Rosita Steenbeek
Etruskische Schatten
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Von nie gekannter Leidenschaft und Absoluthei...
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Rosita Steenbeek
Etruskische Schatten
scanned 04/2008 corrected 11/2008
Von nie gekannter Leidenschaft und Absolutheit ist die Affäre, die Lisa in ihrer Wahlheimat Rom mit Lorenzo erlebt. Aber noch ehe sich die beiden wirklich kennen, stirbt der junge Archäologe. Die Suche nach Lorenzos Wurzeln wird Lisas wichtigste Reise. Auf seinen Spuren entdeckt sie die faszinierende Kultur der Etrusker, taucht tief in eine Welt ein, die voll überwältigender Sinnlichkeit und Lebensfreude gewesen sein muß … ISBN: 3-8225-0563-3 Original: Schimmenrij Stefanie Schäfer Verlag: Kabel Verlag GmbH Erscheinungsjahr: 2001
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Lisa, eine junge Bildhauerin aus Amsterdam, lebt seit fast zehn Jahren in Rom, wie ihre beste Freundin, die Journalistin Heleen. Als Lisas Geliebter Lorenzo, der als Archäologe in den Gräbern der Etrusker forscht, plötzlich ums Leben kommt, gerät Lisas Welt aus den Fugen, und nicht einmal Heleen kann ihr helfen. Nach Monaten der Trauer faßt Lisa Mut, den Umständen von Lorenzos Tod auf den Grund zu gehen. Sie reist in die Toskana, trifft endlich Lorenzos Familie und seine Freunde. Und sie sucht die mit Wandmalereien reich verzierten etruskischen Grabungsstätten auf, in denen er zuletzt tätig war. Erst die Spuren dieser faszinierenden Kultur, die pure Vitalität und Sinnlichkeit ausstrahlt, geben Lisa Trost und Zuversicht. Und schließlich findet sie auch die Kraft, sich dem Leben aufs neue zu stellen. »In der Tradition Stendhals und Goethes macht Rosita Steenbeek aus der klassischen Figur des nordeuropäischen Reisenden, der sich von der mediterranen Welt angezogen fühlt, endlich eine Frau.« Il Giornod
Autorin
Rosita Steenbeek, 1959 in Utrecht geboren, studierte Theologie, Niederländische Sprache und Literatur. Seit 1985 lebt sie teils in Rom, teils in den Niederlanden. Sie arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin ins Niederländische, u.a. von Alberto Moravia und Susanna Tamara. 1996 erschien ihr vielbeachteter erster Roman »Die letzte Frau« über die Liebe einer jungen Frau zu zwei großen Männern, Alberto Moravia und Federico Fellini, der als autobiographischer Schlüsselroman für Aufsehen sorgte.
Rosita Steenbeek
Etruskische Schatten Roman Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
Kabel
Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Schimmenrijk« bei Prometheus in Amsterdam.
ISBN 3-8225-0563-3 © 1999 Rosita Steenbeek Copyright der deutschsprachigen Ausgabe: © Kabel Verlag GmbH, München 2001 Gesetzt aus der Garamond Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Printed in Germany
»Kehre in Gedanken zurück zu deinen Brüdern von vor dreitausend Jahren; erlebe all ihre Qualen und Träume aufs neue, und du wirst feststellen, daß sich sowohl dein Herz als auch dein Verstand erweitern werden; eine tiefe, grenzenlose Sympathie wird alle Spukgestalten und alle Wesen wie ein Mantel umhüllen.« GUSTAVE FLAUBERT
Hohe Bäume neigen sich zu beiden Seiten über die Straße. Eine dunkle Wolkendecke hängt am Himmel, es beginnt zu donnern. Sträucher peitschen hin und her auf runden Hügeln: Das sind sie schon, die Gräber. Überall Spalten und Löcher. Ein Blitz zerreißt den Himmel. Als sie ankommen, schließen sich gerade langsam die Tore. Ein Mann erklärt sich bereit, ihnen das bedeutendste Grab zu zeigen: die letzte Ruhestätte eines Lukomonen, eines Priesterfürsten. Mit einem großen Schlüssel öffnet er die Gittertür vor der Treppe, die zur Grabstätte führt. Sie steigen hinab. Die Wände sind mit Moosfetzen bedeckt. Sie betreten einen großen Raum. In den Tuffstein sind zwei Sitze gehauen. Lorenzo setzte sich. Sie nicht.
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Sie fährt in dem ratternden schmiedeeisernen Käfig langsam den unbeleuchteten Liftschacht hinunter. Der Lichtschein von der Dachterrasse dringt nur bis in die oberen Etagen, ein Schirm von Helligkeit, unter dem sie immer tiefer hinabsinkt. Dann wird es stockdunkel. Unter ihr als einziger Anhaltspunkt der phosphoreszierende Schalter der kaputten Lampe. Ein einsames Glühwürmchen. Blind im Dunkeln herumtastend öffnet sie das große Tor, und dann steht sie draußen. Der Asphalt der breiten Straße glänzt nach dem Frühjahrsschauer wie ein dunkler Fluß. Es ist noch vor zwölf. Ein Taxi zu nehmen wäre Unsinn, schließlich hält der Bus direkt vor ihrer Tür. Sie schaut auf der von einer Straßenlaterne beleuchteten Tafel nach, wann der nächste fährt, doch es sind keine Abfahrtszeiten angegeben. Auf dem sonst so belebten Platz rührt sich nichts. Sie lehnt am Laternenpfahl wie eine Statistin an einem leeren Set. Lisa konnte Pietro noch nie besonders gut leiden. Er hatte Heleen mehrmals ohne nähere Erklärung im Stich gelassen, doch sie empfing ihn jedesmal wieder mit offenen Armen, wenn es ihm beliebte, zurückzukommen. Vor kurzem war es wieder einmal soweit gewesen, doch 8
Heleen hatte die Sache gelassen gesehen. Sie wisse, daß sie nicht auf ihn zählen könne, sagte sie, und eben darum funktioniere es. In letzter Zeit sorgte er für das Essen und bügelte ihre Kleidung. Heute abend war er nett gewesen, das mußte Lisa zugeben, er hatte gut gekocht, spaghetti alle vongole, und sich in regelmäßigen Abständen zurückgezogen, damit sie und Heleen sich unterhalten konnten. Heleen hatte ihr von ihrer neuen Stelle bei der Zeitung erzählt. Früher, als sie noch selbständig gewesen war, hatte sie ausschließlich über Themen geschrieben, die ihr lagen, hauptsächlich über Kunst und Kultur. Jetzt, wo sie eine feste Anstellung hatte, mußte sie sich jedoch auch politisch auf dem laufenden halten. »Ich hatte gerade einen Text abgegeben, sitze in der Bar und rauche eine Zigarette, da bekomme ich einen Anruf, daß sie innerhalb von zwei Stunden einen Artikel über die drohende Kabinettskrise wollen. Bei so was gerate ich total in Panik«, hatte sie Lisa erzählt. Sie war müde und hatte Rückenschmerzen von der ganzen Anspannung. Andererseits war sie jetzt ihre Geldsorgen los. Heute abend hat Lisa gespürt, daß selbst Heleen ihrer Niedergeschlagenheit und ihrer immer gleichen Fragen allmählich müde wird. Sie geht zwar darauf ein, doch Lisa bemerkt, daß es sie immer größere Mühe kostet. Heleen ist schon seit langem der Meinung, Lisa solle wieder anfangen zu arbeiten. Das versucht sie ja auch. Aber sie kommt keinen Schritt weiter. Sie geht zwar ins Atelier, aber es führt zu nichts. Der riesige Berg Ton löst bei ihr nur Widerwillen, ja sogar Angst aus, fast als werde sie in ihn hineingesogen. Früher weckte der Ton Lebenskraft in ihr, jetzt ist er nur noch tote Erde. 9
Sie wünscht, sie könnte wieder mit Heleen zusammenwohnen; vielleicht würde ihr Leben dann einfacher. Es war immer wieder ein seltsames Gefühl für sie, die Dinge zu sehen, die sie früher geteilt hatten. Der große Tisch, der in Lisas Zimmer gestanden hatte, diente Heleen jetzt als Arbeits- und Eßtisch, und auf dem ausziehbaren Sofa, auf dem Lisa jahrelang geschlafen hatte, saß Pietro und schaute Fernsehen. Und er lief selbstgefällig mit dem roten Service herum, das sie einmal mit Heleen zusammen auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Andererseits brächte sie es nicht übers Herz, die Wohnung, in der sie nun lebte und in der es so viele Erinnerungen an Lorenzo gab, zu verlassen: der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, mit ihr auf seinem Schoß, das Bett, in dem sie geschlafen hatten, bis sie vom Sonnenlicht, das durch das kleine Fenster hineinfiel, geweckt wurden, die Terrasse, die er mit einem Meer blauer Lobelien bepflanzt hatte, im Badezimmer seine Zahnbürste neben der ihren im Zahnputzbecher. Hätte sie Heleen nicht getroffen, damals, vor zehn Jahren, wäre ihr Leben ganz anders verlaufen – dann wäre sie wahrscheinlich nicht in Rom geblieben, und Heleen genausowenig. Sie sieht die sonnige Terrasse des LidoCafés in Venedig wieder vor sich, wo sie einander während der Biennale vorgestellt worden waren. Heleen war ihr sofort sympathisch gewesen, wegen ihrer lakonischen Ausdrucksweise und ihrer strahlenden Augen. Zwar war sie keine Schönheit im klassischen Sinne, doch zog sie trotzdem die Blicke auf sich, durch ihre vergißmeinnichtblauen Augen, die vollen, knallrot geschminkten Lippen in ihrem weißen, dreieckigen Gesicht mit der großen Nase und ihr langes blondes Haar. Lisa hatte Heleen 10
gefragt, ob sie wisse, wo die Toilette sei. Diese erwies sich jedoch als defekt. »Ich fand es einfach großartig, wie du da in aller Seelenruhe im Kostüm und hochhackigen Schuhen hinter einem Busch verschwunden und kurz danach wieder aufgetaucht bist, während diese Kunstbonzen einfach weiterschwadroniert haben.« Diese Episode kramte Heleen immer hervor, wenn sie und Lisa danach gefragt wurden, wie sich kennengelernt hatten. Lisa erschauert; ihre Sommerjacke ist noch zu dünn für abends. Die warmen Ocker- und Terrakottatöne der Gebäude wirken nun dunkelgrau, und die Äste der Bäume heben sich davor ab wie schwarze Greifarme. Ob auch diese Bäume krank sind, so wie die Platanen am Ufer des Tiber? Sie müßten unter Umständen alle gefällt werden, hatte in der Zeitung gestanden. Der ganze Frühling ist für sie ein Schlag ins Gesicht. Heleen ist der Meinung, sie lebe zu sehr in der Vergangenheit. Dabei lebt sie überhaupt nicht. Die Sterne sind hinter dem Smog verborgen. Der Mond ist grau. In diesem Augenblick schmiegt sich Heleen in Pietros Arme. Aus dem Blattwerk der Platanen scheint grüne Farbe zu sickern. Unter ihr fließt trübe der Tiber, neben ihr ein Strom von Autos. Fröhliche Familien in glänzenden Blechbüchsen auf dem Weg zu Verwandten, lebendig oder begraben auf Prima Porta, dem unendlich weitläufigen Friedhof, den sie einmal an Allerseelen besucht hatte. Mit ihm zusammen hatte sie den Lärm nicht gehört, 11
war er nur fröhliches Hintergrundrauschen der Stadt gewesen. Ihr Blick wandert über den Fluß, geradewegs zu dem hellorangefarbenen Palazzo, zum dritten Fenster in der zweiten Etage. Von dort aus hatten sie zugeschaut, wie der Tiber und die Stadt von der Nacht zurückgegeben wurden. Lisa geht weiter durch das Chaos und die Auspuffgase, bis sie die Oase der Piazza del Popolo erreicht. Die Sonne strahlt eine der beiden Zwillingskirchen an. Sie trinkt Kaffee in der Bar, wo er Kaffee getrunken hat, kauft eine Zeitung an seinem Kiosk. Es ist, als durchsuche sie heimlich seine Sachen, während er nicht zu Hause ist. Sie setzt ihre Wanderung auf der Via Flaminia fort. In der Ferne erkennt sie den Brunnen, wo sie nach rechts abbiegen muß. Sie nimmt einen Schluck von dem Wasser, das irgendwo tief unter dem Lärm, dem Schutt und den Trümmern hervorgepumpt wird. Acqua vergine, das reine Wasser, das ein Papst einst im 16. Jahrhundert nach Rom leiten ließ, sauberer und gesünder als das meiste Wasser in den Flaschen, die in den Zeitungen und im Fernsehen angepriesen werden. Eine stille Straße liegt vor ihr, die Via di Villa Giulia. Wie viele Straßen wohl unter diesem Pflaster verborgen liegen? Seit ihrer ersten Verabredung mit Lorenzo vermutet sie überall Reste der Vergangenheit. Damals sollte er eine Gruppe von Besuchern durch mit Wandmalereien geschmückte Katakomben führen. Sie sollte ihn begleiten, und danach wollten sie zusammen essen gehen. Ich muß mich geirrt haben, dachte sie, als sie, ein wenig zu spät, in einer Straße ankam, durch die ununterbrochen der Verkehr raste. Hier kann es nicht sein. Doch dann 12
tauchte ein Mann auf und öffnete mit einem großen Schlüssel eine Luke im Bürgersteig, unter der eine Treppe in die Tiefe führte, zu Abbildungen von Kindern, die schon seit über zweitausend Jahren in ihr Spiel vertieft waren. Dort fand sie Lorenzo, der sie durch ein unterirdisches Labyrinth führte. Lisa war tief beeindruckt gewesen; sie hatte nicht gewußt, daß das Alltagsleben einer fernen Vergangenheit so nahe rücken konnte. Im Sonnenschein geht sie weiter und folgt dabei der alten Mauer. Die Stille wird nur von Schlägen gegen einen Ball und ab und zu von einer lauten Männerstimme unterbrochen. Es reißt sie aus ihrer Illusion, weit in der Zeit zurückversetzt zu sein, und ruft Bilder von Sportsendungen und Reklametafeln mit der Fußballnationalmannschaft in ihr hervor. Doch dann wird sie sich bewußt, daß diese Geräusche – Hände, die einen Ball auffangen oder abschlagen, das Rufen junger Männerstimmen – vor zweitausendfünfhundert Jahren, in jener Zeit, an die Lorenzo sein Herz verloren hatte, genauso geklungen haben müssen. Die Straße macht eine leichte Biegung, und Lisa verlangsamt ihre Schritte. Am Ende der Straße steht ein hellgelber Palazzo, vor vier Jahrhunderten von einem Papst als Sommerresidenz erbaut, jetzt etruskisches Museum. »Ich möchte dich meiner Familie vorstellen«, hatte Lorenzo zu ihr gesagt, sie am Arm genommen und hineingeführt. Sorglos war sie damals gewesen, fröhlich, richtig glücklich sogar. Sie kauft eine Eintrittskarte bei derselben Frau, die vor einem Jahr dort saß. Die Frau erkennt sie nicht, natürlich nicht. Sie befühlt ihre Ohren. Ja, da hängen sie noch, die Ohrringe, die er ihr an jenem Tag schenkte – perfekte 13
Imitationen derer, mit denen sich seine Vorfahrin vor ein paar tausend Jahren geschmückt hatte. Es ist still in den Sälen; nur die vorsichtigen Schritte einiger mit ihrem sinnvoll verbrachten Sonntagmorgen zufriedener Besucher sind hörbar. Langsam wandert Lisa an den Glasvitrinen entlang. Irgendwie hat es etwas Unpassendes, dieses Betrachten der Gegenstände von Menschen, die schon lange zu Staub zerfallen sind. Die Dinge, mit denen sie sich schmückten, glänzen noch genau wie damals: Spangen, spiralförmige Armreifen, eine Kette aus viereckigen Bernsteinplättchen. Eine siebenundzwanzig Jahrhunderte alte Rassel. Als sie mit Lorenzo zusammen war, hatte sie sich zum erstenmal bei dem Wunsch nach einem Kind ertappt. Sie betrachtet die kleinen Schalen auf Tierpfoten. »Die Etrusker sind schon von jeher mit dem Schleier des Geheimnisvollen umgeben, weil man nur so wenig über sie weiß«, hatte ihr Lorenzo in einem kurzen Vortrag erklärt. »Von ihrer Literatur ist so gut wie nichts überliefert, und schon seit Jahrtausenden versucht man das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen.« Hatten sie hier bereits seit undenklichen Zeiten gelebt? Waren sie ursprünglich Bewohner Kleinasiens und Griechenlands gewesen, die sich unter dem Druck indoeuropäischer Stämme in Bewegung gesetzt hatten und in Italien gelandet waren, so wie der Trojaner Aneas? Oder waren sie aus dem Norden gekommen, über die Alpen? »Was man jedoch genau weiß«, fuhr Lorenzo ganz ernsthaft fort, »ist, daß sie verrückt aufs Küssen waren.« In jedem Saal hatten sie sich erst schnell umgesehen, ob niemand da war, und sich dann leidenschaftlich geküßt. Genau wie im Fahrstuhl nach der Party bei Heleen, 14
auf der sie sich kennengelernt hatten. Jedesmal, wenn sie fast unten waren, hatte er wieder auf den obersten Knopf gedrückt. »Und ich habe die ganze Zeit dem Taxifahrer zugerufen, daß ihr nun wirklich gleich kommt«, hatte Heleen später lachend erzählt. »Der Fahrstuhl hat regelrecht gequalmt.« Er war ihr sofort aufgefallen, wie er da bei anderen Freunden von Heleen stand und mit ihnen redete. Er war sehr attraktiv, und deswegen dachte sie zunächst, er sei bestimmt langweilig oder eitel. Doch er erzählte sehr lebhaft, temperamentvoll und heftig gestikulierend, und an den Gesichtern seiner Zuhörer konnte sie erkennen, daß sie von seiner Geschichte gefesselt waren. Sie half Heleen in der Küche, und als sie zurückkam, stand er allein am Geländer der Terrasse und blickte über die Stadt. Sein Gesichtsausdruck war völlig verändert; es schien so, als mache er sich über irgend etwas Sorgen. Sie traute sich nicht, zu ihm hinzugehen. Am langen Tisch saßen sie weit voneinander entfernt. Lisa heuchelte Interesse für ihre Tischherren, schaute aber immer wieder verstohlen zu Lorenzo hinüber. Sie sah, daß er die Konversation anregte und die Leute zum Lachen brachte. Als nach einigen Stunden ein paar Gäste das Fest verließen, setzte er sich plötzlich zwischen sie und Heleen. »Schon zu Beginn des Abends habe ich mir fest vorgenommen: diese Frau werde ich ansprechen«, sagte er. »Und ich habe schon darauf gewartet«, erwiderte sie. Sie gerieten sofort in ein Gespräch über Gott und die Welt, wobei sich ihre Worte, Blicke und Gesten perfekt ergänzten, und nach einer Viertelstunde sagte er trocken: »Ich habe es gewußt.« 15
»Was?« »Daß es besser wäre, dich nicht kennenzulernen.« Sie hatte spöttisch gelacht. »Wir werden einander sehr weh tun«, fuhr er mit unbewegter Miene fort. Sie mochte seine Direktheit und ironische Art. Fühlte sich angeregt, herausgefordert. Als sie vor ihrem Haus Abschied nahmen, sagte er: »Es wäre besser, wir würden uns nie wiedersehen, doch ich fürchte, es gibt keinen Weg zurück.« Zwei Tage später hatte er angerufen und erzählt, er müsse zu einer Ausgrabung nach Satricum fahren, ein paar Stunden von Rom entfernt. Während er dort war, rief er sie regelmäßig an. Es waren immer kurze Gespräche, wie Gedichte. Er erzählte, wie er wieder einen halben Stein von einer alten römischen Straße freigelegt hatte, die zu einem Tempel führte. Er fragte, wo sie gerade sei, was sie anhabe und wie es mit ihrer Skulptur voranginge. Sie betritt den nächsten Saal und erkennt die Urnen aus der frühesten Periode wieder: kleine Hütten für die Asche der Frauen, Gefäße mit einem Deckel in Form eines Helms für die der Männer. Die Handgriffe an den Urnen waren abgebrochen worden, um zu verhindern, daß sie ausgegraben und als Hausrat verwendet wurden. Viele Objekte sind mit eingeritzten geometrischen Figuren verziert, unter anderem mit Hakenkreuzen – das Sonnenzeichen, damals noch unbelastet. »Etrurien, umgeben von Arno, Tiber und dem Tyrrhenischen Meer, war ein Paradies, wo im wahrsten Sinne des Wortes Milch und Honig flossen.« Sie hört wieder seine Stimme. »Es gab Wälder mit allen Arten von Holz, fischreiche Bäche, Weiden mit wolligen Schafen und Ge16
stein, das Mineralien enthielt, aus denen man Schmuck, Hausrat und Waffen herstellen konnte – vor allem letzteres. In den Bergen fand man Eisenerz, und aus Eisen kann man bessere Helme und Schwerter herstellen als aus Bronze. Schon sehr früh blühte der Handel mit den Phöniziern und Griechen.« Die Etrusker nahmen griechische Künstler in ihre Dienste, lernten aber auch rasch selbst. Sie hatten ein Händchen dafür, es lag ihnen im Blut. Lisa macht sich auf die Suche nach dem Gegenstand, der sie damals am tiefsten beeindruckt hat, und findet ihn, oben, auf demselben Platz wie damals: ein kleiner Parfümflakon in Form einer menschlichen Figur, die in eine Art Leopardenbody gehüllt ist und ein kleines Kind an sich gedrückt hält. Diese innige Umarmung, über all die Jahrhunderte hinweg. Ein wenig später schaut sie über die Balustrade gelehnt hinunter auf eine weitere Umarmung, die schon Tausende von Jahren andauert: die des Ehepaares auf dem berühmten Sarkophag von Cerveteri. Lorenzo hatte sie auf den Unterschied zwischen den sorgfältig ausgearbeiteten Oberkörpern und den ganz und gar unproportionierten unteren Extremitäten aufmerksam gemacht. Das Entscheidende war der starke Ausdruck von Verbundenheit dieser beiden Menschen. Sein Arm um ihre Schulter, die Gesichter nahe beieinander. Nicht nur als Skulpturen auf Sarkophagen, sondern auch auf Darstellungen von Festmahlen waren die etruskischen Frauen oft neben ihren Männern liegend abgebildet worden, was zu den wildesten Spekulationen über die ausschweifenden Sitten der Etrusker geführt hatte. Bronzespiegel zeigten Gravuren von Frauen, die lose am Kör17
per hinabfallende Gewänder trugen und sich von nackten Jünglingen bei der Toilette helfen ließen. Zu Hause hatte Lorenzo so einen Jüngling nachgespielt. Daß er genau so verschwunden war wie die Jungen auf den Spiegeln, verflogen wie das Parfüm aus den Flakons. Er hatte sie mitgenommen in die Kellergewölbe unter dem Museum, in denen er monatelang gearbeitet hatte, und ihr Geschirr und Figuren gezeigt, die zwar irgendwo in glänzenden Katalogen abgebildet, hier jedoch in staubigen Regalen untergebracht waren. Es hatte sie berührt, wie er diese Gegenstände in seinen Händen hielt, so vorsichtig und liebevoll. Fünfundachtzig Prozent aller Kunstwerke befänden sich in den Katakomben der Museen, hatte er erklärt. Er wies sie auf Wände voller Kartons mit Schätzen hin, die man den tombaroli, den Grabräubern, abgenommen hatte. Zahlreiche Kartons waren noch nicht einmal geöffnet worden. »Du mußt mitkommen in meine Heimat, du mußt mich zu dem Ort begleiten, wo dies aus der Erde geholt wurde. Ich werde dir das Museum von Tarquinia zeigen, mit den Pferden, die früher auf dem Artemis-Tempel standen.« Sie spaziert durch den Park, genau wie damals, sie sieht sich selbst, ihre Füße auf dem Weg. Damals – seitdem war inzwischen ein Jahr vergangen – hatte sie ihn angesehen und sich ganz in diesen Moment verloren, doch nun betrachtet sie diesen Augenblick von außen, wie etwas Erstarrtes, das nicht zu ihr gehört. Die Bäume stehen in voller Blüte. Sie sieht die Blüten verwelken und abfallen. Sie sieht, wie die Spaziergänger krumm und gebeugt werden, sieht, wie sich Falten in die frischen Wan18
gen der Mädchen eingraben, die im Rosengarten sitzen und zeichnen. Sie geht zu den Säulen am anderen Ende des Parks, zu den klassischen Bögen, durch die man zum Nymphäum gelangt. Es ist still dort, bis auf das Plätschern des Wassers. Wasser in Wasser. Von oben herab schaut sie in den Teich, auf dem Seerosen treiben und wo sich die Nymphen versammeln. Sie hatte sich als eine von ihnen gefühlt, als sie hier stand, mit seinem Arm um ihre Taille. Hier, an dieser Stelle, hatten sie besprochen, daß sie zwei Wochen lang durch die Gegend reisen wollten, in der er geboren war, durch das Land seiner Herkunft. Sie wollten in kleinen Hotels übernachten oder in der freien Natur zelten. Er versprach, ihr geheimnisvolle Orte zu zeigen, wo so gut wie nie ein Mensch hinkam, und er wollte sie seinen Eltern vorstellen. Ein paar Tage später hatte Lisa die Einladung des Arbeitszentrums für Keramik erhalten. Ihr wurde die Möglichkeit geboten, drei Monate lang in Den Bosch zu arbeiten und anschließend ihre Werke im Rahmen einer Ausstellung der Öffentlichkeit zu präsentieren. Sie hatte gezögert, wollte nicht weg von Lorenzo. Doch ihre Arbeiten waren so kolossal, daß sie sie immer an Ort und Stelle anfertigen mußte. Eine Galerie oder ein Museum könnte mit ihren vielen Kubikmetern von Sand oder Ton kaum etwas anfangen. Deswegen war sie auf spezielle Projekte angewiesen, beispielsweise eine Arbeit im Lagerschuppen eines Hafens, oder aber auf Einladungen wie diese. Lorenzo meinte sofort, sie müsse diese Chance selbstverständlich nutzen. Sie könnten ja miteinander telefonieren, und er würde zur Ausstellungseröffnung kommen. 19
Ihre Reise würden sie anschließend unternehmen: »Wir haben alle Zeit der Welt.« Sie war gefahren, und während sie wie besessen arbeitete, spürte sie, wie seine Augen auf sie gerichtet waren. Es war schwer gewesen, doch der Gedanke, daß er ihr Werk bald sehen würde, hatte ihr Kraft gegeben. Kurz vor der Präsentation hatte sie den Anruf erhalten. »Jemand aus Italien ist am Telefon.« Sie war aufgesprungen und, ohne den Ton von den Händen zu wischen, zur Kabine gerannt. Lorenzo hatte schon seit ein paar Tagen nichts von sich hören lassen, und sie sehnte sich nach seiner Stimme. Es war Heleen. »Wie schön, daß du anrufst! Wie geht’s dir?« »Du weißt es also noch nicht«, hatte Heleen mit ernster Stimme geantwortet. »Lisa, ich muß dir etwas Furchtbares sagen.« Sie war auf den Hocker gesunken. »Lorenzo?« »Sie haben ihn in Tarquinia gefunden.« Die Vernissage war ein Ballett von Schemen mit erhobenen Gläsern und Stimmen gewesen, die wie aus einer anderen Welt riefen, daß es schön sei. Lorenzo hätte dasein müssen. Für ihn hatte sie es geschaffen. Nach einem Jahr läßt die Trauer nach, hatten ihr viele Leute eingeredet. Doch davon spürt sie nichts. Sie hatte versucht, sich durch ihre Arbeit aus dem Sumpf zu ziehen, aber es war ihr nicht gelungen. Sie hatte geglaubt, Katastrophen gewachsen zu sein, weil sie sie immer und überall vermutete. Doch sie brachte mit ihren Händen nichts mehr zustande und kapselte sich immer mehr ab. Inzwischen beobachtet sie sich bei jeder Bewegung, 20
und jede Handlung scheint die einer anderen zu sein. Ein Gefühl der Angst überkommt sie, wenn sie sich selbst im Spiegel sieht. Wer ist diese Fremde, für die ich zu essen einkaufe, die ich zu Bett bringe, die ich wasche? fragt sie sich. Es ist, als säße ein großer schwarzer Vogel in ihrem Kopf gefangen, der zwar mit den Flügeln schlägt, aber nicht losfliegen kann. Vor ihrem eigenen Tod fürchtet sie sich nicht im geringsten, ganz im Gegenteil. Nur ein kleiner Purzelbaum über den Rand, und schon hat alle Qual ein Ende. Heleen meint, es sei deshalb so schwer für sie, weil sie keinen Abschied habe nehmen können. Er war schon begraben, als Lisa den Telefonanruf erhielt, und als sie nach Rom zurückkam, war seine Wohnung leergeräumt. Seit fast einem Jahr lebt sie nun im Schatten seines Todes. Durch Lorenzo hatten sich alle früheren Schatten in Nichts aufgelöst, doch nach seinem Tod waren sie plötzlich wieder zurückgekehrt, deutlicher und sichtbarer denn je. Was war geschehen? Was hatte ihn getrieben? Hatte sie etwas falsch gemacht? Diese Fragen gehen ihr durch den Kopf und höhlen ihn aus. Sie kann es nicht verarbeiten, solange sie nicht weiß, was sie verarbeiten soll. Wie kann man weiterleben, wenn die Menschen, die man am meisten liebt, sterben? Langsam steigt sie die Treppe hinunter. Überall Spuren einer Party. Gläser, Zigarettenstummel. Sie setzt sich auf die unterste Stufe und betrachtet den Flußgott Tiber, der noch genauso entspannt daliegt wie damals. Sie schaut die Wölbung seiner Lippen an. Auch über ihn hat sich ein Schatten gelegt. 21
»Ich werde dir den Ort zeigen, wo sich die echten Nymphen versammeln, bei den warmen Quellen. Ich werde dich mitnehmen in Täler, die seit prähistorischen Zeiten unberührt sind«, hatte er versprochen. Er wußte, wie sehr sie die Urzeit faszinierte und auf welche Weise sie sich in ihrer Arbeit damit beschäftigte. Wie sehr hatte sie sich darauf gefreut, seine Welt zu sehen, den Ort, an dem er als kleiner Junge gelebt hatte, wo er neugierig Streifzüge unternommen und seine Vorfahren entdeckt hatte. Gelegentlich wurde sie gefragt, ob sie schon einmal bei ihm am Grab gewesen sei, und wenn sie diese Frage verneinte, reagierten die Leute meistens überrascht, als sei es ein Zeichen von Gleichgültigkeit. Das war es nicht. Sie hatte Angst davor. Sie hatte mit Heleen darüber gesprochen, zusammen hinzufahren, doch Heleen konnte vorläufig nicht von der Zeitung weg. Im Grunde sollte sie diese Reise in seine Heimat, die Reise zu seinem Grab, auch besser allein antreten. Und warum eigentlich nicht jetzt? Alles war besser, als immer mehr zu erstarren und abzusterben. So hatte ihr Leben nicht den geringsten Sinn, für niemanden, am wenigsten für sie selbst, und anderen Leuten fiel sie sowieso nur zur Last. Das Geld von ihrem Arbeitsstipendium war beinahe aufgebraucht. Wenn sie danach nichts vorzuweisen hätte, bekäme sie keine weitere finanzielle Unterstützung und würde als Putzfrau oder Kellnerin arbeiten müssen. Es ist, als ließe ihre Beklemmung nach, als führe der Gedanke an die Reise ihr Sauerstoff zu. Es ist das einzige, was sie tun kann. 22
Lisa springt auf und läuft mit schnellen Schritten durch den Garten zum Museumscafé. Sie geht direkt zum Telefon, ruft Heleen an und erzählt ihr von ihrem Plan. »Das ist wirklich eine gute Idee!« »Vielleicht sehe ich manche Dinge klarer, wenn ich mit Leuten spreche, die ihn in diesen letzten Wochen erlebt haben. Ich denke, daß ich auch seine Eltern in Sovana aufsuchen werde. Aber zuerst will ich nach Tarquinia fahren, es liegt auf dem Weg dorthin.« »Willst du zu der Stelle gehen, wo es passiert ist?« fragt Heleen. »Ja, ich glaube schon. Und ich will versuchen, mit dem Mann Kontakt aufzunehmen, von dem Lorenzo manchmal erzählt hat, dem ›Etrusker‹.« »Schade, daß ich nicht mit dir kommen kann. Ich weiß nicht, ob ich das auf die Dauer aushalte, ich fühle mich von der Zeitung wie in Ketten gelegt, habe zu nichts mehr Zeit. Ich lebe momentan, um zu arbeiten statt umgekehrt.« »Dir fehlt eben noch die nötige Routine. Bald wirst du deine Artikel nur so runterschreiben.« »Das will ich hoffen, denn so kann es nicht weitergehen. Bitte halte mich auf dem laufenden, wo du gerade bist und wie es dir geht. Und wenn es dich überkommt, dann ruf mich an. Versprochen?« Lisa geht zur Theke und bestellt einen Cappuccino. Nun erst nimmt sie wahr, daß das Café bis zur Unkenntlichkeit modernisiert wurde. Der kleine Tisch, an dem sie mit Lorenzo Rotwein getrunken hat, existiert nur noch in ihrer Erinnerung. Es ist eine Schande, daß all die alten kleinen Cafés und 23
Geschäfte renoviert werden, so daß bald eins wie das andere aussieht. Sie wird sich bewußt, daß ihr jede Art von Veränderung widerstrebt. Sie hätte gern, daß alles so bliebe, wie es ist, obwohl es in ihrer Arbeit doch gerade um Prozesse und Entwicklungen geht, um die Entstehung neuer Formen aus alten. Meine Arbeit ist weiter als ich selbst, denkt sie bitter. »Können Sie sich an Lorenzo Durante erinnern?« fragt sie den Mann hinter der Bar. »Den Archäologen, der hier gearbeitet hat? Natürlich. Wir sprechen noch oft von ihm. Alle mochten ihn gern, er gehörte nicht zu diesen Wichtigtuern.« Er dreht sich zu der molligen Frau um, die unter viel Lärm die Milch aufschäumt. »He, Maria, du hast Lorenzo doch auch gut gekannt.« »Ja, er war ein richtiger Schatz, der Junge. Was für eine Tragödie! Und was für eine merkwürdige Geschichte.«
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In Tarquinia gab es kein Zimmer mehr. Nun schrumpft die Stadt mit ihren viereckigen Türmen vor Lisas Augen zu einem kubistischen Bildhauerwerk zusammen, und am blauen Himmel ziehen Schwalben ihre Bahn. Ein Mädchen im Fremdenverkehrsamt hat bei einem Hotel am Boulevard angerufen, und dort ist sie willkommen. Es liegt zwar zwei Kilometer außerhalb der Stadt, aber mit dem Bus ist man im Nu dort. Die Senfsaat ist aufgekeimt und überzieht die Felder mit frischem Gelb; an anderen Stellen ist das Land fett vor Butterblumen. Das Leben entspringt der Erde und windet sich aus dem Boden hervor zum Licht. Mit den johlenden Schulkindern weht jedesmal ein Hauch von Minze in den Bus herein. Am Hotel steigt sie aus. Ein Strandhotel in der Vorsaison. Leute hängen lustlos in Sesseln vor dem Fernseher, und alle starren die einsame, merkwürdige Besucherin an, die zu einer so ungewöhnlichen Zeit hier eintrifft. Ein freundlicher Junge führt sie zu ihrem Zimmer, das auf Strandleben eingerichtet ist. Am Waschbecken hängen rotweiß gestreifte Handtücher, und hinter den Schiebetüren stehen ein Etagenbett und ein Kinderbettchen. Die 25
Vorstellung eines jungen Pärchens, das im angrenzenden Zimmer seine Sprößlinge samt Eimerchen und Schippchen unterbringt, tut ihr weh. Sie reißt die Fenster auf und sieht Strandlokale, in denen noch nichts los ist. Dahinter das Meer, in sich selbst versunken. Dort baute er seine Sandburgen. Hier in der Gegend verbrachte er mit seinen Eltern die Ferien. Sie läßt sich aufs Bett fallen. Ein Doppelbett. Sofort springt sie wieder auf, greift ihre Tasche und schließt das Zimmer hinter sich ab. Auf der überdachten Terrasse vor dem Hotel trinkt sie Tee. Dort sitzt tatsächlich so eine nette Familie. Ein junger Vater, eine schwangere Mutter und zwei kleine Mädchen, die mit Strohhalmen Cola trinken. Der Anblick weckt in ihr das unangenehme Gefühl, dieser harmonische, glückliche Zustand könne unmöglich für immer andauern. Nur zwischen Ruinen überkommt sie Ruhe. Sie haben schon alles hinter sich, dort sind Häuser und Träume eingestürzt, bauen Kinder ihre Burgen aus Schutt und ragen Blumen aus dem Fußboden eines Salons hervor, der einst blankgeputzt wurde, weil wichtige Gäste kamen, um über wichtige Dinge zu sprechen. Makellosigkeit macht ihr angst. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren betritt die Terrasse. Sie trägt eine weite lange Hose mit einem hellblauen Hemd darüber. Sie setzt sich hin und blickt starr geradeaus. Lisa schätzt sie auf Mitte Dreißig. Die Frau spricht mit dem Ober, als kenne sie ihn. Kurz darauf bringt ihr der Junge ein Glas Wasser. Sie holt einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche und betrachtet ihn. Ob 26
sie auch im Hotel wohnt? Vielleicht möchte sie allein sein, genau wie sie selbst. Lisa steht auf, überquert den Boulevard und geht hinüber zum verlassenen Strand, der bald voller Fleisch sein wird, das sich zum Rösten hinlegt. Daß Menschen aus Fleisch bestehen, erstaunt sie fortwährend und erfüllt sie mit Abscheu. Daß man gebraten werden kann, zubereitet mit Pfeffer, Salz und Rosmarin. Menschenfleisch soll angeblich wie Schweinefleisch schmecken. Eines Tages wollte sie mit Lorenzo in Ostia schwimmen gehen, doch genau wie bei ihrem Besuch der Grabmäler von Cerveteri brach in dem Moment, als sie ankamen, ein Unwetter los. Von einer Strandbude aus hatten sie zugeschaut, wie die Blitze über den Himmel zuckten, und zwischen den Donnerschlägen hatte ihr Lorenzo von den fulgoratores erzählt, den etruskischen Blitzdeutern, die eine so weitreichende Autorität besaßen, daß selbst die Römer sie noch lange in Ehren hielten. Es war zum Beispiel von Bedeutung, aus welcher Himmelsrichtung ein Blitz kam, da in jeder Ecke ein anderer Gott wohnte. »Sie glaubten felsenfest daran«, hatte Lorenzo erklärt, »aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sich zwei fulgoratores auf der Straße begegnen konnten, ohne zu schmunzeln.« Wie sehr sie diesen schnellen Wechsel von Ernst und Spott, Leidenschaft und Ironie an ihm geliebt hatte. Zwischen zwei geschlossenen Strandkiosken hindurch geht sie zum Meer. Sie atmet tief durch und blickt über die dunkelblaue Wasseroberfläche. Dasselbe Meer, immer dasselbe Meer, in dem er als kleiner Junge spielte, in dem seine Vorfahren gespielt hatten und von dem aus sie aufgebrochen waren, um die Welt zu erobern. Das Meer, 27
über das sie zurückkehrten mit ihren Kostbarkeiten, die er dann Jahrtausende später wieder ausgrub, um etwas über die fernen Abenteuer der Menschen zu erfahren, von denen er abstammte. Das Wasser berührt ihre Füße, zieht sich zurück, kommt wieder auf sie zu. Der untere Rand ihrer Schuhe ist bereits dunkel durchnäßt. Einmal träumte sie, sie suche Lorenzo unter Wasser. Er lag auf einem Felsen, stand auf, als er sie sah, und führte sie herum. Auf Steinen standen Texte geschrieben, die sie nicht verstand. Sie tritt einen Schritt zurück und beginnt, dicht am Wasser entlangzulaufen, das ihr an den Zehen leckt, im Rhythmus des beruhigenden Wellenrauschens. Es ist, als müßten ihre Füße das Rad des Lebens drehen, die Erde in Rotation versetzen. Sie wandert in die Richtung einer Landzunge, die ins Meer hineinragt – der alte Hafen von Tarquinia. Ihre Füße sinken tief im Sand ein, der schwarz ist, weil zerriebene Muscheln und abgeschliffene Bergspitzen, die üblichen Bestandteile von Meeressand, sich mit pulverisierter Lava vermengt haben. Einst ragte hier eine Reihe von Vulkanen auf, die zischend im Meer verlöschten. In den Herzen der Einheimischen wüte ihr Feuer noch heute, hatte Lorenzo gesagt. Der dunkle Sand glitzert. Als sie sich der Landzunge nähert, verändert sich der Sand unter ihren Füßen in feste Erde, und die Erde verhärtet sich schließlich zu Fels, durch den Gräser ihre Wurzeln zwängen. Langsam geht sie weiter, den Blick auf den Boden geheftet. Dann bleibt sie stehen und sieht, wie die Natur in Menschenwerk übergeht. Kleine, viereckige weiße Kacheln wurden sorgfältig aneinandergefügt. Ein 28
Stück weiter folgt ein Streifen schwarzer Steine, neben einer Umrandung von größeren, gelben und roten. Hände sieht sie, etruskische Hände, gebräunt und muskulös, die die Steine aneinanderlegen. Füße in Sandalen sieht sie, etruskische Füße, griechische Füße, phönizische Füße. Keramik, Schmuck. Ein emsiges Hin und Her. Aus allen Ecken des Mittelmeeres kamen sie gesegelt, um ihrerseits von den hiesigen Bodenschätzen zu profitieren. Als Tauschware brachten sie attische Tongefäße und fernöstlichen Nippes mit, worauf die Etrusker ebenso versessen waren wie heutzutage die Prinzessinnen in Saudi-Arabien auf Versace. Eine bröckelige Treppe führt ins Meer, hinunter zu einem gepflasterten Absatz, der unter dem Wasser verschwunden ist. Ein wogender Seegrasteppich hat sich darauf ausgebreitet. Es ist still. Lisa setzt sich auf die oberste Stufe. Durch den Wellenschlag ist es, als bewege sich die Treppe. Wind und Wetter haben hier eine neue Skulptur geschaffen: Wellen haben gerade Formen gerundet, Löcher in den Wall geschlagen, Öffnungen ausgespült. Bald werden hier sonnenbadende Menschen liegen und ihre Liebe in den Sand schreiben, und währenddessen fahren die Wellen fort mit ihrem trägen und ununterbrochenen Schaben, bis der ganze Hafen im Meer verschwunden sein wird. Hier hatte er den Skarabäus gefunden, auf dessen Rückseite ein Textfragment aus dem Totenbuch stand. Lisa macht sich wieder auf den Rückweg. Ihre Füße versinken in einem weichen Teppich aus eingetrocknetem Seegras, in dem das Meer wellenförmige Strukturen hinterlassen hat. Wie die Sandstrukturen in ihren eigenen Kunstwerken. Der Fußboden ihres Ateliers hatte einem 29
Strand geglichen, nicht vom Meer mit Mustern versehen, sondern von ihren Knien. Später hatte sie dieselbe Arbeit mit ihren Händen vollführt. Während sie damit beschäftigt war, erschien es ihr oft, als befinde sie sich auf einer endlosen Ebene. Es war beinahe eine mystische Erfahrung: Manchmal glaubte sie zu spüren, was Gott gefühlt haben mußte, als er die Urmaterie schuf. Vielleicht hatte dieser Drang, Urformen zu suchen, mit ihren frühen Kinderjahren zu tun, in denen plötzlich überall große Mietshäuser aus den Hügeln aufschossen, auf denen sie spielte, wo sie Höhlen grub und Hütten baute, wo sie Pilze suchte und als Pferd herumtrabte. Da kommt die Frau mit den langen schwarzen Haaren. Ihr Blick ist auf den Boden gerichtet. Was tut sie hier so alleine? Als sie sich einander bis auf kurze Distanz genähert haben, lächeln sie beide und murmeln einen Gruß. Ob sie hier wohnt, hier arbeitet? Lisa geht etwas langsamer und schaut sich um. Die Frau spaziert zum alten Hafen. Sie bleibt stehen, und es sieht aus, als stoße sie mit dem Fuß gegen irgend etwas. Dann bückt sie sich und bewegt suchend die Hand. Sie hebt einen Gegenstand auf, schaut ihn an, wirft ihn weg und geht weiter zu der Treppe, die ins Meer führt. Sie steigt langsam die Stufen hinab und verschwindet hinter einem Mauerstück. Lisa wandert weiter zu einem Strandlokal, wo sie Leute sieht. Eine Gruppe Jungen hängt dort herum. Einer von ihnen wirft Geld in die Musikbox, und ein Getöse bricht los. Es macht sie noch trübsinniger als der vom Meer verschlungene Hafen. Sie trinkt ein Glas Saft und macht sich wieder auf den Weg. Sie muß versuchen, diesen Mann zu finden, den »Et30
rusker«. Den »Zauberer«, wie Lorenzo ihn genannt hatte. Sie kennt weder seinen Namen noch seine Telefonnummer noch seine Adresse; sie weiß nur, daß er ein tombarolo ist, ein Grabräuber. Als Lorenzo noch zur Schule ging, war er oft mit ihm unterwegs gewesen, meistens bei Nacht. Die aufregenden Abenteuer, die sie dabei erlebten, hatten Lorenzo zu seinem Entschluß bewogen, Archäologie zu studieren. Ein leerer Bus bringt Lisa den Hügel hinauf zurück in die kleine Stadt. Immer näher rücken ihre Türme, wie eine Krone auf einem Berg. Tarquinia Superba, die Stadt, aus der die ersten Könige von Rom stammten. Es ist still. Die Straßen sind leer. Eines der ersten Gebäude der Stadt ist ein kleines Schloß, der Palazzo Vitelleschi, der im 15. Jahrhundert von Kardinal Vitelleschi erbaut worden war und heute die Schätze der Etrusker beherbergt. Dort wird man den Mann sicher kennen. Das halbe Museum sei mit Objekten gefüllt, die er gefunden habe, hatte Lorenzo ihr erzählt. Lisa geht hinein, kauft eine Eintrittskarte und steigt die steile Treppe hinauf, den Pfeilen neben dem Wort tombe folgend. Sie kommt an Sälen mit Sarkophagen vorbei, auf denen in entspannter Haltung grob aus Stein gehauene Männer und Frauen liegen, ein Lächeln auf den Lippen. Säle mit Schmuck und mit Keramiken, von denen die ältesten am modernsten aussehen. Ein Krug mit einem Henkel in Form eines Männchens, das auf dem Kopf steht, aus dem 8. Jahrhundert vor Christus, hätte genausogut von einem zeitgenössischen Künstler stammen können. In der obersten Etage fällt ihr Blick direkt in einige et31
ruskische Grabkammern hinein, die dort im Originalmaßstab nachgebaut worden waren. Man hatte die Malereien aus den echten Gräbern entfernt und hier wieder angebracht. Im Grab der Freude und des Festes ist eine Gesellschaft zu sehen, die in einem Garten bei einem Festmahl zu Ehren des Verstorbenen sitzt. Musikanten spielen auf Zittern und Doppelflöten. Lorenzo mit seinen schwarzen Locken, seinen mandelförmigen Augen und anmutigen Gesten hätte einer ihrer Brüder sein können. Er bewegte sich so elegant, ruhig und geschmeidig, aber wenn er ungeduldig war, sich ärgerte oder einen Einfall hatte, wurden seine Bewegungen plötzlich heftig und schnell. Beispielsweise konnte er, während sie gerade entspannt beieinander saßen und redeten, abrupt von seinem Stuhl aufspringen und ihr zu Füßen auf die Knie fallen, die Arme um ihre Hüften geschlagen, um zu sagen: »Ti adoro.« Lisa starrt die grünen Myrtenkränze in den Haaren der Speisenden an. Unterhalb ihrer Füße verläuft ein Saum von Meereswellen. Zwischen blühenden Blumen und Sträuchern sitzen singende Vögel, und Castor und Pollux sind auch mit von der Partie. Die Söhne des Zeus wurden verehrt, weil sie die Unterwelt nach Belieben betreten und auch wieder verlassen durften. Über den breiten Firstbalken der Gräber ranken sich Pflanzen mit roten Blättern in der Form kleiner Herzen. Auf einmal sieht sie sich wieder auf Lorenzos Balkon, dessen Wand mit den herzförmigen Blättern der Zaunwinde bedeckt war. Einmal hatte er eine Ranke gepflückt und sie in ihrem Haar drapiert. Im Grab daneben befindet sich die Abbildung eines 32
