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Senait G. Mehari Feuerherz »Jetzt, nachdem ich all das niedergeschrieben habe, bin ich frei. Dieses Buch wird meinem Leben Frieden bringen. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist hart. Ich will aber nicht, dass die Menschen, die dieses Buch lesen, nur das Schreckliche sehen. Ich will, dass bei der Lektüre eine Tür aufgeht. Dass ein Licht zu sehen ist, eine Hoffnung.« Senait Das Kind aus dem Koffer Als ich zum ersten Mal aus dem Haus meiner Großeltern in das staubige Gässchen zwischen den windschiefen, einstöckigen Häusern trat, liefen die Nachbarskinder zusammen und schrien sich die Kehlen heiser: »Senait, Kofferkind!« — »Das Kind aus dem Koffer ist da!« Die Kinder brüllten aus Leibeskräften, und ich war schockiert, doch sie wussten genausowenig wie ich, was das bedeuten sollte »Kind aus dem Koffer«. Sie plapperten nur nach, was sie bei den Erwachsenen aufgeschnappt hatten. Erst viel später erfuhr ich, warum sie mich so nannten. Kurz nach meiner Geburt war meine Mutter verzweifelt. Adhanet war neu in Asmara, mein Vater wollte weder von ihr noch von mir etwas wissen. Das Geld war knapp, sie war bereits Mutter dreier Kinder: Zwei kamen aus einer unglücklich geschiedenen Ehe und eines aus der Ehe mit meinem Vater, die schon vor meiner Geburt in die Brüche gegangen war. Zu allem Überfluss stammt die Familie meines Vaters aus einer Kleinstadt im Hochland Eritreas, aus Adi Keyh. Die Familie meiner Mutter kommt dagegen aus Äthiopien, aus Addis Abeba. Das war damals eine denkbar ungünstige Konstellation: Die beiden Völker — Eritrea war damals noch eine Provinz Äthiopiens lagen seit fünfzehn Jahren miteinander im Krieg, und ein »gemischtes« Kind bedeutete eine Schande für die Mutter, den Vater und für das Kind selbst. Ich, das Neugeborene, war ihr also aus einigen Gründen zuviel. Ein paar Wochen nach meiner Geburt reifte in ihr der Entschluss, mich loszuwerden. Selbst Hand an mich zu legen, wagte sie nicht, also beschloss sie, mich in einem halbherzigen Mittelding zwischen Mordversuch und Kindesweglegung meinem Schicksal zu überlassen. Sie zog mich wie jeden Tag an, packte mich in einen Koffer und machte den Deckel zu. Dann verstaute sie den Koffer auf einem Schrank und ging hinunter in die Stadt. Die Nachbarin hörte mein Gewimmer und wunderte sich, warum meine Mutter nicht einschritt. Sie kam in unser Haus und hörte mich weinen, aber sie fand mich nicht. 11 Sie dachte, es sei etwas Schreckliches passiert, und lief kreischend weg, die Straße hinauf zur nahen Polizeiwache. Die Polizisten wollten erst nicht mitkommen, weil sie der hysterisch schreienden Frau keinen Glauben schenkten. Die ließ aber nicht locker, bis sich zwei Beamte mit ihr auf den Weg machten. Schließlich fanden sie mich in einem verschlossenen Koffer, den meine Mutter unters Bett geschoben hatte. Ich litt schon unter arger Atemnot, als sie mich befreiten. Die Polizisten brachten mich in das staatliche Waisenhaus, das »Orfan«, und meine Mutter nahmen sie fest, sobald sie nach Hause kam. Adhanet wanderte wegen versuchten Kindsmordes für sechs Jahre ins Gefängnis. Ein von den Nachbarn herbeigerufener Zeitungsreporter schoss ein Foto von mir, und am nächsten Morgen gab es mein Bild auf der Titelseite der Tageszeitung von Asmara zu sehen. Die Legende vom »Kind aus dem Koffer« war geboren. 12 Orfan Die erste Erinnerung meines Lebens: Ich saß mit einer Schwester aus dem Waisenhaus im Schatten auf den Stufen der hölzernen Veranda vor der Baracke, in der wir wohnten. Die Hitze flirrte in dem verdorrten Garten und über der steinigen Ebene dahinter. Am Horizont war verschwommen eine Bergkette zu ahnen. Vom Holz der Brüstung blätterte der Lack, den wir gerne abkratzten und zwischen den Fingern zerrieben, bis sie ganz bunt waren. Die anderen Kinder hielten drinnen ihren Mittagsschlaf. »Warum gibt es Löwen und Affen?« fragte ich die Schwester. Sie sah mich überrascht an. »Die hat unser Führer für uns gemacht«, sagte sie nach einigem Nachdenken. Ich staunte. »Unser Führer hat die Löwen gemacht und alle anderen Dinge auch«, fuhr die Frau fort, »alle Tiere, alle Pflanzen. Alle Häuser. Unser Führer sorgt für uns.« Sie sprach nicht von Gott, weder von dem der Christen noch von Allah, sondern von Mengistu Haile Mariam, dem kommunistischen Staatschef Äthiopiens. Ich lebte im Orfan, dem Waisenhaus von Asmara. Es war ein staatliches Waisenhaus, und der Staat hieß damals Äthiopien, denn von einem unabhängigen Eritrea war noch lange keine Rede. Das gibt es erst seit 1991, doch die Episode auf den Stufen spielt ungefähr im Jahr 1977. Damals war ich drei Jahre alt, und die Schwestern
sagten zu uns: »Euer Gott heißt Mengistu.« »Er hat die Löwen gemacht, um Bösewichter zu bestrafen«, fügte die Schwester mit drohendem Unterton hinzu, »damit sie Angst kriegen.« Was sie sagte, machte mir angst, und weil ich so riesige Angst hatte, dachte ich, dass ich sicher böse bin, und ich schämte mich dafür, unverzüglich und abgrundtief. Die Schwester wusste nicht, dass sie die Weichen für die zwei vorherrschenden Gefühle meiner Kindheit und Jugend gestellt hatte: Angst und Scham. Dennoch liebte ich es, auf den Stufen dieser Veranda zu sitzen, denn von hier aus war die Weite zu sehen. Ich starrte fasziniert auf die unendlich scheinende Fläche aus Steinen, Sand und Gestrüpp. Hier war der Wind zu spüren, der oft von den Bergen her über die Ebene von 13 Asmara strich. Hier roch es nach Staub, nach Kameldung, nach den Feuern der Karawanen, die draußen vor der Stadt lagerten. Hier schmeckte alles nach Ferne und Abenteuer. Vor dieser Terrasse stand kein Haus mehr, hier hatte man die Stadt Asmara im Rücken und die Wüste vor sich. Abends sahen wir den Kamelen nach, wie sie auf der staubigen Straße in langen Karawanen mit bedächtig wiegenden Schritten aus der Stadt hinauszogen. Eins hinter dem anderen gingen die Kamele, alle hoch bepackt und mit bunten Bändern geschmückt. Die Treiber liefen dicht daneben her, schwangen große Stöcke über ihren Köpfen und feuerten die Tiere mit kehligen Rufen an. Nachts hörten wir die Hyänen heulen. Chöre von Tieren, die wir nur selten und aus weiter Ferne zu Gesicht bekamen. Dafür konnten wir um so mehr von ihnen hören: ihr Heulen, Kläffen, Lachen, Jaulen, Knurren, Bellen, Pfeifen. Die mageren struppigen Tiere hatten es auf die Abfälle aus unserer Küche abgesehen. Auch die Löwen rochen unser Essen und den Müllhaufen hinter dem Haus. Sie kamen vor allem während der Dämmerung oder in der Dunkelheit. Dann konnten wir nur ihre Schatten erahnen. Dass sie da waren, merkten wir an unseren Katzen. Die Tiere, die sonst immer vor dem Haus lungerten, verschwanden plötzlich mit eingezogenen Schwänzen unter der Veranda oder in den dichten Büschen daneben. Löwen galten immer als Bedrohung für uns. »Geht nicht aus dem Garten raus«, sagten die Schwestern, »sonst holen euch die Löwen.« Die Ermahnung war kaum notwendig, weil wir sogar vor den kleinen Äffchen Schiss hatten, die in den Bäumen im Garten turnten. Wir blieben also freiwillig im mittleren Teil des Gartens, immer zwischen den Holzbaracken, in denen wir wohnten, und dem riesengroßen Haus daneben. Das war das Krankenhaus, ein Gebäude aus der italienischen Kolonialzeit mit haushohen Fenstern und einer langen Freitreppe. Zwischen diesen Gebäuden lagen der Garten, die Oleanderhecken, die Gemüsebeete, undurchdringliches Gestrüpp, ein Fußballplatz und unsere Spielgeräte, eine Schaukel und eine Rutsche aus bunt bemalten Eisenstangen. Hier spielten wir mit Steinen, die wir auf dem Boden fanden, mit Zweigen, die wir von den Büschen brachen, und mit Gefäßen, die wir aus alten Dosen oder anderen kaputten Be 14 haiuiisser cW Rrw^rhsenenweit bastelten. Manchmal jr^ufceii wir miteinander oder umarmten uns. Wir konnten auch stundenlang aneinandergepresst in einem Versteck liegen, oder wir liefen eng umschlungen durch den Garten oder tanzten zu einer Musik, die nur in unseren Köpfen klang. Am liebsten spielten wir auf der Veranda. An deren Pfosten hingen wir an selbstgeflochtenen Schnüren unsere aus zusammengebundenen Lumpen gemachten Bälle auf, die wir mit Fäusten schlugen und mit den Füßen traten. Stundenlang, ohne müde zu werden, ließen wir sie tanzen. Die Bälle flogen weg, wurden von den Schnüren zurückgerissen, erhielten den nächsten Schlag, flogen, kamen zurück, noch einen Schlag ... so konnte das den halben Tag gehen. Das staatliche Kinderheim »Orfan«, in dem ich meine ersten beiden Lebensjahre verbrachte 15 Die Eierdiebin Wir waren fast immer draußen, außer zum Schlafen und zum Essen. Die Mahlzeiten nahmen wir in einem Raum neben der Küche ein. Dort saßen wir Kinder immer unter dem Bild einer wunderschönen weißen Frau mit goldenen Haaren. Das war eine Frau, wie ich sie in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte. Sie sah immer auf uns Kinder herunter. Die Oberschwester hatte gesagt, die Frau würde aufpassen und alles sehen, was wir tun. Manchmal wandte sie sogar den Kopf und sah mir nach, wenn ich versuchte, mich voller schlechtem Gewissen davonzustehlen, weil ich irgend etwas angestellt hatte. Da war sie wieder, die Angst. Und die Scham. Zum Beispiel wegen der Eier: Manchmal bekamen wir am Abend ein hart gekochtes Ei. Das war immer ein Festessen für uns. »Wer zu spät kommt, dem isst die Frau das Ei weg«, sagte die Oberschwester. Ich beeilte mich, so gut es ging, um kein Ei zu verpassen, aber ein paar Mal war ich doch zu spät — und tatsächlich war das Ei dann weg. Ich heulte und guckte dabei immer diese Frau an, ob etwas zu sehen wäre. Aber gerade dann bewegte sie sich nicht, sondern sah starr in die Ferne und tat so, als würde sie mich nicht beachten. In diesen Momenten mochte ich sie nicht. Ich hasste sie sogar, obwohl uns die Schwestern stets einzutrichtern versuchten, wir sollten die Frau ganz liebhaben. Warum solte ich sie lieben, wo sie mir doch meine Eier klaute?
Eines Tages nahm ich mir vor, sie lange und genau zu beobachten, um ihr auf die Schliche zu kommen. Ich wollte wissen, wie sie das anstellte — Eierdiebstahl aus einem Bild heraus, hoch oben in einer Ecke des Raumes. Unauffällig stellte ich mein Ei vom Abend vorher, das ich heimlich aufgehoben hatte, im Vorbeigehen auf den Tisch. Dann schlich ich mich zurück in den Raum, verbarg mich hinter einem Tisch und wartete und wartete, aber nichts geschah. Die fremde weiße Frau regte sich nicht. Plötzlich kam eine der Kinderschwestern herein, eine Afrikanerin, die die meisten von uns nicht mochten. Sie entdeckte mein Ei und sackte es kurzerhand ein. Mein Ei, das ich an diesem Tag als Köder für die weiße Frau geopfert hatte! Wie enttäuscht ich war! Ich schoss sofort nach draußen, um den anderen Kindern von 16 en Entdeckung zu erzählen. Aber sie glaubten mir kein Wort. Ich war zutiefst getroffen, beleidigt und verunsichert — schließlich hatte ich die gemeine Tat mit eigenen Augen gesehen! Ich begrub die Sache in meinem Herzen und nahm mir vor, nie mehr zu spät zum Essen zu kommen. Der Tod in der Flasche Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich im Orfan. Helen war schon im ersten Schulalter, und obwohl sie deutlich älter war, verbrachte ich viel Zeit mit ihr. Sie lag in dem großen Krankenhausgebäude gleich neben unseren Wohnbaracken. Wir konnten immer in das Krankenhaus hinein, weil dort unser Essensraum war die Baracken dienten nur zum Schlafen. Helen lag in einem großen Bett, neben dem eine lange Stange stand. Daran hing eine Flasche, und aus dieser Flasche tropfte durch einen Schlauch Wasser in das Mädchen hinein. Es sah zumindest aus wie Wasser. Mich faszinierte diese Apparatur, und ich verfolgte gespannt, wie Tropfen auf Tropfen in den Schlauch perlte. Eines Tages saß ich wieder einmal bei Helen auf der Bettkante, als der Tropf leer wurde. Das Mädchen sagte, ich solle die Schwester holen, weil die Flasche nicht leer sein dürfte. »Wenn nichts passiert, fließt mein Blut nach oben, und ich sterbe.« Ich hatte keine Ahnung, was »sterben« heißt, aber ich spürte, dass es etwas Ernstes sein musste. Also rannte ich los, um eine Schwester zu holen, aber es kam keine. Eine hatte keine Zeit, eine andere wollte nicht kommen, eine dritte sagte, sie komme später. Ich musste bald wieder zu den anderen Kin dern meiner Gruppe, zu den Gleichaltrigen. Am nächsten Tag kam ich schon früh am Morgen, um nach Helen zu sehen. Ich war noch nicht bei ihr, als sie jemanden aus ihrem Zimmer holten. Ich wunderte mich über das große Kind, das mitten am Tag friedlich schlief. Über das reglose Kind, das einen großen Blutfleck hinterlassen hatte auf seinem Bett. Der Blutfleck sah sehr gefährlich aus. Ich begann zu weinen, weil ich nichts verstand. Ich begriff nicht, 17 dass das Helen war, ich empfand nur die Bedrohlichkeit der Situation. Dann sagte jemand, Helen sei tot. Von diesem Moment an hasste ich die Krankenschwestern, alle diese Krankenschwestern, die im Zeitlupentempo über die Gange schlurften und ihre Verrichtungen ohne jeden Eifer erledigten. Ich wusste bloß nicht, wem ich das sagen sollte, wem ich anvertrauen konnte, dass die Schwestern nicht reagiert hatten, als ich sie alarmieren wollte. Spater erzahlte ich unseren Kinderschwestern davon, aber ich glaube nicht, dass daraufhin etwas passierte. Die Krankenschwestern arbeiteten alle weiter, als ob nichts geschehen wäre. Wir Kinder aus dem Heim sangen tagelang ein Lied für die Tote, das wir uns selbst ausgedacht hatten. Wir stellten ihr Begräbnis nach, begruben eine Puppe und sangen ununterbrochen das Lied, vor unserem Begräbnis, danach, währenddessen. Alle weinten, nur ich konnte nicht weinen. Ein anderes Madchen verprügelte mich deshalb. Dabei wollte ich niemanden argern, ich konnte bloß nicht weinen, das war alles. Es war, als wurden mir die Tranen und die Luft und alles abgesperrt. Das andere Madchen geriet in Rage und schlug immer weiter auf mich ein, bis ich vor Schmerzen und wegen der Demütigung zu weinen anfing. Als ich spater einmal mit diesem Madchen im Garten spielte, verschluckte sie einen Cent. Wieder holte ich eine Krankenschwester, panisch. Diesmal kam sie, aber zu spat das Madchen erstickte. Das war meine zweite Erfahrung mit dem Tod. Helens Tod bedruckte mich langer und starker als der meiner Spielgefährtin. Ich wollte das am Tropf gestorbene Madchen rächen. Dazu schlich ich mich mit einer Kanne Wasser in die Sauglingsabtedung auch dort arbeiteten die Krankenschwestern, die ich damals zu Helen holen wollte und die nicht gekommen waren. Ich ging die Reihen der Betten entlang und goss Wasser über die Babys: über die Windeln, über ihre Kleidchen, über die Bettchen. Stundenlang mussten die Schwestern anschließend Windeln wechseln und die Betten frisch beziehen. Als ich diese Aktion wiederholte, erwischte mich eine der Schwestern. Zur Strafe erntete ich reichlich Schlage. Von da an wagte ich mich nicht mehr in die Sauglingsstation. Die größte Strafe im Kinderheim aber waren nicht die Schlage für 18 iiiiüi, sondern <j^ wv der L. artner mit mi± tat. H±mci dem Heim lag eine Zuckerrohrplantage. Dorthin musste ich immer mit dem Gärtner, einem alten, fetten Kerl, den keiner mochte. Wenn wir dort waren, sagte er: »Heb mal dem Kleid hoch.« Ich hob mein Kleidchen und wartete auf Schlage, aber es passierte nichts, außer dass der Gärtner sich angriff und mich auch. Manchmal musste ich mich neben ihn auf den Boden legen oder mich auf seinen Schoß setzen, wenn er auf dem
Boden lag. Ich war nicht die einzige, die mit ihm ms Feld musste. Oft waren mehrere Madchen gleichzeitig mit ihm unterwegs. Alles sollte ein Geheimnis sein. Er schärfte uns immer wieder ein, dass wir niemandem davon erzählen sollten. Ich weiß bis zum heutigen Tag nicht, wie weit er ging. Wenn ich daran denke, zerfließt mir alles in dichtem Nebel. Eltern und Waisen Immer wieder musste ich mit ansehen, wie Kinder von Erwachsenen abgeholt wurden, die extra wegen dieser Kinder gekommen waren. Das waren Erwachsene, die niemand anderen umarmten als genau ein Kind. Sie schlenderten nicht wie die Schwestern durch die Säle mit den vielen Bettchen, um ihre Aufmerksamkeit gleichmaßig hier und dort zu verteilen, sondern sie gingen zielstrebig auf ein Kind zu und nahmen es mit hinaus in die geheimnisvolle Welt jenseits des Zaunes. Dort drau ßen war der unendlich große Raum, die Wüste, in die man keinesfalls allein, sondern nur in Begleitung von Großen eintauchen durfte. Dorthin kam man nur zusammen mit Großen, die alleme für ein Kind da waren. Nach und nach merkte ich, dass viele Kinder von niemandem aus dem Heim geholt wurden, weil sie niemanden hatten. Alle, die in der Baracke schliefen, waren immer da, wahrend die, die im Krankenhaus wohnten, nur für ein paar Wochen oder Monate blieben. Es muss einen Unterschied geben zwischen uns und den anderen Kindern, dachte ich, zwischen denen, die blieben, und denen, die gingen. Nachdem ich mir 19 ein Herz gefasst hatte, danach zu fragen, klärte mich eine Schwester auf. »Das ist einfach«, sagte sie, »die Kinder im Krankenhaus haben Eltern, ihr aber nicht. Ihr seid Waisen.« Waisen und Eltern. Diese beiden Wörter entschieden also über Weggehen und Hierbleiben, über Glück und Unglück. Wie konnte es sein, dass manche Kinder Waisen waren und manche nicht? Hatten Waisen nie Eltern gehabt? Hatten sie etwas Böses getan? Es gab keine Antwort auf diese Fragen, es gab nur das ungute Gefühl eines Mangels. Jedesmal, wenn andere Kinder in ihr Elternhaus endassen wurden und ich bleiben musste, war es wie ein Schlag für mich. Warum das alles so war, konnte ich mit meinen drei Jahren nicht verstehen. Das heißt, ich nehme an, dass ich gegen Ende meines Aufenthalts im Orfan drei Jahre alt war, es können aber auch vier gewesen sein. Bis heute weiß niemand genau, wann ich geboren wurde. Das ist nichts Besonderes in Afrika. Fast niemand kennt dort sein Geburtsdatum — schon gar nicht, wenn er wie ich in einfachen Verhältnissen oder auf dem Land geboren wurde. Dort gibt es normalerweise keine Dokumente über eine Geburt. Geburtsurkunde, Taufschein, Reisepas s, Personalausweis — ein Durchschnittseritreer hat nichts davon. Wozu auch? Papiere kosten nur Geld, und eine amtliche Bestätigung der Tatsache, geboren zu sein, bringt keine Vorteile: Es gibt keine Geburtsprämie, kein Mutterschaftsgeld, keine Kinderbeihilfe, keine sozialen Leistungen oder medizinischen Dienste, die man ohne zu bezahlen in Anspruch nehmen könnte. Später erst ließ sich durch die Erinnerungen meiner Mutter und anderer Verwandter zwar der Tag meiner Geburt feststellen der 3. Dezember —, aber nicht das Jahr. Den Tag wusste sie, weil man sich einen bestimmten Tag besser merken kann als eine bestimmte Jahreszahl, zumal der äthiopische Kalender die Sache noch zusätzlich komplizierte. Bis 1991, bis zur Unabhängigkeit Eritreas, galt der äthiopische Kalender auch auf dem Gebiet Eritreas. Dieser Kalender rechnet mit anderen Jahreszahlen als unser Kalender: Das Jahr 2004 beispielsweise ist in Äthiopien das Jahr 1997. Bei mehrmaligem Hin und HerWechseln zwischen diesen beiden Kalendern konnte schon mal ein Jahr unter die Räder kommen. Nach meinem heutigen Wissensstand wurde 20 ich entweder am ^ ^p^emuu 1976, 1975, 1974 oder vielleicht sogar am 3. Dezember 1973 geboren. Am wahrscheinlichsten klingt mir das Jahr 1974. Ich könnte aber auch gut im Jahr 1973 auf die Welt gekommen sein. Ich bin noch nicht mal sicher, wie ich nach meiner Geburt hieß — der Nebel, der über meiner frühen Kindheit liegt, ist mindestens so zäh wie der Nebel, der in den Winternächten das eritreische Bergland verschluckt. Vermutlich hieß ich damals Saba, wie die berühmte Königin. Meinen jetzigen Namen, Senait, bekam ich erst viel später von meinen Großeltern. Mehari ist übrigens der Vorname meines Großvaters. In Eritrea bekommt ein Kind als ersten Namen einen Vornamen und als zweiten Namen den Vornamen des Vaters. Der führt seinen Vornamen ebenfalls als ersten Namen und den Vornamen seines Vaters als zweiten Namen. Auf diese Weise gibt es bei uns keine Unterscheidung von Vornamen und Familiennamen, sondern nur eine unendlich lange Abfolge verschiedener Vornamen. 21 Comboni Der Tag der Abholung aus dem Heim kam auch für mich — nur dass mich keine Eltern holten, sondern zwei Männer in Uniform. Sie hatten es eilig und ließen mir keine Zeit, mich zu verabschieden. Ich spürte plötzlich eine starke Sehnsucht, auch zu meinen Eltern zu kommen. Instinktiv war mir klar, dass keiner von den beiden mein Vater war, denn sie würdigten mich kaum eines Blickes. Als ich in dem kleinen
Transporter saß, hoffte ich trotzdem, dass die zwei mich zu meinen Eltern bringen. Ich hoffte auf eine lange Fahrt, denn ich wollte die Wüste sehen und die Berge und die Weite, die ich nur von der Veranda aus kannte. Doch der Wagen fuhr nicht hinaus auf die Ebene, sondern in die Stadt hinein. Auch auf dieser Strecke gingen mir fast die Augen über: Nie zuvor hatte ich das Gelände des Waisenhauses verlassen — und jetzt sah ich Menschen, Häuser, Straßen, Kreuzungen, Palmen, Fuhrwerke. Ich sah sie nicht durch einen Zaun, sondern ganz nah, eine Handbreit von mir entfernt, und ich war mittendrin. Ich klebte am Fenster und sog die Welt ein, die ich noch nie gesehen hatte. Es sollte kein langes Vergnügen werden. Nur ein paar Minuten später fuhr das Auto durch ein Tor, und ich sah etwas, was ich schon kannte: eine Mauer, einen Garten, ein großes Haus, viele Kinder, Schwestern und ein Tor, das die Welt draußen ließ. Dieses Haus war größer, schöner und älter als das, in dem ich bis jetzt gelebt hatte. Es war mit Ziegeln gebaut und hatte Giebel, Zinnen alles Dinge, die ich noch nie gesehen hatte. Sogar ein Turm stand da, in dem eine Glocke hing, die manchmal läutete. Aber dafür hatte ich jetzt keine Augen. Ich sah nur die Mauer rundherum, riesig hoch und unüberwindlich, selbst für einen Erwachsenen. Viel höher war sie als der Zaun im Orfan und noch dazu aus Stein. Eine undurchsichtige Mauer, die meinen an die Weite der Wüste gewöhnten Blick nach allen Seiten begrenzte, nur hinauf zum Himmel nicht. Eine tiefe Trauer erfüllte mich, als mir klar wurde, dass ich nicht in die Freiheit gekommen war. Nicht in die große weite Welt hatte man 23 mich gebracht, nicht zu meinen Eltern, sondern nur in ein anderes Heim. Hier trugen die Schwestern eine sonderbare Uniform aus bodenlangen grauen Kitteln mit hochgeschlossenen Kragen und riesigen weißen Mutzen, die aussahen, als waren sie schwer und fest wie Stein. Und noch dazu war ich in diesem Heim fast die einzige Schwarze. Die meisten anderen, Schwestern wie Kinder, waren weiß. Die Schwester, die mich in Empfang nahm, stellte sich als Florina vor. Solch einen Namen hatte ich nie zuvor gehört. Ihr Gesicht war weiß und auch ihre Kleidung, ein bodenlanges, strahlend weißes Kleid. Florina hatte dünne, harte Hände, die sie mir auf die Schultern legte. Ich schreckte zurück, weil auch diese Hände bleich waren und so hell, dass man die Adern unter der Haut sehen konnte. Ungläubig starrte ich diese Schwester an. Sie war sehr groß und schlank und hatte eine Brille auf der Nase. Ich wusste schon, dass es solche Glaser für die Augen gab, aber ich hatte sie erst selten gesehen. In einer Mischung aus Schrecken und Faszination stellte ich fest, dass die wenigen Haare von Florina, die hinter dem steinernen Kopftuch hervorlugten, auch hell waren. So golden waren sie wie die Haare der Frau auf dem Bild im Speisesaal des Waisenhauses. Überhaupt sah Schwester Florina ganz ahnlich aus wie die Frau auf dem Bild, nur war ihr Kopfschmuck weißer und großer und harter. Sie konnte genauso die Hände falten wie die Frau auf dem Bild. Dabei sah sie nicht mild aus wie jene, sondern viel strenger. Ich wusste sofort, dass ich vor Schwester Florina Angst haben wurde und dass man ihr mit Respekt begegnen musste. Florina sprach die Worter, die ich kannte, sonderbar hart aus. Bei ihr klangen sie ganz anders als bei allen Menschen, die ich bis jetzt sprechen gehört hatte. Ungläubig sah ich mich um. Abgesehen von der Frau auf dem Bild im Speisesaal hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Weißen gesehen, und nun lebte ich plötzlich mitten unter ihnen. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass es wirklich Menschen gab, die helle Haare und eine helle Haut hatten. Zu meiner Trauer über die neue Umgebung kam nun noch ein Gefühl von Kalte und Fremdheit, wie ich es in dieser Deutlichkeit und Schwere nicht gekannt hatte. Ich war traurig und konnte noch nicht einmal weinen. 24 In der Fremde Mir kam alles noch fremder vor, als ich mitbekam, dass diese Weißen untereinander eine Sprache verwendeten, die ich nicht verstand. Nicht das kleinste Wortchen erkannte ich. Sie gaben mir komplett fremde Laute von sich und nur selten das vertraute Knarren, Klopfen, Schnalzen und Gurren des Tigrinya, der Sprache meiner Menschen. Ihre Sprache war ein exotisch klingender Singsang, den sie schon melodisch, aber auch sehr schnell und hart ausstoßen konnten. Die Nonnen sprachen Italienisch. Sie redeten untereinander Italienisch und mit den ihnen anvertrauten Kindern. Mit den weißen Kindern und mit den wenigen hierher versprengten afrikanischen Kindern auch. In diesem Haus galten andere Regeln als dort, wo ich bisher lebte. Hier schwärmten sie nicht von Mengistu Halle Mariam, sondern von Daniel Comboni, einem weißen Mann mit langem Bart, der einen steinernen Kopf hatte und über der zweiten, inneren Eingangstur befestigt war. Dieser Mann, erzahlten die Schwestern, sei aus Italien, aus ihrer Heimat, hierhergekommen, um den Kindern zu helfen. Deshalb habe er dieses Haus erbaut. Der Mann mit dem seltsamen Namen wollte den weißen Kindern mehr helfen als den schwarzen, dachte ich, denn die erste Regel dieses Hauses besagte, dass die Menschen mit der hellen Haut mehr dürfen als die mit der dunklen. Das hatte mir niemand gesagt, ich bekam es durch das tagliche Leben mit. So gab es im Hof einen großen Spielplatz, in dem große bunte Spielgerate standen: ein Karussell mit Pferden, ein paar Schaukeln, eine Rutsche. Es war ein Paradies, solch prachtige Spielgerate hatte ich noch nie gesehen. Doch diese bunten
Wunderdinge durften wir schwarzen Kinder nicht benutzen, sie waren den weißen Kindern vorbehalten. Beim Essen saßen wir Schwarzen um einen kleinen Extratisch, der in einem winzigen Vorzimmer zu unserem Schlafraum stand, wahrend die Weißen in einem großen Speisesaal aßen, der so hoch war, dass man kaum die Decke sehen konnte. Dieser Raum, in den wir nur zu besonderen Gelegenheiten durften, war über und über bemalt. An den Wanden gab es Bilder, die fremde Dinge zeigten: grüne Walder, Berge, 25 Seen, Flüsse und große, braune Tiere, die darin herumgingen. Kleine weiße Menschen mit Barten und spitzen Hüten waren zu sehen, Mädchen mit langen Kleidern und eine Hyäne mit einem roten Tuch um den Kopf. Manchmal erzählten uns die Schwestern Geschichten zu diesen Bildern, aber ich verstand kaum etwas davon. Ich wusste nicht, ob es all diese Dinge wirklich gab oder ob sie von einem Ort kamen, den die Schwestern »Himmel« nannten. Anfangs starrten uns die weißen Kinder immerzu an, doch bald wussten sie selbst, dass sie etwas Besseres waren als wir. Wie gemein sie zu uns sein konnten! Einmal zwangen sie mich, meine eigenen Läuse zu essen. Das knackte zwischen den Zähnen, das krabbelte, kitzelte und schmeckte bitter und eklig. Angenehm waren hier nur ein paar Dinge, die ich bei Comboni zum ersten Mal in meinem Leben kennenlernte. »Formaggio« zum Beispiel, dieses italienische Wort für Käse klingt mir immer noch im Ohr, und es hat für mich einen wunderbaren Klang. Dann gab es Betten mit Laken, die immer wieder gewechselt wurden, und nicht nur Decken, Matratzen oder Säcke, auf oder unter die man sich kauern musste, um zu schlafen, denn in Asmara kann es in den Winternächten empfindlich kalt werden; dann sinkt die Temperatur auf fünf bis höchstens zehn Grad ab. Schön war auch ein leuchtend rotes Getränk, das wir immer bekamen, verdünnter Himbeersirup. Für mich waren das bis dahin ungekannte Genüsse. Am allerschönsten freilich war die Erfahrung, sich täglich satt essen zu können. Im Orfan hatten wir immer wieder hungrig oder zumindest nicht sehr satt zu Bett gehen müssen, weil es abends wenig zu essen gegeben hatte. Das war für uns so selbstverständlich, dass ich das abendliche Magenknurren für normal gehalten hatte. Wenn auch sonst vieles nicht nach meinem Geschmack lief im Kloster — diese wohligen Abende mit vollem Magen waren wunderbar! Gern mochte ich auch unsere Ausflüge. Alle paar Tage wurden wir in einen Bus gepackt und ins Stadtzentrum gefahren, zu einem viel größeren Haus, das einen noch viel höheren Turm hatte als das Haus, in dem wir lebten. Das war die Kathedrale von Asmara. Dort sollten wir gemeinsam mit den weißen Kindern Tigrinya lernen. Ich musste meine eigene Sprache wie eine Fremdsprache studieren, denn da ich 26 midi mit den ar^^en Kindern und mit den Schwestern nur auf italienisch verständigen konnte, war mir meine Muttersprache während dieses einen Jahres fremd geworden. Selbst mit manchen schwarzen Kindern sprach ich Italienisch, wenn sie aus Landesteilen kamen, in denen kein Wort Tigrinya gesprochen wird, sondern nur andere afrikanische Sprachen, von denen ich kein Wort verstand ... Diese babylonische Sprachverwirrung war der Grund, weshalb ich im Kloster keine Freunde fand. Deshalb sprach ich vor allem mit einem Freund, den nur ich sehen konnte und sonst niemand. Er existierte nur in meiner Phantasie, dort aber um so wirklicher. Oft redete ich stundenlang auf ihn ein, stritt mit ihm, ließ mir von ihm Dinge erklären, tröstete ihn und ließ mich von ihm trösten. So einen praktischen, geduldigen und liebenswürdigen Freund hatte ich danach lange Zeit keinen mehr. Die weißen Frauen freilich erzählten mir immer von anderen Freunden, die ich hätte. Den einen gab es gleich mehrmals in meinem neuen Heim. Er war mit riesigen Nägeln an ein hölzernes Kreuz geschlagen, weshalb ihm das Blut in Strömen von Händen und Füßen rann. Sogar am Kopf hatte er Blut, von einer Krone aus Dornengestrüpp. Dieser weiße und stets mit schmerzverzerrter Miene dreinsehende Mann sagte mir nichts, ich nahm das Gerede der Schwestern über ihn nicht ernst. Der Jesus aus dem italienischen Heim war für mich nichts anderes als ein ferner, weißer und sehr bemitleidenswerter Fremder. Die Rettung Ganz anders ging es mir mit der weißen Frau in dem wunderschönen, bodenlangen Kleid, deren Denkmal hier überall aufgestellt war. Im Durchgang zum Wohnhaus der Schwestern war sie, über dem Eingang zum Wohnhaus der Kinder und gleich mehrmals in der Kirche nebenan. Diese Frau mit der leuchtend hellen Haut, den blonden Haaren und hellblauen Augen erschien mir sehr fremd, aber ich mochte sie. Noch nie hatte ich eine auch nur annähernd so schöne Frau gesehen. Fast alle 27 geistlichen Schwestern waren Italienerinnen. Auch die meisten Kinder stammten von dort oder hatten zumindest einen italienischen Elternteil. Bis auf Florina waren sie daher dunkelhäutig und dunkelhaarig, wenn auch immer noch sehr hell im Vergleich zu Afrikanerinnen wie mir. Aber sie waren nicht von dieser strahlenden Helligkeit wie die Frau in dem blauen Mantel mit dem goldenen Kreis über dem Kopf. Nicht nur ihre Erscheinung zog mich zu dieser Frau hin, sondern auch die Bemerkungen der Schwestern, dass sie meine Mutter wäre. Doch diese Frau tat nichts, was eine Mutter hätte tun können: Sie holte mich nicht aus dem Heim. Sie bestrafte keinen meiner Peiniger. Sie sorgte nicht für Gerechtigkeit zwischen den weißen und den
schwarzen Kindern. Sie half mir nicht über meine Einsamkeit hinweg. Sie tat nichts, außer dazustehen und freundlich und schön dreinzuschauen. Trotzdem horchte ich auf: War das ein Bild meiner Mutter? Aber Als ich Anfang 2004 in Eritrea war, um die Statten meiner Kindheit zu suchen, stattete ich auch dem katho lischen Kloster »Daniel Comboni« einen Besuch ab. 28 warum sollte meine Mutter hellhäutig sein? Sonst, soviel hatte ich schon mitbekommen, hatten schwarze Frauen immer schwarze Kinder und weiße Frauen weiße. Sollte ich eine Ausnahme sein? Was meinten die Schwestern damit, dass diese Frau die Mutter aller Menschen wäre? Das schwächte die Sache ab, weil es offensichdich nicht stimmen konnte, denn verschiedene Kinder hatten verschiedene Mütter, ich hatte das mit eigenen Augen gesehen. War alles erlogen, was die Nonnen sagten? Obwohl ich mir nicht sicher war, was es mit der Frau auf sich hatte, versuchte ich oft, eine Nachricht von dieser Mutter zu bekommen. Wenn keiner zusah, drückte ich mich in ihrer Nähe herum. Ich streichelte sie, flüsterte ihr etwas zu, fühlte, ob sie warm und lebendig wäre. Doch ich erhielt keine Antwort, nichts geschah, die Mutter blieb stumm. Plötzlich tauchte eine andere Mutter auf. Eine Mama aus Fleisch und Blut. Eine schwarze Mutter. Meine Mama. Oder zumindest eine Frau, die behauptete, meine Mutter zu sein, was mir damals als völlig ausreichend erschien. Sollte es auch für mich eine Rettung geben? Mbrat stand eines Tages im Büro der Schwester Oberin und sagte der gestrengen Frau, dass sie meine Mutter wäre. Die Schwester ließ sich überzeugen und willigte ein, dass Mbrat mich mitnahm. Bei meiner Verabschiedung wirkten die Schwestern nicht traurig, genausowenig wie ich. Während Mbrat noch ein paar Worte mit den Schwestern wechselte, konnte ich es kaum erwarten, dass die stets verschlossene und von einem Mann in Uniform bewachte Pforte aufging und Mbrat zusammen mit mir ins Freie endieß — diesmal nicht in ein neues Heim, sondern endlich in die große weite Welt jenseits aller Mauern. Mbrat nahm mich einfach in den Arm, und ich ging freudig mit. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber von diesem Tag an sagte ich »Mama« zu ihr. Von Zweifeln, ob sie wirklich meine Mutter wäre, wollte ich nichts wissen. Sie war gut zu mir, sie hatte mich aus dem schrecklichen Heim herausgeholt, sie wollte für mich sorgen, sie lächelte mich an — ich war so glücklich wie nie zuvor. 29 Großeltern Als mich Mbrat durch die Pforte des ComboniKlosters geführt hatte, war ich nicht nur endlich außerhalb der Mauern, sondern fand mich inmitten einer gänzlich neuen Welt wieder, die mir noch viel fremder vorkam als alles, was ich auf den Straßen Asmaras zu sehen bekommen sollte: in der Welt der Familie. Nun wohnte ich tat sächlich in einem dieser kleinen Häuser, die ich bis jetzt immer nur von außen gesehen hatte. Ich war Teil einer Gruppe von Menschen, die vor allem eines zusammenhielt: die gemeinsame Abstammung. Ich war plötzlich Mitglied einer Familie, und zwar einer richtigen afrikanischen Familie aus mindestens zwanzig Leuten. Als jüngstes von insgesamt elf Kindern war ich das Nesthäkchen der Familie. Neben mir lebten in dem Haus noch die Kinder meiner Großeltern, also meine Tanten und Onkel, und das eine oder andere ihrer Enkelkinder. Die Kinder waren zwischen zehn und zwanzig Jahren alt, ich dagegen wurde gerade mal vier oder fünf. Für mich war das eine heile Familie ich wusste nicht, dass mein Vater als Deserteur und An dieser Straße steht das Wohnhaus meiner Großeltern in Asmara. 31 Ehebrecher mit einer anderen Frau durchgebrannt war. Ich fragte nicht nach ihm, denn für mich zählte nur eines: Mbrat, meine lange verschollene Mutter, hatte mich in den Schoß der Familie zurückgeholt. Wir lebten wie im Paradies. Das Haus meiner Großeltern stand in Maitemenai, einem der besseren Viertel von Asmara. Das war keines der schönen, noch unter italienischer Kolonialherrschaft erbauten Villenviertel, aber es war ein Wohngebiet etwas außerhalb der Stadt, auf einem sanft ansteigenden Hügel, ursprünglich rund um ein großes Krankenhaus erbaut. Hier stand Haus an Haus, alle mit kleinen Gärten oder Höfen, ohne Slums dazwischen, ohne Baracken, ohne Industrie. Das Haus meiner Großeltern war das letzte in einer Straße, die man kaum befahren konnte, weil sie so schmal war und weil die Steine so hoch aus dem Sand heraussahen, dass jeder Angst um sein Auto hatte. Aber die meisten Leute hatten kein Auto, sondern höchstens ein Fahrrad, einen Esel oder ein Pferd, das sie vor einen hölzernen Karren spannten. Unser Haus hatte einen Raum zum Kochen, Essen, Wohnen und Schlafen. Ein zweiter Raum diente als Lager und war gleichzeitig ein Schlafzimmer. In einem dritten, sehr kleinen und fensterlosen Raum lagerten ein paar Decken, ein Kocher, Holz und die Bottiche zum Wäschewaschen. Vor dem Haus lag der von einer Mauer umgebene Hof, nicht größer als ein normales Zimmer. Diese Mauer war keine Bedrohung, denn man konnte jederzeit durch das Tor nach draußen gehen. Sie war ein Schutz vor der Außenwelt, weil man das Tor immer zumachen konnte, wenn man wollte. Das war eine Mauer, die ich liebte wie keine Mauer zuvor. Auf der anderen Seite des Hofes standen die Verschlage für die Tiere. Das waren kleine Ställe, in die zwei Kühe
passten und zwei Ziegen und ein paar Hühner. Sie waren so niedrig, dass ich zwar noch aufrecht darin stehen konnte, die Erwachsenen aber lange nicht. Die Wohnräume dagegen waren sehr hoch, damit sich die Hitze nicht allzusehr staute. Sie boten Platz für die Betten, einen Tisch und ein paar Stühle und einen kleinen Schrank. Fenster mit Scheiben aus Glas gab es nicht, nur Fensterhöhlen, die wegen der Hitze immer mit Blechklappen verschlossen waren. Der Boden bestand aus nacktem und angenehm kühlem Beton, von der Decke baumelte eine Glühlampe. Die Betten waren 32 untertags unsere S^^elegcnn^iicn. Stühle gab es nur zwei, dazu einen niedrigen Tisch, von dem man essen konnte, wenn man am Boden saß. Aus dem Lagerraum holten wir vor dem Essen immer ein paar Schüsseln, Töpfe, Pfannen und den Spirituskocher. All das räumten wir zum Kochen in das mittlere Zimmer, in dem sich alles abspielte — das Zubereiten der Speisen, das Essen, das Leben, das Schwatzen, das Schlafen. Hier hockten wir Mädchen und Frauen auf dem Boden oder auf kleinen Schemelchen und schnitten das Gemüse klein und kochten die Suppen und die Soßen. Nach dem Essen wuschen wir alles im Hof ab und verstauten es wieder nebenan im Lagerraum, so dass vom Essen oder vom Kochen nichts mehr zu sehen war. Alles war immer angenehm leer und aufgeräumt, denn es stand nichts herum. Es gab nur wenige Dinge, und die hatten alle in einem Schrank und in ein paar Kisten mit Kleidern und Kleinzeug Platz. Für mich war es das Paradies. Hier hatte ich zum ersten Mal mein eigenes Reich! Das große Eisentor bewahrte mich vor herumstreunenden Nachbarskindern, Eseln, Kamelen und Hunden. Außerdem verfügte mein Reich über viele Kolonien außerhalb der schützenden Mauern und doch in nächster Nähe: Unmittelbar hinter dem Haus war die Stadt zu Ende. Hier weideten Hirten ihre Tiere, bearbeiteten Frauen Gemüsegärten und kleine Felder. Dort spielten wir Kinder. Hierher kamen alle Leute aus dem Viertel, um in einem kleinen Wäldchen ihre Geschäfte zu erledigen, denn fließendes Wasser oder Toiletten gab es in den Häusern nicht. Wer mal musste, ging ein Stückchen in die Natur hinaus, hockte sich in seinen weiten, bodenlangen Gewändern hin, plauderte mit ein paar Bekannten, reinigte sich mit Hilfe von kleinen Steinen und schlenderte gemütlich zurück. Ich brauchte einige Zeit, um mich daran zu gewöhnen, denn im Kloster hatte es Toiletten gegeben mit Schüsseln aus weißem, makellosem Porzellan, durch die man Wasser fließen lassen konnte, wenn das Geschäft erledigt war. Für uns Kinder waren vor allem die felsigen Hänge interessant, die direkt hinter den Wiesen zu einem Wäldchen hinaufstiegen. Von dort oben konnte man fast die ganze Stadt sehen. Man konnte sich prima in Erdlöchern verstecken, konnte zwischen den eng stehenden Baumstämmen Abfangen spielen oder sich ins Gebüsch zurückziehen, wenn 33 man seine Ruhe wollte. Ich hatte mir ein verstecktes Platzchen zurechtgemacht, eine kleine Hohle oberhalb des Abhangs. Das war ein Ort, den ich niemandem zeigte, an den ich immer alleine ging. Ich liebte es, mich dort zu verkriechen, ein bisschen zu träumen, zu dosen oder einfach nur aus dem Schatten in die diesige Hitze des Mittags hinauszublinzeln. Meine Großeltern hatten Tiere, mit denen ich manchmal über die Wiesen zog, Kühe, Ziegen und Huhner. In dem winzigen Stall gleich neben dem Wohnhaus standen sie nur nachts, sonst waren sie immer draußen. Meine Familie schlachtete selbst und handelte mit dem Fleisch, den Hauten und allem, was sonst noch verwertbar war an einer Kuh. Es gab sogar einen Hund und eine Katze, die ich für mich allein beanspruchte. Die anderen ließen mich gewahren, weil Hunde und Katzen für sie nichts Besonderes waren. Also konnte ich besten Gewissens sagen, dass das mein Hund und meine Katze waren. Das war für mich ein unglaubliches Wohlgefuhl. Erstmals in meinem Leben konnte ich über etwas bestimmen. Selbst wenn es Streit mit meinen Geschwistern gab — die in Wahrheit naturlich nicht meine Bruder und Schwestern waren, sondern meine Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins —, selbst dann hatte ich keine Probleme, denn die Straße steckte voller Kinder, mit denen ich jederzeit losziehen konnte, um Abenteuer zu erleben und Spiele zu erfinden. Es war nicht nur wie im Paradies, es war das Paradies. Die Zeit bei meinen Großeltern war die schönste Zeit meiner Kindheit, wenn nicht die schönste Zeit meines Lebens. Von Anfang an spurte ich Geborgenheit, Sicherheit und Zuwendung, wie ich sie nie mehr fühlen sollte. Dabei war der Wechsel zu meiner Familie für mich vor allem zu Beginn durchaus mit Harten verbunden. Doch es waren Harten, die ich gerne meisterte. Zum Beispiel empfand ich die Schule, in die ich von nun an ging, als streng und kompliziert. Das lag daran, dass ich kaum mehr Tigrinya verstand und mir die Worter meiner eigenen Muttersprache erst mühsam wieder aneignen musste, die mir in der Zeit bei den italienischen Schwestern verlorengegangen waren. Deswegen galt ich in der Klasse als Außenseiterin und musste mir meinen Platz erst erkämpfen. 34 Auch das Essen \\ lr ehr ungewohnt für mich Hier aßen alle mit den Fingern und nicht mit Gabeln und Löffeln, wie uns das die italienischen Schwestern beigebracht hatten. Es gab keinen Käse, kein Weißbrot und keine Eier mehr, sondern Enjera Morgens Enjera, mittags Enjera, abends Enjera — wenn es denn drei Mahlzeiten am Tag
gab, oft wurde nur zweimal gegessen Enjera ist das Grundnahrungsmittel Eritreas schlechthin: dünne, weiche und stark säuerlich schmeckende Fladen aus Mehl und Wasser, auf die eine Soße geschüttet wird. An der Soße sieht man sofort, ob die Familie Geld hat oder nicht. Bei armen Leuten besteht sie aus nichts anderem als ein paar zerkochten Tomaten oder ein bisschen Gemusebrei. Gibt es mehr Geld, schwimmen in der Soße Fleischstuckchen, Zwiebeln, Gemusescheiben oder sogar Eier oder Huhnerkeulen. Wir hatten alle möglichen Soßen, wenn auch nicht immer mit Fleisch. Aber alles war scharf So scharf, wie überall in Afrika gegessen wird — doch ich war durch die Schwestern schon auf europaische Küche eingestellt gewesen. Beim EnjeraEssen saßen wir alle um ein rundes Tablett, und jeder riss sich ein Stuckchen Fladenbrot ab, nahm damit etwas Soße oder ein Fleischbrockchen auf und aß das, alles nur mit der Hand. Zum großen Gelachter der anderen Kinder und der Erwachsenen zuckte meine Hand immer wieder vom Mund zurück, weil es mir zu scharf war. Ich schämte mich und wechselte schnell und möglichst unauffällig die Hand, mit der ich gegessen hatte, weil ich dachte, die Scharfe komme aus der Hand und nicht vom Essen. Anfangs war ich ein paarmal panisch, weil es auch aus der anderen Hand scharf kam. Dann untersuchte ich meine Hände genau, ob vielleicht etwas Scharfes dran war. Ich konnte nicht einfach aufstehen, hinausgehen und mir die Hände waschen, denn wahrend des Essens aufzustehen gehorte sich nicht, und die Hände wusch man sich erst hinterher. Mit der Zeit lernte ich weniger Soße zu nehmen, um mit den scharfen Gewürzen klarzukommen. Ich muss wie eine Europäerin gewirkt haben, die zum ersten Mal original afrikanisch lsst 35 Die Taufe Bei meinen Großeltern ging es keinesfalls bäurisch zu, selbst wenn sie Bauern waren, die mitten in der Stadt lebten. Es war nicht wie in einem Dorf draußen in den Bergen, wo die Leute außer ihren Tieren, dem Wirt, dem Pfarrer und der näheren Umgebung nichts kennen. Meine Großeltern waren gebildete Leute, koptische Christen. Sie sprachen nicht nur Tigrmya, sondern auch Hebräisch. Die Mutter meiner Großmutter war im judischen Glauben erzogen worden — das Judentum war wie das Christentum vor Tausenden Jahren von Kaufleuten über das Rote Meer nach Äthiopien gebracht worden. Wir feierten nicht nur die christlichen Feiertage, sondern auch Hanukka, und ich lernte ein paar Brocken Hebräisch von meiner Großmutter. Außerdem beschlossen die beiden bald nach meinem Einzug, dass ich getauft werden müsse — daran hatte bis jetzt niemand gedacht, noch nicht einmal die katholischen Schwestern. Aber vielleicht glaubten sie, ich sei schon getauft. Weil meine Großeltern etwas auf sich hielten, ließen sie mich nicht irgendwo taufen, sondern im Zentrum des Christentums, in Jerusalem. Bei den Kopten in Äthiopien und Eritrea war es schon immer Brauch, sich dort taufen zu lassen, obwohl viele Leute sich die Reise ins Heilige Land nicht leisten konnten. Wer jedoch in Jerusalem getauft wurde, ist zeit seines Lebens sehr stolz darauf — genauso wie ich. In Äthiopien gibt es schon viel langer Christen als beispielsweise in Mitteleuropa. Syrische Kaufleute brachten das Christentum bald nach dem Tod Jesu nach Äthiopien. Im dritten oder vierten Jahrhundert war es dort bereits Staatsreligion — zu einer Zeit, als in Deutschland noch heidnische Germanen ums Feuer tanzten. Deshalb war Äthiopien als einziges Land Afrikas nur ein paar Jahre lang vom faschistischen Italien besetzt, aber niemals eine Kolonie der Europaer. Als die dort ankamen, durften sie nicht schlecht gestaunt haben, anstatt der schwarzen Wilden jahrhundertealte Kirchen vorzufinden, geweihte Priester und strengglaubige Christen. Von den Äthiopiern konnten sie nicht behaupten, es handle sich bei ihnen um Untermenschen, die man schnell versklaven und missionieren müsse, um ihnen das ewige Leben in Gottes Himmel 36 reich zu ermöglichen. All das Hatte mir mein Großvater voller Stolz erzahlt. Er vermittelte mir damals eine Nahe zu Gott, die ich bis heute spure. Meine Großeltern, die für ihre eigenen Kinder schon mehrere Male zuvor nach Jerusalem gereist waren, nahmen die weite Reise für mich noch einmal in Kauf. Es war tief in der Nacht, als wir in Massawa, der großen entreischen Hafenstadt, das Schiff bestiegen. Wir fuhren tausende Seemeilen nordlich, das Rote Meer hinauf, vorbei am Sudan und vorbei an Ägypten. Die Nacht zuvor hatten wir im Bus von Asmara nach Massawa zugebracht, Hunderte Serpentinen hinunter zum Meer, denn die Straße zwischen den beiden Städten überwindet fast zweitausendfunfhundert Hohenmeter. Vom Zielhafen aus nahmen wir wieder einen Bus, der uns quer über die Halbinsel Sinai nach Jerusalem brachte. In Jerusalem ließen meine Großeltern mich auf den Namen »Senait« taufen, die TigrinyaVersion von »Sinai«, dem Namen der Halbinsel zwischen Ägypten und Israel. Also hieß ich von nun an Senait wie der Berg, wo die Zehn Gebote ausgesprochen wurden. In Eritrea werden viele Madchen so genannt. Senait bedeutet »Ort des Friedens« oder »Frieden«, und den hatte unser Land damals bitter notig. Der Befreiungskrieg der Entreer gegen die Athioper ging damals schon mehr als zwanzig Jahre, auf beiden Seiten waren bereits Abertausende Menschen gestorben, viele Städte vor allem in Eritrea waren stark zerstört, weite Landstriche waren vermint und nicht zu betreten, und immer noch war kein Ende des Krieges in Sicht. Es gab viele gute Grunde, ein Kind »Frieden« zu nennen. Meine Großeltern meinten ihren Friedensappell sehr ernst. Sie waren, wie die meisten Mitglieder meiner Familie, zutiefst glaubige Christen. Ich lernte damals, an Gott zu glauben. Wir lasen manchmal in der Bibel, und
in der Kirche horte ich die Geschichten von Jesus und Maria. Nach unserer Taufreise kam ich hundemüde, aber mit vor Stolz geschwellter Brust in die Schule. Ab diesem Tag stieg die Achtung meiner Klassenkameraden mir gegenüber deutlich an. Das war für mich sehr wichtig, denn ich hatte es nach wie vor nicht leicht in der Schule. Mein Tigrinya machte nur langsame Fortschritte. Immer noch verstand ich 37 vieles nicht, was die Lehrerin oder meine Mitschüler sagten. Außerdem bin ich eigentlich Linkshanderin, doch die Lehrer verlangten, dass ich alles neu lernte. Ich musste mit der rechten Hand schreiben, zeichnen und alle Handarbeiten machen wie Nahen und Sticken. Das war für mich am allerschwiengsten: die Nadel in der Rechten, den Stoff in der Linken. Das wollte nicht in meinen Kopf hinein. Zu allem Uberfluss gingen die Lehrer in der Schule extrem schnell voran. Im Alter von fünf Jahren hatten wir Unterricht in Tigrmya und Englisch und fingen schon mit Bruchrechnen und Landeskunde, mit Auswendiglernen und Musik an. Alles stopften sie mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in uns hinein. In Afrika ist Wissen Luxus, der immer knapp ist und daher entsprechend gut genutzt werden muss, wenn man ihn hat. »Seid froh, dass ihr lernen dürft«, sagte uns die Lehrerin immer wieder. Faul herumsitzen und nichts tun kam weder für uns noch für die Lehrer in Frage. Die Lehrerin war in meinem Fall besonders engagiert, sie sah mich als Herausforderung. Jeden Tag lieferte sie mich persönlich zu Hause ab, als Dankeschön, weil ich ihr immer Bananen oder andere kleine Geschenke überreichte, die mir meine Großeltern für sie mitgegeben hatten. Die wussten schon, wie sie ihrer Enkeltochter eine optimale Ausgangs Situation verschaffen konnten. Trotzdem beschwerte sich die Lehrerin fast taglich über mich: »Dieses Kind ist ein Monstrum« — der Satz klingt mir heute noch im Ohr. Ich war ein wildes Kind, das nicht stillsitzen konnte, andere Kinder ärgerte oder dauernd Fragen stellte, auf die die Lehrerin keine Antwort wusste. Ich war ein Rebell, ein Wirbelwind, das quirligste Kind meiner Schulklasse und der ganzen Nachbarschaft. Sogar die Jungs in meiner Straße verprügelte ich. Madchen durften andere Madchen nicht schlagen, aber dass sie Jungs verprügeln, war so undenkbar, dass es noch nicht einmal auf der Verbotsliste stand. Martin, ein Junge in unserer Straße, war sehr dick, und auf ihn hatte ich es besonders abgesehen. Ich jagte ihn mit Vorliebe durch die Gegend, weil ich fette Kinder nicht mochte. »Nimm ab, nimm ab'« rief ich und rannte hinter ihm her. Ich muss ihn zur Verzweiflung getrieben haben. An einem Tag liebte ich ihn und fragte ihn, ob er mich heiratet, 38 am nächsten Tag bc^^g et wicdei Prugei. Es regte mich maßlos auf, dass er so dick war. Wie kann man nur immerzu fressen, dachte ich. Meine Oma machte das nervös. »Sie hat wieder dieses Funkeln in den Augen«, sagte sie, »nehmt euch in acht' Aber tut ihr nichts, sie ist nicht böse.« Das stimmte, ich war nur so direkt und ehrlich: Wenn ich jemanden mochte, sagte ich ihm das ohne Umschweife. Wenn ich ihn nicht mochte, sagte ich das genauso offen. Meine Offenheit war manchen Erwachsenen zuviel. Meine Oma bestrafte mich nie dafür oder höchstens einmal mit zwei, drei Klapsen auf den Po. Das war aber keine richtige Strafe, weil es nicht weh tat. Eine Strafe war es, Prugei zu beziehen, bis blaue Flecken kamen und man nicht mehr sitzen konnte vor lauter Striemen und Blutergüssen. Meine Oma sagte zwar immer: »Naturlich werde ich sie bestrafen«, aber dann kam nichts. Hatte ich Gluck mit ihr! Ich war nur deshalb so frech, weil ich wusste, mir passiert nichts. Wir hatten eine üble Nachbarin. Wir Kinder nannten sie nur »Haregu«, was soviel heißt wie »Mistkäfer«, und genauso sah sie aus. Alt, vergammelt, geizig und blöd war sie. Haregu hasste Kinder, und ich hasste sie. Ich zog sie oft damit auf, dass sie schlecht sah. Wir Kinder erschreckten sie immer und versteckten uns, so dass sie uns nicht sehen konnte. Haregu beschwerte sich oft bei meiner Oma. »Oh, dieses Monstrum, das ist kein Kind'« beklagte sie sich. Meine Oma versprach ihr, mich zu bestrafen, aber sobald wir wieder im Haus waren, lobte mich meine Oma nur. »Gut gemacht, gut gemacht'« sagte sie und klopfte mir auf die Schulter. Fleisch Ich baute jede Menge Mist in dieser Zeit. Da war zum Beispiel die Geschichte mit dem frischgewaschenen Fleisch. Ich wusste, dass meine Großmutter unsere Wasche mit Waschmittel kochte. Es gab keine Waschmaschine, sondern die schmutzige Wasche kam zusammen mit dem Waschmittel in einen Topf, der wurde aufs Feuer gestellt, dann 39 wurde das kochende Wasser ein paarmal umgerührt, und fertig war der Hauptwaschgang. Einmal legte meine Oma in demselben Topf, in dem sie sonst die Wäsche wusch, Fleisch ein. Bei uns gab es keine zwanzig Töpfe, Schüsseln oder Behälter, sondern nur drei oder vier davon, die für die ver schiedensten Funktionen herhalten mussten. Als ich abends über den Hof streunte, sah ich den Topf mit Fleisch und einer Flüssigkeit drin, eine Art Beize. Ich dachte, es wäre gut, dieses Fleisch ein wenig zu reinigen, tat einen guten Schwung Waschpulver hinein und
rührte ein paarmal kräftig um. Wie herrlich das sogleich aufschäumte! Am nächsten Morgen war die Hölle los — mit einem Wutschrei stürzte meine Oma in die Küche, die gleichzeitig das Wohnzimmer war und der Schlafraum von uns Kindern, und brüllte mich fuchsteufelswild an. Sie muss geahnt haben, dass nur ich hinter so einer Sache stecken konnte. »Was ist denn?« fragte ich sie mit der unschuldigsten Miene. »Du wäschst doch immer alles. Ich wollte dir nur helfen und das Fleisch waschen.« Das meinte ich ganz ehrlich. Mir war die Sache mit dem Waschmittel und dem Fleisch zwar selbst nicht geheuer vorgekommen, aber niemals hätte ich gedacht, dass das wertvolle Fleisch damit verdorben war. Das Fleisch von einer frisch geschlachteten Kuh war das Kostbarste, das es in einem afrikanischen Haushalt gab. In jeder anderen Familie hätte man mich dafür halbtot geprügelt, aber ich kann mich nicht mehr an meine Strafe erinnern. Sie fiel wohl nicht so schlimm aus. Dass ich beschloss, nie wieder Fleisch zu essen, hatte aber nichts mit dieser Episode zu tun. Auslöser dafür war, als ich einmal zusehen musste, wie ein Huhn geschlachtet wurde. Das war die normalste Sache der Welt, alle schlachteten ihre Hühner selber, genauso wie ihre Ziegen, Schafe oder Kühe, wenn sie welche hatten. Wer keine eigenen Hühner hatte, der holte sie sich vom Markt, immer lebend, um sie frisch zu schlachten. Kühlgeräte gab es nicht, und nur lebende Tiere ließen sich ungekühlt transportieren und aufbewahren. Meine Großeltern hatten eigene Hühner. Einmal wollte mein Großvater, dass ich ihm beim Schlachten zusehe, damit ich wüsste, wie das 40 geilt. Seihst hätti ich nie «chlachten dürfen, weil dao in Eritrea nur Männern erlaubt ist. Frauen gelten als unrein, und niemand würde ein Tier essen, das eine Frau getötet hat. Doch die Frauen dürfen alle Arbeiten machen, die nach dem Schlachten notwendig sind: das Hühnchen rupfen, waschen, ausnehmen, enthäuten, zerteilen, kochen. Einfach alles machen die Frauen, außer dem Schlachten. Manchmal dachte ich, dass sich das die Männer nur so zurechtgelegt hatten, um die Arbeit nach ihrem Sinn einzuteilen: Sie selbst haben mit einem Huhn ungefähr dreißig Sekunden zu tun, die Frauen drei Stunden. Ob das der wahre Grund dieser Arbeitsteilung ist? Mein Großvater zog mich also in den Hof, damit ich ihm zusehe. Die anderen Kinder waren alle schon versammelt, weil sie gern beim Schlachten zusahen. Nur ich sträubte mich dagegen, und genau deshalb hatte mich Großvater hergeholt. Diesmal nutzten keine Ausflüchte, ich musste bleiben und zugucken. Mein Großvater war Profi im Hühnerschlachten, er wird ein paar hundert Stück Federvieh auf dem Gewissen gehabt haben. Routiniert packte er ein Huhn an den Beinen, drehte es mit dem Kopf nach unten und legte es auf einen Stein. Er drückte das Tier mit einer Hand nieder, um ihm mit einem scharfen Messer den Hals abzuschneiden. Es war ein Schnitt, der leichter aussah, als ein Messer durch eine Tomate zu ziehen. Das Blut spritzte, der Rumpf des Huhns führte wilde Zuckungen aus, die anderen Kinder jubelten begeistert — und ich verbarg das Gesicht hinter meinen Händen und musste hemmungslos schluchzen. Das war der Moment, an dem ich beschloss, nie wieder in meinem Leben Fleisch zu essen. Bis heute habe ich mich daran gehalten. Mein Großvater war ärgerlich, dass ich mich so dumm verhielt. Er stülpte eine rote Plastikschüssel über den Rumpf des Huhns, damit der dort geschützt vor Staub und vor unserem Hund, der schon gierig herübersah, auszucken konnte. Aber noch bevor der Kadaver meinen Blicken entzogen wurde, war mir klar, dass ich kein Stück davon essen würde. Nicht einen Bissen! So war es dann auch, zum großen Unverständnis aller anderen, die mich für verrückt erklärten. Kein Fleisch zu essen, das es ohnehin so selten gab und das als die beste, begehrenswerteste Delikatesse galt! 41 Das Mädchen musste wahnsinnig geworden sein! Es dauerte Monate, bis sich meine Verwandten daran gewöhnt hatten, dass ich kein Fleisch mochte. Ich war vermutlich die einzige Vegetarierin in Eritrea — jeder, dem meine Großeltern davon erzählten, schüttelte fassungslos den Kopf. Nur meine Großmutter verstand mich ein bisschen, doch auch sie bot mir immer, wenn es Fleisch gab, welches an. Aber es half nichts, ich blieb meinem Entschluss treu. Bald jedoch sollte mir für lange Zeit kein Fleisch mehr angeboten werden. Bald sollte ich froh sein, wenn es überhaupt etwas zu essen gab. Fragen Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte das Leben bei meinen Großeltern ewig so weitergehen können. Weder ich noch meine Großeltern vermissten meinen Vater. Nach all den Eskapaden mit den von ihm im Stich gelassenen Frauen und Kindern war mein Vater nicht sonderlich gern gesehen. Mein Vater wusste von alldem nichts. Er wusste zwar, dass Mbrat mich aus dem Heim geholt hatte, aber damit schien die Sache für ihn erledigt. Er kam uns nie besuchen. Trotzdem machten ihm seine Bekannten offenbar Vorwürfe, dass er eine seiner Töchter zu den Großeltern abgeschoben habe. Als »Mädchen aus dem Koffer« war ich immer noch ein Thema in Eritrea. Die Nachbarn meiner Großeltern kannten die Geschichte, alle kannten sie alle außer mir. Ich wusste nie, wovon die Rede war, wenn die anderen
Kinder »Senait, Kofferkind!« hinter mir herriefen. Ich dachte immer, das sei ein dummer Scherz oder eine Laune von ein paar Kindern. Meine Großeltern erzählten mir kein Wort von meiner Geschichte. Meine Großmutter sagte immer nur, ich solle die Kinder ruhig rufen lassen, die wüssten nicht, was sie da sagten. Sie dachte sicher, ich würde die Geschichte nicht verstehen, und das war richtig und gut so. 42 Während dieser ZJt • iti Jen Großeltern sagte ich immer »Mama« zu meiner Tante Mbrat, die mit im Haus meiner Großeltern wohnte. Außer mir hatte Mbrat noch zwei Mädchen, von denen das ältere Senait und das jüngere Frehiwet hieß. Beide waren älter als ich, aber nur Frehiwet wohnte noch bei uns. Die ältere Senait war schon ausgezogen, als ich zur Familie kam, die Jüngere war von nun an meine Schwester. Einmal sagte sie: »Senait, du hast noch eine Schwester, die heißt auch Senait.« Das gab mir zu denken. Also fragte ich Mbrat: »Mama, wieso nennst du zwei von deinen Töchtern Senait? Woher sollen wir denn wissen, wer gemeint ist, wenn du uns rufst?« Erst antwortete sie darauf nicht, dann meinte sie ausweichend: »Den Namen fand ich immer schon schön.« Aber bestimmt hätte sie mich nicht ebenfalls Senait genannt, wenn ich ihr Kind gewesen wäre. Für mich klang ihre Antwort zwar nicht logisch, aber ich akzeptierte sie schon deshalb, weil ich sie akzeptieren wollte. Ich brauchte eine akzeptable Antwort, um keine weiteren Fragen stellen zu müssen. Soldaten Während des Jahres, das ich in der kleinen heilen Welt bei meinen Großeltern zubrachte, wandelte sich die Welt der Erwachsenen draußen vor den Mauern meines Paradieses nicht zum Besseren: Der Krieg zwischen Eritreern und Äthiopiern nahm immer blutigere Züge an und drohte für die Eritreer endgültig verlorenzugehen, da sich die beiden eritreischen Befreiungsbewegungen ELF (Eritrean Liberation Front — Eritreische Befreiungsfront) und EPLF (Eritrean People's Liberation Front — Befreiungsfront des eritreischen Volkes) zunehmend feindselig gegenüberstanden und einander offen bekriegten, anstatt gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen. Hocherfreut über die Uneinigkeit seiner Gegner rieb sich der äthiopische Diktator Haile Mengistu die Hände und fühlte sich schon nah am Sieg. So gut wie alle größeren Städte standen unter der Kontrolle der äthiopischen Regierungstruppen, die Rebellen mussten sich in das unwegsame Bergland oder in den malaria 43 verseuchten Westen des Landes, an die sudanesische Grenze, zurückdrängen lassen. Die Eritreer wurden schikaniert. Immer wieder kamen äthiopische Soldaten ins Haus meiner Großeltern. Das waren keine normalen Besuche oder Hausdurchsuchungen, sondern Plünderungen. Die Soldaten polterten zu jeder Tages und Nachtzeit herein. Sie ließen mitgehen, was ihnen gefiel, und einmal setzten sie sogar das Haus in Brand, so dass meine Großeltern die Flammen nur mit Mühe und Not löschen konnten. Sie beteuerten den Soldaten zwar jedesmal, dass sie weder Waffen versteckt hielten noch Rebellen Unterschlupf boten, aber die Männer in den Uniformen schenkten ihnen keinen Glauben. Oder zumindest hatten sie den Befehl erhalten, es nicht zu glauben. Für uns lief es auf das gleiche hinaus: auf regelmäßig wiederkehrende Schikanen. Ich war alt genug, um zu verstehen, dass das kein Spiel war, sondern bitterer Ernst. Diese Männer in Uniformen waren etwas Besonderes. Sie hatten eine größere Macht als meine Großeltern, Onkel und Tanten, von mir ganz zu schweigen. Ein Blick über Maitemenai, mein ehemaliges Wohnviertel in Asmara. 44 In Asrnara herr^te eine »L^ngc Ausgangssperre. Aoend für Abend rollten die Panzer aus der Kaserne und besetzten alle wichtigen Kreuzungen der Stadt. Soldaten patrouillierten, es war immer wieder Gewehrfeuer zu hören. Wen die Soldaten nach acht Uhr abends auf der Straße antrafen, der musste mit seiner sofortigen Verhaftung rechnen — wenn die Soldaten nicht kurzen Prozess machten und ihn »in Notwehr« auf der Stelle erschossen. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder misshandelt — das waren die »Nebenwirkungen« eines Krieges, der mitten in den Wohngebieten, in den Städten und Dörfern stattfand. Ich fragte immer wieder, was dort draußen passierte, aber ich bekam keine Antwort. Eines Tages versuchte ich, mir selbst ein Bild zu machen von der Welt jenseits der schützenden Mauern unseres Hauses — ohne zu ahnen, wie gewalttätig und unfreundlich diese Welt selbst zu kleinen Mädchen werden kann. Während der Dämmerung, als alle nach Hause gingen und wir Kinder längst im Haus sein sollten, kletterte ich klammheimlich über die Mauer, die unseren Hof umgab. Ich schlich mich aus unserer kleinen Nebenstraße hinaus auf die Hauptstraße und von dort ein Stückchen bergauf bis zu einem Platz, auf dem die Soldaten standen und warteten. Als Geschenk brachte ich ihnen eine Kleinigkeit zu essen mit. Ich hatte die Vorstellung, dass diese Männer in ihren Baracken, Zelten und anderen notdürftigen Verschlagen so arm waren, dass sie sich nichts zu essen leisten könnten. Dabei war es genau umgekehrt: Durch Plünderungen und Beschlagnahmungen von Lebensmitteln und Vieh ging es den Soldaten viel besser als der Zivilbevölkerung, die völlig von deren Willkür abhängig war. Irgend etwas faszinierte mich an diesen Soldaten. Im Gegensatz zu allen Erwachsenen und zu den anderen Kindern fand ich sie nicht bedrohlich. Das lag nicht an meinem Mut, denn ich war feige. Wenn es ein Problem gab, verschwand ich immer so schnell es ging hinter der nächsten Ecke. Ich hatte einfach keine Ahnung davon,
was Soldaten waren und was sie taten. Die Erwachsenen wussten das, und deshalb hielten sie sich fern. Sie wussten, dass es im Krieg kein Recht und kein Gesetz gibt. Sie wussten, dass es für einen dieser schlecht ausgebildeten, aggressiven, hungrigen, 45 drogensuchtigen oder betrunkenen Soldaten wenig bedeutete, jemanden zu toten, der ihm im Weg stand. Der nervte. Der ihn in Angst versetzte. Dem er nichts Gutes zutraute. Sie wussten, dass die Soldaten so dachten, weil ihre Feinde genauso dachten: erst schießen — fragen konnte man hinterher. Wer erst fragte, konnte hinterher keine Erklärungen mehr abgeben, weil er langst tot war. Also machten die Erwachsenen einen weiten Bogen um jede dieser traurigen Figuren in ihren abgerissenen Overalls und zerrten mich weg, wenn ich zu diesen seltsamen Wesen hin wollte. Meine Neugier wurde dadurch erst recht angefacht. Für mich waren die Soldaten interessante Leute. Sie sahen zwar so aus wie wir, hatten aber viel mehr zu sagen. Die meisten Soldaten waren noch jung. Uns Kindern kam schon ein Vierzehn oder Fünfzehnjähriger erwachsen vor. Eine Zwanzigjährige war für uns eine mittelalte Frau, die schon ein, zwei oder drei Kinder hatte. Das war für dieses Alter vollkommen normal. Die meisten Soldaten waren schon mit elf Jahren in der Ausbildung, und ab dem Alter von vierzehn Jahren trugen sie reguläre Uniformen und kamen in regulären Verbanden an die Front. Die Besatzungssoldaten in Asmara waren ein wenig alter, denn so war und ist es bis heute in allen afrikanischen Kriegen: Die jungen Heißsporne verheizen sie an der Front, den weniger gefahrlichen Dienst in den bereits besetzten Gebieten oder im Hinterland übernehmen die alteren Soldaten. Der Dienst an der Front war kein Kinderspiel, aber es waren Kinder, die ihn ausbaden mussten. Ich wollte sehen, was die Soldaten dort oben auf dem Platz machten, wollte wissen, was das für Leute waren. Wahrend die meisten Menschen sich beeilten, nach Hause zu kommen, schlich ich die Hauptstraße hinauf, um den Soldaten ein paar Enjera, einen Maiskolben und ein bisschen Obst aus dem Garten zu bringen. Viel konnte ich nicht mitnehmen, sonst wäre das zu Hause aufgefallen. So reich waren wir nicht, dass wir Lebensmittel zu verschenken hatten. Es war ein großes Hallo, als die Soldaten mich zu ihren Befestigungen hinaufließen. Sie hatten provisorische Barrikaden gebaut, von denen aus man die Hauptstraße von der Innenstadt hinauf nach Malte menai sehr gut im Auge behalten konnte. Wir saßen zusammen in 46 ch.sen Verschlagen, und iie pladderten mit mir, zeigten m>r ihre Waffen und ließen mich aus den Gucklochern spähen. Plötzlich Besuch von einem kleinen Madchen zu bekommen, das sich mit ihnen unterhielt und ihnen noch dazu ein paar Leckereien brachte, war für diese Leute eine große Überraschung. Nachdem mein erster Besuch so gut verlaufen war, schlich ich mich öfter zu den Soldaten. Sie behandelten mich immer sehr freundlich. Als es einmal nach unseren Plaudereien schon dunkel geworden war, brachten mich zwei oder drei von ihnen nach Hause, denn wegen der Ausgangssperre durfte ich nicht mehr allein auf der Straße sein. Aus Angst vor Heckenschutzen wagten sich selbst die Soldaten niemals alleine auf die Straße. Im nachhinein betrachtet war es von den Soldaten ziemlich leichtsinnig, mir zu vertrauen und mit mir durch die dunkle Nebenstraße zu gehen. Wie leicht hatte ich sie in einen Hinterhalt locken können! Meine Oma war völlig aus dem Hauschen, als ich mit den Soldaten ankam. Sie hatte schreckliche Ängste ausgestanden, weil ich bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht zu Hause gewesen war. Jetzt musste sie furchten, dass mich die Soldaten bei irgendeiner Dummheit geschnappt hatten und nun mir oder der Familie etwas Schlimmes antun wurden. Sie begann zu weinen, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, fiel vor den Soldaten auf die Knie und flehte: »Tut ihr nichts, sie ist doch noch ein Kind' Bitte, tut ihr nichts'« Die Soldaten waren daran gewohnt, Angst und Schrecken zu verbreiten. Zwar befanden sie sich in Äthiopien, aber doch im Feindesland, denn die Bewohner der Provinz Eritrea waren geschlossen für die Unabhängigkeit Eritreas und betrachteten die äthiopischen Soldaten als verhasste Besatzer, auch wenn die oft vom selben Stamm waren wie sie selbst. Diese Soldaten jedoch waren sehr nett. »Wir wollen ihr nichts tun«, beruhigten sie meine Großmutter, »nun sei ruhig, Alte. Schrei nicht herum. Wenn uns jemand hier sieht, kommen wir ins Gefängnis. Wir müssen auf unserem Posten bleiben. Aber das Madchen bringt uns immer Essen, und wir wollten uns bedanken. Sag ihr, dass sie nicht mehr kommen darf, sie bringt dich und sich selbst in Gefahr.« 47 Unter Tränen beschwor meine Oma sie, nur ja zu glauben, dass sie mich nie wieder abends hinauslassen wolle. Dieser Auftritt der Soldaten bei uns zu Hause beeindruckte mich gewaltig. Anschließend sagte meine Oma zu mir: »Wenn die dich erwischen, und da ist ein unfreundlicher Chef dabei, werden sie dich umbringen. Dann erschießen sie dich.« Von da an ging ich nie mehr zu den Soldaten und blieb abends immer zu Hause. Ich hatte richtig Angst bekommen. In dieser Nacht hatte ich einen starken und merkwürdigen Traum: Es war Neujahr, und Soldaten kamen zu uns ins Haus gepoltert. Diesmal kamen sie jedoch nicht, um nach meinem Vater zu suchen, sondern um meine Oma zu schlachten. Sie brüllten herum, dass sie sie schlachten wollten. Voller Panik schrie ich die Typen an: »Keiner
