Er war der Sohn der Sonne, dazu ausersehen, das Erbe eines sagenhaften Kontinents anzutreten. Die berühmte phantastisch...
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Er war der Sohn der Sonne, dazu ausersehen, das Erbe eines sagenhaften Kontinents anzutreten. Die berühmte phantastische Abenteuerserie aus den dreißiger Jahren erscheint jetzt wieder neu. SUN KOH hat Millionen begeistert, er wird auch die heutige Generation mit seinen atemberaubenden Abenteuern in seinen Bann schlagen. Denn SUN KOH ist von zeitloser Aktualität – so zeitlos wie die Sonne, aus der er kommt.
Fesseln der Tuareg Sun Koh stößt mit einem Tauchboot auf einem unter irdischen Strom nach Afrika hinein und gerät mit seinen beiden Getreuen in die gärenden Unruhen des Atlas. Ein Mann will Sultan werden, aber als er Hal gefangennimmt und sich gegen Sun Koh stellt, be gnügt er sich mit einem Frauenraub. Sun Koh ver folgt ihn in die Sahara und befreit die Verschleppte, aber dann wird er selbst Gefangener einer TuaregPrinzessin, die ihn heiraten will. Er flieht aus dem Hogar, und es beginnt ein Schreckensweg durch die Wüste, der das Letzte von ihm fordert. Sein unbändi ger Wille treibt seinen erschöpften Körper durch die brennende Hölle der Sahara, bis er auf einen TibbuStamm stößt, der ihn als Gast aufnimmt und zum Le ben zurückbringt. An seinem Lager sitzt jedoch wie der eine Frau, die auf ihn wartet, doch sie liebt ihn nur, um für ihn zu sterben.
Freder van Holk
Fesseln der
Tuareg
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1979 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und
nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
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Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg l,
Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
Juli 1979
Bearbeitet von Brrazo 03/2006
1.
Es gab Zeiten, in denen man Hal Mervin und den Raum, in dem er sich befand, wie die Pest mied. Der Raum war die Radio-Kabine, und die Zeiten waren jene Stunden, in denen er Wellen fischte. Kein Mensch außer ihm konnte es aushalten, in nerhalb einer halben Stunde Dutzende von kurz- und langwelligen Sendern hintereinander aufschmettern zu hören, denn selbstverständlich beschränkte sich Hal nicht auf die Kopfhörer, sondern suchte seinen Stolz darin, mit allen Registern der Verstärkung auch die unmöglichsten Wellen lautstark zu reproduzieren. »Außer Programm teilen wir mit, daß Lady Lydia Morris heute ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag…« »Schöne Außergewöhnlichkeit in London.« Hal drehte schleunigst weiter. »Messieurs, c’est un bonmot…« »Aha, Paris erzählt sich die neuesten Witze.« Er grinste vor sich hin und drehte schon den nächsten Sender herein. Diese Hörerei war übrigens für ihn eine ausgezeichnete Sprachschule. Die Sender kamen und gingen. Nach einer Weile rutschte Hal gewohnheitsmäßig auf die kurzen Wel len, die ihm erheblich interessanter erschienen als die langen, weil auf ihnen die meisten Neuigkeiten kamen
und weil sich ferner hier die Amateure austobten. »Mon general! Ich betonte, daß es sich keineswegs um haltlose Gerüchte handelt. Die Berberstämme haben sich nur scheinbar unterworfen. Zuverlässigen Informationen zufolge plante man einen Gewalt streich. Es ist anzunehmen, daß der Neffe des Sultans selbst auf Seiten der Verschwörer steht.« »Ganz interessant«, murmelte Hal. »Hier wird ein bißchen Weltgeschichte gemacht. Vermutlich ein Militärsender.« Er horchte weiter. »Der Sitz der Verschwörer befindet sich zwei felsohne in Uarsasat. Außerdem muß sich ein Zen trum weiter südlich befinden, das noch nicht zu er mitteln war. Gerüchteweise verlautet, daß das eigent liche Haupt der Bewegung ein Franzose ist. Die Spä her bringen Nachrichten von einem weißen Sultan. Ich bitte dringend um Verstärkung. Die Hälfte mei ner Leute ist nicht zurückgekehrt.« »Gemütliche Verhältnisse«, meinte Hal. Er lausch te noch etwas und drehte dann weiter. »An alle Welt! Ich bitte diejenigen, die mich hö ren, im Namen der Menschlichkeit um Hilfe«, flehte eine gequälte, weiche Frauenstimme. Hal wollte erst darüber hinweggehen, da er an nahm, er sei in ein Theaterstück geraten, aber ein Blick auf die Wellenlänge ließ ihn stutzen. Auf die ser Welle wurden in der ganzen Welt keine Theater 6
aufführungen übertragen. Also hörte er weiter. »Ich bin die Tochter des Forschers Paul Lecogne und bereiste mit meinem Vater die südlichen AtlasGebiete. Wir wurden in der Nacht von Berbern über fallen. Das Schicksal meines Vaters und der übrigen Expedition ist mir unbekannt. Ich selbst wurde in eine Felsenburg verschleppt, die sich meiner Schätzung nach am Südabhang des östlichen Anti-Atlas, ziem lich genau südlich des Ari Ajaschi, befinden muß. Ich bin in der Gewalt eines Mannes, der den Eindruck eines Weißen macht und von seinen Leuten als der weiße Sultan bezeichnet wird. Ich flehe um Hilfe!« Die Worte brachen mit einem gellenden Aufschrei ab. »Merkwürdiges Zusammentreffen«, dachte Hal laut. »Erst redet der Mann von einem weißen Sultan – und nun diese Frau.« Die Welle war verstummt. Hal war entschlossen, Schluß zu machen, als auf seinem Apparat ein über aus starker Sender durchschlug. »Hallo, hallo!« Diese Welle kannte Hal ganz genau. Er visierte so fort einwandfrei an und schaltete gleichzeitig den Sender und den Fernseher. Unverzüglich erschien auf der weißen Wand vor ihm der grinsende Kopf Manuel Garcias, und Hal wußte, daß der auch ihn jetzt sehen konnte. Garcia, der einige tausend Kilometer entfernt saß, 7
winkte mit ironischer Liebenswürdigkeit. »Geschlafen, Kücken?« »Ich bin doch nicht du, Großpapa«, gab Hal eben so liebenswürdig zurück. »Wo brennt’s denn?« »Im Ofen, mein Junge.« Der Mexikaner grinste. »Ich möchte Sun Koh sprechen.« »Sofort.« Hal lief hinaus. Eine Minute später trat der hochgewachsene Mann mit dem edlen Gesicht, das die Reife einer alten Kul tur trug, in die Kabine ein. Seine Augen leuchteten sanft und freundlich, doch ahnte man zugleich die vernichtenden Blitze, die sie schießen konnten. Manuel Garcia verbeugte sich in Yukatan und be gann dann ganz sachlich zu sprechen: »Würden Sie mir bitte sagen, wo sich das Schiff augenblicklich befindet?« »Ungefähr auf der Höhe von Kap Nun«, antworte te Sun Koh. »Wir hatten in Teneriffa Aufenthalt und steuern nun in voller Fahrt auf Kap Ghir zu.« Der Mexikaner rieb sich die Hände. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Macht es Ihnen was aus, wenn Sie einen anderen Weg nehmen?« »Drücken Sie sich deutlicher aus.« Ein Grinsen erschien auf Garcias Gesicht. »Ich würde Ihnen vorschlagen, am Südhang des Atlas-Gebirges quer durch Nordafrika zu fahren. Der Umweg ist geringfügig. Sie lernen neue, interessante Dinge kennen, und außerdem kommen Sie auf diese 8
Weise mitten nach Europa hinein.« Sun Koh lächelte. »Sie sind in Ihrem Fahrwasser, Señor Garcia.« »Er will uns veralbern«, erboste sich Hal. »Wieso?« fragte Garcia unschuldig. »Sie lieben die Umwege und die halben, rätselrei chen Andeutungen«, stellte Sun Koh gelassen fest. »Sie empfehlen mir, am Südhang des Atlas quer durch Nordafrika zu fahren, als ob Sie nicht wüßten, daß diese Gebiete aus Land bestehen und daß wir uns in einem Unterseeboot von fünftausend Tonnen be finden.« Garcia winkte freundlich ab. »Weiß ich. Sie sollen natürlich im Wasser fahren, aber trotzdem auf der angegebenen Strecke. Wozu gibt es denn unterirdische Ströme?« »Ah, das konnten Sie natürlich nicht gleich sa gen«, meinte Sun Koh sarkastisch. »Man muß der Intelligenz seiner Mitmenschen schließlich auch etwas zutrauen.« »Frechheit«, murmelte Hal. »Von deiner Intelligenz war nicht die Rede«, sagte der Mann auf Yukatan. »Die ist nicht der Rede wert.« »Eingebildetes Dörrgemüse.« »Danke«, sagte Garcia und wandte sich dann sach licher an Sun Koh: »Der Strom ist breit genug, um das Boot durchzulassen. Es besteht absolut keine Ge 9
fahr. Ich zeige Ihnen die Karte, an der Sie alles Nä here ersehen können. Vielleicht photographiert Hal gleich.« Sun Koh gab Hal einen entsprechenden Wink. Garcia hielt ein Kartenblatt hoch, auf dem Nordafri ka und große Teile Europas verzeichnet waren, die von breiten, roten Kanälen durchzogen wurden. »Die roten Striche sind unterirdische Ströme«, er läuterte der Mexikaner. »Sehen Sie, hier ist Kap Nun, in unmittelbarer Nähe die Mündung des Wadi Draa. Unter ihr beginnt der unterirdische Strom, der nordöstlich am Südhang des Atlas-Massivs entlan gläuft. Unterhalb des Ari Ajaschi macht er einen Knick, führt ein Stück unter dem Wadi Saura entlang und geht dann wieder nach Nordosten über die Schotts el Merir nach dem Golf von Gabes. Der Ab zweig am Wadi Saura führt übrigens zum TasiliPlateau, einer sehr interessanten Gegend. Ein Besuch ist dringend zu empfehlen.« Sun Koh war ganz bei der Sache. »Wie komme ich vom Golf von Gabes nach Ber lin?« »Ganz einfach. An Sizilien vorbei auf Marseille zu im Meer, von dort aus unter der Rhone entlang, nörd lich parallel zum Doubs durch die burgundische Senke, unter dem Rhein nordwärts, zwischen Vo gelsberg und Rhön hindurch nach Nordosten. Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie in einem der Ha 10
velseen auftauchen. Wasser finden Sie jedenfalls überall genug, und die Ströme haben auch genügend Breite und Tiefe.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Eben das erscheint mir zweifelhaft. Wo sollen diese gewaltigen unterirdischen Ströme herkom men?« Garcia schüttelte ebenfalls mit kummervollem Ausdruck den Kopf. »Da merkt man gleich, daß Sie keine anständige Schule besucht haben, sonst wüßten Sie Bescheid über die Urströme, die vor vielen Tausenden von Jahren in Kilometerbreite dort geflossen sind, wo heute die Bächlein kümmerlich rauschen. Was mei nen Sie, wo die Riesenströme hin sind? Gesoffen hat sie keiner, es sei denn, die Erde selbst. Sie sind ein fach in die Tiefe gerutscht, haben sich durchgefres sen. Klar?« »Ja«, sagte Sun Koh einfach. »Nun brauchen Sie mir bloß noch zu sagen, warum ich gerade diesen Weg am Atlas vorbei wählen soll?« Garcia wiegte den Kopf hin und her, als müßte er erst überlegen. »Ja, wie sag ich’s meinem Kinde? Also, es handelt sich darum: Ich habe dort unten einen guten Freund sitzen, ein liebes altes Haus, das zwar gelegentlich einen Fimmel hat, sonst aber ganz gut zu gebrauchen ist. Vor zwei Tagen rief ich ihn an, erhielt aber 11
merkwürdigerweise keine Antwort. Vorhin schaltete ich wieder auf seine Welle. Was denken Sie, was ge schieht? Auf der Welle rief eine Frau um Hilfe. Sie erzählte, sie sei die Tochter eines Gelehrten und wer de von einem weißen Sultan gefangen gehalten. So ein Quatsch! Mein guter Dagobert als weißer Sultan – wie ich mir das vorstelle! Er kann nämlich Frauen überhaupt nicht riechen.« Sun Koh lachte. »Soll ich mich etwa davon überzeugen, ob Ihr Freund seinen moralischen Grundsätzen untreu ge worden ist?« Garcia feixte. »Natürlich nicht, aber mir sind Bedenken gekom men, ob dort nicht unangenehme Sachen vorgefallen sind. Es ist eine unruhige Gegend dort am Atlas, und vielleicht hat man ihn gefangen genommen oder ge tötet.« »Können Sie nicht einen anderen Sender gehört haben?« »Ausgeschlossen, vollständig ausgeschlossen. Es war der Sender meines Freundes. Daß ihn jemand anderer zu einem Hilferuf benutzt, beweist, daß dort etwas vorgefallen ist. Ich wollte Sie nun bitten, nach dem Rechten zu sehen, weil Sie doch schon ziemlich in der Nähe sind.« »Stimmt das, was Sie da erzählen, oder machen Sie wieder einen Ihrer gewöhnlichen Scherze?« 12
Garcia war förmlich beleidigt. »Bei mir stimmt immer alles.« »Bis auf das, was er sagt«, vollendete Hal schleu nigst. »Aber in diesem Fall hat er wirklich die Wahr heit gesprochen, Sir, denn ich habe den Hilferuf selbst gehört.« »Gut«, entschied sich Sun Koh, »wir werden den unterirdischen Strom benutzen. Wo finden wir die Wohnung Ihres Freundes, und wie heißt er?« »Dagobert Fleischhauer heißt er. Reden Sie ihn aber nicht mit seinem Familiennamen an, sonst wird er wild. Er hört nur auf den Namen Fips. Wenn Sie kurz vor dem Südknie am Wadi Saura den Brunnen aufstieg benutzen, brauchen Sie nur den nächsten Postboten zu fragen.« »Bitte?« Der Mexikaner hob die Schultern. »Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Er wohnt dort in der Nähe in einer Felsenburg. Sie liegt ziem lich genau südlich des Ari Ajaschi und gehört noch zum Ostkamm des Anti-Atlas. Vielleicht brauchen Sie auch gar nicht an den Wadi Saura heranzufahren, aber das muß ich Ihnen überlassen.« »Sehr freundlich«, sagte Sun Koh mit sanfter Iro nie. »Ich will jedenfalls versuchen, Ihnen den Gefal len zu tun.« »Vielen Dank«, sagte Garcia. »Ich werde Sie bei der nächsten Ordensausgabe vorschlagen.« 13
»Und ich Sie für die nächste Gummizelle«, sagte Hal laut, worauf der Mexikaner schleunigst seinen Apparat abschaltete. * Kapitän Raoul Delcrosse war das, was man einen gutaussehenden Mann nennt. Wenn er in Urlaubszei ten über die Boulevards von Paris schlenderte, wand ten die Frauen die Köpfe nach ihm und warfen ihm Blicke nach, die er nicht mehr beachtete, weil sie ihm zur Gewohnheit geworden waren. Das hieß nun al lerdings nicht, daß er während seiner Urlaubszeit in Paris wie ein Mönch lebte. Von all den glühenden Verehrerinnen hätte wohl keine einzige ihren Raoul an diesem Spätnachmittag wiedererkannt, als er durch die Straßen und Gassen von Uarsasat wanderte. Er trug die Kleidung eines Berbers, der monatelang in den finsteren Löchern der Stadt gewohnt hat. Die Kleider waren zerschlissen, verschmiert, unsauber und voll Ungeziefer. Das Ge sicht des Kapitäns erinnerte nicht mehr an den jun gen Franzosen. Es war kunstvoll verändert und au ßerdem derartig mit einer Schmutzkruste überzogen, daß man selbst die Aufmachung kaum noch erken nen konnte. Das eine Auge lag wie blind unter dem halbgeschlossenen Lid. Der rechte Fuß war gelähmt, denn er wurde stark 14
nachgezogen. Delcrosse passierte eben den freien Platz vor dem mächtigen viereckigen Turm, der mit vierzig Meter Höhe über seine Umgebung ragte. Er machte nicht den Fehler, einen Blick hinaufzuwerfen. Ebensowe nig zeigte er irgendwelches Interesse für die Hoch häuser, die breit und wuchtig aus den schmalen Gas sen herausstießen und mit ihren acht oder neun Stockwerken die Sonne verdunkelten. Er blickte nicht auf, erstens um sich nicht zu verra ten, und zweitens, weil ihn diese Hochhäuser tatsäch lich nicht mehr interessierten. Ja, damals, vor einigen Jahren, da war es etwas anderes gewesen. Als er zum erstenmal diese Stadt Uarsasat am Südhang des Ho hen Atlas gesehen hatte. Da war ihm, als erschiene ihm eine Fata Morgana. Wie eine phantastische Un möglichkeit war es ihm vorgekommen, daß die Ber ber über solche Städte verfügen sollten, in denen sich ein Hochhaus an das andere drängte. Aber heute? Nicht ein einziges Mal hob er den Kopf. Das hinderte ihn freilich nicht, seine Umge bung scharf zu beobachten. Keines dieser braunen, teils kühnen, teils verschlagenen Gesichter entging ihm. Selbst über die Mienen der spielenden Kinder warf er einen prüfenden Blick, und den Halsschmuck der einzelnen Frauen, die seinen Weg kreuzten, hätte er genau beschreiben können. Es herrschte böse Luft in Uarsasat. Freilich, die 15
Stadt war ruhig, die freien Berber schlenderten harm los in ihren weißen, vielgefältelten Hüllen an den eingeschnittenen Türen vorbei. Die Bettler und Mü ßiggänger hockten wie gewöhnlich in spielenden oder schwatzenden Gruppen auf dem Boden, aber Delcrosse wußte, daß dieses friedliche Bild gewaltig täuschte. Umsonst galt er nicht als einer der befähigt sten Nachrichtenoffiziere. Der Atlas-Block war von jeher ein Unruheherd gewesen. Sultan Mulay Hafid hatte sicher ge schmunzelt, als er 1913 den Protektoratsvertrag ab schloß, durch den die Franzosen die Verpflichtung übernahmen, die Berber im Namen des Sultans zu unterwerfen. Mochten sie nur das versuchen, was ihm und seinen Vorgängern nie gelungen war. Die Bewohner des Atlas waren die fanatischsten Berber, die in Nordafrika hausten, und ihr Gebiet war zu gleich das unzugänglichste und wildeste, das man sich denken kann. Sie hatten noch nie Steuern ge zahlt und sich noch nie unterworfen. In diese wild zerklüftete Berglandschaft drang selbst eine Armee nicht ein. Dreitausend Meter hohe Gipfel wechselten mit jäh abstürzenden Schluchten von derartiger En ge, daß kaum zwei Menschen in ihnen vorwärts ka men. Ein paar der einheimischen Berberkrieger konnten ein ganzes Regiment aufhalten. An Erobe rung war da nicht zu denken, man mußte froh sein, wenn man sich die tollen Burschen vom Leibe hielt 16
und wenigstens die Ebene schützte. Ja, sicher hatte sich Mulay Hafid bei diesen Über legungen ins Fäustchen gelacht, aber ebenso sicher war ihm im Laufe der Jahre das Lachen vergangen. Nachdem einmal Frankreich in Afrika freie Hand bekommen hatte, ging es an seine Aufgabe. 1926 wa ren das Rif und der Westatlas unterworfen. Einige Jahre später trafen sich die beiden Abteilungen zwi schen den Todsch- und Ferkla-Oasen und begannen die Einkreisung des Atlas-Massivs. Kurze Zeit da nach pflanzte Lucien Saint eigenhändig als erster die Trikolore auf den Ari Ajaschi, dann war es zu Ende gegangen. In letzter Zeit gab es keinen nennenswer ten Stamm freier Berber mehr. Aber. Die Katze verlernt schneller das Mausen, als ein Berber seine Freiheit und Unabhängigkeit vergißt. Es wurde nicht recht ruhig im Atlas. Bald hier, bald da flackerten Unruhen auf. Es kam zu Streitigkeiten und Überfällen, die zwar regelmäßig mit Strafexpeditio nen endeten, aber sich trotzdem ständig wiederhol ten. Die Berber gewöhnten es sich an, die blutigen Kämpfe, die die einzelnen Stämme gegeneinander geführt hatten, zu unterlassen und alle ihre Wut und Kampfinstinkte gegen die Franzosen zu richten. Nun, auch darüber war viel Wasser ins Meer ge flossen. Es war ein Glück, daß sie keinen Führer hatten, in 17
dessen Hand sie zu einer geschlossenen Macht wur den… Zwischen den Augen des schmutzigen Berbers bildete sich eine scharfe Falte. Jetzt war es soweit: Die freien Berber hatten einen Führer gefunden. Und wenn es nicht bald gelang, diesen zu greifen, würde hier im Atlas innerhalb von Tagen oder Wochen der Teufel los sein. Dieser Mann im Ministerium war vertrauensselig. Er berief sich darauf, daß seit Monaten im AtlasGebiet nichts vorgefallen sei, als ob er nie etwas von Stille vor dem Sturm gehört hätte. Was wußte er von den Gerüchten, die von Mund zu Mund gingen, was von den heimlichen Waffentransporten, die trotz al lem stattfanden, was von dem Verschwinden der jungen Leute und was der Dinge mehr waren? Raoul Delcrosse bog in einen Durchschlupf ein, der sich zu einer schmalen Gasse verlängerte, und trat schließlich in die fast völlige Finsternis eines Hausganges. Mit der Sicherheit des Heimischen pas sierte er eine Reihe von Stufen und landete schließ lich in einem kahlen, übelriechenden Zimmer, aus dessen einer Wand zwei rechteckige Fensterlöcher ausgeschnitten waren. Der Raum zeigte in einer Ecke ein paar Decken, sonst besaß er keine Einrichtung. In der Nähe des Fensters hockten drei Männer. Sie waren schäbig und schmutzig wie Delcrosse geklei det und hatten ähnliche Gesichter wie er – Berberge 18
sichter, mit Schmutz bedeckt. Nur der eine war sau ber. Er kam von draußen, und der freie Berber ist sauber. Die Männer blickten stumpfsinnig vor sich hin. Sie hoben den Kopf nicht, als der vierte Mann ein trat. Trotzdem hatte keiner von ihnen sein Kommen übersehen. Delcrosse markierte die übliche Begrüßung und nahm Platz. Aus seiner Hand rollten gleich darauf die Steinchen zum Glücksspiel, das ohne weitere Bemer kungen darüber begann und mechanisch, mit voll kommener Interesselosigkeit, gespielt wurde. Die Ge danken der Männer waren bei ganz anderen Dingen. »Berichte, Hussein«, flüsterte Delcrosse. Der Berber mit dem leidlich sauberen Gesicht be gann in der gleichen Stimmstärke zu sprechen: »Ich glaube, das Versteck des weißen Sultans ist gefun den.« Keine Miene der anderen verriet, was diese Nach richt für sie bedeutete. Mit der Undurchdringlichkeit von Pokerspielern hörten sie weiter. »Zwanzig Kilometer südwestlich von der Oase Ta filelt liegt die Oase Tschadant. Sie liegt unmittelbar am Steilabfall des Gebirges. Drei Kilometer nördlich von ihr sind bereits völlig unwegsame Schluchten. Dort befindet sich eine Felsenburg. Sie gehört seit Jahrzehnten einem unbekannten Mann, der von den Berbern der Umgebung seit jeher respektiert und als 19
unheimlich gefürchtet wurde. Meiner Vermutung nach handelt es sich um einen europäischen Sonder ling, der dort sein Asyl aufgeschlagen hatte.« »Sie gehört ihm nicht mehr?« »Er ist verschwunden. In der Burg lebt jetzt der weiße Sultan, und der ist bestimmt nicht der frühere Besitzer. Ich konnte ihn leider nicht zu Gesicht be kommen. Er wurde mir als groß, stark, schwarzbärtig und hakennasig geschildert. Seine Haut ist hell, aber nicht gerade weiß, seine Beredsamkeit sei außeror dentlich wie sein Haß gegen Frankreich, seine Kühn heit ebenso groß wie seine Grausamkeit und anderer seits seine Höflichkeit.« »Eine gefährliche Mischung.« »Die Berber bewundern ihn und folgen ihm fana tisch. Der Mann wird uns das Leben schwer machen.« »Berichte weiter.« »Der Atlas wimmelt von Waffen.« »Bekannt. Ich möchte nur wissen, wo die Waffen herkommen. Die Häfen werden doch wirklich scharf genug bewacht. Ich schätze, daß die Berber heute schon in ihrer Bewaffnung unseren Leuten nicht nachstehen. Flugzeuge?« »Die einzige Möglichkeit, die freilich andrerseits auch nicht wahrscheinlich ist.« »Was noch?« »Eine Forschungsexpedition ist verschwunden, vermutlich in die Hände des weißen Sultans gefallen.« 20
»Kümmert uns nicht, die Leute sollen zu Hause bleiben.« »Eine junge Dame soll dabei gewesen sein.« »Hm, versuche Genaues zu erfahren. Noch etwas?« »Nichts.« »Dann berichte du, Alif.« Der zweite Mann warf seine Steine und flüsterte: »Die jungen Leute der Meschar sind in den Bergen und bauen Geschütze ein.« »Donnerwetter.« »Sie üben mit Gasmasken und allem möglichen Material. Der alte Scheich überwachte die Trupps. Er ist bald hier, bald dort in den Bergen.« »Ah, der fanatische Frankreichhasser, dem sie die Tochter nach Paris verschleppt und verdorben haben. Du hast die Stellungen kartographisiert?« »Hier sind die Skizzen«, hauchte der andere und reichte einen schmierigen Gebetsteppich hin. »Das Seidenpapier ist eingerollt und in die Zwischen schicht genäht.« »Gut. Was hast du, Hafid?« »Bei Ahmed Muhabbin ist die Zentrale für Uarsa sat.« »Bei dem Händler?« »Bei ihm. Hinter seinem Lagerraum ist ein Zim mer, das einen Ausgang durch das Nachbargebäude hat. Dort trafen sich gestern abend zwei Dutzend Leute, unter denen Boten des weißen Sultans waren. 21
Sie legten die Pläne für den Überfall auf die Garni son fest.« »Garnison klingt sehr hochtrabend«, warf Delcros se mit einem Anf lug von Bitterkeit ein. »Hast du die Namen und Gespräche aufgezeichnet?« »Hier ist alles«, erwiderte Hafid, der in Wirklich keit Ernest Maria d’Ormier hieß, und zog aus seiner schmutzigen Sandale eine Art Einlegesohle. »Sonst noch etwas?« wandte sich Delcrosse an alle. Die Männer schwiegen. Er fuhr fort: »Ich werde die Nachrichten noch heute der Station zur Weiterlei tung übergeben. Was hast du, Hafid?« Hafid war zusammengezuckt. Jetzt sagte er rauh: »Ich vergaß für einen Augenblick, daß wir im Krieg leben. Du bist mein Freund und – man verliert seine Freunde ungern.« Ein Lächeln huschte über das Gesicht Raouls. »Du siehst zu schwarz, liebe Seele.« Das Gesicht Hafids blieb düster. »Um die Station herum ist kein Zentimeter unbe wacht. Sicher wirst du unbehelligt hineinkommen, sicher auch wieder heraus. Aber dann sind deine Stunden gezählt. Du weißt es selbst.« »Ich habe es gestern auch geschafft.« »Zwischen gestern und heute liegt die Sitzung von gestern abend. Lies meine Aufzeichnungen, bevor du es wagst.« Delcrosse neigte den Kopf. 22
»Das wird selbstverständlich geschehen, aber auch nichts ändern. Du sagst ja, daß wir uns im Krieg be finden. Wieviel waren wir vor drei Wochen?« »Zwölf«, kam es dumpf zurück. »Und jetzt sind wir noch vier. Acht Freunde und Kameraden starben mit dem Dolch im Rücken oder der Kugel in der Brust. Uns alle erwartet das gleiche Schicksal, und doch verläßt keiner seinen Posten. Es ist selbstverständlich.« Sekundenlang hockten die vier Männer wie Statu en schweigend am Boden. Dann fuhr Delcrosse här ter fort: »Du, Hafid, bleibst weiter in der Stadt und setzt deine Ermittlungen fort. Ihr beide geht nach Süden und sucht die genaue Lage der Felsenburg nebst allem Wissenswerten festzustellen. Ich komme morgen nach. Jeder von euch muß selbständig han deln. Versucht, in einer Woche wieder hier zu sein. Eure entscheidende Aufgabe ist, rechtzeitig Alarm zu geben, falls der Aufstand losbrechen sollte. Wir drei wollen außerdem versuchen, des weißen Sultans habhaft zu werden. Alles klar?« Die anderen nickten. Delcrosse erhob sich und verließ den Raum auf dem gleichen Weg, auf dem er ihn betreten hatte. Seine Kameraden blieben noch lange sitzen, erst eine ganze Weile später folgte der nächste. * 23
Der weiße Sultan ließ das dumpfe Beifallsgemurmel abebben, dann fuhr er fort: »Mulay Hafid war ein Verräter, als er damals dieses Land und die freien Berber den Franzosen auslieferte. Ihr habt gekämpft, wie nur Helden kämpfen können. Weshalb haben euch diese räuberischen, schmierigen Hunde doch besiegt? Weil ihr mit Waffen gekämpft habt, die zwei Jahrzehnte alt waren, und weil ihr euch nicht einig wart. Jeder Stamm hat nur um seine eigene Freiheit gekämpft, deshalb habt ihr sie alle verloren. Soll das immer so bleiben? Wollt ihr euch von euren Kindern als feig und verächtlich schwach anspeien lassen?« Die dunklen Augen in den zahlreichen braunen Gesichtern, die sich scharf aus den weißen Hüllen heraushoben, flammten. Lebhaft brausten die Zurufe durch den weiten, hohen Raum, dessen vollkommene Nüchternheit einen wirkungsvollen Gegensatz zu der verwegenen Kühnheit dieser Männer bot. Die Scheichs der Berberstämme standen in einem Halbkreis um den Redner, der von einem niedrigen Tischchen aus sprach. Er blieb sehr sparsam in Geste und Mimik, aber seine Stimme modulierte derartig stark, daß dadurch alles andere weitgehend ersetzt wurde. In der Stimme schwang eine Leidenschaft, die selbst diese fanatischen Berber packte. Schon die Erscheinung des Sultans war eindrucks 24
voll genug. Sein überraschend helles Gesicht war von einem tiefschwarzen Backenbart umrahmt. Über den Augen lagen starke Brauen. Kräftig geschwun gene Lippen gaben beim Sprechen blendend weiße Zähne frei. Die Nase sprang in leichter Hakenkrüm mung wie ein Dolch hervor. Insgesamt wirkte dieses Gesicht kühn, aber beherrscht und klug überlegen. Die gelegentlichen grausamen Falten um den Mund herum verdeckte der Bart, und das harte Aufblitzen der Augen verschwand stets so schnell, wie es ge kommen war. Der Sprecher fuhr mit auffallend sanfter Stimme fort: »Ihr seid nicht feige, und ihr seid nicht schwach. Ich sehe euch entschlossen, das Joch endgültig abzu schütteln. In Fes wie in Marokko, in Igli wie in Alin Sefra, in Oran wie in Tarudant ist alles vorbereitet, und was von den Städten gilt, gilt erst recht von den Bergen. Ihr schwort mir einst die Treue, und ich ge lobte euch, das Land frei zu machen. Nun, ihr Män ner des Atlas, unsere Stunde ist gekommen. In eini gen Tagen schon werden die Zeichen durch das Land gehen, und in Stunden wird es dann keinen Sultan mehr geben, der vor den Franzosen auf dem Bauch kriecht und eure alten Rechte mit Füßen tritt. Kehrt zurück zu euren Stämmen, rüstet euch und wartet auf das Zeichen. Den Tod dem, der seine Aufgabe nicht erfüllt! Freiheit und Glück für alle in der Stunde des Sieges!« 25
Laut brauste der Beifall, der weiße Sultan verließ den Raum. Um seine Lippen spielte ein Lächeln der Genugtuung. Nach einer kurzen Wanderung durch kahle Fel sengänge trat er in ein Zimmer, das in seiner Pracht einen betäubenden Gegensatz zur Kahlheit jenes an deren Raumes bot. Schwellende Kissen auf üppiger Ottomane, Wunderarbeiten und parfümierte Luft ga ben eine Gesamtstimmung, die ebenso orientalisch wie weichlich anmutete. Seltsamerweise schien sich der weiße Sultan darin heimisch und wohl zu fühlen. Er war noch nicht lange allein, als einer der Män ner eintrat, die sich im Saal befunden hatten. Der Ankömmling war alt, weiß rahmte der Bart sein runzliges, aber noch lebendig ausdrucksvolles Ge sicht. Siebzig Jahre zählte der alte Scheich, doch sei ne Gestalt war noch straff, und seine Augen zeigten noch keinen trüben Schimmer. »Du kannst zufrieden sein, Benid Guar«, begann er gedämpft. Der weiße Sultan lachte kurz auf. »Willst du mich beglückwünschen, Alter? Tue es, wenn wir den Sultan haben – und dann gratuliere deinen Leuten.« Der Berber schmunzelte listig. »Auch dir, denn Marokko wird dann einen neuen Sultan haben.« »Zweifelst du etwa daran?« 26
