R. L. Stine
Lampenfieber Die Angst spielt immer mit
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke
Loewe
St...
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R. L. Stine
Lampenfieber Die Angst spielt immer mit
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke
Loewe
Stine, Robert L.: Fear Street / R. L. Stine. – Bindlach : Loewe Lampenfieber : Die Angst spielt immer mit/ aus dem Amerikan. übers, von Sabine Tandetzke. – 1. Aufl. – 2000
ISBN 3-7855-3597-X
ISBN 3-7855-3597-X – 1. Auflage 2000 Titel der Originalausgabe: : Secret Admirer Englische Originalausgabe Copyright © 1996 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 2000 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke Umschlagillustration: Arifé Aksoy Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Satz: DTP im Verlag Gesamtherstellung: Graphischer Großbetrieb Pößneck GmbH
Prolog Liebe Selena, dein Name bedeutet „Mond" - und wie der Mond bist du blass, schön und geheimnisvoll. Dein blondes Haar glänzt silbern wie die Strahlen des bleichen Nachtgestirns. Jeder bewundert dich. Jeder applaudiert dir. Auch ich gehöre zu deinem Publikum, Selena. Aber obwohl ich dich jeden Tag sehe, siehst du mich nicht. Doch irgendwann wird sich das ändern. Irgendwann werde ich dein einziges Publikum sein. Nur du und ich, Selena. Irgendwann. Sehr bald. Für immer dein, Die Sonne
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Kapitel 1 „Er wird dir nie wieder wehtun. Ich verspreche es dir. Er wird dir nie wieder wehtun." Selena Goodrichs letzte Worte waren fast ein Flüstern. Das Publikum begann zu klatschen, und dann fiel langsam der Vorhang. Als er sich wieder hob, trat Selena nach vorne auf die Bühne. Lächelnd ließ sie ihren Blick über das Publikum wandern und nahm den Applaus und die begeisterten Rufe entgegen. Sie machte eine tiefe Verbeugung, bei der ihr die blonden Locken über die Schultern fielen. Dann richtete sie sich auf und wandte sich den anderen Schauspielern zu. Sie reichte Alison Pearson und Jake Jacoby die Hände – und alle Darsteller, die sich in einer Reihe aufgestellt hatten, verbeugten sich gemeinsam. Die Zuschauer sprangen auf und klatschten und jubelten noch lauter. „All diese Leute sind gekommen, um mich zu sehen", dachte Selena glücklich. „Die Bühne ist meine Welt. Endlich weiß ich, wo ich hingehöre." Nachdem der Vorhang zum letzten Mal gefallen war, wandte Selena sich ihren Freunden zu. „Ihr beiden wart spitze!", sagte sie anerkennend. „Danke, Selena", murmelte Alison. Sie war ein hübsches Mädchen mit smaragdgrünen Augen und langen, schwarzen Haaren. Bewundernd lächelte sie Selena an. „Aber ich werde nie so gut sein wie du. Du hast fantastisch gespielt!" „Stimmt, du warst gar nicht mal so übel, Moon", stimmte Jake zu und klopfte Selena leicht auf die Schulter. Unter Selenas Freunden war er der Einzige, der immer noch ihren Spitznamen aus Kindertagen benutzte. Er zog sie gerne damit auf, weil er wusste, dass sie sich darüber ärgerte. Die meisten anderen Leute wussten nicht einmal, dass „Selena" aus dem Griechischen kam und frei übersetzt „Mond" bedeutete. „Du warst auch nicht schlecht. Wenigstens bist du dieses Mal nicht auf die Nase gefallen", gab Selena zurück und verdrehte die Augen. „Gehst du eigentlich zu der Party für die Schauspieler?" Jake zuckte mit den Achseln. „Ich weiß noch nicht", meinte er. „Irgendwie bin ich nicht so richtig in Partystimmung." 10
Trotz der dicken Bühnenschminke auf seinem Gesicht bemerkte Selena, dass Jake dunkle Ringe unter den Augen hatte. Sie wollte ihn gerade fragen, was los war, als der Leiter des Schauspiel-Clubs auf sie zustürmte. „Meinen Glückwunsch, Selena!", rief er mit dröhnender Stimme. „Die heutige Vorstellung war ausgezeichnet! Besonders gut hat mir die Sache mit dem Taschentuch im letzten Akt gefallen. Damit hast du sogar mich überrascht!" „Vielen Dank, Mr Riordan", antwortete Selena mit einem Lächeln. Der gut aussehende, grauhaarige Schauspiellehrer stieg auf einen Stuhl und bat um Aufmerksamkeit. „Wir treffen uns dann gleich alle auf der Party bei mir zu Hause!", verkündete er über das Stimmengewirr hinweg. „Doch bevor ihr geht, möchte ich euch noch an das Vorsprechen für die Frühjahrsaufführung erinnern, das nächste Woche stattfindet. Ihr werdet euch freuen zu hören, dass ich einen Klassiker ausgesucht habe – Romeo und Julia." Diese Neuigkeit wurde mit einer Mischung aus Stöhnen und begeistertem Jubel aufgenommen. „Romeo und Julia!", dachte Selena aufgeregt. „Das ist meine große Chance, Shakespeare zu spielen!" Als sie zu ihrem Spind ging, musste sie sich ihren Weg durch die laute, aufgeregte Menge der Schauspieler bahnen, die sich hinter der Bühne tummelten. „He, Selena!", rief Danny Morris. „Prima Vorstellung! Du warst echt cool!" „Danke", erwiderte Selena kurz angebunden und schob sich an dem stämmigen, blonden Jungen vorbei, der wie sie die Abschlussklasse der Highschool besuchte. Als sie die Enttäuschung auf seinem gebräunten Gesicht bemerkte, spürte sie leichte Gewissensbisse. „Vielleicht sollte ich ein bisschen netter zu ihm sein", überlegte sie. „Schließlich haben wir uns früher mal sehr gern gehabt. Damals – aber das ist lange her ..." Heute konnte Selena allerdings nicht mehr verstehen, warum alle Mädchen an der Highschool von Danny so fasziniert waren. Inzwischen fiel es ihr sogar schwer, sich vorzustellen, dass sie ganze sechs Monate mit ihm gegangen war. Wie hatte sie seine Angeberei und seinen Egoismus bloß so lange ausgehalten? „Sprichst du auch für eine Rolle im nächsten Stück vor?", fragte Danny und baute sich vor ihr auf.
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„Natürlich." Selena seufzte. Sie versuchte, um ihn herumzugehen, aber er bewegte sich keinen Zentimeter. „Danny, hör mal, ich hab's eilig ..." „Du wirst bestimmt den Part der Julia bekommen", sagte Danny beharrlich und ignorierte ihre Versuche, an ihm vorbeizukommen. „Rat mal, für welche Rolle ich vorspreche?" „Das Ungeziefer im Schloss?", witzelte Selena. „Selena!" Beim Klang der vertrauten Stimme ihrer besten Freundin, Katy Jensen, drehte Selena sich um. Katy, die den schwarzen Overall der Bühnenarbeiter trug, kam auf sie zugelaufen. „Bis später", wimmelte Selena Danny ab, als Katy sich näherte. „Du warst großartig!", schwärmte Katy. „Sogar noch besser als gestern." Begeistert umarmte sie ihre Freundin. „Heute waren alle Schauspieler großartig", sagte Selena bescheiden. „Und hinter der Bühne lief es auch perfekt." Katy wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ihr kurz geschnittenes, dunkles Haar war zerzaust, und ihr blasses, rundes Gesicht glänzte vor Schweiß. „Es gab ein Problem mit der Beleuchtung", erzählte sie. „Hast du es nicht bemerkt?" „Überhaupt nicht", erwiderte Selena. „Einer der Scheinwerfer war nicht richtig eingestellt", erklärte Katy. „Ich bin sofort raufgeklettert, als ich es gesehen habe." Sie zeigte hinauf zu dem schmalen Laufsteg hoch über der Bühne, an dem die Beleuchtungsanlage befestigt war. Selena blickte nach oben und schauderte. „Wie bringt Katy es bloß fertig, dort hinaufzusteigen?", fragte sie sich. Allein beim Anblick der schmalen Metallleiter wurde ihr ganz schwindelig. Katy dagegen machten große Höhen nichts aus. Schon als sie beide noch klein gewesen waren, war sie immer diejenige gewesen, die auf die größten Bäume kletterte, während Selena lieber am Boden blieb. „Wahrscheinlich ist Katy deswegen auch bei der BühnenarbeiterCrew", dachte Selena und öffnete die Tür des großen Umkleideraums. Hier hatten sich all ihre Freundinnen versammelt, die in dem Stück mitgespielt hatten. Für die Dauer der Aufführung diente der Raum als Ankleidezimmer für die Mädchen. „Die Spinde müssten auch mal
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repariert werden", bemerkte Katy. „Ich glaube, es gibt keinen einzigen, der noch richtig schließt." Selena zuckte mit den Achseln. „Und – bist du bereit für deine nächste Rolle?", erkundigte sich Katy. „Wie meinst du das?", fragte Selena, während sie Alison mitfühlend zulächelte. Die Schwarzhaarige versuchte gerade ebenfalls, sich durch die Gruppe der Mädchen zu drängen. „Na, komm schon." Katy lachte. „Es ist doch klar, dass du die Julia spielen wirst." „Das sagen alle. Dabei ist es noch gar nicht sicher, ob ich die Rolle bekomme", wehrte Selena ab. Katy schnaubte. „Du könntest genauso gut behaupten, es sei nicht sicher, ob die Sonne morgen wieder aufgeht! Alle wissen doch, dass du die perfekte Besetzung für die Julia bist. Ich meine, es ist das letzte Stück in diesem Jahr. Wenn du nicht die Hauptrolle spielst, wird sowieso niemand kommen." „So 'n Quatsch!" Selena verdrehte die Augen. Warum musste Katy bloß immer so übertreiben? „Es ist ganz allein Mr Riordans Entscheidung", fügte sie hinzu. „Was ist meine Entscheidung?" Mr Riordan hatte sich den Mädchen unbemerkt genähert. „Wir sprechen gerade über die Rollenverteilung für die Frühjahrsaufführung", erklärte Selena. Mr Riordan nickte. „Die Besetzung des nächsten Stücks könnte besonders wichtig werden", vertraute er ihnen an. „Warum?", fragte Katy neugierig. „Nun, eigentlich ist es ja noch ein Geheimnis, aber ... ich habe gerade erfahren, dass der Schauspiellehrer der NorthwesternUniversität hier sein wird", flüsterte Mr Riordan ihnen zu. „Das ist ein Scherz, oder?" Selena stockte der Atem. Diese Uni hatte eine der besten Schauspielabteilungen im ganzen Land. „Nein, es stimmt", versicherte er ihr. „Er besucht jedes Jahr eine andere Schule in der Gegend, um nach neuen Talenten Ausschau zu halten. Und dieses Jahr hat er sich die Highschool in Shadyside ausgesucht." „Wow!", rief Selena. „Ich habe mich an der Northwestern beworben, aber ich kann dort nur studieren, wenn ich ein Stipendium bekomme." 13
„Dann ist das deine große Chance", sagte Mr Riordan augenzwinkernd. Er drehte sich um und ging auf den Bühneneingang zu. „Ich seh euch beide auf der Party!" „Du hast mir gar nicht erzählt, dass du zum Studieren weggehen willst", bemerkte Katy. „Natürlich möchte ich das", antwortete Selena. „Aber es ist nur ein Traum. Meine Mom verdient ja nicht mal genug Geld, um mich aufs Junior-College zu schicken." „Wenn dieser Schauspiellehrer dich die Julia spielen sieht, bekommst du das Stipendium bestimmt", prophezeite ihr Katy. „Das wäre zu schön, um wahr zu sein", meinte Selena. „Aber ich glaube es erst, wenn es so weit ist." Die meisten anderen Mädchen waren inzwischen verschwunden. Selena riss die Tür ihres Spinds auf. Ihr Rucksack hing immer noch dort, wo sie ihn vorhin aufgehängt hatte, aber darunter lag ein riesiger Blumenstrauß, der in blau gestreiftes Papier eingewickelt war. „Was ist denn das?", fragte Katy und blickte Selena über die Schulter. „Cool!", rief Selena. „Ich wüsste zu gerne, von wem die sind!" „Mach doch mal auf!", drängte Katy. Vorsichtig holte Selena den eingewickelten Strauß aus dem Spind. Sie riss das Papier ein Stück auf, warf einen Blick hinein – und schnappte vor Entsetzen nach Luft.
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Kapitel 2 Geschockt blickte sie die Blumen an und ließ sie dann zu Boden fallen. Beide Mädchen starrten mit offenem Mund auf lauter verwelkte, schwarze Rosen. „Wie eklig!", schrie Katy und presste die Hände gegen die Wangen. „Halb verfaulte Blumen", stöhnte Selena. „Echt makaber!" Dann bemerkte sie den kleinen, weißen Umschlag, der unter das Gummiband geschoben war, das die schlaffen Stängel zusammenhielt. Sie beugte sich hinunter und hob ihn auf. Mit zitternden Fingern zog Selena eine mit Schreibmaschine geschriebene Karte heraus und las: Liebe Selena, meinen Glückwunsch! Ich hoffe, du hast den Applaus genossen, denn es war vielleicht dein letzter Auftritt. Wusstest du schon, dass du die Schauspielerei aufgeben wirst – um mit mir zusammen zu sein ? Und zwar für immer. Selena stand wie erstarrt da und blickte auf den schwarzen Strauß hinunter. „Was für ein perverser Einfall!", rief sie, plötzlich wütend. Katy hielt sich die Nase zu. Der faulige Gestank der Blumen war kaum zu ertragen. „Warum sollte jemand so etwas tun?" Selena überflog noch einmal die Nachricht. „Schau dir das an!" Sie tippte unten auf die Karte. Dort befand sich keine Unterschrift, sondern ein leuchtend orangefarbener Aufkleber, der die Form einer Sonne hatte. Selena kratzte mit dem Fingernagel daran herum. „Was hat das zu bedeuten?", fragte Katy. Selena zuckte mit den Achseln. „Es ist nur ein Aufkleber. So ein Sticker, wie ihn kleine Kinder sammeln." „Aber was soll er auf der Karte?", beharrte Katy.
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„Wen interessiert das schon?", fauchte Selena. Mit angehaltenem Atem hob sie den widerlichen Strauß auf und warf ihn in den Mülleimer in der Ecke des Umkleideraums. „Wahrscheinlich ist das nur ein dummer Witz." „Ein Witz?", rief Katy. „Spinnst du? Wer sollte wohl halb verfaulte Blumen für witzig halten?" „Jemand mit einem ziemlich abartigen Humor", antwortete Selena. „Jemand wie ... wie Jake!" „Was? Jake?" „Seitdem wir Kinder waren, spielt er mir doch ständig Streiche." „Mag sein, aber das hier ist nicht sein Stil", gab Katy zu bedenken. „Und außerdem glaube ich nicht, dass Jake im Moment in der Stimmung für dumme Streiche ist." „Und warum nicht?" „Ist es dir denn nicht aufgefallen?", fragte Katy. „Jake verhält sich in letzter Zeit echt merkwürdig. Heute ist er total in die Luft gegangen, nur weil ich ihn gebeten habe, mir eins der Requisiten zu geben." „Stimmt. Er sah auch ziemlich erschöpft aus", meinte Selena. „Ich möchte mal wissen, was mit ihm los ist." Während sie ihrer Freundin zum Parkplatz folgte, grübelte sie weiter darüber nach. „Ich glaube immer noch, dass Jake mir die Blumen geschickt hat", nahm Selena den Faden wieder auf, als sie vor Katys Wagen standen, der unter einer großen, alten Eiche geparkt war. „Nachher werde ich ihn fragen." Selena fröstelte, als sie darauf wartete, dass Katy die Wagentür öffnete. Es war eine kühle, bedeckte Nacht, und die Äste der Bäume tanzten im heftigen Wind. „Ich hoffe auch, dass es Jake war", seufzte Katy und zog die Autoschlüssel aus der Jackentasche. „Aber diese Nachricht klingt, als hätte sie jemand geschrieben, der ziemlich durchgeknallt ist." Als Katy vom Parkplatz fuhr, war Selena im Geiste bereits bei der Frühjahrsaufführung. Sie sah schon genau vor sich, wie sie das Vorsprechen beginnen würde, welche Szenen sie auswendig lernen würde ... „Erde an Selena. Bitte kommen!" Katys Stimme unterbrach ihre Gedanken. „Hä?" Selena blinzelte ihre Freundin verwirrt an.
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Katy prustete laut los. „Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?", rief sie. „Wenn du die ganze Nacht im Auto sitzen bleibst, kannst du dich schlecht für die Party umziehen." ,,'tschuldigung", murmelte Selena, die erstaunt feststellte, dass sie bereits vor ihrem Haus in der Fear Street parkten. „Ich habe nur gerade an Romeo und Julia gedacht." Katy verdrehte die Augen. „Hast du eigentlich noch irgendwas anderes im Kopf außer dem Theater?" „Na ja, ab und zu denke ich auch mal an Jungen", witzelte Selena. Sie ging vor ihrer Freundin den unebenen Plattenweg zum Haus hoch, öffnete die Tür und schaltete das Licht an. „Schade, dass Mom diesen Monat Spätdienst hat", seufzte sie. „Ich hätte mir so gewünscht, dass sie sich die Aufführung ansieht." „Beim nächsten Stück ist sie bestimmt dabei", sagte Katy tröstend. „Falls ich die Rolle bekomme", erinnerte Selena ihre Freundin. Sie rückte den abgetretenen Läufer im Flur zurecht und stieg die quietschenden Treppenstufen hoch. „Was für eine Bruchbude", dachte Selena. Sie hasste es, in einem solch schäbigen Haus zu leben, aber sie wusste auch, dass ihre Mutter sich nichts Besseres leisten konnte. Seit Selenas Vater gestorben war, war das Geld knapp. „Wer sollte denn sonst die Julia spielen?", beharrte Katy und folgte Selena in ihr Zimmer. „Okay, Alison ist gut, aber nicht so gut wie du. Das behauptet sie sogar selber." „Das sagt sie doch nur aus Höflichkeit", antwortete Selena und warf ihren Rucksack auf die rosa und weiß gemusterte Überdecke ihres Bettes. Katy setzte sich daneben. „Ich könnte dir helfen, deinen Text für das Vorsprechen zu lernen", bot sie an. „Mal sehen", erwiderte Selena ausweichend. Dabei wusste sie jetzt schon, dass sie keine Hilfe wollte – sie lernte ihren Text lieber alleine. „Warum sprichst du nicht auch für eine Rolle vor?", schlug sie Katy vor. „Es zwingt dich doch niemand, bei der Bühnencrew mitzumachen." Katy schnaubte abwehrend. „Ich bin doch viel zu dick für die meisten Rollen." Sie hatte ungefähr zehn Kilo Übergewicht und war deswegen sehr unsicher. „Warum machst du dich selber immer so schlecht?" Selena versuchte, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. „In diesem 17
Stück gibt es jede Menge Rollen, die für dich in Frage kämen. Vielleicht könntest du Julias Amme spielen." Als ihre Freundin keine Antwort gab, griff Selena nach einem Wattepad und begann, sich abzuschminken. „Selena?", fragte Katy nach einer Weile. „Als wir noch klein waren, hättest du dir da jemals träumen lassen, dass du einmal so beliebt sein würdest?" „Natürlich nicht", antwortete Selena. „Ich habe geglaubt, ich würde immer dick und schüchtern bleiben." „Wie ich", murmelte Katy. Selena ignorierte sie. „Aber als ich anfing, mich fürs Theaterspielen zu interessieren, habe ich aufgehört, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die anderen mich mögen. Ich wollte nur noch eine gute Schauspielerin sein." „Es ging alles so schnell", bestätigte Katy leise. „Ich meine, du hast einen Schauspielkurs belegt – und das war's! Du hast abgenommen, angefangen, mit Danny auszugehen, und gleich im ersten Stück, in dem du mitgespielt hast, warst du der Star." „Ich hatte doch nur Glück", wandte Selena ein. „Das Mädchen, das die Hauptrolle hatte, musste damals die Schule verlassen." „Mag sein", erwiderte Katy. „Aber jeder weiß, dass du die beste Schauspielerin der ganzen Highschool bist. Vielleicht hast du sogar das Zeug für eine professionelle Karriere." Katy ließ sich gegen einen Stapel Kissen sinken und seufzte tief auf. „Ich hoffe, du wirst niemals so berühmt, dass du nicht mehr meine Freundin sein willst." „Natürlich nicht!", rief Selena. „Wenn ich später mal den Oscar gewinne, werde ich aufstehen und sagen: ,Ich möchte meiner besten Freundin Katy Jensen danken, deren Bereitschaft, auf den Beleuchtungssteg zu klettern, all dies erst möglich gemacht hat.' Sie lachten beide. Nachdem Selena sich abgeschminkt hatte, öffnete sie ihren Kleiderschrank und zog ein Paar Jeans und einen grünen Pullover heraus. „Sind die Jeans neu?", fragte Katy. „Welche Größe ist das? 34?" „Nein, Größe 38", antwortete Selena lachend. „So dünn bin ich nun auch wieder nicht." „Im Vergleich zu früher schon", bemerkte Katy spitz. „Und im Vergleich zu mir erst recht." 18
„Du könntest ja auch abnehmen", schlug Selena vor. „Ich bin schließlich keine Diät-Göttin oder so was. Probier's doch mal!" „Na klar – schaff ich doch locker!", spottete Katy. „Das meine ich ernst", beharrte Selena. „Ich habe abgenommen, weil ich unbedingt Theater spielen wollte. Mir war klar, dass ich keine Hauptrollen bekommen würde, wenn ich nicht endlich aufhören würde, so viel zu essen." „Das ist der Unterschied zwischen uns", meinte Katy wehleidig. „Mich hat eben noch nie etwas so fasziniert wie dich das Theaterspielen." Selena warf ihrer Freundin einen ärgerlichen Blick zu. „Dann such dir doch etwas, was dich interessiert", sagte sie leicht genervt. Geschickt nahm sie ihr Haar zurück und fasste es mit einem grünen Band zusammen. „Wie sehe ich aus?", fragte sie. „Wunderbar", antwortete Katy. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir sollten uns besser auf den Weg machen." „Ich möchte aber auch nicht zu früh da sein", meinte Selena. „Wir..." Sie brach ab, als es gegen ihr Zimmerfenster klopfte. Es war ein zaghaftes Klopfen, das immer lauter wurde. Dann folgte ein dumpfer Schlag. Selena fuhr herum. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. „Katy ...", stieß sie hervor. „Da ist jemand am Fenster! Jemand beobachtet uns!"
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Kapitel 3 Selena bemerkte die Angst auf Katys Gesicht, als sie sich beide zum Fenster umdrehten. In diesem Moment ertönte ein lautes Krachen. „Du hast Recht!", schrie Katy. „Da draußen ist jemand!" Ohne auf ihr Herzklopfen zu achten, raste Selena zum Fenster und starrte hinaus in die tiefe Dunkelheit. „Siehst du was? Wer war das?", flüsterte Katy mit kaum hörbarer Stimme. „Da ist niemand", berichtete Selena und blickte angestrengt auf den schmalen Rasenstreifen neben dem Haus hinunter. „Ich ... ich habe mich wohl nur erschrocken. Wir sind hier schließlich im ersten Stock. Wie sollte da jemand ..." „Aber was war das für ein Krachen?", fragte Katy, die die Arme schützend vor der Brust verschränkt hatte. „Es ist ziemlich stürmisch. Vielleicht hat der Wind irgendetwas umgeweht", überlegte Selena laut. Dann überlief sie ein Frösteln. Der Gedanke, dass ihr jemand durch das Fenster beim Umziehen zugesehen hatte, war wirklich Furcht einflößend. Aber das konnte gar nicht sein. „Es ist unmöglich, dass irgendjemand hereingeschaut hat", versicherte sie Katy. „Wir sind viel zu weit oben." „Wahrscheinlich hast du Recht", stimmte Katy zögernd zu, den Blick immer noch aufs Fenster gerichtet. „Lass uns jetzt lieber auf die Party gehen." Selena schnappte sich ihre Tasche und sprang leichtfüßig die hölzerne Treppe hinunter. Katy hielt sich dicht hinter ihr. Selena riss die Eingangstür auf. Der Sturm war stärker geworden und zerrte an ihren blonden Locken, als sie die Tür abschloss. „Es war tatsächlich der Wind!", rief Katy. „Sieh doch!" Selena schaute in die Richtung, in die ihre Freundin zeigte. Eine lange Leiter aus Metall lag auf dem Rasen vor dem Haus. „Sie muss umgeweht worden sein", meinte Katy. „Aber was hat sie überhaupt hier zu suchen?", stieß Selena hervor. „Genau unter deinem Fenster", murmelte Katy. Ungläubig starrte Selena die Leiter an. Hatte ihr etwa doch jemand beim Anziehen zugesehen? Als sie zu ihrem Fenster aufblickte, lief 20
ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. „Das ist irgendwie unheimlich", flüsterte Katy. „Erst die verwelkten Rosen und die merkwürdige Karte. Und jetzt ..." Sie schluckte. „Meinst du, jemand verfolgt dich? Spioniert dir etwa jemand hinterher?" „Bleib auf dem Teppich, Katy!", schimpfte Selena und blickte auf die umgefallene Leiter. Es war sehr windig, und auf der Straße waren keine Leute oder Autos zu sehen. Wenn jemand durch ihr Fenster geschaut hatte, musste er mit der Leiter umgekippt sein. Aber dann hätte er von hier verschwinden müssen – und vermutlich hätten sie einen Wagen wegfahren hören. „Es gibt noch eine andere Erklärung", sagte Selena. „Vielleicht hat meine Mutter irgendwas am Haus repariert und dann vergessen, die Leiter wieder wegzustellen." „Könnte sein", meinte Katy. „Aber das bezweifle ich." „Bitte hilf mir, sie in die Garage zu bringen", bat Selena. Sie beugte sich hinunter und griff nach dem einen Ende der Leiter. Katy griff nach dem anderen - und hielt mitten in der Bewegung inne. „Sieh doch mal!", rief sie und deutete auf die unterste Sprosse. Als Selena genauer hinschaute, bemerkte sie einen kleinen, orangefarbenen Kreis. Es war ein Sonnen-Aufkleber.
