzt.“ „Erstaunlich. Aber sie ist ja kein Menschenkind.“ „Ich bin ihr Vater.“ „Die Frühreife hat sie nicht von dir, Sorla.“ Sie lachte, und er fühlte sich irgendwie dumm. Mit rotem Kopf ging er hinüber zu dem kichernden Kreis. Als Myrna ihn sah, stand sie auf. Ernst stand sie da, barfüßig und in einem weißen Kittelchen. Erst als er dicht vor ihr stand, lächelte sie, nahm seine Hand ... und er kam in dem hellen Innenraum der Buche wieder zu sich. „Ich habe auf dich gewartet, Vater.“ Er schloss sie in seine Arme. „Vater, ich habe mir Gedanken gemacht.“
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„Ja?“ „Die meisten wirst du nicht verstehen; du bist nur ein Mensch.“ Sorla ärgerte sich. Wieso hatte ihn Atne mit einer altklugen Tochter gestraft!. Myrna blitzte ihn zornig an, fuhr aber unbeirrt fort: „Eines sollst du wissen: Ich habe die Gedanken meiner Schwestern gespürt. Ihre Bäume wachsen fern von hier, aber es hat mich erschreckt. Ich mag keine anderen Dryaden, ich will nichts von ihnen wissen! Dann bist du mir eingefallen. Du bist auch ihr Vater. Sie haben ein Recht, von dir gestreichelt zu werden.“ „Ich kann jetzt nicht herumreisen, monatelang.“ „Das habe ich meinen Schwestern gesagt. Deshalb haben wir verabredet, dich weiterzureichen.“ Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und schaffte es fast, ihn wenigstens auf sein Kinn zu küssen. „Dein Bart kitzelt!“ Das war das letzte, was Sorla hörte, dann schwanden ihm die Sinne.
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Siebtes Kapitel:
DIE RUNDREISE Sorla brauchte einige Atemzüge, um zu sich zu kommen. Er war nicht überrascht, sich in einem hellen Raum ohne Wände wiederzufinden. Ihm gegenüber stand ein kleines dunkelhaariges Mädchen in einem reich bestickten Hemd. Sie zupfte an ihren kunstvoll geflochtenen, mit Perlen durchsetzten Zöpfen. „Ich habe mich extra für dich angezogen, Vater“, sagte das Kind. „Myrna war nackt, und dich hat das gestört. Sie hat’s mir erzählt.“ „Ich habe nichts gesagt.“ „Sie hat es gespürt. Aber sie hatte nichts anzuziehen.“ „Du siehst hübsch aus.“ Sie lächelte und schlang ihre Ärmchen um ihn. „Jetzt darfst du mich streicheln, Vater!“ Als er dies eine Zeitlang getan hatte – sie schnurrte wie eine Katze – fiel ihm ein, er müsse sich einen Namen für sie überlegen. Da unterbrach sie seine Gedanken: „Den Namen habe ich schon: Syrte.“ „Woher?“ „Nicht eifersüchtig sein, Vater. Die Priesterinnen Marushus gaben ihn mir.“ „Marushus? Das ist doch die Liebesgöttin. Wo sind wir hier?“ „Im Heilbad zu Kalahad. Da warst du vor zwei Jahren oder so.“ „Ja richtig, ich habe dich einem Gärtner anvertraut.“ „Er hat sich sehr erschreckt, als er mich sah!“ Syrtes Augen blitzten vor Schabernack. „Er rief gleich die Ehrwürdige Mutter.“ Sorla nickte. Offensichtlich hatten auch hier die jungen Priesterinnen sich der kleinen Dryade angenommen. „Und was bedeutet ‘Syrte‘?“ Die Kleine lächelte stolz: „Es heißt ‘Hübsche‘, und das bin ich.“
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So klein und schon so eitel, dachte Sorla. Doch schon funkelte Syrte ihn an: „Wär‘s dir lieber, dass ich hässlich bin?“ „Natürlich nicht!“ „Du bist lieb! Komm, streichle mich wieder!“ Während Sorla ihrem Wunsch nachkam, plauderte sie davon, wie sehr die Bevölkerung Kalahads das „Kind im Baum“ als Wunder verehre. „Man bringt mir Geschenke. Auch Essen, brrr! Sie wissen ja nicht, dass Dryaden nichts essen.“ „Sicher kommt das der Ehrwürdigen Mutter recht gelegen?“ „Klar. Die Leute zahlen viel Geld, damit sie in den Garten dürfen und meine Buche angucken. Manchmal erscheine ich, dann sind sie ganz hin und weg.“ Sie unterbrach sich, um ihn wieder anzufunkeln: „Alle anderen finden mich toll, bloß du bist nicht zufrieden. Ich spür‘ aber, dass du mich liebst, Vater. Hab‘ keine Sorge, ich bin nicht so oberflächlich, wie du denkst. Ich bin ein Kind, ich darf mich freuen.“ Sie küsste ihn. „Und jetzt gebe ich dich weiter. Die anderen quengeln schon.“ Sie schüttelte sich bei dem Gedanken an ihre Schwestern. „Lass‘ dich mal wieder blicken.“ * Ein Mädchen sah ihn aufmerksam an. Sie war Myrna ähnlicher als Syrte, aber größer und magerer als beide, vielleicht zwei Jahre älter. Ihre hellen Haare hingen glatt über die Schultern. „Du siehst lustig aus“, befand sie ernst. Bevor er den Mund öffnen konnte, um sie zu begrüßen oder etwas zu erwidern, fuhr sie fort: „Myrna sagt, du bist mein Vater, weil du eine Dryade befruchtet und die Bucheckern von ihrem Baum in der Welt verbreitet hast.“ „Äh ...“ „Ich habe sofort auf meinem Po nachgeschaut, als Myrna von dem Mal erzählte. Es sieht aus wie ein Lindenblatt. Obwohl, Linden können hier nicht wachsen; es ist im Winter einfach zu kalt. Für meine Buche geht es gerade so; dies ist eine geschützte Stelle. Syrte hat das mit den Linden gesagt, dort ist es viel wärmer. Aber
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Myrna meint, Lindenblatt oder Herz – das kommt aufs gleiche heraus: ein umgekehrtes Herz sieht aus wie ein Blatt.“ „Ja ...“ „Myrna ist noch sehr klein, nicht wahr? Meine Buchecker wurde schon vor vier Jahren gepflanzt, im Herbst, und trieb vor drei Jahren im Frühjahr die ersten Wurzeln. Ich bin eine deiner ältesten Töchter.“ „Aha!“ „Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, es ist hier sehr einsam. Nur Rehe gibt es manchmal, aber die reden nicht. Und Wölfe natürlich.“ „Wo ...“ „Myrna sagt, du streichelst deine Töchter, und deshalb bist du hier. Also streichle!“ Sie kam auf Zehenspitzen heran und hielt ihm ihr Köpfchen hin. „Du musst wissen, ich bin es nicht gewohnt, gestreichelt zu werden, aber Myrna sagt, es hilft gegen die Langeweile.“ Sorla streichelte ihr vorsichtig über den Kopf und wollte eben etwas Tröstliches sagen, da plauderte sie schon weiter: „Eigentlich fand ich es unangenehm, von meinen Schwestern zu hören. Ich bin gerne alleine und beobachte, wie mein Baum wächst. Du darfst ruhig weiter streicheln, das tut gut. Aber was Myrna sagte, war interessant. Sie hat zahme Wölfe gesehen; Hunde heißen die. Und jetzt hast du sie umgepflanzt. Streichle mal hier ein bisschen fester, ich spüre das ja kaum. Diese Brunnenpriesterinnen sollen ja sehr lustig sein, Myrna sagt, sie spielen mit ihr. Und Syrte hat auch lustige Gesellschaft, wie ich höre.“ Plötzlich schaute sie auf. „Ich weiß, was du denkst. Es ist anstrengend für dich, wenn ich soviel rede. Du möchtest gerne auch mal was sagen. Aber du kannst doch oft reden mit allen möglichen Leuten, ich aber muss diese Gelegenheit nützen! Und was du sagen willst, weiß ich schon vorher.“ Sorla lächelte und drückte sie an sich. Gleichzeitig überlegte, welchen Namen er dieser Tochter geben sollte. Verschiedene Möglichkeiten kamen ihm in den Sinn. Da wurde er unterbrochen: „Ja, das finde ich gut! Mynnenlete klingt hübsch, und
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es heißt ‘Kleiner Wasserfall‘, das gefällt mir. Dabei bleiben wir!“ „Wo sind wir hier?“ gelang es Sorla einzuwerfen. Das Kind machte eine Armbewegung, da öffnete sich die Sicht auf die Umgebung: schroffe Felsblöcke zwischen einzeln stehenden Bäumen, überall umgestürzte und modernde Stämme, bewachsen mit Farnen und Pilzen. Weit und breit nichts anderes als nur das. „Siehst du? Ganz schön langweilig. Aber das weiß ich erst, seit ich mit Myrna sprach.“ Sorla hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden – vielleicht irgendwo in den weitläufigen Waldgebieten zwischen dem Gnomfluss und den Grauen Bergen, wo kein Mensch je hinkam. „Ist deine ...“ „Ja, meine Buche ist noch sehr klein. Letzten Winter wollte ein Reh sie abbeißen. Schau dort!“ Und Sorla sah zwischen Farn und modernden Stämmen ein Tiergerippe. „Mein Vater“, unterbrach Mynnenlete seine Überlegungen, wie sie wohl das Tier getötet hatte. „Es war unterhaltsam, dich zu sehen und von dir gestreichelt zu werden, jedoch nun reiche ich dich weiter. Das nächste Mal kannst du mir ja was Hübsches zum Anziehen mitbringen.“ * Sorla wartete auf die Helligkeit, aber ihn umgab nur schwaches Dämmerlicht. Vor ihm lag ein mageres Kind und schien zu schlafen. Die blonden Haare hingen dünn und strähnig. Das Mal an ihrem Hintern war gut zu sehen. Sorla fiel auf, wie abgehärmt der ganze kleine Körper war – nur Haut und Knochen. Die Augen waren tief in die Höhlen gesunken. Als er sich über das Mädchen beugte, flüsterte sie mit halb geöffneten Augen: „Du bist schuld, Vater!“ Er nahm sie in die Arme, sie schloss die Augen wieder und ließ sich streicheln. Später schaute sie ihn an mit fiebermattem Blick. „Es ist
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schön, dass du mich besuchst. Ich habe nichts anzuziehen. Mich hast du nicht freundlichen Leuten anvertraut, die mir hübsche Hemdlein schenken.“ „Es ist mir nicht wichtig“, sagte er. „Das merke ich wohl, doch bei Myrna war es dir wichtig.“ „Bist du krank?“ „Meine Buche stirbt bald.“ Sorla erschrak. „Was ist los?“ Statt zu antworten, bewegte sie ihren Arm und ließ ihn hinaus blicken. Da sah er eine trostlose Ebene voller Staub und Steinen. Er erinnerte sich: das war das Hochland von Batiflim. „Aber eine Wassergrotte ist hier, das weiß ich!“ rechtfertigte er sich. „Ich habe die Buchecker in eine feuchte Stelle neben der Grotte gesteckt!“ Sie wies auf die andere Seite. Tatsächlich – dort war die Grotte, wie er sich erinnerte, aber der Boden rundum sah trocken aus. „Lass' mich hinaus, ich muss nachsehen!“ rief er. „Komm‘ wieder. Versprich es, Vater!“ flüsterte sie mit geschlossenen Augen. Mit ihrer schmalen Hand winkte sie ein bisschen, da stand er draußen in der Hitze des Nachmittags. Die kleine Buche vor ihm war bedeckt von Staub. Die Blätter hatten braune Flecken, ein paar lagen verdorrt am Boden. Sorla ging hinüber zur Grotte. Früher war das überdachte Becken bis zum Rand gefüllt mit kühlem, klarem Wasser, erinnerte er sich. Die Inschrift, die den durstigen Wanderer mahnte, Tul-uglur zu danken, war noch vorhanden, wirkte aber wie Hohn angesichts des Restes trüber Brühe am Boden des Beckens. Was war geschehen, fragte Sorla sich zornig. Er schlug mit der flachen Linken auf die gekrümmte Rechte, so dass das Regenszepter in seiner Rechten erschien. Nun ließ er Wasser strömen, auf die kleine Buche, um ihre Blätter zu waschen, auf den Boden ringsum, der es gierig aufsog, zuletzt in das Becken in der Grotte. Aber das half nichts – das Becken war zu groß, zu tief, zu verschmutzt, und was sollte geschehen, wenn Sorla nicht hier war? Wie sollte seine Tochter überleben?
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„Ich brauche Rat und Hilfe!“ flüsterte er, über sein Szepter gebeugt. Da bebte dieses spürbar. Sorla ließ es vor Schreck fast fallen. „Wer bist du?“ fragte er. Doch nichts rührte sich. Wer war das, der sich angesprochen fühlte? Wer steckte hinter dem Regenszepter? Da fiel es Sorla ein: der Hüter des Herzen von Batiflim, jener Dämon, der ihm das Regenszepter anvertraut hatte! „Azluthos!“ flüsterte er, das Szepter umklammernd, „hörst du mich?“ Das Szepter bebte stärker. Eine dunkelblaue Wolke bildete sich im Becken über dem fauligen Wasser. Sorla ging erschreckt zwei Schritte zurück, da krachte ein Donnerschlag durch die Grotte, Blitze zuckten aus der Brunnenschale, schlossen sich wimmelnd zusammen und bildeten eine riesige leuchtende Kugel über dem Wasser. Plötzlich zerfiel die Lichtkugel, an ihrer Stelle stand eine große Gestalt mit grün glühenden Augen: Azluthos! Dunkle Flügel ragten halb entfaltet zu beiden Seiten. Er dehnte sich, bis sein Haupt an die Decke stieß, und reckte die Flügel. Auf Sorla herabblickend, grollte er: „Was willst du?“ Seine Stimme war so tief, dass Sorla sie eher mit dem Bauch wahrnahm als mit den Ohren. „Ich brauche Rat, Hüter des Herzens von Batiflim.“ „Du hast Glück, Sorle-a-glach, dass dieses Becken noch Wasser enthielt. Sonst hättest du mich nicht rufen können. Nun frage mich!“ „Was ist mit diesem Brunnen geschehen?“ Der dunkle Kopf beugte sich zu Sorla herunter, die grünen Augen starrten ihm ins Gesicht: „Dir wurde das Szepter übergeben, Sorle-a-glach. Es ist jetzt deine Pflicht, dich um das Reich und seine Brunnen zu kümmern, nicht die meine!“ „Was muss ich tun?“ Azluthos beugte sich noch weiter vor und presste seine dunkle Stirn gegen die Sorlas. Etwas wogte zu Sorla hinüber – nun wusste er, was zu tun war. „Ich danke dir, Hüter des Herzen von Batiflim!“ Azluthos richtete sich auf. Die Grotte verdunkelte sich wieder. „Vergiss Batiflim nicht!“ grollte er. Damit verschwand er in
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grauem Nebel. Sorla aber setzte sich und richtete seine Gedanken auf die Brunnen und Zisternen Tul-uglurs. Diese Grotte war nur eine davon, es gab die Zisterne in Bishoumat und die in Kriteis, aber da mussten noch weit mehr sein; nun entfaltete sich, was ihm von Azluthos zugeflossen war – all die Zisternen im Reiche, eine nach der anderen zeigte sich ihm, er sah ihren jämmerlichen Zustand, und er nahm sich jeder einzeln an mit Mitgefühl. Das Szepter hielt er mit beiden Händen, er spürte, wie die Kraft durch ihn hindurch strömte und sich verteilte in alle Ecken des Reiches, um jede Zisterne, jede Grotte, die sein Vorfahr Tul-uglur einst schuf, mit neuer Kraft zu versorgen. Als er die Augen öffnete, war er erschöpft. Doch im Brunnenbecken neben ihm gluckste es leise, frisches Wasser sprudelte hoch, wirbelte die fauligen Algenreste hin und her, bald würde es sie über den Rand schwemmen und so das Becken von ihnen säubern. Mühsam kam Sorla auf die Füße und wankte zu der kleinen Buche hinüber: „Lass‘ mich ein, kleine Tochter!“ Da umfing ihn das Dämmerlicht und schien ihm ein bisschen heller als zuvor. Das Mädchen hatte sich, gestützt auf ihre dünnen Ärmchen, halb aufgesetzt, ihr Blick war klar. „Danke, Vater, dass du den Regen gemacht hast.“ Sorla wurde rot, denn er dachte an Azluthos, der ihn wegen seiner Pflichtvergessenheit gemahnt hatte. „Mach‘ dir nichts daraus, Vater. Du konntest es nicht wissen, du musst noch vieles lernen, wenn du Kaiser werden willst.“ Die Kleine sah ihn ernst aus ihren eingefallenen Augen an. „Woher weißt ...?“ Dann fiel ihm ein, dass sie ja alles mitbekam, was er dachte und erwog. „Hast du schon einen Namen, mein Liebes?“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein, nur manchmal tags, wenn es sehr heiß und trocken ist, kommen hässliche Wesen, kaum zu sehen, mit schlimmen Fratzen ...“ „Das sind Dörrer“, warf Sorla ein und schüttelte sich in Erinnerung an sie. „Ja, sie hassen das Wasser und das Leben. Sie flüstern
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gemeine Worte und wollen mich erschrecken. Sie haben mir schlimme Namen gegeben.“ „Jetzt fließt wieder frisches Wasser aus der Grotte. Die Dörrer werden sich nicht mehr hierher trauen. Und eben fiel mir der richtige Name für dich ein, in der Sprache Batiflims: „Mirre-wyn“, das heißt ...“ „Hoffnung fürs Tal“, unterbrach sie ihn eifrig. „Das ist schön, und wenn du an Batiflim denkst, dann weiß ich auch, was du meinst: Du willst dieses trockene Hochland wieder zu einem fruchtbaren Tal machen, nicht wahr? Doch was sind Zentauren?“ Sorla rief sich die ehrfurchtgebietenden Gestalten ins Gedächtnis, halb muskelbepackter Mensch, halb Pferd, die seit Jahrhunderten in einer geheimen Höhle verzaubert schliefen, weil ihnen ihre Heimat, das blühende Tal von Batiflim, genommen war. Da setzte sie sich auf – die Empörung gab ihr die Kraft dazu: „Aber wenn das hier wieder zu ihrem Tal wird, kommen sie und fressen meine Buche! Dann lass‘ das lieber!“ „Wenn sie wissen, dass du hier wohnst, werden sie dir kein Blatt krümmen, Mirre-wyn.“ „Gut, dann darfst du ihnen ihre Heimat wiedergeben.“ Sie nickte ihm entschlossen zu. „Ich erlaube es dir.“ „Ich freue mich, dass es dir besser geht, meine Tochter.“ Mirre-wyn funkelte ihn an, so sehr es ihre Schwäche erlaubte. „Ich habe den Spott in deinen Gedanken gehört, Vater! Ich gebe dich jetzt besser an die anderen weiter.“ * Sorla hatte sich kaum in der Helligkeit zurechtgefunden, da fühlte er sich an der Hand genommen. Das kleine Mädchen mit dunklen Locken lächelte sanft: „Komm, Vater, sie warten schon auf dich!“ Sie trat mit ihm hinaus auf eine Waldwiese. „Pass‘ auf, dass du nicht auf meine Buche trittst!“ Ihm ging das alles ein bisschen zu schnell. „Ich freue mich,
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dich zu sehen, kleine Tochter!“ sagte er förmlich. Sie war größer als Myrna, fast so alt wie Mynnenlete. „Sag‘ Hyldol zu mir“, lächelte sie mit holdseligem Augenaufschlag. „So nennen mich die Minhiol, und es heißt ‘Seele des Baumes‘. Hübsch, nicht?“ Er nickte matt. Vielleicht war er auch müde, weil er dauernd weiter gereicht wurde. Dies war seine fünfte Tochter heute! Die Abendsonne leuchtete schräg durch die Bäume. Überall schwirrten schmetterlingsgroße Wesen umher, mit bunten Flügeln, ansonsten aber wie kleine Menschlein gestaltet. Als sie Sorla sahen, flogen sie zutraulich näher und zirpten durcheinander. Dies waren die Minhiol, sie gehörten zum Kleinen Volk, und Sorla hatte ihnen einst geholfen, in den Tiefen der Weißen Berge ihre Fürstenkrone wiederzufinden. Er lächelte, als der Anführer der Kleinen, kenntlich durch den winzigen Goldreif auf dem Kopf, sich auf seine ausgestreckte Hand setzte. „Easmil! Wie schön, dich und dein Volk wiederzusehen!“ „Sorle-a-glach!“ antwortete Easmil mit silberheller Stimme. Er gebrauchte die Gute Sprache der Berge, die Sorla schon lange nicht mehr gehört hatte. „Als wir hörten, dass Hyldol deine Tochter ist und du sie besuchen kommst, haben wir ein Fest vorbereitet. Komm und freue dich mit uns!“ Es wurde gesungen und erzählt bis spät in die sternenklare Nacht hinein. Zu essen gab es gebratene Mäuse mit Möhren und Zwiebeln, dazu Beerensaft und Met vom Honig wilder Bienen. Zunächst scheute sich Sorla, den Minhiol soviel wegzuessen, aber bald merkte er, dass er sie ernsthaft beleidigt hätte, wenn er zögerlich zugegriffen hätte. „Es gibt hier Beeren und Mäuse für zehn Völker, wie wir es sind“, sagte Easmil. „Dabei hat die Zeit der Nüsse noch nicht einmal begonnen! Es ist ein fruchtbares Land!“ Hyldol wurde von den Minhiol umschwärmt, wie Nachtfalter das Licht umkreisen – und sie genoss es. Auf Sorla schien sie nicht zu achten, sondern tanzte im Schwarm des Kleinen Volkes über die mondhelle Waldwiese, sang und scherzte. Sie trug ein weißes Kleidchen, das zu besorgen die Minhiol sicher viel Mühe gekostet hatte, und wenn sie darin herumwirbelte, dass die Haare
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flogen, jubelte das kleine Volk. Sorla musste eingedöst sein. Er schrak auf, als Hyldol seine Hand fasste: „Du bist müde, Vater. Lass‘ uns heimgehen!“ Und schon waren sie in der sanften Helligkeit der Buche angekommen. Sorla schlief sofort ein. Als er erwachte, fühlte er sich so frisch wie schon lange nicht mehr. Sein Töchterlein saß mit artig angewinkelten Knien vor ihm und blickte ihn holdselig an. „Guten Morgen, Vater. Du siehst, mir geht es gut. Ich brauche dich eigentlich nicht, aber du darfst mich gerne wieder besuchen.“ * Noch bevor Sorla die Augen öffnete, um sich auf die Helligkeit der nächsten Buche einzustellen, wusste er, auch dieser Tag würde hart werden. Sowieso kam er sich dumm vor, einfach weitergereicht zu werden, ohne dass man ihn um Erlaubnis fragte. Nur weil er Bucheckern in irgendwelche Stellen gestopft hatte! Mit geschlossenen Augen zählte er die Töchter des gestrigen Tages auf: Myrna, Syrte, Mynnenlete, Mirre-wyn, Hyldol. Er war froh, die Namen in der richtigen Reihenfolge behalten zu haben. Jetzt fühlte er sich gewappnet, den Anforderungen des neuen Tages entgegen zu sehen. Vor ihm stand ein schwarzhaariges Mädchen mit zornrotem Gesicht. Sie hatte die kleinen Arme in die Hüften gestemmt und fauchte ihn an: „Gemein bist du! Ich warte seit gestern, und du freust dich nicht, mich zu sehen!“ „Aber ...“ „Ein blöder Vater bist du! Und überhaupt will ich dir sagen, wo du mich hingepflanzt hast, das ist das Allerletzte!“ Sie wischte mit dem Arm den unsichtbaren Vorhang beiseite, da blickte Sorla auf einen weitläufigen, vernachlässigten Park. Im Hintergrund war das Meer – die wunderschöne Bucht von Agra. Am Ufer war ein Anlegesteg samt Bootshaus zu sehen. Dies, erkannte Sorla, war der
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Garten seines Halbbruders, der ihn voll Eifersucht verfolgt und den er vor zwei Jahren versehentlich getötet hatte. Das Mädchen lächelte böse. „Ach so ist das! Ich hasse meine Schwestern auch. Aber wie kann man so blöde sein, dann ausgerechnet die eigene Tochter dort anzupflanzen! Ich habe hier nur Ärger!“ „Das ist doch ein schöner Garten“, verteidigte sich Sorla. „Und du siehst das Meer ...“ Das Kind trat dicht an ihn heran und blickte mit Augen zu ihm auf, die vor Wut dunkel waren. Dabei hielt sie ihre kleinen Hände hoch und zählte an den Fingern ab: „Erstens: seit zwei Jahren kümmert sich kein Gärtner um diesen Park. Du hast den Besitzer getötet, nicht wahr? Jetzt wuchert alles zu, und meine Buche kriegt kaum Licht. Zweitens: Anfangs kamen alle paar Tage Leute, die das Grundstück kaufen wollten. Ich kriegte keine Ruhe hier! Die trampelten überall rum, und ihre Diener und Hunde pissten alles voll. Drittens: da kam einer, der wollte hier ein Haus bauen und alles umgraben. Verstehst du? Meine Buche ausreißen und alles umgraben!“ Sie war weiß vor Zorn jetzt. Als Sorla etwas Begütigendes sagen wollte, fauchte sie ihn wütend an: „Will ich gar nicht hören, was du zu sagen hast. Ist sowieso nur dumm. Viertens: Klar musste ich diesen Menschen töten – ich holte ihn hier herein und ließ ihn ersticken. Und seinen Nachfolger ebenso. Aber dann – fünftens – ging es erst richtig los! Die Leute schrien, der Park sei verflucht, hier gebe es böse Geister! Da sind sie wieder alle hier rumgetrampelt mit ihren Hunden, aber ohne Erfolg natürlich. Sechstens: sie holten einen Priester, der das Böse austreiben sollte. Einen alten Mann, der die Göttin Atne anbetet oder so. Der hat mich durchschaut und mir gedroht: noch einmal so ein Mord, und er verrät mich!“ Schwer atmend hielt sie inne. Sorla war wie vor den Kopf geschlagen. Eine Buchecker hatte er gepflanzt, und so viel Leid war daraus entstanden! Vor drei Jahren war er in Agra gewesen, so alt war dieses Kind erst und musste um sein Leben kämpfen, ohne dass ihm jemand half! Er zog das Mädchen an sich, umarmte, streichelte es, murmelte sinnloses
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Zeug, nur um es im Gleichklang wiegen zu können. Da fiel etwas Heißes auf seinen Arm, und wieder – das Mädchen weinte herzzerreißend. „War der alte Priester blind?“ fragte er schließlich. Das Kind zog die Nase hoch und nickte. „Ich hab‘ gehört, was du denkst. Du kennst ihn von früher, du magst ihn.“ „Ich will hingehen und mit ihm reden.“ Sie winkte, da stand er draußen auf der distelübersäten Wiese, wo einst gepflegter Rasen mit Rosenbeeten war. Der alte Priester saß im kleinen Garten und fütterte seine Tauben. Sorla, von einem Priesterzögling angemeldet, trat ehrfürchtig näher und verharrte, während die Tauben gurrend umhertrippelten. Schon dachte er, der alte Mann habe ihn nicht gehört oder bereits wieder vergessen, da hob dieser den Kopf, die blinden Augen ziellos, und sprach: „Komm her, dass ich dich anfassen kann.“ Sorla tat wie geheißen. Der alte Mann fasste ihn bei der Hand und begann seine Arme, dann sein Gesicht abzutasten. „Ein junger Mann“, sagte der Alte. „Kenne ich dich?“ „Es ist drei Jahre her, da musste ich mich in dem Speicher dort drüben verstecken. Ich war auf der Flucht vor der Stadtwache.“ „Ich erinnere mich!“ Der Alte schmunzelte. „Bist du noch immer Atnes Glücks- und Sorgenkind? Setze dich zu mir und berichte ausführlich.“ Das tat Sorla, und es dauerte zwei Stunden. Danach schwieg der alte Priester lange Zeit, und Sorla lauschte dem Gurren der Tauben. Ein Täuberich schritt gespreizt um eine schlanke junge Brieftaube herum und klagte, dass seine Frau ihn nicht verstehe. Sie entgegnete, sie sei die schnellste Kuriertaube im Schlag und dürfe ihre Zeit nicht mit Nisten vergeuden; so schnell wie sie eben erst von Ekritmea zurückgekommen sei, habe das noch keine andere Taube geschafft. Einmal kam der Priesterzögling mit einer Karaffe kalten Wassers. Die Sonne brannte heiß. „Höre, mein Junge“, sagte der alte Priester schließlich. „Diese Reise, zu der dich deine Töchter zwingen, ist eine
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ausgezeichnete Sache, gelobt sei Atne! Du bist der künftige Kaiser, oder machst dir Hoffnungen, wie ich aus Ekritmea höre. Da ist es gut, dass dem Reiche nützt, was du für deine Töchter tust. Dein Erlebnis in der Brunnengrotte ist ein schönes Beispiel. Nun zu deiner missratenen Tochter hier in Agra.“ Er nahm einen kleinen Schluck Wasser. „Es war unbedacht von dir. Gut, du sagst, du habest nicht gewusst, welche Bewandtnis es mit diesen Bucheckern hat. Was kannst du nun tun? Willst du die kleine Buche heimlich ausgraben und irgendwo auf den bewaldeten Anhöhen einpflanzen? Das würde gehen, falls dich die Wachen des Grafen nicht aufgreifen. Du bist hier nicht gerne gesehen.“ „Aber Korraghom ...“ „Dein Bruder ist tot, doch der Graf kennt inzwischen die Hintergründe. Korraghoms Mutter hat er für ihre Untreue verbannt. Deinen Vater hasst er. Er selbst hat sich sehr verändert – zu seinem Nachteil.“ Sorla bedachte diese Neuigkeiten. „Danke für die Warnung. Ich werde mich vorsehen. Was meine Tochter betrifft, ...“ „Atne hat es so gewollt, Ehre sei ihr! Wir müssen versuchen, ihren Wink zu verstehen. Das Bäumchen in den Wald hinaus zu pflanzen ist nicht die Antwort. Das Beste wäre, du kaufst das Anwesen selbst, dann hat dein Kind Ruhe. Du brauchst einen Mittelsmann, zum Beispiel mich.“ „Ich habe nicht genug Geld.“ Der alte Priester hob den Kopf, als blicke er mit seinen blinden Augen in den Himmel. „Oh kindliche Einfalt!“ sagte er. „Du willst das Reich retten und bist zu arm, dein Kind zu retten. Wie willst du später Straßen bauen? Soldaten bezahlen? Kanäle graben? Es wird Zeit, dass du lernst, wie man Geld einnimmt. Oder du brauchst einen Fachmann.“ Er stützte die Stirn in die Hand, murmelte etwas vor sich, plötzlich lachte er: „Ja, bei Atne, das ist es!“ Und zu Sorla gewandt: „Geh zurück. In zwei Stunden besuche ich dich mit einem gemeinsamen Freund. Ildryste muss aber dabei sein.“ „Wer ist Ildryste?“ „Deine kleine Tochter. Ich habe ihr den Namen gegeben, als
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ich mit ihr zu tun bekam – wir wussten ja nicht, dass sie einen Vater hat. Es ist ein kaburischer Name.“ Sorla nickte. „Dann heißt es ‘Die alles merkt‘, nicht wahr? Durchaus passend.“ „Oh, du verstehst Kaburisch? Aber ja, du erzähltest mir von deinen Erlebnissen auf dem Piratenschiff.“ Der Alte stand, auf seinen Stock gestützt, ächzend auf. „Also, in zwei Stunden am Bootssteg.“ Sorla erkannte, dass das Gespräch beendet war, und verbeugte sich ehrfürchtig, bevor er ging. Unterwegs kaufte er ein grünes Kleidchen und Sandalen für Ildryste sowie ein Dutzend Kämme –die strähnigen Haare der armen Mirre-wyn hatten ihn auf diesen Einfall gebracht. Damit hatte er die Hälfte seiner mitgeführten Barschaft verbraucht. Mittags also stand Sorla mit seiner wohlgekämmten, grüngekleideten Tochter auf dem Bootssteg und wartete. „Die Sandalen drücken“, maulte Ildryste und schleuderte sie von den Füßen. „Überhaupt bin ich nur mitgekommen, weil der alte Mann das will. Und ich bin nicht undankbar“, fauchte sie. „Du hättest mich vorher fragen können, ob ich Sandalen brauche. Und es nervt, dass ich meine Buche nicht sehen kann.“ Sorla suchte die Sandalen zusammen und steckte sie ein. Was sollte er sagen, sie verstand seine Gedanken sowieso. Jetzt sah er, wie eines der bunten kleinen Segelboote, die in der Bucht kreuzten, näher kam und sachte beidrehte. Der alte Priester saß auf der Ruderbank. Ein dunkelhäutiger Mann mit einem Gewirr kleiner Zöpfe warf Sorla ein Tau zu, das dieser um einen Pfahl schlang und verknotete. Diesem Dunkelhäutigen war er schon einmal begegnet, aber Sorla fiel nicht ein, wann oder wo. Als er wieder aufblickte, war der Mann bereits auf den Steg gesprungen und half dem blinden Alten hinüber. Dieser streichelte Ildryste über den Kopf. „Wie schön gekämmt du bist, meine Kleine! Du kannst deinem Vater dankbar sein.“ „Ich habe dich verstanden, alter Mann“, erwiderte sie. Sorla vermutete, das sich dies nicht auf das harmlose Lob bezog, sondern auf irgendwelche Gedanken, die er für sie dachte. Da merkte er, dass
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Ildryste ihm bestätigend zunickte. Er lächelte; ihren Namen trug sie zu Recht. Sie lächelte jetzt ein bisschen zurück, zugleich aber schob sie schmollend ihre Schultern vor. „Ich grüße dich, Sorle-a-glach, Sohn Tok-aglurs“, unterbrach der dunkelhäutige Mann den heimlichen Gedankenaustausch. „Du bist größer geworden, kräftiger. Aber das Mal am Hintern hast du noch, oder?“ Jetzt fiel Sorla ein, woher er ihn kannte; er sagte förmlich: „Ich grüße den Gildenmeister der Großzügig Nehmenden!“ Denn dies war der Meister der hiesigen Diebesgilde, und Sorla hatte sehr zwiespältige Erinnerungen an ihr damaliges Zusammentreffen. „Deinen Namen habe ich bisher nicht erfahren.“ Der Dunkelhäutige lächelte. „Ich werde S‘lambo genannt. Der Ehrwürdige Zletschko hat mich gebeten mitzukommen. Selbst wenn der Grund nur war, dich zu sehen, hat es sich gelohnt.“ Sorla nickte und wandte sich dem alten Priester zu: „Zletschko – das hört sich kaburisch an.“ Der Alte nickte: „Es ist meine Heimatinsel, die ich vor langer Zeit verließ, um Atne zu dienen. Aber wir sind nicht hier, um Höflichkeiten auszutauschen. Lasst uns einen Ort suchen, wo wir zusammensitzen und reden können.“ Sorla ging voraus zu einem palmenüberschatteten Rondell mit Blick aufs Meer, wo ein paar marmorne Bänke um einen Steintisch gruppiert waren. Von hier konnte man sehen, ob sich jemand ungebeten näherte, und war doch selbst geschützt. Vor allem war Ildrystes kleine Buche nur zwanzig Schritte entfernt. Das Kind war auch gleich besserer Stimmung. „Sehr schön“, sagte der Alte, als sie sich gesetzt hatten. „Ich rieche den salzigen Duft des Meeres und höre die Palmwedel rauschen. Nun wollen wir uns über das Wohl des Hernostischen Reiches unterhalten.“ Sorla öffnete schon den Mund, denn es ging doch um den Garten und seine kleine Tochter, aber er schwieg. Auch der dunkelhäutige Mann schien überrascht. „Wir werden Erfolg haben“, fuhr der alte Priester fort, „wenn wir alle mit halbwegs offenen Karten spielen. Beginnen wir
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mit Sorla.“ Er wandte sich diesem zu. „Zeige S’lambo das Regenszepter!“ Sorla schlug die flache Linke auf die geballte Rechte, da hielt er den schmalen grünblauen Stab. S’lambo sah scheinbar unbeeindruckt zu. „Dies bedeutet“, sagte der Alte, „dass Sorla Anspruch auf den hernostischen Kaiserthron hat. Ich halte ihn für sehr geeignet, denn Atne fordert, erzieht und begünstigt ihn. Und alle, mit denen ich mich beriet, sind bereit, ihn zu unterstützen.“ Jetzt verbarg S’lambo sein Interesse nicht länger. „Was hat das mit mir zu tun?“ Der Alte schmunzelte. „Nicht mit dir, mein lieber S’lambo, sondern mit den Dieben Agras, deren Anführer du bist, und eigentlich mit allen Dieben. Sorla, erkläre ihm, was du als Kaiser tun wirst.“ Sorla ließ sein Regenszepter wieder verschwinden. Das gab ihm ein paar Augenblicke Zeit, sich zu besinnen. Es war richtig, dass er selbst für seine Pläne sprechen musste. Er besann sich auf die Vorsätze, die er in den letzten Jahren gefasst hatte. „Das Reich leidet unter Bestechlichkeit der Beamten und allgemeiner Ungerechtigkeit. Die Menschen vertrauen nur noch sich selbst und holen sich, was sie stehlen können, denn auch sie werden bestohlen. Ich selbst war auf einem kaburischen Piratenschiff und habe gehört, wie die Leute reden. Eine meiner wichtigsten Aufgaben wird sein, hier aufzuräumen. Dann können Handel und Gewerbe wieder Zutrauen fassen, und das Reich wird aufblühen.“ Der Alte rieb sich die Hände. „Du weißt, was das für dich bedeutet, S‘lambo?“ Dieser schwieg. Aber der Alte ließ es sich nicht nehmen, das Offensichtliche auszusprechen: „Wenn es keine Rechtfertigung mehr gibt, sich außerhalb der Gesetze zu bereichern, werden Diebe schlecht dastehen. Sie können auch nicht mehr auf Schutz durch bestochene Beamte hoffen.“ S’lambo lehnte sich lächelnd zurück. „Das alles wären keine Gründe, mich für Sorlas Pläne zu begeistern. Agra gehört nicht wirklich zum Hernostischen Reich, denn der Graf ist zu mächtig.
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Was willst du wirklich, Ehrwürdiger Zletschko?“ „Es tut mir leid, mein lieber S’lambo, es auszusprechen, aber euch Dieben geht es in Agra schon lange überhaupt nicht gut.“ S’lambo winkte nachlässig ab. „Das ist Gerede. Der Graf, wie du weißt, verfolgt uns aus Rachsucht, weil er herausfand, dass wir vor langer Zeit Tok-aglur halfen, in die Bibliothek des Grafen einzudringen.“ „Und dessen Frauen zu schwängern, das ist bekannt.“ „Nun ja. Aber es geht uns dennoch ausgezeichnet.“ Der Alte wandte sich dem kleinen Mädchen zu: „Was meinst du, meine Liebe, geht es S’lambos Leuten gut oder schlecht?“ „Ganz schlecht, alter Mann.“ Ildryste strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Sie mussten ihr Haus in der Stadtmitte aufgeben und sich irgendwie verstecken. Ein paar wurden gefasst; keiner weiß, was aus ihnen geworden ist. Die Einkünfte sind stark zurückgegangen, ein paar haben sich aufs Betteln verlegt. Dieser Mann hier mit der dunklen Haut ist verzweifelt, aber zu stolz, um es zu zeigen. Er taucht auch bloß deshalb ständig bei dir im AtneTempel auf, weil er das Schicksal günstiger stimmen will. Er weiß sich sonst keinen Rat.“ S’lambo starrte das Kind entsetzt an. „Was ist denn das?“ Der Alte lächelte. „Habe ich vergessen, dir das Kind vorzustellen? Es ist Sorlas Tochter Ildryste, und sie besitzt bemerkenswerte Fähigkeiten, unter anderem liest sie unsere heimlichsten Gedanken und Gefühle. Und da wir uns oft selbst etwas vormachen, weiß sie über uns besser Bescheid als wir selbst.“ S’lambo fuhr sich durch sein Gewirr kleiner Zöpfe, dann lächelte er anerkennend. „Bemerkenswert. Das ändert die Lage erheblich. Ich wäre nicht gekommen, wenn ich es vorher gewusst hätte.“ Der alte Priester nickte. „Es hat aber sein Gutes. Du wirst es erkennen und Atne danken.“ Er setzte sich bequemer zurecht und begann zu erklären: „Um den bestechlichen Beamten auf die Schliche zu kommen und auch sonst das Verbrechen einzudämmen, brauchen wir Leute, die sich auskennen.“ „Wir Diebe sollen euch helfen?“
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„Ihr habt das Fachwissen und das Können, Verborgenes aufzudecken, Leuten nachzuspüren, Türen zu wichtigen Beweisen aufzustoßen, nicht wahr?“ „Richtig. Ein Großteil unserer Tätigkeiten besteht nicht aus dem Stehlen an sich, sondern dem Auskundschaften von Geheimnissen, dem Schutz gefährdeter Personen sowie der Beratung, wie man sich vor Diebstahl schützt.“ „Eben. Dazu kommt eure Zusammenarbeit innerhalb der Gilde und mit den Gilden anderer Städte. Eure Organisation ist straffer und wirkungsvoller als die hernostische Beamtenschaft, denke ich. Und wenn einer versuchen sollte, die eigene Gilde hereinzulegen ...“ „Ich verstehe, was du meinst, Ehrwürdiger Zlatschko. Ein großartiger Einfall.“ Der alte Priester wandte sich an Ildryste: „Was meinst du, meine Liebe?“ „Dieser Mann glaubt, er ist so schlau, dass er beides kann: für den Staat arbeiten und ihn zugleich betrügen. Er glaubt, er kann ganz toll seine Gedanken verbergen.“ S’lambo blickte auf und klatschte leicht in die Hände: „Sehr gut, Kleine!“ „Und jetzt hat er überlegt, ob es sich lohnt, mich umzubringen.“ S’lambo fuhr hoch. „Das ist nicht wahr!“ „Doch ist es wahr. Du hast dir dann gedacht, ach nein, das geht zu weit. Dann hast du den Gedanken wieder vergessen. Er war aber in deinem Kopf.“ S’lambo beugte sich vor und reichte der Kleinen seine Hand: „Liebes Kind, was auch immer in meinem Kopf vorging – ich werde dir nichts Böses antun. Ich finde, du bist ein erstaunliches, wunderbares Wesen. Dein Vater kann stolz auf dich sein.“ Ildryste funkelte ihn zuerst böse an, dann musste sie lächeln und wandte sich ab, um es zu verbergen, zuletzt gab sie den Widerstand auf und ergriff seine Hand. Alle schwiegen gerührt, bis der alte Priester sich einschaltete: „Du siehst, mein lieber S’lambo, sie merkt sogar, was wir uns selbst nicht erlauben zu denken. Und
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nun komme ich zum zweiten Teil meines Vorschlages, in dem Ildryste eine wichtige Rolle spielt. Der Atne-Tempel gedenkt, dieses Grundstück von der herzöglichen Familie zu erwerben. Zum Gedenken an den verstorbenen Korraghom werden wir alles in den alten, schönen Zustand versetzen. Die Villa wird als Besucherhaus genutzt werden. Hier kannst du, oder wer immer diese Aufgabe übernimmt, Leute mitbringen, deren Aufrichtigkeit du überprüfen willst. Ildryste wird da sein und helfen. Das wird euch eure Aufgabe sehr erleichtern.“ „Und der Hintergedanke?“ „Ganz richtig. Wir werden uns bei dieser Gelegenheit natürlich auch freuen, festzustellen, dass aus den Großzügig Nehmenden zutiefst überzeugte Diener des Staates geworden sind. Das wird euch helfen, eure Pflichten ohne abzuirren zu verfolgen.“ Der Alte schmunzelte. „Und bevor ich es vergesse: Ich werde dem Grafen zugleich erklären, dass die Diebesgilde als solche sich aufgelöst hat und die ehemaligen Mitglieder dem Atne-Tempel, der über alle Zweifel erhaben ist, bei seinen weitreichenden Aufgaben hilft.“ S’lambo nickte nachdenklich. „Soweit klingt es gut. Mir ist aber nicht klar, weshalb du Diebe aus der Grafschaft Agra brauchst, um die Beamtenschaft im Hernostischen Reich zu überprüfen. Es gibt dort etliche sehr gut geführte Schwestergilden.“ „Richtig, mein Lieber. Aber sie sind zu eng mit den bestechlichen Beamten befreundet, als dass man sie für die neue Aufgabe begeistern könnte. Es dauert Zeit, diese Zweckgemeinschaften aufzulösen. Später können und sollen sie sich eurer staatstragenden Tätigkeit anschließen.“ Auf dem Weg zurück zum Segelboot sagte der alte Priester beiläufig: „Wegen der schlimmen Gerüchte über die Todesfälle ist dieses Grundstück im Wert sehr gefallen. Es wird den Großzügig Nehmenden also leicht fallen, die erforderliche Summe aufzubringen.“ S’lambos Kopf fuhr herum. Doch der Ehrwürdige Zletschko fuhr fort: „Das soll euer Einstand in ein neues Leben sein. Alles übrige regelt der Atne-Tempel und später der hernostische Kaiser.“
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„Selbst wenn wir einverstanden wären“, wandte S’lambo ein, „wir hätten gar nicht das Geld.“ „Ildryste?“ „Dieser Mann hier hat heimlich Geld gespart, das eigentlich der Gilde gehört. Er wollte damit abhauen und irgendwo, wo ihn keiner kennt, ein neues Leben anfangen.“ Bevor der alte Priester etwas sagen konnte, hob S’lambo die Hand. „Es ist gut. Dieses Geld, das eigentlich nicht vorhanden ist, wird dem Atne-Tempel zufließen, und alles soll geschehen wie besprochen.“ Als das Segelboot der beiden Besucher abgelegt hatte und auf die offene Bucht hinausgefahren war, gingen Sorla und seine kleine Tochter Hand in Hand zurück zur Buche und verschwanden darin. „Da hat mir heute gut gefallen, Vater“, sagte Ildryste später. „Ich bin dir nicht mehr böse. Streichle mich noch ein wenig, dann reiche ich dich weiter. Und danke für den Kamm.“ * Sorla kam in der gewohnten sanften Helligkeit zu sich und schaute sich nach der Bewohnerin um. Niemand war da. Er erschrak. Was, wenn es hier keine Tochter gab? Dann war er für immer in dieser Buche gefangen! Andererseits, fiel ihm ein, hätte Ildryste ihn dann hierher weitergereicht? In diesem Augenblick erschien ein kleines Mädchen mit zerzaustem dunkelrotem Haar. „Das hat aber gedauert!“ rief sie. „Hast du diese Ildryste lieber als uns, dass du so lange bei ihr warst?“ „Du weißt genau, dass ...“ Sorla unterbrach sich und holte einen seiner Kämme aus der Tasche. „Komm her, lass‘ dich kämmen!“ Das Mädchen stellte sich neben ihn und hielt still. Während er behutsam die verfilzten Stellen auflöste, betrachtete er sein Kind
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genauer. All seine Töchter hatten diese auffallend weiße Haut; auch Ysalde, ihre Mutter, war, wie er sich erinnerte, mit ihrer weißen Haut und den blutroten Lippen ein Ebenbild der Göttin Dana. Und wie diese war Ysalde schön, kindlich und ohne Mitleid. Er war gespannt, wie sich seine Töchter entwickeln würden. Was sie von ihm, dem Vater, hatten außer dem Mal am Hintern, das würde sich erst noch zeigen. „Von Dana musst du mir erzählen, Vater. Und was heißt ‘ohne Mitleid‘?“ „Es heißt, jemandem zu schaden, der sich nicht wehren kann, ohne deshalb Bedenken zu haben.“ „Dann habe ich Mitleid. Denn vorhin habe ich die Buche meiner Schwester ausgerissen. Das ging ganz leicht, ihr Baum ist nämlich recht kümmerlich gewachsen. Sie konnte sich auch nicht wehren, weil ich stärker bin. Ich habe aber starke Bedenken, denn sie jammert ganz grässlich, dass mir der Kopf weh tut. Das wird wohl noch einen Tag dauern, obwohl ich die Buche in die pralle Sonne gelegt habe.“ Sorla sah sie entsetzt an. „Du hast ...?“ „Klar. Ständig hat sie mich angegiftet. Sie war einfach zu nahe, gleich auf der anderen Seite vom Bach.“ „Sie ist meine Tochter wie du!“ „Na, du hast doch genug davon, oder? Ich finde, es sind zu viele.“ „Lass‘ mich raus, ich muss sie wieder einpflanzen.“ Das Mädchen verschränkte die Arme. „Ich denk‘ nicht daran!“ „Bitte ...“ „Nein!“ In Sorlas Kopf wirbelte eine Mischung von Wut und Ratlosigkeit. Das Mädchen beobachtete ihn. Und je wütender Sorla auf diese ungebärdige Tochter wurde, desto böser funkelte sie ihn an. „Glaub‘ nicht, du kannst mich schlagen!“ fauchte sie. Sorla fühlte sich ertappt. „Und noch was. Du hast zwar noch nicht an deinen tollen Dolch gedacht, aber den hast du sowieso nicht.“
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Sorla schaute an sich herunter. Tatsächlich: er trug nur seine Hose, in deren Tasche die Kämme steckten. Alles andere war verschwunden. Da erinnerte er sich seines Erlebnisses mit Ysalde: Dies war nicht wirklich sein Körper, das ging ja gar nicht; wie sollte er in ein schmales Bäumchen passen, und selbst in einem mächtigen Baumstamm wäre er sofort erstickt. Sein Töchterchen, wie jede Dryade, ließ nur soviel von seinem Körper in ihrem Baum zu, wie ihr beliebte. Solange sie ihm wohl wollte, war er ein Teil des lebenden Baumes und litt weder Atemnot noch Hunger oder Durst. Sie konnte aber auch anders. „Keine Bange“, sagte sie. „Ich lass‘ dich nicht ersticken. Aber hier bestimme ich.“ Dieses kleine Miststück! Er war ihr völlig ausgeliefert! Diese verzwickte Lage hatte sich wohl ergeben, weil er, ähnlich wie bei Mynnenlete, während seiner Reise mit dem DRACHEN vor vier Jahren Bucheckern aus der Luft verstreut hatte. Oder als er von den Weißen Bergen nach Süden wanderte, einem unbekannten Flusslauf folgend, tagelang ohne klares Bewusstsein ... Dann war es , dachte sich Sorla, Atnes Entscheidung gewesen, dass diese beiden Dryaden zusammen aufwachsen sollten. „Oh Atne!“ seufzte er. Ein Beben riss ihn von den Beinen, auch die Kleine wurde zu Boden geworfen. „Was war das?“ schrie sie. Sie bewegte den Arm zur Seite, um hinaus zu blicken, doch da war nur Finsternis. Wieder erschütterte ein Stoß die kleine Buche. „Wieso sehe ich nichts?“ rief das Mädchen. Sorla und seine Tochter sahen sich entsetzt an. Hatte ein Tier das Bäumchen ausgerupft und verschluckt? „Lass‘ mich hinausgehen und nachschauen!“ rief Sorla. „Es geht nicht!“ jammerte sie. „Ich wollte ja selbst schon hinaus. Da ist irgendwas, das hemmt mich. Irgendwas Schlimmes! Mein Baum muss ersticken!“ „Und wir?“ „Oh Vater! Ich werde sterben, und wenn ich die Kraft nicht mehr habe, musst du ersticken!“ Sie weinte. Plötzlich straffte sie sich, ihre Augen blitzten vor Entschlossenheit: „Aber du sollst nicht sterben! Ich reiche dich weiter!“
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Sorla drückte sie an sich. „Mein Liebes, ich will nicht, dass du stirbst! Ich kann dich nicht im Stich lassen.“ Da fiel ihm etwas ein: „Und wenn du mich an deine Schwester weiterreichst, die du ...“ „Die ist schon fast tot!“ „Wir müssen es versuchen!“ „Wenn sie die Kraft nicht mehr hat, stirbst du in ihrem Baum, noch vor ihr!“ „Schick‘ mich hinüber! Schnell!“ Sie presste ihre Lippen zusammen und nickte. * Es war fast dunkel, das Mädchen lag keuchend am Boden. Ihre langen schwarzen Haare umringten ihre kleine Gestalt. „Schnell, mein Liebes!“ rief Sorla. „Lass‘ mich hinaus!“ „Bist du das, Vater?“ flüsterte das Kind, ohne hochzublicken. „Ja, ich will dir helfen! Deshalb lass‘ mich raus, bevor es zu spät ist!“ Das Mädchen hob den Arm und ließ ihn kraftlos wieder sinken. „Seit Tagen hab‘ ich mich auf dich gefreut“, flüsterte sie, „jetzt muss ich sterben.“ „Bitte!“ rief Sorla. „Du musst es tun! Nimm deine letzte Kraft!“ Das Mädchen hob wieder den Arm, sie stöhnte vor Schmerz und Anstrengung, dann gelang ihr, ganz zittrig, ein schwaches Winken. Sorla stand auf weichem Moos, neben sich das ausgerissene Bäumchen. Die Nachmittagssonne schien schräg über das lichte Gehölz aus Holunder, Schlehen, vereinzelten Eichen. Ein paar Schritte weiter plätscherte ein kleiner Bach. Dort saß ein riesiges plumpes Wesen und riss mit dem Maul Stücke aus einem Hirsch, den es in seinen klobigen Fäusten hielt. Jetzt hatte das Ungeheuer, halb Troll, halb Riese, Sorla erblickt.