»Durchaus nicht«, entgegnete der Alte schnell. »Aber wird es auch gelingen?« Ein Schatten huschte über das Gesicht Benid Guars. »Es muß gelingen. Ich werde nicht Ruhe geben, bevor nicht der letzte dieser Franzosenfreunde zur Strecke gebracht ist.« »Dein Haß gegen Frankreich ist die Freiheit der Berber. Ich danke Allah täglich, daß es mir gelang, diesen Haß in dir zu wecken gegen jene, die deine Mutter…« »Halt’s Maul«, unterbrach der andere brutal. »Du plapperst in deinem Schwachsinn schließlich noch aus, daß ich das Kind deiner Tochter bin. Das fehlte gerade noch, daß man erfährt, wer der weiße Sultan ist. Ein Mischling, nicht wahr? Glaubst du, sie wür den mich als ihren Sultan sehen wollen?« Der Scheich beschwichtigte mit beiden Händen. »Niemand wird es erfahren, niemand.« Der andere lächelte spöttisch. »Im übrigen kannst du dich beruhigen, das Schick sal meiner Mutter, die in Paris zur Dirne wurde, ist mir ziemlich gleichgültig. Spare lieber die Bemer kung, die du auf der Zunge hast. Ich hasse die Fran zosen wie die Pest, und das genügt wohl.« »Es genügt«, kam demütig die Antwort. »Trotz dem würde ich gern wissen, warum du so wurdest, wie ich dich brauchte.« 27
Guar warf ihm einen forschenden Blick zu und meinte lässig: »Eine Kleinigkeit, mein Alter. Eine Frau wies mich um eines ändern willen ab, als sie merkte, daß ich fremdes Blut in den Adern habe. Ich werde dir nachher den Mann vorführen, der mich zum Berber gemacht hat.« »Raoul Delcrosse, den sie heute einbrachten?« »Eben der. Er wird sich freuen, wenn er mich sieht.« »Warum hast du ihn nicht töten lassen?« Das Gesicht des weißen Sultans verzerrte sich im Triumph. »Ich will meinen Spaß an ihm haben. Und nun laß mich allein. In einer Stunde wünsche ich die Leute vom Nachrichtendienst zu sehen.« Der Scheich ging zur Tür, wandte sich aber noch einmal um und sagte: »Soll die Frau noch immer nicht fort?« Benid Guar runzelte die Stirn. »Hinaus.« »Was hast du mit ihr vor?« beharrte der andere. Der Alte war sichtlich voller Sorge. »Laß dich war nen, Benid Guar, das ist nicht gut.« »Tut sie dir leid?« Der Scheich wies den Verdacht mit verächtlicher Bewegung zurück. »Die Frau ist mir gleichgültig, aber du nicht. Du vertrödelst deine Zeit und beschäftigst dich in Ge 28
danken mit ihr, wo du ganz für unsere Sache ge braucht wirst. Gib mir den Befehl, sie zu töten oder fortzuschaffen.« »Hüte dich davor, mit solchen Gedanken zu spie len«, entgegnete Guar scharf. »Die Frau bleibt. Und nun hinaus mit dir.« Der Scheich verschwand lautlos. Benid Guar warf sich auf die Ottomane und träum te. Minutenlang. Dann schnellte er hoch und verließ das Zimmer. Eine Weile später trat er in ein kleines, kärglich ausgestattetes Gemach, das sein Licht durch hohe, aber außerordentlich schmale Öffnungen erhielt. In ihm saß auf einer Art Pritsche Raoul Delcrosse. Er war ungefesselt, aber dafür besaßen die Wände sei nes Gefängnisses eine erschreckende Stärke. Außer dem standen vor der verriegelten Tür ständig zwei Wächter. Delcrosse hob den Kopf, als die Riegel knirschten und sein Besucher eintrat. Die gegenseitige Musterung dauerte sekunden lang. In Guars Augen funkelte die Genugtuung, in denen des Kapitäns erwachte eine nachdenkliche Frage. »Willkommen, Kapitän Delcrosse«, begann der weiße Sultan endlich mit unverkennbarer Ironie zu sprechen. »Sie wünschten sich doch wohl nichts 29
sehnlicher, als mich kennenzulernen. Ihr Wunsch geht in Erfüllung.« »Sie sind der weiße Sultan?« fragte Delcrosse, aber seine Frage setzte die Bestätigung schon voraus. »Ich bin es«, betonte der andere nicht ohne Würde, um dann lachend fortzufahren: »Das hätten Sie sich wohl nicht träumen lassen, daß wir uns unter solchen Umständen wiedersehen würden?« Der Kapitän war erstaunt. »Ich kann mich nicht entsinnen, daß wir uns schon einmal begegnet wären.« »Aber ich um so besser«, höhnte Guar. »Das kann ich mir denken, daß Sie nicht daran erinnert werden wollen. Aber Benid Guar vergißt keine Beleidigung, die ihm zugefügt wurde.« Delcrosse dachte einen Augenblick nach und er klärte dann entschieden: »Sie sprechen in Rätseln. Ich habe Sie nie gesehen.« In die Miene des anderen trat ein Lauern. »Nicht? Waren Sie vor fünf Jahren nicht in Paris?« »Leicht möglich«, kam es lässig zurück. »Ich war oft in Paris.« »Auch oft bei Jaqueline Bousquet?« Der Kapitän richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Sprechen Sie von der kleinen Tänzerin? Was hat die damit zu tun.« »Sie war Ihre Geliebte?« 30
»Ihre Fragen sind höchst merkwürdig, aber wenn es Sie beruhigt, will ich sie Ihnen gern verneinen. Ich mußte damals sehr schnell abreisen.« Der weiße Sultan lächelte spöttisch. »Für feige hätte ich Sie nicht gehalten, Raoul Del crosse.« »Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Delcrosse scharf. »Was wollen Sie eigentlich?« »Rache«, erwiderte Guar hart. »Ich liebte das Mädchen. Sie kamen dazwischen, und sie verließ mich Ihretwegen, schimpfte mich einen Farbigen, weil sie sich in Sie vergafft hatte.« Der Kapitän starrte ihn ungläubig an. »Und dafür wollen Sie mich verantwortlich ma chen? Sie sind verrückt! Ich finde es lächerlich, daß ich für die Launen einer Frau büßen soll.« »Das ganze französische Volk wird büßen«, gab der weiße Sultan finster zurück. »Sie sind ja ohnehin mein Feind und schon lange zum Tode verurteilt. Be vor Sie sterben – langsam sterben –, sollen Sie jedoch erfahren, was aus den Franzosen in Marokko wird.« »Vermutlich Henker, um Sie und Ihre Leute auf zuknüpfen.« »Ihre Scherze klingen nach Verzweiflung«, ant wortete Guar überlegen. »Wir werden es nicht sein, die sterben.« »Man wird Sie zusammenschießen«, warf der an dere lässig hin. 31
»Großartig, auch jetzt versuchen Sie noch Neuig keiten zu erfahren. Ihre Tüchtigkeit schlägt alle Re korde, Kapitän. Doch beruhigen Sie sich, unsere Leute sind besser bewaffnet als Ihre.« Der Kapitän schlug die Beine übereinander. »Hm, das würde mich interessieren. Da Sie mir ohnehin keine Chance mehr geben, könnten Sie mir wenigstens den Gefallen tun und mir verraten, wo Sie die Waffen her haben. Das ist mir seit jeher das größte Rätsel.« Wieder leuchtete Triumph in Guars Augen auf. »Ihre Haltung ist ausgezeichnet, Raoul Delcrosse. Als Anerkennung sollen Sie erfahren, was Sie wissen wollen. Die Waffen kommen über das Mittelmeer und werden über Gabes hierhergebracht.« »Unmöglich.« »Auf der Erde gewiß, aber nicht unter der Erde. Von Gabes führt ein unterirdischer Strom hierher, den wir mit Unterseebooten befahren können. Alle Waffen sind auf diesem Weg ins Land gekommen.« »Eine ebenso überraschende wie unglaubliche Lö sung«, murmelte Delcrosse, »aber immerhin ist Ihre Aufklärung interessant. Was haben Sie mit mir vor?« Guar grinste häßlich. »Ich werde Ihnen Gelegenheit geben, Haltung zu bewahren. Dann werden Sie sterben.« Der Kapitän wandte sich ab. »Na schön, bis dahin lassen Sie mich nach Mög 32
lichkeit allein.« »Ganz wie Sie wollen«, erwiderte der andere höh nisch und verließ den Raum. Wenige Minuten später stand der weiße Sultan in einem ganz ähnlichen Zimmer, das sich nur durch seinen Bewohner von dem vorhergehenden unter schied. Dagobert Fleischhauer war ein Buckliger. Der Buckel beherrschte die ganze Erscheinung, zumal wenn er saß. Aber auch im Stehen gewann sein Kör per nicht durch die verhältnismäßig langen, dünnen Beine. Diese Mängel wurden jedoch ausgeglichen durch sein Gesicht. Es war so feingeschnitten und in seinem Gesamteindruck so gütig, daß man darüber alles andere vergaß. Der Ausdruck der Augen wech selte zwischen träumerischer Nachdenklichkeit und sanfter Wehmut. Er nahm flüchtig von dem Eintretenden Notiz und schrieb dann weiter. »Ich werde Ihnen das Papier noch wegnehmen las sen«, sagte Guar leicht gereizt. »Sie scheinen sich allzu wohl zu fühlen.« »Dann werde ich meine Gedanken im Kopf ord nen«, entgegnete der Gelehrte ruhig. »Wenn Sie dann noch einen haben«, klang es bos haft zurück. »Wollen Sie mir noch immer nichts von Ihren Geheimnissen erzählen?« Der Bucklige, der schon ziemlich alt war, schüttel 33
te wie geistesabwesend den Kopf. »Nein. Sie wissen schon mehr, als für Sie gut ist.« Guar strich sich wohlgefällig den Bart. »Der unterirdische Strom leistet uns ausgezeichne te Dienste. Auch die Funkanlage haben wir ja nun glücklich entdeckt. Aber das andere? Da ist noch vie lerlei, worüber ich eine Erklärung erwarte.« »Warten Sie«, rief Fleischhauer sanft. »Vielleicht finden Sie jemand, der sich damit auskennt.« Der weiße Sultan zog die Brauen zusammen. »Ich habe bereits jemand gefunden, nämlich Sie. Seien Sie vernünftig«, sagte er ärgerlich. »Die Burg wird nie wieder Ihr Eigentum, und Sie werden Ihres Lebens nicht mehr froh werden, falls Sie nicht spre chen.« »Die Verhältnisse werden sich ändern.« »Aber nicht zu Ihren Gunsten, Verehrtester, das kann ich Ihnen jetzt schon versichern.« »Dann muß ich das Unabänderliche mit Würde tragen.« Guar unterdrückte einen Fluch und ging hinaus. Kurze Zeit darauf machte er seinen dritten Besuch. Der Raum, in den er trat, ähnelte in vielen Dingen seinem eigenen Wohnraum, wenigstens war er gut und behaglich ausgestattet. Jeanne Lecogne erhob sich sofort, als Benid Guar eintrat, und stellte sich in kampfbereiter Haltung an den Tisch. Sie bedachte wohl kaum, wie ausgezeich 34
net das zu ihrer hohen, schlanken Erscheinung und ihrem bei allem Liebreiz energischen Gesicht paßte. Er schien durchaus die Absicht zu haben, seinen Besuch länger auszudehnen. Während er die junge Frau unablässig mit unverhülltem Wohlgefallen an starrte, setzte er sich auf ein niedriges Taburett, schlug die Beine übereinander und entnahm dann einem sil bernen Etui eine Zigarette. Mit verbindlicher Höflich keit stellte er seine erste Frage: »Sie gestatten?« »Nein«, entgegnete sie scharf. Er hob die Schultern und gab sich Feuer. »Schade, dann muß ich ohne Ihre Erlaubnis rau chen. Ich hatte gehofft, Sie würden jetzt zugänglicher sein.« Sie schwieg. »Nun«, meinte er, »haben Sie mir nichts dazu zu sagen?« »Nur das, was ich Ihnen schon jedesmal sagte. Er sparen Sie sich diese überflüssigen Besuche. Geben Sie mir und meinem Vater sowie den ändern die Freiheit.« »Dieses Ansinnen würde mich ebenfalls zu Wie derholungen zwingen, auf die ich keinen Wert lege. Sie werden immer bei mir bleiben.« »Bis man uns befreit«, erwiderte sie kühl. Er lächelte bösartig. »Sie verkennen die Lage, meine Teuerste. In we nigen Tagen werde ich unabhängiger Sultan von Ma 35
rokko sein.« »Ich hätte nie geglaubt, daß Räuber und Verbre cher so hoch steigen könnten.« Seine Augen flammten kurz auf, aber seine Stim me klang ruhig und eindringlich. »Ihre Beleidigungen treffen mich nicht. Wenn ich Dinge begehe, die Ihnen gewaltsam erscheinen, so liegt die Schuld bei einer Frau, die mich zurückwies. Jene Frau hat mich den Haß gegen Frankreich ge lehrt. Heute steht eine zweite Frau in meinem Leben, nämlich Sie, und so wie damals jene andere, haben Sie es in der Hand, wie sich meine Zukunft gestalten wird. Sie werden daran schuld sein, wenn Tausende von Menschen sterben, wenn ich grausam und er barmungslos meinen Weg gehe und…« »Das genügt«, unterbrach sie ihn kalt. »Es ist viel leicht einfacher, Sie stellen mir das Buch zur Verfü gung, aus dem Sie die Phrasen herausgelesen ha ben.« Guar zuckte wie unter einem Peitschenhieb hoch. Er rang nach Worten. Aber in diesem Augenblick klangen draußen ha stige Schritte und Stimmengewirr auf, die sich eilig näherten. Eine Stimme gellte zunächst unverständli che Rufe, bis man dann selbst im Zimmer hörte, wie einer zornig schrie: »Wo steckt denn der Herr? Ich muß ihn sprechen!« Der weiße Sultan lauschte eine oder zwei Sekun 36
den, dann riß er die Tür mit hartem Ruck auf und fragte voll verhaltener Wut: »Wer wagt es, diesen Lärm…« Der Mann, der die Tür fast erreicht hatte, stürzte halb in die Knie und keuchte: »Gefahr, Herr, Gefahr! Ich mußte Euch stören.« Mit einem Sprung war Guar bei ihm. »Was ist?« »Fremde in der Oase – im Strom –, wir haben ei nen gefangen…« Mit ächzendem Gurgeln brach der Läufer zusam men. Über ihn hinweg stürzte der weiße Sultan vor wärts. 2. Es pochte hastig an der Tür. Ein weißgekleideter Ja paner trat ein und meldete, daß sich das Boot unter einer Öffnung befinde. Sun Koh warf einen Blick durch das gläserne Bullauge hinaus. Draußen gurgelten noch immer die grünen Fluten des unterirdischen Stroms vorbei, wenn auch langsam, da das Boot seine Fahrt abge stoppt hatte. Es war das gleiche Bild wie in all den Stunden. Oben, unten und seitlich Wasser, dahinter in schwankendem Abstand abgeschliffene Felswän de, zwischen denen das Unterseeboot hinglitt. Die 37
Decke der Stromrohre war nicht hoch, aber sie er reichte nie eine Tiefe, in der sie dem Boot hätte ge fährlich werden können. Der Strom füllte an allen Stellen das Bett bis an die Decke vollkommen aus, ein Zeichen dafür, daß er zwei höhergelegene Wasser miteinander verband. Im Steuerraum stand außer dem Kapitän und sei nem Offizier bereits Peters mit einigen Kameraden. Als Sun Koh mit Hal eintrat, war der Raum fast aus gefüllt. Die Mattscheibe zeigte, umrahmt von wasserum rauschten Felsen, eine kreisrunde Öffnung. Sie bot keinen freien Blick nach oben, da ihr Ansatz im Wasser lag, aber die Helligkeit verriet, daß die Was sersäule sehr niedrig war. »Wo sind wir?« fragte Sun Koh den Kapitän. »Fast genau südlich von Ari Ajaschi, den Sie als Richtungspunkt angegeben hatten.« »Gut, bringen Sie den Steigschacht in die Öff nung, ich will nach oben.« Der Kapitän nickte, trat an sein Telefon. Das Boot begann sich hin und her zu schieben. Bereits nach wenigen Minuten erhielt Sun Koh die Meldung: »Schacht fertig zum Ausstieg.« »Es genügt, wenn ich zunächst allein aufsteige«, sagte Sun Koh zu seinen Begleitern. Alle waren ein verstanden, nur Hal war nicht zufrieden. »Sir, lassen Sie wenigstens mich mit, ich möchte 38
mich auch gern mal oben umsehen.« Sun Koh gab wie immer nach, wenn sich Hal Ge legenheit bot, sein Wissen zu bereichern. Außerdem konnte er vielleicht einen Boten brauchen. Das Luk war bereits geöffnet. Der erste Eindruck hatte sich bestätigt. Die Wasserdecke im Schacht war geringfügig. Übrigens wäre das Gegenteil auch nicht schlimm gewesen, denn der Ausstiegschacht konnte wie ein Fernrohr mehrere Meter hochgeschraubt werden. Sun Koh stieg in dem geräumigen, aus gewachse nen Steinen gehauenen großen Brunnenschacht em por. Er benutzte dabei die Steigeisen, die in der Wand eingelassen waren. Merkwürdigerweise mach ten diese den Eindruck, als seien sie ziemlich neu und würden häufig gebraucht. Noch etwas anderes war auffallend: Über dem Lichtkreis der Brunnenöffnung drohte eine eiserne Konstruktion, die von unten her zunächst phanta stisch wirkte, sich aber dann als harmloser Kran ent puppte. Aber selbst das genügte. Vorsichtig spähte Sun Koh umher, als er oben an gelangt war, dann schwang er sich über den Rand. Kurz nach ihm erschien Hal Mervin und brach in ei nen Ruf der Begeisterung aus. »Donnerwetter, hier ist es aber schön! Ich denke, wir landen mitten in der Wüste?« Seine Überraschung war einigermaßen gerechtfer 39
tigt. Der Brunnen bildete den Mittelpunkt einer Lich tung, die ringsum von blühenden Mandel- und Gra natbäumen eingefaßt war. Wie ein unvergleichliches, zartes Märchen wirkte dieser Anblick, nachdem man sich an den dunklen Schlund gewöhnt hatte. Auf der einen Seite stiegen über den weißen Blütenträumen die Berge in blauen Dunst hinein, auf der ändern Sei te wurde das Rund durch ein paar Gebäude in ma rokkanisch-sudanesischem Stil abgeschlossen, die zauberhaft unwirklich wie Filmkulissen wirkten. »Ein Idyll«, stellte Sun Koh fest, »wenn nicht die ser Kran wäre. Ich glaube, es wird sich lohnen, wenn wir uns ein wenig umsehen.« Sie schritten darauf zu, doch hatten sie kaum zwanzig Meter zurückgelegt, als etwas gänzlich Un vorhergesehenes eintrat. Aus dem Brunnen quoll dumpf ein Ruf empor. Hal hörte ihn kaum, aber Sun Koh erfaßte ihn blitzschnell. »Sir!« brüllte er herauf. »Alarm! Alarm!« Dann donnerte ein Schuß hoch. Sun Koh sprang schon mit unglaublicher Schnel ligkeit auf den Brunnen zu, bevor Hal noch richtig stehengeblieben war. »Warte!« schrie Sun Koh ihm zu und sprang in die Öffnung hinein. Es war eine scheinbar kleine, aber doch wunder volle Leistung, die dieser stählerne, geschmeidige Mann jetzt vollbrachte. Er fiel in den Brunnen hinab 40
und fiel doch wieder nicht. Ohne Pause glitt sein Körper senkrecht wie im Fall hinunter, aber seine Hände bewegten sich dabei blitzschnell, griffen für Sekundenbruchteile nach den Steigeisen, bremsten und regulierten den Fall, so daß er nicht allzu scharf wurde. Hal war noch nicht wieder in Bewegung, als Sun Koh schon im Boot aufsprang. Fast gleichzeitig glitt der Einstiegschacht schon zusammen und schloß sich. Kurz darauf begann das Boot sich zu lösen und zu sinken. In dieser Zeit stand Sun Koh schon neben dem Kapitän. »Was soll das bedeuten?« fragte er leise und mit einer Beherrschung, die erschreckend wirkte. »Nie mand weiß vorn, warum Sie höchsten Alarm gaben.« Der Kapitän nahm den Blick nicht von seinen Ap paraten. »Die Leute, die es wissen müssen, haben bereits ihre Befehle«, gab er fast ebenso ruhig zurück. »Vor uns liegt ein fremdes Unterseeboot. Bitte betrachten Sie die Bugscheibe, Sie können das Licht um die Krümmung herum bemerken. Ich muß damit rech nen, daß es uns jeden Augenblick einen Torpedo ins Boot jagt. Es wäre leichtsinnig, so ohne weiteres friedliche Absichten dort drüben vorauszusetzen.« Die Lichtkegel des Bootes warfen augenblicklich keinen Schein nach vorn; sie waren abgestellt wor 41
den. Um so deutlicher bemerkte er, daß tatsächlich kaum fünfzig Meter voraus ein fremdes Licht durch das Wasser drang. Da es halb seitlich kam, war es si cher richtig, dort eine Krümmung zu vermuten, hinter der sich das fremde Boot augenblicklich aufhielt. Eine fragwürdige Situation. Zwei Unterseeboote in diesem unterirdischen Strom, in dem es kein Ausweichen gab. Zwei Feinde, die versuchen mußten, den ändern zu vernichten. Die Verständigungsmöglichkeiten waren denkbar gering. Die Entscheidung lag beim ersten Torpedo. »Was wollen Sie tun?« fragte Sun Koh, als er sich aufrichtete. »Ein Stück zurück und in die Tiefe gehen«, kam knapp die Antwort. »Ich brauche mich wohl nicht erst zu vergewissern, daß der erste Torpedo nicht von uns abgefeuert werden darf?« Sun Koh sah den anderen mit leichter Überra schung an. »Ich wollte Sie soeben darauf hinweisen. Sie kön nen meine Absichten ausgezeichnet erraten.« Der Kapitän sah ihn fest an. »Kein Kunststück, Sir. Jeder von uns weiß, daß Sie tausendmal lieber selber Gefahren auf sich neh men, als einen Gegner von vornherein durch einen überraschenden Zugriff zu erledigen, solange er seine feindlichen Absichten noch nicht in die Tat umge setzt hat.« 42
»Soll das eine Mahnung sein?« »In diesem Fall nicht, weil wir nicht unbedingt etwas zu fürchten haben. Aber ich sorge mich manchmal um die Zukunft. Wenn die Völker der Er de gegen Sie anrennen, dann kann allzu großer Edelmut die Vernichtung bedeuten.« Sun Koh wartete, bis der Kapitän neue Befehle durchgegeben hatte, dann sagte er freundlich: »Sie sorgen sich unnütz. Alle meine Vorbereitungen ste hen unter dem Gesichtspunkt der doppelten Siche rung. Jeder Gegner soll die erste Chance haben, aber es ist unsere Sache, dafür zu sorgen, daß uns diese nicht gefährlich wird. Sie haben ja bereits in diesem Sinne gehandelt. Und gibt mir dieser Augenblick nicht recht?« »Das Schicksal ist tückisch. Unsere Sicherung ist gut, aber trotzdem kann uns die Explosion gegen die Wand werfen und zerdrücken.« Sun Koh lächelte jetzt. »Das Schicksal ist immer gütig, wenn man ihm als Optimist entgegentritt.« Wieder sprach der Kapitän in das Telefon, lausch te auf die Bestätigung, die klar und deutlich von ir gendwoher kam. Dann meldete er: »Das Boot liegt in zweihundert Meter Abstand auf dem Grund fest. Die Sperre liegt einhundertachtzig Meter voraus.« »Das bedeutet Selbstmord für den Gegner, nicht wahr?« 43
»Jawohl, Sir, vorausgesetzt, daß alles klappt.« »Gut, warten wir ab.« * Hal Mervin war ausnahmsweise mehr betroffen als entrüstet. Als er in den Brunnen hinabblickte, sah er nichts mehr vom Unterseeboot. Das schien ihm eini germaßen unerklärlich, zumal es nicht Sun Kohs Gewohnheit war, ihn einem Ungewissen Schicksal zu überlassen. Lange grübelte der Junge nicht darüber. Er kam nach einer kleinen Weile zu dem Schluß, daß ihn Sun Koh schon wieder abholen würde und daß es zweckmäßig sei, bis dahin die begonnene Arbeit zu erledigen. Also steuerte er von neuem auf die Ge bäude zu, die Sun Koh hatte untersuchen wollen. Viel los war nicht mit ihnen, das sah er schon aus der Entfernung. Man hatte sie vernachlässigt. Ver mutlich standen sie schon seit längerer Zeit leer. Wer weiß, ob in den letzten Jahren hier überhaupt ein Mensch hergekommen war. Aber nein, da war ja der Kran, also konnte die Oase doch nicht ohne Bewoh ner sein. Hal merkte schneller, als ihm lieb war, daß sich in der Oase Menschen aufhielten. Als er bis auf zehn Meter an die Front des turmgekrönten Lehmkastells herangekommen war, stürzten von der Seite her ein 44
ganzes Dutzend weißgekleidete Gestalten mit brau nen, schmalen Gesichtern auf ihn zu. Sie schrien laut irgendwelche Worte, die der Junge nicht verstand. Dabei schwenkten sie ihre Gewehre oder schössen unter Geheul planlos in die Luft. »O weh«, murmelte Hal, »hier hat man eine Ver rücktenanstalt losgelassen. Stop!« Das letzte schrie er den Fremden laut entgegen und zog gleichzeitig seine Pistole. Die Antwort war ein verstärktes Heulen und einige Kugeln, die unge mütlich nahe vorüberpfiffen. Hal warf sich schleunigst ins Gras und schoß. Der erste Schuß richtete wenig Schaden an, der zweite ließ einen der Berber die Arme zurückwerfen. Zum dritten Schuß kam er nicht mehr. Hal spürte einen harten Schlag an der Hand, der ihm die Pistole herausriß. Die Hand war ganz, aber die Waffe kam nicht mehr in Betracht. Ein teuflischer Zufall hatte eine Berberkugel auf die Mündung schlagen lassen. Da hob Hal die Schultern, kreuzte die Arme über der Brust und stand auf. Unter solchen Umständen war nichts zu wollen. Einen Augenblick später hatten ihn die Berber um ringt und packten ihn roh an. Damit war Hal durch aus nicht einverstanden. »Laßt eure Pfoten weg«, fauchte er wütend und teilte ein paar Hiebe aus. 45
Merkwürdigerweise hatte das die gewünschte Wirkung, vermutlich, weil die Leute nicht wußten, woran sie waren. Sie ließen fast respektvoll von dem Jungen ab und begnügten sich damit, ihn in ihre Mit te zu nehmen und voraus zu deuten. Hal begriff, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als der Aufforderung Folge zu leisten. Als sie kurz vor den Bäumen waren, begann die Erde unter ihnen zu schwanken. Ein gewaltiger Stoß schien sie ein Stück anzuheben, so daß die Menschen Halt und Gleichgewicht verloren. Darauf folgte ein dumpfes Dröhnen, das aus der Erde herausdrang. Die Berber starrten mit sichtlich verstörten Ge sichtern bald auf Hal, bald auf ihre Kameraden. Dann liefen ein paar zum Brunnen, blickten hinein und winkten dann unter erregten Zurufen die anderen heran. Hal war selbst tief erschrocken. Eine Explosion in der Tiefe? War etwa das Unterseeboot in die Luft geflogen? Teufel noch mal, das war einfach nicht denkbar, war unmöglich. Sein Innerstes sträubte sich dagegen, diese Annahme weiter zu verfolgen. Und doch sah es ganz danach aus. Die Berber machten ihm bereitwilligst Platz, als er sich zum Brunnenrand vordrängte und hinunterblickte. Viel war ja nicht zu sehen, aber zweifellos war das Was ser dort unten in wilder Aufregung, und der dunkle Gegenstand, der dort oben schwamm, war ebenso 46
zweifellos ein zersplittertes Brett, das nur aus dem Innern des Bootes stammen konnte. Wie ein Kranker ließ er sich von den Berbern mit schleppen. Sein Gehirn war wie benommen, seine Seele taub, seine Sinne waren stumpf. Als man am Ziel angelangt war, blieb ihm von der Wanderung nur eine undeutliche Erinnerung an schwindelnde Pfade, schroffe Wände und Abstürze sowie an eigen artige Felsentüren. Das Ziel war eine Burg, die teils aus mächtigen Quadern aufgebaut war, teils in den anstehenden Fel sen hineinverlief. Man führte ihn über Treppen und Gänge und ließ ihn endlich in einem schmalen Raum mit winzigen Fensterschlitzen allein. Dort sank er wie betäubt auf das dürftige Lager am Boden. Kurz darauf trat ein großer, schwarzbärtiger Mann bei ihm ein, von dem er erst später erfuhr, daß das der weiße Sultan war. Er richtete Fragen an ihn, her rische, drängende Fragen. Hal hörte ihn kaum, ließ ihn ruhig fragen und blieb schweigend am Boden liegen. Da trat Benid Guar an ihn heran und riß ihn mit brutalem Griff hoch. Er schrie ihn förmlich an: »Antworte, wenn ich dich frage!« Da verwandelte sich der apathische Hal in eine feuersprühende Wildkatze. Mit einem Schlag entlud sich seine ganze Verzweiflung in einem mörderi schen Ausbruch. Er hieb dem Mann blindlings beide 47
Fäuste in das Gesicht, daß dieser bis zur Wand zu rückprallte, sprang ihm nach, tobte los, wobei sein Körper unter Haß und Schmerz wie eine zitternde Flamme hin und her bebte: »Hund, verfluchter, was fällt dir ein, mich anzufassen, du…« Hal kehrte in die Tiefen seiner Kindheit zurück, die er in einem Vorort Londons verlebt hatte. Er reih te Fluch an Fluch, und jeder einzelne war so mit Haß und Wut geladen, daß er zur stärksten Schmähung wurde. Wie ein geiferndes Scheusal spritzte er dem weißen Sultan sein Gift ins Gesicht. Vielleicht hielt ihn dieser für wahnsinnig? Er starr te den Jungen mit weitgeöffneten, erschreckten Au gen an und schlich dann scheu hinaus. Hal bemerkte es nicht. Er tobte weiter. Und dann plötzlich brach die Kette ab, riß mitten im Wort aus einander. Hal stand eine Sekunde reglos mit geöffnetem Mund. Dann schlug er die Hände vor das Gesicht und sank aufschluchzend zu Boden. * Stunden vergingen. Es dauerte lange, bis sein Ohr das hartnäckige Po chen auffing, das durch die Wände drang. Noch län ger dauerte es, bis er begann, im Rhythmus des Klopfens mitzugehen. Lang – kurz – kurz – lang – 48
kurz… Mechanisch hörte er die Zeichen ab. Plötzlich schreckte er auf. Gab da nicht jemand Morsezeichen? Schlagartig wurde er hellwach. Tatsächlich, durch die Wände drangen die regelmäßigen Klopftöne un unterbrochen weiter. Aus einzelnen Buchstaben formten sich Worte, aus diesen Sätze. »Hallo, hallo, schlaft ihr denn? Gebt Antwort. Hal lo, hier ist ein Gefangener des weißen Sultans. Gebt Antwort. Hallo!« Unermüdlich klang das Hallo auf. Hal zog sein Taschenmesser aus der Tasche und schlug damit auf den Steinboden. Sofort brach der andere ab. Er lauschte wohl fieberhaft auf die Zeichen, die Hal gab. »Hallo, hier ist auch ein Gefangener. Ich bin Hal MERVIN. Wer sind Sie?« »Kapitän Delcrosse vom Nachrichtendienst. Wie kamen Sie in Gefangenschaft?« Eine halbe Stunde lang gingen die Nachrichten hin und her. Beide morsten verhältnismäßig schnell, aber für normale Begriffe doch langsam. Hal erfuhr durch das Gespräch eine ganze Menge Dinge, die ihn sehr interessierten. Leider war nichts dabei, was ihm zur Freiheit verhelfen hätte. Der Ka pitän war selbst Gefangener und wußte keine Mög lichkeit, aus seinem Verlies herauszukommen. Also brach das Gespräch zunächst ab. 49
Der Junge begann jetzt erst, sich sein Gefängnis gründlich anzusehen. Viel gab es nicht zu studieren. Immerhin – als er die schäbige Matte, die ein Stück des Bodens vor dem Lager bedeckte, beiseite zog, fand er darunter eine Platte mit deutlich sichtba ren Ritzen. Das machte ganz den Eindruck, als ob sich die Platte wegheben lassen müßte. Ein Griff war nicht vorhanden, und die Fingerspit zen fanden zu wenig Halt. Also schob er die Messer klinge in den Spalt hinein und versuchte damit, den Stein zu heben. Der Erfolg war wenig erfreulich. Schon beim ersten Versuch brach die halbe Klinge ab. Hal war viel zu stark interessiert, um es daraufhin aufzugeben. Er probierte es nun mit dem Rest der Klinge, der ihm geblieben war. Tatsächlich gelang es ihm, die Platte soweit zu lüften, daß er mit den Fin gerspitzen zugreifen konnte. Er zerrte mit aller Kraft, aber es gelang ihm nicht, die Platte weiter zu heben. Die Finger hielten nicht durch, er mußte wieder loslassen. Jetzt setzte er von neuem sein abgebrochenes Messer ein und hob die Platte etwas an. Nun rammte er aber seinen silbernen Bleistift in die Ritze, hielt die Platte fest und ging mit dem Messer nach. Das wiederholte er. Beim drittenmal wurde die Unterkan te frei, so daß er mit beiden Händen darunterfassen konnte. Jetzt war es eine Kleinigkeit, die Platte zu kippen. 50
Er war einigermaßen enttäuscht, als er durch das annähernd ein Quadratmeter große Loch hindurch blickte. Unter ihm lag ein Raum, der haargenau sei nem Gefängnis ähnelte. Wenn die Tür dort unten nicht im Gegensatz zu der seinigen offen war, dann hatte er die ganze Arbeit umsonst geleistet. Hal kam sich geradezu abenteuerlich vor, als er nun die Matte in Streifen riß und diese zu einem Seil zusammenknüpfte. Seine Tätigkeit erinnerte ihn an die unglaublichen Erlebnisse seines ehemaligen Lieblingsdetektivs. Die schmale Steinsäule, die zwischen den beiden noch schmaleren Lichtschlitzen stand, bot eine ganz gute Gelegenheit, das Seil zu befestigen. Nach einer kleinen Reißprobe, die zur Zufriedenheit ausfiel, hangelte er sich in die Tiefe hinunter. Unten lauschte er, ob sich nichts Verdächtiges rege, dann probierte er vorsichtig die Tür. Sie war verschlossen. Hal quittierte diese Tatsache mit einer wenig lie benswürdigen Bemerkung. Es lag nahe, daß er nun auch in diesem Raum die Matte aufhob und nach einer Öffnung suchte. Zu sei ner eigenen Überraschung war auch hier eine ganz ähnliche Platte wie oben vorhanden. Er machte sich unverdrossen an die Arbeit. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, auch diese Platte umzulegen. 51
