Von William Marshall ist außerdem im Goldmann Verlag lieferbar: Das Skelett auf dem Floß • 5403
WILLIAM MARSHALL
Feu...
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Von William Marshall ist außerdem im Goldmann Verlag lieferbar: Das Skelett auf dem Floß • 5403
WILLIAM MARSHALL
Feuerkiller SCI FI Kriminalroman
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Englischen übertragen von Tony Westermayr Herausgegeben von Friedrich A. Hofschuster
Made in Germany • 10/82 • 1. Auflage • 1110 © der Originalausgabe 1981 by William Marshall Published by arrangement with Lennart Sane Agency © der deutschsprachigen Ausgabe 1982 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Richard Canntown, Stuttgart Krimi 5438 Lektorat: Werner Morawetz/Annemarie Bruhns Herstellung: Sebastian Strohmaier ISBN 3-442-05438-9
Die Hauptpersonen Kriminal-Chefinspektor Harry Feiffer
Leiter der Polizeistation Yellowthread Street in Hong Bay
Kriminalinspektor Bill Spencer
Polizeibeamter
Kriminalinspektor Phil Auden
Polizeibeamter
Leitender Kriminalinspektor Christopher O’Yee
Polizeibeamter
George Bell
Leiter der Brandverhütung bei der Feuerwehr Hong Bay
Irene Bell
seine Ehefrau
Peter Tschang
George Bells Stellvertreter
Anthony Lam
Hoteldirektor
Teddy Wong
Versicherungsmakler
Caroline
eine Pianistin
Polizeidirektor Ashwood
}
Der Grüne Schleim Der Astronaut
mit der Bekämpfung der Triaden-Banden betreut Monsterfiguren
Der Roman spielt in Hongkong.
Der Distrikt Hong Bay in Hongkong ist ebenso frei erfunden wie die Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund dort zu Hause sind.
Kapitel
1
Die Marsianer waren gelandet. Und mit ihnen die Venusier, die Saturnier, die Mondbewohner, Kiemen-Mann, sämtliche Außerirdische aus ›Krieg der Sterne‹, ferner Brust-Strahler, Batman, Superman, Spiderman, Das Ungetüm, Der Alien, Die Seuche und zur Freude ehrwürdiger und nostalgischer älterer Seelen mehrere Abarten von Bela Lugosi (orientalisch), Lon Chaney, Boris Karloff und – bei den Kleinwüchsigeren besonders beliebt – Peter Lorre und Der Unglaubliche Schrumpfmann. Der zweite Tag des All-Asiatischen Festivals für Science-Fiction- und Horrorfilme war in Hong Bay in vollem Gang. Bis jetzt hatte es so viele Invasionen zur See und zu Wasser gegeben, daß man nur sagen konnte: Wenn Paul Revere, der amerikanische Patriot, wiederauferweckt worden wäre, um sie den Kolonisten anzukündigen, er hätte sich nach den ersten fünfzehn vollen Linienmaschinen mit unheilbarer Kehlkopfentzündung zurückgezogen. Bis dato hatten die PR-Leute inmitten von jubelnden Menschenmassen nie unter fünftausend Köpfen auf verkleideten Fans, die nur so tobten und Ovationen spendeten a) einen heliumgefüllten Todesstern vom Dach des sechsstökkigen Hotels ›Empress of India‹ in die ungefähre Richtung von Indonesien, Australien und die Antarktis entschweben lassen – zum Glück für den Weltfrieden von einer entsetzten Flakbatterie abgeschossen, als er auf der Stelle provokativ über die Grenze nach Rotchina flog – b) unter einem Freudenschrei von Tausenden die Jungfernfahrt des Wesens Unter Dem Meer vom Stapel gelassen – das Wesen, eine riesige, behaarte Wurst von gut zwanzig Meter Länge war unverzüglich in die Schiffsschrauben eines mit hochexplosiven Stoffen beladenen Tankers geraten und von der ein wenig besorgten Wasserpolizei dort herausgeholt und spurlos versenkt worden – 7
c) zu einem völlig dunklen und unergründlichen Zweck eine gewaltige Reihe von Lasern anzulanden versucht, die Wolframstahl zerschneiden konnten. Zum großen Glück für den Fortbestand der Zivilisation, wie wir sie kannten, wurden sie von einer kleinen Armee völlig verängstigter und zitternder Zollbeamten mit rollenden Augen am Flughafen beschlagnahmt ... Inzwischen hatten die Simshänge-Fähigkeiten der Menschlichen Fliege Hunderte begeistert. Ein Wüstling, zur Defloration einer nicht ganz willfährigen jungen Dame im achten Stockwerk eines städtischen Wohnblocks entschlossen, hatte, als sie ihr offenes Fenster plötzlich über seinen Fingern schloß, mit seinen Hilfeschreien Tausende erregt. Ein kleiner Aufstand war knapp vermieden worden, als ein Weltraum-Krieger, ausgerüstet mit seinem Schwert und der Mission, die Galaxis zu einem sicheren Hort des Lebens zu machen, beschlossen hatte, sich in der Icehouse Street mit ein paar Rockern anzulegen, bis er entdeckte, daß die Rocker nicht nur keine Fans von Weltraum-Kriegern waren, sondern vielmehr eine friedliche Gruppe von Kung-fu-Enthusiasten, im Begriff, die Verleihung des Schwarzen Gürtels an einen der ihren zu feiern. Eine Gruppe volltrunkener Welten-Killer, erpicht auf eine Welt, die zerstört werden konnte ... Im Dienstraum kreischte der leitende Kriminalinspektor Christopher O’Yee: »Mir geht der Raum aus!« Es war so weit gekommen, daß er einen Grundriß der Haftzellen wie den Kabinenplan der ›Queen Mary‹ auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Er zählte die Zellen zum achtenmal innerhalb von zehn Minuten und kam immer wieder zu demselben Ergebnis: vierzehn Zellen und sechzehn Festgenommene, nicht mitgerechnet Der Grüne Schleim in Zelle 12 und ein Ding von unbestimmtem Geschlecht, welchselbes sich Das Objekt nannte, in Zelle 8, zwei Godzillas in Zelle 11, Die Menschliche Fliege in Zelle 7 –. Er starrte auf den Grundriß und wartete auf eine Eingebung. Die einzige Eingebung war eine Besenkammer. Draußen hörte man eine Folge von Ächzlauten, als Konstabler Yan mit etwas unerahnbar Neuem von der Straße rang. O’Yee brüllte durch die offene Tür hinaus: »Männlich oder weiblich?« 8
Ächzen und Stöhnen, dann schrie Yans Stimme, kurz bevor wieder jemand auf ihn einschlug, zurück: »Woher soll ich das wissen? Sieht aus wie eine Kreuzung zwischen Wonderwoman und Unglaublichem Ungetüm! Wohin damit?« »Zu Dem Objekt in Zelle elf!« In der Nähe der Besenkammer gab es eine Brandbekämpfungsanlage – zum Glück – mit abschließbarer Tür. Das würde äußerst gelegen kommen, falls sich auch noch Zwerge einstellen sollten. Allerdings nur, wenn der Lösch-Schlauch nicht für wichtigere Dinge gebraucht wurde, sobald Das Objekt und Yans Fang aufeinandertrafen. O’Yee fragte scharf: »Warum hören Sie nicht endlich damit auf, diese Leute reinzubringen?« Yan entfuhr ein überraschtes »Uff!«, als ihn ein schmerzhafter Hieb traf, und er ächzte dumpf, während er seinen Schlagstock aus dem Futteral in seinem Gürtel zog und zurückschlug. Yan brüllte: »Das sind alle Verbrecher, Sir – ganz eindeutig.« Dann entrang sich ihm wieder ein Schmerzensschrei. »Aber ich habe keinen Raum mehr zur Verfügung!« »North Point soll welche aufnehmen.« »North Point hatte schon vor vier Stunden keine freien Zellen mehr. North Point hat Den Schwarm in Haft.« »Den hab’ ich verfehlt!« klagte Yan. Er meinte nicht den Film, sondern den Körper von Wonderwoman/Ungetüm. Er bereinigte die Angelegenheit mit einem Hieb seines Schlagstocks, der mit einem dumpfen Schlag endete, als Ungetüm/Wonderwoman kopfüber zu Boden ging. Yan frohlockte: »Hab’ ich dich, du –« O’Yee zog seinen Kabinenplan zu Rate und versuchte ihn mit einem dicken Stapel von Festnahmemeldungen in Übereinstimmung zu bringen. »Yan, haben Sie Den Grünen Schleim festgenommen?« »Ich, Sir? Nein. Wieso?« »Weil ich kein Formblatt für ihn habe!« O’Yee überlegte, ob er in den Einsatzraum gehen und dem Lärm ein Ende bereiten sollte, entschied dann aber, daß es in einer Flut von Formularen über seine Kräfte ging, auch noch einen Vordruck ›Protokoll über miterlebte Zeugenmißhandlung‹ auszufüllen. »Ich finde nirgends eine Festnahmemeldung für ihn!« Er schrie: »Konstabler Sun, sind Sie da?« Das war offensichtlich nicht der Fall. 9
»Konstabler Lee, haben Sie Den Grünen Schleim festgenommen und vergessen, ein Formular auszufüllen?« Eine Stimme rief: »Hilf mir doch mal einer!«, begleitet von Ächz- und Grunzlauten, als Lee sich offenkundig an der Frühsportdisziplin beteiligte, Wonderwoman/Ungetüm zu verprügeln. Lee brüllte zurück: »Nein, Sir, ich nicht.« Auden und Spencer hielten sich seit vier Uhr morgens am Parkplatz Canton Road auf. Sie konnten die Festnahme nicht vorgenommen haben. O’Yee rief flehend: »Weiß jemand, ob Mr. Feiffer –« Er bekam keine Antwort. »Weiß denn niemand, ob sich in der gottverdammten Bude hier irgendeiner –« O’Yee brüllte aus voller Lunge: »Konstabler Sun, wo, zum Teufel, stekken Sie?« Sein Telefon schrillte dazwischen, er riß den Hörer an sich. Es meldete sich der diensthabende Beamte der Polizeistation North Point. Er wies höflich darauf hin, daß die Grüne Minna dreißig bis vierzig Betrunkene angeliefert habe, allesamt gleich gekleidet wie Das Ding Von Jenseits Des Raums, und da gerade von Raum die Rede sei – O’Yee winkte ab: »Nein! Können Sie vergessen! Versuchen Sie es bei Wan Chai, verdammt noch mal!« »Wan Chai ist überfüllt mit Nutten und Zuhältern –« »Dann Yaumati drüben auf –« Der diensthabende Beamte von North Point meldete: »Eine Bande verrückter Australier mit Helmen und Weltraum-Bumerangs. Ich glaube, da ist ein Typ aus einem scheußlichen Antipoden-Comic, der ›Eiserner Gesetzloser‹ oder so ähnlich heißt –« »Kai Tak?« »Amoklaufende Malaien mit –« »Jugend?« »Meinen Sie, ob wir Jugend auch in die Zellen gesteckt haben oder ob ›Jugend‹ freie Zellen hat? Ja, wir haben Jugend übrig, so an die zwanzig Stück, und nein, ›Jugend‹ hat keine freien Zellen.« Der Beamte schwieg einen Augenblick. »Entweder das, oder sie sind Zwerge.« Er fragte: »Wieso? Könnten Sie ein paar Zwerge nehmen oder so?« »Nein, wir können keine paar Zwerge nehmen und so! Was glauben Sie, wozu unser Schlauchschrank gut sein soll?« »Unser Schlauchschrank ist gestern von Wolfmensch und 10
Schlangenvolk in Fetzen gerissen worden.« Der diensthabende Beamte von North Point meinte: »He, Christopher, ich will ja nicht rumjammern und auch nicht direkt aussprechen, daß jede kleine Hilfe, die Sie mir geben können, in der Zukunft vielfach vergolten werden würde –« O’Yee fauchte: »Gut, dann sagen Sie’s auch nicht!« Er fragte: »Hören Sie mal, Der Grüne Schleim, haben Sie etwa zufällig –« Yan brüllte auf: »Konstabler Sun, draußen ist noch einer, der in der Öffentlichkeit herumpinkelt –« und O’Yee heulte: »Ja nicht, den brauchen wir nicht!« Eine Sekunde, bevor der diensthabende Beamte von North Point ihm ins Ohr schrie: »Bloß nicht zu uns schicken!« »Wollte ich ja gar nicht!« Sun sagte: »Den hol’ ich!« »Ist gar kein Er!« Sun senkte die Stimme und fragte interessiert: »Wirklich?« O’Yee versuchte es ohne Hoffnung erneut: »Sun! Der Grüne Schleim –« Der North-Point-Beamte brüllte aus der Muschel: »Nein! Nein!« Dann donnerte er jemanden in seiner eigenen Station an: »Nicht einfach nur dastehen! Zuschlagen!« O’Yee legte auf. Ungetüm/Wonderwoman jodelte unheildrohend (in Metamorphose?): »Raah – jaah!« »Sun!« Nichts, keine Antwort. O’Yee studierte nochmals den Kabinenplan, hielt sich die Ohren zu und fragte sich, ob der Chefsteward auf der alten ›Queen Mary‹, endlich doch um den verdammten Verstand gebracht, jemals hinuntergegangen war, ein halbes Dutzend Passagiere bei den Haaren gepackt und sie allesamt über Bord geworfen hatte. Als Kriminal-Chefinspektor Harry Feiffer mit zwei Tassen Kaffee zur Tür hereinkam, fauchte O’Yee: »Harry! Wo, zum Teufel, haben Sie nur gesteckt?« Feiffer sah ihn erstaunt an. »Im Bett. Mein Dienst beginnt erst um sechs.« Draußen auf dem Flur hatte Sun, offenbar nicht in der Lage, das interessantere Opfer zu finden, jemanden hereingezerrt, der als chinesischer Batman verkleidet war. Der als chinesischer Batman Ge11
kleidete hatte die Hände um Suns Kehle gelegt und schickte sich an, auf geradezu wissenschaftliche Weise zu erkunden, wie fest er zudrücken mußte, bevor Suns Gesicht, schon dunkelrot angelaufen, das andere Ende des Farbspektrums bei Schwarz erreichen würde. Sun schrie: »Yan! Lee!« Feiffer fragte erstaunt: »Wieso? Was ist denn los?« »Mir gehen die Zellen aus. Diese Trottel draußen nehmen die Leute blindlings fest, und ich weiß nicht, wo ich sie unterbringen soll! Los ist – los ist, daß Der Grüne Schleim nicht mal ein Formular hat!« »Oh«, bedauerte Feiffer. Sun hatte durch die simple Technik eines simulierten Zusammenbruchs Batman mit zu Boden gerissen und war dabei, dessen Finger von seinem Hals zu lösen und festzustellen, wie weit er sie gegen Batmans Handgelenke zurückbiegen konnte, bevor dessen Augen ganz herausquollen. Batman gab grollende Laute von sich und versuchte Sun einen Tritt in die untere Körperregion zu versetzen. Sun wich dem Tritt aus und hieb Batmans Fledermausohren auf den Boden. Feiffer meinte unschuldig: »Nie von ihm gehört. Ich war das nicht.« Er beobachtete den Kampf in Bodenstellung und sagte zu Sun: »Brauchen Sie noch ’ne Hand?« Sun hatte schon zwei zu fassen bekommen, die beide zu Batman gehörten. Er verdrehte sie um die Kapuze des capebehängten Kämpfers, löste ein ermutigendes Todesröcheln aus, schob sich wie ein Ringer auf die Knie und stieß eines mit aller Kraft in den Vielzweckgürtel. Sun sagte: »Nein, danke. Das ist eigentlich Sache der uniformierten Kräfte.« Batman kreischte: »Woher soll ich denn wissen, daß der Kerl normal ist? Jeder weiß, daß Robin schwul ist. Was treibt er bloß den ganzen Tag in der gottverdammten Bat-Höhle, wenn er nicht –« Sun riß sein Knie wieder hoch und verfehlte diesmal. Als Batman eine beschädigte Handschuhpranke befreien konnte und Sun einen Finger ins Auge stieß, stürzte er und griff nach seinem Schlagstock. O’Yee betonte erneut: »Ich habe keine Zelle!« Sein Protest ging in dem Tumult unter, als Batmans Hand vorschnellte, Sun 12
um die Knöchel packte, und er schrie: »Ich bring’ dich um, du brutales Tuntenschwein!« Sein Mund formte sich zu einem schmerzverzerrten ›O‹, als Feiffer die beiden Tassen Kaffee auf einem Karteischrank an der Tür abstellte und Batman auf die Finger trat. O’Yee erklärte, während die Botschaft von Feiffers Schuhabsatz blitzschnell Batmans Mandeln erreichte und dieser zu brüllen begann, über den Kabinenplan gebeugt: »Hier ist einfach nichts richtig organisiert! Überhaupt nichts!« Sein Telefon läutete wieder, und O’Yee fauchte in die Muschel: »Nein, wir können sie nicht nehmen, egal, was sie sind! Wir haben alle gottverdammten Irren, Perversen, Blitzer, Schwindler, Kotzer, Zwerge, Straßenräuber und gottverdammten Drecks-Wahnsinnigen, die wir brauchen können. Hauen Sie ab und suchen Sie sich Ihre eigene gottverdammte Mistzelle in Ihrer eigenen gottverdammten –« Am anderen Ende der Leitung tadelte seine Frau: »Christopher! Wenn dich nun jetzt eines der Kinder angerufen hätte?« Von unten schrie Konstabler Lee aus den Zellen herauf: »Sun, sind Sie da? Ich brauche Hilfe!« Sun rief hinunter: »Ich bringe Batman runter!« Batman, der seine Hand unter Feiffers Absatz anstarrte, hatte einen glasigen Ausdruck in den Augen. Sun nickte Feiffer zu und sagte höflich: »Äh, danke, das genügt jetzt –« Er rief zu O’Yee hinüber: »Sir, wo bring’ ich ihn unter?« »Was hätten sich die Kinder dabei gedacht?« fragte Emily O’Yee scharf. »Was hätte Patrick gedacht?« Ihr Tonfall nahm ärgste weibliche Bedrohlichkeit an. »Oder Penelope? Oder die kleine Mary? Oder –« Sun ließ nicht locker: »Sir? Mr. O’Yee? Wo soll ich ihn unterbringen?« »Was weiß ich, wo Sie den Scheißkerl unterbringen?« O’Yee fiel der Telefonhörer in seiner Hand ein. Er sagte: »Oh –!« Feiffer fragte Sun: »Hat er konkret jemand angerührt?« »Nein, Sir. Er wollte nur jemand anrühren.« »Wo ist der Mann, der ihn angezeigt hat?« »Der hat sich aus dem Staub gemacht. Er wollte noch zum Umzug von ›Krieg der Sterne Zwo‹ in der General Gordon Street –« 13
O’Yee entschuldigte sich ins Telefon: »Es tut mir leid, Schatz, o je, es tut mir ehrlich leid.« Er schaute sich verzweifelt im Zimmer um. »Menschenskind, das tut mir wirklich –« Feiffer wandte sich an Sun: »In den Zellen ist nicht viel Platz. Wenn der Beschwerte sich nicht beschwert, können Sie ihn genausogut wieder auf die Straße setzen.« Er nahm den Schuhabsatz von Batmans Hand und glaubte im ersten Augenblick, Batman wolle seinen Schuh packen und ihn küssen. Batman sagte auf kantonesisch: »Mögen alle Himmel Euch segnen, Sir!« Er gab ein schmerzliches «Uäh!« von sich, als Sun beschloß, noch einen abschließenden Vergeltungstritt anzubringen, bevor er ihn hinauswarf. »Es ist nur so, Schatz –« versuchte O’Yee zu erklären. Emily O’Yee, nun erst in Rage, fauchte: »Ich wollte das eigentlich nicht erwähnen, Christopher, aber ist dir klar, daß du heute früh weggegangen bist und die Eingangstür sperrangelweit offen gelassen hast?« »Es tut mir wirklich leid, Schatz ...« Emily sagte: »Wenn nun Patrick oder Penelope oder die kleine Mary angerufen –« Feiffer öffnete hinter Sun und Batman die Tür und brachte den Kaffee. Er schmunzelte augenzwinkernd: »Organisation.« »Ja, Schatz, nein, Schatz ...« beschwichtigte O’Yee. Zu Feiffer gewandt schwächlich: »Erzählen Sie mal.« »Soll das ein Witz sein?« »Nein, Schatz! Nein!« Aus irgendeiner Zelle heulte einer der Festgenommenen, so laut er konnte: »Dreckiger, abgelutschter, miserabler, verkommener Bullenscheiß!« und O’Yee, der hilflos zur Decke hinaufstarrte, während der Kaffee aus der Tasse auf seine ›QueenMary‹-Pläne tropfte, hätte nicht einiger mit ihm sein können. Auf dem geräumten Angestellten-Parkplatz des Hotels ›Empress of India‹ – Schauplatz des Festivals – war eine Fliegende Untertasse aus Sperrholz abgestellt, Durchmesser fast fünfundzwanzig Meter, ohne Kennzeichen, grau gestrichen und außerweltlich, bewacht von einem Astronauten aus Glasfasergewebe. Der Umzug ›Krieg der Sterne Zwo‹ schlängelte sich außer Hörweite auf der anderen Seite von Hong Bay durch die Stra14
ßen. Bis auf Den Raumfahrer und zwei chinesische Straßenkehrer, bekleidet mit Trikothemden und kurzen Hosen, die mit ihren Drahtbesen ohne Hast im Rinnstein schrubbten, lag die Umgebung still und verlassen da. Der Astronaut, eine lebensgroße Gestalt in einem silberglänzenden Anzug mit Helm, der eine schwarze Sichtscheibe besaß, stand wie Gort, der Roboter, aus dem Film ›Der Tag, an dem die Erde stillstand‹ in der Nähe der Fliegenden Untertasse. Er hielt in der silbern behandschuhten Hand eine Art Strahlerpistole, und in dem leichten Wind, der vom Meer herüberwehte und in den verleimten Fugen und Platten der Untertasse knarrte, schwankte die Strahlerpistole ein wenig hin und her, so, als sei die Hand, die sie umfangen hielt, aus empfindlich Fleisch und Blut, und nicht wie auch die anderen Figuren von Godzilla, Buck Rogers, Walroß-Mann u.a. in den Straßen von Hong Bay in Wahrheit aus hier gefertigter Glasfaserwolle gepreßt. Einer der Straßenkehrer unterbrach seine Arbeit, wartete, bis sein Kollege, ein zahnloser, alter Mann, herankam, dann fragte er, auf den Besen gestützt, kritisch: »Findest du das vielleicht gut?« Der zweite Straßenkehrer rümpfte die Nase. An der Steuerkuppel der Untertasse konnte man ein aufgemaltes, schwarzes Zeichen erkennen. Der zweite Straßenkehrer schüttelte den Kopf und sagte wegwerfend: »Nee, das haben sie aus alten Teekisten gemacht. Man sieht die schwarzen Zeichen von den Kisten noch.« Er betrachtete den Astronauten. In der Pistole des Astronauten klickte es kaum vernehmbar. Der erste Straßenkehrer meinte nachdenklich: »Ja. Oder soll das ein chinesischer Buchstabe sein?« Wie sein Kollege war er Analphabet. Er fragte: »Glaubst du, daß es das ist?« Der zweite Straßenkehrer schüttelte den Kopf, betastete sein Zahnfleisch und antwortete: »Nee, Marsianer hätten nie einen chinesischen Buchstaben auf ihrer Untertasse, die haben einen marsianischen.« Er blickte zu dem Zeichen hinauf. »Das sieht mir chinesisch aus.« Der erste Straßenkehrer hatte unter dem Kinn kurze Bartstoppeln. Er kratzte sie entschlossen. »Mir auch.« Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Astronauten zu. »Soll das einer von der Erde sein?« Der erste Straßenkeh15
rer sagte: »Auf dem Anzug steht nichts, also wird er kein Chinese sein.« Er dachte kurz nach. »Wenn er ein chinesischer Astronaut wär, hätte er einen roten Stern oder so was an der Brust, oder? Außer vielleicht, er soll ein Astronaut aus Hongkong sein.« Der zweite Straßenkehrer erklärte entschieden: »Hongkong hat keine Astronauten. Die gibt’s nur in Amerika und Rußland.« Wieder knackte es in der Strahlerpistole, dann bewegte sich der Arm des Astronauten langsam und unaufhaltsam nach oben, bis die Waffe sich ein wenig drehte und auf die Fliegende Untertasse richtete. Der erste Straßenkehrer staunte: »Das ist prima. Wie machen die das?« Der zweite Straßenkehrer belehrte ihn: »Das ist eine Maschine.« – »Ja.« Der zweite Straßenkehrer sagte: »Solange die keinen Dreck machen, ist mir alles recht. Da sieht man einen Science-FictionFilm, wo die halbe Stadt ausgelöscht wird – aber hast du schon einmal die armen Schweine von Straßenkehrern geseh’n, die hinterher saubermachen müssen? Nee.« Aus der Mündung der Strahlerpistole drang ein Zischen, den Bruchteil einer Sekunde später erfüllte ein dünner Nebel die Luft, daß es den zweiten Straßenkehrer würgte. Der zweite Straßenkehrer ächzte: »Was, zum Henker, ist –« Der Astronaut, die Hand um den Kolben der Strahlerpistole geklammert, drehte sich langsam, bis er der Fliegenden Untertasse genau gegenüberstand. Dann zog er den Abzug durch. Die Fliegende Untertasse verging in einem brüllenden, fauchenden Feuerball. Es ging um mindestens vierzig bis fünfzig Millionen Dollar. Der Astronaut ließ sich von den Schreien und Protesten der Straßenkehrer nicht beirren und ging zu Stufe Zwei über, um sie sich zu holen. Er hob die Strahlerpistole zum zweitenmal, schwenkte sie vorbei an der flammenden, zusammenstürzenden Untertasse, richtete die Düse genau auf die Brust des zweiten Straßenkehrers, zog den Abzug durch und verbrannte ihn mit einem tobenden Strom pulsierenden, gelben Feuers dort, wo er stand, zu Asche. 16
Hongkong ist eine etwa 75 Quadratkilometer große Insel unter britischer Verwaltung im Südchinesischen Meer, den Gebieten Kaulun und New Territories des chinesischen Festlands gegenüber liegend. Kaulun und die New Territories werden ebenfalls von den Engländern verwaltet und sind umgeben von der rotchinesischen Provinz Kwangtung. Das Klima ist im wesentlichen subtropisch. Die Sommer sind heiß und schwül mit starken Regenfällen. Die Bevölkerung von Hongkong und Umgebung erreicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt samt Touristen und Besuchern eine Zahl von über vier Millionen. Die New Territories wurden von den Chinesen verpachtet. Der Pachtvertrag erlischt 1997, aber die Briten halten nichtsdestoweniger Militär entlang der Grenze. Sollten die Kommunisten, die der Kolonie fast das gesamte Trinkwasser liefern, aber je den Wunsch verspüren, den Pachtvertrag vorzeitig aufzuheben, brauchen sie nur den Wasserhahn abzudrehen. Hong Bay liegt an der Südseite der Insel. Die Touristenprospekte raten dringend an, diese Gegend nach Einbruch der Dunkelheit zu meiden. 7.10 Uhr. Montag morgen. Im ersten Augenblick glaubten die abrupt aus dem Schlaf gerissenen Menschen, die riesige Rauchwolke könne nur von einer vollbeladenen Linienmaschine herrühren, die mitten in der Stadt abgestürzt sein müsse.
Kapitel
2
Dr. Macarthur, der Amtsarzt, zündete sich eine würzige französische Zigarette am Stummel der erst halbgerauchten Vorgängerin an, berührte das Abzeichen ›Invasion der Körperfresser‹ an seinem Revers, blickte auf den verkohlten Besen und die Bitumen-Stelle, wo der Straßenkehrer gestorben war, und murmelte leise: »Ich wollte schon immer mal sagen: Wer das getan hat, war nicht von dieser Welt.« Auf der Straße zog der Schluß eines tobenden, farbenprächtigen Umzugs unter dem Motto ›Raumschiff Enterprise – Der Film‹ vorüber, aber der ganz entschieden 17
orientalisch aussehende Captain Kirk auf der Kommandobrücke des Tiefladers, der die ›Enterprise‹ trug, konnte seine Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen. »In Wirklichkeit war das Benzin.« Die Konstabler Lee und Sun standen innerhalb der Absperrseile und beobachteten die Menschenmenge für den Fall, daß sie durchbrechen wollte. Captain Kirk schrie, während der Tieflader mit acht Stundenkilometern durch das Gedränge brach: »Krümmungsfaktor zehn, Mister Sulu!« und Sun und Lee, beide keine Freunde des Fernsehens, blickten verwirrt. Macarthur erstattete Bericht: »Dem überlebenden Straßenkehrer zufolge feuerte er zuerst auf die Untertasse und dann ohne ersichtlichen Grund auf den Getöteten.« Es lag noch immer der beißende Geruch nach verbranntem Holz und Fleisch in der Luft. »Er hat ausgesagt, man hätte ein Zischen oder Knacken gehört?« Macarthur nickte. »Das Zischen stammte vom Treibgas. Das Knacken wurde vermutlich vom Zündsystem ausgelöst, das den Strom aus der Düse in Brand gesetzt hat.« Er blickte hinüber zu dem ersten Straßenkehrer, der verstört auf den verkohlten Besen hinunterstarrte. Das Wenige, das von seinem Kollegen geblieben war, hatte man in einem Sanitätswagen fortgeschafft, und nur der versengte Teer um den Besen zeigte noch an, wo er gestanden hatte. Macarthur sagte: »Irgendeine Art Flammenwerfer oder Benzinpistole. Aus der völligen Einäscherung des Körpers zu schließen, würde ich vermuten, der Spray wurde zu einem dünnen Sprühnebel zerteilt, bevor man ihn gezündet hat.« Er blickte mit Interesse auf eine Schar weiblicher Angehöriger der ›Enterprise‹-Besatzung in Miniröcken hinten auf dem Tieflader. »Vermutlich nicht komplizierter als ein größeres Gasfeuerzeug. Man könnte einen kleinen Metallzylinder herstellen, von dem ein Schlauch zur Düse führt, ein Wechselventil einbauen, das Benzin unter hohem Druck in den Zylinder füllen – und fertig.« Er fuhr ein wenig einfältig fort: »Nicht wenige Filmgesellschaften haben mich aufgefordert, als technischer Berater bei einigen ihrer neuen Projekte mitzuwirken.« Er kam Feiffers Frage zuvor. »Was das Treibgas angeht, könnte man einen ganz gewöhnlichen Autoreifen hernehmen, ihn bis zum Zerreißen aufpumpen und die Druckluft in den selbstgemachten Zylinder einströmen 18
lassen.« Schulterzuckend fügte er hinzu: »Alles in allem –« Alles in allem wäre es einfacher gewesen, wenn der Astronaut nicht von dieser Welt gewesen wäre. Das hätte wenigstens die Liste der in Frage kommenden Benzin- und Druckluft-Lieferanten stark verkleinert. »Und die Untertasse?« sagte Feiffer. »Bestand aus alten Teekisten. Sperrholz, angestrichen mit leicht entzündlicher Farbe, möchte ich wetten.« Macarthur, für seine Rolle als technischer Berater der Filmwelt übend, erläuterte fachmännisch: »Wie Sie vermutlich wissen, wird Sperrholz aus dünnen Furnierschichten mit, gelinde gesagt, sehr leicht brennbarem Kleber zusammengeleimt.« Er betrachtete die Überreste der Untertasse. »Schwer zu sagen, jetzt, aber die Innenspanten bestanden vermutlich aus leichtem Magnesium – und das geht in die Luft wie eine große Brandbombe.« Macarthurs Blick blieb kurz an dem stummen Straßenkehrer haften, der immer noch auf den Besen hinunterstarrte. »Kein persönliches Motiv, was meinen Sie?« Der Straßenkehrer hob den Kopf und sah Feiffer an. Der Straßenkehrer fragte: »Mister, wie kann so etwas passieren?« In seinen Augen glänzten Tränen. »Er war mein Freund. Er machte das schon seit fast zwanzig Jahren.« Er blickte auf den Besen. »Er hat hart gearbeitet! Das hat man vielleicht nicht so gemerkt, aber er hat immer die Straßen saubergemacht, die ihm das Amt zugewiesen hat. Nie hatte einer Grund, sich zu beschweren.« Während frenetischer Jubel in der Menge aufbrandete, als Mr. Spock auf der Brücke der ›Enterprise‹ erschien, meinte er: »Ich dachte, das funktioniert alles!« Feiffer sagte: »Ich lasse einen meiner Konstabler –« »Die Sachen müssen doch funktionieren, Mister!« Er blickte hinüber zu den nachgemachten Computern auf der Pappmache-Brücke der ›Enterprise‹. »Man sieht so was im Fernsehen, und das funktioniert!« Er packte Feiffers Arm, als ihm etwas einfiel: »Wir haben nicht gebummelt, Mister, wir sind nur rübergegangen, um uns die Fliegende Untertasse anzuseh’n – wir dachten, da muß vielleicht mal gekehrt werden!« Feiffer nickte. »Das Amt – die werden meinen, wir –« »Ich regele das mit der Straßenreinigung –« 19
Der Straßenkehrer sagte kleinlaut: »Er war ein Arbeiter wie ich!« Ein kehliges »Ahiija!« stieg von der Menge auf, als eine Prozession von Mutanten und Monstern, die dem Tieflader folgte, miteinander um die Reize eines fast einsneunzig großen Modells weißer Hautfarbe in glitzernden Goldstiefeln und in einem Lederanzug mit Onyxbesatz rang und raufte. Der Straßenkehrer kreischte plötzlich gegen die Menge an: »Mein Freund ist umgebracht worden!« Feiffer fing Konstabler Suns Blick auf und winkte ihn zu sich heran. Der Straßenkehrer haspelte gehetzt: »Er war nicht echt! Er kann nicht echt gewesen sein! Wenn er echt gewesen wär’, hätt’ er keine Untertasse aus Holz gehabt, sondern eine echte! Deswegen sind wir zu ihm rübergegangen – weil wir gewußt haben, daß er nicht echt ist! Wir dachten, das ist eine Maschine. Im Fernsehen sieht man Maschinen, und sie funktionieren! Sie schnappen nicht plötzlich über und –« Er zupfte Feiffer am Ärmel, ein sonderbares, helles Leuchten in den Augen. Er deutete auf den Tieflader mit dem Raumschiff. »Das ist eine Maschine! Maschinen schnappen einfach nicht über. Oder? Mister?« Feiffer starrte auf den verkohlten Besen. »Manchmal.« »War es das, was passiert ist? Ist sie kaputtgegangen?« Der Straßenkehrer sagte vage: »Meine Schwägerin wollte sparen und eine Waschmaschine kaufen, aber ihr Mann hat gesagt, die gehen kaputt, aber im Fernsehen, wenn du sie siehst, sind sie immer –« Er fragte: »Gehen die kaputt, Mister? Maschinen? Ich habe noch nie eine gehabt.« »Es war ein Mann.« Der Straßenkehrer nickte. »Ein Astronaut. Eine Maschine, die so aussah, als –« »Es war ein richtiger Mensch.« Der Straßenkehrer schüttelte den Kopf. »Nein.« Feiffer berührte Suns Schulter und zog ihn zu dem Straßenkehrer herüber. Sun sagte sanft zu dem Straßenkehrer: »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause. Da können Sie dann in Ruhe Ihre Aussage machen. Der Wagen steht in der Seitenstraße.« Der Straßenkehrer protestierte: »Nein!« In seinem Gesicht 20
stand das Entsetzen. »Nein, ich steige in keine Maschine – nein!!« Feiffer packte den Arm des Mannes. »Das war keine Maschine. Das war ein Mensch.« »Nein!« Der Straßenkehrer überschrie den Lärm der Menschenmenge. »Nein! Kein Mensch würde so was machen! Es war eine Maschine!« Sun versuchte ihn zu beruhigen: »Kommen Sie, ich fahre Sie heim, und –« »NEIN!« Der Straßenkehrer riß sich los, stürzte in das Gedränge und wurde beinahe von dem Tieflader überrollt, der zurückstieß, um auf dem Weg zur Yellowthread Street und Galaxy Four durch eine Gasse zu fahren, nur ein kurzer Weg in die nächste, maschinenreiche Zukunft. O’Yee sagte verzweifelt ins Telefon: »So hör doch, ich hatte den Kopf voll mit anderen Dingen.« Seine Frau steigerte sich in eine ihrer Morgen-Strafpredigten hinein. Er zündete sich nervös eine Zigarette an. »Dinge wie –« »Wie was? Daß du jedem Notzüchtiger, Kinderverderber und Straßenräuber in Hong Bay eine Unterkunft verschaffst? Warum hängst du nicht einfach eine Art Arztschild hin, auf dem steht ›Der Polizist befindet sich außer Haus‹?« Sie unterbrach ihren Wortschwall nur kurz, um Luft zu holen: »Genügt es denn nicht schon, Christopher, daß ich die meiste Zeit nicht weiß, wann du Dienst hast oder nicht, oder daß die Kinder mich schon fragen, wer der fremde Mann ist, der sich im Badezimmer rasiert, nein, du mußt jetzt auch noch in aller Herrgottfrühe um fünf Uhr früh aus dem Haus und die Eingangstür offen lassen! Weißt du eigentlich, was für Leute sich morgens um fünf Uhr in dieser Gegend herumtreiben?« »Natürlich weiß ich das! Ich nehme sie fest, wenn du dich erinnerst.« Sie wollte einwerfen: »Nicht schnell genug.« O’Yee beruhigte: »Ich habe mich umgesehen, bevor ich ging.« »Wenn du dich umgesehen hast, bevor du gegangen bist, warum hast du die Tür offen gelassen? Als Signal dafür, daß die Luft rein ist?« Emily O’Yee fragte mit ihrer stillen, drohenden, unbestimmt mütterlichen Chinesinnenstimme: »Christopher, mir ist klar, daß dort, wo du in San Francisco aufgewachsen bist, 21
von Gewaltverbrechen keine Rede war –« »Es tut mir ja leid!« O’Yee hatte einen genialen Einfall. »Ich – ich dachte an andere Dinge, an deinen Geburtstag, an –« Emily O’Yee antwortete mit einer Stimme, die so kalt war, daß sich der Hörer in seiner Hand mit Reif beschlug: »Ich habe zufällig erst in knapp drei Monaten Geburtstag.« »Ich weiß. Das weiß ich. Aber ich – ich habe etwas so Schönes, daß ich dachte, du könntest –« Er hatte das Gefühl, daß ihm das Wasser bis zum Hals stand. »Ich dachte, das sei so überwältigend, daß ich dir dein Geschenk vorzeitig überreichen wollte!« Er atmete tief ein, als das Wasser lautlos sank, und sagte: »Puh!« »So, ja?« Die Stimme klang jetzt zuckersüß. Dann sauste das Fallbeil auf ihn herunter. »Was denn, zum Beispiel?« Was nun? O’Yee sagte. »Was, ja ...« O’Yee platzte heraus: »Ja, Freikarten zu einer der großen SF-Filmpremieren morgen abend. Weil – ich – ich wußte, daß du SF-Filme so gern hast, und als man mir Karten für eine der Uraufführungen anbot, wußte ich, daß du da gern hingehst, und weil die Kinder mitgehen können, dachte ich, ob das nicht eine gute Sache für uns alle wär’ – dir das zum Geburtstag zu schenken, obwohl dein Geburtstag ja eigentlich erst –« Er geriet ins Stammeln. Er fragte: »Na, was hältst du davon?« Wie ein abgelaufener Wecker fügte er hinzu: »Ich hab’ sie von einem Bekannten.« Emily O’Yee staunte: »Wirklich? Du hast tatsächlich Karten für – aber da nehmen doch alle teil: der Gouverneur und Filmstars und –« Sie verstummte. »Und Filmstars und ... Filmstars und ...« O’Yee begeisterte sich: »Richtig! Richtig! Da hab’ ich sie her – von einem Filmstar, den ich zufällig kenne.« »Du hast mir nie erzählt, daß du einen Filmstar kennst!« fuhr Emily O’Yee auf – die Nachbarn schon so gut wie unterrichtet, schadenfroh belächelt und für immer auf die gebührenden Plätze verwiesen. »Wen denn? Wen kennst du? Sag mir, wer es ist.« O’Yee stotterte, in die Enge getrieben: »Ähm –« Er überlegte fieberhaft. »Ich kann das nicht preisgeben. Das ist geheim. Er spielt in einem der Filme in Maske und will nicht, daß einer weiß, wer er ist, weil man ihm in einem französischen Film eine ernst22
hafte Rolle angeboten hat und er –« Das Ganze entwickelte sich mit erschreckender Mühelosigkeit. Bevor er sich an Ort und Stelle in Baron Münchhausen verwandelte, erklärte O’Yee abschließend: »Ich darf nicht mehr sagen.« Nichts konnte ihn dazu verleiten, sich noch tiefer hineinzureiten. »Ich habe ihm geschworen, daß ich keiner Menschenseele sage, wer er ist.« »Wer ist er?« fragte Emily O’Yee ungerührt weiter. »Der Grüne Schleim«, sagte O’Yee. Emily O’Yee entschuldigte sich, zutiefst beschämt: »Und ich rufe dich an und beschimpfe dich. Die ganze Zeit denkst du an nichts anderes als daran, wie du deine Familie glücklich machen kannst, und mir fällt nichts weiter ein, als dich anzurufen und –« O’Yee winkte großzügig ab: »Ich verstehe schon.« Es war nichts. Schulterzuckend fuhr O’Yee fort: »Du weißt ja, wie es ist. Ich bin in der Lage, den Leuten hier und dort gefällig zu sein, und wenn ich einem Mitmenschen helfen kann, der zufällig ein Filmstar ist, sehe ich nicht ein, warum ich nicht –« Emily O’Yee unterbrach mit Kameradenstimme: »Kein Wunder, daß dich alle so gut leiden können.« (»O je!« dachte O’Yee). »Deine Freunde müssen wirklich –« »Ja«, meinte O’Yee schwach. »Es tut mir wirklich leid, daß ich dich gestört habe, Christopher.« »Ach, das macht nichts«, gab O’Yee zurück. Emily sagte überglücklich: »Und er ist wirklich ein Freund von dir? Du hast wirklich so einen Freund? Einen echten, ganz lebendigen Filmstar?« Sie sagte mit einer Kleinmädchenstimme (soviel also zur Emanzipation der Frauen, wenn es um die Kinobesessenheit von Chinesen ging): »Du liebes bißchen, warte nur, bis ich das den Kindern erzähle!« Von seiner Zelle unten schrie Der Grüne Schleim in einer hysterischen Anwandlung herauf: »Ihr dreckiger Haufen von ausgelutschten Schweinebullen, man sollte euch allen bei lebendigem Leib die Haut abziehen und euch dann den Hunden zum Fraß vorwerfen!« Freunde? Sicher, die hatte er in großer Zahl. Er hätte weiß Gott etwas dafür gegeben, wenn ihm eingefallen wäre, wo sie heute eigentlich alle steckten. 23
Die Kolonne war weitergezogen. Mit nur vereinzelten Seitenblicken auf die große blonde weiße Frau, die zusah, wie ein uniformierter Konstabler einen Straßenkehrer wegen Behinderung von Raumschiff-Tiefladern oder einem ähnlichen Delikt abführte, hatte die Menge sich aufgelöst und auf der Suche nach anderen, interessanteren Schauspielen zerstreut. Eine Stimme sagte in amerikanisch klingendem Englisch leise: »Ich habe gewartet, bis alle fort sind.« Die Stimme fragte: »Chefinspektor Feiffer, nicht wahr?« »Ja?« Die Stimme gehörte zu einem gutgekleideten jungen Mann, dessen Hände nervös über das hellblaue Hemd mit der passenden Krawatte strichen. »Anthony Lam, derzeit Geschäftsführer des Hotels ›Empress of India‹, Hongkong.« Er unterbrach sich kurz und lächelte Feiffer unsicher an. »Auf dessen Angestellten-Parkplatz wir uns gerade befinden.« Er blickte auf den zerflossenen Teer und dann hinüber zu den Überresten der Untertasse. Ein zweiter, ähnlich gekleideter Chinese stand knapp hinter ihm. »Mein Freund Mr. Teddy Wong von Hong Bay.« Anthony Lam sagte mit sorgsam gedämpfter Verschwörerstimme: »Mr. Feiffer, Mr. Wong und ich – wir glauben, daß der Astronaut nicht von dieser Welt war.« Noch ein Irrer. Feiffer entfuhr es leise: »Scheiße ...« Teddy Wong trat vor. Auch er zeigte ein nervöses Lächeln, doch seine Stimme klang fester. Er sagte rasch: »Mr. Lam meint, wir sind der Meinung, daß der Astronaut von anderswo herkam.« Feiffer nickte. Irgendwo unter den Informationsblättern in der Station lag eine polizeiliche Broschüre über die Geburtsstätten der geheimnisvollen Kräfte, von denen die Verirrten geleitet wurden. Venus war, wie er sich zu erinnern glaubte, für die Schizophrenen, Mars für Psychopathen zuständig; Neurotiker bevorzugten für die Lenker ihres Schicksals die Rückseite des Mondes, und Jenseits der Sterne, das war – wie Forschungen ergeben hatten – der Exklusivbesitz von – von ... Feiffer sagte müde: »Ah, ja. Und wo genau soll der Mann hergekommen sein?« Er blickte hinüber und sah Macarthur zu seinem Auto gehen. Er berührte seinen ›Körperfresser‹-Button und dachte ohne 24
Zweifel voll Zufriedenheit an die Obduktionen und Sezierarbeiten des Nachmittags. Anthony Lam erwiderte: »Genau?« Er verstummte, um den genauen Ort zu finden. »Ich kann es nicht ganz genau sagen –« »Nein«, sagte Feiffer. Anthony Lam erklärte entschieden, ruhig und sehr vernünftig: »Aber fast ohne jeden Zweifel bestimmt von irgendwo auf der Insel Singapur.« Er wandte sich mit einem nervösen Lächeln zu Teddy Wong um, erleichtert darüber, daß es ihm endlich gelungen zu sein schien, die volle und ungeteilte Aufmerksamkeit des Polizeibeamten erlangt zu haben.
Kapitel
3
In dem dreistöckigen Parkhaus an der Canton Road hielt ein brauner VW-Kombi an der Parkschein-Schranke. Der Fahrer, ein junger Chinese, griff hinaus zum Parkscheinspender, während Kriminalinspektor Bill Spencer, ein etwas erschöpft aussehender Weißer, sich zu dem braunen Kombifahrzeug hinüberbeugte und es auf seine Farbe untersuchte. Es war braun. Er zog sich in das Schalterhäuschen zurück, während der Fahrer in seinen Rückspiegel blickte, um festzustellen, ob sein Tankstutzendeckel noch vorhanden war, und sagte zu Kriminalinspektor Auden und dem Parkschein-Kontrolleur: »Er ist braun.« Der Kontrolleur, ein junger Deutscher mit frischem Gesicht namens Klaus, meinte leise auf englisch: »Was Sie nicht sagen«, drückte auf einen Knopf an seinem Pult, um die Schranke zu öffnen, und, als der VW hindurchfuhr, auf einen zweiten, um sie wieder zu schließen. Ein ausfahrendes Auto auf der anderen Seite des Häuschens ließ den Motor aufheulen. Klaus beugte sich hinaus, um das Geld und den Parkschein zu kassieren, schob den Schein in einen Schlitz seines Pults und ließ die Schranke auf der anderen Seite hochsteigen. Kriminalinspektor Phil Auden saß an einem internen Fernseh25
bildschirm und betätigte eine Vielzahl von Knöpfen. Im Gegensatz zu Spencer wirkte er nicht im mindesten erschöpft. Jeder der Knöpfe steuerte eine andere Kamera: zuerst die rechten Parkbuchten im dritten Stock, dann die linken, die linken Parkbuchten im zweiten Stock ... Er drückte auf einen Knopf mit der Aufschrift ›Durchfahrt‹, so daß auf dem Schirm die Linien wild durcheinandertanzten, dann holte er mit einem Fingerdruck auf den Knopf ›2 bis 3 Mitte‹ ein Bild des braunen Volkswagens auf den Schirm, der auf der Suche nach einem freien Platz zur obersten Etage hinauffuhr, und meinte bewundernd: »Mit so einem Ding könnte man einen Film drehen.« Er drückte den Knopf ›Durchfahrt Mitte Erdgeschoß zum Ausgang‹, sah einen blauen Fiat 600 auf dem Bildschirm lautlos heranrollen, las das Kennzeichen ab, warf einen Blick auf die Insassen, eine Chinesin und ein Kind, und sagte, als der Fiat dann an der Schranke auftauchte und die Parkgebühr entrichtet wurde, beeindruckt: »So etwas könnte man im eigenen Haus haben.« Er schwieg einen langen, versonnenen Augenblick: »Im Gästezimmer oder so.« Spencer rügte mißbilligend: »Sie verfügen doch über gar kein Gästezimmer.« »Aber wenn ich eines hätte!« Klaus beugte sich an Auden vorbei, drückte auf den Knopf ›Erdgeschoß rechts‹ und zählte die freien Plätze. Ein roter Ford Escort hielt am Parkscheinspender und blieb, als die Schranke hochging, kurz stehen. Klaus drückte auf einen Knopf. Auf einem Sichtschirm über dem Ford erschien ein Erdgeschoß-Grundriß. Ein Pfeil, der sich in Bewegung befand, wies nach rechts. Der Ford fuhr in die Erdgeschoßhalle, durchfuhr sie einmal – Auden saß am Schirm und drückte Knöpfe, und fand, während er das Bild drängte: »Da! Genau da! Nein, zurück – ein bißchen weiter nach links ... gut ... sehr gut ...« – endlich eine sichere Zuflucht. An der Schranke hielt ein weiteres Fahrzeug. Spencer beugte sich hinaus, um festzustellen, ob es ein gelber VW-Kombi sei. Er war es nicht. Während Auden einen Knopf niederdrückte, sagte er gereizt: »Was lehnen Sie sich dauernd raus? Sie können doch von hier 26
aus alles sehen, wenn Sie nur auf einen Knopf drücken.« Er fragte Klaus: »Was halten Sie von diesem Gunfighter-Spiel, das man jetzt überall sieht? Sie wissen schon, wo man einen Cowboy elektronisch erschießen kann. Wenn man ihn erwischt hat, steht auf dem kleinen Schirm: ›Bin tot!‹ Kennen Sie das?« Klaus nahm das Geld von einem ausfahrenden Wagen entgegen und ließ die Schranke hochfahren. Er nickte. »Ja, in Dublin gab’s die auch.« »Das ist heutzutage der Haken bei den Leuten«, erklärte Spencer. »Sie sitzen die ganze Zeit zu Hause herum und gaffen auf Bildschirme, statt Sport zu treiben oder sonst etwas für die Gesundheit zu tun.« »Was haben Sie in Dublin gemacht?« fragte Auden. »Ich hab’ dort gewohnt. Mein Vater war Attaché an der deutschen Botschaft.« Klaus sah Auden resigniert an. »Und vorher in Belgien und davor ...« Achselzuckend fügte er hinzu: »Im Augenblick spare ich das Geld für Australien zusammen. Ich will mit dem Schiff hin. Sobald ich genug Geld beisammen habe, kann ich mich hinsetzen und etwas erfinden.« »So?« sagte Auden. »Was denn?« »Etwas Elektronisches. Sobald ich ein Land finde, wo sie was brauchen, das sie noch nicht haben, erfinde ich das und –« Seine Stimme verklang. »Etwas Elektronisches eben.« Ein Fahrzeug kam die Einfahrt von der Straße herein zum Parkschein-Automaten. Spencer schob den Kopf hinaus, bevor Auden auf seine Taste drücken konnte, und sagte schnell: »Ein grüner Renault.« Klaus sagte traurig: »Ich hab’ angeboten, für das Parkhaus hier eine Computeranlage zu erfinden. Sie wissen schon, mit Magnetstreifen an allen Parkbuchten und einem zentralen Bedienungspult, angeschlossen an Monitorschirme und Schranken« – er drückte eine Reihe von Tasten, fand im zweiten Stock einen freien Platz und holte den Grundriß mit einem Pfeil in Etage 2 für den Renault auf den Schirm –, »aber die Leute, denen es gehört, meinen, mit den Fernsehschirmen wären sie schon weit genug gegangen, außerdem hätten die meisten für automatisierte Parkhäuser nichts übrig.« Er zog wieder die Schultern hoch und drückte einen Knopf, um den Hinweis-Schirm abzuschalten. »Der Haken bei einem Genie ohne Diplome ist eben 27
der – keiner gibt dir einen Job, den du mit deiner Begabung verdient hättest. Also muß ich was erfinden. Und die Hälfte der Zeit –« Auden warf einen Blick auf die Tastenreihen. »Sie sind ein Genie?« »Aber klar«, betonte Klaus ernsthaft. »Das Dumme daran, wenn du auf der ganzen Welt zur Schule gegangen bist, ist halt, daß du nie die Papiere kriegst, die dir bescheinigen, daß du irgendwo arbeiten kannst. Wenn ich nur in einem einzigen Land aufgewachsen wäre, hätte ich alle Diplome kriegen können und –« Er zuckte die Schultern. »Ich bin wie der Fliegende Holländer, ich –« Abrupt fragte er Auden: »Wissen Sie etwas über Australien? Da fahre ich als nächstes hin.« »Es ist heiß dort«, sagte Auden müde. Von der Straße kam ein Auto herein. Spencer, der Sportliche, zuckte mit dem Kopf hinaus, um zu sehen, welche Farbe es hatte. »Und alle wollen sich fit halten«, sagte Auden angewidert. »Schade, daß Sie das Gunfighter-Spiel nicht erfunden haben. Das war ehrlich gut.« »Mein Vater war Botschafter am Vatikan, als das herauskam. Beim Heiligen Stuhl halten sie nicht viel von Ballereien.« »Moswitsch-Limousine, cremefarben«, sagte Spencer. Man hörte ein Summen, als Klaus Grundriß und Pfeil für Etage 2 einschaltete. »Faszinierend«, meinte Auden bewundernd. Ein gelber Kombi stellte sich nicht ein. Im Parkhaus hatten in den vergangenen zwei Tagen sechs Raubüberfälle stattgefunden, alle in Etage 2, allesamt ausgeführt von einem Unbekannten, der mit einer Eisenstange die Autofenster einschlug. Sechsmal waren die Opfer glassplitterbedeckt ohne ihre Kameras, Brieftaschen, Tonbandgeräte und Einkaufstaschen am Kontrollhäuschen erschienen. Sechsmal war der Unbekannte mit einem gelben Kombi entwischt. Sechsmal hatten Auden und Spencer jeden Quadratzentimeter im Parkhaus abgesucht. Ein Wagen kam herein. Spencers Kopf schnellte hinaus und nahm ihn unter die Lupe. Kein gelber Kombi. 28
Kaum verwunderlich, denn nach jedem Raubüberfall war das Ding nicht mehr herausgekommen. Der gelbe VW-Kombi, Eintonner, mehr als vier Meter lang, löste sich jedesmal wie in Luft auf. Auden drückte eine Taste und holte den cremefarbenen Moswitsch auf den Schirm, der in Etage 2 einen Platz fand, wollte mehr über das Gunfighter-Spiel hören und sagte zu der Steuertastatur: »Faszinierend.« Ein Fahrzeug hielt an der Ausfahrtschranke. Bevor Spencer zum Fenster gelangen und hinausschauen konnte, sagte Auden, beiläufig vom Schirm ablesend: »Alfa Romeo, Limousine, Kennzeichen Hongkong; Farbe Grün; Insassen ein Mann, eine Frau, ein Kind.« Er sagte das mit echter Bewunderung für die Schritte, die der Mensch im 20. Jahrhundert nicht mehr zu tun brauchte. »Faszinierend. Einfach faszinierend.« Kaum hörbar wurde an die Tür des Dienstraums geklopft. Es war Der Grüne Schleim. In all seiner Gummifangarm-, Saugnapf- und FroschmaskenPracht sagte Der Schleim strahlend auf englisch: »He – denken Sie mal!« O’Yee fragte mit erstickter Stimme: »– was?« Der Schleim sagte: »Ich bin ausgebrochen.« Er zeigte O’Yee etwas, das an ein beglücktes Augenzwinkern heranreichte, grinste erwartungsvoll und ergriff seinen Schweif, um zu einer Plauderei auf ihn zuzutänzeln. Der Astronaut verbarg eine kleine, in dünnes Papier gewickelte Fotografie in der Hand. Mit einer geschickten Bewegung drehte er sie unbemerkt um. Es war das Brustbild eines Europäers, offensichtlich aus einem größeren Schnappschuß auf der Straße ausgeschnitten. Auf der Rückseite stand eine Reihe chinesischer Schriftzeichen, links daneben eine dreistellige Zahl als Kennzeichnung. Die Schriftzeichen lauteten übertragen: ›Kriminal-Chefinspektor Harry Feiffer, Station Yellowthread Street, Hong Bay‹, die Zahl ›426‹. Die Zahl war das Wichtigste. 29
Der Astronaut, in Zivil gekleidet, fühlte sich sicher. Er drehte das Foto noch eimal um und ließ es in dem verlassenen Keller mit den Versorgungseinrichtungen des Hotels ›Empress of India‹ wie eine Pik-As-Todeskarte zurückschnellen. Er lächelte vor sich hin, als das quadratische Kartonpapier mit einem scharfen, hallenden Laut an seinen Daumennagel prallte.
