Seewölfe 45 1
John Curtis 1.
Um sie herum tobte die Hölle. Eine Hölle aus Finsternis, Brechern, zuckenden Blitzen und ...
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Seewölfe 45 1
John Curtis 1.
Um sie herum tobte die Hölle. Eine Hölle aus Finsternis, Brechern, zuckenden Blitzen und salzigem Gischt, der fast das Atmen unmöglich werden ließ. Seit fast achtundvierzig Stunden taumelte, schlingerte, stampfte und rollte die „Isabella III.“ durch das Inferno himmelhoher Kreuzseen, die von allen Seiten zugleich auf das Schiff einhämmerten. Eine Verständigung war an Bord der „Isabella“ nur noch durch lautes Brüllen möglich. Der Seewolf hatte sich auf dem Achterdeck am Besan angelascht. Am Ruder kämpften Bete Ballie, Ben Brighton und Ed Carberry gegen die Titanenkräfte der über das Schiff hereinbrechenden See. Die Kuhl, das Hauptdeck und die Back wurden seit Stunden schon ständig überflutet. Wo immer sich Windschutz oder Deckung vor den schweren Brechern boten, hockten die Männer der Crew. Naß, halb erfroren, total erschöpft. Keiner von ihnen hatte je ein solches Unwetter erlebt. Nicht einmal damals, als sie mit der „Golden Hind“ vom Sturm nach Kap Horn verschlagen worden waren und monatelang um ihr Leben kämpften. Zum ersten Mal in seinem Seefahrerleben war der Seewolf soweit, einfach aufzugeben. Die „Isabella“, ein rankes, schlank gebautes Schiff, einer jener Schnellsegler, wie sie die Piraten der Karibik häufig benutzten, normalerweise durch kein Wetter umzubringen, nahm Wasser. Seit Stunden schon. Die schweren Seen hatten einige der dicken Bohlentüren, die die Zugänge ins Innere des Schiffes sicherten, in Stücke geschlagen. Auch Ferris Tucker, dem hünenhaften Schiffszimmermann, war es nicht gelungen, die Niedergänge wieder abzusichern. Immer wieder waren er und seine Männer von überkommenden Seen ins Innere des Schiffes geschleudert oder über die Decks gewaschen worden. Hinzu kam, daß die „Isabella III.“ schwere Ladung fuhr. Bis zum Oberdeck war sie vollgestopft mit Gold, Perlen, Edelsteinen,
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indianischem Schmuck. Sie lag tief im Wasser und reagierte nur noch träge auf das Ruder und die wenigen Sturmsegel, unter denen sie sich im Schneckentempo durch die Kreuzseen kämpfte. Ferris Tucker fluchte lauthals, als ihn ein schwerer Roller der „Isabella“ vom Niedergang in den Laderaum schleuderte, noch ehe er es schaffte, das Vierkantholz, daß das neue Schott aufnehmen sollte, zu verbolzen. Er schlug der Länge nach auf die Planken des Laderaums, seine große überlange Axt wurde ihm aus der Hand geprellt. „Blacky, Smoky, Dan!“ brüllte er. „Hierher, verflucht noch mal! Batuti - he, wo steckt dieser Kerl bloß schon wieder?“ Ferris Tucker rappelte sich auf. Mit beiden Händen fuhr er über den Boden des Laderaums, bis er seine Axt entdeckt hatte. Unterdessen hatten sich Blacky, Smoky, Dan und Batuti bei ihm eingefunden. Der riesige Gambia-Neger hielt sich stöhnend den Schädel. Der Roller hatte ihn über das Hauptdeck geschleudert, und er war gegen eine der Geschützlafetten geprallt. „Verfluchtes Sturm!“ radebrechte er wütend vor sich hin. „Nix fressen, nix saufen - leeres Magen, Sturm, Wasser -, verdammtes Scheiß, Batuti Schnauze voll!“ Ferris Tucker grinste den Schwarzen an und rieb sich ebenfalls den schmerzenden Schädel. „Ich habe auch die Schnauze voll, Batuti“, sagte er. „Aber das hilft jetzt einen Dreck. Wenn wir diesen verdammten Niedergang nicht endlich dichtkriegen, dann saufen wir ab wie die Ratten, so wahr ich Ferris Tucker heiße. Los, ran, ich habe nicht die geringste Lust, mit diesem Eimer zu den Fischen zu gehen.“ Er torkelte auf den Niedergang zu und packte die schweren Bohlen, die er schon vorbereitet hatte. Aber die wilden Bewegungen des Schiffes warfen ihn immer wieder zurück. „Verflucht - her mit euch, ihr dreimal kalfaterten Decksaffen! Glaubt ihr, daß ich die Bohlen bei diesem Wetter allein nach oben kriege, he?“
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Blacky, Smoky, Dan und Batuti schossen auf den Schiffszimmermann zu. Dan, zum erstenmal in seinem Leben seekrank und völlig grün im Gesicht, keuchte, als er eine der schweren Bohlen packte. Er befand sich in einem Zustand, in dem es ihm völlig gleichgültig war, ob die „Isabella“ absoff oder nicht, wenn dies hier nur ein Ende hatte. Aber zäh, wie Dan war, riß er sich zusammen. Gemeinsam wuchteten sie eine der Bohlen unter unsäglichen Mühen den Niedergang hoch. Sie hatten es fast geschafft, da stieg der Bug der „Isabella“ steil auf einem heranlaufenden Brecher hoch. Die Männer im Laderaum hörten das Brüllen der See, spürten die wahnwitzigen Bewegungen des Schiffes, und jeder von ihnen krallte sich an den Stufen des Niedergangs fest. Die schwere Bohle ließen sie wie auf Kommando sausen. Sie registrierten noch, wie sie irgendwo auf die Planken des Laderaums krachte. Dann brach das Inferno über sie herein. Wasser überflutete die Decks der „Isabella“ und erreichte den offenen, immer noch ungeschützten Niedergang. Gurgelnd schoß es auf die Männer zu, staute sich für einen winzigen Moment und brach schließlich mit elementarer Wucht über die Männer auf dem Niedergang herein. Es wusch sie die Stufen hinunter und wirbelte Truhen und andere Behälter durcheinander, in denen Gold, Silber, Perlen und mannigfaltiger Schmuck verstaut waren. Ferris Tucker ruderte verzweifelt mit den Armen und versuchte sich irgendwo festen Halt zu verschaffen, aber es glückte ihm nicht. Genauso wie seine Kameraden wurde er von den Wassermassen im Laderaum herumgewirbelt, daß ihm Hören und Sehen verging. Endlich hatte sich das Wasser verlaufen, und Ferris Tucker gelang es, sich wieder festen Stand zu verschaffen. Er rief nach Dan und den anderen, während ihm bei jeder Bewegung des Schiffes das Wasser um die Füße schwappte. Nach und nach meldeten sie sich.
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Ferris Tucker fluchte lauthals. ein ganzer Körper schmerzte. Er wußte nicht mehr, wie oft er sich innerhalb der letzten Stunden den Schädel angeschlagen hatte. Im Laderaum war es stockfinster. Die letzte Ölfunzel, die noch gerannt hatte, war jetzt wahrscheinlich ebenfalls zum Teufel. „Einer muß zu Hasard!“ brüllte der Schiffszimmermann. „Die anderen müssen an die Pumpen, ganz gleich, ob sie noch können oder nicht. Pumpen — oder wir saufen innerhalb der nächsten Stunden ab, die ‚Isabella’ hat ...“ Das Schiff erhielt einen schweren Schlag. So schwer, daß es in seinen ganzen Verbänden erzitterte. Gleich darauf donnerte wieder etwas draußen gegen die Bordwand — und diesmal splitterte Holz. Ganz deutlich hörten es Ferris Tucker und seine drei Gefährten. Die ,Isabella` holte weit nach Backbord über, und die vier Männer klammerten sich an Truhen und Kisten fest. Das Wasser, das sich im Laderaum befand, brandete um ihre Füße. Plötzlich ertönten an Deck wilde Schreie, begleitet von einem eigenartigen Donnern und Bersten, von einem Getöse, das Ferris Tucker und seinen Gefährten durch Mark und Bein ging. Der riesige Schiffszimmermann verlor keine Sekunde. Er stieß sich von der Truhe ab, an der er sich festgeklammert hatte und schoß zum Niedergang. Mit aller Kraft, die noch in ihm war, zog er sich die Stufen hoch und taumelte an Deck. Wieder holte die „Isabella“ über, diesmal nach Steuerbord. Das Schanzkleid verschwand im Wasser. Gleichzeitig überrannte sie ein schwerer Brecher von achtern. Gurgelnd schoß gischtendes Wasser über die Decks. Ferris Tucker hatte für einen Moment das Gefühl, als würde die Isabella endgültig unter Wasser gedrückt. Aber sie richtete sich wieder auf. Gleichzeitig zuckten an Back- und Steuerbord mehrere grelle Blitze aufs Meer nieder, begleitet von krachendem Donner und sintflutartigem Regen, der vom Orkan über das Schiff gepeitscht wurde und den
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Männern zusammen mit dem umherfliegenden Gischt den Atem raubte. Ferris Tucker stand wie erstarrt. Er spürte nicht, wie sich hinter ihm Dan und Batuti aus dem Niedergang schoben. Er sah nur den fremden Mast, den der Brecher ihnen an Bord geworfen hatte und der jetzt mit der einen Seite im Steuerbordschanzkleid zwischen den Geschützen steckte. Wieder zuckte ein gigantischer Blitz nieder und beleuchtete die makabre Szene. Ferris Tucker stieß sich vom Niedergang, den sein gewaltiger Körper völlig ausfüllte, ab. Gleichzeitig sah er den turmhohen Brecher, der von schräg achtern auf das Steuerbordschanzkleid zurollte. Und wie in einer Vision sah er den Seewolf, der eben über die Schmuckbalustrade in die Kuhl flankte. Ungeachtet des Brechers, ungeachtet der Lebensgefahr, in die er sich damit unweigerlich begab. Ferris Tucker ahnte, was in den nächsten Sekunden geschehen würde. Verzweifelt blickte er sich nach einem geeigneten Schutz um und sah den Kutscher, der eben die Tür der Kombüse aufriß, irritiert durch das Gebrüll der anderen Männer, die die drohende Gefahr ebenfalls erkannt hatten und nun in wilden Sprüngen, soweit die heftigen Bewegungen der „Isabella“ das zuließen, vom Hauptdeck flüchteten. Ferris Tucker überlegte nicht – er packte den Kutscher und riß ihn vom Kombüsenaufbau weg mit nach vorn in Richtung Back. Der Brecher war heran. Er stemmte die „Isabella“ nicht hoch, sondern drückte sie an Steuerbord einfach unter Wasser. Dann schlugen seine Wassermassen über dem Schiff zusammen. Wieder zuckte ein Blitz, dem ein infernalischer Donnerschlag und unmittelbar darauf ein Bersten und Krachen folgten, so daß Ferris Tucker schon glaubte, die „Isabella“ sei auseinandergebrochen. Männer schrien, aber ihre Stimmen wurden vom Orkan weggefegt. Danach herrschte plötzlich beinahe Stille. Irgendwo riß die tief hängende Wolkendecke plötzlich auf, das kalte Licht des Mondes überflutete die
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Decks und entriß bleiche, erschöpfte, total verängstigte Gesichter dem Dunkel. Ferris Tucker hielt den Kutscher noch immer in seinen Pranken. Ohne sich zu bewegen, starrte er zum Kombüsenaufbau hinüber. Er war verschwunden. Der Mast des fremden Schiffes, den ihnen ein Brecher an Bord gespült hatte, war ebenfalls weg. Aber er hatte den Kombüsenaufbau völlig zertrümmert, eines der Geschütze aus den Laschungen gerissen und an Steuerbord einen Teil des Schanzkleides zermalmt. Ferris Tucker ließ den Kutscher los. Dann stürmte er auch schon zu dem Geschütz hinüber, das sich eben bei einer Rollbewegung der „Isabella“ in Bewegung setzte. Ein paar Männer folgten ihm, unter ihnen der Seewolf. Keiner wußte später mehr zu sagen, wie es ihnen gelungen war, die schwere Kanone wieder festzulaschen, aber als die Männer sich endlich schweißtriefend und an allen Gliedern zitternd aufrichteten, alarmierte sie bereits der Schrei, den Dan ausgestoßen hatte. Seine helle Stimme durchdrang das Heulen des Sturms und das Brausen und Dröhnen der See. „Wassereinbruch im Vorschiff!“ schrie er. „Wir haben ein Leck an Steuerbord, die ‚Isabella’ säuft ab ...“ Ferris Tucker und Hasard stürmten los. An den auf den Decks gespannten Strecktauen hangelten sie sich nach vorn und erreichten den immer noch brüllenden Dan. „Der Mast, Hasard!“ keuchte Ferris Tucker. „Ich habe es im Laderaum vorhin gehört, er hat uns zweimal gerammt. Beim zweiten Mal hat er die „Isabella“ leckgeschlagen. Hol ein paar Leute, rasch – viel Wasser verträgt das Schiff jetzt nicht mehr, nicht bei der Ladung!“ Damit stürzte sich der Schiffszimmermann in den Niedergang unter der Back, dessen Bohlentür dem Wasser bisher standgehalten hatte. Blacky und Smoky, die inzwischen ebenfalls mitgekriegt hatten, was passiert war, folgten ihm, während Hasard sich ein paar der Männer griff, die eben wieder aus
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ihren Deckungen und Zufluchten auftauchten. Sie erkannten auf den ersten Blick, daß es böse aussah für die „Isabella“. Der Mast, von welchem Schiff auch immer er stammen mochte, hatte die Bordwand der „Isabella“ auf einer Länge von fast zwei Yards eingedrückt. Ein Loch von einem halben Yard Durchmesser klaffte im Rumpf, zum Glück weit oberhalb der Wasserlinie. Nur dann, wenn das Schiff in eine See eintauchte, nach Steuerbord überholte oder von einem Brecher überrannt wurde, schoß gurgelnd Wasser ins Schiff. Schweigend arbeiteten die Männer. Der Seewolf kniete neben dem Schiffszimmermann, immer wieder zurückgeworfen vom hereinbrechenden Wasser. Aber zusammen mit Blacky, Smoky, Dan und Batuti schafften sie es, das Leck zunächst mit geteertem Segeltuch, das für solche Zwecke, von Will Thornton, dem Segelmacher, bereitgehalten wurde, provisorisch abzudichten. Dann verbolzten Hasard und Ferris Tucker es nach und nach mit starken Bohlen, mit denen sie auch die eingedrückte Stelle der Bordwand verstärkten. Endlich richteten der Seewolf und Tucker sich auf. Über ihre nackten Oberkörper rann der Schweiß in Strömen. Erst jetzt bemerkten sie, daß die „Isabella“ nicht mehr so schwer arbeitete und nicht mehr ständig von Brechern überflutet wurde. „Der Sturm läßt nach, Ferris“, sagte Hasard. Der Schiffszimmermann lauschte einen Moment in das Tosen und Donnern der Seen, in die der Bug der „Isabella“ wieder und wieder hineinstieß. Schließlich nickte er. „Wurde aber auch Zeit“, sagte er und wischte sich mit der Hand den Schweiß aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht, wie lange die ‚Isabella’ das noch ausgehalten hätte. Unsere Ladung drückt sie zu tief ins Wasser, sie ist bei solchem Wetter zu schwerfällig. Wir haben Glück gehabt, daß uns die Seen nicht zusammengeschlagen
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oder die ‚Isabella’ entmastet haben. - Wir müssen zur Küste. Dies hier“, er deutete auf das provisorisch abgedichtete Leck, „muß ich von außen klarieren. Das hält so nicht!“ Hasard nickte. Dann sah er die Männer an. „Ich lasse jetzt Rum ausgeben. Außerdem werde ich dafür sorgen, daß der Kutscher auf irgendeine Weise etwas zu essen zaubert. Und dann an die Pumpen, wir müssen das Wasser aus dem Schiff kriegen! In diesen Breiten weiß man nie, ob das Abflauen eines Sturms von Dauer ist, oder ob er nur eine Pause eingelegt hat, um nachher umso schlimmer loszubrechen. Nutzen wir unsere Zeit!“ Ferris Tucker blieb mit Dan noch unter Deck im Vorschiff. Der Schiffszimmermann unterzog das abgedichtete Leck noch einmal einer gründlichen Inspektion. Erst als er noch einige Stellen zusätzlich verstärkt hatte, nickte er zufrieden. Danach ging auch er mit Dan an Deck und an die Pumpen. Das Wetter hatte sich etwas beruhigt, aber die See ging noch immer hoch. Trotzdem — es klarte zusehends auf, und aus Erfahrung wußte Ferris Tucker, daß mit Sonnenaufgang der Sturm endgültig abflauen und ihm ein sonniger, heißer Tag folgen würde — als habe es diese letzten achtundvierzig Stunden nie gegeben. Achtundvierzig Stunden - so höllisch, wie sie bisher noch kein Mann der „Isabella“Crew erlebt hatte. * Die Prognose von Ferris Tucker hatte sich als richtig erwiesen. Der nächste Morgen brachte einen wolkenlosen, tiefblauen Himmel und strahlenden Sonnenschein. Der Orkan, der seit achtundvierzig Stunden ununterbrochen getobt hatte, war vorbei. Stattdessen wehte eine leichte Brise aus Südost und trieb die „Isabella III.“ vor sich her auf die etwa hundert Meilen entfernte Küste Kolumbiens zu. Die Männer an Bord der „Isabella“ erholten sich nur nach und nach von den Strapazen der vergangenen achtundvierzig
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Stunden. Hohlwangig, mit tiefen Ringen unter den Augen, standen sie noch immer an den Pumpen. Die Blicke des Seewolfs wanderten über die Decks seines Schiffes. Die „Isabella“ sah verheerend aus. Erst jetzt, im grellen Licht der südlichen Sonne, waren die Schäden, die der Sturm und der Mast des fremden, möglicherweise gesunkenen Schiffes, hinterlassen hatten, in ihrem vollen Ausmaß zu erkennen. Der größte Teil des Schanzkleides an Steuerbord war total zertrümmert, die Nagelbank des Großmastes zersplittert. Ein Teil der Crew mühte sich damit ab, Pardunen, Fallen und Brassen zu klarieren. Es war ein Wunder, daß der Großmast, seines Halts beraubt, nicht über Bord gegangen war. Hasards Blicke wanderten weiter. Der Kombüsenaufbau existierte nur noch als Fragment, die Trümmer, soweit sie nicht von der See über Bord gewaschen worden waren, wurden soeben von ein paar Männern und dem Kutscher beiseite geräumt. Die Blinde und einen Teil des Bugspriets hatte die See abgerissen. Dadurch war das laufende und stehende Gut des Fockmastes in Unordnung geraten und mußte ebenfalls klariert werden. Was dem Seewolf jedoch die meiste Sorge bereitete, war das Leck an Steuerbord, das ihnen der Mast geschlagen hatte. Zwar nahm die „Isabella“ kein Wasser, denn Ferris Tucker hatte das Leck abgedichtet, und außerdem befand es sich oberhalb der Wasserlinie. Aber — und das hatte der Schiffszimmermann erst nachträglich, nach Abflauen des Sturmes, herausgefunden bei der Kollision mit jenem schweren Mastbaum war ein Spant im Vorschiff eingedrückt worden. Ein Schaden, der sich auf See nicht reparieren ließ, dessen Behebung sich auch für einen Mann wie Ferris Tucker als problematisch erwies und durch den die „Isabella“ erheblich an Seetüchtigkeit einbüßte. Ben Brighton tauchte auf dem Hauptdeck auf. Er blickte nur kurz zum Seewolf hoch, ehe er von der Kuhl aus zum Achterdeck aufenterte. Hasard sah sofort, daß er keine
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guten Nachrichten brachte, denn seine Züge wirkten verschlossen, eine Seltenheit bei Ben. Der Seewolf ging ihm entgegen. „Wie sieht es unter Deck aus?“ fragte er, als Ben die letzten Stufen zum Achterkastell emporstieg. Der Bootsmann, Gefährte vieler riskanter Unternehmungen, einer der engsten Vertrauten des Seewolfs, sah Hasard nur an. „Miserabel“, erwiderte er. „Ferris kann an den verdammten Spant nicht heran, die Bruchstelle liegt zu weit unten. Der Mast muß ihn von unten her gerammt haben, ehe er das Loch in die Bordwand schlug. Die Bordwand ist unter der Back auf einer Länge von mehreren Yards eingedrückt, und wir können von Glück sagen, daß sie diesen Stoß überhaupt ausgehalten hat. Andernfalls befänden wir uns längst samt allem Gold, Schmuck und Silber bei den Fischen.“ Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Er wußte, was diese Nachricht bedeutete. Die „Isabella“ segelte auf die Küste Kolumbiens zu. Etwas weiter nördlich lag Panama, das Zentrum der spanischen Konquistadoren, ihr größter Stützpunkt für alle Aktionen an den Küsten der Neuen Welt. Eine weitere, schwerwiegende Gefahrenquelle. Blieb für die „Isabella“ nur die Möglichkeit, sich in eine versteckte Bucht zu mogeln und dort zu versuchen, die Schäden zu beheben. Aber da war noch eine zweite Möglichkeit. Unwillkürlich erschienen über Hasards Nasenwurzel wieder jene zwei tiefen und harten Falten, die er immer hatte, wenn ihn ein schwieriges Problem beschäftigte. Er ließ Ben Brighton stehen, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben und begann, unruhig auf dem Achterdeck hin und her zu wandern. Ben Brighton beobachtete ihn aus schmalen Augen. Er hatte schon längst gespürt, daß den Seewolf irgendetwas seit Tagen beschäftigte, daß er mit irgendeinem Entschluß rang. Kurzentschlossen trat er auf Hasard zu.
