Katharina Kühl
Familiengeschichten Zeichnungen von Maria Wissmann
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Küh...
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Katharina Kühl
Familiengeschichten Zeichnungen von Maria Wissmann
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Kühl, Katharina: Leselöwen-Familiengeschichten / Katharina Kühl Zeichn. von Maria Wissmann. 1. Aufl. – BindLach : Loewe, 1999 (Leselöwen) ISBN 3-7855-3359-4 Dieses Buch ist auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. ISBN 3-7855-3359-4- 1. Auflage 1999 © 1999 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Umschlagillustration: Maria Wissmann
Inhalt Raubtierärzte............................ 8 Chaoten-Katja......................... 14 Bunte Bilder............................ 21 Stoppelschnitt und Pferdeschwanz .............................................. 27 Der Tollpatsch......................... 34 Tanja und die Meckertante....... 42 Mindestens für hundert Jahre... 51
Raubtierärzte
Katrin ist Mannis große Schwester. Sie ist schon sechs und kommt bald in die Schule. Trotzdem wird sie nur mit Manni spielen. Das hat sie ihm fest versprochen. Natürlich muss Manni bei jedem Spiel tun, was Katrin sagt. Aber das ist in Ordnung, denn Katrin hat immer prima Ideen. Heute hat sie sich ausgedacht, was sie beide mal werden wollen. „Raubtierärzte!“, sagt sie. „Dabei erlebt man eine Menge Abenteuer. Ich werde der Arzt und du mein Assistent!“ „Ist ein Assistent etwas Wichtiges?“, will Manni wissen. „Na klar! Der Assistent hilft doch dem Arzt. Aber natürlich ist der Arzt noch wichtiger!“ „Kann ich dann nicht lieber der Raubtierarzt werden?“, fragt Manni. Katrin schüttelt den Kopf: „Kommt nicht in fage! Das Gefährliche muss immer der Größere machen!“
Manni glaubt fest daran, dass er eines Tages genauso groß wie Katrin sein wird. Aber noch ist es leider nicht so weit. „Stell dir nur mal vor, wir verarzten einen Tiger!“, gibt Katrin zu bedenken. Tiger kennt Manni aus dem Zoo. Nein danke, da will er lieber der Assistent sein. „Gut“, sagt Katrin. „Fangen wir gleich an!“ „Mit einem Tiger?“ Manni reißt erschreckt die Augen auf. „Mit einem Minitiger, Dummkopf!“, sagt Katrin. „Wir müssen doch erst mal üben. Wir verarzten Mobbel.“ Manni ist erleichtert. Mobbel hat Streifen wie ein richtiger Tiger, ist aber viel, viel kleiner. Und gefährlich ist er
ganz bestimmt nicht. Der liegt immer nur faul auf der Mauer zum Nachbargarten. Eine Maus würde der nicht mal bemerken, wenn sie ihn am Schnurrbart zupfte. Ein echter Trottel! „Hol meine Arzttasche“, kommandiert Katrin. Manni hat es ja geahnt: Die doofen Dinge muss natürlich der Assistent machen!
Katrin hat die Arzttasche zum Geburtstag bekommen. Es ist alles vorhanden: Mullbinden, ein Gerät zum
Abhorchen, eine Schere, Pflaster, Fieberthermometer. Nur weiße Arztkittel sind nicht dabei. Deshalb bindet Katrin sich und ihrem Assistenten ein weißes Küchenhandtuch um. Mobbel sonnt sich auf seiner Mauer. Er blinzelt träge. „Dreh ihn um“, ordnet Katrin an. „Warum?“ Manni findet, dass er wissen muss, weshalb er etwas tun soll. „Weil Mobbel Bauchweh hat und ein Pflaster auf den Bauch bekommen soll!“, erklärt Katrin. „Hat er sich überfressen?“ „Zu viele fette Mäuse!“ „Aber Mobbel ist doch viel zu faul zum Mäusefangen!“ „Nun dreh ihn schon um, zum Donner!“ Katrin schneidet ein Stück Pflaster von der Rolle. Manni wälzt den Kater auf den Rücken. Mobbel lässt es sich widerstrebend gefallen. „Halt ihn gut fest!“, mahnt Katrin. Manni packt Mobbel noch ein bisschen
fester
. Mobbel ist kitzlig und beginnt zu strampeln. Außerdem hat er herausbekommen, dass man Pflaster nicht fressen kann. Unwillig schlägt er mit der Pfote zu. Vor Schreck lässt Manni ihn los, und der Spitzohrpatient verschwindet fauchend im Gebüsch. „Du hast ihn laufen lassen“, schimpft Katrin. „Er hat mich gekratzt“, versucht Manni sich zu verteidigen.