Kapitel
4
In seinem Büro auf der anderen Seite der Hotelhalle betastete Anthony Lam eine Plastikkarte im Revers mit der Aufschrift ›Stets zu Diensten – Ihr Hoteldirektor‹, ließ sie zurückschnellen auf den Daumen, steckte sie ein und blickte auf seine Hand, um festzustellen, ob der Daumennagel ein Stäubchen abbekommen hatte. »Ich möchte gleich von Anfang an klarstellen, daß ich in Amerika erzogen worden bin und daß ich weiß, was Paranoia bedeutet. Und ich bin ganz entschieden kein Paranoiker. Paranoia hat etwas mit Verfolgungswahn zu tun, und ich habe solche Wahnvorstellungen nicht; ich werde verfolgt.« Er wählte seine Worte mit großem Bedacht, aber sie schienen alle dennoch mißverständlich aus seinem Mund zu kommen. Er senkte die Stimme. »Ich weiß auch, was Folie à deux heißt –« Teddy Wong erwiderte lächelnd: »Das hängt zusammen mit Schizophrenie, Anthony –« »– und Teddy Wong weiß ebenfalls, daß ich verfolgt werde, und Teddy ist gleichfalls nicht verrückt.« Lam schluckte und sah Feiffer ins Gesicht. Es war ausdruckslos. »Teddy ist Direktor der Futschou-Versicherungsgesellschaft hier in Hong Bay und deshalb nicht der Mensch, aus dem Gleis zu geraten, selbst wenn ich es wäre.« Er blickte wieder auf seinen Daumennagel und bohrte ihn tief in den Stoff seines Hosenbeins. »Und ich bin es nicht. Ich weiß, daß ungefähr fünf Prozent aller Menschen verrückt sind, aber ich gehöre nicht zu ihnen.« In seinen Augen standen Tränen. »Teddy geht unaufhörlich mit Statistiken um, und er kann Ihnen sagen, daß, statistisch gesehen, die Aussich30
ten, ich könnte zu den fünf Prozent gehören, rein prozentual geringer sind als –« »Beruhigen Sie sich, Tony«, sagte Teddy Wong leise. »Ich versuche Mr. Feiffer nur davon zu überzeugen, daß ich nicht verrückt bin!« »Dann strengen Sie sich zu sehr an. Sagen Sie ihm einfach, was Sie wissen, und lassen Sie ihn –« »Sie bekommen es in Ihrem Beruf mit vielen Verrückten zu tun, Mr. Feiffer, nicht wahr?« fragte Lam. Feiffer sah ihn zweifelnd an. Er nickte. »Ich gehöre jedenfalls nicht dazu!« Lams Lippen zitterten. »Alles ist völlig auf den Kopf gestellt, und wie ich es auch erzähle, ich erscheine wie ein Wahnsinniger, der eigentlich in eine Gummizelle gehört. Aber der bin ich nicht!« Er saß Feiffer an dessen Schreibtisch gegenüber. Er stemmte die geballte Faust unter das Kinn. »Mr. Feiffer, der Grund dafür, daß ich Mr. Wong gebeten habe, mit dabeizusein, ist der, daß er als Versicherungsmann etwas vom Big Business versteht und klarstellen kann, daß Dinge, die so passieren, völlig normal sind, wenn man das Big Business versteht, und wenn man das Big Business versteht, dann –« Teddy Wong unterbrach hastig: »Das Hotel gehört einem Konsortium von Geschäftsleuten in Singapur, Mr. Feiffer.« Anthony Lam fuhr verzweifelt fort: »Vielleicht verliere ich doch noch restlos den Verstand. Vielleicht habe ich das alles nur erfunden und werde wirklich –« »Und?« sagte Feiffer zu Wong. »Und die Sache ist die, daß Mr. Lam von der Hotelfachschule direkt hier eingesetzt wurde, um das Hotel für sie zu führen. ›Empress of India‹ war, wie Sie vermutlich wissen, vor der Modernisierung als eines der großen Hotels der Welt berühmt, wie ›Raffles‹ oder ›Shepheard’s‹ in Kairo, oder –« Feiffer nickte. »Und wenn Sie Hongkong auch nur ein bißchen kennen, werden Sie wissen, daß die Geschichte des Hotels fast hundert Jahre zurückreicht –« Feiffer nickte wiederum. »Ich bin mit meinen Eltern früher sonntags zum Mittagessen hergekommen.« 31
Anthony Lam sagte plötzlich: »So? Wirklich?« Er sah Teddy Wong an, Tränen in den Augen. »O Gott, er glaubt es vielleicht wirklich!« Er flehte Wong an: »Um Himmels willen, sagen Sie es ihm – lassen Sie ja nichts aus!« Wong nickte beruhigend. »In der letzten Zeit hat es hier im Hotel eine Reihe von Sabotageakten gegeben – defekte Geräte, Ratten in der Küche, und dergleichen mehr – allgemeiner Rückgang von Umsatz und Ansehen.« Feiffer fragte: »Und Sie versichern das Hotel dagegen?« »Nein.« Lam fuhr abrupt dazwischen: »Dieses Hotel versichern? Mein Gott, das würde er nie tun!« Wong schüttelte den Kopf. »Nein, Tony, ich habe schon gesagt: das ist nicht eine Frage des Wollens – ich kann nicht.« Er wandte sich an Feiffer. »Mein Unternehmen ist zu klein, um ein langfristiges Risiko dieser Größenordnung übernehmen zu können. Wir besitzen nicht genug Kapital dafür.« »Aber wenn Sie könnten – sagen Sie ihm die Wahrheit – würden Sie es tun?» brauste Lam auf. »Nein.« »Sehen Sie, das ist der Beweis! Wir können doch nicht beide vollkommen verrückt sein, oder?« Wenn auch dieser Fall in der Anleitung für die Polizei gestanden haben sollte, wie man Geisteskranke verstehen könne, mußte er diesen Abschnitt nicht gelesen haben. Feiffer sagte zu Wong mit Gleichmut: »Ich höre immer noch zu.« »Tja, die Sache ist die, daß das Hotel eine sehr gute Lage hat. Und in den vergangenen rund hundert Jahren hat es regelmäßig für den jeweiligen Besitzer einen sehr ansehnlichen Gewinn abgeworfen. Eine ideale Kapitalanlage.« Lam sagte leise: »Als es noch das alte Hotel war. Bevor das alte Hotel abgerissen wurde, um dieser Scheußlichkeit aus Glas und Aluminium Platz zu machen!« Wong beachtete ihn nicht. Seine Stimme klang geduldig. »Und es erzielt immer noch Gewinn.« Er lächelte Anthony Lam bedauernd an. »Mr. Lam wurde direkt von der Hotelfachschule aus einem ganz einfachen Grund hier eingesetzt –« 32
Lam sagte halblaut: »Ja. Weil ich unfähig war.« Er blickte Wong um Bestätigung an. Wong bestätigte gelassen: »Ja.« »Ich war in der Hotelfachschule in meinem Jahrgang Letzter, und alle hielten mich für so grenzenlos, unverwendbar untauglich, daß mein Lehrer mir erklärte, wenn ich je die Aufgabe erhielte, einen gottverdammten Imbißstand auf der gottverdammten Straße zu führen, wäre ich immer noch zwei Stufen über meinen Fähigkeiten beschäftigt!« Er fauchte böse: »Und dann bauten diese Banditen in Singapur für zehn Millionen Dollar dieses Hotel und gaben mir die alleinige, verantwortliche Geschäftsführung, bevor sie sich hinsetzten, um sich halbtot zu lachen.« Seine Stimme wurde lauter und schriller. »Aber ich legte sie herein, weil ich genauso blöd war wie meine Gäste, die mich heiß verehrten!« Mit einer gespielten Raserei, die dem Realen gefährlich nahekam, lachte er: »Ha, ha, ha, ha!« Teddy Wong lächelte ihn an. »Tony war ein Spätentwickler.« Die Anleitung für die Polizei enthielt darüber ganz bestimmt nichts. Feiffer sagte verwirrt: »Soll das heißen, man habe Mr. Lam eingesetzt, um Geld zu verlieren?« »Auf Anhieb getroffen«, bestätigte Wong. »Warum?« »Damit sie Geld verdienen konnten.« Lams Stimme drang aus den dunklen Winkeln des Wahnsinns: »Wunderbar, nicht? Da hat man das Gefühl, man verliere den Verstand, nicht? Man glaubt, die Leute verfolgen einen, oder? Man hat den deutlichen Eindruck, das Ganze finde nirgends statt als im eigenen Kopf, was?« Er stand am Abgrund. »So fühle ich mich!« Teddy Wong erläuterte: »Das Hotel dient lediglich als Abschreibeobjekt. Auf die eine oder andere Weise bringt Tony seinen Geldgebern ein Vermögen ein.« Lam sagte mit rollenden Augen: »Es war ihre Idee, das SF-Festival im Hotel abzuhalten, weil sie dachten, solche Leute wären ohnehin alle Verrückte, sie würden den Laden demolieren und anständige Leute würden hier nie mehr absteigen, aber ich bin selbst ein ganz gewöhnlicher, anständiger Mensch und mag SFFilme, und ich –« 33
Teddy Wong, offenbar der beste Freund, den Lam je gehabt hatte, sagte nachsichtig: »Tony hat etwas Gewöhnliches.« »Richtig! Ich bin stinknormal, aber was ich mag, mögen auch alle anderen, weil die anderen alle auch stinknormal sind.« Er fragte plötzlich scharf: »Mr. Feiffer, mögen Sie Science-Fictionund Horrorfilme?« »Ja.« »Und alle anderen Leute mögen sie auch! Quod erat Scheißdemonstrandum! Diese Geldsäcke in Singapur mit ihrem zweitklassigen Snobismus dachten, kein besserer Gast würde je ein Hotel besuchen, wo die Geschäftsführung Leute hereinläßt, die als Ungeheuer verkleidet sind, aber die Sache ist die, daß heutzutage sich alle mit herrischen Oberkellnern und Snobs so langweilen, daß sie –« Er ließ den Satz unvollendet. »Ich könnte nie lernen, eine französische Speisenkarte zu lesen, und wenn gewöhnliche, normale anständige Leute kommen, geben wir ihnen die französische Speisekarte auf – auf englisch!« Er stützte den Ellbogen auf der Schreibtischplatte ab und zielte mit dem Finger auf die Richtung der Tür zur Hotelhalle. »Die ganze Welt ist voller blöder Trottel, und es ist eine Erleichterung für sie, festzustellen, daß, wenn sie die vornehm-gequälte Ausdrucksweise und die Manieren beiseite lassen, alle anderen auf der Welt genau solche Trottel sind wie sie!« »Oh!« entfuhr es Feiffer dumpf. »Auf jeden Fall ist die Lage für ein Hotel sehr gut«, betonte Wong. »Und Sie wollen darauf hinaus, daß die sogenannten Geldgeber in Singapur das Hotel schließen wollen. Habe ich recht?« Lam bestätigte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen: »Richtig. Aber sie können nicht. Es gilt als eines ihrer besten Hotels in ganz Asien. Und es bringt ein Vermögen ein. Wenn sie es schließen, werfen sie das Geld auf die Straße.« »Aber Sie sprachen doch von einem Abschreibobjekt. Wenn das –« »Wenn sie das Hotel schließen, verlieren sie ein Vermögen«, wiederholte Lam eigensinnig. »Aber wenn darauf abgezielt wird, Verlustzuweisungen –« »Der Verlust, den sie erleiden würden, wäre kein finanzieller, sondern ein Prestigeverlust«, stellte Wong richtig. »Prestige be34
deutet Geld. Wenn sich herumsprechen würde, daß sie ein gewinnbringendes Unternehmen geschlossen haben, wer würde ihnen noch das Kapital für ihre anderen lukrativen Geschäfte bereitstellen?« Feiffer kam sich vor, als suche er einen Weg durch ein Minenfeld mit der Bezeichnung ›Die Komplikationen der asiatischen Wirtschaft‹. »Sie beabsichtigen also aus anderen Gründen, das Hotel zu schließen, meinen Sie das?« »Richtig«, sagte Lam. »Insbesondere deshalb, weil der neue Geschäftsführer – also ich – unfähig ist.« »Was Sie nicht sind.« »Ha! Was ich nicht bin.« Lam begeisterte sich in glücklicher Verblüffung zu Teddy Wong: »Er hört zu! Er hört wirklich zu! Das ergibt für jemanden in der realen Welt tatsächlich einen Sinn! Jemand hört wirklich zu und versteht es!« »Sie wollen also darauf hinaus, daß der Astronaut ein irrer Psychopath sei, den die Leute in Singapur beauftragt haben, zu – ja, was zu tun? Das Gebäude niederzubrennen. Die Eigentümer wären die ersten, die verdächtig wären.« Wong nickte mit dem Kopf und sagte: »Richtig.« Er lächelte Feiffer an. »Genau deshalb soll die Polizei glauben, er sei nur ein irrer Psychopath oder –« »Oder was?« sagte Feiffer. »Oder er sei hinter der Million Dollar her.« »Welche Million Dollar?« Teddy Wong sagte: »Die Million Dollar, die draußen in der Halle ausgestellt ist.« Er holte Luft. »Draußen in der Halle dieses Hotels, inmitten der Menschenmenge, die Sie gesehen haben, als Sie hereinkamen, liegen in einer Glasvitrine eine Million US-Dollar. Sie sollen für die Neugier der Gäste und zu Zwecken der Reklame die Kosten von genau zehn Minuten Dreharbeit für einen der großen SF-Filme darstellen, der morgen uraufgeführt wird. Auf dieses Geld soll es der Astronaut abgesehen haben.« »Wem gehört es?« »Ah!!« machte Lam. Offenkundig war genau das der entscheidende Punkt. Lam sagte: »Es gehört den Geldgebern in Singapur!« 35
»Aber weshalb sollten sie ihr eigenes Geld stehlen lassen wollen?« »Weil es versichert ist!« erklärte Wong. »Durch wen?« fragte Feiffer. »Durch mich!« betonte Wong. »Der Astronaut zeigt sich, dann stiehlt er das Geld, dann brennt er das Hotel nieder, dann –« Er sagte scharf: »Sehen Sie denn das nicht? Die Dollarmillion ist versichert! Bei dem Brand würde keiner auch nur merken, daß sie verschwunden ist!« Er fragte: »Wozu sonst? Warum würde er sonst einen Flammenwerfer einsetzen? Aus welchem Grund sonst?« Astronauten, Fliegende Untertassen, Science-Fiction- und Horrorfilm-Festivals, Batman, Robin, Der Grüne Schleim, Lam, Wong, Verlustzuweisungen zum Zwecke der Steuerersparnis, Dollarmillionen ... Lam sagte besorgt: »Sind Sie nicht dankbar? Wir haben Ihnen die Lösung auf dem Silbertablett präsentiert.« Für den Augenblick wirkte er vollkommen glücklich. Feiffer antwortete schwach: »Ja, recht vielen Dank.« Er atmete tief ein, griff nach Lams Telefon auf dem Schreibtisch und dachte, wenn es die Dollarmillion wirklich gab, war das mindeste, was er tun konnte, wenigstens für Bewachung zu sorgen. Anthony Lam hatte immer noch das seltsame, irre Funkeln in den Augen. Er sah zu seinem Freund Teddy Wong hinüber und lächelte ihn erwartungsvoll an. »Wie, zum Teufel, können Sie ausgebrochen sein, wenn Sie offiziell überhaupt nicht festgenommen waren?« »Wenn ich nicht festgenommen war, wie bin ich dann in eine Zelle gelangt?« »Ich weiß nicht, was Sie in einer Zelle gemacht haben! Und zwar deshalb, weil ich nicht weiß, weswegen Sie festgenommen worden sind!« Der Schleim trat drohend einen Schritt vor. »Drohen Sie mir ja nicht mit Gewalt – ich stelle mich selbst!« »Sie können sich nicht stellen! Sie sind niemals offiziell verhaftet worden!« »Ich saß aber schon in Haft!« »Das weiß ich! Ich weiß nur nicht, weshalb!« 36
»Wollen Sie von mir wissen, weshalb ich gesessen habe?« »Ja!« Der Schleim sagte: »Wegen nichts!« »Was heißt ›nichts‹ ? Sie müssen doch wegen irgend etwas in Haft gekommen sein! Ich weiß nicht, ob Sie ein Beilmörder oder ein gottverdammter Exhibitionist oder ein Bankräuber oder ein gottverdammter Rotampel-Mißachter sind!« Der Schleim spöttelte angewidert: »Großartig! Typisch Bulle. Sie gehen einfach davon aus, daß ich ein krimineller Typ bin, wie? Sie kommen nicht einmal im Traum darauf, sich einmal zu fragen, was ich in Wirklichkeit sein könnte, was? Sie unterstellen einfach, daß ich –« »Verzeihen Sie! Sagen Sie mir, was Sie sind!« bat O’Yee verzweifelt. »Bitte!« »Was ich bin?« »Ja!« Der Schleim richtete sich zu seiner vollen, gekrümmten, grünen Größe auf. Der Schleim erklärte, das Hornkinn vorgereckt: »Ich bin, um ganz genau zu sein –« »Ja? Ja?« Der Schleim brüllte mit Stentorstimme: »Unschuldig, das bin ich – unschuldig!« Er senkte die Stimme, als von Batman und seinen Freunden unten im Hafttrakt ein Getöse von Schreien, Dekkelklappern und Wirrnis heraufdrang. »Machen Sie sich nicht die Mühe, aufzustehen. Ich gehe von allein in meine Zelle zurück und erwarte – höchst pessimistisch gestimmt – das unwahrscheinliche Auftreten irgendeiner Art von Gerechtigkeit in dieser Stadt.« Sekundenlang trat in die Augen Des Schleims ein merkwürdiger, sorgenvoller Ausdruck, so, als spiele er eine Rolle, die schwer durchzuhalten war, aber bevor O’Yee das bemerkte, drehte sich Der Schleim um und war mit peitschendem Gummischweif wieder verschwunden. Die Schlüssel zu den Zellen lagen in O’Yees Schreibtischschublade. Er nahm sie heraus, stand auf, blickte lange auf das Telefon und seufzte.
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Kapitel
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Der fassungslose Betrachter einer Dollarmillion (Wirbeltier, Allesfresser, Genus Orientalis) – ein Leitfaden: Hauptklassen: I. Der Zahnarztpatient. Hinweise: Dieser am häufigsten anzutreffende Vertreter der Gattung zeichnet sich dadurch aus, daß er die Gewohnheit besitzt, in Gegenwart von einer Million amerikanischer Dollar den Mund aufzuklappen und die Hände ungefähr in Lendenhöhe locker zu falten [was auf irgendeine psychosexuelle Beziehung zu den Dollarmillionen deutet (vgl. hierzu Rascovich: Zufällige Anmerkungen zur psychosexuellen Haltung. Der Betrachter einer Dollarmillion, in ›Nature‹ 1, IV, 1948).] Ruf: leises Luftholen und Ausstoßen als ›Aiihh-ja ...!‹ II. Der Wetterkommentator. Hinweise: eine Untergruppe der Großgattung. Die Hände oft in Gebetshaltung unter der Nase zusammengelegt. Erkennbar an seinem Ruf, der Ähnlichkeit mit dem Verhalten eines dicken Mannes hat, welcher an einem heißen Tag pustet. ›Huii-huii ...!‹ (Literatur: BBC-Funksendung am 19. Juli 1931: Der Wetterkommentator: Die ersten Frühlingsanzeichen. Text vergriffen). III. Der Wiederkäuer. Hinweise: Der am seltensten auftretende Dollarmillion-Betrachter aus der Hauptgruppe. In der Nähe einer Million Dollar wird dieses Wesen augenblicklich wie hypnotisiert sein. Die Augen werden starr, der Mund vollführt Kaubewegungen. Ruf: (orientalische Version) ›Höa, höa ... mmm, mmmm, mm ...‹ (Nordamerikanische und europäische Version, festgestellt von Held bei Forschungsreisen 1975/76/77/78) ›Mensch, Mann, sakra ... !‹ und – dies aber seltener: ›Ach, du ahnst es nicht, sieh dir das an ...‹ 38
Bislang unbestätigt. Eine genaue Untersuchung ist im Gange. Anthony Lam sagte: »Eine Million Dollar in Hundertdollarscheinen.« Der Glaskasten war ein Würfel von ungefähr eineinviertel Metern Kantenlänge auf einem Stativ aus Metall. »Hundert Pakete Hundertdollarscheine, jeder Packen zehntausend Dollar.« Er sah Feiffers Gesicht. »Die Vitrine verfügt über ein Kombinationsschloß, das man selbst mit Dynamit nicht öffnen kann.« Er sprach englisch, aber das war offenkundig eine Sprache, die der eine oder andere fassungslose Betrachter einer Dollarmillion verstehen konnte. Sie wandten mit gequälten Mienen die Köpfe. »Die Kosten von rund zehnminütiger Dreharbeit bei einem der großen SF-Filme, die morgen ihre Premiere haben.« Wongs Gesicht zeigte ein schiefes Lächeln. Er fragte Feiffer mit gedämpfter Stimme: »Haben Sie schon einmal so viel Geld auf einen Haufen gesehen?« Eine Million Dollar übte auf die Menschen eine sonderbare Wirkung aus. Feiffer ertappte sich dabei, daß er wehmütig lächelte. »Ich habe noch nie so viel Geld auf fünf oder sechs Haufen gesehen.« Es war massiertes Grün. Unwillkürlich trat er einen Schritt auf die Menschentraube zu und vollführte mit dem Mund eine Wiederkäuerbewegung. (Ein Wetterkommentator, ein chinesischer Geschäftsmann mit Stirnglatze im rehbraunen Anzug, holte Luft und sagte: »Huii-huiü«) »Wie ist das gesichert?« »Wir dachten, wir hätten die Polizei«, knurrte Lam mürrisch. Er zeigte auf zwei oder drei der größer und breiter geratenen Beutelüsternen links neben dem Glaskasten. »Ich dachte, das sind Beamte in Zivil.« Die Beamten in Zivil sahen Beamten in Zivil so ähnlich wie ein Clown Edgar J. Hoover. Lam sagte: »Wenn die Geldgeber in Singapur ehrliche Leute wären, hätten sie Ihnen schon vor Tagen Bescheid gesagt.« »Das könnte ich von Ihnen auch behaupten.« Feiffer warf einen Blick auf Wong. »Ich dachte, Tony hätte es Ihnen mitgeteilt«, erwiderte Wong. »Erst heute vormittag ging mir auf, daß er das nicht getan hat.« Unter Lams Auge zuckte ein Muskel. 39
»Sie haben es auf mich abgesehen, ich weiß es!« Wong sagte leise: »Beruhigen Sie sich, Tony.« Er lächelte Feiffer rasch aufmunternd zu. »Mr. Feiffer ist sich klar darüber, daß Sie unter Druck stehen, aber jetzt ist ja alles in Ordnung.« Er sprach mit onkelhaft beruhigender Stimme, um Lam zu friedlichen Gedanken zu bewegen: »Mr. Feiffer schickt ein paar von seinen Beamten her, um das Geld zu bewachen, nicht wahr, Mr. Feiffer?« Feiffer nickte. Er sah die Konstabler Lee und Sun zum Hoteleingang hereinkommen und, nachdem sie die erste Betäubung beim Anblick des Geldes überwunden hatten, hastig eine innere Liste von Plänen, Projekten, Anlagemöglichkeiten, Banken und Goldbarren durchgehen, in die sie selbiges hätten verwandeln können, wenn es nur ihnen gehört hätte, ein Kriminellendasein erwägen und die Aussichten berechnen, damit ungeschoren davonzukommen – bis sie sich endlich – ihren Gesichtern zufolge durchaus zufrieden – auf beiden Seiten der Geldvitrine aufstellten. Lam sagte halblaut: »Es sind die Botschaften.« »Sicher«, beruhigte Teddy Wong. Er berührte Lam am Arm. »Da würde ich mir weiter keine Sorgen machen ...« »Was für Botschaften?« fragte Feiffer. »Die Botschaften«, wiederholte Lam noch einmal. »Ich erhalte dauernd Botschaften.« Der sonderbare Ausdruck war in seine Augen zurückgekehrt. Er starrte das Geld an und blinzelte heftig, als ginge davon starke Strahlung aus. »Ich erhalte Botschaften. Ich wollte es Ihnen nicht sagen, weil Teddy meinte, Sie kämen vielleicht auf die Idee, daß ich –« Feiffer wechselte mit Wong einen Blick. Wong schüttelte den Kopf und zog bedauernd die Schultern hoch. Er tätschelte Lams Arm. Lams Augen wanderten in ihren Höhlen hin und her, verloren und hilflos. Er zog sich in seine eigene kleine Welt zurück und sagte mit einer unheimlich klingenden Kinderstimme: »Teddy hat gemeint, ich soll es keinem erzählen, aber es ist wahr: Ich erhalte Botschaften.« Bevor Feiffer etwas entgegnen konnte, fuhr er fort: »Und jedesmal, wenn ich eine Botschaft erhalte, dann ... dann verschwindet sie einfach, und keiner glaubt mir außer ich selbst, weil ich sie gesehen habe –« Er schüttelte trau40
rig den Kopf. »Weil sie einfach verschwindet.« Er suchte eindringlich Feiffers Blick. »Sie spielen Katz und Maus mit mir.« Teddy Wong warf hastig ein: »Anthony steht durch die Geschichte mit Singapur unter starkem Druck, und seit der Astronaut heute früh den Parkplatz in Brand gesteckt hat –« »Was für Botschaften?« fragte Feiffer Lam direkt. »Was enthalten sie?« Lam flüsterte leise: »Sie sind alle ins Wasser geschrieben, die Botschaften. An die Fenster in meinem Büro. Es regnet, auf dem Fenster erscheinen Wörter, und dann ... dann werden sie einfach abgewaschen. Und auf Spiegeln und Zigaretten ...« Er schien zu entschweben. »Auf den Zigaretten in der Dose auf meinem Schreibtisch. Ich zünde mir eine Zigarette an, und auf dem Papier tauchen durch die Wärme Wörter auf. Ich ... versuche sie auszudrücken, bevor sie verschwinden, aber das ... verbrennt einfach alles ...« Er öffnete und schloß den Mund ein paarmal, ohne ein Wort herauszubringen. »Und heute früh im Badezimmer meines Büros, als ich – in der Toilettenschüssel, Wörter, aber dann das –« Er sagte plötzlich ganz wild: »Ich mußte urinieren, und als ich das tat, tauchten die Wörter in der Schüssel auf, und dann –« er packte Feiffer am Ärmel – »aber jeder weiß, daß das einfach Gewohnheit ist, man macht das ganz – automatisch – man spült einfach, ohne lange zu überlegen, und die Wörter – die Wörter waren alle verschwunden!« Er preßte verbissen und heftig hervor: »Ich bin nicht wahnsinnig! Ich bin es nicht!« Die Zahnarztpatienten, Wetterkommentatoren und Wiederkäuer, als Schar durch Zufall zusammenwirkend, bestaunten die Dollarmillion mit einem gedehnten »Ohhh ...« und schlurften um die Vitrine herum, um bessere Blickwinkel zu suchen. Teddy Wong wirkte zum zweitenmal an diesem Vormittag verlegen. Er sah Lam mit besorgter Miene an. »Aber was für Botschaften?« fragte Feiffer. »Was enthalten die denn?« Wong sagte beruhigend: »Kommen Sie, Tony, Sie haben sich das vermutlich doch nur alles eingebildet. Die Hauptsache ist, daß die Polizei jetzt hier ist und –« Das nervöse Zucken unter Lams Augen ließ nicht mehr nach. Er wisperte kaum hörbar: »Sie lauteten allesamt: ›Der Astronaut 41
bist du.‹« Lam mutmaßte mit einem traurigen Lächeln: »Vielleicht sollte ich wirklich wahnsinnig werden. Das wäre vermutlich besser. Dann würde ich das alles nicht mehr als merkwürdig empfinden. Vielleicht sollte ich einfach den Verstand verlieren –« Teddy Wong ermunterte freundschaftlich: »Tony, Tony ...« »Dann wäre ich vielleicht glücklich«, sagte Lam leise. Feiffer fragte vorsichtig: »In welcher Sprache waren die Botschaften? In Englisch oder Chinesisch?« Teddy Wong erklärte, um die Wirkung zu dämpfen, schnell: »Die Geldgeber in Singapur sind Chinesen, Mr. Feiffer, aber das heißt nicht, daß sie nicht in der Lage gewesen wären –« Lam murmelte leise: »Nein, sie waren nicht in Englisch oder Chinesisch.« Er atmete tief ein. »Ich bin in Singapur geboren, deshalb kenne ich das. Die Botschaften waren alle in Malaiisch.« Mit glasigen, starren Augen fuhr er fort: »Ich – ich erhalte sie jetzt schon – seit Wochen –« Die Betrachter an der Vitrine, jetzt an ihren neuen Plätzen, gaben zufriedene Brummlaute von sich. Im Dienstraum blickte O’Yee auf eine handgeschriebene Liste von Namen und Telefonnummern. Die Liste begann mit: ›Porno-Lillie Rodriguez Einohr-Lustbiene Alice Ping Drecki-Elmo Fan Schnappmesser Fong Der Hehler Hanford Hill Hing Chester Chan Bulldozer Boon Flak-Allie Chark Kettensäge Chu Teh ...‹ ... und weitere Namen ... Sie waren ohne Ausnahme oder Einschränkung die gemeinsten, verkommensten und gänzlich entarteten, bösartigen, asozialen, verbrecherischen Elemente in ganz Hong Bay und Südostasien, und wenn irgend jemand über ein paar Eintrittskarten für die großen Filmpremieren morgen abend verfügte, dann sie. 42
O’Yee war Polizist, ein Ordnungshüter, der geschworen hatte, das Recht zu verteidigen, ein Wächter für den unbehinderten, problemlosen, ungestörten Ablauf der zivilen Ordnung, und bei Gott, wenn es darum ging, mit solchem Abschaum umzugehen, wußte er ganz genau, wie er aus ihnen exakt das herausholen konnte, was er brauchte. Er nahm den Hörer ab, preßte entschlossen die Lippen zusammen und bereitete sich darauf vor, auf die Knie zu fallen und zu flehen.
Kapitel
6
Im Kontrollhäuschen sagte Auden in scharfem Flüsterton: »Das ist er!« Er erstarrte vor dem Fernsehschirm, als ein gelber VWKombi hinter einem Chrysler auf seinen Parkschein wartete. Er sah, daß Spencer sich zum Fenster hinauslehnen wollte, um ganz sicher zu gehen. »Nicht hinauslehnen! Das ist er! Ich sehe es auf dem Schirm.« Es machte ›Bong!‹, als der Chrysler-Fahrer seinen Parkschein aus dem Automaten zog. Der VW fuhr mit aufheulendem Motor heran. Spencer trat zurück in das Häuschen, um nicht bemerkt zu werden. Er sah die Vorderseite des VW. Er war gelb. Auspuffgase stiegen auf, als der Fahrer im Leerlauf immer wieder auf das Gaspedal tippelte, damit der Motor nicht abstarb. Der Fahrer zog seinen Parkschein heraus. Es machte ›Bong‹. Die Schranke klappte hoch, der Motor zog mit hoher Umdrehungszahl das lange Fahrzeug am Häuschen vorbei – Spencer versuchte das Gesicht des Fahrers zu erkennen, aber er blickte zum Anzeigepfeil hinaus, so daß man es nicht sehen konnte – bevor der VW durch den Mittelgang hinaufbrauste zu Etage ... Auden sagte schnell zu Klaus: »Wo? Wohin haben Sie ihn geschickt?« »Etage 2, klar!« Auden tastete den Durchgang zu Etage 2 auf dem Bildschirm ein. Der VW rollte auf dem stummen Bild dahin und stieß Auspuffgase aus, als der Fahrer herunterschaltete, um die Steigung 43
zu erklimmen. Spencer trug einen langen, weißen Kittel in der Hand. Auf dem Kittel war in Englisch und Chinesisch ›Parkhaus Canton Road‹ aufgestickt. Er streifte rasch den Kittel über und löste den Sicherungsriemen an seiner Pistolentasche, um sich zu vergewissern, daß die Pistole mühelos herausgezogen werden konnte. So war es. Der VW bewältigte die Steigung, der Fahrer hielt kurz an und bog dann nicht nach rechts, sondern nach links ab. Auden flüsterte: »Er ist nach links gefahren!« Er ließ die Finger über die Tasten tanzen und holte das Bild der linken Buchten auf den Schirm. Sie waren alle besetzt. Der VW wurde abgebremst und fuhr im Schneckentempo. Der Fahrer beugte sich ein wenig zum Fenster hinaus und schien etwas zu suchen. »Er sucht jemanden, der im Wagen sitzt«, stellte Auden fest. Er drückte eine Anzahl von Knöpfen und holte der Reihe nach die Parketagen 1, 2 und 3, dann die rechten Parkbuchten von Etage 2 heran. In den neonbeleuchteten Buchten geparkter Autos, die wie weiße Flaschen aussahen, konnte er niemanden sehen. Er holte den Notausgang auf den Schirm. Niemand. Die Tür war geschlossen, unberührt. Von der Straße aus gab es nur einen Fußgängereingang und -ausgang, beide in unmittelbarer Nähe des Häuschens. Auden versuchte sich zu erinnern, wohin das letzte Fahrzeug gefahren war: ein cremefarbener Moswitsch. Auden fragte Klaus: »Schnell, in welche Etage haben Sie den geschickt?« »Weiß nicht mehr. Ist das der Kerl?« fragte Klaus. »Was macht er?« Spencer knöpfte seinen Kittel zu und ging zur Tür. »Er sucht jemanden, der eben einsteigt«, erwiderte Auden. Zu Spencer gewandt, fügte er hinzu: »Warten Sie, bis ich weiß, wo er landet.« »Er ist in Etage 2. Wenn er nicht zurückkommt, gibt es für ihn nur einen Weg, den nach oben.« Spencer sagte: »Ich gehe.« »Er hält!« rief Auden. »Ziehen Sie Ihren Kittel an, Phil!« »Nein, warten Sie. Hier ist es besser für uns. Wir können sehen, wo er hinfährt.« Auden drückte eine Taste, um festzustellen, ob er ein Bild der linken Seite von Etage 2 mit den rechten 44
Kameras anfordern konnte. Doch das war ohne Erfolg. Er schaltete auf die linken Kameras um. »Er fährt wieder. Er beugt sich aus dem Fahrzeug und sucht etwas.« An der Seitenwand des Kombis befand sich eine Aufschrift, aber trotz des grellen Lichts der Parkbuchten konnte er sie nicht lesen. »Er stößt zurück – er hält«, sagte Auden. »Er fährt in Richtung –« Er drückte wieder auf eine Taste und sah nur Autodächer. »Ich hab’ ihn wieder verloren!« Klaus stand hinter ihm und schaute zu. Auden forderte scharf. »Da, der Fachmann sind Sie! Machen Sie das!« Der Fahrer eines Wagens an der Ausfahrt hupte verärgert. Klaus zögerte. »Ich muß das Geld –« »Scheißgeld!« sagte Auden. Er packte Klaus am Ärmel und zog seine Hand zur Tastatur herunter. »Finden Sie ihn!« »Phil, das ist doch Unsinn!« erklärte Spencer. »Wir können hinaufgehen und ihn auf frischer Tat –« »Ich hab’ ihn auf frischer Tat!« Klaus drückte auf einen Knopf. Der VW tauchte in Etage 2 auf, im Mittelgang unterwegs zur nächsten Etage. Klaus drückte die Taste ›Durchgang Mitte 2-3« und erfaßte das Fahrzeug, das in einer Wolke blauer Auspuffdämpfe stand. Spencer hatte die Tür geöffnet. »Er ist immer noch in Etage 2 W«, sagte Auden. »Er stößt zurück zu – ich kann den hellen Moswitsch sehen. Da sitzt jemand. Ein Mann. Er kurbelt das Fenster vor dem Aussteigen hinauf.« Er drückte auf einen Knopf und erhielt ein besseres Bild. »Da kommt der VW. Er hat ihn gesehen.« Ganz leise sagte er plötzlich: »Er hält!« »Phil, wir sind nicht beim Fernsehen! Das ist Wirklichkeit!« Spencer warf Auden einen zweiten Arbeitskittel hin und lief, während Auden mit einem letzten Blick auf den Schirm aufstand, durch den Mittelgang zu Etage 2. Während das Hupen des wartenden Wagens ohrenbetäubend laut wurde, rief Auden Klaus zu: »Was ist denn? Was ist denn!« Klaus rief erschrocken: »Er hat den VW mitten in der Durchfahrt angehalten. Er steigt aus. Er hat etwas in der Hand.« Das Hupen verstummte kurz, als der Fahrer des wartenden Autos, ein älterer Chinese, sich den Kopf darüber zerbrach, was ein erschrocken aussehender Parkgebühren-Kassierer zwei Männern 45
in Arbeitskitteln zuschreien mochte, die Pistolen herausrissen. Pistolen herausrissen? Der Fahrer gab Vollgas, zum Teufel mit dem Geld, und wenn Klaus nicht auf der Stelle den Knopf niedergedrückt hätte, der die Schranke hob, in seiner Angst hätte der Mann sie zu Kleinholz gefahren. Das liebe Geld, sagte Konstabler Sun zu Feiffer, während Anthony Lam und Teddy Wong zum Chefbüro zurückgingen: »Was meinen Sie, Sir, ist er verrückt?« Aus dem Inneren einer der Bars auf der anderen Seite der Halle tönte ein wildes Vampirkreischen, dann folgte dem Vampirschrei ein Vampirgesicht mit Vampirkörper, zum Eingang hinauswirbelnd. Als die Erscheinung sah, daß jedermann viel zu sehr damit beschäftigt war, Geld anzustarren, statt an Knoblauch und goldene Kruzifixe zu denken, kehrte sie in die Bar zurück und kreischte dort weiter. Konstabler Lee hatte sich der Traube von Millionen-Betrachtern angeschlossen. Er berührte das große Kombinationsschloß an der Panzerglas-Vitrine, und die Betrachter ringsum staunten in voller Ekstase: »Ohhh ...« »Ich weiß nicht recht. Er behauptet, daß er Botschaften erhält, die auf Wasser und in Rauch geschrieben sind. Was denken Sie?« Feiffer starrte dem sich entfernenden Rücken des Mannes nach. »Ich glaube, ich könnte von seiner geistigen Gesundheit mehr überzeugt sein, wenn ich von den Botschaften vor dem Auftauchen des Astronauten gehört hätte, statt nachher.« Lee klopfte mit den Fingerknöcheln fest an das Glas – es klang wie acht Zentimeter dicker Wolframstahl. »Sie und Lee bleiben hier und behalten das Geld im Auge.« »Wo wollen Sie hin?« »Wirtschaftsabteilung.« Feiffer sagte plötzlich voller Besorgnis: »Außer, Doktor Macarthur hat die Obduktion des Straßenkehrers für heute vorgesehen. Hat er das?« »Nein, Sir, ich habe ihn angerufen, nachdem ich den anderen Straßenkehrer heimgefahren hatte. In seinem Büro hieß es, er sei unterwegs, um eine Filmgesellschaft technisch zu beraten.« Sun fügte hinzu: »Der überlebende Straßenkehrer hat mir nicht mehr erzählt als Ihnen: es war ein Mann in einem silbernen Raumanzug. Ich hielt unterwegs, um ihm ein paar Filmplakate 46
zu zeigen – drüben im ›Roxy‹ in der Queen’s Street spielen sie ›2001‹ – aber er sagte, er hätte nicht ausgesehen wie die im Kubrick-Film – der Helm sei weich gewesen.« »Eher wie ein ... was? Ein Gas-Schutzanzug?« Sun zog die Schultern hoch. »Das wußte er nicht. In seinem Beruf sieht er wohl nicht so viele Raumanzüge. Ich habe veranlaßt, daß ihn ein Nachbar aufnimmt. Ich habe seine Adresse, falls wir ihn noch brauchen.« Sun sagte langsam, den Blick auf das Geld gerichtet: »Die Möglichkeit, daß es sich einfach um einen Werbegag gehandelt hat, der schiefging, besteht wohl nicht, oder?« »Der Straßenkehrer hat angegeben, daß der Astronaut gezielt hätte. Er sagte mir, er schien auf jemanden zu warten.« »Zu dieser frühen Zeit? Wozu? Damit er ihm half, eine Fliegende Untertasse in die Luft zu blasen? Wozu?« Feiffer schüttelte den Kopf und blickte zu der Geldvitrine hinüber. Die Hotelhalle und, wie er annahm, auch alle anderen Stockwerke waren ausgelegt mit einem sehr dicken, offenbar leicht brennbaren Nylon-Teppichbelag. Er schaute zum Fenster hinüber: dicke Vorhänge aus demselben Material. Und die Dekken: Verputz, Anstrich, und unter Putz und Anstrich ohne Zweifel Balken und Latten aus trockenem, weichem, leicht endzündbarem Holz. Das Hotel war ein kompakter Wolkenkratzer, aus der Ferne anzusehen wie ein Unterwindkamin. Sun sagte aufmunternd: »Vielleicht ist nur etwas danebengegangen. Vielleicht sollte nur die Fliegende Untertasse dran glauben, und der Straßenkehrer geriet ganz –« Er blickte sorgenvoll auf die wenigen Feuerlöscher, die in Abständen an den Wänden hingen, hinauf zum Sprinklersystem, und stellte lauter als beabsichtigt fest: »Sir, das Gebäude steht mitten im Hafengebiet. Wenn das je in Brand gerät –« Einige der Betrachter rund um das Geld hielten brennende Zigaretten in den Händen. Feiffer beobachtete, wie der Rauch emporstieg, an der Decke schwebte und dann, sich zerstreuend, unsichtbar in den Luftströmungen lag. Sun wiederholte, um sich selbst zu beruhigen: »Vielleicht war das alles nur ein Werbegag, und seine Mami hat ihm die kleine Strahlerpistole weggenommen und ihm Hausarrest verordnet.« Vielleicht. Die Frage war nur: Wo mochte im Gehirn eines 47
Menschen, der in aller Ruhe diese Strahlerpistole auf einen anderen Menschen gerichtet und den Abzug durchgezogen hatte, bis dieser tot war, das ›Haus‹ sein. Feiffer schaute auf seine Uhr. Mittag. Der Freitag, an dem das Festival sein Ende nehmen sollte, schien noch in weiter Ferne zu liegen. Spencer stand hinter einer Säule oben am Mittelgang von Etage 2, spähte in die Parkbuchten und flüsterte: »Ich kann ihn sehen. Er steht am Kombi. Er hat den Kombi mitten im Durchgang abgestellt und blockiert ihn. Der Motor läuft noch.« Er sah den Fahrer in seine Richtung blicken und sich abwenden. »Er hat die Eisenstange, in weißes Papier gewickelt, in der Hand und schaut zum Moswitsch hinüber.« Er versuchte den Moswitsch-Fahrer zu erkennen, aber in der Bucht mußte eine Leuchtröhre ausgefallen sein. Aus diesem Winkel war der Mann nur ein Schatten. Auden hob seine Colt Python, klappte sie auf, um die Munition zu prüfen, klappte wieder zu und drängte: »Wir fassen ihn gleich.« »Nein. Ich will wissen, wie er das macht. Er hat noch keinem wirklich wehgetan. Ich möchte wissen, wie er entwischt, ohne gesehen zu werden.« Er drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe einfach nicht, wie er mit dem Kombi gestern rausgekommen ist, ohne daß wir ihn bemerkt haben.« »Weil wir in den Buchten herumgelaufen sind und ihn gesucht haben, statt die Kameras zu benutzen!« Auden brachte die unwahrscheinliche Hypothese vor: »Er muß die Etagen immer höher hinaufgefahren sein, während wir ihn suchten, und als er ganz oben war –« »Ja?« Auden blickte auf die Waffe hinunter. »Und dann ...« Auden sagte gereizt: »Woher soll ich denn das wissen? Ich bin Polizist und kein Taschenspieler!« Er zwängte sich an Spencer vorbei, spähte um die Säule und sah, was er suchte. »Das rote Lämpchen da oben an der Kamera brennt. Die Kamera beobachtet ihn.« »Das nützt uns nichts.« Spencer sah den VW-Fahrer mit der Eisenstange ungeduldiger auf seine Handfläche schlagen, seinen Entschluß fassen und auf den Moswitsch zugehen. Spencer 48
atemlos: »Er macht es ...« Er holte tief Luft und schob sich um die Säule herum, um den Verbrecher in flagranti zu ertappen. In der halbdunklen Bucht kurbelte der Moswitsch-Fahrer, ein Verkaufsvertreter für Schmuck, der sich eine Zigarettenpause gönnte, das Fenster herunter und sagte in der Kanton-Sprache zu dem VW-Fahrer: »Was? Ah – sicher.« Er beugte sich vor, um den Motor anzulassen. Der VW-Fahrer bedankte sich: »Vielen Dank«, blickte zu seinem Kombi hinüber, um zu prüfen, ob er dem Moswitsch-Fahrer genug Platz gelassen hatte, und fragte: »Soll ich Sie einweisen?« Der Moswitsch-Fahrer lehnte ab. »Nein«, und wies mit einer knappen, von Stolz nicht freien Kopfbewegung auf den kleinen Aufkleber an der Windschutzscheibe, mit dem der Allgemeinheit dargetan wurde, daß das Fahrzeug, das auf sie zukam, in den Händen nicht eines gewöhnlichen, sondern eines fortgeschrittenen Fahrers war. Der Moswitsch-Fahrer behauptete: »Alle hier in der Stadt sollten diesen Kurs absolvieren.« Er ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang ein, und als eine Stentorstimme hinter der größten Schußwaffe, die ihm je begegnet war, ob in einem Auto-Rückspiegel oder sonstwo, donnerte: »Keine Bewegung oder Sie sind ein toter Mann!«, ließ er die Kupplung aus, trat voller Entsetzen auf das Gaspedal und zerschmetterte Rück- und Bremsleuchten an einer Säule. Die Waffe war auf den VW-Fahrer gerichtet, der unter der ausgebrannten Buntbeleuchtung stand. Der VW-Fahrer ließ die Ersatzröhre fallen. Sie zerbarst. Auf der Seitenwand des tuckernden VW-Kombi stand eine Aufschrift. Die Beschriftung lautete, zuerst in Chinesisch, dann in Englisch ›Mong – Beleuchtungskörper‹, darunter folgte eine Liste von einigen Unternehmen und Niederlassungen, deren Lieferant besagte Firma Mong war. Zu ihnen zählte auch das ›Parkhaus Canton Road‹. Auden ließ die Waffe sinken. Spencer seufzte: »O je, das tut uns aber –« Auf dem Mittelgang zu Etage 3 kam ihm ein Mann entgegen. Er steckte die Waffe ein und ging auf ihn zu, um ihn zu beruhigen. Spencer erklärte eilig: »Alles in Ordnung. Wir sind von der Polizei. Sie haben nichts zu –« 49
Der Mann war übersät mit Glassplittern. Er blieb kurz stehen, erfaßte die Szene mit einem Blick und schrie auf kantonesisch, so laut er konnte: »Wenn Sie die Polizei sind, was, zum Teufel, suchen Sie dann hier unten mit einem gelben Volkswagen?« An einer Wange suchte sich ein kleines Blutrinnsal seinen Weg. Der Mann brüllte in die muffigen, hallenden Gewölbe der Etage 2 hinein: »Ich bin eben in Etage 3 überfallen worden!« Er starrte Auden mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an. »Was, zum Teufel, treiben Sie hier unten mit einem gelben Volkswagen? Der, mit dem der Bandit entkommen ist, war blau! Haben Sie den denn nicht gesehen? Er muß direkt an Ihnen vorbeigefahren sein!« Er sah die zerbrochene Leuchtstoffröhre am Boden und das entsetzte Gesicht des ertappten, gefährlichen Verbrechers, des Beleuchtungsmechanikers. Der Blutende geriet in höchste Wut und schäumte: »Dafür bezahle ich meine Steuern? Damit ihr blöden Bullen herumlaufen und Kerle festnehmen könnt, die Neonröhren zerstören?« Der Moswitsch-Fahrer stieg aus seinem Fahrzeug. Er sah aus, wie eben ein fortgeschrittener Fahrer aussieht, der gerade in einem Parkhaus rückwärts an eine Steinsäule gefahren ist. Der Blutende hüpfte herum wie ein Sperling und fauchte: »Na? Na?« Der gelbe VW-Kombi des Straßenräubers war offenbar nicht nur in der Lage, auf die denkbar genialste Weise spurlos zu verschwinden, er schien auch noch über andere Fähigkeiten zu verfügen. Wenn sich die Notwendigkeit ergab oder vielleicht auch, wenn ihn die Lust anwandelte, konnte er auch die Farbe wechseln. Mit schriller Stimme erkundigte sich der Mann von Mong, wer eigentlich die zerbrochene Leuchtstoffröhre bezahlen würde. Porno-Lillie Rodriguez zwitscherte am Telefon in fröhlichem Kantonesisch: »Miss Rodriguez. Lederwaren und Peitschenprüf-Anlage.« Es blieb still am anderen Ende der Leitung. »Nein?« Lillie versuchte es anders. »Miss Rodriguez, Fachgeschäft für hohe Hacken.« 50
Nichts. »Gummiwäsche und Schnürkorsetts.« Die Stimme am anderen Ende ließ ein Räuspern vernehmen und sagte nicht »Aihh-ja«, sondern eher: »Ähm –« Porno-Lillie schaltete auf englisch um. »Massagesalon Southside.« Die Stimme, entschieden chinesisch-amerikanisch, fluchte: »Scheiße ...« »Einläufe ohne Rezept«, erwiderte Lillie. Die andere Stimme schwankte. Lillie warf rasch ein: »Wir sind hier alles Freunde.« War das ein Akzent von der Westküste? »Glückliche Freunde und tuntenfroh. Um die Wahrheit zu sagen, das ist nur ein alter Theaterfundus, den ein paar Freunde von mir übernommen haben – und ob Sie’s glauben oder nicht – das sind Regale voller Naziuniformen und Knobelbecher!« Wenn das noch lange so weiterging, kostete das Zuschlag. »Fesseln? Auspeitschen? Pädophilie? Sodomie?« O’Yee sagte leise: »Kinokarten.« »Ah!« trällerte Lillie. »Ansehen, kaufen, mieten, Regie führen oder die Hauptrolle spielen?« Erneut Stille. »Science Fiction«, sagte O’Yee. »Oder –« O’Yee riskierte alles und offenbarte sich unverblümt: »Hören Sie, Lillie, hier ist Christopher O’Yee von der Yellowthread Street – leitender Kriminalinspektor O’Yee – Sie erinnern sich: der verständnisvolle Bulle, der Ihnen die traurige Geschichte erzählt hat, daß Sie nicht in diesem Geschäft wären, wenn nicht dieser amerikanische Marineleutnant Pinkerton gewesen wäre, den Sie in Japan kennengelernt haben – der verständnisvolle Polizist, der Sie mit einer Warnung hat laufen lassen. Was ich brauche, das sind ein paar Eintrittskarten für die SF-Filmpremieren morgen abend. Für irgendeine. Ich bin bereit, sie zu bezahlen, und ich bin bereit, der Person, die sie verkauft, dankbar zu sein, aber die Sache ist die, daß meine Familie glaubt, ich hätte Karten, und wenn ich keine Karten bekomme –« Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. O’Yee sagte verzweifelt: »Lillie, sind Sie noch da? Ich schwöre Ihnen, das ist kein Trick, um Sie reinzulegen, aber wenn jemand Karten beschaffen kann, dann 51
Sie.« Stille. »Ich schneide dieses Gespräch nicht mit – was haben Sie überhaupt schon gesagt? Lillie, ich flehe Sie an! Ich brauche die Karten!« Lillie seufzte. Heutzutage wollten die Bullen für alles Freikarten. »Bitte, bitte«, jammerte O’Yee beinahe. Lillie seufzte und sagte: »Nein!« »Bitte, Lillie. Ich weiß, Sie können sie beschaffen!« »Nein! Niemals! Niemals! Nein! Nei-en!« »Sie schulden mir was!« »O’Yee, ich schulde Ihnen gar nichts! Ich bin ein grausamer Mensch! Ich würde nicht mal auf Sie draufspucken, wenn Sie in Flammen stünden! Wenn Sie an Lungenkrebs sterben müßten, würde ich Ihnen noch eine Zigarette in den Mund stecken und sie anzünden! Wenn Sie verdursten würden, bekämen Sie keinen Tropfen von meinem Schweiß! Ich bin eine grausame, böse, harte, gemeine Frau – hart, bösartig und roh!« Sie machte schaudernd: Grrrr!« »Ich bezahle!« Und ob er das tun würde. Masochisten. In ihrer Branche lohnende Kunden. Aber vielleicht war sie ihm doch eine Kleinigkeit schuldig. Lillie stieß schließlich inbrünstig hervor: »Sie dreckige, miserable Winselratte, von Ihnen würde ich kein Geld nehmen, und wenn es in Goldstaub getaucht wär’!« Wenn man nicht aufpaßte, wenn man zu einer ganz bestimmten Art von Menschen gehörte, konnte es einem passieren, daß man an so etwas auch noch Spaß fand. Lillie, Profi bis ins Mark, legte schnell auf, bevor er es tun konnte. Unter den würgenden Geräuschen Batmans, der sich in der Nachbarzelle seines Mageninhalts entledigte, saß Der Grüne Schleim auf seinem Wandbett, den Schweif unter sich geringelt, und ließ das Kinn auf die Brust sinken, um nachzudenken. Er hielt zwei kleine Metallstücke in der Hand. Er ließ sie aneinanderklirren und erzeugte ein ryhthmisch klapperndes Geräusch. Er stand seufzend auf und ging zur Stahltür der Zelle, klopfte mit den zwei Metallstücken daran, schob den Arm durch die 52
Gitteröffnung auf Schulterhöhe hinaus, fand das Schloß, schob das kleinere Metallstück in das Schlüsselloch und drehte es. Der kleinere Metallgegenstand war ein Spanngerät, ein dünner Metallstab von ein paar Millimeter Durchmesser und vier Zentimeter Länge, an einem Ende spitz. Der Schleim hatte den Schloßmechanismus röntgenbildartig im Kopf. Er drehte den Spannhebel ein wenig und sah mehr, als daß er es fühlte, wie die Spitze die entscheidende Kerbe an der Unterseite der Hauptzuhaltung traf. Der Aufbau dieses Schlosses, am Riegel befestigt, sah einen Querbolzen vor. Der Querbolzen betätigte die Zuhaltungen. Der Schleim hielt das Spannstück mit Daumen und Zeigefinger fest, verdrehte die Hand und setzte das andere Werkzeug – den Haken – ein, schob ihn in die Keilnut, fand die Zuhaltung, die vom Querbolzen festgehalten wurde, und zog den Haken nach oben. Es knackte, als die erste Zuhaltung nach oben gedreht wurde und entsperrte. Der Schleim übte ein wenig Druck auf den Spannstab aus, fand mit dem Haken die zweite Zuhaltung und zog auch sie hoch. Es gab drei Schließkontakte, nach denen der Bolzen sich ausrichten mußte. Der Schleim brauchte sich nicht einmal voll zu konzentrieren, fand die dritte Zuhaltung mit dem Haken und drückte sie sanft nach oben. Er legte die Schulter vorsichtig an die Zellentür und verdrehte die Hand. – Es knackte laut. Der Schleim zog seine Werkzeuge aus dem offenen Schloß, wischte sie automatisch an der Hand ab, um sie zu säubern, blickte sie kurz an und warf sie in die Toilettenschüssel in der Ecke. Die beiden Werkzeuge waren nichts anderes als rostige Nägel, die er in den Beinen seines Wandbetts entdeckt hatte. Ihr Verlust bedeutete gar nichts. Er hätte das Schloß ebenso leicht öffnen können, wenn er nur über ein abgebrochenes Streichholz und ein paar Zentimeter doppelt verknotete Schnur verfügt hätte. Er kehrte zu seinem Wandbett zurück und befaßte sich, während seine Miene wachsende Sorge ausdrückte, mit der Frage, wie es nun weitergehen sollte. 53
Der Astronaut legte im Hotelkeller seinen Silberanzug an, während sein Blick das Gewirr von Rohren und Sicherungskästen an den Wänden verfolgte, und befestigte ihn mit Nietenverschlüssen eng um seinen Körper. Als nächstes folgten die Stiefel. Er zog sie über die Schuhe und machte versuchsweise ein paar lautlose Schritte, dann zog er die dicken Silberhandschuhe an und drückte die Düse des Flammenwerfers fest in die Klemmen, mit denen er sie in der rechten Hand festhalten konnte. Der Druckzylinder, an seinem Unterarm unter dem Anzug festgeschnallt, lag kalt und reifbeschlagen an seinem Hemd. Er berührte ihn mit der freien Hand und vergewisserte sich, daß er gegen Auslaufen und Verrutschen gesichert war. Er betätigte vorsichtig den Abzug. Zischend fuhren Druckluft und Benzindampf in einem bleistiftdünnen Strahl hinaus und verrauchten. Der weiche Silberhelm mit der schwarzen Sichtscheibe lag vor ihm auf dem Betonboden. Er bückte sich, griff nach dem Helm und setzte ihn auf. Sein Atem hinter der Plastikscheibe kam in kurzen, flachen Stößen und schlug sich vorübergehend an der Innenseite nieder. Wie ein gepanzerter Ritter vor der Schlacht war der Astronaut nun bereit. Er fröstelte ein wenig vor Erwartung und machte sich auf den Weg, von dem Erfolg seiner Mission überzeugt.