schlachtet meine Oma!« Und: »Versteckt sie!« Schweißgebadet wachte ich auf und lief weinend ins Nebenzimmer zu meiner Oma, um ihr von dem Traum zu erzählen. Sie nahm mich zu sich ins Bett, aber es gelang ihr nicht, mich zu beruhigen. Am nächsten Tag spielten wir den Traum miteinander durch. Ich bestand darauf, dass sie sich im Haus versteckte, damit ich sie suchen konnte. Wenn sie sich nicht gut genug versteckt hatte, sagte ich: »Hier finden sie dich«, und suchte ihr ein besseres Versteck. Ich stopfte sie sogar in den Schrank. Dann zog ich sie wieder heraus und schrie sie an: »Nein, nicht hier, sondern im Wohnzimmer!«, und dort ging es weiter, genauso im Hof, in der Vorratskammer und in allen anderen Räumen auch, bis ich die arme Frau durch das ganze Haus gehetzt hatte. Sehr viele Verstecke gab es nicht, weil das Haus klein war und es nicht viele Winkel oder Schränke gab, in denen man sich verstecken konnte. Aber indem ich meine Oma durch die Gegend scheuchte, vertrieb ich meine Angst. Es war bezeichnend für meine Großmutter, dass sie bei diesem Spiel mitmachte. Niemand, mit dem ich früher oder später in meiner Kindheit zu tun hatte, konnte sich so gut auf Kinder einstellen wie sie. 48 Beim Vater Das erste Anzeichen dafür, dass die wunderbare Zeit im Haus meiner Großeltern zu Ende gehen sollte, war, als meine Großmutter sagte: »Senait, du musst deinen Vater kennenlernen.« Statt mich zu freuen, erschrak ich. Mein Vater ging mir nicht ab. Ich hatte doch meinen Großvater und meine Großmutter und lebte mit Mbrat, meiner Mutter, wie ich immer noch dachte, zusammen in einem Haus. Mit meinem Vater verband ich nur unangenehme Situationen: die Soldaten, die auf der Suche nach ihm immer wieder unser Haus auf den Kopf stellten. Die lästigen Fragen anderer Kinder, wo und wer mein Vater sei. Das ungute Gefühl, das mich ab und zu beschlich, wenn ich daran dachte, dass mich Mbrat aus dem Heim geholt, mein Vater aber offensichtlich keinen Finger dazu gerührt hatte. Mbrat, meine Tante, die sich als meine Mutter ausgegeben hatte, um mich aus dem Heim zu holen. 49 Ich wollte keinesfalls bei meinem Vater leben, sondern bei meiner Mutter und meinen Großeltern, und zwar für immer. Also sagte ich meiner Großmutter noch am gleichen Abend, dass ich meinen Vater nicht treffen wollte. Oma war ehrlich erstaunt: »Ja, wieso denn nicht?« »Ich mag ihn nicht.« »Du kennst ihn doch nicht.« »Trotzdem, ich mag ihn nicht!« »Warum denn? Sag mir wenigstens, warum!« »Das habe ich hier«, sagte ich und zeigte auf meinen Bauch. Von tief da drin kam meine Ablehnung. Ich mochte ihn nicht, ohne ihn zu kennen. Meine Großmutter sprach in den nächsten Tagen nicht mehr mit mir darüber, doch Mbrat reiste plötzlich ab. Wie ein Pfeil schoss ich durch das Haus, über den Hof. Die Straße hinauf und hinunter, doch Mbrat war weg. Alle fragte ich, ob jemand sie gesehen hätte, aber Mbrat blieb wie vom Erdboden verschluckt. Niemand sagte mir, wohin sie gegangen war. Dabei verreiste normalerweise niemand. Niemand fuhr auf Urlaub, niemand arbeitete woanders, niemand besuchte weit weg wohnende Verwandte. Die einzige Reise, an die ich mich erinnern konnte, war die Fahrt nach Jerusalem, zu meiner Taufe. Mbrat war längst getauft und sie blieb verschwunden. Am nächsten Tag sollte ich verreisen. Meine Großtante holte mich ab. Ich wusste sofort, wohin die Fahrt gehen sollte. Auch wenn ich nicht wusste, wo das Ziel war, wusste ich doch, dass diese Reise zu meinem Vater führen sollte. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, weinte, schlug um mich, schluchzte bitterlich. Alles vergebens — die Erwachsenen hatten etwas beschlossen, und ich hatte keine Chance, mich dagegen aufzulehnen. Die Großtante stieg mit mir in einen überfüllten Überlandbus, und los ging die Reise Richtung Keren, einer Stadt im Westen Eritreas, und von dort weiter in die Provinz Berka. Das war damals keine ungefährliche Reise, denn die schwersten Kämpfe zwischen äthiopischen Regierungstruppen und eritreischen Aufständischen tobten unter anderem in Berka. Dort waren nur die Hauptstraßen und einige der größeren Städte in der Hand der regulären Armee, auf dem Land hatten die 50 Eritreer das Sagen. Eo kam immer wieder vor, dass die Partisanen eine Straße blockierten, um den Verkehr zu stören oder äthiopischen Einheiten aufzulauern. Es gab auch regelmäßige Angriffe der Äthiopier auf zivile Einrichtungen, wenn dort feindliche Verbände vermutet wurden. Keine der beiden Seiten ging in diesem Krieg zimperlich vor. Wenn ich die Reise trotzdem schön fand, dann nur aus einem Grund: Als wir spätabends den Bus wechseln mussten, trug mich meine Reisebegleitung quer über einen riesigen Platz, schulterte mich und schleppte mich davon. Sie dachte, ich schlafe, aber ich stellte mich nur schlafend, um zu sehen, was passierte. Dann kam das Beste, was mir geschehen konnte: Ich wurde durchs Leben getragen. Da beschloss ich, dass diese Frau nicht
böse sein konnte. Möglicherweise gab es für mich im Haus meines Vaters eine Chance. Vielleicht musste ich nicht für immer dort bleiben. Vielleicht konnte ich nach kurzer Zeit zu meinen Großeltern zurück. Der Vater Spätnachts am zweiten Abend unserer Reise erreichten wir den Ort, in dem mein Vater wohnte. Die Strecken in Eritrea sind meistens nicht weit, aber trotzdem ist das Reisen langwierig. Schon zweihundert Kilometer können sich mit Wartezeiten und Umsteigen und Reifenpannen und überladenen, langsam kriechenden alten Bussen zu einer Tagesreise auswachsen. Als wir endlich todmüde ins Haus meines Vaters stolperten, erkannte ich Mbrat, meine Mutter. Plötzlich war sie wieder da, meine Rabenmutter, die mich im Stich gelassen hatte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und empfing mich nicht besonders herzlich. Ich aber flog ihr überglücklich in die Arme um gleich danach einer Frau vorgestellt zu werden, die meine neue Mutter sein sollte und Werhid hieß. Ich war verwirrt, und die Verwirrung steigerte sich noch, als Mbrat mir eine Menge neuer Geschwister vorstellte. Ich konnte mir all die neuen Verwandten nur mühsam merken: Werhid, meine Stiefmutter, 51 war die neue Frau meines Vaters geworden, nachdem er meine leibliche Mutter und seine zweite Frau Abrehet verlassen hatte. Werhid hatte vier Kinder. Es gab noch ein Kind von ihrer Schwester und Yaldiyan und Tzegehana, die beiden Töchter von meinem Vater und Abrehet. Diese beiden Halbschwestern sollten meinen Weg für viele Jahre begleiten. Und dann kam er herein, mein Vater. Er sah zum Fürchten aus: düster, groß, hager und nervös. Seine Gesichtszüge ähnelten den meinen. Es war ein Schock, plötzlich dem Mann gegenüberzustehen, den ich fürchtete und der doch eine so starke Faszination auf mich ausübte. So hatte ich mir meinen Vater nicht vorgestellt. Als er zur Tür hereinkam, erstarrte ich. Seiner Begrüßung versuchte ich mich zu entziehen, indem ich mich in Mbrats Gewand versteckte, doch sie schob mich in seine Richtung. Ich wandte den Kopf ab, verkrampfte mich und sagte nichts. Die Ablehnung war vom ersten Moment an gegenseitig, weil ich meinem Vater gleich von Anfang an das zeigte, was er in seiner Umgebung am meisten hasste: Widerstand. Mein Widerstand gegen meinen Vater wuchs vom ersten Moment an. Das hat mit der Sturheit zu tun, für die ich ebenso bekannt bin wie er. Es hat mit unserer Dickköpfigkeit zu tun, mit unserem Bestreben, die Situation um uns herum im Griff zu haben, und mit unserem Misstrauen gegenüber Versuchen, unsere Freiheit einzuschränken. Ich wusste sofort, dass ich diesen Menschen nicht mag. Ich spürte, dass sich von diesem Moment an etwas grundlegend ändern sollte in meinem Leben. Ich fühlte das, ohne es benennen zu können. Ich sagte sogar zu Mbrat: »Mama, ich spüre, dass ich dich nicht mehr wiedersehen werde. Du wirst weggehen, und ich werde dich nie wiedersehen.« Erschrocken versicherte sie mir: »Wie kommst du denn darauf? Natürlich sehen wir uns wieder, ich bin doch bei dir!« Zur Sicherheit wich ich ihr in diesen Stunden nicht von der Seite. Ich verkrallte mich in ihren Tüchern, ließ mich von ihr mitschleifen, auch wenn sie nur ins Nebenzimmer ging, und hing wie eine Klette an ihr, als sie einmal nach draußen an den Rand des Dorfes ging, um sich zu erleichtern. Bald rollten sich die anderen zum Schlafen auf einer der Matratzen oder auf dem Boden zusammen, nur ich blieb hellwach. Ich war 52 zutiefst erschöpft und gleichzeitig hellwach, denn ich spürte, dass meine geliebte Mutter jederzeit verschwinden könnte. Vor zwei Tagen war sie mir nichts, dir nichts über Nacht aus dem Haus meiner Großeltern verschwunden, und das könnte hier jederzeit wieder geschehen. Ich spürte höchste Gefahr, darum legte ich mich neben sie und klammerte mich mit aller Kraft an ihr fest, umschlang sie, so gut das ging, mit meinen viel zu kurzen und viel zu schwachen Armen. Meine Umklammerung ließ erst nach, als mich der Schlaf übermannte. Sobald ich beim ersten Sonnenstrahl aufwachte, schoss ich hoch und sah, dass Mbrat weg war. Ich wusste, dass sie weg war. Keinen Augenblick länger hielt es mich drinnen. Ich sah mich nicht einmal im Zimmer um, ob sie vielleicht woanders zwischen den Schlafenden liege, sondern schoss aus dem Hof hinaus auf die Straße. Ich rannte die Straße hinunter in der wahnwitzigen Hoffnung, noch einen Zipfel von ihr erhaschen zu können. Das Morgenlicht war trüb, es war neblig, über Nacht hatte es kräftig geregnet. Weit und breit war von meiner Mutter nichts zu sehen. Ein paar Dorfbewohner waren auf dem Weg zum Wasserholen, ein paar Kinder kamen mit ihren Ziegen die Straße herunter, das war alles. Kein Bus, kein Auto, keine Mutter. Hatte ich mich geirrt? War sie vielleicht doch noch im Haus? Ich lief zurück zum Haus meines Vaters, um nachzusehen, ob sie dort wäre — vergeblich. Meine Mutter war weg. Ich konnte noch nicht einmal weinen, der Hals war mir wie zugeschnürt. An diesem Morgen ging etwas kaputt in mir. Ein Riss tat sich tief in meinem Inneren auf. Der Rest des Tages verschwand darin. Ich habe keine Ahnung mehr, was danach passierte. Die neuen Schwestern Am nächsten Morgen hörte ich als erstes die Stimme meines Vaters. Es war eine dünne Stimme. »Steht alle auf!«
Das ist der erste Satz, den ich von meinem Vater in Erinnerung 53 habe. Ich erschrak und rollte mich auf meiner Matratze noch mehr zusammen. Mein Herz pochte bis in den Hals hinauf. Da kam Yaldiyan, meine neue, um rund fünf Jahre ältere Schwester, und flüsterte mir etwas zu. Zuerst war ich so aufgeregt, dass ich sie nicht verstand. »Komm, wir gehen Wasser holen«, wiederholte sie ein wenig lauter. Ich sah mich nach den anderen um, nach den Kindern von Werhid, meiner neuen Stiefmutter. Ich deutete auf sie: »Kommen die anderen nicht mit?« Yaldiyan schüttelte nur den Kopf und gab mir ein Zeichen, endlich zu kommen: »Dafür sind wir zuständig. Vater sagte, du sollst mitkommen.« Ich ließ nicht locker: »Wieso arbeiten die anderen nicht? Wieso müssen wir arbeiten?« In der Zwischenzeit war mein Vater von draußen hereingekommen und hatte unbemerkt un ser Gespräch verfolgt. Erst als ich das Brennen im Gesicht spürte und auf den Boden knallte, merkte ich, dass er da war. Alles ging so schnell, dass ich kaum mitbekam, wie er mir eine runterhaute. Es überraschte mich nicht, ich hatte geahnt, dass mein Vater mich schlagen würde. Alle eritreischen Männer schlagen ihre Kinder, und hin und wieder schlagen sie ihre Frauen, die wiederum hin und wieder ihre Kinder schlagen. Das gehört zur Erziehung, und Erziehung ist alles, was dazu dient, Kinder ruhigzustellen und sie zu guten Arbeitern zu machen. Von da an war die Sache klar. Mein Vater hatte sich mir gegenüber als Feind zu erkennen gegeben und nachdrücklich deutlich gemacht, dass ich von jetzt an ihm zu gehorchen hätte. Mehr musste ich nicht wissen. Ohne zu zögern und ohne Widerrede stand ich auf, um zusammen mit meiner Schwester Wasser holen zu gehen. Mein neues Leben als Tochter meines Vaters hatte begonnen und ich sollte fast zwei Jahrzehnte brauchen, um es wieder zu beenden. Wasserholen ist eine schwere Arbeit und daher ausschließlich Frauen, Mädchen und notfalls kleinen Jungs vorbehalten. Auf dem Land gab es keine Wasserleitungen, man holte das Wasser direkt aus Brunnen — zumindest theoretisch, denn oft genug waren die Brunnen ausgetrocknet. Dann hieß es, sich auf die Suche nach Wasser zu machen. Am ehesten findet man es in ausgetrockneten Bachbetten, in Wasser 54 löchern o'iet tiei eingeschnittenen Tälern. Meistens muss man ein bisschen graben, bis man auf eine braune Brühe stößt, die erst nach dem Abkochen genießbar ist. Diesmal hatten meine Schwester und ich jedoch Glück — es hatte geregnet, das Flussbett war ein wenig feucht. Wir mussten nur eine Stelle suchen, an der das Wasser zusammengelaufen war, um es mit einer alten aufgeschnittenen Blechdose und einem Frittierölkanister aufzunehmen. Yaldiyan hatte eine Stelle weit weg von unserem Haus gesucht. Unten im Bachbett flüsterte sie mir zu: »Stell dich dumm! Stell dich tolpatschig, das ist die einzige Möglichkeit!« Sie musste große Angst vor unserem Vater haben, dass sie nicht mal hier draußen normal sprach, sondern nur wisperte. Ich befolgte ihren Rat und ließ in Sichtweite des Hauses einen der beiden Behälter fallen, so dass alle sahen, wie sich das kostbare Wasser nutzlos in den Staub ergoss. Von nun an ließ ich immer wieder mal etwas fallen, so dass ich bald in den Ruf kam, zu ungeschickt und fahrig für die meisten ernstzunehmenden Arbeiten zu sein. Mein Vater war nicht nur zu uns grausam, sondern auch zu anderen Menschen. Schon als Kind neigte er zu derben Spaßen. Einmal hatte er eine Wahrsagerin bloßgestellt, die einen sehr guten Ruf im Ort hatte und deren Kunst darin bestand, den Leuten die eine oder andere Krankheit auf den Kopf zuzusagen. Dafür bekam sie Geld. Diese Frau war meinem Vater nicht geheuer, er hielt sie für eine Betrügerin. Um sie auf die Probe zu stellen, schnitt er eine Zitrone entzwei, band sie sich ans Bein, schob die Hose darüber und humpelte aus dem Haus. Auf der Straße ließ er sich fallen, rappelte sich wieder auf, ließ sich noch mal fallen und tat, als würde er vor Schmerzen schreien. Binnen kürzester Zeit lief das halbe Dorf zusammen. Er brüllte: »Ich will zur Wahrsagerin! Ich will zu ihr!« Die Leute trugen ihn zur Wahrsagerin, und alle versammelten sich vor ihrer Hütte. Er zeigte ihr die vermeintliche Schwellung und jammerte gehörig: »O Gott, das Ding wird jeden Tag größer!« Durch die Hose hindurch betastete die Wahrsagerin die Zitrone, weil sie es nicht wagte, einem jungen Mann von etwa zwölf Jahren das Hosenbein heraufzuziehen. Sie setzte eine trübe Miene auf. »Das ist 55 unheilbar«, sagte sie bedeutungsschwanger, »dein Bein muss amputiert werden.« Da begann mein Vater zu grinsen und zog sein Hosenbein in die Höhe, so dass alle die Zitrone sehen konnten. Es entstand ein Riesentumult. Ein paar Leute wollten die Wahrsagerin auf der Stelle lynchen, aber sie wurde nur verprügelt und aus dem Dorf verbannt. Von solchen Episoden erzählte mein Vater mit Genuss, und bis heute hat ihn der Übermut seiner Jugend nicht verlassen. Gleichzeitig verstand er es, sich Respekt zu verschaffen, und ich gewann bald den Eindruck, dass mein Vater eine wichtige Persönlichkeit im Dorf war, an der kein Weg vorbeiführte. Das hatte sein Gutes, denn dadurch wurden auch seine Kinder zwar nicht mit Respekt, aber doch nicht wie der letzte Dreck behandelt. Das
half mir ein wenig, mich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Trotz meiner Traurigkeit lachte ich viel, was meinen Vater noch mehr zu stören schien als meine Traurigkeit. Zwar hatte ich wie meine Schwestern Angst vor meinem Vater, aber ich war störrischer als sie, die immer versuchten, ihm alles recht zu machen. Wirfliehen Die Gleichmäßigkeit und Sicherheit, die den Alltag bei meinen Großeltern geprägt hatten, waren dahin. Im Haus meines Vaters regierten Unbeständigkeit, Aufregung und Unsicherheit. Schon ein halbes Jahr nach meiner Ankunft, als ich mich eben halbwegs eingelebt hatte, mussten wir packen, denn meine neue Familie zog weiter. Unsere Habe passte mühelos in einige wenige Plastiktüten und Jutesäcke: ein paar Schüsseln und Töpfe, ein Kocher, eine Kaffeekanne, ein Transistorradio, eine Mappe mit Dokumenten und Fotos, ein paar Decken und unsere Kleider, von denen wir nicht viel mehr hatten als das, was jeder von uns am Leib trug, das war alles. Wir mussten fortziehen, weil immer mehr Soldaten durch unser Dorf kamen und uns bedrohten. Nachts hörten wir oft Schüsse, wie 56 ich es bereits aus Asmara gewohnt war, und ein dumpfes Grollen, vor dem ich anfangs große Angst hatte, weil ich es nicht kannte. Ich dachte, die Erde bebt oder es naht ein gewaltiges Gewitter, bis mir meine Schwestern erklärten, dass diese Geräusche vom Krieg kommen und von sehr großen Gewehren gemacht werden, die man Geschütze nennt. Wir boten einen erbärmlichen Anblick, als wir uns auf den Weg machten: Unser Vater, seine Frau, die zerlumpte Kinderschar, alle waren mit Säcken, Decken und dem restlichen Kleinkram beladen. Weder hatten wir ein Kamel noch ein Auto — Autos gab es damals für Privatpersonen nicht, selbst wenn wir uns eines hätten leisten können —, also mussten wir uns auf unserer Reise auf die überfüllten Ladeflächen von Lastautos quetschen, die in unsere Richtung fuhren oder den durch den Krieg aus dem Takt geratenen Busverkehr ersetzten. Das Leben unterwegs war kein Vergnügen. Es gab nichts zu essen, kaum zu trinken, keine Ruhe, um zu schlafen, und keine Gewissheit, wohin die Reise gehen sollte. Mein Vater litt unter der Situation. Er ließ seiner Unruhe und Unzufriedenheit freien Lauf, indem er uns bei jeder nur denkbaren Gelegenheit schlug, trat oder bespuckte. Nachts rasteten wir meistens am Straßenrand. Wir hörten wieder das Donnergrollen der Artillerie und das Dröhnen von Flugzeugen, die über uns ihre Bahnen zogen, um ihre Bombenlast auf nahen Städten abzuladen. Die Flugzeuge waren nur zu erahnen, weil sie ohne Positionslichter flogen. Wir hörten bloß ihr Brummen und sahen, wie sich die Erwachsenen angsterfüllt duckten. Meine Angst wuchs. Unsere Familie war nicht auf einer Reise unterwegs, sondern auf der Flucht. Auf unseren Fahrten und Märschen sah ich erstmals die Folgen des Krieges: zerstörte Dörfer, ausgebrannte Häuser, zerschossene, zerbeulte und verkohlte Kanonen und Fahrzeuge am Straßenrand. Doch was wir hier sahen, war noch nicht die ganze Geschichte. Es war nur der Anfang eines noch viel größeren Elends. Auf der Suche nach einer neuen Bleibe landeten wir wieder in einer aus Holz und Holzresten erbauten Hütte. Sie befand sich am Rande eines abgelegenen Dorfes in einer bergigen Landschaft. Es war fast 57 eine kleine Stadt mit zwar ebenerdigen, aber gemauerten Gebäuden, die entlang einer Hauptstraße und ein paar Nebenstraßen standen. Hier gingen wir wieder zur Schule. Das »Schulgebäude« war nicht mehr als ein Dach aus Wellblech und ein paar alten Baumaterialien, das ein Stück steinigen Bodens beschattete. Alle saßen im Staub, die Lehrerin uns gegenüber. Es gab weder Bücher noch Hefte oder andere Unterrichtsmaterialien, nur eine kleine Schiefertafel für die Lehrerin, auf die sie mit Kreidesteinen Zahlen und Buchstaben malte. Trotzdem hingen alle wie gebannt an ihren Lippen. Niemand störte, blödelte oder beschäftigte sich mit etwas anderem, denn der Schulbesuch hatte etwas von einem Gottesdienst. Wir waren froh, uns mit Erfreulicherem beschäftigen zu können als mit Krieg, Flucht und Not. Diese ländlichen Schulen wurden von den Befreiungsarmeen organisiert — in diesem Fall von der ELF, der Eritrean Liberation Front, für die mein Vater gekämpft hatte. Unter dem Wellblechdach in der Steinwüste erfuhren wir erstmals von den ELFIdeen eines freien, sozialistischen und aufstrebenden Eritreas, und uns wurden die entsprechenden Slogans, Lieder und Träume eingepflanzt. Außerhalb der Schule gab es nur die mörderische Hitze, die Steine, die Dornen und das Gestrüpp rund um unser Schulgebäude — und die Nebenwirkungen des Krieges: die Gefechtsgeräusche, die Not, den Hunger und die angespannten bis aggressiven Erwachsenen. Da war es am besten, aufmerksam dem Unterricht zu folgen, der Welt des Krieges zu entfliehen und in eine andere, eine bessere Welt einzutauchen. Damals war ich sechs Jahre alt. Der Krieg kommt In den Tagen und Nächten bevor der Krieg zu uns kam, kündigte er sich an, Schritt für Schritt rückte er näher. In unserem Dorf gab es eine Sirene, die nun jede Nacht und manchmal auch tagsüber heulte. Dann dröhnten Flugzeuge über unsere Köpfe hinweg, so tief, dass wir die Buchstaben am Heck erkennen konnten oder die
Pilotenkanzel. 58 Manchmal waren J:c 1 lugzeuge bchon da, bevor die Sirene heulte. Aber ob die Sirene heulte oder nicht, machte keinen Unterschied, denn vor den Bomben hätte es keinen Schutz gegeben. Sobald die feindlichen Flugzeuge am Horizont zu sehen waren, liefen alle planlos durcheinander; viele rannten aus dem Dorf hinaus und zu den Felsen dahinter, obwohl es keinen vernünftigen Grund dafür gab. Es war das komplette Chaos. Wir Kinder wussten nicht, was Bomben sind. Man hatte uns nur erzählt, dass sie sehr gefährlich waren und alles um sie herum töteten. Das reichte, um schreckliche Angst zu haben. Natürlich verschwendeten die Piloten ihre Bombenlast nicht an dieses völlig unbedeutende Bergnest, sondern brachten sie nach Keren, nach Akurdet oder nach Asmara. Auf diese Städte konzentrierten die Partisanen ihre Angriffe, um die äthiopischen Besatzer zu vertreiben. Am Tag als der Krieg zu uns kam, war der Unterricht schon vorbei, aber einige von uns Kindern mussten noch ein paar Arbeiten verrichten. Wir wuschen Wäsche und sammelten Brennholz, während andere Kinder im Schatten des Schuldachs saßen und nichts taten oder auf irgend etwas warteten. Wir hatten alle Zeit der Welt. Als die Flieger kamen, heulte die Sirene nicht. Das Brummen der Motoren war schon von weitem zu hören, wie von einem Bienenschwarm. Langsam schwoll es an. Es waren nur wenige Flugzeuge, zwei oder drei. Die Erwachsenen begannen wieder wie verrückt durcheinanderzulaufen, nur wir Kinder blieben, wo wir waren. Durch die wiederholte Folgenlosigkeit des Fliegeralarms war unsere Angst stumpf geworden. Diesmal kam es anders. Genau über uns klinkten die Flugzeuge ihre Ladung aus, und es fielen viele kleine Dinge vom Himmel. Es sah aus wie kleine Tiere oder Kinder, die wie Steine zu Boden stürzten, etliche hundert Meter vom Schulplatz entfernt. Wir rannten in alle Richtungen davon, aber nichts passierte. Die Flieger entfernten sich, das Brummen nahm ab, die Stille der Wüste kehrte zurück. Vorsichtig hoben wir die Köpfe. Wir krochen aus unseren Verstekken hinter Felsen oder Dornbüschen hervor. Auch die Erwachsenen 59 kehrten langsam ins Dorf zurück. Weil die Dinge aus den Flugzeugen in eine kleine Senke nicht weit hinter dem Schulplatz gestürzt waren, hatte außer uns Kindern niemand etwas davon gesehen. Neugierig näherten wir uns den merkwürdigen Gegenständen. Es waren tatsächlich kleine Körper, die da lagen, teilweise aufgerissen und verletzt durch die harte Landung auf den Steinen. Doch bevor wir sie näher betrachten konnten, rief die Lehrerin alle Kinder, die vorher schon eine Arbeit zu erledigen hatten, denn die sollten weitermachen. Widerwillig trotteten wir zur Schule zurück. Plötzlich brannte die Mulde. Donnerschläge zerfetzten die Stille, Brüllen, Schmerzensschreie und prasselndes Feuer folgten. Rauch stieg auf, Flammen züngelten aus den trockenen Büschen. Blutüberströmte Kinder wankten aus den Rauchschwaden. Kreischende Mütter rannten zur Unglücks stelle. Weinen und Schreien waren nicht mehr auseinanderzuhalten. Wir liefen hinüber und sahen ein Bild der Verwüstung: verkohlte Kinder, zerfetzte Leiber, brennende, nicht erkennbare Gegenstände und — Puppen. Überall lagen Puppen, manche ein wenig beschädigt, andere zerfetzt, wieder andere heil. Eines von den neu dazugekommenen Kindern griff nach einer Puppe, es gab noch einen Donnerschlag, und das Kind stand in einem glühendroten heißen Blitz. In einem Feuerball, der das Kind zu verschlingen schien. Es stürzte zu Boden, wand sich schreiend, verstummte. Wir waren starr vor Entsetzen und Angst. Erwachsene zerrten uns weg. Diese Puppen waren mit Sprengsätzen ausgestattet. Sie waren gebaut und abgeworfen worden, um Kinder zu töten und zu zerfetzen. Die Schmerzensschreie dauerten noch den ganzen Tag an. Verkohlte Kinder starben in den Armen ihrer Mütter. Es gab keine medizinische Versorgung, kein Verbandszeug, keine Desinfektionsmittel. Ein paar der Verletzten wurden weggeschafft. Insgesamt starben um die zwanzig Kinder. Das Dorf war in Aufruhr, doch niemand konnte etwas tun. Nur kurz hatte der Krieg sein Gesicht gezeigt. Weinend und angstschlotternd pressten wir Schwestern uns aneinander. Wir verstanden nichts, wir waren nur schockiert. Selbst unseren Hunger hatten wir vergessen. 60 Als es dunkel "nirripj wagte niemand zu schlafen, ruie fühlten sich machtlos und ausgesetzt. Wehklagen zogen durch das Dorf, die ganze Nacht. Zum ersten Mal in meinem Leben weinte ich richtig. Ich heulte stundenlang, wie ich nie zuvor heulen konnte. Niemand war da, um mich zu trösten. Meine Schwestern waren selbst am Boden zerstört, und mein Vater streunte unablässig wie ein tollwütiger Tiger durch das Dorf. Meine Stiefmutter kümmerte sich um das Leid ihrer Freundinnen, deren Kinder getötet worden waren. Erstmals spürte ich ganz tief, dass ich völlig alleine war. Dass nur einer da ist, wenn ich dringend jemanden brauche: ich selbst. In der Wüste Nach dieser Tragödie blieb nichts, wie es war. Das Dorf fand nicht mehr zum Alltag zurück. Die Schulstunden fanden zwar noch statt, aber es blieben zu viele Plätze leer. Die Lehrerin hockte oft auf dem Boden, sagte nichts und stocherte mit einem Stöckchen im Sand, als wollte sie etwas zeichnen, von dem niemand erkennen konnte, was es war. Unser Vater war noch nervöser als früher, er konnte kaum fünf Minuten lang stillsitzen, ständig trieb
es ihn nach draußen, zu den Nachbarn, hinaus in die Felsen, auf die Hauptstraße, in die Kneipe, wieder auf die Straße. Einige Familien hatten bereits ihre Sachen zusammengerafft und das Dorf verlassen. Es dauerte nicht lange, bis auch wir packten. Niemand fragte, warum und wohin wir gehen. Allen war klar, dass hier kein Bleiben war. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg, ohne Tiere, ohne Begleitung, nur unsere Familie: Vater, Stiefmutter und wir insgesamt acht Kinder. Tagsüber brannte die Sonne gnadenlos auf uns herunter, nachts froren wir, dass die Zähne klapperten. Wir schliefen im Freien, am Wegesrand oder etwas abseits von der Straße, um nicht durch vorbeiziehende Soldaten unsanft geweckt zu werden. In einer dieser Nächte kamen die Löwen. Zuerst spürten wir nur, dass irgend etwas anders war. Etwas fehlte. Die leisen Geräusche der 61 Nacht waren verstummt. Vater ließ das Feuer diesmal nicht ausgehen, sondern legte noch ein paar Wurzeln nach. Wir mussten sparsam mit Brennholz umgehen, denn es gab nur verdorrte Äste, wenige trockene Büsche, alte Wurzeln. Das meiste Brennmaterial musste man mühsam abhacken, was keine Kleinigkeit war mit einem stumpfen Küchenbeil, wie wir es hatten. Außerdem galt es immer, zwei Gefahren gegeneinander abzuwägen: Tiere und Menschen. Brannte das Feuer hell, wagte sich zwar kein Tier in die Nähe, doch es wurden Menschen angelockt — und nicht unbedingt nur Freunde. Glomm das Feuer nur mehr schwach, zogen Löwen, Hyänen und Kojoten immer engere Kreise um die Rastenden — dafür konnte kein Mensch von weitem den Lagerplatz erkennen. Jetzt sahen wir die Löwen. Sie waren viel zu nah herangekommen, obwohl nun wieder helle, frische Flammen aus dem Feuer züngelten. Doch diese Löwen ließen sich davon nicht beeindrucken. Es waren zwei ausgewachsene Löwinnen, und sie strichen fünfzehn, zwanzig Meter von uns entfernt an der Grenze zwischen Feuerschein und Dunkelheit umher. Sie bewegten sich ruhig und leise. Nur ihre Blicke zeigten, dass sie sich für uns interessierten. Ein paar der Kinder schliefen schon. Werhid und mein Vater waren noch wach — und ich, die größte Memme von allen. Ich dachte, jetzt hat mein letztes Stündlein geschlagen. Bestimmt würden die Löwen uns oder zumindest mich — auffressen. Ich wusste, dass man vor einem Löwen nicht weglaufen darf, sonst läuft er einem nach, holt einen ein und frisst einen. Ich wusste, dass man nicht schreien oder gestikulieren darf, sonst wird ein Löwe aggressiv. Ich wusste, dass wir nichts dabeihatten, um einen Löwen aufzuhalten, kein Gewehr, keinen Revolver, keine Waffe. Nur unser stumpfes Küchenbeil. Es nutzte nichts, dass ich all das wusste. Ein starkes Zittern befiel mich, und ich fing leise zu wimmern an. Wir lagen völlig still da, die Kleinen schlafend, die Großen schrekkensstarr, ich zitternd. Die Löwen kamen bis auf zwei, drei Meter an uns heran. Sie rochen an den Decken, schnüffelten an unseren leer gegessenen Töpfen, stupsten ein paar Plastiktüten beiseite. Unschlüssig blieben sie stehen, sahen sich um, sahen uns an, sahen sich wieder um. 62 Das waren die furchtcrhchbtui Momente für mich. Jetzt fressen sie dich, dachte ich. Es waren nur ein paar Sekunden, aber sie kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Plötzlich senkten die beiden ihre Köpfe und trotteten weiter. Ich pinkelte mich an vor Angst; das kam öfter vor bei mir. Eben hatte ich noch höllisch gefroren, nun war ich schweißüberströmt. Ich war unendlich erleichtert, als die riesigen Katzen im Dunkel der Nacht verschwanden. So groß, wie ich glaubte, war die Gefahr vermutlich gar nicht gewesen. Löwen fallen keine Menschen an, wenn sie nicht das Gefühl haben, sie werden angegriffen. »Ein Löwe«, klärte uns unser Vater auf, »frisst nichts, was ihm fremd ist. Er frisst nichts, das er nicht kennt, beispielsweise Menschen — an denen hängen ihm viel zu viele fremde Gerüche. Ein Löwe will Antilopen fressen oder Ziegen oder andere Wildtiere. Einen Menschen frisst er nur im Notfall.« Schläge Nach ein paar Tagen fanden wir ein provisorisches Quartier in einem Dorf, das viel kleiner war als das letzte. Hier konnten wir glücklicherweise ein bisschen länger bleiben. Das ständige Umherziehen war uns allen zu anstrengend geworden. Ein paar der Kinder waren so erschöpft, dass sie schon fieberten. Wir konnten in einem Haus bei Verwandten unterkommen. Leichter wurde unsere Situation dadurch nicht. Es gab immer zuwenig zu essen, zuwenig Platz, zu viele Kinder und zu viele Schläge. Mein Vater schlug sofort zu, wenn ihm etwas nicht passte. Das passierte oft: Jemand war zu laut — schon fing er sich eine Ohrfeige. Ich wollte nicht sofort Wasser holen gehen, weil ich erst noch ein Spiel beenden wollte — schon hagelte es links und rechts auf mein Gesicht ein, dass ich aus dem Haus taumelte. Das Essen war noch nicht fertig, obwohl mein Vater hungrig war — schon knallte es auf Backen, Köpfe, Rücken oder 63
es gab einen Hieb in den Magen. Auch wenn Schläge in Afrika zur Kindererziehung dazugehören, schlugen nicht alle Väter so hart, so oft und so brutal zu wie mein Vater. Zu allem Überfluss war ich das liebste Opfer meines Vaters. Je länger wir beisammen waren, desto deutlicher wurde, dass er es vor allem auf mich abgesehen hatte. Natürlich schlug er seine anderen eigenen Kinder, er schlug Werhids Kinder, er schlug sogar die Nachbarskinder, wenn sie ihm in die Quere kamen, oder die Freunde seiner Kinder, wenn sie seine Bahnen störten. Das geschah im Vorbeigehen und galt als völlig normal: Jeder Erwachsene hatte das Recht, jedes Kind zu schlagen, wenn es etwas tat, das ihm nicht gefiel oder wodurch er sich gestört fühlte. Mich schlug mein Vater nicht nur im Vorbeigehen, sondern richtig gezielt, ob ich etwas ausgefressen hatte oder nicht. Wenn er der Meinung war, dass ich schon Feuerholz hätte gesammelt haben müssen, obwohl ich eben erst von der Schule nach Hause kam, zerrte er mich in die Hütte und drosch so lange auf mich ein, bis jeglicher Protest von mir verstummt war. »Ich war doch die ganze Zeit in der Schule!« Rumms. »Was willst du von mir? Ich war doch gar nicht da?!« Rumms. »Warum sind denn nicht die anderen gegangen?« Rumms. »Ich kann doch nicht vor der Schule Holz sammeln, das ist zu früh!« Rumms. »Bitte nicht!« Rumms. »Warum schlägst du mich? Ich hasse dich!« Rumms. So ging das, bis ich nichts mehr sagte, sondern wimmernd am Boden lag, mich vor Schmerzen krümmte und nur noch die Zähne zusammenbeißen konnte. Erst dann ließ er ab von mir. Mit seinen beiden anderen Kindern, Yaldiyan und Tzegehana, ging er nicht so brutal um. Sicher schlug er meine beiden älteren Schwestern, aber nicht so besinnungslos. Yaldiyan, die Älteste, bekam zwar ihr Fett ab, aber weil sie am seltensten widersprach, weil sie die Folgsamste und Ruhigste von uns dreien war, war sie seine Lieblings tochter. Tzegehana schlug er am wenigsten, sie achtete er auf eine gewisse Weise, sie konnte ihn auch besser zum Einlenken bringen als ich, die noch auf ihrer Meinung beharrte, wenn er mich schon schlug. Ich widersprach ihm, ich kroch nicht. Tzegehana gab in solchen Fällen 64 klein bei, und die Sacht; war nach ein paar Schlägen erledigt Ich dagegen gab erst auf, wenn es mir so weh tat, dass ich nicht mehr anders konnte, oder wenn die Angst übermächtig wurde. Ich hatte Angst, er würde mich einmal umbringen, wenn ich ihm weiter widersprach. Ich hatte Angst, dass mich mein Vater zu Tode prügelt. Jedesmal, wenn ich blutete, an den Armen, aus der Nase, den Ohren, hatte ich Angst, dass das Leben aus mir herausrinnen würde. Damals, als die Puppen vom Himmel gefallen waren, hatte ich gesehen, wie so lange Blut aus den Kindern herausrann, bis sie tot waren. Ich hatte Angst, dass die Schläge meines Vaters mich auch so verbluten lassen könnten. Mädchen mussten öfter verprügelt werden als Jungs, das war eine allgemein anerkannte Tatsache. Jungs bekamen meist nur eins übergezogen, zum Beispiel auf den Kopf. Mädchen dagegen wurden richtig geschlagen, weil sie weniger wert waren. Weil sie besser parieren mussten. Weil man von ihnen keinen eigenen Willen erwartete und weil er gar nicht erst aufkommen sollte. Wenn Jungs etwas Schlimmes gemacht hatten, wie etwa beim Spielen den Stall ihrer Eltern in Brand zu setzen, hagelte es auch für sie Prügel. Mädchen aber wurden schon bei alltäglichen Vergehen so hart bestraft, etwa wenn sie zu spät kamen oder etwas verloren hatten. Auf Mädchen wurde viel mehr acht gegeben als auf Jungs. Man ließ ihnen keine Fehler durchgehen. Ich spürte, dass es Unterschiede gab zwischen Jungs und Mädchen, ich bekam diese Unterschiede im täglichen Umgang zu spüren. Das war ganz normal. Ich spürte, dass ich unrecht hatte, selbst wenn ich mich im Recht fühlte. Ich spürte, dass ich mich dafür zu schämen hatte. Ich lernte, dass es dafür Prügel gab, denen man am besten entging, wenn man klein beigab. Aber klein beigeben war nicht gerade meine Stärke. Das Terrorregime meines Vaters diente dazu, ihm alles Lästige vom Hals zu halten. Wir drei Schwestern erledigten die schweren Routinearbeiten, denn Werhid schaffte es immerhin, ihren eigenen Kindern die gröbste Plackerei zu ersparen. Zu mir war sie warm und herzlich, aber das Verhältnis zu meinen Schwestern war nicht so gut. Yaldiyan, die Älteste, musste Wasser holen und Holz hacken. Tzege 65 hana war für die Wäsche zuständig, weil sie sehr begabt beim Waschen war. Als Jüngste hatte ich die Aufgabe, Feuer zu machen und Holz zu schneiden. Mein Vater teilte uns generalstabsmäßig ein und konnte dadurch selbst wie ein Pascha leben — denn alle anderen Arbeiten wie Einkaufen, Kochen und Saubermachen erledigte Werhid zusammen mit ihren Kindern. Ihn selbst sah ich nie arbeiten, sondern nur liegen, sitzen, rauchen, mit anderen Männern diskutieren oder trinken. Mein Vater hatte zu lange gekämpft, er war zu lange im Krieg gewesen, hatte zu lange als Offizier gedient, um sich ein normales Erwerbsleben vorstellen zu können. In Eritrea gab es damals bereits etliche Generationen von Männern und mitderweile auch Frauen —, die nichts anderes getan hatten, als Krieg zu führen. Ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien bestritten sie aus dem kärglichen Sold, aus Plünderungen und von internationalen Hilfslieferungen. So war es auch in unserer Familie — mit Ausnahme der Plünderungen. Diese Zeit war für meinen Vater vorbei.
Den Tod vor Augen Eines Tages hatte ich das deutliche Gefühl, dass meine Zeit abgelaufen war. Ich spürte, dass mein Leben zu Ende gehen sollte. Ich kann es nicht erklären, es war nur ein Gefühl. Ich sah, wie mein Vater rasdos im Hof auf und ab ging, mit sinnlosen Verrichtungen beschäftigt, die kein Ziel hatten außer dem, seine Unruhe zu verbergen. Ich sagte zu meinen Schwestern: »Heute bringt er mich um.« Yaldiyan und Tzegehana starrten mich fassungslos an. »Umbringen? Wo denkst du hin? Das macht er niemals!« Ich schüttelte nur den Kopf und fuhr fort, Holz zu zerkleinern. Irgend etwas musste an diesem Morgen den besonderen Hass meines Vaters auf mich hervorgerufen haben, aber ich wusste nicht, was das war. Ich wusste nur, dass er mich schon die ganze Zeit mit vor Wut sprühenden Augen anfunkelte. Das bedeutete die höchste Alarmstufe. 66 i'Iötziich kam ~r ?n mir und sagte. »Scnail, komiii initi Wir gehen hinaus und sammeln Holz.« Wir gingen nie zusammen Holz sammeln, sondern es gingen immer nur wir Kinder alleine, ohne ihn. Außerdem war momentan genug Holz im Haus, und Vorräte wurden nie angelegt — von nichts. Keine Familie in Afrika legt Vorräte an. Wenn man hungrig ist, geht man einkaufen und kocht. Wenn man Holz braucht, geht man welches holen. Man sammelt so viel Holz, dass es für heute reicht, nicht für morgen. Und nun wollte mein Vater mit mir Holz sammeln gehen? Widerstrebend ging ich mit. Was sollte ich auch tun? Wäre ich ihm nicht gefolgt, hätte er mich zu Tode geprügelt. Unterwegs hing ich den düstersten Gedanken nach. Mein Tod schien mir beschlossene Sache zu sein. »Okay, ich sterbe«, dachte ich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das wäre. Ich hatte Angst und wünschte mir nichts weiter, als dass er schnell machen würde, damit es rasch vorübergeht. Als wir in einer Senke ankamen, in der ein paar dürre Bäume standen, nahm er eine riesige Machete heraus, die man zum Holzschlagen verwendete. Diese Geräte konnten nur Erwachsene handhaben, so groß und schwer waren sie. Mein Vater hielt seine Machete abwartend in der Hand, sah sich um und sagte nichts. Mir war schlecht vor Angst. Er blickte mich an, und in seinen Augen stand wieder dieses Zucken. Noch gefährlicher schien mir, dass er in diesem Moment nicht voller Hass, sondern ganz ruhig zu mir sprach. »Stell dich an einen Baum«, sagte er. Ich glotzte ihn entgeistert an und bewegte mich nicht, also wurde er ein bisschen lauter: »Stell dich an einen Baum!« Ich war wie gelähmt. Selbst wenn ich ihm hätte gehorchen wollen, es ging einfach nicht. Ich konnte nicht mal meine Hand heben. In meinem Kopf ratterten die Gedanken: Wollte er mich töten? Wollte er mich erschrecken? Wollte er ausprobieren, wie weit er gehen konnte? In diesem Moment kam Werhid angerannt. Sie schrie auf meinen Vater ein. »Hör sofort auf damit«, brüllte sie außer Sinnen. »Ich bitte dich, ich bitte dich, hör auf. Wir schicken Senait, Yaldiyan und Tzegehana zur Jebha!« 67 Mein Vater war wie erstarrt. Nach bangen Minuten ließ er die Machete sinken. Er stöhnte auf, murmelte etwas und wandte sich von mir ab. Ich brach auf der Stelle zusammen. Fast schien es, als wäre mein Vater ein wenig erleichtert, dass Werhid ihn zurückgehalten hatte. Ich hörte Werhid sagen: »Ich bitte dich, versündige dich nicht so tief«, dann weiß ich nichts mehr. Werhid muss mich zurück ins Haus getragen haben. Als ich wieder zu mir kam, rasten die Gedanken wie noch nie. Hatte ich ein neues Leben geschenkt bekommen? Was hatte Werhid mit »Jebha« gemeint? Ich konnte nicht ahnen, dass ich mich in meinem neuen Leben noch oft nach meinem jetzigen zurücksehnen sollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch schlimmer kommen könnte. 68 Wir Morgensterne Einen Tag nach dem Vorfall mit der Machete nahm unser Vater meine Schwestern Yaldiyan und Tzegehana und mich mit. Ein Bus brachte uns in ein anderes Dorf. Unser Vater sagte nicht, wohin die Reise gehen sollte. Er machte keine Andeutungen, was uns erwartete. Er sagte gar nichts. Wir Mädchen trabten still hinter ihm her. Ich war froh, dass meine beiden Schwestern bei mir waren, weil ich fürchtete, von ihm noch einmal in den Wald geführt zu werden. Wir saßen schweigend im Bus. Uns war klar, dass wir ihn nicht zu fragen brauchten, wohin diese Reise gehen sollte; er hätte es uns ohnehin nie verraten. Ich starrte hinaus in die Wüste, die vor den Fenstern des Busses vorbeizog. Ich spürte nicht die Hitze, die sich im Inneren des Busses ausbreitete, und nicht den beißenden Geruch der Hühner, die mit zusammengebundenen Beinen unter der Bank vor mir lagen. Ich spürte nichts außer einem großen Verlangen nach Ruhe und einer dumpfen Sorge, was auf mich zukommen würde. Nach ein paar Stunden Fahrt hielt der Bus in einem Ort, in dem einige große Militärzelte standen. Dort brachte uns unser Vater ohne Umschweife in ein Rekrutierungsbüro der ELF. Die Eritrean Liberation Front war die ältere der beiden Befreiungsarmeen, die um die Macht im Lande und um die Unabhängigkeit Eritreas kämpften. In der ELF hatte mein Vater gekämpft, bevor er sich wegen seiner schweren Verletzungen vor ein paar Jahren
vom Soldatenberuf zurückgezogen hatte. »Das ist das ELFBüro«, sagte er, »dort werdet ihr bleiben. Meine Freunde werden auf euch aufpassen und euch ausbilden.« Das »Büro« war ein Tisch, der unter einem Sonnenschutzdach mitten auf der Dorfstraße stand und um den herum ein paar gelangweilte Männer in zerlumpten Uniformen saßen. Auf dem Tisch lagen ein Buch und ein paar Blatt Papier. Wir hätten immer gerne Papier gehabt, um darauf zu zeichnen, aber abgesehen von der kurzen Zeit bei den italienischen Schwestern hatte es nie welches gegeben. Papier war absolute Mangelware. Hinter diesem »Büro« führten Stufen zu einer Bar hinauf, was nur 69 soviel hieß, dass da ein Raum war, wo Palmwein und Bier ausgeschenkt wurde. Die Uniformierten hatten schon einiges davon gekostet, zumindest rochen sie übel und hantierten mit fahrigen Bewegungen. Einer hatte eine Waffe bei sich, die er wie ein Kind auf seinem Schoß wiegte. Die Männer nahmen uns in Empfang, wie man eine Lieferung von Schafen oder Ziegen in Empfang nimmt: erst ein kurzer Händedruck mit dem wechselweisen Aneinanderreiben der Schultern, mit dem die Männer einander gewöhnlich begrüßen. Es folgte ein kurzer Wortwechsel, dann drückten sie noch einmal die Schultern aneinander, das war alles. Wir waren am Ziel unserer Reise. Der Abschied von unserem Vater ging wortkarg vor sich. Uns war klar, dass das kein Abschied für ein paar Stunden oder Tage war, sondern ein Abschied für länger. Ich hatte keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte mit uns — es war mir egal. Ich wusste, dass mein Vater nicht mit uns kommen würde, und das war mir das Wichtigste. Auch meine Schwestern waren froh, ihn los zu sein, obwohl sie nicht so unter ihm gelitten hatten wie ich. »Weg von Ghebrehiwet«, sagten sie, nicht »weg von Papa«, und das klang nicht traurig. Offenbar sollten wir jetzt zu diesen Männern gehören. Aber das waren doch Soldaten, und wir waren Kinder! Auch mein Vater musste sich denken, dass wir zu jung waren für das, was mit uns geschehen sollte. Doch das Wichtigste für ihn war, drei hungrige Mäuler weniger stopfen zu müssen. Drei Esser mehr oder weniger in der Familie zu haben konnte den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern bedeuten. Als uns einer der Männer zu einem Auto führte, das ein paar Meter weiter weg stand, ging unser Vater in die andere Richtung davon, ohne sich umzusehen. Er ging fort, als würden wir uns in wenigen Minuten wiedersehen. Wir sahen ihm nach, doch keine von uns unternahm etwas, um ihn zurückzuhalten oder ihm etwas nachzurufen. Bevor er aus unseren Augen verschwunden war, drehten wir uns um und folgten dem Mann, der schon am Auto wartete. Heute war der Tag, an dem wir zu kleinen Soldatinnen werden sollten. Ich verband damit nichts weiter, als dass ich Ruhe vor meinem 70 Varer haben wür
Jahre alt sein. Kleinere Soldaten als mich gab es kaum. Höchstens zwei, drei Kinder unter ein paar hundert sahen genauso jung aus wie ich. Die paar Uniformen, die ich sah, waren nicht einheitlich, nicht einmal die der Chefs. Erkennen konnte man die Anführer trotzdem sofort an der Art, wie sie von den anderen behandelt wurden. Kam ein Chef, wichen die anderen zurück, grüßten und machten Platz. Hinter einem Chef waren immer zwei, drei andere, die ihn etwas fragen wollten oder hinter ihm hergingen, falls er etwas brauchte. Doch der Chef beachtete die Leute in seinem Kielwasser nicht, denn er hatte es immer eilig. Er sah immer nach vorn, als könne er dort etwas Wichtiges erkennen. Wenn einer der Chefs sprach, kamen die Wörter lauter heraus als bei den anderen. Zu meiner Überraschung waren nicht wenige der Chefs Frauen. In den Dörfern hatten immer die Männer mit lauter Stimme Befehle gebrüllt. Erst später begriff ich, dass die Frauen nur ein paar Unterchefs stellten und dass es mit den ranghöheren Anführern genauso war wie in den Dörfern: Sie waren — mit einer Ausnahme — alle Männer. Die Chefs trugen als einzige komplette Uniformen, alle anderen hatten nur Versatzstücke davon an: eine Armeehose, ein Tarnhemd, ein grünbraunes TShirt. Dazu trugen sie das, was sie hatten: Shorts, Khakihosen, Hemden, TShirts mit bunten Aufdrucken. Die Sachen stammten aus den Rotkreuzsäcken aus Europa. Auch in Asmara waren immer wieder solche Säcke mit Kleidung angekommen, aus denen jeder etwas zum Anziehen bekam. Nur Schuhe waren immer Mangelware. Dabei hätten sie Schuhe am nötigsten gebraucht, denn der Boden war hart, heiß, steinig und voller schmerzhafter Dornen und Stacheln. 72 Virle zoeen mit Guinm:badcid.LSchen in den Kampf *r\i* der Schuhbekleidung, die die meisten Eritreer tragen, weil es der billigste Schutz gegen Steine und Dornen ist. Manchmal hatte ich noch nicht mal solche Latschen. In der größten Hitze, wenn die Steine und der Sand glühen, barfuß unterwegs zu sein war selbst mit Fußsohlen, die mit der Zeit hart wie Leder wurden, kein Vergnügen. Rückzug Die Truppe war ständig in Bewegung, auf der Flucht vor unseren eigenen Landsleuten, den Rebellen von der EPLF. Die äthiopischen Truppen hatten zu diesem Zeitpunkt in der Provinz Berka im westlichen Eritrea nicht mehr viel zu melden. Die ländlichen Gebiete nahe der sudanesischen Grenze, in denen wir uns aufhielten, waren fest in den Händen der Rebellen, allerdings nicht in den Händen der ELF, sondern in denen der anderen Seite — was bedeutete, dass unsere Truppe so gut wie immer auf der Flucht war. Das Wort »Flucht« durfte keiner von uns benutzen. Es hieß nur »Rückzug« oder »strategischer Rückzug«, obwohl kein Mensch von uns wusste, was »strategisch« bedeuten sollte. Auch als wir im Lager ankamen, herrschte Aufbruchstimmung. In einem wahren Höllentempo warfen die Leute Dinge auf die offenen Ladeflächen der Lastwagen und auf den Packplatz bei den Kamelen: Töpfe, Pfannen, Stangen, Planen, Waffen, Säcke, Dosen, Kisten, alles landete kreuz und quer auf gewaltigen Haufen. Ein paar Leute waren abgestellt, um diese Haufen zu sortieren und auf die Lkws zu stapeln oder zu Paketen gebunden auf die Kamele zu hieven. Das funktionierte mehr schlecht als recht, weil ständig neue Dinge auf den Haufen lande ten. Manchmal mussten die Männer hektisch auf die Seite springen, um nicht von einem der Flugobjekte getroffen zu werden. Ringsherum herrschte gewaltiges Chaos, alle rannten durcheinander und schrien Dinge, die wir nicht verstanden. Plötzlich bekam Yaldiyan einen Rempler, der sie fast in den Staub 73 geschleudert hätte. »Was glotzt ihr? Rauf, Kinder, rauf!« Der Mann deutete zu einem anderen Lkw, auf dessen Ladefläche Dutzende anderer Kinder kletterten. Dieser Lastwagen hatte ein Gestänge, auf das man eine Plane spannen konnte. Da es aber keine Plane gab, passten noch mehr Menschen auf die Ladefläche. Sie quollen über die Seitenplanken hinaus und hingen an allen Seiten des Lasters, auch auf den Trittbrettern zur Führerkabine standen welche. Einer saß auf dem Dach des Fahrerhauses. Mit Mühe hatten wir es geschafft, noch einen Platz auf der Ladefläche zu ergattern. Als der Wagen anfuhr, standen wir zwischen Dutzenden anderen eingekeilt und mussten zusehen, dass wir noch ein bisschen Luft schnappen konnten in dieser gewaltigen Drängelei. Die Treiber mit den Kamelen und ein paar Erwachsenen wählten den direkten Weg und zogen entlang steiler Saumpfade über die Berge, während wir auf den Lastwagen in rasender Fahrt über holprige Staubstraßen preschten. Die alten Laster schüttelten uns durch wie ein paar Säcke Mehl oder Brennholz, alles klapperte, knirschte und ratterte. Wir standen und hockten eng aneinandergepresst, so dass niemand umfallen konnte sonst wäre er sofort zertrampelt worden. Trotz des Höllenlärms, den der Laster machte, waren manchmal Schüsse und das Gewummer der Artillerie zu hören. Ich hockte mitten in diesem Wahnsinn, den Kopf zwischen den Händen, und beobachtete mit allen Sinnen, was rings um mich vorging. Ich betete zu Gott, dass uns nichts zustieß. Ich dachte oft an Gott und bat ihn um Dinge, die ich besonders dringend brauchte. Oder ich beschuldigte ihn wegen etwas, das mich störte. Mit Gott zu reden wollten mir schon die Schwestern im ComboniKloster
beibringen, aber dort hatte es noch nicht geklappt, ich hatte nicht den passenden Tonfall gefunden. Erst bei meiner Großmutter habe ich es gelernt. Sie hatte mit Gott genauso gesprochen wie mit allen anderen Leuten, und das schien mir der passende Ton für diesen fernen Gesprächspartner zu sein. Trotz der Enge und dem Geschüttel und dem Gestank nach Schweiß und Dieselöl war ich irgendwann erschöpft eingedöst. Ich erwachte erst, als wir mitten in der Nacht anhielten. Sofort begannen 74 die Leute, von den Lastern herunterzuklettern. Ich konnte mich zunächst nicht bewegen, so steif waren meine Beine geworden. Fast wäre ich wie ein Stein von der Ladefläche gepurzelt. Meinen Schwestern ging es nicht viel besser. Es war stockdunkel, nur die Konturen von Büschen, Steinen und ein paar Bäumen zeichneten sich ab. Jemand sagte, hier sei unser neues Zuhause. Hier? Mitten im Nichts?! Sollten wir in der Wildnis lagern? In der Wildnis Verstohlen sah ich mich nach Yaldiyan und Tzegehana um. Wir waren einander nie besonders nah gewesen, immer hatte ich mich mit anderen Kindern besser verstanden als mit den beiden. Das hatte damit zu tun, dass ich ein Eindringling von außen war, der erst spät in die Familie meines Vaters hineinkam. Jetzt aber war ich froh, zwischen all den Unbekannten die vertrauten Gestalten meiner Schwestern zu entdecken. Ohne sie hätte ich mich sterbenselend und verloren gefühlt. Gleich bei Tagesanbruch wurde mit dem Aufbau des Lagers begonnen, und wir wurden ausgeschickt, um Brennholz zu holen. Auf allen vieren krochen wir durch dichtes Gestrüpp und ins Unterholz, um lose Äste und Wurzeln zu sammeln und vertrocknete Zweige abzubrechen — ohne Säge, Messer oder Beil. Als wir jeder mit einem Bündel Brennholz stolz ins Lager zurückkamen und auf ein Lob und etwas zu essen hofften, nahm uns jemand das Holz ab und schickte uns gleich wieder los, neues zu holen. Als wir mit der zweiten Fuhre Äste zurückkamen, passierte dasselbe wieder. Ich fragte den Jungen, der uns das Holz abnahm, wann es etwas zu essen gäbe, doch als Antwort bekam ich nur eine schallende Ohrfeige. Also zogen wir mit knurrenden Mägen und ausgetrockneten Kehlen wieder los. Obwohl hier keine so staubtrockene Gegend war wie im Bergland in der Umgebung von Asmara, war trotzdem kein Wasser zu finden, wenn man nicht wusste, wo Wasserlöcher, Quellen oder Flussläufe waren. Dabei war hier vor längerer Zeit sogar Acker 75 bau betrieben worden. Jetzt aber waren die Felder von Unkraut und Gestrüpp überwuchert. Die Bevölkerung war längst vor den Wirren des Krieges geflohen, der hier besonders heftig tobte. Wir mussten Holz schleppen, bis es fast schon wieder dunkel wurde und wir uns endlich zu den anderen setzen durften. Aber wie groß unsere Enttäuschung war! Wir bekamen nichts außer Wasser und ein paar Stückchen Enjera, trockene Mehlfladen. Dazu gab es keine frischgekochte Sauce, wie ich sie kannte, sondern nur eine völlig undefinierbare Paste, die so schrecklich schmeckte, dass wir sie kaum hinunterbrachten. Wir zwangen uns dazu, weil wir uns vor Hunger und Anstrengung sonst kaum mehr auf den Beinen hätten halten können. Später erfuhr ich, dass das Mehl, aus dem die Paste gemacht wurde, von getrockneten Sardinen stammte. Dieses Pulver musste man mit Wasser oder Öl verrühren, um es halbwegs genießbar zu machen. Fisch hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie auf dem Teller gehabt, so etwas hatte es in Asmara nicht gegeben. Allerdings hatte dieses Mehl nicht viel mit Fischen zu tun, so dass ich nicht darüber nachdenken musste, ob ich damit meinen Schwur breche, keine Tiere zu essen. Doch in diesem Moment hätte ich selbst ein blutiges Steak verschlungen, um den bohrenden Hunger zu stillen. Bei den Soldaten sollte ich nicht nur den Hunger kennenlernen, sondern auch den Durst, denn bei unserer Einheit war alles knapp außer Waffen und Munition. Das Wasser war rationiert — jeder bekam einen Becher voll, und das musste bis zur nächsten Mahlzeit reichen. Oft genug war der Becher nur eine rostige Dose mit abgeschnittenem Deckel. Ein Soldat passte auf die Plastikkanister auf, in denen das Wasser aufbewahrt wurde. Dem hielt man den Becher hin, er füllte ihn auf, und man musste sofort austrinken und den Becher an den nächsten in dem Haufen vor dem lebensrettenden Kanister weitergeben. Wie schnell das Wasser hinuntergekippt war! Zum genüsslichen Kauen und Schlürfen und Gurgeln blieb keine Zeit. Kaum hatte man den Becher in der Hand, wurde man schon angerempelt und aufgefordert auszutrinken, und es streckten sich Hände herbei, die einem den Becher entreißen wollten. 76 7.\x essen gab es vÄrht zu c«* aal oder dreimal täglich, wie wir das gewohnt waren; es gab höchstens einmal täglich etwas, manchmal auch nur alle zwei, drei Tage einmal. Dass es nichts zu essen gab, war für uns Kinder schwerer zu verstehen als vieles andere, was wir hier erlebten. Man schlief mit knurrendem Magen ein, man wachte mit knurrendem Magen auf, arbeitete den ganzen Tag, um wieder mit knurrendem Magen einzuschlafen. Wir waren schon froh darüber, ein paar Züge aus dem Becher trinken zu dürfen. Es war ein jämmerliches Leben, das wir hier in der Wildnis im Namen der Freiheit Eritreas führten! Feinde In der Schule unter dem Wellblechdach hatten wir viel von der Freiheit Eritreas und von den großen Idealen der Revolution gegen die äthiopischen Bösewichte gehört. Hier, bei diesem Haufen von Verlorenen, schien niemand
mehr Interesse an solchen Reden zu haben. Hier ging es vor allem ums Überleben. Dieses Überleben war durch so viele Faktoren bedroht, dass schwer zu sagen war, worin die größte Gefahr bestand. Unsere Truppe hatte ihren ersten Lagerplatz nahe der Front. Wir sahen zwar keine Kämpfe, hörten es aber Tag und Nacht regelmäßig krachen: Gewehrsalven, Einschläge von Granaten, Artillerie — es war ein ganzes Orchester von Knallern und Explosionen. In der Nacht sahen wir manchmal einen Feuerschein oder eine Leuchtspur, die den schwarzen Himmel in zwei ungleich große Teile zerschnitt. Jeden Tag machten sich einige von den Älteren in Richtung des Lärms auf den Weg, um dort mitzukämpfen. Einige fuhren, andere gingen zu Fuß. Manche kamen erst nach Tagen wieder, andere schon nach wenigen Stunden, nicht selten blutüberströmt. Niemand von uns Kindern wusste genau, was dort vor sich ging. Niemand erzählte uns etwas, niemand erklärte uns die Lage. Wir wussten nur, dass dort der Feind lag und dass es dort gefährlich war. Wir sollten dort nicht hingehen, noch nicht. Immer hatte ich alles sehen, 77 alles ausprobieren, alles kennenlernen wollen — aber dorthin, wo es krachte, wollte ich nicht. Ich ahnte, dass es dort nichts Schönes gab. Nichts Erstrebenswertes. Ich wusste, dass es Dinge gibt, die ich nicht sehen musste. Wer der Feind war und was er von uns wollte oder wir von ihm, das wussten wir nicht. Wir opferten uns für die Idee der ELF auf, wie sich die andere Seite für die Idee der EPLF opferte. Wir taten das, ohne viel mehr zu wissen, als dass wir die ELF waren und die anderen die EPLF, und wir hatten noch nicht einmal eine Ahnung, was diese Abkürzungen bedeuteten. Klar war nur, dass wir für die richtige Sache kämpften und die anderen für die falsche. Wir achteten nicht sonderlich auf die Politik, für uns waren andere Dinge wichtig. Wir sahen, wie immer mehr Leute aus unserer Truppe krank wurden. Berka ist eine malariaverseuchte Provinz, und jeder wusste, dass es nicht gut ist, von den Mücken gestochen zu werden. Jeder wusste, dass man davon krank werden und Fieber bekommen konnte. Jeder wusste, dass hier draußen nichts dagegen zu machen war. Abends, wenn die Mücken stachen, waren wir genauso draußen wie den ganzen Tag über. Wir schliefen unter freiem Himmel, ohne Zelte, ohne Netze, ohne Mittel gegen die Mücken. Die Mücken waren neben der EPLF die zweite Armee von Feinden, der wir uns stellen mussten, und die Ratten waren die dritte. Ratten waren unsere ständigen Begleiter. Abends, wenn wir uns zum Schlafen legten, huschten sie zwischen unseren Köpfen hin und her. Morgens sahen wir an ihrem Kot, wo sie sich aufgehalten hatten. Ich wunderte mich immer, warum in unseren Camps so viele Ratten waren, wo es doch kaum etwas zu essen gab. Wenn Malaria die »große« Krankheit war, vor der wir Respekt haben mussten, war »Chainitschiwai« die »kleine« Krankheit. Die hatte ich auch, genauso wie Tzegehana. Ich lag abends da, auf einem Fetzen, der es nicht verdient hatte, Decke genannt zu werden, mit nichts als Steinen und Sand unter mir. Hungrig war ich, durstig, staubig, verschwitzt, und doch fröstelte es mich, weil es nachts oft kühl wurde. Dann begann es zu jucken, es juckte mich an den Beinen und an den Füßen. Ich rieb und rieb mir die Beine, doch das Jucken ging nicht weg, sondern wurde 78 immer stärkei. Mvir.: 1 laut biaiinte wie Feuer. Ich sprang aut und versuchte zu sehen, was mich da so plagte, aber in der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Panik erfasste mich — waren da lauter kleine Tiere? Rasend vor Angst weckte ich meine Schwestern, doch die konnten auch nichts erkennen, weil es in der Zwischenzeit schon vollständig dunkel geworden war. Ich begann zu weinen, bis eine ältere Kameradin kam. Die Soldatin ließ sich von Yaldiyan sagen, was los war. »Morgen wird es besser«, tröstete sie mich. »Aber nicht kratzen, hörst du? Hände weg von den Beinen, sonst wird es schlimmer!« Dann stand sie auf und ging weiter. Starr blieb ich liegen. Was sollte ich tun? Ich wagte nicht, mich zu rühren, und lag da wie ein Stock. Langsam wurde es besser. Der Juckreiz blieb zwar, aber das Brennen verschwand. Offenbar war es durch das Reiben entstanden. Weiter verstand ich nichts. Nie nahm sich jemand Zeit, den Kleinen etwas zu erklären oder zu zeigen. »Du hast die >Rattenaugen<«, sagte Yaldiyan später zu mir. Chainitschiwai heißt diese Krankheit in unserer Sprache, weil die Eiterungen auf der Haut so aussehen wie die Augen von Ratten. Am nächsten Tag betrachtete ich meine Beine. Voller Entsetzen sah ich die wunden Stellen. Die anderen Kinder lachten mich aus, aber jeder kannte diese »Rattenaugen« schon. Man sagte, die Krankheit komme von Rattenbissen, doch das war ein Märchen. In Wahrheit handelt es sich um eine Infektion, die Ratten durch all den Staub und Schmutz übertragen hatten. Rattenbisse, und von denen hatten wir genug, wirkten normalerweise anders: Die winzig kleinen Bisswunden waren anfangs kaum auf der Haut zu sehen. Erst mit der Zeit liefen sie mit Eiter voll und wurden größer und größer, bis sie rot und entzündet waren. Heute noch sind auf meinen Beinen Narben davon zu sehen, die nie mehr verschwinden werden. 79 Die erste Tote Die Aufregung ging sang und klanglos in meinen anderen Sorgen unter: Woher sollte ich etwas zu essen oder zu trinken bekommen? Wie konnte ich mich vor der schwersten Arbeit drücken? Die Krankheiten lernten wir hinzunehmen. Es gab zwar einen Arzt in unserer Kompanie, aber der konnte nicht
viel tun — zumindest nicht in solchen »einfachen« Fällen. Meistens war er mit der Betreuung von Schwerverletzten beschäftigt und hatte nicht die Medikamente, um Wehwehchen wie eitrige Rattenbisse, Magengrippen, Augenentzündungen, eingetretene Dornen oder entzündete Mückenstiche zu kurieren. Es gab Schlimmeres. Das Sterben war an der Tagesordnung. Das größte Problem war der fehlende Nachschub. Das merkten wir täglich am eigenen Leib: an unserem Hunger, den keiner stillte. Am Durst, der nicht gelöscht wurde. Wir sahen es an den Leichen, die täglich fortgeschafft werden mussten. Ich hatte nie zuvor eine Leiche gesehen, außer der Freundin, die im Kinderheim verblutet war. Jetzt sah ich ständig Tote. Wir sahen tote Kämpfer, Männer und Frauen — oder vielmehr Jungen und Mädchen, denn die meisten hier waren noch halbwüchsig. Sie waren viel jünger als mein Vater, jünger als Werhid, meine Stiefmutter, und jünger als Mbrat. Wenn einer damals von sich sagte, er sei zwanzig, war das für mich schon ein hohes Alter. Und so alt wie mein Großvater oder mein Vater war sowieso niemand im Lager. Hier wurde jung gestorben. Die erste Leiche, die ich im Camp sah, war ein Mädchen. Sie lag abseits, wo man sie nach der Rückkehr vom Gefecht abgeladen hatte, und sie lag mit dem Gesicht nach unten, aber an ihren Haaren sah ich, dass das ein Mädchen war. Sie hatte lange, gekräuselte Mädchenhaare, die nach allen Richtungen wegstanden. Alle hatten wir damals solche Frisuren — Kraushaar wie ein Helm. Manchmal waren die Haare der Toten glatt und klebten am Kopf. Das kam von dem getrockneten Blut. Ich weiß noch, wie ich dastand und schaute. Außer mir interessierte sich niemand dafür. Eine Tote war nichts Besonderes, also kam niemand, um sie anzusehen. Jeden Tag gab es neue Tote. Doch ich war selbst noch ganz neu, für mich war 80 es etwas Besonderes. Irr. wus^ nicht, was ich tun sollte. Niemand tat etwas. Manchmal dauerte es eine Weile, bis jemand die Zeit fand, die Toten zu verscharren. Das war nicht leicht bei dem steinigen Untergrund und bei der gewaltigen Hitze, die untertags herrschte. Die Tote lag einfach da. Fliegen summten um sie herum. Ich bückte mich um ihr Gesicht zu betrachten. Ich kannte sie nicht, aber damals kannte ich sowieso noch kaum jemanden. Ein Auge war halb geöffnet. Da war sehr viel Weiß zu sehen. Das erschien mir das Unnatürlichste, dieses viele Weiß in ihrem Auge. Ich schlug die Hände über dem Gesicht zusammen. Das tat ich immer, wenn ich etwas nicht mehr ertragen konnte. Dann brüllte ich auf und rannte fort. Ich rannte, so schnell und so weit es ging — und allzu weit ging es nicht, denn es war uns verboten, aus dem Lager wegzulaufen. Das war zu gefährlich, überall konnten sich Feinde verstecken, und das Gelände war vermint. Doch so weit ich auch rannte, etwas von der Toten wurde ich nicht los: ihren Geruch. Den Leichengeruch. Das ist der durchdringendste Geruch, den ich kenne. Ich kann ihn kaum beschreiben — süßlich ist er, faul. Fleischlich. Er riecht nach Verderben, nach Untergang. Wer diesen Geruch schon einmal in der Nase hatte, wird ihn immer und überall und sofort erkennen, wenn er ihm wieder begegnet, ein Leben lang. Leichengeruch ist für mich ein Geruch, den ich nie vergessen kann. Von diesem Tag an, als ich ihn zum ersten Mal wahrgenommen hatte, erkannte ich ihn später immer und überall sofort wieder, und nie gab es einen Zweifel darüber, dass in der Nähe ein Toter liegt. Ich sollte diesen Geruch noch sehr oft zu riechen bekommen. Dann kamen die Hyänen. Verglichen mit ihnen und mit den Löwen, die immer wieder um das Lager herumstrichen, waren Ratten harmlose Tiere, die kaum jemand beachtete. Hyänen können Leichengeruch von allen anderen Gerüchen dieser Welt sehr gut unterscheiden. Sie fühlen sich von diesem Geruch nicht verfolgt, sie lieben ihn. Jetzt begannen die Hyänen zu singen. Es ist der Gesang des Todes, den ich an diesem Abend zum ersten Mal bewusst hörte. Ihr Gesang galt der Leiche dieses Mädchens, die provisorisch mit Steinen bedeckt worden war, bevor sie am nächsten Tag zusammen mit den neuen Toten, die erst am 81 Abend ins Lager gebracht worden waren, begraben werden sollte. Meistens gab es mehrere Leichen, die gemeinsam in einer Grube bestattet wurden. Das Singen der Hyänen ging immer wieder in ein heiseres, hysterisches Lachen über. Niemanden schien es zu kümmern, dass die Toten der Grund für dieses makabre Konzert waren. Ich lag da, presste mir die Hände auf die Ohren und summte und sang, um die Hyänen zu übertönen, bis mich jemand grob anrempelte, damit ich still wäre. Also versuchte ich leise Lärm zu machen. Ich trommelte mit den Händen auf den Boden, scharrte mit den Füßen, trampelte gegen Dinge und versuchte, mit Geräuschen des Lebens gegen das Konzert des Todes anzugehen, aber es gelang mir nicht. Das Singen, das Lachen der Aasfresser war lauter. Es hörte nicht auf, bis ich völlig erschöpft in unruhigen Schlaf verfiel. Das letzte Aufgebot Tritte beendeten meinen Schlaf. Das war der normale Morgengruß für Langschläfer wie mich, weil spätestens bei Sonnenaufgang alle wach zu sein hatten. Oft genug gab es schon in der Nacht etwas zu tun, wenn beispielsweise wieder mal hektisch die Zelte abgebrochen wurden, weil wir uns einen neuen Lagerplatz suchen mussten. Oder wenn wir einen Lastwagen enduden, der in der Nacht angekommen war. Oder wenn mitten in der Nacht Wasser geholt werden musste, weil es tagsüber zu gefährlich war. Zeitweise waren uns die Feinde so nah gerückt, dass wir es nicht wagen konnten, bei Tageslicht außerhalb des Lagers herumzulaufen.