Voll Spannung beugte er sich hinunter. Er blickte in die großen Augen eines Mannes, der zu ihm hinauf starrte. »Ach du liebe Güte«, fuhr es ihm im ersten Schreck heraus, aber schon im gleichen Augenblick drängte sich ihm das Gefühl auf, daß er nicht ganz so schlimm dran sei. Der Mann dort unten, der einen geradezu schreck lichen Buckel besaß, war erstens wie ein Europäer gekleidet und hatte zweitens ein Gesicht, das Zutrau en einflößen konnte. Und jetzt begann er auch mit einer sympathischen, warmen Stimme zu sprechen: »Wenn du einen Weg zur Flucht suchst, mein Sohn, muß ich dich leider enttäuschen. Ich bin selbst ein Gefangener und kann hier nicht heraus. Wenn du mir aber einen Besuch abstatten willst, so sei auf alle Fäl le herzlich willkommen.« »Wer sind Sie denn?« erkundigte sich Hal er staunt. »Du wirst es merkwürdig finden, aber ich bin der Besitzer dieser Burg. Fleischhauer ist mein Name.« Dem Jungen verschlug es fast die Sprache. »Dagobert Fleischhauer, der sogenannte Fips. Ge rechter Strohsack, das Ding ist nicht schlecht. Au genblick, ich komme sofort hinunter.« Es dauerte immerhin eine Weile, bevor er sein primitives Seil zusammengebunden und befestigt hatte und schließlich daran heruntergerutscht war. 52
Fleischhauer hatte sich noch nicht von seinem Stau nen erholt. Hal bot ihm die Hand. »Guten Tag, Mister Fips. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Der Bucklige schluckte. Seine Gesicht sah in die sem Augenblick nicht übermäßig geistreich aus. Endlich rang er sich zu einem Lächeln durch. »Hm, du scheinst mich ja besser zu kennen als ich dich. Woher weißt du denn meinen Spitznamen?« »Von Manuel Garcia, Mister Fips. Übrigens, ich heiße Hal Mervin.« »Garcia? Wie kommst du zu Garcia?« »Mein bester Freund, Jugendgespiele sozusagen, Mister Fips.« Der Bucklige zuckte nervös zusammen. »Das ist interessant. Übrigens, es wäre mir lieber, wenn du mich bei meinem richtigen Namen nennen würdest.« Hal wehrte ab. »Aber nicht doch, Mister Fips, wie werde ich Ih nen das antun?« Fleischhauer schüttelte den Kopf. »Du scheinst der Meinung zu sein, daß ich den Spitznamen recht gern höre? Das ist aber ein Irr tum.« Der Junge riß die Augen auf. »Was? Sie hören lieber auf den Namen Fleisch 53
hauer als auf den Namen Fips, Mister Fips? Aber Garcia hat mir doch gesagt, daß Sie…« »Manuel Garcia liebt solche Scherze«, fiel der Bucklige mild ein. »Das werde ich ihm zurückzahlen«, verschwor sich Hal, »darauf können Sie sich verlassen, Mister Fips – Fleischhauer wollte ich natürlich sagen. Sie sind also der Besitzer dieser Burg? Richtig, das er zählte ja schon Garcia. Schöner Besitzer, finden Sie nicht, der hier im Keller gefangen ist?« »Man hat mich überfallen. Ich Narr war leichtsin nig genug, in der letzten Zeit alle Sicherungen außer acht zu lassen, weil ich niemals an einen Angriff glaubte. Ich habe es Benid Guar sehr leicht gemacht, die Burg zu besetzen. Doch nun berichte mir vor al len Dingen erst einmal, wie du hierher kommst, wer du bist und was der Dinge mehr sind.« Hal Mervin ließ sich nicht nötigen. Er gab eine gedrängte Übersicht über alles, was zum Verständnis unbedingt erforderlich war. Anschließend entspann sich eine rege Unterhaltung, und zuletzt redete der Bucklige lange Zeit allein, während Hal aufmerksam lauschte. »Du mußt also versuchen«, schloß er, »in meinen Arbeitsraum zu gelangen. In dem eingelassenen Schrank rechts an der Wand findest du alles, was du brauchst. Es ist deine Sache, ob du den Kapitän vor her befreien willst. Hier ist der Universalschlüssel. 54
Vor dem leeren Zimmer oben wird kaum eine Wache stehen.« »Wird alles erledigt«, versicherte Hal und schüt telte die gebotene Hand. Dann zog er sich an seinem Seil empor. Die Matte konnte er leider nicht wieder herstellen, aber den Stein legte er wenigstens soweit über, daß die Öffnung nicht unbedingt von unten her auffallen mußte. Dann probierte er den Schlüssel, der ihm übergeben worden war. Der Schlüssel paßte. Hal schlich auf dem kahlen, ungemütlichen Stein gang vorwärts. Besonders wohl war ihm nicht dabei. Es schwangen allerlei Geräusche in der Luft, aber die Akustik in dieser Felsenburg war so verwirrend, daß sich nicht genau bestimmen ließ, wo die Geräusche herkamen. Endlich eine Treppe. Er sicherte nach allen Seiten und stieg dann auf ihr nach oben. Erfreulicherweise setzte sie sich über das nächste Stockwerk hinaus fort, so daß er ohne Schwierigkeiten den Gang errei chen konnte, in dem das Arbeitszimmer Fleischhau ers liegen sollte. Auch dieser Gang war menschenleer. Da kein be sonderer Grund zum Warten vorlag, lief Hal los. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schlen derte wie der gelangweilte Besucher eines Museums vorwärts. Sein Entschluß stand fest. Wenn ihm wirklich je 55
mand in die Quere lief, so wollte er den Harmlosen spielen, bis der Mann nahe genug war. Dann mußte ein gut gezielter Jagdhieb das Weitere regeln. Der Plan war ohne Zweifel vortrefflich, wenig stens in Anbetracht der Ungewissen Situation. Leider meinte es das Schicksal gleich zu gut mit ihm. Hal war zehn Meter vorangekommen und sah ge rade rechter Hand eine Tür, als im Gang vor ihm ein Berber auftauchte. Der Junge zog unternehmungslustig die Hosen hö her. Der Kerl sollte sein blaues Wunder erleben. Ein Geräusch in seinem Rücken ließ ihn mißtrau isch herumblicken. Hinter ihm kam ein zweiter Berber, der offenbar über die Treppe in den Gang gelangt war. Hm, einen konnte man ja schließlich veralbern, aber bei zweien würde das schon seine Schwierigkeiten haben. Er war sich noch nicht ganz schlüssig, als einige Meter voraus linker Hand eine Tür aufging und der schwarzbärtige Mann heraustrat, der ihn in seiner Zelle aufgesucht hatte. Na, gute Nacht, dachte Hal, und da heißt es im mer, aller guten Dinge sind drei. Diesen drei Männern gegenüber gab es keine Ret tung mehr. Sie ließen sich nicht bluffen. Der weiße Sultan machte ein erstauntes Gesicht. Hal hob schicksalergeben die Schultern und schlenkerte anschließend seinen Arm, wodurch er 56
unauffällig die Klinke der Tür in die Hand bekam. »Mahlzeit.« Mit einer Art Verbeugung warf er sich in die auf gehende Tür hinein und warf sie dann sofort hinter sich zu. Erfreulicherweise steckte ein Schlüssel, so daß er die anspringenden Verfolger wenigstens für kurze Zeit fernhalten konnte. Viel Erfreuliches war in dem Raum nicht zu be merken. Im Grunde genommen hatte er nur sein Ge fängnis gewechselt. Aber halt – das Fenster besaß eine ganz hübsche Breite. Man konnte sich zur Not hindurchdrücken. Aha, einen Meter tiefer lief ja auch eine Art Sims, auf dem man weiterkommen konnte. Hal verfolgte das Simsband ein Stück, dann schweifte sein Blick über die ganze Umgebung. Sie war großartig in ihrer wilden, hemmungslosen Zer rissenheit, aber zugleich bedrückend und beängsti gend. Die Wand der Burg war nichts anderes als die natürliche Felswand, die in jähen Sprüngen in die Tiefe raste oder sich mit haardünnen Klippen an die gegenüberliegende Wand heftete. Plötzlich hieb es den Jungen wie unter einem elek trischen Schlag durch den Körper. Seine Fingernägel griffen so hart an den Stein, daß sie abbrachen, seine Augen wollten die Höhlen sprengen. Dort drüben auf der messerscharfen Klippe! Narrten ihn seine Sinne, oder wurden die Toten 57
wieder lebendig, oder… Von irgendwoher peitschten Schüsse auf, spritzten gegen den Felskamm, an dem der Mann dort hing. Und dann schrie Hal erbarmungswürdig auf. Wie ein riesiger, langgestreckter Stein aus dunk lem Basalt lag das große Unterseeboot am Grund des unterirdischen Stroms. Es dauerte lange, bis der un bekannte Gegner sich rührte. Endlich verschwand der Lichtstreif, der bisher aus der Krümmung herausge drungen war. Bedeutete das Rückzug oder Angriff? »Legen Sie die Sperrgrenze noch fünfzig Meter zurück und lassen Sie eine Lichtboje hoch«, ordnete Sun Koh an. Der Kapitän gab ohne Einwendungen seine Befeh le, aber er runzelte die Stirn. Sekunden quälten sich hin. Dann erfolgte eine ungeheure Explosion, die das Unterseeboot über den Felsengrund zurückpreßte und es hin und her warf wie ein Schiff, das sich auf hoher See durch einen Orkan kämpfte. Die Bodenund Seitenplatten schrillten und pfiffen in einem zermürbenden Geräusch, das die Ohren für alles an dere taub machte. Der Gegner hatte seinen Torpedo abgeschossen. Die Sperre aus ultrakurzen Richtstrahlen hatte ihn zur Zündung gebracht, kaum daß er den Lauf verlas sen hatte. 58
Nach Minuten hatte sich der Strom beruhigt. Nach Minuten atmete der Kapitän auf. »Gott sei Dank, das Boot ist unversehrt. Ich fürch tete schon, es würde uns alles aufreißen. Wir sind fahrbereit.« »Dann wollen wir die Explosionsstelle aufsu chen.« Die Strömung war merklich stärker als vorhin. Die Ursache lag darin, daß die Explosion große Stücke der Felsendecke heruntergerissen und in das Bett geworfen hatte, so daß die Wasser sich jetzt in einer Wölbung nach oben durchdrücken mußten. Hundert Meter hinter der neu entstandenen Barre lag ein schwarzer, vorn aufgerissener und seitlich verbeulter Schiffskörper auf Grund. Das war noch vor Minuten ein kleines, aber sicher schnelles Unter seeboot mit einer lebenden Besatzung gewesen. Zwischen Sun Kohs Augen bildete sich eine steile Falte. Es ist selbst dann furchtbar, Menschen zu tö ten, wenn es in der Verteidigung geschieht. Das Unterseeboot kehrte wieder zurück und legte von neuem am Brunnen an. Sun Koh stieg nach oben, um seine unterbrochene Besichtigung fortzu setzen. Er erlaubte es jetzt den anderen, hinter ihm aufzusteigen. Als er Hal oben nicht bemerkte, nahm er zunächst an, der Junge sei bereits auf eigene Faust unterwegs. Doch dann fielen ihm die zahlreichen Trittspuren um 59
den Brunnen herum auf. Sorge packte ihn. Sollte Hal mit Leuten zusammengestoßen sein, die feindlich gesinnt waren? Einer seiner Begleiter hob nach einer Weile einen Gegenstand aus dem Gras. »Ist das nicht Hals Pistole? Sie hat einen Schuß abbekommen.« Sun Koh brauchte nun keine Bestätigung mehr. Hal hatte geschossen und war beschossen worden. Die nächste halbe Stunde benutzten die Männer dazu, die Oase planmäßig abzusuchen. Sie atmeten allgemein erleichtert auf, als der Junge weder ver wundet noch tot gefunden wurde. »Das bedeutet«, sagte Sun Koh, »daß Hal als Ge fangener fortgeführt wurde. Man wird ihn mit aller Wahrscheinlichkeit in die Berge verschleppt haben. In dieser Richtung laufen auch die Spuren. Nimba, in einer Viertelstunde brechen wir auf.« Die jungen Deutschen bestürmten ihn, sie mit auf die Suche gehen zu lassen, aber Sun Koh lehnte ent schieden ab. »Die Schwierigkeit wird darin liegen, den Entfüh rern auf der Spur zu bleiben und doch nicht bemerkt zu werden. Sie haben keine Übung darin, meine Her ren, selbst wenn Sie noch so ausgezeichnete Alpini sten sind. Allenfalls könnten Sie als Verbindungsleu te hinter uns Fühlung halten.« Wohl oder übel mußten sie sich damit zufrieden 60
geben. Sun Koh hinterließ ihnen sehr genaue Anwei sungen, dann brach er mit Nimba zusammen auf. Der Wechsel zwischen der blühenden Oase und den ansteigenden Bergen wirkte ungeheuer schroff. Nachdem die beiden die erste Biegung des Pfades auf dem nackten Fels hinter sich hatten, konnten sie annehmen, in einen anderen Erdteil gelangt zu sein. Wild phantastisch türmten sich die Berge auf, wie von der Sonnenhitze in grausige Spalten auseinan dergerissen. Dieser Gebirgslandschaft fehlte jeder sanfte, versöhnende Zug. Die Berge, deren Höhe ge nau genommen noch geringfügig zu nennen war, drohten wie schartige Keile in den Himmel, die Schluchten schnitten mit einer Schroffheit ein, wie man sie sonst nur im Hochgebirge vermutet. Die anfänglich gut sichtbare Spur hatte sich auf dem Felsboden selbstverständlich sofort verloren. Trotzdem entdeckten die beiden mit ihren geschärf ten Sinnen bald hier, bald dort ein Zeichen, das ihnen als Wegweiser dienen konnte. Nach einigen Stunden drangen sie in eine Art Hochtal ein, das von zwei fast senkrechten Klippen eingefaßt wurde. Ein ganz frisch abgesprengtes Steinstück bestätigte ihnen, daß sie auf dem richtigen Weg waren. Das Hochtal verengte sich außerordentlich schnell und wurde zu einem Engpaß, den kaum zwei Mann nebeneinander passieren konnten. Und dann war es 61
plötzlich zu Ende. Die beiden Männer standen vor einer nur zwei Meter breiten, senkrechten Wand, die den Abschluß des Engpasses bildete. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Unbegreiflich. Logischerweise müßte hier ein Durchgang sein.« Nimba hob einen Zigarettenstummel auf. »Er muß da sein. Die Zigarette ist erst vor kurzem weggeworfen worden.« »Dann wird sich hier eine Tür befinden, die einzi ge Möglichkeit, die ich mir denken kann.« Ihre Suche wurde bald belohnt. Sie entdeckten senkrechte Ritzen, die die Vermutung Sun Kohs be stätigten. Leider fanden sie den dazugehörigen Me chanismus nicht, so daß ihnen die Entdeckung nichts nützte. »Geht es nicht hindurch, so vielleicht darüber hin weg«, entschloß sich Sun Koh und begann nach ei nem Aufstieg zu suchen. Nimba zog bedenklich die Stirn in Falten, aber er hatte nichts zu erwidern. Die Wand war entsetzlich, aber Sun Koh hatte schon an dere Hindernisse bezwungen. Nach sorgfältiger Prüfung begann Sun Koh den Aufstieg. Es war mehr ein Hinaufklimmen, bei dem er fast ausschließlich auf die Stahlkraft seiner Finger und Zehen angewiesen war. Ruhig und sicher nahm er seinen Weg nach oben. Während Nimba unten in tausend Ängsten schwebte, 62
wählte er bedächtig neue Haltepunkte und zog Meter um Meter seinen Körper nach. In halber Höhe fand er ein schräg aufsteigendes, schmales Band, das ihm außerordentlich zustatten kam. Endlich zog er sich mit einem letzten Ruck auf den schmalen Grat hinauf. Fünfzig Meter unter ihm starrte der riesige Neger nach oben. Auf der anderen Seite ging es zweihundert Meter tief hinab. Nach dieser flüchtigen Feststellung widmete Sun Koh der Felswand, auf die der Grat fast genau recht winklig zulief, seine Aufmerksamkeit. Sie war so schroff wie die Klippe, aber darüber hinaus besaß sie einige Eigentümlichkeiten, die Sun Koh brennend interessierten. Erstens sprang die Wand an verschie denen Stellen in Kanzeln vor und auf diesen erhoben sich Mauern, die von Menschenhand gefügt worden waren. Zweitens befanden sich in der Wand eine ganze Reihe schmaler Einzel- oder Doppelschlitze in mehreren Stockwerken übereinander, die ebenfalls nicht von der Natur geschaffen waren und sicher nichts anderes vorstellen sollten als Fenster. Sun Koh sah sich am Ziel. Dort drinnen mußte Hal stecken. Möglicherweise war das zugleich die Burg, zu der ihn Manuel Garcia geschickt hatte. Während Sun Koh noch überlegte, wie er vom Grat aus am besten in die Burg hineinkommen konn te, zerriß ein Schrei die harte Stille. Unmittelbar dar auf knallte ein Schuß. 63
Sun Koh spähte die Wand ab, doch schon peitsch ten neue Schüsse, und da wurde ihm plötzlich be wußt, daß sie ihm galten. Unmittelbar neben ihm spritzten die Kugeln gegen die Felsen. Mit zerrei ßendem Pfeifen grellten die Querschläger vorbei. Himmel, die Schützen hatten ein gutes Ziel. Sun Koh schwang sich über den Grat zurück und duckte sich. Es half ihm nichts, die Schützen mußten hoch genug stehen, um ihn auch so unter Feuer halten zu können. Hinunter. Er tastete nach dem ersten tieferen Halt, als er ei nen brennenden Schlag an der Hüfte spürte. Unwill kürlich zuckte er zusammen, versuchte in Deckung zu kommen. Das wurde ihm zum Verhängnis. Der Halt für Beine und Hände war so geringfügig, daß er ihn bei der plötzlichen scharfen Bewegung sofort verlor. Seine Füße glitten ab. Neue Schüsse krachten. Mit einer unsicheren Drehung stürzte Sun Koh senkrecht in die Tiefe. Das war der Augenblick, in dem Hal Mervin, der rein zufällig Zeuge dieses Vorganges geworden war, entsetzt aufschrie. Im gleichen Augenblick, in dem er den totgeglaubten Sun Koh lebendig auf dem schwindelnden Grat sah, sah er auch seinen Todes sturz unter den Kugeln der Berber. 64
Sun Koh tot? Wer weiß, ob die ändern lebten oder bei der Explosion zugrunde gegangen waren – er selbst gefangen, Kapitän Delcrosse gefangen, Mr. Fips ebenfalls. Der weiße Sultan konnte sich ins Fäustchen la chen. 3. Ernest Maria d’Ormier, der zur Nachrichtenabteilung des Kapitäns Delcrosse gehörte und kurz »Hafid« genannt wurde, verlebte in Uarsasat verzweiflungs volle Stunden. Der Befehl des Kapitäns hielt ihn noch in dieser Wolkenkratzerstadt der Berber, aber es kam ihm selbst sinnlos vor, daß er noch durch die Gassenschluchten wanderte und den Reden der schielenden Bettler lauschte. Delcrosse war überfal len und ermordet worden, die beiden anderen lagen sicher schon längst in einer Schlucht. Er war der letz te von dem Dutzend Männer, aus denen einst die Nachrichtenabteilung bestanden hatte. Alle waren den Spürhunden des weißen Sultans erlegen und ge tötet worden – und alle nutzlos. Man glaubte ihren Warnungen einfach nicht. Die Garnisonen lebten in den Tag hinein, als ob sie sich mitten im Frieden be fänden, und Frankreich wollte nicht hören. Es war zum Verrücktwerden! Langsam, in stundenlangem Grübeln, wuchs der 65
letzte Plan in ihm. Es gab nur eine Chance, um das Unheil abzuwenden: Der weiße Sultan mußte getötet werden. Die Berber würden ohne ihren Führer in Verwir rung geraten und nicht losschlagen. Eine Minute nur dem Mann auf wenige Meter Ab stand gegenüberstehen, das würde genügen. Ein Schuß, und Zehntausende waren gerettet. Was scha dete es, wenn er selbst dabei starb? Nur – es würde nicht leicht sein, an den Mann he ranzukommen. Als die Nacht ihre schwarze Decke über die Stadt mit den hohen Häusern legte, begann Ernest Maria d’Ormier seine Wanderung in den Tod. Nach Süden ging es. Dort in den Ausläufern des südlichen Atlas mußte die Felsenburg liegen, in der der weiße Sultan hauste. Die Nacht verging. Der glühende Tag wölbte sich höher und höher. Zwanzigmal schon hatte er Leute umschlichen, in deren Waffen eine Kugel für ihn lag. Es war seine größte Sorge, nicht schon vor dem Ziel abgeschossen zu werden. Je näher er an die Burg he rankam, um so größer wurde die Wahrscheinlichkeit, von den Anführern der Berber gestellt zu werden. Gegen Mittag drang er in eine schmale Schlucht ein, deren Wände fast senkrecht Hunderte von Me tern nach oben stießen. Mit doppelter Vorsicht spähte er voraus. Hier gab es kein Ausweichen. Traf er in 66
dieser Enge auf einen Feind, so hieß es töten. Er war kaum einige Dutzend Meter zwischen den Steinblöcken vorangekommen, als er plötzlich ein Geräusch über sich hörte. Er warf sich blitzschnell herum, aber es war zu spät. Von dem Felsblock, an dem er gerade vorbei woll te, sprang ein Mensch auf ihn herunter, so daß er in die Knie brach und stürzte. Der Gegner riß ihm im gleichen Augenblick auch schon die Arme auf den Rücken, preßte ihm das Gesicht auf die Erde und durchsuchte ihn nach Waffen. Mit einem Laut der Genugtuung zog er die Pistole heraus. Dann erhob er sich, warf Ormier mit einem Ruck herum und sagte drohend in holprigem Arabisch: »Du kannst dich set zen. Halt aber gefälligst deine Hände ruhig. Sprichst du zufällig englisch?« Ormier starrte seinen Gegner an. Nichts hatte er weniger erwartet, als daß er englisch sprechen sollte. Und auf den Anblick, der sich ihm bot, war er erst recht nicht gefaßt gewesen. Vor ihm stand mit schußbereiter Pistole ein Mann, der genau genommen noch ein Junge war. Und der Junge war ein Weißer. Sein Gesicht war schmal und sommersprossig, die Haare rotblond. Das war der kühldreiste Gassenjunge einer Großstadt in Reinkul tur, wenn auch in anderer Aufmachung. Er war seh nig, schlank, sicher zäh und leistungsfähig für sein Alter. Äußerlich sah er übel aus. Gesicht und Haar 67
waren verschmutzt, die Haut war abgeschürft, die Kleider waren zerrissen. Er machte den Eindruck, als hätte man ihn einige Male durch eine Dornenhecke gezogen. Zu leiden schien er nicht darunter. Die hellen Au gen waren fest und kalt. »Also nicht? Nun, wäre ja auch ziemlich komisch gewesen, wenn einer von euch Bergschleichern eng lisch gesprochen hätte. Dreh die Augen nicht so her um, sonst fallen sie dir aus Versehen in die Nasenlö cher hinein. Wenn ich nur wüßte, was er sich in der Gegend herumzudrücken hatte. Irgendwie muß ich versuchen, das herauszukriegen, sonst laufe ich schließlich noch direkt in sein Familienleben hinein.« Er sagte das unbekümmert auf englisch vor sich hin. Ernest Maria d’Ormier mußte trotz seiner Situa tion lächeln und sagte auf englisch: »Keine Sorge, ich habe noch kein Familienleben. Wer soll denn in so unruhigen Zeiten eine Familie unterhalten?« Hal ruckte zurück, riß die Augen auf und kniff sie wieder zusammen. »Hört, hört! Englisch können Sie auch? Ziemlich fortschrittliche Gegend, nicht?« »Ich spreche auch französisch, deutsch und spa nisch, falls du Bedarf hast. Nur ein Berber bin ich nicht. Ich heiße Ernest Maria d’Ormier und bin Leutnant des französischen Nachrichtendienstes in Marokko.« 68
»Ich heiße Hal Mervin, bin Engländer und suche eben einen Wegweiser. Was treiben Sie denn in die ser Gegend?« »Dasselbe könnte ich auch fragen?« Ormier wurde ernster. »Willst du nicht die Pistole wegstecken? Die Unterhaltung wird dann herzlicher.« »Auf jeden Fall werde ich Ihnen erst einmal die Nähte abklopfen, bevor ich auf die Pistole verzichte. Haben Sie Ausweise bei sich?« Ormier nickte, schob das rechte Bein seiner Shorts zurück, nachdem er sich seiner weißen Hülle entle digt hatte, brachte aus irgendeinem Versteck an sei nem Körper ein feines Messer heraus und begann, behutsam auf seiner Haut zu schaben. Hal sah das eine Weile mit an, dann wehrte er ab: »Hören Sie, eine Blutprobe oder irgend so etwas brauchen Sie nicht gleich abzulegen. Ich brauche nur irgendeine Bestätigung für Ihre Angaben, damit ich weiß, ob ich Ihnen trauen kann oder nicht.« »Du brauchst noch nicht umzufallen, es kommt noch kein Blut«, stichelte Ormier und zog einen gan zen Fetzen Haut von seinem Oberschenkel herunter. Es hatte ein dünnes Seidenpapier verdeckt, das er jetzt behutsam ablöste und Hal hinhielt. »Eine künstliche Haut«, erklärte Ormier. »Vor sicht mit dem Seidenpapier. Das ist mein Ausweis.« Hal studierte das hauchdünne Papier und gab es dann zurück. 69
»Schade! Mir war gerade eine kleine Volksbelu stigung für Sie eingefallen. Also Spion? Na schön, dann…« »Nicht Spion, sondern Nachrichtenoffizier.« »Also eben Spion«, drückte Hal mit Genuß in die weiche Stelle Ormiers hinein. »Bei uns heißt das immer noch Spion. Deswegen brauchen Sie sich nicht aufzuregen. Jeder Mensch weiß, daß es manchmal auch anständige Leute unter den Spionen gibt.« »Vielen Dank!« knurrte Ormier. »Das genügt wohl. Es wird Zeit, daß wir vernünftig miteinander reden.« »Meinetwegen«, meinte Hal schulterzuckend. »Fangen Sie an. Sie wollen natürlich in die Felsen burg, in der der weiße Sultan sitzt. Oder nicht?« Ormier musterte ihn scharf. »Vielleicht? Was weißt du darüber?« »Nun, vor allen Dingen, daß es keinen Zweck hat, wenn Sie sich deswegen noch weiter anstrengen. Sie kommen ohnehin nicht hinein. Das kann ich Ihnen als alter Burgbewohner verraten.« »Du warst in der Burg?« »Ja, aber als Gefangener.« »Und du bist herausgekommen?« »Wie Sie sehen.« »Dann komme ich auch auf dem gleichen Weg hinein.« 70
Hal tippte sich ohne Rücksicht auf feineres Be nehmen gegen die Stirn. »Bilden Sie sich keine Schwachheiten ein. Es geht zweihundert Meter fast senkrecht in die Höhe, Ge wiß, ich bin heruntergekommen, aber fragen Sie nicht wie. Mehr gefallen als geklettert. Wenn ich Ih nen sage, daß ich nicht wieder hochkommen würde, so können Sie Gift darauf nehmen, daß Sie es erst recht nicht schaffen.« »Erzähle mehr.« Hal zuckte mit den Schultern. »Was gibt’s da schon noch zu erzählen? Die Kerle hatten mich eingesperrt, ich fand aber einen Ausweg und sah mir das Haus an. Auf dem einen Gang stell ten sie mich. Ich sauste in ein Zimmer hinein, schlug die Tür hinter mir zu und quetschte mich dann durch das Fensterloch ins Freie. Die Wächter schössen ge rade wie wild auf meinen Freund.« »Auf wen?« Hals Lippen zuckten. Er wehrte schroff ab. »Lassen wir’s! Die Schufte haben ihn anscheinend abgeschossen. Aber er ist bisher noch immer davon gekommen, und ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Jedenfalls kletterte ich hinaus, fand ein Stück tiefer ein schmales Felsband und gleich darun ter eine Fensternische. Dort habe ich mich hineinge drückt. Ganz hinein konnte ich nicht, die Öffnung war zu schmal. Sie haben nach mir gesucht, aber 71
mich nicht entdeckt. In der Nacht bin ich dann abge stiegen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe. Manchmal habe ich mich gleich ein paar Meter fallen lassen müssen, zuletzt hat’s mich sogar noch ge schmissen. Ein paar Stunden habe ich bewußtlos ge legen, aber sonst ist alles gut gegangen.« Ormier streckte ihm die Hand hin. »Du scheinst es in dir zu haben, mein Junge. Wie bist du überhaupt gefangen worden?« »Man hat mich in einer Oase weiter im Süden ge schnappt. Den Namen weiß ich nicht, aber jedenfalls ist ein Brunnen mit einem Kran dort, ein paar alte Gemäuer und sehr viel Mandelbäume. Genau im Norden sieht man den Ari Ajaschi.« Der junge Franzose wunderte sich. »Es muß die Tura-Oase sein, von der du sprichst. Aber sie ist verlassen, und daß sich dort ein Kran be findet, kann kaum stimmen.« »Dann ist der französische Nachrichtendienst schlecht orientiert«, widersprach Hal. »Glauben Sie etwa, daß ich Ihnen was vorschwindle? Und mit dem Kran, das ist völlig in Ordnung. Er holt die Waffen und Geschütze aus dem Strom heraus, genauer ge sagt aus dem Unterseeboot. Ohne das Ding würde es kaum gehen.« Ormier preßte die Hände zusammen, um sich zur Konzentration zu zwingen. »Wovon sprichst du da?« fragte er heiser. »Es gibt 72
dort einen unterirdischen Strom, auf dem mit Hilfe von Unterseebooten Waffen herangebracht werden?« »Freilich«, bestätigte der Junge. »Wußten Sie das auch nicht? Ich muß schon sagen…« »Spare dir deine Werturteile«, unterbrach der an dere schroff vor Erregung. »Wir von der Nachrich tenabteilung suchen seit Monaten fieberhaft nach ei ner Erklärung, wie die Waffen ins Land kommen, und nun weiß jeder…« »Legen Sie Ihre Werturteile ebenfalls in die Spar büchse, wenn Sie etwa sagen wollen, daß jeder her gelaufene Junge Bescheid weiß«, unterbrach Hal. »Übrigens ist die Sache nicht so einfach. Das mit dem Strom und dem Kran kann ich Ihnen aus eigener Anschauung bestätigen, aber was die Waffen und Unterseeboote betrifft, so hörte ich selbst nur von Kapitän Delcrosse, ach nee, von Mister Fips dar über.« Ormier packte ihn hart bei der Schulter und schrie ihn förmlich an: »Von wem?« Hal machte sich mit einem Ruck frei. »Immer sachte. Sie können den Namen Fips wohl auch nicht leiden. Mir gefällt er. Also von Mister Fleischhauer.« Der andere stöhnte. »Mensch, was geht mich dein Fips oder Fleisch hauer an. Den anderen meine ich. Hast du nicht von Kapitän Delcrosse gesprochen?« 73
»Ja, er war es aber nicht, der mir das Geheimnis erzählte. Ich kenne den Kapitän nur vom Hören. Aber Sie müssen ihn doch kennen, er ist doch auch beim Nachrichtendienst?« »Freilich kenne ich ihn, er ist mein bester Freund. Du hast mit ihm in der Burg gesprochen?« »Was man so sprechen nennt. Wir haben ein biß chen miteinander gemorst, mehr nicht.« Ormier war erschüttert. »Er lebt also? Raoul lebt – Gott sei Dank!« Der Junge sah ihn mitleidig an. »Danken Sie nicht zu früh. Der Kapitän versprach sich nicht viel von seiner Zukunft. Der weiße Sultan hat ihn auf dem Kieker.« Der andere reckte sich entschlossen. »Ich werde ihn befreien.« »Erst können vor Lachen«, entgegnete Hal trocken. »Wenn das so einfach wäre, hätte ich ihn wie den Buckligen und das Mädchen schon mitgenommen.« »Es sind noch mehr Gefangene in der Burg?« »Sicher. Wer weiß, wer außer den dreien noch al les drin steckt. Jedenfalls sind es auch ohne Sie ge nug. Wissen Sie den Weg zur Oase Tura?« Ormier sah ihn verwundert an. »Allerdings, so ungefähr, aber…« Hal packte ihn beim Arm. »Dann los, bringen Sie mich auf dem kürzesten Weg hin.« 74
»Aber…« »Himmel, Schnee und Wolkenbruch!« Der Junge wurde ärgerlich. »Begreifen Sie denn nicht, daß Sie hier nicht weiterkommen? In der Oase sitzen die Leute, zu denen ich gehöre – hoffentlich wenigstens. Die muß ich mobil machen. Sie werden das ganze Nest in fünf Minuten ausheben. Es sieht nach einem Umweg aus, ist aber das kürzeste und einfachste Verfahren.« Der Franzose war immer noch unsicher. Dieser kaltschnäuzige Junge, der mit der Zielsicherheit und Selbstverständlichkeit eines Erwachsenen vorging, hatte ihn mit seinen Nachrichten einigermaßen über den Haufen geworfen. »Was sind das für Leute? Du scheinst die Macht des weißen Sultans zu unterschätzen?« »Und Sie erst recht, wenn Sie es allein schaffen wollen. Verlassen Sie sich darauf, von den Leuten, die ich zu Hilfe rufe, ist jeder einzelne mehr wert als zehn weiße Sultane. Und nun wollen wir losgehen, wenn es Ihnen nicht allzuviel Umstände macht.« Ernest d’Ormier, der selbständigste und kühnste der Nachrichtengruppe Delcrosse, folgte dem energi schen Jungen. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis er alles verdaut hatte und wieder er selbst wurde. Dann übernahm er die Führung. Nach zwei Stunden lauschten sie atemlos auf ein Geräusch, das durch die Bewegungen eines Men 75