Kapitel
7
Henry Wu saß behaglich in einem Rohrsessel der ›Palmenhof‹Bar im ersten Stock des Hotels ›Empress of India‹ und sagte: »Würmer.« Sein Partner, ein gutgekleideter Chinese namens Charlie Kong, warf einen Blick auf die ältere Dame in Twinset und Perlen an einem ebenso ältlichen Konzertflügel in dem sonst verlassenen Raum und erwiderte: »Hat es schon gegeben.« »Okay«, entgegnete Wu. Die ältliche Dame begann mit einer 54
liebevollen Wiedergabe von ›Fascination‹. »Taranteln!« »Nein.« »Fliegen? Kobras? Affen? Geier? Trolle?« Kong seufzte: »Der Fluch der Fliege, Die Fliege kommt zurück, Die Riesenfliege, Kobraweib, Tochter von Kobraweib, Sohn von Kobraweib, Der Affengigant, Der Planet der Affen, Rückkehr zum Planet der Affen, Der Geier, Der Planet der Geier, Die Beute des Geiers, Ich war ein Geier –« Wu überlegte. »Der Tag –« »– an dem die Erde stillstand? Feuer fing? Unterging? Davonflog –« Wu hielt eine Zigarre in der Hand. Er zerdrückte sie in einem Aschenbecher und blickte gereizt zum Flügel hinüber. »Gehirne – ein Schimmel oder Monster greift Gehirne an und –« Kong sagte mit dem Anflug eines Lächelns: »Sie meinen Donovans Gehirn? Oder Die Gehirnfresser? Oder –« »Nicht Gehirne, der Geist!« »Die Geistquäler? Der Geist von Mr. Soames? Mein Geist ist nicht mehr mein –« Wu erboste sich wütend: »Wie wär’s dann mit einem gottverdammten Stummfilm? Das wäre doch wenigstens originell, Herrgott noch mal!« Wong ergänzte: »Etwa Ich war ein Jung-Neandertaler? Homunkulus? Fünf Millionen Jahre –« »Dann eben ein gottverdammter SF-Nacktfilm!« »Haut für Frankenstein, Das Ungeheuer des FKK-Strandes, Der Gendieb, Bräute für die Monster, Nackt auf dem Mond –« »Und wenn er in Alaska spielt?« »Das Ding, Eiszeit, Das Nichts von Nome –« »Himmel noch mal, Charlie«, sagte Wu, »es muß doch irgend etwas Neues unter der Sonne geben!« Ohne zu überlegen, meinte Kong, während er der Musik lauschte: »Solaris, Die Sonnenschiffe, Sonnenkrieger, Sonnenfleck, Sonnen –« Er verstummte und lächelte Wu glücklich an. »Nein, wir müssen dieses Jahr schon wieder die Uraufführungen besuchen, um zu sehen, was neu ist, und dann rasch eine Kopie 55
nachschieben, bevor das Zuschauerinteresse erlahmt. Wie wir es jedes Jahr machen.« Wu knirschte mit den Zähnen. Sekundenlang traten Tränen in seine Augen. »Sie müssen das so sehen«, erläuterte Kong. »Wir verdienen ein Vermögen mit dem, was eine sichere Sache ist. Warum mit einer eigenen Idee ein Risiko eingehen?« »Weil ich Künstler bin und meinen Stolz habe!« Wu zündete sich mit dem goldenen Dunhill-Feuerzeug eine Havanna Corona an, zog die Manschetten seines italienischen Seidenhemds unter den Ärmeln hervor und sagte mit der Heftigkeit eines Mannes, der es gewohnt ist, für das, woran er glaubt, in einer Dachstube zu verhungern: »Riesenschnecken! Kometen! Blutegel! Marionetten, Paviane, Wale – Bäume!« Kong sprudelte, ohne sich anstrengen zu müssen, hervor: »Die Schnecken, Die Riesenschnecken, Die Egel, Die Egel kommen zurück, Komet, Meteor, Der Ulmenvirus, Eichentod, Nußbaum –« Wu entrang sich mit tiefem Empfinden: »Ach – Scheiße!« Kong fuhr fort: »Das Kloakenmonster, Riesenbakterien unter den Straßen –« Er sah, wie die ältliche Europäerin am Konzertflügel ihn anlächelte. Er nickte ihr zu, hob sein Glas auf ihr Spiel und fühlte sich wohl. Im Kontrollhäuschen stellte Spencer, den Blick bewußt abgewendet vom flackernden Bildschirm unter Audens Steuerung, fest: »Möbelwagen.« Auden drückte eine Taste und holte den Mittelgang von Etage 2 zu Etage 1 auf den Schirm. Auden murmelte kopfschüttelnd: »Ausgeschlossen.« Er betätigte einen anderen Knopf und zeigte die Einfahrt zum Parkhaus und das Schild über dem Kontrollhäuschen, das mögliche Möbelwagenfahrer mit der Mitteilung warnte: ›Lichte Höhe nur 1,87 m.‹ »Sie würden mit platten Reifen einfahren müssen, um unter der Decke durchzukommen.« Er drückte den nächsten Knopf und präsentierte eine andere Durchfahrt. »Dann verstecken sie sich hinter einem anderen Fahrzeug!« Auden schaltete von einer Kamera auf die andere. Die Wagen in allen Etagen waren in unterschlupflosen Buchten von der 56
Größe je eines Autos abgestellt. Wenn der Kombi sich dahinter hätte verstecken wollen, er hätte nicht nur zum Farbwechsel fähig und unsichtbar sein müssen, sondern ungefähr fünf Zentimeter breit. Auden sagte: »Nein.« »Dann fährt er aufs Dach!« Audens Finger glitten über die Tastatur der Kamerasteuerung. Es gab keine Kamera für das Dach. »Ein Wagen kann nicht auf das Dach gelangen«, sagte Auden. »Deshalb gibt es dort auch keine Kamera.« Er schaltete wieder um und suchte die drei Etagen der Reihe nach ab, bevor er wieder die Durchfahrten zeigte. Auden bedauerte: »Wir haben ihn das letzte Mal verpaßt, weil wir dem Röhrenmann mit der Kamera gefolgt sind. Wenn wir alles weiter so abgesucht hätten wie jetzt –« »Einer von uns sollte dauernd herumgehen«, entschied Spencer halsstarrig. Er sah ein Bild des Kontrollhäuschens auf dem Schirm erscheinen und senkte angewidert den Blick. »Die Fernsehanlage beweist doch nicht, wie das Fahrzeug von dem Banditen die Farbe wechselt.« »Ganz einfach«, meinte Auden beiläufig. »Das letzte Opfer war farbenblind.« »Das letzte Opfer war nicht farbenblind! Ich habe nach den Farben aller Autos in der Bucht gefragt, als ich die Aussage zu Protokoll nahm. Der Zeuge ist so wenig farbenblind, wie ich es bin!« Auden machte: »Hmm« und zeigte ein anderes Bild. Er fuhr mit der Hand forschend über eine Reihe unbeschrifteter Knöpfe und fragte Klaus voll Interesse: »Wozu sind die da?« Klaus beugte sich herüber. »Das ist eine Normalkonsole für ein großes Gebäude. Die Tasten sind nirgends angeschlossen, weil das Gebäude hier zu klein ist.« Ein Wagen wollte hinaus. Er kassierte und öffnete die Schranke. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen – die Eigentümer wären mit einem Dopplersystem viel besser bedient als mit TV.« »Was ist das? Doppler?« fragte Auden interessiert. »Ich bin zufälligerweise auch nicht farbenblind«, erklärte Spencer. »In der Schule bin ich untersucht worden.« Auden zweifelte: »Aber richtig? Mit dem richtigen Gerät oder 57
nur –« Klaus stand hinter ihm und starrte auf das Bild der Durchfahrt in Etage 1. Auden fragte: »Sie haben keines, das Sie mir zeigen könnten, wie? So ein Doppler-Gerät?« »Man kann nicht alles mit Maschinen lösen!« sagte Spencer pikiert. »Ich finde, wir sollten von hier verschwinden und Streifengänge durch das Parkhaus machen. Ich finde, wir sollten es mal mit ehrlicher, altmodischer Polizeiarbeit versuchen!« Er fragte Klaus mit barscher Stimme: »Woher wissen Sie, daß ein Auto nicht aufs Dach gelangen kann?« »Nach dem System sendet ein Sensor eine Art Funksignal«, erklärte ihm Klaus. »Eine Mikrosekunde später folgt ein zweites, dann ein drittes, und so geht das mit zwei Signalzyklen die ganze Zeit weiter. Durch den Vergleich der Echos dieser Signale kann das System feststellen, ob sich in dem Bereich, den es überwacht, etwas bewegt.« Er blickte auf den Bildschirm, und bemerkte etwas, das Audens Augen aufleuchten ließ: »Das ist eine viel eindrucksvollere Wiedergabe als bei einem Fernsehschirm, und wenn man das an einen einfachen Computer anschließt, nimmt es einem sogar die Entscheidung darüber ab, wohin man die Autos schicken soll.« »Menschenskind!« staunte Auden. »Woher wissen Sie, daß kein Auto auf das Dach fahren kann?« bohrte Spencer beharrlich weiter. »Wenn das ginge, würden die Leute, denen das Parkhaus gehört, sie da oben auch abstellen«, sagte Klaus ruhig. »Und sie hätten eine Kamera da oben, damit man sie überwachen kann, nicht?« meinte Auden ergänzend. »Richtig«, bestätigte Klaus. Auden sagte schlicht zu Spencer: »Und da es keine Kamera gibt, kann auch –« »Das ist doch irre!« fuhr Spencer auf. »Soll das heißen, ein Auto könnte nur deshalb nicht auf das Dach, weil da oben keine Kamera zu sein scheint? Was ist denn, wenn jemand den Anschluß zu der Kamera unterbrochen hat?« Auden sah ihn mitleidig an. »Dann würde das auf der Konsole als Defekt angezeigt werden.« Er bekam die Maschinenwelt rasch in den Griff. »Stimmt’s, Klaus?« »Ja.« 58
»Eben«, sagte Auden hochzufrieden. Er beugte sich vor, um Spencer auf die Schulter zu klopfen. Spencer zog die Schulter zurück. »Sie müssen das Wesen dieser Dinge so verstehen«, erläuterte Auden. »Dergleichen arbeitet nach einem System. Das Wesentliche an einem System liegt darin, daß es durchorganisiert ist. Es ist etwas Abgeschlossenes, Vollständiges.« Er warf einen verlegenen Blick auf Klaus, dessen Miene ausdruckslos blieb. »Habe ich nicht recht, Klaus?« »Richtig«, sagte Klaus. Er streckte die Hand aus und drückte eine Taste, die Durchfahrt 2 bis 3 zeigte, dann einen zweiten, der die linken, und einen dritten, der die rechten Buchten auf den Schirm brachte. »Und dann natürlich das noch.« »Was ist ›das‹?« fragte Auden. »Eine Ziegelmauer«, antwortete Klaus. »Das ist auch noch ein Grund, warum die Autos nicht auf das Dach können.« »Richtig!« sagte Auden. Im Lastenaufzug behielt der Astronaut auf Erdgeschoßhöhe des Hotels den behandschuhten Finger fest und unverrückbar auf dem Knopf ›Türe schließen‹ und wartete darauf, bis die Leuchttafel über der Doppeltür anzeigte, daß der Aufzug wieder nach oben fuhr. Die Anzeige leuchtete auf. Das Aufzugkabel straffte sich, der schwere Elektromotor wurde eingeschaltet, und der Aufzug fuhr zum ersten Stock hinauf. Im Aufzug stand ein leerer Servierwagen. Eines der Gummiräder hing so schief, daß die Achse gebrochen sein mußte. Der Astronaut schob den Servierwagen sorgsam zur Seite, um ihn im Notfall als Hindernis oder Rammbock auf seiner Flucht zu gebrauchen. Der Aufzug fuhr zum ersten Stock hinauf. Der Astronaut, die Hand am Knopf ›Türe schließen‹, blieb regungslos stehen und lauschte. Ganz undeutlich klang von irgendwoher Klaviermusik. Es war ein altes, sentimentales Stück aus den vierziger Jahren. Er kannte es nicht. Das kleine Foto steckte an dem Flammenwerfer, den er am Handschuh befestigt hatte. Er machte eine Handbewegung, und das kleine Quadrat aus Kartonpapier flatterte auf den Boden. 59
O’Yees Telefon läutete. Er nahm den Hörer ab, sagte ›Dienstraum‹, blickte sorgenvoll in Richtung Tür, um zu sehen, ob die Wiederkunft Des Grünen Schleims bevorstand, entdeckte nichts und meldete sich: »Kriminalinspektor O’Yee.« Eine dünne Stimme piepste auf kantonesisch: »Papa, sagst du das noch mal, wenn ich meinen Freund Lester ranlasse?« »Patrick, bist du das? Warum bist du nicht in der Schule?« Es blieb eine Weile still, dann hörte man kindliches Atmen. Eine andere dünne Stimme sagte angewidert: »Da ist doch gar keiner. Er ist gar kein richtiger Detektiv! Ich hau’ dir noch eine runter!« O’Yee sagte: »Patrick, bist du dran?« Patrick, neun Jahre alt, flehte: »Papa! Sag Lester, daß du Kriminalbeamter bist!« »Patrick, warum bist du nicht in der Schule?« Lester sagte: »Hallo?« »Ich bin Kriminalbeamter.« Es blieb still. O’Yee seufzte tief. »Kriminalinspektor O’Yee, Mister. Machen Sie Ihre Angaben, Mister.« »Mann!« Es krachte, als verschwitzte Hände um den Hörer rangen. O’Yee fragte scharf: »Patrick, warum bist du nicht in der Schule?« Patrick erwiderte: »Ich bin auf dem Rückweg vom Mittagessen. Ich habe Lester erzählt, daß du morgen abend mit deiner ganzen Familie groß ins Kino gehst, weil du Kriminalbeamter bist und Leute vom Film kennst, und er hat gesagt, das glaubt er mir nicht, und ich –« O’Yee unterbrach hastig: »Um ganz ehrlich zu sein, Patrick, ich bin froh, daß du anrufst, weil ich mit dir und deiner Mutter darüber reden möchte –« Lesters Stimme meldete sich, triefend von Reue: »Es tut mir wirklich leid, daß ich Patrick eine verpaßt habe, Mr. O’Yee. Er hat gesagt, sein Vater lügt nie, und ich hab’ ihm das nicht geglaubt, weil mein Papa dauernd lügt.« Man hörte ein Schnüffeln. »Mein Papa mag mich und meine Mami nicht mehr.« »Ach, das tut mir aber leid, ähm, ähm, Lester«, stotterte O’Yee. »Könntest du Patrick ...« 60
Lesters Schnuffeln wurde stärker. »Mein Papa lügt und lügt. Er sagt, er liebt uns nicht mehr, weil –« »Ähm, vielleicht solltest du mir das gar nicht erzählen, ähm, Lester ...« sagte O’Yee sorgenvoll. Patrick meldete sich wieder. Er behauptete stolz: »Mein Papa lügt nie, oder, Papa?« »Oh. Nein. Nein, nie«, sagte O’Yee. »Natürlich nicht –« »Mami war so begeistert vom Kino, daß sie sogar Oma angerufen und ihr gesagt hat, du bist der klügste Mann von der ganzen Welt.« Er schwieg kurze Zeit. »Und Oma hat gesagt, das glaubt sie nicht.« Wenn das Mithören an Nebenapparaten eine Art Vorqualifikation für Spionage war, befand Patrick sich auf dem besten Weg, im Alter von neun Jahren CIA-tauglich zu werden. Patrick sagte entschieden: »Aber Mami hat gesagt, du lügst nicht, bei ihr nicht, bei mir nicht, bei Penelope nicht, bei –« »Schon verstanden«, sagte O’Yee. Patricks Stimme klang voller Drohung: »Du würdest Oma doch auch nicht anlügen, Papa, oder?« Der letzte Mensch, der Oma angelogen hatte, war Opa gewesen, und er hatte sich seit 1955 in einer Art Katatonie befunden. Wenn Patrick nicht Spion werden konnte, würde er sich jederzeit auf dem Gebiet betätigen können, Geld durch Drohungen zu erlangen. O’Yee sagte schwächlich: »Nein, ich lüge niemanden an.« Am anderen Ende der Leitung wurde wieder gerauft, dann kam Lester und fragte mit emotionsgeladener Stimme: »Sie möchten nicht auch mein Vater sein, Mr. O’Yee?« »Hm, ja, Lester«, sagte O’Yee, »ich –« »Patrick hat versprochen, ich darf auch mit ihm groß ins Kino gehen, stimmt’s, Patrick?« sagte Lester. Patrick, der wohl direkt neben ihm stand, meinte großzügig: »Klar!« »Ist Ihnen das recht, Mr. O’Yee?« Das war endlich mal was Leichtes, zum erstenmal an diesem Tag. O’Yee sagte väterlich: »Tut mir leid, Lester, aber da müßtest du Patricks Mutter fragen, und da ich die Karten heute erhalte und du eben vom Mittagessen kommst, bleibt da leider keine Zeit mehr, weil du jetzt auf dem schnellsten Weg in die Schule mußt, und –« Er geriet in Wahnzustände. Er nahm sich 61
zusammen und sagte: »Patricks Mutter müßte dich auffordern, nicht Patrick.« »Hat sie getan«, behauptete Lester. »Sie hat mich und meine zwei Schwestern und meinen Bruder eingeladen.« Patrick kam sofort wieder an den Apparat. Er sagte stolz: »Wir wissen doch, daß du alles kannst. Das sagt Mami auch.« Er wurde sachlich. »Ich muß jetzt wieder in die Schule. Mami sagt, sie ruft dich später an und erklärt dir das mit den Karten für Lester.« Glücklich rief er: »Tschüs.« Er hängte ein. Lester? Sicher. Warum nicht? Seine zwei Schwestern und sein Bruder? Klar doch. Gewiß. Überhaupt kein Problem. Je mehr desto schöner. Wunderbar. Toll. Klare Sache. ›Mein Papa lügt nie.‹ Versteht sich ja wohl. O’Yee, der Lügenbold? Niemals. Ausgeschlossen. Ha, ha. O’Yee legte im leeren Dienstraum den Hörer sanft auf die Gabel zurück und sagte: »Aaaaaaaaarh!« Er war nicht farbenblind. Das Dach war leer, flach, verlassen, erreichbar nur über eine Leiter im Versorgungsschacht durch die Everest-Bezwinger, aber bei Gott, wenn es eines gab, was er nicht war, dann farbenblind. Wo die Durchfahrt von Etage 3 gewesen wäre, wenn es von dort eine gegeben hätte – aber es gab sie nicht –, befand sich ein riesenhaftes Generator- und Klimatisierungs-System. Spencer öffnete die nicht abgesperrte Tür, spähte hinein und sah – ein Generator- und Klimatisierungs-System. Er schaute sich auf dem glatten Flachdach nach Reifenspuren und dann nach Farbspritzern um, wo der Kerl seinen VW umgespritzt hatte und sah – keine Reifenspuren und keine Farbspritzer. Spencer, das letzte funktionierende Menschenwesen in einer maschinenbeherrschten Welt, sagte bitter: »Wenn alle möglichen Lösungen ausgeschlossen worden sind, muß, was übrigbleibt, die richtige Lösung sein, und sei sie noch so unwahrscheinlich.« Spencer trat an die Dachkante und prüfte sein farbliches Sehen. Tief unten in der Canton Road konnte er eine Verkehrsampel 62
sehen. Sie stand auf Grün. Sie schaltete um. Rot. Dann schaltete sie zurück ... Wieder Grün. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder und betrachtete die Ampellichter verkehrt herum, nur um sich zu vergewissern – genau, wie es auch Sherlock Holmes gemacht hätte –, daß nicht die Tatsache seiner Kenntnis der Anordnung der Lichter ihn davon überzeugte, er sähe die Farben, sondern daß er die Farben wirklich sah. Rot ... Grün ... Er sah auch das Gelb. Grün ... Gelb ... Rot... Rot ... Gelb ... Irgendwo unter sich im Parkhaus hörte er einen entsetzlichen Krach, als eine Eisenstange gegen eine Autoscheibe prallte. Fluchend und murrend hetzte er zurück über das Dach zur Leiter. Am Telefon sagte O’Yee verzweifelt zu Schnappmesser Fong, dem Hehler: »Fong? Hier O’Yee. Hören Sie, ich würde alles tun, um ein paar Karten für die Filmpremieren morgen abend zu kriegen. Und wenn ich sage alles, dann meine ich alles!« Schnappmesser Fong antwortete ungläubig: »Sie machen Witze!« »Alles! Was Sie auch haben wollen, ich mache es! Wenn Sie wollen, daß eine Hehlereianzeige unterdrückt wird, bin ich Ihr Mann!« Fong dachte kurz nach. »Nein, da bin ich im Augenblick sorgenfrei.« »Umgang mit Schmuggelware?« »Auch in Ordnung.« »Steuerhinterziehung? Raubüberfall? Obszöne Angebote? Fahren ohne Führerschein?« »Komischerweise wird mir da auch nichts angelastet.« »Mord? Kidnapping? Flugzeugentführung? Umweltverschmutzung? Verkauf von verdorbenen Lebensmitteln?« »Nicht mein Betätigungsfeld.« »Mitgliedschaft in der Triade? Bestechung? Korruption?« 63
O’Yee drohte: »Sie wissen, daß man Ihnen auf den Fersen ist, ja? Sie wissen, daß man bald zuschlagen wird?« Fong sagte ungläubig: »Nee –« »So ist es. Sie stehen auf der Liste. Sie brauchen einen Freund. Besitz gefährlicher Waffen? Unerlaubter Besitz von Sprengstoff? Landesverrat? Hafengefährdung?« »Nee. Nichts«, sagte Fong zuversichtlich. »Wollen Sie mir weismachen, daß Sie nichts auf dem Kerbholz haben?« »Ja«, sagte Schnappmesser Fong. »Ich bin sauber.« »Sie können nicht einfach sauber werden! Sie sind und bleiben ein Krimineller!« Schnappmesser Fong betonte mit Heiligenstimme: »Aber es ist wahr. Ich habe endlich alles eingesehen.« »Gefälschte Kirchenspenden? Auftreten als Offizier der Heilsarmee? Diebstahl von Kollektengeldern?« Bescheidenes Schweigen. O’Yees Stimme verlor immer mehr an Festigkeit und verklang endlich ganz. »Gotteslästerung? Besitz von Gerät für Schwarze Magie? Unzüchtiger Umgang mit Gockeln? Spionage? Fahrerflucht in Kriegszeiten ...?« Die Uhr an der Wand des Dienstraums tickte ruhig und gnadenlos weiter, dem Untergang entgegen. Als sie in der ›Palmenhof‹-Bar zu den Aufzügen gingen, sagte Kong lebhaft: »Der Sache käme es schon näher, Henry, wenn wir uns überlegen würden, wie wir ein paar von den neuen Filmen vor der Uraufführung sehen könnten. Dann könnten wir das Ganze schon anlaufen lassen, bevor die Zuschauer mit dem ersten Beutel Puffmais fertig sind.« Wu, noch immer gequält von dem Gedanken, daß wahre Künstler hungerten, während er ein Vermögen verdiente, sagte: »Hmm.« Er blieb kurz an einem niedrigen Tisch stehen, um seine Corona in einem Kristall-Aschenbecher auszudrücken. Kong, stets Diplomat, wartete. Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Was halten Sie von dem Werbeeinfall, die Fliegende Untertasse zu verbrennen?« Wu zerdrückte die Zigarre und sagte gereizt: »Ich finde, es ist 64
schade, daß nicht wir als erste auf die Idee gekommen sind.« »Das mit dem Straßenkehrer war wohl eine Art Unfall«, meinte Kong. Er lächelte und klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Das Filmgeschäft müssen Sie so sehen, Henry ...« Die Doppeltür des Lastenaufzugs links von ihnen öffnete sich mit gedämpftem Knall. Wu blickte hinüber und sagte: »Jesus!« »Nein, das ist alles schon gedreht worden, Henry ...« Wu wiederholte noch einmal: »Jesus –!« Der Astronaut stand regungslos im offenen Lastenaufzug. Hinter der schwarzen Sichtscheibe seines Helms schien er kein Gesicht zu haben. Die Flamme aus der Düse in der Hand des Astronauten fauchte als einzelne brüllende gelbe Feuerkugel heraus, setzte Boden, Decke und Wände rings um sie in Brand und verschlang Henry Wu und Charlie Kong in ihrem tödlichen Zentrum wie ein Wirbelwind.
Kapitel
8
Dr. Macarthur kauerte vor den verkohlten Überresten der beiden Toten in der Bar, stocherte an einer Stelle mit einem Gerät aus rostfreiem Stahl und sagte zu sich selbst: »Faszinierend.« Am Lastenaufzug gab es einen fauchenden Knall, als ein chinesischer Feuerwehrmann die rauchende Wandtäfelung mit einem C02-Feuerlöscher besprühte. »Erinnert mich an Berichte über Verletzungen der Buddhistenmönche, die sich im Vietnamkrieg auf der Straße selbst verbrannt haben.« Der Boden war knöcheltief mit übelriechendem Schaum und Flüssigkeit aus dem Sprinklersystem bedeckt. Macarthur zog die Sonde heraus und stand auf. Er nickte den wartenden Sanitätern zu, die mit ihren Leichensäcken aus Plastik herankamen. »Faszinierend. Wirklich außerordentlich faszinierend.« Neben Feiffer und Lee beobachtete der Leitende Brandverhütungsbeamte von Hong Bay, ein breitschultriger Australier namens George Bell, in Khakiuniform, den Feuerwehrmann, der 65
die letzten blauen Rauchschwaden mit dem Feuerlöscher zum Verschwinden brachte. Der Feuerwehrmann trat zurück, um seine Arbeit zu bewundern, und Bell sagte auf kantonesisch: »Sehr gut. Sie haben es gelöscht. Machen Sie das noch mal, damit das Feuer auch wirklich nicht mehr auflodert.« Er wartete, bis das Fauchen wieder einsetzte, dann fragte er Feiffer: »Wer waren sie?« Anthony Lam und Teddy Wong hielten sich nicht weit entfernt vom Flügel auf. Die Pianistin stand bei ihnen und hatte den Blick abgewendet. Ohne den Blick von Lam und Wong zu lösen, sagte Feiffer: »Laut Lam müssen es zwei chinesisch-amerikanische Filmproduzenten sein, die auf den Philippinen zu Hause sind.« Er blickte auf sein aufgeschlagenes Notizbuch und blätterte darin. »Kong und Wu. Sie ließen etwas im Hoteltresor verwahren, deshalb erinnert Lam sich an sie. Er glaubt, daß sie billige Nachfolgefilme gedreht haben, beruhend auf dem, was gerade die größten Kassenerfolge brachte.« Bell stieß in plötzlicher Erregung hervor: »Der größte Kassenerfolg scheint mir im Augenblick Ihr Scheiß-Astronaut zu sein!« Er deutete auf einen tropfnassen schwarzen Lappen bei den Fenstern, der einmal ein vier Meter breiter Vorhang gewesen war: »Das ganze Zeug hier besteht aus billigster, leicht brennbarer Kunstfaser. Der Gestank, den Sie riechen können, stammt von der Spezialflüssigkeit in den Sprinklern, die man heutzutage verwenden soll, um zu löschen, wenn das Zeug Feuer fängt. Der Sprinklertank enhält nur eine bestimmte Menge Spezialflüssigkeit, und wenn Ihr kleiner Astronaut das nächste Mal beschließen sollte, hier einen richtigen Brand zu legen, werden wir nicht herumstehen und uns über Scheiß-Buddhistenmönchen unterhalten« – das war auf Macarthur gemünzt. »Wir werden herumstehen und uns darüber unterhalten, wie schön Hongkong gewesen ist, bevor es total niederbrannte.« Bell sagte mit hartem Gesichtsausdruck: »Ich bin in Vietnam gewesen, Doktor Macarthur, und ich habe brennende Scheiß-Buddhistenmönche durchaus nicht als faszinierend empfunden!« Macarthur zog eine Zigarette hervor und steckte sie in den Mund. Er wurde ein bißchen rot und erklärte verlegen: »Ich meine natürlich rein medizinisch.« 66
»Machen Sie die gottverdammte Zigarette aus!« fuhr ihn Bell an. Feiffer berührte Bell an der Schulter und trat zwischen ihn und Macarthur. Er fragte den Arzt: »Ist das eindeutig wieder Benzin gewesen?« »Ja«, bestätigte Bell. Er waf einen Blick zu Lam hinüber, funkelte Macarthur noch einmal böse an und sagte halblaut zu Feiffer: »Dieser Direktor – wie heißt er gleich?« »Lam.« »Lam. Das ist ein Verrückter.« Die beiden Sanitäter kamen aus dem Personalaufzug, öffneten ihre Leichensäcke und sahen Bell um Erlaubnis an. Bell forderte sie kurz auf: »Ja, nur los.« Er sah Feiffer an. »Als ich mit meinen Leuten ankam, wollte ich mir von ihm zeigen lassen, wo sich das Abschaltventil für die Sprinkleranlage befindet. Ich brauchte mindestens fünf Minuten, um zu verhindern, daß er an Ort und Stelle einen Nervenzusammenbruch erlitt. Wenn nicht sein Kumpel da wäre« – »Teddy Wong«, sagte Feiffer dazwischen – »würde ich noch beim Dienstcomputer anfragen, damit ich einen Sprinklerplan bekomme. Ich habe ihn gefragt, ob er gesehen hätte, wer das gewesen sei, und er schrie, er erhielte Botschaften in Rauch und Wasser. Der ist ja völlig übergeschnappt.« Feiffer nickte. Er schaute zu Lam hinüber und sah, daß dem Hoteldirektor die Tränen über das Gesicht rannen. Teddy Wong tätschelte zerstreut seinen Arm. Lam drehte sich kurz nach der Pianistin um, aber sie blickte – plötzlich mit einem harten Ausdruck in den Augen – zur Seite und beachtete ihn nicht. Feiffer fragte Macarthur: »Können Sie anhand der Leichen irgend etwas vermuten, was wir nicht schon durch den Straßenkehrer wissen?« »Nein.« Macarthur nahm die unangezündete Zigarette aus dem Mund, betrachtete Bell nachdenklich und steckte sie, immer noch unangezündet, wieder zwischen die Lippen. »Irgendwelche Zeugen?« fragte Bell. »Die Pianistin.« Feiffer warf einen Blick zu ihr hinüber. »Einer meiner Konstabler hat sich sofort ihre Aussage geben lassen, aber ich höre vielleicht noch etwas mehr von ihr, wenn die Leichen weggebracht sind.« Die Art, wie sie auf Lam und Teddy Wong reagierte, interessierte ihn. Teddy Wong hatte sich ihr 67
mehrmals zugewandt und sie mit einer Mischung von Mitgefühl und Verlegenheit aufmunternd angelächelt. Sie hatte das Lächeln erwidert, aber sobald Wong ihr den Rücken zuwandte, war ihr Blick zu Lam gewandert und ihre Augen hatten sich vor Verachtung verengt. Feiffer sagte: »Ich bezweifle, ob Lam im Augenblick mehr beisteuern kann als echte oder eingebildete Paranoia.« Er wandte sich an George Bell. »Der andere Mann bei ihm – Wong – ist bei einer Versicherungsgesellschaft tätig. Vielleicht könnten Sie das als Ausrede benutzen und sie beide zu einem Rundgang mitnehmen, um die Notausgänge zu kontrollieren oder was weiß ich.« »Das wollte ich ohnehin tun. Abgesehen von allem anderen, muß das Sprinklersystem im Haupttank aufgefüllt werden, und ich möchte sicherstellen, daß einer ernsthaft verspricht, das zu tun.« Er sagte zu einem chinesischen Brandmeister, der neben dem Feuerwehrmann mit dem Löscher stand: »Mr. Chang, es wäre, so wie das hier aussieht, vielleicht gut, in die Halle hinunterzugehen und bei der Telefonvermittlung zu veranlassen, daß in den anderen Stockwerken geprüft wird, ob Rauch und Dämpfe über den Notschacht hinausgelangt und in die Klimaanlagen eingedrungen sind.« Er drehte sich wieder zu Feiffer herum und sagte ein wenig pikiert: »Ich hätte die Notausgänge ohnehin überprüft.« »Danke.« Macarthur zündete sich seine Zigarette mit dem Zippo-Feuerzeug an, stieß erleichtert blauen Rauch aus und fragte: »Kann ich sonst noch etwas tun?« Feiffer schüttelte verneinend den Kopf. Bell sah zu, wie die beiden Leichensäcke in den Aufzug getragen wurden, und schnupperte. Er konnte durch den lastenden, süßlichen Geruch von verbranntem Nylon und menschlichem Fleisch immer noch vage das Benzin wahrnehmen. Bell knurrte schweratmend in plötzlicher Gereiztheit, als er sich an etwas erinnerte, was er vor einer Ewigkeit auf einer Straße in Saigon gesehen hatte: »Sie können etwas für mich tun.« Der Buddhistenmönch hatte auch ein Zippo-Feuerzeug benutzt. Er hatte es aufgeklappt und ein-, zweimal gerieben, jedesmal stärker. 68
Macarthur kam ihm mit gewinnendem Lächeln entgegen: »Gern, was denn?« Bell fauchte: »Als erstes können Sie die gottverdammte Zigarette ausmachen!« Mit größerer Heftigkeit als beabsichtigt wütete er: »Sie hirnverbrannter, schwachsinniger, gottverdammter Idiot, kennen Sie denn den gottverdammten Geruch von Benzin nicht, wenn er überall in der Luft hängt?« Sobald ein menschlicher Körper, mit dem Zeug übergossen, Feuer fing, konnte man das nicht mehr ersticken. An jenem Morgen in Saigon hatte er es versucht, zuerst mit seiner Tarnjacke und dann mit den bloßen Händen. Manchmal in der Nacht erinnerte er sich noch an das Gesicht des Mönchs in den Flammen. Es hatte ihn scheinbar angelächelt. 426. Die Codezahl des Kampfführers einer Geheimgesellschaft der Triade. 426. Der Rote Stab oder Hung Kwan, Rang zwei oder drei. Feiffer drehte das kleine Foto in seiner Hand und achtete darauf, mit den Fingern weder Vorder- noch Rückseite zu berühren. ›Kriminal-Chefinspektor Harry Feiffer‹ ... Wenn die chinesischen Geheimgesellschaften eine Besetzungsliste brauchten, war es mit ihnen in den letzten Jahren arg bergab gegangen. 426 ... Botschaften in Rauch und Wasser ... Er wartete, bis Bell und Macarthur mit Lam und Wong zur Hintertreppe gingen. Als die ältere Europäerin sich wieder an ihren Flügel setzte und, um sich zu beschäftigen, ihre Finger über die Tasten gleiten ließ, ohne eine bestimmte Melodie zu spielen, schob er die Fotografie in eine kleine Klarsichthülle in seiner Tasche und ging zu ihr hinüber. Im dritten Stock schrie Auden atemlos: »Ich hab’ ihn gesehen! Ich hab’ ihn nach dem Überfall sogar wegfahren sehen!« In einer der linken Parkbuchten stand ein roter Toyota. Der chinesische Fahrer, in mittlerem Alter, stand neben dem zerschlagenen Fenster auf der Beifahrerseite, pflückte Glassplitter aus seinem Anzug und wirkte betäubt. Auden berichtete: »Ich habe den gan69
zen Komplex abgesucht, und dann – Klaus erklärte mir gerade das Doppler-System, und wir – ich holte Etage 3 und rannte hier rauf –« Er warf einen Blick auf den betäubten Mann neben dem Toyota. »Und er kam auf dem Weg nach unten nicht an mir vorbei!« Er fragte aufgebracht: »Wo waren Sie?« »Ich bin vom Dach heruntergekommen. Die Leiter führt vom Dach direkt ins Erdgeschoß. Ich mußte hier die Gänge rauflaufen.« Spencer versicherte: »An mir ist er auch nicht vorbeigekommen.« »Dann muß er hinaufgefahren sein!« Vor ihm befand sich die Ziegelmauer. Auden mutmaßte: »Er muß durch eine massive Ziegelwand gefahren sein!« »Nein. Ich habe den Knall gehört. Wenn er direkt auf das Dach gefahren wäre, hätte ich ihn gesehen.« »Er kann doch gar nicht aufs Dach, oder?« fragte Auden bestürzt. »Nein.« »Wo, zum Teufel, ist er dann hingekommen?« Auden war ratlos. »Er ist spurlos verschwunden.« Der Toyota-Fahrer schien plötzlich zu begreifen, was mit seinem fabrikneuen Wagen geschehen war, und jammerte: »O nein!« Neben ihm auf dem Beifahrersitz hatte eine teure Hasselblad-Kamera gelegen. Offenbar ging ihm auch auf, was mit ihr geschehen war. Er brüllte: »O nein! Nein! Nein! Nein!« Er richtete den Blick auf Auden und zielte anklagend mit dem Zeigefinger auf ihn. »Wir sind von der Polizei«, sagte Spencer. »Dann hinterher!« sagte der Toyota-Fahrer. »Es war ein VW-Kombi! Er war gelb!« Er zeigte zur Durchfahrt in die nächste darunterliegende Etage. »Da ist er hinuntergefahren!« Auden widersprach: »Nein, das ist nicht –« »Doch! Ich habe ihn hinunterfahren sehen!« Auden sagte noch einmal: »Nein ...« Er packte Spencer an beiden Schultern und schüttelte ihn. Auden fluchte mit rollenden Augen: »Verdammt, Bill, ich habe ihn auf dem Schirm davonfahren sehen!« Den näherkommenden Toyota-Fahrer schrie er an: »Sie lügen! Ich hab’ ihn gesehen! Der Kombi war nicht gelb! Er war weiß!« Einen grauenhaften Augenblick lang dachte er, er müßte zumindest den Verstand verlieren, wenn der 70
Toyota-Fahrer: »Gelb« behaupten würde. Der Toyota-Fahrer sagte mit größtem Nachdruck: »Ich habe ihn im Rückspiegel gesehen, als er hielt!« Als ein großes, wie von Spinnwebrissen durchzogenes Stück Windschutzscheibe sich von seinem Jackett löste und mit einem Krach auf den Boden fiel, fragte er argwöhnisch und mit scharfer Stimme: »Was, zum Teufel, ist mit euch Figuren überhaupt los? Seid ihr alle farbenblind oder was? Der Kombi war gelb!« In den Zellen atmete Der Grüne Schleim tief ein und brüllte aus vollem Hals: »Du dreckiger, lausiger, mieser Schweinebullen-Mischling! Komm runter und schlag mich zusammen – trau dich! Schweinebulle! Du miserabler –« Er geriet in Verzweiflung. Er griff mit dem zweiten Haken und Spannstück, die er aus Streichhölzern gefertigt hatte, durch das Gitter hindurch, öffnete das Schloß, schob die Zellentür auf und fragte sich, vor Angst schwitzend, als das Licht vom Flurfenster ihm mitteilte, daß die Zeit ganz rasch verrann, was er um seiner Frau und Familie willen tun sollte. Er brüllte ohne Überzeugung: »Du Drecksbulle!«, erhielt keine Antwort, preßte die Hand mit den Schwimmhäuten an den Kopf, kehrte in die Zelle zurück und rang die Hände, bis sie schmerzten. Die ältere Dame am Flügel trug Perlen und ein Twinset. Sie hatte Tränen in den Augen. Ihre Finger glitten über die Tasten und spielten leise die Einleitung zu ›Together‹. Sie streckte die Hand aus. Feiffer ergriff sie. Die ältere Dame lächelte ihn an. »Ich bin Mrs. Coates.« Die Mundstellung wirkte müde und aus irgendeinem Grund tief enttäuscht. Sie führte die Hand an die Kehle und zeigte Feiffer ein schwaches Lächeln. »Mein Bühnenname ist Carole. ›Carole spielt für Sie in der „Palmenhof“Bar.‹ Haben Sie das je – ›Carole unterhält Sie in der –‹« Der Geruch nach verbranntem Nylon und Fleisch hing immer noch ganz stark im Raum. Feiffer nickte. Carole berührte wieder die Tasten. »Mein Mann und ich sind früher gemeinsam aufgetreten – in 71
Simla.« Sie fragte: »Haben Sie schon einmal von Simla gehört?« »Das war während der britischen Herrschaft in Indien eine Art Urlaubsort im Gebirge, nicht?« »Ja! Genau das.« Sie schien sehr erfreut zu sein. »Genau das war es. Es war –« Feiffer fragte: »Haben Sie ihn gesehen? Den Mann mit dem Flammenwerfer?« Carole antwortete: »Ich habe für die Gäste gespielt. Für die beiden Chinesen, die –« Sie blickte auf die Tasten. »Mein Mann und ich führten früher in Delhi ein Kino. Ich begleitete bei den alten Stummfilmen an der Kino-Orgel –« Ihre Hände waren sehr faltig und alt. Sie fuhr mit dem Daumen über ihre Fingernägel und blickte wiederum auf die Tasten hinunter. »Sind Sie schon einmal in einem Kino gewesen, wo – das war hier früher wirklich ein schönes Hotel. Bevor die Leute aus Singapur es übernahmen. Hier sind früher feine Leute abgestiegen und –« Sie fragte Feiffer: »Sind Sie früher einmal hergekommen – mit Ihrer Frau oder Freundin oder –« »Ich war manchmal mit meinen Eltern hier.« »Oh.« Neben dem Flügel stand eine Reihe leerer Stühle. Carole sagte: »Früher kamen meine Freunde zum Nachmittagstee, setzten sich zu mir und unterhielten sich. Die alte Direktion bot ihnen kostenlos Kuchen an und –« Sie schnüffelte kurz und wischte sich mit der Hand über die Augen. »Jetzt schickt man mich in die Halle hinunter. Jetzt, wo der Palmenhof dahin ist – dieser Lam wird ihn durch Glas und rostfreien Stahl und Lautsprechermusik ersetzen und –« Carole schwelgte in Erinnerungen: »Wir haben früher so schöne Filme gezeigt. Wir hatten alle Carole-Lombard-Filme –« Sie machte eine Pause, aber Feiffer sagte nichts – »Und alle Veronica-Lake-Filme und die –« Sie blickte verträumt auf die Tasten. »Alle unsere alten Freunde sind nach der Unabhängigkeit heimgefahren, und die Inder wollten die Filme nicht sehen, so daß wir –« Feiffer murmelte leise: »Sie sind die einzige Zeugin, die ich habe, Mrs. Coates.« Auf Caroles Gesicht stand ein bitteres Lächeln. »Wir versuchten dann, in Schanghai ein Kino zu übernehmen, aber dann kamen die Kommunisten. Mein Mann – er war der Meinung, wir sollten auf der Stelle heimfahren, aber ich –« Sie 72
sagte flüsternd: »Man kann wegen den Triaden hier kein Kino aufmachen. Sie verlangen enorme Schutzgelder, und ein kleines Kino in privater Hand kann sie einfach nicht aufbringen.« Mit erstickter Stimme, dem Weinen nahe, fuhr sie fort: »Alle meine Freunde kamen hierher und setzten sich beim Nachmittagstee zu mir –« Sie berührte den Flügel. »Die Direktion schickt mich jetzt in die Halle und –« »Halten sich Leute von den Triaden im Hotel auf?« fragte Feiffer. »Das weiß ich nicht. Um mich kümmern sie sich nicht.« »Unter den Kellnern oder –« »Nein.« Carole berichtete leise: »Die Doppeltür des Lastenaufzugs ging auf, dann äußerte einer der Chinesen etwas Gottloses, und einen Augenblick später –« Mit erstickter Stimme flüsterte sie: »Solche Schreie habe ich in Schanghai gehört, als die Kommunisten unser kleines Kino samt allen Zuschauern niederbrannten, weil wir einen Film zeigten über –« Carole versicherte: »Es war kein Astronaut. Es war ein Mann, der einen Schutzanzug für Brandbekämpfung trug.« »Sind Sie sicher?« »Ja.« Sie blickte auf den Flügel. »Die beiden Männer sollten mir leid tun. Einer wirkte ganz nett. Er –« Sie blickte zur Decke hinauf. »Als das Sprinklersystem einsetzte, dachte ich, das fällt auf meinen Flügel und beschädigt ihn.« Sie ballte die Hand zur Faust und preßte sie an ihren Mund. »Er gehört mir, wissen Sie, er ist alles, was ich noch besitze von – ich dachte, die Sprinkler machen ihn kaputt. Er ist für viel Geld versichert.« Sie blickte auf die Reihe leerer Stühle, die den Eindruck machten, schon lange Zeit nicht mehr benutzt worden zu sein. »Er ist alles, was ich noch habe.« Feiffer nickte verständnisvoll. Carole wiederholte immer wieder: »Er ist alles, was ich noch habe. Alles, was übrig geblieben ist von all den Jahren ... als mein Mann noch lebte. Aus Simla und Delhi und Schanghai und –« Feiffer berührte ihre Hand. »Er ist nicht beschädigt. Die Sprinkler in diesem Teil des Saals wurden nicht betätigt.« »Nein.« 73
»Sind Sie sicher, daß er einen Brandschutzanzug trug? Asbest?« »Ja. Der Helm war weich und –« Carole sagte blinzelnd: »Ich habe sie in Schanghai gesehen.« Sie fragte: »Sind Sie schon einmal in –« »Ja. Mein Vater lebte vor dem Krieg in Schanghai.« »Wirklich?« fragte Carole interessiert. »Wirklich? Haben Sie noch Erinnerungen daran? Bubbling Well Road und Sincere’s, der große Laden in – und The Bund und – die vielen Schiffe –« »An die Bubbling Well Road kann ich mich erinnern. Die Firma meines Vaters hatte dort ihre Büros.« »Im Ernst?« Sie schien ihn beinahe anzuflehen. Voller Verzweiflung sagte sie: »Man wird mich jetzt in die Hotelhalle abschieben, und sobald sie können – sobald die schrecklich gewöhnlichen Leute, die jetzt hier wohnen, sich beklagen, daß sie lieber moderne Musik vom Grammophon hören, werden sie –« Feiffer berührte wieder ihre Hand. »Der Flügel ist nicht beschädigt. Es ist gut abgegangen.« Er fragte sich, ob die Tränen in ihren Augen nicht vielleicht von Halbblindheit herrührten. Leise fragte er: »Wie alt sind Sie, Carole?« »Ich bin fast fünfundsiebzig.« »Der Flügel ist in Ordnung, verlassen Sie sich darauf«, beruhigte Feiffer. »Ich sehe keinerlei Spuren eines Schadens.« »Er ist für viel Geld versichert. Er ist alles, was ich noch habe.« Carole rannen plötzlich die Tränen über das Gesicht: »Ach, hol doch alles der Teufel, wenn er ihn verbrannt hätte –« »Ich weiß.« Carole protestierte gegen die große Ungerechtigkeit und klagte: »O Gott, wenn er ihn verbrannt hätte, dann hätte ich das Geld verlangen und nach England heimfahren können.« Sie ließ die beiden Fäuste auf die Tasten niedersausen, daß es krachte, und rief mit schriller Greisinnenstimme in den ausgebrannten Saal: »Das ist nicht gerecht! Zuerst die Unabhängigkeit, dann die Kommunisten, dann die Triaden, und jetzt das!« Sie packte Feiffers Hand und drückte sie fest. »Sie verstehen das, nicht wahr? Jetzt setzen sie mich in die Halle, und dabei will ich nur nach England zurück und in Frieden sterben!« Sie drückte immer noch Feiffers Hand, bis sie schmerzte. Die 74
alte Frau, die sich nach einem Filmstar benannte, klagte tränenüberströmt: »Er hätte ihn verbrennen können, nicht wahr? Er hätte ihn verbrennen können. Das hätte ihn nichts gekostet.« Verzweifelt über die Ungerechtigkeit der Welt schluchzte sie: »Gibt es denn niemanden – gar keinen, der versteht?« Der Barmann im ›Lucky Dime‹ hatte die Information, daß Lustbiene Alice Ping nicht da sei. Lustbiene Alice Ping, erklärte er O’Yee am Telefon – es bedurfte erstaunlich weniger Drohungen, um das aus ihm herauszuholen – spreche zum drittenmal an diesem Tag in der Polizeistation Chan Wai vor, um ihre Huren dort herauszuholen. »Premierenkarten?« sagte der Barmann erstaunt. »Sie fragen mich, ob ich Karten für Filmpremieren habe?« Der Barmann fuhr fort: »Wenn ich Premierenkarten hätte – bei den Leuten, denen der Laden hier gehört, ich hätte keine Hände mehr.« Der Barmann sagte: »Hören Sie mal.« Am anderen Ende der Leitung war ein Knacken zu hören. Der Barmann sagte: »Das war ich. Ich habe meine Fingerknöchel knacken lassen. Knöchel habe ich zufällig, weil ich zufällig noch Hände habe. Wenn ich Premierenkarten hätte und die Leute, denen der Laden hier gehört, nichts davon wüßten, könnte ich als einziges Geräusch jetzt vielleicht noch eins mit verbundenen Stummeln machen.« »Also gut, Sie haben keine Karten.« Der Barmann sagte: »Schon kapiert. Richtig. Hier ist Zweihand-Ling und sagt ihnen, daß er keine Karten hat. Sie hören Zweihand-Ling das mit seiner Stimme sagen, weil ZweihandLing immer noch einen Kopf auf seinem Körper trägt, mit dem er Ihnen sagen kann, daß er keine –« »Vergessen Sie’s!« »Gemacht.« Der Barmann sagte: »Zweihand-Ling-NochMit-Kopf hat eine Zukunft, in der er vergessen kann, daß in der Vergangenheit ...« In Etage 3 des Parkhauses führte Spencer Auden vorsichtig über die Straße, um ihm die Verkehrsampeln zu zeigen. Ein Gebäude stand dazwischen. Man konnte sie nicht sehen. »Komisch«, wunderte sich Spencer. »Vom Dach aus konnte ich sie genau sehen.« Er nahm sich zusammen und sagte auf75
munternd zu Auden: »Hören Sie, ich habe eine Idee. Befassen wir uns mit der Geschichte noch einmal von Anfang an, und zwar ganz anders ...« Es war 14 Uhr. Die Konstabler Lee und Sun begannen sich mit der Dollarmillion zu langweilen und ertappten sich dabei, daß sie, um Bewegung zu haben, gelegentlich Abstecher machten. Der Astronaut beobachtete sie. Er achtete auf die Zeit.