An solchen Tagen arbeiteten wir im Lager, wo es nie Mangel an Arbeit gab. Wir wuschen Wäsche, mit der Hand, mit wenig Seife und noch weniger Wasser. Wir kneteten den Teig für die Enjera, stampften Kaffeebohnen und reinigten die Uniformen der Vorgesetzten nach einem Einsatz. Außerdem wurden wir militärisch ausgebildet. Yaldiyan und Tze 82 gehana waren schon von Antang an ausgebildet worden, ich erst nach ein paar Wochen. Selbst für damalige Verhältnisse war ich noch zu jung für eine Soldatin, denn sowohl die ELF als auch die EPLF setzten nor malerweise Soldaten erst ab zwölf, dreizehn Jahren ein. Solche Kinder waren nach afrikanischem Verständnis junge Erwachsene. Deren Ausbildung fing mit elf Jahren an, spätestens mit vierzehn Jahren kämpften alle an der Front. Bei der ELF, die zu dieser Zeit in ihren letzten Zügen lag, war dieses System völlig durcheinandergekommen, zumindest in unserer Einheit, der »JebhaalTahrir«, wie unsere Chefs sagten. Manchmal sagten sie nur »Jebha« oder nur »Tahrir«. »Jebha« bedeutet »Front«. »Tahrir« heißt »Morgenstern« und stand für den jugendlichen Teil der Truppe. So hießen die jugendlichen Brigaden der ELF, als es noch mehrere davon gab. Zu ihren besten Zeiten verfügte die ELF über einige zehntausend Kämpfer, doch jetzt waren es nur mehr gute tausend oder viel leicht noch weniger. Durch das viele Umherziehen, unsere hektischen Fluchtbewegungen und die wechselnden Aufteilungen in verschiedene Trupps sahen wir nie alle Soldaten auf einem Fleck. Fest stand bloß eines: Wir waren das letzte Aufgebot. Manchmal nannten sie unser Camp auch »Che Guevara«, zu Ehren des kubanischen Freiheitskämpfers, weil die Kubaner die ELF unterstützt hatten, vor allem mit Waffenlieferungen. Anfangs sagte mir der Name nichts, für mich klang er wie »Tschokubera« oder »Tschekubara«, eine verballhornte TigrinyaVersion von »Che Guevara«. Wir sollten die »Tegadelties« sein, die tapferen Kämpfer, die jüngsten in der Geschichte der eritreischen Freiheitsbewegungen. Früher hatten beide Freiheitsbewegungen eigene Organisationen unterhalten, die sich um die Ausbildung der Jüngsten kümmern sollten: die »Roten Blumen« bei der EPLF, die »Morgensterne« bei der ELF. Dort nahmen sie Kinder zwischen sechs und zehn Jahren auf. Das waren noch keine Kindersoldaten, sondern Anwärter darauf. Sie wurden von Lehrern der Befreiungsorganisationen in Lesen, Schreiben und Rechnen genauso unterrichtet wie in eritreischer Geschichte, Marxismus und Propaganda für die eigene Partei. Dazu kam paramilitärisches Training: Laufen, Springen, Robben, Exerzieren, Gelände 83 künde. Wenn die Kinder älter wurden, bekamen sie Waffen, und es ging ab an die Front. Gekämpft wurde immer, die äthiopische Armee war meist übermächtig, und die Partisanen konnten jeden Soldaten gut gebrauchen, auch wenn er noch so schlecht ausgebildet war. Mit dem Niedergang der ELF war dieses System der gesonderten Jugendtruppe »Morgensterne« abhanden gekommen. Das letzte Aufgebot der Jebha kannte diese Unterscheidung nicht mehr, jetzt wurde alles, was zwei Beine hatte und nur im entferntesten eine Waffe tragen konnte, in einen Topf geworfen. Das war auch in meiner Einheit so. Damals, als meine Schwestern und ich zu »Che Guevara« kamen, kämpften die »Morgensterne« zusammen mit den »Erwachsenen«, das ursprüngliche Ausbildungssystem war längst zusammengebrochen. Das einzige, was von den Morgensternen geblieben war, war ihr Lied, das wir immer wieder singen mussten: »Der Morgenstern erlischt nie, er ist stets beständig. Egal ob Tag oder Nacht, der Morgenstern leuchtet in der Ewigkeit ...« Ich liebte den Text und die Melodie. Das Lied gab mir Hoffnung, wenn ich nicht mehr wusste, worauf ich hoffen sollte. Wer in der ELF kämpfte und mit welchem Ausbildungsgrad, war zu dieser Zeit Anfang der achtziger Jahre — fast schon egal. Es ging nicht mehr um die Befreiung Eritreas, es ging um keinen bewaffneten politischen Kampf, es ging nur noch um das nackte Überleben. Der Kampf der Eritreer um ihre Unabhängigkeit von Äthiopien dauerte schon über zwanzig Jahre, und es gab kaum Fortschritte. Das lag nicht nur an der technischen und zahlenmäßigen Überlegenheit der äthiopischen Truppen und an der massiven Unterstützung, die sie von der Sowjetunion erhielten, das lag auch an der Uneinigkeit der Eritreer selbst, die in einen Bürgerkrieg verwickelt waren. Die ELF, die ältere Partisanenorganisation, und die davon abgespaltene EPLF, die »Shabia«, arabisch für »Volk«, kämpften erbittert gegeneinander. Schon 1979 war deutlich abzusehen, dass die EPLF die Oberhand 84 gewinnen würde, and iVui wht die ELF am Ende. 1980 kamen wir zu der bereits völlig hoffnungslosen Truppe. Unser Vater hatte uns zu der Partei der Verlierer gebracht. Unter Waffen Die Jebha war so etwas wie eine mobile Firma, die permanent Nachwuchs ausbildete. Bei »Che Guevara«
wurden zuerst meine beiden älteren Schwestern mit Waffen vertraut gemacht. Yaldiyan bekam gleich zu Beginn unseres Aufenthalts ein Gewehr in die Hand gedrückt, eine Kalaschnikow. Das ist eine große und schwere Waffe, aber sie konnte sie schon einigermaßen halten. Einer der älteren Soldaten zeigte ihr, wie man die Waffe lud und entsicherte, und dann sollte Yaldiyan schießen, hinaus in die Wüste, ins Nichts. Das war anfangs nicht leicht für sie — der Rückstoß warf sie sofort auf den Boden. Erst mit der Zeit wurde ihr klar, dass sie sich gegen einen Stein oder einen Baum stemmen musste, um dem Druck standzuhalten. So ging es ein bisschen besser, aber den Lauf der Waffe riss es ihr immer noch nach oben oder zur Seite. Es war ein Wunder, dass sie nicht versehendich den Ausbilder erschoss. Meine größte Schwester und eine Waffe, das wollte für mich nicht zusammenpassen. Als bald darauf auch Tzegehana, die Zweitälteste von uns, mit einer Kalaschnikow zu üben begann, kam mir das noch merkwürdiger vor. Ich konnte kaum fassen, dass es hier um Leben und Tod ging! Ich hatte meine Schwestern immer nur mit unseren Ziegen gesehen oder mit den Hühnern. Mit Haushaltsgeräten kannte ich sie, mit einem Messer, um Gemüse zu schälen. Mit einer Schüssel, um Wäsche zu waschen. Mit einem Stöckchen, um mit den Katzen oder mit unserem Hund zu spielen. Und jetzt sollten sie schwerbewaffnet durch die Wildnis laufen, Menschen töten, schießen, vor feindlichen Kugeln flüchten? Ich sah sie täglich mit den Waffen hantieren, sie laden, tragen, präsentieren. Sie machten das, weil es von ihnen verlangt wurde. Es 85 gab kein Überlegen. Es gab keinen Zweifel und keinen Widerstand. In unserem Lager war es bald ein selbstverständlicher Anblick, auch für mich. Über das Schießen, das Töten und die Angst sprachen wir nicht. Es gab keinen Ausweg, nur unausgesprochene Angst. Das sollte mir bald aus eigener Erfahrung klar werden, denn je länger wir bei »Che Guevara« blieben, desto elender ging es unserer Einheit. Oft gab es keinen Nachschub, dann fehlte zwei oder drei Tage jede Nahrung. Es gab nichts. Gar nichts. Die Soldaten wollten jagen gehen, aber die meisten Tiere waren längst vor den vielen Menschen, vor dem Gefechtslärm und den täglichen Schießereien aus der Gegend geflohen. Unser Lager war ständig in Bewegung, weil der Feind uns bedrängte oder weil niemand wusste, wo der Feind gerade stand. Immer häufiger kam es vor, dass wir keinen neuen Platz fanden, um unsere Zelte aufzuschlagen. Dann blieben die wenigen Sachen, die wir noch hatten, auf den paar Lastwagen, so dass wir jederzeit weiterfahren konnten. Wenn es zu heiß wurde, lagen wir tagsüber im Schatten der Autos oder unter einem Baum, nachts rollten wir uns auf der Ladefläche oder unter dem Lastwagen zusammen. Schutzlos waren wir der Hitze und der Kälte ausgesetzt. Wir hatten fast nichts zu essen und wenig zu trinken. Da wir oft die Stellung wechselten, mussten wir jedesmal von neuem Wasserlöcher suchen oder frische Wasserlöcher graben. Bihuk Die Nachmittagssonne brannte wie Feuer auf die Sandfläche, die unsere Truppe als Lagerplatz benutzte. Wir lagen in der Nähe von Bisha, einem winzigen Kaff am Rande der DarEbene im Westen Eritreas. Hier, in der Provinz Berka, war eine der verlassensten und heißesten Ecken des Landes. Die Luft tanzte flirrend über den Dornbüschen und dem Gestrüpp an den steinigen Hängen, die gleich hinter der Ebene aufragten. Alles war in den letzten Monaten noch grauer und fahler geworden: die wenigen Grasbüschel, die Büsche, die Dornen. Selbst die sonst grünen Kakteen wirkten blass. Ihre Haut fühlte sich hart 86 wie Stein an, und eine dicke Staubschicht überzog H;.° mannshohen Pflanzen. Über unseren Köpfen strahlte es nicht mehr blau wie noch im Winter und im späten Frühjahr, jetzt war es dort oben weiß vor Hitze. Die Sonne wanderte als milchiger Ball umher, der im Himmel zu zerfließen schien. Wie ein Block stand die Luft über dem Land, zum Schneiden dick, nichts regte sich. Kein Laut war zu hören, kein Vogel, keine Grille. Nur ab und zu war ein fernes Grollen und Knattern von den Schießereien an der Front zu vernehmen. Ich lag im Schatten unter einer zerschlissenen Plane und versuchte, den Sonnenstrahlen auszuweichen, die durch die zahlreichen Ritzen brannten. Dabei bewegte ich mich so wenig wie möglich, weil jede Bewegung einen kleinen Schweißausbruch bedeutete. Es wurde immer heißer und schwüler, alle waren gereizt und erschöpft. Kaum hatte ich eine halbwegs bequeme Lage zwischen all den spitzen Steinen und den Sonnenflecken gefunden, trampelten wieder mal die »Großen« durch das Lager — so nannten wir die ein wenig älteren Soldaten. »Aufstehen, du Faulpelz!« schrie mich einer an. »Mach, dass du fortkommst. Es ist kein Wasser mehr da!« Das klang nach Katastrophe. Es war immer eine Katastrophe, wenn kein Wasser mehr da war. Das hieß nicht nur, dass wir nichts trinken konnten. Es hieß, dass wir zu graben anfangen mussten. Mühsam schälte ich mich aus dem Schatten und rieb mir die Augen, denn ich hatte zuletzt ein bisschen gedöst. Michael, der Soldat, der mich geweckt hatte, war einer der Gröbsten von allen. Allein schon vor seinen gelben Zähnen, die ihm kreuz und quer aus dem Mund zu stehen schienen, fürchtete ich mich. Seine meistens rot unterlaufenen Augen, die immerzu hin und her flackerten, und seine spindeldürren Beine, mit denen er schnell zu einem Tritt ausholen konnte, waren nicht dazu angetan, mir die Angst zu nehmen. Einmal und noch einmal
polterte sein Fuß hart auf meinen Rücken. »Steh auf, Bihuk!« brüllte et mich an. »Los, geh graben!« Eigentlich ist »Bihuk« die Bezeichnung für einen Teig aus Mehl, Wasser und Salz, also eine undefinierbare Mischung ohne Gehalt. Im übertragenen Sinn bedeutet Bihuk »Feigling«. Das Wort trieb mir oft die Tränen in die Augen. Ich wollte kein Feigling sein. Ich wollte stark und tapfer sein wie die anderen. 87 Ich sprang auf, um hinüber zu meinen Schwestern zu laufen, die zusammen mit ein paar Größeren unter einer Plane am anderen Ende des Camps lagen. Doch schon beim ersten Schritt prallte ich zurück wie vor einer unsichtbaren Wand. Die Hitze! Wie meine Fußsohlen brannten! Es war unmöglich, barfuß zu laufen. Wo waren meine Gummilatschen? Hektisch sah ich mich um. Ich hob alle Matten auf, die unter der Plane auf dem Boden lagen, ich stieß ein paar Plastiktüten beiseite, eine Decke, einen Packen Kleidung nichts. »Suchst du was?« feixte Michael und holte mit seinen gemeinen, spitzen Füßen schon wieder zu einem Tritt aus. »Was suchst du denn?« Ich sagte nichts und wühlte weiter. Michael schüttelte sich vor Lachen. Es klang wie das hysterische Gemecker einer Ziege. »Suchst du vielleicht das da?« rief er und fuchtelte mit dem Gewehr vor meinem Gesicht herum, von dessen Lauf meine Gummilatschen baumelten. »Gemeiner Kerl!« schrie ich und stürzte auf ihn los. Lachend wich er zurück und trappelte vor mir her, immer einen Schritt weiter als ich. Die Tränen schössen mir in die Augen, als ich über den glühendheißen Boden und die spitzen Steine lief. »Seht den Feigling, wie er plärrt!« Michael bog sich vor Lachen. Immer wieder pfiff er durch seine windschiefen Zähne, um die anderen auf meinen merkwürdigen Tanz aufmerksam zu machen. Die ersten kamen herbeigeeilt und klatschten in die Hände. »Spring, kleiner Feigling, spring!« Verzweifelt angelte ich nach meinen Schuhen und hüpfte dabei von einem Fuß auf den anderen. Lange konnte ich nicht auf einem Fleck stehenbleiben, dazu war der Boden viel zu heiß. Das Gewehr, die Schuhe, Michael, die anderen, die einen Kreis um uns herum gebildet hatten und vor Vergnügen johlten, alles verschwamm hinter einem Vorhang aus Tränen. »Lasst sie in Ruhe, ihr Idioten!« Sofort waren alle still. Das war Agawegahta, eine der Anführerinnen. »Gib her!« herrschte sie Michael an. Der wagte nicht einen Moment, ihr zu widersprechen. Wordos zog ich die Latschen von dem Gewehrlauf, den er mir entgegenstreckte, und streifte sie mir über die Füße. Was für eine Wohltat, nicht mehr auf den heißen Steinen stehen zu müssen! Michael zuckte mit den Schultern und ging seiner Wege. Auch die anderen trollten sich, denn es gab nichts mehr zu sehen. Je1: wollte mich bei Agawegahta b^rkrken, aber sie winkte ab. »Sieh zu, dass du weiterkommst. Wir brauchen Wasser!« In diesem Moment erschien mir die Kommandantin noch größer und mächtiger, als sie das ohnehin schon war. Agawegahta war keine Frau, die Dank oder eine Antwort erwartete. So nickte ich bloß und trabte stumm davon. Letzte Spiele Agawegahta war eine der drei, vier mächtigsten Personen in unserer ELFEinheit. Für mich war sie die wichtigste, weil sie die einzige Frau unter den Anführern war. Ich konnte zu ihr hochblicken, und manchmal kümmerte sie sich um mich. Agawegahta war eine mächtige Frau, so mächtig wie ein Mann. Sie hatte breite Schultern, muskulöse Arme, sehnige Schenkel und sah trotzdem nicht aus wie ein Mann. Ihr Gesicht war weiblich, und sie hatte lange Haare, die ihr nach damaliger Mode in allen Richtungen vom Kopf wegstanden und wie eine Kugel geschnitten waren. Manchmal trug sie sie auch zu einem Zopf verknotet. Sie war laut und kräftig, ging schnell und redete viel. Ihre Stimme war zu tief für eine Frau, aber zu hoch für einen Mann. Agawegahta wirkte erwachsen, war aber erst achtzehn oder zwanzig. Sie konnte töten und brüllen, aber es war ihr nicht anzusehen, dass sie voller Gewaltbereitschaft steckte. Zumindest nicht immer. Sie war eine Respektsperson, der ich von Anfang an mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung begegnete. Als ich dort ankam, wo meine Schwestern sich niedergelassen hatten, waren sie schon weg. Sie mussten unterwegs sein. Sollte ich alles alleine machen? Alleine ein Wasserloch graben, alleine Wasser schöpfen und es alleine nach Hause tragen? Ratlos sah ich mich um. Die Luft war immer noch wie ein Block, aber etwas hatte sich geändert. War das Weiß des Himmels ein wenig gelb geworden? Das hatte ich noch nie gesehen. Ich trat aus dem Schatten der Plane, um einen Blick auf den ganzen Himmel zu erhaschen. Da sah ich meine Schwestern zwischen 89 zwei Felsen hocken; sie versteckten sich, damit ihnen niemand eine Arbeit aufhalsen konnte. Sie waren alles andere als begeistert über mein Erscheinen. »Was machst du denn hier, Senait?« herrschte mich Yaldiyan an. »Wir müssen Wasser holen«, sagte ich kleinlaut, »ich kann das doch nicht alleine machen ...« »Dir wird nichts anderes übrigbleiben«, feixte Yaldiyan, »ich habe keine Zeit. Ich muss nachher zum Training!« Wie zur Bestätigung deutete sie auf die Kalaschnikow, die neben ihr lag. Seit meine älteste Schwester diese Waffe hatte, war sie völlig verändert. Mit den Kleinen wie mir wollte sie nichts mehr zu tun haben, auch wenn ich ihre Schwester war. Sie wollte nichts mehr mit unseren —
zugegebenermaßen oft albernen Spielen zu tun haben. Sie wollte nicht mit uns Kleinen aus alten Fetzen und Schnüren einen Ball formen, den wir an einen Baum banden, um dann im Vorbeilaufen mit einem Stock nach ihm zu schlagen. Sie wollte nicht mehr mit uns auf dem Boden hocken und mit ein paar Steinen die Umrisse eines Palasts bauen, in dem jede von uns ein Zimmer hatte, das wir mit noch kleineren Steinen nach Lust und Laune einrichteten. Yaldiyan wollte Soldatin sein. »Komm du mit, Tzegehana!« bat ich meine Zweitälteste Schwester. Sie hatte zwar schon eine Kalaschnikow gehalten und ein paarmal damit zu schießen versucht, aber dabei war noch nicht viel herausgekommen, außer dass sie jetzt wusste, wie der Rückstoß eines solchen Gewehrs funktioniert — nämlich gewaltig. Der hatte Tzegehana so heftig zu Boden geschleudert, dass sie im Gesicht und an den Armen und Beinen noch die Kratzspuren von den Steinen und den Dornen trug, in denen sie gelandet war. Deshalb arbeitete Tzegehana lieber im Krankenhaus. Das Krankenhaus bestand aus einem Dach mit ein paar Decken darunter, ein bisschen Verbandszeug und ein paar Spritzen. Diese Spritzen hatte Tzegehana immer dem zu reichen, der sich Doktor nannte. Viel konnte er nicht ausrichten, am wenigsten bei ernsten Fällen: Wer schwer verwundet war, konnte mit seinem Leben abschließen — oder auf ein Wunder hoffen. Tzegehana schätzte die Arbeit im Krankenhaus nicht, weil sie mit 90 so viel Blut, gebrochenen Knochen und anderen Scheußlichkeiten verbunden war. Doch das war immer noch besser als die Front. Die Schießerei war ihr unheimlich, den Rückstoß ihrer Waffe konnte sie noch nicht beherrschen, und natürlich hatte sie Angst vor den Feinden. Sie hatte nicht mehr den Mut, sich zu den Spielen ihrer Kindheit zu bekennen. Wenn ich mit ihr alleine war, schob sie zwar noch mit mir an den Steinchen herum, um unsere kleinen Paläste zu bauen. Doch sobald jemand dazukam, tat sie so, als würde sie nach etwas suchen und nicht im Staub spielen. »Wenn du nicht schießen kannst, musst du Wasser holen!« lästerte Yaldiyan. »Also los!« Wasser! Tzegehana und ich holten einen Spaten, eine alte, oben aufgeschnittene große Konservendose und zwei Plastikkanister. Wir gingen hinunter zum Fluss. Aber dort war kein Wasser, sondern nur das trockene Flussbett. Seit fast einem Jahr hatte es so gut wie nie geregnet. Es hatte höchstens mal ein paar Regenspritzer gegeben, die noch nicht einmal genug Wasser gebracht hatten, um die obersten Erdschichten anzufeuchten. Der wenige Regen war sofort auf den heißen Steinen und dem Sand verdampft. Dort, wo mal ein Fluss geflossen war, konnten wir nur Steine sehen, Sand, Schotter und ein paar vertrocknete Büsche. Trotzdem war dieses Flussbett unsere einzige Möglichkeit, Wasser zu finden. Hier musste man graben, um an Wasser zu kommen — und zwar genau dort, wo es ein bisschen näher an die Oberfläche kam als überall sonst in diesem Steinhaufen. Jeder Zentimeter, den wir tiefer graben mussten als unbedingt notwendig, bedeutete in dieser Hitze eine ungeheure Anstrengung. Wie die Spürhunde liefen wir über den Schotter. Die Löcher, an denen wir zuletzt gegraben hatten, waren komplett trocken — das Wasser hatte sich einen anderen Weg gesucht. Prüfend schoben wir Büsche zur Seite, teilten vertrocknete Grasbüschel, um den Sand zwischen 91 den hohen Halmen zu prüfen, und hoben Steine auf, um eine Spur von Feuchtigkeit zu entdecken. Wir schauten unter Felsvorsprünge, schaufelten hier ein paar Steine weg, schabten dort am vertrockneten Erdreich — nichts. Keine Spur von Wasser, kein nur etwas grüner Zweig, kein Grashalm, der einen fernen Kontakt zu dem wertvollen Nass andeutete. Weiter und weiter flussaufwärts suchten wir. Unsere Laune wurde immer schlechter, denn je mehr wir uns vom Lager entfernen, um so weiter mussten wir das Wasser zurücktragen und um so schlimmer würde dieser Tag enden. Unterdessen nahm der Himmel immer mehr eine Farbe an, die ich noch nie an ihm gesehen hatte: ein blasses, mattes Gelb, wie es sonst nirgendwo vorkam hier draußen in der Wüste. Jetzt fiel es auch Tzegehana auf. »Vielleicht wird es regnen«, meinte sie. Regen? Mich durchzuckten die angenehmsten Erinnerungen an den warmen, weichen, herrlichen Regen, in dem wir in Asmara immer wie verrückt vor Glück umhergesprungen waren. Ob es so etwas hier gab? Gleich hoffte ich, dass unsere Schinderei ein Ende haben könnte. »Wenn es regnet, müssen wir doch nicht weiter nach Wasser suchen?« meinte ich zu ihr. Tzegehana zögerte und sah zum Himmel. »Ich bin nicht sicher, ob der Regen wirklich kommt«, sagte sie, »manchmal sieht es nur so aus, und es passiert nichts.« Meine Hoffnung erlosch wie eine Kerze im Wind. »Wir müssen weiter suchen?« Tzegehana nickte nur, stumm. Auf den Himmel war also kein Verlass, denn wenn wir ohne Wasser zurückkämen, wäre uns eine ordentliche Tracht Prügel sicher. Also hielten wir unsere Blicke zu Boden geheftet, damit uns kein noch so kleines Anzeichen von Wasser entging Plötzlich entdeckte ich hinter einem Uferüberhang eine feuchte
Stelle. Hier standen ein paar Grasbüschel, die noch nicht vertrocknet waren. Sofort fingen wir an zu graben wie die Maulwürfe, immer abwechselnd. Eine hatte den Spaten, die andere zerrte mit bloßen Händen die Steine aus dem Weg. Wir hatten schon einen halben Meter 92 tief gegraben und waren längst schweißgebadet, doch immer noch schaufelten wir nur feuchten Sand. Als wir schon fast aufgeben wollten, geschah das Wunder: Der Sand wurde plötzlich ein wenig dunkler, eine Spur von richtiger Nässe ließ sich erahnen. Wir schufteten wie die Wahnsinnigen, bis sich am Boden unserer Grube eine trübe Pfütze sammelte. Wir gruben und gruben, und die Pfütze wurde eine Handbreit tief, zwei Handbreit, endlich war sie so tief wie unsere Blechbüchse. Vorsichtig schoben wir die Büchse ins Wasser, ließen sie voll laufen und kippten die erste Ladung in unseren Kanister. Dieses Wasser war nicht fürs Lager bestimmt, sondern nur für uns. Nur für uns! Gierig saugten wir am Einfüllstutzen und ließen die braune Brühe in uns hineinlaufen. Die schmeckte scheußlich und wundervoll zugleich: Das Wasser sah aus wie trüber Obstsaft, und es schmeckte, als würde man eine lehmige Wand ablecken — es war rauh, sandig und roch nach fauliger Erde. Doch es war Wasser, und das war die Hauptsache. Wir wussten, dass man mit dem Trinken warten musste, bis sich der ärgste Dreck gesetzt hatte, damit die Durchfallgefahr ein wenig verringert wurde, aber so vernünftig konnten wir in diesem Moment unmöglich sein. Unsere Kehlen brannten wie Feuer, die Köpfe kochten vor Hitze, und wir fühlten uns so trocken wie die Wüste selbst. Es war ein Fest! Als wir genug getrunken hatten, kippten wir uns die Brühe gegenseitig ins Gesicht, leerten sie uns über den Kopf, ließen sie einander über den Rücken laufen. Welche Wonne! Mit einem Mal stockte ich und sah zum Himmel hinauf. Wurde es schon Abend? Jetzt hieß es, schnell die Kanister zu füllen und ins Lager zu schleppen, einmal und gleich noch mal und noch mal und noch mal. D och das war keine gewöhnliche Dämmerung. Der Himmel wurde nicht dunkel oder rot wie an jedem anderen Abend, er wechselte nur von diesem hellen Gelb in ein dunkles Gelb. Die Luft wurde immer dicker. Dazu schien das Grollen von der Front immer näher zu kommen. Was war das? Sollte es doch noch regnen? Jetzt, wo wir unser Wasser hatten? Wir konnten uns nicht darauf verlassen, denn die anderen warteten schon ungeduldig auf Wasser. Je später wir kämen, desto eher würde es 93 Prügel setzen. Also füllten wir eilig unsere Kanister, banden sie uns mit den Stricken, die wir dabeihatten, um die Schultern, und stiefelten schwer beladen los; jede von uns schleppte zwanzig Liter. Im Lager angekommen, wurde uns das Wasser sofort weggerissen und verteilt. Zusammen mit ein paar anderen Kindern schickten sie uns gleich wieder los. Auf dem Rückweg zum Wasserloch kamen wir uns sehr wichtig vor. Immerhin hatten wir das Wasser gefunden und konnten die anderen jetzt dorthin führen. Doch kaum waren wir in der Nähe der Stelle angekommen, donnerte es immer lauter. Das war kein Geschützdonner mehr, das war etwas anderes. Wir sahen nach oben. Der Himmel war nicht mehr gelblich, sondern grau. Plötzlich zuckten Blitze, es krachte um uns herum. Wir wollten gerade in Deckung gehen, da prasselte es auch schon los. Der Regen kam und was für einer! Erst fielen nur einzelne dicke Tropfen, dann kamen immer mehr davon, bald flo ss es wie aus einer Dusche, dann schoss es herab wie aus einem Wasserfall. Endlich stand vor uns eine Wand aus Wasser, und binnen Sekunden waren wir bis auf die Haut nass. Es brauchte eine Schrecksekunde lang, bis alle begriffen hatten, was passiert war es regnete! Endlich regnete es! Wir tanzten wie die Wahnsinnigen im Flussbett herum, umarmten uns, warfen die Arme in die Höhe, sperrten die Mäuler auf, reckten die Gesichter zum Himmel, um nur ja genug von der nassen Pracht zu erhaschen. Nur Tzegehana und ich wechselten ein paar genervte Blicke hatten wir heute nachmittag nicht wie die Idioten geschuftet, und es war völlig vergeblich gewesen? Überall sammelten sich kleine Lachen und Tümpel mit Wasser, das viel besser und frischer und klarer war als die faulige Brühe, die wir mühsam ausgebuddelt hatten. Aber Hauptsache, der Regen war da. Im Handumdrehen füllten wir ein paar von den Kanistern und liefen vergnügt zum Lager. Das war der schönste Abend seit langem! Fast hätten wir vergessen, dass wir mitten in Krieg und Not lebten. Unseren Feinden musste es genauso ergangen sein, jedenfalls war von der Front nichts zu hören. Oder lag es daran, dass der Regen so laut auf uns niederprasselte? 94 Über Leichen Als ich am nächsten Morgen von der Sonne geweckt wurde, völlig durchnässt, aber immer noch erfüllt von dem Glück des gestillten Dursts, traute ich meinen Augen nicht: Direkt neben dem Lager, wo gestern noch der trockene Flusslauf gewesen war, diese verdorrte steinige Rinne, schoss heute ein breiter schäumender Strom, den selbst ein Erwachsener kaum hätte durchqueren können, so wild zischte er dahin. Alle standen staunend da und starrten dieses Wunder an. Ich hatte schon Bäche gesehen und kleine Flüsse, aber so viel Wasser kannte ich nicht.
Wir Kinder rannten hin und hielten unsere Beine ins Wasser. Wir wären gern hineingesprungen, aber schon wenn man nur bis zu den Oberschenkeln drin war, konnte man kaum stehen. Mit einer geheimnisvollen Kraft zog und zerrte dieses Wasser an meinen Beinen, wollte mich umwerfen und in die Tiefe reißen. Eine so starke Strömung hatte noch niemand von uns erlebt. Erschrocken wichen wir zurück und probierten vom Ufer her aus, wie mächtig dieser Fluss war. Mihret und ich waren so fasziniert, dass wir den Fluss entlang stromaufwärts bis zur nächsten Biegung wanderten. Mihret war etwas älter als Tzegehana, eine stolze Kämpferin und Sängerin, völlig überzeugt von allem, was sie tat. Das Flussbett, diese weite Fläche voller Schotter und Steine, war zum größten Teil überschwemmt, nur am Rand war noch ein bisschen davon zu sehen. Dorthin gingen wir, weil das Wasser hier nicht so tief und reißend war, sondern nur zaghaft auf die Steine leckte. Ich stürmte voran, um zu testen, wie weit man sich dort hineinwagen könnte, kletterte auf einen Felsen und sprang hinunter auf die Kiesel. Mitten im Sprung wäre ich am liebsten umgekehrt. Wenn ich nur gekonnt hätte, wäre ich mitten in der Luft verharrt und auf der Stelle zurückgeflogen. Doch das war nicht möglich. Ich landete auf etwas Weichem. Wie von der Tarantel gestochen federte ich sofort zurück und sprang mit einem gellenden Schrei zur Seite. Ich schrie und schrie und hörte nicht auf zu schreien. Mihret dachte, ich hätte mich bei dem Sprung verletzt, und kam eilig herbei. Als sie sah, was sich hinter dem 95 Felsen verbarg, stoppte sie augenblicklich und begann ebenfalls zu schreien. Mitten im lustigsten Spiel hatte sich vor uns die Hölle aufgetan. Hinter dem Felsen lagen Tote. Der wilde Fluss hatte Leichen angeschwemmt. Leichen mit aufgequollenen übelriechenden Leibern, blutverschmierten Kleidern, schlammigen, nackten Füßen, braun, blau, rot schimmernder Haut und von Dreck und Blut verklebten Haaren. Entsetzt wichen wir zurück und starrten auf die Körper, die am Rand des Stroms von den Wellen leicht hin und her geschaukelt wurden. Erst nach und nach konnten wir wieder sprechen. Einer deutete ein Stück flussaufwärts — dort dümpelte noch eine Leiche. Wir sahen uns um. Auch am anderen Ufer lag ein Toter, verfangen in den Ästen eines Dornbuschs. Dort hinten, wo wir gestern mühsam nach Wasser gegraben hatten, eingeklemmt in den Überhang des Ufers, lagen zwei weitere. Vorsichtig wagten wir uns näher an die beiden heran, die ich zuerst gesehen hatte. Wer war das? Waren das unsere Soldaten oder die des Feindes? Waren es überhaupt Soldaten? Wir konnten die Männer nicht erkennen, denn ihre Gesichter waren ein blutiger Brei, und ihre Körper waren aufgedunsen und entstellt. Ich wagte kaum, sie anzusehen. Soldaten waren das sicher, denn es waren junge Männer, und alle jungen Männer in dieser Gegend waren Soldaten, entweder bei uns oder bei der EPLF. Aber zu welcher Seite sie gehörten, war nicht festzustellen: Alle trugen wir die zerlumpte Alltagskleidung aus den Plastiktüten der internationalen Hilfsorganisationen, Jeans, TShirts und Hemden. Ihre Gummilatschen hatten die Toten verloren. Die gleiche schwarze Haut hatten wir auch alle. Die meisten waren Tygrai und nur manche Kunama, die hier in der Provinz Berka zu Hause sind. Alle sprachen dieselbe Sprache, Tigrinya. Alle sahen gleich aus, hatten dieselbe Farbe, dasselbe Haar. Es gab keine sichtbaren oder hörbaren Unterschiede zwischen Jebha und Shabbhia, zwischen ELF und EPLF. Nicht bei den Lebenden und nicht bei den Toten. Wir konnten nicht sagen, ob das hier tote Freunde oder tote Feinde waren. Doch gleichgültig, wer sie waren, für mich wurden sie alle zu Feinden, denn sie verfolgten mich von diesem Tag an in meinen Träumen. 96 Hinter der nächsten Biegung des Flusses entdeckten wir ein gutes Dutzend Tote. Aufgeregt rannten wir ins Lager zurück. Die anderen wollten uns zunächst nicht glauben und zögerten mitzukommen. Aber wir machten einen so schockierten Eindruck, dass sie uns doch folgten. Erschrocken begann ein großes Palaver, wer das nun sei und wie die Toten in den Fluss gekommen waren. Irgend jemand erkannte zwei der Leichname: Sie waren ELFKrieger, die schon vor Wochen aus unserer Einheit verschwunden waren. Alle glaubten, dass die beiden nicht gefallen, sondern geflohen waren, um nicht mehr kämpfen zu müssen. Agawegahta meinte, dass sie auf ihrer Flucht der EPLF in die Hände gefallen und hingerichtet worden seien. Sie sagte das ruhig, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Ich bewunderte sie. Was mochten die anderen auch schreien und wehklagen, Agawegahta blieb gelassen. Sie ging von einem Leichnam zum anderen, um zu sehen, ob sie jemanden identifizieren konnte. Wenn einer mit dem Gesicht nach unten lag, drehte sie ihn um. Einige der Toten waren nicht mehr zu erkennen, weil ihre Gesichter zu zerstört waren. Der Tod ist überall Die größeren Kämpfer verloren bald das Interesse an den Leichen. »Das sehen wir jeden Tag«, sagte einer, »der Tod ist überall.« Der Satz gab mir zu denken. Sollte an allen Ecken jemand lauern, der »Tod« hieß? War das eine Person wie alle anderen? Ich wagte nicht, jemanden nach dem Tod zu fragen, weil ich fürchtete, ausgelacht zu werden. Das war bestimmt eine sehr dumme Frage, auf die alle eine Antwort wussten, bloß ich nicht. Also verkniff ich sie mir
und ließ wie so oft stumm meine Gedanken treiben. Am nächsten Tag rief Agawegahta ein paar von uns Kindern zusammen, die noch keine Waffen trugen. Sie trug uns auf, die Leichen aus dem Fluss zu ziehen. Ich starrte sie an. Ich sollte die Toten anfassen, sie bewegen und irgendwohin schaffen? 97 »Das muss sein«, sagte Agawegahta streng, »wenn die da liegen bleiben, vergiften sie unser Wasser, und wir haben nichts mehr zu trinken.« Sie verbot uns ausdrücklich, aus dem Fluss zu trinken. Alles Wasser musste zuerst in Kanister gefüllt und im Lager abgekocht werden, bevor wir trinken konnten. Die Leichen sollten wir das Ufer hinaufschleppen und erst dort eingraben, wo sie garantiert nicht mit dem Grundwasser des Flusses in Berührung kamen. Nun sollten also wir die verstümmelten Körper ausgraben, die tief im durch die Strömung angespülten Sand staken. Wir sollten sie aus ihren Gruben zerren und die Böschung hinauf auf die steinige Ebene schleppen. Am Morgen hatte es noch einmal geregnet, aber der Regen hatte wieder nachgelassen. Das Wasser floss bereits viel schwächer als gestern noch; aus dem reißenden Strom war ein gemütlich plätschernder Bach geworden. Es wäre ein wunderschöner Spielplatz gewesen, wenn nicht diese fürchterlichen Toten darin liegen würden. Wenn nicht der Geruch wäre. Nach und nach lagerte sich über dem Fluss und der Umgebung Leichengeruch ab. Erst war es nur wie eine kleine Ahnung von etwas Schlimmem, dann waberte mir der typisch süßliche Gestank entgegen, und zuletzt legte sich der Geruch von Fäulnis und Zersetzung wie ein Pelz auf meine Lunge. Ich wollte mir etwas vor Nase und Mund halten, fand aber nichts. Wie gerne hätte ich jetzt die traditionelle Tracht unserer Frauen gehabt, diese Tracht mit dem weißen Tuch über dem Kopf, das man nach Bedarf auch übers Gesicht ziehen konnte, vor allem über den Mund und die Nase. Bis jetzt hatte ich diese Tücher immer als altmodisch verlacht. Jetzt hätte ich so etwas gebraucht. Endlich fand ich die Reste eines TShirts, die ich mir notdürftig über das Gesicht binden konnte. Doch es half nichts. Als ich zu einer der Leichen ging, bekam ich einen Schwall von diesem Geruch in die Nase und musste mich übergeben. Es gelang mir gerade noch, das Tuch vom Gesicht zu reißen, sonst hätte ich mich dort hinein erbrochen. Mit pochendem Kopf hing ich über einem Stein und verfluchte innerlich alles die ELF, diesen Krieg, die toten Kameraden und Agawegahta, meine Lichtgestalt. Wie konnte sie uns Kleinen nur befehlen, 98 diese schrecklichste aller Arbeiten zu machen? Tausendmal lieber hätte ich die geringsten und anstrengendsten Arbeiten verrichtet — Wasser holen, Feuer machen, Holz sammeln. Aber gegen einen Befehl von Agawegahta hatte niemand eine Chance. Zu zweit oder zu dritt zerrten und schleppten und zogen wir die Toten aus dem Fluss. Manche waren so schwer zu bewegen, dass wir vier oder fünf von uns brauchten, um voranzukommen. Gegen Abend, wir waren noch lange nicht fertig, war das Lachen der Kojoten zu hören. Erst erklang es von fern, dann kam es immer näher. Auch die Fliegenschwärme plagten uns, und die Ratten zischten so nah an mir vorbei, dass ich nach ihnen hätte greifen können. Erst nach einer Weile konnte ich zumindest kurz in die zerstörten Gesichter der Toten sehen. Sie hatten keinen besonders leidvollen oder gequälten Gesichtsausdruck. Ich sah nur die physischen Zerstörungen, die Kampf, Folter oder das reißende Wasser und die Steine im Flussbett in diesen Gesichtern angerichtet hatten. Ich sah die zugeschwollenen Augen, die zerfetzten Backen, die herausgerissenen Kinnladen, die abgeknickten Nasen. Als wir die Leichen oben auf die Böschung gelegt hatten, war erst die halbe Arbeit erledigt, denn dort konnten sie nicht bleiben. Wegen der Kojoten, wegen der Fliegen, wegen der Ratten und wegen des Gestanks mussten wir sie vergraben. Für Pietät hatte in dieser Situation niemand einen Gedanken übrig. Wir fingen noch am selben Tag zu graben an. Es gab nicht genug Schaufeln für alle, also mussten manche von uns mit den bloßen Händen im Boden wühlen. Immer wieder legten wir Steine und Felsbrocken frei, die wir mühsam wegrollten, um eine Grube zu schaffen, die alle Toten aufnehmen konnte. Es war schon fast dunkel, als ich zusammen mit anderen einen riesigen Stein bewegte, der dicht neben dem Gesicht eines Toten lag. Plötzlich geriet mir ein so starker Schwall Leichengeruch in die Nase, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich sank ohnmächtig um und fand mich erst mitten in der Nacht auf dem Boden liegend wieder. Dass ich immer noch in der Nähe der Toten war, merkte ich sofort, als ich die Augen aufschlug. Es war zwar nichts zu sehen, aber nach wie vor hing der stechende Geruch in der Luft, 99 dieser alles durchdringende Leichengeruch, der mich sofort wieder dorthin zurückholte, von wo ich hatte fliehen wollen. Die Arbeit zog sich noch den ganzen nächsten Tag hin. Wir hatten große Schwierigkeiten mit dem Wasser. Einem von uns war schlecht geworden. Er musste sich ständig übergeben, hatte Krämpfe und Fieber. Ein Freund von ihm betete, dass er überlebte. Durchfall hatte bei uns schnell jemand, das war nichts Besonderes und wurde kaum beachtet. Wir aßen zu einem Dutzend aus derselben Schüssel, die aus Wassermangel nie abgewaschen,
sondern immer nur mit Sand ausgerieben wurde. Wir aßen mit den Händen wie alle Afrikaner, aber wir hatten kein Wasser, um uns vor dem Essen die Hände zu waschen, wie das sonst immer getan wird. Wir lagerten unsere Lebensmittel im Freien, nur notdürftig vor Ratten, Insekten und der Sonne geschützt. Wir mischten alles zusammen, was wir hatten, auch wenn es nicht zusammenpasste: Fischmehl mit Speiseöl, Kürbis mit Hirse, Weizenmehl mit Sojaschrot — Hauptsache, der Hunger ließ sich ein wenig zurückdrängen. Unter diesen Umständen war Durchfall unvermeidbar, und Magenbeschwerden standen auf der Tagesordnung. Was jedoch der Junge mitmachte, der noch am Vortag aus dem Fluss getrunken hatte, weil er seinen Durst nicht mehr zurückhalten konnte, war nicht der übliche Durchfall: Es sah aus, als würde sein ganzer Körperinhalt aus ihm herausfließen. Er starb wenige Tage später, ohne dass ihm jemand helfen konnte. Dürre Nach dieser Erfahrung gingen wir dazu über, das Wasser abzukochen. Dazu mussten wir Brennholz heranschleppen, viel mehr als sonst. Es dauerte mehrere Tage, bis diese außergewöhnliche Plackerei ein Ende hatte und wir wieder mit unserer alltäglichen Plackerei weitermachen konnten. Das Flussbett war inzwischen schon wieder fast ausgetrocknet. Wasserholen hieß zwar noch nicht, einen halben Meter tief in den Sand zu graben, aber ein bisschen musste man schon wühlen, 100 bis sich das trübe JNass zeigte. Es hätte noch ein paarmal kräftig regnen sollen, sagten alle. Immer wieder blickten die Großen zweifelnd und fragend in den Himmel hinauf. Aber dort war nichts zu sehen als ein großartiges, leuchtendes Blau mit ein paar kleinen weißen Wölkchen drinnen, die nicht im geringsten nach Regen aussahen. Jeden Tag das gleiche Bild: blauer Himmel und unendlicher Sonnenschein. In den abendlichen Gesprächen lernte ich ein neues Wort kennen, das alle immer wieder und mit sorgenvoller Miene verwendeten: Dürre. Noch gab es Wasser. Noch konnten wir mit nicht allzuviel Plackerei ein Loch mit jener braunen Brühe vollaufen lassen, die uns als Wasser diente. Ich wusste bald kaum mehr, wie Wasser aussieht und schmeckt, helles klares, frisches Wasser. Für mich war Wasser etwas Braunes, Warmes, Sandiges. Etwas, das nach Erde roch, nach Schlamm, nach Grube. Trotzdem waren wir sehr froh, überhaupt etwas davon zu haben, das wir zum Trinken und zum Kochen verwenden konnten. Sich damit nass zu machen, sich zu waschen war ein Luxus, den wir uns immer seltener leisten konnten, je länger die Regenfalle zurücklagen und je fester sich das leuchtende Blau von Horizont zu Horizont spannte. Es hätte so gut getan, sich das braune Wasser über den Körper rinnen zu lassen, wenn wir nach den täglichen Übungen mal wieder schweißgebadet waren. »Schule« hieß das und war doch eine andere Art von Schule als die Schulen, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Am Anfang meiner Zeit bei »Che Guevara« hatte ich immer nur aus der Ferne beobachtet, wie sich die Jüngsten jeden Morgen sammelten, um Instruktionen zu bekommen und ihre körperlichen Übungen zu machen. Instinktiv hatte ich mich immer etwas abseits gehalten und war meiner Wege gegangen, weil ich spürte, dass ich dieses Training hassen würde. 101 Mihret und Agawegahta Von dem Moment an, als mir Mihret sagte, von heute an dürfe ich mitmachen beim Training, hasste ich es. »Dürfen« war nicht das richtige Wort, sie hätte »müssen« sagen sollen. Sie dachte wohl, dass sie mich eher begeistern könnte, wenn sie »dürfen« sagte. Wie sehr Mihret sich irrte! Mihret irrte sich oft. Damals entschied ich, dass sie meine Feindin wäre, der ich nichts glauben und deren Befehle ich nicht beachten würde, wenn es irgend ging. Mihret war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt und höchstens eineinhalb oder zwei Köpfe größer als ich. Trotzdem führte sie sich auf wie eine Erwachsene. Sie wäre gerne eine Anführerin gewesen, aber dafür war sie noch zu jung. Ersatzweise kommandierte sie die Kleinsten in unserer Truppe herum und schleppte uns zu Trainings und Schießübungen, wie sie die Älteren abhielten. Mihret war stämmig und durchtrainiert und stolz darauf. Sie wollte eine kleine Kampfmaschine sein. Die Haare hatte sie immer kurz geschnitten, ihre dicken Brüste verbarg sie unter einem weiten TShirt. Dazu trug sie eine grünbraungefleckte lange Tarnhose, auf die sie sehr stolz war, und immerzu hatte sie die Waffe über der Schulter. Weil sie die schwere Kalaschnikow ständig mit sich herumschleppte, war sie so kräftig. Mihret war stolz auf alles Derbe, das sie tat und das sie verkörpern wollte. Sie kannte die rohesten Witze und die grausamsten Spaße, sie liebte es zu rülpsen oder sich beim Lachen auf die Schenkel zu klopfen. Wenn es mal gekochte Rindsleber gab, was Gott sei Dank selten genug passierte, wollte sie sie partout mir andrehen. Das war die widerlichste Speise, die ich mir vorstellen konnte, und Mihret weidete sich an meinem Ekel. Sie hob die stinkenden blassbraunen Eingeweide fetzen aus ihrem bräunlich schäumenden Sud und hielt sie mir vor die Nase. Wenn ich weglaufen wollte, scheuerte sie mir eine und lachte dazu ihr polterndes Gelächter. Nicht nur auf den ersten Blick wirkte Mihret eher wie ein Junge als wie ein Mädchen, und genau das wollte sie bezwecken. Doch sobald sie den Mund aufmachte, war es mit dem männlichen Eindruck vorbei. 102
Ihre Stimme war sehr hoch und überschlug sich, wenn sie laut wurde. Das wirkte nicht gefährlich, sondern bloß hysterisch. Dieses Kreischen konnte niemand ernst nehmen. Grundsätzlich galt ein Junge mehr als ein Mädchen, nicht nur hier im Feld, sondern auch sonst. In unserer Kompanie gab es viele Frauen, aber die großen Anführer waren Männer. Frauen waren auch als Anführer immer nur für die Kinder zuständig — mit Ausnahme von Agawegahta. Agawegahta war den Männern gleichgestellt. Sie war meine Heldin. Agawegahta war genauso stark wie ein Mann. Ihr Wort hatte genausoviel Gewicht wie das eines Mannes. Für mich hatte es sogar noch mehr Gewicht, weil sie die alleinige Anführerin der »Che Guevara« war. Das hatte ich mir so zurechtgelegt, weil ich die Vorstellung hatte, dass ein Mädchen nach oben kommen kann, wenn es nur den Willen dazu hat. Ich selbst würde nie zu dieser Art von Mädchen gehören, das war mir klar. Ich war viel zu feige und mochte die militärischen Übungen nicht. Ich hasste das Training. Mihret wäre gerne wie Agawegahta gewesen, aber es gelang ihr nicht. Sie musste immer brüllen, um sich Gehör zu verschaffen, während Agawegahta ihre Stimme nicht zu heben brauchte, um zu sagen, was sie sagen wollte. Sie war sich ihrer Sache sicher, während Mihret immer nur sicher wirken wollte. Ich empfand ganz tief, dass Mihrets breitbeinige Pose nur aufgesetzt war. Es steckte nicht mehr dahinter als ihre Mutter, die selbst Soldatin war und ihre Tochter zu einer Soldatin gemacht hatte. Mihrets Mutter war nicht bei uns. Niemand wusste, wo sie war. Manchmal prahlte Mihret mit den Heldentaten ihrer Mutter, aber ich glaubte ihr kein Wort. Wahrscheinlich war die Mutter tot, im Krieg gefallen, denn sonst wäre sie ja mit uns in Berka, um gegen die übermächtigen Feinde zu kämpfen. Wir brauchten schließlich jeden Mann und jede Frau, das wurde uns täglich gesagt. Wie sollte Mihrets Mutter eine Heldin sein, wenn sie jetzt nicht an der Front war? 103 Übungen »Setz dich hierher«, befahl Mihret und zeigte auf den Staub zu ihren Füßen. Vor ihr saßen schon ein paar Dutzend andere Kinder, die Jüngsten von Che Guevara — wir Morgensterne. Die meisten waren ein bisschen älter als ich, zwischen acht und elf. Ein paar wirkten nur älter, weil sie größer waren als ich. Mir war peinlich, dass ich die Jüngste und die Kleinste war und jeder mich Grünschnabel nennen konnte. Trotzdem hätte ich gerne weiterhin Feuerholz gesammelt, hätte Wasser geholt und all die anderen Arbeiten gemacht, die den Kleinen vorbehalten waren. Doch ich hatte keine Chance: Die schweren Kinderarbeiten blieben mir zwar erhalten, aber das »Erwachsenenleben« kam noch dazu. Es würde nichts nützen, mich dagegen zu wehren. Ab heute musste ich beides machen, arbeiten und trainieren. Am liebsten hätte ich geheult, aber das ging nicht. Also riss ich mich zusammen, so gut es ging, und hörte Mihret bei ihrem Vortrag zu. Sie erzählte von Eritrea und davon, dass wir dieses Land von allen Feinden befreien würden und dass unser ärgster Feind die EPLF sei. »Wir werden gewinnen«, sagte Mihret, »weil wir im Recht sind. Weil wir nie aufgeben.« Aufgeben? Das wäre keine schlechte Idee, dachte ich. Wäre das nicht das Einfachste? Wie sollten wir gewinnen, wenn alle gegen uns waren? Alle schwiegen, als Mihret mit ihrer Tirade fertig war. Ich verstand nicht, warum Mihret uns all das erzählte, wir hatten schon tausendmal gehört, dass wir die Guten sind und alle anderen die Bösen. Mihret sah sich erwartungsvoll um, aber nichts passierte. Sie wurde nervös. »Kommt!« brüllte Mihret und sprang von dem Stein, auf dem sie gesessen hatte. »Wir gehen zum Training!« Alle waren froh, dass das Gequatsche vorbei war, und sprangen freudig auf. »Und du kommst mit!« Sie deutete auf mich. Das hatte ich befürchtet. Ich sollte mit den anderen zusammen trainieren. Gleich neben unserem Lager befand sich der Trainingsplatz. Hier war es zwar eben, aber auf der Sandfläche lagen jede Menge großer Steinbrocken. »In Deckung!« brüllte Mihret plötzlich, und alle warfen 104 sich auf den Boden. Alle außer mir. ich stand einfach da. Regungslos stand ich zwischen all den Kindern, die sich hingeworfen und hinter einem Stein versteckt hatten, und sah den anderen zu. Dann sah ich Mihret an. Sie lugte hinter einem Stein hervor und sah mich direkt an. Die anderen Kinder kauerten hinter ihren Steinen und bewegten sich nicht. Ich war wie erstarrt und wusste nicht, was ich tun sollte. Mir war nicht bewusst, was ich tat. Ich starrte Mihret an. Sie sollte Macht über mich haben? Das konnte ich nicht verstehen. Mihret war so fassungslos, dass es eine gute Weile dauerte, bevor sie reagierte. Das war ihr noch nie passiert. War das Widerstand, Rebellion? Eine kleine Ewigkeit lang sahen wir uns an, dann sprang sie auf, stieß einen spitzen Schrei aus und stürzte mit von Hass erfülltem Blick auf mich zu. Ich stand wie angewurzelt da, als sie mich mit aller Kraft ins Gesicht schlug. Die Wucht des Schlages warf mich zu Boden. Mihret ließ nicht locker. Sie schlug mich noch ein paarmal auf den Kopf und den Rücken und trat nach mir. »Hast du nicht gehört?« schrie sie mich an. »Du sollst in Deckung gehen!« Mit ihren Fußtritten trieb sie mich hinter einen Stein. »Da, du Dreckstück, da hinein«, brüllte sie, »in Deckung! Da hinein, merk dir das!« Erst jetzt ließ sie von mir ab und brüllte die anderen an: »Was guckt ihr? Ihr sollt in Deckung! Und jetzt geschützt weiter, auf dem Boden! Immer in Deckung! Oben pfeifen die Kugeln, versteht ihr Idioten? Mir nach!« Alle warfen sich wieder auf den Boden und robbten in die Richtung, die Mihret vorgegeben
hatte. Die Schläge hatten mich aus meiner Starre gerissen. Erstaunt tastete ich mein Gesicht ab. Das Blut färbte meine Finger rot. Es rann mir aus der Nase und aus dem Mund. Ich erschrak, weil ich das schon bei vielen Soldaten gesehen hatte, und dann waren sie tot. Aber mir blieb keine Zeit, mich zu bedauern, denn Mihret sah bereits wieder drohend in meine Richtung. Sofort robbte ich wie alle anderen Richtung Berghang. Ich kam kaum voran, weil meine Schulter schmerzte, mit der ich auf einen Stein gefallen war. Außerdem war ein Bein aufgeschürft. Ich zog eine kleine Blutspur durch den Dreck. Es hätte wenig Sinn gemacht, wenn ich darum gebeten hätte, für heute aufhören zu dürfen. Ich versuchte, unauffällig zu bleiben und mich hinter jeden 105 Stein zu ducken, so dass mich keiner sehen konnte, am allerwenigsten Mihret. Die schien zufrieden zu sein. Ihre Truppe war wieder unter Kontrolle. Wir robbten ein paar hundert Meter durch dichtes Gestrüpp. Wenn sie »Los!« brüllte, mussten wir aufspringen und im gestreckten Trab losrennen, immer gebückt und möglichst dicht über dem Boden, was uns nicht schwer fiel, weil wir ohnehin alle klein waren. Zum Abschluss mussten wir uns aufstellen und stillstehen. Mihret ging vor uns auf und ab und brüllte jeden an, der ein bisschen weiter vorne oder hinten stand oder die Hände nicht genau an die Schenkel gelegt hatte. Mit den Fingerspitzen spürte ich das Blut, das auf meinem Bein eine Kruste bildete. Wir mussten starr geradeaus schauen und durften niemanden ansehen, auch Mihret nicht. Mich nicht zu rühren fiel mir leicht. Trotzdem kam mir diese Übung unsinnig vor. Als Mihret endlich zufrieden war, durften alle anderen gehen, nur ich nicht. Sofort erwachte in mir die Angst. Wollte sie mich noch mal verprügeln? Neugierig sahen die anderen zu mir herüber, doch Mihret scheuchte sie fort. Als nur wir beide noch zwischen den Steinen standen, packte sie mich am TShirt und schüttelte mich hin und her. Drohend zischte sie: »Wenn du dich noch einmal so anstellst, lasse ich dich die ganze Nacht Steine schleppen, und außerdem bekommst du eine Tracht Prügel, verstanden?« Ich nickte wordos. »Mach, dass du fortkommst!« Erleichtert wollte ich davonlaufen, als sie mir zum Abschied einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste, der mich fast wieder auf den Boden geworfen hätte. Ich taumelte. »Du sollst gehen!« sagte sie. So ein kleiner Schlag war weiter nichts Besonderes. Den konnte jedes Kind auch ohne Anlass von irgendeinem Großen verpasst bekommen. Das gehörte dazu. Ich beeilte mich, fortzukommen. Alles, was ich wollte, war Ruhe, mich ein wenig hinlegen in der größten Mittagshitze, bevor es wieder ans Wasserholen ging 106 Waffcnausgabe Schon nach ein paar Wochen bei der ELF hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich wusste nicht einmal mehr, ob noch Sommer, Herbst oder schon Winter war. In Asmara war das immer klar gewesen: Die Hauptstadt liegt so hoch oben im eritreischen Bergland, dass man die Jahreszeiten deutlich erkennen kann. Im Herbst werden die Nächte kühl, im Winter ist es empfindlich kalt — manchmal hat es nicht mehr als fünf oder zehn Grad. Dann sind die Berggipfel am Horizont in dichte Nebelschwaden gehüllt, die frühmorgens manchmal bis in die Stadt hinunter sinken. Der Himmel ist im Winter tagsüber strahlend blau und klar und nicht weißlichblau wie im Sommer, wenn die Hitze über der Hochebene flirrt. Richtig heiß wird es nur im Sommer. In Berka, im Westen Eritreas, ist es immer heiß, egal zu welcher Jahreszeit. Hier brauchte man nie etwas anzuziehen, weil man schon bei der kleinsten Bewegung schwitzen muss. Auch die Nächte bringen keine Erfrischung, sondern nur ein bisschen Abkühlung, die schon beim ersten Sonnenstrahl am Morgen vernichtet ist. In dieser Landschaft ist immer alles heiß und trocken, jeder Stein, jedes Sandkorn, jeder Baumstamm. Wie sollte man hier ein Gefühl für das Vergehen der Jahreszeiten bekommen? Wir waren schon einige Monate bei »Che Guevara«, als Agawegahta eines Morgens gleich nach dem Aufstehen zu mir kam. »Komm mit!« sagte sie barsch. Sie sprach immer barsch. Für mich war selbstverständlich, dass ich in derselben Sekunde aufsprang und hinter ihr hertrappelte. Sie führte mich zu einem großen Zelt, bei dem ich mich schon oft gefragt hatte, wer darin wohnte. Der Eingang war immer verschlossen gewesen, und ich hatte nie gewagt, ihn näher zu untersuchen. Was wollte mir die große Agawegahta hier zeigen? Dass es nicht ihr Zelt war, dessen Planen sie jetzt zur Seite schob, wusste ich. Agawegahta trat in den dunklen Innenraum und bedeutete mir, ihr zu folgen. Ich wagte kaum zu atmen. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit im Zelt. Nach und nach erkannte ich ein 107 paar Konturen: Hier standen Kisten, Kartons und Schachteln, hoch aufgestapelt. Bei jedem Stellungswechsel mussten wir sie auf die Ladeflächen hinauf und im neuen Lager wieder von den Ladeflächen herunterhieven, aber wo sie gelagert wurden, hatte man vor uns Jüngsten geheimgehalten. Vielleicht fürchteten die Großen, wir könnten uns über diese versteckten Vorräte hermachen. Agawegahta öffnete eine der Holzkisten und holte etwas heraus. Was es war, konnte ich erst erkennen, als sie es
mir in die Hand drückte. Fast hätte ich es fallen gelassen, so schwer war es. Das war ein automatisches Gewehr, eine Kalaschnikow! Ich sah meine Heldin fragend an. »Die gehört dir«, sagte sie. »Pass gut drauf auf!« Das verstand sich von selbst, denn die Waffe war für jeden im Lager das Allerheiligste. Alle schleppten ihre Waffen überallhin mit, nie ließen sie sie aus den Augen. Niemand durfte die Waffe eines anderen anrühren, selbst beim Schlafen hatte man sie immer griffbereit neben sich. Die kleine Soldatin Ich sollte eine Waffe tragen? Soldatin sein? Wie die anderen in den Kampf gehen? Ich wusste nicht, ob ich eher stolz sein oder Angst haben sollte, aber dann überwog die Angst. Vor Agawegahta jedoch wagte ich meine Gefühle nicht zu zeigen. Wordos wollte ich das metallene Ungetüm hinausschleppen, um es meinen Schwestern zu zeigen, als mich Agawegahta zurückhielt. »Du hast etwas vergessen!« sagte sie. »Es fehlt noch etwas!« Ich sah sie verständnislos an. »Womit willst du denn schießen?« fragte sie verärgert. Natürlich, die Munition. Agawegahta streckte mir eine Schachtel mit Patronen hin, die ich zusätzlich zur Waffe kaum tragen konnte. »Geh«, herrschte sie mich streng, aber gleichzeitig fast mütterlich an, »und lass es dir erst zeigen! Sie sollen mit dir üben!« Ein paar Kameraden sollten mir das Schießen erklären. 108 Schwer beladen wankte ich zu meinem Lagerplatz ^o'lre ich den ganzen Tag mit der Waffe herumlaufen? Sie war doch viel zu schwer, als dass ich sie ständig tragen konnte, vom Laden und Schießen ganz abgesehen. Wahrscheinlich lachten sich alle kaputt, wenn ich dieses Riesending über den Lagerplatz trug. Verstohlen sah ich mich um, aber niemand lachte, niemand glotzte, niemand tat etwas Besonderes. Nur ich schleppte mich fast zu Tode. Ich war gleichzeitig stolz und den Tränen nahe. Es blieb mir keine Wahl, ich musste meinen Beitrag leisten. Oft schon hatte ich Bemerkungen gehört, dass wir »nichts mehr zu verlieren« hatten. Ich verstand das nicht. Verlieren wollte ich nicht. Vielleicht konnten wir nicht verlieren, wenn ich mit meiner eigenen Waffe mitkämpfte. Sie brauchten mich dringend, dachte ich, denn jeden Tag kehrte jemand von der Front nicht zurück, starb an seinen Verwundungen oder blieb verschollen. Es waren immer weniger Leute bei unserer Truppe. Nicht alle, die verschwunden waren, waren gefallen oder vom Gegner gefangengenommen worden, soviel hatte ich aus den Gesprächen der Großen schon herausgehört. Viele suchten von sich aus das Weite, ließen in einem unbemerkten Moment ihre Waffe fallen und rannten los. Immer wieder lag draußen zwischen den Büschen eine einsame Waffe, ein sicheres Zeichen dafür, dass wieder jemand geflohen war. Viele versuchten damals, sich in den nahen Sudan durchzuschlagen, um nicht noch ein zweites Mal von der ELF, der EPLF oder gar von den Äthiopiern als Soldat verpflichtet zu werden. Manchen gelang das auch. Offen wurde darüber nie gesprochen, schon gar nicht mit mir, dem Benjamin der Truppe. Das Wort »Flucht« hatte ich aus den manchmal nur im Flüsterton geführten Unterhaltungen Größerer aufgeschnappt, die ich zufällig oder absichtlich mitgehört hatte. Zu fliehen war streng verboten. Mir gab zu denken, dass es trotzdem vorkam. Normalerweise geschah im Lager nur das, was erlaubt war, nichts Verbotenes. In den Ansprachen unserer Anführer ging es immer nur um »Freiheit«, »Heimat«, »Eritrea« und um die »Feinde«. Das waren vor allem die Leute von der EPLF und erst in zweiter Linie die Äthiopier. Mir 109 konnte nichts mehr egal sein als die Frage, wer unsere Feinde waren. Meine persönlichen Feinde waren andere: der Hunger, der Durst, die Hitze, die Ratten, die Hyänen, die militärische Ausbildung und dieses schwere Ding, diese Kalaschnikow, die ich durch die Gegend schleppen sollte. Hunger Ich wollte nicht und konnte die Waffe nicht immer bei mir tragen. Diese sperrige Maschine aus Eisen war zu groß, als dass ich sie mir einfach über die Schulter hängen konnte, wie das die Größeren taten, wenn sie arbeiteten, marschierten oder in Deckung robbten. Die Waffe war zu schwer, als dass ich sie zusammen mit einem Wasserkanister, einem Bündel Brennholz oder einem Spaten hätte tragen können. Trug ich sie auf dem Rücken, zog sie mich nach hinten, trug ich sie vor dem Bauch, riss sie mich die Uferböschung zum Fluss hinunter, und beim Klettern in unwegsamem Gelände brachte sie mich zum Straucheln. Sie schlug gegen meine Beine, wenn ich mich bücken wollte, um etwas aufzunehmen. Sie rutschte mir von der Schulter, wenn ich in Deckung ging, und knallte gegen meine Beine. Es ging einfach nicht. Ich wollte nicht. Für mich wurde dieses Ding von einer Trophäe des Erwachsenwerdens schnell zur Last, zum allgemein sichtbaren Zeichen meiner körperlichen Schwäche. Die Belastung war auch so schon groß genug, vor allem seit sich zu der schweren Arbeit, die ich täglich tun musste, und zu dem körperlichen Drill der täglichen militärischen Übungen eine dritte Plage gesellte, die für mich wie für alle anderen im Camp zur schlimmsten aller Plagen wurde: der Hunger. Der war nicht nur ein paar Stunden vormittags und ein paar Stunden nachmittags da, sondern immer. Tag und Nacht nagte der Hunger in meinen Eingeweiden und verdrängte nach und nach alle Gedanken außer dem einen: Woher kann ich mir etwas zu essen organisieren? Eines mussten meine Schwestern und ich, mussten alle Kinder von »Che Guevara« verstehen lernen: Es nutzte
nichts, darauf zu warten, 110 ciüSS uns von der Küche unscrci Truppe etwas Essbatv* rerWert würde. Es hatte keinen Sinn, auf ein Lastauto zu warten, das ein paar Säcke Getreide oder Reis bringt oder ein paar Kisten mit Dosen voller Fischmehl. Obst und Gemüse hatte es schon lange nicht mehr gegeben, und der Gedanke an Fleisch erschien allen außer mir, die ich kein Fleisch aß, wie ein ferner Traum. Ziegen, Schafe oder Hühner hatten wir nicht. Wie gern ich mal ein Ei gegessen oder ein Glas Ziegenmilch getrunken hätte! Allein bei dem Gedanken daran lief mir das Wasser im Mund zusammen. Solche Köstlichkeiten gab es hier nicht, und selbst die immer gleichen Enjera oder Fischmehlpampen bekamen wir längst nicht mehr regelmäßig. Manchmal blieben die Transporte tagelang aus. Oft waren unsere Vorräte bis zum letzten Mehlstäubchen komplett aufgegessen, und wenn der Nachschub ausblieb, gab es für ein paar Tage nichts zu essen. Doch auch wenn wieder neue Vorräte auftauchten, war keineswegs sicher, dass wir etwas zu essen bekamen. Deshalb schlichen wir schon Stunden, bevor die Speisen fertig sein konnten, um den Feuerplatz herum. Einmal hatten meine Schwestern und ich unseren eigenen Wachdienst organisiert, um nicht zu verpassen, wann es endlich soweit wäre. Die Frauen, die für das Kochen zuständig waren, hatten sich hinter ihrem provisorischen Herd verschanzt, den sie aus Feldsteinen und einem einfachen Eisenrost gebaut hatten. Ich war von Yaldiyan und Tzegehana für den Nachmittag eingeteilt worden und wollte gleich neben der Feuerstelle Wache schieben, weil ich hoffte, dass mir eine der Frauen vielleicht schon während des Kochens einen Becher Fischmehl über die Steine reichen könnte oder ein Bällchen Teig. Oder dass sie mich fragen könnten, ob ich ihnen nicht beim Kochen helfen wollte nichts hätte ich lieber getan! Doch weit gefehlt. »Hau ab, du Miststück!« schrie mich eine der Frauen an und warf mit einem Stein nach mir, so dass ich mich nur mit einem Sprung zur Seite retten konnte. Ich musste vorsichtiger sein! Wie eine Katze schlich ich mich nun von der anderen Seite an und ging hinter ein paar Kisten in Deckung. Stunden um Stunden kauerte ich dort mit knurrendem Magen und beobachtete jeden Ha ndgriff, der am Herd geschah: wie erst der Teig angerührt und dann die Fladen geformt 111 wurden, die zum Backen auf das Blech kamen. Die Frauen schnitten Kürbisse klein und zerdrückten die Stückchen zu einer Soße, die sie mit Wasser und Salz aufkochten. Als der Zeitpunkt des Essens nahte, war ich in einem Zwiespalt: Sollte ich nun wie abgemacht meine Schwestern holen oder erst für mich selbst sorgen? Der Gewissenskonflikt wurde mir rasch abgenommen, denn die beiden tauchten von alleine auf, angelockt von den verheißungsvollen Düften aus der Küche. Gleichzeitig strömten von allen Seiten Menschen herbei, drängten zur Küche und bildeten eine dichte Traube vor der Feuerstelle. Fast hätte ich versäumt, selber rechtzeitig zur Kochstelle zu drängen. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und rannte nach vorne. Die Großen stießen mich zur Seite, hier herrschte das Recht des Stärkeren. Als ich versuchte, mich auf allen vieren zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchzuschieben, geriet ich in eine wahre Tretmühle: Füße teilten Tritte aus, Hände und Arme wollten mich wegreißen, die Leiber standen so dicht an dicht, dass ein Durchkommen fast unmöglich war. Schließlich hatte ich mich endlich in die erste Reihe durchgekämpft, doch zu spät — eben wurde die letzte Enjera verteilt, die letzte Schüssel Kürbissuppe ausgeschöpft. Mir blieben ein paar Fetzen einer Teigflade, die auf dem Blech klebengeblieben waren, und ein klebriger Rest von der Kürbispampe, den die anderen übersehen hatten. Das war zuwenig, um satt zu werden. Zuwenig, als dass mein Magen nicht sofort nach mehr geknurrt hätte. Die Menschentraube vor dem Ofen zerstob noch schneller, als sie entstanden war. Blieb mir nichts anderes übrig als zu hoffen, beim nächsten Mal mehr Glück zu haben? Auf der Jagd Auf mein Glück mochte ich mich nicht verlassen, und so beschloss ich, mich bei der Nahrungssuche auf eigene Füße zu stellen. Ich ging auf die Jagd nach Essbarem. Die anderen Kinder, aber auch die Erwachsenen, die bei der offiziellen Essensvergabe nicht genug abbekommen 112 hatten, jagten alles, was sich bewegte und nur halbwegs essbar aussah. Sie kletterten auf Bäume, um mit Netzen oder mit Schlingen und Stangen Vögel, Fledermäuse und Käfer zu fangen. Sie krochen auf der Suche nach Schildkröten durch das Unterholz am Fluss, schössen auf die wenigen Gazellen und anderes Wild oder stellten Fallen, um Mäuse, Erdhörnchen, maulwurfartige Tiere und Ginsterkatzen, die ihre Höhlen unter der Erde bauen, einzufangen. Sie grillten, brieten und aßen alles, was ihnen in die Finger geriet, selbst wenn das nur ein paar Heuschrecken oder Käfer waren. Es waren die armseligsten Mahlzeiten, die man sich denken kann: ein paar verkohlte Knochen, rußige Hautfetzen oder die wenigen Bissen, die sie vom Skelett eines kleinen Vogels ab nagen konnten. Ich hatte mich an diesen Jagden nie beteiligt, weil ich kein Fleisch essen konnte. Zwar hungerte ich nicht weniger als die anderen, aber ich brachte es nicht über mich, in ein zähes, halbrohes Stückchen Muskel hineinzubeißen oder mir eine Scheibe von dem unter dem Panzer einer Schildkröte herausgerissenen Fleisch
abzuschneiden. Ich galt als Verrückte, die lieber verhungern wollte, als etwas zu essen, was sie nicht mochte, aber ich hatte keine Wahl, ich konnte nicht anders. Bei einem Biss in den mageren Körper einer Fledermaus hätte ich mich übergeben müssen, auch wenn mir übel war vor Hunger. Ich aß andere Dinge. Ich pflückte Blätter ab, die mir nicht so hart vorkamen wie die meisten anderen Blätter, die zu finden waren. Aus ein paar trockenen Ästen zündete ich ein winziges Feuer an und kochte die Blätter in einer verrosteten Blechdose mit etwas lehmigem Wasser weich. Es schmeckte zwar nicht, aber wenigstens wurde das hohle Gefühl in meinem Magen etwas überdeckt. Manchmal fand ich auf einem verlassenen Acker kleine Rüben, oder ich grub Pflanzenknollen aus. Die kochte und aß ich, ohne sie zu kennen. Manchmal hatte ich Glück und fand eine Wurzel, die aussah wie eine Zwiebel und die ich schon bei den E,rwachsenen im Kochtopf gesehen hatte. Gute Beute auf meiner Pflanzenjagd machte ich vor allem im Spätsommer, wenn überall die stachligen, aber sehr saftigen Kakteenfrüchte reiften. Freilich aßen auch die anderen diese Früchte, denn sie sättigten nicht nur ein wenig, sondern stillten auch den Durst 113 und schmeckten dazu noch herrlich süß. Dumm war nur, dass sie alle zur selben Zeit reif wurden und durch die starke Hitze schon nach wenigen Wochen verfault oder vertrocknet waren. Manchmal fand ich auch Gaba, wildwachsende, winzige Nüsse, die viele nicht beachteten, weil sie so klein sind, dass es mir manchmal vorkam, als würde das Öffnen einer einzigen Nuss mehr Energie verbrauchen, als da drinsteckte. Ich suchte sie trotzdem, sammelte sie in die Taschen meiner Hosen und verbrachte Stunden damit, sie zu knacken und zu verspeisen. Wenn ich nichts anderes fand und das Bohren des Hungers bis hinauf in meinen Kopf gestiegen war, kletterte ich ins Flussbett und aß Erde. Ich schabte die oberste sandige Schicht weg, wo es ein wenig feucht war, bis ich auf den getrockneten Schlamm stieß, und aß diesen Schlamm. Handvoll auf Handvoll steckte ich mir davon in den Mund, kaute und kaute und würgte, bis ich ein wenig hinunterschlucken konnte. Ich steckte mir noch mehr in den Mund und kaute weiter und weiter, bis mir schlecht war. Das Problem dabei war nicht der Geschmack die Erde, besonders wenn sie moosigfeucht schmeckte, war gar nicht so schlecht, aber ich bekam jedesmal starke Bauchschmerzen. Ich hatte Krämpfe, als würde mir jemand in den Magen greifen und darin herumrühren. Anschließend erbrach ich mich oft oder bekam Durchfall. Das war schlimm, aber es war immer noch besser, als die ganze Zeit über dieses leere Gefühl zu ertragen. Es war auch besser, mit »Dreckfresserin« beschimpft zu werden, als nichts zu essen. »Du Memme!« schrien sie mir nach. »Du isst, was genauso ist wie du. Du bist Dreck, weil du Dreck frisst!« Doch ich machte mir nichts daraus. »Welcher Mensch isst schon Erde?« fragten sie mich. »Ich«, gab ich stolz zur Antwort und kam mir in diesem Moment als etwas sehr Besonderes vor. 114 Durst Trotz aller damit verbundenen Qualen war der Hunger nicht das Schlimmste. Meistens gelang es mir doch, ihn irgendwie zu betäuben. Schlimmer war der Durst. Gegen Durst half es nicht, etwas zu kauen, zu zerbeißen oder zu braten. Gegen Durst halfen nur Wasser, wovon wir immer viel zuwenig fanden, oder die saftigen Kaktus fruchte, aber die gab es nur einen Monat pro Jahr. Wasser! Ich dachte oft darüber nach, wie es den Kamelen, die wir mit uns führten, möglich war zu überleben. Sie schienen nie nach Wasser zu suchen, sondern mummelten bloß an ein paar vertrockneten Gräsern, an den Blättern von Bäumen oder auf dem blanken Boden, wo es so aussah, als würde nichts wachsen. Immer waren sie zufrieden, außer wenn sie auf die Knie mussten, weil jemand aufsitzen wollte. Dann jammerten sie und schrien, als ob ihr letztes Stündlein geschlagen hätte. Normalerweise wird die Milch der Kamele getrunken, aber unsere hatten keine Milch vermutlich, weil sie zuwenig Wasser bekamen. Sie rissen noch dem letzten Dornbusch ein paar Stacheln ab und wanderten den ganzen Tag kauend umher, immer linksrechts, linksrechts, mit mahlenden Kiefern und wulstigen Lippen, die ein wenig aussahen, als wollten sie gleich loslachen. Die Kamele mochten ohne Wasser auskommen, wir taten es nicht. Unablässig waren wir auf der Suche nach Wasser. Manchmal war es wie verhext: Ich ging mit Tzegehana los, doch die Wasserlöcher, die wir in den vergangenen Tagen gegraben hatten, waren alle komplett trocken, so trocken, als wäre dort nie Wasser gewesen. Also gruben wir noch tiefer. Manchmal stand ich schon so weit in der Erde, dass ich gerade noch über den Rand gucken konnte. Wir gruben uns durch getrockneten Schlamm, eine Mischung aus Sand und Steinen, Geröll und Staub. Das setzte sich in den Haaren fest und verklebte den trockenen Rachen, es staubte in den Augen und scheuerte die Finger wund, es rutschte weg und zerbröselte, sobald man zu graben begann, so dass wir immer ein viel breiteres Loch graben mussten, um ein wenig tiefer zu kommen. So tief wir auch gruben, 115 manchmal sahen wir nichts außer Sand und Staub, der ein wenig feuchter wurde. Er wurde nicht nass, sondern nur ein bisschen klamm. Vielleicht wäre man dort auf Wasser gestoßen, wenn man metertief gegraben hätte,
doch wir kleinen Mädchen mit unserem Spaten schafften das nicht. Auch die größeren Jungs aus unserer Kompanie, die wir einmal zu Hilfe holten, konnten nichts dagegen tun, dass das lockere Material das Loch immer wieder aufs neue verschüttete. Götter Das Graben half nichts, unser Durst steigerte sich nur um so mehr. Wir schwitzten, der Sand rieselte durch die Kleidung, klebte auf der Zunge und knirschte zwischen den Zähnen. Die Hitze verbrannte unsere Köpfe, die Augen tränten, die Schleimhäute in der Nase waren ausgedörrt und taten weh. Es gab keine Hoffnung auf Regen, der Himmel strahlte unendlich blau. Kein Lüftchen regte sich. Es wurde immer heißer, die Tiere verkrochen sich in ihren Erdhöhlen oder im Schatten eines Buschs. Die Regenzeit war vorbei, ohne dass es noch einmal geregnet hätte. In unserer Kompanie wurde zu den verschiedensten Göttern um Regen gebetet. Jesus kannte ich schon aus dem Heim und von meiner Großmutter. Ich hatte ihn in der Kirche hängen sehen, am Kreuz. Auch Maria kannte ich, seine Mutter. Ich hatte sie selbst schon ein paarmal angefleht, wenn mich keiner sehen oder hören konnte: »Mutter Gottes, bitte mach, dass es regnet. Wenigstens ein bisschen. Oder mach, das eines von den Löchern nass wird, das ich grabe. Mach, dass sich ein bisschen Wasser dort drinnen sammelt. Wenigstens so viel, dass ich meinen Kanister einmal voll bekomme. Mach, dass ich meinen Kopf hineinhalten und untertauchen kann und ihn nur einmal ganz mit Wasser übergießen kann. Bitte, Mutter Gottes! Du brauchst nichts zu essen zu bringen. Oder höchstens ein paar Enjera. Aber mach, dass Wasser rinnt!« Andere beteten zu einem Gott, der hieß Allah. Sie wandten sich 116 immer in eine besrimirt.: Himmelsrichtung, um zu be<"en, breiteten ein Tuch aus und warfen sich darauf zu Boden. Morgens, mittags, abends, nachts, immer wieder, immer in dieselbe Richtung. Sie sagten nichts von Wasser, sondern sie sprachen ihre Gebete, aber Mohammed, einer der Älteren, sagte mir einmal, dass er an Wasser dachte beim Beten. Dass er nur an Wasser dachte. Wieder andere beteten zu Göttern, die ich nicht kannte. Das waren Götter, die überall sein konnten, in einem Stein oder in einem Baum oder unter der Erde. Die Kämpfer, die zu diesen unsichtbaren Göttern beteten, wanden sich auf allen vieren durch das Lager, rauften sich die Haare, wälzten sich am Boden und wechselten ihren Tonfall zwischen Ärger, Flehen und Selbstbeschuldigung. Sie schrien und japsten, fluchten und bettelten, aber das einzige, was geschah, war, dass es immer heißer zu werden schien. Ich bezweifelte, dass das die richtigen Mittel waren, um zu Wasser zu kommen. Vielleicht hätte meine Oma gewusst, wie man um Regen betet, aber hier konnte das niemand. Mohammed, der zu Allah betete, hatte seinen Gott noch nie gesehen. Er kannte nicht mal ein Bild von ihm. Mohammed sagte, man darf seinen Gott nicht sehen. Meinen Gott durfte man schon sehen, und seine Mutter auch. Er selbst hing am Kreuz, war mit Nägeln in den Händen und Füßen daran festgenagelt, und seine Mutter stand da und faltete die Hände. Sie trug ein blaues Kopftuch und ein blaues Kleid aus Tüchern, wie es die Frauen in Eritrea in Weiß trugen. Maria und Jesus hatten weiße Haut wie Mike'ele bei der ELF. Mike'ele Mike'eles Haut war fast so hell wie die von Jesus. Er hatte helle Locken, die ihm über die Schultern fielen, hell wie die Rinde eines Baumes. Seine Locken waren nicht gekräuselt wie bei mir, sondern groß wie die Wellen auf einem Bach. Mike'ele stammte von Weißen ab, von Italienern, oder zumindest war ein Elternteil von ihm weiß. Er war ein guter Kämpfer und beliebt obendrein. Immer war er für einen Scherz gut, er 117 galt als der Witzbold der Truppe. Er konnte einen Stein nehmen, ihn in eine Faust legen und durch einen Zauber plötzlich in der anderen Hand halten. Es war aber kein Zauber, sondern ein Trick, etwas, das man lernen kann, sagte Mike'ele. Aber er sagte nicht, wie es ging. Einmal drohten ihm zwei Jungs Prügel an, wenn er ihnen den Trick nicht verriet, aber Mike'ele weigerte sich. Trotzdem verprügelten sie ihn nicht. Ich glaube, sie hatten Angst davor, sich mit Mike'ele anzulegen, denn er war den meisten nicht geheuer. Einmal hörte ich jemanden sagen, dass Mike'ele andere Menschen verzaubern könne, und dann würde der Verzauberte jede Farbe im Gesicht verlieren. Das war aber nur ein Gerücht, denn noch keiner von uns hatte gesehen, wie Mike'ele das machte. Mike'ele sagte, sein Vater sei aus Italien, aber er hatte ihn noch nie gesehen, außer auf einem Foto, das seine Mutter ihm einmal gezeigt hatte. Auf diesem Foto habe sein Vater eine Uniform angehabt. Mike'ele sagte, sein Vater sei sicher tot, sonst wäre er da. Ich wagte nicht, ihm zu widersprechen. Ich dachte nur, dass Väter leben konnten und trotzdem nicht da waren, wie mein Vater beispielsweise. Aber bei mir war das etwas anderes. Ich wollte nicht, dass mein Vater da wäre, doch Mike'ele wünschte sich seinen Vater sehr herbei. Das Schönste für ihn wäre, wenn er ihn einmal sehen könnte, sagte er. Wenn er aber tot war, würde er ihn niemals sehen. Mike'ele betete zu meinem Gott, aber nicht sehr oft. »Das nützt nichts«, sagte er einmal, »nicht einmal Gott will Regen schicken. Es ist ihm völlig egal, ob es hier regnet. Wenn das anders wäre, hätte er den Regen längst geschickt.« Das gab mir zu denken. Abends lag ich völlig verdörrt auf meiner Matte und fragte mich, warum Gott keinen Regen schicken will. Ausgerechnet zu uns nicht. Hatten wir etwas Falsches getan? Agawegahta hasste diese Gedanken. Sie hasste es, wenn sich ihre Männer und die Mädchen im Staub wälzten,
um den Göttern zu gefallen. Sie wollte nicht, dass man zu Jesus oder zu Allah betete. »Es gibt keine Götter«, sagte sie, »die haben die Menschen selbst gemacht.« Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Menschen die Bilder 118 im Heim und in der Kirche gemacht hatten. Aber es waren doch nur Bilder, hatten die Nonnen immer gesagt und meine Oma auch. Gott, sagten sie, habe sich selbst gemacht. Agawegahta wollte trotzdem nichts davon wissen. »Wir sind unsere eigenen Götter«, sagte sie, »wir kämpfen für uns selbst, nicht für einen Gott. Macht lieber eure Arbeit, anstatt zu flennen. Dort oben hört euch niemand!« Das glaubte ich nicht, aber wenn ich abends auf der Matte lag und keine Hoffnung sah und alles in mir würgte vor Hitze und Trockenheit, dann dachte ich manchmal: Was ist, wenn Agawegahta doch recht hat? »Hey! Komm mit, wir holen Wasser!« Mike'ele rüttelte mich aus meinen Träumen. Sofort sprang ich auf. Das Wort »Wasser« konnte mich damals immer und überall schlagartig wecken. »Wo ...?« wollte ich fragen, aber Mike'ele hielt mir grob den Mund zu. Ich fing schon an, mich aufzubäumen und mich mit Kratzen und Treten zu wehren, doch dann merkte ich, dass Mike'ele es gut meinte. Er verstärkte seinen Griff noch und zischte mir ins Ohr: »Wir gehen ins Dorf, Wasser holen!« Schon waren wir unterwegs, zusammen mit drei anderen aus dem Lager. Die Wasserkarawane Ich hatte keine Ahnung, wie wir das anstellen wollten, Wasser zu holen, aber mir war alles recht, wenn es etwas zu trinken geben sollte. Wo das Dorf war, wusste ich — zusammen mit Tzegehana hatte ich es einmal aus der Ferne gesehen, bei einem weiten Streifzug auf der Suche nach Feuerholz. Damals hatten wir uns nicht näher herangewagt, weil wir nicht wussten, ob dort Freunde oder Feinde wohnten. Mike'ele bedeutete mir, ihm zu folgen und still zu sein. Wir schlichen uns fast auf allen vieren aus dem Lager. Niemand durfte aus dem Lager fort, schon gar nicht nachts und keinesfalls ohne Auftrag von einem der Anführer, aber diesmal gingen wir ohne Befehl. Alleine hätte ich das nie gewagt, doch Mike'ele vertraute ich. Wenn uns etwas passierte, 119 würde er schon dafür sorgen, dass wir mit heiler Haut davonkamen. Wir mussten nur aufpassen, dass uns niemand hörte oder sah. Es gab ein paar Wachposten, aber wir wussten, wo sie standen: unten am Fluss, oben, am steinigen Abhang oberhalb des Lagers, und vorne an der Baumgruppe, durch die hindurch die Größeren immer zur Front gingen. Also mussten wir hintenherum gehen, durch die kleine Schlucht, oben den Hügelrücken entlang um das Lager herum, und dann hinter den Bäumen in Richtung des Dorfes. Leise mussten wir sein, nicht auf den Steinen ausrutschen, nicht fluchen, nicht springen und nicht sprechen, selbst wenn mir die Fragen noch so sehr auf den Lippen brannten: Von wem sollten wir Wasser holen? Gab es im Dorf Wasser? Wer hatte die Idee gehabt? Wir kamen unbemerkt an den Wachen vorbei und stolperten gebückt weiter, in das Tal hinunter, in dem das Dorf liegen musste. Ich sah fast nichts, weil der Mond noch nicht am Himmel stand. Nach ein paar hundert Metern bekam ich einen Rempler von dem, der hinter mir ging, und sah mich erschrocken um. »Du kannst wieder normal gehen«, zischte der. Ein wenig verschämt, aber erleichtert richtete ich mich auf. Ich war die einzige, "die immer noch verkrampft und geduckt durch die F insternis stolperte. Wir wanderten durch die Nacht, ohne dass etwas von einem Dorf zu sehen war. Plötzlich standen wir mitten zwischen den Hütten. Der Ort sah sehr armselig aus: Alles war aus Abfällen gebaut, sogar die Ställe für die Ziegen. Äste und Laub bildeten die Dächer. Von den Bewohnern war niemand zu sehen, es gab kein Feuer und kein Licht. Mike'ele öffnete einen der Verschlage und rief halblaut etwas hinein. Eine alte krumme Frau humpelte heraus, völlig verschlafen. Sie war nicht überrascht, uns zu sehen, und schien zu wissen, was wir wollten, denn sie führte uns um ihre Hütte herum zu einer kleinen Grube. Darin standen ein paar Kanister. Wasserkanister! Ich konnte es kaum glauben — jeder von uns durfte trinken, auch ich. Ich spürte, wie die Flüssigkeit in mir hinunterrann und sich im Körper verteilte. Ich spürte, wie sich mein Magen füllte, wie dieses köstliche Getränk wirkte — ich wurde ruhig und zufrieden. Mike'ele drückte der Frau etwas in die Hand. Erst als sie verstaute, 120 was er ihr gegebe" ^»rre, sah Ai, dass es sich um einen zerknitterten Geldschein handelte. Das war das erste Mal in Berka, dass ich bei jemandem Geld sah. Zum ersten Mal bezahlte jemand etwas, denn hier draußen gab es keine Geschäfte und keine Kneipen und nichts, wofür man Geld bezahlen musste. Aber das interessierte mich nicht weiter. Mich interessierte nur eines: Ich wollte noch einmal an den Kanister und einen kräftigen Schluck nehmen. Das durfte ich auch. Der Rückweg erschien mir wie ein Klacks gegenüber dem Hinweg. Wir hatten mehrere kleine Kanister gefüllt und mitgenommen. Ein paar hundert Meter vor unserem Lager vergruben wir sie im Sand und legten ein paar Steine darauf. Mike'ele stieß einen Stock in die Erde und fixierte ihn mit Steinen, damit wir das Versteck leichter wiederfanden. »Ihr trinkt nur davon, wenn euch niemand zusieht«, sagte er mit warnendem Unterton, »und zwar
nur ein paar Schlucke pro Tag. Wer mehr trinkt, bekommt es mit mir zu tun. Den erwartet eine Tracht Prügel.« Mich hielt er für am wenigsten vertrauenerweckend, weil ich die Jüngste war. »Erzähl bloß niemandem davon«, warnte mich Mike'ele noch mal eindringlich, mit stechendem Blick. Auch ohne seine Ermahnung wäre mir nie in den Sinn gekommen, jemandem von unserem Schatz zu erzählen. Erschöpft, aber glücklich sank ich wenige Minuten später auf meine Matte. Im nächsten Augenblick wurde ich wieder geweckt. Die aufgehende Sonne zeichnete die Hügelkette hinter dem Lager schon als dunkle Silhouette gegen den heller werdenden Himmel. Was mir wie eine Minute Schlaf vorgekommen war, musste eine oder zwei Stunden gedauert haben. In diesem Moment wusste ich, dass ich einen harten Tag vor mir hatte. Aber unser nächtlicher Ausflug war mir alle Mühen wert. Ich musste nur während der harten Tagesarbeit einen Moment innehalten, um auf den Magen zu lauschen, in dem es immer noch ein wenig gluckerte, wenn ich nur genau genug hinhörte. Diese Wasserexpeditionen durfte ich noch ein paarmal mitmachen. Wir fürchteten zwar die Strafen, die es setzen würde, wenn uns jemand auf die Schliche käme, aber es musste sein. Als ich ein paar dieser wagemutigen Streifzüge hinter mir hatte, bekam ich mit, dass es in unserem Lager immer einen Wasservorrat gegeben hatte und auch noch gab: 121 das waren ein paar gelbe Plastikkanister, die halb vergraben in einem Erdloch gleich neben dem Munitionslager standen und gleichzeitig mit der Munition und den Waffen rund um die Uhr bewacht wurden. Ich hatte immer gedacht, hier würden nur Waffen bewacht — bis ich einmal zufällig sah, wie sie mit den Wasserkanistern hantierten. Das bestärkte mich nur, erst recht jeden der nächtlichen Ausflüge mitzumachen: Wenn sie das Wasser vor uns Kindern versteckt hielten und uns nur so wenig abgaben, mussten wir uns selber welches organisieren. Das Wasser schien der alten Frau nie auszugehen, und wenn sie einmal keines hatte, bekamen wir welches bei ihrer Nachbarin. Mike'ele bezahlte mit Geldscheinen, von denen er einen unerschöpflichen Vorrat zu haben schien, und auch wenn er mal keine auspackte, bekamen wir unser Wasser, denn die Frauen im Dorf hatten Angst vor uns. Sie dachten, wir seien eine gefährliche Truppe, dabei hatten wir nicht mal Waffen mit was sich noch als Fehler erweisen sollte. Ihre Männer waren alle im Krieg oder längst gefallen, und die Frauen hüteten ein paar dünne Ziegen und ihren Brunnen, der so tief gegraben war, dass er immer noch ein wenig Wasser gab. Beduinen Eines Nachts kreuzten Beduinen unseren Weg vom Dorf zurück ins Lager. Wegen der Dürre mussten sie ihre Kamele, Ziegen und Rinder in immer größeren Runden durch die staubtrockene Steppe treiben, damit ihre Tiere ein paar Halme und noch nicht ausgetrocknete Wasserlöcher finden konnten. Wegen der Hitze waren die Beduinen in der Nacht unterwegs. Sie sahen uns zuerst, weil sie es gewohnt waren, selbst in einer stockdunklen, mit Steinen übersäten Steppe, die nur von einzelnen Baumgruppen und hin und wieder einem struppigen Dickicht unterbrochen ist, noch etwas zu sehen. Wir bemerkten sie erst, als sie schon ihre Richtung geändert hatten und hinter uns herkamen. Zuerst dachten wir, das seien feindliche Soldaten auf nächtlichem Patrouillengang. Da 122 wir keine Waffen ix^Lhüttcn, wurden wir schneller und schneller, doch die anderen blieben uns auf den Fersen. Wir begannen zu rennen, doch die anderen kamen uns immer näher. Als wir eine kleine Erhebung erreichten, sahen wir, dass es keine Soldaten waren, sondern Beduinen. Sie trugen bodenlange Gewänder und ritten auf Kamelen. Was wollten sie von uns? Uns blieb nichts anderes übrig, als stehenzubleiben und zu warten, denn mit ihren Kamelen waren sie um vieles schneller als wir. Als sie herankamen, riefen sie Worte in einer Sprache, die ich nicht verstand. Zwei von ihnen schwangen ihre Säbel. Sie sahen furchterregend aus mit ihren langen Barten, den klaffenden Zahnlücken und einer Haut, die um einiges dunkler war als unsere. Das waren Moslems aus dem Sudan. Einer von unserer Gruppe verstand ein paar Brocken von der Sprache der Beduinen und übersetzte: »Sie denken, dass wir auf der Suche nach Kamelen, Ziegen oder Kühen sind, um sie zu stehlen.« Dass wir nur Wasser geholt hatten, wollten sie uns nicht glauben. Meinetwegen konnten sie denken, was sie wollten, den See voller Glück, der in meinem Bauch schwappte, konnte mir niemand wegnehmen. Plötzlich sprangen die Männer von ihren Kamelen und kamen uns bedrohlich nahe. Unser Dolmetscher erklärte ihnen verzweifelt, dass wir nichts Wertvolles bei uns hätten. Wir hatten ja nicht mal etwas Werdoses, abgesehen von den zerfetzten Kleidern, die wir anhatten. Das glaubten die Beduinen aber nicht. Sie rissen an Mike'ele herum, zwangen ihn, sein Hemd auszuziehen, und wühlten in seinen Hosentaschen. Dort fanden sie nichts weiter als ein paar Stückchen Holz, die er zuvor gesammelt hatte, und einige fast wertlose Geldscheine. »Waffen, Waffen!?« brüllten die Beduinen ständig, aber damit konnte niemand von uns dienen. Erst ein Einfall Mike'eles brachte die Beduinen von uns ab. »Schreit nur weiter«, ließ er unseren Dolmetscher sagen, »gleich dort hinter dem Hügel ist unser Lager. Wir sind von der Jebha, und unsere Kameraden werden uns beistehen ...« Das Lager war gar nicht so nah. Niemand dort hätte unsere Schreie gehört oder die Rufe der Beduinen. Und
wenn uns jemand gehört hätte, wäre es uns schlecht bekommen, weil wir uns heimlich aus dem Lager gestohlen hatten. Die Beduinen aber wollten nichts riskieren, 123 zumal ihnen klar wurde, dass bei uns wirklich nichts zu holen war. Sie bestiegen ihre Kamele und machten sich auf und davon. Nur Mike'eles Scheine nahmen sie mit. Als wir uns das nächste Mal nachts davonschlichen, um Wasser zu holen, nahmen wir ein paar Waffen mit, wegen der Beduinen. Das machte die Sache noch riskanter, denn wenn es verboten war, sich in der Nacht aus dem Lager zu schleichen, so war es erst recht verboten, seine Waffe mitzunehmen. Das sah nach Flucht aus, und Deserteure wurden normalerweise auf der Stelle erschossen, selbst dann noch, als jedem klar sein musste, dass die Lage der ELF aussichtslos war. Einmal belauschte ich ein Gespräch zwischen zwei Kommandanten. Einer meinte: »Lassen wir die Kinder laufen! Der Krieg ist doch vorbei, das bringt nichts mehr«, aber der andere wollte nichts davon wissen. »Wenn wir das machen, sind die ein paar Tage später alle bei der EPLF und versuchen uns umzubringen. Lieber kämpfe ich bis zur letzten Patrone, als dass ich mich von denen erschießen lasse! Jeden, der versucht wegzulaufen, lege ich eigenhändig um!« Dawit Ich erschrak furchtbar, als ich einmal Gewehrsalven mitten im Lager hörte. Waren die Feinde gekommen, um uns umzubringen? Ich ließ die Wäsche, die ich waschen sollte, zu Boden fallen und warf mich gleich daneben in den Staub. Noch eine Gewehrsalve. Ich zog mir das Bündel Wäsche über den Kopf. Mehrfach hatte ich schon sagen gehört, dass uns die Feinde bald überrennen könnten. Offenbar war es jetzt soweit. Regungslos lag ich auf der Erde. Plötzlich lachte jemand, dann noch einer. »Seht euch diesen Feigling an«, rief der erste, »wie er sich im Dreck windet!« Das galt mir. Erstaunt erhob ich mich. Außer zwei feixenden Kameraden war niemand zu sehen. »Was waren das für Schüsse?« fragte ich, aber sie lachten mich nur aus. Erst am nächsten Tag sah ich, was geschehen war. Auf dem Platz 124 neben den Planen, unter denen wir schliefen, lag jemand im Staub, über und über von Sand und Blut verschmiert. Ich kannte den Toten. Dawit war siebzehn oder achtzehn, einer der wenigen Älteren, zu denen ich guten Kontakt hatte. Er hatte mir oft von seiner Familie erzählt, von seinem Vater, seiner Mutter, seinen Geschwistern. Ich hatte ihn darum beneidet, so gelassen von seinen Eltern sprechen zu können, ohne Hass und ohne Angst davor, dass sie ihn wieder im Stich lassen könnten wie es die meinen schon oft getan hatten. Später erzählten meine Schwestern, dass Dawit hingerichtet wurde, weil er versucht hatte abzuhauen. Man hatte ihn im Morgengrauen in der Nähe des Lagers überrascht, mit seiner Waffe, einem Sack voller Enjera und ein paar persönlichen Sachen. Es hieß, Dawit habe zu seinen Eltern zurückkehren wollen und sei draußen in der Ebene von einer Patrouille angeschossen worden. Die beiden Kämpfer der ELF hätten zuerst gedacht, er sei einer von der Shabia, von den Feinden, und verfolgten ihn. Als er wegrennen wollte, versuchten sie ihn zu stoppen und schössen auf ihn. Den Verwundeten transportierten sie dann ins Lager, wo er auf Geheiß von einem unserer Führer mit mehreren Salven getötet wurde. Einer aus der Patrouille erzählte später, dass er Dawit erkannt, aber nichts zu dem anderen gesagt habe; am liebsten hätte er Dawit gleich erschossen. Schließlich hätten sie seinetwegen kilometerweit durch die Hitze laufen müssen! Dawit, der Dummkopf — alleine hatte er keine Chance, erst recht nicht, wenn er bei Tagesanbruch losging anstatt spätnachts, wenn die Wachen schliefen. Wäre er nur mit uns gegangen, um Wasser zu holen, und dann weggelaufen. Er tat mir leid — und meine Angst wuchs: Was, wenn sie uns bei einer unserer nächtlichen Expeditionen entdeckten? Zusammen mit ein paar anderen grub ich ein Loch in die steinige Erde, um Dawit einen Meter tief unter Sand, Schotter und Erde zu seiner letzten Ruhe zu betten. Tief genug, dass ihn kein Kojote und kein Geier ausgraben konnte, denn es gab keinen Sarg, um diesen so zerbrechlich wirkenden Körper vor den Aasfressern zu schützen. 125 Vier Pfähle Wenige Tage später mussten wir alle auf dem Platz Aufstellung nehmen, der auf der einen Seite von den Planen begrenzt wurde, unter denen wir unsere Rastplätze hatten, und auf der anderen Seite von der provisorischen Küche. Uns gegenüber standen vier Kameraden, die ich alle mit Namen kannte. Ich hatte zu ihnen kaum Kontakt gehabt, denn sie waren viel älter, zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt. Die vier standen vor den Felsen, bei denen der Hang hinter dem Lager begann. Jeder von ihnen war an einen Pflock gefesselt. Sie waren verletzt: Einer hatte Striemen an den Armen und am Oberkörper, einer blutete im Gesicht, der dritte hatte abgeschürfte Beine. Es war eine Art Kriegsgericht. Wir mussten dastehen und zusehen. Ein paar Ältere standen vorne bei den vier Angeklagten. Drei von ihnen wanden sich an ihren Pflöcken hin und her, als versuchten sie, ihre Fesseln zu lockern. Der vierte stand einfach da, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Es sah aus, als wäre er
nicht mehr in seinem Körper zu Hause. Einer der Anführer hielt eine kleine Rede. Er erzählte von der ELF, wie wir es schon oft gehört hatten, und von der Freiheit Eritreas. Diesmal jedoch sagte er noch etwas anderes: »Wir kämpfen mit dem Rücken zur Wand. Unsere Feinde gehen erbarmungslos gegen uns vor. Wir müssen uns wehren, mit Zähnen und Klauen. Mit allen unseren Kräften. Wir werden siegen. Aber wir können nur siegen, wenn wir alle zusammenhalten, wenn sich niemand davonmacht und wenn wir gemeinsam kämpfen. Deshalb müssen wir jeden, der unser Zusammenhalten stört, ausmerzen. Wir können keine Schwächung vertragen. Jeder, der uns betrügt, der unsere Sache betrügt, schwächt uns. Das werden wir nicht zulassen. Das lasse ich nicht zu.« Er wandte sich den vier Angeklagten zu. Er ging so nah vor ihnen auf und ab, dass die vier ihn trotz ihrer Fesseln hätten berühren können, wenn sie das gewagt hätten. »Ihr habt unsere Sache verraten«, schrie er sie an, »ihr seid von der Jebha weggelaufen. Ihr wolltet nach Hause, ihr Feiglinge. Ihr wolltet uns im Stich lassen. Ihr zerstört unsere Moral. Das werde ich nicht zulassen!« 126 Er machte eine lange Pause und sah jedem der vier in die Augen. Niemand regte sich, niemand sagte etwas. »Ich verurteile euch zum Tode.« Es war still. Zwei der Angeklagten brachen zusammen. Sie ließen sich in ihre Fesseln fallen und schrien los. Sie flehten um ihr Leben. Der eine, der bislang so teilnahmslos gewirkt hatte, begann an seinen Fesseln zu zerren. Der erste in der Reihe weinte still in sich hinein. »Ihr werdet sterben, weil ihr die Jebha zerstören wolltet«, sagte der Anführer, »und das lasse ich nicht zu. Ihr sterbt, damit wir leben können!« Es herrschte Stille, nur das Schluchzen und Betteln der Angeklagten war zu hören. Plötzlich rief Mihret: »Bravo!« und begann zu klatschen. Aller Blicke richteten sich auf sie. Nach und nach klatschten ein paar mit, dann immer mehr. Auch meine Nachbarin klatschte Beifall. Ich stand wie versteinert da und konnte nicht verstehen, was hier vorging. Waren denn alle damit einverstanden, dass die vier sterben sollen? Jeder von uns hätte dort vorne stehen können, denn jeder hatte schon mal darüber nachgedacht, wie es wäre, nach Hause gehen zu können. Wie schön das wäre und wie leicht — man brauchte nur durch die Wüste zu rennen und aus. Nur ich hatte mir das nie ausgemalt, weil ich kein Zuhause hatte. Zu meinem Vater wollte ich nicht, um keinen Preis. Mbrat hatte mich verlassen. Sie hatte mich betrogen und an meinen Vater ausgeliefert, also wollte ich sie nie mehr sehen. Zu meinen Großeltern hätte ich schon gewollt, doch dort lebte Mbrat. Nach all dem, was ich gesehen und erlebt hatte, konnte ich nicht mit denselben Kindern und denselben Spielen in derselben kleinen Straße von Asmara weitermachen, als wäre nichts geschehen. Ich war eine andere. Ich konnte nicht zurück. »Klatsch doch«, zischte meine Nachbarin und gab mir einen Stoß, »du musst klatschen!« Mechanisch hob ich die Hände und ließ sie aufeinanderklappen. Sie machten kaum ein Geräusch, aber es sah aus, als ob ich klatschen würde. Meine Nachbarin war zufrieden. Innerlich war ich wie gelähmt. Ich spürte, dass alles hier todgeweiht war. Es war unrecht, jemanden zu töten, nur weil er nach Hause wollte. Hier, 127 auf diesem Platz, empfand ich mit aller Wucht, dass ich kein Zuhause hatte. Das weitere Geschehen sah ich wie hinter einer Glasscheibe. Ich war wie betäubt. Ich konnte kaum fassen, was passierte: Vier Krieger traten nach vorne, jeder von ihnen mit einer Kalaschnikow. Sie bekamen ein Zeichen, sich jeweils vor einem Kameraden aufzustellen. »Schießt!« sagte der Anführer. Das war alles. Die vier Soldaten legten an und schössen. Die gefesselten Kameraden bäumten sich auf, von der Macht der Kugelsalven wurden sie hin und her geschüttelt. Sie zuckten so stark, dass einer den Pfahl, an den er gefesselt war, aus dem Boden riss, auf den Pfahl daneben stürzte und ihn fast mit umwarf, als er zu Boden ging. Es war schrecklich. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und presste die Augen zu. Nur die Ohren konnte ich nicht so fest verschließen, dass sich die Schmerzensschreie nicht einen Weg in meinen Kopf bahnen konnten. Es waren die schrecklichsten Schreie, die ich je gehört habe. Mehrere Minuten vergingen, bis wieder Stille einkehrte. »Jedem von euch wird es so gehen, der das macht«, rief der Anführer. Es war ganz still, aber er schrie mit voller Lautstärke: »Jeder, der Jebha zerstören will, wird hingerichtet.« Er machte kehrt und ging. Wir wussten nicht, was nun zu tun war. Stumm und regungslos standen wir da. Nichts geschah. Bis zum Abend blieben die Toten als Warnung an alle an ihre Pfähle gefesselt. Es erschien uns wie eine Erlösung, als die Leichen fortgeräumt wurden. Strafen In der folgenden Nacht kam Mike'ele, um mich zu wecken, doch ich stellte mich schlafend. Meine Angst war zu groß, um mit den anderen Wasser holen zu gehen. Ich zitterte am ganzen Körper. Er rüttelte mich, aber ich presste die Augen zu. Wie sehr ich zitterte, merkte er nicht. Er dachte, ich schlafe fest, und stahl sich wieder davon. Erleichtert atmete ich auf. Ich hätte gerne Wasser geholt, aber ich
128 hatte gewaltige Angst, seit ich gesehen hatte, was mit Leuten passiert, die für Flüchtlinge gehalten werden. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, im Gegenteil, oft dachte ich, der Tod müsse eine Erlösung sein von allen Schmerzen und von der Schufterei. Bestimmt würde Gott mich dann zu sich holen, wie ich das von den Schwestern immer gehört hatte. Vor dem Sterben jedoch hatte ich Angst. An diesem Vormittag hatte ich gesehen und gehört, dass das Sterben eine sehr schmerzhafte Angelegenheit sein musste, vor der ich großen Respekt und große Angst hatte. Verzweifelt, durstig, mit brennender Kehle und mit brennenden Augen vom vielen Weinen wälzte ich mich auf meiner Matte hin und her. Erst kurz vor dem Morgengrauen konnte ich Schlaf finden, als die anderen schon wieder zurückkamen vom Dorf. Es war alles gutgegangen! Erschöpft schlief ich ein, um gleich darauf wieder geweckt zu werden. Wie ich diese Tage voller Arbeit, Geschrei, Hektik, Schießereien, Hunger und Hitze hasste! Ein paar Wochen später mussten wir eine weitere Hinrichtung mit ansehen. Diesmal waren zwei Jungen dran, die ihre Waffen an Beduinen verkauft hatten. Die beiden hatten sich in der Nacht vom Lager weggeschlichen und waren dabei so vorsichtig gewesen, dass sie niemand gehört hatte. Doch einer aus dem Clan der Beduinen, mit dem sie ihre Waffengeschäfte erledigt hatten, stand in Kontakt zur Jebha und verriet die beiden. Als Agawegahta die zwei zur Rechenschaft ziehen wollte, leugneten sie alles. Doch der Augenschein sprach gegen sie: Sie konnten ihre Waffen nicht vorzeigen, und man fand bei ihnen Geld, das sie von den Beduinen bekommen hatten. Dieses Geld wollten die beiden nicht für sich selbst haben, sondern nur für ihre Familien. Vielleicht wollten sie damit auch die Flucht zu ihren Familien finanzieren. In den Einöden im westlichen Eritrea, wo wir stationiert waren, konnte man für Geld nichts kaufen. Das Geld, das wir auf unseren heimlichen Streifzügen der Alten bezahlten, half ihr nichts. Sie konnte nichts damit anfangen, denn sie lebte wie alle anderen auch von ihren paar mageren Tieren und den internationalen Hilfslieferungen. Sonst gab es nichts. Geld war werdos. Einige von uns waren noch nie mit Geld in Berührung gekommen und wussten gar 129 nicht, dass es das gab. Doch das war Agawegahta egal. Sie wollte ihre harte Linie durchsetzen. Agawegahta ließ die beiden erschießen. Sie griff nicht selbst zur Waffe. Sie wollte immer als jemand erscheinen, der höher, wichtiger, wertvoller war. Bei mir gelang ihr das nicht. Nicht mehr. Nach diesen Hinrichtungen begann ich sie zu hassen. Anfangs, als ich neu war bei der ELF, hatte ich sie bewundert. Sie war mir als eine starke, unverwundbare Frau vorgekommen. Doch mit der Zeit wurde mir immer klarer, dass Agawegahta nicht stark war, sondern sehr schwach. Ich sah, dass sie ihre Macht nur durch ein Terrorregime aufrechterhalten konnte. Mir wurde klar, dass die anderen Agawegahta nicht bewunderten oder liebten, sondern fürchteten, weil sie Tod und Schrecken verbreitete. Sie fürchteten, selbst an die Reihe zu kommen. Wer Vergehen begangen hatte, und sei es noch so geringfügig, erwartete Agawegahtas Rache und hatte Todesangst. Verstecke Wenn ich an Agawegahta dachte, dachte ich nicht mehr an meine Heldin, an das stärkste aller Mädchen. Hass und Angst bestimmten mein Verhältnis zu ihr, zumal seit sie von mir erwartete, dass ich zusammen mit den anderen Kleinen an den Schießübungen teilnehme. Wir waren die letzten in der Truppe, die noch nicht schießen konnten, denn nach uns war niemand mehr zur Jebha gekommen. Also schleppte ich die Kalaschnikow von meiner Matte zum Schießplatz, der sich ein paar hundert Meter abseits vom Lager befand. Der Schießplatz bestand aus ein paar Brettern und Stämmen, die mit großen Steinen abgestützt wurden und Menschen darstellen sollten. Sie waren von Einschüssen zersiebt. Ich wollte nicht schießen. Ich hatte Angst davor. Ich hasste den Lärm der Waffen, ich hasste ihr Gewicht, den Rückstoß. Ich konnte die Idee nicht ertragen, dass ich jemanden töten sollte. Ich kannte diesen Menschen ja nicht einmal, auf den ich schießen würde, ich hatte nichts gegen ihn, auch wenn das jemand war, 130 der Menschen wie mich umbringen wollte — aber nur deshalb, weil ich zufällig zur anderen Seite gehörte. Mitten auf dem Weg zum Schießplatz blieb ich stehen. Und wenn ich nicht hinging? Wenn ich eine andere Arbeit machte, eine, die noch viel wichtiger wäre als das Schießen? Zum Beispiel musste dringend Holz gesammelt werden, es war fast keines mehr da. »Na, komm schon!« sagte einer zu mir, der ebenfalls auf dem Weg zum Schießplatz war. »Gleich, geh nur, ich hole nur noch etwas«, gab ich zurück. »Was denn?« fragte der andere. Er wusste, dass ich noch nie Schießübungen gemacht hatte. »Munition«, sagte ich schnell, »die habe ich bei mir vergessen!« »Beeil dich!« sagte der andere. »Komm sofort nach!« Er wandte sich um und ging weiter. Er schien keinen Verdacht geschöpft zu haben. Langsam machte ich kehrt und ging zurück zum Lager. Am liebsten wäre ich gerannt wie ein Wüstenfuchs, aber ich riss mich zusammen, um nicht aufzufallen. Doch wohin mit meiner Waffe? Wenn ich sie auf meinen Platz legte, wüsste jeder sofort, dass ich nicht bei den anderen auf dem Schießplatz war. Verzweifelt sah ich mich um.