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Kapitel 4 „Ich halte das Ganze nach wie vor für einen dummen Streich", erklärte Selena, als sie mit Katy Richtung North Hills fuhr. Katy schnaubte. „Ein ziemlich makabrer Streich! Ich finde es jedenfalls nicht sehr witzig, dir verfaulte Blumen zu schicken und dir hinterherzuspionieren." „Wir wissen doch gar nicht, ob wirklich jemand auf der Leiter war", wandte Selena ein. „Und was ist mit diesen Sonnen-Aufklebern?" Katy ließ nicht locker. „Hältst du das vielleicht auch für einen albernen Scherz?" Selena antwortete nicht, sondern blickte aus dem Wagenfenster auf die großen, alten Bäume, die die Old Mill Road säumten. Sie konnte es kaum noch erwarten, zur Party zu kommen. Dort würde sie bestimmt aufhören, über Aufkleber und Blumen und Leitern nachzudenken, und sich einfach nur amüsieren. Aber Katy weigerte sich, das Thema fallen zu lassen. Sie schien ernsthaft beunruhigt zu sein. „Vielleicht hat dich irgend so ein Psychopath in der Aufführung gesehen. Und jetzt ist er hinter dir her!" Selena starrte weiter. „Ich habe neulich einen Artikel über diese verrückten Typen gelesen, die hinter Schauspielern und Rockstars her sind", fuhr Katy fort. „Sie folgen ihnen überallhin und beobachten sie rund um die Uhr ..." Selena lachte. „Prima Theorie, Katy. Aber ich bin nicht berühmt." „In Shadyside schon", widersprach Katy. „Immerhin bist du die Starschauspielerin der Highschool. Vielleicht ist es irgendein Junge aus unserer Schule, der dich liebt oder hasst oder so." Selena zuckte mit den Achseln. „Leute, die anderen auflauern und sie bespitzeln, können ziemlich gefährlich sein", fügte Katy hinzu. „Manchmal bringen sie sogar jemanden um." „Aber der Typ hat doch bloß ein paar Aufkleber für mich hinterlassen!", wehrte Selena ab. „Außerdem – wenn es jemand aus der Schule ist, bedeutet das, dass ich ihn kenne. Es ist wahrscheinlich jemand, der ... Ich hab's!" 22
„Wer?" „Danny Morris", sagte Selena. „Danny?", fragte Katy ungläubig. „Warum sollte Danny dir hinterherschnüffeln?" „Ich meine doch nicht, dass er mir nachspioniert", seufzte Selena und verdrehte die Augen. „Er möchte, dass wir wieder zusammenkommen." „Ach du meine Güte!", rief Katy. „Ihr habt euch doch schon vor einem Jahr getrennt." „Ich weiß", antwortete Selena. „Aber er geht mir immer noch auf die Nerven. Er kann offenbar nicht kapieren, dass ich ihn nicht zurückhaben will. Ich wünschte, er würde mich endlich in Ruhe lassen." „Wenn ich ihn irgendwie dazu bringen könnte, mich zu beachten, würde ich ihn dir gerne abnehmen!", scherzte Katy. Selena runzelte die Stirn. „Warum machst du dich eigentlich immer so schlecht?" „Aber es stimmt doch", beharrte Katy. „Er würde sich nie mit jemandem wie mir abgeben. Er interessiert sich nur für schlanke, hübsche Mädchen. Für Mädchen wie dich." Selena zuckte mit den Achseln und blickte auf die Uhr. „Wenn wir ankommen, wird die Party wahrscheinlich schon in vollem Gange sein", stellte sie fest. „Ja", erwiderte Katy geistesabwesend. „Ich habe übrigens gehört..." Sie brach ab. „Was hast du gehört?" Katy gab keine Antwort, sondern starrte in den Rückspiegel. Dann bog sie ohne Vorwarnung scharf nach rechts ab. „Katy?", versuchte Selena die quietschenden Reifen zu übertönen. „Was soll das? Mr Riordans Haus liegt in der anderen Richtung!" „Ich weiß", antwortete ihre Freundin. „Aber wir werden verfolgt." „Was?" Selena drehte sich auf dem Sitz um und blickte in helles Scheinwerferlicht. Wieder fuhr Katy eine scharfe Rechtskurve. Die Scheinwerfer verschwanden für einen Moment und tauchten kurz darauf wieder auf. „Hey, er bleibt an uns dran!", schrie Katy. „Das muss der Typ sein, der dich verfolgt, Selena! Er versucht, uns von der Straße abzudrängen! 23
Kapitel 5 Selena stützte sich mit den Händen am Armaturenbrett ab, als Katy mit quietschenden Reifen um die nächste Ecke bog. Der Wagen schlitterte auf den Bordstein und holperte dann auf die Straße zurück. „Katy, pass doch auf!", rief Selena erschrocken. „Er ist immer noch hinter uns!", antwortete Katy mit zitternder Stimme. „Er hängt uns praktisch an der Stoßstange! Was sollen wir denn nur tun?" „Beruhige dich", sagte Selena. „Das ist sicher nur irgendein Witzbold. Dreh um, und fahr wieder in Richtung North Hills. Sobald wir vor dem Haus von Mr Riordan anhalten, verschwindet er bestimmt." „Bist du verrückt?", kreischte Katy und umklammerte das Lenkrad. „Wenn er uns bis zum Haus folgt ..." „... haut er garantiert ab", versicherte Selena. „Er wird es nicht wagen, ins Haus zu kommen. Dort sind wir sicher." „Aber ..." „Hast du vielleicht eine bessere Idee?" „Nein", musste Katy zugeben. „Du hast Recht." Sie wendete an der nächsten Ampel und raste zurück in Richtung North Hills. Jedes Mal, wenn sie die Spur wechselte, tat es auch ihr Verfolger. Und wenn sie Gas gab oder bremste, passte der andere Wagen seine Geschwindigkeit der ihren an und blieb dicht hinter ihnen. „Sobald wir bei Mr Riordan angekommen sind, rufe ich die Polizei", knurrte Katy. Endlich bogen sie in die große, halbkreisförmige Auffahrt vor Mr Riordans Haus ein. Der andere Wagen hielt mit quietschenden Reifen hinter ihnen. „Und jetzt?", rief Katy. Sie zog die Handbremse an und warf einen Blick zurück. „Ich steige auf keinen Fall aus, solange er noch da ist!" „Ich ... ich weiß auch nicht, was wir jetzt tun sollen", stotterte Selena. „Vielleicht solltest du hupen ..." Katy blickte mit zusammengekniffenen Augen und angespanntem Gesicht in den Rückspiegel. Selena bemerkte, wie plötzlich Entsetzen in den Augen ihrer Freundin aufflackerte. „Oh nein!", stieß Katy hervor. „Er steigt aus und kommt auf uns zu! Wir sitzen in der Falle!" 24
Kapitel 6 „Danny!", atmete Katy auf. „Ich glaub's einfach nicht!", knurrte Selena. Sie riss die Tür auf, sprang aus dem Wagen und marschierte los, um Danny zur Rede zu stellen. „Warum verfolgst du uns?", schrie sie ihn an. „Warum versuchst du, uns einen Schrecken einzujagen?" „Hey", sagte Danny beschwichtigend und grinste sie an. Seine Augen blitzten im Licht der Autoscheinwerfer. „Das war doch nur Spaß. Ich dachte, ich verschaffe euch mal einen kleinen Nervenkitzel." „Spaß?", rief Katy mit schriller Stimme. „Du hast uns beinahe von der Straße abgedrängt." „Tut mir Leid." Sein Grinsen wurde noch breiter. „Aber ich bin nun mal so gerne in Selenas Nähe." Selena seufzte. „Danny ist ein totaler Kindskopf, dachte sie. „Und es ist mir völlig egal, wie gut er aussieht." „Selena", murmelte Danny und kam näher. Er beugte sich so weit vor, dass sie sein Pfefferminzkaugummi riechen konnte. „Da ist etwas, was ich dir sagen möchte." Selena sprang ein Stück zur Seite, verärgert darüber, dass er ihr so nahe gekommen war. „Spar dir das für später!", zischte sie ihn an und folgte Katy zum Haus, ohne seinem verletzten Gesichtsausdruck Beachtung zu schenken. Als Selena schwungvoll die Eingangstür öffnete, schlugen ihr dröhnende Musik, Gelächter und Stimmengewirr entgegen. Eine Girlande aus roten und weißen Bai-Ions war quer durchs Wohnzimmer gespannt. „Na, wen haben wir denn da?", rief Mr Riordan und kam ihnen entgegen. „Unsere großartige Hauptdarstellerin!" „Danke, vielen Dank", sagte Selena und machte einen übertriebenen Knicks. „Pizza und Getränke findet ihr drüben beim Kamin", informierte Mr Riordan die Neuankömmlinge. „Holt euch etwas zu essen und kommt dann wieder her. Ich habe eine wichtige Ankündigung zu machen." „Pizza, lecker! Ich bin halb verhungert!", freute sich Selena. „Ich auch!", meinte Katy. „Aber ich habe ja immer Hunger." 25
Während die Mädchen sich einen Weg zum Büffet bahnten, registrierte Selena, dass der Schauspiel-Club schon fast vollzählig versammelt war. Sie entdeckte auch Alison, die sich in einer Ecke mit Jake unterhielt. „Ich darf nicht vergessen, Jake wegen der schwarzen Rosen und der Nachricht auf den Zahn zu fühlen", nahm Selena sich vor. „Hey, wer ist denn der tolle Typ da drüben?", fragte Katy, als Selena sich gerade ein Ginger Ale eingoss. Neugierig blickte sie auf und entdeckte einen großen Jungen, der neben Mr Riordan stand. Er trug seine braunen Haare ziemlich lang und hatte strahlende, dunkle Augen und ein sympathisches Lächeln. „Ich habe ihn noch nie gesehen", antwortete Selena. Der Fremde sah älter aus als die meisten anderen Jungen auf der Party. Zu ihrer Überraschung schaute er ihr plötzlich direkt in die Augen - so, als würde er sie kennen. „Achtung!", rief Mr Riordan in diesem Augenblick. „Kommt bitte alle mal her!" Selena balancierte ihren Teller mit Pizza und Chips vorsichtig durch das Gedränge und ließ sich in einem Sessel in der Nähe von Mr Riordan nieder. „Dies ist Eddy Martin", verkündete der Schauspiellehrer und zeigte auf den jungen Mann. „Er studiert im zweiten Jahr Schauspiel am Junior College von Waynesbridge. Im Rahmen seines Studiums wird Eddy für den Rest des Semesters bei uns bleiben. Er wird an unseren Schauspielkursen teilnehmen und mich bei den Proben für das nächste Stück unterstützen." „Komisch, wir hatten doch bis jetzt noch nie einen Praktikanten", flüsterte Katy Selena zu. Selena hörte ihr gar nicht richtig zu, weil ihr Blick wie gebannt an dem Neuen hing. Er schaute sich im Raum um, nickte und lächelte allen zu. Aber Selena ging der Blick, den er ihr zugeworfen hatte, nicht aus dem Kopf. „Mir ist so, als hätte ich ihn schon mal irgendwo gesehen", murmelte sie nachdenklich. „Also, wenn ich den schon mal irgendwo gesehen hätte, würde ich mich garantiert daran erinnern", witzelte Katy. „Ich frage mich, ob er wohl auch für die Bühnenarbeiter zuständig ist." Selena drehte sich zu ihrer besten Freundin um und lächelte sie an. „Warum gehst du nicht einfach hin und findest es raus?" 26
Katy grinste. Sie erhob sich aus dem Sessel neben Selena und ging auf Eddy und Mr Riordan zu. Selena beobachtete, wie die drei sich für einen Moment unterhielten. Dann ging Katy zum Büffet zurück. Gerade hatte Selena beschlossen, dasselbe zu tun, als Eddy sich plötzlich in dem leeren Sessel neben ihr niederließ. „Hallo", sagte er und schenkte Selena ein atemberaubendes Lächeln. „Ich wollte mich nur vorstellen. Mein Name ist Eddy." „Willkommen in Shadyside", antwortete sie. „Ich bin Selena Goodrich." „Das weiß doch jeder", erwiderte Eddy. „Ich habe dich in allen Stücken in diesem Jahr gesehen. Du bist sehr talentiert." „D... danke", stammelte Selena ein wenig verlegen. „Wahrscheinlich bist du es gewöhnt, dass die Leute dir Komplimente machen", fuhr Eddy fort. „Du bist ein echtes Naturtalent. Ich fand dich schon wunderbar, als du vor zwei Jahren den Part von Simone Perry übernommen hast. Das war deine erste Hauptrolle, nicht wahr?" „Äh, ja. Woher weißt du das?" „Ich habe das Stück gesehen", meinte Eddy. „Das ist nicht dein Ernst!" Selena war verblüfft. Eddy hatte sie schon vor zwei Jahren auf der Bühne gesehen und erinnerte sich noch daran, wie sie gespielt hatte? Selena schaute ihn forschend an. Irgendetwas an ihm kam ihr vertraut vor. „Ich habe fast alle Stücke gesehen, in denen du aufgetreten bist", fügte Eddy hinzu. „Ich finde es übrigens bewundernswert, dass du trotz der vielen Aufführungen deinen Notendurchschnitt gehalten hast. Das schaffen nicht viele." „Na ja, ich brauche nun mal gute Noten, wenn ich studieren will", antwortete Selena verwirrt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Woher wusste Eddy, wie sie in der Schule stand? „Du scheinst ja ganz schön viel über mich zu wissen", sagte sie und versuchte, es möglichst beiläufig klingen zu lassen. Eddy blickte sie eindringlich an. „Ich weiß eine Menge über die ganze Schauspielabteilung. Schließlich werde ich die nächste Zeit hier arbeiten - auch mit dir." Für einen Moment antwortete Selena nicht. Eddys Interesse an ihr kam ihr irgendwie seltsam vor. Seitdem er sich neben sie gesetzt hatte, sah er sie unverwandt an. Doch auch als Selena sein Gesicht genauer betrachtete, entdeckte sie darin nichts als freundliche 27
Aufmerksamkeit. „Wann fängt eigentlich dein Praktikum an?", fragte sie schließlich. „Zum Vorsprechen für Romeo und Julia werde ich schon hier sein." Er beugte sich näher zu Selena und flüsterte ihr zu: „Ich kann es gar nicht erwarten, dich als Julia zu sehen." Darauf fiel Selena keine Entgegnung ein. Eddy sah sie weiterhin mit seinem eindringlichen Blick an. Seine dunklen Augen schienen regelrecht zu glühen. „Eddy!" Mr Riordans Stimme unterbrach Selenas Gedanken. „Komm doch bitte mal her! Hier ist jemand, den ich dir vorstellen möchte." „Wir sehen uns später noch", sagte Eddy und warf Selena ein Lächeln zu, das einen Stein hätte dahinschmelzen lassen. „Du freundest dich wohl gerade mit unserem neuen Praktikanten an, was?" Selena sah auf, als Katy sich wieder in den Sessel neben ihr fallen ließ. „Könnte man so sagen", antwortete Selena, die sich immer noch ein bisschen benommen fühlte. „Er ist ziemlich besitzergreifend." „Und außerdem echt süß!", erklärte Katy. „Ach, wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen", witzelte Selena. Als ihr Blick auf Jake fiel, der ganz alleine in einer Ecke saß, stand sie auf. „Bin gleich zurück", rief sie Katy zu. Selena ging quer durch den Raum und ließ sich neben Jake aufs Sofa fallen. „Hallo, Jake!", begrüßte sie ihn und machte es sich bequem. „Hallo, Moon", erwiderte Jake tonlos. „Was ist los mit dir?", fragte Selena. „Du siehst irgendwie bedrückt aus." „Na und?", blaffte er sie an. „Gibt es vielleicht ein Gesetz, das besagt, dass man immer fröhlich sein muss?" „Nein, natürlich nicht", sagte Selena und wich ein Stück zurück. Warum hatte Jake denn bloß so schlechte Laune? „Übrigens", begann sie vorsichtig, „hast du heute ein kleines Geschenk in meinem Spind deponiert?" „Wie bitte? Ein Geschenk?" „Na ja, diesen entzückenden Strauß verwelkter Rosen." „Bist du übergeschnappt?", explodierte Jake. „Wovon redest du eigentlich?" „Beruhige dich! War ja nur 'ne Frage", lenkte Selena ein. „Jemand 28
hat diese Blumen in meinen Spind gelegt, und da dachte ich, du könntest es gewesen sein. Du hast mir doch schon öfter mal einen Streich gespielt." „Danach war mir aber in letzter Zeit nicht gerade zu Mute", knurrte Jake. „Und außerdem finde ich welke Blumen ziemlich makaber." Selena nickte. „Es war auch eine Karte dabei, auf der stand, das sei heute Abend meine letzte Vorstellung gewesen." Jake starrte sie mit offenem Mund an. „Das hältst du für einen Streich?", rief er. „Also für mich klingt das total pervers!" „Aber das ist noch nicht alles", fuhr Selena fort. „Der Typ muss uns sogar bis zu mir nach Hause verfolgt haben. Katy und ich sind sicher, dass jemand vorhin mit einer Leiter zu meinem Fenster hochgeklettert ist und uns beobachtet hat." Jake schluckte. „Vielleicht solltest du das Mr Riordan erzählen. Oder die Polizei anrufen. Am besten wäre es, du zeigst ihnen diese Karte, die bei den Blumen war." Selena dachte darüber nach. „Vielleicht sollte ich wirklich mit Mr Riordan sprechen." Sie stand auf und ging hinüber zu ihrem Lehrer, der ausnahmsweise mal alleine dastand. „Was ist los, Selena?", erkundigte er sich. „Du siehst so besorgt aus." „Na ja, da ist etwas, worüber ich gerne mit Ihnen sprechen würde", setzte sie an. „Ich meine, es ist wahrscheinlich gar nicht so wichtig, aber ..." Selena wurde von einem energischen Klopfen an der Haustür unterbrochen, das so laut war, dass es die Musik und das Stimmengewirr in dem überfüllten Raum übertönte. „Oh?" Erstaunt schnappte sie nach Luft und wandte sich – wie alle anderen auch – zum Eingang um. Langsam öffnete sich die Tür, und ein tiefes Stöhnen drang ins Wohnzimmer, wo es mit einem Mal totenstill geworden war. Dann stolperte eine vertraute Gestalt in den Raum. Selena verschlug es vor Entsetzen den Atem. Es war Danny Morris. Sein sonst so gut aussehendes Gesicht war mit geronnenem Blut verkrustet. „Hilf mir, Selena!", ächzte er. Er taumelte vorwärts und streckte seine blutverschmierten Hände nach ihr aus.
Dann brach er mit einem furchtbaren Wimmern zu ihren Füßen zusammen und blieb dort reglos liegen. 29
Kapitel 7 Selena schrie gellend auf und blickte fassungslos auf die verkrümmte Gestalt zu ihren Füßen, die in einer dunklen Pfütze Blut lag. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Sie stand wie angewurzelt da – zu entsetzt, um sich zu bewegen. Zu erschrocken, um zu helfen. Danny regte sich. Er hob den Kopf und stöhnte: „Lieber sterbe ich, als ohne dich zu leben!" Selena zitterte jetzt am ganzen Körper. War das sein Ernst? Hatte er sich ihretwegen etwas angetan? „Danny – nein!", rief sie. Als er ihre Stimme hörte, setzte er sich abrupt auf, zog ein Taschentuch hervor und begann, sich das Blut vom Gesicht zu wischen. Dann sah er zu ihr hoch und grinste. „Na, wer ist der beste Schauspieler hier im Raum?" „Du ... du blöder Idiot!", schrie Selena aufgebracht. Danny warf den Kopf zurück und lachte. „Du hast doch wohl nicht ernsthaft geglaubt, dass ich mich für dich umbringen würde, oder?" Selena blickte auf ihn hinunter. Sie wusste, dass alle im Raum sie beobachteten und sich wahrscheinlich köstlich amüsierten. Danny schüttelte den Kopf. „Wow! Ich hätte nicht gedacht, dass du so eingebildet bist." Mit hochrotem Gesicht wandte Selena sich ab. Sie hörte vereinzeltes Gelächter, und dann begannen die anderen, hinter ihrem Rücken zu flüstern. Selena atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Tolle Vorstellung, Danny", sagte sie und versuchte, ihre Stimme möglichst cool klingen zu lassen. „Damit hättest du glatt den Oscar in der Kategorie Volltrottel gewinnen können." „Das war ein ziemlich dummer Spaß", schaltete sich jetzt auch Mr Riordan mit strenger Stimme ein. „Du hast uns damit einen Riesenschrecken eingejagt!" Danny stand auf. „Ich konnte einfach nicht widerstehen", meinte er achselzuckend. „Eigentlich wollte ich nur allen hier beweisen, dass ich schauspielern kann. Jetzt ist ja wohl klar, wer die Rolle des Romeo bekommt!" 30
„Ich bin mir nicht sicher, ob wir dich überhaupt in der Frühjahrsaufführung auftreten lassen sollten!", versetzte Mr Riordan und schüttelte den Kopf. „Dein Verhalten ..." „Aber das war doch nur Spaß!", protestierte Danny. „Ja, wir haben uns beinahe totgelacht", erwiderte der Schauspiellehrer sarkastisch. „So, und jetzt lasst uns die Musik wieder anmachen, okay?" Er wandte sich ab und ging hinüber zum CD-Player. Selena beschloss, ein bisschen frische Luft zu schnappen und ging quer durch den Raum zur Terrassentür. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du mit diesem Typen mal zusammen warst", sagte plötzlich eine tiefe Stimme dicht an ihrem Ohr. Erschrocken ließ Selena ihre Hand vom Türknauf sinken. Als sie sich umdrehte, blickte sie in Eddys gut aussehendes Gesicht. „Woher weißt du von Danny und mir?", fragte sie verblüfft. „Oh, das muss ich wohl bei einem der anderen Gäste aufgeschnappt haben", antwortete Eddy und sah sie unverwandt an. Gebannt von dem intensiven Blick seiner dunklen Augen, brachte Selena kein einziges Wort mehr heraus. „Mr Riordan macht mir schon wieder Zeichen", seufzte Eddy. „Er möchte, dass ich alle Mitglieder des Schauspiel-Clubs kennen lerne!" Seine Augen blitzten. „Aber wir unterhalten uns später noch, Selena." Selena sah ihm hinterher. „Komisch", dachte sie. „Eddy geht ganz schön ran, aber er gefällt mir trotzdem. Auf jeden Fall ist er erwachsener als Danny." Verärgert runzelte sie die Stirn, als sie an Dannys dramatischen Auftritt dachte. Sie schämte sich furchtbar, dass sie darauf hereingefallen war. Unauffällig blickte sie sich im Raum um. Machten sich die anderen immer noch über sie lustig? „Vielleicht sollte ich lieber nach Hause gehen", überlegte sie. Langsam schlenderte sie hinüber zum Büffet. „Hast du Katy gesehen?", erkundigte sie sich bei Alison. „Eben war sie noch hier", erwiderte das Mädchen. „Wahrscheinlich ist sie mit Mr Riordan in der Küche." Selena wollte gerade gehen, als Alison sie plötzlich zurückhielt. „Du hast im letzten Stück ganz wunderbar gespielt", sagte sie und sah Selena eindringlich an. „Mir ist klar, dass du wahrscheinlich die 31
Rolle der Julia bekommen wirst." Sie brach ab und atmete tief ein. „Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich auch dafür vorsprechen will", fügte sie dann hastig hinzu. „Ja, natürlich", meinte Selena überrascht. Sie und Alison konkurrierten doch jedes Mal um die Hauptrolle, ohne dass sie bis jetzt deswegen Streit bekommen hätten. Warum sollte das bei der Frühjahrsaufführung anders sein? In diesem Moment trat Katy durch die Küchentür ins Wohnzimmer. Sie ging hinüber zum Büffet und nahm sich eine Hand voll Erdnüsse. „Wie geht's denn so?", fragte sie Alison und Selena. „Ich glaube, ich möchte nach Hause", gestand Selena. „Es ist spät geworden, und ich bin hundemüde. Nach der Vorstellung bin ich immer völlig erledigt." „Okay, von mir aus können wir fahren." Katy zuckte mit den Achseln. „Ich hol nur schnell meine Tasche. Sie liegt nebenan." „Ich warte draußen auf dich", erklärte Selena. Sie bedankte sich bei Mr Riordan für die Party und ging zur Haustür. Langsam trat sie hinaus in die kalte Luft. Über ihr glitzerten zahllose Sterne am samtschwarzen Nachthimmel. Ein Frösteln überlief Selena. Sie hatte plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass Millionen von Augen auf sie herabstarrten. „Bei Katys Gerede über den geheimnisvollen Unbekannten muss man ja Verfolgungswahn bekommen", dachte sie und versuchte, die unbehagliche Stimmung abzuschütteln. Sie ging den Weg hinunter. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Eine hoch gewachsene Gestalt trat aus den Büschen am Wegrand und versperrte ihr den Weg. „Wo willst du hin?", fragte Danny mit heiserer Stimme. „Heim", antwortete Selena kühl. Nach dem üblen Streich, den er ihr gespielt hatte, war sie absolut nicht in der Stimmung, sich mit ihm zu unterhalten. „Prima", meinte Danny. „Dann kannst du ja mit mir nach Hause gehen!" „Das könnte dir so passen!", fauchte Selena. „Mit dir gehe ich nirgendwohin. Hast du's immer noch nicht kapiert? Ich will nichts mehr von dir wissen!" Danny umfasste mit hartem Griff ihren Arm. „Selena ...", sagte er bittend. 32
Selena riss sich los. „Hau endlich ab!", schrie sie aufgebracht. „Hey, was ist denn hier los?", ertönte plötzlich eine andere Stimme. Als Selena aufblickte, entdeckte sie Jake, der am Rand des gepflasterten Weges stand. „Misch dich nicht ein!", knurrte Danny und griff wieder nach Selena. „Hey!" Jake packte Danny s Hemd und wirbelte ihn herum. „Lass sie in Ruhe!", brüllte er aufgebracht. „Kümmer dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten!", versetzte Danny drohend. „Selena ist meine Freundin", stellte Jake klar. „Und wenn jemand sie nach Hause bringt, dann bin ich das!" „Die beiden scheinen verrückt geworden zu sein!", schoss es Selena durch den Kopf. Im nächsten Moment schubste Danny Jake mit aller Kraft beiseite. Jake verlor das Gleichgewicht und stürzte. Im Fallen warf er Selena einen erschrockenen Blick zu. „Ohhh!" Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, als sein Kopf mit einem dumpfen Geräusch auf dem Pflaster aufschlug. Dann lag Jake mit ausgebreiteten Armen da und rührte sich nicht mehr.
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Kapitel 8 „Jake!", rief Selena. „Steh auf!", drängte Danny, der sich schwer atmend über Jakes reglosen Körper beugte. „Nun mach schon!" Endlich bewegte sich Jake und erhob sich stöhnend. Erleichtert wollte Selena auf ihn zugehen, doch Jake stürzte sich sofort auf Dannys Beine und warf den größeren Jungen zu Boden. Entsetzt beobachtete Selena, wie sich die beiden auf der Erde wälzten und mit den Fäusten aufeinander einschlugen. „Hört sofort auf!", schrie sie. Über Jakes Stirn zog sich bereits ein langer Riss, und aus Dannys Nase tropfte Blut. Selena packte Jake hinten am Hemd und zog mit aller Kraft. Sie schaffte es, ihn von Danny wegzuzerren, und trat dann schnell zwischen die beiden Kampfhähne, bevor sie wieder aufeinander einprügeln konnten. „Geh aus dem Weg!", sagte Jake drohend und wischte sich das Blut von der Stirn. Seine Brust hob und senkte sich schnell. „Kommt gar nicht Anfrage!", widersprach Selena. „Jake, was soll denn das?" Jakes glasiger Blick wurde langsam wieder etwas klarer. „Es ... es tut mir Leid!", murmelte er beschämt. „Ach, es tut dir also Leid", knurrte Danny. „Du bist vielleicht ein jämmerliches Würstchen!" „Jetzt reicht's aber!", rief Selena. „Ihr seid ja total durchgedreht! Ich werde mit Katy nach Hause fahren. Lieber würde ich allein zu Fuß gehen, als mit einem von euch beiden!" Danny starrte sie eine Weile an und rang keuchend nach Luft. Dann wirbelte er herum und ging mit schnellen Schritten zurück zum Haus. Er drängte sich unsanft an Katy vorbei, die gerade in der Haustür aufgetaucht war. „Was ist denn hier los?", fragte sie und lief zu Jake und Selena. „Hat Danny Nasenbluten?" „Er ist gestolpert", brummte Jake erbittert. Katy blickte ihn zweifelnd an. „Stimmt das, Selena?" „Ich erzähl dir alles im Auto", meinte Selena mit einem schwachen Seufzer. 34
Jake folgte den Mädchen zu Katys Wagen. „Es tut mir Leid, Moon!", sagte er noch einmal. „Aber ich kann Danny einfach nicht ausstehen." „Das ist keine Entschuldigung." „Er ist so ein Idiot!", beharrte Jake. Selena seufzte. „Ich weiß." Katy öffnete die Wagentüren, und Selena glitt auf den Beifahrersitz. Jake hielt ihr die Tür auf. „Danny denkt, er könnte überall der Star sein. Und er ist davon überzeugt, dass er den Romeo spielen wird", fauchte er wütend. „Aber das wird er nicht. Eher bringe ich ihn um!" Alarmiert sah Selena zu ihm auf. Im kalten Mondlicht sah sein Gesicht sehr blass und wütend aus. „Das meinst du doch nicht ernst, Jake? Nicht wahr? Jake?" Er wandte sich ab und ging ohne eine Antwort davon. Am nächsten Morgen wurde Selena von einem Klingeln geweckt. Als sie auf ihren Wecker blickte, stellte sie fest, dass es erst fünf Uhr war. Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass es das Telefon neben ihrem Bett gewesen war, das sie aus ihren Träumen gerissen hatte. Schlaftrunken nahm sie den Hörer ab. „Hallo?", murmelte sie. „Wir waren gestern Abend zusammen", flüsterte jemand. „Was?", stieß Selena hervor. „Ich beobachte dich!", wisperte der Anrufer heiser. „Ich beobachte dich ständig, Selena!" „Hey, was ...", rief Selena. „Bald werden wir für immer zusammen sein", keuchte die unheimliche Stimme. Selena saß kerzengerade im Bett. Sie war jetzt hellwach und umklammerte den Hörer mit beiden Händen. „Wer ist da?", fragte sie ärgerlich. „Was soll das?" Sie hörte ein Klicken, und dann war die Verbindung unterbrochen.