Kapitel
9
Im Dienstraum ließ Feiffer sich von O’Yee die Fotografie zurückgeben und sagte: »Vor ungefähr einer Woche von der Hotelhalle aus aufgenommen.« Er sah O’Yees überraschten Blick. »Im Hintergrund sieht man einen Teil der Bank of America, Zweigstelle Hong Bay. Dem Hotel genau gegenüber. Ich bin entsprechend der Gesichtsgröße auf dem Foto die ungefähre Entfernung abgeschritten. Die Aufnahme ist entweder knapp außerhalb oder knapp innerhalb der Halle gemacht worden. Und der Grund, warum ich weiß, daß das Foto vorige Woche geschossen wurde, ist der: Da ich arm, aber ehrlich bin, habe ich nur zwei Anzüge, und der auf dem Bild ist in der Reinigung.« Man konnte das Schaufenster der Bank und eine Anzahl Karten und Werbeprospekte der Bank gerade erkennen. Feiffer erklärte weiter: »Die Devisenkurse am Fenster stammen vom vergangenen Donnerstag.« O’Yee hatte eine Kopie vom Register der Hotelgäste auf seinem Schreibtisch liegen. »Kennen Sie einen der Namen?« »Ich kenne die Namen von einem halben Dutzend Leuten, die Science-Fiction-Filme machen.« O’Yee blickte zum drittenmal auf die Liste. »Yamamoto, Onuki, Ishimaru, Fernandez, Wing, Mukherjee – die meisten scheinen Japaner oder Philipinos oder amerikanische Chinesen zu sein.« Er wendete das Blatt um und überflog die Liste der Hotelangestellten. »Wenn da jemand arbeitet, der auch nur von geringer Bedeutung ist, kenne ich ihn 76
nicht. Haben Sie die Liste an das Büro Triadenbekämpfung geschickt?« »Man ruft mich an, wenn man sie dort überprüft hat.« Feiffer sagte: »Das Naheliegende wäre, das Hotel zu durchsuchen, aber bei mehr als fünfhundert Zimmern –« »Wir könnten vielleicht Hilfe anfordern – Spezialkonstabler oder –« »Und wonach suchen? Nach einem Brandschutzanzug, den man in eine kleine Aktentasche hineinstecken kann? So, wie dieser Kerl nach Wunsch aufzutauchen und zu verschwinden versteht, spricht nicht viel dafür, daß er ihn an einer Stelle verwahrt hat, wo man ihn finden kann. Und die Flammenwerferdüse – wenn er die in der Hand verstecken kann, ist sie nicht größer als ein kleiner Revolver. Ich bin durch ein paar Hotelkorridore gegangen. In vier Etagen ist mir kein Mensch begegnet. Alle potentiellen Zeugen laufen draußen auf der Straße herum, als Weltraummonster verkleidet.« Feiffer legte das Foto in seinen ›Auslauf‹-Korb, damit es zur Spurensicherung gebracht werden konnte. »Wenn er keinen Komplicen hat, ist die Aufnahme von dem Astronauten selbst gemacht worden. Das heißt, daß er mindestens eine Woche vor Festivalbeginn schon hier war.« Bevor O’Yee fragen konnte, sagte er: »Und bevor Sie fragen, das ist ein Polaroidfoto. Mir bleibt also das zweifelhafte Vergnügen erspart, in den gut zweitausend Fotogeschäften der Kolonie herumzulaufen und mich zu erkundigen, wer es entwickelt hat.« Er zündete sich müde eine Zigarette an und sagte bitter: »Mir scheint hier allerhand erspart zu werden. Ich brauche nur zu warten, bis er beschließt, wieder jemanden einzuäschern.« »Oder bis er hat, worauf es ihm ankommt.« »Nämlich?« O’Yee zog die Schultern hoch. »Die Million Dollar?« »Warum geht er dann nicht einfach hin und nimmt sie?« »Die Versicherungsseite ist eine Erfindung von Lams ungezügelter Phantasie. Wenn der Astronaut das Hotel niederbrennen wollte, hätte er das gewiß tun können, ohne herzugehen und Fliegende Untertassen, Straßenkehrer und Filmproduzenten in einem Palmengarten der Jahrhundertwende in die Luft zu jagen.« Feiffer knurrte gereizt: »Nur in Knüllerfilmen gehen die 77
Bösewichte als Nonnen verkleidet in Banken und haben Panzerfäuste bei sich. In der realen Welt schlendern Leute, die Banken oder Hotels berauben wollen, mit Taschentüchern vor dem Gesicht einfach herein, haben billige Pistolen in der Hand und schreien: ›Hoch mit den Pfoten.‹ Selbst gottverdammte Psychopathen verkleiden sich nicht, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, gottverdammte Psychopathen zu sein. Und sie halten auch nichts von Strahlerpistolen – sie nehmen Messer und Äxte.« Sein Telefon läutete. Er nahm rasch den Hörer ab und meldete sich: »Ja?« Es war Chefinspektor Roberts von der Wirtschaftsabteilung. Roberts berichtete: »Harry, wir haben eben von der Polizei in Singapur gehört. Das ganze Gerede, die Besitzer des ›Empress of India‹ wollten keinen Gewinn erzielen, ist absoluter Blödsinn. Das Unternehmen ist schon mal in Hongkong eingetragen, und alle Gewinne, die sie hier erzielen, würden sich auf ihre Steuerpflicht in Singapur gar nicht auswirken.« Robert fragte neugierig: »Wer hat Ihnen denn das alles erzählt?« »Ein Mann, der Botschaften auf Zigaretten erhält.« »Dann ist in seinen Zigaretten was Stärkeres drin als Tabak. Die Leute, denen das Hotel gehört, wollen Verluste so dringend wie ich Lepra bekommen möchte. Der Wirtschaftsabteilung in Singapur zufolge haben sie gerade ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, das Hotel zu renovieren. Lam steht tatsächlich unter starkem Druck, aber unter dem, Geld zu verdienen. Ein paar der anderen Unternehmen, in die das Konsortium in Singapur investiert hat, laufen nicht so gut, und das letzte, was sie wollen, ist, daß der Geldstrom aus Hongkong versiegt. Und was die Frage angeht, ob sie das Hotel wegen der Versicherungssumme niederbrennen wollen, können Sie vergessen.« Roberts schwieg einen Augenblick. »Die Polizei in Singapur meinte, man wolle aus dem, was ich Ihnen jetzt sage, nicht zuviel hermachen, weil es nicht ihre Aufgabe sei, Krisengerüchte auszustreuen, aber wenn Lam den Verstand verloren hat, steckt das ganze Konsortium von Singapur in der Klemme, falls man ihn nicht schleunigst ersetzen kann. Offenkundig ist er der ideale Mann, weil er es mit den Durchschnittsmenschen versteht oder irgend etwas in der Art –« »Ja«, meinte Feiffer sarkastisch. »Sein größter Vorzug liegt 78
unter anderem darin, daß er auch keine französischen Speisekarten lesen kann.« »Wie auch immer.« Roberts ergänzte: »Die Million Dollar mag voll versichert sein, aber das Hotel ist es nicht. Wenn euer Astronaut Brandstiftung für Gewinnzwecke betreibt, dann sind die Hotelbesitzer nicht seine Auftraggeber. Sie würden pro Dollar ungefähr einen Cent zurückbekommen.« Roberts fuhr hastig fort: »Und bevor Sie deshalb zu der naheliegenden Schlußfolgerung kommen, der Astronaut sei eine Art Saboteur von den anderen Hotels in der Kolonie, die auf die vollen Zimmer im ›Empress of India‹ eifersüchtig sind, lassen Sie sich von mir sagen, daß es in der ganzen Stadt kein Zwei- oder Vier-Sterne-Zimmer gibt, das leer stände. Alle anderen größeren Hotels haben je an die zweihundert Anfragen von Gästen aus dem ›Empress‹, denen der Gedanke, auf der Müllabfuhrliste als nächste zu stehen, nicht behagt, aber nicht eines der Hotels konnte auch nur einen einzigen Gast aufnehmen. Das war alles miteinander eine kostenlose Leistung der sonst völlig unterbeschäftigten Wirtschaftsabteilung. Erfreulich an SF-Festivals ist, daß während ihrer Dauer kein Mensch was arbeitet. Die Betrüger und Schwindler lungern allesamt im Kino herum.« Er fragte forsch: »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Kann an Lams Meinung etwas dran sein, in den Kulissen stehe schon jemand bereit, um ihn abzulösen, wenn er scheitert?« »Möglich, aber ich wüßte nicht, wer –. Sinnvoll wäre das doch nur, wenn Lam Anzeichen dafür erkennen ließe, daß er überschnappt.« Feiffer fragte: »Und die Futschou-Versicherungsgesellschaft? Teddy Wongs Unternehmen? Wo die Dollarmillion gedeckt ist?« »Ich weiß nur, daß das ein kleines Ein-Mann-Unternehmen ist. Wenn Wong eine glatte Million voll versichert hat, wird er vermutlich drei oder vier größere Versicherungen mit eingeschaltet haben. Wir haben vor etlichen Jahren einige dieser kleinen Versicherungen unter die Lupe genommen, aber ich kann mich nicht erinnern, daß Futschou damals schon existiert hätte. Wong ist erst seit kurzem im Versicherungsgeschäft tätig. Vorher war er –« Roberts zögerte und sagte: »Hm ...« 79
Feiffer wartete. »Er hat abgesahnt und eine Versicherung aufgemacht. Ob Futschou solide ist oder nicht, kann ich nicht sagen.« Er murmelte: »Augenblick mal« und sagte zu jemandem im Hintergrund: »Ah, wirklich? Danke, Alan.« Er meldete sich wieder. »Alan Cheung sagt, die Steuerfahndung könnte immer noch hinter ihm her sein. Er bezweifelt, ob eine der großen Versicherungen in Hongkong sich mit ihm einlassen würde.« Roberts fragte: »Ist das, außer für ihn, wirklich von Interesse?« »Nur, wenn er schon mal an einem Fall von Brandstiftung beteiligt war, bevor er ins Versicherungsgeschäft einstieg.« »Nein.« Roberts sagte: »Um genau zu sein, er war bei –« Plötzlich erinnerte er sich: »Mir fällt der Name wieder ein: Das war das ›Orient Dragon‹ in der Nathan Road. Es ging pleite, als die Hotelbesitzer beschlossen, ihre Dollars als Festgeld anzulegen und die Amerikaner auf immer größere Inflation hinarbeiteten. Er hat es auch sehr gut geführt, soviel man hören konnte. Ein kanadischer Freund von mir wohnte dort eine Weile und sagte, es sei ganz modern, behaglich und völlig gewöhnlich, so, wie das das ›Empress of India‹ jetzt auch ist.« Roberts sagte stoisch: »Halten Sie das für den Einfluß des Sozialismus, Harry, dieses schleichende Verkommen vori –« »Ein Hotel?« fragte Feiffer. »Das ›Orient Dragon‹? Klar. Sag’ ich doch.« »Und Teddy Wong war –« Feiffer blickte auf die Fotografie und dann zu O’Yee hinüber. »Teddy Wong war der Geschäftsführer«, bestätigte Roberts. O’Yee war von seinem Schreibtisch herübergekommen. Er nahm das kleine Foto aus Feiffers Korb und drehte es in der Klarsichthülle ins Licht. Über dem Gesicht auf dem Bild waren zwei hauchdünne Bleistiftlinien gezogen, die sich schnitten wie – Roberts sagte: »Hören Sie, Harry, wenn Sie drüben Unterstützung brauchen –« – wie das Fadenkreuz im Zielfernrohr eines Scharfschützengewehrs. O’Yee drehte das Foto um. ›Kriminal-Chefinspektor Harry Feiffer, Station Yellowthread Street, Hong Bay‹ 80
›426‹ O’Yee hörte Konstabler Yan durch den Flur vom Bereitschaftsraum kommen und vor sich hinpfeifen. Er riß die Tür auf und schrie ihn an, das Foto so schnell, wie die Menschenmassen draußen auf den Straßen das zuließen, zum Triadenbüro in der Zentrale zu schaffen. Spencer hob an der beschädigten Stelle in den linken Parkbuchten von Etage 2 ein paar Splitter Leuchtstoffröhrenglas auf und hielt sie Auden hin. »Die sind weiß, nicht?« sagte Spencer. Auden nickte. »Sie sind also nicht farbenblind.« Spencer stellte klar: »Hören Sie, die ersten sechs Opfer des Straßenräubers in Etage 2 haben seinen VW als gelb empfunden, nicht? Sie haben ihn im Rückspiegel davonfahren sehen. Stimmt’s?« Auden sah ihn finster an und nickte wider bessere Erkenntnis. »Dann sagte das nächste Opfer in Etage 3 aus – in den rechten Parkbuchten –, er sei ›blau‹ gewesen.« Einige Buchten von der Säule entfernt stand ein blauer Renault 6. Spencer deutete darauf und sagte: »Blau? Richtig? Sehen Sie das als blau an?« »Natürlich sehe ich das als Scheißblau an!« Spencer streckte die Hand aus, um ihm begütigend auf die Schulter zu klopfen. Auden wich zurück. »Dann sagte das nächste Opfer – das letzte – wieder aus, er sei gelb.« Auden gab einen Laut von sich, der an einen zum Sprung ansetzenden Bengaltiger erinnerte. Spencer erläuterte weiter: »Und dann Sie – Sie sahen ihn auf dem Bildschirm in Etage 3 davonfahren; das Fahrzeug bei eben diesem Überfall, Nummer acht –« Auden erwiderte lustig: »Ich weiß, was das für ein Scheißkarren war. Ich seh’ vielleicht nicht so verdammt gut, aber ich kann immer noch zählen!« »Sie sagten, er sei weiß.« »Er war auch weiß! Der gottverdammte Fernsehkasten da unten ist ein Farbgerät! Wenn es ein Scheiß-Schwarzweiß-Gerät wäre, hätte ich ihn vielleicht nicht als weiß erkannt, aber das ist 81
der Kasten nicht! Er ist in Farbe! Und die Rückseite von dem deutschen Scheißkarren war weiß!« »Richtig«, bestätigte Spencer mit einem Nicken. »Was, zum Teufel, heißt ›richtig‹?« Auden trat einen Schritt vor. »Hören Sie, Spencer, wenn das wieder einer von Ihren blöden Sherlock-Holmes-Tricks ist –« Spencer sagte: »Sherlock Holmes brauchte sich nicht mit Maschinen abzuplagen! Er hat alles selber herausgefunden!« »Das konnte er sich auch leisten! Bei ihm sind keine deutschen Dreckskombis in der Gegend herumgefahren und haben dauernd die Farbe gewechselt wie Drecksleoparden –« Spencer unterstützte hilfreich: »Eigentlich ist der Sinn dieses Sprichworts ja, daß Leoparden eben nicht –« Auden warnte: »Machen Sie keine Witze! Fangen Sie bloß nicht damit an –« »Nein, nein.« Spencer hob wieder ein Stück Leuchtstoffröhrenglas auf – Auden meinte: »Scheißweiß, ja?« – und dann sanft: »Schauen Sie, Phil, Maschinen sind nur dazu da, daß man die Wirklichkeit klarer sieht.« Auden betrachtete ihn skeptisch. »Es gibt keine Frage, daß sie die Wirklichkeit eigentlich verändern.« Spencer zitierte: »Esse est percipi –« »Was, zum Teufel, heißt das?« fuhr ihn Auden an. »Das heißt, daß Leoparden ihre Flecken nie verlieren.« Spencer dachte angestrengt nach. »Vielleicht heißt es, daß alle die anderen Leute den Kombi als gelb deshalb gesehen haben, weil er gelb war, und das siebte Opfer als blau, weil –« Auden blickte interessiert. Spencer ergänzte: »– weil er blau war.« Auden entfuhr ein erstauntes: »Was –?!« »Und Sie haben ihn als weiß gesehen, weil –« »Weil er nicht nur scheißgelb und scheißblau, sondern auch scheißweiß war. Stimmt’s?« Spencer nickte: »Stimmt!« »Sind Sie denn vollkommen übergeschnappt?« Spencer warf ihm seinen Holmes-Blick zu. »Also gut. Wie viele Seiten hat ein im Prinzip rechteckiger VW-Kombi?« »Vier«, sagte Auden. »Wollen Sie vielleicht behaupten –?« Er starrte auf die zerschmetterte Neonröhre am Boden und dann 82
auf die Splitter in Spencers Hand. »Wollen Sie behaupten, weil der Kombi in Etage 3 in der einen Richtung und in Etage 2 in der anderen hielt, hätte er sich verwandelt von – In Etage 3 hatte er zwei Farben, nicht eine! Blau und Scheißgelb!« Spencer lächelte. »Eine an den linken Buchten und eine an den rechten. Gerade so, als zeige er jedesmal zur raschen Flucht in verschiedene Richtungen und die verschiedenen Leute hätten verschiedene Seiten gesehen.« Auden sagte: »Und, und – bei Gott, Bill, als ich ihn auf dem Schirm sah, habe ich nur die Rückseite gesehen!« Spencer nickte weise. »Richtig.« »Er ist auf einer Seite gelb und auf der anderen blau – und hinten ist er weiß!« stellte Auden zutiefst beeindruckt fest. »Bei Gott, Bill, das ist einfach brillant! Sie haben den Fall gelöst! Ich werde nie mehr ein Wort gegen diesen Scheiß-Holmes sagen, solange ich lebe!« Auden antwortete, von Bewunderung übermannt: »Bei Gott, zum Geburtstag kaufe ich Ihnen eine Jagdmütze! Und eine Meerschaumpfeife!« Er fragte achtungsvoll, bedachtsam, bereit, dem großen Detektiv jedes Wort von den Lippen abzulesen: »Okay, jetzt wissen wir, daß er noch irgendwo im Parkhaus stehen muß. Sie können mir sagen, wo er ist. Sie ruhen sich aus und überlassen das mir und ich –« Spencer blickte auf die Scherben hinunter und zog die Schultern hoch. »Tja, nun, Phil, um ganz ehrlich zu sein, was das angeht – wo er ist, meine ich –« Spencer sagte: »So weit bin ich eigentlich noch nicht gekommen –« Auden fragte: »Was –?!« Am anderen Ende der Leitung bedauerte Mr. Tschang, der Stellvertretende Leiter Brandverhütung für Hong Bay, auf englisch: »Nein, Sir, Mr. Bell ist im Augenblick leider nicht hier. Kann ich irgend etwas für Sie tun?« »Hier ist Kriminal-Chefinspektor Harry Feiffer, Yellowthread Street.« – Tschang sagte: »Ah, ja, ich habe Sie im Hotel gesehen.« – »Ich habe gehört, daß der Anzug, den der sogenannte Astronaut trägt, eine Art leichter Brandschutzanzug sein könnte.« 83
Es entstand eine Pause, dann widersprach Tschang: »Nein, Sir. Vor mir liegt eine Zeitung mit einer Zeichnung. Man würde keine Glaskugel als Helm tragen, wenn man –« »Das ist kein Helm aus Glas. Der Straßenkehrer, der heute früh überlebte, brachte nichts Besseres zustande als die Angabe, der Astronaut hätte nicht ausgesehen wie jene, die er aus Filmen kennt. Ich habe inzwischen mit einer zuverlässigeren Zeugin gesprochen, die angibt, daß der Helm weich war. Sie behauptet, sie hätte eine solche Ausrüstung schon gesehen.« Es blieb eine Weile still, dann sagte Tschang: »Ich nehme an, das liegt nahe, wenn der Astronaut wußte, daß die Teppiche und Vorhänge im Hotel aus leicht brennbarem Nylon bestanden. Falls jemand dumm genug gewesen wäre, sie mit Wasser zu bespritzen, während sein Flammenwerfer noch in Gang war, hätte die Explosion nicht nur allen anderen, sondern auch ihm den Kopf wegreißen können.« »Ich möchte wissen, wo man in Hongkong so etwas bekommen könnte, woraus das besteht und wer das herstellt.« »Sie sind aus Asbest und unbrennbarem Plexiglas für die Sichtscheibe.« Tschang schränkte ein: »Man kann nicht einfach in einen Laden gehen und sie kaufen. Sie werden eingeführt, und man braucht eine Genehmigung. In manchen Fabriken gibt es sie. Und natürlich am Flughafen.« Er fragte: »Trug der Anzug keine Beschriftung?« »Nein.« »Dann kann er nicht von einer Fabrik oder vom Flughafen stammen. Hier besteht die Vorschrift, daß Anzüge in bestimmten Einrichtungen deutlich und unauslöschlich beschriftet sein müssen, damit die staatlichen Prüfstellen sie jedes Jahr einmal anfordern und überprüfen können.« Tschang mitteilsam: »Um sich zu vergewissern, daß sie nicht defekt sind oder man ein Stück vom Bein abgeschnitten hat, um es in der Kantine als Topflappen zu verwenden oder so, wissen Sie.« »Dann das Militär oder –« »Nein. Das Militär ist nur mit den Standardanzügen der britischen Streitkräfte ausgerüstet. Sie sind besonders schwer, für Brände in Munitionslagern oder brennende Flugzeuge und Panzer geeignet. Im Freien könnte man sich mit so einem Ding gar nicht bewegen. Und sie werden von den Notdienstleuten in den 84
verschiedenen Depots streng bewacht. Ich weiß genau, daß man sie jeden Tag überprüft.« Bevor Feiffer eine Frage stellen konnte, fuhr er fort: »Und was die unsrigen angeht – die von der Feuerwehr – hätten Sie größere Aussicht, die Kronjuwelen aus dem Tower zu stehlen.« »Sind Ihre denn von der richtigen Art?« »Sie haben mir nicht genau gesagt, welche Art Sie –« Feiffer sagte: »Sie haben es mir eben erklärt: leicht, unbeschriftet, weicher Helm und Plexiglas-Sichtscheibe.« »Sie sind von der richtigen Art.« Tschang stellte klar: »Aber uns fehlt keiner.« »In anderen Stationen führen Sie keine?« »Nein. Sie werden alle hier aufbewahrt. Wir sind das Zentraldepot von Hongkong. Um genau zu sein, ich wollte eben gehen, als Sie anriefen, und spreche hier vom Lager aus. Ich kann die Regale mit den verpackten Anzügen sehen.« Er las ab: »Fächer Eins bis Fünfundzwanzig, Fünfundzwanzig bis Fünfzig, Fünfzig bis Zweiundsiebzig ... drei ... vier ...« Er betonte: »Ja, sie sind alle da.« »Alle vierundsiebzig?« »Ja.« Feiffer wiederholte es: »Vierundsiebzig?« »Fünfundsiebzig, zusammen mit Mr. Bells Anzug. Der Anzug von Mr. Bell wird nicht hier aufbewahrt.« »Nein?« fragte Feiffer überrascht. »Wieso denn das?« »Mr. Bell ist Leiter der Brandverhütung, Mr. Feiffer. Er sucht unabhängig von der Feuerwehr die Brandherde auf. Wenn man Schutzanzüge brauchen sollte, könnte es vorkommen, daß man für ihn keinen mitgebracht hat.« Er sagte entschieden: »Das wäre sogar ganz bestimmt der Fall. Wir geben sie nur Mann für Mann aus.« »Wo bewahrt Mr. Bell dann seinen Anzug auf, wenn nicht im Lager?« »In seinem Auto.« Tschang erläuterte hilfsbereit: »Sie sind faltbar. Man könnte sie, wenn man wollte, in einer gewöhnlichen Aktenmappe unterbringen.« Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, so daß Mr. Tschang fragte: »Mr. Feiffer, sind Sie noch da?« »Bewahrt Mr. Bell den seinen in einer Aktentasche auf?« 85
»Ja. Das ist bei der Feuerwehr üblich.« »Wo ist er jetzt? Dienstlich unterwegs?« »Offiziell weiß ich das auch nicht. Mr. Bell tut so ziemlich das, was ihm beliebt.« Mr. Tschang gab andeutungsweise ein leises Glucksen von sich. »Aber ganz unter uns, er meinte, nachdem er sich im ›Empress of India‹ noch einmal umgesehen habe, sei er vielleicht ein paar Stunden zufälligerweise nicht erreichbar. Er sagte, im ›Roxy‹ laufe ein Film, den er sich ansehen wolle.« Wieder blieb es still, diesmal längere Zeit, dann fragte Feiffer sehr leise: »So? Was für einen Film denn?« Tschang antwortete: »›Das große Inferno.‹ Mr. Bell meinte, den hätte er beim erstenmal versäumt.« Wieder diese Stille. Mr. Tschang erschrak ein wenig: »Mr. Feiffer, habe ich etwas Falsches gesagt? Das geht völlig in Ordnung. Mr. Bell nimmt sich gelegentlich frei, wenn er etwas anderes unternehmen möchte. Das sind eben die Vorzüge einer höheren Stellung Das geht vollkommen in Ordnung.« Mr. Tschang versicherte besorgt: »Ehrlich, Mr. Feiffer, er arbeitet das alles wieder herein.« Konstabler Lee, an der Geldvitrine postiert, beobachtete das vierzehnte dürftig bekleidete Mädchen, dazu bestimmt, vom Monster umklammert zu werden, das auf der Suche nach bewundernden Blicken durch die Halle stakste, und sagte seufzend zu Sun: »Mir hängt das zum Hals heraus.« Er blickte auf eines der Mädchen, welches damit beschäftigt war, das Wenige zurechtzuziehen, was an der durchsichtigen Bekleidung von der Größe eines Baby-Nachthemds zurechtzuziehen war, wandte seine Gedanken der Million Dollar zu, stellte fest, daß sogar sie ihn nicht erregte, und meinte mit einem zweiten Seufzer: »Ich werde wohl alt.« Konstabler Sun nickte. Trotz durchsichtig bekleideter Damen, Haufen von Dollarscheinen und Astronauten hatte er angefangen, sich damit zu beschäftigen, daß er die Ösen an seinen Schuhen zählte. Konstabler Sun meinte versonnen: »Ich wünsch’ mir sogar, ich war’ zu Hause und höre meiner Frau zu oder schreie die Kinder an.« Eine der Nymphen ließ einen wohlgeformten braunen Schenkel sehen: »Da fällt mir ein, ich habe 86
meiner Frau versprochen, am Markt vorbeizugehen und für das große Geburtstagsessen ihres Bruders ein paar schöne Fische zu kaufen.« Er sah jemanden in Uniform hinter den Dollarbetrachtern vorbeigehen und rief, als der Mann vorüber war und zur Hintertreppe ging, die in den Keller führte: »Wie geht’s, Mr. Bell?« Er sah Bell stehenbleiben und sich überlegen, wen er vor sich hatte. »Konstabler Sun, Sir, von der Yellowthread Street.« Bell nickte. Konstabler Lee stellte sich lächelnd vor: »Lee, Sir.« Er legte kurz die Hand an die Mütze, als Bell ihm zulächelte. Sun sagte: »Fleißiger Mann, für einen Europäer.« Er zählte wieder die Ösen seiner Schuhe, als Bell zum Hotelkeller hinunterstieg. Es war drei Uhr nachmittags. Tödlich gelangweilt gähnte Konstabler Sun ausgiebig und dachte an schöne Fische für die Geburtstagsfeier seines Schwagers.
Kapitel
10
Der stellvertretende Polizeidirektor Ashwood gab am Telefon einen schnaubenden Laut von sich. Ashwood sagte leichthin: »Ich hab’ mal eine Glückwunschkarte zum Geburtstag bekommen, auf der ›Raquel Welch‹ stand, aber die war auch nicht echt.« Er hatte die Redeweise der Australier, wo das Satzende mit hoher, nasaler Stimme gesprochen wurde, bis es nach einer Frage klang. »Die Triaden unterschreiben Zielfotos nicht mit ihren Nummern oder sonstwie.« Er schwieg kurze Zeit. »Und ganz gewiß bringen sie keine Polizeibeamten um.« Feiffer brummte gereizt: »Ich habe nicht gesagt, es sei von den Triaden, sondern ich sei der Meinung, jemand wolle den Eindruck bei mir erwecken, es wäre von den Triaden.« »Dann haben Sie Ihre Frage selbst beantwortet.« Ashwood fuhr fort: »Die Zahl 426 ist, wie sie vermutlich wissen, der Code für einen Hung Kwuan – einen Kampfführer der Triaden. Abgesehen von allem anderen, ist er nicht derjenige, der sich mit der 87
Zielauswahl zu befassen hätte. Er würde eher die Messer oder Äxte für eine 49 liefern – ein gewöhnliches Mitglied – das die Tat dann ausführt.« Ashwood belehrte, gestützt auf nur allzu große Erfahrung: »Wenn die Triaden beschließen, jemand umzulegen, dann stehen sie nicht herum und schießen Bilder, sie tun es einfach.« »Sie wissen nichts über Interessen der Triaden am ›Empress of India‹?« »Wieso fragen Sie danach?« »Weil ich das Foto dort gefunden habe.« Ashwood sagte zu schnell: »Nein.« »Das ist merkwürdig, weil ich nämlich den Eindruck hatte, die Triaden-Bekämpfung ließe das Hotel überwachen.« »Von wem, zum Teufel, wissen Sie das?« Feiffer sagte zuckersüß: »Von niemandem, um ganz aufrichtig zu sein, aber das lag nicht weit daneben, wie?« Er fragte scharf: »Wo ist die Genehmigung meiner Station, damit Ihre Leute in unserem Zuständigkeitsbereich arbeiten können? Ich scheine keine erteilt zu haben.« »Ihre Station betrifft das nicht. Es hatte nichts mit lokalen Dingen zu tun.« Ashwood fragte mit heimlicher Bewunderung: »Schaffen Sie es so am besten? Daß Sie den Kerlen Trickfragen stellen?« »Nein, normalerweise prügeln wir die Geständnisse einfach aus ihnen heraus.« Ashwood schnaubte. Sein Tonfall wurde energisch. »Hören Sie, Harry, Sie wissen so gut wie ich, daß die Triaden jetzt groß im Geschäft sind. Die ganzen Tong-Straßenkämpfe an der nächsten Ecke vor der Polizeistation sind für die überholt. Sie sind heutzutage organisiert wie die Mafia – als Konzern.« »Und kaufen sich ins Hotelgeschäft ein?« »Bleiben Sie lieber beim Verprügeln, wenn das Ihre zweitbeste Fangfrage ist«, sagte Ashwood. »Soviel wir wissen, gehört das ›Empress of India‹ einer Gruppe in Singapur, die eher Steuerberater benötigt als Triaden. Nein, das Hotel haben wir aus ganz anderen Gründen überwacht.« »Aus welchen?« Ashwood schwieg einen Augenblick. 88
»Vielleicht wegen der Yakuza.« »Die japanische Mafia?« »Wenn Sie das so nennen wollen, ja. Sie tauchten einige Tage vor Beginn dieses Science-Fiction-Unsinns auf, stellten im Hotel einen Kontakt her und reisten wieder ab – nicht ohne einen kleinen Anstoß von uns, wie ich zugeben muß.« Er sagte wegwerfend: »Das war eine Sache, die nur uns betraf. Sie könnten in Ihrem Bereich nichts Furchtbareres vorgehabt haben, als sich Autogramme zu holen. Auf jeden Fall sind sie schon wieder fort.« »Mit wem sind sie im Hotel zusammengetroffen?« »Nur mit einem Geschäftsmann.« »Und der heißt?« »Warum wollen Sie das wissen?« »Ich will es wissen, weil im und in der Nähe des Hotels drei Menschen ermordet worden sind! Und das geht uns wahrlich etwas an!« »Ja, schon gut.« Ashwood fuhr fort: »Ich weiß. Ich habe heute früh mit George Bell gesprochen, und er erwähnte –« »Sie kennen Bell?« Feiffer sagte abrupt: »Ach, richtig, Sie sind auch Australier, nicht?« »Ja. Ashwood, das Aussie-Großmaul. Das bin ich.« »Sie brauchen gar nicht so empfindlich zu sein.« »Empfindlich? Ich?« Ashwood scherzte humorvoll: »Hören Sie, wenn ich ›empfindlich‹ werde, dann merken Sie das schon. Ja, ich kenne George.« Er schwieg einen Augenblick. »Wir waren sogar in Vietnam zusammen, bei Da Nag und –. Ich war bei der Abwehr, und er bei der Infanterie.« Es entstand eine kleine Pause. »Er war Feldwebel. Er hat die Militärmedaille bekommen. Ein ganz tapferer Kerl, ohne jeden Zweifel. Er hat seinem ganzen Stoßtrupp in Phuoc Tuy das Leben gerettet und –« Feiffer sagte leise: »Jack. Ich frage das sehr ungern, aber ist George Bell hier in Hongkong jemals von der ICAC überprüft worden?« »Vom Büro zur Korruptionsbekämpfung? Sicher. Ebenso wie ich auch. Sie etwa nicht? Doch alle, nehme ich an.« »Und?« Ashwood fing nun doch an, ›empfindlich‹ zu werden. Er hatte recht. Feiffer wußte davon. Ashwood sagte: »Und? Und es erwies sich, daß er vollkommen sauber war! Es erwies sich, daß er 89
vollkommen sauber war, weil er wie viele fleißige, ehrliche Trottel, auf die sich diese Schweinehunde auf das Drängen irgendeines dreckigen, kleinen, miserablen Denunzianten stürzen, total und absolut pleite war!« Ashwood fragte scharf: »Wozu stellen Sie mir Fragen über George Bell, verdammt noch mal? George Bell war der tapferste Mann, den ich je gekannt habe, und einer von den blöden Kerlen seines Stoßtrupps, den er in Vietnam gerettet hat, war ich – der Vollidiot und sogenannte Abwehrmann, der mit einem Bündel Landkarten und dummem Gesicht herumrannte, während die Scheiß-Vietkong –« »Wer war der Geschäftsmann, mit dem die Yakuza sich im Hotel getroffen haben?« fragte Feiffer. Ashwood fauchte wutentbrannt: »Wir haben in der letzten Zeit unser Pfadfinder-Verhörbüchlein aber gründlich studiert, was? Was soll ich denn tun – über Ihre Anspielungen auf meinen alten Kumpel Bell so wütend werden, daß ich die Geheimpläne für die scheißgeheime Zulukrieg-Muskete verrate, ohne auch nur eine Sekunde lang nachzudenken?« Ashwood wütete weiter: »Die Tür zu meinem Büro steht gerade offen, und ich habe eine Fata Morgana vor mir, wonach an der Scheißtür ›Polizeidirektor‹ steht!« Er machte eine Pause, damit seine Worte Wirkung taten. »Was, zum Teufel, steht an Ihrer Tür?« »Im Augenblick ›Der letzte Dreck‹«, entgegnete Feiffer ruhig. Ashwood holte tief Luft. »Die Yakuza-Vertreter besuchten im ›Empress of India‹ einen Mann namens –« »Teddy Wong?« »– Teddy Wong? Was fragen Sie mich denn, wenn Sie es schon wissen? Und bevor wir unsere Spielchen weitertreiben, will ich Ihnen gleich sagen, daß wir nicht genau wissen, warum sie zu ihm gekommen sind. In Ordnung? Wong arbeitete eine Weile als Hoteldirektor in Tokio, dann war er Geschäftsführer eines Hotels hier in Hongkong, das ›Oriental Dragon‹ in der Nathan Road, und damit hat es sich. Zur Zeit macht er in Versicherungen.« Er schwieg kurz. »Und das ist alles, was ich weiß. Wir stehen in Verbindung mit der japanischen Stelle für Bandenbekämpfung, denn wenn die Yakuza beteiligt sind, geht es um große Dinge, aber das ist alles, was ich weiß!« Ashwood sagte 90
warnend: »Sie sollten sich vielleicht einmal erinnern, daß wir beide auf derselben Seite stehen.« Er fügte mit einem Schnauben an: »Die Daumenschrauben haben mir Spaß gemacht. Mich entspannt das ungemein, wie eine gute Massage – Aber jetzt habe ich zu arbeiten.« »Tut mir leid, daß ich wegen Bell gefragt habe, Jack.« »Schon gut.« Ashwood sagte ganz ernst: »Hören Sie, Harry, ich kenne den Mann. Ich war mit ihm im Krieg, und er hat mir das Leben gerettet.« Er blieb eine Weile still, während er nachdachte. »Wir gerieten im Dschungel in einen Hinterhalt, und George –« Er verstummte und brauste plötzlich wild auf: »Nach meiner Meinung hätte er das verdammte Victory Cross kriegen müssen! Er erledigte den ganzen Trupp im Hinterhalt, während wir – wir anderen – auf den Ärschen rumhockten, im stillen Abschiedsbriefe verfaßten und uns überlegten, ob es jetzt nicht langsam an der Zeit wäre, an den lieben Gott zu glauben!« Ashwood sagte mit einer Stimme, aus der immer noch das Staunen herauszuhören war: »Er hat das gottverdammte Ding gepackt, Harry, und den ganzen Haufen damit abgemurkst, bevor man richtig zu sich kam! Er packte es einfach und blies sie bis zum letzten Mann weg wie –« Er schluckte. »Was das bei den Scheiß-Vietkong angerichtet hat, würden Sie einfach nicht glauben.« Er stellte nochmals in tiefstem Ernst fest: »George Bell war und ist der tapferste Mann, den ich je gekannt habe.« »Was war ›es‹?« »Was meinen Sie?« »Was er gepackt hat. Sie sagten, er –« »Ach so, die Waffe«, sagte Ashwood. Er fragte gereizt: »Sind die blutigen Einzelheiten wirklich von Belang?« »Vielleicht schon. Haben Sie mir die Geschichte denn nicht deshalb erzählt? Damit ich diese Frage stelle?« Es blieb eine Weile still. Er hatte zuviel gesagt. Ashwood wirkte plötzlich abwehrend. »Na und? Das war im Krieg – und liegt so lange zurück –. Sie haben wieder mal recht, was? Ja, es war ein Scheiß-Flammenwerfer! Na und? Den hat er zugeteilt bekommen! Die Scheiß-Armee aus Australien hat ihm das zugeteilt, weil er –« Ashwood sagte resigniert: »Herrgott noch mal, Harry, das ist doch nicht dasselbe, als wenn ich hergehe und baue mir so etwas, oder?« 91
Am anderen Ende blieb es still. Verzweifelt wiederholte Ashwood: »Oder?« Im Kontrollhäuschen wandte Auden sich an Klaus: »Das ist eine Blindmauer. Ganz klar. Der Kerl fährt hinter der Blindmauer mit seinem Kombi raus, macht den Überfall, fährt in dem Durcheinander wieder hinter die Blindmauer und verschwindet.« Klaus drückte die Taste an seinem Pult, um die linken Buchten in Etage 2 zu holen, stellte hier und dort Lücken fest und gab für den als nächsten zu erwartenden Kunden die elektronischen Hinweise auf die Einfahrtstafel ein. Klaus sagte ohne Begeisterung: »Eine Möglichkeit wird das ja wohl sein.« »Wir haben herausbekommen, warum verschiedene Leute den Kombi in verschiedenen Farben gesehen haben. Das kommt daher, daß jede Seite eine andere Farbe hat, und je nachdem, von welcher Seite aus man ihn sieht –« Auden beharrte: »Das ist eine Blindmauer.« »Was ist eine Blindmauer?« »Wo er sich mit seinem Vierfarb-Kombi versteckt. Er versteckt sich irgendwo hinter einer Mauer, die nur so aussieht, als wär’ sie eine Mauer, und nachdem er sein Opfer überfallen hat, verschwindet er dahinter und –. Erscheint Ihnen das nicht logisch?« »Sicher. Wenn Sie es sagen.« »Ja, ist es nicht so?« »Doch, sicher!« gab Klaus bereitwillig zu. Er drückte wieder auf einen Knopf, mehr in Verlegenheit als aus Bedürfnis. »Scheint ja sehr viel Mühe zu sein, aber schon möglich, ja, sicher, das ist logisch.« Er grinste Auden nervös an. »Ähm, wo ist denn die Blindmauer? In Etage 3?« Spencer schüttelte den Kopf. »Phil sah die Rückseite des Kombis von Etage 3 zu Etage 2 hinunterfahren.« »Also in Etage 2?« »Ah«, sagte Auden. Er sah Spencer an. »Los, Bill, erklären Sie ihm das so, wie Sie es mir erklärt haben.« Er stieß Klaus mit der Faust an. »Hören Sie sich das an ...« Spencer dachte nach und sagte gleichzeitig mit Vorsicht: »Na 92
ja, ich bin nicht sicher, ob das so wirklich stimmt –« »Dann soll Klaus es Ihnen sagen!« erklärte Auden stolz. »Los, das ist wirklich gut. Hören Sie sich das an.« Er sah zu, als Spencer sein Notizbuch zur Hand nahm und darin blätterte. Auden sagte aufmunternd: »Die ersten sechs Opfer hat es in Etage 2 erwischt, nicht?« »Richtig«, bestätigte Klaus. »Denke schon.« »So war es. Auf der linken Seite von Etage 2. Und jedesmal haben sie einen gelben Kombi gesehen – richtig?« »Richtig«, sagte Spencer. »Und das siebte Opfer wurde auf der rechten Seite von Etage 3 überfallen – und es sah einen blauen Kombi.« Er verstummte in Erwartung eines Geistesblitzes, der jedoch ausblieb. »Das heißt: Wenn der Kombi verschiedenfarbig lackiert war, müssen ihn die ersten sechs Opfer gesehen haben, wenn er in die eine Richtung, und das nächste, das siebte, wenn er in eine andere Richtung zeigte.« Ein nagender Zweifel schlich sich in seine Stimme ein. »Richtig?« Er blickte in sein Notizbuch, um sich zu vergewissern, daß er es richtig erfaßt hatte. Klaus meinte zweifelnd: »Außer natürlich, es war ein anderer VW.« Auden fauchte: »Natürlich war es kein anderer VW! Wie viele Blindmauern und bunte VW, glauben Sie, gibt es hier eigentlich?« Klaus wirkte betreten. »Um genau zu sein ... ich dachte ... es gibt ... gar keine.« Auden forderte Spencer auf: »Weiter! Weiter!« »Dann sagte das achte Opfer in Etage 3 aus – auf der linken Seite – der Kombi sei gelb gewesen.« Spencer verstummte und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Er meinte vorsichtig. »Ähm, Phil, ich glaube, in Etage 3 hätte der Kombi ... ähm, blau sein müssen ...« »Unsinn!« widersprach Auden. »Sie sind schon auf der richtigen Spur!« Klaus machte einen verwirrten Eindruck. Spencer sagte entschlossen: »Und als dann Mr. Auden denselben Kombi in Weiß sah – die Rückseite –, muß das, weil er ihn davonfahren sah, bedeuten – daß er in Etage 2, als er gelb war, in die Richtung zeigte –« Spencer sagte kopfschüttelnd: »Nein, das 93
bedeutet es ganz und gar nicht ...« Auden wurde ungeduldig: »Es ist ein Versteck, ja? Zerbrechen Sie sich wegen der Logik nicht den Kopf, das können wir später geradebiegen. Sagen Sie ihm, es bedeutet, daß da ein Versteck vorhanden ist!« Spencer, der zu spüren begann, wie er in der Asche der Niederlage versank, sagte ohne Zuversicht: »Wenn er in Etage 3 in eine Richtung zeigte und in Etage 2 in eine andere, und wenn ich –« Er sah Auden betreten an. »Phil, ich glaube, ich bin da auf dem falschen Weg ...« Auden übernahm das Kommando. Er stellte richtig: »Hören Sie zu, Klaus, es geht darum. Als Mr. Spencer auf das Dach stieg, schaute er hinüber zu den Verkehrsampeln an der Canton Road und – raten Sie mal!« Auden legte eine effektvolle Pause ein. »Und – er konnte sie sehen!« Klaus flüsterte leise: »Oh. Mann. Ähm ... gut ...« Er wich einen Schritt zurück. Auden triumphierte: Richtig! Und als er von Etage 3 noch einmal hinausschaute, konnte er sie nicht sehen, weil ein Gebäude dazwischen stand!« Auden fuhr fort: »Was halten Sie davon? Und alles andere darüber, daß der Kombi verkehrt herum auf Blindmauern zeigte, beweist das! Da oben auf Etage 3 ist nicht nur eine Blindmauer, sondern ein ganzer Fehlboden, eine Etage mehr! Aus welchem anderen Grund sollte er sonst die Ampeln nicht sehen können?« Auden stieß Spencer freundschaftlich in die Rippen. »Hm? Vielleicht erklären Sie mir das?« Klaus stotterte mit einem nervösen Lächeln: »Ich weiß nicht. Ähm ... stand er da genauso?« »Natürlich stand er genauso! Halten Sie ihn für blöd oder was?« Auden wandte sich mit einem freundschaftlichen Nicken an Spencer. »Selbstverständlich stand er ge-« Er sah Spencers Gesicht. »So standen Sie doch da, oder?« Spencer erwiderte: »Ähm, tja, hm – jetzt, wo Sie davon reden –. Nun ja, eigentlich, wenn ich die Wahrheit sagen soll –« Er sah Klaus mit einem Ausdruck der Bewunderung an. »An das hab’ ich überhaupt nicht gedacht –« »Was heißt hier, Sie haben überhaupt nicht daran gedacht?« brüllte Auden. »Ich erklärte Klaus eben, wie scheißgescheit Sie sind, und Sie sagen mir, Sie – Was heißt, Sie haben überhaupt 94
nicht daran gedacht?!« Eine Stimme aus der Durchfahrt fragte scharf auf kantonesisch: »Sie amüsieren sich hier, wie?« Es war eine kleine Chinesin, das Kleid vorn mit Glassplittern übersät. In der Hand hielt sie einen Riemen, der zu einer Fototasche gehört haben mochte. Die Frau holte tief Luft und fing an zu schreien. »Sind Sie von der Polizei? Ich bin oben in Etage 3 und werde ausgeraubt, während Sie hier unten herumstehen und sich gegenseitig anbrüllen! Ich bin gerade überfallen und beraubt worden, und ich –« Spencer fragte verzweifelt: »Der VW-Kombi – haben Sie gesehen, was für eine Farbe er hatte?« »Natürlich habe ich erkannt, welche Farbe er hatte! Ich habe ihn gesehen, als er hinter mir hielt, ich habe ihn gesehen, als er davonfuhr, und ich habe ihn gesehen, als er zum Durchgang fuhr und hier runterkam, wo die Herren ihn durchgelassen haben müssen!« Die Frau zweifelte: »Die Farbe? Schwarz! Rundum schwarz! Schwarz wie Ihre Seelen! Schwarz! Kapiert? Schwarz!« Sie fauchte: »Und ich will wissen, warum Sie ihn noch nicht erwischt haben!« Klaus klopfte Spencer beruhigend auf die Schulter, wollte ihm schon erklären, die Grundlage schöpferischen Denkens sei nicht die Logik, sondern vielmehr spontane, schlagartige Eingebung, warf dann einen Blick auf Auden und verzichtete auf seine Belehrung. Auden sagte hitzig zu Spencer: »Sie mit Ihren Scheißideen!« Die Frau ließ sich nicht beruhigen und fauchte wütend wie eine Furie: »Und es war außerdem kein Volkswagen-Kombi, sondern ein Volkswagen-Pkw!« Sie giftete: »Na, was stehen Sie hier herum? Das müßte doch einfach genug sein! Los, finden Sie das Ding!« Klaus war von Natur aus ein gutmütiger Mensch und hielt es für das mindeste, Spencer wenigstens freundlich anzulächeln. Spencer sah ihn an, und weil er auch von Natur aus ein gutmütiger Mensch war, versuchte er zurückzulächeln. Die ominöse Etage 4 im Parkhaus war vermessen, aus allen möglichen Winkeln begutachtet, durch Schläge an die Decke und Tritte auf das Dach abgeklopft, durch Geschrei, Gebrüll und langsames Zählen akustisch ausgelotet worden, man hatte den 95
Generatorraum durchsucht, den Verkehrsampel-Aspekt neu beleuchtet – und schließlich hatte sich ein Gesichtspunkt über die fehlende Etage 4 schmerzhaft deutlich herausgestellt. Es gab keine ominöse Etage 4. Auf halbem Weg durch die Buchten von Etage 3 blieb Spencer stehen. Er wandte sich nach Auden um. »Wenn der Kombi blau, weiß und gelb ist und dazu noch in die falsche Richtung zeigt und –« »Halten Sie den Mund«, zischte Auden. »– und nicht durch Blindmauern oder in geheimen Etagen verschwindet, weil es die gar nicht gibt, dann –« »Ich will es nicht hören!« »– und wenn er sich in einen schwarzen Käfer verwandelt ...« »Kein Wort mehr!« befahl Auden. »– und wenn Sie sagen, Sie hätten ihn auf dem Bildschirm nach unten fahren sehen, obwohl er nicht an uns vorbeigekommen ist –« Auden drohte: »Spencer, ich warne Sie ...« »Dann muß man als erstes erkennen, daß –« Auden sagte: »Ist das der Kombi oder der Pkw oder was, zum Teufel, sonst –« Spencer rief erwartungsvoll: »Ja? Ja?« »– dann gibt es das Fahrzeug überhaupt nicht, oder?« Spencer folgerte: »A-ha! Richtig!« »O Gott«, stöhnte Auden, am Ende seiner Geduld. »Was, zum Teufel, heißt ›richtig‹? Ich habe gehört, wie die Scheibe eingeschlagen wurde, dann hörte ich den –« Auden unterbrach plötzlich: »Eben nicht.« Auden furchte die Stirn. »Wenn ich das Glas zersplittern hörte, warum, in Dreiteufelsnamen, habe ich den VW-Motor nicht aufheulen hören, als er davonfuhr?« Er sah Spencer an. »Ich habe überhaupt keinen Motor gehört.« »Ich auf dem Dach auch nicht.« Spencer erinnerte sich, ein Funkeln in den Augen: »Wir haben ihn nicht gehört, weil –« Er wandte sich Auden mit einem plötzlichen Lächeln des Verständnisses zu. »Die Zeit in den kleinen, grauen Gehirnzellen –« »Sherlock Holmes?« fragte Auden. »Hercule Poirot.« Spencer sagte: »Wir haben ihn nicht gehört, weil –« Er griff plötzlich unter seine Jacke und zog den Revolver 96
heraus. »Sie haben recht! Sie haben es durchschaut! Wir haben ihn nicht gehört, weil – weil es ihn gar nicht gibt!« »Aber ich hab’ ihn gesehen! Ich –« Auden, wieder in die Irre geleitet, sagte plötzlich: »O nein, mein Freund! Diesmal erklären Sie mir, was, zum Teufel, Sie da zusammenfaseln!« Spencers Funkeln wandelte sich zu einem entschiedenen Leuchten. »Ich fasele von –« Er klappte das Magazin heraus und entnahm ihm eine einzelne Patrone, »– von dem kleinen Mann, der –« Er rezitierte fröhlich: »Als ich die Trepp’ nun stieg hinab, sah ich den kleinen Mann, den es nicht gab. Heut’ war er wieder schon nicht dort, ging’ er nur endlich wieder fort.« Er trat vor, die Patrone wie einen Bleistift in der Hand, und ritzte ein Kreuz in eine der Säulen, die zur Durchfahrt führte, und ein zweites in den Boden der Durchfahrt selbst. »Ich fasele von –« Er entdeckte einen kleinen Fiat Bambino in der Mitte einer der Buchten, schaute hinein und stellte fest: »A-ha! Natürlich, genau an der richtigen Stelle! Sehen Sie das Seitenfenster von dem Fiat dort?« fragte er Auden. »Ich möchte, daß Sie es einschlagen!« »So? Wem gehört er denn?« Spencer blickte kurz durch die Heckscheibe des Fahrzeugs. »A-ha! Dem Banditen!« »Der Bandit hat einen Volkswagen!« Spencer lachte: »A-ha-ha-ha!« »Wenn das der Wagen des Banditen ist, dann wissen Sie, wer der Bandit ist!« Auden, wider Willen erneut im Strudel, fragte scharf: »Warum nehmen wir ihn dann nicht einfach fest?« »Weil wir nicht können.« »Warum nicht?« Spencer sagte fröhlich: »Ah, ha-ha, ha-ha! Wir können ihn deshalb nicht festnehmen, weil, ganz offenkundig –« »Was? Was?« fragte Auden ungeduldig. Auf dem Rücksitz des Autos lagen stapelweise Zeitungen und Zeitschriften in irgendeiner fremden Sprache. »Was? Was?« bohrte Auden weiter. 97
Der Fiat sah fabrikneu aus, unberührt, vielleicht sogar, wenn er recht hatte, bis zum letzten Heller bei einem Mietkauf-Wucherer bezahlt. Spencer sah ihn an, grinste und sagte leichthin: »Ganz offenkundig deshalb, Phil, weil – weil es keinen Banditen gibt!« In der Einfahrt vor dem Kontrollhäuschen kam ein Wagen herauf. Er hörte den Motor aufheulen, als der Fahrer an der Steigung herunterschaltete, und wirkte glücklich. Im Dienstraum hatte Feiffer in Druckbuchstaben zwei Namen auf sein Löschblatt geschrieben, beide eingerahmt von Gekritzel und Fragezeichen. Anthony Lam? Teddy Wong? Er warf einen Blick auf das Telefon, schrieb noch einen Namen darunter und setzte auch hinter ihn ein Fragezeichen. ›Leiter der Brandbekämpfung George Bell?‹ Es war 15.45 Uhr, und der nächste Schritt des Astronauten von seinem Ziel noch knapp acht Minuten entfernt. In den Haftzellen blickte Der Grüne Schleim auf seine Uhr und begann erneut zu schluchzen.