Es war nicht leicht, in dieser Einöde etwas zu verstecken, noch dazu etwas so Unförmiges wie eine Kalaschnikow. Da fiel mir Mike'ele ein und wie er die Wasserkanister versteckt hatte. Ich beschloss, mein Versteck ebenfalls unter der Erde anzulegen, und suchte eine geeignete Stelle mit lockeren Steinen und Geröll, an der ich leicht graben konnte. Dort schaufelte ich mit bloßen Händen eine kleine Grube, in die ich die Waffe legen konnte. Als ich es fast geschafft hatte, kam Tzegehana vorbei. Sie durfte nichts mitbekommen, sonst würde sie es Yaldiyan sagen, und die konnte nichts für sich behalten. Also schob ich mit dem Fuß noch ein paar Steine über das Metall und tat, als hätte ich mich gerade erleichtert. Das war hier draußen zwischen den Steinen und Büschen die natürlichste Sache der Welt. Hier musste man immer aufpassen, wohin man trat, weil alles voll war von den Hinterlassenschaften der Lagerbewohner. Tzegehana hatte nichts bemerkt. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich durfte bloß nicht an morgen denken. 131 Zusammen mit Tzegehana ging ich Holz holen. »Ich habe etwas gefunden«, rief Mike'ele, als ich schwer mit Holz beladen zurückkam. »Ich zeig dir was, komm!« rief er. Sofort ließ ich meine Hölzer fallen und lief zu ihm hinüber. »Komm mit!« Er lief voran, und plötzlich merkte ich, dass es in Richtung des Schießplatzes ging. Mir rutschte das Herz in die Hose. Sollte ausgerechnet er, der Leiter dieser Schießübungen, meine Waffe gefunden haben? Als wir zu der Stelle kamen, wo ich die Waffe versteckt hatte, sah ich, dass die Hälfte des Magazins aus der Erde ragte. Das musste ich übersehen haben, als mich Tzegehana überrascht hatte. Betreten sah ich zu Boden. »Du weißt, was passiert, wenn ich das den anderen erzähle?« fragte Mike'ele. Das wusste ich nur zu gut. »Mach, dass du das Ding ausgräbst, und verschwinde«, sagte er und ging weiter, ohne noch etwas zu sagen. Ich war ihm dankbar wie schon lange niemandem mehr. Hastig grub ich die Waffe aus. Als ich das nächste Mal unter Mihrets Anleitung schießen sollte, musste ich hart mit mir kämpfen, ob ich es noch einmal wagen konnte, mich davonzustehlen. Mike'ele war nicht dabei. Sicher hatte er niemandem etwas verraten. Mihret machte mir die Sache leicht, als sie uns alleine auf dem Schießplatz zurückließ. Sie hatte etwas Besseres vor, und die anderen interessierten sich ohnehin nur für die Ballerei. Was ich tat, war ihnen egal. Sie wollten alles machen und können wie die Großen, auch schießen und töten. Mit Begeisterung waren sie bei der Sache. Oder zumindest taten sie voreinander so. Unbemerkt schlich ich mich davon und vergrub meine Waffe. Diesmal machte ich es mir unten am Bachbett gemütlich. Ich suchte mir ein halbwegs schattiges Plätzchen fernab der Truppe und legte mich hin. Warum sollte ich arbeiten, wenn die anderen dachten, ich sei beim Training? Für mich zu sein war ein wunderbares, unbekanntes Gefühl. Ganz allein, ohne jemandem, der etwas befahl, ohne Auftrag, ohne Zwang, etwas Bestimmtes tun zu müssen. Das Gefühl war so herrlich, 132 dass ich mich entspannte, und ohne es zu merken, war ich auch schon eingeschlafen. Als ich aufwachte, war es fast dunkel. Ich erschrak fürchterlich. Was ich noch alles hätte tun müssen bis zum Abend! Ich sprang auf und lief so schnell ich konnte zum Lager zurück — direkt in die Arme Agawegahtas. Fast hätte ich sie umgerannt. Ich murmelte eine Erklärung und wollte gleich weiter, aber Agawegahta hielt mich unsanft fest. »Ich habe gehört, dass du immer wieder deine Waffe versteckst, weil du nicht kämpfen und nicht üben willst — stimmt das?« Der Schreck fuhr mir in die Glieder. Woher wusste sie das? War die Kalaschnikow schon wieder gefunden worden? Hatte Mike'ele mich doch verraten? Ich stammelte Ausreden, Erklärungen, Entschuldigungen, aber es nutzte alles nichts. Agawegahta war sich ihrer Sache sicher. Ich begann zu zittern — sollte ich erschossen werden? »Diesmal kommst du nicht ungeschoren davon«, sagte sie, »Mihret wird sich um eine Strafe für dich kümmern. Aber pass auf! Beim nächsten Mal geht es dir richtig schlecht!« Sie rüttelte mich ein paarmal, dann ließ sie mich plötzlich los, so dass ich fast zu Boden gestürzt wäre. Mihret ließ mich Wasser tragen, auf den Knien. Ich musste stundenlang mit einem Wasserkanister auf dem Rücken im Lager umherrutschen, bis meine Knie und Schultern blutig waren. Die anderen sahen zu und feuerten mich an, brüllend vor Lachen. Trinken durfte ich keinen Tropfen von dem W asser. Es war eine der schrecklichsten Nächte meines Lebens. Als alle schliefen, kippte ich um und schlief auf der Stelle ein, mitten im Dreck, mit dem Kanister auf dem Rücken. Später erfuhr ich, dass Yaldiyan mich verraten hatte. Sie hatte wohl mitgehört, wie Mike'ele einem Freund erzählte, dass er meine vergrabene Waffe entdeckt hatte. Yaldiyan machte sich gerne wichtig, und außerdem mochte sie mich damals nicht besonders. Sie fand, ich müsste mich ihr unterordnen, weil sie die ältere Schwester war, doch dazu hatte ich keine Lust. Durch diese öffentliche Bestrafung wurde ich isoliert. Für die anderen war ich jetzt der Angsthase, und sie sahen auf mich herunter. Freunde wie Mike'ele wandten sich ab und wollten nichts mehr mit
133 mir zu tun haben. Sie befürchteten, dass der Umgang mit mir ihnen schaden könnte. Angst Ich hatte immer mehr Angst. Angst war das alles beherrschende Gefühl. Ich wollte nicht sterben, schon gar nicht durch eine Hinrichtung. Ich wollte nicht von einer Granate zerfetzt werden oder von einer Mine. Ich hatte gesehen, was für schreckliche Verletzungen Menschen dadurch zugefügt wurden und wie jämmerlich sie starben. »Warum töten wir sie?« fragte ich Mihret, als sie uns wieder mal vom gerechten Krieg gegen die Bösewichter schwärmte, die unser Vaterland zerstören wollten. »Warum sollen wir sie töten? Sie sehen genauso aus wie wir. Sie sind vom gleichen Stamm wie wir!« Dass Angehörige anderer Stämme anders aussahen, hatte ich in Asmara bei meinen Großeltern gesehen. In der Großstadt lebten damals Mitglieder der verschiedensten Stämme friedlich zusammen. Seitdem wusste ich, dass Eritreer nicht gleich Eritreer sind, sondern dass manche dunklere Haut haben, dickere Lippen, eine größere Statur oder eine andere Stammestracht. Die toten Feinde jedoch, die wir immer wieder betrachtet hatten, sahen genauso aus wie wir. Wütend sagte Mihret: »Was erzählst du für einen Blödsinn? Du hast keine Ahnung, du bist noch klein, du weißt nichts!« »Die sahen doch aus wie ich!« wiederholte ich starrsinnig. Mir war klar, dass ich Mihret damit noch wütender machte, aber das war mir egal. Ich spürte eine Wut in mir wie schon lange nicht. Eine Wut auf dieses Töten, eine Wut auf das elende Dasein hier in der Wüste, eine Wut auf Mihret und Agawegahta und auf alles, was mit ihnen zusammenhing. »Die sahen nicht aus wie du, Idiot!« schrie Mihret. »Das waren EPLFKämpfer. Die sahen anders aus!« »Überhaupt nicht«, schrie ich zurück, »gleich sahen die aus! Die Haare sahen gleich aus, die Haut war gleich dunkel ...« 134 Weiter kam ich nicht, weil Mihret mit einem Satz bei mir war und mit Leibeskräften auf mich eindrosch. »Dir werde ich zeigen, was es heißt, dauernd zu widersprechen, du Feigling«, schrie sie, »du lügst, weil du nicht kämpfen willst. Du bist zu feige, um eine Waffe in die Hand zu nehmen, darum erfindest du diesen Blödsinn!« Schützend hielt ich die Arme über den Kopf. Innerlich musste ich Mihret recht geben, zumindest teilweise: Ich wollte nicht kämpfen. Zwar wäre ich auch sonst dagegen gewesen, dass die Menschen einander abschlachten, aber dass ich dabei mittun sollte, regte mich erst richtig auf. »Du lügst!« schrie ich noch, als ich schon im Dreck lag und Staub und Erde in meinen Mund drangen. Dann verlor ich das Bewusstsein. Seit diesem Streit war mir klar, dass ich keine Chance hatte, dem Krieg zu entkommen, solange ich im Lager der Jebha war. Ich wusste, dass ich meine Waffe gebrauchen würde müssen. Ich wagte es nicht mehr, sie zu verstecken, und wenn wir Training hatten oder gemeinsam unterwegs waren, hatte ich sie stets bei mir. Selbst zum Wasserholen nahm ich die Waffe öfters mit, obwohl ich sie zusammen mit dem Kanister immer noch kaum schleppen konnte. Allerdings vergrub ich die Munition. Ich dachte, ohne Munition wäre die Waffe ein wenig leichter, aber das stimmte nur theoretisch: Ich spürte den Unterschied kaum. Schießübungen Die Munition, die ich so eilig vergraben hatte, sollte mir schon bald schmerzhaft fehlen. Als ein gutes Dutzend anderer Kinder und ich zusammen mit Mihret bei einem Wasserloch waren, sahen wir vier oder fünf Kojoten, die eine tote Antilope zerfetzten. »Jetzt könnt ihr mal zeigen, was ihr könnt«, zischte Mihret gierig, als wäre sie selbst ein Kojote und hätte plötzlich Blut geleckt. »Los, geht in Deckung, und schleicht euch näher ran. Wenn ihr die Kojoten so groß seht wie eine Ratte, die 135 direkt neben euch ist, legt an. Ihr schießt erst auf die Biester, wenn ich euch ein Zeichen gebe, nicht vorher. Mal sehen, ob ihr etwas trefft!« Ich warf mich wie die anderen auf den Boden, zog die Waffe von der Schulter nach vorne, und wir robbten los, wie wir das im Training gelernt hatten. Ich fand es lächerlich und demütigend, sich auf allen vieren kriechend über den steinigen Boden zu bewegen. Das war eine Fortbewegungsart für Tiere. Ich schämte mich, durch den Dreck zu robben, doch die anderen fanden das okay. Die Übungen machte niemand gerne, aber den »Ernstfall« gegen die Kojoten fanden alle spannend. Die Tiere spürten bald, dass etwas nicht stimmte. Sie ließen von ihrem Opfer ab und versuchten, die Witterung aufzunehmen. Dann fraßen sie unruhig weiter. Gierig rissen sie an dem Kadaver herum, um in immer kürzeren Abständen in die Luft zu schnuppern. Hohe, vertrocknete Stauden raubten mir die Sicht, und die Luft unmittelbar über dem Boden flimmerte so stark vor Hitze, dass Dinge in größerer Entfernung nur verschwommen zu sehen waren, in wellenförmiger Bewegung verzerrt. Ich bekam kaum Luft hier unten, so heiß war es über der Erde. Im stillen verfluchte ich mich, weil ich keines der Tücher dabeihatte, wie sie die Beduinen
und unsere Frauen tragen. Das Tuch hätte ich mir jetzt gut um den Kopf und vor das Gesicht wickeln können. Die Kojoten wurden immer nervöser. Sie standen neben dem Kadaver, als wären sie schon auf dem Sprung. Dauernd sahen sie sich um, schnupperten, hoben die Köpfe, oft mit einem Fleischfetzen im Maul. »Jetzt!« zischte Mihret. »Schießt!« Ich riss wie die anderen die Waffe hoch, entsicherte und presste mich auf den Boden so fest ich konnte, weil der Rückstoß mich sonst umwerfen würde. Aber als ich abdrückte, machte es nur leise »klick«. Siedendheiß durchfuhr es mich: Ich hatte keine Munition im Magazin! Gleichzeitig ballerten die anderen links und rechts von mir los. Ihre Salven zerrissen die Luft über dem weiten, fast trockenen Flusstal. Steine, Staub und Erde spritzten auf, die meisten Schüsse landeten weit entfernt von ihrem Ziel. Es roch nach verbrannter Haut. Wild jaulend schössen die Kojoten davon. Es waren viele, fast ein Dutzend. Sie waren so eng beisammen gewesen, dass man die einzelnen Tiere nicht unter 136 scheiden konnte, riui^hch machte einer einen grotesken Luftsprung, überschlug sich und knallte der Länge nach hin. Gleich sprang er wieder auf fiel wieder hin, sprang auf. »Den habt ihr!« brüllte Mihret. »Los, hin!« Immer noch schießend, stürmten die anderen voran. Nur ich blieb liegen. Diesen Ausbruch an Gewalt und Lärm und Vernichtung konnte ich nicht fassen. Zwei schössen noch ein paarmal auf den schwerverletzten Kojoten, bis er sich nicht mehr rührte. Dann stimmten alle ein Jubelgeheul an. Ich kam langsam hinterher und überlegte noch, wie ich mich verhalten sollte, da kam Mihret auf mich zu und schlug mir ins Gesicht. Sie riss mir die Waffe aus den Händen, öffnete das Magazin und hielt es anklagend den anderen hin, die sich von dem erlegten Kojoten abwandten. »Seht euch diese Memme an«, rief Mihret und schwenkte meine Waffe wie eine Trophäe über ihrem Kopf, »sie hat ihr Gewehr nicht mal geladen. Sie spielt hier Theater, aber es ist nichts dahinter. Sie ist niederträchtiger als der Kojote, den ihr erlegt habt!« Sie schlug mir ein zweites und ein drittes Mal ins Gesicht. Ich sagte nichts. Meine Wangen brannten, aus der Nase lief Blut, doch das spürte ich nicht. Die Blicke der anderen brannten wie Feuer. Ich spürte Mihrets Hass wie einen brennenden Strahl auf mir. »Du Dreck«, schrie sie, »du Dreck! Das wirst du büßen! Dich kriege ich noch hin!« Sie drückte mir das Gewehr in die Hand und gab mir einen Tritt, so dass ich fast der Länge nach hingefallen wäre. »Mach, dass du weiterkommst! Los, feuert sie ein bisschen an!« Die anderen begriffen nicht, doch als Mihret mir noch einen Tritt versetzte, war klar, was sie meinte. Ich rannte los, und lachend rannten die anderen hinter mir her und quälten mich mit Tritten und Hieben. Ich stolperte und ging zu Boden, die anderen waren sofort über mir und traten auf mich ein, aber ich wehrte mich nicht. Plötzlich sah ich einen großen Schatten über mir. »Weg hier«, sagte eine befehlsgewohnte Stimme ruhig. Sie gehörte der Anführerin einer Gruppe von etwas älteren Kindern. Sofort ließen meine Verfolger von mir ab. »Was soll das? Was wollen sie von dir?« »Sie hassen mich«, schluchzte ich, »weil ich nicht mit ihnen auf die Kojoten geschossen habe. Jemand muss mir heute nacht die Patro 137 nen gestohlen haben, und ich habe mich nicht getraut, das Mihret zu sagen.« Ich wunderte mich selbst, dass mir diese Lüge eingefallen war. Die Ausrede war perfekt. »Lasst sie«, fuhr die Anführerin die anderen Kinder an, »verschwindet.« Zu mir sagte sie: »Wenn das nicht stimmt, werfe ich dich den Kojoten zum Fressen vor!« Erschöpft, schockiert und dankbar zugleich rappelte ich mich auf. Die anderen gingen wortlos davon, ohne mich nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Unfälle Ich war zu klein, um eine Soldatin abzugeben. Zu jung, zu schwach, zu feige. Außerdem waren die Waffen viel zu schwer für mich. Es gab fast nur Kalaschnikows, diese riesigen, unhandlichen automatischen Gewehre. Nur Anführer wie Agawegahta hatten auch Pistolen. Die wären für uns Kinder viel geeigneter gewesen, doch davon gab es nur wenige. Gott sei Dank, denn sonst hätte ich damit schießen und auch treffen müssen. Mit einer Kalaschnikow war mir das schon alleine wegen des starken Rückstoßes kaum möglich. Niemand von uns Klei nen konnte mit diesen Schießeisen umgehen, die viel zu kompliziert und zu unberechenbar waren für uns. Einmal gingen zwei meiner kleinen Kameraden, beide nur ein oder zwei Jahre älter als ich, in Richtung Schießplatz, mit ihren Waffen über den Schultern. Die Gewehre waren so groß, dass ihre Kolben fast bis auf den Boden reichten. Wenn wir über größere Steine stiegen, mussten wir die Waffen ein wenig anheben, damit sie nicht dagegenstießen. Es war nichts Besonderes, dass Kinder selbständig schießen übten, und so achtete ich nicht weiter auf die beiden. Ich war gerade damit beschäftigt, Feuerholz zu dünnen Spänen zu zerkleinern, die zum Anzünden verwendet wurden. Vom Übungsplatz her waren einige Salven zu hören. Plötzlich kam eines der beiden Kinder heulend angerannt und brüllte unverständ
138 liches Zeug. Seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Ich ließ das Messer fallen und lief zu dem schreienden Jungen. Dessen zerfetztes Hemd war von Blut beschmiert, auch an seinen Beinen waren Blutflecken. »Er ist tot!«, schrie er immerfort, »tot! Tot!« Inzwischen waren auch ein paar andere herbeigeeilt. Sie griffen nach ihren Waffen und schrien den Kleinen an, wo der Tote denn wäre. Der Junge zeigte in Richtung Schießplatz, wo der felsige Abhang hinter dem Lager begann. Alle entsicherten ihre Waffen; sie fürchteten, ein feindlicher Trupp habe sich in den Felsen verschanzt und einen der Unsrigen getötet. Die Feinde kamen oft so nah, dass man die Männer mit bloßem Auge erkennen konnte. In den letzten Tagen war die Rede öfters darauf gekommen, dass wir mit dem ganzen Lager wieder einmal umziehen sollten. Das Problem war nur, dass sich die EPLF mittlerweile schon von zwei Seiten auf uns zuzubewegen schien. Ich ging in Deckung und beobachtete, was geschah. Der Junge heulte weiter wie besinnungslos, sonst rührte sich nichts. Mit dem Gewehr im Anschlag unternahmen die anderen einen Ausfall und stürmten zum Schießplatz vor. Doch es gab keine Gegenwehr, kein Feind war zu sehen. Ratlos riefen sich unsere Leute Kommandos zu, dann ließen sie nach und nach die Waffen sinken. Es schien keinen Angriff zu geben, und so verließ ich meine Deckung und ging auch zum Schießplatz. Ich stolperte geradezu über den zweiten Jungen: Neben einem Busch lag der Kleine, mit aufgerissenem Kopf, Blutspuren über den ganzen Körper, leblos. Ich schrie auf, die anderen kamen herbeigestürzt, die Waffen im Anschlag. Hier kam jede Hilfe zu spät der Kleine war tot. Erschossen von seinem besten Freund, wie wir bald erfuhren. Die schwere Kalaschnikow war ihm beim Entsichern aus der Hand gerutscht, es hatte sich eine Salve gelöst und den Kopf des Kindes aus nächster Nähe zerfetzt. Die anderen zuckten mit den Schultern und machten sich davon. Zwei nahmen die kleine Leiche und trugen sie zu einer Grube, die wir am Vortag ausgehoben hatten, weil zwei Kämpfer an der Front gefallen waren. Auf ihren Körpern lagen Steine wegen der Kojoten. Dass Menschen unter den Steinen lagen, konnte man nur ahnen. In diese Grube 139 wurde jetzt die Kinderleiche geworfen. Ein toter Mensch fällt wie ein Sack. Die schweren Steine rührten sich nicht, als der Junge auf sie stürzte. Blut rann aus der klaffenden Wunde, die einmal sein Schädel war. Regungslos saß ich am Rand der Grube und starrte hinunter. »Grab ihn ein«, fuhr mich einer der beiden an, die die Leiche getragen hatten, und drückte mir einen Spaten in die Hand. Mechanisch schaufelte ich Sand und kleine Steine auf den Toten. Ich weinte. Weinend grub ich so lange rund um das Loch und schüttete Erde ins Grab, bis nichts mehr zu sehen war außer Sand und Schotter vom nahen Fluss. Erst als ich ins Lager zurückgehen wollte, bemerkte ich den »Täter«. Er hatte die ganze Zeit hinter mir gesessen, völlig still. Sein Schluchzen war einer Starre gewichen. »Er ist tot«, sagte er, als ich ihn ansah. »Ich habe ihn getötet.« Der Tote war sein bester Freund gewesen. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und weinte. Ich nahm ihn in die Arme. Er lehnte seinen Kopf an meine Schulter. Ich fühlte mich wie seine Mutter, die ihn tröstete. Ich empfand nur Trauer, keine Wut. Der Junge hatte nicht gewollt, was er getan hatte. Keiner von uns war verantwortlich für den Mist, der durch die Waffen und durch den Krieg mit uns geschah. Der Junge ließ sich auf meinen Schoß sinken. Ich könnte weinen, dachte ich, aber es kam keine einzige Träne. Ich staunte, dass sich der Junge auf diese Weise beruhigte. Ich wurde selbst ganz ruhig dadurch. Noch nie hatte ich jemanden im Arm gehalten, noch nie hatte sich jemand an mich gelehnt. Ich hatte mich früher an meine Großmutter gelehnt, aber sie sich nicht an mich. Als ich das dachte, kamen mir die Tränen. Ich tat nichts dagegen, und sie flössen reichlich. Versuch und Prügel Schon früher war jemand bei Schießübungen von den eigenen Leuten verletzt oder getötet worden. Diesmal hatte ich es zum ersten Mal selbst gesehen. Unfälle waren fast unvermeidlich, da jeder, der zur ELF kam, gleich eine Waffe bekam, egal ob er zuvor schon mal eine Waffe 140 in der Hand gehabi hatte oder nicht. Nur ich, als eine der Jüngsten, hatte erst nach ein paar Monaten bei der Jebha die Kalaschnikow bekommen. In der Endphase der Jebha gab es für die meisten Kämpfer keine Grundausbildung mit Übungswaffen, Stöcken oder Attrappen, sondern es wurde gleich an richtigen Waffen mit richtiger Munition geübt. Auch für die Jüngsten hieß es bloß: »Hier hast du deine Waffe, auf die passt du gut auf.« Wenn man das Ding aus Versehen entsichert hatte und abdrückte, ging eine Salve los. Mir war das auch schon passiert. Zum Glück schoss ich dabei nur auf den Boden, so dass mir die Erde ins Gesicht spritzte. Einmal ging ein Schuss in den Himmel, ohne dass etwas anderes dabei passierte, als dass ich fürchterlich erschrak, die Waffe fallen ließ, auf den Boden purzelte und mir unter lautem Schreien die Arme über den Kopf hielt, weil ich Angst hatte, dass die Kugeln auf mich herabregnen könnten. Kaum wagte ich die Augen wieder zu
öffnen, prasselten auch schon ein paar Schläge auf mich ein, mit denen ich für meine Ungeschicklichkeit bestraft werden sollte. Das war Bestandteil der »Ausbildung«: Wenn ich etwas falsch gemacht hatte, wurde nichts erklärt oder verbessert, sondern ich bekam Schläge. Beim nächsten Mal konnte ich versuchen, es besser zu machen. Bald bewältigte ich mehr und mehr der täglichen Aufgaben ohne Schläge. Das war das Resultat einer langen Kette von Versuch und Prügeln. Als ich endlich mit meiner geladenen Waffe zum Schießplatz ging, begann ich zwar wie die anderen zu schießen, aber ich traf nichts. Niemand von uns Jüngeren konnte gut treffen, weil der Rückstoß der Waffe so immens war. Wir waren dünne, kraftlose Hanfgarne. Ich flog manchmal ein paar Meter aus dem Stand nach hinten, wie von einer Riesenhand geschleudert. Ich rutschte durch den Sand, polterte über die Steine, stieß mir die Knie und die Ellbogen auf und zerkratzte mir den Rücken, wenn ich auf ein paar spitze Steine segelte oder auf ein scharfes Stück Holz oder einen Dornenstrauch. Trotzdem durften wir uns nicht hinlegen beim Schießen, zumindest nicht am Anfang. Wir rnussten stehen oder knien oder sonstwie aufrecht sein. Später entwickelte ich den Trick, den Rückschlag aufzufangen, 141 indem ich ein Bein anwinkelte und auf irgend etwas stellte, beispielsweise auf einen Stein. Oder ich lehnte mich gegen einen möglichst dicken Baum, der sich nicht verbiegen konnte — aber dazu gab es nicht oft Gelegenheit, denn Bäume waren hier Mangelware, schließlich befanden wir uns in der Wüste. Zumindest kam mir das Land nach der langen Trockenheit wie Wüste vor, auch wenn wir durch Steppen und Grasland zogen. Weite, offene Ebenen waren das mit ein paar Hügelgruppen drin, endlose Räume, die nur durch wenige Baumgruppen und die weit übers Land verstreuten Steine und Felsen gegliedert wurden. Nach einer Weile wurden mir und den anderen in meinem Alter, die noch zu jung waren, um an der Front eingesetzt zu werden, die Waffen wieder abgenommen. Je mehr es mit der Jebha bergab ging, um so schlechter war es um den Nachschub bestellt, und mit den vorhandenen Waffen konnte nicht mehr so verschwenderisch umgegangen werden. Sie wurden für den Kampf gebraucht, nicht für Schießübungen. Trotzdem waren wir Jüngsten von den Trainings nicht befreit. Auch ohne eigene Waffe mussten wir an Geländeübungen teilnehmen. »Der Krieg ist hart. Mir ist er zu hart...« Als es schon zum zweiten Mal Sommer wurde, während ich bei der Jebha war, schnürte uns der Krieg immer mehr von allem ab, was Leben hieß. Was übrigblieb, konnte man kaum mehr Leben nennen. Das war nur mehr ein Flüchten, Zittern, Hungern, ImDreckRobben und UmdaseigeneLebenBangen. Es war mehr Angst als Leben. Alle paar Wochen mussten wir unser Quartier wechseln, manchmal sogar alle paar Tage, weil wir gejagt wurden wie Freiwild. Einmal waren wir erst abends an einem Lagerplatz angekommen, der unseren Anführern halbwegs sicher vorkam, weil er versteckt lag und trotzdem einen weiten Ausblick bot: In einer kleinen Mulde zwischen zwei Hügelkuppen, von denen die eine einen knappen Kilometer entfernt lag, ließen wir uns nieder. Als wir ankamen, war es schon so dunkel, dass wir die Distanz nur mehr schätzen konnten und der Hügel nichts weiter war 142 ais eine schwarze Q;lv«~>uette uu ier einem schwarzen iuch mit einer Milliarde leuchtender weißer Punkte. Das Sternenlicht schien aber so schwach, dass wir ständig über Steine stolperten und uns an Disteln oder Dornen blutig rissen. Inmitten dieser Geröllhalde war weit und breit kein Wasser zu vermuten. Das bedeutete trockene Kehlen für diesen Abend und eine beschwerliche Wanderung zum nächsten Wasserloch am anderen Morgen. Dabei waren meine Füße schon blutig von den Steinen, die sich zwischen meinen Zehen verkeilten und sich zwischen die Fußsohlen und meine Gummilatschen schoben. Völlig erschöpft breiteten wir unsere Matten und Lumpen aus, um nur zu schlafen, schlafen, schlafen. Ich brachte gerade noch die Kraft auf, die spitzesten und größten Steine beiseite zu schieben, um nicht zerschunden zu werden, dann fiel ich auf der Stelle in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Niemand von uns wusste, ob die EPLFBatterie auf der Hügelkuppe neben dem Lager schon da war, als wir ankamen, oder ob unsere Ankunft bemerkt und die Batterie deshalb aufgebaut worden war. Letztlich machte es keinen Unterschied. Sobald sich im heranbrechenden Morgenlicht die ersten Schemen der Steine und Felsen und die Rücken der Schläfer vom alles verschlingenden Grau der Dunkelheit abzuheben begannen, belegten uns deren Geschütze mit ihrem Feuer. Eben noch herrschte tiefe Stille, und im nächsten Moment explodierte alles rund um uns herum. So musste der Weltuntergang klingen. Die Donnerschläge ließen das Lager erzittern. Riesige Staubwolken stiegen auf, Steine spritzten durch die Luft. Mit einem Satz sprangen wir mitten aus dem Tiefschlaf der Erschöpfung auf die Beine und rannten um unser Leben. Wenige Sekunden später starteten die Lkws, jeder raffte etwas zusammen, was er greifen konnte. Ich riss ein paar Decken an mich, und war schon ein, zwei Meter weiter, als mir einfiel, dass darunter meine Waffe gelegen hatte. Ich ließ sie liegen und rannte weiter, doch plötzlich bekam ich irrsinnige Angst, dass die Feinde mich töten wollten, ohne dass ich mich wehren könnte. Oder war es die Angst, von meinen eigenen
Leuten streng bestraft zu werden, wenn ich meine Waffe zurückließe? Es war beides zugleich 143 oder eines nach dem anderen, knapp hintereinander. Das waren keine Gedanken mehr, es waren Blitze, die mich durchzuckten, Gedankensplitter, die mir fast den Kopf zerrissen. Ich rannte die paar Schritte zurück und griff nach meiner Waffe. Rings um mich herum war Chaos. Schreie, Befehle, Flüche, die ich nicht mehr aufnehmen konnte. Mike'ele kam brüllend auf mich zu und hielt sich den Arm. Das Blut floss rot von seinem Arm über seine Hand. Sein Gesichtsausdruck war voll heilloser Panik. Es roch nach Rauch und nach verbranntem Fleisch und nach Todesangst. Orientierungslos stand ich einen Moment unschlüssig da, zitternd. Ich rannte ein paar Schritte in die falsche Richtung, instinktiv weg von dem aufheulenden Motor des Trucks, auf dessen Ladefläche ich springen sollte. Ich presste die Decken und meine Kalaschnikow an mich und hetzte los, ins Morgengrauen hinein. In diesem Moment schlug eine Granate genau dort ein, wo ich hätte sein sollen, um auf die Ladefläche zu klettern. Wäre ich dort gewesen, hätte die Sprengladung mich auf der Stelle zerfetzt. Ich sah nur einen Blitz und hörte den Knall. Eine ungeheure Wucht schleuderte mich ein paar Meter weit weg. Der Lkw wurde getroffen und fing Feuer. Menschen sprangen von der Ladefläche. Andere hingen verletzt zwischen Trümmern und Splittern und Rauch und Staub und zerbrochenen Flaschen. Woher kamen nur die vielen Glassplitter? Ich rappelte mich auf und rannte weiter, ins offene Feld hinein, die Decken und die Waffe fest an mich gepresst. Fast wäre ich mit dem Kopf in einen unserer kleineren Lkws gerannt, eine Art Lieferwagen mit Türen am Heck. Der Wagen fuhr bereits. Mit Mühe sprang ich hinten auf, fast wäre ich von dem glatten Trittbrett abgerutscht. Ich warf meine Lasten weg und klammerte mich mit aller Kraft an das Auto. Jemand zog mich hinauf. Ich quetschte mich in das stockdunkle Innere des Wagens, zwischen viele andere, die von allen Seiten schoben und drängten. Nass war es hier vom Schweiß oder vom Blut. Es war, als wäre ich in den feuchten Eingeweiden eines großen Tieres gelandet, das sich heftig rudernd fortbewegte. Dauernd stieß ich mich an. Alle im Auto waren still, einer stöhnte. Ein Wunder, dass der Fahrer einen Weg fand, denn es war noch immer fast völlig dunkel. Meine Angst war ver 144 flogen, dafür war ich wie gelähmt von dem Schrecken, den ich gesehen hatte. So nah war ich dem Krieg noch nie gewesen. Wir fuhren und fuhren den ganzen Tag, eine Kolonne von knapp zehn Fahrzeugen. Hinter den Führerhäusern standen jeweils die Größten von uns mit Maschinengewehren im Anschlag, jederzeit schussbereit, falls wir in einen Hinterhalt geraten sollten. Die anderen kauerten auf den Ladeflächen, immer noch schweigend. Jeder kannte einen, der tot oder, noch schlimmer, verletzt zurückgeblieben war und dem jetzt Erschießung, Gefangenschaft, Folter oder Gehirnwäsche drohte. Es gab genügend trübe Gedanken, denen man nachhängen konnte. Ich dachte an Mike'ele. Wo mochte er sein? Jedesmal, wenn wir auf einer der unbefestigten Bergstraßen in einer längeren Kurve fuhren, hing ich über der Ladewand und spähte nach den anderen Wagen, ob sein blonder Schopf irgendwo zu sehen wäre, doch ich wurde nicht fündig. Sicher war er zurückgeblieben, weil er es auf kein Auto mehr geschafft hatte. Mit seinem blutenden Arm konnte er sich nirgends hinaufziehen. Allein der Blutverlust brachte ihn sicher um, da war so viel Blut auf ihm. Wer hätte ihn verbinden sollen? Selbst wenn er es auf einen der Wagen geschafft haben sollte, konnte man seine Wunde nicht versorgen, denn das meiste Material wie Verbandszeug, Decken, Töpfe und sogar Proviant mussten wir bei unserer Flucht zurücklassen. Jede weitere Sekunde in diesem Lager hätte viele von uns das Leben gekostet. Gerettet fühlten wir uns aber immer noch nicht. Mit knurrenden Mägen waren wir unterwegs, ohne einen einzigen Tropfen Wasser und ohne Aussicht auf Nahrung oder Schutz. In dieser ausweglosen Situation kam das Lied. »Der Krieg ist hart. Mir ist er zu hart...« Leise kam es von einer hellen Stimme tief drinnen im Laderaum des kleinen Lasters. »Durch ihn verlor ich meinen Bruder, durch ihn schieße ich auf meinen Bruder ...« Eigentlich hätte ich in diesem Moment weinen müssen, aber es kamen keine Tränen, es kamen Töne. »Während meine Familie hinter dem Haus geschlachtet wird, fliehe ich durch die Vordertüre ...« Ich stimmte ein in den Gesang, mit geschlossenen Augen. Das war Eden, die vorgesungen hatte. Die beste Sängerin der Jebha. Ich hatte sie zuvor nicht gesehen, in diesem Gewirr von Menschen 145 leibern und Armen und Beinen. Auch das Mädchen neben mir sang mit, der Junge hinter mir. Noch einer weiter hinten: »Der Schlachter meiner Familie ist doch mein Bruder. Mein Feind, mein Feind, aber warum ist er mein Feind, denn er ist doch mein Bruder ...!« Den Refrain sang die Besatzung des Lasters aus vollem Hals: »Der Krieg ist hart. Mir ist er zu hart ...« Niemand weinte, alle waren in der Musik. Singend und hungrig und schwitzend fuhren wir durch die Landschaft, durchgerüttelt von den schlechten Schotterpisten und ohne Hoffnung außer diesem einen Lied. »Der Krieg ist hart. Mir ist er zu hart ...«
Als das Lied längst zu Ende war, klang es immer noch nach in meinem Kopf. Seine Melancholie fuhr mit uns durch diese steinige Berglandschaft. Wir hatten es schon oft gesungen, wenn es abends Zeit gab, zusammenzusitzen. Mihret mochte das Lied nicht. Nach den Übungen hatte sie uns immer etwas anderes singen lassen, doch ihre Kampflieder mochte ich nicht. Darin ging es immer nur um Heldentum, um Vaterland und Freiheit. Das waren Begriffe, die mich nicht interessierten. Ich war keine Heldin und wollte keine sein. Meinen Vater hasste ich — was also sollte mir ein Vaterland? Was Freiheit war, hätte ich gerne gewusst — nie hatte sie mir jemand gezeigt. Eden sang die richtigen Lieder. Ich versuchte, einen Blick oder eine Berührung von ihr zu erhaschen, aber ich kam nicht durch zu ihr. Es war, als bildeten die Leute auf der engen Ladefläche eine Barriere zwischen mir und ihr. Eden war nur ein paar Jahre älter als ich, aber sie konnte wunderbar singen. Sie hatte eine weiche, volle Stimme. Wenn Eden sang, dann war das nicht so ein hohes Krächzen wie bei Mihret und auch kein Piepsen wie bei mir. Damals auf der Ladefläche schwor ich mir, dass ich einmal so schön singen wollte wie Eden. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist. Ich habe es immer probiert. Eden war nicht nur eine wunderbare Sängerin, sie war eine kluge Frau, die wusste, dass sie es nicht bei der Trauer belassen durfte, die dieses Lied in uns alle gesenkt hatte. Also stimmte sie ein zweites Lied an: »Die EPLF, diese zwielichtigen Figuren, haben sich großgemausert, weil sie betrügen und belügen ...« Es dauerte nur ein paar Silben, dann fielen alle anderen ein. Jeder von uns kannte dieses Lied von der ersten bis zur letzten Zeile. Es war in den letzten Monaten unser wichtigstes 146 Lied geworden, wcü ls unseren Feind verdammte. Weil viele von uns verzweifelt versuchten, sich an diesem Lied festzuhalten. »Aber mach dir keine Sorgen, mein Volk! Jeder Böse hat ein böses Ende. Eritrea, mach dir keine Sorgen. Dein Befreier, Jebha, wird dich auf deinem Weg in die Unabhängigkeit führen ...« Das war ein Lied, das man laut und kraftvoll singen konnte. Ich habe keine Ahnung, woher immer wieder diese Kraft kam. Ich weiß nicht, wie wir es schafften, inmitten unserer Hoffnungslosigkeit und Not laut zu singen und zu summen und den Takt zu klatschen, während wir in eine Ungewisse Zukunft fuhren. Die Front Zwei Tage und zwei Nächte nach dem frühmorgendlichen Überfall stießen wir auf zwei weitere Wagenkolonnen unserer Truppe. Wir stellten fest, dass an jenem Morgen ein paar Dutzend unserer Leute gefallen oder zurückgeblieben waren. Zwar hatten wir immer noch jede Menge Waffen und Munition, die noch vom Abend vorher auf den Lkws lagen, aber das war alles. So durchkämmten wir jede Hütte, jeden Weiler, jedes Dorf auf unserem Weg nach Essbarem und nach Wasser. Die Bewohner, meist selbst ausgehungerte Habenichtse, flohen wehklagend vor uns, ohne Gegenwehr zu leisten — wie auch: Sie besaßen nichts außer ihren Hütten, einem Kochgeschirr und den paar halbverhungerten Ziegen, die wir ihnen wegnahmen. Etliche Familien dürften wir damit in den sicheren Tod geschickt haben, denn wenn erst die Tiere weg waren, gab es für sie keine Hoffnung mehr: keine Milch für die Kinder, kein Fleisch für die Eltern. Das bisschen, das die Menschen angebaut hatten, stand fast völlig verdorrt auf den Feldern, nachdem die Regenfälle im Frühsommer wieder so gut wie ausgefallen waren. Sie konnten nur auf Hilfskonvois internationaler Organisationen hoffen, doch die verirrten sich nur selten in diese abgelegene Gegend, wo es Banden gab wie uns, Minen und Banditen, die nichts zu verlieren hatten als ihren beißenden Hunger. 147 Mir brach das Herz, als ich sah, wie unsere Leute die verstört blökenden Tiere aus ihren Pferchen zerrten. Weinende, zerlumpte Frauen zogen an unseren Kämpfern, um sie zurückzuhalten, beschimpften sie, bettelten, flehten, doch es nutzte nichts. Sie stießen die Frauen weg, traten mit den Füßen nach ihnen, bis sich deren Kinder vor Angst zitternd auf ihre Mütter warfen. Sie hoben und schoben die Ziegen auf die Lkws, und weiter ging die Fahrt. Noch am selben Abend wurden die Tiere geschlachtet, zerteilt und sofort gebraten. Selbst ich kaute angewidert auf ein paar Bissen Fleisch herum, um den dröhnendsten Hunger zurückzudrängen. Verzweifelt grub ich in der Erde, ob es nicht eine Wurzel oder Gräser gäbe, die ich statt dessen essen könnte, aber ich fand nur selten etwas. Mein Festmahl gab es erst, als wir aus einer Hilfslieferung ein paar Säcke eines mir fremden Mehls erbeuteten. Ich kannte den Geschmack nicht, aber er war wunderbar. Die Fladen wurden zwar keine Enjera, weil das Mehl eine andere Zusammensetzung hatte als das, was wir sonst dazu verwendeten, aber es wurden wohlschmeckende Klumpen oder Klöße, von denen ich gierig so viele verschlang, wie ich ergattern konnte. Es war die erste richtige Mahlzeit seit Wochen. Ich konnte das Glück kaum fassen, mit so einem schweren runden Bauch durch die Gegend zu laufen. Ohne das Nagen des Hungers. Ohne ständig daran zu denken, woher der nächste Bissen kommen könnte. Statt dieser Hungergedanken plagte mich das schlechte Gewissen: Für wen waren die Säcke bestimmt? Wer musste jetzt statt meiner hungern? Ständig waren wir auf der Flucht. Unsere Anführer hatten keinen Plan mehr, sie wussten selbst nicht, wo wir hin sollten. Tag für Tag zogen wir uns weiter nach Westen zurück, aus der Gegend um Bisha in der GeshBerka Provinz über kleine Hügelländer und die DarEbene in Richtung sudanesische Grenze. Immer fuhren ein paar
Späher von uns in einem kleinen Auto voraus oder machten sich zu Fuß auf, um diesen oder jenen Weg zu erkunden. Wir warteten in der brütenden Hitze auf ihre Rückkehr, oft nur im Schatten unserer Fahrzeuge, manchmal im Schatten einzelner Baumgruppen. Je weiter wir nach Westen kamen, desto mehr Bäume gab es. Erst wuchsen nur vereinzelte Baobabbäume, Tamarisken oder Tamarin 148 den, weiter westlicn fanden wir Haine mit Eukalyptusbäumen, Akazien oder Palmen. Die Landschaft wurde zwar nicht merklich feuchter, aber buschiger und stärker mit Gras bewachsen beziehungsweise mit ver trockneten Halmen, die früher mal grün gewesen sein mussten. Regen war nicht in Sicht. Über uns spannte sich ein von Tag zu Tag größerer, knallblauer Himmel. Während dieser Fluchtbewegung kam es immer wieder zu Kämpfen mit nachrückenden Einheiten der EPLF, die uns endgültig den Garaus machen wollten. Meistens setzten unsere Lkws ein paar Dutzend unserer Kämpfer aus, die sich in der Landschaft verschanzten und unseren Rückzug deckten. Wir Kinder fuhren in den fast leeren Lastern noch ein Stück weiter. Die Fahrzeuge durften auf keinen Fall dem Feind in die Hände geraten. Zusammen mit ein paar Erwachsenen waren wir dazu eingeteilt, diese Schätze bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Glücklicherweise kam es nie zu einem Angriff auf unsere Wagenburg. Tag für Tag hockten wir mit den Waffen in der Hand zwischen den Fahrzeugen und starrten auf den Horizont, der hier besonders weit und besonders heiß war. In der Ferne zerflimmerten Bäume, Gras und Himmel zu einem undefinierbaren, weißbraunen Gemisch, das mit Blicken nicht zu durchdringen war, und wenn man noch so angestrengt hinsah. Oft schreckten wir hoch, weil wir glaubten, eine Wagenkolonne oder eine große Gruppe von Menschen ausgemacht zu haben, aber jedesmal verschwanden die Schatten und die dunklen Punkte wieder, oder sie klumpten sich zu einem kleinen Wäldchen zusammen oder zu einem tanzenden braunen Wurm, der sich über den Horizont schob, um plötzlich im Nichts zu verschwimmen. In dieser Landschaft kannte ich mich nicht aus. Ich war diese Weite nicht gewohnt, die unendlichen Blicke, die nach ein paar Kilometern von einem Graubraun verschluckt wurden, das alle Geheimnisse dieser Ebene eigensinnig für sich behielt. Oft hörten wir Schüsse, wenn sich unsere Leute gegen den anrückenden Feind verteidigten. Manchmal stieg eine kleine schwarze Wolke auf, eine Granatenexplosion, in der ein paar hundert Quadratmeter trockenes Steppengras verbrannten. Mitunter hörten wir auch Fahrzeuggeräusche, aufheulende Motoren, aber so fern, dass wir sie 149 kaum vom Rauschen des Windes in den Kronen der Baumgruppen unterscheiden konnten. Langsam kam unsere Fluchtbewegung ein wenig zur Ruhe. Wir mussten nicht mehr alle paar Tage den Standort wechseln und hörten nicht mehr täglich die wildesten Schießereien. Manchmal waren dafür Flugzeuge am Himmel zu sehen, die in großer Höhe über uns hinwegzogen. Sollten das die Äthiopier sein, die die Kolonnen der EPLF unter Beschuss nahmen und dadurch deren Vorstoß uns gegenüber zum Stocken brachten? Es war mehr als merkwürdig, dass wir womöglich unseren gemeinsamen Feinden dafür dankbar sein mussten, dass sie unsere eigenen Landsleute bombardierten. Nur wenige Kilometer von der sudanesischen Grenze entfernt, fanden wir nach langer Zeit endlich wieder einmal einen festen Unterschlupf. Mitten in der Ödnis einer verdorrten Steppenlandschaft, die nur von ein paar verlorenen Baumgruppen, verlassenen Dörfern und staubigen Wegen unterteilt wurde, stießen wir auf einen für unsere Verhältnisse komfortablen Lagerplatz: keine Höhlen oder Erdunterstände, sondern langgestreckte gemauerte Gebäude, die einmal als Ställe oder als Kasernen gedient hatten. Die Häuser, die wir nun bezogen, hatten lange leergestanden. In den von Armut und Krieg bestimmten Verhältnissen, in denen wir lebten, machte es keinen großen Unterschied, ob darin früher Tiere oder Menschen untergebracht waren — alles sah gleich verloren und ärmlich aus. Wir banden Besen aus dürren Reisern und kehrten damit Mist, Sand und Erde aus den Räumen. Die löchrigen Wellblechdächer flickten wir zum Schutz gegen die Sonne notdürftig, indem wir an mehreren Stellen zwischen Dachsparren und Blech Palmwedel und Äste verkeilten. Mit unseren improvisierten Besen vertrieben wir jede Menge Skorpione, indem wir so lange in sämtlichen Ritzen und Löchern stocherten, bis die Tiere flüchteten. Zweimal wurde ich dabei von Skorpionen ins Bein gebissen. Das war äußerst schmerzhaft, aber Gott sei Dank entzündeten die Wunden sich nicht. Eine Infektion hätte mein Ende bedeuten können. 150 Malaria In dem neuen Lager kehrte für ein paar Monate ein wenig Ruhe ein — zumindest, was die Angriffe der Feinde betraf. Die äthiopische Armee beanspruchte in dieser Zeit die Aufmerksamkeit der EPLF. Diese kurze militärische Verschnaufpause bedeutete jedoch nicht, dass es uns besserging. Wir hatten deswegen nicht mehr zu essen, kamen nicht leichter an Trinkwasser und waren auch nicht weniger von der Malaria, unserem anderen Todesbringer, bedroht. Unser Quartier lag zwar in einer sehr trockenen Gegend, auch der nah
gelegene Fluss Gesh, der Namensgeber für die Region, war fast zur Gänze ausgetrocknet, doch das Gebiet war trotzdem mit Malaria verseucht. Wir kannten keinen Schutz dagegen: keine Netze für die Nacht, keine Salben, keine Sprays oder Duftstoffe, um die nach Einbruch der Dunkelheit besonders lästigen Mücken fernzuhalten oder zu verscheuchen. Wir Kinder wussten viel zuwenig über die tödliche Gefahr, die von der Malaria ausging. Ich wusste zwar, dass es besonders abends nicht gut war, von den Mücken gestochen zu werden. Ich wusste auch, dass man eine Krankheit bekommen konnte, die Malaria hieß, mit starkem Fieber und Übelkeit einherging und mit dem Tod enden konnte, aber mir war nicht klar, dass die Mückenstiche und die Krankheit unmittelbar miteinander zusammenhingen. Mir war nicht klar, dass die einzige Möglichkeit zur Vermeidung der Krankheit darin bestand, nicht gestochen zu werden. Den Stichen völlig zu entgehen war unmöglich. Da wir den ganzen Tag arbeiteten, konnten wir nicht auf die kleinen Plagegeister achten. Einzelne Stiche hatten wir alle so viele und so regelmäßig, dass wir sie kaum mehr bemerkten. Wenn man nur oft genug gestochen wurde, ließ der Juckreiz von selbst nach. Anfangs, in unserer ersten Zeit in Gesh Berka und bei der ELF, litt ich noch sehr unter den Stichen, denn all die Jahre in Asmara hatte ich nie damit zu tun gehabt; die Stadt liegt auf über zweitausenddreihundert Metern über dem Meer, und oberhalb von zweitausend Metern gibt es keine Moskitos und damit keine Malaria. Hier jedoch gab es heftige Mückenschwärme. Wenn kein Wind ging, 151 Baracke stand Tag und Nacht wie ein Block der gleiche stickige Geruch nach Schweiß und alten Wänden und vergammelten Klamotten. Ich setzte mich vor die Tür und sah in den unendlichen Sternenhimmel hinauf, den Kopf an die bröckelnde Wand gelehnt. Weiter wagte ich mich nicht weg, weil ich fürchtete, einer der Anführer könnte mich wieder für gesund erklären und zu den immer gleichen zermürbenden Arbeiten einteilen. Lange dort draußen sitzen konnte ich allerdings nicht, denn das Gebäude war von Termiten unterwandert. Wer sich hier niederließ, war schon nach wenigen Minuten von den Tieren umrundet und gebissen. Wie ich diese Krabbeltiere hassen lernte! Als ich in den stickigen Raum zurücktaumelte, Kopf und Sinne vom Fieber vernebelt, waren die Decken aus meiner Ecke verschwunden. Schweißüberströmt und trotzdem zitternd vor Kälte ließ ich mich auf den verdreckten Boden gleiten und krabbelte auf allen vieren durch die Unterkunft, um eine neue Decke zu ergattern, aber aus jedem Stück Stoff, an dem ich zog, kam eine Hand hervor, um mich wegzustoßen, oder ein Bein, um mir einen Tritt zu versetzen. Schließlich gab ich auf und verzog mich wieder in meine Ecke, rollte mich zitternd zusammen und hatte nur den einen Gedanken: dass das Ganze endlich vorübergehen möge. Doch das Martyrium sollte noch ein paar Tage dauern, bevor sich die Krankheit für eine der beiden Prophezeiungen des Barfußdoktors entschied und sich genauso plötzlich verabschiedete, wie sie gekommen war. Das Fieber und die Übelkeit gingen vorbei — um wie vorhergesagt nach ein paar Monaten wiederzukommen. Das ging acht oder zehnmal so, bis mir die Krankheit ein paar Jahre Ruhepause gönnte. Ein Mädchen war ich trotzdem Mitten in meinem ersten Fieberschub lag ich zitternd da und umschlang mich selbst. Plötzlich wurde der stickige Geruch rundherum wärmer, er begann nach Tier zu dünsten. Etwas kam näher an mich heran. Eine Hand riss mich herum, eine andere drückte mich hinunter 154 auf den Lehmboden, noch eine Hand — oder war das wieder die erste? — zerrte an meinem Hemd und zog an meiner Hose. Ich verkrampfte mich und zitterte und wollte schreien, doch eine Hand legte sich über meinen Mund. Ich wusste schon, was jetzt kommen sollte. Ich bäumte mich auf, aber in meinem Kopf drehte sich alles, und ich hatte das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen wäre eine schwankende Angelegenheit, wie ein feuchtes Bachbett mit tiefem Sand darin. Doch plötzlich war der Boden unter mir hart und fest wie Stein. Einer der Jungen versuchte in mich einzudringen, während mich der andere festhielt. Es gelang mir, eine Hand freizubekommen. Ich stieß den Jungen von mir, der mir den Mund zuhielt, und schrie so laut, dass sie von mir abließen. Diesmal hatten sie ihr Ziel nicht erreicht. Doch ich hatte nicht immer solches Glück. Egal ob Junge oder Mädchen, wir standen alle auf einer Stufe, waren gleich viel wert, hatten dieselben Rechte. Ich war nicht besser und nicht schlechter als die anderen, die zusammen mit mir für Eritrea kämpften — jedenfalls hatten uns Agawegahta und die anderen Anführer das einzubleuen versucht. Ich wollte mithalten, mitreden, mittun — nur mit Waffen wollte ich nicht kämpfen, ich wollte um keinen Preis morden im Namen der unerklärlichen Freiheit Eritreas. Trotzdem wurde ich immer wieder eines Besseren belehrt, mir wurde klarge macht, dass ein Mädchen weniger wert war als ein Junge, dass es nicht die gleichen Rechte hatte. Und sosehr ich mich auch bemühte, es nicht durchscheinen zu lassen, ich war ein Mädchen. Es war nicht zuletzt die Sexualität, mit der mir die Jungs zeigen wollten, wo mein Platz als Mädchen war. Ich hatte mich gefälligst hinten anzustellen. Ich hatte ihnen zu Diensten zu sein, wenn es ihnen passte.
Ein Mädchen hatte sich unterzuordnen, das war mir längst klar. Es gab leuchtende Ausnahmen wie Agawegahta, aber sie hatte ihren Rang nur um den Preis erreicht, mindestens genauso grausam zu sein wie die Männer, wenn nicht noch um eine Spur grausamer. Ich wusste um die körperlichen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungs, und ich wusste, dass es dazu ein Geheimnis gab, das die Jungs miteinander teilten, die Mädchen aber nicht. Es gab da etwas, das sich die Jungs 155 nehmen konnten, ohne zu fragen, und wir mussten es uns gefallen lassen, wie sehr wir uns auch wehrten. Dicke Bäuche Mädchen und Jungs waren in unserer Einheit immer zusammen, es gab nichts Getrenntes. Themen wie Vergewaltigung waren tabu, über Sex zu sprechen war tabu. Schwangerschaften gab es laufend, aber sie wurden nie erwähnt, als ob es sie nicht gäbe. Immer wieder sah ich eines der Mädchen dicker und dicker werden. Anfangs fragte ich mich, woher sie so viel zu essen bekamen, dass sie so fett werden konnten. Es musste geheime Quellen geben, die ich nicht kannte. Doch als sich die Bäuche dieser Mädchen mehr und mehr spannten, sah ich selbst, dass es nicht vom Essen kommen konnte. »Die sind schwanger«, hatte mir meine älteste Schwester Yaldiyan einmal hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert. Ich muss sie ahnungslos angestarrt haben, denn sie fügte noch eine Erklärung hinzu: »Sie waren mit einem Jungen zusammen, und jetzt wachsen in ihren Bäuchen Kinder.« »Zusammen sind sie gewesen?« fragte ich ratlos. »Davon kommen Kinder?« Yaldiyan hatte keine Lust mehr, mir noch etwas zu erklären. Sie erklärte nicht gerne, und mir schon gar nicht. Dabei hatte ich so viele Fragen, und sie war die einzige von den Größeren, der ich vertrauen konnte, denn hier ging es um eine spezielle Sache, das fühlte ich. Einen Jungen konnte ich nicht dazu befragen. Nur ein Mädchen kam dafür in Frage. Älter musste sie zwar sein, aber keine übergeordnete Respektsperson wie Agawegahta — also blieb nur Yaldiyan. Tzegehana konnte mir solche Auskünfte nicht geben, weil sie über diese Fragen kaum mehr wusste als ich. Sie hätte gerne mehr darüber erfahren, doch Yaldiyan erzählte noch nicht mal Tzegehana etwas, abgesehen von kleinen Andeutungen, wie sie sie mir gegenüber gemacht hatte. Manchmal zweifelte ich sogar daran, dass Yaldiyan alles wusste über das Zusammenliegen und die Kinder und wie das alles ging. 156 Ich wusste nichts über das Frausein, nichts über meinen eigenen Körper. Ich wusste nicht, was passierte, wenn sich wieder mal einer der drei Jungen, die es auf mich abgesehen hatten, über mich hermachte, mich würgte, an meinen Kleidern riss und mit seinem Ding in mich eindrang. Ich spürte Schmerzen und Scham und Hass und Widerwillen und Hilflosigkeit, aber ich wusste nicht, was das alles sollte. Ich ahnte nur, dass es um all das ein Geheimnis gab, das keiner dieser Jungs aufklären konnte, und ich spürte, dass ich nicht darüber sprechen sollte — dazu war es nicht notwendig, dass die drei mir immer wieder einschärften, nur ja den Mund zu halten. Ich wusste, dass das Vorgefallene nicht nur für sie, sondern auch für mich eine große Schande bedeutete, die ich tief in mir vergraben musste. Also zog ich mich mit den Schmerzen und der Scham in mich zurück und verriet niemandem etwas davon. Oft konnte ich kaum aufstehen nach so einer Nacht, wenn einer oder mehrere zu mir gekommen waren. Es dröhnte und wand sich in meinen Eingeweiden, so dass ich weder schlafen noch mich rühren noch etwas tun konnte, außer die Arme um den Bauch zu pressen und jede Bewegung zu vermeiden, die einen anderen auf mich aufmerksam machen könnte. Ich war nicht die einzige, die nicht wusste, was mit ihr und ihrem Körper geschah. Eine Kameradin erschrak einmal fürchterlich, als sie sah, wie sich ihre Schenkel rot färbten, weil daran Blut heruntertropfte. Verzweifelt rannte sie zum Arzt, der sie nur kurz ansah, um gleich in schallendes Gelächter auszubrechen. Der Mann konnte sich gar nicht mehr beruhigen, er klopfte sich auf die Schenkel und brüllte vor Vergnügen so laut, dass ein paar Leute zusammenliefen, die wissen wollten, was sich hier ereignet hatte. Der Arzt zeigte auf das Mädchen. »Seht euch diesen Dummkopf an«, sagte er, immer noch lachend, »sie ist eben zur Frau geworden und glaubt, ihre Bauchschmerzen kämen daher, dass sie etwas Falsches gegessen hat!« Auch die anderen sahen das Blut, das ihre Beine herunterrann, und begannen zu lachen. Offensichtlich bedeutete dieses Blut nichts Schlimmes. Aber wieso um alles in der Welt sollte sie zur Frau geworden sein? Und was hatte das Blut damit zu tun? Ich begriff nichts mehr. 157 Eden Das Beunruhigende war, dass ich auch Bauchschmerzen hatte. Und nicht nur das, ich hatte eine Eiterung im Genitalbereich, die wahrscheinlich durch die Attacken der Jungs entstanden war und sehr schmerzhaft war. Nach dem, was ich gerade bei der Kameradin mit angesehen hatte, fürchtete ich, dass nun auch ich aus dem Bauch bluten könnte. Verstört wollte ich mich wieder an Yaldiyan wenden, doch die war mit einem Spähtrupp im Gelände unterwegs. Als ich auch Tzegehana nicht fand, setzte ich mich einfach auf den Boden und heulte los. Endlich kamen mir die Tränen, nachdem ich sie lange zurückgehalten hatte oder nachdem sie versiegt waren, vertrocknet zwischen den Fieberschüben der Malaria und den anderen Qualen, denen ich ausgesetzt war. In diesem Moment kam Eden vorbei. Die Sängerin, die sich noch nie groß um mich gekümmert hatte, ließ sich
neben mir nieder und nahm mich in die Arme. Als ich daraufhin nur noch mehr heulte, drückte sie mich wortlos noch fester. Eden war eine sehr schöne Frau: hochgewachsen, mit riesenlangen, wilden Haaren und mit — zumindest für eine Eritreerin — heller Haut. Schon deshalb war Eden ein Vorbild für mich, denn ich war der Meinung, dass eine helle Haut immer ein Zeichen guter Herkunft war. Je heller jemand ist, desto besser ist seine Familie und desto schöner ist er oder sie. Ich war immer eine der Dunkelsten bei der Jebha. Es gab nicht viele, die noch schwärzer waren als ich. Deshalb empfand ich mich immer als hässlich. Ich musste hässlich sein, weil ich so dunkel war. Eden war nicht nur hell, sie hatte auch ein sonniges Gemüt. Sie machte die erste Stimme, wenn wir nach den Übungen unsere ELFLieder sangen. Sie sang, wenn es am Abend etwas zu feiern galt, was selten genug passierte, es sei denn, dass es einem unserer Anführer gelungen war, ein paar Kisten Palmwein oder eine Batterie Flaschen voller farbloser Flüssigkeit zu organisieren, die schlimmer roch als der Sprit in unseren Fahrzeugen. Eden sang, wenn die Anführer etwas hören wollten, sie sang aber auch, wenn ihr einfach danach zumute war. 158 Wann immer sie in der Nähe war, kam ich herbeigelaufen und hörte andächtig zu, aber ich hatte e s nie gewagt, Eden anzusprechen oder sie darum zu bitten, mir etwas beizubringen, obwohl ich damals schon den Wunsch in mir spürte, genauso singen zu können wie sie. Eden aber hatte mich nie beachtet, hatte nie ein Wort an mich gerichtet — doch jetzt war sie da. »Was ist mit dir los?« fragte sie, wie eine Mutter ihr Kind fragt. Sie war höchstens zehn Jahre älter als ich, doch für mich klang das wie die Frage einer Mutter, und ich liebte nichts mehr als diesen Tonfall. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, schluchzte ich, »mir tut der Bauch weh, und jetzt habe ich Angst, dass ich bluten muss wie das Mädchen, das sie vorhin ausgelacht haben. Sie sagen, sie ist eine Frau dadurch, aber sie lachen sie nur aus.« Jetzt lächelte Eden, aber das war nicht schlimm für mich, weil ich es nicht als Auslachen verstand, sondern als Aufmunterung oder als Einverständnis. »Das hat jede Frau«, begann sie und setzte sich neben mich in den Staub, als ob sie eine längere Geschichte beginnen wollte. »Bei ihr fing es sehr früh an. Das ist das Geheimnis unter uns Frauen ...« Eden erzählte mir, wie das ist mit dem Blut und mit den Kindern und mit den Männern, und ich hörte gebannt zu. Sobald ich wusste, was los war, beruhigte ich mich — und beschloss, Eden immer einen Extraplatz in meinem Herzen zu reservieren. Ich bekam übrigens keine Blutung. Das passierte erst viele Monate später, als ich schon nicht mehr bei der Jebha war. Immerhin konnte ich nach meiner Aufklärung durch Eden mit anderen darüber sprechen, vor allem mit meinen Schwestern. Ich lernte, dass Frauen, die regelmäßig bluteten, sich mit Stoffabfällen behelfen konnten, damit das Blut nicht an ihren Beinen herunterlief. Ich erfuhr, dass es normal war, dass die Jungs sich nahmen, was sie wollten. Ich hoffte, dass ich nie plötzlich dick werden würde, und tatsächlich wurde ich in dieser Zeit nie schwanger. Viele andere Mädchen und Frauen zogen mit ihren dicken Bäuchen an die Front. Viele verschwanden irgendwann für ein paar Wochen, um in einem trostlosen Winkel dieser Provinz ihre Kinder zur Welt zu bringen, die sie anschließend entweder töteten oder in ein Waisenhaus gaben wie jenes, in dem ich meine 159 ersten Lebensjahre verbrachte. Fast immer kamen die Frauen ohne dicken Bauch und ohne Baby wieder zurück. Es gab keine Unterstützung für diese Frauen. Schwestern In der Jebha herrschte alles andere als Eintracht. Jeder beäugte jeden misstrauisch: Wer will mir meine Portion Enjera wegnehmen? Wer will sich auf die faule Haut legen, anstatt zum Frontdienst mitzukommen? Wer will mich beim Chef anschwärzen, um vor ihm selbst besser dazustehen? Jeder war gegen jeden, denn obwohl niemand etwas zu verlieren hatte, wurde doch um das kleine bisschen Essen und Beachtung gekämpft, das uns das tägliche Überleben sicherte. Auch wir Schwestern waren alles andere als ein Herz und eine Seele. Yaldiyan spielte sich gerne als unsere Anführerin auf. Tzegehana erkannte ihre Führungsrolle an, und so versuchte Yaldiyan vor allem mich zu unterjochen. Ich war zwar die Jüngste, aber viel frecher als Tzegehana. Ich ließ mir nichts sagen. Wenn Yaldiyan nicht mehr weiterwusste, warf sie mit kleinen Steinen auf mich, zog mich an den Haaren oder versuchte mir die Decke wegzuziehen, wenn ich schlafen wollte. »Lass das, Yaldiyan!« schrie ich sie an. »Nimm bloß deine Finger weg!« »Du bist ein Miststück, du schreist mich nicht an!« schrie sie zurück. »Du bist ein Balg! Deine Mutter ist eine Hure!« Das verstand ich nicht. Was war eine Hure? Für eine Frau bedeutete es etwas sehr Schlechtes, wenn sie so
genannt wurde. Das war etwas Unanständiges, etwas, das ich nie werden wollte. Ich wusste aber nicht, was Mbrat Schlechtes getan haben sollte. »Du lügst!« kreischte ich Yaldiyan entgegen. »Mbrat ist keine Hure! Du bist eine Hure!« Das war nun nicht wahr, aber was hätte ich sonst sagen sollen? »Mbrat ist nicht deine Mutter!« schrie Yaldiyan. »Deine Mutter ist nichts anderes als eine dreckige Hure!« 160 Das saß, weil ich ohnehin Zweifel hatte an Mbrat. Sie war zwar nie böse zu mir gewesen, und sie hatte mich nie geschlagen. Sie hatte mich aus dem Kinderheim geholt, aber sie hatte mich auch gegen meinen Willen zu meinem Vater gebracht, zu meiner Stiefmutter und zu meinen beiden Schwestern, von denen mich die eine hasste, weil sie ihren Vater und ihre Schwester mit mir teilen musste. Mbrat hatte mich verraten, das war klar, aber sie war doch trotzdem meine Mutter!? Oder nicht? Yaldiyan nährte meine ersten Zweifel daran, ob Mbrat nicht vielleicht doch nur eine Ersatzmutter war und nicht meine richtige Mutter. Warum hatte Mbrat noch eine Tochter, die ebenfalls Senait hieß? Yaldiyan verstand es geschickt, solche bohrenden Fragen zu stellen und mich dann damit allein zu lassen. Ein paar Kinder bei den Morgensternen wurden manchmal von ihren Verwandten besucht, auch von den Eltern. Das kam sehr selten vor, aber es steigerte meine Nachdenklichkeit. Dass uns unser Vater nie besuchte, war klar, schließlich hatte er uns ja loswerden wollen. Aber warum war meine Mutter Mbrat nie da? Wusste sie nicht, wo ich war? Auch Yaldiyans und Tzegehanas Mutter kam nie zu uns. Wussten sie nichts? Waren wir unseren Müttern egal? Über solche Fragen konnte ich nur mit Tzegehana reden, weil sonst niemand hier Mbrat kannte. Aber mit Tzegehana zu sprechen verbat mir Yaldiyan, wie sie auch Tzegehana verbat, mit mir zu reden. »Was hast du mit der zu schaffen?« fuhr sie Tzegehana an. »Das ist meine Schwester!« schrie ich zurück. »Das stimmt nicht!« brüllte Yaldiyan. »Du bist nicht ihre Schwester! Ich bin ihre Schwester! Du bist das Kind einer Hure!« Tzegehana war nicht stark genug, um sich gegen Yaldiyans Bevormundung zu wehren. Sie wollte mit mir reden und spielen und mit mir Zusammensein, das fühlte ich. Aber sie wagte nicht, gegen Yaldiyans Gebote zu verstoßen. Außer wenn Yaldiyan an die Front musste. Sobald Yaldiyan weg war, hatte ihr Wort kein Gewicht mehr. Anfangs wollte ich mich nicht damit abfinden, doch dann gab ich nach. Mir war lieber, nur im geheimen mit Tzegehana zu tun zu haben als gar nicht. 161 Yaldiyans Ausflüge an die Front dauerten meist länger, so dass immer Zeit für Tzegehana und mich blieb. In der Regel war die Front von unseren Lagerplätzen etwa fünf bis fünfzehn Kilometer entfernt. Wir hörten oft Schüsse und Granateneinschläge, aber wir sahen nichts, wenn wir uns im Lager oder in seiner Nähe aufhielten. Der Weg an die Front war immer mit langen und gefährlichen Fußmärschen verbunden, denn im Kampfgebiet lagen Minen, und es gab Hinterhalte und feindliche Trupps, die die Lage auskundschafteten. Alles war sehr un übersichtlich; ich hörte oft, wie unsere Anführer darüber stritten, was zu tun wäre. Wir hatten zwar Funkgeräte, aber die funktionierten nicht immer, und es waren zu wenige, als dass alle unsere Trupps miteinander Verbindung hätten halten können. Häufig wusste ein Teil der Truppe nicht, wo die anderen waren, und wenn unsere Kämpfer nach tagelangen Märschen zurückkamen, waren sie oft völlig überrascht davon, wie sich die Lage an der Front in der Zwischenzeit verändert hatte — obwohl sie gerade von dort kamen. So passierte es, dass ich Yaldiyan tagelang nicht sah, denn während sie an die Front zog, musste — oder durfte — ich fast immer beim Lager bleiben. Einsatz Tzegehana und ich hatten Angst vor dem Kämpfen, ich noch mehr als sie. Gegen Ende unserer Zeit bei der ELF musste Tzegehana immer wieder mit an die Front; ich dagegen wurde nur sehr selten eingesetzt. Einmal aber waren wir beide mit einem Fronttrupp unterwegs, weil ausnahmsweise ein gutes Stück gefahren wurde. Ich hatte zwar keine Waffe, aber es war üblich, dass bei solchen Einsätzen auch welche von uns Jüngeren dabei waren. Wir sollten uns hinter den anderen halten und alles mitmachen, damit wir eines Tages selbst kämpfen konnten. Jetzt saßen wir aneinandergedrückt auf der Ladefläche eines Lkws und hatten keine Ahnung, wohin es ging. Tzegehana hatte zwei alte Batterien gefunden, die jemand auf dem Truck liegen gelassen hatte. 162 Für uns waren diese leeren Batterien von großem Wert. Wir pulten die Pluspole ab, bis eine schwarze, gummiartige Masse zum Vorschein kam die wir kauen konnten. Wir stellten uns vor, dass das Kaugummi wäre, und genossen den bitteren, scharfen Geschmack. Aus Asmara kannte ich Kaugummi und wusste, dass das etwas Wohlschmeckendes, Süßes ist, das immer schwächer schmeckt, je länger es im Mund ist. Die Batteriemasse schmeckte scheußlich und wurde in ihrem Geschmack nicht schwächer, sondern immer stärker, aber wir liebten es trotzdem, daran zu kauen. Es beruhigte uns, etwas im Mund zu haben.