schen oder eines Tieres entstanden sein konnte. Die Sicht war leider sehr beschränkt. Nach einer Weile wiederholte sich das Geräusch, kam dann zum drit tenmal. Menschen arbeiteten sich den Berg entlang, unter ihren Tritten rollten gelegentlich die Steine. Plötzlich sprang der spähende Hal mit einem Ju belruf auf. »Hallo, Mister Gorm! Hallo! Hallo!« Eine Minute später schüttelte er der Reihe nach dem halben Dutzend der jungen Deutschen die Hand, machte seinen Begleiter bekannt und schüttelte auch schon einen Kübel Fragen aus, so daß überhaupt niemand zur Antwort kam. Klaus Gorm hielt ihm schließlich den Mund zu. »Also sachte, sachte. Alles hübsch der Reihe nach. Wie du siehst, sind wir keine Wasserleichen. Die Explosion stammte von einem fremden Untersee boot, das uns angreifen wollte. Wir sind alle unver sehrt, nur du warst natürlich verschwunden.« »Die Berber hatten mich entführt.« »Hatten wir uns gedacht. Sun Koh ist mit Nimba auf die Suche gegangen. Wir sollten die Verbindung halten, aber leider ist uns das nicht gelungen. Wir verloren sie aus den Augen und suchen nun schon seit zwei Tagen in diesem verteufelten Gebirge nach ihnen.« Hal berichtete nun, wie er Sun Koh auf dem Grat 76
an der Felsenburg gesehen hatte, wie die Schüsse gefallen und Sun Koh gestürzt war. Die Gesichter wurden darauf sehr finster, so daß Hal selbst wieder die Hoffnungen wecken mußte. »Ach was, Sun Kon ist sicher nichts passiert, sonst hätte Nimba doch von sich hören lassen. Hat er ange rufen?« »Nein. Ich weiß nur nicht, ob das ein gutes Zei chen ist. Seine Sprechdose hat er jedenfalls bei sich.« »Wenn er sie nicht vergessen hat, wie ich zum Beispiel. Aber ich hatte ja auch nicht damit gerech net, daß es weiter geht. Ich denke mir jedenfalls, die beiden werden noch in der Nähe der Burg sein und mich herausholen wollen. Wir müssen auf alle Fälle hin.« »Weißt du den Weg?« Hal hob die Schultern. »Den, auf dem ich gekommen bin, können wir nicht benutzen. Wir müssen einen anderen Zugang finden. Die Richtung weiß ich jedenfalls.« »Das muß genügen. Verständigen wir uns vor al lem mit den anderen.« Er nahm eine flache Dose aus der Tasche, drehte an einem Knopf und sprach hinein, während er gleichzeitig ein ganz ähnliches Instrument an sein Ohr hielt. »So«, faßte Klaus Gorm nach geraumer Zeit zu sammen, »wir werden also rund dreißig Mann sein. 77
Ich habe zwanzig Japaner mit angefordert. Sobald sie mit dem was wir brauchen eintreffen, kann der Marsch beginnen. Bis dahin werden noch einige Stunden vergehen.« »Es kann viel Unheil geschehen in diesen Stun den«, sagte Ormier düster. »Sie werden hoffentlich verstehen, daß ich ungeduldig bin.« Gorm nickte? »Gewiß, wenn auch sicher nicht ungeduldiger als wir. Aber es hat keinen Zweck, blindlings drauflos zu rennen, um dann ohnmächtig dazustehen. Der At las ist wohl augenblicklich ein recht unruhiges Ge biet?« Es gelang ihm, den jungen Franzosen aus seinem Brüten herauszureißen und ihn zu einer Schilderung der Verhältnisse zu veranlassen. Dadurch machte er ihm die Zeit kurz und hinderte ihn vor allem, unbe queme Fragen zu stellen. Als die Japaner unter der Führung der anderen jungen Deutschen eintrafen, sank die Nacht über den Atlas. Es war die gleiche Nacht, in der alle Franzosen in Marokko sterben sollten. Und es war die gleiche Stunde, in der in die gro ßen Kessel der Garnisonsküchen in Tarudant und Figig, in Uarsasat und Mekines und Tafilelt weißli che, betäubende Pulver hineinglitten, die gleiche Stunde, in der in Ain Sefra und Marokko, in Fes und 78
Mogador und manchen anderen Orten fanatische Berbergesichter sich zur letzten Kontrolle über Sprengladungen und Zündungen beugten, die den Garnisonen über ihren Köpfen in wenigen Stunden den Tod bringen sollten. * Als Sun Koh vor Hals Augen vom Felsengrat ab stürzte, fiel er ungefähr zehn Meter senkrecht hinun ter. Dann gelang es seinen Fingerspitzen, ein vor springendes Stück zu erhäschen. Er konnte sich nicht festhalten, aber er erreichte wenigstens, daß sein Fall stark aufgehalten wurde. Zwei Meter tiefer griff er abermals zu. Diesmal blieb er hängen. Langsam vollendete er nun den Abstieg. Der riesige Neger, der unten in dem kaum zwei Meter breiten Engpaß auf ihn wartete, war noch grau im Gesicht. Der Schrecken hatte ihn so mitgenom men, daß er sich noch nicht davon erholt hatte. »Sir«, hauchte er, »ich fürchtete schon, man hätte Sie erschossen.« »Ich bin mit einem Streifschuß davongekommen«, beruhigte Sun Koh lächelnd und wies auf den Riß in seiner Kleidung. »Ich glaube, wir müssen vor allen Dingen verschwinden. Es wird nicht lange dauern, dann wird man mich, das heißt meine Leiche, hier suchen.« 79
Im Laufschritt eilten sie aus dem Engpaß heraus und versteckten sich in der aufsteigenden Wand au ßerhalb. »Führt von der Burg aus ein Weg in den Paß?« er kundigte sich der Neger leise. Sun Koh nickte. »Ganz sicher. Der Paß führt auf der anderen Seite der Felswand weiter. Die senkrechte Wand ist nichts weiter als eine schmale Scheide, durch die die Tür führt, deren Ritzen wir sahen. Da der Grat höher liegt, konnte ich in die andere Seite hineinsehen.« »Dann ist es vielleicht gar nicht so schwer hinein zukommen?« »Aber auch nicht leicht. Man kann nämlich von dem Grat aus sehr schlecht in die Tiefe des jenseiti gen Passes kommen. Soviel ich sehen konnte, waren dort die Wände völlig senkrecht und glatt, künstlich behauen, wenn ich nicht irre. Es besteht aber die Möglichkeit, auf dem Grat selbst vorwärts zu klim men und so an die Burg heranzukommen, denn der Grat stößt unmittelbar gegen ihre Mauer. Auf diesem Weg wollen wir es versuchen.« »Kann ich mit, Sir?« Sun Koh sah in das grob geschnittene, aber ehrli che und treue Gesicht seines schwarzen Gefährten. »Es ist ein gefährlicher Weg, Nimba, aber wie ich dich kenne, wirst du dort oben weniger Angst haben, als wenn du zurückbleiben mußt. Also komm mit.« 80
Nimba strahlte. Im Engpaß mußten sich jetzt Leute befinden. Man hörte Schritte und Rufe, dann sahen die beiden einige Berber aus der Mündung des Passes herauskommen. Nach einiger Zeit verschwanden sie wieder. »Sehr viel Interesse scheint man nicht an meiner Person zu haben«, bemerkte Sun Koh zufrieden. »Um so besser für uns. Jetzt wollen wir zuerst unsere Leute anrufen. Von Rechts wegen müßten sie dicht hinter uns sein.« »Sie haben vielleicht unsere Spur verloren«, ver mutete Nimba. Er wußte nicht, daß er damit die Wahrheit erriet. Sun Koh griff in seine Tasche und holte den klei nen Sender heraus. Er stutzte schon, ehe er ihn sah. »Nanu, was ist denn das? Die Dose ist ja entzwei.« Er hatte sich nicht getäuscht. Ein Schuß mußte die Dose getroffen haben. Sie war zersplittert und zer drückt. Als drahtloser Sender war sie jedenfalls nicht mehr zu gebrauchen. Und der Empfänger, der an ih rem Boden angeschraubt war, war ebenfalls nichts weiter als ein Behälter mit einigen nutzlosen Draht verbindungen. »Damit läßt sich nichts hören«, stellte Sun Koh ruhig fest. »Gib mir deinen Apparat, Nimba.« Der Neger suchte schon eine ganze Weile in sei nen Taschen. Schließlich mußte er mit kläglichem Gesicht bekennen: »Ich habe ihn nicht bei mir, Sir. 81
Entweder – halt ich weiß. Ich hatte ihn mit dem Seil gepackt, das ich mitnehmen wollte und das ich dann dalassen mußte.« »Ich kann zwar kaum finden, daß ein derartiger Apparat neben einem Kletterseil am richtigen Platz ist, aber es ist ja schließlich nicht schlimm. Die ande ren werden auch so nachkommen. Vielleicht ist es aber auch besser so.« Sie warteten, bis die Nacht kam. Dann betraten sie den Engpaß von neuem und begannen den schwieri gen Aufstieg in die fast senkrechte Wand zum Grat hinauf. Glücklicherweise schien der Mond, so daß sie die Griffstellen für die Hände und Füße wenig stens einigermaßen erkennen konnten. Sun Koh klet terte voraus und machte den nachfolgenden Nimba auf die geeignetsten Stellen flüsternd aufmerksam. Nimba benutzte sie mit großem Geschick. Er kletter te trotz seiner hünenhaften Größe ganz ausgezeich net. Wie ein riesiger Affe kraxelte er an der Wand empor. Als sie in halber Höhe waren, drangen drüben aus dem Engpaß Geräusche und Laute. Kurz darauf öff nete sich die mächtige Steintür am Fuße der senk rechten Scheidewand. Durch sie schritten einige Männer in der weißleuchtenden Kleidung der Berber. Sun Koh und Nimba klebten sich wie Schatten an den Felsen an. Sie mußten jede Bewegung vermei den. Ein fallendes Steinchen konnte sie verraten. 82
Wenn man sie hier oben bemerkte, gab es keine Ret tung. Die Leute unten, die die Gewehre über den Schultern trugen, konnten sie in aller Gemütsruhe herunterschießen. Sun Koh schätzte die Strecke, über die sich der Engpaß hinzog. Zwei Minuten würde es dauern, be vor die Männer außer Sicht waren. Das war reichlich lange. Nicht für ihn, denn seine Finger waren wie zähe Stahlhaken. Aber unter ihm hing Nimba mit seinem riesigen Gewicht. Und Nimba verfügte zwar über gewaltige Kräfte, aber seine Fingerspitzen wa ren nicht mehr trainiert als bei einem anderen Men schen. Immerhin – die zwei Minuten würde er zur Not durchhalten. Das Schicksal war gegen die beiden Männer an der Wand. Die vier Berber dort unten hatten sich viel zu erzählen. Sie gingen ganz langsam und blieben schließlich stehen, um sich über irgendeine Kleinig keit einig zu werden. Sun Koh wurde unbehaglich zumute. Die Leute würden nicht zwei Minuten, son dern zehn Minuten brauchen, um außer Sicht zu kommen. Dann war Nimba verloren – und er mit. Sun Koh blickte nach unten. Der Neger sah zu ihm herauf. Das Weiß seiner Augen leuchtete groß und bereits mit sichtlicher Qual. Eine Minute verging – die Berber standen immer 83
noch unten beieinander und schwatzten. Da löste Sun Koh den einen Fuß von seinem win zigen Lager ab, pendelte etwas seitwärts und hielt ihn dem Neger unmittelbar vor die Nase. »Faß an«, raunte er hinunter. Nimba schüttelte kläglich den Kopf. »Anfassen!« befahl Sun Koh zum zweitenmal. Da griff der Neger behutsam zu. Er löste seine rechte Hand vom Felsen und klammerte sich um das Bein seines Freundes, dann folgte die linke nach. An Sun Kohs Fingerspitzen hing das Gewicht ei nes Mannes und das Gewicht eines Riesen. Die Berber unten waren still geworden. Vorsichtig wandte Sun Koh wieder den Kopf. Himmel, sie blickten herauf. Hatten sie die winzige Bewegung an der Wand bemerkt oder waren sie durch sonst etwas aufmerk sam geworden? Jetzt begannen sie wieder zu reden. Ah, sie sprachen von seiner Kletterpartie am Nachmittag. Sun Koh atmete auf. Die zerreißende Spannung ließ nach. Aber dafür begann er jetzt seine Finger spitzen zu spüren. Wie mit tausend Nadeln stach es schmerzhaft in ihnen, zugleich aber auch in den Knöcheln, im Handgelenk und in der Armmuskula tur. Es war ein Schmerz, der mit jeder Sekunde im mer höher anschwoll. 84
Irgendwo würde die Grenze sein. Endlich setzten sich die Berber unten wieder in Bewegung. Plaudernd und lachend schritten sie lang sam weiter. »Loslassen«, keuchte Sun Koh heiser hinunter. Nimba griff sofort nach dem Felsen. Zwei Zentner glitten von dem gequälten Körper Sun Kohs ab. Behutsam löste er die eine Hand, streckte die Fin ger, die wie Glas waren. Einige Bewegungen, dann wechselte er. Das dauerte Minuten, bevor das Leben prickelnd in die Fingerspitzen zurückschoß, und abermals eini ge Minuten, bevor sich Sun Koh wieder sicher fühlte. Nimba war mittlerweile seinem Beispiel gefolgt und hatte ebenfalls seine Fingerspitzen abwechselnd ent lastet. »Weiter«, hieß es nun. Nach der qualvollen Pause war der restliche Auf stieg fast ein Kinderspiel. Ohne Zwischenfall gelang ten sie auf den Grat hinauf. Sie vermieden es jedoch, sich allzusehr auf ihm zu zeigen, hängten sich lieber mit den Händen an die fast messerscharfe Kante und hielten den Körper selbst auf den verhältnismäßig zahlreichen Vorsprüngen weiter unten. Sie kamen recht schnell vorwärts, bis unter ihnen die Querwand lag. Dann wurde es wieder schwieri ger. Ihre Füße fanden an der senkrechten Wand kei nen Halt mehr. 85
Auf die andere Seite konnten sie nicht gut über wechseln, da diese im vollen Mondlicht lag und au ßerdem von den gelegentlich sichtbar werdenden Po sten beobachtet werden konnte. Die Felswand mit der Burg sprang drüben ein Stück vor, so daß dem Posten die ganze Breite der Gratwand im Blickfeld liegen mußte. »Wir müssen auf dieser Seite weiter«, sagte Sun Koh leise zu Nimba, der dicht angeschmiegt hinter ihm hockte. »Voraus sind zwar Fenster, aber es sieht nicht so aus, als stände dahinter ein Beobachter.« Auf der anderen Seite, nur wenige Meter weiter entfernt, lief genau parallel der andere Grat, dessen jenseitiger Absturz jedoch bald in eine höher aufstei gende Felswand überging. Es war eine regelrechte Hohlgasse, die zu dem Eingang führte, durch die Steilheit ihrer Wände und durch die Querwand so vorzüglich gesichert, daß ein gewaltsames Eindrin gen fast unmöglich sein mußte. Die Berber schienen den Eingang jedenfalls für vollkommen gesichert zu halten, denn sie hatten noch nicht einmal Wachen aufgestellt. Wahrscheinlich saßen diese unmittelbar hinter dem Haupteingang. »Wollen wir durch die Fenster hinein?« flüsterte Nimba. Sun Koh nickte. »Es wird wohl die einzige Möglichkeit sein. Hof fentlich bereitet es uns keine Schwierigkeiten. Wenn 86
man uns hier oben bemerkt, sieht es böse aus.« »Gut hundert Meter sind es«, murmelte der Neger. »Wir brauchen eine gute Portion Glück.« Sun Koh wies auf die gegenüberliegende Wand. »Wenn wir entdeckt werden, so bleibt uns nichts übrig als ein Sprung über den Abgrund hinweg. Drüben deckt uns der Grat gegen die Schüsse. Wir müssen natürlich erst hier hoch, um uns abstemmen zu können, aber dann werden wir die paar Meter schaffen. Klar?« »Jawohl, Sir.« Ruhig und kühl, als gelte es eine harmlose Spiele rei, begannen die beiden Männer das entsetzlichste Stück ihrer Wanderung. Wanderung ist freilich zu viel gesagt, sie hangelten sich vielmehr am Grat vorwärts. Ihre Körper hingen senkrecht und fast starr an der Wand herunter, während ihre Hände Stück für Stück an der scharfen Kammlinie vorwärts griffen. Eine unsichere, bröcklige Stelle dort oben konnte ihnen zum Verhängnis werden und ein fallender Stein oder ein teuflischer Zufall konnte die Gewehre der Wächter in Tätigkeit setzen. Aufatmend schwangen sie sich schließlich auf die schwarze Stelle, an der der Grat auf die Frontwand der Burg stieß. Von hier aus war das Fenster nicht mehr als einen Meter entfernt. »Wenig erfreulich«, stellte Sun Koh nach kurzer Prüfung fest, »zwischen den Fenstern stehen Stein 87
säulen, und die Fenster selbst sind zwar ohne Glas, aber zu schmal, um hindurchzukommen. Es bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als zu versuchen, die Säule durchzubrechen.« »Das wird Lärm geben«, sagte Nimba. »Es wird für die Leute in der Burg nicht leicht sein, festzustellen, woher das Geräusch kommt. Be vor sie das ermittelt haben, müssen wir eben ver schwunden sein.« Er schwang sich in die Fensternische hinein. Dort blieb er eine ganze Weile unbeweglich hocken. Der Neger sah, wie sich der Körper Sun Kohs um Winzigkeiten bewegte, wie er sich zum stählernen Bogen spannte und seine ungeheure Kraft einsetzte. Dann hörte er ein spitzes Knirschen, dem ein kur zer Knall und das leichte Poltern von nach innen fal lenden Steinen folgte. Die Geräusche waren verhält nismäßig gering, aber den Sinnen des Negers schie nen sie unmäßig laut. Sun Koh kippte mit dem Oberkörper in das Fen ster hinein, so daß seine Füße außen über dem Ab grund schwebten. Vorsichtig setzte er den Mittelteil des Fensterpfeilers, den er herausgebrochen hatte, unten auf dem Steinboden ab. Dann schwang er sich vollends hinein und winkte Nimba, ihm zu folgen. Der dünne Blendstrahl des Taschenscheinwerfers zeigte einen völlig nackten Raum, der Hal Mervin sehr vertraut vorgekommen wäre. In der Ecke befand 88
sich ein einfaches Lager, davor lag eine Matte. Eine leichte Erhebung erregte die Aufmerksam keit. Sun Kohs. Zunächst lauschte er jedoch eine ganze Weile. Nichts von herannahenden Schritten, nichts von Aufregung in der Burg. Nur irgendwo in der Ferne waren Stimmen und Geräusche. Dann glitt er zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Sie gab sofort den Weg zu einem kahlen Gang frei. Sun Koh schloß die Tür wieder und hob nun die Matte auf. Unter ihr lag eine rechteckige Platte, die an der einen Kante leicht angehoben war. Unter der Kante lag ein Streifen, der offenbar von der einst größeren Matte abgerissen worden war. Irgend je mand hatte ihn unterlegt, um die Möglichkeit zu ha ben, die Platte schnell zu heben. Weder Sun Koh noch Nimba ahnten, daß es der Junge gewesen war, den sie so eifrig suchten. Mit einem Ruck schwenkte Sun Koh die Platte hoch. Der Blendstrahl schoß in die Tiefe hinunter. Er fiel auf das Gesicht Dagobert Fleischhauers. 4. Raoul Delcrosse, der gefangene Kapitän der Nach richtenabteilung, hatte stundenlang gegrübelt, nach dem er sich überzeugt hatte, daß eine Flucht aus die ser Steinkammer nicht möglich war. Sein Ergebnis entsprach genau dem seines Kameraden und Freun 89
des Ernest Maria d’Ormier, nämlich, den weißen Sultan unter Opferung des eigenen Lebens zu töten und damit die französischen Besatzungen in Marok ko zu retten. Leider ließ sich der weiße Sultan nicht wieder bei ihm sehen. Delcrosse hörte, daß in eine der Nachbarkammern ein neuer Gefangener eingeliefert wurde. Eine Weile später hörte er dessen verzweifelte Attacke gegen Benid Guar und versuchte dann, sich mit ihm durch Morsezeichen in Verbindung zu setzen. Das gelang ihm nach langer Zeit. Er unterhielt sich mit Hal Mer vin ausführlich genug, aber leider nützte ihm das sehr wenig, wenn auch der Junge allerhand davon hatte. Er teilte seinen Wächtern mit, daß er den weißen Sultan zu sprechen wünsche. Auch das half nichts. Nach einiger Zeit bekam er zu hören, daß der Sultan zu sehr beschäftigt sei, um sich mit ihm zu unterhal ten. Die Nacht kam und verging. Ihr folgte ein ewig langer Tag, und dann senkte sich die Nacht von neu em. Es war qualvoll, daß die Zeit verrann, während mittlerweile sich draußen die Katastrophe mit Rie senschritten näherte. Endlich, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, trat Benid Guar bei ihm ein. Er war gekleidet wie einer, der einen weiten Ritt vor sich hat, und sei 90
ne ersten Worte wiesen auch darauf hin, daß er im Begriff war, davonzureiten. »Sie haben gewünscht, mich zu sprechen, Herr Kapitän«, sagte er überraschend verbindlich in fran zösischer Sprache. »Bitte beeilen Sie sich, denn ich will in einer halben Stunde die Burg verlassen. Der Kampf beginnt.« Delcrosse erschrak. Er verbarg es leidlich ge schickt hinter einer verächtlichen Geste und erwider te sarkastisch: »Heute und zu dieser späten Stunde noch sicherlich nicht mehr.« Der weiße Sultan lächelte spöttisch. »Oh, wir brauchen keinen Sonnenschein. Der Kampf wird nicht nur beginnen, sondern er hat schon begonnen. In dieser Stunde brodelt bereits das Gift in den Kesseln, das einige tausend Ihrer Freunde besei tigen wird.« Der Kapitän wich einen Schritt zurück. »Sie wollen – die Besatzung vergiften?« Guar nickte. »Sie werden sehr leicht sterben, und außerdem treffe ich alle mit einem Schlag. Das warme Abend essen gehört zu den wenigen Dingen, in denen sich Ihre lieben Freunde übereinstimmend verhalten. Ich hoffe, Sie werden mich zu meinem genialen Plan be glückwünschen.« Das war zuviel. Der verbindliche Ton war zu gleich getränkt mit einem Hohn, der rasend machen 91
konnte. Delcrosse sprang mit einem wilden Satz auf den weißen Sultan zu. »Du Schwein!« zischte er auf. »Dir werde ich’s beibringen.« Dabei riß er dem anderen, für den der Angriff völ lig unerwartet kam, bereits die Pistole aus dem Gür tel. Mit einem schnellen Griff legte er den Sicher heitshebel um und schoß. Die Pistole klickte. Versager. Oder gar nicht geladen? In Guars Gesicht wich der tödliche Schrecken dem ersten Schein des Triumphs, aber schon schleuderte ihm der schnell entschlossene Kapitän die unnütze Pistole ins Gesicht und packte mit beiden Händen nach der Kehle des weißen Sultans. Was die Pistole nicht schaffte, das würden die Hände leisten. Guar setzte sich sofort zur Wehr. Er war kein Schwächling, im Gegenteil, man konnte ihn für stär ker als seinen Angreifer halten. Wilder Kampf flammte in der engen Zelle auf. Delcrosse schloß seine Hände wie Stahlklammern um den Hals des anderen, so daß dessen Gesicht blau anlief, aber er konnte es nicht verhindern, daß er mit zu Boden ge rissen wurde und Guar ihm hämmernde Schläge in den Leib versetzte, die ihn fast ohnmächtig machten. Der Kapitän war entschlossen, eher zu sterben, als 92
loszulassen. Aber sein Versuch war aussichtslos. Der Lärm mußte die Wachen draußen vor der Tür auf merksam machen. Tatsächlich wurde die Tür aufgerissen. Delcrosse sah einen der Wächter, der sekundenlang erstarrte und dann seine Waffe anschlug. Im nächsten Augen blick würde er schießen. Und der weiße Sultan war noch immer ein ganzes Stück von seinem Ende entfernt. Da warf Delcrosse sich verzweifelt herum, so daß ihn der Körper des anderen deckte. Doch dabei muß te sich sein Griff gelockert haben. Der weiße Sultan riß sich mit einem gewaltigen Ruck los und warf sich zur Seite. Wie ein Hellsichtiger bemerkte Delcrosse, daß der Wächter den Finger krümmte. Schuß! Er pfiff neben dem Ohr des Kapitäns vorbei. Der zweite Schuß? Nein, es hatte draußen auf dem Gang geknallt. Jetzt folgten noch mehr Schüsse. Der Wächter in der Tür fuhr herum, schoß in den Gang. Plötzlich ließ er die Pistole fallen, warf die Arme hoch und brach zusammen. Was geschah dort draußen? Ohne sich weiter um den weißen Sultan zu küm mern, sprang Delcrosse zur Tür und blickte in den Gang. Zwanzig Meter von ihm entfernt standen zwei 93
Männer, die bestimmt keine Berber waren. Der eine sah aus wie der kühne Held eines Abenteurerepos, und der andere war ein riesiger Neger. Beide hielten Pistolen in den Händen. »Nicht schießen!« schrie Delcrosse ihnen entge gen. »Ich bin gefangen.« Die beiden Männer kamen in schnellem Lauf auf ihn zugeeilt. »Wer sind Sie?« fragte der Jüngling mit dem bron zefarbigen Gesicht. »Kapitän Delcrosse vom französischen Nachrich tendienst.« Sun Koh nickte. »Aha, da weiß ich Bescheid. Kennen Sie den Auf enthalt des Jungen, mit dem Sie gemorst haben?« »Nein«, gab der Kapitän zurück, ohne lange dar über nachzugrübeln, wieso das diesem Mann bekannt sein könnte. Er erfuhr erst eine ganze Weile später davon, daß sich Sun Koh ausführlich mit dem Besit zer der Burg unterhalten hatte. Sun Koh wies auf zwei tote Berber. »Bewaffnen Sie sich, wir werden uns bald unserer Haut wehren müssen. Die beiden mußten wir er schießen, da sie uns angriffen. Wer ist das dort drin?« »Der weiße Sultan.« Sun Kohs Augen blitzten hart auf. »Halte Wache, Nimba«, wies er den Neger an und 94
eilte in den Raum hinein, in dem Benid Guar sich von dem Kampf erholte. Er duckte sich zum Sprung, als Sun Koh auf ihn zueilte, aber dieser fing seine Bewegung mit einem schnellen Stoß der linken Hand ab und hielt ihm mit der rechten die Pistole vor die Brust. »Sie sind der Mann, der der weiße Sultan genannt wird? Wo ist der junge Engländer, den Sie hier ge fangen halten?« Guar schwieg verbissen. »Nun?« drängte Sun Koh. »Ich warte auf Ihre Antwort.« Das Gesicht des weißen Sultans verzerrte sich höhnisch. »Die werde ich Ihnen geben, wenn meine Leute zur Stelle sind.« In Sun Kohs Augen funkelte es drohend. »Sie werden mir sofort sagen, wo sich der Junge befindet. Ich zähle bis drei. Habe ich bis dahin nicht die Antwort, so werden Sie nie mehr in Ihrem Leben antworten. Eins – zwei –« Benid Guar sah wohl an dem harten, verschlosse nen Gesicht vor sich, daß Sun Koh nicht zögern wür de, seine Drohung wahrzumachen. Deshalb beeilte er sich zu antworten: »Er ist entflohen und dabei in den Abgrund gestürzt.« Sun Kohs Gesicht wurde zu Stein. »Abgestürzt? Heißt das, daß Sie oder Ihre Leute 95
ihn hinuntergeworfen haben?« Guar sah, daß er dem Tod nur noch Millimeter entfernt war. Mit aller Ehrlichkeit versicherte er deswegen: »Nein. Der Junge drang in einen der obe ren Räume ein. Wir stellten ihn dort, aber bevor wir die Tür öffnen konnten, war er verschwunden. Er ist durch das Fenster hinaus, und an der glatten Wand vermutlich in die Tiefe gestürzt.« »Haben Sie ihn fallen sehen? Sie oder einer Ihrer Leute?« »Nein, wir haben mit seinem Tod nichts unmittel bar zu tun.« Sun Koh sah den Mann sekundenlang an, daß die sem förmlich der Rücken gefror. Dann wandte er sich kurz ab. »Sie bleiben vorläufig hier. Später werden Sie hö ren, was mit Ihnen geschieht.« Da trat Delcrosse vor, der den beiden zugehört hatte. Auch er richtete die Pistole auf den weißen Sultan. »Einen Augenblick noch. Das ist der Mann, auf dessen Befehl in dieser Stunde Tausende von Solda ten vergiftet werden sollen. Sie erlauben doch, daß ich mit ihm spreche. Höre, weißer Sultan, oder wie du nun heißt, binnen einer halben Minute hast du mir genau erklärt, wo sich euer Funkraum befindet, sonst schieße ich.« Benid Guar begriff wohl ebenso schnell wie Sun 96
Koh, was diese Frage bedeuten sollte. Er wurde blaß und preßte die Lippen aufeinander. »Wo ist der Funkraum?« wiederholte Delcrosse drohend. »Bei allen Heiligen, ich schwöre, daß ich dich zusammenschieße, wenn du nicht sofort antwor test. Wo ist der Funkraum?« Der Kapitän sah nicht so aus, als ob er scherzte. Und Benid Guar liebte sein Leben. Widerwillig stieß er hervor: »Im obersten Stockwerk, dicht neben dem Aufgang, der am Ende dieses Ganges nach oben führt.« »Dein Glück«, knurrte der Kapitän. »Wehe dir, wenn es nicht die Wahrheit ist.« »Sie kommen, Sir«, meldete der Neger von der Tür her. Die beiden Männer eilten zu ihm. Am Ende des Ganges, dort, wo die Treppe lag, erschien ein dichter Schwärm bewaffneter Berber, die zwar sicher die Schüsse gehört hatten, aber noch nicht wußten, was geschehen war. Gerade bemerkten sie die Leichen ihrer beiden Kameraden und die drei Fremden, und schon brachen sie in wildes Geheul aus. Delcrosse packte Sun Koh in seiner Erregung am Arm. »Hören Sie, Monsieur, in dieser Stunde wird für Tausende Soldaten die Abendsuppe zubereitet. Das Essen ist vergiftet. Die einzige Möglichkeit, um sie zu retten, ist die, daß es gelingt, die Militärstation 97
durch eine Radiobotschaft in letzter Minute zu war nen. Sie haben gehört, wo sich der Sender befinden soll. Ich muß mich durchschlagen, muß versuchen, hinaufzukommen. Seien Sie…« »Sparen Sie sich die Worte«, erwiderte Sun Koh schroff. »Ihre Absicht ist die meine. Gehen Sie in Deckung.« Von der anderen Seite knallten wild die Schüsse los. Sie pfiffen dicht vorbei, klatschten gegen die Wand, schwirrten als Querschläger weiter. »Schießen!« befahl Sun Koh. In seiner sowie Nimbas linker Hand lag plötzlich noch eine zweite Pistole. Oder waren es winzige Maschinengewehre? Aus den vier Mündungen knatterten in dichter Folge die Schüsse heraus. Bevor der Kapitän zum zweiten Schuß kam, schwiegen bereits die Pistolen der beiden Männer. Zur gleichen Zeit schwieg der ganze Gang, bis nach Sekunden das wilde Stöhnen einiger Verwunde ter aufbrach. Es war grauenhaft. Delcrosse spürte, daß ihm plötzlich der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Die beiden Männer mußten mit der unheimlichen Treffsicherheit von Kunstschützen geschossen ha ben. Es hatte kaum Sekunden gedauert. Die Schüsse waren mit rasender Geschwindigkeit hinausgefahren, 98
und doch lagen dort vorn mindestens zwei Dutzend Tote. Die anderen Berber, die dem Kugelhagel ent gangen waren, rasten in schweigendem Entsetzen davon. »Vorwärts!« Sun Koh jagte mit schnellen Sprüngen zur Treppe hin. Der Neger folgte dicht hinter ihm. Delcrosse, der sich immer für einen guten Sportler gehalten hatte, fiel sogar auf dieser kurzen Strecke ab. Als er die Treppe erreichte, waren die beiden Männer schon auf halber Höhe und schössen bereits wieder. Als er am nächsten Stockwerk ankam und über ein paar tote Berber hinwegsprang, hörte er die beiden ein ganzes Stockwerk höher schießen. Und als er endlich im obersten Stock zu der Tür hinein rannte, an der der Neger bereits wachehaltend stand, saß Sun Koh schon an der Schalttafel der Radioanla ge. Neben ihm auf dem Boden lag ein Berber, der durch einen Fausthieb betäubt worden war. »Schnell, die Wellenlänge!« rief ihm Sun Koh ent gegen. »Der Apparat ist in Ordnung, scheint auch stark genug zu sein.« »Lassen Sie mich«, bat Delcrosse keuchend. Er war selbst in dieser Minute auf die militärischen Ge heimnisse seines Vaterlandes bedacht. Sun Koh räumte ihm willig den Platz. Der Kapitän stellte mit einigen sicheren Griffen ein. Die Röhren arbeiteten, der Empfänger schaltete gut. Er klemmte 99