Kapitel
11
In Zimmer 517 des ›Empress of India‹ sagte Hideki Shimada San, seinen Whisky-Soda schlürfend, ganz entschieden: »Nein, es ist unbestreitbar, daß wir auf einen Schlag mindestens zweitausend Leute hinmetzeln müssen.« Shimada, ein älterer Japaner, bekleidet mit einem Tausend-Inseln-Hawaiihemd, antwortete: »Man findet einfach keine Leute zum Umbringen. Wenn du heute in Tokio keinen geeigneten Platz ausfindig machst und die Opfer zusammenholst, kommt die Polizei daher und verlangt deine Genehmigung von der Stadt und die Sprengstofflizenz, und wenn du ein paar schwere Waffen einsetzen willst, damit die japanische Armee das Monster besiegen kann, kommt die japanische Armee daher und erklärt, sie heiße jetzt ›Selbst98
verteidigungskräfte‹, und nach den international abgeschlossenen Verträgen dürfe sie nicht über schwere Waffen verfügen.« Er seufzte. »Und wenn du sie umgebaut hast, beschließt die Rote Armee, die schweren Waffen zu stehlen, dann kommt wieder die Polizei daher –« K. S. Mukherjee, der ihm in einem Sessel gegenübersaß, sagte: »In Indien haben wir mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Mrs. Gandhi meint, wenn im Film gezeigt werde, daß das Gute über das Böse triumphiert, dann müßte das sie sein.« Er fragte: »Wird in dem Film, den Sie koproduzieren wollen, eine Großstadt ausgelöscht?« »Jokohama, Mysore und Delhi.« »Fein!« freute sich Mukherjee. »Bauchaufschlitzen?« Für Japaner war das ein eher heikles Thema. Shimada überlegte: »Hmm. Wir können das unterbringen, wenn Sie wollen.« »Das müßte schon sein, wenn wir die Sikh-Zuschauer interessieren wollen.« »Okay.« Eine Hand wäscht die andere. Shimada berichtete: »Das Monster, das wir vorsehen, ist eine Art Menschenfresser. Gibt es irgendein Tier, das es wegen Indien nicht anrühren sollte?« »Bei Kühen wären wir nicht so begeistert.« »Gut!« sagte Shimada. »Und bei Schweinen auch nicht.« »Okay.« »Aber gegen Menschen besteht natürlich kein Einwand«, sagte Mukherjee schnell. »Gut.« »Und Sie?« fragte Mukherjee. »Wenn wir den Film machen, werden wir natürlich ein bißchen umschreiben wollen. Gibt es da irgend etwas, was den japanischen Zuschauern nicht angenehm sein könnte?« Shimada dachte eine Weile über den Geschmack des japanischen Publikums nach. »Nein, nichts.« »Großartig.« Mukherjee nippte an seinem Glas und kam zu dem Schluß, daß die Sache hier bestens lief. »Okay, wir können das am indischen Zensor alles vorbeischmuggeln, vorausgesetzt, wir sprengen nicht Delhi, sondern Kalkutta in die Luft. Wäre Ih99
nen das recht?« Shimada sah ihn verwundert an. »Der Zensor stammt aus Delhi.« Mukherjee fuhr fort: »Gut, ich habe also Ihr Wort, daß es mindestens eine gute Bauchaufschlitzung gibt, ordentlichen Kannibalismus, jede Menge Gemetzel unter den Massen und Schießereien, und daß die Helden – ein indischer Insektenfachmann und ein japanischer Unterwasser-Spezialist – das Ungeheuer in gleichem Maße überwinden, ja?« »Einverstanden«, sagte Shimada. »Solange nicht geküßt wird«, erklärte Mukherjee. »Küssen lassen die indischen Zensoren auf keinen Fall durchgehen.« »Oh«, entfuhr es Shimada. Er dachte an das Pornogeschäft in Tokio. »Die japanische Klassik hat eine lange Geschichte des –« Mukherjee, kein Mann, der Hindernisse dort aufbaute, wo sie vermieden werden konnten, entschied: »Für das Tittengeschäft können wir eine zensierte Fassung mit Statisten anfertigen. Den Teil können wir hier in Hongkong drehen.« Shimada nickte ernsthaft. Mukherjee sagte, nachdem der Handel abgeschlossen war, bedauernd: »Es tut mir leid, daß ›Mukherjee-Gopol-Mukherjee‹ hier bei den Uraufführungen keinen Film einsetzen kann – aber wir hatten kürzlich ein wenig Arger mit einer unserer Vertragsschauspielerinnen, die uns wegen Äußerungen in der Presse über ihr Sexualleben verklagte.« Er schaute sich um. »Wo haben Sie denn ›Die Ionosphäre zerfällt‹?« Shimada sagte: »Schmilzt.« Er wies in die Richtung, wo sein Bett stand. »Unter dem Bett. In Tokio hätte ich ihn in einem Verleihsafe aufbewahrt, aber bis die Premieren hier von den Verleihern besucht worden sind, habe ich keinen Verleih.« Er senkte die Stimme: »Nach allem, was ich höre, bezahlt die Hälfte der Verleiher in Hongkong Schutzgelder an die Triaden, und wenn ich den Film bei einem von denen lassen würde, käme er in Raubkopien auf den Markt, bevor man –« er wollte sagen ›Banzai rufen kann«, überlegte es sich aber anders. »Bevor man indisch-japanische Koproduktion sagen kann.« Es wurde an die Tür geklopft, und Shimada erklärte: »Das sind sie jetzt wohl, um mir mitzuteilen, daß der Zweite Weltkrieg noch gar nicht zu 100
Ende ist und japanische Filmrechte unter die Rubrik ›Nachkriegs-Reparationen‹ fallen.« Das Klopfen wiederholte sich. Mukherjee sagte: »Wohl eher der Scheiß-Astronaut, der uns die Filmrechte seiner Lebensgeschichte verkaufen will.« Er fragte: »Soll ich?« »Danke.« Shimada ging hin und schenkte Whisky nach. »Wenn es der Hoteldirektor ist, soll er ein paar Kulis mit Vorschlaghämmern rauf schicken, damit sie die Steinbrocken in meiner Matratze zerkleinern.« Er spritzte Sodawasser in den Whisky. »Wenn es eine meiner Ex-Frauen ist –« Er blickte sorgenvoll auf Mukherjee, während dieser durch das Zimmer ging, und dachte an die indischen Moralbegriffe: »Sagen Sie ihnen, sie wären Schwindlerinnen, und ich hätte keine Ex-Frauen.« Er hörte die Tür aufgehen. Die Siphonflasche war fast leer. Er drehte den Kopf zur Tür und fragte gereizt: »Also, wer ist es denn?« Es war der Astronaut. Er hielt seinen Mini-Flammenwerfer in der Hand. Der Astronaut stand vor der offenen Tür und starrte sie durch seine schwarze, undurchsichtige Sichtscheibe an, die Waffe in der Hand – ruhig und regungslos. Der Astronaut schüttelte den Kopf und hob die freie Hand im Silberhandschuh an den Helm, um die Gesellschaft zum Schweigen zu bringen. Die Düse hob sich. Ein Knacken. Shimada ließ die Siphonflasche fallen. Mukherjee und Shimada erstarrten vor Entsetzen, die Kehlen ausgedörrt. Im Kontrollhäuschen wandte Spencer sich in ernsthaftem Ton an Klaus: »Ich glaube, ich hab’s. Ich glaube, alle Opfer des Banditen sind im Irrtum. Der VW-Kombi war gar nicht gelb.« Er blickte auf die Kamera-Steuerung und streichelte darüber. »Ich habe versucht, das logisch zu betrachten, wie ein Computer, und bin zu dem Schluß gekommen, wenn der Volkswagen nicht nur eine Einbildung ist – muß er weiß sein.« Er lächelte Klaus erwartungsvoll an. Klaus sagte interessiert: »Oh?« »Ja, ich habe alle Informationen wie ein Computer durch mein 101
Gehirn laufen lassen, und mir ist klargeworden, einer der wichtigsten Faktoren bei jedem der neun Überfälle, der mir entging, war der, daß ein ganz normaler Mensch schlagartig unter stärksten Druck gesetzt worden ist, und die Leute deshalb einen Fehler gemacht haben könnten. Dann ging ich alle anderen verfügbaren Daten durch und kam zu dem Schluß, daß der eine ausgebildete, zuverlässige Beobachter, der das Fahrzeug gesehen hat – nicht unter Druck, sondern ganz ruhig und deutlich hier auf dem Bildschirm – also Mr. Auden – ihn als weiß gesehen hat.« Er machte eine Pause und wirkte besorgt. »Ich gelange also zu der Schlußfolgerung, daß es sich bei dem beteiligten Fahrzeug um einen weißen VW-Kombi handelt und alle anderen sich geirrt haben.« Er blickte in Richtung Decke. »Mr. Auden überwacht in Etage 2, weil er glaubt, der Verbrecher werde dort das nächste Mal zuschlagen. Wir brauchen jetzt nur noch eine gute Beobachtung, dann ist alles klar.« Spencer sagte mit einem Anflug von Enttäuschung in der Stimme: »Sherlock Holmes hätte das Aufkommen der Maschine nicht bekämpft, sondern begrüßt.« Klaus erwiderte: »Ich hatte eigentlich immer den Eindruck, Holmes sei eher ein bißchen von Wissenschaft besessen gewesen als von Deduktion.« »Sie haben natürlich recht.« Spencer fuhr fort: »Wir stellen uns alle die Welt so vor, wie wir sie gerne hätten, aber in Wirklichkeit, logisch gesehen, datenmäßig, enthält sie nur eine einzige Wahrheit, und das ist die Wahrheit, die uns die Maschinen vermitteln. Ist es nicht so?« Klaus freute sich überglücklich: »Ja, das ist wahr!« Spencer lächelte ihn zufrieden an. »Die einzige Alternative zu der unausweichlichen Schlußfolgerung, daß das Fahrzeug ein weißer VW-Kombi sein muß, ist, daß – daß es überhaupt nicht existiert.« Er gluckste in sich hinein. »Das brächte mich wieder auf Feld eins mit der Blindmauer und dem Fehlboden.« »Ich glaube, das haben Sie schon voll abgedeckt«, meinte Klaus. »Wenn es hier eine falsche Wand gäbe, wüßte ich davon.« Er zeigte auf ein kleineres Gerät. »Das ist ein Fahrzeugzähler. Er zählt, wie viele Autos hinein- und wie viele wieder hinausfahren. Wenn es eine zusätzliche Etage gäbe, würde er anzeigen, daß hier nicht genug Fahrzeuge geparkt waren, als ich den 102
Knopf ›Parkhaus überfüllt‹ drückte, und die Eigentümer würden über mich herfallen.« Er sagte grinsend: »Wenn ich in Australien ein Parkhaus finde, wo es diese Zähler nicht gibt, mauere ich vielleicht eine Etage zu, vermiete sie für eine Million Dollar im Jahr und behaupte, das Parkhaus sei überfüllt, wenn das gar nicht stimmt.« Mit einem Lächeln meinte er: »Nein, gegen die Maschine kommt man nicht an – wenn es ernst wird, nicht.« Spencer nickte zustimmend. »Wo, sagten Sie, befindet sich Auden jetzt?« fragte Klaus. »In Etage 2.« »Um ganz ehrlich zu sein, Mr. Spencer«, sagte Klaus, »ich hatte den Eindruck, es sei eher Mr. Auden als Sie, der für die Maschinen eintritt.« »Ich bin nicht in einem so eingefahrenen Gleis, daß ich nicht erkennen könnte, wie die Zukunft beschaffen sein wird, wenn man sie mir vor die Nase hält!« Eine Kolonne von Autos fuhr durch die Sperre und nach oben, von dem elektronischen Pfeil und der Anzeigetafel auf Etage 2 verwiesen. Spencer meinte: »Mr. Auden kann sie im Auge behalten, wenn sie parken.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schien zu zählen. »Das Parkhaus ist wirklich gut angelegt – von der Einfahrt bis ganz oben dauert es nur ungefähr dreißig Sekunden.« »Wieder der Fehlboden?« fragte Klaus mit einem harmlosen Lächeln. »Ja«, erwiderte Spencer verlegen. Er grinste einfältig. »Ich fürchte, wenn ich mir einmal etwas in den Kopf setze –« »Das Parkhaus ist von einem Computer entworfen worden«, erklärte Klaus. »Deshalb klappt alles so gut.« Spencer erwiderte traurig: »Ja, ja ...« Seine Miene hellte sich auf. »Alles, was ich brauche, ist ein weißer VW-Kombi ...« »Und wenn Sie den nicht bekommen?« meinte Klaus vernünftig. »Es gibt hier keine mysteriösen Etagen oder Wände, und wenn Sie noch so angestrengt danach suchen –« »Dann wende ich den Rest meines Lebens dafür auf, herauszufinden, wie das gemacht wird!« erklärte Spencer voll Überzeugung. »Holmes hätte das keine fünf Minuten lang vor ein Rätsel gestellt, also dürfte es bei mir nicht länger dauern als fünf Wochen.« Mit wachsendem Zorn fuhr Spencer fort: »Wenn es 103
sein muß, quetsche ich jedes einzelne Opfer aus, bis ihnen die Augen herausquellen. Wenn es sein muß –« »Aber Sie haben doch schon gesagt, daß man sich nicht auf sie verlassen kann«, wandte Klaus ein. »Daß sie gesagt haben, der Kombi sei gelb und blau und schwarz und was noch alles gewesen ist, weil –« »Wenn es sein muß, zwinge ich sie, das alles unter Hypnose noch einmal zu durchleben«, sagte Spencer, »durch Wahrheitsserum –« »Aber er ist weiß. Sie sagten, Mr. Auden sei der einzige zuverlässige Zeuge-« »Außer ihm hat ihn keiner weiß gesehen!« »Ich!« betonte Klaus. »Ich habe ihn eine Sekunde lang auf dem Schirm gehabt, als Mr. Auden ihn sah, und da war er auch weiß.« »Ich weiß nicht.« Spencer spitzte die Lippen. »Ich weiß nicht recht ...« »Und wenn Sie ihn selbst gesehen hätten?« fragte Klaus. »Ah, dann wüßte ich genau, daß er weiß ist. Dann wüßte ich genau, daß den Zeugen nicht klar war, was sie dahergeredet haben.« Spencer sagte entschlossen: »Dann wüßte ich, daß es wirklich einen Volkswagen gibt und daß er weiß ist und auf irgendeine Weise an uns vorbeikam.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich wüßte, daß es keinen Fehlboden und keine Blindmauer hier gibt, wo er die Farbe wechselt und entschwindet.« Klaus überlegte kurz. Er dachte angestrengt nach und zog die Schultern hoch. Er sagte: »Hmm, vielleicht gibt es doch eine Blindmauer –« Er blickte auf sein Pult hinunter. »Wenn nicht, habe ich langsam den Eindruck, daß Sie sämtliche Opfer die nächsten zwanzig Jahre pausenlos verhören.« »Fünfundzwanzig«, sagte Spencer fest. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Hmmm ...« machte Klaus. Irgendwo oben in Etage 2 oder 3 zersplitterte plötzlich mit erschreckendem Krach Glas, und Klaus ächzte: »Mein Gott, noch einer!« Spencer stürzte zum Pult und begann Tasten zu drücken. Das Bild auf dem Schirm zerfiel in zuckende Linien und Schnee. Klaus schob ihn beiseite und stellte das Bild vom Erdgeschoß wieder her. Spencer vermutete: »Nein, es war hoch oben! 104
Schnell, Etage 3 – schnell!« »Aber Mr. Auden ist doch in Etage zwei!« »Schnell, bevor Mr. Auden nach Etage 3 kommt. Diesmal sehen wir es selber!« Spencer trieb zur Eile: »Los doch, verdammt, wollen Sie die nächsten fünfundzwanzig Jahre hierbleiben? Geben Sie mir den weißen VW-Kombi in Etage 3 – schnell!« Klaus drückte auf einen Knopf, und da stand er. Klaus rief: »Da! Sehen Sie! Er fährt zum Mittelgang! Mr. Auden ist noch nicht da. Er ist weiß! Sehen Sie!« Klaus riß die Tür auf. »Schnell, hinterher!« Spencer drehte sich an der Konsole mit einem bösen Lächeln um. Er überlegte einen Augenblick und sagte dann mit einem Schulterzucken träge: »Nein, warten wir, bis er herunterkommt.« Er sah Klaus vortreten, um sich über das Pult zu beugen. »Lassen Sie sich die Mühe abnehmen, die anderen Etagen heranzuholen.« Er drückte ein paar Knöpfe. »Oder auch die anderen Buchten in Etage 3.« Noch eine Taste – Spencer gab sich gespielt überrascht: »Ach du meine Güte, der weiße VW scheint verschwunden zu sein.« Er beugte sich vor und legte den Finger auf den Schirm. »Und jetzt kann ich, Wunder über Wunder, sehen, wo ich vor nicht einmal zehn Minuten die Kreuze in die Säulen geritzt habe.« Er drehte den Kopf und hielt Klaus’ Augen mit ehernem Blick fest. »Die Kreuze müssen genauso verschwinden können wie der weiße VW, weil einen Augenblick vorher, als ich den VW flüchten sah, die Kreuze nicht dagewesen sind!« Der Schirm zeigte Auden an der eingeschlagenen Fensterscheibe des Fiat, seinen Revolver in der Hand, während er der Reihe von Kreuzen nachsah, die zu den Säulen führten. »Ach, du ahnst es nicht – Mr. Auden scheint das jetzt auch begriffen zu haben – denn er hat die ganze Zeit in Etage 3 gestanden – er war derjenige, der beim Fiat das Fenster eingeschlagen hat!« Spencer griff unter den Kittel, zog die Handschellen heraus und legte sie bedeutungsvoll auf das Pult. Mit einer Stimme, die Widerspruch nicht duldete, befahl er: »Kommen Sie her und zeigen Sie mir den Knopf für die Videoaufzeichnung.« Er sah, daß Klaus protestieren wollte. »Die Videotaste, die ein Magnetband einspielt, auf dem ein weißer VW in Etage 3 spurlos verschwindet!« Er fuhr Klaus an: »Es hat niemals einen Banditen oder einen VW gegeben, wie? Die Opfer 105
haben ihre Autoscheiben selbst eingeschlagen und – was dann? Die Wertsachen, die angeblich geraubt wurden, im Kofferraum versteckt?« Klaus seufzte tief. »Unter der Rückbank.« »Wie, zum Teufel, sind Sie darauf gekommen, das Ding als gelb zu beschreiben? Und blau? Und schwarz? Und – wo Sie die ganze Zeit das Magnetband einspielen konnten, um zu beweisen, daß es weiß war?« »Die blöden Hunde verstanden nicht richtig Englisch. Der erste meinte, ich hätte gesagt, es sei ein gelber Kombi, und der nächste –« Mit wachsendem Ekel vor der Menschheit sagte Klaus: »Die unglaublichste Dummheit der Menschen im Gegensatz zu den Maschinen ist, daß sie sich alle für so superschlau halten und einfach nicht begreifen, wie –« »Ja, ja!« beschwichtigte Spencer maliziös. »– wie –« Klaus’ Stimme verklang. »Wie blöd sie in Wirklichkeit sind ...« Spencer schaltete auf die Amtsstimme um. »Daran können Sie denken, wenn Sie vor der Verhandlung gegen Kaution freigelassen werden und Sie Ihr kaputtes Autofenster bezahlen müssen.« Er nickte vor sich hin. Das war nur recht und billig. Spencer folgerte: »Maschinen sind an Ihrem Platz ja ganz in Ordnung, aber wenn es darum geht, ein schwieriges Problem zu lösen –« »Was für ein Autofenster?« fragte Klaus. »Am Fiat Bambino in Etage 3. Das ist Ihr Auto. Ich hielt es nur für richtig und angemessen, wenn ein Autofenster zerschlagen werden sollte, um zu zeigen, wie das gemacht wurde, dann konnte es nur recht und billig sein, daß es Ihr Auto war.« Spencer spielte sich in onkelhaftem Ton auf: »Für Sie ist das eine wertvolle Lehre – ein überlegenes Menschengehirn zu erleben, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen. Und wenn Sie meine Meinung hören wollen: Ich halte es einfach nicht für eine gute Sache, daß Kinder schon in der Schule Taschenrechner und alles mögliche haben. Dadurch verkümmert das Gehirn. Ich habe das selbst erarbeitet, daß das Ihr Auto war, weil es erstens deutsche Kennzeichen hatte, zweitens stapelweise Computer- und Elektronikzeitschriften auf dem Rücksitz lagen, und drittens –« 106
»Ich besitze gar kein Auto«, stellte Klaus ungerührt richtig. »Sie sind vorläufig festgenommen«, erklärte Spencer. »Ich muß Sie darauf hinweisen, daß alles, was Sie sagen –« »Ich sage Ihnen, ich habe überhaupt kein Auto! Ich hab’ nicht mal einen Führerschein!« »Unsinn«, wiegelte Spencer ab. Er sah Auden mit zufriedener Miene auf das Kontrollhäuschen zukommen und rief: »Phil, das war sein Wagen, nicht?« »Sicher. Sie haben das nachgeprüft. Sie haben es gesagt.« »Nein, ich habe die Schlußfolgerung gezogen wegen der –« Klaus, vom Elend überwältigt, rief: »Fangen Sie bloß nicht an, mir auch noch Autodiebstahl anzuhängen! Alles, was ich getan habe, ist eine kleine Betrügerei. Sie brauchen nicht herzugehen und mich als eingefleischten –« »Was heißt, Sie haben die Schlußfolgerung gezogen?« wollte Auden wissen. »Sie haben von außerhalb beim Zentralcomputer angerufen, sich die Einzelheiten geben lassen und –« Seine Augen wurden schmal. »Nein?« Er sah Spencer den Blick senken. Er sagte fassungslos: »Sie haben gesehen, daß der Fiat deutsche Schilder hatte und –« Spencer meinte hastig: »Hm, nein, eigentlich hatte er Kennzeichen von hier, aber ein – ein Nationalitätenkennzeichen hinten.« Er grinste nervös. »Mit ›CD‹ etwas. Das heißt ›Soundso – Deutschland.‹« Er sah Audens Gesicht. »Etwa nicht?« Soundso ... Deutschland ... Stets in Form, selbst im Augenblick des Triumphs, bedachte Spencer von der Baker Street auch alle anderen ... Spencer sagte drängend: »Ja! Soundso ... Deutschland ...!« Oder ... ... oder ... Spencer nickte mit erstickter Stimme: »Oder, oder –« Corps ... Diplomatique ...? Auden, der mit zornrotem Gesicht auf und ab wippte, die Indizien von Glasscherben und zerkratztem Revolverlauf an seiner ganzen Person, schrie: »Sie haben nicht beim Zentralcomputer zurückgefragt? Sie haben einfach –« Auden brüllte aus voller Lunge: »Heiliger Herrgott im Himmel, Spencer, was glauben Sie, wozu Maschinen da sind?« 107
O’Yee hob den Kopf, blickte durch die offene Tür des Dienstraums und rief entsetzt: »Das ist er! Er ist wieder ausgebrochen!« »Wer?« fragte Feiffer. »Er! Scheiß-Houdini! Der Grüne Schleim!« Der Grüne Schleim stand im Bereitschaftsraum am Telefon und sagte auf chinesisch: »Sind Sie sicher? Steht das fest?« O’Yee schrie: »Sie! He, Sie!« In seiner Hast, hinter dem Schreibtisch hervorzukommen, riß er einen Stapel Unterlagen herunter. »Sie!« Als er zur Tür hinausstürmte, rief er Feiffer zu: »Bei Gott, jetzt weiß ich, wer ihn diesmal festnimmt – ich nämlich!« Die Hand Des Grünen Schleims am Telefonhörer zitterte vor Angst. Der Schleim wiederholte auf kantonesisch immer wieder: »Sind Sie sicher? Steht das fest?« »Hab’ ich dich!« brüllte O’Yee. Er packte Den Grünen Schleim am Flossenkragen und riß ihn herum. »Bei Gott, diesmal wirst du mir verraten –« O’Yee riß dem Mann den Hörer aus der Hand und knallte ihn an sein Ohr: »Wer ist da? Melden Sie sich! Wer sind Sie?« Am anderen Ende wurde aufgelegt. O’Yee hielt Den Schleim im Würgegriff. Er drehte das abstoßende Maskengesicht des Mannes zu sich herum und fuhr ihn an: »Sie! Wer hat Sie festgenommen? Bei Gott, wenn Sie nicht auf der Stelle –« Der Schleim sagte ächzend: »Spezialkonstabler Jenson Ho!« O’Yee sah Feiffer an der Tür des Dienstraums stehen und beschloß, Den Schleim nicht vor Zeugen zu erwürgen. O’Yee kreischte: »Ich weiß nicht einmal, was, zum Teufel, Sie überhaupt in der Zelle zu suchen hatten!« »Gar nichts!« Der Schleim riß sich los und sprang keuchend zurück, entschlossen, O’Yees Krallenhänden auszuweichen. »Ich war ohne Grund dort! Ich versuche Ihnen klarzumachen, wer mich festgenommen hat, und Sie hören nicht einmal zu!« Der Schleim, am Ende seiner Beherrschung, brüllte: »Spezialkonstabler Jensen Ho – der hat mich festgenommen!« Er sah O’Yee eine Bewegung in seine Richtung machen, und plärrte, um ihn aufzuhalten: »Deshalb bin ich überhaupt verhaftet worden. Spezialkonstabler Jensen Ho –« O’Yee außer sich: »Wer, zum Teufel, ist Spezialkonstabler 108
Jensen Ho?« Der Schleim zögerte einen Augenblick, warf einen Blick auf das stumme Telefon und holte tief Luft. Der Grüne Schleim gab preis: »Ich bin es. Ich bin Spezialkonstabler Jensen Ho.« Er fand es ein wenig enttäuschend, daß der andere bei den vielen kleinen Hinweisen, die er ihm gegeben hatte, das nicht gleich von Anfang an erkannt hatte. In der Hotelhalle nahm der gequälte Ausdruck auf Konstabler Lees Gesicht an Stärke zu. Er stand mit zusammengepreßten Knien da, die Hände am Koppelschloß verkrampft, und lautmalte anschaulich: »Oh ... ah ... uah ...« Er sah Konstabler Sun an. Sun fiel ein: »Aiih –!« Er grimmassierte, das Gesicht qualverzerrt, und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Sie ... auch?« Lee steuerte ein »Mmmm – ah« bei. Ein wenig abseits der Dollarmillion gab es einen Korridor mit Hinweispfeil und einer kleinen gemalten Darstellung der männlichen Gestalt an der Wand. Lee stöhnte: »Wenn ich nicht bald gehe, platze ich!« Sun nickte und stimmte zu: »Mmm – iah ...« Sein Gesicht färbte sich rot. Lee blickte plötzlich himmelwärts. »Es hat keinen Zweck, ich muß! Wenn einer die Million stehlen will, dann soll er sie eben stehlen.« Lee erklärte mit verzweifelter Miene: »Ich muß! Er drehte sich um und hastete auf die bildliche Darstellung zu. Sun, dessen überbeanspruchte Blasenmuskeln ihn an seinem Platz festnagelten, flüsterte zischend: »Um Himmels willen, Beeilung!« Auf der anderen Seite der Halle, in der Bar, spülte ein Barmann Gläser. Das Geräusch des laufenden Wassers beraubte Sun beinahe der Vernunft. Als Lee durch den magischen Korridor der puren, gesegneten Erleichterung entgegenhastete, rief Sun in flehendem Gebet: »Beeilung! In Gottes Namen – Beeilung!«
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Die Waffe des Astronauten auf sich gerichtet, waren Shimada und Mukherjee an die Flurwand im fünften Stock gepreßt und schoben sich zur offenen Treppenhaustür. Die Waffe des Astronauten folgte ihnen. Sie spiegelten sich dunkel in der schwarzen Sichtscheibe des Astronautenhelms. Shimada bemühte sich, dem Astronauten zu erklären: »Wir sind nicht die, für die Sie uns halten ... wir sind niemand ... wir sind ...« Er stieß gegen einen kleinen Tisch und warf ihn beinahe um. Er packte im letzten Augenblick die umstürzende Lampe darauf. Shimada stammelte: »Das ist nur –! Ist nur eine ... Lampe ...!« Mukherjee prallte an der Wand gegen ihn und gab ihm den Stoß, den der Astronaut hoffentlich nicht bemerkte. Mukherjee flüsterte: »Um Gottes willen, nichts sagen! Nur ...« Shimada schien durch den Tisch aufgehalten zu sein. Mukherjee japste: »Weiter, weiter –!« Der Astronaut hörte ein Geräusch. Sein Kopf zuckte herum zum Lastenaufzug am Ende des Flurs. Shimada sagte beschwichtigend: »Da ist nichts! Das ist nur –« Die Düsenöffnung des Astronauten richtete sich wieder auf ihn. »Keine Sorge! Das ist nur –« Er stieß mit dem Fuß an – gegen eine Steckdose –, preßte die Hände flacher an die Wand und schob sich vorbei wie ein Kind, das fürchtet, vom unberechenbaren Vater geschlagen zu werden. »Das ist nichts – nur ein –« Er sah die offene Tür zum Treppenhaus: »Ehrlich, wir machen genau das, was uns –« Er dachte, der Astronaut wüßte vom Treppenhaus vielleicht nichts. Er blieb stehen und überlegte, ob er Mukherjee opfern und die Flucht ergreifen könnte. Mukherjee stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Los! Los!« Shimada fühlte sich mit den Handflächen wie an die Wand geklebt. Das Treppenhaus war keine drei Meter mehr entfernt. Shimada fühlte, wie sein Mund auf und zu klappte. Kein Ton kam heraus. Shimada bekam vor Angst Schluckauf und stieß hervor: »Können wir ... die Treppe runter ...?« Der Astronaut, regungslos, lauschend, nickte. Shimada bedankte sich: »Danke, danke ...« Er gab eine Reihe glücklicher Hi-hi-Laute von sich und nickte Mukherjee glücklich zu. Voll Überschwang verbeugte er sich vor dem 110
Astronauten und sagte nochmals: »Danke, o danke –« Aus der Mündung des Flammenwerfers schien Flüssigkeit zu tropfen. Mukherjee fauchte irgendwo aus seiner ausgetrockneten Kehle: Weiter doch, Sie japanischer Scheißkerl!« Die Treppe war von Shimadas rechter Hand kaum eineinhalb Meter entfernt. Mukherjee drängte mit einer Folge atemloser Grunzlaute: »Los, los, los!« Shimadas Hand berührte den Türstock zum Treppenhaus. Er blieb stehen. Die Waffe des Astronauten folgte ihm und kam ebenfalls zum Stillstand, stets auf seine Brust gerichtet. Shimada flehte: »Frau und ...« Von Schluckauf geschüttelt: »Wir sind ganz kleine Fische, wir sind –« Er schlurfte einen Schritt weiter und stand mit dem Rücken zur offenen Tür in die Freiheit. »Können wir –?« Der Astronaut hob die Düse ein wenig. Er schien zu überlegen. Mukherjee tastete vorsichtig: »Dürfen wir – ähm ...?« Die Waffe zielte genau auf Shimadas Brust und bewegte sich, um auf Mukherjee zu zielen. Es knackte. Der Astronaut nickte. Die Botschaft war klar: Stirb oder lauf wie der Teufel. Shimada und Mukherjee prallten an der Treppe beinahe zusammen und rannten wie die Teufel. Im Dienstraum drängte Der Grüne Schleim: »Meine Frau und die Kinder – die Triaden. Ich –« Er fuhr mit der Hand über die Stirn und zog die Gummi-Schleim-Maske von Wangen und Stirn. »Sie, ich –« Er atmete tief ein. »Ich bin Spezialkonstabler Jensen Ho und habe mich selbst verhaftet, damit ich schuldlos bin, damit er nicht –« Er starrte O’Yee beinahe haßerfüllt an. »Aber Sie waren zu dumm, um dahinterzukommen, wer ich bin!« »Ich weiß immer noch nicht, wer Sie sind!« »Ich bin Jensen Ho!« »Wer, zum Teufel, ist Jensen Ho?« »Der Spezialkonstabler, der –« Feiffer ergänzte langsam: »– der bei der Hongkong Tresorund Geldschrank-Company arbeitet.« »Ja!« Der Schleim wandte sich an O’Yee. »Warum konnten Sie nicht dahinterkommen? Ich bin der Mann, den die Polizei 111
heranzieht, wenn ein Tresor geöffnet werden muß oder es ein Schloß gibt, das –« Er öffnete die Hände in stummem Appell an alles, was vernunftbegabt war auf der Welt. »Wer sonst in der ganzen Kolonie kann eine Zellentür öffnen, wenn er nur einen Nagel oder ein Streichholz und ein Stück Schnur hat? Ich bin Spezialkonstabler Jensen Ho!« »Was haben Sie in den Zellen gemacht?« fragte Feiffer. »Mich versteckt. Ich suchte Schutz vor –« Der Schleim wischte mit der Hand Schweiß von seiner Stirn. »Ich dachte, er nimmt an, ich sei unterwegs verhaftet worden. Ich bekam einen Anruf von ihm. Wenn ich nicht mitmache, würden die Triaden meine Familie umbringen. Deshalb ging ich in eine der Zellen – damit er meint, ich wolle zwar mitmachen, hätte aber unterwegs Pech gehabt und sei festgenommen worden.« Er wandte sich O’Yee zu. »Deshalb habe ich geschrien und gebrüllt und bin ausgebrochen – damit Sie mich zusammenschlagen und das echt aussieht. Und Sie haben es nicht getan! Sie waren so beschäftigt, daß Sie nicht einmal überlegt haben. Ich wollte, daß Sie erraten, wer ich bin – aber das haben Sie nicht getan!« Der Schleim fuhr fort: »Es sind die fünfundvierzig Millionen Dollar! Das Schloß an dem Kasten mit den fünfundvierzig Millionen Dollar!« Feiffer sah ihn mißtrauisch an. »Das an dem Kasten im Hotel ›Empress of India‹!« Der Schleim, hilfloses Opfer der gesammelten Dummheit auf der Welt, zischte: »Wo denn sonst?« »Welche fünfundvierzig Millionen Dollar in welchem Kasten im Hotel? Es gibt eine Million in einer –« »Er sagte, es gehe um fünfundvierzig Millionen US-Dollar, und er sei von den Triaden, und wenn ich bei so viel Geld das Schloß nicht für ihn öffnen würde, während er für ein Ablenkungsmanöver sorgt, sei das Leben meiner ganzen Familie keinen einzigen –« »Wer?« fragte Feiffer. Der Schleim verzweifelte beinahe, während sich seine Augen mit Tränen füllten: »Er! Der von den Triaden! Er sagte, er werde verkleidet sein als – er sagte, er –« Der Schleim starrte O’Yee an und flehte: »Was sollte ich denn sonst tun? Ich wußte keinen anderen Weg, mich da herauszuhalten und gleichzeitig meine Familie zu schützen. Ich habe –« Schlagartig sank er wie ein ange112
stochener Luftballon auf einen Stuhl und schien zu schrumpfen. Sein Gesicht war tränenüberströmt. »Er schlug vor, er wolle sich auf dem Parkplatz bei der Fliegenden Untertasse mit mir treffen.« Der Grüne Schleim – Spezialkonstabler Jensen Ho – gab endlich preis: »Der Astronaut. Teddy Wong. Er drohte, wenn ich nicht mitmache, bringt er meine Familie um.« Er fragte: »Was hätte ich denn sonst tun sollen?« Es hatte keinen Sinn mehr. Er konnte keinen Augenblick länger durchhalten. Konstabler Sun machte sich mit zusammengebissenen Zähnen auf den Weg zu den Toiletten, in der Hoffnung, dem zurückkommenden Konstabler Lee zu begegnen. Er blickte kurz zurück auf die Dollarmillion. Alles schien friedlich zu sein. Er sah die Tür mit der Aufschrift ›Herren‹ in Chinesisch und Englisch und drückte sie dankbar auf. Eine Stimme kreischte auf englisch in höchstem Entsetzen »O nein!« und Sun fuhr herum. Er sah einen Inder und einen gedrungenen Japaner am Ende des Korridors voll Grausen in die Halle, Richtung Lastenaufzug, hinausstarren. Wieder gottverdammte Irre, Vampire und Werbegags. Sun ging in die Herrentoilette und warf die Tür hinter sich zu. Menschen stoben auseinander. Die Waffe des Astronauten zielte genau auf die Vitrine mit der Million Dollar, und die Traube von Dollarmillion-Betrachtern stürzte unterwegs nach Unbekannt auseinander. Die fünf Treppen, die sie eben hinuntergerannt waren, winkten Shimada und Mukherjee, und sie drehten sich im vollen Lauf um und hetzten sie wieder hinauf. Aus der Mündung des kleinen Flammenwerfers tropfte kaum merklich klare Flüssigkeit. Der Astronaut wartete, bis alle davon gehastet waren, zog den Abzug durch, ließ das Benzin wie Sturmwind um den Geldkasten toben und verwandelte die Million Dollar darin zu Asche. Der Korridor lag unmittelbar hinter der Geldvitrine. Die Druckwelle des explodierenden Benzins riß die Tür zur Herrentoilette aus den Angeln, fetzte in den großen, wandlangen Spiegel im Inneren, verfehlte Konstabler Lee knapp, fegte ihm über die Haare und verstreute Splitter aus Glas und Holz überall auf den geschrubbten, fleckenlosen weißen Bodenfliesen. 113
Kapitel
12
Das Tauchermesser stammte von der Wand der ›Lagunen‹-Bar des Hotels. Eine schwere, zweischneidige Waffe mit dickem Stahlgriff, die laut klirrte, als Teddy Wong sie aus der Messingscheide zog und bereithielt. Sonst war Zimmer 511 leer. Er blieb vor der Tür zum Bad stehen, das Messer stoßbereit, und legte die freie Hand auf den Türknopf. Bevor dieser sich drehte, überlegte er es sich anders und ließ sich auf die Knie nieder, um durch den Spalt unter der Tür zu blicken. Es war dunkel. Wenn er dort auf ihn wartete, hatte er das Licht gelöscht. Wong überlegte einen Augenblick lang. Das Licht konnte nur von außen ein- und ausgeschaltet werden. Er stand wieder auf und starrte den Lichtschalter an. Aus. Wenn er dort auf ihn wartete, war er bei ausgeschalteter Beleuchtung hineingegangen und stand im Dunkeln. Wong ließ sich durch den Kopf gehen, wie die Hotel-Badezimmer aussahen – alle gleich: links ein Handwaschbecken, das WC der Tür gegenüber, Fliesenboden, Dusche und Badewanne in einer Nische auf der rechten Seite, hinter einem Plastikvorhang. Wong berührte die Messerspitze und legte den Kopf an die Tür, um zu lauschen. Ganz schwach tropfte Wasser. Er legte die Hand wieder auf den Türknopf und drehte ihn ein kleines Stück, bevor der Schnapper gefaßt wurde und leicht knarrte. Wong fuhr mit der Zunge über die Lippen, übte ein wenig mehr Druck auf den Türknopf aus und brachte den knarrenden Laut zum Verstummen. Als die Tür aufging, war das Tröpfeln im gefliesten, fensterlosen Raum laut zu hören. Wong knipste das Licht an und starrte mit harten, glitzernden Augen auf den geschlossenen Duschvorhang. Er lauschte auf Atemzüge. Der Heißwasserhahn am Becken links von ihm tröpfelte pausenlos in das Becken. Wong umklammerte das Messer fester, spannte die Muskeln an, trat vor und ergriff den Duschvorhang. Sein Herz ratterte wie ein Dampfhammer. 114
Er riß den Vorhang zur Seite. Nichts. Das Zimmer, das der Astronaut als zeitweiligen Bereitschaftsraum benutzte, mußte Zimmer 512 sein, nebenan. Teddy Wongs Lippen zitterten vor Angst. Er spürte, wie die Übelkeit von seinem Magen hochstieg. Ohne das Messer loszulassen, erbrach er sich, von Krämpfen geschüttelt, in die WCSchüssel. Die Stimme des Commanders am Telefon in der Hotelhalle klang befehlend: »Harry, Sie müssen das Hotel evakuieren, damit ist der Fall erledigt.« Der Gestank nach schwelendem Teppich, geschmolzenem Glas und Kunststoff hing noch immer lastend in der Halle. Feiffer hustete dicken, ölig-schwarzen Rauch aus der Lunge und fragte scharf: »Wohin? Wohin soll ich die Leute evakuieren? Ich mußte mich eben am Empfang vorbei durch eine Traube von Gästen drängeln, die nicht evakuiert zu werden brauchen – sie gehen ganz freiwillig. Aber der Haken bei der Sache ist, daß man sie wegen des Festivals nirgends unterbringen kann!« »Dann muß eben die Armee sie aufnehmen.« »Welche Armee? Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, Neil, als ganze Kavalleriebrigaden überall im Empire verstreut stationiert waren, wir sind in den guten, alten achtziger Sozialisten-Sparjahren. Ich bezweifle, ob die Armee bei ihrer derzeitigen Stärke in Hongkong eine streunende Katze aufnehmen könnte, geschweige denn an die zwölfhundert Menschen aus einem Hotel mit sechshundert Zimmern.« Er sah Ashwood in der Halle kurz stehenbleiben, um etwas mit Tschang zu besprechen. »Es hat den Anschein, daß wir jetzt ein paar konkrete Spuren erhalten –« Der Commander fragte zurück: »Was für Spuren? Etwa von der Art, daß Ihnen ein Irrer in Gummianzug, der sich Grüner Schleim nennt, erzählt, ein Versicherungsmann namens Teddy Wong wolle von ihm, daß er einen Glaskasten mit fünfundvierzig Millionen Dollar öffnet – den es gar nicht gibt – damit eben derselbe Wong ihn mit einem Flammenwerfer in die Luft jagen kann? Oder daß –« Feiffer schwieg. »– oder daß der Astronaut Triade-Visitenkarten in Aufzügen 115
liegenläßt und die Triaden-Bekämpfung Ihnen erklärt, das sei das letzte, was die Triaden tun würden? Oder daß noch ein Verrückter Botschaften in Rauch und Feuer erhält, die ihm sagen, daß –« »Das war Wongs Werk«, entschied Feiffer. »Ich habe mit Lam noch einmal über die Botschaften gesprochen. Jedesmal, wenn er eine erhielt, scheint Wong aus dem einen oder anderen Grund ein paar Minuten vorher in seinem Büro gewesen zu sein. Da Wong eigentlich sein Freund war, kam er nicht auf –« »Aber laut Wong sind die Geldgeber in Singapur die Drahtzieher. Und allen anderen verläßlichen Quellen auf der Welt zufolge sind sie es nicht! Ich spreche das Selbstverständliche ungern aus, wenn die Million über Wong versichert ist, aber wo ist der Gewinn, wenn er sie verbrennt oder stiehlt?« »Ich weiß nicht.« »Ich weiß, daß Sie’s nicht wissen. Der Astronaut – oder wie er sich in seinen Wahnsinnsphantasien sonst nennt – hat nur ein Ziel, ein einziges Ziel, nämlich, ganz Hong Bay in Brand zu stekken, und das gedenke zumindest ich nicht zuzulassen!« Feiffer betonte entschieden: »Neil, er hat zwei Filmproduzenten im fünften Stock nicht verbrannt, er ist wegen des Geldes bis in die Halle heruntergekommen. Wenn er ein reiner Psychopath wäre –« »Er ist ein Psychopath! So verhält sich ein Psychopath – ohne jede vernünftige Erklärung –« »Im fünften Stock gibt es keine Sprinkler, weil die Teppiche und Vorhänge da oben nicht aus Nylon bestehen, sondern –« »Na und?« »Wenn er das Gebäude niederbrennen und – oder wahllos die Massen niedermetzeln wollte, warum, zum Teufel, hat er es dann nicht längst getan? Wenn er im fünften oder sechsten Stock abgedrückt hätte, wäre das Ganze hochgegangen wie eine Rakete. Die Tatsache, daß er sich darauf zu beschränken scheint, nur in den Etagen vorzugehen, wo es verläßliche automatische Brandbekämpfungsanlagen gibt, deutet darauf hin, daß –« »Daß was?« »Na ja, daß er jedenfalls nicht das Hotel niederbrennen wird!« 116
»Was wird er denn dann tun?« »Das weiß ich nicht!« Er sah, daß Ashwood herüberschaute, und senkte die Stimme: »Hören Sie, Wong war mit Lam zusammen, als das Geld eingeäschert wurde. Laut Lam war Wong, gelinde ausgedrückt, verblüfft. Ich glaube, wenn Wong in die Sache verwickelt sein sollte, ist irgendein Betrug im Gange –« »Auf welcher Seite?« »Das weiß ich nicht. Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, das ganze Zeug mit Triaden und Dollarmillionen und der japanischen Jakuza könnte auch einfach eine Art –« Er hätte beinahe von einer ›Nebelwand‹ gesprochen. »Ich könnte mir vorstellen, daß da jemand dahintersteckt, der –« Es war sinnlos. Feiffer sagte unverblümt: »Die einzige Person in der Kolonie, die nach meiner Ansicht Zugang zu einem Brandschutzanzug der richtigen Art hat, ist George Bell.« Einen Augenblick lang herrschte betäubtes Schweigen, dann sagte der Commander ruhig: »Was haben Sie da eben gesagt?« »Er soll im ›Roxy‹ sein und sich einen Film ansehen, der ›Das große Inferno« heißt –« Der Commander erwiderte kalt: »Da ich Bell kenne, dann ist er zweifellos auch dort.« »Der Haken dabei ist nur, daß der Geschäftsführer im ›Roxy‹ mir am Telefon mitgeteilt hat, zur Zeit werde ›Das große Inferno« gar nicht gezeigt!« Bevor der Commander reagieren konnte, sagte er schnell: »Und auch sonst nirgends in ganz Südostasien! Die Kinos zeigen alle SF- und Horrorfilme. ›Das große Inferno‹ ist ein Katastrophenfilm.« Feiffer stieß das Messer tiefer hinein. »Und George Bells Auto, weit davon entfernt, an irgendeinem Kino zu stehen, ist vor diesem Hotel auf der Straße geparkt!« »Wollen Sie mir weismachen, George Bell sei der Astronaut?« Der Commander wütete: »Ich kenne Bell seit Jahren!« »Jeder kennt Bell seit Jahren!« Feiffer sah Ashwood herüberblicken, bemüht, mitzuhören. »Ich mache Ihnen nur klar, was sich herauszuschälen scheint. Einer meiner Konstabler berichtete mir, daß Bell vor dem Brand in der Halle gesehen wurde, und er war –« »Dann war er eben –« 117
Feiffer verzweifelte fast: »Neil, der Grund, warum wir dieses Hotel nicht von oben bis unten durchsucht haben, ist der, daß ein Brandschutzanzug von der Art, wie der Astronaut ihn verwendet, in eine Aktentasche oder ein kleines Kästchen hineinpaßt. Bells eigener Anzug wird laut Tschang auf dem Rücksitz seines Wagens in einer Aktentasche transportiert. Das lasse ich gerade prüfen.« Er schwieg einen Augenblick. »Und als Bell hier hereinkam –« »Finden Sie diesen Scheiß-Wong!« »Das versuche ich ja!« »Dann fragen Sie Wong nach Bell!« Der Commander warnte: »Bei Gott, Harry, wenn diesem Mann etwas untergeschoben wird, das er nicht getan hat – dieser Mann ...« »Ja, er war der tapferste Mann, den Sie je gekannt haben«, ergänzte Feiffer. Nach einer Pause murmelte der Commander leise: »Ja, das war er. Eine Nichte von mir steckte die Wohnung ihrer Eltern drüben in Leigthon Hill mit Streichhölzern an, die sie in einer Schublade gefunden hatte –, und die Feuerwehr wollte nicht rein, der Dämpfe wegen, und wenn George Bell nicht gewesen wäre –« Er erteilte einen Befehl. »Finden Sie diesen ScheißWong, und selbst wenn Sie es aus ihm herausprügeln müssen, ich will wissen, daß Bell mit der ganzen Geschichte nichts zu tun hat!« Er unterbrach sich kurz, um nicht vom Thema abgebracht zu werden. »Und wenn Sie nicht in den nächsten paar Stunden zu irgendeiner Schlußfolgerung gekommen sind, ob Ihnen das paßt oder nicht, Theorien hin, Theorien her – dann lasse ich das ganze Scheißhotel und alles ringsumher schneller evakuieren, als Sie ›Der Untergang der Titanic‹ sagen können!« »Ich bin nicht sicher, ob er nicht genau das erreichen will!« »Was er will! Hier zählt nur, was ich will!« Der Commander befahl mit ungewohnt tyrannischem Gehabe: »Und das ist, was Sie betrifft, Feiffer, die wahre Stimme des lieben Gottes! Ist mir egal, ob Sie alle Türen von sämtlichen sechshundert Scheißzimmern aufbrechen müssen –« Feiffer sagte abrupt: »Fünfhundertachtundneunzig –« »– Sie machen es! Finden Sie Wong! Finden Sie ihn und holen Sie die verdammte Wahrheit aus ihm heraus – und vergessen Sie vor allem George Bell, Himmeldonnerwetter! Verstanden?« 118
Die Reste der Dollarmillion versanken im Schlamm aus Sprinklerflüssigkeit und Schaum. Feiffer sah Ashwood darauf hinunterstarren. Auden und Spencer standen draußen bei Bells Fahrzeug. Feiffer sagte leise zum Commander: »Ja, Sir«, legte sacht den Hörer auf und ging zu Ashwood hinüber. Auf der Straße meinte Auden: »Sie können doch lesen, ja?« Er wies mit starrem Zeigefinger auf das amtliche Kennzeichen des grünen Range Rover, abgestellt in der Nähe der Einfahrt zum vorderen Parkplatz des Hotels. »Das ist die Zulassungsnummer, die Sie auf Ihren kleinen Zettel geschrieben haben, ja?« Spencer bestätigte zum drittenmal: »Ja! Wollen Sie ihn sehen?« »Nein, ich will ihn nicht sehen! Ich könnte ja farbenblind sein oder so was! Das ist das Kennzeichen, richtig?« »Richtig!« Auden trat an die Seite des Fahrzeugs. Sie trug ein Abzeichen mit dem Symbol der Feuerwehr von Hongkong. Darunter stand in kleiner Schrift: ›Leiter Brandverhütung, Hong Bay – Dienstfahrzeug.‹ Auden sagte: »Richtig? Kein gottverdammtes ›CD‹ oder ›DC‹ oder – das ist das Abzeichen, richtig?« Spencer wiederholte: Richtig!« Auden holte tief Luft. »Na gut.« Er zog seinen langläufigen Revolver aus der Gürteltasche, schaute sich um, ob die Luft rein war, und sagte pessimistisch: »Also gut, dann los ...« Das Fenster der versperrten Beifahrertür explodierte mit einem Knall, als er den Revolverlauf niedersausen ließ. Keine Aktentasche mit einem Brandschutz-Asbestanzug. Einen grauenhaften Augenblick lang, bis er die Registrationskarte im Handschuhfach las, fürchtete Auden, Spencer hätte ihn schon wieder zum falschen Fahrzeug geführt. Im Labyrinth der Kellerräume unter der Hotelhalle blieb George Bell aufmerksam stehen. Es roch ganz schwach nach Benzin. Er ließ sich auf die Knie nieder und legte das Ohr lauschend auf den Boden. Nur das Vi119
brieren des Verkehrs auf der Scraße war zu vernehmen. Er blickte nach hinten zum Lastenaufzug. Er schnupperte. Am Ende des Hauptkorridors befand sich eine Stahltür mit der chinesischen und englischen Aufschrift: Eintritt verboten. Er schnupperte wieder, ging darauf zu, öffnete die Tür, blickte nach hinten, um sich zu vergewissern, daß niemand in der Nähe war, und trat ein. Auf dem Boden des kleinen Raums lag ein kurzes Stück Schnur. Er band die Tür damit fest, um sie gegen Eindringlinge zu sichern. Es war 16.43 Uhr, und seit 7.10 Uhr an diesem Morgen hatte der Astronaut im Verlauf von weniger als zehn kurzen Stunden drei Menschen ermordet. Beginnend ab 17.08 Uhr sollte er im Verlauf von zehn noch kürzeren Minuten, wenn sich nicht drastisch alles zum Besseren wendete, noch einmal drei Menschen töten. In der Hotelhalle schüttelte Polizeidirektor Ashwood den Kopf und sagte: »Quatsch! Was für fünfundvierzig Millionen Dollar?« Er schaute sich in der Halle um und sah nur eine Menschentraube am Empfang und die letzten Feuerwehrleute mit ihren Löschgeräten und Äxten den Teppich bearbeiten. »Wofür halten Sie das: für irgendeine zweitklassige Verfilmung des Scheißstoffs ›Das vergrabene Gold der Nazis‹? Vielleicht könnten ein paar von den Kerlen dort am Empfang, die um ihre kostbaren Filmspulen jammern, fünfundvierzig Millionen Dollar für ihren nächsten ›Krieg der Sterne, Teil VI‹ zusammenbringen, aber ganz bestimmt tragen sie das Geld nicht mit sich herum!« Er dachte an George Bell. »Mir ist scheißegal, ob es um fünfundvierzig Millionen Dollar oder um fünfundvierzig Millionen Krapfen geht, Bell ist einfach nicht beteiligt!« Auden und Spencer erschienen am Haupteingang. Auden schob eben seinen Revolver in den Gürtel. Ashwood, der Feiffer in ihre Richtung rasch den Kopf schütteln sah, rief: »Sie da! Kommen Sie her!« Spencer machte ein erschrockenes Gesicht und sagte hastig: »Nein, er ist auf George Bell zugelassen! Ehrlich!« Ashwood fragte: »Was ist auf George Bell zugelassen?« Er fuhr herum und funkelte Feiffer an. »Sie haben seinen Wagen 120
durchsucht, was?« Spencer berichtete: »Wir haben nur eine Scheibe zerschlagen. Er war abgesperrt –« Auden schüttelte den Kopf: »Keine Aktentasche.« Er sah Ashwoods Gesicht und dachte einen Augenblick lang, er sei von der Internen Überwachung. »Sind Sie bei –« Feiffer entgegnete mit ruhiger Stimme: »Das ist Polizeidirektor Ashwood von der Triaden-Bekämpfung. Er ist hier, um auf Mr. Bell aufzupassen – ohne Rücksicht darauf, wer recht oder unrecht hat.« »Da haben Sie verdammt recht!« meinte Ashwood. »Wo, zum Teufel, ist er dann?« »Im Hotel! Wenn da der Brand ausgebrochen war, ist er da auch!« »Warum sehe ich ihn dann nicht?« »Weil er sich bei Ihnen nicht zu melden braucht, deshalb sehen Sie ihn nicht!« Er bemerkte, daß Auden die Waffe berührte. »Wenn Sie das Ding noch einmal anrühren, Freundchen, nehme ich es Ihnen weg und wickle es Ihnen um Ihre Drecksohren!« – Auden spottete: »So, was? Wirklich?« Ashwood versicherte: »Verlassen Sie sich drauf!« Feiffer sagte gelassen: »Keiner schießt Bell nieder, gleichgültig, was er getan hat –« »Und was hat er getan?« »Im Augenblick nichts. Ich möchte mit ihm nur über ein paar Dinge reden – beispielsweise über einen verschwundenen Brandschutz-Anzug.« Feiffer erklärte mit Nachdruck: »Hören Sie, Jack, ich kenne Bell nicht so gut wie Sie – oder wie andere Leute ihn zu kennen glauben –, aber ich bin nicht bereit, ihn nur deshalb nicht mehr zu verdächtigen, weil Sie das sagen. Ich weiß mit Gewißheit nur, daß der Astronaut einen Brandschutz-Anzug trägt, daß Bell mit einem solchen ausgerüstet ist, von dem ich nur annehmen kann, daß er ihn bei sich hat, daß er nicht ist, wo er sein sollte, und anhand der Tatsache, daß Sie hier sind und seine Interessen vertreten, daß er sich wahrscheinlich irgendwo in diesem Scheißhotel befindet!« »Ich bin hier, weil –« Ashwood sagte abrupt: »Na gut. Er ist hier. Einer meiner Leute, die auf die Yakuza achten, sah ihn mit dem Auto ankommen und rief mich an, aber das ist auch schon 121