Segelschiffs, das in dem Hafen vor Anker liegt, von dem sie gerade herkommt. Nach Lorenzos Tod hatte sie geträumt, sie fahre mit ihm zusammen in der Abenddämmerung in einem kleinen Boot die Küste entlang. Der Himmel war rot gefärbt. Es sollte eine lange Reise werden, doch plötzlich konnten sie nicht weiter, weil ein Ozeantanker auf Grund gelaufen war und den gesamten Meeresarm blockierte. Lisa steigt eine andere Treppe mit leicht ausgetretenen Stufen hinunter und schaut durch verschiedene Türen in Säle hinein und durch Fenster über Felder hinweg, an deren Horizont das Meer liegt, das seinen Namen den Tyrrhenern beziehungsweise Etruskern verdankt. Bis sie schließlich hoch oben auf einer Mauer – glänzend im Spätnachmittagslicht, das durch die kleinen Fenster hineinfällt – die Pferde erblickt, die geflügelten Pferde aus hellbrauner Terrakotta, die einst auf dem Tempel standen, der Ara della Regina, dem Altar der Königin, der Göttin Artumes. Sie setzt sich auf eine Bank gegenüber und schaut hinauf. Das ganze Bild strahlt verhaltene Kraft aus – als könnten die göttlichen Tiere jeden Moment den großen Sprung wagen und losgaloppieren zu himmlischen Feldern. Lorenzo mochte es gern, wenn sie ihm aus der Zeit ihrer Pferdenarrheit erzählte. Ihr Kinderzimmer hatte ausgesehen wie der reinste Pferdestall, und ganze Nachmittage hatte sie sich eingeschlossen und war laut wiehernd über selbstgebaute Hindernisse gesprungen. Bei schönem Wetter wurde der Garten zum Reitplatz. Während ihr Vater Zeitung las, trabte sie wie eine wilde Stute auf allen 33
vieren um ihn herum. Sie konnte ausgezeichnet bocken und steigen, aber der Höhepunkt war der Sprung durch die Fontäne des Rasensprengers. Es gab Zeiten, da mußten ihre Handgelenke bandagiert werden, weil sie sie überbeansprucht hatte. Nicht nur hatte sie selbst Pferd gespielt – sie war auch geritten. Manchmal war es, als verwandelten sich die Beine des Pferdes zu ihren eigenen, und sie würde zum Zentauren. Sie sprengte über den Polder und hatte das Gefühl, vom Erdboden abzuheben und über die Wolken zu galoppieren. Losgelöst, frei. Als würde sie den Himmel erstürmen. Mit fünfzehn war es dann plötzlich vorbei. Das Pferd, das ihr immer willig gehorcht hatte, widersetzte sich. Es spürte, daß sie nicht mehr dieselbe war, daß sie ihre Spontanität verloren hatte. Die Harmonie war dahin. Sie war sich ihrer selbst bewußt geworden; sie war kein Pferd mehr. Wenn sie angesprochen wurde, errötete sie, und wenn sie in der Schule aufgerufen wurde, war ihr Hals wie zugeschnürt. Bei der Arbeit mit dem Ton hatte sie wieder etwas von ihrer früheren Kraft wiedergefunden. Und bei Lorenzo. Bei ihm konnte sie sich selbst vergessen, war sie frei und würde immer freier werden. Durch ihn fand sie zu sich selbst. Er kam gerne zu ihr ins Atelier, wo es wegen des Strohs, mit dem sie den Lehm vermischte, nach Pferdestall roch. Er hatte sie fotografiert, während sie wie eine Besessene an der Arbeit war. »Im Mittelalter hätte man dich als Hexe verbrannt«, meinte er. Seine Anwesenheit hemmte sie nicht, ganz im Gegenteil. Bei ihm hatte sie zum erstenmal das Gefühl, Kunst und Liebe seien miteinander vereinbar. Er hielt sie nicht vom Arbeiten ab, 34
war nicht eifersüchtig, ja, er spornte sie sogar an. Einmal hatten sie sich im Ton geliebt, wie die Neandertaler. Lisa wirft einen letzten Blick auf die überirdischen Tiere und geht dann langsam die breiten Stufen hinunter zurück ins Erdgeschoß, zu dem kleinen Geschäft im Innenhof mit den Sarkophagen. »Daß auch wir sterben müssen!« hatte sie einmal zu Lorenzo gesagt. »Ja, wir bestehen aus äußerst vergänglichen Materialien. Wasser und Kalk.« »Allerdings in einem so ungünstigen Verhältnis, daß kein Beton dabei herauskommt.« Sie hatten gelacht, damals. Ein Stich durchfährt sie, als sie zwischen den vielen Büchern auf dem Tisch ein ganz bestimmtes liegen sieht, eines über die mit Wandmalereien geschmückten Gräber von Tarquinia. Nach der heftigen Knutscherei mit Lorenzo im Fahrstuhl hatte es noch sehr lange gedauert, bis sie sich einander völlig hingegeben hatten. Es war ein spannendes Spiel gewesen, bei dem sie sich in winzigen Schritten nähergekommen waren. Ein paar Monate nach ihrer ersten Begegnung auf Heleens Terrasse ging sie zum erstenmal zu ihm nach Hause, in sein großes Appartement am Ufer des Tiber. Sie war gerade aus den Niederlanden zurückgekommen, wo ihr Bruder Vater geworden war. Sie erzählte ihm von ihrem Besuch im Krankenhaus, davon, daß sie ihren kleinen Neffen schon eine halbe Stunde nach der Geburt gesehen habe, und wie beeindruckt sie davon gewesen sei, wie er ganz still dagelegen und sich mit seinen dunklen Augen umgeschaut habe. Sie bemerkte, daß 35
es eine gewisse innere Anspannung in ihr verursachte, mit ihm über ein Baby zu sprechen. Lorenzo hatte sie so forschend angesehen, daß sie sich ertappt fühlte. Er hatte etruskischen Wein eingeschenkt und Musik aufgelegt. An jenem Nachmittag hatte er ihr von dem Grabräuber erzählt, den er mit fünfzehn kennengelernt hatte und mit dem er in Tarquinia nachts unterwegs gewesen war. »Es ist eine unglaubliche Erfahrung, nach ein paar tausend Jahren als erster ein Grab zu betreten«, hatte er gesagt. Er war aufgesprungen und hatte ein Buch aus dem Schrank geholt – dieses Buch –, sich neben sie aufs Sofa gesetzt und ihr Fotos von den berühmten Gräbern gezeigt. Viele Abbildungen erkannte sie wieder, etwa die des Felsenspringers. Das Bild hing bei Heleen über dem Schreibtisch und stammte aus der Tomba della Caccia e Pesca, dem Grab der Jagd und des Fischfangs. »Möglicherweise sollte das Bild die Insel der Glückseligen darstellen«, meinte er. Sie hatten weiter über die Gräber gesprochen, während sie sich streichelten. Lorenzo hatte sie gefragt: »Weißt du, welchen Körperteil Frauen an Männern am aufregendsten finden?« Sie hatte nachgedacht, wußte es nicht. Die Schultern? »Nein«, antwortete er und fragte: »Welcher ist es denn für dich?« »Die Augen«, hatte sie spontan gesagt, »oder, besser gesagt, der Blick … Und Worte, die Worte, die aus dem tiefsten Inneren kommen.« Blicke und Worte konnten sie völlig verrückt machen. »Die Hände«, hatte er gesagt. »Für achtzig Prozent der Frauen sind es die Hände.« 36
Sie mußte zugeben, daß Hände aufregend waren, diese Hände, die alles mit dir machen, dich streicheln oder schlagen konnten. Seine wunderschönen Hände, mit denen er schrieb, alte Vasen hielt, antike Straßen freilegte. Seine Finger verschränkten sich mit ihren, seine starken, gebräunten Finger mit ihren viel schmaleren und weißeren, wie die der Tänzer und Tänzerinnen auf den Wänden der Gräber. Ihre Nägel gleiten über sein Handgelenk. Kurz liegen ihre Handflächen aneinander, dann bewegen sie sich wieder, drücken, vorsichtig, dann fester. Seine Hand kriecht unter ihre und streichelt ihre Handfläche. Ihre Fingerspitzen berühren sich ganz sanft, sie stehen unter Strom. Plötzlich packt er mit seiner Hand die ihre, kräftig, seine Zähne beißen in ihre Fingerspitzen, er küßt ihre Hand, den Handrücken, die Handfläche, seine Zunge gleitet sanft über ihre Haut. Ihre Lippen berühren sich, erst vorsichtig, dann ohne jede Zurückhaltung. Das Buch rutscht ihr vom Schoß. »Geht es so?« fragt die Verkäuferin. »Ja, ja, vielen Dank.« Lisa fragt so beiläufig wie möglich, ob sie vielleicht einen Mann kenne, der »der Zauberer« genannt würde. Die Frau schweigt einen Moment und fragt dann zurück: »Der tombarolo?« »Ja.« »Haben sie den nicht verhaftet?« fragt sie eine Kollegin. »Gestern war irgendwas mit der Polizei, glaube ich. Fragen Sie doch mal in der Kneipe auf der anderen Straßenseite nach.« Als Lisa die Straße überquert, spürt sie die Blicke der 37
beiden Frauen im Rücken. Vor der Kneipe sitzen ein paar alte Männer. Auch drinnen befinden sich ausschließlich Männer, die um den Zapfhahn und um den Spielautomaten herumlungern. Ein paar spielen Karten. »Ja, er kommt oft hierher«, antwortet der Mann an der Theke auf ihre Frage. »Vielleicht taucht er gleich auf. Gestern habe ich ihn noch gesehen.« Die Kartenrunde mischt sich ein. »Antero Curunna. Passen Sie nur auf, vor dem ist keine Frau sicher.« »Er ist also auf freiem Fuß.« Sie hätten ihn zwar geschnappt, aber nicht eingesperrt. Jemand erklärt ihr, wo er wohnt. Neben einem alten Turm, nicht weit von hier. In den Straßen Tarquinias ist nicht viel los. Durch offenstehende Fenster wehen Essensdünste und Stimmen nach draußen. Ab und zu kann man durch eine Lücke zwischen den Häusern über das Land schauen, das sich bis hinunter zum Meer erstreckt. Es gibt hier zwar viele Türme, aber das muß der richtige sein, dieser Turm mit den roten Fensterläden, und das muß das Haus sein, versteckt hinter einem Orangenbaum. Die Früchte sind noch grün. Unter dem Baum schläft ein riesiger Hund. Er schlägt ein Auge auf, sieht nichts Besonderes und schläft weiter. Am Haus gibt es keine Klingel. Lisa klopft an die Tür, keine Reaktion. Durch das Fenster schaut sie auf eine Anrichte, auf der sich schmutziges Geschirr stapelt. Sie läuft ein wenig herum und fragt sich, ob sie vielleicht am Haus gegenüber klingeln soll. Aber vielleicht wollen die Nachbarn gar nichts mit diesem Taugenichts zu tun haben. Sie setzt sich auf die Eingangstreppe und blättert in ihrem Buch. 38
Das alte Tarquinia, das etruskische Tarxana oder Tarxna, wurde im 9. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf einer hufeisenförmigen Hochebene gegründet. Die Stadt entwickelte sich rasch zu einem politischen, religiösen und wirtschaftlichen Zentrum und stellte hundert Jahre lang die Könige von Rom. Zwischen den Buchstaben erscheint sein Gesicht. Seine Augen, sein Blick, seine Hände. »Ich muß gehen«, hatte sie unter ihm liegend gesagt, nachdem sie sich geliebt hatten. Jemand hatte seinen Besuch in ihrem Atelier angekündigt. Das Buch lag zerknittert unter ihrem Po. Als sie sich im Badezimmer frischmachte, stand er auf einmal in der Tür und sagte: »Ma sei anche il mio amore.« Aber ich liebe dich auch. Dabei lag ein ängstlicher Ausdruck in seinen Augen. Sie verstand sofort, was er meinte: Auch sie hatte einen kurzen Moment befürchtet, ihre gegenseitige Anziehungskraft beruhe letztendlich auf nichts weiter als auf Sex und es sei nun womöglich vorbei mit ihrem poetischen Spiel, ihren endlosen Gesprächen und ihrer Neugier aufeinander. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und sah sie an, lange Zeit. Dann küßte er sie flüchtig auf die Lippen, drückte sie an sich, legte seine Wange an ihre und streichelte über ihre Haare. So standen sie eine Zeitlang da. Dann war er auf die Knie gefallen, hatte das Dreieck aus Spitze zwischen ihren Beinen geküßt und ihr zugeflüstert: »Du kannst auch bleiben.« Der Hund springt auf und fängt an zu bellen. Lisa blickt von ihrem Buch auf und sieht die Frau mit den dunklen Haaren, die vor ein paar Stunden am Hafen war. Sie kommt genau auf sie zu. »Ciao.« 39
»Ciao, ist il mago nicht da?« »Nein, es ist niemand zu Hause.« Der Hund springt an der Frau hoch. »Ruhig, Turan. Wo ist das Herrchen?« Sie schaut durchs Fenster, zieht die Türklinke hoch, drückt dagegen, richtet aber nichts aus und sagt daraufhin gelassen: »Warte einen Augenblick.« Und plötzlich ist sie verschwunden, genau wie vorhin am Meer. Lisa hört das Knirschen von Angeln, und die Tür geht auf. »Komm rein.« Lisa zieht die Augenbrauen hoch. »Ich kenne einen geheimen Weg«, sagt die Frau lächelnd. Ihr Lächeln ist immer knapp und beherrscht. Etwas Wehmütiges liegt in ihren Augen, aber zugleich strahlt sie Ruhe aus. Sie betreten ein einfaches Zimmer mit Steinfußboden. In der Ecke befindet sich eine Kochnische, und in der Mitte steht ein Tisch mit einer Plastikdecke darauf. Darauf stehen Teller mit Resten von Pasta und ein Topf. »Möchtest du eine Tasse Kaffee?« »Gern.« »Ich bin Angela«, sagt die Frau und streckt Lisa die Hand hin. Ihr Händedruck ist kräftig. »Lisa.« Angela räumt die Teller ab, stellt sie auf die überfüllte Anrichte und wischt die Tischdecke sauber. Seine Freundin? »Bist du mit ihm verabredet?« »Nein, ich habe ihn noch nie gesehen. Mein Freund kannte ihn. Und du, du bist wohl hier zu Hause?« 40
»Ich kenne Antero seit meiner Kindheit. Wir haben in derselben Straße gewohnt.« »Hier in Tarquinia?« »Ja.« Nachdem sie den Kaffee aufgesetzt hat, setzt sich Angela Lisa gegenüber an den Tisch und dreht sich eine Zigarette. Sie hat helle Haut und große dunkle Augen mit langen Wimpern. Keine Spur von Make-up. »Aber dein Freund kennt ihn?« »Kannte, er ist gestorben.« »Ach …« Angela schaut sie erschrocken an. »Vor kurzem erst?« »Vor fast neun Monaten.« »War er krank?« Lisa schüttelt verneinend den Kopf. »Er wurde hier in Tarquinia tot aufgefunden.« Angela runzelt die Stirn und konzentriert sich auf das Drehen ihrer Zigarette. »Ich war zu der Zeit wegen meiner Arbeit in den Niederlanden. Wir hatten geplant, diese Gegend gemeinsam zu besuchen. Er stammte aus Sovana. Jetzt unternehme ich die Reise allein. Für mich sind so viele Fragen unbeantwortet geblieben. Seit seinem Tod habe ich das Gefühl, als sei das Leben auch für mich vorbei.« Angela nickt langsam. »Ich weiß, ich kenne das.« Der Kaffee kocht sprudelnd hoch, und sie steht auf. »Er kommt sicher gleich, ich glaube, er ist bei den Schafen.« »Lorenzo hat oft gesagt, er habe so viel von ihm gelernt. Er sei es gewesen, der ihm die Liebe zu den Etruskern und die Leidenschaft für das Graben beigebracht habe.« Mit dieser Erklärung möchte Lisa Angela auch klarmachen, daß sie keine Spionin ist, keine Polizistin. 41
Angela lächelt. »Mir auch.« »Durch ihn ist er Archäologe geworden.« Einen Augenblick lang wird Angelas Gesichtsausdruck nachdenklich. Lisa beschließt, die Meinungsverschiedenheiten, die Lorenzo mit Antero hatte, nicht zu erwähnen. Die beiden waren sogar lange Zeit zerstritten, doch trotzdem hatte Lorenzo immer wieder vom »Zauberer« gesprochen. So wurde Antero genannt, weil er die Etrusker in ihren Gräbern aufspüren konnte, und es hieß, daß sie selbst ihm dabei halfen. Der Hund bellt. Man hört das Motorengeräusch eines Autos. »Ruhig, Turan, da kommt das Herrchen.« »Turan, diesen Namen habe ich doch schon mal irgendwo gehört …« »Turan war die etruskische Aphrodite.« Eine Autotür wird kräftig zugeschlagen. Die Tür geht auf, und ein Mann im Kampfanzug kommt herein. Mit einem Blick erfaßt er die Szene, die sich ihm bietet. »Nanu, das ganze Haus voll schöner Frauen?« Er ist nicht besonders groß und schlank. Seine Augen sind schwarz wie Obsidian, und ihnen entgeht nichts, wie bei einem Raubtier. Er hat ein gebräuntes Gesicht voller tiefer Falten. Als er Lisa die Hand reicht, spürt sie deutlich, daß er sie schon seit vielen Jahren als Schaufel gebraucht. »Antero, aber alle nennen mich den Zauberer.« Er dreht sich zu Angela um und sagt: »Die Schafe waren ausgebrochen. Ich dachte schon, sie seien gestohlen worden. Die Vasen sind schon im Museum, so an die 42
sechzig Stück. Ich wußte es: Wir hätten diesen Jungen nicht mitnehmen sollen, dieses Muttersöhnchen, bin wieder mal zu gutmütig gewesen. Er kauft sich von dem Geld ja doch nur Stoff. Ist das eine Freundin von dir?« »Nein, wir haben uns heute auch zum erstenmal gesehen. Sie hat einen Freund von dir gekannt.« »Wen denn?« »Lorenzo.« Er nimmt ein Glas vom Büfett, in dem sich noch ein kleiner Rest Rotwein befindet, und kippt ihn in einem Zug hinunter. »Ach, Lorenzo.« Er schweigt einen Moment. »War er dein Geliebter?« »Ja.« Er schaut sie forschend an und sagt dann nachdrücklich: »Er war in Ordnung, der Junge. Allerdings haben wir uns auch oft gestritten. Anfangs machte er mit, aber später war er nicht mehr damit einverstanden, fand es falsch, was ich tue. Obwohl er die Belle Arti, die staatliche Behörde für archäologische Ausgrabungen, oft kritisiert hat. Ach, ich konnte ihn schon verstehen. Stell dir vor, er wäre geschnappt worden.« Er geht zum Kühlschrank und holt eine Flasche Amaro heraus. »Für mich nicht«, lehnt Angela ab. »Ich muß los.« »Nur einen. Auf die neue Bekanntschaft.« Er nimmt drei unterschiedliche Gläser und schenkt ein. »Die ganze Stadt hat schon gewußt, daß sie mich erwischt haben. Diese alten Penner! Die konnten mir mal wieder nichts nachweisen.« »Ich nehme den Kelch mit, okay?« sagt Angela. »Ich treffe mich nachher mit Quirino.« Sie öffnet eine Tür und geht in ein anderes Zimmer. 43
»Ja, aber nimm dich in acht vor diesem alten Fuchs, laß dich nicht übers Ohr hauen«, warnt Antero, während er Angela hinterhergeht. Angela kommt mit einem in Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand wieder zum Vorschein und fragt Lisa: »Bleibst du noch eine Weile hier?« »Ja, wahrscheinlich schon.« »Dann sehen wir uns noch. Mach etwas mit Antero aus. Aber halt ihn dir in sicherem Abstand, er ist sehr allein.« Antero hat inzwischen Musik aufgelegt. Eine Oper. Er begleitet Angela nach draußen und kommt dann zurück. Lisa hätte gern gesehen, was da im Zeitungspapier eingewickelt war, traut sich aber nicht zu fragen. »Komm mit«, sagt Antero, nimmt Lisa bei der Hand und zieht sie mit in das Zimmer, wo die Musik läuft. Eine alte Grammophonplatte dreht sich auf einem noch älteren Plattenspieler. Er singt mit. »E lucevan le stelle ed olezzava la terra, stridea l’uscio dell’orto, e un passo sfiorava la rena … Weißt du, was das ist?« »Tosca.« »Und wer singt es?« »Weiß ich nicht.« »Das weißt du nicht?« fragt er vorwurfsvoll. »Der große Giuseppe Di Stefano natürlich. Ach, ist das schön. Wie Cavaradossi im Kittchen sitzt und glaubt, ihre Schritte zu hören. O, dolci bacci, o languide carezze!« Das Zimmer ist groß, die Wände dunkel tapeziert. In der Mitte steht ein großes schmiedeeisernes Bett mit einer braunroten Tagesdecke. In der Ecke befindet sich ein Kamin. 44
Lisa schaut sich nach etruskischen Gegenständen um, kann aber auf den ersten Blick keine entdecken. Zeichnungen und Bilder an der Wand, ohne erkennbare Ordnung. Kitschige Lämpchen. Wertloser Klimbim. »E muoio disperato! E non ho amato mai tanto la vita!« singt Antero. Dann sagt er in autoritärem Ton: »Setz dich«, und zeigt auf ein kleines Sofa am Fußende des Bettes, direkt vor einem Fernseher. Er drückt seine Zigarette auf einer Tonscherbe aus. »Was ist das?« »Ein Stück von einem Kelch, nichts Besonderes. Ja, wenn er ganz wäre schon. Dann hätten wir einen Grund zum Feiern.« Sie nimmt die Scherbe in die Hand. Unter der Asche und den Zigarettenstummeln ist ein roter Tierkopf zu erkennen. Modern, verspielt. »Hier, dieser ist ganz.« »Aus welcher Zeit stammt er?« »Fünftes Jahrhundert«, antwortet Antero betont lässig. »Fünftes Jahrhundert?« »Ja, vor Christus natürlich. Tausend Jahre später konnten sie so etwas nicht mehr.« Auf einem niedrigen Tisch liegt ein Berg von Zeitungsausschnitten. Sie liest die Überschriften: »DER BERÜHMTE GRABRÄUBER«, »DER LETZTE ETRUSKER«, »DER KÖNIG DES TOTENREICHS«. »Die Journalisten kommen aus aller Welt, um mich zu interviewen. Niemand kennt die Etrusker so gut wie ich. Sie sind meine Familie. Die staatlichen Archäologen wollen nichts von mir wissen, nur Lorenzo war eine Ausnahme. Aber sie machen einen Fehler. Ich könnte ihnen sehr nützlich sein. Ich bin kein Verbrecher, und es geht 45
mir nicht ums Geld. Ich hänge nicht am schnöden Mammon.« Noch pathetischer fährt er fort: »Ich habe Tausende von Menschen auf ihrem Totenbett liegen sehen, und ob nun ein kleines bucchero-Töpfchen oder große goldene Schalen neben ihnen stehen, sie liegen alle gleich da. Die Gerippe, an denen Halsketten, Broschen, Ohrringe und Fußkettchen baumeln, sind noch am mitleiderregendsten.« Sie kann es sich mühelos vorstellen. »Sie haben erst so getan, als wollten sie mit mir zusammenarbeiten, aber das ist ein uralter Trick, jemandem Geheimnisse entlocken und dann selbst die Lorbeeren ernten. Diese vertrockneten Griffelpisser würden nie im Leben selbst ein Grab öffnen. Das können die gar nicht. Von mir aus sollen sie die etruskische Schrift entziffern. So schwer kann das doch nicht sein. Ich habe leider nicht die nötige Bildung, sonst würde ich es selbst tun. Lorenzo hätte es gekonnt.« »Hast du ihn noch einmal gesehen, als er das letztemal hier war?« »Nur ganz kurz.« »Wie war er?« »So wie immer. Bester Laune. Er war bei einer großen Ausgrabung dabei, einem römischen Tempel, aber seine Liebe galt dieser Gegend hier, den Etruskern. Die Römer waren nichts Besonderes. Nur ein Haufen Streithähne. Sie haben die Geschichte verfälscht. Rom wurde nicht im Jahre 753 von einem gewissen Romulus gegründet, sondern von dem Etrusker Tarquinius Priscus, und zwar 575 vor Christus.« »Ist dir etwas an ihm aufgefallen?« »Nein, nichts.« 46
»Hat er von mir gesprochen?« »Daran kann ich mich nicht erinnern … Oder doch, er hat mir erzählt, er habe eine niederländische Freundin, eine Bildhauerin, die nicht mitwollte.« »Aber ich konnte doch nicht mitkommen!« »Wie dem auch sei. Ich mach uns gleich etwas zu Essen, okay?« Ob er doch geglaubt hatte, daß sie nicht wirklich gern mitkommen wollte? Es ärgert sie, daß Antero nicht näher darauf eingeht. Sie kann sich vorstellen, daß Lorenzo mit ihm aneinandergeraten ist. Er singt wieder eine Arie mit. »Im Ausland hat man mir gegenüber mehr Respekt. Warte, ich will dir etwas zeigen.« Er sucht in einem Stapel von Videobändern herum und legt eins in den Rekorder ein. Antero Curunna. Der berühmte Grabräuber. Sie haben ihn genau in dem Moment gefilmt, als er aus dem Gefängnis kam. »Das war der glücklichste Augenblick meines Lebens. Ach, ich bin schon so oft wieder rausgekommen, aber in diesem Fall erst nach ein paar Jahren. Ich hatte endlos lange in Untersuchungshaft gesessen. Ich durfte noch nicht einmal zur Beerdigung meiner kleinen Tochter.« Sie sieht ihn durch einen kahlen Gang laufen. Er grüßt die Gefängniswärter. Die Tür geht auf. Ein Sprung, ein Freudenschrei. Er überquert die Straße, steigt in ein Auto. In der Ferne taucht Tarquinia auf. Eine hügelige Landschaft zieht vorbei: die Nekropole. »Das ist mein Reich, und niemand wird mich jemals daraus vertreiben. Insgesamt habe ich fünf Jahre meines Lebens im Gefängnis verbracht. Aber sobald ich frei war, machte ich mich wieder auf den Weg. Ich hatte immer Angst, die Etrusker könnten glauben, ich habe sie im 47
Stich gelassen. Nachdem ich dieses Mal rausgekommen war, fand ich sofort eines der schönsten Grabmale in meinem ganzen Leben, und ich konnte ihre Anwesenheit um mich herum spüren, es war einfach wunderbar. Sie freuten sich, sie liebten mich noch immer.« Er schenkt ihr Glas noch einmal voll mit Amaro. »Nein, danke, ich möchte nichts mehr.« »Aber das ist gut für dich!« Er stößt mit seinem Glas hart gegen ihres. »Zeus!!« brüllt er aus voller Brust und sagt danach in wieder gedämpfterem Ton zu ihr: »Ich freue mich, daß du zu mir gekommen bist. Ich war in letzter Zeit sehr niedergeschlagen. Vor zwei Monaten hat mich meine Freundin verlassen. Ach, vielleicht war es auch besser so. Sie konnte die Finger nicht vom Alkohol lassen und machte mit anderen Kerlen rum. Sie war eifersüchtig auf die Etrusker und schimpfte mich einen Nekrophilen. Aber ich bin nicht nekrophil. Die Etrusker leben. Aber das hat sie nicht verstanden. Manchmal bin ich jede Nacht weg gewesen, weil mich die Etrusker riefen. Sie konnte es mir doch nicht verbieten. Chiara hat es verstanden und begleitete mich. Das war schön.« »Chiara?« »Eine andere Freundin von mir, meine große Liebe. Aber sie hat mich betrogen, als ich im Gefängnis saß. E svani per sempre il sogno mio d’ amore«, singt er plötzlich voller Inbrunst. »Wenn einer die Zeit im Gefängnis abgesessen hat, kann man ja sagen, hör zu, es ist aus. Aber während man sitzt … Schau, das sind wir.« Er zeigt auf ein Gemälde neben dem Bett. Dunkelblaue Nacht, ein Mann, der mit einer Schaufel im Boden gräbt, eine halb entkleidete Frau, die an einem Baum lehnt. Der Vollmond über einer hügeligen Landschaft. 48
»Das war eine wunderbare Zeit. Damals habe ich entdeckt, daß Frauen hervorragende tombarole sind. Sogar bessere als wir Männer, weil Intuition in diesem Fach eine wichtige Rolle spielt. Frauen haben den besseren Kontakt zu den Göttern, und außerdem gehen sie vorsichtiger mit den Fundstücken um. Sobald ich wieder auf freiem Fuß war, bin ich zu den Gräbern gegangen, fand aber nichts von meiner früheren Lebenslust wieder. Ich fühlte mich wie ein König, der aus seinem Reich verstoßen wurde. Athene half mir nicht mehr; die Eule schwieg.« »Seit Lorenzos Tod weiß ich, wie das ist.« »Zeus sei seiner Seele gnädig. Aber jetzt mach mal einen Punkt, schließlich bist du noch nicht tot. Ich sehe das Blut in deiner Halsschlagader pochen. Du mußt leben. Ich mache mich jetzt mal ans Kochen.« Er legt einen anderen Videofilm in den Recorder ein. Antero Curunna zu Gast in der Talkshow Mixer. Leidenschaftlich spricht er über seine Vorfahren. Nein, er fühle sich keineswegs schuldig. Er finde nur, was seine Familie an jenen Orten zurückgelassen habe. Alle tombaroli würden sich samt und sonders darauf berufen, Nachfahren der Etrusker zu sein, hatte Lorenzo erzählt, aber seiner Meinung nach stammten sie eher von den Vandalen ab, die Rom geplündert hatten. Antero schaut von der Küche aus um die Ecke. »Siehst du, sie behandeln mich wie einen Dorfdeppen. Aber die tappen doch selbst im Dunkeln. Wer sich einer Zeitspanne von dreitausend Jahren nicht wirklich bewußt sei, verstehe nichts und lebe nur von einem Tag auf den anderen, hat schon Signor Goethe gesagt.« Lisa blättert ein wenig in den Zeitungsartikeln herum. Er hat sie in allen möglichen Sprachen. 49
Zwei Teller auf der Plastiktischdecke. Dazwischen ein Topf Spaghetti mit einer Hühnchen-Tomatensauce. So muß auch Lorenzo hier gesessen haben. Antero schöpft mit einem großen Kochlöffel auf und schenkt dunkelroten Wein in große Gläser ein. »Hm, das riecht aber gut.« »Ja, ich bin ein guter Koch. Das hab ich in der patrie galere, im vaterländischen Gefängnis, gelernt.« »Kochte man da selbst?« »Wer es sich erlauben konnte, tat es. Man muß sein Geld abgeben, aber man kann die Wärter bitten, davon Lebensmittel zu kaufen, und dann darf man selbst kochen. Ich habe dort eine ganze Menge Mörder kulinarisch verwöhnt. Das Huhn hier ist übrigens heute nachmittag noch herumgelaufen; ich habe ihm eben erst den Hals umgedreht.« Er hebt das Glas, brüllt wieder aus vollem Hals »ZEUS!!« und nimmt einen kräftigen Schluck. »Er hat dich geschickt. Du bist Athene, das habe ich sofort gesehen. Athene hilft mir. Die Eule warnt mich davor, daß die Polizei in der Nähe ist.« »Athene, geboren aus dem Haupt ihres Vaters.« »Das brauchst du mir nicht zu erzählen, schließlich war ich selbst dabei. Ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen.« Nimmt er sie jetzt auf den Arm, oder hat er wirklich nicht alle Tassen im Schrank, so wie der verrückte Aalverkäufer bei ihr zu Hause, der alles über die Bibel wußte, weil er sie selbst geschrieben hatte? »Er hatte Kopfschmerzen und bat Vulcanus, ihm einen Schlag auf den Kopf zu verpassen. Zuerst weigerte sich Vulcanus, worauf Zeus so wütend wurde, daß er ihn 50
packte und vom Olymp warf. Ich habe mich beinahe zu Tode erschrocken. Was für ein Riesenlärm! Und eine Aufregung! Nach dem Fall hinkte Vulcanus. Als Zeus ihn zum zweitenmal aufforderte, tat er, wie ihm befohlen. Ich verstehe mich gut mit Zeus. Er ist mir wohlgesinnt. Nur Hera hat anfangs ziemlich viele Probleme gemacht. Durch meine Listigkeit erinnerte ich sie an Odysseus, und den konnte sie nun mal überhaupt nicht leiden.« Lorenzo hatte ihr einmal einen etruskischen Spiegel mit einer Abbildung von Zeus gezeigt, auf der dem Gott zwei Hebammen beistehen. Die eine drückt auf seinen Bauch, die andere nimmt Athene in Empfang, die gerade aus seinem Haupt hervorkommt. Nach der Geburt trägt Zeus einen Verband um den Kopf. Durch solche plastischen Details ließen die Etrusker die griechischen Götter noch lebendiger erscheinen. »Wenn ich grabe, würde ich ein anderer, sagt man. Dann werde ich von den Göttern geleitet. Das spüre ich.« Alle tombaroli seien Angeber, hatte Lorenzo gesagt, phantasievolle Sprücheklopfer. Oft würden sie nur deshalb geschnappt, weil sie in allen Kneipen herumposaunten, auf was für eine großartige Entdeckung sie nun schon wieder gestoßen seien. Das rufe Neid hervor, und ruckzuck sei die Neuigkeit durchgesickert. »Gibt es denn immer noch Neues zu finden?« »Noch Tausende unberührter Gräber warten auf ihre Entdeckung. Du kannst es dir ausrechnen: Das etruskische Tarquinia hat neunhundert Jahre lang existiert und hatte Zehntausende von Einwohnern. Ich werde dich mitnehmen in mein Reich. Hast du Lust?« »Ja, das möchte ich sehr gerne. Lorenzo wollte es mir auch zeigen.« 51
»Ihm geht es gut, mach dir mal keine Sorgen«, sagt Antero leichthin. »Er war ein Liebling der Götter, und sie wollten ihn bei sich haben.« Sein heiterer Ton stört sie, doch sie beschließt, nichts zu forcieren, sondern erst einmal ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm aufzubauen. Sie spürt, daß er sie mag. »Und du, hast du denn keine Angst vor dem Tod?« »Er ist mein ständiger Begleiter und mein treuester Freund. Ich necke ihn und fordere ihn heraus, aber er bleibt mir trotzdem gewogen. Menschen, die vor dem Tod flüchten, laufen ihm hinterher, sagte schon Demokrit. Wenn ich Angst hätte, würde ich diese Arbeit nicht machen. Ich bin schon viermal verschüttet gewesen. Wenn du dich bewegst, ist es aus mit dir. Du mußt warten, bis andere dich ausgraben.« Er schenkt ihr noch einmal nach. Dann fragt er plötzlich in vertraulicherem Tonfall: »Sag, was denkst du über mich? Findest du es falsch, was ich tue? Sei ehrlich! Wenn du mich davon überzeugen kannst, daß es falsch ist, höre ich damit auf.« Lorenzo hatte sich darüber aufgeregt, daß der Forschung durch die tombaroli viel Material verlorenginge. Man habe keine Übersicht mehr über das Ganze. Doch das sagt Lisa nicht, denn sie muß Anteros Vertrauen gewinnen. »Lorenzo meinte, es verschwinde sehr viel jenseits der Grenzen.« »Besser, ein Objekt bekommt irgendwo über der Grenze einen Ehrenplatz, wo man es jeden Tag liebevoll anschaut, als daß es hier auf immer und ewig in den Katakomben der Museen verschwindet oder in der Erde verborgen bleibt. Die Dinge wollen das Sonnenlicht wie52
dersehen und Menschen glücklich machen. Wir nörgeln doch auch nicht, die Mona Lisa solle wieder zu uns zurückkommen.« Einmal hatten tombaroli eine riesengroße Amphore als Osterei verpackt und sie, mit einer großen Schleife umwickelt, in einem Sportwagen außer Landes geschmuggelt. Lorenzo wußte von dem Streich und fand ihn durchaus zum Lachen. »Es gibt viele Leute, die mich nur zu gerne begleiten. Alles, was Rang und Namen hat: der Direktor der Banca Nazionale del Lavoro und seine Frau zum Beispiel. Und auch der Bischof geht regelmäßig mit mir zum Graben. Prima Kerl übrigens, ein Baske. Er weiß sehr viel. Neulich war ich bei ihm zum Essen eingeladen, im Vatikan. Lauter kleine Häppchen. Ich habe zu ihm gesagt: ›Ich steh’ mehr auf einen leckeren Teller Pasta mit Wurst.‹ Das ist schon eine Welt für sich, weißt du. Diese ganzen würdevollen Herren in eleganten Anzügen und Gewändern, die dich ermahnen, nicht zu laut zu reden und geduldig zu warten. Der Papst ähnelt eigentlich eher einem römischen Kaiser als Jesus Christus. Das findet der Bischof auch, aber das kann er in der Öffentlichkeit natürlich nicht laut sagen. Zu mir allerdings schon. Und die römischen Kaiser haben ihrerseits alles den etruskischen Lukomonen und haruspices abgeschaut.« »Was denn zum Beispiel?« »Der Lukomone war das Oberhaupt des Stadtstaates, eine Art Priesterfürst. Er trug einen langen Purpurmantel, in den Goldfäden eingewebt waren. Der haruspex, der Priester, der aus den Eingeweiden – vor allem aus der Leber – las und daraus die Zukunft vorhersagte, trug einen Krummstab in der Hand und eine hohe Kopfbede53
ckung – die Mitra der katholischen Kirche. Trug Christus vielleicht einen spitzen Hut? Praktisch niemand kann sagen, wie weitreichend der Einfluß der Etrusker wirklich war. Wenn ein Papst stirbt, klopft man ihm mit einem kleinen Silberhammer an die Schläfe. Hast du die Bilder von Charun gesehen, der die Toten übersetzt? Und, was hat er in der Hand? Richtig, einen Hammer.« Antero ist offensichtlich kein Freund der katholischen Kirche. »Mea culpa, mea culpa, rufen sie. Aber nach der Messe sündigen sie fröhlich weiter, bis der Priester das nächste Mal die Absolution erteilt.« Er gießt noch einmal Wein in ihr Glas. »Ja, du bist Athene. Ich kenne sie. Vor acht Jahren hielt ich einen Frauenschädel in den Händen, der Athene ebenfalls perfekt ähnelte. Es war ein wundervolles Grab, aus dem wir unglaublich schöne Keramikarbeiten herausgeholt haben. Warte mal.« Er geht hinüber zur Fensterbank, wo ein Topf mit einer kümmerlichen Pflanze steht, gräbt in der Erde und holt etwas hervor. Er reibt es sauber und reicht es ihr. »Das hier habe ich dort gefunden.« Sie nimmt den Gegenstand in die Hand: ein kleines Fläschchen, ein Parfümfläschchen wie die, die sie im Museum gesehen hat. Ein Mann ist darauf abgebildet. Sie wischt den letzten Rest Erde ab. Der Mann schaut eine Sphinx an. »Ödipus. Der ließ sich auch nicht die Butter vom Brot nehmen.« Antero lacht und vergräbt das Fläschchen wieder unter der Pflanze. »Es war etwas Merkwürdiges an diesem Grab. Der Mann lag mit den Füßen in Richtung Eingang, und die Frau auf der Bahre neben ihm genau andersherum. 54
Höchstwahrscheinlich ist der Mann ein paar Monate vor ihr gestorben, und es stank so in dem Grab, daß die Leute die Leiche der Frau einfach nur hastig hineingeschoben und sich dann so schnell wie möglich wieder davongemacht haben. Der Kopf war auffallend schön. Es muß eine hübsche Frau gewesen sein, zart gebaut. Ich wollte den Schädel mitnehmen, aber als ich ihn an einer Augenhöhle hochheben wollte, zerbrach er. Das war ein Zeichen: Die Frau wollte bei ihrem Mann bleiben. Ich habe den Schädel auf der Bahre des Mannes gelassen, und das liegt mir bis heute im Magen. Er muß zurück an seinen eigenen Platz. Das könnten wir zum Beispiel heute abend erledigen.« Genau das hatte Lisa sich erhofft: Eine Führung durch das Gebiet, in dem Lorenzo gewesen war. Vielleicht würde es dann auch einfacher, über ihn zu sprechen. »Aber vielleicht ist es doch besser, wenn ich mich heute abend nicht blicken lasse, nach dem ganzen Theater letzte Nacht. Morgen können wir gehen, zusammen mit Angela.« »Gerne. Lorenzo hat mir von euren nächtlichen Ausgrabungen erzählt. Hat er dich oft begleitet?« »Ja, aber das ist lange her, da war er so fünfzehn, sechzehn. Sobald er anfing, an der Universität zu studieren, hörte er damit auf. Er hatte Gewissensbisse.« »Ist der Artemis-Tempel weit von hier?« »Mit dem Auto nicht.« »Dort hat man ihn doch gefunden?« »Ja.« »Weißt du, wer ihn gefunden hat?« »Ein Schafhirte.« »Was hatte Lorenzo denn in Gottes Namen da zu suchen?« 55
»Er mochte diesen Ort gern. Ich glaube, daß er bei den Etruskern sein wollte.« »Was meinst du damit?« »Daß er den großen Sprung gewagt hat.« »Daß er sich selbst …?« »Daß er selbst ein Ende gemacht hat, ja.« Antero glaubte es also auch! Aber das konnte einfach nicht wahr sein, das hätte er niemals getan! Er hätte doch an seine Familie gedacht, an seine Freunde. Und an sie. Schon als Heleen es ihr am Telefon erzählte, hatte sie sich geweigert, es zu glauben. Oder hatte sie ihn so wenig gekannt? War er ein anderer gewesen, als sie geglaubt hatte? »Ich würde sehr gerne dorthin gehen«, sagt sie so ruhig wie möglich. »Morgen können wir hingehen. Aber du darfst nicht zu viel grübeln. Du mußt leben!« Er will ihr noch einmal nachschenken. »Danke, für mich nicht mehr, ich fahre zurück ins Hotel, ich bin müde.« »Du kannst hier übernachten.« »Nein, ich möchte zurück ans Meer.« »Aber ich tue dir bestimmt nichts, und es ist doch schade ums Geld.« »Ist es weit bis zur Bushaltestelle?« fragt sie im Aufstehen. »Nein, aber komm, ich fahre dich zum Hotel.« Er geht vor nach draußen. Es ist dunkel. Sie folgt ihm zu seinem Auto, das etwas weiter weg geparkt ist. Ein alter Fiat, dessen Boden und Sitze voller Sand sind. Sie fahren aus der kleinen Stadt hinaus und dann weiter auf einer schlecht beleuchteten Straße durch eine dunkle Landschaft. Hier und da leuchtet das Licht eines einsa56
men Bauernhofs. Der Himmel hängt voller Sterne, und der Mond ist beinahe voll. »Das ist die Nekropole von Monterozzi.« Lisa blickt auf die schwarzen Hügel. »Sie erstreckt sich über eine Länge von fünf Kilometern. Schau, da ist das Grab, das sie uns abgenommen haben, diese Drecksäcke.« Lisa sieht einen Lichtschein. Antero parkt das Auto am Straßenrand. »Sie haben Scheinwerfer über dem Zugang aufgehängt, um zu verhindern, daß ich hineinklettere. Denen werd’ ich die Stromzufuhr kappen. Soll ich?« »Nein!« Er steigt aus. »Komm, wir schauen uns mal um.« Er nimmt sie an der Hand und zieht sie mit in Richtung des erleuchteten Grabes. Die Umgebung ist mit einem Zaun abgesperrt. Er würde doch nicht etwa darüberklettern? Er hatte schon einiges getrunken und wollte sie wahrscheinlich beeindrucken. Neugierig betrachtet sie die dunklen kleinen Hügel, in denen so viele Geschichten verborgen sind. »Vielleicht liegen sie sogar in einem Wohnwagen auf der Lauer, diese Kriecher.« Aus voller Brust ruft er wieder den Herrscher des Olymp an. »Mußt du sie denn unbedingt auf uns aufmerksam machen?« fragt Lisa ärgerlich und befreit ihre Hand aus seinem Griff. »Das macht doch Spaß. Die können ja doch nichts unternehmen. Wenn sie mich verhaften, sage ich einfach: ›Ich werde doch wohl noch zusammen mit meiner Verlobten einen kleinen Mondscheinspaziergang machen 57
dürfen?‹« Und feierlich fügt er hinzu: »Einsam gingen sie fort im Schatten der düstren Nacht. Vergil.« »Du kennst dich aber gut aus mit deinen Vorvätern.« »Mit irgendwas muß man sich ja im Gefängnis beschäftigen. Vergil war Etrusker, wußtest du das? Entdeckt von Maecenas, der ebenfalls Etrusker war. Hast du Angst? In Begleitung des Zauberers brauchst du dich nie zu fürchten.« Zauberer? Das mußt du erst mal beweisen, dachte Lisa bei sich. »Man muß der Gefahr immer ins Auge sehen. Einmal wurde ich verfolgt, und da bin ich erst recht zu der Lampe hingegangen, die sie über einem Grab aufgehängt hatten. Das war der letzte Ort, an dem mich meine Verfolger vermutet hätten.« Sie bleiben am Zaun stehen und schauen sich das Grab mit den Lampen darüber an. »Da haben sie bestimmt ganz wunderbare Dinge herausgeholt. Sechzig Keramiken, wie man mir sagte. Und ausgerechnet jetzt haben sie es auf mich abgesehen. Das ist mir schon seit vielen Jahren nicht mehr passiert.« »Was genau ist denn geschehen?« »Ein Freund fragte mich, ob ich seinen Sohn mitnehmen könne, einen achtzehnjährigen Jungen. Ich hatte ihm aufgetragen, Wache zu halten und mir ein Zeichen zu geben, falls ein Polizeiauto sich nähern sollte. Aber als die Kerle dann tatsächlich auftauchten, reagierte er wie ein Kaninchen, das im Lichtstrahl wie gelähmt auf den Schuß des Wilderers wartet. Wir mußten mit auf die Wache. Die kenne ich schon wie meine eigene Westentasche. Nach ein paar Stunden haben sie uns dann wieder laufengelassen. Heute morgen haben sie die Belle Arti geholt, und 58
die haben die Sachen ins Museum gebracht. Das halbe Museum ist schon mit Objekten gefüllt, die ich gefunden habe, und die Villa Giulia in Rom hat auch viel von mir, das Straußenei zum Beispiel.« »Das habe ich gesehen.« »Ich habe es ihnen geschenkt. Ich dachte mir, das sei doch wirklich etwas ganz Besonderes. Es geht mir nämlich gar nicht um die Funde an sich, sondern um die Spannung beim Suchen und das Gefühl beim Finden: nach zweieinhalbtausend Jahren als erster ein Grab zu betreten, dort einen seiner Vorfahren auf seinem Totenbett liegen zu sehen, umgeben von seinen Besitztümern, und die Gegenstände nach diesen vielen Jahrhunderten wieder ans Licht des Mondes und der Sterne zu bringen.« »So hat sich Lorenzo auch ausgedrückt. Bist du mit ihm an diesem Ort gewesen?« »Ja, vor langer Zeit. Gehen wir?« Schweigend fahren sie ans Meer. Vor dem Hotel steigen sie aus dem Auto und blicken auf das Wasser, das im Mondlicht glitzert. »Dort habe ich mal ein Schiff gefunden, das mit zweihundert Amphoren beladen war. Ich habe es damals den Belle Arti gemeldet.« »Und, wo ist es jetzt?« »Was glaubst du denn? Noch immer am selben Ort. Sie sagten, das hätten sie längst gewußt, und holten schnell die Amphoren heraus, aber mit dem Schiff geschah nichts. Lorenzo wollte es heben. Ja, aber er war eben anders. Er liebte seinen Beruf wirklich, und er liebte die Etrusker. Wer weiß, welche Feste er jetzt mit ihnen zusammen feiert. Du bist noch nicht so weit, du mußt 59
leben. So haben es die Götter bestimmt.« Er legt den Arm um sie, will sie küssen. »Nein, Athene ist keusch.« »Ach du, du hast zuviel studiert.« »Ich gehe jetzt schlafen.« »Mach dir keine Sorgen. Ich werde dir alles zeigen, was du willst. Ich werde dir alle Türen öffnen.« Sie verabreden sich für den nächsten Tag um die Mittagszeit. Dann steigt er in sein Auto und fährt weg.