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Ärgerlich grunzend ließ es den Hirsch fallen und richtete sich halb auf. Es war dreimal größer als Sorla und fast so breit wie hoch. Sorla tastete nach Schlangenzahn. Atne sei Dank, das Messer war da. Aber versuchsweise sagte er: „Lass‘ dich nicht stören!“ Das Ungeheuer grunzte und richtete sich vollends auf. Die Arme pendelten angriffslustig. Sorla wiederholte das Gesagte in der Sprache Batiflims, denn, so erinnerte er sich, dies war die Sprache der Riesen und wurde auch von Trollen verstanden – zumindest in den Bergen von Batiflim. Doch das Ungeheuer grunzte Unverständliches und kam mit erhobenen Fäusten heran. Sorla wich dem ersten Schlag aus und sprang hinter eine Eiche, um sich vor dem zweiten zu schützen. Der Stamm bebte unter dem Hieb, Eicheln prasselten herunter. Als das Ungeheuer mit seinem Arm um den Baumstamm herum langte, um Sorla zu packen, war dieser schon zwei Bäume weiter entfernt – weit genug, um Schlangenzahn zu werfen. Er hatte sonst keine Waffe, und es gab nur diesen einen Wurf; er suchte sein Ziel – das rechte Auge, sehr klein und unter der wulstig vortretenden Braue kaum zu sehen – während das Ungeheuer auf ihn zu rannte, wartete bis zum letzten Augenblick und warf das Messer mit aller Kraft. Es fuhr bis zum Heft durchs Auge in den Schädel. Das Ungeheuer brach ohne einen Laut in die Knie und rutschte, vom Schwung des Angriffs getragen, noch einige Schritte durchs Gras und blieb als riesiger dunkler Klumpen liegen. „Atne sei Dank!“ murmelte Sorla und eilte hinüber, um sich Schlangenzahn zu holen. Es kostete Mühe, denn das Ungeheuer lag auf dem Gesicht und er musste dessen Kopf zur Seite drehen, und dann war da kaum Platz zwischen Backenknochen und Brauenwulst, um das Ende des Heftes zu greifen, das zudem mit Blut und glitschigen Resten des Auges bedeckt war. Es zu reinigen hatte er jedoch keine Zeit, er rannte zurück zu dem ausgerissenen Bäumchen. Schlaff hingen dessen wenige Blätter herab. Dort war auch das Loch im Boden, abgerissene Wurzeln ragten heraus. Er erweiterte das Loch mit bloßen Händen, senkte den Wurzelballen hinein – ach, wie
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kläglich sah der aus mit seinen abgerissenen Wurzelstummeln – und schichtete vorsichtig Erde darum herum. Nun wollte er Wasser vom nahen Bach holen, hatte aber nichts zum Schöpfen außer seinen Stiefeln, da fiel ihm etwas Besseres ein. Er ließ sein Regenszepter erscheinen: klares Wasser strömte hervor, mischte sich mit der Erde, welche Sorla mit der anderen Hand verrührte und fester um die Wurzeln drückte. „Möge das Wasser dich erfrischen und heilen“, sagte Sorla leise. „Ich werde später wieder nach dir schauen!“ Mehr konnte er hier nicht tun. Er richtete sich auf. Wo war die andere kleine Buche? Irgendwo jenseits des Baches musste sie stehen, also ging er hinüber und suchte. Aber da war nichts außer einzeln stehenden Haselnussbüschen und einem riesigen Kothaufen, frisch und dampfend, den, der Größe nach zu urteilen, wohl das Ungeheuer abgesetzt haben musste. Dieser Haufen stank so sehr, dass Sorla einen großen Bogen um ihn machte und erst, nachdem er das Bäumchen nirgends im weiten Umkreis fand, begriff: es war unter dem ungeheuren Haufen begraben! „Oh Atne!“ seufzte Sorla. Dann machte er sich auf die Suche nach einem breitgefächerten Ast, den er benutzte, um den Kot Stück für Stück abzutragen. Er achtete darauf, den Wind im Rücken zu haben, aber dennoch war der Gestank fast unerträglich, und die Schmeißfliegen surrten aufdringlich um ihn her. Bald wurde die Spitze des Bäumchens sichtbar und schnellte, von der Last befreit, empor. Sorla schaffte weiter, schob und wälzte Brocken beiseite. Als die Sonne unterging, war das Bäumchen freigeräumt. Aber jämmerlich sah es aus, die Blätter beschmiert und die Äste herab gebogen! Wieder ließ Sorla das Regenszepter erscheinen, und das klare Wasser wusch den stinkenden Dreck herunter. Dann setzte er sich in einiger Entfernung hin und wartete. Es wurde rasch kühl, und er war froh, seine Kleider, obwohl sie stanken, nicht im Bach gewaschen zu haben – so waren sie wenigstens trocken. Dennoch begann er bald zu frieren. Er hätte um Einlass in eines der Bäumchen bitten können, doch hatte er von seinen selbstherrlichen, eigensüchtigen Töchtern, besonders der
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rothaarigen, nachgerade genug. Schließlich stand er auf und ging hinüber zu dem riesigen dunklen Klumpen, dem erschlagenen Ungeheuer. Dort setzte er sich hin, an dessen Flanke gelehnt; so war er vor dem Wind geschützt und spürte die Wärme, die der massige Körper noch immer verströmte. Als er erwachte, war es früher Morgen. Sein rothaariges Töchterchen stand mit verheultem Gesicht vor ihm. Er wartete, dass sie etwas sagte, doch sie schaute ihn nur an. „Nun?“ fragte er schließlich. „Du bist gemein!“ schluchzte sie. Das hatte er nicht erwartet, doch fragte er sachlich: „Und wieso?“ „Du warst so tapfer und tüchtig, hast das böse Untier besiegt, meine Buche aus der Scheiße ausgegraben, und dann denkst du böse über mich!“ Sie zog die Nase hoch. „Dabei hatte ich mir vorgenommen, dir ganz arg zu danken! Ich wollte dir auch lauter gute Sachen versprechen!“ Da musste Sorla lachen. „Komm her, mein Kind!“ sagte er. Sie kam zögernd heran, murmelte: „Du stinkst!“ und warf sich ihm plötzlich aufschluchzend an die Brust. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatte und wieder reden konnte: „Ich will dir eine gehorsame Tochter sein. Ich will sogar meine blöde Schwester am Leben lassen, wenn sie heute nacht nicht doch noch gestorben ist.“ Er drückte sie an sich und sagte: „Da wollen wir doch gleich nachsehen!“ Er ging mit ihr an der Hand hinüber zu der kleinen Buche. Sie sah nicht besser aus als tags zuvor, aber auch nicht schlechter. Die Blätter hingen ebenso schlaff herab. Sorla sah seine Tochter an, sie war rot im Gesicht. „Das dauert eben, weil die kleinen Wurzeln sich neu bilden müssen“, sagte sie stockend. Sie drückte seine Hand: „Ich denke schon, dass sie wieder gesund wird. Wenn es nötig ist, gieße ich auch ihre Buche.“ Auf einmal saß vor ihnen im Gras das andere, schwarzhaarige Kind. „Vater!“ flüsterte es und lächelte schwach. Er ließ die Hand der rothaarigen Tochter los, um die Kleine aufzuheben und an sich zu drücken. „Wie schön!“ flüsterte diese.
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Dann öffnete sie die Augen und blickte mit zartem Gesicht um sich. „Ist das da meine böse Schwester?“ Diese fuhr zornig hoch, besann sich aber und schwieg. Sorla setzte die Kleine wieder ins Gras und sagte: „Wir haben hier also eine böse Schwester“, er zeigte auf das rothaarige Kind, „und eine blöde Schwester.“ Damit nickte er dem schwarzhaarigen Töchterchen zu. „Ich schlage vor, wir denken uns neue Namen aus.“ „Miststück!“ flüsterte die mit dem zarten Gesicht. „Nervensäge!“ schlug das rothaarige Kind vor. „Ganz schlecht!“ mischte sich Sorla ein. „Wir brauchen Namen, die es euch erleichtern, miteinander auszukommen. Erst gestern haben wir alle drei zusammen gearbeitet; nur so konnten wir alle überleben.“ „Ich verstehe dich“, sagte das rothaarige Kind. „Und ich weiß, was ich versprochen habe. Daher möchte ich diese ... Schwester hier in Zukunft Noondhyl nennen, ’Haar wie Brombeeren‘.“ „Woher kennst du die Sprache der Sidh?“ wunderte sich Sorla. „Sie ist in deinem Kopf, Vater. Sie klingt sehr hübsch.“ „Und ich nenne die ... da drüben Hirrendhyl, ‘’Haar wie Himbeeren‘!“ meldete sich das schwarzhaarige Kind. „Einverstanden!“ sagte Sorla. „Und dir, Noondhyl, sage ich: denke nicht an Rache für das, was deine Schwester dir antat! Sie hat es bereut und half mir, dich zu retten.“ Noondhyl blickte vor sich, schließlich nickte sie. „Wenn du es so willst, Vater. Ich schulde dir das.“ Er gab nun jedem Kind einen Kamm, mit einem dritten begann er ihr Haar zu strählen. Das gefiel ihnen, spaßeshalber kämmten sie auch ihn. Sorla wunderte sich, dass die beiden, in nichts als ihre Haare gehüllt, nicht froren. Sie beruhigten ihn: Solange die Buche nicht fröre, sei es auch ihnen nicht kalt, und im Winter schliefen sie sowieso. Aber beim nächsten Mal könne er ihnen ja auch so hübsche Kleidchen mitbringen wie Ildryste eines hatte. „Es bleibt euch nichts verborgen, oder?“ lachte Sorla. „Gibt es noch mehr von euch? Ich meine, wo ich bisher nicht war?“
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Beide nickten. Ein Hauch von Schadenfreude huschte über Hirrendhyls Gesichtchen. „Keine Sorge, Vater. Wenn du in meinen Baum kommst, reiche ich dich denen weiter.“ * Als Sorla zu sich kam und sich umblickte, traute er zunächst seinen Augen nicht. Das kleine Mädchen vor ihm war in goldfarbene Seide gehüllt, trug zierliche grüne Sandaletten, und die goldbraunen Haare waren mit einem silbernen Netz zusammengehalten. An den Fingern glitzerten ein paar Ringe. „Sei gegrüßt, Vater!“ flötete das Kind huldvoll. „Mein Name ist Syardra. Ich hoffe, deine Reise war nicht allzu beschwerlich. Meine Schwestern sind recht ungehobelt in ihrem Benehmen, nicht wahr?“ Sie lächelte sanft. Sorla fasste sich schnell. „Komm her, kleine Tochter!“ befahl er. Sie trippelte näher, die Wimpern gesenkt. Er ergriff ihre kleinen Hände und sagte: „Dir scheint es gut zu gehen, mein Kind. Wo sind wir hier?“ Sie bewegte den Arm anmutig beiseite, da blickte er hinaus in einen wundervollen Park, und er erinnerte sich an den Garten des Drachens, dem er vor drei Jahren eine Buchecker anvertraut hatte. „Der Herr des Gartens“, sagte das Kind, „ist mir ein guter Ziehvater gewesen. Er erfüllt alle meine Wünsche. Es ist sehr leicht, ihn zu lenken.“ Sie lächelte sanft. Auf unklare Weise missbilligte Sorla Syardras Verhalten. Der Drache, mächtig, zauberkundig und Lehrer anderer Drachen, hatte ihn, ob in menschlicher oder Drachengestalt, zutiefst beeindruckt. Wie konnte ein Kind ... Syardra unterbrach seinen Gedankengang: „Was dich wirklich stört, mein lieber Vater, ist, dass ich deiner Ansicht nach verwöhnt bin. Deine Kinder, denkst du, müssen unwissend und arm sein, dann kannst du kommen und ihnen helfen.“ Sie lächelte ihn an. „Ich habe goldene Kämme und solche aus juwelenbesetztem
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Elfenbein, aber du darfst mir gerne einen deiner Hornkämme von der Marktbude in Agra geben – es ist ein rührendes Geschenk, und man muss die Absicht des Gebenden bedenken, nicht den Wert der Gabe.“ Sorla bemühte sich, seine wirbelnden Gedanken zu ordnen. „Du bist erst drei Jahre alt. Gut, bei Dryaden ist das wohl so viel wie sechs Jahre bei einem Menschenkind. Aber es scheint mir nicht richtig, dass du dich Erwachsenen gegenüber so überlegen gibst.“ Syardra neigte ihr kleines Haupt. „Das hast du schön gesagt, lieber Vater. Der Herr des Gartens nennt mich ‘Syardra‘, denn dies bedeutet in seiner Sprache ‘Die hier herrscht‘. „Aha.“ „Es ist eine handliche Koseform des eigentlichen Namens ‘Ila-Syar-Dracunn-Dicheiensochamerur-komouma‘. Das heißt ‘Sie ist so klein und sitzt in des Drachen Nacken‘.“ „Aha.“ Sie nahm ihn sanft lächelnd bei der Hand: „Wir wollen hinausgehen und dem Herrn des Garten unsere Aufwartung machen!“ Draußen sangen die Vögel und schwirrten zwischen Palmen und blühenden Büschen umher. Es herrschte heller Sonnenschein, obwohl keine Sonne zu sehen war. Es gab auch keine Wolken, keinen blauen Himmel, nichts. Ob dieser Garten in einer riesigen Höhle oder nur in der Vorstellung des Drachens angesiedelt war, konnte Sorla schon beim ersten Besuch nicht entscheiden. „Beides trifft halbwegs zu, lieber Vater“, hauchte Syardra. „Ich könnte es genauer erklären, aber es ist für dich zu schwierig zu verstehen.“ Sie schritten die mit grüngrauen Drachenschuppen gepflasterten Wege entlang zu einem kleinen Pavillon, wo ein hochgewachsener Mann in schlichtem Leinenhemd sie erwartete: der Herr des Gartens. „Lieber alter Drache!“ flötete das Kind. „Schau, mein Vater ist gekommen!“ Sorla neigte das Haupt. „Ich grüße dich, mächtiger Herr des Gartens!“ Rechtzeitig war ihm eingefallen, wie wichtig es war,
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Drachen mit gebührender Achtung zu begegnen. Die goldenen Augen des Mannes blickten hart und glühend. „Sei gegrüßt, Vater einer ungewöhnlichen Tochter! Sei gegrüßt auch als der kleine Drachenvetter, den ich vor drei Jahren kennenlernte.“ Zu dem Mädchen sagte er: „Ich möchte mich mit Sorle-a-glach alleine unterhalten, Ila-Syar-Dracunn-Dicheiensochamerurkomouma.“ „Oh, der lange Name! Das bedeutet, es ist ihm wichtig.“ Das Mädchen machte einen Knicks und verschwand. Der Herr des Gartens geleitete Sorla in den Pavillon, wo Gebäck, klares Wasser und gesüßter Tee bereit standen. Erst jetzt fiel Sorla auf, dass er nichts zu sich genommen hatte, seit er Ekritmea verließ. Doch hatte er weder Hunger noch Durst gespürt – wie damals bei Ysalde war er durch die Buchen gestärkt und genährt worden. „Dieses Kind hat hier viel verändert“, murmelte der Herr des Gartens. Seine goldenen Augen verloren für einen Augenblick die gewohnte Härte. „Als ich die Buchecker von dir annahm, dachte ich, es sei hübsch, außer Vögeln und Rehen ein weiteres Lebewesen in meinem Garten zu haben; zudem eines, das reden kann. Aber noch nie hat mich ein Wesen so verstanden wie dieses Kind. Es schaut in mein Innerstes.“ „Auch du kannst Gedanken lesen, mächtiger Herr des Gartens“, wandte Sorla ein. „Es ist anders. Ich lese deine Gedanken, selbst die mancher Drachen. Ich kenne aber keinen Drachen, der mich durchschauen könnte. Dieses Kind kann es, und merkwürdigerweise gefällt mir das. Es weiß auf eine Art zu schmeicheln, die ehrlich und doch zuvorkommend ist. Es weiß mich zurechtzuweisen auf gleiche Art: zutreffend und doch zuvorkommend. Zudem ist es so klug und gelehrig, dass es mir oft den Atem verschlägt. Es hat über Zauberei mehr gelernt, als ich so manchem halbwüchsigen Drachen beibringen konnte.“ „Mächtiger Herr des Gartens! Syardra erklärte mir, ihr Name bedeute sinngemäß, sie sitze im Nacken des Drachen.“ Der Angeredete lachte. „Ja, das klingt wie ein
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Eingeständnis, sie könne mich lenken. Ein Scherz, der etwas Wahrheit enthält. In meiner Menschengestalt bin ich empfänglich für die Anmut dieses Kindes. Und wer weiß, was meine Empfindungen sein werden, wenn dieses Kind zu einer schönen Frau erblüht? Aber vor allem bin ich Drache. Da bin ich empfänglich für die Klugheit, durchaus auch für die Schmeicheleien. Aber unter all dem gibt es die Ebene des Feuers.“ Seine goldenen Augen glühten auf. Sorla erinnerte sich, dass er sich von den Menschengestalt seines Gegenübers nicht irreführen und in Sicherheit wiegen lassen durfte. „Ja“, sagte der Herr des Gartens. „Vergiss das nie! Ich sprach mit dir so offen, weil du Syardras Vater bist. Doch nun möchte ich über dich und deine Reise reden. Du weißt, dass du von hier aus fast jeden Ort erreichen kannst, den du willst. Möchtest du nach Ekritmea zurückkehren – sage es.“ Sorla zögerte. „Dies ist ein wunderbares Angebot, und ich habe in Ekritmea Wichtiges zu tun. Andererseits möchte ich gerne auch meine übrigen Töchter kennenlernen.“ Der Herr des Gartens nickte. „Ich verstehe deine väterliche Neugier. Begib dich zu Syardra, damit sie dich weiterreicht. Sollte dich dein Weg hierher zurückführen, bist du willkommen.“ Als Sorla den Pavillon verließ und noch einmal zurückblickte, fand er sich in einer weitgestreckten Höhle, deren Wände rot waren von feurigem Widerschein. Mittendrin lagerte ein riesiger, goldschuppiger Drache und betrachtete ihn aus glühenden Augen. Schnell blickte Sorla wieder nach vorne – dort, am Ende des gepflegten Weges stand auf einem zierlich eingefassten Hügel die kleine Buche, übersät mit silbernen Sternchen. * „Na endlich!“ hörte Sorla eine heisere Kinderstimme rufen. „Beim heiligen Rattenschwanz!“ Da öffnete er verdutzt die Augen. In der gewohnten Helligkeit stand ein Mädchen, eingehüllt in ein
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dunkelgraues, kurzhaariges Fell. Abgesehen von den schwarzen Zöpfchen, die wirr ihr weißes Gesicht umrahmten, ähnelte sie Noondhyl, war aber größer und wirkte fast wie ein neunjähriges Mädchen. „Ich verpasse das Beste wegen dir!“ „Hallo, mein Kind!“ sagte Sorla, von dem Empfang etwas verwirrt. „Wie geht es dir?“ „Dämliche Frage, findest du nicht?“ Sie hatte die merkwürdige Angewohnheit, die Oberlippe hochzuziehen und so die oberen beiden Schneidezähne zu entblößen. „Hier ist es tierisch langweilig. Bloß heute, wo was los ist, muss ich im Baum sitzen wegen dir.“ „Wovon redest du?“ fragte er. „Na, das Rennen vom Erntefest!“ Sie schob den unsichtbaren Vorhang beiseite, dabei rutschte ihr das Fell ein wenig vom Arm. „Verdammte Räude! Ich wollte, es wäre angewachsen!“ Der einzige Baum weit und breit stand ungefähr ein Dutzend Schritte entfernt: ein Holzapfelbaum, dessen Äste sich vor Früchten bogen. Ansonsten war nichts zu sehen außer Grasland. Im weiten Kreis um sie, also auch um die kleine Buche, waren Pfähle eingeschlagen und mit Stricken verbunden, an denen Fetzen aus grauem Fell hingen. „Wozu dient das?“ „Das ist ne Absperrung, dass hier keiner auf mir rumtrampelt. Wie die das erste Mal hier angerannt kamen, kriegte ich vor Angst fast die Krätze. Da habe ich Srixnes gleich reingedrückt, dass meine Buche heilig ist.“ Sie zog die Oberlippe hoch. „Ich hab‘ ihn hier reingeholt und ihm klargemacht, entweder das, oder er erstickt.“ „Wer ist Srixnes?“ „Na, der Oberschlaue, der bei den Werrax das Sagen hat.“ „Aha. Und die Werrax?“ „Sie müssen bald kommen, dann siehst du’s. Zeig mal solange den Kamm her.“ Sorla zog einen der restlichen Kämme aus der Tasche. Sie öffnete ein paar Zöpfchen und begann das Haar zu strählen. „Lustig, aber mühsam. Mach‘ du mal!“
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Doch statt ihm den Kamm zu geben, rief sie auf einmal: „Ach du heiliger Rattenschwanz! Die Werrax sind da!“ und deutete mit dem Kamm in der Hand in die Ferne. Von dort jagte eine Horde dunkler Gestalten heran, riesige, fast menschengroße Ratten. Nun erinnerte sich Sorla: hier hatten der DRACHE und er auf ihrer Reise zu den Grauen Bergen vor vier Jahren gerastet. Ein paar riesige Ratten waren plötzlich aufgetaucht und hatten ihn angegriffen, er rettete sich auf den Holzapfelbaum, bis der DRACHE die Angreifer erledigt hatte. Schon waren die Werrax herangekommen, wimmelten um die Absperrung herum und sprangen an dem Holzapfelbaum hoch. Wenige Augenblicke später war alles vorbei: der Baum war abgeerntet, die meisten Ratten hielten einen Apfel in ihren Pfoten. Um den letzten Apfel im Baumwipfel kämpften verbissen drei Ratten, die unterste wurde weggetreten und fiel quiekend durch die Äste zu Boden. Eine der beiden übrigen packte den Apfel, aber die andere biss ihr in den Rücken, riss ihr den Apfel aus den Pfoten und sprang damit hinunter. Sorla wunderte sich. Diese Früchte schmeckten herb, fast bitter. Wieso stritten die Werrax so verbissen darum? „Wer ‘nen Apfel hat, muss nicht rennen“, beantwortete das Mädchen Sorlas unausgesprochene Frage. „Die sind doch gerade gerannt!“ „Ne, das richtige Rennen kommt erst.“ Sie zog begeistert die Oberlippe hoch. „Schau, da ist Srixnes! Wart‘ hier auf mich!“ Damit verschwand sie und ließ Sorla alleine in der Buchenhelligkeit zurück. Wenigstens konnte er weiterhin zusehen, was sich draußen abspielte. Nahe dem Holzapfelbaum, abgesondert von den übrigen Ratten, stand ein Werrax. Er stützte sich auf einen knorrigen Ast, an dem Knochen, Fetzen und andere wunderliche Dinge baumelten. Neben ihm tauchte das Mädchen auf und wurde von den Werrax durch Pfeifen begrüßt. Der einzelne Werrax, Srixnes, hob den Stock und begann pfeifend und quiekend eine kurze Ansprache zu halten. Sorla verstand natürlich nichts und achtete mehr auf die anderen. Ihm fiel auf, dass die Minderheit derjenigen, die keinen Apfel in den
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Pfoten hielten, eine eigene, kleine Gruppe bildeten und aufgeregter, angespannter wirkten als die anderen. Jetzt war die Ansprache zu Ende, die Ratten mit den Äpfeln schwärmten aus und bildeten einen weiten Kreis, dessen Anfang und Ende beim Holzapfelbaum waren, wo Srixnes und Sorlas Tochter standen. Dort stellten sich die anderen Ratten auf, die keinen Apfel abbekommen hatten. Srixnes hob den Stock, die Ratten rannten los, entlang dem Kreis, den die anderen Werrax bildeten. Bald hatten sie den Kreis umrundet und rannten erneut am Holzapfelbaum vorbei. Sorla fiel auf, dass ihre Schar weniger dicht gedrängt war als zuvor; zwei, drei lagen gut in Führung, ein paar andere keuchten, um Rattenlängen abgeschlagen, hinterher. Als sie das zweite Mal vorbei rannten, war die Gruppe der rennenden Ratten noch weiter auseinander gezogen. Die letzten beiden Ratten wirkten erschöpft, mühten sich aber verzweifelt, den Anschluss zu finden. In der dritten Runde hechelten die Nachzügler heran, als die Mehrzahl bereits wieder außer Sichtweite war. In der vierten Runde schlossen die Schnellsten von hinten auf. Die beiden Langsamsten blickten sich um, pfiffen erbärmlich und rannten mit letzter Kraft weiter. Dies war nun ein Rennen zwischen den beiden Langsamsten, während die Schnellen sich im Abstand von einer Rattenlänge hinter ihnen hielten und abwarteten. Die restliche Gruppe schloss zu ihnen auf, sie pfiffen höhnisch, während sie die beiden Nachzügler vor sich her trieben. Die eine Ratte blickte gehetzt zurück, sprang in ihrer Verzweiflung der anderen auf den Rücken und von da über deren Kopf mit letzter Kraft nach vorne. Wie sie sich von deren Kopf abstieß, hinterließen ihre Krallen tiefe Striemen. Die derart Misshandelte humpelte kläglich hinterher, dicht hinter ihren Verfolgern. Diese aber, ein gierig wimmelnder Haufen, hielten sich zurück, bis sie den Holzapfelbaum erreichten. Hier, neben Srixnes und dem Mädchen, fielen sie über ihr Opfer her und zerfleischten es. Auch diejenigen, die den Kreis gebildet hatten, eilten herbei, um einen Fetzen abzubekommen. Selbst die eben noch Verfolgte, die sich um eine Rattenlänge retten konnte, wandte sich, um sich am
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Gemetzel zu beteiligen. Aber da war inzwischen nicht mehr viel zu holen. Plötzlich erschien das Mädchen wieder bei Sorla in der Buchenhelligkeit. In der von sich gestreckten Hand schlenkerte sie einen blutig abgetrennten Rattenschwanz, so lang wie sie groß war: „Schau mal, toll, was?“ Sie zog die Oberlippe hoch und zeigte ihre Vorderzähne. „Was willst du damit machen?“ Sie kicherte. „Ich weiß, du findest das Teil eklig. Man könnte damit peitschen oder es an einen Ast hängen. Bloß ist meine Buche noch zu klein dafür.“ Sorla schwieg. „Ach, Vater!“ Sie legte ihr heißes Händchen auf seinen Arm. „Du willst mich erziehen, zu einem lieben Menschenkind, und weißt nicht wie. Bemüh‘ dich nicht. Ich schwenke diesen Rattenschwanz, solange ich will! Und das Rennen fand ich toll.“ „Aber es ist grausam ...“ Sie kicherte. „So‘n blödes Wort. Das können nur Menschen denken. Ich finde, die Werrax haben sich was Kluges ausgedacht. Magst du mit Srixnes reden?“ Sorla zuckte die Achseln. „Ich verstehe seine Sprache nicht.“ „Quatsch! Ich sag’s dir weiter.“ Und schon standen sie draußen. Die Ratten wichen zurück, als sie Sorla sahen, ihre gelben Nagezähne drohend gebleckt. Srixnes wartete, gestützt auf seinen Stock. Seine Schnauze war schon grau, sein Fell schütter und glanzlos. Das Mädchen wandte sich ihm zu, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und drückte ihre Nase gegen die seine. Dann hob sie ihre geschürzte Oberlippe und begann zwischen den Zähnen hindurch zu pfeifen und zu quieken. Dabei deutete sie auf Sorla. Srixnes blickte diesen aus funkelnden Knopfaugen an. Seine Schnurrhaare zuckten. „Du siehst nicht wie ein Freund der Werrax aus, denkt er“, erklärte das Mädchen. „Aber du bist mein Vater, also lässt er dich in Frieden.“ „Ich bin der Erbe des hernostischen Kaiserthrons.“
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Sie kicherte, pfiff aber Srixnes die Übersetzung zu. Der quiekte etwas zurück, und sie übersetzte: „Hier weiß keiner was von einem hernostischen Reich. Dies ist Werraxland, so weit du gucken kannst.“ Wieder pfiff sie etwas, und Srixnes antwortete. „Ich hab ihm gesagt, dass du das Rennen grausam findest. Er meint, es ist besser, die Schwächlinge werden von der Horde aufgefressen, als sie kommen nutzlos im Winter um oder fallen den Chrebil zum Opfer.“ „Hier gibt es Chrebil?“ In Sorlas Erinnerung tauchte das Bild der hässlichen, rotäugigen Wesen auf, die der Schrecken seiner Kindheit waren. „Nur noch an den Grenzen von Werraxland. Die Werrax haben sie vertrieben.“ „Die Werrax sind tapfer und können kämpfen“, sagte Sorla. Das wurde Srixnes weitergegeben, und das Mädchen übermittelte die Antwort: „Er weiß es. Ich soll dir aber sagen: Auch Tsyrryfx ist tapfer und kann kämpfen.“ „Wer ist Tsyrryfx?“ „Na, ich doch!“ Sie strahlte. „Das ist Werrax-Sprache, es heißt „Hartnäckig“. Sie kicherte. „Hübsch konnten sie nicht sagen, denn Werrax finden was anderes hübsch.“ „Schwierig auszusprechen.“ „Find‘ ich nicht. Und jetzt gib einen deiner Kämme her, damit wir Srixnes was schenken können.“ Mit dem Kamm wandte sie sich Srixnes zu und strählte seine Schnurrhaare. Dies schien ihm zu behagen, denn er hielt still und wandte nur manchmal die Schnauze zur anderen Seite, damit das Mädchen auch hier den Kamm ansetzen konnte. „So, das reicht“, sagte sie schließlich und überreichte Srixnes den Kamm. Dieser hängte ihn in eine Schlaufe an seinem Stock und zog stattdessen etwas anderes heraus, was zuvor dort hing: ein schrumpelig in die Länge gezogenes Etwas. „Ein Chrebil-Penis!“ jubelte Tsyrryfx und klatschte in die Hände. „Oh wie fein!“ Sie wandte sich Sorla zu: „Das musst du annehmen, auch wenn du’s eklig findest!“
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Sorla folgte dem Rat seiner Tochter und sagte anschließend: „Richte Srixnes meinen Dank aus. Möge es seinem Volk wohl ergehen, solange sie keine Menschen fressen!“ Kichernd teilte sie das Srixnes mit. Zu Sorla sagte sie danach: „Srixnes dankt für den Kamm. Er lädt dich ein, beim nächsten Rennen mitzumachen, wenn du Lust hast.“ Bevor er sich dazu äußern konnte, zog sie ihn am Arm fort: „Wir können gehen.“ Und schon waren sie zurück in der Buchenhelligkeit. Sie reckte sich hoch und drückte mit hochgezogener Lippe ihre Nase gegen die seine. „Das war’s dann, Vater. Komm mal wieder. Ich reiche dich weiter.“ * Dieses Kind war weit jünger als Tsyrryfx, etwa im Alter von Syrte oder Mirre-wyn. Es hatte sich in riesige grüne Klettenblätter gehüllt, in die dunklen Haare hatte es Gänseblümchen und gelbe Blüten von Hahnenfuß geflochten. Auf seiner flachen Hand saß ein Frosch. „Die anderen sagen, ich soll nicht nackt rumlaufen, wenn du kommst“, erklärte es ernsthaft. „Jetzt sehe ich aus wie ein Klettenbusch.“ Es lispelte ein bisschen. „Es ist lustig.“ Sorla lächelte. „Ist das ein besonderer Frosch?“ „Ne, bloß ein Frosch, wegen der Langeweile.“ Das Kind hielt ihn Sorla unter die Nase. „Aber jetzt bist ja du da.“ Im nächsten Augenblick war der Frosch verschwunden. Sorla sah sich um, wo er hin gesprungen war. Das Kind lachte übertrieben – Sorla spürte, dass es unsicher war. „Er ist nicht hier. Ich hab‘ ihn raus geschickt!“ Es wischte, immer noch kichernd, den unsichtbaren Vorhang beiseite, wobei es Mühe hatte, mit der anderen Hand die Blätter beisammen zu halten. Sorla sah ein paar Schritte weiter den Frosch im Gras sitzen. Dahinter war Gebüsch, durch das sonnenbeschienenes Wasser funkelte.