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„Was ist los mit dir?“ fragte er. „Wenn du ein Problem hast, dann sprich dich aus, bisher haben wir noch immer alle Schwierigkeiten zusammen gemeistert. Also?“ Der Seewolf war stehengeblieben. Dann nickte er. „Gut, Ben. Es ist an der Zeit, daß ich die Katze aus dem Sack lasse. Die letzten Ereignisse, die Schäden, die uns dieser Sturm zugefügt hat, geben den Ausschlag. Hol Ferris, Carberry, Smoky, Ribault und von Hutten. Ich erwarte euch in meiner Kammer. Wir wollen die Sache dort zunächst unter uns besprechen, bevor ich der Crew etwas sage.“ Der Seewolf wandte sich um, verschwand in Richtung Niedergang und ließ den verblüfften Ben Brighton einfach stehen. Der Bootsmann starrte ihm nach. Dann kratzte er sich am Schädel. „Junge, Junge“, murmelte er. „Wenn mich nicht alles täuscht, dann hat er wieder mal ein ganz dickes Ei ausgebrütet. Na, wir werden sehen!“ Ben Brighton verschwand ebenfalls über den Niedergang, um die vom Seewolf benannten Männer zu holen. * Als Ben Brighton mit den anderen die Kammer des Seewolfs betrat, hatte Hasard ein paar der erbeuteten spanischen Seekarten ausgebreitet. Er bot den Gefährten Platz an und stellte eine Flasche Rum auf den Bohlentisch, der sich unterhalb eines Fensters an Steuerbord befand. Ben und die anderen setzten sich. Ferris Tucker fackelte nicht lange. Er goß sich einen gehörigen Schluck Rum ein und sah Hasard an. „Schieß los! Ich kann nicht allzulange weg von da vorn.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Back. „Das ist eine Sache, die der Schiffszimmermann selber regeln muß. Die alte ,Isabella’ hat heute nacht einen gehörigen Knuff einstecken müssen. Bei der Ladung, die wir im Bauch haben, bedeutet das, daß wir wie ein Stein
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absacken, sobald der Spant nachgibt und die Bordwand zusammenbricht. Das ist die Lage, Hasard.“ Der Seewolf trank ihm zu. „Gut, daß du es so unverblühmt sagst, Ferris. Ich hätte dich nachher sowieso danach gefragt. Aber ich will zur Sache kommen.“ Er nahm abermals einen Schluck, dann sah er die Gefährten an. „Unser Schiff ist randvoll. Wir haben keinen Platz mehr für weitere Beute. Mit anderen Worten: Es wird Zeit, daß wir nach England zurücksegeln. Dreiviertel der Beute für Elisabeth, ein Viertel für uns. Genug für jeden Mann der Crew, um bis an sein Lebensende als reicher Mann zu leben. Wenn ihr mir das nicht glaubt, dann überprüft die Ladung in einer ruhigen Stunde. Der Wert dessen, was wir in unseren Laderäumen haben, ist überhaupt nicht zu schätzen, das wird erst in England möglich sein.“ Carberry hatte den Kopf in beide Hände gestützt. Jetzt hob er ihn und stieß sein Rammkinn vor. „Gute Idee, ich hätte wirklich nichts dagegen, Merry Old England mal wiederzusehen. Aber wie willst du mit diesem angeschlagenen Eimer dorthin segeln? Wir sind auf der anderen Seite der Neuen Welt. Wir müssen wieder zurück, zur Magellanstraße, in die Stürme am Kap der Dämonen. Und das mit dieser Ladung im Bauch, mit einem Schiff, das um vieles kleiner ist als damals die ,Golden Hind`, das erst noch gründlich repariert werden müßte. Hast du diese ganzen Punkte bedacht?“ Der Seewolf beugte sich über eine der Karten und nickte. „Du hast recht, wenn wir den Seegang wählen, müssen wir wieder durch die Magellanstraße. Also an der ganzen feindlichen Küste entlang, an der wird die Dons durch unsere Aktionen in Aufruhr versetzt haben. Wir müßten damit rechnen, irgendwo von spanischen Schiffen aufgelauert und gestellt zu werden. Keiner von uns scheut den Kampf, aber gegen eine wirkliche Übermacht hätten auch wir
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keine Chancen, zumal unsere Pulvervorräte und unser Bestand an Kanonenkugeln, Stangenkugeln und so weiter ebenfalls zur Neige gehen. Auch die müßten wir den Dons in einem Handstreich erst wieder abnehmen. Das könnte zur Folge haben, daß die Dons in Panama an Schiffen mobilisieren, was sie flottkriegen können. Diese und andere Gefahren würden auf dem Seeweg auf uns lauern ...“ Smoky hatte sich, nachdem er gerade einen gewaltigen Schluck aus der Rumbuddel genommen hatte, plötzlich steil aufgerichtet. „He, was soll denn das heißen, wenn wir den Seeweg wählen? Willst du unserer ‚Isabella’ vielleicht Räder untermontieren und sie über Land karren?“ Jean Ribault, der Franzose, grinste plötzlich, auch von Hutten zog ein nachdenkliches Gesicht. Aber die beiden fanden keine Zeit mehr, etwas zu sagen, denn Hasard hatte eine der Karten herumgedreht, und vor den überraschten Gefährten ausgebreitet. „Ich will zwar nicht die ‚Isabella’ über Land karren, Smoky“, sagte er. „Aber an der Sache mit dem Weg über Land ist was dran. Da, seht euch diese Karte an.“ Er ging um den. Tisch herum und stellte sich zwischen die Männer. „Wir erreichen die Küste Kolumbiens etwa hier, wenn wir den eingeschlagenen Kurs beibehalten.“ Die Männer beugten sich vor, während der Seewolf den Zeigefinger seiner Rechten auf eine Stelle südlich von Cap Corriente legte. „Dort liegt die spanische Niederlassung Baudo“, erklärte er. „Nicht sehr groß, aber auch nicht klein. Gerade richtig für das, was ich vorhabe.“ Die Männer sahen ihn gespannt an, und dabei arbeiteten ihre Hirne bereits fieberhaft. „Du willst tatsächlich ...“ stieß Ferris Tucker hervor. „Wir werden auf der Höhe von Baudo ankern“, fuhr der Seewolf unbeirrt fort. „Baudo liegt etwa zehn Meilen landeinwärts. Von dort bis zum Fluß Atrato sind es etwa zwanzig Meilen. Um
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es kurz und klar auszudrücken - ich habe vor, die ,Isabella’ vor der Küste zu entladen und alles, was wir weiterhin brauchen — die Schätze eingeschlossen — , an Land zu bringen. Und zwar mit den Beibooten. Das ist Knochenarbeit, aber was soll’s? In Baudo wird ein Kommando unter Führung von Ribault und von Hutten genügend Maultiere besorgen, dann ziehen wir mit unserer Maultierkolonne bis zum Atrato, dort mieten oder kaufen wir uns von den Indios Boote, eventuell auch Ruderer und einen ortskundigen, zuverlässigen Führer. Flußabwärts verholen wir dann bis zum Golf von Darien, da!“ Wieder war sein Zeigefinger auf der spanischen Karte entlanggefahren. „Und dort entern wir ein gutes Schiff. Mangel daran wird es nicht geben, der Golf von Darien ist ein von den Dons stark besuchter Platz. Anschließend ab nach England. Das wär’s, Männer!“ Der Seewolf griff nach der Rumflasche, während ihn seine Männer aus großen Augen anstarrten. Ferris Tucker war derjenige, der zuerst das Wort ergriff. „Ho, Mann, die ganze Sache scheint mir bei näherem Überlegen gar nicht so schlecht!“ Er sah, wie Carberry nickte, obwohl er sein Gesicht in bedenkliche Falten gelegt hatte. Auch Ben Brighton nickte, aber dann stellte er die unvermeidliche Frage, die allen auf der Seele brannte: „Und die ‚Isabella’ - was geschieht mit ihr?“ Hasard sah ihn an, und in seinen eisblauen Augen brannte jenes Feuer, das Ben von vielen Unternehmungen her kannte. „Sie wird von Ferris und ein paar Männern aus der Bucht gesegelt und versenkt, damit sie uns nicht zum Verräter werden kann.“ Sekundenlang herrschte in der Kammer des Seewolfs Schweigen. Nur die Atemzüge der Männer durchdrangen die Stille. „Und die Dons?“ fragte Ben Brighton schließlich. „Wie willst du den Dons beipulen, daß der Seewolf mit seiner Crew und einer ganzen Mulikolonne zum Golf
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von Darien zieht, um dort eins ihrer Schiffe zu kapern und dann nach England zu segeln?“ Der Seewolf grinste. „Wetten, daß ihr euch alle diese Frage längst beantwortet habt? Aber dennoch, damit keinerlei Unklarheiten bestehen: Wir sind natürlich nicht die Crew von der ‚Isabella’, sondern die Crew der ,Valparaiso’, und ich bin Capitan Diaz de Veloso. Ich bin vom Gouverneur von Chile beauftragt, die ,Valparaiso’ mit ihrer Ladung nach Panama zu segeln. Die Ladung selbst ist für den König von Spanien bestimmt. Aber leider hat die ,Valparaiso’ bei dem letzten Orkan so schwere Schäden erlitten, daß wir gezwungen sind, die Ladung per Maultiertransport nach Panama zu schaffen. Die ,Valparaiso’ leckt so stark, daß wir Mühe hatten, die Ladung gerade noch an Land zu schaffen, bevor uns das Schiff unter den Füßen wegsackte. So oder so ähnlich lautet die Version, die wir den Dons auftischen werden. Und sie werden sie schlucken, darauf könnt ihr euch verlassen. Ben und ich regeln das schon!“ Der Seewolf richtete sich ruckartig auf. „Das wollte ich euch sagen. Ruft jetzt die Crew zusammen, wir wollen abstimmen. Wer keine Lust hat, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, der kann nach dem Entladen der ‚Isabella’ abmustern. Er kriegt einen höheren Anteil aus der Beute, aber er muß auch sehen, wie er mit den Dons hier fertig wird. Zur Crew gehört er dann nicht mehr.“ Ferris Tucker ließ seine Rechte krachend auf den Bohlentisch fallen. „Ho, du bist ein ganz verfluchtes Schlitzohr! Du sprichst von Abstimmung, aber du weißt schon jetzt, wie sie ausfallen wird. Denn dir ist klar, daß wir mit der ‚Isabella’ in ihrem jetzigen Zustand nicht die geringste Chance haben, durch die Magellanstraße zu segeln. Und du erwartest von mir, daß ich das der Crew verklickere, so denkst du dir das doch, oder nicht?“ Der rothaarige Hüne lachte dröhnend.
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„Aber keine Sorge, ich tu’s wirklich. Ich möchte doch mal sehen, wie der alte Tucker sich als Maultiertreiber benimmt. Bis auf wenige Ausnahmen werden die Jungs genauso denken wie ich. Auf, an Deck, Männer! Ich freue mich schon jetzt auf die dummen Gesichter dieser Klabautermänner!“ Ferris Tucker stand auf, und die anderen erhoben sich ebenfalls. Ben Brighton blieb noch zurück, während Tucker und die anderen bereits die Kammer verließen. „Ja, Ben?“ Der Seewolf sah seinen Bootsmann an. „Was hast du noch für Kummer?“ „Unsere Crew spricht kein Spanisch. Sobald sie in Baudo den Mund aufreißen, sind wir geplatzt. Wie hast du dir das gedacht?“ Der Seewolf trat dicht .an Ben Brighton heran. „Sie werden eben das Maul halten, Ben. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Und ihr, du, Carberry, Ferris, Smoky und noch ein paar aus unserer Crew werden dafür sorgen, daß keiner der Kerle dusselig in der Gegend rumquatscht. Aber ich werde ihnen das noch selber sagen, gehen wir erstmal an Deck und bringen wir die Sache hinter uns.“ * Die Crew der „Isabella III.“ hatte sich in der Kuhl versammelt. Atemlos lauschten die Männer den Worten Hasards, während die „Isabella“ mit windgeblähten Segeln Meile um Meile in Richtung Küste zurücklegte. Als der Seewolf zu Ende gesprochen hatte, herrschte genau wie zuvor in seiner Kammer Stille. Ferris Tucker, der zusammen mit Ben Brighton neben dem Seewolf stand, richtete sich zu seiner vollen, hünenhaften Größe auf. „Männer, ihr kennt mich alle. Bei mir werden keine Sprüche geklopft, bei mir zählen nur Tatsachen. Wenn ich den Vorschlag des Seewolfs für schlecht oder undurchführbar halten würde, dann wäre ich der erste von euch, der nein sagen
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würde. Aber Hasard hat recht: Die ‚Isabella’ schafft die Reise durch die Magellanstraße nicht mehr ohne gründliche Überholung. Und alle diejenigen, die damals noch nicht bei uns an Bord waren, die sollen sich erzählen lassen, was eine solche Reise bedeutet. Was alles an Gefahren und Unwägbarkeiten auf uns zukäme, was für höllische Stürme am Kap der Dämonen herrschen. Und Kälte, Leute. Wißt ihr noch, wie wir jeden Morgen, den Gott werden ließ, das meterdicke Eis von den Decks, von den Rahen abgeschlagen haben? Wißt ihr noch, wie jene kleinen blauen Flammen auf den Masten und Rahen getanzt haben? Vorboten der Hölle, die uns der Teufel persönlich geschickt hatte, um uns zu zeigen, wie knapp wir alle damals der Hölle entgangen sind.“ Der Schiffszimmermann machte eine Pause. Ben Brighton starrte ihn aus großen Augen an. So hatte er diesen Hünen noch gar nicht kennengelernt. Ferris Tucker beobachtete, daß seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. Einige der Neuen an Bord der „Isabella“ steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander. Ferris Tucker ließ ihnen keine Zeit zu Überlegungen. Er wußte zu genau, wie unberechenbar einige der einstigen Karibik-Piraten waren. „Dieses Schiff ist für eine solche Reise zu klein!“ rief er mit weithin schallender Stimme, die mühelos das Rauschen der Bugwelle und das Singen des Windes in der Takelage übertönte. „Wenn unsere ‚Isabella’ nicht durch ihre schwere Ladung so tief im Wasser gelegen und durch die vielen Tonnen von Gold, Silber, Schmuck und Edelsteinen nicht so träge auf die Brecher reagiert hätte, dann wäre sie auch durch den Sturm der vergangenen zwei Tage nicht so übel zugerichtet worden. Und deshalb ist der Plan Hasards, mit einer Maultierkolonne zu dem Golf von Darien zu ziehen, richtig. Denn dort werden wir ein neues, ein größeres Schiff finden, mit dem wir unsere Beute nach England segeln können ...“
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Pat O’Driscoll, der hünenhafte Ire, der Ferris Tucker an Größe und Kraft kaum nachstand, drängte sich durch die Reihen der Männer. Seine wutverzerrten Gesichtszüge verhießen nichts Gutes. „He, Tucker!“ brüllte er. „Du hast jetzt lange genug das Maul aufgerissen. Du steckst mit den anderen da oben sowieso unter einer Decke. Jetzt will ich dir mal ein paar Fragen stellen.“ O’Driscoll sah sich Anerkennung heischend um, aber keiner der Männer rührte sich. Das ließ ihn noch wütender werden. „Was, zum Teufel, soll ich in England? Glaubst du, ich habe Lust, mich dort als Pirat aufknüpfen zu lassen? Und wieso will der Seewolf drei Viertel unserer Beute an die Lissy abliefern? Ich sage euch, Männer, wir sollten alles behalten! Was geht uns England an? Und warum soll ich plötzlich wie ein Maultiertreiber durch Urwälder und Berge marschieren, mich mit den verfluchten hinterhältigen Indios herumschlagen, mich von den Dons gefangen nehmen lassen, solange ich ein Schiff wie die ‚Isabella unter den Füßen habe? Ich sage euch, lehnt diesen Blödsinn ab, spielt bei dieser verrückten Sache gar nicht erst mit, oder ihr werdet die Dummen sein!“ O’Driscoll sah sich um, er wartete auf Zustimmung, zumindest aus den Reihen seiner einstigen Karibik-Gefährten, aber keiner rührte sich. Dan war es, der die Stille brach. „Du bist doch der blödeste Hurensohn, den ich je kennengelernt habe!“ sagte er laut und deutlich und baute sich kampfeslustig vor dem Iren auf. „Aber das liegt daran, daß du krummer Bastard den Seewolf eben nicht kennst. Ohne ihn hätte die ‚Isabella’ nämlich die ganze Ladung von Schätzen gar nicht in ihrem Bauch. Und wenn Hasard sagt, daß ein Viertel der Ladung genug ist, um die ganze Crew bis an ihr Lebensende zu reichen Leuten zu machen, dann glaube ich ihm das. Hasard hat uns noch nie belogen. Und wenn er es für richtig hält, mit Mulis zum Golf von Darien zu ziehen, dann ziehe ich eben mit,
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ist das klar? Geht das in einen verfluchten irischen Dickschädel hinein, oder muß man es dir erst mit einem Koffeynagel hineinprügeln?“ Unmerklich hatten sich ein paar Männer der alten „Isabella“-Crew auf Dan O’Flynn und den Iren zugeschoben. Unter ihnen Matt Davies, Blacky, Batuti und Stenmark, der lange Schwede. O’Driscoll entging das nicht. Mit einer blitzartigen Bewegung riß er einen der Belegnägel aus der Nagelbank an Steuerbord, wo er sich befand. „Kommt nur her, ihr Hundesöhne!“ schrie er. „Ich schlage euch eure verdammten Dummköpfe ein, wenn ihr ...“ Hasard flankte über die Reling des Achterkastells. Wie der Blitz war er bei dem Iren und stellte sich vor ihn. „Stopp!“ befahl er mit schneidender Stimme. „Hier schlägt niemand dem anderen den Schädel ein. Zurück, Dan, zurück mit euch anderen. O’Driscoll hat das Recht, seine Meinung zu äußern. Jeder von euch ist dazu ausdrücklich aufgefordert. Wenn die Mehrheit der Crew beschließt, daß wir durch die Magellanstraße zum Atlantik segeln, dann werden wir das tun. Wenn die Mehrheit sich für meinen Vorschlag entscheidet, dann werden wir uns Mulis besorgen, die ,Isabella’ entladen, versenken und zum Golf von Darien ziehen. Und an deine Adresse, O’Driscoll: Niemand steckt hier mit ‚denen da oben’ unter einer Decke. Du kannst dich entscheiden, wie du willst. Wenn du den Mehrheitsbeschluß nicht akzeptierst, dann musterst du eben ab und kriegst deinen erhöhten Anteil sofort, so, wie ich es vorhin versprochen habe. Und das gilt für jeden, der abmustern will.“ Er trat zurück. „So, und jetzt die Abstimmung. Wer will durch die Magellanstraße? Arme hoch!“ Niemand rührte sich, nicht einmal O’Driscoll. Er starrte den Seewolf voller Verwirrung an. Er begriff nicht, warum der Seewolf sich vor ihn gestellt hatte. „Also niemand. Wer ist für meinen Vorschlag?“
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Die Arme kamen hoch. Einige zögernd, die meisten spontan. Schon öffneten die Männer die Münder zum freudigen Gebrüll, aber wieder stoppte sie der Seewolf. „Und wer will abmustern?“ fragte er. Wieder rührte sich niemand. Hasard trat auf den Iren zu. „Du auch nicht, O’Driscoll?“ fragte er, und der Ire schüttelte verwirrt den Kopf. Hasard nickte. „Gut, ich glaube, du hast für dich die richtige Entscheidung getroffen. Und niemand von euch allen wird in England auch nur ein Haar gekrümmt werden, dafür garantiere ich. Wir haben die Beute im Namen Ihrer Majestät, der Königin von England, genommen. Deshalb wird die Krone den Anteil erhalten, der ihr zusteht, aber auch nicht mehr. Wir sind im Namen der Krone auf diese Reise gegangen, in ihrem Namen kehren wir auch wieder zurück. An die Arbeit Männer! Wir erreichen die Küste in wenigen Stunden und werden sofort mit allen Vorbereitungen beginnen.“ Er drehte sich um. „Ben, Ed, Smoky, Jean, Karl - her mit euch! Ferris, du bereitest schon jetzt alles zur Versenkung der ‚Isabella’ vor, stell dir’ ein entsprechendes Kommando zusammen. Und fangt alle sofort damit an, die Boote klarzumachen sowie Musketen, Pistolen, Pulver, Wasser, Lebensmittel und alles, was wir sonst für den Marsch zum Atrato brauchen, an Deck zu schaffen. Wenn das geschehen ist, holt ihr die Truhen mit den Edelsteinen und Perlen herauf. Wenn wir geankert haben, muß alles schnell gehen, wir wollen keine Stunde unnütz verlieren, es gibt sowieso noch Schinderei genug ... Bei den letzten Worten sah sich der Seewolf um. Dann hatten seine Blicke den Segelmacher gefunden. „Will“, sagte er. „Such dir ein paar Männer, die mit der Nadel umgehen können. Aus dem vorhandenen Segeltuch nähst du sofort Säcke, in die wir die Juwelen, das Gold und den Schmuck tun können. Aber denk daran, daß sie nur so groß sein dürfen, wie es das Tragegestell
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eines Mulis verkraftet. Nimm dir jeden Mann, der für diese Arbeit geeignet ist.“ Will Thorne, der Segelmacher, nickte. „Aye, Hasard, geht klar“, sagte er nur, und der Seewolf wußte, daß er sich auf Thorne verlassen konnte. Dan O’Flynn wollte an Hasard vorbeiwischen, aber der Seewolf griff blitzschnell zu und hielt ihn fest. „In den Großmast, Dan!“ befahl er. „Sobald du Land siehst, Meldung an mich, klar?“ Dan hatte eine Erwiderung auf den Lippen, aber er verschluckte sie, als er den Blick des Seewolfs auffing. Gleich darauf verschwand er in den Wanten des Großmastes. Am frühen Nachmittag erreichte die „Isabella“ die Küstengewässer Kolumbiens, und zwar genau auf der Höhe von Baudo. Weit und breit waren kein Segel und keine Mastspitze zu sehen. Hasard manövrierte die „Isabella III.“ in eine versteckte Bucht, dann warf Ferris Tucker mit seinen Männern den Anker. Schon wenig später fierten Ben Brighton und eine Gruppe von Seeleuten die beiden Boote zu Wasser. Alles lief wie am Schnürchen. Aber dennoch war die Ankunft der „Isabella III.“ nicht unbemerkt geblieben. 2. Die Männer schufteten wie die Wilden. Ununterbrochen pendelten die Boote zwischen dem Ufer und der „Isabella“ hin und her. Der Seewolf hatte am Ufer eine Art befestigtes Lager anlegen lassen, das ständig von einer Gruppe von Seeleuten, die mit Musketen bewaffnet waren, bewacht wurde. Dennoch hatte Hasard strikten Befehl gegeben, bei eventueller Annäherung von Indianern jedes Blutvergießen zu vermeiden. Zwei Tage waren bereits vergangen. Hasard befand sich am Ufer, Ferris Tucker war mit einer Gruppe von Männern damit beschäftigt, eine der Drehbassen auszubauen und dann zu verladen.
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Es war gegen Mittag, die Sonne brannte erbarmungslos auf das Land. Von See wehte eine leichte Brise herüber, aber auch sie half nicht, die mörderische Hitze zu lindern. Die Männer fluchten. Der Schweiß lief ihnen in Strömen über die nackten Oberkörper. Trotz allem ging es mit der Arbeit gut voran. Schon jetzt sah man deutlich, daß die „Isabella“ wieder höher aus dem Wasser ragte. Über die Hälfte ihrer Ladung befand sich an Land. Ferris Tucker hielt manchmal in der Arbeit inne und warf einen Blick über das schöne, schlanke Schiff. Ihm als Seemann ging es durch und durch, daß ausgerechnet er die „Isabella“ schon bald zu den Fischen schicken sollte, auch, wenn er einsah, daß ihnen keine andere Möglichkeit blieb. Als eingefleischtem Fahrensmann ging es ihm gehörig gegen den Strich, ein Schiff wie die „Isabella“, das sie nie im Stich gelassen hatte und aus allen Seeschlachten unbesiegt hervorgegangen war, einfach zu versenken. Wie so viele andere der Crew hatte gerade Ferris Tucker, der das Schiff vom Bug bis zum Heck so genau kannte wie kein anderer Mann der Besatzung, ein ganz persönliches Verhältnis zur „Isabella“ entwickelt, und damit mußte er erst einmal fertig werden. Aber er ließ sich von diesen Gedanken und Gefühlen nichts anmerken, sondern trieb seine Leute immer wieder an, sobald sie in ihrem Tempo nachließen. Er hatte gerade wieder ein paar saftige Flüche ausgespuckt, als es passierte. Eins der beiden Beiboote lag am Ufer der Bucht, die einen etwa zwanzig Yards breiten Sandstrand hatte, hinter dem jedoch ein Grünstreifen aus dichten Büschen und Bäumen begann. Carberry, der einstige Profos der „Marygold“ und später auch der „Golden Hind“, hatte soeben wieder seinen Lieblingsspruch gebrüllt, demzufolge er den Männern androhte, ihnen die Haut in Streifen von ihren Affenärschen zu ziehen, falls sie nicht endlich etwas schneller arbeiten würden.
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Carberry hatte das letzte Wort noch nicht ganz heraus, als ein Hagel von Steinen auf die überraschten Männer niederprasselte. Sam Roskill, ein schlanker, dunkelhaariger Draufgänger, Engländer und einer der Neuen aus der Crew der Karibik-Piraten, erhielt einen der Steine an den Schädel. Er stieß einen lauten Schrei aus, griff sich mit beiden Händen an den Kopf und stürzte zu Boden. Die Kiste, die er gerade hielt, knallte auf eine Gräting, die man als Unterlage auf den feinen Sand gelegt hatte. Der Deckel, nur provisorisch verschlossen, weil der Inhalt der Kiste noch in Segeltuchsäcke umgepackt werden sollte, sprang auf. Goldmünzen, Perlen und indianischer Schmuck ergossen sich auf die Gräting, verschwanden durch die Löcher im Sand oder verfingen sich in den Aussparungen. Carberry fuhr herum und wollte zu Roskill, da prasselte der zweite Steinhagel auf seine Gruppe nieder. Deutlich registrierte Carberry, daß die Steine aus dem Buschbestand hinter dem Sandstreifen heranflogen, mörderisch gut und gekonnt gezielt. Einer der Steine erwischte den Profos an der Schulter, ein anderer knallte ihm in die Magengrube, daß ihm die Luft wegblieb und er nur noch Sterne sah. Hinter ihm schrie einer der Männer, gleichzeitig sah Carberry den Seewolf, der mit ihnen an Land gerudert war, heranstürzen. Hasard hatte den Degen gezogen und lief zum Lager hinüber. Dabei brüllte er die Wachen an, die ihre Musketen hochrissen. „Nicht schießen, verflucht noch mal. Nicht schießen, ihr Idioten, oder der Teufel soll euch holen!“ Infernalisches Geschrei erfüllte plötzlich die Luft. Zwischen den Sträuchern und Bäumen brachen Indios hervor. Sie schwangen Speere. Hasard riß den Degen heraus. „Wehrt sie ab, aber tötet keinen! Drauf, Männer!“ brüllte er die Männer seiner Crew an. Genau in diesem Moment krachte hinter ihm eine Muskete.