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Nicht mehr der Mond herrscht nun über die Nekropole, sondern die Sonne. Die fruchtbare Landschaft wirkt nicht länger bedrohlich und geheimnisvoll, sondern lieblich, geschmückt mit Maßliebchen, Butterblumen und Ginster. Lisa war schon früh vom Morgenlicht geweckt, vom Tag überfallen worden und dann dorthin zurückgekehrt, wo sie sich in der vergangenen Nacht umgesehen hatte. Auch jetzt ist es dort still. Es ist noch früh am Morgen. An die kleinen Grabhügel hat man moderne Häuschen angebaut, wie Vorportale zu den Gräbern. Hier und dort wächst ein Olivenbaum. Auf dem Berg an der gegenüberliegenden Seite der Nekropole lag früher die blühende etruskische Stadt der Lebenden, das alte Tarquinia Superba. Zwischen diesem Berg und dem Berg mit den Gräbern, auf dem sie nun steht, liegt friedlich das Tal mit seinen Weinstöcken und Schafen. Eine lange alte Treppe führt aus der Tiefe nach oben und wird allmählich von Pflanzen überwuchert. Vielleicht ist hier einst der Trauerzug hinaufgestiegen, um den Verstorbenen zu seiner neuen Behausung zu geleiten. Die Etrusker erbauten ihre Totenstädte immer auf einem Berg gegenüber der Stadt der Lebenden. Es muß ein beruhigender Anblick 61
gewesen sein, abends die Lichter bei der letzten Ruhestätte ihrer Lieben zu sehen. Die Türen der meisten kleinen Hütten stehen offen. Als Lisa eine von ihnen betritt, findet sie sich oben an einer steilen Steintreppe wieder. Langsam steigt sie hinunter. Ihre Schritte hallen in dem Gewölbe wider, das immer kälter wird und dessen Mauern vor Feuchtigkeit glänzen. Zugleich wird es immer stiller; die Geräusche der Außenwelt sind nicht mehr als ein leises Rauschen, bis auch das schließlich verstummt. Sie setzt sich auf die unterste Stufe und schaut geradeaus in das Grab hinein: farbenfroh gekleidete Menschen genießen umgeben von blühenden Blumen und singenden Vögeln köstliche Speisen. Darunter, in Höhe der Totenbetten, zieht sich eine Bordüre von Wellen entlang, aus denen Delphine springen. Auf die hintere Wand wurde eine große Tür gemalt, das Tor, das ins Jenseits führt. Lisa wundert sich über die Ruhe, die sie überkommt, während sie hier im Dunkeln auf der Treppe sitzt und sich den hellen Raum anschaut. Seine Wirkung ist so anders als die der Abbildungen im Buch, weil er hier dreidimensional ist. Dieses Ziel hatte auch sie früher angestrebt: Räume zu schaffen, die die Menschen wie eine andere Welt betreten, in der sich wiederum andere Räume in ihrem Inneren öffnen. Und plötzlich wird ihr klar, daß man etwas Derartiges nur zustande bringt, wenn man es mit Leib und Seele tut, sonst braucht man erst gar nicht damit anzufangen. Nach Lorenzos Tod hatte sie zwar weitergearbeitet, aber wie ein Roboter. Der Ton war einfach zu schwer für sie gewesen. Daraufhin hatte sie angefangen zu zeichnen, hatte große Skulpturen aus Linien geschaffen, aber diese Arbeit 62
erwies sich als totes Gleis. Räume: Darauf kommt sie immer wieder zurück. Sie muß weg von der Fläche, und dieses Grab zeigt es ihr wieder von neuem. Die Wellen bewegen sich, die Blätter an den Bäumen zittern im Wind. Die Körper lösen sich aus ihrer Erstarrung. Sie tanzen, essen und rufen Erinnerungen an den Verstorbenen wach, der sich auf die große Reise begeben hat. Lisa spürt, wie sie sich zum erstenmal wieder für etwas begeistert. Dann sieht sie, wie sich in der Glasscheibe vor der Tür ins Jenseits die Tür zur Außenwelt widerspiegelt. Noch kann sie zurück. Sie weiß nicht, wie lange sie so dasitzt. Manchmal schaut jemand durch die Öffnung oben an der Treppe hinein, aber nur selten wird der Friede von Touristen gestört, die schwatzend und mit Fotoapparaten behängt die Treppe hinuntersteigen. Sie werfen nur einen kurzen Blick ins Grab und gehen wieder hinauf. Auch Lisa steigt wieder die Treppe hoch. Die Welt da draußen kommt ihr fremd vor, und ihre Augen können sich nur mühsam wieder an das grelle Sonnenlicht gewöhnen. In der Ferne, inmitten der alten Nekropole, die mit frischem grünem Getreide bewachsen ist, sieht sie den Friedhof der Toten von heute. Zypressen halten dort Wache. Sie durchschreitet eine andere Tür und steigt eine Treppe in ein weiteres Grab hinunter. Hier findet sie sich in einer viel weniger fröhlichen Umgebung wieder, ohne tanzende Menschen und ohne Festgelage. Kein Sport und kein Spiel, kein Blumenduft. Auf beiden Seitenwänden ist eine dunkle Tür abgebildet: zwei Zugangspforten zum Totenreich. Von beiden Seiten grinst sie Charon an, der bei 63
den Etruskern Charun hieß. Was ist mit ihm geschehen? Er ist nicht mehr der gutmütige alte Meister, der Schiffer, in dessen Boot man vertrauensvoll einsteigt und der einen mit ruhigen Schlägen ans andere Ufer bringt. Er hat eine Hakennase, große, spitz zulaufende Ohren, seine Haare stehen zu Berge, und er schwenkt drohend einen Hammer. Es ist totenstill, sie ist allein hier. Sie schaut die Türen an. Dahinter ist Lorenzo verschwunden. Doch dann sitzt er auf einmal wieder neben ihr auf der kleinen Bank im Rosengarten der Villa Giulia und erzählt ihr von dem Fluch, der auf den Etruskern lag. Seine langen Wimpern werfen Schatten auf seine Wangen, und sein schön geschwungener Mund gleicht dem einer klassischen Statue. Sie sieht den kleinen Gott auf seiner Schulter sitzen, der ihr die Zunge herausstreckt und sie verschmitzt lächelnd beobachtet, wie sie an Lorenzos Lippen hängt und ihn küssen will. Er erzählt ihr die Legende von dem Jungen Tages, der einem Bauern aus Tarquinia erschien, als dieser gerade sein Feld pflügte. Tages prophezeite, das Volk der Etrusker würde tausend Jahre lang bestehen und dann untergehen. Es würde aufsteigen, hell erstrahlen und wieder versinken. Jedes Jahrhundert würde mit einem wichtigen Ereignis zu Ende gehen. So wurde anfangs in der etruskischen Kultur das Jenseits als fröhliche Fortsetzung des irdischen Lebens dargestellt, doch ab dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung wuchs in den Menschen das Bewußtsein, daß sie den Höhepunkt ihres Daseins überschritten hatten, und sie wurden immer trübsinniger. Sie hatten Rückschläge zu verzeichnen, und ihre Flotte wurde von den Griechen vernichtet. Die Vorstellungen vom Jenseits und dem Mann, der sie dorthin brachte, wurden bedrohlicher. Der freundliche Schiffer 64
bekam Klauen und einen Hammer. Monster und Dämonen tauchten auf. Auch zu Beginn einer neuen Liebe glaubt man, ein neues, besseres Leben bräche an und würde niemals enden. Heleen hatte Lisa darauf aufmerksam gemacht, daß sie Lorenzo teilweise idealisierte und er manchmal auch recht merkwürdig und jähzornig sein könne. Ja, es stimmte, er konnte aufbrausend und ungeduldig sein. Doch daß er seine Gefühle so offen zeigte, fand sie ja gerade so anziehend an ihm. Außerdem waren seine Liebesbekundungen ebenso leidenschaftlich. Langsam steigt Lisa wieder nach oben und schaut sich nach weiteren offenstehenden Türen um. Sie würde gern die Fischer und den Felsenspringer sehen, doch dieses Grab ist geschlossen. Nicht weit vom Eingang entfernt stehen zwei Wächter und unterhalten sich. Lisa fragt, ob die geschlossenen Gräber möglicherweise zu einem anderen Zeitpunkt zugänglich seien. Sie schütteln verneinend den Kopf und mustern sie. »Scandinava?« »Olandese. Kann das Grab der Jagd und des Fischfangs denn auch nicht besichtigt werden?« Die Männer schauen sich kurz an. Der eine nickt, und der andere sagt: »Na, wollen wir heute mal nett sein.« Er holt einen großen Schlüsselbund hervor und geht ihr voraus. An der Tür schreckt ihr Führer kurz zurück: »Ein Salamander!« »Vor denen habe ich keine Angst«, sagt sie. »Kann sein, ich aber schon.« Er schließt die Tür hinter ihr ab und sagt: »Wenn an65
dere Leute sehen, daß wir hier sind, kommen sie auch.« Er bleibt stehen. »Unsere Augen müssen sich erst einen Moment an die Dunkelheit gewöhnen«, erklärt er. Durch ein kleines Fenster über der Tür fällt noch ein wenig Tageslicht. Sie steigen die lange Treppe hinab, hinunter in die Erde. In eine andere Zeit, in eine Welt ohne Zeit. Er mache diese Arbeit schon seit fünfundzwanzig Jahren, erzählt er ihr. Führer im Totenreich. Ihre Schritte hallen wider. Nicht fallen. Unten angekommen, drückt er auf einen Knopf, und das Licht geht an. Sie befinden sich in einem Raum voller bruchstückhafter Abbildungen, Resten von Bildern, ein Auge, ein Arm, eine halbe Blume. »Dieses Grab wurde im Krieg als Bunker benutzt. Die Leute begriffen nicht, in was für einer Umgebung sie sich befanden, und vieles wurde zerstört.« »Aber das ist doch gar nicht …« Für einen Moment überfällt sie eine vage Furcht. Sie hat sich hier ziemlich leichtsinnig einschließen lassen. »Ich sehe keine Vögel und Fische«, sagt sie schließlich. Der Mann schaut sie mit einem herausfordernden Lächeln an, geht ein paar Schritte, drückt wieder auf einen Schalter, und das dunkle Loch in der hinteren Wand füllt sich mit Licht, Vögeln, Fischen und Menschen. Ein Sommertag vor zweitausendfünfhundert Jahren. »Was du nun erleben wirst, ist eine Erfahrung, die ganz besonderen Gästen vorbehalten ist.« Er hebt das Absperrgitter hoch, das die beiden Räume voneinander trennt, und stellt es beiseite. Sie gehen in den nächsten Raum hinein und schauen rundherum auf das Meer, über dem rote, blaue und weiße Vögel fliegen. 66
Das Boot mit den Fischern, der Felsenspringer: Die vertrauten Bilder sind nun zum Anfassen nahe. »Könige und Königinnen habe ich hier empfangen. Auch deine Königin, Beatrice. Molto simpatica. Und Pallottino, den größten Kenner der Etrusker. Er hat etwas sehr Schönes gesagt: ›Das hier ist kein Museumsbesuch, sondern es ist, als blätterten wir ein altes Fotoalbum durch.‹ Und genau so ist es. Sieh dir die Farben des Berges an, die bräunlichen, trockenen Sträucher. So sehen sie noch heute aus. Das hier sind Szenen aus dem täglichen Leben. Schnappschüsse. Schau, das könnte glatt eine Taube von Picasso sein.« Er hält die Lampe davor. Mit wenigen Linien wurde der Vogel im Flug eingefangen. Der Führer richtet die Lampe auf andere Details. Diese Arbeit habe seine Einstellung zum Leben verändert, sagt er. Er nehme es leichter. »Die Etrusker genossen ihr Leben, das kann man deutlich sehen, und in so einem Fall ist es nie schön, wenn es zu Ende geht. Vielleicht sollten die Bilder zur Beschwörung ihrer Ängste dienen. Aber wer weiß, möglicherweise glaubten sie auch wirklich, daß es so weiterginge«, sagt er nachdenklich. Er hoffe, es gebe ein Jenseits. Nach all den Jahren hier glaube er schon daran. Dann würde er all die Dinge tun, die er in diesem Leben nicht getan habe. Lisa betrachtet den Mann und die Frau auf dem Tympanon, die bei einem Bankett liegen. Er hat den Arm um ihre Schulter gelegt, sie ihre Hand auf seine Brust. Ein Junge spielt die Doppelflöte, Mädchen flechten Blumenkränze. »Vielleicht waren dies die Eigentümer des Grabes und das Bild sollte die ›Insel der Glückseligen‹ darstellen«, hatte Lorenzo gemeint, als er neben ihr auf der Bank saß 67
und sie in dem Buch die Abbildung dieser Szene betrachteten. Dann hatte er ihren Finger gestreichelt. Sie selbst war auf dieser Insel gewesen. Aber nun war sie für immer verloren, und es blieb nur ein Heimweh für ewige Zeiten. Ihr Begleiter hat sich etwas zu nahe zu ihr gestellt. Lisa geht einen Schritt zur Seite. »Haben Sie Lorenzo Durante gekannt?« »Wer ist das?« »Er war Archäologe.« »Ach, es kommen so viele Archäologen hierher.« »Er ist hier umgekommen, drüben beim Tempel.« Der Mann runzelt die Stirn. »Ja, ich habe davon gehört. War es nicht Selbstmord?« »Hat man das gesagt?« »Ich erinnere mich an so etwas. Ich habe hier schon so viel erlebt.« Er hat sich ihr wieder genähert. Sie ärgert sich darüber. Sie weiß, worauf er anspielt, und fragt trocken: »Auch Liebe?« »Ja.« »In den Gräbern?« »Am liebsten. Es gibt nämlich noch viel aufregendere Gräber als dieses.« »Hmm.« »Ich würde sie dir gerne zeigen.« »…« »Die Etrusker waren ein Volk, das das Leben genoß, ein sehr sinnliches Volk. Kennst du das Grab der Stiere?« »Nein.« Lorenzo wollte ihr das Grab der Panther zeigen, die würden ihr gut gefallen, hatte er mit einem geheimnisvollen Lächeln gesagt. Aber diesen Mann will sie loswerden. 68
»Wenn es nach mir ginge, würde ich dir gerne bis heute abend Gräber zeigen«, sagt er. »Gibt es denn so viele?« fragt Lisa. »Endlos viele. Die Nekropole erstreckt sich über mehrere Kilometer. Ich werde das Grab der Stiere für dich aufschließen.« »Ich muß weg, ich habe eine Verabredung.« »Mit wem denn?« Natürlich geht ihn das nichts an, doch sie ist neugierig darauf, ob der Mann den Zauberer kennt. »Mit dem Bekannten eines Freundes, Antero Curunna.« »Il mago?« »Du kennst ihn?« »Und ob. Ich bin oft mit ihm unterwegs gewesen.« »Nachts?« »Ja. Wie oft habe ich nicht schon das Grab der Stiere für ihn aufgeschlossen, wenn er wieder mal ein Mädchen aufgerissen hatte!« »Heimlich?« »Natürlich. Aber schließlich sind wir nicht umsonst Nachfahren der Etrusker. Wir sind genau wie sie. Letztendlich liegt ihre Blütezeit nicht mehr als ungefähr vierzig Generationen zurück.« Er streicht ihr kurz übers Haar. Sie schüttelt verärgert den Kopf. »Auf den Wandmalereien in den Gräbern sind auch Frauen mit blonden Haaren zu sehen. Das waren die ›leichten Frauen‹. Weise Frauen, wie ich finde, das Leben will gelebt werden!« Lisa schaut auf die Uhr, sagt: »Ich muß jetzt wirklich gehen«, und macht sich in Richtung Ausgang auf den 69
Weg. Plötzlich wird es stockdunkel. Sie stößt einen Schrei aus. Er nimmt ihre Hand, doch sie reißt sich sofort los. Ihr Führer versichert ihr lachend, sie brauche keine Angst zu haben. Er schaltet seine Taschenlampe an und beleuchtet den Boden vor ihren Füßen. Vorsichtig steigt sie die Lichtspur entlang die Treppe hinauf. Sie ist erleichtert, als sie wieder im Freien steht. Am Ausgang, im Kiosk, in dem die Eintrittskarten verkauft werden, zeigt er ihr ein Buch mit einem Plan von der Nekropole und Fotos von den Malereien. »Schau, das hier ist das Grab der Stiere. Siehst du, was da los ist?« Ja, das sieht sie allerdings. Zwei Männer und zwei Frauen, wie ein Puzzle aneinandergefügt. »Ach, es gibt so vieles, was wir nicht wissen. Schau dir mal diese Frau an.« Er zeigt auf ein weibliches Porträt. »Es stammt aus dem Grab der Unterwelt. Ihr Name steht dabei, Velcha. Schon seit Jahrzehnten streiten sich die Wissenschaftler über die Bedeutung der schwarzen Wolke hinter ihrem Kopf. Das Unbekannte, sagt der eine. Der Tod, sagt ein anderer. Und wieder ein anderer behauptet, die Wolke diene einfach als Kontrast, damit das Gesicht besser zur Geltung komme.« Jedem Wissenschaftler seine Theorie. »Und das Grab der Panther?« »Das muß auch hier drin sein.« Er blättert. »Hier ist es.« Eine Abbildung von einer weißen Wand mit zwei Panthern, die sich im Profil gegenüberstehen, und in der Mitte zwischen ihnen ein weiterer Pantherkopf in Frontalansicht. 70
Sie schaut sich das Bild aufmerksam an. Warum wollte Lorenzo ihr dieses Grab zeigen? »Es ist ein sehr altes Grab, aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus. Ich kann es für dich aufschließen.« Vielleicht, weil der Stil der Malerei klarer ist, stilisierter. Es wurden nur zwei Farben verwendet, Rot und Schwarz. Das Bild ist wunderschön, aber warum hatte Lorenzo bei seiner Erwähnung so geheimnisvoll gelächelt? Weil er sie oft la mia bella pantera nannte? »Schau dir mal genau den Kopf in der Mitte an.« Und auf einmal erkennt sie im Kopf des Panthers zwei Pferdeköpfe, die sich küssen. »Ja, die Etrusker beeindrucken die Menschen bis heute«, sagt er, als er ihre glänzenden Augen sieht. »Giulio hat mich früher oft begleitet«, erzählt Antero, während er die Pasta vom vorigen Tag in Turans Freßnapf kratzt. »Aber jetzt traut er sich nicht mehr. Er ist ein braver Bürger geworden.« Sie gehen aus dem Haus, um eine Kleinigkeit zu essen. »Er hat das Grab der Jagd und des Fischfangs für mich aufgeschlossen und wollte mir auch noch einige andere, für das Publikum unzugängliche Gräber zeigen.« »Bestimmt das Pornograb. Immer derselbe Trick. Ich kann dir viel geheimere Dinge zeigen. Dinge, von denen niemand etwas weiß.« »Ja, gern.« »Was Giulio fehlt, ist die Leidenschaft für das Graben und die Suche an sich. Sie ist nur wenigen gegeben. Angela zum Beispiel ist eine wirklich leidenschaftliche tombarola. Wir arbeiten sehr gut zusammen, aber in letzter Zeit haben wir auch schon mal Meinungsverschiedenheiten. 71
Sie findet zum Beispiel, ich dürfe nicht in Monterozzi graben, weil der Staat das Gebiet aufgekauft hat.« »Lorenzo war derselben Meinung«, bemerkt Lisa. Er hatte sich oft darüber aufgeregt. »Staat, welcher Staat denn? Den hat es hier doch nie gegeben! Für mich ist das hier noch immer Etrurien, das Land meiner Vorfahren. Ich suche nach dem, was meine Verwandten hinterlassen haben. Die Leute hier verstehen das. Rom macht die Probleme. Daran hat sich seit damals nichts geändert. Sollen wir bei Angela etwas essen?« »Weiß sie denn, daß wir kommen?« »Ich meine in dem Restaurant, wo sie arbeitet.« Sie spazieren durch das alte Stadtzentrum. Viele Leute grüßen Antero, und ab und zu hält er ein Schwätzchen. »Habt ihr’s in der Zeitung gelesen? Sie haben mich erwischt«, sagt er jedesmal. Er scheint stolz darauf zu sein. »Komm, ich will dir kurz was zeigen«, sagt er auf einmal zu Lisa und zieht sie mit sich in eine breite Straße hinein, die auf einen Platz mündet. »Schau, dort.« Er zeigt auf eine kleine Rasenfläche. »Der Gedenkstein von Cardarelli, einem großen Dichter aus Tarquinia. Hätte er aus Rom gestammt, wäre er weltberühmt geworden.« Lisa geht hinüber zu dem Stein, der in Form eines aufgeschlagenen Buches auf dem ordentlich gemähten Rasen steht. Sie liest: Qui tutto è fermo, incantato, nel mio ricordo, anche il vento. Hier steht alles still, wie verzaubert, in meiner Erinnerung, selbst der Wind. Dann gehen sie zur Stadtmauer und blicken über das Tal. »Von hier aus hat man die beste Aussicht. Siehst du diese Hügel da, kannst du erkennen, daß sie die Form 72
eines Hufeisens haben? Dort lag das antike Tarquinia, Tarquinia Superba, la Cività, und dort, auf dem Hügel gegenüber, befindet sich die Nekropole, wo du heute morgen warst. Schau dir alles genau an, gleich erzähle ich dir mehr. Ich werde dir ein Geheimnis verraten.« »Ein Geheimnis?« Er nickt. »Und wo steht der Altar der Königin?« fragt Lisa. »Auch auf dem Hufeisen. Siehst du die Mauer dort?« Antero zeigt auf eine Ausbuchtung in der Stadtmauer. »Von da oben bin ich mal runtergesprungen, als die Polizei hinter mir her war.« Ungläubig betrachtet Lisa die Mauer, die ungefähr dreißig Meter hoch ist. »Es war Nacht, aber ich wußte genau, wo der Baum stand. Ich dachte, der würde meinen Fall bremsen. Ich wurde im Krankenhaus wach, und jede Menge Schläuche hingen an mir dran. Ich schämte mich zu Tode und dachte, wenn Zeus mich so daliegen sähe … Ich habe die Schläuche herausgezogen und bin abgehauen.« »Ist das das Geheimnis?« »Warum sollte das ein Geheimnis sein?« Die Wände des Restaurants sind ockergelb gestrichen und mit abstrakten Bildern geschmückt. Ein junges Mädchen, das geradewegs einer Abbildung auf einer etruskischen Vase entsprungen sein könnte, bedient die Gäste. Eine elegante Frau mittleren Alters kommt auf Antero zu und küßt ihn. Sie reicht Lisa die Hand und führt sie zu einem Tisch. Angela ist nirgends zu sehen. Der Wein wird ihnen in einer bemalten Karaffe serviert, Rotwein, wie bei einem etruskischen Festmahl. 73
»Hast du einen besonderen Wunsch, oder sollen wir die Entscheidung Angela überlassen?« »Wir überlassen es ihr.« Nach einer Weile werden drei hübsch angerichtete Schüsseln mit verschiedenen Sorten Pasta auf den Tisch gestellt. Antero bedient Lisa. »Hmm, köstlich!« »Ja, kochen kann sie gut. Ohnehin tut sie alles mit Liebe und Hingabe, aber mit ihrer Küche übertrifft sie sich selbst. Sie nimmt sich ein Beispiel an den alten Tarquiniern, die nichts lieber taten, als zu tafeln. Na ja, eines ausgenommen.« Er zwinkert ihr zu. »In allen Gräbern sind Wandmalereien zu sehen, auf denen die Menschen Festmahle abhalten, und uns fehlt jetzt eigentlich nur noch ein Flötenspieler.« Als sie mit der Pasta fertig sind, serviert ihnen das junge Mädchen bunte Gemüsehäppchen. »Angela hat etwas gegen Fleisch«, erklärt Antero. »Ich nicht, weißt du, ich verputze hin und wieder gern ein kleines Ferkel.« Dann erscheint Angela, in einer weißen Hose, einem weißen Kittel und mit einer Kochmütze auf dem Kopf. La chef. Sie lächelt verlegen, als Lisa sie für ihre Kochkunst lobt. »Ach, bei mir muß immer alles ganz einfach sein. Ich mag keinen Firlefanz«, meint sie, während sie sich zu ihnen an den Tisch setzt. »Ich sagte gerade zu Lisa, daß dir das Kochen im Blut liegt und daß schon die alten Tarquinier Feinschmecker waren.« Wieder fällt Lisa Angelas leicht wehmütiger Blick auf, 74
obwohl sie andererseits auch etwas Ruhiges und Unerschütterliches ausstrahlt. Sie macht den Eindruck, als habe sie schon viel erlebt. »Was haben die Etrusker denn so gegessen?« fragt Lisa. »Man kann auf den Wandmalereien sehen, daß sie reichlich und üppig gespeist haben: gebratenes Wild, Hase, Reh, Ente, Wildschwein, aber auch Fisch, insbesondere Thunfisch. Schafskäse, Ziegenkäse. Im Grunde alles Dinge, die auch heute noch hier in der Gegend gegessen werden. Ihr Bauch war für sie ihr liebster Gott. Die italienische Sitte, zweimal täglich warm zu essen, stammt direkt von den Etruskern ab«, erklärt Angela. Antero füllt Lisas Glas nach und sagt: »In einer seiner Oden mahnt Horaz seinen etruskischen Freund und Entdecker Maecenas, ihm nicht noch einmal schlechten Wein aus einem einfachen Trinkbecher vorzusetzen.« Und er deklamiert mit Inbrunst: »Vile potabis modicis Sabinum cantharis … care Maecenas.« Dann fährt er fort: »Wo doch bei unserem Dichter ansonsten auch nichts Besonderes auf den Tisch kam, nur ein wenig Brot und Oliven. Bei Maecenas dagegen wurde ganz anders getafelt, wie durch Horaz überliefert ist: Kranich, mit viel Salz und Gerste bestreut, Leber von weißen Gänsen, die mit saftigen Feigen gemästet worden waren, und nur die zartesten Filetstückchen. Geröstete Amseln und Tauben, aber nur das Brustfleisch. Und die Wände waren geschmückt mit Girlanden aus Blättern, Blumen und Früchten.« »Ich habe einmal in einem Grab eine kleine Schale gefunden«, erzählt Angela, »in der sich noch Essensreste befanden, kleine Körnchen. Erst wollte ich sie den Belle Arti geben, um sie untersuchen zu lassen, doch plötzlich 75
wurde mir klar, daß es Gerste war, ein Getreide, das man übrigens auch in den Mägen ägyptischer Mumien gefunden hat.« »Lorenzo hat einmal acquacotta für mich gekocht und mir erzählt, daß das auch eine etruskische Speise sei.« Acquacotta ist eine regionale Spezialität, eine dicke Gemüsesuppe mit Ei und Käse darin. »Ja, man kann davon ausgehen, daß schon seine Vorfahren acquacotta gegessen haben«, sagt Antero und fragt dann, ob Lisa vielleicht ein bißchen Öl über ihren Salat möchte. Angela steht auf und kommt gleich darauf mit einem runden Töpfchen zurück. »Schau mal«, sagt sie zu Lisa. Auf dem Töpfchen ist eine Inschrift zu lesen, auf etruskisch, allerdings in griechischen Buchstaben und deshalb nicht schwer zu entziffern. Aska mi eleivana, mini mulvanike mamarce velchanas. »Das bedeutet: Ich bin ein Ölfäßchen, Mamarce Velchanas hat mich gemacht.« Es handelt sich um eine Kopie des Originals, die eine Freundin von Antero und Angela angefertigt hat. »Sie muß übrigens mal wieder für uns an die Arbeit gehen«, sagt Antero. »Wir haben mittlerweile einen ganz schönen Vorrat an Böden.« »Heutzutage können solche Gegenstände perfekt nachgemacht werden«, erklärt Angela. »Die Museen sind voll von Imitationen. Um Keramiken auf ihre Echtheit hin zu untersuchen, bohrt man meistens ein kleines Loch in die Unterseite, entnimmt eine Probe und kann dann mit Hilfe der C-14-Methode feststellen, wie alt der betreffende Gegenstand ist.« »Wir haben jede Menge Böden«, sagt Antero, »auf denen unter den Händen von Letizia sehr hübsche Kreatio76
nen entstehen. Tja, ein kleines Loch genügt eben nicht, um uns auf die Schliche zu kommen.« »Aber nur die Profifälscher werden wirklich reich mit ihrer Arbeit«, erzählt Angela. »Wir tombaroli nicht, denn das Geld, das wir durch die Gräber verdienen, darf nicht angehäuft, sondern muß wieder ausgeben werden. Das ist ein heiliges Gesetz. Der reichste Mann von Tarquinia ist daher ein Fälscher, und zwar ein sehr berühmter. Von ihm stehen sicher an die tausend Objekte in den größten Museen der ganzen Welt.« »Und, ist das bekannt?« fragt Lisa. »Die Museumsdirektoren sind häufig darüber informiert, aber die halten den Mund, sonst würde ihnen ganz schnell ihr Publikum davonlaufen.« Antero grinst und fährt fort: »Wenn wir Bronzestückchen finden oder Münzen, die schon stark abgenutzt sind, geben wir sie den Spezialisten, die sie dann zu etwas Neuem umschmieden. Dann lassen sie den entsprechenden Gegenstand in einem Glasbehälter über ein wenig Chlor hängen, und schon sieht er wieder wie alt aus.« Lisa hört ihnen voller Verwunderung zu, um so mehr, als daß sie so völlig offen darüber reden. »Die Tongefäße muß man zwei Stunden lang mit ein paar Teebeuteln kochen«, erklärt Angela, »dann gut mit Erde abreiben – Erde aus einem Grab, also mit Kalk darin – und sie anschließend trocknen lassen. Dann soll erst mal einer beweisen, daß sie nicht alt sind.« »Sie eine Weile in einen Kuhfladen legen oder einfach draufpissen wirkt auch Wunder«, bemerkt Antero. Ein Freund von ihnen hat ein wunderschönes antikes Väschen als Glücksbringer im Auto hängen und verkauft frischgebrannte Tongefäße als antike. 77
Antero lacht und sagt dann zu Angela: »Ich werde Lisa gleich den Tempel zeigen. Und heute nacht gehen wir graben. Um Mitternacht treffen wir uns bei mir.« Sie fahren durch eine hügelige Landschaft, und nichts weist darauf hin, in welcher Zeit sie leben. Sonne, Luft, Erde und zwei Menschen. Nur das Auto, ein klappriges Vehikel, ist nicht zeitlos. »Dort liegt der Tempel, der Altar der Königin«, sagt Antero. Zunächst sieht Lisa nichts außer der runden Kuppe eines Hügels, doch nach einer Weile kann sie ein paar große, hellgelbe Steine erkennen. Und so verschwanden die etruskischen Städte, vollständig, wie Blumen, nur die Gräber, die Blumenzwiebeln, blieben unter der Erde, hatte sie bei D.H. Lawrence gelesen, der hier vor siebzig Jahren umhergewandert war, als er wußte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Dieser Tempel hier muß einst riesengroß gewesen sein. Die Pferde auf seinem Dach, bereit für den Sprung in den Himmel. Die Steinbrocken werden größer, je mehr sie sich nähern, und sie selbst wirken dagegen immer unbedeutender. Lisa schaut die hohe Mauer an, die noch erhalten ist. Ist Lorenzo dort wirklich hinuntergesprungen? Sie kann es einfach nicht glauben. Lisa steigt aus dem Auto aus. Es herrscht Totenstille. Ihr bricht der Schweiß aus. Sie schaut sich um. Das weite Land, am Horizont das Meer. Hier hat auch Lorenzo gestanden, hier ist er herumgelaufen. Was ging in ihm vor? War er allein? Hatte er Angst? War er zu allem bereit? »Auf diesem Schild kannst du ein paar Informationen 78
nachlesen«, sagt Antero. Seine Stimme kommt von ganz weit her, wie aus einer anderen Welt. Tempel der Artumes. Artemis, Diana, Göttin der Jagd, der ewigen Jagdgründe, Mondgöttin. »Vermutlich ritt auf den Pferden, den geflügelten Pferden auf dem Dach, ein Lichtgott, der Sonnengott oder der Gott der Morgendämmerung«, erzählt Antero. Hier wurde das Licht angebetet. »Also, hier hat man Lorenzo gefunden?« hört Lisa sich fragen. »Ja.« Lisa sieht Antero forschend an. Er wendet den Blick ab und schaut suchend zu Boden. Artemis war nicht nur die Göttin der Jagd und des Mondes, sondern auch die Göttin des plötzlichen Todes. »Weißt du, wo genau?« fragt Lisa. Antero zeigt auf eine Stelle unterhalb einer hohen Mauer. »Ich glaube, er ist von dieser Mauer hinuntergesprungen. Aber es spielt eigentlich gar keine Rolle, wie es passiert ist. Hör doch auf zu grübeln. Es geht ihm jetzt gut, da bin ich mir ganz sicher. Und ist es denn nicht schön, von seinem Lieblingsplatz aus in die andere Welt aufzubrechen? Von einem etruskischen Tempel aus. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß Artumes ihn begleitet hat.« Sein selbstsicherer Ton stört sie. Es spielt eine unglaublich wichtige Rolle, wie es passiert ist. Anteros Geschichte überzeugt sie nicht. Lorenzo hatte noch so viel vor, er war so wißbegierig. Was gab es da noch, das sie nicht wußte? Lorenzo geht es jetzt gut, so ein Blödsinn. Sie hat Lust, es herauszuschreien, Antero durchzuschütteln. Sie kämpft gegen einen aufsteigenden Weinkrampf 79
an. Was hatte Lorenzo bloß an diesem Verrückten gefunden? Antero starrt wieder zu Boden. Ihm ist ganz offensichtlich nicht wohl in seiner Haut. Er will ihr imponieren, das bemerkt sie sehr wohl. Betrachtet er Lorenzo vielleicht als Rivalen? Oder ist er gerade deshalb gern in ihrer Gesellschaft, weil sie eine Beziehung zu Lorenzo hatte? »Hier lag die Stadt. La Cività. Von hier stammten der Gründer Roms, Tarquinius Priscus, und viele andere römische Herrscher«, sagt er nun. »Die Stadt ist nicht erhalten, weil die Häuser aus Holz gebaut waren, stimmt’s?« Sie fragt einfach irgend etwas, obwohl sie in Wirklichkeit nur eines interessiert: Was war mit Lorenzo geschehen? Hatte ihn dieser Ort verhext? Hatte ihm die Mondgöttin einen Streich gespielt? War es ein Anfall von Wahnsinn gewesen? Er hatte so stark gewirkt. Zu Beginn einer Liebesbeziehung glaubt man oft, man habe den anderen schon immer gekannt. Dabei weiß sie sehr wohl, daß selbst ein ganzes Leben nicht ausreicht, um einen anderen Menschen wirklich kennenzulernen. Es stimmte, daß er einen Hang zum Extremen hatte; das war es ja gerade, was sie an ihm so geliebt hatte. Er hatte sich selbst aufs Spiel gesetzt. Er konnte trinken und reden, bis es hell wurde. So vorsichtig er mit etruskischen Gegenständen umging, so jähzornig konnte er andererseits auch sein. Zum Beispiel an jenem Abend, als sie nicht über Nacht bei ihm bleiben konnte, weil eine Freundin aus den Niederlanden bei ihr zu Besuch war. Um drei Uhr nachts hatten sie auf der Piazza del Popolo gestanden. 80
»Sie ist doch kein Kind, auf das du aufpassen mußt. Oder habt ihr ein Verhältnis miteinander?« Er zog sie hinter sich her. »Sie bleibt doch nur zwei Tage.« Sie klammerte sich an einem Zaun fest, doch er löste ihre Finger. Seine Heftigkeit überraschte sie. »Ich will, daß du bei mir bleibst.« Er schaute sie verzweifelt und wütend an. »Du bist gemein. Du kannst doch morgen früh zu deiner Freundin gehen.« Sie dachte bei sich: Aber ich habe meinen eigenen Terminkalender, und in dem steht jetzt Marjan drin und ausnahmsweise mal nicht du. Er hob sie hoch und trug sie. Sie zappelte, bis er sie wieder hinunterließ. Sie setzte sich auf den Boden, die Beine rechts und links neben einem Laternenpfahl, die Arme darum geschlungen. Er riß sie los, so daß sie der Länge nach auf dem Bürgersteig lag. So blieb sie liegen. Er kniete sich neben sie und schaute sie an. »Du bist so süß«, sagte er und küßte sie sanft, während ab und zu dicht neben ihnen ein Auto vorbeifuhr. Mit dir zusammen untergehen. Natürlich war sie bei ihm geblieben. Sie hätte immer bei ihm bleiben sollen. Aber warum war er nicht bei ihr geblieben? »Städte aus Holz! Pah, Unsinn, das behaupten die doch nur, damit sie hier nicht graben müssen!« ruft Antero heftig. »Die Fundamente und der untere Teil der Häuser waren aus Stein gebaut, nur der obere Teil bestand aus Holz. Hier gibt es überall Reste von Hausmauern zu finden. Und der Tempel, besteht der etwa nicht aus Stein? Schau her, hier verläuft der Entwässerungsgraben, der zum Brunnen führt. Die Etrusker haben ihn angelegt, und die Bauern benutzen ihn noch heute. Aber nur die 81
Totenstadt wird ausgegraben, weil es dort etwas zu holen gibt. Es ist eine Schande!« Lisa sagt nichts dazu, obwohl sie weiß, daß es den modernen Archäologen gar nicht mehr um das Sammeln von Objekten, sondern um die Rekonstruktion der damaligen Lebensweise geht. »Schau, dort findet zwar eine Ausgrabung statt.« Antero zeigt auf ein eingezäuntes Gebiet. »Aber nicht unter italienischer Leitung.« »Satricum wird doch auch von den Niederländern ausgegraben.« »Ich meine ja nur.« Lorenzo hatte ihr einmal erklärt, warum an den Ausgrabungen in Italien so viele Ausländer beteiligt waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte man entdeckt, daß es eine viel größere Zahl archäologisch interessanter Stätten gab als allgemeinhin angenommen. Die Bauern hielten in der Regel den Mund, wenn sie zufällig auf Funde stießen, weil es für sie eine Katastrophe bedeutete, wenn sich herausstellte, daß sich unter ihrem Olivenhain oder Kornfeld ein Tempel oder eine Totenstadt verbarg. Doch solche Neuigkeiten ließen sich nicht lange verheimlichen, und dann machten sich die tombaroli voller Eifer an die Arbeit. Daher war Eile geboten, aber der italienische Staat hatte nicht genug Geld, um alle Ausgrabungen selbst zu finanzieren, und vergab daher Grabungslizenzen ans Ausland. Das Losverfahren brachte den Niederlanden eine der wichtigsten Grabungsstätten überhaupt ein: Satricum, wozu unter anderem der Tempel der Mater Matuta gehört, unter dem wiederum ein Heiligtum aus noch früherer Zeit entdeckt wurde. Heleen hatte einen Artikel darüber verfaßt und bei ihren Recherchen Lorenzo kennen82
gelernt, der einer der wenigen an der Ausgrabung beteiligten Italiener war. Antero setzt sich auf einen großen Sockel. »Komm her«, sagt er und klopft neben sich auf den Stein. Langsam geht sie zu ihm hinüber. Sein Tonfall ist ihr zu heiter. Sie wünscht, sie wäre allein. »Du mußt nicht glauben, daß ich dich nicht verstehe. Ich habe auch schon viel mitgemacht und dabei oft den Glauben an das Leben verloren. ›Zeus, hol mich hier weg!‹, habe ich dann gerufen, aber meine Zeit war noch nicht gekommen.« Sie blicken über die hügelige Landschaft. Er sagt: »Ich möchte dir ein Geheimnis anvertrauen.« Wußte er doch mehr über Lorenzos Tod? Hatte er sie deshalb mitgenommen? Gespannt schaut sie ihn an. Er schweigt, sein Gesichtsausdruck hat etwas Feierliches. »Vor zehn Jahren habe ich hier eine unglaubliche Entdeckung gemacht.« »Was heißt ›hier‹?« »Dort.« Er zeigt auf einen Punkt zwischen dem Hügel, auf dem sie sich befinden, und der Nekropole auf dem Hügel gegenüber. »Bei meinen Grabungen stieß ich auf nenfro, eine Gesteinsart, die in dieser Gegend nicht vorkommt. Es ist vulkanisches Gestein, ähnlich wie Tuffstein, aber dunkelgrau und wesentlich härter. Es mußte von Menschen hierhergebracht worden sein. Ich grub weiter und dachte, daß es sich hier um ein besonders wichtiges Grab handeln müsse, womöglich das Grab eines Lukomonen mit einem großen Vorportal und einem breiten Zugangsweg. Endlich glaubte ich, auf die Tür gestoßen zu sein, und brach sie auf, doch dahinter befand sich nichts, oder bes83
ser gesagt, dahinter führte der Weg weiter. Ich war ratlos, grub weiter und weiter, und es handelte sich tatsächlich um eine Straße. Einen ganzen Sommer lang war ich damit beschäftigt. Alle zehn Meter grub ich ein Loch, und die Straße führte tatsächlich immer weiter – eine Straße mit praktisch fugenlos zusammengefügten Pflastersteinen. Und das beste war: Ich traf noch sechsmal auf ein solches türartiges Hindernis, aber inzwischen wußte ich Bescheid und ließ sie unversehrt.« Er deutet auf einen Punkt in der Landschaft: »Die Straße verläuft vom Tempel der Artumes bis hin zu einem großen Altar und dann weiter bis zur Totenstadt. Stell dir vor, sieben Hindernisse, bevor sie zum Altar gelangten, um die letzten Opfer für den Verstorbenen darzubringen! Siebenmal mußten sie stillstehen. Vielleicht ließen sie dabei Erinnerungen an das Leben des Toten aufleben, oder sie riefen verschiedene Götter an, um sie zu bitten, auf der Reise in die andere Welt für ihre Lieben gut zu sorgen.« Er schaut mit starrem Blick ins Weite. »Stell ihn dir vor, diesen Trauerzug mit dem Toten, all diese Menschen, die weinten und wehklagten. Was das für ein Spektakel gewesen sein muß. Es wurden Opfer dargebracht, Wahrsager zu Rate gezogen, und dann wanderte die Prozession, begleitet von Musikanten, weiter auf ihrem Weg in die Totenstadt.« Er zeigt in die Ferne. Sie sieht das Bild vor sich, wie sich der Trauerzug langsam fortbewegt, einer bunten Raupe ähnlich. »Woher weißt du das alles?« »Na ja, ich kann schließlich genausogut lesen wie die Archäologen. Ich weiß alles über Begräbnisrituale. Du hast doch meine Bibliothek gesehen? Alle einschlägigen 84
Werke über die Etrusker habe ich durchgearbeitet. Doch ich lese nicht nur Bücher, sondern ich lese auch in der Landschaft, und das ist etwas, was die anderen nicht können. Sie wissen nichts von der Natur, sie kennen weder ihre Farben und Gerüche noch die Struktur des Bodens. Sie kennen die Eule nicht. Das ist der Unterschied. Sie werden diese Straße niemals finden. Soll ich sie dir zeigen?« Lisa willigt ein, aber erst geht sie zu dieser einen bestimmten Stelle unterhalb der Mauer. Sie betrachtet das etruskische Pflaster. Aber es verrät nichts. Ihr Blick bleibt an dem großen gelben Stein hängen.
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Als Lisa wieder im Hotel ist, ruft sie Heleen an. »Wie schön, deine Stimme zu hören! Wo bist du? Wie geht’s dir?« »Ich bin in Tarquinia. Ich habe diesen Mann kennengelernt, den Grabräuber. Ein komischer Kauz. Er hat mir eine Straße geschenkt.« »Was hat er?« »Mir eine Straße geschenkt. Er hat sie entdeckt, ein paar Meter unter der Erde verborgen. Ein etruskischer Weg mit sieben Stationen, der von der Stadt der Lebenden zur Totenstadt führt. Niemand weiß davon. Antero ist der Meinung, die Belle Arti hätten ihn nicht verdient, denn die würden nur behaupten, daß sie davon schon längst gewußt hätten, und dann würden sie sowieso nichts damit anfangen. Er wolle die Straße lieber mir schenken.« »Und was sollst du damit anfangen?« »Er sagte mir, ich solle sie nachbilden, schließlich sei ich Bildhauerin. An jeder Station müsse die Statue eines Gottes stehen, und die Leute wären sicher ganz begeistert, wenn ich ihnen dann erzählte, daß es diese Straße tatsächlich gibt.« Heleen antwortet mit einem erstaunten Lachen: »Der 86
Typ ist ja wirklich verrückt. Glaubst du, daß er die Wahrheit sagt?« »Ich bin mir nicht sicher, aber warum sollte er so etwas erfinden? Wir sind vorhin dort gewesen. Er hat einen unglaublichen Orientierungssinn. Wir standen mitten auf einer endlosen Ebene, aber er brauchte nur die Reste des Artumes-Tempels, einen Hügel, einen Strauch und den Boden anzuschauen, und schon rief er: ›Hier ist es!‹ Du hättest uns sehen sollen, wie wir mit großen Schritten durch ein Kornfeld marschiert sind. Er weiß genau, wo sich die einzelnen Stationen des Weges befinden. Ich habe ein Stück von einem Pflasterstein mitgenommen, es liegt hier auf meinem Nachtschränkchen.« »Und sonst, hast du irgend etwas in Erfahrung bringen können?« »Ich bin an der Stelle gewesen, wo es passiert ist, beim Tempel. Es war schrecklich, obwohl es dort sehr schön ist. Dieser Antero scheint auch davon überzeugt zu sein, daß es Selbstmord war. Aber ich werde aus diesem Mann nicht richtig schlau. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß er Lorenzos Tod zu sehr auf die leichte Schulter nimmt. Ich mußte mich zusammenreißen, um ihm keine Szene zu machen. Heute abend sehe ich ihn wieder, ihn und eine sehr nette Frau, Angela, und dann gehen wir gemeinsam zu den Gräbern. Da hat sich Lorenzo früher viel mit Antero zusammen herumgetrieben.« »Bitte paß gut auf dich auf.« »Na klar. Ehrlich gesagt, erscheint mir im Moment das Ganze immer rätselhafter. Was hat er hier gemacht, und was hatte er mit diesem seltsamen Mann zu tun? Ansonsten beschäftigen mich dieselben Fragen wie immer. Aber wie geht es dir denn?« 87
»Ach, es geht. Ich bin immer noch so müde. Ich bin beim Chiropraktiker gewesen, und der hat gesagt, meine Muskulatur sei durch den Streß völlig verkrampft. Daher kämen sehr wahrscheinlich meine Rückenschmerzen, aber nach der Behandlung ist es nur noch schlimmer geworden. Vielleicht ist er ja auch ein Kurpfuscher. Aber jedenfalls ist er ein sehr gutaussehender Mann, er hat sein Gesicht immer ganz dicht an meines gehalten und mir tief in die Augen geschaut.« Heleen lacht und seufzt dann müde: »Ach, ich habe gar keine Lust, aber ich muß noch einen langen Artikel über die richterliche Gewalt fertig kriegen.« »Laß dich doch einfach krank schreiben.« »Ach nein, das geht wirklich nicht, dafür arbeite ich noch nicht lange genug bei der Zeitung.« »Kann ich dir irgendwie helfen, oder kann ich sonst etwas für dich tun?« »Nein, aber ich freue mich über deinen Anruf. Und Pietro kümmert sich rührend um mich.« Anteros jüngster Sohn ist sieben Jahre alt. Er wohnt bei seiner Mutter, kommt ihn aber hin und wieder besuchen. Aus einem Schrank in seinem Zimmer holt Antero Kleidung für Lisa heraus, eine weite Armeehose, die sie über ihre Jeans ziehen kann, eine Armeejacke, Knobelbecher und eine Kappe. Lisa fühlt sich wieder wie ein Kind, das auf Abenteuer auszieht und Streiche ausheckt. Seit jeher liebt sie Herausforderungen, Spannung und unvorhersehbare Situationen, in denen sie intensiv spürt, daß sie lebt. Schon als zweijähriges Kind wollte sie von der höchsten Rutschbahn hinunterrutschen, und ihre Mutter erzählte ihr: »Ich habe versucht, dich davon abzuhalten, aber du hast nur gerufen: ›Und ich dau’ mich doch!‹« 88
Angela wirft Lisa noch einen Schal um den Hals, denn nachts kann es kalt werden. So ist Lorenzo also auch eingekleidet und in die Räubergilde aufgenommen worden. Sie stellt sich vor, wie er aussah. Antero sieht sie zärtlich an. »Eine echte tombarola.« Sie stecken sich Kerzen in die Taschen und Päckchen mit Papiertaschentüchern, um eventuelle Funde darin einzuwickeln. »Der Mond ist schon zu voll«, brummt Antero Angela zu. Für einen Moment befürchtet Lisa, die Expedition müsse abgeblasen werden, aber sie machen sich trotz des Mondlichts auf den Weg. Das Auto stellen sie bei einem Bauernhof ab, und die Werkzeuge verstecken sie unter einem Strauch. Dann müssen sie ein Weilchen warten, um festzustellen, ob die Luft rein ist. Lisa sitzt an den Stamm einer Zypresse gelehnt, da Antero ihr eingeschärft hat, ihr Schatten müsse immer mit dem eines Baumes oder Strauches zusammenfallen. Sie atmet die Nachtluft, die nach Fenchel riecht, tief ein und läßt den Blick über die weite Landschaft schweifen, die wellig in das glänzende Meer übergeht. Dort legten die Schiffe mit den roten Segeln an, reich beladen mit Kostbarkeiten, die nun unter ihren Füßen verborgen liegen. Es ist still. Angela setzt sich neben sie auf den Boden und lehnt sich ebenfalls mit dem Rücken an den Baumstamm. Sie holt eine Zigarette aus ihrer Tarnjacke und zündet sie an. Automatisch, ohne nachzudenken, verbirgt sie die glühende Spitze in den Händen. Im Mondlicht wirken ihre Hände noch weißer als sonst, so weiß wie die der Frauen auf den Vasen. Sie ist eine echte Etruskerin, mit ihren großen dunklen Augen und der langen geraden Nase. Sie erzählt, daß Antero sie 89
einmal wie eine der Frauen von damals zurechtgemacht hat, mit dicken schwarzen Lidstrichen um die Augen und Passionsfrüchten aus Golddraht an den Ohren, mit denen sich einst eine Frau sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung schmückte, und dabei tranken sie Wein aus Kelchen, die zweitausend Jahre unbeschadet überdauert hatten. Antero hält Wache, alle Sinne in Alarmbereitschaft. »Du hast wohl keine Angst, was?« fragt Angela. »Nein, überhaupt nicht.« Lisa schaut hoch zum Himmel, zum großen Schirm, von dem die Etrusker aus dem Vogelflug und dem Zucken der Blitze den Willen der Götter ablasen. Da sie keinen Dialog mit ihren Göttern führten, waren sie dazu gezwungen, göttliche Zeichen möglichst genau zu interpretieren – und sie glaubten, diese Zeichen überall zu sehen. Lorenzo war der Ansicht gewesen, dies sei die Ursache dafür, daß die Italiener noch heute keine Entscheidungen treffen könnten, ohne vorher einen TarotKartenleger, Handleser oder Astrologen zu Rate zu ziehen. Er spottete zwar darüber, war aber selbst ein begabter Traumdeuter. Er fragte sie immer, ob sie nachts etwas erlebt habe, und ging dann intensiv darauf ein. Als sie eines Nachts voller Angst erwacht war, nachdem sie von einem Sturm geträumt hatte, der ihren ganzen Garten vollständig verwüstete, sagte er: »Meiner Meinung nach steckt ein positiver Sinn dahinter. Dein Traum muß nicht unbedingt etwas mit der Zukunft zu tun haben, aber er könnte bedeuten, daß dein Leben momentan heftig in Bewegung ist und daß alles, was fest war, losgerissen wurde.« »Das da ist die Venus, ach nein, Turan, wenn ich mich 90
nicht irre.« Lisa deutet auf den hellsten Stern. »Und da haben wir Castor und Pollux.« »Und da Orion, den Geliebten der Artemis, den sie durch einen unglücklichen Zufall selbst tötete.« Es ist, als könne Lisa spüren, wie das Land atmet, so als sei die Erde ein lebendes Wesen. »Wenn ich auf dem Boden ausgestreckt für einen Augenblick den Himmel betrachte, gibt mir das wieder neue Kraft«, sagt Angela. »Wie lange machst du das eigentlich schon?« »Seit fast zehn Jahren. Mein ganzes Leben hat sich dadurch verändert.« Antero gibt ihnen durch eine Handbewegung zu verstehen, daß sie still sein sollen. In der Ferne sehen sie die Scheinwerfer eines Autos, das sich ihnen im Schrittempo nähert. Sie rühren sich nicht. Das Auto fährt vorbei. Antero und Angela schauen ihm nach. Das Nummernschild ist nicht beleuchtet, das heißt, es ist die Polizei. Wahrscheinlich sind sie zu den kleinen Feuern unterwegs, die Antero in den Hügeln ein Stück weit entfernt entfacht hat, um sie in die Irre zu führen. Zufrieden grinsend kommt er zu ihnen hinüber. »Es ist ein bißchen unruhig, was?« Er zündet sich eine Zigarette an und verbirgt die rote Glut genauso automatisch wie Angela. Lisa denkt an ihr Gespräch mit Heleen. Daß sie zum Chiropraktiker gegangen war, bedeutete, daß es ihr wirklich schlechtging. »Schaut doch mal nach, ob die Erdbeeren schon reif sind«, sagt Antero. Nun erst sieht Lisa, daß sie sich am Rande eines Erdbeerfeldes befinden. Wie ein Tiger schleicht Angela zwi91
schen den Reihen der Pflanzen hindurch und pflückt die Erdbeeren mit dem Mund. Lisa folgt ihrem Beispiel. Sie kriecht auf dem Bauch über die dunkle Erde und zieht, nachdem sie sich vergewissert hat, keine Schnecke erwischt zu haben, eine Frucht mit den Zähnen vom Stengel. Sie beißt hinein, und der Saft spritzt ihr in den Mund, süß und sandig. Dann gibt Antero ein Zeichen. Angela richtet sich auf, holt die Schaufel und die Gießkanne unter dem Strauch hervor und folgt ihm. Lisa trägt die Spitzhacke. Bäuchlings kriechen sie unter einem Zaun hindurch und stehen dann am Rande eines Kornfelds, das die gesamte Totenstadt bedeckt. Sie kriechen noch einmal unter einem Zaun durch und überqueren mit Hilfe eines Baumstamms einen Bach. Lisa fühlt sich wieder wie das lebhafte Kind, das sie früher war, aber zugleich auch wie eine Entdeckungsreisende mit einem heiligen Auftrag. Sie hört Gebell und erschrickt. Antero pfeift leise zwischen den Zähnen hindurch, und es wird still. Lisa schaut zur Straße hinüber, aber es rührt sich nichts. »Das sind drei riesengroße deutsche Schäferhunde«, erklärt Antero, »aber sie sind unsere Freunde.« Unsere Freunde, der hatte gut reden, gleich würde ihre Abenteuerlust sie doch noch den Kopf kosten. »Die Polizei setzt sie hier ein, um tombaroli abzuschrecken«, sagt Antero lachend. »Sollen wir sie rauslassen?« »Nein, warum?« »Damit sie uns begleiten können.« Sie dreht sich zu Angela um, zu der sie mehr Vertrauen hat. Diese nickt beruhigend. Die drei Hunde springen hechelnd am Drahtzaun hoch und geben keinen Laut von sich. 92
»Wenn die Bullen mich fragen, wie ich das anstelle, sage ich, ich sei selbst ein Hund«, sagt Antero. Er rüttelt an den Schlössern. Lisas Herz schlägt schneller. Dann geht das Tor auf, und die Hunde sind frei. Schwanzwedelnd springen sie an Antero hoch und lecken ihm das Gesicht. Auch Lisa wird wie eine alte Bekannte begrüßt. Sie streichelt ihnen über die Köpfe, die sie ungestüm an sie drücken. Die Hunde begleiten sie wie drei Leibwächter. Das junge Korn knistert unter ihren Füßen, doch der Wind trägt den Laut ihrer Schritte und ihr Flüstern in Richtung der Hügel und nicht zur Straße hin, wo die Polizei patrouilliert. Plötzlich sinkt Lisa mit dem Fuß ein und unterdrückt einen Schrei. Antero hält sie fest, und Angela leuchtet mit der Taschenlampe in das Loch, in das sie getreten ist. Ein Grab? Anfängerglück? Angela fährt mit ihrer kleinen Hand in das Loch hinein und gräbt etwas Sand heraus. Dann zieht sie ihre Hand mit einem Ruck wieder zurück: ein Tier. Sie greift noch einmal hinein und holt eine riesige Kröte heraus. Sie leuchtet ihr kurz mit der Taschenlampe auf den warzigen Kopf und läßt sie laufen. Die Hunde rümpfen die Nase und weichen einen Schritt beiseite. Angela gräbt weiter, doch dann brummt Antero: »Nur ein altes Fuchsloch.« Sie gehen weiter, bis Antero plötzlich stehenbleibt. Er untersucht den Boden und blickt sich um. Alles scheint ruhig, nur sehr weit in der Ferne ist ein kleines Licht zu sehen. Antero nimmt sein wichtigstes Werkzeug zur Hand, die »Wünschelrute«, bei der es sich jedoch nicht etwa um einen gegabelten Holunder- oder Haselnußzweig handelt 93
wie bei seinen Vorfahren, sondern um ein großes T-Stück aus Metall. Angela hat die Spitze mit einer Feile geschliffen, bevor sie aufgebrochen sind. Antero hält das Ding an den Handgriffen, die ihm bis zur Taille reichen, und drückt die Spitze in den Erdboden. Angela gießt etwas Wasser darauf, um die Erde nachgiebiger zu machen. Mit kurzen, kräftigen Stößen drückt Antero den Stab tiefer in den Boden. In regelmäßigen Abständen legt er eine Pause ein, und Angela spürt genau, wann Wasser nötig ist. »Felsen«, sagt er irgendwann ruhig. Dasselbe Ritual wiederholt sich noch viele Male, immer ein kleines Stück weiter, bis Antero an den Schwingungen spürt, daß es sich bei dem harten Untergrund nicht um Felsgestein handelt. Noch einmal drückt er kräftig auf die Wünschelrute, und aus der Tiefe hört man ein dumpfes Poltern. Unter ihren Füßen muß sich ein Hohlraum befinden. Antero steckt den Stab noch ein paarmal in die Erde. Ab und zu murmeln er und Angela sich etwas zu. Sie führen vor Lisas Augen ein seltsames Ballett im Mondlicht auf: Sie gehen ein paar Schritte, schauen hinüber zum Meer, dann auf den Boden, und dann gehen sie wieder ein paar Schritte weiter. Endlich sind sie sich einig darüber, wo der Eingang sein muß. »Vielleicht ist es sogar ein unberührtes Grab«, meint Antero. Angela nimmt die Schaufel und beginnt kraftvoll und gleichmäßig zu graben. »Komm«, sagt Antero und zieht Lisa mit zu einem Strauch. »Sollten wir Angela nicht helfen?« »Gleich übernehmen wir. Jetzt halten wir Wache. Wir 94
behalten die Straße im Auge, aber auch die Hügel, denn von dort können sie genausogut herkommen. Angela gräbt gern für sich allein. Sie hat großes Talent, sie ist eine gute Schülerin.« Ein Schrei. Lisa springt vor Schreck auf. »Das war nur ein Fuchs. Wenn die Füchse jaulen, ist die Luft rein.« »Lorenzo ist auch bei dir in die Lehre gegangen, stimmt’s?« »Ja, und er hat sich mit Leib und Seele dem Fach verschrieben.« In den ersten Monaten, in denen sie zusammen unterwegs gewesen waren, hatten sie noch nicht mit Ausgrabungen begonnen, sondern Antero hatte Lorenzo zunächst beigebracht, Gerüche, Bewegungen und Geräusche zu erkennen, verschiedene Arten von Gebell, die Launen des Windes, die Beschaffenheit des Bodens und den Flug der Eule – nach Anteros Meinung die Personifizierung Athenes –, die sie bei heraufziehender Gefahr warnte. »Sie hat mir auch geholfen, als ich gegen Troja kämpfte«, sagt er. »Es ist so merkwürdig, daß er nicht mehr da ist.« »Tja. Du mußt nicht glauben, daß ich dich nicht verstehe. Nach Chiara hatte das Leben auch für mich keinen Sinn mehr. Ich war so niedergeschlagen, daß ich hoffte – es klingt verrückt, aber ich hoffte es wirklich –, in einem Grab verschüttet zu werden. Psst, da sind sie wieder.« Er schaut hinüber zur Straße, auf der langsam ein Auto vorbeifährt. Es hält an dem Grab an, bei dem Antero vor kurzem geschnappt wurde. Er pfeift nach Angela, die inzwischen in der Grube, die sie ausgehoben hat, halb verschwunden ist. Sie legt sich auf den Boden. Als das 95
Auto endlich weiterfährt, nimmt sie die Schaufel wieder zur Hand. »Die haben nichts gesehen, diese Penner. Worüber haben wir gerade gesprochen? Ach ja, daß ich auch schon oft nicht mehr ein noch aus wußte. Doch die Etrusker haben mir immer wieder über alles hinweggeholfen. Manche Leute fliegen auf die Bahamas, um auf andere Gedanken zu kommen, ich grabe mich in die Erde ein. Diese ganze Reiserei um die ganze Welt! Dabei wissen die meisten Leute noch nicht mal über den Ort Bescheid, an dem sie wohnen.« Lisa hätte gern noch mehr über Lorenzo erfahren, aber Antero spricht am liebsten über sich selbst. »Ich unternehme Zeitreisen. Ich wähle die vertikale Route, hinein in die Erde, aus der wir alle kommen und in die wir einst zurückkehren werden. Ich bin noch nie im Ausland gewesen, und warum auch? Oder doch, einmal war ich an der Schweizer Grenze, um eine Amphore abzuliefern. Ich sagte zu Chiara: ›Wenn wir sicher über die Grenze kommen, lieben wir uns zur Feier des Tages‹, und genau das haben wir auch getan. Sie lag auf dem Boden, im Gras, ihr Oberkörper in der Schweiz und ihr Unterleib …« Lisa folgt seinem Blick und erschrickt. Regungslos starrt sie auf die beiden Lichtkegel, die sich über die Felder bewegen und langsam auf sie zukommen. Sie erkennt sofort, daß es Taschenlampen sind. Ob sie Schußwaffen bei sich tragen? »Ich habe Angst«, sagt sie leise. Antero nimmt ihre Hand. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich kenne mich hier besser aus als die. Tu genau das, was ich dir sage.« 96
Unter normalen Umständen hätte sie sein autoritärer Tonfall trotzig gemacht, aber nun folgt sie ihm gehorsam. Wieder pfeift er leise zwischen den Zähnen hindurch. Angela reagiert sofort, hört auf zu graben und entfernt sich auf allen vieren zusammen mit den Hunden. »Wir steigen erst langsam den Hügel hinauf, tief gebückt. Du mußt deine Beine so hoch wie möglich heben und im Zickzack laufen, um keine Spuren zu hinterlassen. Hinter dem Hügel rennen wir los«, kommandiert Antero. Lisa tut, was er sagt, läuft so tief wie möglich vornübergebeugt und hebt die Beine so hoch sie kann, während sie ihr Herz in der Brust schlagen fühlt. Als sie die Kuppe des Hügels erreicht haben, werden sie schneller und springen wie Frösche durchs Korn. Er umklammert ihre Hand mit seiner Faust. Sie hat das Gefühl, als könne ihr jeden Moment eine Kugel in den Rücken schlagen. Bei einem Graben machen sie halt. »Bleib hier sitzen«, befiehlt er. Plötzlich wird sich Lisa bewußt, daß sie ihre Verfolger als Feinde betrachtet, obwohl es eigentlich brave Kerle sind, die die Kunstschätze ihres Landes schützen, während sie selbst zu einer Bande von Dieben gehört. Lorenzo hatte ihr erzählt, der Staat versuche schon seit zwanzig Jahren, das Gebiet, in dem die Totenstadt liegt, aufzukaufen, um auf diese Weise den geschichtsträchtigen Boden zu sichern. Lorenzo und Antero hatten heftige Auseinandersetzungen gehabt, weil Lorenzo der Ansicht gewesen war, auch Antero dürfe nicht mehr hierherkommen. Lisa erschrickt, als sie eine Gestalt über den Hügel kommen sieht, und duckt sich tiefer in den Graben hinein. »Da ist jemand«, flüstert sie. 97
»Psst!« Was soll sie nur sagen, falls sie geschnappt wird? Heleen wird Augen machen, wenn sie sie aus dem Kittchen anruft. Die Gestalt trägt eine Taschenlampe. Dann erkennt Lisa, daß es Angela ist, begleitet von den Hunden. Antero pfeift wieder leise, und Angela kommt auf sie zu. »Ich glaube, sie sind wieder abgehauen«, sagt sie. »Kann sein, aber vielleicht ist es auch nur ein Trick«, murmelt Antero. Sie warten noch eine Weile. Lisa spürt, wie es in ihrem Körper pocht und rauscht, und ihr wird bewußt, daß sie gerade um ihr Leben gerannt ist. Offenbar hängt sie doch noch mehr daran, als sie gedacht hat. Sie schaut sich den hellen Mond an, so still und erhaben, und denkt an damals, als sie sich von Lorenzos Balkon aus eine Mondfinsternis angesehen haben. Klein und innig verschlungen standen sie da, den Blick auf den Mond gerichtet, der langsam verschwand, weil sich die Erde – und sie beide mit ihr – vor ihn schob, bis er vollständig verschwunden und nur noch als vager Schein zu sehen war. Das Geschehen hatte ihrer Umarmung kosmische Dimensionen verliehen, aber zugleich hatte sie es auch als beängstigend empfunden. Es war, als fiele ein Vorhang vor irgend etwas. Sie warten auf ein Zeichen von Antero und gehen dann wieder zurück. Es sind keine Lichter mehr zu sehen. Mit den Hunden zusammen schaut Lisa in die Grube hinein. Die Erde in der Tiefe ist heller, was bedeutet, daß sie sich dem Grab genähert haben, wie Angela ihr erklärt. 98
Bei der hellen Schicht handelt es sich um Reste von Tuffstein, der beim Anlegen des Grabes zermahlen wurde. Nun nimmt Antero die Schaufel und fängt an zu graben. Angela geht mit Lisa zum Strauch hinüber, wo sie sich hinsetzen. Sie zündet sich eine Zigarette an. »Kommt so etwas wie eben öfter vor?« »Ja, regelmäßig, aber meistens geben sie schnell auf, wenn sie sich nicht sicher sind. Sie besitzen keinen guten Orientierungssinn, und ich glaube auch, daß sie ganz einfach Angst haben«, meint Angela. »Ich habe mich jedenfalls zu Tode erschrocken«, sagt Lisa. Angela lächelt und erzählt: »Eines Nachts habe ich auf einmal eine Gestalt entdeckt und wollte gerade wegrennen, als ich in der anderen Richtung noch einen dunklen Schatten sah, und noch einen und noch einen. Jetzt sitze ich aber so richtig in der Falle, dachte ich, bis ich erkannte, daß es Soldaten waren. Nicht weit von hier, in Monteromano, gibt es eine Kaserne, und die Soldaten haben hier eine Nachtübung abgehalten.« »Bist du nicht müde vom Graben?« fragt Lisa. »Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich schöpfe daraus neue Energie«, antwortet Angela, die die Umgebung ständig genauestens im Auge behält. Sie sagt: »Es tut Antero gut, daß du da bist. Seit seine Freundin ihn verlassen hat, ist er sehr bedrückt. Außerdem glaube ich, daß Lorenzos Tod ihm mehr zu schaffen macht, als er zugibt.« »Meinst du wirklich?« fragt Lisa überrascht. »Ja. Antero tut zwar immer so großspurig, aber es steckt nicht viel dahinter. Ich weiß nicht genau, was mit Lorenzo passiert ist, aber ich habe seinen Namen schon 99
