Anna Fink hat ihre Ziele erreicht. Als junge Ingenieurin arbeitet sie in einer Eisenhütte im Duisburger Norden – aber n...
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Anna Fink hat ihre Ziele erreicht. Als junge Ingenieurin arbeitet sie in einer Eisenhütte im Duisburger Norden – aber noch kurz vor dem Kriegsende 1945 muss sie Hals über Kopf fliehen. Sie wird verdächtigt, eine Beziehung zu dem russischen Kriegsgefangenen Grigori zu haben. „Rassenschande“ heißt das im Wörterbuch des tyranni schen Systems. Grigori droht die Todesstrafe, Anna könnte in ein KZ eingeliefert werden. Als Anna sich schließlich im Herbst 45 in die zerstörte Stadt zurückwagt, holt ihre Vergangenheit sie erneut ein. Unbelehrbare Nazis bedrohen sie auch jetzt noch – aber zum Glück steht Anna nicht allein. Die lebenskluge alte Tilla Reitzak, Paul und Franziska Bienmann und nicht zuletzt der 15-jährige Stefan Reitzak, der in diesen schwierigen Zeiten erwachsen werden muss, stehen ihr zur Seite. Willi Fährmann schildert Menschen schicksale zwischen Scheitern und Gelingen, zwischen Lachen und Weinen und entwirft mit großer Authentizität ein mitreißendes Zeitgemälde der Jahre nach 1945.
Willi Fährmann
Die Stunde der Lerche
Willi Fährmann
Die Stunde
der Lerche
Arena
In neuer Rechtschreibung
1. Auflage 2004
© 2004 by Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandillustration: Klaus Steffens
Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH
ISBN 3-401-05720-0
»Mag auch das Auge des Nachtvogels
die Sonne nicht sehen,
es schaut sie dennoch das Auge des Adlers.«
Thomas v. Aquin
D
er Krieg war seit wenigen Wochen zu En de. Stefan hockte träge auf den sonnenwarmen Steinstufen der Treppe, die zur Kirche hinaufführte. So hatte er es sich oft ge wünscht: Seit Monaten keine Schule, und wann der Unterricht wieder beginnen würde, das stand in den Sternen. Ein Jeep fuhr langsam über den Dorfplatz. Noch bevor er stopp te, wurde im Haus gegenüber hastig das Fenster geschlossen und die Gardine zugezogen. Anna hat Angst, schoss es Stefan durch den Kopf. Warum ei gentlich? Befürchtete sie immer noch, man sei ihr auf der Spur? Wollte sie holen? Aber die Amis doch nicht! Oder? Einer der beiden amerikanischen Soldaten im Jeep rief ihm zu: »Wohnt hier irgendwo die Familie Fink?« Plötzlich war Stefan hellwach. Er sah an den Rangabzeichen, dass der, der ihn angesprochen hatte, ein Sergeant war. Stefan stand auf und ging näher an den Jeep heran. »Family Robert Fink?«, vergewisserte er sich. Der Sergeant nickte. Stefan zeigte auf das Haus an der anderen Seite des Platzes. Der Sergeant sprang aus dem Jeep und zündete sich eine Zigarette an.
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Stefan fragte: »Chewing-gum?« Der Sergeant lachte. »Mit mir kannst du deutsch sprechen.« Er zog ein Päckchen Kaugummi aus der Brusttasche und warf es Ste fan zu. Der wollte die Gelegenheit nützen. Ich werde weiter mit dem Ami englisch sprechen, dachte er. Mal sehen, ob das reicht, was ich in der Schule gelernt habe. »Cigarettes?« Der Sergeant warf seine eben erst angerauchte Zigarette auf den Boden und ging auf das Haus zu. Das verächtlich hervorgestoßene Wort »Bettelpack« konnte Stefan deutlich verstehen. Doch das hielt ihn nicht davon ab, die Zigarette vom Boden aufzuheben. Er knipste umständlich die Asche und die Glut von der Spitze und löste vorsichtig den Tabak aus dem Papier. Abschätzend blickte er auf den beachtlichen Rest, der von der Zigarette übrig geblie ben war. Der Sergeant klopfte an die Haustür und rief: »Niemand zu Hause?« Stefan lief hinüber und öffnete selbst die Tür. Anna hatte sich in die Flurecke gedrückt. »Komm vors Haus«, sagte Stefan zu Anna. »Ihr Finks bekommt Besuch.« Zögernd trat sie ins Freie. »Bleib du auch hier, Stefan«, bat sie. »Wer weiß, was der Mann von mir will.« Die Arme hielt sie vor der Brust verschränkt. »Er ist ein Sergeant«, sagte Stefan. Der Amerikaner setzte sich auf die Bank, die vor dem Haus stand.
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»Setzen Sie sich zu mir«, forderte er Anna auf. Die jedoch schüt telte den Kopf und blieb stehen. Stefan zog eine kleine Dose aus der Tasche und wollte den Tabakrest einfüllen. Der Sergeant wurde aufmerksam, stand auf, nahm Stefan die Dose aus der Hand und betrachtete sie genau. Es war eine schwarze Tabaksdose, auf deren Deckel in farbigem Email eine Jagdszene zu sehen war. »Würdest du mir die Dose verkaufen?«, fragte der Sergeant. Stefan zögerte mit der Antwort. »Fünfzig Kaugummis?«, bot der Sergeant an. »Cigarettes«, forderte Stefan. »Fünfzig?« Stefan horchte auf. Er will die Dose unbedingt haben, dachte er und sagte: »No. Twohundred.« »Schenk ihm doch das alte Ding«, mischte Anna sich ein. »Du rauchst doch sowieso nicht.« »Twohundred cigarettes«, beharrte Stefan. Der Sergeant schien keine Lust zu haben, lange zu handeln. Er reichte Stefan die Dose. Schon dachte der, er habe zu hoch gepo kert, doch der Sergeant ging zum Jeep, redete mit dem Fahrer und kam mit den Zigaretten und einem Jutesack zurück. Stefan bekam die Zigaretten und der Tausch wurde mit einem Handschlag be siegelt. »Und nun verschwinde, bevor ich den Handel bereue«, sagte der Sergeant zu Stefan und scheuchte ihn mit einer Handbewe gung fort. Stefan zögerte, ging aber dann doch über den Dorfplatz. Er
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wollte den Fremden im Auge behalten. Was wollte der von Anna? Warum war sie so verängstigt? Der Sergeant forderte Anna noch einmal auf sich neben ihn zu setzen. »Gehören Sie zur Familie Fink?«, fragte er. In diesem Augenblick wäre Anna am liebsten wieder ins Haus gerannt. Wollte der Amerikaner sie verhören? Doch dann setzte sie sich zu ihm auf die Bank und antwortete: »Ich bin Anna Fink. Meine Mutter muss jeden Augenblick zurück sein. Sie ist zu ei nem kranken Pferd ins Gestüt gerufen worden und mein Vater ar beitet im Wald.« »Ganz allein zu Hause?« »Franziska Bienmann wohnt zurzeit noch hier und auch Ste fan.« Sie zeigte zu Stefan hinüber, der sich wieder auf die Stufen vor das Kirchenportal gesetzt hatte. »Franziska? Ihre Schwester?« »Ich habe keine Schwester. Franziska ist mit ihrem Neffen, dem Stefan dort drüben, vor den Bombenangriffen auf Duisburg hier her geflohen.« Der Sergeant zog aus seiner Rocktasche einen Brief und reichte ihn Anna. Familie Fink, Kirchwuesten bei Paderborn, Germany stand darauf. In Christians Schrift. Es war also kein amtliches Schreiben. Anna atmete auf. Endlich eine Nachricht ihres Bruders aus Kolumbien! Sie wog den Brief unschlüssig in der Hand. Der Sergeant klappte sein Ta schenmesser auf, reichte es ihr und nickte ihr zu. Sie schnitt den Umschlag auf und las. Es waren nur einige Zeilen, die ihr Bruder wohl in Eile geschrieben hatte. Er hoffe, dass sie alle den Krieg
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heil überstanden hätten. Er habe die Gelegenheit, zehn Kilo Kaf fee auf den Weg nach Deutschland zu bringen. Kaffee solle ja zurzeit in der Heimat eine viel härtere Währung sein als die von den Nazis ruinierte Reichsmark. Er denke oft an sie alle. Um Anna mache er sich die meisten Sorgen, weil sie die Kriegsjahre in Duis burg verbringen musste. Nach allem, was man höre und in den spärlichen Nachrichten der kolumbianischen Zeitungen lese, sei en ja die Städte im Ruhrgebiet … Hier brach der Brief ab. Nur noch ein Gruß und die Namen Christian und Susanne. Sie waren kaum leserlich und offensicht lich schnell hingekritzelt worden. Der Sergeant legte Anna den Sack in den Schoß. Sie fragte: »Und wie kamen Sie dazu, Christians Bote zu sein?« »Ich war den Finks etwas schuldig. Ihr Bruder hat mir bei der Überfahrt nach Kolumbien einen wichtigen Dienst erwiesen.« »Einen wichtigen Dienst?« »Na ja, ich bin damals mit meinem Vater auf demselben Schiff wie ihr Bruder nach Kolumbien gefahren. Christians Freund Lo renz Mattler habe ich auch kennen gelernt. Die Überfahrt mit dem Stückgutfrachter über den Atlantik hat wochenlang gedauert und die wenigen Passagiere waren bald vertraut miteinander. Ich war damals so um die fünfzehn Jahre alt und hatte mich mit meinem Vater ganz und gar zerstritten. Er hatte sich von meiner Mutter scheiden lassen. Ich war so voller Hass auf ihn, ich glaube, ich hät te ihn umbringen können. Da haben Christian und Lorenz Mattler mir geholfen ihn besser zu verstehen. Und mit meinem Vater hat Christian auch geredet. Der hat sich dann mir gegenüber geduldi ger verhalten. Ohne ihren Bruder Christian und Lorenz Mattler –
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ich weiß nicht, wie das zwischen meinem Vater und mir ausge gangen wäre.« »Sie sagten, dass Sie sich auf dem Schiff gut kennen gelernt ha ben. Haben Sie auch später mit Lorenz Mattler Kontakt gehal ten?« »Lorenz hatte Glück. Er bewirtschaftet inzwischen mit Erfolg ei ne Finca. Aber warum fragen Sie nach ihm?« Anna wurde verlegen, aber sagte dann doch: »Ich hatte Lorenz zugesagt ihm nach Kolumbien zu folgen. Er war meine erste Lie be. Ich wollte vorher aber noch meine Ausbildung abschließen.« »Und dann sind Sie nicht dazu gekommen, nach Südamerika zu reisen?« »Nein. Ich wollte Ingenieurin werden. Nach allem, was ich weiß, liegen die Fincas meist weit weg von allen städtischen Zent ren. Was soll eine Ingenieurin in der kolumbianischen Wildnis? Ich habe mich jedenfalls nicht zur Auswanderung entschließen können.« »Und die Liebe?« »Ach, wissen Sie, ich war noch sehr jung damals. Es ist eine Nar be zurückgeblieben, die ab und zu noch schmerzt. Aber …« Anna verstummte. Wieso konnte sie diesem Fremden erzählen, was sie bislang in sich vergraben hatte? Sie wechselte das Thema. »Ist es denn für einen Soldaten einfach, einen Sack Kaffee mit nach Europa zu bringen? Ich denke, Soldaten haben genug Ge päck zu schleppen?« »Ich gehöre nicht zur Kampftruppe, sondern bin Dolmetscher. Das ist ein Sonderstatus. Ich kann vieles tun, was für einen einfa chen GI unmöglich wäre.«
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»Aber warum gerade Kaffee?« »Nun, für echten kolumbianischen Kaffee soll man in Deutsch land heute alles bekommen können.« »Stimmt«, sagte sie. »Es muss einer schon einen guten Monats lohn bezahlen, wenn er ein Pfund auf dem Schwarzen Markt kau fen will. Wenn dort überhaupt mal Kaffee angeboten wird.« »Na, also. Dann ist Kaffee ja genau richtig für Sie.« Der Sergeant stand auf, ging wieder zu seinem Jeep zurück und winkte ihr noch einmal zu. »Ihren Namen, bitte, Ihren Namen!«, rief Anna. »Sorry, Makowitsch. Sergeant Uwe Makowitsch. Und wenn Sie Christian schreiben, bestellen Sie ihm bitte einen Gruß von mir.« Um den Jeep hatten sich inzwischen Kinder geschart. Der Fah rer verteilte ein paar Riegel Schokolade. »Go on!«, rief ihm der Sergeant zu. Abrupt fuhr der Wagen an. Kleine Schotterstücke spritzten auf und die Kinder sprangen zur Seite. *** Am Abend saßen die Finks, Franziska Bienmann und Stefan in der Küche. Annas Mutter Lena hatte den Schlüssel der Tür zum Flur hin zweimal umgedreht. Sie holte den Kaffeesack aus dem Schlafzimmer und stellte ihn auf den Tisch. Er war vernäht, aber bereits der Geruch ließ keinen Zweifel: Es war echter Kaffee. »Hatte ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr in der Nase«, sagte Lena, sog den Duft tief ein und fuhr mit der flachen Hand behutsam über den Sack.
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»Komm, wir trennen die Naht auf«, sagte Robert Fink. Lena holte die Schneiderschere aus der Schublade der Nähma schine. »Nur ein winziges Loch«, sagte sie und schnitt einen Faden durch, mit dem der Sack vernäht war. Große, mittelbraune und gleichmäßig geröstete Bohnen kuller ten heraus. »Ich hab’s wohl vergessen. Wie schmeckt Bohnenkaffee eigent lich?«, fragte Stefan. »Wirst du gleich wissen.« Robert holte die Kaffeemühle aus dem Schrank und begann eine Hand voll Kaffeebohnen zu mah len. »Ich schließe das Fenster zur Straße hin«, sagte Franziska. »Muss ja nicht jeder gleich riechen, dass ihr einen Schatz im Haus habt.« Anna rückte den Wasserkessel auf die Herdplatte und griff nach der emaillierten Kaffeekanne. »Nicht das Blechding«, sagte Lena. »Zu einem guten Kaffee ge hört eine Porzellankanne. Nimm die mit dem Zwiebelmuster und auch die Tassen vom guten Service. Heute ist ein Festtag.« Anna stellte die Tassen auf den Tisch. Robert schüttete das Kaf feemehl in die Kanne und goss kochendes Wasser darüber. »Halt, halt!«, rief Lena. »Nicht zu viel Wasser! Schwarz und stark muss Kaffee sein. Nur dann ist er richtig.« Als Anna nach der Kanne griff, mahnte Lena: »Warte noch. Hast wohl vergessen, wie man Kaffee kocht? Es dauert fünf Minuten, bis der Kaffee sich gesetzt hat.« Endlich war es so weit. Kaffeegeschmack auf der Zunge!
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Stefan schob seine Tasse enttäuscht zurück. »Ich verstehe nicht, warum ihr so scharf auf das Gebräu seid. Schmeckt ja wie …« Er schien das passende Wort nicht zu finden. »… wie ein Tropfen vom Paradies«, sagte Lena und ihre Augen glänzten. Robert strich über den Jutesack. »Und was machen wir mit dem Rest?« Lena lachte und sagte: »Rest ist gut. Da liegen ein paar tausend Mark auf dem Tisch.« »Hier im Dorf wirst du keine fünf Pfund los«, sagte Robert. »Und blödes Gerede kommt außerdem auf.« Anna dachte daran, dass es in Duisburg bestimmt einen Schwarzmarkt gebe. Aber als sie das sagte, fragte Robert: »Und wie, bitte schön, kriegst du das Zeug dorthin? Die Kontrollen sind scharf. Die Militärpolizei soll alles beschlagnahmen, was sie an Waren aus fremden Ländern findet.« Anna war zuversichtlicher. »Nicht jeder Zug wird kontrolliert. Man müsste es eben versuchen.« »Meine Mutter lebt und stirbt für eine Tasse Kaffee«, sagte Fran ziska. »Ich würde was drum geben, wenn ich ihr etwas davon zu kommen lassen könnte. Sie musste schon vor dem Krieg mit einer winzigen Rente auskommen. Aber für ein Tütchen Kaffee und ei ne Viertelliterflasche Underberg hat sie doch manchmal etwas ab gezweigt.« »Kannst ja was kaufen von unseren Kaffeebohnen«, bot Robert an. »Wir machen dir einen Sonderpreis.« »Wie teuer ist denn ein Pfund von dem Zeug?«, fragte Stefan. »Kostet schwarz vierhundert Mark.«
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»Ich kaufe zweieinhalb Pfund.« Franziska musste lachen. »Bei einer Mark Taschengeld die Wo che wirst du den Kaffee lange abbezahlen müssen.« Stefan ging aus dem Zimmer. Sie hörten ihn die Treppe hinauf rennen. »Er lernt es nie, leise zu gehen«, maulte Franziska. Doch im Nu war Stefan zurück und warf die Zigarettenpackungen auf den Tisch. »Zweihundert amerikanische Aktive. Auf dem Schwarz markt pro Stück fünf Mark. Macht tausend Mark. Oder zweiein halb Pfund Kaffee.« Robert öffnete ein Päckchen und roch an den Zigaretten. »Stecken Sie sich eine zwischen die Lippen«, bot Stefan groß spurig an. Das ließ sich Robert nicht zweimal sagen. Er machte einen tiefen Lungenzug und begann heftig zu husten. »Donnerwetter«, keuch te er. »Die erste amerikanische Zigarette. Das haut mich um.« Robert fragte nicht, woher Stefan die Zigaretten hatte. Wenn ei ner etwas Besonderes vorweisen konnte, fragte nie jemand nach dem Woher. Jedenfalls stimmte er dem Tauschgeschäft zu. Lena nickte. Sie hatte oft und oft ihren Mann seufzen hören: »Wenn es erst mal wieder was Anständiges zu rauchen gibt …« Und jedes Mal hatte er die Augen geschlossen und mit der Zunge ge schnalzt. Franziska sagte: »Am Montag versuche ich mit Stefan nach Duisburg zu kommen. Ich sollte schon längst wissen, was mit meinem Mann los ist. Ich habe von Paul seit Februar nichts mehr gehört.« »Wie steht es mit dir, Anna?«, fragte Robert. »Willst du nicht all
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mählich auch nach Duisburg zurück und dich nach deiner Ar beitsstelle umsehen?« Annas Hände begannen zu zittern und sie verbarg sie unter dem Tisch. »Lass sie, Robert«, sagte Lena. »Unsere Tochter wird selbst am besten wissen, wann sie aus Kirchwüsten wegmuss.« Als Franziska und Stefan wieder in ihr Zimmer gegangen waren und sich zum Schlafen legten, fragte Franziska: »Warum wolltest du den Kaffee kaufen, Stefan?« »Ein Geschenk für Oma Reitzak.« »Wieso willst du meiner Mutter so viel Kaffee schenken?« »Ohne Oma Reitzak wäre ich nicht hier. Meinst du, ich hätte vergessen, was sie damals für mich getan hat? Ich meine, nach dem Angriff.« »Du hast noch nie richtig erzählt, was damals los war.« »Ach, Franziska, vielleicht später mal.« Er verkroch sich in sei nem Bett. Franziska drängte ihn nicht. Auch ihre Mutter hatte ihr nicht gesagt, was an jenem Tag im Sommer 1943 genau geschehen war. Ihr Bruder Leo und ihre Schwägerin Mimi waren nicht mehr aus dem Keller herausgekommen. Eine Sprengbombe hatte den Giebel des vierstöckigen Hauses getroffen und die gesamte rechte Hälfte zum Einsturz gebracht. Alle, die im Keller Schutz gesucht hatten, waren umgekommen. Nur Stefan überlebte. Frau Reitzak hatte den Enkel zu sich ins Haus genommen. Als Paul dann da rauf gedrängt hatte, dass Franziska zu Bekannten von ihm nach Kirchwüsten ziehen sollte, weil es auf dem Lande sicherer sei, da hatte die Mutter sie gefragt: »Kann der Stefan mit?«
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»Der soll doch mit der Kinderlandverschickung* nach Böhmen, Mama.« »Damit es ihm so geht wie Walter?« Walter, der Sohn der Nachbarin Frau Hollein, war mit seiner Klasse in Österreich mit einem Lehrer und drei nur wenig älteren Hitlerjugendführern in einem Barackenlager untergebracht wor den. Ein paar Ansichtskarten hatte er geschrieben, aber was darin stand, klang nicht gut. Frau Hollein lebte in ständiger Angst um ihr Kind. Paul hatte für Franziska bei den Finks in Kirchwüsten eine Kü che und ein Zimmer mieten können. Und wieder hatte Frau Reitzak gefragt: »Warum zieht Paul nicht mit?« »Ach, Mutter, das geht doch nicht. Sie geben ihn in der Brauerei niemals frei. Brauereien sind wahrscheinlich kriegswichtige Be triebe.« »Was sind das für Zeiten!« Frau Reitzak hatte den Kopf geschüt telt und die Sachen zurechtgelegt, die Stefan mitnehmen sollte. *** Franziska und Stefan kamen ohne große Schwierigkeiten mit dem Zug bis Herford. Sicher, in Detmold warteten so viele Menschen auf dem Bahnsteig, dass der Zug nicht alle fassen konnte. Es war ein Schreien, Drängen und Stoßen. Einige versuchten sogar sich durch die Fenster zu zwängen. Dazu die Koffer, Säcke, Kisten … Schließlich ruckte der Zug schon an, als noch längst nicht alle *
siehe Erklärung der Sachbegriffe im Anhang auf Seite 334.
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Türen zugeschlagen worden waren. Franziska und Stefan hatten nur wenig Gepäck mitgenommen. Franziskas Holzkoffer lag im Gepäcknetz. Stefan stellte seinen Rucksack auf die Knie. Der Kaf fee für Frau Reitzak steckte ganz tief unter all seinen anderen Sa chen. In Herford fragten sie nach einer Verbindung ins Ruhrgebiet. Der Bahnbeamte mit der roten Mütze zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich? Heute fährt wohl überhaupt kein Zug mehr«, sag te er unwirsch. Ratlos standen die beiden inmitten der Menge auf dem Bahnsteig. Eine Frau, die ebenfalls die blaue Jacke der Eisenbahner trug, trat nahe an Franziska heran und tuschelte ihr zu: »Gehen Sie bis zum letzten Gleis. Von dort fährt später wahrscheinlich ein Güter zug Richtung Dortmund.« »Danke«, sagte Franziska. »Was zu rauchen wäre mir lieber.« Stefan hatte aus den Resten der Zigarette des Sergeanten und aus einem Tabaksblatt von Robert Finks Eigenbau zwei dünne Zi garetten gedreht. Er steckte der Frau eine zu. Überrascht sagte sie: »Ist mir schon lange nicht mehr passiert.« Sie schnüffelte an der Zigarette. »Riecht das nicht nach einer ame rikanischen?« »Ein Hauch davon.« Stefan lachte. Sie hatte offenbar eine feine Nase. Auf dem letzten Bahnsteig standen bereits einige Menschen, meist Frauen. Sie wussten nicht recht, worauf sie warteten. Ging wirklich doch noch ein Zug? Aber sie zeigten keine Ungeduld. Sie waren das Warten gewöhnt. Warten in der Schlange, wenn es ir
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gendwo etwas zu kaufen gab. Warten auf den Mann, der Soldat war und von dem sie schon monatelang keine Nachricht mehr be kommen hatten. Warten auf den Ämtern. Warten, warten. Franziska und Stefan hockten sich hinter einen Schuppen und lehnten sich an die Mauer. »Hier ist es nicht so windig, Stefan. Wer weiß, wann ein Zug kommt.« So saßen sie über zwei Stunden. »Kannst du dir erklären, Franziska, warum Anna sich so merk würdig benimmt?«, fragte Stefan schließlich. »Sieht so aus, als ob sie ständig in Angst lebt, seit sie in Kirchwüsten ist.« »Ich kann es auch nur vermuten. Es scheint irgendwie mit ih rer Arbeit in Duisburg zusammenzuhängen. Sie hatte aber auch Probleme dort. Als sie als Ingenieurin in der Hütte 1941 eine Stelle zugewiesen bekam, hatte man ausgerechnet ihr, der An fängerin, eine Aufgabe zugewiesen, vor der sich alle anderen drücken wollten. Sie sollte neben ihrer eigentlichen Tätigkeit für den Einsatz der russischen Kriegsgefangenen zuständig sein. Da ist dann wohl irgendetwas schief gegangen. Jedenfalls ist sie im Frühjahr plötzlich und ohne Ankündigung hier bei ihren Eltern angekommen und hat uns angefleht niemand etwas davon zu erzählen.« »Und weiter?« »Ja, Stefan, mehr weiß ich auch nicht. Sie spricht nicht darüber. Ich glaube, selbst ihre Eltern haben keine Ahnung, was in Duis burg wirklich passiert ist.« Stefan legte erst seine Handflächen auf die Bodenplatten, dann sein Ohr.
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»Es kommt was. Ich müsste runterspringen und an dem Gleis horchen.« »Untersteh dich!«, rief Franziska. Das leise Vibrieren verstärkte sich. Sie sahen den Zug in der Fer ne und hörten ihn schließlich auch. Die Lok stieß schwarze Wol ken hervor, Bremsen quietschten. Die offenen Güterwagen ka men zum Stehen. Die Leute warfen ihr Gepäck in die Waggons und kletterten hinterher. Weißer Staub wirbelte auf. Die Ladung bestand aus losem Kalk. Von den anderen Bahnsteigen rannten die los, die dort gewartet hatten. Aber schon fuhr der Zug an. Drei jungen Mädchen gelang es im letzten Augenblick, ihre Holzkoffer in den Waggon zu wer fen und aufzuspringen. Der Kalk stäubte auf. Franziska und Ste fan waren bis zu den Waden eingesunken. Sie stapften mühsam ein paar Schritte zur Stirnseite des Wagens und drückten sich mit ihrem Rücken gegen die Bretterwand. »Nicht gerade komfortabel, Franziska. Nicht einmal hinsetzen kann man sich in diesem weißen Mist!« »Hauptsache, die Richtung stimmt, Stefan. Vielleicht erwischen wir in Bielefeld oder in Dortmund einen Personenzug.« Die Mädchen stellten die Koffer aufrecht in den Kalk und hock ten sich darauf. Bald schon waren sie weiß bepudert. Sie began nen zu husten, rieben sich die Augen, standen schließlich wieder auf und hielten ihre Gesichter in den Fahrtwind. Der Zug war noch keine halbe Stunde gefahren, da spürte Fran ziska es. Zuerst ein Kribbeln in den Beinen, dann bildeten sich lachsrote Flecken. Nach etwa einer Stunde schwollen ihre Beine mächtig an, nun über und über rot.
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»Ich halt’s nicht mehr aus«, stöhnte sie. In Stefan wuchs die Angst. Was sollten sie tun? »Bald müssen wir in Bielefeld sein. Dann nichts wie raus aus diesem Zeug«, sagte er. Franziska rückte ihren Koffer bis an die Wand des Waggons und stellte sich darauf, damit ihre Beine nicht mehr in dem Kalk steckten. »Sieht nicht gut aus«, rief eines der Mädchen. Sie kam zu den beiden nach vorn. In der Hand hielt sie eine Feldflasche. »Gießen Sie das Wasser über die Beine. Das kühlt.« Als Franziska zögerte, sagte sie: »Wenn der Zug in Bielefeld hält, fülle ich die Flasche wieder.« Sie schraubte den Verschluss auf. »Soll ich?« Franziska nickte. Vorsichtig ließ das Mädchen das Wasser an den Beinen hinunterrinnen. Ein paar Tropfen fielen in den Kalk. Der zischte leise auf. »Tut gut.« Franziska atmete auf. »Darf ich auch einen Schluck davon trinken?« »Nehmen Sie nur den Rest. Ich besorge mir schon neues.« »Wir müssen raus, sobald der Zug hält«, sagte Stefan. »Ich hole Ihnen dann frisches Wasser.« Es war nur ein kurzer Stopp in Bielefeld. Viele Menschen auf dem Bahnsteig drängten sich heran. Die aus eigener Kraft in den Wag gon klettern konnten, zogen andere hoch, die zu schwach waren, es allein zu schaffen. Kinder wurden nach oben gereicht. Franziska und Stefan konnten wegen des Ansturms kaum hinunter und wa ren noch nicht unten, da fuhr der Zug schon weiter. Sie sprangen einfach ab. Das Mädchen winkte ihnen mit der Flasche zu. »Werde schon nicht verdursten«, rief sie.
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Auf dem Bahnsteig gab es einen Wasserhahn. Das Wasser floss in ein großes gusseisernes Becken. Franziska stieg hinein und ließ das Wasser über ihre Füße laufen. Eine hagere Rote-KreuzSchwester kam herbei. »Ach, Gott!«, rief sie. »Wie sehen Sie denn aus?« Franziska hob ihren Rock. Die Beine waren inzwischen noch di cker angeschwollen und die Röte war bis weit über die Knie ge stiegen. »Sie haben Glück«, sagte die Schwester. »Der Arzt ist gerade in unserem Zimmer. Kommen Sie, kommen Sie.« Stefan schulterte den Rucksack und lief mit Franziskas Koffer in der Hand hinter den Frauen her. Der Arzt schaute sich Franziskas Beine an und drückte mit dem Daumen gegen die Wade. Es blieb eine Delle zurück. Er ließ sich berichten, wie es zu der Rötung gekommen war. »Ich könnte Ihnen eine Salbe geben«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, ob sie hilft. Aber sie beruhigt.« Er grinste. »Kein wirksames Mittel?«, fragte Stefan. Der Arzt hob die Schultern. »Drüben auf der anderen Straßenseite ist eine Apothe ke.« Er schrieb ein Rezept. »Aber ob die das Medikament zurzeit haben? Und wenn sie es haben, ob sie es herausrücken?« »Ich kann es ja versuchen.« Stefan griff nach seinem Rucksack und ging los. Die Schwester lief ihm nach. »Wenn du vielleicht Dollars hättest oder andere Devisen«, flüsterte sie ihm zu. »Wer hat schon so was?«, entgegnete Stefan. In der Apotheke kam es genau so, wie der Arzt es angedeutet hatte.
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»Nein, das können wir dir nicht geben«, sagte die Apothekerin. »Auch nicht, wenn ich mit Dollars bezahle?« Sie schaute ihn überrascht an. »Dann vielleicht«, tuschelte sie. »Aber zeig sie zuerst, die Dollars.« Stefan kramte in seinem Rucksack. Ohne den Kaffeebeutel her vorzuholen, zog er die Schleife los und nahm eine Hand voll der braunen Bohnen heraus. Die Apothekerin fasste sein Handgelenk, zog seine Hand bis un ter ihre Nase und schnüffelte. »Riecht gut«, sagte sie. »Du musst ein paar Minuten warten. Ich muss die Salbe erst anrühren.« Sie verschwand nach hinten. Stefan zählte die Minuten, bis sie endlich wieder mit einem weißen Salbentöpfchen erschien. Sie klebte ein Schildchen darauf und schrieb: Alle drei Stunden. Er füll te die Kaffeebohnen in eine kleine Tüte. Dann erst reichte sie ihm das Medikament. »Ich hätte auch noch Tabletten«, sagte sie leise. »Ein neues ame rikanisches Mittel. Willst du die auch?« Er nickte. »Aber dann musst du noch ein paar Bohnen dazulegen.« Wieder nickte Stefan. Die Apothekerin holte unter der Theke ein Röhrchen hervor und gab es ihm. Stefan legte es in den Rucksack, nahm zwei weite re Kaffeebohnen aus dem Beutel und drückte ihr die in die Hand. Sie schaute ihn verblüfft an. »Sie sagten es doch, ein Paar Bohnen. Und unsere Mathelehrerin hat es uns beigebracht: Ein Paar, das sind zwei.« Bevor sie etwas erwidern konnte, schlug die Ladentür hinter Stefan zu.
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Zurück am Bahnhof, reichte Stefan dem Arzt stolz seine Beute. Der setzte seine Brille auf und begutachtete die Medikamente. »Sehr gut.« Er schaute Stefan erstaunt an. »Du musst eine ziem lich harte Währung gehabt haben.« »Gibt es hier heißes Wasser?«, fragte Stefan. »Immer.« Die Schwester zeigte auf den Wasserkessel. »Meine Währung muss nämlich aufgebrüht werden.« Er griff noch einmal in den Rucksack und legte ein kleines Häuf chen Bohnen auf den Tisch. »Für die Schwester und für Sie.« »Du bist mir vielleicht einer!«, sagte die Schwester. Der Arzt riet Franziska dringend zurückzufahren und sich gleich ins Bett zu legen. »Dauert mindestens zwei Wochen, bis Sie das wieder los sind. Und dann auch noch schonen. Wenn Sie Fie ber bekommen sollten, müssen sie einen Arzt rufen lassen.« »Der Zug über Detmold bis Altenbeken geht in wenigen Minu ten. Ist gerade bekannt gemacht worden«, sagte die Schwester. Es ging schon auf den Abend zu. Der Zug war nicht ganz besetzt und sie fanden ein Abteil, in dem sich nur ein Mann befand. Der hat te sich auf die Holzbank gelegt und schlief. Als die Tür zuklatschte, rieb er sich die Augen und fragte: »Noch weit bis Altenbeken?« »Ungefähr noch eineinhalb Stunden«, antwortete Stefan. »Wenn wir aussteigen, können wir Sie ja wecken.« »Ist gut«, sagte der Mann. »Ich will morgen in aller Frühe los und klappere die Bauernhöfe da in der Gegend ab. Vielleicht krie ge ich ein paar Pfund Mehl und Speck und Butter.« »Dann müssen Sie aber was zu tauschen anbieten«, sagte Stefan. »So was gibt kein Bauer so einfach ab.«
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»Das habe ich ja, Junge. Meine Frau hat sich von der feinen Da mastwäsche getrennt. Stammt noch aus ihrer Aussteuer. Ganz neu und richtige Vorkriegsware. War ihr immer zu schade sie zu ge brauchen. Aber wenn du so richtig Kohldampf schieben musst und die Kinder Hunger haben, dann gibst du so ziemlich alles her.« Er drehte sich um und begann kurz darauf zu schnarchen. Vor Kirchwüsten rüttelte Stefan ihn wach. »Nur noch zwanzig Minuten bis Altenbeken«, sagte er. Als Franziska die Haustür aufschloss, öffnete Anna schlaftrun ken ihre Zimmertür. »Seid ihr schon zurück?«, fragte sie er schreckt. »Ist was passiert?« »Morgen, Anna, morgen erzähle ich alles«, antwortete Franziska. In dieser Nacht machte Franziska kein Auge zu. Erst gegen Morgen ließ der brennende Schmerz etwas nach. Ihre Beine be gannen zu jucken. Das sei ein gutes Zeichen, meinte Robert Fink. *** Zwei Wochen vergingen. Die Schwellung und die Röte an Fran ziskas Beinen war verschwunden, aber sie fühlte sich immer noch matt und kraftlos. Anna saß des Abends meist bei ihr in der Kü che. Einmal hatte Franziska vorsichtig gefragt, warum sie im Ja nuar so Hals über Kopf aus Duisburg geflohen sei und sich in Kirchwüsten in den ersten Wochen nur bei Dunkelheit aus dem Haus getraut hätte. Aber Anna hatte sie nur mit leerem Blick an gestarrt und kein Wort erwidert. Seit die Amerikaner im März ge kommen waren, schien sie nicht mehr ganz so furchtsam. Aber sie
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hatte sich verändert. Von der unternehmungslustigen, jungen Frau, die als Ingenieurin im Hüttenwerk gearbeitet hatte, war nicht viel übrig geblieben. Selbst als sie an diesem Abend sagte: »Franziska, ich versuche selbst nach Duisburg zu fahren«, schien sie merkwürdig niedergeschlagen. »Irgendwann muss ich los, ganz gleich, was passiert.« »Ich will mit!«, rief Stefan. »Nein. Ich fahre allein.« Stefan versuchte sie zu überreden, aber sie blieb bei ihrem Nein. Franziska stimmte Anna zu. »Ich brauche dich hier, Stefan.« »Und der Kaffee? Wer bringt den Kaffee hin?« »Ich nehme erst mal vier Pfund mit und versuche die zu verkau fen.« »Dann pack wenigstens auch meinen Kaffee für Oma Reitzak dazu.« »Ich habe genug zu tragen. Den Rucksack, den Koffer.« »Warum willst du denn so viel von deinen Sachen mitschlep pen? Wer weiß, wo du in Duisburg unterschlüpfen kannst.« »Vielleicht komme ich nicht nach Kirchwüsten zurück«, sagte Anna. Sie war blass und hatte die Lippen fest zusammengepresst. »Wenigstens ein halbes Pfund Kaffee für Oma Reitzak«, bettelte Stefan. »Darauf kommt es doch bei all deinen Sachen auch nicht mehr an.« »Geht vielleicht«, willigte sie ein. »Und ihr könnt euch darauf verlassen: Sobald ich etwas von Paul weiß, werdet ihr es von mir erfahren.« »Gut, Anna. Ich würde viel lieber selber … Aber du siehst ja, was mit mir los ist«, sagte Franziska. »Du könntest in der Fontane
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Straße nach Paul fragen. Vielleicht steht das Haus noch. Wir ha ben nach dem Angriff dort zwei Zimmer zugewiesen bekommen. Wenn du sonst nichts findest …« *** Duisburg war ein einziges Trümmerfeld. Doch eine klapperige Straßenbahn fuhr durch die notdürftig geräumten Straßen vom Bahnhof bis zur Ruhr. Die Ruhrbrücke war gesprengt worden. Verbrannte Erde zu rücklassen, hatte der Befehl aus Berlin gelautet. Hier und da gleiß ten Schweißbrenner auf. Nur halbherzig schienen einige Arbeiter Ordnung in das Gewirr der Stahlträger bringen zu wollen. Ein schmaler Brettersteg führte seitwärts der Brückentrümmer über den Fluss. In Handhöhe war zu beiden Seiten ein Stahlseil ge spannt worden. Anna zögerte über den schwankenden Steg zu laufen. Aber dann reihte sie sich doch in die Warteschlange der Menschen ein, die auch hinüberwollten. Die meisten betraten wie selbstver ständlich die Notbrücke. »Keine Angst«, sagte ein Mann zu Anna, als sie den ersten Schritt auf den Steg wagte. Er humpelte an Krücken. »Ich bin noch jeden Tag heil rübergekommen. Das Schaukeln ist doch ganz lus tig.« Er bewegte seinen Oberkörper hin und her. Der Steg geriet leicht ins Schwingen. »Lassen Sie das!«, rief eine Frau vom Ufer her. Der Mann hob eine Krücke und schrie zurück: »Reg dich nicht auf, Oma.«
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Als Anna am anderen Ufer angekommen war, bog ein Pferde wagen aus dem Hafengelände in die Hauptstraße ein. Anna bat den Kutscher: »Darf ich mein Gepäck aufladen? Ich will nach Beeck.« »Mach mal, Mädchen. Wenn du willst, kannst du zu mir auf den Bock steigen. Ich fahre auch nach Beeck. Will bis zur Braue rei.« Er zügelte das magere Pferd. Sie setzte sich neben ihn. »Steht die Brauerei noch?« Er schaute sie verwundert an. »Steht noch? Mensch, Kind, bist wohl schon lange nicht mehr hier gewesen, was? Von der Laarer Kirche bis zur Brauerei nur noch Ruinen. Na ja, wirst du gleich schon selbst sehen. Erst die Bomben, später haben sie noch mit ih ren Geschützen über den Rhein geschossen. Was soll da wohl noch stehen?« Er holte eine Stummelpfeife aus seiner Jackenta sche. »Kannst du die Zügel mal halten?« »Kann ich. Hab’s schon als Kind oft genug tun müssen.« Er stopfte die Pfeife mit einem merkwürdigen Kraut und zün dete mit einem großen Feuerzeug den »Tabak« an, während Anna das Gespann lenkte. Anna schnupperte und fragte: »Rauchen Sie Omas Sofa?« Er grinste. »So was baut mein Bruder im Garten an. Behauptet, das sei Tabak. Ich glaub’s ihm aber nicht. Egal. Hauptsache, es qualmt. Oder hast du was Besseres?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich rauche nicht.« Ein Lastwagen überholte sie. Das Pferd wurde unruhig. Anna zog die Zügel straffer an. »Kannst es ja wirklich, Mädchen«, lobte der Kutscher sie und
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ließ ihr auch die Zügel, als die Pfeife erkaltet war und er sie wie der in die Tasche gesteckt hatte. Schließlich kamen sie an der Brauerei an. Anna bedankte sich und stieg ab. Von hier aus war es nicht sehr weit zu laufen, aber Anna war doch froh, als sie mit ihrem Gepäck die Fontanestraße erreicht hatte. Die ersten Häuser auf der linken Straßenseite waren zwar be schädigt, aber sie standen noch. Dort jedoch, wo Paul und Fran ziska gewohnt hatten, war die ganze Häuserzeile ausgebrannt. Nur noch die nackten Mauern ragten auf, vom Feuer geschwärzt. Eine Frau schaute im Eckhaus aus dem Fenster. Anna grüßte und fragte: »Wo sind die Leute aus den Häusern drüben geblieben?« Sie zeigte auf die Ruinen. »Da haben viele mal gewohnt. Wen meinen Sie denn?« »Er heißt Paul Bienmann und hat in der Brauerei gearbeitet.« »Ach, der Bienmann. War ein freundlicher Kerl.« »War ein …?« »Keine Angst. Er ist es wahrscheinlich immer noch. Jedenfalls habe ich nichts davon gehört, dass es ihn erwischt hat. Warten Sie mal, seine Schwiegermutter, die Reitzak, wohnt doch in der Blü tentalstraße. Vielleicht weiß die mehr?« Der Koffer schien Anna von Schritt zu Schritt schwerer zu wer den. Die Flottenstraße hatte es auf der rechten Seite vor der Kirche hart getroffen. Links waren immerhin noch einige Häuser be wohnbar. An der Ecke zur Blütentalstraße sah sie zunächst nur Trümmerhaufen. Aber da, fast in der Mitte der Straße, standen noch ein paar Häuser. Da wohnte vielleicht Frau Reitzak. Anna fragte ein Mädchen, das auf einer freigeräumten Stelle der
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Fahrbahn unermüdlich Seilspringen übte: »Reitzak, kennst du die?« »Sicher«, antwortete das Kind. »Gleich da vorn rechts.« Anna fand den Namen von Paul Bienmann nicht auf dem Tür schild. Sie klingelte bei Reitzak. Ein Fenster im ersten Stock wurde geöffnet. »Wer ist da?«, rief eine grauhaarige Frau. »Ich bin Anna Fink und möchte zu Ihnen.« »Fink? Moment.« Sie warf den Hausschlüssel herunter. Anna stieg die Treppen empor. Frau Reitzak hielt die Tür zur Küche auf und es fiel Licht in den langen Flur. »Ich wollte …« »Nun kommen Sie erst mal rein und stellen Ihr Gepäck ab.« Sie rückte Anna einen Stuhl zurecht und setzte sich selbst auch. »Kann ich Ihnen helfen, junge Frau?« Anna war aufgeregt und spürte ihren Herzschlag. »Ich suche Paul Bienmann.« Frau Reitzak schaute Anna aufmerksam an. »Wer sucht den Paul?«, fragte sie misstrauisch. »Ich bin Anna Fink und komme von Ihrer Tochter Franziska und von Stefan. Die beiden wohnen bei meinen Eltern in Kirch wüsten.« »Gott sei Dank«, rief Frau Reitzak. »Endlich ein Lebenszeichen. Paul ist erst vorige Woche aus der Gefangenschaft zurückgekom men. Er musste noch kurz vor Kriegsende in den Volkssturm. Richtig verhungert sieht er aus. Die Amis haben ihn in Rheinberg in dieses schreckliche Lager gesperrt. Viele tausend haben da in
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Dreck und Schlamm auf der blanken Erde gelegen. Paul hat schon alles Mögliche versucht, Franziska zu benachrichtigen. Aber was geht heute eigentlich noch?« Sie unterbrach sich. »Er muss gleich von der Brauerei zurückkommen. Hat sich ja nicht abhalten las sen sofort wieder zur Arbeit zu gehen. Ist auch wohl nötig, weil er ja sonst keine Lebensmittelkarten kriegt.« »Brauerei? Meinen Sie den Trümmerhaufen, der mal die Braue rei gewesen ist?« »Ja, ja. Aufräumarbeiten, wissen Sie.« »Und wo wohnt Paul?« »Na, bei mir.« Sie zeigte auf eine schmale Liege, die vor einer mit Brettern vernagelten Tür in der Ecke stand. »Wir hatten ja noch ein Zimmer und eine kleinere Kammer im Anbau. Doch da sind, kurz bevor die Amis über den Rhein kamen, zwei Granaten eingeschlagen und haben ein Loch in die Außenmauer gerissen, groß wie ein Scheunentor. Aber nun erzählen Sie mal von meiner Tochter und dem Jungen.« Anna berichtete, dass der Krieg an Kirchwüsten vorbeigegan gen war, wenn man die Tieffliegerangriffe nicht rechnete. »Übrigens«, sagte Frau Reitzak, »mir fällt gerade ein, dass je mand sich nach Ihnen erkundigt hat. Er wusste, dass Ihr Bruder Christian vor Jahren bei meiner Tochter gewohnt hat, und wird gedacht haben, Sie seien vielleicht hier untergekommen.« Anna war zusammengezuckt. Also doch. »Hat er seinen Namen genannt?« »Nee. Und ich hab ihn extra gefragt, wer er ist.« »Wie sah der Mann aus? Können Sie ihn beschreiben?« »Eher kleiner als ich. Vielleicht fünfzig Jahre. Blond, glaube ich.«
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Das konnte Grigori nicht gewesen sein. Aber wer sonst? Viel leicht sah sie Gespenster und es war einer aus der Jugendgruppe, in der Christian gewesen war, bis er Ende 1935 nach Kolumbien auswanderte. Schwere Schritte waren vom Flur her zu hören. »Da kommt Paul«, sagte Frau Reitzak. »Hat einen Schritt wie ein Bauer.« Ohne anzuklopfen, trat ein weißhaariger, magerer Mann ein. Anna kannte ihn nur von Fotos. Darauf hatte er jünger und füllig ausgesehen. »Hast du Besuch?«, fragte Paul. »Du auch«, antwortete Frau Reitzak. »Besuch aus Kirchwüs ten.« Ihm schienen die Knie weich zu werden. Er musste sich setzen. »Was ist mit meiner Frau? Was ist mit Stefan?« »Sie leben und es geht ihnen gut.« »Es geht ihnen gut«, wiederholte er. »Endlich mal eine schöne Nachricht.« »Franziska hat sich vor vierzehn Tagen auf den Weg hierher ge macht, hat’s aber nicht geschafft. Ist unterwegs krank geworden.« »Krank?« Paul schaute Anna besorgt an. »Ja, aber es geht ihr schon wieder etwas besser. War was mit den Beinen.« »Hat sie keinen Brief mitgegeben?« »Einen Brief nicht. War ja gar nicht so sicher, dass ich Sie finde. Von Stefan und ihr habe ich etwas mitgebracht. Eigentlich ist es für Sie, Frau Reitzak. Aber ich denke, Sie werden beide Ihre Freu de daran haben.«
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Anna holte das halbe Pfund Kaffee aus ihrem Rucksack und gab Frau Reitzak den Beutel. Die tastete mit den Fingern darüber. Plötzlich begann sie leise zu lachen. »Riechst du es nicht, Paul?« »Du weißt doch, Mutter, dass ich nicht mehr riechen kann. Das verdammte Ammoniak in der Brauerei …« Mit zittrigen Fingern löste sie die Schnur, mit der Stefan den Beutel sorgfältig zugebunden hatte. Ganz behutsam schüttete sie die braunen Bohnen auf die Tischplatte. Dann stand sie auf, holte die Kaffeemühle aus dem Schrank, zog die kleine Schublade der Mühle auf und nahm den Maßbecher für ein halbes Lot Kaffee he raus. »Ich hab schon ewig keinen echten Kaffee mehr getrunken und schon gedacht, ich würde es überhaupt nicht mehr erleben. Nur manchmal im Traum hab ich mir Kaffee gekocht. Genau wie vor dem Krieg. Die Bohnen abgezählt und immer; nur eine Tasse nach dem Mittagessen. Jetzt weiß ich es erst wirklich: Der Krieg ist vor bei.« Sie saßen lange beieinander. Es gab so viel zu erzählen. Als es auf den Abend zuging, sagte Anna: »Ich muss los und se hen, wo ich erst einmal unterkomme.« »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Paul. »Ich hatte eine Freundin in Hamborn. Vielleicht kann ich dort …« »Warten Sie mal«, sagte Frau Reitzak. »Was meinst du, Paul, ob wir ihr das Zimmer von Frau Hollein geben können? In die Küche ist schon die Frau Bettray eingewiesen worden. Aber das Schlaf zimmer, hier auf dem Flur gleich nebenan, das wäre doch was. Ich hab den Schlüssel. Kommen Sie, Anna, ich zeig’s Ihnen.«
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Der Schlüssel hing am Schlüsselbrett. Frau Reitzak ging voran in den Flur und schloss eine Zimmertür auf. In den beiden Fens tern zur Straße hin befanden sich keine Scheiben. Die Fensterflü gel waren mit Brettern zugenagelt. Frau Reitzak öffnete ein Fens ter. Der Raum war voll gestellt mit Möbeln. Eine dicke Staub schicht lag auf den Tüchern, mit denen alles abgedeckt war. »Wer weiß, ob die Holleins überhaupt wiederkommen.« Frau Reitzak nahm das Tuch von einem Bett, ging zum Fenster und schüttelte den Staub hinaus. »Was sagen Sie dazu? Ist das was für Sie?« »Ob ich das darf? So einfach in eine fremde Wohnung einzie hen?« »Da fragt heute keiner mehr nach. Das Zimmer ist seit Monaten nicht bewohnt. Über kurz oder lang wäre sowieso jemand einge wiesen worden.« »Und wenn die Leute zurückkommen?« »Ja, wenn. Ihr Problem, Anna, können wir heute lösen. Greifen Sie zu! Die Probleme von morgen werden wir morgen angehen.« »Wenn Sie meinen?« »Vielleicht kann Paul Ihnen ein paar Glasscheiben organisieren und einsetzen.« »Ich habe noch mehr Kaffee bei mir. Vielleicht tauscht jemand Fensterglas gegen Kaffee.« »Für Kaffee kriegt man alles.« Frau Reitzak wurde von einem Hustenanfall geschüttelt und ging in ihre Küche zurück. ***
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Als es dunkelte, hatte Anna das Zimmer einigermaßen hergerich tet. Sie schlief unruhig und wachte bereits auf, als das erste Licht durch die Ritzen der Fenster fiel. Wer mochte das sein, der sich nach ihr erkundigt hatte? Der Gedanke, dass sie zum Werk, zu Holzbauer musste, legte sich ihr wie ein Alptraum auf die Brust. Das hing weniger mit Holzbauer zusammen. Aber was war mit Komann? War er es vielleicht, der nach ihr gefragt hatte? An Einschlafen war nicht mehr zu denken. Standen die Werks hallen noch? Brauchte Holzbauer die Ingenieurin Anna Fink? Wollte er sie überhaupt? Ihr war klar, dass sie den Betrieb in Schwierigkeiten gebracht hatte, als sie Anfang des Jahres nach Kirchwüsten geflohen war. Damals standen die Truppen der Alli ierten noch am linken Niederrhein. Und dann die Sache mit Gri gori. Es war lange niemand aufgefallen, dass er öfter zu ihr kam. Er war eben der Kontaktmann zu den russischen Kriegsgefange nen und den Zwangsarbeitern. Und sie organisierte den Einsatz dieser Männer erst auf der Hütte, später auch bei Holzbauer. Aber dann hatte es Gerede gegeben. Und es blieb nicht beim Gere de. Eines Tages war Komann, ohne anzuklopfen, in ihr Büro ge stürmt. Die Tür hatte er weit aufgelassen. »Wo brennt’s?«, hatte sie gefragt. »Mir ist zu Ohren gekommen … Es ist eine Schande für eine Parteigenossin.« »Schließen Sie die Tür, Komann!« »Nicht nötig. Ich denke, jeder hier weiß längst Bescheid. Sie ha ben ein Verhältnis mit diesem Dolmetscher, dem Gefangenen Nummer 245.«
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»Wer behauptet das?« Sie war hinter ihrem Schreibtisch aufge sprungen. »Fast alle sagen das.« »Nichts als Unterstellungen, Komann. Verlassen Sie mein Büro! Ich habe zu tun.« »Den Beweis werde ich bald vorlegen können.« »Das reicht jetzt. Ich werde mich über Ihr Verhalten bei Dr. Holzbauer beschweren.« Komann stand da, blass und schmal. Die Uniform des Werk schutzes war ihm zu weit. Er wurde unsicher, ging aber nicht hi naus. Sie versuchte sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen und beugte sich über ihre Zeichnung. Den Stift konnte sie kaum halten, so stark zitterten ihre Hände. »Wir werden ja sehen.« Seine Stimme war schrill geworden. »Wir werden die Wahrheit aus diesem Element schon raus…« »… prügeln?«, fragte sie. »Sie gestehen letzten Endes alles. Alles!«, schrie er und verließ das Zimmer. Anna ließ sich telefonisch mit Dr. Holzbauer verbinden und bat um ein Gespräch. Sie konnte gleich zu ihm kommen. »Schlimm, schlimm.« Es klang besorgt. »Ist was dran an dem Gerücht?« Sie wich einer eindeutigen Antwort aus. »Wenn die es wollen, können die jeden fertig machen«, sagte sie leise. »Sie wissen es, Anna, ich habe immer die Hand über Sie gehal ten. Aber wenn etwas davon stimmt mit diesem Retschkow, dann reicht mein Arm wohl kaum weit genug. Rassenschande und bol schewistische Untermenschen. Sie kennen ja die Ausdrücke.«
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Holzbauer trug zwar schon lange das Parteiabzeichen am Rock aufschlag, aber wenn er sich über die Nazis äußerte, klang es meist ziemlich ironisch. Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. »Heil Hitler! Selbstverständlich Herr …« Er deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab und sagte zu Anna: »Wir reden gleich morgen früh darü ber.« Er gab ihr einen Wink, sein Zimmer zu verlassen. Später am Nachmittag bat Anna ihre Freundin Lore Quinders aus dem Schreibbüro zu sich. Lore kam mit ihrem Stenoblock he rein und setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch. »Hab’s schon gehört«, flüsterte sie. »Dieser Komann spielt ver rückt.« »Ja. Ich muss unbedingt mit Pjotr sprechen. Der Junge weiß si cher mehr.« »Das geht nicht Anna. Alle wissen, dass Grigori und Pjotr oft zusammen sind. Es verstärkt nur das Geschwätz, wenn du ihn ru fen lässt.« »Und du, Lore, kannst du nicht mit ihm reden? Ich muss wissen, was sie mit Grigori machen.« »Ich will es versuchen, Anna.« Kurz vor Feierabend erfuhr Anna, dass Grigori vom Werk schutz in die Aufsichtsbaracke gebracht worden war. Vor Stun den schon. Herausgekommen war er nicht. Lore hatte gesagt: »Anna, du weißt ja, was mit ihm und auch mit dir passieren kann. Ich an dei ner Stelle würde mich noch heute aus dem Staub machen. Der Ko mann ist ein scharfer Hund. Als er von der Hütte zu uns kam, ist er die Leiter raufgefallen und erster Mann des Werkschutzes hier
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im Betrieb geworden. Den hätten sie mal besser in der Hütte be halten sollen.« »Sie werden nach mir suchen lassen, wenn ich verschwinde.« »Es geht alles drunter und drüber. Es kann nicht mehr lange dauern, dann sind die Alliierten über den Rhein. Hau ab, Anna! Hau ab, so weit wie möglich.« Drei Stunden später saß sie im Zug. Eine einzige Tasche hatte sie mitgenommen. Sich nur nicht verdächtig machen. Bis Bielefeld war sie gekommen. Sie verbrachte den Rest der Nacht auf einer Bank in einem schmutzigen Raum, an dem großspurig Wartesaal 2. Klasse stand. Dann stieg sie in den Frühzug nach Detmold. Zwei Arbeiterinnen, die in ihrem Abteil saßen, unterhielten sich leise. »Hoffentlich machen sie in Detmold heute nicht so ein Theater wie gestern«, sagte die eine. »Ich will nicht jeden Tag zu spät in die Fabrik kommen.« »Was für ein Theater?«, fragte Anna. »Seit Tagen müssen alle raus aus dem Zug und in den Warte saal. Die Kettenhunde mit dem blanken Schild auf der Brust, wis sen Sie, diese Feldgendarme, nehmen sich jeden Fahrgast ganz genau vor. Suchen nach Deserteuren.« »Bei den Frauen doch nicht«, sagte Anna ungläubig. »Haben Sie ’ne Ahnung.« Anna hatte daraufhin in Lage den Zug verlassen. Die 30 Kilome ter bis Kirchwüsten schaffte sie bis zum frühen Abend. Zu Fuß und nur über Nebenstraßen und Waldwege. ***
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Franziska wartete ungeduldig auf eine Nachricht von Paul oder Anna. Aber es vergingen vierzehn Tage, bis endlich ein Brief aus Duisburg kam. Sie erkannte gleich die klare Schrift ihres Man nes. Es gehe ihm gut. Er sei gerade erst aus der Gefangenschaft ent lassen worden. Ihre Mutter habe ihn aufgenommen. Er sei dabei, die zwei Zimmer im Anbau bewohnbar zu machen. Er werde sich dann bemühen mit einem Lastwagen zu kommen und sie und den Jungen zurückzuholen. Aber das alles gehe nicht so schnell. Wenn er es eben schaffen könne, werde er vorher an einem Sams tag und Sonntag versuchen sie in Kirchwüsten zu besuchen. Anna sei auch im Haus in der Blütentalstraße untergekommen. Der Kaffee wirke Wunder. Er habe das Sparbuch geplündert und Anna zwei Pfund abgekauft. Glas und Zement habe er schon eintau schen können. Mutter Reitzak gehe es nicht gut, aber sie hocke trotzdem täglich ein paar Stunden im Ruinenfeld auf der anderen Straßenseite und picke mit einem Beil den Mörtel von alten Zie gelsteinen. Bald seien es genug Steine, um das Einschussloch in der Wand im Anbau zu vermauern. Grüße, auch von Anna und Mutter Reitzak an sie, den Jungen und an die Finks. In einem Nachsatz fügte er noch hinzu, dass Anna überlege, ob sie wieder in Holzbauers Betrieb zu arbeiten anfangen solle. Ir gendwas müsse sie tun, wenn sie eine Lebensmittelkarte bekom men wolle. Franziska fiel ein Stein vom Herzen. Zugleich aber war sie ein wenig enttäuscht. Kein Satz wie Ich liebe dich oder Ich brenne darauf, dich wieder in
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den Arm zu nehmen. Aber so war Paul eben. Eher würde er sich die Zunge abbeißen, als so etwas von sich zu geben. Hoffentlich verschiebt er den Besuch hier nicht zu oft, dachte sie. Vielleicht würde es helfen, wenn einmal ein Mann mit Stefan sprach. Der Junge machte ihr Sorgen. Stefan hatte einen Freund in Loheiden, den Willi. Sie kannten sich aus der Schule in Detmold. Im Aufbaugymnasium waren sie in derselben Klasse gewesen, bis der Unterricht gegen Kriegsende eingestellt worden war. Jeden Morgen war Willi in Loheiden zugestiegen. Gemeinsam hat ten die beiden Jungen länger als eine Stunde im Wartesaal in Det mold zugebracht, bis es Zeit wurde, zum Unterricht zu gehen. Mit 14 mussten sie in die Hitlerjugend eintreten. In Kirchwüsten war Stefan als einer aus dem Ruhrpott fremd geblieben. »Ich geh überhaupt nicht hin«, hatte er zu Franziska gesagt. »Hab keine Lust, mit denen hier zu marschieren. Die meinen, weil ich zum Gymnasium gehe, ich wolle was Besseres sein.« »Setze dich nicht in die Nesseln, Stefan. Ich habe schon mit Ro bert darüber gesprochen. Er sagt, es ist Gesetz. Jeder muss ab 14 in die HJ. Wir haben schon Schwierigkeiten genug im Dorf.« »Was meinst du genau damit?« »Es fing schon an, als ich uns hier angemeldet habe. Der Bürger meister ist zugleich der Ortsgruppenleiter der NSDAP. Ich bin in sein Büro gekommen und habe ›Guten Tag‹ gesagt, wie wir’s aus Duisburg gewohnt sind. Da hat er mich angeblafft: ›Das heißt hier Heil Hitler! Ist das klar?‹ Ich hab nicht geantwortet und das Meldeformular ausgefüllt. Ich war wütend über den Empfang. Als ich dann wieder gegangen bin, hab ich ›Auf Wiedersehen‹ gesagt. ›Bitte?‹, hat er geschrien. Ich
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hatte die Tür der Amtsstube schon halb hinter mir zu gezogen. Hab sie aber dann noch mal aufgerissen und ganz freundlich gesagt: ›Ach ja, Guten Tag denn auch‹, und bin gegangen.« »Und?«, fragte Stefan. »Hinterher hab ich meinen Dickkopf verwünscht. Bei jedem lauten Schritt im Haus bin ich zusammengezuckt. Sind schon manche wegen Kleinigkeiten weggebracht worden.« »Nun übertreibe mal nicht.« »Also, Stefan, ich meine, du solltest hingehen.« »Nicht zu denen hier im Dorf. Aber in Loheiden gibt es eine Feu erwehr-HJ. Der Willi geht da rein. Vielleicht kann ich mich da an melden.« »Der Willi, der Willi! Wer ist das eigentlich? Den hab ich hier noch nie gesehen. Ich möchte wissen, mit wem du dich herum treibst.« »Der Willi ist mein Freund, Franziska. Ich kann ihn ja mal mit bringen. Und mit Willi würde ich schon in die HJ gehen.« »Na ja, meinetwegen. HJ ist HJ, Stefan. Mach das.« Begeistert war Stefan nicht. Ja, wenn es eine Flieger-HJ in der Nähe gegeben hätte, dann wäre er gern dort eingetreten. Aber mit der Zeit war es ihm auch recht, jeden Sonntagmorgen um zehn Uhr am Spritzenhaus in Loheiden zu sein. Marschieren und exer zieren, was in der HJ üblich war, entfielen. Es gab in dem Sprit zenhaus eine Feuerwehrspritze, die noch mit zwei langen Schwengeln von der Hand zu pumpen war. Aus einem Rohr schoss dann das Wasser in ziemlich hartem Strahl. Aber was war schon ein einziges Rohr? Viel zu wenig, wenn wirklich mal eine Scheune oder gar ein Hof gebrannt hätte. Jedenfalls war sonntags
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von zehn bis halb eins eine Übung angesetzt. Weil Stefan sich ge schickt anstellte und auch weil immer mehr Männer zu den Sol daten mussten, war er bis zum ersten Mann an der Spritze aufge rückt. Er war es, der schließlich das Kommando geben durfte: »Wasser, marsch!« Als die Besatzungstruppen einrückten, war es dann aus mit der Hitlerjugend. Auch die wenigen älteren Männer blieben weg. Al len voran der Feuerwehrhauptmann. Der war nämlich eines Ta ges von Amerikanern geholt worden. Die hatten ihn in ein Inter nierungslager gebracht, in dem alte Nazis zu brauchbaren Demo kraten umerzogen werden sollten. Eigentlich war es Willi zu verdanken, dass die beiden Jungen auf die Idee gekommen waren, aus dem Nachschub der Amerikaner etwas für sich abzuzweigen. Das Gleis der Eisenbahn schnitt zwi schen Kirchwüsten und Loheiden eine Schneise durch einen Hü gel. Zu beiden Seiten waren die Böschungen ziemlich steil und so tief, dass die Züge ganz darin verschwanden. Zugleich machte die Strecke eine Kurve. Jedenfalls konnte man die Lokomotive nicht mehr sehen, wenn die letzten Waggons durch die Schneise rollten. Auch wurde wegen der Kurve das Tempo der Bahn deut lich abgebremst. »Man müsste von den offenen Waggons das eine oder andere Versorgungspaket herunterholen können«, sagte Willi. »Da sol len Sachen drin sein, nach denen du dir die Finger leckst. Kau gummis, Brot, Butter, Wurst und Marmelade, sogar Konserven, die unten in der Dose einen Brennsatz haben, damit sie aufge wärmt werden können. Auch Zigaretten und Pulverkaffee.«
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»Woher weißt du das?« »Meine Kusine hat so ein Paket, groß wie ein Persilkarton, von einem Ami geschenkt bekommen.« »Einfach so?« »Nö, das wohl nicht. Er ist eine Nacht bei ihr geblieben.« »Willst du das auch machen, um an solche Pakete zu kommen?« »Du Blödmann. Wir müssten sie von den Wagen herunterholen. Das wäre prima. Aber wie?« »Mit dem langen Enterhaken aus dem Spritzenhaus müsste es möglich sein. Reinhauen und runterreißen«, schlug Stefan vor. »Wenn das so einfach wäre, Stefan. Die Amis haben längst ge merkt, dass sie den Nachschub bewachen müssen. Bei jedem Zug ist vorn oder hinten ein Waggon dabei, auf dem sie ein Maschi nengewehr aufgebaut haben. Ich glaube, die haben keine Hem mungen, loszuballern, wenn sie einen sehen, der sich an die Kar tons ranmacht.« Sie beobachteten mehrere Tage die Züge. Schließlich sagte Ste fan: »Du hast Recht, Willi. Der Wagen mit dem MG ist vorn oder hinten. Wenn vorn kein Waggon mit der Bewachung ist, muss er angehängt sein. Dann können wir nichts machen. Aber wenn er gleich hinter der Lok angekuppelt ist, dann verschwindet er in der Kurve, bevor der Zug ganz vorbei ist. Dann …« »Wir sollten es versuchen«, stimmte Willi zu. Es war nicht schwierig für sie, den Enterhaken aus dem Sprit zenhaus zu holen. Sie legten sich oben auf die Böschung hinter einem Ginsterge büsch auf die Lauer. Die drei Züge, die an den ersten beiden Ta gen vorbeifuhren, hatten alle hinten ihren Schutzwagen. Aber
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dann, am dritten Tag, war er hinter dem Tender der Lok angekup pelt. Drei Soldaten hockten auf der Ladefläche. Das MG war so hoch aufgebockt, dass der ganze Zug beschossen werden konnte. Die Jungen rutschten, kaum dass der vordere Teil des Zuges in der Kurve verschwunden war, mit dem Enterhaken die Böschung abwärts, bis sie sich in gleicher Höhe mit den Waggons befanden. Die Ladung bestand aus braunen, beschrifteten Kartons. Entschlossen schlug Stefan den Enterhaken ein. Beide hielten sie die Stange fest, wurden ein Stückchen mitgeschleift, aber dann hatten sie die Beute heruntergezerrt. Der Zug verschwand in der Biegung. Stefan zitterte am ganzen Leib. Eilig schleppten die Jun gen den Karton die Böschung hinauf, verbargen ihn zunächst in den Ginsterbüschen und spähten rundum. Kein Mensch war zu sehen. Hastig rissen sie den Deckel auf. In flachen, länglichen Päckchen befanden sich Frühstücksportionen. Die Jungen teilten die Beute. Sie liefen mehrmals und nahmen jeweils nur wenige Päckchen mit, weil sie nicht auffallen wollten. Stefan versteckte seinen Anteil im Schuppen hinter einer Stiege Brennholz. Er nahm immer mal ein Päckchen mit zu Franziska und behauptete, er habe einen Amerikaner kennen gelernt, der ihm ab und zu etwas zustecke. Drei Tage später lagen sie wieder auf der Lauer. Diesmal er wischten sie einen Karton mit Konserven. Aber der nächste Beutezug wäre ihnen fast zum Verhängnis ge worden. Sie hatten den Enterhaken eingeschlagen und eine ziem lich schwere Kiste heruntergerissen. Aber dann sahen sie, dass sich nicht nur vorn ein MG-Wagen befand, sondern als letzter Waggon ein zweiter. Sie hetzten die Böschung aufwärts. Die Sol
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daten sprangen an das Maschinengewehr und schossen. Die Jun gen erreichten die Ginsterbüsche und warfen sich auf den Boden. Willi fing an zu weinen. Stefan zitterte und bekam heftige Magen krämpfe. In den Bombennächten in Duisburg war er oft davon ge plagt worden. Willi streifte seine Sandalen von den Füßen. »Da, guck mal«, schluchzte er. Eine Sohle war hinten von einer Kugel gestreift worden. In diesem Moment näherte sich ein alter Mann, der das Schie ßen gehört hatte. Die Jungen duckten sich tief in den Ginster. Er sah sie nicht, kletterte aber hinunter zu den Gleisen und riss den Karton auf. Dann ging er auf dem Pfad neben den Schienen da von. »Ich will nach Hause, Stefan.«
»Erst nachschauen, was in dem Karton ist.«
»Ohne mich. Das war das letzte Mal, dass ich das mit dir ge
macht habe. Ich hau ab.« Einen Augenblick zögerte Stefan noch. Dann rutschte er die Bö schung abwärts bis zu dem Karton. Es befand sich Gewehrmuni tion darin. Er rannte Willi nach, aber er erreichte ihn nicht mehr. Tage später erst traf er ihn wieder.
»Na, wie steht’s mit dir, Willi?«
Der schüttelte nur den Kopf und ging davon.
Stefan zauderte allein zur Bahnstrecke zu gehen. Dann fand Ro
bert Fink hinter dem Holzstapel die Pakete, gerade als der Junge auch den Schuppen betrat. »Weißt du, wie das Zeug hierher kommt?«, fragte Robert. Stefan nickte.
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»Ich habe gehört, dass die Amis den Gangstern auf der Spur sind, die sich an die Züge ranmachen. Neulich soll sogar in der Schlucht geschossen worden sein. Ich warne dich, Stefan, stürze dich und uns nicht ins Unglück.« »Bestimmt nicht«, versicherte der Junge. »Ich gehe nicht mehr hin.« Robert streckte ihm seine Hand hin und fragte: »Versprochen?« »Versprochen«, antwortete Stefan. »Und von dem Zeug da kön nen Sie nehmen, was Sie haben wollen. Franziska guckt schon im mer so komisch, wenn ich ihr etwas davon gebe.« Er war seitdem nicht einmal mehr in die Nähe der Bahngleise ge gangen. Auch Willi traf er nur noch selten. Stattdessen begann er durch die Wälder zu streifen. Oft war er stundenlang unterwegs. Wenn Franziska ihn fragte, was er die ganze Zeit über treibe, gab er zur Antwort: »Ich versuche Forellen im Waldbach zu fangen.« Das eine oder andere handlange Fischchen brachte er auch nach Hause. Aber immer wieder einmal hatte er Dinge bei sich, die Franziska unruhig machten. Es fing damit an, dass er ihr eine schöne Suppenkelle aus echtem Silber gab. Für sich selbst hatte er ein Paar Stiefel aus weichem Leder herangeschleppt, Stiefel, wie sie von den Nazibonzen getragen worden waren. Franziska schnupperte lange an einem Stück Seife, das er ein an dermal auf den Tisch legte. Seit Jahren hatten sie nur Kriegsseife kaufen können, jeden Monat nur wenige Stücke, klein und so leicht, dass sie auf dem Wasser schwammen. »Wie die Seife duftet«, sagte Franziska schwärmerisch. Auch mehrere Büchsen mit Fleischkonserven trug Stefan nach
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Hause. Einmal brachte er sogar eine kleine Dose mit russischem Kaviar mit. Franziska öffnete sie am Abend und machte es ganz feierlich. »Früher habe ich ein paar Mal bei Küppers serviert, wenn die Gäste hatten. Das sind ganz vornehme Leute, weißt du. Die wohnen am Kaiserberg. Und da gab es hin und wieder etwas Kaviar.« Stefan probierte die schwarzen Perlchen. Aber sie schmeckten ihm nicht. »Muss man sich erst dran gewöhnen«, sagte Franziska. Als er an einem der folgenden Abende eine Flasche Wein auf den Tisch stellte, wurde es Franziska unheimlich. »Stefan«, sagte sie, »ich muss mit dir reden.« »Muss das jetzt sein?« »Muss sein. Woher stammt all dieses Zeug? Ich gerate schon in Panik und denke, was wird er heute Abend wieder anschleppen.« »Lass mal, Franziska. Sind doch schöne Sachen. Glaubst doch nicht etwa, dass ich dumm genug bin mich einer Einbrecherban de anzuschließen?« »Oder doch?« Er lachte auf. »Ganz bestimmt nicht. Aber ich kann dir heute noch nicht sagen, wo meine Goldgrube ist.« »Hör auf damit, das Zeug herzubringen. Das kann nicht gut ge hen.« Er antwortete ihr nicht. Sein Gesicht zeigte einen trotzigen Aus druck. Die Angst um den Jungen machte sie wütend. »Solltest dich lie ber um die Kaninchen kümmern. Da hast du aus den Brettern, die du organisiert hast, einen Stall gebaut. Sechs Boxen. Aber jeden
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Tag muss ich dich drängen Futter zu schneiden. Du bist ein fauler Kerl geworden. Das geht so nicht weiter. Jeder muss seine Pflich ten erfüllen. Wie wollen wir sonst überleben?« Er stand auf und rief: »Wenn du meinst, die Biester verhungern, mach’s doch selbst!« Er lief hinaus. Es war schon dunkel, als er endlich zurückkam. Sie hatte ihm ei nen Zettel geschrieben. Darauf stand: Für die Kaninchen sorgen, Brennholz im Wald sammeln, zersägen und hacken, damit wir im Win ter zu heizen haben; abwechselnd mit mir morgens die vier Kilometer zur Bäuerin Niggemeier laufen und dort vier Liter Milch abholen. Das sind deine Aufgaben, die regelmäßig erledigt werden müssen. Richte dich da nach. In seiner kaum leserlichen Schrift schrieb er darunter: Tut mir Leid, das von vorhin. Ein paar Tage ging es gut, aber dann waren die guten Vorsätze wieder vergessen. Als Franziska Lena von ihrem Ärger mit Stefan erzählte, sagte die: »Er ist fünfzehn. Das ist in dem Alter meistens so. Das wächst sich aus.« »Ich bin froh, wenn endlich die Schule wieder beginnt und Ord nung in sein Leben kommt«, seufzte Franziska. *** Franziska drohten die Sorgen um Stefan wie eine Woge zu über fluten. Mühsam drängte sie ihre Gedanken beiseite, nahm die Fünfliterkanne und ging auf den Berg. Kniehohe Blaubeerbüsche bedeckten die kahle Kuppe oberhalb des Lippischen Steinbruchs.