Plötzlich hielt der Laster, und wir wurden unsanft aus unseren Träumen gerissen. »Los, runter mit euch, da rüber!« brüllte einer aus dem Führerhaus und zeigte in ein lichtes Wäldchen neben der Piste. »Versteckt euch!« Wir sprangen von der Ladefläche. Kaum hatten wir uns in die Büsche und zwischen die Bäume geduckt, schon ging es los: Schüsse waren zu hören, und sie kamen näher und näher. Dann rannten Kameraden von uns herbei, verfolgt von feindlichen Kämpfern. »Feuer!« schrie einer, als vor uns ein paar Gegner auftauchten. Noch nie hatte ich den Feind so nah gesehen. Die anderen rissen ihre Waffen hoch und begannen zu schießen. Ich hatte schreckliche Angst, dass ich sterbe oder verbrenne und dass Tzegehana starb oder die Kameraden neben mir oder unsere Feinde. Das war zwar nicht logisch, weil die anderen uns ja töten wollten, aber ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass wir zwischen lauter Toten liegen und kämpfen und schießen sollten. Diesmal hatten wir Glück, denn nach ein paar Minuten sprangen die Feinde auf und rannten weg. Wir sollten ihnen nachsetzen, doch das war kaum möglich, weil wir in dem dichtbewachsenen Gelände nur langsam vorankamen und die Flüchtenden zwischen dem Gestrüpp, dem hohen Gras und all den Wurzeln, Büschen und Bäumen bald aus den Augen verloren. Ein Pfiff holte uns zurück, das war das Zeichen zur Umkehr. Ich trottete bereitwillig hinterher, völlig zerstochen und zerkratzt. Als wir endlich wieder auf die Ladefläche klettern durften, peitschten plötzlich ganz in der Nähe ein paar Schüsse. Ich stand als eine der 163 ersten mitten auf der Ladefläche und blieb wie angewurzelt stehen, unfähig, mich zu rühren. Etwas Warmes lief an meinen Beinen herunter. Es lief einfach aus mir heraus, ich pinkelte mich an. Aus dem Gebüsch neben unserem Lastwagen kam ein hartes Lachen. Ich konnte nicht sehen, wer sich da verbarg, denn es war schon fast dunkel. Wieder knallte ein Schuss, und ich fiel wie ein Sack auf die Ladefläche. Ich war aber nicht getroffen. Die Angst hatte mir die Beine weggezogen. Plötzlich lachte noch einer und dann noch einer. Ich merkte nicht gleich, dass sie über mich lachten. Vorsichtig hob ich den Kopf ein wenig, konnte aber nichts erkennen. Ich setzte mich auf und sah, dass alle guter Laune waren. Einer von uns hatte geschossen, weil er einen versprengten Gegner hatte laufen sehen. Mit der zweiten Salve hatte er ihn niedergestreckt. Jetzt zerrten unsere Leute an dem Leichnam herum und zogen ihn ins Scheinwerferlicht des Lkws, um zu sehen, ob der Mann etwas bei sich hätte, was für sie interessant sein könnte. Als sie nichts fanden, ließen sie wieder von ihm ab. Ich stand auf und sah fassungslos auf die Leiche, ohne daran zu denken, dass ich mich nass gemacht hatte. »Senait bidewa schenait«, riefen die anderen und lachten. »Senait bidewa schenait« — »Senait pinkelt im Stehen«, wieder und wieder riefen sie das. Die anderen Kinder, die mit dabei waren, nahmen den Spottgesang auf und riefen es mir später immer wieder nach. »Senait bidewa schenait«, das wurde so etwas wie mein zweiter Name. Vor Scham kauerte ich mich still auf die Ladefläche und ließ mich auf der Fahrt zurück zum Lager durchrütteln. Tzegehana hockte stumm neben mir. Sie war nicht in den Chor der anderen mit eingefallen. Zwar hatte sie mich nicht verteidigt, aber das hätte ich auch nicht von ihr erwartet. Niemand war stark genug, um gegen den Chor der Spötter anzukommen, das wusste ich. Nicht einmal Yaldiyan, meine größte Schwester, hätte sich dagegengestellt, um wieviel weniger also Tzegehana. 164 Das Ende naht Spätestens seit wir in den alten Kasernen am Fluss Gesh unmittelbar an der sudanesischen Grenze lagerten, wussten wir, dass die Sache der ELF verloren war. Wir waren immer die Schwächeren gewesen, das hatte ich aus den Frontberichten der älteren Kollegen herausgehört. Offiziell war natürlich immer alles in bester Ordnung. Offiziell machte unser Kampf noch Fortschritte, als wir schon ins letzte Eck gedrängt waren und drauf und dran waren, mit der gesamten Truppe in den Sudan zu flüchten. Erst hatten uns die Gegner in der Gegend um Bisha herumgescheucht, dann trieben sie uns vor sich her in Richtung der sudanesischen Grenze, bis fast gegenüber von Kassala, der ersten größeren Stadt im Sudan. Über all diese Entwicklungen wurden wir Kinder im unklaren gelassen. Wir hatten nicht den geringsten Schimmer, worum es in diesem Konflikt ging. ELF und EPLF waren für uns nur Buchstaben. Unsere politische Bildung bestand aus ein paar Liedern, in denen wir die Guten und die anderen die Bösen waren. Die von der EPLF sind Betrüger und Mörder, die ELF ist das Gute — das war die Botschaft. Shabia waren die anderen, die Feinde, die Verlierer. Jebha waren wir, die Tapferen, die Sieger, die Retter Eritreas. Der Kampf der ELF war längst verloren, als wir Schwestern zur Jebha stießen. Unseren gemeinsamen Gegner, die äthiopische Armee, bekamen wir gar nicht zu Gesicht, weil uns die EPLF vor sich her jagte wie der Fuchs den Hasen. Wir waren ausschließlich damit beschäftigt, uns gegen die EPLF zu verteidigen und unsere Truppe vor dem Untergang zu retten. Uns blieb nichts als der Mut der Verzweiflung. Die Aussichtslosigkeit unseres Kampfes verlieh ihm eine Weihe, die manchmal wie etwas Heiliges wirkte. Oft dachte ich, die Jebha habe etwas mit Beten zu tun, weil die Männer sich mehrmals täglich in eine bestimmte Himmelsrichtung wandten, um ihre
Gebete zu murmeln. Erst später wurde mir klar, dass das nichts mit der Jebha zu tun hatte, sondern eine eigene Religion war, der Islam. Manche von uns waren Christen wie Yaldiyan, Tzegehana und ich, aber sie praktizierten ihre Religion nicht. Allenfalls beteten wir heimlich, aber es gab keine 165 Priester, keine Messen, keine Kreuze. Die offizielle Doktrin der Jebha hieß Gleichheit. Sie erzählten uns, wir kämpften für eine gerechtere Welt. In dieser Welt gäbe es keine Reichen mehr und keine Armen, alle hätten dann genug zu essen, ihr eigenes Vieh und ihre eigenen Felder. Unter einem Reichen konnte ich mir nichts vorstellen. Ich kannte nur Arme, die zwar nicht klagten, aber nichts besaßen und ihr Leben lang von der Hand in den Mund leben mussten. Wie sollten wir das ändern? Wuchs nicht deshalb kein Getreide, weil es zuwenig regnete und zu trocken war? Regen machen konnten die Führer der ELF ja nicht, das hatte ich schon erfahren. Einmal fragte ich Mihret danach, handelte mir aber nur eine Ohrfeige dafür ein und die Bemerkung, dass sie mich windelweich prügeln würde, wenn ich weiter solchen Blödsinn erzählen würde. Also erwähnte ich das Thema nicht mehr. Es war nicht wichtig, denn es hatte keinen Einfluss auf meine täglichen Probleme. Ich fragte viel zuviel. Das führte immer zu Schwierigkeiten, beispielsweise beim politischen Unterricht. Darunter darf man sich keine echten Unterrichtsstunden vorstellen, sondern Propagandaveranstaltungen, die nach dem immer gleichen Schema abliefen. Alle paar Wochen wurden solche Versammlungen einberufen, meistens ohne vorherige Ankündigung, denn wegen der unvorhersehbaren Entwicklung der Kämpfe gab es keinen festen Stundenplan. Zu diesen Versammlungen mussten möglichst alle erscheinen, die nicht an der Front waren oder Wache halten mussten, Erwachsene wie Kinder. Dann saßen wir auf der Erde und hörten zu, wie einer der Alteren über den Krieg sprach. Der Redner sprach immer sehr gestelzt und auf eine andere Art und Weise als sonst. Manchmal hielt Agawegahta einen solchen Vortrag. Sie sprach laut und in merkwürdig verworrenen Sätzen, die alle kein Ende nahmen und immer auf etwas hinausliefen, das ich nicht kannte. Am Ende ihres Vortrags wurde Agawegahta noch lauter. »Die Shabia ist ein Betrüger!« rief sie, oder: »Die EPLF will Eritrea verraten, wir müssen sie vernichten!« Das waren einfache Sätze, aber ich verstand sie trotzdem nicht. Als 166 wir Fragen stellen durtten, zeigte ich auf. »Die ShabiaSoldaten sehen genauso aus wie wir«, sagte ich, »warum soll ich auf sie schießen?« Agawegahta brüllte mich nicht an. Sie lachte nur, und die meisten stimmten in ihr Lachen ein. Ein riesiges Gelächter schwoll an, und mein Sitznachbar scheuerte mir eine, mitten ins Gesicht. Von hinten bekam ich ein paar Tritte, dass ich in den Sand fiel, und damit war die Sache erledigt. Fortan wusste ich, dass es sinnlos war, solche Fragen zu stellen. Ich wusste aber auch, dass ich es nie würde lassen können, über solche Fragen nachzudenken. Buschkrieger Der Krieg wurde immer brutaler, unsere Verluste fielen zusehends schwerer aus. Es gab kaum mehr einen Tag, an dem keine Toten oder Schwerverwundeten ins Lager gebracht wurden. Unsere Truppe bestand schließlich nur noch aus wenigen hundert Menschen. Es war abzusehen, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft entweder aufgerieben oder kampfunfähig sein würden. Immer öfter mussten wir Jüngeren mit an die Front. Ich war dafür zuständig, dass die anderen genügend Nachschub an Patronen hatten. Die waren in Pappschachteln, die ich zwischen den einzelnen Posten hin und hertragen musste. Ich hatte Angst. Angst vor den Feinden, die ich überall im Unterholz antreffen konnte, und Angst davor, von einer Mine zerrissen zu werden, wie es in den letzten Tagen schon ein paar meiner Kameraden passiert war. Ich wusste ungefähr, wie Minen aussehen, hatte selber aber noch keine gesehen. Ich wusste auch, dass man keine Chance hatte, eine Mine zu entdecken, wenn sie richtig im Boden vergraben lag. Trotzdem hielt ich meinen Blick krampfhaft auf den Boden geheftet, wenn ich durch den Wald eilte, aber ich sah nur Wurzeln und Gräser, Gestrüpp und Büsche, hinter denen immer ein Feind lauern konnte. Nach ein paar Stunden an der Front wusste ich nicht mehr, wovor ich am meisten Angst haben sollte, vor den Minen oder vor einem überraschenden Angriff. 167 Abends im Lager legte ich mich nach einem kärglichen Mahl sofort nieder. Ich verkroch mich unter der Decke und wollte nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Da erklang das Lied »Kamel, Kamel, wie schön ist dein Name ...« Das war ein Kinderlied, eines der ersten Lieder, die wir in der ELF gelernt hatten. Es sollte uns kleinen Kämpfern den Krieg schmackhaft machen. Ich zog die Decke vom Kopf, um besser zuhören zu können: »Stets stehst du an der Seite des Kämpfers und trägst seine Waffen. Treu bist du in Hitze und Kälte, Hunger und Durst ...« Ich war machdos gegen die Tränen. Zwar mochte ich die Kamele, die uns ständig begleiteten, nicht sonderlich. Das waren große, furchteinflößende Tiere, vor deren Riesenhufen man sich immer in acht nehmen musste, weil
die Kamele sofort austraten, wenn ihnen etwas nicht passte. Ich liebte es aber, ihnen aus sicherer Entfernung zuzusehen, und vor allem mochte ich den Gedanken, dass jemand treu an meiner Seite war. Auch als die Stimme die abgedroschenen Kampflieder der Jebha sang, musste ich weinen: »Die EPLF, diese zwielichtigen Figuren, haben sich großgemausert, weil sie betrügen und belügen. Aber mache dir keine Sorgen, mein Volk, jeder Böse hat ein böses Ende. Eritrea, mach dir keine Sorgen. Dein Befreier, Jebha, wird dich auf deinem Weg in die Unabhängigkeit führen ...« Es war Genet, die da sang, eine andere Sängerin der Jebha. Sie sang zwar nicht so schön wie Eden, aber ich mochte sie, weil sie oft mit uns Kindern sang, zum Beispiel solche Lieder wie das vom Kamel. Oder das Lied vom Beginn des Tages, der uns viel Glück und reiche Ernte bringen sollte: »Morgengrauen, wir stehen da ...« Mehr hörte ich nicht von den Visionen einer wunderbaren Zukunft, die mir und Eritrea blühen sollte. Mitten im Lied fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. 168 Die Flucht Täglich mehrten sich die Anzeichen für die schleichende Auflösung der Jebha. Einmal kamen zwei Mädchen abends vom Brennholzsammeln nicht zurück. Wir anderen Kinder schwärmten am nächsten Morgen aus, um sie zu suchen, fanden aber nicht die kleinste Spur. Erst am Tag darauf stießen unsere Kameraden auf die zwei Vermissten — sie waren tot, wahrscheinlich von Beduinen erstochen. Ob es um das Brennholz gegangen war oder ob es aus einem anderen Grund Streit gegeben hatte, sollten wir nie erfahren. Anderntags machte sich ein Trupp spätabends auf den Weg zur Front. Sie wollten in der Nacht gehen, weil es nachts kühler und sicherer war, um früh am Morgen ein wenig zu rasten und danach einen Hinterhalt für die Feinde anzulegen. Die Gruppe bestand aus dreißig, vierzig Männern, darunter viele Jungs. Keiner von ihnen kam je zurück. Erst vermuteten unsere Anführer, der Trupp sei selbst in einen Hinterhalt geraten, aber soviel wir auch suchten, es waren keine Spuren zu finden. Dann hieß es, die Kameraden seien getürmt, weggerannt vor dem Krieg und über die nahe Grenze in den Sudan geflüchtet. Laut durfte man das natürlich nicht sagen, aber einige von uns fragten sich auch so, warum wir unseren sinnlosen Kampf weiterführen und unseren Kopf riskieren sollten, wenn es auch anders ging? Wenige Tage später ging ich zusammen mit meinen beiden Schwestern zum nahen Fluss, um Wasser zu holen. Im Flussbett war nur trockene, aufgerissene Erde, aber wir wussten, dass es ein Stückchen weiter eine Stelle gab, an der ein paar magere Bäume standen, ein sicheres Zeichen dafür, dass es hier Wasser gab. Hier waren wir schon oft fündig geworden. Blieb nur die Frage, wie tief wir diesmal graben mussten, um bis zum Wasser vorzudringen. Über eine steile, sandige und trockene Böschung kletterten wir in das Flussbett hinunter, mit einem Spaten, einem Eimer und ein paar Plastikkanistern bewaffnet. Wir suchten uns eine geeignete Stelle aus und begannen abwechselnd zu graben. Es ging leicht, denn der Boden war sehr sandig und wurde bald dunkel vor Feuchtigkeit. Man musste 169 nur darauf achten, dass die Wände des Lochs nicht ständig nachrutschten, weil der Boden sehr locker lag. Eine von uns stimmte ein Lied an. Wir fühlten uns völlig ungestört und sicher. Plötzlich hörten wir vom anderen Flussufer Geräusche. Dort schlugen ein paar Beduinen mit ihren Kamelen ihr Lager auf, und zwei von ihnen machten sich daran, ins Flussbett hinunterzusteigen. Es war nicht alltäglich, aber auch nicht ungewöhnlich, Beduinen zu begegnen; auf der Suche nach Nahrung für ihre Tiere durchstreiften sie die Grenzregion zwischen dem Sudan und Äthiopien und trieben mit allerlei Dingen Handel. Da wir weder Geld noch Dinge besaßen, die wir gegen die Waren der Beduinen hätten eintauschen können, beschränkten sich unsere Kontakte auf zufällige Begegnungen. Normalerweise scherten sich die Beduinen nicht um uns, sondern zogen ihrer Wege, weil sie wussten, das wir bloß arme Schlucker waren. Trotzdem mussten wir vorsichtig sein, weil es ein paar Zwischenfälle gegeben hatte. Die beiden Beduinen, die ins Flussbett hinuntergeklettert waren, hielten auf uns zu. Was sollten wir tun? Weglaufen? Unser Wasserloch, das schon einigermaßen tief war, wäre verloren gewesen, wenn nicht ständig jemand den nachrutschenden Sand befestigt hätte. Und mit leeren Händen ins Lager zurückzukommen war eine unangenehme Vorstellung. Wir berieten uns wispernd und taten fürs erste nichts, außer weiterzugraben. Yaldiyan meinte, die Beduinen würden uns schon nichts tun, wenn wir zu dritt blieben. Also gruben wir und gruben, was das Zeug hielt. Jeden Moment mussten wir auf Wasser stoßen. Wir taten, als ob uns nichts anderes interessieren würde. Dabei brauchten wir uns nicht sonderlich zu verstellen, denn wir waren sehr durstig. »Pssssst ... psssssssst!« Einer der beiden Beduinen zischte uns zu und versuchte unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Wir sahen zu den Störenfrieden hinüber. Der eine schob sein Kopftuch weit aus dem Gesicht heraus. Er sah anders aus als sein Begleiter, viel heller, mit wesentlich schärfer geschnittenen Konturen, und größer war er auch. Außerdem wirkte er nicht so bäuerlich wie die meisten Beduinen. Eigntlich sah dieser Mann ganz ähnlich aus wie wir.
170 Obwohl die Beduinen fast alle nur Arabisch sprachen, rief er plötzlich halblaut eine Begrüßung in unserer Sprache, in Tigrinya. Wir konnten ihn nicht recht verstehen, weil er so weit weg war und nur leise herüberrief. Erst als der Mann etwas lauter sprach, verstanden wir die Worte: »Yaldiyan! Yaldiyan! Komm her!« Yaldiyan zuckte zusammen und starrte den Mann entgeistert an. Dann flüsterte sie uns zu: »Das ist Haile, unser Onkel!« Ich hatte Haile noch nie gesehen, und Tzegehana konnte sich nicht mehr an ihn erinnern, weil sie noch zu klein gewesen war, als er sie das letzte Mal besucht hatte. Aber Yaldiyan war ganz sicher. Immer wieder murmelte sie: »Haile! Das ist Haile!« Gebannt starrte sie auf den Mann, als könnte sie in seinem Gesicht lesen, was er vorhatte. Haile machte nicht den Eindruck, als würde er sich freuen — oder wagte er es nur nicht, seine Freude zu zeigen? Ein Stück hinter uns kamen ein paar Kinder aus unserer Einheit mit Eimern und Kanistern behangen den Fluss herunter, um uns beim Wasserholen zu helfen. Haile wahrte einen deutlichen Abstand, als hätte er nichts mit uns zu tun, und kam nicht näher als zwanzig Meter an uns heran. »Ich will euch helfen«, flüsterte er, »ich habe eine Nachricht von eurem Vater!« »Von dem wollen wir nichts wissen!« platzte es aus mir heraus, und meine Schwestern nickten, wenn auch nicht so überzeugt wie ich. »Wir wollen nicht zu ihm!« sagte ich bestimmt. Hier konnte ich überleben, dachte ich, bei meinem Vater droht mir der sichere Tod. Haile blieb ganz ruhig, obwohl die anderen Kinder aus unserem Lager fast schon in Hörweite waren und wir Anstalten machten, davonzulaufen. Ich packte meine Kanister, Yaldiyan nahm den Spaten, Tzegehana die Eimer. »Kommt morgen!« flüsterte er. »Ich muss mit euch sprechen, ohne dass jemand dabei ist!« Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. War das eine Falle? Ein Hinterhalt unseres Vaters? Doch Haile hatte so eindringlich gesprochen, dass wir nickten. »Gut«, sagte Yaldiyan, »wir werden morgen wieder hier Wasser holen.« Haile schien zufrieden und wandte sich ab. Kurz darauf kamen die anderen Kinder aus unserer Einheit bei uns an. »Was wollten denn die 171 Kerle von euch?« fragten sie neugierig, doch wir zuckten nur mit den Schultern. »Ich habe kein Wort verstanden«, sagte ich frech. »Kein Wunder, du Depp«, sagte einer, »du verstehst ja auch nicht Arabisch!« Damit war die Sache erledigt. Abends lagen wir stundenlang wach und überlegten, was das Ganze zu bedeuten haben könnte. Yaldiyan war sicher, dass der zweite Beduine Haue war, daran gab es nichts zu rütteln. Sie hatte ihn als freundlichen und ehrlichen Mann in Erinnerung. Haile war der jüngste Bruder meines Vaters. Wir beschlossen, ihm zu vertrauen — und uns keinesfalls zu unserem Vater bringen zu lassen. Am nächsten Tag gingen wir wieder an das Wasserloch. Diesmal war keiner unserer Kameraden in der Nähe. Plötzlich tauchte Haile auf, immer noch als Beduine gekleidet, aber diesmal war er alleine gekommen. Er erzählte, dass er uns holen wolle, und sagte, dass »Che Guevara«, unsere Einheit, am Ende sei und dass die EPLF den Kampf gewinnen würde oder die äthiopische Armee. »Wenn ihr nicht mitkommt, seid ihr in großer Gefahr. Viele von euch werden getötet werden, es ist bald aus mit der ELF.« Damit rannte er bei uns offene Türen ein, denn dass es nicht gut um die Jebha stand, wussten wir selbst. »Kommt übermorgen wieder her, dann nehme ich euch mit und bringe euch in den Sudan. Ich verspreche euch, ihr wohnt bei mir in Khartum, das ist die Hauptstadt dort, und nicht bei eurem Vater. Der ist längst im Land der Weißen, in Europa.« Wir waren unschlüssig, sagten aber zu. Er hatte seine Bitte so eindringlich und so freundlich vorgebracht, dass wir sie nicht ausschlagen konnten. »Wir können uns nicht immer an derselben Stelle treffen«, sagte er noch, »am besten geht ihr hier vorbei und hinüber ans andere Ufer, als würdet ihr Wasser suchen. Dort werde ich auf euch warten!« 172 Hoffnung Es folgten zwei Tage voller Zweifel, Ängste und Befürchtungen, aber auch zwei Tage voller Hoffnung. Würden wir jetzt von den Kämpfen erlöst? Von der harten Arbeit an den Wasserlöchern, vom Hunger und von der Ungewissheit, ob wir den nächsten Tag erleben? Ängstlich vermieden wir es, einem der Spähtrupps zugeteilt oder mit einer Nachschubpatrouille an die Front beordert zu werden. Solche Abordnungen konnten immer ein paar Tage dauern, und wir wollten keinesfalls das Treffen mit unserem Onkel versäumen oder gar in den letzten Tagen bei der Jebha durch eine feindliche Kugel sterben. Wenn es nur wahr wäre und wir in die Freiheit kämen! Endlich war es soweit. Wir konnten es kaum erwarten, zum Fluss zu gehen. Eilfertig schnappten wir am Morgen unsere Gerätschaften, um Wasser zu holen. Wir waren schon auf dem Weg hinaus aus dem Lager, als uns Mihret nachrief: »He, kommt zurück! Ihr müsst mit auf Patrouille!« Mir blieb fast das Herz stehen. Was jetzt? »Wir kommen sofort, Mihret!« rief ich zurück. »Wir haben bloß schon ein paar Eimer Wasser unten, die wir
noch abholen müssen!« »Gut, aber beeilt euch!« rief sie zurück. Genau das taten wir. Wir beeilten uns fürchterlich. Völlig außer Atem kamen wir unten am Fluss an. Gleich gingen wir an das andere Ufer. Niemand sah uns, also hielten wir uns nicht damit auf, so zu tun, als würden wir Wasser holen. Plötzlich sprangen Haile und noch ein zweiter Mann, den wir nicht kannten, hinter einem Busch hervor und gaben uns ein paar Tücher, damit wir uns als kleine Beduinen verkleiden konnten. Ich zog und zerrte daran herum; meine Schwestern mussten mir helfen, weil ich noch nie so etwas umgelegt hatte. Der zweite Mann beobachtete uns finster. Er machte mich misstrauisch, aber jetzt war nicht die Zeit für Zweifel. »Kommt«, sagte Haile, als wir fertig waren, »ihr kehrt nie mehr hierher zurück.« Schweigend gingen wir los, bis wir auf einen weiteren Mann trafen, der außer Sichtweite mit einem Esel wartete. Hailes Begleiter schienen echte Beduinen zu sein, zumindest sahen sie so aus. Zu dritt sollten wir auf dem Esel sitzen. Als wir auf seinem Rücken saßen, seufzte er so tief 173 und deutlich, als wäre er ein Mensch. Mir tat der Esel leid, aber Haue sagte nur: »Red keinen Unsinn, wir müssen weit und schnell gehen! Du wirst Gott noch danken, dass du auf diesem Esel sitzen darfst!« Genauso war es. Wir gingen den Tag über schweigend voran, ohne Pause und ohne einem Menschen zu begegnen. Nur in der Ferne sahen wir ein paar Beduinen mit ihren Kamelen ziehen, einmal weit weg auch ein Fahrzeug, sicher saßen Soldaten darin. Niemand beachtete uns, denn mit uns Kindern und einem Esel sah unsere kleine Reisegruppe aus wie die Ärmsten der Armen, die sich kein Kamel leisten konnten und von denen sich niemand einen Vorteil erhoffen konnte. Der Marsch Die Ebene wurde immer karger, je weiter wir gingen. Hier gab es keine Bäume mehr, bloß vertrocknete Grasbüschel und hin und wieder einen dürren Strauch. Es war die eintönigste Landschaft, die ich je gesehen hatte. Die Sonne brannte unbarmherzig auf uns nieder, doch wir mussten die Tücher über unsere Köpfe gewickelt lassen. Das war ungewohnt, aber nicht schlecht: Darunter hatten wir es zwar warm und dampfig, aber dafür brannte uns die Sonne nicht auf den Kopf und ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen starrten wir zum Horizont, um endlich etwas wie ein Ziel auszumachen, aber da war nichts als hellblauer, fast weißer Dunst, der die merkwürdigsten Formen annahm. Mal erschien in der wabernden Hitze eine riesige Stadt, dann ein See, manchmal eine Bergkette. Alles schien dort hinten in ununterbrochener Bewegung zu sein, aber es waren nichts als Luftspiegelungen, die uns narrten. Jedesmal, wenn wir auf einen winzigen Hügelrücken kamen, war dort unten nichts weiter als eine harte Linie zwischen Himmel und Erde, die sich keinen Millimeter bewegte und kein Geheimnis barg. Abends, die Sonne war schon längst hinter dem Horizont verschwunden, schlugen wir ein kleines Lager auf. Die Männer hatten 174 ein Zelt, es gab trockenes Brot und Wasser. Gierig schlangen wir alles hinunter. So vieles hatten wir Onkel Haue fragen wollen an diesem ersten Abend in der Freiheit, weil er doch unterwegs nicht sprechen wollte und es zu heiß gewesen war, um sich zu unterhalten. Jetzt wollten wir aber nur noch wissen, wann wir schlafen gehen konnten. Draußen vor dem Zelt wurde es unangenehm kalt, drinnen stand noch die Wärme des Tages. Wir kuschelten uns aneinander. Ich schlief mit einem wunderbaren Gefühl ein: Nun konnte ein besserer Teil meines Lebens beginnen. Am nächsten Tag gingen wir anfangs zu Fuß, um den Esel zu schonen. Das war mir sehr recht, aber schon gegen Mittag änderte ich meine Meinung. Meine Füße brannten wie Feuer, die Zunge hing wie ein trockener Strick im Mund, und das Beduinengewand klebte schweißnass auf mir. Plötzlich standen wir vor ein paar Soldaten in Uniformen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich hatte die ganze Zeit nur auf meine Füße gestarrt und auf meine zerfetzten Latschen und auf die spitzen Steine, denen es auszuweichen galt, und hatte die Soldaten nicht bemerkt. Sie sprachen uns in einer fremden Sprache an, in Arabisch. Haile antwortete etwas, die Männer musterten uns von oben herab. Einer von ihnen machte eine kleine Bewegung mit dem Kinn in Richtung des Horizonts — ein Zeichen, dass wir weiterziehen konnten. Haile bedankte sich überschwenglich und verbeugte sich vor den Soldaten, die bloß ein paar wegwerfende Handbewegungen machten. Offensichtlich waren wir in unserer Rolle als Beduinen keiner größeren Beachtung wert. Mir was das nur recht, denn so kamen wir ungeschoren weiter. Onkel Haile konnte perfekt den armen Tropf mimen. Ich fand immer mehr Gefallen an seiner ruhigen und freundlichen Art. Wenn das der Mann war, in dessen Familie wir ab jetzt leben sollten, wollte ich um keinen Preis zurück zur Jebha, und schon gar nicht wegen ein paar hochnäsiger sudanesischer Grenzsoldaten. Der dritte Tag war eine Härteprobe für uns alle. Wir hatten kaum noch Wasser, jeder durfte nur einen kleinen Schluck von der lauwarmen, abgestandenen Brühe nehmen, die die Männer in zwei LkwSchläuche abgefüllt und dem Esel als zusätzliche Last aufgebürdet 175
hatten. Meine Augen waren rotgerändert von dem gleißenden Sonnenlicht und dem Sand, der uns unaufhörlich ins Gesicht blies. In meinem Kopf surrte und kochte es vor Hitze und den Gedanken, die ich wälzte: Wo sollten wir leben? Was wollte Haue von uns? Steckte vielleicht doch unser Vater hinter der ganzen Aktion? Viel Zeit hatte ich nicht, um mich mit diesen Gedanken zu beschäftigen, denn immer wieder gerieten wir in Militärkontrollen. Haile sagte, der Sudan versuche seine Grenzen zu schließen, weil es zu viele Flüchtlinge aus Eritrea gebe. Deshalb durften wir nichts sagen, selbst wenn uns einer der Soldaten etwas fragen sollte, damit wir uns nicht als Eritreer verrieten. Doch die Soldaten sprachen ohnehin nur mit Haile und den anderen beiden Männern, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Frauen werden im Sudan prinzipiell nicht von Männern angesprochen, wenn es darum geht, Auskünfte einzuholen. Lichter! Was war das für eine Wohltat, die erbarmungslose Sonne unter den Horizont sinken zu sehen! Der Himmel blitzte rot auf, um wenige Minuten später wie von Zauberhand in tiefdunkles Blau getaucht zu werden, an dem nach und nach die Sterne zu leuchten begannen. Nie zuvor hatte ich das so klar und mit so schnellen und harten Wechseln gesehen wie hier in der Wüste. Sehnsüchtig warteten wir auf Hailes Signal, endlich ein Nachtlager einzurichten, als plötzlich noch ein paar Sterne auftauchten, tief über dem Horizont. Nein, sie saßen genau auf dem Horizont. Angestrengt starrten wir in die Nacht. Diese Sterne sahen anders aus als die oben am Himmel. »Was ist das dort vorne?« fragte ich Haile. Ich hatte Angst, wieder Opfer einer Luftspiegelung zu sein. »Das ist unser Ziel«, murmelte er, »das ist Kassala!« Am liebsten hätten wir vor Freude geschrien, aber wir wagten nicht einmal zu kichern oder sonst eine Aufregung zu zeigen. Wir umarmten uns nur und drückten einander. Unsere Sehnsucht nach einem Lager 176 platz für die Nacht war wie weggeblasen — wir wollten nichts wie hin zu diesem wunderbaren Horizont! Was war das für ein herrlicher Anblick, die Lichter dieser Stadt über den Horizont hinaufwachsen zu sehen. Das war Licht aus Fenstern, licht von Straßenlaternen, Licht von Lampen, die über Marktständen baumelten. Mir wären fast die Tränen gekommen vor Glück — nicht nur, weil wir endlich am Ziel waren, mit der Aussicht auf Wasser und etwas zu essen, sondern weil ich seit Monaten keine Städte gesehen hatte. Gab es das wirklich noch? Beleuchtete Häuser, Menschen, die durch ihren Heimatort gingen, ohne sich gegenseitig erschießen oder abschlachten zu wollen? Ich hatte seit Jahren kein friedliches Leben mehr gesehen, sondern nur Kampf, Vernichtung und Hass erlebt. Je mehr ich darüber nachdachte, desto froher wurde ich, das hinter mir gelassen zu haben. Für einen Moment vergaß ich Durst und Hunger und musste mehrmals tief durchatmen. Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Vor meinen Begleitern verbarg ich die Tränen, denn ich genierte mich immer, wenn ich weinen musste. Doch niemand achtete auf mich, alle starrten wie gebannt auf die Lichter vor uns. Die Lichter wurden größer und größer, Häuser zeichneten sich gegen den Horizont ab, Türme von Moscheen. Niemand sah unserer ärmlichen Karawane nach, als wir spätnachts in die Stadt einzogen. Alle gingen geschäftig ihren Aufgaben nach: Kameltreiber feuerten ihre Tiere an. Händler hockten neben Bergen von Gemüse und Obst auf dem Boden. Männer saßen auf den Stufen der Lokale oder auf Stühlen davor und unterhielten sich. Frauen schleppten Kanister mit Wasser, Holz oder Einkaufstüten. Kinder sprangen zwischen den Erwachsenen herum. Es gab etwas zu essen, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Hier gab es zu essen! Vertraute Bilder, die längst verlorengegangen waren, sah ich auf einmal leibhaftig vor mir: sorgfältig aufgestapeltes Obst und Gemüse, Schachteln mit Lebensmitteln in den Regalen, Säcke mit Bohnen, Getreide und Kaffee, getrocknete Früchte und Gewürze. Hier gab es Menschen, die nicht hungerten, die einfach in einen Laden gingen, w enn sie etwas zu essen haben wollten! 177 Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Alle waren wir ausgehungert und abgezehrt, zerlumpt, verdreckt und räudig, und genauso kamen wir uns auch vor. Wir schämten uns für unser Äußeres. Dabei war Kassala alles andere als eine schicke Stadt. Im Vergleich zu Asmara war Kassala ein ödes Kaff, die letzte Station für Reisende nach Eritrea, ein Vorposten in der Wüste, in dem die höchsten Gebäude nicht mehr als zwei Stockwerke hatten. Und doch erschien uns diese Ansammlung aus grauen und weißen Würfelhäusern, die nach einem groben Raster angeordnet eines neben dem anderen im Staub standen, nur von ein paar Märkten und Moscheen unterbrochen, wie das Paradies! Im Paradies Onkel Haue und seine beiden Begleiter schienen so unbeeindruckt von der überwältigenden Szenerie zu sein wie unser Esel. Zielstrebig gingen sie durch die Straßen der Stadt, um schließlich vor einem Haus haltzumachen, das aussah wie alle anderen auch. Wir traten ein und fanden uns in einer dunklen Höhle wieder, die nur von einer nackten schwachen Glühbirne erhellt wurde. Hier war einer der beiden Begleiter Hailes zu Hause. Seine Frau machte sich sofort und ohne viele Worte an die Zubereitung einer Mahlzeit. Wir setzten uns auf den Boden. Ein Mädchen brachte einen Krug mit Wasser. Gierig leerten wir Glas um Glas. Das Mädchen lächelte und schenkte uns nach, noch mal und noch mal. Wir konnten nicht genug kriegen. Es war ein wunderbares Gefühl, Wasser
trinken zu können, das aus einem Krug kam, einfach so. Ohne zu graben, ohne zu schleppen, ohne zu suchen. Das Mädchen reichte uns eine Schüssel, in der ein winziges Stück Seife lag. Sie hielt uns einen anderen Krug hin und goss daraus Wasser in die Schale, damit wir uns in dem Strahl die Hände waschen konnten. Genau wie hier, ist es auch in Eritrea üblich, Gäste zu bewirten und ihnen vor dem Essen eine Waschung anzubieten, denn es gibt ja kein Besteck. Ich war gerührt, weil sonst immer ich es gewesen war, die den Gästen unseres Vaters oder meiner Großmutter die Wasserkaraffe, die 178 Schüssel und das Handtuch gereicht hatte. Nun wurde ich selbst bewirtet und das nach Jahren, in denen sich kein Mensch darum gekümmert hatte ob ich gewaschene Hände hatte oder nicht. Das Mahl war einfach: Enjera mit einer Soße aus Tomatenmark und Zwiebeln. Für uns war es das beste Essen der Welt. Glücklich griffen wir zu, rissen hastig kleine Stückchen aus der Teigflade und tunkten sie in die Soße. Es war unbeschreiblich schön, einfach dasitzen und essen zu können, ohne an eine herannahende Gefahr, einen unerwarteten Befehl oder die Schrecken der bevorstehenden Nacht denken zu müssen. Plötzlich gab es wieder eine Nacht ohne Angriffe und ohne Hunger und ohne Durst und ohne Dutzende anderer Menschen, die im gleichen Raum schliefen, sofern es überhaupt einen Raum zum Schlafen gab. Hier durften wir uns in der Küche auf ein paar Matten ausstrecken, und während die Erwachsenen noch Tee tranken und redeten und redeten, fielen Yaldiyan, Tzegehana und ich erschöpft in Schlaf. Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von Hailes Begleitern und von dem Esel, der die Nacht im Hof des Hauses verbracht hatte. Wir gingen zum größten Platz der Stadt, auf dem vollkommenes Chaos herrschte: Tausende Menschen, schwer mit Koffern, Ballen und Säcken beladen, rannten durcheinander. Dutzende Busse, Kamele, Esel, Fahrräder und Handkarren waren hoffnungslos ineinander verkeilt. Es erschien mir wie ein Wunder, dass Haile auf Anhieb den Bus fand, der uns nach Porto Sudan, einer Hafenstadt am Roten Meer, brin gen sollte. Der Bus war schon gerammelt voll, aber wir fanden noch ein Plätzchen hinten neben der Tür. Auf das Dach des Busses wurden nicht nur Kisten, Kartons, Koffer und Säcke geschnallt, hier wurden auch zwei Ziegen angebunden, die es sich zwischen all dem Gepäck gemüdich machten und ruhig wiederkäuten. Die drückende Hitze im Bus wurde nur langsam besser, als er sich in Bewegung setzte. Erst ging es im Schneckentempo durch das dichte Gedränge, dann rascher und rascher aus der Stadt hinaus auf eine schnurgerade Piste, vor uns nichts als Hitze und hinter uns eine riesige Staubfahne. Ich sank zufrieden in meinen Sitz, der mir trotz aller Enge unendlich komfortabel vorkam, und kuschelte mich an meine Schwe 179 stern. Wie herrlich es war, nicht dort draußen neben einem Esel zu laufen! So fuhren wir stundenlang dahin. In Porto Sudan stiegen wir in einen anderen Bus um, der nach Khartum fuhr, in die Hauptstadt des Sudan, wo Onkel Haile zu Hause war. Die Reise dauerte einen ganzen Tag, den wir in einer Art Dämmerzustand oder Dauerschlaf verbrachten, als ob uns die Anstrengungen der letzten Tage und Wochen und Jahre auf einen Schlag eingeholt hätten. Unsere Busfahrten durch die Weiten des Sudan hatten nichts von einer Flucht an sich, es war wie eine Kur, während der wir uns erholten. Die anderen Passagiere schnauften und ächzten unter der Hitze, dem Staub und der Enge, doch für uns war diese Fahrt die pure Erholung. In den letzten Jahren hatten wir während der heißen Tagesstunden nicht gemütlich in einem Bus gesessen, sondern geschuftet, was das Zeug hielt. Immer wieder fielen mir vor Erschöpfung die Lider zu. Vor meinem inneren Auge tanzten wie wild die grellsten Bilder der letzten drei Jahre bei der ELF. Das Schöne daran war, dass ich nur die Augen öffnen musste, um nichts mehr von dem Leid und dem Blut und dem Elend zu sehen. Sobald ich zum Fenster hinausblickte, erkannte ich nichts als Steine, Sand, Sonne und hin und wieder eine Hütte, vor der ein paar Leute im Schatten dösten. Bilder des Friedens. 180 Khartum Es wurde schon Abend, als wir in die Stadt rollten. Ich schreckte aus meinem Dämmerschlaf hoch, weil plötzlich von allen Seiten höllischer Lärm auf mich eindrang. Die Menschen im Bus schrien so laut durcheinander, dass ich instinktiv in Deckung ging, weil ich dachte, es fliegen Kugeln oder Granaten auf uns. Der Schrecken der vergangenen Jahre steckte tief in mir drin. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass gar nichts Schreckliches passiert war. Die Passagiere befanden sich nur in heller Aufregung über unsere bevorstehende Ankunft. Alle rissen an ihren Päckchen und Säcken herum, machten einander auf Dinge aufmerksam, die sich draußen abspielten, oder diskutierten laut darüber, was nun passieren sollte. Ich verstand kein Wort von dem Geschrei, weil alle in Arabisch oder in mir unbekannten afrikanischen Sprachen redeten. Auch Haile machte sich zum Aussteigen bereit und klopfte Yaldiyan und Tzegehana aufmunternd auf die Schulter, die noch immer durch das Land der Träume schwebten. Mit vor Staunen offenem Mund sah ich nach draußen. Hier gab es jede Menge Dinge, die ich noch nie gesehen hatte: Häuser, so hoch wie die Turmspitze der Kadiedrale in Asmara. Straßen, auf denen die Autos in mehreren Spuren nebeneinander fuhren. Moscheen, deren Türme so weit in den Himmel ragten, dass ich ihre Spitze vom
Busfenster aus nicht sehen konnte. Und überall Menschen, Menschen, Menschen. Asmara war immer eine belebte Stadt gewesen, aber hier waren unvergleichlich viel mehr Menschen unterwegs. Ich klebte mit dem Gesicht an der Scheibe und konnte kaum fassen, wie viele Menschen hier zwischen den Autos, den Fuhrwerken und den Häusern hin und herliefen. Haile ging mit uns nach Hause. Er sperrte ein eisernes Tor in einer hohen Mauer auf, hinter der sich ein üppiger Garten verbarg und ein gewaltiges Haus mit mehreren Stockwerken. Haile schmunzelte, als er unsere Verwunderung sah, und sagte nur: »Hier wohnen wir.« In diesem Palast sollten wir zu Hause sein? Hier gab es für alles ein eigenes Zimmer — ein Zimmer zum Essen, eins zum Kochen, eins zum 181 Waschen, eins zum Schlafen; acht Zimmer insgesamt. So etwas kannte ich noch nicht mal aus meinen Träumen. Das Wasser kam aus einer Leitung, und es gab ein Klo, durch das dieses Wasser floss. Das hatte ich erst einmal in meinem Leben gesehen, nämlich bei den italienischen Nonnen in Asmara. Doch dort mussten wir oft auf das Plumpsklo im Garten, das mir damals luxuriös vorgekommen war. Nach dem Haus erkundeten wir das Grundstück, auf dem drei riesige Hunde lebten. Dass Hunde so nah bei den Menschen waren, gefüttert wurden und wie Familienmitglieder lebten, hatte ich noch nie erlebt. Ich kannte nur Straßenköter, die von allen getreten, gejagt und verachtet wurden. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, einen Hund in seinen eigenen Garten zu lassen. Wir erfuhren bald, dass dieses Haus nicht Haue gehörte, sondern einer Verwandten von uns, einer reichen, wunderschönen Frau, die halb Ägypterin, halb Eritreerin war. Sie hatte sehr helle Haut, fast wie eine Weiße, und dazu pechschwarze Haare. Als ich sie das erste Mal sah, blieb ich mit offenem Mund vor ihr stehen, weil ich noch nie soviel Schönheit gesehen hatte. Ich wusste nicht, was gemeinhin als schön galt und was nicht — angesichts dieser Frau aber spürte ich sofort, dass ich einer außergewöhnlichen Schönheit gegenüberstand. Meine Bewunderung schien sie zu freuen, denn sie streichelte mir über den Kopf und ließ mich spüren, dass sie mich mochte. Ihrer Tochter Sanaa gehörte das prächtige Haus, in dem wir wohnten. Sie war ein verwöhntes, schon erwachsenes Mädchen, die alles hatte außer einem Mann: das Haus, ein Auto, eine Putzfrau, die Hunde und jede Menge toller Kleider. Zu arabisch anmutenden langen Kleidern trug sie nicht etwa Kopftuch und Schal, sondern ihr Haar blieb frei. Offenes, freies Haar kannte ich bis jetzt nur von den Frauen in der ELF, doch die hatten keine schönen Kleider getragen, sondern abgewetzte Tarnhosen, TShirts und zerschlissene Männerhemden. Sanaas Mutter mochte mich mit der Zeit immer mehr. Sie wollte, dass ich zu ihr und ihrer Tochter zog, und so lebte ich wochenweise in einem noch schöneren und prächtigeren Haus in einem Viertel, in dem nur solche Häuser standen, jedes in seinem eigenen Garten. Das Leben 182 dort war ein FesL. Schwere Aibeiten wie Wasser oder Hoizholen fielen nicht an, ich brauchte nur ein bisschen im Haushalt zu helfen. Gekocht wurde nicht mit Holz, sondern auf einem Herd, der an eine Flasche an geschlossen war, aus der Feuer kam, wenn man an die richtige Stelle ein Streichholz hielt. Wenn man Wasser brauchte, musste man nur an einem der Wasserhähne drehen, die es an mehreren Stellen im Haus gab, und wie durch ein Wunder lief das Wasser aus der Wand. Alles, was ich tun musste, war, auf den Markt gehen, einkaufen und einer alten Frau, die hier als Dienerin lebte, beim Kochen helfen. Noch nicht einmal saubermachen musste ich, dafür waren zwei andere junge Frauen zuständig. Es war wie im Paradies, aus dem ich nur manchmal für wenige Stunden vertrieben wurde, wenn Besuch da war. Dann musste ich mich immer mit den anderen Frauen, die hier arbeiteten, in der Küche aufhalten. Das schmerzte mich, denn auch wenn ich fast nichts verstand, weil ich erst ein paar Brocken Arabisch aufgeschnappt hatte, war ich doch neugierig und wollte wissen, was für Leute zu Besuch kamen und worüber sie redeten. Vor allem aber vermisste ich meine beiden Schwestern und Haue, der nur hin und wieder zu Besuch kam. Die drei wohnten im Haus Sanaas. Wenn Haue einmal da war, schien es mir, als würden sich Sanaas Mutter und Haue nicht mehr so gut verstehen. Einmal gab es richtig Streit. Ich wurde hinausgeschickt und hörte nur, wie die beiden sich lauter als nötig miteinander unterhielten. Plötzlich wurde eine Tür aufgerissen, Haile griff mich wortlos am Arm und schob mich hinaus. »Wir gehen«, sagte er. »Du kommst nicht mehr hierher zurück.« Ich war erschrocken, aber auch ein bisschen erleichtert. Doch dann fiel mir etwas ein. »Und meine Sachen?« »Also gut, hol sie dir.« Haile ließ mich los, und ich stürzte in das Zimmer, in dem ich mit einem anderen Mädchen wohnte, das hier saubermachte. Meine Habe war schnell zusammengerafft: ein Kleid, das mir Sanaa geschenkt hatte, ein paar Tücher und meine Gummilatschen, mehr hatte ich nicht. Das Kleid war mein ganzer Stolz, nie zuvor hatte ich etwas so Prächtiges besessen: Es bestand nicht nur aus ein paar Tüchern, sondern war aus einem genähten Stoff, der mir wunderbar 183 stand, wie ich fand. Dann eilte ich zu Haile, der mich zu Sanaas Haus führte. War das ein Wiedersehen mit
meinen Schwestern! An unserem ersten gemeinsamen Abend erzählte Haile die Geschichte, die sich hinter seinen Verwicklungen mit Sanaas Mutter verbarg. Ich war beeindruckt, denn bis jetzt hatte sich niemand viel Zeit genommen, um mir und meinen Schwestern etwas ausführlich zu erklären. Sanaas Mutter hatte meinen Vater kennengelernt, als er auf seiner Flucht aus Eritrea mit meiner Stiefmutter und deren Kindern zu ihr gekommen war. Sie hatte ihn sehr gemocht und immer von ihm geschwärmt. Haile dagegen mochte sie nicht. »Weil ich ihr gegenüber nicht gehorsam war wie euer Vater«, sagte Haile. Trotzdem hatte sie ihm und uns erlaubt, weiter im Haus ihrer Tochter zu wohnen, wenn ich dafür bei ihr lebe und ihr helfe. Das tat sie, weil sie mich mochte. »Dabei fühlte ich mich ein wenig unwohl«, erklärte Haile nach einigem Herumdrucksen auf die Frage, was ihn denn nun so geärgert habe. »Ich dachte, du solltest eigentlich nicht von deinen Schwestern getrennt sein. Als die Hausherrin dich dann auch noch adoptieren wollte, war meine Geduld am Ende. Einerseits solltest du ihr Liebling sein, andererseits musstest du mit den Putzfrauen in der Küche sitzen, wenn Besuch da war, weil du ihr zu schwarz warst. Da habe ich ihr gesagt, dass ich das nicht will, und sie hat mich aus der Wohnung geworfen.« Ich war Haile sehr dankbar. Ich konnte es kaum fassen, dass jemand, den ich kaum kannte, sich so für mich einsetzte. Onkel Haile Haile schleppte uns in ein Fotostudio. Fotos hatte ich zwar schon gesehen, aber noch keinen Fotografen, von einem Fotostudio ganz zu schweigen. Wir mussten unsere besten Kleider anziehen — jede von uns hatte ohnehin nur eines — und uns nebeneinander aufstellen. Hinter uns war ein wunderschöner Vorhang mit einem Bild darauf, den wir aber nicht ansehen durften. Statt dessen mussten wir zu dem Fotografen 184 schauen, der hinter einem kleinen Kästchen verschwand. Ein greller Blitz zuckte, aber Haile hatte uns gewarnt, und so hatten wir keine Angst davor. Am nächsten Tag konnten wir unser Bild abholen. Nach unserer Ankunft in Khartum ließ Onkel Halle ein Foto machen von Tzegehana (/.), Yaldiyan (r.) und mir. Es war kaum zu glauben, dass wir das sein sollten auf diesem Foto. Wir sahen hübsch und gepflegt und nett aus, als hätte uns nie etwas Böses gestreift. Auf dem Foto wirkten wir so unschuldig, als kämen wir frisch von der Schulbank oder aus einem wohlhabenden Elternhaus und nicht aus dem blutigsten und längsten Bürgerkrieg der neueren afrikanischen Geschichte. Erst jetzt, nachdem wir dem Krieg entkommen waren, erfuhren wir etwas darüber. Haile erzählte uns von der ELF und der EPLF, von dem sinnlosen Schlachten zwischen den beiden Rebellenorganisationen, die 185 einander bekämpften, obwohl sie dasselbe wollten: Freiheit für Eritrea und Unabhängigkeit von Äthiopien. Es gab keine Unterschiede zwischen den beiden Organisationen, keine weltanschaulichen Differenzen, wenn man davon absah, dass die ursprünglich in Kairo gegründete ELF von Moslems dominiert war, während bei der EPLF die Christen die Mehrheit hielten. Diese religiösen Unterschiede sollten eigendich keine Rolle spielen, denn immerhin hatten sich beide Organisationen dem Marxismus und damit dem Atheismus verschrieben, wenn auch die EPLF noch mehr Gewicht auf ihre Sozialrevolutionären Bestrebungen legte als die ELF. In Wahrheit bekriegten sich die zwei verfeindeten Organisationen aber, weil die Führer auf beiden Seiten um die Macht im Land kämpften, bevor es das Land überhaupt gab. Sie wollten den Kuchen verteilen, bevor sie ihn gebacken hatten. Von Freunden, die in Eritrea geblieben waren und mit denen er ständig in Kontakt stand, wusste Haue, dass die ELF kurz vor ihrer endgültigen Niederlage stand. Haue war vor den Hungersnöten in Eritrea und vor dem Krieg schon lange vor uns in den Sudan geflohen. Er wollte nicht in einem überflüssigen Bruderkampf sterben, und weil er weder Frau noch Kinder hatte, konnte er leicht fliehen. Auch im Sudan lebte er alleine. Ich konnte mir nicht erklären, warum das so war, denn mein Onkel sah mit seinen fünfunddreißig Jahren gut aus, er war intelligent, verdiente Geld und war ein guter Mensch was brauchte es mehr, um eine Frau zu finden? Andererseits waren wir drei Schwestern froh, dass es so war, denn Haue stellte sein Leben ganz auf uns ein. Ein Schrecken wie in der Familie meines Vaters, wo die neuen Kinder und die neue Frau alles dominiert hatten, blieb uns erspart. Haue wusste zu berichten, dass unser Vater mit seiner dritten Frau Werhid und ihrer gemeinsamen Tochter in Europa lebte, in Deutschland. Das sagte uns nichts, ich war bloß froh, dass dieses Land sehr weit weg und noch dazu auf der anderen Seite des Meeres liegt und dass wir daher unseren Vater nicht sehen würden. Aber obwohl unser Vater so weit weg lebte, hatte er unsere Rettung veranlasst: Im fernen Europa hatte er durch eritreische Freunde von der Nodage der ELF erfahren und Haile gebeten, uns da herauszuholen — so erzählte es jedenfalls Haue. 186 Zu dieser Zeit ^""pn tägiicu Flüchtlinge aus Eritrea im Sudan angekommen. Haile hatte sich bei seinen Freunden und Bekannten umgehört, die ständig das Neueste aus Eritrea zu berichten wussten. So hatte er erfahren, dass die
Reste der Jebha zuletzt nahe der sudanesischen Grenze kämpften. Als er auch noch hörte, dass die allerletzten TebhaVerbände bald aufgerieben werden könnten, leitete er seine Rettungsaktion ein. Er, der stets europäisch angezogen war, kleidete sich in der islamischen Tracht der Beduinen in weiße bodenlange Tücher. Er verbrachte sogar ein paar Tage mit den Beduinen draußen in der Wüste, um die Merkmale dieser Menschen genau zu studieren. Einen von ihnen bestimmte er zu seinem Vertrauten, gab ihm Geld und ließ sich von ihm zu uns führen. Er selbst hätte uns nie mitten in der Wüste ausfindig gemacht, denn in dieser abgelegenen Region gab es keine Wegweiser, keine Landkarten, keine festen Straßen. Nur die Beduinen wussten, wo man die Grenze zwischen dem Sudan und Eritrea überqueren konnte, ohne allzu vielen Patrouillen in die Arme zu laufen. Neubeginn Haile hatte uns in letzter Minute gerettet. Ich war damals neun oder zehn, Tzegehana war elf und Yaldiyan vierzehn Jahre alt, und wir mussten von vorne beginnen. Vielmehr: Wir durften von vorne beginnen, denn nichts war uns lieber als das. Für uns gab es hier wenig Vertrautes. Wir hatten in Khartum keine Freunde und keine Verwandten bis auf Haile. Zu Sanaa und ihrer Mutter hatten wir ab dem Moment keinen Kontakt mehr, an dem Sanaas Mutter sich mit Haile zerstritten hatte. Auch die Sprache war uns fremd. Alle redeten Arabisch, und bis auf ein paar Brocken verstanden wir die Sprache nicht. Das bisschen, das wir konnten, hatten wir von moslemischen Kameraden bei der Jebha gelernt, die aber selbst nur schlecht Arabisch sprachen, weil sie meistens ihre afrikanische Muttersprache benutzten. Von den afrikanischen Sprachen der Sudanesen verstanden wir kein Wort; sie hatten nicht das geringste mit 187 Tigrinya zu tun. Also lernten wir Arabisch, wie man unter solchen Umständen eine andere Sprache lernt: auf der Straße, von anderen Kindern. Wir mussten uns an die islamische Lebensweise anpassen. Mädchen gingen hier nur mit Kopftuch aus dem Haus, manche der erwachsenen Frauen waren verschleiert. Ständig mit schwarzen Tüchern über Gesicht und Kopf herumzulaufen kam mir völlig aberwitzig vor. Wir trugen Kopftücher nur zum Schutz gegen die Sonne, wenn es zu heiß war. Nachdem uns Sanaa hinausgeworfen hatte, hatte Haile ein neues Haus für uns gesucht. Es lag in einer anderen Gegend dieser Stadt, die so groß war, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich zu Fuß von einem Ende zum anderen gelangen sollte. Man ging und ging und ging, und immer taten sich neue Straßen auf und neue Märkte und neue Plätze und Moscheen und große Häuser, in denen Ämter oder Schulen waren, und wieder Wohnhäuser und Lagerhallen und Fabriken und wieder Wohnhäuser. So ging das immer weiter, ohne dass man den Horizont zu sehen bekam, die Berge oder die Spiegelungen der Hitze über der Ebene. Hier war überall Stadt. Das Viertel, in dem wir jetzt lebten, erinnerte mich an Asmara: Die Straßen waren nicht asphaltiert, sondern staubige und steinige Pisten. Die Häuser standen dicht an dicht. Manche hatten Gärten oder enge Höfe, die hinter hohen Mauern verborgen waren, so dass von der Straße aus nur Wände und Mauern mit eisernen Toren dazwischen zu sehen waren. Die Gegend war nicht so schön wie die, in der Sanaa wohnte, aber niemand lebte hier in Zelten, Wellblechverschlägen oder aus Abfällen zusammengezimmerten Hütten. Es gab noch nicht einmal Leute, die auf der Straße schliefen. Haile konnte es sich leisten, in diesem ordentlichen Viertel zu leben, weil er über ein regelmäßiges Einkommen verfügte. Das war zu dieser Zeit in Khartum eine Besonderheit. Er arbeitete in einem sehr vornehmen Viertel der Stadt, wo viele Häuser standen wie das von Sanaa. Haile arbeitete für das Rote Kreuz und war für den Garten, die Küche und alles Handwerkliche im Dienstgebäude des Roten Kreuzes zuständig. Hier arbeiteten sogar Weiße, so dass Haile die besten Kontakte hatte. 188 In unserem Vi^tci war aiics viei schlichter. Die Hauser hier waren ebenerdig und sehr einfach gebaut. Zwischen hölzernen Masten waren Drähte gespannt, die die Stadt wie ein Netz überzogen, denn jedes Haus hatte Strom, auch wenn es darin nur eine oder zwei Glühbirnen und eine Steckdose für den Radioapparat und den Fernseher gab. Auch wir hatten einen Fernseher. Stundenlang konnten wir davor sitzen und sudanesischen Sängern zuhören, die auf arabisch über ihr Liebesleid klagten. Manchmal gab es Tänzer und Tänzerinnen zu sehen oder Filme über die Wüste oder über neu eröffnete Fabriken, doch die interessierten uns nicht so brennend. Am liebsten sahen wir amerikanische Filme, in denen weiße Männer und Frauen in riesigen Autos durch riesige Städte fuhren. Alle Menschen lächelten in diesen Filmen und trugen schöne Kleider. Manchmal stritten die Männer, dann schössen sie und töteten sich gegenseitig. Ich konnte das nicht verstehen: Alles war so schön und perfekt, alle hatten immer zu essen, sie hatten Kinder und Häuser und alles — und dann streckte der eine den anderen nieder. Die Filme liefen meist in englischer Originalfassung mit arabischen Untertiteln. Englisch konnte ich nicht, und Arabisch konnte ich zwar ein wenig verstehen, aber /licht lesen. Fernsehen hieß für uns deshalb vor allem, mit offenen Mündern bunte Bilder anzustarren. Bald verloren wir das Interesse für diese Art der Unterhaltung, weil die Filme, die Konzerte und die Fabrikeröffnungen sich nach ein paar Wochen zu gleichen begannen. Wir gingen zurück auf die Straße und
sahen uns dort um. Hier waren die Kinder den ganzen Tag sich selbst überlassen, abgesehen von den paar Stunden am Vormittag, wenn sie in der Schule sein mussten. Aber längst nicht alle gingen zur Schule, auch wir nicht. Anfangs gingen wir meistens zu dritt hinaus, weil wir uns dann in der neuen Umgebung am sichersten fühlten. Schließlich hatten wir nur sehr wenige Möglichkeiten, uns mit den anderen Kindern zu verständigen. Wir waren nicht von ungefähr so vorsichtig, denn es kam zu Beginn immer wieder zu Konflikten mit Kindern, die hier aufgewachsen waren. Einmal wollten wir uns auf einem kleinen Platz in der Nähe unseres Hauses umsehen, wo es ein Geschäft gab, das wir 189 interessant fanden. Da kamen die Steine geflogen. Kleine Steine trafen uns am Kopf und auf dem Rücken. Blitzschnell duckten wir uns und rannten wie die gehetzten Tiere, um uns hinter dem Geschäft zu verschanzen. Der Fluchtreflex war in uns noch so tief und fest verankert, als hätten wir die Jebha erst gestern verlassen. Als wir in Sicherheit waren, wagten wir uns umzusehen. Doch da waren nur ein paar kleine Kinder, manche jünger als wir, die unverständliche Dinge in unsere Richtung schrien. Erst nach einiger Zeit kamen wir dahinter, dass die Kinder schimpften, weil wir Fremde waren und keine Kopftücher trugen. Hier hatten schon die jüngsten Mädchen Kopftücher. Wir versuchten etwas zu sagen, doch plötzlich kamen von der anderen Seite ein paar Jungs, die Erde und Steine auf uns warfen. In diesem Moment schoss der Besitzer aus seinem Laden und brüllte auf uns und die anderen Kinder ein. Es klang furchteinflößend, und als die anderen so schnell sie konnten das Weite suchten, nutzten auch wir die Gelegenheit, um nach Hause zu laufen. Künftig würden wir öfter Kopftücher tragen, um nicht aufzufallen. Doch das war fast unmöglich, denn »Hawesch« waren wir sowieso. »Hawesch« nannten die Araber Äthiopier und Eritreer. Für sie sahen wir alle gleich aus: Wir waren viel hellhäutiger und größer als die Sudanesen, hatten die Haare nicht so stark gekräuselt und weniger dicke Lippen. Alles in allem sahen wir nicht so afrikanisch aus. Die Bezeichung »Hawesch« kommt vom Begriff »Abessinier«. So hatten die Italiener die Äthiopier genannt. Erziehung Haue unterrichtete uns selbst, denn das Geld reichte nicht, um uns alle drei zur Schule zu schicken. Schulen waren nicht öffentlich, sondern privat, und nur wenige Eltern konnten sich das Schulgeld leisten. Bei Haile lernten wir vor allem Englisch, das er auf seiner Arbeit beim Roten Kreuz täglich brauchte. Er brachte uns Mathematik bei, außerdem unsere eigene Schrift, die koptischen Buchstaben, in denen Tigri 190 nva ges>cliiicben ""*•<! und Aiäuisdu. Der Unterricht inachte ihm genausoviel Spaß wie uns. Wir waren widerborstige Kinder, aber nicht, wenn es ums Lernen ging. So aufsässig vor allem ich sonst war, hier zeigten wir uns von unserer besten Seite. Wir nahmen uns die Bücher vor, die Haue uns brachte, und arbeiteten sie durch, von der ersten bis zur letzten Seite. Wenn er abends wiederkam und mit uns weiterlernen wollte, fragte er immer, wo wir letztes Mal stehengeblieben waren: »Das war doch auf Seite zwei oder drei?« Wir aber waren bereits mit dem Buch durch, obwohl wir erst am Vorabend mit einem neuen Thema angefangen hatten. Viele Sätze konnten wir sogar schon auswendig. Haile war total begeistert. In solchen Momenten sagte er: »Ahh, dieser Anjal!« »Anjal«, das war mein Vater. »Anjal« heißt »Idiot« oder »Tolpatsch«, und Haile sagte das immer, wenn wir etwas gemacht hatten, das ihn freute. Unser Vater war für ihn »dieser dumme Mensch«, weil er sich nicht vorstellen konnte, wie ein Vater solche Kinder weggeben konnte. Er verstand nicht, wieso er uns als Kanonenfutter an die schon in den letzten Zügen liegende Rebellenarmee abgegeben hatte. Aber er schimpfte nie ernsthaft über seinen Bruder, er verfluchte ihn nie. Für Haile waren wir seine Kinder. Das Schöne daran war, dass er uns nicht ändern wollte, sondern nur weiterbilden. Er liebte uns dafür, dass wir so waren, wie wir sind. Die Mittlere, Tzegehana, war für ihn die Weise. In Yaldiyan, der Ältesten, sah er die etwas Zurückhaltende, und ich galt als wild und eigensinnig wie ein Junge. So beschrieb er uns immer, wenn Besuch da war. Mich machte das natürlich stolz, aber ich fand es Yaldiyan gegenüber nicht fair, denn sie war nicht dumm, sie war nur eigen. Verschlossen war sie und trotzig, ein bisschen träumerisch, schwärmerisch und ohne Ziel, aber nicht beschränkt. Es war ein Glück, dass Haile sich nicht an die Anweisungen unseres Vaters hielt. Der hatte ihm eine Art Bedienungsanleitung für seine Töchter gesandt, in der Sätze standen wie: »Yaldiyan musst du zu Tode prügeln, damit sie was versteht, Senait musst du ständig nur schlagen, bloß Tzegehana brauchst du nicht anzurühren.« Unser Onkel las uns das vor und fragte nur: »Wie verrückt ist dieser Mann?« Er schrieb 191 unserem Vater, dass er das für Unsinn hielt und dass er uns nicht einfach so schlagen wolle, ohne Grund. Uns erklärte Haile, wer Mist baue, werde bestraft. Haue war zwar wie unser Vater sehr streng, aber er schlug nur zu, wenn es einen Grund gab. Schläge waren für ihn unverzichtbarer Teil der Erziehung. Er kannte es nicht anders, weil es nichts anderes gab. Aber er fasste uns nie ohne Grund an, er war nicht einfach so wütend, sondern immer nur, wenn eine von uns etwas angestellt hatte, und das kam durchaus vor. Etwa wenn wir zum
Einkaufen geschickt wurden und die Hälfte vergaßen, weil wir unterwegs an tausend andere Dinge gedacht hatten, nur nicht an den Markt. Oder wenn wir etwas aufräumen sollten und es nicht getan hatten. Oder wenn wir später nach Hause kamen, als er verlangt hatte. Einen Anlass für eine Ohrfeige gab es schnell mal. Einmal hatte ich von Hailes Schlägen einen Bluterguss im Augapfel, der erst nach vier Jahren verging. Das sah aus, als hätte ich zwei Pupillen. Wenn Haile wütend war, schlug er nicht mit der Hand, sondern mit einem abgeschnittenen Stück Schlauch, so lange, bis wir Platzwunden bekamen. Trotzdem war es anders als bei meinem Vater. Ich fürchtete Haile zwar, wenn er wütend war, aber er hatte Prinzipien. Er hätte uns nie lebensgefährlich verletzt, und davor waren wir bei unserem Vater keineswegs sicher. Haile war ehrlich zu uns: Er sagte uns immer, warum er uns schlug, und wenn er die Missetat gerächt hatte, war es wieder gut. Dann zeigte er uns, dass er uns liebhatte. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, guckte er, wie wir gearbeitet hatten. Mittags und abends kochten wir immer selbst. Wir wuschen das Geschirr ab, lasen viel, kauften ein, räumten auf, machten sauber. Wir waren, alles in allem, völlig selbständig. Wenn Haile mit unserer Arbeit zufrieden war, entfuhren ihm manchmal Sätze wie: »Kann man so etwas wegwerfen?« Oder: »Diese Goldstücke, womit habe ich sie verdient?!« Haile war Christ, wie alle in unserer Familie. So einer wurde auch nicht in Khartum zu einem Moslem. Daran konnten auch die vielen islamischen Einflüsse nichts ändern, weder die Moscheen noch die Muezzins, die ihre Gesänge frühmorgens und spätabends über die Stadt schallen ließen, und auch nicht die vielen muslimischen Freunde, 192 die Haile hatte. Wir schätzten die arabische Kultur, ohne sie anzunehmen. Ich liebte vor allem die arabische Musik, die in Khartum an jeder Ecke erklang. Sie dröhnte aus allen Lokalen und aus vielen Läden heraus. Sie wurde bei Festen gespielt, kam dauernd im Radio und war auch im Fernsehen allgegenwärtig. Mein Lieblingsstar war Mahmut, ein bekannter ägyptischer Sänger. Dessen Tochter hieß Ranja. Für sie sang er viele Lieder, und manchmal sang sie mit ihrem Vater zusammen. Das rührte mich immer wieder zu Tränen. Im stillen träumte ich von einer schönen und harmonischen Beziehung zwischen Vater und Tochter, in der der eine mit der anderen Musik machte und sang und auch noch berühmt wurde. Jedes Kind kannte damals Mahmut und Ranja und ihre Lieder. Das war die erste Musik, außer den paar Kampfliedern bei der Jebha, die ich bewusst erlebte und genoss. Ich sog sie ein wie ein trockener Schwamm das Wasser. Flüchtlinge Einmal sagte Haile, er habe eine große Überraschung für mich. »Rate mal, wer in den Sudan gekommen ist!?« Ich erschrak. Sollte mein Vater hiersein? Nein, in diesem schrecklichsten aller Fälle hätte Haile sich an uns drei gewandt, nicht nur an mich. Meine Großmutter? »Es ist Mbrat!« Erwartungsvoll sah er mich an. Ich zögerte. Mbrat hatte mich verraten wie niemand sonst auf der Welt. Sie hatte mich meiner Großmutter weggenommen und zu meinem Vater und damit zur Armee gebracht. Außerdem war sie nicht meine richtige Mutter, wie ich inzwischen wusste. Mbrat war Hailes Cousine und die Cousine meines Vaters. Mbrat war meine Tante. Deshalb konnte sie nicht meine Mutter sein, es sei denn, mein Vater hätte ein Kind mit seiner eigenen Cousine gezeugt, was auszuschließen war. Weil Haile so gespannt auf meine Reaktion wartete, sagte ich ihm zuliebe: »Okay, ich freue mich.« 193 Das kam mir automatisch über die Lippen, ohne Gefühl. Meine Liebe zu ihr war von dem Tag an weg, an dem sie mich verlassen hatte. An diesem Tag war soviel in mir gestorben, auch das Gefühl für meine Mutter, für die ich sie damals noch hielt. Als ich Mbrat gegenüberstand, freute ich mich zwar, aber schon drei Tage später interessierte sie mich auf eine merkwürdige Art nicht mehr. Die Frau, die früher mein ein und alles war, saß neben mir, an der runden Platte, von der wir alle Enjera aßen, die wir drei Schwestern gebacken hatten, und ich dachte an andere Dinge. Ich sprach mit ihr genauso wie mit meinen Schwestern und mit Haue, aber sie war für mich nichts weiter als ein netter Gast, wie andere Besucher auch. Ein Gast immerhin, der neue Nachrichten aus Eritrea brachte. Mbrat erzählte, dass die gesamte Jebha, auch die Einheit »Che Guevara«, von der EPLF und den Äthiopiern aufgerieben worden war. Es hatte nächtliche Luftangriffe der äthiopischen Armee gegeben, bei denen Hunderte Menschen, vor allem Kinder, zu Tode gekommen waren. Der Rest der Einheit wurde in alle Winde zerstreut. Viele flüchteten in den Sudan, andere liefen zur EPLF über, wieder andere tauchten unter oder kehrten zu ihren Familien zurück, wo sie bald von EPLFHäschern ergriffen und wieder an die Front gebracht wurden, um gegen die Äthiopier zu kämpfen. In Eritrea herrschten Chaos und Hunger. Mbrat wusste nicht, wie es der Familie geht; sie war bereits seit Wochen auf verschlungenen Wegen durch Eritrea und den Sudan unterwegs, um ihre eigene Haut zu retten. Sie machte kein Hehl daraus, dass Khartum nicht die letzte Station dieses Weges sein sollte. Nicht mal ein Jahr später zog Mbrat nach SaudiArabien, weil sie dort einen Job bekommen hatte, der ihr im Vergleich zum Sudan
oder zu Eritrea traumhaft hohe Einkünfte versprach. Mbrat war nicht der letzte Flüchtling, der Schutz bei Haue suchte. Schon ein paar Wochen nach Mbrats Ankunft fragte er mich wieder, ob ich erraten könnte, wer jetzt käme. Diesmal tippte ich richtig — es war eine Eingebung: Nazreth! Haue musste schmunzeln, ich hielt mir die Augen zu und kreischte wie von Sinnen: »Ahhhh! Nazreth! Meine Schwester!« 194 Sie war nicht meine Schwester, sondern die Schwester von Mbrat, aber damals in Asmara waren wir wie Schwestern aufgewachsen. Sie war älter als ich und sogar älter als Tzegehana und Yaldiyan, aber wir passten wunderbar zusammen: Sie war genauso frech wie ich, genauso unbändig und genauso voller merkwürdiger Ideen. Nazreth war nicht nur vor dem Krieg weggelaufen, vor dem Hunger und vor der Not, die in Eritrea herrschten, sie war von zu Hause weggelaufen, weil ihr die Enge in ihrer Familie zuviel geworden war. Sie wollte einen Freund haben, und meine Großeltern hätten das nie akzeptiert. Also tat sie sich mit einer Freundin zusammen und verschwand. Die beiden hatten etwas Geld gespart und einen Bus in Richtung Westen genommen, bis Gesh Berka. Dort herrschte Krieg, es fuhren keine Busse weiter in den Sudan. Offiziell war die Grenze dicht. Was tun? Die beiden trampten — als junge Frauen in dieser Gegend in Kriegszeiten war das nicht nur leichtsinnig, sondern lebensgefährlich. Sie fuhren auf Lastwagen mit, auf Fuhrwerken, mit Soldaten, sie gingen zu Fuß, bis sie schließlich in Khartum ankamen. Ich war tief beeindruckt. Die Freundin, mit der Nazreth hergekommen war, ging bald ihrer eigenen Wege, weil sie hier Familie hatte, in die sie sich zurückzog. Nazreth aber wollte etwas erleben. Sie wollte die Welt sehen, und sie hatte große Pläne. Zuerst mal, sagte sie, muss ein Mann her, und zwar einer, der etwas kann. Einer, der Geld hat. »Er muss mir etwas bieten können«, sagte sie, »nicht so einer wie die Penner in Maitemenai, diesem trägen Vorort von Asmara, wo sich nichts regt. Ich musste weg von dort, um mich mal richtig umzusehen.« Solche Töne hatte ich noch nie gehört. Eine Frau wollte etwas, und zwar für sich. Nicht für die Familie, nicht für die Eltern, nicht für Eritrea, sondern ganz allein für sich. Und sie begründete es mit nichts anderem, als dass sie es wollte. Das war so neu für mich, dass ich es kaum fassen konnte. Auf so eine Idee war ich noch nicht gekommen. Ich beschloss, Nazreth nicht aus den Augen zu lassen. Das war nicht weiter schwierig, denn von nun an sollte sie mit in unserem Haus wohnen. 195 Nazreth Meine Neugier sollte nicht enttäuscht werden, denn von Nazreth bekam ich einiges zu sehen. Sie war sexy wie kein anderes Mädchen, das ich je gekannt hatte. Sie wusste sich zu bewegen, sie konnte provozieren, und sie konnte Aufmerksamkeit erregen, vor allem bei den Jungs. Zwar durfte sie sich nicht freizügig kleiden, das war im Sudan undenkbar, doch sie erreichte mit Blicken, Gesten und kleinen Bemerkungen mehr als mit entblößter Haut. Wenn sie auf der Straße einen Typen sah, der sie interessierte, pflegte sie leise »ohoh« oder »uuhhh« zu sagen. Ich hörte immer genau hin, und das taten auch die Jungs, die diese Bemerkungen noch im dichtesten und lautesten Verkehrsgetümmel der Großstadt hörten und entsprechend reagierten. Nazreth war erst sechzehn Jahre alt und durfte nicht alleine auf die Straße, darauf achtete Haue penibel, aber wenn wir Mädchen zusammen unterwegs waren, wurde die Sache für die Jungs nur um so interessanter. Meine Schwestern kreischten etwas wie »ihih«, als wollten sie die Jungs damit vertreiben oder Nazreth vor ihnen abschirmen, aber das verfing nicht bei ihr — und bei den Jungs schon gar nicht. Wenn wir zusammen unterwegs waren, standen wir immer im Mittelpunkt des Interesses. Nazreth nahm kein Blatt vor den Mund. Sie war wild, aber das war normal für ihr Alter. Sie war ein Teenie, ihre Hormone spielten verrückt. »Der ist ja süß!« rief sie einem Jungen zu, der uns entgegenkam, oder auch: »Ah, der hat bestimmt einen großen Pimmel!« Nazreth war sehr offen, was ihre Gefühle betraf, viel offener als alle anderen Mädchen, die ich kannte. Sie sah sich immer nach den Typen um, anstatt, wie es sich für Mädchen gehörte, sofort die Blicke zu Boden zu senken, wenn ein Mann zu ihr hinsah. Haue, der eigentlich Nazreths Cousin war, schlüpfte bald in die ihm altersmäßig ohne weiteres zustehende Vaterrolle. Ihm entging all das nicht, die Flirterei war ihm ein Dorn im Auge, und er wehrte sich auf seine Weise: Jedesmal, wenn er mitbekam, dass sie einem Jungen hinterhersah oder über ihn sprach, verprügelte er Nazreth. Sie bekam dafür Schläge ohne Ende, viel stärkere, als ich sie jemals ertragen musste. Haue peitschte Nazreth 196 aus bis ihf Has B]at übci uen Rücken und von den Ai^cn iann, doch sie blieb standhaft. Sie sagte nichts, sie schrie nicht, sie weinte nicht. Sie biss die Zähne zusammen und machte am nächsten Tag genauso weiter wie sie am Vortag aufgehört hatte. Dafür bewunderte ich sie nur noch mehr. Hier war endlich jemand, der sich nichts gefallen ließ. Ich beschloss: So wollte ich auch werden. Da Haue seine Cousine nicht immer bewachen konnte, weil er untertags beim Roten Kreuz arbeiten musste, bedachte er uns mit dieser Aufgabe. Er schärfte uns ein, dass wir Nazreth verfolgen und ihm alles erzählen
sollten, was sie getan und wen sie getroffen hatte. Wir wagten nicht, gegen diesen Befehl zu verstoßen. Immerhin war es ein großer Vertrauensbeweis: Wir Jüngeren sollten das ältere Mädchen überwachen. Ich fand es toll, hinter Nazreth herzusein, weil ich mich maßlos dafür interessierte, was sie tat, und vor allem, wie sie es anstellte, so viele Männer für sich zu begeistern. Haue erzählte ich niemals auch nur ein Wort von meinen Beobachtungen. Ich wollte nicht, dass Nazreth bestraft wurde, denn ich fühlte mich auf ihrer Seite. Außerdem fand ich, dass Haile all das nichts anging. Auch Yaldiyan petzte nicht — weniger aus Überzeugung, sondern weil sie Angst hatte, Nazreth könnte sich an ihr rächen. Nur Tzegehana benahm sich wie der perfekte Detektiv. Sie beobachtete Nazreth und erzählte Haile alles haarklein. Nazreth flehte sie immerzu an: »Erzähl ihm nicht alles, ich kriege nur wieder Prügel von ihm«, doch Tzegehana blieb hart: »Was soll ich machen, wenn du zu den Typen gehst?! Soll ich schweigen? Wenn er mir draufkommt, schlägt er mich.« Also erzählte sie Haile alles, was sie wusste, und Nazreth bekam Prügel. Bald begann Nazreth uns anzulügen. Sie sagte zum Beispiel, sie gehe nur einkaufen, in ein Geschäft gleich in der Nähe, wir müssten nicht mitkommen. In Wirklichkeit wollte sie einen langen Spaziergang durch die Stadt machen. Wir ließen uns aber nicht abschütteln, sondern folgten ihr heimlich in großem Abstand. Es war spannend. Nazreth merkte immer wieder, dass wir ihr nachgingen, denn sie war nicht blöd, und wir stellten uns ungeschickt an, aber sie bändelte trotzdem mit Typen an und traf bestimmte Jungs an vorher ausgemachten Treff 197 punkten. Hinterher berichtete Tzegehana Haile alles, und der drosch Nazreth windelweich. Es war ein ewiger Kreislauf. Dieser Kreislauf erhielt immer neuen Schwung, denn Nazreth bekam dauernd Anträge von Männern, die sie heiraten wollten. Sie bekam unendlich viele Anträge, denn wenn ein Junge etwas von einem Mädchen wollte, sagte er ihr das nicht irgendwie und machte auch keine zweideutigen Bemerkungen, sondern er fragte das Mädchen in der Regel, ob es ihn heiraten wollte. So einfach ging das in der geordneten Welt des Islam. Aber dann mussten die Eltern oder, in diesem Fall, der Cousin zustimmen, und das tat der erst, wenn eine gute Partie in Sicht war. Die gute Partie kam aus einer unerwarteten Richtung. Es gab einen Mann, der Nazreth regelmäßig aus Washington schrieb und sagte, er habe ein Büro und ein Auto, es gehe ihm gut, Nazreth solle zu ihm kommen. Haile hatte diesen Mann in Washington, der ebenfalls ein Eritreer war, über seine vielen internationalen Verbindungen kennengelernt. Als er Nazreth die Fotos zeigte, die der hoffnungsvolle Bräutigam seinem Schreiben beigelegt hatte, fand Nazreth ihn total süß und die Dinge sehr schick, die sie auf den Fotos sah — die Sitzgarnitur, die Einbauschränke, das Auto, die Wohnung. Sie sagte ja, und von da an ging alles ganz schnell. Ich fand es ein bisschen enttäuschend, dass es nach all dem Theater um ihre Verehrer nun eine so einfache Lösung geben sollte. Doch Nazreth blieb bei ihrer Entscheidung, und Haile war einverstanden. Er schrieb an meine Großeltern und erklärte ihnen den Fall. Sie stimmten sofort zu immerhin kann einer Eritreerin nichts Besseres passieren als eine Heirat nach Amerika, noch dazu mit einem Landsmann. Dann wurden noch ein paar Formalitäten erledigt, und weg war Nazreth, ausgeflogen in die Vereinigten Staaten, um dort zu heiraten. Es war Liebe auf den ersten Blick, schrieb sie, großes Glück und ein tolles neues Leben. Ich saß in Khartum, das mir vor wenigen Monaten noch wie das Paradies vorgekommen war, wie die Errettung von allem Bösen, und schmollte. Nazreth war im Glück angekommen, in der großen weiten Welt, im Reichtum, und ich musste weiterhin mit meinen Schwestern 198 hier bleiben. Sollte dieses Leben doch nicht die endgültige Erfüllung sein? War es gar nicht das schöne Leben, von dem ich immer geträumt hatte? Nazreth hatte mein Weltbild durcheinandergebracht, und mir blieb nichts übrig, als mich mit den Nachbeben auf meine Matratze zurückzuziehen und darüber zu grübeln, wie ich den Anschluss an die große weite Welt herstellen konnte. Das musste auf einem anderen Weg geschehen, denn erstens war mir nicht nach Heiraten zumute und zweitens hatte niemand um meine Hand angehalten, weil ich dafür noch viel zu jung war. Selbst Nazreth war noch recht jung, aber sie sah verdammt gut aus. In Khartum kamen die Mädchen mit sechzehn, achtzehn, zwanzig Jahren ins heiratsfähige Alter. In Eritrea dagegen, vor allem in den Dörfern, müssen die Frauen viel früher heiraten. Geheiratet wird auch dort fast immer unfreiwillig, auf Vermitdung der Eltern, die sich dadurch ein paar lebenswichtige Brautgeschenke erhoffen — und eine Esserin weniger in der Familie. Frauensachen Nazreth war der Star unter den eritreischen Mädchen in Khartum, weil sie eine helle Haut und glatte Haare hatte. Bei uns in Eritrea nannte man diesen Typ Frau »frengi«, und »frengi« zu sein war dort genauso erstrebenswert wie hier im Sudan. Nazreth sah so gut aus, dass die Männer einfach hinter ihr hersein mussten. Mein Onkel wusste das, er war schließlich selbst ein Mann. Doch er hätte es nie zugelassen, dass seine Cousine in den Dreck
gezogen würde. Für ihn war klar, dass sie nie etwas mit einem Jungen anfangen durfte, ohne ihn vorher zu heira ten. Die Schande einer solchen Affäre wäre nicht nur auf Nazreth und auf ihn selbst, sondern auf unsere ganze Familie zurückgefallen. Um in dieser Hinsicht sicher zu sein, lassen die meisten afrikanischen Familienväter ihre Töchter beschneiden, bei den moslemischen sind es fast alle. Das Thema Beschneidung war für uns Mädchen völlig 199 tabu, nie sprach ein Erwachsener mit uns darüber. Es kam einfach nicht vor, gerade so, als gäbe es gar keine Beschneidung. Ich hörte das erste Mal in Khartum davon — von Nazreth. Sie erzählte mir, dass es für sie einfacher wäre als für die Sudanesinnen, einen Mann zu lieben, weil sie nicht zugenäht wäre. Ich verstand erst nichts, kein Wort, was einen Lachanfall Nazreths zur Folge hatte. Erst nachdem ich mehrmals eindringlich nachgefragt hatte, klärte sie mich auf und sagte, dass im Sudan die sogenannte Große Beschneidung üblich sei, bei der nicht nur die Klitoris und die inneren Schamlippen entfernt werden, sondern bei der anschließend das riesige Loch im Unterkörper des Mädchens zugenäht wird. Wenn das Kind nicht an einer Infektion stirbt, verheilt die Wunde wieder. Erst in der Hochzeitsnacht darf der Mann die Frau »öffnen« wie ein Geschenkpaket. Dann weiß er, ob sie noch Jungfrau ist oder nicht und wenn nicht, dann gnade ihr Gott. Bei uns in Eritrea, erzählte Nazreth, würde kaum diese »Große«, sondern nur die »Kleine Beschneidung« gemacht. Dabei wird dem Mädchen nur die Klitoris gekürzt. Nazreth sagte das ohne Bitterkeit. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte, doch in mir zog sich alles zusammen, als ich mir vorstellte, dass jemand mit einem scharfen Messer oder mit einer Klinge Stücke von meinen Genitalien absäbelt. Ich wusste im ersten Moment gar nicht, ob ich beschnitten war, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, jemals so etwas Schreckliches erlebt zu haben. Erst als mir Nazreth diese »Frauensache«, wie sie es nannte, etwas näher beschrieb, war ich sicher, nicht beschnitten zu sein. Vermutlich hatte sich einfach nie jemand darum gekümmert: Im staatlichen Kinderheim war ich zu jung, die katholischen Nonnen hatten keine Beschneidungen durchgeführt, meinem Vater dürfte es egal gewesen sein, und bei der Jebha fühlte sich niemand für uns Kinder verantwortlich. Seit mir Nazreth von den Beschneidungen erzählt hatte, ging ich mit anderen Augen durch die Straßen. Ich sah alle Frauen genau an und starrte ihnen ins Gesicht. Ständig musste ich daran denken, dass diese Frauen unten zugenäht waren. Sicher hatten sie täglich große Schmerzen beim Wasserlassen und schämten sich dafür, verstümmelt zu sein. In ihren Gesichtern entdeckte ich zwar nichts, das darauf hin 200 wies, aber wie auch — nie würde eine Frau im Sudan sich etwas anmerken lassen, darüber sprechen oder sich beklagen. »Die Frauen empfinden Beschneidung nur dann nicht als gut, wenn sie irgendwo aufwachsen, wo Frauen nicht beschnitten werden«, sagte Nazreth. »Hier leben sie damit. Das ist alles.« Erst ein paar Tage nach diesem Gespräch dachte ich daran, meine Schwestern zu fragen, ob sie beschnitten wären. Mir fiel es selbst schwer, darüber zu reden, weil es so etwas Wichtiges und Selbstverständliches war und wir trotzdem noch nie darüber gesprochen hatten. Es war wie etwas, das zwischen uns stand und sich wie ein Hindernis gegen eine völlige Vertrautheit zwischen uns legte. Ich malte mir aus, wie sie reagieren würden: dass sie entsetzt wären über meine Frage und Angst hätten, darauf zu antworten. Dass sie froh wären, endlich darüber sprechen zu können. Oder dass sie wütend auf mich losgingen, weil sie die Frage nicht hören wollten. Ich druckste lange herum, bevor ich das Thema ansprach. Das war ungewöhnlich, denn sonst sprudelte immer alles aus mir heraus, was mir so einfiel, ohne Zensur, ohne Verzögerung. Diesmal suchte ich lange nach der richtigen Gelegenheit, denn ich wollte nicht zu Hause darüber sprechen, weil Haue nichts davon mitbekommen sollte. Als ich das heikle Thema endlich ansprach, waren wir auf dem Weg zum Markt. Ich sagte: »Was ich euch immer schon fragen wollte — seid ihr beschnitten?« Die beiden waren entsetzt über meine Frage. Yaldiyan sah mich an, als wollte ich ihr an die Gurgel springen, und Tzegehana brach sofort in Tränen aus und wandte sich ab. Es war ihnen peinlich, darüber zu sprechen. Es war allen Frauen peinlich, darüber zu sprechen, und Männern erst recht. Haile zum Beispiel hätte mich sofort verdroschen, weil er seine Scheu, über ein solches Thema zu reden, nicht anders ausdrücken konnte. Ich begrub das Thema wieder in mir und lagerte es in der dunkelsten Kammer meines Herzens ab. Es bedrückte mich nicht, es war einfach nicht mehr da. Diese Frage sollte nicht das gute Verhältnis zu meinen beiden Schwestern gefährden, denn das war harmonisch wie noch nie. Wir hatten eine schöne Zeit im Sudan. Wir lachten 201 viel. Meine Schwestern und ich waren eins, das war für mich das Wichtigste. Das einzige, was meine Sehnsucht nach Normalität störte, war, dass wir nicht mit Jungs spielen durften. In Asmara hatte ich immer mit Jungs gespielt, aber hier war das verboten. Die Jungs spielten miteinander Fußball, und die Mädchen rannten zusammen durch die Straßen und machten ihre Spiele, an denen Jungs nicht teilnehmen durften. Einen von den Jungs aus unserer Straße fand ich trotzdem gut, einen Sudanesen. Wir sahen uns trotz aller Verbote jeden Tag, wenn auch nicht aus nächster Nähe. Er hieß Mohammed, und wenn ich ihn
sah, bekam ich Herzklopfen. Er aber fand mich total unmöglich. Ich konnte mit niemandem darüber sprechen, außer mit Tzegehana. Als ich ihr von Mohammed erzählte, sagte sie gleich: »Das sage ich Haile!« Aber ich wusste, sie würde mich nicht verpetzen. Untereinander haben wir uns nie verraten. Nur Yaldiyan petzte manchmal. In ihr nagte immer noch der Verdacht, unser Vater habe seine Familie wegen meiner Mutter verlassen, aber das stimmte nicht. Es war genau umgekehrt. Haile wollte darüber nicht sprechen, aber Mbrat und vor allem Nazreth hatten mir einiges erzählt. Nach der Trennung von meiner Mutter heiratete mein Vater ein zweites Mal. Mit seiner neuen Frau Abrehet bekam er zwei Töchter, meine beiden Schwestern Yaldiyan und Tzegehana. Jahre später trafen meine Eltern einander zufällig bei der Hochzeit eines Freundes wieder. Sie entdeckten spontan, dass sie noch viel füreinander übrighatten, und landeten bald wieder miteinander im Bett. Meine Mutter wurde unverzüglich schwanger — fast gleichzeitig wie Abrehet, die noch ein Kind von meinem Vater erwartete. Mein Vater klärte die Situation, indem er beide Frauen anlog: Abrehet schwor er ewige Treue, und meiner Mutter versprach er, sich demnächst von Abrehet trennen zu wollen und sie zu heiraten. Um die Sache einfacher zu gestalten, kaufte er meiner Mutter ein kleines Geschäft in Adi Keyh, damit sie in denselben Ort zieht, wo er und seine Hauptfrau Abrehet bereits wohnten. Offenbar fanden alle Beteiligten diese Lösung jedoch nicht so gut, so dass mein Vater beschloss, meine Mutter noch einmal umzusiedeln. Er kaufte ihr ein Haus in Addis Abe 202 ba der HaupLstaÖL Äthiopiens, und sagte ihr, sie solle aut ihn warten. Sie ließ sich tatsächlich darauf ein — und brachte in der Zwischenzeit mich zur Welt. Bald darauf änderte mein Vater wieder mal seine Meinung oder tat zumindest so. Er verständigte meine Mutter, dass er doch nicht nach Addis Abeba käme, sie solle nach Asmara kommen, um ihn dort zu treffen. Meine Mutter schien ihm immer noch Glauben zu schenken, verkaufte ihr Geschäft und zog nach Asmara. Dort erfuhr sie, dass mein Vater längst wieder umdisponiert hatte. In seinen neuen Plänen Die Hauptstraße von Adi Keyh, wo mein Vater meiner Mutter ein kleines Geschäft gekauft hatte. gab es keinen Platz für sie, nur den des längst vergessenen Opfers. Ghebrehiwet Mehari, mein Vater, hatte sich zwischenzeitlich zwar von Abrehet getrennt aber nicht, um meine Mutter zu heiraten, sondern Werhid, seine neue Geliebte. Werhid und mein Vater wollten mit ihren Kindern zusammenleben. Werhid brachte ihre eigenen Kinder mit in die Ehe, und mein Vater zwang Abrehet, seine frisch geschiedene Frau, ihre beiden gemeinsamen Kinder, meine Schwestern, herauszurücken. Als sie sie nicht hergeben wollte, schlug er Abrehet mit einer Bratpfanne bewusstlos und entführte Yaldiyan und Tzegehana. Bald danach waren ihm die beiden 203 aber nicht mehr so wichtig. Als auch noch ich wieder in sein Leben trat, weil Mbrat mich zu ihm und seiner neuen Familie brachte, wurde ihm alles zuviel, und er übergab uns drei Schwestern der Jebha. Soviel wusste ich aus Mbrats und Nazreths Erzählungen. Die Geschichte meiner Eltern war mir dadurch zwar nicht sympathischer geworden, aber wenigstens wusste ich jetzt, wie alles gekommen war und woher ich stammte. Auf nach Deutschland In Khartum lebten wir fast wie eine glückliche Kleinfamilie: Haile war unser Vater, Nazreth zeitweilig die junge Mutter, und wir drei Schwestern waren die frühreifen Töchter. Von mir aus hätte es noch lange so weitergehen können. Doch eines Abends, Nazreth lebte schon seit einigen Monaten in Amerika, zerbrach die Idylle. Nach dem Essen saßen wir wie meistens noch ein wenig zusammen, tranken Kaffee und plauderten über dieses und jenes, als Haile plötzlich eine ernstere Miene als sonst aufsetzte. Wir wussten erst nicht, was mit ihm los war, doch dann presste er seinen Kummer in einen einzigen dürren Satz: »Euer Vater will euch in Deutschland haben, und ihr müsst dahin gehen.« Augenblicklich erstarb unser Geplapper, es war totenstill im Zimmer. Yaldiyan reagierte als erste. »Nein!« platzte es aus ihr heraus. »Niemals.« Auch Tzegehana schüttelte trotzig den Kopf, und ich rief etwas wie: »Haile, wir wollen bei dir bleiben!« Haile aber ging nicht auf unsere Reaktion ein, sondern begann eine offensichtlich schon länger vorbereitete Rede: »Ihr wisst nicht, wie es da ist in Europa. Ihr habt keine Ahnung von Deutschland. Dort leben die Menschen im Wohlstand, es geht allen gut. Niemand leidet Hunger. Dort könnt ihr Schulen besuchen, Sprachen studieren, für euer Leben lernen. Es nützt auf Dauer nichts, wenn ich euch hier unterrichte, ihr braucht Zeugnisse, Papiere. In Deutschland könnt ihr das alles bekommen. Ihr könnt studieren, ihr findet dort einen guten Mann 204 für euch, ihr könnt euch spater überall niederlassen. Das ist die beste Chance, die ihr bekommen könnt. Wenn es eurem Vater gelingt, euch nach Deutschland zu holen, seid ihr in Sicherheit. Ihr werdet alle ein gutes Leben haben.« Wir glaubten ihm kein Wort. Was uns in Deutschland erwarten würde, wussten wir nicht, wir sahen nur unseren Vater vor uns und Haile. Und bei diesem Vergleich war uns allen dreien klar, wer den kürzeren zog.