oft gehört. Ich finde es schlimm, daß die Archäologen Antero als Kriminellen betrachten. Das ist er nicht. Für seine Mitmenschen tut er einfach alles. Wenn er Geld hat, gibt er es seinen sieben Kindern oder anderen Leuten, die Probleme haben. Er ist zwar etwas gleichgültiger und nachlässiger geworden als früher, aber das kommt wohl daher, daß er schon zuviel gefunden und zuviel gesehen hat. Dabei ist es wichtig, auch vor den kleinen Dingen die Ehrfurcht zu bewahren.« Wenn Angela ein Grab betritt und Keramikreste findet, ist es ihr, als kämen Töne aus den Scherben, als hörte sie Stimmen. Voller Begeisterung erzählt sie Lisa, was sie schon alles gefunden habe. »Wunderbare Ohrringe mit klitzekleinen Lotusblüten aus Goldfiligran.« »Aus welcher Zeit?« »Sechstes, siebtes Jahrhundert vor Christus. Der etruskische Goldschmuck aus dieser Periode ist der kunstvollste der gesamten Antike. Unter anderem haben sie Ohrringe in Form kleiner Köfferchen angefertigt. Die sind so schön, und richtig modern!« »Im Vatikanmuseum habe ich mal ein Bruststück gesehen, das aus Hunderten kleiner goldener Enten bestand«, erzählt Lisa. »Kein Goldschmied kann heutzutage noch so etwas herstellen.« Vielleicht hatte Ovid ja wirklich recht gehabt mit der Vorstellung, die Geschichte habe mit einem Goldenen Zeitalter begonnen und sei seitdem stetig im Niedergang begriffen. »Jeder Mensch ist Teil einer langen Geschichte«, erklärt Angela. »Ich fühle mich nicht mehr so allein, seit ich mich 100
mit all diesen Menschen von damals verbunden weiß. So viele Jahrhunderte entfernt und doch so nah, mit denselben Fragen wie wir, genauso glücklich, genauso traurig.« »Bei Lorenzo haben die Nächte auf den Gräberfeldern auch so einen tiefen Eindruck hinterlassen. Dort fände er den Tod gar nicht furchterregend, sagte er.« »Das ist auch meine Erfahrung. Man wird mit ihm vertraut.« »Er sagte, ich müsse es einmal selbst erleben. Er wollte mir auch die warmen Quellen zeigen und ein unterirdisches Labyrinth.« »Er meinte die warmen Quellen von Saturnia, und das Labyrinth könnte die Tomba della Regina in Tuscania sein. Wir können morgen hinfahren, wenn du möchtest, mit dem Bus sind wir in einer halben Stunde da.« »Er sprach auch von Tälern, die seit prähistorischen Zeiten unberührt sein sollen.« »Norchia vielleicht?« »Ich habe keine Ahnung.« »Das ist nicht weit von unseren Ausflugszielen entfernt, und auch in Tuscania gibt es übrigens ein sehr geheimnisvolles Tal.« Lisa hatte eigentlich vorgehabt, diese Orte allein zu besuchen, doch Angelas Anwesenheit stört sie nicht, ganz im Gegenteil. Sie ist nicht aufdringlich und strahlt eine gewisse Kraft aus. Vielleicht ist dies ein Resultat ihres täglichen Umgangs mit der Vergangenheit. Außerdem kann Angela ihr den Weg zeigen. Wieder fährt ein Auto mit unbeleuchtetem Nummernschild langsam vorbei. Sie schauen sich nach Antero um, sehen ihn aber nicht mehr. Nur noch Sand, der in die Luft fliegt. Angela pfeift 101
leise. Lisa hält den Atem an, doch das Auto fährt weiter. Als es in der Ferne entschwunden ist, gehen sie hinüber zu Antero. Lisa fragt, ob sie auch einmal graben darf. Antero hilft ihr beim Hinunterklettern und steigt dann selbst aus der Grube hinaus. Energisch stößt sie die Schaufel in die Erde und denkt dabei an die Schatzgräberspiele, die sie früher als Kind bei ihren Geburtstagsfeiern im Garten gespielt hatten. »Nun sieh mal einer an, was für eine tombarola!« sagt Antero. Schon bald trifft Lisa mit der Schaufel auf etwas Hartes. Und noch einmal. Sie schaut hoch zu ihren beiden Führern. »Wir haben es geschafft«, sagt Antero. Lisa bückt sich und scharrt mit der Hand den Sand beiseite, unter dem ein flacher Stein zum Vorschein kommt. »Das ist der Stein, der das Grab abschließt«, erklärt ihr Angela. Lisa steht reglos da, die Finger wie verzaubert auf den Stein gelegt. Sie schaut den Mond an, der auch die Nächte jenes Menschen erleuchtete, der schon seit so vielen Jahrhunderten hier unten ruht. Dann klettert sie aus der Grube, um für Angela Platz zu machen. Am Horizont erscheint eine rote Glut, als nahe eine etruskische Flotte. »Na, dann mach es mal auf«, sagt Antero und reicht Angela die Spitzhacke. Mit ein paar kräftigen Schlägen gelingt es ihr, die längliche, rechteckige Steinplatte beiseite zu schieben. Antero leuchtet ihr mit der Taschenlampe. Als die Öffnung groß genug ist, winkt sie Antero zu 102
sich, aber er sagt: »Nein, ich möchte, daß du zuerst reinschaust.« Angela nimmt die Taschenlampe entgegen, geht in die Hocke und leuchtet hinein. Gespannt warten sie. Angela ist ganz still – ob sie nichts erkennen kann? Doch dann sagt sie leise: »Unglaublich.« Lisa darf auch hineinschauen. Sie hockt sich in den Sand und hält die Lampe vor die Öffnung. Sie sieht ein Stück der Seitenwand, beugt sich tiefer hinunter und richtet den Strahl der Taschenlampe besser aus. Rote Vögel fliegen über einen blauen Himmel. Ein sonniger Tag, ausgegraben tief aus der Erde und tief aus der Zeit. Mehr kann sie nicht sehen, weil die Grabanlage teilweise eingestürzt ist. Sie macht Antero Platz, der lange auf den Knien verharrt. Als er schließlich aufsteht, nimmt er die beiden Frauen in den Arm. Er schlägt vor, eine Zigarette zu rauchen; sie müßten jetzt nachdenken. Das Grab ist groß, und der Morgen dämmert schon. Das nächste Mal wollen sie sofort damit anfangen, doch nun werden sie es erst einmal abdecken. »Warte noch«, sagt Angela. Sie sucht im jungen Korn herum und kommt mit einer Mohnblume zurück. Sie wirft sie durch das Loch und schaufelt dann die Grube langsam wieder zu. Sie bringen die Hunde in den Zwinger zurück und verstecken auf dem Weg zum Auto das Werkzeug wieder unter einem Strauch. »Schau mal«, sagt Angela und nimmt Lisa am Arm. Möwen fliegen hinunter zum Meer. Die Strahlen der Sonne, die hinter ihnen aufgeht, färben sie rot. 103
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Als sie die Augen aufschlägt, schaut sie genau in das Gesicht eines Kaninchens, neben dem ein Clown sitzt. Für einen Moment weiß sie nicht, wo sie ist, doch dann fällt ihr Blick auf Angelas schwarze Locken im Bett neben ihr. Sie haben in Anteros Kinderzimmer übernachtet, weil sie heute morgen nach Tuscania fahren wollen. Antero bringt ihnen verquirlte Eier mit Zucker ans Bett und setzt dann Kaffee auf. »Bist du auch nicht zu müde?« fragt Angela, als der Bus den Hügel von Tarquinia hinunterfährt. Lisa betrachtet die Rückenlehne des Sitzes vor ihr, auf der in leuchtend grünen Buchstaben steht: Patrizio ti amo da morire, Patrizio, ich bin wahnsinnig verliebt in dich. »Nein, komischerweise fühle ich mich ganz fit«, antwortet sie. Fast alle Sitze sind mit Liebeserklärungen vollgekritzelt. »Ich hab’s dir doch gesagt. Ich bin dadurch geheilt worden«, meint Angela. »Wovon denn?« »Mir ging es damals sehr schlecht, so ungefähr vor 104
zehn Jahren. Mein Vater war gerade gestorben. Ich habe nie viel Kontakt zu ihm gehabt und nie wirklich mit ihm geredet. Ich saß an seinem Sterbebett, und als er sah, daß ich Tränen in den Augen hatte, sagte er zu mir: ›Mach doch einen kleinen Spaziergang‹ und als ich zurückkam, war er tot.« Angela schweigt für einen Moment und erzählt dann weiter: »Meine Mutter ist gestorben, als ich sieben war. Ich war dabei. Sie fütterte mich gerade mit Apfelstückchen, als es ihr plötzlich sehr schlechtging. Vielleicht hat ihr früher Tod die Faszination für die Vergangenheit in mir geweckt.« Kurz nach dem Tod ihrer Mutter fand Angela ihre erste antike Tonscherbe. Ein grüner Zweig war darauf und rote Zeichen, von denen sie dachte, sie bildeten vielleicht eine geheime Botschaft. Lange Zeit hatte sie die Scherbe mit sich herumgetragen. Sie nahm sie jeden Tag mit zur Schule und legte sie nachts unter ihr Kopfkissen. Sie wollte alles über das Totenreich wissen, zu dem die Etrusker mit dem kleinen Boot hinüberfuhren, das ihnen mit ins Grab gegeben wurde. Später hatte sie die Etrusker eine Zeitlang aus den Augen verloren, weil sie mit ihrem Vater zusammen nach Norditalien zog, doch nach seinem Tod war sie nach Tarquinia zurückgekehrt, weil sie spürte, daß sie dorthin gehörte, und hatte durch Antero die Etrusker wiederentdeckt. »Er hat mich aus meinen Depressionen herausgeholt, indem er mich zu den Gräbern mitnahm. Wir hatten ein Verhältnis miteinander, aber es hat nicht besonders lange gehalten. Jetzt ist er mein bester Freund«, erzählt sie. »Du hast also in den Gräbern deine Lebenslust wiedergefunden?« fragt Lisa. 105
»Ja, so könnte man es ausdrücken. Bei den Etruskern gehörte der Tod zum Alltag. Das ist gut so, denn dadurch vertieft sich das Verhältnis zum Leben. Heutzutage schließen wir den Tod zu sehr aus.« Immer wieder sind rechts und links von der Straße runde Grabhügel zu sehen. Lisa entwickelt allmählich Verständnis dafür, daß den Leuten hier die Finger jucken, dort überall zu graben, nicht einmal so sehr des Geldes wegen, sondern allein schon aus reiner Neugier. Unwillkürlich muß sie an die niederländische Archäologin denken, die ihr einmal erzählte, daß sie sich doch etwas mehr unter diesem Beruf vorgestellt hätte. Obwohl sie jahrelang bei den unterschiedlichsten Ausgrabungen mitgearbeitet hätte, hätte sie nichts außer einem Nagel aus dem Mittelalter gefunden. Lisa lacht leise und betrachtet Angelas Hände, die entspannt in ihrem Schoß liegen, eine über der anderen, weiße, kräftige Hände, gewöhnt an das Graben und daran, mit den Fingern den Boden wie mit Fühlern abzusuchen. So wie sie selbst den Ton abtastet, immer auf der Suche. Lisa bewundert einen Ring, den Angela trägt. »Er stammt aus dem ersten Jahrhundert«, erklärt diese. »Ich habe ihn in Rom gefunden, am Tiber. Dort gehe ich auch oft auf die Suche, meistens an der Tiberinsel. In der Antike stand dort, wo jetzt das Krankenhaus steht, ein Äskulap-Tempel. Wenn der Wasserspiegel fällt, kann man dort alles mögliche finden. Ich liebe auch Glas und Edelsteine aus der Römerzeit.« Sie zieht den Ring vom Finger. »Es ist eine Kamee. Ihre besondere Schönheit besteht darin, daß sie nicht rosa ist wie die meisten anderen, sondern lila.« 106
Lisa nimmt den Ring in die Hand. Sie kneift die Augen zu Schlitzen zusammen und erkennt in der winzigen Figur der Kamee eine geflügelte Frau. »Ein weiblicher Engel«, bemerkt sie überrascht. »Nein, das ist Nike, die Siegesgöttin.« »Was hält sie denn da in der Hand?« »Eine Wasserkanne. Sie gießt Wasser aus bei einem Ritual für die Toten. Du mußt einmal mit mir zum Tiber kommen. Wir sind da bestimmt an die vierzig Leute; man nennt uns fiumaroli. Die meisten gehen jeden Tag dorthin; sie leben davon, obwohl sie heutzutage weniger finden als früher. Ich persönlich mag die Etrusker lieber als die Römer, aber es ist eine schöne Atmosphäre da unten am Fluß.« Durch ein altes Tor schaut Lisa in ein Gäßchen. Die Patina der Zeit hat das feurige Rot des Tuffsteins gedämpft. Auf den ersten Blick sind keine Spuren mehr von dem Erdbeben zu sehen, das vor gut zwanzig Jahren einen großen Teil Tuscanias verwüstet hat. Viele Leute glaubten, das Erdbeben sei eine Strafe für Tuscania gewesen, weil seine Bewohner so viele Gräber geplündert hatten, erzählt Angela. Sie gehen in ein Café, um eine Tasse Kaffee zu trinken und nach dem Weg zu fragen. Eine kräftige junge Frau steht hinter der Theke. Angela fragt sie nach dem Weg zur Tomba del Dado und zur Tomba della Regina, dem Würfelgrab und dem Grab der Königin. »Am besten fragen Sie ihn«, antwortet die Frau und zeigt auf einen Jungen im Jogginganzug, der an einem Spielautomaten steht. Er hat ein rosiges Gesicht und freundliche Augen. 107
Der Junge erklärt sich sofort bereit, sie zu begleiten, aber Angela und Lisa wollen lieber allein gehen. »Die Tomba della Regina ist fast immer geschlossen, und das andere Grab ist schwer zu finden, es liegt in einem sehr unzugänglichen Gebiet«, gibt er zu bedenken. »Davor haben wir keine Angst.« »Aber sie ist gar nicht entsprechend gekleidet«, erwidert er und zeigt auf Lisa. »Sie wird sich die Beine aufschürfen.« Die Frauen schauen sich unsicher an. »Pericle kennt den Weg wie kein anderer«, sagt die Barfrau. »An eurer Stelle würde ich sein Angebot annehmen. Es ist ziemlich weit.« Sie beschließen, auf seinen Vorschlag einzugehen, und Pericle ruft beim Museum an, um zu fragen, ob die Tomba della Regina besichtigt werden kann. Genau wie er erwartet hatte, ist es nicht möglich. Es gibt zu wenig Personal. »Leute aus aller Welt kommen hierher, um dieses Grab zu besichtigen, aber es ist fast immer geschlossen. Daran sind diese blödsinnigen Gesetze schuld, nach denen immer zwei Wächter im Museum sein müssen, selbst wenn kein einziger Besucher da ist, und eigentlich auch zwei Wächter im Grab, denn es könnte ja etwas passieren. Aber passieren kann schließlich immer und überall etwas.« Als er die enttäuschten Gesichter von Lisa und Angela sieht, sagt er freundlich: »Vielleicht weiß ich eine Lösung, aber jetzt laßt uns zuerst das Würfelgrab anschauen.« Sie folgen ihm zu seinem alten Auto. Es ist tatsächlich ein ganzes Stück zu fahren, aber schließlich hält er vor einem verwitterten Holzzaun an, der von wilden Rosen108
sträuchern überwuchert ist. Sie müssen hinüberklettern. Er drückt die Zweige beiseite und paßt auf, daß sie sich nicht verletzen oder ihre Kleidung zerreißen. Dann führt er sie durch eine Wildnis aus Sträuchern und hohem Gras. Es riecht nach Thymian. Ab und zu erkennen sie undeutliche Spuren eines Weges. Pericle kennt sich aus, drückt Sträucher auseinander, hält Zweige für sie hoch, besorgt, aufmerksam, ohne viele Worte. Ab und zu macht er sie auf etwas aufmerksam. Ganz offensichtlich ist er stolz auf seine Heimatgegend. »Schaut, wilder Spargel. Probiert mal! Jetzt ist die richtige Zeit dafür«, sagt er. Lisa probiert ein Stückchen, und es schmeckt ihr gut. »Reinigt das Blut«, meint Pericle. Doch Lisa wird von den kleinen knallblauen Blumen abgelenkt, die hier überall wachsen. Sie sieht wieder vor sich, wie Lorenzo mit dem ganzen Arm voller Lobelien vor ihrer Tür stand. »Das ist deine Blume, deine Farbe«, hatte er gesagt. Sie pflanzten sie zusammen in große Töpfe auf ihrer Terrasse. Jeden Morgen, wenn sie dort eine Tasse Kaffee trank, überwältigte es sie aufs neue, dieses leuchtende Blau vor dem orangefarbenen Ockerton der Mauern. Sie war so begeistert davon gewesen, daß sie sofort auch Heleen Lobelien schenken wollte, hatte es dann aber doch nicht getan. Diese Blume, dieses Blau, war etwas zwischen ihr und Lorenzo. In den Wochen danach, wenn er sie anrief und fragte, wie es ihr ginge und was sie trüge, wollte er auch oft wissen, wie die Lobelien sich machten und ob sie noch blauer geworden seien. »Du darfst auf keinen Fall andere Farben dazwischensetzen«, hatte er gesagt, »sie haben das Blau deiner Augen und müssen ganz für sich stehen.« 109
Lisa bückt sich, um eine zu pflücken, überlegt es sich aber anders. Sie betrachtet die kleinen Blumen von nahem, wie sie es auf ihrer Terrasse auch immer getan hatte: drei größere Blättchen und zwei kleinere, intensiv blau, mit nur zwei weißen, flammenförmigen Flecken darauf. Als sie nach Lorenzos Tod aus den Niederlanden zurückgekommen war, waren alle Lobelien verdorrt. »Was ist denn?« fragt Angela erschrocken, als sie ihre Tränen bemerkt. »Ach, nichts, ich habe mich nur gerade an etwas erinnert. Schau mal da, ein Loch.« Lisa zeigt auf eine Öffnung im Boden. »Ist das ein Grab?« »Nein, das ist die Höhle von einem Stachelschwein.« »So groß?« »Ein Stachelschwein kannst du nicht mit einem Igel vergleichen«, gibt Pericle zu bedenken. »Manche wiegen über zwanzig Kilo. Sie schmecken übrigens sehr lecker.« Dann verliert sich der undeutliche Pfad in einem großen Berg von abgebrochenem, sehr kräftigem Schilf. Pericle bückt sich und sagt: »Ich werde vorausgehen.« Auf Händen und Füßen kriechen sie hinter ihm her. Nach ein paar Dutzend Metern stehen sie wieder im Tageslicht. Sie gehen bergab, und plötzlich glaubt Lisa, die Spuren einer Treppe zu erkennen, ja, Stufen werden unter den Sträuchern und dem Moos sichtbar, und dann ist wieder nichts als Erde und Sand zu sehen. Waren es vielleicht nur Felsbrocken? Nein, es sind ganz deutlich Stufen. »Ist das hier eine antike Treppe?« fragt Lisa interessiert. »Nein, sie ist erst vor zwölf Jahren angelegt worden«, antwortet Pericle ohne eine Spur von Spott. »Für die 110
Touristen, aber wenn sie nicht endlich mal renoviert wird, ist sie bald wieder verschwunden.« Er zeigt ihnen weitere sehenswerte Dinge und beantwortet ihre Fragen. »Ich bin nur bis zur dritten Klasse in die Grundschule gegangen, weil ich meinem Vater bei der Feldarbeit helfen mußte. Ich kann noch nicht einmal richtig lesen«, erzählt er. Dafür liest er die Erde, wie Antero, und er kennt jede Pflanze, jeden Baum, Strauch und jeden Vogel beim Namen. »Das hier ist eine sugera, eine Korkeiche.« Er bricht ein Stück Borke von einem Ast ab. Rötlich, porös und weich, wie Lungengewebe. »Dieser Baum ist jahrhundertealt«, sagt Pericle, während er achtlos das Stück Rinde zerkrümelt. Ein Stück weiter befinde sich die Via Sugerata, erklärt er, eine Straße, an der zu beiden Seiten Korkeichen wachsen. In Gedanken sieht Lisa die lange Reihe der Bäume mit ihrem schwammigen, blutigen Holz vor sich. Sie wandern weiter bis an den Rand eines tiefen Tals. In die Felswand auf der gegenüberliegenden Seite ist eine riesige Skulptur eingemeißelt, in den Fels gehauene Vierecke. Riesige Würfel. Dazwischen stehen, wie fremdartige Insekten mit Tentakeln und Greifarmen, gelbe Bagger: eine weitere Totenstadt, die freigelegt wird. Von den Belle Arti. »Ich dachte, Archäologen würden mit Zahnbürsten arbeiten«, bemerkt Lisa erstaunt. »Manche Grabanlagen befinden sich sehr tief unter der Erde«, erklärt Pericle und bedeutet ihnen, ihm zu folgen. Jetzt gehen sie einen deutlich erkennbaren Pfad an 111
einer steilen Bergwand entlang. Ein Zaun schützt sie vor dem Abgrund. Pericle zeigt nach oben. Dieselben Felswürfel. Eine Metalltreppe führt zu Eingängen. Sie klettern hinauf. »Laßt mich vorgehen«, sagt er. Er verschwindet in einem dunklen Raum und kommt wieder zurück. »Jetzt könnt ihr rein«, sagt er freundlich. Kleine Gardinen aus Spinnweben hängen über der türartigen Öffnung. Auf beiden Seiten sind Betten aus dem Fels gehauen. »Schaut, hier lag der Kopf.« Er zeigt auf eine leichte Vertiefung im Stein. So einfach und so bedeutungsvoll. »Hier lagen zwei Menschen nebeneinander, und hier lag ein Kind. Diese Gräber sind schon vor langer Zeit geplündert worden«, erklärt Pericle. Lisa kann den Blick nicht von dem Kinderbettchen abwenden. »Viele Gräber sind schon von den Römern ausgeraubt worden«, fährt Pericle fort. »Manchmal machten sie nur eine kleine Öffnung und ließen ein Kind hineinklettern. Sie nahmen nur Gold und Bronze mit. Das Geschirr ließen sie oft in Scherben auf dem Boden zurück. Ich mag die Römer nicht, ein ganz anderes Volk als die Etrusker, viel unkultivierter.« Lisa starrt ins Tal hinunter, das Tal, das Lorenzo ihr hatte zeigen wollen, und lauscht den Geräuschen der Urzeit. Geschwätzige Vögel, Bachrauschen. Der kleine Wasserlauf hatte das Tal geformt, und vom Wasser waren die ersten Menschen hierhergelockt worden. In jener Zeit hätte sie gern gelebt. Ihr erstes Atelier hatte im Souterrain gelegen. Durch die Fenster sah sie nur die Beine der Passanten. Sie ge112
hörten zu einer anderen, fernen Welt, mit der sie nichts zu tun hatte. Sie saß zwischen ihren Tonbergen und fühlte sich wie eine Höhlenfrau. Sie wollte alle Vorbilder, jeglichen vorgegebenen Plan vergessen. Sie wollte zurück zu den Ursprüngen. Sie und der Ton. Zuerst hatte sie ihn nur angeschaut, diesen Riesenberg. Dann hatte sie sich draufgelegt und langsam angefangen zu arbeiten. Sie arbeitete mit den Händen, mit den Knien, mit den Füßen, und allmählich entstanden Formen, Strukturen. Aus diesen Strukturen entstanden Stämme, Stämme mit einer Rinde, die sich nach und nach ablöste. »Urbilder, Urformen«, hatte Lorenzo gesagt. Der hart gewordene Ton sähe richtig lebendig aus, meinte er. Noch nie zuvor hatte sie sich so verstanden gefühlt. Pericle erzählt gerade, daß er hier im Sommer gelegentlich mit Freunden zusammen die Nacht verbringe. Nicht immer, um zu graben. Manchmal richteten sie ein nächtliches Festmahl an, machten Feuer, grillten Fleisch und tranken hausgemachten Wein. »Das ist toll«, sagt er, und seine sonst so verlegenen Augen leuchten auf einmal. »So haben sie auch gelebt.« Er zeigt auf die leeren Totenbetten. »Und manchmal ist es, als seien sie bei uns. Hier geschehen merkwürdige Dinge.« »Zum Beispiel?« fragt Lisa. Einmal hatte er einen Schädel mitgenommen und wurde in derselben Nacht von einem Alptraum gequält: Er war in einem Grab eingeschlossen und versuchte mit aller Kraft, sich zu befreien. Dann stürzte das Grab ein. »Ein alter tombarolo hat mir später erzählt, so etwas tue man nicht, niemals dürfe man die sterblichen Überreste eines Toten mitnehmen, das sei eine schlimme Respektlosigkeit.« 113
Angela nickt: »Stimmt, das darf man nicht, das ist ein heiliges Gesetz.« »Aber Gegenstände darf man schon mitnehmen?« fragt Lisa. »Ja, das ist etwas anderes«, antwortet Pericle. »Ich habe den Schädel zurückgebracht, und mit den Alpträumen war es vorbei. Wenn ich jetzt auf einen Schädel oder ein ganzes Gerippe stoße, betrachte ich es an Ort und Stelle. Ich frage mich, wer dieser Mensch war und was er getan hat. Manchmal fühlt man sich ihnen dann ganz nahe. Meistens zerfällt ein Skelett, wenn man es berührt.« Glockenläuten. »Schafe, das sind sardische Schafe, die wir wegen der Milch und dem Ricotta halten. Nicht wegen ihrem Fleisch, denn schon mit einem Jahr sind es zähe Biester. Zu Weihnachten und Ostern esse ich aber gern einmal Lammfleisch, wißt ihr. Schmeckt sehr gut.« Eine Schlange gleitet vorbei, dicht neben Lisas Fuß. Sie erschrickt und springt zurück. Pericle schlägt mit einem Stock auf den Boden, um sicher zu sein, daß sie weg ist. »Deswegen wollte ich als erster hinein, um nachzuschauen, ob Schlangen da sind. Vipern sind nämlich blitzschnell. Wenn ein Pferd im Trab auf eine drauftritt, wird es siebenmal gebissen, ihm tritt Schaum aus dem Maul, und innerhalb von zwanzig Minuten ist es tot.« Sie gehen wieder zurück zum Auto, den Weg entlang, der verschwindet und wieder auftaucht, über Stufen, die im Erdboden versinken und wieder hervorkommen, und auf Händen und Füßen durch den Tunnel im Schilfhaufen. 114
Als sie wieder im Auto sitzen, auf dem Weg zu einer Trattoria, erzählt Pericle, daß er von Mai bis Oktober Landwirtschaft betreibe. Er baue Tomaten, Getreide und Sonnenblumen an. In den Monaten November und Dezember arbeite er in einer Ölmühle, und von Januar bis April repariere er Landmaschinen. Er erklärt ihnen, es sei eine einfache Trattoria, dafür aber sehr gut. Die Leute aus der Umgebung äßen dort, und man sähe nie einen Touristen. Pericle schaut sich in dem geräumigen Saal mit den kleinen, fast sämtlich besetzten Holztischen um und findet den, den er sucht: einen Mann von etwa fünfzig Jahren in einem bunten Hemd, nicht besonders groß, mit den typischen dunklen Haaren und Augen der hiesigen Bevölkerung. Pericle spricht im regionalen Dialekt mit ihm, in dem möglicherweise noch zahlreiche Reste des Etruskischen lebendig sind. Lisa versteht kein Wort. Der Mann mustert sie und nickt. Er werde sehen, was er tun könne. »Er ist Führer«, erklärt Pericle, während er ihnen zu einem freien Tisch vorausgeht. »Er will beim Museum anrufen und nachfragen, ob wir die Tomba della Regina besichtigen können. Ich denke, es wird klappen. Der Mann, mit dem er zusammen am Tisch saß, ist übrigens ein berühmter tombarolo, Settimio.« Lisa schaut sich nach dem alten Wirt mit dem strahlenden, zahnlosen Lächeln um. Pericle scheint etwas verlegen zu sein mit den beiden auffallenden Frauen an seiner Seite. Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Es gibt keine Speisekarte, aber er empfiehlt ihnen eine Spezialität dieser Gegend. Angela bezweifelt, daß sie nach Lisas Geschmack sein wird. 115
Lisa läßt es darauf ankommen. Als sie kurze Zeit später einen Blick auf ihren Teller wirft und zwischen den braunen Bohnen ein Stück haariger Schweinehaut entdeckt, zögert sie doch einen Moment. Glücklicherweise bietet Pericle ihr an, ihr Gericht gegen seine Lammkeule zu tauschen. Er liebe Abenteuer, sagt er. Aber im Winter sei das Leben in Tuscania stinklangweilig. Man könne genausogut tot sein. Bei der Tomba della Regina wartet schon ihr neuer Führer auf sie. Für Frauen öffnen sich in Italien leicht die Türen, das hatte Lisa rasch erkannt. Mit dem Schlüssel, den er extra geholt hat, öffnet er ein Tor. Er geht ihnen voraus durch einen langen Gang, bis sie an ein weiteres Tor kommen, durch das man in die Grabanlage gelangt. Es herrscht absolute Dunkelheit; dann betätigt er den Schalter, und Licht erfüllt einen runden Raum, der in den Farben des Sonnenuntergangs bemalt ist. Einen Moment lang sind sie ganz still, dann zeigt ihr Führer auf eine Nische links vom Eingang. »Der Mann, der das Grab gefunden hat, berichtete, darin habe sich das Bildnis einer wunderschönen Frau befunden, und nach ihr soll das Grab auch benannt worden sein. Wir können es allerdings nicht beweisen. Vielleicht wurde das Bild entfernt und befindet sich nun an einem geheimen Ort, zum Beispiel im Keller eines englischen Schlosses. Dabei ist es übrigens auch fraglich, ob dies hier überhaupt ein Grab gewesen ist.« Der Mann geht zur rötlichen Tuffsteinmauer hinüber, in der nun eine Öffnung erkennbar ist, und bedeutet Lisa 116
hineinzugehen. Sie gelangt in einen engen, dunklen Gang, aber er versichert ihr, sie könne ruhig weitergehen. In kleinen Schritten tastet sie sich langsam voran. Der Gang verengt sich und wird irgendwann so schmal, daß sie sich hindurchwinden muß. Dann fällt ihr ein Lichtstrahl entgegen, sie hört die Stimme des Fremdenführers, und auf einmal steht sie wieder in demselben roten Raum wie vorher. Der Tunnel führt ganz um ihn herum. »Das ist ja wirklich geheimnisvoll«, sagt sie. »Oh, es wird noch viel geheimnisvoller«, erwidert er und zeigt auf eine Stelle am Boden. Lisa geht hin und blickt durch ein Gitter in schmale Gänge hinein, die in die Tiefe führen. Undeutlich erkennt sie Stufen. Zweiunddreißig Gänge habe man bisher entdeckt, doch wahrscheinlich gäbe es noch mehr, erzählt der Führer. Die Archäologen hätten die Grabungen noch nicht abgeschlossen. »Wozu haben diese Gänge gedient?« fragt Lisa. »Es gibt verschiedene Erklärungsansätze. In der Zeit der Kriege gegen Rom könnte die Anlage ein Versteck gewesen sein oder eine Falle, in der man den Gegner in die Irre lockte.« »Das ist aber nicht wirklich praktisch, da ist eine Fallgrube doch sinnvoller«, meint Lisa. »Stimmt, diese Theorie ist nicht sehr überzeugend. Eine andere lautet, daß das Ganze den Weg in die Unterwelt darstellen sollte.« Schweigend schaut Lisa in die Gänge hinein, die in der Dunkelheit der Erde und der Geschichte verschwinden. »Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Es könnte sein, daß dort unten ein Schatz verborgen liegt, oder jedenfalls etwas von großem Wert. Manche behaupten so117
gar«, fährt er im Flüsterton fort, »es handle sich dabei um das Fanum Voltumnae, das wichtigste Heiligtum der Etrusker, das bis heute nicht gefunden wurde. Eine Legende besagt, eine Gruppe von drei tombaroli habe irgendwann hier in der Nähe noch einen weiteren Geheimgang gefunden, der zu einem Tempel geführt habe. Zwei der drei tombaroli seien gleich nach seiner Entdeckung gestorben, und nur einer von ihnen lebe noch, Settimio. Ich persönlich finde die letzte Erklärung, die mit dem Fanum Voltumnae, am aufregendsten.« Jeder wählt die Erklärung, die ihm am besten paßt, denkt Lisa. Für sie ist es der Weg in die Unterwelt. Diesen Weg geht sie schon seit fast einem Jahr. »Settimio ist der Mann, den wir in der Trattoria gesehen haben«, erklärt Pericle. »Ich weiß, warum er nicht über seine Entdeckung reden will.« »Und warum nicht?« fragt Lisa. Pericle schweigt einen Augenblick und sagt dann: »Er hat mir im geheimen anvertraut, daß er der Königin begegnet ist, der etruskischen Prinzessin, nach der das Grab benannt ist.« Lisa schaut ihn an. In ernstem Ton fährt Pericle fort: »Ich glaube ihm. Sie stand plötzlich neben ihm, als er durch einen Geheimgang das Grab betrat. Vielleicht kam sie aus einem der unterirdischen Gänge. Sie sei wunderschön und sehr vornehm gewesen, erzählte Settimio, und sie habe gesagt, sie wünsche nicht, daß ihre Ruhe gestört werde.« »Warum zeigst du uns dann das Grab, wenn du weißt, daß die Königin ihre Ruhe haben will?« fragt Lisa. »Weil ich das Gefühl habe, daß auch in euch etruskisches Blut fließt. Du bist zwar blond, aber auf den Male118
reien sind ja auch viele blonde Frauen zu sehen. Und dazu deine Augen, dein Mund und dein Gang …« Lisa lächelt ironisch, fühlt sich aber trotzdem ein wenig geschmeichelt. Im Gegensatz zu Pericle ist der Führer der Meinung, Settimio habe deshalb nie die genaue Lage des Tempels verraten wollen, weil er ihn zusammen mit seinen Freunden zweifellos komplett leergeräumt habe. Er hebt den Rost hoch und geht Lisa voraus in das unterirdische Labyrinth hinein, während Angela und Pericle oben warten. Das Licht der Taschenlampe läßt die Wände des schmalen Gangs golden schimmern. Während sie hinuntersteigen, legt Lisa die Hand auf eine Seitenwand. Der Stein fühlt sich kühl und feucht an. Nach einer Weile teilt sich der Weg in fünf weitere Gänge. Ihr Begleiter geht in einen von ihnen hinein, und Lisa setzt vorsichtig ihre Füße auf den Teppich aus Licht, den er vor ihr ausrollt. Manchmal verengt sich der Gang; stellenweise ist er so niedrig, daß sie sich bücken muß, und hin und wieder teilt er sich erneut. Allein würde sie sich rettungslos verirren. Dies ist das Labyrinth ihres Geistes. Man denkt, man käme weiter, doch man bewegt sich im Kreis und stößt immer wieder auf Gänge, die als Sackgassen enden. An welcher Stelle war es schiefgelaufen, was hatte sie gesagt, das er falsch aufgefaßt hatte? Warum kein Abschiedsbrief? Die Gänge führen immer tiefer in die Erde hinein, so wie sich ihre Gedanken und Grübeleien in ihre Seele bohren, in ihren Kopf, immer schmerzhafter. Sie höhlen sie aus, die Fragen, die Zweifel. Und von einem Labyrinth gerät sie ins nächste, ins Labyrinth seines Kopfes. Welche Wege war er gegangen 119
vor diesem Sprung? War er es, der gesprungen war? Oder ist es ganz anders abgelaufen? Weiß Antero mehr? Vielleicht. Dieses Wort macht sie verrückt. Und wieder steht sie in einem Gang, der nirgendwo hinführt.
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»Eukalyptusblätter in den Schuhen sind eine Wohltat für die Füße«, sagt Angela, die weiß, daß es bis zum Tal von Norchia noch mindestens sechs Kilometer zu laufen sind. Nach ihrem Besuch in Tuscania waren sie zunächst nach Tarquinia zurückgekehrt, weil Angela abends im Restaurant kochen mußte, doch am nächsten Morgen hatten sie sich wieder in aller Herrgottsfrühe auf den Weg gemacht. Die Straße ist zu beiden Seiten von Eukalyptusbäumen gesäumt. Hinter den gewundenen Stämmen liegen wogende Felder und Weiden und hier und dort ein Bauernhof. Es ist kein Mensch zu sehen, nur ab und zu eine Schafherde, begleitet von einem Hund. Einzig ein paar in der Luft herumbrummende, an riesige, metallisch glänzende Libellen erinnernde Hubschrauber stören die Ruhe. Manchmal sind sie für kurze Zeit verschwunden, kehren aber jedesmal bald wieder zurück und kreisen erneut eine Zeitlang über ihren Köpfen. »Sie beobachten die tombaroli«, erzählt Angela. »Viele Bauern haben Mais gesät, um im Schutze der Pflanzen heimlich graben zu können. Aber irgendwann kam man ihnen auf die Schliche, und deswegen werden jetzt regelmäßig Helikopter auf Beobachtungsflüge geschickt.« 121
Lisa nickt abwesend und sagt: »Ich mache mir Sorgen um eine Freundin von mir.« Angela schaut sie fragend an. »Heleen. Sie leidet schon seit einer ganzen Weile unter Müdigkeit und Rückenschmerzen. Ich habe sie heute morgen angerufen. Der Arzt hat gesagt, es liege am Streß und an der Arbeit im Sitzen. Sie ist Journalistin. Er hat sie zu einem Chiropraktiker geschickt, aber von der Behandlung sind die Schmerzen nur noch schlimmer geworden. Gestern hat sie Blut gespuckt.« »Das hört sich aber gar nicht gut an.« »Ja, und außerdem raucht sie viel zuviel.« Heleen brauchte früher zwei Päckchen Zigaretten pro Tag. Manchmal fuhr sie abends noch mit dem Taxi zum nächsten Tabakwarenladen, weil sie einen Artikel fertigschreiben mußte und das Nikotin ihr half, ihre Gedanken zu koordinieren. »Heute wird sie geröntgt«, sagt Lisa. Falls sie auch wirklich zum Röntgen ging. Lisa hatte sich oft über Heleens Trägheit aufgeregt. Seit sie sich kannten, wollte sie schon mit dem Rauchen aufhören, aber sie hielt es keinen Tag ohne Zigarette aus. Einmal hatte sie feierlich zwanzig Zigaretten die Toilette hinuntergespült, aber schon wenig später war sie wieder losgezogen, um sich ein neues Päckchen zu besorgen. »Es kann natürlich auch von der chiropraktischen Behandlung kommen«, meint Angela. »Das hat der Arzt auch schon gesagt.« Eine Weile wandern sie schweigend nebeneinander her. Die Straße scheint sich in der Ferne in Luft aufzulösen. »Hat Antero dir eigentlich diesen Weg gezeigt, den er in der Nähe des Tempels gefunden hat?« fragt Lisa dann. 122
»Er hat mir nur gezeigt, wie er verläuft.« »Warum habt ihr da noch nicht gegraben?« will Lisa wissen. »Ich habe es ihm vorgeschlagen, aber er ist nicht darauf eingegangen. Solche Anwandlungen hat er öfter.« »Ich fühle mich schuldig. Ich hätte nie in die Niederlande fahren dürfen. Aber Lorenzo hat mir doch selbst noch dazu geraten. Ich war zu einem großen Projekt eingeladen worden, das damals sehr wichtig für mich war. Heute dagegen kommt es mir unsinnig vor«, erzählt Lisa. »Nein, es ist kein Unsinn. Es ist Unsinn, dich schuldig zu fühlen. Du kannst es ja doch nicht ändern, und du konntest es auch unmöglich ahnen«, erwidert Angela. »Vielleicht hatte sein Entschluß ja tatsächlich nichts mit mir zu tun, aber ich frage mich trotzdem dauernd, ob ich etwas Falsches gesagt oder getan habe. Ein paar Tage vor seinem Tod habe ich ihm zum Beispiel erzählt, daß mein Ex auf einmal im Arbeitszentrum aufgekreuzt war. Aber andererseits wußte Lorenzo genau, daß der mir nichts mehr bedeutete.« Sie war Lorenzo gegenüber ganz offen gewesen und hatte ihm erzählt, daß sie schon lange bevor sie selbst mit der Bildhauerei begonnen hatte, in Jeroen verliebt gewesen war. Als sie ihn eines Tages dabei beobachtete, wie er mit animalischer Kraft ein wildes Pferd aus einem Steinklotz herausmeißelte, während sie gerade ihre Energie in eine Arbeit über die landwirtschaftlichen Methoden der Griechen investieren mußte, begriff sie auf einmal, daß sie einen falschen Weg eingeschlagen hatte. Sie studierte Alte Geschichte, weil sie sich dafür interessierte, was die Menschen in der Antike und in den Zeiten davor bewegt 123
hatte, was sie gedacht und woran sie geglaubt hatten. Doch die Antwort fand sie nicht in den Hörsälen. Sie hatte daraufhin die Universität verlassen und sich bei der Kunstakademie eingeschrieben, und als sie ihre ganzen Hemmungen in der Arbeit mit dem Ton von sich abwerfen konnte, wunderte sie sich plötzlich darüber, daß sie so besessen von einem Mann gewesen war, mit dem sie kein einziges vernünftiges Gespräch führen konnte. Sie hatte sich in ihn verliebt, weil er das tat, was sie eigentlich tun wollte. Sie hatte sich gewünscht, von ihm beachtet und ernst genommen zu werden, aber genau das tat er nicht. Anfangs hatte er sie zwar in ihren künstlerischen Ambitionen unterstützt, aber als er merkte, daß es ihr mit der Bildhauerei ernst war und sie ihre ersten bescheidenen Erfolge verbuchte, wurde er eifersüchtig und fing an, sie zu demütigen. Lorenzo dagegen hatte sich gerade in ihre Besessenheit verliebt, so wie sie sich in seine. Konnte er überhaupt an ihr gezweifelt haben? Er mußte doch gefühlt haben, daß sie ganz verrückt nach ihm war! Sie hatte ihm von den Szenen erzählt, die sich mit Jeroen abgespielt hatten, und auch, daß er nach Rom gekommen war, um sie zurückzuholen. Von den Telefonaten voller Anschuldigungen. Einmal war sie so außer sich gewesen, daß sie das Telefon an die Wand geworfen hatte. Danach hatte sie sofort Heleen gerufen. Die hatte das Telefon in aller Ruhe repariert, woraufhin Lisa sofort wieder angerufen und den Streit fortgesetzt hatte, bis sie das Telefon noch einmal an die Wand schmiß – und Heleen es wieder reparierte, als sei es die normalste Sache der Welt. »Leidenschaft«, hatte Lorenzo gesagt. »Verzweiflung, Frustration, Unverständnis, Schmerz!« 124
hatte sie gerufen. Ob er ihr vielleicht doch nicht geglaubt hatte? Hatte er vielleicht gedacht, sie wäre wegen Jeroen in die Niederlande gegangen? Sie hätte niemals gehen dürfen. Es war immer dasselbe Labyrinth, in dem sie sich verlief, sie kam einfach nicht heraus. Sie konnte verstehen, daß sie Heleen manchmal ganz verrückt machte mit ihren Grübeleien. »Es gab kein einziges Anzeichen. Er hat mich zum Flughafen gebracht und wollte im September zur Eröffnung meiner Ausstellung in die Niederlande kommen. Er hat nie ein Wort gesagt, dem ich hätte entnehmen können, daß er sich mit solchen Gedanken trug«, sagt Lisa. »Man kann seinem Leben auch ein Ende setzen, gerade weil man sich gut fühlt«, bemerkt Angela ruhig, »einfach, weil man dazu bereit ist. Ich habe diese Erfahrung selbst schon gemacht, eines Nachts während einer Ausgrabung. Der Mond, das wogende Korn im Sommer, wie ein goldglänzendes Meer, diese Stille, und dann ein prächtiges Grab mit Wellenbordüre. In diesem Moment dachte ich, daß es gut wäre, wenn dieses Grab jetzt einstürzen würde. Als würde eine Decke über mich gelegt.« »Ich müßte immer an die Menschen denken, die ich zurücklassen würde. Das war zum Beispiel auch typisch für ihn. Er nahm immer sehr viel Rücksicht auf andere. Und er hatte noch so viel vor!« erwidert Lisa. »Das ganze Leben besteht aus Wiederholungen«, sagt Angela. Was redet sie denn da, denkt Lisa gereizt und schaut in das ernste Gesicht Angelas. Eine seltsame Frau. Auch aus ihr wird sie nicht richtig schlau. Sind diese Etrusker denn alle verrückt? 125
»Ich fühle mich im Stich gelassen. Er mußte doch wissen, was er mir antat, und auch seinen Eltern«, sagt Lisa. »Menschen, die sterben wollen, denken nicht an diejenigen, die sie zurücklassen. Sie leben in einer anderen Dimension. Möglicherweise haben sie das Gefühl, sie nähmen die anderen mit sich«, meint Angela. Ja, wenn sie glauben, alles drehe sich nur um sie, denkt Lisa und sagt: »Nach meiner Rückkehr nach Italien wollten wir diese Reise zu zweit unternehmen. Ich hatte mich so darauf gefreut! Der einzige etruskische Ort, den wir gemeinsam besucht haben, war Cerveteri. Die Nekropole wurde gerade geschlossen, als wir ankamen. Wir haben nur ein Grab besichtigt, das mit den Sitzen aus Stein.« »Es ist gut, daß du diese Reise jetzt trotzdem machst. Es ist immer schwer, wenn man keinen Abschied nehmen konnte«, antwortet Angela. Sie schweigt einen Augenblick und sagt dann: »Jeder geht letztendlich seinen eigenen Weg, es sind immer nur kleine Abschnitte, die man zusammen zurücklegt.« »Hast du eigentlich einen Freund?« Diese Frage hatte Lisa schon lange auf der Zunge gelegen. »Nein. Die Männer hier sind sehr besitzergreifend, nicht mehr so großzügig wie vor zweitausendfünfhundert Jahren, und ich hänge sehr an meiner Freiheit. Ich habe ein paar sehr gute Freundinnen und Freunde. Ich fühle mich nie einsam. Verliebt sein ist wunderbar, aber ich lasse mir mein Leben nicht mehr davon durcheinanderbringen. Die Leute hier finden es immer noch ein bißchen seltsam, wenn eine Frau alleine lebt, aber sie müssen sich eben daran gewöhnen.« Auch Lisa hatte jahrelang so gelebt wie Angela. »Vielleicht liegt es an meinem etruskischen Blut. Die 126
etruskischen Frauen waren sehr emanzipiert. Ein Grieche aus dem vierten Jahrhundert vor Christus, Theopompus, schrieb: Für die etruskischen Frauen ist es keine Schande, sich nackt und bloß zu zeigen.« Angela muß kurz überlegen. »Außerdem nehmen sie ihre Mahlzeiten nicht mit ihren Ehemännern ein, sondern mit irgendwelchen Männern, die zufällig anwesend sind.« Lisa kichert. »Ach ja, es geht noch weiter: Sie können standhaft zechen, sehen aber phantastisch aus. Die Etrusker ziehen alle Kinder, die geboren werden, voller Fürsorge auf auch wenn sie nicht genau wissen, wer der Vater ist.« Die beiden Frauen lachen. »Es ist viel geklatscht und geschrieben worden über die etruskischen Frauen«, sagt Angela, »unter anderem, daß sie allesamt Huren waren. Diese Machos von Griechen und Römern konnten freie Frauen einfach nicht ertragen, ihre eigenen haben sie nur unterdrückt.« Sie mußten nun schon in der Nähe des Tals sein. Im Grunde war dieser Ausflug absurd. Er würde ihr ja doch nicht viel bringen. Eigentlich sollte sie jetzt bei Heleen sein. Am Eingang des Tals sitzt ein Mann am Straßenrand, der aufsteht, als sie sich nähern, und fragt, ob er sie herumführen dürfe. Er zeigt ihnen ein Mäppchen mit Fotos und einen Ausweis, der beweist, daß er offiziell anerkannter Führer ist. Die Frauen nehmen sein Angebot jedoch nicht an; sie möchten lieber für sich sein. »Sie kennt den Weg«, erklärt Lisa und zeigt auf Angela. Auf einem schmalen Pfad, der in eine Treppe über127
geht, steigen sie bergab. Je tiefer sie kommen, desto weiter zurück scheinen sie in die Vergangenheit zu reisen. Die mittelalterliche Ruine in der Ferne verschwindet aus ihrem Blickfeld. Auch in diesem Tal sprudelt ein kleiner Bach, zwitschern aufgeregt die Vögel, und ab und zu hört man das Blöken eines Schafs. Als Lisa auf die schmalen Stufen tritt, erinnert sie sich an die Sandalen einer Etruskerin, die sie im Museum von Tarquinia gesehen hat. Ihre Zehen hatten kleine Kuhlen hinterlassen. Die Lederriemen waren zerfallen. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht sie die Sandalen in ihrer ursprünglichen Schönheit an ihren eigenen Füßen. Unten an der Treppe bleiben sie stehen und schauen an einer riesigen Felswand hoch. Aus dem braunroten Gestein sind meterhohe Vierecke herausgemeißelt, und darauf im Relief riesengroße Türen, die dieselbe Form aufweisen wie die in den Grabanlagen von Tarquinia. Türen ins Jenseits. Zu beiden Seiten führen Treppen zu einer Plattform hinauf. »Die Plattformen wurden für die Opferungen angelegt«, erklärt Angela. Unterhalb der Türen führen Treppen in die Tiefe, in die Gräber hinein. Die Stufen werden allmählich von einem Teppich aus Maßliebchen überwuchert. Was für ein Zusammenspiel von Natur und Menschenhänden! »Es wird dich inspirieren«, hört Lisa wieder Lorenzos Stimme. »Die Etrusker haben dir etwas zu erzählen.« Ein Gefühl der Aufregung gemischt mit Mutlosigkeit überfällt sie. Gegen dies alles hier wird sie mit ihrer Arbeit niemals ankommen, so perfekt, wie es ist. Andererseits fühlt sie sich auch bestätigt. Zahlreiche Leute hatten sie für verrückt erklärt, als sie die vielen Kubikmeter Sand 128
und Ton vor ihrem Atelier hatte abladen lassen. Doch sie war nicht verrückt. Dies hier sind die monumentalen Formen, die sie im Geiste vor sich gesehen hatte. Sie steigen weiter hinunter, an einem blühenden Strauch vorbei, in dem Bienen summen, entlang immer neuer Felsen mit Türen darauf, eingesunkenen Plattformen und dunklen Tunneln, die in die Erde führen. Lisa zeigt auf zwei Türen dicht nebeneinander. Über der einen steht eine Inschrift, ein Name: Vel Zulise. »Das ist das Grab von zwei Brüdern«, erklärt Angela. Einer von ihnen hieß Vel Zulise. Ein kräftiger Strauch drückt den Fels auseinander. Namen verschwinden unter Moos, werden vom Regen weggespült. Sie setzen sich ins Gras, im Schatten der rätselhaften Türen. Angela nimmt eine Flasche Wasser aus ihrem Rucksack, Brot und ein kleines Glas Thymianhonig, das sie unterwegs auf einem Bauernhof gekauft haben. Aus ihrer Hosentasche holt sie ein Taschenmesser, mit dem sie das Brot schneidet und bestreicht. Es schmeckt ihnen gut; die Wanderung hat sie hungrig gemacht. »Vel Zulise.« Lisa spricht den Namen laut aus. In früheren Zeiten glaubte man, ein Name drücke die Persönlichkeit eines Menschen aus; allerdings mußte man dafür seine Bedeutung kennen. »Es sind hauptsächlich ihre Namen, die von ihnen erhalten geblieben sind«, sagt Angela. »Die Entschlüsselung der Schrift an sich ist auch nicht das eigentliche Problem, da die Etrusker das Alphabet von den Griechen übernommen haben. Doch es sind nur sehr wenige Texte überliefert, dreizehntausend kurze Inschriften und ein einziger längerer Text, der auf der Mumie.« 129
»Auf der Mumie?« fragt Lisa. »Ja, dieser Text wurde auf eine Buchrolle aus Leinen geschrieben, die in Streifen geschnitten und zum Einwickeln einer Mumie gebraucht wurde, bei der es sich möglicherweise um einen Etrusker handelte, der in Ägypten lebte.« »Was für eine Art Text ist es denn?« »Ein Kalender mit religiösen Festtagen, für die jeweils auch die vorgeschriebenen Rituale verzeichnet sind.« Eine tote Sprache – was für ein trauriger Ausdruck. Die Worte, mit denen Menschen einander erreichten, sich versuchten zu erreichen, mit der sie zu den Göttern beteten, sind verschwunden wie Blumen, wie Gras. »Ist das Etruskische denn mit keiner anderen Sprache verwandt?« will Lisa wissen. Sie leckt ihre Finger ab, die nach Honig schmecken. »Doch, schon, möglicherweise ist es mit dem Dialekt der kleinen griechischen Insel Lemnos verwandt. Dort wurde ein Stein mit vergleichbaren Inschriften gefunden.« Lisa schaut Angela verwundert an. Sonst ist sie im Umgang mit ihr immer noch recht wortkarg, aber wenn es um die Etrusker geht, ist sie wie ausgewechselt. Dann überkommt sie dieselbe feurige Leidenschaft, von der Lorenzo manchmal ergriffen schien. »Eine These besagt, das Etruskische und das Lemnische seien Reste einer Sprache, die ursprünglich in ganz Südeuropa gesprochen wurde, bis die indoeuropäischen Völker einfielen und andere Kulturen verdrängten. Nur das Etruskische und das Lemnische ragten noch als kleine Sprachinseln aus dem Meer des Indoeuropäischen empor. Der nette Bischof, der uns manchmal bei den Ausgrabungen begleitet, dieser Baske, ist der Meinung, das Bas130
kische sei die einzige Schwestersprache dieser alten Sprachen, die heute noch lebendig sei.« »Du weißt ja wirklich gut Bescheid!« sagt Lisa. »Ach, weißt du, ich beschäftige mich schon seit so vielen Jahren mit den Etruskern. Ich habe eine Menge über sie gelesen und auch vieles von Antero gelernt. Er hat zwar nur die Volksschule besucht, ist aber keineswegs dumm. Im Gefängnis stapelten sich die Bücher in seiner Zelle, und mittlerweile hat er das ganze Wissen im Kopf.« »Gibt es denn nur Theorien und Hypothesen oder auch harte Fakten?« »Man kennt bisher die Bedeutung von ungefähr zweihundert Wörtern, größtenteils, weil sie bei griechischen oder römischen Autoren vorkommen und dort erklärt werden. Ein etruskisches Wort wird auch heute noch auf der ganzen Welt benutzt: Person. Es kommt von phersu, Maske. Ein bißchen ist auch über die Grammatik bekannt, aber von den längeren Inschriften kann man bisher nur kleine Abschnitte übersetzen. Man hofft noch immer auf den Fund einer langen zweisprachigen Inschrift. Ich träume oft davon, ein Buch zu finden. Bei den Ausgrabungen denke ich fast ständig daran. Ein Buch, ein Buch aus Leinen wie das, in das die Mumie gewickelt war, oder vielleicht eine von oben bis unten beschriebene Wand. Warum sollten wir nicht irgendwann einmal auf etwas Derartiges stoßen? Etwa auf das Grab eines Bibliothekars oder eines Schreibers. Leider wurden praktisch alle derartigen Zeugnisse schon von den Römern zerstört.« »Aber waren die Römer denn nicht stolz auf ihre etruskische Abstammung? Kaiser Hadrian zum Beispiel?« wirft Lisa ein. »Ja, der schon, aber die meisten römischen Kaiser wa131
ren Dummköpfe. Sie waren eifersüchtig auf die Etrusker und wollten den Eindruck erwecken, die Römer hätten alles erfunden. Dort drüben auf der anderen Seite führt die Via Clodia entlang, die von den Römern vor allem deshalb angelegt wurde, um die Etrusker unter Kontrolle zu halten.« Lisa schaut hinüber auf die andere Seite des Tals, zu der Stelle, auf die Angela zeigt. Vielleicht könnte man, wenn man ganz still wäre und sogar die Bienen aufhörten zu summen, ein Echo des Etruskischen hören, wie das Echo des Urknalls im Universum widerhallt. Die Zeit existierte erst seit fünfzehn Milliarden Jahren. Welches Alter würde sie erreichen? Vel Zulise. Hier war einst das Leben hörbar gewesen, ihre Stimmen – wie sie wohl geklungen haben mochten? Und ihre Musik? Lisa betrachtet die Türen, die Scheintüren, die Treppen, die Scheintreppen. Wohin führten sie? Das war das Tal, das Lorenzo ihr hatte zeigen wollen. Norchia – plötzlich erinnert sich Lisa wieder daran, daß er diesen Namen genannt hatte. Ob er etwas mit Nortia, der etruskischen Schicksalsgöttin, zu tun hatte? In einem ihr geweihten Tempel war jedes Jahr ein Nagel in die Wand geschlagen worden, um den Menschen das Verfließen der Zeit bewußt zu machen. Zusammen mit Lorenzo hatte sie sich einmal einen etruskischen Spiegel angeschaut, in den eine Gruppe nackter Männer und Frauen eingraviert war, unter denen sich auch die Schicksalsgöttin befand. In der einen Hand hielt sie einen Nagel, in der anderen locker einen Hammer, bereit zum Zuschlagen. Die etruskische Besitzerin dieses Kunstwerks hatte, während sie sich für ein Fest schön machte, nicht nur ihr ei132
genes Spiegelbild, sondern auch dieses Memento mori vor Augen gehabt. Vielleicht sollte es sie dazu anregen, die Gegenwart um so intensiver zu genießen. »Du machst aber ein trauriges Gesicht«, bemerkte Angela. »Ich glaube, ich werde nach Rom zurückkehren«, antwortet Lisa. »Wegen Heleen. Ich muß jetzt für sie da sein und vielleicht auch auf sie aufpassen. Sie ist imstande, alles einfach laufenzulassen. Ich habe jahrelang mit ihr zusammengewohnt, und wir haben uns immer sehr gut verstanden. Es war eine glückliche Zeit.« »Freundschaft ist auch eine Form von Liebe«, meint Angela. In der Sonne hat ihr Haar einen rötlichen Glanz. »Vielleicht ist Freundschaft manchmal sogar tiefer als das, was wir Liebe nennen.« »Ja, das stimmt. Manchmal hat man ein engeres Band zu dem Menschen, mit dem man über seine Liebe spricht, als zu denjenigen, mit denen man sie erlebt.« Lisa beobachtet eine Biene, die sich in eine wilde Orchidee hineinzwängt. Auch Angela schaut ihr zu. »Ich habe einmal einen Brunnen gefunden«, erzählt sie, »der mit Votivbildern geschmückt war, ganz in der Nähe des Artemis-Tempels. Nun stehen Bienenkörbe darauf. Vor kurzem waren schwarze Schleifen um die Körbe gebunden, ein sehr alter Brauch. An manchen Orten in unserer Gegend wird der Tod von einem Mann in Schwarz verkündet, und zwar nicht nur der Familie und Freunden, sondern auch den Haustieren, dem Vieh und ganz besonders den Bienen. Man klopft an die Körbe, heftet Trauerflor daran und sagt: Bienchen, Bienchen, der Herr ist tot, bleibt bei mir in meiner Not, oder: Bienchen wacht, denn der Meister schläft.« 133
Beim Aufstieg machen sie noch einmal unterhalb der riesigen Scheintüren halt. »Das ist eine von zwei Tempelgrabanlagen, die man gefunden hat«, erklärt Angela. »Die andere, die Tomba Ildebranda, befindet sich in Sovana.« Sie schweigt kurz und fragt dann: »Willst du wirklich dorthin?« »Ja«, antwortet Lisa. »Ich hoffe, Lorenzos Eltern besuchen zu können.« Bisher hatte sie nicht den Mut dazu gehabt, hatte sich vor den Gefühlen gefürchtet, die damit verbunden waren. Sie hatte ihnen allerdings nach Lorenzos Tod einen Brief geschrieben, in dem sie die Hoffnung ausdrückte, sie irgendwann einmal kennenzulernen. Daraufhin hatten sie zurückgeschrieben, sie sei natürlich willkommen, aber sie solle ihnen noch etwas Zeit lassen. Ein guter Freund von Lorenzo, der seine Eltern kannte, hatte ihr erzählt, sie seien am Boden zerstört und könnten es überhaupt nicht begreifen. Lisa will dorthin, in Lorenzos Geburtsstadt, aber zuerst muß sie wissen, wie es Heleen geht. Sie wandern denselben langen Weg zurück, den sie gekommen sind, mit schweren Beinen und einem leichten Schwindelgefühl im Kopf. Wenn sie hören, daß sich ein Auto nähert, was nur sehr selten geschieht, drehen sie sich um und heben den Daumen. Das dritte Auto hält an. Es stellt sich heraus, daß der Fahrer des Wagens für die Belle Arti arbeitet, im Archiv, aber wann immer er kann, die Papiere Papiere sein läßt und archäologisch interessante Stätten besucht. Dort komme er zur Ruhe. Ja, hin und wieder finde er auch etwas, oft einfach so zwischen den Steinen oder im Gras. Zum Beweis zieht er einen Ring vom Finger, einen Ring mit einem römischen Stein, in den kleine Figuren eingraviert sind. 134
»Perseus und Medusa«, sagt Angela sofort. Der Mann ist überrascht. »Perseus überreichte Athene das Haupt der Medusa«, sagt Angela zu Lisa, während sie den Ring an sie weitergibt, »und die hat es an ihren Brustpanzer genagelt. Athene ist meine Lieblingsgöttin. Wußtest du, daß sie auch die Schutzpatronin der Pferde und der Bildhauer ist?« Lisa betrachtet aufmerksam den Ring. Welche Perfektion auf einer Fläche von nur wenigen Quadratmillimetern! Die Arbeit muß mit einem Vergrößerungsglas durchgeführt worden sein. Er habe diese Kamee vor nicht allzu langer Zeit in der Nähe des Artemis-Tempels bei Tarquinia gefunden, erzählt der Mann. Seine Frau besitze eine Kamee mit einer vollständigen ländlichen Szene darauf: ein Hirte, der an einem Gatter lehnt, ein Hund an seiner Seite, umringt von Bäumen. »Es ist unglaublich«, sagt er, »man kann sogar die Zweige und Blätter der Bäume erkennen.« Am Stadtrand von Tarquinia setzt er sie ab. Lisa begleitet Angela zu Anteros Haus. Angela will ihn fragen, wann er vorhat, das Grab mit den Vögeln freizulegen, das sie zusammen gefunden haben. Sie sagt zu Lisa: »Das mußt du einfach miterleben, es ist eine einmalige Erfahrung.« Sie kommen am Museum, an der Kneipe, in der Lisa am ersten Tag nach dem Weg gefragt hatte, und an den vielen Türmen der Stadt vorbei. Vor vier Tagen war sie noch eine Fremde gewesen, und heute erscheint ihr schon alles vertraut. Anteros Tür ist verriegelt. Angela winkt Lisa zu, und sie folgt ihr um das Haus herum in eine dunkle Scheune hinein, in der man über 135
Gerümpel stolpert. In einer Ecke drückt Angela gegen die Decke, und eine viereckige Luke geht auf. Sie klettert hindurch und hilft dann Lisa. Als sie ihren Kopf durch das Loch steckt, sieht sie wieder den Kopf des Kaninchens vor sich. Sie stehen im Kinderzimmer. Es ist Anteros Fluchtweg, über den sie hineingekommen sind. »Das kommt mir irgendwie komisch vor«, meint Angela. »Gestern war er auch schon nicht da.« Sie hinterläßt Antero eine Nachricht. »Sobald ich ihn erreicht habe, rufe ich dich an«, verspricht sie. Zurück im Hotel, schaut sich Lisa an, wie die Sonne im Meer versinkt, erschreckend schnell. Dann ruft sie Heleen an. »Wie schön, daß du anrufst!« sagt Heleen. »Wie geht es dir?« fragt Lisa. »Nicht so besonders. Ich habe die Röntgenaufnahmen machen lassen, und auf meiner Lunge sind zahlreiche Flecken zu sehen.« Lisa fühlt, wie sich ihr Magen zusammenkrampft. Das kann nicht wahr sein, das darf nicht sein! »Der Röntgenarzt hat einen ganz schönen Schrecken bekommen«, berichtet Heleen. »Was hat er gesagt?« fragt Lisa. »Daß die Sache näher untersucht werden muß.« »Und sonst nichts?« »Nein. Aber ich habe Angst, daß es etwas richtig Schlimmes ist. Ich habe schon wieder Blut gespuckt.« Lisas Augen füllen sich mit Tränen. »Waren die Flecken nur auf einem Lungenflügel zu sehen?« fragt sie. 136
»Ich glaube ja«, meint Heleen. Lisa ist ein wenig erleichtert. »Und was jetzt?« fragt sie. »In ein paar Tagen muß ich für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus«, sagt Heleen ganz gelassen. »Ich komme sofort nach Rom, ich komme zu dir!« sagt Lisa. »Das brauchst du nicht«, erwidert Heleen. »Pietro kümmert sich rührend um mich. Vielleicht ist es ja auch nur halb so schlimm. Bleib du nur, wo du bist. Diese Reise ist so wichtig für dich! Wir können doch miteinander telefonieren.« »Fürs erste gehen wir sowieso mal davon aus, daß es halb so wild ist«, antwortet Lisa und versucht dabei ebenfalls, so ruhig wie möglich zu klingen. »Aber trotzdem will ich jetzt bei dir sein. Meine Reise kann ich später noch fortsetzen.« »Na ja, ich freue mich natürlich, wenn du kommst«, sagt Heleen. Nachdem Lisa aufgelegt hat, fängt sie an zu weinen. Das kann doch nicht wahr sein. Warum ist sie heute morgen nicht sofort nach Rom gefahren? Bei Lorenzo ist sie auch zu spät gekommen. Noch letzte Woche hatte sie zu Heleen gesagt: »Nach dem Tod von Lorenzo meinte ich, nicht länger in Rom wohnen bleiben zu können, und ich wollte weg, aber ich bleibe. Ich habe hier mit dir zusammen angefangen, und ich werde hier mit dir zusammen weiterleben.« Aber natürlich lebte sie weiter mit Heleen. Sie erschrak vor ihren düsteren Gedanken. Es würde schon alles gut werden. So ein kleiner Fleck konnte etwas völlig Harmloses sein, und heutzutage fand man so etwas schnell heraus. 137
Hastig fängt Lisa an, ihre Tasche zu packen. Während sie dabei ist, sieht sie wieder vor sich, wie Pericle den roten, schwammigen Kork vom Baum abgerissen hat. Wieder und wieder.