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„Hier ist es schön“, sagte Sorla. Das Kind nickte. Es hatte sich beruhigt, die Spannung war gelöst. „Wo sind wir hier?“ „Im Bato-Tal.“ Sorla erinnerte sich: Vor zwei Jahren hatte er mit seinem Vater in dieser abgelegenen Gebirgsgegend im Norden des Hernostischen Reiches den Winter verbracht. Im Frühjahr waren sie weitergereist und hatten mit Perkan, dem einheimischen Führer, hier den Fluss überquert. Die Buchecker hatte er seitab von dem schmalen Uferpfad in einen Felsspalt gesteckt. „Schön, dass du das noch weißt!“ lispelte das Kind. „Ich weiß auch was!“ Es wartete gespannt, ob er nachfragen würde. Er tat ihr den Gefallen: „Na, was ist es?“ „Deine Geliebte kam erst gestern hier vorbei!“ Das Mädchen patschte in die Hände, als müsse er hocherfreut und dankbar sein. Sorla aber runzelte die Stirn; er erinnerte sich an keine Geliebte in diesem Tal. „Du Dummer!“ rief das Kind. „Kennst du Hukari nicht mehr?“ Sorla schlug sich an die Stirn. Hukari von der Sippe Memliks! Das schöne, aber eigensinnige Mädchen mit den dunklen Haaren, das ihn in der letzten Nacht, bevor er weiterreiste, in ihr Zimmer geholt hatte. Wie sie sich im Mondlicht auszog und was dann geschah ... Das Kind hatte glänzende Augen, offensichtlich bekam es, so klein es war, alles mit, woran Sorla gerade dachte. Er wurde rot. Und jetzt fielen ihm noch weitere Dinge ein: dass Hukari „Die mit dem Drachen spricht“ wurde, weil er ihr den Ring geschenkt hatte, dass manche den Ring auch als Verlobungspfand betrachteten ... Das Kind zupfte ihn am Kittel. „Und wo ist der tolle Bogen, den ihr Vater dir geschenkt hat?“ „Der Bogen?“ Jetzt fiel Sorla auch dies wieder ein. „In der Stadt, wo ich die letzte Zeit lebte, geht man nicht mit Pfeil und Bogen spazieren. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass ich diese Reise mache, hätte ich ihn mitgenommen.“ Trotzdem trug auch dies
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zu seinem schlechten Gewissen bei. Wieder zupfte das Kind an ihm herum. „Magst du Hukari nicht leiden, weil sie mit Trollen verwandt ist? Hast du sie deshalb sitzen lassen?“ „Nein. Aber sag mal, woher weißt du das alles?“ Das Kind streckte drei Finger seiner Hand aus. „Dreimal ist sie vorbeigekommen. Hinauf zu Murnaks Sippe und zurück im letzten Jahr. Wieder hinauf erst gestern, das hab‘ ich schon erzählt. Heute müsste sie zurückkehren. Sie ist doch Die mit dem Drachen spricht, da muss sie herumreisen und mit den anderen Sippen Gespräche führen.“ Das Kind unterbrach sich, um festzustellen, ob Sorla geistig folgen konnte. Dann redete es weiter: „Hier bei der Furt macht sie immer Rast und lässt das Maultier trinken. Es macht Spaß, die Gedanken der Leute zu belauschen. Auch wenn es traurige Sachen sind, oder wütende.“ In Sorlas Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Die Erinnerung an Hukari war überwältigend, zerrte an seinem Geist und pochte in seinem Blut. Zugleich fühlte er die dringende Pflicht, keine Zeit zu verlieren, sondern bald nach Ekritmea zurückzukehren. Doch zunächst wollte er seine Töchter alle kennengelernt haben. Und was sollte er Hukari sagen? Das Kind wartete schweigend – Sorla spürte das mit einiger Beschämung – dass er seine Gedanken ordnete und den einzig sinnvollen Entschluss treffen würde. „Gut. Ich will ihr entgegen gehen. Lasse mich bitte hier raus.“ Das Kind nickte und sagte, er müsse aber wiederkommen, denn es habe ja noch keinen Namen und keinen Kamm und gestreichelt werden wie seine Schwestern wolle es auch mal. Dann stand er draußen auf der Wiese. Die Buche hinter ihm war kaum größer als eine Handspanne, und Sorla erkannte ihre paar Blätter nur, weil das Gras um sie herum sorgfältig ausgerupft war; das hatte wohl das Kind selbst getan, damit sein kleiner Baum nicht vom Unkraut überwuchert und erstickt wurde. Sorla bahnte sich durch hohe Klettenstauden den Weg zur
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Furt. Im nassen Lehm am Ufer waren Hufspuren eingedrückt. Jenseits des Bato führte der schmale Weg zunächst den Abhang hinauf, dann aber drängten sich bald die Felswände näher an den Fluss heran, und der Pfad führte dicht am Ufer entlang. Auf einem von der Sonne erwärmten Felsblock setzte sich Sorla hin und wartete. Über ihm wuchs roter Holunder aus einer Felsspalte. In seinen Zweigen tummelten sich Meisen und schwätzten über Raupen, Sorgen und Aufzucht, doch waren sie im Lärm des Flusses kaum zu verstehen. Unter ihm hatte der Fluss eine Kuhle geschaffen, dort stand scheinbar reglos eine Forelle in der Strömung. Als er den Arm hob, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, schoss sie davon und verschwand unter einem überhängenden Stein. Er hörte von weiter oben in der Schlucht Hufe klappern. Dann wieder war der Lärm des Flusses lauter, und Sorla wartete mit laut schlagendem Herz. „Oh Atne!“ flüsterte er. „Oh Dana!“ Und eingedenk seiner hernostischen Erfahrungen: „Oh Marushu!“ Sein Blick hing an der Felskante, hinter welcher der Pfad verschwand. Jetzt erschien dort eine junge Frau, hinter ihr, am Zügel geführt, ihr Maultier, dann noch ein schwerbeladenes Packtier. Ein zottiger Hund trabte hinterher. Als die Frau Sorla sah, blieb sie stehen, den Bogen schon gespannt, den Pfeil aufgelegt. Sorla hob die Arme, zum Zeichen, dass er keine Waffen hielt. „Nicht schießen, Hukari!“ Dies rief er in der seltsamen Sprache, die hier, in den Bergen Batiflims, gebräuchlich war. Die Frau senkte den Bogen. „Wer bist du?“ rief sie in derselben Sprache zurück. „Woher kennst du mich?“ Sorla schwieg und beobachtete, wie die junge Frau vorsichtig näherkam. Erst als er ihr Gesicht erkennen konnte, das hübsche, stolze Gesicht Hukaris, da rief er: „Ich bin’s – Sorle-aglach!“ Aber seine Stimme klang seltsam gepresst. Die junge Frau lachte. „Uolghq’âpsch, lass‘ das!“ „Ich bin nicht dieser Ulg...-dingsa!“ rief Sorla empört. „Jetzt hör‘ schon auf, Uolghq’âpsch! Es nützt dir nichts!“ „Hukari!“ Sorla sprang vom Felsen herunter und näherte sich ihr. „Bleib‘ mir vom Leib!“ rief sie scharf. „Erst vorletzte
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Woche hab ich dir einen Pfeil ins Bein geschossen. Hast du das vergessen? Und jetzt ist deine Muhme nicht da, um dich zu heilen!“ Sorla blieb stehen. „Hukari! Ich bin Sorle-a-glach, glaub‘ mir doch!“ „Du bist ein geschickter Gestaltwandler, Uolghq’âpsch, aber deine Augen verraten dich.“ „Dann komm‘ näher, Hukari, und schau sie dir an!“ Hukari musste wieder lachen, aber man merkte, dass sie eigentlich zornig war. Ihr Pfeil zielte auf Sorlas Magengegend, und er hütete sich, eine falsche Bewegung zu machen. Fünf, sechs Atemzüge vergingen, während die beiden einander anstarrten. Da schüttelte Hukaris Maultier seinen Kopf, diese trat einen Schritt beiseite, den Blick noch immer auf Sorla gerichtet, und trat ins Leere – ihr Bein rutschte zwischen zwei Felsen in einen Spalt. Der Pfeil löste sich und schwirrte seitab in den Fluss. Hukari legte den Bogen beiseite und bemühte sich, das Bein aus der Felsspalte zu ziehen, wobei sie leise vor sich hin schimpfte und Dinge sagte, die auch ein Troll nicht schlimmer ausgedrückt hätte. Sorla sah aus der Ferne zu, wie sie sich abmühte. Nach ein paar Dutzend vergeblicher Versuche, ihr Bein zu befreien, blickte sie auf und rief: „Uolghq’âpsch, komm‘ her und hilf!“ „Der bin ich nicht! Aber ich komme trotzdem.“ „Red‘ nicht so blöd. Und versuch‘ keine Dummheiten, ich hab‘ noch ein Messer.“ Sorla ging hinüber. Der zottige Hund beschnüffelte ihn, aber ließ ihn vorbei. Sie stöhnte vor Anstrengung und Schmerzen. Vorsichtig griff er unter ihre Achseln. Am liebsten hätte er sie umarmt und geküsst, aber sie hielt ihren Dolch griffbereit und achtete misstrauisch auf jede seiner Bewegungen. Nun versuchte er sie hochzuheben, ihr Bein aus der Spalte zu ziehen, doch er merkte bald, das sich ihr Fuß dort unten verhakt hatte – hinunter war er mit Wucht gerutscht, zurück ging es nicht mehr. Der zottige Hund stand dabei und beobachtete alles. Nach dem fünften vergeblichen Versuch setzte sich Sorla neben Hukari. „Es geht nicht!“ keuchte er. Sie sah zu ihm hoch, ihre Blicke trafen sich. Da fuhr sie zurück: „Du bist nicht Uolghq’âpsch!“
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„Ich bin Sorle-a-glach!“ Sie schloss die Augen, ihre Fäuste ballten sich. Dann blickte sie ihn wieder an und nickte. „Du warst lange fort, über zwei Jahre. Ich hörte, du lebst in der großen Stadt Ekritmea. Viele Wochen muss man reisen, um hierher zu kommen.“ Ihre Hände tasteten nach den seinen. „Nun bist du da und kannst mir nicht helfen.“ Sie lachte bitter. „Tatsächlich wäre Uolghq’âpsch jetzt eine größere Hilfe.“ Der zottige Hund wandte den Kopf. Seine gelben Augen glänzten in der nachmittäglichen Sonne. „Darauf kannst du einen lassen“, sagte er. Hukari tätschelte gedankenlos seinen Schädel, dann fuhr sie zusammen. „Burk! Seit wann sprichst du?“ Der Hund senkte den Kopf und rollte demütig die gelben Augen nach oben. „Rate mal.“ „Uolghq’âpsch, du missratener Giftpilz!“ schrie sie ihn an. „Wo ist Burk?“ „Ich hab‘ ihn gefressen.“ Seine Pfote scharrte, um Vergebung heischend, an ihrem Arm. „Bei Ûr-gqâschps, das war vor letztem Neumond. Ich helf‘ dir jetzt, dann bist du nicht mehr sauer, ja?“ „Deshalb hast du gehumpelt“, fuhr ihn Hukari an. „Das war noch von meinem Pfeil, ja? Du geile Kröte – und ich hab‘ dich noch gepflegt und bedauert!“ Der Hund grinste und ließ die Zunge heraushängen. „In Ordnung“, sagte sie. „Hilf mir hier raus, und ich lass‘ dich leben. Aber dann geh‘ mir aus dem Weg, oder ich vergess‘ mich!“ Der Hund senkte den Kopf. „Bei Ûr-gqâschps! Ich war ein besserer Hund als Burk!“ „Burk hat mir nicht unter die Röcke geschielt!“ erwiderte sie erbost. „Und er war nicht so verfressen wie du. Ich hatte mich schon gewundert deshalb. Nun mach‘ schon und hilf mir raus!“ Sorla saß dabei und kam sich überflüssig vor. „Entschuldige, mein Liebster“, sagte Hukari jetzt zu ihm. „Du kommst dir sicher überflüssig vor. Aber das hier sind Familienangelegenheiten.“
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„Ich gehöre auch zur Familie. Hast du das vergessen?“ „Nein, aber du warst lange fort.“ Sie umarmte ihn und flüsterte: „Ich freue mich, dass Marushu mich erhört hat und meinen Geliebten wieder heimkehren ließ!“ „Gleich kotz‘ ich“, kündigte der Hund an. Bevor Sorla etwas erwidern konnte, schubste ihn der Hund mit der Nase – mit einer Wucht, die von einem weit größeren Körper herrühren musste, als Sorla in Hundegestalt vor sich sah. „Rück‘ deinen Arsch beiseite, Prinz Sorle-a-glach“, knurrte er. „Ich soll deine rossige Stute befreien, damit du sie bespringen kannst!“ „Hör’ auf mit deinen Unverschämtheiten“, rief Sorla, „und tu‘, was Hukari sagt!“ Der Hund grinste. „Muss ich jetzt den Schwanz einziehen?“ Ohne weiter auf Sorla zu achten, trabte er hinüber zu Hukari und beschnüffelte ihr eingeklemmtes Bein. „Riecht lecker, bei Ûrgqâschps! Am besten, ich beiß‘ es ab und fress‘ es auf, dann bist du frei!“ „Untersteh‘ dich!“ zischte Hukari. „Zuzutrauen wäre es dir!“ Der Hund lachte und fing an sich aufzublähen. Immer größer und breiter wurde er und überragte schließlich Sorla um Haupteslänge. „Schau, schau – Trollmagie!“ zeterte eine Kohlmeise im Gebüsch. „Ich seh’s!“ zwitscherte eine zweite zurück. „Das kann der bloß, weil er auf dem Boden steht!“ „Ein Glück! Sonst könnten Trolle fliegen!“ Belustigt zwitschernd flogen die beiden weg. Sorla hatte nur mit halbem Ohr hingehört, zu sehr war er von dem beeindruckt, was er vor sich sah. Noch immer blähte und veränderte sich der Hund. Die Pfoten wuchsen sich zu grobfingrigen Pranken aus, die Nase stülpte sich wurstförmig vor, die Kiefern sanken zurück in eine breite Trollfratze mit lappig spitzen Ohren. Unter den wulstigen Brauen schauten die gelben Tieraugen hervor. „So!“ grunzte Uolghq’âpsch und zog sich am Glied. „Schön genug zum Zaubern!“ Er spuckte in die Pranken und griff in den
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Felsspalt, um ihn auseinander zu zerren. „Weite dich, bei Ûrgqâschps!“ keuchte er. „Was der Arsch meiner Alten konnte, als sie mich schiss, das kannst du auch!“ Da ruckte der Felsspalt auseinander, der Boden zitterte. Hukari zog ihr Bein heraus. Der Troll ließ den Felsspalt fahren und grinste. „Felsen sind so blöd, die glauben alles!“ Sorla war beeindruckt und sagte es. „Das kannst du nicht, was? Einen wie mich braucht Hukari, nicht dich.“ „Ich kann dafür andere Dinge“, sagte Sorla ruhig. „Es wird Zeit, dass du mich kennenlernst.“ „Dann mach‘ mal!“ höhnte der Troll. „Aber vorher zeig‘ uns, ob du auch so aussehen könntest wie ich!“ „Wieso?“ fragte Uolghq’âpsch argwöhnisch. „Du willst doch Hukari gefallen.“ Der Troll nickte. Wieder begann er sich zu blähen, zu verändern, zu schrumpfen. Hukari sah Sorla fragend an, aber dieser zwinkerte ihr zu. Aber was er dann sah, erschreckte ihn, obwohl er darauf gefasst war: dort stand er selbst, leibhaftig, selbstbewusst grinsend. Allerdings war Sorlas Ebenbild nackt, und unter den blonden Haaren, die in die Stirn hingen, blickten gelbe Tieraugen hervor. „Na, gefall‘ ich euch?“ Uolghq’âpsch kratzte sich am Hodensack. Hukari betrachtete ihn in allen Einzelheiten so genau, dass der echte Sorla rot wurde. „Gut getroffen“, lobte sie schließlich. Sorla zog seinen Kittel aus: „Probier‘ den mal an, Uolghq’âpsch! Dann wirkst du noch besser!“ Dieser tat es. Es machte ihm sichtlich Spaß. „Und hier die Hose!“ Sorla hielt sie seinem Ebenbild hin, dabei merkte er, dass Hukari sie beide verglich, wie sie nackt vor ihr standen. Aber da waren keine Unterschiede. Uolghq’âpsch streifte das Beinkleid über. „Meine Eier klemmen!“ schimpfte er und rückte das betroffene Körperteil in eine annehmbarere Lage. Dann ging er stolz hin und her. Hukari musste
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lachen, da warf er sich noch mehr in Pose. „Jetzt fehlen noch die Stiefel!“ sagte Sorla. Er hatte sie schon vorher ausgezogen und beiseite gestellt. „Bei Ûr-gqâschps! Das geht schwer!“ japste der Troll. „Aber es beeindruckt die Frauen!“ behauptete Sorla und half seinem Ebenbild, auch den zweiten Stiefel anzuziehen. Sorgfältig schnürte er sie mit doppeltem Knoten. Keinen Augenblick zu früh! Denn schon begann das Trugbild zu wabern und sich zu verändern. „Beim Furz meiner Großmutter“ fluchte Uolghq’âpsch überrascht. „Wer macht meinen schönen Zauber kaputt?“ Da war er aber schon dabei, sich zur massigen Trollgestalt zurückzuformen, „Meine Füße!“ schrie Uolghq’âpsch auf. „Dieser Schmerz! Oh Ûr-gqâschps, hilf mir!“ Er wankte hin und her, versuchte die Stiefel abzuschütteln, abzustreifen, abzureißen – vergebens. Nun schlug er in seiner Pein um sich, wandte sich gegen Sorla, doch alle Kraft hatte ihn verlassen. Schließlich brach er vor Hukari und Sorla zusammen. „Helft Uolghq’âpsch!“ jammerte er. „Helft mir armem Furz!“ „Weißt du, weshalb sich Hukaris Fuß verfing?“ fragte Sorla unbeeindruckt. „Ich war’s! Ich Unwürdiger habe den Spalt gezaubert! So hilf mir doch!“ Hukari wollte sich auf ihn stürzen, doch Sorla hielt sie zurück. „Versprich, Hukari in Ruhe zu lassen!“ „Ja, ja!“ Der Troll hielt bettelnd seine Pranken hoch und weinte. „Schwöre bei Ûr-gqâschps!“ „Ja, bei Ûr-gqâschps! Ich schwör’s! Ich lass‘ sie in Ruhe, ich bin immer ganz lieb, aber mach‘ diese fürchterlichen Stiefel ab!“ „Er lügt“, sagte Hukari unbeeindruckt, obwohl das Blut neben den Stiefeln schon kleine Lachen bildete. „Lass‘ ihn bei seinen Eiern schwören!“ Ein letztes Mal bäumte sich der Troll auf, dann wimmerte er: „Ja, bei allem, bei meinen Eiern, bei meiner Sippschaft, bei was du willst! Ich tu‘ alles, was du willst, aber hilf mir!“
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Sorla wollte die Knoten aufmachen, doch spannten die Riemen so sehr, dass ihm nichts übrig blieb, als sie mit seinem Messer durchzuschneiden. Dennoch waren die Stiefel dem Troll noch immer zu eng; Sorla und Hukari bekamen sie mit vereinten Kräften kaum ab. „Sieht ja schlimm aus“, murmelte Sorla mit einem Blick auf die zerquetschten Füße des Trolls. „Das heilt rascher als du denkst“, winkte Hukari. „Erkläre mir, wie hast du das angestellt?“ „Dieser Troll saugt mit seinen nackten Füßen die Zauberkraft aus der Erde.“ Uolghq’âpsch, der jammernd seine Füße betastet hatte, blickte überrascht hoch. „Die verfluchten Stiefel! Das war gemein von dir, Sorle-a-glach!“ „Ach, und als du Hukari in den Spalt stolpern ließest? War das lustig?“ „Wir Trolle sind halt so.“ Hukari verzog die Mundwinkel, um nicht zu lachen, und reichte Sorla seine zerrissenen Kleidungsstücke zurück: „Zieh dich an; du stehst hier wie ein Angebot, das du doch nicht einlöst.“ Der Kittel war noch brauchbar, die Hose am Bund aufgeplatzt. Sorla band sie mit einem Riemen zusammen, die Stiefel wusch er im Fluss aus, knotete sie mit einem zerschnittenen Riemenende zusammen und hängte sie zum Trocknen über seine Schulter. „Kommt mit zur Furt, ich zeige euch was.“ Er griff nach Hukaris Hand. Sie sah ihn fragend an, packte mit der anderen Hand den Zügel ihres Maultieres und ging mit. Uolghq’âpsch humpelte wortlos nebenher, das Lasttier folgte. An der Furt blieb Sorla stehen. „Uolghq’âpsch, ich werde dich jetzt jemandem zeigen!“ Und bevor dieser etwas sagen konnte, war der Troll verschwunden. Hukari war verblüfft, Sorla aber grinste zufrieden; in Gedanken bat er das Mädchen in der Buche, eine Zeitlang auf den Troll aufzupassen und zu prüfen, wie ehrlich dieser seinen Schwur gemeint hatte. „Hukari“, flüsterte er heiser, „jetzt möchte ich mein
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Angebot einlösen.“ Er führte sie hinter einen Felsen, von wo das Kind in der Buche sie nicht beobachten konnte. „Zwei Jahre waren eine verdammt lange Zeit!“ warf Hukari ihm noch vor, dann drängten sie an einander wie Verdurstende ans frische Quellwasser. Abends fanden Hukari und Sorla wieder Zeit zum Reden. Er sagte: „Es wird spät, ich muss weiter!“ „Kommst du nicht mit mir?“ „So sehr ich dich begehre, ich habe eine Aufgabe in Ekritmea, die mich dort bindet.“ Er erzählte von seinem Vater und dem Thron der Schlangenkaiser. Hukari, mit Tränen in den zornigen dunklen Augen, erwiderte: „Ich bin Die mit dem Drachen spricht, daher muss ich hier meinem Volk dienen.“ „Ich komme wieder.“ Und sie, mit abgewandtem Kopf: „Das werden wir sehen.“ Er blickte ihr nach, wie sie durch die Furt ritt und jenseits zwischen den Büschen verschwand. Als die Hufspuren verklungen waren, bat er das Kind, ihn in die Buche zu holen. Dort spielten der Troll und das Kind Ball –der Ball war ein Frosch. „He, Sorle-aglach, dein Kind ist ein Goldklümpchen auf dem Bachgrund! Bei Ûrgqâschps! Gefährlich wie eine Viper, klüger als meine Großtante, hübsch wie eine Dotterblume – und davon hast du zwölf, hat sie gesagt!“ „Aha? Ich kenne bisher elf.“ „Ja, eine hast du noch vor dir. Und da wartet eine Überraschung auf uns, hat sie gesagt.“ „Auf uns?“ Uolghq’âpsch rollte seine gelben Augen. „Sie sagt, es würde mir gefallen. Also will ich mitkommen.“ Sorla wandte sich seiner kleinen Tochter zu, die mit dem Frosch in der Hand gelangweilt wartete. „Er soll mit, sagst du?“ „Ja, Vater.“ Die grünen Augen in ihrem kleinen Gesicht blitzten. „Du wirst mit uns zufrieden sein.“ „Was soll man machen!“ seufzte Sorla. Uolghq’âpsch grinste schadenfroh. Das Kind ließ den Frosch fallen – er verschwand mitten in der Luft und landete wohl wieder draußen im Gras – und sah Sorla auffordernd an. „So, Vater!“ Mehr musste sie nicht sagen; Sorla
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lächelte, holte einen der Kämme heraus und begann ausführlich ihre dunklen Haare zu strählen. Sie seufzte und lehnte sich an Sorlas Knie, wobei sie ihre Klettenblätter festhalten musste. Uolghq’âpsch schaute neidisch zu und streichelte sich selbst, einen Daumen im breiten Maul. „Ich höre zu,“ lispelte das Kind, „wie du dir Namen überlegst. Das ist lustig. Aber Trollblume oder so will ich nicht heißen. Auch nicht Die-mit-Fröschen-wirft. Gib dir Mühe, Vater!“ „Dein Name“, sagte Sorla schließlich, „ist Dha-sy-Bato.“ „Wächterin der Bato-Furt? Sehr hübsch und klug“, lobte das Kind. „Und wem es zu lang ist, der darf mich Dhasy nennen – Wächterin der Furt ist in dieser Gegend eindeutig, es gibt ja sonst keine Furt weit und breit.“ Sie küsste ihn zum Abschied. „Und nun reiche ich euch weiter.“ * Das Mädchen, das ihnen entgegenblickte, hatte lange dunkelbraune Haare und war, so dachte Sorla, eine von den größeren Töchtern. „Ich bin die Älteste, verehrter Vater“, berichtigte sie ihn ernst, „fast vier Jahre, und heiße dich allhier willkommen!“ Sie benutzte die Gute Sprache der Berge in der würdevoll gestelzten Weise, wie Sorla es bei den Gnomen gehört hatte. „Man nennt mich Gmyndars; ich hoffe, du heißest den Namen gut.“ „Ein wunderschöner Name, Gmyndars“, antwortete Sorla und küsste seine Tochter auf die Stirn. Sie lächelte. „Hä?“ grunzte Uolghq’âpsch und haute sich mit beiden Pranken an den Kopf. „Ich versteh‘ nur Bachgemurmel. Sind meine Ohren krank?“ Sorla erklärte ihm, dies sei nicht die in Batiflim gebräuchliche Sprache und Gmyndars heiße so viel wie „Kluger Baum“. Das Mädchen lächelte über die Verwirrung des Trolls, aber
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nur wenig, denn sie schien eher ernsthaft zu sein. „Wir haben deiner geharrt“, fuhr sie fort. „Auch deines wunderlichen Reisegefährten, der, wie die kleine Dha-sy-Bato mir bedeutete, hier eine gewisse Rolle spielen mag.“ „Wer ist das: wir?“ Sie nahm Sorla und Uolghq’âpsch an je einer Hand, sagte: „Wohlan!“ und schon standen sie draußen auf einer dunklen Waldlichtung. Der Halbmond beschien mit silbernem Licht eine Gruppe riesiger Gestalten, vor denen eine andere Gruppe sehr kleiner Figuren kaum zu sehen war. Seitab ragte in einiger Entfernung innerhalb eines Kreises aus Felsblöcken ein großer Busch, geschmückt mit Federn und Bändern. „Jenes ist nicht meine Buche“, sagte Gmyndars, „sondern ein Frena geweihter Elsbeerenstrauch. Meine Buche hingegen steht hinter uns.“ Sie zeigte auf ein Bäumlein, das durch einen Kreis kleinerer Felsen ebenfalls von der restlichen Wiese abgesondert stand. Der Elsbeerenstrauch! In Sorla dämmerten frühe Erinnerungen auf. „Sind wir am Gnomfluss?“ fragte er stockend, denn die zunehmende Gewissheit, am Ort seiner Kindheit zu sein, überwältigte ihn. Das Mädchen drückte beruhigend seine Hand. „Fürwahr! Und jene dort kennst du auch!“ Eine der kleinen Gestalten drängte vor und rief: „He, Sorla! Erkennst du deinen Freund Gwimlin nicht mehr?“ „Gwimlin der Wandelbare!“ lachte Sorla und drückte den jungen Gnom ans Herz, wobei er sich hinknien musste. „Nun hast du schon einen Bart!“ Jener nickte stolz und zog an seinem waagrecht wegstehenden Spitzbart. Jetzt eilten auch andere Gnome herbei: Girsu der Dunkle, Gimkin der Vielseitige, Girlim der Schweigende, Gilse die Hilfreiche und viele mehr. Sie alle umdrängten ihn. Gwimlin verwandelte sich eingedenk alter Zeiten in eine fürchterliche Riesenraubschnecke, Gimkin entzündete durch Fingerschnippen ein Feuer, um den näheren Umkreis zu beleuchten: „Sonst laufen wir aneinander vorbei, wenn wir uns begrüßen wollen, so wahr ich
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Gimkin der Wegweisende bin!“ Alle redeten und lachten durcheinander. So sehr Sorla sich freute, es war ihm zugleich weh ums Herz, dass die Freunde seiner Kindheit, denen er früher geradewegs ins Auge sehen konnte, jetzt nur bis zu seiner Hüfte reichten. Nun trat Girsu vor. „Hochwerter Sorla! Grüßen sollen wir dich von Gneli dem Gewaltigen, der zum Reisen zu gebrechlich ist, auch von den anderen, welche die Pflicht im Pelkoll hält. Dieses kluge, gelehrige Dryadenkind fanden wir durch Atnes Hilfe, als wir hier Frena opferten und deiner verehrten Mutter Taina gedachten. Wir unterwiesen sie in der Guten Sprache der Berge, ergötzten uns an ihrem raschen Verstand und gaben ihr den Namen Gmyndars, ohne zu ahnen, dass du ihr Vater seist. Erst kürzlich, als du im fernen Ekritmea dein Töchterchen Myrna entdecktest, verbreitete sich die Kunde von dir unter all deinen Töchtern, die da erst gewärtigten, dass sie als Schwestern verbunden sind. Dadurch hast du Erstaunliches bewirkt, ähnlich den zwergischen Brückenzeichen: Was im fernen Ekritmea geschieht, kann in Stunden hier bekannt sein. Selbst du bist hierher gekommen, obwohl die Reise viele Wochen dauern müsste. Dies mag dir bei deinen Plänen helfen, das riesige Hernostische Reich zu lenken und zu verwalten!“ „Du hast recht!“ nickte Sorla. „Ähnlich drückte dies auch ein Atne-Priester in Agra aus. Was ich für meine Töchter tue, nützt zugleich dem Reich und meinem Vorhaben als Thronerbe, obgleich ich es nicht beabsichtigte.“ Girsu zog an seinem weißen Spitzbart. „Es ist höchst sonderbar, dass Atne dich gewählt hat, obgleich es dir an weitreichenden Gedanken mangelt. Du wirst Berater brauchen.“ „Auch das sagte der Atne-Priester.“ „Wir hörten es. Ein Meisterdieb soll dir helfen, Steuern einzutreiben.“ „Und mein Vater wird mir raten.“ „Vielleicht ist es deine Selbstlosigkeit, die dich vor anderen auszeichnet. Atne mag es wissen. Wir waren zunächst bestürzt, dass du zur Familie der Schlangenkaiser zählst, denn dir ist wohl erinnerlich, welche Furcht und Abneigung wir Schlangen gegenüber
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empfinden.“ Ringsum wippten weiße Spitzbärte in der Dunkelheit, um Girsus Aussage zu bekräftigen. „Oh ja!“ sagte Sorla. Immerhin war dies der Grund gewesen, weshalb er damals den Pelkoll verlassen musste. Girsu nickte. „Es hat damals nicht an mäßigenden, besonnenen Stimmen gefehlt. Ich war mit den Anfängen deiner Schlangenhaftigkeit am besten vertraut, denn ich teilte; wie du weißt, deine Erlebnisse am Norfell-Fluss. Deshalb wählte Gneli der Gewaltige mich aus, dich zu begrüßen. Er verkündete, Schlangenkaiser seien dem Gemeinwohl förderlich und mit gnomverschlingenden Grottenschlangen fürwahr nicht gleichzustellen. Was aber die Gnomenzeichen auf den Hebeln der Macht betrifft ...“ „Was wisst ihr davon?“ fragte Sorla überrascht. „Deine Töchter wissen um deine Sorgen, Gmyndars hat sie uns kundgetan. Daher hat Gneli der Gewaltige beschlossen, dass Golbi der Schreiber mich nach Ekritmea begleite, um diese Zeichen zu entschlüsseln. Gmyndars wird uns, sobald wir reisefertig sind, an Myrna in Ekritmea weiterreichen, wo wir hoffen, durch die Brunnenpriesterinnen an deinen Vater Tok-aglur verwiesen zu werden.“ Dies war eine freudige Überraschung. Sorla drückte Girsu ans Herz, und als Golbi hinzu trat, mit seinem altvertrauten klugen Gesicht, in dem sich noch ein Rest Vorbehalt gegen Schlangenhaftes malte, auch diesen. „Nun aber“, fuhr Girsu fort, „mache uns bitte mit deinem Gefährten bekannt.“ Sorla hatte den Troll fast vergessen, der auf der anderen Seite seiner Tochter mit erstaunlicher Geduld ausgeharrt hatte. Er nahm dessen Pranke und rief: „Dies ist Uolghq’âpsch, ein Troll und Zauberer aus den Bergen von Batiflim, und, da ich Blutsbruder einer Menschensippe dort wurde, die mit Trollen Umgang hat, weitläufig mit mir verwandt. Leider spricht er nur die Sprache von Batiflim, die dort aber von allen Trollen und Menschen und sogar Riesen benutzt wird.“ „Riesen!“ wisperten die Gnome ehrfürchtig.
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Uolghq’âpsch verstand zwar kein Wort, grinste aber freundlich und rollte seine gelben Tieraugen. Er reckte seinen massigen Körper, um ihn auf die Gnome wirken zu lassen. Da löste sich aus dem Dunkel, wo – von Sorla ganz vergessen – die mächtigen Gestalten als reglose schwarze Klumpen hockten, die allermächtigste und wuchtete ihren gewaltigen Leib nach vorne. Wie sie im Licht von Gimkins Feuer zum Stillstand kam, schien sie wieder ein graugrüner Felsblock zu sein, mit Flechten und Moos überzogen. „Sorle-a-glach!“ dröhnte das Felswesen in tiefem Bass. „Komm her!“ Zwei riesige Pranken streckten sich Sorla entgegen. „Bei Ûr-gqâschps!“ keuchte Uolghq’âpsch. „Was ist das?“ „Das ist meine Ziehmutter!“ entgegnete Sorla, und mit einem „Oh Laschre!“ sank er an den massigen Leib des Flusstrollweibs. Er fühlte sich von den riesigen Armen umfangen und genoss das Gefühl, das er seit seiner Kindheit entbehrt hatte: wahrhaft aufgehoben, geborgen, beschützt zu sein. Hier konnte ihm nichts geschehen. Sollten Wölfe sie angreifen, Laschre würde sie mit lässigem Hieb zerschmettern. Laschre würde aussehen wie jeder andere Felsblock am Ufer des Gnomflusses und, wenn es Zeit war, blitzschnell zuschlagen, ohne das Kind in ihrem anderen Arm auch nur aufzuwecken. Sorla seufzte glücklich. Aber da fühlte er, wie sich die Umarmung lockerte. Bevor er unwürdig zu Boden gefallen wäre, trat er zwei Schritte zurück und stand wieder neben Uolghq’âpsch. „Sorla, bring‘ deinen Freund her!“ dröhnte Laschre und zeigte auf diesen mit ihrer riesigen Pranke. „Sie ist doppelt so dick wie meine Großtante“, grunzte Uolghq’âpsch leise, „und die war mit Riesen verwandt! Will sie mich fressen?“ Er umklammerte Sorlas Arm. „Ich glaube nicht“, antwortete Sorla, „aber man kann nie wissen. Vielleicht braucht sie einen Liebhaber?“ „Bei Ûr-gqâschps!“ keuchte Uolghq’âpsch wieder. „Nur das nicht!“ Sein Zaudern half ihm nichts, Laschre packte ihn mit ihrer linken Pranke und hob ihn hoch. Sorla erinnerte sich, dass dies dem Troll die Zauberkraft nahm – er verspürte fast Mitleid. Die Gnome
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hatten sich abgewandt, sie schienen auf Unangenehmes gefasst zu sein. „Lass‘ sehen“, brummte das Flusstrollweib und begann Uolghq’âpsch mit zwei Fingern der anderen Pranke zu untersuchen. Sie zwängte sein Maul auf, um seine Zähne zu prüfen; sie befühlte seine Muskeln an Armen und Beinen; sie griff ihm zwischen die Oberschenkel. Er versuchte sich zu wehren, aber in ihrer Pranke war er hilflos. Schließlich stellte sie ihn auf den Boden zurück. „Gmyndars hat nicht zuviel versprochen!“ dröhnte ihr Befund über die nächtliche Waldlichtung. „Alles dran! Bloß die Füße sind schwächlich!“ „Das ist meine Schuld!“ meldete sich Sorla. „Sie heilen aber bald wieder!“ „Denke ich mir!“ Laschre winkte nach hinten, wo die restlichen mächtigen Gestalten saßen: „Kommt her, Kinder!“ Da erhoben sich diese und traten näher – zwei junge Männer und ein Mädchen. Sie waren größer als Uolghq’âpsch, aber von wohlgeformt menschlicher Gestalt, wenn auch mit Muskeln bepackt, die eher zu Riesen gepasst hätten. Auch ihre Hände und Füße waren ungewöhnlich groß, die Haut – sie waren nackt – graugrün, wozu die langen blonden, sonngebleichten Haare merkwürdig passten. „Meine Kleinen!“ dröhnte Laschre. „Die Karlek-hanan!“ „Das sind die Blonden Steine!“ flüsterte Sorla Uolghq’âpsch zu. Doch dieser gaffte auf die graugrüne junge Frau. „Ich armseliger Frosch!“ grunzte er. „Es zerschmettert mich, wie schön sie ist! Welche Wunder gibt es jenseits von Batiflim!“ Laschre schob ihre Tochter nach vorne. „Guck ihn dir an, Tek! Wenn du magst, nimm ihn!“ „Aber Mutter!“ flüsterte das riesige Mädchen mit überraschender Scheu. Sie entwand sich Laschres Griff und trat hinter ihre Brüder zurück. Diese grinsten und besahen sich von dort, wo sie standen, den Troll aus Batiflim, wobei sie sich lustige Bemerkungen zuflüsterten. Sorla merkte, dass dieser von dem, was gesagt wurde, nichts verstanden hatte, aber zunehmend unsicher und
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ärgerlich wurde. Gilse die Hilfreiche trat vor. „Verehrte Squompahinlaschre! Verzeihe deiner alten Freundin diese Einmischung. Deine Absicht, Tek einen passenden Gemahl zu verschaffen, zudem gar einen richtigen Troll, ist aller Ehren wert. Doch Tek ist jung und von zartem Gemüt. Auch Uolghq’âpsch dort, unser Gast aus der Fremde, muss mit mehr Rücksicht behandelt werden. Du hast ihn untersucht, wie man Forellen untersucht, ob sie Rogen im Leib tragen. Aber du hast ihn nicht gefragt, ob er auf Brautschau ist. Vielleicht hat er schon mehr Frauen, als ihm lieb ist? Vielleicht ist die liebreizende Tek ihm zu kräftig gebaut? Vielleicht will er sich nicht binden? Nun ist hier viel Verwirrung entstanden, zwei junge Seelen sind bestürzt, deine löbliche Absicht droht zu scheitern. So lasset uns das Willkommensfest feiern, welches wir Gnome vorbereitet haben, dann mag das eine zum anderen führen.“ „Wohl gesprochen, werte Gilse!“ rief Gimkin. „Das Fest möge beginnen, so wahr ich Gimkin der Glühwürmchenfreund bin!“ Plötzlich schwebten Hunderte von Glühwürmchen umher, die alles in ihr zartes Licht tauchten. Die Gnome schleppten Essen und Trinken herbei, und nun begann ein fröhliches Gelage. Teks große Brüder, Hunk-ho und Hunk-ha, führten einen Scheinkampf auf, wobei sie sich gegenseitig in die Luft warfen. Das ließ Uolghq’âpsch nicht ruhen. Er trat in die Mitte und zeigte seine Künste. Zunächst verwandelte er sich in einen Bären und tapste furchterregend brummend umher. Mit Sorla als Übersetzer erklärte er, einen solchen Bären habe er kürzlich mit nur zwei Fausthieben erschlagen. Die Gnome klatschten Beifall. Teks Brüder murmelten abfällig, da wäre schon ein Hieb zuviel der Mühe gewesen. Das brachte ihnen von ihrer kleinen Schwester je einen Schlag an den Hinterkopf ein, dass sie taumelten. Hunk-ho hielt ihr vor: „Gilse sagt, du hast ein zartes Gemüt, also benimm dich auch so!“ Dann verwandelte sich Uolghq’âpsch in Hukari. Das wühlte Sorla auf, zumal die Erscheinung nackt vor ihm stand. Nur die gelben Tieraugen, die ihm spöttisch zublinzelten, brachten ihn wieder zum Bewusstsein, dass er fast Uolghq’âpsch umarmt hätte. So aber musste er den Zuschauern erklären, so sehe, abgesehen von
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den Augen, seine Geliebte aus; sie sei das schönste Mädchen in ganz Batiflim und wohl auch das eigensinnigste, und zudem als Die mit dem Drachen spricht wichtiger als jedes Sippenoberhaupt. „Ja, das ist Liebe!“ seufzte Tek. „Er verehrt sie!“ „Uolghq’âpsch hat sie auch verehrt!“ platzte es aus Sorla heraus. „Was hast du über mich gesagt?“ flüsterte die scheinbare Hukari, und Sorla übersetzte es. Das brachte ihm einen derben Knuff ein, und alles lachte. Da verwandelte sich Uolghq’âpsch zurück in seine eigentliche Gestalt und rief etwas in der Sprache von Batiflim. Sorla musste es übersetzen: „Uolghq’âpsch will euch sagen, dass Hukari zwar hübsch sei, dass er sie mir aber gerne gönnt, denn nun weiß er, dass Laschres Tochter Tek das schönste Wesen ist, das die Welt hervorgebracht hat!“ Alles klatschte, die beiden Brüder johlten vor Vergnügen, dass jemand ihre Schwester für schön hielt. Laschre schwieg. Uolghq’âpsch hielt sich die Hände vor die Lenden, denn der Beweis seiner Zuneigung stand allen so deutlich vor Augen, dass es sogar ihm als Troll peinlich war. Tek aber war ins Dunkel des Waldrandes entflohen. „Hab‘ ich sie vertrieben?“ flüsterte Uolghq’âpsch, plötzlich wieder kleinlaut. „Was soll ich tun?“ „Ich würde ihr nachgehen“, riet ihm Sorla. So entfernte sich auch der Troll von dem Fest. Alle taten so, als hätten sie es nicht bemerkt, und feierten weiter bis in den frühen Morgen. Irgendwann kehrten Tek und Uolghq’âpsch Hand in Pranke wieder und setzten sich wortkarg, aber lächelnd dazu. Als der Morgen dämmerte und die Festgesellschaft sich auflöste, holte Gmyndars ihren Vater in die kleine Buche und ließ ihn lange schlafen. Er erwachte frisch gestärkt und begann den Tag damit, seine Tochter zu kämmen. „Du bist ernster als deine Schwestern“, sagte er. „Ich bin die Älteste, lieber Vater. Und ich bin nachdenklicher, denn bei den Gnomen lernte ich viel Bedenkenswertes, Vater.“ Sie verwendete nun statt der Guten
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Sprache der Berge die der Menschen von Ailat, wie sie auch am Abend zuvor Laschre zuliebe meist benutzt wurde. „Ich bin womöglich die einzige Dryade, die lesen und schreiben kann. Selbst meine Mutter ...“ Sie unterbrach sich. „Du kennst Ysalde?“ Das Mädchen nickte, Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ach Vater! Eine Mutter zu haben ist kein leichtes Schicksal!“ Sie legte ihr Köpfchen an seine Brust und begann leise zu erzählen: „Anfangs, ich war kaum in den ersten Sommer hinein gewachsen, da spürte sie, dass ich da bin. Und obwohl sie ja dir den Auftrag gab, Bucheckern zu verteilen, und es gut meinte, weil sie von dir etwas über Verantwortlichkeit und Mutterschaft und die Göttin Frena gehört hatte, war es ihr dennoch zuwider, mich in ihrer Nähe zu haben, obwohl sie es mich nicht merken lassen wollte. Ich bin, musst du wissen, die Dryade, die Ysalde am nächsten ist, kaum fünf Tagesreisen, meinen die Gnome. Später fanden mich die Gnome, als ich gerade auf der Wiese spielte. Sie waren sehr freundlich und lehrten mich viel. Doch nun wurde meine Mutter ärgerlich, dass ich klüger sein wollte als sie. Trotzdem kam es vor, dass sie mich was fragte, was sie unbedingt wissen musste. Dann fragte sie auf so herablassende Weise, dass ich mir bloß ja nichts auf meine Klugheit einbilde.“ Sie schluckte ein bisschen. „Inzwischen waren schon ein paar meiner Schwestern da, aber um die kümmerte sich Ysalde nicht; es war immer ich, an der sie sich ausließ.“ „Als ich deine Mutter kennenlernte“, sagte Sorla, „war sie schön, aber gedankenlos und ohne Mitgefühl. Sie hat große Fortschritte gemacht, musst du wissen. Dass sie mich aus ihrer Gefangenschaft entließ, war bemerkenswert. Vielleicht hilft es dir, wenn du an deine Mutter als an jemand denkst, der das Bestmögliche aus sich herausgeholt hat. Und du wirst größer, dann tun dir diese Gedankenlosigkeiten nicht mehr so weh.“ Er streichelte sie nachdenklich; ihm war seine eigene Mutter eingefallen, Fürstin Taina in ihrer fernen Burg von Brindhal. Sie hatte oft über seinen Vater geschimpft, der sie einst verließ. Das hatte Sorla weh getan, worauf sie aber nicht achtete. Gmyndars nickte. „Ich glaube, ich verstehe, was du meinst,
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Vater.“ Sie seufzte tief und setzte sich wieder gerade hin. „Ich weiß, du möchtest unverzüglich nach Ekritmea zurück. Ich habe aber den Auftrag von Ysalde, dich ihr weiter zu reichen. Wenn du willst, weigere ich mich, das zu tun.“ Sorla küsste sie auf die Stirn. „Mach dir keine Sorgen, Gmyndars. Sie wird Gründe haben, weshalb sie mich sehen will. Ich wünsche dir Freude.“ * Ysalde war so atemberaubend schön wie vor zwei Jahren. „Und das ändert sich die nächsten zweihundert Jahre nicht“, lächelte sie in Antwort auf Sorlas Gedanken. „Denn meine Buche ist groß und gesund.“ „Gmyndars sagte, du wolltest mich sehen.“ „Ja. Denn nur du kannst mir sagen, wie meine Töchter aussehen. Sind sie so schön wie ich?“ „Es sind Kinder, Ysalde. Aber sie werden alle sehr schön werden, das merkt man schon jetzt – jede auf ihre Weise. Aber auch sonst entwickeln sie sich ganz verschieden, und jede ist bemerkenswert.“ „Erzähle mir mehr!“ Also sprach Sorla über seine Töchter in der Reihenfolge, wie er sie kennenlernte: Myrna bei den Brunnenpriesterinnen in Ekritmea, Syrte im Garten des Heilbades zu Kaharad, Mynnenlete in ihrem unbekannten Wald, Mirre-wyn auf der dürren Hochebene von Batiflim, Hyldol beim Kleinen Volk der Minhiol östlich der Weißen Berge, Ildryste in der Bucht von Agra, Hirrendhyl und Noondhyl irgendwo westlich der Grauen Berge, Syardra im Garten des Goldenen Drachen, Tsyrryfx bei den Riesenratten, Dha-sy-Bato an der Furt des oberen Bato, Gmyndars auf der Lichtung am Gnomfluss. „Zwölf Töchter habe ich“, sagte Ysalde versonnen. „Du halfst mir, sie in der Welt zu verstreuen. Wer hätte gedacht, dass ich
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stolz bin, Mutter zu sein!“ Sie küsste Sorla auf die Stirn, und als er ihren Duft atmete und sie so dicht vor sich sah, regte sich seine Leidenschaft. Zugleich aber schob sich die Erinnerung an Hukari in sein Denken, und er besann sich. Ysalde lachte leise. „Als mein Liebhaber bliebest du jung und stattlich, solange es mir gefällt. Aber vielleicht ist deine Hukari etwas Besonderes, für die es sich lohnt, treu zu sein.“ Und dann, mit einem Aufblitzen ihrer alten Bosheit: „Jedenfalls werde ich noch jung und schön das Leben genießen, wenn ihr beide längst zu Erde zerfallen seid.“ Damit reichte sie ihn zu Myrna in Ekritmea zurück.
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Achtes Kapitel:
DIE HEBEL DER MACHT Neben Horell sahen die Gnome Golbi und Girsu besonders klein aus, obwohl er sich noch weiter vorbeugte als gewöhnlich und seine Ellbogen besonders eng an den Körper legte, um so wenig Platz zu beanspruchen wie möglich. Sie standen neben der riesigen Metallscheibe in Irkansels Turm und versuchten Sorla und Tok-aglur zu vermitteln, was sie herausgefunden hatten. „Diese gelehrten Gnome waren eine große Hilfe“, murmelte Horell. „Zwar sind mir die Gnomenzeichen selbst verschlossen geblieben, aber was sie mir vorlasen und wir dann gemeinsam aus altem Gnomenwissen und anderen Unterlagen zusammenfügten, ist erstaunlich. Demnach hat Sinn-he Fala der Leuchtende, der sagenhafte Begründer der hernostischen Dynastie, mit Hilfe von Gnomen und Zwergen insgesamt drei solcher Hebel der Macht geschaffen. Er brauchte sie, um das Tal von Batiflim über die Berge, die es umgaben, hinauf zu heben. Eine wunderbare Leistung! Ich wünschte, ich hätte diesen begnadeten Zauberer kennengelernt! Für die Hilfe der Zwerge und Gnomen musste Sinn-he Fala der Leuchtende jedoch große Zugeständnisse machen, vor allem wurden Verträge geschlossen, die gegenseitigen Gebietsgrenzen zu achten und einander gegen Eindringlinge und ähnliche Gefahren zu schützen. In der Kaiserlichen Bibliothek hier in Ekritmea fand ich Abschriften davon, doch gelten sie als geschichtlich überholte Merkwürdigkeit.“ „Menschen sind kurzlebig“, murrte Girsu der Dunkle, „und haben ein kurzes Gedächtnis!“ „Nun ja“, seufzte Horell. „Wir Zauberer arbeiten an diesem Problem. Sinn-he Fala der Leuchtende soll ja auch ungewöhnlich lange gelebt haben. Was aber diese Gnomenzeichen hier betrifft: Sie greifen auf die Tiefen Mysterien des Urgrundes und anderes gnomisches Geheimwissen zurück und beschwören unermessliche Kräfte. Zugleich wurde zwergisches Wissen um die Kräfte der Berge
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eingebunden und von Sinn-he Fala dem Leuchtenden zu seinen Zwecken gebündelt und ausgerichtet.“ „Das klingt ein bisschen allgemein“, warf Golbi der Schreiber ein, „aber unser großer Freund Horell hat in den letzten Tagen jedenfalls weit mehr Gnomenwissen erworben, als er in seiner Bescheidenheit zugibt.“ Horell errötete. „Nun ja, es ist eine Freude, wirkungskräftiges Wissen zu erwerben. Es hat mir ganz neue Bereiche des Zauberns eröffnet.“ Tok-aglur wurde ungeduldig. „Ich bin kein Zauberer und kein Gnom. Habt ihr etwas gefunden, was uns nützt?“ „Ja und nein“, antwortete Horell. „Erstens könnte man diese Hebel der Macht benützen, um, ähnlich wie es Sinn-he Fala der Leuchtende tat, Landstriche anzuheben oder abzusenken; beispielsweise könnte man die Hochebene von Batiflim wieder in ein Tal verwandeln.“ „Dann hätten wir kein Wasser mehr in Ekritmea“, antwortete Tok-aglur. Sorla schwieg, dachte aber an die schlafenden Zentauren von Batiflim und sein Versprechen, das alte Unrecht Sinnhe Fala des Leuchtenden wieder gutzumachen. „Zweitens wissen wir recht genau, wie diese Hebel der Macht zu bedienen sind. Wesentlich ist zum Beispiel, dass das große Gleichgewicht erhalten bleibt: Wenn ein Landstrich angehoben wird, muss im selben Maß und zur selben Zeit ein anderer abgesenkt werden, und man muss die Hebel gleichzeitig betätigen. Zu diesem Zweck sind auf der Platte auch zwergische Brückenzeichen angebracht, so dass man von einer zur anderen ...“ Sorla fuhr hoch: „Halt! Habe ich das richtig verstanden? Als Sinn-he Fala der Leuchtende das Tal von Batiflim anhob, hat er zugleich einen anderen Landstrich nach unten verschoben. Und welcher war das?“ Tok-aglur zuckte die Achseln. „Davon ist nichts überliefert. Es wird ein unwichtiger Höhenzug gewesen sein.“ „Es gibt keine unwichtigen Höhenzüge“, widersprach Girsu ärgerlich. „Wer lebte dort und wie wirkte sich die Verschiebung aus?“
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Golbi nickte. „Mein verehrter Freund Girsu hat natürlich Recht. Wir vermuten, dass der betroffene Landstrich irgendwo im Osten des Reiches liegt. Aber wir fragen uns, wieso Gnome und Zwerge der Einebnung eines Höhenzuges zustimmten und weshalb uns das Wissen darüber verloren ging.“ Horell murmelte: „Und das bringt uns zu einer weiteren Schwierigkeit: Wo befinden sich die einzelnen Hebel der Macht? Diesen hier haben wir mit Atnes Hilfe entdeckt, ein zweiter befindet sich im Norden, irgendwo südlich von Batiflim, gehütet von Zwergen ...“ „Ich weiß, wo!“ warf Sorla ein. „Vortrefflich! Der dritte befindet sich, so lauten Überlieferungen, unter der Obhut befreundeter Gnome. Leider wissen wir nicht wo.“ „Man könnte doch die zwergischen Brückenzeichen nutzen?“ fragte Sorla. „Daran dachten wir bereits. Girsu hat sich mutig darauf gestellt und verschwand aus unserem Blickfeld, er selbst aber hatte den Eindruck, er stehe in einem großen dunklen Raum mit drei solchen Platten. Auf der einen stand er, die anderen beiden waren leer. Es gab aber keinen Boden zwischen diesen Platten, auf dem er hätte hinüber gehen können. Da kehrte er zurück.“ „Dann hat sich das erledigt“, sagte Tok-aglur. „Am besten, wir versiegeln diesen Raum. Niemand kann wollen, dass die Tat Sinn-he Fala des Leuchtenden rückgängig gemacht oder irgendein anderer Landstrich verschoben wird.“ „Ich muss dir widersprechen, Vater!“ sagte Sorla. „Ich wäre froh, wenn wir herausfänden, wo sich der dritte Hebel der Macht befindet.“ * Sorla hatte sich vorgenommen, sich seinen Töchtern mindestens alle zwei Wochen zu widmen. Wenn er bei jeder eine
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Stunde zubrachte, war er abends wieder in Ekritmea. Von der ersten dieser eintägigen Rundreisen, wo er vor allem Kleidchen an die noch unbekleideten Töchter verteilte, kehrte er jedoch erschöpft zurück und beschloss, in Zukunft lieber nur sechs Töchter auf einmal zu besuchen. Das aber bevorzugte Myrna, die Kleinste, weil er jede Rundreise bei ihr antreten und beenden musste, und die anderen fanden es ungerecht, konnten Sorla aber nicht umstimmen. Beim nächsten Mal sagte Myrna, sie reiche ihn gleich an Syardra weiter, denn diese habe eine wichtige Mitteilung. „Aber Vater, muss ich auch so eingebildet reden, wenn ich älter bin?“ „Nein, mein Kind.“ Ein dankbarer Kuss, und schon war er unterwegs. Syardra lächelte ihm huldvoll entgegen und reichte ihm ihr mit Ringen geschmücktes Händchen: „Komm, Vater, der Herr des Gartens erwartet dich!“ Sie spazierten die Rosenbeete entlang; zwei Rehe äugten ihnen entgegen und ließen sich von Syardra streicheln. „Ich hörte“, hauchte sie, „dass Mynnenlete ein Reh getötet hat!“ „Es wollte ihre Buche abbeißen.“ „Ja, eine schreckliche Welt dort draußen! Ohne Ordnung und Schönheit! Sieh zu, Vater, dass wenigstens im Hernostischen Reich Ordnung einkehrt!“ Der Herr des Gartens stand vor dem Pavillon und sah ihnen entgegen. Seine goldenen Augen blickten hart, aber er bot Sorla einen Platz auf der Marmorbank an und setzte sich gegenüber. „Sorle-a-glach!“ begann er, ohne Sorlas Begrüßung abzuwarten, und seine Stimme klang weniger freundlich als sonst. „Ich hörte von Syardra, dass ihr die Spielchen mit Berg und Tal wieder aufnehmen wollt, die dein Vorfahre Sinn-he Fala einst trieb. Ich will genau wissen, was ihr plant. Wenn es mir gefällt, lasse ich euch gewähren.“ „Oh, oh!“ flüsterte Syardra. „Der liebe alte Drache hat schlechte Laune!“ „Ila-Syar-Dracunn-Dicheiensochamerur-komouma! Lasse uns allein!“ „Uh! Ganz schlechte Laune!“ Sie blinzelte Sorla zu, bevor
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sie sich zu den Rosenbeeten hinaus begab, um die Wege entlang zu tanzen und gelegentlich, ein Füßchen zierlich angewinkelt, an einer Blüte zu schnuppern. Die goldenen Augen glühten heiß auf. „Jetzt tut sie, als wäre sie zu unbedarft, um über den Rand eines Blütenkelches hinaus zu denken. Dabei hat sie vorher mir gegenüber deine Pläne verteidigt. Aber ich will deine Gründe von dir selbst hören.“ Sorla erzählt von der Stadt der Geister auf der verdorrten Hochebene von Batiflim, von Azluthos, dem Hüter des Herzen von Batiflim, und den dort unten schlafenden Zentauren. „Ich habe Arphelos versprochen, sein Volk nicht zu vergessen. Ich muss versuchen, ihnen die Heimat, die ihnen einst genommen wurde, wieder zu geben.“ „Wie kann das geschehen, ohne weiteren Schaden anzurichten?“ „Deine Frage, mächtiger Herr des Gartens, beschäftigt mich seit langem. Mein Vater hat mich gewarnt, wenn die Hochebene wieder zum Tal wird, fließt der Bato nach dort und unserer Hauptstadt fehlt das Wasser.“ „Und deine Tochter Dha-sy-Bato hat keine Furt mehr, die sie bewachen kann.“ Sorla nickte unglücklich. „Ich weiß, mächtiger Herr des Gartens. Und es gibt eine zweite Schwierigkeit: Wenn wir das Tal absenken, müssen wir einen anderen Landstrich anheben – nur welchen? Wir wird sich das auswirken? Wer verliert dann seine Heimat?“ Der Herr des Gartens lächelte. „Es ehrt dich, dass du die Fragen der Verantwortung für die Betroffenen über die Frage der Machbarkeit stellst, denn auch diese ist nicht geklärt, solange, wie ich höre, ihr den dritten Hebel der Macht nicht gefunden habt.“ Er bewegte die Hand in einer merkwürdigen Geste, da entrollte sich vor ihnen auf dem Marmortisch eine Landkarte. „Sieh, dies ist das Hernostische Reich. Es reicht im Wesentlichen von den Weißen Bergen im Nordwesten bis hinter die Hurknischen Sümpfe im Osten. Im Süden siehst du das Meer, doch zählen beispielsweise die kaburischen Inseln dort ebenfalls zum Reich. Batiflim hier im
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Norden gehört auch dazu, auch wenn die dortige Bevölkerung dies nicht gerne hört. Nun, welchen Landesteil würdest du anheben?“ Sorla deutete auf die kaburischen Inseln: „Was wäre damit?“ „Nicht schlecht. Man müsste zunächst Wendualo, den Gott der Meere, günstig stimmen, denn du greifst da recht unbescheiden in seine Rechte ein. Du würdest den kaburischen Seefahrern ihre Häfen nehmen; sie würden ihre Schiffe auf einem Berg wiederfinden und könnten Ziegenställe daraus bauen.“ Als er Sorlas besorgtes Gesicht sah, lächelte der Herr des Gartens. „Ich scherze nur. Deine Idee ist so schlecht nicht. In Wahrheit bekämen die Kaburen ein größeres Gebiet, mehr Küsten und damit mehr Möglichkeiten für Fischfang und den Bau von Häfen und Fischerdörfern.“ Sorla lächelte zufrieden. „Aber“, fuhr der Herr des Gartens fort, „dein Wasserproblem wäre damit nicht gelöst. Was von den kaburischen Inseln herab fließt, geht ins Meer wie zuvor. Ich erkläre dir jetzt, wie die Landkarte aussah, bevor dein leuchtender Vorfahr darin herumgepfuscht hat. Sieh die Hochebene von Batiflim, sie war damals das blühende Tal, in dem deine Zentauren friedlich mit Menschen zusammen lebten. Die Berge von Batiflim umgaben es wie ein Ring. Die Bäche an der Innenseite dieses Ringes bewässerten das Tal und bildeten einen kleinen See. An die Berge von Batiflim schloss sich im Osten eine Hügelkette an, die weiter nach Osten führte, die sagenhaften Hügel von Hurknos. Der kleine See im Tal von Batiflim floss hier nach Nordwesten ab, sein Wasser sammelte sich mit dem der Bäche an den nördlichen Hängen, blieb nördlich der Hügel von Hurknos und gelangte bald in die Dusa, einen großen Strom, der nach Norden führt. Den Bato, der nach Süden fließt, gab es schon damals; er wurde gespeist von den Bächen an den südlichen äußeren Hängen. Das war nicht viel, und der Bato schaffte es nur bis kurz vor Hernoste, wo er versickerte und verdunstete. Nun hob Sinnhe Fala das Tal an – leider war ich damals noch zu jung, um ihm das Handwerk zu legen – und alles floss in den Bato, zur Freude deiner Vorfahren. Denn nun konnten sie auch die Gegenden südlich von Hernoste besiedeln und im neu geschaffenen Mündungsgebiet des
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Bato die Hafenstadt Ekritmea anlegen. Damit aber das Tal angehoben wurde, mussten die Hügel von Hurknos eingeebnet werden. Das Wasser, das an den nördlichen Hängen der Berge von Batiflim herunter fließt, gelangte nun nicht mehr in die Dusa nach Norden, sondern sammelte sich und bildete die Hurknischen Sümpfe, eine Brutstätte von Krankheiten und ein Tummelplatz böser Wesen. Das hatte dein Vorfahr nicht vorausgesehen.“ Der Herr des Gartens lehnte sich zurück und blickte Sorla aus seinen harten goldenen Augen an. Dieser aber betrachtete noch immer die Landkarte. „Mächtiger Herr des Gartens, was ist das hier?“ fragte er und zeigte auf eine kleine Erhöhung inmitten der Hurknischen Sümpfe. „Hurkoll, der höchste Punkt der ehemaligen Hügel von Hurknos. Früher lebten dort Gnome. Was nun dort vorgeht, weiß ich nicht.“ „Man müsste“, überlegte Sorla, „die Hügel von Hurknos wieder anheben. Dann würde der Sumpf zu gutem Land werden.“ „Das ist wünschenswert, löst aber nicht dein Wasserproblem. Denn dann fließt das Wasser wieder nach Norden und verschwindet in der Dusa.“ „Ich danke für den Hinweis, mächtiger Herr des Gartens. Könnte man die Hügel irgendwie schräg anheben, so dass sie das Wasser nach Süden statt nach Norden leiten? Dann flösse auch dieses Wasser in den Bato, das müsste reichen.“ „Das ginge schon, reicht aber nicht als Gegengewicht, um die Hochebene von Batiflim weit genug abzusenken, dass es wie früher ein blühendes Tal wird.“ „Gut, dann müssen wir nicht nur die Hügel von Hurknos, sondern auch die kaburischen Inseln etwas anheben. Beides zusammen müsste reichen.“ Der Herr des Gartens lächelte. „In zwei Schritten wäre das zu schaffen. Ich freue mich, dass du diese Lösung gefunden hast. Deine Tochter will, sobald du es ihr erlaubst, über ihre Schwester Ildryste in Agra dem Atne-Priester Zletschko mitteilen, er möge seine kaburischen Landsleute rechtzeitig vorwarnen, dass ihre Inseln vielleicht demnächst etwas weiter aus dem Meer ragen.“
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„Sie hat das alles vorhergesehen?“ „Nun ja, es ist die bestmögliche Lösung und sie vertraut auf deine Klugheit.“ Sorla lächelte. „Ich danke für das unverdiente Lob, mächtiger Herr des Gartens. Denn es waren deine Einwände, die mich eine Antwort finden ließen, auf welche meine Tochter schon vorher kam.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „In deiner Großmut sagtest du, von hier aus könne ich fast jeden Ort erreichen. Ich muss mit dem Zwerg Murlingir reden. Er lebt in den Wäldern südlich von Batiflim und bewacht einen Hebel der Macht.“ Der Herr des Gartens nickte. „Ich kenne den Ort, du wirst in der Nähe ankommen. Den Rückweg musst du jedoch alleine finden.“ Mit einem nachlässigen Nicken entließ er Sorla und wollte auch keine Dankesworte mehr hören. Syardra kam ihm entgegen. „Das hast du wunderbar gemacht, lieber Vater!“ flötete sie. „Dann kann ich ja gleich meine Botschaft an Zletschko in Agra schicken!“ „Er soll verstehen, wie wichtig es für das Hernostische Reich ist, was es für die Zentauren bedeutet, und erkläre ihm, welchen Vorteil es für die Kaburen bedeutet.“ Syardra lächelte. „Du kannst dich auf mich verlassen, lieber Vater. Nun wünsche ich dir eine gute Reise. Der liebe alte Drache will, dass du diesen Weg hier nimmst!“ Sie winkte ihm noch nach, als er bereits weit in den immer düster werdenden Gang geschritten war. Dann war sie plötzlich verschwunden. * Er stand mit dem Rücken zu einem von der Sonne gewärmten Felsen, aus dem er offenkundig eben herausgetreten war, auch wenn es dort keinen Ausgang gab, keine Höhle, nicht einmal einen Spalt. Vor ihm lag eine kleine Wiese, die zu einer Felswand hinauf führte, wo eine dunkle Höhlung gähnte – Murlingirs Behausung, wie Sorla sich erinnerte.