die Bügel über und gab unablässig das Rufzeichen. »An alle – cno, cno – sofort melden – an alle – cno – cno – sofort melden…« Fast unverzüglich kamen die Rückbestätigungen, manche davon gleichzeitig und überlagert. Innerhalb von zwei Minuten waren sämtliche Rückmeldungen da. Alle Garnisonen Marokkos lauschten auf den unbekannten Sender, der unter dem Geheimzeichen dringenden Alarmruf brachte. Noch war der Rufer unbekannt, aber jetzt begann er zu sprechen. Mit hastigem, leidenschaftlichem Drängen setzte er die Garnisonen von der drohenden Lebens gefahr in Kenntnis. »Wir müssen fort«, drängte Sun Koh dazwischen, »sonst sitzen wir hier in der Falle. Die Berber greifen von oben und unten an.« »Ich muß den Apparat verlassen«, schrie der Kapi tän hinein. »Etwaige Gegenmeldungen, die anschlie ßend kommen, nicht beachten.« Er riß sich die Hörer vom Kopf, drehte die Welle schnell weg und stürmte hinter Sun Koh her, der be reits den Raum verlassen hatte. Wieder knallten die Schüsse von beiden Seiten auf, genauer gesagt, von vier Seiten, denn die drei Männer wurden vom Gang, von der unteren und von der oberen Treppe aus angegriffen. Sun Koh blutete schon am Kopf, der Kapitän fühlte ein brennendes Streifen an den Rippen. 100
Sie stießen nach oben vor. Die Treppe führte ins Freie, dort oben standen die Berber in dichten Hau fen und knallten wie die Wahnsinnigen herunter. Einige Doppelsalven schafften den anstürmenden Männern Luft. Sun Koh sprang als erster mit einem Satz ins Freie hinaus und schoß von neuem. Als Nimba und Delcrosse neben ihm eintrafen, rasten die Berber auf dem Dach in heller Flucht davon und suchten Deckung hinter dem Aufbau des nächsten Treppenaufgangs. Trotzdem war die Lage übel genug. Das Dach, das wohl eigentlich ein Felsenplateau war, fiel nach allen Seiten schroff ab. Es gab keine andere Möglichkeit, es zu verlassen, als über die Treppen durch die Gän ge hindurch. Und diese steckten voll fanatischer, rachsüchtiger Berber. Dazu kam noch ein anderer Übelstand. Die Muni tion ging zu Ende. Für die eigenen Pistolen hatten Sun Koh und Nimba nur noch wenige Schuß. Es blieb ihnen nur noch übrig, den toten Berbern, die um sie herumlagen, Waffen und Munition abzuneh men. Aber die Leute besaßen nur Gewehre. Die konnten zwar hier auf dem Dach etwas nützen, aber nicht unten auf der Treppe oder im Gang. »Wir müssen uns durchschlagen«, entschied Sun Koh, nachdem er das alles kurz erwogen hatte. »Es ist besser jetzt als später. Jetzt sind die Leute noch verwirrt und wissen zum Teil kaum, was eigentlich 101
los ist. Wir dürfen sie nicht dazu kommen lassen, sich zu organisieren.« Delcrosse machte einen Versuch zu scherzen: »Ich glaube, Sie haben es nicht nötig, sich erst zu organi sieren. Hier unten wimmelt es geradezu von Leuten, die uns ans Leben wollen. Aber das Vergnügen sol len sie haben, meine Aufgabe ist erfüllt.« Sun Koh nickte ihm freundlich zu. »Viele Feinde verwirren sich gegenseitig. Eine Chance durchzukommen, bleibt uns immerhin, wenn sie auch nicht übermäßig groß ist. Alles in Ord nung?« »Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen zunächst noch die Hand drücke, bevor wir unsere Chance suchen.« Sun Koh schüttelte ihm die Hand. »Sie kommen meinem Wunsch entgegen, Kapitän Delcrosse. Ich habe in Ihnen einen Mann kennenge lernt, der sich nicht scheut, seinem Vaterland sein Leben zu opfern. Und nun wollen wir hinunter.« Aber sie warteten noch, denn plötzlich quoll eine ungeheure Detonation aus der Tiefe herauf. Sie kam nicht aus dem Haus selber, sondern aus dem Engpaß, an dem Sun Koh und Nimba mit so großer Mühe ent lang geklettert waren. Dort mußte eine mächtige Ex plosion stattgefunden haben. Totenstille. Die Berber im Haus stutzten genau so, wie es die Männer oben taten. 102
Durch diese Stille drang von unten her eine helle Knabenstimme: »Sir, wir kommen, wir sind schon da! Los, Herrschaften, räumt die Bruchbude aus!« »Hal!« konnte Nimba gerade noch freudig auf schreien, als auch schon die Hölle losbrach. Unten begann ein wildes Schießen, die Berber auf der Treppe gerieten in Bewegung, man hörte sie durch die Gänge stürmen, Schüsse knallten, Rufe und Schreie heulten, kurz, es war ein wildes Durcheinan der, das gegen die Felsen ringsum brandete. »An die andere Treppe«, befahl Sun Koh. »Hal scheint unten mit unseren Leuten zu kommen. Wir müssen vor allem verhüten, daß die Berber auf das Dach dringen. Sie bleiben hier, Kapitän. Ich selbst werde versuchen, im oberen Gang Luft zu schaffen. Ihr beide rückt dann entsprechend nach.« Nimba rannte schon. Die paar Berber, die noch hinter dem Aufbau lagen, sprangen mit erhobenen Armen auf. Sun Koh schoß auf die Treppe hinunter. Die Leute dort unten rasten davon. Sie erkannten wohl, daß sie zwischen zwei Feuer gekommen wa ren. Innerhalb weniger Minuten lag das oberste Stockwerk frei. Sun Koh merkte sehr bald, daß die Leute alle in einer Richtung flüchteten. Sie drängten sich über die zweite Treppe und verschwanden im dritten Stock werk von oben durch einen langen Quergang. Dort stauten sie sich mit denen, die von unten heraufrasten 103
und schoben sich dann zusammen, wie eine dicke Schlange, durch den Gang hindurch. Später, als sie hinaus waren, sah er, daß dieser Gang ins Freie führte. Während die waffenlosen Berber noch in den Gängen drängten, kam Hal Mervin wie eine zerfetzte Vogelscheuche die Treppe heraufgerast und landete geradewegs in Sun Kohs Armen. Es waren sinnlose Worte, die er in seiner freudi gen Erregung herausstieß, aber sie verrieten das star ke Gefühl, das in dem Jungen lebte. Und Sun Kohs Gesicht leuchtete. Dann kamen die anderen, Gorm mit seinen Kame raden, Ernest Maria d’Ormier, die Japaner. Während Sun Koh sie begrüßte, während sich die beiden Fran zosen umarmten wie Freunde, die einander für tot gehalten haben, legte sich die schmale Hand des Jungen in die mächtige Pranke des Negers. Hal drückte aus Leibeskräften, Nimba drückte ebenfalls, aber mit der gewohnten Vorsicht. »Junge«, meinte er und schluckte, »ich habe schon gedacht, es wäre aus mit dir.« »Genau dasselbe habe ich auch gedacht«, versi cherte Hal. »Aber ihr habt doch eben unten eine Ladung los gelassen?« »Und nicht zu knapp. Wir konnten doch nicht durch das Tor hindurch. Glücklicherweise hatten wir gleich genügend Sprengstoff mitgenommen.« 104
Mittlerweile waren die Berber alle geflüchtet. Die Felsenburg war leer. Plötzlich erinnerte sich Sun Koh an den weißen Sultan, den er in der Kammer zurück gelassen hatte. Er eilte hin. Die Kammer war leer. Der weiße Sultan war geflüchtet. Wahrscheinlich war er sogar durch den gesprengten Ausgang entwichen. Nun begann Sun Koh mit seinen Leuten die Burg planmäßig zu durchsuchen. Sie fanden Dagobert Fleischhauer, der von Hal freudestrahlend als Mister Fips begrüßt wurde, sie fanden weiter den For schungsreisenden Paul Lecogne und einige seiner Begleiter, aber sie fanden nicht dessen Tochter. Ihre Zelle war leer. Der Raum war offensichtlich in größter Hast verlassen worden. Sollte Benid Guar die junge Frau zum zweitenmal entführt haben? Sun Koh überlegte nicht lange. Mit wenigen Wor ten klärte er seine Leute auf, teilte sie in zwei Abtei lungen und schickte sie los. Die eine Abteilung nahm den Weg nach Norden, die andere nach Süden. Die erste Abteilung kehrte sehr schnell zurück. Sie hatte die letzten der flüchtenden Berber gestellt und sie zum Sprechen gezwungen. Die Berber hatten vol ler Todesangst geschworen, daß der weiße Sultan wahrscheinlich nach Süden geritten sei. In dieser Richtung sei er bestimmt nicht unterwegs. Klaus Gorm stellte mit der anderen Abteilung sehr bald fest, daß sich tatsächlich ein Trupp nach Süden 105
bewegte. Erst in der Nähe der Oase, unter der das Unterseeboot lag, gelang es ihnen, einen Mann zu stellen. Es war der alte Scheich, der Großvater Benid Guars. Er lag im Sterben. Sein Enkel hatte ihn niederge schossen. Benid Guar befand sich auf der Flucht. Er war schlau genug, um zu wissen, daß die Warnung des Franzosen noch zur rechten Zeit gekommen war. Das bedeutete für ihn den Zusammenbruch seiner ganzen Hoffnungen. In der Stunde des Schreckens tat er das, was sei nem innersten Wesen entsprach. Er brachte seine Person in Sicherheit und nahm die junge Frau, die seine Leidenschaft entflammt hatte, mit sich. Der alte Scheich war damit gar nicht einverstan den gewesen. Er hatte seinen Enkel beschworen und verflucht, ihn mit Worten und mit Taten zurückzu halten versucht. Benid Guar hatte ihn schließlich ein fach niedergeschossen. Es war vielleicht nicht so sehr Rache als tiefste, innerste Erschütterung, die den alten Mann sprechen ließ. Er verriet ohne viel Schwierigkeiten, daß Benid Guar nach Südosten ins Tassili-Gebirge geflohen sei. In der Nähe von Ghat, im trockenen Flußbett des In Habeter, wo die Riesen und die Geister hausten, dort befinde sich ein versteckter Platz, zu dem Benid Guar mit seiner Beute hineilte. 106
Der alte Scheich starb, bevor er noch alles gesagt hatte, was er sagen wollte. Aber es genügte, denn nun wußte Sun Koh, wo er die Frau zu suchen hatte. Es war selbstverständlich, daß er sie nicht im Stich ließ. 5. »So ein Quatsch«, murmelte Hal und klappte das Buch zu, in dem er fast eine Stunde lang gelesen hat te. Er legte sich dehnend zurück und warf einen Blick gegen das runde Glas, hinter dem das Wasser des unterirdischen Stromes vorübergurgelte. Dann überzeugte er sich, daß Sun Koh noch immer schrieb, Dr. Peters unentwegt weiterlas und Nimba wie be sessen an seinem Stückchen Holz schnipselte. Es war ungemein still und friedlich, aber ebenso ungemein langweilig. Auf einmal huschte ein spitzbübischer Ausdruck über Hals Gesicht. Er schlug den Wälzer wieder auf und überlas von neuem verschiedene Stellen, wobei er hin und wieder einen prüfenden Blick zu dem Ne ger hinüberwarf. Schließlich erhob er sich und schlich an Nimba heran. Ganz dicht stellte er sich neben ihn und betrachtete mit höchster Aufmerk samkeit dessen Ohren. Der hünenhafte Neger schielte von der Seite her mißtrauisch hoch. 107
»Ich habe meine Ohren gewaschen«, knurrte er abwehrend. Der Junge schüttelte den Kopf, als wolle er sagen, daß ihn das nichts anginge. Er prüfte jedoch gewis senhaft weiter. Endlich stellte er mit Überzeugung fest: »Du bist ein geborener Verbrecher, Nimba.« Der Neger legte entrüstet sein Messer auf die Knie. »Bei dir piept’s wohl. Ich ein Verbrecher? Viel leicht werde ich’s noch, wenn du nicht schleunigst verduftest.« Hal schnippte verächtlich mit den Fingern. »Wenn das eine Drohung sein soll, so kann ich dir’s schriftlich geben, daß du damit höchstens einen mißratenen Pudding zum Zittern bringst, aber mich nicht. Im übrigen bleibt’s dabei, du bist ein gebore ner Raubmörder, deine Ohren verraten dich. Zeig her, ich will mal weiter sehen.« Er studierte jetzt mit sichtlichem Interesse den Hinterkopf des Negers, schüttelte wiederholt das Haupt und meinte schließlich bedenklich:»Hm, das läßt allerdings mehr auf innere Sanftmut schließen. Du scheinst eine ganz besondere Sorte zu sein – sanftmütiger Raubmörder und so weiter.« »Du bist ein sanftmütiger Irrer«, brummte Nimba mißvergnügt. »Beherrsche dich gefälligst«, sagte Hal spitz. »Wenn du nichts verstehst, dann betrage dich wenig 108
stens anständig. Deine Nase verrät sowieso, daß du wenig Grips hast. Die Stirnknochen sehen allerdings mehr nach Intelligenz aus. Du bist wohl eine Prome nadenmischung, he?« Der Neger langte blitzschnell aus, aber ebenso schnell wurde sein Arm von der stählernen Hand Sun Kohs gehalten. Dieser war aufgestanden und unhör bar herangetreten. »Friedlich bleiben, Nimba«, mahnte er ruhig und griff gleichzeitig nach dem Buch, in dem Hal studiert hatte. Er warf einen Blick auf den Titel, legte es be dächtig wieder zurück und sagte erschüttert: »Erbar men, er hat ein Lehrbuch der Phrenologie erwischt.« Peters, der auch schon eine Weile beobachtet hat te, lachte hell auf. »Dachte ich mir’s doch. Hal hat wieder mit fabel hafter Sicherheit das gegriffen, was er nicht verste hen kann.« Hal runzelte die Stirn. »Hm, das ist aber nicht meine Schuld. Warum schreibt der Gelehrte nicht so einfach und klar, daß man’s verstehen kann?« Sun Koh lächelte. »Ein Vorwurf, den der ahnungslose Jüngling im Namen der gesamten Welt erhebt.« Hal fühlte Oberwasser. »Jawohl«, betonte er. »Was heißt denn das über haupt: Phrenologie?« 109
»Schädellehre«, gab Sun Koh Auskunft. »Gemeint ist dabei, daß man aus der äußeren Schädelform den Charakter des Menschen ablesen können soll.« Der Junge war überrascht und befriedigt. »Na also, da stimmt doch die Sache? Genau das habe ich mir auch gedacht. Ich möchte nur wissen, was Nimba da noch will?« »Er beschwert sich schon mit Recht«, sagte Sun Koh lachend. »Du hast deine neue Wissenschaft recht willkürlich angewandt. So einfach ist es nicht, wie du es dir gemacht hast. Diese Schädellehre ist umstritten, wie viele andere ähnliche Gebiete.« Das Boot hatte plötzlich scharf gestoppt, gleich zeitig drang ein kratzendes Geräusch von unten hoch. Es klang, als ob der Kiel des Bootes über Felsen hinwegschliffe. Ein neuer, noch härterer Stoß folgte, dann stand das Boot gänzlich ruhig. »Sir, was ist das?« fragte Nimba. »Ein Unglück?« argwöhnte Hal. »Es scheint, daß wir auf Grund geraten sind«, gab Sun Koh ruhig wie immer zur Antwort und verließ die Kabine. Kurz darauf stand er bei dem jungen Kapitän des Unterseebootes. »Nirgends ein Leck«, meinte dieser aufatmend, nachdem er eine Reihe von Meldungen entgegenge nommen hatte. »Der Strom ist vor uns verschüttet, 110
das Gewölbe zusammengebrochen. Der Boden steigt an, und wir sind daraufgerutscht. Wie Sie aber sehen, kommen wir schon los. Doch leider können wir nicht weiter vorwärts.« »Wo sind wir jetzt?« »Wir fahren am Nordhang des Muidir-Plateaus entlang und waren im Begriff, die Senke zwischen diesem und dem Tasili-Plateau zu queren.« Sun Koh prüfte die Karte. »Sie meldeten mir einen Schacht in der Nähe von Ain-Salah?« »Die Tuat-Oase, Sir.« »Gut, dann fahren wir dorthin zurück. Ich nehme an, daß wir in Ain-Salah Kamele auftreiben können. Kommen wir nicht unterirdisch an unser Ziel, dann oberirdisch.« »Wird es nicht zu spät werden?« »Unser Vorsprung vor Benid Guar ist groß. Wenn wir bestimmt wüßten, daß er die Tuat oder Ain-Salah berührt, könnten wir ihn dort erwarten. Die Umsteue rung beeinträchtigt doch unsere Fahrtgeschwindig keit nicht.« »Nein. Wir werden sogar schneller fahren, weil die Strecke bekannt ist.« »Gut, Sie geben mir Bescheid, wenn der Schacht erreicht ist.« * 111
Ain-Salah. Verlorener Fleck inmitten der Wüste, Hunderte von Kilometern von der nächsten größeren Men schensiedlung entfernt. Ain-Salah ist ein Paradies für jene, die tage- und wochenlang durch Gluthitze und Sandmeere reiten und dürsten, um nach Norden oder nach Süden zu kommen. Ain-Salah bedeutet Wasser, bedeutet Küh lung, Ruhe und Schutz. Erlösendes Aufatmen grüßt die weiße Moschee von Ain-Salah. So wird die Wüstenstadt zur Märcheninsel. Zwei Karawanen lagerten an diesem Abend auf dem Platz neben der Moschee. Die eine hatte die lange Reise von Timbuktu hinter sich, die andere kam von Norden und zog nach Ideles. Außerdem la gerten in der Ecke, abgeschieden von den anderen, einige Tuaregs bei ihren Meharis. Tibu Malib, der Märchenerzähler, saß auf seinem gewohnten Platz. Das Abendgebet war vorüber. Es dauerte nicht mehr lange, so hockten sich die Männer vor ihn hin, um seinen Worten zu lauschen. So war es immer, wenn Karawanen nach Ain-Salah kamen. Doch heute ereigneten sich merkwürdige Dinge. Drei Fremde betraten den Platz. Sie führten keine Karawane, sie ritten weder auf Pferden noch auf Kamelen. Sie kamen zu Fuß, und jeder sah, daß sie einen langen Weg durch die Wüste 112
zu Fuß gegangen waren. So etwas war noch nie geschehen, solange AinSalah stand. Es waren keine Berber und keine Araber, keine Tibesti und keine Tuareg. Der schwarze Riese stammte aus dem Süden, aus Benin. Zum kunstferti gen Volk der Joruben gehörte er, von dem Tibu schon manches Merkwürdige gehört hatte. Schon einmal hatte er einen Joruben kennengelernt, und der hatte ihm seltsame Märchen aus der Geschichte sei nes Volkes berichtet. Der Junge neben ihm war ein Giaur, ein Ungläu biger aus dem Norden. Das sah man ihm von weitem an. Er besaß die Hand, die niemals braun, sondern nur rot wird. Doch dieser Mann, der vorausschritt? Aus wel chem Reich stammte dieser König, dessen Gesicht wie Bronze leuchtete, auf dessen Stirn edle Gedan ken ruhten, in dessen Augen der Blick des großen Herrn lag? Leise murmelten die schmalen Lippen des greisen Märchenerzählers bewundernde Worte, während sei ne Augen mit gieriger Spannung die Herannahenden beobachteten und seine Seele in zitternder Lust das unbekannte, seltsame Ereignis genoß. Drei Fremde in der Kleidung der Europäer, Pisto len im Gürtel und kurze Gewehre über der Schulter, kamen zu Fuß durch die Wüste. 113
Vor dem schmuddligen Haufen Mensch mit der köstlichen Phantasie, der sich Tibu Malib nannte, blieben sie stehen. »Sei gegrüßt, Alter«, schwang die Stimme Sun Kohs wie dunkles, gedämpftes Metall auf. »Wir sind fremd in Ain-Salah und erbitten einen Rat von dir, der du sicher die Stadt kennst.« Tibu Malib lehnte den Kopf zurück. »Niemand kennt sich selbst, geschweige denn et was, was außer ihm ist«, erwiderte er feierlich. »Ich hielt euch für einen Fremden in diesem Land, Herr, aber doch sprecht Ihr unsere Sprache.« Sun Kohs Augen wurden prüfend scharf. »Dein Mund spricht eine erhabene Weisheit«, sag te er langsam, »zugleich aber auch die Torheit eines Neugierigen.« Der Alte senkte demütig den Kopf. »Verzeiht, aber es geschah noch nie, daß ein Mann tagelang durch die Wüste nach Ain-Salah wanderte. Es geziemt dem Menschen, sein Leben lang sein Wissen zu bereichern, damit er an Klugheit und Ein sicht gewinne.« Sun Koh lächelte. »Du verteidigst dich geschickt, Alter. Du sollst wissen, daß wir tatsächlich Fremde sind und zu Fuß von Tuat kommen. Es ist unsere Absicht, hier Kamele zu kaufen, um mit ihnen zum Tassili zu reiten. Gib du einen Rat, wo wir die besten Tiere finden.« 114
»Die Kamele von Ain-Salah sind selten und lang sam. Es sind Tiere der Karawane.« »Gibt es keine Reitkamele hier?« Tibu Malib schielte nach der Seite. »O doch. Ihr kommt an einem gesegneten Tag. Es sind Kamele in Ain-Salah, die so schnell durch die Wüste eilen wie der flüchtige Gedanke. Dort drüben, Herr, seht Ihr die Meharis, die unvergleichlichen Renner. Aber ihre Besitzer sind Tuareg. Und ein Tuareg liebt sein Tier mehr als Weib und Kind.« »Kennst du jene Leute?« »Nein. Sie stammen aus dem Süden und haben ei ne Frau bei sich.« Sun Koh wurde sehr aufmerksam. »Eine Frau? Kommen oder gehen sie nach Sü den?« »Sie kommen von Norden.« »Ah. Weißt du bestimmt, daß es Tuareg sind und keine Berber?« Tibu Malib schüttelte entschieden den Kopf. »Es sind Tuareg, Herr. Doch Ihr sucht Berber, die eine Frau bei sich haben?« »Ja«, erwiderte Sun Koh kurz. Der faltenreiche Mund des Alten lächelte. »Nicht immer ist das Schweigen die höchste der Weisheiten. Sechs Berber und eine weiße Frau ritten heute morgen nach Süden weiter. Auch sie besaßen die schnellen Meharis.« 115
Sun Koh war bestürzt. Einige Tage vorher hatte Benid Guar die Felsenburg im Atlas verlassen. Daß er so schnell vorwärts kommen würde, war nicht vo rauszusehen. Man konnte ihn jetzt nicht mehr vor seinem Schlupfwinkel abfangen, sondern mußte die sen ausfindig machen und die junge Frau dort her ausholen. »Ich danke dir«, sagte er nach einer Weile. »Deine Nachricht ist mir wichtig. Und nun will ich mit den Tuareg sprechen.« Tibu Malib fing die Banknote mit der Geschick lichkeit eines Menschen, der jahrelang nichts anderes getan hat. Es störte ihn durchaus nicht, daß er sie nicht kannte. Die Franzosen, die gelegentlich den äußersten Zipfel ihres Gebietes abritten, würden ihm schon brauchbare Münzen daraus machen. Sun Koh schritt auf die Ecke des Platzes zu, in der die Tuareg lagerten. Als er ziemlich heran war, erhob sich eine der weiß verhüllten Gestalten und erwartete ihn mit über der Brust gekreuzten Armen. Es war ein hochgewachsener alter Mann, dessen Kinntuch einen langen, weißen Bart frei ließ. Von diesem hob sich die tiefbraune, lederartige Haut des Gesichts scharf ab. Unter den starken, grauen Brauen funkelten klu ge, lebendige Augen. Würde und Gemessenheit, zu gleich Stolz und das Bewußtsein der Macht lagen über diesem Gesicht. Sun Koh grüßte, nannte seinen Namen und brachte 116
mit kurzen, klaren Worten seinen Wunsch vor. Der andere ließ ihn ruhig zu Ende reden, wartete dann noch eine Weile und erwiderte: »Aga Sinder, den Amrar (Stammesführer) der Timma-Tuareg nennt man mich, Fremder. Ich hörte dein Begehr, aber die Stunde ist ungünstig für deine Wünsche. Die Meharis sind nicht verkäuflich.« Das klang abschließend und war sicher auch so gemeint, aber Sun Koh war nicht gesonnen, sich so ohne weiteres zu fügen. Seine Augen gingen über die hockenden Tuareg, deren dunkle Augen auf ihm haf teten, zu den Kamelen hinüber. »Ihr habt mehr Tiere als Reiter, Amrar Aga Sinder«, gab er zurück, und es war ebensosehr eine Fra ge wie eine Feststellung. Der Targi schüttelte den Kopf. »Wir nahmen sie mit, da wir eine weite Reise bis ans Meer vor uns haben und das Schicksal nicht kannten.« »Eure Reise ist fast beendet, und Ihr braucht keine Ersatztiere mehr, während ich drei von ihnen drin gend benötige. Eine Frau wurde geraubt und nach Süden entführt. Wenn Ihr meine Bitte abschlagt, so tötet Ihr die Frau.« Das braune Gesicht ließ keine Wirkung erkennen. »Das Schicksal des Menschen liegt in Allahs Wil len. Kein Targi verkauft ein Mehara.« Sun Koh wehrte mit einer Geste ab. 117
»So stimmt es nicht, wie ich hörte, daß die Fran zosen auf Meharis durch die Wüste reiten?« Aga Sinders Brauen zogen sich kurz zusammen. »Es gibt Tuareg, die keine mehr sind. Unsere Tiere sind nicht verkäuflich.« »Ich zahle euch jeden Preis.« »Ein Mehara ist in der Wüste mehr wert als alles Gold«, lehnte der Greis ab. »Wir brauchen euer Gold nicht.« Die Dinge standen schlecht für Sun Koh. Der Amrar war unverändert freundlich geblieben, aber seine Worte klangen so bestimmt, daß es einfach keine Aussicht mehr gab. Da kam Hilfe von unerwarteter Seite. Eine der verhüllten Gestalten in der Runde rief den Alten mit heller Stimme an. Der Amrar murmelte sofort eine Entschuldigung und trat zu den Seinen. Dort beugte er sich nieder und hörte auf die schnel len Worte, die ihm zugeflüstert wurden. Sie waren so leise gesprochen, daß Sun Koh ihren Sinn nicht er faßte. Wohl aber erriet er am Klang, daß es sich um eine Frau handelte, die dort auf den Amrar einsprach. Nach einer Weile antwortete dieser, dann gingen die Stimmen hin und her, und schließlich trat er wieder zu dem wartenden Sun Koh heran. »Ihr könnt drei Kamele haben«, sagte er. »Ich bitte euch, sie als Geschenk anzunehmen.« Sein Gesicht und seine Stimme waren dabei so ru 118
hig wie vorher. Nichts ließ darauf schließen, wie er zu der Sinnesänderung gekommen war. Sun Koh verneigte sich. »Ich danke euch, Aga Sinder. Eure Güte ist zu groß, als daß ich sie annehmen könnte. Erlaubt, daß ich euch als Gegenwert…« Jetzt kam die erste schroffe Bewegung des Alten. »Sprecht nicht weiter, Fremder«, sagte er mit ei nem Unterton von Mahnung und Groll. »Meine Ge schenke vertragen keine Gegengeschenke. Die Me haris gehören euch. Mögen sie euch treue Diener sein. Kommt, Ihr sollt wählen.« Er wollte vorausschreiten, doch wieder rief ihn der helle Ruf in den Kreis. Er folgte ihm auch diesmal unverzüglich. Nach einem kurzen Wortwechsel winkte er Sun Koh ihm zu folgen. Als sie bei den lagernden Kamelen standen, be zeichnete Sun Koh aufs Geradewohl drei Tiere, wo bei er jene bevorzugte, die anscheinend nicht ge braucht worden waren. »Ihr sollt sie haben«, stimmte der Alte sofort zu. »Gedenkt Ihr morgen früh zu reiten?« Sun Koh bejahte, und der Amrar fuhr fort: »Laßt sie in der Nacht noch hier. Wir werden zur gleichen Stunde wie Ihr aufbrechen. Ist es euch unangenehm, wenn unser Weg in die gleiche Richtung führt wie der eure?« Sun Koh horchte auf, beschränkte sich aber auf ei 119
ne kurze Verneinung. Der Targi schien darauf gewar tet zu haben, denn er meinte gleich: »Dann erlaubt, daß wir uns anschließen. Der Weg ist weit, und es ist gut, kluge Worte aus fremdem Mund zu hören.« Sun Koh sah den Amrar forschend an. Hielt ihn dieser für dumm genug, an diese Redensart zu glau ben? Ein scharfer Wüstenritt ließ keinen Spielraum zur Unterhaltung, zumal der Mund durch das Tuch verhüllt wurde. Was hatte der Alte im Sinn? Es hatte ganz den Anschein, als ob er sich eines Auftrages entledigte. Möglichst unbefangen fragte Sun Kon: »Eure Be gleitung wird eine Ehre für uns sein. Doch sagt, ist es den Frauen der Tuareg gestattet, in Gesellschaft Fremder zu reisen?« Der Alte zuckte zusammen. »Ihr wißt…?« »Ich hörte, daß eine Frau bei euch sei.« »Es ist meine Tochter«, erwiderte der Amrar mit etwas weniger Zurückhaltung. »Sie hörte, daß Ihr eine Frau retten wolltet, und ihr Herz sprach für euch. Steht euch diese Frau nahe?« Es war wirklich schade, daß der blaue Litham die Mundpartie des Targi so vollkommen verdeckte und die Klangfarbe der Stimme beeinträchtigte. Aber immerhin gehörte nicht viel dazu, um zu vermuten, daß auch diese Frage nicht dem Kopf des Alten ent sprungen war. 120
»Nein«, sagte Sun Koh ruhig, »sie steht mir nicht nahe. Durch Zufall hörte ich von ihrem Geschick. Doch habt Ihr meine Frage nicht beantwortet.« Die dunklen Augen blitzten eigenartig auf. »Ihr seid fremd in diesem Land, sonst wüßtet Ihr, daß eine Targi zusammen mit Männern reiten darf, wenn es ihr eigener Wunsch ist. Doch nun erlaubt, daß ich zu den Meinen zurückkehre.« Sie grüßten sich feierlich. Der Amrar schritt da von, und Sun Koh ging nachdenklich zu seinen bei den Leuten, die ein Stück entfernt von ihm warteten. Er wußte zu wenig von den Tuareg, um das Verhal ten der Leute voll verstehen zu können. Und hätte er mehr gewußt, dann wäre er vermut lich noch viel nachdenklicher gewesen. * Der Morgen graute kaum, als Sun Koh mit Nimba und Hal schon wieder auf den Beinen war. Der Platz lag noch im tiefsten Schlummer. Die drei konnten sich in aller Ruhe waschen und sonstige Vorberei tungen treffen, bevor sich außer ihnen jemand rührte. Jetzt wurde es auch bei den Tuareg lebendig. Sie erhoben sich einer nach dem anderen, wobei Sun Koh feststellte, daß die Männer auch bei Nacht den Gesichtsschleier vorgebunden trugen. Es dauerte eine Weile, bis der Amrar über den 121
Platz geschritten kam und mit höflichen Worten ein lud, ihm zu folgen. Überraschenderweise führte er sie sofort zu jener Person, die bisher ihr Gesicht so hart näckig verborgen gehalten hatte. Als sie dicht heran waren, wandte sie sich um, und der Greis stellte gleichzeitig vor: »Das ist Okalam, der Traum des Mondes. Sie wünschte Euch zu sehen.« Sun Koh verbarg mit Mühe sein Staunen. Auf diesen Anblick war er nicht gefaßt gewesen. Traum des Mondes. Selten mochte ein Name der Trägerin so gut ent sprechen wie dieser. Okalam war ein junges Mädchen. Ihr Gesicht wurde nicht durch den häßlichen, blauen Litham ver hüllt, sondern zeigte voll die sanfte Rundung der Wangen und des Kinns. Nur ein dunkles Tuch, das lose über den Kopf hing, rahmte das Gesicht ein. Okalam war schön – schön wie ein Traum des Mondes. Ihre glatte, samtene Haut war nicht dunkler als die sommerlich gebräunte Haut einer Europäerin. Fast weiß erschien sie. Die Adlernase und die vor stehenden Backenknochen, die ihren Begleitern ei gentümlich waren, ließen sich bei ihr kaum andeu tungsweise finden. Schwarz und feurig, dabei klug lebendig leuchteten die Augen. Die schöngeschwun genen Lippen gaben perlweiße Zähne frei. Die Haare schimmerten in dunklem Braun. Sie waren in eigen artigen, langen Zöpfen geflochten, von denen an je 122
der Seite ein halbes Dutzend auf die Brust herunter hingen. Okalam war eine reinrassige Targi-Prinzessin. Sun Kon hörte es später aus ihrem eigenen Mund, aber er wußte schon jetzt, daß das Blut dieses Mädchens das edelste und reinste Erbe vieler Generationen in sich tragen mußte. Manches wirkte schon auf den ersten Blick fremd artig und merkwürdig, aber eher reizvoll als absto ßend. In ihren Ohren trug sie mächtige Silberringe, die bis auf die Schulter reichten. An ihrem Hals hing breitflächiger Silberschmuck, der bei jeder Bewe gung leise klirrte. Ihr Handgelenk wurde von Reifen umschlossen, und ihre Finger waren mit übergroßen Ringen belastet, unter denen diese zu zerbrechen schienen. Doch alles in allem – Okalam war schön. Und klug. Sie streckte Sun Koh die Hand hin, als sei sie eine Europäerin. Mit melodisch sanfter und charaktervol ler Stimme sagte sie: »Ich freue mich, daß unsere Wege in einer Richtung gehen. Hoffentlich ist es Euch nicht unangenehm, Sun Koh?« Sie sagte dies mit einem so reizvollen Lächeln, daß Sun Koh unwillkürlich zurücklächelte. »Die Freude wird mir bereitet. Ich möchte Euch vor allem danken, Okalam, daß…« Sie malte mit einer kleinen Handbewegung ein 123
ganzes Gedicht in die Luft. »Dankt nicht für das, was mir keine Mühe machte. Und wenn Ihr mir danken wollt, so erzählt mir von Euch, sobald die Gelegenheit dazu ist. Ihr kommt von Norden?« »Vom Atlas-Gebirge.« »Wir waren in Tripolis«, erwiderte sie in leichtem Plauderton. »Ich wollte das Meer sehen und die Wei ßen und alles, was es bei uns nicht gibt. Leider war meine Zeit nur kurz. Ich werde euch noch vieles fra gen. Sind das Eure Diener?« Sun Koh stellte Hal und Nimba vor, die leider von der Unterhaltung nichts hatten. Es wurden noch eini ge Worte hin und her gewechselt, dann war es Zeit aufzubrechen. Als sie zu den knienden Kamelen schritten, übri gens herrliche, fast weiße Tiere, denen man Vollblut ansah, stieß Hal den Neger an und flüsterte: »Du, nimm dich zusammen, daß du nicht die Innung bla mierst. Die Kerle warten doch darauf, daß uns die Biester gleich wieder abwerfen.« »Paß nur auf dich auf«, knurrte Nimba. »Denk an den Nil, damals hast du auch wie ein angestochener Kinderballon draufgesessen.« »Und du wie eine matschige Tomate«, gab Hal patzig zurück. »Ich werde die Sache schon schau keln.« Und todsicher – die Augen der Tuareg glänzten 124