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In diesem ersten Nachkriegssommer reiften reichlich Beeren, aber nur wenige Frauen trauten sich zum Pflücken hinaufzusteigen. Es hieß, möglicherweise würden dort ehemalige Zwangsarbeiter in Gruppen umherstreifen und man wisse ja, was dann den Frauen geschehen könne. Ganz frei von Angst war auch Franziska nicht, wenn sie sich auf den Weg machte. Sie hatte sich vorsorglich ein Klappmesser in die Tasche gesteckt, obwohl sie wusste, dass es ei gentlich keinen Schutz bedeutete. Es ging ihr auch nicht in erster Linie um die Beeren, sondern mehr darum, ein paar Stunden dort oben allein zu sein und sich vom Wind die düsteren Gedanken aus dem Kopf wehen zu las sen. Sie war an diesem Morgen schon zeitig aufgebrochen. Die Son ne stieg aus dem Frühdunst. Eine Lerche schwang sich hoch em por, tirilierte ihr Lied, verstummte schließlich, ließ sich abwärts gleiten und versuchte erneut den Himmel zu stürmen. Franziska setzte sich auf einen Stein. Während sie der Lerche nachschaute, fiel ihr ein, dass die Mutter ihr früher gelegentlich erzählt hatte, die Lerchen seien vielleicht Himmelsboten. Der Adler schwingt sich ins Blau empor, um ein weites Jagdrevier im Blick zu haben. Von dem Zaunkönig wird erzählt, er habe bei einem Wettstreit der Vögel, wer von ihnen allen sich wohl am höchsten in die Luft erheben könne, deshalb gewonnen, weil sich der Winzling listig im Gefieder eines Adlers versteckt habe und wegen seines gerin gen Gewichtes nicht von dem mächtigen Wolkenstürmer ent deckt worden sei. Als der Adler nun, seines Sieges sicher, den Hö henflug abbrach, da sei der pfiffige Zaunkönig eben noch ein Stückchen höher geflattert. Wenn man es jedoch recht bedenkt,
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dann ist es dem Adler um das bessere Auffinden der Beute gegan gen und dem Zaunkönig um größeren Ruhm. Die Lerche aber – so Franziskas Mutter – wolle nichts für sich selbst, wenn sie sich em porschwinge. Allein zur Ehre Gottes erklinge ihr Lied. Und des halb gebe der Schöpfer ihr alle Jahre eine Botschaft für seine Ge schöpfe mit auf die Erde. Dem Lied der Lerche müsse man lau schen. Vielleicht ahne man ja, was sie sagen wolle, und könne es auch anderen mitteilen. »Ich verstehe die Lerche nicht mehr«, sagte Franziska bitter. »Das Leben hat mir den Kinderglauben genommen und nichts, nichts ist an seine Stelle getreten.« Franziska stand auf und fand bald eine Stelle, an der wohl noch niemand gepflückt hatte. Es dauerte nur wenige Stunden, dann war ihre Kanne bis zum Rand gefüllt. Niemand außer ihr war an diesem Tag auf den Berg gegangen. Sie machte sich auf den Heimweg. Der verlassene Steinbruch sah aus, als ob ganz plötz lich die Arbeiter ihr Werkzeug aus der Hand gelegt hätten und fortgegangen wären. Zwar lag der Steinbruch schon etliche Jahre still, aber eine Vielzahl von Steinbrocken, zum Teil bereits behau en, lag ungeordnet umher. Am Rand des Schotterweges, der an dem Bruch vorüberführte, türmten sich die Steine, die der Volks sturm für eine inzwischen beiseite geräumte Panzersperre auf den Weg gewälzt hatte. Etwa hundert Meter hinter dem Stein bruch öffnete sich in den Fichtenwald hinein eine flache grüne Ra senfläche und mitten auf dieser Lichtung war ein riesiges Fass aufgebockt worden. Es war zu einer Wochenendhütte von einer Getränkefirma aus Detmold ausgebaut worden. Die Tür hing lose in den Angeln, die Blenden der Fenster waren herausgerissen, au
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ßer einem rohen, fest verankerten Tisch befanden sich keinerlei Möbel mehr darin. Franziska setzte sich auf eine Bank neben dem Eingang und lehnte sich gegen das Holz des Fassbodens. Die Sonne schien warm. Längst hatte die Mittagshitze die Vögel verstummen las sen. Das Brummen der Bienen machte die Stille erst recht be wusst. Nach einer Weile packte Franziska ihr Brot aus, aber sie aß noch nicht. In das Holz des Fassbodens waren Buchstaben geritzt. Sie klappte ihr Messer auf und begann mit tiefen Kerben die Namen Bruno und Martin einzuschneiden. Dabei standen ihr die Bilder vor Augen, wie Paul den Bruno Kurpek mitgebracht hatte, diesen Jungen, kaum zwölf Jahre alt, der aus seinem Dorf in Ostpreußen stammte und in Berlin seinen Bruder, den letzten nahen Angehö rigen, verloren hatte. Der war, kaum zwanzig, in einer Straßen schlacht erschossen worden. Die Reitzaks hatten Bruno aufge nommen und betrachteten ihn wie ein Kind der eigenen Familie. Bruno wollte unbedingt Pfarrer werden. Er war während seines Studiums sogar ausgewählt worden nach Rom zu gehen und dort weiterzustudieren. Und dann war Bruno irgendwo in Italien ver schollen. Wo genau er geblieben war, wusste niemand zu sagen. Wenige Tage später war ihr eigener Sohn, Martin, im Rhein er trunken. Martin galt als ausdauernder Schwimmer. Schon mehr mals hatte er den Rhein durchquert und wurde von den Kindern der Nachbarschaft deswegen bewundert. An einem Sonntag im letzten Kriegssommer waren sie, Paul und der Junge zum Baden an den Rhein gegangen. Es war windstill, kaum ein Schleppzug pflügte das Wasser und der Strom floss träge dahin. Martin hatte
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ihr versprechen müssen nicht zu weit hinauszuschwimmen, weil die alliierte Bomberflotte nun auch tagsüber ihre Angriffe flog. Sie war von ihrer Liegedecke aufgestanden und hatte Martin be obachtet. Der Junge war ein Stück am Ufer entlang stromauf ge laufen und ging erst ins Wasser, als er glaubte, er könne kurz vor der Haus-Knipp-Brücke, von der Strömung getragen, wieder den Platz erreichen, auf dem sie ihre Decke ausgebreitet hatten. Mar tin hielt sich an sein Versprechen und kehrte bereits um, als er nicht einmal die Strommitte erreicht hatte. Schon schwamm er mit kraftvollen Bewegungen wieder auf das Ufer zu, da sah sie, wie er seinen rechten Arm hochreckte und im Wasser versank. Ei nen Augenblick glaubte sie an einen Scherz, den er mit ihr ma chen wollte. Aber dann schrie sie nach ihrem Mann und zeigte in die Richtung, in der Martin in den Fluten verschwunden war. Paul nahm sich nicht einmal die Zeit, sein Hemd abzustreifen. Er rannte über die Kribbe weit in den Fluss hinein und stürzte sich kopfüber in das Wasser. Zwei Flaksoldaten, die in der Nähe der Brücke bei ihrer Vierlingsflak standen, waren aufmerksam ge worden und schwammen ebenfalls hinaus, tauchten, kamen prustend hoch, wieder und wieder. Schon weit abgetrieben, kehr ten sie schließlich erschöpft ans Ufer zurück. Franziska warf sich auf die Liegedecke und weinte verzweifelt. »Nicht auch noch Martin, Gott!«, schrie sie. »Nicht auch noch Martin.« Martin wurde an diesem Tag und auch später nicht gefunden. Sie brachte den Namen »Gott« nie mehr über die Lippen. Als Franziska den letzten Buchstaben in das Holz geritzt hatte und einen Schritt zurücktrat, legte ihr jemand die Hand auf die Schulter. Sie erstarrte und fasste ihr Messer fester. Langsam dreh
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te sie sich um. Ein Mann stand vor ihr, so um die dreißig Jahre alt. Er trug eine Militärjacke und stützte sich auf einen Stock. Aber als er sie ansprach, erkannte sie an seinem Akzent den Polen. »Chab nicht Angst«, sagte er. Mit dem Stock zeigte er auf die Namen und fragte: »Dein Mann?« »Nein«, antwortete sie. Noch zitterte ihre Stimme. »Meine Kin der.« »Beide tott?« Sie nickte. »Krieg nix gutt.« Er griff in seine Jacke. Noch einmal wallte ihre Angst auf. Er zog eine abgewetzte Brieftasche heraus, klappte sie auf und zeigte ihr ein Foto. »Familie«, sagte er und zeigte auf sich. Es waren acht Personen zu sehen, darunter drei Kinder. Über fünf von ihnen hatte er ein Kreuz gezeichnet und das Datum ihres Todes dazuge schrieben. »Krieg nix gutt«, wiederholte er. Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank. Franziska teilte das Brot mit ihm und bot ihm von den Beeren aus der Kanne an. Sie sprachen kein Wort mehr mit einander. Er nahm ihr Messer, aber sie fürchtete sich nicht mehr vor ihm. Er schnitt unter die Namen Bruno und Martin fünf tiefe Kerben in das Holz und ein kleines Kreuz davor und eins dahinter. Dann gab er ihr das Messer zurück und ging über den Schotterweg davon. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht«, sagte Lena, als sie am Nachmittag nach Kirchwüsten zurückkam. ***
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Stefan hatte munkeln hören, in dem Hotel Waldmühle habe eine Nazigruppe gegen Ende des Krieges Unterschlupf gesucht. Es seien viele Kisten zurückgeblieben, damals, als sie ihre braunen Uniformen ausgezogen hatten und verschwunden waren. Die Männer wären vom Hilfszug Dr. Ley gewesen, lauter braune Bon zen. Den Namen Dr. Robert Ley hatte Stefan schon vorher gehört, wenn von den »alten Kämpfern« der Nazis geredet worden war. Aber was es genau mit ihm auf sich hatte, das blieb für Stefan so lange belanglos, bis er Willi eines Tages am Waldrand traf. Willi hatte ein Fernglas bei sich. Stefan bewunderte das Glas und frag te: »Wo hast du das denn her?« »Gefunden«, antwortete Willi. »Und eine Offizierspistole habe ich auch. Ich hab sie gut eingefettet, in Ölpapier eingewickelt und vergraben. Da oben liegt noch viel mehr herum.« Aber eine Aus kunft darüber, wo genau man solche Schätze finden könne, gab er Stefan nicht. Wenige Tage später schlich Stefan den Waldbach entlang. Er hatte von Willi gelernt, wie man Forellen mit der Hand fangen konnte. Aber die Fische waren scheu und schossen davon, wenn sie Schritte spürten oder auch nur ein Schatten auf das Wasser fiel. Er näherte sich der Waldmühle. Das Hotel lag ziemlich weit vom Ort entfernt. Der Waldbach floss dort und war zu einem kleinen See aufgestaut worden. Lena hatte von der Waldmühle oft ge schwärmt und gesagt, dass sie vor dem Krieg dann und wann an Sonntagnachmittagen dorthin spaziert seien. Die Waldmühle sei ein beliebtes Ausflugslokal gewesen. Stefan hatte an diesem Tag kein Glück mit dem Fischfang. Aber als er die Waldmühle zwischen den Bäumen schon sehen konnte,
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bemerkte er Willi. Der bewegte sich langsam und vorsichtig. Aber er war nicht hinter Forellen her, sondern huschte an der Waldmüh le vorbei. Stefan folgte ihm, immer darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. Dann sah er, dass Willi sich abseits des Lokals an der Wand eines lang gestreckten Holzschuppens niederhockte, ein paar Bretter beiseite schob und in den Schuppen hineinkroch. Es dauerte ein paar Minuten, dann erschien Willi wieder, spähte auf merksam umher und machte sich davon. Unter dem Arm trug er ein Bündel. Hilfszug Dr. Ley, schoss es Stefan durch den Kopf. Er ging näher an den Schuppen heran. Es war nicht schwierig, die Stelle zu fin den, an der Willi die Bretter auseinander geschoben hatte. Er schlüpfte hindurch. Zuerst konnte er kaum etwas erkennen, denn es fielen nur wenige Lichtstrahlen durch die Ritzen. Aber bald hatten sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Hundert Kisten oder mehr lagen mitten in dem Schuppen zu einem Block gestapelt. Gleich hinter dem Schlupfloch waren zwei Kisten auf gebrochen worden. Frauenkleider lagen verstreut auf dem Bo den. Stefan tastete mit der Hand nach den Sachen, die sich noch in der Kiste befanden. Er stieß auf etwas Metallisches und zog es he raus. Eine Suppenkelle. Enttäuscht wollte er sie schon zur Seite le gen, doch er drehte den Griff in das Licht eines schmalen Sonnen strahls und entdeckte den Stempel. 800. Das war Silber. Fast reines Silber. Als Nächstes fand er eine kleine schwarze Dose. Schon wollte er weiter in der Kiste wühlen, da quietschte eine Tür. Licht fiel herein. Der Eingang zu dem Schuppen lag gegenüber an der anderen Seite. Stefan duckte sich zwischen zwei Kisten tief in den Schatten. Sein Herz hämmerte in
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der Brust. Er hörte jemand im Schuppen kramen. Doch dann fiel die Tür wieder zu, der Riegel wurde vorgeschoben. Die Schritte entfernten sich. Stefan verbarg die Suppenkelle unter seinem Hemd und steckte die Dose in die Hosentasche. Er kroch ins Freie und schlich davon. Zu rennen begann er erst, als die Waldmühle schon nicht mehr zu sehen war. Bevor er ins Haus ging, schaute er sich die Dose genauer an. Auf dem Klappdeckel war ein zierliches Bild zu sehen: Auf einer Waldlichtung saßen drei Jäger und rauchten aus langen Pfeifen. Er versuchte die Dose zu öffnen. Es gelang ihm zunächst nicht und es dauerte eine Weile, bis er einen winzigen Knopf entdeckt hatte. Er drückte ihn nieder und der Deckel sprang auf. Ein grob geschnittener Tabak befand sich darin. Wieder zu Hause, schenk te er den Tabak Robert Fink. »Gutes Kraut«, sagte der. »Kannst du davon noch mehr beschaffen?« Wie ein Magnet zog der Schuppen Stefan in den folgenden Ta gen an. Er hatte aus Robert Finks Werkzeugkasten einen großen Schraubenzieher mitgenommen. Damit war es möglich, einige Kisten aufzuhebeln. Die meisten, die er durchwühlte, waren voll gestopft mit Akten. Aber andere waren wahre Fundgruben für Stefan. Eines Tages wurde er erwischt. Eine Frau stand vor dem Ein schlupfloch, als er herauskroch. Erschrocken ließ er die lederne Ta sche fallen, die er gefunden hatte. Die Frau hatte eine Mistgabel in der Hand und stach nach ihm. Er wehrte sich und schlug die Mist gabel zur Seite. Aber sie stach wieder zu. Diesmal traf sie seinen Oberschenkel und verletzte ihn. Die Wunde begann zu bluten.
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»Ach Gott, Junge!«, rief sie. »Das wollte ich nicht. Ich dachte, hier treibt sich Mirzek rum. Ein Fremdarbeiter aus Polen. Hat auf dem Hof gearbeitet.« Stefan hockte sich nieder und presste die Hand auf den Einstich. »Warte einen Moment. Ich hole was und verbinde dir die Wun de. Brauchst keine Angst zu haben. Ich komme allein wieder.« Erst wollte er davonlaufen, aber das Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Er begann zu weinen. Die Frau kam bald zurück. Sie riss ein Verbandspäckchen auf und legte geschickt einen straf fen Verband an. »Wenn sich das entzündet, musst du nach Horn zum Arzt. Aber das sage ich dir, lass dich hier nicht mehr blicken. Die Po len, die die letzten Jahre bei uns arbeiten mussten, streifen im mer noch in der Gegend herum. Die sind scharf auf die Sachen da in unserem Schuppen. Und die haben was anderes als eine Mistgabel bei sich. Wenn sie dich erwischen, machen sie mit dir kurzen Prozess.« »Danke.« Stefan zeigte auf den Verband. Sie lachte. »Ist noch nie vorgekommen, dass sich einer bedankt hat, wenn er angestochen worden ist.« Er stand auf. »Also, was ist, Junge? Sehe ich dich hier nicht mehr wieder?« »Bestimmt nicht«, versicherte er und lief davon. Auf Franziskas Frage: »Wo hast du dir das denn geholt?«, ant wortete er: »Ich bin am Stacheldraht hängen geblieben.« »Und wer hat dir den Verband gemacht?« »Die Soldaten hatten alle ein Verbandspäckchen bei sich. Die Dinger liegen überall rum.«
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Sie schaute sich die Wunde an und schüttelte den Kopf. »Was ihr so alles anstellt!« Aus Kamillenblüten kochte Franziska einen Brei und sagte: »Ich mache dir einen Umschlag. Dann heilt es besser.« Stefan hinkte noch ein paar Tage, nicht so sehr, weil er Schmer zen hatte, sondern weil er dann am Morgen nicht den weiten Weg zu Bauer Niggemeier laufen und die Milch holen musste. Am Samstag zog er zum ersten Mal wieder los. Ihm war schon länger etwas aufgefallen. Gar nicht weit vom Haus entfernt floss ein Bach vorbei, so schmal, dass man ihn mit einem Sprung überque ren konnte. Es gab auch einen Brettersteg, der auf Steinfunda menten lag. Jedes Mal, wenn er über diesen Steg ging, wirbelte in dem sonst glasklaren Wasser eine Wolke von Schlamm auf. Ein Fisch? Hier in diesem kleinen Gewässer eine Forelle? Er näherte sich mehrmals ganz vorsichtig. Trotzdem, das Wasser wurde ge trübt und Stefan konnte nur vermuten, was die Ursache war. Am Ufer wuchs eine Erle. Ein Teil der Wurzel war unterspült worden und die Wurzelfäden schwebten wie ein feiner Schleier im Wasser. In solchem Wurzeldickicht suchten Forellen gern Schutz. Stefan legte sich nieder, beugte seinen Kopf bis dicht an den Wasserspiegel hinunter und strich mit der Hand sanft die Wurzel auseinander. Etwas schoss heraus. Er sah, dass die aufge wirbelten Staubwolken auf ein apfelgroßes Loch im Brückenfun dament zuliefen. Sollte das ein Versteck des Fisches sein? Er tastete mit der Hand in die Höhlung, sehr vorsichtig und auch ein wenig ängstlich, weil vielleicht nicht ein Fisch, sondern ein Krebs darin sein konnte. Aber zunächst spürte er weder einen Fisch noch zwickte ihn ein Krebs. Immer weiter reckte er seinen
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Arm in die Höhle hinein, bis zur Achsel schließlich. Nichts. Oder doch? Zwischen Daumen und Zeigefinger bewegte sich etwas. Ein Fischschwanz vielleicht? Das Jagdfieber packte ihn. Tiefer in die Höhle zu greifen, das war nicht möglich. Noch einmal presste er den Arm weit hinein. Jetzt konnte er den Fisch knapp oberhalb des Schwanzes berühren. Aber herauszuziehen vermochte er ihn nicht. Immer wieder glitschte er ab. Da kam ihm ein Gedanke. Er kniff mit den Fingernägeln fest in das Schwanzende. Das Tier drehte sich in dem Loch und schnappte nach seinem Zeigefinger. Jetzt den Daumen unter die Kiemenklappe. Er konnte den Fisch herausziehen und stieß einen Schrei aus. Es war eine Regenbo genforelle, die größte, die er je gesehen hatte. Er stand auf und warf sie weit aufs Ufer. Als er sein Taschenmesser aufklappte, um sie zu töten, sah er ihn. Der Förster stand gar nicht weit von ihm entfernt hinter ei ner Hecke und schaute herüber. Förster Habermann wohnte nicht weit von Finks Haus am Rande des Dorfs. Habermann kannte ihn. Das konnte Ärger geben. Hastig steckte der Junge die Forelle hinter seinen Gürtel in die Hose. Der Schwanz schlappte ihm gegen das Bein. Der Förster drehte sich um und ging davon. Hatte er nichts gesehen? Sonst war er doch scharf hinter Wilderern her. Der Junge zog den Fisch wieder heraus und stach ihm das Mes ser hinter den Kopf durchs Rückgrat. Aus der Hecke brach er eini ge Hainbuchenzweige. Die legte er in einem Büschel rund um den Fisch, damit niemand sehen konnte, was er bei sich trug. Voller Stolz brachte er seinen Fang nach Hause, zugleich aber fürchtete er, dass der Förster ihn dort vielleicht schon erwartete.
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Er ging durch den Hintereingang, sprang jeweils zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf und riss die Tür auf. Er erstarrte. Franziska und ein Mann standen mitten im Raum und hielten sich eng umschlungen. Erst als sie sich voneinander lösten, erkannte er Paul. »Mensch, Paul! Endlich!«, rief er. »Bist du’s wirklich, Stefan?«, fragte Paul, ging auf den Jungen zu und hielt ihn mit ausgestreckten Armen von sich. »Bist min destens zwanzig Zentimeter gewachsen und einen Flaum von Bart hast du auch.« »Ich hab dir was mitgebracht«, sagte Stefan und zeigte ihm den Fisch. »Donnerwetter. Das ist ja eine prächtige Forelle. Wo hast du die denn kaufen können?« »Kaufen?« Stefan lachte. »Gefangen hab ich die, hier, mit der bloßen Hand.« Er streckte seine Hand aus. Da erst sah er, dass an der Finger wurzel eine Bisswunde war. »Das Biest hat sich gewehrt und zugeschnappt.« »Hast ja Glück gehabt, dass es kein Hai gewesen ist«, spöttelte Franziska. Sie nahm Stefan den Fisch aus der Hand und schnüffelte. »Du stinkst nach dem Hering. Wasche dich gründlich im Stall unten an der Pumpe. Am besten nimmst du den Fisch gleich mit, machst ihn sauber und schuppst ihn. Ich werde ihn dann für Paul zum Abendbrot braten.« »Ich beeile mich«, sagte Stefan. Er machte die Forelle bratfertig, legte sie auf einen Teller und scheuerte seine Hände mit einem
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Bimsstein so lange, bis er kaum noch einen Fischgeruch erschnüf feln konnte. Sorgfältig reinigte er seine Fingernägel und trug schließlich seine Beute hinauf zu Franziska. »In einer halben Stunde wird gegessen«, sagte sie. »Hast du die Tiere versorgt?« »Muss ich noch«, knurrte Stefan. »Was für Tiere?«, fragte Paul. »Er hat sechs Kaninchen. Aber frag mich nicht …« Stefan unterbrach sie. »Nur Rassekaninchen. Willst du nicht mitkommen, Paul, und sie dir ansehen?« Paul ging von Box zu Box. »Wirklich schöne Tiere«, lobte er. »Besonders der gescheckte Hase gefällt mir gut. Und er scheint mir auch reif für den Topf.« »Das ist ein Deutscher Riesenscheck. Eine Häsin. Hat schon ein mal Junge geworfen. Die bleibt vorläufig für die Zucht.« »Und die anderen?« »Werden fett gefüttert. Für die gibt es regelmäßig eine Hand voll Hafer zusätzlich zu dem Grünzeug.« »Regelmäßig?«, fragte Paul. »Na ja. Franziska fällt mir oft auf die Nerven. ›Hast du schon ge füttert?‹ ›Ist genug Grün geschnitten?‹ ›Müssen die Ställe nicht gemistet werden?‹« Stefans Stimme war lauter geworden. »Wenn es ihr nicht passt, soll sie es doch selber besser machen, die dum me Ziege.« Paul erstarrte. »Sagtest du ›dumme Ziege‹ zu meiner Frau?« Stefan hob die Schultern. »Ist sie doch, oder?« Er schaute Paul trotzig in die Augen. Paul schoss das Blut in den Kopf. Er gab dem Jungen eine Ohr
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feige. Stefan starrte ihn wütend an, drehte sich um und lief hi naus. Paul brauchte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte und in die Wohnung zurückkehrte. Franziska legte gerade die weiße Lei nendecke auf und deckte den Tisch. »Wo bleibt Stefan?«, fragte sie. »Wird wohl vorläufig nicht kommen«, brummte Paul. »Ich musste ihn bestrafen.« »Bitte?« »Er hat eine ganz blöde Bemerkung gemacht. Da ist mir die Hand ausgerutscht.« »Stefan ist in der letzten Zeit ziemlich schwierig, Paul. Aber gleich ohrfeigen?« »Tut mir selbst schon Leid. Aber es ist nun mal passiert. Und verdient hat er’s.« Sie begannen schließlich mit dem Abendessen. Der Fisch war kross gebraten und Franziska hatte frische Bratkartoffeln und Sa lat dazu gemacht. Trotzdem schmeckte es ihnen nicht recht. Stefan ließ sich auch später nicht sehen. Franziska lauschte im mer wieder zur Treppe hin auf seine Schritte. Vergebens. Gegen zehn holte sie das Bettzeug des Jungen aus dem Schlaf zimmer und bereitete ihm in der Küche auf einer schmalen Prit sche ein Lager. Stefan kam herauf, als sie gerade ins Bett gehen wollten. »Heute musst du in der Küche schlafen«, sagte Franziska und zeigte auf die Liege. Stefan sagte nichts. Als er das Licht gelöscht hatte, kam Paul noch einmal aus dem Schlafzimmer. Er zog sich
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einen Stuhl an Stefans Bett und setzte sich. Der Junge hatte ihm den Rücken zugedreht. Der Mond schien durch die beiden Küchenfenster. Ein Wind wehte vom Berg her. Das Blätterrauschen des Buchenwaldes war deutlich zu hören. Es dauerte einen Augenblick, bis Paul schließ lich sagte: »Es tut mir Leid, das von vorhin. Aber sag nie mehr so etwas, wenn du von Franziska sprichst. Sie ist das Beste, was mir je in meinem Leben begegnet ist.« Stefan rührte sich nicht. Paul blieb noch ein paar Minuten sitzen, doch dann ging er ins Schlafzimmer zurück. Stefan kam ins Grübeln. Sein Vater hatte ihn nie geschlagen. Selbst in der Schule war der Riedstock, der besonders bei Lehrer Sturm täglich tanzte, an ihm vorübergegangen. Aber dann war die Sache mit den amerikanischen Soldaten gewesen. Auf dem Hof vor der Möbelfabrik hatten sich einige von ihnen geschickt ei nen Ball zugeworfen, hatten versucht ihn sich gegenseitig abzuja gen. Sie tippten ihn auf den Boden, drehten sich und warfen ihn schließlich in die Luft, als ob sie einen Korb treffen wollten. Sie forderten Willi und ihn auf sich an dem Spiel zu beteiligen. Aber sosehr sich die Jungen auch anstrengten, sie hatten keine Chance, an den Ball zu kommen. Schließlich warfen die Soldaten ihn ab sichtlich Willi zu. Das Spiel war zu Ende. Die Soldaten hockten sich auf eine Mauer. Sie waren nur wenige Jahre älter als Stefan und Willi. Einer von ihnen, ein bulliger Blondschopf, zündete sich eine Zigarette an. Die Jungen gesellten sich zu ihnen. »Camel«, sagte Stefan. »Duftet besser als unser Kraut.«
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Der Soldat hielt den Jungen seine Packung hin und die bedien ten sich. Nur einmal zuvor hatte Stefan geraucht. Er war zehn ge wesen oder elf. In den Kopf einer Tonpfeife hatte ihm ein Nach barsjunge in Duisburg Pfefferminztee gepresst. Der Rauch biss auf der Zunge. Stefan hatte es nie mehr versucht. Der Soldat gab ihm Feuer. Auch jetzt hätte Stefan am liebsten nach den ersten Zügen die Zigarette weggeworfen, aber er traute sich nicht. »What do you know about Concentration Camps?«, fragte der Soldat. Willi schaute auf seine Armbanduhr und behauptete, er müsse schnell nach Hause. »I think, that they were working camps«, antwortete Stefan. Der Soldat lachte auf. »And what about the GESTAPO?« »The GESTAPO? I don’t know.« Als Stefan die erstaunte Miene des Soldaten sah, beteuerte er: »Indeed, I never heard about that word.« Da hatte der Soldat ihn geohrfeigt und »Damned Nazi-boy!« ge schrien. Stefan war davongerannt. Aber es war wirklich so! Stefan erinnerte sich nicht, das Wort GESTAPO je zuvor gehört zu haben. Anders war es mit diesen La gern, den KZs. Mathes März von der Blütentalstraße sollte dort gewesen sein. Er hatte 1934 in einer Nacht Flugblätter für die da mals schon verbotene Kommunistische Partei verteilt und wurde von einer Polizeistreife erwischt. Monatelang war er in einem La ger gewesen. Aber Genaues wusste Stefan auch darüber nicht. Die Eltern hat ten Mathes gekannt, aber nur hinter der vorgehaltenen Hand
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über ihn gesprochen. Wenn Stefan dann in ihre Nähe kam, ver stummten sie. Jahre später hatte er seine Oma Tilla danach gefragt. »Der Mathes ist ein ordentlicher Kerl«, hatte sie gesagt. »Er war arbeitslos, hatte viel Zeit und lungerte auf der Straße herum. Es wurde gemunkelt, er gehöre zu den Kommunisten. Jedenfalls hat er das mit den Flugblättern gemacht. Da haben sie ihn in ein Lager gesteckt. Ohne Gerichtsverhandlung, ohne Urteil. Einfach so. Aber nie hat er später etwas darüber erzählt. Er ist sofort wegge gangen, wenn ihn einer danach fragte.« »Und was ist ein Lager, Oma?«, hatte Stefan wissen wollen. »Genau weiß ich das auch nicht, Junge. Es wird viel geredet. Herr Hollein von nebenan hat gesagt, dass sei so eine Art Gefäng nis, in das Verbrecher und arbeitsscheue Menschen eingewiesen werden. Aber das traf auf Mathes nicht zu.« Damit hatte Stefan sich zufrieden gegeben. Sicher, er war mit seiner Mutter 1942 einige Ferienwochen in Polen gewesen. Dort wohnten Verwandte. Sein Vetter Albert, viel älter als Stefan, war alle vier Wochen mit dem Pferdegespann fast vierzig Kilometer weit nach Bromberg gefahren. Er hatte es Stefan nicht erlaubt mit zufahren. Seine Tante hatte ihm gesagt: »Das ist nichts für Jungen, wie du einer bist. Da sind Bekannte von uns in ein Lager gepfercht wor den. Viel Hunger gibt’s da. Albert wirft ihnen Brot über den Sta cheldraht.« »Waren die arbeitsscheu oder hatten die was auf dem Kerb holz?« Die Tante hatte ihn nur erstaunt angeschaut. »Was sie euch alles
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erzählen! Die Kolschewskis hatten einen Hof außerhalb des Dor fes. Der Hof wurde für Schwarzmeerdeutsche beschlagnahmt und der Bauer wurde nach Bromberg ins Lager gebracht.« Stefan wusste nicht, ob er das glauben sollte. Das kann nur ein Irrtum gewesen sein, hatte er sich eingeredet. Als sein Vetter am folgenden Tag zurückgekommen war, hatte er auch ihn gefragt. Albert hatte seiner Mutter zornig zugerufen: »Erzähl dem Jungen nicht so was. Oder willst du auch in einem KZ landen?« Die Ohrfeige des Amerikaners hatte Stefan dazu gebracht, sich nach all dem zu erkundigen, was er bis dahin nicht oder nicht klar gewusst hatte. Robert Fink war da merkwürdig verschlossen, aber Lena antwortete ihm, so gut sie es konnte. Sie erzählte auch von ihrem Sohn Christian, der 1936 nach Ko lumbien ausgewandert war, weil er große Schwierigkeiten mit dem Hitlerstaat hatte und in Deutschland keine Zukunft für sich sah. Allmählich stürzten Stefans braune Götter von ihren Sockeln. Es dämmerte schon der Morgen, als Stefan endlich einschlief. Er wurde erst wach, als Franziska Feuer machte und das Frühstück vorbereitete. Sie saßen schweigsam um den Tisch. »Wann musst du zurück, Paul?«, fragte Franziska. »Eigentlich soll ich morgen wieder in der Brauerei sein.« »Eigentlich?« »Ja. Aber wenn ich Montag den Frühzug nehme, wird mir auch niemand den Kopf abreißen.« Stefan stand sofort auf, als er sein Brot gegessen hatte, und war tete nicht, bis auch Franziska und Paul fertig waren. Er nahm eine Blechschüssel aus dem Schrank.
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»Was willst du damit?«, fragte Franziska. Er antwortete nicht und lief die Treppe hinab. Erst eine halbe Stunde später kam Stefan zurück. In der Schüssel lag küchenfertig ein geschlachtetes Kaninchen. »Für das Abschiedsessen«, sagte er. »Alles wieder in Ordnung?«, fragte Paul. »Ja. Aber wenn du das noch einmal machst, dann hau ich ab.« »Und du, Stefan, sag du nie mehr so was.« »O. k.«, versprach Stefan. »Amerikanisch kann er auch schon«, sagte Franziska und lä chelte. Am Nachmittag packte sie für Paul in einen Holzkoffer ein Säckchen mit Mehl, ein Paderborner Brot, einen Streifen Speck, ein paar Eier, Ziegenbutter, Kartoffeln und sechs kleine Einmach gläser Fleisch und Wurst. Paul hob den Koffer an. Bleischwer kam der ihm vor. »Wie soll ich den morgen zum Bahnhof kriegen?«, fragte er. »Ich bring dich hin. Mit dem Handkarren«, bot Stefan an. »Um halb sechs müssen wir los.« In der Nacht waren Wolken aufgezogen. Es war noch stockdun kel, als Paul sich verabschiedete. Franziska hatte das Fenster ge öffnet und winkte ihm nach. Ihre Gestalt zeichnete sich vor dem Lampenlicht wie ein Sche renschnitt ab. »Warte nicht zu lange und hol mich bald«, hatte sie Paul noch ins Treppenhaus nachgerufen. Im Bahnhof in dem kleinen Warteraum vor dem Fahrkarten schalter standen fast nur Männer rings an den Wänden. Die meis
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ten rauchten. Knastermief hing in der Luft und graue Tabak schleier vernebelten die eine nackte Birne an der Decke, die ein trübes Licht verbreitete. »Na, Stefan, willst du auch wieder nach Detmold?«, fragte ein hagerer Mann. »Fängt die Schule endlich wieder an?« »Die Schule wird nie mehr aufgemacht. War eine Nazihoch burg«, behauptete ein anderer. »Unser Dorf nicht auch?«, fragte der alte Bräsen. »Nimm den Mund mal nicht so voll«, sagte einer. »Aber das mit dem Aufbaugymnasium wird wohl stimmen. Der Direktor hat sich beim Einmarsch der Amis erschossen. Und soll sechs Kinder unter achtzehn haben.« »Wirklich wahr?«, fragte Stefan erschrocken. »Wird wohl stimmen. Aber das richtige Gymnasium, das soll bald wieder den Betrieb aufnehmen.« »Der Zug nach Herford über Detmold hat Einfahrt«, quäkte eine Stimme blechern aus dem Lautsprecher. Sie traten auf den Bahn steig. »Wird auch Zeit, dass die Jugend wieder in ein geregeltes Leben kommt. Verwildert ja mehr und mehr«, sagte einer im Hinausge hen. Stefan schleppte den Koffer zum hinteren Teil des Zuges. »Nichtraucher?«, fragte er. »Weißt du doch. Ich rauche nicht.« »Wann holst du uns, Paul?« »Sobald ich die Zimmer wieder bewohnbar gemacht habe. Aber drei, vier Wochen wird es bestimmt noch dauern.« »Tschüss, Paul.«
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»Wiedersehen, Stefan. Danke für den Kaninchenbraten.« Stefan schlug die Abteiltür zu. Der Bahnbeamte, der eben noch Fahrkar ten verkauft hatte, trat auf den Bahnsteig und setzte eine rote Mütze auf. Paul öffnete das Fenster. »Und lass Franziska nicht im Stich, Junge.« Der Pfiff zur Abfahrt ertönte, die Lok fauchte und der Zug ruck te an. Stefan blieb auf dem Bahnsteig, bis die Schlusslichter in der Schneise verschwunden waren. »Möchtest wohl am liebsten auch einsteigen, was?«, fragte ihn der Bahnbeamte. »Weiß ich nicht genau, Herr Meier. Ich bin gern hier im Dorf. Aber wenn Frau Bienmann nach Duisburg zurückfährt, muss ich wohl mit. Wo soll ich sonst bleiben?« *** Es war schon spät am Abend, als Paul wieder in der Blütentalstra ße ankam. Frau Reitzak hatte ihm zwei Scheiben Brot aufgeho ben. Er packte die Schätze aus dem Koffer und ermunterte sie ei nes der Gläser mit Wurst zu öffnen und sich ein Butterbrot zu ma chen. Sie kochte frischen Kaffee. »Mir läuft das Wasser im Mund zusammen«, sagte sie. »Wenn ich die Wurst rieche und die Augen schließe, muss ich daran den ken, dass wir früher jedes Jahr ein Schwein geschlachtet haben. Das war immer ein richtiges Fest.« »Ist lange her. Und ob es jemals wieder so sein wird, wer weiß das.«
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»Sind erst sechs Jahre seitdem, Paul. Aber was war das für eine Zeit! Die Kriegsjahre kannst du doppelt zählen.« »Wo ist Anna eigentlich?«, fragte Paul. »Ich wollte es dir erst sagen, wenn wir um den Tisch sitzen. Anna hockt in ihrem Zimmer. Das heulende Elend, sag ich dir. Hat sich eingeschlossen. Es ist was Schlimmes passiert. Sie kam ges tern am Abend nach Haus. Ich sah gleich, da stimmt was nicht. Sie war weiß und grün im Gesicht. Um Kopf und Stirn hatte sie sich ein schwarzes Wolltuch gebunden. Ihre Oberlippe war aufge sprungen. Im ersten Schreck hab ich sie gefragt, ob sie einen Un fall gehabt hat. Kein Wort hat sie geantwortet. Ganz langsam hat sie sich das Tuch vom Kopf gezogen. Ihre schönen krausen Haare, Paul. Bis auf die Kopfhaut kurz und struppig geschoren. Nicht ein Wort hat sie gesagt. Ist in ihrem Zimmer verschwunden. Ich ging ihr nach. Aber sie hatte den Schlüssel von innen umgedreht. Ich hörte sie weinen.« »Hast du es denn nicht später noch mal versucht?« »Einmal? Wohl zehnmal habe ich geklopft, leise durch die Tür gesprochen und gebettelt, sie soll mich hineinlassen. Nichts. Es ist inzwischen so still, als ob niemand im Zimmer wäre.« »Du machst mir Angst, Mutter. Sie wird sich doch wohl nichts …« »Das nicht, Paul. So eine ist sie nicht. Vielleicht versuchst du es mal, zu ihr zu kommen.« Paul stand sofort auf und drückte die Klinke zu Annas Zimmer tür nieder. Die Tür ließ sich öffnen. Anna stand mit dem Gesicht zur Wand und drehte sich erst um, als er mit seiner Hand ihre Schulter berührte.
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Sie starrte ihn an und setzte sich auf das Bett. »Wer hat das getan, Anna?« Sie hob die Schultern. »Du musst doch irgendwas gesehen haben.« Sie schaute vor sich auf den Boden und sagte stockend: »Es wa ren drei. Sie hatten sich Wollmützen mit einem Sehschlitz über den Kopf gezogen.« »Was wollten sie von dir?« »Einer hat gesagt ›Du Russenhure.‹ Zu zweit haben sie mich festgehalten. Als ich mich wehrte, hat mir der Dritte ins Gesicht geschlagen und mich auf den Boden gestoßen. Getreten haben sie mich und mir mit einer großen Schere die Haare abgeschnitten. ›Eigentlich sollten wir dir die Schere in den Bauch stoßen‹, rief der, der mich beschimpft hatte, und drückte mir die Scherenspit ze gegen die Brust. ›Und wenn du uns nicht herausgibst, was der Russe dir zugesteckt hat, dann passiert das auch.‹ – ›Lass das! Für heute hat sie genug‹, sagte ein Zweiter. Er hatte eine merkwürdig helle Stimme.« »Vielleicht eine Frau?« »Nein, eher nicht. Es hörte sich an, als ob er seine Stimme ver stellt hat. Aber irgendwie kommt sie mir doch bekannt vor. Ich kann mich nur nicht erinnern, wo ich sie schon mal gehört habe. Vielleicht irre ich mich auch.« »Was meint er denn damit, dir sei etwas zugesteckt worden?« »Ich habe schon hin und her überlegt, aber ich weiß es nicht. Erst wollte ich schon beteuern, ›Ihr irrt euch, ich habe nichts‹, aber es ist für mich vielleicht besser, wenn sie meinen, ich hätte etwas gegen sie in der Hand.«
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»War denn niemand in der Nähe, der dir beispringen konnte?« »Zuerst war da kein Mensch weit und breit.« »Mitten in der Stadt und du hast niemand sonst gesehen?« »Es war nicht in der Stadt. Ich war auf Beeckerwerth zu gegan gen, dorthin, wo dein Garten liegt. Ich wollte sehen, was aus dem Gefangenenlager für die Russen geworden ist. Ein alter Mann kam aus den Schrebergärten. Da sind sie weggelaufen. Wer weiß, was sie sonst noch mit mir gemacht hätten. Ich habe mich aufge rappelt. Als der Mann meinen geschorenen Kopf sah, hat er nur gesagt ›Mädchen, Mädchen, was macht ihr da bloß für Sachen‹ und ist davongegangen.« »Aber warum, Anna, warum haben sie dich so zugerichtet?« Sie sagte nichts mehr. Er setzte sich neben sie auf das Bett und legte seinen Arm um sie. Sie stieß ihn weg, rückte zur Seite und begann leise zu weinen. Er blieb noch eine Weile sitzen. Schließlich sagte sie: »Paul, ich kann nicht darüber sprechen. Lass mich allein.« Er ging in die Küche zurück. »Na, was ist?«, fragte Frau Reitzak. Er erzählte ihr das wenige, das er erfahren hatte. Sie sagte: »Bin gespannt, was morgen ist. Sie wollte zu Holzbau ers Betrieb und hat sich Hoffnungen gemacht, wieder eingestellt zu werden.« »Anna ist eine tüchtige Ingenieurin. Holzbauer wird froh sein, wenn sie bei ihm arbeiten will und nicht zur Hütte geht.« »Ach Paul, wenn er sie morgen so sieht, dann denkt er sich sein Teil.« »Was wird er sich denken?«
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»Sie ist nicht die Einzige, die geschoren herumläuft. Manche Frauen trauen sich nicht mehr allein vor die Tür. Weißt doch, was diese Idioten denen vorwerfen. Hätten sich früher mit Russen oder Polen eingelassen. Oder jetzt mit Soldaten von der Besatzung.« »Hast Recht, Mutter. Sind wirklich Idioten und gefährlich dazu. Aber stimmt’s denn überhaupt bei Anna?« »Was soll ich davon wissen? Ich kenne sie ja kaum. Aber selbst wenn … Wo die Liebe eben hinfällt. Meine Eltern waren damals auch wütend, als ich den Martin kennen lernte. ›Schlepp mir kei nen Pollack ins Haus‹, hat meine Mutter gesagt. Ich darauf: ›Ist doch ein Deutscher, der Martin.‹ Da hat sie ge lacht und gefragt: ›Hast du denn noch nicht gehört, wie es klingt, wenn er den Mund auftut? Da kommt ja aus jedem Satz der Was serpollack hervor.‹ Mein Hinweis darauf, dass er 1888 unter drei Deutschen Kaisern Soldat gewesen ist, hat auch nichts genützt.« »Wieso drei Kaiser? War er denn ewig Soldat?« »Müsstest du doch besser wissen, Paul. Erst Wilhelm I., an schließend sein Sohn, Friedrich III. der ja nur neunundneunzig Tage Kaiser gewesen ist und dann starb, schließlich Wilhelm II. Drei Kaiser in einem Jahr. Und genau damals war Martin Soldat. Ich hab meinen Eltern die goldene Brosche mit den drei Zwanzig markmünzen auf den Tisch gelegt. Die hat wohl jeder Soldat be kommen, der in dem Jahr gedient hat. Aber sie wollten mir den ›Mann aus dem Pferdestall‹, wie mein Vater sagte, ausreden. Si cher, Martin ist in Westpreußen Pferdeknecht gewesen. Dahin wollte er aber nicht zurück und hat nach seiner Dienstzeit eine Stelle auf der Hütte bekommen. Hat sich vor keiner Arbeit ge scheut, der Martin. Ich hab meinen Kopf durchgesetzt und ihn ge
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heiratet. Aber das haben mir meine Eltern nie richtig verziehen.
Er ist für sie immer nur der Pollack geblieben.«
»Ob die Menschen überhaupt mal was dazulernen?«
»Wenn’s nicht so wäre, Paul, das wär ja schlimm.«
»Na, Mutter, wenn ich daran denke, wie es war, als ich die Fran
ziska heiraten wollte. Ich komme ja auch aus dem Osten und ihr
habt mich genug gefoppt und mich nachgeäfft, wenn der Masure
in meiner Sprache durchschimmerte.«
»Das war es nicht, Paul. Nicht dein Dialekt. Den kannte ich ja von meinem Mann gut. Aber du bist katholisch. Und die Reitzaks sind evangelisch. Das war es, was wir gegen dich hatten.« »Wo ist der Unterschied zu der Kaiserzeit, zu damals und heute?« »Haben wir Franziska etwa den Kopf kahl rasiert?«, fragte sie empört. Am nächsten Morgen saß Anna mit Frau Reitzak am Frühstücks tisch. Sie hatte sich einen rot-weiß gestreiften Schal kunstvoll um den Kopf geschlungen. »Sieht gut aus«, lobte Paul, der sich gerade auf den Weg zur Brauerei machte. »Wirst sehen, bald ist das die neue Mode.« »Bring mich nicht zum Lachen«, sagte sie und drückte die Hand gegen ihren Mund. »Tut weh, wenn ich die Lippen bewege.« Er stand schon in der Tür, als er ihr den Rat gab: »Ich hab aus Kirchwüsten Ziegenbutter mitgebracht. Streich dir damit den Riss ein. Wird dir gut tun.« Als die Frauen ihre Tassen leer getrunken hatten, stellte Frau Reitzak ihr das Glas mit der Ziegenbutter auf den Tisch.
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»Sieht aus wie Gänseschmalz«, sagte sie. »Vielleicht hilft es ja wirklich.« »Meinst du?« »Der Paul kennt viele Hausmittel. Das Dorf in Ostpreußen, aus dem er stammt, liegt Gott weiß wie weit von der nächsten Stadt entfernt. Drei Stunden zu Fuß bis zum Arzt. Da haben die Men schen gelernt sich selbst zu helfen. Versuchen würd ich’s an dei ner Stelle. Schaden kann es nicht.« Anna salbte sich die Lippen mit der Butter. Nach einer Weile sagte sie: »Tatsächlich. Die Spannung lässt nach. Wär auch zu dumm, wenn ich bei Holzbauer nur mit Mühe sprechen könnte. Hat Paul Ihnen erzählt, was mir passiert ist?« »Hat er, Anna. Aber sehr viel war es ja nicht. Vielleicht wird es für dich leichter, wenn du alles …« Aber dann sah Frau Reitzak, wie sich Annas Gesicht verschloss, und sie fügte schnell hinzu: »Lass mal, Anna. Alles zu seiner Zeit.« Nach einer Weile sagte sie: »Du solltest mich nicht immer mit Sie anreden, Anna. Ich heiße Mathilde. Alle rufen mich Tilla. Wenn du willst …« »Ja«, stimmte Anna zu. »Ich kenne die Reitzaks schon ziemlich lange. Franziska hat mir in Kirchwüsten viel von ihrer Familie und von ihrer Mutter erzählt. Eigentlich weiß ich mehr über Sie als über Paul.« »Sagst ja immer noch ›Sie‹ zu mir.« »Im Anfang werde ich mich wohl noch öfter versprechen, Tilla. Aber mit der Zeit …« ***
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Der Pförtner bei Holzbauers Betrieb war Anna unbekannt. Er öff nete das Fenster. »Was gibt’s?«, fragte er unfreundlich. »Guten Morgen. Ich bin bei Herrn Dr. Holzbauer angemeldet.« »Da kann ja jeder kommen. Wie heißen Sie?« »Anna Fink.« Anna sah, dass er zum Telefon griff. Er sprach sehr laut. Anna konnte jedes Wort verstehen, obwohl er das Fenster weder ge schlossen hatte. »Eine Anna Fink will … Ja. Behauptet, sie wäre angemeldet …. Ja, gut. Soll kommen.« Der Pförtner schien verär gert. »Gehen Sie an den Trümmern der Halle eins vorbei, dann rechts, da liegt die Baracke. Das ist die Direktion.« Baracke und Direktion, dachte Anna. Sie verzog die Lippen zu einem Lachen. Der Riss war kaum noch zu spüren. Die Ziegenbutter hatte wirklich geholfen. Die Außenmauern der Halle waren geschwärzt. Brandbomben wahrscheinlich, dachte Anna. Durch die Fensterhöhlen sah sie, dass innen ein Bautrupp am Werk war. Aus Halle zwei schallte das Kreischen von Maschinen, der vertraute Lärm von Eisen auf Eisen. Sie öffnete die Tür der Baracke und stand gleich im Schreibbüro. Eine ältere Frau hob ihren Blick von der Schreibmaschine. »Die Fink«, sagte sie. Neugierig schauten auch die anderen drei Schreibkräfte sie an. »Dass Sie wieder herkommen! Ich dachte schon, Sie hätt’s er wischt. Weil Sie damals doch Knall auf Fall verschwunden sind und wir nichts mehr von Ihnen gehört haben.« Anna kannte die Frau vom Sehen, aber an ihren Namen konnte sie sich nicht erinnern. Ihre Freundin Lore Quinders sah sie nicht.
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»Sie möchten zum Chef?« Anna nickte. Die Frau zeigte auf die Tür. »Einfach anklopfen und reingehen«, sagte sie und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Annas Herzschlag stolperte. Sie trat in das Zimmer. Holzbauer schaute von seinem Schreibtisch auf. Ihm gegenüber saß ein etwa vierzigjähriger Mann. Er trug eine Militärjacke. Als Anna eintrat, stand er auf. Holzbauer kam um den Schreibtisch herum und schüttelte ihr die Hand. »Sieh an, die Anna Fink«, sagte er. »Ich freue mich, dass Sie vor mir stehen. Sind Sie schon länger wieder in Duisburg?« »Ich bin erst vor wenigen Tagen angekommen, Dr. Holzbauer.« Sie blickte kurz auf den Mann, der etwas steif neben dem Schreibtisch stand. Der verbeugte sich leicht und stellte sich vor: »Luttrop«, sagte er. Holzbauer ergänzte: »Luttrop war Stabsfeldwebel und versteht was von der Organisation.« Dann wandte er sich an Luttrop und sagte: »Und das ist die Ingenieurin Anna Fink. War mal mein bes tes Pferd im Stall.« Er bot ihr den Platz neben Luttrop an. »Ich wollte Sie fragen, Dr. Holzbauer, ob ich wieder hier arbei ten kann. Aber wenn ich die Trümmer sehe und diese komfortab le Direktion, dann brauchen Sie wohl dringender einen Bauführer und Bauleute.« »Die auch, Anna. Aber Sie hätte ich trotzdem bitter nötig. Wir stellen allerdings keine Zünder für Bomben mehr her. Zum Glück. Ersatzteile für Maschinen sind heute gefragt. Arbeit genug für einen zweiten Ingenieur.«
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»Wenig Platz hier für ein Ingenieurbüro«, sagte sie. »Luttrop kann Ihnen zeigen, was vom Betrieb übrig geblieben ist. Wir bringen Sie schon unter. Sehen Sie sich alles an und geben mir dann Bescheid, ob Sie anfangen wollen.« Luttrop führte sie durch die Halle, in der die Schlosser und Dre her arbeiteten, und durch das gesamte Werksgelände. »Bleibt noch viel aufzubauen«, sagte sie. »Wir werden es schaffen«, versicherte Luttrop zuversichtlich. Weit hinten an der Grenze zum Nachbargrundstück war ein schmaler Ziegelbau wieder hergerichtet. Das Dach war mit Well blech gedeckt. »Waren das nicht früher die Küche und die Kantine?«, fragte sie. »Kann sein«, antwortete er. »Ich bin erst ein paar Wochen im Be trieb.« Er öffnete ihr die Tür. »Jetzt habe ich hier meinen Schreib tisch. Nebenan ist das Ingenieurbüro. Benno Neumann kennen Sie vielleicht noch. Er gehört zu dem Stamm von Leuten, die schon ewig hier arbeiten.« »Benno Neumann? War der nicht damals schon alt?« »Gerade fünfundsechzig geworden. Er ist aber ein paar Tage nicht da. Sein Sohn liegt im Münsterland im Lazarett. Da ist er hin. Will seinen Jungen da rausholen.« Luttrop führte sie in Neumanns Raum. Der war sehr groß für ei nen einzigen Ingenieur. Sie trat an das Zeichenbrett und betrach tete Bennos Arbeit. »Da«, sagte Luttrop und zeigte in die hintere Ecke. An der Wand stand ein weiteres Zeichenbrett. Anna wischte mit der Hand den Staub von dem Gestell. Das kleine Messingschild war
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nicht abgeschraubt worden, das Holzbauer für sie hatte anferti gen lassen, als sie von der Hütte in die Firma gekommen war. Anna Fink war in zierlichen Buchstaben eingraviert. »Sieht aus, als ob man Sie hier erwartet hätte«, sagte Luttrop. »Was machen Sie denn hier im Betrieb genau, Herr Luttrop?« »Ich versuche neues Leben in den Trümmerhaufen zu hauchen. Mal bin ich Bauführer, mal schaffe ich Aufträge heran, besorge Material und für das Personal bin ich auch zuständig. Sozusagen das Mädchen für alles. Und wenn Sie bleiben, finden Sie schon morgen Ihren Arbeitsplatz hier eingerichtet vor.« »Ja, ich will«, sagte Anna und reichte ihm die Hand. »Auf gute Zusammenarbeit«, sagte er. »Übrigens«, fragte Anna, »ist ein Herr Komann auch noch hier beschäftigt?« »Komann, Komann?« Anna spürte, dass ihr rechtes Augenlied leicht zu flattern be gann. »Der war hier, bis die Alliierten in das Ruhrgebiet eindran gen, Leiter des Werkschutzes.« »Sollen wir solche Leute etwa noch einstellen?« »Auch im Werkschutz gab es unterschiedliche Männer.« »War Komann ein scharfer Hund?« Sie hob die Schultern und antwortete nicht auf Luttrops Frage. »Und Lore Quinders? Früher im Büro?« »Nein. Ist mir nicht bekannt.« »Also gut, Herr Luttrop. Ich gehe noch zu Dr. Holzbauer. Bis morgen dann.« ***
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»Keine alten Bekannten wieder gesehen?«, fragte Frau Reitzak sie am Abend. »Außer Dr. Holzbauer habe ich nicht einen gekannt. Nur der In genieur Neumann ist noch da, hat aber für ein paar Tage frei.« Es dämmerte schon, als Paul im Anbau die Maurerkelle beiseite legte und zu ihnen in die Küche kam. »Noch zwei, drei Tage«, sagte er, »dann hab ich das Loch zuge mauert. Aber Steine brauche ich noch etliche, wenn ich morgen weitermachen will.« »Ich picke dir von den Trümmern nebenan noch welche sauber, Paul. Aber raufschleppen musst du sie selbst. Ich hab’s im Kreuz.« Frau Reitzak griff sich an den Rücken. »Vielleicht noch zweihundert Ziegel«, sagte Paul. »Das müsste reichen.« »Zement und Sand noch genug da?« »Zement wäre gut, Mutter. Aber woher nehmen? Doch der Schlackenbinder, den ich von der Brauerei mitbringe, tut es auch.« »Was ist das denn, Schlackenbinder?«, fragte Anna. »Eine bestimmte rote Hochofenschlacke, die gemahlen wird. Und siehe da, mit Sand vermischt gibt sie einen ganz passablen Mörtel ab.« »Hochofenschlacke?«, fragte Anna mit plötzlich zittriger Stim me. »Ja. Warum interessiert dich das? Willst du auch mauern?« »Ich hatte auf der Hütte mit Hochöfen und der Schlacke zu tun.« »Ich erinnere mich genau daran.« Frau Reitzak machte ein ver bissenes Gesicht. »Das Sauzeug hat den Bombern der Alliierten
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oft genug den Weg zu unserer Stadt gezeigt. Wurde ja drüben bei den Schrebergärten weggekippt. Dann leuchtete der Himmel feu errot. Oft genug verdämmerte die Glut nicht früh genug. Wie Sig nalfeuer für die Flugzeuge war das.« »Die flüssige, glühende Schlacke«, sagte Anna leise. »Da arbei teten fast nur die Kriegsgefangenen. Und manchen ist die Schla cke zum Schicksal geworden.« »Ja, ja«, bestätigte Paul. »Eine gefährliche Arbeit.« »Das auch. Aber für manche …« »Was meinst du mit ›Schicksal‹, Anna?« »Ach, nichts.« Sie wechselte schroff das Thema. Kam es Frau Reitzak nur so vor oder war Anna wirklich blass geworden? *** Anna ging morgens gegen halb sieben aus dem Haus und kam erst am Abend zurück. Gelegentlich brachte sie einen Blechtopf von dem Essen mit, das im Werk für die Arbeiter gekocht wurde. Luttrop hatte die Werksküche einrichten lassen und schaffte Kar toffeln und Gemüse herbei. Einmal hatte er mehrere Säcke Grau pen organisiert und es gab drei Wochen jeden Mittag Graupen suppe. »Immer diese Kälberzähne«, murrten einige Arbeiter. Ein anderes Mal wurde ein ganzer Lastwagen mit Weißkohl an geliefert. Als Anna Luttrop fragte, wo er die Lebensmittel eigentlich auf treiben könne, da doch in diesen Monaten fast alle Hunger litten,
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antwortete er: »Die Leute können mit leerem Magen nichts Ver nünftiges schaffen. Das wissen auch die, die so dringend von uns Ersatzteile für ihre Maschinen fordern. Ich mache ihnen das klar. Die meisten verstehen es, wenn ich sage: ›Nichts zu fressen, keine Ware.‹ Bei dem Wort ›fressen‹ zucken manche Herren in den dunklen Anzügen zusammen. Sie würden lieber so ein Wort wie ›kompensieren‹ hören. Aber sie verstehen mich genau. Die meis ten verabschieden mich mit dem Satz ›Wir wollen sehen, was sich machen lässt, Herr Luttrop. Eine Hand wäscht die andere. Und beste Grüße an Herrn Dr. Holzbauer.‹« Anna lachte und sagte: »Das kommt mir alles sehr bekannt vor. Als ich damals mein Examen in der Maschinenbauschule bestan den hatte und die Stelle in der Hütte zugewiesen bekam, haben sie mir das Arbeitsfeld ›Kriegsgefangene und Fremdarbeiter in unserem Werksbereich‹ zugeschoben. Ich war viel zu jung und unerfahren für so was. Außerdem sollte ich das nur mit der linken Hand erledigen. Ich sprach jeweils am Wochenbeginn mit den Meistern der Werkstätten und teilte ihnen die Zahl der Gefange nen zu. Meist folgte ich ihren Vorschlägen. Meine Hauptarbeit hatte ich im Konstruktionsbüro zu leisten. Eines Abends sah ich, wie die Russen, von Soldaten bewacht, zurück ins Lager geführt wurden. Sie schlurften dahin, müde, entkräftet. Zwei trugen auf einem Brett etwas, das sie mit einem Sack abgedeckt hatten. Ich fragte einen der Bewacher, ob sie etwas zu essen mit ins Lager nehmen dürften. ›Du ahnungsloser Engel du‹, antwortete der leise. ›Jeden Abend tragen sie einen oder mehrere Tote mit sich. Verhungert, verun glückt, erschossen.‹
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Ich erstarrte. Wochenlang hatte ich daran vorbeigeschaut. Auch danach floh ich immer wieder in das Wort, das für diese Männer verwendet wurde und zum Pflichtvokabular gehörte: ›Das sind bolschewistische Untermenschen.‹ Ich sah jetzt genauer hin. Etwa sechs Wochen später sprach ich mit unserem Betriebsleiter. ›Wir wollen von den Gefangenen Leistung. Viele von ihnen sind ausgebildete Facharbeiter und ste hen neben unseren Leuten an den Werkbänken. Aber ihre Ernäh rung ist eine Katastrophe. Jeden Tag fallen Fachkräfte aus. Wenn wir wollen, dass sie nicht schlappmachen oder viele wie bisher verhungern, dann müssen wir das ändern. Es ist doch Wahnsinn, wenn wir sie in ihre Arbeit eingewiesen haben und sie wirklich für die Produktion nützlich sind, dass wir sie dann verrecken las sen.‹ Betriebsleiter Leuwen war so an die sechzig Jahre alt. Ich habe ihn nie lachen sehen. Er hat mich müde angeschaut und gesagt: ›Ich habe schon mehrfach mit der Lagerleitung diesbezüglich kor respondiert. Aber wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verlo ren.‹ Und ich darauf: ›Dann müssen wir das innerbetrieblich regeln.‹ ›Lösungen?‹, fragte er. Ich schlug eine Werksküche vor. Von unseren Produkten müss ten wir eben etwas gegen Nahrungsmittel eintauschen. ›Sozusagen Gold gab ich für Eisen, oder?‹, fragte er spöttisch. ›Wie?‹ Ich verstand nicht, was er meinte. ›Haben Sie das nie in der Schule gehört? Im Ersten Weltkrieg hat der Kaiser die Menschen aufgerufen die Zehn- und Zwanzig markstücke aus echtem Gold gegen Papiergeld und billige Me
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tallmünzen einzutauschen. Das Tauschgeschäft würde helfen den Krieg zu gewinnen. Und das, meinen Sie, sollten wir abgewandelt auch versuchen: Eisen gegen Kartoffeln?‹ ›Ja, das meine ich‹, bestätigte er. ›Machen Sie mir bis morgen ei ne Statistik über die Abgänge und liefern Sie Begründungen da für, warum es betriebswirtschaftlich schädlich ist, die produkti ven Kräfte dieser Leute nicht dauerhaft nutzen zu können.‹ Ich habe die ganze Nacht gerechnet und begründet. Mir war ei ne Verordnung von Ende Oktober 1941 eingefallen, die auf Hitler zurückging. Darin hieß es, dass die Arbeitskraft der russischen Kriegsgefangenen ausgenutzt werden solle und es sei eine be scheidenste Versorgung vorgesehen. Mit Hilfe des Dolmetschers hatte ich die ungefähre Zahl der Gefangenen herausbekommen, die im letzten Monat umgekommen war. Die Toten wurden kurz mit ›Abgängen‹ bezeichnet. Ich war erschüttert. Komann, den ich ja schon mal erwähnt habe, erkundigte sich, warum ich das alles wissen wollte. ›So ein Unsinn‹, sagte er. ›Wie gehen denn diese roten Bestien mit unseren Soldaten um, die in Gefangenschaft geraten? Und un sere Leute sind wertvolle Volksgenossen, nicht so ein Abschaum wie diese Sowjets.‹ Ich hielt ihm die Hitlerverordnung entgegen. Komann erwiderte: ›Hermann Göring sagt, dass wir bei der Verpflegung der bolschewistischen Kriegsgefangenen an keine internationalen Verpflichtungen gebunden sind.‹ Ich ließ mich dazu hinreißen, darauf hinzuweisen: ›Herr Ko mann, vergessen Sie nicht, dass Russen auch Menschen sind.‹ Er lachte auf, blätterte in einer Zeitschrift und sagte erregt:
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›Untermenschen, Frau Fink. Untermenschen sind das!‹ Dann las er vor: ›Es hieße die Tiere beleidigen, wollte man diese Men schenschinder tierisch nennen.‹ Er warf die Zeitschrift auf mei nen Schreibtisch. ›Untermenschen, Frau Fink, merken Sie sich das.‹ Aber Komann konnte nicht verhindern, dass schon sechs Wo chen später eine Küche eingerichtet wurde. Vier Kochfrauen konnten eingestellt werden. Einmal am Tag bekamen die Gefan genen ein warmes Essen. Meist eine Kohlsuppe. Ein paar Kartof feln schwammen darin. Aber immerhin. Die Zahl der ›Abgänge‹ ging zurück. Die Produktion stabilisierte sich allmählich und das gab mir Recht. Komann blieb ein scharfer Gegner der ›Russenkü che‹, wie er sie nannte. Ich hatte den Verdacht, dass er mich auf Schritt und Tritt beobachten ließ. Das war wegen meiner Kontak te zu Grigori nicht ungefährlich.« »Was für Kontakte?« Sie wich einer klaren Antwort aus. »Grigori sprach gut Deutsch. Er war mein Dolmetscher. Ich begann mich vor Komann zu fürch ten. Zufällig traf ich Dr. Holzbauer. Ich teilte ihm meine Sorgen mit. Er sagte, die Gelegenheit sei günstig. Ob ich einverstanden sei, dass er versuche mich von der Hütte weg in seinen Betrieb zu holen. Auch bei ihm würden Zwangsarbeiter und Kriegsgefange ne arbeiten. Damit kenne ich mich ja nun aus.« Anna verstummte. Warum habe ich ausgerechnet Luttrop, den ich doch kaum kenne, das alles erzählt, fragte sie sich. Luttrop hatte gespannt zugehört. »Und warum fand Holzbauer die Gelegenheit günstig, Sie dort wegzuholen?« »Nach einem nächtlichen Bombardement, bei dem der Werk
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stättenbereich der Hütte getroffen wurde, stockte meine Ar beit.« »Ich bin froh, Frau Fink, dass Sie in unserem Betrieb arbeiten.« *** Paul hatte endlich die beiden Zimmer im Anbau wieder bewohn bar gemacht. Ein Handwerker der Brauerei kam abends und ver legte die Stromkabel. »Woher haben Sie das Material?«, fragte ihn Frau Reitzak. »In den Trümmern der Häuser, in den Kellern, die nicht zusam mengestürzt sind, findet man manche Schätze«, sagte er. »Darf man das denn da so einfach rausholen?« »Nie sollst du mich befragen«, antwortete er. Sie dachte an die Ziegel, die sie von nebenan genommen hatte, und verstummte. Dieser verflixte Krieg hat uns alle verändert, dachte sie und wunderte sich über sich selbst. In früheren Jahren hätte sie nicht einen einzigen Stein von den Nachbarn genommen. Einmal war ihr Sohn Leo, etwa zehn Jahre alt, mit einer Hand voll Stachelbeeren ins Haus gekommen. Als er gestand, er habe sie von einem Strauch im Garten gepflückt und die Frau Cremmes sei einkaufen und würde auch bestimmt nichts merken, da hatte sie dem Jungen eine Tüte gegeben. Er musste die Beeren hinein füllen und sie zu Frau Cremmes hinunterbringen. »Sag ihr, dass du sie gestohlen hast, und versprich ihr, dass du es nie wieder tun wirst.« Als er herumdruckste, hatte sie ihm gedroht: »Ich werde sie nachher fragen, ob du es auch gemacht hast.« Später hatte Frau Cremmes sie angesprochen und Leo gelobt:
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»Ist aber wirklich ein netter Junge. Er ist gekommen und hat ge sagt, er hätte für mich die Stachelbeeren gepflückt.« »Das hat er Ihnen gesagt?« »Ja, komisch war nur, dass er mir versichert hat, er würde es nicht noch einmal tun. Ich war so gerührt, dass ich ihm die Beeren geschenkt habe.« Frau Reitzak erinnerte sich, dass sie sich damals den Schlingel vorgeknöpft hatte. »Na, haben dir die Stachelbeeren ge schmeckt?«, hatte sie ihn gefragt. »Zuckersüß und saftig, Mama«, war die Antwort gewesen. Leo hatte seiner Mutter angesehen, dass sie ärgerlich war. »Sie hat sie mir wirklich geschenkt, Ma ma«, hatte er leise hinzugefügt. Frau Reitzak lachte auf, als ihr das alles wieder einfiel. »Ist was?«, fragte der Handwerker. »Nein, nein«, beteuerte sie. »Die Zeiten haben sich geändert und wir mit ihnen.« »Tempora mutantur«, sagte der Handwerker. »Bitte?«, fragte Frau Reitzak. »Ach, nichts weiter. Ich war früher mal im Gymnasium. Das eben war ein lateinischer Spruch.« »Und was heißt das?« »Genau das, was Sie eben auf Deutsch gesagt haben. Das haben schon die alten Römer gewusst.« »So was«, sagte sie, »und ich dachte immer, den Satz hätte mei ne Mutter sich ausgedacht.« Zwei weitere Männer halfen Paul, die Wände sauber zu verput zen. »Hast noch was gut bei uns«, sagten sie. Sie hatten vor dem
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Krieg jeden zweiten Freitag abends bei Paul und Franziska in der Küche gesessen und sich von dem Hausfriseur Fritz Ott die Haare schneiden lassen. Paul hatte dann immer sehr freigebig von sei nem Deputatbier auf den Tisch gestellt und dafür nie auch nur ei nen Pfennig verlangt. Deshalb vor allem konnten sie darüber hin weggesehen, dass Fritz Ott dem Bier fleißig zusprach und von Schnitt zu Schnitt kreativer geworden war. Schließlich verlangte er pro Schur nur fünfundzwanzig Pfennig. Im Frisiersalon musste man, wenn man sich von einem Fachmann bedienen ließ, fünfundsiebzig Pfennig bezahlen. Das war ein ganzer Stunden lohn. Geld sparen können und Freibier trinken dürfen, das hatten sie dem Paul Bienmann nicht vergessen. Kaum war der Putz leidlich abgetrocknet, machte sich Paul da ran, die Wände zu streichen. »Das kann ich selbst«, behauptete er. »Fritz Schrader hat mir genau beschrieben, wie ich es machen muss.« Er fragte Anna: »Was hältst du davon, wenn ich als Farbe ein schönes Gelb nehme?« »Warum gerade Gelb, Paul?« »Ich habe die Wahl zwischen Rosa und Gelb. Andere Trocken farben kann ich im Augenblick nicht auftreiben.« »Na, dann lieber ein blasses Gelb«, riet sie. »Das gibt der Woh nung eine gewisse Wärme.« Was Paul aber dann auf die Wände brachte, war ein leuchtender, starker Farbton, ein Gelb, das selbst einen Kanarienvogel hät te blass aussehen lassen. Anna drückte vorsichtig ihre Zweifel aus. »Ich weiß nicht, ob das Franziskas Geschmack trifft, Paul. Du müsstest vielleicht den intensiven Eindruck dieser Gelborgie etwas mildern.«
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»Aber wie soll ich das machen? Es ist doch alles fertig.« Anna nahm ein altes Wischtuch, feuchtete es an und drehte es zu einer Art Rolle. »Wenn du so ein Tuch in Farbe tauchst, es auswringst und es dann über die Wände rollst, gibt es ein Muster. Das hat meine Mutter immer so gemacht, als wir noch im Gestüt wohnten.« Paul schaute sie ungläubig an. »Kannst du ruhig versuchen«, versicherte sie. »Du hast gesagt, außer Gelb könntest du auch noch an rosa Farbe kommen. Ein hauchzartes Rosa, Paul. Wie ein leichter Schleier legt sich dann das Muster über das Gelb.« »Wenn du meinst«, stimmte Paul zu. Anna kam am nächsten Abend ziemlich spät aus dem Betrieb. Frau Reitzak saß am Küchentisch und sah bedrückt aus. »Was ist passiert, Tilla?« Sie winkte ab, zeigte aber dann auf die Tür zu den Zimmern im Anbau und flüsterte: »Fürchterlich, Anna. Das angebliche Rosa ist ein Ochsenblutrot. Das Zimmer sieht aus wie eine blutbesudelte, mittelalterliche Folterkammer. Aber ich kann es dem Paul nicht sagen, dass die Franziska entsetzt zurückprallen wird. Er ist näm lich stolz auf sein Werk und freut sich wie ein Kind darüber.« »Meinst du, ich soll es ihm beibringen, Tilla?« »Lieber nicht, Anna. Manchmal kann der Paul nämlich eklig jähzornig werden. Vielleicht wirft er dir dann den Eimer mit dem Rest der Farbe nach. Wenn du ihn lobst, dann ist wenigs tens ihm die Freude nicht verdorben. Und ändern kann man es jetzt sowieso nicht mehr. Er kann ja nur Gelb und Rosa herbei schaffen.«
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»Hast wahrscheinlich Recht, Tilla. Du weißt am besten, wie der Paul zu nehmen ist.« Sie drückte vorsichtig die Türklinke nieder und schaute in das Zimmer. Sie musste die Augen schließen. »Na, Anna, was sagst du dazu?«, fragte Paul. Sein Arbeitsanzug war über und über mit Farbe bekleckert. Aber sein ganzes Gesicht drückte Zufriedenheit aus. »Starker Eindruck«, sagte sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so einen intensiven Anstrich zu Stande bringen würdest.« Er strahlte. »Morgen wird alles tipptopp sauber gemacht und am Samstag fahre ich nach Kirchwüsten und hole Franziska und den Jungen in die Heimat zurück.« »Fährst du mit einem Handkarren?«, spottete sie. »Von wegen Handkarren. Ich habe von der Brauerei einen Last wagen für das Wochenende zur Verfügung gestellt bekommen. Einen klapprigen Laster mit Holzgasantrieb zwar nur, aber sogar mit Chauffeur. Der kennt Franziska von früher. Da war er näm lich mal Herrenfahrer bei der Familie Baron. Franziska hat da mals für Frau Baron Kleider entworfen und genäht. Jetzt steuert der Chef seinen PKW selbst und Fritz Keulen ist auf den LKW umgestiegen.« »Ich könnte ja eigentlich ein, zwei Tage mit dem Zug vor dir los fahren«, schlug Anna vor. »Bei so einem Umzug ist jede Hand willkommen. Außerdem würde meine Mutter enttäuscht sein, wenn ich nicht mit nach Kirchwüsten käme.« »Von mir aus, gern«, stimmte Paul zu. »Am Sonntag sind wir dann mit Sack und Pack zurück in Beeck.« Später tuschelte Frau Reitzak der Anna zu: »Vergiss nicht meine Tochter auf Pauls Gefühl für starke Farben vorzubereiten.«
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»Auch deshalb will ich ja mit«, sagte Anna. »Dr. Holzbauer ist sicher einverstanden, wenn ich mir zwei Tage frei nehme.« *** Als Pauls Brief mit der Nachricht, die Zimmer seien jetzt fertig, endlich ausgeliefert wurde, war Anna schon in Kirchwüsten an gekommen. Sie half Franziska und Stefan ihre Sachen zu packen. In all dem Durcheinander von Möbelteilen, Paketen, Körben und Koffern fiel Franziska die Flasche Wein in die Hände, die Stefan von seinen Beutezügen mitgebracht hatte. »Die hatte ich ganz vergessen«, sagte sie. »Eigentlich könnten wir Lena und Robert Freitagabend einladen und Abschied feiern. Was meint ihr dazu, Stefan und Anna?« »Die würden sich sicher freuen. Ich muss aber vorher nach Lo heiden und dem Willi Auf Wiedersehen sagen.« »Der kann auch kommen. Auf unserer Lebensmittelkarte sind noch ein paar Marken für Fleischwaren. Vielleicht kannst du mit deinem Fahrrad weiterfahren und in Horn in der Metzgerei Würstchen oder Fleischwurst bekommen. Ich werde Kartoffel salat machen. Dazu der Wein, das wäre ja ein richtiges Fest mahl.« »Die haben längst nicht jeden Tag Fleisch im Laden«, wandte Stefan ein. »Wenn überhaupt, dann gibt’s Fleisch am Wochenende«, sagte Franziska. »Aber du musst Freitag schon früh dort sein, sonst be kommst du bestimmt nichts.« Stefan passte es zwar nicht, dass er die drei Kilometer über Lo
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heiden hinaus noch bis Horn fahren sollte, aber er wollte in diesen letzten Tagen keinen Ärger mehr und stimmte zu. Obwohl er am Freitag bereits gegen halb acht losgefahren war, stand vor der Metzgerei eine lange Menschenschlange. Das war ein Zeichen dafür, dass an diesem Tag vielleicht Fleisch angelie fert werden sollte. Stefan reihte sich ein. »Hoffentlich ist nicht alles ausverkauft, wenn wir dran sind«, sagte die Frau, die vor ihm wartete. »Vorige Woche sagte der Metzger schon nach einer Stunde: ›Schluss für heute.‹ Und wirk lich, der Laden war wie leer gefegt. Früher, ja früher vor dem Krieg, da wurdest du immer gefragt: ›Darf es etwas mehr sein, junge Frau?‹ Das möchte ich noch mal erleben. Aber es sieht nicht so aus, als ob sich überhaupt etwas zum Besseren ändert.« Diesmal sollten sie und Stefan nicht vergeblich angestanden ha ben. Stefan gab der Verkäuferin die Lebensmittelkarten und die schnippelte die Fleischmarken ab. »Für alles Brühwürstchen«, verlangte Stefan. Sie legte die Würstchen auf die Waage und sagte: »Langt nicht ganz für sieben Stück. Ich muss dir von einem etwas abschneiden.« »Die sehen so aufgepumpt aus«, antwortete Stefan. »Hoffentlich zischt die Luft nicht raus, wenn Sie mit dem Messer rangehen.« Die Verkäuferin lachte, schaute sich nach dem Meister um, und als sie sah, dass der einen Markknochen spaltete und sie nicht im Blick hatte, packte sie doch die sieben Würstchen in ein Stück Zei tungspapier, zwinkerte ihm zu und fragte: »Sonst noch was, jun ger Herr?« »Vielleicht ein Kilo Räucherschinken, aber bitte nicht zu fett. Darf auch etwas mehr sein.«
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Der Metzger wurde aufmerksam und rief durch den Laden: »Kommen Sie in fünf Jahren wieder. Dann bekommen wir Schin ken rein.« »Glaub ich nicht«, sagte die Frau. »Solche Zeiten erleben wir in Deutschland nicht mehr.« Auf dem Rückweg fuhr Stefan bei Willi vorbei und lud ihn ein. »Es gibt Kartoffelsalat mit Würstchen«, sagte er und tippte auf das Fleischpäckchen. »Du gehst nicht am späten Abend durch den Wald«, sagte Wil lis Vater. »Das ist viel zu gefährlich. Treibt sich immer noch viel fremdes Pack rum.« Er blickte Stefan nicht an. »Und außerdem, wer will aus unserem Dorf schon nach Kirchwüsten? Wir sind Lipper, die sind Paderborner. Wir sind evangelisch, dort drüben sind alle schwarz bis auf die Knochen.« »Hab ich in den letzten Jahren wenig von gemerkt, dass wir evangelisch sind«, maulte Willi. »Dein Glaube war doch Adolf Hitler, Papa.« »Wie redest du mit mir?«, empörte sich der Vater. Willi meckerte herum, er sei schließlich kein Kind mehr. Mit Ste fan durfte er aber trotzdem nicht gehen. Zum Abschied schenkte Willi seinem Freund ein goldenes Par teiabzeichen der NSDAP. Stefan betrachtete die runde Plakette mit dem Hakenkreuz und drehte sie unschlüssig in der Hand. »War dein Vater ein alter Kämpfer bei den Nazis?«, fragte er ver blüfft. »Quatsch. Der ist erst 1936 in die Partei eingetreten. Das Abzei chen ist selten. Ich glaube, nur die allerersten Parteigenossen ha ben überhaupt so eins verliehen bekommen. Es stammt aus den
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Kisten oben in der Waldmühle. Bei den Amis kannst du es, wenn du willst, eintauschen und bekommst Gott weiß was dafür. Die sind ganz scharf auf solche Raritäten.« »Das werde ich nie weggeben, Willi«, versprach Stefan. Er druckste eine Weile herum und sagte: »Ich habe gar kein Anden ken für dich.« Dann nahm er aus dem Päckchen eins von den Würstchen. »Wenigstens nimm das. Kannst es ja aufheben.« »Tu ich auch«, versicherte Willi. »Aber nur bis heute Abend. Zeigen werde ich es keinem. Sonst muss ich es noch mit den ande ren teilen.« »Alter Egoist!«, rief Stefan. Dann radelte er los. Willi winkte ihm nach, bis er in der Kurve verschwunden war. Als Franziska die Finks heraufkommen hörte, war der Tisch längst gedeckt. Aber weder Franziskas berühmter Kartoffelsalat noch die Würstchen und der Wein konnten die Abschiedsstim mung vertreiben, die über dem Abend lag. »Ich erinnere mich genau, wie das war, als ihr damals angekom men seid«, sagte Lena. »In den ersten Wochen meinten wir ja, wir könnten gemeinsam in meiner Küche wirtschaften. Aber dann standen wir Frauen uns oft im Weg.« Sie lachte ein wenig verle gen, fuhr aber doch fort: »Vielleicht waren Franziska und ich uns zu ähnlich. Wir waren es beide gewohnt, in unserem Reich allein zu bestimmen. Robert kam auf die Idee, die beiden Dachzimmer für euch auszuräumen.« »So bin ich also um mein Zimmer im Elternhaus gekommen«, sagte Anna. »Bist ja selten genug hier gewesen.«
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»Von dem Tag an sind wir doch ganz gut miteinander ausge kommen, oder?«, fragte Franziska. Lena nickte. »Es fällt mir jetzt sogar ziemlich schwer, mir vorzu stellen, dass ihr ab Montag nicht mehr bei uns wohnt. Seit unser Christian vor fast zehn Jahren nach Kolumbien gegangen ist und Anna in Duisburg lebt, wurde es doch ziemlich still in unserem Haus.« »Wir sind jetzt fast drei Jahre in Kirchwüsten«, sagte Stefan. »Als ihr zu uns kamt, war es mit der Stille vorbei.« Robert lachte. »Franziska hat eine kräftige Stimme und hat oft und gern gesun gen.« »Na«, spottete Stefan, »in unseren Schulchor wäre sie nicht auf genommen worden. Sie kann den Ton nicht halten und es klingt schaurig, wenn sie Am Brunnen vor dem Tore oder Im schönsten Wiesengrunde singt.« »In euren Schulchor wäre ich nie eingetreten. Ihr habt lauter Na zilieder gesungen. Die Fahnen hoch und Heilig Vaterland und Füh rer befiehl, wir folgen dir und so was.« »Stimmt, aber manchmal hatte ich doch ein feierliches Gefühl dabei und bekam eine Gänsehaut. So ungefähr wie ein Held kam ich mir vor, wenn es hieß Der Jüngste war erst fünfzehn Jahr und er scheute nicht den Tod fürs Vaterland.« »Du bist mir schon ein merkwürdiger Held! Wie war das denn vor ein paar Wochen, als die Amis dich kassiert haben? Da war von dem Helden nicht mehr die Spur zu merken, oder?«, fragte Robert. »Und Franziska? Lena hat mir erzählt, sie wär wie ein aufge scheuchtes Huhn durchs Dorf gerannt und hätte überall nach mir gefragt.«
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»Ja, Stefan. Stimmt. Ich hatte Angst um dich und bin sogar bis nach Loheiden zu deinem Freund. War aber auch verrückt von dir, wie du dich angezogen hast, als du losgingst. Du hattest dir zum ersten Mal wieder die braune, lange Hose von der Feuer wehr-HJ angezogen, obwohl es Anfang Juni und ziemlich heiß war. Und dann die Schaftstiefel, die du aus den Wäldern mitge bracht hast. Sahst aus wie ein Fahnenjunker, der abgehauen war und versuchte heimlich nach Hause zu kommen. Prompt haben dich die Amis erwischt. Erzähl mal, wie es genau war. Hast ja kaum darüber gesprochen.« »Eigentlich wollte ich zu Willi rüber. Ich fuhr gerade an der Mö belfabrik in Loheiden vorbei, da kamen vier Jeeps angebraust. Ei ner stoppte. Zwei GIs sprangen ab und stießen mich auf den Hin tersitz des Wagens. ›Mak snell, mak snell‹, rief einer. Mein Fahr rad blieb stehen. Auch die anderen Jeeps gingen auf Männerfang. Selbst Opa Stratekamp haben sie mitgenommen. Und der ist doch bestimmt an die siebzig. Im Blomenkrug haben sie uns in die Gaststube ge bracht. Es waren an die zwanzig, die sie zusammengebracht hat ten. Maikamm war auch dabei. Er tuschelte mir zu: ›Sag bloß nichts davon, dass wir im Volkssturm gewesen sind.‹ Hinter dem Tisch saß ein Sergeant. Ich kam als Letzter an die Reihe. Der Sergeant starrte mich eine Weile an und befragte seine Leute. Irgendwas mit Kindergarten sagte er, glaube ich. Ich muss te ein Stück zurücktreten, damit er mich von oben bis unten an schauen konnte. Er schüttelte den Kopf. Ich sollte ihm meinen Ausweis zeigen. Ich war doch Ende 1944 gemustert worden und hatte einen Wehr
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pass bekommen. Darin stand, dass ich vom Kriegsdienst zurück gestellt worden war. Ihr wisst ja, ich hatte damals Glück. Ich war nämlich gemeinsam mit Günter Verland in die Turnhalle unserer Schule geführt worden. Beide standen wir nackt vor einer Kom mission von etwa fünfzehn Männern, Offiziere in Uniform und auch drei, die einen weißen Kittel trugen. Günter sahen sie nur kurz an und waren sich einig. Er wurde für kriegsverwendungs fähig erklärt. Er war ja wie ich eins fünfundachzig groß und ein Bulle von Kerl. Ich hätte mich hinter ihm ungesehen ausziehen können. Mager und schmal stand ich da. Einer der Ärzte trat an mich heran und befahl: ›Brust raus, Mann!‹ Ich streckte raus, was ich hatte. Er tippte mit seinem Finger auf meine linke Brustseite. ›Rachitis gehabt?‹ Mein Vater hatte immer ›Hühnerbrust‹ zu den etwas einge drückten Rippen gesagt und meine Mutter: ›Er hatte die englische Krankheit.‹ Aber gut, wenn der Arzt das Rachitis nannte, sollte es mir auch recht sein. Ich nickte. ›Kannst du nicht sprechen?‹, fragte er scharf. ›Jawoll‹, rief ich. Sie berieten sich kurz und diktierten dem Protokollführer, dass ich zurückgestellt sei. Ich war enttäuscht. Schließlich konnte ich mit dem MG 42 umgehen und wusste, wie man die Panzerfaust abschießt. Willi und ich hatten das im Wehrertüchtigungslager in Detmold trainiert. Also: zurückgestellt. Ich konnte dem Ami den Wehrpass unbesorgt vorzeigen. Stand ja Schwarz auf Weiß darin, dass ich nicht eingezogen worden war. Der Sergeant wollte wissen, ob sie mich zum Volkssturm geholt hatten.