„Ist schon okay“, sagt Katrin versöhnlich. „Vielleicht ist Raubtierarzt doch zu gefährlich! Ich glaube, wir werden lieber Menschenarzt. Gib deine Hand her!“ Mobbels Bauchpflaster landet auf Mannis Hand. Der Kratzer ist kaum zu sehen und tut auch gar nicht weh. Aber Manni findet, dass Arztsein lange nicht so gefährlich ist wie Assistentsein. Und darum sollte der Kleinere den Raubtierarzt machen! Er sagt es aber nicht. Große Schwestern behalten ja doch immer Recht! Das Pflaster sieht immerhin prima aus.
Chaoten-Katja
Es gibt Kinder, die ihren Anorak auf den Haken hängen, wenn sie von der Schule nach Hause kommen, die ihre schmutzigen Schuhe im Flur ausziehen und die Monopoly-Kärtchen nach dem Spielen in den Karton zurücklegen. Die auch immer alles wieder finden. Solch ein Kind hätte die Mutter gern. Aber die Mutter hat Katja. Chaoten-Katja. Chaoten-Katja wirft ihren Anorak in die
nächste Ecke, behält ihre Schuhe an, auch wenn sie durch den Matsch gelaufen ist, und räumt nie irgendetwas ein. In ihrem Zimmer sieht es immer aus, als wenn gerade eine Bombe darin explodiert wäre. Eine
Es gibt Mütter, denen ist das egal. Die machen einfach die Augen zu. Oder die Tür zum Kinderzimmer. So eine Mutter hätte Chaoten-Katja gern. Aber sie hat ihre. Katjas Mutter macht eine Weile die Augen zu. Dann ruft sie plötzlich aus heiterem Himmel: „Jetzt reicht es mir aber mit deiner Unordnung! Jetzt wird aufgeräumt!“ Der absolute Horror! Katja weiß nicht, ob es Lehrer oder Mütter sind, die einem den Tag gründlicher vermiesen können. Außerdem, was für ihre Mutter Unordnung ist, ist für Katja urgemütlich.
Was die Mutter dagegen ordentlich nennt, findet Katja schlicht ätzend. Wo soll man da anfangen? Entmutigt sieht Katja sich in ihrem Zimmer um. Zum Glück fällt ihr da ein, was der Vater immer sagt: Man muss „planmäßig vorgehen“. Das ist die Lösung! Katja weiß jetzt, was sie zu tun hat: Sie muss sich erst mal einen Plan machen. Einen Aufräumplan. Genau! Damit geht dann alles ratz-fatz. Die Mutter wird staunen! Katja reißt eine Seite aus ihrem Schreibheft, sucht einen Bleistift, der noch nicht abgebrochen ist, wischt mit dem Ärmel Müll vom Tisch und fängt an. Klar, ein guter Plan will gründlich überlegt sein! Soll man zum Beispiel als Erstes den Papierkorb ausleeren oder die Spiele einsortieren? Die Puzzleteile einsammeln oder endlich die Poster aufhängen? Und was ist mit der Puppenküche, den schmutzigen T-Shirts und den herumliegenden Söckchen?