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Hasard stieß einen Fluch aus. Er sah noch, wie einer der Indios die Arme auseinander warf und in den Sand stürzte. Wütendes Geheul war die Antwort. Aus den Augenwinkeln erkannte der Seewolf, daß Patrick O’Driscoll geschossen hatte, in diesem Moment jedoch, von mehreren Steinen getroffen, rücklings ins Boot stürzte. Dann hatte der Seewolf keine Zeit mehr, sich um etwas anderes als um seine eigene Haut zu kümmern. Die Indios waren heran. Mit der flachen Klinge wehrte er die ersten ab und versetzte ihnen mörderische Hiebe, die sie sofort von den Füßen holten. Matt Davies, der ebenfalls zum Kommando Carberrys gehörte, tauchte neben dem Seewolf auf. Er schlug wie ein Wilder mit seinem Haken um sich, vermied jedoch, die scharfgeschliffene Spitze zu benutze n. Speere zischten heran. Einen von ihnen schlug Hasard mit dem Degen zur Seite, einem anderen wich er buchstäblich in allerletzter Sekunde dadurch aus, daß er sich einfach fallenließ und den bewußtlosen Roskill mit seinem Körper deckte. Dann war auch Carberry mit noch einigen Männern zur Stelle. Er hatte sich von seinen Treffern erholt und schlug jetzt mit seiner Muskete, die er am Lauf gepackt hielt, wie ein Berserker um sich. Dadurch gelang es Hasard ebenfalls, wieder aufzuspringen und erneut in den Kampf einzugreifen. Er sprang einen der Indios an, fegte ihn mit einem wahrhaft fürchterlichen Hieb von den Beinen, warf sich einem zweiten entgegen, schlug ihm die Faust gegen den Schädel und bediente gleich darauf einen dritten mit dem Griff seines Degens, den er ihm mit einem Rückhandschlag in den Leib rammte. Der Indio schrie auf, da traf ihn der Haken von Matt Davies. Er warf die Arme auseinander, verdrehte die Augen und fiel rücklings auf eine der Kisten des Lagers. Das Geschrei und Geheul der Indios brach ab. Sie starrten die weißen Teufel, denen
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ihre Speere offenbar nichts anhaben konnten, entsetzt an und flohen plötzlich Hals über Kopf. Innerhalb von Sekunden hatten die Büsche sie verschluckt. Hasard atmete auf. Er war sich darüber klar, daß er und seine Männer mordsmäßiges Glück gehabt hatten. Hätten die Indios statt der Steine sofort ihre Speere geschleudert - die „Isabella“-Crew hätte garantiert Tote zu beklagen gehabt. Hasard half Sam Roskill auf, der eben wieder zu sich gelangte. Dann beugte er sich über den Indio, der von der Musketenkugel getroffen worden war. Er untersuchte ihn rasch. Der Indio hatte Glück gehabt. Die Kugel hatte seine Schulter durchschlagen. „Ed - den Kutscher! Holt den Kutscher, ich will, daß dieser Indio sofort fachgerecht verarztet wird. Besser können wir den Kerlen gar nicht beweisen, daß wir keine Feinde sind. Und seht mal nach O’Driscoll. Ich sah ihn ins Boot stürzen, er war der Mann, der geschossen hat. Und frage dieses Rindvieh, warum er das getan hat. Das fehlte uns gerade noch, einen ganzen Stamm von Indios auf dem Hals zu haben, statt sie uns zu Freunden zu gewinnen.“ Carberry sauste los. Er fand O’Driscoll blutüberströmt im Boot liegen. Mehrere Steine hatten den Iren am Kopf getroffen. Aber Carberry sah sofort daß er keine lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen hatte. Der Profos überlegte. Es war nicht gut, wenn er jetzt mit ein paar Männern zum Schiff pullte, vielleicht griffen die Indios noch einmal an, dann wurde er hier mit seinen Männern gebraucht. Er legte kurzentschlossen die Hände an den Mund, so daß sie einen Trichter bildeten. Dann dröhnte seine gewaltige Stimme über das Wasser. „Ferris, schick sofort mit dem anderen Boot den Kutscher her! Er muß O’Driscoll und einen Indio verarzten!“ Er wiederholte den Ruf dreimal, und bei jedem Mal brüllte er lauter. Beim dritten Mal gab Tucker durch Zeichen zu verstehen, daß er verstanden hätte. Wenige
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Minuten später legte das zweite Boot von der „Isabella“ ab. Der Seewolf grinste, als Carberry den Strand zu ihnen heraufstampfte, den bewußtlosen Iren über der Schulter. „Du solltest dich auf dem Jahrmarkt ausstellen lassen, Ed“, sagte er. „So ein Organ hat es bestimmt noch nie bei einem Menschen gegeben. Ich werde mich daran erinnern, wenn wir uns mal wieder in einem Orkan befinden. Bisher scheinst du an Bord ja nur geflüstert zu haben!“ Er schlug dem Profos auf die Schulter, aber danach wurde sein Gesicht sofort wieder ernst. „Was ist mit ihm? Hat es O’Driscoll schwer erwischt?“ Carberry schüttelte den Kopf. „Wird wieder, dieser irische Dickschädel. Du ahnst gar nicht, was diese Kerle alles aushalten. Aber was ist mit dem Indio? Tot?“ „Nein, glatter Schulterdurchschuß, hat verdammtes Glück gehabt. Und wir auch, daß er nicht tot ist. Hör zu, wir brauchen jetzt eine gehörige Ladung von Äxten und Messern. Ich werde sie diesen Indios schenken, bevor wir sie laufenlassen. So was spricht sich schnell herum. Wir dürfen uns die Indios nicht zu Feinden machen, vielleicht brauchen wir sie noch. Leider ist Karl von Hutten nicht da, er könnte sich sicher mit ihnen verständigen.“ „Wieso, wo ist denn dieser?“ „Ich habe ihn mit Ribault und sechs Männern nach Baudo geschickt. Sie sollen dort die Lage sondieren und wenn möglich auch Maultiere requirieren, im Namen seiner Katholischen Majestät, versteht sich.“ Der Profos warf dem Seewolf einen undefinierbaren Blick zu. „Also, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß das Leben unter deinem Kommando je langweilig werden könnte“, sagte er dann und lachte dröhnend. „Der Seewolf läßt im Namen der Spanischen Krone Maultiere requirieren — hat man so was je gehört!“
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Sie brachten die drei Indios zum Lager. Dann holten sie auch O’Driscoll, der immer noch bewußtlos dalag. Als der erste der Indios sich schließlich regte und der Kutscher den verletzten Indio und auch O’Driscoll verarztet hatte, richtete sich der Seewolf auf. Einer der Männer brachte ihm unterdessen die verlangten Äxte und Messer und legte sie neben ihn. „Na, dann wollen wir mal, aber diesmal im Namen der Königin von England!“ * Der Pfad, auf dem sich die Männer vorwärtsbewegten, führte steil bergan. Blacky, der zu dem Erkundungstrupp gehörte, wischte sich fluchend den Schweiß aus dem Gesicht. Er stieß den neben ihm marschierenden Luke Morgan, einen kleinen, drahtigen Engländer, der vor Jahren aus der englischen Armee desertiert war, in die Seite. „He, Luke, wie war das noch: Wie weit soll es bis zum Golf von Darien sein, der Seewolf hat da doch was gesagt, oder?“ Luke Morgan, auch bei den alten Fahrensleuten der „Isabella“-Crew sehr beliebt wegen seines Mutes und seiner Pfiffigkeit,. grinste Blacky an. „Fünfhundert oder sechshundert Meilen bestimmt, irgendetwas in der Richtung, Blacky“, erwiderte er. „Scheißgegend, was ?“ fügte er noch hinzu. „Da kocht einem glatt das Wasser im Hintern. Und wenn ich daran denke, was da auf dem Atrato noch alles auf uns wartet. Insekten, die dich Tag und Nacht piesacken. Schlangen, Krokodile und weiß der Teufel was für’n Viehzeug sonst noch. Nee - also nur dem Seewolf zuliebe, sonst wäre der alte Luke Morgan glatt an der Küste achteraus gesegelt, darauf kannst du Gift nehmen, Blacky ...“ Er unterbrach sich, denn in diesem Moment gab Karl von Hutten, der den Trupp zusammen mit Jean Ribault und Al Conroy anführte, ein Handzeichen.
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Die Männer blieben erst stehen, dann schoben sie sich langsam an von Hutten heran. „Da unten liegt Baudo“, sagte von Hutten, und sein braunhäutiges Gesicht, in dem das indianische Blut seiner Mutter deutliche Spuren hinterlassen hatte, spannte sich. Blacky wischte sich abermals den Schweiß von der Stirn. „Na endlich“, brummte er. „Damit hat wenigstens diese verfluchte Kletterei ein Ende.“ Er musterte den Ort, der sich ihren Blicken in einem kleinen Tal am Fuße der Cordilleras de Choco präsentierte. Ein Fluß schlängelte sich am Ortsrand des Ortes durch das Tal, sein Wasser glitzerte im hellen Sonnenlicht zu ihnen herauf. Karl von Hutten zog das Spektiv, das ihm der Seewolf mitgegeben hatte, aus einer der Taschen seiner Segeltuchjacke. Er setzte es ans Auge und unterzog den Ort Baudo einer sorgfältigen Musterung. Wie üblich gruppierten sich die kleinen Häuser um eine Plaza, Steinhäuser, wie von Hutten sofort erkannte. Mithin wohnten dort die Spanier. In einigem Abstand folgten dann äußerst primitiv und ärmlich wirkende Hütten, wahrscheinlich die Behausungen von Indios. Karl von Huttens Gesicht verzog sich. Es war immer das gleiche - wo die Spanier auftauchten, gebärdeten sie sich wie die Herren. Die Indios, die eigentlichen Herren dieses Landes, zählten für sie weniger als ihre Hunde. Sorgfältig inspizierte er die Umgebung des Ortes. Da gab es in etwa einer halben Meile Abstand ein eingezäuntes Gelände, auf dem ein paar windschiefe Hütten standen und zwischen dessen Umzäunung jedenfalls soweit von Hutten das zu erkennen vermochte - große Hunde umherliefen. Plötzlich sah er noch etwas. Eine Gruppe von Menschen bewegte sich von dem umzäunten Gelände her auf die Plaza zu. Soldaten, wie es von Hutten schien, die ein paar Gefangene zwischen sich führten. Aber genau vermochte er das nicht zu erkennen.
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Verflucht - das sah ja fast nach einer Exekution aus! Von Huttens Entschluß war schnell gefaßt. Er wandte sich seinen Männern zu. „Ribault und ich gehen in den Ort hinunter. Wir sprechen Spanisch, uns sieht man nicht an, daß wir keine Spanier sind. Ihr andern wartet hier. Von hier aus könnt ihr genau erkennen, was da unten geschieht. Sollten wir Ärger mit den Dons kriegen, könnt ihr uns entweder heraushauen oder den Seewolf verständigen. Klar?“ Seine Blicke wanderten über die Männer — Blacky, Gary Andrews, Al Conroy, Luke Morgan, Jan Ranse und Piet Straaten. Alles zuverlässige, kampferfahrene Leute, auf die er und Ribault sich absolut verlassen konnte. Er gab Al Conroy das Spektiv. „Behaltet uns im Auge, wir werden es so einrichten, daß ihr uns ständig sehen könnt. Der Ort ist von hier aus gut zu übersehen.“ Die Männer nickten, dann suchten sie sich Deckungen, von wo aus sie völlig ungesehen alles beobachten konnten, was weiterhin geschehen würde. Karl von Hutten und Jean Ribault begannen den Abstieg. Vor ihnen, auf der anderen Seite von Baudo, erhob sich die Kette der Cordilleras de Choco. deren höchster Gipfel mehr als dreitausend Meter hoch in den tiefblauen Himmel ragte. Der Abstieg barg keine Schwierigkeiten. Von Hutten und Jean Ribault erreichten den Ort nach einer knappen halben Stunde. Vorsichtig bewegten sie sich auf die Plaza zu, von der ein erregter Wortwechsel zu ihnen herüberschallte. Dazwischen ertönten klatschende Schläge und die verzweifelten Schreie von Männern. Von Hutten blieb stehen. Er lauschte angestrengt. „Die Dons peitschen ein paar Indios aus, Jean“, sagte er, und sein Gesicht verfinsterte sich. Von Hutten haßte die Spanier aus tiefster Seele. Die beiden Männer beschleunigten ihre Schritte. Nach wenigen Minuten hatten sie die kleinen Steinhäuser erreicht, die die Plaza umgaben. Vorsichtig schlichen sie weiter. Keine Menschenseele schenkte
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ihnen die geringste Aufmerksamkeit, denn alle Einwohner des kleinen Ortes hatten sich auf der Plaza versammelt, um der Auspeitschung zuzusehen. Hinter einem Gebüsch, durch dessen Zweige sie die ganze Szene gut überblicken konnten, blieben Ribault und von Hutten schließlich stehen. Von Hutten knirschte mit den Zähnen, als er sah, was dort vor ihnen auf der Plaza geschah. Die Soldaten der Garnison — wenn man diesen hochtrabenden Ausdruck für die Niederlassung Baudo gebrauchen wollte — waren im Karree angetreten. Vor der Front stand ein Teniente, ein Kerl, dem man die Brutalität schon auf den ersten Blick ansah. Er hatte die Arme in die Hüften gestemmt und sah der Auspeitschung voller Befriedigung zu. Seine Augen funkelten, als genieße er die Qualen der Gepeinigten. Ein paar Yards von ihm entfernt hingen zwei ausgemergelte Indios an Pfählen, die offenbar nur zu solchen Gelegenheiten dort errichtet worden waren. Der Teniente trat ein paar Schritte vor. „He, du!“ fuhr er den Soldaten an, der die Auspeitschung vornahm. „Wenn du verfluchter Hundesohn nicht endlich fester zuschlägst, dann lasse ich dich als nächsten an den Pfahl binden, ist das klar? Ich zähle jetzt, und dann wirst du zuschlagen, und zwar mit aller Kraft. Wenn die Haut dieser verdammten Indios nicht schon beim ersten Schlag aufplatzt, werde ich an dir ein Exempel statuieren. Also, los: Eins — zwei — drei— vier ...“ Der Soldat schlug zu. Die Wirkung zeigte sich sofort. Bei dem einen Indio platzte bei jedem Schlag die Haut auf dem Rücken auf, Blut lief an seinem Körper herab. Als der Teniente bei vier war, sackte der Kopf des ausgemergelten Indios zur Seite. Ein Mann sprang vor, fiel dem Soldaten einfach in den Arm und entwand ihm mit unheimlicher Kraft die Neunschwänzige. Gleich darauf fuhr er herum und trat hart an den Teniente heran, dessen Gesicht vor Zorn rot angelaufen war. Deutlich sahen von Hutten und Ribault, wie dem Teniente
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die Schläfenadern schwollen. Aber er fand keine Zeit mehr, den Mann, der dem Soldaten die Peitsche entrissen hatte, anzufahren. „Sie sind eine Bestie, Teniente! Sie mißbrauchen die Macht, die Ihnen die Spanische Krone verliehen hat. Wie können Sie diese entkräfteten Indios hier in aller Öffentlichkeit zu Tode peitschen lassen? Was sind Sie für ein Mensch? Da — sehen Sie selbst, dieser Mann dort am Pfahl ist ohnmächtig, wenn nicht sogar tot, und Sie, Sie lassen weiterschlagen! Glauben Sie etwa, daß die andere Hautfarbe der Indios Ihnen das Recht gibt, die Indios wie wilde Tiere zu behandeln? Haben Sie vergessen, daß unser Herr, Jesus Christus, für alle Menschen am Kreuz gestorben und wieder auferstanden ist von den Toten? Ganz gleich, ob arm oder reich, ob weiß, braun, gelb oder schwarz?“ Er trat einen Schritt zurück und funkelte den Teniente an. „Ich werde mir das nicht länger mit ansehen, Teniente. Noch heute verfasse ich einen Bericht an das Heilige Officium. Und Sie können sich darauf verlassen, daß man Mittel und Wege finden wird, Sie zur Rechenschaft zu ziehen, denn Sie gefährden durch Ihre Grausamkeit und Unduldsamkeit meine Mission, die ich in diesem Ort zu erfüllen habe, deretwegen die allumfassende Heilige Kirche mich hierher entsandte. Ich will und werde die Indios zum Christentum bekehren, aber ich werde nicht länger dulden, daß Sie durch Ihre Taten alles das, was ich den Indios predige, in Frage stellen, schlimmer noch — zunichte werden lassen.“ Er nahm die Peitsche, zerbrach sie und warf sie dem Teniente vor die Füße. Der Teniente zuckte zurück, aber er konnte sich nicht mehr länger beherrschen. „Padre Josef o!“ brüllte er mit sich überschlagender Stimme. „Überspannen Sie den Bogen nicht. Hier befiehlt nur ein einziger Mann, und der bin ich! Was Sie hier getan haben, kommt der Rebellion gegen Seine Allerkatholischste Majestät, König Philipp von Spanien, gleich. Wenn ich anordne, diese verfluchten Indios
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auszupeitschen, dann werden sie ausgepeitscht! Dieses faule, liederliche Pack gefährdet durch seine Faulheit das Soll, das mir die Spanische Krone in der Goldmine auferlegt hat. Bei Hofe wartet man auf meine Transporte. Und man braucht sie, um neue Schiffe auszurüsten, um neue Flotten in die Neue Welt entsenden zu können, um die Engländer, die die Frechheit besitzen, an dieser Küste unsere Niederlassungen zu überfallen und unsere Schiffe zu versenken, vernichtend zu schlagen. Ich werde als Offizier der Spanischen Krone meine Pflicht tun, Padre. Ich werde neue Arbeitskräfte für die Mine rekrutieren, und ich werde loben oder strafen, ganz wie es mir richtig erscheint!“ Er rang nach Luft, immer noch unfähig, seinen Zorn zu beherrschen. Trotzdem senkte er seine Stimme, als er jetzt hart an Padre Josefo herantrat. Und der Tonfall seiner Stimme verhieß nichts Gutes. „Nochmals: Ich warne Sie. Zum allerletzten Mal. Wenn Sie sich noch einmal in meine Angelegenheiten einmischen, Werde ich Sie wegen Rebellion gegen die Spanische Krone verhaften und in den Kerker werfen lassen. Es wird bestimmt nicht meine Schuld sein, wenn Sie die Haft höchstens ein paar Wochen überstehen. Mit Leuten wie Ihnen bin ich bisher jederzeit und überall fertig geworden, haben Sie das endlich begriffen, Padre?“ Er wandte sich ab. „Eine neue Peitsche!“ brüllte er. „Die Bestrafung wird fortgesetzt!“ Einer der Soldaten lief los, genau auf den Busch zu, hinter dem sich von Hutten und Ribault verborgen hatten. Er war zu schnell heran, als daß die beiden sich noch hätten zurückziehen können. Als der Soldat sie erblickte, blieb er abrupt stehen. Sofort schlug er seine Muskete auf von Hutten und Ribault an. „Halt, rauskommen! Aber ein bißchen plötzlich. Wer seid ihr, was drückt ihr euch da hinter den Büschen herum? Antwort!“ Ribault und von Hutten blieb gar nichts anderes übrig, als dem Befehl des Soldaten
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Folge zu leisten. Langsam traten sie aus der Deckung des Gebüsches hervor. Der Teniente war ebenfalls aufmerksam geworden. „Corporal, verflucht noch mal, was gibt es denn? Wie lange soll ich noch auf die neue Peitsche warten, ich ...“ In diesem Moment erblickte er die beiden Männer aus der „Isabella“-Crew. Seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. „Ja, wen haben wir denn da?“ fragte er mit gefährlich leiser Stimme. „Corporal, her mit den beiden!“ brüllte er jedoch gleich darauf. „Diese beiden Vögel werde ich mir mal genauer ansehen!“ Der Corporal stieß Ribault die Muskete in den Rücken. „Vorwärts marsch, ihr beiden!“ sagte er. „Ich möchte jetzt nicht in eurer Haut stecken. Der Teniente hat es gar nicht gern, wenn man sich hinter Büschen versteckt und dann belauscht, was hier in Baudo auf der Plaza passiert. Vorwärts, ein bißchen schneller, oder ich werde euch auf Trab bringen!“ Diesmal versetzte er von Hutten einen schmerzhaften Stoß in die Nierengegend. Von Hutten strauchelte unter der Gewalt dieses Stoßes, außerdem durchzuckte ihn ein glühender Schmerz, der ihm fast den Atem raubte. Obwohl er sich sonst meisterlich zu beherrschen wußte, diesmal sah er rot, nicht zuletzt wegen der Brutalität, mit der die beiden Indios zuvor ausgepeitscht worden waren. Denn der eine von ihnen, das hatten die scharfen Augen von Huttens längst erkannt, war tot. Umgebracht, erschlagen von diesen Kerlen, die die spanische Uniform trugen. Von Hutten strauchelte, vollführte eine halbe Drehung, fuhr plötzlich herum und entriß dem völlig überraschten Corporal die Muskete. Im nächsten Moment rammte er dem Corporal den Kolben der Muskete vor die Brust. Der Stoß war mit solcher Kraft geführt, daß der Corporal mit beiden Armen rudernd und aus vollem Halse schreiend in genau dem Busch verschwand, hinter dem
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er die beiden entdeckt hatte. „Rasch - zum Teniente!“ flüsterte von Hutten dem Franzosen zu. „Der Kerl ist im Moment unsere beste Lebensversicherung!“ Ribault begriff sofort, wie von Hutten das mit der Lebensversicherung meinte. Mit ein paar Sätzen waren die beiden bei dem Teniente, noch bevor der sich von seiner Überraschung erholt hatte. Der Franzose verbeugte sich spöttisch, als sich der Teniente zwischen ihnen und den Soldaten befand, die eben ihre Musketen hochrissen, während der Corporal brüllend hinter dem Busch hervorstürzte. „Sie wollten uns genauer ansehen, Senor“, sagte Ribault und grinste dabei süffisant, während er sich verneigte, „hier also sind wir!“ Dem Teniente klappte der Unterkiefer herab. Soviel Frechheit angesichts seiner dreißig Soldaten hatte er noch nicht erlebt. Als die Soldaten Miene machten, näher zu rücken, bohrte von Hutten dem Teniente den Lauf der Muskete in die Seite. „Pfeifen Sie ihre Leute zurück, Senor, und hören Sie sich erst an, was uns hierherführte. Sollten Sie das nicht tun, werden Sie gewaltigen Ärger mit der Spanischen Krone kriegen — von uns ganz abgesehen. Wir sind nicht die Leute, die sich einfach schlachten lassen!“ Der Teniente begriff gar nichts mehr. Sein Gesicht verlor alle Farbe, als er die Muskete in seiner Seite spürte. Aber dann stoppte er die sich bedrohlich nähernden Soldaten mit einem Befehl. Sofort blieben sie stehen und starrten ihn fragend an. „Schafft die beiden Indios fort!“ brüllte er sie an. „Die Bestrafung wird auf morgen verschoben. Weg mit den Kerlen, auf was wartet ihr noch, verflucht noch mal. Ich habe jetzt mit diesen beiden Senores zu reden!“ Von Hutten beobachtete, wie sich die Soldaten zögernd zurückzogen, dann aber zu den Indios hinüberliefen, sie losbanden und sie schließlich fortschafften. Dabei bestätigte sich sein Verdacht - der eine der Indios war tot.