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›No, Sir.‹ Ich musste meine Taschen ausleeren und alles vor ihn auf den Tisch legen. Auch den Lederbeutel mit den Münzen, die ich gesammelt hat te, packte ich dazu. Er schnürte den Beutel auf und betrachtete die Geldstücke genau. Französische Francs, polnische Slotys, norwe gische Oere, lauter wertloses Zeug. Das einzige Silberstück war ein winziges Zehn-Cent-Stück aus Holland. Dann hielt er eine Kupfermünze zwischen Daumen und Zeigefinger ins Licht. Eine russische Kopeke. Ich Esel wies ihn noch darauf hin, dass sie 1799 geprägt worden war. Er schaute mich an und sprach mit einem Male ein akzentfreies Deutsch. Er sagte: ›Polen, Frankreich, Nor wegen, Holland, Russland. Ausgeplündert habt ihr all diese Län der. Das Zeug ist beschlagnahmt.‹ Der Sergeant gab mir den leeren Lederbeutel zurück. Die ande ren Sachen, die ich bei mir hatte, durfte ich wieder einstecken. So gar das Taschenmesser nahm er mir nicht weg. Den GIs gab er ei nen Wink. Sie trieben mich zu den Männern auf die Ladefläche ei nes Lastwagens. Zwei von ihnen setzten sich auf die Fahrerkabine und hielten ihre Maschinenpistolen schussbereit unter dem Arm. Wir wurden nach Horn geschafft. Am Rande der Stadt mussten wir auf dem Platz vor einem grö ßeren Haus absteigen. Es standen mindesten hundert Männer in kleinen Gruppen herum. Auf einem Shermanpanzer am Eingang zu dem Sammelplatz hockte ein halbes Dutzend Bewacher. Sie hatten einen guten Überblick. Viele Parolen gingen von Mund zu Mund. ›Sie bringen uns alle in ein Gefangenenlager.‹ Das klang noch am ehesten wahrscheinlich. Bislang war mir alles wie ein
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Abenteuer vorgekommen. Aber jetzt packte mich doch die Angst. Einer nach dem anderen wurde in das Haus geführt. Der Name und das Geburtsdatum wurden in eine Liste eingetragen. Noch bevor ich an der Reihe war, musste ich zum Klo. Ich zog mir die Hose aus und schnitt mit dem Taschenmesser die Hosenbeine ab. Die Stiefel ließ ich einfach da stehen. Barfuß und mit den nun kurzen Hosen ging ich wieder auf den Hof. Unauffällig schlenderte ich bis an den Panzer heran. ›Go home, boy‹, sagte einer der Soldaten. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich zwang mich nicht zu rennen. Würden sie mich zurückrufen? Ich atmete erst auf, als ich um die Ecke gebogen war. Zweimal hörte ich auf dem Weg nach Lohei den das Geräusch eines Hubschraubers. Ich sprang in den Stra ßengraben, noch bevor ich ihn sehen konnte. Auch den Jeep, der auf Horn zufuhr, entdeckte ich rechtzeitig und duckte mich hinter einen Busch. In Loheiden ging ich zuerst zu Willi. Seine Mutter sagte: ›Gott sei Dank, da bist du ja. Deine Mutter war schon hier.‹ Ich habe ihr zwar gesagt, dass du, Franziska, nicht meine Mutter bist, sondern meine Tante, aber sie ist dabei geblieben und hat auch danach immer von meiner ›Mutter‹ gesprochen. ›Frau Maikamm wusste, dass die Amerikaner dich mitgenom men hatten. Deine Mutter hat Rotz und Wasser geheult.‹ Willis Vater kam danach auch noch herein. ›Mach dich schleu nigst aus unserem Haus raus‹, hat er gesagt. ›Wir wollen wegen dir Bengel nicht in Schwierigkeiten kommen.‹ ›Ich wäre sowieso gegangen‹, hab ich geschrien. Wirklich, ich bin im Dauerlauf bis zur Möbelfabrik. Das Rad stand noch an der
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Mauer. Ich glaube, ich bin niemals vorher so schnell nach Kirch wüsten gefahren. Du, Franziska, hast kein Wort rausgekriegt, aber mich fest in den Arm genommen und mich gedrückt, als ob du mich erwürgen wolltest.« »Stimmt«, bestätigte Franziska. »Da haben wir zusammen ge heult und ich hab gespürt, Stefan, dass du zu Paul und mir ge hörst. Für immer, hörst du.« »Mensch, Stefan«, sagte Robert. »Ich weiß, dass die anderen alle in einem Lager gelandet sind. Tausende waren darin. Soll ein nackter Acker gewesen sein. Nur mit Stacheldraht eingezäunt. Fast nichts zu fressen und dann der Regen Tag für Tag. Das haben viele, viele nicht überlebt.« Sie kramten noch in ihren Erinnerungen. Nur Anna saß still bei ihnen. Sie erzählte nichts von dem, was in Duisburg damals ge schehen war. »Es war eine verrückte Zeit. Ich glaube, in den letzten Jahren ha ben wir so viel erlebt, wie andere in einem ganzen Leben nicht.« Lena stand auf. »Wir gehen jetzt besser runter. Morgen habt ihr ei nen schweren Tag.« *** Stefan fiel es schwer, Kirchwüsten zu verlassen. Als sie am Sonn tag losfuhren, saßen Anna und er zwischen den Möbeln, auf der Ladefläche des Lasters. Paul hatte sich zwar angeboten Anna den Platz neben dem Fahrer zu überlassen, aber die hatte darauf be standen, dass Franziska und er dort sitzen sollten. »Ihr seid lange genug getrennt gewesen«, hatte sie gesagt. Wortkarg hockte Ste
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fan neben Anna. Der Holzgasantrieb erlaubte nur ein langsames Fahrtempo. Allmählich blieb die Bergkette des Eggegebirges zu rück und war schließlich nur noch ein bläulicher Schatten am Ho rizont. Anna sah, dass Stefan Tränen in den Augen standen. »Als ich damals nach Duisburg ging«, sagte sie, »war ich gerade vierzehn. Ich wollte bei Verwandten eine Uhrmacherlehre beginnen. Ein technischer Beruf war mein Traum. Trotzdem ist es mir schwer gefallen, von Kirchwüsten wegzugehen. Die Berge haben wohl et was Magnetisches an sich. Ich hab auch geweint, als ich auf brach.« »Ich weine nicht. Ist der Fahrtwind und der Gestank aus dem Holzgaskessel«, behauptete Stefan. »Aber du bist doch gar nicht Uhrmacherin geworden.« »Ich bin losgefahren, ohne mich bei den Verwandten anzumel den. Ziemlich leichtsinnig, nicht wahr? Aber ich hoffte, Tante und Onkel würden mich nicht wegschicken. Sie hatten selbst keine Kin der. Als ich das Geschäft in Beeck in der Kaiserstraße fand, war es geschlossen. War eine schlechte Zeit für Uhren und Schmuck in ei nem Arbeitervorort. Über sechs Millionen Arbeitslose. Viele wuss ten nicht, wie sie sich und die Familie durchbringen sollten. Sie wa ren froh, wenn sie nicht hungern mussten. Meine Verwandten wa ren bankerott und konnten Geschäft und Vermögen in den Schornstein schreiben. Aber ich habe wohl den Dickkopf von mei ner Mutter geerbt. Auf keinen Fall wollte ich zurück nach Kirch wüsten. Viele im Dorf hätten sicher hämisch gelacht, wenn ich wie der aufgetaucht wäre. Sie spotteten sowieso über das Mädchen, das unbedingt etwas Technisches lernen wollte.«
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»Und wie ging es weiter?« »Nun, den ganzen Sommer habe ich etwas gemacht, was ich ei gentlich auf gar keinen Fall tun wollte. Unser Christian war ein Jahr vor mir aus der Schule entlassen worden und arbeitete mit den Lippischen Ziegelbrennern in einer Ziegelei zwischen Beeck und Beeckerwerth.« »Die kenne ich«, sagte Stefan. »Sie ist aber nur noch eine Ruine. Da haben wir als Kinder oft gespielt. Die lag dicht bei dem Rus senlager.« Anna verstummte. »Und weiter?«, fragte Stefan. Sie schluckte, fuhr aber dann fort: »In der Ziegelei war die Koch frau weggelaufen. Da habe ich dann für die Kerle gekocht.« »Mit vierzehn Jahren?« »Meine Mutter hatte mir beigebracht, wie man einfache Speisen auf den Tisch kriegte. Ich wurde in Kirchwüsten auch immer mal wieder als Aushilfe in die Küche des Herrenhauses zu den Trapp hoffs gerufen. Unsere Wohnung war damals an dem Pferdestall des Gestüts angebaut. Meine Mutter ist wohl mit Pferdemilch großgezogen worden. Sie konnte im Gestüt wie keine zweite mit den Tieren umgehen.« »Ab und zu wird sie immer noch geholt«, sagte Stefan. »Der Herr Wilhelm wollte sie nicht gehen lassen. Ich glaube, er hat ihr sogar angeboten Stallmeisterin bei Trapphoffs zu werden. Aber mein Opa wurde krank und musste gepflegt werden. Da sind meine Eltern in Opas Haus mitten ins Dorf gezogen. Mein Vater springt ja gelegentlich noch immer als Herrenfahrer bei Herrn Wilhelm ein. Ich jedenfalls habe durch die Ziegelei Dr.
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Holzbauer kennen gelernt. Der hatte mir eine Lehrstelle als Me chanikerin in seinem Betrieb versprochen. Dann wurde meine Mutter von einem Hengst getreten. Sie war lange, lange krank. Wenn du genau hinschaust, siehst du es: Sie hinkt manchmal im mer noch ein bisschen. Als die Kampagne in der Ziegelei im Herbst 1932 zu Ende war, bin ich nach Kirchwüsten zurück. Was blieb mir anderes übrig? Blut ist eben dicker als Wasser. Aber der Gedanke ›Du willst in einen technischen Beruf‹ hat mich nicht los gelassen. Ich konnte bei Holzbauer im folgenden Jahr anfangen. Später dann die Maschinenbauschule und dann an die Arbeit.« »Und weiter?«, drängte Stefan. »Du warst doch zuerst als Inge nieurin auf der Hütte. Warum erzählst du davon nie etwas?« »Du bist ein neugieriger Kerl. Ich bin müde. Lass mich jetzt in Ruhe.« Sie lehnte ihren Kopf gegen eine Matratze und schloss die Augen. Ihre Augenlider zitterten. Irgendetwas verschweigt sie, dachte Stefan. Der Lastwagen stoppte. Paul stieg aus der Fahrerkabine und sagte: »Der Holzvergaser braucht neues Futter.« Er kletterte unter Mühen und Verwünschungen auf die Ladeflä che, öffnete den Deckel des Kessels und schüttete einen ganzen Sack voll Holzstücke hinein. Sorgfältig verriegelte er den Deckel wieder. Er stöhnte und sagte: »Hast gesehen, wie man das macht?« Stefan nickte. »Beim nächsten Mal kannst du für Nachschub sorgen. Mir tun alle Knochen weh.« Es musste noch zweimal nachgefüllt werden, bis endlich der Turmstumpf der Beecker Laurentiuskirche in Sicht war. Der Fah rer hatte es nun sehr eilig, wegzukommen.
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»Wir sind spät dran, Paul. Ich muss nach Hause. Wir stellen eu re Sachen erst mal auf den Bürgersteig. Ihr könnt ja dann in Ruhe alles hinauf schaffen.« Er ließ sich nicht umstimmen und wollte nicht mal die Tasse Kaffee trinken, die Frau Reitzak ihm anbot. »So kenne ich den Fritz gar nicht«, murmelte Paul und schüttel te den Kopf. »Ist doch ganz einfach zu verstehen, Paul«, sagte Frau Reitzak. »Ihr habt für heute nun mal den Wagen zur Verfügung gestellt be kommen. Fritz macht jetzt noch eine andere Tour auf eigene Rech nung.« »Muss man erst mal draufkommen«, gab Paul zu. *** Franziska hatte sich inzwischen an die knalligen Farben in den Räumen gewöhnt. Das eine der beiden Zimmer, das sich an die Küche anschloss, war geräumig. Darin sollten Franziska und Paul schlafen. Ihre Mutter hatte angeboten, dass sie gemeinsam wirt schaften könnten. Die große Küche, in der früher die Reitzaks mit ihren vier Kindern gelebt hatten, reichte für alle. »Ich kann ja das Kochen übernehmen, Franziska«, sagte Frau Reitzak. »Du hast dann mehr Zeit für deine Näherei.« Stefan sollte sich die hintere kleine Kammer einrichten. Frau Reitzak schlief wie bislang in dem Zimmer zur Straße hin, in der »guten Stube«, weil sie seit Jahren nachts von Hustenanfäl len gequält wurde und deshalb bereits in dieses Zimmer umgezo gen war, als Martin, ihr Mann, noch lebte.
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»Ich fange wieder mit einer Nähstube an wie damals nach dem Ersten Weltkrieg«, sagte Franziska. »Ganz klein. Aber es wird die Zeit kommen, dann habe ich eine größere Werkstatt. Genau wie damals.« Stefan hatte gehört, dass die alte Schule ihren Betrieb ein paar Tage zuvor wieder aufgenommen hatte. Sie hieß jetzt schlicht Mittelschule und der Name Paul-Bäumer-Mittelschule war wie aus gelöscht. Eigentlich war ihm die Lust auf Schule vergangen. Er hatte aber gehört, dass es dort jeden Tag eine Schulspeisung gebe. Bei der Oma konnte er seinen Hunger nie ganz stillen. Morgens gab es für jeden nur eine einzige Scheibe Brot und von dem Mit tagessen wurde er auch nicht satt. Nur wenn ihm Anna dann und wann etwas von der Küche in Holzbauers Betrieb mit nach Hause brachte, knurrte sein Magen nicht ständig. Es war die Schulspei sung, die ihn schon bald wieder in die Schule lockte. Eigentlich hieß sie Quäkerspeise und wurde in den USA für die Hungerlän der gespendet. Der Erbsbrei jeden zweiten Tag sättigte einigerma ßen, aber beliebter war die Puddingsuppe. In der Klasse wurde er misstrauisch beäugt. Von den zweiund vierzig Schülern dieser Oberklasse waren fünfunddreißig in der Kinderlandverschickung gewesen. Die meisten hatten sich mit Lehrer Blasa auf abenteuerlichen Wegen aus dem tschechischen Lager nach Hause durchschlagen können. Sie kannten sich alle gut. Eine Fülle gemeinsamer Erlebnisse hatte sie zu einer festen Clique zusammengefügt. Kam ein Nachzügler dazu, der auch in der KLV gewesen war, wurde er mit Hallo begrüßt. Die wenigen anderen blieben ausgegrenzt. In den folgenden Wochen wuchs die Schülerzahl der Klasse auf
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dreiundsechzig. Die Bänke standen so dicht beieinander, dass selbst vor der Tafel kaum noch Raum blieb. Der Klassenlehrer Schnieder wurde PKW genannt. Warum das so war, das wusste niemand. Schon bevor die Schule 1943 ihren Unterricht einstellen musste und sich die Schüler in alle Winde zerstreut hatten, war PKW als harter Brocken gefürchtet gewesen. Mit den Fächern Deutsch und Erdkunde kam er täglich in die Klasse. In seinen Stunden fand Stefan Anerkennung. Er hatte in Detmold bis in den Februar 1945 hinein regelmäßig Unterricht ge habt. PKW behandelte viele Themen, die Stefan längst aus dem Aufbaugymnasium bekannt waren. PKW lobte ihn, und das kam in seinem Unterricht sehr selten vor. Auch die anderen Lehrer waren den Schülern fast alle bekannt. Die einzige Veränderung war die, dass keiner mehr das Parteiab zeichen am Rockaufschlag trug. Neu an die Schule kam Frau Olt mann, die Englischlehrerin. In der Jungenschule hatte es vorher nie Frauen im Kollegium gegeben. Mit Frau Oltmann hatte Stefan Mitleid. Sie war nahezu jeden Tag das Opfer von üblen Schülerstreichen. Einmal schrieb sie ge rade einen Satz an, da warf Horst Winkels einen triefnassen Schwamm nach vorn. Der sauste dicht an ihrem Kopf vorbei und klatschte gegen die Tafel. Die Wasserspritzer trafen sie ins Ge sicht. Sie fuhr herum, fassungslos und mit weit aufgerissenen Au gen. Nasse graue Haarsträhnen hatten sich aus ihrer straff nach hinten gekämmten Frisur gelöst. Es wurde still in der Klasse. Erst als sie zu weinen begann und aus der Klasse hinausrannte, schallte Triumphgeheul auf. Da sprang Stefan nach vorn und legte den Schwamm in den kleinen
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Eimer. Verblüfft verstummten die Jungen. Stefans Stimme zitter te, als er sagte: »Ihr seid gemeine Halunken.« Einige standen auf und gingen auf ihn zu. Im Lager hatten sie häufiger jedem eine Hordenkeile verpasst, der sich nicht so ver hielt, wie sie es erwartet hatten. Schon nahm Stefan die Fäuste hoch. Doch da stellte sich ihnen Manfred Schafhoff in den Weg, ein kleiner, schwarzhaariger Junge. Sie hätten ihn wohl überrannt, denn er galt als Angsthase. Für Stefan überraschend sprang auch Charly Bült an seine Seite und schließlich Heinrich Laufmann. Charly sagte leise: »Der Stefan hat Recht. Ihr seid miese Schweine.« Vielleicht hätten sie sich in ihrer Wut nicht abhalten lassen die vier zu verprügeln, aber da wurde die Tür zum Klassenzimmer aufgerissen und PKW stürmte herein. Er starrte die Klasse an. Er war blasser als sonst und eine tiefe Falte zog sich um seinen Mund. Länger als eine Minute stand er da und sprach kein Wort, drehte sich dann wieder um und ging hinaus. Keiner der Jungen sagte etwas. Wenig später schellte es zur Pause. Sie gingen in den Hof, langsamer und stiller als je zuvor. Auch in den folgenden Tagen wurde nicht mehr von dieser Sa che gesprochen. Frau Oltmann kämpfte weiter verbissen gegen den Unwillen der meisten Schüler, die englische Sprache zu ler nen, aber die rohen Streiche hörten auf. »Hattest du eigentlich keine Angst, Manfred?«, fragte Stefan. »Doch. Mir schlotterten die Knie. Ich bin nicht so mutig wie du.« Stefan lachte. »Weißt du«, gestand er, »mein Herz raste, als ich dastand. Und weiche Knie hatte ich auch.« ***
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Paul arbeitete in der Brauerei in der einzigen Halle, die noch in takt war. Er richtete die Eisenträger, die noch einigermaßen brauchbar schienen und aus den Trümmern herausgezogen wor den waren. Das Maschinenhaus, das vor dem großen Angriff sein Reich gewesen war, gab es nicht mehr. Wie die meisten anderen Gebäude lag es in Schutt und Asche. Die Trümmer mussten bei seite geschafft werden. Steine, die noch brauchbar schienen, wa ren in Blöcken zu je tausend Stück gestapelt worden, die schwe ren Eisenträger lagerten der Länge nach geordnet auf einem frei geschaufelten Platz und wurden nach und nach in die Halle ge schafft. Die größte Mühe machte es, den Beton, der in großen Brocken und Stücken in wirren Haufen übereinander getürmt war, zu zer kleinern und abzufahren. Kein Presslufthammer war zu beschaf fen. Vom frühen Tag bis in die Abendstunden hinein hörte man die Vorhämmer auf den Meißelköpfen klingen. In Zweiergrup pen arbeiteten die Männer. Der eine hielt mit der bloßen Hand den Meißel, der andere schlug mit dem schweren Hammer zu. Je de Viertelstunde wechselten sie sich ab. Als das Unglück in einer Arbeitsgruppe geschah und ein Arbeiter statt des Meißels das Handgelenk seines Kollegen traf und zerschmetterte, stellten alle die Arbeit ein. Paul erzählte davon, als sie am Abend um den Tisch saßen. »Warum nehmt ihr keine Zange, um den Meißel zu halten?«, fragte Anna. »Woher nehmen und nicht stehlen?« »Ich rede mit Holzbauer«, versprach Anna. »Unser Betrieb kann solche Werkzeuge bestimmt herstellen.«
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Holzbauer stimmte am nächsten Tag zu, dass zwanzig Zangen mit extra langen Griffen geliefert werden könnten, vorausgesetzt, die Brauerei würde zehntausend Ziegelsteine im Gegenzug be reitstellen. Paul weigerte sich dem Chef das auszurichten. »Wir werden die Steine sehr bald selber brauchen. Was nützt es, wenn wir den Schutt weggeräumt haben und die Gebäude nicht hochziehen können, weil uns die Ziegel fehlen?« »Ich könnte ja mit deinem Chef reden«, bot Anna an. »Von mir aus«, stimmte Paul zu. »Aber sage ihm nicht, dass wir uns kennen.« Das Gespräch mit Baron war kurz. Erst verzog er während An nas Angebot skeptisch sein Gesicht, doch Anna sagte: »Vielleicht haben Sie Beziehungen zu Herrn Kottka. Die Ziegelei ist wieder in Betrieb.« »Woher wissen Sie, dass ich Herrn Kottka kenne?«, fragte Dr. Baron überrascht. Sie lächelte und entgegnete: »Vor etwa fünfzehn Jahren luden Kottkas ab und zu in ihr Haus ein. Da habe ich Ihre Gattin und Sie öfter gesehen.« »Ach«, rief er aus, »die sagenhaften Abende bei den Kottkas. Und Sie waren auch unter den Gästen?« Sie nickte. ›Unter den Gästen‹, dem konnte sie zustimmen, ohne die Unwahrheit zu sagen. Kottka hatte sie damals von der Ziege lei zum Bedienen geholt. Dr. Baron schaute Anna nachdenklich an und gab zu: »Ich er kenne Sie leider nicht wieder. Aber es war dort alles, was Rang und Namen hatte.« Er überlegte kurz und sagte dann: »Das ist die
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Lage bei uns, die Zangen brauchen wir so schnell wie möglich. Da hat sich so ein Dummkopf das Handgelenk zerschlagen lassen. Jetzt rührt keiner mehr einen Meißel an, der mit der Hand gehal ten werden muss. Keine Arbeitsmoral mehr bei den Leuten.« Anna gab das Rezept von Tilla Reitzak weiter. »Probleme von heu te müssen heute gelöst werden und die von später eben später.« »So ist das neuerdings«, stimmte Dr. Baron zu. »Wir brauchen die Zangen am besten morgen schon, damit es hier zügig weiter gehen kann.« »Ende nächster Woche ist es möglich. Ein Eilauftrag für die Hüt te muss erst erledigt werden.« Dr. Baron seufzte und fragte: »Hat die Hütte denn mehr zu bie ten als die wertlose Reichsmark?« »Am besten erkundigen Sie sich bei Herrn Dr. Holzbauer«, ant wortete Anna. *** Zwei Tage später kam Paul niedergeschlagen von der Arbeit zu rück. »Ich bin entlassen worden«, sagte er. »Wieso?« Frau Reitzak war empört. »Du hast fast zwanzig Jahre auf der Brauerei geschuftet und jetzt schmeißen sie dich einfach raus?« »Na ja, rausschmeißen ist wohl nicht ganz richtig, Mutter. Ich bin dienstverpflichtet worden und muss ab morgen an der Eisen bahnbrücke in Beeckerwerth arbeiten. Die ist ja gesprengt worden, bevor die Alliierten über den Rhein vorgedrungen sind. Jetzt liegt sie halb im Wasser. Der Chef hat zu mir gesagt: ›Bienmann, wenn
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erst das Maschinenhaus wieder steht, kann ich Sie jederzeit in der Brauerei wieder einstellen.‹« »Warum fliegst gerade du raus?«, fragte Tilla. »Gibt doch sicher auch jüngere Leute für so was.« »Sie brauchen an der Brücke eben Schlosser. Aber ob ich das da durchhalte?« »Du bist doch noch kein alter Kerl, Paul. Du schaffst das schon«, versuchte ihm Anna Mut zuzusprechen. »Ach, Anna«, sagte Frau Reitzak, »da draußen bei Wind und Wetter und der Winter steht vor der Tür. Voriges Jahr hat der Paul sechs Wochen lang mit Gelenkrheuma im Bett gelegen und konn te sich kaum rühren. Die Knie und die Fußgelenke waren rot und dick geschwollen. Er hat nachts gewimmert vor Schmerzen. Und bis so ein Ostpreuße mal einen Ton von sich gibt und jammert, da muss schon was passieren. Ich hab ihm heiße Lehmpackungen gemacht und ihm die Glieder in Wolltücher gehüllt. Dr. Stolpen sen ist eine Woche lang jeden Tag gekommen und hat nach ihm geschaut. Ganz allmählich hat es sich dann gebessert. Kaum konnte er einigermaßen wieder herumschleichen, da haben sie ihn zum Volkssturm geholt. Das letzte Aufgebot sollte den Krieg noch gewinnen. Alle, die noch klar denken konnten, wussten, der Krieg war längst verloren. Doch die Bonzen hofften wohl immer noch, sie könnten ihre eigene Haut retten.« Franziska hatte stumm zugehört. Sie begann zu weinen. Schließlich sagte sie: »Schwer krank bist du gewesen, Paul. Und kein Wort davon ist bis nach Kirchwüsten zu mir gedrungen? Das ist …« Sie schluchzte laut auf. Er wollte den Arm um sie legen, doch sie stieß ihn zurück.
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»Ich hab’s dem Paul ja auch gesagt, Franziska. Hab ihm gesagt: ›Ihr habt euch versprochen, in guten und in schlechten Tagen.‹ Aber er wollte es absolut nicht. ›Warum soll ich ihr das Herz schwer machen?‹, hat er eingewendet. ›Sie kommt sonst bestimmt zurück in diese Hölle hier. Kaum ein Tag, eine Nacht ohne Flie gerangriff. Helfen kann sie mir doch nicht.‹ Das hat er immer wie der gesagt.« »Vielleicht war es falsch, Franziska«, gab Paul zu. »Ich hab wirk lich nicht an mich gedacht. Aber ich bin damals dem Tod von der Schüppe gesprungen.« »Kann man denn an Rheuma sterben?«, fragte Stefan. »Hab ich selbst auch noch nie gehört«, antwortete Paul. »Das war es ja auch nicht, vor dem mich das Zittern ankam. Das war vorher. Ich hatte Feierabend und gerade dem Nachtpförtner in der Brauerei den Schlüssel gegeben, als es Fliegeralarm gab. Ei gentlich waren wir das ja hier gewöhnt. Aber diesmal warfen sie, noch während die Sirenen heulten, diese Christbäume ab, diese weißen Signalleuchten, die den Bomberpulks den Weg wiesen. Unter dem Maschinenhaus war ein großer Keller. Von dort aus führte ein Gang, etwa zweieinhalb Meter breit, zu dem Gebäude, in dem im Erdgeschoss die Heizkessel standen. Die massive Be tondecke des Durchgangs war fachmännisch mit Balken abge stützt. Sicherer konnte man eigentlich das Ende der Angriffe nir gendwo abwarten. Ich hatte für den Notfall sogar Hacke und Schaufel und so was dort aufgehängt. Wir waren drei Männer und zwei Frauen, die auf den Bänken längs der einen Wand hockten. Die Flak ballerte, was die Rohre hergaben, aber von Sprengbomben war nicht viel zu hören.
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›Haben sich doch noch mal überlegt, irgendwo anders ihren Mist abzuladen‹, vermutete Grothuis. Die Entwarnung ließ sehr lange auf sich warten. Zu lange. Wir wagten uns schließlich hinaus. Gluthitze schlug uns entgegen. ›Da, das Sudhaus brennt‹, schrie Leo Klein. ›Wir müssen lö schen!‹ Oft genug hatten wir eingeübt, was zu tun war. Wir schlossen die Schläuche an dem Hydranten an. Wasser, marsch. Aber dann hörten wir wieder das bedrohlich tiefe Brummen der Maschinen. Die Luft schien zu zittern. Diesmal fielen Sprengbomben. Wir sind schnell zurück in den Luftschutzkeller. Die Erschütterungen waren ärger als alles, was wir vorher erduldet hatten. Der Boden bewegte sich wie ein Wellenteppich. Das Licht erlosch. Von der Decke krachte der Verputz in großen Placken herab. Ich kroch un ter die Sitzbank. Schreie, Gebete, Verwünschungen. Wie lange das so ging, ich weiß es nicht. Jedenfalls kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Endlich wurde es ruhiger. Als ich begann unter der Bank her vorzukriechen, spürte ich das Wasser. Leo Klein hatte eine Kar bidlampe bei sich. Er zündete sie mit seinem Feuerzeug an. Kalk staub waberte in dem Flur. Wir schauten uns an. Die Gesichter waren weiß gepudert. ›Raus hier‹, sagte ich. ›Es strömt Wasser ein.‹ Wir rannten bis zu der Eisentür, die zu dem Keller des Maschi nenhauses führte. Sie ließ sich erst öffnen, als Grothuis mit einer Brechstange nachhalf. Die Kellerdecke war eingestürzt und dicke Betonklötze und Teile der großen Dampfmaschine versperrten den Weg. Wir eilten zurück an das andere Ende des Flurs. Weit
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kamen wir nicht. Die Trümmer einer Ziegelmauer hatten den Flur zugeschüttet. Wir waren eingeschlossen. ›Die wissen da draußen, dass hier welche drin sind‹, sagte Leo Klein. ›Die holen uns raus.‹ ›Und das Wasser?‹, fragte Leni Vogt. Wir hatten gar nicht da rauf geachtet. Es war uns schon bis über die Knöchel gestiegen. ›Wir müssen Klopfzeichen geben‹, sagte Leni und schlug mit der Brechstange gegen die Wand. Ich wusste ja, dass auch noch anderes Notwerkzeug bereitlag. Da waren eine Schaufel, eine Spitzhacke, ein Schlosserhammer, ein Fäustel und ein Meißel. Ich nahm Leni Vogt die Eisenstange aus der Hand und gab ihr stattdessen den Hammer. Während sie unablässig gegen die Betonwand schlug, berieten wir Männer kurz, was zu tun sei. Es war Erika Kraski, die einen kühleren Kopf behalten hatte. Sie sagte: ›Durch den Beton unter dem Maschinen haus kommen wir nie durch. Wir müssen es an der anderen Seite versuchen und den Ziegelschutt wegräumen.‹ ›Mag gehen‹, sagte ich. Ich kannte mich am besten unten in den Katakomben der Brauerei aus. ›Sind ungefähr fünf Meter bis zu zum Quergang. Und der führt durch den Lagerkeller für den Hopfen. Von dort geht es ins Freie.‹ Wenn nicht alles eingestürzt ist, dachte ich. Aber ich sagte nichts weiter. Wir begannen wie wild zu hacken und die Ziegelbrocken und den Mörtel nach hinten in den Flur zu schaffen. Bald sagte Grothuis: ›Wenn wir so weitermachen, sind wir in einer halben Stunde fix und fertig. Wir müssen das besser organisieren. Paul nimmt die Brechstange, ich die Pickhacke und Leo Fäustel und Meißel. Erika schafft den Schutt weg. Da drüben liegen ein paar
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Hopfensäcke. Darauf schaufelst du, Erika, den Schutt, und ziehst alles nach hinten. Nach einer Viertelstunde wechseln wir Männer das Werkzeug.‹ Leni gab Leo den Rat: ›Du musst die Flamme der Karbidlampe ganz klein drehen, sonst sitzen wir bald im Stockdunklen.‹ Wir begannen nun planmäßiger zu arbeiten. Erika lud zu viel Schutt auf den Sack. Sie konnte ihn nicht über den Boden schlei fen. Leo verlor die Nerven und brüllte Leni Vogt an. ›Hör auf mit dem dämlichen Geklopfe. Du machst uns ganz verrückt. Pack lie ber an und hilf der Erika.‹ Leni ließ sich nicht beirren und schlug in immer gleichem Rhythmus gegen die Wand, dreimal in schnellem Tempo dann mit etwas größeren Pausen. Wütend warf Leo das Werkzeug zu Boden und zerrte mit Erika den Schutt bis vor die Eisentür am an deren Ende des Ganges. Der Staub legte sich allmählich. ›Wie ein Leichentuch‹, sagte Leni. Wir kamen nur langsam vorwärts. Immer wieder rutschte loser Schutt nach. Ich weiß nicht, wie lange wir um unser Leben ge kämpft haben. Das Wasser war mir bis dicht unter die Knie gestie gen. Leni Vogt lachte wie irre und schrie: ›Ertrinken oder ersti cken? Was wollt ihr lieber?‹ Leo rannte zu ihr und hob den Fäustel. ›Wenn du nicht das Maul hältst, Leni, dann schlag ich zu.‹ Sie duckte sich zwar, entgegnete aber: ›Ohne meine Hammer schläge kommen wir hier nie raus.‹ ›Völlig übergeschnappt, die Leni‹, sagte Grothuis. Und doch war sie es, die uns schließlich rettete. Nach Stunden änderte sie plötzlich das Einerlei der Klopfzei
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chen und machte größere Pausen. Da hörte ich es auch. Ein fernes Pochen antwortete. ›Sie haben uns entdeckt! Sie haben uns entdeckt.‹ Wir ließen die Werkzeuge erschöpft sinken. Die Karbidflamme flackerte noch einmal auf und erlosch. Im Finstern rückten wir eng zusammen. Nach mehr als neun Stunden sahen wir den ersten Schimmer des Tageslichts. Klatsch nass von kaltem Schweiß und durchgefroren waren wir. Sie zo gen uns durch ein enges Loch hinaus. Beißender Brandgestank stieg uns in die Nasen. Zwei Tage später begann das Elend mit meinem Rheuma.« Paul wandte sich an Franziska. »Ich hatte die Hölle erlebt. Kannst du es jetzt ein bisschen verstehen, dass ich dich nicht in Duisburg haben wollte?« »Nein.« Sie hatte längst aufgehört zu weinen. »Nein«, wiederhol te sie. »Gehören wir nicht auf Gedeih und Verderb zueinander?« Er versuchte noch einmal den Arm um sie zu legen: Sie ließ es geschehen und er zog sie an sich. *** Allmählich verschlechterte sich das Wetter. Schneeregen fiel. Die Schüler saßen in Mantel und Schal in ihren Bänken. Es stand zwar ein mannshoher Kanonenofen in der Klasse, aber Heizmaterial gab es nicht. »Duisburg ist auf Kohlenflözen gebaut«, schimpfte der Mathe matiklehrer Diegelbeck. »Aber alles, was die Kumpel aus der Er de holen, geht ins westliche Ausland.«
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Diegelbeck beließ es jedoch nicht bei der Klage. Ein paar Tage später beorderte er drei Schüler zum Lehrerzimmer. Sie mussten große Röntgenbilder in die Klasse tragen. Die bestanden aus ei nem ziemlich dicken, biegsamen Plastikmaterial. In jede Zweierbank ließ Diegelbeck eine Platte legen und teilte dann Sandpapier aus. »Nun haltet euch mal dran. Schmirgelt die Bilder der Knochen sauber herunter. Im Hanielstift in Ruhrort habe ich die Platten or ganisieren können.« »Wozu soll das gut sein?«, fragte Helmut Ringel. Diegelbeck zeigte auf die Fensterrahmen. Keine einzige Scheibe war heil geblieben. »Glas gibt es nur auf dem Schwarzmarkt«, sagte er. »Wir werden die Fenster so gut es geht mit den Röntgen platten abdichten.« Es war wirklich eine gute Idee, die kaum einer Diegelbeck zuge traut hatte. In der Folgestunde stand Biologie bei Blasa auf dem Plan. Der war es offensichtlich zufrieden, dass er in dieser Stunde nicht un terrichten musste. Diegelbeck fragte am nächsten Tag: »Hat mein Kollege euch denn nicht wenigstens gesagt, wie die Knochen heißen, die ihr von den Platten geschrubbt habt?« Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Verpasste Gelegenheit. Das Skelett gehört doch auch zur Biologie.« Der Hausmeister setzte die Platten am Nachmittag ein. Die Fenster waren wirklich ziemlich dicht und ließen ein milchiges Licht durchschimmern. Diegelbeck zeigte auf den Ofen. »Wenn wir den nicht füttern,
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werden uns, wenn der Frost stärker wird, Finger und Füße steif frieren. Nur auf Kohlen warten, das nützt nichts. Wir müssen uns selbst helfen. Jeweils Schülergruppen von vier Schülern schaffen abwechselnd Heizmaterial für einen Tag heran. Vielleicht Holz kloben aus den Trümmern oder ihr fischt Balkenstücke aus dem Rhein, die angeschwemmt werden. Vielleicht hat der eine oder andere auch einen Bergmann zum Vater. In der Zeche fällt immer Abfallholz an. Die an einer Strecke der Reichsbahn wohnen, kön nen leicht etwas Brennbares herbeischaffen.« Er ließ sich aber nicht darüber aus, wie die Bahn helfen konnte. »Ist doch klar!«, rief Heinrich Laufmann. »Von den Kohlenzü gen was runterholen.« »Hab ich das etwa angeregt?«, fragte Diegelbeck und grinste. »Aber der Kardinal Frings aus Köln, der hat es öffentlich gesagt, das ist nichts Böses. Die Kölner nennen es seitdem ›fringsen‹, wenn sie frieren und sich von den Güterzügen Brennmaterial besorgen.« Stefan hatte zwar mit der Bahn Erfahrung, aber das verschwieg er lieber. »Und Sie, Herr Diegelbeck, was tragen Sie selbst dazu bei, dass der Ofen nicht ausgeht?« »Die Idee«, antwortete er. Dann öffnete er seine abgeschabte Le dertasche, zog ein Brikett heraus und legte es auf das Pult. »Eines von zweiunddreißig, die wir zu Hause noch im Keller hatten. Meine Frau wickelt das Brikett in feuchtes Zeitungspapier, bevor es in den Ofen kommt. Dann hält es länger vor.« Den ganzen Winter über glühte der Kanonenofen. Die Gruppe, die das Heizmaterial beschaffen sollte, kam am Morgen früh und feuerte den Ofen an.
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Einmal brachte Fitti Graz Teerpappe mit und stopfte sie vor der Biologiestunde auf die Glut. Blauer Qualm drang aus allen Ritzen und biss in den Augen. Hustenanfälle folgten. Blasa betrat den Raum. Er trug seit Jahr und Tag seinen ausgebleichten grauen Tuchanzug. Am Revers der Jacke konnte man deutlich die kreisrunde dunklere Stelle er kennen, an der bis wenige Monate zuvor stets das Parteiabzei chen gesteckt hatte. Blasa sah den qualmenden Ofen und verließ die Klasse. Beim Hinausgehen rief er: »Ordnung müsste man euch beibrin gen und Disziplin, wie bei …« »Wie bei Hitler?«, schrie einer aus den hinteren Reihen. »Rotzlöffel«, sagte Blasa. Er kam an diesem Morgen nicht in die Klasse zurück. *** Anna hörte die Neuigkeit und erschrak. Frau Hollein war am Sonntag zurückgekommen. Was würde sie dazu sagen, dass ihre Wohnung besetzt war? »Ich bin nur hergefahren, um nach meinen Sachen zu sehen«, sagte Frau Hollein. »Ich habe mir schon gedacht, dass hier vom Wohnungsamt Bombengeschädigte eingewiesen worden sind.« Frau Reitzak bat sie in die Küche und kochte Kaffee. Anna setzte sich dazu. Franziska kannte Frau Hollein nur flüchtig und arbei tete weiter an ihrer Nähmaschine. »Terminsache«, sagte sie ent schuldigend. »Ich habe die Kinder bei Ernst in der Nähe von Ravensburg ge
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lassen«, erzählte Frau Hollein. »Dort konnte ich 1943 unter schlüpfen, als ich hier weg bin.« »Hieß ihr Mann nicht Heinrich?«, fragte Frau Reitzak irritiert. »Ach, Frau Reitzak, Sie können es ja gar nicht wissen. Heinrich ist Anfang 44 in Russland geblieben.« Sie verstummte für einen Augenblick. »Ich habe Ernst im Schwabenland kennen gelernt. Er ist Bauernsohn dort auf dem Hof, auf dem ich lebe. Seit Ernst An fang 45 aus dem Lazarett gleich nach Hause entlassen worden ist, arbeitet er auf dem Hof. War auch höchste Zeit. Ich bin dem Alt bauern zwar, wann immer ich konnte, zur Seite gesprungen. Der ist seit vier Jahren Witwer, müssen Sie wissen. Mit zwei polni schen Fremdarbeitern kamen wir so gerade über die Runden. Aber es ging vom Morgengrauen bis zum späten Abend. Da, schauen Sie sich mal meine Hände an …« Sie streckte Frau Reit zak die Handflächen entgegen. »Schwielen wie ein Arbeiter auf der Hütte. Mir kam zugute, dass ich ja auf dem Land im Westfäli schen aufgewachsen bin. Na ja, da hat der Altbauer zu seinem Sohn Ernst gesagt: ›Die Klara kann zupacken. Wenn ihr heiratet, überschreibe ich dir den Hof.‹ Vor acht Wochen war es dann so weit. Ich heiße jetzt Miller. Unsere Kinder sind längst auf dem Hof zu Hause.« »Und jetzt wollen Sie Ihre Sachen abholen, Frau Holl…« Frau Reitzak unterbrach sich. »Ach, ich muss mich ja jetzt wohl an den Namen Miller gewöhnen.« »Sagen Sie ruhig weiterhin Hollein. Wir haben ja einige Jahre hier zusammen gewohnt. Die Möbel und das meiste Zeug will ich nicht nach Süden schaffen. War doch nur billiger Kram. Heinrich war doch schon jahrelang arbeitslos, als unser Werner unterwegs
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war und wir geheiratet haben. Es gab für junge Paare zwar das Ehestandsdarlehen, aber für eine vernünftige Einrichtung langte das vorn und hinten nicht.« »Was soll denn mit den Sachen geschehen?«, erkundigte Anna sich. »Wir haben damals, als wir ins Schwabenland flohen, vieles mit genommen, das Besteck und das Porzellan, die Wäsche und das Bettzeug, kurz, alles, was in den Möbelwagen passte. Was jetzt noch hier ist, das schau ich mir noch mal an. Vielleicht suche ich mir die eine oder andere Kleinigkeit heraus. Alles andere bleibt hier. Vielleicht findet sich jemand, der mir etwas dafür bezahlt.« »Der hat sich vielleicht schon gefunden«, sagte Anna. »Ich woh ne ja sozusagen möbliert in Ihrem Zimmer. Wenn ich davon et was übernehmen kann?« »Etwas, das geht nicht gut«, sagte Frau Miller. »Ich bin bis Mon tag noch bei meiner Schwiegermutter in Ruhrort. Die musste von ihren vier Räumen drei abgeben. In dem einen, der ihr geblieben ist, sieht es auch ohne meine Sachen wie in einer Rumpelkammer aus. Ich will schnell wieder zurück zu meiner Familie und kann nicht mit vielen Interessierten verhandeln. Der soll die Sachen be kommen, der alles zusammen übernimmt.« »Was stellen Sie sich denn für einen Kaufpreis vor?« »Was soll ich sagen? Wenn mir jemand fünfhundert Mark an bietet, kann er den ganzen Kram kriegen.« Anna nahm einen Bleistift aus der Tischschublade und schrieb ein paar Zahlen untereinander. »Das schaffe ich nicht. Aber die Hälfte kann ich zusammenkrat zen.«
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»Das ist nicht genug.« Frau Miller schüttelte den Kopf. »Sie wis sen es selbst, die Summe, die ich nannte, ist ein gutes Angebot.« »Das stimmt«, gab Anna zu. »Der Kaffee, Anna«, rief Franziska von der Maschine her. Sie hielt eine Stecknadel zwischen den Lippen und sprach undeut lich. »Du willst auch eine Tasse Kaffee?« Franziska legte die Nadel auf den Maschinentisch und drehte sich um. »Verkaufe etwas von dem Kaffee, Anna. Dann wird das Geld reichen.« »Meinen Bohnenkaffee?« »Ja. Gestern sollen auf dem Schwarzmarkt in Ruhrort dreihundertachtzig Mark für das Pfund gezahlt worden sein.« Frau Miller sagte: »Ja, das hab ich auch gehört. Besitzen Sie denn gerösteten Kaffee?« Anna nickte. »Das Geschäft können wir machen. Sie geben mir ein Pfund von dem Zeug und zahlen hundertfünfzig Mark bar. Dann gehört der ganze Krempel drüben Ihnen.« »Aber das ist zusammen mehr als fünfhundert Mark, Frau Hol lein.« »Stimmt. Aber erst muss der Kaffee an den Mann gebracht wer den. Freitag noch gab es eine Razzia auf dem Schwarzmarkt. Sechs Leute sollen verhaftet worden sein und viel Ware wurde beschlagnahmt. Ich gehe das Risiko ein. Dafür dürfen Sie mir ru hig etwas mehr zahlen.« Anna stimmte zu. Sie gingen zu Frau Cremmes. Ohne zu zö gern, unterschrieb die Hausbesitzerin einen neuen Mietvertrag.