Katja überlegt hin und her, verbraucht noch sieben Seiten ihres Schreibheftes, aber dann endlich steht der Aufräumplan. Damit kann sie jetzt echt „planmäßig vorgehen“. Also, Punkt eins: den linken Turnschuh suchen. Katja sieht sich um, da fällt ihr Blick auf Carlo. Carlo Brumm, ihren ältesten und größten Teddybären. In letzter Zeit hat sie ihn ein bisschen vernachlässigt. Er sieht traurig aus, findet sie. Und schmutzig ist er auch. Also, wenn man schon Ordnung schafft, dann mit allem Drum und Dran! Katja läuft ins Badezimmer. Im Waschbecken bereitet sie ein Bärenbad
mit ganz viel Schaum. Carlo hat es wirklich einmal nötig! Sie setzt Carlo hinein und schrubbt ihn gründlich! Dass Wasser und Schaum dabei reichlich überschwappen, ist nicht Katjas, sondern Carlos Schuld. Er ist einfach zu groß für das Becken. Katja braust ihn deshalb in der Duschwanne ab. Und danach muss Carlo natürlich trockengerubbelt werden. Doch das ist nicht so einfach. Nachdem Katja alle Handtücher verbraucht hat, ist sein Fell immer noch patschnass. Egal, wozu gibt es einen Föhn? Föhn, Kamm und Bürste. Nichts sieht unordentlicher aus als ein strubbeliger Bär! Katja ist so mit Carlo Brumms Toilette beschäftigt, dass sie nicht bemerkt, wie die Badezimmertür aufgeht. „Ja, was ist denn hier los?“, ruft die Mutter entsetzt. „Ich denke, Katja, du räumst auf?“ „Na, ich bin doch dabei, Mama! Alles planmäßig!“ „Planmäßig?“, fragt die Mutter
verständnislos. „Genau. Ich hab nur die Reihenfolge ein bisschen geändert. Carlo hat mich so traurig angesehen, weißt du!“ Die Mutter schüttelt den Kopf. Es ist bereits Abend. In Katjas Zimmer sieht es mehr denn je nach einer Explosion aus. Vom Badezimmer ganz zu schweigen! Chaoten-Katja! „Ich gebe auf!“, murmelt die Mutter.
Bunte Bilder
„Kommt überhaupt nicht infrage! Um diese Zeit wird nicht mehr ferngesehen!“ Die Mama schüttelt energisch den Kopf. „Aber alle anderen Kinder in der Klasse dürfen die Serie sehen. Nur ich nicht!“, versucht Ulli es noch einmal. „Es ist mir egal, was die anderen Kinder dürfen. Du gehst jedenfalls schlafen“, antwortet die Mama. „Morgen früh kommst du wieder nicht aus dem
Bett!“ Ulli ist sauer. Es ist ungerecht! Alle werden Bescheid wissen. Nur er kann in der Pause wieder nicht mitreden. Wie immer. Auslachen werden sie ihn! „Wie wäre es, wenn ich dir nachher etwas vorlese?“, schlägt der Papa vor. „Vorlesen ist doof!“, mault Ulli. „Ach, und warum ist Vorlesen doof?“, will der Papa wissen. „Weil man da nur zuhören kann. Man sieht nichts. Das ist mopslangweilig. Beim Fernsehen sieht man bunte Bilder. Das ist spannend!“ „Dann soll ich dir also nichts vorlesen?“ „Doch!“, erwidert Ulli schnell, denn Vorlesen ist immer noch besser als gar nichts. „Na schön“, antwortet der Papa. „Wenn du im Bad fertig bist, komme ich zu dir!“ Auf den Papa ist Verlass. Wenig später sitzt er bei Ulli auf der Bettkante. Er hat ein dickes Buch mitgebracht. „Sind da bunte Bilder drin?“, fragt Ulli.
„Nein“, antwortet der Papa. „Aber weißt du was? Ich habe eine Idee!“ „Ja...?“ Ulli ist nicht begeistert. Ein Buch ohne Bilder ist wie ein Eisbecher ohne Sahne! „Pass auf!“, sagt der Papa. „Während ich vorlese, schließt du die Augen. Mach sie einfach zu, und ich wette, dann siehst du viele bunte Bilder!“ „Okay!“ Soll der Papa ruhig glauben, dass er auf so etwas hereinfällt! Ulli angelt sich seinen Bären, kuschelt sich in die Decke und kneift die Augen fest zu. Der Papa schlägt das Buch auf.