schon in freudiger Erwartung. Sie schwangen sich auf die Kamele und waren im Nu oben, als hätte sie ein Fahrstuhl sanft hinaufge tragen. Nun blickten sie auf die drei hinunter und grinsten wahrscheinlich unter dem Schutz der Lithams. Sun Koh schwang sich auf und schnellte so glatt wie die Tuareg auf. Ein dumpfes, beifälliges Mur meln bewies die Anteilnahme der Männer. Fast gleichzeitig wagte es Nimba. Es sah etwas bedenk lich aus, aber man konnte den Start als geglückt be zeichnen. Hal hatte kaum sein rechtes Bein übergeschwun gen, als das Mehara auch schon wie ein Springbock hochging. Aber der Junge war nicht umsonst ge wappnet. Er krallte sich derartig an den spitzen Hör nern des Sattels fest, daß er den Doppelruck über stand. Stolz wie ein König saß er schließlich oben und blickte herausfordernd in die schwarzen Augen der Tuareg. Und dann begann der Ritt. Ein Karawanenkamel schafft an einem Tag höch stens fünfundzwanzig Kilometer. Ein Mehara bringt seinen Reiter am gleichen Tag hundertundsechzig Kilometer weit. Einhundertundsechzig Kilometer im Paßschritt. Eine unerhörte Leistung. Den Tuareg schien der windschnelle Dauerritt 125
über die unendlichen, glühenden Sandflächen nichts auszumachen, aber Hal hatte sehr bald das Gefühl, daß das der entsetzlichste Tag seines Lebens wäre. Nimba ging es etwas besser, aber auch er fiel am Abend wie ein Stein herunter und massierte sich spä ter mit einer Ausdauer und einem Gesicht, das alles besagte. Sun Koh schien ein geborener Targi zu sein. Nur ein einziges Mal wurde eine kurze Pause ge macht. Alles blieb auf den Kamelen bis auf Aga Sinder. Der stieg ab und schritt auf eine Stelle zu, an der dicht nebeneinander zwei Plätze durch Stäbe be zeichnet waren. Auf dem einen Stab hing ein Was serkrug aus Gazellenhaut, daneben lag ein zerbro chener Tontopf. Neben dem anderen Stab, der übri gens eine abgebrochene Lanze war, lagen die Reste eines Kamelsattels. Der Amrar kniete vor dem ersten Platz nieder und machte Bewegungen, die stark an Beschwörung und Gebet erinnerten. Inzwischen drängte Okalam, die seit dem Morgen wie alle ändern kein Wort gespro chen hatte, ihr Kamel an das Sun Kohs heran. Sie schob ihren Gesichtsschleier beiseite und deutete durch ein Kopfnicken zu ihrem Vater hinüber. »Er betet am Grab seines besten Freundes, der hier getötet wurde. So wie dieses Grab sehen alle Gräber aus.« »Sind es nicht zwei?« 126
»Ja, es ist das Grab des ändern, der ihn tötete. Mein Vater nahm Rache an ihm und begrub ihn ne ben dem Ermordeten. Er konnte ihn einholen, da er ebenfalls verwundet worden war.« Sun Koh sah sie flüchtig an und blickte dann wie der zu dem Amrar hinüber. Er zog es vor zu schwei gen und stieß nur einen kurzen Laut aus, der alles und nichts bedeutete. Okalam war sehr feinfühlig. Sie legte die Hand auf Sun Kohs Arm und sagte fast zärtlich: »Ihr seid wortkarg, Sun Koh. Verschmäht Ihr es, mich spre chen zu hören?« »Ich höre Euch gern sprechen, Okalam«, erwiderte er gelassen, »aber Eure Sitten und Gebräuche sind mir fremd, und ich möchte nicht aus Torheit verlet zen.« Sie lächelte. »Eure Gedanken sind edel, Sun Koh, aber Ihr wißt nicht, daß eine Targi-Frau klüger ist als zehn Männer der Tuareg. Es gibt nichts, was Ihr mir nicht sagen könnt. Ich werde stets wissen, daß Ihr ein Fremder seid und unsere Sitten nicht kennt. Also sprecht.« »Ich danke Euch«, sagte er langsam. »Mir schien es nur merkwürdig, daß die Tuareg einen Verwunde ten töten. Das ist bei uns nicht Sitte, selbst wenn es ein Feind ist.« Sie lachte wie ein vergnügtes Kind auf. »Auch bei uns nicht. Die Tuareg sind keine Hyä 127
nen. Es ist Gesetz, dem verwundeten Feind Wasser und Nahrung zu geben, dazu einen Vorrat für drei Tage. Er bleibt frei und kann fliehen oder kämpfen, wenn seine Zeit um ist. Freilich läßt ihn der Gegner nach Möglichkeit nicht aus den Augen und stellt ihn, sobald er kann. Der Kampf beginnt dann von neuem, bis einer getötet ist. So handelte der Amrar unseres Stammes an jenem Mann, der seinen Freund tötete.« »Das gefällt mir allerdings besser«, räumte Sun Koh ein. »Doch sagt, beten die Tuareg nicht zu Allah und Mohammed?« Sie stutzte, meinte dann aber leichthin: »Sie tun es schon.« »Aber?« wandte Sun Koh ein und wies zu dem Alten hinüber. »Ihr wißt mehr, als ich vermutete, Sun Koh. Ihr habt recht, mein Vater betet nicht zu Allah, sondern augenblicklich zu Rul, dem Dämon der Wüste, dem er diese Gräber anvertraut hat. Die Tuareg sind nur dem Namen nach Mohammedaner.« »Ich dachte es mir, denn ich vermißte heute früh die Gebete und die Waschungen.« Sie hob leicht die Schultern. »Waschungen? Die Tuareg waschen sich nicht oft. Wasser ist selten.« »Woran glauben die Tuareg?« »An den Mond und an sechs Gottheiten, von de nen Rul der Mächtigste ist. Alles Glück und aller Se 128
gen kommt vom Mond. Bei Neumond versammeln sich alle Männer, heben die Hände und beten nach uralten Gesetzen zum Mond. Das ist übrigens die einzige Gelegenheit, wo die Targi-Frau zu schweigen hat.« Der Amrar kehrte wieder zurück und der Ritt ging weiter. Es war fabelhaft, mit welcher Sicherheit die Tua regs ihren Weg fanden. Sie hatten keinen Kompaß und keinen Wegweiser, keine Karte und keine An haltspunkte, aber trotzdem hielten sie fast haargenau ihre Südostrichtung ein. Der Tag neigte sich. Endlich senkte sich der Boden in ein flaches, brei tes Tal hinab, hinter dem die Höhenzüge schwarz aufwuchteten. Einzelnes Buschwerk stand in dem Tal zwischen Geröll, Sand und Spuren von schwärz lichem Humusboden. Das war das Bett des Igharghar, das die meiste Zeit des Jahres auf sein Wasser wartete, um es dann während der Regenzeit kaum fassen zu können. Au genblicklich barg es kaum mehr als ein trübes Rinn sal. Dieses ganze trockene Flußbett wirkte vielleicht gerade wegen der Andeutungen von Leben um vieles trostloser als die Stein- und Sandwüste, durch die sie tagsüber geritten waren. Das Tempo wurde langsamer. Es ging zwischen Geröllbergen hin. Plötzlich stoppte die Spitze ab. 129
Vor dem vorausreitenden Amrar stand ein Targi, der offensichtlich Wache gehalten hatte. Seine linke Hand ruhte auf einem schweren Lederschild, die rechte umgriff einen zwei Meter langen, dünnen Speer. Auch er trug das Litham. Über die Brust lie fen kreuzweise zwei breite, weiße Stoffbahnen, die sich grell von dem blauen Gewand abhoben. Sun Koh war zu weit hinten, um verstehen zu können, was dort vorn gesprochen wurde. Unver kennbar grüßte der Wächter voller Ehrfurcht und schritt dann langsam voran wie einer, der geachtete Gäste geleitet. Der Blick wurde allmählich frei. Im Grund der Senke erschienen inmitten eines trostlosen Bestandes von dürren, blattlosen Bäumen und dornigen Sträu chern einige Hütten und Zelte, die alles andere als anziehend wirkten. Einige von ihnen hätte bestimmt der ärmste Lumpensammler dankend abgelehnt. An dere freilich besaßen einen festen Steinunterbau und machten einen ganz leidlichen Eindruck. Ebenso ver schieden, aber insgesamt dürftig und schmutzig, wirkten die Bewohner, die die Ankömmlinge erwar teten. Und die Hunde, die sich bellend herumtrieben, sahen wie wandelnde Ungezieferhaufen aus. Die Kamele knickten zur Erde, die Reiter schwan gen sich mit steifen Beinen herunter. Rast bis zum Morgen. Nach zwei Stunden war das bunte Treiben leidlich 130
abgeebt. Das lange Essen, das von einer Unmasse von Zeremonien umrahmt war, obgleich es sich im Grunde genommen nur um ein Hammelgericht ge handelt hatte, war vorüber. Einige der Tuareg schlie fen bereits, Nimba und Hal ebenfalls. Sun Koh saß in der sinkenden Nacht auf einem der großen Steine. Okalam hockte ihm gegenüber. Sie hielt die Hände um die Knie geschlossen und sah ihn mit halb nachdenklichen, halb zärtlichen Blicken un entwegt an. »Ihr seid eine gute und ausdauernde Reiterin«, sagte Sun Koh schließlich, um das Schweigen zu brechen. Sie nickte, ohne ihren Ausdruck zu ändern. »Die Frauen der Tuaregs sind kühn, uner schrocken und verwegen wie die Männer. Sie unter scheiden sich von ihnen nur dadurch, daß sie auch noch klug sind.« Sun Koh mußte lächeln. »Das gleiche werden die Männer auch von sich sagen. Immerhin, die Frau scheint bei den Tuareg manche Rechte zu besitzen.« Jetzt wachte das Mädchen auf. »Alle, Sun Koh. Es ist bei uns nicht wie in Europa, wo der Herr befiehlt. Bei den Tuareg herrscht das Mutterrecht. Die Frau ist das Haupt der Familie.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Der Amrar der Timmu-Tuareg scheint mir nicht 131
der Mann zu sein, der sich von einer Frau befehlen läßt!« »Mein Vater ist der Amenokal der Tuareg.« »Was heißt das?« »Der oberste Führer aller Tuareg-Stämme. Aber trotzdem wird ihm der Wille einer Frau immer ober stes Gesetz sein.« »Ihr widersprecht Euch«, stellte Sun Koh fest. »Erst sagt Ihr, daß die Frau herrscht, aber doch ist Euer Vater Amarar und Amenokal?« Sie lächelte. »Es widerspricht sich nicht, Sun Koh. Wohl ist mein Vater der Oberste seines Stammes, aber er ist es nur als Vertreter der Frau, die ihn wählte. Nicht das Blut des Vaters geht von einer Generation auf die andere, sondern das Blut der Mutter. Wenn eine Tar gi-Prinzessin einen Sklaven heiratet, so wird ihr Sohn adlig sein. Wenn aber ein adliger Targi eine Sklavin heiratet, so wird sein Sohn Sklave, obgleich der Vater ein Häuptling ist.« »Erzählt mir mehr davon.« Ihre Augen lagen fest in den seinen. »Wäre es nicht besser, wenn Ihr sie selbst kennen lernen würdet? Seid eine Zeitlang unser Gast, so werdet Ihr über alles hören, was Ihr zu erfahren wünscht.« Sun Koh überlegte keinen Augenblick. »Ich danke Euch für die Einladung«, sagte er 132
freundlich aber bestimmt, »doch leider werde ich sie nicht annehmen können. Ein Mensch wartet auf Hil fe.« »Aber wenn Ihr die Frau befreit habt?« »Dann muß ich nach Europa, wohin mich die Pflicht ruft.« Ihr Blick verschleierte sich. »Ich würde mich freuen, Euch noch eine Weile bei mir zu sehen«, sagte sie leise. »Es ist unmöglich«, entgegnete er ruhig und fuhr dann, um sie abzulenken, fort: »Sagt, Okalam, tragen bei Euch alle Männer die Gesichtsschleier, während die Frauen ihr Gesicht zeigen?« Zögernd, als ließe sie sich ungern von dem ange schnittenen Thema losreißen, antwortete sie: »Das Litham wird nur von den Männern getragen.« »Auch des nachts?« »Ja, auch des nachts. Der Targi fürchtet, daß ihm die Seele des nachts aus dem Mund entschlüpft. Man darf ihn nicht plötzlich wecken, denn es könnte sein, daß die Seele noch entflohen ist und in der Nacht mit anderen Seelen Zwiesprache hält. Würde man ihn plötzlich wecken, so fände die Seele keine Zeit, in den Körper zurückzukehren.« »Das gilt nicht für die Frauen?« »Nein«, erwiderte sie, während um ihren Mund ein leicht spöttischer Zug huschte. »Ich sagte Euch schon, daß wir Frauen unsere eigenen Rechte haben. 133
Zu diesen gehört das Recht, sich einen Mann ganz nach Belieben zu wählen.« Das klang so eigenartig, daß Sun Koh sie auf merksam ansah. »Auch einen Mann minderer Art?« »Ja.« »Auch einen Mann fremder Rasse?« Sie erhob sich. »Ja, Sun Koh, auch einen Mann fremder Rasse. Vergeßt nicht, daß das Blut der Mutter entscheidet. Mein Gatte würde Amrar werden, selbst wenn er ein Fremder wäre, und mein Sohn würde stets und unter allen Umständen Häuptling der Timmu sein.« »Aber«, sagte er langsam und mit Bedacht, »wenn Eure Wahl nun auf einen Mann fallen würde, der Euch unbegreiflicherweise verschmäht?« Ihre Gestalt straffte sich, sie warf den Kopf mit unverkennbarem Stolz zurück. »Eine Targi-Prinzessin verschmäht man nicht, Sun Koh.« Sie machte eine Pause und setzte dann leise hinzu: »Schon deshalb nicht, weil man sie nicht ver schmähen kann.« »Das verstehe ich nicht.« Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern und brachte ihr Gesicht ganz dicht an das seine heran. Dann sagte sie zärtlich und zugleich mahnend: »Ihr werdet es verstehen lernen. Und nun schlaft wohl. Möge Euch der Geist des Mondes behüten.« 134
Bevor Sun Koh zur Antwort kam, eilte sie bereits davon und verschwand in der Hütte. Sun Koh suchte ebenfalls sein Lager auf. Er war sehr nachdenklich. Und er wurde noch nachdenklicher, als er beim Nie derlegen an seinem Hals das kostbare Amulett ent deckte, das ihm Okalam unbemerkt umgehängt hatte. Am nächsten Morgen brach der ganze Trupp wie der gemeinsam auf, doch schon zwei Stunden später trennte sich Sun Koh mit seinen Begleitern von den Tuareg. Deren Weg führte nach Süden, Sun Kohs Weg ging in das wilde Tassili hinein, dessen schwar ze Schluchten sich soeben öffneten. Der Abschied war kurz und bei aller Höflichkeit sachlich. Okalam hielt freilich die Hand des Jüng lings ziemlich lange fest, und ihre Bücke verrieten mehr als nur eine freundliche Anteilnahme, aber schließlich gab sie ihn doch frei. Die beiden Trupps lösten sich voneinander ab. Noch einmal gingen Zurufe hin und her, und dann jagten die weißen Kamele in verschiedenen Richtun gen davon. 6. Sand und Steine. Keine Erde, kein Gras, kein Baum, kein Busch, kein Strauch, kein Bach. Nichts als Riesenflächen 135
trostloser Öde gelben Sandes und schwarze tote Fel sen, über denen die Sonne leblos und starr glüht. Es war bereits ziemlich dunkel, als Sun Koh mit seinen beiden Leuten in das Tal In Habeter einritt. Mit Mühe entdeckten sie zwischen den schwarzen Wänden einen grünen Fleck und eine Andeutung von Wasser. Sie hatten kaum etwas gegessen, als es auch schon finstere Nacht war. Am nächsten Morgen hatten sie Muße genug, ihre Umgebung zu mustern. Auf den ersten Blick war freilich nicht viel mehr zu sehen als nahezu hundert Meter hohe Steilwände, die schwarz und düster zu beiden Seiten das Tal In Habeter einfaßten. »Ich sehe nichts«, sagte Hal halblaut. »Das Tal macht den Eindruck, als ob sich überhaupt noch nie ein Mensch hierher verlaufen hätte.« Sun Koh faßte den Jungen bei der Schulter und wies mit der Hand voraus. »Achte rechts auf die Felswand. Fällt dir nichts an ihr auf?« Hal wollte erst den Kopf schütteln, aber plötzlich stutzte er. »Hm, meinen Sie die Treppe, Sir?« Sun Koh nickte. »Ja, wenn ich auch nicht gerade an eine Treppe dachte. Wie du siehst, setzt die Wand in langen, zu rückweichenden Galerien ab, und zwar mit solcher Regelmäßigkeit, daß ich den Eindruck hatte, es hand le sich um ein Werk von Menschenhänden.« 136
»Das müßten aber Riesen gewesen sein«, sagte Hal skeptisch. »Vielleicht sprach der alte Scheich, deshalb vom Tal der Riesen«, meinte Sun Koh nachdenklich. »Doch sehen wir uns die Wände aus der Nähe an. Wir müssen ohnehin das Tal absuchen, um Benid Guars Spur zu finden.« Nach einer Weile brachen sie auf. Die Kamele, die hier genug Nahrung fanden, wurden zurückgelassen. Hal war ein Stück vorausgeeilt. Auf einmal blieb er stehen, schüttelte mit Nachdruck den Kopf und kam dann Sun Koh und Nimba entgegen. Er wandte sich an den Neger und murmelte düster: »Hast du einen Bruder, Nimba?« »Nein«, erwiderte jener erstaunt. Der Junge war sichtlich bekümmert. »Ich habe es mir ja gedacht, daß du es selber bist. Warum hast du nicht erzählt, daß du schon einmal hier warst?« Nimba öffnete vor Schreck den Mund. »Ich?« knurrte er schließlich bestürzt. »Du bist wohl wieder mal meschugge geworden? Ich war noch nie hier.« Hal grinste niederträchtig. »So? Wie willst du dann erklären, daß sich dein Bild hier an der Felswand befindet?« Nimba wandte sich verlegen an Sun Koh, der lä chelnd auf die Pointe wartete. 137
»Es ist die Hitze, Sir. Er spricht irre.« Der Junge ging hoch wie jemand, der sich unver mutet auf eine Stecknadel setzt. »Was erlaubst du dir zu säuseln? Komm, mein Sohn, ich werde dich überführen.« Die beiden Männer folgten ihm. Zwanzig Meter weiter sprang die erste Galerie zurück, deren Anfang durch die senkrechte Wand bisher verdeckt worden war. Stumm, aber voller Triumph wies Hal auf die Höhe hinauf. Auf dem mehrere Meter hohen und langen Block war deutlich die lebensgroße Umrißzeichnung eines mächtigen Nashorns zu sehen. Nimba riß die Augen weit auf. »Mensch, das ist doch ein Nashorn!« würgte er. Hal keuchte vor Lachen. »Na eben, du doppeltsohlenkauendes Nashorn. Hilfe!« Er nahm schleunigst hinter Sun Kohs Rücken Deckung. Dieser winkte dem Neger lächelnd ab. »Trag deinen Reinfall mit Würde, Nimba. Übri gens ist das ein weibliches Nashorn. Wie ihr seht, ist ein Jungtier daneben gezeichnet.« »Und dort ist ein Jäger mit Pfeil und Bogen«, rief Hal. »Und hier eine Giraffe!« »Ein Elefant!« Nachdem sie aufmerksam geworden waren, ent 138
deckten sie nun eine Zeichnung nach der anderen. Da war ein riesiger Elefant eingeritzt, vor dem zwei Menschen flüchteten, ganze Reihen von lebensgro ßen Giraffen wurden sichtbar, ganze Jagdszenen sprachen mit eindrucksvoller Lebendigkeit von den Wänden. Da lag ein Nashorn tot auf dem Rücken. Die beiden Jäger, die es erlegt hatten, trugen seltsa merweise die Köpfe von Schakalen. In ihren Händen waren Werkzeuge zu erkennen. Riesenbüffel einer unbekannten Art waren in Herden dargestellt, ferner Krokodile in erschreckender Größe. Alle diese Zeichnungen waren in den Felsen ge ritzt, sicherlich mit einfachsten Werkzeugen. Sie wirkten geradezu unheimlich beeindruckend, einmal durch ihre Größe, zum anderen durch ihre Lebendig keit, die durch die teilweise Unbeholfenheit der Dar stellung keinen Abbruch erlitt. Hier hatte ein Mensch mit großen künstlerischen Fähigkeiten, aber primiti ven Mitteln Bildwerke geschaffen, die schlechthin unbegreiflich waren, zumal an dieser schwarzen Felswand des In Habeter, in einem Gebiet, das keine Menschen kannte und inmitten der Wüste lag. »Was bedeutet das?« flüsterte Hal verstört. »Es gibt doch hier gar keine Menschen.« »Es sind Bilddokumente einer verklungenen Zeit. Die Zeichnungen mögen vielleicht zehntausend Jahre alt sein.« »Aber – diese Größe? Entweder waren das Riesen, 139
oder sie haben sich Gerüste gebaut. Die Giraffe dort ist wenigstens sechs Meter hoch.« Sun Koh hob die Schultern. »Diese Frage läßt sich nicht beantworten. Jeden falls deuten die Zeichnungen der Menschen darauf hin, daß sie nicht größer waren als wir.« »Darauf kann man auch nicht viel geben, Sir, denn sonst müßten die Leute dort, die mit Schakalköpfen gezeichnet sind, auch Schakalköpfe gehabt haben.« »Gerade diese Zeichnung ist mir am rätselhaftesten«, erwiderte Sun Koh. »Die Darstellungen sind alle so überraschend naturgetreu, daß man einfach nicht be greift, warum jenen beiden Männern Schakalköpfe aufgesetzt wurden.« »Vielleicht wollte man damit Menschen eines fremden Stammes kennzeichnen?« mutmaßte Hal. »Aber wissen Sie, was ich am wenigsten verstehe, Sir.« »Nun?« »Daß sich ausgerechnet hier in dieser verlassenen Gegend Bilder von Elefanten, Krokodilen, Nashör nern und Giraffen befinden. Das sind doch alle Tiere, die Urwald, Feuchtigkeit und viel Nahrung brauchen. Ein einziges von den Nashörnern würde doch in ei ner Stunde das bißchen Grünzeug hier im Tal wegge fressen haben.« Sun Koh lächelte. »Warum ist dir gerade das unverständlich? Die 140
Schlußfolgerung ist doch wohl ganz einfach.« »Sie meinen, daß der oder die Maler aus einer an deren Gegend stammen? Aber da habe ich meine Zweifel, ob die überhaupt so lange hier leben konn ten, wie die Zeichnungen gedauert haben.« »Ich auch«, entgegnete Sun Koh. »Deine Annah me ist eben falsch. Der Zeichner gehört zu einem Volk, das sich hier heimisch fühlte. Die richtige Fol gerung ist die, daß es damals tatsächlich alle diese Tiere hier gegeben hat.« »Dann müßte es aber damals hier auch anders aus gesehen haben.« »Zweifellos. Vor zehntausend Jahren war dieses Land eben Urwald und besaß genügend Feuchtigkeit. Es gibt keinen schlagenderen Beweis dafür als eben diese Zeichnungen. Erst seit dieser Zeit hat die Wü ste allmählich die Oberhand gewonnen und das Ge biet zu dem gemacht, was es jetzt ist. Wasser, Pflan zen und Tiere verschwanden, mit ihnen die Men schen, die einst hier wohnten. Nichts blieb übrig, als jene großartigen Bilder im Felsen.« Alle drei schwiegen nachdenklich, bis Nimba end lich brummte: »Dann ist es damals jedenfalls gemüt licher gewesen als heute. Ich hätte gegen ein paar Pfund Tier nichts einzuwenden, zumal wenn sie ei nen guten Braten abgeben.« »Freßsack«, empörte sich der Junge. »Du scheinst kein Verständnis dafür zu haben, was es heißt, vor 141
Zeichnungen zu stehen, die vor zehntausend Jahren gemacht worden sind, während hier alles voller Le ben war. Für Geschichte hast du eben keine Spur von Verständnis.« »Ich habe es bei den Geschichten, die du machst verloren«, entgegnete Nimba harmlos. Hal verschluckte sich. »Weiter«, befahl Sun Koh. Die schwarzen Wände zerklüfteten sich mehr und mehr. Noch immer fanden sie keine Spuren des wei ßen Sultans, der sich in diesem Tal aufhalten sollte. Schließlich war es kein Wunder, denn der steinige Boden eignete sich nicht im geringsten dazu, Spuren zu hinterlassen. Fang! Ein Schuß. Die Kugel zischte vorüber, schlug in der Nähe auf Stein. Sun Koh wirbelte auf dem Absatz herum. Gleich zeitig riß er die Pistole heraus, warf die Sicherung um, hob den Arm und schoß. Im Bruchteil der Se kunde hatte er den Mann erspäht, von dem das weiße Kopftuch mit einem Stück Gesicht und der Büchsen lauf aus einem Spalt an der aufsteigenden Wand her aussah. Der Mann ruckte auf und fiel dann nieder. »Deckung!« Nimba und Hal sprangen bereits hinter die Steine, 142
aber es fiel kein neuer Schuß. Da eilten sie auf Sun Kohs Wink zu dem Spalt hinüber. Der fremde Schütze war tot. Kopfschuß. Es war ein Atlasberber. »Jetzt haben wir die Spur, Sir.« »Wenn es nicht ein Einzelgänger war«, meinte Nimba weniger hoffnungsvoll. »Von den anderen ist nichts zu sehen.« »Haltet eure Waffen bereit«, mahnte Sun Koh. »Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Berber uns eher se hen werden als wir sie. Merkwürdig, daß sich der Mann gerade in diesem Spalt versteckt hat.« Sun Koh schritt tiefer hinein. Der meterbreite Spalt erweiterte sich ganz allmählich. Plötzlich knickte er scharf im Winkel ab. Sun Koh stutzte. Bisher hatte er geglaubt, in einer der zahlreichen Spalten zu sein, die nach wenigen Metern blind enden. Dieser Spalt hier führte jedoch unmittelbar in das Massiv der Wand hinein, hundert Meter weit fast schnurgerade ohne bemerkenswerte Verbreiterung. Es war mehr ein Gang als ein Fels spalt. Er war an keiner Stelle ganz dunkel. Jetzt bog er wieder scharf ab, nahm jedoch bereits nach wenigen Metern seine Hauptrichtung wieder ein. Voraus war Licht. Der Spalt führte jenseits der Felswand, die das Tal In Habeter einfaßte, wieder ins Freie. 143
War jener Berber vielleicht eine Wache gewesen? Nach rund fünfzig Metern öffnete sich der Spalt. Sun Koh trat, gefolgt von Nimba und Hal hinaus. Das war… »Unfaßbar«, murmelte Sun Koh. Gleich hinter dem Ausgang des Spaltes senkte sich das Gelände in einem steilen Abhang mindestens dreißig Meter tief hinab. Da der Weg im Spalt nicht angestiegen war, bedeutete das zugleich eine ent sprechende Senkung gegenüber dem Talboden des In Habeter. Der Grund dieser kesselartigen Schlucht war an nähernd zur Hälfte von einem See ausgefüllt, der gleich am Fuße des Abhanges begann. Er reichte rechts und links unmittelbar bis an die senkrecht auf steigenden schwarzen Wände heran, die ungefähr zweihundert Meter voneinander entfernt waren. In der Blickrichtung hatte er ungefähr die gleiche Aus dehnung. Jenseits stieg das Gelände wieder an und erreichte die gleiche Höhe wie im Spalt. Genau genommen handelte es sich um zwei Seen. Durch das Wasser lief nämlich eine Klippe, ein Fels band von einem Meter Breite und weniger, ganz ge rade bis auf einen einzigen Knick. Es war eine natür liche Brücke, ohne die es so gut wie unmöglich ge wesen wäre, von einem Ufer zum anderen zu kom men. Die klare Wasserfläche war erheblich geringer, als 144
die Größenmaße des Sees angaben. Die Ufer waren verschlammt, mit schilfartigen Beständen bis weit hinein durchsetzt und mit üppigem Buschwerk und halbhohen Bäumen umsäumt. Bis auf wenige Stellen war das Wasser trüb und schmutzig. Der Hang auf der anderen Seite war ein wuchernder, grüner Tep pich, und der anschließende Boden verriet, daß er ebenfalls genügend Feuchtigkeit erhielt. Die Schlucht war eine Oase und mehr als das: ein natürliches Treibhaus. Es lag vielleicht an den schwarzen Wänden, daß sie trotzdem so düster wirk te. Oder lag es an der trostlosen Haltung der Frau, die dort drüben auf dem Stein saß und mit verlorenen Blicken in den Grund hinabstarrte? Es war Jeanne Lecogne, die Tochter des For schungsreisenden, zu deren Rettung Sun Koh hier hergekommen war. Rechts an der Wand stieg ein Felsband in mäßiger Schräge empor. In zehn Meter Höhe erweiterte es sich zu einer waagrechten Galerie, auf der halb an den Felsen gebaut einige Zelte standen. »Dort kommt schon einer«, sagte Nimba. »Benid Guar«, sagte Sun Koh. Benid Guar, eine hohe, kräftige Erscheinung mit hellem Gesicht und schwarzem Bart, kam auf dem Felsband herunter und schritt geradewegs auf die Frau zu. Sie sah nicht auf, als er auf sie einsprach. 145
Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf. Guar rede te von neuem, endlich trat er den Rückweg an. »Man müßte den Kerl einfach abschießen«, brummte Nimba. »Der würde es bestimmt so tun«, flüsterte Hal. »Die Kerle werden schon lospfeffern, wenn wir dort hinüberlaufen. Wir sind dann so richtig auf dem Prä sentierbrett. Einfacher wäre es, wir könnten die Miss herüberwinken.« »Die Berber würden sie eher töten, als zu uns he rüberlassen. Es wird uns kaum etwas anderes übrig bleiben, als sie zum Angriff zu reizen. Ihr bleibt hier liegen und beobachtet die Zelte dort oben, in denen vermutlich noch mehr Berber stecken, als nur Benid Guar. Ich werde über den Damm hinüberlaufen und die Miss herüberholen.« Hal und Nimba sahen ihn erschrocken an. »Sir«, sagte der Neger bekümmert, »das ist Selbstmord.« »Es wird nicht so schlimm werden«, beruhigte Sun Koh. »Ich hoffe, ihr habt eure Treffsicherheit noch nicht verloren, um mir Rückendeckung zu geben. Übrigens sind die zweihundert Meter keine große Entfernung.« Sun Koh erhob sich. »Eure Gewehre in Ordnung? Bevor die Leute zur Besinnung kommen, bin ich drüben. Fertig?« Die beiden nickten. Sun Koh rannte im Tempo ei nes Schnelläufers los, den Abhang hinunter. Er hatte 146
noch nicht die Hälfte zurückgelegt, als er mit einem lauten Ruf die junge Frau auf sich aufmerksam machte. »Mademoiselle Lecogne«, rief er in französischer Sprache hinüber, »laufen Sie mir entgegen. Ich komme von Ihrem Vater. Schnell!« Die junge Frau fuhr hoch, stand einen Augenblick wie träumend da, erfaßte dann mit bewundernswerter Schnelligkeit die Lage und rannte los. Schon knallte der erste Schuß. Auf der Felsengale rie erschienen vier, fünf Berber, die laut aufschrien, als sie den Läufer auf der natürlichen Brücke ent deckten und die Frau ihm entgegeneilen sahen. Der Geistesgegenwärtigste von ihnen riß seine Waffe hoch und schoß. Zwei Schüsse knallten zurück. Der Schütze warf die Arme in die Luft, sein Nebenmann stieß einen heulenden Schrei aus und sackte ebenfalls zusam men. Nimba und Hal waren auf dem Posten. Die anderen Berber warfen sich schleunigst in Deckung. Dann begannen sie zu schießen. Sun Koh erkannte das und rief sofort: »Niederle gen!« Jeanne Lecogne warf sich unverzüglich zur Erde und deckte sich hinter einem Steinblock. Sun Koh stürmte bereits über das letzte Drittel der Felsbrücke. Sekunden nur noch, dann fand er Dek 147
kung am jenseitigen Ufer. Da ereignete sich das Furchtbare. Einer der Berber – es war Benid Guar selbst – kam aus seiner Deckung hoch. Bevor ihn Nimbas Kugel tötete, hatte er eine schwarze Kugel im weiten Bogen in die Tiefe hinuntergeschleudert. Nimba und Hal sahen sie fliegen und erfaßten in stinktiv, was sie bedeutete. »Sir!« schrien sie warnend. Aber Sun Koh hatte schon selbst bemerkt, was ihm drohte. Die schwarze Kugel konnte nur eine Handgranate sein, eine kleine Handbombe. Im Bruchteil einer Sekunde schätzte er Flugbahn und seine Entfernung von der Aufschlagstelle, dann sprang er aus vollem Lauf in das Wasser hinunter. Fünf Meter vor seinem letzten Standplatz explo dierte die Bombe unter einem schmetternden Hagel von Eisen- und Felssplittern. Sie riß die natürliche Brücke auseinander, wenn auch nur auf eine kurze Strecke. Sun Koh war scheinbar unverletzt davongekom men. Er schwamm mit langen Stößen durch die trüb aufgerührten Fluten. Lange dauerte es nicht mehr, bis er drüben war. Das Schwerste hatte er geschafft, zu mal die Schießerei der Berber aus Mangel an Leuten, beträchtlich nachgelassen hatte. »Die Sache geht glatt«, brummte Nimba zufrieden. »Gott sei Dank«, atmete Hal auf. »Wenn nur…« 148