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Als sorglose Spaziergängerin hatte Lisa früher oft die liebliche Insel betrachtet, die wie ein Schiff mitten im Tiber lag. Bis vor kurzem hatte sie nicht gewußt, daß diese Insel tatsächlich einst ein Schiff gewesen war. Der Legende nach war Äskulap den Tiber hinaufgefahren, um Rom von der Pest zu befreien. Sein Schiff sollte dort in der Mitte des Flusses gestrandet sein, und später war die Insel zur Kultstätte für den Gott der Heilkunst geworden. Wenn man genau hinschaute, konnte man tatsächlich erkennen, wie sich eine Schlange den Achtersteven hinaufschlängelte. Noch heute hofften die Kranken an diesem Ort auf Heilung, denn bei dem romantischen orangebraunen, von Palmen umgebenen Bauwerk handelt es sich keineswegs um ein Lustschloß römischer Adliger, wie Lisa immer geglaubt hatte, sondern um ein Krankenhaus. Sie war sofort mit dem nächsten Zug nach Rom gefahren, nachdem Heleen ihr die beunruhigende Nachricht mitgeteilt hatte, aber man hatte sie nicht mehr ins Krankenhaus hineingelassen, weil die Besuchszeit schon vorüber war. Auch Angela war heute morgen nach Rom ge139
kommen. Schon seit langem hatte sie vorgehabt, wieder einmal hinunter zum Tiber zu gehen, dort nach antiken Gegenständen zu suchen und mit ihren Freunden über die Dinge zu plaudern, die in der Zwischenzeit geschehen waren. Lisa geht den Tiberboulevard entlang zur Brücke, an der sie sich mit Angela verabredet hat. Auf der einen Seite strömt unten in der Tiefe das Wasser, auf der anderen Seite der Verkehr. Hier in der Nähe hatten Heleen und Lisa ihr Leben in Rom begonnen, in einer alten Pension, wo sie zwei Zimmer nebeneinander gemietet hatten. Abends tranken sie Wein aus leeren Joghurtgläschen und aßen Salat aus Aluschalen, bei denen es sich, wie sie später herausfanden, um Wegwerffreßnäpfe für Hunde handelte. Nach ihrer ersten Begegnung in Venedig hatten sie gemeinsam den Zug nach Rom genommen, Heleen, weil sie dort ein paar Interviews durchführen mußte, und Lisa, weil sie mit einem Galeristen sprechen wollte, den sie in Amsterdam kennengelernt hatte und der sich für ihre Arbeit interessierte. Der Mann bekundete allerdings mehr Interesse an den Formen ihres Körpers als an denen ihrer Tonarbeiten, und außerdem erwies sich seine Galerie als viel zu klein für ihre Skulpturen. Aber trotzdem war ihre Reise nicht umsonst gewesen, denn Rom hinterließ einen tiefen Eindruck bei ihr. Eine Stadt wie ein bildhauerisches Kunstwerk. Eine Skulptur, die allmählich und organisch gewachsen war, mit zahlreichen Schichten übereinander und durcheinander, modernen Gebäuden auf alten Fundamenten, einer Renaissancekirche zwischen den Säulen eines römischen Tempels und Luxusappartements in den 140
Ruinen eines antiken Theaters. Und trotzdem bildete das Ganze eine harmonische Einheit. Als sie eines Abends mit Heleen auf dem Campo dei Fiori beim Essen saß und sie darüber sprachen, wie wohl sie sich hier fühlten, hatte Lisa vorgeschlagen, dazubleiben. »Du hast recht«, antwortete Heleen. Und wieder einmal sollte sich herausstellen, wie leicht man sein Leben selbst gestalten konnte. Nach ihrer Zeit in der Pension wohnten sie jahrelang in einem großen Appartement auf einem der schönsten Hügel der Stadt. Sie hatten beide ein eigenes Zimmer und teilten Küche und Badezimmer. Die Caracalla-Thermen lagen um die Ecke, und im Sommer konnten sie, wenn dort Aida aufgeführt wurde, die Musik und das Trompeten der Elefanten hören. Es war eine schöne Zeit, zwar nicht immer einfach, aber doch unbeschwert und fröhlich. Beim Frühstück schmiedeten sie Pläne für den neuen Tag und sprachen einander Mut zu, wenn sie schwierige Telefonate zu führen hatten: »Los, anrufen, und danach trinken wir noch eine Tasse Kaffee.« Lisa war immer froh, wenn sie abends den Fahrstuhl summen und ihn auf ihrer Etage anhalten hörte. Dann bereiteten sie zusammen eine kleine Mahlzeit zu, meistens Pasta mit Salat, und unterhielten sich über die Ereignisse des Tages. In der Ferne sieht sie Angela auf der antiken Brücke stehen, die zur Insel führt. Sie winkt ihr zu und kommt ihr entgegen. Lisa freut sich, sie zu sehen. Sie begrüßen sich mit einem Kuß. »Und, wie geht’s?« fragt Angela. 141
»Ich habe heute morgen mit Heleen telefoniert. Ihre Stimme hat sich ganz ruhig angehört. Es sind schon alle möglichen Untersuchungen durchgeführt worden, und heute bekommt sie das Ergebnis.« »Dieses Krankenhaus hat wirklich einen guten Ruf«, sagt Angela. »Hast du noch ein bißchen Zeit, oder mußt du sofort …?« »Nein, ich kann noch ein bißchen bleiben, die Besuchszeit beginnt erst in einer Dreiviertelstunde.« »Ich bin hier unten. Virgilio ist auch da. Kommst du mit?« fragt Angela. Sie gehen zusammen die Steintreppen hinunter zum Ufer, das mit Sträuchern und jungen Eichen bewachsen ist. Ein Stück weit entfernt sieht Lisa einen Mann, der mit einem Eimer Wasser aus dem Fluß schöpft und es jedesmal mit Schwung auf eine Stelle am Uferwall schüttet, so daß Steine und Kies nach unten rollen und die Schicht darunter sichtbar wird. Er siebt alles mit den Händen durch. Größere Brocken wirft er hinter sich ins Wasser. Der Autolärm ist hier nicht zu hören, wird überlagert vom Rauschen des Flusses. Angela setzt sich auf einen großen Stein, Lisa auf einen anderen daneben, ihre Füße in Turnschuhen dicht am Wasser. »Virgilio ist praktisch immer hier. Er hat vieles mit dem Zauberer gemein: Genau wie er ist er ein Meister seines Fachs und ein Frauennarr. Er kennt den Tiber bis auf den Grund, und er arbeitet mit Schaufel und Sieb im Fluß wie ein Goldwäscher. Er findet blindlings die Steine, auf denen er stehen kann. Da drüben«, sagt sie und zeigt auf eine Stelle rechts von der Insel, »liegt zum Beispiel ein großer Marmorblock mit einem Delphin darauf.« 142
»Und der wird nicht herausgeholt?« fragt Lisa, während ihr Blick an den Fenstern des Krankenhauses entlangwandert. Für Heleen hatte man sofort ein freies Bett gehabt. Kein gutes Zeichen. »Nein, der Block ist viel zu groß«, beantwortet Angela ihre Frage. »Die Archäologen wissen davon, aber es ist viel zu teuer, ihn zu bergen, und außerdem platzen die Museen sowieso schon aus allen Nähten.« »Findet man hier auch etwas von den Etruskern?« fragt Lisa. »Nein, nicht besonders viel. Virgilio weiß aber, wo der etruskische Friedhof liegt. Die Archäologen versuchen, ihn auszuquetschen, aber er verrät es ihnen nicht.« Sie schweigt einen Moment und fährt dann fort: »Er liegt weiter flußabwärts, unter Wasser. Hier findet man viele römische Gegenstände aus der Zeit der Republik und aus der Kaiserzeit. Vor allem viele Münzen. Man kann anhand ihrer Prägungen verfolgen, wie die antiken Götter allmählich von christlichen Heiligen verdrängt wurden. Ich persönlich mag die Götter lieber, die sind menschlicher.« Virgilio könne sich hundertprozentig auf seinen Tastsinn verlassen, erzählt sie. Mit den Fingerspitzen fühle er, welcher Kaiser auf einer Münze abgebildet sei, Vespasian, Cäsar, Tiberius, Claudius, Augustus oder Nero. Alle seien übrigens verrückt nach Nero. »Dabei war er doch nicht gerade sympathisch«, meint Lisa. »Nein, aber er sah gut aus, und die Tibersucher sind Ästheten«, erwidert Angela. »Er hatte langes Haar. Ich besitze ein paar Münzen mit Abbildungen von Nero. Eine von ihm als junger Mann, wie er als Frau verkleidet 143
Zither spielt, und eine, auf der er schon älter ist. Man findet hier aber auch Knöpfe aus dem Mittelalter, Medaillons aus dem Rom der Päpste und Schmuck aus den zwanziger Jahren.« Wie sehr würden Heleen diese Geschichten gefallen. Vielleicht war das sogar ein Thema für einen Zeitungsartikel. Hoffentlich wird sie noch viele Artikel schreiben. Angela hebt einen dicken schwarzen Stein auf und schlägt ihn gegen einen anderen, bis er in der Mitte durchbricht. »Das hier sind versteinerte Stücke Abfall«, erklärt sie Lisa. »Da stecken verschiedene Metalle drin, zum Beispiel Eisen und Blei. Wenn man sie zerschlägt, kann man manchmal sehr gut erhaltene Münzen finden.« Auch Lisa sucht mit den Händen im Schlamm, aber nur kurz. Sie empfindet plötzlich eine leichte unerklärliche Abwehr dagegen. »Ist der Vorrat denn unerschöpflich?« fragt sie. »Nein, heutzutage findet man schon weniger. Früher haben die Leute hier die Münzen säckeweise weggeschleppt. Oft haben Gruppen von Japanern von der Brücke aus zugeschaut und sind regelrecht in Ekstase geraten, wenn sie die Gegenstände gesehen haben. Sie haben sofort bar bezahlt, sogar für einfache Tonscherben. Aber heute spielen die Zwischenhändler eine zu große Rolle. Sie nutzen die finanzielle Not aus, unter der die meisten fiumaroli leiden, indem sie ihnen nur wenig bezahlen und selbst die Stücke für ein Heidengeld weiterverkaufen. Die fiumaroli versuchen zwar, ihre Funde in Eigenregie an den Mann zu bringen, haben aber nicht die nötigen Beziehungen. Sie müssen froh sein, wenn sie mit dem, was man ihnen zahlt, wieder ein paar Tage über die Runden kommen.« 144
Virgilio kommt zu ihnen herüber, ein großer, magerer Mann in den Sechzigern. Sein Gesicht erinnert mit seinen scharfen Zügen an Julius Cäsar, und auch seine Augen haben denselben Sperberblick wie der römische Herrscher, aber sein Lächeln ist sanftmütig und nicht das eines Mannes, der sich rühmte, eine Millionen Gallier umgebracht zu haben. Es ist doch seltsam, denkt Lisa bei sich, daß man seinen Lateinunterricht mit den Texten eines solchen Mörders beginnen muß. Bevor er seine Hand ausstreckt, wischt Virgilio sie erst gründlich an seiner alten Jeans ab. Er sagt zu Lisa: »Angela hat mir schon viel von dir erzählt.« Er spricht mit einem starken römischen Dialekt, mit einem »r«, das sich überall dazwischendrängt. Lisa fragt ihn, ob er heute schon viel gefunden habe. Nein, nur ein paar Bronzeringe, antwortet er. Gleichgültig zeigt er sie ihr. Angela legt Lisa einen der kleinen Ringe in die Hand und erklärt, es seien Haarspangen für geflochtene Zöpfe gewesen. Lisa betrachtet den Ring und sieht im Geiste die Zöpfe der Frauen auf den Malereien vor sich. Dieser kleine Gegenstand, der gerade aus dem Schlamm gefischt wurde, bringt ihr die eine, reale römische Frau, die diesen Ring einst in ihren Haaren trug, plötzlich ganz nahe. Nach dieser Frau hat ihn vielleicht niemals mehr jemand in der Hand gehabt. In den letzten Jahren war Lisa immer mit Heleen zusammen zum Friseur gegangen. Es gehörte zu ihren selbstverständlichen, vertrauten kleinen Unternehmungen. Es war auch selbstverständlich für sie, Heleen um Rat zu fragen, wie sie ihr Haar frisieren lassen sollte, ob es schon geschnitten werden mußte oder nicht, ob sie es 145
offen oder hochgesteckt tragen sollte, glatt oder lockig, und Heleen nahm diese Frage immer sehr ernst. Lisa darf die kleinen Ringe behalten. »Wirklich?« fragt sie. »Virgilio sammelt nur Gold und Glas«, erklärt Angela und fordert ihn auf, Lisa einmal sein Lieblingsstück zu zeigen. Er trägt eine Goldkette um den Hals, an dem ein glänzender goldener Ring aus der Kaiserzeit baumelt, den er Lisa hinhält. »Kannst du erkennen, was darauf ist?« fragt Angela. Lisa kneift die Augen zu Schlitzen zusammen und schaut genau hin. »Ein Phallus«, stellt sie lachend fest. »Der bringt Glück«, meint Virgilio stolz. Angela war dabei gewesen, als er den Ring fand. Er hatte ihr gesagt, sie dürfe ihn nur ansehen, wenn sie erst die Augen schließe und ihn küsse. »Das sind doch alles Erotomanen hier«, stellt Angela lachend fest, »genau wie die alten Römer und die Etrusker. Er hat mir übrigens auch etwas sehr Schönes geschenkt, das er gestern gefunden hat.« Sie sucht in ihrer Hosentasche, holt ein kleines rundes Stück Glas hervor und gibt es Lisa. »Schau es dir einmal gut an.« Lisa betrachtet das Objekt, das kleiner ist als ein Pfennig. »Darf ich mal deine Lupe haben?« fragt Angela und streckt Virgilio die Hand entgegen. Lisa schaut durch die Lupe und erblickt zu ihrer Überraschung einen vollständig ausgearbeiteten Männerkopf mit langem Haar und lockigem Bart. »Das ist der Tibergott«, erklärt Angela. »Die Römer waren Meister in so etwas.« 146
»Ich mache Angela viele Geschenke«, sagt Virgilio. »Rate mal, warum?« »Weil du sie gern hast, nehme ich an«, antwortet Lisa. »Ja, ich habe sie gern. Sie ist eine tolle Kameradin.« »Gestern haben sie ihn geschnappt«, berichtet Angela, als Virgilio wieder zurück bei seinem Eimer ist. »Und, was ist passiert?« fragt Lisa. »Ach, er hat zu hören bekommen, daß er nicht mehr hierherkommen darf. Offiziell muß er ein Bußgeld zahlen, und es wird eine Gerichtsverhandlung geben. Aber das ist nur eine lächerliche Formalität; die Polizei weiß ganz genau, daß wir unverbesserlich sind. Es ist eine Sucht.« Lisa schaut auf die Uhr und meint: »Ich muß jetzt gehen.« »Ich möchte deiner Freundin gern etwas schenken. Komm mal mit.« Angela bedeutet ihr, ihr zu den jungen Eichen am Ufer zu folgen. Dort liegt eine Tasche versteckt im hohen Gras. Angela holt etwas heraus und streckt ihre flache Hand aus, auf der ein winziges Terrakotta-Töpfchen steht. »Wie schön!« ruft Lisa. »Was ist denn das?« »Es ist eine kleine Öllampe«, erklärt Angela. »Wie alt ist sie denn?« »Sie stammt so ungefähr aus der Zeit um Christi Geburt. Ich habe sie hier in der Nähe gefunden. Öllampen findet man oft, aber meistens sind sie stark beschädigt, und solche kleinen wie diese hier sind sehr selten.« Lisa nimmt das Lämpchen und dreht es zwischen ihren Fingern hin und her. »Warte mal, scusa«, sagt Angela und stellt es auf einen 147
Stein. Sie holt ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche und faltet es auseinander. »Das ist ein Docht«, sagt sie, nimmt ein kleines Stück Schnur aus dem Taschentuch, wühlt wieder in ihrer Tasche und holt ein Fläschchen Öl heraus. »Kann man es wirklich anzünden?« fragt Lisa. »Natürlich, dafür ist es schließlich da. Es wird zum erstenmal nach zweitausend Jahren wieder brennen.« »Ach, das wird ihr aber gefallen!« sagt Lisa. »Ich zünde es jetzt noch nicht an«, meint Angela. »Es ist schöner, wenn Heleen es selbst tut. Oder du, wenn sie dabei ist.« Sie wickelt die Lampe in das Papiertaschentuch und reicht sie Lisa zusammen mit dem Ölfläschchen. »Ich bleibe noch ein paar Stunden hier«, sagt sie. »Halt die Ohren steif.« Lisa steigt die Treppe wieder hinauf, läßt das Rauschen des Wassers hinter sich und geht über die alte Brücke hinüber zur Insel. Das Krankenhaus ist altmodisch; es hat noch viel von einem mittelalterlichen Spital. Am Empfang erkundigt sie sich, in welchem Zimmer Heleen liegt. Sie überquert einen Innenhof mit einem kleinen Teich und einem Springbrunnen. Über dem Teich hängt eine Marienfigur mit einem Kranz aus Lämpchen um den Kopf. Auf den Bänken sitzen Kranke mit Freunden oder Verwandten. Kurze Zeit später steht Lisa vor der Tür des Zimmers, zu dem man sie geschickt hat. Sie ist angespannt. Sie klopft. »Ja«, hört sie zwei Stimmen rufen. Eine davon ist die von Heleen. 148
Heleen sitzt aufrecht im Bett und liest in den Erzählungen von Dorothy Parker. Früher hatten sie sich manchmal vorgestellt, wie es wäre, wenn sie später wie diese Autorin als exzentrische alte Damen in einem verfallenen New Yorker Hotel enden würden. Heleens Augen strahlen in ihrem bleichen Gesicht, als sie Lisa sieht. Ihre Lippen sind knallrot geschminkt. Neben ihr liegt eine alte Frau, bei der ein Mann um die Vierzig zu Besuch ist. Die Frau mustert Lisa mit forschenden Blicken. Lisa küßt Heleen auf beide Wangen, holt einen Stuhl, der an einem Tisch steht, und schiebt ihn neben das Bett. Das Fenster ist geöffnet. Unten strömt der Fluß vorbei. Drüben am anderen Ufer muß Angela bei ihrer Suche sein. »Du hast dir ja mal wieder eine schöne Umgebung ausgesucht«, meint Lisa. »Ja, ich habe fast das Gefühl, in einem Film mitzuspielen. Aber leider gefällt mir meine Rolle nicht besonders.« »Hast du schon was gehört?« »Sie glauben, daß es Krebs ist«, antwortet Heleen ruhig. »Allmächtiger Gott.« Lisa hat das Gefühl, als würde ihr plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. »Auf beiden Lungenflügeln.« Lisa kämpft mit den Tränen. Also doch. »Sie haben keine Metastasen gefunden. Aber das muß natürlich nicht viel heißen.« Heleen sitzt ganz gelassen im Bett, fast unnatürlich ruhig. »Ich kann es einfach nicht glauben«, stammelt Lisa. »Ich auch nicht. Es ist bizarr.« »Und jetzt? Was sagen denn die Ärzte?« 149
»Sie wollen mich so bald wie möglich operieren, aber ich will erst in die Niederlande fahren, um noch weitere Spezialisten zu Rate zu ziehen.« »Was für eine Prognose stellen sie?« »Eine Prognose können sie erst nach der Operation abgeben. Wenn ich aber wirklich unters Messer muß, lasse ich mich in den Niederlanden operieren. Hier ist es mir zu antik.« »Es heißt aber schon, daß das hier ein gutes Krankenhaus ist.« »Ich möchte aber trotzdem gern in die Niederlande. Meine Freunde in Den Haag suchen für mich das beste Krankenhaus aus.« »Ich gehe mit dir.« »Das brauchst du nicht. Pietro wird mich begleiten. Und vielleicht bin ich ja auch schon bald wieder da. Ich habe keine Lust dazu, mich irgendwelchen Therapien zu unterziehen, nur um mein Leben um ein paar Monate zu verlängern«, sagt sie nüchtern. Lisa spürt einen Stich. Sie spricht von Monaten! »Du siehst so gut aus«, sagt sie. »Mir geht es jetzt auch gut, nur der Rücken tut mir immer noch ein bißchen weh. Hin und wieder. Ich befürchte das Schlimmste, Lisa.« »Nichts da. Du wirst wieder gesund, ganz bestimmt. Was soll ich denn hier ohne dich?« »Tja, es wird schon ziemlich einsam für dich werden. Aber wie geht’s dir denn eigentlich, wie war’s bei den Etruskern? Ich finde es wirklich lieb von dir, daß du extra meinetwegen zurückgekommen bist.« »Ach, so ein Quatsch.« Es trifft Lisa, daß sich Heleen sogar jetzt noch nach ihrem Wohlergehen erkundigt. 150
»Aber du mußt deine Reise fortsetzen. Wenn ich in die Niederlande fliege, fährst du nach Sovana. Du mußt jetzt endlich einmal mit seinen Eltern sprechen.« »Aber mir steht der Sinn gar nicht mehr danach.« »Ach, Quatsch, du mußt jetzt weitermachen.« »Vielleicht hast du recht. Ich hatte vor, unterwegs bei den warmen Quellen von Saturnia Station zu machen, von denen Lorenzo so oft erzählt hat. Vielleicht können wir mal zusammen hinfahren, wenn du wieder zurück bist. Saturnia muß ein sehr schöner Kurort sein.« Lisa muß Heleen von ihren Begegnungen und Ausflügen erzählen, und von Angela, ihrer Führerin. Angesichts ihres Zustands empfindet sie dabei Schuldgefühle. »Ich habe sie eben noch getroffen. Sie sucht gerade hier am Tiber nach antiken Objekten und hat mir ein sehr hübsches Geschenk für dich mitgegeben.« »So, der ist wieder weg«, mischt sich Heleens Bettnachbarin munter ins Gespräch ein, nachdem ihr Besucher die Tür hinter sich zugezogen hat. Heleens Augen funkeln vor Vergnügen. »Diese Frau ist total verrückt«, sagt sie auf niederländisch. »Das war ihr Sohn.« »Das war Ihr Sohn, wie ich höre«, sagt Lisa zu der Frau. »Ja, richtig«, antwortet sie in bedauerndem Tonfall. »Er wohnt bei mir zu Hause, macht aber nie auch nur einen Finger krumm. Er findet, es sei die normalste Sache der Welt, daß ich alles für ihn tue, für ihn koche, abwasche, aufräume und seine Hemden bügle. Dreimal am Tag zieht er ein frisches an.« »Sie verwöhnen ihn wohl zu sehr«, meint Lisa. »Ja, das stimmt. Das hat meine Schwiegertochter auch 151
gesagt, und die hat irgendwann genug davon gehabt. Jetzt hockt er wieder bei mir. Ich hatte noch einen zweiten Sohn, aber der ist mit drei Jahren gestorben. Der war ganz anders.« »Ja, ja, manchmal hat man wirklich Pech«, meint Heleen leise, und die beiden jungen Frauen tun ihr Bestes, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Dann faltet Heleen das Papiertaschentuch von Angela auseinander. »Wie schön!« ruft sie. »Hat sie das gefunden?« »Ja, hier unten beim Krankenhaus. Es ist ein Lämpchen. Schau.« Lisa stellt es auf das Nachtschränkchen, drückt den Docht in die kleinere Öffnung und gießt Ol in die größere. Dann hält sie ein Streichholz an den Docht, und sofort flackert eine zierliche Flamme über dem kleinen Terrakotta-Topf. Sie betrachten sie, ohne ein Wort zu sagen. »Was für ein außergewöhnliches Geschenk«, sagt Heleen. »Bitte richte Angela aus, daß ich mich ganz herzlich dafür bedanke.« »Wahrscheinlich stammt es aus dem Äskulap-Tempel. Heute brennt es zum erstenmal nach zweitausend Jahren.« Wieder schauen sie schweigend die Flamme an. Es klopft an der Tür, und Pietro kommt herein, einen großen Strauß roter Rosen in der Hand. Er drückt Heleen lange an sich. Dann küßt er Lisa auf beide Wangen und stellt die Blumen in eine Vase. »Er sorgt so gut für mich«, sagt Heleen. Lisa sieht es und ist froh darüber. Vielleicht hat sie sich doch in ihm getäuscht. Als Pietro bei ihnen eingezogen war, hatte es zum ers152
tenmal Streit zwischen Lisa und Heleen gegeben. Heleen hatte versprochen, er werde nicht lange bleiben. Seine Wohnung sei ihm gekündigt worden, und sie könne ihn doch nicht auf der Straße stehenlassen. Doch Pietro unternahm keinerlei Versuche, eine andere Bleibe zu finden, und breitete sich allmählich in der ganzen Wohnung aus. Er saß in Lisas Zimmer, wenn sie aus dem Atelier nach Hause kam, lag stundenlang in der Badewanne und hielt Predigten, die keiner hören wollte. Außerdem hatte Lisa den Eindruck, daß er Heleen nicht wirklich liebte, sondern sie nur ausnutzte. Es hatte sie gestört, daß Heleen sich wie ein naiver Backfisch alles von ihm gefallen ließ. Er würde schon wieder ausziehen, hatte Heleen ihr mit abwesendem Blick versichert, aber gar nichts änderte sich, und so hatte Lisa schließlich ihre Sachen gepackt und war in ihr jetziges Appartement im Stadtzentrum gezogen. Der Streit war jedoch schnell wieder beigelegt. Heleen hatte zu ihr gesagt: »Laß uns bald wieder Freundinnen sein, denn ich werde dich mit Sicherheit noch länger kennen als ihn.« Als Heleen einige Zeit später selbst aus der Wohnung ausziehen mußte, weil sie verkauft wurde, hatte Pietro sich aus dem Staub gemacht. Inzwischen war er wieder zurück, in Heleens neuer Bleibe, einem Penthouse auf dem Dach eines alten Patriziergebäudes. Pietro kommt wieder ins Zimmer, mit einer Vase, in der sorgfältig arrangiert die Rosen stehen. Er stellt sie auf das Nachtschränkchen, nimmt Heleens Hand und drückt sie an seine Lippen. Diese ostentativen Liebesbekundungen hatten Lisa bis vor kurzem irritiert, weil sie ihr oberflächlich erschienen, aber jetzt spürt sie keinen Ärger darüber und ist froh, daß Heleen so verwöhnt wird. 153
Sie beschließt, die beiden allein zu lassen. »Ich rufe dich heute abend an«, sagt sie und umarmt Heleen, die so vertraut nach »Dolce Vita« von Dior duftet. Dieses Parfüm hatte Lisa einmal geschenkt bekommen, aber es paßte besser zu Heleen und war einer ihrer Lieblingsdüfte geworden. Es war der Geruch, der in ihrem gemeinsamen Badezimmer gehangen hatte, in ihrer Wohnung, es war der Duft der Aufregung vor bestimmten Treffen, Interviews, dem abendlichen Ausgehen. Kurz darauf geht Lisa wieder durch die Flure des Krankenhauses, allein, verwirrt, ängstlich. Es kann nicht wahr sein – erst Lorenzo und jetzt Heleen. Solche Dinge geschehen doch nur in klassischen Tragödien. Sie fühlt sich wie eine Schauspielerin, die auf einer riesigen Bühne allein gelassen wurde. Das Lämpchen geht von selbst aus, wenn das Ol verbraucht ist, denkt sie, als sie wieder draußen steht. »Wie war’s?« fragt Angela vorsichtig. »Ach, was soll ich sagen? Es sieht nicht gut aus«, antwortet Lisa. »Komm, wir setzen uns einen Moment«, schlägt Angela vor und zeigt auf ein paar große Steine. Lisa berichtet, was Heleen ihr erzählt hat. »Sie ist ganz ruhig, wirklich unglaublich. Aber sie ist schon immer ziemlich nüchtern gewesen«, sagt sie. Angela schaut sie ernst an, und Lisa ist froh, daß sie da ist. »Das alles kommt mir so eigenartig vor. Über Heleen habe ich Lorenzo kennengelernt, und die beiden waren für mich die wichtigsten Menschen hier in Rom.« 154
»Aber Heleen ist doch noch da«, gibt Angela zu bedenken. Lisa erschrickt darüber, daß sie in der Vergangenheitsform von ihr gesprochen hat. »Du darfst nicht gleich das Schlimmste vermuten«, meint Angela. »Die Behandlungsmöglichkeiten sind heutzutage schon so weit fortgeschritten.« »Ja, das stimmt.« Sie blicken schweigend ins Wasser. »Ich habe das selbst erlebt«, sagt Angela, »eine solche Aneinanderreihung von Todesfällen. Nicht lange nach meinem Vater starb die Mutter von Antero. Ich habe eine Zeitlang bei ihr gewohnt, und sie war für mich so etwas wie eine zweite Mutter geworden. Nach ihr verstarb eine gute Freundin von mir, und ich habe bei ihnen allen im Moment ihres Todes am Sterbebett gesessen. Das hat mich sehr mitgenommen. Es war, als müsse ich sie begleiten, als sei ich eine Art Charun.« »Meinst du etwa, es sei kein Zufall gewesen und es sei vielleicht daher gekommen, weil du mit der Unterwelt so vertraut bist?« fragt Lisa. »Ja, das stimmt, ich gehe dort ein und aus. Die Menschen fühlen sich sicher bei mir, sie spüren, daß ich keine Angst habe. Aber für mich ist es sehr schwer.« »Als meine Großmutter starb, saß ich an ihrem Bett, auf dem Stuhl meines verstorbenen Großvaters. Plötzlich merkte ich, daß sie anfing, langsamer zu atmen. Ich nahm ihre schöne schlanke Hand in meine und streichelte ihr über den Kopf. Ein letzter Atemzug, und dann war Stille.« Damals hatte Lisa erfahren, daß der Tod wesentlich stiller ist als der Schlaf. Im Geiste sieht Lisa wieder den Sarg vor sich, der mit 155
roten Rosen bedeckt ist. Ein strahlender Herbsttag. Die Pastorin am Grab. Es hatte etwas Tröstliches. Eine Frau hatte ihrer Großmutter das Leben geschenkt, und eine andere Frau übergab sie nun wieder dem Schoß der Erde. Ein Bestattungsritual, das schon die Menschen der Urzeit praktizierten, mit dem einzigen Unterschied, daß man damals die Verstorbenen in Fötushaltung beisetzte. Virgilio kommt auf sie zu und sagt etwas Unverständliches. »Wir müssen hier weg«, sagt Angela. »Die Polizei.« Quälend langsam räumen sie ihre Sachen zusammen. Vom anderen Ufer, von der Insel her, erklingt Gebell. »Das ist Tiber, der Polizeihund«, sagt Angela. Lisa zeigt auf die Gegenstände, die am Ufer auf großen Steinen liegen: der Griff einer Amphore, ein Stück von einer Schale. »So machen wir das mit den Sachen, die wir nicht mitnehmen«, sagt Angela. »Um die Bullen zu ärgern«, erklärt Virgilio, der sich nun von ihnen verabschiedet. Er geht nach Hause, während sie noch ein wenig am Wasser entlang spazieren wollen. »Virgilio und Antero haben zusammen im Gefängnis gesessen«, erzählt Angela. »Beide waren dort von ganzen Bücherstapeln umgeben. Sie können sich nicht leiden und lagen sich andauernd in den Haaren. Sie stritten darüber, wer eine wichtigere Rolle spielte, die Etrusker oder die Römer, und wer Rom gegründet hat.« Sie gehen den Uferkai entlang. Der Verkehrslärm dringt nicht bis hierher durch, und man vergißt die Stadt, die moderne Stadt. Hier existiert noch das alte Rom, das Rom der Könige und Kaiser, der Pferderennen und Gladiatorenkämpfe. Sie kommen an der riesigen runden Öffnung der Clo156
aca Maxima vorbei, der Kanalisation, die einst vom etruskischen König Servius Tullius angelegt wurde. Sträucher wachsen darin, und dahinter hängen Kleidungsstücke auf einer Wäscheleine. »Ich glaube, da wohnen Bosnier. Ein Stückchen weiter leben Albaner und Tunesier. Sie haben sich dort ihre Hütten gebaut. Früher ist Virgilio gelegentlich in die Cloaca hineingegangen. Man konnte unter der ganzen Stadt hindurchlaufen, bis zum Kolosseum. Heute ist sie an vielen Stellen verschlammt und außerdem total von Ratten verseucht. Sie müßte unbedingt gereinigt und restauriert werden. Wenn es regnet, reißen durch das verstopfte Abflußsystem an vielen Stellen in der Stadt die Straßen auf, weil das Wasser sich irgendwann selbst einen Weg bahnt.« Mit schöner Regelmäßigkeit verschwinden Autos in den Eingeweiden Roms wie Schmeißfliegen in einem verfaulten Pfirsich. Sie gehen weiter. »Hier wachsen junge Kastanien. Sie bieten Deckung gegen die Blicke der Polizei. Scusa, nur ganz kurz.« Angela klettert an den Zweigen eines Baums nach unten und beginnt mit einem Stöckchen und den Händen zu graben. Lisa blickt hinüber zum Krankenhaus, das idyllisch zwischen den Palmen liegt. Hoffentlich wird alles gut. Heleen hatte sie oft mit ihrem starken Willen beeindruckt, etwas aus ihrem Leben zu machen, doch gleichzeitig hatte sie sich immer wieder selbst in schwierige Situationen hineinmanövriert. Ihre Männer waren einer wie der andere einfach eine Katastrophe gewesen. Einer ihrer früheren Freunde aus Den Haag rief beispielsweise regelmäßig nachts um vier 157
bei ihnen an und fand das völlig normal. Zwischen zwei Pietro-Phasen hatte sie eine Weile mit einem neuen Angebeteten in Trastevere gewohnt, der gleich seinen siebzehnjährigen Sohn mitgebracht hatte. Heleen hatte sich ins häßlichste Zimmer abschieben lassen, dabei aber den größten Teil der Miete bezahlt. Ihr Freund hatte keine Arbeit, aber erst als Heleen einmal ein dickes Bündel Banknoten in seiner Jackentasche fand, hatte sie begriffen, daß sie mit ihm Schluß machen mußte. Aber natürlich hatte sie das erst getan, als Pietro wieder auf der Bildfläche erschienen war. Der Job als Journalistin war eigentlich auch nichts für Heleen. Politik und Wirtschaft ließen sie kalt, und die italienische Sprache hatte sie auch noch nicht ganz ergründet. Lisa mußte ihr regelmäßig beim Entziffern von italienischen Zeitungsartikeln helfen. Von Interviews mit Künstlern, Architekten, Autoren oder Regisseuren war Heleen dagegen jedesmal begeistert und zufrieden nach Hause gekommen. Darin war sie gut, dafür konnte sie sich erwärmen, und wahrscheinlich gewann sie diese Menschen mit ihrem warmen Lachen, ihren leuchtenden Augen und ihrer aufrichtigen Neugier schnell für sich. Über solche Begegnungen verstand sie immer ausdrucksvolle Artikel zu verfassen. Durch den Schleier von Lisas Tränen scheint die Insel auf und ab zu schaukeln wie das Schiff des Äskulap. Ob sie fest genug verankert war? Viele der Dinge, die auf dem Grund des Tibers lagen, stammten aus gesunkenen Schiffen, hatte Angela erzählt. Vielleicht werden einstmals Fische durch den heutigen Operationssaal schwimmen und wird sich die Madonnenfigur bald auf dem Grund neben der Artemis-Statue wiederfinden. 158
Angela klettert wieder hoch, und sie wandern weiter am Ufer entlang. »He, da ist ja Attilio«, sagt Angela und ruft ihn. Ein Mann, der bis zu den Knöcheln im Wasser steht, schaut von seiner Tätigkeit auf, stellt seinen Eimer ab und kommt auf sie zu. Etwas schüchtern drückt er Angela die Hand. Er scheint nicht viel älter als dreißig zu sein, aber sein Gesicht ist ausgezehrt, und ihm fehlen zwei Zähne. Angela fragt ihn, ob es ein lohnender Tag war. Unter seinem Hemd holt er eine Tasche hervor und nimmt einige Münzen aus den Innenfächern. Manche Geldstücke sind recht abgenutzt, aber eines ist sehr gut erhalten: Pallas Athene, an eine Säule gelehnt, ihren Helm in der Hand. Lisa schaut sich die Münze andächtig an. Attilio erwartet, daß bald goldene Zeiten anbrechen. Es gibt Pläne, den Tiber wieder schiffbar zu machen, wegen der Flut der Touristen, die für das Jahr 2000 erwartet werden, und wenn sie hier mit dem Ausbaggern anfangen, wird dabei eine ganze Menge an die Oberfläche kommen. »Schon wenn der Drache vorbeigekommen ist, findet man schließlich sehr viel mehr als sonst«, sagt er. Das Schiff mit dem Greifer, das alle paar Monate den Fluß reinige, werde »der Drache« genannt, erklärt Angela. Später, als sie sich ein Stück weiter entfernt ans Ufer setzen, kommt Angela noch einmal auf Attilio zu sprechen. »Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagt sie. »Der Tiber kann gefährlich werden, wenn man darüber die Außenwelt völlig vergißt. Ich habe schon Menschen daran zugrunde gehen sehen. Attilio ist ein intelligenter Junge, er hätte einen ganz normalen Job kriegen können, doch er steht ganz und gar im Bann des Flusses. Er sucht aber 159
nur wegen des Geldes, und zwar auf Kosten der Liebe zu den Fundstücken. Durch so was werden die Leute plötzlich hinterhältig, denn der Neid schleicht sich ein. Die schöne Münze, die er dir gezeigt hat, war beispielsweise eine Fälschung.« »Wie bitte?!« »Ja, allerdings aus antiker Bronze hergestellt. Auf Attilio hat der Tiber jedenfalls keinen guten Einfluß. Und übrigens ist es auch gefährlich, zu oft zur Nekropole zu gehen. Man fängt mit der Zeit an zu denken wie die Etrusker: Wir blasen die Grabung ab, weil das Vogelgezwitscher Unheil verkündet – auf solche Ideen kommt man dann.« »Ja, und dann fällt es schwer, in der Welt von heute zu funktionieren.« »Ach, das finde ich sowieso schwierig.« »Was wollte Attilio denn mit der falschen Münze?« fragt Lisa. »Er hätte sie dir gern verkauft, aber ich war ja bei dir, und er weiß, daß er bei mir damit nicht durchkommt. Er ist auf die schiefe Bahn geraten. Er hat kein Ehrgefühl, im Gegensatz zu Virgilio zum Beispiel.« Sie hören ein Platschen im Wasser. »Was war das?« fragt Lisa. »Ein Karpfen. Man sieht sie oft aus dem Wasser springen. Hier wird viel geangelt. Die Angler lassen die Fische ein paar Tage lang in der Badewanne herumschwimmen, um sie zu reinigen. Aber ich würde sie trotzdem nicht gern meinen Gästen vorsetzen.« Lisa hatte früher nicht die geringste Ahnung von dem Leben gehabt, das sich hier, zwanzig Meter unterhalb der Verkehrsstaus, abspielt. 160
»Du kannst den Fluß übrigens auch um bestimmte Dinge bitten, und wenn du sie verdient hast, gibt er sie dir. Aber wenn man es vermasselt, findet man eine ganze Weile lang immer dieselben Gegenstände. Ich habe beispielsweise eine Zeitlang ständig Münzen mit Antonius Pius darauf gefunden«, erzählt Angela und verzieht dabei das Gesicht. »Es war zum Verrücktwerden!« Lisa schaut wieder hinüber zur Insel mit dem Krankenhaus. Bitte laß es bei einem Toten bewenden! »Oder die Wölfin mit den Zwillingen. Die ist mir auch egal, die habe ich verschenkt. Wenn ich doch nur einmal eine Wölfin ohne Zwillinge finden würde!« sagt Angela. »Warum denn?« fragt Lisa. »Weil die Zwillinge erst später erfunden wurden. Das Bild von der Wölfin ist etruskischen Ursprungs. Die Römer haben später Romulus und Remus daruntergesetzt und so die Geschichte verfälscht. Es ist wirklich schlimm, einfach alles ist gefälscht worden. Erst von den Römern, dann von der Kirche. Es gibt Gräber, die der Öffentlichkeit vorenthalten werden, weil sie die frommen Seelen zum Nachdenken bringen könnten. Zahlreiche Bilder und christliche Symbole gab es bereits bei den Etruskern. Angeblich existiert sogar ein Bild, das einen Mann mit Brot und Fischen zeigt. Ich würde es noch nicht einmal ausschließen, daß die Tyrrhenika im Geheimarchiv des Vatikans versteckt liegt, du weißt schon, die Bücher von Kaiser Claudius über die Etrusker. Zwanzig Bände, von denen nie eine Zeile gefunden wurde.« Angela sucht in ihrer Hosentasche. »Ich hab’ was für dich.« Sie hält etwas zwischen Daumen und Zeigefinger und legt es in Lisas Hand. Eine Münze, etwa so groß wie ein 161
Pfennig, mit einem Frauenporträt. Lisa dreht sie um und betrachtet sie eingehend. Auf der Rückseite sind zwei stilisierte Pferde mit Wagen zu sehen. »Sie ist wunderschön. Aus welcher Zeit stammt sie?« fragt sie. »Aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Es ist eine Eintrittsmarke für die Pferderennen, wahrscheinlich für den Circus Maximus. Siehst du, es ist ein Zweispänner mit einem Mann darauf, und auf der anderen Seite Fortuna mit dem Füllhorn. Sie ist aus Blei. Ich habe sie von Virgilio bekommen, als ich gerade anfing. Sie hat eine symbolische Bedeutung, du wünschst damit einem anderen alles Gute. Die meisten Männer standen mir anfangs recht feindselig gegenüber, sie wollten hier keine Frauen haben. Aber jetzt werde ich von allen akzeptiert. Neulich hat mir Virgilio einen blauen Edelstein mit Neptun darauf geschenkt. Ich war schon lange auf der Suche nach einem blauen Stein. Er ist ein wenig beschädigt, der Fuß von Neptun ist weg, aber die Abbildung ist sehr deutlich.« »Wie nett von Virgilio.« »Ja, er ist sehr nett. Die meisten Leute am Tiber sind nett. Sie schenken sich oft gegenseitig Dinge. Es ist unsinnig, sich an Gegenstände zu binden. Hier lernt man, daß alles weitergegeben wird. Auch das Leben.«
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Der Nebel verdichtet sich, als würden sie bereits durch die Schwefeldämpfe der warmen Quellen fahren. Die Landschaft wird unwirklicher, je mehr sie sich dem Ort nähern, an dem Lorenzo geboren wurde. Die Maremmen hatten schon immer Lisas Phantasie angeregt, diese rauhe Gegend mit ihren Wildpferden, dieser Streifen Land am Tyrrhenischen Meer, der jahrhundertelang von Malaria heimgesucht worden war. Dies soll angeblich der Landstrich sein, den Dante als »Wald der Selbstmörder« bezeichnet hat. Sie fahren in Richtung Saturnia, wohin Lorenzo sie hatte mitnehmen wollen und wo sie in den warmen Quellen hatten baden wollen. Es sei ein magischer Ort, hatte er gesagt, ein Ort, an dem man einander Geheimnisse anvertraue, von denen man noch nicht einmal selbst etwas wisse. »Es ist ein Ort, an dem man sich erholen und neue Kraft schöpfen kann«, sagt Angela. Sie hatte sofort angeboten, Lisa zu begleiten, und wollte die Gelegenheit nutzen, sich einige Grabanlagen in der Nähe von Sovana anzusehen. Im grauen Nebel erkennt Lisa die hohe Brücke von 163
Vulci, die noch von den Etruskern erbaut wurde. Und dann glaubt sie für den Bruchteil einer Sekunde, Lorenzo darüber gehen zu sehen. Seit seinem Tod passiert ihr das häufig, in Rom und sogar in den Niederlanden, und es ist immer wieder ein Schock für sie. Doch das schlimmste ist, wieder wach zu werden, nachdem sie ihn in ihren Träumen gesehen hat. Manchmal schaut er einfach durch sie hindurch und verschwindet dann im Nichts, wie zum Beispiel das eine Mal, als er sie zusammen mit einer Gruppe anderer Leute durch die Katakomben führte und zu ihr sagte: »Wir reden gleich miteinander«, dann aber in einen Gang hineinging, woraufhin sie erwachte. »Einer von Napoleons Brüdern hat innerhalb von zwei, drei Jahren Zehntausende Objekte aus der Erde geholt«, erzählt der pensionierte Tierarzt, der Lisa und Angela eine Mitfahrgelegenheit bietet. Ein jovialer, kräftiger Kerl. »Wenn es von einem Gegenstand eine Dublette gab, wurde sie kaputtgeschlagen, um nur ein kostbares Einzelstück zurückzubehalten. Wenn dieser Barbar nicht gewesen wäre, wüßten wir wesentlich mehr über die Etrusker.« »Gibt es hier viele tombaroli?« fragt Lisa. »Ja, aber sie sind nicht mehr das, was sie vor ein paar Jahrzehnten noch waren. Früher genossen sie ein gewisses Ansehen, waren belesen und fachkundig.« »Und nun sind sie nur noch gewöhnliche Plünderer, wollen Sie damit sagen?« »Ach, die Sachen verschwinden, aber wenn die Belle Arti hier etwas finden, wird es ja auch gleich weggebracht, nach Florenz oder Orvieto. Sogar das British Museum ist voll von Objekten aus dieser Gegend. Die haben die Engländer am Ende des Krieges den Deutschen abgenom164
men, die während ihres Rückzugs beim Anlegen von Laufgräben alles mögliche fanden, das sie dann als Lohn für ihre Mühen behielten. Na ja, du mußt nicht alles so ernst nehmen, was ich sage. Aber natürlich wäre es besser, die Funde in einem örtlichen Museum unterzubringen. Auf diese Weise bezöge man die Bevölkerung mit ein und könnte sie vielleicht zu etwas mehr Verantwortungsbewußtsein erziehen. Die wahren Verbrecher sind doch die reichen Sammler und die Direktoren einiger ausländischer Museen. Die wissen genau, daß sie gestohlenes Material kaufen, und geben sogar Bestellungen auf.« Lisa erkennt Pferdeköpfe im Nebel zwischen den silbrig glänzenden Olivenbäumen – wie eine Vision, aber sie sind Wirklichkeit. »Die echten Maremmenpferde haben heute noch denselben gedrungenen Körperbau wie die Pferde, die man in den etruskischen Grabanlagen gefunden hat«, erzählt ihr Fahrer. Oft seien die Pferde nach dem Tod ihres Besitzers geopfert worden, möglicherweise aus dem Glauben heraus, daß sie ihre Herren auch im Totenreich weiter befördern müßten. »Und aus den Oliven gewinnt man noch dasselbe hochwertige Öl wie damals. Schon probiert? Früher wurde es auch als Lampenöl verwendet. Ich habe in meinem Leben schon eine ganze Menge Kälber und Fohlen im Schein von Olivenöllampen zur Welt gebracht.« Unwillkürlich muß Lisa an Heleens Öllämpchen denken. Sie hatten es an ihrem letzten Abend in Rom brennen lassen, bei Heleen zu Hause. Am nächsten Tag war sie zusammen mit Pietro in die Niederlande gereist. Sie hatten sehr ernst miteinander gesprochen, aber auch gelacht wie immer. Heleen wollte alles über Lisas Reise wis165
sen und hatte darauf bestanden, daß sie ihre Pilgerfahrt fortsetzen müsse. Sie würde doch merken, wie gut sie ihr täte. Sie solle zu Lorenzos Eltern gehen und versuchen, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, was in jener Nacht genau geschehen war. »Aber das wichtigste ist, daß es dir bald wieder besser geht«, hatte Lisa gesagt. »Ich werde jedenfalls mein Bestes tun, und die Ärzte hoffentlich auch. Aber du brauchst wirklich nicht mitzukommen. Fahr du jetzt erst mal nach Sovana.« Lisa hatte nicht länger darauf bestanden, Heleen zu begleiten, denn dann hätte sie vielleicht gedacht, sie habe schon alle Hoffnung aufgegeben. Im Notfall könnte sie jederzeit das nächste Flugzeug in die Niederlande nehmen. »Du denkst an dein Problem, ich an meines«, hatte Heleen gesagt. »Und wir beide denken aneinander.« Beim Abschied hatte Lisa Heleen fester an sich gedrückt als sonst und sich dabei im stillen gefragt, wie lange sie wohl noch bei ihr sein würde. »Ja, die Etrusker waren ein schönes Volk«, sagt nun der Tierarzt. »Und sehr leidenschaftlich. Ihr Symbol war der Widder. Ein Widder kann in einer einzigen Nacht dreißig Schafe schwängern. Dadurch lammen sie alle gleichzeitig. So eine Geburtenschwemme ist in meinem Beruf eine echte Belastungsprobe.« »Hier können Sie uns rauslassen«, sagt Angela, als sie auf eine ruhige Straße gelangen, die sich zu der kleinen Stadt hinaufwindet. Der Gestank nach faulen Eiern ist mit der Zeit immer stärker geworden; die warmen Quellen können nicht mehr weit sein. 166
Die beiden Frauen bedanken sich bei ihrem Fahrer und nehmen Abschied. Angela kennt eine besondere Route. Sie zeigt Lisa ein Holzschild am Straßenrand, auf dem mit roter Farbe in ungelenken Buchstaben Via Clodia steht. Zur Römerzeit war sie eine große Verkehrsader, die Saturnia direkt mit Rom verband, doch nun ist davon nichts weiter als ein idyllischer Sandweg übriggeblieben, der zwischen Olivenhainen hindurch bergauf führt. Diesen Weg schlagen sie ein. Am verwilderten Straßenrand sind hier und dort Mauerreste erkennbar, und an manchen Stellen schimmern weiße Steine durch den Sand. Offenbar wird der Weg kaum benutzt, und Gras und Unkraut können sich ungehindert ausbreiten. Je höher sie steigen, desto deutlicher erkennt man die alte Römerstraße. Schmetterlinge flattern vor ihnen her, als wollten sie ihnen den Weg zeigen, und zwischen den Steinen, die ein immer dichteres Pflaster bilden, blühen Mohnblumen. Zarte Vergänglichkeit über der verwitterten Straßendecke. Lisa hält den Blick auf ihre Füße gerichtet, mit denen sie die glatten weißen Steine betritt. Neben ihr Angelas Füße, im selben Rhythmus. Virgilio habe einmal einen Brunnen gefunden, hatte Angela ihr erzählt, nicht weit vom Tiber entfernt, der voller Sandalen aus der Römerzeit gewesen war. Er hatte sie zur Porta Portese gebracht, dem römischen Flohmarkt. Darüber war sie sehr böse gewesen, denn Virgilio hatte nur ein paar Lire dafür bekommen, und sie selbst hätte so gern ein Paar dieser Sandalen für sich gehabt. Auch Angela hatte schon mehrmals Reste etruskischer 167
Sandalen gefunden, Grabbeigaben, die auf einer kleinen Bank neben dem Totenbett gestanden hatten. Lisa sieht vor sich, wie die Füße all dieser Menschen ihren Lebensweg entlangschreiten. Sie sieht, wie all die Schuhe auf ihren Bänken warten, bis sie am anderen Ufer des Styx wieder umgebunden werden. Sie sieht Lorenzos Füße und Heleens Füße in den eleganten Schuhen mit flachem Absatz, die sie zusammen gekauft haben. Dann schaut Lisa wieder auf ihre eigenen Füße. Jeder Schritt bringt sie näher zu dem Dorf, in dem Lorenzo geboren wurde. Laufen war für sie schon immer ein gutes Mittel gewesen, sich zu konzentrieren. Manchmal war sie stundenlang durch ihr Atelier gewandert und hatte auf diese Weise Kraft und Energie gesammelt. Nicht umsonst gingen die Menschen seit jeher zu Fuß zu den Pilgerstätten: Gehen machte empfänglich, wie eine Art von Meditation. Hinter einer Wegbiegung erblickt Lisa einen römischen Torbogen, eingerahmt von etruskischen Mauerresten – es ist das Stadttor, durch das man nach Saturnia gelangt. Auf dem letzten, perfekt gepflasterten Stück der Via Clodia, im Schatten von hohen Pinien, betreten sie die kleine Stadt. Mitten auf dem Marktplatz plätschert ein Springbrunnen. Auf den Bänken ringsherum sitzen alte Männer und halten ihr übliches Schwätzchen. Lisa und Angela nehmen ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Sie packen ein paar Dinge aus ihren Rucksäcken aus, um sie ein wenig leichter zu machen, und brechen anschließend sofort zu den Orten auf, die sie besuchen 168
wollen, die warmen Quellen und die Nekropole Il Puntone, deren Gräber steinernen Kartenhäusern ähneln. Im Kiosk, der anscheinend auch als Touristeninformation dient, fragen sie nach dem Weg und kaufen eine Karte vom Maremmengebiet. Der Mann entschuldigt sich dafür, daß die Zeitung von einem Lamm angekaut wurde. Schon steckt das Tier sein weißes Köpfchen wieder durch die Tür, kommt hineingehüpft und fährt, aller Ermahnungen zum Trotz, mit seinem Geknabber fort. In starkem Dialekt erklärt ihnen der Mann, daß sie zu 77 Puntone am schnellsten über die Passi del Diavolo und die Pianura della Fame gelangen, die Fußstapfen des Teufels und die Ebene des Hungers. Die Fußstapfen des Teufels, wie erkennt man die wohl? Alles, was Lisa über ihn weiß, ist, daß er hinter ihr herschleicht, um Menschen von ihr fortzureißen und ihre Welt in ein Schattenreich zu verwandeln. Heleen – noch kann sie sie anrufen, sie sprechen, sie sehen. Die beiden Frauen machen sich auf den Weg. »Heute wird Heleen noch einmal untersucht«, sagt Lisa. »Hat der Arzt schon irgend etwas gesagt?« »Nein, nur, daß die italienischen Röntgenaufnahmen nicht gut genug seien. Heute morgen sollten deshalb neue Aufnahmen gemacht und dazu noch einige Untersuchungen durchgeführt werden. Heute nachmittag hat sie dann wieder ein Gespräch mit dem Arzt.« Eine kleine alte Steinbrücke führt von einem verwilderten Stück Natur zum nächsten. Nirgends eine Spur von Wasser. Eine Ameisenkolonne marschiert über die Brücke wie eine römische Armee. 169
Hinter jeder Ecke erwarten sie, daß Il Puntone auftaucht, aber jedesmal liegt wieder nur ein neues Wegstück vor ihnen. »Das muß es sein«, meint Angela, als sie schließlich am Rand einer Art Zauberwald ankommen, in dem sich die Wurzeln der Bäume seltsam fächerförmig ausbreiten. Im Schatten der Bäume, im hohen Gras, liegen die Gräber, errichtet aus riesigen flachen Steinplatten, ähnlich wie Hünengräber. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Es herrscht Totenstille. Ein Baum wächst aus einem Grab heraus und bildet ein blühendes Dach. Der ursprüngliche Deckstein liegt in Brocken darunter. Angela wandert um das Grab herum. Welche Mühe sich die Menschen beim Bau der Gräber gegeben haben, denkt Lisa und sagt zu Angela: »Ich könnte mir denken, daß die Leute in dieser Arbeit Trost gesucht haben. Man kann es nur schwer verkraften, daß jemand so einfach weg ist, nicht mehr existiert.« »Aber für die Etrusker war ein Friedhof keine letzte Ruhestätte, sondern nur eine Zwischenstation«, erwidert Angela. »Danach ging die Reise weiter.« Lisa betrachtet ein viereckiges Grab in einem runden Hügel. Von der Öffnung aus blickt man gen Westen, in Richtung Abendland. An einem sonnenbeschienenen Fleckchen setzen sie sich ins hohe Gras, trinken Wasser und essen ein Brötchen. Eine Weile lassen sie sich schweigend von der Sonne wärmen. »Möchtest du lieber plötzlich sterben, oder willst du es vorher wissen?« fragt Lisa. »Ich stelle mir manchmal vor, ich fände ein schönes 170
Grab, das dann über mir einstürzen würde. Das wäre unerwartet und vorhersehbar zugleich. Und du?« »Vielleicht möchte ich das Sterben lieber bewußt erleben. Langsam Abschied nehmen. Ich habe keine besonders große Angst vor meinem eigenen Tod, mehr vor dem Tod anderer Menschen.« »Ich habe Angst, Antero könnte sterben. Er geht oft so hohe Risiken ein. Ich weiß genau, wie groß die Gefahr ist, daß er verunglückt. Für ihn wäre es allerdings das schönste Ende, nicht im Bett zu sterben, sondern nachts bei den Gräbern, in seiner eigenen Welt.« »Schau mal, Wasser!« ruft Angela. Auf der Suche nach den warmen Quellen sind sie durch eine Landschaft gewandert, die sich seit der Zeit der Etrusker nicht verändert hat. Sie gehen hinüber zu dem kleinen Bach, der nicht weit vom Weg entfernt fließt, und stecken die Hände hinein. Das Wasser ist kalt. »Lorenzo hatte ein enges Verhältnis zu seinen Eltern«, sagt Lisa. »Ich kann mir vorstellen, daß der Besuch schwierig für dich wird«, antwortet Angela. »Es ist aber trotzdem gut, daß du hingehst. Einerseits für dich selbst, und andererseits glaube ich, daß auch sie es zu schätzen wissen, wenn du kommst. Sovana ist winzig klein, es hat kaum mehr als hundert Einwohner. Dort existiert noch eine richtige Dorfgemeinschaft, die Lorenzos Eltern sicher Halt gibt.« Eine Zeitlang wandern sie weiter, ohne etwas zu sagen. »Lorenzo liegt in Sovana begraben«, bemerkt Lisa dann. Angela nickt ernst. 171