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Kapitel 9 Selena rannte die vertraute Steintreppe der Shadyside Highschool hinauf und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, riss sie die Eingangstür auf und stürzte nach drinnen. Schwer atmend, lehnte sie sich gegen die Wand und fühlte sich zum ersten Mal an diesem Morgen sicher. „Hallo, Selena!", begrüßte sie Katy, die gerade durch die Eingangshalle ging. „Ganz schön kühl draußen, was?" „Stimmt", bestätigte Selena zitternd. „Hey!", rief Katy und kam näher. „Was ist denn mit dir los?" „Ich weiß auch nicht genau", seufzte Selena. „Wahrscheinlich sind es diese dummen Streiche. Ich fange langsam an, nervös zu werden. Er ... er hat sich heute Morgen wieder bei mir gemeldet." „Oh, wow!", machte Katy und schüttelte den Kopf. „Du musst unbedingt die Polizei anrufen. Wenn dein Verfolger ..." „Es gibt keinen Verfolger, Katy!", widersprach Selena. „Ich glaube, es ist Danny. Du hast doch gesehen, wie er sich auf der Party aufgeführt hat!" Katy legte die Stirn in Falten und dachte über Selenas Worte nach. Plötzlich rief sie: „Sieh mal! Da ist Danny ja. Er wartet an deinem Spind auf dich." „Gut!", schnaubte Selena. Sie setzte eine strenge Miene auf und stürmte den Flur hinunter. Danny hockte vor ihrem Spind und versuchte gerade, ein Stück Papier zwischen den Lamellen der Tür hindurchzuschieben. „Na, noch mehr Drohungen?", fragte sie scharf. Danny fuhr erschreckt hoch. „Selena, ich hab dich gar nicht kommen hören." „Bleib von meinem Spind weg!", brüllte sie ihn an. „Und bleib vor allem weg von mir!" „Ist ja schon gut", fauchte Danny. „Du brauchst nicht gleich in die Luft zu gehen! Ich wollte dir bloß eine Nachricht hinterlassen." „Na klasse!", rief Selena. „Und du hast nicht zufällig auch noch ein paar verwelkte Blumen dabei?" 36
Mit einem Schlag verschwand die Wut aus Dannys Gesicht. „Was soll denn das heißen?", fragte er verblüfft. „Du weißt genau, wovon ich rede", zischte Selena. „Von den Briefen, den widerlichen Rosen und diesen unheimlichen Anrufen!" „Du spinnst ja!", meinte Danny. „Ich habe dir bis jetzt noch nie eine Nachricht hinterlassen, und mit diesem anderen Kram habe ich nichts zu tun. Ich wollte mich nur für die Prügelei gestern Abend entschuldigen." „Ja, natürlich!", schnaubte Selena höhnisch. „Dann zeig mir doch mal deinen Zettel!" Sie streckte die Hand aus. „Vergiss es!", brummte Danny und steckte ihn wieder ein. „Ich hab's mir anders überlegt. Ich ziehe meine Entschuldigung zurück!" Und mit diesen Worten drehte er sich um und stolzierte davon. Selena sah ihm mit klopfendem Herzen hinterher. Sie fragte sich, ob die Nachricht in seiner Hand tatsächlich eine Entschuldigung gewesen war – oder ein weiterer Drohbrief mit einem SonnenAufkleber. „Was für ein Licht bricht dort durchs Fenster? Osten ist dort, und Julia ist... der Mond\", rezitierte Jake mit dramatischer Betonung und ließ sich auf den Sitz neben Selena fallen. „Julia ist die Sonne", verbesserte sie ihn und versetzte ihm mit ihrem Skript von Romeo und Julia einen spielerischen Klaps. Selena war froh, dass sie sich nun nicht länger mit ihrem Text beschäftigen musste. Sie hatte alleine in der letzten Reihe des Zuschauerraums gesessen und darauf gewartet, dass das Vorsprechen begann. Doch nun leisteten Jake und Katy ihr Gesellschaft. Jake alberte wie üblich herum. Aber nach einer Weile fragte er mit ernstem Gesicht: „Hast du eigentlich mal wieder was von deinem geheimnisvollen Verfolger gehört? Glaubst du immer noch, dass es Danny ist?" Selena warf Katy einen finsteren Blick zu. „Offensichtlich hast du Jake bestens über alles informiert." Katy wurde rot und begann, eine Entschuldigung zu stammeln. „Hey, ich bin schließlich dein Freund", mischte Jake sich ein. „Ich habe ein Recht zu erfahren, was los ist." Selena hatte nicht gewollt, dass Jake von ihrem Verdacht gegen Danny erfuhr. Die beiden hatten sich noch nie leiden können, und 37
Selena wollte Jakes Abneigung nicht noch neue Nahrung geben – erst recht nicht nach der gestrigen Prügelei. „Ich weiß nicht, ob Danny etwas damit zu tun hat", antwortete Selena vorsichtig. „Auf jeden Fall scheint es jemand aus dem Schauspiel-Club zu sein. Wer hätte mir sonst die Blumen in den Spind legen können?" „Du solltest es unbedingt Mr Riordan erzählen", sagte Jake. „Aber der große Unbekannte hat mir doch gar nichts getan", protestierte Selena. „Er hat nur ein paar Briefe geschrieben. Und außerdem brauche ich das Schauspiel-Stipendium. Wenn ich Mr Riordan von der Sache erzähle, lässt er mich vielleicht nicht in diesem Stück auftreten." „Warum sollte Danny überhaupt so einen Unsinn machen?", fragte Jake. Selena zuckte mit den Achseln. „Er ist es gewöhnt, seinen Kopf durchzusetzen, aber bei mir beißt er auf Granit. Ich glaube, er ist ziemlich wütend, weil ich nicht zu seinen Füßen dahinschmelze." Na ja, ich würde ihm so etwas durchaus zutrauen", murmelte Jake. „Und wahrscheinlich wird er damit durchkommen – wie üblich." Selena betrachtete Jakes Gesicht. Die Ringe unter seinen Augen waren noch dunkler geworden, und seine Stimme war voller Bitterkeit. „Jake, ist irgendetwas nicht in Ordnung?" „Nein", fauchte er abwehrend. „Außerdem reden wir gerade über deine Probleme und nicht über meine", fügte er mit ruhigerer Stimme hinzu. „Ich kann Danny zwar nicht ausstehen, aber irgendwie verstehe ich ihn auch." „Ist das dein Ernst?", mischte Katy sich ein. „Ich meine doch nur, dass ich weiß, wie es ist, wenn man sich etwas wirklich wünscht und es nicht haben kann." Die Türen des Zuschauerraums flogen auf. Mr Riordan trat ein und ging nach vorne zur Bühne. Selena entdeckte Eddy hinter ihm. „Ich freue mich, dass so viele von euch gekommen sind", begann Mr Riordan. „Wir werden jetzt mit dem Vorsprechen für die Hauptrollen beginnen." Er zog ein Kärtchen aus seiner Brusttasche. „Alison Pearson und Selena Goodrich bewerben sich für die Rolle der Julia. Kommt bitte auf die Bühne! Und für den Romeo haben wir Danny Morris und Jake Jacoby." 38
„Jake!" Erstaunt drehte sich Selena zu ihrem Freund um. „Ich wusste ja gar nicht, dass du den Romeo spielen willst." „Warum denn nicht?", antwortete er und mied ihren Blick. „Das ist eben noch etwas, was Danny und ich beide wollen." Dann stand er schnell auf und ging nach vorne zur Bühne. „Was ist nur mit ihm los?", fragte Selena Katy. Katy rollte mit den Augen. „Ich hab auch keine Ahnung." Selena griff nach ihrem Skript und stand zögernd auf. „Hey, du machst das schon!", versicherte Katy ihr. „Danke", murmelte Selena. Als sie den Gang zwischen den Zuschauerreihen entlangeilte, vertrat ihr plötzlich Danny den Weg. „Wenn ich erst den Romeo spiele, werden wir beide eine Menge Zeit miteinander verbringen", sagte er mit einem dreisten Grinsen. „Ich bin bloß froh, dass Romeo am Ende stirbt", meinte Selena gehässig und eilte zur Bühne, bevor ihr noch mehr Gemeinheiten entschlüpften. Als sie an der ersten Sitzreihe vorbeikam, fiel ihr Blick auf Eddy, der ihr den erhobenen Daumen zeigte und ihr aufmunternd zulächelte. „Hey, Selena!", rief er ihr zu. „Hals- und Beinbruch!" „Danke, Eddy!" Sie spürte ein Flattern im Bauch und wünschte plötzlich, er wäre bei dem Vorsprechen nicht dabei. „Ich möchte die Romeos und Julias bitten, sich mit ihrem Text zu beschäftigen, während ich mich mit den anderen unterhalte", verkündete Mr Riordan. Selena ging quer über die Bühne zu den Garderobenräumen, wo sie am liebsten ihren Text lernte. Sie saß dort immer auf derselben Bank. Irgendwie glaubte sie, dass ihr das Glück brachte. Zu Selenas Überraschung hatte sich bereits jemand anders auf ihrer Bank niedergelassen. Es war Alison. Sie hatte sich mit dem Rücken gegen den großen Holzschrank gelehnt, in dem die Kostüme aufbewahrt wurden, und beugte sich über ihr Skript. „Hallo, Alison", begrüßte Selena sie. Alison blickte zögernd von ihrem Text auf und sagte: „Das ist dein Platz, nicht wahr? Ich werde woanders hingehen, um zu lernen." „Schon gut", antwortete Selena. „Die Bank gehört mir schließlich nicht. Außerdem habe ich meinen Text schon so oft gelesen, dass mir inzwischen davon ganz schwindelig ist." 39
„Und du bist sicher, dass ich dich nicht störe?" „Ganz sicher", versicherte ihr Selena. „Ich glaube, ich sollte sowieso besser ein bisschen an die frische Luft gehen." Sie öffnete die Tür, die von den Garderobenräumen zum Flur hinter der Bühne führte. „Oh Romeo, Romeo", murmelte sie vor sich hin. „Warum ..." Als sie den Schrei hörte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ein schriller Entsetzensschrei, gefolgt von einem furchtbaren Krachen. Und dann Stille. Eine schwere, bedrückende Stille, die Selena den Atem raubte.
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Kapitel 10 Selena stand einen Moment wie erstarrt und war unfähig, sich zu bewegen. Dann zwang sie sich, langsam in Richtung Zuschauerraum zurückzugehen. Als sie die Tür auf stieß, drangen ihr erschrockene Schreie und entsetztes Gemurmel entgegen. Ein Kreis von Menschen drängte sich im Hintergrund der Bühne. Was starrten sie an? Warum waren alle so aufgeregt? Selena bahnte sich einen Weg durch die Menge. „Was ist los? Was ist passiert?", fragte sie. Das Erste, was sie sah, waren Alisons Turnschuhe, die mit den Zehen nach unten zeigten, und ein paar Zentimeter ihrer Beine. Dann entdeckte sie den großen Schrank mit den Kostümen, der auf die Seite gekippt war. Genau auf Alison! „Oh nein!", stöhnte Selena entsetzt auf. Nun sah sie, dass Alison mit dem Gesicht nach unten dalag. Ihr langes Haar breitete sich wie ein Fächer auf der Bühne aus und bedeckte ihre ausgestreckten Arme. Mit einer Hand umklammerte sie immer noch das Skript des Theaterstücks. Alison rührte sich nicht – der schwere Schrank hatte ihr offenbar das Rückgrat zerschmettert. Selena, die fassungslos auf diese entsetzliche Szene hinunterblickte, spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie schlug eine Hand vor den Mund und torkelte zurück. Nur undeutlich nahm sie die unterdrückten Schreie um sich herum wahr. Krampfhaft versuchte sie, sich zusammenzureißen. Aber auch mit geschlossenen Augen sah sie Alisons zerschmetterten Körper vor sich. Schrille, erschrockene Stimmen gellten durch den Raum. „Ist sie tot?" „Wie konnte der Schrank bloß umfallen?" „Zieht ihn doch endlich weg!" „Nein! Wir dürfen ihn auf keinen Fall bewegen!" „Ich sagte, zieht ihn weg! Und einer von euch ruft sofort den Krankenwagen! Na los, wird's bald!" 41
Als Selena die Stimme von Mr Riordan erkannte, öffnete sie die Augen. Der Schauspiellehrer kniete neben Alison am Boden. „Ich hab schon angerufen!", ertönte Dannys Stimme aus dem Zuschauerraum. „Sie sind unterwegs!" „Ist sie ...? Ist sie ...?", war die zitternde Stimme von Judy Mason aus dem Kreis der entsetzten Zuschauer zu vernehmen. Judy war Alisons beste Freundin. „Ich weiß es nicht", gestand Mr Riordan. „Immerhin ist der schwere Schrank auf sie gefallen. Ich kann wirklich nicht sagen, ob sie ..." Er beendete den Satz nicht. Plötzlich hörte Selena ein leises Stöhnen. Alison! Sie sah, wie Alison versuchte, den Kopf zu heben. Einige Jungen hatten den Schrank inzwischen zur Seite gestemmt. „Nicht bewegen!", sagte Mr Riordan mit sanfter Stimme. „Der Krankenwagen ist schon unterwegs." Selena seufzte erleichtert auf. „Bitte, lieber Gott, lass ihr nichts passiert sein!", betete sie im Stillen. Als sie eilige Schritte hinter sich vernahm, drehte sie sich um. Es war Katy, die die Stufen zur Bühne emporhetzte. „Was ist hier passiert?", fragte sie atemlos. „Ich wollte noch etwas aus meinem Spind holen. Und als ich zurückkam ..." „Der große Schrank mit den Kostümen ist auf Alison gefallen", berichtete Selena. „Unmöglich!", rief Katy. „Der ist viel zu schwer - er kann doch nicht einfach umkippen." „Vielleicht war er zu voll", meinte ein Mädchen. „Oder jemand hat ihn umgestoßen", sagte Jake. „So ein Quatsch!", widersprach Katy heftig. „Warum sollte irgendjemand Alison verletzen wollen?" „Vielleicht sollte es ja gar nicht sie treffen", bemerkte Jake. „Normalerweise sitzt doch immer Selena dort, nicht wahr?" Sprachlos starrte Selena ihn an. Sie war zu geschockt, um antworten zu können. In diesem Moment flogen die Türen des Zuschauerraums auf. Mehrere Polizisten und die Besatzung des Krankenwagens stürmten herein. 42
Kurz darauf hoben die Sanitäter Alison vorsichtig auf eine Trage. Selena war erleichtert, als sie sah, dass das Mädchen dabei mit ihnen redete. Sie lächelte sogar über etwas, was einer der Männer zu ihr gesagt hatte. „Ist sie in Lebensgefahr? Hat sie sich etwas gebrochen?", fragte Judy Mason aufgeregt die Krankenpfleger und folgte ihnen, als sie Alison auf der Trage aus dem Zuschauerraum rollten. Als sie verschwunden waren, ließ sich Selena erleichtert auf dem Boden der Bühne nieder. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt. Mr Riordan, der sich den Schweiß von der Stirn wischte, kündigte an, dass das Vorsprechen auf den nächsten Nachmittag verschoben würde. Daraufhin verließen die Ersten den Zuschauerraum und unterhielten sich dabei gedämpft, aber aufgeregt über das schreckliche Ereignis. Die Polizei blieb noch eine Weile da und stellte hinter der Bühne Nachforschungen an, um herauszufinden, wie sich der Unfall zugetragen hatte. Auch Selena blieb noch, weil sie unbedingt wissen wollte, was passiert war. Immer wieder gingen ihr Jakes Worte durch den Kopf. War dieser scheinbare Unfall wirklich ein Anschlag auf sie gewesen? „Sieht aus, als wäre der Schrank zu voll gewesen", sagte einer der Polizisten zu Mr Riordan. „Achten Sie in Zukunft darauf, ihn nicht zu überladen. Außerdem sollten Sie von Zeit zu Zeit mal die Schrankbeine überprüfen. Das rechte vordere ist schon ziemlich wackelig." „Es war also ein Unfall?", erkundigte sich Mr Riordan. „Der Schrank ist doch wegen des Gewichts umgekippt, nicht wahr?" Der Polizist nickte. „Sieht so aus", meinte er. „Ich danke Ihnen", sagte Mr Riordan erleichtert. Wenige Minuten später lag der Zuschauerraum ruhig und verlassen da. Selena stand auf und ging zu dem massiven Holzschrank hinüber. Sie fragte sich, ob die Polizei Recht hatte. War der Schrank wirklich umgekippt, weil er zu voll war, oder hatte vielleicht doch jemand nachgeholfen? Heftig schüttelte sie den Kopf. Nein, niemand aus dem SchauspielClub würde so etwas fertig bringen. Als Selena in Gedanken versunken mit den Fingern über die 43
Schranktür fuhr, ertastete sie unter dem Griff etwas Klebriges. Überrascht zog sie die Hand zurück – und blickte auf einen orangefarbenen Sonnen-Aufkleber!
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Kapitel 11 Am nächsten Tag trottete Selena in gedrückter Stimmung von der Bushaltestelle nach Hause. Ein starker Wind trieb ihr graue, nasskalte Regenschwaden entgegen, und die düstere Fear Street wirkte noch abweisender als sonst. „Was ist nur mit mir los?", fragte sie sich. „Eigentlich müsste ich doch vor Freude in die Luft springen." Das Vorsprechen war bestens gelaufen. Selena würde in der Aufführung die Julia spielen. Nachdem Alison aus dem Rennen war, hatte sie keine Konkurrentin mehr gehabt. Aber es machte Selena nicht glücklich, die Rolle auf diese Weise bekommen zu haben. Sie fühlte sich dafür verantwortlich, dass Alison im Krankenhaus lag. Die Sonne hatte vorgehabt, sie zu verletzen, und nicht Alison. Katy hatte zwar versucht, Selena davon zu überzeugen, dass der Sticker auf dem Schrank nur ein Zufall war, aber sie wusste es besser. Jemand hatte gewollt, dass sie einen Unfall hatte! Der Garten vor ihrem Haus hatte sich in eine Schlammwüste verwandelt, und Selena rutschte auf den regennassen Stufen der Veranda aus. Als sie die Tür aufschloss, wünschte sie sich wieder einmal, ihre Mutter müsste nicht so viel arbeiten. Selena knipste das Licht an und ging die Treppe hoch. Ihre Schritte hallten durch das leere Haus. Nachdem sie sich trockene Sachen angezogen hatte, machte sie es sich auf ihrem Bett gemütlich, um abwechselnd Geometrie zu büffeln und ihren Text für das Stück zu lernen. Draußen heulte der Wind. Er schüttelte die Bäume und rüttelte an den Fenstern. Aber Selena fühlte sich warm und geborgen, als sie mit Romeo und Julia begann. Wie kamst du her? und sag, warum? Des Gartens Mauer ist hoch und schwer nur zu erklettern ... Selena schloss die Augen, um sich die Worte einzuprägen. Gerade wollte sie sich die nächsten Zeilen vornehmen, als das Telefon auf 45
ihrem Nachttisch klingelte. Sie ließ das Skript sinken und griff zum Hörer. „Hallo?" „Selena, ich bin's. Danny." Für einen Moment saß Selena stumm da und spürte, wie das Blut in ihren Schläfen pochte. „Hallo, Danny", murmelte sie schließlich. „Wie geht's dir?" „Bestens", sagte Selena ungeduldig. „Also, was willst du?" „Also ... ich - äh - ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll", stotterte er. „Du und ich, wir sind in letzter Zeit nicht besonders gut miteinander klargekommen." „Ach, was du nicht sagst." „Ich möchte nur, dass du mir eine Chance gibst, mit dir zu reden das ist alles. Ich dachte, wir könnten vielleicht irgendwo einen Hamburger zusammen essen. Du isst doch gelegentlich noch etwas, oder?" „Spinnst du?", rief Selena empört. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht mit dir ausgehen will." Danny verstummte für einige Sekunden, dann explodierte er. „Und warum nicht?", brüllte er. „Alles, worum ich dich bitte, ist, ein bisschen Zeit mit mir zu verbringen!" „Dazu habe ich aber keine Lust!", schrie Selena zurück. „Hast du das immer noch nicht verstanden?" „Oh doch, allerdings! Ich habe jetzt endlich kapiert, dass du zu eingebildet bist, um mit mir zu reden. Du warst wesentlich netter, als du noch fett warst!" „Denk doch, was du willst!", fauchte Selena wütend. „Ich will jedenfalls nicht mit dir ausgehen. Am liebsten würde ich dich gar nicht mehr sehen. Und deine Kommentare zu meinem Gewicht passen mir überhaupt nicht. Genauso wenig wie deine idiotischen Streiche!" „Was denn für Streiche?" „Zum Beispiel diese bescheuerten Sonnen-Aufkleber, die du überall hinterlässt. Hast du eigentlich auch den Schrank auf Alison gekippt? Ich glaube, du bist total durchgeknallt." „Ich habe dir neulich schon gesagt, dass ich keine Ahnung habe, wovon du da redest", wehrte Danny ab. „Ich würde Alison niemals verletzen, und irgendwelche Aufkleber besitze ich auch nicht!" 46
„Na klar!", sagte Selena spöttisch. „Sonst noch was?" „Was ist eigentlich mit dir los?", fragte Danny. „Okay, du willst nicht mit mir ausgehen, aber was sollen diese blöden Anschuldigungen?" „Also ..." Selena zögerte. Ihr Atem ging unregelmäßig. „Irgendjemand hat es auf mich abgesehen!", platzte sie schließlich heraus. „Das macht mich noch wahnsinnig!" Ärgerlich knallte sie den Hörer auf. Das hatte sie gar nicht sagen wollen. Am liebsten hätte sie überhaupt nicht mehr mit Danny geredet. Zögernd griff sie nach ihrem Skript, aber sie zitterte zu sehr, um zu lesen. Plötzlich schoss ihr ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf. „Angenommen, Danny lügt gar nicht. Vielleicht ist er wirklich nicht Die Sonne." Selena konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Danny den Schrank auf Alison gekippt hatte – nicht einmal, wenn er überzeugt gewesen wäre, sie hätte dort gesessen. So etwas traute sie ihm einfach nicht zu. Vielleicht war es doch ein Fremder gewesen, wie Katy vermutet hatte. Irgendein Fremder, der von ihr, Selena, besessen war. Sie zwang sich, mit ihrem Text weiterzumachen, hatte aber Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. „Vergiss Danny!", ermahnte sie sich. „Denk jetzt nur an das Stück!" Seufzend begann sie weiterzulesen: Noch keine hundert Worte trank mein Ohr Von deinem Mund, doch kenn ich diese Stimme. Bist du nicht Romeo ... Wieder unterbrach sie das Klingeln des Telefons. „Hallo?", rief sie in den Hörer. „Selena?", ertönte eine tiefe Stimme, die sie nicht kannte. „Wer ist da?", fragte sie. „Eddy. Eddy Martin. Aus dem Schauspiel-Club." Wieder begann ihr Herz zu hämmern, aber diesmal aus einem anderen Grund. „Eddy!", freute sie sich. „Hallo. Wie geht's dir?" „Gut, danke", antwortete er. „Ich rufe nur an, um dir zu sagen, wie 47
toll du heute beim Vorsprechen warst. Ich war wirklich beeindruckt." „Das ist nett von dir", sagte Selena. „Trotzdem war mir gar nicht wohl bei der Sache. Ich meine, weil Alison nicht dabei sein konnte." „Das kann ich verstehen", meinte Eddy. „Aber die Hauptsache ist doch, dass sie wieder gesund wird. Ich habe heute mit Mr Riordan gesprochen, und er sagte, dass sie nächste Woche schon wieder zur Schule kommen kann, wenn alles gut läuft." „Wie schön!" Selena war erleichtert. „Das sind ja wunderbare Neuigkeiten, Eddy!" „Außerdem – die Show muss schließlich weitergehen, oder?", fügte Eddy hinzu. Selena wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Eine unbehagliche Stille breitete sich zwischen ihnen aus. „Ich ... ich freue mich schon auf die Proben", stotterte Selena nach einer Weile. „Die meisten anderen wären an deiner Stelle furchtbar nervös", bemerkte Eddy erstaunt. „Die Julia ist eine ziemlich große Rolle." „Das macht es ja so faszinierend", erklärte Selena. „Und außerdem – je größer mein Part ist, desto sicherer fühle ich mich auf der Bühne." „Wow!", rief Eddy. „Es ist kaum zu glauben, dass du immer noch derselbe Mensch bist. Früher warst du so schüchtern! Ständig hast du diese Schlabberklamotten getragen und dich hinter dicken Brillengläsern versteckt. Und jetzt übernimmst du eine so anspruchsvolle Rolle und bist nicht mal aufgeregt!" Selena stockte der Atem. Woher wusste Eddy, wie schüchtern sie früher gewesen war? Und wie in aller Welt konnte er ahnen, was sie damals getragen hatte? Sie atmete tief durch. „Eddy", sagte sie leise, „wieso weißt du, was ich vor zwei Jahren anhatte?" Stille. Selena hielt gespannt die Luft an, während sie auf seine Antwort wartete. „Ich muss wohl dein Foto in einem alten Jahrbuch gesehen haben", meinte er schließlich. „Du wärst überrascht, wie viel ich über dich weiß, Selena. Sag mal", fügte er schnell hinzu, bevor sie ihn etwas fragen konnte, „hast du Freitagabend schon etwas vor?" 48
„Eigentlich nicht." „Gut. Ich habe nämlich zwei Karten für das Kino in der Nähe der Uni. Dort läuft ein chinesischer Film. Er soll sehr lustig sein. Hättest du Lust, mit mir hinzugehen?" „Ja, sehr gerne." „Prima." Eddy zögerte. „Aber da wäre noch etwas. Bitte erzähl niemandem aus dem Schauspiel-Club von unserer Verabredung besonders nicht Mr Riordan." „Warum denn nicht?", fragte Selena verblüfft. „Ich glaube, es wird nicht gerne gesehen, wenn ich mit Mädchen aus dem Club ausgehe", erklärte Eddy. „Oder mit Schülerinnen von der Highschool." „Warum? Du bist doch kein richtiger Lehrer." „Das nicht", gab Eddy zu. „Aber ich will auf keinen Fall unnötig Probleme heraufbeschwören." „Na gut", lenkte Selena ein. „Ich möchte ja auch nicht, dass du meinetwegen Ärger bekommst. Ich werd's keiner Menschenseele erzählen. Nicht mal meiner Mutter." „Danke. Ich hol dich dann so gegen sieben ab." Nachdem Selena aufgelegt hatte, starrte sie wie hypnotisiert auf die Wand, bis das Blumenmuster der Tapete vor ihren Augen verschwamm. Sie konnte es nicht glauben. Eddy hatte sie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen wollte! Sie war überglücklich. Solche Gefühle hatte noch kein Junge bei ihr ausgelöst. Eddy schien wirklich Interesse an ihr zu haben, denn er konnte sich an alles erinnern, was er jemals über sie gehört hatte. Selena schlang die Arme um ihren Oberkörper und ließ sich in die Kissen sinken. Sie konnte es kaum noch erwarten bis Freitag! In diesem Moment zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Erschrocken fuhr Selena hoch. Das Haus erzitterte, als direkt über ihr ein heftiger Donnerschlag ertönte. Das Licht flackerte einmal kurz, und der Regen prasselte hart gegen die Scheiben. „Ich sehe lieber nach, ob alle Fenster geschlossen sind", dachte Selena. Zuerst warf sie einen Blick ins Schlafzimmer ihrer Mutter, dann rannte sie nach unten und überprüfte alle anderen Räume. Das Küchenfenster stand einen Spalt offen, und es hatte bereits heftig 49
hereingeregnet. Das Fensterbrett war bereits völlig nass. Als Selena das Fenster schloss, blickte sie nach draußen. Ein gleißender Blitz beleuchtete für einen Moment ein kleines Bündel, das auf der hinteren Veranda lag. Selena runzelte die Stirn. Hatte ihre Mutter vielleicht etwas draußen vergessen? Sie riss die Tür auf, rannte hinaus in den strömenden Regen und holte das völlig durchweichte Päckchen herein. Als sie wieder in der Küche war, wischte sie sich mit einer Hand den Regen von der Stirn. Das braune Packpapier löste sich in ihren Händen auf, und das vom Regen durchnässte Päckchen fiel auseinander. Selena atmete einen fauligen Geruch ein. Von dem schweren, säuerlichen Gestank wurde ihr ganz übel. Als sie nach unten blickte und sah, was sie da in der Hand hielt, ließ sie das Päckchen entsetzt auf den Boden fallen. Sie würgte und schlug sich eine Hand vor den Mund. Unfähig, ihren Ekel zu unterdrücken, rannte sie hinüber zur Spüle und übergab sich.