Und tatsächlich kommen beim Zuhören die Bilder. Ganz von allein. Viele bunte, aufregende Bilder: Ulli sieht ein tosendes, bleigraues Meer. Mit weiß aufschäumenden Wellen. Er sieht einen Dreimaster. Und gleich noch einen Segler, einen kleineren, der rasch aufholt. In seinem Mast flattert die Totenkopfflagge. Und da: Piraten!
Sie kommen näher und näher. Jetzt kann Ulli ihre grimmigen Fratzen
erkennen, wilde, zottelige Bärte, schwarze Augenklappen, Narben, goldene Ohrringe. Er hört sogar ihr hämisches Lachen. Schon schwingen sie die Enterhaken. Da gelingt es dem Kapitän im letzten Moment, das Ruder herumzureißen. Eine Böe fährt rauschend in die Segel, der Dreimaster zischt wie ein Pfeil davon.
Die Piraten fallen zurück und sind bald nicht mehr zu sehen. Der Dreimaster ist
gerettet. Die Mannschaft jubelt. Der kleine Schiffsjunge im Ausguck lacht und winkt Ulli fröhlich zu. Er winkt noch immer, als der Papa schon lä ngst aufgehört hat zu lesen. Vorsichtig klappt der Papa das Buch zu, streicht Ullis Decke glatt, macht das Licht aus und geht auf Zehenspitzen leise hinaus.
Stoppelschnitt und Pferdeschwanz
Nur der Mutter gelingt es, die beiden auseinander zu halten. Anne und Maria sind Zwillinge. Sie sehen sich ähnlich wie ein Entenküken dem anderen Entenküken, wie ein rotes Gummibärchen einem anderen roten Gummibärchen oder wie..., egal! Jedenfalls kann sie keiner außer ihrer Mutter voneinander unterscheiden. Der Oma gelingt es manchmal. Dem Vater nur mit Mühe. Dass die beiden Mädchen ständig wie die Kletten zusammenhängen und auch immer die gleichen Sachen tragen,
macht die Dinge nicht einfacher! In der Schule ist es immer ein Riesenspaß, wenn alle zu rätseln beginnen, ob sich gerade Anne oder Marie meldet. Nur Frau Hoffmann, die Lehrerin, findet das gar nicht lustig. „Wie soll ich euch beide denn beurteilen?“, fragt sie. „Was soll ich euch für Noten geben, wenn ich nie weiß, wer mir auf meine Fragen antwortet?“ In ihrer Not wendet sie sich an die Mutter, und die weiß schließlich Rat. „Anne, Marie!“, ruft sie die beiden Mädchen eines Nachmittags. „Ab morgen zieht ihr euch so an, dass man euch in der Schule nicht mehr
verwechseln kann!“ „Oh nein, Mama!“, kommt der gemeinsame Protest. „Na schön.“ Die Mutter gibt scheinbar nach. „Dann tragt ihr weiter die gleichen Sachen. Was ist eure Lieblingsfarbe?“ „Blau!“, ruft Anne. „Rot!“, ruft Marie. Die Mutter lächelt. „Dachte ich es mir doch!“, sagt sie. „Na, dann schaut euch an, was ich euch aus der Stadt mitgebracht habe!“
„Neue Klamotten! In Blau und in Rot!“, ruft Anne begeistert. „Aber abgesehen von der Farbe ist alles gleich!“, sagt Anne. „Alles okay?“, fragt die Mutter. „Aus
euren anderen Sachen wart ihr ja schon ein bisschen herausgewachsen!“ Von nun an trägt Anne in der Schule immer Blau und Marie Rot. Außerdem flicht die Mutter Anne morgens einen Zopf, während sie Maries Haar zu einem Pferdeschwanz bindet. So ist es mit der Lehrerin abgemacht.