»Wir lernen gut bei dir «, sagte ich. »Wir wollen nicht in der ganzen Welt leben«, sagte Yaldiyan. »Euer Vater will es, weil er euch wiedersehen möchte und weil er euch helfen will weiterzukommen. Ich würde euch gerne hier behalten, aber ich kann nicht gegen den Willen eures Vaters handeln. Ich will es nicht, weil ich seiner Meinung bin. Wenn ich könnte, würde ich genauso nach Europa gehen wie er. Ich weiß nicht, was euch so daran stört, dorthin zu gehen. Was erwartet ihr denn?« Zum zweiten Mal preschte Yaldiyan vor, was ungewöhnlich für sie war: »Wir kommen erst, wenn er sich von unserer Stiefmutter trennt. Wir möchten nicht bei ihr wohnen, wir wollen nicht noch einmal ihre Sklaven sein.« Sowohl Tzegehana und ich als auch Haile starrten Yaldiyan an. Meine Schwestern fanden diese Forderung toll, weil sie sich nur zu gut an Werhids Herrschaft erinnern konnten. Zu mir war Werhid immer gut gewesen, aber Yaldiyan und Tzegehana hatte sie unserem Vater gegenüber ausgespielt. Haile war verdutzt. Mit so einer konkreten Forderung hatte er nicht gerechnet, die kam in seiner Strategie, wie er uns für unseren Vater gewinnen wollte, nicht vor. Da er wusste, dass das Zusammenleben in der neuen Familie unseres Vaters damals schiefgelaufen war, konnte er jedoch nichts Wesentliches dagegen sagen. Also lenkte er kurzerhand ein. »Ich werde das eurem Vater schreiben. Aber ihr müsst ihm folgen, wenn er will, dass ihr kommt.« Haile setzte seine ernste Miene auf, womit klar war, dass das Gespräch zu Ende war. Wir verzogen uns nach draußen, um die Essensreste an die Katzen zu verfüttern und die Kochstelle im Hof aufzuräumen. Schweigend 205 hantierten wir mit den Töpfen und Schüsseln, während sich Haile auf das Bett im Wohnzimmer legte. In meinem Kopf ratterten die Gedanken. Was sollte uns die Zukunft bringen? Wenige Wochen später zeigte uns Haile ein Schreiben unseres Vaters. Der hatte tatsächlich eingelenkt. Wir hätten gedacht, dass er sich fürchterlich aufregen und sagen würde, es komme für ihn nicht in Frage, sich von dieser Frau zu trennen, die er liebt und mit der er eine kleine Tochter hat. Keine Rede davon. Er schrieb, dass er schon alles für die Scheidung eingeleitet habe. Wir konnten es kaum glauben. Yaldiyan brach in Tränen aus, ich verfiel in düstere Grübelei. Sollte unserem Vater sein Ruf wichtiger sein als alles andere? Haile hatte nämlich berichtet, dass im Bekanntenkreis und in der Familie unseres Vaters schon schlecht über ihn geredet werde, weil er sich nicht um seine drei großen Töchter kümmere. Oder wollte er uns einfach wiedersehen und war dafür sogar bereit, sein Leben zu ändern? Wie auch immer, jetzt gab es für uns keinen Weg mehr zurück. Haile begann unverzüglich mit den Vorbereitungen für unsere Ausreise. Wir mussten unendlich langwierige Prozeduren mit Einreiseanträgen voll führen, stundenlang stellten wir uns an: vor der deutschen Botschaft, vor sudanesischen Ämtern und in der äthiopischen Botschaft, denn eine eritreische Botschaft gab es damals noch nicht. Zwischen Hunderten Menschen eingeklemmt, wurden wir von einem Schalter zum anderen geschickt. Hier fehlte noch eine Unterschrift, dort eine Fotokopie, da brauchte man noch einmal Passfotos von uns. Mehrmals musste Onkel Haile tief in die Tasche greifen, um ein Dokument zu bekommen, das uns zustand. Viele der sudanesischen Beamten waren träge, korrupt und geldgierig. Oft mussten wir uns schon vor dem Morgengrauen anstellen. Wir standen in einem dichten Pulk vor einer geschlossenen Tür, während sich von hinten immer mehr Menschen in den stickigen Gang hereinschoben. Kleinkinder, Babys, Familien sammelten sich stundenlang an, bis die Beamten kamen und die Tür aufsperrten. Sofort ergoss sich das Menschenknäuel wie ein Wasserfall in die Büroräume. Dort herrschte das Recht des Stärkeren. Wieder ein paar Stunden später 206 saßen wir endlich dem Beamten direkt gegenüber. Der war meist völlig desinteressiert an unseren Problemen, setzte einen Stempel oder eine Unterschrift auf eines unserer Papiere und verwies uns an jemand anderen, wo das Ganze von vorne losging. Als der Tag, an dem wir nach Deutschland sollten, näher und näher rückte, machte Haue sich immer mehr Sorgen, schließlich waren wir ihm ans Herz gewachsen. Trotzdem wollte er, dass wir nach Deutschland gehen und dort eine Ausbildung bekommen. Seinen Wunsch, uns bei sich behalten zu wollen, stellte er dahinter zurück. Diese menschliche Größe vergessen wir ihm nie. Haile hatte uns Prinzipien gezeigt, die wir vorher nicht gekannt hatten. Er sagte uns, was im Leben wichtig ist und was nicht. Das zeigte er uns auch mit seiner Strenge und mit der Brutalität, mit der er vorging, wenn er uns schlug. Doch er schlug nicht, um uns Schmerzen zuzufügen. Er schlug nur, wenn er etwas nicht gut fand. Mit den deutschen Einreisevisa gab es viel mehr Schwierigkeiten, als sich Haile und unser Vater vorgestellt hatten — es kam eine Ablehnung nach der anderen. Erst nach Monaten gab die deutsche Botschaft ihre Einwilligung. Bedingung war allerdings, dass wir deutsche Pässe bekommen, Pässe mit Passfotos und Geburtsdaten. Doch das war nicht so einfach. In den kleinen, in grünes Leinen gebundenen Büchlein standen zwar unsere Geburtstage, statt einer Jahreszahl aber war bei uns allen dreien nur jeweils viermal die Null gedruckt, denn wir besaßen keine Dokumente, keine Geburtsurkunden, keine Taufscheine. Niemand, den wir
kannten, wusste genau zu sagen, in welchem Jahr wir geboren wurden. Unser Vater wusste es nicht, meine Mutter war verschollen, und niemand von uns hatte Kontakt zu ihr. Die Mutter von Yaldiyan und Tzegehana saß in einem Bergdorf in Eritrea, abgeschnitten von jeder Kommunikation, mitten in Hungersnöten und im Krieg. Deshalb fügte der deutsche Beamte in der Botschaft kopfschüttelnd vier Nullen ein und meinte, das müsse man später, in Deutschland, richtigstellen. Wie das geschehen sollte, konnte er uns nicht verraten. Für diese schönen Pässe, die wir nach monatelangen Behördenwegen stolz nach Hause trugen, mussten wir unsere Namen ändern, denn den deutschen Beamten war das eritreische Namenssystem, diese 207 unendliche Abfolge von Vornamen, die vom Vater auf Söhne und Töchter übergehen und von den S öhnen wieder auf Söhne und Töchter, nicht zu vermitteln. Mein Vater heißt Ghebrehiwet Mehari, und der Beamte, der meinen Pass und meine Dokumente ausstellte, beschloss einfach, dass Ghebrehiwet der Nachname wäre, obwohl es in Wahrheit der Vorname meines Großvaters, also des Vaters meines Vaters ist. Diesen Namen machte er zu meinem Nachnamen, und meinen zweiten Namen, Mehari, meinen Vatersnamen, nahm er als zweiten Nach namen dazu. Schön, dass er mir wenigstens Senait als Vorname ließ. Doch letztlich kümmerten uns diese Namensprobleme wenig, so weichgeklopft waren wir schon von all den bürokratischen Hürden. Wir wollten nur noch nach Deutschland, nach Europa, hinaus in die weite Welt. Haile schürte dieses Verlangen bei uns, indem er auf uns einsprach wie auf kranke Kamele. Er sagte: »Wenn ihr nach Amerika, Deutschland oder Europa könnt, ergreift die Möglichkeit. Dort werdet Yaldiyan, Tzegehana und ich (r. l. n. r.) vor unserer Ausreise nach Deutschland. 208 ihr studieren.« Da: w;^rt unsticb Onkeis war uns wichtig. Alles, was er sagte ergab einen Sinn, und wir konnten es nicht völlig ablehnen, auch wenn wir die Dinge zuerst anders gesehen hatten. Er hat uns sehr viel mitgegeben, sein Rat half uns, die neuen Anforderungen in Deutschland zu bestehen. »Passt euch an, fließt mit, arbeitet nie gegen den Strom. Nehmt alles, was ihr kriegen könnt«, sagte er immer wieder und meinte damit nicht Geld und Besitz, sondern immaterielle Reichtümer, also Wissen. »Ihr habt keine Ahnung, wann ihr wieder nach Afrika müsst, und da braucht ihr euer Wissen.« Als wir endlich die Einreisevisa für Deutschland bekommen hatten, ging alles sehr schnell. Die Botschaft kaufte die Flugtickets, für die unser Onkel nicht das Geld gehabt hätte und unser Vater vermutlich auch nicht. In diesen Papierheftchen mit den vielen für uns unverständlichen Wörtern sahen wir es schwarz auf weiß: Abreise in einer Woche. Noch sieben Tage Heimat, sieben Tage altes Leben, bevor wir uns Hals über Kopf in eine Ungewisse Zukunft aufmachten. Es ging mir viel zu schnell, ich war nicht darauf vorbereitet, alles für immer hinter mir zu lassen: Haue, Karthum, Afrika, mein Leben, wie ich es gekannt hatte. Im Moment des Abschieds war ich starr vor Schmerz und Trauer und fand keine Worte und keine Gesten für Haue, der uns auf den Flugplatz gebracht hatte. Als wir durch die Sperren gehen mussten, wollte sich Yaldiyan noch mal umdrehen und Haue umarmen, doch der sagte bloß: »Ist schon gut. Geht rein, geht rein, geht rein.« Dann drehte er sich um und ging zum Ausgang. Haue ist stolz, er wollte nicht vor uns weinen. Er ist ein guter, ein lieber Mensch. 209 Deutschland Im Flugzeug erschien mir alles ganz selbstverständlich und merkwürdig vertraut. Solche Szenen kannte ich aus dem Fernsehen, und so wunderte ich mich nicht darüber, dass die Menschen hier in Reih und Glied auf bequemen Stühlen saßen, dass freundliche weiße Frauen auf und ab gingen, dass ich mich anschnallen musste und dass der Riesenvogel erst langsam und dann immer schneller fuhr und plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Es war der erste Flug meines Lebens, von Khartum nach Zürich. Bis jetzt hatte ich Flugzeuge immer nur als winzige Punkte hoch oben am Himmel über der Wüste gesehen. Ich hatte zwar gewusst, dass Menschen darin sitzen und von einem Ort zum anderen reisen, aber ich konnte mir nicht im geringsten vorstellen, wie es in diesen Maschinen aussieht oder was die Menschen während des Fluges machen. Am wenigsten hätte ich gedacht, dass sie vor allem mit Essen und Trinken beschäftigt sind; bei meinem Hunger und meinem Durst wäre mir das als völlig unglaublich vorgekommen. Nun saß ich selbst hier oben, blickte auf die endlose Steppe und die Wüste unter uns hinunter und stellte mir vor, wie dort unten jede Menge winzig kleiner Menschen standen oder unter einem schattenspendenden Busch saßen, zu dem kleinen Pünktchen am Himmel hinaufsahen und sich fragten, wer darin unterwegs sein mochte. Vor Aufregung brachte ich keinen Bissen hinunter von der warmen Mahlzeit, die uns hier mitten im Himmel serviert wurde. Sie sah aber auch entsetzlich nach toten Tieren aus und roch ganz schrecklich. Fest in meine Decke eingewickelt, verkroch ich mich in meinem Sitz und fiel in den Tiefschlaf der Erschöpfung. Meine Schwestern mussten mich wachrütteln, als das Flugzeug längst zur Landung angesetzt hatte. Schlaftrunken stolperte ich durch einen Schlauch ins Flughafengebäude hinein und gleich wieder durch den nächsten Schlauch heraus, um in der Maschine nach Hannover sofort weiterzuschlafen. Ich bekam gar nicht mit,
wie es in diesem Land aussah. Bevor ich wieder 211 einschlief, nahm ich wahr, dass dieses Flugzeug voller Weißer war. Niemand beachtete uns. In Hannover wurde ich blitzartig wach, denn als wir das Flugzeug über eine Treppe verließen, die hinaus aufs Rollfeld führte, fühlte ich etwas, das ich noch nie erlebt hatte: schneidende Kälte. Es war Winter, und es war so kalt, dass mir fast die Luft wegblieb. In dieser Kälte sollte ich leben? Haile hatte zwar gesagt, dass es in Deutschland kälter sein würde, und hatte Jacken für uns gekauft, doch das waren normale, ungefütterte Jacken, wie man sie in Afrika kaufen konnte, viel zu dünn für diese Temperaturen. Ich glaubte, ich würde es nicht einmal bis zu dem Bus schaffen, der vor dem Flugzeug wartete. Im Flughafengebäude kamen wir aus dem Staunen nicht heraus. Alles war voller weißer Menschen! Sie gingen sehr schnell und hatten extrem viele Sachen an, was mir sofort einleuchtete — bei diesen Temperaturen konnte man nicht genug anziehen. Alle trugen Taschen und Koffer und schienen genau zu wissen, wo sie hinwollten. Zwar hatte ich schon als Kind Weiße gesehen, zum Beispiel in dem italienischen Heim oder bei uns im Dorf, wenn die Leute vom Roten Kreuz kamen, aber nur Weiße zu sehen, und noch dazu so viele, war überwältigend. Auch im Sudan lebten einige Weiße — allerdings meist keine Blonden, sondern nur Dunkelhaarige, vor allem Ägypter oder Italiener. Hier am Flughafen aber waren fast nur blonde Weiße zu sehen, Tausende Blonde. Anfangs witzelten wir Schwestern noch miteinander: »Guckt mal, das sind alles Albinos!« Hellhäutige mit blonden Haaren waren bei uns Albinos, und ich hatte die Vorstellung, dass diesen Albinos die Haare ausfallen und dass sich ihre Haut ablöst, wenn man sie anfasst. Meine Schwestern konnten nicht aufhören zu kichern. »Igitt, wo sind wir denn hier! Die sollen uns bloß nicht zu nahe kommen!« Wir staunten und wussten nicht, wo wir hinsollten, bis uns eine freundliche weiße Frau in einer schicken Uniform auf englisch ansprach. Ich war froh, dass dies jemand war, den ich verstehen konnte, und fühlte mich gleich ein bisschen weniger verloren. Die Frau schickte uns zum Gepäckband, auf dem unsere Taschen mit den vielen Kleidern 212 kreisten, die wir bei ui^acr Hundekälte gar nicht würden brauchen können, wie ich mit Schaudern dachte. Der nächste Schock erwartete mich hinter einer riesigen Glastür, die wie von Geisterhand geschoben aufging, wenn jemand hindurchwollte. Hinter dieser Tür stand unser Vater. Wir blieben alle drei stocksteif stehen und sahen ihn nur an. Wir sahen einen Mann, der deutlich gealtert war. Er hatte weiße und graue Haare, stand gebeugt da und trug merkwürdige, dicke Sachen wie die anderen Menschen um uns herum. Es war sieben Jahre her, dass unser Vater uns zur Jebha gebracht hatte, und mit der Zeit war er für mich so weit weggerückt, dass er mir nun ganz unwirklich erschien, wie eine Person aus einem früheren Leben. Ich konnte kaum fassen, dass er es war, der hier vor uns stand und unsicher winkte: Ghebrehiwet Mehari, deutscher Staatsbürger, in einen dicken, unförmigen Mantel mit vielen Knöpfen gehüllt, mit ledernen, hohen Schuhen an den Füßen, wohnhaft in HamburgStellingen. Ich konnte nur an absurde Dinge denken, die Gedanken ratterten mir wie von selbst durch den Kopf. Zum Beispiel fiel mir auf, dass ich meinen Vater noch nie in geschlossenen Schuhen gesehen hatte, sondern nur in Latschen oder Sandalen. Mir fiel auf, dass er der einzige Schwarze war, der hinter der gläsernen Tür wartete. Er, der mir immer als Riese erschienen war, wirkte zwischen all den Weißen hier normal groß, ja eher klein. Selbst manche Frauen waren größer als er. »Willkommen, Kinder! Bin ich froh, dass ihr da seid!« sagte dieser kleine schwarze Mann vor mir. Er redete in unserer Sprache, in Tigrinya, und sprach mit der Stimme, die ich aus hunderttausend Stimmen hätte heraushören können. Wieder musste ich überrascht feststellen, dass das tatsächlich unser Vater war. Es gab keine große Begrüßung, denn wir waren mindestens so verlegen wie unser Vater. Uns blieb aber auch wenig Zeit, weil er darauf drängte, gleich weiterzufahren. Das war wieder eine Überraschung für mich, denn als jemanden, der es eilig haben könnte, hatte ich ihn noch nie erlebt. Doch ich kam kaum dazu, über meinen Vater nachzudenken, so viele viele neue Eindrücke gab es hier: Wie hoch die Häuser waren! Wie viele Autos auf den Straßen fuhren! Dass alle Straßen 213 asphaltiert waren! Wieviel hier wuchs, obwohl es doch Winter war, überall Gras und so viele Bäume! Im Zug, der uns nach Hamburg bringen sollte, sah es wieder aus wie in einem Flugzeug. Die fast schon gänzlich in der Dunkelheit versunkene Landschaft raste in atemberaubendem Tempo an den Fenstern vorbei, als wollte der Zug jeden Moment abheben und in die Lüfte aufsteigen, doch nichts dergleichen geschah, nur Lichter glitten draußen vorbei, Lichter und immer mehr Lichter — erstaunlich, was hier alles beleuchtet war. Bald rollten wir in noch mehr Licht, in eine riesige Halle, in der Menschen ohne Ende hin und her liefen und unübersehbar viele Züge ankamen und abfuhren. Unser Vater packte unsere Taschen und sagte, nun seien wir in Hamburg. »Zu Hause«, sagte er, und es klang nicht sehr glaubhaft. Wir fuhren mit der UBahn unzählige Stationen unter der Erde, bis wir zwischen noch größeren und gewaltigeren Häusern wieder an die Oberfläche kamen. Das war Stellingen, ein Vorort von Hamburg, wo jedes
Haus genauso aussah wie alle anderen. Ich fragte mich, wie sich hier jemand zurechtfinden konnte, wo jede Straße so aussah wie die nächste. Immerhin waren wir hier nicht die einzigen Afrikaner. Erst später lernte ich, wie so eine Gegend bei den Deutschen hieß: »Ausländerghetto«. Wortlos stapften wir hinter unserem Vater her, der uns zu unserer Enttäuschung zu einer Reihe niedriger Häuser führte, die neben den hohen Blocks standen. »Hier«, sagte er, »seid ihr zu Hause«, und deutete auf eine Tür in einer langen Flucht von Türen. Die kleinen Häuser waren dicht aneinandergebaut, wie ein endloser Wurm, nur dass sie in einer geraden Linie standen. Die Wohnung war riesengroß und ging über drei Stockwerke. Es gab ein Wohnzimmer mit einer sehr weichen Sitzgarnitur, einen Fernseher, einen Kühlschrank, einen Herd und jede Menge kleiner Zimmer. Wir hätten entzückt sein müssen, wenn nicht zwei unsichtbare Fragen im Raum gestanden wären: Was machen wir hier? Wie sollen wir mit unserem Vater zusammenleben? 214 Die neue Heimat Ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt und hatte schon vieles gesehen. Das Selbstverständlichste war für mich das Schwierigste, doch die scheinbar schwierigen Dinge fand ich am einfachsten — zum Beispiel Freunde in einer Umgebung kennenzulernen, in der ich kein Wort verstand. Schon am ersten Tag nach unserer Ankunft ging ich gleich nach dem Frühstück alleine nach draußen, um zu sehen, ob hier andere Kinder lebten. Meine Schwestern konnten es nicht glauben. »Was, du gehst raus?« fragten sie, als wir noch bei Tisch saßen. Mein Vater zuckte bloß mit den Schultern. Ich wunderte mich, dass sie sich so wunderten. »Natürlich gehe ich raus. Wie kann ich sonst wissen, ob es hier andere Kinder gibt?« Schon hatte ich mir alle warmen Sachen, die ich besaß, übereinander angezogen und ging nach unten. Ich hatte ein Blatt Papier und einen Stift dabei, denn ich wollte mich auf keinen Fall verlaufen. Also schrieb ich alles auf. Die Buchstaben kannte ich schon vom Englischen her. Jetzt malte ich sorgfältig die Worte der neuen Sprache nach: PRIVATWEG von der Tafel, die an unserem Haus hing, HERMANNS von dem Schild über dem ekligen Schaufenster, in dem lauter geschlachtete Tiere lagen, PRIMA von der großen leuchtenden Tafel über dem Supermarkt. Ich arbeitete mich durch die Hochhausstadt, bis ich endlich einen Spielplatz fand, auf dem tolle Spielgeräte standen, wie ich sie noch nie gesehen hatte: haushohe Kletterburgen aus Holz, Rutschen und Schaukeln, Wippen und merkwürdige Geräte wie zum Beispiel eines, bei dem man sich auf einer Scheibe drehen lassen konnte. Mit all diesen Wunderdingen spielte nur ein einziges Mädchen, ein weißes mit langen blonden Haaren. Das Mädchen schaukelte. Ich setzte mich auf die Schaukel daneben und lächelte. Das andere Mädchen sah mich mit großen Augen an und lächelte. »Hello«, sagte ich und lächelte noch mehr. Das Mädchen fing an mit mir zu sprechen, aber ich verstand kein Wort, außer »hallo«. Als sie mich etwas fragte, konnte ich nur den 215 Kopf schütteln. Sie fragte immer mehr und immer wieder, bis ich eine Frage, die sie mir mehrmals stellte, von dem anderen Redebrei unterscheiden konnte. Die Frage lautete: »Wie heißt du?«, aber ich verstand sie nicht. Ich sagte immer nur: »Was?«, dann sagte sie: »Wie heißt du?«, und ich: »Was?« Sie sagte: »Ja, ja: was.« Das war das einzige Wort, das ich kannte: »Was?« Dieses Wort hatte ich einen Tag vorher am Flughafen gehört. Ich hatte meinen Vater gefragt, was das heißt, und er hatte es mir erklärt. Nachdem das Mädchen verstanden hatte, dass ich nur ein einziges Wort Deutsch spreche, nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte mich auf englisch: »Your name?« Erleichtert seufzte ich auf— das hatte ich verstanden. »Senait«, sagte ich, »and yours?« »Bianca!« Damit war das Eis gebrochen, und mit Händen und Füßen unterhielten wir uns weiter. Wir alberten herum und befühlten gegenseitig unsere Haut. Bianca wollte gucken, ob ich abfärbe, und ich wollte sehen, ob ihre Haut dranbleibt, wenn ich darüberstreiche, oder ob sie sich so leicht abschälen lässt wie bei einem Pfirsich. Nach einer knappen Stunde hatte ich das Gefühl, dass ich wieder nach Hause gehen müsste, sonst würden sie sich Sorgen machen um mich. Als ich Bianca sagte, dass ich gehe, wurde sie traurig. Ich versprach ihr wiederzukommen und sagte: »Bye, bye.« Dann ging ich nach Hause, entlang der Schilder, die ich mir auf dem Weg hierher so genau eingeprägt hatte: PRIMA, HERMANNS, PRIVATWEG. Meine Schwestern trauten ihren Ohren nicht, als ich ihnen von dem weißen, blonden Mädchen erzählte: Erst am Abend zuvor waren wir gelandet, spätnachts waren wir hier angekommen, morgens war ich zum Spielplatz gegangen, und mittags hatte ich schon eine neue Freundin. Mein Vater musste lauthals lachen. Er war es noch von früher gewohnt, dass ich immer die Sachen tat, die die anderen nicht verstanden oder die sie nicht erwartet hatten. 216 Im Ghetto
Meine neue Freundin Bianca war ein Leuchtturm in einem Meer von Schwierigkeiten, das zu Beginn unseres Lebens in Deutschland um uns herumschwappte. Wir mussten bald darauf umziehen und unsere tolle dreigeschossige Wohnung gegen eine viel kleinere im Hamburger Vorort Eidelstedt eintauschen. Dort lebten wir nun tatsächlich in einer Art Ghetto: kaum Deutsche, viele Türken, Araber, Afrikaner. Dreckige Straßen, verlotterte Parks, beschmierte Wände, zerstörte Telefonzellen, verdreckte Einkaufszentren und jede Menge Jugendlicher, die zwischen alldem herumlungerten, ohne zu wissen, wo sie hingehörten. Abgesehen von den Zerstörungen sah vieles aus wie in Afrika. Dort war alles noch viel ärmlicher und älter, aber es gab niemanden, der mutwillig etwas vernichtete. Vieles wurde gestohlen. Alles, was nicht niet und nagelfest war, konnte wegkommen, aber keiner zerschlug eine Fensterscheibe, trat eine Straßenlaterne nieder oder kippte ein Motorrad um, nur weil er Spaß daran hatte, etwas zu zerstören. Dieses Foto von Yaldiyan, Tzegehana und mir (v. l n. r) hat unser Vater in seiner Wohnung in Hamburg gemacht. 217 Wir verließen dieses Ghetto zwar jeden Tag, aber nur, um mit der UBahn ans andere Ende der Stadt zu fahren, wo ein anderes Ghetto auf uns wartete. Dort gab es die einzige Schule in Hamburg, die neu angekommene Ausländer aufnahm. Der Deutschunterricht hatte den höchsten Stellenwert, dann kam alles andere. In dieser Schule saßen wir mit Türken, Persern und Afghanen zusammen, mit denen wir nichts gemein hatten außer der Tatsache, dass wir alle Fremde waren. Sie verstanden uns nicht und wir sie nicht. Die meisten anderen Schüler verachteten uns, vor allem die Mädchen. Die kamen mit Kopftüchern, Schals und langen Röcken in die Schule und hielten alle anderen Mädchen, die nicht so gekleidet waren, für Nutten. »Nutte« war eines der ersten deutschen Wörter, die ich in der Schule lernte. Ich fühlte mich in dieser Gemeinschaft, die keine Gemeinschaft war, sondern bloß ein willkürlich zusammengewürfelter Haufen, bald fremder als im Rest der Stadt, in dem normale Leute ihren normalen Geschäften nachgingen. Ich fühlte mich nicht heimisch in Hamburg, aber ich fand die Stadt nicht unheimlich, nicht abstoßend und nicht unverständlich. Ich hatte keinen Kulturschock. Ich war nur immer wieder überrascht von dem, was ich sah: vom Reichtum der Menschen, von ihrer Hektik, ihrer Unzufriedenheit. Ich war überrascht vom Warenangebot in den Kaufhäusern, von den prallvollen Kühlschränken, die die Leute zu Hause stehen hatten, von den Unmengen Kleidern, die in ihren Schränken hingen. Ich konnte es kaum glauben, dass es in dieser Gesellschaft Bettler gab, die vor den Eingängen der überquellenden Kaufhäuser saßen und trotzdem nicht viel bekamen. Ich war verwundert über die sexuelle Freizügigkeit: Mädchen gingen in knallengen Tops und in superkurzen Röcken, waren geschminkt wie kleine Prinzessinnen und warfen den Jungs aufmunternde Blicke zu, als würden sie nur daraufwarten, abgeschleppt zu werden. Es dauerte eine Zeit, bis ich merkte, dass vieles davon nur ein Spiel ohne Folgen war, dass es eine Show gab, die »Flirt« hieß und mit dem Beziehungsleben, das hier herrschte, nicht viel zu tun hatte. Nach und nach kam ich dahinter, dass vieles von dem, was man uns im Sudan über Deutschland erzählt hatte, nicht stimmte. Dort hieß es 218 iriiiiiCr in Deutschland lagen tue Bonbons in den Mülleimern und das Geld auf der Straße, man müsse es nur aufheben. Anfangs suchte ich deswegen oft die Straßen ab und öffnete auch den einen oder anderen Mülleimer, aber ich fand nichts außer Unrat, ausgespuckten Kaugummis und weggeworfenen Zigarettenstummeln. Wir waren skeptisch gewesen und hatten nicht nach Deutschland gehen wollen. Doch diese Märchen hatten eines erreicht: Wir waren alle drei gespannt gewesen, was in diesem fremden Land alles zur freien Entnahme in der Gegend herumliegen könnte. Mich allerdings hatte immer mehr die Kleidung interessiert als die Süßigkeiten, schon in meiner Zeit in Asmara oder auf dem Dorf, wo ich zuerst mit meinem Vater gelebt hatte. Wenn ein Lastwagen des Roten Kreuzes anhielt, um ein paar Hilfspakete zu verteilen, gab es für die Kinder immer nur zwei Ansagen: »Hier sind die Süßigkeiten!« Und: »Hier sind Klamotten!« Dann liefen alle Kinder zu den Süßigkeiten, und ich rannte hinüber zu den Kleidersäcken, um ein altes TShirt mit einer unverständlichen Aufschrift zu ergattern oder eine buntbedruckte Hose oder eine Jacke, die ich kaum anziehen konnte, weil es meistens zu heiß dafür war. Die alte Angst Die unverständlichsten Dinge passierten nicht draußen auf den Straßen Hamburgs, sondern in unserer eigenen Wohnung in Stellingen. Mein Vater überwand seine anfängliche Freundlichkeit rasch und wurde bald wieder zu dem Mann, den wir drei nur zu gut in Erinnerung hatten. Es dauerte nicht lange, bis die alte Angst vor meinem Vater aus den dunklen Ecken meiner Seele hervorkroch, wo sie sich all die Jahre, die ich ihn nicht sah, versteckt gehalten hatte. Es fing mit den Briefen an: Als wir in Deutschland angekommen waren, wollten wir unserem Onkel Haue schreiben, wie es uns ergangen war und was wir gesehen hatten. Haue war noch für einige Zeit der einzige Ansprechpartner, den wir hatten. Das war unserem Vater nicht recht, er fürchtete, dass Haile etwas Negatives über ihn erfahren
219 könnte, Ein wenig Eifersucht war wohl auch dabei, und deshalb wollte er den Kontakt zu unserem Onkel unterbinden. Es setzte bald auch wieder Hiebe, wenn wir eine Kleinigkeit vergessen hatten, wenn wir etwas wünschten, womit er nicht herausrücken wollte, oder auch nur, wenn eine von uns am Esstisch unabsichtlich ein Glas umstieß. Wie schon in Afrika bekam ich die meisten Prügel zu spüren. Wir schrieben zwar trotzdem an Haue, aber unser Vater kontrollierte die Briefe Wort für Wort. Wir hatten keine Chance, unserem Onkel zu sagen, wie dreckig es uns bei unserem Vater ging. Der fand in jedem Brief etwas, das ihn störte. Gleich hagelte es Ohrfeigen, und er zerriss die Briefe. Die Briefe, die er nicht vor unseren Augen vernichtete, sandte er nicht ab. Wir bekamen nie eine Antwort von Haue später erfuhr ich von ihm, dass er keinen unserer Briefe erhalten hatte. Wegen alldem wurde einmal sogar Yaldiyan wütend, was selten vorkam. Sie brüllte unseren Vater an: »Haue ist unser Vater, und du wirst das nie sein!« Das war zuviel für ihn. Er sperrte Yaldiyan daraufhin für den Rest des Tages ein und schlug sie windelweich. Danach war nicht nur sie total fertig, sondern auch er. »Ich habe euch doch hergeholt«, jammerte un ser Vater, »ich wollte nur das Beste für euch.« Wir blieben trotzdem hart. »Wir wollten überhaupt nicht kommen«, sagte Tzegehana. »Wir sind nur da, weil Haue gesagt hat, wir müssten nach Deutschland gehen, und weil er gesagt hat, dass es besser ist für uns, dort zu leben und nicht in Afrika«, sagte ich, »sonst wären wir alle drei lieber in Khartum geblieben.« Erstaunlicherweise verprügelte er uns daraufhin nicht. An diesem Tag gingen wir ausnahmsweise straffrei zu Bett. Er hatte sich schon bei Yaldiyan völlig verausgabt. Doch nur einen Tag später war mein Vater wieder so gut in Form, dass er uns alle drei verdreschen konnte. Meine Angst vor ihm war so stark, dass ich mir mehrmals in die Hosen machte, wenn ich hörte, wie er die Tür aufschloss. Was auch immer ich gerade tat, ob ich Hausaufgaben machte, in der Küche etwas aß oder einfach irgendwo in der 220 Wohnung stand: Ich konnte chc nicht kontrollieren. Nodi bevor er die Tür geöffnet hatte, schoss ich auf die Toilette oder ins Bad. Dort wartete ich stocksteif, bis er vorbeigegangen war, ins Wohnzimmer oder in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Sobald ich sicher war, ihm nicht begegnen zu müssen, zog ich mich um, schlich wie ein gehetztes Tier in mein Zimmer und schloss die Tür ab. Ich versuchte mich auf etwas zu konzentrieren, auf die Hausaufgaben, auf ein Buch, auf einen Gedanken, aber es gelang mir nur schlecht. Ich verbrachte die Zeit vor allem mit Warten darauf, dass etwas passiert. Manchmal kam ich kurz aus meinem Zimmer heraus, um mir eine Kleinigkeit zu essen zu holen. Dabei tat ich so, als ob ich todmüde wäre, und ging schon um sieben Uhr ins Bett, nur damit ich mich nicht mit ihm unterhalten musste. Nicht mit ihm zu sprechen und nichts mit ihm zu tun zu haben war für mich der einfachste Weg, nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Aber manchmal funktionierte das nicht. Wenn ihm etwas über die Leber gelaufen war, kam er schreiend und polternd zu meinem Zimmer und trommelte und trat so lange gegen die Tür, bis ich öffnen musste. Meine Schwestern reagierten anders: Yaldiyan versuchte alles, um unserem Vater alles recht zu machen, und wurde nur laut, wenn sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste und tief in ihrem Innersten getroffen war. Tzegehana achtete unser Vater am meisten von uns dreien — sie bekam zwar hin und wieder etwas ab, aber weniger als Yaldiyan und viel weniger als ich. Sie versuchte, diplomatisch mit ihm umzugehen, ohne ihm Honig ums Maul zu schmieren, denn das hatte sie nicht nötig. Mein Vater wusste sehr gut um diese Unterschiede zwischen uns, auch wenn er so tat, als gingen wir ihm alle drei gleichermaßen auf die Nerven. Nach unserer Ankunft in Deutschland hatte er uns Malbücher geschenkt, eines für jede von uns. Ich musste lachen, weil seine Auswahl Bände sprach: Auf dem Umschlag von Yaldiyans Malbuch war Goofy zu sehen, auf Tzegehanas Micky Maus und auf meinem Donald Duck. Ich kannte diese Comicfiguren bereits aus dem sudanesischen Fernsehen. Er hatte genau unseren Charakter getroffen: Yaldiyan war ein 221 Tolpatsch wie Goofy, wenn auch klein und zerbrechlich. Tzegehana war die Kluge, die stets die Übersicht bewahrte und sich immer gut durchschlagen konnte, und zu mir passte dieses Gequake, das dreiste Gehabe Donalds, das meist in unglücklichen Vorfällen gipfelte. Bis heute entsprechen wir diesen drei Charakteren: Yaldiyan ist herzensgut, aber tolpatschig. Sie galt bei unserem Vater als dumm, was sie aber nicht ist. Yaldiyan ist sehr feinfühlig. Tzegehana ist gelassen und klug, sie war die einzige von uns, die Einfluss auf unseren Vater hatte. Manchmal, wenn er mich schlug, sagte sie in scharfem Ton zu ihm: »Lass sie!« Sofort ließ er von mir ab. Ich dagegen war immer schon aufbrausend, furienhaft und nicht besonders geschickt im Verhandeln. Trotz aller Vorsicht, die wir ihm gegenüber an den Tag legten, wurde es unserem Vater oft zuviel. Er war es
nicht gewohnt, Verantwortung für Kinder zu übernehmen. Es war ihm zuviel, sich um unsere schulischen Dinge zu kümmern, Interesse für unsere Probleme zu zeigen oder uns bei der Bewältigung des Alltags zu unterstützen. Es war ihm zuviel, zu Elternsprechtagen zu gehen, dafür zu sorgen, dass wir etwas Sauberes anzuziehen hatten oder dass das Essen auf dem Tisch stand. Wir mussten selbst für uns sorgen. Wenn wir von der Schule kamen, mussten wir oft zuerst einkaufen gehen, bevor wir etwas kochen und essen konnten. Manchmal drückte er uns zehn Mark in die Hand und tauchte ein paar Tage lang nicht auf. Das waren harte Zeiten für uns. Wir konnten noch so gut wie kein Deutsch, denn wir gingen anfangs noch nicht zur Schule. Wir hatten keine Ahnung, wie und wo man etwas zu essen einkauft. Also gingen wir zum nächsten Kiosk und holten uns so viele Bonbons, wie der Zehnmarkschein hergab, und ernährten uns die ganze Zeit von Bonbons, bis uns schlecht war vor Hunger und zuviel Zucker gleichzeitig. In dieser Zeit wuschen wir uns kaum, achteten nicht auf unsere Kleidung und vernachlässigten den Haushalt. Wir boten vermutlich für jeden, der uns gesehen hätte, ein Bild des Jammers. Doch niemand achtete auf uns. Wie wir lebten, kümmerte keinen Menschen. 222 Die Stiefmutter Erst später bekamen wir mit, dass unser Vater bei unserer Stiefmutter war, wenn er für ein paar Tage verschwand. Werhid wohnte mit ihrer Tochter etwa eine Stunde Fahrt von Hamburg entfernt. Sie lebte immer noch in derselben Wohnung, in der er mit ihr 2usammengelebt hatte, bevor er sich hatte scheiden lassen. Davor waren die beiden in Hamburg gewesen, doch mein Vater wollte in einem Ort leben, wo es kaum Afrikaner gab und keine Eritreer. Mit anderen Eritreern wollte er nichts zu tun haben. Er war der letzte und standhafteste aller ELFAnhänger, den auch die totale Zerschlagung der Jebha nicht von seinem Kurs abbringen konnte und der sich deshalb mit fast allen ehemaligen Freunden und Weggefährten politisch überworfen hatte. Außerdem hatte unser Vater den Leuten erzählt, er wisse nicht, wo seine Kinder seien. Doch schon damals waren immer wieder eritreische Flüchtlinge in Hamburg eingetroffen, auch von der Jebha und von »Che Guevara«. Die hatten erzählt, dass wir immer noch bei den letzten Soldaten lebten und kämpften. Die eritreischen Flüchtlinge sind zwar über viele deutsche Städte und über die ganze Welt verstreut, aber sie haben einen engen Zusammenhalt und viele Kontakte untereinander, wie es bei kleinen Völkern üblich ist, die in der Diaspora leben. Deshalb verbreiteten sich Nachrichten innerhalb der eritreischen Gemeinschaft besonders schnell. Das bekam auch mein Vater zu spüren, als Freunde und Verwandte ihn als verantwortungslosen Menschen beschimpften. Als ihm das zuviel wurde, wandte er sich an Haue. Er schrieb ihm, dass ihn die Leute quälten, dass sie hinter ihm her seien und ihn verdammten, weil er sich nicht um seine Töchter kümmere. Deshalb bat er Haile, uns die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. Um dem Gerede sofort zu entgehen, zog er mit seiner Familie aus Hamburg fort. Als mein Vater wieder mal von einem seiner tagelangen Ausflüge zurückgekehrt war, erzählte er, dass Werhid ihm vorgeschlagen hätte, uns nächstes Mal mitzubringen. Vielleicht machte sie sich Sorgen, dass wir so lange allein waren, auf jeden Fall wollte sie uns gern wiedersehen. Wir fuhren bald darauf hin und blieben volle drei Wochen. Werhid 223 kochte jeden Tag Enjera, wir schlugen uns die Bäuche voll und spielten mit Flora, unserer erst vier Jahre alten Halbschwester, die wir noch gar nicht gekannt hatten. Nach den Zeiten der Entbehrung genossen wir es, wieder in einer kompletten Familie zu leben. Das Verhältnis zwischen Werhid und mir war damals sehr gut. Ich war froh, dass sie unseren Vater ein wenig von mir ablenkte. Meine Schwestern kamen mit unserer Stiefmutter nicht ganz so gut aus, was mit den schlechten Erinnerungen zusammenhing, die sie mit Werhid verbanden: Deren Beziehung zu unserem Vater war der Anlass dafür, dass sie über Nacht von ihrer Mutter Abrehet getrennt wurden. Sie gaben Werhid die Schuld daran, dass der Vater die schwangere Abrehet mit einer Bratpfanne ohnmächtig schlug, um ihr die beiden Kinder wegzunehmen — diese Erfahrung hatte Yaldiyan und Tzegehana stark geprägt. Yaldiyan hatte ihn noch angefleht, bleiben zu dürfen, weil sie ihrer Mutter helfen wollte, aber er hatte die beiden Mädchen gepackt und seine im sechsten Monat schwangere Frau einfach liegengelassen. Gott möge ihm verzeihen! Ich könnte mit dieser Last nicht leben. Kein Wunder also, dass meine Schwestern dieser neuen Frau unseres Vaters gegenüber misstrauisch waren. Mein Misstrauen konzentrierte sich dagegen immer auf den Vater. Tausende Male sah ich die Szene vor mir, als er mit mir in den Wald ging, um mich zu töten. Damals im Wald hatte mir Werhid das Leben gerettet. Noch in Deutschland sagte er oft, er hätte das durchziehen sollen, und ich wusste nie, ob er das ernst meinte oder nicht. Er sagte in seinem theatralischsten Tonfall Sätze wie: »Eines verspreche ich dir, Senait, du wirst keines natürlichen Todes sterben, sondern von meiner Hand!« Oder: »Ich habe dich nicht geplant.« Wenn ich daraufhin entgegnete: »Tut mir leid, dann denk dir einfach, ich existiere nicht«, verstummte er. 224 Wieder der Vater
Was den Umgang mit meinem Vater für mich so schwierig machte, war seine Unberechenbarkeit. Was er an einem Tag sagte, galt am nächsten schon nichts mehr. Er kannte kein Gesetz. Es gab kein Muster, nach dem man sich verhalten konnte, um mit ihm auszukommen. Erst wenn er alle um sich herum verunsichert hatte, wenn sie klein waren, fühlte er innere Ruhe. Neben all diesem Wahnsinn hatte er auch niedliche Seiten. Diese Seiten sah ich immer nur kurz, aber diese Momente waren für mich so süß, dass sie sich mir tief einprägten, weil ich immer gehofft hatte, mehr von ihnen zu sehen. Wenn diese Seiten zum Vorschein kamen, beobachtete ich meinen Vater, hörte ihm zu und hing an seinen Lippen. Tzegehana meinte immer, dass weder sie noch Yaldiyan ihn je so lieben würden wie ich. »Ich kann das nicht«, sagte Tzegehana, »und ich werde es nie können.« Diese angenehmen Seiten bestanden für mich nicht in bestimmten wiederkehrenden Handlungen oder Eigenschaften, sondern in flüchtigen Momenten. Es war die Art, wie er lachte oder einen Witz erzählte. Die Art, wie er Nachbarn ärgerte oder Passanten, die ihm lächerlich vorkamen, nachäffte — alles Sachen, die ich genauso machte. Auch ich ärgerte Nachbarn, die mich vollschwatzten, so gut ich konnte. Wenn wir auf der Straße gingen und zwei Nachbarinnen sahen, die eifrig miteinander tratschten, zwei von den Muttis, die nie etwas zu tun hat ten, ging er dazwischen und rief: »Gagagagagagaaaa«, mitten hinein ins Gespräch. Er verarschte die Leute in der Nachbarschaft, bis ich mich fast totlachen musste. Meine Schwestern fanden das auch albern, aber nur ich hörte richtig begeistert zu, wenn er Quatsch machte. Dann ging ich zu ihm und wollte mehr: »Erzähl mal, erzähl mal!« Das machte ihm große Freude. Es gab Zeiten, da nannte er mich »Senu«, eine Koseform von Senait. Wir saßen im Wohnzimmer, redeten völligen Nonsens und lachten uns fast tot dabei. Wir lästerten auf die übelste Art und Weise über Leute, die wir kannten, bis meine Schwestern in ihr Zimmer gingen und anfingen, Bücher zu lesen, weil sie unsere Albereien langweilig fanden. 225 Ich saß bis morgens mit ihm im Wohnzimmer, und wir machten weiter, bis uns die Bauchmuskeln vor Lachen schmerzten. In solchen Phasen konnte ich etwas von meinem Vater bekommen. Dann mochte er mich gerne, wenn auch mit Einschränkungen. Einmal sagte er zu mir: »Wärst du ein Junge, würde ich dich über alles lieben.« Ich musste heftig schlucken. Dieser Satz beschäftigte mich noch jahrelang. Ich interessierte mich damals schon sehr für Musik und wünschte mir nichts sehnlicher als ein Klavier. Dafür hatten wir keinen Platz in der Wohnung, und leisten konnten wir uns ohnehin keins. Doch mein Vater ließ sich davon nicht abhalten, sondern ging mit mir auf einen Flohmarkt, von dem wir mit einem Keyboard nach Hause kamen. Das Ding war uralt, total verstimmmt, und die Hälfte der Register funktionierte nicht mehr, aber egal: Er hatte es mir gekauft, und ich übte darauf, bis mir die Finger brannten. Doch dieselbe Hand, die mir die Orgel nach Hause getragen hatte, schlug mich am nächsten Tag wieder, und deswegen konnte ich dieser Hand nie trauen. Ich wusste nie, ob sie mir als Freund begegnete oder als Feind. In meinen Selbstgesprächen oder gegenüber meinen Schwestern nannte ich meinen Vater oft »die Hand«. Zu Yaldiyan und Tzegehana sagte ich: »Ich weiß nicht, ob die Hand mich heute schlägt oder ob sie mich streichelt«, und sie wussten nur zu gut, wie ich das meinte. Selbst wenn ich in meines Vaters Augen guckte, konnte ich nie sicher sein, wie es mir im nächsten Moment ergehen würde; auch wenn er wütend war, sah ich in seinen Augen nie etwas Böses. Nicht in seinen Augen und nicht in seiner Mimik. Es kam mir so vor, als wäre das Böse bei ihm nur eine Fassade, eine Maske. Nicht nur mir erging es mit meinem Vater so, sondern vielen anderen auch. Es gab eine Gruppe von Menschen, alles Eritreer, die mein Vater nicht sehr freundlich, sondern herablassend behandelte und die ihm dennoch treu ergeben waren und ständig seine Nähe suchten. Mein Vater war ein Pascha, er hielt immer eine Horde von Kriechern um sich herum. Das machte seine Aura aus. Es gab fünf, sechs Typen, die ständig an seiner Seite waren und ihn umsorgten. Sie brachten ihm 226 etwas zu essen, erledigten Annswege für ihn und hir'en ihn ein, mit ihnen auszugehen. Mein Vater hatte etwas an sich, dem sich viele Menschen nicht entziehen konnten. Ich kam bald dahinter, dass ich in dieser Hinsicht viel von ihm habe — nicht nur diesen Kopf, die kantigen Zähne und diesen Hintern, die hässlichen Füße und diese Ohren. Ich habe auch eine gewisse Aura von ihm und meine schnelle Auffassungsgabe. Mein Vater merkte, dass ich ihm sehr ähnlich bin — im Gegensatz zu meinen beiden Schwestern, die nichts von ihm haben, weder im Aussehen noch im Verhalten. Aber ich! Egal ob ich böse gucke oder von etwas begeistert bin, ich sehe aus wie er. Ich handle auch oft ähnlich wie er. Zum Beispiel überrede ich Leute nie, ich schwatze nicht gern um den heißen Brei herum, sondern ich überzeuge lieber dadurch, dass ich so bin, wie ich bin — genau wie er. Die Kraft, das zu können, besitzen wir beide gleichermaßen. Dazu kommt meine Stimme, mein musikalisches Talent: Beides stammt von ihm. Mein Vater hat immer gesungen, vor allem politische Lieder, er sang in Afrika, und er sang in Deutschland auf Solidaritätsveranstaltungen der ELF für Eritrea. Meistens stand
ich vor der Bühne in der ersten Reihe und platzte fast vor Stolz, dass das mein Vater war, der da oben stand und die Leute mit seinem Lied ohne Mühe und völlig schwerelos wegtrug. Keilereien Als es die ELF nicht mal mehr als Splittergruppe in Deutschland gab, ging mein Vater mit uns auf EPLFFeste. Es konnte vorkommen, dass er mitten in einer Veranstaltung auf die Bühne stürmte und AntiEPLFIieder sang, uralte Lieder. Meistens kamen dann ein paar politische Aktivisten und schmissen ihn hochkant raus. Sie hatten zuviel Respekt vor ihm, um ihn richtig zu verprügeln, aber sie trugen ihn vor die Tür und setzten ihn dort unsanft ab. Wir trabten hinter ihm her, einerseits entsetzt, dass so etwas unserem Vater geschah, und anderer 227 seits froh, dass sich endlich jemand getraut hatte, ihm die Meinung zu sagen. Solche Auftritte belasteten unseren Vater nicht sonderlich. Er ging mit uns einfach auf die nächste Party und sang dort weiter. Oft war es dann schon so spät, dass wir uns vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnten. Ihm war das egal, zumal er sich häufig selbst kaum noch auf den Beinen halten konnte, weil er im Lauf des Abends zuviel getrunken hatte. Meistens redete er auf solchen Partys nur Mist, weil er komplett hinüber war. Die anderen Gäste sahen uns mitleidig an oder sagten, wie leid wir ihnen täten. An unserer Situation änderte das nichts. Ein paarmal überließen wir ihn sich selbst und fuhren mit dem Nachtbus nach Hause, weil wir uns für seine Pöbeleien schämten. Zeitweise arteten seine Auftritte in Randale aus, wenn er auf die Bühne lief und Dinge rief wie: »Ihr ScheißLooser!« Oder: »Ihr Scheißer! ELF kommt wieder an die Macht!« Oder: »Ihr seid Terroristen! Ihr seid hinterhältig! Schaut mir doch in die Augen, schlagt mich nieder, wenn ihr könnt! Aber ihr traut euch nicht! Ihr jagt mein Haus in die Luft, während ich schlafe. Feige seid ihr! Lasst Fäuste sprechen!« Ich dachte manchmal, dass man in seinem Alter ruhig ein wenig erwachsener sein könnte, anstatt zornig herumzutoben wie ein Kind. Aber mein Vater war nicht nur nicht erwachsen, er war maßlos in allen Dingen, ein absoluter Rebell. Wenn er von etwas überzeugt ist, kann keiner gegen ihn gewinnen, dann kann ihn niemand umpolen. Wenn ihm etwas nicht passt, bleibt er eher auf der Stelle stehen und rührt sich nicht, als dass er in eine Richtung weitergeht, in die er nicht gehen will. Als in Hamburg einmal ein eritreisches Festival an der Sternschanze stattfand, ging unser Vater mit uns hin. Gleich am Eingang traf er Hagoss, einen überzeugten Anhänger der EPLF, der im Krieg eine Hand verloren hatte, und wir wussten sofort, dass der Abend kein gutes Ende nehmen würde. Die beiden hatten sich noch nie riechen können. Prompt gerieten Hagoss und er in Streit. Hagoss warf meinem Vater vor, sich nicht richtig um seine Kinder gekümmert zu haben, und stichelte in einem fort: »Gehorchen sie dir denn? Die haben nur Angst 228 vor dir, d*»s sieht man m iliren Augen. Du hast noch Glück, dass du Kinder hast, die intelligent sind.« Mein Vater blieb ihm nichts schuldig. »Das mag ja sein, aber zumindest kann ich mit beiden Händen klatschen, wenn meine Töchter heiraten!« sagte er und klatschte vor dem Einarmigen wie wild los. Das war für den das Zeichen, sich auf meinen Vater zu stürzen, der sofort zurückschlug. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich andere auf die beiden Streithähne warfen. Ob sie sie voneinander trennen wollten oder an der Keilerei teilnahmen, war nicht zu sehen, weil nur noch ein riesiges Menschenknäuel vor uns über den Boden wirbelte. Solche Szenen passierten immer wieder. Einmal wollten wir vom Hamburger Hauptbahnhof nach Frankfurt fahren, um dort befreundete Eritreer zu besuchen, da trat ein Mann auf uns zu, den mein Vater nicht mochte. Als wir nach Deutschland gekommen waren, hatten die beiden noch so getan, als wären sie dicke Freunde, aber bald danach stritten sie sich bis aufs Messer. Das taten sie auch jetzt wieder. Vor den Schließfächern entbrannte eine hitzige Diskussion über unverständliche politische Fragen, und die beiden begannen einander zu verprügeln. Ratlos standen wir Schwestern dabei, zu schwach, um einzugreifen, und peinlich berührt, weil alle Passanten fassungslos guckten. Glücklicherweise kamen zwei Deutsche und zerrten die beiden auseinander. Wir bedankten uns und waren heilfroh, als wir endlich mit unserem Vater, der unverletzt geblieben war, in den Zug steigen konnten. Er aber wurde nun auf uns wütend: »Warum habt ihr nicht den Koffer genommen und ihm über die Birne gehauen?« fuhr er uns an. Ich war nur froh, dass die Leute in unserem Abteil kein Wort verstanden. Über politische Fragen konnte er sich stundenlang aufregen, und ich hatte den Eindruck, dass er das gerne tat. Dass die ELF den Krieg verloren hatte, sah er nicht ein. Er wollte es nicht einsehen. Mit uns sprach er nie darüber, er erklärte uns nichts, und er entschuldigte sich nicht für das, was uns die ELF, die Jebha, angetan hatte. Es schien ihm nichts zu sein im Vergleich zu der Schmach, die er durch die militärische Niederlage der ELF erlitten hatte. Wie nah ihm das alles wirklich ging, konnte ich nie genau ergründen, 229 weil er im Grunde ein sehr verschlossener Mensch war. Er hasste es, über seine Gefühle zu reden. Trotzdem spürte ich immer, wenn es ihm schlechtging. Manchmal war ihm übel, ohne dass er getrunken hatte. Ein paarmal musste er sich übergeben, mitten im Zimmer, im Stehen. Er jammerte vor Schmerzen, und ich ging zu ihm und
hielt seine Hand, die ganze Nacht. Am nächsten Tag musste ich zur Schule, und ich wusste, es würde fürchterlich sein, dorthin zu gehen, ohne geschlafen zu haben, aber ich konnte nicht anders. Ich sagte immerzu: »Es wird alles gut« und streichelte ihm den Kopf, und gleichzeitig wusste ich, dass er morgen schon wieder imstande sein würde, mich wegen einer Kleinigkeit zu verprügeln, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Doch in diesem Moment war das für mich nicht wichtig. Ich weiß nicht, woher ich diese Kraft hatte. Ich weiß nicht, warum ich das so gut aushielt. Es muss eine unglaubliche Macht oder Kraft geben, die mich beschützt, anders hätte ich das alles nicht ausgehalten. Meinen Schwestern fehlt diese Kraft, sie zerbrechen schnell. Mein Vater muss auch über diese Kraft verfügen, sonst hätte er sein Leben nicht so gut überstanden, denn er hat sicher das Fünffache dessen erlebt, was ich durchgemacht habe. Er hatte eine Stiefmutter, die ihn extrem missbrauchte. Sie fügte ihm Brandwunden zu und ließ ihn in die Wände beißen, wenn er sagte, dass er Hunger habe. Das entschuldigt nichts von dem, was mein Vater getan hat, es kann sein Verhalten höchstens erklären, nicht mehr und nicht weniger. Flügge werden Je länger ich in Deutschland lebte, desto mehr rückte mein Vater in den Hintergrund. Er kommandierte mich zwar weiterhin herum, er schlug und prügelte mich und wollte der unumschränkte Herrscher unserer Familie sein, doch die Fäden entglitten ihm zusehends, weil mein eigenes Umfeld größer wurde. Durch die Schule gewann ich Freunde und Freundinnen, ich lernte die deutsche Sprache immer besser beherrschen und konnte mich deshalb freier in der Stadt bewegen. Außer 230 dem begann ich auszugehen, Jenn je sicherer ich wurde, um so mehr erwachte langsam ein von mir lange und ängstlich zurückgedrängtes Interesse — die Neugier auf das andere Geschlecht. Der entscheidende Moment kam, als ich mit zwei Freunden unterwegs war. Martin war in meinem Alter und Boris ein bisschen älter; beide waren einfach gute Freunde von mir, mehr nicht. Sie schlugen vor, gemeinsam Stefan zu besuchen, einen Freund, den sie schon länger nicht gesehen hatten. Gesagt, getan. Nach einer endlos langen Fahrt in einen edlen Außenbezirk Hamburgs kamen wir zu einem Riesengrundstück, auf dem ein Haus stand, das so groß war, dass mir fast der Mund offenblieb. In der Eingangshalle stand ein Junge vor einem großen Spiegel und probierte zum Spaß verschiedene Posen aus. Er war ein BradPittTyp, glatt, geschmeidig, strahlend und sehr süß. Ich dachte sofort: »Was ist denn das für einer?« Er war so selbstgefällig, theatralisch, ungeniert, und ich verliebte mich auf der Stelle in ihn — ohne mir dessen bewusst zu sein. Als wir wieder fuhren, merkte ich nur, dass für mich plötzlich alles ganz anders war. Quer durch meine Magengrube schlich ein komisches Gefühl, das ich nicht benennen konnte, weil ich es noch nie erlebt hatte. Mir war merkwürdig leicht und schwer zugleich. Ich war wie aus dem Häuschen und plapperte jede Menge dummes Zeug, so dass die beiden anderen sich wunderten, was mit mir los war. Martin fand ich damals zwar cool, aber als Mann nahm ich ihn nicht wahr, schon gar nicht, nachdem ich Stefan kennengelernt hatte. Boris war für mich schon vorher ein vertrauter Freund, doch von dem Tag an, an dem wir bei Stefan waren, wollte ich ihn ständig treffen, weil ich wusste, dass der Kontakt zu Stefan über ihn gelaufen war. Es klappte tatsächlich: Schon wenige Tage später nahm mich Boris wieder zu Stefan mit. Als wir das zweite Mal dort waren, ging alles sehr schnell. Stefan freute sich sehr, mich wiederzusehen, und nur ein paar Stunden später knutschten er und ich schon miteinander herum. Von da an waren wir zusammen. Sex war für mich allerdings ein völlig verbranntes Land. Sex hatte ich immer nur im Zusammenhang mit Schmerzen und 231 Zwang und Demütigung erlebt. Sex erschien mir als etwas nicht Erstrebenswertes. Merkwürdigerweise dachten viele, die mich in Lokalen sahen, beim Ausgehen oder in der Disco: »Die hat doch jeden Tag einen anderen.« So kann man sich täuschen. Es gab sicher Typen, die mich anmachen wollten, aber das war auch alles, denn für mich gab es keinen Sex, schon alleine wegen der Vergewaltigungen, die ich durchmachen musste. Weil ich locker, aufgedreht und fröhlich wirkte und weil ich mich, im Rahmen meiner eng begrenzten finanziellen Möglichkeiten, gerne auffällig kleidete, interpretierten viele etwas anderes in mich hinein, wenn ich in ein Lokal kam. Die dachten: »Wie die aussieht, mit ihrem Selbstbewusstsein, wie sie schon in den Laden reinkommt ...«, doch das war immer nur Schauspiel. Ich musste Sicherheit spielen, um mich sicher zu fühlen, sonst hätte ich mich gleich bibbernd in eine Ecke verkriechen können. Das klingt, als hätte ich die ganze Zeit nur Party gemacht, aber das Gegenteil ist richtig. Meistens arbeitete ich wie besessen für die Schule, um dort weiterzukommen. Ich machte beim Deutschlernen rasante Fortschritte, vor allem, nachdem ich gemerkt hatte, dass in Deutschland niemand Englisch verstand. Deutsch war die einzige Sprache, die ich mit meinen Schulkollegen verwenden konnte, denn die sprachen ansonsten nur Türkisch, Russisch, Rumänisch oder irgendwelche andere Sprachen. Nur mit wenigen Schülern konnte ich mich auf ara bisch verständigen.
Leider musste ich in der Schule weit unten anfangen. Meine Schwestern und ich hatten uns beim Eingangsgespräch mit der Lehrerin um einiges älter gemacht, weil wir hofften, uns auf diese Weise ein paar Jahre Schulzeit ersparen zu können, aber das klappte nicht. Da in unseren Pässen kein Geburtsjahr stand, wurde unser Alter so gut es ging anhand unseres Knochenbaus und unserer Größe geschätzt. Aufgrund der Ergebnisse dieser Untersuchungen bekamen wir Geburtsurkunden mit den so errechneten Geburtsdaten ausgestellt. Seitdem bin ich offiziell am 3. Dezember 1976 geboren. Das musste so sein, denn ohne Geburtsdatum funktioniert in Deutschland nichts. Kein 232 Ausweis, keine DokuiueiiLt;, keine Sozialversicherungsk?tfe. kein Meldezettel, kein Bankkonto, kein Handyvertrag. Einfach nichts. Vom Unterrichtsstoff her hätten wir ruhig ein oder zwei Jahre überspringen können, denn wir waren sehr weit. Immerhin hatten wir im Sudan gepaukt wie die Streber, weil wir einen so großen Nachholbedarf hatten, richtigen Wissensdurst. Manchmal kam es zu Reibereien mit anderen Schülern, denn vielen wollte es nicht in den Kopf, dass eine Schwarze über ein solides Grundwissen, über eine Allgemeinbildung verfügen kann. Am rassistischsten verhielten sich die, die selbst von Rassismus betroffen waren. So gab es bei mir in der Klasse eine türkische Mitschülerin, die immer wieder damit anfing, dass sie ein bisschen deutscher wäre als ich. Fortwährend musste sie sticheln. »Du kannst einen deutschen Pass bekommen«, begann sie immer wieder, »aber du wirst nie weiß werden können.« Irgendwann reichte es mir und ich prügelte mich mit ihr. Das hatte ich zuvor noch nie getan seit meiner Ankunft in Hamburg. Als ich mich blind vor Wut auf das Mädchen stürzte, mit geballten Fäusten, um auf sie einzutrommeln, musste ich an meinen Vater denken. Sie wehrte sich mit Leibeskräften und kratzte und biss mich blutig. Ich weiß nicht, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn uns nicht ein paar Mitschüler auseinandergedrängt hätten. Ich war damals ziemlich streitsüchtig, weil ich mir meinen Platz in der Gesellschaft erst erkämpfen musste, aber in Prügeleien artete das selten aus. Meistens blieb es bei verbalen Auseinandersetzungen, bei Gekreische und Geschimpfe und Gehänsel. Eine Ausnahme war Yaldiyan. Wenn sie mich geärgert hatte, packte ich sie mit beiden Händen und warf sie gegen die Wand oder stieß sie auf den Boden. Diese Ausbrüche kamen nicht von ungefähr, sondern hatten ihre Ursache darin, dass wir immer schon alles aneinander ausgelassen hatten. Für vieles, was sie in ihrem Leben enttäuscht hatte, gab Yaldiyan mir die Schuld. Obwohl weder sie noch ich meine Mutter kannten, behauptete sie oft, ich wäre genauso böse und gemein wie diese. Nie gab mir Yaldiyan eine Chance, ihr das Gegenteil zu beweisen. Erst sehr viel später entdeckten wir beide unsere Gemeinsamkeiten — zu spät, um in unserer Jugendzeit friedlich miteinander zu leben. 233 Doch sosehr Yaldiyan den Streit mit mir suchte, so sehr drehte sie durch, wenn Tzegehana und ich miteinander stritten. Dann fuhr sie wie eine Oberlehrerin dazwischen, fuchtelte wie wild mit den Armen und rief: »Vertragt euch! Vertragt euch!« Es klingt vielleicht nicht sehr freundlich, was ich von meinen Schwestern zu erzählen habe, und doch sind sie es, die ich auf dieser Welt am meisten liebe. Daran ändert selbst die Tatsache nichts, dass wir heute kaum Kontakt miteinander haben. Die beiden sind in meinem Herzen, wo ihnen für immer die besten Plätze sicher sind. Abgehauen Wegen meiner beiden Schwestern und meiner engen Bindung an sie zögerte ich lange hinaus, was längst überfällig war — die komplette Ablösung von meinem Vater. Dabei konnte ich, bedingt durch seine Persönlichkeit, nicht vorsichtig vorgehen, nicht in vielen kleinen aufeinander abgestimmten Schritten, sondern nur mit einem einzigen gewaltigen Schnitt: Ich riss von zu Hause aus, ohne Vorwarnung, von einem Tag auf den anderen. Freiwillig hätte mich mein Vater nie gehen lassen, von sich aus hätte er die Zügel niemals gelockert, und so lange, bis es mir nach dem Gesetz erlaubt gewesen wäre, zu gehen, wollte und konnte ich nicht warten. Als ich abhaute, war ich noch keine fünfzehn, und mir war klar, dass ich die Demütigungen und die Enge in der Wohnung meines Vaters keine weiteren drei Jahre bis zu meiner Volljährigkeit unbeschadet überstehen würde. Es war ganz einfach. Ich packte eines Tages ein paar Kleidungsstücke in meinen Schulrucksack, dazu einen Kanten Brot und ein paar Äpfel, schnallte eine zusammengerollte Wolldecke quer unter den Deckel des Rucksacks und ging. Meine Schwestern waren gerade einkaufen, und mein Vater lief irgendwo in der Stadt umher. Es fühlte sich ganz selbstverständlich an: Ich schulterte meinen Rucksack, wie ich es so viele Male getan hatte, zog die Wohnungstür hinter mir zu und verschwand im UBahnSchacht zwischen den Hochhausblöcken. 234 Alles war wie jeden 'i^. i^s ^nh bloß einen Unterschied, und mich faszinierte, dass nur ich davon wusste und sonst keiner von den Hunderten und Tausenden Menschen, die mich auf der Straße sahen und in der UBahn und in der SBahn. Dieser Unterschied bestand darin, dass ich mir vorgenommen hatte, diese Route zum letzten Mal zu befahren. Dass ich nie mehr in die verhasste Wohnung in HamburgEidelstedt zurückkehren wollte.