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Kapitel 12 Der Regen prasselte auf den Küchenboden. Als Selena sich wieder umwandte, bemerkte sie, dass sie die Hintertür offen gelassen hatte. Die tote, schon halb verweste Ratte lag in einem Häufchen durchweichten Packpapiers neben der Tür. Ihre spindeldürren Beine hatte sie steif von sich gestreckt, und ihr geflecktes Fell war stumpf. Von ihrem Kopf war nicht mehr viel übrig. Offenbar war sie das Opfer einer Katze oder eines anderen Raubtieres geworden. Der Ekel erregende Gestank erfüllte die Küche und reizte Selenas Nase. Sie hielt die Luft an und versuchte, eine neue Welle der Übelkeit zu unterdrücken. „Wer kann mir das bloß geschickt haben?", fragte sie sich verängstigt und fassungslos angesichts dieser Gemeinheit. „Wer ist fies genug, mir so etwas Widerliches vor die Tür zu legen?" Als sie zögernd auf die tote Ratte zuging, entdeckte sie den vertrauten orangefarbenen Sticker auf dem durchnässten Papier. Schon wieder Die Sonne! Dann bemerkte sie die Nachricht, die auf die Innenseite des Packpapiers gekritzelt war. Die ungelenken schwarzen Buchstaben waren zwar vom Regen verwischt, aber nicht ganz unleserlich: Selena, erkennst du dich wieder? Wie diese Ratte wird es dir auch ergehen, wenn du nicht sofort aus dem Stück aussteigst! Gestern ist mir ein Fehler unterlaufen. Ich habe leider das falsche Mädchen erwischt. Das nächste Mal werde ich es richtig machen. Wenn ich nicht mit dir zusammen sein kann, darf es auch kein anderer. Überleg dir gut, was du tust, Selena. Sonst... Der Rest des Briefes war nicht mehr zu entziffern. Selena starrte auf die Nachricht und versuchte, das Zittern ihrer 51
Hände zu unterdrücken. Wieder und wieder überflog sie die wenigen Zeilen. Zu Anfang hatte sie die anonymen Briefe noch für einen Scherz gehalten, aber nun war der Spaß eindeutig zu Ende. „Damit ist er zu weit gegangen!", dachte Selena wie betäubt. Die Sonne wollte ihr also wirklich etwas antun. Ihr Verfolger hatte einen Fehler gemacht, als er Alison unter dem Schrank begraben hatte – er hatte eigentlich Selena verletzen wollen. Es bestand kein Zweifel daran, was in dem verwischten Teil der Nachricht gestanden hatte. Falls sie nicht aus dem Stück ausstieg, würde er sie töten. „Ob er jetzt noch dort draußen ist?", überlegte Selena. „Vielleicht hat er so lange gewartet, bis ich das Päckchen hereingeholt habe?" Sie hatte zwar kein Auto gehört, aber der heftige Regen übertönte wahrscheinlich jedes Geräusch. Selena machte einen großen Bogen um die halb verweste Ratte und warf einen Blick durch die offene Tür. Es goss noch immer in Strömen. Bis auf den Regenschleier und die nachtschwarze Dunkelheit, die ab und zu vom grellen Leuchten eines herabzuckenden Blitzes durchbrochen wurde, war nichts zu sehen. Hastig knallte Selena die Tür zu und verriegelte sie. Ein eiskalter Schauer lief ihren Körper hinunter. Sie musste unbedingt das tote Tier loswerden und den Fußboden sauber machen. Der widerliche Gestank im Haus war einfach unerträglich. „Und dann?", fragte sie sich. „Was soll ich dann tun?" Endlich zurück in ihrem Zimmer, versuchte Selena, sich wieder auf ihren Text zu konzentrieren. Aber sie wurde das Bild der halb verwesten Ratte einfach nicht los. „Ich werde Katy anrufen und ihr alles erzählen", beschloss sie. „Danach geht's mir bestimmt etwas besser." Ihre Freundin nahm schon beim dritten Klingeln den Hörer ab. „Selena? Was ist los? Du klingst ja fürchterlich!" „Oh, Katy. Es ist unglaublich!", rief Selena und sprudelte die ganze Geschichte hervor. Als sie geendet hatte, sagte Katy einen Moment lang gar nichts. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. „Ich hab dir doch die ganze Zeit gesagt, dass ein Verrückter hinter dir her ist", meinte sie vorwurfsvoll. „Hör zu – ich werde tun, was 52
ich kann, um dir zu helfen, den Mistkerl zu erwischen. Wenigstens wissen wir, dass es jemand aus dem Schauspiel-Club sein muss. Also werden wir alle, die bei dem neuen Stück mitmachen, aufmerksam beobachten." „Danke", murmelte Selena leise. „Aber ich habe trotzdem Angst. Er weiß, wo ich wohne. Und er ..." „Vielleicht solltest du das Stück doch lieber sausen lassen", sagte Katy, die ziemlich eingeschüchtert klang. „Wenn dieser Wahnsinnige seine Drohungen ernst meint ..." „Das Stück sausen lassen?" Selena schnappte entgeistert nach Luft. „Kommt gar nicht Anfrage!" „Du musst die Schauspielerei ja nicht für immer aufgeben", meinte Katy beschwichtigend. „Ich spreche ja nur von Romeo und Julia." „Aber diese Aufführung ist die wichtigste von allen! Es ist meine einzige Chance, ein Stipendium an der Northwestern-Uni zu kriegen!" „Auf jeden Fall musst du Mr Riordan erzählen, was los ist", beharrte Katy. „Die Sache ist viel zu ernst, um sie ihm zu verschweigen." „Und was ist, wenn er Romeo und Julia absetzt?" „Dein Leben ist doch wohl wichtiger als das Stück", erwiderte Katy scharf. „Du hast ja Recht", sagte Selena kleinlaut. „Ich werde es ihm sagen." „Gut. Aber vergiss es nicht! Erzähl es ihm morgen gleich als Erstes." Sie machte eine Pause. „Bist du jetzt eigentlich okay? Oder soll ich lieber rüberkommen?" „Danke, es ist alles in Ordnung", antwortete Selena. „Es hat mir gut getan, mit dir zu reden." Katy seufzte. „Je weniger du an diesen Fiesling denkst, desto besser. Oh, dabei fällt mir etwas ein - hast du dir schon überlegt, welche Videos wir für Freitag ausleihen wollen, wenn du bei mir übernachtest?" „Oh nein, Katy! Das habe ich ja total vergessen! Ich habe am Freitag schon eine andere Verabredung." Katy schwieg einige Sekunden. „Könntest du das nicht verschieben?", fragte sie dann. 53
„Ich glaube nicht", erwiderte Selena. „Warum treffen wir uns nicht stattdessen am Samstag?" „Na gut", gab Katy nach. „Ich hab ja sowieso nichts anderes vor. Mit wem gehst du denn aus?" Selena wusste, dass es eigentlich ein Geheimnis bleiben sollte, aber sie konnte ihrer besten Freundin die große Neuigkeit einfach nicht verschweigen. „Das rätst du nie: Mit Eddy!" „Eddy? Aber der geht doch schon aufs College. Ist er nicht ein bisschen zu alt für dich?" „Er ist nur zwei Jahre älter. Und so süß!", antwortete Selena. „Obwohl ich erst ein paar Mal mit ihm gesprochen habe, kommt es mir so vor, als würden wir uns schon unser ganzes Leben kennen." „Na ja, du musst wissen, was du tust", bemerkte Katy trocken. „Ich werd mich jetzt mal wieder an meine Hausaufgaben machen." „Okay", meinte Selena. „Und danke für dein Verständnis." „Kein Problem", sagte Katy. „Aber sei bitte vorsichtig, Selena! Ich glaube, dass du ernsthaft in Gefahr bist." Katys letzte Worte setzten sich in Selenas Kopf fest, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Um sich abzulenken, lehnte sie das Skript gegen ein Kissen und legte sich auf den Bauch, um weiter ihren Text zu lernen. Aber sie konnte sich keine einzige Zeile merken. Der Regen prasselte noch immer gegen ihr Fenster, und der starke Wind ließ das Glas im Rahmen erzittern. Bei jedem Donnerschlag fuhr Selena erschrocken zusammen. Plötzlich musste sie wieder an den Abend denken, an dem Katy und sie die Leiter auf dem Rasen gefunden hatten. Sie setzte sich auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Niemand war zu sehen. „Kein Mensch beobachtet mich!", redete Selena sich selbst ins Gewissen. Trotzdem erhob sie sich und zog die Vorhänge zu. Dabei achtete sie darauf, dass auch nicht der kleinste Spalt offen blieb. Kurz darauf flackerte das Licht, und wieder ließ Selena das Skript mit einem tiefen Seufzer sinken. Offenbar konnte sie es vergessen, ihren Text auswendig zu lernen, solange das Gewitter nicht vorbei war. Aber vielleicht sollte sie schon mal mit ihrem Referat für Geschichte anfangen. Sie lehnte sich zu ihrem Schreibtisch hinüber und zog ihr Geschichtsbuch unter einem Stapel Schulsachen hervor. 54
In diesem Moment erschütterte ein ohrenbetäubender Donnerschlag das ganze Haus. Selena zuckte zusammen. „Im Garten ist niemand", versuchte sie, sich zu beruhigen. „Hör endlich auf, dich verrückt zu machen!" Und wenn ihr Verfolger nun zurückgekehrt war? Woher sollte sie wissen, ob er nicht doch dort draußen stand? Bei dieser Vorstellung überlief es sie kalt. Und wie sollte sie es bei diesem Gewitter hören, wenn er ins Haus eindrang? Selena schloss die Augen, um die Furcht erregenden Gedanken zu vertreiben. Aber in ihrer Fantasie sah sie eine dunkle Gestalt, die sich leise ins Haus stahl, die Treppen hochschlich und sich ihrer halb geöffneten Zimmertür näherte. Selena riss die Augen auf. Ein greller Blitz ließ lange Schatten durch den Raum tanzen. „Jetzt reicht's aber!", schalt sie sich. „Deine Fantasie geht ja total mit dir durch. Das ist doch nur ein blödes Gewitter." Wieder schloss sie die Augen. „Vielleicht sollte ich die Hausaufgaben lieber vergessen und einfach ins Bett gehen", überlegte Selena. Sie ließ sich wieder gegen die Kissen sinken und versuchte, sich zu entspannen. Im Licht der zuckenden Blitze lauschte Selena dem Regen, der mit aller Macht auf die Bäume des Fear-Street-Waldes herabrauschte, der direkt hinter ihrem Haus begann. Und dann hörte sie plötzlich etwas. Etwas anderes als die Geräusche des Gewitters. Sie vernahm schwere Schritte im Haus. Selena stockte der Atem. Sie schreckte vom Bett hoch, und ihr Herz hämmerte wie wild vor Entsetzen. Hatte sie etwa vergessen, die Hintertür abzuschließen? Oder war jemand durch eines der Fenster eingebrochen? Selena saß ganz still da. Sie atmete flach und versuchte, die rhythmischen Geräusche zu ignorieren. Bumm ... bumm ... scharr. Die Schritte kamen näher. Jemand war auf der Treppe. Die Sonne? Bumm ... bumm ... scharr. Immer näher. Der Unbekannte war schon fast oben. 55
Lautlos glitt Selena von ihrem Bett und zog den Stecker ihrer metallenen Leselampe heraus. Sie umklammerte den Fuß der Lampe und spürte ihr tröstliches Gewicht in der Hand. Dann stellte sie sich hinter die Tür und wartete.
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Kapitel 13 Selena kauerte sich zusammen und hielt den Atem an. Sie lauschte angestrengt und umklammerte die Lampe fester. Als ein Blitz den Flur erleuchtete, bemerkte Selena in seinem hellen Schein einen Schatten. Sie zog scharf die Luft ein. Der geheimnisvolle Unbekannte war jetzt oben an der Treppe angekommen. Der Teppich im Flur dämpfte seine Schritte. „Selena?" Sie hob die Lampe hoch über ihren Kopf. „Bist du da, mein Schatz?" Selena überflutete eine solche Welle der Erleichterung, dass sie ihre behelfsmäßige Waffe beinahe fallen gelassen hätte. „Mom!", schluchzte sie. „Du bist zu Hause!" Sie warf die Lampe aufs Bett, stürzte in den Flur und umarmte ihre Mutter. „Ich bin ja so froh, dass du meinen Namen gerufen hast!", stieß sie hervor. „Ich war nämlich drauf und dran, dir eins überzuziehen!" Mrs Goodrich lachte. „Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe. Ich weiß, wie ungern du bei Gewitter alleine bist. Ein Blitz hat die Stromversorgung in der Stadt lahm gelegt, sodass unser Restaurant schließen musste. Das heißt, dass ich zur Abwechslung meine Tochter wieder einmal sehe!" „Ich bin ja so froh, dass du hier bist", versicherte Selena. „Pass auf, ich habe eine Idee", sagte ihre Mutter lächelnd. „Wie war's, wenn wir im Kamin ein großes Feuer anzünden und uns einen Becher Kakao machen?" „Wunderbar!", meinte Selena. Während ihre Mutter das Holz aufschichtete, kochte Selena in der Küche den Kakao. Dann setzte sie sich neben Mrs Goodrich auf das Sofa. Selena betrachtete ihre Mutter gerne im sanften Schein des Feuers. Sie fand, dass sie wunderschön aussah. Von ihr hatte sie das hellblonde Haar und die grünen Augen geerbt. Während sie an ihrem heißen Kakao nippten, erzählte Selena ihrer 57
Mutter alles über die Frühjahrsaufführung. „Du wirst eine wunderbare Julia sein!", schwärmte ihre Mom. „Dieses Mal werde ich dich spielen sehen, und wenn ich mich dafür krankmelden muss!" „Das wäre schön", seufzte Selena. „Ich wünschte nur, Daddy könnte auch dabei sein." „Ich auch, mein Schatz", sagte Mrs Goodrich sanft. „Er wäre so stolz auf dich!" Selena nickte traurig. Ihr Vater war vor ihrem ersten Auftritt gestorben und hatte nicht mehr von ihrem Schauspieltalent erfahren. „Ich vermisse ihn so sehr", vertraute sie leise ihrer Mutter an. „Obwohl es jetzt schon drei Jahre her ist, erwarte ich an manchen Abenden immer noch, dass er nach Hause kommt, als wäre nichts geschehen." „Mir geht es genauso", murmelte Mrs Goodrich und blickte zur Seite. „Aber er wird immer bei uns sein, solange wir uns an ihn erinnern, mein Schatz." Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten, wandte Mrs Goodrich sich Selena wieder zu und zwang sich zu einem Lächeln. „Erzähl mir mehr über die Schule", bat sie. „Ich möchte alles wissen." Sofort fielen Selena wieder ihr Verfolger, die tote Ratte und die hässlichen Drohungen ein. Sollte sie mit ihrer Mutter darüber reden? „Ich muss noch einige Referate vorbereiten", begann sie vorsichtig. „Ansonsten gibt es eigentlich nicht viel zu berichten, bis auf ..." „Auf was?" „Ach, nichts." Selena zuckte mit den Achseln. „Ich werde es lieber Mr Riordan erzählen", beschloss sie für sich. „Warum soll ich Mom beunruhigen? Sie hat schon genug andere Probleme." „Ich bin ein bisschen im Stress", sagte sie lächelnd zu ihrer Mutter. „Aber glaub mir - dieses Theaterstück ist für mich das Allerwichtigste." Als Selena am nächsten Morgen zu ihrem Englischkurs eilte, stieß sie mit Jake zusammen und rannte ihn beinahe über den Haufen. „Oh, entschuldige, Jake! Ich hab dich gar nicht gesehen", rief sie. 58
„Hallo, Moon", murmelte Jake tonlos. „Was ist denn mit dir los?", erkundigte sie sich erstaunt. Jake runzelte die Stirn. „Mr Riordan hat gerade die Besetzungsliste für die Frühjahrsaufführung aufgehängt." „Wirklich?", fragte Selena und lief aufgeregt zum schwarzen Brett hinüber, um nachzusehen. „Keine Überraschungen", brummte Jake. „Du spielst natürlich die Julia und Danny den Romeo." „So 'n Mist!" Selena krauste die Nase. „Ich hatte gehofft, du würdest die Rolle bekommen." „Ich hätte sie auch verdient!", erklärte Jake überraschend hitzig. „Du warst doch beim Vorsprechen dabei. Ich war tausendmal besser als dieser Idiot." „Ihr wart beide gut", meinte Selena vorsichtig. „Danny hat's nur geschafft, weil er sich ständig bei Mr Riordan einschmeichelt", ereiferte sich Jake laut. „Ich hatte gehofft, dass sich wenigstens einmal das echte Talent durchsetzen würde. Aber Danny kriegt anscheinend immer seinen Willen." Wütend kickte er ein zusammengeknülltes Stück Papier quer durch den Flur. „Es tut mir wirklich Leid, dass du die Rolle nicht bekommen hast", sagte Selena aufrichtig. „Aber ich war überrascht, dass du dich überhaupt darum beworben hast. Bis jetzt wolltest du doch immer nur Nebenrollen übernehmen." „So denkst du also darüber", stieß Jake mit zorniger Stimme hervor und starrte sie wütend an. Erschrocken wich Selena einen Schritt zurück. „Meinst du etwa, es hat mir Spaß gemacht, ständig Nebenrollen zu spielen, während du der Star warst?", fragte er hitzig. „Na ja, ich ... ich habe angenommen ...", stotterte Selena, die nicht wusste, was sie sagen sollte. „Wir sind schon sehr lange befreundet, Selena, aber es gibt immer noch eine Menge Dinge, die du nicht über mich weißt", sagte Jake mit mürrischem Gesicht. „Jake, es tut mir Leid ..." „Vergiss es!" Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. „Aber eines sage ich dir: Danny bekommt nicht alles, was er will. Dieses Mal nicht!" 59
„Hör auf, so zu reden", bat Selena. „Du machst mir richtig Angst." Aber Jake schien ihr gar nicht zuzuhören. Er hatte sich abgewandt und war schon halb den Flur hinuntergegangen - die Hände wütend zu Fäusten geballt. „Ich kann's kaum noch erwarten, mit dem Stück anzufangen", erklärte Katy, als sie und Selena auf den Bus warteten. „Ich bin schon so gespannt auf die Probe heute Abend." „Ich auch, aber ..." Selena ließ den Satz in der Luft hängen. „Was aber?", bohrte Katy nach. „Überlegst du etwa immer noch auszusteigen?" „Nein, auf keinen Fall", sagte Selena. „Aber ich habe mich entschieden, mit Mr Riordan zu sprechen - und wer weiß, was er dann tun wird." „Warten wir's ab", meinte Katy. Nach einer kurzen Pause wechselte Selena das Thema. „Übrigens mache ich mir Gedanken um Jake. Seit ein paar Tagen benimmt er sich echt merkwürdig. Er tut fast so, als ob ich seine Feindin wäre und nicht eine seiner ältesten Freundinnen." „Heißt das, du weißt es nicht?", fragte Katy ungläubig. „Was denn?", erkundigte sich Selena. „Ich war sicher, Jake hätte es dir erzählt", seufzte Katy. „Es wundert mich, dass er's nicht getan hat." „Was soll er mir denn erzählt haben?", fragte Selena. „Nun spann mich doch nicht länger auf die Folter!" „Na ja, ich habe gestern herausgefunden, warum er in letzter Zeit so launisch war. Es ist wegen seiner Eltern. Sie haben sich getrennt." „Oh nein!" Selena schnappte nach Luft. „Mr und Mrs Jacoby? Das glaub ich einfach nicht!" „Es muss für Jake ziemlich hart sein", fuhr Katy fort. „Ich mache mir auch langsam Sorgen um ihn. Er ist im Moment völlig unberechenbar. Man weiß nie, was er als Nächstes tun wird, und er fährt bei jeder Kleinigkeit sofort aus der Haut." „Das stimmt", bestätigte Selena. „Denk mal an diese Sache mit Danny. Ich weiß zwar, dass die beiden sich noch nie leiden konnten, aber das ging wirklich zu weit." Katy nickte und trat auf die Straße, um nach dem Bus Ausschau zu halten, der Verspätung hatte. Sie seufzte. „Du willst Mr Riordan also 60
von deinem unheimlichen Verfolger erzählen?", fragte sie mit ernstem Gesicht. Selena hob die Schultern. „Ich denke schon." Aber tief in ihrem Inneren war sie sich immer noch nicht sicher, ob sie ihrem Schauspiellehrer wirklich berichten sollte, was passiert war. „Wir werden die Aufführung absetzen müssen", dachte sie. „Und wenn das geschieht, bekomme ich kein Stipendium. Das ist dann das Ende all meiner großen Pläne." „Was soll denn das heißen: Du denkst schon? Du musst es Mr Riordan sofort sagen", schimpfte Katy. „Wer weiß, was dieser Wahnsinnige als Nächstes vorhat." Selena stieß einen tiefen Seufzer aus. „Geht zurzeit eigentlich alles schief?", fragte sie sich. Jakes Eltern hatten sich getrennt. Danny spielte den Romeo. Und sie wurde von einem verrückten Unbekannten verfolgt. Der einzige Lichtblick in ihrem Leben war ihre Verabredung mit Eddy am Freitagabend. „Wir haben schon auf dich gewartet", rief Danny Selena zu. Er stand hoch oben auf einer Leiter. „Oh, Julia, Julia – wo warst du nur, meine Julia?", deklamierte er laut. Die anderen lachten. „Lass den Quatsch!", fauchte Selena und verdrehte genervt die Augen. Die erste Probe fing ja gut an! Sie kletterte auf die Bühne und versuchte, Danny zu ignorieren. Er sprang von der Leiter und landete direkt vor ihren Füßen. „Hör mal, wir werden zusammenarbeiten müssen, bis die Aufführung vorbei ist. Könntest du nicht wenigstens versuchen, mit mir auszukommen?" „Du hast ja Recht", lenkte Selena ein. „Ich bin nur ein bisschen nervös." Sie atmete tief durch. „Und ich habe furchtbaren Bammel vor der Balkonszene", fügte sie hinzu und blickte zu den Leitern hinüber, die dafür aufgestellt worden waren. „Ach ja." Danny lachte. „Das hatte ich ja ganz vergessen. Julia hat Höhenangst!" „Vielleicht sollten wir eine Kellerszene daraus machen!", schlug eine Stimme aus dem Zuschauerraum vor. 61
Noch mehr Gelächter ertönte. Selena achtete gar nicht darauf. Sie zog das Skript aus ihrem Rucksack und ging zu den anderen Schauspielern, die in der Mitte der Bühne standen. „Wo ist Jake?", erkundigte sich Mr Riordan. „Wir brauchen ihn für die erste Szene." „Jake?", rief jemand. „Hey, Jake!" Kurz darauf schlurfte Jake mit griesgrämigem Gesicht auf die Bühne und murmelte: „Was gibt's denn so Wichtiges?" „Leute, reißt euch mal zusammen! Wir beginnen jetzt mit den Proben", mahnte Mr Riordan. „Also – erster Akt, erste Szene. Ihr könnt den Text ablesen." „Konzentrier dich!", befahl sich Selena. Als ihr Stichwort kam, begann sie, ihren Text zu sprechen, und schon nach kurzer Zeit ging sie völlig in ihrer Rolle auf. Selena spürte, wie sie sich ohne bewusste Anstrengung entspannte und war überrascht, wie gut die erste Probe lief. Alle waren mit Begeisterung dabei – sogar Jake. Während Selena ihren Text sprach und dabei auf der Bühne hin und her ging, war sich ein Teil von ihr ständig der Tatsache bewusst, dass Eddy in der ersten Reihe neben Mr Riordan saß. Bildete sie es sich nur ein, oder verfolgte er mit seinem Blick wirklich jede ihrer Bewegungen? Beobachtete er die anderen eigentlich genauso intensiv? Als sie während einer Szenenpause zu ihm hinunterblickte, antwortete er mit einem Lächeln, das ganz offensichtlich für sie bestimmt war. Und während sie den Text der nächsten Szene vorlas, hatte sie beinahe das Gefühl, als spräche sie direkt zu ihm. „Okay, Leute. Das lief schon sehr gut", meinte Mr Riordan nach ungefähr einer Stunde. „Jetzt möchte ich noch mal etwas anderes versuchen. Julia, halt dich bitte mehr im Hintergrund der Bühne und sprich deinen Text ruhiger. Außerdem möchte ich, dass Julias Vater – Jake? Wo ist denn Jake?" „Entschuldigung", rief Jake. „Ich habe mir nur einen Schluck Wasser geholt." „Nächstes Mal wartest du damit bis zur Pause", sagte Mr Riordan ungehalten. „Und jetzt stell dich dort hinten in die Kulissen. Wenn Julia zu sprechen beginnt, kommst du auf die Bühne. Verstanden?" 62
„Natürlich hab ich das verstanden", murrte Jake. „War ja auch nicht besonders schwer." Mr Riordan seufzte. „Sind alle so weit?", fragte er. Selena stellte sich sofort an den Platz, den der Lehrer ihr angewiesen hatte, und begann, ihren Text zu sprechen. „Noch einmal!", rief ihr Mr Riordan zu. „Versuch, mehr Gefühl hineinzulegen!" Selena wiederholte die Zeilen. Sie liebte diesen Abschnitt der Proben. Es war einfach großartig, ein Teil von etwas zu sein, was sich ständig veränderte und weiterentwickelte. „Wunderbar!", lobte Mr Riordan diesmal. „Das war hervorragend!", ließ sich auch Eddy vernehmen. „Und jetzt versucht, dieses Gefühl in die nächste Szene mit hinüberzunehmen", wies der Schauspiellehrer die Darsteller an. „Julia, ich möchte, dass du ..." In diesem Moment wurde er von einem schrillen Schrei unterbrochen. „Die Scheinwerfer! Die Scheinwerfer!" Selena erkannte Katys Stimme und blieb wie angewurzelt stehen, als ihre Freundin mit einem großen Satz auf sie zusprang. Die Seiten des Skripts fielen ihr aus der Hand und verteilten sich über die Bühne, als Katy mit Selena zu Boden stürzte. Selena sah die Scheinwerfer nicht fallen, aber sie hörte das Krachen und spürte, wie die Bühne bei ihrem Aufprall wackelte. Das Klirren von Glas, das Knirschen von Metall und hohe Entsetzensschreie gellten in ihren Ohren. Und in diesem Moment wusste Selena, dass es aus war.
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Kapitel 14 „Es ist vorbei", schoss es Selena durch den Kopf. „Katy und ich, wir sind beide tot. Zerschmettert von den großen Scheinwerfern." Wieder hörte sie das furchtbare Poltern, Knirschen und Klirren. Und wartete auf den Schmerz. Aber sie spürte nichts. Überhaupt nichts. „Ich muss tot sein", dachte sie wieder. Vorsichtig öffnete sie die Augen und blickte in die entsetzten Gesichter ihrer Freunde. Mr Riordan hatte sich über sie gebeugt und rief irgendetwas, was sie nicht verstand. Dann sah sie Eddy, sah sein bleiches Gesicht und seinen angstvollen Blick. Selena schluckte und atmete tief durch. Sie lebte! Vorsichtig versuchte sie aufzustehen. Bis auf ein Pochen in ihrem rechten Knie spürte sie keinen Schmerz. „Ich bin noch mal davongekommen!", schoss es ihr durch den Kopf. „Die Scheinwerfer sind auf die Bühne gekracht und haben mich verfehlt. Weil Katy ..." Katy? Mühsam richtete Selena sich auf. Ihre Freundin lag mit dem Gesicht nach unten auf der Bühne. Ihr Körper wirkte merkwürdig verdreht, und ihr Arm war unter einem zerbrochenen Scheinwerfer begraben. Selena sah, dass Eddy sich neben Katy gekniet hatte. „Bleib ganz ruhig liegen", sagte er zu ihr. „Versuch nicht, dich zu bewegen. Dein Arm ..." War er zerschmettert? Blutete er? Benommen erhob sich Selena. „Ich glaube, er ist nur geprellt", meinte Katy und stöhnte auf. Als sie merkte, dass ihre Freundin nicht ernsthaft verletzt war, wurde Selena vor Erleichterung ganz schwindelig. Sie beobachtete, wie Eddy behutsam Kathys verletzten Arm untersuchte. „Kannst du ihn bewegen?", fragte er. „Es ... es geht schon", stammelte Katy. Eine böse, purpurrote Quetschung begann, sich ein paar Zentimeter über ihrem Ellbogen abzuzeichnen. 64
Mr Riordan half Katy auf die Füße. „Offenbar hast du dir nichts gebrochen", sagte er. „Aber es scheint eine üble Prellung zu sein. Jake, bitte hol etwas Eis zum Kühlen." Nachdem Jake verschwunden war, wandten sich Mr Riordan und Eddy den vier zerschmetterten Scheinwerfern zu, die mit Stahlstangen verbunden waren. „Wir überprüfen die Beleuchtungsanlage doch jeden Monat", murmelte Mr Riordan und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Wie ist es nur möglich, dass die Scheinwerfer herabgestürzt sind?" „Ich weiß, wie!", dachte Selena erbittert. Es war ihr Verfolger gewesen – derselbe Mistkerl, der auch den Schrank umgekippt hatte. Und jetzt hatte er wieder versucht, sie umzubringen. Katy hatte ihr das Leben gerettet und war dabei verletzt worden. Sie war nun schon die zweite Person, die es an Selenas Stelle traf. „Kein Stipendium der Welt ist es wert, dass ich meine Freunde dafür in Gefahr bringe", schoss es Selena durch den Kopf. „Ich muss dieser Sache ein Ende machen. Sofort!" Sie drehte sich zu Mr Riordan um. „Könnte ich wohl einen Moment mit Ihnen sprechen?", fragte sie mit zitternder Stimme. Überrascht verzog er das Gesicht. „Eigentlich möchte ich mich jetzt erst mal um Katy kümmern ...", setzte er an. „Aber ich muss Ihnen etwas sehr Wichtiges erzählen", beharrte Selena. „Okay", seufzte der Schauspiellehrer und folgte ihr zum hinteren Teil der Bühne. Selena ging voraus und überlegte, wie sie am besten mit ihrer Geschichte beginnen sollte. Als sie sich zu Mr Riordan umwandte, bemerkte sie, dass Eddy ihr mit Blicken folgte. Sein kalter, nachdenklicher Gesichtsausdruck machte ihr Angst. „Warum beobachtet er mich?", fragte sich Selena. „Weshalb starrt er mich so an?"