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„Hoho, Murlingir!“ rief Sorla in der Guten Sprache der Berge. „Hier steht Sorle-a-glach und will mit einem tüchtigen Zwerg einen Krug Met leeren!“ Ein Pfeil zischte dicht an seinem Bein vorbei. Sorla warf sich zur Seite und entging so dem zweiten, besser gezielten. Mit drei Sprüngen war Sorla in Deckung und wechselte zu einem anderen Felsen, hinter dem er vorsichtig hervor lugte. Ein Mann erschien im Höhleneingang, vom seitlichen Felsen halb gedeckt. Er hielt den Bogen gespannt und blickte suchend umher, ohne aber Sorla zu entdecken. Nach einer Weile zog er sich zurück. Sorla vermutete, dass er dennoch im dunklen Bereich hinter dem Eingang verborgen lauerte, und blieb selbst in Deckung. Er ärgerte sich, dass er schon wieder den wunderbaren Bogen, den ihm Memlik schenkte, in Ekritmea gelassen hatte. Er wollte ja nur ein paar Töchter besuchen, da braucht man keine Waffen, hatte er gedacht. „Oh Atne!“ seufzte er. Jetzt kam der Mann heraus, ein zweiter, mit einer kurzen Axt bewaffnet, folgte ihm. Sie verständigten sich durch Zeichen; wenn sie einmal sprachen, dann leise im kratolischen Dialekt. Sorla wurde schnell klar, dass sie dabei waren, die nähere Umgebung der Höhle nach ihm abzusuchen. Was sollte er tun? Er hatte zwar Schlangenzahn, sein Wurfmesser, das reichte aber nur für einen von ihnen. „Der Zwerg geht mir auf den Sack“, murmelte der eine. „Nicht mehr lange. Sobald er das Kettenhemd fertig hat ...“ Der andere machte die Geste des Kehledurchschneidens. Sorla duckte sich tiefer hinter seinen Felsblock und huschte, als die Gelegenheit günstig war, hinüber zu einem breiten Baumstamm, von dort weiter zu einem Gebüsch und dann zu einem Felsbrocken neben dem Höhleneingang. Dort verharrte er und lauschte. Von drinnen erklang regelmäßiges Hämmern in hohem metallischem Klang. Das musste Murlingir sein. Sorla schaute vorsichtig um die Ecke, wobei er darauf achtete, den Felsblock im Rücken zu haben, so dass er keinen eigenen Schatten in die Höhle warf. Er sah in der Ecke Murlingir, geknebelt und mit den Füßen an
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den Amboss gefesselt, bei seiner Arbeit. Drei Schritte weiter saß auf einer Kiste ein Mann, einen derben Stecken in der Hand, und sah dem Zwerg bei der Arbeit zu. Sorla warf Schlangenzahn, der Mann brach tot zusammen. Rasch holte sich Sorla das Messer wieder und durchschnitt Murlingirs Fesseln. Dieser riss sich aufatmend den Knebel aus dem Mund, doch bevor er zu Dankesbeteuerungen ansetzen konnte, hob Sorla warnend die Hand: draußen knirschten Schritte im Geröll, die Männer näherten sich. Murlingir nickte, stellte sich neben den Amboss und hämmerte weiter, als sei nichts gewesen. Seine Streitaxt stand in Griffweite. Gleichzeitig hatte Sorla den Toten beiseite geschleift, dann versteckte er sich neben dem Eingang. Schon kamen die beiden Männer herein, die Höhle verdunkelte sich. „Wo steckt dein Bruder?“ wunderte sich der eine. „Da ist was faul!“ Er drehte sich um, doch da stak schon Schlangenzahn in seiner Brust und er fiel hintüber. Bevor der andere sich auf Sorla werfen konnte, hatte ihm Murlingir seine Streitaxt in den Rücken gehauen, dass sie bis zum Stiel versank. „Willkommen, Freund Sorle-a-glach!“ rief Murlingir in der Guten Sprache der Berge und wollte diesem beide Hände auf die Schultern legen, doch der Bart war im Wege. „Das war rechtzeitig geholfen, beim Barte Brothenfimpirs! Diese Schurken hätten mich ermordet, sobald dieses Kettenhemd geschmiedet ist.“ Er grinste, doch wegen seines Bartes war dies nur durch die Fältchen an seinen Augenwinkeln zu erahnen. „Dabei ist die Arbeit längst beendet, ich habe aber behauptet, der Draht reiche nicht. Jetzt habe ich genug, um zwei weitere Hemden zu fertigen.“ Sie schleppten die Leichen aus der Höhle und begruben sie im Wald. Sorla half Murlingir auch, die Unordnung, welche die drei Strauchdiebe in dessen Höhle hinterlassen hatten, zu beseitigen; das dauerte den restlichen Tag. *
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„Was fange ich mit dem Kettenhemd an?“ fragte sich Murlingir mit vollem Mund und prostete Sorla mit dem Metkrug zu. „Mir ist es zu eng. Am besten, ich schenke es dir!“ Das Hemd überzustreifen, gelang nur mit Mühe, da beide nicht mehr nüchtern waren und Murlingirs Hilfe eher störte. Dann aber merkte Sorla, wie leicht und angenehm es sich trug. „Sei bedankt, Murlingir“, sagte er, „für dieses vortreffliche Geschenk!“ Murlingir hob den Schnauzbart an, um einen Schluck Met zu trinken, dann setzte er Krug und Schnauzbart wieder ab. „Die Machart dieses Hemdes“, erklärte er, „ist eine Erfindung meines Onkels Fenruthin.“ Von diesem berühmten Forschenden Zwerg hatte Sorla schon gehört. „Hatte Fenruthin etwas mit den Hebeln der Macht zu tun?“ Murlingir blickte überrascht von seinem Krug hoch. „Was weißt du davon?“ Sorla erklärte es ihm ausführlich, und Murlingirs Gesicht wurde immer gespannter, Metkrug und Rentierkeule blieben unbeachtet. „Beim Barte Brothenfimpirs!“ murmelte er, als Sorla geendet hatte. „So werden die alten Verträge wieder gewürdigt! Und du strebst nach dem Kaiserthron. Das muss ich König Hurmothin schreiben, gleich morgen!“ Sie saßen bis spät in die Nacht, erzählten und tranken. Entsprechend lange schlief Sorla in den nächsten Morgen hinein und erwachte erst, als ihn Murlingir, einen Topf frischen Minzetee in der Hand, weckte. „Ich schaute beim Brückenzeichen nach, die Antwort aus den Weißen Bergen ist schon da.“ „Und?“ fragte Sorla und griff sich nach dem schmerzenden Kopf. „Ich lese es vor.“ Der Zwerg räusperte sich und begann feierlich: „Sage Sorle-a-glach: Ich grüße ihn und wünsche ihm Erfolg bei all seinen Vorhaben. Seit er mit beherztem Handeln Murlingir vor den Räubern rettete, stehen wir noch mehr in seiner Schuld. Vom Schicksal der Zentauren haben wir gehört – sein Plan, ihnen ihr Recht zu geben, ist gut. Murlingir soll Sorle-a-glach mit den Hebeln der Macht behilflich sein. Diesen Brief sprach der König
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dem Dienenden Zwerg Hurtin in die Feder. Höret die Worte des Königs!“ „Na also“, sagte Sorla. Murlingir nickte, dass sein Bart wippte. „Es freut mich, dass König Hurmothin dir so wohlgesonnen ist. Trinke deinen Tee, dann wollen wir uns an die Arbeit machen.“ So geschah es. Auch dieser Hebel war eine riesige, quer liegende Metallscheibe mit Unmengen von Gnomenzeichen. „Ich brauche diese Gnomenzeichen nicht lesen zu können“, bemerkte Murlingir abfällig. „Ich weiß auch so, wie man diese Hebel bedient.“ „Und wo ist der dritte Hebel?“ „Das weiß ich nicht, aber ich kann dich hinbringen.“ Murlingir kletterte mit Sorla auf die Scheibe. „Dieser Teil drüben ist eine Art Brückenzeichen“, sagte er. „Es wirkt ähnlich wie das Brückenzeichen, mit dem ich Brief und Verpflegung aus den Weißen Bergen erhalte. Wenn du dich darauf stellst, siehst du die beiden anderen Hebel.“ Sorla nickte; das hatte ihm schon Horell erzählt. Murlingir fuhr fort: „Der Kniff ist, du musst in die Richtung eines der anderen Hebel springen, auch wenn du denkst, er sei zu weit entfernt und du fällst ins Bodenlose.“ „Und wenn ich zu kurz springe?“ „Das ist unwichtig. Nur der Wille, drüben anzukommen, zählt.“ „Dann sei bedankt, Freund Murlingir. Wenn ich deine Hilfe brauche, um das Tal der Zentauren zu heben, lasse ich es dich wissen.“ Der Zwerg nickte ernst. „Ich erwarte dies mit Vorfreude. Atne sei mit dir!“ Noch einmal umarmten sich die beiden, dann betrat Sorla den Teil der Scheibe, den der Zwerg ihm gezeigt hatte. Mit einem Mal war er ganz allein in einem unbegrenzten dunklen Raum. In der Ferne schwebten zwei Scheiben – eine links von ihm, die andere rechts, so dass sie zusammen mit der, auf welcher er stand, ein gleichmäßiges Dreieck bildeten. Darunter war nichts außer Dunkelheit. Sorla atmete tief durch, seufzte „Oh Atne!“ und sprang
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in Richtung der rechten Scheibe. Einen kurzen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke, dies sei ein grässlicher Fehler gewesen, er werde in die Tiefe stürzen, doch dann stand er wohlbehalten auf der anderen Scheibe. Er trat von dem Brückenzeichen weg, hin zum Rand der Scheibe, da verschwanden die anderen Scheiben und er befand sich in einem dunklen Raum. Im nächsten Augenblick erglomm sein Glygi im wohlvertrauten hellblauen Schimmer. Sorla erkannte, dass er in Irkansels Turm war. „Sehr gut“, murmelte er, verließ die Scheibe, kletterte die Leiter hoch und öffnete die Falltür zum großen Saal. Da stand Horell und las in einem dicken Wälzer. Lamponu saß auf seiner Schulter und las mit. „Jetzt hättest du mich fast erschreckt, mein Lieber!“ murmelte Horell. „Aber ich habe damit gerechnet, dass früher oder später hier jemand auftaucht, der die Hebel der Macht zum Reisen benutzt.“ „Und wenn es ein Feind gewesen wäre?“ „Ich habe ein Siegel angebracht, das den Ankömmling auf seine Gesinnung überprüft. Wer mit guten Absichten kommt, darf durch, jeder andere würde – je nach dem Grad seiner bösen Absichten – abgewiesen, an einen fernen Ort gesandt oder gar zerschmettert.“ Er legte seine Ellbogen noch dichter an seinen Leib, um die Wirkung des harten Wortes abzumildern. Lamponu dagegen sprang kreischend umher und beruhigte sich erst, als Horell ihm einen Apfel zuwarf. Sorla überdachte das Gehörte. „Klingt beruhigend. Aber wenn jemand einfach aus Neugier kommt und erst später böse Absichten entwickelt? Ich wusste beispielsweise nicht, dass ich hier lande, es hätte ja auch ganz woanders sein können. Und überhaupt, was heißt hier böse? Dass man sich nicht heimlich einschleichen will, sondern hier sozusagen zu Hause ist? Da könnte ja auch ein Freund von Irkansel kommen.“ Horell lächelte schwach. „Das ist alles bedacht. Ich habe als Maßstab die Einstellung zur Dynastie der Schlangenkaiser genommen. Dabei setzte ich natürlich voraus, dass du und deine Familie gute und dem hernostischen Volke förderliche Absichten
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habt. Außerdem wird jeder, der nicht durchgelassen wird, gewarnt. Eine Stimme sagt ihm, er solle umkehren, er sei hier nicht erwünscht.“ „Das klingt schon besser. Andererseits – jemand mit deinem Wissen wüsste sicher einen Weg, dennoch durch die Sperre zu kommen, oder?“ „Durchaus.“ Horell nickte bekümmert. „Ich habe ein zweites Siegel angebracht, unsichtbar natürlich, das genau darauf anspricht. Sollte sich jemand mit besonderer magischer Kraft nähern, dann erschallen hier oben zwei Gongs, so dass man nicht überrascht werden kann.“ „Aber wenn du wieder nach Ailat zurückkehrst, in deinen Turm, was dann?“ „Wenn ich nicht hier bin und jemand mit besonderer magischer Macht versucht einzudringen, dann geschieht etwas, worauf ich wirklich stolz bin: seine magische Macht wird abgesaugt und dafür verwendet, ihn dahin zurückzuschicken, wo er herkam. Falls dann noch magische Macht übrig sein sollte, wird sie verbraucht, indem er eine entsprechende Zeit lang völlig geschwächt und handlungsunfähig ist. Das wird ihm eine Lehre sein!“ Er lächelte bescheiden, wurde aber etwas abgelenkt, weil Lamponu ihn von seinem Apfel abbeißen lassen wollte. „Horell, ich muss den dritten Hebel der Macht aufsuchen. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Worauf soll ich achten?“ Horell beugte sich noch ein bisschen weiter vor. „Mein Lieber, da gibt es vieles, auch Schreckliches. Am besten, ich begleite dich, wenigstens das erste Stück. Ich bin auch neugierig, wie man die Hebel zum Reisen nutzt.“ Sorla umarmte seinen Freund. * Zunächst versah sich Sorla mit Reiseverpflegung, holte seinen Bogen und einen gefüllten Köcher, dann verabschiedete er
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sich von seinem Vater. „Nur Atne weiß, was auf mich zukommt“, sagte er. Unter seinem Kittel spürte er Murlingirs Kettenhemd. „Lasse mich statt deiner gehen“, sagte Tok-aglur. „Du wirst gebraucht. Du sollst Schlangenkaiser werden.“ „Eben deshalb muss ich das tun.“ „Mein Junge, ich habe Angst um dich. Lass‘ mich statt deiner gehen!“ Sorla schüttelte den Kopf. „Du warst dagegen, dass man die Hochebene von Batiflim wieder absenken sollte. Dies ist meine Aufgabe. Kümmere du dich um die Neuregelung der Wasserversorgung. Du weißt da sowieso besser Bescheid. Morgen treffen sich die Bürgermeister der südlichen Städte im ...“ „Ich weiß“, sagte sein Vater und umarmte ihn zum Abschied. Dann ritt Sorla zur Kaserne der Feuerreiter und suchte Agish auf. „Oh, Sorla gibt uns die Ehre!“ Das klang trotzig und ablehnend, aber Agish hielt den Kopf gesenkt, unter den roten Locken waren seine Augen nicht zu sehen. Sorla legte seine Hand auf Agishs Schulter. „Mein Lieber“, sagte er, „Ich muss verreisen. Wie es ausgeht, weiß nur Atne.“ Agish schaute zum ersten Mal Sorla ins Gesicht. „Und weshalb kommst du hierher?“ „Bei unserem letzten Treffen sagtest du, ihr Feuerreiter wolltet mich im Auge behalten, dass ich meinen Einfluss nicht missbrauche. Diese Furcht ist unbegründet und ich war verärgert. Aber dann fiel mir ein, dass wir tatsächlich Leute brauchen, die darüber wachen, dass niemand seine Macht missbraucht – gewissermaßen Feuerreiter, die Brände im Gebäude des Hernostischen Reiches löschen oder, noch besser, verhindern. Und falls ich nun längere Zeit ...“ Agish hob die Hand. „Schon begriffen. Solch eine Truppe wäre sinnvoll. Es sollte auch jemand darüber wachen, dass dieser S’lambo aus Agra, den du mit Steuerdingen betraut hast, nicht in alte Angewohnheiten zurückfällt. Du hast viel Vertrauen in die Menschen.“ Überraschend lächelte er. „Vielleicht ist das der Grund, weshalb man auch Vertrauen in dich setzen kann. Daher denke ich,
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was du vorschlägst, hat Zeit, bis du wiederkehrst. Ich will dich begleiten.“ Sorla blickte Agish überrascht in die grüngelben Augen, dieser errötete. „Nun ja“, stammelte er, „ich vermisse die Zeit, als wir gemeinsam in brennende Häuser gingen und einer sich auf den anderen verlassen konnte.“ „Ihr seid doch eine große Gruppe?“ „Sicher, aber du warst unser Vorbild, nun muss ich das sein. Es ist nicht leicht.“ „Mein Lieber!“ Sorla schloss Agish in die Arme. „Gerne würde ich dich mitnehmen, aber ich möchte dein Leben nicht auch noch aufs Spiel setzen.“ Agish trat einen Schritt zurück und lächelte. „Du unterschätzt mich, Sorla. Wir Illmani sind eine sehr alte Familie. Als du das Erlebnis im Palast hattest, mit Takilis und seinen merkwürdigen Fledermäusen, waren alle, die davon hörten, erstaunt. Aber wir nicht. Unsere Familie besitzt Aufzeichnungen, die in Zeiten vor Sinn-he Fala dem Leuchtenden zurückführen. Ich weiß eine Menge über die Svampi, diese Fledermäuse.“ „Du irrst dich, Agish. Ich suche nicht nach diesen Fledermäusen.“ Doch Agish ließ sich nicht von seinem Entschluss abbringen, Sorla zu begleiten. Mit einem Rest spöttischen Trotzes erklärte er, so besser darauf achten zu können, dass Sorla nicht seine Macht missbrauche. * Sorla trat als erster auf den Bereich der Brückenzeichen. Der Rucksack mit Deckenrolle und Seil drückte schwer auf seine Schultern. Wieder stand er alleine in der unendlichen Dunkelheit. In der Ferne schwebten die anderen beiden Scheiben. Die linke, vermutete Sorla, war die in Murlingirs Höhle. Also sprang er, den bodenlosen Abgrund unter sich, in Richtung der anderen. Drüben
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wandte er sich um und winkte den kleinen Gestalten Agishs und Horells auf der fernen Scheibe zu, ihm zu folgen. Um ihnen Platz zu machen, trat er von den Brückenzeichen weg zum Rand der Scheibe und zugleich in völlige Dunkelheit. Doch schon glomm sein Glygi in hellblauem Licht auf. Sorla blickte sich um, er befand sich in einer riesigen, zerklüfteten Höhle, deren Ausdehnung erst zu sehen waren, als der Glygi umher schwebte und alles beleuchtete. „Grauenhaft“, flüsterte Horell neben Sorla. Seine Ellbogen lagen ganz eng am Oberkörper, sein Äffchen hielt er an seinen Bauch gepresst. „Es ist nicht einfach, die Angst vor dem Sturz ins Leere zu überwinden.“ Gleich darauf erschien auch Agish und stieg vom Rande der Scheibe herab. Eine Zeitlang schwieg er und hielt sich mit geschlossenen Augen am Rand der Scheibe fest. Sorla legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, nebenher beobachtete er, wie sein Glygi mit seinem hellblauen Schimmer höher und höher unter die zerklüftete Decke der Höhle hinauf schwebte. Plötzlich verschwand er – alles war finster. „Seid leise“, warnte Sorla. Er wusste, dass sein Glygi sich versteckte, wenn sich jemand näherte. Aber nichts geschah. Nach einiger Zeit erklang ein leises Räuspern in der Finsternis. „Vielleicht lebt hier jemand und es wurden Vorkehrungen getroffen“, murmelte Horell in der Finsternis neben Sorla. „Dein Gnomenstein ist geballte Magie. Vielleicht hat er sich dadurch verraten und ist in eine Falle geraten.“ „Jedenfalls brauchen wir Licht“, entgegnete Sorla. „Wir können hier nicht ewig stehen bleiben.“ „Sofort.“ Doch Horells Zauberspruch misslang, alles blieb finster. Lamponu begann leise zu wimmern. „Wie ich befürchtete“, murmelte Horell. „Die Vorkehrung gegen Magie ist in Kraft getreten. Hier müssen mächtige Zauberer leben!“ Seine Stimme klang beim letzten Satz fast schon begeistert. „Sehr interessant. Ohne Licht können wir aber nichts tun.“ Neben Sorla wisperte Agish: „Ich habe eine Laterne mitgebracht. Soll ich sie anzünden?“ „Ak’men sei Dank!“ antwortete Sorla leise. „Wenigstens einer, der sich nicht auf Magie verlässt.“
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Es dauerte aber einige Zeit, bis Agish mit Stein und Stahl einen Funken erzeugt und den Zunder zum Glimmen gebracht hatte. Dann entzündete er den Docht seiner Laterne, und zumindest im Umkreis von vier, fünf Schritten konnten sie sich wieder umschauen. „Nun ja“, seufzte Horell. „Man muss bescheiden sein.“ Sie gingen vorsichtig in die Richtung, wo sie vorhin die Höhlenwand gesehen hatten, und begannen, dort angekommen, die Höhle an der Wand entlang zu umrunden, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden. Nach einer Stunde sorgfältiger Suche und gelegentlichen Kletterns über herabgefallene Brocken kamen sie an, wo sie losgegangen waren. „Wir könnten ja einfach wieder zurück nach Ekritmea!“ schlug Agish vor und wies auf die Scheibe in der Mitte der Höhle. „Ich würde gerne wissen, wer hier solch mächtige Zauber wirkte“, entgegnete Horell. „Ich kann meinen Glygi nicht im Stich lassen!“ sagte Sorla fast gleichzeitig. Agish setzte sich auf den Felsboden. „Na, dann lasst euch was einfallen!“ Sorla streifte den schweren Rucksack ab. Das Seil legte er sich über die Schultern und begann die Höhlenwand hinaufzuklettern. Bald war er außerhalb des trüben Lichtes, das die Laterne warf. Doch mit seiner Elfensicht konnte er noch immer deutlich Spalten und Vorsprünge erkennen und sich so höher hinauf arbeiten. Eine Stelle war geeignet, um das Seil in der Mitte zu befestigen. Das eine Ende hing bis zu Horell und Agish hinunter, das andere legte Sorla sich wieder um den Leib – aber so, dass er, falls er den Halt verlor, nicht allzu tief fiel. Beruhigter kletterte er weiter. Jetzt sah er weiter oben eine Öffnung. Ungefähr hier war sein Glygi verschwunden. Ob das der Ausgang war? Vorsichtig, Armlänge um Armlänge, zog er sich höher hinauf. „Ak’men hilf!“ flüsterte er mehrfach, denn die Höhlenwand neigte sich immer schräger nach innen, je höher er kam. Zweimal rutschte er mit einem Fuß ab, doch beim ersten Mal hatten seine Finger einen guten Halt und er konnte sich wieder hochziehen, beim zweiten Mal hatte er schon vorher seine Hand in eine Spalte gesteckt und dann zur Faust geballt, so
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dass sie sich verkeilte und ihm den nötigen Halt bot. Atne sei Dank, dachte er, dass er seinerzeit als Diebeslehrling das Klettern gelernt hatte! Jetzt zog er sich über den Rand der Öffnung, streckte seine Hand in die Dunkelheit dahinter und fand ebenen Boden. Er kroch ein wenig weiter, vorsichtig den Boden vor sich abtastend, dabei stieß er auf einen kleinen runden Stein, der sich anfühlte wie sein Glygi. Doch dieser Stein schmiegte sich nicht an ihn, sondern lag leblos und schwer in seiner Handfläche. Dennoch – es gab keinen Zweifel – war dies sein Gnomenstein. Was war ihm zugestoßen? Sorla steckte ihn in die Tasche wie einen kleinen toten Vogel. Die Augen brannten ihm vor Wut und Trauer. Nun, den Glygi hatte er gefunden, sein Ziel somit erreicht. Doch statt umzukehren, befreite er sich von den restlichen Schlingen des Seils, verknotete dessen Ende und verkeilte es in einem Felsspalt. Versuchsweise ruckte er daran mit aller Kraft – es hielt. Nun wagte er sich weiter in den finsteren Gang vor und stieß gegen ein paar Knochen, dann etwas Flaches, Langes mit scharfer Kante – ein Schwert. Auch einen Dolch und einen Brustharnisch ertastete er, doch beides war verrostet und unbrauchbar. Wieso nicht auch das Schwert? Es fühlte sich, als Sorla den Staub abwischte, an wie frisch geschmiedet. Er nahm es an sich. Woran war der Besitzer des Schwertes gestorben? Im Kampfe tödlich verletzt? Vergiftet? Wie war er überhaupt hierher gekommen? Mit dem schweren Schwert, dem Harnisch und wer weiß was noch hatte er nicht hier hoch klettern können. Vielleicht hatte er einen Zauber gewirkt? Dann war er hier hinauf geschwebt – ähnlich wie Sorlas Glygi es getan hatte. Spätestens hier oben wurde der Zauber zerstört, wie auch der Gnomenstein plötzlich seine Kraft verloren hatte. Und nun, Sorla konnte es sich lebhaft vorstellen, saß der Mann, oder Zwerg oder sonst was, in der Falle und konnte nicht mehr zurück. Er hatte die Wahl, sich entweder hinab in den Tod zu stürzen oder hier oben auf Hilfe zu warten, bis er verdurstete. „Möge es dir wohl ergehen in Urskals Reich!“ murmelte Sorla den üblichen Abschiedsgruß an die Toten. Dann begann er, in der Finsternis dem Gang vor sich weiter zu folgen. Es schien ein
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natürlicher Felsspalt zu sein – zerklüftet und uneben, die Wände aber stellenweise behauen, so dass Engpässe erweitert und allzu große Hindernisse beseitigt wurden. Als Sorla die bearbeiteten Stellen befühlte, erinnerte er sich an seine Kindheit im Pelkoll: genau so waren die Stollenwände dort beschaffen! Dies hier war Gnomenarbeit, und es passte zu Sorlas Wissen, dass der dritte Hebel der Macht von Gnomen bewacht wurde. Wo aber waren sie? Mit größerer Entschlossenheit tastete er sich voran. Einmal stießen seine Füße gegen ein weiteres Gerippe, daneben lag ein langer Stab, über den Sorla fast gestolpert wäre – vermutlich ein Zauberstab. Waren er – oder die Frau – und der Schwertbesitzer zu verschiedenen Zeiten oder gemeinsam hierher gekommen? Was hatten sie gesucht? Sorla zuckte die Achseln und ging weiter; eine Hand hielt er immer an der Wand, den Fuß setzte er erst auf, wenn er mit den Zehen den Boden erprobt hatte. Nach einiger Zeit fiel ihm auf, dass die schwachen Geräusche, welche er verursachte, anders von den Gangwänden widerhallten als zuvor. So hörte es sich an, wenn ein Gang in einen weiten Raum mündete. Noch ein paar besonders leise Schritte, und tatsächlich wichen auf beiden Seiten die Wände zurück. Statt aber einfach in den Raum hineinzugehen, ließ sich Sorla auf alle Viere nieder und kroch so vorsichtig weiter. Und das war gut, denn zwei Schritte weiter war der Boden plötzlich weg, so flach sich Sorla auch hinlegte und so lang er den Arm über die Kante nach unten ausstreckte. Er nahm das Schwert, doch auch dieses reichte nicht zum Boden. Er ließ ein Steinchen hinab fallen, hielt den Atem an, zählte in Gedanken mit und wartete auf das Geräusch des Aufpralls. Alles blieb still. Als er auf fünf gezählt hatte, öffnete sich tief unten ein riesiges Auge – milchig grün mit einem roten Punkt in der Mitte. Einen Atemzug später erschien in einigem Abstand ein zweites. Sie glotzten unverwandt zu Sorla hoch. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass sie ihn trotz der Finsternis sahen. Im selben Augenblick brach ein Tumult von Gefühlen und Gedankenfetzen in ihm los. Halb betäubt wankte er zurück. Ein weiterer Schwall von Stimmen brandete in seinem Kopf hoch,
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boshafte, entsetzte, hungrige, verzweifelte, schadenfrohe ... Sorla fasste mit beiden Händen seinen dröhnenden Kopf und brach in die Knie. Jetzt schien ihm, die Augen seien größer geworden. Oder waren sie näher gekommen? Sie schienen ihn anzuziehen, ihn einzuladen, ihnen entgegen zu fallen. Irgendwo seitlich rieb eine riesige Masse gegen die Felswand. Er wandte sich und sprang dorthin, wo er den Eingang des Gangs vermutete – im selben Augenblick klatschte hinter ihm etwas dort auf, wo er eben noch gekniet hatte, und rutschte mit schlurfendem Geräusch wieder nach unten weg. Mit letzter Kraft kroch er tiefer in den Gang zurück, verfolgt von höhnenden Stimmen, fühlte noch den Stab, der hinderlich im Wege lag, und verlor das Bewusstsein. * Etwas rüttelte ihn an den Schultern. „Sorla?!“ Als er die Augen aufschlug, sah er dicht über sich Agish, der, seine Laterne in der Hand, ihn besorgt betrachtete. „Atne sei Dank!“ rief er nun. „Ich befürchtete schon, du seist tot, so reglos lagst du hier!“ Sorla richtete sich langsam auf. Die schrecklichen Stimmen in seinem Kopf waren verklungen, doch war ihm schwindlig und übel. „Wo ist Horell?“ flüsterte er mit zittriger Stimme. Agish lächelte. „Er kann nicht so gut klettern, also wartet er noch bei der Metallscheibe.“ „Danke, dass du gekommen bist, Agish.“ „Dein Seil war eine große Hilfe. Sonst hätte ich es nicht geschafft. Weißt du, wir warteten und warteten und fingen an, uns Sorgen zu machen ...“ Er strich die roten Locken aus der Stirn, seine grüngelben Augen waren unter den langen Wimpern fast verborgen. Sorla lächelte schwach. Insgeheim fragte er sich, ob er von alleine je wieder zu Bewusstsein gekommen wäre. Vielleicht waren die beiden mit dem Schwert und dem Stab auf diese Weise
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umgekommen. „Dies ist ein schlimmer Ort, Agish. Du darfst diesen Gang nicht weitergehen.“ Er erzählte, was ihm widerfahren war. Mehrere Male überkam ihn die vorige Schwäche und er musste eine Zeitlang innehalten. „Was sollen wir nun tun, Sorla?“ „Lass‘ uns mit Horell reden!“ Die beiden gingen zurück zum Anfang des Ganges, wo das Seil befestigt war. Dort hockte sich Sorla erschöpft hin. Agish hielt die Laterne über den Rand in die Finsternis und rief Horells Namen. „Atne sei Dank!“ kam aus der Tiefe Horells Stimme. „Wie steht es bei euch?“ Agish berichtete knapp, was geschehen war. „Was meinst du dazu, Horell?“ „Lasst uns nach Ekritmea zurückkehren!“ rief dieser. „Wir wissen jetzt, was die Zauberkraft lähmt, und Sorla hat seinen Glygi wieder. Was sollen wir hier noch?“ Agish wandte sich zu Sorla: „Schaffst du es hier runter?“ Sorla schüttelte den Kopf. „Horell!“ rief Agish. „Sorla ist noch zu schwach zum Klettern. Kehre du nach Ekritmea zurück und hole Hilfe!“ „Eine gute Idee!“ kam die Antwort aus der Tiefe. „Ich beeile mich!“ Sie hörten, wie er auf die Metallscheibe kletterte und dort umher ging. Nach einiger Zeit begann er ärgerlich vor sich hin zu murmeln, schließlich rief er: „Ich finde die Brückenzeichen nicht! Es ist zu dunkel!“ „In der Mitte!“ rief Agish. „Gehe einfach vom Rand der Scheibe aus gerade aus nach vorne!“ „Das tue ich doch die ganze Zeit!“ kam es erbittert zurück. Wieder hörten sie ihn suchend hin und her gehen. Plötzlich rief er: „Ja, natürlich!“ Und dann, fast fröhlich: „Hört ihr mich? Ich glaube, ich weiß, weshalb ich nichts finde: Sie funktionieren nicht, genauso wenig wie mein Zauberstab!“ „Na wunderbar!“ seufzte Agish. Er war es noch nicht gewohnt, dass Horell jede Erkenntnis schätzte, selbst wenn sie das eigene Unglück betraf. „Dann sind wir hier gefangen. Was sollen wir tun, Sorla?“
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„Es ist dieses Ungeheuer“, sagte Sorla in stiller Wut. „Wir haben es geweckt, als mein Glygi ihm zu nahe kam. Und ich warf den Stein hinunter. Wer weiß, wie lange es dauert, bis es wieder einschläft. Wer weiß, wie lange es noch mit diesen fürchterlichen Augen glotzt!“ „Du redest, als wolltest du es noch einmal besuchen, Sorla.“ Sorla schüttelte sich. „Ich will hier weg, genau wie ihr. Aber denk‘ an die beiden Gerippe im Gang – die haben wohl auch gewartet, bis das Ungeheuer wieder einschläft.“ Sie schwiegen eine Zeitlang. Schließlich hörten sie von unten Horells Stimme: „Habt ihr einen Vorschlag, was wir unternehmen sollen?“ „Warten und dabei sterben!“ rief Agish zurück. „Hast du eine bessere Idee?“ Dann herrschte wieder Stille. Agish schraubte den Docht seiner Laterne herunter, um Öl zu sparen, und setzte sich wortlos neben Sorla. Dieser versuchte seine Gedanken zu ordnen. Je länger er dies tat, desto deutlicher wurde, dass es nur eine verzweifelte Antwort gab, und sobald er dieser nahe kam, schwappte die Angst in ihm hoch. Diese grausigen Augen! Diese schrecklichen Stimmen in seinem Kopf! Doch es half nichts, er musste durch die Angst hindurch die Lösung bedenken. Schließlich sagte er: „Ich werde gegen dieses Ungeheuer kämpfen, Agish.“ „Warum gerade du?“ „Ich habe Pfeil und Bogen und kann damit umgehen.“ Agish sah ihn unter seinen roten Locken hervor an und nickte. „Ich weiß nicht, ob wir mit Pfeilen etwas ausrichten können, Sorla. Aber ich komme mit.“ „Möge Atne uns helfen!“ Damit war alles gesagt. Sie riefen Horell ihren Entschluss zu und bewegten sich vorsichtig durch den Gang. Diesmal achtete Sorla im schwachen Licht der Laterne mehr auf den Boden. Er sah bei den Gerippen ein paar Ringe, Goldmünzen, Gürtelschnallen, Knöpfe, einen Anhänger in Form einer kleinen Schlange, der wohl einst den Hals einer Frau geschmückt hatte, und neben dem Stab einen langen, schmalen Dolch.