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»Das Wohnungsamt hat zwar auch noch ein Wörtchen mitzure den. Ich werde das aber erledigen. Der Leiter ist ein Bekannter meines Mannes.« Dann verbesserte sie sich: »War ein Bekann ter.« Später erfuhr Anna, dass Cremmes bei einem Fliegeralarm im letzten Kriegswinter auf dem Weg zum Luftschutzbunker gewe sen ist, als ihm einfiel, dass er seine Geige in der Hektik vergessen hatte. Er wollte zurücklaufen und sie holen. Da traf ihn der Split ter einer Flakgranate am Hals. Er schleppte sich noch bis zum Hauseingang. Dort fand ihn Stunden später seine Frau. Er war verblutet. Der Notsarg war aus schwarz gestrichenem Sperrholz gemacht. Frau Cremmes weigerte sich den Sarg vor der Beerdi gung noch einmal öffnen zu lassen. »Das hat viele befremdet«, sagte Frau Reitzak später zu ihr. »Ach«, antwortete Frau Cremmes, »ich konnte doch nicht verra ten, dass ich ihm die Geige, die er über alles liebte, in den Sarg ge legt hatte. Ein paar Banditen hätten sie wahrscheinlich gestoh len.« Anna ging von Montag an etwas beruhigter zur Arbeit. Wenigs tens war sie die Sorge los, von heute auf morgen die Wohnung zu verlieren und nicht zu wissen, wohin. Dennoch schlief sie nach wie vor schlecht. Mehrmals in der Woche schreckte sie des Nachts auf und war nass geschwitzt. Sie brauchte jedes Mal einige Minu ten, bis sie ganz sicher wusste, dass es nicht die Wirklichkeit, son dern dieser schreckliche Traum gewesen war. ***
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Der Platz in der Schule neben Stefan war frei geworden. Es hieß, dass Horst Putzer zum Gymnasium nach Meiderich gegangen sei. Eigentlich war das gar nicht möglich. Einmal Mittelschule, immer Mittelschule. Aber Horsts Vater war Betriebsleiter einer Zeche im Duisburger Norden. Kohlen waren ein überzeugendes Argument. Richtig war es allerdings auch, dass Horst seit ein paar Monaten jeden Nachmittag einen Privatlehrer hatte, der ihm La tein beibrachte. Gleich als sich herumsprach, dass Horst nicht zurückkehren würde, setzte sich Thorsten Hacks neben Stefan. Lieber wäre es Stefan gewesen, Charly wäre sein Nachbar geworden oder Man fred. Aber Thorsten hatte nicht lange gefragt, ob Stefan einver standen war. Er war freundlich zu Stefan, obwohl er zu der KLVClique gehörte. Gleich für den ersten Nachmittag lud er Stefan zu sich nach Hause ein. »Wir können bei uns Tischtennis spielen«, sagte er. Die Hacks hatten hinter dem stattlichen Reihenhaus einen Schuppen. Man kam über einen plattierten Hof vom Wohnhaus aus dort hin. Eine mannshohe Mauer trennte das Grundstück vom Nachbarhaus. Auch dort lag, wie bei allen Häusern in der Häuserzeile, ein Schuppen hinter dem Wohnhaus. »Das war früher das Waschhaus«, sagte Thorsten. Hacks Schuppen war sauber geweißt. Ein alter Ausziehtisch war das einzige Möbelstück. Mitten über dem Tisch hing eine starke Lampe. Alles war bereits für ein Tischtennisspiel herge richtet, das Netz war straff gespannt und Schläger und Bälle lagen bereit. Von dieser Zeit an war Stefan fast täglich bei Thorsten. Es war
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zwar eher Ping-Pong, was auf der Tischplatte möglich war, aber trotzdem freute sich Stefan, als er Thorsten zum ersten Mal besieg te. Thorstens Vater hatte zugeschaut und lobte Stefan: »Du hast Ta lent, Junge. Gute Reaktionen. Da kannst du mehr draus machen.« Es war einen Tag darauf, Thorsten und sein Vater waren mit ih ren Fahrrädern zum Rhein gefahren und noch nicht zurück, als Stefan bei Hacks schellte. »Geh nur schon nach hinten«, sagte Frau Hacks. »Die beiden müssen bald zurück sein. Sie wollten sehen, ob das Eis schon treibt.« Es war ein windstiller, klarer Tag. Die Wintersonne schien in den Hof. Stefan setzte sich auf eine Bank, die an der Mauer stand. Vom Nachbarhof hörte er Männerstimmen. Erst achtete er nicht darauf. Aber dann wurde er aufmerksam. Er glaubte den Namen Anna Fink verstanden zu haben. »Wir hätten ihr damals einen anderen Denkzettel verpassen sol len. Haare wachsen wieder.« Stefan erstarrte. »Können wir ja nachholen«, sagte ein anderer. »Vielleicht erst mal so ein hübscher Kratzer von der Schläfe bis zum Kinn?« »Lasst sie noch in Frieden«, hörte Stefan. »Was kann die Fink uns denn noch tun?« »Hast du eine Ahnung. Solange die das Material nicht raus rückt, bleibt sie gefährlich.« Darauf gingen die Männer ins Haus. Stefan blieb wie angewurzelt auf der Bank sitzen. Thorsten kam endlich. »Mensch, warum gehst du nicht in den Schuppen? Bist ja durchgefroren.«
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Stefan spielte an diesem Tag schlecht und verlor ständig. »Nicht in Form heute, was?« Stefan legte seinen Schläger auf den Tisch. Er erkundigte sich: »Wer ist eigentlich euer Nachbar?« »Das Haus gehört der Zeche, wie alle Häuser auf dieser Straßen seite. Der Steiger Krasek wohnt schon ewig da. Er ist Pensionär. Aber das Haus ist groß. Er hat noch andere Leute aufnehmen müssen. Die arbeiten alle auf dem Pütt.« »Weißt du, wie die heißen?« »Warum interessierst du dich dafür?« »Ach, Paul Bienmann hat früher auch mal unter Tage gearbeitet. Vielleicht kennt er den einen oder anderen.« Thorsten schaute Stefan verwundert an, antwortete aber: »Einer heißt, glaube ich, mit Vornamen Eugen. Ist ein schmaler, älterer Mann. Der wohnt schon länger da. Übrigens sehr hilfsbereit. Er hat die Stromleitung für uns in den Schuppen gelegt und die Lampe angeschlossen. Ab und zu kommt er mal rüber. Der spielt besser Tischtennis als wir und haut uns schnell von der Platte. Er hat aber auch einen Schläger, sage ich dir. Dagegen sind unsere hier richtig primitiv. Aber wie soll ich die anderen kennen, die dort wohnen? Ist wie ein Taubenschlag. Ziehen ein und ziehen aus.« *** Am Abend brachte Anna einen Topf voll Grünkohl von Holzbau ers mit. »Luttrop ist wirklich ein guter Organisator. Er hat von einem
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Gärtner auf der anderen Rheinseite ein ganzes Feld Grünkohl be kommen. Mit drei Arbeiterinnen ist er rüber. Sie haben unseren Kleinlaster voll laden dürfen.« »So ganz einfach hat er das Gemüse von dem Gärtner kaufen können?«, fragte Paul. »Das nicht. Aber der brauchte Eisenwinkel. Er will sein Ge wächshaus wieder aufbauen.« »Ja, macht ihr denn neuerdings Eisenwinkel in euerem Betrieb?« Anna lachte. »Wir nicht, Paul, aber die Hütte stellt sie her. Und die wollten von uns dringend ein paar Zahnräder angefertigt ha ben.« Paul schüttelte den Kopf. »Ist ja wie in uralten Zeiten: Gibst du mir, geb ich dir.« »Du hast es erfasst, Paul.« Paul stöhnte auf. »Ich glaube, Mutter Tilla, du musst mir bald wieder heiße Lehmwickel machen. Ich spüre schon das Reißen in den Knien. Die Kälte da am Rhein, der Eiswind, die schweren Ei senträger, das alles bringt mich noch um.« »Du müsstest bei Holzbauer anfangen, Paul. Schlosser können wir brauchen. Wir haben in der Halle Koksöfen aufgestellt. Kalt ist es da immer noch, aber nicht eisig.« »Die lassen mich nicht von der Brücke weg. Wer dienstver pflichtet ist, kann nicht einfach wechseln.« »Unter keinen Umständen?« »Höchstens zur Zeche könnte ich. Die steht an Nummer eins beim Arbeitsamt.« »Und warum machst du das nicht?« Paul hob die Schultern. »Wieder im Pütt landen? Ich weiß nicht.«
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»Bevor du auf der Baustelle krepierst, solltest du das tun«, sagte Frau Reitzak. »Man müsste einen Fürsprecher haben, damit ich als Schlosser dort arbeiten kann. Vor Kohle, das hab ich mir geschworen, wer de ich nie mehr schuften. Aber als Schlosser? Ich kenne mich mit den Pressluftloks noch von früher her ganz gut aus. Bin ja Maschi nenschlosser. Aber ohne Fürsprache geht heute gar nichts.« »Kennst du einen Steiger Krasek?«, fragte Stefan. »Den Maschinensteiger? Woher kennst du den? Lebt der über haupt noch?« »Der wohnt neben Thorsten Hacks.« »Hacks, Hacks? Den Namen hab ich doch auch schon mal ge hört? Ich glaube, der Hacks ist der Nachfolger von Krasek gewor den. Aber da war ich schon ein paar Jahre auf der Brauerei. Krasek war übrigens bereits ein Nazi, als Hitler noch gar nicht am Ruder war. Woher kennst du die Leute vom Pütt? Willst du nach der Schule etwa da in die Lehre gehen?« »Nee. Ich will Förster werden. Ich hab mich schon erkundigt. In Düsseldorf sitzt der Mann, der die Forsteleven einstellt. Ich fahre in den nächsten Tagen hin und stelle mich vor. Vielleicht habe ich Glück.« »Und was ist mit Krasek und Hacks?« »Mit dem Sohn von Hacks, dem Thorsten, spielt er doch fast jeden Nachmittag Tischtennis, Paul«, sagte Franziska. »Ist ein ganz netter Junge, der Thorsten.« Paul überlegte eine Weile. »Mit dem alten Krasek könnte ich ja mal reden. Vielleicht erinnert er sich noch an mich. Ich habe ihm vor ungefähr achtzehn oder zwanzig Jahren mal aus der Patsche
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geholfen. Da fielen auf einen Schlag fast alle Loks aus. Es wurde damals gemunkelt, es sei daran herummanipuliert worden. Na ja, da hab ich zwanzig Stunden an einem Stück gearbeitet und die Loks zusammen mit einem Peter Schneider wieder hingekriegt. Aber der Peter hat nach der zwölften Stunde schlapp gemacht. ›Lassen wenigstens Sie mich nicht im Stich‹, hat der Steiger ge sagt. Erinnerst du dich nicht daran, Franziska?« »Sicher, es kommt mir vor wie gestern. Du hattest Frühschicht und solltest spätestens gegen drei Uhr zu Hause sein. Erst hab ich gedacht, du wärst in einer Kneipe hängen geblieben. Aber als du gegen sieben abends immer noch nicht da warst, hat mich die Angst gepackt. Ich bin mit dem Fahrrad zum Zechentor gerast. Der Pförtner wollte mich nicht reinlassen, aber ich habe das Rad einfach weitergeschoben und bin über den Zechenplatz zum Bü rogebäude gefahren. Der Pförtner hatte wohl schon dort angeru fen. Zwei Männer haben mich gestoppt. Ihr wisst ja, wie sie einen behandeln, wenn man nicht die ausgetretenen Pfade einhält. ›Was fällt ihnen ein?‹ und ›Wohl übergeschnappt, wie?‹, das wa ren noch die harmlosesten Ausdrücke. Ich habe ihnen mein Rad vor die Füße geworfen. Sie waren so verblüfft, dass sie gar nicht den Versuch machten, mich aufzuhal ten. In der Eingangshalle von dem Bürohaus hab ich laut ge schrien: ›Was ist mit meinem Mann, dem Paul Bienmann? Ist er unten verunglückt? Gab es Schlagende Wetter und ihr habt es verheimlicht?‹ Schließlich standen an die zwanzig Männer um mich herum und auch ein paar Frauen und tuschelten und lachten über mich. Einer in dunklem Anzug trat nahe an mich heran und fasste mei
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nen Arm. Ich stieß ihn so heftig weg, dass er ins Stolpern geriet und seine Brille auf den Steinboden fiel. Schlagartig war es still geworden wie in der Kirche.« Paul schmunzelte. »Davon hat man auf der Zeche und in ganz Beeckerwerth noch lange gesprochen. Denn der Mann im dunk len Anzug war unser Betriebsleiter, der Chef. Wenn der sich zeig te, traute sich nämlich keiner mehr was zu sagen.« »Eine junge Frau sprang hinzu und hob die Brille wieder auf. Ein Glas war zersprungen. Er nahm die Brille, schaute den Scha den an und steckte sie in die Jackentasche. Ganz ruhig wandte er sich an mich: ›Was ist, junge Frau? Warum haben Sie die Fassung verloren?‹ Plötzlich war die Luft bei mir raus. Ich fing an zu weinen und jammerte, dass mein Mann immer noch nicht nach Hause gekom men sei, obwohl er schon um zwei Feierabend hatte. ›Und er ist ein Ostpreuße und total zuverlässig‹, hab ich gestammelt. Viele lachten und nahmen ihre leisen Gespräche wieder auf. Der Chef gab einem Mann einen Wink. Der ging, kehrte aber nach we nigen Minuten zurück und sprach mit dem Chef. Wieder war es still geworden. ›Frau Bienmann, ich entschuldige mich bei ihnen. Es ist ein Ver sehen. Die Marke ihres Mannes hängt noch nicht wieder in der Markenkontrolle. Er ist also noch unter Tage. Man hat selbstver ständlich nachgefragt, als die rote Marke für die Frühschicht noch nicht an Ort und Stelle war. Ich habe gerade gehört, dass ihr Mann noch auf der fünften Sohle ist. Er wird bis gegen Mitternacht etwa im Lokschuppen dringend gebraucht. Man hat leider vergessen Ihnen Bescheid zu geben. Wie gesagt, ein Versehen.‹
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›Und Ihre Brille?‹, hab ich ganz verdattert gefragt. Und er drauf: ›Ich werde mir schärfere Gläser einsetzen lassen. Man muss in diesem Betrieb alles scharf im Blick haben, damit so etwas nicht passieren kann.‹ Es sollte wohl ein Scherz sein, aber keiner hat gelacht. Sie sind in ihre Büros zurückgegangen. Aber die Sekretärin des Chefs hat mich angesprochen und gefragt, ob ich eine Tasse Kaffee möge. Ich habe geantwortet, nach all der Aufregung wäre mir ein Schnaps lieber. Den hab ich dann bekommen. Einen echten fran zösischen Cognac sogar. Stand jedenfalls auf der Flasche. Schließ lich bin ich nach Hause gefahren. Um zehn hat’s geschellt. Ich ha be die Haustür einen Spalt geöffnet. Ein Halbwüchsiger stand da vor. Er sagte: ›Der Chef schickt mich. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Ihr Mann spätestens um zwei Uhr heute Nacht zu Hause ist. Der Chef lässt ihn mit seinem eigenen Wagen herbringen.‹« »Ist so passiert«, bestätigte Paul. »Der Fahrer hat gefragt, ob ich jetzt häufiger so viele Überstunden kloppen würde. Als ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, sagte er: ›Ich muss sonst immer nur die feinen Pinkel fahren. Macht doch Spaß, auch mal einen einfachen Kumpel zu kutschieren. Dem brauche ich we nigstens nicht den Schlag aufzuhalten und seine Tasche trägt er auch selbst.‹« »An so was Verrücktes wird sich der alte Krasek bestimmt erin nern«, meinte Stefan. »Ich kann ihn morgen ja mal fragen.« »Frag ihn auch, ob ich ihn mal sprechen kann«, bat Paul. Anna stand auf. »Gute Nacht. Der nächste Morgen kommt be stimmt.« Stefan lief ihr in den dunklen Flur nach. »Kennst du einen Eu
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gen Ichweißnichtwie? So ein kleiner, schmaler Mann. Soll gut Tischtennis spielen können.« »Möglich. Ich komme mit vielen Leuten zusammen.« »Er wusste davon, dass sie dir die Haare …« »Lass mich in Frieden«, antwortete sie. Es klang wütend. Heftig schlug sie ihre Zimmertür zu. Stefan hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. *** Anna verkroch sich im Bett. Immer noch zitterte sie. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf. Bis in die Nacht hinein verfolgten sie die Bilder von damals, als sie durch Zufall eines Abends die Halle betreten hatte, in der die Kokillen gefüllt wurden. Eugen Komann und zwei Helfer standen mit einem Gefangenen aus dem Lager auf dem Gitterlaufsteg über dem Werksbahngleis. Die Gestalten hoben sich deutlich vor dem gleißenden Licht ab, das von der flüssigen Schlacke ausgestrahlt wurde, die wie ein Lavastrom in die Kokillen lief. Sie schleiften den Russen bis dicht vor das Gelän der. Aber da hatte Komann sie erblickt. Er ließ den Russen los. Der stürzte zu Boden. Die weiße Glut blendete Anna. Sie lief davon. Am folgenden Morgen war Komann ganz früh zu ihr ins Ingeni eurbüro gekommen. Er trug wie immer die Uniform des Werk schutzes. Als er sah, dass sie noch allein war, trat er dicht zu ihr an den Schreibtisch. »Vergessen Sie das, Frau Fink, was sie gestern Abend beobachtet haben. Ich habe Rückendeckung dafür von ganz oben. Kein Wort davon, verstehen Sie. Zu niemand ein Wort!« Andere Ingenieure kamen herein und wünschten einen
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guten Morgen. Komann flüsterte ihr zu: »Ich werde Sie sonst der Gestapo melden.« Dann ging er davon. Die Eisen unter seinen Absätzen schlugen hart auf den Boden. »Heil Hitler!«, rief er und zog die Tür hinter sich zu. »Was wollte der denn von ihnen, Frau Fink?«, erkundigte sich ein älterer Kollege. »Ach, er war nicht damit einverstanden, wie ich die Gefangenen zugeteilt habe.« »Ist ein gefährlicher Mann, Frau Fink. Nehmen Sie sich vor dem in Acht.« Es hatte Anna keine Ruhe gelassen. Sie wollte nun genau wis sen, was da über den Kokillen passierte. Vorsichtig näherte sie sich an den folgenden Tagen den Kokillenwagen, die in langer Reihe auf dem Gleis bereit standen. Kurz nach Feierabend, wenn die Gefangenen schon zum Lager zurückgeführt worden waren, stellte sie sich in den Schatten einer Mauer. Nicht noch einmal sollte Komann sie sehen. Tagelang geschah nichts Außergewöhnliches. Kokille um Ko kille wurde mit der glutflüssigen Schlacke gefüllt und schließlich wurden die Wagen zusammengekoppelt und von der Lok aus der Halle zum Schlackenberg gezogen. Schon glaubte Anna, ihre Be fürchtungen seien übertrieben, da schleiften Komann und seine Leute gleich zwei Männer auf die Rampe. Anna konnte nicht län ger hinschauen und rannte davon. Von ihrem Bürofenster aus sah sie Komann später aus der Halle kommen. Die Gefangenen waren nicht dabei. Von dem Tag an mied Anna die Kokillen. Sie fürchtete sich da
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vor, mehr zu wissen. Wochen später überfiel der erste Angst traum sie. Die flüssige Glut, die schreckliche Hitze, der aufsprühende Fun kenregen, die Schattengestalten vor dem Feuerlicht. Mit einem Schreckensschrei wachte sie auf. Als die fürchterlichen Traumbil der sich häufiger wiederholten, legte sie sich abends ein zweites Nachthemd bereit. Das andere war jedes Mal schweißnass. Sie nahm sich fest vor bei einer guten Gelegenheit mit Holzbau er darüber zu sprechen. Die erste Möglichkeit dazu ergab sich schon bald darauf. Holzbauer lud sie in die Grillostraße zu sich nach Hause ein. »Wir wollen über die alten Zeiten reden, Anna. Meine Frau ist neugierig und will die Anna Fink wieder sehen.« Anna hatte mehrere Jahre während ihrer Mechanikerlehre in Holzbauers Haus in einer Dachkammer wohnen dürfen. Erst als sie zur Maschinenbauschule ging, fand sie in der Nähe der Schule ein größeres Zimmer und war umgezogen. Auf den ersten Blick fand sie Holzbauers Haus nicht. Erst dann sah sie, dass die oberen Geschosse fehlten. Mit einem flachen Not dach war das Haus abgedeckt worden. Frau Holzbauer, damals eine fettleibige Frau, saß in einem Sessel. Sie war schmal gewor den. Ihr faltiges Schildkrötengesicht schien geschrumpft. Im Ge gensatz zu früher war sie nicht geschminkt. Nur die Lippen wa ren tiefrot nachgezogen. Lebhaft wurde Anna von ihr begrüßt. »Wissen Sie noch, dass ich Sie damals zu mir ins Schlafzimmer gerufen habe, wenn mein Mann nachts ins Werk musste?« Sie lachte laut. »Sie können sich gar nicht vorstellen, Anna, welche Ängste ich ausgestanden habe, wenn ich im Dunklen allein gelassen wurde.«
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Holzbauer stimmte in ihr Lachen ein. »So war das also. Und ich habe mich öfter gewundert, warum mein Bett immer noch warm gewesen ist, wenn ich nach Stunden vom Werk zurückgekehrt bin.« Es klopfte und eine Frau trat herein. »Es wäre dann so weit.« Es dauerte eine Weile, bis Anna Frau Miczalewski wieder erkannte, die auch damals schon Hausgehil fin bei Holzbauers gewesen war. Anna ging auf sie zu und umarmte sie. »Nach fast zwanzig Jahren, Frau Fink«, flüsterte Frau Micza lewski. »Ist lange her. Aber lass bitte das ›Frau‹ und das ›Sie‹ weg. Ich bin hoffentlich die Anna geblieben.« »Wenn Sie meinen«, antwortete Frau Miczalewski verlegen. Es gab ein Abendessen, das zwar nicht zu vergleichen war mit dem, was Gäste in Holzbauers Haus vor dem Krieg erwarten durften. Aber immerhin standen Brot, Butter, Käse und Wurst reichlich auf dem Tisch. Dafür würden die Lebensmittelkarten von drei Monaten nicht reichen, dachte Anna. Sie langte kräftig zu. Frau Holzbauer schien ihre Freude daran zu haben und ermunterte sie mehrmals nicht zu schüchtern zu sein. Als sie einmal für einen Augenblick hinausgegangen war, fragte Anna: »Und ihr Sohn Heinrich-Eberhard, Herr Doktor? Der hat doch sicher längst das Ingenieur-Diplom von der TH Aachen in der Tasche.« »Hatte er. Aber …« Er zeigte auf ein Foto, das auf dem Vertiko stand. Heinrich
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Eberhard in der Uniform eines Leutnants. Anna sah das schwarze Trauerbändchen, das über eine Ecke des Bildes gespannt war. »Verzeihen Sie«, stammelte Anna. »Ich wusste ja nicht …« »Wie sollten Sie auch? Er ist bei diesem letzten Wahnsinnsan griff in den Ardennen gefallen. Luttrop war der Stabsfeldwebel in seiner Einheit. Von ihm wissen wir wenigstens, wo sein Grab liegt. Aber erwähnen Sie bitte unseren Sohn nicht meiner Frau ge genüber. Sie kommt und kommt nicht darüber hinweg. Es hat auch sein Gutes, dass unser Haus halb abgebrannt ist und mit ihm alles das, was uns an Heinrich-Eberhard erinnern könnte.« Sie hörten Frau Holzbauers Schritte auf dem Flur und wechsel ten das Thema. Es wäre sicher an diesem Abend Zeit gewesen, das Gespräch auf Eugen Komann zu bringen. Aber Anna scheute sich plötzlich doch das Thema anzusprechen. Auch später im Betrieb nützte sie nicht die Gelegenheiten, mit Holzbauer darüber zu reden. Sie fragte sich, ob sie überhaupt die ganze Wahrheit erfahren wollte. *** Stefan hatte die Abschrift seines letzten Zwischenzeugnisses be glaubigen lassen, einen Lebenslauf geschrieben und ein Anschrei ben verfasst, in dem er sich darum bewarb, eine Stelle als Forstele ve zu bekommen. Er fuhr nach Düsseldorf und fand das Regie rungspräsidium. Der Pförtner beschrieb ihm geduldig, wie er den zuständigen Beamten in dem riesigen Gebäude finden konnte. Er suchte das Zimmer Nr. 209 und trat ein, nachdem er kurz ange klopft hatte. Aber statt in einem Vorzimmer stand er in dem
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schmalen, käfigartigen Raum vor einem billigen Schreibtisch. Ein weißhaariger Mann schaute ihn aus tief liegenden Augen an. »Bitte? Was wünschen Sie?« Stefan saß ein Kloß im Hals. Er reichte ihm die Papiere. »Sie leben in der Stadt. Wie kommen Sie darauf, Förster werden zu wollen?« »Ich habe zwei Jahre im Eggegebirge gelebt. Direkt am Wald rand. Die Försterei war nur hundert Meter weiter. Und ich habe Bücher gelesen.« »Was waren das für Bücher?« Stefan fiel in der Aufregung nur der Autor Ludwig Ganghofer ein. Er nannte den Roman Der Jäger von Fall. Der Mann lächelte freundlich. Er faltete die Bewerbungspapiere zusammen. »Lieber junger Herr. Förster ist ein sehr schöner Beruf. Gangho fer hat ihn allerdings zu …« Er stockte, fuhr aber dann fort: »Na, sagen wir, er hat das Försterleben sehr romantisch geschildert. Aber das ist nicht der Grund, warum ich Ihnen eine Absage ertei len muss. Sie wissen, der Krieg ging verloren. Eine Kriegsfolge ist, die Ostprovinzen gehören nicht mehr zu Deutschland. Wir müs sen uns daran gewöhnen, dass Ostpreußen, Schlesien, kurz, alle deutschen Gebiete östlich der Oder und Neisse für uns Ausland geworden sind.« »Aber ich könnte doch im Schwarzwald oder in der Eifel …«, wandte Stefan ein. »Richtig. Waldgebiete gibt es auch anderswo. Aber die Deut schen aus dem Osten sind vertrieben worden. Auch die Förster kamen zu uns. Förster aber sind Beamte. Die müssen alle von uns
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eingestellt werden. Wir können, und das ist nur geringfügig über trieben, auf jeden Hektar Wald einen Förster stellen. Kurzum, Ihr Wunschberuf ist für viele Jahre verschlossen.« Stefans Enttäuschung spiegelte sich in seiner Miene. Wohl zum Trost sagte der Beamte: »Ich kann mir Ihren Namen und Ihre An schrift ja mal notieren. Sollte sich in Zukunft doch etwas für Sie er geben, werden Sie von uns benachrichtigt.« Er stand auf. »Sie sind sicher schon länger unterwegs. Ich möch te Ihnen meine Essensmarke für die Kantine anbieten. Aber Ha senbraten gibt’s da nicht.« Er drückte Stefan die Marke in die Hand und öffnete ihm die Tür. »Es tut mir wirklich Leid.« Stefan glaubte ihm. In der Kantine gab es an diesem Tag zu Kartoffeln mit Soße dann doch wenigstens »falschen Hasen.« Das war ein Stückchen Hackbraten aus viel Brot und einer Spur Fleisch. *** Pauls Verbindungen zu dem längst pensionierten Steiger Krasek erwiesen sich als fruchtbar. Krasek ging gleich mit Paul zu Hacks ins Nachbarhaus. Er erzählte die Geschichte von der Frau Bien mann und dass der Direktor den Paul Bienmann mit seinem Wa gen hatte nach Hause bringen lassen. »Soll nun die Frau oder ihr Mann eingestellt werden?«, fragte Hacks und grinste. »Sie kennen meinen Verwandten Stefan Reitzak«, sagte Paul. »Der ist fast täglich hier und spielt mit Ihrem Sohn Thorsten Tischtennis.«
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»Ach, der Stefan. Guter Umgang für meinen Sohn. Allerdings spielen sie jetzt seltener hier. Sie treffen sich oft irgendwo in der Flottenstraße. Es soll dort einen Raum für Jugendliche geben. Un ser Tisch im Schuppen ist ihnen zu klein geworden und dort steht wohl ein großer Tisch. Ist Stefan Ihr Neffe?« »Neffe auch. Aber vielleicht noch etwas mehr. Die Bomben ha ben Stefan zum Waisen gemacht. Meine Schwägerin und mein Schwager sind 1943 im Luftschutzkeller umgekommen. Er lebt bei uns als so eine Art Ziehsohn.« »Für Führer und Vaterland«, warf Hacks sarkastisch ein. »Nein, Herr Maschinensteiger. Wir haben das damals nicht in die Todesanzeige geschrieben, obwohl das gewünscht war. Aller dings auch nicht die Wahrheit. Sonst hätten wir ›für einen Grö ßenwahnsinnigen‹ schreiben müssen.« »Und Sie wären sonst wo gelandet.« »Na, na. Ihr tut ja so, als ob man damals unschuldig ins KZ ge kommen wäre.« »War es nicht so?« Paul dachte, geändert hat Krasek seine An sichten nicht. Hacks mischte sich ein. »Darüber kann man mit Krasek nicht re den, Bienmann. Aber das schadet unserer guten Nachbarschaft nicht.« »Ich geh jetzt besser, Hacks. Ich wundere mich nur, dass ihr es so schnell vergessen habt: Hitler hat Deutschland wieder hochge bracht.« Hacks rief ihm nach: »Wie man sieht, Krasek, wie man überall sieht.« Er wandte sich an Paul. »Ihre Zeugnisse, Bienmann?«
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»Die beglaubigten Abschriften habe ich alle bei mir.« »Gut. Lassen Sie mir die Unterlagen hier. Ich rede morgen mit der Betriebsleitung. Glück auf!« »Deine Stellenvermittlung hatte Erfolg«, sagte Paul, als er Ste fan am Abend vor dem Haus traf. »Vielleicht kann ich mich mal revanchieren, wenn ich etwas von einer Stelle für dich höre.« »Wäre nicht schlecht, Paul.« »Der Hacks hat mir erzählt, du gehst jetzt mit Thorsten irgendwo anders hin zum Tischtennis? Stimmt das oder braucht ihr das nur als Ausrede, wenn ihr den Mädchen nachsteigt?« »Das stimmt.« »Was stimmt? Mädchen oder Tischtennis?« »Dicht neben der Kirche in dem Haus wohnt ein neuer Kaplan. Roth heißt der. Ist seine erste Stelle.« »Aha, ein ganz junger Spund?« »Nee, das nicht. Der war fünf Jahre Soldat. Soll Rittmeister ge wesen sein. Er ist gerade erst Priester geworden. Von seiner Woh nung hat er den größten Raum für Jugendliche abgegeben. Das ist prima. Es gibt zu diesem Zimmer einen eigenen Eingang vom Hof her.« »Ja, ja, die Geistlichen hatten immer schon riesige Wohnungen.« »Hat er aber nicht, Paul. Er wohnt mit seiner Mutter, einer alten Tante und mit der Haushälterin auf insgesamt vier Zimmern. Er selbst hat nur eins, so eine Art Wohnzimmer. Der Schrank ist quer gestellt und dahinter ist sein Bett. Am Fenster arbeitet er an einem winzigen Schreibtisch.« »Du bist ja gut informiert.« »Ja. Er hat uns mal eingeladen.«
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»Aha. Wollte sicher den Missionar spielen und euch für die Kir che einfangen, was?« »Nicht die Spur, Paul. Das hat uns ja selbst gewundert. Kein Wort davon, ob wir am Sonntag in die Messe gehen, wann wir zum letzten Mal gebeichtet haben und so was. Zum Schluss hat er nur gesagt, wir könnten in den Jugendraum gehen, wann immer wir es wollten, und dort Tischtennis spielen. Nur wenn der Raum besetzt ist, zum Beispiel, wenn die Messdiener ihre Besprechung haben, dann ginge das natürlich nicht.« »Wie kommt es denn, dass es euch bei Hacks nicht mehr gut ge nug war?« »Der Tisch ist zu klein. Da ist neulich ein Mann aus dem Haus nebenan rübergekommen und hat gegen uns gespielt. Der hat vielleicht auf den Ball gedroschen, sage ich dir. Uns ist Hören und Sehen vergangen. ›Auf diesem Tisch werdet ihr nie richtig spielen können‹, behauptete er. ›Früher, im SA-Heim, da standen zwei richtige Tischtennisplatten. Der Raum war so groß, dass wir sogar Mannschaftskämpfe austragen konnten. Aber uns ist ja alles ka puttgemacht worden. Auch das SA-Heim. Das Einzige, was mir davon geblieben ist, das ist mein Tischtennisschläger. Da, schau ihn dir mal an.‹ Er gab ihn mir in die Hand. Wirklich, Paul, einen besseren Schläger habe ich nie gesehen. Ich glaube ihm aufs Wort, dass er ihn in der Nazizeit bekommen hat. In den Griff ist nämlich ein Ha kenkreuz eingebrannt.« »Der Mann scheint zu dem alten Nazi Krasek zu passen. Kenne ich ihn?« »Er heißt Komann, Paul. Ist so ein kleiner, unheimlich flinker
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Kerl. Sicher über vierzig Jahre alt. Man kann sein Alter schlecht schätzen. Vielleicht ist er auch älter.« »Persönlich kenne ich keinen Komann. Aber Anna hat den Na men schon mal erwähnt. Sie hat, glaube ich, Angst vor dem.« »Ach, Paul, zufällig habe ich neulich hinter der Mauer von Hacks Hof gestanden und ein Gespräch mitbekommen. Komann war, wenn ich alles richtig verstanden habe, dabei, als Anna die Haare geschoren worden sind.« »Ich rate dir, Stefan, erwähne den Namen besser nicht, wenn Anna in der Nähe ist. Sie benimmt sich manchmal ganz seltsam. Irgendetwas liegt ihr auf der Seele. Dabei war ihr die Partei auch nicht fremd.« Sie stiegen die Treppen hinauf. »Wo bleibt ihr nur?«, fragte Frau Reitzak. »Ihr wisst doch, dass hier pünktlich gegessen wird.« Drei Tage später konnte Paul im Lokschuppen auf der fünften Sohle anfangen. Im Förderkorb dachte er bei der ersten Einfahrt: Ich bin wieder da gelandet, wo ich einst in Duisburg begonnen habe – im Pütt. Es geht unaufhaltsam abwärts mit mir. *** »Was hast du denn jetzt vor, Stefan?«, wollte Anna wissen, als sie erfuhr, dass die Träume des Jungen vom Förster sich nicht erfül len würden. »Keine Ahnung, Anna. Ich wäre wirklich gern Förster gewor den. War dein Opa nicht auch im Wald?«
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»Ja, das wohl, aber meilenweit davon weg, ein Förster zu sein. Er war Waldarbeiter. Das heißt, Bäume fällen von morgens bis abends. Schwere Arbeit, sag ich dir. Gefährlich auch, wenn die Stämme anders fielen, als die Männer erwarteten. Und keine feste Anstellung. Wenn es gerade nötig war, wurde er als Tagelöhner gerufen. Zum Glück versah er ja auch in unserer Kirche den Küs terdienst. Das war etwas, was er gern gemacht hat. Aber leben kann man nicht von dem, was ein Küster in einer Dorfkirche ver dient.« »Das wäre nichts für mich«, sagte Stefan. »Mit der Kirche habe ich nichts mehr im Sinn. Als meine Mutter noch lebte, hat sie mich zwar immer sonntags zur Messe geschickt und zur ersten Kom munion bin ich auch gegangen. Ich glaube, sie hätte mich gern fromm gesehen. Ich war es damals wohl auch. Aber sie selbst hat weniger Gebrauch von der Kirche gemacht.« »Und wie kam es, dass dir die Kirche fremd geworden ist?« »Oma Reitzak hat mich ja nach dem Angriff zu sich geholt. Sie ist evangelisch. Sicher, sie liest oft in der Bibel. Aber den Gottes dienst kann sie nicht einmal mehr Weihnachten besuchen. Sie war wohl damit einverstanden, dass ich sonntags nicht mehr in die Messe ging. Späte Rache an Franziska.« »An Franziska? Wieso?« »Als Paul sie heiraten wollte, ist sie katholisch geworden. Und wie! Aber seit Martin und Bruno Kurpek gestorben sind, hat sie mit Gott gehadert und ist nie mehr zur Kirche gegangen. Paul hatte Bruno Kurpek 1920 aus Berlin mitgebracht. Bruno stammte aus Pauls Dorf. In den Wirren nach dem ersten Weltkrieg ist Brunos
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älterer Bruder umgekommen. Der Junge stand ganz allein. Und dann wollte Bruno später ja unbedingt Priester werden. Er durfte sogar zum Studium nach Rom. Aber das ist ein Thema, darüber kannst du mit ihr nicht sprechen. Oma Reitzak hat mir das alles erzählt. Auch dass Bruno auf dem Rückweg von einer Romreise nach Deutschland mit einer italieni schen Partisanengruppe in Kontakt gekommen ist. Er wollte näm lich mit dem Fahrrad zurück nach Duisburg. Unterwegs ist er krank geworden. Mitten im Gebirge haben ihn Partisanen aufge griffen und sich um ihn gekümmert. Ein paar Tage ist er bei ihnen geblieben. Dann hat eine SS-Einheit die Gruppe aufgespürt. Alle sind aufgehängt worden. Bruno auch. Die Leichen mussten tage lang an den Ästen hängen bleiben. Zur Abschreckung, hieß es. Wie Paul und Franziska das erfahren haben, weiß selbst Oma Reitzak nicht. Wie gesagt Franziska spricht nie darüber. Und dann ist ihr eige ner Sohn Martin im Rhein ertrunken. ›Ich kann Gott nicht mehr verstehen‹, sagt sie und: ›Wie konnte er das zulassen?‹ Aber, Anna, du sprichst sie darauf besser nicht an. Sie will nicht darüber re den. Tagelang läuft sie jedes Mal niedergeschlagen herum, wenn sie an Bruno und Martin erinnert wird.« »Sie hat ja wenigstens dich, Stefan. Und was deinen Beruf be trifft – ich würde an deiner Stelle mal mit deinem Klassenlehrer reden. Du stehst dich doch ganz gut mit dem. Vielleicht kann er dir einen Tipp geben. Ich könnte auch mal mit Dr. Holzbauer sprechen. Möglich, dass er einen Lehrling im Büro einstellt.« »Das lass mal bleiben, Anna. Büro ist das Letzte, was ich will. Vom Wald in eine muffige Schreibbude? Das ist nichts für mich.«
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Stefan ging in seine Kammer. Immer sagen mir andere, was ich tun und lassen soll, dachte er. Was will ich eigentlich selbst? Aber eine Antwort darauf fand er nicht. *** Stefan schob es hinaus, PKW anzusprechen. Eines Tages wollte der Lehrer wissen, wer schon eine Lehrstelle habe. Von den dreiundsechzig Schülern meldete sich nicht einmal die Hälfte. Als sie zur Pause in den Hof gingen, wartete Herr Schnieder auf Stefan und sagte leise zu ihm: »Komm nach der Schule mal zu mir, Reitzak. Prinz-Heinrich-Straße 19. Aber nicht vor drei Uhr.« Stefan zog die Jacke über, feuchtete sich die Haare an und kämmte den Scheitel schnurgerade. Er atmete vor Schnieders Haustür ein paar Mal tief durch und schellte. Eine große, knochi ge Frau mit einem spitzen Vogelgesicht öffnete. »Du willst sicher zu meinem Mann. Will er dir Nachhilfeunterricht geben?« »Nein. Aber er hat mich herbestellt.« »Na, dann komm mal herein.« »Dietrich, Besuch für dich!«, rief sie durch den Flur. Es öffnete sich am Ende des Flurs eine Tür. »Tag, Reitzak. Komm, wir gehen in mein Arbeitskabuff.« Der hintere Teil des Flurs war abgemauert worden. In diesem winzigen Zimmer war neben einem Tisch kaum Platz für einen zweiten Stuhl. Der Tisch war über und über bedeckt mit Büchern, Zetteln und Heften. Auch der Stuhl, auf den Stefan sich setzen sollte, musste erst freigeräumt werden. So ein Chaos hätte Stefan
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bei PKW nie für möglich gehalten. Er achtete bei seinen Schülern nämlich peinlich genau auf Ordnung. Frau Schnieder kam herein und brachte ihrem Mann heißen Kräutertee und für Stefan ein Glas mit einer blassrosa Limonade. Er musste das Glas in der Hand halten, denn auf der Tischplatte war kein Eckchen frei. »Also«, begann Schnieder, »ich hab dich herbestellt, weil ich dich auf eine freie Stelle aufmerksam machen will. In der Klasse konnte ich das nicht sagen, sonst wäre wohl ein Dutzend Jungen scharf darauf gewesen. In der Innenstadt gibt es das Reisebüro Mattern. Ich weiß zufällig, dass dort ein Lehrling gesucht wird. Du bist gut in Deutsch. In Erdkunde habe ich gemerkt, dass du in teressiert bist. Wir haben uns Asien in den letzten Monaten gründlich vorgenommen. Du weißt darüber mehr, als die eine Stunde Unterricht in der Woche bieten konnte. Ehrlich gesagt, ich musste hier zu Hause manchmal selbst nachschlagen, ob das auch wirklich stimmte, was du geäußert hast. Na ja, es traf immer zu. Für Kunden Reisen auszuarbeiten, Informationen weiterzuge ben, die Reisedokumente zu beschaffen, das müsste doch etwas sein, was dir zusagt. Was meinst du?« »Daran habe ich bisher nie gedacht«, gab Stefan zu. »Aber von Sekunde zu Sekunde gefällt es mir besser.« »Gut. Ich habe dir hier die Adresse des Reisebüros aufgeschrie ben. Mach dir aber keine falschen Vorstellungen. Noch ist die Zeit in Deutschland nicht danach, die Länder der Welt zu besuchen. Heute versuchen die meisten den Tag zu überleben. Aber bald werden viele ihre Fühler ausstrecken und schauen wollen, wer hinter den Bergen wohnt. Du bist jung. Du wirst es noch erleben.
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Stelle dich einfach bei dem Direktor Mattern vor. Ich gebe dir ein Empfehlungsschreiben mit.« In der Schule war Schnieder streng und ziemlich wortkarg. Stefan wunderte sich, wie anders er in seinem Kabuff sein konn te. Als er sich nach einer halben Stunde bedankte und verab schiedete, hatte er ein anderes Bild von seinem Klassenlehrer ge wonnen. *** Anna hatte Komann schon fast vergessen, als sie eines Tages ei nen Brief auf ihrem Schreibtisch fand. Ohne Absender, aber ihr Name war groß darauf geschrieben. Es überkam sie ein merkwür diges Gefühl. Sie öffnete ihn. Der Briefbogen enthielt nur eine Drohung, die aus wenigen Sätzen bestand: »Lege das Dokument von diesem Russenschwein in einen Ge schäftsumschlag und gib den beim Pförtner ab. Schreibe auf den Umschlag: ›An Anton Krause. Wird persönlich abgeholt.‹ Es eilt. Ich werde nachfragen lassen. Wenn an der Pforte nichts vorliegt, dann wird es eng für dich.« Nach langem Überlegen ging sie zum Pförtner Broschek und bat ihn: »Kollege Broschek, es muss dieser Tage jemand kommen und nach einer Nachricht für ihn persönlich fragen. Er erwartet einen Brief von mir und heißt Anton Krause. Sagen Sie ihm bitte, ich würde es vorziehen, ihn zu sprechen.« »Kein Problem, Frau Fink«, sagte der Pförtner. Seit er wusste, dass Anna Ingenieurin war, behandelte er sie immer mit über triebener Höflichkeit. »Recht schönen guten Morgen, Frau
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Fink«, »Auf Wiedersehen Frau Fink und angenehmen Feier abend.« Aber Anna hatte nicht vergessen, wie grob er sie abgefertigt hat te, als sie zum ersten Mal bei Holzbauer vorsprechen wollte. »Ich bitte Sie, Kollege Broschek, schauen Sie sich den Herrn bitte genau an, der den Brief abholen will. Vielleicht kenne ich ihn ja.« Sie hatte an den folgenden Tagen viermal nachfragen müssen, aber immer breitete Pförtner Broschek seine Hände aus: »Wieder nichts, Frau Fink. Leider. Aber verlassen Sie sich auf Broschek, wenn einer kommt und den Brief verlangt, dann werde ich ihn mir genau anschauen. Ich werde Ihnen den Herrn beschreiben, als ob ich ein Foto von ihm gemacht hätte.« Am fünften Tag winkte er Anna gleich zu, als sie sich dem Pfört nerhaus näherte. »Na, Kollege Broschek, wie sah der Herr aus?« Er lachte und antwortete: »Eins fuffzig groß, zehn, höchstens elf Jahre alt, spitzes Mausgesicht, magerer Hering, dreckige Finger nägel. Ich glaube, blond, aber er trug eine dunkelgrüne Wollmüt ze, blaue …« »Das genügt, Kollege.« Sie war enttäuscht. »Ich habe ihm gesagt, er möchte dem Herrn, der ihn geschickt hat, ausrichten, die Ingenieurin Frau Fink wolle ihn selber spre chen.« »Hat er geantwortet?« »Hat er. ›Wat von Herr?‹, hat er gesagt. ›Oder meinen se de Eugen?‹« »Das haben Sie gut gemacht, Kollege Broschek. Ich habe mir
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schon gedacht, dass jemand einen Scherz mit mir machen wollte. Ich danke Ihnen.« Aber nach Scherz war es Anna nicht zu Mute. Was hatte Ko mann von ihr erwartet? Würde er in Zukunft Ruhe geben? *** Zwei Wochen nach Weihnachten 1946 fuhr Stefan mit der Stra ßenbahn in die Innenstadt. Es war über Nacht sehr kalt geworden. Ein feiner Schnee wurde von einem heftigen Wind durch die Stra ßen geweht. Stefan war aus seinem Kindermantel längst heraus gewachsen. Franziska hatte den Stoff zwar gewendet und ihm ei ne Jacke daraus geschneidert, aber selbst die spannte sich über seiner Brust. Seine Hände ragten weit aus den Ärmeln heraus. Paul besaß einen dicken Wintermantel, grau mit Samtkragen. Aber Paul war knapp eins siebzig groß, Stefan mindestens eins fünfundachtzig. Der Mantel stammte aus der Zeit, als in der Brauerei noch ein gutes Bier gebraut worden war. Viele Männer dort waren der lebendige Beweis dafür gewesen, dass das flüssige Brot gut nährt. Doch in diesen Hungerjahren waren die beleibten Brauereiarbeiter zu mageren Heringen zusammengefallen. Paul gehörte auch dazu. Nun, er konnte den Mantel zur Not noch tra gen, aber als er Stefan das Kleidungsstück lieh, sah der Junge da rin merkwürdig aus. Ein olivfarbener Velourshut, der Stefans Vater gehört hatte, war aus dem Schutt des zerstörten Hauses ausgegraben worden. »Solltest du aufsetzen«, riet Frau Reitzak. »So ähnlich habe ich mir einen Weltenbummler immer vorgestellt.«
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Nun, der Mantel verhinderte, dass Stefan in der Straßenbahn fror. Aber er fühlte sich nicht wohl in den fremden Kleidern, auch weil es ihm auffiel, dass einige Leute in der Bahn ihn seltsam an starrten. Er fand das Reisebüro bald. Trotz der Warnung von PKW – Ste fan war enttäuscht von der Baracke. Immerhin gab es einen lang gestreckten, niedrigen Raum, in dem zwei junge Damen hinter ei ner Theke saßen. Freundlich fragte die eine nach Stefans Wün schen. »Ich möchte, bitte schön, Herrn Direktor Mattern sprechen.« »In welcher Angelegenheit?« Er reichte ihr das Empfehlungsschreiben. Sie überflog es. »Augenblick, bitte.« Sie verschwand durch die Tür in den hinte ren Raum. Die andere Dame schaute Stefan ein wenig spöttisch an und gab ihm den Rat: »Nimm wenigstens den abenteuerlichen Hut ab, wenn du reingebeten wirst.« Verlegen drehte Stefan den Hut in den Händen. »Echter Velours ist das«, sagte er. »Velours knittert nicht. Stecke ihn in die Tasche!« Die Tür öffnete sich. »Der Herr Direktor bittet Sie herein.« Es kam ihm vor, als ob die junge Frau ihn ein wenig mitleidig anschaute. Sie hielt ihm die Tür auf. Ein riesiger Schreibtisch füllte das kleine Büro halb. Dahinter saß ein breitschultriger Mann. Vor dem Schreibtisch war der Platz so eng, dass gerade ein Stuhl dort stehen konnte. Es war kalt in dem Raum. In der Ecke befand sich zwar ein Dauerbrenner, über Kohlen aber schien das Reisebüro nicht zu ver fügen. Der Direktor saß in Mantel und Schal in seinem Bürosessel
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und hatte die Hände auf die geschnitzten Löwenköpfe gelegt, die die Lehnen zierten. Mattern forderte Stefan nicht zum Sitzen auf. Der Direktor fixierte ihn eine Weile scharf durch seine große Hornbrille. »Du willst dich also hier um eine Lehrstelle als Reisekaufmann bewerben.« Stefan nickte. Mattern zündete sich umständlich eine Zigarre an. Als er die ersten dicken Wolken in die Luft gepafft hat te, sagte er: »Nun, dann wollen wir mal prüfen, was du kannst.« Er lächelte skeptisch. »Dreh dich bitte zur Wand hin um.« Stefan stand jetzt mit dem Gesicht dicht vor einer großen Welt karte. »Zeige Capetown.« Capetown, Capetown, wirbelte es durch Stefans Kopf. In Euro pa liegt es nicht, dachte er. Das wüsste ich. Wo tragen Städte noch Namen in englischer Sprache? Vielleicht in Australien oder Nord amerika? Die größeren Städte von Australien waren ihm geläufig. Aber wer kannte schon alle Städte in Nordamerika? Also antwortete er: »In den USA oder in Kanada. Aber ganz sicher bin ich nicht.« Er fuhr mit der Handfläche über den Subkontinent, damit der Direktor wenigstens sah, dass er wusste, wo Nordamerika zu fin den war. »Erdkunde sehr gut, wie?« Der Direktor wedelte mit dem Emp fehlungsschreiben die Tabakswolken beiseite. »Sie können draußen bei den Angestellten auf den Bescheid warten.« Er zeigte zur Tür. Wie benebelt ging Stefan hinaus. »War das die ganze Prü fung?«, murmelte er erbittert.
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Der Direktor rief laut: »Fräulein Kasparek, bitte.« Die setzte sich einen Augenblick später wieder hinter ihre Schreibmaschine und schrieb einen kurzen Text. Dabei trug sie Handschuhe. Jetzt erst bemerkte Stefan, dass auch die beiden Angestellten in dicke Wollpullover und Halstücher eingemummt waren. Der Schrieb wurde von Direktor Mattern unterzeichnet und Stefan über die Theke zugereicht. Ohne einen Blick darauf zu werfen, ging Stefan hinaus. Er wusste, er hatte es versiebt. Der Kerl hat die Stelle wahrscheinlich längst vergeben, sagte er sich. Schade, dass ich nicht Förster werden kann. Ich hätte ihm eine Ladung Schrot in den Hintern geschossen. Am Abend erzählte er sein Bewerbungsabenteuer. »Mensch, man weiß doch, wo Kapstadt liegt«, maulte Paul. »Nach allem, was der Junge erzählt hat, wollten die ihn dort gar nicht. Stefan hätte vielleicht sagen sollen, dass du auf der Zeche eine einflussreiche Stelle hast und Kohlen besorgen kannst«, froz zelte Anna. »Und was jetzt?«, fragte Paul. »Was machst du, wenn du die Schule geschafft hast?« »Keine Ahnung«, antwortete Stefan niedergeschlagen. »Also, das sage ich dir: Hier faul rumsitzen, das gibt es bei uns nicht.« »Erst mal drüber schlafen«, sagte Frau Reitzak. »Stefan wird be stimmt seinen Platz finden.« ***
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Am Sonntagmorgen hob sich die Sonne groß und rot aus einem leichten Dunstschleier über die Dächer. Keine Wolke zeigte sich am Himmel. »Ich habe gehört«, sagte Anna, »dass Kottka seine alte Ziegelei erweitern will.« »Stimmt«, bestätigte Paul. »Wenn ich zur Zeche fahre, komme ich dort vorbei. Der Schornstein hat den Krieg ja überlebt. Seit Ta gen buddeln sie an einer Baugrube. Ziegelsteine werden überall dringend gebraucht.« »Das würde ich mir gern mal ansehen. Hat niemand Lust, mit mir einen Spaziergang dorthin zu machen?« Stefan zog sich seine Jacke über und band sich den dicken Woll schal um. »Tut ganz gut, durch die Kälte zu laufen. Da draußen auf Beeckerwerth zu ist der Schnee vielleicht noch weiß.« »Pünktlich um halb eins wird gegessen«, sagte Frau Reitzak. Sie kamen an der Kirche vorbei. Eine Baufirma hatte damit be gonnen, die Schäden wenigstens notdürftig zu beheben. »Wird noch Monate dauern, bis der Gottesdienst dort wieder gefeiert werden kann«, sagte Anna. »Aber das Kapitel Kirche ist ja für dich, wie du gesagt hast, zugeschlagen. Oder?« Er lachte. »Immerhin gehe ich mindestens zweimal die Woche in die Nähe der Kirche.« »Wieso?« »Wir können da Tischtennis spielen. Und du, Anna?« »Ganz davon loskommen werde ich wohl nie. Ich hatte aber jah relang andere Götter.« Stefan drang nicht weiter in sie. Sie gelangten über die Emscher brücke in die Nähe der Ziegelei.
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Die dünne Schneedecke war unberührt, aber übersät mit unzäh ligen Rußpartikeln. »Die Hütte hinterlässt überall ihre Spuren«, sagte sie. »Auch bei dir, Anna?« Als sie nicht antwortete, fuhr Stefan fort: »Franziska hat mir er zählt, dass du erst Ingenieurin auf der Hütte gewesen bist. Aber dann hast du bei Holzbauer gearbeitet. Du konntest doch eigent lich froh sein in einem großen Eisenwerk untergekommen zu sein. Das ist doch eine sichere Stelle. Mein Vater war jedenfalls ganz stolz darauf, dass er einer von der Hütte war.« Sie gelangten zu der Ziegelei. Ein neuer Stacheldrahtzaun war rundum gezogen worden. An der breiten Toreinfahrt stand ein winziges Holzhaus. Ein alter Mann trat heraus. »Gibt’s was?« »Wir wollten uns mal umschauen. Es soll ja bald wieder richtig losgehen mit der Ziegelbrennerei.« »Sicher. Warum will eine junge Frau das wissen? Wenn Sie etwa Steine kaufen wollen, dann wird das nichts. Kein freier Verkauf bei uns.« »Ich habe 1932 einen Sommer lang hier gearbeitet. Ich war das Kochmädchen, das für eine Lippische Zieglergruppe sorgen musste.« »Ja«, rief er. »Das waren noch Fachleute, die aus Lippe. Und ge schuftet haben die Männer. Die ganze Kampagne lang nur im Ak kord. Es gab keine besseren Ziegelbäcker als die aus Lippe.« »Ich wollte nur mal einen Blick auf die Baustelle werfen.« Der Pförtner schlug seine Arme heftig gegen die Brust. »Ver dammt kalt heute.« Er öffnete eine schmale Tür im Zaun. »Sehen
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Sie sich nur um. Ich gehe wieder an meinen Ofen. Klopfen Sie, wenn Sie alles besichtigt haben.« Anna erklärte Stefan lebhaft, wie die Ziegelei früher ausgesehen hatte. »Wir haben Steine auf die alte Art gebrannt. Nur Hand strich. Sie wurden für die Reparatur von Gebäuden gebraucht, die unter Denkmalschutz standen. Kottka hatte diese Marktlücke ent deckt. Rundum gingen in der Wirtschaftsflaute vor 33 die Ziege leien reihenweise ein. Aber diese hier überlebte.« Sie schilderte dem Jungen die Arbeitsabläufe und berichtete voll Stolz, dass ihr Bruder Christian, damals in Stefans Alter, zum Schluss sogar den wichtigsten Platz der Kolonne eingenommen hatte und der Brenner sein durfte. »Er hatte dem Brenner Hell mann alles abgeschaut. Und als der kurz vor dem Ende der Kam pagne sterbenskrank wurde, da war die Kolonne in Not. Der Zieglermeister Corbes hatte mit Kottka einen Vertrag über Gott weiß wie viele Steine abgeschlossen. Es fehlten noch fast hundert tausend Ziegel. Kottka war ein harter Hund. Wer den Vertrag nicht erfüllte, bekam auf keinen Fall den Lohn, der vereinbart worden war. Ja, und dann haben sie damals den Christian auf den Ofen gelassen.« »Hat er es geschafft?« »Und ob. So gut sogar, dass Corbes ihm anbot die Zieglerschule in Zwickau auf seine Kosten zu besuchen.« »Nur mal so eben ein Studium bezahlen wollte der?«, fragte Ste fan ungläubig. »Nicht ganz. Corbes war dem Christian was schuldig. Aber lass dir das lieber von meiner Mutter erzählen.« »Ist denn was daraus geworden mit der Schule?«
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»Nee. 1933 war Christian ein paar Monate zu jung. 1934 ver langten sie von ihm, er müsse in die Hitlerjugend gehen. Aber das wollte er auf keinen Fall. Er war in so einer wilden Wandergruppe der Katholischen Jugend. Sturmschar hieß die. Und die Nazis hat ten verboten, dass man neben der HJ noch in einer anderen Grup pe Mitglied war. Es war also nichts mit dem Zieglermeister Fink. Später ist er mit seinem Freund Lorenz Mattler nach Kolumbien ausgewandert. Auch weil hier niemand etwas werden konnte, der nicht im Gleichschritt marschieren wollte.« »Aber du, Anna, du hast es doch geschafft.« »Ich war nicht aus so hartem Holz geschnitzt wie der Christian. Ich bin schon früh in die Staatsjugend, den Bund Deutscher Mä del, eingetreten und mit achtzehn dann in die Partei gegangen. Ich wollte auf jeden Fall in der Maschinenbauschule aufgenom men werden. War für eine junge Frau sowieso ziemlich schwierig und ohne politisches Engagement völlig unmöglich.« Stefan hatte das goldene Parteiabzeichen, das er von seinem Freund in Kirchwüsten geschenkt bekommen hatte, in seiner Ja ckentasche. Er fingerte danach, nahm es heraus und zeigte es Anna. »Hast du so was auch getragen?« Sie nahm es ihm aus der Hand und schaute es genau an. »Wie kommst du an so ein Abzeichen?« »Mein Freund Willi in Loheiden hat es mir gegeben. Er meint, das sei ziemlich wertvoll.« »Mag sein. Aber ich habe selbstverständlich kein goldenes Par teiabzeichen bekommen. Das war nur was für Halbgötter in Braun. Meins lag, als es mir feierlich ausgehändigt wurde, in ei nem mit blauem Samt ausgeschlagenen Etui. Und da hat es auch
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fast immer seinen Platz gehabt. Als der Krieg zu Ende war, hab ich es in den Waldbach geworden.« Sie kamen an den Rand der alten Ziegelei, dorthin, wo man be gonnen hatte die Baugrube für die Erweiterung frisch auszuheben. »Das wird ja eine riesige Anlage«, sagte Stefan. »Mit kleinen Sachen hat sich Kottka noch nie abgegeben. Der hat eine Nase für …« Sie brach ab. Stefan schaute sie an. Sie starrte in die Grube. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Jetzt sah Stefan es auch. Skelette, Menschenknochen, noch nicht völlig verweste Leichenteile waren freigeschaufelt worden. Anna schrie laut auf und rannte davon. Stefan hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie schlug mit den Fäusten gegen die Pförtnerhütte. Erschrocken trat der Mann heraus. »Ich will weg! Ich will weg!«, rief sie völlig außer sich. Er schloss die Tür im Zaun auf. Sie rannte auf die Straße auf Beeck zu. »Was hat sie?«, fragte der Pförtner. »Die Gerippe, die Toten.« »Ach, sind Sie an der Baugrube gewesen?« Stefan nickte. »Ich hätte es Ihnen sagen sollen. Das ist nichts für schwache Nerven. Da, etwas weiter war das Russenlager. Die haben ihre Toten dort verscharrt, wo unsere Baugrube jetzt ist. Mengen von Toten. Ekelhaft. Kottka zahlt den Arbeitern, die dort ausschach ten, einen Sonderlohn. Trotzdem hat mehr als die Hälfte der Män ner sich geweigert weiter dort an der Grube zu arbeiten.« Stefan eilte Anna nach. Er holte sie nicht mehr ein. Als Stefan in der Blütentalstraße ankam, war Anna schon zu Hause und hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Er klopfte zaghaft. Nichts
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rührte sich. Er versuchte es noch einmal am Nachmittag und schließlich wieder, als es schon dunkel wurde. Sie meldete sich nicht. »Ich hab es auch schon vergeblich versucht«, sagte Franziska. Frau Reitzak machte sich Sorgen um Anna. »Was war denn ei gentlich los heute Morgen, Stefan? Anna sah aus, als ob sie einem Gespenst begegnet wäre.« »Tausend Gespenstern«, antwortete Stefan und erzählte, was sie gesehen hatten. »Ach, das arme Kind«, sagte Frau Reitzak. »Sie hatte auf der Hütte und später auch bei Holzbauer viel mit den russischen Kriegsgefangenen zu tun. Damals hießen die nur ›die sowjeti schen Untermenschen.‹ Als der Junge von Frau Hollein mal diese schlimmen Wörter hier in der Küche ausgesprochen hat, da habe ich ihm verboten so etwas je wieder über die Lippen zu bringen. ›Sagen doch alle‹, hat Walter gemault. Ich darauf: ›Hier bei mir will ich das nicht mehr hören, verstehst du. Und sonst will ich dich nie mehr hier sehen.‹ Er ist dann doch fast jeden Nachmittag wieder gekommen und hat dort auf der Bank hinter dem Küchen tisch gesessen und seine Schulaufgaben gemacht. Hier war es ru higer als in der kleinen Wohnung von Holleins. Und dann waren da ja insgesamt drei Kinder.« Franziska erinnerte sich an ihren Vater. »Weißt du eigentlich, Mama, dass unser Vater oft, wenn er aus seinem Schrebergarten kam, den Russen was über den Zaun ins Lager geworfen hat?« »Wir haben nie darüber gesprochen. Aber ich habe es geahnt und Angst genug ausgestanden. Hab aber nie danach gefragt, wenn er Brot mitgenommen hat.«
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»Er kam oft auf dem Rückweg zu uns, Mama. Meist brachte er Gemüse aus seinem Garten mit oder auch ein paar reife Beeren. Ich kochte ihm einen frischen Kaffee. Ab und zu trank er auch ein Glas Bier. Wir hatten ja genug davon. Paul erhielt als Deputat jeden Tag sechs Flaschen Haustrunk. Vater sprach kaum ein Wort, wenn er an dem Russenlager vorbeigekommen war. Einmal aller dings hat er hastig kurz hintereinander mehrere Gläser Pils ge trunken. Erst dachte ich, der erste warme Frühlingstag hätte ihn durstig gemacht. Aber als die Flasche leer war und er eine neue verlangte, wurde ich stutzig. Das war so ungewöhnlich, dass ich ihn fragte, was mit ihm los sei. ›Ich bin den Weg am Lager vorbeigegangene stieß er hervor. ›Viele Russen standen in ihren erdbraunen, dünnen Uniformen mit dem Rücken gegen die Barackenwand gelehnt, die ausgemer gelten Gesichter der Sonne zugewandt, und hielten die Augen ge schlossen. Sie summten leise eine schwermütige Melodie. Wohl ein Lied, das sie alle kannten. Ich blieb stehen und hörte zu. Plötz lich stürmte einer der Wachsoldaten herbei, riss seinen Karabiner von der Schulter und rief: ›Ruhe hier. Es geht euch wohl zu gut, dass ihr hier einen Donkosakenchor aufmacht.‹ Die Männer kümmerten sich nicht um ihn und summten weiter, lauter jetzt. Da legte dieser Schuft seinen Karabiner an und schoss. Nein, nicht in die Luft. Ein ganz junger Gefangener reckte die Ar me hoch und brach zusammen. Das Summen verstummte jäh. Aufgescheucht rannten die Gefangenen ihren Baracken zu. Der Wachsoldat drehte sich um und rief mir zu: ›Na, geht doch. Das ist die Sprache, die sie verstehen.‹ Es war übrigens das einzige Mal, dass ich Papa habe weinen se
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hen. Ich habe zu ihm gesagt: ›Papa, Mama hat Angst um dich. Sie nimmt an, dass du den Russen was zu essen über den Lagerzaun wirfst.‹ ›Und?‹, hat er gefragt. ›Du weißt doch, was mit denen passiert, die dabei erwischt wer den.‹ ›Sterben muss jeder Mensch. Das kann man nicht lernen. Aber wie ein Mensch zu leben, das zu lernen ist schwer‹, hat er geant wortet und ist aufgebrochen.« »Und wie ging es weiter?«, fragte Stefan. »Was meinst du? Denkst du etwa, für den, der da geschossen hat, wäre etwas nachgekommen? Aber ich bin ins Grübeln gera ten. Ein Trupp der Gefangenen wurde ja alltags wie sonntags auf dem Bürgersteig an unserem Haus vorbei zur Arbeit geführt. Du konntest die Uhr danach stellen. Morgens um halb sechs gingen sie zur Hütte und abends nach sechs schlurften sie wieder zurück. Unser Schlafzimmer lag im Erdgeschoss zur Straße hin. Es war überhaupt nicht zu überhören, wenn sie vorbeikamen. Nur weni ge von ihnen besaßen Schuhe. Die meisten hatten sich Holzpanti nen gemacht. Einige trugen nur alte Lappen um ihre Füße gebun den. Auf dem Rücken ihrer Uniformjacken war in großen weißen Buchstaben SU geschrieben. Das stand für Sowjetunion. Abends schleppten sie oft einen oder mehrere Tote mit sich, auf Bretter ge bunden und mit dem Papier von Zementsäcken zugedeckt. Von dem Tag an, als Papa das erzählt hatte, habe ich jeden Mor gen, wenn ich den Trupp um die Ecke in unsere Straße biegen hörte, die Rollladen einen Spalt hochgezogen und zwei Scheiben Brot außen auf die Fensterbank gelegt. Eines Tages fand ich einen
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kleinen aus Holz zierlich geschnitzten Vogel dort. Ich wusste, dass manche Russen so etwas können. Als ich das Geschenk he reingeholt hatte, entdeckte ich einige Wörter in kyrillischen Buch staben. Paul hat den Vogel mit zur Brauerei genommen. Da arbei tete in der Flaschenhalle einer, der war im Ersten Weltkrieg jahre lang in russischer Gefangenschaft und konnte angeblich Rus sisch. Er hat sich die Inschrift angeschaut und gesagt: ›Paul, das heißt auf Deutsch Alles aufgeschrieben im Himmel.‹« Franziska schluckte. »Erzähl weiter«, drängte Stefan. »Genau am Heiligen Abend fiel bei einem Angriff nicht weit von unserer Wohnung eine Luftmine. Rollladen und Fenster wur den von dem Luftdruck herausgerissen. Die hohe Mauer gegen über kippte auf die Fahrbahn. Der Gefangenentrupp musste von da an einen anderen Weg gehen.« Sie sprachen an diesem Abend nicht mehr viel. Wenn die Erin nerungen an diese Zeit wachgerufen werden, dachte Frau Reit zak, dann komme ich jedes Mal lange nicht in den Schlaf. *** »Übernächste Woche Samstag seid ihr um diese Zeit schon ins Le ben entlassen. Die Abschlusszeugnisse werden um zehn ausge teilt«, sagte Lehrer Schnieder. Es klang wie eine Drohung. »Frü her gab es immer eine Abschlussfeier. Die Eltern waren eingela den, der Chor hat vaterländische Lieder gesungen, es wurden Ge dichte vorgetragen. Da wussten noch alle, dass die mittlere Reife etwas Besonderes war. Aber heute?«
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»Können denn nicht wenigstens die Eltern dabei sein, wenn es die Zeugnisse gibt?«, fragte Manfred. Er war sicher, dass er gute Zensuren bekommen würde. PKW winkte ab. »Im Klassenraum sitzt ihr ohnedies wie Ölsar dinen in der Dose. In dem Gebäudeteil, der von der Schule noch steht, gibt es keinen geeigneten Raum für so was. Ist auch wenig Grund zum Feiern. Nur wenige haben eine gute Stelle bekom men. Vor dem Krieg standen den Besten in der Klasse viele Türen offen. Von der Sparkasse wurden immer einige als Lehrlinge ein gestellt oder in der Hütte im Büro, manche wurden Laboranten oder gingen nach Ruhrort in ein Schifffahrtskontor. Aber heute?« Er schaute Stefan an. »Da gibt es für einen, der gut in Deutsch und sehr gut in Erdkunde ist, nicht mal einen Platz in einem Reisebü ro.« »Herr Schnieder, ich kann aber am 1. April in einem Reisebüro in der Innenstadt anfangen«, rief Erich Klempen. Einen Augenblick verschlug es Herrn Schnieder die Sprache. »Weißt du denn etwa, wo Capetown liegt?«, fragte er. »Capetown? Nie gehört. Aber ich weiß, wo das Dorf Westbe vern liegt. Im Münsterland nämlich. Da stammt meine Mutter her. Meinem Opa gehört dort ein Bauernhof. Mein Vater hat ge sagt, heute komme es nur auf Vitamin B an, wenn man eine gute Stelle bekommen will.« »Ich bin kein Biologe«, murrte Herr Schnieder. »Oder meinst du mit Vitamin B etwa gute Beziehungen?« »Ich würde das genauer ausdrücken. Eine halbe Speckseite zum Beispiel oder ein Sack Mehl, vielleicht auch Butter und in Gläsern eingeweckte Wurst. Das alles ist Vitamin B.«
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Stefan schaute starr vor sich auf die Bank. Herr Schnieder sagte: »Mit Speck fängt man zwar Mäuse, aber im Leben kommt es letz ten Endes doch darauf an, was einer wirklich ist und kann.« *** Paul und Anna saßen nun schon den dritten Abend über den Plan einer Pressluftlokomotive gebeugt. Die Maschinen mussten für eine Inspektion vorbereitet werden. Aber eine Lokomotive konn te und konnte Paul nicht zum Laufen bringen. Er baute sie ausei nander, reinigte jedes Teil sorgfältig und versuchte sie nach dem erneuten Zusammenbau zu starten. Vergebens. Maschinensteiger Hacks wurde schon ungeduldig. »Haben Sie eine Ahnung, wo der Fehler stecken könnte?«, frag te Paul ihn. Hacks antwortete sehr von oben herab: »Sie, Bien mann, sind mir doch als Fachmann empfohlen worden.« Paul nahm den Plan mit nach Hause und fragte Anna um Rat. Aber zunächst halfen ihre Hinweise auch nicht weiter. »Keinen Meter läuft das Biest«, schimpfte Paul. An diesem dritten Abend zeigte Anna mit ihrem spitzen Blei stift auf ein kleines Ventil im Inneren der Maschine. »Ich habe mit Luttrop gesprochen. Wir haben uns in der Pause mit Benno Neu mann zusammengesetzt und den Plan ausgebreitet. Auch Holz bauer kam dazu. Ich habe die Schwierigkeiten genannt. Holzbau er meinte: ›Benno, das kann doch eigentlich nur an dem kleinen Einlassventil liegen. Hat sich vielleicht zugesetzt. Was halten Sie davon?‹ ›Versuch macht klug‹, hat Benno Neumann geantwortet und
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mit einem dünnen Kreis die Stelle bezeichnet, an der das Ventil sitzt. Am besten, Paul, du baust morgen noch einmal das gute Stück auseinander und siehst nach, ob etwas mit dem Ventil nicht in Ordnung ist. Notfalls muss ein neues rein.« »Falls wir eins am Lager haben. Die Loks sind alle alt. Eigentlich sollten sie längst verschrottet sein. Aber woher sollen wir Ersatz bekommen?« Paul fand den Fehler an der Stelle, die Anna ihm gezeigt hatte. Hacks schüttelte den Kopf. »Und nun, Bienmann, was machen wir nun? Übermorgen ist die Inspektion.« Paul schloss sich mit dem schadhaften Teil in der kleinen Werk zeugkammer hinter dem Lokschuppen ein und wollte nicht ge stört werden. Nach zwei Stunden hatte er das Ventil repariert. Hacks schaute gespannt beim Zusammenbau der Lok zu. Sie wurde gestartet. »Läuft wie geschmiert!«, rief Hacks erleichtert. »Ist sie auch«, sagte Paul. »Wie bitte?« »Na, ich hab sie auch gründlich geschmiert.« Die Inspektion verlief gut. Die drei Fachleute vom Bergamt lob ten die hervorragende Arbeit von Hacks. Einer wandte sich an Paul und sagte: »Sie können froh sein, dass Sie einen so versierten Maschinensteiger hier haben.« »Sind wir auch, sind wir auch«, bestätigte Paul fröhlich. Von dem Tag an hatte Paul bei Hacks einen Stein im Brett. Er versprach: »Bienmann, wenn in Hamborn an der Bergschule der nächste Kurs beginnt, der Maschinenhauer ausbildet, werde ich Sie vorschlagen.«
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»Ich gehe auf die fünfzig zu, Steiger. Meinen Sie nicht, dass ich zu alt dafür bin, eine Schulbank zu drücken?« »Unsinn, Bienmann. Zum Lernen ist man nie zu alt. Zeigen Sie den jungen Leuten mal, dass wir nicht zum alten Eisen gehören. Und Sie wissen ja, Maschinenhauer werden besser bezahlt.« »Wenn Sie meinen, Steiger.« Zu Hause berichtete er von Hacks Lob. Franziska gratulierte ihm zwar, aber sie konnte nicht verhindern, dass sich der Gedan ke bei ihr einschlich: Paul und Anna hocken zusammen und ich bleibe außen vor. In ihre Stirn grub sich eine Falte. *** In der Nacht fing es wieder an. Stefan kannte die Anzeichen. Er hatte schon mehrmals eine Mittelohrentzündung überstanden. Nächtelang, tagelang der wütende Schmerz im rechten Ohr. Bei jedem Herzschlag schien es, als ob das Blut hinter dem Trommel fell aufrauschte. Das klang ungefähr so, als wenn in der Nacht ein schwerer Angriff erwartet wurde und bei den Hochöfen in der Hütte die Pressluft in regelmäßigen Abständen abgeblasen wur de. Dann wusste jeder im Ort, was auf Duisburg zukam. Stefan wälzte sich in seinem Bett. Ab und zu fiel er in einen fla chen Schlaf, war aber sofort wieder hellwach, wenn der Schmerz erneut aufwallte. Tsch, tsch, tsch, wieder und wieder. Dazu Stiche bis in den Hals hinein. Franziska hörte Stefans altes Holzbett knarren und stand auf. Vorsichtig öffnete sie die Kammertür. »Quält’s dich wieder?«, fragte sie leise.
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Stefan stöhnte. »Ich weiß bald nicht mehr, was ich machen soll.« Sie ging nach vorn in das Zimmer ihrer Mutter. Frau Reitzak hatte einen leichten Schlaf. »Was ist los?« »Stefan hat wieder Ohrenschmerzen.« »Öffne die Klappe am Gläserschrank. In der zweiten kleinen Schublade links liegt das Säckchen mit den Kamillenblüten. Du weißt ja Bescheid. In der Flasche muss auch noch ein Rest Öl sein. Mach es warm und träufele vorsichtig ein paar Tropfen in sein Ohr.« Sie richtete sich auf und hustete. Wird immer schlimmer, dachte Franziska. Das Feuer im Küchenherd war nicht ganz erloschen und die Glut strahlte noch Wärme ab. Das Öl und das heiße Kamillensäck chen, das Franziska dem Stefan mit einer schwarzen Ohrenklap pe festband, verschafften dem Jungen ein wenig Erleichterung. »Hoffentlich dauert es nicht so lange, bis das Trommelfell dies mal durchbricht und meine Schmerzen nachlassen.« Nach einer weiteren Nacht war es immer noch nicht so weit. Die Stiche waren heftiger geworden. Franziska sagte am Morgen: »Bleib doch heute aus der Schule weg. Ich schreibe dir eine Ent schuldigung.« »Lieber nicht. In der Schule horche ich nicht dauernd nach in nen, ob es nicht bald besser geht.« Bevor er aufbrach, wurde noch einmal warmes Öl ins Ohr ge träufelt. Über das heiße Kamillensäckchen legte Frau Reitzak eine Schicht Watte. Dann erst band sie die Ohrenklappe fest. »Ist wieder kalt heute. Kälte ist Gift für das Ohr.« »Ich bin vorsichtig, Oma«, versprach Stefan. »Du sollst um halb zehn zu Blasa ins Lehrerzimmer kommen«,
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sagte Charly, als Stefan den Klassenraum betrat. »Er will dich für die Abschlusszensur in Bio prüfen. Ich war schon gestern dran.« »Ist doch Pause um diese Zeit. Wird Blasa zum Schluss noch fleißig?«, spottete Stefan. Das fehlt mir gerade noch, dachte er. Aber große Sorgen machte er sich nicht. Biologie war eines seiner Lieblingsfächer. Sogar im Aufbaugymnasium in Detmold, wo ihm in den ersten Monaten die meisten Fächer große Schwierigkeiten bereitet hatten, bekam er in Biologie immer eine Zwei. Außerdem hatte er gehört, dass Blasa fast allen Schülern eine Frage nach dem Sozialverhalten von Ratten gestellt hatte. Zuversichtlich klopfte er an die Lehrerzimmertür und ging hi nein. Dicker Tabaksqualm waberte in dem Raum. Fast alle Lehrer hielten sich in der Pause dort auf. Der Hausmeister heizte den mächtigen gusseisernen Ofen gut. Der Raum war überhitzt. Den noch stand Blasa, den Rücken dem Ofen zugekehrt, ziemlich nah an der Heizquelle. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Als er Stefan an der Tür stehen sah, winkte er ihn zu sich heran. »Einige Fragen, Reitzak«, sagte er. »Ich muss deine Zensur noch festlegen.« Er zog eine unsauber herausgerissene Buchseite aus der Tasche. Es war das Inhaltsverzeichnis eines alten Biologiebuches, dem er offensichtlich die Fragen entnahm. Im Lehrerzimmer schwirrten die Stimmen durcheinander und Stefan hatte Mühe, Blasa zu verstehen. Der Lehrer sprach leise, wohl auch deshalb, weil niemand der Kollegen seine laienhaften Fragen hören sollte. Denn er hatte Geschichte und Deutsch unter richtet und nie Biologie. Aber die Geschichte nach dem Krieg war
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nicht mehr die, die er den Schülern zwölf Jahre lang beigebracht hatte. Bei seiner ersten Frage musste Stefan ihn zweimal bitten lauter zu sprechen, und er zeigte auf seine Ohrenklappe. »Osmose« ver stand er schließlich. Er war inzwischen so aufgeregt, dass er die Antwort nur hervorstottern konnte. Auf die folgende Frage nach den Besonderheiten beim Skelett des Walfisches wusste Stefan keine Antwort, die den Lehrer befriedigen konnte. Gern hätte er gesagt, dass der Wal gar kein Fisch sei, sondern zu den Säugetie ren gehöre, aber er traute sich nicht. Endlich kam die Standardfra ge nach dem Sozialverhalten der Ratten. Stefan antwortete, dass es bei den Ratten wie bei den Menschen Herrentiere gebe, nach denen sich alle anderen, die Sklaventypen zum Beispiel, zu rich ten hätten. »Wie bei den Menschen?«, hakte Blasa nach. »Ja. Manche Lehrer zum Beispiel sind in der Klasse die Herren tiere und die Schüler …« »Die Ratten mit den Menschen gleichsetzen, das fehlte gerade noch«, stieß Blasa hervor. Unwillig wies er den Jungen zur Tür. Mit Prüfungen habe ich wenig Glück, dachte Stefan. Als Franziska ihn später fragte, wie es in der Schule gewesen sei, berichtete er von seiner Prüfung bei Blasa. »Wisst ihr etwas über das Sozialverhalten von Ratten?«, fragte er. »Aber sicher«, sagte Paul. »Die greifen sogar Menschen an, wenn sie in die Enge getrieben werden. An denen hättest du dir ein Beispiel nehmen sollen, wenn man dir mit solchen Fragen kommt.« »Mach den Jungen nicht verrückt, Paul«, mahnte ihn Franziska.
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In dieser Nacht riss endlich mit einem scharfen Schmerz das Trommelfell. Stefan spürte, wie die Qualen verebbten. Es knackte und zischte im Ohr. Eitriges Sekret floss heraus und wurde von dem Kamillensäckchen aufgesogen. Er schlief zum ersten Mal wieder tief und fest. Frau Reitzak bestand darauf, dass er die Oh renklappe noch ein paar Tage anlegte. »Und versau mir nicht alles durch den Eiter. Stecke jede Stunde einen frischen Wattepfropfen in das Ohr, hörst du.« »Ja, Oma, ich höre wieder gut.« *** Anna war nach dem Besuch in der Ziegelei wortkarger als sonst. Sie ging früh am Morgen zur Arbeit und kam erst zurück, wenn es dunkelte. »Ich meine, seit 1918 wäre für alle der Achtstundentag einge führt worden?«, sagte Paul zu ihr. »Wer hat den schon eingehalten? In unserem Dorf und im Ge stüt Trapphoff sicher niemand. Und im Krieg in der Hütte und bei Holzbauer war auch kein Denken daran. Wir haben bei Holzbau er Spezialzünder für Bomben hergestellt. Nie konnte genug von dem Zeug geliefert werden.« »Wohin sind die Zünder eigentlich geschickt worden?« »Nach Xanten. Ganz geheim sollte der Ort bleiben, wo Bomben, Sprengstoff und Zünder zusammenkamen.« »Was stellt ihr eigentlich heute so Wichtiges her, dass der Acht stundentag wieder nicht ausreicht?« »Für einen Ingenieur ist das im Moment nicht interessant, was
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von uns verlangt wird. Die besten Maschinen der Hüttenwerke werden in ihre Einzelteile zerlegt, in die Siegerländer gebracht und dort wieder zusammengebaut. Unsere Betriebe bluten aus. Die Maschinen, die niemand haben will, die bleiben uns. Diese schrottreifen Dinger sollen wir wieder auf Schwung bringen, da mit die Produktion nicht völlig zum Erliegen kommt. Wir fertigen vor allem Ersatzteile. Für Neuentwicklungen bleibt wenig Zeit. Es wäre auch dumm, wenn wir Konstruktionszeichnungen liefern würden für Neuerungen, für schnellere und leichtere Maschi nen.« »Das wäre dumm?«, fragte Stefan verblüfft. Auch Paul sagte: »Ist es nicht genau das, was einen Ingenieur zum Ingenieur macht?« »Noch geht es nicht. Uns sind die alten Patente weggenommen worden. Sie sind ein Teil der Reparationen. Schließlich ist in Frankreich, Holland und Belgien die Industrie im Krieg von uns zerstört worden. Und in den ersten Kriegsjahren haben die deut schen Bomben auch in England viel Unheil angerichtet. Wundert es euch, wenn diese Staaten so viel wie möglich ersetzt haben wollen? Jedenfalls wird in der Hütte demontiert auf Teufel komm raus.« »Wir werden wohl nie mehr auf einen grünen Zweig kommen«, sagte Franziska. Frau Reitzak war zuversichtlicher. »Auch nach dem strengsten Winter treiben die kahlen Bäume Knospen.« »Im Geheimen geschieht das, Tilla«, bestätigte Anna. »Genau wie bei uns.« »Drück dich deutlicher aus«, forderte Paul sie auf.