Er brach ab, sein Atem stockte, seine Augen wur den unnatürlich weit, und plötzlich gellte er wie wahnsinnig auf: »Sir! Sir! Die Krokodile!« Ein grauenhaftes, unvermutetes Hindernis. Aus dem Uferschlamm schob sich der Rücken ei nes Krokodils heraus, von der Seite kam ein zweites mit gierig gerecktem Kopf auf den Schwimmer zu geschossen. Hal und Nimba sahen, daß Sun Koh ruhig weiter schwamm. Hatte er die Krokodile noch nicht bemerkt und Hals Warnungsruf nicht gehört? Jetzt war er dicht an das eine Tier herangekom men. Es schnappte schon nach ihm. Da tauchte er. Fast gleichzeitig ging auch das Krokodil seiner ent weichenden Beute in die Tiefe nach. Sekundenlang war nichts zu sehen. Doch dann quoll es rot im Wasser hoch. »Mensch, Nimba«, stöhnte Hal, »es wird doch Sun Koh nicht erwischt haben.« Fang! Drüben fiel abermals ein Berber Nimbas Schuß zum Opfer. »Sun Koh ist schneller als ein Krokodil«, beruhig te der Neger, obgleich ihm ebenfalls die kalten Schweißtropfen auf der Stirn standen. »Aber Sun Koh kommt doch gar nicht wieder hoch?« 149
Da endlich. Dicht am Ufer erschien Sun Koh an der Oberflä che des Wassers. Er hatte dem Krokodil von unten her den Bauch aufgeschlitzt, wie er später berichtete. Das zweite Krokodil hatte ihn nicht mehr erreicht. Sun Koh glitt den Hang aufwärts. Er hielt sich vorsichtshalber noch in Deckung. Als aber von oben her nicht mehr geschossen wurde, zeigte er sich ab sichtlich, und als auch darauf alles schwieg, lief er schließlich ungedeckt zu der Frau hin. Jeanne Lecogne war gerettet, aber die letzten Erei gnisse hatten ihre ohnehin überreizten Nerven zu stark in Anspruch genommen. Sie lag in einer Art Weinkrampf auf dem Boden und brauchte lange Zeit, bevor sie wieder einigermaßen vernünftig handeln und reden konnte. Sun Koh überließ sie vorläufig sich selbst. Er stieg mittlerweile auf die Felsengalerie hinauf. Es befanden sich einschließlich Benid Guar noch sechs Berber dort oben. Sie waren alle tot. Später, nachdem er seine beiden Leute herüberge winkt hatte, untersuchte er die Feste der Berber nä her. Er entdeckte dabei, daß Benid Guar trotz seiner hastigen Flucht noch eine ganze Masse Gold mitzu nehmen verstanden hatte, außerdem verschiedene Bündel französischer Banknoten. Er entdeckte ferner, daß eins der Zelte den Eingang zu einer Höhle deck te, die überraschend wohnlich eingerichtet war, und 150
zwar sicherlich nicht erst seit gestern und heute, son dern seit längerer Zeit. »Bleiben wir für heute hier, Sir?« fragte Hal. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Nein, wir verlieren nur unnütz Zeit. Wir werden wieder bei unseren Kamelen lagern. Morgen früh reiten wir dann zurück.« * Die Nacht war bitterkalt wie alle die Nächte in der Sand- und Steinwüste. Sun Koh und seine Leute schliefen fest und tief. Es konnte weder Gefahr von Tieren noch von Men schen drohen, weil es beide in dieser Einsamkeit nicht gab. Und doch glitt die Gefahr durch die Schlucht. Ein halbes Dutzend Tuareg schlich im Licht des abnehmenden Mondes auf die Schlafenden zu. Ihre blauen Überwürfe verschwammen mit den blauen Schatten der Felsen. Sun Koh erwachte, als er fremde Hände nach sich greifen spürte. Aber da war es schon zu spät. Vier Männer lagen auf ihm, von denen einer bereits die Lederfessel um seine Füße zusammenzog. Sein Auf bäumen half ihm nichts mehr, da er nicht aufspringen konnte. Er bekam die linke Hand frei, schmetterte sie dem einen Angreifer ins Gesicht, aber dann war es 151
auch aus. Sie bogen ihm zu zweit mit einem mörderi schen Griff den rechten Arm nach hinten, so daß er sich fügen mußte. Außerdem sprach die Pistole vor seinem Gesicht eine warnende Sprache. Als Hal und Nimba die Augen aufschlugen, blick ten sie ebenfalls jeder in eine Pistolenmündung hin ein. Die junge Frau wurde gar nicht beachtet. Als sie jedoch nach einer der Pistolen griff, die die Tuareg den Überfallenen abgenommen und beiseitegelegt hatten, band man ihr ebenfalls die Hände und stellte einen Mann neben sie. Sun Koh wurde auf die Füße gestellt. Der Führer des Trupps trat dicht vor ihn hin und zog seinen Ge sichtsschleier etwas tiefer. »Scheint der Mond hell genug, um mich zu erken nen?« fragte er mit tiefer Stimme. »Ich erkannte Euch schon lange, Aga Sinder«, antwortete Sun Koh kalt. »Seid Ihr deshalb mit uns geritten, um uns jetzt zu überfallen oder zu berau ben? Oder tat es Euch leid, daß Ihr uns die Meharis gelassen habt?« Der Targi schüttelte den Kopf. »Ihr sprecht bitter, Sun Koh, aber ich hoffe, es wird die Zeit kommen, da Ihr anders denken werdet. Wir sind nicht auf einem Razu (Raubzug der Tuareg) und trauern auch nicht um die Meharis. Wir sind ge kommen, um Euch die Ehren genießen zu lassen, die 152
Euch zukommen. Ihr sollt zum Fürsten unseres Stammes werden.« Sun Koh blickte den anderen verächtlich an. »Seltsame Ehrungen, die mit einer Fesselung be ginnen. Ihr lügt wie gedruckt, Alter. Was habt Ihr vor?« Aga Sinder reckte sich stolz. »Ein Targi lügt nicht, Sun Koh. Ich spreche die Wahrheit. Doch weil des Menschen Sinn töricht ist und du unsere Sitten nicht kennst, mußten wir dich fesseln. Gib mir deinen Schwur, daß du freiwillig folgen willst, dann sollen deine Riemen fallen.« Sun Koh ahnte viel, aber er brauchte die Bestäti gung. Deshalb sagte er ruhig: »Ich kann nicht schwö ren, wenn ich nicht weiß, wohin Ihr mich bringen wollt und was geschehen soll.« »Ich bringe Euch in unsere Zelte am Hogar, nicht als Gefangener, sondern als freier Fürst der Tuareg.« »Wie komme ich zu der Ehre, Amrar der Tuareg?« »Wenn Ihr nicht ein Fremder wäret, so wüßtet Ihr es. Okalam will es. Sie hat Euch als Gatten erwählt.« »Ah?« Der Targi begriff nicht recht. »Niemand wird Okalam zurückweisen«, sagte er entschieden. »Wenn Ihr zögert, dann liegt das daran, daß Ihr ein Fremder seid. Und wenn Ihr eine Zeitlang bei uns gelebt habt, werdet Ihr die Ehre zu schätzen wissen.« 153
»Mann und Frau sollen sich lieben, Aga Sinder. Ich liebe Okalam nicht, sondern eine andere Frau.« »Eure Rede ist dunkel, Sun Koh. Ist Okalam nicht schön?« »Doch, sie ist schön.« Aga Sinder neigte feierlich sein Haupt. »Der Traum des Mondes hat Euch erwählt. Eure Fesseln fallen, sobald Ihr Euer Wort gebt, freiwillig zu folgen.« »Nie!« »Dann müßt Ihr mir gefesselt folgen. Und denkt nicht an Flucht.« »Ihr habt mich in der Gewalt«, antwortete er kurz. »Was wird mit meinen Begleitern?« »Okalam will, daß die Frau in ihre Heimat zu rückkehrt. Sie erhält alles, was sie braucht. Eure bei den Diener werden sie begleiten.« Sun Koh wandte sich nun an Hal und Nimba und erklärte ihnen die Situation. »Habe ich mir doch gedacht«, seufzte Hal. »Sie hat Ihnen ja dauernd schöne Augen gemacht.« »Lebt wohl«, sagte Sun Koh. Die Kamele waren inzwischen herangeführt wor den. Die Tuaregs hoben den gefesselten Sun Koh auf eins der Meharis hinauf und banden ihn im Sattel fest. Dann ritten sie mit ihm weg. Aga Sinder wartete mit einem Begleiter, bis sie verschwunden waren. Dann stieg er ebenfalls auf und 154
bedeutete den Gefangenen, ihm zu folgen. Nach hundert Schritten schon schnitt er ihre Fesseln durch und ließ sie umkehren. Dann jagte er davon. 7. Sun Koh saß auf dem niedrigen Mattenlager seines Zeltes und blickte grübelnd auf die Waffe, die er in seiner Hand hielt. Er war ungewöhnlich niederge schlagen. Seine Gedanken wurden immer düsterer. Er befand sich seit zwei Tagen im Stammlager der Timmi-Tuareg im südlichen Hogar. Sie hatten ihn schwer gefesselt von Tassili hergebracht. Sun Koh lächelte bitter vor sich hin. Was nützten Waffen, wenn sie nicht geladen waren? Und selbst bewaffnet wäre eine Flucht so gut wie aussichtslos. Die Kamele wurden gut bewacht. Am Taleingang standen ständig Wächter. Er besaß keine Lebensmit tel und kein Wasser, und zwischen dem Hogar und der Freiheit lag eine unendliche Sand- und Steinwü ste. Er horchte in sich hinein. Was war das? Er kannte sich selbst zu gut, um nicht festzustellen, daß sich irgend etwas in ihm veränderte. Er reagierte anders als normal. Gaben sie ihm etwas in die Speisen und Getränke? Okalam fand ihn sehr nachdenklich, als sie etwas später in sein Zelt trat. Es war das erstemal, daß sie 155
ihn aufsuchte, seitdem er sich im Lager befand, und sie benahm sich nicht wie eine Siegerin, sondern wie ein schüchternes junges Mädchen. Sun Koh hatte schon zuviel nachgedacht, um sie freundlich zu empfangen. Er blickte ihr kalt und for schend in die dunklen Augen. Sie neigte schließlich verlegen den Kopf. »Ihr seid mir böse, Sun Koh? Seid Ihr böse, weil ich Euch herbringen ließ? Ihr wolltet selbst die Sitten der Tuareg kennenlernen.« »Nicht durch eine Heirat, Okalam«, erwiderte er beherrscht. »Ich hielt dich für klug, aber ich irrte mich wohl. Weißt du nicht, daß man sich lieben muß, um Mann und Frau zu werden?« »Ich liebe dich«, sagte sie schlicht. »Ich liebe dich nicht«, gab er zurück. »Und ich werde dich nie lieben, weil mein Herz einer anderen Frau gehört.« »Warum sagst du mir das?« fragte sie verwundert. »Ich hindere dich nicht, jene andere Frau zu lieben. Ich will doch nur, daß du mein Mann wirst und mich auch liebst.« »Man kann nicht zwei Frauen lieben. Man kann nicht eine Frau lieben und eine andere heiraten.« Sie schüttelte befremdet den Kopf. »Warum nicht, Sun Koh? Unsere Mädchen und Jünglinge treffen sich abends im Gemeinschaftszelt zu den ahàls. Sie singen Lieder und spielen auf der 156
imzad, und dabei wählen sie sich für diesen Abend jemand aus. Dann ziehen sie sich paarweise zurück und beweisen sich gegenseitig, daß sie die Kunst der Liebe gelernt haben. Sie sind noch zu jung, um zu heiraten, und niemand kümmert sich darum, wen das Mädchen oder der Jüngling später einmal heiraten wird, aber sie lieben sich trotzdem an diesem Abend, und am nächsten Abend jemand anders. So ist es bei uns Sitte. Gilt das nicht auch bei Euch?« Sun Koh begriff, daß es keinen Sinn hatte, mit ihr dieses Thema zu erörtern. »Bei uns ist es anders«, erwiderte er ruhig, »und ich bin daran gebunden. Versuche das einzusehen und veranlasse, daß ich freigelassen werde.« »Nie!« sagte sie sofort und entschlossen. »Du bist mein Gefangener und wirst bleiben.« »Du wirst dein Ziel nie erreichen.« »Ich werde es erreichen.« »Wodurch, Okalam?« Sie schreckte zusammen. Ihr Blick streifte die Ge fäße aus Gazellenhaut, die am Boden standen. Nach einigem Zögern sagte sie ausweichend: »Du wirst dich an unsere Sitten gewöhnen.« Er wandte sich schulterzuckend ab. Okalam ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Eine halbe Stunde später brachte das junge Mäd chen, das Sun Koh bediente, neue Speisen. Sie stellte die Gefäße nieder und wollte wie stets das Zelt ver 157
lassen. Sun Koh hielt sie zurück. »Beantworte eine Frage. Wer bereitet die Speisen, die du mir bringst?« »Okalam, Herr«, gab sie zögernd Auskunft. »Genießen die Männer der Tuareg Haschisch?« Sie zögerte noch mehr, antwortete aber: »Ja, Herr, manchmal rauchen oder trinken die Männer Ha schisch. Sie nennen es die Erniedrigung der Seele’, weil es berauscht.« »Ist diesen Speisen Haschisch beigemischt?« »Ich – ich weiß es nicht, Herr.« Sun Koh schickte sie weg. Sie war noch sehr jung und gehörte wohl auch nicht gerade zu den Schlaue sten. Er kostete, was sie gebracht hatte. Es schmeckte fremdartig. Die einzelnen Bestandteile ließen sich nicht bestimmen. Der kräftige Duft war auf jeden Fall angenehm, ebenso die Würze. Sicher konnten auch die Einheimischen kaum sagen, ob es eine klei ne Menge Haschisch enthielt. Wenn er Gewißheit haben wollte, mußte er wohl oder übel essen, was ihm Okalam hatte vorsetzen lassen. Okalam mußte das Gift stärker als sonst beige mischt haben. Und es gab jetzt keinen Zweifel mehr, daß die Speisen tatsächlich Haschisch enthielten. Okalam versuchte, seinen Willen auf diese Weise zu brechen. Als die Sterne über dem Lager sichtbar wurden, 158
war der Entschluß Sun Kohs gefaßt. Er mußte fort, und zwar unverzüglich. Wenn er länger blieb, bekam ihn das Haschisch in die Gewalt, und er wurde ein Sklave des Giftes und ein Sklave Okalams. Er fühlte sich aber nicht dazu bestimmt, als Targi den Rest sei nes Lebens in der Wüste zu verbringen und einer Frau zu dienen, auch nicht als Prinzgemahl. Wenn er aber blieb und die Speisen verweigerte, so würde das bald seinen Körper schwächen und ihn damit unfähig ma chen, seine Freiheit zu erkämpfen. Er ging nüchtern und sachlich alle Möglichkeiten durch, nachdem er sich entschlossen hatte. Die Aussichten für das Gelin gen der Flucht waren nach wie vor denkbar ungünstig. Eine Chance lag nur vor, wenn es gelang, den Wäch ter am Talausgang unschädlich zu machen, wenn kein Zwischenfall eintrat, wenn seine Verfolger wenigstens einige Kilometer hinter ihm blieben, wenn Nimba und Hal Verbindung mit dem Tauchboot bekommen hat ten, wenn sie bereits mit dem Flugzeug unterwegs waren oder bald Unterwegs sein würden, wenn das Flugzeug zufällig seinen Weg kreuzte… Zuviel Wenn, aber trotzdem mußte er es wagen, waffenlos, ohne Wasser und ohne Nahrung in die Wüste zu fliehen. Die Tuareg, die die Wüste besser kannten als Sun Koh, vermuteten wohl nicht im entferntesten, daß er zu einem derartigen Entschluß kommen würde, der praktisch Selbstmord bedeutete. Sie hatten keine 159
Wache vor sein Zelt gestellt, und sie hätten ihn auch nicht angehalten, wenn er nachts zwischen den Zel ten herumgelaufen wäre. Sun Koh war froh, daß sich niemand um ihn kümmerte, als er sein Zelt verließ, daß die Hunde schliefen und daß keiner der Schläfer aufschreckte, als er sich aus dem Lager schlich. Der Wächter am Ausgang der kesselartigen Schlucht war so arglos wie die Schläfer in den Zel ten. Er befand sich im Halbschlaf. Sun Koh kam bis auf wenige Meter an den hok kenden Wächter heran. Der Rest ließ sich mit einem Sprung und einem Faustschlag erledigen. Der Wäch ter fiel um und merkte nicht einmal mehr, daß ihm Hände und Füße gefesselt wurden. Sun Koh nahm ihm die Waffen ab und kehrte dann in den Talgrund zurück, in dem sich das Lager be fand. Die Kamele hielten sich am entgegengesetzten Ende der Schlucht zwischen den aufsteigenden Fels wänden auf. Dort konnte man nicht hinaus. Er mußte erst wieder zu Fuß am Lager vorbei, um zu den Ka melen zu kommen, und dann noch einmal beritten die Schlafenden passieren. Der Wächter der Meharis betrachtete seine Pflicht wohl auch nur als Formsache. Er saß in Decken ge hüllt auf einem Stein und schien zu schlafen. Trotz dem blieb Sun Koh vorsichtig. Das Tal verengte sich stark, so daß er fast gegen den Wächter anlaufen mußte. 160
Die Vorsicht lohnte sich. Als Sun Koh bis auf zehn Meter heran war, erhob sich der Wächter. Er streckte seine Glieder und begann, hin und her zu wandern. Die Kälte mußte ihn vom Stein hochgetrie ben haben, denn er verriet keinen Argwohn. Als er sich abwandte, gewann Sun Koh, gedeckt durch das Geräusch der Schritte, einige Meter, und als der Targi zu seinem Ausgangspunkt zurückkehr te, sprang ihn Sun Koh an. Der Wächter sah ihn durch die Luft heranschnellen, war aber zu langsam, um zu reagieren. Ein hämmernder Schlag warf ihn um. Auch er erwachte erst viel später unter Fesseln. Die Kamele ruhten wie weißgraue Blöcke. Sie wandten ihre Köpfe träge zu dem nächtlichen Besu cher hin, pendelten mit dem langen Hals und schreck ten nicht auf, als Sun Koh eines von ihnen hochzog. Sun Koh hatte gehofft, geräuschlos am Lager vor beizukommen. Er sah schnell ein, daß die Chance dafür sehr gering war. Das Kamel polterte beim Schreiten, und die Tuareg gehörten nicht zu den Leu ten, die auf ihren Ohren schliefen. Sie würden die rollenden Steine kaum überhören. Er holte deshalb das Mehari wieder auf die Knie herunter und stieg in den Sattel. Im Notfall wollte er wenigstens diesen Vorsprung haben. Nichts regte sich. Mann und Kamel erreichten un gehört das Lager, obgleich Steine rollten und Sand knirschte. 161
Er war schon fast vorbei, als irgendwo ein erstaun ter Ausruf aufklang. Unmittelbar darauf kam ein wil der Alarmschrei. Es war die Stimme einer Frau, und wahrscheinlich die Stimme von Okalam. Sun Koh traute ihr zu, daß sie aus dem Schlaf hochgefahren war und die Gefahr für ihre Pläne instinktiv gespürt hatte. Er feuerte sofort sein Reittier an, wie er es bei den Tuaregs gesehen hatte. Das Mehari gehorchte sofort. Sein Paß wurde immer schneller, bis es schließlich seine langen Beine in dem bewundernswürdig schnellen Tempo bewegte, durch das es berühmt ge worden war. Das unbestimmte Licht der Mondnacht störte es offenbar nicht. An dem gefesselten Talwächter vorbei ging es in die breite Senke hinein, die nach Osten führte und später den Weg nach Nordosten und Norden freigab. Er mußte sich nach Nordosten halten, auf Ghat zu. Sun Koh gab sich keinen Illusionen hin. Von die ser Stunde an war er Freiwild, bis er sich bei seinen eigenen Leuten oder in einer Küstenstadt befand. Hinten im Lager war jetzt alles auf den Beinen. Wilder Lärm hallte hinter dem Flüchtenden her. Schreie, Rufe und Schüsse mischten sich zu einem dumpfen Getöse, das aus der Schlucht wie aus einer Trompete herausschallte, um dann plötzlich, als Sun Koh abbog, ganz schwach zu werden. Er hielt sich möglichst auf festem Stein, um keine 162
Spuren zu hinterlassen. Dann und wann lauschte er, aber das dumpfe Dröhnen und gellende Hetzrufen, auf das er wartete, blieb noch aus. So schnell konn ten die Sattelriemen, die er durchschnitten hatte, doch nicht wieder geflickt werden. Doch es gab noch mehr Tuareglager zwischen Hogar und Tassili, und die Tuareg besaßen ein aus gezeichnetes Nachrichtensystem. Sie verständigten sich über riesige Entfernungen, als ob ihnen die mo dernsten Nachrichtenmittel zur Verfügung ständen. Was lag näher, als befreundete Stämme auf den Flüchtling aufmerksam zu machen und sie auf ihn zu hetzen? Die anderen Stämme würden schon des Ver gnügens willen an der Treibjagd teilnehmen, ganz abgesehen davon, daß Aga Sinder der Amenokal, der König aller Tuareg war, dem sie ohnehin blindlings zu gehorchen hatten. Die größte Gefahr aber lag in der Wüste selbst. Auch wenn er von Stürmen verschont blieb – wie lange konnten er und sein Tier ohne Wasser und oh ne Nahrung in der entsetzlichen Hitze aushalten? Sun Koh sah klar genug. Wenn ihn nicht rechtzei tig Hilfe erreichte oder wenn er nicht irgendwo un terwegs Wasser fand, würden irgendwo in der Wüste seine Knochen bleichen, bis sie Wind und Sand barmherzig verhüllten. * 163
Hal Mervin ließ müde seine Hand von der Sprechdo se sinken und stöhnte, während er zu Nimba hinüber schielte. »Nun tippe ich seit drei Stunden das gleiche Zei chen. Wenn wir hier noch drei Tage herumsitzen und ununterbrochen das gleiche Signal geben müssen, sind wir alle beide reif für die Klapsmühle.« »Da hast du eigentlich recht«, murmelte Nimba freundschaftlich. Dann hockte er sich auf den Boden und begann zu tippen. Hal ging mit Jeanne Lecogne zusammen ein Stück hügelaufwärts zu ihrem Lagerplatz und setzte sich neben sie. Er hing seinen Gedanken nach. Nach einer ganzen Weile schüttelte er den Kopf und seufzte. »Ich mache mir Sorgen um Sun Koh. Wenn ich nur wüßte, wie es ihm geht?« »Ich sorge mich auch«, gestand sie. »Schließlich bin ich ja an allem schuld.« Hal winkte großmütig ab. »Na na, nur nicht gleich so wichtig machen. Sie können ja schließlich nichts dafür, daß ihn diese wil de Jungfrau absolut heiraten will. Aber besonders erfreulich sieht es nicht aus. Man sitzt und tippt und tippt, aber es kommt keine Antwort. Aber wir müs sen eben tippen, notfalls eine Woche lang und noch länger, bis wir endlich eingesehen haben, daß wir für die Katz tippen. Wir wissen nicht, wie weit unsere 164
winzigen Sender tragen, und vor allem nicht, welche Reichweite sie in bezug auf ein Tauchboot besitzen, das sich ein Stück unter der Erde befindet.« »Aber wenn nun keine Antwort kommt?« »Tja, dann werden wir uns wohl oder übel auf die Kamelbeine machen müssen. Vielleicht könnten wir versuchen, nach Tuat zu kommen. Vielleicht wäre es aber auch zweckmäßig, in den Hogar zu reiten.« Zwei Stunden später sah er sich nach Nimba um. Der hockte immer noch am Boden, stierte auf einen fernen Felsblock und tippte unablässig die Morsezei chen auf den Kontaktknopf. Er überhörte dabei Hals Kommen und zuckte erschreckt zusammen, als der Junge plötzlich neben ihm auftauchte. »Du bist’s?« stellte er geistesabwesend fest. »Noch keine Antwort. Nichts rührt sich. Die Energie ist eben zu gering. Sie können uns nicht hören.« »Ja, und dazu ließ sich einiges sagen, wenn du nicht so ein zartes Gemüt hättest«, seufzte Hal. »Ich verstehe gar nicht, daß so etwas wie du existieren kann. Na ja, wenn man wohlbehütet im Urwald auf wächst, wo einem die Bananen in den Mund hängen und man nichts zu befürchten hat. In London hättest du groß werden müssen, in den Slums. Das macht zäh und lebenstüchtig. Wie fühlst du dich eigent lich?« Nimba erhob sich wortlos und drückte Hal die Sprechdose in die Hand. Dann schwenkte er ab. 165
Hal begann zu tippen. Nach einer Stunde schreckte er aus dem Halb schlaf hoch. Er hatte zwischen seinen Morsezeichen ein feines Klingeln gehört. Bevor er noch richtig munter war, stotterte er schon gegen die Transisto ren: »Wer klingelt denn da – ach so, ja, hier Hal Mervin. Hören Sie mich?« »Ich höre«, antwortete eine feste Männerstimme. »Klaus Gorm. Ich spreche vom Tauchboot aus.« »Was ist los? Gefahr?« »Gefahr ist gar kein Ausdruck. Dafür müssen Sie schon ein neues Wort erfinden. Sun Koh ist von Tua regs entführt worden und soll eine von diesen ein heimischen Frauen heiraten, und wir sitzen wie das Kind auf dem Töpfchen hier in der Wüste und…« »Berichte!« Hal ließ sich nicht nötigen. Er holte tief Luft, ver zichtete auf alle Entlastungsversuche seines Gemüts und begann zu berichten. 8. Sun Koh ritt durch die Wüste. Es war viele Stunden her, seitdem er aus dem Lager der Timmu-Tuareg geflohen war. Der Tag hatte schon längst die Nacht abgelöst. Die Sonne brannte erbarmungslos auf den einsamen Reiter herunter, prallte von den roten und schwarzen Felsen zurück und hüllte Mann wie Tier 166
in einen Mantel glühender Luft. Die zitternden Wel len verwirrten phantastisch die Umrisse der Land schaft. Die steinerne Wüste, unterbrochen von brei ten, gelben Sandzungen, wurde zum unruhig wogen den Meer, in dem die brennenden Augen keinen Halt und keinen Ruhepunkt fanden. Trügerisch spiegelte sich von Zeit zu Zeit am Horizont eine Fata Morga na, bald ein breitgelagerter See, bald wogende Pal men, bald eine umgekehrte Landschaft. Das Mehara hielt unermüdlich seine Geschwin digkeit. Es schien die brennende Hölle weniger zu spüren als Sun Koh, der sich wie ausgedörrt vorkam und zeitweise die Augen schließen mußte, um nicht die Herrschaft über seine Sinne zu verlieren. Die Tuareg konnten seine Spur nicht gefunden ha ben, denn bis jetzt hatte er nicht ein einziges Anzei chen dafür gefunden, daß sie ihn verfolgten. Irgendwann riß Sun Koh die Augen auf, um sie schnell wieder zusammenzukneifen. War das Luft spiegelung oder Wirklichkeit? Weit voraus bewegten sich auf dem Kamm einer Sanddüne dunkle Punkte. Sie waren winzig und schwammen mit den Hitzewellen vor den Augen. Feinde? Sun Koh brachte das Mehara zum Stehen und ließ es niederknien, um besser beobachten zu können. Ja, es waren Reiter auf Kamelen, die ihm entge genritten. Jetzt verließen sie den Sand und näherten 167
sich der Felsenplatte. Hatten sie ihn gesehen? Er wußte es nicht. Wenn die Augen der Tuareg so scharf waren, wie sich erwarten ließ, mußten sie ihn bemerkt haben, denn er war in Bewegung gewesen. Die Reiter ritten direkt auf ihn zu. Das konnte ein Zufall sein, aber viel ließ sich davon nicht erhoffen. Auf jeden Fall konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie ihn sahen, falls sie ihn nicht schon lange im Auge hatten. Sun Koh bedauerte, daß er sich nicht in der Sand wüste befand. Mancher glaubt, die Sahara biete eine gute Fernsicht, aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Der dauernde Wechsel von Senkung und Erhebung, das immer neue Auftauchen von Sanddünen be schränkt den Rundblick sehr stark. Mehr als einige hundert Meter hat das Auge unter normalen Umstän den in diesem Meer von mächtigen Sandwellen nicht. Auf diesem Felsplateau lagen die Verhältnisse lei der wesentlich ungünstiger. Die felsige Landschaft, die nur selten von Sandfahnen und Hügeln belebt wurde, war im wesentlichen glatt und bot trotz man cher Felslücke und Unregelmäßigkeiten eine vorzüg liche Fernsicht. Die Reiter kamen immer näher heran. Jetzt war es sinnlos, noch etwas zu erhoffen. Sun Koh ließ das Mehara wieder aufschnellen und 168
ritt im rechten Winkel zu seiner ursprünglichen Rich tung weiter. Er trieb sein Mehara an, aber er erkannte bald, daß es nicht mehr genug Reserven besaß. Die anderen waren schneller. Umzukehren hatte keinen Zweck. Ein Versteck war weit und breit nicht zu entdecken. Und die Nacht kam noch lange nicht. Die Flucht war sinnlos. Der Punkt, an dem er mit dem Trupp zusammenstoßen mußte, ließ sich jetzt schon berechnen. Als er anhielt, änderten die Reiter ihre Richtung abermals und hielten wieder auf ihn zu. Sun Koh er kannte jetzt, daß es tatsächlich Tuareg waren, wenn er auch noch nicht sagen konnte, ob sie zum Stamm Aga Sinders gehörten. Auf jeden Fall ritten sie aus gezeichnet. Er ließ sie bis auf hundert Meter herankommen, dann feuerte er einen Warnschuß ab und rief ihnen entgegen: »Halt, sonst schieße ich. Wer seid Ihr und was wollt Ihr?« Die Reiter stoppten ab, als wären sie gegen eine Wand geritten – ein großartiges Manöver. Nur einer von ihnen ritt noch ein Stück weiter und rief: »Seid Ihr der Fremde, der bei Aga Sinder lebte und ent floh?« »Ja.« »Dann ergebt Euch. Wir wollen nicht Euer Leben, aber wir müssen Euch zurückbringen. Wir sind Tua 169
reg von Stamm der Kudna. Der Befehl Aga Sinders, der unser Amenokal ist, erreichte uns. Werft Eure Waffen weg zum Zeichen, daß Ihr Euch ergeben wollt.« »Ich werde mich nicht ergeben«, antwortete Sun Koh. »Reitet zurück und sagt Aga Sinder, daß er ei nen Toten, nie aber einen Lebenden wieder in sein Lager bringen wird.« »Du bist ein Tor!« warnte der Tuareg, verzichtete aber auf mehr. Er wandte sich an seine Leute und gab ihnen Befehle. Sie begannen sofort, sich zu einem weiten Bogen aufzulockern und getrennt auf Sun Koh zuzureiten. Sun Koh schoß noch einmal in die Luft, aber er erntete Hohngeschrei. Er schoß zum zweitenmal und zielte dabei so, daß das Geschoß dicht am Ohr des Anführers vorbeibrannte. Dieser mißverstand die Warnung. Er wurde wild und schrie seine Leute an. Die Gewehre der Tuareg wirbelten hoch. Schüsse knallten. Das Mehara unter Sun Koh zuckte zusammen und brach gleich darauf stöhnend in die Knie. Die Tuareg wußten, was sie taten. Sie durften den Mann nicht treffen, aber sie scheuten sich nicht, sein Kamel zu erledigen. Sung Koh begriff, was das bedeutete. Ohne Reittier war er verloren. Wut schoß in ihm hoch, und die Not half nach. Er mußte töten, um ein Mehara zu erobern. 170
Er schoß. Der Anführer des Trupps warf sich zu rück und glitt aus dem Sattel. Wutgeheul und neue Schüsse antworteten. Die Tuareg vergaßen über den Tod ihres Anführers die Wünsche Aga Sinders. Sie schössen wutentbrannt auf den Mann. Sun Koh warf sich hinter das tote Mehara, als ihm ein Streifschuß die Kopfhaut aufriß. Im Gewehr steckten noch sieben Schuß. Das konnte reichen, und notfalls blieb noch die Pistole. Er schoß siebenmal. Sieben Tuareg schreckten auf ihren Kamelen hoch, als hätte sie jemand geschlagen, griffen nach ihrer Schulter, schrien auf und legten sich schlaff auf den Sattelknopf. Die anderen stoppten noch einmal, als wären sie gegen eine Wand geritten. Sie starrten auf die, die rechts und links von ihnen aus dem Sattel zu gleiten drohten. Sie begriffen und handelten wie auf Befehl. Plötzlich rissen sie ihre Meharas an den Zügeln her um, nahmen die Verwundeten an ihre Seite und ritten mit zunehmender Geschwindigkeit davon. Sun Koh atmete auf. Inzwischen kam die Nacht, und er konnte… Sein Gedankengang riß jäh ab. Durch seinen Kör per zuckte der Schreck. Sein Mund formte einen Schrei, stieß ihn aber nicht aus. Das Kamel war fort! Weit vorn, inmitten des Keils, den die wegreiten 171
den Tuareg bildeten, jagte das Mehara, das Sun Kohs Reittier und Rettung sein sollte. Sie hatten es entwe der durch einen Zuruf mitgelockt, oder es war aus alter Gewohnheit zu den anderen gestoßen. Langsam wandelte sich der Schreck zu Grauen, das wie kaltes Wasser vom Hinterkopf aus über den Nacken rieselt. Das Kamel war fort, und sein eigenes Mehara lag tot auf dem Felsen. Er mußte zu Fuß durch die Wüste marschieren, ohne Wasser und ohne Nahrung durch die brennende Hölle zwischen Hogar und Tassili. Das bedeutete einen qualvollen Kampf gegen den Tod. Sun Koh schüttelte den lähmenden Druck gewalt sam von sich ab. Noch lebte er. Nach Minuten begann Sun Koh mit langen, fe dernden Schritten seine furchtbare Wanderung. * Zwei und einen halben Tag später! Sun Koh riß sich aus seinem kurzen Schlaf hoch, als eben die Sonne rotglühend über den Horizont zu schießen begann. Sein Körper war steif vor Kälte, die während der Nacht in der Wüste herrschte. Mit einiger Mühe machte er seine Glieder wieder geschmeidig und setzte dann seinen endlosen Marsch fort. Jetzt, zwischen Nacht und Tag, waren die besten Stunden. Man fror zwar noch etwas, litt aber dafür 172