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„Fast ein Schwert!“ murmelte Agish und nahm ihn prüfend in die Hand. „Den nehme ich mit!“ Kurz vor dem Ausgang schraubte Agish wieder den Docht so weit herunter, dass nur noch ein blaues Fünkchen glomm, und stellte die Laterne auf dem Boden ab. Dann schlichen sie im Dunkeln weiter. Je näher sie dem Ausgang kamen, desto mehr bebten Sorla vor Angst die Knie, doch er zwang sich weiter zu gehen. Mit zitternden Händen nahm er den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne. Dabei prallte er gegen etwas massig Zähes, schleimig Kaltes. Er sprang einen Schritt zurück und wartete, doch nichts geschah. „Was ist?“ flüsterte Agish. „Wir brauchen Licht. Schnell!“ Gleich darauf leuchtete die kleine Laterne auf. Sie sahen, dass der Ausgang von einer grau-rötlichen Masse versperrt war. Die Oberfläche war voll lappiger Wucherungen und wabenförmiger Einbuchtungen. Der Schleim glitzerte im Schein der Laterne. „Widerlich!“ flüsterte Agish. „Ist dies das Ungeheuer?“ „Zumindest der Teil, mit dem es mich erschlagen wollte.“ Sorla versuchte, das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken. „Ein Arm vielleicht.“ „Sollen wir ihm zeigen, dass wir da sind?“ Sorla schloss kurz die Augen. Gleich würde der Schrecken losbrechen. Er atmete tief ein und nickte Agish zu, dieser rammte den Dolch bis ins Heft in die zähe Wand. Nichts geschah. Nach zwei, drei Atemzügen sickerte etwas Schleim aus der Wunde, das war alles. „Ist es tot?“ „Ich glaube, es spürt so einen Stich gar nicht.“ „Bei Anod!“ keuchte Agish. „Wie riesig ist dies Ungetüm?“ Wieder stach er zu, hackte auf die schleimige Wand ein, riss den Dolch hin und her und schlitzte die zähe Masse immer mehr auf. Jetzt begann die Oberfläche zu pulsieren, dann rutschte die ganze Wand seitlich weg. Am Rand wurde Schleim abgestreift, dabei gab es ein schmatzendes Geräusch. Im nächsten Augenblick
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wehte kalte Luft herein – der Weg war frei. Die Angst überkam Sorla wieder, aber er zwang sich, zwei Schritte vorwärts zu tun. Ich werde in eines dieser Augen schießen, sobald ich es sehe, dachte er bebend. Mitten in den roten Punkt. Ich werde nicht Zeit haben zu zielen. Dann ging er den letzten Schritt bis zur Kante, den Pfeil auf dem gespannten Bogen. Aus der Tiefe glotzten die beiden riesigen Augen hoch – milchig grün mit einem roten Punkt in der Mitte. Sorla schoss sofort und sprang zurück; gerade rechtzeitig, denn schon klatschte eine riesige Masse dort auf, wo er eben noch stand. Grauenhafte Stimmen dröhnten auf ihn ein, doch die eigene Angst war schon vorher da und füllte seinen Kopf – Sorla hatte nicht die Zeit, auf die Stimmen zu achten, zu sehr war er mit der eigenen Angst beschäftigt, und diese bezwang er, wartete, bis der Weg wieder frei war, sprang vor, um auf das andere Auge zu schießen, doch es war verschwunden! Einen Augenblick zu lange zögerte er in seiner Verblüffung, jetzt sah er es – weiter oben, näher, größer – doch da wischte ihn etwas von seinem Felsvorsprung in die Tiefe. Er fiel, prallte gegen etwas Nachgiebiges, fiel weiter, purzelte kopfüber, kopfunter eine schräge weiche Masse hinunter und kam irgendwo in der Tiefe zum Stehen. Als er hochblickte, sah er im Licht der Laterne dort oben, wie Agish über den Rand sprang und, den Dolch mit gestreckten Armen vor sich haltend, als lebender Pfeil hinab stürzte, dem riesigen Auge entgegen. Er drang bis zur Hüfte ein. Der Boden unter Sorla bäumte sich auf, wogte und zuckte, dann fiel er zurück und blieb reglos. Die Stimmen in Sorlas Kopf erstarben. Sorla sprang über die nachgiebige, rutschige Masse hinüber zu dem zerstörten Auge, um Agish an seinen Beinen herauszuziehen. „Danke!“ keuchte dieser. „Fast wäre ich erstickt.“ Er wischte sich Schleim aus dem Gesicht. „Du warst sehr tapfer, mein lieber Agish.“ „Das ist, weil du mein Vorbild bist, Sorla.“ „Ich hatte schreckliche Angst.“ „Davon habe ich nichts gemerkt.“
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Sie lächelten sich an. * Das Hochgefühl hielt lange an, doch zunehmend machte sich die Sorge breit, wie es nun weiter gehen sollte. Sie stapften auf dem ungeheuren Leichnam umher – er füllte die riesige Höhle von Wand zu Wand – und suchten vergeblich einen Ausgang. Wenn es einen gab, dann lag er unter dem toten Ungetüm begraben. Schließlich erlosch auf dem Felsvorsprung hoch über ihnen die Laterne. Wieder saßen sie in der Finsternis. „Sorla?“ „Hm?“ „Auch wenn wir hier sterben, es hat sich gelohnt.“ „Es war ein Abenteuer, von dem die meisten Menschen kaum zu träumen wagen, ja. Aber ich habe Aufgaben vor mir, Versprechen einzulösen ...“ „Du hast Recht. Wir müssen ans Überleben denken, nicht an den Tod.“ In diesem Augenblick glomm über ihnen ein zartes hellblaues Licht auf, umkreiste Sorla und Agish und verharrte dann einige Schritten entfernt, so dass sie ihre Umgebung sehen konnten. „Mein Glygi!“ jubelte Sorla. „Komm zu mir!“ Da schmiegte sich der Gnomenstein in Sorlas Hand wie ein kleiner Vogel, ließ sich streicheln, küssen und ans Herz drücken. Dann wurde es ihm zuviel und er schwebte zurück, wo er zuvor geleuchtet hatte. Sorla konnte sich aber noch lange nicht beruhigen über seine Freude, den kleinen Freund, der ihn seit frühester Kindheit begleitet hatte, wohlbehalten wieder zu haben. „Weißt du, was das bedeutet, Sorla?“ unterbrach Agish seine frohen Ausrufe. „Es bedeutet, dass die Kraft, welche alle Zauber lähmte, erloschen ist. Also werden auch die Brückenzeichen auf der Scheibe wieder funktionieren.“ „Wir müssen aber erst mal hinkommen.“ Damit erhob sich
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Sorla, um mit neuer Zuversicht und dank dem Gnomenstein auch besserer Beleuchtung die Wände dieser riesigen Höhle zu untersuchen. Da hörte er von hoch über sich seinen Namen. Es war Horell, der in beeindruckender Pose vom Felsvorsprung zu ihnen herab schwebte, in jeder Hand einen Zauberstab, auf seinem Kopf das kreischende Äffchen. Er landete bei ihnen auf dem toten Ungeheuer, hob die schweren Rucksäcke von Sorla und Agish von seinen Schultern und sah sich um. „Gute Arbeit!“ sagte er. „Nun funktionieren meine Zauber wieder.“ „Man tut, was man tun muss“, sagte Agish knapp. Sorla lächelte. „Und schaut: Ich habe im Gang dort oben einen zweiten Zauberstab gefunden. Ich bin gespannt, welche Kräfte sich in ihm verbergen!“ Da fiel Sorla das Schwert ein, das er, an seinem Rucksack befestigt, noch immer herumschleppte. „Schau mal, Horell: was hältst du davon?“ Horell hielt das Schwert ans Licht und murmelte einen Zauberspruch. Dann begann er es eingehend zu untersuchen. Da waren seltsame Runen auf dem Griff, auf der Klinge liefen Verzierungen oder unbekannte Schriftzeichen vom Heft bis zur Spitze. „Hm!“ sagte Horell ab und zu, oder auch: „Aha!“ Schließlich reichte er Sorla die Waffe zurück, und wie er das tat, zeigte Hochachtung vor dem Gegenstand. „Dies ist ein bemerkenswertes Schwert, mein Lieber. Es hat Bewusstsein und eigenen Willen. Es wurde von Zwergen geschmiedet, vor langer Zeit. Wenn du es oben bei den bedauernswerten Gerippen gefunden hast, dann wurde es sicher zu einem bestimmten Zweck hierher gebracht. Vor allem ist es ein Wegfinder, wie die Runen besagen. Jetzt, nachdem dieses Ungeheuer tot ist, kann es seine Kräfte wieder entfalten.“ „Atne sei Dank!“ entfuhr es Sorla. „Genau, was wir brauchen!“ Horell hatte wegen der Unterbrechung die Brauen gerunzelt, besann sich aber und fuhr fort: „Ja, du hast recht. Zweitens versuchte ich, mithilfe eines Zaubers sein Wesen zu erkunden. Demnach ist es
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ein wütendes und anscheinend auch tückisches Schwert. Was dies im Einzelnen bedeutet, weiß ich jedoch nicht. Die Erfahrung wird es lehren.“ „Danke, Horell!“ sagte Sorla. „Hoffentlich richten sich Wut und Tücke nicht gegen uns, sondern den Gegner.“ Jetzt zeigte auch Agish die Waffe, die er gefunden hatte. Horell murmelte: „Ich hatte mich schon gewundert, dass bei den Gerippen nur ein verrosteter Dolch lag.“ Dann schaute er sich das Fundstück näher an, fast noch gründlicher als bei Sorlas Schwert. Schließlich gab er Agish den Dolch zurück, und man sah, wie widerstrebend er das tat. „Wenn du willst, Agish, kaufe ich dir diesen Dolch ab. So einen habe ich schon lange gesucht.“ „Wieso?“ „Nun, er ist scharf und haltbar, eine gute, ausgewogene Waffe, welche auch ein Zauberer führen kann, der nicht über die Bärenkräfte eines Schwertmeisters verfügt.“ „Ist das alles? Ehrlich?“ Horell räusperte sich. „Nun ja, das eigentlich Gute ist, dass er den Träger in eine magische Aura hüllt, die ihn in gewissem Maße vor Verletzungen und ähnlichen Beeinträchtigungen seiner Gesundheit schützt. Eine Elfenwaffe übrigens.“ „Hört sich gut an. Ich glaube, ich verkaufe den Dolch nicht.“ „Das habe ich befürchtet.“ Immerhin gelang Horell ein Lächeln. Nun wollte Sorla die Fähigkeiten seines neuen Schwertes erproben. Doch wie sollte er es anstellen? „Finde den Weg!“ sagte er versuchsweise und hielt das Schwert vor sich hin, doch nichts geschah. „Du musst seinen Namen wissen oder ein bestimmtes wichtiges Wort“, sagte Horell. „Leider weiß ich es nicht.“ Er stand wieder vornüber gebeugt, die Arme eng an den Oberkörper gelegt; man merkte, wie es ihn bekümmerte, etwas nicht zu wissen. „Wenn dieses Schwert von Zwergen geschmiedet wurde“, überlegte Sorla laut, „dann muss dieses wichtige Wort zur Guten Sprache der Berge gehören. Wegfinder zum Beispiel heißt Hekfir-
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hul ...“ Das Schwert zuckte hoch, Sorla ließ es fast fallen, die beiden anderen sprangen erschrocken zur Seite, Lamponu kreischte. „Nicht übel, bei Atne!“ murmelte Horell. „Ein Versuch, ein Treffer!“ „Also“, sagte Sorla, das Schwert noch immer mit beiden Händen am Griff haltend, „Hekfir-hul, wenn es einen Weg hier heraus gibt, dann zeige ihn!“ Das Schwert hob sich bis in die Waagrechte und wies zur fernen Wand der Höhle. „Das ist aber die falsche Richtung“, wandte Agish ein. „Die Höhle mit der Scheibe liegt genau entgegengesetzt!“ „Wie willst du zu dem Felsvorsprung hochklettern?“ fragte Sorla. „Vielleicht weiß mein Schwert einen geschickten Umweg.“ „Ich hätte keine Schwierigkeit, da hochzukommen“, murmelte Horell. „Ich würde fliegen. Ich könnte sogar euch da hoch schaffen. Aber ich bin gespannt, wie das Schwert seine Aufgabe meistert.“ „Na, dann los!“ sagte Sorla und folgte der angegebenen Richtung, Agish und Horell folgten. Letzterer stolperte mehrmals und beklagte sich leise, wie schwierig es sei, auf dem nachgiebigen, schlüpfrigen Leib des toten Ungeheuers das Gleichgewicht zu halten, vor allem wenn man noch ein verängstigtes Äffchen tragen müsse. Als sie die Höhle durchquert hatten und vor dem Felsen standen, wies das Schwert weiterhin auf die Höhlenwand dicht vor ihnen. Sie schauten sich ratlos an. Dann aber fiel Sorla auf, dass die Klinge seines Schwerts nicht geradeaus, sondern schräg nach unten wies. „Igitt!“ stöhnte Agish. „Wir müssen graben!“ „Es gibt andere Möglichkeiten“, murmelte Horell und zog sich nachdenklich an der Nase. „Am saubersten wäre es, diese Leiche insgesamt verschwinden zu lassen. Das würde mich aber eine Woche Zeit kosten. Ich könnte einen Weg frei brennen, aber in diesem geschlossenen Raum hält sich der Gestank des verkohlten Fleisches zu lange. Es würde helfen, dem Gewebe das Wasser zu entziehen und es so zu verkleinern. Ein begrenzter Wasser-zu-LuftZauber? Was meinst du, Lamponu?“ Das Äffchen schnatterte aufgeregt und reckte seine Pfoten abwehrend hoch. „Richtig! Da platzt das Gewebe, und uns fliegt das Zeug um die Ohren. Dann
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beschwöre ich eben eine Horde Dörrer. Das ist geruchlos und sauber. Tretet bitte hinter mich, dass euch nichts zustößt!“ „Dörrer? Die habe ich kennengelernt“, sagte Sorla. „Ich hasse sie!“ „Ja, sie brauchen eine feste Hand, sonst werden sie lästig. Doch nun stört mich nicht!“ Horell hob die Arme und begann Unverständliches zu murmeln. Aus den Augenwinkeln sah Sorla kleine gehässige Fratzen, erst wenige, dann immer mehr, die um Horell herum wimmelten. Doch sobald er genauer hinschaute, waren sie nicht mehr zu sehen. Nun senkte Horell die gestreckten Arme und wies auf den Bereich vor sich. Das Fleisch dort begann zu schrumpeln, zu verdorren, aufzureißen und zur Seite hin wegzuschrumpfen. Zwischen den verhärteten Fleischwänden bildete sich ein Graben, der schräg abwärts zur Felswand führte, wo sich ein Tor zeigte. Horell klatschte in die Hände und rief einen scharfen Befehl. Da verschwand das halb unsichtbare Gewimmel, Ruhe kehrte ein. „Saubere Arbeit!“ sagte Agish beeindruckt. Horell lächelte verlegen. „Danke, Agish.“ Er schritt vorsichtig hinab auf das freigelegte Tor zu. Die anderen folgten. Das gedörrte Gewebe knarrte und krachte unter ihren Schritten. Das Tor bestand aus Eichenbohlen, mit Bronzebändern beschlagen. Es war in einen Rundbogen hinein gearbeitet, der mit Verzierungen und Schriftzeichen reich versehen war. „Gnomenzeichen!“ sagte Sorla. „Nicht nur!“ entgegnete Horell. „Sieh, dort zwischen den Verzierungen die hernostischen Buchstaben!“ Agish drängelte sich vor und las: „Willkommen im Hurkoll, oh Reisende!“ „Hurkoll?“ wiederholte Sorla verblüfft. „Wieso haben die Gnome ihren eigenen Berg versenkt?“ Horell und Agish sahen ihn fragend an, also sah er sich gezwungen, ihnen vom Gespräch mit dem Goldenen Drachen zu berichten: „Er teilte mir mit, dass Gnome, Menschen und Zwerge jeweils einen Hebel der Macht bewachen, doch ich wusste nicht, dass sich der dritte Hebel im Hurkoll befindet. Dies ist die einzige
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Erhebung inmitten der Hurknischen Sümpfe ...“ „Ach?“ unterbrach ihn Agish mit plötzlichem Interesse. „Da erinnere ich mich an was in den alten Aufzeichnungen unserer Familie!“ Doch Sorla wollte sich nicht unterbrechen lassen, er fuhr fort: „Früher gab es diese Sümpfe nicht, statt ihrer erstreckte sich hier die Kette der Hurknischen Hügel. Und der höchste davon war der Hurkoll.“ Agish wischte sich die roten Locken aus der Stirne. „Jetzt erkläre mir bitte einer endlich mal, wozu ihr diese Hebel der Macht überhaupt braucht!“ Horell lächelte. „Hat dir Sorla das noch nicht erklärt? Mit diesen Hebeln kann man Berge versenken und Täler anheben. Großartig, nicht? Er will die Hurknischen Hügel wieder erstehen lassen, dann verschwinden die Sümpfe.“ „Ach ja? Und wieso will er das?“ „Weil dann gleichzeitig die Hochebene von Batiflim wieder ein Tal werden kann“, sagte Sorla. „Ach, einfach so?“ „Ganz so einfach ist es nicht“, gab Sorla zu. „Gleichzeitig müssen die kaburischen Inseln angehoben und vergrößert werden, sonst führt der Fluss Bato nicht genug Wasser.“ Er spürte, dass das nicht sehr überzeugend klang. „Das kommt mir überheblich vor“, befand Agish. „Wie könnt ihr über ganze Länder und ihre Bewohner so willkürlich entscheiden? Und könnt ihr all die Folgen eurer Eingriffe voraussehen? Mir gefällt das nicht.“ Sorla nickte. „Agish, ich verstehe deine Zweifel. Lass‘ uns später weiter reden; du wirst meinen Plan gutheißen. Jetzt müssen wir dieses Tor öffnen, ich will wissen, was die Gnome uns zu sagen haben.“ Das Tor war fest verschlossen, kein Riegel war zu sehen. Doch als Sorlas Gnomenstein dem Tor entgegen schwebte, sprang dieses einen Spalt breit auf. „Sehr geschickt!“ murmelte Horell, während Sorla und Agish die Torflügel aufzogen. „Danke, Hekfirhul, dass du diesen Weg gefunden hast!“ flüsterte Sorla seinem
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Schwert zu und steckte es wieder hinter seinen Rucksack. Hinter dem Tor erstreckte sich ein Stollen, der weiter tief in den Berg hinein führte. An mehreren Stellen war die Decke mit Balken und Streben abgestützt. Manche waren mit weißem Pilzgeflecht bedeckt, an anderen hingen schwarz tropfende Holzschwämme. „Sieht nicht gut aus“, sagte Sorla. „Seid vorsichtig!“ Agish nickte und hielt sich in der Mitte. Auch Horell bemühte sich, keinen der Balken zu berühren, doch einmal blieb er mit einem seiner langen Zauberstäbe an einer Verstrebung hängen. „Huch!“ sagte er und zog daran, da brach die Verstrebung mit einem kraftlosen Knacken durch. Ein Querbalken sackte tiefer. „Achtung!“ rief Sorla. Und schon krachte ein Felsbrocken von der Decke. Die drei rannten nach vorne weg, Lamponu hinterher, der beim ersten Anzeichen der Gefahr von Horells Schulter gesprungen und voraus gehastet war. Hinter ihnen rumpelte und polterte es ohrenbetäubend. Erst als sie eine sichere Stelle erreicht hatten, hielten sie an. „Das war’s wohl“, sagte Sorla. „Zurück können wir nicht mehr.“ „Nun, die Gnome werden uns helfen“, versuchte Horell die Lage zu beschönigen, während er seine Zauberstäbe von Schimmelfäden befreite. „Ich fürchte, die Gnome sind fort. Sie hätten die Stollenwände sicher besser instand gehalten.“ „Mit welchem Holz, wenn draußen nur Sümpfe sind?“ warf Agish ein. Darauf gab es keine Antwort; schweigend gingen sie im Licht des Glygi weiter. Jetzt begann sie zu spüren, wie anstrengend der heutige Tag gewesen war; sie hatten bisher noch nicht einmal etwas gegessen. Als sich der Gang zu einem kleinen Saal erweiterte, in dessen vier Wände jeweils ein Gang mündete, beschlossen sie zu lagern und die Frage, welchen Gang sie wählen wollten, auf später zu verschieben. Horell zauberte Früchte, ein gebratenes Hähnchen und je eine Karaffe mit frischem Wasser und Wein herbei. Agish zögerte kurz, dann packte er seinen mitgebrachten Proviant wieder
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ein: „Das kann man noch später essen.“ Nach dem Essen hatte Sorla Zeit, Agish wie versprochen ausführlich seine Pläne und die Gründe dafür zu erläutern. Als er das Los der Zentauren von Batiflim schilderte, nickte Agish. „Ich weiß jetzt, was du meinst. Aber dein Vorfahr, Sinn-he Fala der Leuchtende, glaubte auch, etwas Kluges zu tun, und richtete zugleich viel Schaden an.“ Als Sorla den Mund zu einer Entgegnung öffnete, unterbrach ihn Agish: „Ich habe durchaus verstanden. Du willst seine Fehler rückgängig machen. Aber tu es behutsam!“ Bevor sie einschliefen, fiel Sorla etwas Merkwürdiges auf: Sein Glygi näherte sich seinem Schwert Hekfir-hul und badete dessen Klinge in seinem hellblauen Schimmer. Danach verharrte der Gnomenstein bei dem Schwert – vermutlich die ganze Nacht, denn wann immer Sorla die Augen öffnete, sein Glygi war noch immer bei Hekfir-hul. Sie schliefen lange. Zum Frühstück zauberte Horell warme Eselsmilch und frisch gebackene Aprikosenpasteten. Agish räumte nach kurzem Bedenken den eigenen Proviant wieder weg: „Der ist seit gestern auch nicht besser geworden!“ Lamponu bekam aus Horells Rucksack einen Apfel und eine Banane, was er angesichts der Aprikosenpasteten ungerecht fand. Nach dem Essen rollten sie ihre Decken zusammen und überlegten, welchen der drei übrigen Ausgänge sie wählen sollten. Zwei führten abwärts; sie folgten einem davon und stießen bald auf Grundwasser. Also verließen sie den kleinen Saal durch den dritten Gang; dieser führte geradeaus. Bald kamen sie in eine Halle, so groß, dass der Glygi nur einen Teil davon beleuchtete. Hier standen in langen Reihen kleine Sarkophage. „Bei Mala der Furchtbaren!“ flüsterte Agish. „Das sind Dutzende, vielleicht Hunderte! Liegt hier das ganze Volk der Gnome?“ Sorla war zu erschüttert, um zu antworten, doch Horell murmelte sachlich: „Vermutlich mussten sie einen neuen Bestattungsort anlegen, als sie den Hurkoll absenkten – einen, der oberhalb des Grundwassers lag. Das ist lange her, Hunderte von Jahren, so dass in der Zwischenzeit auch bei den langlebigen
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Gnomen sicher eine große Zahl einen natürlichen Tod starben.“ „Klingt einleuchtend“, sagte Agish. „Doch wo sind die Lebenden?“ In diesem Augenblick schnatterte Lamponu aufgeregt los und zog Horell am Hosenbein. Nun hörten auch sie ein seltsames Kratzen und Pochen – und es kam aus einem der Sarkophage vor ihnen. „Da will einer raus!“ sagte Agish bleich. „Der liegt wohl unbequem!“ Sorla nickte: „Los, heben wir den Deckel ab!“ Agish zögerte, packte aber dann mit an. Kaum war ein Spalt entstanden, da sahen sie drinnen etwas Hellblaues schimmern, und schon schwebte das Licht heraus, ganz ähnlich wie Sorlas Glygi, und verharrte neben dem Sarkophag. Sie wuchteten den Deckel vollends beiseite; da lag ein Gnom aufgebahrt, in silberschimmerndem Brustharnisch, darüber ein kleines Schwert. Sein weißer Spitzbart ragte ihnen entgegen, darüber aber blitzten lebhaft helle Augen. Nun richtete sich der Gnom mühselig auf, kletterte aus seinem Sarg und setzte sich erschöpft auf den Rand. „Habt innigst empfundenen Dank, wohllöbliche Fremde!“ sprach er mit schwacher Stimme. „Mein Name ist Grutli, man heißt mich den Ungebärdigen.“ Er schwankte und fiel fast vom Rand ins Sarginnere, doch Sorla sprang hinzu und stützte ihn. „Erneut vielen Dank, hochedler Fremder. Verzeiht meine Schwäche; dies ist, weil ich seit vielen Stunden in meinem Sarg schrie und klopfte und mich zunehmend Gedanken der Verzweiflung anwandelten.“ Sorla nickte mitfühlend den Kopf und fragte, ob es im Hurkoll üblich sei, die Gnome lebendig zu begraben. „Mitnichten! Es war, deucht mir, ein gröblicher Irrtum. Ich focht mit fünf Waffengefährten gegen ein grausiges Ungeheuer. Da überfielen mich schreckliche Stimmen in meinem Kopf und ich brach zusammen. Das nächste war, dass ich in diesem engen Sarg erwachte.“ Horell räusperte sich und sagte, verlegen seine Ellbogen gegen den Leib drückend, zu seinen Gefährten: „Mir scheint, dieser Gnom erwachte, als das Ungeheuer starb; das könnte zwölf Stunden
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her sein.“ „Das Ungeheuer ist verblichen?“ unterbrach Grutli mit bebendem Spitzbart. „Nun ja. Wieso ist er überhaupt erwacht? Wir stellten fest, dass die Lähmung magischer Kräfte durch den Tod des Ungeheuers beendet war.“ „Das Ungeheuer ist tatsächlich verschieden?“ „Ich sagte es doch. Folglich war der scheinbare Tod dieses Gnoms magisch bedingt – durch die Stimmen, von denen er sprach. Weshalb aber blieb sein Körper die ganze Zeit, Jahre vielleicht ...“ Er wandte sich an Grutli: „In welchem Jahr fand dieser Kampf statt?“ „Einundsiebzig Jahre nach der Thronbesteigung Agla Schlangenfreunds, edler Fremder. Aber gestattet ...“ „Einundsiebzig Jahre!“ rief Horell, ohne weiter auf ihn zu achten. „Er lag hundert und fünf Jahre im Sarg, ohne Schaden zu nehmen! Während die Vorbesitzer meines neuen Zauberstabs und Sorlas Schwert als Gerippe vermoderten!“ „Der Glygi“, warf Sorla ein. „Sein Glygi hat ihn bewahrt. Auch ich starb nicht und wurde durch Agish geweckt.“ „Das ist nicht logisch, mein Lieber. Dein Glygi konnte nicht mehr leuchten oder fliegen, wieso sollte er die Kraft haben, dich zu bewahren?“ Grutli hatte es aufgegeben, auf seine erste Frage nähere Auskunft zu erhalten, er lauschte verwirrt dem Hin und Her der Fragen und Erklärungen, erschrak bei Horells Berechnung der Jahreszahl, schaute verdutzt auf Sorlas Gnomenstein, als dieser erwähnt wurde, und sein Mund öffnete sich immer mehr vor Staunen. Jetzt aber meldete er sich nachdrücklich zu Wort: „Verzeiht, edle Retter meines Lebens, dass ich so ungebärdig bin, mich vorlaut einzumischen und eure Bemühungen um Erkenntnis abzukürzen! Gnomensteine sind zuvörderst Funken der Seele der Bergestiefen. Als solche sterben sie nicht, solange Berge nicht sterben. Die erschröckliche Ausstrahlung des Ungeheuers mag sie gelähmt haben, konnte sie aber nicht vernichten. Ich mutmaße, dass auch ihre schutzbefohlenen Zugesellten, will sagen, wir Gnome und
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Ihr, edler Glygibesitzer, dadurch gegen das Schlimmste gewappnet wurden.“ Erschöpft hielt er inne. „Weshalb aber“, wandte Sorla ein, „konnte mein Freund hier mich wecken, als er mich fand, obwohl das Ungeheuer lebte? Weshalb seid ihr nicht aufgewacht, als man euch fand?“ Grutli runzelte die Stirn. „Vielleicht ging man behutsamer mit mir um, nicht so ungebärdig wie euer Freund. Oder Ihr habt noch einen weiteren Schutz, von dem wir nichts wissen.“ Sorla dachte an sein Schlangentum und sein Regenszepter und schwieg nachdenklich. „Das würde ...“ begann Horell, aber Agish rief: „Hört jetzt auf!“ Alle sahen ihn verdutzt an. Dieser wandte sich an den Gnom: „Ihr sagtet, da seien noch fünf andere gewesen. Haben diese den Kampf überlebt?“ „Natürlich nicht, edler Fremder! Ich sah sie nicht fallen, doch sind sie gewisslich umgekommen! Seht die vielen Särge! Dies ist die Halle der Helden – voll von Tapferen, die gegen das Ungeheuer in die Schlacht zogen!“ „Und wenn sie nur scheinbar starben, so wie ihr?“ „Dann hätten sie längst geklopft“, schaltete sich Sorla ein. „Oh nein!“ wehrte Grutli ab. „Kein Gnom sonst ist so ungebärdig! Sie werden sich mit ihrem Geschick abgefunden haben und warten, dass Mala sie in Urskals Reich geleitet. Fürwahr, bei Gemenkinnens Spitzbart, Ihr habt recht, wir müssen sie unverzüglich befreien!“ Er eilte zum benachbarten Sarkophag, brach aber kraftlos zusammen. * So schwer hatte Sorla seit seiner Zeit auf dem Piratenschiff, der Schnellen Susla, nicht mehr gearbeitet wie in den folgenden Stunden. Einen Deckel nach dem anderen hoben er und Agish an und ließen ihn zur Seite rutschen, während Horell, der für diese Arbeit nicht geschaffen war, die erstaunt da liegenden Gnome über
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die Lage aufklärte und ihnen heraushalf. „Ich bin also nicht tot?“ „Oh nein, nun erhebt euch schon.“ Alle waren geschwächt, wenn auch nicht so sehr wie Grutli, der sich mit seinem Klopfen und Toben besonders verausgabt hatte. So konnten auch sie mithelfen und jeweils zu viert Sargdeckel öffnen und ihre Mitgnome befreien. Vielleicht ein Drittel der Gnome wurden tot und vermodert in ihren Särgen gefunden; sie waren wohl erschlagen worden oder sonstwie tatsächlich ums Leben gekommen. Da legte man die Deckel auf die Särge zurück und baten die Toten um Verzeihung wegen der Störung. Insgesamt zweihundertvierzehn jedoch lebten, darunter auch dreiundfünfzig Gnominnen. Die Zahl umher schwebender, schimmernder Glygis stieg entsprechend an – man hatte den Eindruck, dass sie sich ihrer neu gewonnenen Beweglichkeit freuten – bis zuletzt die ganze Halle der Helden in hellblauem Licht erstrahlte. Erschütternde Szenen spielten sich ab. Waffengefährten, die einst gemeinsam gegen das Ungeheuer aufbrachen, umarmten sich. Väter drückten ihre Söhne ans Herz – dabei waren oft die Söhne und Enkel älter als ihre Väter oder Großväter. Frauen, die ihrem gefallenen Geliebten in Urskals Reich folgen wollten, fielen ihm hier weinend entgegen. Manche Gnome hatten sich nie zuvor gesehen, doch stets hatte einer den anderen als einen der Helden verehrt, die schon in der Halle bestattet lagen, und sich entschlossen, es ihnen nachzutun. Denn die Ehre gebot, das Ungeheuer, den Fluch des Gnomenvolkes vom Hurkoll, zu bekämpfen. Die ersten waren gegen das Ungeheuer losgezogen, als noch Sinn-he Fala der Leuchtende regierte. Damals war der Hurkoll eben erst abgesenkt worden, damit die Brut der schrecklichen Grottenschlangen, die als Plage und Geisel der Gnomenschaft die tieferen Bereiche des Hurkoll bevölkerten, im Grundwasser ersäuft wurde. Das gelang, aber dass ein anderes, weit schlimmeres Ungeheuer vor dem steigenden Grundwasser her nach oben wanderte und sich auch durch Felsspalten quetschte, an denen die Grottenschlangen scheiterten – das hatte keiner vorausgesehen. Eine große Zahl kämpfte in den darauf folgenden Jahren,
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noch zu Lebzeiten Sinn-he Falas, aber auch, als dessen Sohn und Nachfolger, der sagenhafte Schlangenkaiser Ugalur, Sohn der Prinzessin Zusnild, regierte. Die Gnome versuchten verzweifelt, den Weg zum Hebel der Macht freizukämpfen, denn dieser wäre, nachdem sich die Sümpfe um den Hurkoll bildeten, die einzige Verbindung zur Außenwelt gewesen. Daher waren auch viele Gnominnen am Kampf beteiligt, denn sie hielten den Einsatz ihres Lebens für notwendig und daher gerechtfertigt. Rund drei Viertel der insgesamt dreiundfünfzig hier als Heldinnen bestatteten Gnomenfrauen stammten aus jener Zeit. Danach wurden immer wieder, jedoch in größeren Abständen, Versuche unternommen, das Ungeheuer zu bekämpfen. Die letzten, die gegen das Ungeheuer antraten – vor knapp hundert Jahren, als Agla Schlangenfreund noch auf dem Thron saß – taten dies ohne Hoffnung, es zu besiegen, und nur, weil sie lieber zur großen Zahl der Helden gehören wollten und nicht zur kleinen Schar der kläglich Überlebenden. „Also leben hier noch Gnome außer euch?“ fragte Sorla einen der zuletzt Bestatteten. „Diese Frage beschäftigt auch mich, edler Fremder. Als meine Waffengefährten und ich uns zum Kampfe rüsteten, ließen wir siebzehn zurück, darunter zwölf Gnominnen und zwei Kinder. Ob das Volk der Hurkoll-Gnome heute noch besteht, vermag ich nicht zu sagen.“ Nachdem alle Sarkophage untersucht und alle befreiten Gnome sich versammelt hatten, stellte sich Sorla auf einen der geöffneten Sarkophage, hob die Arme und bat um Aufmerksamkeit. „Verzeiht, edle Gnome und Gnominnen, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben. Dies ist der zauberkundige Horell aus dem fernen Ailat, jenes der tapfere Agish, Sohn der edlen Familie der Illmani aus Ekritmea. Ich bin Sorle-a-glach, Anwärter auf den hernostischen Thron der Schlangenkaiser.“ Ein Gemurmel ob des Gehörten brach los, Sorla musste erneut um Ruhe bitten. „Wir werden Tage brauchen, bis alles erzählt und erklärt ist. Dafür haben wir, so Atne will, später Gelegenheit. Lasst uns essen und trinken; danach, wenn alle gestärkt sind und sich
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erholt haben, wollen wir uns auf die Suche nach den Überlebenden eures Volkes machen.“ Das fand großen Beifall, obwohl sich alle vergeblich nach Speisen und Getränken umsahen. Horell jedoch zauberte, was das Zeug hielt, Agish wurde seinen alten mitgebrachten Proviant los, und Lamponu nützte die Gelegenheit, überall zu betteln. * Die Halle der Helden lag tief im Berg, die Gänge darüber waren leer und verlassen. Der Weg hinauf wurde eine lange Wanderung, und die Stimmung unter den Gnomen nahm ab, während sie an all den Plätzen vorbei kamen, die früher mit Leben und Geschäftigkeit erfüllt waren. Besonders bedrückend war es, die leeren Schlafkammern und den großen, ausgestorbenen Ratssaal zu sehen. Die zuletzt Bestatteten waren diesen Anblick schon gewohnt und beteuerten, weiter oben seien neue Stollen mit schöneren Räumen angelegt worden. Aber als sie diese erreichten, waren sie ebenfalls dunkel und gnomenleer. Allerdings war alles sorglich aufgeräumt, Decken lagen gefaltet auf Stapeln, die Gerätschaften standen bereit. Schließlich richtete sich die Hoffnung auf den Ausgang an der Bergflanke – vielleicht zogen es die gegenwärtig lebenden Gnome vor, oberirdisch zu wohnen? Dorthin führte ein langer, breiter Gang. Auf halbem Wege fiel ihnen eine zugemauerte Nische in der Gangwand auf. Darüber standen Name und Todestag eines Gnomenkindes eingemeißelt. Und jetzt reihte sich eine Nische an die andere, alle zugemauert und mit Namen und Todestag versehen. Die letzte Nische war nicht zugemauert, auch war kein Todestag angegeben, nur der Name und eine Anmerkung: „Gwerdele, die Letzte vom Volk der Hurkoll-Gnome.“ Der Deckel lag etwas schief auf dem Sarg; besser hatte es Gwerdele offensichtlich nicht vermocht, als sie vor dem Sterben den
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Deckel über sich zuzog. * Sorla schlug vor, man solle sich weiter umsehen, die Lage bedenken und sich in vier Stunden im Ratssaal treffen. So geschah es. Zwar war die Halle vom hellblauen Licht der Glygis freundlich erfüllt, aber die Stimmung war bedrückt. Kaum hatten sich alle gesetzt, da stieg Grutli der Ungebärdige auf den Rednerstein. Sein weißer Spitzbart ragte unternehmungslustig vor. „Verzeiht, edle Mitgnome, dass ich so ungeduldig das Wort ergreife. Ich bin Grutli. Zu meiner Zeit nannte man mich den Ungebärdigen. Mir deucht, wir sollten zuvörderst einen vorläufigen Anführer wählen. Ich sage vorläufig, da wir aus verschiedenen Zeitläuften zusammengewürfelt sind; keiner hier kennt mehr als ein Dutzend der übrigen. Falls ihr mit mir einverstanden seid, habe ich nichts dagegen. Ungeduld ist meine Stärke, und ich halte dafür, dass wir sehr schnell die Stärke der Hurkoll-Gnome wieder herstellen müssen!“ Eine stämmige Gnomin erhob sich. Sie legte ihre weißen Zöpfe sorglich nach hinten über die Schultern, dann sprach sie: „Werte Anwesende! Verehrter Grutli! Gselbe heiße ich, man nannte mich die Schützin, denn in der Kunst des Bogenschießens unterwies ich die gnomische Jugend.“ Sie lächelte wehmütig. „Dass wir das Volk der Hurkoll-Gnome erneuern wollen und werden, muss nicht betont werden. Das Wunder unserer Rückkehr – zumal in solch beeindruckender Zahl – hat dies ermöglicht. Zuvörderst will ich zu unseren Befreiern sprechen. Unsere Dankesschuld, tapfere Menschen, ist mit Worten allein nicht abzutragen. Jeder hier verdankt nebst Atne auch euch sein Leben. Noch wissen wir nicht, was euch zum Hurkoll brachte, doch dass du, Sorle-a-glach, Anspruch auf den Thron in Ekritmea erhebst, gibt Anlass, unsere ablehnende Haltung gegen die Familie der Schlangenkaiser zu überprüfen.“
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Bei Anod, dachte Sorla, genau wie in Batiflim! Die Schlangenkaiser schienen es nicht verstanden zu haben, sich in den Randgebieten ihres Reiches beliebt zu machen. Diesen Fehler musste er vermeiden. „Dass du, wie ich hörte, bei Gnomen aufwuchsest“, fuhr Gselbe fort, „und – unerhört seit Gnomengedenken – einen Glygi eignest, wie ich selbst sah, empfiehlt dich umso mehr!“ Sie lächelte ihm zu. Dann aber wurde ihr Gesicht sehr ernst. „Nun obliegt mir, der armen Gwerdele zu gedenken. Tapferer als wir, die wir gegen das erschröckliche Ungeheuer fochten, lebte und starb sie; denn sie erlitt, dass Mala die Furchtbare ihre Sippe in Urskals Reich mitnahm, und verzagte nicht. Bevor auch sie abberufen wurde, bestellte sie den Haushalt als Sachwalterin unserer Heimstätte bis zuletzt. Alles tat sie, wie es sich schickt, selbst als ihre Kräfte schwanden. Möge sie in Urskals Reich erfahren, dass ihr Ausharren nicht vergebens war! Als Freundin der schönen Ordnung, als Bannerträgerin gnomischer Unverzagtheit in schlimmster Not wollen wir ihrer gedenken!“ Die Gnome nickten bedächtig, ihre Spitzbärte wippten im Gleichtakt. Gselbe wischte eine Träne aus dem Auge und fuhr fort: „Nun lasset uns die Zukunft bedenken! Es müssen Schlafstätten und Arbeitsräume zugeteilt werden und Pflichten zugewiesen, den jeweiligen Kenntnissen und Neigungen gemäß, doch auch den dringlichsten Bedürfnissen unseres Volkes. Silber zu schmieden oder Edelsteine zu schleifen ist nicht das Gebot der Stunde, sondern uns obliegt, Gänge instand zu setzen und Zugänge zu sichern. Zuförderst müssen wir erwägen, wie wir zweihundert und vierzehn Gnome und Gnominnen vor dem Verhungern bewahren. Die Vorräte reichen bei strengster Sparsamkeit zehn Tage. Die Bratschneckenzucht liegt darnieder. Ich erhielt Kunde von vereinzelten Vorkommen von Tunnelflechte in den tiefer gelegenen Gängen, aber das reicht nicht. Also muss mindestens ein Drittel von uns jagen gehen. Selbst Ratten dürfen wir nicht verschmähen, doch hoffe ich auf größere Schwimmvögel wie Enten, Gänse, Schwäne am Rande der Sümpfe. Sind die Anfangsschwierigkeiten beseitigt, müssen wir die Welt dort draußen erkunden. Die Sümpfe halten uns noch immer
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gefangen, doch das Ungeheuer ist getötet, da können wir den Hebel der Macht nützen, den zu bewachen uns vor langer Zeit aufgetragen wurde. Wir werden mit den Menschen dort draußen Handel treiben, mit den Zwergen und anderen Gnomen. Noch einen Ausblick auf die Zukunft gestattet mir. Wir sind viele, und doch keine Gemeinschaft. Lasset uns einander kennenlernen, Erfahrungen und Lebensgeschichten austauschen, Freundschaften schließen, und wenn die ersten Gnomenkinder das Licht ihrer Glygis erblicken, dann erst beginnen wir ein Volk zu werden!“ Die Gnome sahen sich mit hellen Augen an, manche Gnomin errötete. Grutli kletterte neben Gselbe auf den Rednerstein und rief: „Liebe Mitgnome, hört mich an! Seit Gnomengedenken waren die Sippenchefs und Anführer männlich; doch diese tüchtige Gnomin neben mir hat klug gesprochen; sie sollte, sintemalen sie auch Kampfesmut bewiesen hat, als sie gegen das Ungeheuer antrat, zur Anführerin gewählt werden – zumindest vorläufig!“ Alle stimmten heftig nickend zu, und so war diese Frage entschieden. Sorla erhob sich und trat auf den Rednerstein. Er umriss knapp seinen bisherigen Lebensweg – einiges hatte sich schon herumgesprochen – und die Umstände, die ihn zum Anwärter auf den Schlangenthron machten. Ausführlich berichtete er über seine Erlebnisse auf der Hochebene von Batiflim, besonders schilderte er die Lage der schlafenden Zentauren, die durch Sinn-he Falas Machenschaften ihre Heimat verloren. „Ihr seht, verehrte Gnome, ihr Schicksal ist eurem sehr ähnlich. Und so, wie wir euch aus dem todähnlichen Schlaf befreit haben, wollen wir auch die Zentauren zum Leben zurückführen. Das heißt, dass wir die dürre Hochebene wieder zu dem grünen Tal machen müssen, wie es vor Sinn-he Fala war. Ähnlich muss auch euer Hurkoll wieder seine gebührende Höhe zurückgewinnen und die Sümpfe, die euch hier gefangen halten, müssen verschwinden. Deshalb sind wir hier.“ Dies rief tumultähnliche Begeisterung bei den Gnomen hervor, die sonst als eher zurückhaltend und besonnen galten. Sie eilten herbei, jede und jeder wollte ihm die Hände schütteln, manche
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Gnominnen baten ihn, sich zu bücken, damit sie ihn ans Herz drücken konnten. Auch Agish und Horell bekamen ihren Teil der Herzlichkeit ab, was Horell, wie Sorla wusste, peinlich war; er hielt Lamponu vor sich hin, um sich gegen Übergriffe dieser Art abzuschirmen. * Am nächsten Morgen verabschiedeten sich Sorla und seine Freunde von den Hurkoll-Gnomen. Grutli der Ungebärdige begleitete sie auf ihrem Rückweg zum Hebel der Macht. Sie folgten den Gängen hinunter zur Halle der Helden, von da bis zum Ausgang, hinter dem das Ungeheuer gelauert hatte. Als Sorla das Tor einen Spalt öffnete, schlug ihn entsetzlicher Gestank verwesenden Fleisches entgegen. Er schlug das Tor wieder zu. „Da können wir nicht durch. Drei Schritte, und wir sind vergiftet!“ Horell räusperte sich, die Ellbogen eng an den Oberkörper gelegt. „ Es gibt den Spruch der Sonnenkugel. Ich hatte ihn bereits zuvor erwogen, um uns die lästige Kletterei zu ersparen. Er schützt uns auch vor dem Gestank.“ Er hob seinen Stab, murmelte Unverständliches, da erschien vor ihnen ein zartes Flimmern, das sich zu einer kleinen schimmernden Wolke veränderte und weiter verdichtete, bis eine mehr als mannshohe goldene Kugel vor ihnen schwebte, die alles in weitem Umkreis erleuchtete. Kaum hatten sie Zeit, sich von Grutli zu verabschieden, da drängte sie Horell, in die Kugel hinein zu steigen: „Schnell! Diese Erscheinung hält sich nicht ewig, wenn keiner drin sitzt!“ Während er in die Kugel kletterte, zogen Sorla und Agish mit angehaltenem Atem die Torflügel auf und sprangen dann ebenfalls in das leuchtende Gefährt, das bereits in die Halle hinaus schwebte. Sorla sah noch, wie Grutli das Tor hinter sich zuzog, da flogen sie bereits hoch über dem verwesenden riesigen Leib dahin, sausten durch den Verbindungsgang und sanken drüben, in der Halle
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des Hebels der Macht, wieder hinunter. Sanft bremste die Kugel ab, sie stiegen wohlbehalten aus. „Sehr angenehm!“ lobte Agish. „Ich hörte jemanden sagen, du seist als Sonnengott angereist. Das war wohl die Kugel hier, oder?“ Horell nickte bekümmert. „Die Leute wollen immer an Wunder glauben, dabei ist dies ein ganz normaler Zauber.“ Mit diesen Worten kletterte er auf die Metallscheibe. „Und die Sonnenkugel?“ fragte Sorla. „Bleibt die hier?“ „Die verschwindet bald von selbst. Eigentlich schade, nicht?“ Er betrat die Brückenzeichen und verschwand vor ihren Augen. Sorla und Agish folgten ihm. Sie traten auf die Brückenzeichen, da sanken die Felswände weg, übrig blieb der unendliche dunkle Raum, nur in der Ferne schwebten die beiden anderen Scheiben. Horell war schon nicht mehr zu sehen. „Rechts oder links?“ fragte Agish. „Links.“ Agish nickte, atmete hörbar ein und sprang ins Leere. Im selben Augenblick sah Sorla ihn drüben auf der Scheibe stehen und folgte ihm. Als sie von den Brückenzeichen weg auf den Rand der Scheibe traten, sahen sie den wohlvertrauten Raum in Irkansels Turm. Eben erklomm Horell die Leiter, da dröhnte ein dumpfer Gongschlag, ein Blitz zuckte auf und Horell war verschwunden. Die beiden Zauberstäbe fielen klappernd von der Leiter auf den Steinboden. Lamponu sprang zeternd umher. „Was war das?“ flüsterte Agish. Sorla brauchte zwei Atemzüge, bis ihm das Gespräch einfiel, das er mit Horell eben hier über dessen Sicherheitsvorkehrungen geführt hatte. „Der Arme!“ sagte er. „In die eigene Falle gelaufen!“ „Was meinst du?“ „Wir müssen zurück zum Hurkoll! Schnell!“ Er griff sich Lamponu, Agish die beiden Stäbe Horells, dann eilten sie zurück zum Hebel der Macht, sprangen zur Scheibe im Hurkoll – tatsächlich, da lag Horells reglose Gestalt, beleuchtet vom goldenen Schein der Sonnenkugel. Das Äffchen war mit zwei Sprüngen dort
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und begann ihn jammernd abzuküssen. „Ist er tot?“ flüsterte Agish. „Nein, aber ich erkläre es später. Atne sei Dank ist die Sonnenkugel noch da. Jetzt steig ein – oder besser, hilf mir schnell, ihn hinein zu ziehen!“ Sie hoben Horells Leib in die Sonnenkugel. Lamponu saß schon drinnen und wehklagte mit hoher Affenstimme. „Jetzt erkläre doch, Sorla.“ „Später. Ich muss wissen, wie man diese Kugel lenkt. Wir müssen Horell zu den Gnomen bringen; er braucht Pflege.“ Lamponu musste das gehört und verstanden haben, denn er stellte sich aufrecht auf die Hinterpfoten, hob mit seinen Ärmchen Horells Stab in die Höhe und summte leise vor sich hin. Tatsächlich – die Sonnenkugel hob ab und schwebte hinauf dem Quergang entgegen, sauste hindurch und über die beiden Gerippe hinweg, sank drüben hinunter und verharrte vor dem freigelegten, aber geschlossenem Tor. Sorla und Agish sahen sich an. „Gut“, sagte Sorla. „Ich tu’s.“ Er holte noch einmal Luft, dann stieg er aus der Kugel und begann mit angehaltenem Atem das Tor aufzuziehen. Kurz bevor er auch den zweiten Flügel geöffnet hatte, musste er Luft holen. Das stank so schrecklich, dass er würgte, erneut nach Luft schnappte und zusammenbrach. Doch schon war Agish aus der Kugel gesprungen, hatte ihn unter den Achseln gepackt und zog ihn hinein in Sicherheit. Gleich danach sprang er selbst hinaus, denn je länger das Tor offenstand, desto mehr giftiger Gestank würde in die Gänge des Gnomenreiches eindringen, und zog das Tor vollends auf. Lamponu lenkte die Kugel hindurch, Agish zog beide Torflügel zu, taumelte auf die Sonnenkugel zu, da streckte ihm schon Sorla die Arme entgegen und zog ihn hinein. „Gut, dass wir bei den Feuerreitern geübt haben, die Luft anzuhalten“, japste Agish. „Doch dies hier ist weit schlimmer als Rauch und Qualm.“ Sorla nickte. „Ja. Ohne die Sonnenkugel wären wir verloren gewesen. Das heißt, wir beide hätten uns über die Brückenzeichen retten können, aber Horell hätte wir dann im Stich lassen müssen.“
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„Was ist mit ihm? Sag‘ endlich!“ „Er hat den Zugang zu Irkansels Turm so gesichert, dass, falls jemand mit mächtigen magischen Fähigkeiten kommt und Horell nicht oben im Saal anwesend ist, die magische Macht des Betreffenden abgesaugt wird. Diese Kraft wird benutzt, ihn dorthin zurück zu schleudern, wo er herkam, und falls dann noch magische Macht übrig sein sollte, wird sie verbraucht, indem er eine entsprechende Zeit lang völlig geschwächt und handlungsunfähig ist. Gut ausgedacht, aber Horell vergaß die Möglichkeit, dass er selbst einmal ankommen und die Leiter hochsteigen würde. Er kann ja nicht gleichzeitig oben im Saal sein.“ Agish verzog den Mund. „Diese Buchmenschen! Klug bis zur Selbstzerstörung! Und was tun wir jetzt hier? Wieso gehen wir zu den Gnomen zurück?“ „Es gibt keinen anderen Weg. Über die Brückenzeichen geht nicht – er kann ja nicht selbst springen. Atne sei Dank, dass die Sonnenkugel noch da war, sonst hätten wir ihn auch nicht zum Quergang hoch und durch den Gestank gebracht.“ * Die Gnome waren überrascht, sie so schnell wiederzusehen. Als sie erfuhren, was geschehen war, sagten sie, es sei ihnen eine Ehre, alle drei aufzunehmen und Horell zu pflegen. Nach zwei Tagen aber war Horells Zustand unverändert. Gulris die Heilerin, eine braunhaarige, mit ihren achtzig Jahren noch junge, doch in der Heilkunst erfahrene Gnomin, wiegte bedenklich ihr Haupt: „Euer Freund wird zu Kräften kommen, Frena sei Dank. Doch fasset euch in Geduld, denn er wird noch lange allhier an seine Lagerstatt gefesselt sein. Allzu sehr hat ihn die magische Falle der Lebenskraft beraubt.“ „Was heißt lange?“ wollte Sorla wissen. „Oh, Monate vielleicht, Atne weiß es.“ Sorla dankte für die Auskunft. Dann beriet er sich mit
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Agish. „Wir können hier nicht solange warten. Wir müssen ohne ihn los.“ „Aber der Gestank! Die Sonnenkugel ist weg!“ „Ich weiß. Es gibt aber eine zweite Möglichkeit; ich werde die Sümpfe durchqueren. Kommst du mit?“ Agish nickte, die grüngelben Augen auf Sorla gerichtet.