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Von Hutten konnte sich nicht verkneifen, den Teniente darauf hinzuweisen, aber der zuckte nur mit den Schultern. „Was soll’s“, sagte er leichthin. „Einer mehr oder weniger von diesem Pack - ich werde mir morgen Ersatz besorgen, am besten gleich zwei, denn jetzt kriegt der eine die Prügel für den anderen gleich mit. Und wahrscheinlich wird er das ebenfalls nicht überleben! Aber nun zu Ihnen würden Sie mir jetzt mitteilen, wer Sie sind und was Sie wollen.“ Er versuchte seiner Stimme den alten, befehlsgewohnten Klang zu verleihen, aber es mißglückte ihm. Ribault bemerkte das und konnte sich ein unverschämtes Grinsen nicht verkneifen. Dennoch unterließ er es, den Teniente noch weiter zu reizen. Während von Hutten die Muskete auf den Boden stemmte, verneigte Ribault sich abermals. „Wir sind Seeleute der ,Valparaiso`. Capitan Diaz de Veloso schickt uns zu Ihnen mit der Bitte, ihm behilflich zu sein, seinem Auftrag, den er für die spanische Krone durchzuführen hat, zur vollsten Zufriedenheit Seiner Allerkatholischsten Majestät, König Philipp von Spanien, zu erledigen.“ Absichtlich legte Ribault eine Pause ein, denn er sah das erwartungsvolle Glitzern in den Augen des Teniente. „Dürfen vielleicht auch wir bei dieser Gelegenheit erfahren, mit wem wir die Ehre haben?“ fragte Karl von Hutten dazwischen. Der Teniente zuckte zusammen. „Ah, ja, aber natürlich, ich vergaß, mich den Herren vorzustellen. Teniente Juan Fierro, ich bin der Kommandant der hiesigen Garnison.“ Karl von Hutten nickte dankend, dann fuhr Jean Ribault auch schon fort. „Die ,Valparaiso` hat eine Ladung an Bord, die für den König persönlich bestimmt ist. Gold, Silber, Edelsteine, Schmuck und Perlen. Leider gerieten wir in einen Orkan, wie ihn bisher noch keiner von uns je erlebt hat. Der Sturm schlug unser Schiff leck, nur mit Mühe und durch ständiges Pumpen waren wir in der Lage,
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die ,Valparaiso` schwimmfähig zu halten. Wir haben deswegen die Küste angelaufen und das Schiff entladen, ehe es uns unter den Füßen wegsackt. Wir sind nunmehr gezwungen, unsere Ladung auf dem Landweg nach Panama zu schaffen, um dort ein anderes Schiff im Namen der Krone zu requirieren. Unsere Bitte an Sie, Teniente: Wir brauchen Maultiere, um den Transport unserer Ladung durchführen zu können.“ Während Jean Ribault sprach, hatte er den Teniente genau beobachtet. Der gierige Ausdruck, der bei Erwähnung der kostbaren Ladung in seinen Augen erschienen war, sagte Ribault und von Hutten alles. Sie wußten, daß die ;Isabella“-Crew vor diesem Mann höllisch auf der Hut sein mußte. Der Teniente brauchte ein paar Sekunden, bis er seine Überraschung und wohl auch seine fieberhaft arbeitenden Gedanken wieder in der Gewalt hatte. „Natürlich“, sagte er dann. „Es wird mir eine Ehre sein, Senores, Ihnen zu helfen. An wie viele Maultiere hatten sie denn gedacht?“ Bei den letzten Worten nahm das Gesicht des Teniente einen geradezu lauernden Ausdruck an. „Dreißig etwa“, erwiderte Ribault, und er forderte lieber ein paar mehr als ein paar zu wenig. Der Teniente fuhr zurück. „Dreißig - ah, dann ist die Ladung wohl sehr umfangreich und sehr wertvoll, Senores?“ fragte er, und sein Atem ging schwer. Ribault und von Hutten nickten. „Allerdings - wie gesagt, sie ist für den König von Spanien bestimmt, Teniente. Also, wie ist es nun?“ „Ja, natürlich, dreißig Mulis lassen sich besorgen. Wenn Sie die Güte haben wollen, morgen wieder vorzusprechen? Ich werde Ihnen für einen solchen Transport selbstverständlich eine entsprechende Eskorte stellen, die ich selber anführen werde. In diesem Land muß man wegen der räuberischen Indios vorsichtig sein, Sie verstehen ...“
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Jean Ribault und Karl von Hutten verstanden. Viel besser, als der Teniente ahnte. „Wenn ich die beiden Senores jetzt zu einem Umtrunk und zu einem Mahl einladen darf?“ Ribault und von Hutten sahen sich an. Dann nickte von Hutten dem Teniente zu. „Gern, auf ein Gläschen Wein, Senor Teniente. Aber dann müssen wir aufbrechen. Unser Capitan liebt es nicht, wenn man ihn warten läßt. Auch an Bord eines Schiffes gibt es neunschwänzige Katzen, Senor.“ Das begriff der Teniente auf der Stelle, und auf diese Weise gelang es von Hutten und Jean Ribault, während eines kurzen Umtrunks im Amtssitz des Alkalden, der an der Auspeitschung nicht teilgenommen hatte, noch allerlei Wissenswertes zu erfahren. Dann allerdings brachen sie auf, mit der festen Zusage des Teniente, daß sie die gewünschten dreißig Maultiere am nächsten Tage erhalten würden. 3. Jean Ribault blieb plötzlich stehen, nachdem sie den Ortsrand hinter sich gelassen hatten. „Da vorn, das ist doch der Padre, der sich vorhin mit dem Teniente so in die Wolle gekriegt hat“, sagte er. „Ich glaube, mit dem sollten wir uns ein wenig unterhalten. Vielleicht erfahren wir noch etwas, was uns von Nutzen ist. Dieser Padre hat Mut, wie er den Teniente vorhin abgekanzelt hat ...“ Karl von Hutten nickte. „Ich glaube, er ist dabei, den toten Indio zu beerdigen. Der Mann steigt immer mehr in meiner Achtung.“ Karl von Hutten und Jean Ribault beschleunigten ihre Schritte. Ein paar Minuten später hatten sie den Padre erreicht. Der Gottesmann richtete sich auf und stützte sich auf die breite Schaufel, die er eben noch dazu benutzt hatte, Steine und Geröll zur Seite zu räumen, um Platz für
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die Grube zu schaffen, in die er den toten Indio betten wollte. Von Hutten und Ribault blieben vor ihm stehen. Sie sahen, wie der Schweiß in dicken Tropfen über sein Gesicht rann und welche Verbitterung aus seinen Zügen sprach. Die beiden Männer tauschten einen raschen Blick miteinander. Dann nahm der Franzose dem Gottesmann die Schaufel aus den Händen. „Geben Sie her, Padre“, sagte er. „Wir erledigen das für Sie. Wenn Sie noch eine zweite Schaufel haben sollten, hilft mein Gefährte mit.“ Der Padre sah die beiden aus seinen dunklen Augen an. Schließlich nickte er, ging und holte eine zweite Schaufel. „Dieser elende Kerl hat den Indio einfach umgebracht. Erst läßt er diese Bedauernswerten fast verhungern, schaffen sie dann vor lauter Entkräftung ihre Arbeit nicht mehr, werden sie ausgepeitscht und erhalten überhaupt nichts mehr zu essen. Wissen Sie, wie viele Indios dieser Mörder bereits auf dem Gewissen hat, seit er hier die Goldmine ausbeutet – angeblich für die Krone?“ Der Padre ballte die großen, schweren Hände zu Fäusten. „Ich will es Ihnen sagen, Senores, mit diesem armen Kerl von heute zweiunddreißig. Wenn er morgen tatsächlich die Bestrafung fortsetzen läßt, werden es dreiunddreißig sein. Und dieser Kerl, dieser Unmensch läuft frei herum, trägt die Uniform des Landes, in dem ich geboren wurde, in dem ich aufwuchs und dessen Sprache ich spreche.“ Der Padre rang voller Verzweiflung die Hände. . „Aber wissen Sie, was das Allerschlimmste ist? Schon morgen werden seine Häscher, schwerbewaffnete Soldaten, in die Berge ziehen, ein Dorf überfallen und neue Indios nach Baudo in die Miene schleppen. Heilige Mutter Gottes – wie soll ich das Wort unseres Herrn Jesus Christus in einer solchen Welt verkünden und predigen. wie soll ich den Indios von der allumfassenden Liebe
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Gottes reden, solange es solche Mordbanditen wie diesen Teniente Fierro gibt? Gott verzeih mir, aber ich könnte diesem Kerl eigenhändig den Hals umdrehen!“ Der Padre wandte sich abrupt um und ging in Richtung auf einen kleinen, sauber angestrichenen Schuppen zu, der neben seiner ebenso sauber wirkenden Hütte stand. Karl von Hutten starrte ihm aus schmalen Augen nach. „Ich glaube, Jean, mit dem Padre können wir rechnen. Dem können wir trauen. Denn eins ist mir völlig klar. Der Teniente trachtet nur da - nach, uns die Schätze und die Mulis wieder abzunehmen. Wenn du mich fragst, dann hat dieser Kerl schon jetzt einen Plan ausgeheckt, wie er uns am schnellsten und gefahrlosesten ins Jenseits befördern kann. Komm, heben wir dem Padre Josefo die Grube für den Indio aus. Dann sehen wir weiter!“ Jean Ribault nickte lediglich und spuckte in die Hände. Auch ihm ging in diesem Moment vieles durch den Kopf. Während sich die Dinge vor seinem geistigen Auge immer deutlicher abzuzeichnen begannen, hob er mit Karl von Hutten fast mechanisch eine beinahe zwei Yards tiefe Grube aus. Als die beiden „Isabella“-Männer endlich die Schaufeln über den Rand der Grube warfen und sich selber gegenseitig heraushalfen, saß der Padre auf einem Stein und blickte sie nachdenklich an. Vor ihm lag, in sauberes Leinen eingenäht, der Tote. Gemeinsam hoben sie ihn in die Grube. Der Padre sprach ein kurzes Gebet, dann begannen sie damit, das Grab des Indios zuzuschaufeln. Erst als sie damit fertig waren, richtete sich der Padre, der sich selber eine dritte Schaufel besorgt hatte, auf. Er massierte sich den von der ungewohnten Arbeit schmerzenden Rücken. „Senores, ich danke Ihnen von Herzen. Ich bin nicht mehr der Jüngste, dieser Boden ist hart und steinig. Wenn Sie es annehmen würden, dann möchte ich Sie zu einem
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bescheidenen Mahl und zu einem Schluck Wein in meine Hütte bitten. Sie sollten mir ein wenig mehr von sich und Ihrem Schiff und Ihren Plänen erzählen, vielleicht kann ich mich Ihnen erkenntlich zeigen oder Ihnen ein paar Tipps geben.“ „Gern, Padre, wir hätten sie ohnehin auf ein paar Worte gebeten. Wir haben, während wir die Grube aushoben, nachgedacht. Vielleicht können auch wir Ihnen ein wenig helfen, Ihnen und den bedauernswerten Indios.“ Wieder warf Padre Josefo den beiden einen undefinierbaren Blick zu. So, als begänne er ganz allmählich etwas zu ahnen ... * Padre Josefo holte einen dickbauchigen Krug von seinem Wandbord, das die eine Seite der kleinen Steinhütte, in der er hauste, ausfüllte. Aber trotz der Kleinheit des Raumes, trotz der Einfachheit der Einrichtung, die aus lauter selbst gebauten Möbeln bestand, machte die Hütte auf von Hutten und Ribault dennoch einen gemütlichen Eindruck. Der Padre schenkte ein, dann hob er seinen Becher, ein wertvolles Stück aus schwerem Silber getrieben. Seinen beiden Gästen hatte er ähnliche Trinkgefäße hingestellt und vollgeschenkt. Bevor Jean Ribault trank, betrachtete er nachdenklich die feinen Ziselierungen, die, von Künstlerhand ausgeführt, Szenen aus dem Leben der Indios darstellten. Dem Padre war der Blick Ribaults nicht entgangen. Er setzte den Becher, den er schon an die Lippen gehoben hatte, wieder ab. „Sehen Sie, Senor, das ist das Schlimme an der ganzen Sache. Diese Indios, die die Küsten dieses Kontinents bevölkern, werden von den Spaniern wie wilde Tiere behandelt. Dabei ist ihr kulturelles Niveau im Durchschnitt sehr hoch. Sie sind intelligent, man könnte sogar sagen, musisch veranlagt. Wenn Spanien es verstanden hätte, die Indio-Völker zu Freunden zu gewinnen, statt sie erbarmungslos auszuplündern und
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abzuschlachten, dann ließe sich hier ein wahres Paradies aufbauen. Aber“, der Padre sah seine beiden Gäste an, „wo Menschen sind, kann es das Paradies offenbar nicht geben. Das scheint ein Gesetz zu sein, wenn auch ein recht betrübliches! Prost!“ Er nahm einen Schluck. Und wieder streifte ein prüfender Blick die beiden „Isabella“-Männer. Schließlich setzte er den Becher mit einem entschlossenen Ruck ab. „Ich weiß nicht warum, Senores, aber ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ich bin auch ehrlich genug, Ihnen zu sagen, daß mir Ihre Geschichte von Ihrem leckgeschlagenen Schiff nicht ganz geheuer erscheint, desgleichen nicht Ihre Absicht, Ihre Ladung mit einem Muli-Transport nach Panama zu schaffen, das sind immerhin mit allem Drum und Dran fast fünfhundert Meilen durch äußerst unwegsames Gelände, durch das Territorium von Indianerstämmen, die auf Grund ihrer Erfahrungen, die sie mit uns Spaniern gesammelt haben, wahrscheinlich jeden Weißen umbringen werden, wenn sie seiner habhaft werden können. Das sind fünfhundert Meilen durch Schwärme von Insekten, durch Dschungelgebiete, in denen es von Schlangen und Spinnen, deren Biß zumeist tödlich ist, nur so wimmelt.“ Der Padre nahm abermals einen großen Schluck. Ribault und von Hutten folgten seinem Beispiel, auch wenn sich ihre Haltung unmerklich gespannt hatte. „Aber das alles ist nicht meine Sache. Nur, Senores“, fuhr der Padre fort, „ich bin ein Mann, der daran gewöhnt ist, zu denken. Wenn also Ihr Schiff leck wäre und Sie eine andere Transportmöglichkeit brauchten, dann wäre es weitaus einfacher für Sie, ein Kommando entweder per Segelpinasse oder auch auf dem Landwege nach Panama zu schicken. Ein paar Leute, die nicht durch eine ganze Ladung einschließlich der Maultiere, Treiber und so weiter gehandicapt wären. Dieses Kommando könnte in Panama ein anderes Schiff herbeordern. Es könnte die gesamte
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Ladung übernehmen. Das ganze Problem wäre dann gelöst!“ Der Padre schenkte sich und seinen Gästen nach. Dann sah er Ribault und von Hutten wieder mit seinen eigentümlich durchdringenden Blicken an. „Fassen Sie das bitte nicht als Mißtrauen auf, Senores. Auch nicht als Kritik an den Entscheidungen Ihres Capitans. Warum ich Ihnen das alles gesagt habe? Sie werden mit dem Teniente Fierro zu tun haben. Der läßt Sie mit dem Schatztransport nicht allein ziehen, der wird Ihnen eine Eskorte stellen. Er wird ...“ Der Padre kämpfte einen Moment mit sich, aber dann sprach er weiter. „Ich kenne diesen Mörder und Banditen jetzt lange genug. Er wird Ihnen Ihre Schätze abjagen wollen. Er wird nicht davor zurückschrecken, Sie alle notfalls auch umzubringen. Dann ist Ihr Schiff eben samt Besatzung und Ladung im Sturm verschollen, untergegangen. Niemand wird nach einem Schiff namens ,Valparaiso` beim Teniente Fierro nachfragen. Und seine Soldaten? Die sind vom gleichen Schlag wie ihr Oberbandit. Mörder, Sadisten, Verbrecher übelster Sorte, die vor nichts zurückschrecken, die zudem unter dem Regime Fierros ein Leben führen, wie sie es nur zu träumen gewagt hätten. Denn sie alle stopfen sich aus den Erträgen der Goldmine die Taschen seit langem voll. Aber unterschätzen Sie diesen Fierro nicht. Ganz bestimmt hat er selber bereits ähnliche Überlegungen angestellt wie ich. Und er wird die gleichen Schlüsse gezogen haben. Ich würde mich nicht wundern, wenn dieser Kerl schon ein paar Spione in Marsch gesetzt hätte, die ausspionieren sollen, wo ihr Lagerplatz liegt, wie viele Mitglieder Ihre Besatzung zählt, ob ihr Schiff tatsächlich leck ist. Es kann aber ebenso gut sein, daß er einfach abwartet, bis Sie alle hier in Baudo sind. Dann hat er Sie sowieso sicher.“ Von Hutten und Ribault sahen sich an. Durch leichtes Nicken gab Ribault seine Zustimmung. Die beiden harmonierten so gut miteinander, daß es zwischen ihnen
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keiner langen Debatten bedurfte, um einen Entschluß zu fassen. „Sie waren sehr offen zu uns, Senor“, sagte von Hutten. „Und eine Offenheit ist der anderen wert. Also gut, Sie haben richtig vermutet, unser Capitan hat nicht die Absicht, mit dem Transport nach Panama zu gehen. Wir wollen vielmehr zum Atrato, nach Quibdo. Dort werden wir versuchen, von den Indios Boote zu kriegen. Dann fahren wir den Atrato abwärts bis zum Golf von Darien. Dort werden wir uns ein neues Schiff besorgen ...“ „Ein spanisches Schiff, Senores?“ fragte der Padre dazwischen, und bei diesen Worten trat ein eigentümliches Funkeln in seine Augen. „Sie sollten ein wenig vorsichtig sein, Senores. Es gehen Gerüchte um, daß seit einiger Zeit unsere Küsten von zwei Schiffen El Draques heimgesucht werden, jenem Engländer, der sich immer wieder schützend vor die Indios gestellt haben soll und überhaupt ein außergewöhnlicher Mann sein muß. In seinem Gefolge, auf dem anderen Schiff, soll es einen Mann mit rabenschwarzen Haaren und eisblauen Augen geben. Man nennt ihn den Seewolf, soweit ich darüber hörte. Ein Mann, vielleicht noch viel außergewöhnlicher, als El Draque selbst. Er hat bei den Indios einen guten Namen, Senores. Ja, wirklich, es ist ganz erstaunlich, wie gut das Nachrichtensystem der Indios funktioniert. Es gibt da ein Gerücht, daß der Seewolf und seine Männer unter dem Schutz des mächtigen Schlangengottes stünden. Eine Schlangenpriesterin soll ihm einmal aus Dankbarkeit ihren Armreif mit den beiden sich ringelnden goldenen Schlangen überlassen haben. Sie hat dann wohl auch auf geheimnisvolle Weise dafür gesorgt, daß alle Indio-Stämme davon erfuhren, was sich auf der Mocha-Insel zugetragen hat.“ Der Padre nahm einen Schluck Wein. „Aber was rede ich denn eigentlich? Was geht mich jener Seewolf an? Wie kam ich eigentlich darauf? Verziehen Sie bitte einem alten Mann seine Abschweifungen.