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Kapitel 15 Liebe Selena, heute waren wir wieder zusammen, und etwas Schlimmes ist passiert. Etwas sehr Schlimmes. Das war ich, Selena. Du merkst es zwar nicht, aber ich bin jeden Tag in deiner Nähe. Auch wenn du mich nicht sehen kannst, sind wir doch zusammen. Du bist in meiner Gewalt und weißt es nicht einmal. Aber du wirst es sehr bald zu spüren bekommen. Wenn du in Romeo und Julia auftrittst, wirst du die Wahrheit erfahren. Und es wird das Letzte sein, was du jemals erfährst. Die Sonne
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Kapitel 16 „Klasse Film!", sagte Eddy, als er und Selena nach der Vorstellung über den Parkplatz des Kinos gingen. „Die Hauptdarstellerin war umwerfend", meinte Selena bewundernd. „Ich habe gar nicht auf die Untertitel geachtet, sondern immer nur ihr Gesicht angeschaut." „Eines Tages wirst du an ihrer Stelle sein", zog Eddy sie auf. „Ach wirklich? Du denkst also, ich werde Untertitel brauchen?", scherzte Selena, während Eddy ihr die Wagentür aufhielt. Sie ließ sich in den Schalensitz seines roten Honda Civic sinken und schloss für einen Moment die Augen. Das Auto erinnerte sie irgendwie an Eddy – es war warm und vermittelte einem ein Gefühl von Geborgenheit. Als er sie vorhin abgeholt hatte, hatte Selena sich zuerst gehemmt und ein bisschen unbehaglich gefühlt. Aber je länger sie zusammen waren, desto mehr entspannte sie sich. „Und was machen wir jetzt?", fragte Eddy und setzte sich hinter das Steuer. „Möchtest du etwas essen?" „Nach all dem Popcorn sollte ich eigentlich pappsatt sein. Aber ehrlich gesagt, bin ich halb verhungert", gestand Selena. „Ich auch", stimmte Eddy ein. „Warst du schon mal im Sam's?" „Sam's? Nein", antwortete Selena. „Wo ist denn das?" „In Waynesbridge, in der Nähe des Junior-Colleges. Der Laden ist berühmt für seine Hamburger", erklärte Eddy. „Wollen wir hinfahren?" „Gerne", sagte Selena und dachte im Stillen, dass sie wahrscheinlich auch mitkommen würde, wenn er ein Restaurant vorgeschlagen hätte, wo gebackene Würmer serviert wurden. „Magst du Jazz?", erkundigte sich Eddy und schob eine Kassette in den Recorder. „Ich kenn mich damit nicht so gut aus", gab Selena zu. „Mein Dad hat mich auf den Geschmack gebracht", meinte Eddy. „Zu Anfang hat's mir nicht besonders gefallen, aber inzwischen höre ich sogar mehr Jazz als Rock. Das hier ist eine alte Aufnahme von 67
Billy Evans. Er war ein wunderbarer Klavierspieler." Selena lauschte der Musik, während sie über die dunkle Straße nach Waynesbridge fuhren. „Irgendwie gefällt mir die Musik", stellte sie nach einer Weile fest. „Vielleicht magst du auch die neueren Sachen", erwiderte Eddy. „Ich habe eine starke Kassette von Wynton Marsalis. Die können wir ja auf dem Rückweg hören." Er lenkte den Wagen durch einen engen Tunnel in eine Tiefgarage und bog auf einen freien Parkplatz ein. Sie stiegen aus, und Eddy führte Selena zurück durch den Tunnel und eine Betontreppe hoch. Die Tür am Ende der Treppe öffnete sich auf eine schmale Gasse, die von kleinen Restaurants und hübschen Läden gesäumt war. Der Straßenbelag bestand noch aus altem Kopfsteinpflaster. „Das ist ja toll hier!", rief Selena aus. „Nicht wahr? Es ist Teil des Unigeländes. Viele Studenten schleppen ihre Eltern her, weil es hier so nette Lokale gibt. Aber die Schauspielstudenten treiben sich meistens im Sam's rum. Der Besitzer war früher nämlich selber mal Schauspieler in New York." „Ich find's wunderbar!", schwärmte Selena. „Wahrscheinlich trifft man hier ganz andere Leute als in den Kneipen, wo ich sonst hingehe." Als Eddy die Eingangstür vom Sam 's aufstieß, wehte ihnen der Geruch von Hamburgern und Pommes entgegen. Eine Kellnerin führte sie zu einer dämmerigen Nische im hinteren Teil des Lokals. Selena setzte sich auf die Bank und betrachtete die Fotos berühmter Schauspieler, die an den Wänden hingen. „Das Essen hier ist gar nicht so übel", versicherte Eddy ihr. Als die Kellnerin kam, bestellten sie beide Hamburger mit Pommes und dazu eine Cola. „Wie weit bist du eigentlich mit deinem Text?", erkundigte sich Eddy. „Den ersten und zweiten Akt habe ich schon auswendig gelernt", berichtete Selena. „In den Szenen, bei denen ich zugeschaut habe, warst du übrigens hervorragend", lobte Eddy sie. „Du brauchtest kaum Regieanweisungen. Ich finde, du hast eine Menge Talent, Selena." 68
„Danke", murmelte sie verlegen. „Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich den Charakter der Rolle noch nicht ganz erfasst habe. Einige Dinge sind mir bei der Julia nach wie vor unklar. Ich brauche noch etwas Zeit, um mich ganz hineinzudenken." „Deswegen bist du ja so gut", versicherte ihr Eddy. „Die meisten Highschool-Schauspieler sagen einfach ihren Text auf, aber du beschäftigst dich intensiv mit deinen Rollen und versuchst, dein Bestes zu geben." „Aber was ist, wenn mein Bestes nicht gut genug ist?", seufzte Selena und schob nervös den metallenen Serviettenhalter hin und her. „Immerhin kommt der Schauspiellehrer der Northwestern-Uni zur Premiere. Alles hängt davon ab, wie ich spiele. Ich muss unbedingt ein Stipendium kriegen! Das ist meine einzige Chance, studieren zu können." „Du schaffst das bestimmt", versuchte Eddy, sie zu beruhigen. „Aber wenn du dir so große Sorgen machst, kann ich auch mit dir üben." „Das würdest du tun?", rief Selena. „Natürlich", sagte er und warf ihr sein überwältigendes Lächeln zu. „Nichts lieber als das. Aber bitte erzähl es keinem anderen." „Bestimmt nicht", versprach sie. „Bist du sicher, dass das in Ordnung ist?" „Klar ist das in Ordnung", antwortete Eddy. „Ich möchte nur nicht, dass Mr Riordan denkt, ich würde dich bevorzugen." „Das kann ich verstehen", meinte Selena. Bei dem Gedanken, sich heimlich mit Eddy zu treffen, musste sie lächeln. Sie fühlte sich so wohl und geborgen in seiner Gegenwart. „Mein Vorschlag ist natürlich nicht ganz uneigennützig", fuhr Eddy fort. „Ich möchte dich nämlich gerne besser kennen lernen. Normalerweise treffe ich nicht viele Leute, die das Schauspielen so lieben wie du. Und ich finde es erstaunlich, dass du dabeigeblieben bist. Ich weiß, dass du in den letzten Jahren eine Menge durchgemacht hast. Der Tod deines Vaters muss hart für dich gewesen sein, aber du hast dich dadurch nicht von deinem Weg abbringen lassen." Selena konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Woher weißt du von meinem Vater?", fragte sie erstaunt. „Ich habe dir nicht erzählt, 69
dass er gestorben ist." „Mr Riordan hat's mir gesagt", erklärte Eddy. „Tut mir Leid. Ich hätte es vielleicht nicht erwähnen sollen." Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. „Mir liegt sehr viel an dir, Selena." Selena, die sich mit einem Mal unbehaglich fühlte, erwiderte zögernd seinen Blick. „Ich weiß, dass du viel zu tun hast", fuhr Eddy fort. „Und natürlich habe ich auch gemerkt, wie beliebt du bei den anderen bist, aber ich würde dich trotzdem gerne öfter sehen ... Ich meine, natürlich nur, wenn du Zeit hast." Selena war völlig durcheinander. Eddy gefiel ihr unheimlich gut, aber im Grunde wusste sie nicht das Geringste über ihn. Dafür schien er umso mehr über sie zu wissen. Und zwar lauter Dinge, die sie ihm nie erzählt hatte. Hastig zog sie ihre Hand weg. „Ich würde mich auch gerne wieder mit dir treffen, Eddy", begann sie. „Aber ..." „Aber was?", unterbrach er sie. „Hast du etwa schon einen Freund?" Verwirrt schüttelte Selena den Kopf. „Findest du, dass ich zu alt für dich bin? Ist es das?" Er blickte sie ernst an. „Was ist nur mit mir los?", grübelte Selena. „Ich mag Eddy wirklich! Warum bin ich bloß so misstrauisch?" „Entschuldige bitte", sagte Eddy. „Ich glaube, ich habe dich etwas überrumpelt." „Das ist es nicht", antwortete Selena. Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite mochte sie Eddy und hätte ihm gerne von ihren Sorgen erzählt, aber auf der anderen Seite hatte sie Angst, ihm zu vertrauen. „Was ist los, Selena?", fragte er mit sanfter Stimme. „Es ... es ist nur ... jemand hat mich bedroht", platzte sie heraus. „Was sagst du da?" „Ich weiß, es klingt verrückt", räumte Selena ein. „Aber irgendjemand schickt mir Drohbriefe und Päckchen mit grauenvollem, ekelhaftem Inhalt. Ich weiß gar nicht mehr, wem ich noch trauen soll." 70
„Wow!", murmelte Eddy. „Das ist ja eine schlimme Geschichte! Hast du eine Vermutung, wer dahinter stecken könnte?" „Nicht so richtig", antwortete Selena mutlos. „Aber ich nehme an, es ist jemand aus dem Schauspiel-Club." „Das muss ja furchtbar für dich sein", sagte Eddy mitfühlend. Zuerst noch zögernd und dann immer schneller, begann Selena, ihm die ganze Geschichte zu erzählen: von dem Strauß verfaulter, schwarzer Rosen, mit dem alles begonnen hatte, bis hin zur letzten Drohung der Sonne. „Und das Erschreckendste an der ganzen Sache ist, dass es wahrscheinlich derselbe Kerl war, der den Schrank auf Alison gekippt hat und die Scheinwerfer auf Katy hat fallen lassen. All das hat er getan, weil er es eigentlich auf mich abgesehen hatte." „Das wäre möglich", meinte Eddy. „Und doch ist es unglaublich. Ich meine, es ist einfach unfassbar, dass jemand, den wir kennen, versuchen soll, dich umzubringen!" Selena seufzte. „Katy denkt, dass mein Verfolger einer dieser verrückten Typen ist, die regelrecht von irgendwelchen Filmstars besessen sind. Dabei bin ich nicht mal berühmt." „Aber in Shadyside bist du ziemlich bekannt", sagte Eddy nachdenklich. „Hast du Mr Riordan schon davon erzählt?" Selena nickte. „Er ist überzeugt, dass die Sache mit der Garderobe und die herabgestürzten Scheinwerfer Unfälle waren – und dass sich jemand mit den Drohbriefen und den schrecklichen Geschenken einen schlechten Scherz erlauben will. Er hat mir versprochen, in nächster Zeit besonders wachsam zu sein, aber er glaubt nicht, dass ich in akuter Gefahr bin." „Vielleicht solltest du zur Polizei gehen", schlug Eddy mit gesenkter Stimme vor. „Wahrscheinlich reagieren die genauso wie Mr Riordan", wehrte Selena ab. „Sie werden sagen, dass das alles nur Unfälle und dumme Streiche waren." Eddy seufzte. „Ich werde mal in Ruhe über diese Geschichte nachdenken. Vielleicht fällt mir eine Möglichkeit ein, wie ich dir helfen kann, damit du dich wieder ein bisschen sicherer fühlst." „Danke", antwortete Selena gerührt. „Das ist lieb von dir." Eddy nahm die Rechnung vom Tisch und warf ihr ein 71
aufmunterndes Lächeln zu. „Ich bin gleich zurück", sagte er. Selena sah ihm nach, als er zur Kassiererin ging. „Ich bin froh, dass ich ihm alles erzählt habe", dachte sie. „Er ist so verständnisvoll." Als sie ihren Blick an Eddy vorbei in den vorderen Teil des Restaurants wandern ließ, stockte ihr der Atem. Danny Morris stand im Türrahmen und starrte sie unverwandt an. „Was macht der denn hier?", fragte sie sich mit einer Mischung aus Ärger – und Furcht. „Ist er mir etwa gefolgt?"
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Kapitel 17 Selena spürte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte. „Dieses Lokal ist viele Meilen von Shadyside entfernt", schoss es ihr durch den Kopf. „Hier treffen sich bestimmt keine Leute aus der Highschool." Es gab also nur eine einzige Erklärung: Danny war ihr nachgefahren! Zitternd vor Wut, sprang Selena auf und trat in den Gang, um ihm den Weg abzuschneiden. „Hallo, Selena!", rief er und tat so, als wäre er erstaunt, sie zu treffen. „Was machst du hier?", fragte sie wütend. „Willst du mir mal wieder auf die Nerven gehen?" Danny gab keine Antwort, sondern starrte sie nur verächtlich an. Seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln. „Du hältst dich wohl für den Mittelpunkt des Universums, was, Selena?" „Was soll der Quatsch?", zischte sie. „Ich will wissen, warum du mir gefolgt bist." Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich bin hier mit einem Mädchen verabredet", sagte er schließlich. „Sie lebt in Waynesbridge." Er wandte sich zur Tür. In diesem Moment betrat ein hübsches, zierliches Mädchen mit dunklen Locken und großen braunen Augen das Lokal. „Selena, das ist Susie. Susie, das ist Selena. Sie geht mit mir zur Highschool", stellte Danny die beiden grinsend vor. „Oh, äh ... hallo, Susie", stotterte Selena. Ihr Gesicht brannte vor Verlegenheit, und sie wünschte, der Boden würde sich auftun und sie verschlingen. „Ich ... äh ... ich muss dann mal los", sagte sie und stürmte aus der Tür. Eddy wartete draußen auf sie. „Das war knapp!", bemerkte er und lachte. Selena sah ihn verwirrt an. „Danny", erklärte Eddy. „Wenn er uns zusammen gesehen hätte, hätte er es garantiert Mr Riordan erzählt." „Stimmt", murmelte Selena. Bald hatten sie die Tiefgarage erreicht, und Eddy öffnete ihr die 73
Tür. Selena achtete gar nicht darauf, wohin sie gingen, weil sie in Gedanken immer noch mit Danny beschäftigt war. Offenbar hatte er eine neue Freundin oder zeigte zumindest Interesse an einem anderen Mädchen. Also war er nicht ihr geheimnisvoller Verfolger. Aber wer war es dann? Selena folgte Eddy die Stufen hinunter und in den schmalen Tunnel. Da es keinen Bürgersteig gab, ging sie so nah wie möglich an der Betonwand entlang. Eddy hielt sich dicht neben ihr. „Ich muss dir etwas sagen", begann er plötzlich. „Ich habe sehr lange auf diese Verabredung gewartet." „Wie meinst du das?", fragte Selena. „Na ja – ich war in der Abschlussklasse der Shadyside Highschool, als du damals mit der Schauspielerei angefangen hast. Und seitdem habe ich ein Auge auf dich geworfen." Ohne ein Wort zu sagen, ging Selena weiter. Sie konnte es einfach nicht glauben. Eddy war schon die ganze Zeit in sie verknallt gewesen! „Der einzige Nachteil am Sam's ist der Weg zum Parkplatz", bemerkte Eddy und wechselte das Thema. „Aber das Essen ist es wert." Er nahm ihre Hand und drückte sie. „Hat dir unsere Verabredung bis jetzt gefallen?", erkundigte er sich. „Aber ja!", antwortete Selena. „Es war wirklich der schönste Abend seit langer Zeit", dachte sie. „Endlich fühle ich mich wieder sicher." Die beiden hatten den Tunnel schon halb durchquert, als Selena ein lautes Quietschen hörte. Sie brauchte einen Moment, um das Geräusch einzuordnen. Es waren die Reifen eines beschleunigenden Autos, eines Autos, das sehr schnell fuhr. Zu schnell. Selena wirbelte herum. Ein dunkler Wagen fuhr mit ausgeschalteten Scheinwerfern und dröhnendem Motor auf sie zu. Sie versuchte, ihm auszuweichen, aber Eddy packte sie an den Schultern – und schubste sie direkt vor den heranbrausenden Wagen.
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Kapitel 18 Selenas Entsetzensschrei wurde als Echo von den Tunnelwänden zurückgeworfen. Unfähig, abzustoppen, taumelte sie vorwärts und erwartete im nächsten Moment den Aufprall. Da knallte ihr Körper auch schon mit voller Wucht gegen etwas Hartes. „Es hat mich erwischt!", schoss es ihr durch den Kopf. Doch es war nur die gegenüberliegende Wand, gegen die sie geprallt war. Sie spürte einen starken Luftzug, als das Auto mit quietschenden Reifen haarscharf an ihr vorbeischlitterte. „Selena? Ist alles in Ordnung?" Im ersten Moment erkannte Selena die Stimme nicht. Doch als sie sich benommen umdrehte, erblickte sie Eddy neben sich. „Was ist passiert?", keuchte sie und stieß sich von der Tunnelwand ab. „Der Wagen hätte uns beinahe über den Haufen gefahren!", rief Eddy mit zitternder Stimme. „Du ... du hast mich direkt vor das Auto geschubst!", warf Selena ihm vor. „Ich habe dir nur einen Stoß versetzt, damit ich sicher sein konnte, dass du rechtzeitig die andere Seite des Tunnels erreichen würdest", verteidigte er sich und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. „Dann bin ich auch gesprungen." Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Tut mir Leid, wenn ich ein bisschen grob war." Selena blickte sich um und schauderte. Hier war kaum genug Platz, dass ein Auto problemlos hindurchfahren konnte. Wenn Eddy sie nicht aus dem Weg geschubst hätte ... Schützend schlang sie die Arme um ihren Körper. Als Reaktion auf den Schreck begann sie, heftig zu zittern. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", murmelte sie. „Schließlich hast du mir das Leben gerettet." „Bist du sicher, dass du okay bist?", fragte Eddy und beugte sich näher zu ihr. „Ganz sicher", sagte Selena. „Und du?" 75
„Ich hab mir den Ellbogen angeschlagen", antwortete er. „Aber es ist nicht weiter schlimm. Ich wünschte nur, ich hätte das Nummernschild erkennen können." Er nahm Selenas Hand und führte sie zum Parkplatz. „Wir hätten von Anfang an auf dieser Seite gehen sollen", meinte er kopfschüttelnd. Selena sah ihn überrascht an. War er nicht schon oft hier gewesen? Er hätte doch wissen müssen, wo genug Platz war, um durch den Tunnel zu gehen. „Und warum sind wir dann nicht auf der anderen Seite gegangen?", fragte sie sich im Stillen. „Hast du die Automarke erkannt?", erkundigte sich Selena, als Eddy in die Old Mill Road einbog. Sie waren einige Minuten schweigend gefahren, und Selena war immer noch nervös. „Nein", gab Eddy zu. „Es ging alles viel zu schnell. Offenbar war es irgend so ein Idiot, der zu viel getrunken hatte. Ich hoffe, dass ihn die Polizei erwischt, bevor er jemanden umbringt." „Und was ist, wenn es gar kein betrunkener Fahrer war?", wandte Selena ein. „Was, wenn uns jemand absichtlich über den Haufen fahren wollte?" Sie schluckte. „Oder mich?" Eddy schwieg für einen Moment. „Du meinst den Typen, der dir diese Briefe geschickt hat?", fragte er dann leise. Selena nickte und starrte weiter geradeaus. „Aber es ist drüben in Waynesbridge passiert", gab Eddy zu bedenken. „Niemand konnte wissen, dass du dort sein würdest." „Es sei denn, jemand wäre mir gefolgt", murmelte Selena, die sich an ihr Zusammentreffen mit Danny erinnerte. „Möglicherweise hat der Fahrer ja auch gar nicht absichtlich auf uns zugehalten", überlegte sie dann. „Vielleicht hat Eddy sich das nur ausgedacht, weil er geplant hatte, mich vor den Wagen zu schubsen." Sie lehnte ihren Kopf gegen das Autofenster und schloss die Augen. „Ich kann niemandem mehr trauen", dachte sie verzweifelt. Als sie die Augen wieder öffnete und zu Eddy hinüberblickte, fühlte sie sich plötzlich gar nicht mehr so sicher bei ihm.
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Am nächsten Morgen erwachte Selena mit der schwachen Erinnerung an einen ziemlich beunruhigenden Traum. Sie schüttelte das ungute Gefühl ab, zog sich schnell etwas an und rannte nach unten in die Küche. Dort füllte sie Müsli in zwei Schälchen und schnitt Bananen hinein. Heute war nämlich der freie Tag ihrer Mutter, sodass sie wenigstens einmal zusammen frühstücken konnten. Nachdem sie den Tisch gedeckt und Orangensaft eingegossen hatte, trat sie auf die Veranda, um die Zeitung hereinzuholen. Als sie die kegelförmige Verpackung entdeckte, die gegen die Tür gelehnt war, schnappte sie vor Schreck nach Luft. Eingewickelt in blaues Seidenpapier, wartete ein weiterer Strauß Blumen auf sie. „Oh nein!", stöhnte sie auf. „Nicht schon wieder!" Hastig griff sie nach dem Strauß und wollte ihn sofort in die Mülltonne werfen. Doch da entdeckte sie etwas leuchtend Farbiges, das aus einer Ecke des Seidenpapiers hervorlugte – eine wunderschöne rote Rose. Selena nahm den Strauß mit hinein und wickelte ihn aus. Er war traumhaft schön – ein Dutzend roter Rosen, die von dekorativen grünen Blättern umrahmt wurden. Sie konnte keine Karte entdecken, aber das war auch nicht nötig. „Die sind bestimmt von Eddy", dachte sie. „Wie konnte ich ihn bloß verdächtigen? Wie konnte ich ihm nur zutrauen, dass er mir etwas antun würde?" Selena kletterte auf einen Küchenhocker und holte eine Glasvase vom Bord über dem Kühlschrank. Sie füllte sie mit Wasser und begann, die Rosen und die Blätter darin zu arrangieren. „Wie schön!", seufzte sie und drückte ihr Gesicht in die Blüten, um ihren süßen Duft einzuatmen. „Danke, Eddy", murmelte sie glücklich. „Guten Morgen, mein Schatz", ertönte die Stimme ihrer Mutter hinter ihr. „Hallo, Mom." Selena blickte auf und drehte sich um. „Sieh mal, was jemand für mich auf die Veranda gelegt hat." „Oh, was für ein schöner Strauß!", rief Mrs Goodrich bewundernd und kam näher. „Riech doch mal", forderte Selena sie auf und verbarg noch einmal ihr Gesicht in den Blüten. 77
„Halt, warte!", schrie ihre Mutter plötzlich auf. „Hör sofort auf damit!" „Was ist denn los?", fragte Selena verwundert. „Diese Blätter – das ist giftiger Efeu!"
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Kapitel 19 Selena war schon als Kind gegen giftigen Efeu allergisch gewesen. Bereits nach wenigen Minuten war ihr Gesicht angeschwollen. Ihre Haut kribbelte und juckte, und sie hatte Schwierigkeiten beim Atmen. Bald darauf bekam sie hohes Fieber. „Wer kann gewusst haben, dass ich allergisch gegen diese EfeuArt bin?", grübelte sie immer wieder. Aber sie kam zu keinem Ergebnis. Eine Woche später war Selenas Gesicht immer noch verschwollen, und ihre Arme und Hände waren mit Schorf bedeckt. Als sie sich über ihre Geometrieaufgabe beugte, ertappte sie sich dabei, wie sie an dem Ausschlag herumkratzte, der einfach nicht verschwinden wollte. „Wie konnte ich nur so dumm sein?", fragte sie sich wohl zum hundertsten Mal. „Jedes Kind weiß doch, wie giftiger Efeu aussieht. Offenbar hat mein Verstand ausgesetzt, weil ich dachte, dass Eddy mir die Rosen geschickt hätte." „Wie fühlst du dich?", flüsterte Jake ihr zu. „Besser, danke", murmelte Selena. „Du siehst auch besser aus", meinte Katy. „Wenigstens ein bisschen." Die drei Freunde saßen um einen kleinen Tisch im Studiersaal der Bibliothek herum. „Ich komme mir vor wie ein Vollidiot", stöhnte Selena. „Das ist wirklich das Blödeste, was mir jemals passiert ist. Und deswegen habe ich auch noch die Proben versäumt!" „Du kannst doch nichts dafür", wandte Jake ein. „Wenn dir irgend so ein Verrückter giftigen ..." „Pscht!", machte Katy, als die Angestellte warnend zu ihnen herübersah. Selena wandte sich wieder ihren Büchern zu. Als die Bibliothekarin nach wenigen Minuten den Saal verließ, stieß Jake sie erneut an. „Nimmst du ab jetzt wieder an den Proben teil?", fragte er. 79
„Es sind nur noch zwei Wochen bis zur Premiere." „Oh Mann, ich hoffe, dass mein Ausschlag bis dahin verschwunden ist", stöhnte Selena. „Ich bin mir nicht sicher, ob du wirklich mitspielen solltest", sagte Jake mit leiser Stimme. „Was? Ist das dein Ernst?", rief Selena. „Ich finde, Jake hat Recht", meinte Katy nachdrücklich. „Aber versteht ihr denn nicht?", versuchte Selena, die beiden zu überzeugen. „Genau das will er doch erreichen – dass ich alles hinschmeiße. Und diesen Triumph werde ich ihm nicht gönnen!" „Ich wünschte, wir wüssten, wer dieser Mistkerl ist", seufzte Katy. „Ich weiß, wer er ist", behauptete Jake. „Es kann nur Danny sein." Selena verzog skeptisch das Gesicht. „Das glaube ich nicht. Warum bist du dir da so sicher?" „Ich wollte es euch eigentlich noch nicht erzählen", antwortete Jake zögernd, „aber ich habe ein bisschen nachgeforscht." Selena starrte ihn ungläubig an. „Was meinst du damit nachgeforscht?" „Na ja – herumgefragt, Informationen gesammelt und so", erklärte Jake. Er sah sie eindringlich an. „Ich weiß, wie dringend du dieses Stipendium brauchst. Und ich schwöre dir, dass ich herausfinden werde, was hier vorgeht!" „Danke", sagte Selena aufrichtig. „Aber, Jake ... ich weiß, dass du selber einen Haufen Probleme hast. Du solltest dir meinetwegen nicht solche Sorgen machen." „Hey", erwiderte er und grinste sie an. „Wofür sind denn Freunde da?" Ungeduldig sah Selena auf die Uhr. Sie konnte es kaum noch erwarten, dass es endlich zum Ende der Stunde klingelte. Ihr langweiliger Geschichtslehrer redete und redete, aber sie war in Gedanken immer noch bei dem Gespräch mit Katy und Jake. Wieso nur war Jake sich so sicher, dass Danny der große Unbekannte war? Und warum schien er darüber fast glücklich zu sein? Was wusste Jake wirklich? Hatte er irgendwelche Beweise gefunden? „Selena? Ist alles okay?", flüsterte Katy ihr zu. 80
Selena sah hinüber zu ihrer Freundin, die neben ihr in der letzten Reihe saß. Hastig nickte sie und griff nach ihrem Stift, um mitzuschreiben. Aber sobald Katy wegsah, wanderten ihre Gedanken wieder zu Jake und Danny. „Vielleicht redet Jake sich das alles auch nur ein", dachte Selena unglücklich. „Ich glaube fast, er wünscht sich, dass Danny mein Verfolger ist, aber er kann es nicht beweisen." Nachdenklich kaute sie auf ihrem Stift herum. „Ich bin ja dankbar, dass Jake mir helfen will. Aber ich sollte wohl besser selber versuchen, diesen Mistkerl zu finden. Schließlich kann ich nicht zulassen, dass Jake sich für mich in Gefahr bringt." Selena bemerkte, dass Katy schon wieder zu ihr hinübersah. Schnell machte sie sich ein paar Notizen, um ihre Nervosität zu verbergen. „Vielleicht gibt es ja irgendeinen Hinweis im Bühnenbereich", überlegte sie. „Irgendetwas, was mir verrät, wer mein Verfolger ist." Als es endlich klingelte, fuhr Selena zusammen. Sie wusste jetzt, was sie zu tun hatte. „Warum habe ich das nicht schon vor Wochen gemacht?", fragte sie sich, als sie aus der Klasse stürmte. Sie hatte den Zuschauerraum des Theaters schon fast erreicht, als Katy sie einholte. „Selena, warte doch!", rief sie. „Soll ich dich mit nach Hause nehmen?" „Danke, Katy", antwortete Selena. „Aber ich habe noch etwas zu erledigen. Ich nehme dann später den Bus." „Bestimmt? Es macht mir nichts aus zu warten." Selena zögerte. Sollte sie ihrer Freundin erzählen, was sie vorhatte? Sie hatte schon ein komisches Gefühl dabei, in den Sachen anderer Leute herumzuschnüffeln ... „Fahr ruhig schon los", sagte sie zu Katy. Selena achtete darauf, dass niemand sie beobachtete, als sie in den Zuschauerraum schlüpfte. „Was ich hier mache, ist keine Schnüffelei", redete sie sich ein. „Ich versuche nur, mich zu schützen." Sie kletterte auf die Bühne und sah sich um. Alles sah ganz normal aus. Dann ging sie hinüber zu der Stelle, wo die Vorhangseile angebunden waren. Auch hier fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf. 81
Selena seufzte. Leise öffnete sie die Tür des Bühnenausgangs und lief zum Umkleideraum. Hier bewahrten die Mitglieder des Schauspiel-Clubs ihre persönlichen Dinge auf. Vielleicht würde sie darunter etwas finden, was sie auf die Spur dieses Irren brachte, der ihr die Drohbriefe geschickt hatte. Aufmerksam sah sie sich um. Bis auf einen Stapel Kostüme und Requisiten, die sich auf einem Tisch in der Ecke türmten, war der Raum leer. Die ramponierten Metallspinde waren wie üblich nicht verschlossen. Zögernd ging Selena zu ihnen hinüber. Es war ihr sehr unangenehm, aber sie musste sich vergewissern. Zuerst öffnete sie ihren eigenen Spind und stellte fest, dass er bis auf ein weißes Haargummi, das sie schon seit längerem vermisste, leer war. Sie hob es auf und steckte es geistesabwesend in die Tasche. Dann öffnete sie das nächste Fach, das Alison gehörte. Auch in diesem lag nichts. „Das ist doch lächerlich", sagte Selena zu sich selbst. „Ich weiß ja nicht mal, wonach ich suche." Wahllos öffnete sie noch einige andere Spinde und schloss sie schnell wieder. Bis auf ein paar Kleidungsstücke waren sie alle leer. Selena ging hinüber zum schwarzen Brett des Schauspiel-Clubs und überflog die Notizen. Dabei fiel ihr die Liste mit der Verteilung der Spinde ins Auge. Plötzlich wurde Selena klar, warum sie hergekommen war. Sie musste einen Blick in Dannys Spind werfen. Bis jetzt hatte sie zwar keinen Beweis, dass er ihr Verfolger war, aber wer sollte es sonst sein? Außerdem hatte Jake denselben Verdacht. Selena musste es einfach wissen! Sie ging hinüber zu Spind Nummer 111 und starrte ihn schuldbewusst einige Sekunden lang an. Dann atmete sie tief durch und riss die Tür auf. Zuerst dachte sie, der Spind wäre leer, und wollte ihn schon wieder schließen. Doch dann bemerkte sie etwas, was in dem Spalt zwischen Rückwand und Boden klemmte. Ein kleines, glänzendes Papierquadrat. Selena zog es heraus und betrachtete es. Als ihr klar wurde, was sie da in der Hand hielt, stieß sie einen unterdrückten Schrei aus. Es war ein Bogen mit Aufklebern. Die meisten fehlten bereits, aber unten auf dem Bogen klebten 82
noch ungefähr ein Dutzend orangefarbener Sonnen. Selena starrte fassungslos auf die Sticker und fühlte sich furchtbar. Ihr Verfolger war also wirklich Danny! Kaum zu glauben, dass sie mal völlig verrückt nach ihm gewesen war. Mit zittrigen Beinen trat sie einen Schritt zurück. Ihr Mund fühlte sich ganz trocken an, und ihr Herz raste. Noch einmal betrachtete sie den Spind. Nummer 111. Selena umklammerte mit ihren eiskalten Fingern den Bogen mit den Aufklebern. „Zieh jetzt keine voreiligen Schlüsse!", ermahnte sie sich. „Sieh lieber noch mal nach, ob du auch wirklich den richtigen erwischt hast." Sie ging zurück zum schwarzen Brett, um die Spindnummer sicherheitshalber noch einmal zu überprüfen. Rasch überflog sie die Liste der Namen. Da war es! Danny Morris – 112. Was? 112? Aber sie hatte doch Spind Nummer 111 geöffnet! Noch einmal blickte Selena auf die Liste. Die Zahlenreihen machten sie ganz schwindelig. Sie nahm ihren Zeigefinger zu Hilfe und ließ ihn langsam über das zerknitterte Papier gleiten. Als sie den Namen las, verschlug es ihr den Atem. Sie wollte es einfach nicht glauben. Spind 111 gehörte Jake Jacoby. Jake war ihr Verfolger. Die Sonne.