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Sie überlegte eine Weile, sagte aber dann: »Die Pläne für die täg lichen Arbeiten schafft Benno Neumann mit zwei technischen Zeichnern. Holzbauer hat mir eine andere Aufgabe zugewiesen. Ich glaube, Luttrop hat ihn darauf gebracht. Jedenfalls arbeite ich inzwischen in einem Raum für mich allein. Ich entwickle dort Plä ne für Maschinen, die es heute noch gar nicht gibt.« »Also Luftnummern?«, fragte Stefan. Anna lachte. »Zukunftsvisionen besser. Irgendwann werden die Westmächte merken, dass Deutschland wichtig ist. Ein anderes Deutschland als das der Nazis. Oder glaubt ihr, dass es zwischen Moskau und den westlichen Ländern auf die Dauer gut geht?« »Das kann ich mir auch nicht denken«, sagte Paul. »Erinnert euch doch mal an die Parolen in den letzten Kriegswochen. Da meinten viele, die Briten und die Amis würden sich mit den deut schen Truppen zusammentun und gleich bis Moskau weitermar schieren. Denn Genosse Stalin ist doch so ähnlich wie ein rot an gestrichener Hitler. Sagen jedenfalls viele.« Frau Reitzak schüttelte den Kopf. »Und was heißt das nun?« »Die im Osten und die im Westen werden sich an die Köpfe kriegen. Dann brauchen sie uns. Aber schlapp und im Elend sind wir nichts wert.« »Morgenthau«, sagte Stefan. Frau Reitzak fragte unsicher: »Morgentau?« »Mit th geschrieben, Oma. Henry Morgenthau. Das ist einer von der amerikanischen Regierung. Der hat einen Plan ausgearbeitet. Der Morgenthau-Plan sieht vor, dass Deutschland nie mehr ein Industrieland sein darf. Nur noch Ackerbau und Viehzucht. Hat jedenfalls unser Klassenlehrer behauptet.«
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Frau Reitzak sah ihren Enkel ungläubig an. »Ich halte das für ei ne Parole, die Goebbels in den letzten Kriegsmonaten erfunden haben könnte. Kann sich denn ein Mensch zum Beispiel die Mil lionen Frauen und Männer hier im Ruhrgebiet als Landarbeiter vorstellen?« »Den Plan gibt es wirklich, Tilla«, bestätigt Anna. »Ich war vori ge Woche bei einer politischen Versammlung in Ruhrort.« »Hast du die Nase von Politik immer noch nicht voll, Anna? Willst du jetzt zu den Sozialdemokraten?« »Es war eine Versammlung der CDU. Evangelische und Katho lische haben sich endlich zu einer einzigen Partei zusammenge schlossen. Da wurde es auch gesagt, das mit dem MorgenthauPlan. Aber das ist Schnee von gestern. Ich bin ganz zuversichtlich, dass es eines Tages wieder mit unserem Land aufwärts geht. Und für den Tag X plane und arbeite ich bei Holzbauer.« »Du meinst, die anderen müssen dann unsere Maschinen wie der zurückschaffen?«, fragte Franziska. »Das fehlte uns gerade noch.« Annas Stimme klang optimis tisch. »Sie produzieren dann mit unseren braven, alten Dingern, aber wir bauen neue, schnellere, modernere. Das macht uns stark.« »Willst du nicht auch bei Holzbauer, dem Betrieb mit Zukunft, anfangen, Stefan?«, fragte Paul. »Ich gehe nicht in ein Büro.« »Viel Auswahl hast du nicht. Und rumsitzen, das gibt es nicht.« »Was meinst du denn, Paul, was soll der Stefan machen?«, frag te Frau Reitzak. »Nur zwei Berufe stehen heute offen. Im Pütt und auf dem Bau
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suchen sie immer Leute. Auf der Zeche anfangen, das wäre gar nicht so schlecht. Erstens gibt es jeden Monat ein Fresspaket für uns und Sachen sind darin, die man nirgendwo kaufen kann. Zweitens gehören wir dann zu den wenigen Familien, die Kohlen im Keller haben. Und drittens kann man sich im Bergbau hochar beiten. Wenn einer gut ist, darf er die Bergschule besuchen, kann zum Beispiel Steiger werden oder …« Franziska unterbrach ihn und wandte sich an Stefan: »Junge, stell dich mal mit dem Rücken gegen die Tür.« Stefan sagte: »Bin mal gespannt, was du jetzt für ein Theater mit mir machst.« Sie holte das Maßband und die große Schneiderschere. Die legte sie Stefan flach auf den Kopf, sodass die Spitze gegen die Tür stieß. »Halt die Schere mal fest«, bat sie. »Festhalten und dann zur Sei te gehen.« »Ich komme mir vor wie bei der Musterung beim Militär«, flachste Stefan. Sie musste das Zweimeterband weit ausrollen, presste in Höhe der Schere das Band zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt es dann ins Licht. »Fast eins neunzig ist der Stefan. Viel zu lang für den Pütt. Er stößt sich ja unter Tage überall den Schädel wund.« Alle lachten. »Bleibt nur der Bau, Junge«, sagte Paul. »Wolltest ja immer im Freien arbeiten. Und aufwärts geht’s da auch. Wenn du tüchtig bist, kannst du Bauführer werden. Vielleicht auch Architekt oder so was.«
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»Gar nicht so schlecht«, stimmte Frau Reitzak zu. »Schau dir doch unsere zerstörten Städte an. Nichts wird nötiger gebraucht als Maurer und Menschen, die alles wieder aufbauen. Was meinst du dazu, Stefan?« Der hob die Schultern. »Oma, du sagst so oft, man müsste we nigstens einmal drüber schlafen, bevor man wichtige Entschei dungen fällt.« »Da hast du Recht, Junge. Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht.« Als die Bienmanns im Bett lagen, murmelte Franziska schon halb im Schlaf: »Ich hab vor Jahren für Frau Jensen ein elegantes Kleid genäht. Die Familie hat doch eine Baufirma. Vielleicht frage ich die mal, ob sie Stefan nicht einstellen wollen.« »Jensen und Söhne, große Schuppen, kleine Löhne«, antwortete Paul und drehte sich zur Wand. *** An manchen Tagen sprudelten Annas Ideen für Neuentwicklun gen. Dann stand Luttrop hinter ihr und schaute fasziniert zu, was ihr auf dem Zeichenbrett aus dem Stift floss. Zu Holzbauer sagte er: »Die Anna Fink ist die richtige Frau für uns.« Zu anderen Zeiten starrte sie stundenlang auf den weißen Zei chenkarton. Es kam ihr dann vor, als ob die Einzelteile des Spe zialzünders, den sie entwickelt hatte, erneut Strich um Strich zu einem Ganzen zusammenwüchsen. Dann und wann ertappte sie sich dabei, dass sie sich so in die Vergangenheit verstrickte, dass sie krause Linien auf das Papier zeichnete. Luttrop betrachtete dann ratlos die wirren Striche.
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Einmal fragte er sie direkt: »Frau Fink, was ist es, das Sie so blo ckiert?« Sie wich aus. »Ich muss oft an meine Freundin Lore Quinders denken. Ich habe damals die ganze Zeit über hier im Werk mit ihr zusammengearbeitet. Sie hat mir wahrscheinlich das Leben geret tet. Wo mag sie geblieben sein?« »Ich werde mich umhören«, versprach er. Schon nach drei Tagen reichte er ihr einen Zettel mit Lores Adresse. Sie wohnte nicht mehr in der kleinen Wohnung in dem schönen Haus am Park in Hamborn, sondern in Ruhrort in der Altstadt. Anna nahm sich an demselben Nachmittag frei und fuhr mit der Straßenbahn zum Friedrichsplatz. Es war von der Haltestelle noch ein Weg von zehn Minuten bis zum Gildenplatz. Ausgerech net die alten Häuser hatten den Krieg mehr oder weniger heil überstanden. Die Altstadt wäre ein geeignetes Ziel für die Bomber gewesen, um einen Feuersturm zu entfachen, dachte sie. In vielen Städten ist das gelungen. Überall dort, wo die Häuser dicht bei sammenstanden, in Lübeck, in Paderborn, in Dresden und an derswo hatten solch entsetzliche Brände gewütet und alles in Schutt und Asche gelegt. Die Bilder jener schrecklichen Nacht vom 13. auf den 14. Oktober 1944 überfielen sie, das Höllenfeuer nach den verheerenden Bombardements auf Beeck. Sie blieb ste hen und hielt sich an einer Straßenlaterne fest. Eine Frau sprach sie an: »Ist Ihnen nicht gut?« »Es geht schon wieder«, antwortete Anna und fügte hinzu: »Aber diese Altstadt haben sie nicht zerstört.« Die Frau schaute sie verwundert an, ging aber dann weiter. An
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na drängte die Erinnerungen zurück. In der Ruhrorter Altstadt fanden sich noch die kleinen Plätze und die engen Straßen. Die Gassen waren zum Teil so schmal, dass man sich aus den Fenstern der vorgebauten Giebel der oberen Stockwerke die Hände von ei nem Haus zum anderen reichen konnte, ohne sich gefährlich weit hinauslehnen zu müssen. Sie fand bald das Haus Gildenplatz 5. Gerade als sie nach dem Namensschildchen neben der Klingel schaute, wurde die Haus tür von einer jungen Frau geöffnet. »Wohnt hier Frau Quinders?«, fragte Anna. »Im Dachgeschoss, letzte Tür rechts.« Im Treppenhaus war der Putz in großen Placken von der Wand gefallen. Die Reste der ehemals schönen Tapete verstärkten das Bild eines heruntergekommenen Hauses. In dem winzigen Flur oben war es so dunkel, dass Anna die Tür fast übersehen hätte. Sie klopfte zaghaft. Es blieb still. Sie versuchte es noch einmal und klopfte lauter. Zweimal, dreimal, einmal. Da zwischen deutliche Pausen. Das war damals ihr Zeichen gewesen. »Anna?« Sie öffnete die Tür. Lore saß am Dachgaubenfenster. Sie hatte sich eine Decke über die Knie gelegt und stand nicht von ihrem Stuhl auf. Es war kalt in dem Zimmer. Sie schaute ihre Freundin mit großen Augen an. »Endlich«, sagte sie leise. »Ich habe es ge spürt, du lebst.« Die ganze Zeit über stand sie nicht auf. Ihr Ge sicht blühte auf. »Du lebst«, sagte sie noch einmal. Aber sie kam Anna keinen Schritt entgegen. Anna legte den Arm um sie und stammelte: »Du, Lore, lebst auch. Wir sind beide davongekommen.«
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»Ich nur halb«, antwortete die Freundin und schlug die graue Militärdecke zur Seite. Anna fuhr zurück. Dicht unter dem Knie war das rechte Bein amputiert. Jetzt erst bemerkte Anna die Krücken. Sie lehnten seit wärts von Lores Stuhl an der Wand. »Aber immerhin, Franziska, wir leben. Ich koche Kaffee. Du glaubst es wahrscheinlich nicht, Anna, aber für diesen Augen blick habe ich, seit du damals weg musstest, zwanzig echte Kaf feebohnen aufbewahrt. Richtigen, echten Bohnenkaffee werden wir gleich trinken.« Anna traute sich nicht zu sagen, dass sie noch ein ganzes Pfund von dieser Kostbarkeit besaß. Lore griff nach den Krücken. »Lass mich das machen, Lore.« Lore schob sie mit einer Krücke zur Seite und stand mit einem Ruck auf. »Mach mich nicht vollends zum Krüppel. Was ich kann, das will ich selbst tun. Da, setze dich an den Tisch. Es dauert nicht lange.« Sie schüttete die Kaffeebohnen aus einer kleinen Deckelschale in die Kaffeemühle. »Mahle sie schon mal, Anna, ich hoffe, du weißt noch, wie das geht.« Lore schöpfte mit einer Kelle Wasser aus einem Eimer in den Wasserkessel und stellte ihn auf den Gaskocher. »Hast du es weit zum Wasserhahn, Lore?« »Eine Halbtreppe tiefer. Zwölf Stufen nur, und doch eine ziem liche Barriere für mich. Karli, ein Junge von nebenan, holt mir morgens zwei Eimer frisches Wasser herauf. Das reicht für den Tag. Ich helfe Karli dafür bei den Schulaufgaben.« Lore holte eine Tischdecke aus dem kleinen Schrank, der neben
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ihrem Bett stand. Geschickt breitete sie das Tischtuch mit einer Hand aus. Die Sammeltassen mit dem zierlichen Rosenmuster, die Anna so oft bewundert hatte, wurden herbeigeholt, die winzi gen Silberlöffelchen, ein Milchkännchen, sogar eine weiße, dünne Kerze; es sah festlich aus. »Trinkst du den Kaffee wie früher ohne Zucker?«, fragte Lore. Anna nickte. »Es war nicht einfach, dich hier aufzuspüren, Lore. Ich war erst in Hamborn, dort, wo du früher gewohnt hast. Es ist immer noch ein schönes Haus. Aber da ist jetzt eine Zentrale der Besatzung untergebracht. Ein Wachsoldat steht davor und einen Stacheldrahtzaun haben sie rundum gezogen. Ich konnte nie mand fragen, wo du geblieben bist.« »Das Haus war zu schön, Anna. Nahezu unbeschädigt und am Park gelegen. Es ist gleich nach dem Einmarsch beschlagnahmt worden. Ich staune, dass du mich aufgespürt hast. Es ist ziemlich einsam hier oben unter dem Dach. Ich brauche ungefähr eine Viertelstunde bis unten. Und ziemlich verschwitzt bin ich dann auch. Der Arzt sagt, ich muss üben, üben, üben.« Anna war schon länger als eine Stunde bei Lore, als sie es end lich wagte, sie zu fragen: »Weißt du, was mit Grigori geschehen ist?« »Komann und seine Leute haben ihn damals, an dem Tag, an dem du fliehen musstest, übel zugerichtet. Hätte der Werk schutz nachweisen können, wie ihr zueinander standet, wäre das Grigoris sicherer Tod gewesen. War ja zu der Zeit ein Kapi talverbrechen, wenn zwischen einer Deutschen und einem Rus sen etwas lief. Wurde das ruchbar, du weißt ja, was dann pas sierte. Der Gefangene wurde erschossen und die Frau kam ins
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KZ. In Süddeutschland sollen sie einer jungen Frau noch Anfang 1945 den Kopf kahl geschoren haben. Durch die Stadt habe man sie getrieben mit einem Schild um den Hals: ›Ich bin eine Rus senhure.‹« Anna zeigte auf ihren Kopf. Die Haare waren zwar nachge wachsen, aber Anna hatte eine kurze Frisur beibehalten. »Das Scheren wurde bei mir nachgeholt. Immerhin zeigten sie sich nicht mehr öffentlich. Sie hatten sich vermummt. Unser Stefan will gehört haben, dass Komann seine Finger im Spiel hatte.« »Hört das denn nie auf?« Lore war empört. »Aber der neue Schnitt steht dir nicht schlecht, Anna. Ich habe mich, ehrlich ge sagt, schon darüber gewundert. Früher hast du dir Haare nie schneiden lassen, egal, was die Mode verlangte.« »Grigori musste ja kahlköpfig herumlaufen wie alle Russen. Er hat meine krausen, langen Haare sehr bewundert. Aber erzähle mir, wie es mit ihm weitergegangen ist.« »Keine schöne Geschichte, Anna. Drei Tage lang wurde Grigori von zwei Gefangenen gestützt, damit er überhaupt vom Lager zum Betrieb gelangen konnte. Die Kochfrau hat gesehen, was mit ihm los war, und fischte für ihn mit ihrer Suppenkelle nach dem dickeren Bodensatz im Topf. Er hat nach dir Ausschau gehalten. Ich habe ihm in einem günstigen Augenblick zugetuschelt, dass du Hals über Kopf aus Duisburg verschwinden musstest. Mehr konnte ich ihm nicht sagen. Ich wusste ja selbst nicht, wo du steck test. Ein paar Wochen später haben dann die Amerikaner die Ge fangenen befreit. Die ersten Tage danach sind Russentrupps durch die Stadt ge streift und haben Angst und Schrecken verbreitet. Aber dann
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mussten sie wieder ins Lager zurück. Nur die Wachen sind ausge wechselt worden. Es waren jetzt GIs, die am Eingang standen.« »Mehr weißt du nicht?« »Doch. Als ich raussollte aus meiner Wohnung, ist Grigori noch einmal aufgetaucht. Er hat mit dem Ortskommandanten gespro chen. Der erlaubte, dass er mit zwei anderen Russen und einem Karren anrückte und mir half umzuziehen. Pjotr, der ja sonst nie von Grigoris Seite wich, war nicht dabei. Ich fragte ihn, wo der Junge geblieben ist. Grigori sagte: ›Wenige Tage, bevor unsere Verbündeten uns befreit haben, ist Pjotr umgekommen. Wir durf ten nicht aus unseren Baracken in die Schutzgräben, als die Artil lerie nach Duisburg hineinschoss. Im Lager schlug es mehrmals ein. Pjotr war unter den Verletzten. Er ist verblutet. Achtzehn Jah re alt ist er geworden, nur achtzehn Jahre.‹ Mit dem Kommandanten hat Grigori heftig gestritten und schließlich erreicht, dass ich die Sachen mitnehmen konnte, an de nen ich hing. Er hat ziemlich übertrieben und behauptet, ich hätte meine Hand über die Gefangenen gehalten. Ich glaube aber, er hat eigentlich dich gemeint, Anna. Kurz bevor Grigori wieder gegangen ist, hat er mir gesagt: ›Ich werde nicht in die Sowjetunion zurückkehren. Ich will mir in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat suchen. Wenn ich drüben bin, schreibe ich Ihnen, Frau Quinders. Anna Fink hat ja vielleicht überlebt und kommt hoffentlich wieder nach Duisburg.‹ Es wurde erzählt, es sei den Russen zugesichert worden, sie könnten als freie Menschen reisen, wohin sie wollten. Aber statt zu einem Nordseehafen haben sie Grigori und alle Russen nach Osten transportiert. Eine Post von ihm ist vor ein paar Wochen
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erst bei mir angekommen. Es klebt eine Briefmarke drauf, wie sie in der sowjetischen Besatzungszone verwendet wird. Wahr scheinlich hat Grigori einem Deutschen einen Brief zuschmug geln können, aber der konnte ihn ja erst später abschicken, als die Post wieder einigermaßen funktionierte.« Lore kramte in der Tischschublade und reichte Anna einen ge öffneten braunen Umschlag, der an Lore adressiert war. Der ein zige Briefbogen darin war mit kleinen Buchstaben eng beschriftet. Anna trat ans Fenster, las und begann zu weinen. »Diese Schufte«, schluchzte sie. Lore versuchte sie zu trösten: »Ist ja nicht sicher, ob Grigoris Be fürchtungen wirklich eingetroffen sind. Die Russen können doch nicht ihre eigenen Leute, all die Millionen Gefangenen und die Zwangsarbeiter, die hier in Deutschland gewesen sind, einfach in Sibirien wieder in ein Lager pferchen. Sind doch ihre Soldaten, ih re Landsleute.« »In ihren Augen sind die Gefangenen Verräter. Statt bis zum Tod zu kämpfen, haben sie sich ergeben und dann auch noch für uns gearbeitet. Verbannung ist nichts Neues in Russland. Die Za ren schon haben alle deportiert, die ihnen rebellisch schienen, und Stalin soll all die Jahre tausende von Menschen ohne Grund nach Sibirien verfrachtet haben.« »Franziska, es geschehen immer noch Wunder.« Sie schwiegen lange und hingen ihren Gedanken nach. Dann sagte Lore: »Das Haus hier am Gildenplatz gehört meiner Tante. Sie hat für mich dieses Zimmer freigemacht. Bei Holzbau ers gab es an der Schreibmaschine nicht mehr viel zu tun. Ich wur de beim Wegräumen des Schutts eingesetzt. Na ja, und dann ist
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ein Blindgänger nicht weit von mir hochgegangen. Da habe ich al lerdings schon hier gewohnt.« Anna las noch einmal Grigoris Zeilen. »Es steht etwas von Noti zen in dem Brief. Weißt du, was das bedeuten kann?« Es fiel Lore schwer, darüber zu reden. Sie hätte sagen können, es sei auch für sie ein Rätsel, was Grigori damit gemeint habe. Aber das wäre ihr wie ein Verrat an ihrer Freundschaft vorgekommen. »Das waren mehr als Notizen. Ich sagte dir ja, dass ich Grigori noch einmal getroffen habe, kurz nachdem du fliehen musstest. Er zog unter seiner Uniformjacke eine Art Buch hervor und sagte: ›Verbergen Sie das. Schnell.‹ Ich steckte es in meinen Kleideraus schnitt. ›Das darf nicht verloren gehen. Für Anna‹, flüsterte er noch. ›Aber Sie können es auch lesen.‹ Mir war klar, dass er mir ei ne gefährliche Botschaft übergeben hatte.« »Und was war das, Lore?« »Aus dünnem braunem Papier von Zementsäcken hatte er schulheftgroße Stücke geschnitten. Es waren an die hundert Blät ter. Alle waren sie mit winzigen Buchstaben beschrieben und zu sammengeheftet wie ein Buch. Und eine Art Buch war es ja auch. Gleich als Grigori Ende 1941 hier in das Lager gebracht worden war, hatte er begonnen ein Tagebuch zu schreiben. Auf den ersten Seiten berichtete er davon, wie er bei Minsk mit vielen tausend anderen Soldaten von den deutschen Truppen gefangen genom men worden war. Es sei ein Vernichtungslager gewesen, in das sie gebracht wurden. Es schien ihm so, als ob sie vergessen worden seien. Nur die Wachen hätten sie daran erinnert, dass das nicht so war. Kaum etwas zu essen habe es gegeben. Es seien so viele Män ner gestorben, dass sie in Massengräbern verscharrt wurden. Der
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schreckliche Hunger, Fleckfieber und Ruhr hätten viele, viele da hingerafft. Nach Wochen habe man ein paar hundert von ihnen ausge wählt. Nur solche, die noch kräftig genug schienen die Fahrt in Viehwaggons nach Deutschland lebend zu überstehen. Aber nicht einmal die Hälfte seiner Kameraden sei in Deutschland an gekommen. Jedes Mal, wenn der Zug gehalten habe, seien die Toten am Rande der Gleise niedergelegt worden. Auch Pjotr, noch nicht einmal fünfzehn Jahre alt, sei in seinem Waggon gewesen. Er habe ihn unter seine Fittiche genommen. Schließlich sei das Ge fangenenlager bei Beeck erreicht worden. Und dann schrieb er Tag für Tag eine kurze Notiz. Immer wie der tauchte der Name des Lagerleiters auf. Grigori vermutete, dass der von der geringen Verpflegung, die dem Lager für die Ge fangenen geliefert wurde, Anteile für seine privaten Geschäfte ab zweigte. Wieder habe es Hungertote gegeben. Das Geld, das die Hütte für die geleistete Arbeit der Gefangenen zu zahlen hatte, ging auch an den Lagerleiter. Bei den Russen seien nur Bruchteile davon angekommen. Prügel seien im Lager an der Tagesordnung gewesen. Einmal habe ein Wachsoldat einen 16-Jährigen namens Wladimir erschossen, nur weil der mit den anderen vor der Bara cke gesungen habe. Erst als die Russenküche eingerichtet worden war, hätten sich die Verhältnisse etwas gebessert. Immer wieder schrieb Grigori auch über Komann. Dass der selbst Hand anlegte, wenn tote Rus sen verbrannt wurden, erwähnte er wohl an die zehn Mal. Aber dann berichtete er auch, dass Komann selbst davor nicht zurück schreckte, kranke oder entkräftete Gefangene in den Feuertod zu
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werfen. Alle diese Eintragungen sind mit einem Datum versehen gewesen. Auch dich, Anna, hat er mehrmals erwähnt. Das heißt, er hat immer nur von ›der Frau‹ geschrieben und nie deinen Namen ge nannt. Aber es waren keine persönlichen Dinge, sondern er be schrieb nur deinen Einsatz für die Küche und dass du für die Nöte der Gefangenen immer ein offenes Ohr gehabt hättest. Von denje nigen, die Gefangene geprügelt oder denunziert hatten, schrieb er die Namen auf. Bei denen im Werk, die dem einen oder anderen gelegentlich ein bisschen Tabak oder ein Stück Brot zugesteckt hatten, notierte er nie, wie sie hießen, weil das ja für diese Männer gefährlich geworden wäre, wenn Grigoris Tagebuch in die fal schen Hände gelangt wäre. Am meisten bin ich immer erschrocken, wenn ich am Schluss der Eintragungen die russischen Namen von denen las, die bei der Arbeit oder im Lager zu Tode gekommen waren. Oft genug stand da außer den Krankheiten auch ›totgeprügelt‹, ›erschos sen‹, ›vor Hunger und Entkräftung verstorben‹. Es war ein Tage buch unvorstellbaren Leids.« »Und wo ist es geblieben?« »Du warst gut vierzehn Tage weg, da kamen Gestapoleute zu mir in den Betrieb und haben mich verhört. Sie wussten, dass wir beide befreundet waren, und fragten, wo du geblieben sein könn test. Irgendwie wird man von so einem System zur List und Lüge erzogen. Ich habe angedeutet, du wärst öfter an den Niederrhein gefahren und hättest von Bekannten in Xanten gesprochen. Viel leicht seist du dorthin. Ich wusste ja, dass die Alliierten schon Tei le des linken Niederrheins erobert hatten.
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Der leitende Gestapomann sagte: ›Wir haben zuverlässige Aus künfte, dass einer von den Gefangenen einen geheimen Spionage bericht geschrieben hat. Ist Ihnen davon etwas bekannt?‹ Du kannst dir sicher vorstellen, dass mich das Entsetzen packte. Ich habe noch herausgebracht: ›Davon weiß ich nichts. Ich hatte ja mit denen nichts zu tun.‹ Sie sind schließlich gegangen, aber haben mir gedroht: ›Wir sind noch nicht fertig mit Ihnen. Sie werden noch von uns hören.‹ Als ich nach Hause kam, habe ich Grigoris Tagebuch noch ein mal gelesen und mir die wichtigsten Dinge einzuprägen versucht. Dann habe ich das Buch verbrannt. In derselben Nacht gegen drei Uhr ist die Gestapo bei mir zu Hause erschienen. Ich dachte, sie wollten mich holen. Es gab eine stundenlange Haussuchung. Aber sie konnten ja nicht finden, was sie unbedingt haben woll ten, und zogen gegen Morgen wieder ab. Später habe ich oft be reut, dass ich Grigoris Buch nicht im Park vergraben hatte. Ich hoffe, du kannst mich verstehen, Anna, und bleibst meine Freun din.« »Aber Lore. Ich hätte wohl kaum anders gehandelt. Jetzt weiß ich endlich, was Komann eigentlich von mir will. Er nimmt wahr scheinlich an, dass das Buch in meinen Händen ist. Sprich bitte mit niemand darüber. Solange er das vermutet, ist es eine Art Le bensversicherung für mich.« Anna berichtete noch, dass Holzbauer sie mit offenen Armen empfangen und wieder eingestellt habe. »Der Chef hat damals wegen dir große Schwierigkeiten bekom men, Anna. Plötzlich warst du wie vom Erdboden verschwun den. Sie haben ihn beschuldigt, er habe von deinen Fluchtabsich
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ten etwas gewusst, bevor du weg warst. Er hätte das pflichtgemäß melden müssen. Aber du kennst ja den Doktor. Er ist zwar mehr fach von der Gestapo verhört worden, aber er hat wohl klarma chen können, dass die Zünderproduktion ohne ihn ins Stocken geraten würde. Sie haben ihn schließlich nicht mehr behelligt. Der Chef hat sogar erreicht, dass Grigori weiter als Dolmetscher ein gesetzt werden konnte. Grigori sprach ja zuletzt ein besseres Deutsch als manche Arbeiter in unserem Betrieb.« »Das wird ihm in Sibirien wenig nützen. Aber, Lore, was ist mit dir? Hast du eine Arbeitsstelle?« Lore lachte bitter auf. »Wer will schon einen Krüppel einstellen? Ich war nach dem Unfall fast drei Monate im Johanneshospital. Am Anfang hat mich noch dieser oder jener aus dem Betrieb be sucht. Einmal ist sogar Komann gekommen. Ich sollte ihm eine Bescheinigung unterschreiben, dass er sich in der Nazizeit nichts habe zu Schulden kommen lassen. Ich erinnerte ihn daran, was er mit Grigori gemacht habe und dass er froh sein könne, dass du verschwunden bist und ihn nicht bei den Besatzern anzeigen kannst.« »Lore, wir beide wissen: Komann hat noch viel mehr auf dem Kerbholz als allein das mit Grigori.« »Sei vorsichtig, Anna. Er hat zu mir im Krankenhaus gesagt: ›Die Fink war länger in der Partei als ich. Die soll mal schön die Klappe halten, wenn sie denn überhaupt noch mal auftaucht. Ich könnte Ihnen Sachen von der Frau erzählen …‹« »Das stimmt. Ich war Mitglied in der Partei. Schlimm genug. Aber hast du das überhaupt gewusst?« »Nein, nein. Das Parteiabzeichen habe ich jedenfalls nie an dei
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nem Kleid gesehen. Aber trotzdem. Ich würde Komann aus dem Weg gehen. Er hat immer noch gute Beziehungen. Glaube nur nicht, dass die Nazis alle in Sack und Asche herumlaufen. Man che, die früher wichtige Positionen hatten, sind längst wieder un verzichtbar. Viele werden dringend als Fachleute gebraucht. Wo her sollen die sonst auch kommen?« Schon früh wurde es in Lores Zimmer dunkel. Die Kaffeetassen waren längst leer, als sich Anna verabschiedete. »Würdest du denn wieder bei Holzbauer arbeiten wollen?«, fragte sie beim Hinausgehen. »Anna, das wäre wunderbar. Zum Glück braucht man die Beine im Büro selten, sondern vor allem diese hier.« Sie streckte Anna beide Hände entgegen und spreizte die Finger. »Und die funktio nieren nach wie vor.« *** Paul hatte nach dem Tode seines Schwiegervaters dessen Schre bergarten übernommen und mehr schlecht als recht bearbeitet. Jetzt wollte er die letzten Kartoffeln von dort holen. Sie lagerten in einer Kiste in der Laube, gut mit Stroh und Erde bedeckt, damit der Frost ihnen nichts anhaben konnte. Paul kam jedoch mit nur wenigen Kartoffeln im Beutel in die Blütentalstraße zurück. »Diese verdammten Mistviecher!«, schimpfte er. »Die Ratten haben uns doch tatsächlich die Kartoffeln angefressen. Von den meisten war kaum noch was da. Ich weiß nicht, Mutter, ob du den Rest noch kochen willst. Es sind keine zehn, an denen sie gar nicht herumgenagt haben.«
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»Ratten sind nicht giftig«, sagte Frau Reitzak. Sie breitete Zei tungspapier auf den Tisch aus und schüttete die Kartoffeln da rauf. »Die werde ich alle noch brauchen können, Paul. Ich schnei de die angefressenen Stellen heraus und wasche den Rest gut.« »Eklig!« Anna schüttelte sich. »Ich habe in Martins Laube vier Rattenfallen gefunden. Du hat test mir ja eine Doppelschnitte Brot mit Blutwurst mitgegeben, Franziska. Ein Stückchen von der Wurst habe ich auf die Fallen verteilt und sie aufgestellt.« »Hoffentlich fängst du ein paar fette Biester«, sagte Stefan. »In Ostasien sollen Ratten eine Delikatesse sein.« »Hört endlich auf mit der Ferkelei«, fauchte Anna den Jungen an. »Und die Rattenkartoffeln könnt ihr auch allein essen. Ich rüh re sie nicht an.« »Du hast gut reden, Anna. Bei Holzbauer gibt es mittags was in der Kantine zu futtern. Aber ich habe Kohldampf bis unter die Ar me. Für unsere Oberklasse ist die Schulspeisung für die letzte Schulwoche gestrichen worden.« »Warum?«, fragte Franziska. »Ich glaube, Blasa steckt dahinter. Er organisiert die Verteilung und soll gesagt haben, wir würden sowieso nichts mehr für die Schule tun, weil die Zensuren ja schon feststünden. Sogar ein Bi belwort hat er in den Mund genommen. ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.‹ Vor dem Kriegsende soll das bei ihm noch an ders geklungen haben. ›Es ist richtig, wenn die arbeitsscheuen Elemente in den Lagern wieder an Arbeit und Ordnung gewöhnt werden.‹ Er hat sein Fähnchen schnell nach dem Wind gedreht.« Franziska schlug vor: »Mach doch mal Bratkartoffeln, Mutter.«
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Frau Reitzak lachte. »Hast du vergessen, dass man dafür Öl in der Pfanne haben muss oder Speck?« »Du hättest Stefan nicht so oft Öl ins Ohr träufeln sollen, Fran ziska«, neckte Paul seine Frau. »Augenblick mal«, rief Anna. »Ich habe beim Aufräumen von Frau Holleins Sachen eine Flasche gefunden. Ich glaube, da ist ir gendein Öl drin.« Sie ging in ihr Zimmer. »Sicher Haaröl«, sagte Frau Reitzak. »Der Hollein hatte schöne schwarze Haare. Er trug sie für die damalige Zeit ziemlich lang. Die hat er immer mit Pomade oder Haaröl straff gekämmt, Schei tel rechts wie mit der Wasserwaage gezogen, genau wie Adolf Hitler. Oft, wenn das Haaröl oder die Pomade ausgingen und er keine neue kaufen konnte, schmierte er sich Margarine in die Fri sur. Er war lange ohne Arbeit und seine paar Pfennige Taschen geld gingen für Zigaretten drauf. Er kaufte nur die kleinsten Päck chen Marke Eckstein. Da waren nur drei Stück drin. Frau Hollein hat manchmal in unserer Küche gestanden und ge heult, weil sie nicht wusste, wie sie ihre drei Kindern satt kriegen sollte. In der Eckwirtschaft am Markt hatten die NSV eine Küche eingerichtet. Da sind die Kinder mittags oft hin. Den Kochfrauen haben sie ihre leeren Konservenbüchsen hingehalten und meis tens haben sie etwas bekommen. Einmal hat der älteste der Hol leinsjungen zu seinem Vater gesagt: ›Papa, die wollen uns nichts mehr geben. Du sollst in die SA gehen. Dann hättest du bald eine Arbeitsstelle und könntest für uns sorgen.‹ Der Hollein ist am nächsten Tag SA-Mann geworden. Schon bald bekam er eine Stelle in einem Büro in Wanheimerort, glaube ich. Von dem ersten Lohn hat er auf Abzahlung ein NSU-Fahrrad
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gekauft, mit dem er jeden Morgen losgefahren ist. Nie hat er es auf der Straße stehen lassen. Es brachte es mit nach oben in den Flur. Damit nicht genug. Er hat es stets mit einer Kette und einem großen Vorhängeschloss gesichert. Frau Hollein hat mir voll Stolz erzählt, sie könne endlich zweimal in der Woche für ihren Mann ein Stück Fleisch kaufen. Dass sie dafür zum Pferdemetzger ge gangen ist, hat sie mir erst später anvertraut.« Anna kam zurück und sagte: »Hat etwas gedauert. Ich wusste nicht mehr, wo ich die Flasche hingestellt hatte, und musste su chen. Aber hier ist sie.« Anna stellte eine braune Flasche auf den Tisch. Sie sah aus wie eine Arzneiflasche. »Rizinussöl«, vermutete Paul. Frau Reitzak roch an der Flasche und reichte sie an Stefan wei ter. »Du müsstest doch wissen, was das ist.« Stefan schnüffelte ganz vorsichtig. Er lachte. »Und ob ich das weiß. Ich musste jeden Morgen und jeden Abend einen Esslöffel voll davon runterwürgen. Sollte gut sein gegen Rachitis. Aber ob wohl meine Eltern streng darauf geachtet haben, dass ich mich nicht vor dem Einnehmen drückte, hat mich dann doch die engli sche Krankheit erwischt. Es ist …« »Lebertran«, riefen die Frauen im Chor. »Ungesund ist das Zeug also nicht«, sagte Paul. »Und Öl ist es auch«, fügte Frau Reitzak hinzu. »Also, Oma, versuche es mit dem Lebertran. In die Pfanne da mit.« »Ich weiß nicht, ich weiß nicht.« Frau Reitzak wiegte den Kopf.
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»Ich habe noch Mehl im Schrank und ein Ei opfere ich auch. Viel leicht sollte ich erst nur einen Pfannkuchen backen. Zur Probe, meine ich.« Alle stimmten zu. Frau Reitzak rührte den Teig an, goss ein we nig Lebertran in die heiße Pfanne und gab den Teig dazu. Es ge lang ein goldgelber Pfannkuchen. Sicher, es roch in der Küche ein wenig streng nach Fisch. Aber der Anfangserfolg machte Frau Reitzak mutig. Sie rührte mehr Teig und backte für jeden einen Pfannkuchen. Aber es dauerte nicht lange, da stürzte Frau Henrich, die im Dachgeschoss wohnte, ohne anzuklopfen, in die Küche. Sie blieb verblüfft stehen und aus ihrem Wassereimer schwappte etwas auf den Boden. Sie sah alle friedlich um den Tisch sitzen und stammelte: »Oh, Verzeihung. Ich habe gedacht, hier brennt ir gendwas. Dieser Gestank! Und der Qualm!« »Hättet ihr doch riechen müssen«, sagte Paul. »Und du?«, fragte Frau Reitzak. »Du weißt doch, Mutter. Ich habe in der Brauerei meinen Ge ruchssinn …« »Ja, ja, damit kannst du dich immer herausreden«, maulte sie. Drei Tage später war der Mief von Fischöl immer noch nicht ganz verflogen und Frau Reitzak nahm sich vor die Rattenkartof feln doch lieber nicht mit Lebertran zu braten, sondern zu kochen. *** Stefan war gleich am Nachmittag nach dem Pfannkuchenbacken in den Schrebergarten gegangen. Er hatte ein Stückchen Käserin
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de eingesteckt. Mit einem gewissen Schauder vermied er es, zu Kottkas Baugrube zu schauen. Schon zweimal hatte er von dem Leichenfeld geträumt. Neugierig schloss er Pauls Laube auf und öffnete vorsichtig die Tür. Alle Fallen waren zugeschlagen. Drei fette Ratten waren die Ausbeute. Aus einer Falle hatte sich die Ratte wohl befreien können. Er löste die Bügel und ließ die drei toten Tiere in eine Tüte gleiten. Dann brachte er in allen Fal len neue Köder aus seiner Käserinde an und spannte die Bügel. »Sozialverhalten von Ratten«, murmelte er. Nur Manfred weihte er in seinen Plan ein. Den hatte Blasa näm lich dazu ausgewählt, ihm täglich einen ganz bestimmten Dienst zu leisten. Manfred musste Blasas Ledertasche tragen, wann im mer der Lehrer in der Oberklasse Unterricht hatte. »Taschenskla ve«, nannten die Jungen ihn deshalb manchmal. »Tasche holen, Schafhoff!«, befahl Blasa jedes Mal barsch, wenn er den Raum betrat. Und nach der Stunde wieder im selben Ton: »Tasche ins Lehrerzimmer, Schafhoff!« Zwei Tage mussten die Jungen noch zur Schule gehen, dann sollten sie entlassen werden. Am vorletzten Tag standen sie nach der großen Pause wie immer in Zweierreihen auf dem Schulhof. Der Biologieunterricht und der Abschied von Blasa fielen in die dritte Stunde. »Tasche nicht vergessen, Schafhof!«, rief Blasa, als die Klasse als letzte das Gebäude betrat. Manfred und Stefan hatten sich ganz hinten eingegliedert. Manfred holte die Tasche aus dem Lehrerzimmer. Blasa hatte sie wie üblich auf dem Tisch dicht bei dem Kanonenofen abgelegt. Auf der Treppe öffnete Manfred die Tasche. Stefan ließ die Ratten
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hineingleiten. An den Schwanz des größten Exemplars hatte er ei nen Zettel gebunden. Auf dem stand »Herrentier«. Dann eilte er schnell an den letzten Reihen der Jungen vorbei nach vorn. Man fred aber blieb zurück. Freundlich wie nie zuvor grüßte Stefan den Lehrer: »Guten Morgen, Herr Blasa. Schade, dass heute unse re letzte Stunde bei Ihnen ist.« Blasa zog seine Augenbrauen hoch und schaute Stefan verblüfft an. Er fragte ironisch: »Na, die pädagogischen Ohrenschmerzen überwunden?« Saftheini, dachte Stefan. Als ob ich für dich ein Laienspiel aufge führt hätte. »Ja. Ich hatte schon elfmal Mittelohrentzündung. Dauerte nie länger als drei, vier Tage.« Stefan saß bereits auf seinem Platz, als Manfred die Tasche he reintrug und wie immer auf das Pult legte. Blasa konnte ihn gar nicht mit dem Taschensklaven in Verbindung bringen. Der Lehrer trug eine Mappe mit Schreibpapier in der Hand. »Tut mir einen Gefallen, Jungs. Ich teile jetzt Blätter aus. Bestätigt mir doch bitte, dass ich zu keiner Zeit versucht habe, euch für die nationalsozialistischen Ideen zu begeistern. Mit Datum und Un terschrift.« Ein Raunen ging durch die Klasse. Er war es doch gewesen, der bei den Ansprachen von Hitler und Goebbels darauf bestanden hatte, dass sie die Übertragungen im Radio von Anfang bis Ende anhörten, und oft hatte er eine schriftliche Inhaltsangabe verlangt. Blasa hatte im Geschichtsunterricht vom tausendjährigen Reich und von der Überlegenheit der arischen Rasse gesprochen. In sei nen Stunden mussten auf einer Europakarte kleine Fähnchen ein
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gesteckt werden, die den Vormarsch der deutschen Truppen an zeigten. Er befahl erst damit aufzuhören, als die sechste deutsche Armee Ende 1942 in Stalingrad eingekesselt und zusammenge schossen worden war. Auf sein Konto ging es auch, dass Paul Pütz, der in der Katholischen Jugendgruppe der Beecker Sturm schar gewesen war und nicht in die HJ wollte, die Schule nach der vierten Klasse verlassen musste. Und jetzt dies. Trotz alledem schien eine Reihe der Schüler ihm den Gefallen tun zu wollen. Denn bei der Gruppe aus der KLV rechnete man ihm hoch an, dass er sich nicht aus dem Staub gemacht hatte, als das Lager aufgelöst worden war und die Jungen nach Hause ge schickt wurden. Über sechshundert Kilometer lagen zwischen Duisburg und dem Ort weit hinter Prag, wohin sie 1943 gebracht worden waren. Blasa hatte zwar alle gehen lassen, die sich auf eigene Faust durchschlagen wollten, weil deren Familien nicht mehr in Duis burg wohnten, sondern irgendwohin in Deutschland evakuiert worden waren. Aber bei der restlichen Gruppe von achtund zwanzig Schülern blieb er. Bis auf Ferdi Mertens hatte er alle durch sämtliche Wirrnisse und Gefahren hindurchgebracht. Ferdi Mertens war ein Jahr älter als die anderen aus der Klasse, weil er nach dem dritten Mittelschuljahr eine Ehrenrunde gedreht hatte. Er war nach drei Tagen Flucht von der Feldgendarmerie der SS aus der Gruppe herausgeholt worden. »Du bist alt genug«, hatte einer gesagt. »Du musst helfen die Heimat vor dem Feind zu schützen.« Ferdi hatte zu zittern begonnen und gestammelt: »Ich will nach Hause.«
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»So, du willst also den Führer verraten?«, hatte der Soldat ihn angeschrien. Das wollte Ferdi nicht. Blasa hatte dazu geschwiegen. Nie mehr hatten sie etwas von dem Jungen gehört. Auf die dringenden Nachfragen der Mutter hin war schließlich der Bescheid gekom men, dass ihr Sohn nach tapferem Kampf von den russischen Truppen überrollt worden sei und als vermisst gelten müsse. Die Schüler gaben die Zettel am Ende der Stunde zurück. Char ly hatte geschrieben, der Lehrer möge doch erklären, ob der kreis runde dunkle Fleck auf dem Revers seiner Jacke von dem Partei abzeichen stamme, das er früher immer getragen habe. Er hatte seine Schrift vorsorglich verstellt. Stefan und manche andere hatten das Blatt unbeschrieben zu rückgegeben. Blasa stapelte die Blätter und öffnete seine Tasche. Mit einem »Verdammte Bande!« ließ er sie zu Boden fallen und fuhr bis an die Tafel zurück. Manfred sprang hinzu, hob die Tasche auf und reichte sie ihm. Blasa schüttete den Inhalt auf das Pult. Da lagen die Ratten nun steif und wie sorgfältig ausgerichtet nebeneinan der. Man hätte in der Klasse einen Pfennig fallen hören können. Auf einmal rief Fitti Graz aus der letzten Reihe: »Jetzt weiß ich, was Sie mit dem Sozialverhalten der Ratten gemeint haben, Herr Blasa. Im Tode sind auch die Ratten alle gleich.« Blasa griff nach seiner Tasche und ging. Hart schlug er die Tür zu. »Wer hat sich das ausgedacht?«, fragte Fitti Graz. Manfred und Stefan schauten sich an, aber sie meldeten sich nicht. »Egal«, sagte Fitti. »Er hat es verdient.« Er kam nach vorn, pack
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te die Ratten an den Schwänzen und sagte: »Ab mit euch ins Kre matorium.« Fitti warf die Kadaver in den Ofen. Mit einem Mal stand der Klassenlehrer Schnieder vor den Schü lern – schweigend zunächst, aber dann zog sich ein Lächeln um seinen Mund. »Hier stinkt’s«, stellte er fest. »Wieso? Herr Blasa ist doch schon gegangen«, sagte Fitti Graz. PKW drohte ihm mit dem Finger, aber sein Lächeln vertiefte sich. Die Schüler waren noch nicht lange entlassen, da machte die Neuigkeit die Runde, dass Blasa aus dem Schuldienst ausschei den musste. Die »Persilscheine«, die ihm einige Schüler ausge stellt hatten und die er dem Entnazifizierungsausschuss vorlegte, konnten ihn nicht weiß waschen. Er wurde als »Belasteter« einge stuft. Im Laufe des Frühjahrs 1946 wurde Blasa und vielen Leh rern verboten weiterzuunterrichten. Bei Ärzten, Bergbaubeamten, bei Juristen und in der Industrie allerdings sahen die Ausschüsse auf Anweisung der Militärregie rung über manche Verstrickung mit dem Regime hinweg. Diese Personen schienen beim Aufbau des Landes nicht entbehrlich zu sein. Auch Anna wurde vor den Ausschuss geladen. Aber Dr. Holz bauer hatte ihr Mut gemacht. Schließlich sei auch er ganz gut da vongekommen. Minderbelastet hieß das Urteil für ihn. Er erstellte für Anna einen Bericht, strich die Betriebsküche heraus, die auf ihre Initiative hin eingerichtet worden sei und die viele Kriegsge fangenen vor dem Hungertod bewahrt habe, nannte die Namen
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und Adressen der Kochfrauen, die das auch bezeugen könnten, erwähnte jedoch Annas Erfindung des Spezialzünders nicht. Schließlich bezeichnete er sie als unabkömmlich im Betrieb. Auch Lore Quinders, die inzwischen wieder bei Holzbauer ein gestellt worden war, bestätigte in einer Bescheinigung, dass Anna von den russischen Gefangenen den Beinamen »Angel« erhalten habe. Sie wisse zwar nicht genau, was das in Deutsch heiße, aber die Männer hätten das Wort immer voll Hochachtung ausgespro chen. Und dann stand Anna vor der Kommission. »Sie waren bereits 1933 in Organisationen der Nationalsozialis ten Mitglied«, sagte ein schmaler Mann, der sich mit März vor stellte. Er führte den Vorsitz der Kommission. Sein Gesicht war hager, der Mund so eingefallen, als ob er nicht mehr einen einzi gen eigenen Zahn besäße. »Im BDM hatten doch alle deutschen Mädchen zu sein«, warf ein anderer ein. »Frau Fink musste nach dem Gesetz Mitglied sein.« »Von einem Gesetz konnte zu Beginn der Nazidiktatur noch keine Rede sein. Das Gesetz kam später«, stellte der älteste Mann in der Kommission fest. »Nicht alle gingen aber gleich mit achtzehn in die NSDAP«, sag te der Vorsitzende und führte das Verhör weiter. Anna antworte te auf alle Fragen so gut sie konnte. Sie zögerte, als März wissen wollte, ob sie sich durch die Mit gliedschaft Vorteile verschafft habe. »Ich bin die erste Frau gewesen, die in der Maschinenbauschule aufgenommen worden ist. Nie hätte man mich da akzeptiert, wenn ich keinen Mitgliedsausweis der NSDAP gehabt hätte.«
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»Also nur zum Schein sind Sie in die Partei eingetreten?« Sie überlegte lange. Schließlich antwortete sie: »Nein. Ich wollte an etwas glauben können. Ich wollte an Deutschland glauben, das vor 1933 am Boden lag.« »Ach nee«, höhnte eine Studienrätin, die 1934 aus dem Dienst entfernt worden war, weil sie zu offen gezeigt hatte, was sie von den Nazis hielt. Sie war die einzige Frau in der Kommission. Sie deklamierte in einem pathetischen Tonfall: »Doch alles, was dazu sie trieb, Gott! War so gut! Ach, war so lieb.« Als sie bemerkte, dass die Männer sie verständnislos anstarrten, erklärte sie: »Gretchen in Goethes Faust. Nur geringfügig aktuali siert.« »Und Sie haben nie bemerkt, Frau Fink, welche Verbrechen das System begangen hat?« »Doch. Aber erst, als ich einen Kriegsgefangenen aus Kiew näher kennen lernte. Er war Dolmetscher in der Hütte. Da entdeckte ich, dass das Wort von den sowjetischen Untermenschen eine pure Verleumdung war. Mehr und mehr von den Mosaiksteinchen, die mein Bild von der Partei bestimmt hatten, brachen heraus. Das Hoffnungsbild wandelte sich in eine immer hässlichere Fratze.« »Bitte, sagen Sie uns das genauer«, forderte die Frau sie auf. »Ich erkannte immer klarer: Ich bin nicht das Eigentum einer Regierung, eines Staates. Die Parole der Partei ›Du bist nichts, dein Volk ist alles‹ war für mich brüchig geworden. Und ›Führer befiehl, wir folgen dir‹ konnte mir und niemand die eigene Ver antwortung abnehmen.« »Aber sie zogen keine Konsequenzen, traten nicht aus, leisteten bis zum Kriegsende keinen Widerstand?«
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»Nein«, bestätigte Anna. »Auf der Stelle hätte ich meinen Ein fluss verloren. Die Gefangenen wären anderen ausgeliefert gewe sen. Es gab genug, die mich am liebsten auf den Blocksberg ge wünscht hätten. Vielleicht war ich aber auch nur zu feige«, gestand sie leise. Das Verhör zog sich hin. Schon über neunzig Minuten dauerte es. Der Vorsitzende sah, dass Anna erschöpft war. Er rück te ihr einen Stuhl hin und forderte sie auf sich zu setzen. Dann frag te er: »Sind Sie Ihrer Meinung nach schuldig oder nicht schuldig?« Sie senkte den Kopf tief und flüsterte: »Schuldig.« »Laut und deutlich bitte«, forderte die Studienrätin. Anna schaute sie an und sagte laut: »Schuldig.« Die Frau riss verblüfft ihre Augen auf. »Jetzt bin ich schon zwei Monate in dieser Kommission und habe dieses Wort bisher noch von keinem vernommen, den wir verhört haben.« »Warten Sie draußen auf das Urteil«, sagte März. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis sich die Tür öffnete und Anna hereingebeten wurde. Der Vorsitzende März räusperte sich. »Wir haben es uns nicht leicht gemacht, sind aber gegen eine Stimme zu der Überzeugung gekommen, dass Sie, Frau Anna Fink, in die Gruppe der Mitläufer gehören. Sie sind katholisch. Was Sie bedrückt, gehört in den Beichtstuhl. Das entzieht sich unseren Möglichkeiten.« Anna war wie betäubt. Tränen stiegen ihr in die Augen. Es blieb eine Weile still in dem Raum. Dann sagte die Studienrätin: »Sie können jetzt gehen, Frau Fink.« Sie reichte Anna die schriftliche Bestätigung und drückte ihr fest die Hand. ***
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Frau Reitzak beglückwünschte Anna, als sie berichtete, wie das Verhör verlaufen war. »März hieß der Vorsitzende? Etwa Mathes März?« Anna reichte ihr die Bescheinigung. Sie setzte ihre Brille auf und schaute sich die Unterschriften genau an. »Tatsächlich«, bestätig te sie. »Was es nicht alles gibt! Mathias März. Erst steckten die Na zis ihn ins KZ und jetzt ist er Vorsitzender einer Kommission, die sich die Nazis vorknöpfen soll.« »Eigentlich wollte ich die Flasche Schnaps, die ich auf dem Pütt bekommen habe, in einer Zeitungsanzeige anbieten und gegen ei nen Jackenstoff tauschen«, sagte Paul. »Der Stefan braucht drin gend etwas Warmes zum Anziehen. Der Junge wächst und wächst. Aber wir Bergleute bekommen jeden Monat eine Flasche Korn. Ich meine, wir sollten uns heute zur Feier des Tages einen Schluck genehmigen.« Frau Reitzak holte die Gläser aus ihrem Zimmer und stellte auch eins für Stefan auf den Tisch. Paul zögerte dem Jungen einen Schnaps einzugießen, sagte aber dann: »Bist gerade 16 geworden, Stefan. Ich hoffe, du kippst nicht um davon.« Sie tranken auf Annas Zukunft. Franziska bemerkte, dass Stefan den Schnaps nicht anrührte, und hob ihr Glas. »Wir müssen auch darauf trinken, dass Stefan am 1. April eine Lehrstelle antreten kann. Ich habe mit Frau Jensen gesprochen. Die hat sich gleich daran erinnert, was das für ein wunderschönes Kleid gewesen ist, das ich ihr damals genäht habe. Sie hat bei ih rem Mann angerufen. Ich hatte ja Stefans letztes Zeugnis und den ganzen Kram bei mir, den er mit nach Düsseldorf genommen hat,
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als er noch vom Förster träumte. Jensen ist aus dem Büro rüberge kommen, hat sich alles angesehen und entschieden, dass ein Lehr vertrag gemacht werden könnte, vorausgesetzt, Stefan sei ein ge sunder junger Mann. Du kannst morgen zu dem Bauhof gehen, Stefan, und dich im Büro vorstellen. Musst ihm ja nichts von dei ner Hühnerbrust erzählen.« »Also«, rief Paul fröhlich, »hoch die Tassen!« Stefan trank einen kleinen Schluck. Als der Schnaps in seiner Kehle brannte, schüttete er plötzlich den Rest, der sich noch in sei nem Glas befand, in den Eimer für das Schmutzwasser, der im mer nahe bei dem Küchenherd seinen Platz hatte. »Bist du verrückt geworden?«, protestierte Paul. »Das teure Zeug einfach wegzugießen! Passt dir das nicht mit der Maurer lehre?« »Was bleibt mir anderes übrig? Aber ich trinke keinen Alko hol«, verkündete er. »Keiner in unserer Gruppe trinkt so was und rauchen gibt’s auch nicht für uns. Das haben wir ausgemacht.« »Welche Gruppe?« »Ach«, sagte Franziska, »Stefan ist doch schon seit einigen Mo naten in der Jugendgruppe, die Kaplan Roth vorgeschlagen hat.« »Genau. Erst hab ich mal reingeschnuppert. Dann hat es mir ge fallen. Jetzt gehöre ich zu denen, die regelmäßig da sind. Wir tref fen uns jeden Donnerstag bei Roth in der Wohnung.« »Ich meine, du bist in dem Tischtennisklub?« »Wir können jeden Tag Tischtennis spielen. Vielleicht werden wir auch mal eine richtige Mannschaft in einem Verein. Aber die Gruppe, das ist etwas anderes. Gespräche, Lieder, vorlesen, Schallplatten hören und so was. Und demnächst wollen wir viel
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leicht auf Fahrt gehen. Eine Woche im Urlaub mit Zelten in der Ei fel.« »Mit dem Alkohol, hat euch Kaplan Roth das eingeredet?«, frag te Paul. »Nee. Der hat sogar gesagt, schließlich habe Gott den Wein doch wohl für alle wachsen lassen.« »Kluger Mann«, lobte Franziska. »Aber was sagt er, wenn sich einer von euch ein Mädchen anlacht?« »Nur anlachen, das ist erlaubt«, antwortete Stefan. »Komischer Verein«, befand Paul. Stefan schüttelte den Kopf: »Überhaupt nicht komisch. Am letz ten Donnerstag hat Kaplan Roth nicht dabei sein können.« »Und ihr durftet doch in sein Zimmer?« »Donnerstags immer. An seinen Bücherschrank können wir auch jederzeit. Wenn wir ein Buch ausleihen wollen, tragen wir uns in eine Liste ein. Er achtet genau darauf, dass es zurück kommt.« Franziska sagte: »Und ich habe mich schon darüber gewundert, dass du deine Nase jetzt häufiger in ein Buch steckst.« »Letzten Donnerstag hatten wir einen Gast in der Gruppe. Der hat vom Leben der Sturmschargruppen vor dem Krieg erzählt. Die wollten damals ein einfaches, ehrliches Leben führen. Der Lebens stil vieler Erwachsener, zum Teil auch ihrer eigenen Eltern, gefiel ihnen nicht. Die Gruppen der KJMV trugen oft eine Fahrtenkluft. Sie wollten sich schon äußerlich radikal von der Kleidung der übri gen Jugendlichen unterscheiden. Der offene Hemdkragen, die kur ze Hose, eine schwarze Bluse aus wetterfestem Stoff, das hat ihnen den Spott der ›Bürgerlichen‹ eingetragen. Einen Hut hätte wohl
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keiner aus der Schar aufgesetzt. Das Rauchen und Trinken war ver pönt. Das muss bei vielen Wandervögeln so gewesen sein. Am Wochenende sind sie wohl oft mit den Fahrrädern losgefah ren. Dann hat sich fast immer eine Scheune oder eine Herberge gefunden, in der die Gruppe übernachten durfte. Auch von den Verfolgungen und vom Verbot der Gruppen, die sich nach 1933 geweigert hätten, in die Hitlerjugend einzutreten, hat er berichtet. Das wären keine Heldengeschichten gewesen, sondern oft hätten sie eine Scheißangst ausgestanden. Aber trotz alledem: Die meis ten aus der Schar hätten den Rücken steif gehalten.« Stefan hatte sich in Begeisterung geredet. »Wer es glaubt«, sagte Paul skeptisch. Franziska fuhr ihn an: »Hast du denn vergessen, wie es Christi an Fink ergangen ist? Wie sie die Sturmschargruppe hier in Beeck bedrängt haben? Warum ist Christian sonst wohl 1936 nach Ko lumbien gegangen?« »Ja, stimmt, Franziska. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Ist ja auch bald fünfzehn Jahre her. Aber viele aus dem Wandervogel sind sogar Führer in der Hitlerjugend geworden. Die Lieder, die sie dort sangen, die Fahrten und all der Kram, das war in der HJ nicht viel anders. Aber Schwamm drüber.« »Im Anschluss an diesen Gruppenabend haben wir uns jeden falls was versprochen«, sagte Stefan. »Wir wollen auch so ein ein faches Leben führen. Ganz bestimmt ohne Alkohol und Nikotin.« »Ihr werdet schon wieder auf den Teppich kommen«, brummte Paul. ***
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Noch blieben vier Wochen bis zum 1. April. Stefan hatte sich bei Jensen vorgestellt. Der Lehrvertrag war unterschrieben. Auch an dere Mitschüler hatten Lehrstellen zugesagt bekommen. Selbst Heinrich Laufmann, der oft genug bei Stefan abgeschrieben hatte, wenn er bei einer Klassenarbeit nicht weiterwusste, konnte trotz seines durchschnittlichen Zeugnisses im Büro der Hütte anfangen und Fitti Graz bekam eine Stelle als technischer Zeichner. Dabei hatte er nur mit Mühe die sechste Klasse geschafft. Thorsten wurde Verwaltungslehrling im Bergbau. Der konnte allerdings ein or dentliches Zeugnis vorweisen. In Mathematik hatten Stefan und Thorsten als Einzige von Diegelbeck eine Eins bekommen. Es hatte ein paar Tage gedauert, bis Stefan überzeugt war, dass das Zeugnis nicht die einzige Rolle bei der Vergabe von Stellen spielen konnte. Gute Beziehungen waren vielleicht noch wichti ger. Er fand das ungerecht. Zum ersten Mal dachte er ernsthaft darüber nach, Christian nach Kolumbien zu schreiben. Auswan dern, das wäre doch was. Die Tage wurden ihm lang. Trotzdem weigerte er sich, als Fran ziska ihn bat für Paul die Beete umzugraben, weil der auf der Ze che Überstunden machen musste und für den Garten keine Zeit fand. Stattdessen ging Stefan fast täglich in den Jugendraum bei der Kirche und spielte Tischtennis. Inzwischen gehörte er neben Peter Steiner zu den besten Spie lern dort. Als Herr Klein vom Sportverein DJK den Vorschlag machte, die Jungen könnten eine eigene Abteilung im Sportverein bilden, war Stefan Feuer und Flamme. Herr Klein führte Peter Steiner, Karl Seib und Stefan in einen Keller im früheren Jugend heim der Kirche gegenüber.
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»Ein schöner, großer Raum«, sagte er. »Den könnten wir euch zur Verfügung stellen. Er hat sogar, wie ihr seht, drei Fenster zum Hof hin. Ein bisschen runtergekommen ist ja hier alles. Der Wandputz muss ausgebessert werden und neu streichen müsst ihr auch. Über der Tischtennisplatte sollte eine helle Lampe hän gen.« »Welche Tischtennisplatte?«, wollte Karl wissen. »Im Vorderhaus hat Peters Vater, Herr Steiner, seine kleine Schreinerei. Vielleicht kann der euch das Holz besorgen. Daraus werdet ihr ja wohl selbst so eine Platte zimmern können, zumal Peter sich in der Werkstatt auskennt.« »Eine Schreinerei?«, fragte Karl. »Ich dachte, Peter, dein Vater ist der Küster unserer Kirche?« »Ja, das ist er. Und dann verkauft er ja auch noch Särge«, sagte Herr Klein. »Jeden Tag können wir in den Raum gehen?«, fragte Karl. »Ja. Allerdings sonntags erst ab zwei Uhr und werktags nicht von sechs bis sieben.« Er deutete mit dem Finger zur Decke. »Schließlich ist hier drüber die Notkirche. Wenn da oben im Saal die Messe gefeiert wird, dann muss hier unten Ruhe sein.« Die Jungen überlegten nicht lange und stimmten zu. Stefan ging mit Peter gleich nach dem Gespräch zu Herrn Stei ner. Sie wollten ihn fragen, ob er ihnen eine Tischlerplatte besor gen könne. Aber Herr Steiner war zum Rhein gerufen worden. Ein Toter war angespült worden. Herr Steiner sollte die Bestat tung übernehmen. Peters Schwester Antonia sagte: »Vor sechs heute Abend ist er bestimmt nicht zurück und du weißt doch, Peter, wenn Vater eine
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Leiche aus dem Rhein holen muss, dann ist er heute bestimmt nicht mehr anzusprechen.« Stefan hatte kein Wort gesagt und die ganze Zeit über Antonia angeschaut. Wieso habe ich bislang gar nicht gewusst, dass Peter so eine hübsche Schwester hat?, fragte er sich und nahm sich vor Gelegenheiten zu suchen, Antonia näher kennen zu lernen. Die Tischtennisabteilung hatte schon nach einer Woche zwölf Mitglieder. Einige von ihnen hatten sich längst daran gewöhnt, donnerstags mit Kaplan Roth zusammen zu sein. Das wollten sie auf keinen Fall aufgeben. Aber die Woche bestand ja nicht nur aus Donners tagen. Als Ludwig Voschdeh aus der belgischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, wählten die Jungen ihn zum Gruppenführer, ob wohl er etliche Jahre älter war als sie. Sie hingen an ihm. Er war schon vor dem Krieg in einer wilden Sturmschargruppe gewesen und es hieß, er habe unter den Nazis viel zu leiden gehabt. »Mitreißen kann er ja keinen«, sagte Heinrich. Stefan stimmte zu. »Aber er ist zuverlässig. Bisher haben wir über Gott und die Welt geredet, wie es uns gerade einfiel. Ludwig bereitet sich stets auf die Gruppenstunde vor. Und wenn er seine Gitarre hervorholt und uns Lieder beibringt, dann brummt sogar Peter Steiner mit.« Thorsten Hacks kam immer seltener zum Tischtennisspiel. In der Donnerstagsgruppe ließ er sich gar nicht mehr sehen. »Gehst du heute Nachmittag mit ins Kino?«, fragte er Stefan eines Tages. »In Buschhausen gibt es den Film Die große Freiheit Nr. 7 mit
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Hans Albers. Der ist für Jugendliche verboten. Aber da können wir trotzdem bestimmt reinkommen. Die Kontrolle ist ziemlich lasch.« »Buschhausen? So weit fahren? Ist doch schon Oberhausen, oder?« »Macht das was? Wir müssen ja nicht laufen. Die Schauburg liegt an der Endstation der Straßenbahn.« »Mir ist eigentlich das Fahrgeld zu schade.« »Mensch, Stefan, wer spricht denn von Fahrgeld? Die Bahnen sind immer rappelvoll. Du hast Glück, wenn du dich überhaupt reindrängen kannst. Die beiden Schaffnerinnen kommen nie durch. Sie können längst nicht alle abkassieren. Wenn du deine Augen nur ein bisschen aufhältst …« »Also, ich weiß nicht, Thorsten.« »Das Beste daran ist aber: Wenn wir so gegen drei Uhr losfah ren, dann steigen viele Mädchen von der Berufsschule zu.« »Und?«, fragte Stefan. »Gedrängt voll sind dann die Wagen. Passt keine Zeitung mehr zwischen die Menschen. Ist doch ein tolles Gefühl, wenn du an ei ne so richtig rangedrückt wirst, oder?« »Müsste aber die Richtige sein, Thorsten.« »Die Richtige, die Richtige«, spottete er. »Sie sind alle richtig für mich. Hauptsache Weiber. Möglichst nicht zu dürr. Und stramme Beine unterm Rock.« Stefans Träume hatten in den letzten Wochen häufig um Mäd chen gekreist. Meistens waren es ganz bestimmte gewesen, denen er nicht nur im Traum nachgegangen war. Aber selbst bei denen hatte es nur eine gegeben, die ihm wirklich gefallen hatte: Antonia Steiner.
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»Vielleicht hast du Recht«, sagte er. »Hauptsache Mädchen.« »Hast du überhaupt schon mal eine auf Tuchfühlung gehabt?«, fragte Thorsten. »Was meinst du damit?« »Tuchfühlung ist nicht das richtige Wort. Ich meine …« Er zö gerte, sagte aber dann: »Ich meine eher Hautfühlung.« Stefan schaute ihn verdutzt an. »Mensch, Stefan, stell dich doch nicht dämlicher an, als du bist.« »Und wie steht es mit dir?«, fragte Stefan. »Mein Vater hat mir vor vierzehn Tagen einen guten Rat gege ben. Er hat gesagt: ›Lasse die Finger von einem anständigen Mäd chen. Dafür ist später noch Zeit genug. Aber es gibt in Ruhrort ein paar Puffs. Geh da hin. Da kommt kein Ärger nach.« »Das hat er dir gesagt?« »Er hat mir einen Zwanzigmarkschein in die Hand gedrückt. Bei den Frauen da kannst du Erfahrungen sammeln. Am besten gehst du ins Schipperhüs. Guter Laden.« »Angeber!«, rief Stefan. Thorsten zog die Schultern hoch. »Kannst du glauben oder nicht.« Stefan war verwirrt. Steiger Hacks galt als guter Katholik und ging jeden Sonntag ins Hochamt. »Heuchelei«, sagte er. »Aber ob er wirklich das Schipperhüs von innen kennt?« Thorsten lachte über Stefan. »Du bist wirklich noch grün hinter den Ohren.« Stefan erzählte Thorsten von Antonia Steiner nichts. ***
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Es war wohl das älteste Modell der Duisburger Straßenbahnen, das auf der Strecke von Alsum bis Buschhausen verkehrte. Der Motorwagen und der Anhänger waren museumsreif. Es war so wie fast immer, die Menschen warteten zu dutzenden an den Hal testellen. In der ersten Bahn, die heranrumpelte, konnten sie kei nen Platz ergattern. Zehn Minuten später drängte sich Thorsten so gerade noch in den Anhänger. Schon zog die Schaffnerin die Klingelschnur und gab das Zeichen zur Abfahrt. Thorsten winkte Stefan mit der Hand zu und deutete auf die linke Seite des Anhän gers. Stefan rannte um die Bahn herum. Die Tür war verschlossen. Aber außen auf dem schmalen Trittbrett standen zwei Mädchen und klammerten sich an die Haltegriffe. Sie rückten einen Spaltbreit auseinander. Die Bahn fuhr langsam an. Eine rief: »Los, spring schon auf, wenn du mitwillst.« Stefan quetschte sich zwischen die beiden. Die Griffe bekam er nicht zu fassen. Er legte seine Arme um die Hüften der Mädchen, um nicht herunterzufallen. Die zu seiner rechten Seite hätte Thorsten gefallen. Sie war nicht dürr. Unterwegs hätte es vielleicht die Möglichkeit gegeben, im Wa gen Platz zu finden. Aber er nützte sie nicht. Hauptsache Weiber, dachte er. Der Fahrtwind wehte ihm die blonden Haare des Mäd chens ins Gesicht, das ihm zur linken Seite stand. »Kitzelt schön«, sagte er zu ihr. Sie strich sich die Haare zurück und streifte mit dem Handrücken Stefans Wange. Die leichte Be rührung hinterließ eine Feuerspur. »Hast noch ein Milchgesicht«, spottete sie. Stefan wurde verlegen, schlug ihr aber dann doch vor: »In Marxloh auf dem Zinkhüttenplatz ist Kirmes. Wir könnten uns
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bei der Raupe morgen dort treffen. So um sechs. Wenn es dunkel wird.« »Lass ihn, Karin«, lachte die andere. »Soll sich erst mal einen Bart wachsen lassen.« Die Bahn hielt. Die Mädchen sprangen ab. »Bis morgen?«, rief er. Sie hob die Schultern. Aber was mochte das heißen? Das sollte für Stefan auch am nächsten Tag ein Rätsel bleiben. Er war schon lange vor sechs auf dem Zinkhüttenplatz. Vergeblich hielt er bei der Raupe Ausschau nach dem Mädchen mit den blon den Haaren. Schließlich schlenderte er über den Kirmesplatz. Die wenigen Karussels und die billigen Buden reizten ihn nicht länger zu bleiben. Er fuhr nach Beeck zurück. *** Es war ein sonniger Märztag, als Paul Stefan aufforderte: »Komm mit in den Garten. Wenn wir gemeinsam anpacken, schaffen wir es, alle Beete umzugraben.« Stefan brummte etwas von »Mistgarten« und »Ich wollte eigent lich …« Pauls Ohren wurden rot. Für Stefan war das ein sicheres Zeichen, dass Paul vom Jähzorn gepackt wurde. »Schon gut, schon gut«, sagte Stefan. Als Paul wütend näher an ihn herankam, hob er seine Hände und rief trotzig: »Oder willst du mich wieder prügeln?« Fast wäre Paul wirklich die Hand ausgerutscht, aber er blieb plötzlich stehen und starrte vor sich auf den Boden. Es sah aus, als ob er erschlaffte. Dann drehte er sich um und ging mit hängenden
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Schultern zur Tür. Stefan folgte ihm in einigem Abstand. Paul schlug den Weg zum Garten ein. Seine Schritte sind schwer ge worden, dachte Stefan. Paul wird alt. Er verwünschte seinen Wi derspruchsgeist. Sie waren schon an Kottkas Ziegelei vorbei, als Stefan schneller ausschritt und schließlich neben Paul herging. »Tut mir Leid, Paul. Gemeinsam werden wir deinen Acker schon umpflügen.« Paul legte ihm den Arm um die Schulter. »Mein verdammter Jähzorn«, sagte er leise. »Ich hab ihn von meinem Vater geerbt. Als ich noch ein Kind war, hab ich in Lie benberg erzählen hören, dass er auf dem Bau in Friedrichshoff einmal um ein Haar einen seiner Zimmergesellen mit der Axt er schlagen hat. Die Kolonne richtete einen Dachstuhl auf. Der Ge selle Grumbach hatte wohl schon vorher begonnen das Richtfest zu feiern und ein paar Gläschen getrunken. Es war in Bienmanns Zimmerei streng verboten, während der Arbeit Schnaps oder Bier anzurühren. Grumbach sollte mit einem Lehrjungen eine letzte Querstrebe in den Dachstuhl einpassen. Sie trugen den Balken auf der Schulter nach oben und balancier ten über eine starke Pfette. Grumbach war schon oft über schma lere Balken gelaufen. Nie zuvor waren seine Schritte unsicher ge worden. Aber diesmal blieb er plötzlich stehen. Die Strebe glitt ihm aus den Händen. Er rutschte ab und klammerte sich an einen Sparren. Der Lehrling versuchte den Balken zu halten. Aber das war unmöglich. Mein Vater Lukas stand etwa zwei Meter hinter dem Jungen. Mit einem waghalsigen Sprung erreichte er ihn, packte ihn am Kragen seiner Jacke und verhinderte den Sturz in
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die Tiefe. Der Balken polterte mit großem Getöse hinab bis auf die Erde. Immer noch hing Grumbach an dem Sparren. Zwei andere Gesellen fassten den Jungen. Der schlotterte so, dass sie ihn hi nuntertragen mussten. Mein Vater griff nach einer Axt, sprang nahe an Grumbach heran und schlug zu. Grumbach ließ den Sparren fahren. Er fiel und schlug auf dem Dachboden auf, sicher drei Meter tief. Die Axtschneide drang tief in den Sparren ein. Als Vaters Jähzorn verebbte, kletterte er hinunter, trat nahe an Grumbach heran und brüllte ihn an: ›Steh auf, Mann! Bewege die Arme und die Beine.‹ Grumbach war der Schreck so in die Glieder gefahren, dass er augenblicks wieder nüchtern wurde. Er tat, was mein Vater von ihm verlangte, und bewegte sich steif wie eine Marionette. Vater schien erleichtert. ›Offenbar nichts gebrochen. Kinder und Betrunkene haben einen guten Schutzengel. Wenn ich noch einmal feststelle, Grumbach, dass du während der Arbeit säufst, dann werde ich dich rauswerfen. Für immer, verstehst du?‹ Wenn Vaters Leute die Geschichte erzählten, dann fügten sie meist hinzu, dass Grumbach wohl weniger den Hinauswurf ge fürchtet habe als Vaters Axt. Sie sagten dann: ›Ein Bienmann ver fehlt nur einmal in seinem Leben das, was er treffen will.‹« Stefan und Paul arbeiteten ohne Pause. Die Spatenblätter zisch ten nur so in die Erde. Es war das einzige Geräusch, das zu hören war. Es dämmerte schon, da gingen sie das letzte Beet gemeinsam an. Es schien ein Wettkampf zu werden, wer von ihnen wohl das größere Stück schaffen würde. Fett glänzten die umgeworfenen Erdschollen. Da ertönte unter Stefans Spaten ein heller Klang. Me tall schlug auf Metall. Ärgerlich wollte Stefan ein weiteres Mal
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den Spaten in die Erde treiben. Paul stieß ihn jedoch so heftig zur Seite, dass der Junge in das Beet stürzte. Paul war blass geworden und zeigte auf ein stahlblaues Stück Metall, das Stefan freigelegt hatte. »Ein Blindgänger, Junge. Eine 15-cm-Granate.« Stefan begann zu weinen. Am selben Abend noch kamen zwei Feuerwerker. Sie behandelten das Geschoss wie ein rohes Ei. Die Aufschlagstelle des Spatens lag nur zwei Zentimeter hinter dem Zündkopf. Sie schraubten behutsam an dem Zünder und drehten ihn vor sichtig heraus. »Ihr habt wirklich Schwein gehabt«, sagte einer der Männer. »Hat nicht viel gefehlt und das Ding wäre hochgegangen.« Er baute aus, was an dem Zünder gefährlich war, und reichte Stefan die Metallspitze. »Zur Erinnerung daran, dass du dem frühen Tod ein Schnipp chen geschlagen hast.« *** »Na, seid ihr mit dem Graben fertig geworden?«, fragte Frau Reitzak, als sie nach Hause kamen. »Vor allem wir selbst sind fix und fertig«, antwortete Paul. »Kann ich mir denken. War ja auch ein ganz schönes Stück Ar beit.« »Das allein war es nicht, Mutter.« »Nicht die Arbeit allein?« »Nein. Aber du musst dich gedulden bis nach dem Abendessen.