Und doch war ich seither noch zweimal in der Wohnung. Das bereue ich bis heute. Immerhin übernachtete ich nie mehr dort, wo mein Vater wohnte. Nachdem ich abgehauen war, hatte ich nur eine sehr verschwommene Vorstellung davon, wo ich übernachten sollte. Geld, um mir ein Zimmer oder eine Wohnung zu mieten, hatte ich nicht. In den letzten Wochen hatte ich zwar an die vierhundert Mark zusammengespart, die ich beim Zeitungsaustragen verdient hatte, doch dieses Geld wollte ich nur für Lebensmittel ausgeben. Soviel war klar: Aus Geldmangel zurückzukehren kam nicht in Frage. Als erstes fuhr ich zu Stefan, und wir verbrachten den Tag miteinander. Ich übernachtete bei ihm im Auto, denn wir trauten uns nicht, seinen Eltern zu sagen, dass ich von zu Hause weggelaufen war. Am nächsten Tag erzählte ich ihm, ich würde bei einer Freundin schlafen, denn es war klar, dass ich nicht noch länger bei ihm bleiben konnte, wenn seine Eltern nicht misstrauisch werden sollten. Außerdem wollte ich keinesfalls die Abhängigkeit von meinem Vater gegen die Abhängigkeit von Stefan eintauschen. Seine Eltern waren mir sehr sympathisch und nicht im geringsten bedrohlich. Ich verstand mich blendend mit seinem Vater, und er hätte mich sicher sofort aufgenommen. Nur mein Stolz sprach dagegen, aber das war eine Menge. Zurück nach Hause konnte ich schon allein deshalb nicht, weil mein Vater mich dann ohne mit der Wimper zu zucken zu Tode prügeln oder zumindest so stark verdreschen würde, bis ich verletzt und blutend liegen bliebe. Das waren nicht die Horrorvorstellungen eines pubertierenden Mädchens, das war die Realität. Ich kannte meinen Vater gut genug, um zu wissen, dass er sich bei meiner Rückkehr nicht würde zusammenreißen können. 235 Nachdem ich mich von Stefan also unter dem Vorwand verabschiedet hatte, ich würde zu einer Freundin fahren, machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Ich hatte zwar kein konkretes Ziel, aber dafür sehr konkrete Vorstellungen darüber, wohin ich nicht fahren wollte. Trotzdem endete meine kleine Reise nicht im Ungewissen, sondern es ging alles wie von selbst. Auf der Fahrt in mein neues Leben stieg ich automatisch am Jungfernstieg aus, in der Hamburger Innenstadt. Dorthin hatte es mich immer schon gezogen, wenn ich nicht wusste, wohin ich sollte. Hier gab es viele Menschen, die sich nicht darum kümmerten, wie man aussah, wie man dreinschaute und welche Probleme man hatte. Dafür waren hier jede Menge gestrandeter, heimatloser Men schen, die nicht wussten, wo sie dazugehörten. Menschen, die keine Ahnung hatten, wo sie die nächste Nacht verbringen und was sie am nächsten Tag essen sollten. Menschen, zu denen ich nun gehören sollte — zumindest bis auf weiteres, denn immer wollte ich nicht so leben. Das wusste ich schon, bevor ich das erste Mal draußen schlief. Für mich war das nur ein Übergangs Stadium. Ich musste es schaffen, neu anzufangen und auf eigenen Füßen zu stehen. Doch jetzt schlenderte ich erst einmal bestens gelaunt über die Mönckebergstraße, gönnte mir ein riesiges Eis und genoss das Gefühl, niemanden über mir zu haben außer Gott und dem glücklicherweise strahlend blauen Himmel. Ich genoss es, nicht auf die Uhr sehen zu müssen, nicht daran denken zu müssen, wie ich heute abend an meinem Vater vorbei ungesehen in mein Zimmer schlüpfen könnte und was ich mit meinen Schwestern heute abend würde kochen müssen, um ihn zufriedenzustellen. Meine Schwestern! Mich durchzuckte der Gedanke, ob sie sich schon Sorgen um mich machten, aber dann schob ich den Gedanken kurzerhand beiseite: Sie waren zu zweit, meine Schwestern, und sie konnten sich gut gegenseitig helfen. Als die Leuchtschriften der Kaufhäuser und die Schaufenster der Läden langsam heller wurden als der dunkelnde Himmel über der Stadt, wurde meine Laune etwas düsterer. Was nun? Zwar empfand ich keinen Hunger, was wohl an meiner Aufregung darüber lag, was nun geschehen sollte, aber ich hatte eine große Sehnsucht nach einem 236 Zimmer, in dem xch mich in aiier Kühe schlafen iegen konnte. Das sollte es heute abend nicht geben, soviel war klar. Ich ging Richtung Alster, dorthin, wo sich viele Brücken über die unzähligen Kanäle der Stadt spannen. Meiner Vorstellung nach lebten Obdachlose unter Brücken, denn da regnete es nicht, und man konnte ein kleines Feuer machen, ohne von all den Leuten gesehen zu werden, die in ihre gemütlichen kleinen Wohnungen unterwegs waren. Nach einigem Suchen fand ich eine Brücke, unter der schon ein paar Typen lagerten. Sie hatten es sich mit Matratzen, Decken, Stühlen und einer halben Wohnungseinrichtung gemütlich gemacht, die sie in mehreren Einkaufswagen neben ihrem Quartier geparkt hatten. Dazu knisterte ein kleines Lagerfeuer. Unter Brücken Die Männer am Feuer schienen nicht im geringsten überrascht zu sein, als sich eine minderjährige Afrikanerin zu ihnen setzte, und ich gab mir Mühe, so zu tun, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, dass ich abends unter einer Brücke Zuflucht suchte. Niemand fragte, woher ich kam, warum ich hier war und wo ich hinwollte — es war, als würde ich schon seit langem hier wohnen. Man sprach über dies und das, belangloses Zeug, erzählte Anekdoten, machte Witze, und immer wieder boten mir die Männer eine Flasche Schnaps an. Der schmeckte fürchterlich, wärmte mir aber den Magen und zog mich in eine bleierne Müdigkeit hinein. Als ich
mich daranmachen wollte, mich in meine viel zu dünne Decke einzurollen, bot mir einer eine Matratze und ein Kopfkissen an. Ich musste nicht lange in die Flammen starren, bis ich in einer Art bewussdosem Schlaf versank. Was war das für ein herrliches Gefühl, am nächsten Morgen aufzuspringen und bis auf die Bögen der Brücke keine Wand vor mir und keine Decke über mir zu sehen. Es war wunderbar, niemanden etwas fragen und keine Auskünfte erteilen zu müssen, sondern in die nächste Bäckerei zu gehen, ein Croissant und einen Milchkaffee zu bestellen 237 und dann mit der UBahn in die Schule zu fahren. Doch das Leben auf der Straße hatte nicht nur sonnige Tage. Bald begann es zu regnen, und meine Laune sank in den Keller. Meine Kleidung war zwar nicht nass, aber doch so feucht, dass sie sich nicht mehr angenehm anfühlte. Selbst wenn ich mich in ein Lokal setzte und eine Stunde bei einem Glas Tee zubrachte, wurden meine Sachen nicht trocken, sondern nur dampfig, und sobald ich wieder ins Freie trat, waren sie noch unangenehmer zu tragen. Ich begann mir ern sthafte Sorgen zu machen, wie es mit mir weitergehen sollte. Zu allem Uberfluss wurde einer der Kerle unter der Brücke immer zudringlicher. Bloß weil er mir eine Matratze geborgt hatte, glaubte er das Recht zu haben, sie mit mir zu teilen. Ich hätte mir nichts Ekligeres vorstellen können. Auch während meiner Obdachlosigkeit versäumte ich keinen einzigen Schultag. Sobald ich im Klassenzimmer saß, überprüfte ich noch einmal verstohlen meine Kleidung, sah mich sorgfältig um und suchte die Blicke der anderen, doch alles war wie immer, niemand starrte mich an. Erleichtert lehnte ich mich zurück und packte meine Hefte aus. Keine meiner Mitschülerinnen ahnte auch nur im geringsten, wo ich übernachtet hatte. Keine meiner Sitznachbarinnen wusste, dass sie die Schulbank mit einer Obdachlosen teilte. Ich jubelte innerlich, erfüllt von dem Gefühl, ich könnte es schaffen. Ich könnte mich durchsetzen und ein eigenes, neues Leben gestalten. Nach der Schule traf ich meine Schwestern; ich ging seit einiger Zeit auf eine andere Schule als sie. Sie fielen über mich her und bestürmten mich mit Fragen. Vater hatte getobt und ihnen Schläge angedroht, wenn sie ihm nicht sagten, wo ich sei, doch zuletzt hatte er ihnen glauben müssen, dass sie es nicht wussten. Ich verriet ihnen kein Wort. Wenn ich gesagt hätte, dass ich unter der Brücke schlafe, wären sie zu unserem Vater gerannt, und der hätte sofort die Polizei gerufen. Deshalb erzählte ich nur, dass es mir sehr gut gehe, ich sei bei Freunden untergekommen und hätte bald eine eigene Wohnung. Yaldiyan und Tzegehana glaubten mir kein Wort und beschworen mich, nach Hause zurückzukehren, aber ich blieb standhaft. Nach dem Unterricht achtete ich sorgfältig darauf, dass niemand mir folgte. Ich kam mir vor wie die Heldin in einem Großstadtkrimi. 238 Aber ich hatte ihre Hartnäckigkeit unterschätzt: Yaldiyan rief bei Stefans Eltern an und bat Stefans Mutter, mir auszurichten, ich solle nach Hause kommen, weil ich sonst fürchterlichen Ärger bekommen würde. So erfuhren Stefans Eltern von meiner Situation und boten mir an, so lange bei ihnen zu bleiben, wie ich wollte. Sie wollten mir etwas Gutes tun, und ein wenig dachten sie vielleicht auch, wenn ich bei Stefan wohne, würde er nicht dauernd in Clubs und mit seiner Clique rumhängen und vielleicht ein geordneteres Leben beginnen. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nur für wenige Tage, denn bald ging Stefan wieder täglich bis zum frühen Morgen aus. Ich hielt ihn nicht zurück, ging aber in der ersten Zeit nicht mit, weil ich es sonst am nächsten Tag nicht pünktlich in die Schule geschafft hätte. Später ließ ich mich von ihm anstecken, und wir zogen gemeinsam um die Häuser. Grundsätzlich machte es mir aber nichts aus, alleine zu Hause zu bleiben. Ich genoss nach Herzenslust die Annehmlichkeiten einer Toilette, eines Badezimmers und eines weichen, warmen und trockenen Betts. All diese wunderbaren Dinge weiß man nur dann aus tiefstem Herzen zu schätzen, wenn man sie für ein paar Wochen vermissen musste. Prügel Doch die flauschige Idylle war nicht von Dauer. Genau nach drei Monaten Beziehung schlug Stefan mich zum ersten Mal. Ich war nicht überrascht, schließlich kannte ich das von zu Hause. Ab diesem Moment war ein Damm gebrochen. Es war, als hätte Stefan mich schon immer schlagen wollen und wäre bislang nur durch eine unerklärliche Scheu davon abgehalten worden. Eine Scheu, die er durchbrechen konnte wie ein Stausee seinen Damm, der ihn so lange zurückgehalten hatte. Es geschah im Sommer, als wir mit mehr als einem Dutzend Leute an der Ostsee waren und auf dem Strand Party machten. Aus einem unwichtigen Gund gerieten Stefan und ich uns so stark in die Haare, dass 239 wir schnell im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen. Halb im Ernst, halb im Scherz erhob er vor allen Leuten die Hand gegen mich, als würde er jeden Moment losprügeln. Aus der Drohung wurde Ernst. Erst traf mich ein Schlag, dann noch einer. Da verlor auch ich die Beherrschung und schrie: »Schlag nur! Du bist wie mein Vater. Fehlt nur noch, dass du mein Blut sehen willst!« Unsere Streitigkeiten drehten sich oft um Belanglosigkeiten und nur manchmal um Grundsätzliches. Er schlug mich, und ich wehrte mich nach Kräften, biss und kratzte ihn und fügte ihm die eine oder andere Wunde zu.
Manchmal sah ich zuerst, dass mein Hemd blutig war, bevor ich etwas von den Schlägen spürte. Er drehte durch, weil er an mich heranwollte, doch ich war hinter einer mehrfachen Schutzschicht verborgen, hinter der ich weder Schmerz noch Lust empfand. Ich steckte tief in den Niederungen meiner Vergangenheit, schweigsam, kalt, unbeweglich und unempfänglich für neue Reize. Manchmal wurde mir diese innere Lähmung selbst zuviel. Dann nahm ich, wenn ich alleine war, ein Messer zur Hand und ritzte mir damit die Beine auf, um mich fühlen zu können. Als Stefan mich bei einem Streit in seiner Ferienwohnung an der Ostsee so heftig schlug, dass mir das Blut aus der Nase lief und mir die Ohren dröhnten, bekam ich es mit der Angst zu tun und rannte hinüber zum Haus seiner Eltern, instinktiv, ohne zu überlegen. Ich wollte Stefan nicht anschwärzen, ich wollte mich bloß in Sicherheit bringen. Stefans Vater erkannte sofort, was vorgefallen war. Gleich lief er hinüber in Stefans Wohnung und stellte seinen Sohn zur Rede. Der Vater mochte mich gut leiden, und er wusste, dass sein Sohn jähzornig und unbeherrscht war. »Guck dir das mal an!« brüllte er Stefan an und wies auf mein blutverschmiertes Gesicht. »Bist du denn völlig verrückt geworden? Wie kannst du es wagen, sie zu verprügeln?« Er war außer sich. Stefan tat betreten und wusste nicht, was er sagen sollte. Er saß wie ein kleiner Junge auf seinem Bett und starrte vor sich hin, als wollte er versteinern, bis die Strafpredigt vorüber war. Er sah so nach begossenem Pudel aus, dass er mir schon wieder leid tat. Ich war nicht unschuldig an seiner Wut — oft provozierte ich ihn, 240 ließ mir nichts sagv.^ wdcr log ihn an. ich hatte von Antang an gelogen. Ich log über mich. Ich log ihn an, weil ich mich für mich selbst schämte, für meine Herkunft, für meine Familie, für meinen Vater, für mein Schicksal. Am Anfang unserer Beziehung sah ich nur Stefans scheinbar so perfektes Elternhaus und dagegen mein desolates Elternhaus. Doch selbst das ist schon zuviel gesagt, denn ich habe kein Elternhaus. Ich hatte keine Geborgenheit, keine Sicherheiten, keine Verwandten, die mir helfen konnten. Alles, was ich hatte, war ich selbst. Gegen den Willen Stefans und vor allem gegen den Willen seiner Eltern verließ ich das Haus und ging nach anderthalb Jahren wieder auf die Straße. Ein Freund Als ich damals unter der Brücke geschlafen hatte, hatte ich einen sehr netten Typen kennengelernt, einen, der nicht soff, sondern bloß rauchte und stumm und melancholisch in die Gegend guckte. Er hatte mir seine gesamte Lebensgeschichte erzählt: Er stammte aus gutem Hause, hatte Jura studiert und zuletzt als Richter gearbeitet, bis er wegen seiner Arbeit, die er als sinnlos empfand, und seiner Beziehung, die ihn nicht erfüllte, Depressionen bekam. Weil er im Gericht immer wieder fehlte, wurde er mehrmals abgemahnt und schließlich endassen. Daraufhin verließ ihn seine Frau, ließ sich scheiden und verklagte ihn auf Unterhalt. Ihr wurde viel Geld zugesprochen, er musste die Wohnung verkaufen und hatte nicht die Kraft, sich nach einer neuen Bleibe oder nach einem neuen Job umzusehen. So war er unter der Brücke gelandet. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie jemand aus sicheren Verhältnissen so schnell und so tief fallen konnte, aber ich verstand ihn völlig. Ich fand es ehrlicher, so zu leben, als in einem schönen Haus und mit einem gutbezahlten Job, aber in einer großen Lüge. Wir freundeten uns auf der Stelle an. Er war der erste Mensch, dem ich meine Geschichte erzählte. 241 Jetzt erinnerte ich mich daran, was er gesagt hatte, als er eines Abends ein ernstes Wort mit mir sprach: »Senait, du gehörst nicht hierher!« begann er. »Du hast dein Leben noch vor dir, du bist klug, du bist schön, du kannst es zu etwas bringen — aber nicht, wenn du deine Tage mit Typen wie mir verbringst. Du schaffst nichts, wenn du weiter auf der Straße lebst.« Ich musste schlucken. Bisher hatte sich der Richter Andeutungen in diese Richtung verkniffen, weil er froh war, mich als Wohngenossin gefunden zu haben. Mir war klar, dass es auf Dauer nicht so weitergehen konnte. Spätestens wenn der Sommer zur Neige ging, musste ich mir etwas einfallen lassen, denn ich war keine der Harten, die selbst im Winter draußen blieben. In Afrika, wo es im Winter nicht kälter wird als zehn Grad, wäre das gegangen, aber nicht im Hamburger Schmuddelwetter. »Senait«, fuhr der Richter mit ernster Stimme fort, »du wirst hier verlieren. Du musst etwas ändern, und du kannst das. Geh zum Jugendamt und erzähl den Leuten dort, wo du lebst und wie es dazu kam, dann kriegst du sofort eine Wohnung. Ganz sicher, ich weiß das.« Diesen Ratschlag befolgte ich nun. Alles funktionierte genau so, wie er es vorhergesagt hatte: Ich bekam sofort eine Wohnung zugewiesen, so dass ich schon am nächsten Tag meine wenigen Sachen packen konnte und in eine Art Jugendheim zog. Das war keine geschlossene Einrichtung, sondern ein normales Hochhaus mit normalen, wenn auch sehr kleinen Wohnungen darin, die jeweils aus Küche, Bad und zwei kleinen Zimmern bestanden. Hier lebten immer zwei Leute. Jeder musste seinen eigenen Haushalt führen, und Sozialarbeiter, die dort angestellt waren, kontrollierten das. Wer alles verkommen ließ oder immer nur zu Hause rumhing, ohne zur Schule zu gehen oder zu arbeiten, der wurde zwar nicht auf die Straße gesetzt, aber er bekam kein Taschengeld.
Für die meisten war das eine schmerzliche Strafe. Als ich zum ersten Mal in meinem Leben in meinem eigenen Zimmer auf meinem eigenen Bett saß, musste ich mein Glück sofort mit jemandem teilen. Also rief ich meine Schwestern an, gab ihnen voller Stolz meine neue Adresse und erzählte ihnen, in was für einer tollen Wohnung ich jetzt lebte. Was für eine dumme Idee! Schon am nächsten 242 Tag rief mich meia Vairi an. rr«bte und schrie wie du Geibieskranker und befahl mir, sofort nach Hause zu kommen. Die Sozialarbeiterin, mit der ich bei meinem Einzug gesprochen hatte, hatte mich schon auf ein ähnliches Gespräch vorbereitet — viele Eltern, die ihre Kinder prügeln, rufen an oder kommen vorbei, um ihre Kinder zurückzuholen. Ich versuchte meinem Vater genau das zu sagen, was mir die Sozialarbeiterin empfohlen hatte: dass ich hier gut untergebracht wäre, dass alles ganz legal sei, dass der Staat jetzt für mich sorgen würde und dass ich aus freiem Willen gehandelt hätte. Mein Vater ließ mich aber kaum zu Wort kommen. Er brüllte einfach weiter, so dass mir nichts anderes einfiel, als aufzulegen. Er rief dann noch ein paarmal an, um mich zur Rückkehr zu bewegen, doch erfolglos — ich blieb hart. Nach ein paar Wochen ließ er die Anrufe bleiben. Vielleicht dachte er selbst auch ein wenig, dass es nicht so schlecht war, wenn ich nicht mehr bei ihm wohnte. Was mich erstaunte, war die Tatsache, dass er nie versuchte, sich Zutritt zum Wohnheim oder zu meiner Wohnung zu verschaffen. Sollte er etwa Respekt vor den deutschen Sozialbehörden haben? Oder hatte er Angst, durch unpassende Auftritte seine eigenen Sozialunterstützungen zu verlieren, von denen er größtenteils lebte? Unrecht Alles in allem hatte ich es mit dem Heim gut getroffen. Es gab nur eine kleine Enttäuschung, als ich am Tag nach dem Einzug erfuhr, dass ich mein erstes Taschengeld nicht sofort bekam, sondern erst ein paar Wochen später. Das riss ein tiefes Loch in meine Finanzplanung, von dem ich nicht wusste, wie ich es stopfen sollte. Nach ein paar Tagen im Heim war mir klar, warum das so geregelt war: Die meisten im Hochhaus waren Asoziale, Drogensüchtige und Kleinkriminelle. Sie hatten höchstens Hauptschulabschluss, klauten regelmäßig bei Aldi, bettelten vor der UBahn und nützten jede Gelegenheit, um einander oder die Heimleitung übers Ohr zu hauen. Da 243 war es klar, dass sie nicht gleich beim Einzug Geld bekamen, sonst wären sie sofort wieder weg gewesen. Mein Geld war alle. Als ich den letzten Zehnmarkschein in der Tasche hatte, begann sich ein flaues Gefühl in meiner Magengrube auszubreiten, denn selbständig zu leben war eines und Betteln war etwas anderes. Ich wollte gar nicht erst damit beginnen, weil ich wusste, dass es mir nicht lag, mit gesenktem Kopf demütig vor einem Kaufhaus zu sitzen und darauf zu warten, dass sich einer von tausend Passanten erbarmt und eine Mark springen ließ. Klauen wollte ich auch nicht, immerhin hatte mir der Richter in lebendigen Farben vom Jugendstrafvollzug und allen damit zusammenhängenden Grausamkeiten erzählt. Ich wollte arbeiten gehen, aber da ich nicht sofort einen Job finden und mir niemand einen Vorschuss geben würde, brauchte ich noch mal für ein paar Wochen Geld. Bis jetzt hatte ich mich noch nicht nach einem Job umsehen können, denn bei jeder noch so winzig bezahlten Aushilfsarbeit musste man eine Adresse oder zumindest eine Telefonnummer angeben, und ich hatte weder das eine noch das andere. Den Richter anzupumpen kam für mich nicht in Frage. Erstens hatte er selbst kaum Geld, und zweitens wäre es mit meinem Stolz unvereinbar gewesen, ihn um eine finanzielle Unterstützung zu bitten. Ich sah uns als gleichberechtigte Freunde und wollte in keine Abhängigkeit kommen. Das galt auch für Stefan, zu dem ich wieder losen Kontakt hatte. Meine Mitbewohnerin um Geld zu bitten war ganz unmöglich, denn sie hatte noch weniger Geld als ich. Sie war nicht nur blank, sie hatte jede Menge Schulden. In meiner Not fiel mir nichts anderes ein, als meine Schwestern anzupumpen. Der Entschluss fiel mir nicht leicht, und ich musste mir einen heftigen Ruck geben, um in die UBahn nach Eidelstedt einzusteigen — in der Schule und vor unseren Freundinnen und Schulkolleginnen hätte ich es nie über mich gebracht, die beiden wegen des Geldes anzusprechen. Den Schlüssel zur Wohnung hatte ich noch, doch bis jetzt war ich kein einziges Mal der Versuchung nachgekommen, dorthin zu fahren, um mich zu duschen, ein Bad zu nehmen, mir den Bauch vollzuschlagen oder mich tagsüber in ein weiches Bett zu legen. 244 Ich machte rni^h zu einer Zeit auf den Weg, zu der ich sicher sein konnte, dass mein Vater nicht da war. Nachmittags war er immer unterwegs. Trotzdem zitterten meine Hände, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte. Mein Herz schlug bis in den Kopf hinauf, als ich die Wohnung betrat, doch es war nur Yaldiyan zu Hause. Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich sah, dass sich in meinem Zimmer nichts verändert hatte: Das Bett war gemacht, unberührt und genau so, wie ich es verlassen hatte. Alles stand auf seinem Platz, als hätte es auf meine Rückkehr gewartet. Wie gelähmt stand ich an der Schwelle zu meinem Zimmer, unfähig, einen Schritt vor oder zurück zu machen. Die letzten Wochen rasten wie im Zeitraffer durch meinen Kopf, all die Bilder von Stefan und von der Brücke
und von dem Richter und den anderen Pennern, bis plötzlich ein Ruck durch mich ging: Geld! Ich brauchte Geld! Yaldiyan hatte Geld, aber ich wagte nicht, sie darum zu bitten. In einem unbeobachteten Moment fuhr ich kurz unter ihre Matratze und fand, wonach ich suchte: ihr Sparbuch. Ich wusste, dass das, was ich im Begriff war zu tun, Unrecht war. Ich wusste, dass es eine Gemeinheit und eine Sünde war, seine eigene Schwester zu bestehlen, doch es ging nicht anders. Ich nahm mir fest vor, ihr das Geld bei der erstbesten Gelegenheit zurückzugeben. Ein Blick auf den Kontostand: viertausend Mark. Beruhigt steckte ich das Büchlein ein und machte, dass ich fortkam. Ich ging unverzüglich zur nächsten Sparkasse, weil ich fürchtete, dass meine Schwester ihr Konto sperren lassen könnte, wenn sie den Verlust bemerkte, und hob siebenhundert Mark ab. Es war ein beruhigendes Gefühl, mit einem prallen Packen Geld unterwegs zu sein! Im Hintergrund bohrte leise das unangenehme Wissen, dass ich mir das Geld unrechtmäßig verschafft hatte, dass es mir nicht zustand, denn immerhin hatte sich Yaldiyan dieses Geld durch schlechtbezahlte Jobs selbst verdient. Zwei Tage später rief mich Yaldiyan in meiner Wohnung an. Es durchzuckte mich heiß, als ich ihre Stimme am Telefon hörte. Yaldiyan redete nicht groß um den heißen Brei herum, sondern fragte mich 245 direkt, ob ich ihr Sparbuch habe. Ich schluckte und log dreist: »Wie kommst du denn auf die Idee? Ich würde doch nie ...!« Ich weiß nicht, ob sie mir glaubte, aber sie unternahm nichts, denn sonst hätte ich sofort Schwierigkeiten bekommen. Schon wenige Tage später trieb mich mein schlechtes Gewissen, noch einmal heimlich in die Wohnung meines Vaters zu gehen und das Sparbuch wieder an seinen Platz zu legen. Zwar hatte ich nicht noch mehr abgehoben, aber ich hatte die fehlenden siebenhundert Mark auch nicht ersetzt, von denen ich nur noch einen kleinen Rest hatte. Mir war klar, dass sie von diesem Tag an wissen musste, dass ich das Geld genommen hatte, denn niemand sonst besaß noch einen Schlüssel zu unserer Wohnung, und außer mir wusste niemand, wo sie ihr Sparbuch aufhob — mit Ausnahme von Tzegehana, doch die kam als Diebin an ihrer Schwester nicht in Frage. Ich wusste, dass Yaldiyan mich durchschaut hatte, aber sie sagte nichts. Sie meldete sich nicht mehr bei mir, sie stellte mich nicht zur Rede, sie sagte nichts zu unserem Vater. Ich habe ihr meinen Diebstahl bis zum heutigen Tag nicht gestanden. Jedesmal wenn ich einen Anlauf dazu nahm, brachte ich zuletzt doch nicht den Mut auf, davon anzufangen. Ich fand nicht den richtigen ersten Satz. In ihren Augen las ich: »Okay, dieses eine Mal ist es gut, aber mach das nie wieder.« So war es — einmal und nie wieder. Yaldiyan möge mir verzeihen! Mein eigenes Leben Sobald ich in der neuen Wohnung Fuß gefasst hatte, war ich nicht mehr zu stoppen. Hier war ich sicher, hier durfte ich tun und lassen, was ich wollte, und von hier aus konnte ich endlich das starten, von dem ich schon immer geträumt hatte: mein eigenes Leben! Ich ließ mich von der Herumhängerstimmung, die rund um mich herrschte, nicht anstecken. Die vielen Versager, die sich hier angesammelt hatten, spornten mich eher dazu an, noch mehr zu geben, weil 246 icb täglich sah, wohin <^ fuiiten konnte, wenn ich genausowenig tun würde wie all die anderen hier. Fathma, damals meine beste Freundin in diesem Heim, und ich waren die einzigen, die aufs Gymnasium gingen. Wir paukten täglich wie die Verrückten und brachten dafür auch gute Noten nach Hause. Ich begann, neben der Schule Geld zu verdienen. Zuerst bekam ich nur Jobs als Zeitungsausträgerin oder bei McDonald's, aber dann gelang es mir, über die Anzeige einer Agentur an kleine Modelverträge zu kommen. Das war zwar Fließbandarbeit pur, ein Badekostüm nach dem anderen für Versandhauskataloge und Werbeprospekte, doch es brachte mir unfassbar viel Geld ein: tausend bis zwölfhundert Mark pro Tag. Noch wenige Wochen vorher hatte ich im ganzen Monat nicht soviel verdient. Das war für mich kein Grund zu jubeln, aber es gab mir die große Befriedigung, auf eigenen Beinen stehen zu können. Bald war ich in der Lage, meinen Lebensunterhalt selbst zu bezahlen, nur für die Unterkunft im Heim oder eine eigene Wohnung reichte es noch nicht. Aber immerhin leistete ich mir sogar Kabelfernsehen, ein absoluter Luxus, den niemand sonst im Heim hatte. Oft quetschten sich ein halbes Dutzend Leute in mein Zimmer, um eine Show oder einen bestimmten Film zu sehen. Das fand ich zwar ein bisschen nervig, aber gleichzeitig genoss ich es sehr: Jetzt musste ich niemanden mehr um etwas bitten, die anderen mussten zu mir kommen, wenn sie etwas wollten. Ich blieb nicht auf meinem Geld sitzen, sondern fing etwas Sinnvolles damit an: Ich schickte mehreren afrikanischen Patenkindern regelmäßig Geld, unterstützte die Bahnhofsmission, die mir oft geholfen hatte, als ich auf der Straße lag, und kümmerte mich um den Richter, der immer noch unter der Brücke lebte. Bevor ich als Model arbeitete, hatte ich lange Zeit in einer Bäckerei gearbeitet und ihm täglich frische Brötchen gebracht, die nach Ladenschluss übrigblieben und sonst weggeworfen worden wären. Insgesamt war ich zwei Jahre im Jugendheim, und wie nebenher startete ich in dieser Zeit auch noch meine
Musikerkarriere. Nachträglich habe ich mich oft gefragt, woher ich die Kraft und die Zeit nahm, 247 all das gleichzeitig zu tun: in die Schule gehen, lernen, arbeiten, anderen helfen und auch noch Musik machen. Ich hatte mir endlich ein funktionierendes Keyboard gekauft, einen CDSpieler und viele CDs. Ich hörte eine Menge Musik, alles durcheinander, wie es mir gefiel, ging zu vielen Konzerten und in Clubs, um zu hören, was gespielt wird. Außerdem lief bei mir ständig das Radio — beim Lernen, beim Hausaufgabenmachen, manchmal sogar während ich schlief. Im Fernsehen sah ich vor allem die Musikkanäle, sog alle aktuellen Videoclips ein und hatte bald ein Bild davon, was in der Musikbranche zur Zeit abging. Die meisten Hits basierten auf ein paar Akkorden, einem simplen Rhythmus und einem Text, in dem die Themen Liebe und Verlassenwerden auf nicht sonderlich originelle Weise variiert wurden. Nach ein paar Monaten intensiven ChartStudiums beschloss ich, das müsste auch für mich zu schaffen sein. Ich setzte mich ans Keyboard und probierte herum. Erst sang ich auf tigrinya, dann auf deutsch, dann doch lieber auf englisch. Schließlich beschloss ich, es zu wagen. Durch Leute, die ich in den Clubs kennengelernt hatte, kam ich in Kontakt zu jungen Studiomusikern. Einer sagte, er kenne jemanden von einer Plattenfirma, allerdings stellte sich schnell heraus, dass er nicht viel mehr kannte als dessen Visitenkarte. Ein anderer konnte uns in ein halbprofessionelles Tonstudio einschleusen. Hier nahm ich mit den beiden Musikern, schon wenige Tage nachdem ich sie überhaupt kennengelernt hatte, ein paar Songs auf. Mit den beiden versuchte ich mich auch als LiveSängerin: Wir hatten ein paar kleine Auftritte bei Geburtstagsfesten und in Clubs, doch das war es nicht, was ich wollte. Mein Traum war, eine eigene CD aufzunehmen. Also sandten wir die Bänder an die Adresse auf der Visitenkarte, doch es passierte nichts oder zumindest nicht viel, außer dass sie ohne Kommentar zurückkamen. Nur ein knappes Jahr später klappte es doch noch: Wir bekamen eine Single vorfinanziert, ein paar tausend Stück nur, doch das Ding war auf dem Markt. Es war ein totaler Flop, der sich bloß ein paar hundert Mal verkaufte, vermutlich an die Freunde und Kollegen der Musiker — der Rest landete auf Wühltischen und im Müll. Trotzdem passierte ein Wunder: Auf verschlungenen Wegen 248 landete d'^ Single in isuJ^ore^ und wurde dort zwei j^re später zum NummereinsHit. Eben noch ein Straßenkind und gerade mal sechzehn Jahre alt, hatte ich eine Single auf dem Markt, die die Hitparade in Korea anführte. In Deutschland bekommt man bei hundertfünfzigtausend verkauften Singles eine Goldene Schallplatte, in Korea bei einem Bruchteil davon. Das ist also kein großes Ding, doch für mich war es das Größte, eine Sensation, ein unfassbares Glück. Ich war dort angekommen, wohin ich mich vor kurzer Zeit noch nicht mal zu träumen gewagt hätte: Ich machte Musik, die mir gefiel, wurde respektiert, hatte eine Menge Spaß, und ein wenig Geld sprang auch noch dabei heraus! Als ich nach Korea fliegen sollte, um dort ein paar Konzerte zu geben, meine Platte zu promoten und mich den Begeisterungsstürmen der Koreaner zu stellen, wäre kein Flugzeug nötig gewesen, um mich dorthin zu bringen, denn ich schwebte auch so. Der Beginn meiner Karriere als Musikerin zählt zu den glücklichsten und schönsten Episoden meines Lebens. Feuerherz Bei allem Glück vergaß ich nicht den Menschen, der mir entscheidend dabei geholfen hatte, dorthin zu kommen, wo ich war. Er hatte mir zu einer Zeit gesagt, dass ich etwas wert bin und es zu etwas bringen würde, zu der das außer ihm niemand geglaubt hättte, mich selbst eingeschlossen: der Richter unter der Brücke. Nach meiner Rückkehr aus Korea wollte ich ihn besuchen, um ihm von meiner Reise zu erzählen, doch als ich zum Kanal hinuntergestiegen war, fand ich unseren alten Platz leer. Nicht nur der Richter war weg, sondern auch alle seine Sachen, die Matratzen, die Stühle, die Decken, die Kisten. Ich suchte die Ufer in der Umgebung ab, die Schlafplätze unter den Brücken, wo wir manchmal andere Penner besucht hatten, doch nirgendwo war etwas zu entdecken außer leeren Coladosen und gebrauchten Kondomen — und beides konnte unmöglich vom Richter stammen. 249 Panik erfasste mich — sollte meinem Freund etwas zugestoßen sein? Aufgeregt rannte ich wieder zur Straße hinauf und sah mich um. Auf der anderen Straßenseite stand das Luxushotel, vor dem wir beide oft über die nobel angezogenen Gäste gelästert hatten, über ihr lächerliches Benehmen und darüber, wie kurz der Weg war vom FünfSterneHotel zum Platz unter der Brücke. Dabei waren wir mit den Portiers ins Gespräch gekommen, die uns manchmal ein paar Mark zugesteckt hatten. Einer von ihnen stand in seiner grotesken Uniform vor der Drehtür. Ich lief zu ihm, aber weil andere Angestellte des Hotels in der Nähe waren, tat er, als würde er mich nicht kennen und nicht wissen, von wem ich spreche. »Wir haben alle Penner vertrieben«, sagte er knapp und förmlich, »zusammen mit der Polizei. Die dürfen hier nicht mehr wohnen, das stört die Gäste.« Er hatte keine Ahnung, wo die »Penner« geblieben waren. Ich war fassungslos und brüllte ihn an: »Das sind keine Penner! Du hast keine Ahnung, du Scheißportier! Du trägst hier die Koffer, hast nur einen Hauptschulabschluss, und der ist ein Richter.« Der Portier ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und schnippte nur mal kurz mit den Fingern. Prompt eilten zwei Pagen herbei und zerrten mich weg. Ich stritt mich mit ihnen herum, aber das brachte mich auch nicht weiter. Betrübt machte ich mich
wieder auf die Suche. Mein Paket für den Richter, das ich die ganze Zeit mit mir geschleppt hatte ein paar Stück Kuchen und etwas Obst — kam mir reichlich sinnlos vor. Ich suchte noch den ganzen restlichen Tag nach dem Richter, ging zur Bahnhofsmission und fragte Obdachlose, die ich von der Mönckebergstraße her kannte. Ich sprach alle Penner an, die ich finden konnte, aber niemand wusste etwas. Abends war ich mit zwei Freundinnen verabredet, denen ich die Geschichte brühwarm erzählte, noch aufgeregt und voller Emotionen. Sie stierten mich fassungslos an. Sie konnten nicht verstehen, dass ich jetzt, wo ich erfolgreich war und auf eigenen Füßen stand, immer noch an den Kumpels von früher hing, an Freunden von der Straße. »Senait«, sagte Mariam, »du hast ein gutes Herz, ich kann das kaum fassen.« 250 •>Nee«, sagie ich »ich ^ c kein gutes Herz, da täuschst du dich.« Ich sagte das nicht aus falscher Bescheidenheit oder weil es sich so gehörte, ich empfand mich wirklich nicht so. Ich sah mich, wie ich durch das Zimmer meiner Schwester geschlichen war, um sie um ein paar hundert Mark zu erleichtern. Ich sah, wie ich mit ihr gekämpft, sie zu Boden geschleudert hatte. Ich sah mich, wie ich Stefan belog. Ich sah mich schießen, damals im Krieg. Ich sah mich zusammen mit meinem Vater unsere Nachbarn ärgern, sah mich, wie ich Onkel Haue hintergangen hatte, um mich ohne sein Wissen auf den Straßen Khartums herumzutreiben. »Du kennst mich nicht«, sagte ich zu Mariam, »mein Herz ist nicht gut, aber es brennt, manchmal lichterloh.« Ich war zwar nicht immer von Herzen gut, aber dafür nie gleichgültig, sondern mit meinen Gefühlen immer voll bei der Sache. Manchmal so sehr, dass mich diese Gefühle fast verbrannt hätten. »Vielleicht habe ich ein Feuerherz«, sagte ich. An dem ratlosen Blick, den meine Freundinnen tauschten, erkannte ich, dass sie mit meinem Vergleich nichts anfangen konnten. Rasch wechselte ich das Thema, bevor ich noch mehr von meinem Innersten preisgab. Wir sprachen über die neuesten Boygroups und über das beliebte Thema »Wer mit wem?« und wohin wir heute abend tanzen gehen sollten. Aber ein bisschen gut war es doch, mein Feuerherz. Meinen afrikanischen Patenkindern habe ich bis heute die Treue gehalten, manche von ihnen sind inzwischen schon zu Jugendlichen herangewachsen. Vor Weihnachten lud ich immer ein paar Einkaufswagen voll mit Leckereien, mit Obst, fertig Gekochtem und Zigaretten. Damit fuhr ich die Mönckebergstraße rauf und runter und verteilte das als Geschenke an die Obdachlosen. Bald kannten mich alle. »Senait!« riefen sie schon von weitem, wenn sie mich sahen. Ich machte das, weil ich nie vergessen konnte, wie mir viele von ihnen in jener Zeit geholfen hatten, als ich selber nichts hatte. Insgeheim hoffte ich, auf einer meiner Weihnachtstouren den Richter zu treffen, doch ich bekam ihn nie wieder zu Gesicht. Einmal fragte ich Mariam, meine beste Freundin, ob sie mitkommen wolle auf die Mönckebergstraße, um mir beim Verteilen zu helfen. Ich 251 teilte damals vieles mit ihr, warum also nicht auch diese glückbringenden Momente? Aber Mariam wollte nicht mitgehen, sie schützte eine andere Verabredung vor. Von anderen Freundinnen erfuhr ich später, dass sie oft über meine karitative Ader gelästert hatte, über meine »PennerMacke« und über meine Persönlichkeit. Unsere Freundschaft kühlte danach rasch ab, und bald verlor ich den Kontakt zu ihr. Jahre später traf ich Mariam zufällig in einem Club wieder. Sie wollte mich erst nicht erkennen, doch als ich sie freundlich grüßte, konnte sie nicht aus. Sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. »Senait, ich habe schlecht über dich geredet«, gab sie sich schuldbewusst. »Ich weiß«, winkte ich sofort ab, denn mir lag alles ferner, als mich für Dinge zu rächen, die längst Geschichte waren, »ich verstehe nur eines nicht: Ich hab dir mein Leben gezeigt, du warst jeden Tag bei mir in der Wohnung, ich habe dir immer zugehört, wir waren lange ein Herz und eine Seele — warum das alles?« Ich war froh, es aussprechen zu können, denn diese Frage hatte mich die letzten Jahre immer wieder gequält. Mariam suchte lange nach Worten. Dann sagte sie: »Ich war neidisch auf dich. Du hattest deine eigene Wohnung, du warst mir einfach zuviel. Du hast über allen Dingen gestanden, das war mir zu heftig.« »Wir waren Freundinnen! Warum hast du nie mit mir geredet?« fragte ich. Heulend fielen wir uns in die Arme, und alles war wieder okay. Es war wie meistens bei mir: Ich habe keine Lust zu hassen oder jemanden grundschlecht zu finden. Ich möchte nur den Grund wissen, wenn mir einer blöd kommt und nicht sagt, warum. Ich finde fast immer heraus, was los ist. Ich habe keine Lust, so zu tun, als wäre nichts, und einfach zu schlucken, was andere mir servieren. Ich kann das nicht. Ich habe keinen Platz dafür. Ich kann nichts in mich reinfressen. Das war die erste Selbsterkenntnis, die ich gewann, nachdem ich auf eigenen Beinen zu stehen gelernt hatte in Hamburg — mit meinem eigenen Geld, meinem eigenen Job, meiner eigenen Wohnung, meinen eigenen Freunden: Ich will nichts mehr in mich reinfressen, nichts mehr runterschlucken. Ich hatte in meinem Leben schon viel ein 252 stecken müssen, if~h hatte so vieles hinunterwürgeii müssen, dass ich keine Kraft mehr dazu hatte. Weder Kraft noch Zeit, um genau zu sein, denn ich war rund um die Uhr beschäftigt, ich rotierte wie ein Brummkreisel, der
alles Negative, was mir die Menschen oder meine Umgebung andienen wollten, von sich schleuderte. Damals dachte ich, dass dieser Zustand immer anhalten könnte, doch damit hatte ich mich schwer getäuscht. Erwachsenwerden Seltsamerweise kam mir in der ersten Zeit, nachdem ich von zu Hause ausgerissen war, vieles leichter vor als in den Jahren danach. Ich war mit einem Optimismus ins Leben gestartet, der mir rückblickend fast verwegen vorkam. Tatsächlich klappte bei mir vieles auf Anhieb: die erste Wohnung, Jobs, das Modeln, die erste CD, der Hit in Korea, viele Freundschaften. Es klappte viel mehr, als sich ein sechzehnjähriges Mädchen erwarten darf. Vielleicht hatte ich deshalb die steinigen Klippen unterschätzt, die den Weg jedes Menschen von der Kindheit und Jugend zum Erwachsenenleben versperren. Meine über weite Strecken düstere Vergangenheit konnte ich nicht mit einem Schlag wegwischen. Bis heute kann ich das nicht, ich will es auch nicht mehr. Damals hätte ich gerne die Schatten dieser Vergangenheit gebannt, mich ihnen nicht so ausgeliefert, doch das war mir nicht möglich. Oft ragten sie in meine sonnigsten Tage hinein: Beim Einkaufen im Supermarkt sah ich plötzlich uns Hungerkinder bei der Jebha vor mir. Als ich gerade im Halbdunkel der UBahn wegdämmern wollte, schrak ich hoch, weil ich mich mit meinen Kameraden in einem Lkw durch die nächdiche Wüste rasen sah, von den Granatwerfern der Feinde verfolgt. Im Treppenhaus des Jugendwohnheims spürte ich hinter jeder Ecke Waffengewalt, schwerbewaffnete Schützen und Ausbilder, die mich zum Schießplatz prügeln wollten und mich verfolgten, bis ich endlich schweißgebadet die Wohnungstür hinter mir zuziehen konnte. 253 Am schlimmsten war es während der Nächte. Ohne laufenden Fernseher wagte ich mich nicht ins Bett zu legen — bis heute nicht. Ich brauchte die Bilder, das Licht, die Bewegungen, um nicht in ein schwarzes Loch zu fallen und vom Strudel der Erinnerungen in die Tiefe gerissen zu werden. Oft lag ich stundenlang wach und starrte auf den Fernsehschirm, um die Erinnerungen nicht aufsteigen zu lassen. Ich war todmüde, doch erst wenn mein Kopf mit neuen Bildern vollgestopft war, die ich aus dem Fernseher gesogen hatte, konnte ich einschlafen. Erst dann konnte ich hoffen, dass die bunten Bildchen der Videoclips und Soaps und Werbesendungen die düsteren Bilder der Vergangenheit zumindest für diese Nacht verdrängt hatten. Doch nicht nur die Bilder, auch die realen Menschen aus meiner Vergangenheit wollten mich nicht so ohne weiteres ziehen lassen: Mein Vater ließ nichts unversucht, um mich zurück in seinen Machtkreis zu befehlen. Mal rief er mich an, mal ließ er mir über Freunde oder meine Schwestern ausrichten, dass er mit meiner neuen Selbständigkeit alles andere als zufrieden war. Er fürchte, ich würde auf die schiefe Bahn geraten: Drogen, Alkohol, Prostitution — die gesamte Bandbreite. Immer wieder versuchten meine Schwestern, zu mir Kontakt aufzunehmen und mich zu beeinflussen. Sie hätten es gern gesehen, wenn ich zurückgekommen wäre. Es war eine paradoxe Situation: Einerseits litten sie unter unserem Vater und wären gern selbst seinem Dunstkreis entflohen, andererseits litten sie darunter, dass ich es geschafft hatte, mir ein eigenes Leben aufzubauen. Paradox auch, dass unser Vater versuchte, mich über meine Schwestern zu beeinflussen, ihnen aber zugleich strengstens jeden Kontakt mit mir verbot. Immer wieder malte er ihnen aus, wie schlecht ich wäre und was ich alles ausgefressen hätte — bis Yaldiyan und Tzegehana ihm zu glauben begannen und von sich aus den Umgang mit mir mieden. Nur mein Onkel Haue bestärkte mich. Nachdem ich von zu Hause weg war, sprachen wir ein paarmal am Telefon miteinander. »Ich habe gehört, du wohnst alleine«, sagte er. »Ja«, gab ich zu. Ich hatte ihm von meinem Ausreißen nichts erzählt, aus Angst, ich könnte ihn verletzen, aber jetzt, da er alles wusste, 254 hcschloss ich, frei zu .p'ciuen. »Zwischen meinem Vater und mir ist zuviel passiert«, sagte ich. Haile reagierte wie immer souverän und gelassen. Er meinte nur: »Ich will mich nicht einmischen, du musst wissen, was du getan hast und was du tun willst. Du bist erwachsen, du bist eine Frau.« Das fand ich so toll, so weise, dass ich am Telefon fast in Tränen ausgebrochen wäre. Endlich hielt mich jemand für zurechnungsfähig und wollte mir nichts am Zeug flicken, sondern wünschte mir aus tiefstem Herzen alles Gute für mein weiteres Leben. Dieses Leben erkämpfte ich mir mit aller Kraft selbst. Reisen Ich wollte die Welt sehen, ganz alleine. So oft war ich gegen meinen Willen unterwegs gewesen, war in Lkws gepfercht worden und in Busse, war zu Fuß angetrieben oder auf einen Esel gesetzt worden, so oft hatte man mich an Orte gebracht, an die ich nicht wollte: zur Jebha, an die Front, zu meinem Vater. Jetzt wollte ich selbst entscheiden, wohin die Reise gehen sollte. Ich reiste viel und gab, auch wenn ich unterwegs immer sparsam war, viel Geld für dieses Stück Freiheit aus, das ich mir genommen hatte. Alle meine Freunde und Freundinnen sagten: »Du bist eine Frau, du kannst nicht alleine verreisen, schon gar nicht in exotische Länder, in die Dritte Welt«, aber ich konnte. Ich war in Barbados, Kingston (Jamaika), in der Dominikanischen Republik, Trinidad, Tansania, Äthiopien und Eritrea, in der Türkei und in Korea. In Südkorea
war ich auf Einladung der Plattenfirma, aber sonst hatte ich immer nur den Flug gebucht, für zwei oder drei Wochen, und bin los, bloß mit wenigen Klamotten in einem kleinen Rucksack oder in einer Tasche, die ich bequem selbst tragen konnte. Am ersten Tag nach dem Flug schlief ich mich aus, meistens an einem Strand. Vor der Abreise lief alles hektisch ab, weil ich tausend Dinge, die noch zu erledigen waren, immer auf die letzte Sekunde hin 255 ausschob. Obwohl ich deshalb vor dem Abflug kaum ein Auge zugemacht hatte, konnte ich im Flieger selbst nie schlafen, dazu war ich zu aufgeregt. Am Abend suchte ich mir dann eine billige Pension oder ein Appartement mit Küche und allem Drum und Dran. Meist lieh ich mir auch noch ein uraltes, billiges und unauffälliges Auto aus. Dann ging ich einkaufen, kochte sehr viel, spazierte durch den Ort, ging abends immer fort, lernte viele Menschen kennen und erlebte die spannendsten Dinge. Meine Freunde zu Hause in Deutschland konnten es nicht fassen: »Du bist sechzehn«, sagten sie (oder siebzehn, achtzehn, neunzehn, aber auf jeden Fall immer zu jung), »in dem Alter geht das nicht, dass du alleine am Strand rumhängst oder abends alleine unterwegs bist. Sie werden dich überfallen, vergewaltigen, ausrauben ...« Alles, was einem nur zustoßen kann, malten sie mir in bunten Bildern aus. Doch mir passierte nie etwas. Ich donnerte mich nicht auf, lief nicht wie ein Barbiepüppchen rum, sondern mit fetten Dreadlocks, die ich unter einem bunten Tuch zusammenband. Dazu trug ich Armeehosen und schwere, feste Schuhe, DocMartens. Ich war nie geschminkt und zeigte immer, dass ich auf eigenen Füßen stand. So machte ich alles, was man eigentlich nicht tun dürfte: am Strand schlafen, die halbe Nacht mit wildfemden Leuten am Lagerfeuer sitzen, reichlich Gin oder Rum trinken, Joints rauchen — das volle Karibikprogramm. Und jedesmal kam ich gesund und wunderbar erholt wieder zurück. Ich zog mein Ding durch, im Gegensatz zu meinen Klassenkameraden aus dem Gymnasium, die mit ihren Eltern an die Ostsee oder nach Mallorca fuhren, ins gemüdiche Familienhotel oder ins eigene Sommerhäuschen. Wenn ich denen von meinen Abenteuern erzählte, fragten sie mich: »Sag mal, tickst du noch richtig? Was ist, wenn einer dich umbringt?« Ich sagte darauf nur: »Dann soll's eben so sein. Ich habe keine Angst, ich will die Welt sehen.« Heute könnte ich nicht mehr so unterwegs sein. Ich bin viel vorsichtiger geworden, weil ich mitderweile viel fraulicher aussehe. Damals hätte man mich fast für einen Jungen halten können, wenn ich die Haare unter einem Tuch versteckt hatte. Ich war flach wie ein Brett, 256 frech wie Oskar und L^ttc nichib Weibliches an mir. Viele Leute, die ich unterwegs traf, dachten, ich müsse kokainabhängig sein, weil ich mich so furchtlos und ohne Bedenken durch die Welt bewegte. Aber ich brauchte kein Kokain, in mir steckte noch die ganze Energie meines Aufbruchs, das war alles. Das Gefühl, ich könnte die Welt aus den Angeln heben, war ein stärkerer Schutzschild, als es jeder Pfefferspray oder jede Schreckschusspistole gewesen wären. Schutz hätte ich damals nicht vor fremden Angreifern gebraucht, nicht vor Dieben, Mördern und Vergewaltigern, sondern vor mir selbst und vor den Stürmen, die in meinem Inneren tobten. Meine neue Freiheit fühlte sich wunderbar an, aber sie bereitete mir Probleme, denn sie stellte mich vor die Aufgabe, alleine damit zurechtzukommen. Leider entdeckte ich einige Helfer, die mir versprachen, dass durch sie alles ein bisschen leichter gehen würde: Alkohol und Cannabis. Ich probierte keine harten Drogen, obwohl sie mir oft angeboten wurden, nahm kein Koks, kein Heroin, noch nicht einmal Zigaretten rauchte ich. Aber ich trank, bis ich bewusstlos war. Bis alle meine Sorgen, meine Probleme, meine Erinnerungen in einen so dichten, pelzigen Nebel eingehüllt waren, dass ich sie beim besten Willen nicht mehr erkennen konnte. Oft torkelte ich nachts von einer Bar oder einem Club mit letzter Kraft zum Taxi, kaum noch imstande, mich auf den Beinen zu halten. Manchmal fragte ich mich am nächsten Morgen, wie ich es in mein Bett geschafft hatte. Ich schämte mich dafür, ich hasste mich dafür — und es konnte sein, dass es mir schon am selben Abend wieder passierte. Stefan Ein großer Teil meiner damaligen Verwirrung hatte nichts mit meiner Vergangenheit oder meiner unglücklichen Familienkonstellation zu tun. Das Problem hatte einen konkreten Namen: Stefan, mein erster Freund. Er war meine erste große Liebe, der Mann, der mein Leben bestimmen könnte — wie ich damals dachte. Mein Stefan. Gut, dass alles anders kam. 257 Meinen vierzehnten Geburtstag hatte ich zusammen mit Stefan gefeiert. Ich trank zwei Glas Sekt, und mir war danach sterbensübel, weil ich keinen Alkohol gewohnt war. Erst ein halbes Jahr später erzählte mir Stefan, er und Boris hätten damals eine Wette abgeschlossen. Boris wettete, dass er auch mit mir zusammenkomme, und Stefan hielt dagegen. Der Einsatz betrug hundert Mark. Ich war sauer, als ich das erfuhr. Unnnötig zu sagen, dass Boris seine Wette verlor. Solche Dinge erlebte ich öfter mit Stefan. Er war sehr verwöhnt, und manchmal verhielt er sich so, als ob alle nach seiner Pfeife tanzen müssten. Trotzdem waren wir viereinhalb Jahre zusammen. In unserem
Bekanntenkreis galt das als Sensation, denn die meisten wechselten alle paar Monate ihre Beziehungen. Dass Stefan und ich so lange zusammen waren, lag nicht etwa daran, dass es so harmonisch zwischen uns zuging, sondern an unserer gegenseitigen Abhängigkeit und an meiner Unfähigkeit, das zu erkennen. Er brauchte mich, um sich in seinem haltlosen Leben bei einer Person anzuklammern, die ihm wohlgesinnt war. Ich brauchte ihn, weil ich dachte, er könne mir ein lebenswertes, aufregendes Leben bieten. Stefan war mir gegenüber alles andere als gleichgültig. Dass er sich für meine Herkunft interessierte, freute mich, machte mir aber zugleich angst. Deshalb erzählte ich ihm, wie toll meine Familie sei, wie gut mein Vater wäre und meine Mutter sowieso. Doch Stefan wurde bald misstrauisch. Immer wieder fragte er mich, ob er nicht mal meine Eltern kennenlernen könne, aber ich log ihm vor, da ss mein Vater so beschäftigt sei und meine Mutter wieder nach Afrika gezogen wäre. Meine wahre Geschichte wäre für ihn völlig unvorstellbar gewesen. Er hatte sein ganzes Leben zu Hause verbracht, und seine Eltern lasen ihm jeden Wunsch — vor allem jeden finanziellen Wunsch — von den Lippen ab. Er kannte keine Sorgen, keine Nöte. Ich tat immer so, als hätte ich auch jede Menge Geld zur Verfügung, und prasste in den Clubs und Bars genau wie er. Geld hatte für ihn keine Bedeutung, weil er es sich am nächsten Tag von seinem Papa zurückholen konnte, doch für mich war es sauer Erspartes, für das ich stundenlang bei McDonald's oder in der Bäckerei oder später beim Modeln arbeiten musste. Nie hätte ich das ihm gegenüber zugegeben 258 oder mich von ihn. einladen !?ccen, dafür war ich \icl zu stolz. Lieber biss ich die Zähne zusammen und arbeitete doppelt soviel. Durch meine Lügen, die er Stück für Stück durchschaute, machte ich viel kaputt. Ich zerstörte sein Vertrauen in mich, und bald war es so weit, dass er mir nichts mehr glaubte. Das war natürlich noch lange kein Grund, mich zu schlagen, auch wenn er ständig dachte, ich würde ihn mit einem anderen betrügen. Das war eine absurde Unterstellung. Ich wollte Stefan nicht betrügen, dazu fühlte ich mich ihm viel zu sehr verbunden. Ich liebte ihn, ich war von ihm abhängig. Außerdem reichte mir das, was ich sexuell mit ihm erlebte, völlig — genaugenommen war es mir schon wesentlich zuviel. Für mich war es jedesmal eine Tortur, mit Stefan zu schlafen. Ich war noch viel zu kaputt dazu. Er merkte immer nur, dass es mir nicht gefiel, und ging nicht gerade verständnisvoll damit um. Wenn er schlecht gelaunt war, bezeichnete er mich als frigide und als Lesbe. Ging es ihm besser, klopfte er mir schon mal zärtlich auf den Kopf und sagte, mehr zu sich selbst als zu mir: «Was geht in diesem kleinen Kopf vor?« Ich konnte diese Frage genausowenig beantworten wie er. Ich wollte sie ihm auch nicht beantworten, weil ich damals noch nicht so weit war, dass ich frei über meine Vergangenheit hätte sprechen können, schon gar nicht über meine sexuelle. Also sagte ich nichts. Ich schwieg, wenn wir zusammen im Bett lagen. Er musste oft den Eindruck haben, als wäre mir alles egal. Dabei war ich gelähmt vor Schmerzen, vor körperlichen Schmerzen und vor solchen, von denen ich nicht mal sagen konnte, wo sie ihren Ursprung hatten. Gift Stefan konnte ganz reizend sein, aber er litt unter extremen Stimmungsschwankungen. Mit seinen Stimmungen jagte unsere Beziehung hinab ins Bodenlose, dann stieg sie unvermittelt auf zum nächsten Höhenflug, um wieder abzustürzen. Nur langsam kam ich dahinter, 259 warum er keinen Grund unter den Füßen hatte, warum er immer wieder in bodenlosem Hass und in gewalttätigen Aggressionen versank. Meine ersten Funde hielt ich noch für verdreckte Radiergummis. Ich packte sie in sein Federmäppchen, doch er verstaute sie immer wieder woanders. Das kam mir komisch vor: Warum konnte er seine Ratzefummel nicht da drinlassen? Ein paarmal fragte ich ihn schon ein wenig ärgerlich: »Was machst du mit deinen Radiergummis?«, doch er gab nur ausweichende Antworten. Das ging so weiter, bis ich so ein Radiergummistückchen der Putzfrau zeigte, die gerade Stefans Zimmer saubermachte. Sie erzählte Stefans Mutter davon, und die klärte mich auf: »Das ist kein Radiergummi. Das ist Hasch. Sie zerkrümeln das und rauchen es zusammen mit Zigarettentabak in selbstgebauten Joints.« Ich kam mir unendlich dumm vor, dass ich nicht selbst draufgekommen war. Ahnungen in dieser Richtung hatte ich gehabt, aber ich hatte es mir selbst nicht zugegeben. Ich wollte nichts davon wissen. Ich hatte gehofft, dass das Radiergummis sind und Stefan ein braver Junge. Doch er war alles andere als das. Später waren es keine »Radiergummis« mehr, sondern verbrannte Folien und verkrümelte Löffel. Später sagte er: »Ich gehe zur Tankstelle, bin gleich wieder da.« Vier Tage darauf kam er mit riesigen Pupillen zurück. Dann kauerten ein paar Typen in der Wohnung, die ich nicht kannte, und hörten Techno ohne Ende, hämmernden Schrott. Schon damals dachte ich: »Das ist nicht mein Leben, das ist nicht mein Mann. Das will ich nicht, das geht nicht.« Doch es ging weiter, immer weiter. Als ich einmal seine Wäsche für die Waschmaschine vorbereitete, fand ich eine Tüte mit tausend Pillen. In einer Mischung aus Ahnungslosigkeit und Verdrängung wunderte ich mich,
warum er seine Schmerztabletten in eine Tüte packte. Ich wollte nicht daraufkommen, dass das Drogen sein könnten, ich wollte, dass sich alle Befürchtungen als Hirngespinste entpuppen und in Luft auflösen würden. Brav legte ich die Tüte in einen Wandschrank, der für Medikamente reserviert war. Ein paar Tage später, als Stefan hektisch nach dieser Tüte suchte, sagte ich, er solle mal bei seinen Medikamen 260 ten nachsehen. EioL zls üi die Tüte, schwitzend vor Erleichterung, in der Hand hielt, klärte er mich auf: »Senait, das sind keine Aspirin. Das sind meine Wunderpillen, damit ich alles aushalte. Das sind Ecstasy.« Je mehr ich von Stefans Drogenkonsum mitbekam, desto klarer wurde mir, dass er sich auf einer Spirale befand, die nur eine Richtung kannte: abwärts. Ich war dabei, als er mit Drogen anfing, und ich war immer noch mit ihm zusammen, als er zusehends durchdrehte — bis er den Kampf aufgab. Er versuchte, mir die Schuld für sein Scheitern in die Schuhe zu schieben: »Das alles passiert nur wegen dir«, schrie er mich an, wenn er wieder mal zuviel erwischt hatte, »du machst mich fertig! Du zerstörst mich! Du bist eine Psychotante, du bist eine heavige Nummer ...« Nach ein paar Monaten begann ich ihm zu glauben. Ich begann mich zu fragen, was ich falsch gemacht hatte. Wie ich Stefan so weit bringen konnte. Und wie ich ihm nur helfen könnte. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto seltsamer kamen mir seine Vorwürfe vor. Also sagte ich ihm eines Tages meine Meinung dazu: »Weißt du was, Stefan, das kann nicht sein. Ich nehme nichts, keine Drogen, ich rauche nicht mal Zigaretten. Ich bin gut in der Schule. Ich bin nicht diejenige, die drei Tage weggeht und in Technoclubs rumhängt. Ich bin nicht diejenige, die jeden Tag ihren Stoff braucht, damit es für sie ein Leben gibt. Ich habe dich kennengelernt, als du vor deinem Spiegelbild rumgeturnt bist — da hat doch damals schon was nicht gestimmt. Außerdem bist du der Ältere von uns, du warst schon volljährig, als wir uns kennenlernten, ich nicht. Also müsstest du doch mehr Reife haben als ich, du müsstest weiter sein. Irgendwann muss ein Mensch anfangen, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Du kannst nicht mir die Schuld geben. Ich bin nicht einfach, okay, aber ich habe einen Typen, der jeden Tag nur darauf au s ist, high zu sein, alles andere ist Nebensache. Nur daran bin ich schuld, dass ich immer noch mit so einem Typen zusammen bin!« Stefan war durch meine kleine Ansprache sichtlich bewegt, aber bewirkt hatte sie nichts alles lief genauso weiter wie bisher. Mit der Zeit bekam ich nicht nur in Stefans Leben einen immer tieferen Einblick, sondern auch in das seiner Familie. Der Kontrast zu 261 meiner Familie hätte größer nicht sein können: auf meiner Seite eine Familie, die diese Bezeichnung kaum verdiente, auf Stefans Seite eine scheinbar intakte Familie — Vater, Mutter, Sohn —, extrem erfolgreich, wohlhabend und glücklich. Es gab nur einen schweren Mangel: Keiner in Stefans Familie hatte Zeit für die anderen, die Sorgen der anderen wurden erst wahrgenommen, wenn sie nicht mehr zu übersehen waren. Wenn es darauf ankam, kümmerte man sich umeinander, doch bis dahin wurden Probleme immer nur über die Brieftasche gelöst, nach dem Motto: Fehlt dir was, dann kauf dir das. Nach außen hin gab es nicht den geringsten Anschein eines Mangels, aber alle Bedürfnisse, die sich nicht von der Kreditkarte abbuchen ließen, blieben auf der Strecke. Gegensätze Stefans Eltern waren sehr gut zu mir, besser als zu ihrem eigenen Sohn, bei dem sie merkten, dass er ihnen mehr und mehr entglitt. Den Ursachen dafür aber wollten sie sich nicht stellen, sie weigerten sich sogar, seinen Drogenkonsum zur Kenntnis zu nehmen. Zwischendurch lebte ich manchmal vier, fünf Monate durchgehend in Stefans Familie und ließ mich nur kurz in meinem Wohnheim blicken. Das Zimmer dort gab ich freilich nie auf, denn ich wollte nicht von Stefan oder seiner Familie abhängig sein. Allein schon die Vorstellung erdrückte mich. Nach kurzer Zeit war ich völlig in Stefans Familie integriert. Seine Mutter stellte mich allen Besuchern als ihre Schwiegertochter vor. Sein Vater schwärmte allen Leuten vor, wie toll ich sei, wie klug und fleißig und schön. Oft luden mich Stefans Eltern ein, mit ihnen in den Urlaub zu fahren. Das waren immer besondere Reisen, die ich mir alleine nicht hätte leisten können. Stefan wollte immer in den Luxusferienanlagen bleiben, die seine Eltern gebucht hatten, am besten noch bei Schnitzel und Pommes. Ich fuhr aber nicht in die Karibik, damit ich Schnitzel und 262 Pommes essen und am Pool liefen konnte, ich wollte pkvjc ^.ehen vom Land und von den Leuten. Am liebsten wäre ich mit Stefan nach Afrika gefahren, aber das wollte er nicht. »Ihhh! Afrika! Das ist doch dort, wo man mit der Hand isst!« Er sprach von meinem Kontinent wie von einer ansteckenden Krankheit. Ich hätte ihn unmöglich meiner Familie dort vorstellen können, weil er mit meinen Leuten sicher nichts hätte anfangen können. Er wäre durchgedreht, wenn er jeden Morgen um vier mit meinem Opa aufstehen müsste, um angeln zu gehen. Oder wenn er auch nur auf dem Boden sitzen und gemeinsam mit allen anderen aus einer Schüssel essen müsste — mit der bloßen Hand. Dritte Welt war für ihn etwas Stinkendes.