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Neuntes Kapitel:
DIE HURKNISCHEN SÜMPFE Von der Kuppe des Hurkoll blickten sie über Sumpfland, das sich rings um sie bis zum Horizont erstreckte. Gselbe, Grutli und ein paar weitere Gnome hatten sie hierher begleitet, um sie zu verabschieden. Die Morgensonne war eben über die Bodennebel gestiegen und spiegelte sich rötlich in den Sumpfgewässern. Sorla begrüßte sie nur kurz mit einem „Ehre gebührt dir, Anod, und Dank!“ und wandte ihr den Rücken zu –er blickte nach Südwesten, wo irgendwo weit hinter dem Horizont Ekritmea lag. „Mir deucht es Wahnsinn, diese Sümpfe durchqueren zu wollen“, tat Grutli zum wiederholten Male kund. „Kein fester Halt, keine Felsen – nur Wasser und Morast!“ Er schüttelte sich. „Schlimmer noch scheinen mir die Wesen, so dort hausen“, sagte Gselbe. „Einst wagten wir einen Vorstoß, um einen Weg durch die Sümpfe zu finden; nur zwei von zwanzig kehrten zurück. Sie berichteten, nichts sei, wie es scheine, alles sei trügerisch, man könne den eigenen Augen nicht trauen. Ein Ort, geschaffen für Schlangen und ähnliches Gewürm – oh verzeihe, Sorle-a-glach!“ Sorla nickte. „Ich habe dich richtig verstanden. Die Sümpfe sind schrecklich für euch. Ihr liebt die harten Felsen, die klaren Tatsachen und die hellen Gedanken. Doch ich lebte einmal längere Zeit in einem riesigen Sumpf und lernte manches, das mir half zu überleben. Daher denke ich, mit Atnes Hilfe schaffen wir es.“ Sie stiegen den steilen Felspfad hinunter, die Gnome schauten ihnen lange nach. Je tiefer sie kamen, desto zugewachsener wurde ihr Weg. Schließlich zwängten sie sich durch Nadelgehölz und stachliges Gestrüpp und standen unvermutet vor einem Wall aus Schilf. Stechmücken sirrten um ihre Köpfe. „Müssen wir da durch?“ fragte Agish. In der Sonne wirkten seine grüngelben Augen fast golden. Sorla nickte. Er band ein Seil um seinen Leib, das andere Ende befestigte Agish an seinem Gürtel. Dann machte Sorla die
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ersten vorsichtigen Schritte in den Matsch zwischen den Schilfbüscheln. Zunächst spürte er harten Grund unter seinen Füßen, dann aber versank er plötzlich bis über die Knie im Morast. Als er sich – mit Hilfe des Seils –heraus arbeitete, verlor er fast den einen Stiefel. Nun achtete er darauf, Halt auf den Wurzelgebilden des Schilfs zu finden, und kam so bis zu einem großen Binsenbüschel, das als kleine Insel aus dem Wasser ragte. Dort angekommen, ließ Sorla Agish nachkommen. Zweimal rutschte dieser aus, konnte sich aber am Seil wieder herausziehen. So ging es die nächsten Stunden weiter. Schlimm waren auch die Stechmücken, die umso zudringlicher wurden, je heißer es wurde. „Sich durch den Schlamm zu wühlen, macht mir nichts aus“, erklärte Agish, „aber diese verdammten Blutsauger, das ist zu arg!“ Mittags erreichten sie ein Gebiet, das etwas oberhalb des Wasserspiegels lag und mit Erlengebüsch und allerlei Sumpfpflanzen bewachsen war. Agish ließ sich auf den Boden fallen, goß wortlos das braune Wasser aus seinen Stiefeln und zertrat ein paar Blutegel, die mit heraus geschwemmt wurden. „Gut, dass du daran dachtest, die Gnome um lange Strümpfe zu bitten“, sagte er. „Sonst hätte ich die Biester schon an der Wade hängen!“ Danach beschäftigte er sich damit, Wolken von Stechmücken abzuwehren. Auch Sorla entleerte seine Stiefel und zupfte einen Blutegel von seinem Strumpf, zugleich aber musterte er die Umgebung, und als sein Blick auf ein paar zartgefiederte, bräunliche Blättchen fiel, sprang er voller Hoffnung auf. Tatsächlich: da waren auch die kleinen dunkelroten Blüten, nach denen er gesucht hatte! „Wir sind gerettet!“ verkündete er. „Ach ja?“ „Ein Mittel gegen Stechmücken und Blutegel. Hilf mit!“ Mit ihren Messern schnitten sie sich Grabstöcke von den Büschen, dann bearbeiteten sie den weichen Boden, bis sie zwei der langen rötlichen Wurzeln ausgegraben hatten. Sorla wusch sie, dann schnitt er zwei dünne Scheiben ab. Eine davon bot er Agish an: „Dies ist eine Bitterwurzel und schmeckt auch so, aber immer noch besser, als sich ständig von Mücken stechen und Blutegeln
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aussaugen lassen zu müssen.“ „Wenn du meinst ...“ Im nächsten Augenblick krümmte sich Agish würgend am Boden. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder reden konnte. Er betrachtete die ausgespuckte Scheibe, in der sich seine Zähne eingedrückt hatten. „Das ist ja fürchterlich!“ „Man gewöhnt sich.“ Sorla schluckte den Rest seines Stückchens herunter. „Wenig kauen, durchatmen, nachspülen.“ Aber natürlich fiel es auch ihm nicht leicht; er war außer Übung, denn die letzte Bitterwurzel hatte er vor vier Jahren gekostet. Sein Mund war trocken, seine Zunge rauh und wie gelähmt. Da half auch Nachspülen nicht viel. Nun holte Sorla ein Bündel aus seinem Rucksack und teilte daraus sich und Agish je einen Fladen zu: „Hier, mit besten Grüßen von Gselbe!“ „Schmeckt ziemlich fad“, befand Agish. „Und bitter, aber das kennt man ja. Was ist das?“ „Tunnelflechte aus dem Hurkoll. Ein Art nahrhaftes Moos oder so. Vor allem haltbar; es reicht uns die nächsten Tage.“ Nach ihrer Mittagspause verkrochen sie sich in den Schatten eines Erlengebüsches und schliefen, bis die schwüle Hitze nachgelassen hatte. Dann machten sie sich wieder auf den Weg nach Südwesten. Sie wateten durch knietiefes Wasser, das mit Blättern von Seerosen und anderen Wasserpflanzen bedeckt war. Jetzt schien ihnen die Sonne ins Gesicht, und bald rann ihnen der Schweiß in die Augen. Aber die Stechmücken hielten sich von ihnen fern, und falls Blutegel in ihre Stiefel gerieten, so schwammen sie bald tot am Rand der Stiefelschäfte und schwappten beim nächsten Schritt heraus. „Diese Bitterwurzeln sind ein Segen“, lobte Agish. „Jetzt kann uns nichts mehr zustoßen, oder?“ Im selben Augenblick fuhr etwas Langes, Fettes aus dem Sumpfwasser und schlang sich um seinen Leib. Agish schrie auf und zappelte eine Armeslänge über dem Wasser. Doch als Sorla sich mit dem Schwert auf das Untier stürzte, hatte auch Agish seinen Dolch schon gepackt stach auf den riesigen Tentakel ein. Ein weiterer Tentakel schoss aus dem Wasser und peitschte gegen Sorlas Kopf, dass er halb betäubt nach hinten fiel. Doch er
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fühlte sich empor gezogen – an seiner Hand, die das Schwert hielt. Wer war das, der ihn zog? Und schon trieb es ihn im Anlauf gegen den wieder heranschnellenden Tentakel, und mit einem gewaltigen Hieb trennte er sie ab. Wieder zog es ihn vorwärts, ohne dass er es gewollt hatte, er durchschlug auch den anderen Tentakel, so dass Agish ins Wasser platschte. Eben wollte er sich aufatmend Agish zuwenden, da zog es ihn herum, mit großen Sprüngen watete er durchs flache Wasser dahin, wo ihn zwei riesige Augen anglotzten. Ein Hieb, eine weitere Tentakel trieb abgetrennt im Wasser. Das Ungeheuer stieß ein gurgelndes Geräusch aus und wich zurück. Sorla setzte nach, doch da fiel ihm auf, dass er das Gurgeln verstand. „Ich habe genug!“ sagte das Ungeheuer. Sorla versuchte innezuhalten. Das Schwert in seinen Händen bebte, als wolle es weiter zuschlagen, und versuchte ihn vorwärts zu ziehen. Sorla stemmte sich dagegen. „Halte ein, Hekfirhul!“ gebot er, doch das Schwert gab sich nicht zufrieden. „Ich bin dein Herr, Hekfir-hul!“ rief Sorla. „Du musst gehorchen!“ Das Schwert zitterte vor Wut, es ruckte nach links und rechts, und Sorla hielt es gepackt, dass ihm der Schweiß auf die Stirne trat. „Sei ruhig, Hekfir-hul! Bei Anods Licht und Zorn!“ Jetzt ließ das Beben nach, das Schwert sank herab. „Na also“, murmelte Sorla. „Wäre ja gelacht, wenn ich nicht mal ein Schwert beherrschen könnte, und will ein ganzes Reich lenken!“ Agish hatte ihn mit bleichem Gesicht beobachtet. „Das ist eine fürchterliche Waffe, Sorla.“ „Ja, Horell wies darauf hin, dass Hekfir-hul seinen eigenen Willen hat:“ „Er nannte es wütend und tückisch.“ „Es hat dir das Leben gerettet, Agish.“ Das Ungeheuer hielt sich in sicherem Abstand; jetzt gurgelte es. „Geht weit fort!“ hieß das. „Ihr stört meinen Tümpel!“ Sorla musste lachen. Er antwortete: „Danke Anod, dass wir dich leben lassen, du ungastliche Krake!“ Damit wandte er sich zum Gehen.
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„Was hast du da gegurgelt und gebrummt?“ fragte Agish nach einiger Zeit. „Das ist das Glucksen bedeutsamer Blasen, Agish – eine geläufige Sprache im Sumpf.“ „Sprachkenntnisse sind etwas Feines.“ Als die Sonne unterging, suchten sie sich wieder ein Erlengebüsch, unter dem sie sich verkriechen konnten. Der Himmel war bedeckt, die Nacht stockdunkel und schwül. Nächtliche Insekten sirrten und zirpten, Wasservögel glucksten verschlafen; all das hörte man aber nur, wenn die Frösche von ihrem ohrenbetäubenden Quaken kurz abließen, um Luft und Kraft zu schöpfen. Agish wälzte sich unruhig hin und her. Sorla saß gegen den Baumstamm gelehnt und hielt Hekfir-hul auf seinem Schoß. Du bist eine gute Waffe, dachte er. Aber nur wenn du dich von mir führen lässt, wirst du eines Kaisers würdig sein! Da schien ihm, als habe das Schwert kurz gebebt, das mochte Einverständnis bedeuten oder Trotz. Sorla dachte weiter an das Schwert hin. Ich habe beobachtet, wie du dich mit meinem Glygi bekannt machtest. Das ist gut so. * Sorla erwachte, weil das Schwert in seinen Händen zuckte. Es war tiefe Nacht, die Luft hatte sich abgekühlt. Draußen vor dem Gebüsch, etwa zwanzig Schritte entfernt, watete eine Reihe dunkler Gestalten im knietiefen Wasser auf das Ufer zu. Sie trugen Keulen. Sorla rüttelte Agish wach und hielt ihm zugleich den Mund zu: „Leise!“ Dieser sah hoch, erblickte die Gestalten und zog seinen Dolch. Noch war nicht sicher, ob die Näherkommenden es auf die beiden abgesehen hatten oder nur zufällig vorbeikamen. Da hörte Sorla von ihrem Anführer ein leises Gurgeln: „Die beiden Fleische schlafen. Wir knüppeln sie nieder.“ Sorla nahm den Bogen, zielte, schoss, zielte, schoss, und ein drittes Mal. Das ging so schnell, dass die dunklen Gestalten erst
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hinterher stehen blieben und sich verdutzt nach ihren Gefährten umsahen, die leblos im Wasser trieben. Dann aber rannten sie knurrend und gurgelnd auf das Versteck von Sorla und Agish zu. Sorla hatte sein Schwert gezogen und sich neben Agish vor das Gebüsch gestellt, so dass sie von hinten gedeckt waren. Wieder begann Hekfir-hul zu zucken und zu drängen; Sorla wartete, bis die Angreifer nahe genug gekommen waren, und ließ sein Schwert gewähren. Das sauste hin und her, teilte tödliche Hiebe aus und schlug Keulen schneller beiseite, als Sorla sie sah. Auch Agish führte seinen Dolch mit großem Erfolg – jeder Stich saß, jeder Hieb schlitzte eine Kehle auf. Schon war das Gemetzel vorbei, acht Feinde lagen tot auf dem Ufer, einem gelang die Flucht. Sorlas Schwert drängte nach, doch als Sorla „Halt, Hekfir-hul!“ murmelte, beruhigte es sich. „Zusammen mit den dreien im Wasser sind es elf“, sagte Agish. „Nicht schlecht.“ Er wischte sich die roten Haare aus dem strahlenden Gesicht. „Dank Atne und unseren Waffen!“ „Richtig. Und noch was, Sorla: Ich bekam mindestens viermal einen Hieb von einer Keule ab, doch es hat mir nichts ausgemacht. Das verdanke ich meinem Dolch und seiner schützenden Aura!“ Die beiden waren so hochgestimmt, dass sie nicht wieder einschlafen konnten. Zudem wussten sie nicht, ob jener, der fliehen konnte, womöglich mit Verstärkung zurückkehren würde. Sie unterhielten sich leise und erwarteten den nächsten Tag. In der ersten Morgendämmerung standen sie auf und sahen sich die toten Angreifer an. Sie waren halbwegs menschenähnlich, ähnelten aber, was ihre nackte Haut und ihre Köpfe betraf, eher Fröschen. „Quöschtlutze“, sagte Sorla, eingedenk früherer Erfahrungen mit diesen Froschkerlen. In den nächsten Tagen kamen sie ohne größere Gefährdungen voran. Quöschtlutze, die ihnen leichtsinnigerweise in die Quere kamen, erschlugen sie. Die riesige Echse, die im Wasser auf Beute lauerte, erspähten sie rechtzeitig, weil Sorla vorbereitet war und danach Ausschau hielt. Auf die heimtückische Pflanze, die
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darauf harrte, größere Lebewesen mit ihren langen Ausläufern festzuhalten und auszusaugen, machte Sorla Agish aufmerksam wie auf eine alte Bekannte: „Ach schau nur, eine Egelwurz!“ Und die flachen Stellen, kaum zu unterscheiden vom übrigen Sand oder Schlamm, die sich urplötzlich öffneten, um arglos vorbeikommende Wildschweine oder ähnliche Beute zu verschlingen, auf diese zu achten brachte Sorla Agish von vorne herein bei. „Toll, wie du dich auskennst“, sagte Agish voll aufrichtiger Bewunderung. „Ich hätte hier keine zwei Tage überlebt, Sorla.“ Da hielt dieser ihn am Ellbogen fest. Weiter vorne, auf einer kleinen Anhöhe, standen fünf Gnome und winkten ihnen zu. Im abendlichen Gegenlicht waren nur ihre Umrisse zu sehen. „Wo kommen die denn her?“ wunderte sich Agish. „Atne weiß es“, entgegnete Sorla und rief den Gnomen einen höflichen Gruß entgegen. Diese riefen zurück, doch ihre Stimmen klangen dünn, und es war nichts zu verstehen. „Vielleicht brauchen sie Hilfe“, mutmaßte Sorla. Agish zögerte. „Ich weiß nicht. Irgendwas kommt mir seltsam vor.“ Doch weil Sorla schon voraus gewatet war, folgte er ihm und murmelte bloß: „Da war doch was – wenn ich mich nur erinnern könnte ...“ Sorla setzte schon den Fuß auf das Ufer, da trafen ihn zwei, drei, fünf Pfeile an Rumpf, Schulter, Schenkel. Er taumelte zurück und fiel ins Wasser. * Die Wolken rissen auf und jagten durch den nächtlichen Himmel. Das Mondlicht spiegelte sich auf dem Wasser. Doch dies waren nicht die Sümpfe, es war der Norfell-Fluss, altvertraut aus Sorlas Kindheit. Das schwarze Wasser kräuselte sich, und dunkel gegen das Mondlicht erhob sich ein riesiger Schlangenkopf und blickte den Fluss hinab. Nur ihr linkes Auge konnte Sorla sehen, hoch über sich,
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und ihr scharfkantiges Maul, das von der Seite aussah, als lächle es. Langsam wandte sich der Kopf Sorla zu, da war das Maul unerbittlich nach unten gezogen. Die Augen spiegelten das Mondlicht. „Oh Schlange!“ flüsterte Sorla. Der Kopf wiegte sich hin und her, schwarz vor dem dunklen Himmel. „Sieh hinter die Dinge!“ zischte die Schlange und stieß ihn mit ihrem Kopf, dass er im strömenden Wasser versank. * Er erwachte mit brennenden Schmerzen in seinem Bein. Sein Körper glühte vor Fieber, das Blut hämmerte in seinem Kopf. Er wollte sich umsehen, doch die Augen ließen sich nicht öffnen. Er schrie, doch es war nur ein Röcheln. Eine Hand legte sich ihm kühlend auf die Stirn. „Sei ruhig, Sorla.“ Es war Agishs Stimme; das beruhigte ihn, er atmete ruhiger. „Was ist geschehen, Agish?“ „Du wurdest von mehreren Pfeilen getroffen. Dein Kettenhemd, das Murlingir dir schenkte, hielt die meisten ab, nur der Schenkel war ungeschützt. Vielleicht war der Pfeil vergiftet, oder das faulige Sumpfwasser ist schuld an deinem Fieber.“ „Was ist mit den Gnomen?“ „Das waren keine Gnome, ich hätte es wissen müssen. Ich erzählte dir, dass ich in unseren Familienaufzeichnungen viel über die Svampi las.“ Undeutlich zog durch Sorlas Fieberwallungen die Erinnerung an Fledermäuse im kaiserlichen Palast. Graue Umhänge flatterten, und Haare in seltsamen Farben wehten dünn im Wind. Wasserhelle Augen starrten ihn an. Sorla stöhnte in seinen Fieberträumen. Als er erwachte, spürte er, wie Agish ihn mit einem kühlen, feuchten Tuch abwusch. „Agish?“ „Ja, Sorla?“
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„Danke.“ Und nachdem er sich von dieser Anstrengung erholt hatte: „Wie hast du die Svampi erkannt?“ „Die dünnen Stimmen. Die grauen Umhänge. Und hast du jemals Gnome mit rötlichen oder grünen Spitzbärten gesehen?“ Sorla glitt in seine Fieberträume zurück – voller Wesen mit grünen Bärten, die ihn anstarrten. Dann war er wieder wach und fragte: „Wie bist du ihnen entkommen?“ „Sie schossen auf mich, doch die Pfeile bewirkten nicht viel – du weißt, die Aura meines Dolches. Ich konnte dich soweit aus dem Wasser ziehen, dass dein Kopf auf einem Binsenbüschel lag und du atmen konntest. Dann lieh ich mir dein Schwert und habe sie fast alle erschlagen. Einer ist leider entwischt. Svampi können fliegen, weißt du.“ Sorla nickte und sank in Fieberträume zurück. Er hörte dünne Stimmen flüstern: Wir werden ihn noch erwischen, ihn und sein Regenszepter. Und wenn er nicht will, geben wir ihn der Spinne. Sorla versank tiefer ins Dunkel, kämpfte und mühte sich und wachte wieder auf. „Atne sei Dank, dass du wach bist, Sorla!“ Die kühle Hand strich ihm behutsam die schweißnassen Haare aus der Stirn. „Ich hatte Angst um dich.“ Sorla murmelte etwas von der großen Spinne und dass man ihn dürsten lassen wolle. „Takilis will mich fressen“, flüsterte er noch und schlief wieder ein. Er hatte Angst, in der Finsternis zu ertrinken, da näherte sich ihm die große Schlange. „Halte durch!“ zischte sie leise. „Du wirst gebraucht!“ Dann verschwand sie, und Sorla blieb alleine in der Dunkelheit zurück. Doch nach langer Zeit sah er in der Ferne ein helles Pünktchen, ein Licht, vielleicht einen Ausgang. Kennan-glai stand da und wieherte fröhlich, auch andere Freunde, die er an die Nebligen Tiefen verloren hatte, winkten ihm zu, er solle sich zu ihnen gesellen. Die kleine Schlange zögerte aber und blickte zurück. Da sah sie den Vollmond weit hinter sich, und sie wandte sich und kroch zurück, dem milden Mondlicht entgegen. „Sorla! Du bist wach!“ Sorla öffnete die Augen und stützte sich auf. Das Fieber war
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verschwunden. Ihm gegenüber saß Agish und bot ihm frischen Minzentee an. „Es war merkwürdig, Sorla“, plauderte er froh. „Noch gestern sah es ganz hoffnungslos aus, doch letzte Nacht kam der Umschwung. Im Mondlicht sah dein Bein ganz seltsam aus – voller Schuppen wie bei einer Schlange.“ Er hob einen breiten Fetzen Schlangenhaut hoch: „Das hat sich dann abgelöst, den Rest konnte ich abzupfen.“ „Haben wir Vollmond?“ Agish nickte. „War das der Grund?“ „Der Vollmond hilft, dass das Schlangenhafte in mir mich heilt.“ „Naja, als zukünftiger Schlangenkaiser braucht man so was.“ Agish lachte. „Aber merkwürdig ist das schon, ein bisschen wie bei Werwölfen oder so.“ Er sah Sorla durch die herabhängenden roten Locken nachdenklich an. Dann änderte er den Tonfall und sagte leichthin: „Ach, und hier hast du dein Schwert zurück!“ Sorla nahm Hekfir-hul entgegen. Erst jetzt merkte er, dass ein Dutzend Schritte weiter ein Haufen Leichen lag – menschengroße Fledermäuse mit grünem und rötlichem Fell, aufgeschlitzt und mit zerfetzten Hautflügeln. Neben ihnen lagen Keulen. „Sie gaben sich als Quöschtlutze aus“, erklärte Agish verächtlich„Aber wer hat schon Quöschtlutze mit grauen Umhängen gesehen?“ „Danke, Agish. Du hast mein Leben gerettet und mich gesund gepflegt. Das werde ich, bei Anod, nicht vergessen.“ Aber die Sache mit dem Schwert gefiel ihm irgendwie nicht. * „Die Svampi“, erklärte Agish mit vollem Mund, „leben eigentlich in Höhlen, wie es sich für Fledermäuse gehört. Die Aufzeichnungen meiner Familie nennen die Hurknischen Hügel als ihre Heimat, aber die gibt es seit Menschengedenken nicht mehr. Als
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dein Vorfahr diese Landschaft versenkte, mussten die Svampi anscheinend ihre Höhlen verlassen, weil die voll Wasser liefen. Vielleicht bewohnen sie jetzt hohle Bäume oder, was ich eher glaube, sie übernehmen die Behausungen von Leuten, die sie überfallen und gefressen haben. Sie können sich den Anschein geben, sie seien Menschen oder andere ähnlich große Wesen, und sprechen oft auch deren Sprachen. So fällt es ihnen leicht, ihre Opfer zu täuschen. Man erkennt sie jedoch an den merkwürdigen Färbungen ihres Felles: grünlich, hellblau, fliederfarben, hell rötlich und so weiter. Die Farben behalten sie auch bei, wenn sie als Menschen oder Gnome erscheinen. Dann ihre grauen Umhänge – in Wirklichkeit ihre Hautflügel. Ihre Stimmen sind seltsam dünn und hoch. Dieser Umstand fiel mir als erster auf, als sie uns in Gestalt von Gnomen eine Falle stellten. Leider achtete ich zu wenig auf die Farbe ihrer Bärte, was im Gegenlicht auch schwierig gewesen wäre.“ „Du warst umsichtiger als ich, Agish. Ich lief los wie ein Anfänger.“ Agish nickte und löste vorsichtig ein Knöchlein aus seinem gebratenen Frosch. „Es zeigt, wie gerissen sie sein können. Auch treten sie stets in der Überzahl auf. Die Aufzeichnungen meiner Familie erwähnen, dass sie von sich stets als Schwarm reden und den einzelnen nicht achten.“ „Was meinst du, Agish, werden sie in ihre Höhlen zurückkehren, wenn wir die Hurknischen Hügel aus dem Sumpf heben?“ Agish zuckte die Achseln. „Ich denke, sie haben sich in den letzten Jahrhunderten an ihre neuen Möglichkeiten gewöhnt. Das werden sie freiwillig nicht aufgeben.“ * Zwei Tage später entdeckten sie in der Ferne eine Erhebung. „Für einen Hügel merkwürdig spitz und kantig“, sagte
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Sorla. „Eine Burg?“ schlug Agish mit vollem Mund vor – er kaute eben seine Scheibe Bitterwurzel herunter. „Wer sollte hier in den Sümpfen wohnen?“ „Nun, vielleicht war die Burg schon vor den Sümpfen hier. Die Aufzeichnungen meiner Familie berichten, dass die Hurknischen Hügel von mächtigen Festungen geziert waren. Herrliche Säle, rauschende Feste – ich hielt das immer für Märchen.“ Seine grüngelben Augen blickten nachdenklich. „Deine Familie besitzt viele Aufzeichnungen, die sich mit dieser Gegend beschäftigen, Agish. Wie kommt das?“ „Das hatte ich meinen Vater auch gefragt. Er versprach, mit mir darüber zu reden, wenn ich erwachsen bin. Er starb aber, wie du weißt.“ Sorla drehte sich zu Agish um. „Es tut mir leid, wie alles kam.“ Dieser blickte zu Boden. „Vielleicht ist es nur eine Ruine.“ Im Laufe des nächsten Tages gerieten sie in eine Gegend, die soweit man blicken konnte, von Wasser bedeckt war. Manchmal mussten sie schwimmen, im besten Fall wateten sie durch knietiefen Morast. Dennoch kamen sie der Erhebung nahe genug, um festzustellen, dass es tatsächlich eine Burg oder ein ähnlich mächtiges Gebäude sein musste. Abends erklommen sie eine mächtige Weide, die im seichten Wasser wuchs, um auf ihren Ästen mit abgebrochenen Zweigen und ihren Decken ein Nachtlager zu errichten. Als es dunkel wurde, sahen sie von jener Burg her ein kleines Licht, dann noch eines, ein drittes – dort wohnten vernunftbegabte Wesen! „Svampi?“ fragte Sorla. Agish zuckte die Schultern. „Eher nicht, denke ich. Weshalb sollten sie abends Licht anzünden?“ Da sie beide nicht sehr gesprächig waren, schliefen sie bald ein. Sorla erwachte davon, dass sein Schwert, das im Schlaf in seinen Händen zu halten er sich angewöhnt hatte, bebte. Es war tiefe Nacht, der Mond von den Wolken halb verdeckt. Doch da er im Dunkeln besser sehen konnte als die meisten Menschen, erkannte er
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hoch über sich und von Zweigen und Blattwerk halb verdeckt drei dunkle Klumpen – große Fledermäuse, die im Baum umher kletterten und schließlich einen passenden Ast fanden, an den sie sich kopfüber hängten. Nun unterhielten sie sich leise; ihre Stimmen klangen hell und dünn. „Können wir heim fliegen, ohne sie getötet zu haben?“ „Es wird dem Schwarm nicht gefallen.“ „Vielleicht wurden die beiden gefressen?“ „Vom Schwarm?“ „Nein, von dem großen Wurm, der aus dem Schlamm springt.“ „Hoffentlich. Sie wissen nicht, was ihn besänftigt.“ „Wie gut, dass wir Flügel haben, denn singen können wir nicht.“ Die drei keckerten über diesen Witz. Auf einmal sagte eine warnend: „Wir müssen aufpassen, das wir uns nicht an den Giftpfeilen ritzen!“ Das nahm Sorla zum Anlass, leise Pfeil und Bogen hervor zu holen. Ein Schuss, ein Klumpen fiel durch die Zweige und plumpste ins Wasser. „Haben wir uns nicht festgehalten?“ fragte die andere und fiel schon getroffen hinterher. „Was ist uns geschehen?“ Die dritte blickte hinunter, entdeckte Sorla, doch schon stak sein Pfeil in ihrem Leib und sie krachte durch die Zweige hinunter ins Wasser. Agish schrak auf: „War was?“ „Nur drei Svampi. Schlaf‘ weiter.“ Am nächsten Morgen kletterten sie von der Weide herab. Im seichten Wasser trieben die Svampi. Sorla holte sich seine Pfeile wieder und betrachtete die umständliche Vorrichtung, mit welcher die Svampi ihre eigenen Pfeile und Bögen um den Leib gebunden hatten. „Klar“, sagte Agish. „Wenn sie fliegen, haben sie keine Hände frei, und wenn sie kopfüber an den Zweigen hängen, dürfen die Pfeile nicht aus dem Köcher fallen.“ „Es sind Giftpfeile“, sagte Sorla und machte sich vorsichtig daran, sie zu zerbrechen.
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Als sie weiter nach Südwesten wateten, der fernen Burg entgegen, fragte Sorla: „Kannst du singen, Agish?“ „Natürlich, soll ich?“ Er begann mit klarer und schöner Stimme zu singen, zugleich klangen Obertöne mit, zauberhaft und duftig zugleich: „Mein Bruder fiel in den Tälern, mein Vater starb auf den Bergen, ich sitze im Haus auf goldenem Stuhl. Komm, Schwester, du Schöne! Gib mir Lanze und Schild! Du trage das Kleid von Seide und Gold. Geh du zu den Hügeln im Osten und ich zu den Tälern im Westen, zu finden, zu strafen, zu zlenken die Feinde.“ „Was heißt das – zlenken?“ fragte Sorla. „Keine Ahnung. Es ist ein sehr altes Lied.“ „Du singst wunderschön, Agish. Schade, dass ich dich nie zuvor singen hörte!“ „In unserer Familie wird davon nicht viel Aufhebens gemacht. Wenn wir singen, pflegen wir Überlieferungen. Es ist nicht für die Öffentlichkeit.“ Agish sah ihn nachdenklich aus seinen grüngelben Augen an. „Was war der Grund, mich zum Singen aufzufordern, Sorla?“ „Gestern Nacht sprachen die Svampi von einem gefährlichen Wurm in dieser Gegend. Wenn ich sie richtig verstand, dann hilft es, wenn man singen kann.“ „Ach ja? Da kenne ich ein Lied: Töchterchen Rothaar,
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gehe nicht hinab zum See, dein Liebster wohnt auf dem Berg. Väterchen Weißhaar, mein Liebster wohnt auf dem Berg hinter dem tiefen See. Töchterchen Rothaar, geh nicht durchs Wasser, weck‘ nicht den schuppigen Wurm. Väterchen Weißhaar, ich wecke den Wurm, ich singe mein schönstes Lied. Weißt du, Sorla, ich dachte immer, das Mädchen sei trotzig und unbelehrbar. Nun aber glaube ich, dass sie das Mittel kennt, den Wurm zu besänftigen.“ „Das würde bedeuten, dass dieses Lied – und deine Familie – aus dieser Gegend stammen, Agish. Aber deine Lieder handeln von Bergen und Tälern und tiefen Seen, obwohl hier weit und breit nur Sumpf ist.“ „Da siehst du, wie lange es her ist, dass wir nach Ekritmea zogen“, lachte Agish. „Doch im Ernst, Sorla, deine Vermutung kam mir auch schon. Ich bin gespannt, wer dort auf der Burg lebt!“ * Nachmittags kam Wind auf, kalt und scharf, und kündete die ersten Herbststürme aus dem Norden an. Missmutig sprang Sorla von einem zum nächsten Binsenbüschel, fluchte über die nassen Beinkleider und rutschte ins Wasser. Er fand festen Halt, wollte zurück auf die Binsen klettern, da begann der Boden unter seinen
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Füßen zu schwanken, sich zu heben ... Im nächsten Augenblick rutschte er seitlich von einem gewaltigen Leib, der aus dem Wasser geschnellt war, und platschte ins Wasser. Als er hoch sah, blickte er in ein riesiges rundes Maul, dessen Höhlung gespickt war mit raspelartigen Zahnreihen. „Agish! Singe!“ Agish sang, so schön wie nie, die Obertöne schwebten wie ein Gewebe über allem. Der riesige Wurm verharrte, sank etwas zurück und ließ sie weiterziehen. Vorsichtig taten sie das, doch Agish sang und sang, selbst als der Wurm längst außer Sichtweite war und sie nahe der Burg festen Boden betreten hatten. In der Nähe sang jemand die letzte Zeile mit. Doch niemand war zu sehen. „Wer ist da?“ fragte Sorla. Da stand plötzlich ein paar Schritte weiter eine junge Frau, schlank und wunderschön. „Jetzt braucht ihr nicht mehr zu singen, Fremde“, sagte sie sanft und strich sich die roten Locken aus der Stirn. Agish starrte sie an wie eine Erscheinung, seine Kinnlade hing halb offen. Sie sah ihn mit ihren grüngelben Augen nachdenklich an. Also blieb es Sorla überlassen, sie zu grüßen. Er stellte sich beide als Sorla und Agish aus Ekritmea vor. „Ekritmea?“ wiederholte sie erstaunt. „So gibt es jene sagenhafte Stadt tatsächlich?“ Ihre Sprache war merkwürdig gefärbt; altertümlich wie die der Gnome, wenn auch nicht so förmlich. „Kommt mit, Fremde, ich will euch meinem Großvater zeigen!“ Damit verschwand sie, als habe sie sich in Luft aufgelöst. Sorla und Agish sahen sich verdutzt um. „Wo ist sie geblieben?“ fragte Agish. „Wohin sollen wir mitkommen?“ Da stand die junge Frau schon wieder vor ihnen. „Wo bleibt ihr?“ „Du warst plötzlich weg, holde Unbekannte“, sagte Sorla. „Unbekannte? Mich kennt jeder, ich bin Esxofi, die Tochter des Obersten der Elulmavni. Ihr dürft mich Prinzessin nennen. Und nun kommt!“ Wieder war sie verschwunden. Drei Atemzüge später
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erschien sie wieder. „Weshalb tloft ihr nicht?“ „Holde Prinzessin“, sagte Sorla. „Wir haben es nicht gelernt.“ „Nun, du könntest es vielleicht sowieso nicht, Sorla. Aber Agish hätte dich mit tlofen können.“ „Äh“, sagte Agish. „Ich kann das auch nicht. Keine Ahnung, ehrlich.“ Esxofi verzog mißbilligend die Mundwinkel. „Dann kommt!“ Sie nahm jeden an einer Hand, die Umgebung verlor ihre Farben und wurde grau, schwarz, weiß. Dann ging es in erstaunlicher Geschwindigkeit – es schien Sorla, als fliege er – den Hügel hinauf zum Burgtor. Das war offen, sie sausten über breite Treppen und durch belebte Gässchen – über manche der Bewohner sprangen sie einfach hinweg – immer höher zu einem zweiten, engeren Tor und gelangten in einen kleinen Innenhof, von dem verschiedene Türen in das eigentliche Burggebäude führten. Eine dieser Treppen jagten sie hoch und standen schon in einem großen, von Fackeln schwach beleuchteten Saal. Als Esxofi Sorlas Hand losließ, kamen die Farben zurück: Die langen Vorhänge waren dunkelrot, die Wandteppiche bildeten in verblassten Braun- und Grüntönen irgend welche Ereignisse ab, und auf dunkelblau gepolsterten Sesseln saßen ein alter weißhaariger und ein junger rothaariger Mann, die mit wunderschönen Stimmen gemeinsam eine abgrundtief traurige Weise sangen. Nun brachen sie das Lied ab und sahen ihnen mit grüngelben Augen entgegen. „Was bringst du uns da Hübsches, meine Liebe?“ fragte der Weißhaarige. „Und einen fremden Elulmau hast du ja auch dabei.“ „Er heißt Agish, Großvater, und stammt aus Ekritmea. Er sagt, er könne nicht tlofen, denk dir!“ „Nicht tlofen?“ murmelte der Jüngere. „Wozu schleppt er dann den anderen mit, wenn nicht zum Zlenken?“ Obwohl Sorla nichts verstand, gefiel ihm nicht recht, was er hörte. „Ich bin Sorle-a-glach aus Ekritmea“, sagte er laut, „und erbitte eure Gastfreundschaft.“ Der Weißhaarige winkte ab. „Nicht so hastig, junger Mann. Wir Elulmavni werden uns dir zu gegebener Zeit zuwenden. Mich
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gelüstet, von diesem Agish mehr über das sagenhafte Ekritmea zu hören.“ Agish versuchte, das sah Sorla deutlich, seine Gedanken zu ordnen. Zu viel Neues und Überraschendes hatte er erfahren. „Was heißt das, ich bin ein Elulmau?“ fragte er Esxofi. „Wieso verstellst du dich?“ murmelte der Rothaarige. „Hast du Angst vor ...“ Aber Esxofi schnitt ihm das Wort ab: „Er weiß es nicht besser, Bruder. Schau dich an, Agish: rote Haare, die Augenfarbe. Vor allem aber dein Gesang, nur Elulmavni singen so. Ich habe deinen Liedern zugehört, ein paar davon kenne ich selbst, obwohl wir hier solch lustige Weisen eher meiden.“ Lustig? Sorla waren Agishs Lieder ernst und getragen vorgekommen. Hier schienen besondere Maßstäbe zu herrschen. Ihn fror auf einmal. Agish hatte sich inzwischen gefasst und sagte: „Verzeiht, schöne Prinzessin, all dies ist neu für mich. Doch will ich gerne alles erzählen und erklären, was eure Neugier“, damit wandte er sich an den Weißhaarigen, „zufrieden stellt. Zugleich bitte ich, meinen Gefährten Sorla mit Achtung zu behandeln, denn er ist sie wert.“ „Was sind das für Zeiten“, seufzte der Jüngere, „wo wir achten statt zlenken sollen! Wenn das unser Vater noch ...“ „Lass‘ Vater aus dem Spiel, Bruder! Er war noch ein Kämpfer.“ „Was ist ihm zugestoßen?“ fragte Sorla. Der Jüngere zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, doch der Weißhaarige antwortete: „Agish zuliebe will ich es dir sagen, junger Mann. Mein Sohn brach vor vier Jahren auf, um einen Weg hinaus aus den Sümpfen zu erkunden. Wir warnten ihn, auch unser Ratgeber warnte ihn, doch er sagte immer: Wir müssen einen neuen Aufbruch wagen! Die Sümpfe dürfen nicht unser Schicksal bleiben!“ Der Alte wischte eine Träne aus dem Auge. „Wir fanden seine Leiche nur ungefähr eine Tagesstrecke von hier. Wir haben sein Ende in vielen Liedern gebührend bejammert.“ „Das Schicksal ist grausam“, seufzte der Jüngere und begann eine tieftraurige Weise zu summen.
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„Wie starb er?“ fragte Agish den Alten. „Wer weiß? Er hatte eine kleine Wunde wie von einem Pfeil. Aber das war an seinem linken Arm, das alleine hätte ihn nicht töten können.“ „Gift!“ sagte Agish. „Svampi!“ sagte Sorla. Die beiden Elulmavni blickten erstaunt. „Aber nein!“ sagte der Weißhaarige, „wieso denn? Svampi verwenden kein Gift, und weshalb sollten ausgerechnet sie meinen Sohn töten wollen? Das ist undenkbar!“ „Wir haben selbst ...“, begann Agish, doch der Jüngere erhob eine schlaffe Hand: „Lass‘ den Ratgeber kommen, Großvater. Das hier geht zu weit, oder?“ Dann summte er weiter. Der Alte nickte und schlug mit den Knöcheln seiner rechten Hand an einen kleinen Gong. Kurz darauf erschien in der Tür eine Gestalt in grauem Umhang, näherte sich ehrerbietig den Sesseln und fragte mit heller, dünner Stimme: „Was beliebt Euren Hoheiten?“ „Hier diese Fremden“, sagte der Alte, „unterstellten, mein Sohn könne durch einen Giftpfeil gestorben sein. Sie meinten sogar, es könnten Svampi gewesen sein.“ Der Ratgeber wandte sich Sorla und Agish zu. Sein Haar war dünn und rötlich blond, die Augen glotzten wasserhell. „Undenkbar“, sagte er mit seiner Fistelstimme. „Wer hätte nach dem Leben Seiner verstorbenen Hoheit getrachtet haben können? Völlig undenkbar! Und Svampi würden dergleichen sowieso nie tun, das wissen wir ja.“ Die Stimme kam Sorla bekannt vor, auch das Aussehen. „Takilis!“ rief er. „Hier also hast du dich verkrochen, du Schuft!“ Der Ratgeber blickte ihm ausdruckslos ins Gesicht und sagte dann zum Alten: „Er redet offensichtlich irre, Eure Hoheit, wie es bei minderen Lebensformen üblich ist. Ihr solltet ihm nicht länger zuhören, sondern ihn einer besseren Bestimmung zuführen.“ „Ja, zlenken!“ murmelte der Jüngere. Seine Zunge fuhr über die Oberlippe. „Meinst du nicht auch, Großvater, dass dieser Mensch da unsere Geduld über Gebühr beansprucht?“ „Ja, Enkel. Der junge Mann hat in der Tat unseren Frieden
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beträchtlich gestört. Eben sangen wir ein schönes Lied zum Lobe der Trauer, und nun müssen wir uns seine verworrenen Behauptungen anhören. Also schaffen wir ihn in den Kerker – keine Widerrede, Esxofi – bis wir ihn benötigen.“ Der Ratgeber kam auf Sorla zu, den Dolch in der Hand; sein Blick war jetzt unverstellt höhnisch. Hekfir-hul sprang fast von selbst in Sorlas Hände, als er sich bereit machte, um sich zu verteidigen. Doch aus dem Augenwinkel sah er, wie der Alte den Arm in seine Richtung hob, da überlief ihn ein Kribbeln, eine Kälte, Hekfir-hul entfiel seinen kraftlosen Händen, und der Ratgeber führte ihn wie ein willenloses Schaf aus dem Saal. * Er war im Kerker nicht allein. Im Dämmerlicht, das durch ein schmales Fenster hereindrang, sah er zwei Quöschtlutze, die in der entfernten Ecke beisammen saßen, jeweils mit einem Bein an der Wand angekettet – genau wie Sorla. Sie glotzten ihn im Dämmerlicht ausdruckslos an. Ihn konnten sie nicht erreichen, dafür waren die Ketten zu kurz. Ein dritter Quöschtlutz, ebenfalls angekettet, lag reglos dabei und atmete schwer. In der Ecke rechts von Sorla hockte ein Wildschwein und kaute verdrossen an seiner Kette. Die Ecke links von Sorla schien leer, doch bewegte sich die Kette mit der Fußschelle manchmal wie von selbst. Etwas Unsichtbares war dort gefangen. Eine Streu von Schilfstroh bedeckte den Steinboden, einige Stellen waren mit Unrat und Kot durchsetzt. Scharfer Geruch von altem Urin lag in der Luft. Das lähmende Kribbeln hatte sich gelegt, auch Sorlas Gedanken waren wieder klar. Zunächst stellte er fest, dass seine ganze Ausrüstung fehlte, auch Schlangenzahn, der Wurfdolch, der im Stiefelschaft gesteckt hatte. „Oh Atne!“ seufzte er leise. Er war zu vertrauensselig gewesen, hatte die Lage dort oben im Saal unterschätzt. Bezog sich hierauf die Warnung der Großen Schlange,
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er solle hinter die Dinge sehen? Oder gab es noch mehr, von dessen Oberfläche er sich täuschen ließ? War Agish zu trauen? Schritte näherten sich. Die Türe wurde aufgeschlossen, ein Svampi mit dünnem grünem Haare, den Schlüsselbund am Gürtel und einen Spieß in der Rechten, erschien, dahinter tauchte Esxofi auf. „Es stinkt!“ stellte sie fest. „Kein Wunder, Eure Hoheit. Es sind mindere Lebensformen.“ „Das weiß ich selbst, Wärter.“ Sie sah sich um. „Was nehmen wir heute? Von dem Quöschtlutz ist noch was übrig. Und das Wildschwein, wegen der Abwechslung.“ „Der Mensch dort ist ganz frisch hereingekommen, Eure Hoheit.“ „Nein, heute nicht. Wie ich sagte: der angefangene Quöschtlutz und das Wildschwein.“ „Prinzessin!“ rief Sorla. Da hob sie den Arm und bewegte ihn im Halbkreis, dass er in alle Ecken des Kerkers zeigte. Wieder überlief ihn das lähmende Kribbeln, und er sank hilflos ins Stroh. Auch die Quöschtlutze brachen zusammen; Sorla sah teilnahmslos zu, wie der Svampi den dritten Quöschtlutz und das Wildschwein von Fesseln befreite und sie als willenlose Opfer aus dem Kerker führte. Esxofi folgte ihm und ließ hinter sich die Tür ins Schloss fallen. Als das Kribbeln wieder nachließ und die Gedanken sich klärten, versuchte Sorla mit den übrigen Gefangenen zu reden. „Versteht mich hier jemand?“ fragte er. Die Quöschtlutze starrten ihn ausdruckslos an. Aus der Ecke mit dem unsichtbaren Wesen kam auch keine Antwort. Da versuchte er es mit dem Glucksen bedeutsamer Blasen: „Versteht mich hier jemand?“ Die Quöschtlutze glotzten einander an. „Ein Mensch, der spricht“, gluckste der eine. „Schlimm genug“, gurgelte der andere. Dann ließen sie ihre Augen etwas weiter hervorquellen, wohl um Sorla einzuschüchtern, und schwiegen wieder. Aus der anderen Ecke aber flüsterte jemand: „Ich verstehe dich gut, Mensch. Dies ist ein schlimmer Ort.“
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„Was geschieht mit uns?“ „Sie saugen uns aus.“ Sorla glaubte sich verhört zu haben. „Wie meinst du das?“ „Unser Blut und unsere Lebenskraft.“ Er versuchte es sich vorzustellen. Dann fragte er: „Der eine Quöschtlutz – was war mit ihm?“ „Den hatten sie schon einmal mitgenommen. Dieses zweite Mal wird er wohl nicht überleben. Dann wird er gekocht und sie fressen seine Leiche.“ „Woher weißt du das?“ „Sie verfüttern die Reste an uns. Den Quöschtlutzen schmeckt es, dem Wildschwein sowieso. Ich sehne mich nach saftigen Stielen von Wasserlilien. Selbst Bitterwurzeln ... “ „Bist du eine L’fumpai?“ Das unsichtbare Wesen schwieg kurz, dann flüsterte es erschreckt: „Woher weißt du – kannst du mich sehen?“ „Nein, keine Sorge. Ich habe früher einige L’fumpai kennen gelernt, daher ...“ Schritte kamen näher, die Tür wurde aufgeschlossen, der grünhaarige Svampi schloss das Wildschwein wieder an der Kette an. Dann ging er. Das Tier zitterte am ganzen Körper, knickte erst in den Vorderläufen, dann hinten ein und blieb keuchend liegen. Oh Atne! dachte Sorla wieder. Wenn mir nicht bald die Rettung gelingt, mit deiner Hilfe, dann ende ich jämmerlich. Aber so sehr er seinen Kopf anstrengte, ihm wollte nichts Überzeugendes einfallen. Einer ähnlichen Lage war er einst als kleine Schlange entkommen, doch konnte er diese Verwandlung nicht willentlich herbeiführen. Schließlich schlief er ein. Nachts wachte Sorla davon auf, dass die Tür entriegelt wurde. Licht von einer Laterne fiel herein, die Gestalt Esxofis war dahinter kaum zu erkennen. „Prinzessin!“ rief Sorla. „Leise! Es muss sich nicht herumsprechen, dass ich mit dem Essen rede.“ Sie kam näher heran, blieb aber außerhalb seiner Reichweite. „Ich soll dich von Agish grüßen. Der Arme hat große Schwierigkeiten, sich als Elulmau richtig zu verhalten.“
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„Er will nicht zlenken, nehme ich an“, sagte Sorla bitter. „Genau! Ich verstehe ihn ja. Mir ging es als Kind ähnlich. Ich sollte das Zlenken an Mäusen und kleinen Ferkeln üben. Die fand ich so süß und brachte es kaum über mich, sie zu beißen. Agish hat noch viel zu lernen.“ „Ich will aber nicht gezlenkt werden.“ „Ach, es tut nicht weh, Sorla. Und wenn du deine Rolle, den Elulmavni zu nützen, freudig und als naturgegeben annimmst, dann ersparst du dir viel Schrecken. Die Einsicht in die Lage ist ja der Segen der Klugheit, während das dumme Schwein dort, das nichts versteht, ganz durcheinander ist vor Angst.“ Sie sah ihn dabei so liebreizend an, mit deutlichem Bestreben, ihn freundlich zu behandeln und ihm Trost zu spenden, dass Sorla kurze Zeit die Worte fehlten. „Prinzessin“, sagte er schließlich. Er musste sich räuspern, denn sein Hals war ganz trocken geworden. „Der Sinn meines Lebens besteht nicht darin, ausgesaugt zu werden. Ich habe andere Aufgaben zu erfüllen, bei Anod!“ „Agish erzählte, du strebst nach dem hernostischen Thron. Das hat dich hier nicht beliebt gemacht; wir hassen die Schlangenkaiser.“ „Gestern wart Ihr überrascht, dass es Ekritmea überhaupt gibt; wie könnt Ihr so überzeugt sein, dass die Schlangenkaiser hassenswert sind?“ „Es gibt alte Geschichten, und ich habe keine Lust, sie jetzt zu erzählen. Meinen Gruß habe ich ausgerichtet.“ Damit schloss Esxofi die Kerkertür hinter sich. * „Kind des Hon!“ flüsterte Sorla in Richtung der scheinbar leeren Ecke. „Du kennst unseren wahren Namen!“ antwortete die L’fumpai überrascht. „Du bist freundlich und kenntnisreich!“
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„Nicht kenntnisreich genug. Kannst du mir erklären, wie man sich unsichtbar macht?“ „Es gibt verschiedene Wege. Wir Kinder des Hon tun es nicht absichtlich. Unsere Schüchternheit reicht, uns zu verbergen; ich weiß nicht, wie ich dir das beibringen könnte. Manche Wesen zaubern, wie sie es gelernt haben. Den Elulmavni dagegen ist eine Fähigkeit angeboren, da werden sie unsichtbar und können sich schnell bewegen. Dafür brauchen sie eine besondere Kraft, die sie erwerben, indem sie Wesen wie uns aussaugen. Auch dass sie uns lähmen können, kommt von dieser besonderen Kraft.“ „Hilft Bitterwurzel gegen Elulmavni?“ „Natürlich. Deshalb lebe ich noch. Es dauert mindestens fünf Tage, bis sie uns genießbar finden. So lange hast auch du Zeit.“ Hatte Esxofi ihn nur verschont, weil sie ihn für ungenießbar hielt? Dann konnte er mit ihrer Hilfe nicht rechnen. Und wie war es mit Agish? Auf welcher Seite stand er? Am nächsten Morgen erschien der Wärter, begleitet von drei weiteren Svampi mit Mistgabeln und Eimern. Sie schafften das alte Stroh hinaus, schwemmten den Boden mit Wasser, das durch ein Loch in der Mitte des Verlieses ablief, und schütteten neue Streu auf. Kaum waren sie fertig, hörte man Schritte, und zwei rothaarige junge Männer erschienen in der Tür: der jüngere Elulmau zusammen mit Agish. „Hallo, Sorla!“ sagte letzterer verlegen. „Wie geht es?“ „Und dir?“ „Ich lerne. Eine Welt von Möglichkeiten hat sich mir eröffnet.“ „Du hast Blut auf dem Kittel, Agish.“ „Ja? Das war das Wildschwein gestern.“ Er wurde rot. Der andere schaltete sich ein: „Nun hast du deinen Menschen gesehen, Agish. Zufrieden? Ich mag diesen Gestank nicht länger erdulden.“ Damit gingen sie wieder, die Svampi konnten ihre Arbeit fortsetzen, nämlich Schüsseln mit Wasser, Gemüse und gekochtem Fleisch verteilen – immer in sicherem Abstand und unter der Aufsicht des Wärters, der den Spieß bereit hielt.
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Esse ich gekochten Quöschtlutz oder nicht? Sorla entschied sich, auf das Fleisch zu verzichten. Von der Schüssel der L’fumpai verschwanden nur kleinere Mengen Gemüse, das übrige blieb unangetastet. Den Froschkerlen in ihrer Ecke machte es jedoch nichts aus, die Reste ihres Gefährten in ihre breiten Mäuler zu stopfen. Sorla warf ihnen seinen Anteil hinüber. „Wieso das?“ gluckste der eine. „Schön blöd“, gurgelte der andere. Von diesen Insassen des Kerkers konnte Sorla keine Hilfe erwarten, auch nicht von der L’fumpai, deren einzige Fähigkeit darin bestand, sich nicht sehen zu lassen. Erst musste er sich befreien, irgendwie, dann war ihre Mithilfe vielleicht erforderlich. Sich befreien hieß – solange es ihm nicht gelang, sich in die kleine Schlange zu verwandeln – an den Schlüsselbund des Wärters zu kommen. Dieser wagte sich aber erst dann in die Nähe der Gefangenen, wenn sie von einem Elulmau gelähmt waren. Sowieso war das Schlimmste an seiner Lage, dass die Elulmavni ihn nach Belieben lähmen und hilflos herumführen konnten, beispielsweise um ihn zu zlenken. Diese Lähmung musste er verhindern – nur wie? Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit bewusst dagegen anzukämpfen. * Schritte knirschten auf dem Gang, der Riegel kreischte. Im schwachen Tageslicht, das durch das schmale Fenster drang, standen Agish und Esxofi Hand in Hand. „Ach Sorla“, begann Agish. „ich muss dir sagen, wie glücklich ich bin! Ich habe die Frau meines Lebens gefunden!“ Esxofi lächelte. Ihr Gewand aus golddurchwirkter Seide schmiegte sich an ihre schlanke Gestalt. Wie bezaubernd schön sie war, wie entwaffnend ihr sanftes Lächeln! „Agish“, sagte Sorla nachdenklich, den Blick auf ihr Kleid gerichtet. „Erinnerst du dich an das erste Lied, das du mir vorsangst?