alles. Wenn Ihre Leute ihn vor dem Brand haben herumlaufen sehen, dann kann er meinetwegen hier gewesen sein, um für seine alte Großmama ein Zimmer zu reservieren!« Ashwood befahl: »Finden Sie diesen Saukerl Wong, das wäre Ihre Aufgabe!« »Das habe ich schon veranlaßt, um genau zu sein.« Feiffer sagte zu Auden: »Sie und Bill gehen in die fünfte Etage, finden O’Yee, verteilen sich auf die Korridore und versuchen Bell zu finden.« Er sah Ashwoods Gesicht. »Und Sie, Sir, bleiben freundlicherweise hier!« Im Nachhinein fügte er noch an: »Schaffen Sie O’Yee her.« Er sah Lam mit einem glücklichen Lächeln auf sich zukommen und rief ihn zu sich, um ihm eine Frage zu stellen. Lam sagte triumphierend: »Ich bin nicht für die Klapsmühle reif. Es war von Anfang an Teddy Wong.« Er legte die Hand auf Ashwoods Schulter, der sie abschüttelte. Lam jubelte überglücklich zu Feiffer: »Ich bin normal. Ich bin so normal wie Sie.« Feiffer stellte Lam eine einzige Frage. Die Antwort bestand aus Zahlen. Die zweite Zahl lautete ›512‹. Im Zimmer 512 wartete Teddy Wong hinter der Tür, das Messer in der Hand. Seine Knie zitterten. Sie fühlten sich weich an. Er legte die Hand auf den Türknopf und drehte ihn, um sich zu vergewissern, daß die Tür noch abgesperrt war, dann ging er zum Bett und setzte sich. Vorhänge und Fenster waren offen. Er ging hastig durch das Zimmer und schloß sie, dann holte er den Taifun-Sperriegel unter dem Bett hervor, verschraubte ihn an den Scheiben und zog die Vorhänge zu. Dreckiger, hinterlistiger – Einen Augenblick lang glaubte er, sich erbrechen zu müssen. Die Badezimmertür stand offen. Er ging hinüber, schloß sie und löschte das Licht. Dreckiger, hinterlistiger – er spürte, wie die Entschlossenheit nachließ. Am liebsten hätte er die Hände gegen seinen Kopf gepreßt und geweint. Seine Brust juckte, dann fingen in nervöser Übereinstimmung die beiden Schulterblätter an. Er packte sein Hemd an der Brust und zerknüllte es. Er schaute sich nach einer Möglichkeit um, wie der Astronaut eindringen könnte, und fand 122
keine. Er ging zum Badezimmer hinüber, öffnete die Tür und urinierte im Dunkeln in die WC-Schüssel, unablässig lauschend, den Kopf zur offenen Badezimmertür zurückgewandt. Er hatte Todesangst. Das schwere Messer wurde immer wieder schweißfeucht. Er zog den Reißverschluß zu, wollte spülen, fürchtete den Lärm, kehrte ins Zimmer zurück und ließ die Badezimmertür hinter sich zuschnappen. Nirgends ein Versteck. Er glaubte die Vorhänge in Bewegung zu sehen. Im Badezimmer brannte Licht, entstand ein Geräusch, dann war wieder alles vorbei. Wongs Fäuste öffneten und schlossen sich krampfartig um den Messergriff. Er hörte vor der Tür gedämpfte Schritte und dann ein Geräusch, als lehne sich etwas an die Tür und versuche sie zu öffnen. Die Vorhänge bewegten sich. Er hörte den metallenen Taifunriegel am Fenster knirschen, dann drang ein Geräusch aus dem geschlossenen Badezimmer. Wong stöhnte: »O Gott, o Gott, o Gott ...« Wimmernd legte er sich auf das Bett und rollte sich zusammen zu einer Kugel. Während er darauf wartete, getötet zu werden, grub sich sein Messer immer wieder in die Matratze. Wong schaute auf die Uhr, aber ihr bloßes Vorhandensein an seinem Körper entsetzte und ekelte ihn. Er riß sie vom Handgelenk und schleuderte sie, so weit er konnte, an den unbewegten schweren Vorhang am Fenster. 16.57 Uhr. Die Uhr, ein teures Produkt der besten japanischen Chip-Technik, nicht im geringsten beeinträchtigt, tickte weiter, als sei nichts geschehen. In dem abgesperrten Raum im Keller ächzte Bell: »Nein –!« Das war nicht möglich. Er mußte sich irren. Niemand konnte im Ernst erwägen –. Er mußte sich irren. In dem kleinen Raum waren zwei 150-l-Benzinfässer gelagert, Treibstoff für den Notgenerator. Er griff nach dem Schraubverschluß des ersten Fasses und öffnete ihn. Er überprüfte das zweite Faß. Die Fässer enthielten den Gesamtvorrat des Astronauten an 123
Benzin, und er war restlos verschwunden – alle dreihundert Liter. Bell preßte ungläubig die Hand an die Stirn und ächzte wieder: Nein ...!« Wong, die Hände an die Schläfen gepreßt, stand unweit der abgesperrten Tür und schrie: »Bitte! Bitte! Es spielt keine Rolle!« Er hörte vor der Tür ein Schlurfen, dann wurde am Knopf gerüttelt. »Bitte! Ich habe ein Messer! Ich schwöre, ich bringe Sie um, bevor Sie abdrücken können! Bitte!« Seine Schläfen pochten, pulsierten wie ein Ballon. Er preßte den Kopf mit den Händen und schrie im Schädelgewölbe: »Bitte! Mir ist alles egal! Ich vergesse das! Sagen Sie ihnen, ich vergesse es!« Er kannte die Yakuza. »Ich vergesse es! Ich werde kein Wort sagen! Das Geld ist mir egal. Bitte!« Er glaubte zu erkennen, wie die Tür im Takt mit seinen Schläfen pulsierte, als der Astronaut auf der anderen Seite seine Düse wie eine Lötlampe gebrauchte und Stück für Stück die Schichten von Firnis und Holz und Furnier durchtrennte, um zu ihm durchzudringen. Das Holz warf sich, wurde lebendig. Wong kreischte: »Du Saukerl, du hast mein ganzes Geld verbrannt!« Der Türknopf rasselte wie eine Glocke ohne Klöppel. Wong schrie: »Du hast mein ganzes Geld verbrannt!« Das Messer lag neben ihm auf dem Boden. Er riß es an sich. Er hörte in seinem Gehirn eine Explosion, und schlagartig wurde alles kühl und frisch und klar. Wong sagte: »Du hast mein ganzes Geld verbrannt, und dafür bringe ich dich um.« Die Tür warf sich gar nicht. Das sah er. Das Holz warf sich nicht. Nirgends loderte Feuer. Der Astronaut hatte kein Benzin mehr und stand einfach da, ohne zu wissen, was er tun sollte, während er, Wong, mit einem Messer in der Hand – Wong brüllte, am äußersten Rand des Abgrunds: »Du Dreckschwein, ich schneide dir das Herz aus dem Leib!«, riß die Tür auf, und mit einer plötzlichen, alles verschlingenden Explosion von Chaos und Dunkelheit und Qual glaubte er im selben Augenblick, das Hotel sei auf irgendeine Weise, aus einem völlig unerklärlichen Grund, über ihm zusammengestürzt, und er war tot. 124
Kapitel
13
Im fünften Stockwerk sagte Auden mit weit aufgerissenen Augen: »Um Gottes willen, Chef, mit was haben Sie ihn denn getroffen – mit ’ner Axt?« Blut floß reichlich von Wongs Gesicht, und Auden sprang zur Seite, um nicht hineinzutreten. »Ich habe ihn mit dem Revolvergriff getroffen. Er ging mit dem Ding da auf mich los.« Das Riesenmesser lag seitlich neben der offenen Tür zu Zimmer 512. Feiffer rief Spencer zu, der das Innere durchsuchte: »Ist was?« »Nichts.« Spencer kam heraus, steckte den Revolver ein und trat in das Blut. »Wir schaffen ihn am besten hinunter, damit ihn sich einer ansehen kann.« Spencer sagte: »Doktor Macarthur war unten und unterhielt sich mit einem Filmproduzenten. Ich hab’ ihm auf dem Weg hier rauf gesagt, er soll ein Zimmer bereithalten.« Er blickte auf Wong hinunter. »Ist er der Astronaut?« »Er hielt mich dafür. Er dachte, ich sei hergekommen, um ihn umzubringen.« Auden pfiff durch die Zähne. »Sieht so aus, als hätte er gar nicht so weit danebengelegen!« Er bemerkte den Ausdruck auf Feiffers Gesicht und sagte hastig: »Verzeihung. Nur ein Nasenbeinbruch –« »Heben Sie ihn auf«, befahl Feiffer. Auden starrte auf die Blutlache am Boden. »Wenn Sie nicht die Nebenhöhle in den Vorderlappen hineingeschmettert haben –« »Ich schmettere gleich Ihnen eine Nebenhöhle in den Vorderlappen, wenn Sie ihn nicht hochheben!« Feiffer griff unter die Achselhöhlen des Mannes und befahl Spencer: »Machen Sie die Lifttür auf. Ich will ihn hinunterbringen, bevor jemand in einem Raumanzug auf den Gedanken kommt, es sei Zeit für Komplicenbeseitigung.« Er fragte Spencer: »Wo sollen wir ihn hinschaffen, sagt Macarthur?« Spencer drückte auf den Knopf am Aufzug. Die Türen öffneten sich auf Anhieb. »In Lams Büro.« Spencer fragte: »Woher wußten Sie, daß er hier war?« 125
»Fünfelf und Fünfzwölf waren die Zimmer von Kong und Wu – der Produzenten in der Palmen-Bar. Die einzigen Zimmer im ganzen Hotel, die leerstanden.« Feiffer befahl dem zögernden Auden: »Hochheben. Seine Drecksfüße sind noch nicht blutig!« Wong gab einen stöhnenden Laut von sich. »Ich möchte ihn irgendwo hinschaffen, wo wir mit ihm reden können, bevor ihm klar wird, was vorgeht.« Er hob Wong hoch, bekam Blut an Hände und Hemdärmel und fauchte Auden an: »Nicht an den Zehen – unter den Knien!« Ein ›Bong!‹, und der Lastenaufzug am anderen Ende des Flurs kam herauf. »Bill –!« Spencer hatte die Waffe wieder gezogen. Der Lastenaufzug öffnete sich. Da war niemand. Spencer sagte: »Nichts.« Die Tür des Personenaufzugs schloß sich und ging wieder auf. Spencer sagte: »Los, bringt ihn da her!« Er rief Auden zu: »Vorsicht, Sie lassen ihn fallen!« »Er ist blutverschmiert und –« Feiffer rief: »Auden!« »Gut, gut!« Die Tür des Lastenaufzugs rumpelte zu, und er ließ Wong beinahe fallen, um seine Waffe zu ziehen. Spencer trat vor, und die Tür des Personenlifts sauste zu und machte elektronisch ›Dong!‹, als er zum nächsten Stockwerk hinunterfuhr. »Vielleicht halten Sie den verdammten Lift hier fest!« schrie Feiffer. Spencer drückte auf die Knöpfe. Wong stöhnte. Auden, der mit einem Blutschwall rechnete, sagte: »Aäh!« und riß Feiffer den Bewußtlosen beinahe aus den Händen. Die Aufzugtür ging wieder auf, und Lam frohlockte: »Sie haben ihn! Sie haben Wong!« Er wollte mit mordlüsternem Blick aus der Kabine stürzen. Spencer gab ihm einen Stoß an die Brust und warnte: »Weg da. Er ist bewußtlos.« »Dann prügelt ihn wach!« Lam hielt eine Eisenstange in der Hand. Er ging damit drohend auf Spencer zu. »Werfen Sie ihn auf den Boden, ich prügle die Wahrheit schon aus ihm heraus!« Spencer nahm ihm die Eisenstange weg. Feiffer und Auden, zwei Kidnappern ähnlich, hatten ihr bewußtloses Bündel fast schon zur Lifttür geschafft. Spencer sagte: »Sie helfen uns mehr, wenn Sie ihn mit hinunterschaffen.« »Warum ihn nicht einfach in den Liftschacht werfen?« Lam 126
bot sich mit wilder Bösartigkeit an: »Ich mache Ihnen den Zeugen. Er versuchte zu fliehen und fiel hinunter, als er sich anschickte –« »Halten Sie den Mund und die Tür offen!« befahl Feiffer. Wieder machte der Lastenaufzug ›Bong!‹ Wong gab einen stöhnenden Laut von sich. Seine Lider flackerten kurz auf. Feiffer fuhr ihn an: »Der Astronaut – ist das Bell? Ist es Bell?« Wong seufzte »Oh!« und stöhnte erneut, als Auden seine Füße auf den Boden der Aufzugkabine fallen ließ. Feiffer drängte: »Fünfundvierzig Millionen Dollar – wovon hat Jensen Ho gesprochen, als er sagte, Sie seien hinter fünfundvierzig Millionen Dollar her?« Spencer schob Wongs Füße weiter in den Aufzug hinein und drückte auf den Knopf ›Abwärts‹ für das Erdgeschoß. Spencer warf einen Blick auf Wongs Augen und sagte sorgenvoll: »Er könnte eine Gehirnerschütterung haben. Bei einem Schlag ins Gesicht kommt das manchmal vor –« »Es war seine Scheißnase, nicht sein Gesicht!« Feiffer ließ sich auf die Knie sinken und hielt sein Gesicht an das des schweratmenden Wong. »Der Astronaut –« Wong stöhnte. »Hat keinen Zweck. Er bekommt überhaupt nichts mit.« Auden sagte als erfahrener Mann: »Früher, als die Polizei in Chicago noch Gummischläuche nahm –« Spencer sagte warnend: »Harry, Ashwood wartet unten. Ich glaube, wenn wir hören sollten, daß es George Bell ist, wäre es vielleicht günstig, wenn Ashwood zusammen mit einem unabhängigen Zeugen anwesend ist und –« »Warum? Weil er der tapferste Mann ist, den Sie je gekannt haben?« (Spender sagte: »Verzeihung?«) »Was hier alle vergessen zu haben scheinen, ist, daß der Astronaut drei Menschen getötet hat und keiner weiß, ob er nicht noch ein paar Dutzend Menschen umbringen will!« »Ich meinte nur –« Die Leuchttafelzahlen 3, 2 und 1 leuchteten auf, und Spencer sagte dankbar: »Wir sind gleich da.« »Ich wünsche, daß der Mann da redet.« Auden meinte: »Ja, klar. Wir prüfen, ob seine Nebenhöhle nicht verrutscht ist, warnen ihn und –« »Ich will, daß er sofort redet. Der Astronaut läuft hier im Hotel noch irgendwo frei herum, und wenn wir ihn in den nächsten 127
Stunden nicht fassen, werden die hohen Herrschaften in ihrer Weisheit das Hotel evakuieren und ihm auf der Straße und in der Halle ein solches Gedränge liefern, daß er bis Weihnachten Benzin versprühen kann.« Er warf einen Blick auf Lam. »Ich will Ashwood nicht in Ihrem Büro haben, wenn wir ihn befragen. Falls es Bell ist, will ich das hören, ohne daß der Verteidiger schreit, alles Lüge, verdammte Lüge und Scheißstatistik.« Er sah Wong vor Schmerzen zusammenzucken und zischte halblaut: »Der Schweinehund ist wach. Er weiß, was wir reden, und läßt sich nur Zeit, um das Beste für sich herauszuholen.« Der Lift erreichte das Erdgeschoß, die Türen gingen auf, und Feiffer sagte zu Auden: »Heben Sie ihn hoch!«, sah O’Yee, Dr. Macarthur, Ashwood, dem Aschein nach die Hälfte der Hotelgäste und die gesamte Feuerwehr von Hongkong warten und befahl: »Christopher, schaffen Sie die Leute da weg.« Sein Blick fiel kurz auf Ashwood. »Und zwar alle.« Er sah Auden, wie er O’Yee Wongs Knie anbot und abgewiesen wurde. »Bill, Sie gehen voraus und überprüfen Lams Büro.« Er trat vor. Macarthur beugte sich über Wong und betastete mit einem langen, knochigen Finger prüfend dessen Nase. Inmitten des ganzen Durcheinanders und der Aufregung sagte Macarthur aufmunternd zu Wong: »Keine Sorge, ich kümmere mich schon um Sie.« Er sah in den Augen des blutenden Mannes eine schwache Regung des Wiedererkennens. Macarthur lächelte beruhigend. »Ja, richtig. Sie sind jetzt in meinen Händen. Ich bin Doktor Macarthur – vom Leichenschauhaus, wissen Sie.« Auf seine freundlichste Art stellte er fest: »Ach du liebe Güte, Sie sehen aber gar nicht gut aus ...« Es war ein letztes Mittel. Der Astronaut fluchte: »Verdammt!« und betrat die Großküche von der Halle aus, um zu prüfen, ob dort irgend jemand an der Arbeit war. Da der Etagenservice von den kleineren Imbißküchen an den Liften versorgt wurde, lag die Großküche verlassen da, alle Herde und Kochplatten waren abgeschaltet. Es roch nach kaltem Fett und Putzmitteln. Der Astronaut lauschte und hörte das Surren eines Abzugsventilators. Die Klimaanlage war auf Anordnung der Feuerwehr nach dem ersten Brand in der Palmen-Bar abgeschaltet worden. 128
Der Astronaut ging über den glänzenden Fliesenboden und starrte durch ein in Hüfthöhe angebrachtes Gitter in der Rückwand. Er betastete vorsichtig die vier Schrauben, durch die das Gitter festgehalten wurde. Bei jeder lag in der Nut noch ein einzelnes Menschenhaar. Er nickte befriedigt vor sich hin, zog ein kleines Taschenmesser hervor und stemmte das Gitter auf. Das Gitter gehörte zum Hauptversorgungsschacht für das Erdgeschoß, erste und zweite Etage. Der Astronaut zwängte sich hinein und zog das Gitter am Holzrahmen hinter sich fest zu. Die nachgemachten Holzschrauben erweckten den Eindruck, das Gitter sei fest angeschraubt. Drei Meter innerhalb des dunklen Metalltunnels lagen sein Anzug und der Flammenwerfer. Der Astronaut zog den Schlüsselbund aus der Tasche, richtete ihn hinunter in den Abgrund, knipste die winzige Taschenlampe an, die daran befestigt war, und beleuchtete den Gang. Er hielt einen Augenblick inne, während er sich den Plan der Tunnels vergegenwärtigte, faßte einen Entschluß und begann auf den Knotenpunkt von drei Röhren zuzukriechen, wo er, wenn er vorsichtig aufstand, Kopf und Schultern in die zum ersten Stock hinaufführende Röhre schieben, den Flammenwerfer zusammenbauen und den Anzug auseinanderfalten konnte. Er kam an einer Gitteröffnung zu einer der Bars an der Rückseite der Hotelhalle vorüber und leuchtete mit der Lampe die Wand dahinter hinab. Wie bei allen modernen Gebäuden schien die Wand aus Pappe zu sein. Er berührte sie und achtete darauf, mit dem Licht nicht durch das Gitter in die Bar zu leuchten. Er legte die Hand flach auf die Mauer und übte genau bemessenen Druck aus. Die Furnierplatten und dünnen Zementziegel knarrten leicht. Ein fester Stoß, und sie würden wie eine Tür in einer Wand in die Bar hinunterstürzen. Der Astronaut hatte an der Mündung seines Flammenwerfers mit Schnur einen Zellophanbeutel mit knetbarem Sprengstoff befestigt. Kupfer-Quecksilber-Sprengkapseln und Zündschnüre waren mit Klebeband in einer Streichholzschachtel daran befestigt. Er knotete den Beutel auf, nahm mit den Fingern ein Stück 129
Sprengstoff heraus, drückte eine Zündkapsel hinein und ließ Streichholzschachtel und große Ladung auf dem Boden der Klimatisierungsröhre liegen. Den Großteil des Sprengstoffs würde er erst später brauchen. Er konnte ihn auf dem Rückweg abholen. Durch einen Klimaschacht zu kriechen, war ein letztes Mittel, aber er zwang sich, nichts zu überhasten. Der Tunnel war vernachlässigt und schmutzig, und er hatte einen besonderen Grund, seine Bekleidung sauber und unzerknittert zu erhalten. Es war 17.07 Uhr. Der Astronaut erreichte den Knotenpunkt, zog rasch seinen Anzug an und steckte mit einer Reihe wohlgeübter, präziser Klicklaute seinen Flammenwerfer zusammen. Sie erreichten nichts. In Lams Büro fauchte Feiffer Macarthur an: »Wenn Sie ihm eine Spritze geben, bringe ich überhaupt nichts aus ihm heraus!« »Der Mann hat starke Schmerzen!« Macarthur sagte mutlos: »Ich weiß nicht einmal, ob er bei Bewußtsein ist! Ich bin Pathologe und kein –« Wong lag ausgestreckt auf Lams Schreibtisch. Sein Gesicht war aschfahl. Feiffer packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn und fragte scharf: »Wong, ist es Bell?« Was sein Wissen anging, konnte der Astronaut selbst jetzt noch –. Er packte Wong am Kinn und schüttelte seinen Kopf hin und her, um ihn zum Reden zu bringen: »Himmelherrgott, Mann – ist George Bell der Astronaut?« Unten im Keller entfuhr es Bell: »O mein Gott ...!« Es war unglaublich, unmöglich. Er stand vor dem Generatorraum und starrte auf eine Korridorwand. Bell murmelte noch einmal: »O mein Gott!« Er hörte den Lastenaufzug am anderen Ende des Flurs aufgehen und eine Stimme auf kantonesisch laut schreien: »Sie haben den Astronauten – es ist dieser Versicherungsmensch Wong. Sie haben ihn im Direktionsbüro –« und Bell brüllte: »Nein, der ist es nicht! Das kann nicht sein! Es ist –« Er sah wieder das Ding an der Wand: »Nein!« Er stürzte durch den Korridor, prallte beinahe mit zwei Arbeitern zusammen, die sich auf ihre Besen 130
stützten, versuchte es am Aufzug, sah, daß er in einer anderen Etage steckte, riß die Tür zur Treppe auf und hetzte hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, zur Halle. In der Halle sagte O’Yee beiläufig zu Mukherjee: »Übrigens – ich nehme an, Sie haben nicht zufällig ein paar –« Mukherjees Aufmerksamkeit war wie die von Shimada auf die Tür zum Direktionsbüro gerichtet. Mukherjeer fragte gereizt: »Was?« Ashwood schrie: »George!« Er sah Bell auf sich zustürzen. »George, was, zum Teufel –« Bell brüllte: »Hinaus! Hinaus!« Er stürzte durch eine Traube von Filmproduzenten, daß sie auseinanderstoben, raste an O’Yee vorbei und riß ihn um, bemerkte noch, daß O’Yee ihn erkannte und nach seiner Waffe griff, hieb ihm den Revolver aus der Hand und lief weiter: »Alles raus, um Himmels willen!« Ashwood schlang die Arme um seine Brust. Er stieß mit dem Ellbogen zu, traf den anderen mit enormer Wucht am Kinn und riß sich los. »Raus, Jack! Jack –!« Die Bürotür wurde aufgerissen, und Auden brüllte: »Was, zum Teufel, ist denn hier –?«, bevor Bell ihn bei der Schulter packte und mit einer einzigen Bewegung in die Halle hinauszuschleudern schien. Spencer folgte gleich hinter ihm und wirkte verblüfft. Bell nahm ihn in den Würgegriff, fuhr herum und stieß ihn hinter Auden auf den Boden. Bell stürzte in das Zimmer und schrie: »Raus! Alles raus aus dem Hotel!« Im Badezimmer gab es eine ohrenbetäubende Explosion, als der Astronaut einen Teil der Wand mit knetbarem Sprengstoff hinausblies, und Bell sagte wieder nur: »O mein Gott –!« Feiffer fragte verstört: »Was war denn –«, stürzte zur Badezimmertür und rüttelte am Türknopf, um sie zu öffnen, während er nach seinem Revolver unter der Achselhöhle griff. Bell hatte Macarthur um die Hüften gepackt und trug den Doktor halb zur Tür hinaus. Im Badezimmer gab es einen dumpferen Knall, als der Astronaut die Füße gegen den Überrest von Wand und Lüftungsgitter stemmte und ihn mit Wucht in den Raum stieß, um einen Durchgang zu schaffen. Die ganze Wand stürzte ein. Wieder krachte es laut, als Lüftungsgitter und Mauerwerk 131
ringsum in einer dichten Staubwolke barsten. Auf dem Boden der Hotelhalle hatte Spencer seinen Revolver herausgerissen und führte den Arm hoch, um abzudrücken. Er sah Ashwood vor sich hochragen und wandte den Kopf um und rief: »Nein, ich schieße ihm in die Beine –« – während Ashwood brüllte: »Nein, nicht schießen!« und die Waffe Spencer mit einem gewaltigen Fußtritt aus der Hand stieß. Spencer murrte verblüfft: »Nein, also das hätten Sie nicht –«, während Auden seinen Revolver herauszog, ihn wie ein Schwert gegen Ashwoods Fußknöchel schwang und ihn zu Boden sichelte. An der Badezimmertür entrang sich Feiffer ein Seufzer: »Allmächtiger Gott –!« Der Astronaut kam aus der Wand wie eine Alptraumerscheinung. Bell packte Feiffers Hemdkragen, verdrehte ihn mit einem Ruck, um ihn fest im Griff zu haben, zog mit Wucht an, riß ihn von den Beinen, schien ihn, als Feiffer das Gleichgewicht verlor, auf irgendeine Weise aufzufangen, und stieß ihn zur Tür hinaus. Macarthur, bei Wong, sagte: »Ach du meine –«, wich aus, als Bell auf ihn zustürzte, und rannte zur offenen Bürotür hinaus, prallte mit Auden zusammen, der mit dem Revolver fuchtelte, um zum Schuß zu kommen, riß ihn mit zu Boden und jammerte: »O je, o je –« Der Astronaut stand im Badezimmer, schüttelte den Kopf und hob seine Waffe, um ein Ziel zu finden. Lam schrie: »Nein –!« Die Mündung schwenkte in suchender Bewegung. Auden befreite sich von Macarthur und schrie: »Kruzifix!« Neben ihm knallte es, als Feiffer durch den unmöglichen Winkel der offenen Badezimmertür einen Schuß auf den Astronauten abgab. Auden feuerte, ohne lange zu zielen, und fetzte mit seinem Magnumgeschoß ein Stück Holz aus dem Türstock. Der laute Knall war ohrenbetäubend. Wong hatte sich auf den Ellbogen hochgeschoben. Seine Nase blutete wieder stark. Er sah Anthony Lam, vor Entsetzen erstarrt, neben sich. Wong flüsterte schwach: »Anthony –« Bells Augen zuckten hoch und im Zimmer herum, auf der Suche. Der nächste Schuß aus Audens Waffe riß neben ihm Putz aus der Wand, dann gab es einen zweiten, schärferen Knall, als Feiffer wieder auf den Astronauten feuerte und verfehlte. Der Astronaut schien den Kopf zu schütteln. Bells Blick 132
huschte an ihm vorbei, hinaus in die Halle. Er trat einen Schritt auf die Bürotür zu, noch immer auf der Suche. Bell schimpfte: »Du dreckiger –« Lam heulte den Astronauten an: »Nein! Nicht!« Es war ein wirres Gestammel, alles zur selben Zeit. Ashwood. Bell bemerkte, daß Ashwood ihn anstarrte. Ashwood rief: »George –!« Bell sah Ashwood den Kopf schütteln. Einen Augenblick lang schienen Ashwoods Lippen die Worte zu bilden: »Nicht zweimal, ich kann sie nicht zweimal aufhalten –« und dann nahm Bells Gesicht plötzlich einen sonderbaren Ausdruck an, beinahe so, als –. Er schien in der Zeit erstarrt zu sein, wie eine Fotografie, und lächelte Ashwood traurig an. Die Waffe des Astronauten hinter ihm knackte, und Bell, der noch immer lächelte, während Tränen in seine Augen traten, blickte zu irgendeiner Stelle in der Halle hinauf, schien zu seufzen und schloß dann – zu Ashwoods völligem Entsetzen – die Tür. Aus der Waffe des Astronauten tropfte Feuer, und Bell schüttelte den Kopf, wie in furchtbarer Enttäuschung, hielt die Bürotür fest geschlossen, preßte die Stirn an das Holz und schloß die Augen. Der Astronaut, in der Enge des Badezimmers, stand in einem Flammenmeer, das sich rasend ausdehnte. Aus diesen Flammen schoß eine einzelne Fontäne brodelnder, sengender Flammen, die im nächsten Augenblick den Raum und alles in ihm in Lava verwandelten. Er war der tapferste Mann, den viele Menschen je gekannt hatten, und als Feiffer und Ashwood endlich in das ausgebrannte Zimmer hineingelangten, war von ihm, Lam oder Wong nichts mehr vorhanden als ein einzelner, ungravierter Siegelring aus Gold, der aus Gründen, die nur der Hersteller kannte, nicht verbrannt war.
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Kapitel
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Um 19.08 Uhr begann die Feuerwehr als Vorreiter der möglichen Hotel-Evakuierung Löschzüge in die Empress-of-IndiaStreet zu steuern und die Schläuche an Hydranten anzuschließen, um den verfügbaren Druck zu prüfen. Ein Schaum-Löschfahrzeug stand auf dem hinteren Parkplatz in Bereitschaft. Die Besatzung blickte zum Himmel und zum hell beleuchteten sechsstöckigen Hotel hinauf. Vom Meer wehte ein auffrischender Wind landeinwärts. Ein Feuerwehrmann zündete sich nervös eine Zigarette an, die er gar nicht wollte, und blies den Rauch in das rotierende Blaulicht seines Fahrzeugs. Mit der Zeit wurde der warme Nachtwind immer stärker. Kapitel
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Feiffer sagte am Telefon im Dienstraum herausfordernd: »Und was wollen Sie dann tun? Den ganzen Distrikt räumen? Ich habe mit Feuerwehrleuten da draußen gesprochen. Sie sagen, sie hätten ungefähr so viel Aussicht, den Brand auf das Hotel zu beschränken, wie Sie, einen Tiger in einem Hundezwinger festzuhalten. Wir sind nicht in New York oder London. Die meisten Gebäude in Hongkong sind alt und trocken wie Zunder, und über Notausgänge verfügen sie auch nicht.« Er schwieg einen Augenblick, während er über die grauenhaften Möglichkeiten nachdachte. »Keine zwei Straßen entfernt stehen vom Staat gebaute Mietskasernen mit, niedrig geschätzt, vier- oder fünftausend Menschen. Sie haben das vielleicht gesehen – übersät mit Wäscheleinen in jedem Stockwerk mit – bei diesem Wetter – strohtrockener Wäsche. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie das –« Der Commander beherrschte sich und entgegnete ruhig: »Harry, ich habe überhaupt keine Vorstellung. Gar keine. Das einzige, was mich beschäftigt, ist, daß ich an die Touristen 134
denken muß.« »Wenn Sie anfangen, Touristen zu evakuieren, bekommen Sie es mit dem größten Nicht-Touristen-Aufstand seit dem Boxeraufstand zu tun.« Feiffer sagte eindringlich und mit Überzeugung: »Neil, der Grund, warum wir keine Panik haben, ist der, daß die Chinesen wissen, die Touristen sind nicht evakuiert worden. Gerade aus dem Grund, den Sie anführen, nehmen sie an, daß, wenn die Touristen sicher sind, das für sie auch gilt. Sie brauchen bloß zu versuchen, in dieser Stadt ein bißchen nach Klassen und Ansehen zu evakuieren, und Sie werden nicht glauben wollen, was dann passiert. Und das letzte, was wir brauchen, ist, daß die Bereitschaftspolizei mit Tränengas und Gummigeschossen herumballert, wahrend die halbe Stadt in Flammen steht und die besseren Leute sich auf die Schiffe flüchten. Und abgesehen von allem anderen haben wir nicht genug Schiffe.« Der Commander antwortete nach einer Pause: »Dann sollten Sie wohl besser den Astronauten finden, oder wie er sich sonst nennt – und zwar verdammt schnell.« »Er nennt sich überhaupt nicht. Das ist ja das halbe Problem. Wenn ich wenigstens wüßte, als was der Scheißkerl auftritt, wäre ich schon ein bißchen weiter als jetzt. Im Augenblick bin ich weg vom Fenster.« O’Yee saß an seinem Schreibtisch, verfolgte das Gespräch, machte sich Notizen auf einem Block und schüttelte den Kopf. »Bis jetzt weiß ich nur, daß er einer ist, der in einem Hotel gern mit dem Flammenwerfer spielt. Was ich vorher an Fakten hatte, war, daß die Eigentümer des Hotels in Singapur aus Profitgründen das Hotel niederbrennen wollten – aber das erweist sich als Unsinn. Was ich dann hatte, war, daß es die Triaden seien – und das erwies sich als noch größerer Unsinn.« Am anderen Ende der Leitung blieb es still. »Dann gewann ich die Erkenntnis, daß Der Grüne Schleim hier von Teddy Wong beauftragt sei, den Kasten mit der Dollarmillion zu öffnen, und da der Astronaut die zu Asche verbrannt hat, erwies sich auch das als –« »Und jetzt ist Wong tot.« »Und jetzt ist Wong tot.« Es entstand wieder eine Pause, bevor der Commander sagte: »Und dann hatten Sie George Bell.« »Ich habe seinen Brandschutz-Anzug immer noch nicht ge135
funden. Spencer und Auden durchsuchen im Hotel drüben die Lüftungsschächte, aber ich bin immer noch –« Feiffer unterbrach sich und sprach weiter, bevor der andere protestieren konnte. »Ich bin immer noch nicht völlig davon überzeugt, daß Bell nichts damit zu tun hatte.« »Sie haben vorher gesagt, Ashwood von der Triaden-Bekämpfung habe Ihnen mitgeteilt, daß die Yakuza bei Wong gewesen sind.« »Wong ist zufällig tot. Der Astronaut hat ihn umgebracht.« »George Bell hat er auch umgebracht!« »Das weiß ich! Was ich nicht verstehe, ist, warum George Bell alles getan hat, um hinter eine geschlossene Tür zu kommen, damit er ihn töten konnte! So, wie Leute vom Schlage Wong und Lam das dargestellt haben, riecht alles nach hinterlistigen Intrigen und gegenseitigem Betrug, und Bell könnte genausogut beteiligt gewesen sein wie –« »Sie haben mir erzählt, George hätte alle hinausgeschafft!« »Das bestreite ich nicht. Was ich nicht verstehe –« »Bell hat alle hinausbefördert, weil er eben so ein Mensch ist! Er war ein Mensch, der weniger an seine eigene Haut dachte als an –« »Ich begreife nur nicht, warum er die verdammte Tür zugemacht hat, das ist alles!« »Um Sie zu retten – weshalb denn sonst?« »Wir waren doch schon draußen! Es wurde so viel geschossen, daß es für zwanzig Astronauten gereicht hätte! Bell brauchte nur auf die Seite zu gehen, dann hätten wir den Astronauten so vollpumpen können, daß er ausgesehen hätte wie ein Sieb. Statt dessen macht er die verdammte Tür vor unseren Nasen zu, damit der Astronaut sein Flammenwerferchen in aller Ruhe und Enge –« »Ich dulde das nicht, Harry! Ich muß Ihnen vielleicht rechtgeben, was die Räumung des Hotels betrifft, aber wenn es darum geht, einen Mann wie George Bell zu verleumden, dulde ich das einfach nicht! Auf keinen Fall!« »Er war ja schließlich nicht Gandhi! Nach meinen Erkenntnissen war der Hauptgrund dafür, daß er aus der ICAC-Prüfung mit reiner Weste hervorging, der, daß er pleite war! Kann es nicht sein, daß er es eines Tages ein bißchen satt hatte, den 136
Gralsritter zu spielen, und beschloß, sich selber auch ein paar Dollar zu nehmen? Wenn die japanischen Yakuza hier beteiligt waren, hätte es weiß Gott genug Geld gegeben, um jeden in Versuchung zu führen!« »Sie haben selbst gesagt, daß es Wong war, der sich mit den Yakuza eingelassen hatte!« »Das hat Ashwood behauptet, nicht ich. Und Ashwood war mit Bell befreundet.« Feiffer sagte einleuchtend: »Schauen Sie, Neil, ich habe nicht die Absicht, Bell zum Schurken Nummer Eins zu machen, ich verweise nur auf eines: Das eine Mal, als wir den Astronauten in Schußweite hatten, tauchte Bell beinahe wie aufs Stichwort plötzlich auf, um ihn zu schützen –« »Wollen Sie behaupten, George Bell sei einer gewesen, der sein Leben opfert, um einem mordlustigen Psychopathen zu helfen?« »Ich glaube nicht, daß der Astronaut ein Psychopath ist. Ich glaube, er hat einen sehr vernünftigen Plan, und der einzige Haken dabei ist, daß ich offenbar nicht dahinterkommen kann, worum es eigentlich geht.« Er blickte auf O’Yee hinunter. »Die Tatsache, daß Der Grüne Schleim wußte, wer ihn bedrohte – nämlich Teddy Wong – deutet für mich darauf hin, daß man ihn auf die Seite geschafft hätte, sobald seine Arbeit getan war. Da Wong nicht der Astronaut gewesen ist, muß der Astronaut normal genug gewesen sein, um Wong zumindest davon zu überzeugen, daß das Töten Gewinn einbringen würde. Als ich mit Wong sprach, schien er nicht überrascht davon zu sein, daß ein Straßenkehrer und zwei Filmproduzenten verbrannt worden waren: Es schien ihm nur darauf anzukommen, mir weiter einzureden, Lam verliere langsam den Verstand. Wenn der Astronaut jemanden überzeugen konnte, der von Grund auf so hartgesotten ist wie Wong, dann sehe ich nicht ein, wie er –« »Er hat Wong von der Dollarmillion überzeugt – und sie dann verbrannt! Deshalb ist Wong geflüchtet. Sie sagten, er hätte ein Messer gehabt – wozu denn, zum Teufel? Für den Scheiß-Weihnachtsmann?« »Der Astronaut hatte ihn hereingelegt! Die Million Dollar zählte nicht. Vielleicht war der Köder von fünfundvierzig Millionen, der Den Schleim durch seine bloße Ungeheuerlichkeit entsetzen sollte, gar kein Köder, und es gibt sie wirklich. Viel137
leicht war die Million im Glaskasten die Bezahlung für Wong, und als Der Schleim außer Gefecht gesetzt war und das Schloß nicht geöffnet werden konnte –« »Wong hat das verdammte Geld versichert!« »Und sofort, als es gestohlen und das Hotel niedergebrannt worden war, hätte Wong, der bei Ex-Ehefrauen und bei Wucherern mehr Schulden hatte als Howard Hughes Mormonen – er hätte den Bankrott gemeldet, seine Million auf einem Schweizer Nummernkonto angelegt, im neu aufgebauten Yakuza-Hotel den Direktorposten bekommen, und wenn er nicht gestorben wäre –« »Quatsch!« Der Commander sagte: »Jeder Gedanke, George Bell könnte in dergleichen verwickelt gewesen sein, ist absoluter Scheiß!« »Wo, zum Teufel, ist dann der Brandschutz-Anzug? Und wenn er im Hotel war, als das Geld verbrannt wurde, warum ist er dann nicht aufgetaucht, um das Feuer löschen zu helfen?« »Weil er nicht im Hotel war!« »Meine beiden Konstabler haben ihn gesehen!« Feiffer sagte abrupt: »Hören Sie, Neil, irgendwo in diesem Hotel gibt es etwas, das fünfundvierzig Millionen Dollar wert ist, und darauf hat es der Astronaut abgesehen. Ich halte es für möglich, daß er ursprünglich von den Yakuza und Wong beauftragt war, die Million zu beschaffen und einen Teil des Hotels anzuzünden, damit sie es übernehmen konnten, aber jetzt habe ich das Gefühl, er hat sich einen eigenen Fußball mitgebracht und, nachdem er Wong und alle anderen dort, die ihm hätten gefährlich werden können, beseitigt hat, läuft er für mein Gefühl allein aufs Tor zu.« »Was, zum Henker, ist fünfundvierzig Millionen Dollar wert? Nichts ist fünfundvierzig Millionen Dollar wert! Wovon reden Sie: von eineinhalb Tonnen Gold? Und selbst wenn er sie bekommt, was macht er dann damit – fährt er sie mit einem Löschzug weg?« Bevor Feiffer etwas erwidern konnte, fuhr der Commander fort: »Ich habe selbst Dienst auf der Straße gemacht, Harry, ich bin nicht in der Commander-Uniform geboren worden, also kommen Sie nicht daher und erzählen mir, es wäre Heroin oder so was. So viel Heroin – selbst in der reinsten Form – wäre immer noch eine Menge von über zweieinhalb 138
Zentnern. Wenn die Yakuza so viel Heroin nach Hongkong bringen wollten, würden die Scheiß-Triaden sie mit ScheißMGs abwehren und mit der Palästinensischen Befreiungsfront über den Ankauf von Scheiß-Raketen verhandeln! Und wenn es Heroin ist, wieso würde man es dann nach Hongkong hineinbringen, verdammt? Man würde versuchen, es rauszuschmuggeln!« »Ich habe nicht behauptet, daß es Heroin ist.« »Was dann? Die britischen Scheiß-Kronjuwelen? Die britischen Kronjuwelen wären im Hotelsafe und Ihr Jensen Ho – Der Grüne Schleim – wäre damit beschäftigt, den zu knacken und nicht irgendeinen Plastikkasten voll Papiergeld.« Der Commander spottete mit triefendem Sarkasmus: »Sie werden ja wohl überprüft haben, was im Safe liegt? Ich vermiese Ihnen Ihre exotischen Theorien ungern, aber –« Feiffer konterte gleichmütig: »Im Hotelsafe liegt nichts von Wert. Das Hotelpersonal muß den Inhalt der Behältnisse prüfen, die in den Tresor kommen sollen, bevor sie angenommen werden – der Versicherung wegen –, und der Gesamtwert der Gegenstände im Tresor des ›Empress of India‹ beläuft sich auf ungefähr zehntausend Dollar. Ein paar Manschettenknöpfe mit Edelsteinen, Papiere und Filmgerät, Travellerschecks aus Amerika und Hongkong für annähernd zweitausend Dollar, Geschäftsunterlagen, ein paar –« »Wer hat das Zeug in den Safe getan?« »Lam.« »Wenn Lam in die Sache verwickelt ist, dann war da vielleicht etwas, für das er keine Quittung ausgestellt hat, und –« »Lam war nicht beteiligt. Lam war der Sündenbock. Wenn er beteiligt gewesen wäre und in den Tresor etwas hineingelegt hat, was das Stehlen lohnt, warum, zum Teufel, hat er es dann nicht wieder rausgenommen und gestohlen? Astronauten und große Spektakel aus Selbstzweck kommen nur im Film vor. Wenn sich im Tresor etwas befand, das von Wert war, warum dann nicht einfach –« »Aber was machen Sie denn dann, verdammt?« »Ich mache das einzige, was ich machen kann! Ich versuche herauszufinden, was Bell –« »Bell ist es nicht gewesen! Bell ist tot!« 139
»Wo ist dann sein Scheiß-Brandschutz-Anzug? In den gottverdammten Röhren steckt er nicht, weil wir nachgesehen haben!« »Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, wo sein Brandschutz-Anzug ist, und selbst jetzt, nachdem ich mit Ihnen geredet habe, weiß ich über die Vorgänge in dem Hotel nicht mehr als vorher!« Der Commander fuhr angewidert fort: »Gottverdammte Fliegende Untertassen aus Holz und Leute, die als Frankenstein und Boris Karloff verkleidet herumlaufen – das ist keine Arbeit für die Polizei –, das hört sich alles an wie aus einem ScheißScience-Fiction-Film!« Feiffer, am anderen Ende der Leitung, stutzte, als in seinem Gehirn eine Verbindung sich nicht herstellen wollte. Der Commander schnaubte weiter: »Und, Harry, dieser Schleim-Kerl und sein Märchen von fünfundvierzig Millionen Dollar, da kann ich Ihnen nur sagen –« »Ja?« Der Commander brauste mit Heftigkeit auf: »Nach meiner Meinung – alles Quatsch!« Im Generatorraum im Keller drehte Auden Spencer den Rücken zu, damit Spencer ihm Staub und Spinnweben vom Rücken bürsten konnte, besah sich den Raum genau, um sich zu vergewissern, daß es keine Lüftungsschächte, Heizungsrohre, stumme Diener oder andere Fallen für den unvorsichtigen Erkunder in einem vor kurzem gereinigten Sonntagsanzug gab, und sagte naserümpfend: »Warum kriecht nicht Harry Feiffer in den verdammten Lüftungsschächten herum? Warum immer ich?« Sein Kammerdiener unterbrach die Arbeit, um zu antworten; Audens Kopf zuckte nach hinten. »Der Ärmel, Sie haben den Ärmel übersehen.« »Harry ist von höherem Dienstrang, Phil.« Spencer fand eine größere Menge schwarzen Ruß aus einer der Röhren, wedelte mit der Hand, um zu sehen, ob er sich auf reine Beschwörung hin auflösen würde, was nicht der Fall war, zog sein sauberes, weißes Taschentuch heraus und wischte ihn weg. Spencer sagte: »Wir sind die Einsatztruppen, wissen Sie. Ein Vorgesetzter hat nach den Vorschriften die Aufgabe –« Er besah sich den Ärmel nach weiterem Schmutz, blickte bedauernd auf sein Taschentuch und meinte weiter: »Das wär’s. Sie sind wieder sauber. 140
Nach den Vorschriften –« Auf dem benzingetriebenen Stromgenerator lag ein Stück Strick. Auden griff danach und verdrehte ihn zu einer Garotte, schaute sich im Raum nach einer Stelle um, wo er sie hinlegen konnte, und warf sie in eine Ecke zu zwei 150-l-Benzinfässern. »Warum hat er die Tür geschlossen, verdammt? Wenn er sie aufgelassen hätte, dann hätte ich hineinschießen können.« Der Strick wirkte fehl am Platz. Er ging hin, hob ihn auf und gab ihn, damit er aufgeräumt war, an Spencer weiter. Spencer sagte treuherzig: »Vielleicht hat er versucht, uns zu retten, Phil.« »Auf jeden Fall hat er nicht versucht, sich selber zu retten, wie?« Auden griff wieder nach dem Strick und legte ihn auf eines der Fässer. »Was, zum Teufel, suchen wir überhaupt?« Er fragte scharf: »Glauben Sie, die beiden Idioten von der Putzbrigade wußten überhaupt, wovon sie sprachen? Daß Bell hier in diesem Raum gewesen sei?« Er hob den Strick wieder auf, trat an die Tür und hängte ihn über die Türriegel, wobei er feststellte, daß die Tür von innen verschlossen war, wenn er zuknotete. »Was soll das für einen Sinn haben, sich in einen Generatorraum einzusperren? Das ist doch verrückt!« »Vielleicht hat er etwas gesucht.« Spencer trat an die Fässer heran. »Vielleicht Benzin.« »Vom Astronauten hätte er kriegen können, soviel er wollte!« Auden sagte auf einmal vertraulich: »Passen Sie mal auf, ich hab’ gehört, daß Bell in Vietnam oder sonstwo eine Art Held gewesen ist, daß er vielen Leuten das Leben gerettet hat. Es könnte sein, daß so einer – wenn er nur wegen des Geldes dabei war –« Er wirkte ein wenig verlegen. »Ich habe den Eindruck, er war –« Er zog die Schultern hoch. »Sie wissen schon, na ja – religiös.« Er sah Spencer an und erwartete sarkastisches Gackern. Spencer sagte: »Wirklich? Ich wußte nicht, daß Sie ihn kannten.« »Ich kannte ihn auch nicht. Ich habe nur –« Auden sprach schnell weiter: »Ich habe ihn an der Tür gesehen, wissen Sie, als er gewußt haben muß, daß er dran war, und –« Er stieß das erste Faß mit der Schuhspitze an und sagte, bevor das hallende Geräusch kam: »Benzin, und zwar verdammt viel, wenn einer das braucht.« Auden brummte gereizt: »Ich weiß nicht, brauch’ 141
ich welches?« Das Faß klang hohl. »Komisch«, meinte Auden. Er gab dem zweiten Faß einen Tritt. »Sie sind beide leer.« Er zog die Brauen zusammen und starrte auf den Generatortank. »Sie glauben doch nicht, Bell war hier unten und hat aufgetankt ...« Er sagte hastig: »Nee, das muß im Generator-Benzintank sein.« Spencer fragte interessiert: »Was, haben Sie ein Kreuz oder was um seinen Hals gesehen?« »Natürlich habe ich kein Kreuz oder so was um seinen Hals gesehen! Heutzutage tragen die Leute keine Kreuze mehr um den Hals!« Er sah Spencer argwöhnisch an. »Oder doch?« Spencer sagte: »Nein, ich nicht. Aber manche Leute –« »Ich habe nur –« Auden schien verlegen: »Na ja, er – tja – er, er schaute nach oben – nicht?« »Hat er das?« »Ja! Ich versuchte an ihm vorbei hineinzufeuern und sah ihn, und er hatte einen kränklichen Ausdruck im Gesicht – Sie wissen schon, wie die Gipsheiligen, die man vor Kirchen sieht – na ja –« Auden zeigte einen magenkranken, augenrollenden, heiligmäßigen Ausdruck – »Sie wissen schon, so ein Gesicht?« Auden befaßte sich wieder mit den wissenschaftlich ergründbareren Wahrheiten der Welt und fragte: »Wieviel paßt nach Ihrer Meinung in den Tank am Generator rein? Dreihundert Liter? Das würde auch in die Fässer reingehen.« Er sah Spencer überlegen an. »Lassen wir das, ja? Ich dachte nur, wenn er war, was alle behaupteten, und er wäre ein bißchen religiös gewesen, dann könnte das für seine Familie noch eine Kleinigkeit erträglicher sein. Ja? Ich werde nicht auf einmal weich oder was, ich dachte nur –« Auden gab zornig zurück: »Woher soll ich das wissen, verdammt? Er kann ja auch nur zu einer Fliege an der Decke hinaufgeschaut haben! Er braucht überhaupt nicht religiös gewesen zu sein – was verstehe ich schon von Religion?« Spencer murmelte leise: »Auf jeden Fall ist das ein sehr schöner Gedanke, wenn Sie recht haben.« »Ja. Sicher. Verdammt schön.« Auden fauchte: »Also, wir sehen uns den verdammten Benzintank an und vergewissern uns, daß das verdammte Zeug da ist, wo es hingehört, okay? Das steht in den verdammten Vorschriften, oder?« 142
Spencer sagte aufmunternd: »Ein sehr schöner Gedanke.« »Ja. Sarsaparille und Sahneeis sind auch schön!« Auden schraubte den Verschluß des Tankstutzens ab, schnupperte an der Öffnung, gab dem Tank, zufrieden mit dem Geruch nach Kohlenwasserstoffen, einen Tritt und sagte, bevor der Fuß auftraf: »Voller Benzin, wo es hingehört, voll bis an den Rand mit dreihundert Liter Scheiß-Hochoktan-Super-Bum-Bum-Qualitäts-« Der Benzintank am Notgenerator klang hohl. Auden, mit den Gedanken bei den Paradiesfreuden der nächsten Welt, in einem Augenblick plötzlichen Begreifens auf die bedrohliche reale zurückgerissen, stöhnte ächzend: »Mensch –!« Es war wunderschön, wie im Weltkrieg. In der Halle hatten die Leute sich alle mit ihren Koffern versammelt, saßen in den Sesseln, auf den Sofas und am Boden, unterhielten sich leise miteinander und flüsterten. Manche schienen auch zu beten. Durch die offene Tür des Büros kam und ging ein unaufhörlicher Strom von weißbekittelten Männern aus dem gerichtsmedizinischen Institut, von Beamten der Spurensicherung und Feuerwehrleuten, Draußen war die Nacht dunkel und warm. Überall blitzten Lichter auf, Männer in Uniformen liefen umher und traten zu kleinen Gruppen zusammen, um sich zu beraten und Pläne zu entwerfen. Ein paar schlaffe Monsterkostüme lagen in den Ekken der Halle, achtlos hingeworfen, und hier und dort in ihrer Nähe von den Wänden gefallene Plakate, die Filme und die letzten Friedensreste propagierten. Am Empfang blätterte der Nachtdienst-Manager, ein sorgenvolles schwarzhaariges Mädchen aus Israel, in Unterlagen, um Evakuierungslisten zusammenzustellen, und sprach mit den Pagen und Zimmermädchen. Aus der hastig wieder geöffneten Küche brachte man Tabletts mit großen dampfenden Kaffeetassen; bald würde es Suppe geben. Man hatte ihren Flügel von oben heruntertransportiert und mitten in die Halle gestellt. Zum zweitenmal seit 19 Uhr begann Carole mit ihrem Repertoire von Melodien aus der Kriegszeit: ›The White Cliffs Of Dover‹, ›We’ll Meet Again‹, ›Keep Smiling 143
Through‹ und jene, die ihrem Mann am besten gefallen hatte: ›Together.‹ Es war wunderschön. Die Leute hörten wirklich zu. Es war kurz nach acht Uhr abends, und während die Gäste und das Personal auf die Evakuierung warteten, die nicht kommen sollte, fehlten irgendwo im Hotel dreihundert Liter Benzin. Draußen auf der Straße und auf dem hinteren Parkplatz schüttelten die Feuerwehrleute und ihre Vorgesetzten, als sie davon erfuhren, die Köpfe, während der Wind vom Meer immer stärker aufkam, und die Männer verfielen in ominöses Schweigen.