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Kapitel 20 Selena starrte abwechselnd auf den Bogen mit den Aufklebern und auf die Liste am schwarzen Brett. Kein Zweifel. Die Aufkleber waren in Jakes Spind gewesen. Sie fühlte sich wie betäubt und konnte es einfach nicht glauben. Immerhin kannte sie Jake schon ihr ganzes Leben. Seit dem Kindergarten waren sie die dicksten Freunde. Warum hatte er ihr nur diese furchtbaren Briefe geschrieben? Und weshalb bedrohte er sie? War es tatsächlich Jake gewesen, der versucht hatte, ihr etwas anzutun? Hatte er wirklich den Schrank umgekippt, die Scheinwerfer herabstürzen lassen und sie beinahe mit dem Wagen überfahren? „Nein!", schrie es in Selena auf. „Das kann nicht sein!" Jake war zu so etwas doch gar nicht fähig! Er würde sie niemals verletzen. Sie – oder einen anderen Menschen. Aber warum waren dann die Sticker in seinem Spind gewesen? „Wenn es tatsächlich Jake war, muss er sich sehr verändert haben", grübelte Selena. „Offenbar ist er sehr, sehr krank." Seufzend stopfte sie den Bogen mit den Aufklebern in ihren Rucksack und ging durch den Bühnenausgang hinaus auf den Parkplatz hinter der Schule. Der Himmel hatte sich inzwischen verdunkelt. Als Selena auf die Uhr sah, stellte sie fest, dass sie länger hinter der Bühne gewesen war, als sie gedacht hatte. Ihr Bus war jedenfalls schon eine Weile weg. „Na gut", dachte sie. „Dann gehe ich eben zu Fuß nach Hause." Das war zwar ziemlich weit, aber immerhin würde sie unterwegs die Gelegenheit haben, über einiges nachzudenken. Während sie mit schnellen Schritten den Park Drive entlangging, versuchte sie, sich darüber klar zu werden, was sie tun sollte. Sie dachte über den Grund für Jakes Verhalten nach. War er vielleicht eifersüchtig auf Danny? Eifersüchtig auf das, was ihr Exfreund ihr einmal bedeutet hatte? „Aber falls Jake tatsächlich mit mir ausgehen wollte, warum hat er mich dann nicht einfach gefragt?", überlegte Selena. 84
Das ergab alles keinen Sinn. Sie musste Jake unbedingt selbst fragen. „Er wird mir alles erklären können. Bestimmt gibt es einen einleuchtenden Grund für die Sticker in seinem Spind", versuchte Selena sich einzureden. „Na klar. Das ist wohl ungefähr so wahrscheinlich wie die Existenz des Osterhasen", dachte sie dann und seufzte. Als Selena zu Hause ankam, wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie würde Jake anrufen und ihm erzählen, was sie gefunden hatte. Dann würde sie eine Erklärung von ihm fordern – und er würde ihr eine geben. So einfach war das. Hoffte sie. Selena warf ihren Rucksack aufs Bett und griff nach dem Telefon. Aber noch bevor sie den Hörer abheben konnte, begann es zu klingeln. Überrascht fuhr Selena zusammen. „Hallo?", fragte sie scharf. „Hallo, Selena", meldete sich Katy. „Wie geht's dir?" „Oh, Katy", stöhnte Selena. „Was ist denn los?", forschte ihre Freundin alarmiert. „Erinnerst du dich noch, wie Jake, du und ich neulich über meinen Verfolger gesprochen haben? Und Jake sagte, er würde beweisen, dass es Danny ist?" „Na klar", sagte Katy. „Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil Jake sich solche Sorgen um mich macht. Und deswegen beschloss ich, selber ein bisschen herumzuschnüffeln." „Und?", fragte Katy. „Ich ... ich bin nach der Schule hinter die Bühne gegangen", berichtete Selena. „Dort habe ich die Spinde durchsucht und dabei einen Bogen mit Sonnen-Aufklebern gefunden!" Katy schnappte nach Luft. „Solche wie die auf den Briefen?" „Genau dieselben", bestätigte Selena. „Und ungefähr die Hälfte der Aufkleber fehlt." „Wow!", hauchte Katy. „Das beweist, dass Danny der Täter ist." „Es ist nicht Danny." Selena schluchzte jetzt fast. „Ich habe sie nämlich nicht in seinem Spind gefunden." Als sie merkte, wie sehr 85
ihre Stimme zitterte, atmete sie tief durch, um sich zu beruhigen. „Wo denn dann?", wollte Katy wissen. „In Jakes Fach", stieß Selena hervor. Für einen Moment verschlug es Katy die Sprache. „Unmöglich!", murmelte sie schließlich. „Das glaub ich einfach nicht." „Ich auch nicht", erwiderte Selena. „Aber es ist wahr!" „Jake würde so was niemals machen!", protestierte Katy. „Na gut, er war schon immer ein Spaßvogel, aber er hat noch nie etwas Gemeines getan." „Es gibt nur eine sinnvolle Erklärung", sagte Selena. „Jake hat tatsächlich Spaß gemacht, und das Ganze sollte so eine Art Streich sein." „Schöner Streich!", knurrte Katy. „Alison ist im Krankenhaus gelandet, und ich habe immer noch einen dicken Bluterguss von dem Scheinwerfer." „Ich weiß", meinte Selena. „Aber das waren bestimmt wirklich bloß Unfälle. Du weißt doch, dass Jake keiner Fliege etwas zu Leide tun kann. Er hatte ganz sicher niemals vor, irgendjemanden zu verletzen." „Und was war mit dem giftigen Efeu?", fragte Katy. „Vielleicht wusste er gar nicht, was das für Blätter waren", schlug Selena vor. Dann seufzte sie. „Klingt ziemlich lahm, was? Ich glaube, ich möchte einfach nicht, dass es Jake war." „Das geht mir genauso", antwortete Katy ernst. „Auf jeden Fall muss ich ihm eine Chance geben, die Sache zu erklären, findest du nicht?", meinte Selena. „Ich weiß nicht." Katy klang plötzlich ängstlich. „Bevor du mit Jake redest, solltest du vielleicht noch jemand anders einweihen. Warum erzählst du es nicht Mr Riordan oder rufst die Polizei an?" „Nein!", rief Selena. „Ich möchte Jake nicht in Schwierigkeiten bringen. Falls er Alison verletzt hat – auch wenn es nicht absichtlich war -, würde er sonst von der Schule fliegen! Das kann ich ihm nicht antun!" „Selena, jeder kann plötzlich psychisch krank werden", sagte Katy vorsichtig. „Und wenn das auf Jake zutrifft, müssen wir dafür sorgen, dass er Hilfe bekommt." „Ich glaube nicht, dass er verrückt ist", widersprach Selena. „Das 86
Ganze sollte bestimmt bloß ein Scherz sein." „Denk doch nur mal dran, wie launisch er in letzter Zeit war", hielt Katy dagegen. „Und außerdem hat er sich ständig mit Danny angelegt. Mag ja sein, dass er früher keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte, aber du hast doch selbst gesehen, wie er sich neulich auf Danny gestürzt hat." Selena wusste nicht, was sie sagen sollte. Katy hatte Recht - Jake hatte sich wirklich auffällig benommen. Und er hatte die Prügelei mit Danny angefangen. „Trotzdem kann ich einfach nicht glauben ..." In diesem Moment hörte Selena ein Klicken, das ihr anzeigte, dass noch ein weiterer Anruf für sie gekommen war. „Bleib bitte einen Moment dran, Katy", bat sie ihre Freundin und schaltete auf die andere Leitung um. „Selena?", ertönte eine vertraute Stimme. „Hier ist Jake." Selena spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte. Sie dachte an das, was Katy vermutet hatte. Ob Jake nun tatsächlich gefährlich war? „Selena? Bist du dran?" „Hallo, Jake!", stieß sie schließlich hervor. „Ich muss dir unbedingt etwas sagen!", rief er. Seine Stimme klang drängend, fast verzweifelt. „Gut", antwortete Selena. „Ich habe auch einiges mit dir zu besprechen." „Aber ich muss persönlich mit dir reden", sagte Jake atemlos. „So schnell wie möglich." Selenas Herz begann zu hämmern. „Können wir uns nicht am Telefon unterhalten?", fragte sie. „Nein, die Sache ist zu kompliziert", wehrte Jake ab. „Bitte, Moon! Es ist sehr wichtig!" „Jake, ich weiß über die Aufkleber Bescheid", platzte Selena heraus. „Wie bitte?" „Ich habe sie gefunden, Jake. In deinem Spind." Sie hörte einen tiefen Seufzer am anderen Ende der Leitung. „Das kann ich dir erklären", meinte er dann. „Ich habe die Wahrheit über deinen Verfolger herausgefunden, Selena. Jetzt bin ich in der Schule. Können wir uns im Zuschauerraum des Theaters treffen?" „Aber warum kannst du mir denn nicht am Telefon ..." 87
„Auf keinen Fall!", unterbrach er sie. „Ich muss dir nämlich unbedingt ein paar Dinge zeigen. Komm bitte sofort her, Selena!" „Aber, Jake ..." „Ich warte auf dich", erwiderte er knapp. Dann hörte Selena nur noch ein leises Klicken. Er hatte aufgelegt. Sie schaltete wieder auf die andere Leitung. „Katy?" „Was ist denn?", fragte ihre Freundin sofort. „Du klingst ja so aufgeregt." „Das war Jake", murmelte Selena. „Er möchte, dass ich ihn in der Schule treffe. Würdest du mich begleiten?" „Du meinst – jetzt sofort?" „Ja." „Kein Problem", sagte Katy. „Ich hole dich in zehn Minuten ab." „Danke", erwiderte Selena und legte auf. Nachdem sie noch schnell ein Glas kaltes Wasser getrunken hatte, schlüpfte sie in ihre Jacke und wartete auf Katy. Sie hielt gerade aus dem Wohnzimmerfenster nach ihr Ausschau, als das Telefon wieder klingelte. „Selena?" Es war Katy. „Es tut mir furchtbar Leid, aber ich kann nicht kommen. Ich hatte ganz vergessen, dass Mom mein Auto fährt, solange ihres in der Werkstatt ist. Sie ist gerade unterwegs, und außerdem habe ich ihr versprochen, zu Hause zu bleiben und auf ein Paket zu warten." „Ist schon okay", murmelte Selena und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Ich kann ja auch mit dem Bus fahren." „Ich fühle mich wirklich schrecklich deswegen." „Mach dir keine Sorgen. Ich werde schon mit Jake klarkommen." „Dann ist es ja gut", meinte Katy erleichtert. „Aber ruf mich an, sobald du wieder zu Hause bist, okay?" „Versprochen. Und mach dich nicht verrückt. Jake hat gesagt, er kann mir das mit den Aufklebern erklären. Ich bin sicher, es wird alles wieder gut!" Selena versuchte, ruhig zu bleiben, als sie mit dem Bus zurück zur Schule fuhr. Sie atmete tief durch und betrachtete Autos und Geschäfte, um sich abzulenken. Aber es funktionierte nicht. Sie konnte einfach nicht aufhören, über 88
die Aufkleber nachzudenken. Über die Drohungen. Und über Jake. Er hatte am Telefon so hartnäckig darauf bestanden, sie persönlich zu treffen. Wollte er ihr wirklich nur etwas zeigen? Oder hatte er einen weiteren Anschlag auf sie geplant? Selena lehnte ihren Kopf gegen die Scheibe und sah wieder die schreckliche Prügelei zwischen Jake und Danny vor sich. „Vielleicht hätte ich mehr auf sein Verhalten achten sollen", überlegte sie. „Als seine Freundin hätte ich aufmerksamer sein müssen." Immer wieder blickte sie nervös auf die Uhr. Endlich hielt der Bus vor der Highschool, und Selena sprang hinaus. Es war eine kalte, mondlose Nacht. Fröstelnd zog sich Selena ihre Jacke enger um den Körper und ließ ihren Blick am Gebäude entlang wandern. Die Wagen einiger Lehrer standen noch auf dem Parkplatz, aber es war keine Menschenseele zu sehen. Der Zuschauerraum lag im hinteren Bereich des großen, alten Gebäudes. Ein Lichtschimmer, der durch ein Fenster in ihrer Nähe fiel, verriet ihr, dass der Hausmeister noch im vorderen Teil der Schule arbeitete. Der Eingang zur Bühne wurde durch einen Ziegelstein offen gehalten. Drinnen schien es dunkel zu sein. „Wenn doch nur Katy bei mir wäre", dachte Selena verzagt. Aber sie konnte es jetzt nicht länger hinausschieben. Sie musste hineingehen. „Jake ist einer meiner ältesten Freunde", redete sie sich gut zu. „Er würde mir niemals etwas tun." Selena tastete die Wand ab, bis sie den Lichtschalter gefunden hatte, und knipste die Beleuchtung hinter der Bühne an. „Jake?", rief sie. „Jake, bist du hier?" Keine Antwort. Nur das Echo ihrer eigenen Stimme, die von den Wänden des Zuschauerraums zurückgeworfen wurde, war zu hören. „Vielleicht ist er gar nicht da", schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. „Vielleicht ist das schon wieder einer seiner schrägen Witze. Ich wette, er lacht sich zu Hause über mich kaputt und fragt sich, wie lange ich wohl hier auf ihn warten werde." „Jake?", rief sie noch einmal, diesmal lauter. Immer noch keine Antwort. Selena begann, sich zu entspannen. Langsam trat sie hinunter in den Zuschauerraum und schaltete auch dort das Licht an. Alle Sitze 89
waren leer. „Irrsinnig komisch, Jake", sagte sie mit lauter Stimme. „Du bist ein echter Scherzkeks." Dann kehrte sie zur Bühne zurück. Irgendjemand hatte ein Skript auf einem Hocker neben der Eingangstür liegen lassen. Sie nahm es in die Hand und warf einen Blick auf den Namen, der auf das Deckblatt gekritzelt war: Jake Jacoby. In diesem Moment wurde Selena klar, dass Jake hier sein musste. Versteckte er sich etwa irgendwo im Zuschauerraum? War dies ein Teil seines Plans? Plötzlich kamen alle ihre Ängste wieder hoch. „Jake?", rief sie noch einmal. „Wo bist du?" Selena ließ ihren Blick über die Bühne wandern, entdeckte aber nur Requisiten und zusammengelegte Kostüme. „Vielleicht ist er im Umkleideraum?", schoss es ihr durch den Kopf. Sie verließ die Bühne, lief zur Garderobe und steckte ihren Kopf durch die Tür. Aber auch hier war niemand zu sehen. „Wahrscheinlich hat er sein Skript heute Nachmittag liegen lassen", überlegte Selena. Inzwischen war ihr das beinahe gleichgültig. Sie wollte nur noch nach Hause und diesen seltsamen Tag möglichst schnell vergessen. Selena ging zurück zur Tür und wollte gerade das Licht ausmachen, als ihr plötzlich aus dem Augenwinkel etwas auffiel. Ein Bündel Kleidung lag am Fuß der Leiter, die zum Beleuchtungssteg hinaufführte. „Das ist ja komisch", dachte Selena. „Wer hat denn da sein Kostüm auf der Bühne vergessen?" Erstaunt ging sie darauf zu, um es sich genauer anzusehen. Beklommen stellte sie fest, dass der Kleiderhaufen irgendwie merkwürdig aussah. Ein Kostüm würde doch nicht so steif daliegen, oder? Und dann fiel ihr Blick auf Turnschuhe und Jeans. Das war kein Kostüm, sondern ein Mensch!
Ein Mensch, der zusammengesackt auf dem Bühnenboden lag – die Arme verkrümmt, den Kopf zur Seite verdreht, ein Bein in einem unmöglichen Winkel abgebogen. Der Körper sah aus wie eine fallen gelassene Marionette. Glasige Puppenaugen starrten zu ihr hoch. „Jake?" Der Name entschlüpfte flüsternd ihren Lippen. „Jake?!" 90
Kapitel 21 „Er ist vom Beleuchtungssteg gestürzt", stieß Selena hervor. Sie fühlte sich immer noch benommen und wie betäubt. Als ob die Worte, die sie in den Telefonhörer sprach, keine Bedeutung hätten, keinen Sinn machten. „Er hat sich das Genick gebrochen. Die Polizei sagt, es war ein Unfall." „Ich kann es einfach nicht fassen!" Katys Stimme am anderen Ende der Leitung zitterte. „Was wollte Jake denn da oben auf dem Laufsteg?" „Das weiß niemand", antwortete Selena. Und dann fügte sie flüsternd hinzu: „Und es wird auch niemand mehr erfahren." Selena schauderte, als sie wieder vor sich sah, wie Jakes glasige, leblose Augen zu ihr hochgestarrt hatten. Sie erinnerte sich nur noch, dass sie angefangen hatte, zu schreien und sich die Haare zu raufen. Wie lange sie so dagestanden hatte, wusste sie nicht mehr. Der Hausmeister fand sie schließlich zusammengekauert an der Wand neben Jakes Leiche. „Oh, Selena." Katy seufzte. „Es tut mir so Leid, dass ich nicht bei dir war, als du ihn gefunden hast. Ich kann es immer noch nicht glauben ..." Katys Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich ganz verstummte. Dann schluchzte sie auf. „Ich ... ich kann jetzt nicht länger sprechen", stieß Selena hervor. „Aber ich musste dich einfach anrufen. Ich weiß, es ist schon mitten in der Nacht. Die Polizei hat mich stundenlang dabehalten." „Es ist doch ganz egal, wie spät es ist", rief Katy. „Ist wenigstens deine Mutter bei dir?" „Nein, sie arbeitet. Ich werde es ihr erzählen, wenn sie nach Hause kommt. Sie wird sich bestimmt auch sehr aufregen." „Wenn du willst, komme ich rüber", bot Katy ihr an. „Ich finde, du solltest jetzt nicht alleine sein", fügte sie besorgt hinzu. „Ich möchte aber. Weißt du, ich muss erst mal in Ruhe über alles nachdenken", gab Selena zurück. „Trotzdem vielen Dank." Katys Stimme hörte sich an wie die eines kleinen Mädchens, als sie leise fragte: „Bist du sicher?" 91
„Ganz sicher, danke. Gute Nacht." „Bis morgen!", antwortete Katy flüsternd. Selena legte auf und starrte den Hörer an. Traurig fragte sie sich, ob ihr Leben wohl jemals wieder in normalen Bahnen verlaufen würde. Ob sie sich irgendwann daran gewöhnen würde, dass Jake nicht mehr da war? „Wenigstens brauche ich jetzt keine Angst mehr zu haben", dachte sie. „Mein Verfolger ist tot." Jake. Jake. Jake. Das Echo seines Namens hallte in ihrem Kopf, bis es zu einem sinnlosen Singsang wurde. Jake, warum hast du mich bedroht? Jake, warum hast du mich so sehr gehasst? Die Proben für das Stück wurden um einige Tage verschoben, und Selena blieb den größten Teil der Woche zu Hause. Ihre Mutter bestand darauf, dass sie erst einmal den Schock verarbeitete, anstatt so zu tun, als wäre alles normal. Als Selena am Freitagnachmittag den Zuschauerraum betrat, fühlte sie sich fast wie ein Eindringling. „Was ist nur mit mir los?", fragte sie sich. „Die Bühne ist doch mein zweites Zuhause. Warum fühle ich mich heute so unbehaglich hier?" Sie spürte, dass es den anderen ähnlich ging. Alle waren ziemlich still, und sogar Danny war weniger unausstehlich als sonst. „Hey, Selena", sagte er behutsam. „Das mit Jake tut mir wirklich Leid. Ich weiß, wie nahe ihr euch gestanden habt." „Danke, Danny", murmelte Selena. „Wie geht es dir?", erkundigte sich Katy mitfühlend. „Ich bin furchtbar traurig, Katy", antwortete Selena. „Irgendwie kann ich immer noch nicht glauben, dass Jake mir etwas antun wollte. Ich ... ich wünschte, ich hätte noch einmal mit ihm reden können, vor ... dem Unfall." „Mir geht's genauso", meinte Katy. „Ich muss immer an die Zeit denken, als wir noch klein waren. Erinnerst du dich an die alte Hütte in Jakes Garten? Damals waren wir die dicksten Freunde und absolut unzertrennlich." „Stimmt, wir hatten jede Menge Spaß", erwiderte Selena. „Wenn 92
ich mit dir und Jake zusammen war, habe ich mich immer bestens amüsiert." „Kommt bitte alle mal her!", rief Mr Riordan. Nachdem sich die Schauspieler um ihn versammelt hatten, räusperte er sich und sah sie ernst an. „Unsere Theaterfamilie hat einen tragischen Verlust erlitten", verkündete er dramatisch. „Wir alle vermissen Jake sehr. Aber – und da hätte er mir sicher zugestimmt – die Show muss weitergehen!" „Soll das etwa alles gewesen sein?", fragte sich Selena bedrückt. „Ist das immer so: Die Show muss weitergehen - egal, was passiert?" Mr Riordan wies die Darsteller an, mit den Proben zu beginnen. Selena atmete tief durch und bereitete sich innerlich darauf vor, ihren Text zu sprechen. Aber sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Wenn Danny Romeos Worte sprach, sah sie Jakes Gesicht vor sich. Und wenn der Junge, der seine Rolle übernommen hatte, an der Reihe war, stellte Selena sich Jake an seiner Stelle vor. Während der ersten Pause verzog sie sich hinter die Bühne. Sie fragte sich, warum Eddy heute nicht zu den Proben gekommen war. Seit Jakes Tod hatte Selena erst einmal mit ihm gesprochen. Sie hatte ihm nicht gesagt, dass Jake ihr Verfolger gewesen war. Der Gedanke war unerträglich. Katy saß hinter der Bühne auf einem Tisch, der zur Dekoration gehörte, und sah fast so bedrückt aus, wie Selena sich fühlte. „Was machst du denn hier?", fragte sie erstaunt, als die Hauptdarstellerin des Stücks zu ihr hereinkam. Selena runzelte die Stirn. „Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren." „Mir geht's ähnlich. Ich hab schon dreimal das Stichwort für den Beleuchtungswechsel verpasst. Der Inspizient ist kurz davor, mir den Kopf abzureißen." „Ich versuche dauernd, mir zu sagen, dass die Show weitergehen muss", fuhr Selena fort. „Aber es überzeugt mich nicht. Warum sollen wir mit diesem blöden Stück weitermachen? Jake ist tot! Er ist doch viel wichtiger als jede Theateraufführung. Ich wünschte, das wäre mir früher klar geworden. Dann wäre er vielleicht noch am Leben." 93
„Du solltest dir nicht die Schuld für seinen Tod geben", sagte Katy mit sanfter Stimme. „Das tue ich aber!", rief Selena. „Endlich verstehe ich die Zusammenhänge. Mit seinen Briefen hat Jake versucht, mich dazu zu bringen, die Aufführungen nicht mehr so ernst zu nehmen. Ich hab doch nur noch ans Schauspielern gedacht." Katy nickte. „Mag sein." „Wahrscheinlich hat er geglaubt, wenn er mir einen ordentlichen Schreck einjagt, würde ich mit dem Theaterspielen aufhören. Aber ich habe ihm keine Beachtung geschenkt. Ich hätte besser auf ihn hören sollen!" „Alle auf ihre Plätze!", kommandierte Mr Riordan aus der ersten Reihe des Zuschauerraums. „Wo ist Selena?" Selena ging auf den Vorhang zu. Sie wusste nicht, ob sie die Kraft aufbringen würde, diese Probe durchzustehen. Jedes Mal, wenn sie an Jake dachte, brach sie beinahe in Tränen aus. „Kein Stück ist es wert, dass jemand stirbt", dachte sie. „Und kein Stipendium der Welt kann so wichtig sein, dass es sich lohnt, dafür einen Freund zu verlieren." Sie blieb stehen und drehte sich noch einmal zu Katy um. „Weißt du was? Ich habe gerade eine schwere Entscheidung getroffen."