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Jedenfalls hat dieser Mann meinen Respekt wie auch El Draque. Obwohl ich Spanier bin, wünschte ich mir manchmal, einer dieser Männer würde hier in Baudo erscheinen und die Indios von diesem Teniente Fierro und seiner Schreckensherrschaft befreien.“ Wieder legte er eine Pause ein, dabei beobachtete er die beiden Männer, die seine Gäste waren, unauffällig. Er registrierte jedoch nur ein unbestimmtes Lächeln, das plötzlich die Züge der beiden Männer erhellte. Dann verneigte sich Ribault auf seine etwas spöttische Art gegen den Padre. „Auch wir hatten schon die Ehre, dem Seewolf zu begegnen. Sie haben recht, Senor, dieser Mann verdient Respekt, obwohl er Engländer ist und ein Feind Spaniens. Aber, um wieder zur Sache zu kommen: Wüßten Sie einen zuverlässigen Führer für uns, der uns nach Quibdo bringen könnte, vielleicht die dortigen Indios kennt und uns Boote verschaffen könnte? Wir würden ihn fürstlich entlohnen und sicher auch bereit sein, Ihrer Mission einen nicht unbeachtlichen Beitrag zu stiften. Im übrigen, das vielleicht zu Ihrem Trost, Padre: Wie ich unseren Capitan kenne, wird er mit Mördern vom Schlage Fierros und seiner Banditen kurzen Prozeß machen, wenn sie ihm dazu Anlaß geben sollten. Das wäre dann vielleicht eine Möglichkeit, auch Sie, die Indios und Ihre Mission zu schützen. Wenn Sie unseren Capitan kennenlernen, Padre, werden Sie erkennen, daß ich die Wahrheit gesagt habe.“ Jean Ribault grinste nun auf eine Weise, die auch der Padre nicht mehr ignorieren konnte. Plötzlich lachten die drei Männer dröhnend. Padre Josefo hob seinen Becher. „Auf Ihren Capitan, Senores“, sagte er. „Ich werde Ihnen einen Führer besorgen. Er ist zuverlässig und verschwiegen, haßt den Teniente wie die Pest und wünscht ihn zum Teufel, obwohl ich das, wie Sie verstehen werden, nicht gern höre. Doch — ich werde Ihnen Jesusito schicken. Er wird sich rechtzeitig bei Ihnen einstellen.“
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Ribault und von Hutten nickten dem Padre zu. „Wo wird jener Indio gefangen gehalten, der morgen weiter ausgepeitscht werden soll?“ fragte von Hutten unvermittelt. Padre Josefo merkte auf. Dann deutete er unwillkürlich über die Schulter. „Dort hinten, in einer abgelegenen Hütte. Zwei Soldaten stehen dort Wache, aber meistens ist nur einer von ihnen auf seinem Posten, weil der andere entweder Karten spielt oder säuft oder beides tut. Warum? Wollen Sie etwa ...“ „Ich werde den Indio auf eine Weise befreien, daß der Teniente denken muß, er sei ausgebrochen. Ihre Sache wird es dann sein, dem armen Kerl weiterzuhelfen. Etwas weiter oben, an dem Pfade der aus den Bergen nach Baudo hinabführt, warten sechs unserer Männer. Sie sollten sich jetzt unverzüglich auf den Weg zu ihnen begeben, Padre. Wenden Sie sich an einen Mann namens, namens ...“ Karl von Hutten hatte „Al Conroy“ sagen wollen, aber dann fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, daß er damit dem schlauen Padre all seine Vermutungen, die dieser vielleicht ohnehin schon hegte, bestätigt hätte. Jean Ribault, aus dessen Zügen plötzlich aller Spott und alles Grinsen verschwunden waren, half ihm kurzentschlossen. „Padre, lassen wir das Theater jetzt. Sie wissen, daß wir keine Spanier sind. Vermuten, daß wir zu El Draque oder dem Seewolf gehören, und Sie haben recht. Ich vertraue Ihnen, und nicht nur, weil es in Ihrem und im Interesse der Indios liegt, uns nicht zu verraten, sondern weil sie ein Mann sind, der Sinn für Gerechtigkeit und Fairneß hat. Wenden Sie sich an einen Mann namens Al Conroy. Berichten Sie ihm, was hier unten los ist und sagen Sie unseren Männern, daß wir bald bei Ihnen sein werden. Wir bringen den Indio mit.“ Der Padre streckte den beiden die Rechte hin. „Engländer oder nicht. Seewölfe oder nicht — mehr als die Tatsache, daß ich Spanier bin und damit ein Feind Ihres Landes, zählen für mich meine Menschenpflicht
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und mein Gelübde, das ich als Priester abgelegt habe. Beschreiben Sie mir jetzt noch die Stelle, an der Ihre Leute lagern, dann werde ich sofort gehen. Und Sie — seien Sie vorsichtig, mit diesem Fierro ist nicht zu spaßen! Der Herr wird es Ihnen vergelten, daß Sie sich des armen Indios annehmen. Und ich als sein Diener werde tun, was in meinen Kräften steht, um Ihnen allen ebenfalls behilflich zu sein.“ Jean Ribault beschrieb die Stelle, an der Al Conroy und die anderen bestimmt schon voller Ungeduld auf ihn und von Hutten warten würden, danach ging der Priester sofort los. Sie selbst schlugen einen Bogen um Baudo und näherten sich schließlich der ihnen vom Padre bezeichneten Hütte von hinten. Der Padre hatte recht — nur einer der beiden Soldaten befand sich auf seinem Posten. * on Hutten und Jean Ribault arbeiteten sich durch den dichten Bestand von Büschen und Bäumen, der Baudo umschloß, langsam an die Hütte heran. Am Stand der Sonne erkannten sie, daß es bereits später Nachmittag sein mußte. Irgendwo vor sich hörten sie einmal die grölenden Stimmen einiger Soldaten. Ribault blieb stehen. „Mann“, sagte er, „die haben aber ganz schön einen im Kahn! Wenn die so weitersaufen, schlagen sie nachher Vater und Mutter tot!“ Vorsichtig schlichen die beiden weiter. „Jean, wir müssen herausfinden, wo diese Burschen sind. Es kann sich nur um eine Hütte in der Nähe des Gefangenen handeln. Ich habe keine Lust, diesen Kerlen unversehens in die Arme zu laufen, wenn wir den Indio herausgepaukt haben.“ Von Hutten blieb abermals stehen und horchte. Dann deutete er nach vorne. „Dort, direkt vor uns, müssen die Kerle ihr Saufgelage veranstalten. Aber sie sind im Freien, sonst würde man ihre Stimmen nicht so deutlich hören. Wenn mich nicht alles täuscht, haben sie auf diese Weise
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sogar die Hütte, in der sich der Indio befindet, im Blick.“ Ribault lauschte ebenfalls. „Scheiße!“ sagte er dann. „Das hat uns noch gefehlt, ich ...“ Hinter von Hutten und Ribault raschelte es. Blitzschnell fuhren sie herum, aber es war bereits zu spät. Braune Körper schnellten aus den Büschen hervor und hatten die beiden Gefährten im Nu umzingelt. Grelle Farben leuchteten auf ihren Armen, auf ihren Körpern und in ihren Gesichtern. Die braunen Leiber zuckten vor, Arme wurden emporgerissen. Irgendjemand brüllte etwas, Jean Ribault vermochte nicht zu unterscheiden, ob es einer von den Soldaten oder einer von den Indianern war. Die ersten Indios drangen auf sie ein. Es waren so viele, daß weder von Hutten noch Ribault Gelegenheit fanden, sich ihrer Haut zu wehren. Sie wurden zu Boden gerissen, Indios warfen sich über sie und hielten sie fest. Ribault sah gerade noch, wie die Keule eines Kriegers auf den Schädel seines Gefährten krachte. Sekunden später knallte auch auf seinen Kopf eine Streitkeule und löschte sein Bewußtsein auf der Stelle aus. Die Indios ließen die beiden los, dann huschten sie weiter. Und noch immer grölten vor ihnen die betrunkenen Soldaten des Teniente. Acht Mann, die vor einer der Hütten saßen, tranken, Karten spielten und soeben überlegten, ob sie den gefangenen Indio nicht auf der Stelle zu Tode peitschen sollten. Jose, einer der Wortführer, stand auf. Mit einem Ruck setzte er die Weinflasche an die Lippen und trank sie leer. Dann schleuderte er sie zur Seite. „Natürlich werden wir diesen Hundesohn jetzt zu Tode peitschen!“ brüllte er. „Wir sagen später einfach, er habe sich losgerissen und einen Fluchtversuch unternommen. Der Teufel hole dieses verfluchte Kaff, diese dämlichen Indios und diese beschissenen Siedler, die dauernd mit den Indios und Padre Josefo gemeinsame Sache machen! Man sollte sie alle auspeitschen - alle!“
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Er torkelte vorwärts, auf die Hütte zu, in der sich der Gefangene befand. Er hatte noch nicht zehn Schritte getan, als sich die Büsche hinter und neben ihm teilten. Indios füllten plötzlich den Raum zwischen den beiden Hütten. Ihre Speere zischten durch die Luft. Einer von ihnen durchbohrte Joses Hals, andere drangen den Soldaten, die mit nackten Oberkörpern vor der Hütte gesessen hatten, in den Rücken. Danach stürzten sich die Indios auf die völlig Überraschten. Ihre Kriegskeulen sausten herab und zerschmetterten mit entsetzlicher Wucht jeden Schädel, den sie trafen. Wo innerhalb der nächsten Sekunden sich noch einer der Soldaten regte, da wurde ihm erbarmungslos ein Speer in die Brust gestoßen. Der Anführer der Indios - ein großer stämmiger Krieger mit intelligenten Zügen, wies auf die Hütte. Sofort liefen zehn seiner Krieger hinüber, erschlugen den Wachsoldaten, der, betrunken, wie er war, emportaumeln wollte, und brachen anschließend die Tür auf. Im Nu hatten sie den Gefangenen von seinem Lager, auf dem er halb bewußtlos vor sich hindämmerte, hochgehoben und trugen ihn hinaus. Auf einen Befehl ihres Anführers warfen sie Brände in die beiden Steinhütten. Anschließend verschwanden sie so rasch, wie sie aus dem Dschungel, der Baudo umgab, hervorgebrochen waren. Bei Jean Ribault und von Hutten blieb der Anführer stehen. In seiner Sprache sagte er ein paar Worte, und ein paar Krieger nahmen die beiden zwischen sich, schleppten sie fort. Die Flammen schlugen aus den Hütten, als die ersten Siedler und Soldaten und schließlich der Teniente Fierro sowie der Alkalde herbeistürzten und auf die acht Toten starrten, die zwischen und bei den brennenden Hütten lagen, da waren die Indios längst verschwunden. Und alles hatte sich in gespenstischer Lautlosigkeit abgespielt. Der Teniente bekam einen Tobsuchtsanfall. Er brüllte nach Padre
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Josef o, aber der war ebenfalls verschwunden. . Als Fierro schließlich in seiner maßlosen Wut befahl, alle Indios aus der Mine zu holen und öffentlich aufzuhängen, fiel ihm der Alkalde ins Wort. „Nichts dergleichen werden Sie tun, Teniente Fierro“, sagte er. Fierro sah ihn an wie ein lästiges Insekt, daß er jeden Moment zwischen seinen Fingern zu zerquetschen gedachte. „Und wie wollen Sie mich daran hindern, Senor?“ brüllte er den erblassenden Alkalden an. „Indem ich die Hinrichtung der Indios nur über meine Leiche geschehen lassen werde, Teniente!“ erwiderte der Alkalde mit fester Stimme. „Sie werden mich zuvor umbringen müssen, und die Siedler werden Zeuge sein. Das wird Ihnen dann endgültig den Hals brechen. Was hier geschehen ist, Teniente, die acht Toten hier, die gehen ausschließlich auf ihr Konto!“ Fierro starrte den Alkalden an. „Sie wollen sich also meinen Befehlen widersetzen, Senor? Und die Siedler auch? Sie wollen gegen den Befehlshaber dieser Garnison einen Aufstand, eine Rebellion anzetteln?“ Er trat einen Schritt vor und packte den Alkalden mit einem blitzschnellen Griff an seinem Rock. „Ich verhänge ab sofort über Baudo den Ausnahmezustand!“ schrie er. „Niemand verläßt ohne Erlaubnisschein seine Behausung. Es ist meine Pflicht, die Bürger und Einwohner dieses Ortes auf diese Weise vor den blutrünstigen und räuberischen Angriffen der Indianer zu schützen. Ich werde ein Kommando zusammenstellen, wir werden eine Strafexpedition gegen diese verfluchten Indios starten, an die man hier noch lange denken wird! Für jeden getöteten Soldaten, der hier liegt, für jeden meiner Soldaten, der in Zukunft auch nur von einem dieser Indios verwundet wird, sterben zehn Indianer! Corporal, veranlassen Sie, daß meinen Befehlen sofort und bedingungslos Folge geleistet wird!“
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Der Alkalde protestierte, aber der Teniente wischte seine Proteste mit einer Handbewegung fort. „Entweder Sie fügen sich jetzt meinen Anordnungen, Senor, oder ich werde Sie von zweien meiner Soldaten in Ihren Amtssitz bringen lassen. Entscheiden Sie sich. In diesem Fall steht dann allerdings künftig eine Doppelwache vor ihrer Tür, also?“ Der Alkalde blieb standhaft. „Das werden Sie noch bereuen. Mit einem Alkalden der Spanischen Krone können Sie so nicht umspringen, Teniente. Sie hören von mir!“ fügte er hinzu, als ihn auf einen Wink des Teniente hin zwei Soldaten zwischen sich nahmen und wegführten. Anschließend trieben sie die schimpfenden Siedler in ihre Hütten zurück. Der Teniente starrte abermals auf die Toten. Nein — ihm war diese unerwartete Entwicklung gerade recht. Sie gab ihm den erforderlichen Vorwand, unliebsame Zeugen bei alledem, was noch zu geschehen hatte, wenn diese Narren von der „Valparaiso“ mit ihren Schätzen anrückten, auszuschalten. Vor allem war dieser verdammte Alkalde kaltgestellt — ein Punkt, der dem Teniente bei seinen Plänen erhebliche Sorge bereitet hatte. „Corporal!“ brüllte er. Der Corporal erschien. „Wenn Sie hier mit allem fertig sind, dann wünsche ich, daß Sie und Ihre Unterführer sofort bei mir zu einer Besprechung erscheinen. Sie wissen, was morgen hier los ist, wir müssen uns gründlich auf alles vorbereiten. Sorgen Sie dafür, daß die Fremden keinen Kontakt mit dem Alkalden aufnehmen können, der Alkalde steht ab sofort unter Arrest!” Der Corporal grinste, dann salutierte er. 4. Der Padre hatte hervorragende Augen. Er hatte die Männer, die oberhalb des Ortes auf Jean Ribault und Karl von Hutten schon voller Ungeduld warteten, noch nicht erreicht, als er sich zufällig umdrehte und von einer Biegung des steil bergan
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führenden Pfades einen Blick auf den Ort warf. Auf diese Weise sah er gerade noch die letzten Indianer verschwinden, sah die toten Soldaten und die Flammen, die aus den Hütten hervorzüngelten. Der Padre blieb ruckartig stehen. „Heilige Mutter Gottes!“ stöhnte er und rang die Hände. Jetzt war also doch noch das geschehen, was er immer befürchtete und wogegen er nun schon seit der Schreckensherrschaft des Teniente gekämpft hatte. Zäh und verbissen, auf seine Weise. Jetzt hatte er verloren. Einen Kampf verloren, der von Anfang an aussichtslos gewesen war, weil der Teniente durch sein Verhalten alles, was der Padre den Indianern je gepredigt hatte, immer ad absurdum führte. Und jetzt würde der Teniente gegen die Indios losschlagen, mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Das war die Gelegenheit für den Teniente! Der Padre verlor keine Zeit damit, zu beobachten, was dort unten weiterhin geschehen würden. Er wußte es ohnehin. Aber ein anderer Schreck durchzuckte ihn. Die beiden Engländer! Sie hatten sich auf dem Weg zu jener Hütte befunden. Sie waren möglicherweise in den Angriff der Indianer geraten und ebenfalls getötet worden. Dieser Gedanke ließ den Padre abermals stehenbleiben. Wenn das geschehen war, dann konnte es unübersehbare Verwicklungen geben. Denn der Seewolf und seine Crew waren nicht die Männer, die die Ermordung zweier ihrer Gefährten hinnehmen würden. Der Padre rang abermals die Hände, dann hastete er weiter. Er mußte unter allen Umständen die Männer, die dort oben warteten und wahrscheinlich auch alles beobachtet hatten, erreichen, bevor sie aus verständlicher Sorge um ihre Gefährten eine unüberlegte Handlung begingen. Der Padre hatte mit seinen Überlegungen gar nicht so unrecht. Al Conroy, Blacky, Cary Andrews, Jan Ranse, Luke Morgan und Piet Straaten hatten den Überfall der Indianer tatsächlich beobachtet. Auch, was danach geschehen war.
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„Da unten scheint wahrhaftig der Teufel los zu sein!“ fluchte Al Conroy und reichte das Spektiv weiter. „Aber wo, zum Henker, stecken Jean und Karl? Die beiden wissen doch, daß wir hier auf der Lauer liegen, sie müßten doch wenigstens mal ein Zeichen geben! Wieso sind die beiden eigentlich nicht längst zurück?“ Blacky setzte das Spektiv ab. „Die acht Dons sind hinüber. Die Indios haben keinen am Leben gelassen. Und der Teniente spielt verrückt. Hör zu, Al, wir marschieren jetzt nach Baudo und sehen nach Jean und Karl. Wenn den beiden auch nur ein Haar gekrümmt worden ist, dann drehe ich dieses Kaff da unten um!“ Blacky nahm seine Muskete und wollte sich in Bewegung setzen. Da hörte er Schritte und das Keuchen eines Mannes, der heranhastete. Sofort zog sich Blacky hinter einen Busch zurück. Doch zu seinem größten Erstaunen blieb der Fremde, in dem sie sofort den Padre erkannten, der sich mit dem Teniente in die Haare gekriegt hatte, stehen und sagte: „Mister Conroy, ihre beiden Gefährten haben mir aufgetragen, mich an Sie zu wenden. Sie verstünden ein wenig Spanisch — ich spreche ein wenig Englisch ...“ Blacky trat hinter dem Busch hervor, die Muskete immer noch in den Händen. Dann Al Conroy, und nach ihm, einen Ring um den Padre bildend, die restlichen vier Männer. Padre Josefo verlor keine Zeit. So gut es ging berichtete er radebrechend, was im Ort geschehen war, von der Unterredung, die er mit Ribault und von Hutten noch kurz vor dem Überfall der Indianer gehabt hatte und verschwieg dabei auch nicht die Befürchtung, die er bezüglich der beiden hegte. Die Gesichter der Männer verfinsterten sich, und Blacky trat vor. „Verdammt noch mal, warum stehen wir hier eigentlich noch rum, warum quatschen wir hier dummes Zeug, statt sofort in dieses Dreckskaff da unten zu rennen? Diesen Teniente werde ich mir vornehmen,
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bis er nicht mehr weiß, ob er Männchen oder Weibchen ist!“ Luke Morgan, der kleine pfiffige Engländer, vertrat ihm den Weg, als er losstürmen wollte. „Nicht so hastig, Blacky“, sagte er. „Oder glaubst du, daß der Seewolf jetzt einfach wie ein wildgewordener Decksaffe da unten rumtoben würde? Ich sehe dem Padre doch an der Nasenspitze an, daß er eine bessere Idee hat, oder irre ich mich etwa? Nein? Also los, dann raus damit!“ Padre Josefo bedachte den kleinen Engländer mit einem dankbaren Blick. „Ich kenne den Häuptling dieser Indios. Es handelt sich um den Stamm der Tukanos. Abgesehen von den Spaniern kontrollieren sie das Gebiet bis zum Atrato. Der Häuptling selbst ist ein intelligenter Mann. Ich kann mir bei ruhiger Überlegung nicht vorstellen, daß er Ribault und von Hutten einfach töten läßt. Ganz sicher haben er und seine Krieger den Überfall gründlich vorbereitet, ebenso sicher, wie sie die Auspeitschung und den Tod ihres Stammesgenossen beobachtet haben werden. Er wird sich auch jetzt noch in der Nähe befinden, denn er muß wissen, was der Teniente tun wird, Ich schlage vor, wir versuchen, einen seiner Späher zu finden, den werde ich dann befragen. Wenn wir zu dem Teniente Fierro gehen, nutzt das absolut nichts, im Gegenteil, er würde sofort mißtrauisch werden, wenn er erfährt, unter welchen Umständen Ihre beiden Gefährten verschwunden sind. Wenn sie überhaupt verschwunden sind, denn das ist bisher ja nichts als eine Vermutung.“ Al Conroy, der stillschweigend von den anderen als Anführer akzeptiert worden war, wiegte den Kopf. „Auf jeden Fall gedenke ich hier nicht tatenlos herumzustehen und große Reden zu halten. Erstens muß der Seewolf von allem verständigt werden, zweitens sind wir es Karl und Jean schuldig, daß wir alles für sie tun, was in unserer Macht steht. Mein Vorschlag: Zwei Mann kehren zum Schiff zurück, die restlichen vier folgen dem Padre. Zu diesem Schinder da unten zu gehen, ist tatsächlich sinnlos.“
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Al Conroy sah die Männer an. „Blacky und Gary — ihr beide saust sofort los und berichtet dem Seewolf, was hier passiert ist. Wir anderen hingegen ...“ Blacky hatte schon das Gesicht zu einem wütenden Protest verzogen, als etwas passierte, womit keiner von ihnen gerechnet hatte. Wie aus dem Boden gewachsen standen plötzlich vier Krieger der Tukanos vor ihnen. Niemand hatte sie gehört oder gesehen. Impulsiv griff Blacky zur Muskete, und auch Straaten, der hünenhafte Holländer, zog sein breites Entermesser. Aber der Padre drückte Blacky die Muskete zur Seite und beschwor die anderen durch ein paar hastig gesprochene Worte, sich still zu verhalten. Danach wechselte er mit den Tukanos ein paar Worte, und plötzlich hellte sich sein Gesicht wieder auf. Er drehte sich um. „Eine gute Nachricht, Senores“, sagte er dann. „Ihre Gefährten leben. Der Häuptling der Tukanos läßt Ihnen ausrichten, er bedauere sehr, daß Ihre beiden Gefährten von seinen Kriegern irrtümlich niedergeschlagen und gefangengenommen worden seien. Aber er habe bereits einen Trupp in Marsch gesetzt, der die beiden zum Lager schaffen soll, weil ihnen das Laufen noch schwerfallen würde. Weiter läßt er Ihnen allen sagen, daß Sie sich ungehindert in seinem Gebiet bewegen könnten, weil Blauauge und er Freunde geworden seien. Denn obwohl seine Krieger zunächst das Lager angegriffen hätten, habe Blauauge keinen seiner Indianer töten lassen, sondern ihnen stattdessen Äxte und Messer in großer Zahl geschenkt. Dafür werde er, der Häuptling der Tukanos, Blauauge und seinen Kriegern auch Boote bei einem befreundeten Stamm in Quibdo besorgen, desgleichen Ruderer für die Boote.“ Blacky stemmte die Muskete auf den Boden. Dann grinste er die vier Indianer an. „Na, denn wollen wir mal“, sagte er nur. „Es wird höchste Zeit, daß wir zum Lager
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zurückkehren. Sonst sind unsere beiden ‚Bekloppten’ noch eher da als wir!“ Al Conroy wandte sich an den Padre, der eben noch mit den Indianern gesprochen hatte. Als Padre Josef o sich umdrehte, hatte sich sein Gesicht wieder verfinstert, und auch an den harten, abweisenden Gebärden der vier Tukanos erkannte Al Conroy, daß da doch etwas schiefgelaufen sein mußte. „Was gibt es, Padre?“ fragte er. „Sie ziehen ja ein Gesicht, als hätte es Ihnen ...“ „Hat es auch. Und wie. Die Tukanos sind diesmal nicht umzustimmen. Sie wollen keine Ruhe mehr geben, solange der Teniente hier noch das Kommando hat, und wenn sie ihn umbringen müssen. Wissen Sie, was das bedeutet? Abgesehen davon, daß meine Arbeit der letzten Jahre zunichte ist, hat der Tod des Teniente unter Umständen verheerende Folgen für die Indios. Aus Panama wird man eine Strafexpedition schicken, danach gibt es keine Tukanos mehr.“ Al Conroy wiegte den Kopf. „Sagen Sie den Tukanos, daß sie sich in Baudo zunächst nicht sehen lassen sollen. Wenn das alles stimmt, was Sie uns von diesem Schinder da unten berichtet haben, dann wird Blauauge“ — und bei diesem Namen grinste er — „diese Angelegenheit wahrscheinlich für die Tukanos klären. Denn wenn der Teniente uns umzubringen versucht, um uns unsere Ladung abzunehmen, wird er sich wundern. Wir sind schon mit ganz anderen Kerlen fertig geworden, Padre!“ Padre Josefo schüttelte den Kopf. „Sehen Sie, Senor“, erwiderte er leise, „mein Problem liegt woanders. Lassen sich denn auf dieser Welt die Probleme immer nur durch Blutvergießen lösen? Ich bin Priester, Senor Conroy. Ein Mann des Friedens, der Gewaltlosigkeit. Und doch muß ich zugeben, wenn ich ehrlich gegen mich selber bin, daß beinahe auch ich den Tod des Teniente wünsche, wünschen muß. Damit werde ich nicht fertig, Senor. Und im Moment habe ich das Gefühl, keinem Indio und auch keinem anderen Menschen mehr in die Augen blicken zu
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können. Verstehen Sie das, Senor Conroy?“ Der Padre drehte sich um und begann, den Pfad in Richtung Baudo hinabzuschreiten. Bevor er hinter der Biegung verschwand, drehte er sich jedoch noch einmal um. „Ich werde Ihnen Jesusito schicken, sobald sie ihre Mulis in Baudo abholen. Sie können ihm völlig vertrauen.“. Al Conroy starrte ihm nach. Als einziger beherrschte er das Spanische so gut, daß er den Sinn dessen, was der Padre gesagt hatte, auch begreifen konnte. Aber Al Conroy war aus einem anderen Holz — er schüttelte die Skrupel, die der Gottesmann haben mußte, wieder ab. „Los, zurück zum Lager!“ sagte er zu seinen Gefährten. Sie würden ohnehin noch gut drei Stunden brauchen, bis sie dort sein konnten. Aber irgendwie spürten sie alle, daß sich die Ereignisse nun zuspitzten. * Im Lager in der kleinen Bucht, vor der die „Isabella III.“ geankert hatte, herrschte unterdessen Hochbetrieb. Das Schiff war nahezu entladen. Die Männer hatten geflucht und geschwitzt, aber der Seewolf hatte sie mit Rum bei Laune gehalten. Er selbst hatte ebenfalls tüchtig mit zugepackt, das war eine Selbstverständlichkeit für ihn. Er stand auf der „Isabella“ und sah zur Bucht hinüber. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie die Männer die letzten Fässer mit Wasser und Lebensmitteln in eins der beiden Boote verstauten. Ben Brighton tauchte aus dem Niedergang, der vom Achterkastell zur Kuhl hinabführte, auf. Einen Moment blieb er zögernd stehen und ließ seine Blicke über das schlanke Schiff schweifen. Dann ging er langsam zum Seewolf hinüber. „Die ‚Isabella’ ist leer, Hasard“, sagte er und sah ihn bei diesen Worten scharf an. „Bringst du es tatsächlich fertig, dieses Schiff, das nie besiegt worden ist, das jedem Sturm getrotzt hat, kaltblütig anzubohren und zu versenken?“
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Der Seewolf blickte an ihm vorbei, dorthin, wo die bereits tief stehende Sonne eine breite, goldene Bahn über das Wasser warf. „Es bleibt mir nichts anderes übrig, Ben“, erwiderte er schließlich. „Es geht mir verdammt an die Nieren, das kannst du mir glauben. Ich habe ein Gefühl, als hätte ich vor, jemanden, den ich gut kenne und gern mag, umzubringen. Aber es hilft uns nichts - in die Hände der Dons lasse ich dieses Schiff, unsere ‚Isabella’ auf gar keinen Fall geraten!“ Der Seewolf sah seinen Gefährten an, mit dem er schon so viele Abenteuer bestanden und die schlimmsten Situationen gemeistert hatte, gleich, ob damals beim Kampf gegen die normannischen Freibeuter oder gegen die Iren am Blackwater, ob in Spanien, als sie ihre Crew den Ketten der spanischen Galeere entrissen oder als sie schließlich die infernalischen Stürme am Kap der Dämonen abwetterten. Es war schon gar nicht mehr möglich, alle ihre Abenteuer und Schlachten in einem Atemzuge zu nennen. Er legte Ben Brighton die Rechte auf die Schulter. „Ben, es hilft alles nichts. Hol Ferris, er soll mit seiner Mannschaft an Bord gehen und die letzten Vorbereitungen treffen. Morgen früh, bei Sonnenaufgang, wird die ‚Isabella’ versenkt. Draußen auf See, wir selbst segeln sie ein paar Meilen mit einigen Männern aus unserer alten Crew hinaus, ich will wissen, wo sie liegt und ob sie mit Würde ihre letzte Fahrt in die Tiefe antritt!“ Er ging ein paar unruhige Schritte auf dem Achterkastell hin und her. „Ich bleibe heute nacht an Bord, um in meiner Kammer noch einiges zu ordnen. Du übernimmst das Kommando im Lager. Wenn von Hutten, Ribault und die anderen zurück sind, benachrichtigt mich. Ich will wissen, ob es Schwierigkeiten gibt. Ich rechne auf jeden Fall damit, daß es welche geben wird.“ Er drehte sich um und enterte den Niedergang ab. Dann verschwand er in dem schmalen Gang, der von der Kuhl aus
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durch das Achterschiff zu seiner Kammer führte. Ben Brighton fuhr mit dem Boot und der letzten Ladung, die sie an Land schafften, in die Bucht hinüber. Und schon von weitem erkannte er, daß im Lager einige Aufregung herrschte. Den Grund erkannte er sofort, als er an Land gesprungen war. Ein Trupp von Indianern hatten Jean Ribault und Karl von Hutten gebracht. Der Kutscher war eben dabei, die Platzwunden auf den Schädeln der beiden zu verarzten, was ihm manchen Fluch des Franzosen einbrachte. Ben Brighton ging zu den beiden hinüber, und als .der Kutscher fertig war, erfuhr er, was alles inzwischen geschehen war. Eine halbe Stunde später kehrten auch Al Conroy und seine Männer ins Lager zurück. Sie wurden mit einem Mordshallo begrüßt, und Ben Brighton ließ eine Extraration Rum für alle ausgeben. Anschließend pullte er noch einmal mit von Hutten, Ribault und Al Conroy zur „Isabella“ hinüber, um auch dem Seewolf die Neuigkeiten zu überbringen. Hasard hörte sich alles an. Aber in seinen eisblauen Augen glomm jenes Licht, das Ben Brighton von früheren Unternehmungen her nur zu gut kannte. „Der Padre Josefo hat völlig recht“, sagte der Seewolf, „vor diesem Teniente Fierro müssen wir höllisch auf der Hut sein. Der Kerl hat inzwischen garantiert nicht geschlafen, sondern seine Vorbereitungen getroffen, um uns unsere Beute wieder abzujagen. Der unvorhergesehene Überfall der Indios hilft ihm dabei nur. Aber warte nur, Freundchen, dir werden wir noch ganz gehörig in die Suppe spucken!“ Sie redeten noch eine ganze Weile miteinander, lauschten gelegentlich dem Singen des Windes in den Pardunen, dem Klatschen der Wellen, wenn sie gegen den Schiffsrumpf schlugen. Dann ging die Sonne unter, und sie beobachteten den Sonnenuntergang von Deck der „Isabella“ aus. Als die Nacht heraufzog, gesellte sich Ferris Tucker zu ihnen, noch etwas später
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Dan O’Flynn, auf dessen Schultern der Schimpansenjunge Arwenack hockte. Auch er kefferte an diesem Abend nicht wie sonst aufgeregt herum, sondern verhielt sich still. So als spüre auch er, daß dies die letzte Nacht war, die sich von See her auf die „Isabella III.“ zuschob und sie schließlich einhüllte. Der Seewolf ging in seine Kammer hinab und kehrte wenige Minuten später mit einer Flasche besten Whiskys zurück. Langsam ließen die Männer sie kreisen, während Arwenack sie aus seinen großen dunklen Augen dabei beobachtete. Und dann, ohne einen Laut von sich zu geben, war er plötzlich verschwunden. Aber das bemerkte von den Männern keiner mehr, denn der Whisky tat bei ihnen allen längst seine Wirkung. * Bei Sonnenaufgang erwachte die „Isabella III.“ ein letztes Mal zum Leben. Ben Brighton und der Seewolf standen auf dem Achterkastell. Smoky hatte das Kommando an Deck übernommen. Pete Ballie, Stenmark, Matt Davies, Blacky und Gary Andrews standen klar bei Fallen und Brassen. Auf den Rahen des Fockmastes waren Dan O’Flynn, Edwin Carberry, Al Conroy und der riesige Gambia-Neger damit beschäftigt, die Segel zu setzen. Aus Südost strich eine kühle Brise über die Bucht. Als die Sonne blutrot über den nahen Bergen, die sich als lange dunkle Kette an der Küste entlangzogen, aufging, blähte die Brise die Segel der „Isabella“. Die Kommandos an Deck verstummten. Ein paar Männer stürzten zu Ferris Tucker auf die Back. Zusammen mit dem hünenhaften Schiffszimmermann, dessen brandrotes Haar in den ersten Strahlen der Sonne unwirklich leuchtete, stemmten sie sich in die Spaken des Spills und hievten den Anker auf. Sie taten es schweigend, als wolle keiner der Männer diese letzte Stunde ihres Schiffes durch ein überflüssiges Wort entweihen.