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Die Wahrheit war ihm als Flüstern aus der Dunkelheit gekommen. In der Dunkelheit hatte der Astronaut die geflüsterten Wahrheiten der Jungen und Älteren und, lauter, das trockene Krächzen der Alten gehört – Überlebende einer anderen Generation – als sie sich um Verständnis bemühten. Er hatte sie hinter sich im Kino gehört, wenn das Mädchen entsetzt zu ihrem Freund sagte: »Er wird sie erschießen!« Die Älteren sagten mit affektiertem Gähnen: »Na sicher, jetzt werden sie im Weltraum schiffbrüchig, und dann kommt eine Fliegende Untertasse, um sie –«. Hörte die Alten sagen: »Ich versteh’ das nicht: Warum bezahlt er jemanden dafür, seine Frau zu ermorden, wenn er sich doch hätte scheiden lassen können?« Hörte Kinder sagen – Das Flüstern im Dunkeln hatte es ihm verraten. Er war auf die billigeren Plätze gegangen, nicht, um die Tonspur, sondern die Stimmen hinter sich zu hören, welche die Wirklichkeit interpretierten. »Paß auf, die Sträflinge brechen in ein Haus ein, halten die Frau als Geisel fest und zwingen ihren Mann –« »Jetzt werden sie –« 144
»Er hat eine Pistole!« »Das Monster setzt sich zu dem Mädchen, paß nur auf – dann gibt sie ihm eine Blume und er geht hin und –« »Da kommt der Pfarrer. Er geht auf das Raumfahrzeug zu, dann zerblasen sie ihn, die Panzer fangen an zu schießen –« »Ich weiß, was jetzt kommt. Was jetzt kommt –« »Wenn das ich wäre da oben, wüßte ich schon, was ich tun müßte –« »Ich wüßte, was ich zu tun hätte –« Wirklichkeit. Bilderfolgen von Kindheit an im Gehirn. Aufzucken fremder innerer Sprache, Erwartung von Geschehnissen nach Hinweisen von der Leinwand, allgegenwärtige Propaganda für moralisches und unmoralisches Verhalten, eingelernte Reaktionen auf künstliche Situationen – »Wenn mir das im Leben passieren würde –« Der Astronaut hatte Wirklichkeit daraus gemacht. Lam: Anflüge von Wahnsinn, mit freundlicher Genehmigung der psychiatrischen Kinofirma Bette Davis und Joan Crawford. Wong: Gier, mit freundlicher Genehmigung aller Großverbrecherfilme in Kino und Fernsehen samt Einfluß von Big Business mit Betrug und Intrigen. Jensen Ho: ein schlichteres Gemüt. Die ›Sträflinge haben deine Familie in der Gewalt‹-Filme aus den frühen fünfziger Jahren. Die Yakuza: Der ›Pate‹ – Gelegenheit, Geld zu verdienen, um die Einflußsphäre auszudehnen, wenn in Wirklichkeit das Bestreben nur dahin ging, das in der nächsten Bank sicher angelegte Geld mit zehn Prozent verzinsen zu lassen. Der Astronaut selbst: ›Die Bestie auf Raubzug‹. Jeder Film, der jemals zum Thema gedreht worden war, bewies, daß die Welt nie unterging, der Meteor nie einschlug. Die Hotelhalle auf der anderen Straßenseite war voller Menschen, die daran glaubten. George Bell ... Der unschuldige Betrogene, ›für ein Verbrechen, das er nicht begangen, auf den elektrischen Stuhl geschickt‹. Flüstern, Andeutungen, Spiegelungen der Wirklichkeit, die Wirklichkeit selbst ... Der Astronaut saß in seinem Auto, die Aktentasche mit seinem Asbestanzug neben sich, und lächelte. Der Film. 145
Der einzige Fehler, den er begangen hatte, war der, Wong nicht schon früher getötet zu haben. Der Astronaut sah jemanden, den er kannte, vom Hotel herüberkommen und stieg, immer noch lächelnd, aus dem Auto, um ihn zu begrüßen. Im Dienstraum sagte O’Yee, während er Notizen auf seinen Schreibblock kritzelte, um den abscheulichen Anblick nicht sehen zu müssen, den Auden bot, weil er am Nebentisch Nudeln aß: »Harry, für mich hört sich die ganze Geschichte langsam an wie die Handlungen von einem halben Dutzend klassischer Filme auf einmal. Das einzige, was bis jetzt noch fehlt, ist Humphrey Bogart in ›Casablanca‹, wie er im Schlußbild mit Claude Rains in den Sonnenuntergang am Flughafen davongeht.« Er sah Feiffer mit hochgerollten Augen von seinem Schreibtisch aufblicken und sagte schnell: »Nein, ich weiß, ich sehe alles durch gottverdammte Kinoaugen, aber versuchen Sie das nur einmal.« Er sah Spencer an und entdeckte, daß ihm dessen Aufmerksamkeit sicher war. »Die Sache mit dem Straßenkehrer – überlegen Sie doch mal.« Er stand auf und streckte die Hand aus wie ein Filmregisseur, der im Atelier um Ruhe bittet. »Hier die Szene im Morgengrauen in einer verlassenen Straße, nicht? In der Nähe ein großes Hotel oder ein anderes Gebäude. Leichter Wind, der das Papier verweht – kein Vorspann, keine Musik, die Zuschauer alle auf ihren Plätzen, der Puffreis noch nicht aufgemacht – und dann in Großaufnahme die riesengroße Fliegende Untertasse – das Publikum hält den Atem an – aber die Leute wissen, das ist ein Science-Fiction-Film, also geht das schnell vorbei. Wir zeigen, daß die Fliegende Untertasse aus Sperrholz ist. Die Puffmais-Beutel rascheln – dann wumm! Da steht einer im Raumanzug daneben. Kein Rascheln mehr. Das Bild bleibt noch. Dann fängt die Musik an, ein, zwei Straßenkehrer kommen langsam die Straße herauf – ein bißchen Humor dazwischen – nur ist es nicht komisch, weil wir wissen – weil das Film ist, daß die Straßenkehrer auf irgendeine Weise abgemurkst werden –« Auden knurrte, den Mund voll Nudeln: »Scheiß!« Auden gehörte zu den Leuten, die O’Yee im Kino immer am liebsten weit vor sich hatte. O’Yee sagte automatisch: »Würden 146
Sie bitte still sein? Danke.« Er hob den Finger, um zu zeigen, daß die Szene weiterging: »Dann geht das ein bißchen so, peng! Der Astronaut ist echt und fängt an, sich zu bewegen, und –« O’Yee schlurfte auf Spencer zu, den Finger wie einen Revolverlauf ausgestreckt, glasigen Blicks. Spencer sagte: »Mensch, das ist wirklich gut.« »– und dann, um die Spannung anzuheizen, damit die Zuschauer die Puffmais-Beutel immer fester und fester und fester packen ... und dann – pschhhh! Raus kommt das Feuer und hüllt den armen, unschuldigen, alten Straßenkehrer ein, das Bild ist eine einzige Feuerwand, die Flammen spritzen hinaus auf die Zuschauer, gelb und orange und rot und – und dann: der Vorspann!« Spencer sagte begeistert: »Den hab’ ich gesehen! Der hieß –« Auden knurrte: »Das waren alles Scheißfilme, die Sie schon gesehen haben.« Feiffer forderte O’Yee auf: »Weiter.« »Und er heißt ›Der Astronaut‹. Richtig.« O’Yee wandte sich mit einem anklagenden Blick Feiffer zu. »Nennt ihn nicht jeder so? Warum, zum Teufel, nicht ›Der Brandstifter‹ oder der gottverdammte Mörder oder –« Das war leicht. Auden sagte, eine Nudel am Kinn: »Weil er einen Scheiß-Raumanzug anhat, deshalb!« »Richtig! Warum?« »Was heißt ›warum‹?« Auden sagte: »Weil er –« Er sah Spencer an. »Ich weiß nicht, warum. Weil er Schutz vor den Flammen braucht?« Er faßte sich rasch. »Außerdem ist es kein Raumanzug, sondern ein Brandschutz-Anzug, der nur aussieht wie ein Raumanzug!« Feiffer, den Blick auf O’Yee gerichtet, meinte bedächtig langsam: »Was der Grund ist, weshalb er, da er einen BrandschutzAnzug trug, neben einem Löschzug stand, als er den Straßenkehrer niedermachte.« Auden zweifelte: »Ich dachte, er steht neben einer Fliegenden Untertasse.« Und machte: »Oh.« O’Yee warf ein: »Dann erscheinen Lam und Wong auf der Szene. Lam ist der achtbare, ein wenig neurotische Typ – nennen wir ihn Joan Crawford –« Auden murmelte: »Scheiß«, sah, daß O’Yee ihn böse anfun147
kelte, und täuschte vor, der Ausdruck beziehe sich auf die Nudeln. »Und Teddy Wong?« fragte Feiffer. »Bette Davis. Und in diesem Film ist Bette Davis –« Spencer sagte aufgeweckt: »Meine Mutter sah sich diese Filme immer spät nachts im Fernsehen an. Bette Davis war immer die Bösartige und wollte irgend etwas von Joan Crawford – eine Erbschaft oder so was – und sie versuchte dauernd die Ärzte und Joan Crawford selbst davon zu überzeugen, daß sie nicht mehr bei Trost sei, mit Tonbandaufnahmen von toten Familienangehörigen und so, nicht –« »Und Botschaften an Fenstern und auf Zigaretten –« ergänzte Feiffer. O’Yee stimmte triumphierend zu: »Genau!« Spencer sagte leise: »Das Leben ahmt die Kunst nach ...« Auden murmelte: »Was soll denn das heißen?« O’Yee rieb sich die Hände. »Richtig! Und dann kommen die beiden Filmproduzenten Kong und Wu dran, mitten in der Palmen-Bar – Jack the Ripper schlägt im alten London zu. Dann werden Shimada und Mukherjee in ihrem Zimmer halb um den Verstand gebracht und über die Treppen in die Halle getrieben, wo die Million Dollar im Glaskasten – ›Der große Dreh‹. Goldfinger in Fort Knox, alle George-Segal-Filme, die je gedreht worden sind – der alte Scheiß mit der Nazibeute im See – und dann –« Feiffer sagte: »Und dann verbrennt der Astronaut das Geld zu Asche. Warum?« O’Yee antwortete: »Damit Bette Davis, die Böse, die Wahrheit erfährt, daß jemand es auch auf sie abgesehen hat – das ist ein Doppelspiel – Sie wissen schon, daß, zum Beispiel, der Arzt, mit dem sie unter einer Decke steckt, der insgeheim Joan Crawford das Gift gibt –« Spencer unterbrach: »Sie behaupten, Wong hätte eine Art Abmachung mit dem Astronauten über die Million Dollar gehabt –« Feiffer warf ein: »Und mit den japanischen Yakuza –« »– die Dollarmillion zu stehlen –« »Ja«, sagte O’Yee. »Und Der Grüne Schleim. Der arme, ehrliche Kerl, zur Mitarbeit gepreßt, weil seine Familie als Geisel der 148
entsprungenen Sträflinge –« »Den hab’ ich gesehen«, fiel Auden ein. »Da kam einer vor, der im Fernsehen Ben Casey spielt.« Er sah Spencer an. »Sie wissen doch, Mann, Frau, Geburt, Tod, Unendlichkeit ...« Spencer, kein großer Fernsehfreund, sah ihn verständnislos an. »Sie wissen doch, und dann – peng! – fliegen in der Klinik die Türen auf, und herein kommt –« Auden beugte sich aufgebracht wieder über seine Nudeln. »Ach, geschenkt!« O’Yee sagte entschieden: »Ein ganzes Sammelsurium von Filmgeschichten. Das hört sich alles an wie –« Feiffer wiederholte die Worte des Commanders: »Wie die Handlung eines Science-Fiction-Films ...« »Wie eine ganze Menge Filme, Harry! Wie alle Filme zusammen, die je gedreht worden sind!« »Und Bell?« fragte Feiffer. O’Yee gestand: »Das weiß ich nicht.« Er schwieg einen Augenblick: »Gary Cooper in ›Zwölf Uhr mittags‹?« Er drehte sich nach Auden um. »Das war der, wo alle Leute in der Stadt Marshal Kane einen Tritt gaben, und er allein gegen die Bösewichte antreten mußte und –« »Ich habe ›Zwölf Uhr mittags‹ gesehen!« bellte Auden zurück. »Wofür halten Sie mich? Jeder hat ›Zwölf Uhr mittags‹ gesehen!« »Wenn Bell unschuldig war«, warf Feiffer ein. »Warum hat er im Büro alle Leute gewarnt, wenn er es nicht war?« »Mag sein«, gab Feiffer zu. »Wenn er unschuldig war, wer sind dann die Leute in der Stadt, die ihn treten? Wir?« »Kann sein, ja!« O’Yee sagte flehend: »Allmächtiger Gott, Harry, jeder, der Bell je begegnet ist, behauptet, er sei der tapferste Mann gewesen, den es je gegeben hat. Wenn jeder das sagt, dann vielleicht –« »Dann vielleicht liegt es nur an unseren schmutzigen, argwöhnischen Gedanken«, ergänzte Feiffer für ihn. »Stimmt’s?« »Vielleicht. Ja.« Feiffer lächelte schwach und wiegelte ab: »Okay, okay, Sie wollen mir einreden, das alles sei eine Mixtur woraus? Aus ›Der Tag, an dem die Erde still stand‹ oder ›Invasion vom Mars‹, ›Hysterie‹ oder wie die Davis-Crawford-Filme alle hießen, Scheiß149
›Zwölf Uhr mittags‹ und – was noch?« »Nein, ich glaube, das waren alles nur die Nebenhandlungen für das Eigentliche.« O’Yee betonte mit der mühelosen Einsicht des lebenslangen Cineasten: »Nein, ich glaube, der, dem das eingefallen ist, verkaufte es an Leute wie Wong und die Yakuza und bis zu einem gewissen Grad Dem Grünen Schleim, weil alle diese Geschichten so bekannt und abgedroschen sind, daß sie sofort als Wirklichkeit erkennbar werden. Dabei haben sie mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun, aber Leute, die ihr Leben lang ins Kino gelaufen und davon beeinflußt sind, sehen das als Wirklichkeit! Das ist wie bei dem Übermaß an Gewalt im Fernsehen. Wenn du deine ganze Kindheit und dein Leben lang das siehst, glaubst du mit der Zeit, die normale, die übliche, die einzige Methode, mit jeder kleinen seelischen Belastung fertigzuwerden, ist die, Pistolen zu ziehen und die Leute niederzuknallen.« O’Yee, in vollem Überschwang, fuhr fort: »Ich glaube, der Astronaut hat hinter alledem eine ganz echte, originelle, eigene Idee stecken und die Filmgeschichten nur dazu benutzt, die Idee den Idioten zu verkaufen, die er als Gehilfen brauchte.« »Warum hat er dann das Geld verbrannt?« »Weil es darauf nicht ankam. Der Preis von einer Million Dollar stammte geradewegs aus einem Film. Was er in Wirklichkeit wollte –« O’Yee sagte realistisch: »Allmächtiger, wie deutlich soll er noch werden? Nicht nur der Gedanke, die Million in der Vitrine zu stehlen, stammt direkt aus einem Film – ›Topkapi‹ oder was weiß ich – das gottverdammte Geld war auch noch Filmgeld! Die Kosten für zehn Minuten Dreharbeit!« »Die geisterhaften fünfundvierzig Millionen.« Feiffer sagte: »Wenn die Million die Beute war, die Wong erwartete –« »Nach dem, was die Wirtschaftsabteilung und Ashwood Ihnen berichtet haben«, sagte O’Yee, »darf man wetten, daß er, wenn schon nicht sie, doch die Geschäftsführung des ›Empress of India‹ bekommen hätte, sobald die Yakuza es übernahmen.« »Der Grüne Schleim hat behauptet, Wong wußte von den fünfundvierzig Millionen. Er sagte, er hätte sie erwähnt.« »Vielleicht hat er das«, meinte O’Yee. »Vielleicht hat der Astronaut Wong aufgetragen, das zu sagen.« Er fuhr leise fort: »Das ist auch aus einem Film – eine kleine Erfindung, damit das Ganze echt, ganz groß und unaufhaltsam wirkt. Nur war es die150
ses Mal keine Erfindung!« Auden fragte: »Wie viele Scheißfilme sind denn da beteiligt?« Feiffer wollte noch einmal mit müder Stimme wissen: »Warum hat er dann die Million Dollar verbrannt?« »Um jemanden davon zu überzeugen, daß der Film nicht immer so verläuft, wie die Filme verlaufen. Daß es kein berechenbares Ende geben würde. Warum, glaubt ihr, hocken alle die Filmleute ganz brav und sittsam wie die kleinen Kinder in der Hotelhalle herum? Das sind keine Londoner beim Luftangriff mit der V 1, die sich vor den Luftschutzkellern anstellen und darauf warten, daß Winston Churchill sie zum Durchhalten ermahnt – das sind Asiaten. Eigentlich sollten sie Amok laufen, schreien, mit den Armen fuchteln und nach Fleischermessern suchen, um über die Polizei herzufallen. Statt dessen sind sie psychologisch am Boden zerstört. Sie sind Filmproduzenten! Sie sitzen da, weil sie zuletzt so weit gekommen sind, daß sie ihren eigenen Käse selber glauben und weil am Ende ihrer Filme alles gut ausgeht, und deshalb glauben Sie –« O’Yee sagte mit dem selbstzufriedenen Lächeln des Eingeweihten: »Können Sie sich etwas vorstellen, das besser dafür geeignet ist, einen Filmmann davon zu überzeugen, jemand meine es ernst, als Geld zu verbrennen? Das tut keiner – nicht einmal Marlon Brando! Die ganze Sache, das ganze geplante, ausgearbeitete und ausgeführte Drehbuch zielt auf einen einzigen Punkt ab – es ist eine Art PR-Manöver, um eine einzige Gruppe von Menschen zu terrorisieren – die Leute in diesem Hotel – die Filmmenschen. Warum denn sonst nicht einfach ein paar Leute auf der Straße niederbrennen oder –« Feiffer stellte die vernünftige Frage: »Aber wozu terrorisieren, Christopher?« »Daß sie die fünfundvierzig Millionen Dollar hergeben!« Feiffer sagte: »Welche fünfundvierzig Millionen Dollar?« »Das weiß ich nicht.« Auden warf ein: »Den Film hab’ ich gesehen. Er hieß ›McQ‹.« Er sah O’Yee wegwerfend an. »Am Ende stellte sich heraus, daß der Polizeibeamte der Täter war.« Er gab mit tiefer Empfindung von sich: »Ein schöner Quatsch!« Es existierte noch ein Film, ein Stummfilm-Epos, gedreht 151
1921, mit dem Titel ›Des Schurken wohlverdiente Strafe‹. Darin bekam der Hüne, der in einem Eßlokal am Tisch sitzt und verächtliche Bemerkungen über den armen, aber ehrlichen und fleißigen Streber macht, einen Teller voll Nudeln für seine Mühe ins Gesicht. Zum Glück für Auden schien O’Yee den Streifen unerklärlicherweise verpaßt zu haben. Bell. Da war immer noch Bell. Mrs. Bell mußte neben ihm stehen, weil Ashwoods Stimme sanfter, als Feiffer erwartet hatte, zu ihm sagte: »Ja? Jack Ashwood.« »Tut mir leid, daß ich Sie gerade jetzt stören muß, Jack. Hier Harry Feiffer.« (Ashwood sagte leichthin: »Ja, ich weiß.«) »Aber ich dachte, ich könnte ein Wort mit Mrs. Bell sprechen und versuchen –« Ashwood antwortete eisig: »Ja, vielen Dank. Sehr freundlich von Ihnen. Ich gebe Ihre Beileidsbekundung an Mrs. Bell weiter.« Er schien den Mund kurz von der Muschel wegzudrehen. Feiffer hörte ihn sagen, alles sei in Ordnung, nur jemand vom Amt. Mrs. Bells Stimme fragte ganz deutlich, den Tränen nahe: »Das ist er, nicht?« Ashwood sagte zu Feiffer: »Sonst noch etwas ?« »Ja. Ich möchte versuchen, ihr zu erklären, daß ihr Mann einfach –« Feiffer wich verlegen aus: »Daß es so viele ungeklärte Fragen gibt – der Anzug und Bells Verschwinden im Hotel, als das Geld verbrannt wurde, und –« Es war aussichtslos. »Ich habe mir nur überlegt, ob sie vielleicht etwas weiß, das –« »Was sollte sie wissen?« Feiffer hörte Ashwood im Befehlston sagen: »Sie gehen und legen sich hin. Ich rede mit ihm. Wenn Sie wollen, kann ich meine Frau oder jemanden von den Nachbarn –« Ashwood wimmelte ihn ab: »Ich glaube nicht, daß sie zu Ihnen irgend etwas zu sagen hat.« »Hören Sie mal, ich mache das ja schließlich nicht, um Witwen zu quälen! Da läuft ein Wahnsinniger mit einem Flammenwerfer herum und sucht weiß Gott was –« Ashwood sagte mit triefender Ironie: »Fünfundvierzig Millionen Dollar. Ja, ich habe mit dem Commander gesprochen.« »Ja, fünfundvierzig Millionen Dollar! Weiß der Himmel, wo 152
die sein sollen, weiß der Himmel, wo der verschwundene Brandschutz-Anzug ist, in dem er danach sucht, und weiß der Himmel, wo dreihundert Liter Scheißbenzin sind – aber das ist alles, was ich habe – und wenn sie irgend etwas dazu beisteuern kann – irgend etwas –« Ashwood ging gar nicht darauf ein. »Ihr Mann war ein Held. Er war ein Held im Krieg, bei einer Reihe von Gelegenheiten – fragen Sie Ihren eigenen Commander – er war ein Held im Feuerwehrdienst, und als er starb – starb er bei dem Versuch, Ihren Scheißleuten das Leben zu retten!« »Er starb, als er eine Tür zumachte, um uns fernzuhalten! Ich will den Grund wissen!« Ashwood preßte hervor, etwas anderes unterdrückend: »Jeden Tag seines Lebens war dieser Mann ein Held. Jeden Tag seines Lebens –« »Was heißt das?« »Das heißt etwas, wovon Sie nichts verstehen! Es heißt, das, was er jede gottverdammte wache Minute in seinem Leben machte, die paar Scheißorden in Vietnam in den Schatten stellt! Es heißt –« Ashwood verstummte und sagte leise zu Mrs. Bell: »Nein. Das geht ihn nichts an.« Er schien es nicht auf sich beruhen lassen zu können. »Es heißt, daß der Tapferste der ist, der Angst hat und nichts sagt! Das heißt es!« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Feiffer sagte in verständnisvollem Ton: »Hören Sie, ich bin bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß er unschuldig ist – kann ja sein, daß er gar keinen solchen Anzug in seinem Auto hatte –« Ashwood brauste mit Vehemenz auf: »Wieder die Stunde für den klugen Saukerl, wie? Weil man Ihnen schon gesagt hat, daß er einen hatte, was?« »Sagen Sie mir, er hatte keinen, und ich glaube Ihnen aufs Wort! Was meinen Sie damit, daß er jeden Tag seines Lebens ein Held gewesen sei? Als ich einmal im Depot anrief, hieß es, er sei im Kino. Da war er aber nicht. Wo ist er dann gewesen?« »Vergessen Sie’s.« Ashwood erklärte entschieden: »Ich will nichts mehr sagen. Der Mann ist genug mit Dreck beworfen worden, und ich –« Feiffer hörte Mrs. Bell im Hintergrund ausrufen: »Um Himmels willen, Jack –« Ashwood weiter: »Ich lege 153
jetzt auf, bevor ich etwas sage, das ich als Beamter vor dem Scheißgericht bedauern könnte!« Mrs. Bells Stimme sagte im Hintergrund klar und deutlich: »Um Himmels willen, George brauchte diese Heldenverehrung nicht. Er war ein stiller Mensch, kein –« Mrs. Bells Stimme klang plötzlich ganz ruhig: »Jack, wenn Sie ihm nicht die Wahrheit sagen, werde ich –« Ashwood brüllte beinahe ins Telefon: »Sie regen sie auf. Sie sind –« »Welche Wahrheit? Würde mir das vielleicht jemand sagen? Welche Wahrheit?« Um Ashwoods Aufmerksamkeit wieder zu erlangen, stellte Feiffer nochmals klar: »Bell war im Hotel, als das Geld verbrannt wurde. Er muß gehört haben, wie es passierte. Warum ist er nicht sofort in die Halle heraufgekommen und hat beim Löschen mitgeholfen?« »Geh’n Sie zum Teufel!« »Wovor hatte er Angst? Hatte er Angst vor etwas in diesem Hotel?« Als Bells Freund behauptete Ashwood: »George Bell hatte vor gar nichts Angst.« Mrs. Bell schrie: »Jack! Das hätte er nicht haben wollen!« Feiffer brüllte: »Was? Was, zum Teufel noch mal, wissen Sie und sagen es mir nicht?« »Nichts!« »Hören Sie, Ashwood, einige Menschen sind gestorben! Für mich kann ebensogut der verrückte Scheiß-Bell dahinterstekken!« »Halten Sie das Maul! Der einzige verrückte Scheißkerl hier ist –« Ashwood schrie Mrs. Bell an: »Nein, er war mein Freund!« »Er war mein Mann!« Es wurde still. Ashwood holte tief Luft. Im Hintergrund konnte Feiffer eine Frau weinen hören. Ashwood sagte: »Also gut!« Leise an Feiffer gerichtet: »Also gut. Die Wahrheit ist –« Es fiel ihm schwer. Er atmete tief ein. »Die Wahrheit ist – George Bell hatte Angst vor Rauch!« Ashwood sagte bitter: »Jetzt wissen Sie’s. Er hatte Angst vor Rauch!« »Ist das Ihr Ernst?« »Ja, mein verdammter Ernst! Himmelherrgott, Sie sind doch 154
ausgebildeter Ermittlungsbeamter! Haben Sie nicht gesehen, wie er in der Halle auf das Büro zurannte? Er war im Gesicht feuerrot und ganz außer –« Ashwood fragte wütend: »Also gut? Zufrieden? Ja, er sollte im Wagen eigentlich einen Brandschutz-Anzug mitführen, und nein, um ganz genau zu sein, das tat er nicht!« Der Damm war gebrochen. Ashwood sprudelte los: »Na gut, er hat gelogen, weil er der Feuerwehr nichts davon sagte, und Menschenleben aufs Spiel gesetzt, weil er den einzigen Job behalten wollte, der ihm etwas bedeutet hat, aber persönlich, rein persönlich ist mir das scheißegal! Dieser Mann hatte das Seine getan, und wenn er sich mal eine kleine Scheißpause gönnen wollte, dann hatte er sich die, gottverdammt noch mal, hundertfach verdient!« »Wenn er den Anzug nicht im Auto aufbewahrte, wo dann?« »Woher soll ich das wissen? Er war nie gezwungen, ihn anzulegen, also ergab sich die Frage nicht, oder? Und ich habe nicht gefragt.« Ashwood warnte: »Und glauben Sie ja nicht, wenn Sie mit Ihrer Geschichte zur Feuerwehr rennen und die Schweinehunde ihm die Pensionsrechte nehmen wollen, daß seine Witwe ohne Geld dasteht, weil dieser Mann mehr Freunde – echte Freunde – hatte, als Sie sich –« »Soll das heißen, daß er den Anzug nicht mit sich geführt hat? Wenn der Bedarf sich einstellen sollte, hätte er der Feuerwehr erklärt, er hätte ihn vergessen, und das –« Feiffer sagte abrupt: »Wo ist er nachmittags hingegangen, wenn er angeblich im Kino war?« »Zum Scheißarzt!« »Warum?« Im Hintergrund verlangte Mrs. Bell mit gefaßter, fester Stimme: »Jack, geben Sie mir den Hörer.« Einen Augenblick später war sie am Apparat. »Hier Irene Bell, Mr. Feiffer.« »Mrs. Bell, alles, was ich herausfinden will, ist –« Mrs. Bell begann zu sprechen: »Mein Mann, Mr. Feiffer –« Sie verstummte, als Ashwood im Hintergrund leise flüsterte, und antwortete dann scharf: »Nein. Mein Mann, Mr. Feiffer, führte seinen Anzug nicht im Auto mit, weil er, wie Jack Ihnen eben erzählt hat, fürchtete, ihn eines Tages benutzen zu müssen. Und wenn Sie zu Jack gesagt haben, daß mein Mann auffällig vermied, dort zu sein, wo Brände tatsächlich entstanden, trifft das 155
auch zu.« Sie schwieg sekundenlang. »Jack glaubt, jemand habe den Anzug meines Mannes gestohlen, und er habe das nicht gemeldet, weil –« Sie schien nun Ashwood anzusprechen: »Weil er Georges Freund war, mag er vielleicht sogar gedacht haben, George hätte ihn selbst gestohlen.« Ashwood war verblüfft: »Nein!« Mrs. Bells Stimme klang sehr müde. »Aber George tat es nicht, weil er eben George war. Er hatte ein Emphysem, Mr. Feiffer. Er zog sich das vor ungefähr einem Jahr zu, und es wurde rasch schlimmer. Das ist eine Lungenerweiterung, die immer mehr zunimmt, und Feuer oder Rauch –« Mrs. Bell sagte dumpf: »Deshalb hatte er Angst vor Rauch, und deshalb –« Sie fuhr traurig fort: »Wenn er den Anzug bei einem Brand getragen hätte, wäre das buchstäblich sein Tod gewesen. Er hätte ganz buchstäblich nicht mehr atmen können. Was wir alle erhofften, war ein Verwaltungsposten für ihn, etwas in der Zentrale –« Sie schwieg wieder eine Weile. »Wir hofften alle, wenn er noch dieses Jahr durchhalten könnte, bis seine Beförderung beschlossen war, könnte er –« Sie sagte leise: »Aber das sollte nicht sein. Der Anzug wurde auf dem Rücksitz seines Autos aufbewahrt, und in manchen Nächten – manchmal wurde er nachts wach – und der Gedanke an –. Er konnte nicht atmen, Mr. Feiffer, und er wollte nicht ausscheiden, weil er nach Vietnam das Gefühl hatte, er müßte auf irgendeine Weise alles wieder gutmachen – nachdem er sie alle verbrannt hatte, die – und mit einem Mönch in Saigon hing das auch zusammen. Jack weiß Bescheid. Aber er –« Sie atmete tief ein, um ihre Fassung zu wahren. »Als dieser grauenhafte, mörderische Anzug gestohlen wurde –. Er war ein gütiger, stiller Mensch, Mr. Feiffer, und er hatte Angst, und der Mensch, den ich kannte, war nicht der Papiermaché-Held, von dem alle sprachen, sondern ein –« Mrs. Bell sagte plötzlich: »Den Anzug habe ich gestohlen, Mr. Feiffer. Der Brandschutz-Anzug meines Mannes ist seit nun mehr als acht Wochen in dieser Wohnung versteckt, und es kann nicht der sein, den Sie suchen, weil ich ihn gestohlen und versteckt habe –« Feiffer fragte leise: »Und seine Freunde, wußten sie das?« Ashwoods plötzliches Verstummen hinter ihr machte eine Antwort unnötig. 156
»Nein.« Mrs. Bell gestand kaum hörbar: »Nein, niemand wußte es.« Sie atmete tief ein und sagte zu Ashwood: »Jack ...« Zu Feiffer gewandt: »Nein, Mr. Feiffer, sie waren nur seine Freunde.« »Und Ihr Mann selbst?« »Ja.« Mrs. Bell sagte: »Ja.« Es klang auf irgendeine Weise getröstet. »Ja, er wußte es. Ich bin ganz sicher.« Sie dachte nach und sagte noch einmal: »Ja ...« Ashwood, hinter ihr, blieb stumm. Mrs. Bell sprach weiter: »Er war mein Mann, Mr. Feiffer, und ich habe ihn sehr geliebt, und ich glaube, er wußte, daß ich ihn liebte, und warum.« Mrs. Bell bekräftigte leise: »Und daran glaube ich ganz fest.« Es blieb still. Nach einer kurzen Pause sagte Feiffer leise: »Ja.« Er wartete, bis sie aufgelegt hatte, dann wählte er die Nummer des Commanders und führte ein Gespräch. 22.33 Uhr. Der Astronaut entschuldigte sich am Auto bei seinen Bekannten und ging hinüber zum Hoteleingang, um sich vorzubereiten. Der Wind vom Meer her hatte an Stärke zugenommen und wehte Papierfetzen und zerrissene Flugblätter für das Festival in den Rinnsteinen und auf der Straße hin und her. Die Nacht war rabenschwarz, die Lichter von den Löschzügen und Sanitätswagen beleuchteten sie mit blauen und gelben Lichtblitzen wie einsame Häuser und Leuchttürme an einer rätselhaften Küste, fern vom Meer her gesehen. Der Astronaut beschleunigte seine Schritte, wie jemand, der sich zu einer Verabredung verspätet hat, und schwang beim Gehen die Aktentasche.
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Kapitel
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Er hatte etwas übersehen. Immer und immer wieder stellte sich das bohrende Gefühl ein, daß da irgend etwas unmittelbar vor seiner Nase lag und ihm ins Gesicht starrte, und daß er es in dem Sumpf von Handlungshaupt- und Nebenfäden übersehen hatte. Feiffer sagte: »Wenn es Bell nicht ist, wer dann? Und wenn nicht sein Anzug, wo kommt er dann her?« Es war Irrsinn. »Das Vernünftigste – das Unvernünftigste – ist, daß es Bell war. Unvernünftig, weil er der Letzte gewesen ist, dem wir zugetraut hätten, daß er in so etwas verwickelt ist, und deshalb –« Er verstummte. »Aber echte Polizeiarbeit ist keine Sherlock-Holmes-Geschichte. Die naheliegendste Person ist gewöhnlich diejenige, die das Verbrechen begangen hat – er war am naheliegendsten, weil –« Feiffer schüttelte den Kopf. »Nein, nur im Film ist es die unwahrscheinlichste Person, weil der Verfasser durch das Drehbuch zurückgehen und an den passenden Stellen Spuren verstreuen kann, von denen er nicht wußte, daß sie die passenden waren, bis er die erste Fassung beendet hatte – das ganze gottverdammte Ding hat überhaupt nichts Reales in sich – das klingt wie aus einem –« O’Yee nickte zufrieden: »Wie aus einem Film!« »Aber im Film wird in Wirklichkeit immer ein Fehler gemacht, Christopher. Deshalb ist es ja ein Film!« Feiffer sagte: »Dieser Agatha-Christie-Film – der ganz berühmte – wo auf einer Insel alle der Reihe nach umgebracht werden, bis keiner mehr da ist, den man verdächtigen kann, der geht davon aus, daß im wirklichen Leben jemand sich von nachgemachtem Blut täuschen lassen würde, und daß einer nicht erkennen könnte, ob jemand wirklich tot ist –« O’Yee hakte sofort ein: »›Letztes Weekend.‹ Dieser Schweinehund, wer er auch sein mag, scheint keinerlei Fehler gemacht zu haben. Und gerade wenn wir glauben, es könnte gar nicht anders sein, als daß Bell –« Feiffer sagte: »Wenn der Astronaut das alles Schritt für Schritt geplant hat, sollte er nicht über Filme nachdenken, sondern sie selber drehen.« »Schade, daß Wong umgebracht worden ist«, bedauerte 158
Spencer hilfreich. »So? Ich habe das Gefühl, daß er uns nichts hätte sagen können, selbst wenn wir ihn zu Mus geprügelt hätten. Am Ende schien es Wong nur noch darum zu gehen, daß der Astronaut die Million Dollar angezündet hatte. Ich glaube nicht, daß Wong auf einen Bankrott zusteuerte. Ich glaube, Wong wurde genauso an der Nase herumgeführt, und er glaubte ehrlich, daß der Astronaut nur dabei sei, um ihm bei seinen Plänen zu helfen, das Hotel den Yakuza zuzuschanzen und selbst als Direktor eingesetzt zu werden.« Feiffer dachte das zu Ende und sagte: »Wenn er die Pläne des Astronauten gekannt hätte, dann hätte er auch gewußt, wer der Astronaut ist. Aber als das Geld futsch war, stellte er sich nicht in seiner Rolle als Zivilist, sondern verbarrikadierte sich mit einem Messer im Hotel. Ich glaube, Wong hat vielleicht den Yakuza eine Idee verkauft, dann kam der Astronaut mit einer anderen, die auf dieser aufbaute, und das Angebot des Astronauten erhielt den Zuschlag.« O’Yee antwortete langsam: »Wollen Sie behaupten, in dem Hotel sei nichts, was fünfundvierzig Millionen Dollar wert wäre?« »Nein, ich behaupte, es ist da. Da der Astronaut eine Million Dollar verbrannt hat, können wir davon ausgehen, daß das, was er tatsächlich haben will, mindestens mehr wert ist als das. Ich glaube, die fünfundvierzig Millionen könnten, was Wong betrifft, nur ein Köder gewesen sein, den ihm die Yakuza hinhielten, aber was den Astronauten angeht, gibt es sie wirklich. Als der Astronaut die Million verbrannte, könnte Wong das begriffen haben. Daß er nicht mehr der Boß war, sondern nur noch ein entbehrlicher Gehilfe.« Spencer sagte: »Weil der Astronaut, als Der Grüne Schleim nicht auftauchte, zu dem Schluß kam, daß dieser Teil des Plans – die Nebelwand – nicht funktionieren würde.« »Ich weiß nicht. Mag sein. Aber eine Nebelwand wofür, das fünfundvierzig Millionen Dollar wert war? Und wenn es Bell gewesen ist, der den Raumanzug geliefert hat, was hätte er außer einer Mietgebühr zu erwarten gehabt?« Feiffer stellte fest: »Aber Bell war es nicht, und wir haben gar nichts, wir stehen genau da wie am Anfang.« Er seufzte bitter: »Vielleicht sollten wir den Polizeidienst vergessen, die Handlung aufschreiben und sie 159
Agatha Christie für ihr nächstes Buch verkaufen.« O’Yee, dessen Theorien gänzlich unbeachtet blieben, murrte: »Die ist längst tot.« Feiffer sagte halblaut: »Die hat Glück.« Wie er es auch drehen und wenden mochte, es lief immer wieder auf Bells Anzug hinaus. Bells Anzug lag in einer verschlossenen Aktentasche ganz unten in Mrs. Bells Schrank. Feiffer warf einen Blick auf O’Yee und bemerkte: »Irgendwo steckt ein Fehler, weil das eben nicht in einem Film spielt. Irgendwo ist ein Irrtum, weil da eben keine Schwarzblende kommt, während das Publikum meint, da fände etwas statt – in der wirklichen Welt gibt es das nicht. Irgendwo mußte der Astronaut durch eine Straße gehen und etwas tun, oder ein Haus betreten und eine Kleinigkeit erledigen, wobei er einen – aber was?« Auden, in seiner eigenen kleinen Welt, sagte: »Eines, was mir am Film nicht gefällt, ist, wo sie die Waffen herbekommen. Ich habe neulich einen Film gesehen, der in London spielte. Die Bösewichte brauchten ein paar Schußwaffen, und da waren sie schon. In London, wenn du heutzutage eine Waffe brauchst, mußt du ungefähr fünfhundert Formulare ausfüllen und ein halbes Jahr warten.« Er sah, daß Spencer sich anschickte, Bemerkungen über Kriegsbeute und Unterwelt-Markt zu machen, und fügte als Fachmann hastig an: »Nein, das waren große Kaliber, ja, die gibt es im Krieg gar nicht, und selbst wenn man sie stehlen könnte –« Er wurde sich eines deutlichen Mangels an Interesse für seine Kommentare bewußt. »Das ist wie bei den Autojagden, wo das Auto in die Luft springt, aufprallt und weiterrast. Ein richtiges Auto liegt da, in seine Teile zerfallen, die Aufhängung ist beim Teufel. Oder die normalen Leute im Film, die ganz genau wissen, wie man ein Auto kurzschließt, oder –. Ein konkreteres Beispiel.« Er sah Spencer vielsagend an. »Oder der weiß, wie man ein Scheißauto vom anderen unterscheidet!« Spencer senkte den Blick und zog bedauernd die Schultern hoch. Feiffer sagte schwerfällig: »Soviel wir wissen, war das einzige Auto, das der Astronaut benutzt hat, vermutlich sein eigenes, ohne Zweifel korrekt zugelassen, versteuert, völlig in Ordnung und wahrscheinlich genau den vorgeschriebenen Scheißdruck in allen vier Scheißreifen –.« Um von Bell ein für allemal loszu160
kommen, sagte Feiffer: »Paßt auf. Bell: Was hat er im Hotel gemacht? Er blieb stehen, ja? Er packte die Tür. Er blickte nach oben –« Auden meinte ernsthaft: »Vielleicht – hat er gebetet. Er wußte, daß er dran war, und –« Spencer sagte: »– er hat die Tür zugemacht. Er –« Es brachte nichts. »Aber Bell ist es nicht. Sie haben mit seiner Frau gesprochen, Harry, und sie hat gesagt, daß sie –« Feiffer sagte abrupt: »Nein.« Großkalibrige Waffen und Autos mit verstärkter Aufhängung und normale Leute, die – Feiffer wiederholte: »Nein. Sie hat mir nicht gesagt, wie, sondern nur, daß –« Er sah, daß O’Yee ihn verwirrt betrachtete. »Sie hat mir nicht erzählt, wie sie den Anzug ihres Mannes gestohlen hat, sondern nur, daß sie es getan hat! Auden, Sie sind ein Genie!« (Auden verwirrt: »Na ja, hm –«) »Sie hat nicht gesagt, daß sie seinen Anzug aus dem Depot oder aus seinem Auto oder aus – sie sagte nur, sie hätte ihn weggenommen!« Im Film ging es dramatischer zu. O’Yee schüttelte den Kopf: »Nein, offenkundig ist sie zu seinem Auto gegangen, hat die Tür aufgemacht und –« »Wie denn?« fragte Feiffer. »Na, mit den Schlüsseln ihres Mannes, versteht sich. Sie wartete, bis er eines Abends mit dem Wagen heimkam, und –« Auden, das verfolgte Ungetüm der Automobilwelt, sagte: »Von wegen! Ich hab’ das Fenster von dem verdammten Karren eingeschlagen, und das war ein Dienstfahrzeug der Feuerwehr mit Abzeichen und allem!« »Na und?« O’Yee sah Feiffer an. Feiffer bat Auden: »Sagen Sie es ihm.« Auden machte: »Ähm –« Spencer sagte: »Wenn das ein Dienstwagen war, hätte er ihn nicht nach Hause fahren dürfen. Er hätte ihn nach Dienstschluß am Depot stehen lassen müssen.« »Er hätte ihn am Tag benutzen können. Sie könnte ihm nachgefahren sein und beim Durcheinander während eines Brandes mühelos –« »Er hat Brände gemieden«, stellte Feiffer klar. »Dann eben, während er beim Arzt war.« »Sicher. Er hatte solche Angst, seine Stellung zu verlieren, 161
weil er an einem Emphysem litt, daß er seinen auffälligen Dienstwagen nahm und direkt vor dem Haus des Doktors parkte, ja? Daß ich nicht lache. Wahrscheinlich ist er mit dem Bus gefahren!« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Auf Folgendes: Wenn sie nicht eine weibliche Ausgabe eines der Durchschnitts-Filmschauspieler von Phil war, der ganz zufällig in der Oberschule neben Biologie und westeuropäischer Geschichte auch noch die Methoden des Autodiebstahls lernt, dann muß sie, falls sie den Anzug aus dem Auto genommen hat, einen Schlüssel gehabt haben!« Bevor O’Yee protestieren konnte, sagte Feiffer: »Dem Personal dieser Station steht ein halbes Dutzend Polizeifahrzeuge zur Verfügung. Christopher, wann haben Sie das letzte Mal Schlüssel dafür mitgenommen und zu Hause in der Diele liegen lassen?« Feiffer erklärte: »Sie werden nach Dienstschluß alle abgegeben, der diensthabende Sergeant trägt das ein, und sie kommen in eine verschließbare Schublade.« »Wie ist sie dann an sie herangekommen?« »Nicht Mrs. Bell?« sagte Spencer. »Sie behaupten doch nicht, daß Mrs. Bell –« Feiffer sagte leise: »Nein, das behaupte ich durchaus nicht. Ich sage nur, Mrs. Bell hat den Schutzanzug ihres Mannes, der Anzug wurde aus seinem Auto herausgenommen, wie sie angibt, und der Anzug, den der Astronaut trägt –« O’Yee drängte: »Ja?« Feiffer sagte mit einem seltsamen Lächeln: »Ist Bells Anzug. Mrs. Bell hat genau wie ihr Mann einen Freund, und dieser Freund –« O’Yee sagte rundheraus: »Das glaube ich nicht.« »Nein? Glauben Sie nicht, daß es in der wirklichen Welt im Gegensatz zum Film jene kleine Einzelheit gibt, über die hinweggegangen wird, weil sie im Endprodukt nicht sichtbar ist? Alle die großen Szenen, die wir auf der Leinwand des ›Empress of India‹ gesehen haben – das Spektakel, das uns öffentlich vorgeführt wurde –, das war alles genau geplant, ausgearbeitet, durchdacht und fehlerlos ausgeführt, weil der Astronaut jeden einzelnen Schritt immer wieder durchging und die Zeit hatte, das wirklich auf die Beine zu stellen. Das ist seine Erfindung, 162
und er konnte sie abwandeln, wie er wollte – Zielfiguren töten, die von der Gelegenheit geboten wurden und – und den Film zu drehen! Aber Sie haben recht, Phil, die Einzelheiten – die Einzelheiten bleiben unverändert, weil sie nicht aus einem Film stammen, sondern Teil der konkreten Welt sind und zur Illusionsdarstellung gar nicht gehören.« Er richtete den Blick auf Spencer. »Man kann im Film eine wilde Autojagd machen, und man kann die Bösewichte mit Scheiß-Flakgeschützen rumlaufen lassen, wenn man will, aber man kann nichts dran ändern, daß Autos rasende Jagden nicht aushalten, wenn sie nicht verstärkt worden sind, und daß Flakgeschütze einfach nicht greifbar sind!« Auden stimmte zu: »Ja, einen Fachmann kann man mit einer Sache, die nicht stimmt, einfach nicht täuschen.« Er nickte Feiffer weise zu. »Richtig, Boß?« »Stimmt.« Feiffer sagte: »Mrs. Bell hatte einen Freund, und ihr Freund, nicht Mrs. Bell selbst, war es, der den BrandschutzAnzug gestohlen hat. Das war zwar ihr Einfall, aber getan hat er es, und es spricht allerhand dafür, danach, wie das alles geplant worden ist – wegen dem, was wir von Bell geglaubt haben – Motive, Ausrüstung, Möglichkeiten –« Feiffer überlegte: »Daß ihr Freund –« Auden heftig zu Spencer: »Stimmt!« Da zum erstenmal seit dem Tod des Straßenkehrers die Einfachheit des Ganzen kristallklar und plausibel erschien, sagte Feiffer leichthin: »Der Astronaut ist.« Er sah Auden an: »Nicht wahr, Phil?« Auden erwiderte fassungslos: »Ja. Richtig.« Er sah Spencer an, ob dieser auch nickte. Spencer wirkte verwirrt. Auden sagte ohne Zuversicht: »Richtig.« Am Telefon fragte Feiffer rasch: »Mrs. Bell, ist Polizeidirektor Ashwood noch bei Ihnen oder schon fort?« »Er war kurz weggegangen.« »Aha.« Feiffer atmete tief ein und formulierte langsam: »Mrs. Bell, würden Sie für mich etwas tun? Würden Sie in die Küche gehen, das größte, schärfste Messer holen, das Sie finden können, und damit zum Telefon zurückkommen, damit ich Sie bitten kann, für mich etwas sehr Wichtiges zu tun?« Feiffer sprach 163
ruhig und gefaßt weiter: »Ich wäre in diesem Augenblick sehr dankbar, wenn Sie mich nicht nach dem Grund fragen würden.« Fünfundvierzig Millionen Dollar. Er hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, wo sie waren oder was sie waren, aber während er wartete und alles noch einmal durchging, glaubte er bei Gott zumindest genau zu wissen, wer sie zu stehlen versuchte. 23.25 Uhr. Der Astronaut, noch in Zivilkleidung, seine Aktenmappe in der Hand, ging gelassen durch die stummen Menschenmengen in der Hotelhalle und blieb am Empfang stehen, um kurz mit der Nachtchefin zu sprechen und sich dadurch zu vergewissern, daß er genau in der Zeit lag. So war es. Die alte Frau am Flügel begann ein Lied aus einem der alten Luftkrieg-Filme in England zu spielen. Schade, daß die Menge nicht mitsang. An der Rückwand der Halle, nicht weit vom ausgebrannten Büro, war eine alte Standuhr aufgestellt, und der Astronaut ging hinüber und betrachtete das Zifferblatt. Auf dem Zifferblatt stand ›Läutwerk aus‹. Der Astronaut öffnete den Glasdeckel, als wolle er die Uhr überprüfen, und stellte den kleinen Hebel auf ›Stundenschlag‹. Er lächelte vor sich hin. Wie in den Titanic-Filmen und den Gespensterhaus-Filmen und allen je gedrehten Filmen über Naturkastrophen und Weltuntergang und Tod und böser Vorbedeutung würde die Uhr in der Friedhofsstille schlagen, genau um – Genau um Mitternacht. ›Ha, mir juckt der Daumen schon, sicher naht ein Sündensohn ...‹ Der Astronaut ließ den Blick über die Gesichter der hohläugigen, aschfahlen Menschen gleiten, die sich in der Halle zusammendrängten, sah sie nur als Tote, die darauf warteten, weggekarrt und verscharrt zu werden, und empfand für sie in diesem letzten Augenblick nur Haß. 23.27 Uhr. Er ging rasch zu seinem vorgesehenen Platz, um die verbleibenden Minuten abzuwarten. 164
Kapitel
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Wenn das ein Film war, dann – Feiffer sagte am Telefon schnell: »Nein, ich versichere Ihnen, Ihr Mann ist als Verdächtiger ganz ausgeschieden. Haben Sie das Messer und die Aktentasche?« Mrs. Bell gab zweifelnd zurück: »Ja.« Dann Schweigen. Feiffer munterte sie auf: »Mrs. Bell, das einzige Mal, als Ihr Mann den Astronauten tatsächlich im Anzug gesehen hat, war im Direktionsbüro, bevor er starb. Vorher konnte der Anzug, was ihn anging, ebensogut von einem Kostümverleih oder –« Mrs. Bell sagte leise: »Und wenn er es gewußt oder geahnt hätte –« »Das war nicht der Fall. Als ich im Depot anrief, war er nicht da, und ich sprach mit –« Mrs. Bell tonlos: »Und wenn er es gewußt oder geahnt hätte, er hätte nichts verlauten lassen, weil man ihn für einen Feigling gehalten hätte, da er den Diebstahl nicht gemeldet hatte. Meinen Sie das?« »Nein, das meine ich nicht. Ich glaube, der Astronaut dachte, er hätte sofort Meldung erstattet, sobald er ihn sah, verließ sich aber darauf, daß Ihr Mann beim ersten Anzeichen von Rauch und Feuer –« Feiffer sagte hastig: »Mrs. Bell, zu der Zeit konnte ich mir nicht erklären, was Ihr Mann im Hotel machte, als das Geld verbrannt wurde, und warum er nicht schleunigst in die Halle rannte, um beim Löschen zu helfen. Was ich jetzt vermute, angesichts dessen, was Sie mir über ihn erzählt haben, ist, daß Ihr Mann in dem Wissen, er könne nicht an Ort und Stelle helfen, das Hotel von oben bis unten durchsuchte, weil er verhindern wollte, daß diese Situation sich überhaupt ergeben konnte. Ich glaube, er hat etwas gefunden und versuchte alle Leute hinauszubefördern, bevor es passierte.« »Was?« »Das weiß ich nicht.« Mrs. Bell fragte: »Aber passiert ist nichts, oder? Nichts, was er hätte ändern können. Jack Ashwood sagte, der Astronaut sei in den Lüftungsschächten gewesen, nicht im Keller, und selbst wenn George –« 165
»Nein, etwas anderes. Etwas, das mit dreihundert Litern Benzin zusammenhängt.« Feiffer resignierte mutlos: »Aber ich weiß nicht, was.« Er flehte sie an: »Bitte. Schieben Sie das Messer unter die Schließen der Aktentasche – lassen Sie die Schlösser sein – schlitzen Sie die Tasche auf und reißen Sie das Messer fest durch.« Wenn das ein Film war, dann – Feiffer sagte drängend zu der schweigenden Frau: »Hören Sie, wenn Sie Ihren Mann völlig entlasten wollen, dann schieben Sie um Gottes willen das Messer unter den Schließen hinein und brechen Sie die Tasche auf!« Wenn das ein Film war, dann – Feiffer sagte, bemüht um Sachlichkeit: »Mrs. Bell, hören Sie, wenn Jack Ashwood da wäre, dann könnte ich –« Er warf einen Blick auf O’Yee, der ihn beobachtete, und flehte in der Stille des Dienstraums mit gedämpfter Stimme: »Machen Sie schon, bitte!« Er hörte ein knallendes Geräusch und fragte besorgt: »Haben Sie es getan? Ist die Tasche offen?« Nach einer Pause erwiderte Mrs. Bell, noch immer nicht überzeugt, mit ruhiger Stimme: »Sie ist offen.« »Und?« Es war so. Es war ein Film. Und der Produzent hatte seinen kleinen Fehler in der Realität zwischen den Szenen gemacht. Mrs. Bells Stimme klang leise und überrascht: »Sie ist leer, Mr. Feiffer. In der Tasche ist nichts. Kein Anzug, kein –« Sie schien plötzlich zu erschrecken. »Sie ist leer! Der Brandschutz-Anzug meines Mannes ist gar nicht da!« »Mrs. Bell, ich weiß, daß Sie die Geschicklichkeit nicht besitzen, Schlösser an Autotüren zu knacken und mit einer gestohlenen Diensttasche der Feuerwehr unter dem Arm ganz offen davonzugehen ...« Feiffer sagte, um Fassung bemüht: »Also erklären Sie mir, bitte: die Aktentasche – wer hat sie Ihnen gebracht?« Wenn man alles zusammenfaßte und berücksichtigte, daß Bell es gewesen war, den man von Anfang an verdächtigt hatte, der Name, den sie ihm nannte, hätte angesichts der engen Verbindung mit Bell in jeder Beziehung ihn eigentlich gar nicht überraschen dürfen. Feiffer sagte: »Ich danke Ihnen sehr.« Fünfundvierzig Millionen Dollar ... Feiffer sagte zum zweitenmal: »Ich danke Ihnen wirklich sehr.« Es war genau 23.35 Uhr. Aus irgendeinem prophetischen Grund blickte er auf die Wanduhr. 166