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Kapitel 22 „Mr Riordan", rief Selena. „Ich muss Ihnen etwas sagen. Es ist sehr wichtig!" Die Proben waren vorbei, und der Schauspiellehrer stopfte gerade sein Skript in die lederne Aktentasche. „Jetzt nicht, Selena", antwortete er und richtete sich auf. „Ich bin sowieso schon spät dran." „Es wird nicht lange dauern ...", versprach Selena. „Tut mir Leid", schnitt ihr Mr Riordan das Wort ab. Er war bereits auf dem Weg zur Tür. „Komm morgen früh zu mir. Du warst heute übrigens großartig!" „Aber ..." „Wir sehen uns morgen." Mit einem kurzen Winken verschwand Mr Riordan nach draußen. „Hast du ihm gesagt, dass du bei Romeo und Julia nicht mehr mitspielen willst?" Katys Stimme ließ Selena zusammenzucken. Sie hatte ihre Freundin gar nicht kommen hören. „Nein", erwiderte sie unglücklich. „Er hatte es furchtbar eilig." Selena fuhr sich mit zittriger Hand durchs Haar. „Ich halte das nicht mehr aus, Katy", stöhnte sie. „Ich bin so nervös. Eigentlich müsste ich mich doch jetzt sicherer fühlen, wo mir niemand mehr auflauert, aber alles, was mit dem Theater zu tun hat, macht mich ganz unruhig." „Ich finde, du hast die richtige Entscheidung getroffen", versicherte ihr Katy. „Es wird dir gut tun, aus dem Stück auszusteigen. Dann musst du nicht mehr ständig an Jake denken." „Ich weiß", seufzte Selena. „Ich wünschte, ich hätte es Mr Riordan heute sagen können." „Was wolltest du ihm sagen?", fragte eine Stimme. Als Selena herumfuhr, erblickte sie Danny, der hinter ihr stand. Anstelle seines üblichen unverschämten Grinsens lag ein besorgter Ausdruck auf seinem Gesicht. „Puh, Danny", japste Selena. „Ich wusste nicht, dass du noch da bist." 95
„Als ich euch beide reden sah, dachte ich, ich komm mal rüber", meinte er. „Du warst heute wirklich klasse, Selena." „Danny, bitte ...", setzte Selena an. „Nein, im Ernst", beharrte er. „Ich finde es sehr tapfer von dir, weiterzumachen. Ich meine, nach dem, was mit Jake passiert ist." „Nett von dir", murmelte Selena. „Was wolltest du Mr Riordan denn nun erzählen?", hakte Danny nach. „Ach, nichts." Selena blickte zu Boden. „Sag's ihm, Selena!", drängte Katy. „Er wird es früher oder später sowieso erfahren." „Du hast Recht", nickte Selena. Sie atmete tief ein und verkündete dann: „Ich gebe die Rolle der Julia ab." Vor Überraschung blieb Danny der Mund offen stehen. Mit zusammengekniffenen Augen sah er Selena an. „Das ist ein Witz, oder?", fragte er. „Nein", versicherte ihm Selena. „Es ist mein Ernst. Ich glaube, Jake hätte es so gewollt." „Bist du denn total übergeschnappt?", rief Danny. „Du willst wegen eines Unfalls aus dem Stück aussteigen?" Selena nickte wortlos. Zu ihrer Überraschung machte ihre Ankündigung Danny richtig wütend. „Oh, ich versteh schon", sagte er in bissigem Ton. „Du kannst es nicht ertragen, ausnahmsweise mal nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, nicht wahr? Seit Jakes Unfall reden alle nur noch über ihn. Also musst du etwas tun, um das allgemeine Interesse wieder auf dich zu lenken." Selena schnappte nach Luft. Sie hatte das Gefühl, als hätte Danny ihr eine Ohrfeige verpasst. „Wie kannst du nur so etwas sagen? Du bist der gefühlloseste, widerlichste ..." „Es ist die Wahrheit!", unterbrach er sie bitter. „Lass sie in Ruhe, Danny!", mischte Katy sich ein. „Warum sollte ich?", explodierte er. „Das ist doch wieder mal typisch! Selena ist der Star. Ohne sie können wir das Stück vergessen. Aber die arme, kleine Selena ist zu aufgeregt und zu verängstigt, um zu spielen! Soll ich dir mal was sagen, Selena? Wir haben deinen Egoismus langsam satt! Wenn du alles hinschmeißt, 96
wirst du eine Menge Leute verletzen." Selena starrte Danny mit Tränen in den Augen an. Sie hatte nicht erwartet, dass er sie so heftig angreifen würde. Bis jetzt hatte sie sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn sie aus dem Stück ausstieg. „Wir anderen sind dir völlig egal, was?", fuhr Danny wütend fort. „Du denkst immer nur an dich. Richtig ist, was dir gut tut. Was für dich am besten ist. Du hast dich ganz schön verändert..." „Ich hab gesagt, lass sie in Ruhe!", schrie Katy ihn an und zerrte an seiner Jacke. Aber Danny beachtete sie gar nicht und starrte Selena weiter an. „Weißt du eigentlich, was passiert, wenn du aufhörst? Das Stück wird abgesetzt! Außer dir kann nur Alison die Julia spielen, und die trägt immer noch ihre Halskrause. All die Arbeit, die wir anderen investiert haben, ist dann umsonst gewesen. Und zwar nur wegen dir!" „Hör auf damit!", brüllte Katy ihn an. „Siehst du denn nicht, wie schlecht es Selena geht? Sie muss aussteigen! Es ist doch nicht ihre Schuld, dass es keine andere Julia gibt!" „Und was ist mit den Leuten aus der Abschlussklasse?" Danny war nicht zu bremsen. „Für einige von uns ist es die letzte Chance, noch einmal auf der Bühne zu stehen. Wir gehen nämlich hinterher nicht alle zur Schauspielschule, weißt du." Selena schwirrte der Kopf. Vor lauter Trauer um Jake hatte sie sich all das noch gar nicht klargemacht. Sie wandte sich an Katy, die sich wie ein Wachhund schützend vor ihr aufgebaut hatte. „Danny hat Recht", sagte Selena leise. „Ich kann jetzt nicht einfach aufhören. Es würde zu viele andere treffen. Ich habe nicht richtig darüber nachgedacht." „Aber ...", begann Katy. „Es ist okay", versuchte Selena, sie zu beruhigen. „Ich schaff das schon. Es wird mich nicht gleich umbringen, die Aufführung durchzuziehen." Selena blickte auf die Leuchtziffern ihres Digitalweckers. Es war 3:02 Uhr. Sie streckte sich und gähnte. Irgendein Geräusch hatte sie geweckt. 97
Sie lauschte angestrengt. Jetzt herrschte wieder absolute Stille. Seufzend drehte sie sich auf die Seite, aber sie konnte nicht mehr einschlafen. „Vielleicht sollte ich etwas trinken", überlegte sie. Das half ihr immer, sich zu entspannen. Auf Zehenspitzen schlich sie hinunter in die Küche. Sie trank ein paar Schlucke Mineralwasser direkt aus der Flasche und wollte diese gerade in den Kühlschrank zurückstellen, als ihr plötzlich etwas auffiel. Etwas Weißes steckte in dem Spalt unter der Küchentür. Ein Stück Papier. Wieder ein Drohbrief? „Mach dich doch nicht lächerlich", schalt sich Selena. „Diese Nachricht kann nicht von Jake sein. Er ist schließlich tot." Trotzdem umklammerte die Furcht ihr Herz wie eine eiskalte Hand, als sie sich hinunterbeugte, um den Zettel aufzuheben. Sie hielt ihn in das Licht, das aus dem Kühlschrank fiel. Sah die getippten Buchstaben. Den orangefarbenen Sonnen-Aufkleber unten auf der Seite. Und wusste, dass ihr geheimnisvoller Verfolger noch lebte.
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Kapitel 23 Liebe Selena, Überraschung! Du dachtest, du hättest die Wahrheit herausgefunden. Aber du lagst falsch. Total falsch. Jake nicht. Darum musste er sterben. Ich beobachte dich weiterhin. Und wenn du bei der Generalprobe immer noch mitspielst, werde ich im Publikum sitzen. Arme Julia. Sie ist solch einen schrecklichen Tod gestorben. Und arme Selena. Die Sonne Selena drehte den Brief immer wieder in ihren Händen und wartete, bis ihr Körper aufgehört hatte zu zittern. Dann schloss sie die Hintertür ab, legte die Kette vor und blickte durch das Fenster hinaus in den Garten. Die Bäume des Fear-Street-Waldes warfen lange Schatten. War er dort draußen? Versteckte sich Die Sonne im Wald und beobachtete sie? Völlig durchgefroren und wie betäubt, wandte sie sich vom Fenster ab. Jake war also nicht Die Sonne gewesen. Sie versuchte, sich an ihr letztes Telefongespräch mit ihm zu erinnern. Es schien hundert Jahre zurückzuliegen. „Ich habe die Wahrheit über deinen Verfolger herausgefunden, Selena", hatte er zu ihr gesagt. „Können wir uns im Zuschauerraum des Theaters treffen?" Was auch immer er entdeckt hatte – es hatte ihn das Leben gekostet. Die Sonne hatte Jake getötet. Ihr Verfolger war also tatsächlich ein Mörder – und Selena war die Nächste auf seiner Liste. „Ich werde nicht nachgeben!", schwor sie sich. „Ich werde dieses 99
Stück beenden – für Jake. Und vor allem werde ich herausfinden, wer Die Sonne ist. Ich werde diesen Wahnsinnigen aufspüren und dafür sorgen, dass er erwischt wird!" Ihr Verfolger hatte angekündigt, dass er bei der Generalprobe zusehen würde. Also beschloss Selena, nach ihm Ausschau zu halten. Vielleicht verriet er sich ja durch irgendetwas. „Eigentlich sollte ich Angst haben", dachte sie, als sie begann, die hochgeschlossene Leinenbluse ihres Julia-Kostüms zuzuknöpfen. „Aber dafür bin ich viel zu wütend. Die Sonne ist irgendwo da draußen, und ich werde herausfinden, wer es ist!" „Selena?", riss sie eine vertraute Stimme aus ihren Gedanken. „Oh – hallo, Alison!" „Wie geht's dir?", fragte Alison. „Brauchst du Hilfe mit deinem Haar?" Sie trug den schwarzen Overall der Bühnenarbeiter und hatte sich einen dunklen Schal um ihre Halskrause gewickelt. „Nein, ich bin schon fast fertig", antwortete Selena. „Eigentlich fehlt jetzt nur noch ein bisschen Haarspray." „Hals- und Beinbruch", wünschte ihr Alison mit leiser Stimme. „Ich weiß, wie hart diese Probe für dich sein muss." „Danke." Selena lächelte. „Aber die Show muss weitergehen, stimmt's?" Als ihre Frisur richtig saß, ging sie zu Mr Riordan, der einige der anderen Darsteller hinter der Bühne um sich geschart hatte. „Wir haben heute ein größeres Publikum", sagte er gerade. „Ich habe ein paar Trainer eingeladen, und der größte Teil des FootballTeams ist auch hier." „Das ist doch wohl ein Scherz!", prustete Katy los. „Es schien mir eine gute Idee zu sein", erwiderte der Schauspiellehrer. „Immerhin ist es eine Möglichkeit, den Saal auch am Nachmittag zu füllen." Selena spähte durch den Vorhang. Etwa die Hälfte der Sitze war belegt – es war das größte Publikum, das sie jemals bei einer Generalprobe gehabt hatten. „Wie soll ich denn da herausfinden, wer Die Sonne ist?", dachte sie verzagt und ließ ihren Blick über die vielen Gesichter wandern. „Hals- und Beinbruch, Selena", flüsterte ihr eine rauchige Stimme 100
ins Ohr. Als sie herumwirbelte, sah sie sich Eddy gegenüber, der sie anlächelte. Seine Augen blitzten aufgeregt. „Danke", murmelte sie. „Wirst du nicht zuschauen?" „Ich wünschte, ich hätte die Zeit", seufzte er, und sein heiterer Gesichtsausdruck verschwand. „Aber ich habe heute Nachmittag leider einen Kurs. Du wirst deine Sache sicher großartig machen!" „Es wäre schön, wenn du bleiben könntest", sagte Selena aufrichtig. „Ich bin schrecklich nervös." „Ich weiß, dass es dir wegen Jake immer noch schlecht geht", meinte Eddy. „Aber das wird deine schauspielerische Leistung bestimmt nicht beeinflussen. Dafür bist du viel zu gut." Selena sah ihn unverwandt an. Es tat ihr gut, mit ihm zu reden, und es hätte sie beruhigt, wenn er bei der Generalprobe dabei gewesen wäre. „Alle auf ihre Plätze!", unterbrach Mr Riordans Ruf ihr Gespräch. Eddy eilte von der Bühne, und die anderen Schauspieler rannten hektisch durcheinander. Selena versuchte, ganz ruhig durchzuatmen. „Ich bin bereit, mich in Julia zu verwandeln", dachte sie. „Zum letzten Mal, wenn du Die Sonne nicht findest", warnte eine Stimme in ihrem Kopf. „Vorhang!", rief Mr Riordan. Die Probe lief bestens. Kaum hatte das Stück begonnen, vergaß Selena Die Sonne und ihre Angst. Wie immer, wenn sie auf der Bühne stand, identifizierte sie sich völlig mit ihrer Rolle. Nicht einmal die Tatsache, dass Danny Morris ihr Partner war, beeinträchtigte ihre Vorstellung. Während sie spielte, war sie Julia, die hoffnungslos in Romeo verliebt war. Sie war sich der Zuschauer nur undeutlich bewusst, die manchmal lachten oder tuschelten. Doch als der Vorhang fiel, klang heftiger Applaus durch den Zuschauerraum. Noch einmal traten die Schauspieler auf die Bühne. Während Selena sich verbeugte, stellte sie sich vor, dass Jake neben ihr stünde. „Er sollte jetzt hier sein", dachte sie wehmütig. „Dieses Stück ist für ihn. Ich werde die Schauspielerei niemals aufgeben und all meine Vorstellungen Jake widmen! Mein Leben hätte keinen Sinn mehr, wenn ich das Theater verlassen müsste." 101
Neben ihr in der Reihe der Darsteller stand Danny und hielt ihre Hand. Selena war das unangenehm. Sie versuchte, sie ihm zu entziehen, aber er drückte nur noch fester zu. „Hör auf damit!", zischte sie ihm aus dem Mundwinkel zu, aber er dachte gar nicht daran. Sobald der Vorhang wieder gefallen war, entriss sie ihm ärgerlich ihre Hand. „Lass mich in Ruhe!" „Hey, das gehörte doch zur Rolle", verteidigte sich Danny. „Und jetzt ist das Stück vorbei!", knurrte sie und stürmte davon. Sie winkte Mr Riordan zu. „Prima Vorstellung!", rief er und blickte von seinem Clipboard auf. „Morgen nach der Schule findet eine Besprechung statt. Ich habe mir zu jedem von euch Notizen gemacht." Selena rannte in den Umkleideraum. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, dass sie heute früh nach Hause kommen und ihr im Haushalt helfen würde. Sie ignorierte die aufgeregten Stimmen und das Gelächter der anderen Mitglieder des Schauspiel-Clubs. Rasch zog sie sich um und begann, nach ihrem Rucksack zu suchen. Das hielt sie eine Weile auf, weil wie immer alle Darsteller ihre Taschen auf einen großen Haufen geworfen hatten. Selena hob jede einzelne hoch und ließ sie wieder fallen. „Ich werde noch den Bus verpassen!", dachte sie ärgerlich. „Wo ist bloß dieses verflixte Ding?" Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie ihren Rucksack in dem Spind gelassen hatte, in dem sie ihre Schulsachen aufbewahrte. „Hey, Selena!", rief in diesem Moment Katy nach ihr. „Keine Zeit!", gab Selena über die Schulter zurück und raste quer durch das Gebäude zum vorderen Teil der Highschool. Schwer atmend, fummelte sie an ihrem Vorhängeschloss herum und riss dann ungeduldig die Tür auf. Was für ein Chaos! Sie hatte ihren Spind schon vor Wochen aufräumen wollen. Sie griff nach ihrem Rucksack und schob hastig die Bücher und Hefte, die in einem wildem Durcheinander auf dem Spindboden lagen, hinein. Dann knallte sie die Tür zu, legte das Schloss vor und stürmte zum Bus.
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Erst nach dem Abendessen warf Selena wieder einen Blick in ihren Rucksack. Sie war nach oben in ihr Zimmer gegangen, um ihre Hausaufgaben zu machen. Aber die Schultasche war so voll gestopft, dass sie überhaupt nichts wieder fand. Als sie kurz entschlossen den gesamten Inhalt auf ihr Bett schüttete, entdeckte sie plötzlich einen quadratischen, weißen Umschlag mit einem orangefarbenen Sonnenaufkleber in einer Ecke. Schon wieder ein Brief! Mit einem Aufschrei der Empörung riss Selena den Umschlag auf und überflog hastig und voller Entsetzen die schreckliche Botschaft: Liebe Selena, wie hat dir meine neueste Überraschung gefallen ? Wetten, du hättest nicht gedacht, dass ich noch jemanden töten würde? Wieder habe ich einen Menschen ausgelöscht, der dir nahe stand. Und wieder am selben Ort. Du hättest auf mich hören sollen, Selena. Aber du musst ja unbedingt an der Aufführung teilnehmen. Also ist es nicht meine Schuld, sondern deine! Ich hatte dir gesagt, dass ich bei der Generalprobe sein würde, Selena. Dieser Tag war die perfekte Gelegenheit, jemanden umzubringen. Ich werde auch zur Premiere kommen. Und das ist die perfekte Gelegenheit, dich umzubringen! Die Sonne Unfähig zu atmen oder sich zu bewegen, starrte Selena auf den Brief. Jemand war umgebracht worden? Aber wer?
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Kapitel 24 Selena las die Nachricht noch einmal. Ihr Puls raste, und die Worte verschwammen vor ihren Augen, als sie die Zeilen überflog. Was zum Teufel meinte dieser Irre, wenn er behauptete, er hätte noch jemanden umgebracht? Es war doch überhaupt niemand getötet oder auch nur verletzt worden! Selena versuchte, sich zu konzentrieren. Die Sonne schrieb, dass der Mord bereits stattgefunden hätte -heute, am Tag der Generalprobe. Aber die war schon seit Stunden vorbei, und alles war bestens gelaufen. Niemand war gestorben. Niemand war ... „Ohhh!" Selena stieß einen Entsetzensschrei aus, als ihr klar wurde, was passiert war. Der weiße Briefumschlag war in ihren Spind im Hauptgebäude der Highschool geschoben worden, weil ihr Verfolger nicht damit gerechnet hatte, dass sie heute noch einmal dorthin zurückkehren würde. Eigentlich hätte sie die Nachricht erst morgen früh finden sollen! Als sie verstand, was das bedeutete, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Sie hätte den Brief erst zu Gesicht bekommen sollen, nachdem der Mörder sein schreckliches Werk vollendet hatte. Selena wurde ganz schlecht. Irgendjemand war in schrecklicher Gefahr. Heute Abend. Jetzt. Ihretwegen. „Ich muss noch mal zur Schule fahren!", beschloss sie. „Und zwar sofort. Ich muss ihn aufhalten!" Im nächsten Moment kam ihr ein noch schrecklicherer Gedanke. Die Sonne hatte angekündigt, jemanden zu töten, der ihr nahe stand. Und solche Menschen gab es nicht mehr viele. Katy! 104
„Oh nein! Ich darf nicht zulassen, dass er Katy etwas antut!" Selena griff nach dem Telefonhörer und wählte mit zitternden Fingern Katys Nummer. Es klingelte einmal. Zweimal. Dreimal. „Na los, Katy! Heb ab! Heb endlich ab!" Aber es war niemand zu Hause. „Vielleicht ist sie noch mal zur Schule gefahren, um an der Beleuchtung zu arbeiten", überlegte Selena. „Ja. Bestimmt ist sie dort und läuft direkt in die Falle!" Sie griff nach ihrer Jacke und rannte aus dem Zimmer. In diesem Moment klingelte das Telefon. Hastig hob sie den Hörer ab. „Bitte, lass es Katy sein!", betete sie. „Selena? Hier ist Eddy." „Eddy!", rief sie. Normalerweise hätte sie sich gefreut, seine Stimme zu hören. Aber nicht jetzt. „Ist alles in Ordnung?", fragte er. „Klar, aber ich habe im Moment keine Zeit ..." „Du klingst ja so aufgeregt", unterbrach er sie. „Hör zu, ich will dich nicht aufhalten. Ich rufe nur an, um dir zu sagen, wie Leid es mir tut, dass ich heute Nachmittag nicht bei der Probe zuschauen konnte." „Das ist schon okay", meinte Selena abwesend. „Und, wie ist es gelaufen?" „Was? Ach, die Generalprobe? Bestens", sagte sie ungeduldig. „Eddy, ich muss jetzt wirklich los ..." „Kein Problem", antwortete er. „Aber ich würde dich gerne heute Abend sehen. Hast du nachher schon etwas vor? Jetzt ist es sieben. Wie war's, wenn ich dich um acht abhole?" „Ich ..." Selena wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. „Ich weiß nicht. Zuerst muss ich noch etwas erledigen." „Kann ich dir vielleicht helfen?" „Das wäre schön", seufzte Selena. „Aber dabei kann mir niemand helfen." „Gut." Eddys Stimme war die Enttäuschung deutlich anzuhören. „Aber ..." „Ich muss jetzt wirklich weg", wiederholte Selena. „Tschüss." Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, überfielen sie Schuldgefühle 105
und Angst. „Vielleicht hätte ich Eddy doch sagen sollen, was los ist", dachte sie. „Aber ich kann ihm nicht trauen. Ich kann niemandem trauen!" Sie schloss ganz fest die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. „Katy ist meinetwegen in Gefahr. Ich darf nicht zulassen, dass dieser Verrückte ihr etwas antut - wer immer es auch sein mag." Sie schlüpfte in ihre Jacke und stürmte aus der Tür. Bis auf den Kleinlaster des Hausmeisters lag der Parkplatz der Highschool verlassen da. Selena konnte im ganzen Gebäude kein Licht entdecken. Sie zog eine kleine Taschenlampe aus ihrem Rucksack und ging hinüber zum hinteren Teil der Schule. Die schweren Doppeltüren des Zuschauerraums kamen ihr heute düster und Furcht einflößend vor. Selena warf einen nervösen Blick über ihre Schulter. „Ich würde mich wohler fühlen, wenn wenigstens ein paar Autos hier wären", dachte sie. „Ob Die Sonne wohl schon da ist? Wartet dieser Mistkerl bereits auf sein Opfer?" Wenigstens stand Katys Wagen nicht auf dem Schülerparkplatz. Selena hoffte, dass sie in Sicherheit war. Zum Glück waren die massiven Doppeltüren nicht abgeschlossen. Selena zog sie auf und betrat den dunklen Zuschauerraum so leise wie möglich. Sie knipste die Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl durch den Saal wandern. Weder in den Sitzreihen noch auf der Bühne war jemand zu sehen. Vielleicht war Katy oben auf dem Laufsteg und arbeitete an der Beleuchtung? Selena versuchte, ihre Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, als sie rief: „Katy? Bist du da?" Keine Antwort. Doch dann hörte Selena ein Geräusch, das sie nach Luft schnappen ließ. Vor Schreck fiel ihr die Taschenlampe aus der Hand. Hinter dem geschlossenen Vorhang hatte sie einen gedämpften Schrei vernommen. „Katy?", rief sie noch einmal. „Katy? Bist du das?"
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Kapitel 25 „Katy?" Keine Antwort. Selena umklammerte die Lehne eines Sitzes und lauschte angestrengt. Jetzt herrschte wieder Stille. Kein Schrei. Kein Ruf. Kein einziges Geräusch. „Verschwinde von hier!", meldete sich eine warnende Stimme in Selenas Kopf. „Dreh dich um, und lauf!" „Aber Katy ist vielleicht meinetwegen in Gefahr", rief sie sich zur Ordnung. Hatte sie wirklich einen Schrei hinter dem Vorhang gehört? Sie hatte keine Wahl – sie musste es herausfinden! Selena hob die Taschenlampe auf, knipste sie aus und schob sie in den Bund ihrer Jeans. Dann bewegte sie sich vorsichtig durch den dunklen Zuschauerraum. Es war so finster, dass sie kaum die Bühne vor sich ausmachen konnte. Auf Zehenspitzen schlich sie den breiten Gang zwischen den Stuhlreihen entlang und wagte kaum zu atmen. Angespannt lauschte sie auf das kleinste Geräusch. Endlich hatte sie die Bühne erreicht und stieg die Stufen hoch. Sie spähte durch den Vorhang und strengte ihre Augen an, um etwas zu erkennen. Für einen Moment überlegte sie, die Deckenbeleuchtung einzuschalten. Aber sie wollte der Sonne keinen Vorteil verschaffen. Deshalb knipste sie stattdessen die kleine Plastiktaschenlampe wieder an. „Katy?", fragte sie leise und hörte, wie ihre eigene Stimme zitterte. „Katy, ich bin's. Selena!" Immer noch keine Antwort. Leise schob sie sich durch den Vorhang. Mit angehaltenem Atem ließ sie den Lichtkegel der Taschenlampe über die Bühne wandern. Niemand war zu sehen. Plötzlich hörte sie ein Stöhnen, so schwach, dass sie die Ohren spitzen musste, um es überhaupt wahrzunehmen. 107
„Katy?", rief sie. „Wo bist du?" Wieder ächzte jemand. Das Geräusch schien von oben zu kommen. Selena ließ den Strahl ihrer Taschenlampe zum Laufsteg hinaufwandern. Aber das Licht war zu schwach, um ihn vollständig zu beleuchten. Am Ende der metallenen Leiter befand sich ein kleiner Raum für Requisiten, durch den man auf den schmalen Beleuchtungssteg gelangte. Selena wusste zwar, dass er sich dort oben befand, hatte ihn aber noch nie von innen gesehen. Ihre Höhenangst hatte sie bis jetzt davon abgehalten hochzuklettern. Als sie sich der Leiter näherte, entdeckte sie etwas Glänzendes auf dem Boden darunter. Selena richtete ihre Taschenlampe auf den Fleck. Was schimmerte denn da so dunkel? Es war eine tiefrote Pfütze. So rot wie Blut. Selena sprang erschrocken zurück, als von oben wieder ein Laut ertönte. Es war das Stöhnen eines Menschen, der starke Schmerzen hatte. Und dann wimmerte jemand so leise, dass Selena es kaum verstehen konnte: „Helft mir ... bitte ... helft mir doch!"
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Kapitel 26 Selena blickte hinauf zum Beleuchtungssteg. Angesichts seiner Höhe lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Die Leiter führte nahezu senkrecht nach oben. Katy hatte nie Probleme damit, daran hochzuklettern. Selena dagegen hatte es nur ein einziges Mal versucht, als sie gegen Jake eine Wette verloren hatte. Bis zur Hälfte hatte sie es geschafft, dann war ihr so schwindelig und übel geworden, dass sie umkehren musste. Wieder hörte sie das Stöhnen. „Ich komme!", rief Selena. Sie schob die Taschenlampe zurück in ihre Jeans, umklammerte die Leiter mit beiden Händen und begann, vorsichtig hochzusteigen – immer einen Schritt nach dem anderen. „Sieh bloß nicht nach unten!", ermahnte sie sich. Während Selena höher und höher kletterte, spürte sie, wie die vertraute Panik ihr die Brust zusammenschnürte. Für einen Augenblick schienen sich die dunklen Wände um sie herum zu drehen. Sie blieb stehen, schloss die Augen und krallte sich an die Leiter, so fest sie konnte. „Ich schaff's einfach nicht", dachte sie verzweifelt. „Du musst!", befahl sie sich selber. „Dieses Mal musst du!" Als sie die nächste Sprosse erklomm, drehte sich ihr der Magen um, und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. „Denk jetzt nicht an die Höhe", ermahnte sie sich. „Konzentriere dich auf jeden einzelnen Schritt. Und schau ja nicht zurück." Stunden schienen vergangen zu sein, als Selena endlich am Ende der Leiter ankam. Sie atmete auf und hielt sich mit der rechten Hand fest. Mit der linken zog sie die Taschenlampe aus ihrer Jeans und knipste sie an. Ihr Lichtstrahl fiel auf den Requisitenraum, durch den man auf den schmalen Laufsteg gelangte. Die Tür war geschlossen. Selena konnte Katy nirgends entdecken. Es war überhaupt niemand zu sehen. „Katy!", rief sie mit dünner, ängstlicher Stimme. „Wo bist du?" 109
Stille. Selena blickte nach unten. Sofort wurde ihr furchtbar schwindelig. Für einen Moment lockerte sie ihren Griff und hatte das entsetzliche Gefühl, dass sie gleich fallen würde. „Ich muss weg von dieser Leiter", dachte sie. „Dann werde ich entscheiden, was ich als Nächstes tue." Sie griff mit der rechten Hand wieder fest zu und öffnete mit der linken die Tür der Requisitenkammer. Dann stieß sie sich von der Leiter ab und machte einen großen Schritt in den Raum. Zitternd schlug sie die Tür zu und lehnte sich gegen die Wand. In der Kammer war es stockdunkel. Einen Moment lang sah Selena überhaupt nichts. Doch als sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, entdeckte sie einen schmalen Lichtstreifen, der unter der Tür hindurchsickerte, die zum Laufsteg führte. „Fürs Erste bin ich in Sicherheit", sagte sich Selena. „Ich werde mir später Gedanken darüber machen, wie ich wieder nach unten komme." „Katy?", flüsterte sie in die Dunkelheit. „Bist du hier?" Keine Antwort. Selena ließ den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe durch den winzigen Raum wandern. Sie war überrascht, wie voll er war. Die Regalreihen, die bis zur Decke reichten, waren voll gestopft mit Kostümen und Requisiten. Ein wuchtiger Schrank teilte das kleine Zimmer in zwei Hälften. Selena ging gerade darauf zu, als sie plötzlich auf der anderen Seite ein Scharren hörte. „Hey ...!" Sie fuhr erschrocken zusammen. „Wer ist da?", rief sie mit heiserer Stimme. Ihre Frage wurde von einem weiteren Stöhnen beantwortet. Selena ging näher an den Schrank heran. Vorsichtig warf sie einen Blick um die Ecke. Und schaute in das Gesicht von Danny Morris.