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Am Heck der „Isabella“, hingen die beiden Boote. Ben Brighton warf einen Blick zu ihnen hinunter – er konnte es noch immer nicht fassen, daß er mit ihnen an Land zurückrudern sollte und die „Isabella“ diesmal draußen bleiben würde, auf dem Grund des Meeres. Der Anker durchbrach die Wasseroberfläche. Ferris Tucker gab den Männern, die mit ihm am Spill standen, ein Zeichen. Sorgfältig belegten sie das Spill, während die „Isabella“ bereits Fahrt aufnahm. Am Ufer der Bucht hatte sich der restliche Teil der Crew versammelt. Und auch diese Männer sahen schweigend zu, wie die „Isabella“ langsam und majestätisch aus der Bucht ins offene Wasser hinausglitt. Ihre weißen Segel wirkten im roten Licht der Sonne wie mit Blut übergossen. Pete Ballie löste den Seewolf ab, der bisher am Kolderstock gestanden hatte. „Wir hätten, verdammt noch mal, doch lieber durch die Magellanstraße segeln sollen, Hasard“, sagte er. „Die ,Isabella III.’ war das beste Schiff, auf dem ich je gefahren bin. Es ist eine Schande, es einfach irgendwo da draußen zu den Fischen zu schicken.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ach Scheiße!“ sagte er dann. „Ich muß mir einfach Luft machen, das geht mir verdammt an die Nieren!“ Er stemmte sich in den Kolderstock und blickte in die sonst eisblauen Augen des Seewolfs. An diesem Morgen wirkten sie dunkel, so wie die See oft aussah, bevor ein Unwetter losbrach. Der Seewolf klopfte seinem Rudergänger, der genau wie die anderen Männer der Besatzung von der ersten Stunde an unter seinem Kommando gefahren war, auf die Schulter. „Laß gut sein, Pete“, erwiderte er nur. „Mir ist auch beschissen zumute. Aber wir haben keine andere Möglichkeit, wenn wir nach England wollen.“ Hasard enterte an Deck. „Alles klar, Ben?“ fragte er, und Ben Brighton nickte ihm zu.
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„Gut, dann gebe ich Ferris jetzt das Zeichen.“ Suchend wanderten seine Blicke über Deck. Er fand den Schiffszimmermann auf dem Hauptdeck. Er lehnte- an einem der sorgfältig vertäuten Geschütze und starrte aufs Meer hinaus. „Ich gehe zu ihm, Ben. Laß jetzt die Segel bergen, damit die Fahrt aus dem Schiff kommt!“ Der Seewolf verließ das Achterkastell und stieg über die Kuhl zum Hauptdeck hinunter. Dann stand er hinter dem Schiffszimmermann und schlug ihm leicht auf die Schulter. „Ferris, es ist soweit. Nimm dir ein paar Leute. Wir wollen es jetzt rasch hinter uns bringen. Wenn ihr unten fertig seid, warten wir mit den Booten an Steuerbord auf euch.“ Ferris Tucker nickte und winkte die Männer heran. „Dan, Batuti — ihr schlagt die Rundkeile achtern raus. Smoky, Blacky – ihr besorgt das mittschiffs. Ich erledige das in der Back zusammen mit Ed. Seht zu, daß die Fahrt aus dem Schiff kommt. Ich will, daß unsere ,Isabella’ ihre letzte Reise auf ebenem Kiel antritt, unbesiegt von den Dons, ungeschlagen von Wind und Wetter. Ab mit euch!“ Die Männer gingen los. Sie wußten, daß Ferris Tucker längst alle Löcher in den Schiffsboden gebohrt und sie anschließend wieder mit Rundkeilen von innen abgedichtet hatte. Alles Werkzeug, was sie benötigten, um die Keile zu entfernen, lag bereit. Der Schiffszimmermann und Carberry verschwanden im Vorkastell, während der Seewolf zusammen mit den restlichen Männern bereits die Segel bargen. Vom Pazifik her rollte eine leichte Dünung heran, auf deren Wogen sich die „Isabella“ langsam hob und senkte. Wie immer hatte Ferris Tucker seine riesige Axt bei sich. Carberry und er arbeiteten sich mühsam durch die engen Niedergänge, die bis hinab zum Schiffsboden führten. Schließlich blieb der Schiffszimmermann stehen.
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„Hier ist es, Ed“, sagte er. Dabei deutete er im Schein einer Öllaterne, die er unter Deck vom Haken genommen hatte, auf drei runde Pflöcke, die im Schiffsboden steckten, aber sorgfältig verkeilt und gesichert waren. Der einstige Profos der „Golden Hind“ nickte. Dann griff er zu einem schweren Hammer, der neben den Pflöcken auf dem Boden lag. Fragend blickte er Ferris Tucker an. Der Schiffszimmermann schüttelte jedoch den Kopf. „Wir wollen noch einen Moment warten. Dan und Batuti haben es im Achterschiff schwerer als wir, an den Schiffsboden heranzukommen. Wenn wir hier die Pflöcke herausgeschlagen haben, werden wir uns höllisch beeilen müssen, um aus diesem Loch schnell genug wieder an Deck zu entern, oder wir saufen ab wie die Ratten. Der Wasserdruck unter der Wasserlinie ist ziemlich groß. War eine Höllenarbeit, die Löcher erst in den Schiffsboden zu bohren, sie dann zu vergrößern und schließlich, nachdem nur noch eine dünne Schicht vom Schiffsboden stand, die Rundkeile so einzuschlagen, daß nur wenig Wasser ins Schiff gelangen konnte. Maßarbeit, Ed, denn wenn die Dinger nicht auf Anhieb gepaßt hätten, wäre es um die ‚Isabella’ geschehen gewesen. Ein Leck dieser Art dichtet kein Mensch mehr ab, wenn erst genügend Wasser im Schiff ist.“ Carberry nickte nur. Was Tucker ihm da erzählte, wußte er alles. Er fuhr lange genug zur See. Aber er ließ den Schiffszimmermann reden, denn er spürte, daß Ferris damit seine Nervosität herunterspielen wollte. Tucker griff zu seiner Axt. „So, los, Ed. Den hinteren zuerst, dann den in der Mitte, zuletzt den vorm Niedergang.“ Er hob seine Axt, während Carberry den schweren Hammer emporschwang. „Zugleich!“ kommandierte Ferris Tucker. Die Oberkörper der beiden Männer bogen sich zurück, dann sauste die schwere Axt nieder und spaltete den Rundkeil schon
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beim ersten Hieb. Im nächsten Augenblick traf der Rundschlag von Carberry den Keil und fetzte ihn aus dem Loch. Eine Wasserfontäne stieg hoch, prallte gegen das Holz der schweren Spanten und ergoß ihr Wasser ins Schiffsinnere. „Schnell, den nächsten!“ Tucker stand schon wieder mit erhobener Axt bereit, und Carberry hastete zu ihm hinüber. Hinter ihm zischte und gurgelte das eindringende Wasser und spritzte nach allen Seiten davon, wenn es einen Spant des Vorschiffes traf. Im Nu waren die Männer bis auf die Haut durchnäßt. Ferris Truckers Axt sauste abermals nieder, und wieder spaltete sie den Rundkeil schon beim ersten Hieb. Eine Leistung, die sicher nicht jedem Mann gelang. Carberry hingegen mußte zweimal zuschlagen, ehe der Pflock unter der mörderischen Gewalt des Hammers und unter dem Druck des sofort nachdringenden Wassers aus dem Loch sprang. Ein infernalisches Zischen, Brausen und Gurgeln erfüllte nun den engen Raum tief unter der Wasserlinie der „Isabella“. Ferris Tucker schlug bereits zum dritten Mal zu. Und diesmal kriegte Carberry seinen Hammer nicht mehr rechtzeitig hoch, zumal ihm der fast oberschenkelstarke Wasserstrahl den Weg versperrte. Mit einem gewaltigen zweiten Hieb fetzte Tucker auch die beiden Hälften des dritten Rundkeils heraus. Dann nahm er seine Axt in die Linke und griff mit der Rechten nach Carberry. Er riß ihn einfach zu sich heran und schob ihn auf den Niedergang zu. Carberry gestand sich in diesem Moment ein, daß Tucker vor wenigen Minuten nicht übertrieben hatte — im Vorschiff der „Isabella“ war tatsächlich die Hölle ausgebrochen. Die beiden Männer enterten die Stufen der schmalen Leiter auf, die ins Vorkastell hinaufführte. Aufatmend blieben sie endlich vor der dicken Bohlentür stehen. Unter ihnen rauschte, zischte und gurgelte es auf eine
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Weise, die Carberry eine Gänsehaut über den Rücken trieb. „Los, Ed, zum Achterkastell! Ich weiß nicht, ob Dan und Batuti mit den Keilen fertig werden. Es ist verdammt eng da hinten, und Batuti kann sich bestimmt kaum bewegen. Möglich, daß Dan allein es auch nicht schafft, ich will nicht, daß uns die ‚Isabella’ einfach über den Bug absäuft.“ Der Schiffszimmermann rannte los und ahnte noch nicht, was er achtern vorfinden würde. Noch im Laufen brüllte er Hasard zu: „Wir sehen nach Dan und Batuti —sind Smoky und Blacky klar?“ Die Frage beantwortete sich von selbst, denn die Genannten tauchten soeben an Deck auf, klatschnaß und ebenfalls kreidebleich. Ferris Tucker und Carberry erreichten das Achterkastell und verschwanden in dem engen Gang, der zur Kammer des Seewolfs führte. Dann enterte der Schiffszimmermann blitzartig die schmalen Leitern ab, die zum Schiffsboden in den Kielraum führten. Schon von weitem hörte er das Gurgeln und Zischen des eindringenden Wassers, aber er hörte auch noch etwas anderes. Das Gebrüll des Gambia-Negers. „Verdammtes Dan, sofort kriechen zurück, oder du ersaufen! Du nicht können helfen Arwenack, verflucht noch mal!“ Ferris Tucker kroch über den Schiffsboden, auf dem schon das Wasser hin und her schwappte. „He, Batuti, was ist mit Dan?“ brüllte er. „Was hat dieser Kerl denn jetzt schon wieder angestellt?“ Der Gambia-Neger wandte den Kopf. Im Schein seiner Ölfunzel erkannte Ferris Tucker die nackte Angst, die in dessen Gesicht geschrieben stand. Das Weiße seiner Augen leuchtete durch die Dunkelheit, die von den beiden Öllaternen auch nur notdürftig aufgehellt wurde. „Verflixtes Schimpanse haben sich in leeres Faß verkrochen. Wir nicht gewußt, daß hier in Achterkastelle. Jetzt Arwenack halb verrückt vor Angst, kommen nicht
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raus aus Faß, Dan sein hingekrochen. Aber da — wenn Wasser steigt, Kisten und Fässer in Ecke kippen um, begraben Dan unter sich, Dan saufen ab mit Schiff. Viel Wasser, ,Isabella’ nicht mehr lange schwimmen, Batuti wissen!“ Ferris Tucker stieß einen ellenlangen Fluch aus. „Dan, du dreimal geteerter Hurensohn, sofort zurück mit dir. Die ‚Isabella’ geht zu den Fischen, wenn du nicht sofort umkehrst, nimmt sie dich mit!“ Von irgendwo aus dem schäumenden, gurgelnden Wasser, das bereits ziemlich hoch stand, vernahm der Schiffszimmermann eine undeutliche Antwort. Aber von Dan keine Spur. Ferris Tucker warf sich herum. „Ed!“ brüllte er in die Dunkelheit. „Ed, wo, zum Teufel, steckst du?“ Carberry kroch heran, aufrecht gehen konnte man im Achterkastell im Kielraum nicht. „Bin schon hier, was, zum Teufel, ist denn eigentlich los? Kommt ihr an Deck, oder wollt ihr versaufen?“ brüllte er. Ferris Tucker erklärte es ihm. „Das sieht diesem Bürschchen wieder mal ähnlich. He, Dan! Wenn du nicht sofort umkehrst, ziehe ich dir Haut in Streifen von deinem Affenarsch ab, du dreimal verfluchte Kakerlake. Verdammt, antworte endlich!“ Carberry hatte mit seinem gewaltigen Organ derartig gebrüllt, daß Ferris Tucker und Batuti zu spüren glaubten, wie das Schiff unter seiner Stimme erbebte. Wieder erscholl von irgendwo aus dem höher und höher steigenden Wasser Dans Stimme, aber verstehen konnten sie nicht, was er sagte. Ferris Tucker begriff als erster, daß es sinnlos war, auch nur eine einzige Sekunde zu vergeuden. „Ed, hol ein Seil, und beeil dich. Batuti und du, ihr müßt uns rausziehen, wenn’s nicht anders geht. Ich hole Dan, aber wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Carberry nickte dem Schiffszimmermann zu. Aber in seinen Zügen zuckte es, und Ferris Tucker war ganz sicher, daß Dan von dem Profos eine gehörige Abreibung
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zu erwarten hatte, falls es gelang, ihn zu retten. Carberry robbte zurück. Weder Batuti noch der Schiffszimmermann konnten später sagen, wie lange sie gewartet hatten, bis er wieder auftauchte, mit einem Seil in seinen Pranken. Wortlos warf er es Tucker zu, und der wand es sich um den Leib und verknotete es sorgfältig. Dann kroch er nach vorn in die Dunkelheit hinein. Seine riesige Zimmermannsaxt nahm er mit. Auf die Öllaterne hatte er verzichten müssen, dafür war kein Raum. Das Wasser stand sowieso schon so hoch, daß er Mühe hatte, den Kopf freizuhalten. „Dan!“ brüllte er immer wieder -und allmählich wurden die Antworten deutlicher. aber verstehen konnte er sie in dem Tosen und Rauschen immer noch nicht. Schließlich, nach Minuten, die ihm endlos erschienen, gewahrte er Dan als Schatten vor sich. Der Bengel hatte doch wahrhaftig eine Laterne mit und sie an eins der Fässer gehängt! Ferris Tucker war heran. Er streckte schon die Hand nach Dan aus - da polterte es hinter ihm. Die Fässer und die Kisten! schoß es ihm durch den Kopf. Jetzt war ihnen möglicherweise auch noch der Rückweg versperrt. „He, Dan, bist du wahnsinnig?“ brüllte er das Bürschchen an. „Was, zum Teufel, treibst du hier, während uns die ‚Isabella’ unter dem Arsch wegsackt?“ ,.Arwenack sitzt in dem Faß, aber ich kann nicht ran, es ist aufgeschwommen und hat sich dann verkeilt. Ich kriege es nicht heraus. Arwenack ist vor Angst wie von Sinnen, er tobt in dem Faß herum, und ich kann ihm nicht helfen. Wir können Arwenack doch nicht einfach versaufen lassen, das würden wir mit keinem von uns tun!“ Ferris Tucker verschlug es glatt die Sprache, aber dann hörte auch er, wie der Schimpanse in seinem Faß schrie und gegen die Faßwand hämmerte.
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„Nimm die Lampe, Dan!“ brüllte der Schiffszimmermann. „Ich will sehen, ob ich etwas tun kann!“ Dan richtete sich auf, soweit es die Enge des Raumes zuließ. Dann hielt er die blakende Öllampe neben das Faß. Der Schiffszimmermann erkannte auf den ersten Blick, daß er das Faß aus seiner Verkeilung nicht zu lösen vermochte. „Warte und paß auf, daß der Schimpanse uns nicht entwischt. Ich versuche jetzt, das Faß zu zertrümmern! Achtung!“ Ferris Tucker packte seine Axt, schwang sie zurück, so gut es in der Enge des Raumes ging, und schlug zu. Das Faß dröhnte auf, Holz splitterte, aber kaputt war es damit noch lange nicht. Der Schimpanse im Faß schrie - so laut, das sein Schreien sogar das Rauschen des Wassers und das Gurgeln übertönte, mit dem es ins Schiff eindrang und schnell anstieg. Der Schiffszimmermann fluchte. Mit seinen Bärenkräften versuchte er noch einmal, das Faß aus der Ecke, in der es sich verkeilt hatte, hervorzuziehen. „Himmel und Hölle!“ keuchte er dabei, während sich seine Muskeln spannten, „welcher hirnrissige Idiot hat denn bloß die Fässer und Kisten hier in den Kielraum geworfen? Man sollte die Kerle alle kielholen lassen!“ Er strengte noch einmal alle Kräfte an, aber es half alles nichts, das Faß rührte sich nicht von der Stelle. Es steckte eingeklemmt mit dem Deckel voran zwischen Bordwand und einem schweren Spant des Achterschiffes. „Dan, wenn wir Arwenack nicht bald herauskriegen, müssen wir ihn hierlassen oder mit ihm zusammen ersaufen. Ich weiß am besten, wie groß die Löcher sind, die ich in den Schiffsboden geschnitten habe. Ich unternehme jetzt noch einen Versuch, klappt der nicht, dann können wir es nicht ändern, Junge!“ Ferris Tucker rutschte ein Stück zurück, um sich für den Hieb mit der Axt mehr Platz zu schaffen. Irgendwo hinter ihm polterte es, Männer schrien, aber Tucker hörte das alles nur mit halbem Ohr. Er
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konzentrierte sich auf den Schlag, und Dan starrte ihn aus angstgeweiteten Augen an. Er wußte selbst, daß der Schiffszimmermann recht hatte, das Wasser im Kielraum stieg verdammt schnell. Er hatte schon Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Ferris Tucker packte die Axt, dann krümmte sich sein riesiger Körper zusammen, und gleich darauf explodierten die Muskeln seiner Arme und Schultern. Die Axt traf das Faß, der Schimpanse schrie wie verrückt, die Dauben splitterten. Ferris Tucker zog die. Hand zurück und schlug ein zweites Mal zu – da gab das Faß endgültig nach. Dan handelte blitzartig. Er langte ins Faß, griff fest zu und hatte Arwenack gepackt, der sich wie verrückt gebärdete und mit seinen scharfen Zähnen nach allem schnappte, was in die Nähe seines Kopfes geriet. Er erwischte Dan, der Junge schrie auf, aber er ließ nicht los, obwohl er spürte, wie das Blut über seinen linken Arm lief. „Du mußt ihn jetzt festhalten, Dan. Wenn er ausbüxt, ist er verloren, wir haben keine Zeit mehr, Junge, noch einmal nach ihm zu suchen. Los jetzt!“ Ferris Tucker riß an dem Seil, das er um seinen Körper verknotet hatte. Gleichzeitig packte er Dan und den Affen und umklammerte beide mit seinen langen Armen. Das Seil straffte sich. Carberry und Batuti, die aber inzwischen durch den Seewolf und Ben Brighton Verstärkung erhalten hatten, zogen. Ferris Tucker spürte nur, wie ein gewaltiger Ruck ihn und Dan nach hinten riß. Irgendwie schaffte es der rothaarige Hüne auch noch, seine Axt festzuhalten. Dann aber verhakte sich das Seil im Stapel der Fässer und Kisten, es ging nicht mehr weiter. Der Schiffszimmermann tauchte unter, und die Luft wurde ihm knapp. Prustend tauchte er wieder auf. Hinter ihm brüllte Carberry. „Verflucht, ihr elenden Decksaffen, räumt endlich die Kisten und die Fässer weg, holt noch Männer her, oder die beiden da drinnen ersaufen endgültig, und das alles
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wegen eines lausigen Affen, hat man so was schon erlebt!“ Jeder Mann an Bord wußte, daß Carberry das nicht so meinte, aber es wurde wirklich allerhöchste Zeit, die „Isabella“ zu verlassen. Ferris Tucker richtete sich auf, soweit die Enge des Raumes ihm das gestattete. „Paß auf Arwenack auf, Dan“, warnte er. Dann warf er sich mit aller Gewalt gegen die Kisten und Fässer. Mit den Händen und mit der Axt stieß und schlug er um sich. Eine der Kisten zersplitterte unter seinen gewaltigen Hieben, eins der leeren Fässer gab nach, rutschte seitlich weg, und danach war kein Halten mehr, der ganze Stapel geriet ins Rutschen. Ferris Tucker gab ihm den Rest, Carberry, Batuti und der Seewolf zogen wie verrückt an dem Seil, daß den Schiffszimmermann durch seine wilden Hiebe inzwischen mehrfach umschlang. „Dan, hierher!“ brüllte Tucker, der spürte, daß er gleich wie ein Korken aus dem Kielraum herauskatapultiert werden würde. Es gelang Dan gerade noch, sich zusammen mit dem Schimpansen an das Seil anzuhängen, da wurden sie auch schon vorwärtsgerissen und hochgehievt. Der Schiffszimmermann glaubte in diesem Moment, er würde von Urgewalten zerrissen, aber seine Sehnen und Muskeln hielten auch das noch aus. Zusammen mit Dan wurde er von den kräftigen Fäusten seiner Gefährten nach draußen und dann an Deck befördert. Arwenack, der spürte, daß die unmittelbare und größte Gefahr vorüber war, klammerte sich an Dan, aber er zitterte am ganzen Körper. „In die Boote, los Männer, in die Boote!“ Ferris Tucker sah mit einem Blick, daß die Mahnung des Seewolfs durchaus ihre Berechtigung hatte. Das Vorschiff war allen seinen Bemühungen zum Trotz doch schneller vollgelaufen. Der Bug der „Isabella“ lag bereits tief im Wasser, hin und wieder leckte eine Woge der langen Dünung, auf der das sterbende Schiff sich hob und senkte, über die Schanzkleider an Back- und Steuerbord.