O’Yee stand an seinem Schreibtisch, um dramatischer aufzutreten, und sagte: »Was für fünfundvierzig Millionen Dollar? Es gibt keine fünfundvierzig Millionen Dollar!« Ein kleiner Teil seines Zorns war Schuldbewußtsein wegen seiner eigenen geistigen Unzulänglichkeit. »Ist ja schön und gut, von fünfundvierzig Millionen Dollar zu reden, wenn fünfundvierzig Millionen Dollar da sind – aber die gibt es nicht! Wir wissen nicht mehr als am Anfang! Alles, was wir haben, ist noch ein Verdächtiger, und wir – wir haben keine fünfundvierzig Millionen Dollar – und wir haben keine verschwundenen dreihundert Liter Benzin! Es gibt überhaupt nichts, was so viel Geld wert wäre – nicht im Hotel, nicht in der ganzen Kolonie, nicht auf der ganzen –. Wir wissen, wer er ist – warum ihn nicht einfach festnehmen und –« Feiffer fauchte wütend: »Und was? Es aus ihm herausprügeln? Was aus ihm herausprügeln? Verraten Sie mir, worauf er es abgesehen hat!« Spencer schüttelte den Kopf und sagte verzweifelt: »Es muß etwas Kleines oder wenigstens Tragbares sein. Es muß etwas sein, das er forttragen kann –« Auden fragte: »Was denn? Das Hotel?« O’Yee spottete: »Sicher, das Hotel. Natürlich ist es das Hotel. Er nimmt das Hotel mit und baut es für die Yakuza in der Innenstadt von Tokio wieder auf, aber Sie wissen ja, wie die Japaner sind, die wollen alles ganz klein haben, und das Hotel kommt ihnen ein bißchen groß vor, deshalb brennt er es freundlicherweise Stück für Stück nieder, damit er es in seine Scheiß-Handtasche stecken und leichter tragen kann!« Er fuhr Auden an: »Natürlich ist es nicht das Scheißhotel, Sie Vollkretin! Es ist etwas Großes, Millionen wert, das er –« Er verstummte. »Wie, zum Teufel, kann es groß und so viel Geld wert sein, wenn es klein ist?« Er sah Feiffer an. »Harry, wir haben nur die Behauptung vom Grünen Schleim, daß es die fünfundvierzig Millionen Dollar überhaupt gibt – und er hat das von Wong, der das falsch verstanden haben oder auch als Köder geschluckt haben könnte. Woher wissen wir, daß der Astronaut es nicht auf etwas ganz anderes abgesehen hat?« »Wissen wir nicht. Aber was könnte es sonst sein? Was sonst wäre so ein Gemetzel wert? Wenn es nur, sagen wir, Schmuck in irgendeinem Hotelzimmer oder im Hotelsafe wäre, warum dann 167
nicht einfach –. Was es auch sein mag –« Auden sagte: »Es ist unsichtbar, wie der gottverdammte VWKombi!« Verärgert über seine eigene Begriffsstutzigkeit, schimpfte O’Yee: »Was, zum Henker, ist so groß wie die gottverdammte ›Queen Mary‹ – denn das ist das einzige, was fünfundvierzig Millionen was-weiß-ich wert wäre – und so klein, daß – so klein, daß man es forttragen könnte? Und wer, zum Teufel, würde es kaufen?« Er dachte nach. »Ist euch klar, daß es, wenn man es als gestohlene Ware für fünfundvierzig Millionen Dollar verkauft, auf dem legalen Markt mindestens das Doppelte wert sein könnte?« Die Zahlen verstiegen sich ins Unermeßliche. »Das einzige, was neunzig oder hundert Millionen wert wäre, ist ein gottverdammtes –« Er verstummte fassungslos. »Ist ein gottverdammtes – ist nichts! Nichts ist so viel Geld wert!« Feiffer sagte langsam: »Vielleicht besitzt es diesen hohen Wert nicht als das, was es ist, sondern als das, was es werden kann.« Er schaute sich im Zimmer um und wollte sehen, ob das Sinn ergab. Das war nicht der Fall. »Ein technologischer Durchbruch für einen Elektronikrechner etwa oder –« Auden lächelte O’Yee schwach an und sagte ruhig: »Taschenrechner kosten pro Stück zehn Dollar. Damit man da auf seine Kosten kommt –« Feiffer: »Ich meine einen Computer oder so was.« Er beantwortete seine Frage selbst. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß IBM fünfundvierzig Millionen Dollar für ein gestohlenes Stück Hardware bezahlt und dann den Rest der Ewigkeit Prozesse wegen Diebstahls und Patentrechtsverletzung führt, weil der Konzern es auch wirklich verwendet.« Feiffer rief sich das Hotel ins Gedächtnis und versuchte sich vorzustellen, wo er in einem der Korridore an einer massiv goldenen Statue vorbeigestolpert war, ohne sie zu bemerken. »Selbst Scheißgold ist nicht soviel wert – Heroin auch nicht – und –« Er sah Spencer scharf um einen Nachweis seiner teuren Ausbildung an: »Radium? Vielleicht ein, sagen wir, Pfund Radium –« Spencer zog bedauernd die Schultern hoch. »Na, ja oder nein?« Spencer sagte: »Soviel Radium gibt es auf der ganzen Welt nicht.« 168
O’Yee beharrte darauf: »Es muß etwas Großes sein! Ich mag ja blöd sein, aber ich glaube nicht, daß es irgend etwas gibt, das fünfundvierzig Millionen Dollar wert ist und nicht so aussieht, als sei es fünfundvierzig Millionen wert. Und wenn es fünfundvierzig Millionen wert ist, dann ist es groß!« Spencer schüttelte den Kopf. »Aber es muß klein sein, Christopher, sonst könnte er es nicht forttragen.« Er machte einen Vorschlag. »Ein Kunstwerk? Aber wer würde das dann kaufen? Selbst wenn du ein irrer Millionär bist, dem es egal ist, ob das gestohlen ist oder nicht, und du dich allein daran weiden willst, weil es dir gehört –« Auden fauchte: »Das kommt nur im Kino vor, nicht im wirklichen Leben!« Bevor O’Yee widersprechen konnte, fuhr er fort: »Und außerdem, wenn du so viel Geld bezahlst – selbst wenn du Millionär bist – hättest du nachher nicht mehr genug, um dir einen gottverdammten Stuhl zu kaufen, auf dem du sitzen und dich weiden kannst.« Er kam mit seinem eigenen Meisterstück daher. »Eine neu entwickelte Waffe.« O’Yee sagte halblaut: »Ja, ein Doofen-Strahl. Ein Treffer, und er verwandelt Schwachköpfe in Genies ...« Die Wanduhr zeigte 23.40 Uhr. Feiffer warf einen Blick darauf und sagte verwundert: »Aber wozu die ganze Mühe? Wenn das, wie Sie sagen, Christopher, eine Filmgeschichte ist, was für ein Film ist es dann genau?« Er hob abwehrend die Hand. »Ja, ich weiß, alles – aber trotzdem, wozu die enorme Mühe? Warum ein ganzes Gemeinwesen terrorisieren? Ein ganzes Hotel, wenn –« Feiffer wurde plötzlich klar: »Es ist gar nicht das Hotel. Wir haben uns mit dem Hotel befaßt, als wäre es das, was wir suchen, aber ganz bestimmt sind es die Leute im Hotel.« Der Gedanke zerrann. »Aber was haben die, das fünfundvierzig Millionen wert wäre? Wie viele Leute kann das Hotel aufnehmen? Zwölfhundert? Selbst wenn jemand so viele Leute mit einem Hauptgedanken zusammenbringen könnte, wäre das kein Hotel, sondern eine Scheiß-Militärbrigade oder so etwas wie ›Mord im Orientexpreß‹!« Er verlor sich in der eigenen Wirrnis. »Wie, zum Teufel, kann etwas viel Platz und gleichzeitig fast keinen einnehmen?« Er warf rasch einen Blick auf Spencer. »Wenn man von dem berühmten nichterscheinenden VW-Kombi im Parkhaus absieht?« 169
Spencer sagte: »Das war auf Film. Den gab es nicht.« Er verbesserte sich. »Das heißt, es hatte ihn gegeben. Es gab ihn, als die Aufnahmen gemacht wurden, aber als wir ihn sahen –« O’Yee meinte bitter: »Vielleicht ist er ein großer Filmliebhaber, und es geht um die ganze Ausstattung von ›Krieg der Sterne‹ und ›Unheimliche Begegnung der dritten Art‹ zusammen. Das einzige, was heutzutage auch nur annähernd fünfundvierzig Millionen Dollar wert sein kann, ist eine gottverdammte Freikarte zu den –« O’Yee sagte plötzlich: »Die Kosten für zehn Minuten Dreharbeiten an einem dieser Filme betrugen ungefähr eine Million Dollar – stimmt’s? Das ist der Betrag im Glaskasten, den der Astronaut verbrannt hat, weil das kleine Fische waren. Wenn ein Film, sagen wir, zwei Stunden dauert, würden die Herstellungskosten –« Er versuchte das im Kopf auszurechnen. »Ahm, hundertzwanzig Minuten mal ...« Enttäuscht nannte er die Gesamtkosten: »Nur zwölf Millionen Dollar.« Auden spöttelte mit krasser Ironie: »Ach, das gebe ich als Kleingeld dauernd bei Spendensammlungen.« »Und wenn es vier wären?« Spencer fragte aufmunternd: »Das wären –« O’Yee ergänzte für ihn: »Ungefähr zwanzigtausend Dollar an belichtetem Film und etwa zwanzig Dollar für die Eintrittskarten.« Er hieb mit der Faust auf den Tisch. »Und was es auch sein mag, es spielt für den Käufer keine Rolle, ob es gestohlen ist ...« Er fuhr seine Faust an: »Das ist eine Filmgeschichte! Ich weiß, daß das eine Filmgeschichte ist, aber ich kann einfach nicht –« Er geriet in Verzweiflung bis an den Rand der Unwirklichkeit. »Vielleicht ist es die Geschichte eines der neuen Filme, die morgen uraufgeführt werden, und die ganze Geschichte ist nur ein ungeheurer Werbegag. Der Gipfel an Mordfilm: Die Besetzung besteht aus verkohlten Leichen und brennenden Großstädten. Was, zum Teufel, weiß ich schon? Ich bekomme ohnehin weder in dieser Woche noch sonstwann irgendeinen Scheißfilm. Das Beste, was ich tun kann, ist, ungefähr in einem Jahr mit dem anderen Volk in irgendein Flohkino zu schleichen und –« Filme – alles führte immer wieder zum Kino zurück. Etwas, das, in der wirklichen Welt, nicht vorhanden war, keinen Platz brauchte – Feiffer sagte drängend zu O’Yee: »Christopher, wie, zum Teufel, sind wir auf die Idee gekommen, daß das alles eine 170
Art Zusammenschnitt aus Dutzenden von Filmen wäre – all die Klischees und Erwartungen aus Filmen, die längst vergessen und begraben sind –« Spencer, ein seltsames Leuchten in den Augen, hob den Kopf und strahlte: »Und im öffentlichen Bewußtsein? Ihretwegen, Christopher! Weil Sie alle Filme gesehen haben!« Auden sagte ätzend: »Der? Woher, zum Henker, sollte der fünfundvierzig –« Feiffer beachtete ihn nicht. »Oder jemand wie Sie. Sagen wir, ein –« »Ein Filmproduzent?« zweifelte O’Yee. »Die Leute im Hotel? Um was zu tun?« »Um auf etwas zu warten. Um etwas zu erwarten, das, obwohl das Hotel brennt –« Auden sagte sarkastisch: »Ja, sie erwarten, daß am Ende der Bösewicht von den Guten erwischt wird. Ich hab’ die Scheißfilme auch gesehen. Bevor ich Polizist geworden bin, dachte ich noch, sie wären wahr –« »Genau«, sagte Feiffer. »Genau was?« sagte O’Yee. »Damit sie –?« Feiffer faßte zusammen: »Was sie vorher auch getan haben mögen, also im Hotel zu wohnen – was ohnehin keine Rolle spielt, weil es nirgends anders freie Zimmer gibt ... und zu glauben, daß am Ende das Gute –« Was war so groß wie eine Galaxis und so klein wie das Bild eines VW-Kombi auf –? Feiffer sagte sofort: »Diese Carole, die Pianistin, erzählte mir, daß die Triaden ein paar von den Verleihern kontrollieren. Wenn man sich also um die Sicherheit seines Zwölf-MillionenDollar-Films sorgen würde –« O’Yee, keineswegs überzeugt, meinte: »Sie haben keinen Verleih. Deshalb sind die Produzenten zu den Uraufführungen ja hier. Wenn sie sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Filme machen, dann verstecken sie die Kopien einfach unter dem Bett, bis –« Er stellte eine rhetorische Frage. »Während ein Astronaut mit Flammenwerfer herumläuft und wahllos alles anzündet? Nein, sie würden sie in den Hoteltresor geben, weil der feuersicher ist!« »Es sind die Filme«, beharrte Feiffer. »Er ist hinter den Filmen her!« 171
»Aber die sind doch nichts wert! Das sind nur Kopien. Ein Filmemacher schickt nicht seine kleine Rolle Kodak, damit er sie mit seinem Heimprojektor vorführen kann. Er hat zwar ein Original, aber sobald er kann, läßt er Dutzende von Kopien ziehen, erstens für den späteren Verleih und zweitens für den Fall, daß dem Mutterstreifen ...« Feiffer lächelte. O’Yee konnte nicht verstehen, warum. Feiffer sagte freundlich: »Und wenn jemand wie Sie, Christopher – oder auch ein ganz gewöhnlicher Mensch, ein gewöhnlicher Kinobegeisterter – wenn so jemand einen Film sehen wollte und er nicht in ein Filmtheater gehen könnte oder wollte, um ihn zu sehen –« O’Yees Gesicht wurde aschfahl. »Er würde sich eine Videokassette kaufen, eine legale, wenn er monatelang warten will, oder wenn nicht, wenn er sie will, solange der Film noch ganz neu ist, eine Raubkopie. Ein Videoband, wie bei –« Auden nickte. »Wie bei dem Volkswagen! Wie bei dem VW, der so viel Platz gebraucht hat – der so groß war, daß er – und gleichzeitig so verdammt klein, daß es ihn überhaupt nicht gab!« Er griff nach einem Schreibblock und fragte O’Yee hastig: »Was, zum Teufel, kostet eine Raubkopie auf Kassette? Ich habe sie in den Seitengassen im Verkauf gesehen, zusammen mit den japanischen Musikkassetten und den –« Auden sagte in plötzlicher Erkenntnis: »Sie sind japanisch! Sie werden von den gottverdammten Yakuza hergestellt!« Feiffer nickte. »Christopher, Sie müssen sie schon gekauft haben. Was kosten sie? Eine ungefähr fünfzig US-Dollar? Mal wieviel? Wie viele würden sie allein in Asien verkaufen, in den Seitengassen und auf den Hehlermärkten und –« O’Yee überlegte: »Ungefähr –« Er zog die Schultern hoch. »Ungefähr, ich weiß nicht – sagen wir, jeder eine Viertelmillion –« Er sah Audens Bleistift über das Papier huschen. »Mal, sagen wir, je dreißig Dollar im Großhandel, das sind – sind ... rund siebeneinhalb Millionen Dollar, mal ...« Feiffer fragte schnell: »Und wie groß wäre so eine Kopie?« »Na ja, man müßte –. Ähm, eine Alu-Kassette mit sechs Spu172
len würde um die fünfundfünfzig Pfund wiegen. Wenn einer einen Sack hat und keiner ihn fragt, was er da macht, könnte er wohl drei wegschleppen, wenn sie alle an einem Ort sind – in einem Safe – und er Zugang zu einem Gepäckwagen hat, wie ihn Hotels ja –! Der Wert wäre dann –« Er kniff die Augen zusammen, um zu rechnen. »Sagen wir, siebeneinhalb Millionen zu dem, was man vermutlich in den Staaten und Australien verkaufen könnte – das sind, sagen wir, noch einmal sechsmal soviel – das ergibt –« Auden hob den Kopf vom Schreibblock und sagte leise: »Fünfundvierzig Millionen amerikanische Dollar.« Genau 23.43 Uhr. Der Minutenzeiger ruckte. O’Yee nickte und sagte flüsternd: »Richtig. Auf den Penny genau.« Ashwood brüllte fast ins Telefon: »Was? Sie haben was getan?« Am anderen Ende der Leitung blieb es still, und Ashwood sagte verzweifelt: »Irene! Sie haben was getan? Sie haben sie aufgemacht und ihm gesagt –« Er fragte scharf: »Wann? Wann hat er angerufen?« »Er sagte, George wäre dadurch ein- für allemal entlastet, Jack! Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte! Sofort, als ich sie aufhob, hatte ich das Gefühl, sie sei sehr leicht, und ich –« Mrs. Bell sagte zum plötzlich tutenden Wählton im Hörer: »Jack! Jack! Sind Sie da?« In der leeren Wohnung, die aufgebrochene und leere Aktentasche vor sich auf dem Teppich, schrie Mrs. Bell an der Schwelle hellsehender Hysterie: »Jack! Ich dachte, die Aktentasche für mich zu holen, wäre eine Freundestat!« 23.57 Uhr. Zeit genug. Spencer stand an der Tür, winkte die Menschen freundlich auf die Straße hinaus und sagte abwechselnd auf englisch und kantonesisch: »Keine Sorge. Es besteht kein Anlaß zur Sorge. Wir räumen nur das Hotel. Es besteht keine Gefahr. Wir gehen nur alle miteinander zum Ende der Straße, und da bekommen wir von den Feuerwehrleuten wahrscheinlich eine schöne, heiße Tasse Tee und können –«. Er sah die Pianistin an ihrem Konzertflügel stehenbleiben, ging lächelnd hinüber und be173
rührte ihren Arm. »Keine Sorge, dem passiert nichts. Wir wissen, was der Astronaut will, und holen das hier heraus, damit er sieht, wie es verschwindet, und –« Er sah Entsetzen auf dem Gesicht der Pianistin. »Es ist keine Bombe. Alles ist völlig in Ordnung ...« Die Frau schluckte und ging mit ihm zur Tür. »So ist’s gut ...« Er sah O’Yee und Auden am Empfang mit der Nachtchefin aus Israel reden. »Sehen Sie, die Polizei ist überall im Hotel, Sie brauchen sich keinerlei Sorgen zu machen ...« Er führte die Frau zu den Glastüren und schob sie sanft zu den Stufen hinaus. »So ist’s brav, schön hinaus mit Ihnen ...« Carole protestierte: »Ich bin kein Kind, Inspektor, und ich wäre dankbar, wenn Sie mich nicht behandeln würden, als sei ich eines.« Spencer, der die Worte nicht hörte, schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. Am Empfang sagte O’Yee drängend zu der Israeli: »Wie viele?« Es brauchte ein wenig mehr als Großbrandstiftung, um eine Sabra aus der Ruhe zu bringen. »Sieben oder acht«, antwortete das Mädchen. »Soviel ich weiß. Ich habe sie in Empfang genommen und quittiert, genau als das, was sie waren: belichtete Filme. Haftung nur für die Kosten des Einfliegens von Ersatzkopien aus den Studios. Das war ihre eigene Ansicht – die der Produzenten.« Die letzten Menschen gingen hinaus. O’Yee schaute sich nach Feiffer um und sah ihn kopfschüttelnd in der verkohlten Tür von Lams Büro stehen. »Wessen Idee war es eigentlich, sie in dem Tresor aufzubewahren?« fragte O’Yee. »Stammte sie von dem Mann, dessen Namen ich genannt habe?« »Ja. Er war Beamter – in Uniform –« Das Mädchen ging achselzuckend über lebenslange Wehrpflicht hinweg. »Ich habe genau das getan, was er verlangte. Die Produzenten wurden alle angerufen und darauf hingewiesen, daß der Tresor feuersicher sei. Um der Sicherheit willen empfehle man ihnen, die Filme alle zusammenzutun und –« Sie fragte knapp: »Die Kombination ist hier. Soll ich sie herausholen?« »Sobald alle draußen sind. Wenn er das Hotel beobachtet, soll er sehen, daß wir sie hinaustragen und –« Er fragte sich, warum 174
ihn das Mädchen so merkwürdig ansah. Er blieb stehen. Er blickte hinauf. Er schloß die Tür. Feiffer, in der zerstörten, verbrannten Tür, schüttelte den Kopf und sagte zu sich selbst: »Warum? Was hat er gesehen?« Da war nichts. Alles, was er gesehen haben konnte, war die Hotelhalle. Feiffer trat zwei Schritte ins Büro zurück und roch verbranntes Holz und versengten Putz. Von der Decke rieselte dünner Staub herab, als er auf den Boden trat. Feiffer sagte laut: »Er blieb stehen. Er blickte hinauf. Er –« Er trat vor, reckte den Hals zur Tür hinaus und versuchte sich zu erinnern, wo Bell gestanden hatte. Dreihundert Liter Benzin ... Aber wenn Bell gewußt hatte, wo sie waren, warum hatte er, einmal in Lams Büro, aufgegeben? Das hatte er nämlich getan – aufgegeben. Feiffer wiederholte: »Er blieb stehen. Er blickte hinauf. Dann schien er plötzlich aufzugeben, und dann –« Er starrte die Überreste der Tür an: »Und dann machte er die Tür zu und hielt sie fest.« Gegen was? Wenn er nur auf die Seite getreten wäre, um sich selbst zu retten, hätten sie den Astronauten töten können und – Alle. Er hatte versucht, alle zu retten. Feiffer sagte wieder: »Er blieb stehen. Er blickte hinauf –« Es war beinahe so, als hätte er genug, die Tür zu schließen, als hätte er nicht mehr tun können, als sei nicht mehr möglich gewesen – Um was zu tun? Um wen zu retten? Und das wie zu tun? Im Direktionsbüro hatte sich niemand sonst aufgehalten als der Astronaut und Lam und Wong, und auf der anderen Seite, in der Halle, nur –. Beide Räume waren genau gleich – Er blieb stehen. Er blickte hinauf. Als Brandschützer sah er etwas, das – Wenn jemand die dreihundert Liter Benzin in der Hotelhalle versteckt hatte, dann waren sie unsichtbar. In der Halle war nichts, das nicht auch im Büro gewesen wäre, außer – er blickte hinauf – ein Lüster und Verputz und andersfarbiger Anstrich und eine etwas höhere Decke, alle zwei Meter mit kleinen Vertiefungen, in denen – Feiffer seufzte plötzlich: »O mein Gott –!« Er kehrte ins Büro zurück und starrte an die Decke. Sie war anders. Feiffer war wie gelähmt. Er sagte ächzend: »Das kann nicht sein –!« 175
Am Empfang sagte O’Yee: »Was heißt, wieso haben wir ihn noch nicht? Natürlich haben wir nicht – wie kommen Sie auf den Gedanken –« Er sah den Gesichtsausdruck des Mädchens. »Sie sagten, er hätte Sie heute nachmittag gefragt – er ist zurückgekommen und hat das nachgeprüft, oder?« »Ja.« O’Yee fragte: »Wann?« Man hörte ein lautes Knacken, dann begann die Standuhr mechanisch zu surren, als sie zum Schlag ausholte. O’Yee griff nach seinem Revolver und stieß hervor: »Wann? Wann hat er nachgesehen?« »Eben jetzt! Er ist hier!« Feiffer schrie: »Christopher! Die dreihundert Liter Benzin – mein Gott, die sind im gottverdammten Sprinklersystem!« Er sah Ashwood durch die Tür hereinstürzen, die Waffe in der Hand. Ashwood brüllte: »Was, zum Teufel –«, dann gab es hinter Feiffer im dunklen Büro ein Geräusch, und bevor er ganz beiseite springen konnte, tauchte der Astronaut – Stellvertretender Leiter Brandbekämpfung Peter Tschang, der Mann, der genau dieselben Möglichkeiten hatte wie Bell, Bells Freund und der Freund von Bells Frau – wie eine Erscheinung aus der Hölle unter der Tür auf, zog den Abzug seines Flammenwerfers durch, ließ den Strahl brüllenden, brodelnden Feuers wie eine Lavawelle an der Decke entlangschießen, entzündete die Sprinkler und setzte in einem Sturm abstürzender, sengender, gelber Flammen die Hotelhalle augenblicklich und total von einem Ende bis zum anderen in Brand. Er hatte einen zusammengerollten Asbestsack in der Hand, einmal für den knetbaren Sprengstoff, um den Tresor zu öffnen, und dann zweitens für die Filme, die er mit einem der Gepäckwägelchen am Empfang davonfahren würde. Er feuerte noch einmal und sprengte mit einer gewaltigen Explosion die Doppeltüren aus Glas hinaus, daß Spencer von den Beinen und in einem Hagel von fliegenden Glas- und Metallsplittern auf die Straße hinausgerissen wurde. Das Israeli-Mädchen war hochgesprungen, auf ein zermalmtes, zersplittertes Fenster, und schob die Beine über die Brüstung. Der Empfang schien für den Augenblick vor dem Feuer noch geschützt zu sein. Sie warf einen kurzen Blick nach hinten, und als mitten im Inferno Schüsse fielen, weil Auden den Revol176
ver gezogen hatte und blindlings feuerte, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, schrie Gott auf hebräisch etwas zu, hatte sein Ohr und sprang in Sicherheit. Draußen hetzten Feuerwehrleute heran. Sie versuchten ihre Schaumlöscher in Stellung zu bringen. Überall schien sie Menschen kreischen zu hören.
Kapitel
19
Draußen auf der Straße brüllte Spencer: »Die Wasserschläuche an die Seitenmauern!« Die Nachtchefin aus Israel hastete, halb laufend, halb hüpfend, von einem zerborstenen Fenster davon, und er wollte hinstürzen, um ihr zu helfen, sah, daß sie sich auf wundersame Weise von ihrer Fußverletzung erholte und zum Ende der Straße floh, wo sie die Schulter eines Feuerwehrmanns packte und den Wasserstrom aus seinem Schlauch auf den hinausgesprengten Eingang richtete. Der peitschende Wasserstrahl traf die Flammen mit einem Knall, als breche Holz auseinander, und verdampfte. Im Labyrinth herabfallender Benzinflammenwände gab es freie Durchgänge. Immer stärker war die Luft von Dampf und dichtem, quellendem Rauch der brennenden Sessel und Teppiche erfüllt. Etwas Riesengroßes stürzte irgendwo mitten in den Bränden von der Decke und sprühte Funkenregen und wirbelnde Kügelchen flüssigen Feuers in die noch freien Wege. Feiffer raffte sich vom Boden hoch, würgte im dicken Rauch und sank wieder auf die Knie. Ein Schuß knallte auf der anderen Seite der Halle: Auden. Feiffer hatte seine eigene Waffe in der Hand. Er sah etwas Weißes oder Silbriges, als der Astronaut geradewegs in die Flammen am Empfang ging und verschwand. Wieder krachte etwas mitten in die Flammen hinein, als eine der Telefonzellen am Eingang zu den Küchenräumen aufloderte und wie ein ins Meer stürzendes Haus umstürzte. Die Hitze war infernalisch. Feiffer spürte, wie seine Gesichtshaut austrocknete und rissig wurde. Er versuchte O’Yee zu finden – 177
An der Rückwand preßte O’Yee sich heftig an einen Feuerlöscher. Die Flammen zerfraßen vor ihm den Boden, als streiche jemand die Fläche zu, bis ihm nur die Ecke blieb. Er packte den Löscher und versuchte ihn von der Wand zu reißen. Das Metall wurde heiß. Einen Augenblick lang sah er Auden bei den Küchenräumen auf einem Knie; der schwere Revolver suchte nach einem Ziel. O’Yee brüllte: »Phil –« Er sah Auden niederstürzen. Der Schaum aus den Hochdruck-Schläuchen fetzte sich einen Weg durch zerborstene, auseinandergebrochene Fenster in die Halle. Es gab einen ungeheuren Knall, als ein Schaumstrom eine Panoramascheibe traf und sie in rasiermesserscharfen Scherben in die Halle fegte, die Flammen traf und sich in blendend-weißen Dampf verwandelte. Der Schaum schuf eine neue Gasse. Feiffer sah die Sprinklerdüsen an der Decke unaufhörlich Benzin verspritzen. Er sah Ashwood einen Augenblick lang kopfschüttelnd bei den Telefonzellen, dann schaute der andere sich um, sprang in eine der Zellen, als eine Flammenwand ihn überfiel, und schloß die Tür. Etwas Hartes, Scharfkantiges bohrte sich in Feiffers Bein. Er hieb mit der Hand danach, um es zu löschen. Seine Kleidung schwelte. Er sah Ashwood kurz in der freigeschäumten Gasse, wie er in der Telefonzelle erstickte, und schrie ihm zu, er solle herauskommen. Der Astronaut war halb durch die Halle gegangen, schritt durch die Flammen, feuerte ununterbrochen mit seinem Flammenwerfer. Er sah neben einer Reihe brennender Sessel ein langes Sofa und blieb stehen, um eine Flamme hinauszüngeln zu lassen, die es von einem Ende bis zum anderen in Brand steckte. Ringsum stürzte Feuer und brennender Putz von der Decke herab. Mit seinem Handschuh wedelte er alles zur Seite, als hätte er Mücken vor sich. Er hielt den zusammengerollten Asbestsack in der Hand. Er hob ihn vor sich hoch, sah in einer sich lichtenden Dampfwand den Empfang ganz deutlich und setzte ihn mit einem einzigen Feuerstoß in Flammen. Feuer stürzte hinab auf die Schlüsselund Brieffächer. Papiere und Prospekte, Eintrittskarten und Broschüren, Zeitungen und Zeitschriften brannten. Die Gepäckwagen bestanden aus Metall. Ihnen konnte nichts zustoßen. Er sah in einer kleinen Nische, wo sonst Zigaretten an Gäste ver178
kauft wurden, eine Reihe von Gasfeuerzeugen und brachte sie mit einem anhaltenden Feuerstoß nacheinander zur Explosion. In seiner Nähe wurde ein Sessel mit ungeheurer Wucht von irgend etwas getroffen, das einen langen Holzsplitter herausriß. Er drehte sich um und sah Auden auf einem Knie in einem Feuerkreis seinen großen Revolver aufklappen und seine Finger zwingen, nachzuladen. Der Astronaut hob die Flammenwerferdüse, um zu zielen, aber der andere war in einer brüllenden Explosion von Dampf und Schaum verschwunden, als die Feuerwehrleute draußen das nächste Rohr einsetzten. Von irgendwo hinter ihm knallte noch ein Schuß, und der Astronaut, der Zeit genug hatte, drehte sich um und ging auf die Stelle zu, um den Schützen zu töten. O’Yee brüllte: »Verdammich, wo bist du –?« Er sah den Astronauten in den Flammen auf sich zukommen und feuerte dreimal blindlings in das Feuermeer hinein. Ein Feuerstrahl, drei Meter von seiner Schulter entfernt, erfaßte die dünne Wand und blies sie in die Luft wie eine Sprengladung. Etwas Eisenhartes traf ihn an der Schläfe, und er dachte: O Gott, meine Haare brennen! Ein Rinnsal geschmolzenen Feuers verzehrte vor ihm den Teppich, erreichte die Wand und setzte sie über seinem Kopf in Brand. Ashwood stand an der Telefonzelle und rang nach Luft. O’Yee ging auf ihn zu. Er konnte nicht hingelangen. Er spürte mehr, als daß er sah, wie seine Gestalt auf ihn zukam, und japste, bemüht, Lunge und Augen klarzubekommen, damit er zielen konnte. Die Waffe war leer. Er glaubte, in dem Getöse geschossen zu haben, aber der Rückstoß blieb aus. Seine Augen vertrockneten; er konnte nicht mehr blinzeln, um sie zu säubern. O’Yee spürte wieder Druck am Rücken von der Wand, dann fuhr etwas, das wie Glas brannte, in seinen Rücken, und er dachte: Jetzt ist es aus. Ich kann nicht mehr weg. Er versuchte die Reservepatronen aus den Schleifen am Gürtel zu ziehen. Sie waren glühend heiß. Er riß die Schleifen ab und warf sie ins Feuer, während er stürzte. Jemand packte ihn bei der Schulter, als er am Boden dahinkroch, und er hob die Waffe, um zuzuschlagen, aber seine Arme hatten keine Kraft mehr. Feiffer rief: »Christopher –!« Er war rot im Gesicht, wie einer, dem die Luft ausgeht. O’Yee fühlte, wie er zum Feuer hingezerrt 179
wurde, und ächzte: »Harry, das ist die falsche Richtung –!« Auden war einen Augenblick lang deutlich zu sehen, als er nach einem Ziel für seinen Revolver suchte. Die Flammen schlossen sich wieder um ihn. Feiffer schrie: »Er ist am Empfang –! Ich kann nicht hinüber zu –« Im Brausen gab irgend etwas ein grollenes, knirschendes Geräusch von sich – über dem Flammengebrüll deutlich zu hören –, und Feiffer sah, wie Ashwood sich aus der Telefonzelle zu befreien suchte, stolperte – und kreischte: »Der Lüster!« – als der Lüster, von seinen Halteseilen befreit, wie ein Erdsatellit durch die Flammen stürzte und auf dem brennenden Teppich zerbarst. Es gab eine Reihe von Explosionen, als die restlichen Glühbirnen in die Luft flogen, dann eine ohrenbetäubende Salve von knallenden Geräuschen, als die gläsernen Kreuzblumen und Tränen in der Hitze zersplitterten und wie Geschosse platzten. Feiffer machte etwas an der Wand. Er drückte dagegen. Eine Tür sprang auf, und da war ein Raum, frei von Flammen und Rauch, ganz normal, als sei nichts geschehen. O’Yee wollte sagen: »Was ist das?«, dann stieß Feiffer ihn mit einer Wucht, daß er auf das Gesicht fiel, in den Raum, tat von außen wieder etwas an der Wand, schloß auf irgendeine Weise, wie durch ein Wunder, hinter ihm die Tür. O’Yee konnte sich nicht darüber klarwerden, wo er war. Der Raum bewegte sich. Er sah Lichter und hörte Geräusche, dann polterte es plötzlich, die Türen gingen wieder auf, und er befand sich im Keller. Ein Aufzug – O’Yee sagte mit einem seltsamen, dankbaren Ausdruck auf dem Gesicht: »Es ist ein Lift. Harry, das ist wirklich klug ... das ist ...« Feiffer war nicht bei ihm. O’Yee sagte: »Harry – !« Die Aufzugtüren gingen wieder zu, und O’Yee schrie, einen Augenblick, bevor er sich langsam um seine Achse zu drehen und durch den Rauch in der Lunge das Bewußtsein zu verlieren schien: »Nein, nein«, quetschte sich über die Schwelle und war dort, als die Türen sich zu schließen versuchten und die elektrischen Kabel und Drähte, die sie mit ihrem mechanischen Gehirn verbanden, durchbrannten, eingeklemmt, in Sicherheit. O’Yee dachte: »Ich muß zurück ...« Nur einmal kurz frische Luft einatmen ... »Ich muß ...« Er konnte nicht wachbleiben. Eine Gasse entstand durch eine Fontäne von Schaum und 180
Dampf, und Feiffer rannte über den brennenden Teppich, während er Auden zuschrie, er solle nicht schießen. Ein Tisch mit einem halben Dutzend Koffern darauf loderte. Der Kofferinhalt flutete heraus und fing Feuer. Feiffer sah für einen kurzen Augenblick Ashwood, der mitten in der Halle am Lüster stand und hinunterblickte, dann schloß sich die Flammenwand wieder, und etwas Schwarzes, Großes flog himmelhoch, als darunter etwas mit einer Lichtkugel barst und es hinaufschleuderte. Ein Sessel. Er fegte durch die Flammen, überschlug sich in der Luft immer wieder und schien im Flug auseinanderzufallen. Ein Feuerstrahl kam von irgendwo wie flüssiges Metall und entzündete ihn, dann gab es im Feuermeer einen Knall, der Sessel schien auseinanderzufliegen und sich wieder in die Luft zu erheben. Einen Augenblick lang sah Feiffer vor sich etwas in der Luft – eine stürzende Flut brennender Zeitungen, herabregnend wie Konfetti. Ein Fauchen, und eine Teppichbahn in der Richtung, wohin er sollte, loderte wie eine Lunte auf und schnitt ihm den Weg ab. Feiffer brüllte: »Auden, weg von hier!« Er glaubte, wieder einen Schuß zu hören, aber das waren die Küchentüren, die hinausexplodierten, und er sah in einem Sekundenbruchteil Auden mit ihnen fliegen, die Waffe noch in der Hand, den Mund aufgerissen, als sage er etwas oder fluche. Ashwood? Wo, zum Teufel, war Ashwood? Der Astronaut stand am Tresor, griff in seinen Sack und holte den knetbaren Sprengstoff heraus. Der Tresor besaß ein einzelnes Kombinationsschloß und ein Schlüsselloch. Er rammte das ganze Zeug in die Öffnung und um die Wählscheibe, so fest, wie es ging, zog eine kurze Zündschnur heraus, unterbrach die Arbeit nur kurz, um sich herumzudrehen und zur besseren Wirkung mit dem Flammenwerfer in die tobenden Flammenwände des Raumes hineinzufeuern, bevor er den Metallzünder an der Lunte abriß und sich hinter dem Schreibtisch in Deckung warf. Rauch und Flammen hüllten ihn ein. Ashwood, am Lüster, die Waffe noch im Halfter, sagte immer wieder: »O mein Gott ... o mein Gott ...« Die Brände fraßen rings um ihn den Boden, stellten ihn in die Mitte einer Kreisfläche. Ashwood sagte: »O mein Gott ...« Vietnam. Er sah einen Vietkong im schwarzen Pyjama mit einer AK 47 grinsend aufstehen, dann einen zweiten. Der Stoßtrupp war wie gelähmt. Charlie Kong stand lächelnd im 181
Dschungel auf, die Sturmgewehre wurden langsam gehoben, als gäbe es keinen Grund zur Aufregung, als sei das alles nur eine Vorführung, die Waffen nur Requisiten, die Patronen darin Platzpatronen, und – Ashwood kreischte: »George! George, um Gottes willen, tu was!« Die Vietkong kamen auf ihn zu – vielleicht hatten sie ihn gar nicht gesehen – die Vietkong standen in ihren schwarzen Pyjamas mit ihren kohlschwarzen Augen einfach aus der Deckung auf, sahen ihn einfach an, und die Holzgewehre mit den Platzpatronen – Ashwood konnte mit dem Gestank verrottenden Dschungellaubs und der Schwüle Kälte und Tod riechen. Ashwood sagte leise, in seinem letzten Augenblick: »George, ist das –« Er sah Feiffer in einem Sekundenbruchteil mitten im brüllenden Feuer stehen und kreischte: »Feiffer, hilf mir!« In den Küchenräumen sagte Auden immer wieder: »Scheiße!« Er lag ausgestreckt auf den Fliesen, Kälte überall im Gesicht ... In seiner Schulter war etwas gebrochen, und er konnte den Revolver nicht erreichen. Seine Augen richteten sich auf etwas Großes, Silbriges – die Kochherde an der Wand – und er dachte ... Überall im Raum waren gelbe Propangasflaschen zu sehen. Die Sprinkler. Er verdrehte den Kopf, um hinaufzublicken. Sie waren abgestellt, vielleicht sogar mit Wasser gefüllt. Die Tür hinter ihm gab brechende, knirschende Laute von sich, und in der Ferne röhrte es dumpf wie Schiffsmotoren tief im Rumpf der ... Feiffers Stimme schien wie aus weiter Ferne zu ihm zu sagen: »Sie sind ein Genie, Phil!« Und Auden versuchte den Kopf klarzuschütteln, sagte flüsternd: »So? Ich weiß nicht einmal, wo ich bin ...« Er wußte, daß er irgendwohin, irgendwohin zurück mußte. Er versuchte mit der unverletzten Hand nach der Waffe zu greifen, stellte fest, daß der Kolben heiß war, kämpfte gegen Bewußtlosigkeit und quälenden Schmerz in der Schulter, packte den Revolver und drehte sich wie ein Wurm herum, um in die Flammen zurückzukriechen. Die Küchentür schien zu rauchen und sich wie eine Eisenplatte unter enormem Druck zu verbiegen. Audens Gedanken irrten ab. Er suchte nach Nieten. Auden murmelte: »Die Titanic ... ich bin auf der –« Das Brüllen der Schiffsmotoren wurde lauter, immer lauter, als sei in ihnen etwas geborsten, und Auden, im Delirium, sagte mit einem Lächeln im Gesicht wie nach einem von O’Yees Witzen: »Hier spricht der 182
Kapitän, Leute. Es gibt eine kleine Verzögerung, weil die Titanic hält, um Eis zu bunkern.« Auden sagte: »Nein! Das ist nicht –« Verdammte Scheiße – Volkswagen-Kombis, die nicht existierten – SF-Filme – Astronauten, Fliegende Untertassen – Auden sagte verzweifelt: »Es gab doch noch gar keine Fliegenden Untertassen, als die Titanic unterging!« Er bewegte sich, und seine Schulter bestrafte ihn mit einem grauenhaften Schmerzanfall, daß er sich auf den Fliesen wie ein Fötus wand. Auden, die Hand um den Griff des Revolvers geklammert, befahl sich: »Nein! Tu es! Tu es!« Auf der Straße kreischte Spencer: »Ich weiß nicht, wo sie sind!« Die Feuerwehrleute an den Rohren protestierten. »Schießt das überall rein!« Der erste Stock des Hotels schwelte schon stark, und die Feuerwehrmänner richteten die Wasserströme auf die Mauern. Spencer heulte: »In die Halle! Sie sind in der Halle! Spritzt das Wasser in die Halle!« Niemand schien ihn zu beachten. Er packte den nächsten Feuerwehrmann an der Schulter und riß ihn und sein Rohr herum zu den abgesprengten Türen der Halle. »Löscht da die Flammen!« Der Feuerwehrmann riß sich los. Spencer schrie: »Meine Freunde sind da drin!« Die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Jemand berührte ihn sanft an der Schulter, um ihn fortzuführen – ein Feuerwehrmann – und Spencer brüllte ihn in hoffnungslosem, verzweifeltem Flehen an: »Bitte, können Sie nicht das Hotel verbrennen lassen und meine Freunde retten?« Der Flügel. Der gottverdammte Flügel. Mitten in der Halle, dem Büro gegenüber, war der Flügel das einzige, was nicht brannte. Flammen liefen von seiner unangreifbaren Oberfläche ab wie Wasser, als die Flammen vorübergehend an den zwanzig Schichten besten Harzlacks auf dem auf Hochglanz polierten Holz scheiterten. Der Deckel war heruntergeklappt. In der Hitze rissen sirrend die Metallsaiten. Feiffer duckte sich hinter den Flügel und löste den Verschluß, um den Deckel hochzuklappen. Flammen züngelten nach den Tasten, fanden das Elfenbein unbrennbar, und stürzten in Kaskadenschauern auf den Teppich. Flammenberge röhrten auf, als der Astronaut den Flügeldeckel wie ein Schild hochgehen sah. Die Flammen schlugen zu, zerschmolzen den Lack und setzten den Deckel in Brand. Feiffer schob an, stemmte sich gegen das Riesengerät und 183
schob es wie einen Rammbock auf ihn zu. Die Sichtscheibe des Astronauten beschlug sich durch seine keuchenden Atemzüge. Die Zündschnur brannte. Er sah einen weißen Rauchfaden. Der Flügel kam näher, und der Astronaut sah das Bild eines Revolvers vor sich und stand auf, um ihm zu begegnen. Der Flügel kam näher. Feiffer befand sich dahinter. Der Astronaut zielte, richtete die Düse seines Flammenwerfers durch die Flammen direkt auf das Instrument und erzeugte ein rückprallendes Regeninferno, das den Flügel auflodern und zerfallen ließ. Die Zündschnur brauchte nur noch Sekunden zu brennen. Der Astronaut hielt durch die Flammen Ausschau nach Feiffer. Er war verschwunden. Wenn er in der Nähe des Flügels gewesen war –. Er sah auf einer der Gassen zwischen den Flammen einen Schatten, dann rief eine Stimme: »George – hilf mir!« Ashwood. Der Astronaut wandte den Kopf, um ihn zu finden. Der Feigling Ashwood. Der Astronaut sah ihn und bekam ihn genau ins Visier. Die Flammenwerferdüse stieß brennendes Benzin aus. Er sah den Schatten in der Gasse näherkommen. Die Lunte brauchte nur noch – Die Explosion des Tresors trat verfrüht ein, in einem plötzlichen, alles verschlingenden Desaster, das die Luft in ungeheuren Stößen tobenden Sturmwinds verzehrte. Alle Feuer erloschen. Der Astronaut sah die Safetür offen, schief an den Scharnieren hängen, die Filme herausgeschleudert, aus ihren Kassetten gerissen, am Boden verstreut. Er hob den Kopf und sah Feiffer über die Empfangstheke hechten, von Benzin durchnäßt. Das Benzin fiel, ohne zu brennen, aus den Sprinklern wie Regen herab. Der Astronaut drehte sich nach seiner Waffe um. Er dachte an die Filme und –. Jemand stieß ihn zu Boden, und er sah Feiffer zum Tresor stürzen und die Filme packen. Die Filme waren herausgefallen und – Der Astronaut hob die Waffe. Feiffer hatte die Filme an seine Brust gepreßt und kam auf ihn zu. Das Benzin strömte wolkenbruchartig von der Decke. Der Astronaut schrie in seinem Helm: »Nein! Sie verbrennen die Filme!« Er hörte das Benzin unaufhörlich zischen, dann gab es einen Knall, als weit auf der anderen Seite Auden die Küchentür aufriß und schwankend dastand, den Revolver in beiden 184
Händen, ein Ziel anvisierend. Auden schrie: »Wo ist er!« Er sah Ashwood stumm und nutzlos mitten in der Halle, aus seinen Mundwinkeln rann Angstspeichel, und er humpelte auf ihn zu, so schnell er konnte, als O’Yee oben an der Nottreppe aus dem Keller auftauchte und brüllte: »Phil!« Feiffer schrie: »Nicht schießen! Ich bin tropfnaß vom Benzin!« Er sah den Astronauten zögern. »Wenn Sie abdrücken, verbrennen Sie alles, wofür Sie das alles angerichtet haben!« Das Benzin fiel wie Regen, durchnäßte seine Kleidung, fühlte sich auf den Händen an wie Eis. Wo er stand, bildeten sich Pfützen. Feiffer schrie: »Sie können mit dem Flammenwerfer nicht schießen, weil Sie sonst –« O’Yee brüllte Auden zu: »Erschießen!« »Ich kann nicht!« Auden sah Spencer durch den verkohlten, geborstenen Eingang hereinstürzen, den Revolver in der Hand, und brüllte: »Bill, alles schwimmt in Benzin!« Hinter der Sichtscheibe glotzten die Augen des Astronauten. Er sah die Filme, die Träume ... Sein Flammenwerfer würde sie zu Asche verwandeln. Er hob die Waffe, um einen tödlichen Schuß anzubringen, und sah Auden hin und her schwanken. Ashwood. Ashwood lief ziellos in der Halle umher und verstellte ihm den Weg. Spencer brüllte: »Phil, das Mündungsfeuer! Das Benzin wird entzündet –!« Das Fenster, durch das die Israeli hinausgesprungen war, befand sich ganz in der Nähe des Astronauten. Wenn er dort hinauskonnte – Feiffer spürte das Benzin auf seinem Gesicht, in den Augen. Er hielt die Filme in den Händen. Eine kurze Sekunde lang sah er aus der Düse des Flammenwerfers etwas tropfen. Die Safetür klaffte weit. Feiffer schrie: »Laßt ihn nicht hinaus!« Der Astronaut hetzte zum Fenster – Auden und Spencer schrien gleichzeitig: »Ich kann nicht! Das Benzin!« Feiffer sah den offenen Tresor. Dort gab es kein Sprinklersystem. Er trat zurück und gelangte hinter die Tresortür. Der Astronaut war auf dem Weg zum Fenster. Überall troff das Benzin aus den Sprinklern. Feiffer heulte: »Um Himmels willen, laßt ihn nicht auf die Straße hinaus!« Er brüllte Spencer zu: »Bill, 185
laufen Sie hinaus! Auden! Erschießen Sie ihn, sobald Spencer –« Die Küchentür schwang hin und her. Auden zog sich hinter sie zurück. Auf einem Tisch lag ein nasses Handtuch. Er packte es, dachte fieberhaft nach, wickelte es um die Mündung seines Revolvers. Auden kam wieder in die Halle und schrie: »Es gibt kein Mündungsfeuer! Ich garantiere es –!« Er schien zu zögern und zu zögern. Er rief Spencer flehend zu: »Bill, ich weiß nicht, ob ich –« Spencer kreischte: »Du bist nicht farbenblind! Du bist in Ordnung!« Er sah Audens Gesicht. »Auden, du bist ein Mords-Genie!« Der Astronaut war bis zum Fenster vorgedrungen und griff hinauf. O’Yee brüllte: »Schießen!« Der einzelne, gedämpfte Schuß aus Audens Revolver traf den Astronauten in den Rücken und tötete ihn auf der Stelle, warf ihn um, wo er stand. Einen langen Augenblick schien seine Hand am Abzug des Flammenwerfers zu bleiben, bewegte sich krampfhaft, dann, als Rauch und Gestank in dem giftgefüllten Raum sich durch die offenen Türen und Fenster langsam verzogen, schien seine Hand zu erschlaffen, in der Düse des Flammenwerfers knackte es kurz, dann war es aus. Das Benzin strömte nicht mehr von der Decke, kurze Zeit herrschte völlige Stille. Feiffer legte mit zitternden Händen die Filme vorsichtig auf den Tresorboden. Spencer und O’Yee standen am Tresoreingang, Feuerlöscher in den Händen. Auden griff mit einem gequälten Stöhnen in die Innen-Brusttasche, und einen grauenhaften Augenblick lang glaubte Feiffer, er wolle ihm eine angezündete Zigarette anbieten, damit sie den Benzingestank an seiner Kleidung vertrieb. Auden sagte: »Ja.« Es war ein sauberes, weißes Taschentuch. Auden murmelte automatisch: »Damit können Sie sich Gesicht und Hände abwischen.« Er schien über irgend etwas sehr glücklich zu sein, und als Feiffer nach dem Taschentuch griff und in sein Gesicht blickte, hatte er das Gefühl, er hätte – Feiffer sagte: »Auden, Sie sind einfach ein – Genie!« 186
Es war Audens größte Stunde. Auden sagte mit einer Handbewegung, bei der er sich vor Schmerzen zusammenkrümmte: »Hm, danke, Chef.« Er sah O’Yee an. Auden sagte großzügig: »Tja, bei dem Geschäft muß es einer von uns ja wohl sein, oder?« Er wandte sich an Spencer und fragte mit plötzlicher Besorgnis: »Was starren Sie mich denn so an?« Von der Straße aus konnte Carole den Eisenrahmen ihres Konzertflügels mitten in der ausgebrannten Hotelhalle liegen sehen, kein Stückchen lackiertes Holz war unversehrt geblieben, nicht eine einzige gelbliche Elfenbeintaste befand sich an ihrem Platz, keine einzige Metallsaite, kein einziger Draht war unverbogen, ungerissen, unzerstört. Sie weinte vor Freude. Sie hatte nichts zu geben, um ihre Dankbarkeit zu zeigen, kein Geld, nicht den Kuß einer jungen Frau oder – Alles, was sie in der Handtasche stecken hatte, waren gut ein Dutzend Freikarten zu den Uraufführungen, die sie von Produzenten geschenkt bekommen hatte, als sie erfuhren, daß sie einmal selbst in der Branche tätig gewesen war. Dummes Zeug für erwachsene Leute. Sie sah den eurasischen Polizeibeamten aus dem Eingang kommen, um mit einem der Feuerwehrleute zu reden, und dachte: Na ja, vielleicht ... Sie ging auf O’Yee zu, bot ihm zögernd die Karten an und meinte, ob er nicht vielleicht – Das sei keine Bestechung oder dergleichen. Das sei nur – Nichts, alte Frau. Er nahm sie in die Arme und küßte sie, als sei sie jung und frisch wie die Carole Lombard, nach der sie benannt war, fröhlich, frei und vor allem wieder wunderschön. 0.57 Uhr. Der Wind vom Meer hatte nachgelassen, und draußen war die Nacht warm und weich, während die Feuerwehrleute hineingingen, um aufzuräumen.