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Dann sind wir alle zusammen und wir brauchen die Geschichte nicht immer wieder zu erzählen. Vielleicht würde sie dir sogar den Appetit verderben.« »Appetit«, sagte Frau Reitzak und sah bedrückt aus. »Ich weiß gar nicht mehr, was Appetit eigentlich ist. Irgendetwas stimmt mit mir nicht.« Sie strich sich mit der Hand über den Magen. »Ich nehme immer schneller ab. Manchmal kommt mir der Gedanke ›Tilla, du verhungerst, ohne hungrig zu sein‹.« »Wird schon wieder werden, Mutter. Wenn Underberg erst wieder die Kräuter kaufen kann und in Rheinberg seinen Magen bitter braut, dann fühlst du dich frisch wie ein junges Mädchen.« Der Tisch war nach dem Abendessen abgeräumt, als Stefan den Zünder des Geschosses mitten auf die Tischplatte legte. Anna fuhr erschreckt zurück. »Was soll das?«, schrie sie. »Reg dich nicht auf, Anna«, sagte Paul. »Das Ding war bis vor neunzig Minuten scharf. Jetzt ist es nur gut für eine Erinnerung. Erzähle du, Stefan. Du kannst es besser als ich. Und außerdem ist es ja deine Geschichte.« Stefan ließ sich nicht lange bitten. Er schloss schließlich mit der Bemerkung: »Aber vielleicht war Paul doch die Hauptperson. Ich glaube, er hat mir das Leben gerettet.« Anna griff nach dem Zündkopf und betrachtete ihn. »Diese ver flixten Dinger.« »Du hast doch selbst mal Zünder entwickelt, oder?«, fragte Franziska. »Ja. Es waren Spezialzünder, die besonders empfindlich rea gierten. Sie brachten die Bomben und Granaten nicht gleich beim
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Aufschlag zur Explosion, sondern es konnte genau die Zeit einge stellt werden, zu der sie hochgehen sollten. Wenn man es wollte, explodierten sie sogar vor dem Aufschlag schon.« »Ziemlich hinterhältig, Anna, findest du das selbst nicht auch?«, sagte Frau Reitzak. »Ja, das waren sie. Aber ich dachte mehr daran, wie wirkungs voll sie sein würden. Ich hatte sie schon im Juni 1944 fertig auf dem Reißbrett und sie hätten in die Produktion gehen können. Weil ich ihre verheerenden Folgen jedoch einschätzen konnte, hielt ich das Ergebnis meiner Entwicklungsarbeit zurück. Man wusste natürlich im Betrieb, dass ich daran arbeitete. Besonders Komann drängte immer wieder, ich sollte endlich zu einem Ab schluss meiner Zünderentwicklung kommen. Es wurde mir zuge tragen, dass er im Zusammenhang mit mir sogar von Sabotage sprach. Ich schnitt das Thema auch einmal mit Grigori an. Er sagte dazu nur: ›Der Krieg, Annuschka, ist wie ein Dämon. Es macht mir Angst, dass er sogar deine Gedanken auf Tod und Vernich tung lenken kann.‹ Ich hatte mich danach entschlossen Dr. Holzbauer das angebli che Scheitern meiner Bemühungen mitzuteilen. Aber dann kam dieser entsetzliche 14. Oktober 1944.« Annas Hände umschlossen verkrampft den Zünder. Die Stille währte ziemlich lange. Dann aber fuhr sie fort: »Ich hatte wieder einmal lange gearbeitet. Holzbauer betrat mein Büro, als er so ge gen acht Uhr Feierabend machen wollte. Er sagte: ›Anna, das geht so nicht weiter. Jeden Abend sitzen Sie hier bis in die Nacht hi nein. Sie kommen dabei auf den Hund. Unter zu wenig Schlaf lei det jede Arbeit.‹
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Ich habe ihm schnippisch geantwortet: ›Haben Sie Grund zur Klage, Herr Doktor?‹ Er hat ärgerlich abgewinkt und im Hinausgehen gesagt: ›Ich will Sie morgen erst nach der Mittagspause wieder hier im Betrieb sehen. Schlafen Sie endlich mal aus.‹ Ich habe die Klingel meines Weckers von sechs Uhr morgens auf acht Uhr umgestellt. Auch als sein blechernes Gerassel mich weckte, blieb ich noch ein wenig in den Federn. In dem Haus in der Nähe der Post, da, wo sich im Erdgeschoss das Cafe und die Bäckerei Vestmann befanden, bewohnte ich damals zwei Zim mer. Es lebten dreiundzwanzig Menschen dort, darunter kein einziger Mann, wenn ich von dem 14-jährigen Uhrmacherlehrling Heinrich Meister mal absehe. Aber der war um diese Zeit ge wöhnlich längst zur Arbeit aufgebrochen; denn seine Lehrstelle war in Dinslaken, weit von Beeck entfernt also. Selbst mit der Straßenbahn hatte er lange zu fahren. Irgendwann vor neun gab es Voralarm. Na ja, das war nichts Be sonderes; denn die Sirenen heulten ja häufig. Ich zog mich an und wollte frühstücken. Vielleicht flogen die Alliierten ein anderes Ziel an. Aber wenige Minuten nach der ersten Warnung jaulten die Si renen schon wieder. Jetzt musste ich allmählich in den Luftschutz keller. Aber aus dem Allmählich wurde pure Hektik. Das Auf- und Abschwellen der Sirenen war noch nicht ganz verklungen, da schoss die Flak schon aus allen Rohren. Also eilig hinunter. Durch das Flurfenster sah ich die Rauchzeichen der Signalbom ben. Kein Zweifel war mehr möglich: Der Angriff zielte auf den Duisburger Norden. Unser Keller war einer von der alten Sorte und hatte als Decke ein stabiles Tonnengewölbe. Das galt als be
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sonders sicher. Ich war unter den Letzten, die dort Schutz such ten. Schon begann Frau Vestmann die Eisentüren der Gasschleuse hinter uns zu verriegeln, da drängten sich noch Luise Vestmann und Heinrich heran. Heinrich war an diesem Tag nämlich nicht nach Dinslaken gefahren. Er sollte im Laufe des Vormittags in der Innenstadt etwas für seinen Meister erledigen. Luise und Heinrich wollten aus dem Keller hinaus. ›Wohin?‹, rief Frau Vestmann ihnen nach. Heinrich antwortete: ›Luise hat noch zwei Platten Apfelkuchen im Backofen. Die müssen raus, sonst verbrennt der Kuchen noch. Wer weiß, wie lange es dauert, bis die Entwarnung kommt.‹ ›Wir stellen die Platten erst mal in der Backstube auf den Tisch‹, sagte Luise. ›Später schieben wir sie wieder in den Ofen.‹ ›Ihr seid übergeschnappt, ihr beiden‹, rief Frau Vestmann. Inzwischen hatte Luises Schwester Eleonore ihr Radio auf den Drahtfunk eingestellt, der die Bewegungen der Bomberflotten ziemlich zuverlässig ansagte. Diesmal hieß es, dass starke Ver bände im Anflug auf Duisburg seien. Wieder einmal. Schon waren die dumpfen Erschütterungen der ersten Bombeneinschläge zu vernehmen. ›Ist nicht in der Nähe‹, sagte Frau Vestmann. Aber das wussten wir alle. Nach den vielen Angriffen auf die Stadt kannten wir uns aus. Die Explosionen kamen näher und näher. Unsere leisen Ge spräche verstummten. Dieses unheimliche Warten darauf, was passieren würde! Frau Vestmann stand am Fuß der Kellertreppe und schrie: ›Nun kommt doch endlich runter, ihr beiden.‹
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Ein harter, trockener Einschlag ließ den Keller erzittern. Luise und Heinrich wurden die letzte Stufe der Treppe fast hinabge schleudert. Frau Vestmann schloss hastig die Eisentür hinter ih nen. Das Licht flackerte und erlosch. Dann war es, als ob tausend Bomben zugleich abgeworfen worden waren. Die gewaltige La wine der Detonationen war neben uns, über uns, rollte über uns hinweg. Der Kellerboden schwankte, bewegte sich, als ob wir auf Wellen schwebten, bebte lange nach. Der Mörtel des Gewölbes und der Wände fiel in Stücken herab. Staub machte das Atmen schwer. Wir waren eng zusammengerückt, hockten auf dem Bo den Körper an Körper. Einer spürte das Zittern des anderen. Eini ge schluchzten. Oma Hassischek sang mit schriller Altweiber stimme: ›Maria, breit den Mantel aus.‹ Ich weiß nicht, ob ich bete te. Wie lange? Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Selbst als die Flak ihr Gebell einstellte und das tiefe Brummen der Flugzeuge leiser wurde und schließlich verklang, traute sich keiner die Eisentür zu öffnen und nachzuschauen, ob es auch un ser Haus getroffen hatte. Von außen wurde gegen die Tür ge schlagen. Da erst schob Frau Vestmann die Riegel zurück. ›Deo gratias‹, flüsterte Herr Cleto, der im Nebenhaus die italie nische Eisdiele betrieb. ›Sie leben. Gehen Sie schnell nach oben und suchen nach Brandbomben. Es hat diese Teufelsdinger ge regnet.‹ In Staubwolken und Rauchschleiern starrten wir uns an. Der Mörtelstaub hatte sich wie eine weiße Puderschicht auf unsere Gesichter gesenkt. ›Wie Karneval in Venedig‹, schrie Frau Vest mann und lachte hysterisch.
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Heinrich war der Erste, der die Treppenstufen emporstieg. Wir folgten ihm. Die Haustür war aus den Angeln gerissen. Die Fens terrahmen hingen noch in den Fensterhöhlen. Vor dem Haus klaffte mitten in der Straße ein mächtiger Bombenkrater. Der Stra ßenverlauf war in der Trümmerwüste kaum noch auszumachen. Viele Häuser loderten wie himmelhohe Brandfackeln. Unser Haus war nicht zusammengestürzt. ›Raufkommen‹, brüllte Heinrich Meister. ›Die Brandbomben müssen raus.‹ Ich rannte nach oben. Der Luftdruck hatte die Pfannen vom Dach gefegt. Im Dachgeschoss steckten sechs Brandbomben im Estrich, diese eckigen schlanken Dinger. Keine einzige hatte ge zündet. Noch nicht. Ich wusste, dass es auch solche gab, die neben dem Brandsatz ei nen explosiven Teil hatten. Wir achteten nicht darauf, zogen sie heraus und warfen sie durch die Fenster in den Bombenkrater. Selbst Oma Hassischek entdeckte in ihrem Zimmer in der zweiten Etage zwei Brandbomben und trug sie ganz vorsichtig hinunter. Ob sie nicht wusste, dass die explodieren konnten? ›Das Dach nebenan brennt lichterloh!‹, schrie irgendeiner von unten. Herr Cleto kam herauf. Er hielt eine Axt in den Händen und stieg in unseren Dachstuhl. Mit wuchtigen Hieben versuchte er, zwischen den beiden Häusern eine Brandschneise zu schlagen, damit das Feuer nicht auf unser Haus übergreifen konnte und an schließend auf seins übersprang. Heinrich kletterte ins Gebälk und half ihm. Später gestand Heinrich, dass er immer geglaubt habe, er sei nicht schwindelfrei; aber dort oben habe er einfach nicht daran gedacht.
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Es war sicher mehr als eine Stunde vergangen, als auch das Ge bäude von Feldhaus’ Textilgeschäft an der Ecke plötzlich auflo derte. Es schien keiner im Hause zu sein. Niemand aus unserer Nachbarschaft eilte hin und versuchte zu löschen. Jeder hatte mit sich selbst zu tun. Doch dann kam durch den Garten von der Pothmannstraße her eine verzweifelte Frau zu uns gerannt und flehte uns an ihr zu hel fen. In dem Luftschutzkeller des Hauses nicht weit von uns sei ihre ganze Familie eingeschlossen. Sie allein schaffe es nicht, den Zu gang freizulegen. Sie sei sicher, dass alle noch lebten. Wir schauten uns an und ich ging mit ihr. Zwei Frauen und der Junge schlossen sich an. Wir liefen nach hinten hinaus quer durch die Gärten. Die Gartenzäune waren verschwunden. Das Haus war ein einziger rauchender Trümmerhaufen. Auf dem Rest einer Mauer konnte man noch die Aufschrift erkennen: SVL. Schutzraum vorn links. Wir wussten also, wo wir den Luftschutzkeller zu suchen hatten. Die Frau versuchte mit einer blechernen Kehrichtschaufel ein Loch in die Trümmer zu scharren. Wir fanden kein Werkzeug und wälzten mit den bloßen Händen Mauerstücke zur Seite und räumten lockere Steine von der Stelle weg, an der sich die Tür zum Haus befunden haben musste. Aber je tiefer wir vordrangen, umso deutlicher spürten wir es: Der Schutt wurde heißer und hei ßer. Wir stellten die Arbeit ein. Uns war klar geworden: In dem Keller hatte es gebrannt. Nie mand konnte überlebt haben. Ich versuchte die Frau von dem Trümmerfeld wegzuziehen. Vergebens. Sie scharrte weiter. Wir kehrten zu unserer Wohnung zurück und schufteten bis zur völligen Erschöpfung, räumten Schutt aus dem Haus, rückten
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Möbelstücke wieder an ihren alten Platz, schlugen die Reste der Glasscheiben aus den Rahmen, warfen aus den Fenstern in den Hof, was nicht mehr zu gebrauchen war. Die beiden Zimmer von Oma Hassischek hatten am wenigsten abbekommen. Sie holte den Besen aus der Kammer und versuchte die dicke Staubschicht vom Boden zu fegen. Leise und unentwegt summte sie: ›Lass uns darunter sicher stehn, bis alle Stürm vo rübergehn.‹ Aber sie beließ es nicht bei schönen Worten, sondern fachte das Feuer in ihrem Herd wieder an, kochte eine große Kanne voll Kaf fee und rief alle Bewohner in ihre Wohnung. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass wir wenigstens in dieser halben Stunde so etwas wie ›Wir gehören zusammen‹ spürten. Jedenfalls hatte fast jeder etwas zu essen mitgebracht. Das wurde einfach auf den Tisch gelegt. Obwohl es nur Brot, ein Stück Fleischwurst, Marga rine, ein Topf Griesbrei und ein paar Pellkartoffeln waren – es kam uns vor wie ein Festmahl. ›Manchmal fliegen sie kurz hintereinander weitere Angriffe auf dieselbe Stadt‹, sagte Luise Vestmann. ›Euch ist ja hoffentlich klar, was uns passiert wäre, wenn die Bombe nicht die Straße, sondern unser Haus getroffen hätte. Unser Keller kann uns wohl kaum vor so etwas schützen. Wenn sie noch einmal kommen, ge hen wir am besten zum Schlackenberg. Der Bunker dort ist abso lut sicher, da kann kommen, was will.‹ ›Das haben die Leute in Meiderich in dem Bunker an der Unter führung voriges Jahr im Mai auch gedacht‹, sagte Oma Hassi schek. ›Über dreihundert Menschen sind nicht mehr rausgekom men. Der Bunker ist einfach zugemauert worden.‹
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Gegen neun Uhr am Abend hörte ich weiter weg wieder einige Sirenen. Die in unserer Nähe waren zerstört. Ich klopfte hart an Oma Hassischeks Tür. Sie kam zwar heraus, sagte aber: »Kind, ich werde nächsten Monat zweiundachtzig. Das ist kein schlechtes Alter, wenn ich sterben muss. Ich bleibe in unserem Keller. Ganz egal, was kommt.‹ Wir anderen liefen durch die Gärten und über den Sportplatz. Manche überquerten die Emscher, indem sie über die schmalen, vierzehner Eisenträger balancierten, die im Abstand weniger Me ter die Spundwände des kanalisierten Baches sicherten. Ich lief den etwas weiteren Weg über die Emscherbrücke zum Schlackenberg. In die Steilwand waren vier Eingänge getrieben worden. Die machten nach wenigen Metern im Berginneren einen scharfen Knick. Wenn zufällig eine Bombe genau vor dem Stollen deto nierte, sollte der Luftdruck abgefangen werden. In der Schlacken halde verzweigten sich die Gänge. Noch befand sich dieser Schutzraum im Bau. Es fehlte jegliche Schleuse, jedes Eisentor. Der Boden war holprig und rau. Später ist ja dann ein Estrich ein gezogen worden. Es waren wahrscheinlich über tausend Menschen dort, die sich in den Schutz der viele Meter dicken Schlackendecke geflüchtet hatten. Die Bewohner unseres Hauses wurden in einen Quergang eingewiesen. Wir lagerten uns auf dem feuchten Boden. Heinrich Meister hatte sich eine Wolldecke mitgebracht. ›Mensch, Luise!‹, rief er plötzlich und richtete sich auf. ›Was ist mit deinem Apfelkuchen?‹ ›Den hab ich ganz vergessen‹, gestand sie. ›Aber er ist ja auch erst halb gar.‹
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›Ich hab Hunger bis unter die Arme‹, sagte Heinrich. Verkau fen kannst du den in eurer Bäckerei bestimmt nicht mehr. Ich will ihn holen.‹ ›Gut‹, sagte sie. ›Aber allein kannst du die zwei Platten nicht tra gen. Ich gehe mit.‹ Noch ehe sich Widerspruch erheben konnte, rannten die bei den los. Sehr weit war der Weg nicht und noch war es ruhig. Doch alle von uns hatten oft erlebt, wie schnell sich das ändern konnte. Etwa eine Viertelstunde später kamen sie zurück. Freigebig wurde der Kuchen ausgeteilt. Der Teig war nicht durchgebacken und etwas matschig. Auch knirschte immer wieder Sand von dem herabgefallenen Mörtel zwischen den Zähnen. Aber ich hatte schon lange keinen Apfelkuchen mehr gegessen. Er schmeckte mir trotz der Steinstreusel gut. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass Heinrich kaum etwas davon aß und zusammengekrümmt auf seiner Decke hockte. ›Ist was?‹, fragte ich ihn. ›Habt ihr etwa Ratten von dem Kuchen verscheuchen müssen, als ihr in die Backstube kamt?« Er antwortete nicht, drehte sich auf die Seite und schlief ein. ›Es waren nicht die Ratten‹, sagte Luise. ›Wir kamen gerade am Sportplatz vorbei, da ging nicht weit von uns eine Bombe hoch. Spätzünder oder so etwas. Der Luftdruck hob uns ein paar Zenti meter in die Höhe und warf uns dann zu Boden. Wir haben die Splitter sirren hören. Heinrich wollte die Platten mit dem Apfel kuchen nicht zurücklassen. Kurz bevor wir den Eingang hier er reichten, sagte er zu mir: ›Mensch, Luise, mein Vater ist an der Ostfront, unsere kleine Marlene in Schwaben bei fremden Leuten,
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meine Mutter mit Christine hier in Beeck. Was hätten die nur ge macht, wenn es mich erwischt hätte.‹ Bei diesem zweiten Angriff erbebte selbst der riesige Schlacken berg. Ich weiß nicht mehr, wie es genau war in dieser Nacht. Nur eins steht mir noch vor Augen, als ob es gestern geschehen wäre: Ein Junge wurde hereingeschleift, ungefähr so alt wie Stefan heu te. Sein Gesicht war zerschrammt und blutig, die Kleider zerris sen. Er stieß in Abständen immer wieder leise Schmerzlaute aus. Ich erschrak, als ich einen der alten Männer, die ihn gebracht hat ten, flüstern hörte: ›Das ist der Theo Salhoff. Wir haben ihn aus dem Keller herausziehen können. Er lebt. Es war wie ein Wunder. Alle anderen in dem Haus, auch seine Eltern, sind tot.‹ Ich kannte den Theo. Er war öfter zu den Vestmanns in die Bä ckerei gekommen. Luise Vestmann begann zu weinen. Sie kramte in der Tasche ihrer Mutter und holte eine kleine Flasche mit Köl nischwasser heraus, schüttete davon reichlich auf ein Taschen tuch und versuchte, Theos Gesicht zu säubern. Der Junge begann jämmerlich zu schreien. Frau Vestmann riss ihrer Tochter das Tuch und die Parfümflasche aus den Händen und fuhr sie an: ›Luise, was machst du da? 4711 auf die Schrunden und Schram men? Das brennt wie Feuer. Und außerdem, es ist der allerletzte Rest von meinem Kölnischwasser. Das Fläschchen hat Papa mir geschenkt, ehe er eingezogen worden ist.‹ Noch einmal kamen sie, flogen einen dritten Angriff, warfen erst die Leuchtsignale und dann ihre tödliche Last. Ich schlief trotzdem ein und erwachte nur wenige Male, wenn es ganz in der Nähe unseres Maulwurfbaus krachte. Am Morgen dann leerten sich allmählich die Gänge im Schla
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ckenberg. Wir kehrten in die Stadt der toten Häuser zurück. Im mer noch loderten Flammen an vielen Stellen zum Himmel. Der scheußliche Brandgeruch stieg uns in die Nasen. Die Augen be gannen zu tränen. Ein Trupp von kriegsgefangenen Russen sam melte die Toten und legte sie in langer Reihe auf dem Sportplatz nieder. Die meisten waren zu kleinen schwarzen Mumien ge schrumpft. Es war ein Anblick, der mich noch immer in furchtba ren Träumen erschreckt. Ich schaute mir die Kriegsgefangenen an. Aber sie waren wohl aus einem anderen Lager herbeigeschafft worden. Freiwillige, hieß es. Man hatte ihnen für diesen Dienst als Totengräber eine Sonderration zu essen und einen Schluck Schnaps versprochen. Es war eine düstere Stimmung unter den Leuten. Einige ver fluchten erbittert die Besatzungen der Bombenflugzeuge. Hätten ein paar Piloten mit dem Fallschirm abspringen müssen, ich bin sicher, sie wären von uns gesteinigt worden. An diesem Tag noch händigte ich Dr. Holzbauer die fertigen Pläne für den neuen Zün der aus. Ich habe es nicht für möglich gehalten, was alles an Ra chegefühlen im eigenen Inneren steckt. Das erschreckt mich im mer noch.« An Annas Hals hatten sich während des Erzählens rote Flecken gebildet. Ihre Augen glänzten wie im Fieber. Sie erhob sich hastig und ging in ihr Zimmer. »War es wirklich so entsetzlich, Mama?«, fragte Franziska. »Ja, Kind, so fürchterlich, dass ich es niemals erzählen könnte. Mir schnürt sich der Hals zu, wenn ich daran denke. Unser Haus ist ja nicht völlig zerstört worden. Aber in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober habe ich zum ersten Mal wirklich quälende
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Schmerzen in meinem Leib gespürt. Seitdem haben sie mich nie mehr ganz losgelassen.« »Der Doktor hat gemeint, wenn es mal wieder etwas Anständi ges zu essen gibt, Mama, dann lassen deine Beschwerden be stimmt nach.« Franziska sagte ihr nicht, dass Dr. Stolpensen ihr ganz etwas an deres angedeutet hatte. *** Stefan ging das, was sie von Anna gehört hatten, lange nach. Er kannte Theo Salhoff und war ihm mehrmals im Tischtenniskeller begegnet. Theo spielte nicht schlecht. Aber Theo war nicht sein Typ. Er kam immer ziemlich elegant daher, oft in Anzug und Kra watte. Das war etwas, wofür die Jungen in der Gruppe nur ein spöttisches Lachen übrig hatten. Stinkbürgerlich war das. Trotz dem, Stefan sah Theo von nun an mit anderen Augen. Theo war in der Familie seines Onkels aufgenommen worden. War es ihm 1943 nicht ganz ähnlich ergangen? Am nächsten Tag besuchte Stefan Thorsten Hacks. Seit Thorsten die Lust am Tischtennis verloren hatte, war die Freundschaft zwi schen den beiden Jungen nicht mehr so eng wie vor Monaten noch. Thorsten ging mit Stefan in den Innenhof des Hauses, in dem die Familie Hacks wohnte. Sie setzten sich auf die Bank an der Mauer. »Stefan, ich bitte dich, erwähne bei uns bloß nicht das mit dem Schipperhüs. Meine Mutter würde ein riesiges Theater machen, wenn sie das hörte.« »Kann ich verstehen, Thorsten. Von mir erfährt sie nichts.«
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Ärgerlich schallte aus dem Haus eine Frauenstimme: »Hast du deine Arbeit erledigt, Thorsten?« »Da schreit sie schon wieder nach mir«, maulte der. »Ich muss noch Kohlen rauftragen und aufräumen. In zehn Minuten bin ich so weit. Warte hier auf mich. Wir müssen miteinander reden.« Thorsten verschwand im Haus. Stefan hörte, dass seine Mutter ihn auszankte. Aber dann vernahm er auch wieder Stimmen aus dem Nachbarhof. Im Obergeschoss von Hacks Haus war ein Fenster offen geblieben. In der Scheibe spiegelte sich der Hof. Ste fan glaubte Komann zu erkennen. Drei weitere wesentlich jünge re Männer standen bei ihm. Stefan verstand, dass Komann ihnen klarmachen wollte, sie müssten sich noch gedulden mit dem ›gro ßen Ding‹, das sie vorhatten. Erst in der kommenden Woche sei der Termin günstig. Am Dienstag würde die neue Ware herbeige schafft. Dann erst würde es sich lohnen. Die Männer stimmten widerwillig zu. »Du bist der Kopf, Eugen, wir sind die Arme«, sagte einer. Dann gingen sie ins Haus. Thorsten brauchte ziemlich lange, bis er alles erledigt hatte, was die Mutter von ihm verlangte. Er kam missmutig in den Hof zu rück und dann gab es kein längeres Gespräch mehr zwischen den Jungen. Schon hörten sie wieder die Stimme von Thorstens Mut ter: »Wo bleibst du, Thorsten?« »Das Weib bringt mich noch um«, stöhnte Thorsten, aber er ging erst ins Haus, als das wiederholte Rufen seiner Mutter schrill und wütend klang. »Ich gehe dann«, rief Stefan ihm nach. ***
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»Endlich sitzen wir mal wieder zusammen um den Tisch«, sagte Frau Reitzak. »Es geht bei uns neuerdings zu wie im Tauben schlag. Beim Paul wechselt die Morgen- und die Mittagschicht, Anna macht selten pünktlich Feierabend und Stefan kommt und geht, wann er will, und immer klagt er über Hunger. Du, Franzis ka, bist stundenlang unterwegs auf der Jagd nach dem, was auf den Lebensmittelkarten zugeteilt worden ist. Und das wird auch von Monat zu Monat weniger. Oft sitze ich zu den Essenszeiten allein am Tisch. Das gefällt mir nicht.« »Was will ich machen, Mama?«, sagte Franziska. »Mir passt es auch nicht, mir die Beine in den Bauch zu stehen, um ein paar Sa chen zu ergattern. Was wir aus Kirchwüsten mitgebracht haben, ist längst aufgebraucht. Wie soll das bloß noch enden?« »Vielleicht könnten wir zum Hamstern aufs Land fahren«, schlug Anna vor. »Die niederrheinischen Dörfer liegen doch vor der Haustür.« »Das wissen viele andere auch«, sagte Paul und zog eine Gri masse. »Da kannst du vergebens anklopfen. Die Frau von mei nem Arbeitskollegen Brackmann fährt für ein paar Pfund Kartof feln bis hinter Cloppenburg. Und selbst dort ist es so: Wer bei den Bauern nichts zu tauschen anbieten kann, der kann auch gleich zu Hause bleiben.« »Ich könnte meinen Rest Kaffee aus Kolumbien ja auf dem Schwarzmarkt in Ruhrort verkaufen«, sagte Anna. Stefan kannte die Preise, die dort verlangt wurden. »Kaffee das Pfund vierhundert Mark, ein Pfund Butter dreihundert Mark, ein Dreipfundbrot sechzig Mark, ein Pfund Speck zweihundert achtzig Mark.«
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»Und Schnaps?«, fragte Paul. »So eine ganz kleine Flasche, in der nur ein Schluck ist, kostet zehn Mark.« »Woher weißt du das so genau?« Frau Reitzak schaute ihn miss trauisch an. »Burbeck aus Ruhrort spielt bei uns Tischtennis. Der wohnt di rekt am Schwarzmarkt. Aber Burbeck weiß auch, dass da fast jeden zweiten Tag eine Razzia stattfindet. Was die Polizei findet, wird beschlagnahmt. Die Schwarzhändler, die sie zu fassen krie gen, werden mitgenommen. Neulich sollen sie auch einen der Bosse gegriffen haben, den grünen Hubert. Der kam oft in einem dunkelgrünen Mantel mit echtem Pelzkragen auf den Schwarz markt. Meistens hat er ja seine Jungs mit, die ihn rechtzeitig war nen, wenn eine Razzia droht. Auch bei der Polizei gibt es sicher welche, die sich mit einem Liter Öl schmieren lassen.« »Davon habe ich auch gehört«, bestätigte Paul. »Der grüne Hu bert soll mit vierzehn Tagen Knast davongekommen sein. Das ist eine Schande. Wer so sein Geld verdient wie der grüne Hubert, ist ein Schurke.« »Soll bald anders werden«, sagte Franziska. »In der Zeitung stand, dass ab April die deutschen Gerichte wieder tätig werden. Wahrscheinlich mit denselben Richtern wie zur Nazizeit.« »Warum fahren wir eigentlich nicht nach Kirchwüsten zum Hamstern?«, fragte Anna. »Da kenne ich Jan und alle Mann. Die würden sich schämen, wenn sie mich mit leeren Händen von ih rem Hof gehen lassen würden.« »Meinst du, Holzbauer gibt dir dafür frei, Anna?« Stefan fiel ein Lieblingsspruch von Lehrer Schnieder ein. »›Not
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kennt kein Gebot‹, hat unser Klassenlehrer oft gesagt. Fahr doch einfach los.« Frau Reitzak missbilligte das. »Was sind das nur für Zeiten. Wir haben in der Schule noch gelernt: ›Not lehrt beten.‹« »Ich würde wohl Anfang Juli für ein paar Tage fahren können. Meine Mutter wartet sicher schon lange auf meinen Besuch. Wenn Franziska mitwill …« »Das mache ich«, stimmte Franziska zu. »Aber bis Juli ist es noch lange hin. Hoffentlich sind wir bis dahin nicht verhungert.« »Ich würde auch gern mal wieder meinen Freund in Loheiden besuchen«, sagte Stefan. »Kommt nicht infrage.« Franziska lehnte die Bitte schroff ab. »Du und hamstern! Du kriegst bestimmt nicht die Zähne ausei nander, wenn du um Mehl oder Eier betteln sollst. Und dabei müsstest du richtig erbärmlich aussehen. Etwa so.« Sie stand auf, ließ ihren Körper schlaff zusammenfallen, senkte den Kopf und schaute mit großen, traurigen Kuhaugen über den Rand ihrer Brille hinweg. »Bitte, geben Sie mir etwas zu essen«, jammerte sie mit brüchi ger Stimme. »Meine sechs Kinder schreien nach Brot. Und mein Mann ist noch in russischer Gefangenschaft. Bitte, bitte.« Sie hob theatralisch die Hände. Paul lachte, dass ihm die Tränen kamen. Auch Stefan konnte sich vor Lachen kaum halten. »Sechs Kin der, Franziska, wer würde dir das glauben?« »Macht mit der Gefangenschaft keine Witze«, sagte Frau Reit zak streng. »Es sind noch viele tausend von unseren Männern in Sibirien.«
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»Hast Recht, Tilla. Franziska und ich fahren also zum Hamstern los. Im Juli, wenn Holzbauer mir freigibt. Stefan kann dir ja helfen Ziegelsteine aus den Trümmern zu holen. Auch dafür gibt es Geld.« »Acht Mark für tausend Stück, Anna«, sagte Stefan. »Dafür kriegst du nicht mal einen Schluck Schnaps auf dem Schwarz markt.« »So darfst du nicht rechnen. Paul verdient als Schlosser auf dem Pütt in der Woche vierundfünfzig Mark. Davon muss eine Fami lie leben.« »Und hungern dabei. Aber ab dem 1. April bekomme ich ja auch Lohn.« »Fünfzehn Mark monatlich im ersten Lehrjahr«, sagte Paul. »Immerhin. Das sind mindesten hundertfünfzig Brötchen oder zweihundertfünfzig Eier oder …«, schwärmte Stefan. Frau Reitzak holte den Jungen wieder in die Wirklichkeit zu rück. »Nur, wenn man die Marken dafür hat. Und dann musst du auch noch Glück haben.« *** Der Tag rückte näher, an dem Stefan seine Lehre antreten sollte. Paul hatte von einem Arbeitskollegen einen hellgelben Stoff be schaffen können, früher wohl eine große Zeltbahn. Ein bisschen steif war der Stoff, das wohl. Aber Franziska schneiderte daraus einen Maureranzug. Paul fertigte ihm in der Werkstatt der Zeche eine Kelle und schmiedete einen Maurerhammer. Er brachte es sogar fertig, eine
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Wasserwaage aus Teakholz zu besorgen, die ihm sein früherer Kollege Grothuis aus der Brauerei gegen einen Zentner Kohlen eintauschte. Stefan wurde dem Maurerpolier Notteboom und seiner Kolon ne zugeteilt. Die Baustelle war am Ruhrorter Kaiserhafen. Dort türmte sich ein Schuttberg, der einmal eine Werkshalle gewesen war. Eine viele Meter hohe Ziegelmauer war von dem Luftdruck mehrerer Bomben umgestürzt und auf der steilen Hafenbö schung in tausend Steinbrocken zerschellt. Der Polier ließ sich nicht von dem guten Handwerkszeug Stefans beeindrucken. Er wies den neuen Lehrling an Wasserwaage und Kelle in der Bude, in der der Bautrupp sich während der Mittagspause aufhalten konnte, zurückzulassen. Nur den Maurerhammer sollte er mit nehmen. Notteboom führte ihn an den Steilhang zum Hafen, zeigte auf die Mauertrümmer und ordnete an: »Heute nimmst du dir die Ziegel vor. Du pickst den alten Mörtel runter und legst die saube ren Steine zurecht. Wir kommen dann gegen Mittag und vor Fei erabend und schaffen sie zum Bau.« Der 1. April war ein ungewöhnlich warmer Tag. Bald wurde es Stefan zu heiß und er streifte die Jacke ab. Niemand schaute nach ihm. Nur einmal während des Vormittags zeigte sich ein kleiner, untersetzter Mann. Er hatte schüttere blonde Haare und ein run des Gesicht. Stefan schätze ihn auf knapp 40 Jahre. Er sagte: »Ich bin Gustav Mecke, ein Hilfsarbeiter hier. Zieh die Jacke besser wieder an, wenn du keinen Sonnenbrand kriegen willst. Und halte dich ran mit den Steinen. Notteboom kann sonst sehr unangenehm werden.«
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Die acht Männer, die auf der Baustelle arbeiteten, kamen kurz vor zwölf. »Los, Steine rauf!«, rief Notteboom. Sie bildeten eine Kette von Stefan bis zur Baustelle. »Mach schon!«, sagte ein hellblonder Umschüler. Wie Stefan später erfuhr, war er im Krieg Oberleutnant gewesen und wollte jetzt ein Maurer werden. Den Kommandoton hatte er sich noch nicht abgewöhnt. Die anderen nannten ihn Ötte. »Was denn?«, fragte Stefan. »Wirf mir Steine zu.« Stefan nahm einen Ziegel und tat, was Ötte gesagt hatte. »Schneller ihr da unten!«, rief einer aus der Reihe. »Gleich ist Mittagspause und die ist kurz genug.« Stefan beeilte sich. Die Steine flogen von Hand zu Hand und wurden oberhalb der Hafenmauer zu einem Block gestapelt. »Mensch, Karl, geh du mal nach unten«, befahl Notteboom. »Zeig dem Milchbubi mal, wie man das macht.« Karl, ein großer, breitschultriger Maurer, kletterte behände he runter. Stefan wechselte den Platz mit ihm. Karl nahm zwei Steine auf einmal und warf sie im Paket Ötte zu. Sie hatten die Ziegel, die Stefan gesäubert hatte, fast alle nach oben befördert, als Notte boom mit dem Hammer gegen einen Eisenträger schlug, der an einem Drahtseil frei hin und her schwang. Es klang wie ein Glo ckenton. Sofort ließen alle aus der Kolonne die Steine, die sie gera de in Händen hielten, zu Boden fallen. Nur Stefan stand da mit seinem Doppelpaket. »Unser Steffi hat es noch nicht kapiert«, rief Karl und lachte. »Lass schon fallen«, sagte Gustav zu ihm. »Mittagspause.«
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Der Name Steffi gefiel wohl allen gut. Stefan ärgerte sich darü ber. Von dieser Zeit an kam er am Bau nicht mehr von »Steffi« los. Nur Gustav rief ihn bei seinem richtigen Namen. Den ganzen Tag musste Stefan Steine säubern und auch am nächsten Tag und in der folgenden Woche Tag für Tag. Den alten Mörtel hätte er inzwischen im Schlaf abpicken können. Warum haben sie mich nur gedrängt Maurer zu werden?, fragte er sich. Vielleicht hätte ich es ja doch geschafft, etwas anderes zu finden. Aber was? Er träumte sich in andere Welten. Nach Kolumbien meist. Stefans Haut an den Fingerspitzen war brüchig geworden wie altes Pergament. Endlich traute er sich Notteboom zu fragen: »Meister, ich dachte, ich wäre Maurerlehrling. Wann darf ich end lich mauern?« Notteboom schaute ihn eine Weile nachdenklich an und ant wortete: »Eigentlich solltest du morgen ran. Aber wer hier me ckert, der hat noch nicht kapiert, wer auf dem Bau das Sagen hat. Also bleibst du erst mal da unten am Hafen.« »Mensch, Polier«, sagte Gustav. »Das können Sie doch nicht ma chen.« »Misch dich gefälligst nicht ein«, knurrte Notteboom. Am Montag zeigte sich der Himmel grau in grau. Es fiel ein leichter Regen. Trotzdem gingen alle an ihren Platz. Gustav kam zu Stefan. »Zeig mal deine Patschehändchen.« Er sah die wunden Finger spitzen. »Hat dir denn niemand gesagt, wie man die Haut schützt?« Stefan schüttelte den Kopf.
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»Gib her die Fingerchen.« Gustav zog aus der Hosentasche eine Rolle schwarzes Isolierband und umwickelte Stefans obere Fin gerglieder mit einer Art Verband. »Und bring dir von zu Hause ein Beil mit. Damit kriegst du den alten Mist leichter von den Steinen.« »Warum bist du der Einzige, Gustav, der mich mit meinem rich tigen Namen anspricht?« »Ich war im Krieg drei Jahre in einem Konzentrationslager. Da haben sie uns als Erstes die Namen genommen und uns eine Nummer gegeben. Nimm den Menschen die Namen und sie ver lieren etwas von ihrem Menschsein.« »Warum, Gustav, haben sie dich …« Gustav winkte ab und ging davon. Nach einer weiteren Woche sagte Notteboom endlich: »Ab Mon tag kannst du aufs Gerüst, Steffi. Adalbert pickt dann Steine.« *** Der Frühling war endgültig ins Land gezogen. Die ersten Busch windröschen blühten in den Trümmern und versuchten gemein sam mit dem Gelb der Huflattichblüten das Grauen zu vertu schen. Manche Brandruinen waren notdürftig bewohnbar ge macht worden. Einige wenige Neubauten wuchsen bereits em por. Frau Reitzak hatte es in der vergangenen Woche fertig ge bracht, fünf Eier beiseite zu legen und zum Sonntagsfrühstück für jeden eines zu kochen. »Fast wie in alten Tagen«, sagte Paul und lehnte sich behaglich zurück.
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»Wenn wirklich noch einmal gute Zeiten kommen sollten, dann würde ich mir ein festliches Mittagessen wünschen.« Er begann zu schwärmen von dem Sonntagsessen bei seinen Eltern in Ost preußen. »Ich sag es euch und es stimmt wirklich, manchmal hat mein Vater ein Wildschwein ins Haus gebracht. Weiß der Ku ckuck, woher er es hatte.« »Gewildert vielleicht?«, vermutete Stefan. »Glaube ich nicht. Er besaß gar kein Gewehr. Aber er kannte na türlich Männer im Dorf, die ganz gern mit der Büchse in den Wald gingen. Jedenfalls gab es dann bei uns einen gebratenen Schwei nerücken, die Schwarte kross und das Fleisch zartrosa. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, wenn ich nur daran denke.« »Hast du keine anderen Wünsche als die, die sich um Essen und Trinken drehen?«, fragte Franziska. Paul antwortete nicht. »Ich wünsche mir«, sagte sie, »dass ich Stoffe kaufen kann, so viele und so schöne, wie ich will. Und dann nähe ich wie früher Kleider für Frau Baron, für Frau Kottka und für all die Leute, die zeigen wollen, dass sie genug Geld haben.« »Ja«, bestätigte Tilla. »Kleider nähen, das konntest du. Erinnerst du dich noch an das grüne Kleid, das du mir gemacht hat? Alle in der Straße haben gestaunt, wie aus der Tilla Reitzak auf einmal ei ne elegante Frau geworden war. Ich bin eitel wie ein Pfau am Arm von Martin dreimal die Blütentalstraße auf und ab spaziert.« »Na, erzähl schon, Mama, wie wir damals genau mit diesem Kleid neue Kunden geworben haben«, ermunterte Franziska sie. Frau Reitzak wurde verlegen, aber dann begann sie doch. »Na ja, ich konnte damals noch ab und zu ziemlich verrückt sein. Wenn Franziska längere Zeit keine Kundinnen hatte, dann bin ich
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bei schönem Wetter sonntags gegen sechs Uhr am Nachmittag über die Kaiserstraße stolziert. Um diese Zeit spazierten dort viele Leute an den Schaufenstern vorbei, auch solche, die vor allem selbst gesehen werden wollten. Mein Sohn Leo, der mich über haupt erst auf die Idee gebracht hatte, ging auf der anderen Stra ßenseite und kam mir entgegen. Dein Vater, Stefan, konnte gut schauspielern. Er blieb auf einmal stehen und starrte wie gebannt auf mein Kleid. ›Hallo, Frau Reitzak‹, rief er zu mir hinüber. ›Was haben Sie für ein tolles Kleid an?‹ Wir blieben dann stehen und ich tat, als ob mir die Aufmerksamkeit der Leute gar nicht recht sei. Er fuhr sehr laut fort: ›Das haben Sie bestimmt bei Textil Feldhaus gekauft, wie?‹ ›Nein, nein‹, hab ich dann verschämt, aber doch so laut gesagt, dass man es im ganzen Umkreis verstehen konnte. ›Das hat Fran ziska Bienmann in ihrem Atelier für mich genäht.‹ ›Die Damenschneiderin in der Blütentalstraße?‹, schrie er über rascht. ›Genau‹, antwortete ich und ging langsam weiter. Leo setzte dann noch eins drauf. ›Hat Frau Bienmann nicht auch für Frau Kottka neulich so ein Festkleid angefertigt?‹ Ich habe dann nicht mehr antworten können, weil ich sonst in Lachen ausgebrochen wäre. Die Leute, die uns kannten und wussten, dass Leo mein Sohn war, hatten ihren Spaß an der kostenlosen Aufführung. Und ihr werdet es kaum glauben: Es kamen in der darauf folgenden Wo che tatsächlich manchmal Anfragen aus der vornehmen Gesell schaft, ob Franziska Bienmann nicht auch für sie …«
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Frau Reitzak konnte nicht weitersprechen vor Lachen, das schließlich in einem Hustenanfall endete. »Ja«, versicherte Franziska, »genau so war es damals. Und das wünsche ich mir, dass wir solche Zeiten noch einmal erleben dür fen und es endlich aufhört, dass wir alte Uniformmäntel wenden und aus grauen Wolldecken Jacken machen.« »Aber vor zwei Wochen hast du doch etwas ganz Schönes ge zaubert, Franziska. Erzähl doch mal«, sagte Anna. »Ja, für Erika Böggeler hab ich ein rotes Kleid mit weißer Paspe lierung genäht. Ihre Mutter Berta Böggeler hatte mir eine riesige, fast neue Hakenkreuzfahne gebracht. ›Die können wir wohl doch nicht mehr brauchen‹, hat sie gesagt. ›Unsere Erika hat da einen netten Mann kennen gelernt. Mit dem will sie zum Tanz, hat aber kein schickes Kleid.‹ ›Das lässt sich ändern‹, hab ich geantwortet. ›Ich werde ihr ein Kleid machen, danach werden sich viele Männer umdrehen, das verspreche ich Ihnen, Frau Böggeler.‹« »Und hat es geklappt?«, fragte Anna. »Und wie. Der Kerl hat Erika einen Heiratsantrag gemacht.« »Und du, Anna, was wünschst du dir?«, fragte Stefan. »Viel leicht versuchst du es auch mal mit einem roten Kleid? Ich meine, wenn das so toll auf die Männer wirkt?« »Hört euch unseren Stefan an!« Paul lachte. »Wird sich allmäh lich wohl selbst nach hübschen Kleidern und dem, was drin steckt, umschauen.« Anna hatte nicht den Mut, zu sagen, dass sie sich nichts sehnli cher wünschte, als irgendeine Nachricht von Grigori zu bekom men. Eigentlich nicht irgendeine, sondern eine ganz bestimmte.
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Sie sagte stattdessen: »Ich würde gern meinen Bruder in Kolum bien besuchen können.« »Wenn ich im Reisebüro angenommen worden wäre, Anna, ich hätte dir ein Ticket besorgt.« »Und du selbst, Stefan? Stell dir vor, du begegnest einer Fee und die erfüllt dir eine Bitte, welche auch immer du äußerst. Was wür dest du dir wünschen?« Stefan zögerte einen Moment. »Ich würde ihr sagen: ›Bitte, bitte, liebe Fee, hilf mir, ich möchte Förster …‹« Er unterbrach sich ab rupt. »Alles Unsinn«, sagte er. »Ich bin froh, dass ihr überhaupt eine Lehrstelle für mich gefunden habt.« Er wunderte sich über sich selbst, dass ihm nicht als Erstes der Förster durch den Kopf geschossen war, sondern der Name Antonia. Oft war ihm das Mädchen in den letzten Wochen in den Sinn gekommen. Er hatte Gelegenheiten gesucht, zu Steiners in die Wohnung zu gehen. Da hatte er dann nach Peter gefragt, aber in Wirklichkeit stets gehofft Antonia zu treffen. Frau Steiner hatte das wohl bemerkt und es gefiel ihr gar nicht. Ein Maurer! Das schien ihr nicht das Richtige für ihre Tochter. »Was ist mit dir, Mama?«, fragte Franziska leise. »Sag uns dei nen Herzenswunsch.« »Wer hätte wohl keine Wünsche? Ich würde gern die Treppe raufspringen können wie früher. Immer zwei Stufen auf einmal und dabei nicht außer Atem kommen. Ich möchte meinen Husten wegwünschen und meine Magenschmerzen. Ich würde, wenn ich könnte, auch einiges ungeschehen machen wollen, was ich in mei nem Leben angestellt habe.« »Du, Mama? Was hast du denn schon Schlimmes angestellt?«
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»Ach, Franziska. Seit über fünfundzwanzig Jahren habe ich kein Wort mehr mit meiner Schwester Hilde gewechselt und bin auf die andere Straßenseite gegangen, wenn sie mir entgegenkom men ist. Der Streit, der ewige Streit.« Sie schwieg eine Weile, sagte aber dann: »Aber ich wäre glück lich, wenn ich noch einmal am frühen Morgen im Feld eine Lerche singen hören könnte.« Alle schauten verblüfft auf Frau Reitzak, und als die das be merkte, versuchte sie ihren Wunsch verständlich zu machen. »Früher, als ich noch ein junges Mädchen war und von unserem Haus in Alsum jeden Morgen hier nach Beeck zum Bauern Bon gers lief, bei dem ich als Jungmagd untergekommen war, nahm ich den Weg durch die Felder. Wenn es Frühjahr wurde, sah ich die Lerchen hoch in die Luft schwirren und hörte ihr übermütiges Tirilieren. Ich dachte mir dann immer, sie wollten es wieder und wieder versuchen bis in den Himmel hineinzufliegen und die En gelchöre mit ihren hellen Stimmen zu unterstützen. Ich habe ih nen oft meine Sorgen und Bitten mit auf den Weg gegeben, weil ich hoffte, die eine oder andere könnte es doch irgendwann schaf fen und sich in Gottes Schoß niederlassen. Aber jetzt weiß ich es besser. Dorthin kommt man vielleicht ganz zum Schluss auf sanf teren Flügeln.« Stefan hatte ihr aufmerksam zugehört. »Oma, warum sollen wir nicht am nächsten Sonntag, wenn es ein schöner Tag wird, früh aufstehen und auf Alsum zuwandern? Eigentlich müssten die Lerchen doch um diese Jahreszeit schon singen.« Sie blickte ihn an. »Ach, Stefan, ich krieg ja bereits kaum noch Luft, wenn ich mich mal aufraffe und um die Ecke zu Collins La
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den gehe. Der alte Collin stellt mir jedes Mal einen Stuhl vor die Theke und ich bin froh, dass ich mich da setzen kann. Bis Alsum, das ist für mich genauso weit wie für Anna der Weg zu ihrem Bru der nach Kolumbien.« Sie versuchten noch eine Weile im Reich der Wünsche zu ver harren, aber als Frau Reitzak sagte: »Jetzt muss ich aber an meine Töpfe, sonst gibt es heute nichts zu Mittag«, da zerfloss das Zau berland und die Wunschfee glitt endgültig davon. *** Am Donnerstag in der Gruppenstunde erzählte Stefan, was seine Oma für einen merkwürdigen Wunsch geäußert hatte. Die meis ten lachten über die spinnerte Frau Reitzak, aber als Kaplan Roth sagte, es müsse doch wunderbar sein, wenn Stefan sich selbst ei nen Zaubermantel umlege und möglich zu machen versuche, was eigentlich unmöglich erschien, da wurden sie nachdenklich. Heinrich Meister sagte: »Bei uns im Hof steht ein kleiner Leiter wagen, vier Räder und eine Deichsel. Den haben die Lund kewskis aus Ostpreußen mitgebracht. Frau Lundkewski behaup tet, als sie mit ihren drei Kindern im Winter 1944 vor den Russen fliehen musste, da hat sie den Handkarren mit den wichtigsten Sachen voll geladen und ist erst aufgebrochen, als die Artillerie schon in das Dorf hineingeschossen hat. Die Kinder konnte sie heil durchbringen, aber von den Sachen hat sie Stück um Stück in den Straßengraben werfen müssen, weil ihr auf dem weiten Weg die Last zu schwer geworden sei. Sie musste immer wieder ihre Kinder auf den Wagen setzen, wenn sie nicht mehr weiterkonn
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ten. Da sei nicht mehr viel Platz für totes Zeug geblieben. Erst nach neunundzwanzig Tagen habe sie ein Soldat auf einem Last wagen mitgenommen. Den Handkarren habe er nicht aufladen wollen, aber sie habe darauf bestanden und gesagt: ›Sie werden mich irgendwo absetzen. Und was mache ich dann?‹ Der Soldat hat den Kopf geschüttelt und ›dämliches Weibs stück‹ gemurmelt. Aber er hatte den Karren schließlich doch noch auf die Ladefläche gehoben. Und wie durch ein Wunder sind sie mit ihm bis nach Dortmund gelangt. Die letzte Nachricht ihres Mannes hatte Frau Lundkewski vor Beginn ihrer Flucht aus einem Lazarett am anderen Ende des Ruhrgebiets erreicht. Deshalb ist sie dann nach Duisburg gezo gen. Von ihrem Mann hat sie übrigens trotz ihrer Anfrage beim Roten Kreuz immer noch nichts gehört. In Vestmanns Haus hat sie ein Zimmer zugewiesen bekommen. Frau Lundkewski hilft jetzt jeden Morgen ab drei Uhr in der Backstube. Und der Karren, ja, der steht immer noch im Hof.« »Meinst du, ich könnte ihn ausleihen, Heinrich?«, fragte Stefan. »Ich weiß es nicht. Sie wird immer fuchsteufelswild, wenn wir mal damit herumfahren wollen. Er ist wohl mehr für sie als ein kleiner Leiterwagen mit vier Rädern und einer Deichsel.« »Ich rede mit ihr«, versprach Kaplan Roth. »Vielleicht hilft sie dir, Stefan, Wünsche möglich zu machen.« Die Flüchtlingsfrau zögerte zwar ihren Wagen herzugeben, aber als Kaplan Roth ihr die Geschichte vorgetragen hatte, stimm te sie mit einer Einschränkung schließlich zu: »Am Sonntagabend muss er wieder zurück sein.« »Der Stefan Reitzak ist zuverlässig«, versicherte der Kaplan.
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Stefan durfte den Karren am Samstag holen. Frau Cremmes er laubte, dass er ihn für die eine Nacht im Schuppen unterstellte. Stefan weihte Anna, Paul und Franziska in seinen Plan ein. Sie waren alle ziemlich aufgeregt, als der Samstagabend kam und sie Frau Reitzak vortragen mussten, was sie vorhatten. Franziska begann damit ganz listig. »Was meinst du, Mama, ob dir das grüne Kleid noch passt?« Frau Reitzak strich sich mit den Händen an ihren Hüften herun ter. »Nur noch Haut und Knochen«, sagte sie. »Das Grüne ist mir eher zu weit. Aber ob ich es je noch einmal anziehe?« »Doch, Mama, morgen früh um fünf Uhr.« Dann erzählte sie ihr, was Stefan ausgebrütet hatte. Erst weiger te Frau Reitzak sich und sagte: »Ich werde mich doch nicht zum Gespött der ganzen Straße machen lassen. Die Nachbarn werden noch vierzehn Tage lang lachen, wenn sie mich in dieser Kutsche sehen.« »Mama, um fünf Uhr am Sonntag liegt die Blütentalstraße noch in tiefem Schlaf. Und außerdem, mir hast du immer gepredigt, ich soll nicht darauf hören, was die Leute reden.« Aber Frau Reitzak stimmte erst zu, als Stefan sich neben sie setz te und ihre Hand nahm. »Oma«, sagte er, »der Kaplan hat gesagt, wir sollten nicht auf Wunder von oben warten, sondern selbst da mit beginnen, sie möglich zu machen.« »Dieser katholische Kaplan hat das gesagt?« Stefan nickte. »Und da soll eine Evangelische kneifen, Mutter?«, neckte Paul sie. »Also gut«, willigte sie ein. »Morgen früh um fünf.«
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Als der Wecker rasselte und die anderen aus den Federn krochen, stand Frau Reitzak schon fertig in ihrem grünen Kleid. Sie hatte das Feuer im Herd angezündet und das Kaffeewasser kochte bereits. Es wurde ein kurzes Frühstück im Stehen. »Es wird schon hell«, drängte Frau Reitzak. »Wir dürfen die Stunde der Lerche nicht verpassen.« Franziska hatte den Karren weich mit Kissen und zwei grauen Militärdecken ausgepolstert. Paul hob Frau Reitzak in den Wa gen. »Wiegst fast nichts, Mutter.« Stefan und Anna griffen nach der Deichsel und los ging es. Sie bogen in die Alsumer Straße ein und ließen die Häuser von Beeck hinter sich. »Wie weit sich die Hütte in das Bauernland hineingefressen hat«, wunderte sich Frau Reitzak. Aber dann breiteten sich auf der linken Straßenseite zum Rhein hin die Felder aus. Der Früh ling hatte auf den Wiesen einen Hauch von frischem Grün sprie ßen lassen und die Wintersaaten waren schon eine Handbreit hochgeschossen. »An diesem Weg habe ich oft die Lerchen singen hören. Lasst uns hier auf sie warten.« Sie wollte aus dem Wagen heraussteigen. Paul half ihr. »Ich will sie aufrecht erwarten«, sagte Frau Reitzak feierlich. Fürsorglich legte ihr Franziska eine Decke um die Schultern. »Kühl heute Morgen«, sagte sie. Sie standen eng beisammen und schauten ins Feld. Es dauerte keine zehn Minuten, da hob Anna ihren Arm. »Da, da links neben der Kopfweide.«
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Erst als die Lerche ihre Stimme erhob und sich hoch in die Luft schwang, sahen auch die anderen sie. Sie schwirrte höher und hö her und war schließlich nur noch ein schwarzer Punkt im Blau. Dann verhallte ihre Stimme und sie segelte wieder der Erde zu. Sie hörten eine zweite und in der Ferne noch eine weitere. Ganz nah vor ihnen flatterte es auf. Frau Reitzak stand wie erstarrt. Wohl eine Viertelstunde lausch ten sie dem Morgenlob der Vögel. »Mir wird kalt«, sagte Frau Reitzak schließlich. Paul hob sie in den Karren. Sie sprachen auf dem Weg nach Haus nicht mehr. Stefan nahm sich vor von diesem Morgenerlebnis in der Gruppe zu berichten. Vielleicht könnte er die anderen dazu bewegen, am nächsten Sonntag gemeinsam zum Lerchenfeld zu gehen. In der Blütentalstraße waren die meisten Familien inzwischen aufgestanden. Viele schauten aus denn Fenster, als der Handkar ren mit Frau Reitzak vorbeigezogen wurde. »Die Reitzak sieht aus, als ob ein Wunder sie gestreift hätte«, sagte Frau Böggeler. »Wer die Lerche nicht hört …«, flüsterte Frau Reitzak. *** Eines Abends kam Anna erst gegen neun Uhr aus dem Betrieb. Vor dem Tor wartete Komann auf sie. Nicht weit von ihm lehnten zwei Männer mit ihrem Rücken an der Mauer. Komanns Wach hunde, dachte Anna und schritt schneller aus. Komann trat ihr in den Weg. Als sie an ihm vorbeiwollte, zischte er: »Bleib stehen, verdammt noch mal! Ich muss mit dir reden.«
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»Was wollen Sie von mir, Komann?« »Sprich mit Holzbauer. Ich will wieder in den Betrieb. Ich will hier arbeiten.« »Haben Sie früher etwa hier wirklich gearbeitet?«, fragte sie spitz. »Noch ist nicht aller Tage Abend mit Deutschland. Ich werde ei ne vaterländische Betriebszelle aufbauen. Die Firma Holzbauer war immer schon eine national gesinnte Fabrik. Eine neue Partei rechts von denen, die jetzt aus dem Boden schießen, muss her. Und ich werde der Sprecher sein.« »Das glauben Sie doch wohl selber nicht, Komann, dass ausge rechnet Sie gewählt werden.« »Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Ich habe hier mehr Freunde, als du ahnst. Also, leg ein Wort bei Holzbauer für mich ein. Das wird auch für dich gut sein. Ich könnte das mit den Auf zeichnungen vergessen.« »Das verlangen Sie von mir? Ich habe mit eigenen Augen gese hen, wie Sie in der Hütte tote Russen in die Kokillen mit der glü henden Schlacke geworfen haben.« »Musste sein. Wir wollten der Bevölkerung den scheußlichen Anblick ersparen, dass jeden Tag Leichen ins Lager geschleppt wurden. Das war kein schönes Bild. Einige zarte Seelchen began nen schon zu meckern. Und außerdem, nicht jede dieser Kreatu ren, die wir wegschafften, war schon tot. Wer von denen so schlapp war, dass er nicht mehr allein laufen konnte …« Er lachte auf. »Aber dafür gibt es keine Zeugen. Und wenn du es ausplau dern willst – ich streite es ab und belange dich wegen übler Nach rede.«
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»Und Sie wollen Fürsprache von mir? Lieber beiße ich mir die Zunge ab, ehe ich das mache.« »Nun mal schön ruhig, Mädchen. Hast du denn vergessen, dass du selbst Dreck am Stecken hast? Und zwar Dreck, der heute noch stinkt?« »Ich bin von dem Ausschuss nicht als belastet eingestuft wor den.« »Klar. Aber du hast bestimmt verschwiegen, dass diese gefähr lichen Zünder deine Erfindung gewesen sind. Oder hat der Aus schuss etwa gewusst, was im November 42 und dann auch 43 in Xanten passiert ist?« »Sie meinen, die Explosionen in der Muna?« »Gut, dass du dich erinnerst. Vor dem Ausschuss hast du ver heimlichen können, dass dein Russenbubi Retschkow, der Gefan gene 245, ein Saboteur gewesen ist. Du und er trugen daran die Schuld, dass so viele unschuldige Landsleute umgekommen sind. Er hat an den Dingern herumgebastelt, für die du verantwortlich warst. Erst auf der Hütte an den Bomben, später, als du ihn sogar gegen meinen Willen in den empfindlichen Bereich der Zünder produktion bei Holzbauer eingeschleust hattest.« »Komann, Sie sind nicht ganz gescheit. Grigori hatte nie einen Zugang zu den Zündern.« »Auch nicht durch dich? Ihr habt doch so oft zusammenge hockt, dass es allen im Betrieb aufgefallen ist.« »Grigori hätte so etwas nie getan.« »Rede nur, Mädchen. Dir werden die Augen noch aufgehen. Für das, was ich gesagt habe, gibt es Zeugen.« Er zeigte auf die beiden Männer an der Mauer.
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»Notfalls werden sie die Finger dafür heben und beschwören, dass du die Hand über diesen Retschkow gehalten hast, obwohl dir bekannt war, welche scheußliche Rolle er bei den Sabotagen in Xanten gespielt hat.« »Gehen Sie mir aus dem Weg, Komann. Ich schreie sonst nach dem Pförtner.« Er lächelte boshaft und trat zur Seite. »Viel Zeit hast du nicht mehr. Wenn ich nicht bald was von Holzbauer gehört habe … na, du wirst schon sehen.« Anna rannte zur Haltestelle der Straßenbahn. Dunkle Schweiß flecken reichten ihr bis tief unter die Achselhöhlen. Die Plätze in der Bahn waren besetzt. Ein Mann stand auf und sagte: »Setzen Sie sich, junge Frau. Man sieht es Ihnen an, es ist Ihnen schlecht.« *** Frau Reitzak stellte Anna das Abendessen auf den Tisch. Zwei Scheiben Brot mit Margarine bestrichen und ein Glas Rübenkraut. »Na, was sagst du dazu?«, fragte sie und schob das Glas mit dem süßen Aufstrich näher zu ihr heran. »Gestern haben wir Zu ckerrüben sauber gebürstet, geschnitzelt, ausgepresst und den Rübensaft seit heute Morgen früh im Waschkessel gekocht. Dich te Schwaden sind aufgestiegen und das Wasser lief an den Fens terscheiben herab. Erst gegen Abend wurde die Brühe allmählich dickflüssig und herrlich dunkelbraun. Rübenkraut eben. Ist noch nicht ganz ausgekühlt. Wir haben alle schon davon probiert. Ste fan hat gesagt, wenn er nur an Rübenkraut denkt, läuft ihm das Wasser im Mund zusammen.«
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Anna blieb einsilbig. Frau Reitzak war enttäuscht, dass Anna das Rübenkraut nicht lobte. Aber Anna war mit ihren Gedanken weit weg. Schließlich kamen Franziska und Paul herein. »Wir haben noch einen Abendspaziergang gemacht«, sagte Franziska. »Ist ja herrliches Wetter heute.« Paul wollte im Schlafzimmer verschwinden. »Ich gehe ins Bett. Morgen muss ich schon um halb fünf wieder raus. Wenn der We cker rasselt, stehe ich auf und komme schon allein zurecht.« »Denk dran, Paul«, mahnte Frau Reitzak. »Nur zwei Scheiben Brot. Kannst aber dick Rübenkraut drauf streichen.« »Ja, Mutter. Süßes auf der Zunge vergoldet den Tag.« Frau Reitzak öffnete die Tür zur guten Stube. »Ich bin hunde müde«, sagte sie und gähnte. »So viel Knochenarbeit für knapp vier Pfund Rübenkraut. Und Anna findet nicht mal ein Wort der Anerkennung für unser Werk.« Franziska setzte sich zu Anna an den Tisch. Sie spürte, dass ir gendetwas mit ihr nicht stimmte, aber sie schwieg. Aus der Stube hörte man Frau Reitzak anhaltend husten. »Ich brauche einen Rat, Franziska.« Stockend berichtete Anna, dass Komann sie bedroht hatte. »Was war denn damals in Xanten los, Anna?« »In einem hügeligen Waldgebiet vor der Stadt war ein großes Gelände mit einem hohen Zaun abgegrenzt worden. Verwal tungsgebäude, Werkstätten und Lagerbunker wurden innerhalb kurzer Zeit da oben aus dem Boden gestampft. Die Muna ent stand. Sogar einen eigenen Gleisanschluss gab es. Rohlinge von Fliegerbomben wurden von verschiedenen Rüstungswerken dort
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angefahren. Auch in einer Abteilung in der Hütte waren viele Dreher damit beschäftigt, im Akkord Bombenrohlinge herzustel len. Holzbauer lieferte die Zünder. Woher der Sprengstoff stammte, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde in der Hees, so heißt das bewaldete Gebiet, alles zusammengebaut, zeitweise zwi schengelagert und von dort aus meist bei Nacht und Nebel zu be stimmten Flugplätzen transportiert. Viele Menschen aus der Umgebung arbeiteten in der Muna. Sol daten der Luftwaffe und junge Burschen vom Reichsarbeitsdienst waren eingesetzt. Ein großer Betrieb also. Alles sollte höchst ge heim bleiben. Ja, und dann kam der 20. November 1942. Wenige Minuten vor zwölf Uhr mittags gab es im Zünderhaus eine gewal tige Explosion. Im ganzen Umland war die Erschütterung zu spü ren. In Xanten sprach es sich wie ein Lauffeuer herum, dass es viele Tote gegeben hatte. Dreiundvierzig Menschen, bis auf zwei Frauen nur Männer, wurden einige Tage später in einem riesigen Trauerzug durch die Stadt getragen und auf dem Friedhof bestat tet. Die Särge durften nicht mehr geöffnet werden. Meldungen in den Zeitungen und im Radio über das Unglück wurden verboten. In den Todesanzeigen sollte das Unglück nicht erwähnt werden. Ich hatte erst wenige Monate zuvor in der Hütte meine erste Stelle angetreten. Es wurde gemunkelt, das Material für die Bom ben, die wir von der Hütte nach Xanten geliefert hatten, sei nicht in Ordnung gewesen. Andere vermuteten, es könnten nur fehler hafte Zünder die Ursache für das Debakel gewesen sein. In der Muna sollte eine geheime Konferenz der Firmen stattfinden, die an den Lieferungen beteiligt waren. Ich wurde mit einem zweiten Ingenieur dort hingeschickt.
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Wir nahmen an, dass unter den Arbeitskräften der Muna genau wie bei uns auch russische Kriegsgefangene eingesetzt worden seien. Also fanden wir es richtig, einen Dolmetscher mit nach Xanten zu nehmen. Damals lernte ich Retschkow kennen. Er war ein Ukrainer aus Kiew und hatte dort, bevor er 1941 Soldat gewor den war, als Deutschlehrer gearbeitet. Wegen dieses Gefangenen musste ein bewaffneter Wachmann vom Werkschutz mit nach Xanten. Komann eben. Als wir mit dem Zug am Bahnhof in Xanten ankamen, blieben noch mehr als zwei Stunden Zeit bis zum Konferenzbeginn. Wir erkundigten uns nach dem Weg. ›Ungefähr eine halbe Stunde Fußweg‹, sagte der Bahnbeamte. ›Sie wären besser bereits in Bir ten ausgestiegen.‹ ›Warum hat man uns denn das nicht mitgeteilt?‹, maulte Ko mann. Meine Begleiter waren überzeugt, dass man in der Kleinstadt si cher für Lebensmittelmarken ein gutes Frühstück bekommen könne, und suchten nach einer Gaststätte. Das Hotel van Bebber wurde ihnen empfohlen. Ich wollte mir lieber den mächtigen Vik tordom ansehen. Mein Bruder Christian war mehrmals in Xanten gewesen und hatte ganz überschwänglich von der Pracht dieses Bauwerks gesprochen. ›Wir werden uns ja spätestens in der Muna wieder treffen‹, sag te ich. Ich sah zum ersten Mal das Innere einer solchen Kirche. Über wältigt blieb ich eine ganze Weile im Seitenschiff stehen. Ein alter Priester erhob sich aus einer Betbank und sprach mich leise an. ›Sind Sie fremd hier?‹
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Ich nickte. Er reichte mir die Hand und stellte sich vor. ›Ich bin der Propst. Es macht mir Freude, Besucher hin und wieder durch den Dom zu führen. Haben Sie Lust, mit meinen Augen zu sehen?‹ ›Gern‹, antwortete ich ziemlich schüchtern. Ich wurde zunächst zu einer Nische in der Seitenwand geleitet. Er zeigte auf eine sitzende Frauenfigur, aus dunklem Holz ge schnitzt, die ein Buch in ihrem Schoß trug und eine Birne in der Hand hielt. Es war eine wundervoll in sich ruhende Plastik. ›Ist Ihnen Barlach bekannt?‹ ›Nein.‹ Er zeigte keinen Anflug von Hochnäsigkeit. ›Barlach ist ein gro ßer Künstler unserer Tage. Leider steht er bei den Mächtigen heu te nicht hoch im Kurs. Aber ich bilde mir immer ein, Barlach muss diese Mutter Anna gesehen haben, bevor er seine Werke schuf. Sagt Ihnen der Name Anna etwas?‹ Zum Glück erinnerte ich mich und antwortete: ›Ich heiße Anna. Sie ist die Mutter der Maria gewesen.‹ ›Ja, das ist sie‹, bestätigte er. Er wies auf das Buch. ›Sie soll der Muttergottes einer Legende nach das Lesen beigebracht haben.‹ ›Und die Birne in ihrer Hand?‹ ›Anna hat sich wahrscheinlich eine große Schar von Kindern ge wünscht. Aber es ist bei der einen Tochter, bei Maria, geblieben. Haben Sie auch Kinder?‹ Ich glaube, ich bin rot geworden. Er war so direkt. ›Ich bin nicht verheiratet.‹ Er führte mich zu dem einen oder anderen der Schnitzaltäre im Dom und wies mich auf Kostbarkeiten hin, die ich allein wohl
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übersehen hätte. Wir stiegen Stufen abwärts in eine schmale Krypta. Ein ungewöhnliches Silberkreuz hing über einer Art Glassarg. ›Kommen Sie nur näher‹, forderte er mich auf und wies auf zwei Skelette, die in dem Sarg lagen. ›Zwei römische Soldaten, zwei von vielleicht vielen, die vor sechzehnhundert Jahren niederge metzelt wurden, weil sie den mächtigen Kaiser in Rom nicht als Gott verehren wollten. Du sollst keine fremden Götter neben mir ha ben, zitierte er aus den Zehn Geboten. ›Unser Bischof Clemens August war hier, als die Krypta 1936 eingeweiht worden ist. Er hat gesagt, Nimm die Gerechtigkeit hinweg, was sind dann die Reiche anderes als große Räuberbanden? Eine alte Wahrheit, die zu allen Zeiten gilt.‹ ›Auch heute?‹, fragte ich. Er sagte nichts und schaute mich nur eine Weile an. Wir gingen aus der Krypta wieder ans Tageslicht. Wir hatten die Zeit vergessen. Als ich jedoch auf die Uhr schau te, zuckte ich zusammen. Es blieb nur noch eine halbe Stunde bis zum Konferenzbeginn. ›Ich muss um elf Uhr in der Muna sein‹, sagte ich. ›Das kann knapp werden. Aber ich hätte Ihnen ohnedies gera ten bald zu gehen.‹ Ich schaute ihn verdutzt an. Er lachte. ›Wer länger mit offenen Sinnen durch den Dom geht, den lässt er nicht mehr los. Der muss immer wieder hierher kommen.‹ ›Ich spüre es schon‹, bestätigte ich. Er trat mit mir durch das Südportal und begleitete mich bis zum Michaelstor, dem Ausgang zum Markt hin.