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Ferris Tucker beeilte sich. Er wußte aus Erfahrung, daß Schiffe in ihren letzten Augenblicken völlig unberechenbar waren. Ohne ersichtlichen Grund konnten sie kentern oder plötzlich über Bug oder Heck einfach wegsacken, wenn ein gewisser Punkt einmal überschritten war. Er dirigierte Dan vor sich her und sprang dann selber in eins der beiden Boote. Ihm folgten Carberry, Ben Brighton, Batuti. Als letzter verließ der Seewolf das Schiff. Die Boote legten ab, und die Männer beeilten sich, Raum zwischen die „Isabella“ und sich zu bringen, denn jeder von ihnen kannte den gefährlichen Sog, der beim Sinken eines Schiffes entstand. Erst in einer halben Meile Entfernung ließen sie die Rühmen ruhen. Stumm blickten sie zur „Isabella II.“ hinüber, die für sie so etwas wie eine Heimat gewesen war. Das stolze Schiff lag bereits tief im Wasser. Hin und wieder tauchte die Back schon ein und wurde von der Dünung überspült. Die Rahen, nackt und nur noch mit angeschlagenen Segeln versehen, schwangen hin und her, ein Teil des laufenden Guts schlug manchmal gegen die Masten, und das Klatschen war bis zum Boot zu hören. Ein Ruck ging durch das Schiff – es legte sich plötzlich wieder auf ebenen Kiel, der scharfgeschnittene Bug tauchte aus der See auf. Einige Minuten blieb es so liegen und schien sich kaum noch zu bewegen. Die Männer hielten den Atem an, alle spürten sie, daß dies die letzten Augenblicke der „Isabella III.“ waren. Sie behielten recht. Plötzlich sackte das Schiff weg. Der Rumpf tauchte ein, das Wasser überspülte die Decks, leckte zum Achterkastell und zur Back empor. Dann war der Rumpf verschwunden, und nur noch die Masten ragten in den blauen Himmel, an dem mittlerweile schon eine grelle, heiße Sonne stand. Noch einmal schien die „Isabella“ zu zögern. Luftblasen stiegen hoch, ein paar leere Fässer schossen an die Oberfläche, aber dann ging alles sehr schnell.
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Das Schiff sank und zog die Masten mit sich in die Tiefe. Noch einmal stiegen Luftblasen hoch, ein Strudel drehte sich über der Stelle, an der eben noch die „Isabella“ gelegen hatte. Danach nichts mehr. Hasard sah seine Männer an. Den meisten von ihnen standen die Tränen in den Augen, und sie schämten sich ihrer nicht. Für sie hatte die „Isabella“ mehr bedeutet als eine Anhäufung von Holz und Metall – für sie war sie wie ein lebendes Wesen gewesen, dem sie ihr Leben anvertraut, um das sie bangte, das sie gelobt und über das sie geflucht hatten. Die beiden Boote erreichten eine halbe Stunde später die Bucht. Die Männer verhielten sich noch immer sehr still, und auch Carberry hatte seinen Zorn, den er über Dan O’Flynn verspürt hatte, längst vergessen. Hasard ließ ihnen jedoch keine Zeit, ihren Gedanken lange nachzuhängen. Nach einem letzten Blick zu der Stelle, an der die „Isabella“ gesunken war, trieb er die Männer an. „Zehn Freiwillige zu mir“, sagte er in die Stille hinein. „Wir werden uns jetzt in Baudo die versprochenen Mulis abholen. Danach werden sie hier beladen, und wir marschieren ab. Für die Dauer meiner Abwesenheit übernimmt Carberry hier das Kommando. Du, Ben, begleitest mich. Ebenfalls von Hutten und Ribault. Sonst bitte nur Männer, denen die Dons nicht schon auf den ersten Blick die englische Abstammung ansehen! Vorwärts, beeilt euch!“ 5. Gegen Mittag dieses Tages erreichte der Seewolf mit seinen Männern Baudo. Er war sich darüber im klaren, daß der Teniente Fierro ihm Späher entgegengeschickt hatte, um rechtzeitig über seine Ankunft informiert zu sein. Im Ort Baudo herrschte Totenstille. Teniente Fierro hatte seine Drohung wahrgemacht und absolute Ausgangssperre verhängt. Wie er verlauten ließ, zum
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Schutz und zum Wohl der Siedler und Bürger, und damit es keine weiteren Opfer durch Überfälle der Indios gäbe. Einige der Siedler und der Alkalde, der sogar unter Arrest stand, hatten zwar scharf protestiert, aber der Teniente scherte sich einen Dreck um ihre Proteste, sondern sperrte sie kurzerhand ein. Seine Soldaten, die inzwischen genau darüber informiert waren, um was es in Wirklichkeit ging, spielten mit. Mehr noch, sie übertrafen den Teniente sogar. Hasard bemerkte die Stille, die in Baudo herrschte, sofort. Er gab seinen Männern ein Zeichen, stehenzubleiben.. „Ben — was hältst du davon?“ fragte er, und zwei scharfe Falten erschienen auf seiner Stirn. Ben Brighton zögerte mit der Antwort. „Es könnte mit dem Überfall der Indios zusammenhängen, aber ich weiß nicht, wieso. Ich wäre dafür, daß wir in den Ort marschieren und dort einfach zu einem der Steinhäuser gehen und fragen.“ Der Seewolf überlegte. Dann nickte er. „Eine gute Idee. Genauso werden wir verfahren.“ Und zu seinen Männern gewandt, fügte er hinzu: „Haltet eure Waffen bereit. Es könnte durchaus sein, daß dieser Teniente plant, sich die Ladung unserer ‚Isabella’ schon unten in der Bucht zu holen, nachdem er uns erledigt hat. Aber ich glaube nicht recht, daß er so dumm ist. Schließlich muß er darauf bedacht sein, möglichst wenig Zeugen zu haben. Und noch etwas - geschossen wird nur auf meinen ausdrücklichen Befehl, es sei denn, wir werden aus dem Hinterhalt überfallen! Vorwärts!“ Die Männer, die ihn begleiteten, grinsten. Das war eine Sache nach ihrem Geschmack! Flüchtig dachte der Seewolf daran, was er mit Carberry an Maßnahmen für den Fall besprochen hatte, daß der Teniente versuchen würde, seine, des Seewolfs Abwesenheit zu benutzen, um den Profos und seine Männer in der Bucht zu überfallen. Im stillen wünschte er den Dons schon jetzt dabei viel Spaß, denn Carberry und seine Männer würden dem
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Teniente und seiner Mörderbande eine höllische Überraschung bereiten! Der Abstieg nach Baudo nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Schon am Ortseingang erwarteten sie schwerbewaffnete Soldaten. Einer von ihnen, offenbar ein Corporal, trat auf den Seewolf zu. „Sie sind Capitan Diaz de Veloso?“ fragte er. „Sehr richtig, Corporal. Ich bin hier, um die versprochenen Maultiere abzuholen. Sie werden über die Sache informiert sein. Würden Sie also die Güte haben, uns zu Teniente Fierro zu führen?“ Der Corporal zögerte. „Der Teniente ist zur Zeit leider verhindert, Capitan, er ...“ „Verhindert? Obwohl er darüber informiert ist, daß wir um diese Zeit zur Übernahme der Mulis eintreffen würden? Corporal, wie habe ich das zu verstehen? Ich handle im Auftrag des Königs von Spanien!“ Der Seewolf blitzte den Corporal an und sprach jedes Wort mit äußerster Schärfe aus. Gleichzeitig gab er Ben Brighton und weiteren zwei Mann ein Zeichen. Sofort setzten die drei sich von der Gruppe des Seewolfs ab und marschierten auf ein Steinhaus zu, daß sich am Ortseingang befand. Der Corporal sah das und reagierte sofort. . „Halt, Capitan! Rufen Sie sofort Ihre Leute zurück! Der Teniente hat über Baudo wegen eines Überfalls durch feindliche Indios den Ausnahmezustand verhängt. Jeder Kontakt durch Fremde mit den Einwohnern ist strengstens untersagt, ich ...“ „Was sagten Sie? Ausnahmezustand? Indios haben Baudo überfallen, und der Kommandant der hiesigen Garnison verhängt den Ausnahmezustand über Baudo. sperrt die Einwohner Baudos in ihre Häuser ein, statt eine allgemeine Verteidigung für den Wiederholungsfall zu organisieren? Corporal, diese Sache kommt mir äußerst faul vor. Vergessen Sie nicht, daß meine Leute und ich auf den Mulis Millionenwerte zu transportieren haben. Ich werde mich sehr genau darüber informieren, was hier vorgeht, Corporal.
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Ich bin der Spanischen Krone für die Ladung, die ich transportiere, persönliche Rechenschaft schuldig!“ Er gab Ben abermals einen Wink und zwinkerte ihm gleichzeitig, unsichtbar für den Corporal und seine Soldaten, mit den Augen zu. „Bootsmann, gehen Sie mit Ihren beiden Leuten zum nächsten Haus und informieren Sie sich. Diese Ungeheuerlichkeit möchte ich auch von den Einwohnern Baudos erfahren.“ „Aye, Sir!“ Ben Brighton salutierte. Dann rückten er und seine Männer ab. Ihm war sofort klar, was der Seewolf mit diesem Vorgehen bezweckte — er wollte den Teniente provozieren, ihn zu übereilten Aktionen und zur Unvorsichtigkeit verleiten. Hasard plante also, die Dinge von Anfang an auf die Spitze zu treiben, weil er eine rasche Entscheidung wünschte. „Halt, stehenbleiben, oder wir schießen!“ brüllte der Corporal. Seine Soldaten nahmen ihre Musketen hoch, aber damit gerieten sie bei dem Seewolf gerade an den Richtigen. Mit einem blitzschnellen Griff packte er den Corporal und entriß ihm seine Muskete. Dann bohrte er ihm den Lauf in den Leib. „Lassen Sie feuern, Corporal, dann sind Sie sofort ein toter Mann. Sie scheinen Ihre Lage zu verkennen: Ich bin nicht als Bittsteller hier, sondern ich verlange im Namen des Königs von Spanien volle Unterstützung. Sollte sich irgendwelcher Widerstand ergeben, werde ich ihn zu brechen wissen. Ist das jetzt endlich klar, Corporal?“ Der Spanier erblaßte. Verdammt! dachte er, dieser Kerl ist imstande und legt mich um. Der Bursche ist ja noch viel gefährlicher, als man ahnen konnte! „Also gut, Senor Capitan“, lenkte er daher ein, „ich habe das ja nicht so gemeint. Aber wir sind hier alle ein wenig nervös seit dem Überfall, das müssen Sie doch verstehen. Acht unserer Kameraden sind tot, bestialisch ermordet ...“
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Der Seewolf senkte die Waffe. „Zwei meiner Leute wurden gestern Zeugen einer Bestrafung, bei der ein Indio totgeprügelt wurde. Was glauben Sie denn wohl, wie die Indios darauf reagieren sollten? Zumal auch der zweite dies Schicksal erleiden sollte, und zwar heute bei Sonnenaufgang. Ich werde, bevor ich abreise, Recherchen anstellen lassen und dann über das Vorgehen des Teniente bei Hof Bericht erstatten. Es sei denn, man könnte mich hier an Ort und Stelle davon überzeugen, daß meine Informanten alles falsch gesehen haben und der Teniente sich im Recht befand. So, und jetzt wünsche ich, zum Teniente Fierro geführt zu werden, ob er nun gerade Zeit hat oder nicht. Vorwärts marsch — Sie begleiten uns, Corporal!“ Ohne eine Entgegnung abzuwarten, nahmen die Seewölfe den Corporal in die Mitte und marschierten los. Keiner der Spanier wagte auch nur eine Hand zu rühren. Aber an den wütenden Blicken, die ihnen die Spanier zuwarfen, sahen sie doch, daß sie irgendwelche Pläne des Teniente durch das Vorgehen des Seewolfs von Anfang an durchkreuzt hatten. * Der Erfolg Hasards bei dem Teniente war durchschlagend. Der Mann floß über vor Freundlichkeit. Aber er schmeckte Hasard nicht -der Seewolf spürte hinter jedem Wort dieses Despoten auch die Falschheit, die Gier, die Schätze der „Isabella“ in seinen Besitz zu bringen. Er probierte es aus, indem er möglichst ausführlich darüber berichtete, was alles die Maultiere auf ihren Rücken transportieren sollten. „Nur in einem Punkt, Teniente, haben sich meine Pläne geändert.“ Er registrierte, wie der Teniente zusammenzuckte, seine Augen sich verengten und das begehrliche Glitzern in ihnen noch stärker wurde. „Sie haben Ihre Pläne geändert, Senor Capitan? Aber warum denn? Ich werde Ihnen und Ihren Männern eine Eskorte stellen, die ich persönlich anführe. Ich kenne mich hier aus, Capitan. Wir geleiten
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Sie und ihre kostbare Ladung sicher nach Panama. Schließlich dienen auch wir dem König von Spanien, und nicht weniger ergeben und treu als Sie und Ihre Besatzung, Senor!“ Hasard nickte. „Natürlich, Teniente, gar kein Zweifel. Sie haben meine anfänglichen Vorbehalte, die ich durch die schlimmen Ereignisse zunächst einmal haben mußte, zum Teil zerstreuen können. Aber ich bin für die Sicherheit der Juwelen, des kostbaren Schmucks, der vielen Barren Gold und Silber nun einmal verantwortlich. Mir muß also daran gelegen sein, die sicherste Route einzuschlagen. Und deswegen nehme ich ihre Eskorte gern bis Quibdo in Anspruch, ebenso die Mulis, die Sie dort von mir zurückerhalten werden. Von Quibdo aus werde ich mit Booten den Atrato hinabfahren, das ist schneller und wesentlich sicherer, wie Sie zugeben werden!“ Der Teniente hatte Mühe, seine Fassung zu bewahren. Deutlich spürte der Seewolf, daß durch diese Änderung seine ganzen schurkischen Pläne ins Wanken gerieten. Er versuchte auch sofort zu retten, was noch zu retten war. „Nein, Capitan, das ist völlig unmöglich. Schlagen Sie sich das bitte aus dem Kopf, das werde ich nicht dulden. In diesem Gebiet trage ich für alles die Verantwortung, was geschieht. Auf dem Wege nach Quibdo müßten Sie durch das Gebiet der Tukanos. Das wäre Selbstmord, Capitan, glatter Selbstmord! Nein, auf keinen Fall!“ Hasard verkniff sich nur mühsam ein Grinsen. Aber er spielte seine Rolle weiter. „Bedaure, Teniente Fierro, wenn wir uns in diesem Punkt nicht einigen sollten. Dann müßte ich eben auf Ihre Eskorte verzichten und würde mit meinen Männern allein reisen. Ich bin sicher, daß wir mit den Tukanos fertig werden. Wenn Sie also nicht wollen oder Ihre Leute Angst vor den Tukanos haben, dann empfehle ich Ihnen, in Baudo zu bleiben! Und jetzt wollen Sie bitte die Güte haben, mir die versprochenen Maultiere zu übergeben!“
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Der Teniente wand sich wie ein Aal, aber es half ihm alles nichts, der Seewolf ließ nicht mit sich handeln. Außerdem befand sich der Teniente in einer miserablen Position. Als angeblicher Capitan war Hasard ranghöher als er, er konnte ihm also auch keine Befehle erteilen, ohne sich eine ärgerliche Abfuhr zu holen. „Also gut, aber auf Ihre Verantwortung, Capitan. Das wollen Sie mir bitte noch schriftlich geben, darauf muß ich leider bestehen.“ Er sah ihn mit einem so verschlagenen Blick an, daß der Seewolf sofort begriff, wie schnell dieser Mörder seine Chancen erkannte. Wenn er, der angebliche Capitan Diaz de Veloso, dem Teniente diese Erklärung abgab, konnte er ihn ohne jede Gefahr irgendwo überfallen und umbringen und danach alles auf die Tukanos schieben. Besser konnten sich die Dinge für den Teniente und seine Pläne gar nicht entwickeln. Trotzdem stimmte Hasard sofort zu. Auch, wenn er sich vor diesem Kerl künftig höllisch in acht nehmen mußte. „Natürlich, Teniente, Ihr Verlangen ist nur recht und billig. Lassen Sie eine derartige Erklärung ausfertigen, und ich werde Sie Ihnen sofort unterzeichnen.“ Der Teniente zog an einer Schur, und irgendwo draußen läutete eine Glocke. Eine Ordonanz trat Sekunden später ein. „Schicken Sie mir einen Schreiber, sofort. Er soll ein Schriftstück aufsetzen!“ befahl der Teniente und verneigte sich bei diesen Worten leicht gegen den Seewolf. „Es ist Ihnen doch sicher recht, daß wir diese Formalität sofort erledigen, Capitan, nicht wahr?“ „Selbstverständlich, Teniente. Aber für Eile wäre ich dankbar, Sie können sich sicher vorstellen, daß meine Männer und ich noch sehr viel zu tun haben.“ Der Teniente erfüllte seinen Wunsch. Die Erklärung wurde ausgefertigt und von Hasard unterzeichnet. Dann verließen er und der Teniente das geräumige Steinhaus unmittelbar an der Plaza, das dem Teniente als Residenz diente.
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Die Maultiere wurden zusammengetrieben und dem Seewolf und seinen Männern übergeben. Der Teniente bot sogar noch einige seiner Soldaten als Treiber an, aber Hasard lehnte ab. Dann verabschiedeten sich die beiden so unterschiedlichen Männer voneinander. „Ich erwarte Sie dann also morgen im Lauf des Vormittags mit Ihrer Eskorte, Teniente. Wir treffen uns am Ortsausgang von Baudo, einverstanden?“ Der Teniente nickte und floß über vor Freundlichkeit. Geschickt vermied der Seewolf es, dem Kerl die Hand zu reichen, sondern nickte ihm lediglich zu. „Und noch etwas, Teniente“, sagte er zum .Abschied, „wir werden auf dem Weg nach Quibdo beide gut aufeinander aufpassen, dann kann mir und meinen Männern sicher nichts geschehen.“ Der Teniente strahlte. „Natürlich Senor, Captain. Natürlich! Und ob wir aufpassen werden!“ Hasard ritt weg. Aber diesmal war er sicher, daß ihn dieser sonst so schlaue Patron absolut nicht verstanden hatte. Und das war gut so. Auf dem Rückweg berichtete er Ben Brighton und den anderen Männern seiner Crew alles haarklein. Ben Brighton schüttelte den Kopf. „Du spielst ein riskantes Spiel“, sagte er nur. „Aber ich bin ja Kummer mit dir gewöhnt — und bisher hast du ja auch immer recht behalten ...“ * Den Rückweg zur Bucht hatten die Männer mit den Mulis schon bald geschafft. Danach begannen Stunden härtester Arbeit. Unter Anleitung von Ferris Tucker bastelten Männer der Crew Tragegestelle zusammen. Das nahm den Rest des Tages in Anspruch. Der Segelmacher vernähte die letzten Sachen in Segeltuchsäcke. Als die Sonne schließlich im Meer verschwand, ließ Hasard Wachen einteilen und aufstellen. Er wollte in keiner Hinsicht auch nur das geringste Risiko eingehen. Die Männer rollten sich in ihre Decken,
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denn am nächsten Morgen hieß es in aller Hergottsfrühe aufstehen und die Mulis beladen. Abermals sicher eine harte Arbeit von Stunden. Was der Tag dann sonst noch alles bringen würde, das stand wirklich in den Sternen. 6. Schon lange vor Sonnenaufgang waren die Männer wieder auf den Beinen. Die Nacht war ohne den geringsten Zwischenfall verlaufen, und daher wußte der Seewolf, daß der Teniente sich etwas anderes hatte einfallen lassen. Die Mulis wurden beladen. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang war es soweit — die Maultierkarawane rückte ab. Auf einem der Maultiere thronte Arwenack. Er hatte seinen Schock, den er beim Untergang der „Isabella“ erlitten hatte, offenbar überwunden. Denn er wußte sich vor Freude, auf einem Maultier zu reiten, gar nicht zu lassen. Gegen Mittag näherte sich die Kolonne Baudo. Noch bevor die Männer mit den Mulis die Stadt erreichten, erwartete sie am Rande des Pfades Padre Josefo, neben sich einen jungen schlanken Indio mit wachen, intelligenten Augen. Hasard gab das Zeichen zum Halten, und der Padre trat auf ihn zu. „Das hier ist Jesusito, Capitan. Einer meiner zuverlässigen und ortskundigsten Indios. Sie können ihm blind vertrauen. Er wird Sie und Ihre Männer nach Quibdo bringen. Mögliche Gefahrenstellen des Weges kennt er genau, auch in dieser Hinsicht würde ich an Ihrer Stelle auf seinen Rat hören, Senor Capitan.“ Bei den letzten Worten blinzelte er dem Seewolf zu, und daraus erkannte Hasard zumindest, daß Jesusito teilweise von dem Padre eingeweiht worden war. Der Seewolf reichte dem Indio die Hand. „Ich danke Ihnen, Sonor, daß Sie bereit sind, uns zu führen. Ich werde dafür Sorge tragen, daß man Sie fürstlich entlohnt ...“ Jesusito schüttelte heftig den Kopf, aber Hasard wischte seinen Protest mit einer energischen Handbewegung fort.