Einmal war ich mit ihm in Puerto Plata in der Innenstadt. Wir suchten den Markt, als uns eine Frau ein paar gebratene Bananen zu essen gab. Er nahm sie, ging aber gleich um die Ecke, spuckte den Bissen, den er im Mund hatte, aus und warf den Rest weg. Die Früchte schmeckten hervorragend, aber er meinte, dass da so viele Bakterien drin seien. Stefan war verwöhnt. Mit zwölf hatte er vierhundert Mark für das Wochenende, mit achtzehn zwei Autos und eine Ferienwohnung an der Ostsee. Er kannte nichts anderes, und ich konnte von ihm nicht erwarten, dass er in meine Lebensweise einstieg. Ich dagegen akzeptierte seine Lebensweise, ich verstand sie. Aber ich mochte sie nie. Stefans Vater merkte, wieviel Mühe es mich kostete, das Geld zu verdienen, um an diesem aufwendigen Lebensstil teilzuhaben. Hin und wieder steckte er mir Geld zu, aber ich wollte mich nicht von ihm finanzieren lassen. Es war mir wichtig, mein eigenes Geld zu verdienen. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre es mir nicht möglich gewesen, Stefan in die Augen zu sehen. Ich hätte ihm nicht mehr frei meine Meinung über alles sagen können. Ich hätte mich ihm nicht mehr ebenbürtig gefühlt, wenn ich meine Drinks zur Not nicht auch selbst hätte bezahlen können. Stefan dagegen hatte kein Problem damit, sich von seinen Eltern hinten und vorne aushalten zu lassen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, einen Job anzunehmen, um sich etwas dazuzu verdienen. Dabei hatte er allein schon wegen seines Drogenkonsums beträchtlichen Geldbedarf. Er sagte immer: »Warum soll ich arbeiten? 263 Ich werde sowieso alles erben'« Lieber ging er ein paarmal öfter zu seinem Vater und bat ihn um eine Draufgabe aufs Taschengeld Und er bekam sie Sein Vater gab ihm ein paar hundert Mark, wie andere Vater ihren Söhnen ein Funfmarkstuck für einen Eisbecher gaben. Stefan war sehr besitzergreifend und hatte mich gern in Abhangig keit von seiner Familie gesehen. Er dachte, so konnte er mich für immer haben, denn er hatte schnell gemerkt, dass ich nicht festzuhalten bin. Aber mich konnte er nicht einsperren, nicht besitzen, und das ärgerte ihn, weil er von zu Hause aus gewohnt war, alles zu kriegen, was er wollte Darum behandelte er alles und alle um ihn herum wie sein Eigentum In der Zwischenzeit hatte mein Vater davon erfahren, dass ich mehr bei meinem Freund lebte als im Wohnheim Das war ihm nicht recht Ich war ihm zu jung dafür, ich war nicht unter seiner Kontrolle, und es verletzte seinen Stolz, weil er dachte, jemand anders halte seine Tochter aus. Der Gedanke war ihm so unerträglich, dass er sich überwand und bei Stefans Vater anrief, um ihm Geld dafür anzubieten, dass ich in seinem Haus wohnte Das war zuviel für den. »Lassen Sie das unsere Sorge sein mit dem Geld, wir verdienen genug«, erklarte er meinem Vater klipp und klar. »Wir haben Senait gern Wenn sie sagt, sie will gehen, kann sie gehen, aber wenn sie sagt, sie mochte hierbleiben, kann sie so lange bleiben, wie sie will« Damit musste sich mein Vater zufriedengeben, ob er wollte oder nicht Mir war die Sache extrem peinlich, vor allem, weil ich Stefans Eltern in bezug auf meine idealen Familienverhältnisse immer etwas vorgelogen hatte Lügen Nach außen hm hielt mein Lugengebaude so lange, bis Stefans Vater mir eines Tages die Meinung sagte. »Senait, wir mögen dich sehr. Aber lug uns nie wieder an. Wir wissen alles.« Das war einer der peinlichsten Momente dieser Jahre. Ich wollte 264 anlangen, ilincn et;1"" 7u erkiaicn. Ich wollte versuchen, Stefans Eltern klarzumachen, was es für mich bedeutete, ihre perfekte Familie zu erleben und sie taglich mit dem Trümmerhaufen meiner Familie vergleichen zu müssen, aber Stefans Vater winkte ab: »Du musst nichts erklaren. Es ist alles gut.« Damit beschloss er das Gesprach, Dafür werde ich ihm immer dankbar sein, das hatte Große. Ich konnte mir alles Herumgerede ersparen. Was für ein herrliches Gefühl, mit ihm und mir im reinen zu sein' So viele Lugen hatte ich ihm aufgetischt Ich habe einen tollen Daddy, ich habe eine tolle Mama, ich habe Schwestern, die so wunderbar zu mir halten und mit denen ich eine enge, liebevolle Beziehung pflege. Ich hatte meine Mutter noch nie gesehen, und doch glaubte ich manchmal an meine eigenen Lugen, bis ich Depressionen bekam, weil ich das Lugengebaude in meinem Inneren zusammenbrechen sah. Ich halte sonst nicht viel von neunmalklugen Sprichwörtern, aber eins kann ich gut nachvollziehen »Lugen haben kurze Beine.« Sogar kli putanermaßig kurze. Einige meiner Freunde, Freundinnen und Schulkameraden, denen ich ebenfalls Senaits heile Welt vorgegaukelt hatte, wandten sich von mir ab, als sie das Spiel durchschauten »Die ist )a gestört«, sagten sie, »die spinnt nur herum, nichts davon stimmt.« Aber am meisten taten meine Lugen nicht den anderen, sondern mir selbst weh. Es gab nur eins, was mich noch mehr geschmerzt hatte: allen die Wahrheit zu erzählen. Welches Madchen von sechzehn Jahren mochte schon seinen Freundinnen und Freunden gegenüber zugeben, dass es jeden Tag Prügel bezieht, wenn es nach Hause kommt'* Dass es von seinem Vater taglich gedemutigt und angebrüllt wird5 Welches Madchen wurde nicht lieber behaupten, es sei gestürzt und habe sich den Arm gebrochen? Wie soll ein Madchen seinem Freund
erzählen, dass es keinen Sex mit ihm haben kann, weil ihm so viele innere und äußere Verletzungen zugefugt wurden, dass es noch keinen Sex vertragt? Jeder Freund denkt, es liege an ihm, wenn das Madchen offensichtlich nichts empfindet im Bett. Ich wusste das, aber es ging nicht. Wahrend wir Sex hatten, angelte ich mir die Fernbedienung und zappte durch die Programme, bis ich bei den Schlumpfen landete. Ihn ließ ich 265 da oben machen, was er wollte. Das machte ihn rasend, und er verprügelte mich deswegen. Dadurch versank ich nur noch tiefer in meiner Gefühlskälte und meiner Sprachlosigkeit, während Stefan sich immer mehr im Gewirr seiner Drogen verfing. Mit der Zeit fand ich mich damit ab, dass es mit uns beiden nichts wird. Ich würde meinen ersten Freund an die Drogen verlieren. Auf eigenen Füßen Nachdem ich mich von Stefan getrennt hatte, ging es mir eine Zeitlang viel besser. Kurz vor meinem neunzehnten Geburtstag konnte ich mir meine erste eigene Wohnung finanzieren und endlich aus dem Wohnheim ausziehen. Das Heim passte nicht mehr zu mir. Die meisten der Bewohner waren viel jünger als ich und viel kaputter — aber vor allem hatten sie viel weniger Lust, etwas für sich zu ändern. Das Heim war für mich von einem Ort der Befreiung zu einem Platz geworden, dessen Energien mich nach unten zogen. Ohne weitere Anleitung der Sozialarbeiter und Jugendamtstanten, die im Heim nach dem Rechten sahen, nahm ich mein Leben selbst in die Hand. Ich besorgte mir eine Wohnung, eine Ausbildung und Jobs, denn einer reichte bei weitem nicht aus, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Mit dem Modeln hatte ich aufgehört, weil ich es zunehmend als eine Art Prostitution empfand. Ich entwickelte immer mehr Abscheu dagegen, meinen Körper von einer unnatürlichen Position in die nächste zu verbiegen, die Augen unablässig auf die Kamera gerichtet, ihr immer untertan, mit schmollendem Mündchen von unten nach oben blickend. Für mich war das nicht das Richtige. Ich hatte nur gemodelt, um meine Mutter durchzufüttern, meinen Patenkindern etwas schicken zu können und um mir meine Reisen zu leisten, doch das gelang mir auch so. Selbst das Kellnern ließ ich bleiben, weil ich es höchstens drei oder vier Monate in einem Lokal aushielt. Ich konnte mir noch nie anhören, dass ich dies oder jenes machen soll, und zwar am besten ein bisschen plötzlich. Dazu bin ich zu stolz, zu ungeduldig 266 und zu sehr darauf aus, ici» s^lnsi zu sein Tch wollte endl^h mein eigener Chef sein. Soweit war es damals aber noch nicht, auch wenn ich während dieser Zeit immer wieder an meinen Demobändern arbeitete, um mir einen eigenen Musikstil zu erarbeiten, die Zusammenarbeit mit anderen Musikern zu testen und um zu einem Plattenvertrag zu kommen. Da ich keine Lust auf ein Leben als brotlose, verkannte Künstlerin hatte, beschloss ich, gleichzeitig eine »bürgerliche« Berufslaufbahn einzuschlagen, und begann eine Ausbildung zur Notargehilfin. Das klingt fürchterlich trocken, doch mir machte die Arbeit Spaß. Die Hamburger Kanzlei, die mich ausbildete, hatte gleich zu Beginn meiner Tätigkeit vier Araber als Kunden, zwei aus Dubai, zwei aus dem Jemen. Es ging um Scheidung, um Geld nach der Ehe, um sehr viel Geld sogar. Die eine Frau war einundzwanzig, ihr Mann war neunundzwanzig. Ein Jahr lang waren sie verheiratet, und bei der Scheidung bekam sie 4,5 Millionen Mark. Das beeindruckte mich: Eine Frau aus dem arabischen Kulturkreis, die von ihrem Mann zwar immer reich beschenkt, aber ansonsten wie eine Sklavin behandelt wurde, begehrte auf und bekam recht. Ich musste bei den Verhandlungen immer vom Arabischen ins Deutsche und umgekehrt übersetzen und legte mich voll für sie ins Zeug. Über Mundpropaganda bekam ich bald auch außerhalb der Kanzlei viele Anfragen für Dolmetscharbeiten aus dem Arabischen, manchmal aber auch aus Tigrinya, das nicht nur in Eritrea, sondern auch in Äthiopien gesprochen wird. Aus beiden Sprachen konnte ich fast gleichermaßen leicht ins Deutsche und ins Englische übersetzen. Damals entdeckte ich neue Fähigkeiten in mir. Ich merkte, dass ich mit Leuten umgehen kann. Dass ich mich sprachlich gut auszudrücken vermag und dass ich logisch denken kann, was bei rechtlichen Fragen nie schaden kann. Ein Satz brachte für mich die Sache mit dem Denken auf den Punkt: »Ich denke, also bin ich.« Mir war schlecht vor Aufregung, als ich das las. Die Jahre zuvor hatte ich mich noch geschlagen, um mich selbst zu fühlen, aber ich hatte nicht mal die Schmerzen gespürt. Ich hatte mir die Beine mit Rasierklingen aufgeritzt, aber es passierte nichts, außer dass mir rotes Blut über die Schenkel rann. Dann 267 brachte mir ein Freund dass Buch mit diesem Satz. Ich schrieb ein Lied, das den Titel hat »Ich denke, also bin ich«. Der Verlag von Rene Descartes machte zwar Stress, aber nach einigem Hin und Her durfte ich diese Zeile von Descartes verwenden. Privat hatte ich mehr Schwierigkeiten weiterzukommen als im Beruf. Christian, mein neuer Freund, war zwar kein Schläger, aber auch ein reicher Typ. Verwöhnt und im Internat aufgewachsen, hatte er praktisch kein Selbstbewusstsein. Sein Vater war Deutscher, seine Mutter Perserin. Sie liebte mich und hatte vor nichts mehr
Angst, als dass ihr Sohn mit einer Deutschen zusammenkäme. Manchmal scherzte sie: »Er heiratet bald eine Kartoffel. Aber ich will keine Kartoffel, ich will dich!« Sie nannte die Deutschen immer »Kartoffeln«. Ihr Mann hatte etwas gegen Ausländer, was komisch genug war bei einer persischen Frau — oder hatte er nur etwas gegen Schwarze? »O Gott«, sagte er vor mir zu seinem Sohn, »bringst du schon Nigger ins Haus?« »Werden Sie mal wach!« schrie ich ihn an. »Die Zeiten haben sich geändert. Ihren Sohn erziehen Sie als Memme, und ...« Weiter kam ich nicht, weil er mich aus dem Haus warf. Das machte mir nichts aus, weil ich sowieso Schluss machen wollte mit Christian. Nach Christian kam Klaus, ein wunderbarer Typ. Seine Mutter ist Brasilianerin, der Vater Deutscher. Klaus ist bis zum heutigen Tag einer meiner besten Freunde. Unser beider Sternbild ist Schütze, und deshalb klappte es nicht. Wir vertrauten einander blind, wie die allerbesten Freunde, aber wir merkten bald, dass das keine liebe war, sondern Freundschaft, eine innige Freundschaft, wie zwischen Geschwistern, die sich gut verstanden. 268 Mutter Afrika Ich war zum ersten Mal wieder in Afrika. Als ich auf dem Flughafen von Asmara aus dem Flugzeug ausstieg, kam alles Verdrängte auf einen Schlag zurück. Ich prallte von der Augusthitze vor der Kabinentür ab wie an einer Wand. Ich sah das weiße Licht, den blauen Himmel, die vielen Afrikaner unten auf der Rollbahn. »Hhhhhhh«, rang ich nach Luft, denn plötzlich schnürte es mir die Kehle ab. Meine Schwestern stürzten auf mich zu — dann fiel ich um, die Treppe hinunter. Ich rappelte mich wieder hoch, und Yaldiyan nahm mich in den Arm. »Senait, ich weiß«, sagte sie, »ich weiß das aus deinen Träumen. Du redest im Schlaf, du hast mir alles erzählt.« Sie saß auf dem Rollfeld des Flughafens von Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens, und erzählte mir von meinem Traum. Ich hätte gesagt, dass ich sofort fliegen würde, wenn ich in Afrika ankäme. Dass mir auf der Stelle Flügel wachsen würden und ich frei und leicht sein könnte wie ein Vogel. Rund um uns herum standen Dutzende Passagiere, alles Schwarze, und hörten aufmerksam zu. Sie lachten, klatschten und freuten sich an der Geschichte, die Yaldiyan erzählte. In diesem Moment wusste ich, dass ich zu Hause angekommen war. Wie lange ich mich auf diesen Moment vorbereitet hatte! Wie lange ich dafür gejobbt, geschuftet und gespart hatte, um mir die Reise nach Eritrea leisten zu können, um endlich meine Mutter zu finden. Ich wusste weder, wo sie wohnt, noch, wie sie hieß. Alles, was ich hatte, war ihr Vorname: Adhanet. Mein Vater hatte meine Mutter noch ein paarmal getroffen, seit er nach Europa ausgereist war. Er war öfters in Äthiopien gewesen; nur nach Eritrea durfte er nicht einreisen, denn dort stand er seit dem Sieg der EPLF über die ELF, der er bis heute fanatisch angehört, als Deserteur auf der Fahndungsliste. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter erzählten mir später, dass sie nicht miteinander redeten, als sie sich sahen. Da passierte nichts, keine Aufarbeitung der Vergangenheit, kein Dialog, kein Miteinander. Noch nicht einmal über mich, ihre einzige Gemeinsamkeit, hatten die beiden ein Wort zu verlieren. 269 Unser Vater hatte Tzegehana aufgetragen, mich vor meiner Mutter zu warnen: »Sorge dafür, dass Senait nichts bei ihrer Mutter isst«, sagte er zu ihr, »du musst auf sie aufpassen, sie vergiftet Senait bestimmt.« Ich verstand nicht, warum sie das hätte tun sollen. Außer unmittelbar nach der Geburt hatte sie mich noch nie gesehen. Ich glaubte nicht an die Verschwörungstheorien meines Vaters, und doch tröpfelten sie ein wenig Gift in meine Seele. Was, wenn Mama aus schlechtem Gewissen mir gegenüber böse Gedanken hegte? Wenn sie mich hasste, weil ich gegen ihren Willen überlebt hatte? Mit solch düsteren Gedanken war ich mit Tzegehana nach Addis Abeba geflogen. Yaldiyan war in Asmara gebliegen. Zwei Wochen hatte es gedauert, meine Mutter ausfindig zu machen, und jetzt brachte ein Bekannter Tzegehana und mich zu ihr. Die Taschen hatte ich voller Geschenke: Kaffee, Tee, Mehl, Gewürze, Öl, Obst, Zu cker — lauter Dinge des täglichen Lebens. Abwesend starrte ich aus dem Autofenster auf die Reihen ebenerdiger Häuser, die staubigen Straßen, die vielen Fußgänger, Pferdekarren, Lastesel. Zum ersten Mal seit vielen Jahren sah ich wieder die rauchenden, uralten Autobusse, die bettelnden Frauen, die Scharen zerlumpter Kinder und Frauen, die Hühner vom Markt nach Hause trugen, indem sie sie an den Beinen packten und mit den Köpfen nach unten hielten. Der Anblick war mir aus meiner Kindheit vertraut, und doch war er mir fremd geworden. Das Treffen Das Auto hielt. Ich erschrak. Waren wir schon da? Einen Moment lang stand ich verloren auf der Straße. Dann riss ich mich zusammen, und wir traten aus dem gleißenden Sonnenlicht durch eine offenstehende Tür in einen hohen Raum. Zuerst sah ich nichts, nur Dunkelheit. Der Raum war wie die meisten Räume hier fensterlos, es gab nur eine Luke, die wegen der Hitze mit einem Blechladen verschlossen war. In der Aufregung hatte ich vergessen, die Sonnenbrille abzunehmen. Jetzt 270 gewöhnten snh meine Augen langsam an das Dämmerlicht, und ich sah ein paar Konturen: einen Schrank, ein Bett, einen Tisch, Körbe und Kisten. Auf dem Boden standen ein kleiner Herd und der Spiritusbrenner, der zum
Kochen und Kaffeemachen dient. Auf einem Stuhl ganz in der hintersten Ecke saß eine große, hagere Frau. Ihre Haare waren grau, aus der Stirn gekämmt, nach Landessitte streng geflochten und zu einem großen Dutt verknotet. Sie war in traditionelle weiße Tücher gehüllt, an den Füßen trug sie Sandalen. Regungslos saß sie da und blickte scheu zu Boden. Nur die Hände arbeiteten in ihrem Schoß. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also blieb ich einfach stehen, wo ich war. Stille. Langsam löste sich ihr Gesicht aus dem Dunkel, die hervorstehenden Backenknochen, die großen Lippen. Sie hatte ein scharf geschnittenes Gesicht. Es waren meine Züge, die ich sah. Hier saß meine Mutter. Sie war mir fremd. Unser Bekannter sagte, ihre Tochter sei gekommen, um sie zu besuchen, und ob sie denn wisse, wer von uns beiden ihre Tochter ist. Da zeigte meine Mutter auf mich und sagte: »Sie ist meine Tochter. Sie sieht doch aus wie ihr Vater.« Es war, als würde ich meine vertraute Welt verlassen, als ich zu der Frau hinüberging, die meine Mutter war. Ich setzte mich neben sie. Vorsichtig strich mir meine Mutter über das Haar. »Du hast schöne Haare«, sagte sie. »Senait.« Mir ging kein Wort über die Lippen. Ich war wie erstarrt. Es dauerte unendlich lange, bis ich meine Sprache wiederfand. Dann begannen wir zögernd, einander unser Leben zu erzählen. Sie hatte während der sechs Jahre, die sie für ihre Kindesweglegung im Gefängnis war, unendlich viel Leid erfahren. Meine Mutter hatte ein zweites Mal geheiratet und noch drei Kinder bekommen, zwei Mädchen und einen kleinen Jungen, die bei ihr aufwuchsen. Als ihr Mann nach ein paar Monaten an der Front zurückkam, war er kriegsversehrt. »Was soll ich mit einem Krüppel?« hatte meine Mutter ihn gefragt, ihm das drei Monate alte Kind auf den Schoß gelegt und war verschwunden, auf immer. Kinder und Mann hatte sie sang und klanglos hinter sich gelassen. 271 Eben erst hatte ich meine Mutter wiedergefunden, und doch blieb sie mir fremd. Es war eine unwirkliche Situation, ich fühlte mich steif und unbehaglich. Einen verletzten Mann hatte sie verstoßen, einen Säugling, zwei kleine Kinder' Nahm diese Geschichte der Schrecken denn nie ein Ende, tauchte nicht langsam ein Licht auf in dieser Biographie der Leiden und der Lugen^ Doch ich wartete vergeblich, kein Wort des Bedauerns kam über ihre Lippen. Ich sah nichts als eine arme, verzweifelte Hau, die nicht wusste, wohin mit sich selbst und mit ihrem Leben. Das Leiden, das sie verursacht hatte, konnte sie genausowenig unter Kontrolle bringen wie das Leiden, das ihr zugefugt worden war. Ich konnte nicht anders, als mein Gesicht in den Händen zu verbergen und zu weinen. Meine Mutter glaubte, ich weinte aus Rührung über ihre Geschichte, und versuchte mit eckigen, ungeschickten Bewegungen mich zu trösten. Es waren Hände, die noch nicht viel Trost gespendet hatten. Doch ich weinte nicht wegen ihr, ich weinte über mich. Ich weinte über meine Geschichte, über meine Familie, über mein Leben. Ich musste weinen über die stockdunkle Finsternis, die sich von Anbeginn an über mein Leben ergoss. Die Erzählungen meiner Mutter hatten Tur und Tor weit aufgerissen, auf dass noch mehr Dunkelheit in mein Leben strömen konnte. Ich weinte und weinte und beruhigte mich nicht. Meine Mutter stand auf und tat, was die meisten Frauen in Afrika tun, wenn sie nicht weiterwissen: Sie begann zu arbeiten, entzündete ein kleines Holzkohlenfeuer mitten im Haus und rostete ein paar rohe Kaffeebohnen. In einem eisernen Morser zerstieß sie sie zu Pulver. Dann setzte sie Wasser auf in der traditionellen irdenen, bauchigen Kaffeekanne mit dem schmalen Ausguss. Über einen geflochtenen Fächer, den sie zu einem V zusammendruckte, leerte sie das Kaffeepulver in die Kanne. Sie setzte die Kanne auf das Feuer und hielt das Feuer aufrecht. Stumm fächelte sie der Glut frischen Sauerstoff zu, bis der starke, fast sämig aus der Kanne rinnende Kaffee fertig war. Wahrend dieser traditionellen Kaf feezeremonie war es Abend geworden, und über der Betrachtung ihrer sicheren, jahrzehntelang eingeübten Handgriffe gewann ich zumindest kurzfristig wieder Oberhand über meine Gefühle. Die Handgriffe meiner Mutter spendeten mir Trost, genauso wie sie ihr selbst Halt gaben. 272 Erst als wir n^benciiiandei auf den winzigen, «el^ctg^ wimmerten Holzschemeln hockten, auf denen die Frauen immer schon in den Ecken der Zimmer gehockt hatten, als wir da kauerten und den süßen, starken Kaffee tranken, konnten wir wieder miteinander reden. Ich wollte von meiner Mutter wissen, wer der Vater ihrer anderen drei Kinder war und wie ich ihn finden konnte, damit ich mich um meine Schwestern kummern konnte, doch sie sagte nur: »Das ist es nicht wert. Wenn du gekommen bist, um alte Wunden aufzukratzen, dann verlass mein Haus.« Wieder senkte sich diese Finsternis über mich. Ich spurte, wie sich meine Seele verdunkelte. »Nicht wert?« »Es ist nichts«, sagte meine Mutter trocken, mehr zu sich selbst als zu mir, »dieser Mann ist ein Taugenichts, und seine Kinder werden genauso enden.« Das war so einfach wie falsch gedacht. Es war trosdos pessimistisch, wie nur sehr frustrierte Menschen sein können, Gequälte, Zuspatgekommene, Getretene. Ich wusste nichts darauf zu sagen. In diesem Moment glaubte ich es selbst. Ich glaubte, dass ich das gewollte Erzeugnis von etwas Bösem sei. Ich glaubte, dass ich auf die
Welt gekommen war, um das Böse zu verkörpern. Ich war davon überzeugt. Etwas musste total danebengegangen sein, denn ich hatte mich selbst noch nie so negativ empfunden. Das ist nicht wahr, dachte ich. Die beiden konnten unmöglich meine Eltern sein, hoffte ich verzweifelt. Ich konnte unmöglich das Kind dieser beiden sein. Aber es gab keinen Zweifel: Hier saß meine Mutter Adhanet, und ihr Exmann Ghebrehiwet Mehari war mein Vater. Ich saß da und grübelte, kam aber zu keinem Schluss. Ich verstand nicht, wie meine Mutter die Gefühllosigkeit haben konnte, mir ins Gesicht zu sagen: »Ach, weißt du, ich will nicht mit so einem Krüppel leben, und was soll ich denn mit seinen Kindern, mit seinen Kindern ...« Sie dachte in diesem Moment gar nicht daran, dass sie mich damit verletzen konnte, weil ich genauso ihr Kind war wie meine Halbgeschwister. Ich wollte etwas dazu sagen, etwas wie: »Weißt du, bei dir wundert mich nicht mal das mehr ...« Ich war kurz davor, es auszusprechen, aber dann dachte ich mir: Ach, Senait, warum deine Mutter verletzen^ 273 Sie musste sich schäbig fühlen, wenn sie mich sah: gebildet, gut aussehend, erwachsen und ihr finanziell so überlegen, dass ich sie ernähren konnte. Was sollte ich da noch ändern bei ihr, was verbessern? Ich erwarte manchmal, dass Menschen so denken wie ich. Ich erwarte, dass Menschen aus ihrer Kindheit lernen und sich sagen, so wie unsere Eltern wollen wir nie werden. Ich hatte das getan, ich hatte meine Lehren gezogen. Aber es wäre vermessen, davon auszugehen, dass alle Menschen so sind wie ich. Zumindest konnte ich das nicht von meiner Mutter verlangen. Ich wollte niemals weniger meinen Eltern gleichen als in diesem Moment. Ich wollte niemals weniger mit der Last einer solchen Vergangenheit leben als jetzt. Doch trotz allem konnte ich meine Mutter nicht hassen, ich konnte sie nicht verachten. Ich spürte kein Mideid, keinen Ärger, keine Wut. Ich empfand nur Trauer, unendliche Trauer über alles, was passiert war. Trauer über Dinge, auf die ich keinen Einfiuss hatte. Nachdem wir den Kaffee ausgetrunken hatten, musste ich mich verabschieden. Das ging ohne große Zeremonie, ohne viele Emotionen. Meine Mutter schien es normal zu finden, dass ich eben mal aus Hamburg vorbeigekommen war, zu ihr nach Addis Abeba, auf eine Runde Tränen und einen Kaffee. Sie umarmte mich und bat mich, ihr Geld zu schicken. Das war's. Sie fragte nicht, ob wir uns wiedersehen würden während der nächsten zwei Wochen, die ich noch in Afrika war. Sie wollte nicht wissen, was ich sonst noch vorhatte während dieser Zeit, sie wollte gar nichts wissen, sie wagte nicht zu fragen. Schwankend ging ich nach draußen. Unser Bekannter brachte Tzegehana und mich zurück in die Stadt. Eigentlich hatten wir gemeinsam noch etwas unternehmen wollen, doch ich konnte niemanden mehr sehen. Ich ging direkt aufs Zimmer und tat das, was ich schon tun wollte, seit wir in Afrika angekommen waren: weinen, weinen, weinen, bis meine Tränen versiegten. Es tat mir gut wie eine ärztlich empfohlene Kur. Ich fuhr noch einmal in das Haus meiner Mutter, aber es passierte nicht mehr als beim ersten Mal. Sie kochte Kaffee, wir schwiegen, sie erzählte ein wenig, ich erzählte viel, wir tauschten unsere Adressen und 274 Telefonnummern aus, ^id sc'niieRlirh fuhr ich enttäuscht wieder ab. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber es trat nicht ein. Alles in allem aber hatte ich Feuer gefangen. Meine Wurzeln lagen in Afrika. Ich musste hier sein, um etwas über mich zu erfahren. Ich musste hier mit den Menschen reden, die Luft über dem ostafrikanischen Hochland schmecken und die Berge am Stadtrand sehen, wie sie sich abends gegen den rot werdenden Himmel abheben, um in einer sternklaren Nacht zu versinken. Hier könnte ich mich finden, wenn ich offenen Herzens auf das Land und die Menschen zuginge. Das tat ich von nun an. Im Sommer 1993 war ich zum ersten Mal bei meiner Mutter gewesen, und ab da flog ich jedes Jahr nach Eritrea und manchmal auch nach Äthiopien. Meistens flog ich zu Weihnachten, weil es im Sommer so unerträglich heiß ist. Im Winter ist es im Hochland selten wärmer als fünfundzwanzig, dreißig Grad, aber auch nicht kälter als zehn Grad in der Nacht und zwanzig Grad bei Tag. Gleichzeitig ist das Wetter fast auschließlich schön und sonnig. So muss das Klima im Paradies sein. Meiner Mutter sollte ich freilich nie wieder begegnen. Nur zweimal hatte uns das Leben zusammengeführt: in meinen ersten Lebenswochen und als ich sie in Addis Abeba besuchte. Am 14. August 1993 war ich zum ersten Mal in die Dunkelheit ihres Hauses gestolpert, hatte ihre Hände gefühlt, ihr Gesicht gesehen, ihre dunkle Geschichte gehört. Genau ein Jahr später, am 14. August 1994, saß sie in dem Linienbus, der auf seiner Fahrt von dem Bergdorf Adi Keyh, von wo sie stammte, nach Asmara abstürzte. Nach einem Bremsdefekt fiel er von der gewundenen Bergstraße Hunderte Meter tief in eine felsige, unwegsame Schlucht. Meine Mutter hatte ich zum ersten Mal gegen neunzehn Uhr besucht. Fast auf die Stunde genau ein Jahr später fand sie gegen siebzehn Uhr in dem zersplitternden Bus den Tod. Das ist nur einer von vielen Gründe, warum ich nicht an Zufälle glaube, sondern an Schicksal. Meinen Trost fand ich darin, dass ihr letztes Jahr — nicht zuletzt durch meine Hilfe — vielleicht das beste ihres Lebens war. Frei von finanziellen Sorgen, aber auch frei von Hass und Rache, frei von Verfolgung und Krieg und frei von Unrast und Umherwandern konnte sie ihr Leben
275 genießen — soweit ihr das unter der Last ihrer Vergangenheit möglich war Es war für sie ein Jahr, das ich ihr von Herzen gönnte Vergangenheit Zusammen mit meinen Schwestern besuchte ich auch deren Mutter Abrehet, die zweite Frau unseres Vaters Sie lebt in Adi Keyh, einem entreischen Bergdorf Ich werde nie vergessen, wie sie zu mir sagte »Senait, dein Vater hat viele Fehler gemacht, nur mit dir hat er es richtig gemacht, und das ungewollt« Auch bei ihr war kein Hass zu spuren, keine Rachegelüste, nur Sym pathie, und zwar nicht nur für ihre eigenen Tochter, sondern auch für mich Sie erzahlte uns, was unser Vater alles gemacht hatte Ihre Eltern hatte er verprügelt, seiner Schwiegermutter das Bein gebrochen, ihr Meine neu gefundene Familie in Adi Keyh Abrehet (vorne r) die Mutter von Tzege hana und Yaldr\an ihre jüngste Tochter Fion (vorne Mitte) und zwei Schwestern mei nes Vaters (stehend hinten r) In der Mitte ein koptischer Geistlicher aus Adi Keyh 276 c'bst hatte ex in den B < ich g^t reten, als sie mit Yaldivan schwanger war Wir mussten weinen, als wir das horten Es war uns rätselhaft, wie unser Vater damit leben konnte Bis zum heutigen Tag hat er sich bei keinem der Menschen entschuldigt, denen er all diese Leiden und Schmerzen zugefugt hat Ein fröhlicheres Treffen gab es mit Onkel Halle, den ich in Asmara wiedertraf, das erste Mal seit unserer gemeinsamen Zeit in Khartum Er war kein politischer Flüchtling und auch nie bei der Armee gewesen, so dass er, anders als mein Vater, nach Eritrea zurückkonnte, wann immer er wollte Halle war ebenfalls nur zu Besuch in Eritrea, er lebte inzwischen in Holland Ich sagte ihm, dass mich seine Schlage sehr geprägt hatten, mein Leben lang Da lachte er nur, als ob er sagen wollte »Was willst du mir erzählen^« Er verstand nicht, dass das nicht gut war, dass meine Seele Narben davongetragen hatte Für mich war das weniger Hades Fehler als vielmehr ein Problem afrikanischer Erziehung Halle war für mich nach wie vor ein wunder barer Mensch Ich liebte und liebe meinen Onkel über alles, und das war es, was für mich zahlte Die Schlage und Schmerzen waren langst vergangen, weil ich wusste, dass er sie uns nicht zugefugt hatte, damit wir leiden, sondern weil er etwas nicht richtig fand Er war immer ge sund im Kopf und kein seelisches Wrack wie mein Vater Haue wusste einfach nicht, wie man Kinder anders erziehen sollte Ich hatte es langst aufgegeben, Leuten in Afrika zu erklaren, dass Erziehung so nicht funktioniert Das verstehen Afrikaner erst, wenn sie in Europa leben Auch ich verstand erst in Europa, dass Erziehung ohne Gewalt funktionieren kann und dass man Kinder nicht schlagen muss, damit sie begreifen, was man von ihnen will Erst in Europa habe ich erfahren, dass ich ein freier Mensch bin, dass ich eine eigene Meinung haben darf und dass ich nicht geschlagen werde, nur weil ich anderer Meinung bm als andere Herauszufinden »Hey, ich habe Rechte Mich darf keiner schlagen« war das Schönste In Afrika kennt das niemand Hier denkt jeder, Schlage und Unrecht seien normale Bestandteile des Lebens Aber über solche Fragen aus der Vergangenheit konnte ich auch mit Halle nicht sprechen Vergangenheitsbewaltigung existiert in Afrika 277 nicht. Hier gibt es keinen seelischen Beistand, keine Psychologen. Über Gewalt wird nicht geredet, weil sie selbstverständlich ist. In Afrika geht es ums Überleben, alle stehen unter der Herrschaft der Existenzfragen: Wo kriege ich mein Essen her? Woher kriege ich etwas zu trinken? Wie ernähre ich meine Familie? Hoffentlich werde ich nicht krank, denn wir können es uns nicht leisten, zum Arzt zu gehen ... Das sind die Themen der Afrikaner. Niemand hat Zeit, über seine Gefühlswelt nachzudenken. Es gibt keine Sätze wie: »Papa, Mama, ich muss mit euch reden«, »Ich habe einen Freund«, »Ich brauche die Pille«. Strenggenommen gibt es noch nicht einmal eine »Mama« und einen »Papa«. Zwar gibt es diese Personen, doch das sind nicht die Vertrauensleute, mit denen in Deutschland jedes Kind die Begriffe »Papa« oder »Mama« verbindet. In Afrika sind es reine Funktionen: Vater, Mutter — diese Bezeichnungen passen besser. Es sind Namen für verwandtschaftliche Beziehungen, für Abhängigkeiten, für mehr nicht. Es waren vor allem diese Erkenntnisse, die ich neben tönernen Kaffeekrügen, geflochtenen Untersetzern und kleinen Schnitzarbeiten als Souvenirs aus meinem Heimatland mitbrachte — zusammen mit einer Krankheit, die ich schon in meinem ersten Leben in Eritrea gehabt hatte und die immer wieder neu aufflammte: Malaria. Alle vier Jahre lasse ich mich mit ein paar schmerzhaften Spritzen dagegen behandeln. Als ich einmal aussetzte, suchte mich meine treue Begleiterin im fünften Jahr sofort wieder heim. Ich war gerade frisch aus Afrika nach Hamburg zurückgekehrt und übernachtete bei einer Freundin. Am nächsten Tag wurde mir sterbensübel, und ich bekam Fieber. »Tanja«, sagte ich zu ihr, »ich bekomme Malaria.« »Na klar«, sagte sie und glaubte mir kein Wort. Malaria, mitten in Hamburg, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Doch ich erbrach grüne Galle, wurde von Fieberschüben geschüttelt und fühlte eine Mattigkeit, die mir sehr bekannt vorkam. Alles war genauso wie damals in der elenden Baracke bei der Jebha, in der ich meine ersten
Malariaschübe erlebt hatte. Ich riss mich zusammen, so gut es ging — schon das Sprechen fiel mir schwer , und flehte Tanja an: »Bitte, ruf einen Krankenwagen.« Langsam dämmerte ihr, dass ich vielleicht doch nicht nur einen 278 Kater hatte von dem Fiäschchen, das wir am Abend vorher geleert hatten, während ich ihr von Afrika erzählte. Als der Arzt mich untersuchte, fragte er gleich: »Wann waren Sie das letzte Mal in den Tropen?« Mit letzter Kraft sagte ich: »Was soll der Scheiß? Ich komme gerade aus Afrika, und ich habe Malaria!« Genauso war es auch, und ich musste mit meinem afrikanischen Souvenir ein paar Tage Dämmerschlaf im Krankenhaus zubringen. 279 Musik Die Malaria hatte mir wieder einmal schmerzhaft meine körperliche Verletzlichkeit in Erinnerung gerufen. Ich vergesse das gerne, wenn ich vom Wirbel meiner Gedanken und vom Sog meiner Pläne hinweggerissen werde. Diese Pläne rankten sich nicht mehr um Gelegenheitsjobs, ums Modeln oder um meine Ausbildung zur Notar gehilfin, sondern um die Bestimmung, die ich immer deutlicher in mir spürte. Ich wollte meine Karriere als Musikerin aufbauen. Während ich musikalisch noch herumprobierte und mich am Keyboard, an der Gitarre und im Gesang versuchte, wurde mir immer klarer, dass ich auch zum Komponieren und Texten Talent hatte. Ich begann, einzelne Töne und Tonfolgen zu einem Ganzen zusammenzufügen, ich komponierte, notierte Noten, setzte Textzeilen dazu — in Tigrinya zuerst, dann in Englisch, schließlich in Deutsch. Staunend stellte ich fest, dass Songs daraus entstanden, die ich singen und auch hören wollte. Ich tat mich mit Produzenten zusammen, suchte mir Musiker, hörte mich durch Berge von DemoCDs und Tapes und wurde schließlich fündig. Ich brauchte Leute, die nicht auf einen festen Stil festgelegt waren, sondern die im Soul genauso zu Hause waren wie im Pop, im Rock 'n' Roll so gut wie im Funk. Zwischen diesen Wurzeln suchte ich nach meiner eigenen Linie, gewürzt mit einer guten Prise der afrikanischen Rhythmen und Melodien, die ich in meiner Kindheit mitbekommen hatte, und garniert mit den wiegenden Stakkatoklängen der arabischen Musik, wie ich sie aus Khartum kannte. Es war eine Zeit des Experimentierens. Ich nahm mir von da einen Rhythmus, von dort eine Tonfolge, von hier eine Melodie und verschmolz alles zu einem Neuen, das mir gefiel. Dabei kämpfte ich ständig mit der Technik. Ich musste mir erst beibringen, Noten zu lesen, Noten zu schreiben, Musik am Computer festzuhalten, das Keyboard zu programmieren und einzelne elektronische Soundeffekte zu unterscheiden. Alles war neu für mich. Ich war eine blutige Anfängerin, und mir wurde rasch klar, dass ich mit meinen eigenen Liedern kommerziell erst dann eine Chance 281 bekommen würde, wenn ich technisch besser wäre. Gleichzeitig entwickelte ich ein Gefühl dafür, dass die in Deutschland, aber auch in Amerika kommerziell erfolgreiche Musik alles andere als Hexerei war. Je mehr ich selbst Musik machte, desto klarer wurde mir, dass das meiste, was mir täglich aus dem Radio und auf den Musikkanälen des Fernsehens entgegendudelte, reichlich simpel gestrickten Mustern folgte. Ein paar Akkorde, eine einfache Rhythmusschiene, ein paar elektronische Effekte, ein paar altbekannte Samples, und das Ding war sendefertig, wenn auf den dazugehörigen Clips die richtigen unverbrauchten jungen Gesichter zu sehen waren. Ob ich das auch schaffen könnte? Als Schwarze im deutschen Popzirkus mitmischen? Ich beschloss, es zu probieren. Völlig unbekümmert tauchte ich zwei Tage nach einem längst festgelegten Castingtermin bei einer Hamburger Agentur auf, fing ohne instrumentale Begleitung an zu singen und wurde vom Fleck weg für die Girliegruppe Corniche engagiert. Kein schlechter Anfang, auch wenn die Band superkommerziell war und nach betörend einfachen Mustern arbeitete. Die Girlieband zerbrach, als ich ausstieg, weil ich die Nase voll hatte von dem ganzen Frauengezicke. Trotzdem war Corniche für mich das Sprungbrett zur Solokarriere: Nach etlichen StudioEngagements, Clubtourneen und Auftritten in wechselnden semiprofessionellen Bands unterschrieb ich 1999 meinen ersten Künstlervertrag bei Polydor. Nun konnte ich musikalisch zum ersten Mal richtig loslegen. Ich entwickelte meinen »SenaitStyle«, eine Mischung aus Rhythm & Blues, Pop, afrikanischen Rhythmen und deutschen Texten. Wir produzierten ein paar Singles, die zwar nicht den großen Durchbruch brachten, aber immerhin von der Kritik freundlich aufgenommen wurden. Leben konnte ich davon freilich nicht, also suchte ich mir musikalische »BrotJobs« und schrieb etwa erfolgreich ein paar Texte für die Girliegruppe No Angels. Bei aller deutschen Popseligkeit wollte ich nicht meine Wurzeln vergessen und hielt all den eritreischen Konzerten und Festivals die Treue, die in Deutschland nach wie vor regelmäßig abgehalten werden, weil es hier eine große eritreische Gemeinschaft gibt, vor allem in Frankfurt am Main, Kassel und Hamburg. Ich liebte es, vor »meinen« 282 Leuten aufzutreten, unü u n ^»ng »unsere« eritreischei Lieder, aber auch meine eigenen Songs.
Einmal sang ich beim eritreischen Jugendfestival in Kassel. Meine Schwestern waren auch dort, und nach dem Konzert trafen wir uns. Wie lange hatte ich Yaldiyan und Tzegehana nicht gesehen! Als wir hinter der Bühne beisammenstanden, war alles wie in alten Zeiten — und doch nicht. Da war noch etwas anderes, das ich erst bemerkte, nachdem ich ein paar Minuten lang wie aufgezogen rumgeschnattert und ihnen die letzten Jahre meines Lebens in Kurzform erzählt hatte. »Du bist viel unterwegs«, sagte Yaldiyan, und sie sagte das so förmlich, als würde sie mich kaum kennen. Ich bejahte zögernd, und sie fuhr genauso distanziert fort: »Deine Stimme ist sehr gut geworden.« Normalerweise ist so etwas ein Kompliment, für das man sich freundlich bedankt, um dann das Thema zu wechseln, aber bei uns — wir waren doch Schwestern! Wir hatten die schlimmsten Jahre unseres Lebens zusammen verbracht, durchlitten und auch überlebt — und jetzt sollten wir Konversation machen? Ich wurde ungeduldig, fast aufbrausend. Ich war noch überdreht von dem Konzert. Vor ein paar tausend Menschen auf einer Bühne zu stehen und zu wissen, aller Augen sind auf dich gerichtet und wollen etwas von dir, das in diesem Moment nur du ihnen geben kannst, bringt das Blut ganz schön in Wallung. Und jetzt kam Yaldiyan mit ihrer Konversation! »Sag was anderes!« Ich schrie sie fast an. »Sag, dass du mich vermisst! Ich habe mir mehr erwartet! Irgendwas!« Sie sagte noch mal ganz sachlich: »Mann, hast du eine schöne Stimme ...« Mir kullerten die Tränen herunter. »Warum weinst du?« fragte sie. »Was glaubst du, warum ich weine?« fragte ich zurück. Darauf sagte sie nichts mehr. Die Szene wurde ihr zusehends peinlich, und ich merkte, dass sie versuchte, sich unter einem Vorwand von mir zu verabschieden. Das war nicht nötig, ich kam ihr zuvor — heulend stürzte ich davon, in die Garderobe. Sollte ich den Kontakt zu meinen Schwestern verloren haben? 283 Der große Preis Den ersten Durchbruch in meiner Karriere hatte ich Anfang 2003. Ich war Ende Zwanzig, wusste schon ein wenig, wie das Musikgeschäft gestrickt war, und hatte bereits zwei Dutzend selbstgeschriebener und selbstkomponierter Songs auf der Festplatte, die zwar noch nicht endgültig, aber doch schon einigermaßen passabel arrangiert waren. Zu diesem Zeitpunkt suchten die Leute von der ta^ der linksalternativen Berliner Tageszeitung, nach einem Kandidaten oder einer Kandidatin, den oder die sie für die deutsche Vorausscheidung zum Grand Prix Eurovision 2003 ins Rennen schicken konnten. Sie wandten sich an Polydor, deren Manager ihnen zuerst eine Boygroup andienen wollten, mit der die tarier jedoch nichts anfangen konnten. Daraufhin empfahlen die Plattenbosse den Journalisten, sich doch auf ihrer Website umzusehen. Dort entdeckten sie meine Arbeit und waren auf Anhieb begeistert. Ich traf die entscheidenden Leute aus der Redaktion, brachte meine CDs mit, sang vor und wurde wieder mal »vom Fleck weg« engagiert. Mir gefiel, dass die tarier nicht nur mein Aussehen, meine Vita und meine Herkunft interessant fanden, sondern auch meine Musik mochten, meinen Gesang und meine Ausstrahlung. Es sollte ein harter Kampf werden, immerhin trat ich gegen Konkurrenten wie den damals sehr populären Kanzlerimitator Elmar Brandt an, den die B//*/Zeitung präsentierte, und gegen die Sängerin Lou, die der Schlagerimpresario Ralph Siegel mit seinem Song »Let's Get Happy« in den Wettbewerb schickte. Lou war es, die das Rennen machte, weil sie die Art von Musik vertrat, die in Deutschland beim Grand Prix immer noch am ehesten angesagt ist: seichte Unterhaltung, die niemandem weh tut. Ich sang mein »Herz aus Eis«, einen hintergründigen, spröden Text zu einem pulsenden, leicht melancholischen Song — und erreichte den vierten Platz in der nationalen Endausscheidung. Das Lied war nichts für die große Masse, doch gut genug für landesweite Anerkennung und großen Applaus. Das war mir — ganz ehrlich! — auch wichtiger als ein Sieg beim Grand Prix, denn ich wollte keine Tagessiegerin sein, die im nächsten 284 Moiiicni" wieder in Vergessenheit, gerät, sondern ich wo'ke meine Karriere als Sängerin und Songwriterin aufbauen, und dazu schien mir mein Außenseiter und Achtungserfolg mit »Herz aus Eis« gut geeignet: In der Folge hatte ich unzählige Auftritte, im Fernsehen und live auf der Bühne, bei denen ich nicht nur meinen Grand PrixSong, sondern auch viele von meinen anderen Liedern einem größeren Publikum vorstellen konnte. Was mir nicht gefiel, war der Versuch vieler Journalisten, mich immer nur auf mein Vorleben, auf meine Zeit als Kindersoldatin, auf mein Leben als Afrikanerin in Deutschland, festnageln zu wollen. In Interviews fragten mich viele, ob ich schon mal rassistische Erlebnisse hatte, aber ich verneinte das immer. Zum einen gefiel mir diese Schiene nicht, auf die man mich offenbar gern setzen wollte, und zum anderen hatte ich tatsächlich kaum etwas in dieser Hinsicht erlebt. Am krassesten war es in der Redaktion der tav^ selbst. »Das darfst du in Interviews nie sagen«, erklärte mir eine Redakteurin noch vor der Endausscheidung, »dass du noch nie Rassismus erlebt hast in Deutschland.« Ich konnte solche Ratschläge nicht ernst nehmen. »Halt«, sagte ich, »Moment mal, soll ich etwa behaupten, ein
Typ habe mich rassistisch angemacht, auch wenn das nicht passiert ist? Soll ich das nur deshalb sagen, weil ihr links seid?« Die tarier beharrten auf ihrer Ansicht. »Etwas muss doch gewesen sein ...?!« »Ich habe das nicht erlebt, dazu stehe ich.« Mehr konnte ich nicht dazu sagen. Es ist schon paradox, wenn die Menschen enttäuscht sind, dass man nicht von Rassismus betroffen ist. Viele erwarteten solche Erfahrungen von mir, aber es gab sie einfach nicht, auch wenn es noch so sehr dem Klischee entspricht, das deutsche Journalisten über Schwarzafrikaner verbreiten wollen. Die Frage nach dem Rassismus ist genauso ein Klischee wie die Erwartung an mich, dass ich für jede DritteWelt Organisation kostenlos singen sollte, nur weil ich aus Eritrea komme. Doch ich habe einen Beruf, ich bin professionelle Sängerin, ich lebe von der Musik, nur nicht so gut wie viele andere deutsche Musiker. Warum singen nicht diese weißen, gutsituierten Sänger ständig für die Dritte Welt? Leute, die es nicht mehr 285 nötig haben, täglich um ihren Lebensunterhalt zu kämpfen, wie das bei mir immer noch der Fall ist? Warum müssen gerade die Afrikaner, die sich aus dem Elend ihres Kontinents herausrappeln konnten, für dieses Elend bezahlen? Ich habe oft für solche Organisationen gesungen, etwa für Karlheinz Böhm, und ich habe es gern getan, weil mir das Schicksal Afrikas am Herzen lag und liegt. Wäre ich aber allen Einladungen dieser Art gefolgt, hätte ich meine professionelle Musikkarriere schon alleine aus Zeitmangel bald an den Nagel hängen müssen ... Die Branche Es war ein Lernprozess für mich, und dieser Prozess stand unter der Überschrift: »Senait lernt, bei ihrer Musik ihren eigenen Willen zu erkämpfen.« Für mich bedeutete das, ich musste lernen, mich in der Plattenfirma durchzusetzen, damit ich keinen Kommerzschwachsinn machte, der mir zwar ein paar verkaufte CDs mehr bringen konnte, mir aber langfristig schaden würde, weil mich niemand in der Branche als Künstlerin ernst nähme. Es bedeutete, mich gegenüber Journalisten, Menschenrechdern und Wohltätigkeitsvereinen durchzusetzen, die mich wegen meiner Herkunft als regionalen Act gegen regionale Probleme wie etwa den Hunger in Äthiopien einsetzen wollten, ohne zu sehen, dass ich andere Botschaften zu anderen Themen habe. Dieser Lernprozess bedeutete, mich gegen die Begleiterscheinungen des Musikbusiness durchzusetzen. Stefan Raab und seine Mitarbeiter riefen mich an, ob ich nicht in seine Show kommen könne, aber ich wollte nicht. Er war ziemlich sauer, als ich dann zu Harald Schmidt ging. Das war eine witzige und coole Sendung. Ich dachte nie darüber nach, was die von mir wollen und was nicht, sondern ich versuchte immer, darüber nachzudenken, was ich von ihnen will und was nicht. Auch der Playboy versuchte krampfhaft, mich für Nacktfotos zu bekommen, zuletzt boten sie mir sogar Geld an. Ich sagte nur: »Vergesst es! Das interessiert mich nicht. Ich mache keine 286 Nacktfotos. Ich will dcij.Cu rnnn Können überzeugen, «icht durch nackte Tatsachen ...« Ich schwöre, dass ich das Geld gut hätte gebrauchen können, sehr gut sogar. Aber ich wusste, ich würde verlieren, wenn ich Dinge mache, zu denen ich nicht stehen kann und die ich nicht machen will. Die Leute in der Musikbranche sagen, ich sei schwierig. Ich bin gerne schwierig, na und? Als schwierig gilt jemand, wenn er nicht gehorsam ist. Jemand, der nein sagen kann, gilt als schwierig, weil er sich zu verteidigen weiß. Für meine Partner in der Musikszene ist es manchmal umständlich, mit mir umzugehen. Sie sind das Neinsagen nicht gewohnt. Sie sind es nicht gewohnt, dass jemand nicht auf jeden Modezug aufspringt. Die Manager sehen mich, ich bin schwarz, und sofort öffnen sie ihre Schubladen: »Amerikanische Schwarzenmusik«, »Rap«, »HipHop«. Doch diese Musikrichtungen hatten für mich nie eine Bedeutung, warum soll ich also daraus schöpfen, mich ihrer bedienen? Ich will das nicht, und wenn ich es trotzdem täte, käme nichts dabei heraus, weil ich nicht dahinterstehen kann. Wenn ich den Managern das sage und ihnen klarzumachen versuche, dass ich zu HipHopSongs, die nicht von mir stammen, und zu einer Musik, mit der ich nichts zu tun habe, nicht über die Bühne springen will, halten sie mich für schwierig. Damit muss ich leben. Ich konnte und wollte nie über die Schatten meiner Herkunft springen: Ich bin Afrikanerin, und das ist ein großer Unterschied zu den »AfroAmericans«, wie man die Schwarzen in den USA politisch korrekt nennen muss. An denen fasziniert mich nur ihr starker christlicher Glaube, dem sie feste Prinzipien verdanken. Ihre sonstigen Einstellungen gefallen mir nicht, im Gegenteil, ich finde sie oft richtig dumm. Jedesmal, wenn ich einen Schwarzamerikaner frage, ob er Afrikaner ist, rastet der aus. Allein die Frage ist für die meisten Amerikaner schon eine Beleidigung, weil sie extrem rassistisch sind gegenüber den Menschen, von denen sie abstammen. Auch die Schwarzen haben Vorurteile gegenüber dem Kontinent ihrer Herkunft. Amerikaner sollten nicht allzuviel von Tradition sprechen, von Geschichte, von Wurzeln. Sie beanspruchen zwar den Status der einzigen Weltmacht, doch sie können den Völkern, die sie erretten oder bestim 287 men wollen, kulturell oft nicht das Wasser reichen. Das heißt nicht, dass ich prinzipiell gegen Amerika oder gegen die Amerikaner wäre, mich stören nur einzelne Einstellungen, das Machtgehabe, die Politik.
Englisch singe ich trotzdem. Das hat nichts mit den USA zu tun, sondern mit der Sprache, zu der ich Lust habe. Sie wird überall auf der Welt verstanden, sie ist schön, und oft passt sie am besten zu der Art von Musik, die ich mache. Englisch ist eine Sprache, die wunderbar fließen kann, die melodisch ist und die ich glücklicherweise sehr gut beherrsche. Doch in letzter Zeit will ich immer mehr auf deutsch singen, weil das eine noch poetischere Sprache ist, eine Sprache mit unendlich vielen Facetten. Ich merke, dass ich mich auf deutsch so ausdrücken kann, dass bei meinen Songs das rüberkommt, was ich den Menschen mitteilen will. 288 Heute Der Umzug nach Berlin war ein wichtiger Schritt für mich. Den Entschluss fasste ich im Dezember 2002 vor allem aus praktischen Überlegungen: Meine damalige Plattenfirma war eben von Hamburg nach Berlin gewechselt, genauso wie viele Musiker, Manager und andere Leute aus der Branche, mit denen ich laufend zu tun hatte. Plötzlich saß ich fast jede Woche im ICE nach Berlin. Voller Vorfreude auf das, was nun kommen würde, saß ich mit meinen paar Kartons, meinem Computer und vor allem mit meinen CDs im Kombi eines Freundes, der mir mein Zeug nach Berlin brachte. Doch schon bald merkte ich, dass Berlin nicht die frohe, lebendige, internationale und swingende Stadt ist, als die man sie von außen wahrnimmt, wenn man nur die schicken Büros der Plattenlabels, die besten Partys, die trendigsten Lokale und die ausgewähltesten Konzerte kennt. Sobald ich meine Koffer abgestellt hatte, sobald ich meine täglichen Gänge zuerst in Kreuzberg und dann mitten im verschlafenen Schöneberg machte, aufs Postamt, zur Bank, in den Supermarkt, zum Gemüsehändler um die Ecke, sobald ich die Nachbarn sah und die Menschen, die jeden Tag in der UBahn stehen, da merkte ich, dass Berlin kein kosmopolitisches Zentrum ist, sondern eine große und etwas piefige Provinzstadt. Berlin ist eine schmutzige, graue, heruntergekommene Ansammlung von Mietskasernen, in denen jede Menge desillusionierte, frustrierte und Zukurzgekommene leben. Bald dachte ich mit Wehmut an Hamburg zurück. Wie leuchtend, international und beschwingt kam mir die Stadt von Berlin aus betrachtet vor. Wie fröhlich, gutgelaunt und zuvorkommend bewältigten die Menschen dort ihren Alltag. Natürlich kann man sich in Berlin leicht nur mit gutgelaunten Leuten umgeben, aber das funktioniert nur, wenn man die GuteLauneGhettos in BerlinMitte und kleinen Teilen von Charlottenburg nie verlässt, sich nur in der InCrowd bewegt und nicht nach links oder rechts sieht, wo die »normalen« Leute wohnen, doch das ist nicht die Art, wie ich eine Stadt erleben will. In Berlin traf mich auch erstmals und immer wieder ein Phänomen, 289 das ich bis dahin noch nicht kannte: Rassismus. Ich musste an meine Besuche in der /»^Redaktion denken und an unsere Gespräche über den Rassismus. Jetzt wusste ich erst, was die Leute gemeint hatten. Jahrelang hatte ich in Hamburg gelebt, ohne Schwierigkeiten mit rassistischen Äußerungen oder Verhaltensweisen zu haben, doch in Berlin war es damit bald vorbei. Inzwischen kann ich manches über den alltäglichen Rassismus berichten. Das sind Fälle wie jener Taxifahrer, den ich bat, die Scheibe ein wenig hinaufzudrehen, weil mir kalt war, und der nicht reagierte. Ich sagte es noch mal und auch noch ein drittes Mal, schon ein wenig lauter, weil ich dachte, der Mann sei schwerhörig. Aber er hatte mich gut verstanden, denn er grummelte mir als Antwort einen Satz entgegen, auf den hin ich ihn sofort anhalten ließ und aus dem Taxi stieg: »Nigger nehme ich zwar mit«, sagte er, »aber reden muss ich nicht mit ihnen.« Rassismus in Berlin, das sind Ereignisse dieser Art. Berlin ist ein härteres Pflaster als Hamburg. Die Menschen hier respektieren einander weniger. An meinem neunundzwanzigsten Geburtstag, im Dezember 2003, feierte ich ein Fest in der »Trompete«, der Bar von Ben Becker. Eine Woche lang hatte ich dafür gearbeitet, richtig geackert. Ich hatte auf eigene Kosten meine Musiker aus Hamburg kommen lassen, einen Tag lang eingekauft, einen Tag lang afrikanisches Fingerfood und kleine Snacks zubereitet. Es sollte ein toller Abend werden, ein schönes Fest, bei dem ich Leute wiedertreffen wollte, die ich monatelang nicht gesehen hatte, weil viele von ihnen in Hamburg lebten. Der Abend begann damit, dass mir die Zigaretten gestohlen wurden, während ich mit jemandem sprach. Sie lagen nur einen halben Meter hinter mir, ein paar Minuten lang unbeauf sichtigt. Später am Abend verschwand meine Handtasche mit ein paar hundert Euro drin, dem Geld für die Gage und das Hotel der beiden Musiker. Außerdem waren mein Handy, mein Ausweis und verschiedene persönliche Sachen in der Tasche. Der Dieb hatte die Dreistigkeit, von meinem Handy aus meine Cousine Suzy anzurufen, die auch auf der Party war. Er war durch meinen Ausweis draufgekommen, dass er die Tasche seiner Gastgeberin gestohlen hatte, und erklärte Suzy, dass er nicht die Ab 290 sieht hab*\ mein I landv oder 'h* gestohlene Geld zuiückzugcben. Nur die SIMKarte ließ er in einem arabischen Imbiss in der Nähe liegen, und er sagte Suzy, wohin er die Tasche geworfen hatte. Als wir wenigstens die Tasche holen wollten, war sie längst weg, von jemand anderem gestohlen. Meinen
Ausweis fand ich nie wieder. Ich war wütend. Zehn Tage vorher war mir schon mein Portemonnaie mit ein paar hundert Euro in einem Club gestohlen worden. Seitdem lasse ich, wenn ich in dieser Stadt unterwegs bin, meine Sachen keine Sekunde aus den Augen. Politik Während all der Jahre pflegte ich viele Kontakte nach Eritrea. Die Eritreer sind ein kleines Volk, und weil sie über die ganze Welt verstreut leben, ist der Zusammenhalt zwischen den Menschen überdurchschnittlich stark, genauso wie ihr Stolz auf jeden einzelnen von ihnen, der es zu etwas gebracht hat. In Eritrea leben nur 3,6 Millionen Menschen, in Deutschland vermutlich bloß ein paar tausend Eritreer. Die meisten Auswanderer leben in den USA, in Skandinavien oder in Australien. Als ich zuletzt in Kassel beim eritreischen Jugendfestival auftrat, waren wie jedesmal zuvor auch die Vertreter der eritreischen Regierung anwesend. Diesmal jedoch kamen sie alle zu mir, begrüßten mich, umarmten mich, herzten mich und mussten noch tausendmal zusammen mit mir fotografiert werden. Sie wollten mich für ihre Sache gewinnen, für den eritreischen Nationalismus, für die EPLF, für die nach Jahren des Friedens wieder erstarkende Rivalität mit Äthiopien. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und zog danach auf der Bühne mein Ding durch. »Ich singe für euch«, sagte ich, »aber ich kann mich nicht ändern — mein Vater ist Eritreer, meine Mutter stammt aus Äthiopien, und ich werde zu ihr stehen. Ich singe in der Sprache, die ihr versteht, und ich bin ein Teil von euch.« Der Applaus war gewaltig, weil viele der Menschen im Publikum längst genug hatten von Krieg, vom 291 Zwist mit Äthiopien, von der ewigen alten Leier des Hasses. Sogar die eritreischen Regierungsvertreter kamen nach dem Konzert noch mal zu mir und bedankten sich überschwenglich. Was sich hinter diesen lächelnden Fassaden in Wahrheit verbarg, erfuhr ich erst durch die EMail eines Deutschen, der sich sehr für Eritrea interessiert. Er schrieb: »Weißt du, meine Frau und ich, wir haben dich immer bewundert, aber das ist für uns Verrat. Wie konntest du in Kassel auftreten, für die Regierung von Isaias Afwerki. Du warst doch selbst bei der ELF, du weißt doch, was die mit den Kindern machen ...« Ich wusste erst nicht, was er meinte, aber dann informierte ich mich gründlich und kam zu einem vernichtenden Schluss: In Eritrea hat sich bis heute nichts geändert. Es werden immer noch Kinder aus ihren Häusern und Familien herausgerissen und zu Soldaten gedrillt. Ich habe Bilder aus Dogali gesehen, einem Ort zwischen Asmara und Massawa. Es waren Bilder von den zerstörten, verlassenen Geisterstädten des letzten Krieges, die jetzt vom Militär genutzt wurden, um dort Kinder für den nächsten Krieg gegen Äthiopien auszubilden. Afwerki, der jetzige Präsident Eritreas, war während des Bürgerkriegs und während des Kriegs gegen Äthiopien als Soldat der EPLF selbst Mitglied einer solchen Einheit. Dort fiel er den Obersten durch besonderen Einsatz auf und konnte sich so bis zum Staatschef hinaufdienen. In anderen afrikanischen Ländern ist die Situation noch schlimmer, beispielsweise in Uganda, wo viel mehr und viel jüngere Kinder zu Soldaten gemacht werden. Außerdem gibt es heute viel leichtere und kleinere automatische Gewehre, die von Kindern besser bedient werden können als die riesigen Kalaschnikows, die wir zu meiner Zeit hatten. Die Waffenhändler machen immer bessere Geschäfte mit den unberechenbaren Diktatoren überall in Afrika und den Chefs unzähliger, oft winziger Rebellenarmeen, die sich gegenseitig rücksichtslos niedermetzeln und die Zivilbevölkerung gleich dazu, wie es etwa in Liberia oder in Sierra Leone geschieht. Solche Gemetzel hatte es früher auch bei uns gegeben. Zu Zeiten des äthiopischen Kaisers Haue Selassie in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts rotteten 292 dessen Soldaten viele Dörfer in Eritrea aus und verschonten auch die Babys, vor allem die männlichen, nicht, damit es keinen Nachwuchs für die Armeen der Rebellen gab. Heute hat dieses Schlachten bei uns in Eritrea und in Äthiopien zwar aufgehört, aber das heißt noch lange nicht, dass diese beiden Länder Demokratien wären. Von Mitbestimmung ist dort keine Rede, auch wenn sich die Staaten selbst offiziell als »demokratisch« bezeichnen. Es handelt sich um Diktaturen — wie sonst soll man es nennen, wenn ein Land nur eine Partei erlaubt und sich keine Opposition bilden darf? So ist das in Eritrea, und so ist es in Äthiopien. Es passiert nichts anderes als früher: Militärkommandos greifen die Kinder von der Straße auf oder nehmen sie ihren Eltern von zu Hause weg und bilden sie als Soldaten aus, wenn auch »erst« im Alter von vierzehn, fünfzehn, sechzehn Jahren und nicht so jung wie zu meiner Zeit. Verändert hat sich weniger das Land, als vielmehr der Präsident Eritreas, Isaias Afwerki. Als Führer der EPLF hatte er sich jung und rebellisch gegeben und war wie ein sozialistischer Befreiungskämpfer aufgetreten. Als er 1991 die Kämpfe gegen die Äthiopier siegreich beendete und Eritrea nach einer Volksabstimmung 1993 in die Unabhängigkeit von Äthiopien führte, wurde er weltweit gefeiert und ging mit seinen Leuten auf die Straße, die jubelnden Kinder an der Hand. Heute ist Afwerki ein Präsident wie alle anderen, mächtig und unnahbar. Er braust in einer Kolonne von schweren MercedesLimousinen durch ein Land, das zu großen Teilen immer noch am Hungertuch nagt oder zumindest am Tropf internationaler Hilfslieferungen hängt. Ständig läuft er im
Armeeanzug herum und spielt den mächtigen Mann. Doch zuviel Macht verändert die Menschen, und das tut ihnen selten gut. Viele meiner eritreischen Freunde und Verwandten hier in Deutschland interessieren sich herzlich wenig für diese Dinge. Meine Cousinen Suzy und Ruta zum Beispiel wurden zwar noch in Afrika geboren, wuchsen aber in Hamburg auf und finden Leute aus unserem Land nur peinlich. Sie stehen auf Amerika, auf HipHop und Rap. Von Afrika haben sie keine Ahnung. Wenn ich unsere Sprache Tigrinya verwende, was sie von ihrer Mutter her zwar noch verstehen, aber nicht allzugut 293 sprechen, sind sie immer pikiert. »Senait, das ist erschreckend«, sagte Suzy einmal zu mir, »du sprichst Tigrinya wie die Alten. Du drückst dich wie eine Omi aus. Woher kannst du das?« Das war nicht als Kompliment gemeint, sondern abwertend. »Tja, ich habe mir Mühe gegeben, das nicht zu vergessen und richtig zu sprechen«, sagte ich. Wenn wir unter uns sind und ich in unserer Sprache rede, lachen sie sich fast tot. Als wir aber einmal miteinander unterwegs waren, bat Suzy mich fast inständig: »Bitte rede nicht in der UBahn oder in der SBahn Tigrinya mit mir.« Ihr war das peinlich. Ich fragte sie: »Was ist denn daran peinlich?« und schrie extra laut Dinge wie: »Anti anchuwa!«, das heißt: »Du Maus!«, und was mir sonst noch gerade so einfiel. Meine Cousinen waren schockiert, die anderen Leute in der UBahn wussten nicht im geringsten, was hier abging, und ich hatte meinen Spaß daran, die zwei »Hühner«, wie ich meine Cousinen gern nenne, zu schockieren. Wut oder Neid Oft hatte ich voll Wut, aber auch voller Neid an meine Cousinen gedacht! Sie sind ein bisschen jünger als ich, doch in ihrem Wesen kommen sie mir wie Kinder vor: völlig sorglos, ohne einen Gedanken an ihre Herkunft, ihre Vergangenheit, ihre Familie. Dass ihre Mutter als halbwüchsiges Kind mit den Kindersoldaten gekämpft und täglich mit Mord und Totschlag zu tun hatte, ist ihnen egal. Suzy und Ruta haben nichts davon mitbekommen, weil sie noch Säuglinge waren, als ihre Mutter Afrika verließ. Angesichts von soviel Ahnungslosigkeit pendelte ich zwischen Wut und Neid. Ich wünschte, ich könnte auch so in den Tag hineinleben und mich mit neuen Klamotten beschäftigen, mit neuen Freunden, neuen Handys und mit den Filmen, die im Kino anlaufen. Okay, ich übertreibe. Meine beiden »Hühner« sind nicht den ganzen Tag damit beschäftigt, was gerade in ist, das wäre eine üble Unterstellung. 294 Aber sie beschäftigen sich ausführlich und mit großem Genuss mit solchen Themen. Ich denke oft, dass sie sich um ihren netten belanglosen Alltag kümmern können, während ich meine Zeit mit Nachdenken, Grübeln und Erinnern zubringen muss, ob ich will oder nicht. Bei mir hat eines mit dem anderen zu tun, ich kann mein Heute nicht von meiner Vergangenheit trennen. Meine Lieder sind eins mit Afrika. Meine Musik, meine Texte würden ohne die Jebha nicht funktionieren. Die Angst würde mich nicht regelmäßig überfallen, wenn es meine schlimmen Erfahrungen nicht gäbe. Mein Glück resultiert aus der Zuneigung, die ich trotzdem erfahren habe. Mein Leben sieht aus wie das Rechnungswesen in der Fachoberschule für Wirtschaft, an der ich Abitur gemacht habe. Dort fängt man auch nie ein komplett neues Thema an, sondern eines baut auf dem anderen auf: zuerst Inventur, dann Rechnungsprüfung, dann das Bestellwesen. Wer einmal gefehlt hat, hat ein Loch in seinem Wissen, das ihn immer stören wird — wie bei einem Gebäude, dem ein Ziegelstein fehlt. Mit meinen Gefühlen und meinen Katastrophen ist es ähnlich: Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr, bis ich endgültig von zu Hause auszog, passierte eine Katastrophe nach der anderen. Eine baute auf der anderen auf und versc hlechterte damit meinen Zustand, geistig wie körperlich. Es war zuviel von allem. Zuviel Krieg, zuviel Gewalt, Hass und Vernachlässigung. Erst heute kann ich vieles von dem, was ich erlebt habe, als bestandenen Kampf sehen, über den ich bis vor kurzem noch nicht reden konnte, zumindest mit den meisten Leuten nicht. Vieles davon habe ich heute verdaut, nur den sexuellen Missbrauch nicht. Darüber stehe ich immer noch nicht, diese Erfahrungen kann ich nicht distanziert betrachten oder neutral darüber sprechen. Deshalb versuche ich normalerweise, sie zu verschweigen. Aber selbst diese härtesten Momente meines Lebens hätte ich ohne große Schäden überstehen können, wenn nicht zusätzlich noch der Krieg gewesen wäre, die Jebha, die ELF. Alles zusammen war zuviel für mich. Nach allem, was ich erlebt habe, den Schaden, der an mir angerichtet wurde, wiedergutzumachen kommt mir oft noch härter vor als das Erlebte selbst. 295 Ich forsche ununterbrochen nach den Gründen, woher meine Ängste kommen. Warum habe ich nachts Angst5 Warum wird mir komisch, wenn ich eine Waffe sehe5 Ich gerate schon beim Anblick einer dieser albernen kleinen Feuerzeugwaffen in Panik. Ohne es zu wollen, drehe ich durch. Ich versuche mir das bewusstzumachen, aber es nutzt nichts. Sobald ich wieder in so eine Situation gerate, reagiere ich automatisch mit Panik. Immer wieder tauchen in meinen Traumen, meinen Albtraumen, die Bilder aus der Vergangenheit auf. Dann
sehe ich wieder die angeschwemmten Leichen neben unserem Lager in der Provinz Gesh Berka. Ich kann immer noch nicht bei Dunkelheit schlafen. Ich brauche ein Licht neben meinem Bett, weil ich sonst in Panik verfalle, wenn ich aus einem dieser Albtraume hochschrecke und um mich herum nur Finsternis ist, die mich zu verschlingen droht. Ich lasse immer den Fernseher laufen, zu Hause, in allen Hotels. Die Stimmen, die Bewe gungen, die Farben geben mir wenigstens ein bisschen Sicherheit, und ich habe das Gefühl, dass sich die Welt noch dreht. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wurde ich über Nacht mein Lagerfeuer nie ausgehen lassen. Ich habe kein Lagerfeuer in meinem Berliner Zimmer. Also lasse ich den Fernseher laufen. Es gibt aber auch andere Traume. Einer kehrt immer wieder: Ich sehe mich, modern und europaisch gekleidet, wie ich heute bin, auf einer Straße gehen, und neben mir geht ein kleines, abgerissenes, armseliges Madchen. Das bin auch ich, als Kind. Wir gehen nebeneinander her. Es ist traurig und auch rührend für mich, mich so zu sehen. Das sind meine beiden Seiten, die nebeneinander leben, immer und gleichzeitig. Damals in Hamburg dachte ich, wenn ich von zu Hause wegbliebe, wurde ich einmal tief einatmen und gleich darauf alles auf einmal wieder ausatmen, für immer. Ich hielt mich für unbesiegbar, aber das war der größte Irrtum meiner Pubertät: Ich konnte meine Kindheit, meine frühe Jugend und alles, was wahrend dieser Jahre passiert war, nicht abschütteln wie eine zu klein gewordene Haut. Die Erinnerungen klebten an mir fest wie Gummi. Sie klammerten sich an mich, saugten mich aus, brachten mich oft zu Fall. Es war viel an Überlegung notwendig, 296 an Bewusstwerdung, um diese mich einschnürende Haut meiner Vergangenheit abzustreifen. Verlierer und Gewinner Mein Fehler war, dass ich für alles, was mir widerfuhr, die Schuld immer bei mir selbst suchte, nie bei anderen, auch nicht bei meinem Vater. Nie gab ich ihm die Schuld dafür, dass ich als Kindersoldatin in den Krieg ziehen musste, immer suchte ich sie nur bei mir selbst. So dachte ich, danach lebte ich, so fühlte ich, und so machte ich mich kaputt. Ich tat mir oft weh, weil ich mich für bescheuert, dumm, blöde, nicht lebensfähig hielt. Alles Schlechte übertrug ich auf mich, und meine positiven Seiten konnte ich nicht wahrnehmen. Trotzdem war ich nie ein Mensch, der auf der Verliererseite stand. Das ist bis zum heutigen Tag so, und ich bin trotzig genug, auf dieser Position zu beharren. Dieser Trotz ist das einzige, was mich wenigstens so weit retten konnte, dass ich lebe und dass ich mein eigenes Leben lebe. Dieser unglaubliche Trotz, den ich schon immer hatte, von Anfang an. Als mir mein Vater in Hamburg sagte, ich sehe dich bald nur noch auf dem Strich, da wirkte dieser Trotz. Danach büffelte ich in der Schule wie eine Verruckte, doppelt so stark wie vorher, und schaffte das drittbeste Abitur meiner Klasse — aus Trotz. Aber auf Dauer reicht mir der Trotz nicht mehr. Ich muss etwas anderes danebensetzen. Etwas Positives, etwas noch Eigeneres. Vielleicht muss ich nur erwachsen werden. Wenn ich solche Überlegungen anstelle, denke ich immer wieder an die Menschen in Eritrea, die diese Selbstfindungsprobleme nicht kennen. Ich denke auch an Menschen, die mir nahestehen, an Kunsder, an Sanger. An Helen Meles beispielsweise, die bekannteste Sängerin Eritreas. Helen singt genau das Gegenteil dessen, was ich zum Thema meiner Lieder mache. Sie singt Texte wie: »Wir sind unabhängig, wir sind frei ...« Jubellieder sind das, ungebrochen, rein, aus voller Überzeugung hinausgeschmettert. Ich singe dagegen so etwas wie: »Ich weiß 297 nicht, wozu das gut ist, wo soll das hingehen ...« Meine Texte sind nachdenklich, vorsichtig, zweifelnd. Ich bin das zweiflerische Gegenteil zur strahlenden Siegerin. In Helen sind noch alle Parolen, die ihr eingetrichtert wurden und die sie nie aus einer Distanz heraus gesehen hat. Bei uns Eritreern, die nach Europa oder Amerika fliehen konnten, ist das anders. Plötzlich saßen wir in unseren eigenen vier Wänden, in denen alles friedlich war, sicher, sauber, geordnet und ruhig, und begannen nachzudenken: »Was? Du warst eine Soldatin?! Als Kind schon?« Erst hier gewannen wir die Freiheit, uns über unser Leben Gedanken zu machen. In Afrika gab es keine Aufarbeitung. Dort bedeuten Politik und Religion immer nur Freiheit und Unabhängigkeit für unser Land. Andere Kategorien gibt es nicht. Die Freiheit der einzelnen tritt dahinter zurück. Meine Freundin Lula als Soldatin der EPLF. Wegen dieser Zweifel sind die meisten von uns Emigranten so kaputt — im Gegensatz zu den Menschen, die nach wie vor in Eritrea leben. Helen geht auf die Bühne und singt: »Ich kämpfe für die Freiheit ... wir sind unabhängig ... wir sind unerreichbar ... wir haben es geschafft ...!« und ist eins mit sich. Ich singe: »O Gott, wie halte ich meine Seele aus, sie ist kaputt ...« Das ist der Unterschied. 298 Wie ich grinsen musste, als Lula, eine meiner eritreischen Freundinnen, die als Kind ebenfalls Soldatin war, zu mir sagte: »Senait, ich bin stolz darauf, gekämpft zu haben.« Sie wurde von Kind auf so erzogen, von ihren Eltern, im Kindergarten, in der Schule. Wie stolz und selbstbewusst ihre Haltung war, als sie das sagte! Sie hatte nicht nur Curry in ihre Erzählung hineingetan, nein, auch Pfeffer und Salz, mit soviel Würze erzählte sie alles. Das war nicht gestellt, sie empfand es so, und genauso empfinden es die meisten der Soldatinnen, die in
Eritrea leben. Sie sind so erzogen, dass sie es richtig finden, für ihr Land zu kämpfen. Sie sind stolz, Soldatinnen gewesen zu sein. Wenn sie mal hierherkommen oder in Europa leben, vergeht ihnen der Stolz. Keine »europäische Eritreerin« ist stolz darauf, Soldatin gewesen zu sein. Erst hier wurde allen, die in Afrika als Kinder kämpften, bewusst, wie schrecklich das alles war. Für Leute wie mich gibt es in Asmara ein Irrenhaus, da kommen alle hinein, die so denken und so voller Zweifel sind wie ich, denn sie gelten als unheilbar und komplett verrückt. Man schließt die Tür hinter ihnen; und fertig ist die Behandlung. Von einer psychologischen Betreuung ist dort keine Rede. Wäre ich in Eritrea aufgewachsen oder würde ich immer noch dort leben, dächte ich bestimmt genauso wie Helen. Ich bin fest davon überzeugt, weil ich weiß, wie stark die Umgebung einen Menschen formt. Ganz besonders solche Menschen, die ihre angestammte Umgebung nie verlassen konnten. Für Deutschland gilt das genauso. Hier geht es den Menschen um Bildung. Es geht darum, zu dieser oder jener Bevölkerungsgruppe oder sozialen Schicht zu gehören. Hier sind die Hauptthemen Karriere, Erfolg, Macht, Geld und innere Zufriedenheit. Zufriedenheit verbinden die Deutschen vor allem damit, alles zu haben, materiell gesehen, und finanziell unabhängig zu sein. In Afrika ist die Unabhängigkeit auf das Land bezogen — Eritrea soll unabhängig sein. Jenseits davon geht es nur ums Kinderkriegen und um die Familie. Jeder dort sagt zu mir: »Du musst Mutter werden!« Finanzielle Unabhängigkeit ist für die meisten Menschen in Eritrea nicht mehr als ein ferner Traum, deshalb kümmern sie sich nicht darum. Dass dort kaum jemand an seiner Karriere 299 bastelt, liegt daran, dass es keine Karrieren zu machen gibt — außer durch Auswanderung. In Deutschland lernte ich, was es heißt, frei zu sein. Also versuchte ich, mich an diese freien Menschen anzupassen. Ich wollte zu den Menschen gehören, die hier leben. Trotzdem prägte mich immer noch et was anderes, und solange ich das nicht verarbeiten konnte, passte ich nicht hierher, weil ich zwischen meiner alten Identität und meiner neuen ständig hin und hergerissen wurde. Verarbeiten, verdrängen, vergessen — ich kann mir aussuchen, was ich mit meiner Vergangenheit tun möchte. Für die Eritreer, die in ihrer Heimat geblieben sind, kommt keine dieser drei Möglichkeiten in Frage. Sie wollen ihre Erlebnisse nicht verdrängen oder vergessen. Sie sind stolz darauf, dass sie ein Teil ihres Lebens sind. Sie erzählen voller Selbstbewusstsein und Würde darüber, während mich Fragen quälen wie: »Wer bin ich?« Oder: »Was bin ich?« Erstaunlich genug habe ich trotz dieser Schwierigkeiten gelernt, mich zu lieben. Ich mag Senait Ghebrehiwet Mehari. Egal, wer sie ist und was sie ist. Ich mag diese Person, sie gefällt mir. Keiner kennt sie so gut wie ich. Ist das nicht seltsam, dass ich von mir in der dritten Person spreche? — Nein, keine Angst, ich bin nicht gespalten. Doch wer immer nur in der Ichform denkt, denkt nur so, wie sein Denken gerade denken will. Wer dagegen den eigenen Körper verlässt und ihn sich als dritte Person denkt und herbeimeditiert, der erkennt viel mehr. Wer seinen eigenen Text ständig hört, versteht ihn viel besser. Wenn ich meine Songs höre, um sie zu korrigieren, und meine Texte lese, um noch etwas an ihnen zu ändern, denke ich oft: »O mein Gott, wie bist du auf diese Zeile gekommen? Das ist ja genau das, worum es geht!« Manchmal bin ich geschockt, was für Texte ich schreibe. Natürlich schreibe ich sie so, wie ich in diesem Moment empfinde, aber wenn ich mir das bewusst anhöre, frage ich mich: »Jesus — woher kommen diese Zeilen!?« Sie kommen daher, dass ich manchmal neben mich treten kann. Bei alldem hilft mir mein Glaube. Meine Taufe, die meine Großeltern für mich in Jerusalem arrangiert hatten, hat heute noch Be 300 deutung für mich, sie ist mir wichtig. In Deutschland gehe ich fast nie in die Kirche, hier bin ich nicht mal Kirchensteuer zahlende Christin. Dabei bin ich nicht etwa knausrig, sondern von der Kultur her, die mir in der Zeit meiner Kindheit vermittelt wurde, kann ich einfach nicht verstehen, dass jemand Steuern zahlen muss, damit er Gott anbeten darf und sich von jemandem das predigen lässt, was er am nächsten Tag leben soll. Ich kann nicht verstehen, dass Pastor ein Beruf mit Urlaubsanspruch, dreizehntem Monatsgehalt und Pensions berechtigung sein kann. Für mich ist Priester ein Beruf des Herzens, eine Berufung, der jemand aus Begeisterung folgt und nicht, weil er einen Job braucht. In Afrika leben Pfarrer von den Spenden, die sie von den Gläubigen bekommen. Wenn sie schlechte Pfarrer sind, bekommen sie keine Spenden und müssen sich eine andere Beschäftigung suchen. Dieses System kommt mir viel echter vor als das europäische. In Afrika gehen die Menschen in die Kirche, um miteinander zu beten und zu singen. Um etwas zu spüren. Um ihre Zusammengehörigkeit zu fühlen, und nicht, um sich sonntags eine Stunde lang berieseln zu lassen, wie ich das in Deutschland oft genug beobachtet habe. Das ist für mich uninteressant, ich empfinde es als Zeitverschwendung. Für mich ist es ehrlicher, meine Gebete alleine zu Hause zu sprechen. Ich bete oft dafür, dass ich meine Vergangenheit überwinden möge. Ich möchte nicht mehr Opfer meiner Umstände sein. Opfer zu sein reicht mir nicht mehr, und ich glaube, ich schaffe es, diese Rolle zu überwinden. Das einzige, was mich noch besiegen kann, wäre eine Krankheit. Bis jetzt hat das nicht mal die Malaria
geschafft. Ich hatte so oft Malaria, dass wir inzwischen die besten Freunde sind, auch hier in Deutschland. Alle vier Jahre pocht die Krankheit an meine Tür. Ich bin deswegen regelmäßig in Behandlung. Malaria tropica ist der treueste Begleiter, den man sich vorstellen kann. Das Virus will nicht absterben, aber besiegen konnte es mich noch nicht. Manchmal denke ich, das kann nicht alles Zufall sein. Aber was ist es dann? Schicksal? Bestimmung? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich eines bestimmt nicht will — Mitleid. Mideid ist eklig. Mideid kann ich mit jedem haben. Ich 301 will mir lieber Neid erkämpfen. Neid ist gut. Ich möchte zu Recht stolz sein können auf das, was ich tue. Ich spüre, dass ich langsam in eine neue Phase meines Lebens komme. Zwar bin ich auf vieles nicht stolz, aber ich bin ein bisschen stolz auf mich. Ich kann das sagen, weil ich es fühle und weil ich weiß, dass ich so denken muss, wenn ich nicht untergehen will. Das soll mir erst mal einer nachmachen! Ich habe sechs Jahre Therapie hinter mir, und ich habe dabei viel verstanden. Ich mag Senait, und ich mag sie — das ist neu — nicht nur in den fröhlichen Stunden. Ich mag Senait auch, wenn Senait weint. 302 Morgen Für die Zukunft wünsche ich mir vor allem Anerkennung. Ich will keine Geschenke, ich will keinen Lotteriegewinn, sondern ich will Anerkennung für das, was ich geleistet habe — in der Musik, im Leben, in der Arbeit. Auf meinem Gebiet, dem Singen und Songschreiben, will ich alles erreichen, was es zu erreichen gibt, und ich spüre, dass ich einiges schaffen werde. Dazu brauche ich noch ein bisschen Zeit. Sechzig muss ich schon werden dazu, mindestens. Ich weiß, dass das für Europäer kein hohes Alter ist, aber bei uns in Afrika gilt jemand schon als sehr alt, erfahren und weise, wenn er sagen kann: Leute, ich bin sechzig, hört mich an! Ich weiß, dass Erfolg zu haben mit dem, was man macht — in meinem Fall mit der Musik —, nicht der Sinn von allem ist. Wenn ich hierzulande erfolgreich bin, habe ich zwar Geld, und dann akzeptieren mich zumindest die oberflächlichen Menschen, denn alle wollen gern etwas mit den Erfolgreichen zu tun haben, aber damit ist noch nicht gesagt, dass ich glücklich bin. Doch ich möchte Senait zufriedenstellen, nicht nur meine Fassade. Für mich ist es wichtig, Senait glücklich zu machen. Ich möchte Senait innerlich lachen sehen. Ich möchte Familie, ich möchte Kinder. Ich will stolz sein auf meine Erfahrungen. Manchmal denke ich, dass ich viel will und dass ich vielleicht zuviel verlange. Ich glaube, ich sollte bescheidener sein. Also wünsche ich mir erst mal, dass ich alt werde, sonst reicht die Zeit nicht für all das, was ich vorhabe — zum Beispiel das mit meinen Kindern. Ich bin die coolste Mutti, ganz bestimmt, ich weiß das. Wie ich mit Kindern umgehen kann! Mein Mitbewohner entschuldigt sich jeden Tag wegen seiner Kinder. Ich habe ihm gesagt: »Uwe, hör auf damit!« Die Kinder wohnen nicht bei ihm, aber wenn sie da sind, kleben sie alle in meinem Zimmer. Es sind zwei Mädchen, Zwillinge, drei Jahre alt, und noch ein älteres Mädchen, die ist gerade zwölf Jahre alt geworden. Diese drei Mädchen gehen nicht raus zum Spielen und sie wollen nicht nach Hause, wenn sie bei mir sind. Wir liegen alle auf meinem Sofa und sprechen und albern herum und lesen was und 303 gucken Zeichentrickfilme. Das ist für mich das Schönste, was es gibt. Uwe hat schon ein paarmal gesagt: »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der soviel Geduld mit Kindern hat.« Er vertraut mir total. Davon habe ich immer geträumt, von Kindern. Ich mochte, dass meine Kinder und deren Kinder eines Tages sagen: »Weißt du, wer meine Mutter, meine Großmutter war? Was sie geschaffen hat^« Die Hauptsache wäre, dass das nichts Böses ist, sondern etwas Schönes, Göttliches. Ich will als guter Mensch sterben, um es mal ganz simpel zu sagen. Deshalb kann ich mich nicht weiter mit dem Bösen beschäftigen. Deshalb muss ich negative Energien von mir fernhalten. Deshalb wünsche ich niemandem etwas Böses — auch meinem Vater nicht, selbst wenn das in meinen Aufzeichnungen vielleicht manchmal so klingt. Das erste, was ich verwirklichen will, wenn ich mit meiner Musik ein wenig Geld verdient habe, ist ein Haus für meinen Vater. Ich träume davon, seit ich in Deutschland bin: von meiner ersten Million meinem Vater ein Haus zu bauen, in Afrika. An diesem Wunsch wird sich nichts andern, außer dass ich mitderwede weiß, dass ich dafür viel weniger Geld brauche als eine Million. Mein Vater wohnt in einer kleinen Sozialwohnung in Kassel, aber ich mochte ihm ein Haus direkt am Meer in Eritrea bauen. Dort soll er friedlich alt werden und sterben können. Ich weiß, dass mein Vater zurück nach Afrika mochte. Er will das, wie es alle Afrikaner wollen, die in Europa alt werden. Aber er kann momentan nicht zurückkehren, weil er kein Geld hat und weil er sich dort zu viele Feinde gemacht hat. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich musste sehr viel von seinem Leben wissen, um ihn zu verstehen. Aber ich weiß nichts von ihm. Ich weiß nicht, wer dieser Mensch ist. Ich sehe nur, was er macht. Ich höre, was er gemacht haben soll, aber ihn personlich kenne ich nicht, weil ich nicht weiß, wie er denkt. Ich weiß nicht, wie seine Gedankenwelt ist. Und ich beurteile einen Menschen nun mal nicht nach seinen Handlungen, sondern ich will wissen, warum er etwas gemacht und was er dabei gedacht hat. Ich will wissen, wohin mich mein Weg fuhrt, dieser Weg, der schon oft knapp am Tod vorbeigeschrammt ist Ich bin so oft gerettet wor
304 den, dass ich nicht mehr an Zufalle glauben kann. Ich spure etwas, das mich auf der Erde halt, eine Kraft, die mich beschützt, die mich leitet und die den Tod von mir fernhalt. Es gibt Schätzungen, dass höchstens ein Drittel der JebhaKampfer überlebt haben, vor allem die alteren und erfahreneren. Überlebt haben die, die am schnellsten laufen, am längsten gehen und am besten zielen konnten. Die Kinder waren allen Angriffen immer viel schutzloser ausgeliefert als die größeren, erfahreneren Soldaten. Grenzt es nicht an ein Wunder, dass ausgerechnet meine Schwestern und ich lebend aus dieser Holle herausgekommen sind5 Ich habe mich immer geweigert zu toten. Und ich habe verdammtes Gluck gehabt, weil Gott an meiner Seite ist. Seit ich das weiß, halte ich mein Schicksal für ertraglich. Ich mochte nichts andern an meiner Vergangenheit. Ich weiß, dass jeder sein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Ich habe keine Angst vor dem Tod, denn ich habe meinen Glauben. Ich glaube an das Leben danach, wo auch immer. Sterben wollte ich trotzdem noch nie und will es bis heute nicht. Ich mochte erst mal leben, mein Leben vor dem Tod genießen. Ich mochte Senait glucklich machen. Wenn Senait froh ist, denke ich, kann ich mit meiner Musik auch andere Menschen erfreuen. 305 Dank Mein Dank gilt Lukas Lessing, der nach sehr langen und intensiven Gesprächen mit mir meine Erinnerungen zu Papier gebracht hat. Er hat eine Reise in die Vergangenheit mit mir unternommen, mit ihm bin ich an die Orte meiner Kindheit zurückgekehrt. Ich danke meinem Agenten JobstHenning Neermann und seiner Frau Katja für ihre Unterstützung. Uwe Lehnfeld und Norma Aronez und ihren süßen drei Kindern sage ich: Danke, dass ihr mir eine Familie seid. Es ist schön, euch zu kennen. Danke auch an den Droemer Verlag und die Menschen, die dort arbeiten. Juü 2004 Senait Ghebrehiwet Mehari 307 Kindersoldaten In Kriegen kämpfende Kinder sind eine Errungenschaft der jüngsten Vergangenheit — noch vor der Erfindung des Schießpulvers hätten Kinder im Schwertkampf oder bei Schlachten mit Pfeil und Bogen keine Chance gegen erwachsene Kämpfer gehabt. Auch den Rückstoß altmodischer Gewehre hätte kein Kind halten können — erst die deutlich rückstoßreduzierte amerikanische M16 oder die russische AK47, besser als »Kalaschnikow« bekannt, konnte auch ein untrainiertes, unterernährtes Mädchen als tödliche Waffe einsetzen. Da militärische Auseinandersetzungen heute oft in unterentwickelten, verarmten Weltregionen stattfinden, sind die Kriegsherren zu Sparsamkeit angehalten. Kinder helfen ihnen dabei: Sie sind billige Kämpfer, weil sie weniger essen als Erwachsene und keinen Sold verlangen — außer ein paar meist wohlfeiler Drogen, mit denen sie bei der Stange gehalten werden. Kinder lernen schnell und sind keine Mangelware, ganz im Gegenteil: In Afrika und in Südostasien ist jeder zweite Bewohner unter achtzehn Jahren alt. Hohe Geburtenraten bringen für die Toten schnell Ersatz. Waren Sklaven für ihre Herren noch wertvolles Handelsgut, sind Kindersoldaten heute minderwertige Wegwerfware. Die Zahlen Zur Zeit sind in Afrika, Lateinamerika, Asien und Osteuropa etwa 22 Millionen Kinder und Jugendliche auf der Flucht. Sie fliehen auch davor, in den Krieg ziehen zu müssen, sie fliehen davor, zu töten oder getötet zu werden. Nach Untersuchungen der Vereinten Nationen kämpfen weltweit mehr als 300 000 Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren in Regierungsarmeen, Milizen oder Trupps lokaler Warlords. Selbst in Europa nahmen Tausende Minderjährige an Bürgerkriegen teil, zum Beispiel im Kosovo. Alleine in Afrika gibt es rund 309 120 000 Kindersoldaten, vor allem in Ruanda, Angola, Kongo, Sierra Leone — und in Äthiopien beziehungsweise Eritrea. Bereits Fünfjährige werden als Träger oder Spione eingesetzt. Zwischen 1986 und 1997 starben zwei Millionen Kinder in Kampfhandlungen, sechs Millionen wurden verletzt, teilweise für immer verkrüppelt. Mädchen kämpfen mit Erst der Krieg schafft den in Afrika seltenen Ausgleich zwischen den Geschlechtern — Mädchen kämpfen »gleichberechtigt« mit. Das ist, etwa in Eritrea, im System verankert: Dort ist der Dienst an der Waffe für Bürger beiderlei Geschlechts verbindlich, 35 Prozent der Soldaten sind Frauen, die für die durch Krieg und Hunger ausgezehrten Armeen willkommenen Nachschub bedeuten. Offiziell freilich gab es nie Kinder als Soldaten — deren Einsatz führten die Behörden stets auf Irrtümer zurück, die aufgrund fehlender Geburtsdokumente aufgetreten seien. 310
Eritrea die Geschichte eines umkämpften Landes Noch 2900 vor Christi Geburt galt das Hörn von Afrika als das »Land der Götter«. Hier handelte man mit Gold, Weihrauch, Ebenholz, Elfenbein und Sklaven. Auf dem Gebiet des heutigen Eritrea lag das mächtige Königreich Aksum, auf das sich noch immer der Stolz der heutigen Eritreer gründet. Dieser Stolz ist ungebrochen, obwohl die Eritreer nach einem dreißig Jahre währenden Unabhängigkeitskrieg gegen Äthiopien (1961 bis 1991) und einem blutigen Grenzkrieg gegen den ungeliebten Nachbarn um ein Stück Wüstenland (1998 bis 2000) beinahe vor dem Nichts stehen. Der längste Krieg in der afrikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts kostete rund 65 000 Menschen das Leben (bei einer Bevölkerung von nur etwa 3,7 Millionen, davon fast 1,9 Millionen unter achtzehn Jahren), der noch blutigere Grenzkrieg (100 000 Tote in kaum drei Jahren) begründete eine neue Qualität von Gewalt auch gegen Kinder: Die Generäle beider Seiten setzten bei Angriffen Tausende von Kindersoldaten als »Menschenwellen« ein, um den regulären Verbänden eine Bresche zu schlagen. Über eine Million Einwohner, fast ein Drittel der Bevölkerung, begab sich auf die Flucht. Als eritreische Kräfte 1991 die Unabhängigkeit ihres Landes erfochten, hatten sie mit der äthiopischen Armee nicht nur eine viel größere, sondern auch eine von Amerikanern und Russen stark unterstützte Streitkraft besiegt. Der Sieg war um so erstaunlicher, als die eritreischen Befreiungstruppen sich gleichzeitig untereinander bekriegten. Eine davon war die 1960 in Kairo gegründete, islamisch ausgerichtete ELF (Eritrean Liberation Front) oder »Jebha« (arabisch für »Front«), unter deren Banner Senait in den Krieg zog. Sie unterlag Anfang der achtziger Jahre im Kampf gegen die stark Sozialrevolutionär bestimmte EPLF (Eritreans People's Liberation Front), die »Shabia« (arabisch für »Volk«), aus der die heutige Regierung Eritreas unter Präsident Isaias Afwerki hervorging. 311 Eritrea bezeichnet sich selbst zwar als Demokratie, doch mit nur einer zugelassenen Partei, ohne freie Wahlen, mit einer staatlich gelenkten Presse und einer unzureichenden Gewaltentrennung mag diese Bezeichnung aus europäischer Sicht als unzutreffend gelten. Eritrea aktuell Auch heute, nach dem Ende der Kampfhandlungen, durchlebt Eritrea wirtschaftlich schwierige Zeiten. Viele Vertriebene kehren erst jetzt in ihre (oftmals noch verminten) angestammten Siedlungsgebiete zurück. Humanitäre Organisationen schätzen etwa 60 Prozent der Bevölkerung als bedürftig ein, die nur durch ausländische Lebensmittelhilfe überleben können. Verschärft wurde die Lage durch eine bis heute anhaltende mehrjährige Trockenperiode, die zu weitgehenden Ernteausfällen führte. Stammesdünkel und starres Festhalten an althergebrachten Überlieferungen schaffen ein reichhaltiges Repertoire traditioneller Kultur, behindern aber auch eine sinnvolle Entwicklung. Noch heute erleiden in Eritrea 95 Prozent der Frauen eine Beschneidung — entweder die »kleine Beschneidung«, bei der dem Mädchen »nur« die Klitoris gekürzt wird, oder in einigen Fällen immer noch die »große Beschneidung«, bei der nicht nur die Klitoris entfernt wird, sondern auch die Schamlippen. Das anschließende Zunähen des Genitals (Infibulation) gilt als die schwerwiegendste Form weiblicher Genitalverstümmelung. 312 ... eine friedliche Zukunft bauen! Wenn Kinder Soldaten werden müssen, lässt uns das nicht kalt. Für viele Jugendliche ist Senait Mehari ein Begriff geworden. Sie haben gemeinsam mit ihr am 12. Februar 2004 die roten Hände gegen den Missbrauch von Kindern in Kriegen gezeigt. Beim nächsten Red Hand Day werden sie es wieder tun.