»Eigentlich möchte ich sein Grab gar nicht sehen.« »Aber die Gräber seiner Vorfahren, die willst du schon sehen?« fragt Angela. Ja, die schon. Die alten Gräber erzählen ihr etwas über das Leben der Menschen von früher, während das Grab Lorenzos seinen Tod zu etwas Endgültigem macht. Als der Weg sich dreifach gabelt, müssen sie sich zwischen zwei Sandwegen und einer breiten, mit weißen Steinen gepflasterten Straße entscheiden, die von Zypressen gesäumt bergab verläuft: eine königliche Straße. Das ist wieder die Via Clodia, die wahrscheinlich zurück nach Saturnia führt. Sie schlagen einen der Sandwege ein und gehen weiter, bis sie leises Wassergemurmel hören. Sie bleiben einen Moment stehen und lauschen. Dann entdeckt Lisa einen kleinen Wasserlauf, der unter dem Weg verschwindet. Sie steckt die Hand hinein, und diesmal ist das Wasser warm. Sie folgen dem kleinen Bach bergauf bis zu der Stelle, wo die Quelle aus der dunklen Erde sprudelt. Das Wasser ist hellblau und stinkt nach Schwefel. Rund um den kleinen Quellteich hat sich das Gras weißlich verfärbt. Ein Platschen unterbricht die Stille. Ein weißer Frosch. »Der Schatten eines Prinzen«, meint Lisa. Sie ziehen Schuhe und Strümpfe aus und halten ihre Füße in das von der Erdwärme erhitzte Wasser. Angela erklärt, es sei siebenunddreißig Grad warm, wenn es aus der Erde komme. »Ich dachte, die Quellen seien viel größer, so daß man darin baden kann«, sagt Lisa. »Ja, das hier ist ja nur ein kleiner Vorgeschmack«, erwidert Angela. Lisa hat Lust, ganz ins Wasser einzutauchen. Sie starrt 172
auf die weißliche, undurchsichtige Oberfläche und erinnert sich daran, wie sie zusammen mit Heleen auf das weiß schäumende Kielwasser geblickt hatte, das ihr Wassertaxi in der Lagune von Venedig hinter sich herzog, eine Straße aus Schaum, die zu einer neuen, aufregenden Zukunft führte. Im Grunde hatten sie schon damals auf dem Boot den Entschluß gefaßt, in Italien zu bleiben. Ihr Leben war in Bewegung geraten – und heute war diese Zukunft schon wieder Vergangenheit. Ein eigenartiges Element, Wasser, denkt Lisa, genauso seltsam wie wir Menschen, die wir daraus hervorgegangen sind. Aus der heißen Ursuppe. Wie die lebenden Fischchen in der japanischen Suppe, die im Mund durch die letzten Schläge ihrer Schwanzflossen den Genuß der Speisenden erhöhen, so zappeln auch wir auf der Zunge der Todesgöttin. Der niederländische Arzt hatte einen guten Ruf. Er mußte sie retten. Wie oft hatte sie Heleen ermahnt, sie müsse unbedingt mit dem Rauchen aufhören. Heleen rauchte schon seit ihrem sechzehnten Lebensjahr, seit sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte. Ihr Vater, den sie ebensosehr geliebt hatte wie er sie, war gestorben, als sie vierzehn war, und mit ihrer Mutter verstand sie sich überhaupt nicht. Heleen war davon überzeugt, ihre Mutter sei eifersüchtig auf sie gewesen, weil ihr Vater sie so vergöttert habe. Nachdem Heleen dann von zu Hause weggelaufen war und die Schule geschmissen hatte, lebte sie eine Zeitlang äußerst ungesund. Sie schlief so gut wie gar nicht, vertrieb sich den Appetit mit Stangen von Zigaretten und nahm Amphetamine. Sie hatte einen Freund, der nur so für den Kick Kunstwerke aus dem Museum stahl. Die hingen dann plötzlich bei ihr im Zimmer, und er sagte zu 173
ihr: »Schau sie dir gut an, morgen bringe ich sie wieder zurück.« Ein Mesdag, ein Breitner. Wenn Heleen von dieser Zeit erzählte, glänzten ihre Augen. Hatten diese wilden Jahre vielleicht doch ihre Spuren hinterlassen? »Warte mal«, sagt Angela und reißt Lisa aus ihren Gedanken, »hier ganz in der Nähe …« Sie blickt sich noch einmal suchend um und beginnt dann, ihre Schuhe und Strümpfe wieder anzuziehen. Lisa folgt ihrem Beispiel und geht ihr hinterher, als sie sich einen Weg durch die Sträucher bahnt. Plötzlich stehen sie auf einem kleinen Feld, vor einer Felswand, die behängt ist mit Krücken, Füßen, Armen und Brüsten aus Metall, verdorrten Blumensträußen, verblichenen Fotos und vergilbten Papierblättern mit fast völlig verwischten Texten. Votivgeschenke von Menschen, die hierhergekommen waren, um Genesung zu erbitten. »Hier war früher eine heilige Quelle. Sie galt schon in vorchristlicher Zeit als heilig, und später übernahm dann die Madonna die Therapie«, erklärt Angela mit einem Lächeln. Das Wasser hat in der Felswand eine tiefe Furche ausgewaschen. Vor noch nicht allzu langer Zeit sei die Quelle ganz plötzlich versiegt, erzählt Angela, durch eine Erdverschiebung irgendwo in der Tiefe sei der Wasserlauf blockiert worden. Lisa nimmt einen Stein und kratzt mit großen Buchstaben »Heleen« in den Fels. Kurze Zeit später gehen sie wieder die Via Clodia entlang, auf dem Weg zurück nach Saturnia. Unter den Zypressen ist es kühl. Die Steine unter ihren Füßen verschwinden nach einer 174
Weile, und der sandige Pfad, der übrigbleibt, endet im Gestrüpp. Lisa schaut Angela fragend an, aber auch sie ist ratlos. Sie kämpfen sich durch die dichten Sträucher weiter voran. Dann entdecken sie plötzlich durch das Dickicht hindurch einen breiten Fluß. Mutter Erde hat sein Wasser nicht erwärmt, ganz im Gegenteil: Es ist kalt wie geschmolzenes Gletschereis. Irgendwie müssen sie versuchen, ans andere Ufer zu kommen, doch es gibt nur eine Brücke aus der Römerzeit, die in der Mitte des Flusses abrupt endet. Die großen Steine, die im Wasser liegen, scheinen für die Beine eines Riesen geschaffen zu sein. Ob das die »Fußstapfen des Teufels« waren? Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als durch den Fluß zu waten. Er scheint nicht besonders tief zu sein, doch die Strömung ist stark. Sie ziehen Schuhe und Strümpfe wieder aus. Angela zieht auch ihre Jeans aus, und Lisa knotet sich ihren langen Rock um die Hüften. Zähneklappernd suchen sie sich einen Weg durch das Wasser. Auf halbem Wege steigt Angela auf einen großen Stein. Sie hockt sich hin, schaut ins Wasser, sucht die Ränder des Steins ab, fährt mit den Händen daran entlang. Lisa klettert auf einen anderen Stein, der weiße Linien aufweist, die Schriftzeichen ähneln. Steinerne Tafeln. »Was siehst du?« ruft Angela. »Ich versuche, etwas zu entziffern!« Mit einem Schritt gelangt Lisa hinüber zum Stein von Angela und hockt sich neben sie. »Die Linien auf dem Stein könnten glatt Schriftzeichen sein«, meint sie. 175
Angela sagt lächelnd: »Ich will die Schrift der Etrusker entziffern, du die Schrift Gottes.« Dabei sucht sie die ganze Zeit weiter mit der Hand im Wasser zwischen den Steinen herum. »Hier müßte alles mögliche zu finden sein. Zur Zeit der Etrusker fuhren Schiffe auf diesem Fluß.« Lisa läßt den Blick über das Wasser schweifen. Sie sieht im Geiste die mächtigen Segelschiffe der Etrusker, Griechen und Phönizier vor sich – zu Legenden geworden, zu Träumen. So hatte auch Lorenzo den Fluß überquert, und so würde auch Heleen es vielleicht bald tun. Sie selbst war zwar noch nicht tot, aber auch nicht lebendig. Auf ihrer Reise durch Lorenzos Heimat hatte sie wieder begonnen, Farben zu sehen, aber inzwischen hat die Sorge um Heleen sie wieder für ihre Umgebung blind gemacht. Ob sie wirklich in guten Händen war? So bleich hatte sie dort in Rom im Krankenhausbett gelegen, so zerbrechlich. Welche Neuigkeiten würde sie heute abend zu berichten haben? Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte sie erzählt, sie habe mit zwanzig Gebärmutterhalskrebs gehabt. Sie sollte operiert werden, aber sie weigerte sich. Statt dessen hatte sie sich einer homöopathischen Behandlung unterzogen. »Ich wollte einfach wieder gesund werden, und deshalb hat es geklappt«, hatte sie gesagt, in einem Ton, als sei dies selbstverständlich. Wenn sie sich jetzt nur nicht wieder so halsstarrig und eigensinnig aufführte! Lisa hält die Hand ins Wasser und schaut zu, wie es zwischen ihren Fingern hindurchströmt. Niemand steigt zweimal in denselben Fluß, das Bett ist immer dasselbe, das Wasser nie. Das ist das Komplizierte daran. Es will ihr nicht in den Kopf. 176
Eine Zeitlang hatte sie im Wattenmeer gearbeitet. Dort hatte sie Muster in den Sand gekratzt, die vom steigenden Wasser wieder weggewischt wurden. Nur auf Fotos hatte sie sie festgehalten. Vielleicht wollte sie sich damals in erster Linie selbst davon überzeugen, daß alles in Bewegung und in fortwährender Veränderung begriffen ist, während sie in Wirklichkeit nicht mit dieser Vorstellung umgehen kann. »Komm mit, ich weiß etwas, das dir guttun wird!« sagt Angela. Sie winkt Lisa zu, ihr über das gepflügte Feld bis zu einem dichten hohen Schilfwald zu folgen. Oberhalb von ihnen, auf dem Hügel, liegt Saturnia, das im Licht der letzten Sonnenstrahlen leuchtet, als sei es aus purem Gold. Und tatsächlich lautete der alte Name Saturnias Aurinia, Stadt aus Gold, bevor sie nach Saturn benannt wurde – nach dem Gott, der im Goldenen Zeitalter regierte, als überall Friede herrschte und alle Menschen glücklich waren. Als sich Angela und Lisa dem Schilfwald nähern, hören sie wieder Wasser rauschen. An den Schilfpflanzen klettert die Zaunwinde empor, dünne Ranken mit herzförmigen grünen Blättchen. Die beiden Frauen gehen weiter, bis sie an eine offene Stelle, einer Loge ähnlich, gelangen. Blauweißes Wasser, aus dem Dämpfe aufsteigen, strudelt und sprudelt vorbei. Lisa schaut Angela an. Das muß die Stelle sein, an der sie mit Lorenzo hätte baden sollen, nachts, bei Kerzenlicht. Sie ziehen ihre Kleider aus und hängen sie an die Zweige eines Olivenbaums, wie die etruskischen Mäd177
chen, die Lisa einmal auf einer Vase im Museum gesehen hat. Vorsichtig steigen sie in den warmen Bach. Die Strömung ist stark, und sie müssen sich gut festhalten, um nicht mitgerissen zu werden. Von beiden Seiten neigt sich das Schilf über sie und bildet einen Tunnel, ein Tor über einer Straße aus dampfendem Wasser. Lisa kann nicht erkennen, wo diese Straße beginnt und wo sie endet. Hier scheint die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit aufgehoben. Sie stellt sich vor, wie Lorenzo langsam aus den Nebelschwaden auftaucht. Bleib, wo du bist, winkt er, in der Welt, in der die Dinge noch Konturen haben. Sie blinzelt mit den Augen. Das Ufer ist braungrün, und knapp über der Wasseroberfläche hat sich ein weißer Rand gebildet. Überall sieht Lisa die grünen Herzchen der Zaunwinde, wie im Grab von Tarquinia, wie an der Wand von Lorenzos Balkon. Das Wasser wärmt sie. Zum erstenmal wird sie wieder gestreichelt, warm, sanft, stark. Die langen Blätter der Schilfpflanzen wehen wie Haare im Wind. Der Schwefelgeruch beginnt ihnen vertraut und beinahe angenehm vorzukommen. Sie schwimmen ein Stück, und die Strömung zieht sie mit. »Paß auf!« ruft Angela. »Da kommt ein Wasserfall!« Gerade noch rechtzeitig halten sie sich am Schilf fest. Dann klettern sie vorsichtig an der Seite hinunter und setzen sich, einen Meter tiefer, unter die herabstürzenden Wassermassen. Die Wasserstrahlen prasseln auf Lisas Haut, schlagen sie wie Hunderte von Trommlern und jagen ihr das Blut durch Arme, Beine und Schenkel. Für kurze Zeit scheinen sich all ihre Grübeleien im Nichts aufzulösen. Für 178
kurze Zeit scheint sie alles zu vergessen. Zum erstenmal spürt sie wieder, daß sie einen Körper besitzt. Sie bleiben eine Weile so sitzen, bis ihre Haut glüht. Dann holt Angela eine Handvoll Schlamm vom Ufer, von einer Stelle knapp über dem Wasserspiegel. Die Erde ist bräunlich und lehmig. »Das hier ist das Zeug, das sie in hübsche Töpfchen füllen und auf der ganzen Welt teuer verkaufen«, sagt sie. Sie schmiert den Lehm auf Lisas Arm, dann auf ihre eigenen Arme und ihr Gesicht. Lisa folgt ihrem Beispiel. Es ist ein angenehmes Gefühl, den geschmeidigen Lehm mit der Hand vom Ufer zu schaben und sich damit einzureiben. Sie setzen sich auf die Böschung, um auch den übrigen Körper mit einer Schicht zu bedecken und den Schlamm trocknen zu lassen. Nach und nach verändert sich die Farbe, und sie werden grün. Grün wie das Schilf. Die Abenddämmerung bricht herein. »Es wird schnell kalt, wenn die Sonne erst einmal weg ist«, warnt Angela. Mit viel Mühe waten sie gegen den Strom an, zurück zu der Stelle, wo sie ihre Kleidung zurückgelassen haben, und waschen sich den Schlamm vom Leib. Als sie aus dem Wasser steigen, zittern sie vor Kälte. Angela holt ein Handtuch aus ihrem Rucksack, und sie trocknen sich hastig ab. In diesem Augenblick kommt ein Traktor vorbei. »Complimenti alla mamma!« ruft der junge Bauer fröhlich zu ihnen hinüber. Lachend ziehen sie sich an und laufen in raschem Tempo den Berg hinauf zum Städtchen, während das Land die Nacht wie eine Decke über sich zieht. 179
Durch die offenen Fenster hört man den Fernseher: Rufe eines Quizmasters und Geklingel von Geldmünzen. Auf der anderen Straßenseite bieten Lücken in der Stadtmauer Aussicht auf die stillen Hügel. Vom Hotel aus ruft Lisa im Krankenhaus in den Niederlanden an. Mit Heleen selbst kann Lisa nicht sprechen, weil sie nach einer ganzen Weile endlich eingeschlafen ist, aber eine Freundin von Heleen aus Amsterdam erzählt ihr mit ernster Stimme, daß es nicht gut aussähe. »Möglicherweise ist es eine äußerst seltene Krankheit, mit der sie noch vier bis zehn Jahre zu leben hat«, sagt sie. Also nicht nur Monate! schießt es Lisa durch den Kopf, Gott sei Dank! Aber dann denkt sie sofort daran, daß auch zehn Jahre nicht genug waren, wenn man noch keine vierzig war. »Also kein Krebs?« fragt sie. »Das sagen jedenfalls die Ärzte. Sie wollen sich jetzt mit Spezialisten im Ausland beraten.« »Wie nimmt sie es auf?« »Sie ist geschockt, aber tapfer wie immer.« »Und Pietro?« »Der ist in die Stadt gegangen.« Nachdem sie aufgelegt hat, spaziert Lisa sehr aufgewühlt ein Stück die Via Clodia entlang, die hinter ihrem Hotel vorbeiführt. Die Nacht ist erfüllt mit Geräuschen von Vögeln, die rufen und Antwort erhalten, zirpenden Grillen, liebeshungrigen Fröschen und Kröten und dem Plätschern von Wasser. Alles stimmt ein in ein großes Frühjahrskonzert. Einen kurzen Moment lang spürt sie, daß auch sie an diesem Rhythmus von Leben, Liebe und Tod teilhat. 180
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Der Bus schaukelt durch eine geheimnisvolle, bizarre Landschaft, geformt durch den prähistorischen Vulkan, der sich mittlerweile in den friedlichen See von Bolsena verwandelt hat. Die Straße ist kaum befahren, und überall auf den Hügeln sind Gräber zu sehen. Hoch oben in einem steilen rotbraunen Felsen erkennt Lisa ein rechteckiges Loch, dessen Wände viereckige Fächer aufweisen, die früher als Urnengräber gedient haben. Es ist, als wäre der Fels mittendurch gesägt worden und habe dabei die Grabanlage freigegeben, die wie ein geschliffener Edelstein darin verborgen liegt. Eine Bildhauerskulptur, vollkommen unzugänglich und dadurch um so beeindruckender. In plötzlich auftauchenden tiefen Felsentälern liegen kleine Dörfer mit ihrem antiken Dekor, unter ihnen Lorenzos Geburtsstadt Sovana, Stadt Jeremías, zu der sie nun unterwegs sind. Alles hier ist von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. Zur Zeit der Etrusker war Sovana eine mächtige Königsstadt, und Rom lag ihr zu Füßen. Tausend Jahre später war die Stadt immerhin noch bedeutend genug, um 181
Bischofssitz zu werden, und jahrhundertelang hielten dort Prinzen und Herzöge Hof. Heute jedoch hat Sovana nur noch wenig mehr als hundert Einwohner. Wie einsam sie dort liegt, die einst so bevölkerungsreiche Stadt; wie eine Witwe ist sie geworden, die mächtig war unter den Völkern. Der Bus hält an einer verfallenen Burg, die an die glorreichen Zeiten erinnert, bevor die Bevölkerung fast vollständig von der Malaria ausgerottet wurde. Dadurch verfiel die Stadt und geriet in Vergessenheit. Daher der Beiname Sovanas: beweint und beklagt wie Jerusalem. Sie steigen aus, weil hier weder Autos noch Busse fahren dürfen, und wandern einmal um die Burg herum. Nur das Geräusch ihrer Schritte und ein aufgeregt zeternder Vogel begleiten sie. Lisas Augen füllen sich mit Tränen, als sie wenig später am Anfang einer stillen Hauptstraße steht, die mit roten Backsteinen im Fischgrätenmuster gepflastert ist. Die Häuser zu beiden Seiten stehen ordentlich in Reih und Glied, verarmter Adel, der noch immer Haltung bewahrt. Weder Autos noch Menschen sind auf der Straße zu sehen, denn es ist gerade Mittagessenszeit. Lisa bleibt stehen, stellt ihre Tasche auf den Boden und schaut sich um. Sie betritt heiligen Boden. An diesem Ort ist er aufgewachsen, auf diesem Pflaster ist er seine ersten Schritte gelaufen, in dieser Straße hat er Fußball gespielt und sich gerauft. Sie weint jetzt ganz hemmungslos und setzt sich auf die Vordertreppe eines Hauses. Angela ist schon weitergegangen. Hier hat er Entdeckungsreisen unternommen, und hier ist er schon als kleines Kind mit Zeitaltern in Berührung gekommen, von denen die meisten Leute ihr ganzes 182
Leben lang keine blasse Ahnung haben. Hatte diese frühe Begegnung mit dem Tod vielleicht doch ihre Spuren bei ihm hinterlassen? Lisa stellt sich vor, wie er hier im letzten Sommer seines Lebens mit federnden Schritten ging, wie er mit anderen Dorfbewohnern sprach, vielleicht sogar über sie selbst. Wie gerne wäre sie hier mit ihm zusammen herumgelaufen und hätte diese Seite seiner Persönlichkeit entdeckt, den Dorfjungen. Er hatte ihr so viel über diesen Ort erzählt, und sie hatte sich so oft vorgestellt, wie er sie hier herumführen würde. Angela lehnt ein Stück weiter an einer Mauer und raucht eine Zigarette. Lisa nimmt ihre Tasche und geht auf sie zu. Ihre Stiefel auf den roten Backsteinen, auf denen so viele seiner Schritte unsichtbare Spuren hinterlassen haben. Lorenzo hatte sie einmal gefragt, ob der kleine Pelzrand an ihren Stiefeln dazu da sei, daß die Stiefel nicht frieren müßten. Sie zittert. Ihr ist kalt. Schweigend stehen Lisa und Angela nebeneinander. Lisa läßt den Blick über die Häuserfassaden wandern und fragt sich, wo Lorenzos Eltern wohnen. Heute hat sie noch nicht den Mut, sie zu besuchen. Morgen. Ob sie besser anrufen sollte, um ihr Kommen anzukündigen? Aber was wäre, wenn sie sie nicht sehen wollten? Sie mieten sich in der Pension La Sirena ein. In der Diele hängen alte Schwarzweißfotos von den Wildpferden, für die diese Gegend früher berühmt gewesen war. Als Lisa die Fensterläden in ihrem Zimmer öffnet und hinausschaut, sieht sie einen alten Mann und ein kleines Kind aus einem Lebensmittelladen kommen. Der Mann verstaut seine Einkäufe in einer Schubkarre, die vor dem Laden steht, während sein Enkel sein Eimerchen mit Süßigkeiten vorsichtshalber selbst trägt. 183
Lisa und Angela fragen den Wirt des Hotels nach dem Weg zu den beiden Gräbern, die Angela gern besichtigen möchte. Wort- und gestenreich erklärt er ihnen, wie sie dort hinkommen. Die Menschen hier sind alle stolz auf ihre Gegend. Mit den Worten »Sovana wird wieder auferstehen!«, schließt der Wirt seinen Bericht. »Die Region ist durch ihre isolierte Lage in Vergessenheit geraten, aber gerade das ist heute ihre Stärke. Sovana besitzt noch seinen ursprünglichen Reiz, wurde noch nicht plattgetrampelt.« Die Pläne, das gesamte Gebiet zu einem Archäologischen Park umzugestalten, seien nun endlich genehmigt worden, erzählt er begeistert. »Aber dann werden viele Touristen hierherkommen«, meint Angela besorgt. »Ist das denn nicht der Anfang vom Ende?« »Nein, ganz im Gegenteil, denn man wird dafür sorgen, daß die antiken Denkmäler vor der Vernichtung durch die Natur geschützt werden. Der Park ist ihre Rettung, und unsere auch, denn durch den Fremdenverkehr wird die Hotel- und Gaststättenbranche einen enormen Aufschwung erleben.« Wahrscheinlich träumte er bereits vom Grand Hotel Sirena. Sie müßten an der Kathedrale vorbeigehen, hatte er gesagt. Diese Bezeichnung erscheint ihnen gewagt für ein Gebäude, das in einem so kleinen Ort sicher nicht mehr als eine Kirche sein kann. Auf ihrem Weg stoßen sie auf eine Gruppe von Männern und Frauen, die, wahrscheinlich auch bereits mit Blick auf eine grandiose Zukunft, mit dem wuchernden 184
Unkraut kurzen Prozeß macht, das die so hübsch gepflasterte Straße überall säumt und zu überwuchern droht. Lisa fällt auf, daß manche Häuser ein zugemauertes Fenster über der Eingangstür besitzen, ähnlich einer Scheintür, einer Tür ins Jenseits, wie man sie aus den Gräbern kennt. Angela erklärt ihr, daß es tatsächlich Türen für die Toten seien. Bei einem solchen Fenster handele es sich um die sogenannte porta del morto, durch die früher die Leichen nach draußen gebracht worden seien. Danach habe man diese Tür mit einer Klappe wieder fest verschlossen, um den Geist des Verstorbenen daran zu hindern, wieder zurückzukommen. Man glaubte, die Toten würden auf demselben Weg zurückkehren, auf dem man sie zu ihrer letzten Ruhestätte gebracht habe. Als dieses Ritual ungebräuchlich wurde, seien die Türen zugemauert worden. Nein, es ist keine Aufschneiderei ihres Wirtes gewesen: dieses gewaltige Gebäude hat die Bezeichnung Kathedrale tatsächlich verdient. Ein mit großen Steinen gepflasterter und von Zypressen sowie Resten römischer Säulen gesäumter Weg führt zur mittelalterlichen Eingangstür, in die sowohl biblische als auch heidnische Szenen geschnitzt sind. Lisa sieht strahlende Bräute, Patinnen, die Taufkinder über das Becken halten, schwarze Trauerzüge, wie sie jahrhundertelang über diesen Weg schritten, durch diese Tür gingen und den heiligen Raum betraten, um dort Kontakt zu einer anderen Welt aufzunehmen und Segen zu erflehen. Sie gehen hinein. Die imposante Größe und Einfachheit des Raumes lassen sie verstummen. Lisa setzt sich auf die letzte Bank und lauscht den vorsichtigen Schritten Angelas. 185
Die Kathedrale wurde aus Gestein erbaut, das einst brodelndes Eingeweide der Erde war: rechteckige Tuffsteinblöcke, hellgelb für die Mauern, rot für die Decke. Die Säulen bestehen aus aufeinandergestapelten Nenfround Travertinblöcken. Hier war er hineingetragen und getauft worden, hier hatte er in seiner Jugend jeden Sonntag gesessen. Hier hatten sie Abschied von ihm genommen. Durch das hohe schmale Fenster über dem Altar fällt Licht herein. Ein großes Bild von der Kreuzabnahme Petri hängt dort, nach dem dieses Gotteshaus benannt ist. Lisa denkt an die Peterskirche in Rom. Lorenzo hatte sie durch die heidnische Totenstadt geführt, die darunter verborgen liegt. Er hatte ihr die Mausoleen gezeigt, die bemalten Häuschen, von wo aus die Verstorbenen Ausblick auf den Zirkus des Caligula hatten und die Pferderennen verfolgen konnten, und er hatte sie auf die Abbildungen von Kybele und Isis aufmerksam gemacht. Seiner Meinung nach war es auf dieser unteren Ebene, zu Zeiten der großen Muttergöttin, gar nicht so schlecht gewesen, verglichen mit der oberen, die der Sixtinischen Kapelle, der Welt des strafenden Vaters. Lisa steht auf und geht mit langsamen Schritten nach vorne. Sie setzt sich in die erste Reihe und blickt auf den Altar. Hier waren die Trostworte gesprochen worden. Sie hätte gern die Stimmen gehört. Es hätte ihr viel bedeutet, diesem Ritual beizuwohnen. Auf einer Kassette ihres Anrufbeantworters war noch immer seine Stimme. »Bella mia, dreh mal eine Pirouette, damit ich dich von allen Seiten angucken kann!« Das Hören seiner Stimme hatte Lisa noch stärker mit186
genommen als der Anblick von Fotos. Eine Stimme bewegt, ist Musik, die Seele steckt darin. Sie hatte die Kassette in eine Schublade gelegt. Manchmal machte sie die Schublade auf und nahm die Kassette in die Hand. Aber sie hatte sie nie mehr abzuspielen gewagt. Angela setzt sich neben sie, legt ihr den Arm um die Schultern und drückt sie kurz. Eine Zeitlang lauschen sie der Stille. Als sie wieder draußen sind, spazieren sie zum Tor neben der Kirche. Es ist abgeschlossen. Durch die Gitterstäbe blicken sie auf einen verwilderten Garten. Unter den überall wuchernden Sträuchern und dem Gras müssen die Reste eines etruskischen Tempels liegen. Die Belle Arti seien dabei, ihn auszugraben, hatte Lorenzo ihr erzählt, aber nur während einiger weniger Wochen im Sommer. Dabei würden sie alles mögliche an die Oberfläche holen, und Wind, Wetter und Wildwuchs könnten sich dann den Rest des Jahres daran austoben. Lisa erstarrt, als sie den Friedhof sieht, den Friedhof von heute. Das Tor ist offen. Daneben stehen große Mülleimer, randvoll mit verdorrten Blumen und den Hüllen heruntergebrannter Kerzen mit Abbildungen der Madonna. Verzweifelt starrt Lisa das Tor an. Angela schaut sie an und fragt: »Möchtest du hineingehen?« »Ja, doch, ich glaube schon.« Als sie sich auf diese Reise machte, hatte sie beschlossen, sich mit ihrer Trauer auseinanderzusetzen. Es gab keinen Weg zurück. Zusammen gehen sie durch das Tor und finden sich 187
auf einem kleinen idyllischen Friedhof wieder. Lisa spürt, wie das Blut in ihren Adern pocht, und ihre Beine scheinen nicht mehr ihr zu gehören. Langsam spazieren sie an den Gräbern vorbei. Die meisten sind gepflegt und mit Blumen geschmückt, mit echten oder Plastikblumen. Lisa liest die Namen und Jahreszahlen. Einige stammen aus dem vorigen Jahrhundert. Sie denkt daran, wie sie mit ihm über den PrimaPorta-Friedhof in Rom gewandert war. Er wollte ihr zeigen, wie voll es dort an Allerseelen war, und bei dieser Gelegenheit das Grab seiner Lieblingstante besuchen. Stark und lebendig hatte sie sich damals gefühlt. Trotzdem hatte sie bei sich gedacht: Wer von uns wird später einmal am Grab des anderen stehen? Dieser Gedanke war neu für sie gewesen, denn sie war nicht mit Friedhofsbesuchen aufgewachsen. Sie war es gewohnt, die Toten nicht bei den Toten, sondern bei den Lebenden zu suchen, in Geschichten. »Bist du dir sicher, daß er hier begraben liegt?« fragt Angela. Lisa nickt. Angela geht auf eine Frau zu, die gerade dabei ist, einen Grabstein zu schrubben. »Entschuldigen Sie bitte, wir suchen das Grab von Lorenzo Durante.« Die Frau steht auf und zeigt auf eine Mauer mit Fächern im hinteren Teil des Friedhofs. Fächer für Särge. »Kennen Sie die Familie Durante?« fragt Angela. »Natürlich, hier kennt jeder jeden. Nette Leute. Es ist wirklich tragisch. Er war ihr größter Stolz. Unser aller Stolz, muß man sagen. Das ganze Dorf ist zur Trauerfeier gekommen.« »Wissen Sie, wo sie wohnen?« 188
»Ja, hier ganz in der Nähe. Ein Stück hinter der Kathedrale. Das zweite Haus.« Lisa ist sich immer noch nicht sicher, ob sie vorher anrufen soll oder nicht. Auf dem Weg zu der Mauer müssen sie über einen frisch ausgehobenen Graben steigen. Es wird an der Elektroinstallation für die Lämpchen gearbeitet, die auf allen Gräbern und vor allen Fächern in der Wand stehen. Gespannt die Inschriften lesend, gehen sie an der Mauer entlang. Lisa läßt ihren Blick von unten nach oben und danach wieder nach unten wandern. Und dann liest sie seinen Namen. Seinen Namen und seine Daten. Etwas oberhalb ihres Kopfes. Sein Todestag. In Granit gemeißelt. Und sein Geburtstag. Der 20. Januar. Das Datum ist ihr so vertraut! Seinen letzten Geburtstag hatten sie zusammen gefeiert. Vor ein paar Monaten hatte ein Taxifahrer, in dessen Wagen sie vor der Tür von Heleens Haus eingestiegen war, zu ihr gesagt: »Sie wohnen doch in der Via della Croce, nicht wahr?« Lisa war darüber sehr erstaunt gewesen. »Ich habe Sie schon einmal gefahren«, sagte der Mann, »da waren Sie unterwegs zu einem Geburtstag am Tiber, und Sie waren sehr glücklich.« Sie war also so erfüllt von ihrem Glück gewesen, daß es aus ihr herausgesprudelt war. Um Mitternacht hatte sie eine Flasche Champagner aus ihrer Tasche geholt und sie entkorkt. Sie hatten auf ein wunderbares Jahr getrunken. Auf ihr neues Leben. Und nun sieht sie sich selbst auf diese schrecklichen Zahlen starren. 189
»Ich umarme dich«, hatte er auf den Anrufbeantworter gesprochen, »so fest, daß du nach Luft schnappst.« Sie sieht sich selbst auf dem Friedhof stehen. Sie sieht, daß sie nicht weint. »Kannst du eigentlich so richtig schön weinen?« hatte er sie einmal gefragt. »Ich kann untröstlich weinen.« »Aber ich möchte dich doch so gerne einmal trösten!« Er hat sie nie weinen sehen, er hat sie nie zu trösten brauchen. Nie wird er ihr die Tränen aus dem Gesicht wischen. Stumm betrachtet sie den Stein. Diesen verfluchten Scheißstein. »La vita è bella«, hatte er oft gesagt, und sie hatte ihm zugestimmt. Dabei ist das Leben alles andere als schön. Es ist gemein und hinterhältig. Je schöner es ist, desto mehr liefert man sich aus, und dann kommt der Hammerschlag. Lorenzo ist nicht hier. Nein, hier ist er nicht, eingemauert hinter einem Stück Stein. Er ist in ihrem Kopf, in ihrem Herzen. Er liegt in ihrem Bett, in ihren Armen, er liegt mit ihr im Gras, am Strand. Er schaut sie mit seinem forschenden Blick an. Er lacht ihr zu, schaut verärgert, küßt sie, hebt sie hoch. Aus allen Ecken und Winkeln ihres Kopfes springen Bilder von Lorenzo hervor und überlagern sich gegenseitig. Lorenzo lebt, solange sie lebt. Sie spürt, wie Luft in ihre Lungen eindringt und sie wieder verläßt. Sie hört das Knirschen von Kies. Mechanisch setzt sie einen Fuß vor den anderen. Am Friedhofstor vorbei, und sie steht draußen. Sie hat es getan, sie hat es gewagt. Sie ist erleichtert und traurig zugleich. Angegriffen. Ihr ist, als verrate sie ihn, indem sie ihn hier zurückläßt. 190
Nein, den toten Lorenzo läßt sie hier zurück. Den lebenden trägt sie in sich. Sie wischt ihre Tränen weg. Heleen hatte ihr erzählt, der Tod ihres Vaters habe jahrelang wie ein Schatten auf ihrem Leben gelegen, aber nach und nach hätten die schönen Erinnerungen an ihn wie Lichtflecke die Dunkelheit durchdrungen. Ob sie dem Tod Lorenzos jemals etwas Positives würde abgewinnen können? Sie kann es sich nicht vorstellen. »Er liegt an einem schönen Ort«, meint Angela. Eine Zeitlang gehen sie schweigend nebeneinander den Weg entlang, der zur Nekropole führt. Lisa fühlt sich, als würde sie schlafwandeln. Nach einer Weile fragt sie Angela: »Möchtest du lieber begraben oder eingeäschert werden?« »Ich möchte, daß man mich einäschert und meine Asche soll in einer etruskischen Urne aufbewahrt werden, die ich einmal gefunden habe«, antwortet Angela sachlich und bestimmt. »Und du?« »Mir ist es egal. Was immer meiner Familie am liebsten ist.« Die sterblichen Überreste Lorenzos hätte sie aber lieber unter einer Decke von Erde und Blumen gewußt als in so einem kalten kleinen Fach. Lisa fühlt sich noch ein wenig zittrig. Hier wird ihr bewußt, daß sie lebt, und sie findet es seltsamer denn je. In ihr lebt er. »Antero kennt ein Grab, mit einigen Sarkophagen. Er ermahnt mich andauernd, ich solle ihn, wenn er einmal stirbt, unbedingt aus seinem Sarg herausholen und ihn in einen Sarkophag legen«, erzählt Angela lachend. »Ich habe es ihm versprochen, aber das wird ein echter Kraftakt.« 191
Angela redet über den Tod wie über jedes andere beliebige Thema. Die meisten Leute schauten einen dagegen vorwurfsvoll und betreten an, wenn man es anschnitt, hatte Lisa festgestellt, als wecke man den Tod dadurch auf oder bringe ihn auf eine Idee. Lisa kann diese Haltung nicht verstehen. Das Bewußtsein der eigenen Vergänglichkeit hatte sie schon immer begleitet. Nicht, daß es ihr viel geholfen hätte. Sie denkt an Heleen. Sie wandern über einen schmalen gewundenen Pfad durch einen frischen grünen Frühlingswald. Überall an den Zweigen knospen junge Blätter. Orchideen und Alpenveilchen wachsen bunt durcheinander auf ihrem Weg, und die Vögel singen aus voller Brust. Was für ein Hohn. »In den Erdfalten rund um Sovana liegt die gesamte Geschichte der Etrusker verborgen«, sagt Angela. »Hier gibt es Gräber aus allen Perioden. Deshalb wollte ich schon seit langem einmal hierher.« Hinter den Sträuchern sind sie vage sichtbar, die in den Felsen gehauenen Vierecke – Würfelgräber aus der frühesten Periode, mit den typischen Türen darauf. Vermutlich sollte die viereckige Form eine Art Altar darstellen, meint Angela. Neben einer Treppe nach unten zur Grabkammer führt eine zweite Treppe nach oben zum Opferplatz auf dem Dach. Lisa läßt ihren Blick lange auf einer Treppe verweilen, die auf halbem Wege unvermittelt endet. Plötzlich muß sie daran denken, wie Heleen eines Tages in die Stadt ging, nachdem die Beziehung zu Pietro zum soundsovielten Mal auseinandergegangen war. Sie war abends spät nach Hause gekommen und hatte erzählt, sie habe auf der Via Veneto einen afghanischen 192
Prinzen getroffen. Dieser allzeit bereite Schürzenjäger, Sohn des verbannten Königs Amanullah, hatte sie trösten wollen, aber sie hatte sich nicht getraut, sein Batisttaschentuch zu benutzen, aus Angst, Maskaraflecken darauf zu hinterlassen und es dann ersetzen zu müssen. Vier Jahre – was tat man, wenn man noch vier Jahre zu leben hatte? Kurz vor der Vollstreckung des Todesurteils verkündet, mußte eine solche Lebenserwartung wie eine Ewigkeit erscheinen, aber wenn man noch keine Vierzig war, bedeuteten vier Jahre rein gar nichts. Wirst du einfach weiter Artikel schreiben? Wirst du all die Reisen unternehmen, von denen du immer geträumt hast? Heleen hatte gesagt, der Arzt sei ein netter, geistreicher junger Mann. Aber was hat sie davon? Er wäre besser alt und erfahren. Er sollte seine Arbeit ordentlich machen und die richtige Diagnose stellen. Er mußte sie retten! Mit einem gewöhnlichen Krebs konnte ein Arzt natürlich keine Lorbeeren ernten. Vielleicht hoffte er, einer seltenen Krankheit auf die Spur zu kommen, um darüber spektakuläre Artikel publizieren zu können. Heleen durfte sich von so einem Hanswurst nichts einreden lassen. Wenn sie stürbe, würde auch Lorenzo noch unwirklicher werden. Heleen hatte ihre Beziehung von Anfang an mitverfolgt, und sie war die einzige, mit der Lisa Erinnerungen an Lorenzo teilen konnte. Aber sie wird nicht sterben. Mindestens vier Jahre geben ihr die Ärzte noch, und in dieser Zeit wird die Medizin sicher weitere Fortschritte machen. Angela, die ein Stück vorausgegangen ist, bleibt plötzlich stehen. Sie blickt aufmerksam zur Seite und dreht sich dann zu Lisa um. Ihre Augen funkeln. Kurz darauf sieht Lisa, was sie so begeistert: ein Weg, 193
der in den Felsen gehauen wurde, ein schmaler Pfad zwischen steilen Wänden, so hoch wie Kirchtürme. »Was ist das?« fragt sie, nachdem sie ihn eine Weile sprachlos angeschaut hat. »Eine via cava, ein Hohlweg«, erklärt Angela. Ein Weg, den die Etrusker einst in den Felsen gehauen haben. »Wozu hat er gedient?« fragt Lisa. »Das weiß niemand.« »Unglaublich! Siehst du so einen Weg auch zum erstenmal?« »Ja, aber Antero hat mir davon erzählt«, antwortet Angela leise. »Es muß noch viel mehr von ihnen geben.« Sie betreten den Hohlweg. Er ähnelt einem Gang, gerade breit genug für einen Karren. Die oberen Ränder sind mit Bäumen bewachsen, die ein Dach bilden und mit ihren Wurzeln in die Felswände eindringen. Überall sieht man die Spuren, die die Meißel hinterlassen haben. Angela zeigt Lisa etruskische Inschriften hoch oben in der Wand, eingeritzt während des Hackens, Meißelns und Grabens. Welcher Drang, sich tief in die Erde einzugraben! Lisa läßt den Blick über die gewaltigen Felswände schweifen. Ihr ist, als befinde sie sich in einer anderen Welt, einem Grenzbereich zwischen Wachen und Träumen. Lorenzo muß diese Welt gekannt haben. Seltsam, daß er ihr nie davon erzählt hat. Der Boden ist matschig, und an manchen Stellen müssen sie sich verrenken, um trockenen Fußes an einer Pfütze vorbeizukommen. Angela bückt sich ab und zu und fährt mit der Hand über den Boden oder hebt einen kleinen Stein auf. Nach etwa fünfhundert Metern endet der Weg plötzlich an einem schrägen Wall, der wahrscheinlich durch 194
einen Einsturz entstanden ist. Mit Mühe klettern sie hinauf zum Licht und finden sich oben in einem idyllischen Wäldchen wieder. Zwischen den blühenden Sträuchern verborgen liegen weitere Grabanlagen. Lisa geht in eine von ihnen hinein, schreckt jedoch im nächsten Augenblick mit einem Schrei zurück: Am anderen Ende des Grabes befinden sich Öffnungen, die genau oberhalb der Felswand des Hohlwegs münden. Wenn man nicht aufpaßt, kann man sich hier ohne weiteres zu Tode stürzen. Sie setzen sich auf den Boden, die Füße in Richtung des Abgrunds. Lisa hat noch nie Höhenangst gehabt, aber jetzt ist ihr, als ziehe die metertiefe Spalte an ihren Füßen. Die Sonnenstrahlen fallen genau hinein. Als sich Lisa von ihrem Schreck erholt hat, kriecht sie vorsichtig zum Rand und schaut in die schwindelerregende Tiefe. Sie fragt sich, wie es die Etrusker angestellt haben mögen, den Weg anzulegen. Die Steinmetze haben sich wohl vom Gestein leiten lassen, wodurch der Weg natürliche Unebenheiten aufweist, die ihm seinen besonderen Reiz verleihen. Er ist ein wenig gewunden, und auch die Wände sind nicht ganz lotrecht. Alles schlägt Wellen, genau wie bei den Strukturen, die Lisa in den Ton einarbeitet. Die Wände des Hohlwegs sehen eher so aus, als seien sie modelliert und nicht aus dem Stein herausgemeißelt worden. Wie eine Form von Land Art, allerdings ganz natürlich und nicht gekünstelt. Der Gedanke an die vielen Menschen, die hier gemeinsam meißelten, weil sie an etwas Bestimmtes glaubten, begeistert Lisa, macht sie aber auch wehmütig. Der einzige Weg zurück zur bewohnten Welt führt wieder durch die via cava. Die Sonne steht inzwischen tief am Horizont, und 195
durch die Schatten wirkt der Weg noch beeindruckender. Als sie den Hohlweg verlassen, kommt es ihnen vor, als seien sie in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Als seien sie in einer anderen Welt gewesen, in einer Zwischenwelt. Und das ist genau der Effekt, den auch Lisa mit ihren Skulpturen erreichen will. Ganz plötzlich wird ihr klar, daß Lorenzo sie auf diese Spur gebracht hat. Als würde er ihr über seinen Tod hinaus den Weg zeigen. Die Tomba Ildebranda ist die erste von einem Zaun geschützte Grabanlage, die sie besichtigen. Angela wollte dieses Grab unbedingt sehen, weil es allgemein als das schönste von allen gilt. Lisas Lieblingsgrab ist es allerdings nicht. Mit seinen vielen Säulen und Verzierungen ähnelt es zu sehr einem griechischen Tempel. Sie schauen sich das Grab nur flüchtig an und wandern dann ein wenig enttäuscht weiter durch den Frühlingswald, der wie eine geblümte Decke über der Nekropole liegt. Dann stoßen sie auf einen riesigen vertikalen Spalt zwischen zwei Felsblöcken, die versteckt hinter dem Grün liegen. Einer der Felsblöcke hat sich schräg gegen den anderen geneigt, der noch aufrecht steht, und zusammen bilden sie ein gewaltiges Zelt aus Stein. Lisa und Angela zögern zunächst, gehen dann aber doch hinein. Drinnen ist es stockdunkel. Mit kleinen Schritten tasten sie sich voran. Lisa hat keine Vorstellung davon, wie groß der Raum sein mag. Sie spürt, wie sie in eine Wasserpfütze tritt. Genausogut könnte hier irgendwo ein Abgrund sein, ein Loch, durch das sie in die Tiefe stürzen würde, direkt hinunter in den Bauch der Erde. 196
»Paß auf, daß du nicht in ein Loch trittst«, warnt Angela sie. Ihre Stimme hallt. Der Raum muß sehr groß sein. »Ich bin an der hinteren Wand«, sagt Angela dann. »Hier ist eine Bank.« Lisa geht vorsichtig weiter, bis auch sie die hintere Wand erreicht. Sie setzt sich neben Angela. Von hier aus blicken sie auf den Spalt, durch den sie eben hineingekommen sind. Sie sind zurück im Mutterleib. In der Vorzeit oder im Jenseits. Hier hat Lisa das Gefühl, Lorenzo ganz nahe zu sein. Die beiden Frauen bleiben still sitzen, bis Lisa das Rauschen ihres eigenen Blutes hören kann. Angela wendet das Gesicht zur Felswand und läßt aus ihrem Inneren einen Ton aufsteigen, der immer mehr anschwillt. Er hallt von allen Seiten wider. Lisa stimmt ein. Die Töne wirken hypnotisierend, wie ein Gebet. Nach einer Weile drehen sie sich wieder um. Endlich haben sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und jetzt können sie erkennen, wo sie sich eigentlich befinden. Was schon ein klein wenig Licht bewirken kann! Das Gewölbe weist einen kreuzförmigen Grundriß auf. In den Felsen ist eine Bank mit schmalem Vordersims gehauen, die sich um den gesamten Raum herumzieht. Auf diese Bank wurden einst Sarkophage gestellt, weiß Angela. Also war es keine Bank, sondern eher ein Bett, ein Totenbett, möglicherweise für eine ganze Familie. »Es erinnert mich an das Werk eines amerikanischen Künstlers, Turell«, meint Lisa. »Er gestaltet in dem Krater eines erloschenen Vulkans Räume, und in jedem dieser Räume geschieht etwas anderes mit dem Licht. In einen von ihnen fällt alle paar Jahre das Mondlicht, ein anderer 197
fängt die Morgendämmerung ein, wieder ein anderer den Sonnenuntergang und einer das Licht eines bestimmten Sterns. Er lehrt dich damit hinzuschauen und will den Betrachtern auf diese Weise Wege zu Einsichten ermöglichen, die im Laufe der Zeit verlorengegangen sind.« Bei dem nächsten Grab, das Angela besuchen möchte, handelt es sich um ein sogenanntes Taubenschlaggrab. Es befinde sich auf dem Grundstück zweier alter Frauen, die aber oft nicht da seien, hatte der Hotelbesitzer gesagt. Wenn sie zu Hause wären, sollten Lisa und Angela einfach nach dem Grab fragen. Sie würden an ein Gartentor kommen, das sie öffnen müßten, und dann einen Hügel hinaufklettern. Seinen weiteren Erklärungen können sie nicht mehr so recht folgen, aber er sagte, sie würden es wie von selbst finden. Tatsächlich kommen sie an ein wackliges Gartentor. Es ist kein Mensch zu sehen, nur ein kleiner Bauernhof, auf dem ein paar Hühner scharren und zwei Schafe herumlaufen. In der Felswand hinter dem Hof befinden sich Höhlen, ebenfalls frühere Gräber, die nun als Unterstellplätze für Gartengeräte benutzt werden. Dann entdecken sie zwei ärmlich gekleidete alte Frauen, die im Gras sitzen. Angela geht auf sie zu. »Buona sera. Scusa signore, ich habe gehört, hier solle es ein Taubenschlaggrab geben.« »Das hier ist ein Privatgrundstück, das sehen Sie doch«, antwortet eine der Frauen abweisend. »Aber man hat uns gesagt, daß wir durchgehen könnten«, erwidert Angela. »Wer hat das gesagt?« »Der Besitzer des Hotels, in dem wir wohnen.« 198
»Welches Hotel?« »Hotel Sirena.« »Na ja. Aber das hier ist Privatbesitz.« »Es tut mir leid, aber der Wirt hat uns gesagt, man könne das Grab besichtigen.« Die Frau macht ein verärgertes Gesicht. Die andere Frau hinter ihr ist älter als sie und schaut noch unzufriedener drein. »Ihnen will ich ja keine Vorwürfe machen, aber diesem Mann schon. Was denkt er sich denn überhaupt? Wir kriegen keine müde Lira, und andauernd trampeln die Leute über unser Grundstück. Uns laufen noch die Hühner weg.« »Tut mir leid. Ich habe das Tor gut zugemacht.« »Ja, das glaube ich Ihnen. Wie ich schon sagte: Ich bin nicht böse auf Sie, sondern auf diesen Mann. Er schindet Eindruck, und wir haben dann den ganzen Ärger. Er ist selbstsüchtig, er will nur Touristen anlocken.« »Wissen Sie, es geht um meine Arbeit, ich komme extra wegen des Grabes aus den Niederlanden«, mischt Lisa sich ins Gespräch ein. »Hmmm«, brummt die Frau mit verächtlichem Blick und fragt: »Sind Sie Archäologin?« »Nein, Bildhauerin.« »Hmmm.« »Ich möchte Ihnen gern etwas geben«, sagt Lisa und greift in ihre Tasche. »Nein, darum geht es nicht. Die Belle Arti sollen endlich mal das Geld rausrücken, das uns zusteht. Die haben uns alles mögliche versprochen. Wir haben es wirklich schwer, andauernd werden die Steuern erhöht, und heute nacht hat uns auch noch ein Stachelschwein die Kartoffeln weggefressen.« 199
»Ach du meine Güte.« Die Frau zeigt auf einen kleinen Acker mit Kartoffelpflanzen. »Wir sollten ihn vielleicht mit Plastik einzäunen, was meinen Sie?« Lisa schaut sich die fransigen Plastikfetzen an, die neben dem Acker liegen, und sagt: »Ich fürchte, das wird nicht viel nützen. Vielleicht sollten Sie das Stachelschwein lieber fangen und essen, sie sollen ja sehr gut schmecken.« Aber die Frauen sind nicht in der richtigen Stimmung für Scherze. »Wieviel Ärger wir schon wegen dieser verfluchten Gräber hatten! Also gut, das, was Sie suchen, liegt da drüben.« Die Alte zeigt mit abgewandtem Kopf in die entsprechende Richtung, und ihr Gesichtsausdruck scheint zu sagen: Was immer Sie daran auch finden mögen. Lisa und Angela steigen auf einem schmalen Pfad den Hügel hinauf, bis sie eine große Öffnung im Fels erblicken. Sie gehen hinein. Lisa kommt es vor, als habe sie ihr eigenes Werk vor Augen. Auch das Labyrinth kommt ihr wieder in den Sinn. Ihr ist, als würde es hier münden. Ein viereckiger Raum. Vier Wände, in die viereckige Fächer eingelassen sind, eingemeißelt in den Tuffstein. Dabei gleicht nicht ein Viereck dem anderen. »Wahrscheinlich wurden sie zunächst von den Etruskern als Urnengräber und später von den Römern als Taubenschläge benutzt«, sagt Angela, die bereits dabei ist, mit den Händen den Boden abzusuchen. Glaubte sie wirklich, hier sei noch etwas zu finden, oder war sie ganz einfach von der Sucherei besessen? An den Wänden entlang verläuft eine Bank. Lisa setzt 200
sich hin. In die Decke sind vier Scheintüren eingemeißelt, die Grabsteinen ähneln und zusammen ein Kreuz bilden. »Das hier ist einfach perfekt«, seufzt sie. »Nichts daran könnte man noch verbessern, so schlicht und aufs Wesentliche beschränkt, wie es ist.« Durch eine fensterartige Öffnung weht ein frischer Wind herein, und vom Tal dringt das Rauschen des Wassers herauf. Ansonsten ist es ganz still. Lisa sitzt da, ohne sich zu rühren. Das ist es, was sie will. So etwas wollte sie schon immer erschaffen. Räume, die eine Welt für sich bilden. Räume in sich selbst, die man nicht vermutet hat. Es ist, als befände sie sich in einem Kopf, in ihrem eigenen Kopf, und in allen Fächern steckten Erinnerungen. Manche beschädigt und verformt, andere ganz klar und deutlich. Im Galopp über den Polder. Die Pferde im Museum. Lorenzo. Der erste Blick. Rote Vögel auf einer blauen Wand. Der letzte Blick. Die Spur des Kielwassers in der Lagune von Venedig. Das lachende Gesicht Heleens. Sein Fach auf dem Friedhof. Hätte sie doch nur für einen Moment in seinem Kopf sein können, in jener Nacht in Tarquinia! Sie hatte gedacht, sie habe noch ein ganzes Leben vor sich, um alle Räume und Fächer in seinem Geist zu erkunden. Aber nun waren sie verschlossen, verborgen hinter Stein. In ihrem Zimmer in der Pension gibt es kein Telefon, deswegen geht Lisa zum Telefonieren in die benachbarte Kneipe. An diesem zentralen Treffpunkt Sovanas, wo alte Männer und junge Leute sich lautstark amüsieren, trinken, schwatzen und flippern, steht eine schalldichte Zelle. Lisa schließt sich darin ein, um Heleen anzurufen. 201
Von dieser Kabine aus hatte auch Lorenzo sie gelegentlich angerufen, als sie in den Niederlanden war. Seine Finger haben dieselben Tasten berührt, denkt sie, während sie wählt. Sie spürt, wie angespannt sie ist. Dann dringt Heleens Stimme aus dem Hörer. Es gebe noch immer keine endgültige Diagnose, erzählt sie, alle Symptome seien atypisch. Inzwischen hätten die Ärzte sogar Tbc in Betracht gezogen. »Die Chancen stehen zwar nicht besonders gut«, sagt Heleen gelassen, »aber ich stelle mir schon lebhaft vor, wie ich mit einer Kiste voller Bücher in einen Kurort reise. Um in die richtige Stimmung zu kommen, habe ich angefangen, den Zauberberg zu lesen.« »Aber das wäre ja großartig! Tbc ist heutzutage heilbar. Dann suchen wir einen wunderschönen Kurort für dich aus. Es ist also doch nicht diese merkwürdige Krankheit?« »Mit der ich noch vier Jahre hätte? Nein. Ich habe zu meinem Arzt gesagt, ich fühlte mich inzwischen wie eine Eintagsfliege, der ein weiterer Tag geschenkt wird«, berichtet Heleen lachend. »Aber die Ärzte sind sich ja immer noch nicht sicher. Morgen werden noch einmal neue Untersuchungen durchgeführt.« Sie war doch wohl hoffentlich nicht auf die Albernheiten dieses Arztes hereingefallen, der noch nicht einmal in der Lage war, eine vernünftige Diagnose zu stellen? Warum dauerte das alles so lange? Was waren das alles für Untersuchungen? »Und wie geht es Pietro?« fragt Lisa. »Den habe ich heute den ganzen Tag noch nicht gesehen oder gehört. Heute nachmittag, als Besuchszeit war, ist er auch nicht dagewesen.« »Wie bitte?« 202
»Ach, er kann es einfach nicht ertragen, er leidet sehr unter der ganzen Situation, und deshalb ergreift er eben die Flucht.« »Das muß ja schrecklich für dich sein!« »Ja, schon, aber ich habe beschlossen, mich nicht zu sehr darüber aufzuregen. Ich brauche meine Kräfte für andere Dinge. Er wird schon wieder auftauchen.« »Ich komme jetzt auf der Stelle zu dir!« »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Wir werden jetzt erst mal die Diagnose abwarten, und außerdem habe ich sehr liebe Freunde hier, die sich um mich kümmern. Und ich habe immer noch die Hoffnung, bald wieder zurückzukommen. Aber nun erzähl doch mal, wie geht es dir denn?« »Ich bin jetzt in Lorenzos Heimatstadt. Es ist wunderschön hier und überirdisch still, außer in der Kneipe, von der aus ich gerade telefoniere.« Lisa erzählt nicht, daß sie an Lorenzos Grab gewesen ist. »Mich wühlt das Ganze allerdings sehr auf. Aber sieh’ du nur zu, daß es dir bald wieder bessergeht.« »Ich tue, was ich kann. Ist Angela bei dir?« »Ja, aber sie muß morgen wieder zurück in ihr Restaurant.« Angela muß am nächsten Morgen wieder nach Tarquinia fahren, mit dem einzigen Bus, der von hier aus verkehrt. Lisa dagegen hat beschlossen, noch ein paar Tage länger in Sovana zu bleiben.