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„Doch, Sie können es von mir ruhig annehmen, von mir und meinen Männern. Der Padre hat schon eine Menge für uns getan, ihm habe ich ein Scherflein für seine Missionsarbeit versprochen.“ Hasard langte zum Tragegestell des Mulis, neben dem er sich befand, und hob einen Leinensack herunter. Den drückte er dem Padre in die Hand. „Gott segne Sie, Padre, und vor allem, er schütze Sie.“ Der Padre trat einen Schritt zurück, dann hob er die Hände. „Gott schütze Sie und Ihre Männer. Ich wünschte, wir würden uns irgendwann im Leben einmal wiederbegegnen. Aber vielleicht geschieht das, denn Gottes Wege sind oft wunderbar, mein Sohn!“ Er reichte dem Seewolf die Hand, wechselte noch ein paar Worte mit Jesusito und hob anschließend den Leinensack auf. Bald darauf war er hinter einer Biegung des Pfades verschwunden, aber er ging nicht in Richtung Baudo, und dafür hatte er sicher seinen Grund. Die Mulikolonne setzte sich wieder in Bewegung. Eine halbe Stunde später erreichte sie den Ortsrand von Baudo, und dort wartete bereits voller Ungeduld der Teniente mit zehn Soldaten. Beim Anblick Jesusitos verfinsterte sich seine Miene schlagartig. Er trat hart an den Seewolf heran. „Wieso befindet sich dieser Bastard bei Ihnen, Capitan? Haben wir denn nicht gerade genug Ärger mit diesen braunhäutigen Halunken? Los, verschwinde, du Hurensohn, oder ich mach dir Beine!“ Hasard stellte sich vor Jesusito. „Er bleibt, Teniente, denn ich habe ihn als Führer für mich und meine Männer engagiert. Er begleitet uns bis Quibdo – vielleicht sogar noch weiter. Er kennt dieses Land, so etwas ist immer von Nutzen. Und ganz sicher ist er als Führer für mich wertvoller, als einer Ihrer stupiden Soldaten. So, ich denke, dieser Punkt wäre damit klar!“ Er sah dem Teniente an, daß er kochte. Am liebsten hätte er sich auf den Indio gestürzt, aber er traute sich nicht. Er
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brachte es sogar fertig, seine Wut herunterzuschlucken. „Gut, ganz wie Sie wünschen, Capitan. Aber es hätte eines zweiten Führers nicht bedurft, ich kenne den Weg nach Quibdo genau.“ Der Teniente zog ab. Er und seine Soldaten steckten für einen Moment die Köpfe zusammen. Dann verteilten sie sich längs der Kolonne zu beiden Seiten, und Hasards Männer folgten ihrem Beispiel. Und zwar so, daß sie die Soldaten des Teniente jederzeit unauffällig unter Kontrolle hatten. * Am frühen Nachmittag überquerten sie eine Furt des Rio Baudo. Von dort führte der Maultierpfad über einen etwa dreihundert Meter hohen Bergzug, und später wieder durch eine unübersichtliche Hügellandschaft. Als der Abend sich näherte, befanden sie sich noch immer in jener Hügellandschaft, aber nichts geschah, was irgendeinen Hinweis darauf gab, was der Teniente im Schilde führte. Kurz bevor es endgültig dunkel wurde, gab Hasard das Haltzeichen. „Wir werden hier unser Lager aufschlagen“, verkündete er. „Bei Dunkelheit wird auf keinen Fall weitergezogen.“ Die Männer blickten sich um. Einen besseren Platz hätte sich der Seewolf gar nicht aussuchen können. Vor einem Felshang, der gut fünfzig Yards hoch aufragte und senkrecht nach unten abfiel, war eine kleine, halbkreisförmige Lichtung. Sie bot aber trotz ihrer geringen Ausmaße genügend Platz für seine Männer, für die Soldaten und für die Mulis. Die Ladung konnte man an der Felswand aufschichten, und damit hatte man sie unter Kontrolle. Die Männer gingen an die Arbeit, aber jeder spürte, daß etwas in der Luft lag. Als die Maultiere entladen waren, trat der Teniente auf den Seewolf zu.
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„Ihre Männer und Sie ruhen sich am besten aus, Capitan. Meine Leute werden die Wachen übernehmen.“ Hasard nickte. „Natürlich, ist mir ganz recht, daß ich meine Crew nicht mit Wach- dienst zu behelligen brauche. Die Männer haben seit Tagen geschuftet wie die Sklaven, sie brauchen dringend Ruhe.“ Dem Seewolf entging das kurze Aufblitzen in den Augen des Teniente nicht, ebenso wenig wie die tiefe Befriedigung, die bei seiner Zustimmung über dessen Züge huschte. Von diesem Moment an wußte er mit absoluter Sicherheit, daß der Teniente für diese Nacht etwas geplant hatte. Aber Hasard ließ sich von seinem Verdacht nichts anmerken. Er kontrollierte das Aufschichten der Ladung, sprach noch ein wenig mit seinen Männern und blieb schließlich bei Ben Brighton stehen. „Der Teniente und seine Männer haben sich angeboten, die Nachtwachen zu übernehmen. Es ist etwas im Busch, Ben. Unser eigener Plan und Wachtörn bleibt bestehen, verständige die Männer unauffällig. Du und Carberry - unmittelbar neben mir. Die anderen platzieren sich wie besprochen. Jeder soll seine Waffen unauffällig bereitlegen. Unauffällig, Ben oder unser ganzer Plan ist geplatzt. Wenn dieser Kerl heute etwas unternimmt, sind wir darauf vorbereitet, das muß aber nicht beim nächsten Mal so sein. Der hat sich ganz bestimmt gleich mehrere Möglichkeiten geschaffen, denn er konnte schließlich nicht wissen, wo wir lagern würden. Das lag ganz allein in meiner Entscheidung. Ich werde aber noch mit Jesusito reden, der sich ebenfalls in meiner unmittelbaren Nähe niederlegen wird.“ Der Seewolf beendete seine Runde. Schließlich breitete er seine Decken aus und legte sich nieder. Allmählich brannte das Feuer runter. Dann wurde es still auf dem Lagerplatz, und schließlich verkündete lautes Schnarchen der Männer, daß die meisten schliefen. *
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Teniente Fierro horchte auf das Schnarchen. Ein böses, grausames Lächeln umspielte seine Lippen. „Dieser Kerl ist zwar gefährlich, aber er ist dumm“, raunte er dem Corporal, seinem Vertrauten bei allen Verbrechen, zu. „Schon daß er mit diese Erklärung unterschrieben hat, beweist, daß er nicht den geringsten Argwohn gegen uns verspürt. Dieser Kerl verläßt sich tatsächlich darauf, daß wir ihn mit seinem Transport sicher nach Quibdo geleiten werden!“ Der Corporal richtete sich etwas auf und sah den Teniente an. „Ich weiß nicht, mir gefällt diese ganze Bande nicht. Die Kerle reden kaum ein Wort miteinander, so etwas habe ich noch nie erlebt! Dann ihre Haarfarbe, sie sind zum Teil blond. Gut, es gibt blonde Spanier in den Nordprovinzen, aber dennoch ist mir die Sache nicht recht geheuer. Wir sollten verdammt vorsichtig sein, ich kenne Männer wie diesen Capitan Diaz de Veloso. Der hat vor nichts Angst, und der Kerl versteht zu kämpfen. Genau wie seine beiden Leute, mit denen wir den ersten Ärger hatten.“ Teniente Fierro schüttelte den Kopf. „Du siehst Gespenster. Nein, ich habe diesen Capitan genau beobachtet. Er ahnt nichts. Und die Sache mit dem Indio läßt sich auch leicht erklären: Ich habe ihm gesagt, daß wir Krieg mit den Tukanos haben. Er muß damit rechnen, daß sie ihm keinen Führer stellen. Darum hat er sich diesen Jesusito engagiert, wahrscheinlich hat der Padre ihm diesen Mann empfohlen. Ich weiß, daß dieser Jesusito die ganze Gegend hier genau kennt. Aber er wird keine Gelegenheit mehr bekommen, seine Kenntnisse zu verwerten. Er stirbt ebenfalls, von der Hand der Tukanos.“ Der Teniente hatte so leise geflüstert, daß selbst sein Spießgeselle Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Wir warten jetzt noch eine Stunde. Dann gehen wir vor, wie verabredet. Inzwischen werden auch unsere anderen Männer zur Stelle sein —nein, es kann nichts schiefgehen!“
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Er legte sich zurück. Doch plötzlich richtete er sich noch einmal auf. „Wenn wir diese Sache hinter uns haben, setzen wir uns ab. Ich habe alles vorbereitet. Uns kann anschließend suchen, wer will, man wird uns nicht finden. Du begleitest mich als mein Partner, aber nur du. Die anderen mögen zur Hölle fahren. In Baudo können wir sowieso nicht bleiben, irgendwann kriegen wir dort ernste Schwierigkeiten ...“ Er schwieg, und der Corporal beugte sich zu ihm herüber. „Erzähle, was hast du vorbereitet?“ Der Teniente winkte jedoch ab. „Später, du wirst alles erfahren. Und jetzt sei still. Ich muß genau hören, ob sich noch jemand von diesen Kerlen rührt.“ Sie schwiegen und konzentrierten sich auf jedes noch so schwache Geräusch, aber es geschah nichts. * Gut zwanzig Schritte von den beiden Mordgesellen entfernt lagen Hasard, Ben Brighton und Carberry. Auch von ihnen schlief keiner. Sie wußten alle drei, daß diese Nacht etwas geschehen würde, aber sie wußten nicht wann und nicht wie. Es blieb ihnen gar keine andere Wahl, als zu warten. Schließlich wurde Hasards Warten belohnt. Etwa eine Stunde nach Mitternacht erkannte er im schwachen Schein der Sterne, wie sich der Teniente und der Corporal lautlos erhoben. Ebenso unhörbar schlichen sie zu den beiden Wachsoldaten hinüber und flüsterten mit ihnen. Hasards Muskeln spannten sich unwillkürlich. Er stieß Ben Brighton und Carberry an. „Achtung, es geht los“, flüsterte er ihnen zu und griff unter der Decke nach seiner zweischüssigen Reiterpistole. Langsam spannte er ihre Hähne, die Ladung hatte er vorher sowieso sorgfältig kontrolliert. Unauffällig, so langsam, daß es keinem der Spanier auffallen konnte, selbst wenn sie ihn beobachteten, drehte er den Kopf, so daß er den Teniente und den Corporal im Blickfeld hatte.
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Aber der Corporal war verschwunden — und das war für Hasard ein alarmierendes Zeichen. Er drehte den Kopf noch etwas weiter herum und sah jetzt, wie sich ein Soldat nach dem anderen aus seinen Decken schälte. Säbelklingen blitzten im Licht der Sterne auf, und in diesem Moment sprang der Teniente plötzlich auf Hasard zu. Er schnellte sich förmlich ab. In der einen Hand hielt er seinen Säbel, in der anderen einen Gegenstand, der nur eine Pistole sein konnte. Hasard zögerte keine Sekunde länger. Mit einem einzigen Ruck riß er seine Reiterpistole unter der Decke hervor und feuerte. Lange Feuerzungen stachen durch die Nacht. Die beiden Kugeln trafen den Teniente in den Kopf und rissen ihm das halbe Gesicht weg. Fierro stieß einen schrillen Schrei aus, dann stürzte er schwer zu Boden. Carberry und Ben Brighton waren aufgesprungen. Der Profos fackelte nicht lange. Mit seinem gewaltigen Organ stieß er einen wilden Schrei aus, dann warf er sich auf den Corporal, der eben seine Muskete hochriß und auf ihn richten wollte, Die beiden Männer rangen nur einige Sekunden miteinander, dann stieß Carberry dem Spanier sein Entermesser in die Brust. Gurgelnd stürzte der Mann zu Boden, Blut brach aus seinem Mund hervor. Inzwischen war die ganze „Isabella“-Crew auf den Beinen. Der schwere Morgenstern Batutis, den er am Blackwater von einem Iren erbeutet hatte, mähte schon beim ersten Schlag zwei der Spanier zu Boden. Batuti setzte sofort nach. Überall im Lager herrschte wüstes Gebrüll. Musketen krachten, Kugeln pfiffen an den Köpfen der Männer vorbei, klatschten gegen die Felswand und sirrten als Querschläger. davon. Manche Kugel traf, das hörte Hasard an den Schreien, die durch die Nacht hallten. Die Männer der „Isabella“-Crew gaben kein Pardon. Es dauerte nur Minuten, dann lebte keiner der elf Spanier mehr.
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Erschlagen, erstochen, erschossen, so lagen sie verkrümmt auf dem Boden der Lichtung. Hasard befahl, ein Feuer zu entzünden. Anschließend versammelte er seine Männer um sich. Es zeigte sich, daß es wohl Verletzte unter seinen Männern gab, aber der Kutscher flickte sie alle wieder so zusammen, daß keiner von ihnen zurückbleiben mußte. Der Seewolf winkte Jesusito zu sich heran, der ihn aus großen Augen anstarrte. „Jesusito, du kennst die Gegend. Der Teniente hat noch mehr Soldaten. Ich vermute, daß er uns auch noch einen Hinterhalt gelegt hat, falls sein Anschlag aus irgendeinem Grund in dieser Nacht unterbleiben mußte. Wo, glaubst du, wird er diesen Hinterhalt gelegt haben?“ Der Indio überlegte einen Moment, dann huschte ein Lächeln über seine Züge. „Ich kann es mir denken, Senor“, antwortete er. „Morgen, gegen Mittag, erreichen wir eine Schlucht. Sie ist für einen solchen Hinterhalt wie geschaffen. Steile Felsen zu beiden Seiten, schmale Durchlässe, bevor man hinein- und wieder hinausgelangt. Wenige Männer, die genügend geladene Musketen besitzen, könnten alle Ihre Männer erschießen, ohne daß Sie und Ihre Leute irgendwo Deckung fänden!“ Hasard nickte. Aber dann furchte sich seine Stirn. „Warum, zum Teufel, hat dieser Hundesohn dann nicht bis morgen gewartet, wenn er uns dort so sicher erledigen konnte? Wie konnte er glauben, daß er uns mit seinen paar Banditen im Schlaf erledigen konnte?“ Der Indio lächelte abermals. „Teniente böser Mann“, sagte er nur und verfiel dabei ganz automatisch in den Dialekt der Tukanos, korrigierte sich aber sofort, als Hasard ihn fragend anblickte. „Er war zu gierig, Senor, er wollte nicht mit seinen Soldaten teilen. Wahrscheinlich hätte er sie auch noch umgebracht, auf irgendeine Weise. Nur er und der Corporal, Senor, glauben Sie mir, das war der Grund, und das hat ihn getötet!“
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Ben Brighton mischte sich ein. „Jesusito hat sicher recht. Diese Kerle sind so, alle. Und daran gehen sie auch zugrunde, glücklicherweise. Wir müssen die Toten begraben, Hasard. Man darf sie auf keinen Fall finden, das könnte uns ernstliche Schwierigkeiten bereiten. Es gibt hier große Steine, ich werde morgen in aller Frühe eine Grube ausheben und die Toten hineinlegen lassen. Dann wälzen wir schwere Steine darauf, Ferris hat sich die Sache schon angesehen, es ist leicht zu bewerkstelligen.“ „In Ordnung, Ben, erledige das. Jetzt werden Wachen eingeteilt, dann wird geschlafen, soweit das noch möglich ist. Morgen werden wir alle unsere Kräfte brauchen. Ich bin froh, Ben, daß es auf unserer Seite keine Toten oder Schwerverletzte gegeben hat. Wir haben mal wieder einen Mordsdusel gehabt.“ Eine halbe Stunde später, die toten Spanier hatte man nebeneinander an das Feuer gelegt, herrschte im Lager wieder Ruhe. Mit der ersten Morgendämmerung ging Ben Brighton an seine makabre Arbeit. Zwei Stunden später, die Sonne schickte ihre ersten warmen Strahlen über die Hügel, brach die Karawane auf. Hasard drängte jetzt darauf, auch die letzte Hürde zu nehmen. Aber es geschah dann alles anders, als er sich das vorgestellt hatte. 7. Die Sonne hatte ihren Kulminationspunkt längst überschritten, als die „Isabella“Crew jener Schlucht entgegenzog, die von Jesusito als der Ort bezeichnet worden war, an dem ein neuer Hinterhalt des Teniente auf sie lauerte. Hasard ließ halten. Dann rief er seine Männer zusammen. „Diese Schlucht ist verdammt gefährlich“, sagte er. „Nach dem, was Jesusito mir von ihr berichtet hat, können wir es nicht riskieren, in diese Falle zu tappen, selbst wenn wir ihre Gefährlichkeit kennen. Ich werde mit ein paar Männern unter Führung von Jesusito zur Schlucht gehen und
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erkunden, ob man uns dort einen Hinterhalt gelegt hat. Zwar gäbe es noch die Möglichkeit, die Schlucht zu umgehen, aber das wäre ein zeitraubender und äußerst beschwerlicher Umweg. Ich glaube nicht, daß wir uns auf solche Experimente einlassen sollten.“ Die Männer stimmten sofort zu. Hasard sprach weiter. „Jetzt zu den Männern, die mich begleiten werden. Ben, du bleibst bei dem Haufen, du auch, Ed“, sagte er zu Carberry und grinste, als der alte Haudegen ein enttäuschtes Gesicht zog. Aber Carberry verstand ohne langes Palaver, daß man die Mulis nicht ganz ohne Aufsicht lassen konnte. „Ferris, Dan, Batuti, Blacky, Smoky, Matt, Pete!“ rief er dann. „Ihr geht mit mir und Jesusito. Nehmt keine schweren Musketen mit, sondern eure Entermesser und Pistolen. Auf dem letzten Muli habe ich welche bereitgelegt, sie stammen aus der Waffenkammer unserer ,Isabella’.“ Die Männer liefen nach hinten und versahen sich mit Pistolen, genügend Pulver und bereits fertigen, gegossenen Kugeln. „Ihr marschiert langsam weiter, aber ihr bleibt von der Schlucht eine gute Meile weg. Und seid ruhig, Lärm kann uns verraten. Denn wir müssen damit rechnen, daß die Banditen dieses Teniente Wachen und Späher ausgestellt haben.“ Hasard verlor keine weitere Zeit mit Reden, sondern marschierte ab. Er und seine Männer bewegten sich schneller, als das mit den Mulis möglich gewesen wäre. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel und trieb ihnen allen den Schweiß aus den Poren. Trotzdem beschleunigte Hasard das Tempo noch. Er ließ hundert Schritte im Dauerlauf zurücklegen, dann wieder hundert im Gehen, anschließend wieder hundert im Dauerlauf. Auf diese Weise legten sie die restlichen Meilen bis zur Schlucht sehr schnell zurück. Der Boden stieg leicht an, dann senkte er sich plötzlich. Durch Handzeichen stoppte Hasard seine Männer.
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„Wir schlagen uns jetzt in die Büsche. Wenn die Kerle hier auf uns lauern, dann tun sie das auf einer oder auch auf beiden Seiten oberhalb der Schlucht. Welche Seite ist die bessere für diesen Zweck, Jesusito?“ fragte er den indianischen Führer. Jesusito überlegte eine Weile. Dann deutete er nach links. „Diese dort! Man überblickt die ganze Schlucht. Große Felsen geben gute Deckung für alle, die dort oben liegen.“ Batuti grinste. „Sehr gut! Batuti schleichen an und schneiden Hälse durch - so!“ Sein Entermesser zischte durch die Luft, entsetzt sprang der Indio zurück und starrte den Gambia-Neger aus weitaufgerissenen Augen an. Aber Batuti grinste ihn an und klopfte ihm auf die Schulter. „Nix Angst, Jesusito, Batuti nur treffen, wenn wirklich treffen wollen. Gut Freund nix Hals durchschneiden ...“ Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als plötzlich ein infernalisches Geheul die Luft erfüllte. Gleich darauf krachten Musketen, aber nur vereinzelt, dann verstummten die Waffen. Stattdessen schrien Männer wie am Spieß, spanische Flüche wurden laut, und wieder dieses infernalische Geschrei, das plötzlich abbrach. Jesusito war kreidebleich geworden. Hasard und seine Männer hatten ihre Waffen aus den Gürteln gerissen und standen da, jeden Augenblick bereit, ihr Leben zu verteidigen. Aber Jesusito schüttelte den Kopf. „Tukanos“, sagte er. „Mein Stamm hat die Soldaten des Teniente überfallen und getötet. Sie haben Rache genommen, Rache für alles, was der Teniente und seine Soldaten ihnen angetan haben.“ Er bekreuzigte sich, und Hasard sah seinen zuckenden Zügen an, daß er nicht wußte, wie er sich dazu verhalten sollte. Er war Christ, und ganz sicher führte er ein Leben im Sinne des Padre Josef o -und nun das, ausgerechnet von seinem eigenen Stamm, von seinen eigenen Brüdern und Schwestern.
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Der Seewolf ließ ihm keine Zeit für Gefühle dieser Art. Er packte ihn stattdessen hart an der Schulter und schüttelte ihn leicht. „Jesusito, bist du ganz sicher, daß es die Tukanos waren? Ist kein Irrtum möglich?“ Der Indio schüttelte den Kopf. „Ich kenne den Kriegsschrei meiner Brüder, und ich kenne auch ihren Schrei, wenn sie einen Feind besiegt haben. Nein, ich irre mich nicht, und ich werde Ihnen das beweisen!“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, lief er los. Er verschwand zwischen Büschen und Bäumen, und sie hörten für eine Weile nur noch das Brechen und Knacken der Äste, die unter seinen Füßen zerbrachen oder seine Hände knickten, um sich einen Weg zu bahnen. Es dauerte vielleicht eine Viertelstunde, dann erschien Jesusito wieder, begleitet von einer ganzen Schar von Kriegern mit Farben auf den Armen, den Gesichtern und der Brust. Ein großer Krieger blieb dicht vor Hasard stehen. Er legte die Hände vor der Brust zusammen und verneigte sich vor dem Seewolf. „Die Soldaten sind tot“, sagte er, und Jesusito übersetzte seine Worte. „Wir haben sie in die Schlucht gestürzt, keiner ist mit dem Leben davongekommen. Wir werden sie nachher zum Sumpf hinübertragen, und dort werden sie versinken, für immer. Keiner wird sie je finden. Bei uns aber, beim Stamm der Tukanos, wird wieder Friede herrschen, und auch in Baudo. Niemand wird mehr Tukanos tot prügeln, denn ihr habt den Teniente und seine anderen Soldaten besiegt und getötet.“ Er sah den Seewolf aus seinen schwarzen Augen an. „Teniente böser Mann! Gut, daß tot! Jesusito weiß, daß ihr keine Spanier seid. Grüße deine Königin, Blauauge, sie soll mehr Männer wie dich in dieses Land schicken, dann wird hier Friede herrschen! Wir werden euch jetzt nach Quibdo bringen, wenn ihr wartet, bis wir die Toten im Sumpf versenkt haben. Dort warten
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Boote auf euch, und Jesusito wird bei euch bleiben, solange ihr das wünscht!“ Der Häuptling der Tukanos verneigte sich abermals, dann zog er sich mit seinen Kriegern zurück. Der Seewolf wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann grinste er seine Männer an. „Also warten wir auf den Häuptling und seine Krieger. Eine bessere Eskorte können wir nicht kriegen. Aber du, Jesusito, gehst zu den anderen Männern meiner Besatzung zurück und sagst ihnen, daß sie weitermarschieren sollen. Wir werden am Ausgang der Schlucht auf sie warten Der Indio nickte und trabte davon. * Eine gute Stunde später hatte sich der ganze Zug neu formiert. Die Tukanos hatten die Flankendeckung übernommen. Arwenack ritt auf einem der Maultiere und kefferte vor Vergnügen. Hin und wieder sprang er vor lauter Übermut von einem Maultier zum anderen, was zur Folge hatte, daß das Muli erschrocken zu schreien begann und schließlich bockig stehenblieb.
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Carberry sah sich dieses Spiel eine Weile mit an, aber nachdem er fluchend und brüllend ein paarmal eines der Mulis unter dem Gelächter der Männer weitergezerrt hatte, schnappte er sich Dan. „Hör zu, Freundchen!“ knurrte er ihn an. „Wenn wir dich und diesen verdammten Schimpansenjungen, der offenbar noch genauso grün hinter den Ohren ist wie du, aus der absaufenden ‚Isabella’ herausgefischt haben, dann kümmere dich gefälligst um ihn, oder ich ziehe euch beiden tatsächlich noch die Haut von euren verdammten Affenärschen ab!“ Er versetzte dem völlig überrumpelten Dan einen derben Klaps und setzte sich nach einem weiteren drohenden Blick an die Spitze der Kolonne. Dan warf ihm einen scheelen Blick nach, und er erwischte Arwenack gerade noch, als der wieder einen seiner Sprünge praktizieren wollte. „He, Freundchen, paß auf“, sagte er, als Arwenack voller Wut lauthals zu schimpfen begann. „Dieser Carberry hat eine Vorliebe für Affenärsche, und deiner ist noch um vieles affiger als meiner, kapiert?“
ENDE