Aber der kommt bald ein Verdacht: „Anne, Marie“, fragt sie misstrauisch, „tauscht ihr etwa eure T-Shirts?“
„Niemals!“, antwortet Anne. „Manchmal!“, antwortet Marie. Die Klasse kichert. „Es ist wirklich nicht einfach mit euch beiden!“, seufzt die Lehrerin. „Ich werde dafür sorgen, dass eine von euch in die Parallelklasse versetzt wird!“ Anne und Marie sehen sich erschreckt an.
Am nächsten Morgen fehlen die Zwillinge. Doch plötzlich, die Stunde hat längst begonnen, geht die Tür auf, und da sind sie: Anne und Marie. Eins der beiden Mädchen trägt igelartige, kurze Stoppelhaare, das andere den gewohnten Pferdeschwanz. „Ich bin Anne! Dass das klar ist!“, sagt der Igel. „Ich habe es satt, dauernd verwechselt zu werden!“ „Ich bin Marie!“, sagt der Pferdeschwanz. „Ich will endlich nur noch ich sein!“ „Und ich“, sagt die Lehrerin, „ich bin froh, dass das R ätselraten jetzt vorbei ist. Anne, setz dich. Marie, komm an die Tafel!“
Der Tollpatsch
Tobias kann sich noch so sehr vorsehen. Es passiert einfach immer wieder: Er stolpert über die Teppichkante. Oder über seine eigenen Füße. Er wirft mit dem Ärmel eine Tasse um. Oder lässt das Brötchen auf seine Jeans fallen. Meistens mit der Marmeladenseite nach unten! „Du bist ein richtiger kleiner Tollpatsch!“, sagt seine Mutter dann immer lachend und wischt oder sammelt auf, was eben aufzuwischen oder aufzusammeln ist. Aber in letzter Zeit lacht die Mama weniger, wenn Tobias mal wieder etwas umgeworfen hat. Seit das Baby da ist. Babys sind auch Tollpatsche, findet Tobias. Sie spucken, sie sabbern und
machen in die Windeln. Aber bei Babys scheint das keinen zu stören. Eins ist klar: Zwei Tollpatsche sind zu viel für eine Mama! Deshalb kommt die Oma angereist. Jetzt hat die Mama jede Menge Zeit für das Baby. Und die Oma für Tobias. Sie spielt mit ihm zum Beispiel Mensch-ärgere-dich-nicht. Wenn Tobias dabei die Püppchen umwirft, lacht sie nur. Und wenn er mogelt, merkt sie das nicht
einmal. Die Oma geht auch mit Tobi einkaufen. Einmal entdecken sie in einem Laden etwas ganz Tolles: eine Flasche mit einem Segelschiff im Bauch.
„Das ist ein Buddelschiff!“, sagt die Verkäuferin. Sie holt es vom Regal herunter und stellt es auf den Ladentisch. Jetzt kann Tobias es genau betrachten: die beiden Masten, die winzigen Segel, das Ruder. Aber auf einmal, Tobi weiß nicht warum, fällt die Flasche herunter und zerspringt. Dabei bricht das schöne Segelschiff entzwei.
„Oh nein!“, ruft die Verkäuferin, „was bist du doch für ein Tollpatsch!“ Tobias fängt sofort an zu weinen. Vor Schreck, und weil er weiß, dass man dann weniger ausgeschimpft wird.