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»Durante«, liest sie auf dem Namensschild. Lisa drückt auf den Klingelknopf. Sie hört ein Geräusch, und schon geht die Tür auf. Eine Frau in Schwarz mit hochgestecktem Haar und einem freundlichen Gesicht schaut sie fragend an. Sie ist bestimmt noch keine sechzig. Sie hat dieselben Augen wie er, denselben Blick. Aufmerksam und warm. »Guten Tag, ich bin Lisa van der Meer. Es tut mir leid, daß ich sie so unangekündigt überfalle.« »Ach, du bist es, Lisa«, sagt die Frau daraufhin mit herzlicher Stimme. »Lorenzo hat mir viel von dir erzählt. Bitte, komm herein.« Sie reicht ihr die Hand, nimmt ihr in der dunklen Diele die Jacke ab und führt sie ins Wohnzimmer. Eine Wand wird ganz von einem großen Kamin dominiert, vor dem eine Kiste mit Holzscheiten steht. Auf dem Büfett sieht Lisa ein Foto von Lorenzo mit einem Veilchenstrauß davor. Lisa geht zu dem Bild hinüber. Daneben steht noch ein Foto, von einem kleinen Jungen, der lebhaft in die Kamera schaut, eine Schaufel in der Hand. 204
»Darauf ist er drei«, sagt seine Mutter. An der Wand hängt eingerahmt sein Universitätsdiplom. »Ich sage mal eben meinem Mann Bescheid«, sagt Signora Durante und geht zur Tür hinaus. Lisa hört leise Stimmen. Sie bleibt vor dem Foto mit ihm als kleinem Jungen stehen. Es ist das erstemal, daß sie ein Kinderfoto von ihm sieht. Er hat ein Pflaster auf einem Knie, und seine Augen strahlen vor Lebensfreude. »Bist du allein?« fragt seine Mutter, als sie wieder ins Zimmer kommt. »Ich bin zusammen mit einer Freundin hergekommen, aber sie ist heute morgen wieder abgereist«, antwortet Lisa. »Wann bist du angekommen?« »Gestern. Lorenzo hat mir viel über Sovana erzählt, aber es ist noch schöner, als ich erwartet habe. Und diese Ruhe!« »Na ja, mit der Ruhe ist es in letzter Zeit nicht mehr so weit her. Auch hier verändert sich alles sehr rasch, durch diesen Archäologischen Park und die vielen Touristen. Die Menschen riechen das Geld. Sie reden nicht mehr miteinander, weil der eine mehr verdient als der andere. Bis vor kurzem konnte man noch den Schlüssel auf der Haustür stecken lassen, aber damit ist es vorbei. Ich habe noch erlebt, wie es im Dorf nur ein einziges Fahrrad gab, das wir alle teilten. Das war eine schöne Zeit.« Für einen Moment erkennt Lisa in ihrem Blick das Funkeln, das sie früher auch in Lorenzos Augen gesehen hatte. Dann löst es sich in ein trauriges Lächeln auf. Die Tür geht auf, und ein Mann mit grauem, nach hinten gekämmtem Haar und traurigen dunkelbraunen Au205
gen kommt herein. Er reicht Lisa die Hand, sagt: »Durante«, und setzt sich hin. Seine Stimme! Er ist genauso groß wie Lorenzo, macht aber einen gebrechlichen Eindruck. Lisa empfindet tiefes Mitleid mit diesen Menschen. Auch in ihr Leben hat sein Tod eingeschlagen wie eine Bombe. Sie forscht bei Lorenzos Eltern nach Spuren ihres Sohnes. Hier scheint Lorenzo ihr näher und zugleich ferner zu sein als je zuvor. Sie erkennt Züge von ihm wieder und vermißt ihn dadurch um so mehr. Sie sucht nach Worten und sagt dann so gelassen wie möglich: »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Lorenzo und ich sind noch nicht sehr lange zusammen gewesen, aber er hat mir viel von früher erzählt. Wir hatten vor, zusammen nach Sovana zu fahren.« »Ja, er hat uns erzählt, daß er dich mitbringen wollte«, sagt seine Mutter. Sein Vater schaut an Lisa vorbei und schweigt. »Ich bin jetzt allein hierhergekommen, weil ich immer noch ständig an ihn denken muß. Es ist so schwer für mich, daß ich keinen Abschied von ihm nehmen konnte, weil ich wegen meiner Arbeit in den Niederlanden war. Eine Freundin hat es mir am Telefon gesagt, aber erst nach seiner Beerdigung.« »Ich erinnere mich daran, daß man nach dir gesucht hat. Eine Frau hatte uns angerufen, aus Rom.« »Ja, das war Heleen, eine gute Freundin von mir. Sie fand die Trauerkarte, als sie aus dem Urlaub zurückkam.« Sein Vater hat sich zum Kamin hinübergebeugt und rückt ein paar Holzscheite zurecht, die vielleicht noch monatelang dort liegen, bevor sie brennen werden. Lisa erkennt die langen schlanken Finger Lorenzos wieder, die 206
Hände, die er so graziös bewegte und die er so sanft um ihr Gesicht legen konnte. »Wir begreifen es immer noch nicht«, sagt Lorenzos Vater nach einer langen Stille. »Um neun Uhr morgens hat es bei uns geschellt«, unterbricht ihn seine Frau. »Zwei Polizisten standen vor der Tür. Ich habe mich erschrocken, weil sie so ernste Gesichter machten. Sie sagten: ›Wir müssen Ihnen etwas sagen.‹ Mein Mann!, dachte ich sofort.« »Wäre es doch nur so gewesen«, murmelt er. »Sie fragten, ob sie hereinkommen dürften, und baten mich, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. ›Es geht um Ihren Sohn‹, sagte der eine.« Sie spricht ganz ruhig, bewegt dabei aber nervös die Hände. Ab und zu läuft ein Zucken über ihr Gesicht. Lorenzos Vater blickt starr geradeaus. »›Man hat ihn in Tarquinia gefunden, beim Tempel …‹ Das ist nicht wahr, das ist ein Irrtum!, dachte ich. In seinem Hemd hatten sie einen Zettel gefunden, den gaben sie mir. ›Trauert nicht um mich. Ich bin da, wo ich sein will‹, stand darauf.« »Ich habe davon gehört, aber es ist mir vollkommen unverständlich!« sagt Lisa. »Wir können es auch nicht begreifen«, sagt Signora Durante. »Wir glaubten den Polizisten zuerst nicht, dachten, es müsse sich um jemand anderen handeln. Aber dann sahen wir ihn. Dabei ist er nie depressiv gewesen. Nicht wie mein Mann, der hat öfter unter Stimmungsschwankungen zu leiden. Lorenzo dagegen konnte zwar aufbrausend sein, aber …« »… das ging auch schnell wieder vorüber«, ergänzt Lisa. 207
Lorenzos Mutter geht zum Büfett und kommt mit einer Mappe voller Papiere zurück. Aus einem Umschlag holt sie ein Stück Papier hervor und gibt es Lisa. Es ist ein Fetzen von einem Papiertaschentuch. Lisa starrt ihn an. »Die Handschrift …«, sagt sie zweifelnd. Druckbuchstaben, ungelenke Druckbuchstaben. Nun ja, bei dem Untergrund. »Das sei durch die Emotionen gekommen, hat der Doktor gesagt, durch die Bewußtseinstrübung«, meint Lorenzos Mutter. »Aber kann so etwas denn Einfluß auf die Handschrift haben? Mir kommt das alles merkwürdig vor! Ich kann immer noch nicht glauben, daß er so etwas getan hätte, schon allein wegen seiner Familie. Er hat immer so liebevoll über Sie gesprochen!« »Hat er das?« fragt seine Mutter unsicher lächelnd. Mit der linken Hand preßt sie ein zerknülltes Taschentuch zusammen. Eine Weile sitzen sie schweigend beisammen. »Man konnte auf ihn bauen«, sagt seine Mutter dann. »Wenn er etwas versprochen hatte, hielt er es auch. Er hat uns regelmäßig angerufen. Und er war sehr fürsorglich. Wenn er sah, daß der Wasserhahn tropfte, setzte er gleich eine neue Dichtung ein. Er sägte Feuerholz für uns. Und wenn er auf archäologischen Expeditionen war, in Ägypten zum Beispiel, schrieb er uns immer lange Briefe.« Wie schade, daß wir uns nie geschrieben haben, denkt Lisa. Daß sie keine Briefe von ihm besitzt, die sie aufbewahren und immer wieder lesen kann. »Am letzten Tag, an dem er hier war, haben wir Brombeeren gepflückt. Er wußte genau, wo die richtigen 208
Stellen waren, er kannte diese Gegend wie seine eigene Westentasche. Ich habe mir oft Sorgen gemacht, denn er war immer unterwegs, schon als kleines Kind. Er erzählte mir immer von seinen Entdeckungen, erst hier in der Umgebung und später dann auch in Tarquinia.« »Und letzten Sommer? Da war er doch auch oft hier?« »Ja, fast den ganzen Sommer über. Er war oft unterwegs, aber häufig saß er auch in seinem Zimmer und arbeitete. Er beschäftigte sich mit den Hohlwegen, den heiligen Wegen.« »Mit den Hohlwegen? Davon wußte ich ja gar nichts! Heilige Wege?« »Ja, das waren sie seiner Meinung nach.« »Ich habe gestern zum erstenmal einen gesehen. Ich hatte vorher noch nie von ihnen gehört.« »Es gibt viele davon. Hier in Sovana, aber auch an anderen Orten in der Umgebung, in Sorano und Pitigliano. Lorenzo erzählte, daß bisher wenig über sie bekannt ist, und wollte über sie schreiben.« »Wie merkwürdig, daß er mir nichts davon erzählt hat.« »Es hat erst kurz vor seinem Tod angefangen, sich damit zu beschäftigen, glaube ich.« Lorenzos Mutter schaut ihren Mann an, der noch immer schweigend in den Kamin starrt. Er rührt sich nicht. Dann wendet sie sich wieder Lisa zu. »Möchtest du vielleicht sein Zimmer sehen? Dort liegen auch Fotos von den Wegen«, sagt sie. Sie steckt den Zettel wieder zurück in den Umschlag, legt ihn in die Mappe und verstaut diese wieder in einer Schublade. 209
»Es ist alles noch genauso, wie es war. Ich kann es nicht übers Herz bringen, sein Zimmer leerzuräumen«, sagt Signora Durante, als sie die Treppe hinaufgehen. »Mein Mann kann nicht darüber reden, das macht mir manchmal Sorgen.« Sie zeigt auf eine Tür. »In diesem Zimmer ist Lorenzo geboren worden.« Dann öffnet sie die Tür daneben. Ein rechteckiges Zimmer mit zwei Fenstern, von denen aus man auf einen Gemüsegarten blickt, der von einer Mauer umgeben ist. Dahinter erstreckt sich die Landschaft bis zum Horizont. Ein schmales Bett. Ein großer Schreibtisch voller Bücher. Noch mehr Bücher an den Wänden. Eine Karte von der Umgebung. Alles aufgeräumt und sauber. Keine herumliegenden Kleidungsstücke, Zeitungen, schmutzige Teller und Gläser wie in Rom. Lisa läßt ihre Blicke umherwandern. Ehrfürchtig. Manchmal verharrend. Dann entdeckt sie auf seinem Schreibtisch den Gedichtband von Catull, den sie ihm zum Geburtstag geschenkt hat. Sonnen können auf- und untergehen, aber wenn für uns einst das kurze Tageslicht verlischt, bleibt uns eine ewige Nacht zum Schlafen. Lisa betrachtet das schmale Bett. Was ist ihm alles durch den Kopf gegangen, als er dort lag? »Gib mir tausend Küsse«, hatte sie gefordert, lang ausgestreckt auf seinem großen Bett in Rom. »… und dann noch hundert«, reagierte er sofort. »… und dann noch einmal tausend«, »und noch einmal hundert«, »und noch einmal tausend«, »… und noch hundert mehr. Und dann noch einen, und dann schlafen wir.« 210
Ob er an ihre Küsse gedacht hatte? Seine Mutter hat sich auf einen verschlissenen Lederstuhl gesetzt, auf dem sie ganz offensichtlich häufig allein ihren Gedanken nachhängt. Über dem Schreibtisch hängen Fotos von Hohlwegen. Lisa erschrickt, als sie auf einem der Bilder in einer via cava eine kleine Gestalt mit schulterlangem schwarzem Haar erkennt, die mit dem Rücken zum Fotografen steht. »Das ist Dionigi, ein Freund von Lorenzo«, erklärt die Mutter, die ihrem Blick gefolgt ist. »Ein Freund von ihm?« »Ja, er ist Geschichtslehrer in Pitigliano. Ein Künstler, er schreibt Gedichte. Ein netter Junge.« »Meinen Sie, ich könnte mich einmal mit ihm treffen?« »Ja, bestimmt. Ich gebe dir seine Telefonnummer.« An allem in diesem Zimmer kann man erkennen, daß Lorenzo wie besessen in seine Arbeit vertieft war, denkt Lisa. Nichts weist darauf hin, daß er an ein Ende dachte. »Anfangs hatten wir dauernd Besuch, dabei wäre ich oft viel lieber allein gewesen. Wenn niemand da war, habe ich mich hierhin gesetzt. Die Nachbarin sagt, wir müßten dieses Zimmer zu unserem Schlafzimmer machen, weil unser jetziges an der Straße liegt und wir in letzter Zeit unter dem Krach zu leiden haben, wenn die Kneipe schließt. Aber ich kann es nicht. In diesem Zimmer habe ich das Gefühl, er sei mir ganz nah. An schönen Abenden gehe ich gelegentlich hinaus in den Garten und schaue mir die Sterne an, und dann ist es manchmal, als tippe er mir auf die Schulter.« Lisa betrachtet wieder das ordentlich gemachte Bett. Die Zeit steht still, das Zimmer ist zu einem Heiligtum geworden. 211
»Neulich sagte jemand zu mir: ›Jetzt bist du doch sicher schon ein bißchen darüber hinweg, oder?‹ Aber man kommt nie darüber hinweg. Das einzige, worauf wir hoffen können, ist, daß wir irgendwann lernen, für die Zeit dankbar zu sein, die wir mit ihm verbringen konnten.« »Ich freue mich, daß wir uns kennengelernt haben«, sagt Lorenzos Mutter kurze Zeit später an der Tür, während sie Lisas Hand in der ihren hält. »In dir ist auch ein Teil von Lorenzo. Aber für dich muß das Leben weitergehen, mein Kind. Grüße bitte deine Freundin in Rom von uns, sie war sehr nett am Telefon.« Wieder sieht Lisa den warmen Blick Lorenzos in den Augen seiner Mutter. Als sich ihre Wangen berühren, kann sie ihre Tränen plötzlich nicht mehr zurückhalten. Betrübt und getröstet zugleich macht sie sich auf den Weg zurück zum Hotel. Durch das Treffen mit seinen Eltern ist etwas von ihr abgefallen, aber es hat auch wieder neue Fragen aufgeworfen. Dieser Besuch hat sie in den Zweifeln bestärkt, die sie schon seit langem hegt. Auch seinen Eltern ist nichts Merkwürdiges an ihm aufgefallen. Er war keineswegs niedergeschlagen gewesen, sondern gut aufgelegt wie immer. Er beschäftigte sich intensiv mit seinen Forschungen. Und auch der Brief hat in ihr ein komisches Gefühl hinterlassen. Der Text paßte einfach nicht zu ihm. Sie wird versuchen, sich mit Dionigi zu treffen. Als sie den Hotelbesitzer fragt, ob man nach Pitigliano und Sorano zu Fuß gehen könne, schlägt er ihr vor, mit Mario, einem Freund von ihm, mitzufahren. Lisa hat diesen Mann am Abend zuvor schon kurz im Restaurant 212
gesehen, wo er sich lautstark über die Segnungen des Archäologischen Parks ausgelassen hatte. »Mario fährt in einer halben Stunde. Er kann Sie auch herumführen. Er kennt sich sehr gut aus«, sagt der Wirt. Durch diese Mitfahrgelegenheit hat Lisa noch genug Zeit, Heleen anzurufen. Sie sei gerade zu einer Endoskopie gebracht worden, erklärt ihr eine Krankenschwester, die ansonsten nichts Genaues weiß. Danach ruft Lisa eine Freundin von Heleen in Amsterdam an. Von ihr erfährt sie, daß die Ärzte sich erst an diesem Morgen zu dem Eingriff entschlossen haben. Die Freundin sagt, ihrer Meinung nach sei die Tbc-Diagnose nur ein Strohhalm, an den die Ärzte sich klammerten, aber morgen wüßten sie wahrscheinlich mehr. Ein Stich durchfährt Lisa. Auch sie hatte sich an die Tbc-Diagnose geklammert wie an einen Strohhalm. Minutenlang bleibt sie regungslos in der dunklen Kabine stehen. Die Lampe ist kaputt. Dann öffnet sie die Tür, um die Nummer von Dionigi heraussuchen zu können. Es ist, als gehöre die Hand, die die Tasten drückt, einer anderen. »Pronto.« Eine tiefe, ruhige Stimme. »Hallo, ich bin Lisa, die Freundin von Lorenzo. Ich bin gerade bei seinen Eltern gewesen, und sie haben mir erzählt, daß Sie oft mit ihm zusammen waren.« »Ja, letzten Sommer, das stimmt.« »Ich wollte Sie fragen, ob wir uns vielleicht treffen könnten?« »Ja, natürlich. Wo sind Sie denn gerade?« »In Sovana.« »Möchten Sie, daß ich zu Ihnen komme?« 213
»Ich kann auch bei jemandem nach Sorano mitfahren.« »Ab halb vier habe ich Zeit.« Sie verabreden sich bei der Via Cava San Giuseppe in der Nähe von Pitigliano, die er oft mit Lorenzo zusammen durchwandert hat. Dionigi erklärt ihr, wie sie dorthin kommt. Er werde dort in seinem schwarzen Fiat auf sie warten. »Wenn Sie sowieso von Sorana kommen, müssen Sie sich unbedingt die Via Cava di San Rocco anschauen, einen sehr schönen Hohlweg, mit dem sich Lorenzo intensiv beschäftigt hat«, sagt Dionigi. »Von dort aus können Sie dann den Bus nach Pitigliano nehmen.« Lisa ist froh, daß sie sofort ein Treffen vereinbaren konnten. Dionigi konnte ihr sicher mehr erzählen. Vielleicht hatte Lorenzo mit ihm auch über sie gesprochen. Außerdem würde durch diesen Ausflug die Zeit schneller vergehen, bis sie in Erfahrung bringen konnte, wie es Heleen ging, die in diesem Augenblick auf dem Operationstisch liegt. Lisa geht zur Bar, bestellt ein Glas Rotwein und trinkt sich mit ein paar großen Schlucken Mut an. Mit einem Schwung geht die Kneipentür auf, und ihr Fahrer kommt mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Mario strotzt vor Selbstvertrauen, als sei er der Großfürst von Sovana. Er will ihren Wein bezahlen, aber das hat sie schon selbst erledigt. Sein blankgeputzter Wagen steht vor der Tür. Er wird sie an der Via Cava di San Rocco absetzen. Er würde sie gern begleiten, müsse aber leider zu einer Versammlung. Danach könne er ihr allerdings gerne die Stadt zeigen und sie nach Pitigliano bringen. Seine Stimme ist laut und ein wenig monoton. 214
»Ach, das ist wirklich nicht nötig.« Lisa lehnt sein Angebot dankend ab. Es tut ihr jetzt schon leid, daß sie diese Mitfahrgelegenheit angenommen hat. Er sei Bauunternehmer und habe augenblicklich viel mit der Konstruktion des Archäologischen Parks zu tun. Eine wichtige Aufgabe, denn die Leute kämen natürlich nicht nur wegen der Gräber. Sie würden komfortable Bungalowparks mit allerlei Attraktionen anlegen. »Direkt bei den Totenstädten?« fragt Lisa. »Ja, ganz in der Nähe jedenfalls, und da, wo wir nicht bauen können, werden wir Campingplätze errichten. Die Nekropolen selbst werden auch verschönert, wir werden Wege anlegen, Picknicktische aufstellen und so weiter.« Ob er Lorenzo Durante gekannt habe? Ja, er habe ihn gekannt, und sie hätten gelegentlich Meinungsverschiedenheiten gehabt. »Der arme Junge«, meint Mario. »Er war ein Träumer. Er war der Ansicht, in Sovana dürften keine neuen Häuser gebaut werden. Aber dann würde die Stadt zum Museum, und die jungen Leute gingen alle woanders hin.« Sie fahren etwa eine Viertelstunde lang durch eine unbesiedelte blühende Landschaft. Dann hält er bei einer kleinen, quietschorange gestrichenen Kirche an, die Sankt Rochus, dem Schutzheiligen gegen die Pest, geweiht ist. »Sie wurde im zwölften Jahrhundert gebaut und gerade frisch restauriert«, erklärt der Bauunternehmer. »Sieht aus wie neu«, bemerkt Lisa. Ihre Ironie entgeht ihm. Er lacht selbstzufrieden und geht ihr mit langen Schritten voraus zu einem Zaun, der an einem Abgrund entlangführt. Auf der anderen Seite, auf einer Tuffsteinklippe, liegt Sorano. Die Stadt scheint auf dem hohen Felsen zu schwanken. An einigen Stellen bröckelten die 215
Häuser ab, erzählt ihr Begleiter, sie würden nach und nach in die Tiefe geschoben. »Höchste Zeit, dort einmal kräftig anzupacken.« Von dem Feld aus, auf dem sie stehen, zeigt Mario hinüber zu grünen Hügeln. »Schau, das sind die Gräber. Es ist eine ganze Nekropole. Und da, siehst du, da drüben beginnt die Via Cava di San Rocco.« Ein Stück weit von ihrem Standort entfernt erkennt Lisa den Anfang des Weges, einen dunklen Spalt im Felsen. »Es waren wahrscheinlich heilige Wege, oder?« fragt sie, während sie darauf zugehen. Spöttisch lachend erwidert er: »Alles Phantastereien, das sind Theorien von Leuten mit zu viel Einbildungskraft. Fantarcheologia nennen wir so was. Es waren einfach nur Verbindungswege. Schau, da ist noch ein Grab.« Sie sind inzwischen am Anfang des Hohlweges angekommen, einem dunklen Tunnel, der sich in den Felsen bohrt. Lisa geht automatisch langsamer. Es ist, als schaue sie in die Eingeweide der Erde, wie der Chirurg in das Innere von Heleen. In der Mitte des Weges verläuft eine Rinne. »Die haben die Schafe und Esel ausgetreten«, erklärt Mario. Hatte dieser Typ jetzt etwa doch vor, sie zu begleiten? Lisa blickt an den haushohen Wänden zu beiden Seiten des Hohlweges empor, gemustert mit den schrägen Streifen der Meißelarbeiten. Was für eine wahrhaft übermenschliche Anstrengung es gekostet haben mußte, etwas so Großartiges zu erschaffen! »Ein normaler Verbindungsweg bräuchte doch nicht so tief zu sein?« bemerkt Lisa. 216
»Doch, denn so konnten sie eine geradere Strecke anlegen. Glaub mir: Das mit der Heiligkeit ist purer Unsinn. Ich habe selbst noch erlebt, wie Schafe und Esel durch diesen Weg getrieben wurden.« Sie findet, daß das kein sehr überzeugender Beweis ist. Dann sagt sie: »Sie brauchen mich jetzt nicht weiter zu begleiten. Sie kommen sonst noch zu spät zu Ihrer Versammlung.« »Mach dir darüber mal keine Sorgen.« Aber das tut sie, denn sie möchte dies hier gern allein erleben. »Schau, das ist eine Abflußrinne«, sagt er. Neben dem Weg verläuft eine Art paralleler Pfad, abgetrennt durch eine kleine Mauer. »Man kann sie entlanggehen«, sagt Lisas Begleiter. Das tut sie auch, aber weil der Weg eine Biegung beschreibt, stellt sie erst nach einer Weile fest, daß der Parallelpfad nicht ebenerdig weiterführt, sondern an der Felswand hochläuft. Der Hohlweg verschwindet unter ihr. Sie geht weiter, bis der Pfad weiter oben an einer steilen Stelle endet. Es könnte tatsächlich eine Abflußrinne gewesen sein. In einer Felswand auf der anderen Seite des Tals erkennt sie colombari, Taubenschlaggräber. Sie bleibt eine Weile stehen und schaut sie sich an, dann geht sie wieder zurück. »Einfach unglaublich, daß dieser Ort so gut wie unbekannt ist«, meint sie, als sie weiter dem Hohlweg folgen. »Ja, er könnte bestimmt zu einem beliebten Ausflugsziel für die Touristen werden. Der Park wird einfach super, mit Schwimmbädern, Golfplatz, Tennisplätzen und so weiter. Den Besuchern wird ein Komplettpaket ange217
boten, zu dem unter anderem auch organisierte Touren zu den Wegen und den Totenstädten gehören.« Das friedliche Totenreich würde also bald in eine Art Jahrmarkt verwandelt. »Ich habe hier auch colombari gesehen«, sagt Lisa. »Es gibt eine ganze Menge von ihnen in dieser Gegend. Sie dienten der Taubenzucht.« »Aber ursprünglich waren sie doch für die Urnen mit der Asche der Toten bestimmt?« wendet Lisa ein. »Schon wieder so eine Phantasiegeschichte! Zu der Zeit, als die Höhlen angelegt wurden, war die Einäscherung von Leichen gar nicht mehr üblich. Es ist erwiesen, daß Tauben darin gehalten wurden.« Lisa schaut ihn ungläubig an. »Sie wurden gegessen.« Mario zeigt mit dem Finger auf seinen offenen Mund, als würde sie ihn sonst nicht verstehen. »Die Leute, die solche Geschichten erzählen, wollen den Mythos von einem mysteriösen Volk, das sich mit mysteriösen Dingen beschäftigte, aufrechterhalten, deshalb suchen sie nach einer möglichst geheimnisvollen Erklärung – heilige Wege, Urnengräber –, aber dabei vergessen sie, daß es Menschen waren wie du und ich, die auch essen, trinken und ihre Sachen transportieren mußten.« Lisa hat keine Lust, sich auf eine Diskussion mit ihm einzulassen, deshalb zeigt sie auf eine Reihe von Kreuzen, die in die Mauer eingekerbt sind. »Die wurden später angebracht, zum Schutz vor bösen Geistern«, sagt er. Wenn sie ihn doch nur vertreiben würden! Aber er marschiert munter weiter. »Als ich klein war, habe ich viele Geschichten über die Hohlwege zu hören bekommen, etwa, daß man nachts 218
nicht hindurchgehen dürfe, weil dort Hexen hausten. Meine Großmutter hatte einen Esel, den holte sie nachts rein. Durch seinen Dung wurde die Luft feucht und warm, weshalb sein Rücken ganz naß war. Meine Großmutter war felsenfest davon überzeugt, eine Hexe schleiche sich in Gestalt einer schwarzen Katze ins Haus hinein und reite die ganze Nacht auf dem Esel durch die Hohlwege, deswegen sei er so verschwitzt«, erzählt Mario. Dann bleibt er stehen und sagt: »Beim nächsten Stück müssen wir uns beeilen. Schau mal.« Und er zeigt auf ein Teil der Wand, das von riesigen Baumwurzeln fast vollständig herausgedrückt wurde und drohend über dem Weg hängt. »Der Zustand dieser via cava hat sich in den letzten vierzig Jahren stark verschlechtert. Vor dieser Zeit wurde das Land dort oben bearbeitet, und Schößlinge hatten keine Chance, zu großen Bäumen heranzuwachsen.« Auf einem heiligen Weg umzukommen hätte schon einen eigenen Reiz, allerdings nicht zusammen mit diesem Mann. Oder würde Lorenzo dem Gestein einen Schubs geben und sie auf der anderen Seite erwarten? »Das muß alles noch in Ordnung gebracht werden, bevor hier Touristengruppen durchgeführt werden können«, sagt Mario. Das folgende Wegstück ist bereits restauriert worden. Hier ist es heller, weil es kein Blätterdach von überhängenden Bäumen gibt. Sie wurden gefällt, und gefährliche Überhänge im Felsen hat man mit kleinen Backsteinmauern abgesichert. Die Renovierungsarbeiten vermitteln den Eindruck, als seien sie in großer Eile durchgeführt worden, im Gegensatz zu der Geduld, mit der der Weg angelegt worden sein muß. 219
Von hier aus könne sie allein weitergehen, sagt Mario. »Sollen wir uns in anderthalb Stunden wieder in Sorano treffen?« fragt er. »Nein, vielen Dank, ich habe eine Verabredung.« Es geht ihn natürlich nichts an, mit wem, aber sie ist gespannt auf seine Reaktion. »Mit einem gewissen Dionigi. Seinen Nachnamen habe ich vergessen.« »Der Lehrer. Hmm. Das ist auch so jemand mit etwas viel Phantasie. Der glaubt, daß das heilige Wege waren, und zieht alle möglichen Theorien an den Haaren herbei. Mutter Erde und ähnlichen Blödsinn.« Er erklärt Lisa, wie sie weitergehen muß. Sie solle einfach dem Weg folgen, bis sie in einem Tal herauskomme. Es sei Privatbesitz, aber das sei kein Problem, denn er ist der Eigentümer. Dann müsse sie dem Fluß folgen, am Wasserfall vorbei, über eine Art Brücke aus Steinen, und dann an der Wassermühle vorbei den Abhang hinaufgehen. Durch einen weiteren Hohlweg komme sie dann automatisch in die Stadt. Mit seiner großen Pranke drückt er ihr so fest die Hand, daß ihr Ring schmerzhaft ins Fleisch schneidet. »Komm in einem Jahr wieder und schau dir an, was wir bis dahin aus dem Ganzen hier gemacht haben!« sagt Mario, läßt ihre Hand los und marschiert mit langen Schritten los zu seiner Versammlung. Bedächtig geht Lisa weiter auf dem schmalen Weg zwischen den turmhohen Felswänden. Es herrscht Totenstille. Nur ihre eigenen Schritte sind zu hören. Wie seltsam, daß Lorenzo ihr nie davon erzählt hatte. War es wirklich etwas, mit dem er sich erst kurz vor seinem Tod beschäftigt hatte, wie seine Mutter sagte, oder hatte er sie überraschen wollen? Das war gar nicht so un220
wahrscheinlich, wenn sie an gewisse Bemerkungen von ihm dachte. Er hatte oft gesagt, er fände es schade, daß wir alles schon aus dem Fernsehen und von Bildern her kennen würden. So könnten wir heutzutage nie mehr dieselbe überwältigende Bewunderung empfinden wie die Menschen in früheren Zeiten, wenn sie das Kolosseum oder die Pyramiden zum erstenmal mit eigenen Augen erblickten. Dionigi würde ihr sicher mehr darüber erzählen können. Der Weg endet in einem Wiesental, in dem nur das Rauschen von Wasser zu hören ist. Auf der gegenüberliegenden Seite ragt eine senkrechte Felswand empor. Der Fels geht in die Ruinen von Häusern über, von denen einige von Baugerüsten umgeben sind. Im Tal ist nichts erkennbar, das auf die heutige Zeit hinweist. Lisa wandert am Bach entlang in Richtung des Wasserfalls, den sie zwar nicht sehen kann, aber immer deutlicher hört, bis das Rauschen zu einem ohrenbetäubenden Donnern wird. Sie steigt einen Hang hinauf und hat von dort aus volle Sicht auf das hinabstürzende Wasser und eine Reihe von Steinen, die unten, dort, wo der Bach am meisten in Aufruhr ist, inmitten von weißem Schaum von einem Ufer zum anderen führen. Sie steigt den Hügel hinunter und balanciert vorsichtig von Stein zu Stein. In der Mitte des Bachs bleibt sie stehen und betrachtet die Erdschichten, die der Wasserfall freigelegt hat. Sie sind gefaltet wie Stoff, wie auch die ganze übrige Landschaft aus Falten besteht, Verwerfungen, in denen die Geschichte verborgen liegt. Wie in den Windungen ihres 221
Gehirns ihre Gedanken und Erinnerungen liegen, an Lorenzo, an Heleen. Sie war von Strukturen besessen gewesen, Strukturen von Gestein, von Sand, von Stoff, von Haut. Es hatte angefangen, als sie eines Tages durchs Gebirge wanderte, durch die Dolomiten. Nach einem Tag wuchs in ihr die Vorstellung, die Kräfte, die die Berge geformt hatten, seien auch in ihr wirksam. Zuerst hatte sie versucht zu zeichnen, was sie spürte, aber es gelang ihr nicht. Dann war sie mit riesigen Tüchern in die Berge gegangen, hatte sie über Felsstücke drapiert und dann mit einer Mischung aus Sand, Erde und Leim modelliert. Sie wollte die Haut der Erde nachbilden, mit ihrer eigenen Struktur und ihren unendlich vielen Variationen. Regelmäßigkeit konnte gefährlich sein. Nie schlug das Herz gleichmäßiger als vor einem Herzinfarkt, und bei einem epileptischen Anfall sendete das Gehirn absolut regelmäßige Signale aus. Heutzutage starb man doch nicht mehr an Tbc? Lisas Blick wandert am Felsen hinauf. Bäume balancieren am Rand. Manche hängen mit den Kronen nach unten, als kletterten sie den Berg hinauf. Ein paar sind bereits hinuntergestürzt und bilden eine provisorische Brücke über das schäumende Wasser. So ist auch er gefallen. So liegt er tot auf dem Grund ihrer Seele. Seinetwegen ist sie hier. Mit ein paar Sprüngen erreicht sie das andere Ufer. Dort ist kein Weg zu sehen. Sie geht am Hang entlang, hoch über verwahrlostem Weideland, das nach einer Weile in abgebröckelte Felsen, abgebröckelte Stadt übergeht. Der richtige Weg ergebe sich von selbst, hatte Mario ge222
sagt, aber das hier kommt ihr eher wie Freeclimbing vor. Sie fühlt sich wie eine Höhlenfrau aus einer Zeit lange vor den Etruskern. In ihren Schuhen stecken noch Affenfüße. Kletternd sucht sie die Felswand über sich nach dem Eingang zu einer via cava ab. Ein Stein rutscht unter ihr weg, sie fällt und greift mitten in ein Büschel Brennesseln, das ihre Hand verbrennt wie Feuer. Allmählich fängt es an zu regnen. Endlich sieht sie ein großes rundes Loch. Das wird der Hohlweg sein. Er gleicht allerdings eher einem Tunnel, der sich durch den kahlen Felsen hindurch bis zur Stadt bohrt. Sie wartet einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, bevor sie weiter hineingeht. Der Tunnel ist gewunden, und jeder einzelne ihrer Schritte knirscht und hallt darin wider. Sie hat das Gefühl, das Ganze könne jeden Moment einstürzen, aber dann dämmert Licht am anderen Ende, und plötzlich steht sie unter einem Baugerüst, das ein heruntergekommenes Haus umgibt. Hoch über ihr stapeln Maurer Steine aufeinander. Sie ruft ihnen etwas zu, um zu verhindern, daß sie welche davon auf den Kopf bekommt. Die Männer lachen erstaunt und zeigen ihr, wie sie gehen muß, nämlich mitten durch das Wohnzimmer, das voller Schutt liegt und in dem sich das Unkraut gierig ausbreitet. »Da haben Sie sich aber wirklich eine originelle Route ausgesucht«, sagt jemand. »Ich komme von der Via Cava di San Rocco. Man hat mir gesagt, der Weg in die Stadt ergebe sich ganz von selbst«, erklärt Lisa. »Das machen Ihnen wirklich nur wenige Leute nach«, lautet der Kommentar. 223
Die Männer erklären ihr freundlich, wie sie ins Stadtzentrum kommt. Über einige schmale Treppen erreicht Lisa einen Platz mit ein paar Kneipen und Cafés. Sie geht in das Lokal hinein, das auf sie den gemütlichsten Eindruck macht. An einem großen Tisch sitzen Männer und spielen Karten. Sie bestellt ein Glas Wein und ein Brötchen, setzt sich an einen kleinen Tisch und holt ihren Reiseführer über diese Gegend hervor. Als die Bedienung ihre Bestellung bringt, kommt ein alter Mann mit einer Schirmmütze auf dem zerfurchten Schädel herein. Er sagt: »Es kommt ein Film mit Toto im Fernsehen«, und setzt sich an den Tisch neben ihr, so daß sie genau zwischen ihm und dem Fernseher sitzt. Er schaltet den Apparat ein. Reklame. Was sonst. Zwei Jungen beziehen bei den Videospielen Position, und schon bald klingt aus dem einen Kasten das Gejohle eines ganzen Stadions und aus dem anderen eine Folge von hohen Tönen bei jedem Schlag eines Schwergewichts. Niemand stört sich daran, nur Lisa verschlingt mit wenigen Bissen ihr Brötchen, kippt ihren Wein hinunter und bittet um die Rechnung. Es regnet jetzt ziemlich heftig. Sie rennt über die Straße in ein anderes Lokal. Auch dort gibt ein Fernseher blödsinniges Zeug von sich, und dazu brüllen mehrere Leute lautstark in ihre Handys, aber ihr bleibt kaum eine andere Wahl, denn inzwischen gießt es wie aus Eimern. Sie geht zum Tresen, bestellt bei einer dicken mütterlichen Frau einen Espresso und entdeckt dann einen angrenzenden Raum, in dem niemand sitzt. 224
Ja, natürlich dürfe sie dort Platz nehmen. Auch hier stehen Spielautomaten, aber glücklicherweise hängen die Gäste alle entweder vor dem Fernseher oder stehen an der Bar. Lisa schaut auf die Uhr. Es ist noch zu früh, um Heleen anzurufen. Wahrscheinlich liegt sie noch im Operationssaal, oder sie kommt vielleicht gerade zu sich. Laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr eintretet, hatte Lisas Vater oft gebrummt, wenn sie an einem Krankenhaus vorbeikamen. Als sein Vater, Lisas Großvater, unerwartet starb, hatte er nachts um vier den behandelnden Arzt angebrüllt: »Selbst einen kerngesunden Elefanten würdet ihr hier innerhalb von zwei Tagen umbringen!« Lisa setzt sich ans Fenster und nimmt wieder ihren Reiseführer zur Hand. Dann kommen aber doch ein paar Jungen in den Raum, die den Spielautomaten innerhalb kürzester Zeit einen Höllenlärm entlocken. Draußen strömt noch immer der Regen nieder. Gelassen erträgt Lisa den Krach.