auch noch nicht unter der Sonne. Sicher wäre es an genehm, nur in solchen Stunden außerhalb der Hitze und Kälte zu laufen, aber er konnte nicht mehr war ten, denn in seinem Körper arbeiteten bereits Durst und Hunger. Diese beiden bedeuteten die größte Ge fahr, nicht die Strahlen der Sonne oder die kalte Nacht. Deshalb gönnte er sich nur soviel Ruhe, wie unbedingt notwendig war. Die Steinwüste dehnte sich noch in tiefem Grau vor ihm, bald flach wie ein Tisch, bald in niederen Hügelketten sich quer vorlegend, ständig aber ohne Wasser und ohne Pflanzen. Sobald die Sonne durch den Dunst kam, würde sie gelblich und brandrot auf flammen, um dann wieder einen Tag lang im zitternden Spiel überhitzter Luftschichten wie glühendes Gestein zu schwimmen. Irgendwo voraus lag das Tassili. Rund sechzig Stunden befand sich Sun Koh nun schon zu Fuß unterwegs, und davon waren kaum mehr als sechs Stunden Rast gewesen. Meter um Meter – Meile auf Meile – Stunde um Stunde! Wieder brannte ein einziges Feuermeer um den einsamen Mann herum, der schutzlos und waffenlos den Kampf gegen übermächtige Naturgewalten und gegen die Endlosigkeit der Wüste führen mußte. Jetzt war sein Bronzegesicht starr, und die Lippen lagen fest aufeinandergepreßt. Sie hatten sich seit Stunden 173
nicht geöffnet. Die Kinnlinien traten scharf hervor, und zwischen den verkniffenen Augen standen steile Falten. Das war das Gesicht eines Mannes, der sich verbissen geschworen hat, auf einem aussichtslosen Posten durchzuhalten. Ab und zu gingen die Blicke nach oben. Kam das rettende Flugzeug immer noch nicht? Vielleicht flog es fünfzig Kilometer weiter west lich, vielleicht suchte es schon im Süden, vielleicht war es überhaupt noch nicht gestartet und Hal und Nimba funkten vergeblich um Hilfe. Sun Koh wußte es nicht. Aber er wußte, daß es schwer war, einen einzelnen Mann in der Wüste zu finden. Die Tuareg hatten sich nicht wieder sehen lassen. Das war sicher gut so. Wenn der gequälte Körper eines Mannes rebelliert und gegen den trotzigen Wil len Sturm läuft, fällt es schwer, durchzuhalten und weiterhin das Unmögliche zu versuchen. Unbarmherzige Mörderin Sonne! Mit tausend Strahlen hieb sie in den Körper hinein und glühte das Wasser aus ihm heraus, so daß das Blut dickflüssig wie heißes Blei durch die Adern gedrängt wurde. Die Brust atmete, aber es war nicht Luft, die in die Lunge strömte, sondern ein heißer Strom. Der Kopf wurde immer schwerer. Er schien über dehnt zu sein und platzen zu wollen, aber zugleich gab es das Gefühl, als lägen schwere Eisenbänder um ihn herum, die immer enger zusammengezogen wurden. 174
Sun Koh schüttelte sich gewaltsam. War er schon so dicht am Ende? Freilich, er konnte schneller vor Erschöpfung zusammenbrechen, als er vermutete. Und mit einem Hitzschlag mußte er in jeder Minute rechnen. Oder war es Wahnsinn, der ihn anschlich? Es wäre kein Wunder. Ein verirrter Mensch, der mit seinen letzten Kräften durch das Gaukelspiel der zitternden Luftwellen rannte, mit den Händen gestikulierte, der schreiend den Mund verzerrte und dessen verglaste Augen schon nicht mehr sahen – wird das das Ende sein? Es schauderte ihn. Und die Sonne glühte! Herrgott im Himmel, gibt es denn nirgends auf dieser Erde Wasser? Wasser! Diese höllischen Luftspiegelungen machten einen verrückt. Ja, dort gab es Wasser. Dort vorn am Hori zont wogte ein ganzer See mit kleinen blauen Wellen, auf denen feine, weiße Schaumkronen saßen. Wasser in unendlicher Fülle, Wasser zum Trinken, Wasser zum Baden, Wasser, um sich hineinzulegen und den ausgedürrten, versengten Körper laben zu können. Er wußte, daß es nur eine Luftspiegelung war. Er wußte es ganz genau. Trotzdem beschleunigte er je desmal seinen Schritt, bis das Phantom ins Nichts verschwand. 175
Wasser! Abermals zwei Tage später! Ein Mensch taumelte durch die Höllenglut der Steinwüste. Seine Knie blieben eingeknickt wie bei einem alten Mann, die Füße schlichen wie an Blei sohlen über den Boden. Der Rücken war gewölbt. Die Sonne brannte in den ungeschützten Nacken. Schlaff hingen die Arme, schlaff hing der Kopf. Die Augen stierten unter verquollenen, entzündeten Li dern zur Erde. Sie waren stumpf geworden. Nur ab und zu glitt ein fast schon irrer Glanz über sie hin. Die Haut lag wie Leder über den heraustretenden Knochen, als ob sie kein Fleisch mehr zu decken hät ten. Die Kleidung war zerrissen und zerlumpt. Fetzen von ihr schützten die Füße anstelle der Schuhe. So irrte Sun Koh durch die Wüste, zermürbt und zerfallen unter der vernichtenden Sonne und den ent setzlichen Entbehrungen. Er schleppte sich, obgleich ihn sein Körper im Stich lassen wollte. Alle Impulse galten den Beinen. Überflüssig die Arme, die nur wie Bleigewichte an den Schultern hingen, überflüssig überhaupt alles außer den Bein muskeln, die den Körper weiterzuschleppen hatten. Seine Augen waren blind und seine Ohren taub. Er lebte nur noch an einer einzigen Stelle tief in seinem Innern, und selbst sie war nur ein nadelfeiner Punkt. Seine Sinne konnten nur noch durch zwei Dinge alarmiert werden – durch Wasser und durch ein 176
Flugzeug am Himmel. Der vergangene Tag war am schwersten. Der leere Leib, die vertrocknenden Muskeln und das ausge brannte Gehirn hatten rasend aufbegehrt und ihn fast wahnsinnig gemacht. Er war fast zusammengebro chen. Er hatte sich fast eine Kugel in den Kopf gejagt. Vorbei! Heute schwieg der Körper. Der Magen und die Muskeln verzichteten auf alle Schmerzen. Sie hatten aufgegeben. Sun Koh kam sich erstaunlich leicht und frei vor. Irgendwo in seinem Innern staun te irgend etwas darüber, daß es sich fast so gut wie am ersten Tag fühlte. Er sah sich selbst nicht mehr. Er wußte nicht, daß der Schritt, den er für federnd hielt, weiter nichts als ein erbarmungswürdiges Schleichen war. Er ahnte nicht, daß die schöne Okalam an diesem Tag an ihm vorbeigeritten wäre, ohne ihn zu erkennen. Wie durch ein Wunder kam er über den Tag. Als die Nacht hereinbrach, stolperte er in einen tiefen Taleinschnitt hinein, der sich zwischen zwei Hügelketten hinzog. Hier lag Geröll. Hier mußte es Wasser geben. Ja, Wasser, aber nur zur Regenzeit! Die Dunkelheit war schon über ihm. Die Steine schoben sich als Hindernisse in seinen Weg. Die müden Füße kamen kaum mehr darüber hinweg. Da – er stolperte – fiel – blieb liegen. Seine Hände und Knie preßten sich in den Sand 177
hinein. Wie ein Tier, das den Fangstoß erwartet, blieb er minutenlang auf allen Vieren liegen. Vorbei? Nein, er riß sich wieder hoch. Er durfte ja nicht mehr ruhen oder schlafen, sonst würde der Körper nicht mehr gehorchen. Weiter, immer weiter. Rast bedeutete jetzt das Ende. Er stemmte sich hoch. Nein, er schaffte es nicht. Durch den ausgemergel ten Körper lief ein Zittern, dann brach er zusammen. Lang ausgestreckt, Gesicht und Bauch im Sand, blieb Sun Koh liegen. Doch das Ende? Nein, es war etwas anderes, etwas, das er zunächst nicht greifen konnte. War da nicht etwas, das ihn an ging, das sogar lebenswichtig für ihn war? Was konnte das nur gewesen sein, das ihn veranlaßt hatte, mit der Haut am Sand zu bleiben? Da leuchtete ein Funke in der verborgenen Höhle auf, in die er sich zurückgezogen hatte. Wasser! War das Wasser? Gab es hier tatsächlich Wasser, oder narrte ihn die Wüste abermals? Doch! Die Hände im Sand ahnten etwas wie eine feine, köstliche Kühle, die von unten heraufdrang. Und die Nase roch jetzt Wasser. Es konnte auf dieser Welt nichts Köstlicheres geben als den Geruch von Wasser. Unter dem Sand mußte sich Wasser befin den. 178
Sun Kohs Hände wühlten bereits die obersten Schichten des Sandes beiseite. Sie fanden kein Was ser, aber das hatte nichts zu besagen. Das Wasser stand selbstverständlich nicht an der Oberfläche. Es quoll weiter unten in der Tiefe. Nur seine Feuchtig keit drang nach oben. Man brauchte nur zu graben, dann stieß man bestimmt auf Wasser. Sun Koh begann zu graben, während über ihm die Sterne in spröder, glitzernder Pracht auffunkelten. Er besaß kein Werkzeug außer seinen Händen, aber er brauchte auch nicht mehr. Durch diese Hände, die schon tot gewesen waren, strömte jetzt ein wunder sames neues Leben. Er grub und grub. Nach einer Stunde sah er ein, daß er seine Hoff nungen zu hoch gespannt hatte. Das Wasser lag tie fer. Noch immer konnte er keinen Tropfen fassen, der sich schlürfen ließ. Dafür stand allerdings fest, daß der Sand feucht war und daß die Feuchtigkeit zunahm, je tiefer er sich wühlte. Aber so konnte er nicht weitergraben. Der Kegel, den er bis jetzt ausgeworfen hatte, war zu klein. Der Sand rieselte ununterbrochen zurück und füllte das gegrabene Loch wieder. Er mußte größer und plan voller arbeiten, wenn er an das Wasser herankommen wollte. Er begann von neuem. Er grub eine Stunde. 179
Er grub zwei Stunden. Er grub drei Stunden. Er grub vier Stunden. Dann versagten die Arme. Er konnte nicht mehr. Der Sand war feucht, aber man kann feuchten Sand nicht trinken. Er schluchzte vor Verzweiflung, als er zusammen brach. Die Natur war wirklich unbarmherzig. Oder doch nicht? Man konnte den feuchten Sand nicht trinken, aber er dunstete doch Leben gegen die Haut, die gierig die Feuchtigkeit in sich sog. Es war nicht viel, aber es riß ihn aus der Benommenheit. Er zerrte seine Lumpen herunter, bis er nackt im Sand lag und seine Haut überall die Feuchtigkeit aufneh men konnte. Dann raffte er sich noch einmal auf und grub die fünfte Stunde. Und die sechste Stunde. Und dann stieß er auf Felsen. Und in diesem Fel sen befand sich ein Spalt, der in die Tiefe führte, aber sich so verengte, daß nicht einmal der Finger weiter vordrang. Und aus diesem Spalt drang der Dunst des Wassers und das dumpfe Rauschen eines unterirdi schen Stroms. Sun Koh roch das Wasser und spürte es mit allen Fasern, aber es hätte ebensogut Millionen Kilometer von ihm entfernt sein können. Der Fels versperrte endgültig den Weg. Er hatte umsonst die ganze 180
Nacht hindurch gegraben und umsonst seine letzten Kraftreserven verausgabt. Da reckte er seine kraftlosen, zerschundenen und blutenden Hände, denen der scharfe Sand die Haut abgerieben hatte, zum Himmel empor und betete. Er sprach nicht und flüsterte nicht einmal. Es war nichts als ein einfacher Gedanke, der sich in seiner Seele formte: »Herrgott im Himmel, du ewiger Lenker al ler Geschicke: Wenn du willst, daß ich sterben soll, so mag es gut sein. Wenn aber meine Aufgabe, für die ich geboren wurde, noch nicht erfüllt ist, so hilf, denn jetzt bin ich am Ende.« Dann stemmte er sich schluchzend auf, stellte sich auf seine Füße und taumelte weiter. Vor ihm hob sich der neue Tag. Der neue Tag brachte das Wunder. Es war zunächst nichts als ein kümmerliches, fast ausgetrocknetes Gestrüpp, in das er blind hineinstol perte. Dann war es ein langgezogenes Heulen, das an sein Ohr drang, während er noch das Gestrüpp beta stete und klar zu werden versuchte, ob er es kauen oder unter ihm nach Wasser suchen sollte. Das Heulen klang wie das Heulen eines Hundes. Und ein Hund bedeutete Menschen. Menschen bedeuteten Wasser! Die Hände ließen das Gestrüpp fahren. Sun Koh stolperte weiter. Sein Gang hatte sich verändert. Der 181
Kopf war jetzt vorgestreckt. Der ausgedörrte Mund gierte einem Ziel zu, der Körper fiel nach vorn, un unterbrochen wieder aufgefangen von den schwan kenden Knien. Hundert Meter! Zweihundert Meter! Fels wich zurück. Eine Senke öffnete sich. Da, nur noch wenige hundert Meter voraus, standen Büsche und Bäume und Zelte. Dort bewegten sich Men schen. Dort quoll Wasser. Der gequälte Körper straffte sich noch einmal. Über die aufgesprungenen Lippen kam ein heiserer, ungeformter Schrei. Die stumpfen Augen glühten auf. Ein weißverhüllter Wächter sprang auf und lief mit drohend geschwungener Waffe auf den fast nack ten Fremden zu. »Wasser!« ächzte Sun Koh, während ein geister haftes Lächeln über sein ausgemergeltes Gesicht glitt. Dann brach er zusammen. Er war am Ziel. Der Tedetu fand einen Bewußtlosen am Boden, einen Mann, der schon mehr einer Mumie als einem Lebenden glich. Sein Schicksal stand so deutlich in seiner Erscheinung, daß sich der Wächter alles Über flüssige ersparte und den Erschöpften sofort auf sei ne Arme nahm. Er wußte, daß ihn sein Stamm auf nehmen würde. 182
Es ist Gesetz der Wüste, daß der Verschmachtende aufgenommen und gelabt wird, ganz gleich, ob Freund oder Feind. Die Tibbu (Die Tibbu sind ein Brudervolk der Tuareg. Während jene die TuatOasen, den Hogar und die Sahara bis ins westliche Fessan und nach Süden bis zum Nigerbogen und dem Tschad-See beherrschten, sind die Kerngebiete der Tibbu Süd-Fessan, Tibesti, Borku und Wadschanga. Die Tuareg heißen in der Einzahl Targi, die Tibbu Tedetu. Beide Stämme gehören zur Berberrasse. Bei beiden stimmen Sitten und Gebräuche weitgehend überein.) hielten sich an das Gesetz. Sie wickelten den Fremdling, von dem sie nichts wußten, als daß er zu Fuß durch die Wüste gewandert war, in feuchte Tücher ein. Sie flößten ihm Wasser und später eine kräftige Brühe zwischen die zusam mengepreßten Lippen. Sie rieben seine Glieder und ließen den Zauberer seine Sprüche und Beschwörun gen murmeln. Sie ließen ihn schlafen. Sie hielten die Hitze des Tages ebenso von ihm fern wie die Kälte der Nacht. Sie salbten seine wunde, verbrannte Haut und taten alles, was nötig war, um das halb ent schwundene Leben zurückzurufen und zu erhalten. Eine Woche lang wußte Sun Koh nichts von sich. Sieben Tage lang lag er ohne Besinnung in einem Zwischenzustand, von dem niemand wußte, ob er mit dem Tod oder mit dem Leben enden würde. Am achten Tag schlug er die Augen auf. Seine 183
Blicke glitten leer und verständnislos durch den halbdunklen Raum und blieben auf einem blutjungen Mädchen haften, das neben seinem Lager hockte und ihn voll Mitleid und Erwartung ansah. »Wo bin ich?« flüsterte er, und es war ihm dabei, als bewegten sich Zunge und Lippen in eisernen Scharnieren, die seit Jahren vom Rost zersetzt wor den waren. »Du bist im Lager der Bilma-Tibbu«, erwiderte das Mädchen mit melodischer Stimme. »Willst du essen?« »Ja. Und trinken.« Er war zu schwach, um sich aufzurichten. Das junge Mädchen flößte ihm eine Suppe ein, in der ir gendwelche Brocken schwammen. Er schluckte gie rig, was ihm geboten wurde, dann sank er wieder in den Schlaf zurück. Am nächsten Tag fühlte er sich beim Erwachen wie neugeboren. Er merkte jedoch bald, daß das Ge fühl der Wirklichkeit vorauseilte. Sein Körper war noch sehr schwach und verkrampft. Er massierte sich eine halbe Stunde lang, so gut es ging und soweit seine noch kraftlosen Hände nicht versagten. Zwischendurch tauschte er Frage und Antwort mit dem Mädchen, daß immer noch neben seinem Lager saß und Kuma hieß. Ihr Vater nannte sich El Bardai und war der Amrar, der Führer des Stammes. 184
Als Sun Koh zum viertenmal in diesem Zelt die Augen öffnete, stand El Bardai selbst an seinem La ger. »Sei gegrüßt, Fremder. Wie ich hörte, sprichst du die Sprache der Tibbu, obwohl du kein Tedetu bist. Ich bin El Bardai, der Amrar dieses Trupps. Du warst ein Greis, doch jetzt sehe ich, daß du viel jünger bist als ich. Dein Schicksal muß seltsam gewesen sein.« Er schwieg. Jeder seiner Sätze war eine Frage ge wesen. Sein Schweigen war ein Warten auf Antwort. »Ich ahnte es. Die Wüste besitzt viele Ohren, und ich hörte bereits von dir. Rul war dir gnädig. Er woll te nicht, daß du stirbst. Deshalb wirst du unser Gast sein.« »Du wirst mich nicht an Aga Sinder ausliefern?« »Nein. Wenn du kräftig genug geworden bist, werden wir dich nach Norden bringen. Oder ist es dein Wunsch, daß wir das Flugzeug benachrichti gen?« Sun Koh fuhr hoch. »Das Flugzeug? Du hast ein Flugzeug gesehen?« »Ja. Es ist schon über eine Woche her, als ein Flugzeug bei uns landete. Die drei Männer in ihm fragten nach dir und boten eine hohe Belohnung, wenn wir dich finden würden. Ich versprach ihnen, die Augen offen zu halten. Drei Tage später kamst du zu uns.« »Du hast das Flugzeug benachrichtigt?« 185
»Nein, noch nicht.« »Aber du wirst es tun?« drängte Sun Koh. »Wenn du es wünschst…« »Tust du es ungern?« »Nein, das nicht«, versicherte der Tedetu hastig. »Ich wußte nur noch nicht, ob du der Gesuchte bist. Ich werde gleich Nachricht senden. Inzwischen schicke ich dir wieder Kuma.« Sun Koh verstand nicht, was in El Bardai vorging. »Danke. Ja, schicke mir Kuma.« »Gefällt sie dir?« »Ja. Sie ist noch jung, aber sehr schön.« »Du darfst sie über Nacht bei dir behalten.« Sun Koh erschrak. Himmel, welche Dummheit hatte er da begangen. Der Tedetu hatte das Lob miß verstanden, und wenn er jetzt das Angebot zurück wies, machte er sich El Bardai zum Feind. »Du bist sehr großzügig, El Bardai«, sagte Sun Koh höflich, »und ich danke dir für die Ehre. Sage jedoch Kuma noch nichts davon, denn ich bin noch sehr krank und schwach.« Das sah El Bardai ein. Er nickte verständnisvoll. »So soll es sein. Sie soll dich jedoch pflegen, da mit du bald gesund wirst.« Gleich darauf schlüpfte Kuma herein. Einen Tag nach der Unterredung mit El Bardai fragte er die wie gewöhnlich neben ihm hockende Kuma nach ihrem Vater. 186
»Er arbeitet mit den anderen«, sagte sie träume risch vor sich hin. Sun Koh zog die Brauen hoch. Ein Berber, der ar beitet? »Er arbeitet?« vergewisserte er sich. »Ja«, bestätigte sie. »Er baut mit den anderen einen Wall aus Steinen um den Brunnen und die Zelte.« »Einen Wall? Wozu?« »Er sagt, so hätten es die Italianos gemacht, bei denen er in seiner Jugend geritten ist. Die Männer legen sich dahinter und können nicht getroffen wer den, wenn die Tuareg kommen.« »Dein Vater rechnet mit einem Überfall durch die Tuareg?« »Ja.« Sie nickte verwundert. »Das kann doch gar nicht anders sein. Ich denke, du hast es gewußt?« Sun Koh beugte sich vor. »Er nimmt an, daß Aga Sinder mit seinen Leuten kommen wird, um mich zurückzufordern?« »Er wird kommen«, antwortete sie schlicht. »Des halb hat Vater doch gezögert, deine Ankunft zu mel den. Seit gestern aber weiß die Wüste, daß du bei uns bist. Also wissen es auch die Tuareg. In manchen Lagern wird der Rauch in die Höhe steigen und dei nen Freunden Nachricht geben, aber die Tuareg wer den ihre Meharas besteigen und hierher reiten.« Sun Koh biß sich auf die Lippen. Sein Gesicht wurde düster. 187
»Daran habe ich nicht gedacht«, erwiderte er nach einer Weile. »Sage bitte deinem Vater, er soll die Tuareg als Gäste aufnehmen, wenn sie kommen. Ich will selbst mit ihnen sprechen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das werde ich ihm nicht sagen. Ich nehme selbst ein Gewehr und schieße mit den Männern, wenn die Tuareg kommen. Solange ich lebe, wird dich die Tochter Aga Sinders nicht besitzen.« Sun Koh legte seine Hand sanft auf den braunen Arm des Mädchens. Ein blitzender Punkt kreiste über dem Hogar. Es war das Flugzeug, in dem Nimba und Hal die Suche nach Sun Koh aufgenommen hatten – das zweite Flugzeug, das jetzt über der Sahara seine Spiralen zog. Das andere befand sich schon seit vielen Tagen unterwegs, ohne eine Spur zu entdecken. »Wir machen es genau falsch«, sagte Hal verdros sen. »Dieses Herumkreisen über den Karawanenpfa den nützt uns nicht. Wir müssen von der Route her unter. Die Chance liegt rechts und links vom Wege. Wenn Sun Koh die Flucht gelungen ist, wird er sich schnellstens verdrückt haben und nicht auf den Ka rawanenpfaden geblieben sein.« »Fragt sich, ob er überhaupt fliehen konnte«, brummte Nimba vom Steuer her. »Dieser Aga Sinder behauptet es, und diese Kudna-Tuaregs wollen sogar mit Sun Koh gekämpft und ihm das Mehara erschos 188
sen haben, aber ich traue den Berbern nicht. Sie lie ben die Wahrheit, aber nur, wenn sie einen Nutzen davon haben.« »Das ist ein allgemeines Leiden«, seufzte Hal. Er flog weiter und zog seine Kreise am Himmel. »Wir müssen uns das dort unten mal näher anse hen, Nimba«, meinte er nach einer Weile. »Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein halbes Hundert Tuareg auf ihren Meharas, bewaffnet wie ein Verein Gang ster in Chikago. Und der Mann an der Spitze sieht nach unserem Freund Aga Sinder aus. Ich bekomme ein komisches Gefühl in der Nase.« »Dann niese und drücke dich deutlicher aus«, knurrte Nimba, während er die Maschine fallen ließ. Hal setzte das Fernglas ab und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Das ist kein Fahrstuhl, sondern ein Flugzeug. Was denkst du wohl, warum die Tuareg hier herum reiten? Nach Nordosten! Was, wenn sie noch einmal auf Treibjagd gehen wollen? Vielleicht gilt es Sun Koh? Jedenfalls kann es nichts schaden, wenn wir die Trupps im Auge behalten.« Einige Stunden später entdeckten sie das Rauchzei chen im südlichen Borku. Die Maschine stürzte wie ein Adler darauf zu. Die Menschen im Lager quirlten in wilder Aufregung durcheinander, bis der Amrar des Stammes endlich die Frauen und Kinder in die Zelte jagte und die Männer erinnerte, daß sie Männer wa 189
ren. Dann bat er Hal und Nimba in sein Zelt. Er war vom alten Schlag und nahm es mit den Ze remonien genau. Hal und Nimba war natürlich klar, daß solche kleinen Wüstenkönige leicht beleidigt wa ren, und spielten also mit. Der Amrar sprach kein Englisch, so daß sie beide auf seinen Dolmetscher angewiesen waren, einen alten, fetten Berber. Der Unterschied zwischen den beiderseitigen Sprach kenntnissen lag nur darin, daß der Berber englische Worte in seinem heimatlichen Dialekt ausdrückte, während Hal eine Reihe von Wüstenworten durch seine englische Mühle quetschte. Trotzdem verstanden sie dann wenigstens unge fähr, was der andere meinte. »Wir geben das Zeichen seit zwei Tagen«, sagte der Tedetu. »Wir sollen sie geben, bis wir hören, daß ihr den Gesuchten gefunden habt.« »Wir? Ich denke, Ihr habt ihn?« Der Amrar verneinte das entschieden, aber der Amrar wußte nicht nur, daß Sun Koh krank gewesen war und sich jetzt auf dem Weg der Besserung be fand, sondern konnte auch seinen Aufenthalt bei den Bilma-Tibbu und die genaue Lage ihrer Wasserstelle angeben. Das war erstaunlich, denn die beiden Plätze lagen immerhin rund tausend Kilometer voneinander entfernt. Sobald sie alles Notwendige erfahren hatten, bra chen sie wieder auf. Der Amrar erhielt einen Beutel 190
mit Goldstücken, dann startete die Maschine. »Sie kommen! Sie kommen!« gellte es durch die Häute des Zeltes hindurch an die Ohren Sun Kohs. Er sprang so hastig von seinem Lager auf, daß Kuma erschrak und abwehrend die Hände ausstreckte. Sun Koh hatte jedoch keine Zeit, ihre Sorgen zu besch wichtigen. »Schnell, Kuma«, befahl er. »Hole deinen Vater. Ich muß mit ihm sprechen. Die Tuareg sind im An marsch. Und bring mir eine Gewehr und Pistolen.« Sie wehrte entsetzt ab. »Geh!« fuhr er sie an. Daraufhin huschte sie ei lends hinaus. Wenige Minuten später stand El Bardai im Zelt. »Du hast mich rufen lassen«, sagte er beherrscht wie immer. »Ja. Die Tuareg kommen?« »Ja.« »Meinetwegen?« »Ja.« »Wieviel?« »Fünfmal soviel wie wir.« »Trotzdem willst du kämpfen?« »Warum nicht?« fragte der Tedetu. »Du kannst den Kampf vermeiden, wenn du mich auslieferst.« »Ich werde kämpfen«, erwiderte El Bardai kurz und zog die Brauen zusammen. 191
Sun Koh bot ihm die Hand. »Danke, El Bardai. Du tust sehr viel für mich. Ich werde an deiner Seite kämpfen.« »Du bist noch zu schwach.« »Kampf macht den Mann lebendig und stark«, meinte Sun Koh lächelnd. El Bardai eilte hinaus. Seine Leute warteten be reits auf ihn. Sie lagen hinter den meterhohen Stein wällen. Durch die Lücken hindurch ragten die Läufe der Gewehre drohend nach außen. Leider waren es nur zu wenige. Im Tal aber rückten mindestens hun dert gutbewaffnete Tuareg heran. Der Wächter hatte vorläufig nichts zu fürchten, denn in der Wüste war es noch nicht Sitte geworden, Kämpfe und Kriege ohne Ankündigung zu beginnen. Er sprach mit den Tuareg, dann kam er zum Lager und erstattete El Bardai Bericht. »Es ist Aga Sinder. Er verlangt die Herausgabe dieses Fremden. Aga Sinder will aber zuerst mit dir sprechen.« El Bardai nickte stumm und ging auf die fernen Tuareg zu. Aga Sinder kam ihm zu Fuß entgegen. »Du beherbergst einen Ungläubigen«, stellte Aga Sinder fest. »Er war mein Gefangener und gehört mir. Ich bitte dich, ihn mir zu übergeben.« »Sun Koh ist mein Gast.« »Dann willst du um ihn kämpfen, obgleich du so wenige Männer bei dir hast?« 192
»Ich werde kämpfen.« Einige feierliche Verneigungen folgten, dann trennten sich die beiden Männer. El Bardai hatte den Steinwall kaum wieder er reicht, als sich die Tuareg auch schon in Bewegung setzten. Sie lockerten sich nach rechts und links über die ganze Breite der Schlucht auf. Ein gellender Zu ruf Aga Sinders, dann jagten hundert Meharis mit ihren Reitern über die kurze Strecke auf den Wall zu. Ihre Taktik war klar. Sie wollten die kleine Fe stung einfach wegwischen. Die Steinwälle boten den Meharis kein ernsthaftes Hindernis. Die Tuareg konnten sie überreiten und dabei die Verteidiger ab schießen. Mit einem Maschinengewehr hätte man den An griff leicht aufhalten können, aber nicht mit zwanzig überwiegend altmodischen Gewehren, deren Kugeln nicht immer trafen. Die erste Salve riß zwar eine sichtbare Lücke in die Reihen der Angreifer, aber dann folgten unregelmäßige Schüsse, die keine große Wirkung mehr hatten. Von den Tuareg mochten viel leicht ein Dutzend getötet oder schwer verwundet sein, aber es blieben genug für den Angriff übrig. Und die Entfernung bis zum Steinwall war schon auf wenige Meter zusammengeschrumpft. Ein Maschinengewehr ratterte los. Sun Koh griff ein, nachdem Kuma endlich Waffen herangebracht hatte. Er stand oben auf dem Wall, als 193
gäbe es keine Feinde und keine feindlichen Kugeln, ein Mann mit kalten Augen und entschlossenem Ge sicht. Das französische Gewehr gab zehn Schüsse hintereinander, und zehn Tuareg erreichten den Wall nicht mehr. Dann fiel das Gewehr in die Hände Ku mas, und die Pistolen ratterten weiter und warfen die Angreifer aus den Sätteln, und als sie fielen, reichte Kuma schon wieder das Gewehr hinauf, das sie in zwischen geladen hatte. Auch sie befand sich oben auf dem Wall, furchtlos und strahlend vor Stolz an der Seite ihres Helden. Das konzentrierte, schnelle Feuer brachte den An sturm der Tuareg in Verwirrung. Sie heulten vor Wut und Schrecken. Sie waren jedoch nicht mehr aufzu halten. Sie befanden sich schon zu dicht an ihrem Ziel, und die Meharis befanden sich im vollen Tem po. Die Verwirrung der Tuareg war aber groß genug, um sie in der kritischen Sekunde abzulenken. Sie verpaßten den Augenblick, in dem sie auf die Vertei diger hinter dem Wall hätten schießen müssen. Und nun kam der strategische Triumpf El Bardais. Er mußte von den Italienern einiges gelernt haben. Sobald die Tuareg über den Wall setzten, gellte seine Stimme hoch, und seine Leute warfen sich wie an der Schnur auf die äußere Seite des Walls, so daß sie nun wieder geschützt waren und in die Rücken der jagenden Tuareg schießen konnten. Das machte die Tuareg verrückt. Solche Kampf 194
weisen waren sie nicht gewohnt. Sie ritten völlig verwirrt und wütend zu weit hinaus, bevor sie sich sammelten und wieder Front machten. Doch dann kehrten sie zu einem neuen Angriff zurück, und sie waren immer noch mindestens fünfzig Mann. So leicht gibt kein Tuareg auf. Da huschte ein Schatten über das Lager. Ein heu lendes Fauchen drang an die Ohren. Ein Flugzeug kam herunter, als wollte es den Boden aufreißen. Jetzt raste es in zwanzig Meter Höhe durch die Schlucht auf die anreitenden Tuareg zu. Am Kabi nenfenster verkeilte sich Hal Mervin mit seinem Körper gegen den saugenden Fahrsturm und schoß mit beiden Händen, was seine Pistolen hergaben. Viele Tuareg fielen davon nicht um, aber das Flug zeug erfüllte die Männer mit Schrecken. Schon war es vorbei und zog in einer steilen Kurve nach oben, um in Position für einen neuen Angriff zu kommen. Aber da schoß schon eine zweite Maschine heran, ein glitzernder Pfeil, der heulend durch die Schlucht jagte. Niemand sah den dunklen Ball, den es verlor, aber plötzlich riß eine krachende Explosion das Zentrum der Tuareg auseinander. Und da war es um sie ge schehen. Sie jagten in panischer Angst zum Lager zurück, weil ihnen kein anderer Weg blieb, wichen ihm aus oder überritten es und hetzten in wilder Flucht davon. 195
Über der Kampfstätte wurde es ruhig. Nur noch die Flugzeuge dröhnten über der Schlucht. »Es ist vorbei«, sagte Sun Koh zu Kuma und ließ die Waffe sinken. Kuma antwortete nicht. Sie hockte auf den Knien. Ihr Kopf war gesenkt. Ihre Hände hatten die Pistole, die sie laden wollte, verloren. Sun Koh beugte sich mit einem Laut des Schrek kens hinunter. Kuma war tot. Eine Kugel, die wohl ihm gegolten hatte, war in ihre Schläfe eingedrungen. Da nahm Sun Koh den selbst im Tod noch liebli chen Kopf des jungen Mädchens in seine Hände und küßte die im Lächeln erstarrten Lippen. »Liebe kleine Kuma«, flüsterte er erschüttert, »du hattest mich lieb und starbst für mich. Ich werde dich nie vergessen.« So traf ihn El Bardai. ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
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Als SUN KOH Taschenbuch
Band 19 erscheint:
Freder van Holk
Die schwarze Schnur
Glühende Sonne über Salzsklaven, ein ver schlagener Waffenhändler, ein Mann, der ein Fürst werden soll, Tote in einem Haus, Männer mit schwarzen Schnuren, die Klagerufe eines Verstümmelten und dahinter die düsteren Ge birgsmauern des Habesch, in dem Ras Ghogolf um seine Macht kämpft. Nimba und Hal tau schen Ungeziefer aus, ein Haus zerbricht, Nim ba hat eine lange Leitung, und Hal entdeckt die Ruinen der verschollenen Stadt Ophir. Sun Koh wird gefangen, ein Gelehrter wohnt unter der Erde, am Wekra-Wekra waschen die Sterbenden Gold aus und der Danakil Kobbo flüstert. Sun Koh und Nimba wagen eine phantastische Flucht, Atto Errare findet seinen Sohn und Pro fessor Goodyear läßt sich von Hal belehren. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.