Die Oma schimpft auch nicht. Wortlos bezahlt sie den Schaden. Erst draußen vor dem Geschäft sagt sie: „So geht das nicht weiter. Komm!“ Sie nimmt Tobias an die Hand und geht mit ihm in ein Geschäft, in dem er noch nie gewesen ist. Eine Weile spricht sie mit einem Mann im weißen Kittel. Der
winkt sie und Tobias in ein Hinterzimmer. Dort muss Tobias auf einen hohen Stuhl klettern. Der Mann, den die Oma „Optiker“ nennt, setzt ihm ein ulkiges Gestell auf die Nase. Tobias kann nun nur noch mit einem Auge sehen. Der Optiker fragt ihn: „Was siehst du?“
„Nur einen großen braunen Fleck“, antwortet Tobias. Der Mann verändert etwas an dem Apparat und fragt wieder: „Was siehst du jetzt...?“
„Und jetzt...?“ „Und jetzt...?“ Und Tobi antwortet: „Einen braunen Fleck!“ „Einen braunen Bauch!“ „Einen braunen Bauch mit Armen, Beinen und Kopf!“ „Einen Teddybär!!“ Nun kommt das andere Auge an die Reihe. Danach darf Tobias von dem Stuhl wieder herunterklettern. „Klarer Fall“, sagt der Optiker. „Du brauchst eine Brille. Es wundert mich, dass du nicht dauernd etwas umgeworfen hast!“ Tobias und die Oma gucken sich an und lachen. Zu Hause erzählen sie alles der Mama. Die nimmt Tobi in ihre Arme und drückt ihn ganz fest. „Mein kleiner Tollpatsch braucht eine Brille“, ruft sie. „Dass ich Dummkopf nicht selber darauf gekommen bin!“
Tobis Augen werden zur Sicherheit noch einmal von einem Augenarzt geprüft. Ein lustiges Brillengestell darf er sich selber aussuchen. Eine Woche später ist die neue Brille fertig. Tobias setzt sie auf – und staunt: Die Welt sieht plötzlich ganz anders aus! Die Autos haben Nummern. Der weiße runde Fleck oben am Kirchturm ist eine
Uhr. Mit Zahlen, einem großen und einem kleinen Zeiger. Das Gras ist nicht einfach nur Gras, sondern besteht aus tausend einzelnen Halmen. „Ich sehe, was vorher gar nicht da war!“, ruft Tobias. „Und alles haargenau! Das ist wie Zauberei! Einfach obersuper!“ „Obersuper!“, bestätigt die Oma. „Und ich werde beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel nun nie mehr mogeln können!“ Da muss Tobi lachen, und die Oma lacht mit.
Tanja und die Meckertante
„Tschüss, Mama!“ Tanja hakt den Gurt ihres signalroten Ranzens ein, tritt in den Flur und wirft die Tür krachend hinter sich ins Schloss. Wie immer guckt sie zuerst vorsichtig über das Geländer, ob die Meckertante auch nicht zu sehen ist. Tante Rosinski. Sie ist eine entfernte Tante von Papa. Außerdem gehört ihr das Haus. Sie wohnt im Erdgeschoss und sieht alles. Und wehe, es putzt sich jemand nicht ordentlich die Füße ab oder macht die Tür nicht leise zu. Dann gibt es ein Donnerwetter. Kinder kann sie überhaupt nicht ausstehen und besonders nicht Tanja. Tanja nennt sie heimlich die Meckertante. Heute scheint die Meckertante
verschlafen zu haben. Umso besser! Tanja will das eine Stockwerk gerade auf dem Treppengeländer hinunterrutschen, da geht unten die Tür auf. Jetzt bleibt ihr
nichts übrig, als die Treppe zu Fuß herunterzuhüpfen. Wobei sie extra laut aufstampft. Soll die Meckertante sich doch aufplustern! Aber diesmal bleibt das Donnerwetter aus. Tanja sieht die Tante in ihrer offenen Tür stehen. Gebückt. Mit einer Hand hält sie sich den Rücken. Die andere krampft sich um einen Müllbeutel. Ihr Gesicht ist von Schmerzen verzerrt. Zum ersten Mal fällt Tanja auf, dass sie schon ziemlich alt sein muss. Schüchtern fragt Tanja: „Soll ich den Müll wegbringen?“ Tante Rosinski nickt dankbar. Tanja trägt den Beutel auf den Hof, wo sie ihn in eine der Tonnen wirft. Als sie zurückkommt, steht die alte Frau immer noch am gleichen Fleck. Sie hat sich jedoch ein wenig aufgerichtet. „Mein Ischias“, seufzt sie. „Danke, mein Kind!“ Es ist das erste Mal, dass Tanja die
Meckertante lächeln sieht. Diese
plötzliche Freundlichkeit ist ihr unheimlich. „Ich muss los!“, ruft sie und ist schon aus der Tür.