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›Hallo, Schmidtbur‹, sprach er einen Bauern an, der auf dem Bock seines Pferdewagens saß. ›Wo geht es hin?‹ ›Ich will nach Birten. Muss da eine neue Futterkiste beim Schrei ner abholen.‹ ›In Birten? Haben wir nicht genug Schreiner in Xanten?‹ ›Ach, Herr Propst, die sind nach der Explosion wieder mal alle in der Muna beschäftigt. Da können sie mehr Geld verdienen als an einer Kiste.‹ ›Sie können mir einen Gefallen tun, Schmidtbur. Schauen Sie sich die junge Frau hier an. Die hat’s eilig, zur Muna zu kommen. Könnten Sie …‹ ›Aber sicher, Herr Propst. Ich komme ja da vorbei. Soll zu mir auf den Bock steigen.‹ Ich winkte dem Propst dankbar zu. Der Wagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster. ›Haben Sie auch einen Namen?‹, fragte Schmidtbur. Ich entschuldigte mich. ›Ich war mit meinen Gedanken noch im Dom. Ich heiße Anna Fink.‹ Er schaute mich überrascht an. ›Anna Fink? Fink aus dem Pa derbornschen?‹ Ich war verwirrt. Woher kannte mich ein Bauer aus Xanten? ›Ja, die bin ich.‹ ›Haben Sie einen Bruder mit Namen Christian?‹ Ich nickte. ›Christian war in einer Sturmschargruppe. Er kam früher von Duisburg her häufiger nach Xanten. Mein Sohn war in der Xante ner Schar. Die jungen Leute hingen ja wie Kletten aneinander. Aber Christian ist schon ewig nicht mehr hier gewesen. Ist sicher
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wie die meisten Schärler sofort bei Kriegsausbruch eingezogen worden.‹ ›Nein. Er ist nach Kolumbien ausgewandert.‹ ›Ach ja, ich erinnere mich. Er hat mal von solchen Plänen er zählt.‹ ›Kolumbien ist am anderen Ende der Welt‹, sagte ich. ›Aber er lebt. Mein Sohn …‹ Er verstummte. Bis er sein Gespann anhielt und mit dem Peitschenstiel auf einige Gebäude am Wald rand wies, sprach er kein Wort mehr. ›Da‹, sagte er. ›Die Muna.‹ Ich stieg vom Wagen. ›Dieser verdammte Krieg!‹, rief er und trieb die Pferde an. Die Konferenz kam zu keinem eindeutigen Ergebnis. Es blieb unklar, wie das Unglück passieren konnte. Dennoch wurde geäu ßert, dass der Hersteller der Zündköpfe, also die Firma Holzbau er, genau überprüft werden sollte. Merkwürdigerweise war nie mand von Holzbauer zu der Konferenz erschienen. Der Dolmet scher wurde übrigens nicht benötigt. Major Friedel, der den Be trieb leitete, sagte, das fehle gerade noch, dass in einem so sensib len Bereich potenzielle Saboteure beschäftigt würden. In einer Pause trat ich vor das Kasino, in dem die Konferenz tagte. Ko mann und der Dolmetscher warteten dort. Komann saß auf einer Bank und der Gefangene stand etwa zwei Meter von ihm entfernt mit dem Rücken gegen die Ziegelmauer gelehnt. ›Frau Ingenieurin‹, redete Komann mich an, ›seit über vier Stun den sitze ich hier in der Kälte und passe auf, dass der Kanake nicht abhaut. Ich möchte endlich mal eine Zigarette rauchen.‹ ›Was hindert Sie? Haben Sie etwa nichts mehr zu rauchen? Ich kann Ihnen leider nichts anbieten. Ich bin Nichtraucherin.‹
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Er zog ein Päckchen Zigaretten Marke Overstolz aus der Tasche. ›In dem ganzen Gelände hier ist das Rauchen verboten. Schließ lich will ich nicht noch eine Explosion auslösen. Aber wenn Sie die Aufsicht für eine Viertelstunde übernehmen, gehe ich vor das Tor.‹ ›Kein Problem‹, sagte ich. ›Können Sie denn mit dem Ding hier notfalls umgehen?‹ Er hielt mir seinen Karabiner hin. Ich hatte noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt. Aber als mir in der Hütte der Auftrag erteilt wor den war, ich habe mich um die Einteilung der Gefangenen zu kümmern, hatte mich einer vom Werkschutz in den Umgang mit einer Pistole eingewiesen. Seitdem trug ich bei der Arbeit unter meiner Jacke meist eine Offizierspistole. Ich zeigte Komann die Waffe. »Alles klar«, sagte er, schulterte sein Gewehr und ging auf den Ausgang zu. Er verschwand in einer Wegbiegung. Bis dahin hatte ich den Gefangenen kaum beachtet. Jetzt fiel mir auf, dass seine erdbraune Uniform zwar dünn und am Kragen verschlissen war, dass aber kein Flecken zu sehen war und er an einigen Stellen sorgfältig Flicken aufgenäht hatte. ›Ist Ihnen nicht kalt?‹, sprach ich ihn an und setzte mich auf die Bank. Überrascht warf er mir einen kurzen Blick zu und antwortete beinahe ohne jeden Akzent: ›In meiner Heimat sind die Winter sehr viel kälter.‹ Ich rückte auf der Bank zur Seite und bot ihm einen Platz an. Zö gernd folgte er meiner Aufforderung, hockte sich an die äußerste Kante, weit von mir entfernt. Seine Augen hielt er gesenkt. Ich
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dachte an das, was man von den Russen hörte – verlaust, ver wanzt und stinkig – und war mit dem Abstand zwischen uns sehr einverstanden. Es war zwar zu Mittag ein gutes Essen im Kasino angeboten worden, aber mir fielen die belegten Brote ein, die ich als Reise proviant mitgenommen hatte. Auch eine Thermosflasche mit hei ßem Kaffee hatte ich eingepackt. Ich wickelte meine Brote aus und öffnete die Flasche. Da sah ich, wie Retschkow ganz kurz zu mir herüberblickte. Ihm hatte man wahrscheinlich nichts zu essen he rausgebracht. Ich reichte ihm das Paket mit den Broten. Er hob seine Augen nicht, nahm hastig eine Scheibe heraus und begann sie zu verschlingen. Ich legte das ganze Brotpäckchen ne ben ihn und stellte die Flasche dazu. ›Für mich?‹, fragte er leise. Ich nickte. Er aß nun langsamer und mit Bedacht und schaute immer wie der zu der Wegbiegung, in der Komann auf dem Rundweg ver schwunden war. Dann reichte er mir schließlich die Flasche und das sauber zusammengefaltete Butterbrotpapier herüber. Er sagte: ›Hunger ist eine Tantalusqual.‹ Ich war überrascht. Er kannte den Ausdruck ›Tantalusqual‹ aus der griechischen Sagenwelt. Doch was sollte ich erwidern? Plötzlich sprang er auf und stellte sich wieder an die Baracken wand. Er hatte Komann zwischen den kahlen Bäumen zurück kommen sehen. ›Na, Schwierigkeiten mit Nummer 245?‹, fragte Komann, der sich wieder auf die Bank setzte. Ich schaute ihn erstaunt an und sagte: ›Was für Schwierigkeiten?‹
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Er deutete auf Retschkow. ›Hinterhältige Schurken. Trauen Sie denen niemals über den Weg.‹ ›Sie kennen den Dolmetscher offenbar näher‹, sagte ich. ›Kennen? Wer kennt diese Kreaturen schon persönlich? Die sind alle gleich.‹ Er rief, ohne sich dem Dolmetscher zuzuwenden: ›Gefangener Nummer 245!‹ Retschkow stellte sich aufrecht, legte die Hände an die Hosen naht und starrte ausdruckslos geradeaus. »Zu Befehl, Herr Wachtmeister.« ›Wie alt?‹ ›Neunundzwanzig Jahre, Herr Wachtmeister.‹ ›Verheiratet?‹ ›Nein, Herr Wachtmeister.‹ ›Wo hast du unsere Sprache gelernt?‹ ›Habe Germanistik in Kiew studiert, Herr Wachtmeister.‹ Komann wendete sich mir zu. ›Sie brauchen Spione, die Russen. Deshalb.‹ Die Barackentür wurde geöffnet und der Ingenieur, der mit uns gekommen war, sagte: ›Es geht weiter. Kommen Sie herein.‹ Das Abschlussgespräch zog sich in die Länge. Bei der Verab schiedung zog mich der Oberstabsarzt Dr. Stock beiseite. Er war der zuständige Mediziner für die Munaleute. Er nahm seine Brille ab, drehte sie in der Hand und sagte leise: ›Gehört der russische Kriegsgefangene da draußen zu Ihnen?‹ »Ja, wir dachten …« Er unterbrach mich. ›Wenn ihr den weiterhungern lasst, wird er nicht mehr lange leben.‹
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›Wieso wir?‹, widersprach ich. ›Die Gefangenen werden im La ger verpflegt.‹ Er verzog seine wulstigen Lippen zu einem spöttischen Lä cheln. ›Wenn Sie meinen‹, sagte er und ging davon. Wir wurden mit einer Kutsche nach Birten zum Bahnhof ge bracht. Der Ingenieur und Komann saßen im Fond. Ich war neben den Kutscher auf den Bock geklettert. Der Ingenieur wäre sicher damit einverstanden gewesen, wenn auch Grigori Retschkow zu uns gestiegen wäre. Aber Komann sagte: ›Wir werden uns doch nicht neben eine solche Kreatur setzen. Meine beiden Söhne sind vor Smolensk gefallen. Soll der Iwan doch laufen.‹ ›Und wenn er nicht nachkommen kann?‹, fragte der Kutscher. Komann lachte und antwortete: ›Wäre nicht der Erste, der auf der Flucht erschossen wird.‹ Er klopfte mit der flachen Hand auf den Kolben seines Karabi ners, den er sich quer über die Knie gelegt hatte. Von seinem Platz aus konnte er Retschkow im Auge behalten. Der Kutscher schüt telte den Kopf und trieb die Pferde nicht an. ›Können die Gäule nicht schneller?‹, rief Komann nach vorn. Der Kutscher kümmerte sich nicht darum. Von dem Tag an forderte ich, wenn es nötig war, immer wieder Retschkow als Dolmetscher an. Und dann auch, wenn es eigent lich nicht nötig war. Ich versorgte ihn regelmäßig mit Brot. Meist steckte er es in seine Tasche und nahm es mit. Nach und nach erfuhr ich, was sich im Lager abspielte. Ich woll te nicht glauben, was er mir von den rüden Prügeleien dort an deutete. Da streifte er seine Jacke ab und ich sah die aufgeplatzten Striemen auf seinem Rücken. Ich besorgte Salbe und Medikamen
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te, die er ins Lager schmuggeln konnte. Damals fasste ich den Plan einer Werksküche für die Gefangenen. Erst stieß ich auf har sche Ablehnung. Die Betriebsleitung wunderte sich, woher ich die Zahlen derer hatte, die jede Woche ausfielen. In der Hütte war bereits jeder vierte Mann ein Zwangsarbeiter oder ein Kriegsge fangener. Darunter waren gut ausgebildete Fachleute, die Seite an Seite mit unseren Leuten an den Werkbänken standen. Trotzdem war es schwierig genug, die Produktion aufrechtzuerhalten, weil immer mehr Männer zu den Soldaten mussten. Es wurden zwar viele Frauen eingestellt, aber die konnten die Facharbeiter nur un zureichend ersetzen, weil ihnen die notwendige Ausbildung fehl te. Schließlich sah die Betriebsleitung ein, dass sie aus Überlegun gen, die die Produktion betrafen, nicht weiter tatenlos zusehen konnte, dass so viele Russen starben. Nicht aus Mitgefühl für die Gefangenen wurde die Küche genehmigt. Neben Kochfrauen wurden zwei Männer abgestellt, die die Nahrungsmittel herbeischaffen sollten. Wir hatten ja begehrtes Tauschmaterial anzubieten, Bleche, Eisenträger, Ersatzteile für Maschinen, kurz, vieles, was sonst kaum zu bekommen war. Die Maßnahme zeigte Erfolge. Die Zahl der Toten ging etwas zurück und die Produktion stabilisierte sich. Mit mir aber war ganz allmählich eine Verwandlung vorgegangen. Zuerst wurde mir klar, dass der schreckliche Begriff von den sowjetischen Un termenschen eine infame Propaganda war. Bislang hatte ich dem Staat eher gläubig gegenübergestanden. Der Staat hatte mir eine Ausbildung als Ingenieurin ermöglicht, obwohl ich aus einer Fa milie stammte, die diese Ausbildung nicht finanzieren konnte; obwohl ich einen Beruf haben wollte, der für Frauen unpassend
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schien. Und außerdem, ich glaubte vorher an tausend Dingen zu erkennen, dass es mit Hitler in Deutschland aufwärts ging.« »Und die Juden?«, fragte Franziska. »Durch Retschkow und die Bezeichnung ›Untermensch‹ für ihn brach der erste Mosaikstein aus meinem schönen braunen Welt bild heraus. Zunächst gelang es mir, mich immer noch in den Ge danken zu flüchten, dass man das als die Fehler der Basis begrei fen müsse und dass niemand in Berlin das wisse oder wolle. In der Pogromnacht des 9. November 1938 hatte ich absichtlich nicht auf die zerschlagenen Fensterscheiben in Duisburger Kaufhäu sern geschaut. Ich wollte nicht sehen, dass Synagogen brannten und Menschen deportiert wurden. Aber nun war durch Retsch kow ein Riss in den Wall gekommen, den ich seit Jahren um mich herumgebaut hatte. Jetzt konnte ich immer mehr Verbrechen als Verbrechen erkennen. Sollte ich aus der Partei austreten? Es war wohl eine tiefe Angst vor dem, was dann auf mich zukommen würde, die mich daran hinderte. Ich gestand mir jedoch nicht ein, dass es vor allem meine Feigheit war, die mich wider besseres Wissen in der Partei festhielt. Ich schob die Angst vor einem Bruch mit Hitler mit dem Gedanken beiseite, dass ich nach einer öffentlichen Distanzierung von der Partei für die Gefangenen und auch für Grigori Retschkow nichts mehr tun könne. Bei einem Angriff auf den Duisburger Norden wurde der Werk stättenbereich der Hütte, in dem ich eingesetzt war, von Bomben getroffen. Ich begegnete zufällig einen Tag später Dr. Holzbauer. Ich hatte ihn übrigens gewarnt, als ich von der Konferenz aus Xanten zurückgekommen war. Holzbauer hatte Beziehungen bis in die oberste Betriebsetage der Hütte hinein. Er holte mich nach
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dem Angriff in seinen Betrieb. Ich wusste, dass auch bei Holzbau er Russen eingesetzt wurden, und regte an Retschkow ebenfalls anzufordern. Er schaute mich merkwürdig an und fragte: ›Ihnen liegt sehr viel daran, nicht wahr?‹ Ich sprach davon, wie wichtig es gerade in seinem Betrieb sei, die Gefangenen in die Arbeit einweisen zu können, und das gelin ge besser, wenn man sich mit ihnen in ihrer Sprache verständigen könne. Er fragte nicht weiter und lächelte. Ich glaube, er sah frü her als ich selbst, dass mich mehr zu Grigori hinzog als nur die Produktionsverbesserung. Holzbauer schaffte es, Retschkow für seinen Betrieb zu reklamieren. Aber sein Einfluss war nicht groß genug, um Komanns Kommen zu verhindern. Komann wurde der Leiter des Werkschutzes bei Holzbauer.« »Und was war wirklich zwischen dir und Grigori?«, fragte Franziska. Anna sah Franziska lange stumm an. Vielleicht hätte sie sich ja ihre Angst von der Seele geredet. Aber da kam Stefan vom Tisch tennis zurück. Es war schon kurz nach zehn. Franziska zeigte auf die Wanduhr und tadelte ihn: »Wir hatten abgemacht, mein Lieber, dass du spätestens um zehn zu Hause zu sein hast.« Stefan knurrte etwas Unverständliches und sagte: »Ich geh ins Bett.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ach, Anna, auf dem Heimweg traf ich vor der Kneipe am Markt den Komann. Ich soll dir einen Gruß bestellen. Er habe ein interessantes Foto für dich. Du würdest es in den nächsten Tagen auf deinem Schreib tisch finden.«
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Anna zuckte zusammen. Sie ballte ihre Fäuste so fest zusam men, dass die Knöchel weiß wurden. »Wenn du willst, Anna, erzähl weiter«, bot ihr Franziska an. »Vielleicht ein andermal, Franziska, nicht jetzt.« *** Jeden Morgen suchte Anna vergebens nach einer Nachricht von Komann. Sie hatte sich vorgenommen auf keinen Fall mit Holz bauer über Komann zu sprechen, bevor sie nicht wusste, was auf dem Foto zu sehen war. An diesem Morgen überstürzten sich die Ereignisse. Schon als sie am Bürgermeisteramt auf die Straßenbahn wartete, gab es un ter den Leuten, die dort standen, nur ein Thema. In einer Metzge rei war in der Nacht etwas Schreckliches geschehen. Wiederholt hatten Diebe dort schon eingebrochen, immer genau in der Nacht, in der die frisch geschlachteten Tiere für den Verkauf am nächsten Tag in der Kühlkammer hingen. Der Metzger geriet in große Schwierigkeiten und es ging die Rede, er stecke wahrscheinlich mit den Dieben unter einer Decke. Wütend hatte er sich gewehrt. Als er den Antrag stellte, es müsse eben ein festes Eisengitter vor dem Schaufenster und vor dem Eingang angebracht werden, wurde ihm das genehmigt. Ein Schmied bekam von der Behörde den Auftrag. Aber der Metzger hatte sich immer noch nicht sicher gefühlt. Der Laden befand sich in einem Haus an der Hauptstra ße. Die oberen Geschosse waren abgebrannt und links und rechts des Hauses gab es nur Ruinen. Um sicherzugehen, entschloss sich der Metzgermeister nach den Schlachttagen eine Liege im Laden
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aufzuschlagen und dort zu übernachten. Und sein Misstrauen war berechtigt gewesen. Gegen drei Uhr war er von einem harten Klopfen geweckt wor den. Er fuhr auf, griff nach einem breitschneidigen Beil und fand bald heraus, dass versucht wurde ein Loch in die Giebelwand zu stemmen. Er verhielt sich still. Nach einer Weile polterte der erste Ziegel auf den Steinfußboden des Ladens. Einen Augenblick blieb es ruhig, aber dann wurde das Loch größer und größer. Schließlich hätte sich ein Mensch hindurchzwängen können. Der Metzger hob das Beil. Er war entschlossen dem Dieb die Hand abzuschlagen, wenn er durch das Loch greifen würde. Aber es war nicht die Hand, die sich zuerst zeigte. In Panik und mit al ler Wucht schlug der Metzger zu. Er hatte einen jungen Mann ent hauptet. Der Körper wurde zurückgezerrt. Der Metzger hörte Entsetzensschreie. Eilige Schritte entfernten sich. Er rief die Poli zei an. Kurz darauf erschienen zwei Beamte. Scheinbar ruhig und sachlich berichtete der Metzger, was geschehen war. Das blutbe sudelte Beil trug er immer noch in der Hand. Plötzlich sackte er zusammen und stürzte zu Boden. Einer der Polizisten lief hinaus und übergab sich. Der Metzger wurde ins Krankenhaus geschafft. Als Anna mit der Straßenbahn an der Metzgerei vorbeifuhr, sah sie viele Neugierige dort stehen und gaffen. Und genau an diesem Morgen fand sie einen Umschlag auf ihrem Schreibtisch. Sie riss ihn hastig auf und zog das Foto heraus. Sie und eine Männerge stalt waren darauf zu sehen. Eine Blitzlichtaufnahme. Sie war in jener Nacht fotografiert worden, als Grigori ihr geholfen hatte durch das Fenster ihres Büros hinauszuklettern.
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Mit einer Büroklammer war ein kleiner Zettel an das Foto gehef tet worden: Es gibt noch andere Fotos von dir und deinem russischen Hurenbock. Die Frist läuft ab. Gegen zehn Uhr betrat Anna Holzbauers Büro. Luttrop war auch anwesend. Er wollte das Büro verlassen, aber Anna sagte: »Bleiben Sie.« Sie berichtete, was Komann von ihr erwartete und dass er sie bedroht hatte. Das Foto und die Notiz legte sie vor Holzbauer auf den Tisch. »Was soll ich tun?«, fragte sie. »In ihr Kaff bei Detmold brauchen Sie sich diesmal nicht abzu setzen«, sagte Holzbauer. »Die Zeiten haben sich geändert. Grigo ri Retschkow ist irgendwo in der Sowjetunion und steht wohl kaum als Zeuge zur Verfügung. Schließlich ist Rassenschande als strafbares Delikt aus unseren Gesetzen gestrichen. Bleibt die im merhin denkbare Sabotage mit den vielen Toten in Xanten.« »Damit habe ich nicht das Geringste zu tun. Und Grigori auch nicht.« »Leider nicht zu beweisen. Aber das ist es ja, Komann wird es auch nicht möglich sein, mehr als einen Verdacht zu äußern. Vor wenigen Jahren genügte allein ein Verdacht, einen Menschen ins Unglück, in den Tod zu stürzen. Heute sieht das anders aus. An dererseits bleibt immer etwas hängen, wenn das Gerede erst auf flammt.« »Vielleicht scheuen sie nicht vor einer Lynchjustiz zurück«, sag te Anna. »Lassen Sie mich das auf meine Weise lösen«, schlug Luttrop vor. »Auf Ihre Weise, Luttrop?«
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»Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Vielleicht ist es gut, wenn ein Chef nicht alles weiß.« Holzbauer schaute zwar etwas skeptisch drein, aber er gab schließlich sein Einverständnis. Luttrop und Anna gingen hinaus. »Was haben Sie vor, Herr Luttrop?« »Ich werde mit drei Freunden zu Komann gehen und ihm nach drücklich klarmachen, was wir von seiner Drohung halten.« »Ja, Herr Luttrop, ich fühle mich bedroht. Aber ich bitte Sie, kei ne Gewalt.« »Wie meinen Sie das, Frau Fink?« »Gewalt hat unser Land und unser Denken so viele Jahre be herrscht. Wohin hat das geführt? Komann will nicht davon las sen. Sollen wir versuchen ihn mit Gegengewalt von seinem Ver halten abzubringen? Das will ich nicht.« »Und er macht Ihnen weiter Angst. Und lässt es wahrscheinlich nicht bei Worten?« »Sie sagen es, Herr Luttrop, ich fürchte mich vor dem, was Ko mann vielleicht tun wird. Aber noch mehr Angst habe ich, wenn Gewalt auf Gewalt gestapelt wird. Oder wie Sie es eben aus drückten: Auf einen groben Klotz ein grober Keil. Das will ich nicht.« Luttrop schaute ihr ins Gesicht. Er war sehr ernst geworden. »Frau Fink«, sagte er, »manchmal neige ich zu dem Versuch, eine Sache schnell, und wenn es sein muss, mit harter Hand, ja, auch mit Gewalt, zu einem Ende zu bringen. Ich habe das so viele Jahre als Soldat eingedrillt bekommen. Ich weiß, wenn jeder sein Recht selbst und auf eigene Faust durchsetzen will, führt das schließlich zu einem Raubtierstaat. Ich hatte nicht vor Komann zu verprü
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geln. Trotzdem bin ich froh, dass Sie mich daran erinnert haben, dass mit Gewalt Ihr Problem, vielleicht kein Problem auf der Welt, wirklich zu lösen ist. Mit Komann habe ich etwas anderes vor. Meine Freunde nehme ich nur mit, um mich Komann nicht schutzlos auszuliefern.« »Und wie wollen Sie Komann dazu bewegen, dass er endlich aufhört mich zu bedrängen?« »Ich werde mit ihm reden. Ich habe danach geforscht, welche Rolle er bis zum Kriegsende in der Hütte und hier gespielt hat. Wenn er nicht endlich Ruhe geben will, werde ich ihn bei dem Kommandanten der Besatzungstruppen anzeigen. Ich hoffe, er wird einlenken, wenn er hört, was ich über ihn herausgefunden habe. Ich weiß zum Beispiel, er hat es zugelassen, dass einer vom Wachtdienst seinen Hund auf einen Kriegsgefangenen gehetzt hat, als der zu einer Zwangsarbeiterin lief, die ihm ein Stück Brot geben wollte. Der Gefangene ist an den Bisswunden verblutet.« »Wird er mit sich reden lassen? Er steckt so voller Hass, voller Rachegedanken. Seine beiden Söhne waren erst neunzehn und zwanzig Jahre alt.« »Ich weiß, Frau Fink. ›In stolzer Trauer. Für Führer, Volk und Vaterland‹, stand in der Todesanzeige. Und das glaubt Komann wohl immer noch.« Luttrop schwieg eine Weile, fuhr aber dann fort: »Sagen Sie mir bitte Bescheid, Frau Fink, wenn Sie heute Fei erabend machen. Sie erwähnten schon mal Paul Bienmann, der im Pütt arbeitet. Bitten Sie den, wenn Sie nach Hause kommen, er soll schon mal einen Schoppen Schnaps von seinem Deputat für meine Leute kalt stellen. Wir kommen dann und feiern einen klei nen Sieg über die ewig Gestrigen, über die Braunen.«
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Er wandte sich zum Gehen, fügte aber dann noch hinzu: »Sie brauchen sich nicht mehr vor dem Komann zu fürchten, Frau Fink. Das verspreche ich Ihnen.« *** Aufgeregt wartete Anna auf Luttrop und seine Leute. Sie hatte Paul gebeten ihr einen Rest Schnaps abzutreten. Wahrscheinlich würden Arbeitskollegen kommen, die ihr in einer schwierigen Lage beistehen wollten. Denen würde sie gern etwas anbieten. Wenn sie Erfolg hätten, wäre der Schnaps redlich verdient. Dann wolle sie auch genau er zählen, was es mit der Sache auf sich habe. »Reicht das?« Paul hielt Anna eine halbe Flasche Korn hin. Anna bedankte sich und sagte: »Das reicht sogar, wenn Lutt rops Versuch misslingt. Denn dann habe ich Grund, mich selbst zu besaufen.« Gegen Abend fragte ein Junge auf der Straße nach Anna Fink. Er schellte, kam in das Haus und gab Anna einen Brief. Sie riss den Umschlag hastig auf. Auf einem Zettel stand die Nachricht, dass Komann sich nicht mehr in Deutschland befinde. Er, Luttrop, wis se, dass er sich mit einem niederländischen Lastkahn nach Hol land geflüchtet habe. Es gelte als sicher, dass er sich nach Kolum bien absetzen wolle. Für ihn, wie für so manche anderen Nazis, sei Südamerika die letzte Zuflucht. Luttrop hatte den Brief unter schrieben und noch hinzugefügt, er wolle ihr am nächsten Mor gen alles genau erzählen. Von Anna fiel eine Last ab.
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Heute noch werde ich Lore besuchen, nahm sie sich vor. Wir müssen meinen Tag der Befreiung feiern. Paul ging zu einem Arbeitskollegen, mit dem er sich zum Schach spielen verabredet hatte. Stefan wollte noch zum Tischtennis. Franziska saß mit ihrer Mutter am Abend allein am Küchentisch. »Stefan sieht man fast gar nicht mehr zu Hause«, sagte Franzis ka. »Sei froh, dass er in der Jugendgruppe ist. Dieser Kaplan Roth scheint auf die Jungen einen guten Einfluss zu haben. Hast du ei gentlich bemerkt, dass Stefan sonntags wieder regelmäßig zur Kirche geht?« »Nicht nur sonntags, Mama. Jeden Mittwoch ist dort eine Ju gendmesse. Auch die versäumt er seit einigen Wochen nicht. Aber es ist nicht leicht, mit ihm auszukommen. Immer soll alles nach seinem Willen gehen.« »Mimi stammte aus dem Sauerland. Da sollen viele Dickköpfe geboren werden. Stefan hat seinen Dickschädel wahrscheinlich von der Mutter geerbt.« »Waren wir eigentlich auch so schwierig in dem Alter, Mama?« Frau Reitzak lachte. »Das ist ja schon ziemlich lange her, aber ich weiß noch genau, was ich mir für Sorgen vor allem um die Jun gen gemacht habe. Ich habe damals nach einer Sonntagspredigt unseren Pastor gefragt, wie ich mich verhalten solle. Der hat mich getröstet. In seiner Familie und bei seinen fünf Kindern sehe es nicht anders aus. Aber er sei sicher, es sei am besten, wenn die El tern in dieser Zeit viel Geduld mit den Sprösslingen hätten. Er je denfalls würde versuchen, seine Kinder am langen Zügel zu füh
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ren. Es würde sich schon zeigen, dass das, was sie im Elternhaus mitbekommen hätten, nicht in den Wind geblasen worden sei. Das Beste, was man tun könne, sei, für die Mädchen und Jungen zu beten und ihnen die Tür offen zu halten. Ich habe das an dem Abend deinem Vater weitergegeben. Der hat mich verwundert angeschaut und gesagt: ›Tilla, wenn eins von unseren Kindern aus dem Ruder laufen will, dann kriegt es von mir was zwischen die Hörner.‹ Es ist jedoch kaum dazu gekommen. Martin ging damals von montags bis samstags jeden Morgen um halb sechs aus dem Haus und kam abends selten vor sieben von der Hütte zurück. Zwölf Stunden Arbeit Tag für Tag und immer nur mit der Schaufel Wag gons abladen. Irgendwas, was für die Hochöfen gebraucht wur de. Er war dann so kaputt, dass ich ihn nur im äußersten Notfall mit dem behelligte, was in der Familie schief gegangen war.« »Na, Mama, mit mir hast du wahrscheinlich am wenigsten Last gehabt. Ich soll ja ein braves Kind gewesen sein.« »Stimmt, Franziska. Und in den Jahren, in denen es mit den Jun gen verflixt schwierig war, bist du ja in Holland bei Billa gewesen. Erst lange nach dem Krieg bist du zurückgekommen. Wir haben dich von 1916 bis 1922, glaube ich, nicht ein einziges Mal gesehen. Aus einem dünnen Mädchen, fast ein Kind noch, war eine junge Frau geworden. Aber dann, Franziska, hast du mir Sorgen genug gemacht.« »Wieso, Mama?« »Du hast dich in den Paul vergafft. Wolltest ihn schließlich hei raten. Aber er war ein sturer Ostpreuße. Und katholisch. Oft zur Kirche ging er ja nicht, aber er bestand darauf, dass ihr katholisch
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heiraten solltet. Das hätte ich ja vielleicht noch geschluckt. Aber dann bist du immer häufiger zu diesem Kaplan gegangen. Schließlich wolltest du unseren guten evangelischen Glauben wie ein abgetragenes Kleid an den Haken hängen. Nicht nur katho lisch heiraten wolltest du, sondern katholisch werden. Ich habe nächtelang nicht richtig schlafen können. Auch als unser Pastor mir sagte: ›Frau Reitzak, es wird die Zeit kommen, da fügt sich das, was sich in der Reformation getrennt hat, wieder zusammen. Ein Herr und ein Gott, eine Christenheit. Vielleicht ist ihre Fran ziska nur der Zeit voraus.‹ Da war ich erst recht verwirrt. Auch verbittert. Ich habe dann nichts mehr dazu gesagt, aber meine Sorgen um dich waren stär ker als die um unsere Jungen.« »Bist du denn inzwischen darüber hinweg, Mama?«, fragte Franziska leise. »Oft packt mich auch heute noch die Traurigkeit. Aber mehr noch, weil du inzwischen auch von der katholischen Kirche ziem lich weit weg bist.« Eine steile Falte grub sich in Franziskas Stirn. Warum hat Gott das alles zugelassen, dachte sie. Sie nahm ihre Brille ab und flüs terte: »Mein einziges Kind hat er mir genommen. Warum?« Franziska schien von ihrer Mutter keine Antwort zu erwarten. Sie war überrascht, als Frau Reitzak nach einer ziemlich langen Pause sagte: »Martin war nicht nur euer Sohn, sondern auch mein Enkel. Ich war verzweifelt, als er gestorben ist. Aber dann war da die Sache mit Stefan. Es war im Frühjahr 1943. Bei einem Angriff in der Nacht fielen auch einige wenige Bomben auf Beeck. Andere Stadtteile hatte es härter getroffen. Ausgerechnet in das Haus, in
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dem Leo und Mimi wohnten, schlug eine schwere Sprengbombe ein. Sie brachte den freistehenden Giebel zum Einsturz und auch die eine Hälfte des Gebäudes bis in den Keller hinein. Niemand ist lebend dort rausgekommen. Ich hörte davon und rannte hin. Fas sungslos setzte ich mich auf den Trümmerhaufen. Leo hatte ein paar Kaninchen im Stall auf dem kleinen Hof gehalten. Der Stall war nicht mehr da. Ein Muttertier sprang mir in den Schoß. Split ter hatten dem Tier den Rücken aufgerissen. Da schüttelte mich ein Weinkrampf. Eine Nachbarin kam zu mir. Sie sagte gar nichts, hockte sich neben mich und legte den Arm um meine Schulter. Schließlich beruhigte ich mich ein wenig. An dem Tag sollte Stefan wieder nach Hause kommen. Er war für vier Wochen in Neustadt an der Saale in einem Kinderheim gewesen. Der Junge war ja so dünn, dass die Fürsorgeschwester meinte, eine Luftveränderung sei nötig und gut für ihn. Auf einer Postkarte hatte er mitgeteilt, wann sein Zug in Duisburg am Bahnhof ankomme. Mimi hatte mir gesagt, dass sie nach Duis burg fahren wolle, um ihn abzuholen. Ich meinte mich auch zu er innern, wann genau Stefan eintreffen sollte. ›Ich muss zum Bahn hof‹, sagte ich zu der Frau. Das Kaninchen lag ganz matt in mei nem Schoß. ›Nehmen sie es‹, sagte ich zu der Frau. ›Der Junge darf es nicht sehen.‹ Dann fuhr ich los, so wie ich war, die Schürze noch umgebun den und die Kleider voller Trümmerstaub. Auf dem Duisburger Bahnhof gab man mir die Auskunft, dass der Zug aus Richtung Kassel längst eingetroffen war und erst am frühen Abend der nächste erwartet werde. War Stefan allein nach Beeck gefahren? Ich war so aufgeregt, dass ich mich in der Straßenbahn nicht ein
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mal hinsetzen konnte, obwohl mir ein junger Mann einen Platz anbot. Wieder eilte ich zur Weststraße. Neugierige schauten sich die Trümmer an. Stefan war nicht da. Die Nachbarin kam mit einem Koffer und einem Gläschen Branntwein in der Hand heraus. ›Da, trinken sie das‹, sagte sie. ›Es wird Ihnen gut tun. Der Junge ist, kurz nachdem Sie wegge gangen sind, hier angekommen. Ich habe ihn zu Ihnen in die Blü tentalstraße geschickt. Seinen Koffer hat er nicht mitnehmen wol lene Sie reichte mir den Koffer. Ich eilte nach Hause. Stefan saß hier auf der Treppenstufe vor der Haustür. Er weinte nicht. Ich drückte ihn fest an mich. Er zitterte am ganzen Leib. Ich nahm ihn mit nach oben und steckte ihn ins Bett. Er hat hoffentlich gespürt, dass ich für ihn da war.« »Warum hast du uns das nie erzählt, Mama?« »Ihr wart damals gerade bei Pauls Kusine im Münsterland. Am Tag der Beerdigung kamt ihr zurück. Erst da hörtet ihr von Leos und Mimis Tod. Oft habe ich mir vorgenommen euch alles zu sa gen. Aber mir schnürte sich jedes Mal die Luft ab, wenn ich davon anfangen wollte.« »Weißt du eigentlich, Mama, dass Stefan am Todestag seiner El tern etwas Merkwürdiges tut?« »Blumen auf das Grab, denke ich.« »Nein. Er schreibt jedes Mal einen Brief, steckt ihn in eine Fla sche und wirft sie in ein Gewässer. In Kirchwüsten ist er weit ge laufen, bis er einen breiten Bach erreichte. Hier geht er mit seiner Flaschenpost zum Rhein.« »Ich mache mir Sorgen, was mit Stefan wird, wenn ich mal tot bin.«
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»Aber Mama, er bleibt bei Paul und mir. Wir haben darüber ge sprochen, ihn zu adoptieren, wenn er zustimmt. Er ist ja wie …« Frau Reitzak fragte: »Wie euer eigener Sohn?« Franziska nickte und dachte: Also doch eine Antwort? »Kind«, sagte Frau Reitzak. Lange Jahre hatte sie Franziska so nicht mehr angeredet. »Kind, du musst mir etwas versprechen. Ich lebe nicht mehr lange.« »Aber Mama!« »Ich weiß es. Nachts huste ich mir die Seele aus dem Leib. In meinem Bauch reißt es immer wieder fürchterlich. Die Abstände zwischen den Anfällen werden von Mal zu Mal kürzer. Und sieh dir meine Beine an. Jeden Abend sind sie geschwollen und dick wie Ofenrohre.« »Mama, der Doktor …« »Lass das, Kind. Ich weiß es und du weißt es auch. Mein Leben hier auf der Erde geht zu Ende. Aber ich habe einen letzten Wunsch. Ich möchte in einem Eichensarg beerdigt werden, nicht in so einer Sperrholzkiste, wie sie heute in Gebrauch sind.« Franziska verschlug es die Sprache. Ihre Mutter war ihr ganzes Leben lang eine bescheidene Frau gewesen, hatte nie etwas für sich gewollt. Und jetzt eine Bitte, die wohl kaum zu erfüllen war? »Mama …« »Versprich es mir in die Hand, Kind.« Da wusste Franziska es genau, sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihrer Mutter diesen sonderbaren letzten Wunsch zu erfüllen. ***
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Um Punkt zehn kam Stefan nach Hause. »Ich habe eine Neuigkeit gehört. Stellt euch vor, die Diebe, die in der Metzgerei einbrechen wollten, sind schon geschnappt worden. Und was meint Ihr, ich kenne sie.« »Du kennst die Burschen? Vielleicht sogar den, der dabei tot ge blieben ist?«, fragte Franziska. »Heute kam Thorsten Hacks endlich mal wieder zum Tischten nis. Die Männer leben in Hacks Nachbarschaft. Genau nebenan in dem Haus von Krasek wohnen sie. Ich selbst habe sie dort schon mehrmals gesehen. Ein Einsatzwagen der Polizei ist gekommen. Sie drangen in das Haus ein und haben zwei Männer in Hand schellen abgeführt. Es waren Brüder. So um die fünfundzwanzig Jahre alt. Nur einen haben sie nicht erwischt. Ihr habt seinen Na men übrigens schon öfter gehört. Es war dieser Komann, vor dem sich Anna fürchtet. Thorsten hat gesagt, die Mutter der jungen Männer hat die gan ze Nachbarschaft zusammengeschrien. ›Der Komann hat sie an gestiftet‹, hat sie immer wieder gerufen. Erst hat sie das bei Kra sek behauptet und sicher später auch bei der Polizei. Eugen Ko mann, der Schuft, sei mit dem Fahrrad losgefahren, einen falschen Pass in der Tasche. Ein kleiner Rucksack, das sei sein einziges Ge päckstück gewesen. Ihre Jungen wären in der Nacht völlig ver stört nach Hause gekommen. Komann habe gesagt: ›Ihr habt alles vermasselt‹, und sei sofort weg. Sie glaube, dass er nach Holland gewollt habe. Vielleicht mit einem Rheinschiff. Und dass sein ei gentliches Ziel Kolumbien sei, davon habe er häufig gesprochen.« Sie hörten Schritte auf dem Flur. Anna öffnete die Küchentür und sagte: »Ihr habt ja noch Licht. Ist was passiert?«
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Stefan musste die Geschichte ein weiteres Mal erzählen und auch noch einmal, als Paul später nach Hause kam. »In Kraseks Haus haben die gewohnt?«, vergewisserte sich Paul. »Ja, aber der alte Krasek hat wohl von dem Einbruch nichts ge wusst«, sagte Stefan. »Thorsten hat es selbst gehört. Krasek ist nur ganz verbittert zu seinem Vater gekommen und hat gesagt: ›Was ist nur aus der Partei geworden, Hacks? Verbrecher haben sich eingeschlichen und ruinieren unsere guten Ideen.‹ ›Jetzt hast du es endlich kapiert‹, hat Hacks geantwortet. ›Das war immer schon so.‹« »Wo ist der Schnaps geblieben?«, fragte Paul. Anna holte die Flasche aus ihrem Zimmer. »Komann ist weg. Wenn das kein Grund ist, auf diesen Tag einen Schluck zu nehmen, dann weiß ich nicht«, sagte Paul. »Du findest immer einen Grund, den einen oder anderen Schnaps zu trinken«, tadelte ihn Franziska. »Besser wäre es, wenn du es mit der Flasche Korn, die du jeden Monat auf dem Pütt be kommst, genauso machen würdest wie mit deinen Zigaretten von der Raucherkarte. Wir hätten dann mehr zum Tauschen anzubie ten und könnten endlich zum Hamstern fahren.« Paul stand auf und ging in das Schlafzimmer. Er kehrte mit zwei Flaschen Schnaps zurück. Die stellte er auf den Tisch. »Hier«, sagte er. »Die hab ich aufgespart. Ich bekomme dafür ei nen feinen Anzugstoff.« Franziska rief: »Wunderbar. Dann hab ich endlich einen elegan ten Mann.« »Wieso?«, fragte Paul. »Der Stoff ist für Stefans Anzug gedacht.«
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»Für mich?« Stefan war überrascht. Anna sagte: »Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.« »Goethe?«, fragte Franziska. »Ich weiß es nicht genau. Wohl eher Schiller«, vermutete Anna. »Mir bitte nichts einschütten«, bat Frau Reitzak. »Ich kann kei nen Alkohol mehr vertragen.« Auch Stefan weigerte sich von dem Schnaps zu trinken. Aber Anna und Paul ließen sich dadurch nicht stören. Es war schon weit nach Mitternacht, als sie endlich das Licht löschten. Anna brummte am nächsten Morgen der Kopf wie ein Bienenhaus. *** Jeder Mittwoch war für Stefan ein besonderer Tag. »Stadterkun dung« nannte er es. Notteboom war ein leidenschaftlicher Rau cher. Deshalb drückte er beide Augen zu, wenn die Gesellen am Mittwochmorgen Stefan ihre Raucherkarten und Geld aushän digten. Der Polier selbst machte es ebenfalls so, allerdings, wie er meinte, unauffällig. Wenn Stefan die Baustelle verlassen wollte, rief er ihn noch einmal zurück und steckte ihm seine Raucher karte zu. Meist wurde mittwochs in den wenigen Läden, die Zi garetten, Zigarren und Tabak führten, Ware angeliefert und ver kauft. Wer früh dabei war und Glück hatte, konnte dann das er gattern, was für die Woche von der Behörde zugeteilt worden war. Aber nicht jeden Mittwoch gab es Zigaretten und nur selten konnte Stefan in einem Geschäft alles bekommen, was ihm den Raucherkarten nach zugestanden hätte. Wenn er jedoch alle La
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den in Ruhrort abgeklappert hatte, konnte er stolz seine Jagdbeu te vorweisen. Meist zögerte er die Rückkehr zur Baustelle bis zur Mittagspause hinaus und machte sich einen ruhigen Vormittag in der kleinen Buchhandlung in der Landwehrstraße. Der Buch händler wunderte sich über den jungen Mann, der im Maureran zug jede Woche in seinen Laden kam. Aber er ließ ihn ungestört in den Büchern stöbern. Als ihn seine angestellte Helferin einmal fragte, ob ihm der Kerl nicht lästig werde, antwortete er: »Angler brauchen auch viel Ge duld, wenn sie einen dicken Fisch fangen wollen.« Notteboom schaute Stefan traurig an, wenn er kurz vor der Mit tagspause auf die Baustelle zurückkam, aber die Lieferung ver söhnte ihn schnell. An einem Mittwoch nun hatte sich Stefan in die Schlange vor ei nem Tabakladen am Friedrichsplatz eingereiht. Er stand ziemlich vorn. Das ließ ihn hoffen, Zigaretten zu ergattern, bevor es »aus verkauft« hieß. Die Kartons mit den Rauchwaren wurden von einem Kleinlas ter geladen und in das Geschäft getragen. Der Verkauf musste bald beginnen. Ein anderes Geschäft, das auf der Straßenseite ge genüberlag, führte Papierwaren. Eigentlich war es nur eine überdachte Toreinfahrt, in der der La den untergebracht war. Auch dort hielt ein Auto. Heraus stieg Fit ti Graz aus Stefans Schulklasse in Beeck. Stefan bat die ältere Frau, die hinter ihm in der Schlange stand, ihm den Platz freizuhalten. Er wolle kurz einen Freund begrüßen. »Mach mal«, willigte sie ein. »Aber nicht länger als fünf Minu ten.«
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»Mensch, Stefan!« Fitti freute sich offensichtlich über das Zu sammentreffen. »Hattest du nicht eine Stelle als technischer Zeichner?«, fragte Stefan. »Hatte ich. Aber das war nichts für mich. Jeden Morgen für die alten Säcke im Zeichenbüro die Bleistifte anspitzen und das eintö nige Rumstehen am Zeichenbrett. Da kriegst du ja Plattfüße. Jetzt bin ich kaufmännischer Lehrling im Großhandel.« »Und womit handelt ihr?« Der Fahrer streckte seinen Kopf durch das Fenster und rief: »He, Fitti, lass die Quatscherei und mach voran.« »Armleuchter«, murmelte Fitti. Er öffnete die Ladetür und sta pelte zehn flache offene Kartons aufeinander. Lauter Puppenköp fe, hübsch bemalt, waren darin, je sechs in einem Karton. »In jedem Karton dreimal blond und dreimal braun«, sagte Fitti. »Das ist mein Harem. Nur schade, dass außer dem Kopf sonst nichts dran ist.« Stefan hatte eine Idee. Er bat: »Verkaufst du mir einige da von?« Fitti schaute nach dem Fahrer. Aber der saß hinter dem Steuer und las in einer Zeitung. Fitti antwortete: »Pst. Wie viel willst du? Aber Vorsicht, der Knallkopp da vorn darf nichts merken.« »Sechs braune, sechs blonde. Für den Anfang ist das Harem ge nug.« »Kosten unter alten Kumpels das Stück eine Mark und zwanzig Pfennig. Aber bar auf die Klaue.« Stefan überschlug schnell, wie viel Geld er von der Baustelle mitbekommen hatte. Es reichte nicht ganz. Deshalb schlug er vor: »Mehr als vierzehn Mark, das
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ist kein Pappenstiel, Fitti. Wie wär’s mit zwölf Eiern? Eine Mark das Stück. Ist ’ne runde Summe.« »Gemacht«, willigte Fitti ein. Er gab Stefan zwei Kartons und ließ das Geld schnell in seiner Tasche verschwinden. »Hau ab und lass dich nicht von dem da vorn sehen. Wenn der mich bei unse rem Chef anschwärzt, muss ich doch vielleicht wieder technischer Zeichner werden.« Stefan zog seine Maurerjacke aus und deckte sie über die Kar tons. Das Geld von Notteboom und den Maurern war weg. Aber er hoffte, dass sie den günstigen Kauf verstehen würden. Am Donnerstag würde er ihnen ja alles erstatten. Mit dem Verständnis war es aber nicht weit her. Sie beschimpften ihn. Notteboom sprach sogar empört von missbrauchtem Vertrau en. Keiner auf der Baustelle sprach noch ein Wort mit Stefan und Notteboom ordnete an, dass er den Mörtel, den Opa Leon ange rührt hatte, im Speisvogel auf das Gerüst schleppen musste. Stefan biss die Zähne zusammen und ließ sich nicht anmerken, wie schwer es ihm fiel, immer wieder mit der schweren Last auf der Schulter die Leitern hochzuklettern. Schon vor dem Feierabend hatte das angerostete Blech des Speisvogels ihm die Schulter wund gescheuert. Der Bautrupp machte sich schon auf den Heimweg, als Notteboom sagte: »Die Bude hier sieht aus wie ein Saustall. Nimm den Besen, Steffi, und mach alles sauber.« Dann ging auch er. Nur nichts anmerken lassen, dachte Stefan. Gustav kam noch einmal zurück. Er betrachtete die Puppenköpfe und fragte: »Was willst du ei gentlich mit den Dingern?« »Franziska, meine Tante, ist eine geschickte Schneiderin. Mit
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Nadel, Faden und Stoffresten kann die zaubern. Auch Puppen körper und Kleider. Zwölf Puppen, Gustav. Und dann geht es zum Hamstern. Für Puppen kriegst du bei den Bauersfrauen die tollsten Sachen. Speck und Butter und so.« »Kannst Recht haben, Stefan. Aber bring das hier auf der Bau stelle wieder in Ordnung.« »Ich zahle morgen jedem sein Geld zurück, Gustav, auf Heller und Pfennig. Ist doch klar.« »Ich rate dir, Stefan, besorge für jeden auch ein paar Zigaretten, sonst wirst du noch lange Speis schleppen müssen.« Gustav ging nun auch, aber er sagte noch im Hinausgehen: »Und lege dir nächstes Mal, wenn du wieder zum Handlangern verdonnert wirst, einen Seidenlappen unter das Hemd auf die Schulter. Dann bleibt die Haut heil.« Frau Reitzak und Franziska staunten, als sie die Puppenköpfe sa hen. »Wunderbar«, jubelte Franziska. »Jetzt kann es mit unserer Hamsterfahrt bald losgehen.« Stefan gestand, dass die Maurer ihn ziemlich runtergemacht hatten. Franziska sprach mit Paul. Der gab Stefan am Abend vier undzwanzig Zigaretten und die zwölf Mark, die Stefan als Darle hen auf der Baustelle aufgenommen hatte. »Die Puppen sollen alle Steffi heißen«, sagte er und lächelte. »Steffi blond und Steffi braun. Und bei jeder Taufe muss man die Kinder begießen, damit es den Kleinen gut geht. Also, hier ist ein Schoppen Schnaps für die durstigen Maurerseelen.« Die Bußgeschenke wirkten Wunder. Drei Zigaretten für jeden und dazu ein Schluck aus der Flasche, das brachte die Harmonie
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auf die Baustelle zurück. Den Seidenlappen, den Stefan vorsorg lich mitgebracht hatte, brauchte er an diesem Tag nicht. Am folgenden Mittwoch allerdings wurde nicht er, sondern Adalbert losgeschickt, weil Notteboom meinte, ein angemessener Denkzettel für Stefan müsse nun mal sein. Adalbert war schon ge gen elf Uhr zurück. In der Mittagspause legte er mehrere Päckchen Krüllschnitttabak auf den Tisch. »Zigaretten hab ich nicht bekom men können«, sagte er. »Ich habe gedacht, Tabak ist Tabak.« Die Gesellen und auch Notteboom waren zornig. Ihr Schimpfen jedoch hielt sich an diesem Tag in Grenzen. Adalbert brachte am Donnerstag kein Bußgeschenk mit auf die Baustelle. Als er aber am Freitag seinen Henkelmann öffnete, hatte einer ihm zwei nackte junge Spatzen auf den Spinat gelegt. Angeekelt stellte er den Essenstopf weg. Opa Leon fragte, ob Adalbert keinen Hunger habe. Als der wütend zur Seite schaute und schwieg, fragte Opa Leon: »Kann ich denn dein Essen bekommen?« Adalbert schob ihm den Henkelmann über den Tisch. Leon fischte ruhig die toten Vögelchen heraus und sagte: »Zu Spinat gehört ein Spiegelei, Adalbert. Sag das deiner Mutter. Außerdem bin ich katholisch. Katholiken essen freitags sowieso kein Fleisch.« Er ließ es sich schmecken. Stefan wunderte sich nicht darüber; Opa Leon war Witwer und wohnte in Beeck bei seiner Schwiegertochter. Er hatte schon zwei Tage als Mittagessen lediglich einen Brei aus gekochten Apfel schalen im Henkelmann gehabt. Spinat mit Kartoffellbrei war für ihn ein Stückchen vom Schlaraffenland. ***
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In der Nacht hatte Frau Reitzak einen schlimmen Hustenanfall. Der nahm und nahm kein Ende. Franziska war an ihr Bett geeilt und gab ihr einen Schluck zu trinken, aber es nützte nichts. Sie wird mir noch ersticken, dachte Franziska und weckte Paul. Frau Reitzak schlief seit Jahren schon mit drei Kissen unter dem Kopf. Paul sagte: »Wir müssen sie noch höher betten. Sie sollte im Bett sitzen, dann kriegt sie vielleicht besser Luft.« Stefan war auch wach geworden und kam schlaftrunken aus seinem Zimmer. Franziska lief in der Küche hin und her. »Oma geht es ganz schlecht, Stefan. Kissen brauchen wir für sie. Aber woher neh men?« Stefan holte sein eigenes Kissen aus dem Bett. »Klar«, sagte Franziska und nahm auch ihr Kissen und das von Paul aus dem Schlafzimmer. Tillas Hustenanfälle wurden nur von kurzen Pau sen unterbrochen. Sie ließ dann ihren Kopf kraftlos zur Seite sin ken und schloss die Augen. Die Lider waren flatterig und blau schwarz. Auch Anna wurde von der Unruhe im Haus geweckt. Sie entfachte das Feuer im Herd und kochte einen starken Kamil lensud. »Die Dämpfe musst du tief einatmen, Tilla«, sagte sie. Aber selbst das milderte die Anfälle nicht. Sie kamen in dieser Nacht alle nicht zur Ruhe. Als es hell wurde, eilte Franziska zu Dr. Stolpensen. »Ich dachte es mir schon, dass Sie mich für Ihre Mutter bald ho len müssten. Ich werde gleich mitkommen. Ich will vorher nur noch telefonieren.«
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Er untersuchte Frau Reitzak später nur kurz und gab ihr eine Spritze. »Der Husten wird jetzt für ein paar Stunden unterdrückt. Aber sie muss unbedingt ins Johanneshospital. Ich habe eben für Sie dort angerufen. Es kann ein Platz freigemacht werden, wenn Sie im Laufe des Vormittags Ihre Mutter noch nach Hamborn schaffen können.« »Aber wie?«, fragte Franziska ratlos. »Mein Mann ist zur Früh schicht. Nur unser Stefan ist noch da und müsste eigentlich auch gleich zur Arbeit. Mit der Straßenbahn kann ich meine Mutter in dem Zustand sicher nicht hinbringen.« »Die Krankenwagen sind total überlastet. Das wird heute Mor gen nichts mehr«, sagte der Doktor. »Aber fährt nicht die Schrei nerei Steiner in der Flottenstraße ab und zu mit einem Auto he rum? Die Flottenstraße liegt doch gleich um die Ecke?« »Das ist ein Leichenwagen«, rief Stefan entsetzt. »Ein schwarzes Auto ist auch ein Auto«, erwiderte Dr. Stolpen sen. »Steiner ist ein gutmütiger Mensch. Der wird Ihnen, wenn er es kann, den Gefallen tun und Ihre Mutter ins Hospital bringen. Und wie gesagt, heute Vormittag noch.« Er schaute auf seine Ta schenuhr. »Ich muss weiter. Geben Sie mir bitte Bescheid, sobald Sie etwas mehr wissen.« »Ich kenne die Steiners«, sagte Stefan. »Peter Steiner spielt bei uns in der Mannschaft Tischtennis. Ich war schon ein paar Mal bei denen in der Wohnung. Ich könnte ja mal fragen. Aber ich bin nicht sicher, ob den Steiners der Wagen wirklich gehört. Ich mei ne, die leihen sich den Leichenwagen nur gelegentlich aus.« »Musst du nicht zur Arbeit?«, fragte Franziska. »Heute ist Berufsschule. Wir sind fünfzig Maurerlehrlinge und
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Umschüler in der Klasse. Es wird nicht auffallen, wenn nur neun undvierzig da sind.« »Gut. Dann laufe rüber zu Steiners.« Stefan überlegte, wer ihm wohl bei Steiners die Tür öffnen wür de. Hoffentlich war es nicht Frau Steiner. Am besten würde es ihm gefallen, wenn Antonia herunterkäme. Aber dann über schlich ihn doch ein merkwürdiges Gefühl, weil er in diesem Au genblick nicht nur an seine Oma, sondern an ein Mädchen dachte. Antonia öffnete wirklich die Haustür. Stefan trug seine Bitte vor. Sie schaute ihn zweifelnd an. »Mit einem Leichenwagen?« »Wir kennen niemand sonst, der ein Auto hat.« »Wir haben auch keins. Aber vielleicht … Komm erst mal he rein. Mein Vater ist in der Werkstatt.« Die Werkstatt war nicht viel größer als ein normales Zimmer. Sie lag am Flur gleich hinter dem Laden, in dem an der Wand auf gereiht einige Särge standen. Herr Steiner arbeitete an der Hobelbank. Es roch nach Leim und frischem Holz. »Na, willst du schon wieder fragen, ob ich euch keine Tischler platte besorgen kann für einen Tischtennistisch?«, fragte er, ohne das Hobeln eines Brettes einzustellen. »Nein, Vater, Stefan hat andere Sorgen als Tischtennis.« Herr Steiner legte den Hobel zur Seite, nahm die Brille ab und setzte sich auf die Hobelbank. »Wo drückt der Schuh?« Noch einmal brachte Stefan seine Bitte vor. »Dr. Stolpensen war schon in aller Frühe bei uns. Im Johannes-Hospital halten sie ein Bett frei, wenn wir Oma bis Mittag gebracht haben.«
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»Geht das nicht mit dem Leichenwagen, Vater? Du könntest doch mal bei Brettschneider anfragen, ob du ihn für heute Morgen leihen kannst.« »Hmm. Ist nicht jedermanns Sache, lebend da einzusteigen.« »Du kannst Stefan die Bitte nicht abschlagen, Vater. Wir könnten ja mit unseren schwarzen Tüchern die Schrift am Auto abdecken.« »Weiß spritzen lassen können wir den Wagen wohl nicht«, brummte Steiner. »Aber wenn es so ist, dass die Frau Reitzak tod krank ist, dann meinetwegen. In ungefähr einer Stunde komme ich vorbei, vorausgesetzt, das Auto und der Fahrer sind frei.« »Blütentalstraße 7«, sagte Antonia. Woher kennt sie so genau unsere Adresse?, dachte Stefan. Steiner klopfte sich die Hobelspäne von der Kleidung und ging die Treppe hinauf in die Wohnung. Antonia hockte sich auf die Werkbank. »Was macht ihr eigentlich immer donnerstags in eurer Grup penstunde?« »Na ja, was man so macht. Wir reden, streiten uns, singen, pla nen für unsere nächste Fahrt in eine Jugendherberge, für Kinobe suche und Diskussionen über das, was wir uns angeschaut haben. Ab und zu kommt auch ein Gast und hält einen Vortrag. Oft gibt es Fragen, die sonst nirgendwo gestellt werden.« »Welche Fragen zum Beispiel?« »Zum Beispiel, ob das wirklich sein kann, dass mit dem Tod al les aus ist, oder wie Gerechtigkeit im Alltag aussehen kann oder ob es sinnvoll ist, sich um Politik zu kümmern, oder was davon zu halten ist, dass die Amis die Atombomben abgeworfen haben, oder …«
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»Das genügt mir fürs Erste. Und Kaplan Roth ist immer dabei?« »Meistens. Aber er spielt nicht den großen Zampano, der alles weiß. Stört dich das?« »Nö. Er hat vor einen Singkreis zu gründen. Jeden Monat ein mal soll der zusammenkommen. Dazu ist unsere Mädchengrup pe auch eingeladen.« »Was heißt hier ›auch‹? Wir wissen von nichts.« »Wird schon noch kommen. Es soll aber nicht nur gesungen werden. Ab und zu wird getanzt, ein Fest gefeiert oder auch Thea ter gespielt.« »Hört sich ganz gut an. Aber ich kann nicht tanzen.« »Das kann man lernen. Zum Beispiel bei uns im Wohnzimmer. Wir haben ein Grammofon, so eins zum Kurbeln, und auch ein paar Schallplatten. Der Teppich wird eingerollt und der Tisch bei seite geschoben und los geht es.« »Aber wer bringt euch das Tanzen bei?« »Die Maria aus unserer Gruppe kennt eine Elli aus Meiderich. An der soll eine Tanzlehrerin verloren gegangen sein. Die will alle vierzehn Tage kommen und uns auf die Sprünge helfen. Wenn du Lust hast …« »Ich?« »Siehst du sonst noch jemand hier in der Werkstatt?« Sie hörte die Schritte ihres Vaters auf der Treppe und sprang von den Ho belbank herunter. »Also bis Sonntag in einer Woche um drei«, sagte sie. Steiner kam herein. »Es geht. Um zehn Uhr steht der Wagen vor eurer Tür. Der Fahrer heißt Schulz. Ich werde euch dann später die Rechnung schicken.«
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»Danke, Herr Steiner.« Er knurrte sich etwas in den Bart und begann wieder zu hobeln. Im Flur flüsterte Antonia: »Er tut immer so brummig, aber er hat ein weiches Herz.« »Hoffentlich hast du das von ihm geerbt«, sagte Stefan. *** Franziska hatte für ihre Mutter die Tasche gepackt und war mit zum Hospital gefahren. Sie kam und kam nicht aus Hamborn zu rück. Als sie am Spätnachmittag endlich wieder zu Haus war, setzte sie sich an den Küchentisch, barg den Kopf in den Händen und brach in lautes Weinen aus. »Geht es Tilla so schlecht?«, fragte Anna und brachte Franziska eine Tasse Kaffee. Es dauerte ziemlich lange, bis Franziska endlich berichten konn te. »Es ist fürchterlich. Mutter liegt in einer riesigen Turnhalle. Doppelreihe an Doppelreihe stehen die Krankenbetten längs durch die ganze Halle. An der rechten Seite die Männer, links die Frauen. Nur alte Leute, glaube ich. Zweimal haben die Schwes tern nach Mittag ein Bett hinausgefahren. Das Bettlaken hatten sie dem Toten bis über den Kopf gezogen. Das ist kein Krankenhaus, das ist ein Sterbehaus.« »Hat sich denn kein Arzt sehen lassen?« »Doch. Gleich mehrere. Sie kamen gemeinsam und gingen an den meisten Kranken einfach vorüber. Schwestern waren auch dabei. Bei Mutter sind sie etwas länger stehen geblieben. Sie wur
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de flüchtig untersucht. Der älteste Arzt hat einer Schwester ein Rezept diktiert. ›So oft wie nötig‹, hat er gesagt. Ich habe ihn gefragt, wie lange sie in dem Saal bleiben müsse. Er hat mir nicht einmal ins Gesicht geschaut. Mit den Schultern hat er gezuckt und ist weitergegangen. Die Frau, die neben meiner Mutter liegt, hat mir zugetuschelt: ›Bis sie ihr das Betttuch über die Nase ziehen.‹« Wieder flossen Franziskas Tränen. »Die ganze Zeit über lag Mutter still auf dem Rücken und hielt die Augen geschlossen. Der Husten ist nicht mehr zurückgekommen. Eine Schwester forderte mich verärgert auf: ›Sie müssen jetzt endlich gehen. Die Besuchs zeit ist längst zu Ende. Haben Sie den Gong nicht gehört?‹ Da hat Mutter die Augen weit aufgerissen. Sie murmelte ir gendetwas. Ich musste mich zu ihr beugen, um sie zu verstehen. ›Den Stefan, Franziska, schicke mir morgen den Stefan. Er soll die Bibel mitbringen.‹ Dann fielen ihr die Augen wieder zu.« »Und gestern hat sie noch für uns alle Pfannkuchen gebacken«, sagte Anna. Bedrückt saßen sie beieinander. In dieser Nacht störte sie kein Husten. Und doch, sie schliefen schlecht. *** Es kam und kam nicht zu der Hamsterfahrt von Anna und Fran ziska. Die zwölf Puppen waren längst fertig und saßen aufgereiht auf den beiden Küchenschränken. Jeder, der in Reitzaks Küche kam, bewunderte die kleinen Kunstwerke in ihren Trachtenklei dern und weißen Halbschürzen. Ein Nachbar bot Franziska an ihr
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alle Puppen abzukaufen und wollte einen guten Preis dafür zah len. Damit würde er dann auf Hamsterfahrt gehen. Franziska lachte und erwiderte: »Genau das, Böggeler, wollen wir selbst tun. Wenn ich die Puppen anschaue, dann sehe ich für jede dort etwas anderes stehen.« »So?«, fragte der Nachbar irritiert. »Sind doch nur Puppen.« »Stimmt für heute, Böggeler. Aber morgen steht für die eine dort ein Pfund Speck, für die nächste ein Päckchen Butter, für eine dritte ein Beutel Mehl. Für jede bekommen wir einen Schatz.« »Wenn es so weit ist, kannst du mich ja mal einladen«, sagte der Nachbar und verabschiedete sich. Aber es war noch nicht so weit. Zuerst hatte Anna keine Ur laubstage nehmen können, jetzt war Frau Reitzak krank gewor den und Franziska konnte nicht weg. Beide Frauen versprachen sich: Aber bald gehen wir hamstern. Bald. *** Der nächste Tag war ein Samstag. Stefan hatte um zwei Uhr Feier abend. Er beeilte sich nach Hause zu kommen, wusch sich und zog seine besten Sachen an. Franziska wollte ihn zum Johannes hospital begleiten. Sie kannte den Weg zu der Turnhalle, in der Oma Reitzak lag. Die große Bibel füllte Stefans Schultasche fast völlig aus. Es passte gerade noch eine Winterbirne hinein. Die hat te er gegen eine Zigarette auf der Baustelle eingetauscht und woll te sie seiner Oma mitnehmen. Er war froh, dass er nicht allein nach Hamborn gehen musste. Sie liefen gemeinsam über den Ost ackerweg.
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»Es kann sein, Stefan«, sagte Franziska, »dass Oma krauses Zeug erzählt. Das ist bei kranken alten Leuten manchmal so.« Stefan nickte. Es schnürte ihm die Kehle zu. Nie hatte seine Oma krauses Zeug geredet. Sie waren nach einer knappen halben Stunde vor der Turnhalle angekommen. »Nimm dich zusammen, Stefan«, mahnte Franziska, »und lass es dir nicht anmerken, dass du den Vorhof der Hölle betrittst.« »Ich werde es bestimmt überstehen.« Schon im Vorflur schlug ihnen der Geruch von Sagrotan und Urin in die Nase. In der Halle musste Stefan schlucken. Die langen Bettenreihen, das laute Stöhnen einiger Kranker, die Rufe nach einer Schwester, Husten und Röcheln, Weinen auch. Franziska ging voran. Frau Reitzaks Bett war umgestellt wor den. Sie mussten eine Weile suchen, bis sie es entdeckten. »Wie geht es dir heute, Mama?« »Etwas besser. Der schreckliche Husten schüttelt mich kaum noch.« Sie schaute Stefan lange an. »Gut, Junge, dass du mitge kommen bist.« Er holte die Birne aus der Tasche und reichte sie ihr. »Für dich«, sagte er. Sie drückte ihm die Hand und legte die Frucht neben ihr Kopf kissen. »Hast du die Bibel bei dir?«, fragte sie. Er nickte und zog sie aus der Schultasche. »Die haben mir meine Eltern zur Hochzeit geschenkt. Sie muss ziemlich teuer gewesen sein. Mein Vater konnte sie nicht ganz be zahlen. Aber der Buchhändler hat gesagt: ›Herr Kück, ich kenne
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Sie. Zahlen Sie das Buch in Raten ab. Jede Woche freitags, wenn Sie Ihren Lohn bekommen, bringen Sie mir fünfzig Pfennig. Dann haben Sie das in drei Monaten erledigte« Frau Reitzak schien sich tatsächlich kräftiger zu fühlen. »Weißt du, Junge, ich habe mein Leben lang täglich ein Stück aus der Bibel gelesen. Das hat mich oft getröstet, manchmal unruhig gemacht und wenige Male auch geärgert. Ich kann das schwere Buch hier im Bett nicht halten. Ich bitte dich, lies mir eine Stelle vor.« »Was soll ich lesen, Oma?« »Schlage die Bibel einfach auf und lies. Wer weiß, was wir für ein Wort gesagt bekommen.« Stefan begann. Er sprach ziemlich leise. Es war ihm unangenehm, dass die Kranken in Frau Reitzaks Nähe aufmerksam wurden. »Beginne noch einmal von vorn. Bitte lauter«, forderte Frau Reitzak. »Es schwirren hier viele Stimmen durcheinander. Ich kann dich schlecht verstehen.« »In jenen Tagen brachte der Priester Esra …«, begann Stefan er neut und er las, wie Esra Frauen und Männern das Gesetz vor stellte. Das Volk Israel war aus jahrzehntelanger Verbannung nach Jerusalem zurückgekehrt. Viele hatten in der Bedrängnis und in der Fremde ihren Glauben an Gott verloren. Nun sahen sie, wie Esra die heiligen Schriftrollen öffnete, und sie hörten, dass Esra nichts anderes tat, als das Gesetz Gottes vorzulesen. Als Esra seine Stimme erhob, standen die Menschen auf, die ihm zuhören wollten. Er las das ganze Gesetz vom frühen Morgen an und den ganzen Tag. Da hob einer nach dem anderen seine Arme zum Himmel. Als Esra endlich verstummte, riefen sie: ›Amen! Amen! So soll es sein!‹ Sie verneigten sich tief und dachten voller Trauer
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daran, was sie in der Verbannung preisgegeben hatten. Sie war fen sich auf den Boden nieder und weinten. Doch Esra sprach ih nen Mut zu und rief: ›Macht euch keine Sorgen. Die Freude am Herrn ist eure Stärke.‹ Stefan schaute von der Bibel auf und sah, dass seine Oma die Augen geschlossen hatte. Um ihren Mund zog sich ein Lächeln. Es war still geworden rund um Frau Reitzaks Bett. »Wie heute.« Sie sprach klar und deutlich. Allmählich klangen die Gespräche wieder auf. »Hast du es gespürt, Stefan, die Worte der Bibel sind ein Schatz«, sagte Frau Reitzak. Franziskas Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. »Nur für den, Mama, der sie hören will.« »Gehörst du dazu, Tochter?«, fragte Frau Reitzak leise. »Lass mir Zeit, Mama«, bat Franziska. »Aber diese Geschichte werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen.« »Oma«, sagte Stefan, »ich war damals übrigens noch einmal im Lerchenfeld. Die ganze Gruppe ist mitgegangen.« »Sag die Botschaft weiter, Stefan. Sag sie weiter.« Stefan dachte, jetzt redet sie doch krauses Zeug. Unsicher schaute er sie an. »Wenn du mich besuchen kommst, Stefan, bring die Bibel wie der mit, ja?« Stefan nickte. Er wollte sie an die Birne erinnern. Aber die war nicht mehr da. »Wo ist die Birne geblieben, Oma?« »Ach, Junge, hier liegen über hundert Leute. Die meisten hun gern. Ich weiß schon lange nicht mehr, was Hunger ist. Ich nehme an, jemand hat sie genommen. Hoffentlich schmeckt sie ihm.«
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Stefan brauchte die Bibel nicht mehr nach Hamborn zu tragen. Die Nachtschwester schob gegen Morgen Frau Reitzaks Bett hi naus. Sie hatte ihr das Bettlaken über den Kopf gezogen, obwohl die Tote ganz friedlich und wie befreit aussah. Franziska erfuhr erst am Nachmittag vom Tod der Mutter. Sie er zählte den anderen, was für einen merkwürdigen Wunsch ihre Mutter geäußert hatte. Einen Eichensarg hatte sie erbeten. Stefan ging ein weiteres Mal zu Steiner. Er kündigte den Besuch von Franziska für Montagmorgen an. Alles Notwendige für die Beerdigung sollte dann abgesprochen werden. »Antonia, zeig dem Stefan schon mal, was wir im Laden vorrä tig haben«, sagte Herr Steiner. Stefan stellte kaum Unterschiede zwischen den einzelnen Sär gen fest. Sicher, auf einigen war mit weißer Farbe ein Palmzweig aufgemalt, andere waren mit einem schlichten Holzkreuz ver ziert. Stefan klopfte mit dem Knöchel gegen einen Sargdeckel. »Dünnes Sperrholz«, sagte er. »Möchtest du denn in so einer Zi garrenkiste bestattet werden, Antonia?« »Du bist mir vielleicht ein Spinner«, antwortete sie. »Ich will vorläufig überhaupt nicht begraben werden. Und wenn es mal so weit ist, dann kann es mir egal sein, wie der Sarg aussieht.« »Immerhin war Omas letzter Wunsch ein Eichensarg.« »Vielleicht gibt es ja eichenfarbenes Sperrholz, Stefan.« »Das kannst du ja morgen Franziska mal vorschlagen. Tschüss.« ***
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Stefan kannte die Adresse seines Berufsschullehrers Schill. Er fuhr am Montagabend zu ihm nach Alsum. Schill war ein unge wöhnlicher Lehrer. Er beschränkte seinen Unterricht keineswegs allein auf die Fachkunde. Immer wieder erzählte er von seinen Er lebnissen als junger Mann bei den Wandervögeln und las gele gentlich vor. Manchmal wählte er Texte, über die sich die meisten Lehrlinge und Umschüler in der Pause lustig machten. Als Stefan in der letzten Woche in der Berufsschule gewesen war, hatte Schill darauf hingewiesen, dass in Bruckhausen in einem Wirts haussaal bald der »Urfaust« gespielt werden sollte. Eine ganze Stunde lang las er aus dem Goethetext vor und ließ sich auch nicht davon irritieren, dass der Umschüler Ötte vom Stuhl kippte, weil er eingeschlafen war. Entschuldigend sagte Ötte: »Verzeihung, Herr Schill. Als ich ›Urfaust‹ hörte, dachte ich, ich könnte ein Nickerchen einlegen. Ich interessiere mich nämlich nicht für das Boxen.« Doch selbst diese Bemerkung regte Schill nicht auf, im Gegen teil, er lachte darüber. Stefan wollte den Lehrer bitten ihn für Donnerstag vom Unter richt zu befreien. Zwar sei die Beerdigung schon am Mittwoch, aber zum ersten Mal seit dem Kriegsende käme wahrscheinlich seine Tante Billa aus Arnheim mit Vettern und Kusinen nach Deutschland. Da gäbe es viel zu erzählen. »Sie sind selbstverständlich beurlaubt. Ich wollte Sie schon lan ge fragen, Reitzak, sind Sie nicht auch in einer Jugendgruppe?« »Das bin ich. In der Pfarrjugend in Beeck.« »Wichtig, dass man weiß, wohin man gehört, Reitzak. Ich habe den Eindruck, dass Sie sich zumindest im theoretischen Bereich
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von den meisten in der Klasse abheben. Sie sind interessiert und fleißig. Wissen Sie eigentlich, dass Ihre Lehrzeit verkürzt werden kann? Stellen Sie doch den Antrag, Ihre Gesellenprüfung schon im nächsten Herbst ablegen zu dürfen. Ich würde das in der Kom mission befürworten.« »Meinen Sie, dass ich das schaffe?« »Bestimmt, Reitzak. Aber auf den Hosenboden müssen Sie sich dann schon setzen.« Paul riet Stefan: »Mach das, Junge. Wenn es schief gehen sollte, was hast du zu verlieren? Dann versuchst du es halt später noch einmal.« *** Anna hatte sich freigenommen und bot sich an beim Standesamt den Tod von Frau Reitzak zu melden. Franziska fand unter den Papieren ihrer Mutter die Unterlagen für eine Sterbegeldversiche rung. »Auch das kann ich erledigen«, sagte Anna. »Sprich du nur mit Steiner und dem Pastor. Wenn wir dann wissen, wann die Beerdi gung stattfindet, schreiben wir die Adressen für die Totenbriefe.« Bei Steiner gab es für Franziska eine Überraschung. »Ich habe von dem letzten Wunsch ihrer Mutter gehört. Unsere Antonia hat mich auf einen Gedanken gebracht. Wir haben näm lich in unserer Kirche ein paar Eichenbänke aussortieren müssen, die von Bombensplittern so beschädigt wurden, dass man sie als Kirchenbänke wohl nicht mehr gebrauchen kann. Unser Pastor ist für ein paar Tage ins Oldenburger Land gefahren. Er will dort in
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einem Dorf ein Fresslager für Kinder aus unserer Gemeinde für den Sommer abmachen. Er stammt aus der Gegend dort. Herr Pfarrer Baning hätte wohl kaum zugestimmt, wenn ich die Bänke erbeten hätte.« »Warum denn nicht?«, fragte Franziska. »Ich hätte sie gern be zahlt.« »Tja, wenn Ihre Mutter katholisch gewesen wäre, dann hätte er schon mit sich reden lassen. Er ist noch einer von der alten Schule. Den Kindern hat er in der Vorbereitung auf die erste heilige Kom munion im vorigen Jahr noch gesagt, sie dürften auf keinen Fall eine evangelische Kirche betreten. Das müssten sie sonst in der Beichte bekennen.« »Das glauben Sie doch selbst nicht.« »Sie können ja fragen, Frau Reitzak. Aber die Gelegenheit ist günstig. Herr Kaplan Roth vertritt den Pfarrer während seiner Abwesenheit. Als ich ihm sagte, dass Stefans Oma gestorben ist und was ihr letzter Wunsch gewesen war, da hat er gleich zuge stimmt die Bänke für einen Sarg zu verwenden. Er hat sogar ge meint, dass Sie für das beschädigte Holz eigentlich nichts zu zah len hätten.« »Sie wollen den Sarg ganz umsonst machen?« »Nein, nein, Frau Bienmann. Ich muss mit den Brettern in eine Maschinentischlerei und sie dort an der Bandsäge zurechtschnei den. Und meine Arbeit müssen Sie mir auch vergüten.« »Eigentlich selbstverständlich«, stimmte Franziska zu. »So ist es«, sagte Steiner. »Aber ob es meiner Mutter recht ist, wenn sie in einen sozusa gen katholischen Sarg gebettet wird?«
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Als Steiner sie verblüfft anschaute, versuchte sie es zu erklären: »Meine Mutter, Herr Steiner, war durch und durch evangelisch.« »Ganz gleich, ob evangelisch oder katholisch, Ihre Mutter be kommt einen Sarg, darin möchte …« Eigentlich wollte er fortfah ren, darin möchte jeder sofort bestattet werden. Aber dann wurde ihm noch rechtzeitig klar, dass diese Bemerkung selbst für ihn un passend war, obwohl er täglich mit Toten zu tun hatte. Die Beerdigung wurde auf Mittwoch festgesetzt. Der Pastor schlug eine kurze Totenfeier auf dem Friedhof vor. »Ich habe un ser Gemeindeglied Frau Reitzak gut gekannt«, sagte er. »Sie brau chen mir also keine Stichwörter über ihr Leben für die Predigt aufzuschreiben. Und davon, dass Sie, Frau Bienmann, zur Enttäu schung ihrer Mutter katholisch geworden sind, werde ich kein Wort erwähnen.« »Danke«, sagte Franziska und dachte: Selbst dieser Satz war schon zu viel, Herr Pastor. *** Ein alter Schneider sollte bis zur Beerdigung für Stefan einen dunklen Anzug aus dem Stoff anfertigen, den Paul besorgt hatte. »Ein Anzug in so kurzer Zeit«, sagte er. »Das kann ich nur schaf fen, wenn ich mir tüchtig was auf die Lampe gießen kann.« Paul lieh sich von einem Arbeitskollegen eine Flasche Korn und versprach sie bei der nächsten Monatsration zurückzugeben. Der Schneider sagte zu. Stefan musste sich in seiner Werkstatt auf ei nen Stuhl stellen. Er nahm hier Maß und dort und notierte alles auf einem Zettel. An Stefans Arme und Beine hielt er gleich mehr
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mals das Maßband. »Junge«, rief er erstaunt aus, »du kannst es glauben oder auch nicht. Ich bin jetzt fast fünfzig Jahre Schneider. Noch nie habe ich einen Kunden vermessen, der so lange Arme und Beine hatte wie du.« Zweimal musste Stefan zur Anprobe. Am Mittwochmorgen um acht Uhr konnte er den Anzug abholen. Die leere Branntweinfla sche stand auf dem Schneidertisch und der Meister hatte eine deutliche Fahne. Aber der Anzug passte wie angegossen. Jetzt sehe ich fast so elegant aus wie Theo Salhoff, dachte Stefan. Es regnete und es wehte ein kalter Wind. Nur wenige Menschen begleiteten Tilla Reitzak auf dem letzten Weg. Stefan wunderte sich, dass Antonia Steiner mit zur Beerdigung ging. Sicher aus Ge schäftsgründen, vermutete er. Franziskas Schwester Billa aus Holland war nicht angereist. Franziska nahm an, dass der Totenbrief nicht rechtzeitig zuge stellt worden war. Die Küche und die gute Stube boten genug Platz für die Verwandten und Nachbarn, die zu einer Tasse Kaf fee und einem Stückchen Streuselkuchen eingeladen waren. Den Kuchen hatte Frau Cremmes beschaffen können. Ihre Eltern be trieben in der Flottenstraße eine Bäckerei. »Tilla Reitzak wohnte über dreißig Jahre in meinem Haus«, sagte sie. »Nie hat es zwi schen uns ernsthaft Streit gegeben. So schlecht es den Reitzaks auch oft gegangen ist, pünktlich hat sie mir jedes Mal die Monats miete gezahlt.« Sie hielt inne und dachte daran, dass es keines wegs immer harmonisch zwischen den beiden Frauen zugegan gen war. Denn Tilla Reitzak konnte unverträglich werden, wenn sie glaubte, es sei ihr oder ihren Kindern Unrecht geschehen. »Nihil nisi bene de mortuis«, sagte sie mit einem Seufzer.