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Denke darüber nach, ich rate es dir!“ Agish blickte verdutzt, dann runzelte er die Stirn. „Du willst unser Glück zerstören, Sorla. Bist du nicht mein Freund?“ „Agish! Ich stehe hier gefesselt, und du redest mir von Glück!“ Agish wurde rot, er wandte sich ab: „Komm, Esxofi, er versteht uns nicht!“ Im Weggehen blitzte Esxofi Sorla wütend an. Noch lange, nachdem die beiden gegangen waren, dachte Sorla über Agish nach. Was war mit ihm geschehen? Er schien sich als Sorlas Freund zu fühlen, sah aber über dessen Lage unbekümmert hinweg, ja, es schien, als ob er sie gar nicht richtig wahrnahm. Konnte Liebe dermaßen blind machen? Und Agishs eigene Lage war auch nicht ungefährlich. Sahen die Elulmavni ihn wirklich als einen der ihrigen an, oder schwebte er selbst in Gefahr, wie es sein Lied von der schönen Elulmau nahelegte, die auch ohne Waffen Rache übte: Komm, Schwester, du Schöne! Gib mir Lanze und Schild! Du trage das Kleid von Seide und Gold. Geh du zu den Hügeln im Osten und ich zu den Tälern im Westen, zu finden, zu strafen, zu zlenken die Feinde.“ Es war Abend geworden, da wurde die Tür entriegelt, Esxofi kam herein und fauchte: „Was gibst du meinem Agish dumme Gedanken ein?“ Als Sorla sie nur anblickte, setzte sie hinzu: „Ich sollte dich gleich zum Zlenken bringen. Gefällt dir das?“ „Ich schmecke nach Bitterwurzel, Prinzessin.“ Da musste sie wider Willen lachen. „Ich dachte, Menschen sind wie Quöschtlutze. Aber Agish hat recht: Du bist gar nicht so dumm.“ Ernster fuhr sie fort: „Dennoch hasse ich es, dass du mir in die Quere kommst. Man muss dich bestrafen.“ „Agish ist mein Freund, Prinzessin. Ihr habt ihn bezaubert.“ „Na und? Endlich ein Elulmau, der nicht zur Familie gehört!
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Denkst du, den lass‘ ich laufen? Weißt du, wie sehr das gemeinsame Singen trauriger Lieder mir manchmal auf die Nerven geht?“ „Ihr scheint eher Eurem Vater zu ähneln, Prinzessin, einem Mann mit Unternehmungsgeist. Darum glaube ich nicht, dass Ihr langfristig einen Mann lieben werdet, der nicht freiwillig bei euch bleibt, sondern nur, weil Ihr ihn seines Willens beraubt habt.“ Esxofi sah schweigend zu Boden. Dann sagte sie: „Du meinst, nur wenn sein Geist frei ist, kann er mich so lieben, dass er sich für mich entscheidet und beispielsweise gegen dich.“ „So kann man es sehen, Prinzessin. Aber wichtiger ist, ob auch Ihr ihn liebt oder er nur ein Spielzeug ist.“ „Meine Gefühle gehen dich einen kalten Mäusekot an, Mensch!“ fauchte sie und knallte die Kerkertür hinter sich zu, dass der Riegel zu fiel. Man hörte die beflissene Stimme des Wärters: „Kein Opfer heute?“ Doch er erhielt keine Antwort. * Am folgenden Abend erschien Esxofis Bruder. Er schien Sorla nicht zu beachten, sondern hob den Arm und schwenkte ihn im Halbkreis. Sorla hatte das erwartet und nahm all seine Willenskraft zusammen. Schon überlief ihn das Kribbeln, eine Gleichgültigkeit schlich sich in seine Gedanken – das spürte er noch – dann sackte er willenlos zusammen. „Was nehmen wir denn heute mit?“ murmelte der Elulmau. „Das Wildschwein hat euch gut gemundet, Eure Hoheit. Es hat in den letzten zwei Tagen auch wieder Lebenskraft gesammelt.“ „Gut, das Schwein. Und vielleicht den Menschen dort?“ Also tappte Sorla hinter dem Wildschwein die Stufen hinauf, geführt von dem Wärter. Im großen Saal saß der Alte in seinem blau gepolsterten Sessel. Auf den Sesseln daneben saßen zwei ältere Frauen, deren weiße Haare noch einige rote Strähnen aufwiesen, und sahen Sorla aus ihren grüngelben Augen neugierig entgegen. Esxofis Bruder nahm zwischen ihnen Platz und ließ sich
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abküssen. „Wir werden dich rufen, Wärter, wenn wir fertig sind“, sagte der Alte. Da zog sich der Wärter zurück, Sorla und das Wildschwein blieben vor den Sesseln stehen. „Wo ist Esxofi?“ fragte der Alte. Der Jüngere bewegte eine schlaffe Hand. „Sie führt ihren Agish spazieren.“ „Auch er ist ein Elulmau, zeige mehr Achtung, mein Enkel!“ „Du weißt, lieber Großvater, dass sie ihn bloß bezaubert hat.“ „Gut, dann müssen die beiden aufs Zlenken heute verzichten.“ Gemeinsam sangen sie nun ein tief trauriges Lied, dessen Sinn Sorla nicht verstand. Es schien von der Schönheit des Mondscheins auf den Hügeln und der heldenhaften Geschichte der Elulmavni zu handeln. Doch zugleich blickten die vier Elulmavni auf Sorla und das Wildschwein, sie öffneten halb ihre Lippen, und Sorla sah, wie die Eckzähne stärker hervortraten, die Zunge zwischen den Lippen umherfuhr und in den Augen Gier blitzte. Mit einem gurgelnden Schrei warf sich der Alte über das Wildschwein und grub seine Zähne in dessen Hals. Er lutschte, schmatzte und drückte sein Gesicht tiefer zwischen die Borsten des Tieres, dessen Keuchen sich in das Lustgestöhn des Alten mischte. Nun gab es auch bei den beiden Frauen kein Halten, sie stießen den Jüngeren beiseite, eilten zu Sorla hinüber, rissen von beiden Seiten an seinem Kittel, heulten enttäuscht auf, als sie darunter auf Murlingirs Kettenhemd stießen, und stießen rechts wie links ihre Zähne in seinen Hals. Es tat nicht einmal so weh, doch ein Kältegefühl begann vom Hals her sich auszubreiten. „Pfui!“ schrie die eine. „Bitterwurzel!“ Die andere war wortlos zurück gewichen, mit angeekeltem Gesicht. „Ist das wahr?“ murmelte der Jüngere, der erst jetzt herbei gekommen war. Er senkte seine Zähne in Sorlas Handgelenk, schüttelte sich wortlos, spie einen Mund voll Blut auf den Boden und
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wandte sich dem Wildschwein zu, über das nun auch die beiden Frauen herfielen. * Die dunklen Wasser des Norfell-Flusses umspülten seine Beine. Wenig fehlte, und er wäre von der binsenbewachsenen Böschung hinunter geglitten und im Fluss versunken. Die Kraft, sich hochzuziehen, fehlte ihm ganz. Da spürte er, wie etwas Riesiges seinen Leib packte und ihn hinauf aufs Land schleuderte, wo er rücklings liegen blieb, in den Augen das Licht des Mondes, vor das sich nun der riesige Kopf der Schlange schob, das böse, hartkantige Maul auf ihn gerichtet. „Was liegst du hier so schwach?“ zischte sie. „Oh Schlange! Sie sind zu mächtig, ich komme nicht dagegen an!“ Der Kopf kam so nahe herunter, dass er nächtlichen Himmel verdeckte. „Erkenne, wer du bist, kleine Schlange! Wage, dich deiner Macht zu bedienen!“ Sie packte ihn mit ihrem Maul und warf ihn hoch in die Luft, dass er zappelnd durch die Wolken flog. * Von dem gekochten Wildschwein aß Sorla ein paar Brocken, den Rest warf er den Quöschtlutzen vor. Aus der Ecke der unsichtbaren L’fumpai gluckste es leise: „Ich freue mich, dich lebend wiederzusehen.“ „Kind des Hon“, antwortete er. „Wie konntest du unsichtbar bleiben, auch als dein Wille gelähmt war?“ „Es ist nicht mein Wille, es ist mein Wesen, das mich unsichtbar macht. Und die Kraft dazu kommt von außen, weil ich ein Kind des Hon bin.“
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Sorla sann darüber nach. Ließ sich das auf seine eigene Lage übertragen? Besaß auch er eine Kraft, die von außen kam und deshalb nicht gelähmt werden konnte? Von welcher Macht hatte die Schlange gesprochen? „Erkenne, wer du bist!“ hatte sie gezischt. Nun, er war der Schlangenkaiser, jedenfalls gehörte ihm das Regenszepter. Er schlug mit der flachen Linken auf die gekrümmte Rechte – der grünblaue, kühle Stab erschien in seiner Hand. Sicher konnte das Szepter mehr als Wasser zaubern. Einmal hatte er damit Azluthos, den Hüter des Herzen von Batiflim, beschworen, weil er dessen Rat benötigte. Es hatte ihm dann gedient, auf magische Weise die Zisternen des Landes mit Wasser zu füllen. Vor allem aber war es ein Zeichen kaiserlicher Macht. „Wage es, dich deiner Macht zu bedienen“, wiederholte Sorla leise. Er richtete den Stab auf seine Fußschelle: „Löse diese Kette!“ Nichts geschah. Vielleicht hatte er es nur ungeschickt angefangen? Sorla schloss die Augen und dachte an den eisernen Ring um seinen Fuß. Zu Wasser soll das Eisen werden, flüsterte er. Da spürte er, wie das harte Gewicht auf seinem Knöchel verschwand und etwas Wasser seinen Fuß hinab rann. Sorla lächelte. Nun eilte er hinüber zur L’fumpai. „Kind des Hon!“ Die Kette rasselte und bewegte sich mit einem Ruck seitwärts. „Du hast mich erschreckt, Mensch! Wieso bist du frei?“ Er verwandelte auch ihre Kette in Wasser. „He, Mensch!“ gluckste der eine Quöschtlutz. „Uns auch!“ gurgelte der andere. „Und dann?“ fragte Sorla. „Kann ich euch trauen?“ „Klar!“ „Du bist der Chef!“ Sie glotzten ihn ausdruckslos an. Doch solange sie satt waren, ging wohl keine Gefahr von ihnen aus. Sorla befreite sie, hielt sich jedoch vorsichtshalber außerhalb ihrer Reichweite. „He, danke, Chef!“ „Und was jetzt, Chef?“
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Sorla grinste. „Wir warten auf den Wärter!“ Sie warteten lange Zeit. Sorla hielt das Regenszepter in der Linken und überlegte, ob es ihn wirklich schützen würde. Schließlich ertönten Schritte. „Haltet euch zurück!“ flüsterte Sorla. „Und versteckt die Füße im Stroh, sonst sieht man, dass die Fessel fehlt.“ „Gerissen, der Chef!“ „Wird gemacht, Chef!“ „Und du, L’fumpai, ...“ „Nenne mich Hef’glidsh, Chef!“ „Gut, Hef’glidsh. Stell‘ dich neben die Tür. Dann kannst du unbemerkt hinaus und uns später von außen öffnen.“ Die Tür ging auf, herein kam Agish. Die Quöschtlutze zitterten mit ihren Kehlsäcken, verhielten sich aber ansonsten ruhig. Agish eilte quer durch den Raum auf Sorla zu und warf sich ihm in die Arme: „Verzeih, Sorla! Ich war nicht ich selbst!“ „Der Chef wird angegriffen!“ „Der Chef braucht Hilfe!“ Doch die Quöschtlutze kamen keinen Schritt weit, denn Agish wirbelte herum, richtete den Arm sie, da sackten sie gelähmt zusammen. „Nicht schlecht, Agish“, sagte Sorla. „Der Aufenthalt hier hat dir genützt!“ „Nun ja“, sagte dieser und schaute Sorla unter seinen roten Locken hervor an. „Ich bin ein Elulmau und habe gelernt, wie ein solcher zu handeln.“ „Auf welcher Seite stehst du?“ „Ich bin dein Freund, Sorla. Ich werde die anderen überzeugen, dass sie dich ziehen lassen.“ „Du meinst, du kannst das?“ „Esxofi wird uns helfen. Sie liebt mich. Sie hat ihre Bezauberung von mir genommen, obwohl sie fürchtete, mich zu verlieren. So konnte ich mich frei entscheiden.“ „Und du hast dich entschieden, bei ihr zu bleiben.“ Agish nickte. „Wir zlenkten uns gegenseitig. Wir sind ein Paar.“ „Gut“, sagte Sorla. „Hoffentlich gelingt es dir, deine neue
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Familie dazu zu bringen, mich freizulassen. Erzähle ihnen von unseren Plänen, die Sümpfe wieder zu Hügeln zu machen, vielleicht hilft das.“ Agish zog die Brauen zusammen. „Ich fürchte nein, Sorla. Sie wollen keine Veränderungen hier. Mein Schwager sagte, durch die Sümpfe seien sie vor der Außenwelt geschützt.“ „Aber Esxofis Vater ...“ „Ja, das muss ein großartiger Elulmau gewesen sein. Leider starb er.“ „Er wurde vergiftet“, erinnerte ihn Sorla. Agish blickte gequält. „Wir können das nicht beweisen.“ Er verabschiedete sich und verließ den Kerker. Sorla wartete einige Zeit darauf, dass die L’fumpai die Türe öffne. „Hef‘glidsh?“ gluckste er dann leise. „Was ist?“ „Verzeih, Mensch! Ich hab‘ mich nicht getraut!“ * Bis zum Abend hatten die beiden Quöschtlutze sich wieder erholt. Sie glotzten ausdruckslos auf Sorla und machten leise, aber vernehmlich ihrem Unmut Luft: „Der Chef redet mit den Blutsaugern.“ „Er sollte lieber zuschlagen!“ Schritte ertönten im Gang. „Wenn das der Wärter ist“, sagte Sorla, „dann nehmt ihm den Spieß ab. Könnt ihr das?“ „Geht klar, Chef.“ „Wird erledigt, Chef.“ „Und du, Hef’glidsh ...“ Die Tür ging auf, der Wärter trat ein, den Spieß in der Rechten. Im selben Augenblick schnellten zwei Froschzungen quer durch den Raum und entrissen ihm die Waffe. „Gebt her!“ rief der Svampi mit dünner Stimme. Hinter ihm trat Esxofis Bruder ein, sah Sorla und hob den Arm, um ihn zu
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lähmen. Sorla hielt schon sein Regenszepter bereit – oh Atne, ich hoffe, es hilft! - er spürte, wie die Kältewelle ihn ansprang, dann aber kraftlos versiegte. Das bekam der Elulmau jedoch nicht mit, denn eben brach er zusammen –ein Schemel war ihm von hinten über den Kopf geschlagen worden. „Warst du das, Hef‘glidsh?“ fragte Sorla. „Ich habe meinen ganzen Mut zusammen genommen“, gluckste es unsichtbar von der Tür her. „Und den meiner Familie noch mit, damit es reicht.“ „Gut gemacht!“ lobte Sorla. „Auch ihr, Quöschtlutze! Jetzt schnappt euch den Wärter!“ Mit einem Satz fielen die beiden Froschkerle über den Svampi her. Eben stand dieser noch zitternd mitten im Raum, nun flatterte er plötzlich als große, blassgrüne Fledermaus herum, doch das half nichts, denn die Froschzungen schnellten durch den Raum und zerrten den Svampi zu den breiten Mäulern. „Ich sagte, schnappen, nicht verschlingen!“ rief Sorla. „Zu spät, Chef!“ „Schmeckt hervorragend, Chef!“ Als Sorla nach dem Elulmau sah, war dieser verschwunden. Sorla rannte durch die offene Kerkertür hinaus und blickte in den langen Gang. Zu sehen war niemand, doch hastige Schritte hallten von den Wänden wider und waren schon nicht mehr zu hören. Im Kerker bejammerte die L’fumpai leise ihren Fuß. Sie hatte ihn geistesgegenwärtig nach vorne gehalten, als der Elulmau sich unsichtbar an ihr vorbei drängte und die Kerkertür zuwerfen wollte. So war die Tür offen geblieben, aber der Fuß verstaucht oder gar gebrochen. Leider war jetzt nicht die Zeit, ihn zu untersuchen. Eben kamen die Quöschtlutze herbei: „Der Spieß, Chef!“ „Der Schlüsselbund, Chef!“ „Danke! Und könnt ihr die L’fumpai tragen? Aber nicht fressen!“ „Ich seh‘ nix, Chef!“ „Da is‘ nix, Chef!“
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Auch die L‘fumpai sträubte sich, denn sie wollte nicht von glitschigen, gefräßigen Froschkerlen berührt werden. Es half ihr nichts, einer der beiden tastete umher, bis er sie zu fassen bekam, und schwang sie sich über die Schulter. Dann eilten sie die von Fackeln spärlich beleuchteten Gänge entlang. Zweimal musste Sorla Türen aufschließen, das kostete Zeit. Schließlich ging es viele Steinstufen hoch, die in einen dunklen Raum führten. Sorlas Glygi erglomm und tauchte alles in sein sanftes blaues Licht. „Was’n das?“ gurgelte der eine Quöschtlutz leise. „Wie’n Glühwurm!“ gluckste der andere. Zwei Froschzungen schnellten durch den Raum, doch der Glygi war ihnen ausgewichen. „Lasst das sein!“ ermahnte sie Sorla. “Wir brauchen das Licht! Und seid leise!“ Die beiden Froschkerle pressten ihre breiten Mäuler zusammen und glotzten ausdruckslos auf das Licht des Gnomensteins. Als Sorla die Tür gegenüber vorsichtig aufschloss, erlosch der Glygi. Sie standen am Anfang einer breiten, von Fackeln beleuchteten Treppe. In der Ferne hörte man einen Gong; wohl derjenige, den Sorla neben dem Sessel des alten Elulmau gesehen hatte. Drei Svampi eilten eben vorüber und starrten auf die Entflohenen. Sorla schleuderte den Spieß. In die Brust getroffen sackte der mittlere Svampi zusammen und verwandelte sich in eine reglose Fledermaus. Die beiden anderen wichen zurück, da rannten, auf Sorlas Wink, die beiden Quöschtlutze herbei und packten sie, bevor diese ihre Dolche ziehen konnten. Auch sie verwandelten sich und versuchten davon zu flattern, aber die Froschkerle rissen ihnen die Köpfe ab und eigneten sich die Dolche an. „Macht Spaß, Chef!“ „Weiter so, Chef!“ Hinter Sorla gluckste die unsichtbare Hef‘glidsh: „Ich will lieber selbst gehen als ständig fallen gelassen werden!“ „Dann hole dir den dritten Dolch.“ Tatsächlich verschwand die Waffe, die noch eben auf den Steinfliesen gelegen hatte, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Offensichtlich war der Fuß doch nicht gebrochen.
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Noch immer klang der Gong, wütender und dringlicher als zuvor. Man hörte, gedämpft von der Tür am oberen Ende der Treppe, die Stimme des Alten: „Wo bleibt die Wache?“ Sorla winkte den anderen, ihm zu folgen, und eilte die Stufen hinauf. An der Tür zu der großen Halle verharrte er und flüsterte: „Ich gehe zunächst alleine hinein. Haltet mir den Rücken frei. Und wenn mir was zustößt, dann schlagt euch ohne mich durch.“ „Nur Mut, Chef!“ „Das klappt schon, Chef!“ Die L’fumpai gluckste leise: „Ich stehe dir bei!“ Sorla nahm das Regenszepter in die Linke und den Spieß in die Rechte, dann öffnete er die Tür und trat in den Saal. Mindestens zwanzig Elulmavni, alt und jung, starrten ihm mit grüngelben Augen entgegen. In der Mitte saß Esxofis Großvater als Oberhaupt der Sippe. Der Ratgeber stand dabei. „Aha, der junge Mensch!“ sagte der Alte. „Sehr mutig, dich hierher zu wagen!“ „Oder dumm!“ murmelte sein Enkel. „Die Bitterwurzel hält nicht ewig vor!“ Die älteren Frauen kicherten. Sorla blickte Agish ins Gesicht, der am äußeren Rand, doch nahe Esxofi saß. „Agish, nun musst du dich entscheiden.“ Der Angesprochene stand auf und sah sich um. Schließlich sagte er: „Dies ist schlimm für mich. Vor kurzem erst habe ich herausgefunden, wer ich wirklich bin. Und ich habe die Frau gefunden, die ich liebe.“ Er blickte auf Esxofi. „Aber ich kann meinen Freund nicht im Stich lassen.“ „Wie kann dir ein Mensch wichtiger sein, als wir Elulmavni es sind?“ empörte sich der Alte. Esxofi sprang auf. „Wenn mein Vater noch lebte, dann hätte er an Agish und seinem Freund Sorla mehr Freude als an euch allen zusammen. Er hätte ihren Plan begrüßt, die sagenhaften Hurknischen Hügel wieder aus den Sümpfen entstehen zu lassen. Leider starb er, vielleicht wurde er vergiftet, und ihr könnt weiterhin beruhigt im Sumpf hocken und die große Vergangenheit der Elulmavni besingen!“
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Ihr Bruder fuhr hoch: „Unterstellst du ...?“ „Das sind eure Familienangelegenheiten“, winkte Agish ab und wandte sich Esxofi zu. „Meine Liebste, kommst du mit mir?“ „Das untersage ich dir, Esxofi!“ sagte der Alte scharf. Die älteren Frauen murmelten zustimmend. Der Jüngere aber schrie: „Dieser Mensch dort, er ist schuld!“ Er hob seinen Arm in dessen Richtung, um ihn zu lähmen. Darauf war Sorla gefasst; er hob das Regenszepter, um die Lähmung abzuwehren, dann trat er vor und stieß den Elulmau in seinen Sessel zurück. Dieser stammelte fassungslos: „Wieso bist du nicht gelähmt?“ „Ich bin der Schlangenkaiser!“ Der Alte mühte sich aus seinem Sessel: „Das wollen wir doch sehen!“ Auch er hob den Arm, mit ihm die meisten anderen Elulmavni. Aber Agish und Esxofi sprangen vor ihn, um ihn zu decken. Die Elulmavni blickten unentschlossen, einige murmelten leise vor sich hin. Sorla sah, wie sich der Ratgeber leise seitlich weg bewegte – unauffällig genug in seinem grauen Umhang, wie er wohl hoffte. „Wenn du dich entfernen willst, Takilis“, sagte Sorla, „dann nur zu!“ „Zu gütig!“ murmelte der Svampi und huschte an der Wand entlang und hinter Sorla zur Tür hinaus. Der jüngere Elulmau versuchte ein schadenfrohes Lächeln hinter der Hand zu verbergen. Im nächsten Augenblick hörte man das Geschrei des Ratgebers, dann ein ersterbendes Röcheln. Jetzt lächelte Sorla. „Ich mag kein Svampi-Fleisch mehr!“ gurgelte es von draußen. „Lass es liegen“, gluckste es zur Antwort. Eine sehr bejahrte Elulmau sah sich verwirrt um. „Was gluckst da so? Die Regenrinne muss repariert werden!“ Keiner antwortete darauf. Sie schienen auf etwas zu warten. Schon wieder ertönten von draußen unterdrückte Schreie und Kampfgeräusche, dann hilfloses Geflatter. Es mussten, schätzte Sorla, mindestens vier Svampi gewesen sein, die seiner Türwache in
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die Fänge geraten waren. In die folgende Stille sagte Sorla: „Auf Hilfe von außen braucht ihr nicht zu hoffen. Jetzt möchte ich meine Waffen und Ausrüstung zurück.“ Esxofi nickte ihrem Bruder zu: „Los, hole die Sachen!“ „Was? Dort draußen lauern seine Ungeheuer! Geh du doch, Schwester!“ Sie sah ihn verächtlich an. Zu Sorla gewandt, sagte sie: „Es liegt alles in der Kiste dort an der Wand. Bediene dich, Schlangenkaiser!“ „Danke, Prinzessin!“ Die Elulmavni saßen wie versteinert. Während Sorla den Rucksack anlegte, daran sein Schwert Hekfir-hul befestigte und das Messer Schlangenzahn in den Stiefelschaft steckte, verschwand Esxofi und kehrte in wenigen Augenblicken mit weiteren Rucksäcken, Decken, Mänteln zurück und ließ alles vor Agish fallen: „Schon gestern vorbereitet!“ lächelte sie sanft. „Ich ahnte, wie du dich entscheidest.“ Agish umarmte sie. Sorla nickte zufrieden. „Dann wollen wir uns verabschieden. Wer in der nächsten halben Stunde den Saal verlässt, wird von meinen unsichtbaren Ungeheuern abgeschlachtet.“ Damit verließ er den Saal, Esxofi und Agish folgten ihm und schlossen die Tür. Fünf Schritte weiter lag ein Haufen zerfetzter Svampi. Dahinter hockten die beiden Quöschtlutze und sahen Sorla und seine Begleiter ausdruckslos an. Jeder hielt eine Art Tasche, die sie sich aus Svampi-Flügeln gebastelt hatten, gefüllt mit allem, was in der letzten halben Stunde angefallen war: Ringe, Beutel, Halsketten, aber hauptsächlich Dolche. „Alles klar, Chef?“ „Was jetzt, Chef?“ Sorla grinste. „Und du, Hef‘glidsh? Keine Beute gemacht?“ Irgendwo aus der Nähe gluckste es leise: „Der eine Dolch reicht. Es gibt kein Kind des Hon, das es wagt, einen Dolch anzufassen.“ „Außer dir, Hef’glidsh, du Tapfere. War kein schöner Ring oder so was dabei?“
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Kurzes Zögern, dann flüsterte sie: „Ihr dürft mal schauen, aber es ist mir peinlich.“ Nahe der Wand erschien auf einmal eine dünne, braunzottelige Gestalt und blickte aus großen, gelben Augen schüchtern umher. Die rechte Hand umklammerte noch immer den blutigen Dolch, die langen Finger der linken hielt sie ausgestreckt nach vorne, dort glänzte ein Ring mit grün funkelndem Stein. „Hübsch, die kleine L’fumpai!“ „Zum Fressen süß!“ Das war zuviel, Hef’glidsh verschwand wieder. „Wer war denn das?“ fragte Agish. „Eine L’fumpai, mein Liebster“, erklärte Esxofi sachlich. Sorla vermutete, dass sie im Laufe ihres Lebens schon mehrfach Gelegenheit hatte, Kinder des Hon zu zlenken und ihre toten Körper zu betrachten. Er nahm sich vor, sie zu verpflichten, sich beim Zlenken an Tiere zu halten. Agish, so hoffte er, würde ihn dabei wohl unterstützen. Jetzt aber gab es Dringlicheres. Agish nahm die beiden Quöschtlutze an je einer Hand, Esxofi ergriff die Hand Sorlas und die der unsichtbaren L’fumpai, dann tloften sie, sausten durch die abendlichen Gänge der Burg hinaus und in die Freiheit der Sümpfe.
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GLOSSAR Abchandru: Erster Kampfmagier und Zweiter Vorsitzender der Zaubernden Gilde in Kriteis. Er ist dick und trägt eine eindrucksvolle blaue Robe. Er kämpfte bei den aufständischen Truppen des Perlek-Clans. Aedh-Hiloiadh: Der alte Elfenname für Ailat. Früher lebten dort Elfen. Aejop-Hügel: Ein mit Zypressen bestandener Hügel am nördlichen Rand der Stadt Kriteis. Dort soll es spuken. Agish: Ein Feuerreiter, jung und begeisterungsfähig. Sein Vater ist Hoglesh aus der Familie der Illmani in Ekritmea. Er hat rotes Haar und grüngelbe Augen. Agla Schlangenfreund: Der achtzehnte und letzte hernostische Kaiser. Er wurde ungefähr vier Generationen vor Sorlas Geburt ermordet. Agra: Hafenstadt in der kaburischen Bucht, an der Ostküste von Spakjo. Hauptstadt der gleichnamigen Grafschaft. Man spricht dort einen Dialekt des Hernostischen. Ailat: Ein kleineres Land, benannt nach der Stadt Ailat. Es erstreckt sich von der Ailat-Bucht (mit der Hauptstadt) mit dem Fluss Eldran als Hauptverkehrsachse nach Norden bis zu den Grauen Bergen, die es nach Westen hin vom hernostischen Kaiserreich trennen. Aistiken: Vollwaise, ihr Vater war Tannes aus Walddorf im Norden Ailats. Lebte bei ihrer Tante Kräuter-Liska in Stutenhof. Sie ist in Sorlas Alter, vielleicht etwas jünger. Ak'men: Gott der Diebe und Akrobaten. Neffe der Göttin Atne. Akritiles: Ein hernostischer Gelehrter der Geschichte, der wegen Veröffentlichung unliebsamer Wahrheiten enthauptet wurde. Alter Wall: Eine Prachtstraße in Ekritmea, die vom Anod-Tempel zum Hafen führt. Sie ist mit Platanen gesäumt. Amulett Tainas: Ein winziger Schild aus silberhellem Metall. Leuchtet im Dunkeln. Es schützt vor untoten Wesen. Anlur: Einer der Soldaten, die Sorla während seiner Strafaktionen begleiten. Er ist charakterlich nicht sehr gefestigt.
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Anod: Der Sonnengott. Während er in ländlichen Gegenden verehrt wird, weil er die Dunkelheit vertreibt, scheint er im Kaiserreich eher eine staatstragende Rolle zu spielen. Argslokir: Ein berühmter Zwerg, der sein Leben bei dem Versuch verlor, einem Ungeheuer dessen Schätze abzunehmen. Arphelos: Ein Zentaur. Arrhid: Oberpriester im Tempel der Kriegshunde. Asadhoan: Fürstin von Horadh. Asami: Fluss in der Provinz Horadh. Asing: Winzige Kupfermünze; siehe Münzsystem. Asnuk: Angehöriger von Murnaks Sippe. Atelbe: Ehemaliger Machthaber in Brindhal. Er hatte das Geschlecht der Liarstil mit üblen Methoden entmachtet und mit seinem Heer von Untoten Angst und Schrecken verbreitet. Sorlas Freund Horell gelang es, ihn unschädlich zu machen. Atne: Göttin des Glücks. Ihre Töchter sind Dana, Frena, Tara und Mala. Attul: Ein Hetman der Ramtasi. Hochgewachsen und sehnig, mit buschigen Brauen. Auge der Berge: Ein Felsblock mit besonderen Fähigkeiten, wird von einem Riesen umhergetragen und bedient. Azluthos: Hüter des Herzen von Batiflim; eine Art Dämon. Balyrg: ein Kriegsgott, der vor allem im Herzogtum Ailat verehrt wird. Batiflim: Gebirgige Region im Norden des Hernostischen Kaiserreichs, dem sich die Bewohner allerdings nicht sehr verbunden fühlen. Die Bäche der seitlichen Hochtäler münden alle in den Fluss Bato. Es soll auf einer Hochebene dort eine Schatzkammer geben, zu der Sorlas goldener Anhänger den Zugang ermöglicht. Bato: Der Fluss, nach welchem die ganze Region von Batiflim ihren Namen hat. Er fließt nach Süden ins Meer und versorgt dabei das Kaiserreich mit seinem Wasser. Benili: Studentin der hernostischen Geschichte. Bergtroll: Größer als gewöhnliche Trolle, fast schon riesengroß, hausen die Bergtrolle oberhalb der Baumregion zwischen den Felsen. Zum Schlafen bedecken sie sich mit Geröll, sie werfen Felsen und ernähren sich von Steinböcken oder was sonst in ihre
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Pranken fällt. Zum Glück kommen sie nur selten vor. Besser Ungenannte („Die Besser Ungenannten“): uralte, schlimme Gewalten aus der Zeit vor den Göttern. Birgen: Fürst Slutrs Geliebte stammte aus einer großbäuerlichen Familie. Ihr Sohn ist Ruman. Bishoumat: Stadt im Norden Hernostes, am Flusse Bato gelegen. Hat viel ihrer früheren Bedeutung und Größe verloren, ist aber noch immer ein bedeutendes Handelszentrum. Bisum Oslan: Ein Mitarbeiter des hernostischen Geheimdienstes. Bitterwurzel: Eine entsetzlich bittere Wurzel, die man in den Sümpfen findet; wer sich vor Blutsaugern aller Art schützen will, nimmt sie allerdings freiwillig zu sich. Blume von Kriteis: Kratolisches Frachtschiff, das den Fehler beging, der Schnellen Susla zu begegnen. Boflu: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“, kämpft am liebsten mit dem Säbel. Borletgar: Eine rotzöpfige jüngere Zwergin in den Weißen Bergen. Borschko: Deckname Resthourroms. Bratschnecken: Sorlas Leibgericht bei den Pelkoll-Gnomen. Bretjeka: Eine Insel, westlich der Spakjo-Halbinsel vorgelagert. Brindhal: Hauptstadt von Sidhland, am östlichen Teil der Bucht von Rodnag gelegen. Brothenfimpir: ein Zwergenkrieger aus den Weißen Bergen, lebte vor undenklichen Zeiten und ist vielleicht nur eine Sagengestalt. Er raubte die Elfenfürstin Dheanfiol und tat ihr Gewalt an; so zeugte er Gemenkinnen, den Stammvater der Gnome. Brückenzeichen: Von den Zwergen verwendete Rune, mit deren Hilfe man weite Strecken magisch überbrücken kann. Brunnenjungfrau: Als diese wird Zusnild nördlich Ekritmeas in einem Tempel geehrt. Das Fest der Brunnenjungfrau findet alljährlich im Vorsommer statt. Burk: Hukaris Hund. Leider wurde er von einem Troll gefressen. Jetzt hat Hukari zwei andere Hunde. Burothrir: Zwerg aus den Grauen Bergen. Sein roter Bart ist gegabelt, die Zipfel sind mit Knoten geschmückt. Sorla kennt ihn aus seiner Kindheit.
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Bursuk: Ein Hetman der Ramtasi. Ein großer, massiger Mann mit Glatze. Chaddam Muhab: Ein alter Anod-Priester in Kriteis, über neunzig Jahre alt. Auf seiner Schulter sitzt ein Kauz, was zu einem Verehrer des Sonnengottes eigentlich nicht passt. Chastoides: Besitzer eines Mietstalles in Ekritmea. Dass der Name eigentlich „Bescheidener Diener der Wahrheit“ bedeutet, ist so unpassend, dass Chastoides selbst darüber lachen muss. Daful: Ein Deckname, den Tok-aglur gelegentlich gebrauchte. Dana die Liebreizende: Göttin der Liebe und des Frühlings. Eine der vier Töchter Atnes, schlank wie eine Birke, mit langem Haar, weißer Haut und rotem Mund. Die weißrote Apfelblüte ist ihr Zeichen. Datasik: Das erste Wort, das Sorla bei Memliks Sippe lernt. Es heißt „Blutsbruder”. Delasko: Der alte Priester des Atne-Tempels in Ekritmea. Er stammt von den kaburischen Inseln. Dha-sy-Bato: Eine kleine dunkelhaarige Dryade mit grünen Augen, Kind von Ysalde und Sorla. Ihre Buche steht nahe einer Furt durch den Oberlauf des Flusses Bato. Die Sippe Memliks, zwei Tagesreisen entfernt, gehört zu ihren nächsten Nachbarn. „Dha-sy-Bato“ bedeutet in der in Batiflim geläufigen Sprache „Wächterin der Furt über den Bato“. Man darf sie aber auch Dhasy nennen. Dheanfiol: eine Elfenfürstin aus längst vergangener Zeit. Mutter von Gemenkinnen. Die vom Hügel: Eine Gruppe, die von zwielichtigen Machenschaften lebt und auf dem Aejop-Hügel in Kriteis ihren Sitz hat. Dörrer: Unsichtbare kleine Wesen, die auf den trockenen Hochebenen von Batiflim umher geistern und Wasser vernichten. Allzu feuchte Orte werden von ihnen jedoch gemieden. Je mehr sie ihre Opfer schädigen, desto sichtbarer werden sie für diese. Dostonoides: Gildenmeister der „Vorurteilsfrei Nehmenden“. DRACHE: Sorla kennt zunächst nur diesen einen, und falls er einen Namen haben sollte, hat er ihn Sorla nicht preisgegeben. Der DRACHE hat schillernd schwarzblaue Schuppen, seine Augen
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leuchten in hartem Gelb. Sein Atem ist heiß, und wenn der DRACHE will, kann er Feuer spucken. Von Kopf bis Schwanzende misst er etwa 15 Schritt. Die Elfen sagen aber, mit seinen vierhundert Jahren sei er noch recht jung, es gebe weit ältere und riesigere Drachen. Drachenfreunde: So heißt Memliks Sippe, und zwar aus gutem Grund. Dremke: Schmaler Silberring; siehe Münzsystem. Dryaden: Weibliche Baumgeister. Manche Bäume sind von ihnen bewohnt bzw. beseelt. Dryaden können einen Menschen zu sich in den Baum hineinziehen, um ihn zu töten, zu lieben oder aus welchem Grund auch immer. Dryaden entwickeln sich anfangs sehr schnell. Nach zwei Jahren sind sie wie ein vierjähriges Menschenkind, nach vier wie ein achtjähriges. Mit zehn Jahren sind sie voll erblüht und bleiben jung und schön, solange ihr Baum wächst und gedeiht. Duna: Das Mädchen, in welches Anod in Liebe entbrannt ist, doch da sie nur nachts unterwegs ist, kann er mit ihr nie zusammensein. Man sagt, sie sei so schön wie das Leben. Es gibt eine Erzählung, in der sie Anod vor den Ränken der Schwarzen Dreiheit hilft. Durethin: Zwerg aus den Grauen Bergen. Sein brauner Bart ist nicht geflochten, aber unter den Gürtel geklemmt. Sorla kennt ihn aus seiner Kindheit. Dusa: Die Dusa ist ein großer Strom, dessen Quellen nördlich von Batiflim entspringen. Er durchfließt die großen Steppen nach Norden. Easmil: Ein Fürstensohn vom Volke der Minhiol. Sorla trifft ihn im Zwergenreich in den Weißen Bergen. Edsighla: Ein geschicktes und sehr hübsches Mädchen aus Agra. Eflem: Goldmünze; siehe Münzsystem. Egelwurz: Eine riesige Pflanze in den Großen Sümpfen, die den arglos Vorbeikommenden festhält und aussaugt. Ehrt die Sonne: Ein großer Platz in Ekritmea. In der Mitte steht der alte Anod-Tempel, von hier führt der Alte Wall zum Hafen. Eidwon der Blinde: einflussreiches Mitglied der Diebesgilde in Seedorf. Innerhalb der Gilde wird er Meister Eidwon genannt.
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Ekritmea: Die hernostische Kaiserstadt. Bedeutende Hafenstadt im Mündungsgebiet des Flusses Bato. Elbenwald von Rhosmea: Siehe Rhosmea. Eldran: Ein großer Fluss, der in den Grauen Bergen entspringt, bei Fellmtal die Flüsse Norfell und Fregnas aufnimmt und im Süden bei Ailat-Stadt ins Meer mündet. Sein Wasser ist kalt und grau. Elemente: Feuer (Drachen), Wasser (Schlangen), Luft (Pferde), Erde (Bäume) Elfen: Eine menschenähnliche Rasse, doch zierlicher gebaut und von großer Schönheit. Die spitzen Ohren sind das deutlichste Unterscheidungsmerkmal. Es gibt noch alte Elfenstraßen und Denkmale aus der Zeit, bevor sich die Elfen vor dem sich rasch ausbreitenden Geschlecht der kurzlebigen Menschen in tiefe Wälder zurückzogen. Elfensicht: Die Gabe der Elfen und Gnome, im Dunkeln besser zu sehen, als es Menschen möglich ist. Eine Ausnahme bilden die Sidh, da sie Elfenblut in sich haben. Die mit Elfensicht Begabten sehen auch bei Tage besser und schärfer als normale Menschen. Elulmau: Ein Angehöriger der Elulmavni. Elulmavni: Eine menschenähnliche Rasse, die abgeschieden in den Hurknischen Sümpfen lebt. Sie haben rote Haare und grüngelbe Augen. Um „tlofen“ zu können, müssen sie ab und zu „zlenken“. Außerdem singen sie wunderschön, wobei sie Obertöne mitschwingen lassen. Emarso: Ein kaiserlicher Soldat. Enaiphalos: Ein Zentaur. Enduhal: Gott der streitbaren Gerechtigkeit. Erlaubtes Licht: Damit die Anhänger der Schwarzen Dreiheit bei ihren dunklen Zusammenkünften etwas sehen können, ist ein düsteres, fahlgelbes Licht erlaubt, denn man nimmt an, dass dieses Licht den Schwarzen Gewalten nicht zuwider sei. Das Erlaubte Licht wird durch dunkle Magie erzeugt. Ers: Siehe Münzsystem im Hernostischen Reich. Esxofi: Prinzessin der Elulmavni.
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Fellmtal: Ort, wo Eldran, Fregnas und Norfell zusammenfließen. Der alte Teil liegt am Ostufer des Eldran, dort ist der große Pferdemarkt. Der neue Teil liegt am Westufer an der Alten Straße. Hier gibt es Gasthäuser etc. Fenruthin: Ein berühmter Forschender Zwerg. Murlingir ist sein Sohn. Feuerreiter: Eine Gruppe von Männern, die in Ekritmea Brände bekämpfen, Menschen aus den Flammen retten etc. Flasse: im Sommer meist nackt, im Winter mit wunderlicher Pelzkleidung bedeckt. Hat langes, zotteliges braungraues Haar. Lebt einsam auf der Weideninsel des Eldran-Flusses. Er kann gut heilen und hat noch andere überraschende Qualitäten. Flusstrollweib: Es gibt nur eines; siehe Squompahin-laschre. Fregnas: Dieser Fluss entspringt in den Grauen Bergen und fließt bei Fellmtal mit den Flüssen Eldran und Norfell zusammen. Sein Wasser ist trüb und braun. Frena die klug Waltende: Göttin, Schützerin der Frauen und des Hauses. Tochter Atnes. Sie wird mit weiblichen Formen dargestellt. Ihr Zeichen ist der reife Apfel. Furoltin: Zwerg in den Grauen Bergen, Sohn des Hurmothin. Fuska: Vorsteher eines kleinen Dorfes im Asami-Tal. Geheimes Gewölbe: die versteckte Schatzkammer im Palast der Liarstil in Brindhal. Geisel der Vastouris: Reitervolk aus dem Norden der Taipalsteppe. Sie arbeiten nicht, züchten nicht, bauen nichts an, sondern überfallen Dörfer, Karawanen etc. und wenn alles leer geplündert ist, ziehen sie weiter. Gelbauge: eine von zwei neugierigen Krähen auf der Hochebene von Batiflim. Gemenkinnen: nach einer Sage der erste Gnom, Sohn der Elfenfürstin Dheanfiol und des Zwergenkriegers Brothenfimpir. Er bekam von seiner Mutter das Schwert Schlangenjäger. Giaruron: Der Oberste Priester im Anod-Tempel der Kaiserstadt Ekritmea. Gilse die Hilfreiche: Gnomfrau im Pelkoll, half Taina bei der Geburt Sorlas. Gimkin der Vielseitige: Gnom aus dem Pelkoll und Tainas besonderer
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Freund. Girrhol: Arbeitet im Auftrag der Sechs Familien, ungefähr in Tokaglurs Alter, denn sie wuchsen zusammen auf. Girsu der Dunkle: Gnom aus dem Pelkoll. Er und Sorla erlebten gemeinsame Abenteuer südlich vom Kirsatten. Glöckchengecko: Solche Geckos kommen in den Sidhlanden und anderen warmen Gegenden vor. Sie lassen hin und wieder ein silberhelles „Pling“ ertönen, was zu ihrem Namen führte. Glucksen bedeutsamer Blasen: Dies ist die Sprache der L’fumpai und einiger anderer Wesen in den Großen Sümpfen. Glygi: Jeder Gnom bekommt bei seiner Geburt einen Gnomenstein, der ihn begleitet und mit seltsamen Eigenschaften versehen ist. In der Guten Sprache der Berge heißen sie Glygi. Einen solchen bekam Sorla als kleines Kind geschenkt. Gmyndars: Eine junge, wissensdurstige Dryade, Tochter von Sorla und Ysalde. Sie lebt in einer kleinen Buche, die auf der Waldlichtung nahe dem Gnomfluss wächst, wo der Frena geweihte Elsbeerenstrauch steht. Gneli der Gewaltige: Sippenchef der Pelkoll-Gnome. Gnomberge: Der Pelkoll, der Ofkoll, der Persatten, der Rück und viele mehr. Sie befinden sich östlich des Eldran am Gnomfluss. Hier leben die Gnome, mit welchen Sorla vertraut ist. Natürlich gibt es auf dieser Welt noch viele andere Berge mit anderen Gnomenvölkern. Gnome: Eine menschenähnliche Rasse, halb menschengroß, lebt z.B. in den Gnombergen östlich des Eldran. Braunes, faltiges Gesicht, helle, blitzende Augen, meist weißes Haar. Die zugespitzten Ohren verraten elfische Verwandtschaft. Gnomenstein: Siehe Glygi Gnomfluss: Ein kleinerer Fluss, der bei Stutenhof in den Fluss Eldran mündet. Er entspringt im Bereich der Gnomberge Rück, Ralkoll und Persatten. Gobil der Meisterschleifer: ein Pelkoll-Gnom, selbst für Gnome sehr schmächtig gebaut, aber ein Edelstein-Kenner. Golbi der Schreiber: ein Pelkoll-Gnom, Experte für Bücher, Schriften und Sprachen. Sein zweites Interesse ist die Wissenschaft vom
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Auffinden edler Steine im Berg. Gonli der Waffenmeister: Gnom aus dem Pelkoll. Er bewahrt das Schwert "Schlangenjäger". Goul (Der Schwarze Goul): Ein Dämon, wird zur Schwarzen Dreiheit gerechnet. Er treibt sein Unwesen im Totenreich. Graf von Agra: In seiner Bibliothek brach Tok-aglur einst ein, dabei schwängerte er mindestens eine der Gespielinnen des Grafen. Graue Berge: Gebirgskette im Norden des Landes Ailat. Dort entspringen die Flüsse Eldran, Norfell und Fregnas. Grauer vom Berg: Ein merkwürdiges Männlein, das in einer einsamen Berggegend Batiflims lebt und gelegentlich Wanderer in Unterhaltungen verstrickt. Große Sümpfe: befinden sich eine Tagesreise östlich der Sidhlande und grenzen westlich davon, an die Ausläufer der Grauen Berge. Großzügig Nehmende: der Name der Diebeszunft in Agra. Grottenschlangen: Große Schlangen, die in Höhlen und im Bergesinneren leben. Sie wurden von den Gnomen in ihrem Gebiet ausgerottet. Dabei half ihnen das Schwert Schlangenjäger, das ihnen Gemenkinnen hinterließ. Grutli der Ungebärdige : Ein Hurkoll-Gnom, der bereits in der Halle der Helden lag. Gselbe die Schützin : Eine Hurkoll-Gnomin, die bereits in der Halle der Helden lag. Gulris die Heilerin : Eine Hurkoll-Gnomin, mit ihren achtzig Jahren noch recht jung. Gute Sprache der Berge: Gemeinsame Sprache der Gnome und Zwerge. Kehlig und wohlklingend. Gwerdele : Eine Gnomin vom Hurkoll. Als sie starb, musste sie den Sargdeckel über sich zuziehen, da sonst keiner mehr lebte. Gwimlin der Wandelbare: ein Pelkoll-Gnom, wuchs mit Sorla zusammen auf. Sie erlebten gemeinsam viele Abenteuer. Hamik: gehört zu Morseks Sippe. Er hat braungelbe Augen und ist untersetzt und stark behaart. Hasmasu: Sorlas Privatlehrer im Palast zu Brindhal. Eigentlich ist er Tainas Oberschreiber und schon siebzig Jahre alt. Er stammt vom heißen Tuneg-la jenseits des Meeres Milat.