Wenig später betritt Herr Flottmann, der Briefträger, das Haus. Hier verteilt er die Post immer im Eiltempo. Nur schnell wieder weg, bevor die alte Nörgeltante ihn voll sülzt! Heute hat er ein Päckchen für Kramers dabei. In den Briefkasten passt es nicht.
Also muss er wohl oder übel die drei Treppen nach oben stiefeln! Da öffnet sich die Tür im Erdgeschoss. „Auch das noch“, denkt Herr Flottmann. „Jetzt gibt es gleich wieder ein Gezeter!“ Doch die alte Frau fragt nur: „Wohin wollen Sie?“ „Zu Kramers“, antwortet der Briefträger und zeigt auf das Päckchen. „Geben Sie es mir, ich muss später sowieso nach oben gehen!“, bietet sie ihm freundlich an. „Danke!“, sagt der Briefträger überrumpelt. Was ist heute nur mit der Nörgeltante passiert? Kein Gemecker! Und sie nimmt ihm auch noch einen Weg ab? Fröhlich pfeifend verlässt Herr Flottmann das Haus.
Draußen hat ein feiner Nieselregen eingesetzt. Trotzdem bleibt der Briefträger am Zebrastreifen stehen und lässt ein Auto vorbeifahren. Die Freundlichkeit der alten Frau hat auch ihn freundlich gestimmt. Und dieser Fahrer scheint es besonders eilig zu haben. Der Autofahrer ist tatsächlich spät dran. Er hat sich beim Rasieren geschnitten, dabei sein bestes Hemd dreckig gemacht, und obendrein ist ihm auch noch ein Schnürsenkel gerissen. Ausgerechnet heute, wo er pünktlich im Büro sein muss! „Nett von dem Briefträger, mir den Vorrang zu lassen“, denkt der Autofahrer. „Hätte er doch gar nicht nötig gehabt. Noch dazu bei dem Regen!“ Plötzlich schämt er sich. „Ich bin ein rücksichtsloser Hornochse“, sagt er sich und nimmt den Fuß vom Gaspedal. „Was soll die Raserei! Einmal tief durchatmen! Komme ich eben zu spät ins Büro!“
Zwei Straßen weiter hüpft plötzlich ein Kind zwischen zwei parkenden Autos auf die Fahrbahn. Ohne sich umzugucken. Der Autofahrer tritt wie wild auf die Bremse, und es gelingt ihm tatsächlich, dem Kind schlingernd auszuweichen. Doch ihm zittern die Knie vor Schreck. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn er immer noch so gerast wäre! Das Kind scheint nichts von der Gefahr bemerkt zu haben. Es ist schon auf der
anderen Straßenseite. Der signalrote Ranzen tanzt lustig auf seinem Rücken. „Vielleicht ist die Meckertante ja gar keine Meckertante“, überlegt Tanja. „Vielleicht ist sie nur eine sehr, sehr alte Tante.“ Sie hüpft weiter, wobei sie Acht gibt, nicht auf die Pflasterfugen zu treten.
Mindestens für hundert Jahre
Sven ist ein Angeber. Das steht für Toni fest. Immer hat er das Neueste und das Beste. Und wie er damit rumprotzt! Ein Fahrrad mit 18 Gängen, Rollerskates in Neonfarben und jetzt diese Inlineskates. Dabei wackelt er darauf herum wie eine fußlahme Ente. Zum Totlachen! Kein Wunder, dass er immer für sich alleine ist! Wer will sich mit so einer Niete schon abgeben! Toni hockt auf der Rinnsteinkante. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in den Händen vergraben. So beobachtet er Sven schon eine ganze Weile. Er würde sich jedenfalls nicht so dämlich anstellen, wenn er solche tollen Skates hätte! In null Komma nix könnte er damit Achter fahren! Alles Banane! Er wird es ja doch nie beweisen können. Viel zu teuer, die Dinger! Täuscht er sich, oder guckt der Blödi öfter zu ihm rüber?