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Alle in der Nachbarschaft wussten, Frau Cremmes war sehr stolz darauf, dass sie einige Jahre das Lyzeum in Hamborn besu chen durfte und dort im Lateinischen unterrichtet worden war. Franziska tat ihr den Gefallen und fragte: »Und was heißt das, bit te schön?« »Na ja, es bedeutet so ungefähr, dass man über die Toten nur gut sprechen soll.« Schon verabschiedeten sich die Ersten, da fragte Frau Böggeler: »Was geschieht mit dem Zimmer von deiner Mutter, Franziska?« »Wieso?« »Ich meine ja nur. Unsere Tochter Erika hat doch geheiratet. Wir hocken mit sieben Personen in drei Zimmern. Ich dachte …« »Mutter Reitzak ist erst ein paar Stunden unter der Erde, Frau Böggeler.« Pauls Stimme klang gereizt. »Ich wollte ja nur mal gefragt haben«, sagte die Nachbarin und ging hinaus. Die anderen schlossen sich bald an. Aber dann kam am Nachmittag unerwartet Besuch. Ein Auto stoppte in der Blütentalstraße. Der Fahrer erkundigte sich, wo die Reitzaks wohnten. »Sie kommen sicher wegen der Beerdigung?«, fragte Frau Brunski neugierig. Der Fahrer erschrak. Sollte seiner Tochter Anna etwas passiert sein? Frau Brunski sagte. »Da vorn ist das Haus. Sie können es nicht verfehlen. Hängt ja der schwarze Trauerflor an der Haustür.« Robert Fink schellte zaghaft. Er atmete auf, als Anna ihm öffnete. »Papa!«, rief sie laut, umarmte ihren Vater und stammelte: »Pa
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pa, komm herauf, es ist noch Kaffee und Kuchen da. Wir haben heute Tilla Reitzak beerdigt.« Robert Fink kannte Frau Reitzak nicht, aber er spürte, dass sei ner Tochter dieser Tod nahe ging. »Das ist ja eine Überraschung«, sagte Paul, als sie um den Kü chentisch saßen. »Wie kommst du denn hier her?« »Wilhelm Trapphoff hat einen Opel P4 bekommen können. Trotz des Sauwetters wollte er nach Raffelberg gebracht werden. Die Rennbahn soll ja irgendwann wieder eröffnet werden. Herr Wilhelm trifft sich mit einigen wichtigen Herren aus dem Vor stand des Rennvereins. Er knüpft schon die Fäden für einen Pfer dehandel.« Stefan wunderte sich. »Sollen vom Gestüt etwa jetzt Pferde ver kauft werden?« »Noch nicht, Junge. Solange unser Geld das Papier nicht wert ist, worauf es gedruckt ist, wird doch Herr Wilhelm kein Tier ver kaufen. Aber er hat gesagt, vielleicht haben wir eine harte Wäh rung, wenn die diesjährigen Fohlen so weit sind, dass sie am Ren nen der Dreijährigen teilnehmen können.« »Schön wär’s«, sagte Franziska. »Ich habe auf der Karte gesehen, dass Mülheim-Raffelberg und Beeck gar nicht so weit auseinander liegen. Erst morgen um zehn muss ich Herrn Wilhelm wieder abholen.« »Ein Auto vor unserem Haus«, sagte Stefan. »Das muss ich mir genau ansehen.« »Ja«, stimmte Robert Fink zu. »Paul und die Frauen können gleich mitgehen. Ich habe die gute Gelegenheit genutzt und auf
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die hintere Sitzbank und in den Kofferraum ein paar Sachen ge packt, die ihr sicher gut brauchen könnt.« Die »paar Sachen« lösten Jubel aus. Zwei Zentner Kartoffeln, Mehl, zehn Eier, Ziegenbutter, eingewecktes Fleisch, ein großes Paderborner Brot. »Kommst du aus dem Land, in dem Milch und Honig fließt, Ro bert?«, fragte Paul. Robert schüttelte den Kopf. »Wir haben von den Hamsterern gehört, wie wenig ihr hier im Ruhrpott zwischen die Zähne be kommt. Lena sagt voraus, der Winter wird in diesem Jahr noch hart. Bei uns im Paderbornschen liegt schon Schnee. ›Wenn die Nussbäume reichlich tragen‹, sagt Lena, ›dann wird es lange bit ter kalt bleiben.‹ Und sie haben im Herbst getragen, dass es nur so Nüsse regnete. Deine Mutter sorgt sich um dich, Anna. Du bist jetzt neunundzwanzig Jahre alt. Lena meint: ›Wenn es nichts zu beißen gibt dort in der Stadt, dann wird die Anna schließlich spin deldürr. Welcher Mann dreht sich schon nach einer Bohnenstan ge um?‹ Und wird es nicht höchste Zeit, dass du endlich heiratest? Dass wir Enkelkinder bekommen?« »Genau so ist es«, stimmte Paul zu. »Sie soll sich einen Mann an lachen, heiraten und hier einziehen. Dann wird in unsere Woh nung wenigstens keine fremde Familie eingewiesen.« »Nun hört aber auf«, wehrte sich Anna. »Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt heiraten will. Ich habe einen guten Beruf, lebe hier mit euch wie in einer Familie und fühle mich weder unglücklich noch bin ich unzufrieden.« Paul schleppte die Kartoffeln in den Keller und schüttete sie in ei
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ne Holzkiste. Mit den leeren Säcken verstopfte er das Kellerloch. »Kartoffeln können leicht erfrieren. Oder hast du das schon ver gessen, du alte Kiste?« Er klopfte gegen das Holz. »Hast wohl schon lange nicht mehr so viele Kartoffeln gesehen, was?« Er prüfte das Vorhängeschloss der Kellertür. Gutes Schloss, dachte er. Ist es sicher genug, dass niemand an unsere Kartoffeln kom men kann? Der Spruch ›Not bricht Eisen‹ fiel ihm ein. Galt das auch für Kellerschlösser? Der Rest des Abends aber verging ohne solche Sorgen. Sie frag ten Robert nach Lena, nach Kirchwüsten und nach dem Gestüt, wollten wissen, wer nicht mehr lebte und wo ein Kind geboren worden war, und sie saßen noch bis in die Nacht beisammen und tauschten die Neuigkeiten aus. »Du kannst in dem Bett von Mutter schlafen«, bot Franziska an. Robert zuckte zusammen. »Ich weiß nicht. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Bringt das kein Unglück? Ich habe erzählen hören, dass in den Bergen in Ti rol das Bett verbrannt wird, in dem einer gestorben ist.« »Mamas gutes Bett verbrennen? Das fehlte gerade noch«, sagte Franziska. »Aber wenn du dich graulst, kann ich ja in der Stube schlafen. Du musst dann mit meinem Bett vorlieb nehmen. Ich warne dich, Robert, manchmal schnarcht Paul, als ob er einen di cken Baum sägen müsste.« »Es wäre mir trotzdem lieber. Und außerdem schlafe ich wie ein Stein. Schnarchen kann mich nicht stören.« Kaum war Robert am nächsten Tag abgefahren, da schellte die Post und brachte ein schweres Paket. »Das erste Paket, das ich austrage und das von Übersee kommt«,
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sagte der Postbote zu Franziska. »Lauter kolumbianische Briefmar ken sind darauf. Ich habe sie gezählt, es sind einundzwanzig Stück. Ist aber an Anna Fink adressiert, nicht an Sie, Frau Bienmann.« »Anna Fink gehört zur Familie, Herr Laufmann. Sie kommt aber erst heute gegen sechs Uhr von der Arbeit. Ich kann das Paket an nehmen. Sie geben mir doch immer die Post für Anna.« »Aber so ein Paket, das ist etwas anderes.« Er druckste herum. »Ach, Herr Laufmann, Sie bekommen auch von mir ein Trink geld. Oder wollen Sie lieber einen Schnaps?« »Noch lieber zwei.« Er lachte. »Das Paket ist nämlich sau schwer. Und kalt ist es heute auch.« Franziska schüttete ihm einen Schnaps ein und noch einen zweiten. Sie selbst nippte auch von einem Gläschen. »Dafür schleppe ich Ihnen das Ungetüm nach oben.« »Lassen Sie mal, Herr Laufmann. Wenn ich siebzig bin, gerne.« Franziska war aber doch außer Atem, als sie das Paket in der Küche abstellte. Als Stefan von der Arbeit kam, bestaunte er die Briefmarken. »Ob Anna mir die schenkt?« »Bald ist ja Weihnachten, Junge. Ich werd es ihr vorschlagen.« »Ich kann ja einen Wunschzettel schreiben, wenn ich nachher aus der Gruppe wieder zurück bin.« Auch Paul hob das Paket an und wog es in den Händen. »Min destens 15 Kilo«, schätzte er. Zum Glück kam Anna pünktlich gegen sechs. Sie legte gar nicht erst ihren Mantel ab, sondern löste mit zittrigen Fingern die Ver packung. Alles, was das Paket enthielt, legte sie Stück für Stück auf den Tisch.
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»Wieder Kaffee«, sagte sie. »Aber auch Kakao und Rosinen und Öl und Mehl und Zucker und Konservendosen mit Fleisch und …« Sie tippte mit ihrem Finger von einer Köstlichkeit auf die andere. Vor Eifer hatte sich ihr Gesicht gerötet. Schließlich fand sie noch fünf Tafeln Schokolade. »Jetzt können wir das Weih nachtsfest ruhig kommen lassen.« Franziska machte Anna aufmerksam, dass noch ein flaches Päckchen in dem Karton lag. Es war in Weihnachtspapier einge schlagen. Sie packte es behutsam aus und faltete das Papier. »Das wird gebügelt.« Dann erst betrachtete sie genau, was darin lag. Es war eine Seidenbluse mit einem winzigen Kreuzstichmuster herr lich bestickt. »Von Susanne«, sagte Anna. »Mein Vater hat mir erzählt, Chris tian hat nach Hause geschrieben, dass Susanne eine Nähwerkstatt mit Indiofrauen in dem Dorf, in dem sie leben, aufgebaut hat. Aber dass sie dort so schöne Sachen machen, hätte ich nicht ge dacht.« »Wir helfen dir beim Rübertragen der Schätze«, bot Paul an. »Was meinst du damit, Paul?« »Na, das ist doch dein Paket. Wir bringen alles in dein Zimmer.« »Seid ihr denn ganz verrückt geworden?«, schimpfte Anna. »Wir leben zusammen, immer haben wir alles geteilt. Das soll auch so bleiben. Oder willst du deine Kohlen und deinen Schnaps in Zukunft auch für dich allein behalten?« Paul lachte. »Ja, wir sind wirklich wie eine große Familie.« ***
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Stefan kam pünktlich kurz vor zehn. Er fragte Anna nach den Briefmarken. Sie sagte genau wie Franziska: »Bald ist Weihnachten.« »Genau. Ich habe aber noch einen Wunsch.« Er ging zum Kü chenschrank und nahm eine Puppe in die Hand. »Willst du mit Puppen spielen?«, neckte ihn Paul. »Nein. Aber wir haben in der Gruppe etwas vor. Kaplan Roth besorgt Adressen von Leuten, die ganz bestimmt keine Geschen ke zu Weihnachten machen können. Darunter sind auch Frauen, die mit ihren kleinen Kindern ganz allein zurechtkommen müs sen. Wir haben uns gedacht, dass wir Pakete packen und die am Heiligen Abend dorthin tragen.« »Und jetzt willst du dafür eine Puppe haben?«, fragte Franziska. Stefan druckste herum. »Nicht nur eine«, sagte er schließlich. »Wir haben aus Kirchwüsten die Vorräte bekommen, heute das tolle Paket aus Kolumbien, eigentlich brauchen weder Franziska noch du, Anna …« »Du meinst, wir haben es gar nicht mehr nötig, zum Hamstern zu fahren?«, sagte Anna. »So ist es doch, oder?« Die beiden Frauen tuschelten eine Weile miteinander. Dann sagte Anna: »Ich werde drei Puppen nach Kolumbien schicken. Zwei sind für Christians und Susannes Mädchen.« »Und die dritte?«, fragte Stefan. Anna wurde rot. »Die Frau von Lorenz Mattler hat auch ein Kind geboren. Dem schenke ich eine Puppe. Lorenz war meine erste große Liebe.« »Hört, hört!«, rief Stefan. »Und was ist mit dir, Franziska?«
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»Ich sende eine zu der Bäuerin Niggemeier. Ihr kleines Mäd chen heißt Marien. Jeden Tag hat uns Frau Niggemeier vier Liter Milch gegeben. Das werde ich ihr nicht vergessen. Die restlichen acht Puppen, Stefan, die kannst du mitnehmen. Als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk.« Stefan stürzte auf Franziska zu und umarmte sie heftig. Das hat te er nie zuvor getan. Franziska strich ihm über das Haar und sagte leise: »Schon gut, Stefan, schon gut.« *** Bis in die Nacht hinein saß Stefan an seinem kleinen Tisch und schrieb. Die Reitzaks waren längst ins Bett gegangen. Stefan wusste, dass sie nicht in sein Zimmer kommen würden. Gegen Pauls Willen hatten sie die Absprache getroffen, dass die kleine Kammer nur dann von anderen betreten werden durfte, wenn Stefan es ausdrücklich so wollte. »Jeder Mensch braucht eine Insel, die nur ihm gehört«, hatte Franziska gesagt. Paul hatte ihr widersprochen. »Wir waren in unserer Familie elf Kinder. Nur meine älteste Schwester Magda hatte ein Bett für sich allein. Wo war da der Platz für deine Insel?« »Innerlich«, antwortete Franziska. Da hatte Paul genickt. Nach einer ziemlich langen Bedenkpause hatte er zugestimmt. »So ist es, Franziska«, hatte er gesagt. Als Stefan endlich das Licht löschte, ging es schon auf zwei Uhr zu. Er konnte über manches, was ihn bedrückte, einfach kein
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Wort über die Lippen bringen. Aber er schrieb es sich gelegentlich von der Seele. Papier ist geduldig. Oma Reitzaks Ausspruch war wohl nicht falsch. In dieser Nacht hatte er eine ganze Anzahl Blätter beschrieben. Zuerst klagte er darüber, dass es ihm auf der Baustelle oft schlecht ging. Der Polier schien seine Freude daran zu haben, ihn zu krän ken. Vor allem, wenn Notteboom nicht gut gelaunt war, fand er hundert Dinge an Stefans Arbeit auszusetzen. Er tadelte ihn dann so laut, dass alle es hören konnten. Einmal waren die Stoßfugen beim Mauern zu breit geraten, dann hatte er zu viel Speis aufge tragen und es quollen Nasen unter den Ziegeln hervor oder die Kante des Steins lief nicht haargenau an der Maurerschnur ent lang. Er, Stefan, musste dreimal mit dem Maurerhammer zu schlagen, bis er den Ziegel auf das richtige Maß gekürzt hatte. Öt te schaffte das mit einem Schlag. Und so fort. Notteboom schaute ihm genau auf die Finger. Es kam Stefan so vor, als ob der Polier auf seine Fehler wartete. Das machte ihn un sicher. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob er nicht die Truffel und den Maurerhammer in das Hafenbecken schleudern und sich nach einer anderen Lehrstelle umsehen sollte. Er klagte aber nicht nur über die Schwierigkeiten in der Lehre. Lange schaute er auf die unbeschriebenen Blätter. Dann schrieb er: »Ich wollte es eigentlich gar nicht wirklich, aber dann bin ich in eine Sache hineingerutscht, die mir viel Bauchschmerzen bereitet. Aber der Reihe nach. Heinrich, Burbeck und ich hatten uns für ein großes Tischten nisturnier in Hamborn angemeldet. Zumindest Burbeck spielt im Allgemeinen besser als ich.
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Er schlägt hart und schnell. Obwohl ich ganz gut Schmetterbälle abwehren kann – Burbecks Kaliber ist mir doch zu groß. Trotz dem, Heinrich und Burbeck flogen schon nach zwei gewonnenen Spielen aus dem Turnier. Ich überstand auch die dritte Runde und gelangte von den insgesamt einhundertachtundzwanzig Teilnehmern unter die letzten Sechzehn. An der Platte, die für mein nächstes Spiel ausgelost wurde, war mein Ausscheiden ab zusehen. Mein Gegner war der Favorit des Turniers. Er kam von einer Mannschaft aus Duisburg, die drei Klassen höher als unsere erste Mannschaft spielte. Aber irgendwie hatte es sich herumge sprochen: ›Der Lange aus Beeck ist gefährlich.‹ Deshalb sammel ten sich viele Zuschauer in der Nähe unseres Tisches. Die ersten Ballwechsel gingen gut für mich aus. Mein Gegen spieler zeigte Nerven. Ich weiß selbst nicht, wie es gelingen konn te, aber er kam mit meinen angeschnittenen Rückgaben immer weniger zurecht und verlor sang- und klanglos in drei Sätzen. Nun lief es wie von selbst. Unter den letzten Acht traf ich auf ei nen Spieler, der nicht besser war als ich. Ich gewann, ohne mich voll ausgeben zu müssen. Nur noch vier Teilnehmer waren im Turnier. Bis auf eine waren alle anderen Platten weggeräumt wor den. Ich hatte Franziska zugesagt, spätestens um sieben Uhr zu Hause zu sein. Jetzt ging es schon auf acht zu. Die Lichter in der Halle waren gelöscht worden. Nur über unserem Spieltisch leuchtete ein heller Strahler. Nun, ich will es kurz machen, ich ver lor im fünften Satz nach Verlängerung. Eigentlich sollte ich vor dem Endspiel noch gegen den Verlierer der anderen Paarung um den dritten Platz kämpfen. Burbeck und Heinrich drängten mich dazu. Ich bekäme ja, wenn ich siege, eine Urkunde. Aber ich malte
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mir aus, was Franziska wohl anstellen würde, wenn ich selbst um zehn noch nicht zurück wäre. Ja, und dann war da noch etwas. Ei ner der Veranstalter des Turniers war zugleich der Trainer der Duisburger Mannschaft. Er sprach mit mir und ließ sich meinen Schläger zeigen. ›Wie konnte unser bester Mann Fritz Fischer bloß gegen einen Spieler verlieren, der mit so einer vorsintflutlichen Pfanne hier er scheint?‹ Dann versuchte er mich für seinen Klub abzuwerben. Er zeigte mir einen wunderbaren Schläger. Der Noppenbelag war weicher als meiner. Das Ding lag mir in der Hand, als ob es eigens für mich gemacht worden sei. ›Der Schläger gehört dir, wenn du zu uns kommst. Wenn ich dich trainiert hätte, wäre dein letztes Spiel niemals über die Wup per gegangen.‹ Ich lehnte das Angebot ab. Sollte ich Burbeck, Heinrich und alle die anderen der Mannschaft im Stich lassen? Der Schläger aber ging mir nicht aus dem Kopf. Zu kaufen gab es so etwas nicht, zu mindest nicht mit unserem Geld. Mit sehr guten Beziehungen konnte man vielleicht daran kommen. Aber ein Verein, der in der Kreisklasse spielte, hatte solche Beziehungen nicht. Also abhaken? Nun, ich hatte schon einmal vorher einen vergleichbaren Schlä ger gesehen. Komann hatte im Schuppen bei Hacks dreimal ge gen mich gespielt und mich von der Platte gefegt. Er besaß einen ähnlichen Schläger. Besaß ist richtig ausgedrückt. Denn Komann ist ja auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ob er aber den Schläger mitgenommen hat, als er sich absetzte? Unwahrschein lich. Ich musste Krasek fragen.
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Der lachte. ›Kann ich mir denken, dass du scharf darauf bist. Aber du erwartest doch wohl nicht, dass ich dir das Ding so ein fach schenke?‹ Der Schläger war also in seinem Besitz. Er zeigte ihn mir. Er war einfach herrlich. Das Einzige, was mich störte, war das Haken kreuz, das Komann in den Griff eingebrannt hatte. Aber das konnte ich mir in Steiners Schreinerei vorsichtig rausschneiden. Das sagte ich Krasek natürlich nicht; denn dann hätte er mir den Schläger nie und nimmer gegeben. Aber diese Nazirune brachte mich auf eine Idee. ›Ich könnte Ihnen, Herr Krasek, zum Tausch ein goldenes Par teiabzeichen anbieten.‹ ›Ein goldenes Partei…‹ Er war verblüfft. ›Ein Geschenk von meinem Freund. Soll aus dem Hilfszug Dr. Ley stammen.‹ ›Das will ich erst mal sehen, Junge. Das ist ja unglaublich.‹ Eine Stunde später legte ich ihm das Ding auf den Tisch. Seine Augen begannen zu glänzen. Er befingerte das Abzeichen und drehte es in den Händen. ›Du weißt doch, dass es zwar goldenes Parteiabzeichen heißt, aber nicht aus echtem Gold ist?‹ Ich wusste es nicht. ›Also, ich mache dir ein Angebot. Dieses Abzeichen und zwan zig Mark und der Schläger gehört dir.‹ ›Zwanzig Mark, Herr Krasek! Ich komme bald ins zweite Lehr jahr. Für zwanzig Mark muss ich einen ganzen Monat auf dem Bau arbeiten.‹ ›Egal. Zwanzig Mark und das Abzeichen. Mein letztes Wort.‹
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Ich steckte das Abzeichen in die Tasche und ging. Zwanzig Mark! Woher nehmen und nicht stehlen? Man müsste den Schein irgendwo finden oder unauffällig wegnehmen können. An diesem Abend brütete ich einen Plan aus. Paul hatte im Schrank eine Flasche Korn stehen. Ab und zu genehmigte er sich ein Gläschen. Würde er es bemerken, wenn ich ab und zu ein paar Tropfen …? Ich fragte Burbeck nach den Alkoholpreisen auf dem Schwarz markt. ›Für einen Flachmann Kornschnaps wird zurzeit ein Zwanzigmarkschein gezahlt.‹ Das passte. So vielleicht fand ich einen Weg, an das Geld zu kommen. Im Laufe von zwei Wochen füllte ich aus Pauls Schnapsflasche fast jeden Tag eine winzige Portion in einen Flach mann, der in der Baubude herumstand und den ich ohne langes Fragen mitgenommen hatte. Sicher, Paul hat einige Male miss trauisch seine Flasche angeschaut und den Kopf geschüttelt. Ich glaube aber nicht, dass er mich in Verdacht hatte, wenn der Pegel wieder um ein paar Millimeter gesunken war. Endlich war meine kleine Flasche voll. Also auf zum Schwarzmarkt nach Ruhrort. Am späten Samstagnachmittag sollten besonders viele Schieber dort auf dem Gildenplatz herumstehen. ›Im Halbdunkel blühen die Geschäfte am besten‹, hatte Burbeck im Tischtennisraum gesagt. Auffallen wollte ich auf keinen Fall. In der Menge von Schwarzhändlern und Schaulustigen konnte ich am besten untertauchen. Verstohlen zeigte ich hier und da, was ich anzubieten hatte. Tatsächlich war ich meinen Schnaps schon nach wenigen Minuten los. Eine Frau wollte mir das Fläsch chen aus der Hand nehmen. Aber Burbeck hatte mir eingeschärft,
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ich solle nie etwas mit der Rechten weggeben, wenn ich nicht zu gleich mit der Linken das Geld zu fassen bekommen könnte. ›Erst zahlen.‹ Die Frau hat mich belustigt angeschaut. ›Und du hast mir kalten Kaffee in die Flasche gefüllt, was?‹ ›Nee, gute Ware. Kornschnaps vom Pütt. Drei Sterne.‹ ›Verschluss aufdrehen!‹ Ich tat’s. Sie schnüffelte an dem Flaschenhals und brummte zu frieden. Aus ihrer Manteltasche zog sie ein ganzes Bündel Geld scheine, suchte einen Zwanzigmarkschein heraus und drückte ihn mir in die Hand. Sie ging mit dem Schnaps nur wenige Schrit te zur Seite. Dann drehte sie den Schraubverschluss ab und warf ihn auf die Straße. In einem Zug trank sie den Flachmann leer. Das Geschäft war gemacht. Aber mir wurde heiß. Ich hatte Paul be stohlen! Bis nach Beeck in die Blütentalstraße lief ich im Dauerlauf und streckenweise rannte ich auch. Zum Glück war niemand in der Küche. Ich warf mich auf mein Bett. Dieser verdammte Schläger! Mir war elend zu Mute. Ich hatte Paul beklaut. Er hatte es wahr scheinlich bemerkt, dass jemand an seine Flasche gegangen war. Kein Wort hatte er dazu gesagt. Was sollte ich tun? Schließlich machte ich etwas ziemlich Verrücktes. Im Zimmer von Franziska und Paul standen in einer Ecke wohl an die zehn Weißglasflaschen. Franziska hatte sie gespült und aufgehoben und wollte im Herbst Obstsäfte einfüllen. Ich nahm eine dieser Flaschen, zog den Korken heraus, rollte den Zwanzigmarkschein auf und schob ihn durch den Flaschenhals. Dann wieder fest ver korkt und die Flasche hinter die anderen gestellt. Es würde lange
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dauern, bis sie entdeckt wurde. Aber ich hatte mich geirrt. Schon am Montag, als ich von der Arbeit kam, stand die Flasche auf dem Küchentisch. ›’ne merkwürdige Spardose hast du dir da ausgedacht, Stefan‹, sagte Franziska. Wenn es keinen Knatsch geben sollte, musste ich Farbe beken nen. Ich hab Franziska angedeutet, was wirklich geschehen war. Sie hat ihre Brille abgenommen und vor sich auf den Tisch ge starrt. Endlich hat sie gesagt: ›Junge, wenn in einer Familie das Vertrauen weg ist, wenn der eine dem anderen misstraut, ist das dann noch eine Familie? Unsere Familie?‹ Ich brachte kein Wort heraus. ›Stefan, ich versuche das mit Paul wieder in Ordnung zu brin gen. Ich rede mit ihm‹, sagte sie. ›Gut, dass du mit mir darüber ge sprochen hast.‹ Paul kam gegen elf Uhr von der Mittagschicht. Ich traf ihn erst am nächsten Tag. Er hat mich nur angeschaut. Nein, er ist nicht zornig geworden. Es lag eher so etwas wie Mitleid in seinem Blick. ›Junge, Junge.‹ Mehr sagte er nicht dazu. Ich wollte ihn um Verzeihung bitten, aber Franziska stand hin ter ihm und legte ihren Zeigefinger über die Lippen. ›Zeit zu re den, Zeit zu schweigen‹, schoss es mir durch den Kopf. Roth hatte die Zeit-Sätze aus der Bibel am letzten Donnerstag vorgelesen. Aber im Gespräch ging es um etwas ganz anderes. Sexualität war das Thema gewesen. Sicher, ich hätte, wenn Thorsten nicht gelo gen hat, auch in der Ruhrorter Altstadt für zwanzig Mark auf ›Hautfühlung‹ gehen können. Roth hat übrigens keine Moralpre
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digt vom Stapel gelassen. ›Zeit zu lieben.‹ Nur den einen Satz hat te er dazu gesagt: ›Liebe ist keine Ware.‹ Übrigens habe ich erst eine Woche danach Krasek wieder ge troffen. ›Na, du Tischtennisheld, wie steht es mit uns?‹ ›Aus dem Geschäft wird nichts, Herr Krasek.‹ ›Ich hab es mir überlegt, Reitzak. Das Geld ist sowieso nicht viel wert. Ich bin auch ohne zwanzig Mark einverstanden. Wenn du mir das Parteiabzeichen gibst, ist der Tausch perfekt.‹ So bin ich doch noch an den Schläger gekommen. Aber richtige Freude habe ich nicht daran. Nein, nicht weil ich die letzten bei den Spiele verloren habe. Der Schläger erinnert mich an eine ganz andere Niederlage. So, Schluss für heute. Liebe Mama, lieber Papa, ich werde diese Blätter in eine von Pauls Flaschen stecken und den Korken fest eindrücken. Über morgen, Mama, wenn Du Geburtstag hast, werfe ich sie vom Kribbenkopf aus so weit ich kann in den Rheinstrom. Vielleicht sagt Ihr mir dann mal Eure Meinung dazu. Im Traum oder so. Euer Sohn Stefan.« *** Lenas Voraussage traf ein. Der Rhein fror für Wochen zu. In den ersten Apriltagen erst schmolzen die letzten längst schmutzigen Schneereste an den Straßenrändern. Die Lebensmittelrationen waren so stark gekürzt worden, dass es Hungertote gab. Auch die
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anhaltende Kälte setzte den Menschen zu. Die Verwaltung hatte an manchen Stellen in der Stadt Wärmestuben eingerichtet. Die Kohlen, die Paul von der Zeche zugeteilt bekommen hatte, neigten sich dem Ende zu. Der Vorrat an Kartoffeln wurde kleiner und Franziska hatte begonnen sie abzuzählen, bevor sie mit dem Schälen begann. Aber schließlich war der Frühling so schnell gekommen, als ob das Jahr alles nachholen wollte, was es bis dahin versäumt hatte. Die Blütentalstraße machte innerhalb weniger Tage ihrem Namen Ehre. In den Trümmern breiteten sich Blumenteppiche aus und die Bäume in den Gärten blühten fast alle zur gleichen Zeit. Selbst der Kirschbaum in Cremmes Garten, der von Bombensplittern arg zerzaust worden war, hatte tausend und tausend weiße Blü ten entfaltet. Seit Komann verschwunden war, gingen Luttrop und Anna vertrauter miteinander um. An einem Abend Anfang Mai sagte er zu ihr: »Wir haben den ganzen Tag im Büro gehockt, Frau Fink. Ich will einen Gang zum Rhein machen. Wäre das nicht auch et was für Sie?« Fast eine Stunde gingen sie nebeneinander her. Annas Kopf wurde von den Sorgen des Tages allmählich frei. Die Sonne stand schon tief, als sie den Rhein erreichten. Der Fluss führte wenig Wasser. Sie setzten sich auf einen Krib benkopf, der weit in den Strom hineinragte. Die Steine hatten die Sonnenwärme gespeichert. »Wir arbeiten nun schon über ein Jahr zusammen«, sagte Luttrop. »Sollten wir uns nicht mit Vornamen anreden?« Sie nickte und sagte: »Anna«, und zeigte auf sich. Sie musste
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über sich selbst lachen, weil ihr einfiel, dass sie sich auf diese Wei se oft bei den Kriegsgefangenen vorgestellt hatte. »Ich heiße Fe lix«, sagte er. »Das soll ja ›der Glückliche‹ heißen. Aber vom Glück habe ich bisher in meinem Leben wenig gemerkt.« »Du hast doch eine gute Stelle hier bei Holzbauer bekommen. Das gelingt nicht jedem, der jahrelang beim Militär gewesen ist.« »Stimmt«, gab er zu. »Aber wer ist schon unbeschadet durch die Kriegsjahre gekommen? Mich hat es dreimal erwischt.« Er zeigte auf seinen Nacken und strich die Haare beiseite. Sie sah die lange Narbe. »Ein Granatsplitter, den ich mir Ende 42 vor Stalingrad einfing. Auf der Röntgenaufnahme war zu sehen, dass er bis fast zur Wirbelsäule durchgedrungen ist. Glück, dass er vorher stecken blieb? Ich wurde noch mit einer JU 52 ausgeflogen. Seit dem Sommer 1944 wandern Metallsplitter von einer französi schen Eierhandgranate durch meinen Körper. Glück? Der Stabs arzt hat es so genannt. ›Keiner droht einstweilen in ein wichtiges Blutgefäß zu gelangen‹, hat er gesagt. Dieses ›Einstweilen‹ ist manchmal wie ein Alptraum. Dann und wann gelangt eines der winzigen Metallteilchen bis dicht unter die Haut und kann weg genommen werden. Ein Oberschenkeldurchschuss schon kurz nach Kriegsbeginn im September 1939 in Polen. Glück? Wenn ich an so manchen Kameraden denke, hatte ich vielleicht wirklich Glück. Aber waren es nicht verlorene Jahre? Schließlich sah ich mehr und mehr ein, für wen ich eigentlich meine Haut zu Markte trug. Aber wer hatte dann noch die Kraft, auszusteigen?« »Ich hatte sie auch nicht«, gestand sie. »Du, Anna? Hattest du dich auch in diesem braunen Fangnetz verstrickt?«
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Sie erzählte, wie ihr die Augen aufgegangen waren, als sie Gri gori kennen gelernt hatte. Sie habe nicht ein noch aus gewusst. »Ich hatte einfach Angst, ganz abzuspringen.« »Es gibt niemand, der ausgeschert ist und dabei keine Angst hatte«, sagte er. »Ich hab’s nicht gekonnt und, wie du sagst, du wohl auch nicht. Vielleicht besteht darin unsere Schuld.« Sie saßen beieinander und schwiegen. Die Sonne senkte sich groß und rot in den Strom. »Dieser elende Krieg«, sagte sie leise. Mit einem Male konnte sie erzählen, was sie mit Grigori verbun den hatte. Ihrer Liebe hatten sie hundert Fesseln angelegt. Für Grigori hätte es den Tod bedeutet, wenn es mit Anna zur »Rassen schande« gekommen wäre. Und auch ihr wäre es schlecht ergan gen. Vielleicht nicht gerade der Tod durch den Strang. Sicher aber der Verlust des Berufes, Gefängnis vielleicht oder auch Lager. Erst als die Alliierten schon auf der linken Rheinseite vordrangen, war sie bei einem Fliegeralarm, als alle anderen in den Bunker ge eilt waren, mit Grigori im Ingenieurbüro geblieben. Der Alarm nahm und nahm kein Ende. Die Nacht brach früh herein. Immer wieder warfen die Abschüsse der Flak ihre Blitzlichter gegen die tief hängenden Wolken. Weiter entfernt hörten sie Bombenexplosionen. Aber sie achteten nicht mehr auf das Schießen der Fliegerab wehr und hörten über das ferne Detonieren der Bomben hinweg. Sie rückten eng zueinander. Grigori war zurückgewichen, als sie ihn umarmte und küssen wollte. Aber sie presste ihn an sich. Beb te der Boden unter ihnen wirklich von den Einschlägen der Bom ben oder kam es ihr nur so vor?
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Auf Düsseldorf zu brannte der Himmel. Das Grollen des Krie ges wurde allmählich leiser. Sie saßen auf dem Boden und lehnten sich mit dem Rücken gegen die Außenwand. Grigori sagte zu ihr: »Anna Fink, ich bin glücklich. Ganz gleich, was mit uns gesche hen wird.« Und dann begann er Luftschlösser zu bauen. »Du bist katho lisch, Anna. Ich auch, wie viele Menschen in der Ukraine. Was ich über unsere Religion weiß, haben wir Kinder immer nur im Ge heimen von den Großmüttern erfahren. Die Orthodoxen mögen uns nicht und Stalin hat alle grausam verfolgt, die von Gott nicht lassen wollten. Ich habe es von einem Priester im Untergrund ge lernt: Wenn zum Beispiel zwei, die sich lieben, allein auf einer In sel im wilden Ozean sind und heiraten wollen, dann müssen sie nicht auf einen Priester warten. Sind wir nicht auf einer solchen schrecklichen Insel? Deshalb frage ich dich, Anna Fink, willst du mich heiraten? Irgendwann geht jeder Krieg zu Ende. Vielleicht können wir dann ohne Angst zusammen leben, werden Kinder haben und Freunde. Wir bauen ein Haus, irgendwo an einem See. Bienenstöcke werde ich im Garten aufstellen und einen Apfel baum pflanzen.« Die Traumbilder sprangen auf sie über. Plötzlich wurde das Licht in dem Büroraum nebenan einge schaltet. »Ist hier noch jemand?«, rief einer laut. War das Ko manns Stimme? Sie duckten sich und wagten kaum zu atmen. Die Schritte entfernten sich. Die Tür wurde zugeschlagen und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Es blieb alles ruhig. Sie stiegen durch das Fenster des Büros ins Freie. Noch mehrmals zuckte grell ein Blitz auf. Es fiel ihnen nicht
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auf, dass kein Knall eines Abschusses folgte. Erst kürzlich war ihr klar geworden, dass das Fotoblitze gewesen waren. Der Heulton der Sirenen erschallte. Entwarnung. »Verbirg du dich im Lagerkeller, Grigori. Morgen früh gehst du zu den anderen an deine Arbeit. Ich komme dann später und hole dich in mein Büro zu einer Besprechung.« Sie umarmten sich ein letztes Mal. Wieder ein heller Blitz. »Ja, Anna«, sagte Grigori. »Und überlege dir meinen Heiratsan trag.« »Ich wusste, Felix, dass es Wahnsinn war, was diese Nacht mit uns gemacht hatte. Zu Grigoris Antrag brauchte ich nichts mehr zu sagen. Komann kam am Morgen gegen zehn und beschuldigte mich. Ich musste fliehen.« Es war inzwischen Nacht geworden. Immer noch saßen Luttrop und Anna auf dem Kribbenkopf. Das Silberlicht des Mondes brach sich in den Wellen in ein tausendfältiges Funkeln. Anna hatte sich zusammengekauert und die Arme fest um ihren Körper gelegt. Ein sanfter, lauer Wind wehte vom Wasser her. »Felizitas, die Glückliche, wäre auch für dich kein passender Name gewesen«, sagte Luttrop und legte seinen Arm um ihre Schulter. *** Eines Samstags kam Paul schon früher als gewöhnlich von der Zeche und sagte: »Ich muss gleich noch mal weg.« Er schien auf geregt, war aber nicht zu bewegen Franziska zu verraten, wohin er gehen wollte. Seinen guten Anzug hatte er angezogen und so
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gar die rote Krawatte umgebunden, die er sonst nur an besonde ren Feiertagen aus dem Schrank holte. Das ist ja ganz was Neues, dachte sie. Jetzt hat er schon Geheim nisse vor mir. Macht sich fein und sagt mir nicht, wohin er will. Vergeblich versuchte sie einen Verdacht beiseite zu schieben, der ihr in den letzten Wochen häufiger gekommen war. Paul hatte fast jeden Abend über seinen Fachbüchern gesessen und wie ein Schuljunge Aufgaben zu lösen versucht. Oft, Franziska meinte, zu oft, hatte er Anna zu Hilfe gerufen. Sie saßen dann manchmal dicht nebeneinander und steckten ihre Nasen in die Bücher. Franziska fühlte sich ausgeschlossen. Lief da mehr zwischen Anna und Paul als ein mathematisches Problem? War Anna nicht zu Hause, hatte Paul sich jedoch auch nie ge scheut Stefan um Rat zu fragen. Stefan zeigte ihm dann geduldig, wie er seine Aufgaben lösen konnte. Einmal lobte Franziska den Jungen: »Du würdest einen guten Lehrer abgeben, Stefan.« An diesem Tag kam Anna, wie meist, erst am Abend vom Be trieb. Paul ließ immer noch auf sich warten. Stefan war zum Ju gendheim gegangen und hatte wohl auch die Zeit vergessen. Franziska beklagte sich heftig bei Anna: »Seit Mutter tot ist, bleibt die ganze Arbeit hier im Haus für mich allein. Zum Nähen komme ich kaum noch. Keiner hält sich an die Essenszeiten. Franziska steht ja parat. So kann das auf die Dauer nicht weiter gehen.« Anna war überrascht. Aber es war ihr klar, dass Franziskas Le ben in den letzten Monaten anders geworden war. Sie hatten es al
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le wie selbstverständlich hingenommen, dass Franziska die Hausarbeit übernahm, die vorher Tilla Reitzak gemacht hatte. »Wir müssen überlegen, was wir ändern können«, sagte Anna, als sie sah, dass Franziska ihre Brille abnahm und sich die Augen wischte. »Und dann diese schreckliche Wohnung hier. Fließendes Was ser nur auf dem Flur, das Klo eine Halbtreppe tiefer, samstags ba den wir in der Küche in der Blechbadewanne; nicht mal ein Gas kocher ist da, sondern nur der alte Kohlenherd von meiner Mut ter. Mir wächst das alles über den Kopf.« »Lass uns darüber reden, Franziska, wenn Paul zurück ist. Mir steckt der Kopf so voller Probleme, dass ich das alles bisher gar nicht so richtig bemerkt habe. Ich verstehe dich. So kann es wirk lich auf die Dauer nicht weitergehen.« Aber ein solches Gespräch fand an diesem Abend nicht statt. Paul und Stefan kamen zur gleichen Zeit nach Hause. Franziska stellte missmutig den Topf mit dem Abendessen auf den Tisch. Paul schob ihn beiseite. Aus seiner Ledertasche nahm er eine dün ne Papphülle und ein in Geschenkpapier eingeschlagenes Päck chen. »Setzt euch«, sagte er. Dann packte er das Päckchen aus. Es war ein Buch, das den Titel ›Geschichte des Bergbaus an der Ruhr‹ trug. Franziska war enttäuscht. Sie wusste nicht genau, was sie er wartet hatte. Irgendeine Kleinigkeit für sie vielleicht. Aber ihr Mann hatte ihr schon lange kein Geschenk mehr gemacht. Paul zog ein Blatt aus der Hülle und reichte es Stefan. »Lies vor«, sagte er. »Bist ja der Vorleser vom Dienst bei uns.« »Zeugnis für Paul Bienmann«, begann Stefan. Und dann las er,
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dass Paul den Lehrgang für Maschinenhauer als Bester des gan zen Kurses mit »sehr gut« bestanden hatte. »Und ich alter Kerl hab sogar einen Preis bekommen. Ich unter lauter jüngeren Männern«, sagte Paul und hielt das Buch hoch. Er sagte das nicht prahlerisch, aber alle konnten sehen, wie stolz er war. Pauls Freude wirkte ansteckend. Aber dann sagte er: »Ich hätte das alles wahrscheinlich so gar nicht schaffen können, wenn mir nicht Anna und Stefan oft geholfen hätten. Dafür danke ich euch.« Franziskas Freude war wie weggewischt. Sie stand auf und wandte sich ab. Niemand sollte sehen, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Anna und Stefan, Stefan und Anna. Paul rief: »Lauf nicht weg, Franziska. Die größte Überraschung kommt ja noch. Der Steiger hat mich heute gefragt, ob wir nicht ei ne neue Zechenwohnung haben wollen. Zwei Zimmer und eine Küche mit fließendem Wasser, ein Korridor zum Treppenhaus hin abgeschlossen und, haltet euch fest, ein Badezimmer, geka chelt bis unter die Decke. Was sagt ihr dazu?« »Aber nicht in Beeckerwerth«, sagte Franziska empört. »Und wenn sie dort die Wasserhähne vergolden, in die Zechenkolonie ziehe ich nicht.« Paul lachte laut. »Ich dachte es mir«, rief er. »Was die alten Bee cker sind, die bringen keine zehn Pferde nach Beeckerwerth. Aber vier neue Zechenhäuser sind hier in Beeck am Lehnhof fertig ge worden. Da könnten wir in der ersten Etage …« »Paul, du bist ein Engel«, jubelte Franziska, stürzte auf ihren Mann zu und küsste ihn. »Donnerwetter!«, schrie Stefan. »Hat man selten erlebt, dass ihr euch einen Kuss gebt.«
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»Ich habe die Schlüssel bekommen. Es ist zwar dunkel draußen, aber dann können wir das elektrische Licht gleich ausprobieren. Wenn ihr wollt, gehen wir mal hin.« Wirklich, eine schöne, moderne Etagenwohnung in guter Lage hatte man Paul angeboten. Aber trotzdem war die Stimmung ge drückt. Stefan nannte schließlich den Grund. »Und Anna?«, fragte er. Anna war tatsächlich zunächst betroffen gewesen. Aber sie hat te sich entschieden und sagte: »Habe ich nicht einen Mietvertrag für das Zimmer in der Blütentalstraße Nummer 7 in Cremmes’ Haus, erste Etage? Ich bleibe dort. Erst mal jedenfalls.« »Könntest ja abends zum Essen zu uns rüberkommen«, bot Paul ihr an. Anna musste lachen. Wie wenig er doch von den Nöten seiner Frau wusste. »Ich bin fast dreißig«, sagte sie. »Mittags kann ich im Betrieb es sen. Alles andere schaffe ich allein.« »Bald ist Sonntag«, sagte Paul. »Dann wird ab vier Uhr gefei ert.« »Dürfen Anna und ich einen Gast mitbringen?«, bat Stefan. »Was für einen Gast?«, fragte Anna. »Stefan schleppt sicher jemand aus seiner Gruppe hierher«, ver mutete Paul. »So ungefähr«, erwiderte Stefan und tat geheimnisvoll. Anna sagte: »Ich kann ja mal überlegen. Vielleicht Lore Quin ders. Oder …« »Ich wette, du bringst den ›oder‹ mit«, rief Stefan übermütig. Als er an diesem Abend in seinem Bett lag, dachte er lange über
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Paul nach. Ihm wurde bewusst, dass er ihn heute bewundert hat te. Ich könnte mir glatt eine Scheibe davon abschneiden, dachte er. So ein alter Knacker und ist sich nicht zu schade immer noch etwas Neues zu lernen. Von diesem Tag an gab sich Stefan bei seiner Arbeit und für die Berufsschule so viel Mühe wie nie zuvor. Am Bau konnte er keine Lorbeeren ernten. Immer noch gelang es ihm nicht, eine Fenster wange lotrecht aufzumauern oder in der Mauerflucht mit Öttes oder Karls Tempo Schritt zu halten. Aber in der Schule gehörte er bald zu den Besten. Als Karl von der Firma vom Hafen zu einer anderen Baustelle zum Ostacker geschickt wurde und außer dem Hilfsarbeiter Gustav ausgerechnet ihn mitnehmen wollte, wun derte Stefan sich sehr. »Wir müssen in einer Reihe von Häusern die Schäden beseiti gen, die der Bergbau verursacht hat«, sagte Karl. »Die Stollen sind im Krieg schlecht verbaut worden. Es hat zwar auch früher schon Risse in Putz und Mauerwerk gegeben. Aber es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. In Bruckhausen musste sogar ein Haus ganz ge räumt werden. Für uns heißt das, in den Steigerhäusern auf Bee ckerwerth zu den herabgefallenen Verputz erneuern, Setzrisse auskratzen und zuschmieren und all den Kram.« »Und warum willst du gerade mich mitnehmen?«, fragte Ste fan. »Du bist mit 190 Zentimetern der Längste auf der Baustelle. Du brauchst in den Zimmern nicht jedes Mal ein Gerüst zu bauen, wenn du an der Decke was ausflicken musst.« ***
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Stefan zögerte, bis er dann doch seine Befangenheit überwand und Antonia Steiner einlud zur Blütentalstraße zu kommen und Pauls bestandene Prüfung mitzufeiern. »Es ist zugleich so eine Art Abschied von der Wohnung dort«, sagte er. »Wir ziehen weg.« »In eine andere Stadt wollt ihr?« Sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Nein, nein«, versicherte er. »In einem Neubau am Lehnhof ist Paul eine Wohnung zugesagt worden.« »Gut«, sagte sie. »Ich komme gern.« »Ich selbst will auch etwas feiern, Antonia.« »Du hast doch erst im Dezember Geburtstag.« Stefan wunderte sich, woher sie das wusste. Vielleicht von ih rem Bruder Peter? Die Mannschaft hatte ihm im Tischtennisraum beim Adventsturnier gratuliert. »Nein«, sagte er. »Es ist ganz etwas anderes. Franziska hat mich vor ein paar Wochen darauf gebracht. Ich habe dem Paul öfter ge holfen, wenn er mit seinen Rechenaufgaben nicht weiterkam. Da hat sie gesagt, an mir wäre ein Lehrer verloren gegangen. Ich habe darüber lange nachgedacht. Der Gedanke, Lehrer zu werden, hat sich nicht vertreiben lassen.« »Dann müsstest du studieren. Und Student kann man nur wer den, wenn man das Abitur hat«, wandte sie ein. »Ich weiß. Ich müsste es nachholen.« Antonia schaute ihn ungläubig an. »Willst du die Maurerlehre aufgeben und zum Gymnasium?« »Das geht nicht. Leider habe ich keinen reichen Onkel in Ameri ka, der zu Besuch gekommen wäre und mir viele Dollars ge schenkt hätte. Aber es gibt in der Innenstadt die Lehranstalt Zim
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mermann. Eine private Abendschule. Da kann man, wenn man sich dranhält, in zwei Jahren das Abitur schaffen.« »Tagsüber auf dem Bau und abends zur Schule, da hast du dir ja allerhand vorgenommen. Sind die Bienmanns denn damit einver standen?« »Es hat Stunk gegeben. Paul war dagegen. ›Lehrer werden? Du spinnst wohl?‹, hat er gesagt. ›Das dauert ja ewig, bis du dann ans Geldverdienen kommst. Außerdem musst du immer nach der Pfeife von denen tanzen, die im Land den Ton angeben. Einmal will der Staat das tausendjährige Großdeutsche Reich und die Lehrer müssen dafür werben. Als ich zur Schule ging, hat unser Lehrer uns das Lied beibringen müssen Der Kaiser ist ein lieber Mann. Du hast gesungen Führer befiehl, wir folgen dir. Und heute? Ich weiß nicht. Die Lehrer hängen ihr Fähnchen nach dem Wind. Sollst was Anständiges lernen, Junge.‹ Aber Franziska hat ihm widersprochen und ihn daran erinnert, wie sie sich durchgebissen hat, als sie eine Damenschneiderei auf machen wollte. ›Damals waren auch alle dagegen und haben ge sagt, das wären Phantastereien. Wenn Stefan unbedingt Lehrer werden will …‹ Paul ist dann wütend nach vorn in die Stube gerannt und hat die Tür hinter sich zugeknallt. Ein paar Minuten später ist Franziska ihm nachgegangen und hat lange mit ihm geredet. An dem Tag hat Paul kein Wort mehr mit mir gesprochen. Aber einen Tag später hat er sich zu mir an den Tisch gesetzt. ›Ich hab es mir überlegt‹, hat er gesagt. ›Wenn du es wirklich willst, das mit dem Lehrer, dann versuch es. Aber erst wird die Maurerlehre zu Ende gebracht. Wenn du dann tat
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sächlich Student wirst, kannst du weiterhin bei uns wohnen und bekommst auch dein Essen. Für alles andere musst du selbst sor gen.‹ ›Ist klar‹, habe ich geantwortet. ›In den Semesterferien kann ich ja auf dem Bau arbeiten.‹« »Das war alles, was er dazu gesagt hat?« »Nicht ganz. Er wollte mir erklären, warum er erst einen Schreck bekommen hat und dagegen war, als er von meinen Plä nen hörte. Ich müsse das verstehen, dass er so heftig geworden sei. Im Krieg seien sie zweimal ausgebombt worden. Er meinte, sie müssten endlich auch mal an sich selbst denken, an neue Mö bel und eine Werkstatt für Franziska und so. Vielleicht könnten sie irgendwo auf dem Land später mal ein Haus bauen mit einem großen Garten dahinter. Wenn ich ihnen aber jahrelang auf der Tasche läge … Aber dann hat sich Franziska zu uns gesetzt. Sie hat mir zuge zwinkert. Das sollte wohl heißen: Wir kriegen das schon alles hin.« »Und, schaffst du es, Stefan?« »Ich hab Kaplan Roth gefragt, was er davon hält. Ich glaube, er hat sich gefreut. Er hat mir die Adresse eines Lehrers aufgeschrie ben, der auch auf krummem Weg in diesen Beruf gekommen ist.« »Und der Lehrer hat dir zugeraten?« ›»Das ist kein leichter Weg‹, hat er gesagt. ›Das Studium dauert vier Semester. Längst nicht alle, die sich melden, werden aufge nommen. Ich rate Ihnen auf jeden Fall Ihre Lehre erst abzuschlie ßen. Man fällt dann nicht so hart, wenn es schief geht.‹ Nur gut, dass ich die Gesellenprüfung schon nächstes Jahr ablegen kann.«
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»Dann bleibt dir ja demnächst wenig Zeit für …« Sie stockte kurz und fuhr dann fort: »…für den Singkreis und das Tanzen.« »Abwarten. Die Schule ist viermal in der Woche von abends sechs bis halb zehn. Ich habe mich dort angemeldet. Ab nächste Woche Montag gehe ich dahin.« »Die Schule, das Studium, das ist eine lange Zeit«, sagte sie. »Aber ich finde es gut, wenn du das machst. Ich wollte auch nach der Schule in eine Ausbildung. Aber wie das so geht. Ich bin das älteste Mädchen in unserer Familie. Vier von uns Kindern sind noch zu Hause; das Geschäft, das keine festen Zeiten kennt. Mei ne Mutter hat mich nach der Schulzeit gar nicht gefragt, ob ich im Haus bleiben wollte. Alle fanden das wohl selbstverständlich.« »Vielleicht war dein Abschlusszeugnis nicht gut genug?«, neck te er sie. »Das war es nicht. Ich will ja nicht angeben, aber ich hatte fast nur gute und sehr gute Zensuren. Gern wäre ich wie eine Frau aus der Nachbarschaft Fürsorgerin geworden. Aber …« »Und warum bist du es nicht?« Sie schwieg, sagte aber dann kurz: »Meine Mutter sagt, sie braucht mich. Es wächst ihr alles über den Kopf. Und ich würde ja sowieso mal heiraten und sie werde es schon hinbekommen, dass ich eine gute Partie machen würde.« »Und Peter?« Sie lachte. »Jungen sind bei unserer Mutter etwas ganz anderes als Mädchen. Peter hat vorigen Monat seine Lehre beendet und geht bald für ein Jahr als Wandergeselle auf die Walz. Einfach so. Es wird gar nicht gefragt und er fragt sich wohl am allerwenigsten selbst, ob er nicht viel nötiger zu Hause gebraucht würde. Aber
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vorher muss ich ihm bestimmt, wie jede Woche sonst auch, die Schuhe blank polieren.« »Das machst du wirklich?« »Wenn ich ihm sage, mach das allein, Peter, es sind deine Schu he, es ist dein Dreck, dann schaltet sich meine Mutter ein. Sie schaut mich traurig an und sagt: ›Wenn du es nicht machst, Anto nia, tu ich es.‹ Ich weiß, dass ich auf stur schalten sollte. Aber ich bring es einfach nicht fertig. Ich greife dann wütend und hilflos zugleich zum Schuhputzzeug und hadere mit mir – beschimpfe Peter und insgeheim sogar mich selbst.« »Nur damit du es weißt, Antonia: Ich habe zwar keine Schwes ter, aber ich putze seit meinem fünften Geburtstag meine Schuhe selbst.« *** Es war so, wie Stefan es geahnt hatte: Anna brachte nicht ihre Freundin Lore mit zum Fest, sondern Felix Luttrop. Franziska hatte darauf bestanden, dass die Feier in der guten Stube stattfand und nicht wie sonst in der Küche. Frau Reitzaks Bett war längst abgebrochen worden und doch war eine gewisse Scheu geblie ben, das Zimmer zu benützen. Anna hatte eine Mokkatorte geba cken und die letzten Kaffeebohnen aus Kolumbien geopfert, um echten Bohnenkaffee zu kochen. Sie trug den Kuchen ganz feierlich in die Stube. Die Überra schung gelang. »Mir ist der Duft schon im Treppenhaus in die Nase gestiegen«, sagte Luttrop. »Erst habe ich doch tatsächlich überlegen müssen,
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was das ist, was da so verführerisch riecht. Ich habe jahrelang kei nen echten Kaffee mehr getrunken. Habt ihr etwa einen Schieber vom Schwarzmarkt in eurer Bekanntschaft?« »Schwarzmarktpreise können wir nicht bezahlen«, sagte Paul. »Aber Anna hat die richtigen Kontakte.« »Also doch Verbindungen zum Schwarzmarkt?« »Nein«, erwiderte Anna. »Man braucht nur einen Bruder in Ko lumbien. Und den habe ich.« »Nun lasst über die reichen Verwandten den Kaffee nicht kalt werden«, rief Franziska. »Und nicht zu viel Kuchen essen. Später gibt es auch noch Heringssalat.« »Auch aus Kolumbien?«, fragte Luttrop. »Was denken Sie denn?«, sagte Franziska empört. »Für die paar Heringe habe ich drei Stunden lang vor dem Fischladen in der Schlange gestanden.« »Früher in meiner Heimat in Ostpreußen, da haben wir in drei Stunden bei gutem Angelwetter einen ganzen Sack voll Fische ge fangen«, prahlte Paul. »Ich weiß, ich weiß«, spottete Franziska. »In deinem Dorf Lie benberg war alles viel besser als hier.« »Liebenberg bei Ortelsburg?«, fragte Luttrop. »Kennen Sie etwa das kleine Nest dahinten in der Walachei?«, fragte Franziska. »In Masuren, Frau Bienmann, nicht in der Walachei. Meine Mutter ist 1944 aus Lindenort geflohen. Das lag nicht weit von Liebenberg entfernt.« »Sie sagen, das Dorf lag nicht weit entfernt«, sagte Paul. »Gibt es Ihr Dorf Lindenort heute nicht mehr?«
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»Ich weiß es nicht genau. Die Häuser sollen zwar alle noch ste hen. Aber es leben jetzt nur Polen dort. Sie haben dem Dorf einen polnischen Namen gegeben. Es heißt jetzt Lipowicz. Ist das noch mein Dorf?« »Hört bitte auf mit den Geschichten aus Ostpreußen«, sagte Franziska. »Wenn Ihr damit erst anfangt, dann kommt ihr meis tens an kein Ende.« »Hast Recht, Frau. Ich bin nun schon über fünfundzwanzig Jah re in Duisburg. Aber irgendetwas muss es an Ostpreußen geben, das uns nie ganz loslässt.« »Vielleicht sind es die Heringe, die Ihr dort gefangen habt?«, spottete Stefan. »Das Leben besteht aus einer Reihe von Abschieden«, sagte Anna. »Abschied aus der Heimat und Abschied von Menschen, die uns ans Herz gewachsen waren.« Sie hingen ihren Gedanken nach. Franziska dachte: Abschied von meinem Jungen Martin, von Bruno Kurpek auch. Und Ab schied von meiner Mutter. Paul stand ganz lebhaft sein Vater vor Augen, wie er auf seinem Holzplatz umherging und die Balken und Bretter betrachtete, die dort lagerten. »Meine Mutter, mein Vater, Liebenberg«, flüsterte er. Franziska schaute zu Anna hinüber. Ob sie an Grigori dachte? Aber Anna hatte ihre Hand auf Luttrops Arm gelegt und lächelte. Nur Abschiede? Stefans Augen suchten Antonia. Sie wich seinem Blick nicht aus. »Nein«, sagte er bestimmt. »Nicht nur Abschiede. Auch immer wieder ein neuer Anfang.«
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Sachbegriffe
Alliierte: Verbündete; im Krieg 1939 bis 1945 wurden die Truppen der ge gen Deutschland kämpfenden Staaten so bezeichnet. BDM: Bund Deutscher Mädel. Innerhalb der Hitlerjugend die Organisa tion für die 14- bis 18-jährigen Mädchen. Flak: Flugabwehrkanone. Soldaten, die zur Flugabwehr ausgebildet und eingesetzt wurden, hießen entsprechend Flaksoldaten. GESTAPO: Geheime Staatspolizei, 1933-1945. Hatte die Macht, ohne ge richtliche Grundlage Hausdurchsuchungen durchzuführen, Verhaftun gen vorzunehmen (so genannte Schutzhaft), Einweisungen in Konzentra tionslager zu vollziehen, zu foltern und zu ermorden. GI: Government Issue, eigentlich der Aufdruck auf den vom Staat geliefer ten Ausrüstungsgegenständen der Soldaten der USA. Später wurden mit GIs die US-Soldaten überhaupt bezeichnet. Hitlerjugend: HJ, einerseits die Bezeichnung für die gesamte nationalso zialistische Jugendorganisation für alle 10- bis 18-Jährigen mit ihren ver schiedenen Untergliederungen, andererseits Bezeichnung für die Organi sation der 14- bis 18-jährigen männlichen Jugendlichen. Ab 1939 wurde die Mitgliedschaft gesetzlich vorgeschrieben. Karbidlampe: Eine Azetylenlampe, in der das brennende Gas Azetylen dann entsteht, wenn Calziumkarbid mit Wasser in Verbindung gebracht wird. Kinderlandverschickung: Ab 1943 wurden die Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Städte vor allem in den Industriezentren so zahlreich, dass dort die Schulen geschlossen wurden. Die schulpflichtigen Kinder wur den in vermeintlich sicherere Gebiete gebracht und dort in KLV (=Kinder landverschickungs)-Lagern untergebracht. KJMV: Katholischer Jungmännerverband. 1933 rund 6 000 Ortsvereine und um 350 000 Mitglieder. Nach 1933 vielerlei Pressionen, starke Behin derung der Jugendarbeit, Diskriminierungen und Verhaftungen führen
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der Leute, örtliche Verbote. Im Februar 1939 war der KJMV endgültig und überall verboten. Kokillen: Die Behälter, in denen die glutflüssige Hochofenschlacke mit der werkseigenen Eisenbahn zu den Kippstellen transportiert wurde. NSDAP: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (seit 1920). Ab Sommer 1933 die einzige zugelassene Partei in Deutschland. Der Wille Adolf Hitlers bestimmte allein die Grundlinien ihrer Politik, keine demo kratischen Binnenstrukturen. NSV: Nationalsozialistische Volkswohlfahrt seit Mai 1933, Unterorganisa tion der NSDAP, zuständig für »alle Fragen der Volkswohlfahrt und Für sorge«. »Persilscheine«: Schriftliche Aussagen, die bei den Entnazifizierungsver fahren dazu dienen sollten, die Beschuldigten zu entlasten. Quäker: Religiöse Gemeinschaft, deren Anhänger vorwiegend in den USA leben. Ihre soziale Einstellung und ihr Eintreten für die Menschenrechte bewegte sie schon in der ersten Monaten nach dem Kriegsende 1945 der hungernden deutschen Bevölkerung vor allem Nahrungsmittel zu spen den. SA: Sturmabteilung, seit 1921 militärisch organisierte und uniformierte Kampftruppe der NSDAP. Spielte eine wesentliche Rolle bei der Errin gung der Macht 1933. Danach war die SA mit hilfspolizeilichen Vollmach ten betraut, mit der Verfolgung politischer Gegner und Juden. 1934 wur den der SA Putschpläne unterstellt, der SA-Chef Ernst Röhm und andere hochrangige SA-Führer wurden umgebracht. Die SA wurde entmachtet und verlor ihr politisches Gewicht. SS: Schutzstaffel, bis 1934 Unterorganisation der SA, nach dem so genann ten Röhm-Putsch selbstständig. Mehrfach gegliedert (z. B. Leibstandarte Adolf Hitler, Waffen-SS, eigener Geheimdienst SD = Sicherheitsdienst), wurde die SS die mächtigste Organisation während der NS-Gewaltherr schaft, verantwortlich für die Konzentrationslager und den Mord an Mil lionen Menschen. Sturmschar: Oft kurz Schar genannt. Bildete sich aus den Wandergruppen des Katholischen Jungmännerverbands ab 1928 und verstand sich als Kern des KJMV. Nach 1933 bekämpft, örtlich behindert und verboten, ins besondere die Kluft, das Banner, die Wimpel, Fahrten, Lager, Treffen,
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Wanderungen. Verhöre und Haussuchungen erfolgten, oft Schutzhaft und Gefängnis besonders der Leute der Führung. Die Organisation wurde im Februar 1939 endgültig verboten, aber viele Mitglieder hielten Kontakt und verweigerten sich der Gleichschaltung. Volkssturm: Letztes Aufgebot der Nazidiktatur, in dem Jugendliche und alte Männer gegen Ende des Krieges schlecht ausgebildet und unzurei chend bewaffnet zum Kriegsdienst einberufen wurde. Zwangsarbeiter: In den von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzten Ländern wurden Frauen und Männer oft gegen ihren Willen zur Zwangs arbeit vor allem in der Industrie in Deutschland gezwungen.
Danksagung Ein zeitgeschichtlicher Roman erfordert umfangreiche Recherchen. Für bereitwillig erteilte Materialien und Auskünfte danke ich herzlich: Herrn Heinz Baumeister, Duisburg; Herrn Wilhelm Storck, Moers; Herrn Dr. A. Jaeger, Düren; Herrn Josef Hülsen, Xanten, und Herrn Rolf Birbe, Xanten. Für mancherlei Anregungen und die kritische Durchsicht des Manu skripts gilt mein Dank Frau Dr. Monika Born, Essen; der Lektorin Frau Susanne Krebs, Würzburg; Herrn Prof. Dr. Gerhard Haas, Kusterdin gen; Herrn Heinrich Heidbüchel, Xanten, und Herrn Hermann Migas, Xanten. Schließlich ein Dankeschön meiner Frau Elisabeth, die mit Geduld und Verständnis das Wachsen des Manuskripts kritisch begleitete. Willi Fährmann Xanten im Sommer 2004
Willi Fährmann, geboren 1929 in Duisburg, lebt heute in Xanten am Niederrhein. Er gehört zu den profiliertesten Autoren der deutschen Kinder- und Jugend literatur und hat für seine Bücher zahlreiche Preise erhalten, u.a. den Deutschen Jugendlite raturpreis, den Katholi schen Jugendbuchpreis und den Österreichischen Staatspreis für Jugendliteratur. Für sein Gesamtwerk erhielt Willi Fährmann 1978 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Seine im Arena Verlag erschienenen Bücher haben die Millionenauflage bereits weit übertroffen und sind in viele Sprachen übersetzt.
Deutschland 1945.
Die technisch hoch begabte Anna Fink hat es
gegen alle Widerstände ihrer Zeit geschafft, Ingenieurin
zu werden. Aber noch wenige Monate vor Kriegsende muss
sie in Duisburg alles zurücklassen und aufs Land fliehen,
weil ihre Freundschaft zu einem russischen Kriegs
gefangenen bekannt wurde. Die Schatten der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft liegen nach
wie vor schwer über den Menschen – auch nach
Kriegsende. Aber allmählich, ganz allmählich wagen
Anna und ihre Freunde, einer Stimme
der Hoffnung zu vertrauen.
Meisterhaft und unvergesslich erzählt
Willi Fährmann von den schwierigen Jahren unmittelbar
nach dem Krieg: vom täglichen Kampf ums Überleben, von
der immer noch präsenten Angst und von der Hoffnung