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Kapitel 27 Selena schrie entsetzt auf. „Danny hat mich erwischt!", schoss es ihr durch den Kopf. „Ich sitze hier oben in der Falle!" Er starrte sie stumm an. „Danny!", rief sie. „Danny?" Erst jetzt bemerkte sie, dass er sich nicht bewegte. Seine Augen waren nur halb geöffnet, und er blinzelte nicht einmal. Selena sah ihn mit offenem Mund an, während ihre Gedanken durcheinander wirbelten. „Danny ...?" Sein Mund öffnete sich ein wenig, und er stieß ein unterdrücktes Wimmern aus. Selena richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf Dannys Gesicht und beugte sich näher zu ihm hin. Er saß an den Schrank gelehnt da. Seine Arme und Beine waren mit dicken Seilen gefesselt. Eine hässliche, purpurrote Beule prangte auf seiner Stirn, und sein blondes Haar war blutverkrustet. „Danny!", keuchte Selena. „Was ist passiert? Wer war das?" Dannys Augenlider flatterten. „Selena?", murmelte er. „Was ist los?", fragte sie. „Wer hat dich gefesselt?" „Du hast mich doch gebeten zu kommen", stieß er mühsam hervor. „Was habe ich?", rief Selena verwirrt. „Ich weiß nicht, was passiert ist", stöhnte Danny. „Ich bin hierher gekommen, weil du mich angerufen hast. Du sagtest, ich solle auf dich warten. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Warum wolltest du dich denn ausgerechnet hier mit mir treffen?" „Ich ... ich hab dich nicht angerufen!", stotterte Selena. „Bind mich los!", bat er. „Bitte!" „Natürlich", sagte Selena und griff nach den Stricken. Doch plötzlich verharrte ihre Hand in der Luft. Danny konnte nicht Die Sonne sein – oder etwa doch? Aber wie hätte er sich selber niederschlagen und fesseln sollen? Nachdenklich starrte sie ihn an. Er hatte die Augen jetzt wieder geschlossen. Blut tröpfelte aus einem Schnitt unter seinem Haar und lief seitlich an seinem Gesicht hinunter. 111
Selena stockte der Atem. Allmählich begann sie zu begreifen. Die Sonne hatte vorgehabt, Danny umzubringen, nicht Katy. Aber offenbar hatte Selena ihren Verfolger unterbrochen, bevor er seinen schrecklichen Plan in die Tat umsetzen konnte. „Ich habe Danny gerettet!", wurde ihr plötzlich klar. „Wenn ich nicht gekommen wäre, wäre er vielleicht längst tot!" Doch dann rutschte ihr das Herz in die Hose. Ihr Verfolger hatte vorgehabt, Danny umzubringen, und sie war unerwartet aufgetaucht. Also musste der Kerl abgehauen sein und sich versteckt haben. Ob er wohl noch irgendwo in der Nähe war? „Wir müssen hier weg!", rief Selena und zerrte verzweifelt an den dicken, aus Hanf gedrehten Seilen. „Ich brauche etwas, um deine Fesseln durchzuschneiden", sagte sie zu Danny. „Ein Messer ... in der Ecke", murmelte er. Selena stolperte hinüber und suchte hektisch auf dem Boden herum. „Ich kann es nicht finden!", jammerte sie nervös. „Auf dem Bord über der Tür", keuchte Danny. Selena tastete das Bord ab. Aber da war kein Messer und auch sonst nichts, womit sie Danny hätte losschneiden können. Sie begann, die Requisiten auf dem nächsten Bord zu durchwühlen. Und dann hörte sie etwas. Jemand hatte die Bühne betreten. „Das ist er", hauchte sie. „Wer?", wisperte Danny. „Pscht!" Selena blieb bewegungslos stehen und lauschte angestrengt. Die Schritte näherten sich, bis sie genau unter ihnen waren. Dann hörte sie ein metallisches Geräusch. Jemand hatte seinen Fuß auf die Leiter gesetzt. Selena knipste die Taschenlampe aus. Ihr war ganz schlecht vor Angst. In der Dunkelheit kroch sie zu Danny zurück und kauerte sich neben ihn. „Sei ruhig!", flüsterte sie ihm eindringlich zu. „Mach bloß keinen Lärm!" Der Unbekannte stieg mit sicheren, raschen Schritten die Leiter hoch. Als er oben angekommen war, herrschte für einen Moment absolute Stille. Dann öffnete sich die Tür des Requisitenraumes wie in Zeitlupe. In der Türöffnung, kaum erkennbar in der Dunkelheit, stand ihr Verfolger. Die Sonne.
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Kapitel 28 Selena blickte wie erstarrt auf die schattenhafte Gestalt, als sie plötzlich eine vertraute Stimme hörte. „Selena? Bist du das?" Es war Katys Stimme. „Katy!" Selena schluchzte beinahe vor Erleichterung. „Was ist los?", fragte Katy. „Was machst du hier oben?" „Das kann ich dir jetzt nicht erklären – wir sind in Gefahr", stieß Selena hervor. „Hast du unten irgendjemanden gesehen?" „Nein", antwortete Katy. „Aber ich hab auch nicht darauf geachtet. Ich bin nur hier, weil ich mein Mathebuch vergessen habe. Während der Probenpausen rechne ich nämlich immer ein paar Aufgaben. Soll ich mich unten mal umsehen?" „Nein! Auf keinen Fall!", rief Selena. „Danny ist hier. Er ist verletzt. Wir müssen Hilfe holen!" „Was?" Katy stieß einen erschrockenen Schrei aus und knipste die Deckenbeleuchtung an. Selena blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. Sie sah, dass Katy ihren schwarzen Bühnenarbeiter-Overall trug und eine schwere Metalltaschenlampe in der Hand hielt. „Danny geht es gar nicht gut!", sagte Selena drängend. „Wir müssen ihn losbinden und Hilfe holen." Katy machte ein verwirrtes Gesicht. „Warum ist er denn überhaupt hier oben?" „Die Sonne hat versucht, ihn zu töten", erklärte Selena. Jetzt, wo sie die Seile sehen konnte, war es viel einfacher, die Knoten zu lösen. „Und ich glaube, der Kerl treibt sich hier noch irgendwo mm. Na los, Katy, hilf mir, Danny loszubinden!" „Warum?", fragte sie. „Solange er gefesselt ist, kann er keinen Ärger machen." „Hast du es denn immer noch nicht verstanden?", rief Selena ungeduldig. „Danny ist nicht Die Sonne! Ich habe vorhin wieder einen Brief gefunden. Darin kündigt dieser Irre an, er würde jemanden umbringen, der mir nahe steht. Anscheinend hat er Danny damit gemeint - obwohl ich zuerst dachte, es ginge um dich!" 113
„Nein, auf mich hat er es wohl nicht abgesehen", stellte Katy mit sanfter Stimme fest. „Jetzt hilf mir doch endlich!", flehte Selena. „Danny braucht einen Arzt!" „Mach dir keine Sorgen um ihn", sagte Katy beschwichtigend. „Danny wird dir keine Schwierigkeiten mehr machen." „Selena", stöhnte Danny. Selena zerrte verzweifelt an den Seilen, die um seine Handgelenke gewunden waren. „ „Ich sagte dir, vergiss ihn!", schrie Katy plötzlich und durchquerte mit zwei Schritten den kleinen Raum. Sie hob den Arm und ließ die schwere Taschenlampe mit voller Wucht auf Dannys Kopf niedersausen. Seine Augen rollten nach oben, und sein Kinn fiel ihm gegen die Brust. „Katy!", stieß Selena entsetzt hervor. „Was ...?" Katy fegte einen Stapel Kostüme auf den Boden und setzte sich auf eines der Borde. „Ich möchte mit dir über uns beide reden", kündigte sie an und fixierte Selena mit funkelnden Augen. „Über unsere Freundschaft." Selena spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Wir können reden, worüber du willst", sagte sie vorsichtig. „Aber wollen wir dazu nicht nach unten gehen?" „Ich fühle mich hier oben sehr wohl", versetzte Katy kühl. „Du etwa nicht? Das solltest du aber. Immerhin sind wir beide zusammen, so wie wir es früher immer waren." Eine verschwommene Ahnung meldete sich in Selenas Hinterkopf. Sie schob sie beiseite und versuchte, klar zu denken. „Wie meinst du das?", fragte sie ihre Freundin. „Es ist wie in alten Zeiten – nur du und ich. Die dicksten Freundinnen. Katy und Selena, die Unzertrennlichen." Selena ließ sich auf den Boden neben Danny sinken und starrte auf seine bewusstlose Gestalt. Katy hatte das also getan. Ihre beste Freundin hatte ihn niedergeschlagen. „Wir sind doch immer noch die besten ...", begann Selena. „Es ist nicht mehr so, wie es mal war", schnitt Katy ihr das Wort ab. „Früher kam ich bei dir an erster Stelle – so wie du bei mir." 114
„Katy, ich weiß nicht, worüber du sprichst." „Oh doch. Das weißt du ganz genau." Bestürzt sah Selena zu, wie Katy mit einer heftigen Bewegung in ihre Tasche griff. Sie zog einen Bogen Papier hervor und hielt ihn hoch, damit Selena ihn sehen konnte. Selena schnappte nach Luft. „Nein! Oh ... nein!" Katy hielt einen Bogen mit Aufklebern in der Hand. Mit Sonnen-Aufklebern!
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Kapitel 29 „Wo ... wo hast du die denn her?", stotterte Selena. „Es sind meine", antwortete Katy. „Ein paar habe ich schon verbraucht. Aber das weißt du ja." „Ich verstehe das alles nicht", murmelte Selena. „Katy, du ...?" Sie nickte. „Ja. Katy war es. Die gute, alte Katy. Aber ich war sicher, dass du mich nie verdächtigen würdest. Ich wusste, dass du denken würdest, dein Verfolger sei ein Fan, der völlig verrückt nach dir ist." Selena war zu geschockt, um etwas zu sagen. Katy war ihre beste Freundin. Sie konnte doch unmöglich Die Sonne sein! „Aber die Briefe hat doch ein Mann geschrieben!", wandte sie ein. Katy schnaubte höhnisch. „Dich kann man ja so leicht täuschen. Natürlich sollten die Nachrichten so klingen, als kämen sie von einem Verehrer! Ich wusste, dass du das schlucken würdest. Schließlich verliebt sich doch jeder Junge in dich, nicht wahr?" „Aber Katy ..." „Du bist so verdammt eingebildet, Selena. Es war ein Kinderspiel, dich davon zu überzeugen, dass ein fanatischer Fan hinter dir her sei. Da brauchte bloß eine Leiter umzufallen, und schon hast du geglaubt, dass dir irgendein Verrückter hinterherspionierte. Alles, was ich tun musste, war, einen Sticker drauf zukleben. Dich interessiert doch nur, dass dir die Typen reihenweise zu Füßen liegen." „Das stimmt doch gar nicht!", rief Selena empört. „Natürlich stimmt es!", schrie Katy. „Kannst du dir auch nur im Entferntesten vorstellen, wie ich mich in den letzten zwei Jahren gefühlt habe, Selena? Weißt du, wie es ist, wenn einen die beste Freundin wie ein Dienstmädchen behandelt?" „Das habe ich nie getan!", verteidigte sich Selena. „Du bist nach wie vor meine beste Freundin. Wir sind beide im Schauspiel-Club und ..." „Natürlich sind wir beide im Schauspiel-Club", brüllte Katy. „Als ob ich eine Wahl gehabt hätte. Wenn ich nicht eingetreten wäre, hätte ich die längste Zeit eine Freundin gehabt!" 116
„Katy", sagte Selena vorsichtig. „Ich hatte niemals vor, dich zu verletzen. Ich habe immer gedacht, dass du dich über meinen Erfolg freust." „Warum sollte ich mich darüber freuen?", schnappte Katy. „Als wir noch jünger waren, haben wir uns umeinander gekümmert. Wir waren ebenbürtig. Aber dann bist du plötzlich schlank und beliebt geworden. Weshalb hätte mich denn das glücklich machen sollen?" „W... weil du meine Freundin bist", stieß Selena hervor. „Ich habe nicht gewusst, dass du so darüber denkst." „Genau das ist der springende Punkt", bemerkte Katy. „Wenn du wirklich meine Freundin wärst, hättest du es gemerkt und dich um mich gekümmert. Aber du interessiertest dich ja nur noch dafür, ein Star zu sein und jede Menge Aufmerksamkeit zu bekommen!" Selena warf einen kurzen Blick zu Danny, der sich immer noch nicht rührte. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Sie musste es alleine schaffen, ihre Freundin zu beruhigen. „Und dann wolltest du plötzlich auch noch weggehen!", zeterte Katy weiter. „Warum hast du mir eigentlich nie erzählt, dass du Schauspiel studieren willst? Du hast wohl geglaubt, du könntest dir ein Stipendium unter den Nagel reißen und einfach so verschwinden, was? Ich wette, du hast nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, was das für mich bedeuten würde!" Selena sah Katy unverwandt an. Langsam wurde ihr klar, wie verwirrt ihre Freundin war. Als Katy ihrem forschenden Blick begegnete, beruhigte sie sich plötzlich. Das wütende Funkeln verschwand aus ihren Augen, und sie schien förmlich in sich zusammenzusinken. „Ich dachte, wenn ich dich ein wenig einschüchtern könnte, würdest du aus dem Stück aussteigen, und wir wären wieder Freundinnen", klagte sie. „Oh, Katy", seufzte Selena und versuchte, ihre Freundin zu umarmen. „Aber es hat nicht funktioniert!", kreischte die und schubste Selena weg. „Du hast einfach weitergemacht und dich auch noch ständig mit deinen neuen Freunden und deinen Verehrern getroffen! Es war dir sogar egal, dass andere verletzt wurden! Alles wegen deines verdammten Stipendiums!" 117
Allmählich wurde Selenas Angst von Wut verdrängt. „Willst du damit etwa sagen, dass du Alison verletzt hast?", fragte sie mit scharfer Stimme. „Das war keine Absicht", antwortete Katy. „Ich dachte, du würdest dort sitzen, und wollte dir einen Schrecken einjagen. Aber es ist schief gegangen." Sie seufzte. „Ich habe wirklich alles versucht." Selena schluckte. „Und was ist mit Jake?", forschte sie mit belegter Stimme. Ihr kam ein furchtbarer Verdacht. „Du hast doch nicht etwa..." „Jake war einfach zu neugierig", sagte Katy kalt und scheinbar ungerührt. „Du hättest ihm nichts von deinem geheimnisvollen Verfolger erzählen sollen, Selena. Er hat angefangen herumzuschnüffeln und dabei die Aufkleber in meinem Spind gefunden." „In deinem Spind?" „Ja, und er hat sie mitgenommen, deswegen hast du sie später bei ihm entdeckt. Er hätte sich nicht in meine Angelegenheiten mischen sollen. Das war ein großer Fehler." „Wie meinst du das?", flüsterte Selena. Katy schnaubte abfällig. „Ich habe Jake dazu überredet, sich im Requisitenraum mit mir zu treffen. Niemand kennt sich hier oben so gut aus wie ich. Er hatte keine Chance." „Du ... du hast ihn geschubst?" „Ich konnte doch nicht zulassen, dass er dir erzählte, was er herausgefunden hatte!", antwortete Katy. „Hinterher ging's mir richtig mies. Ich meine, schließlich war Jake so viele Jahre unser Freund. Aber die Dinge ändern sich eben." Katy sprang auf die Füße. Selena starrte sie entsetzt an. „Meine Freundin ist eine Mörderin!", dachte sie wie betäubt. „Ich sitze hier oben mit einer Mörderin - in der Falle!" „Katy, bitte glaub mir doch", bat sie flehentlich und drückte sich mit dem Rücken gegen den Schrank. „Es tut mir alles so furchtbar Leid!" „Ich glaube dir", erwiderte Katy. „Aber es ist zu spät!" Selena presste sich noch fester gegen den Schrank und versuchte, sich ganz klein zu machen. „Katy, nein ..." „Ich bin dir dankbar, dass du es mir so leicht machst", sagte Katy 118
ausdruckslos. „Heute Abend hatte ich dich nicht erwartet. Ich dachte, nur Danny würde auftauchen. Aber so ist es viel besser." „Hast du ihn etwa hierher gelockt?" „Ich bin auch eine gute Schauspielerin, Selena", meinte Katy mit einem spöttischen Grinsen. „Ich habe meine Stimme verstellt und so getan, als wäre ich du. Es war kinderleicht." „Katy, lass uns erst mal zur Bühne hinunterklettern. Dann können wir über alles reden. Du wirst Hilfe bekommen. Ich bin ganz sicher, dass es für das alles eine Lösung gibt!" „Kommt nicht infrage!", kreischte Katy. „Ich habe meine Entscheidung längst getroffen! Es wird aussehen, als ob ihr beiden hier oben einen Unfall gehabt hättet. Alle werden denken, dass ihr zusammen gestorben seid. Wie Romeo und Julia." Katy hob die schwere Taschenlampe über ihren Kopf und ging zielstrebig auf Selena zu.
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Kapitel 30 Mit einem unterdrückten Schrei schoss Selena nach vorne. Sie rollte sich über Danny hinweg und krabbelte zur Tür am anderen Ende des kleinen Raums. „Bitte, tu mir nichts, Katy!", flehte sie. „Vergiss es! Du kannst nicht fliehen", antwortete Katy kalt und holte mit der Taschenlampe aus. Selena heulte laut auf, als das schwere Metall ihren Arm traf. Sie fühlte einen scharfen, betäubenden Schmerz. Als Katy ein zweites Mal zuschlagen wollte, sprang Selena zurück und griff nach der Türklinke. Sie stieß die Tür auf – und erstarrte vor Angst. Für einen Moment hatte sie ganz vergessen, wo dieser zweite Ausgang hinführte: direkt auf den Beleuchtungssteg, der sich hoch über der Bühne befand. Der schmale, metallene Laufsteg erstreckte sich wie ein dickes Drahtseil vor ihr. Ein heftiges Schwindelgefühl überfiel Selena. Sie wich zurück, aber Katy versperrte ihr den Weg. „Was ist los?", höhnte sie. „Hast du deine Meinung geändert?" „Bitte, lass mich wieder rein ..." Katy lachte. „Du hattest schon als kleines Kind Höhenangst." „Ja", schluchzte Selena. „Das weißt du doch." „Perfekt", meinte Katy ungerührt. „Alle werden glauben, dass du dich erschreckt hast und vom Beleuchtungssteg gestürzt bist. Das wird niemanden überraschen." „Katy, nein ..." Wieder holte Katy mit der Taschenlampe aus. Selena versuchte, ihr auszuweichen, und trat einen Schritt zurück. Katy hob den Arm hoch über ihren Kopf. Selena hatte keine Wahl. Sie musste hinaus auf den Beleuchtungssteg. In ihrer Panik rutschte sie aus und stürzte über das Geländer. Sie spürte, wie sie fiel. Und ihr war klar, dass das ihren Tod bedeutete. 120
Kapitel 31 „Neiiiiin!" Selena stieß einen verzweifelten Entsetzensschrei aus und riss die Arme hoch. Im letzten Moment erwischte sie das schmale Geländer mit der rechten Hand. Trotz des brennenden Schmerzes, der durch ihren Arm schoss, umklammerte sie die Stange, bis sie sich auch mit der linken Hand festhalten konnte. Dann zog sie sich mit aller Kraft wieder hinauf auf den Laufsteg. Am ganzen Körper zitternd und krampfhaft nach Luft schnappend, machte sie einen vorsichtigen Schritt rückwärts. Und noch einen. Katy folgte ihr, die Taschenlampe immer noch hoch erhoben. Selena wich auf wackeligen Beinen zurück. Sie versuchte, nicht nach unten zu schauen, und starrte stattdessen auf die Taschenlampe in Katys Hand. „Oh!" Selena stieß einen erschrockenen Schrei aus, als sie mit dem Rücken gegen etwas Kaltes stieß. Vorsichtig drehte sie sich um und stellte fest, dass sie das Ende des Laufstegs erreicht hatte. Sie konnte nicht mehr weiter. Von hier aus ging es nur noch nach unten. Selenas Blick wurde von der Bühne angezogen. Sie rang nach Luft. Was für eine Entfernung! Ihr wurde so schwindelig, dass sie die Hände fest gegen die Wand pressen musste, um nicht nach vorne zu kippen. „Hast du etwa Angst zu fallen?", fragte Katy hämisch. „Das solltest du auch." Sie machte noch einen Schritt auf Selena zu und ließ die Taschenlampe auf ihren Kopf niedersausen. Selena schrie auf und wich aus. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte erneut. Sie landete hart auf dem Bauch und umklammerte mit Armen und Beinen den schmalen Laufsteg. Katy lachte höhnisch. „Bitte, hör auf damit! Bitte!", flehte Selena. 121
„Okay", sagte Katy. „Wie du willst." Überrascht starrte Selena zu ihr hoch. Katy legte die Taschenlampe hinter sich und kniete sich neben Selena. Sie begann, an ihren Armen zu ziehen, um ihren Griff um den Laufsteg zu lockern. „Nein!", rief Selena angstvoll. „Lass los!", stieß Katy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und zerrte noch stärker. Selena schloss die Augen und krallte sich verzweifelt an den Steg. „Du bist kräftiger, als ich dachte", murmelte Katy. „Aber wenn du bewusstlos bist, wirst du dich nicht länger festhalten können." Sie griff wieder nach der Taschenlampe und holte aus. Selena schloss die Augen.
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Kapitel 32 Selena wartete auf den Schmerz. Auf die Lampe, die gleich mit voller Wucht auf ihren Kopf krachen würde. Sie kniff die Augen fest zu und biss die Zähne zusammen. Als sie die Augen schließlich wieder öffnete, kniete Katy immer noch mit hoch erhobener Taschenlampe über ihr. Doch jetzt starrte sie zum anderen Ende des Laufstegs. Selena drehte ihren Kopf und entdeckte Eddy, der am oberen Ende der Leiter stand. „Leg die Lampe weg!", forderte er Katy ganz ruhig auf. „Verschwinde!", knurrte Katy. „Das hier geht dich nichts an!" „Lass Selena in Ruhe!", sagte er mit leiser Stimme. Dann betrat er den Laufsteg und ging langsam auf die Mädchen zu. „Hau ab!", zischte Katy und erhob sich. „Um dich kümmere ich mich noch", murmelte sie zu Selena gewandt. „Sei vernünftig, Katy", rief Eddy ihr zu. „Du willst doch nicht etwa drei Leute umbringen, oder?" „Was ich vorhabe, geht dich überhaupt nichts an", antwortete Katy mit vor Wut zitternder Stimme und machte einen Schritt in seine Richtung. „Bitte, sag mir, was du tun willst", bat Eddy. „Das werde ich", versetzte Katy. „Wenn du näher kommst." Eddy machte einen Schritt auf sie zu. Jetzt waren sie nur noch ein kleines Stück voneinander entfernt. Selena war vor Angst völlig erstarrt. Entsetzt beobachtete sie, wie Katy und Eddy sich gegenüberstanden. Katy schien so auf ihn konzentriert zu sein, dass sie Selena ganz vergessen hatte. „Leg die Taschenlampe weg!", forderte Eddy sie auf. „Lass uns zur Bühne runterklettern." „Das könnte dir so passen!", zischte Katy. „Dort wärst du im Vorteil. Aber hier oben habe ich alles unter Kontrolle." Ohne Vorwarnung schlug sie mit der Taschenlampe nach ihm. Selena schrie auf, aber Eddy duckte sich gerade noch rechtzeitig weg. Er streckte die Hände aus, wirbelte mit den Armen und prallte 123
gegen das niedrige Geländer des Laufstegs. Schwankend blieb er am Rand stehen und kämpfte darum, nicht in die Tiefe zu stürzen. „Jetzt ist es aus!", dachte Selena verzweifelt. „Katy wird uns alle umbringen." Doch dann sah sie voller Erleichterung, dass Eddy in letzter Sekunde sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Er griff nach der Taschenlampe, verfehlte sie aber, weil Katy blitzschnell auswich. Mit einem wütenden Knurren schlug sie wieder zu. Dieses Mal rutschte Eddy aus und stürzte mit einem lauten Schrei über das Geländer. Glücklicherweise landete er auf einem Querbalken, der direkt unter dem Laufsteg angeschweißt war. Wieder schwang Katy ihre Taschenlampe. Selenas Schrei übertönte das dumpfe Geräusch, mit dem die metallene Waffe ihr Ziel fand. Eddy versuchte auszuweichen und verlor dabei das Gleichgewicht. Er rutschte vom Balken und konnte sich im letzten Moment mit den Fingerspitzen festhalten. Jetzt schwang sein Körper über der Bühne hin und her. Katy begann, mit der Taschenlampe auf Eddys Hände einzuhämmern. Er schrie auf, klammerte sich aber mit aller Kraft fest. „Wenn ich ihm nicht helfe, wird er sterben!", schoss es Selena durch den Kopf. Aber würde sie es schaffen? Sie atmete tief durch und begann, auf Katy zuzukriechen, die immer wieder auf Eddys Finger einschlug. Seine Schmerzensschreie gellten ihr in den Ohren, und sie wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Selena konnte sich jetzt keine Vorsicht mehr leisten. Sie musste die beiden so schnell wie möglich erreichen. Mit zitternden Knien stand sie auf. Und ohne nach unten zu sehen, stürzte sie sich auf Katy. Die hatte gerade wieder ausgeholt, als Selena nach der Taschenlampe griff. „Lass sofort los!", kreischte Katy und wehrte sich heftig. Dabei verlor sie das Gleichgewicht. Selena nutzte ihre Chance und zerrte mit aller Kraft an der Lampe. Sie flog Katy aus der Hand und landete mit einem metallischen Scheppern auf dem Bühnenboden unter ihnen. 124
Mit beiden Händen umklammerte Katy Selenas Arme. Für einige Sekunden rangen die beiden Mädchen miteinander und schwankten dabei auf dem schmalen Steg hin und her. Selena konnte das Gleichgewicht nicht mehr länger halten. Sie wusste, dass Katy und sie jeden Moment abstürzen würden. Und da stolperte sie auch schon. Sie fiel nach hinten und zog Katy mit sich. Voller Entsetzen erwartete Selena den Aufprall. Plötzlich spürte sie den Laufsteg unter ihrem Rücken und ein schweres Gewicht auf sich. Als sie verwirrt die Augen öffnete, erblickte sie Katy, die mit ausgebreiteten Armen und Beinen über ihr lag. Eddy, dem es in der Zwischenzeit gelungen war, wieder auf den Beleuchtungssteg zu klettern, warf sich mit einem lauten Schrei auf die beiden. Selena bekam keine Luft mehr. „Lass mich los!", schrie Katy und kämpfte wie wild. „Geh runter von mir!" „Halt durch, Selena!", rief Eddy. Er kam auf die Füße, riss Katy hoch und zerrte sie den Laufsteg entlang. Dann verschwanden die beiden im Requisitenraum. Selena starrte ihnen hinterher. Ihr ganzer Körper war von dem Schock wie gelähmt. Erst nach einer Weile stand sie vorsichtig auf. Ohne Katy kam ihr der Laufsteg wesentlich sicherer vor. Es war gar nicht so schwer, darauf entlangzubalancieren. Langsam ging sie zum Requisitenraum. Eddy hatte Danny inzwischen befreit und benutzte die Stricke nun, um Katy zu fesseln. „Woher wusstest du eigentlich, dass ich hier war?", fragte Selena. „Du klangst am Telefon so aufgeregt, da habe ich mir irgendwie gedacht, dass du herkommen würdest." „Zum Glück!", rief Selena. Überwältigt von ihren Gefühlen, lief sie auf Eddy zu, schlang die Arme um ihn und küsste ihn zärtlich. Eddy hielt sie für einige Sekunden fest an sich gedrückt. Als er sich behutsam wieder von ihr löste, bemerkte sie den überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht. „Das war jetzt aber nicht gespielt, oder?", erkundigte er sich schüchtern. Selena lehnte ihre Stirn gegen seine. „Nein. Das war nicht gespielt", antwortete sie. „Gott sei Dank ist diese Vorstellung jetzt 125
vorbei!" „Hey, sag das nicht!", protestierte Eddy und nahm sie wieder in die Arme. „Vielleicht war das auch nur der erste Akt!"
Über den Autor „Woher nehmen Sie Ihre Ideen?" Diese Frage bekommt R. L. Stine besonders oft zu hören. „Ich weiß nicht, wo meine Ideen herkommen", sagt er. „Aber ich weiß, dass ich noch viel mehr unheimliche Geschichten im Kopf habe, und ich kann es kaum erwarten, sie niederzuschreiben." Bisher hat er über fünfzig Kriminalromane und Thriller für Jugendliche geschrieben, die in den USA alle Bestseller sind. R. L. Stine wuchs in Columbus, Ohio, auf. Heute lebt er mit seiner Frau Jane und seinem Sohn Matt unweit des Central Park in New York.
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