Toni springt auf und schlendert lässig auf die andere Straßenseite. Ein runder Stein zum Dribbeln kommt ihm gerade recht. Da eiert dieser Typ doch direkt auf ihn zu. Toni kann nicht anders: Er schubst den Stein in Svens Richtung. Der schafft es nicht, ihm auszuweichen, und landet auf seiner Nase. Direkt vor Tonis Füßen. „Wenn du damit nicht laufen kannst, warum lässt du es nicht bleiben?“, fragt Toni schadenfroh. „Kannst du es denn besser?“, schnappt Sven zurück.
„Ich? Ich hab gar keine Skates!“, sagt Toni und ärgert sich sofort darüber. Was geht das schließlich den Angeber an. „Dafür hast du aber eine große Klappe, was?“ Sven pustet auf seine Hand, die er sich beim Sturz aufgeschürft hat. Toni fühlt sich plötzlich ziemlich mies. „Komm, steh auf!“, sagt er und streckt Sven die Hand hin. „Ich kann alleine aufstehen!“, erwidert Sven wütend.
Umständlich beginnt er, seine Inlineskates auszuziehen. Er sieht Toni
nicht an, als er sagt: „Wenn du keine Skates hast, kannst du meine haben! Mir ist sowieso die Lust vergangen!“ „Du spinnst ja!“, stammelt Toni verblüfft. „Ich habe zwei Paar!“, sagt Sven. „Was?“ Toni kann es nicht fassen. „Ein Paar für alltags und eins für sonntags, was?“, versucht er zu spotten.
„Ein Paar von meinem Vater und eins von meiner Mutter“, sagt Sven. „Das ist doch bescheuert!“ „Genau!“ Sven nickt. „Meine Eltern sind geschieden. Ich habe fast alles doppelt.“ „Mann, du hast es gut!“ „Mir wäre lieber, ich würde die öfter mal sehen. Aber mein Vater hat eine neue Familie.“ „Und deine Mutter?“ „Arbeitet. Die sehe ich nur abends. Manchmal!“, setzt er hinzu. „Und wie ist das bei dir?“ „Genau umgekehrt. Meine Eltern sind immer da. Keine Arbeit. Und dann sind da noch die drei Mädchen. Alles Nervensägen!“ „Bei euch ist immer toll was los, oder?“, fragt Sven.
„Kann man sagen!“, murmelt Toni. „Weißt du was?“ Sven wird plötzlich lebhaft. „Du kannst alles kriegen, was ich doppelt habe!“ Toni verschlägt es die Sprache. Erst nach einer Weile fragt er: „Du meinst geschenkt? Das geht nicht! Meine Eltern würden das nie erlauben! Und deine bestimmt auch nicht!“ „Die würden es nicht mal mitkriegen, Mann!“ „Egal“, Toni schüttelt den Kopf, „ich lasse mir nichts schenken!“ „Dann...“, Sven überlegt, „dann vielleicht leihen? Nur so? Ich meine, solange wir zusammen sind? So ungefähr für...“ „... hundert Jahre?“, fragt Toni und guckt in eine andere Richtung. „Für hundert Jahre mindestens!“, sagt Sven. Gemeinsam gehen die beiden Jungen weiter. Jeder trägt einen der Inlineskates. Sven geht auf Socken. Es ist ein neues,
tolles Gefühl!
Katharina Kühl, geboren 1939 in Stettin, studierte Soziologie und Sprachen. Seit 1971 ist sie freie Autorin und schreibt Hörspiele, Rundfunkfeatures sowie Kinder- und Jugendbücher. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Maria Wissmann wurde 1961 in Berlin geboren und wohnt dort immer noch mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn. Schon als Kind hat sie gerne gemalt und gezeichnet, und sie hat dies nach Abschluss eines Grafik-Design-Studiums 1987 zu ihrem Beruf gemacht. Neben Kinderbüchern hat sie auch Schulbücher und Bildergeschichten für das Kinderfernsehen illustriert.