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Hebel der Macht: Ein Hebel wird vom Zwerg Murlingir bewacht, ein zweiter findet sich in Irkansels Turm. Es soll aber drei Hebel geben. Hef’glidsh: Eine tapfere L’fumpai aus den Hurknischen Sümpfen. Hefterides: Ein älterer Kaufmann aus Kaharad. Vielleicht ist er aber auch ein Spitzel und heißt ganz anders. Hekfir-hul: Das Schwert, das Sorla im Hurkoll findet. Es wurde von Zwergen geschmiedet. Der Name stammt aus der Guten Sprache der Berge und bedeutet Wegfinder. Hemherbate: Das Heimattal des Perlek-Clans, das einst durch die Machenschaften Sinn-he Falas des Leuchtenden in eine trockene Hochebene verwandelt wurde. Die einstige Hauptstadt ist als Ruinenstadt noch heute erhalten und wird Stadt der Geister genannt. Dort befindet sich auch das Herz von Batiflim. Hende-raska: das fliegende Pferd Anods, ein Geschenk Urskals. Hense: Ein falscher Name, den sich Sorla gelegentlich zulegt. Heril der Hengst: Ein Barbar aus der Taipal-Steppe, den es an den Fluss Eldran verschlug, wo er auf einem entlegenen Gehöft den Ramlok-Kult einführte. Lange blonde Haare, in Zöpfen geflochten, kräftiges Aussehen. Nach seinem Tod wurde er in die unsterbliche Herde Ramloks aufgenommen. Hernoste: Dieses Land bildet das Zentrum des von ihm geschaffenen Hernostischen Kaiserreiches. Es grenzt im Süden ans Meer, im Norden an die Provinz Batiflim. Der Fluss Bato ist einer der wichtigsten Transportwege und liefert einen Großteil des Wassers für das ausgeklügelte Bewässerungssystem der fruchtbaren Ebenen von Hernoste. Die Hauptstadt Hernostes liegt im Landesinneren am Bato und heißt ebenfalls Hernoste. Hernoste-Stadt: Eine alte Stadt am Fluss Bato im Landesinneren. Sie war ursprünglich die Hauptstadt des Landes Hernoste, aber als das hernostische Kaiserreich entstand, verlor sie ihre Bedeutung. Hernostisch: Diese Sprache wird im Hernostischen Kaiserreich gesprochen – außer in Batiflim – und auch in den umliegenden Ländern zumeist verstanden. Einen hernostischen Dialekt
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spricht man in Agra. Hernostische Dynastie: Begründet von Sinn-he Fala dem Leuchtenden. Die Herrscher dieser Dynastie tragen den Titel Schlangenkaiser. Er zeugte mit Zusnild den Sohn Ugalur. Ebenfalls bekannt sind Tul-uglur und Psen-galur. Die Dynastie wurde durch die Ermordung von Agla Schlangenfreund und seiner Familie beendet, doch überlebte Tok-aglur, Sorlas Vater. Hernostisches Kaiserreich: Weit im Osten von Ailat gelegen. Mehr weiß Sorla zunächst nicht, außer dass sich dort vielleicht sein Vater Tok-aglur aufhält. Herr des Gartens: Damit ist ein mächtiger goldener Drache gemeint, in dessen Obhut Syardra lebt, eine von Sorlas Töchtern. Herte: Ein älterer, grauhaariger Ramtasi aus der Horde Kirguls. Seine Oberarme sind von vielen Narben aus früheren Kämpfen gezeichnet. Hestrumer: Anführer der Geisel der Vastouris. Er kämpft mit einem Morgenstern. Hetman: Anführer einer Horde reitender Steppenbarbaren. Hirrendhyl: Eine kleine rothaarige Dryade, Kind von Ysalde und Sorla. Sie wohnt in Nachbarschaft mit Noondhyl. Sorla hatte, als der DRACHE ihn zu den Grauen Bergen trug, ein paar Bucheckern verstreut, aus denen die Buchen dieser beiden hervorgingen. „Hirrendhyl“ gehört zur Sprache der Sidh und bedeutet „Haar wie Himbeeren“. Hoglesh : Vater von Agish und Familienoberhaupt der Illmani. Hokatoudes: Ein hernostischer Beamter mit einer Vorliebe für erotische Skulpturen. Hon: Der Herrscher in den Sümpfen östlich der Sidhlande. Horadh: Provinz des hernostischen Reiches; an dessen westlicher Grenze zum Fürstentum Agra gelegen. Hier herrscht die Familie der Hreddeshi. Die Hauptstadt ist Semendhol. Horell: Ein Freund Sorlas und ehrgeiziger, schon recht erfolgreicher Zauberer. Hreddeshi: Eine der Sechs Familien. Sie herrschen in der hernostischen Provinz Horadh. Fürstin Asadhoan ist das weibliche
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Oberhaupt. Hubarik : Eines von Irkansels Opfern. Immerhin durfte er kurz vor seinem Tod noch einmal Mensch sein. Hügel von Hurknos: Eine Hügelkette, die sich vor langer Zeit östlich der Berge von Batiflim befand. An ihrer Stelle erstrecken sich jetzt dort die Hurknischen Sümpfe. Hughu: Ein kleiner Kauz mit besonderen Fähigkeiten, der sich dem kriteischen Anodpriester Chaddam Muhab angeschlossen hat. Hukari: Memliks hübsche Tochter. Sie hat dunkle Haare und ist sehr selbstbewusst. Hurak: Berühmter Krieger des Perlek-Clans, lebt in Kriteis. Huredho: Gott des Krieges. Er gilt als Hund Enduhals und wird im Tempel der Kriegshunde in Semendhol verehrt. Hurglok: Hurgloks sind unförmige trollähnliche Wesen, die in den Tiefen der Berge leben. Ihre Hände sind riesig und können einen Zwerg umfassen und zerquetschen. Man sagt, ein Hurglok kommt durch jede Spalte, durch die seine Hände passen. Hurknische Sümpfe: Im Nordosten des Hernostischen Reiches gelegen, erstrecken sich diese Sümpfe über ein riesiges Gebiet. Man weiß nur wenig darüber, was dort vorgeht. Hurknos: siehe „Hügel von Hurknos“. Hurkoll: Die höchste Erhebung der ehemaligen Hügel von Hurknos. Er ragt auch jetzt noch aus den Hurknischen Sümpfen empor. Ob aber dort noch Gnome leben wie früher, ist unbekannt. Hurmothin: Zwerg in den Grauen Bergen, Vater Furoltins und berühmt wegen seiner Heldentaten. Sein weißer Bart, die langstielige Streitaxt und sein Beiname 'Der Schlächter' sagen alles. Allerdings hat er inzwischen aus seinen Fehlern gelernt und ist nun wesentlich besonnener geworden. Er ist Ygrottirs älterer Bruder. Hurtin: Dienender Zwerg in den Weißen Bergen. Hwendeloi: Wandelnde Bäume mit besonderen Fähigkeiten. Sie genießen bei den Elfen große Hochachtung. Hyldol: Eine kleine dunkel gelockte Dryade, Kind von Ysalde und Sorla. Sorla hatte in einem Tal nördlich von Agra eine
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Buchecker gesetzt und ihr Wohl dem befreundeten Völkchen der Minhiol anvertraut. Diese verehren sie unter dem Namen „Hyldol“, das bedeutet „Seele des Baumes“. Ifarbirre: Eine riesige Ziegenhirtin; sie lebt am Rande der Hochebenen von Batiflim. Ildryste: Eine kleine schwarzhaarige Dryade, Kind von Ysalde und Sorla. Sorla hatte im Garten seines Halbbruders Korraghom in Agra eine Buchecker gesetzt, weil ihm das gepflegte Anwesen und der Blick auf die Meeresbucht so gefiel. Ildryste hat allerhand Schlimmes durchgemacht, hat aber im Obersten Priester des Atne-Tempels in Agra einen Berater. „Ildryste“ ist ein kaburischer Name und bedeutet „Die alles merkt“. Illmani: Altes hernostisches Adelsgeschlecht. Eine der „Sechs Familien“. Das derzeitige Familienoberhaupt ist Hoglesh. Irkansel: Ein hernostischer Zauberer, der mit den Sechs Familien zusammenarbeitet. Jakkatum: Hauptstadt von Nireg-la. Sie liegt an der Mündung des Flusses Sedeb. Jelthon: Oberhaupt der mächtigen Familie Wesdhasi in Ekritmea. Kaburen: Die Bevölkerung der kaburischen Inseln; überwiegend Fischer. Sie sind arm und lieben den Gesang, ihr Stolz ist sprichwörtlich. Kabures: Insel, der Kaburischen Bucht weit vorgelagert, politisch aber von Agra unabhängig und dem Hernostischen Reich tributpflichtig. Kabures bildet mit einigen kleineren Inseln die kaburische Inselgruppe. Kaburische Bucht: liegt östlich von der Halbinsel Spakjo. Der bedeutendste Hafen ist Agra. Kaharad: Eine Stadt im nördlichen Hernoste, etwa einen Tagesritt südlich von Bishoumat und wegen ihrer Heilbäder berühmt. Kaiser-Goldstück: Siehe Münzsystem im Hernostischen Reich. Kaiserliche Bibliothek: Ein prächtiges Gebäude in Ekritmea mit vielen schönen Büchern und dunklen Geheimnissen. Kaiserstadt: Gemeint ist Ekritmea, die Hauptstadt des Hernostischen Reiches. Kalender: Bei den Menschen und menschenähnlichen Rassen gilt,
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zumindest im Bereich zwischen Ailat am Meer und dem fernen Nordland, folgender Kalender: das Jahr hat dreizehn Monate mit je vier siebentägigen Wochen. Das sind 364 Tage. Dazu kommt der „Tag zwischen den Jahren“. Die Monate werden bei den Gnomen mit Steinen, bei den Menschen, sofern sie naturverbunden leben, mit Bäumen in Verbindung gebracht. Dieser Baumkalender kennt die Monate Birke, Eberesche, Esche, Erle, Schlehe (Sorlas Geburtsmonat), Weißdorn, Eiche, Ilex, Apfel, Brombeere, Efeu, Schilf und als jahresletzten den Holunder. Kalinfarre: Eine sagenhafte Riesin. Karlek-hanan: Die „blonden Steine“, Kinder des Flusstrollweibs Laschre, gezeugt von Heril dem Hengst. Das Mädchen heißt Tek („Kleine“), ihre beiden Brüder Hunk-ho („Der eine“) und Hunk-ha („Der andere“). Man merkt, ihre Mutter ist recht einsilbig und direkt. Kennan-glai: Sorlas Hengstfohlen, welches er von Raghairom bekam. Durch Ramloks Segen lernte Sorla mit diesem Fohlen zu reden. Später opferte sich Kennan-glai auf, um Sorlas Leben zu retten, und wurde in die unsterbliche Herde Ramloks aufgenommen. Kerosi: Silbermünze; siehe Münzsystem. Kesnik: Hukaris Großvater. Er war bis zu seinem Tode „Der mit dem Drachen spricht“. Khalim: Ein Hetman der Ramtasi. Etwas untersetzt, freundlich, aber gefährlich. Kiarsti: Eine hübsche Zauberin aus Kaharad. Tok-aglur kennt sie recht gut. Kirgul: Ein Hetman der Ramtasi. Stattlicher Mann mit blonden, verfilzten Haarsträhnen, trägt eine lange Lederhose und ist in ein Bärenfell gehüllt. Er überbrachte Taina ein Pferd als Geschenk seines Stammes. Später trifft Sorla ihn wieder. Klabautermann: Meist unsichtbar oder in Gestalt zum Beispiel einer Ratte; lebt auf Schiffen. Erscheint in Menschengestalt nur, wenn er vorhat, dieses Schiff zu verlassen. Da er die Zukunft der nächsten Tage und damit auch Schiffsunglücke
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vorhersehen kann, betrachten die Seeleute es zu Recht als schlechtes Vorzeichen, wenn sie ihn sehen. Ein Klabautermann setzt alles, auch seine Windzauber und ähnliche Fähigkeiten, ein, um auf einem seetüchtigen Schiff zu leben. Kleines Volk: Siehe Minhiol. Kornak: Derzeitiges Oberhaupt des Perlek-Clans. Eigentlich gebührt seinem älteren Bruder Vortelik dieses Amt. Korraghom: Der älteste Sohn des Grafen von Agra, einige Jahre älter als Sorla. Kraftwasser: Wird von Memliks Sippe im Herbst aus bestimmten Wurzeln und anderen Zutaten gebraut. Angeblich stammt das Rezept von befreundeten Trollen. Kratolen: Einwohner der Provinz Kratos. Kratos: westliche Provinz des hernostischen Reiches. Die kratolische Hauptstadt ist Kriteis. Kräuter-Liska: heilkundige Frau in Stutenhof. Kreskar: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“. Krewe: Sauhirt in Stutenhof. Krick: Kein Name, sondern eine Anrede unter den kenntnisreichen Krebsen aus den Sümpfen bei Brindhal. Wann immer zwei Krebse zusammentreffen, um sich zu unterhalten, heißt der eine Krick und der andere Schnick. Vielleicht ist Krick der Ranghöhere, doch streiten sich da die Gelehrten. Wenn ein dritter Krebs hinzukommt, vertreiben die beiden stärkeren den schwächsten oder fressen ihn auf. Deshalb reichen zwei Anreden. Kriegshunde: Der Tempel der Kriegshunde steht in Semendhol und ist Huredho gewidmet, dem Gott des Krieges. Kriteis: Hauptstadt von Kratos (westliche Provinz des hernostischen Reiches), berühmter Seehafen mit sehr alter Geschichte. Krot: Hukaris Hund. Krummkralle: eine von zwei neugierigen Krähen auf der Hochebene von Batiflim. Krvos: Ein Priester Wendualos in Ekritmea. Er ist dick und stammt von einer der kaburischen Inseln.
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Kublak: Ein älterer Ramtasi aus der Horde Kirguls. Ein Auge verlor er durch einen Pfeilschuss. Kunil: Dieses Mädchen lebt mit einem Köhler im Norden des hernostischen Kaiserreiches zusammen. Kurno: Siehe Münzsystem im Hernostischen Reich. Kurtis: Ein Mitglied der Sechs Familien. Er ist hager und trägt einen schwarzen Bart. Lamponu: Ein Äffchen, das Horell hilfreich und verständig zur Hand geht und ihn überallhin begleitet. Lamponu weiß mehr über Zauberei, als man denkt, denn er ist sehr belesen. Laschre: Siehe Squompahin-laschre. Letko: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“. Er ist jung und recht hübsch. L'fumpai: Eine L'fumpai ist ein harmloses Geschöpf, das im Sumpf lebt. Wenn es das Wasser verlässt, macht es sich unsichtbar, weil es so schüchtern ist. Die L’fumpai nennen sich selbst Kinder des Hon. Liarstil: Das von Atelbe entmachtete Fürstengeschlecht Sidhlands. Die letzte Überlebende ist Taina, die als rechtmäßige Erbin die Herrschaft in Brindhal wieder übernommen hat. Libelfe: Hübsches Wesen in den Großen Sümpfen, zwei Handspannen lang, ein Mädchen mit grünen Libellenflügeln. Hat viel Sinn für Humor, ist aber trotz ihres kindlichen Gebarens alles andere als harmlos. Natürlich heißt sie nicht wirklich Libelfe, damit hat sie bloß Sorla abgespeist. Luki: Hukaris Hund. Mala die Furchtbare: Göttin des Todes und der Ruhe. Eine der vier Töchter Atnes. Sie ist schwarzgekleidet und verschleiert, nur ihre bleichen Lippen sind zu erkennen. Sie herrscht mit Urskal über das Reich der Toten. Ihr Baum ist die immergrüne Eibe. Maren, genannt Frau Maren: Eine Ahnfrau der hernostischen Dynastie, die als halb durchsichtiger Geist gelegentlich nachts auftaucht und Mahnungen oder Prophezeiungen von sich gibt. Marushu: im Hernostischen Reich verehrte Mond- und Liebesgöttin. Matrista: Auf der Insel Kabures ist der Matrista eine Art Clanchef und, da die Kaburen Seefahrer sind, auch zugleich der Kapitän
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eines Schiffes. Melfas: Ein Spitzel im Auftrag der Sechs Familien. Er ist jung und stolz auf seine öligen Locken. Memlik: Anführer einer Sippe des Bergvolkes von Batiflim. Meret: Ein Richter in der nordhernostischen Stadt Bishoumat. Mesegi: Ein Handlanger der Familie Wesdhasi und Neffe von deren Oberhaupt Jelthon. Milat: So heißt das Meer, das im Norden von Rodnag, Ailat, Kratos und Hernoste, im Süden von Nireg-la und Tuneg-la und im Westen von Wolpodyn begrenzt wird. Minhiol: Einer der vielen Stämme des 'Kleinen Volkes'. Die Minhiol sind menschen- oder elfenähnlich, aber von Kopf bis Fuß nur fingerlang. Sie haben Schmetterlingsflügel und können sich unsichtbar machen. Ihre Sprache ist ein Zirpen, das Unkundige mit dem von Grillen verwechseln. Ihr Anführer ist Easmil. Mirre-wyn: Eine kleine Dryade mit blonden Haaren, Tochter von Ysalde und Sorla. Ihre Buche wächst neben einer alten, noch von Tul-uglur geschaffenen Wassergrotte auf den Hochebenen Batiflims. Der Name „Mirre-wyn“ entstammt der Sprache Batiflims und heißt „Hoffnung fürs Tal“. Molghq’âspûn: Ein kräftiges Trollweib in einem Hochtal Batiflims, wo Memliks Sippe lebt. Hukari ist mit ihr befreundet. Molkaspen: So wird Molghq’âspûn von Leuten genannt, die Schwierigkeiten mit der Sprache der Trolle haben. Mughairom: Abgesandter des Grafen von Agra in der Hauptstadt des Perlek-Clans. Münzsystem im Fürstentum Ailat: --- 1 Asing (Kupfer, winzig). Drei Asing zahlt man z.B. für ein Kräuterbündel, eine Handvoll Möhren etc. Die kleinste Scheidemünze ist der viertel Asing. --- 1 Polk (Kupfer, groß) = 60 Asing. Dafür bekommt man eine gute Flasche Wein oder im Gasthaus eine gute Mahlzeit. Der halbe Polk ist eine halbierte Kupfermünze derselben Größe. --- 1 Dremke (schmaler Silberring) = 10 Polk = 600 Asing. Soviel verlangt eine gute Hure in Ailat-Stadt. Die Männer von Stutenhof tragen ihn als Wohlstandsbeweis und Sippenzeichen
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am Finger. --- 1 Kerosi (Silbermünze massiv) = 5 Dremke = 50 Polk = 3000 Asing. Soviel kostet ein Esel oder ein Monat im Gasthaus mit Essen. Der halbe Kerosi ist eine kleinere Silbermünze. --- 1 Eflem (Goldmünze) = 2 Kerosi = 10 Dremke = 100 Polk = 6000 Asing. Abgegriffene Eflem werden nachgewogen und sind vielleicht nur 9 Dremke wert. Ein gutes Pferd kostet etwa einen Eflem. Münzsystem im Hernostischen Reich: --- 1 Ers (runde Bronzemünze). Dafür bekommt man ein halbes Brot, eine Handvoll Möhren etc. Entspricht ungefähr dem in Ailat gebräuchlichen Asing. Die kleinste Scheidemünze ist der halbe Ers, für den man beim Wasserträger einen Becher Wasser trinken darf. --- 1 Sul (Messing, dreieckig) = 100 Ers. Dafür kann man ein billiges warmes Essen kaufen. Es gibt auch kleinere Messingmünzen, die zehn oder fünfzig Ers wert sind. --- 1 Kurno (runde Silbermünze mit Mondmotiv) = 5 Sul = 500 Ers. Der behördlich festgelegte Liebeslohn für einfache Straßendirnen. Der Zusammenhang zwischen dem Liebeslohn und dem Mondmotiv entspringt dem alten Kult der hernostischen Mond- und Liebesgöttin Marushu. Der Kurno ist fast soviel wert wie der in Ailat für den gleichen Dienst bezahlte Dremke. --- 1 Kaiser-Goldstück = 20 Kurno = 100 Sul = 10000 Ers; wird meist einfach Goldstück genannt. Entspricht im Wert ungefähr dem in Ailat gebräuchlichen Eflem. Man kann dafür auf dem Land je nach Zustand ein bis zwei Maultiere kaufen, in den Städten kostet soviel die Monatsmiete in den besseren Mietshäusern. Es gibt auch ein kleineres Goldstück, das den halben Wert hat. Murlingir: Ein Dienender Zwerg, der südlich von Batiflim lebt. Sohn des Fenruthin. Murnak: Anführer einer Sippe des Bergvolkes von Batiflim. Morsek: Der alte Anführer einer Sippe des Bergvolkes von Batiflim.
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Diese Sippe lebt am Ostrand des Gebirge, nahe der Taipalsteppe. Musrel: Die ältere Magd auf Rumans Hof. Ihr Vater war Fürst Slutr, aber das weiß nur sie selbst, daher erhebt sie auch keine Erbschaftsansprüche. Mutterglück: Sorlas Lieblingspferd in Brindhal, eine geduldige, ältere Stute. Mynnenlete: Eine kleine Dryade, Kind von Sorla und Ysalde. Sie ist ein bisschen mager, ihr hellblondes Haar hängt glatt auf die Schultern. Sie redet gerne viel, wenn sie einmal Gelegenheit dazu hat. Ihre Buche wächst irgendwo in einem lichten Wald in einer unzugänglichen, einsamen Gegend – wo genau, weiß sie selbst nicht. Ihr Name bedeutet „Kleiner Wasserfall“, was sich eher auf ihre Redegewohnheiten bezieht. Myrna: Eine kleine Dryade, Kind von Ysalde und Sorla. Sorla hatte in den Parkanlagen Ekritmeas eine von Ysaldes Bucheckern gesetzt, später aber das Bäumchen umgepflanzt und der Brunnenpriesterin in den nahen Wäldern anvertraut. Der Name „Myrna“ entstammt der Sprache Ailats und bedeutet „Sie wird wachsen“. Myrna hat blonde Locken. Myrna ist Sorla jüngste Dryadentochter, da er ihre Buchecker als letzte einpflanzte. Manche ihrer Schwestern sind bis zu zwei Jahren älter. Neblige Tiefen: Das Totenreich, in dem Urskal und Mala herrschen. Nireg-la: Heißes Land an der südlichen Küste des Meeres Milat, östlich von Tuneg-la. Die Hauptstadt ist Jakkatum. Nofheli: Ein Elfenmädchen aus den Wäldern von Aedh-Hiloiadh, das Sorla bei Markreske kennen lernte. Sie hat ein braungebranntes Gesicht unter flachsblonden Haaren, die Augen sind grün. Sie ist nicht hochmütiger als andere Elfen, aber das reicht bereits. Noghourrom: drittältester Sohn des Grafen von Agra. Noondhyl: Eine kleine schwarzhaarige Dryade, Kind von Ysalde und Sorla. Sie wohnt in Nachbarschaft mit Hirrendhyl. Sorla hatte, als der DRACHE ihn zu den Grauen Bergen trug, ein paar Bucheckern verstreut, aus denen die Buchen dieser beiden hervorgingen. „Noondhyl“ gehört zur Sprache der Sidh und
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bedeutet „Haar wie Brombeeren“. Nordlandgnome: Gnome im fernen Norden. Norfell: Dieser Fluss entspringt in den Hohen Auen der Grauen Berge und strömt bei Fellmtal mit den Flüssen Eldran und Fregnas zusammen. Sein Wasser ist grün. Norfell-Auen: Dort haust eine riesige Schlange, welche Sorla in gewisser Weise als ihr Kind betrachtet. Numter: Ein kaiserlicher Soldat, der nach dem Sieg des Grafen von Agra in Kratos die versprengten Soldaten sammelt und Sorla im Tal des Asami zuführt Nustek: Ein Ûr-gqâschps-Priester des Perlek-Clans. Odhumel: Der verstorbene König der Minhiol, Vater von Easmil. Ogluskshaddena: Ein Ungeheuer in den Tiefen der Weißen Berge. Ohkxepe: Eine riesige Krake. Sie bewohnt eine tiefe Grotte in der Steilküste südlich von Ekritmea. Sorla konnte sie zum AnodKult bekehren. Oldasthom: Ein Ratsherr der Stadt Agra, der in mindestens einem Fall sich als Aufschneider erwies. Olghûrq: Ein Wassertroll, der den geheimen Zugang zur Tempelgrotte in den Bergen bei Ekritmea bewacht. Oltop der Kahle: Anführer einer Bande von skrupellosen Glücksrittern. Sorla tötete ihn (ohne zu wissen, dass er damit zugleich die Misshandlungen seines Vaters rächte) und eignete sich sein Wurfmesser an. Oluf: Leibwächter Resthourroms. Omschjull: ein tierhafter Neffe Atnes, zuständig für Gedeih und Vermehrung der Schweine. Omschjulls Stunde: Die heiße Mittagsstunde, wenn die Trägheit regiert und unerwartete Dinge geschehen. Örbülwats: Ein wandlungsfähiges Wesen aus den Sümpfen östlich von Brindhal. Es hat viele Brüder und großen Appetit. Orfhane: Die Frau von Fürst Slutr, daher Fürstin Orfhane genannt. Sie entstammt dem Geschlecht der Hreddeshi. Orgslingir: Zwerg in den Grauen Bergen, Sohn des Ygrottir. Orlan: Hauptmann der kleinen Soldatenschar, die Sorla in die westlichen Provinzen begleiten.
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Orluk: Ein hünenhafter Ramtasi aus der Horde Kirguls. Er hat braunes Zottelhaar und ist eher stark als klug. Orthunin der Gewaltige: Zwerg in den Weißen Bergen, war dort König vor Hurmothin. Ostarfindis: Einer der Priester im Anod-Tempel der Kaiserstadt Ekritmea. Paso: Hafenstadt im Süden Spakjos. Pelkoll: Ein Gnomberg, liegt nahe der Mündung des Gnomflusses in den Eldran. Dort lebte Sorla einige Zeit bei den Gnomen. Perkan: Angehöriger von Memliks Sippe; hat rotblonden Bart und wirkt verkniffen. Perlek-Clan: Eine der Sechs Familien. Sie stammt ursprünglich aus Batiflim. Petairik-Gebirge: Gebirge nahe der kriteischen Küste, also im Südosten des hernostischen Reiches. Platanenplatz: Ein großer Platz in Ekritmea. Dort ist auch der FrenaTempel mit dem Waisenhaus. Platz der Mala: Großer Platz in Kriteis, mit Blick auf den Hafen. Dort ist auch der Tempel von Mala der Furchtbaren. Plosek: Einer der Priester im Anod-Tempel der Kaiserstadt Ekritmea. Polk: Große Kupfermünze; siehe Münzsystem. Prande: Der jüngste Sohn von Fürst Slutr und dessen Gemahlin Orfhane. Prato: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“, ein älterer Mann mit grauen Zöpfen. Psen-galur: Der vierzehnte Schlangenkaiser. Wie viele Zehen er hatte, ist ein wohlgehütetes Geheimnis. Psudi: Ein junger Anod-Priester in Ekritmea mit klugen, braunen Augen. Er gehört dem Perlek-Clan an, wird aber – auch seiner Hasenscharte wegen – dort nicht sehr geachtet. Quöschtlutze: Sorla nennt sie auch Froschkerle, denn so sehen sie aus: menschen- und froschähnlich zugleich. Sie leben in Sümpfen. Raghairom: Stammt aus Agra, guter Freund von Sorla. Er ist jetzt auf Herils Hof der neue Hengst. Raijinke: Meister Eidwons hübsche Tochter. Rako: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“, führt mit Hilfe
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von Schmucknarben Buch über die von ihm Getöteten. Ramlok: Gott der Pferde und der Winde, aber auch der männlichen Kraft und überhaupt der körperlichen Gesundheit, wird vorwiegend von den Reiterbarbaren in der Taipalsteppe verehrt, hat aber auch sonst verstreute Anhängerschaften. Normalerweise ein Männergott, wird aber in extremen Kulten (z.B. auf Herils Hof) zum Mittel einer Frauenherrschaft. Die Ulme ist ihm geweiht. Ramtasi: Reitervolk der Taipalsteppe. Rasathir: Ein berühmter Zwerg, der sein Leben bei dem Versuch verlor, einem Ungeheuer dessen Schätze abzunehmen. Regenszepter: Das Wahrzeichen der hernostischen Kaiser. Resthourrom: zweitältester Sohn des Grafen von Agra, und nach dem Tod Korraghoms der Erbe des Grafentitels. Rhosmea: Ein großes Waldgebiet zwischen Ailat und der Bucht von Rodnag. Dort leben noch heute Elfen. Riesenheim: einsames Bergland nördlich der Weißen Berge. Rodnag: Eine Bucht und das daran angrenzende Land westlich von Ailat und dem Elbenwald. Rose von Bretjeka: Ein Schiff. Rübenkönig: Das Kind von Hukaris Schwester und einem Troll. Ruman: Der zweitälteste Sohn von Fürst Slutr. Rungegi: Altes hernostisches Adelsgeschlecht und eine der „Sechs Familien“. Das Oberhaupt ist Fürst Slutr. Ruslingir: Ein Kämpfender Zwerg, einziger Sohn Orthunins des Gewaltigen. Russuk: Ein jüngerer Ramtasi aus der Horde Kirguls. Er ist breitschultrig und hat lange, schwarze Zöpfe. Salta: Eine Hafenstadt an der südöstlichen Küste von Wolpodyn. Salta-Busen: Der westlichste Teil des Meeres Milat. S’lambo: Der Gildenmeister der „Großzügig Nehmenden“. Schlangengezisch: Diese Sprache verwenden Schlangen untereinander. Schlangenjäger: ein berühmtes Schwert der Gnome, das gewöhnlich von Gonli dem Waffenmeister im Pelkoll aufbewahrt wird. Schlangenkaiser: Titel der Herrscher des hernostischen Reiches. Der letzte starb jedoch schon lange vor Sorlas Geburt. Siehe auch
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„Hernostische Dynastie“. Schlangenzahn: so nennt Sorla das Wurfmesser, das früher Oltop dem Kahlen gehörte. Schnelle Susla: Ein kaburisches Seeräuberschiff. Schnick: siehe Krick. Schrate: Entfernt menschenähnliche Wesen, zottig, langarmig, dumm und gewalttätig. Schwarze Dreiheit: Auch die Dreiheit der Dunklen Gewalten genannt: der Schwarze Woul, der Schwarze Goul, die Schwarze Shurloum. Sie zählen zu den „Besser Ungenannten“: uralten Gewalten aus der Zeit vor den Göttern. Es geht über sie die folgende Sage (s. Band II): Als Anod, der Sonnenheld, seinen Vater Urskal besiegte, zog dieser sich mürrisch in die Nebligen Tiefen zurück. So schuf sich Urskal ein zweites Reich ewiger Dämmerung - das erste hatte er an Anod verloren - und vor ihm floh die Dreiheit der Dunklen Gewalten, die zuvor hier hausten: Woul, Goul und Shurloum. Die Schwarze Shurloum sank weiter hinab in Tiefen, wo seit Anbeginn das Finstere Feuer lodert. Kein Mensch, kein Riese, kein Gott wird je Shurloum dort stören. Der Schwarze Goul wich Urskal aus und blieb. Wehe dem Reisenden ins Reich der Toten, der das Licht nicht in sich trägt, den Weg nicht findet! Ihm lauert Goul auf, um sich zu mästen. Woul aber floh hinauf und erschrak vor dem Licht Anods. Nichts blieb ihm, als sich zu verkriechen; überall ist er und nirgends. Unversöhnlich erwartet er das Ende der Götter, das Erlöschen jeglichen Lebens. Manche erhoffen sich Macht, wenn sie ihm dienen. Welch schrecklicher Irrtum! Denn keine Dankbarkeit kennt der Schwarze Woul! Wie sie ihm dienen, sind sie die ersten Opfer; sie selbst töten das Licht in sich und werden auf ihrer Letzten Reise ein Raub des Schwarzen Goul. So arbeiten Woul und Goul zusammen daran, das Licht zu ersticken, um dann, vereint mit Shurloum, erneut zu herrschen. Sechs Familien (Die sechs Familien): Sie hatten sich gegen die
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Dynastie der Schlangenkaiser verbündet und die Kaiserfamilie fast restlos ausgerottet. Seither geht es ihnen gut, dem Reich aber schlecht. Erwähnt werden (in dieser Reihenfolge) die Illmani, die Wesdhasi, die Rungegi, die Hreddeshi, der PerlekClan, die Tuchusdes. Sedeb: Ein großer Fluss, der Tuneg-la und Nireg-la trennt und bei Jakkatum ins Meer fließt. Seedorf: eine Siedlung nördlich von Stutenhof, an einem See gelegen, dessen Ausfluss schließlich in den Eldran mündet. Sorla war Lehrling der dortigen Diebesgilde. Semendhol: Hauptstadt der hernostischen Provinz Horadh, am Fluss Asami gelegen. Setoq: Ein unsterblicher Held, der für seine Redlichkeit berühmt ist. Shurloum (Die Schwarze Shurloum): Eine dämonische Gewalt, wird zur Schwarzen Dreiheit gerechnet. Sidh: Elfenmischlinge; ein altes, mit den Elfen befreundetes Volk von hoher Kultur, aber wie die Elfen in ihrer Verbreitung in den letzten tausend Jahren sehr zurückgegangen. Am Ostrand der Bucht von Rodnag gibt es, angrenzend an den großen Elbenwald, das Königreich Sidhland. Sidhland, auch Sidhlande: Siehe Sidh. Sinn-he Fala der Leuchtende: Der erste hernostische Kaiser und Vater von Ugalur. Skagengerg: Geheimnisvoller Seemann, den Sorla in Korraghoms Bootshaus kennen lernt. Skrut: Einer der Seeräuber auf der „Schnellen Susla“. Er heißt eigentlich anders. Nach seiner Hinrichtung dient er Wendualo auf dem Meeresgrund. Slendale: Die jüngere Magd auf Rumans Hof. Slutr: Das Oberhaupt der Familie Rungegi. Er ist einer der Fürsten im Hernostischen Reich. Smisilla: Wurtos Frau, sie steht aber seiner Mutter näher als ihm. Im Grunde verbietet ihr katzenhaftes Wesen, überhaupt jemandem nahezustehend. Solur: So heißt Sorla bei den Männern der „Schnellen Susla“. „Solur“ heißt im Kaburischen eigentlich Dieb oder Abenteurer.
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Sorla: Siehe Sorle-a-glach. Sorle-a-glach: So lautet Sorlas eigentlicher Name und bedeutet „Molch ohne Vater“. So nannte ihn Laschre in der Guten Sprache der Berge. Er ist der Sohn Tainas und Tok-aglurs. Soslak: Ein Angehöriger des Perlek-Clans, der sich in den geheimen Überlieferungen auskennt. Er geht alles eher bedächtig an. Spakjo: eine Halbinsel, welche die Bucht von Ailat von der kaburischen Bucht trennt. Spakjo-Wein: kräftiger gewürzter Süßwein von der Halbinsel Spakjo. Squompahin-laschre: (d.h. „alter, einsamer Fisch“), das Flusstrollweib am Oberlauf des Gnomflusses. Die Eltern waren ein Felsentroll und eine Flussnixe. Squompahin-laschre ist weit über hundert Jahre alt, was aber bei ihr nicht viel bedeutet. Srixnes: Schamane und Oberhaupt der Werrax. Stiousto: Ein zwielichtiger Zauberer, inzwischen verstorben, in dessen Turm Horell jetzt lebt. Straße der zwei Himmel: Eine belebte Straße in Kriteis; sie führt vom Platz der Mala nach Norden. Stutenhof: Befestigte Siedlung an der Mündung des Gnomflusses in den Eldran. Hier werden Pferde und Schweine gezüchtet, auch kommen Flößer, Köhler und Holzfäller vorbei. Bekannt sind die Pferde von Stutenhof: robust, kleine Pferde mit grauem Fell. Sul: Siehe Münzsystem im Hernostischen Reich. Surte: Ein Schamane der Ramtasi. Sorla trifft ihn mit seiner Reiterhorde irgendwo zwischen Kaharad und Hernoste, wo sie eigentlich nicht zu Hause sind. Syardra: Eine kleine Dryade mit goldbraunem Haar, Kind von Ysalde und Sorla. Sie lebt im Garten eines zauberkräftigen goldenen Drachens und wird von diesem eher verwöhnt als erzogen. „Syardra“ stammt aus der Drachensprache und bedeutet „Die hier herrscht“. Es ist eine Koseform des eigentlichen Namens „Ila-Syar-Dracunn-Dicheiensochamerur-komouma“. Das heißt „Sie ist so klein und sitzt in des Drachen Nacken“. Syrte: Eine kleine Dryade, Kind von Ysalde und Sorla. Sorla hatte in den Parkanlagen des Heilbades zu Kaharad eine von Ysaldes
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Bucheckern gesetzt. Syrte wird von den Priesterinnen Marushus verwöhnt und von der dortigen Bevölkerung als „Kind im Baum“ verehrt. Sie ist deshalb sehr auf ihre Schönheit bedacht und lässt sich ihr dunkles Haar in kunstvollen Zöpfen flechten. „Syrte“ ist Hernostisch und bedeutet „Hübsche“. Taheget: ein abtrünniger Anodpriester aus Kaharad. Taina: Die jetzige Fürstin von Sidhland und Sorlas Mutter. Sie entstammt dem Geschlecht der Liarstil und hat Elfenblut in den Adern, wie man an den leicht zugespitzten Ohren erkennen kann. Sie hat hellblondes Haar, grüne Augen und gilt weit und breit als eine wunderschöne Frau. Tainas Amulett: silberhell, in der Form eines winzigen Schildes. Schützt vor Untoten, ist vor allem aber das Herrschaftssymbol der Liarstil. Taina bekam es als Kind, als ihre Mutter sie einst auf dem Meere aussetzte, um sie dem Zugriff Atelbes zu entziehen. Taipalsteppe: weites Grasland nördlich der Weißen Berge, östlich von Riesenheim. Takilis: Ihn haben die Sechs Familien als Ersatzkaiser im Palast oberhalb der Stadt Hernoste untergebracht. Tanz der Diebe: Sorla lernte diese Art der waffenlosen Selbstverteidigung bei den ‚Verteilern des Reichtums‘ in Seedorf. Tanzende Eserdha: Schiff aus Agra, das den Fehler beging, der Schnellen Susla zu begegnen. Tara die Falkenäugige: Göttin der Jagd und des Heldenhaften Untergangs. Sie hat goldenes Haar und hüllt sich in ein Federkleid, wodurch sie als Falke fliegen kann. Besonders fürchtet man die „Nacht der Tara“, vom sechzehnten zum siebzehnten Tag des Schlehenmonats. Sie ist eine Tochter Atnes. Tara-engu: Ein Tara-Priester, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, gegen den Kult des Schwarzen Woul vorzugehen. Theonfiorel: Ein Liebhaber Ysaldes, dessen unglückliches Schicksal Sorla vermeiden will.
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Thorandir: Zwerg aus den Grauen Bergen. Sein roter Bart ist kunstvoll geflochten. Sorla kennt ihn aus seiner Kindheit. Tiefe Mysterien des Urgrundes: Gnomisches Geheimwissen. tlofen: Eine Fähigkeit der Elulmavni. Sie werden beliebig unsichtbar und können sich dann dreimal so schnell bewegen wie sonst. Tok-aglur: ein Dieb, zugleich Prinz des Kaiserreichs von Hernoste. Trägt vorzugsweise dunkle Kleidung, hat schwarze Locken, mittlerweile mit grauen Strähnen, und auf dem Gesäß ein Mal, das einem umgekehrten Herz ähnelt .genau wie sein Sohn Sorla. Tq’olschpâschq: Ein Troll aus den Sümpfen im fernen Norden, wo sich der Fluss Dusa vor den Felsen Riesenheims staut. Als Sumpftroll hat er eine dunkelgraue, haarlose Haut wie ein Frosch. Traumblüten: Blau blühende Schwimmpflanzen in den Seen der Großen Sümpfe. Sie verströmen einen süßen, betäubenden Duft. Trilk: Ein Waldwicht im Wald von Rhosmea. Trolle: Es gibt sehr verschiedene Arten von Trollen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zwar menschenähnlich, zumeist aber sehr hässlich sind und in der Wildnis hausen. Üblicherweise fressen sie auch Menschen. Trolslingir: Zwerg in den Grauen Bergen, Sohn des Ygrottir. Tschak: Eine Elster. Tschakim: Ein jüngerer Ramtasi aus der Horde Kirguls. Seine Frauen sind beide schwanger. Tschjerk: Eine weitgereiste Elster. Tsyrryfx: Eine kleine Dryade, Kind von Ysalde und Sorla. Sorla hatte auf der Reise mit dem DRACHEN eine von Ysaldes Bucheckern auf einer weiten Ebene neben einem Holzapfelbaum in den Boden gesteckt. Dort ist das Land der Werrax. Aus ihrer Sprache ist der Name „Tsyrryfx“ und bedeutet „Hartnäckig“. Tuchusdes: Eine der berüchtigten Sechs Familien. Sie verschwanden vor einiger Zeit aus Ekritmea. Tul-uglur: Ein früherer Kaiser des Hernostischen Reiches. Wenn man
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den Sagen Glauben schenkt, war er nicht nur der zwölfte Kaiser des Reiches, sondern zugleich der zehnte echte Schlangenkaiser. Er legte viele Zisternen an. Tuneg-la: Heißes Land an der südlichen Küste des Meeres Milat. Tunnelflechte: Schmeckt bitterfad, wird aber von Gnomen als gesundes Lebensmittel empfohlen. Turuk: Ein Ramtasi aus der Horde Bursuks. Tusdik: Ein Krieger des Perlek-Clans. Sein Vater ist Hurak aus Kriteis. Uftar: Ein Staatsanwalt in der nordhernostischen Stadt Bishoumat. Ugalur: Der Sohn von Sinn-he dem Leuchtenden und der hernostischen Königstochter Zusnild. Wenn man den vielen Sagen über ihn Glauben schenkt, war er nicht nur ein guter Herrscher, sondern zudem der erste echte Schlangenkaiser. Uglamesk: ein alter Atne-Priester in Fellmtal, einem Ort in Ailat. Ulfhon: Vom Volk der böse Ulfhon genannt. Ein Angehöriger der Familie Hreddeshi, der sich durch besondere Grausamkeit auszeichnet. Uolghq’âpsch: Ein Troll in den Bergen Batiflims. Er ist geschickt darin, sein Aussehen zu ändern. Beispielsweise verwandelt er sich in Sorla, um damit Hukaris Liebe zu gewinnen. Urgapsch: Der Perlek-Clan verehrt diesen Gott, ohne zu ahnen, dass es sich um die Trollgottheit Ûr-gqâschps handelt. Urgapschs Thron: Ein Berggipfel im Petairik-Gebirge. Das Wissen, dass er ursprünglich Ûr-gqâschps‘ Thron hieß, ging im Laufe der Generationen verloren – ebenso wie die Bedeutung dieses Namens. Ûr-gqâschps: Eine Trollgottheit; verantwortlich für Wohlergehen und Vermehrung der Trolle. Die Laute û und â in seinem Namen sind schwierig auszusprechen; es gilt dabei, gleichzeitig mit dem Kehlkopf ein Geräusch zu machen, als müsse man brechen. Urskal: Fürst der Nebligen Tiefen, Gott des Totenreichs und der Dunkelheit. Er ist Malas Gemahl. Anod ist sein Sohn und vertrieb ihn einst von der Oberfläche der Erde. Uush: Eine Art sprachbegabter Riesenwels; lebt im Fluss Asami. Vastouris: Eine chaotische Göttin, angeblich die verstoßene,
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verleugnete Tochter von Omschjull und Tara. Besonders mit Frena legt sie sich ständig an, denn sie stiftet Unruhe und richtet Schaden an, wo sie nur kann. Ruhiges Wachstum, Frieden und Verlässlichkeit sind ihr ein Greuel. Verteiler des Reichtums: der Name der Diebesgilde in Seedorf. Sorla macht dort seine Gesellenprüfung. Vinesha: Die Oberste Frena-Priesterin in der hernostischen Kaiserstadt Ekritmea. Unter anderem leitet sie das Waisenhaus. Vinumon: Elfenfürst von Rhosmea. Vortelik: Das Oberhaupt des Perlek-Clans, allerdings wurde ihm dieses Amt wegen seiner Ansichten entzogen. Vorurteilsfrei Nehmende: Der Name der Diebesgilde in Kriteis. Wandler: Wie sie wirklich aussehen, weiß man nicht. Sie nehmen nach Belieben die Gestalt fremder Menschen an und erschleichen sich so ihre Vorteile. Alle haben graue Augen, was aber kein untrügliches Merkmal ist, da auch bei normalen Menschen diese Augenfarbe vorkommt. Weiße Berge: Ein Gebirgskamm, der sich nördlich der Grauen Berge und parallel zu ihnen erstreckt. Wendeschi: Ein einfacher hernostischer Bauer nahe der Grenze zur Provinz Horadh. Er versucht mit Einfallsreichtum und Mut die Seinen durch die Wirren des Bürgerkriegs zu retten. Seine Nichte nennt ihn Onkel Weni. Wendualo: Gott der Meere. Wendualo opfern heißt oft nur, den Mageninhalt ins Meer entleeren, wie es Seekranke oder Betrunkene gelegentlich tun. Werrax: Ein Volk von menschengroßen Rattenwesen, das irgendwo östlich der Grauen Berge haust. Ihr Oberhaupt ist der Schamane Srixnes. Wesdhasi: Altes hernostisches Adelsgeschlecht und eine der „Sechs Familien“. Das Oberhaupt der Wesdhasi heißt Jelthon. Woul (Der Schwarze Woul): Ein Dämon, der von manchen Anhängern der Schwarzen Magie verehrt wird. Wird zur Schwarzen Dreiheit gezählt. Wral: Eine in ländlichen Gebieten Hernostes verehrte Göttin. Sie beschützt Wälder, Ställe und Weiden, will aber zum
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Jahreswechsel ein Opferlamm. Wurto: Der älteste Sohn von Fürst Slutr und dessen Gemahlin Fürstin Orfhane. Ygrottir: Zwerg in den Grauen Bergen, ein berühmter Kämpfer mit dem Streithammer und Hurmothins jüngerer Bruder. Er starb beim Kampf gegen die Ogluskshaddena. Yipschqô: Ein Troll, der sich in Fuskas Dorf als Omschjull ausgab. Ysalde: Eine Dryade, die eine Buche im Wald von Rhosmea bewohnt. Zanolphis: der Oberste Priester des Anod-Tempels in Kaharad. Zentauren: Auf einem Pferdeleib tragen sie einen menschlichen Oberkörper. Sie sind muskelbepackt und vor allem ausgezeichnete Bogenschützen. Sie sprechen von alters her eine altertümliche Sprache, wie sie auch in den Sidhlanden und beim Perlek-Clan noch überliefert ist. Zlapo: Der Schiffskoch auf der „Schnellen Susla“. zlenken: Die Elulmavni saugen ihren Feinden, dahergelaufenen Fremden oder anderen menschlichen oder menschenähnlichen Wesen das Blut und die Lebenskraft aus. Das nennen sie „zlenken“. Zletschko: der Oberste Priester des Atne-Tempels in Agra; ein alter, blinder Mann, der sich mit Hilfe seiner Brieftauben über das Weltgeschehen informiert. Er stammt von den kaburischen Inseln. Zusnild: Jene sagenhafte hernostische Königstochter, die zugleich eine Schlangenfee war und sich deshalb keinem Manne hingeben wollte. Erst Sinn-he Fala gelang es, ihre Bedingungen zu erfüllen, indem er durch mächtige Zauberei die Wasser von Batiflim in den Fluss Bato und so nach Hernoste lenkte. Sie gebar den sagenhaften Kaiser Ugalur. An verschiedenen Orten des Hernostischen Reiches wird sie als Brunnenjungfrau verehrt. Zwerge: Jeder glaubt zu wissen, was Zwerge sind, doch wird beispielsweise auch hier über die weiblichen Zwerge (Was tun sie, wie sehen sie aus?) nur wenig berichtet, außer dass es nicht nur gezähmte, sondern auch die sogenannten Wilden Zwerginnen gibt. Die männlichen Zwerge werden nach ihren
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vorwiegenden Tätigkeiten eingeteilt. So gibt es Schürfende Zwerge, Forschende Zwerge, Dienende Zwerge, Kämpfende Zwerge und viele andere mehr. Die meisten Dienenden Zwerge waren früher Forschende Zwerge, die meisten Kämpfenden haben zunächst geschürft. Auch ein Forschender Zwerg muss kämpfen können, und ein Dienender Zwerg wird das Schürfen nie verlernen.