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Nebelschwaden hängen über dem Land. Lisa sieht Dionigi, der eine leichte Regenjacke trägt, schon von weitem. Sie erkennt ihn an seinem langen schwarzen Haar wieder, das ihr schon auf dem Foto in Lorenzos Zimmer aufgefallen ist. Er begrüßt sie ohne ein Lächeln. Dunkle Augen mit dem fernen, verträumten Blick eines Auguren, eines Sehers. »Hätte ich geahnt, daß es so stark regnen würde! Möchtest du dich vielleicht irgendwo unterstellen?« Er zeigt hinauf zum Städtchen Pitigliano, das ebenso wie Sorano auf hohen Felsen erbaut wurde, die ein Vulkan dort einst aus Lava aufgetürmt hat. »Ach, der Regen stört mich nicht«, antwortet Lisa. Hinter Dionigi ragt eine grüne Wand von hohen Bäumen mit dichtem Unterholz auf. »Liegt dort die via cava?« fragt Lisa. »Ja, eine von vielen«, erklärt Dionigi. »Hier am Fuße der Stadt gibt es mehr als zehn von ihnen, und dies hier ist die Via Cava di San Giuseppe, durch die Lorenzo oft gegangen ist. Es ist die kürzeste Verbindung nach Sovana.« 226
Dionigi geht ihr voraus, durch Brennesseln hindurch und über einen kleinen Bach in den Wald hinein. Unversehens verändert sich der freundliche kleine Pfad in einen geheimnisvollen Weg. Lisa bleibt stehen und schaut an den kolossalen Wänden hinauf, die hoch wie mehrstöckige Wohnhäuser emporragen. Ein Gang für Götter. Die Wände glänzen wie feuchte Haut. Lisa blickt Dionigi an und verspürt auf einmal ein Gefühl der Verbundenheit mit ihm. Zwei Zwerge in einer viel zu großen Welt. Sie sagt: »Weißt du, bis vor kurzem habe ich noch nicht einmal etwas von der Existenz dieser Wege geahnt. Vor zwei Tagen habe ich zum erstenmal einen Hohlweg gesehen, die Via Cava di San Sebastiano.« Dionigi antwortet mit einem Nicken. »Ich hatte das Gefühl, mich in einer anderen Welt zu befinden, oder auf dem Weg in eine andere Welt«, sagt Lisa. »Wer weiß, vielleicht ist es ja tatsächlich so«, meint Dionigi. »Es kommt mir so seltsam vor, daß ich noch nie etwas von diesen Wegen gehört oder gelesen habe und daß auch Lorenzo mir nie davon erzählt hat.« »Ach, weißt du, die meisten Archäologen interessieren sich gar nicht für sie. Die bücken sich lieber über die letzten Hälmchen auf einem abgegrasten Terrain, als sich als Pioniere auf eine terra incognita zu begeben, wo sie Gefahr laufen, auszurutschen oder auf einen Irrweg zu geraten.« Dionigis Stimme hallt von den Felswänden wider. »Ich habe auch gar nicht gewußt, daß Lorenzo sich mit den Hohlwegen beschäftigte«, sagt Lisa. »Doch, das hat er, und zwar aus purer Neugier. Seine Karriere war durchaus nicht das wichtigste für ihn.« 227
»Kanntest du Lorenzo schon lange?« »Nein. Ich habe ihn erst ein paar Monate vor seinem Tod kennengelernt. Aber letzten Sommer sind wir regelmäßig gemeinsam unterwegs gewesen. Auch mich faszinieren die Wege schon lange. Hab’ was über sie geschrieben.« Ab und zu müssen Dionigi und Lisa über Pfützen oder Schlammlöcher springen. Manchmal bleiben sie stehen und betrachten die Umgebung. Dionigi zeigt Lisa die seltenen Moose, die hier und dort wie Pelze auf den Wänden liegen, und Büschel von Frauenhaarfarn. »Bist du auch zusammen mit Lorenzo hier gewesen?« fragt Lisa. »Ja, mehrmals.« »Daß er mir so gar nichts davon erzählt hat!« »Ich glaube, er hat mit niemandem darüber gesprochen, einfach deshalb, weil es noch so viele offene Fragen gab.« In den felsigen Boden haben sich tiefe Spuren eingegraben, und neben dem Weg verläuft ebenfalls eine Abflußrinne mit hochgezogenem Rand. »Heute morgen bin ich in der Via Cava di San Rocco gewesen, wie du mir geraten hast«, erzählt Lisa. »Sie ist wirklich wunderschön.« »Ja, das finde ich auch.« »Sie wird gerade restauriert.« »Ja, aber viel zu übereilt. Die Leute fällen zwar die Bäume, lassen aber die Stümpfe mit den Wurzeln im Boden, so daß sie weiterhin Schaden anrichten können.« »Ein Mann namens Mario, ein Bauunternehmer, hat mich ein Stück begleitet.« »Er ist nicht nur Bauunternehmer, sondern auch Politiker.« 228
»Kennst du ihn?« »Ja, allerdings.« »Er behauptet, die Hohlwege hätten nur zum Transport von Gütern gedient.« Dionigi lächelt resigniert. »Wir leben in einer materialistischen Zeit, und für viele Leute ist es schwer vorstellbar, daß die Menschen früher einmal das Leben von einer anderen Warte aus betrachtet haben. Wenn dies Transportwege gewesen wären, warum hat man sie dann dreißig Meter tief angelegt, und warum verlaufen viele von ihnen parallel zueinander? Teilweise laufen sogar zwei Wege zu beiden Seiten einer einzigen Mittelwand entlang, so wie bei der Via Cava di San Sebastiano zum Beispiel, in der du gewesen bist.« »Ich habe keinen Parallelweg gesehen.« »Nein, durch einen Einsturz ist er schwer zugänglich. Aber es gibt noch andere Besonderheiten, die darauf hinweisen, daß die Hohlwege keine gewöhnlichen Verbindungswege waren. Zum Beispiel führen sie immer durch eine oder zu einer Nekropole. Oft befinden sich auch Gräber in den Seitenwänden der Wege, meistens in großer Höhe. Schau, dort oben kannst du welche sehen.« Er zeigt auf einige Öffnungen in der Felswand. »Sie sind nur von oben aus zugänglich.« Der Weg geht plötzlich in eine Treppe mit ausgetretenen Stufen über. »Paß auf!« mahnt Dionigi. Nach der letzten Stufe verläuft der Weg einen Meter tiefer weiter. Dionigi springt hinunter, dreht sich um und reicht Lisa die Hand. Gebräunt, mit schlanken Fingern, und ohne Ring, was Lisa nicht weiter verwundert. Sie nimmt seine Hand und springt. Hier und dort sind Teile der Wand abgerutscht, an 229
manchen Stellen ist sie eingestürzt, in der Tiefe verschwunden, und Lisa steht plötzlich am Rande eines Abgrunds. Dionigi erklärt Lisa, daß es in diesen Schluchten allerlei seltene Pflanzen und Tiere gebe, die dort abgeschirmt vom Rest der Welt weiterexistierten, da sich ihre Umwelt während der letzten tausend Jahre im Grunde überhaupt nicht verändert habe. Lisa blickt in die Tiefe und ist mit ihren Gedanken wieder bei Heleen. Jetzt werden sie es wohl wissen. Bitte mach, daß es Tbc ist! Und um Himmels willen kein Krebs! Laß Heleen jetzt erleichtert im Bett liegen! denkt sie. »Auf diesem Berg nisten Falken, und neulich bin ich hier einem Wildschwein begegnet, mitten auf dem Weg«, erzählt Dionigi und reißt Lisa dadurch aus ihren Gedanken. »Es gibt auch wieder Wölfe in dieser Gegend. Die Gebietsverwaltung hat sie heimlich angesiedelt, weil sich die Wildschweine zu stark vermehrt hatten. Die Wölfe sollen dafür sorgen, daß der Wildschweinbestand ausgedünnt wird, weil die Tiere ganze Kornfelder umpflügen und plattwalzen. So wird das natürliche Gleichgewicht wiederhergestellt, ein harmonisches Zusammenleben, in dem jeder seine Aufgabe hat. Übrigens kann ein einziger Wolf zwar eine ganze Schafherde töten, ergreift aber die Flucht, sobald er einen Hund bellen hört. Die maremmani, die weißen Maremmenhunde, die bei uns die Schafe bewachen, werden jetzt deshalb speziell dazu ausgebildet, Wölfe zu erkennen, eine Fähigkeit, die sie mit der Zeit verlernt hatten. In sehr früher Zeit wurde hier übrigens ein göttliches Wolfspaar angebetet, Soranus und Feronia. Daher kommt der Name Sorano, und auch das Bild von der Wölfin von Rom hat etwas mit diesem Kult zu tun.« 230
Dionigi erzählt Lisa, er sei dabei, eine Studie zu diesem Thema zu verfassen, und er habe auch mit Lorenzo häufig darüber gesprochen. »Wir haben uns in den Orsinipark gesetzt, hier in Nähe, auf die Sitze am Rande des Abgrunds.« Lisa erschauert. »Kennst du diesen Park?« fragt Dionigi. Lisa schüttelt den Kopf. »Er ähnelt dem Park von Bomarzo.« »Den kenne ich.« »Der Orsinipark ist mindestens genauso phantasievoll. Aber neben Monstern und Phantasietieren gibt es dort auch riesige Sitze, die am Rande einer Schlucht in den Stein gehauen wurden. Lorenzo saß gerne dort und unterhielt sich.« »Der Abgrund hat ihn also angezogen.« »Nicht in dem Sinne, wie du meinst.« Lisa spürt den inneren Drang, Dionigi danach zu fragen, was er über Lorenzos Tod denkt. Aber Dionigi ist inzwischen schon wieder bei einem anderen Thema, und die Gelegenheit ist vorüber. Er vermisse diese Gespräche, sagt er. »Die meisten Leute halten mich für einen weltfremden Verrückten, einen Phantasten. Lorenzo dagegen war offen für alles. Er interessierte sich für meine Theorien, obwohl er nicht immer meiner Meinung war. Er verfügte über umfangreiche Kenntnisse, und der Gedankenaustausch mit ihm war sehr anregend für mich. Wir hatten jede Menge Pläne. Nach dem Projekt mit den Wegen wollten wir gemeinsam das Fanum Voltumnae suchen.« Seine Stimme wird leiser. »Den Tempel des höchsten Gottes, Voltumna, das wichtigste Heiligtum der Etrusker. Es wurde bis heute nicht 231
gefunden. Aber ich weiß, wo es liegt, gar nicht so weit von hier. Auf einem Berg in einem dichten Eichenwald, in der Nähe eines Sees. Ich habe Lorenzo alles darüber erzählt, und wir sind zusammen dort gewesen. Man konnte ihm vertrauen. Jeder andere hätte aus diesem Geheimnis Profit geschlagen.« Vielleicht hatte Lorenzo ihr nichts von den Hohlwegen erzählt, um Rücksicht auf Dionigi zu nehmen. Anderseits hatte er versprochen, er würde ihr geheimnisvolle Orte zeigen, wo praktisch nie ein Mensch hinkomme. Dionigi zeigt auf einen Abhang auf der anderen Seite. »Dort drüben verläuft noch eine via cava.« Lisa sieht jedoch nur wucherndes Grün. »Gibt es hier eigentlich auch eine Nekropole?« fragt sie. »Ja, hier, hinter der Wand der via cava. Ein Stück weiter unten im Hang liegen sehr viele Gräber.« »Und die werden nicht freigelegt?« »Nein, außer von den tombaroli. Ja, ich weiß, sie sind Diebe, aber es sind im Grunde keine bösartigen Gesellen, und wirklich reich werden sie sowieso nie.« Dionigi erzählt, er kenne einen dieser illegalen Ausgräber, der sich vor einiger Zeit seine eigene Nekropole gekauft habe, um in aller Ruhe seinem Hobby frönen zu können. Doch als er gerade dabeigewesen sei, das erste Grab leerzuräumen, sei plötzlich die Polizei auf seinem Grundstück erschienen und habe ihn eingesperrt. Er habe die Nekropole wieder verkauft und stecke jetzt bis zum Hals in Schulden. »Es nimmt nie ein gutes Ende mit ihnen, sie sind Träumer, bunte Vögel und schreckliche Angeber. Am liebsten würden sie an jedem Grab, das sie öffnen, ihr Namensschild anbringen«, meint Dionigi. 232
»Der tombarolo, den ich kenne, ritzt immer seinen Namen ins Innere des Grabes ein«, sagt Lisa. Antero hatte es ihr erzählt. Lisa fragt sich, was sie wohl in dem Grab mit den roten Vögeln finden würden, das sie zusammen entdeckt hatten. Antero hatte Angela versprochen, sie würden erst hineingehen, wenn Lisa wieder zurück sei. Regentropfen glitzern in Dionigis schwarzem Haar. »Hat Lorenzo denn auch einmal von mir gesprochen?« fragt Lisa unvermittelt. »Er hat erzählt, daß er dich in den Niederlanden besuchen wollte«, antwortete Dionigi. Lisa wartet darauf, daß er noch mehr sagt, aber er scheint es dabei belassen zu wollen. »Und sonst nichts?« fragt sie nach. »Wir haben nie über die Liebe gesprochen, sondern immer nur über die Etrusker und über unsere Forschungen«, antwortet Dionigi. Nach einer kurzen Pause fährt er hastig fort: »Es gibt hier übrigens noch mehr Geheimnisvolles zu entdecken. Die ganze Gegend ist von Gängen und Tunneln durchzogen, die in den Fels gehauen wurden.« »Sind sie anders angelegt als die Hohlwege?« »Ja, sie sind gerade groß genug, um einen Menschen durchzulassen. Nach oben hin sind sie geschlossen, wie eine Art Röhre, und sie sind oft Hunderte von Metern lang. Meist beschreiben sie eine u-förmige Kurve, so daß der Ausgang nur ein paar Meter vom Eingang entfernt liegt. Bei ihnen kann es sich also keinesfalls um Verbindungswege handeln.« »Aber um was denn sonst?« »Das ist bislang noch ein Rätsel. Die Archäologen wagen sich nicht an sie heran. Ich glaube, daß sie eine sakra233
le Bedeutung hatten, genau wie die Hohlwege. Natürlich wurden die Hohlwege in späterer Zeit als Verbindungswege genutzt, aber meiner Meinung nach standen sie ursprünglich in einem bestimmten Zusammenhang mit dem Mysterienkult und der Verehrung der großen Muttergöttin.« Lisa war von Anfang an davon überzeugt gewesen, daß die Wege eine ganz besondere Bedeutung gehabt haben müssen. »Mysterienkulte waren lange Zeit in den Mittelmeerländern weit verbreitet. Sogar Alexander der Große gehörte zu den Anhängern eines solchen Kultes. Wahrscheinlich wurden dabei Naturphänomene auf dramatische Weise nachvollzogen, ähnlich wie der Raub der Persephone durch Hades in der griechischen Mythologie.« Lisa erinnert sich wieder daran, wie sie zusammen mit Lorenzo die Statue von Bernini betrachtet hatte. Sie hatten die Abdrücke bewundert, die die Finger des Unterweltgottes in den Schenkeln der Göttin hinterließen. Der Marmor war Fleisch geworden. Persephone kehrte jedes Jahr mit dem Erwachen der Vegetation auf die Oberwelt zurück. Dionigi erzählt weiter: »Das Sterben und die Wiedergeburt der Natur wurde auch als Abstieg des Vegetationsgottes in den Schoß seiner Geliebten, Mutter Erde, gesehen, aus dem er dann wiedergeboren zurückkehrte.« Die Anhänger der Kulte glaubten, durch den Tod und die Wiedergeburt der von ihnen verehrten Gottheit Anteil an ihrem ewigen Leben zu haben. Während ihrer Unterhaltung spazieren Dionigi und Lisa langsam weiter. Ab und zu bleiben sie stehen, ohne ihr Gespräch dabei zu unterbrechen. Lisa lauscht verwundert 234
Dionigis Geschichten und stellt sich vor, wie er hier zusammen mit Lorenzo entlanggewandert ist. »Daß etruskische Frauen im Vergleich mit den Griechinnen und den Römerinnen größere Freiheiten hatten, könnte mit dem Kult der Muttergöttin zusammenhängen. Die Etrusker gaben auch den Namen der Mutter an, und in den Gräbern findet man Gegenstände, auf denen vermerkt ist, daß sie dieser oder jener Frau gehörten. In einem griechischen Grab würde man nie etwas Derartiges finden, denn sogar das Geschirr gehörte dem Mann.« Ein Teil der Wand ist eingestürzt und quer über den Weg gerutscht. Eine Statue des heiligen Josef, nach dem dieser Weg benannt ist, ist mit umgekippt und hängt jetzt schief, als sei er betrunken. »Wie kommt es, daß dieser Weg nach Josef benannt ist?« will Lisa wissen. »Alle Hohlwege tragen Namen christlicher Heiliger«, erklärt Dionigi. »Ursprünglich natürlich nicht, da sie schließlich Jahrhunderte vor der Geburt Jesu Christi entstanden sind. Trotzdem sind auch die Heiligennamen ein Hinweis darauf, daß es sich bei den vie cave nicht einfach um gewöhnliche Wege handelte. Außerdem wurde an fast jeder via cava eine Kapelle oder Kirche errichtet, und dazu sind die Wände der Wege, wie du ja gesehen hast, oft über und über mit eingeritzten Kreuzen bedeckt, um den Teufel zu verjagen und das Heidentum zu bannen. Wahrscheinlich wollten auch die ersten Christen auf ihre Weise die religiöse, magische Kraft dieser Wege nutzen. Aus demselben Grund wurden ja auch oft auf Tempelfundamenten Kirchen errichtet.« Während Dionigi erzählt, wandern sie weiter, und Lisa 235
genießt die idyllische Umgebung. Kleine junge Farne wachsen auf dem Fels, zwischen denen sich Spinnweben spannen wie Hängematten, und Efeu breitet seine Ranken aus wie zu einer Umarmung. Manchmal fällt ein Lichtstrahl durch die Blätter hoch über ihnen, als würde ein Filmscheinwerfer eingeschaltet, aber die meiste Zeit liegt der Weg vollständig im Schatten. Lisa hat den Eindruck, daß es Dionigi schwerfällt, über Lorenzos Tod zu sprechen, und er deswegen ununterbrochen erzählt. Aber sie will trotzdem versuchen, soviel wie möglich von ihm zu erfahren. »Jedes Jahr am 19. März, am Sankt-Josefs-Tag, findet hier eine Prozession statt. Das ist ein Spektakel, das mußt du unbedingt einmal miterleben! Kräftige Männer laufen mit riesigen brennenden Fackeln durch die via cava, und es wird Musik gemacht und getanzt. Durch all die Schatten, die auf den Wänden tanzen, wirkt der Weg dann noch mysteriöser. Der Umzug beginnt bei der Statue des heiligen Josef und endet auf dem großen Platz in der Stadt, wo dann ein Feuer angezündet und ein Fest gefeiert wird. Meiner Meinung nach stammt dieser Brauch noch aus etruskischer Zeit.« Das Fest falle gewiß nicht zufällig mit dem Beginn des Frühlings, also mit der Rückkehr des Lichts zusammen, meint Dionigi. Möglicherweise werde damit der Rückzug in die Unterwelt, hinunter zu Mutter Erde ins Totenreich, symbolisch nachempfunden und anschließend die erneute Rückkehr zur Oberwelt gefeiert. »Josef ist der Schutzheilige der Handwerker. Er wurde bestimmt nicht beliebig ausgewählt, wenn man bedenkt, wie viele Hände an diesem Weg mitgearbeitet haben. In der Antike war Pallas Athene die Schutzgöttin der Hand236
werker, und es könnte durchaus sein, daß der Weg früher ihr geweiht war.« Lisa denkt wieder an ihren und Lorenzos Besuch in der Nekropole unter der Peterskirche zurück. Nicht weit von der Statue der Isis entfernt befand sich ein Mausoleum aus dem 1. Jahrhundert mit einem Mosaik, das Jesus als aufgehende Sonne zeigte. An seinem Geburtstag, dem 25. Dezember, wurde früher der Tag des Sonnengottes Mithras gefeiert. »Heutzutage wird hier über uns eine Oblate gegessen, um an der Gottheit teilzuhaben, aber schon in früheren Zeiten gab es einen Brauch, bei dem die Menschen ein Stückchen von einem Brot in Form des Vegetationsgottes aßen, der im Herbst in die Unterwelt hinabstieg, um im Frühjahr wieder aufzuerstehen«, hatte Lorenzo ihr erklärt. »Und in den Niederlanden essen wir Figuren aus Lebkuchen- und Spekulatiusteig zu Ehren des heiligen Nikolaus, der wiederum dem germanischen Gott Wotan verdächtig ähnelt«, hatte Lisa daraufhin erzählt, um auch einen Beitrag zu diesem Thema zu liefern. Später hatten sie sich dann eine Weile mit einem freundlichen flämischen Priester unterhalten, der ebenfalls viel über den Zusammenhang zwischen antiken Traditionen und Christentum wußte. Nein, sein Glaube sei aber davon bisher nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, meinte er, denn all diese Licht- und Vegetationsgötter seien doch nur Schatten gewesen, die Christus vorausgeworfen habe. »Meiner Meinung nach ist diese Gegend das religiöse Zentrum der Etrusker gewesen«, fährt Dionigi fort. »Es muß nach einem heiligen Plan angelegt worden sein, mit der Stadt Bolsena als Mittelpunkt, wo viele Jahrhunderte lang religiöse Feste abgehalten wurden.« 237
Wenn es so wenig konkrete Beweise gibt, denkt sich Lisa, sagt eine Interpretation in erster Linie etwas über denjenigen aus, von dem sie stammt. »Was war denn Lorenzos Meinung dazu?« fragt sie. »Er war noch dabei, verschiedene Erklärungen und Theorien zu sammeln. Zum Beispiel ist er einmal mit einem schwedischen Professor hier gewesen, der davon überzeugt war, daß die Hohlwege auf magnetischen Linien liegen würden, die durch die Vulkane entstanden seien. Schließlich konnten die Etrusker ausgezeichnet mit der Wünschelrute umgehen, denk nur mal an die Brunnen, die sie problemlos zu finden wußten. Auch Lorenzo und der Schwede sind hier mit Wünschelruten unterwegs gewesen.« Und all diese Dinge hatten sich abgespielt, während sie in den Niederlanden mit ihren Skulpturen beschäftigt gewesen war und sich nach einem Wiedersehen mit Lorenzo gesehnt hatte. Lisa fühlt sich ausgeschlossen. »Ich begreife immer noch nicht, warum er mir nichts davon erzählt hat. Wir haben doch so oft miteinander telefoniert!« »Vielleicht wollte er dich ja überraschen. Das wäre typisch für ihn gewesen.« Aus der Ferne dringt ein Dröhnen und Brummen zu ihnen hinüber. Durch eine Öffnung in der Felswand sieht Lisa, wie am Berghang auf der anderen Seite Bäume gefällt werden. Wie Ameisen schleppen die Menschen die Stämme herum. Wenn das Kreischen der Sägen kurz verstummt, hört man nur das Rauschen des Bachs im Tal. »Das ist das Werk von Mario. Der gesamte Wald wird gerodet, um Platz für eine Feriensiedlung zu schaffen«, erklärt Dionigi. 238
Schweigend beobachtet Lisa, wie eine große Pinie zu Boden geht. »Und wenn die Arbeiter auf archäologische Fundstätten stoßen, Gräber zum Beispiel?« fragt sie. »Wenn sie sie an einer Stelle finden, wo es ihnen nicht in den Kram paßt, halten sie den Mund und gießen Beton drauf.« Sie kommen wieder an ein Stück Weg, wo die Wände auf beiden Seiten noch intakt sind. Lisa denkt bei sich, man brauche doch wirklich nur die Augen aufzumachen, um zu erkennen, daß dieser Weg nichts mit dem gewöhnlichen Alltagsleben zu tun hat, wie Mario behauptete. Außerdem gab es sowieso kein gewöhnliches Leben. Das Leben war absolut ungewöhnlich. Und die Etrusker hatten das gewußt. »Lorenzo hatte einmal eine heftige Auseinandersetzung mit Mario. Er verlangte, daß sämtliche Arbeiten unter der Aufsicht eines Sachverständigen durchgeführt würden, der hundertprozentig hinter seiner Aufgabe stünde. Aber jetzt liegt alles in der alleinigen Verantwortung der Bauunternehmer. Der Form halber sind zwar ein paar Archäologen dabei, aber die stehen auf gutem Fuß mit den großen Bossen. Verstehe mich bitte nicht falsch, ich bin durchaus dafür, daß dieses Gebiet für ein größeres Publikum erschlossen wird, aber es darf nicht zu einer Art Disneyland entarten. Hast du die Sankt-RochusKirche gesehen?« »Ja, gestrichen in der niederländischen Nationalfarbe.« Dionigi lacht. »Ja, genau. Vorher war es eine schöne alte Ruine aus Naturstein.« Er schaut mit finsterem Blick in die Ferne. »Vielleicht ist diese Geschichte Lorenzo zum Verhängnis geworden.« 239
Lisa dreht sich mit einem Ruck zu ihm um. »Was willst du damit sagen?« »Die Typen vom Baugewerbe schrecken vor nichts zurück.« Lisa sagt nichts dazu. »Schließlich geht es um Hunderte Millionen …«, gibt Dionigi zu bedenken. »…« »Diese Geschichte mit dem Selbstmord will mir einfach nicht in den Kopf.« Lisa bleibt stehen. Ihr stockt der Atem. Bedrohlich ragen die Wände neben ihr auf. Sie hat das Gefühl, daß die Welt kippt, die Wände des Hohlwegs umfallen, gegeneinanderstürzen und sie unter sich begraben. Sie lehnt sich an den Fels, der kühl und feucht ist. »Aber ich habe keinerlei Beweise«, sagt Dionigi leise. Lisa sieht seine Augen wie durch einen Nebel, besorgt, erschrocken. Seine Stimme kommt von weit her. »Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe, Lisa. Es ist nichts weiter als eine Vermutung.« Was hatte Lorenzo nachts in Tarquinia zu suchen, wo er doch mit diesen Hohlwegen beschäftigt war? Hatten sie ihn aus dem Weg geräumt? War er von einem angeheuerten Profikiller vom Tempel gestoßen worden? »Komm«, sagt Dionigi. Er nimmt sie bei der Hand und zieht sie mit sich zu einem Stück des Weges, dessen Seitenwand eingebrochen ist. Auf der anderen Seite führt ein steiler schmaler Pfad den Berg hinunter. Über den Schlamm rutschend klettern sie hinab und schlagen sich durch das dichte Gebüsch, bis sie zu einer Öffnung im Felsen gelangen. 240
Es handelt sich um ein teilweise verfallenes Taubenschlaggrab, dessen Eingang hinter der dichten Vegetation im Tal versteckt liegt. Dionigi und Lisa setzen sich auf eine Felsbank. Durch ein großes Loch in der Seitenwand beobachten sie, wie der Regen ununterbrochen weiterfällt. Lisa betrachtet die Fächer in der Wand. Fächer voller Bilder, Wörter, Momente. Der Tempel der Artemis bei Nacht. Ein Arm, der einen Stoß versetzt. Die glücklichen Augen des dreijährigen Jungen. Die lustigen Augen von Heleen. Sie war auf das Leben losgestürmt wie früher, als sie Pferd spielte, aber das Hindernis war zu groß, sie ist gestolpert. Die Luft ist raus, sie hat zu große Verletzungen erlitten. Lorenzo ermordet? Sie hatte sofort gespürt, daß dieser Mario ein Grobian war. Er hatte ihr nie richtig in die Augen gesehen. »Es tut mir leid«, sagt Dionigi wieder. »Ich bin mir ja auch nicht sicher.« »Gibt es irgendwelche Hinweise? Haben sie sich gestritten?« fragt Lisa. »Eines Abends unterbreitete Mario den Bewohnern dieser Gegend seine Pläne, und dabei ist Lorenzo ziemlich ausfallend geworden. Du weißt ja, wie er sein konnte. Er nahm kein Blatt vor den Mund, seine Darlegungen waren sehr deutlich, und er bekam viel Beifall.« Wenn Lorenzo sich über etwas aufregte, war er nicht zu bremsen, auch wenn er sich selbst mit seiner Haltung schadete. So hatte er sich beispielsweise einmal furchtbar mit einem seiner Professoren angelegt, und es war ihm 241
dabei völlig egal gewesen, daß dies womöglich einen negativen Einfluß auf seine Karriere hätte haben können. »Aber du glaubst anscheinend auch nicht, daß er sich selbst …« sagt Lisa. »Daß er seinen Tod selbst gewählt hat? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Wie ich schon sagte: Lorenzo hatte so viele Pläne.« Dionigi schweigt einen Moment und sagt dann: »Wir hatten eine Verabredung an dem Tag, an dem er begraben wurde.« Dionigi sieht, daß Lisa weint, und rückt näher zu ihr. Er schaut sie an und wischt ihr die Tränen von den Wangen. »Ich hätte nicht in die Niederlande fahren dürfen, dann wäre es nie passiert«, schluchzt sie. »So etwas darfst du nicht sagen.« »Wie soll man nur weiterleben, wenn die Menschen, die man am meisten liebt, sterben?« Er nimmt ihre Hände, die naß sind vom Regen. »Das ist die Kunst – zu lernen, mit dem Tod umzugehen. Für jeden von uns. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben.« »Das tut mir leid!« »Aber jemanden an das Leben zu verlieren ist manchmal noch schlimmer. Meine Freundin hat mich verlassen und lebt jetzt mit einem anderen zusammen. Manchmal habe ich bei mir gedacht: Wenn sie doch nur gestorben wäre! Dann wären mir zumindest die guten Erinnerungen geblieben. Aber du kannst Lorenzo nicht wieder zum Leben erwecken, indem du auf dein eigenes Leben verzichtest.« Er streichelt ihre klammen Hände. Sie sieht sich selbst dort sitzen, in einem Grab, Hand in Hand mit einem echten Etrusker. 242
Wieder wischt er ihr die Tränen weg und schaut sie ernst und besorgt an. Dann drückt er ihr einen Kuß auf die Stirn. Sie schlägt die Arme um ihn und drückt ihren Kopf an seinen Hals. Seine Haare sind naß und seine Jacke auch. Ihre Tränen sind warm. Er streichelt ihren Rücken, ihr nasses Haar. Sie spürt, wie ihr ausgekühlter Körper anfängt zu glühen. Sie beugt den Kopf nach hinten und schaut ihn an. Sein forschender Blick, der ihr so gut gefällt! Er lächelt und küßt sie auf den Mund. Und dann küssen sie sich auf einmal richtig. Es ist, als würde durch alle kalten Hohlwege ihres Körpers wieder Blut strömen. Als sie sich voneinander lösen, schauen sie sich mit leichter Verwunderung an. Das war das letzte, was Lisa erwartet hätte. Er war ihr so priesterlich, so würdevoll und entrückt erschienen, aber vielleicht war es gerade das, was sie anzog. Sogar dieser Kuß hatte etwas Sakrales. »Du darfst nicht aufgeben«, sagt er. »Lorenzo hätte es so gewollt. Er selbst hätte auch weitergemacht. Irgendwann wird es auch einmal Zeit von deiner Trauer Abschied zu nehmen.« Er steht auf und sagt: »Komm, ich möchte dir noch etwas zeigen.« Sie folgt ihm nach draußen, durch das wilde Gestrüpp, bis er vor einer Höhle stehenbleibt. »Geh nur hinein!« Lisa betritt einen Gang, kaum breiter und höher als sie selbst. Sie geht ein paar Schritte und bleibt dann stehen. Es ist stockfinster. Dionigi ist dicht hinter ihr und hat ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. 243
»Das ist einer der Gänge, von denen ich dir erzählt habe«, sagt er und schaltet eine Taschenlampe ein. Lisa schaut in einen Tunnel hinein, der in der Dunkelheit des Berges verschwindet. Wie ein neuer Gang in dem Labyrinth, in dem sie so lange Zeit herumirrte – als habe sie immer noch nicht herausgefunden. Aber sie ist ja tatsächlich noch nicht draußen. Sie hat noch immer keine Antwort gefunden. »Dieser Gang ist mehrere Hundert Meter lang«, erklärt Dionigi. »Er beschreibt einen Bogen und endet hier ganz in der Nähe.« Vielleicht haben diese Gänge zum rituellen Eintritt in die Unterwelt gedient, hinunter zu Mutter Erde, um dann wieder daraus hervorzutreten, geläutert, wiedergeboren. Einen Moment stellt sie sich vor, Lorenzo tauche aus der Ferne auf und komme langsam auf sie zu. »Sie erinnern an die Labyrinthe, von denen es in dieser Gegend auch eine ganze Menge gibt. Nicht weit von hier befindet sich ein besonders schönes und geheimnisvolles. Auf der Kuppel, die darüber erbaut worden war, standen früher geflügelte Tiere als Symbol für die Wiedergeburt.« Man habe Bruchstücke von ihnen gefunden. »Komm mit!« sagt Dionigi, geht ihr voraus nach draußen und sucht zwischen den Sträuchern herum. Dann bückt er sich, pflückt einen wilden Spargel und gibt ihn ihr. Sie beißt ein Stück ab. »Der Legende nach sind Spargel die Seelen der Toten«, sagt Dionigi lachend. »Und sie wachsen tatsächlich oft in der Nähe von Gräbern.« Dann findet er, was er sucht. Sie folgt ihm in ein Grab mit Totenbetten auf beiden Seiten. Mit der Taschenlampe leuchtet er auf die Rückwand, die eine Öffnung aufweist. 244
Er klettert hindurch und springt hinunter, reicht ihr die Hand und richtet den Strahl der Lampe auf den Boden. Als sie sicher auf der Lichtpiste gelandet ist, leuchtet er nach oben. Sie befinden sich in einem breiten Tunnel, dessen Decke sorgfältig rechteckig ausgearbeitet wurde. Der Gang ist mindestens drei Meter breit, und ab und zu tauchen im Lichtkegel von Dionigis Taschenlampe Nischen auf, in denen früher möglicherweise Statuen oder Öllampen standen. Dionigi weist Lisa auf eine runde Öffnung in der Decke hin, durch die Licht hineinfällt und deren obere Mündung von einer Art steinernem Deckel halb verschlossen wird. »Lorenzo und ich sind mit einem Professor aus Peru hier gewesen, der uns erzählte, daß die Inkas ebensolche Tunnel angelegt haben, in denen noch heute Prozessionen stattfinden. Und unter jeder solcher Lichtöffnungen machen diese Prozessionen halt.« Während Dionigi das letzte Wort ausspricht, geht er einen Schritt nach vorne und steht im Lichtbündel, das durch die Deckenröhre hineinfällt. »Wiedergeboren«, sagen sie beide gleichzeitig mit einem Lächeln. Sie gehen vorsichtig weiter, vorbei an schwarz glänzenden Wasserpfützen, und passieren unterwegs noch zwei weitere Lichtröhren. Am Ende des Tunnels, knapp über dem Boden, ist der Eingang zu einem weiteren, sehr schmalen Gang zu sehen. »Er führt hier zweifellos weiter und mündet womöglich noch in allerlei anderen Kammern. Hier gibt es noch viel zu entdecken!« sagt Dionigi. Dann kehren sie um und klettern durch das Grab wieder nach draußen. 245
Die Blätter der Pflanzen wirken grüner denn je. »Man muß mindestens einmal sterben, um leben zu können«, sagt Dionigi leise. Am fonte dell’olmo, dem Ulmenbrunnen, nehmen sie voneinander Abschied. Aus dem Maul eines Meereswesens sprudelt ein heller Wasserstrahl. Sie halten die Hände darunter und trinken. »Wahrscheinlich hat hier in etruskischer Zeit ein Heiligtum gestanden«, sagt Dionigi. »Den Etruskern war alles heilig, Grotten, Berge, Brunnen, Bäume.« In der Ferne ist noch immer das Kreischen einer Motorsäge zu hören. »Die Zivilisation auf dem Vormarsch«, bemerkt er mit einem zynischen Lächeln. »Das Goldene Zeitalter liegt weit hinter uns«, meint Lisa. »Ja, und wir sind inzwischen im Zeitalter des Schlamms gelandet«, erwidert er darauf und deutet auf den sumpfigen Tümpel, in dem sie stehen. Sie lachen. »Aber dieses Zeitalter neigt sich nun dem Ende zu«, fährt er mit seinem wissenden Blick fort, »und wir stehen an der Schwelle zu einer neuen, spirituellen Zeit.« Von hier aus will Lisa der via cava weiter folgen bis nach Sovana, während Dionigi nach Pitigliano zurückkehrt. »Ich bringe dich wirklich gerne mit dem Auto hin«, sagt er, aber Lisa lehnt ab. »Nein, ich möchte lieber zu Fuß gehen. Ich führe die Prozession zu Ende.« Er drängt sie nicht weiter, auf seinen Vorschlag einzugehen. »Ich bin sehr froh darüber, daß wir uns begegnet sind«, sagt Lisa. 246
»Ich auch«, antwortet Dionigi. »Normalerweise nehmen nämlich nur Spinner Kontakt mit mir auf, zum Beispiel Medien, die Botschaften von Auguren erhalten. Aber du kannst mich natürlich jederzeit anrufen. Ich könnte dir beispielsweise einmal die Labyrinthe zeigen.« Er küßt sie noch einmal auf den Mund und auf die Stirn. Dann geht er, ohne sie nach ihrer Adresse oder Telefonnummer zu fragen. Sie schaut ihm nach und sieht, wie er ohne sich umzublicken zwischen den Zyklopenwänden verschwindet. In der Ferne hört man Vogelgezwitscher. Dann Kinderstimmen und das Trappeln kleiner Füße. Plötzlich sieht sie zwei kleine Jungen am Ende des Hohlweges. Sie bleiben erschrocken stehen, als sie sie sehen, und hören auf zu plappern. Sie starren sie an. Lisa wird klar, daß diese Umgebung auch ihrer Erscheinung einen gewissen Glanz verleiht. »Ciao«, sagt sie. »Ciao«, grüßen die Jungen zurück. Dann drehen sie sich um und rennen weg. Langsam geht Lisa in dieselbe Richtung wie sie. Sie befindet sich noch in der Zeitlosigkeit, kehrt aber nun allmählich zurück in die Realität. Sie folgt einem asphaltierten Weg, der zwischen zwei Totenstädten hindurchführt. Der Abend bricht an, und die Schafe werden von der Weide geholt. In ihren Lebern sind die Geheimnisse verborgen. Ein Junge klatscht in die Hände und scheucht die Tiere auf. »Eine schöne Herde!« ruft Lisa. »Es sind hundertfünfzig Stück, und sie wissen genau, wo sie hinmüssen!« 247
Zurück in Sovana, ruft Lisa von der dunklen Telefonzelle in der Kneipe aus Heleen an. Es dauert lange, bis sie sie an den Apparat bekommt. Heleens Stimme klingt dumpf. Sie hat gerade das Ergebnis bekommen. Schlechter hätte es nicht ausfallen können. Sie hat Krebs, und zwar in beiden Lungenflügeln. Außerdem haben sich Metastasen im Gehirn gebildet. Man hat es bei einer Computertomographie festgestellt. Die Ärzte machen ihr nur wenig Hoffnung. In ein paar Tagen kommt sie zurück nach Italien. Ihre letzten Wochen oder Monate will sie in Rom verbringen, in ihrer eigenen Wohnung. Sie hat bereits über alles nachgedacht. Sie will sich keinerlei Therapie unterziehen, die ihr Leben sowieso nur höchstens um ein halbes Jahr verlängern würde. Aber um welchen Preis? Pietro ist nirgends zu finden. Wahrscheinlich ist er im Amsterdamer Nachtleben untergetaucht. »Ich werde zu dir ziehen«, sagt Lisa. Sie ist niedergeschlagen, aber hellwach. Sie weiß, was sie zu tun hat. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hat, lehnt sie sich an die Wand der Kabine. Dieselbe Diagnose, die die Ärzte in Rom gleich zu Anfang gestellt hatten. Und in den Niederlanden haben sie so viel Zeit vergeudet mit ihren geheimnisvollen Krankheiten und ihrer Tbc-Geschichte! Diese wahnsinnigen Dummköpfe! Und die haben es gewagt, über die Qualität der italienischen Röntgenaufnahmen zu spotten! Lisa steht regungslos in der dunklen Zelle. Genauso eine wie die, in der sie von Lorenzos Tod erfuhr. Sie drückt die schwere Tür auf. In der verräucherten Kneipe wird gelacht und getrunken. 248
Auch ihr werdet alle sterben, denkt sie. Sie setzt sich aufs Bett, starrt vor sich hin. Sie befindet sich in Lorenzos Dorf. Was soll das? In was für einer Farce ist sie hier gelandet? Heleen stirbt. Das kann nicht sein, das darf nicht sein! So etwas kann man doch einfach nicht verkraften. Sie muß stark sein, sie muß sie unterstützen, ihr helfen. Heleen, liebe, verrückte Heleen. »Kannst du so richtig schön weinen?« »Ich kann untröstlich weinen.« »Aber ich möchte dich doch so gerne einmal trösten!«
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Angela wohnt in einem der zahlreichen mittelalterlichen Türme von Tarquinia. Die Stufen der Treppe sind ausgetreten, ebenso wie die Stufen all der Treppen, über die Lisa im Geiste Tausende von Füße hatte gehen sehen. In der vierten Etage steht Angela in der Tür und wartet auf sie. Sie schaut sie aufmerksam an, umarmt sie und führt sie in einen kleinen Raum. Durch ein schmales Fenster fällt etwas Licht hinein. An den Wänden von Angelas Zimmer stehen Schränke, die in Fächer eingeteilt sind, und in jedem Fach ist eine alte Keramik ausgestellt. Über der Anrichte hängen Scherben mit Abbildungen schmausender Leute. Lisa fällt auf, daß Angela nur eine einzige Kochplatte besitzt, aber sie ißt natürlich normalerweise im Restaurant. Neben der Kochecke befindet sich das Badezimmer. Der Duschkopf steckt in einer alten Amphore, so daß aus ihrer Öffnung nun Wasser anstatt Wein strömt. An den gekachelten Wänden hängen wieder andere Fragmente aus der Antike, Teile von Reliefs und Mosaiken. Das Ganze wurde offensichtlich mit sehr viel Liebe gestaltet. »Oh, warte mal, ich muß dir zeigen, was wir an der 250
Stelle gefunden haben, wo du am Tiber gesessen hast!« ruft Angela. Lisa schaut sie fragend an. »Wir machen das immer so. Fiumaroli sind fast so abergläubisch wie tombaroli. Sie glauben, daß sich Menschen nicht rein zufällig an bestimmten Plätzen niederlassen. Nachdem du gegangen warst, habe ich zu Virgilio gesagt: ›Laß uns doch mal nachschauen‹, aber er hatte es schon getan.« Sie zeigt auf ein Stück Marmor, das einer schweren halben Schale ähnelt. Es handelt sich um die Hälfte eines Weihwasserbeckens aus dem 16. Jahrhundert. »Virgilio meinte, er habe sofort gesehen, daß du einen zauberhaften Hintern hättest!« Angela setzt Kaffee auf, während Lisa die antiken Tongefäße in den Fächern betrachtet. Die Wohnung ist klein, wirkt aber mit ihren vielen Gucklöchern in die Zeit nicht beengt. Sie hat Ähnlichkeit mit einem kleinen Tempel. Angela reicht Lisa eine Tasse Kaffee und setzt sich hin. »Wann kommt denn Heleen zurück?« fragt sie. »Übermorgen«, antwortet Lisa. »Morgen fahre ich nach Rom.« Angela nickt schweigend. »Sie hat höchstens noch ein paar Monate zu leben, haben die Ärzte gesagt. Es klingt so absurd! Aber sie ist sehr tapfer und ganz gelassen. Fast beängstigend ruhig. Ich frage mich, ob sie sich nicht zu leicht mit der ganzen Sache abfindet. Sie will keine Therapie ausprobieren. Gestern habe ich noch mit ihr telefoniert. Sie hat um ein Medikament gebeten, das sie einnehmen kann, wenn die 251
Schmerzen unerträglich werden. Ihr Freund ist spurlos verschwunden, der konnte es jetzt schon nicht mehr aushalten. Deswegen werde ich bei ihr einziehen.« Genau wie in den ersten Jahren in Rom. Wie unbeschwert diese Zeit gewesen war, trotz all der großen und kleinen Dramen um Männer und Beruf. Ihre Rückschläge hatten sie miteinander verbunden, und oft genug konnten sie dann später sogar darüber lachen. Sie hatten von einem Tag zum anderen gelebt und weder von anderen Orten noch von einer anderen Existenz geträumt. Wie es war, war es gut. Heleen war die einzige Zeugin von Lisas zehn bewegten Jahren in Rom – und umgekehrt. »Da liegt eine schwere Aufgabe vor dir«, sagt Angela. »Hoffentlich bin ich auch stark genug. Ich habe das Gefühl, als stünden Heleen und ich am Anfang eines Hohlweges. Wir müssen versuchen, so gut wie möglich durchzukommen und die nächsten Monate so lange dauern zu lassen wie Jahre. Vielleicht kann ich Heleen dazu überreden, noch einmal andere Ärzte zu Rate zu ziehen.« Das Telefon klingelt. Angela ist kurz angebunden. »Ja, sie ist hier. Nein, jetzt nicht, wir wollen gleich einen Spaziergang durch die Nekropole machen.« Sie läßt sich nicht erweichen und legt auf. »Das war Antero. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm zusammen ein Grab bewachen würde, das er letzte Nacht entdeckt hat, aber er soll sehen, wie er allein zurechtkommt.« Angela ist wütend auf ihn, weil er inzwischen das Grab, das sie zu dritt gefunden haben, leergeräumt hat, obwohl er versprochen hatte, auf Lisa zu warten. »Er wollte damit nur bei seiner neuen Freundin Ein252
druck schinden. Wenn er verliebt ist, weiß er vor lauter Verrücktheit nicht mehr, was er tut.« Bei Anteros neuer Freundin handele es sich um ein junges Mädchen aus Rußland, das mit Märchen über angebliche Filmrollen nach Italien gelockt und prompt an einen Zuhälter weitergereicht worden sei. Antero habe sich ihrer angenommen, und sie seien sehr verliebt. Ja, auch das Mädchen. »Die Wandmalereien konnte er zu seinem Bedauern nicht mitnehmen, die können wir uns also anschauen gehen«, erklärt Angela. Bevor sie sich auf den Weg machen, erzählt sie Lisa von den Objekten in ihren Schränken. Bei jedem Gegenstand kann sie sich genau daran erinnern, wann sie ihn gefunden hat, an welchem Ort und wie das Grab aussah. Schälchen, Schüsseln und verschiedene Arten von Trinkbechern wandern durch ihre Hände. »Das alles hier ist nicht besonders wertvoll, denn die meisten Objekte sind beschädigt, aber für mich sind sie trotzdem sehr kostbar. Schau, das hier ist eines meiner Lieblingsstücke.« Eine Vase mit einer Bordüre aus Fischen. »Für den letzten Fisch hatte man nicht mehr genug Platz, deshalb taucht er mit dem Kopf unter. Ich habe sie erst vor kurzem gefunden, zusammen mit Antero, in einem Grab im Tal der Könige. So nennen wir einen Teil der Nekropole, der außerhalb der Umzäunung liegt. Ich habe sie an dem Tag abgeholt, als ich dich bei Antero draußen auf der Treppe getroffen habe.« Das war also der mysteriöse, in Zeitungspapier gewickelte Gegenstand gewesen! Angela hatte ihn schließlich doch nicht verkauft. In einer Schubladenkommode bewahrt Angela Funde 253
aus dem Tiber auf, darunter Glasscherben in wunderbaren Farben mit Gravuren von Göttern und Helden: Demeter mit einer Kornähre, Theseus im Labyrinth. Einen Würfel, ungefähr aus dem Jahre Null. Den Bronzeknauf eines Zepters. Münzen, viele mit dem Porträt Neros, immer wieder mit einer anderen Frisur. Cäsar und Marc Anton, die beiden Liebhaber Kleopatras, Augustus, der sich mit Etruskern umgab, und Konstantin mit und ohne Nase. Angela weiß alle Daten der Kaiser auswendig, kennt ihre Familienverhältnisse, ihre Verbrechen und ihre Heldentaten. Sie erzählt mit glänzenden Augen und geht ganz in den Geschichten auf. Sie öffnet eine weitere Schublade, in der eine große Sammlung von Stiften liegt, Stiften aus Knochen, mit denen man auf Wachstäfelchen schrieb. »Manchmal, wenn ich aus dem Restaurant nach Hause komme, schaue ich mir all diese Gegenstände an, berühre sie und lese darüber in Büchern nach. Das beruhigt mich, es ist wie eine Form von Meditation.« Knöpfe aus dem Mittelalter, Medaillons aus dem Rom der Päpste, Schmuck aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. »Aber jetzt kommt das Schönste.« Angela holt ein Schmuckkästchen hervor, öffnet es und nimmt eine kleine Bronzefigur heraus. Es ist ein kleiner Hirsch, wie Angela meint, aus dem 5. Jahrhundert vor Christus. Sie hat ihn am Artemis-Tempel gefunden, einfach so im Gras. Er steht aufrecht, den Kopf mit dem Geweih hoch erhoben. »Er hat auf mich gewartet«, sagt Angela. Sie würde diese Figur niemals verkaufen, auch wenn dies das einzige Stück in ihrer Sammlung sei, das tatsächlich einen gewissen Wert besitze. 254
Der Wagen der Artemis sei von Hirschen gezogen worden, und Hirsche würden auch mit dem Mythos der Wiedergeburt in Verbindung gebracht, erzählt Angela, wegen ihres Geweihs, das immer wieder nachwächst. Lisa fragt Angela, wie es möglich sei, daß sie diese Figur so einfach auf dem Boden finden konnte. Angela vermutet, der kleine Hirsch sei wahrscheinlich durch eine Pflugschar ans Licht gefördert worden. Aber es passiere auch, daß sich Gräber mit Regenwasser füllten, und dann trieben Gegenstände von selbst nach oben. »Und was ist das?« fragt Lisa. »Das sind Fossilien. Die habe ich früher gesammelt, in der Zeit, als ich mit meinem Vater in Norditalien wohnte.« Es sind versteinerte Trilobiten, die zu den ersten höheren Lebewesen auf der Erde gehörten. Lisa betrachtet ihre Kopfpartien mit den beiden Augen. Kleine Sphinxe, die nichts von der Zeit preisgeben werden, in der sie gelebt haben. All diese Dinge würden sie beruhigen, sagt Angela. Wenn sie deprimiert oder angespannt sei, nehme sie einen der Gegenstände in die Hand und stelle sich vor, wie ihn jemand vor ein paar tausend Jahren in der Hand gehalten habe. Sie könne sich auch stundenlang mit dem Zusammensetzen von zerbrochenen Keramiken beschäftigen. »Es macht wirklich großen Spaß zuzusehen, wie aus den Scherben allmählich wieder ein Kelch, eine Öllampe oder ein Parfümfläschchen entsteht«, sagt sie. Keine Museumskollektion der Welt hat Lisa je so berührt wie diese eigenhändig zusammengetragene, mit Leib und Seele sorgsam gehegte Sammlung von Angela. 255
»Komm«, sagt Angela, »ich zeige dir die Wandmalereien in dem Grab, das du mit uns freigelegt hast. Ein Spaziergang wird dir guttun.« Sie stopft einige Kleidungsstücke und Schuhe in einen Rucksack, denn es ist besser, wenn man sie nicht in ihren Ausgrabungssachen durch die Stadt laufen sieht. Sie verschließt die Tür mit einem großen alten Schlüssel. »Ist bei dir schon mal eingebrochen worden?« erkundigt sich Lisa. »Nein, bis jetzt noch nicht, aber falls es einmal passieren sollte, werde ich mit meiner Sammlung wieder von vorn anfangen. Für einen Dieb sind jedoch die meisten Dinge sowieso nicht der Mühe wert. Die Privatvillen der Museumsdirektoren und der Archäologen lohnen sich da schon eher. Bei ihnen gibt es die wahren Schätze zu holen, denn sie besitzen das diritto di custodia, das Recht, auf sie aufzupassen.« In aller Ruhe spazieren sie durch die stillen Straßen. Es ist Sonntagnachmittag, und die meisten Leute sind zu Besuch bei ihren Verwandten. Angela hat heute frei. Es ist ein schöner Tag. »In Tarquinia scheint die Sonne jeden Tag, auch wenn sie manchmal nur auf eine kurze Stippvisite vorbeischaut«, sagt Angela. Die Straße zur Nekropole beschreibt eine neue Kurve, denn man hat begonnen, eine Grabanlage freizulegen, die halb unter dem Asphalt liegt: das Grab von Tuchulka, dem Todesdämon. »Die Belle Arti sind schon seit einem Jahr damit beschäftigt«, erzählt Angela. Ein Stück weiter werden die ersten Grabhügel sichtbar 256
und dahinter die Zypressen des heutigen Friedhofs, der mitten auf der alten Nekropole liegt. Unter den hohen Bäumen gehen sie in Richtung dieses Friedhofs. Angela will über die hintere Mauer zur antiken Totenstadt hinüberklettern, weil sie dort nicht so leicht gesehen werden. Angela drückt das Tor auf, und die beiden Frauen stehen mitten in einer Stadt aus kleinen Tempeln. Tempel aus Marmor mit Namen und Jahreszahlen darauf, manchmal auch mit Fotos der Verstorbenen. Tempel für zwei Personen oder ganze Familien. Zwischen den Gedenkbauten stehen oder liegen auch gewöhnliche Grabsteine, und im Hintergrund sind Mauern mit Fächern zu sehen. Gräber für jeden Geschmack. Lisa sieht im Geiste wieder das Fach mit seinem Namen vor sich. Wo würde Heleen später begraben sein? Heleen, die noch am Leben ist. Ebenso wie sie selbst, was ihr im Grunde genauso absurd erscheint. »Komm, ich zeige dir den Sarkophag Cardarellis«, sagt Angela. Der große Dichter aus Tarquinia hat eine letzte Ruhestätte in etruskischer Tradition erhalten. Die beiden Frauen laufen eine Weile kreuz und quer über den Friedhof, können das Grab aber nicht finden. Gleich, auf dem Rückweg, wollen sie weitersuchen. Doch vorher möchte sich Angela umziehen. Sie setzt sich auf einen großen Grabstein und fängt an, ihre hochhackigen Stiefel und die feine Hose auszuziehen. In Gedanken versunken betrachtet Lisa die sonnenbeschienenen Gräber. »Hallo, ihr Schönen!« Sie erschrecken. Angela, die nur in der Unterhose dasteht, greift rasch nach ihrer Armeejacke und hält sie vor 257
ihre nackten Beine. Hinter einem Grabstein taucht das Gesicht Anteros auf. Er ist allerbester Laune und fragt, ob Angela und Lisa ihn nicht begleiten und mit ihm zusammen Wache halten wollen. Zusammen mit zwei anderen tombaroli und seiner Iwanka habe er letzte Nacht eine wunderschöne Amphore gefunden, aber es fehlten ein paar Stücke, und die wollten sie jetzt suchen gehen. »Mit erotischen Motiven darauf, wie ich sie noch nie gesehen habe!« »Nein, Antero, wir beide wollen jetzt einen Spaziergang machen«, erwidert Angela entschlossen und noch immer gereizt. »Vier Satyre und vier Nymphen, alle intensiv miteinander beschäftigt, sie bumsen rund um den ganzen Weinkrug, du wirst deinen Augen nicht trauen!« Unbeirrt holt Angela ihre alte Hose aus dem Rucksack. »Nur einmal kurz anfassen!« ruft Antero, reißt Angela an sich und streichelt ihr mit einem übermütigen Grinsen über den Hintern. »Das bringt Glück«, erklärt er Lisa. »Komm, nur noch einmal, dann finde ich bestimmt noch mehr Scherben!« Angela dreht sich um, versucht, sich aus seinem Griff zu befreien und ihre Hose anzuziehen. »Kommt wenigstens nachher bei mir zu Hause vorbei, dann könnt ihr euch die Amphore anschauen«, drängt Antero weiter. »Na ja, vielleicht«, murmelt Angela. »Ich bin immer noch sauer auf ihn«, sagt sie, als er weg ist, »schließlich hatte er versprochen, mit dem Grab auf uns zu warten. Aber wie immer tut er wieder nur das, wozu er Lust hat. Ich finde es vor allem schade für dich. 258
Es ist eine einzigartige Erfahrung, und du hattest das Recht darauf.« Lisa lächelt. Sie kann sich nicht so richtig darüber aufregen. Angela zeigt Lisa, wie sie über die Friedhofsmauer klettern muß. Einen Fuß auf eine Vase mit vertrockneten Blumen, den anderen auf die Oberkante eines aufrecht stehenden Grabsteins und dann auf die Mauer. Lisa springt hinunter und dann steht sie auf der alten Nekropole. Wellig dehnt sich die Landschaft vor ihr aus. Rechts von ihnen, in der Ferne, das Meer. Links, auf der anderen Seite des Tals, la Cività, das antike Tarquinia Superba und der Tempel der Artemis. Die staatlichen Archäologen haben hier noch nicht mit der Arbeit begonnen. Die Landschaft scheint unberührt, abgesehen von einem kleinen modernen Häuschen. »Darunter befindet sich die Grabanlage des Sekretärs, mit Texten an den Wänden«, erzählt Angela. Das Grab wird von einem Zaun geschützt. »Antero hat es gefunden, schon vor langer Zeit. Er begriff sofort, daß er eine wichtige Entdeckung gemacht hatte, und hat die Belle Arti benachrichtigt. Am nächsten Tag saß er im Knast. Durch solche Dinge ist er verbittert geworden.« Sie spähen durch den Maschendraht. Die Tür des Häuschens ist mit einem Hängeschloß verriegelt. »Ich würde die Wände mit den Texten gerne einmal sehen. Mit einer Eisensäge und ein bißchen Geduld käme man leicht rein«, meint Angela. Sie gehen am Rande des Tals entlang, so weit wie möglich von der Straße entfernt, auf der dann und wann ein Auto vorbeikommt. Angela erklärt, daß die Leute, die 259
das Gelände hier eigentlich im Auge behalten sollten, sonntags zwar lieber zu Hause blieben, aber man nie hundertprozentig damit rechnen könne. Sie schaut oft aufmerksam zu Boden, hebt hin und wieder etwas auf, inspiziert es und wirft es dann wieder weg, wie sie es auch an dem Tag tat, an dem Lisa sie zum erstenmal sah, unten am Strand von Tarquinia. Auch Lisa schaut auf den Boden. Manchmal wird ihr Blick von einem Gegenstand mit einer ungewöhnlichen Farbe angezogen, und dann bückt sie sich, aber ihre Funde entpuppen sich jedesmal als Muscheln. »In der Nähe der Cività findest du statt Muscheln auf Schritt und Tritt Keramikscherben. Es ist wirklich faszinierend!« Angela zeigt auf das dichte Gestrüpp, das den Abhang bedeckt. »Hier bin ich einmal reingesprungen, als ich von der Polizei verfolgt wurde. Die Zweige haben mich abgefangen, Gott sei Dank, denn direkt hinter diesen Sträuchern liegt eine tiefe Schlucht.« Aber Angela war trotzdem erwischt worden. Das war ganz zu Anfang ihrer tombarola-Karriere gewesen. Sie hatte eine Nacht auf dem Revier verbringen und eine hohe Strafe zahlen müssen. »Dabei hatte mich die Eule vorher gewarnt«, sagt sie. »Die Eule?« fragt Lisa. Jetzt fing Angela schon genauso an wie Antero! »Ich habe ja selbst nicht daran geglaubt, aber seit dieser Nacht weiß ich, daß die Geschichte wahr ist. Diese Eule hat vielleicht einen Krach gemacht! Sie stieß lange heulende Rufe aus und rupfte Blätter von den Zweigen. Ich habe nicht darauf geachtet, aber kurze Zeit später 260
hatten sie mich an der Angel. Seitdem habe ich aufgehört, über die Eule zu spotten.« Hier ganz in der Nähe hatte sie auch einmal ein Grab mit Wandmalereien gefunden. Es war zwar schon geplündert, aber die Bilder waren einfach wunderschön. »Ich habe es sofort Antero erzählt, aber er hat nur gelacht und gesagt, das sei doch das berühmte Grab, das Omero und Pippo ausgemalt hätten – zwei Freunde von ihm, ziemlich geschickte Fälscher. Eines Tages äußerten ein paar reiche Schweizer Sammler den Wunsch, nachts einmal mit zum Graben zu gehen, und versprachen, sie würden, falls sie ein Grab entdeckten, alles kaufen, was sie darin fänden. Daraufhin machten sich Omero und Pippo eifrig an die Arbeit: Sie fertigten Wandmalereien und diverse wunderhübsche ›antike‹ Gegenstände an. Ein Freund Anteros, ein Schauspieler, verkleidete sich als Kardinal, um die ganze Geschichte noch glaubwürdiger zu machen. Sie mieteten ein tolles Auto für ihn und schraubten ein Nummernschild vom Vatikanstaat daran.« »Und, wie ist die Sache ausgegangen?« »Die Schweizer sind darauf reingefallen, aber schließlich ist die Sache doch aufgeflogen, weil jemand geredet hat, aus Neid natürlich. Das hat Antero ein Jahr Gefängnis eingebracht.« Angela sieht Lisas verblüfften Gesichtsausdruck und lacht. »Ja, Antero ist schon ein Teufelskerl.« Daß er es mit dem Gesetz nicht so genau nahm, war Lisa schon klar gewesen, aber daß er es mitunter so bunt trieb, hätte sie nicht gedacht. Dann fällt ihr Blick auf etwas Helles. Sie bückt sich und hebt es auf. »Was ist das?« fragt sie Angela. 261
Es sieht aus wie ein kleines Röhrchen, pastellgrün wie Bambus, das mit einigen dunklen Linien bemalt ist. Angela nimmt es ihr aus der Hand und schaut es sich aufmerksam an. »Ein Stück von einer Flöte«, meint sie. Sie betrachtet es von allen Seiten und sagt nachdenklich: »Das ist aber außergewöhnlich, daß du so etwas hier findest. Ich habe zwar einige Stücke von Musikinstrumenten in der Nähe der Cività gefunden, aber noch nie in der Nekropole. Wahrscheinlich haben Flötenspieler hier bei den Prozessionen für die Toten gespielt, aber danach sind sie wieder in die Stadt zurückgekehrt. Daß diese Flöte hier liegt, ist ein Zeichen dafür, daß irgend etwas Ungewöhnliches geschehen ist. Vielleicht stammt sie aber auch aus dem Grab eines Flötenspielers. Siehst du, hier trifft man immer auf neue Rätsel.« Sie gibt Lisa das kostbare Stück wieder zurück. »Es ist kein Zufall, daß du das da gefunden hast«, sagt Angela ernst, »jetzt, so kurze Zeit, bevor du Heleen auf ihrem Weg begleiten wirst.« Sie laufen kilometerweit über den Totenacker, manchmal durch junges Getreide, dann wieder über sandigen Boden. Lisa setzt automatisch einen Fuß vor den anderen, wie ein Rad, das sich als Teil eines größeren Mechanismus dreht. Einen Moment lang spürt sie wieder dasselbe Gefühl der Hingabe wie auf dem Pferderücken oder bei ihrer Arbeit mit dem Ton. Ein Rädchen, das sich mitdreht, bis es abspringt. Unterdessen erzählt Angela ihr von den Geheimnissen, die unter ihren Füßen verborgen liegen. »Dort drüben liegt ein sehr bedeutendes Grab«, sagt sie und zeigt in die Richtung eines einsamen Bauernhofs. 262
»Es befindet sich auf dem Grundbesitz eines Bauern, der ›der Alte‹ genannt wird. Einmal waren Antero und ich gerade mit einer Ausgrabung beschäftigt, als wir einen sehr langen Zugangsweg entdeckten, eine Art via cava. Wahrscheinlich handelte es sich um das Grab eines Lukomonen. Plötzlich hörten wir den Alten brüllen: ›Schert euch weg, oder ich schieße!‹ Wir machten uns blitzschnell aus dem Staub, aber er schoß trotzdem. Mich kann er gut leiden, der Alte, aber den Zauberer haßt er wie die Pest. Er fragt mich regelmäßig: ›Na, ist dieser dreckige Dieb denn immer noch nicht tot?‹ Als sein Pferd gestorben ist, hat er den Kadaver in das Loch gesteckt, das wir gegraben hatten, damit wir nicht weitersuchen konnten. Aber das ist schon Jahre her, so daß es inzwischen wieder gehen würde.« Als sie an dem Grab ankommen, das sie zusammen gefunden haben, steht die Sonne schon tief am Himmel. »So, hier ist es, unser Grab«, sagt Angela. »Unser Grab!« meint Lisa lachend. Antero hat das Zugangsloch offen gelassen, etwas, das tombaroli in der Regel niemals tun, weil es lebensgefährlich ist. Da man ein solches Loch nicht sieht, kann man mir nichts, dir nichts hineinstürzen. Aber diesmal hat er für Lisa und Angela eine Ausnahme gemacht, damit sie sich die Malereien anschauen können. Ohne zu zögern, läßt sich Angela wie eine Schlange hinuntergleiten. »Warte noch einen Moment!« ruft sie. Lisa schaut in das dunkle Loch. Sie ist neugierig, aber auch ein wenig angespannt, denn natürlich bestand bei einem Grab auch Einsturzgefahr. Sterben in einem Grab. 263
»Okay, du kannst kommen«, sagt Angela nach einer Weile. Vorsichtig läßt sich auch Lisa in die Erde hinuntergleiten. Sie hält den Atem an – es könnte ihr letzter Atemzug sein. Angela nimmt ihre Beine und führt sie, bis Lisa mit den Füßen den Boden berührt. Der kleine viereckige Raum wird von zwei Kerzen erleuchtet. Angela sitzt auf einem Erdhaufen, der einen Teil des Grabes ausfüllt. In dem anderen Teil steht ein aus Stein gehauenes Totenbett, auf dem ein Gerippe mit einem kalkweißen Schädel liegt. Über dem Skelett, auf der blauen Wand, fliegen die roten Vögel. Der untere Teil des Bildes ist beschädigt, so daß nur noch Bruchstücke erkennbar sind. Lisa setzt sich neben Angela auf den Erdhaufen und schaut sich die Abbildungen der schmausenden Menschen an, die auf einer anderen Wand zu sehen sind, mit Mädchen, die Blumenkränze flechten, und einem schwarzgelockten Jungen, der die Doppelflöte spielt. Die Kerzenflamme zeichnet Angelas und Lisas Profile an die Wand, so daß es aussieht, als säßen sie zwischen den Menschen am Tisch. »Wunderschön!« seufzt Lisa. Die Sorge und Aufmerksamkeit, die man dem Verstorbenen gewidmet hatte, berührt sie zutiefst. Das Deckengewölbe ist mit roten und blauen Vierecken verziert wie ein Schachbrett. Lisa läuft ein Schauer über den Rücken, als sie an Heleen denkt. Es ist, als erkunde sie für ihre Freundin das Totenreich. Lisa betrachtet das Gerippe. Man kann nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. 264
»Die meisten Leute fürchten sich davor, ein Grab zu betreten. Aber je öfter du in eines hineingehst, desto vertrauter wird dir die Atmosphäre. Ich habe sogar einmal auf so einem Totenbett geschlafen. Draußen war es eiskalt, und wir hatten die ganze Nacht gegraben. Ich war todmüde, aber als ich wach wurde, fühlte ich mich wie neugeboren.« Angela hat recht: Es ist überhaupt nicht unheimlich – so zu tun, als wäre nichts, zu leben, als gäbe es keinen Tod, erscheint ihr viel unheimlicher. Lisa sieht das Spukbild des Todes immer aus Reklamen für Anti-FaltenCremes auftauchen, oder aus den hüftenwiegenden Körpern auf dem Laufsteg und den schwitzenden Leibern in den Fitneßstudios. Es muß ein Mann gewesen sein, sagt Angela, weil Antera neben seinem Totenbett nicht nur Keramiken, sondern auch Waffen gefunden hat. Lisa fühlt sich verbunden mit diesem Kämpfer und mit den Menschen, die dort beim Essen sitzen, Menschen, die ihm schon lange nachgefolgt sind. Alle genauso unerreichbar wie Lorenzo. Wieder sieht sie eine Hand, die stößt, die ihn aus dem Leben stößt, durch jene rätselhafte letzte Tür. »Lorenzos Freund, mit dem ich mich getroffen habe, Dionigi, hat etwas von Mord gesagt«, meint Lisa. Angela runzelt die Stirn, schweigt einen Moment und erwidert dann: »Dichter haben eben viel Phantasie.« Sie läßt Sand durch ihre Finger rinnen und hält den Blick darauf gerichtet. »Du mußt unbedingt mit Antero reden«, sagt sie dann. Als sie wieder nach draußen geklettert sind, hat sich die Sonne orange gefärbt, und auf der anderen Seite des Himmels steht der Mond. 265
Ihre Schatten fallen lang und schmal über die Hügel. Sie ähneln den etruskischen Bronzefiguren, von denen sich Giacometti inspirieren ließ, und Lisa fällt plötzlich ein, daß sie Ombre della sera genannt werden. Schatten des Abends. Sie klettern wieder über die Friedhofsmauer, wo durch die vielen brennenden Lämpchen nun eine fast gemütliche Atmosphäre herrscht. Lisa schaut zu den Mauern mit den Fächern hinüber. Die Särge stehen verborgen hinter Steinplatten mit Namen und Jahreszahlen darauf. Vor ihnen sind die unterschiedlichsten Dinge aufgebaut: eine kleine Marienfigur, ein Strauß künstlicher Blumen, ein Spiel. Sie werden von Glasscheiben geschützt, die im Abendwind klappern. Sie machen sich noch einmal auf die Suche nach dem Sarkophag Cardarellis und irren eine Zeitlang an den kleinen erleuchteten Tempeln entlang. Über ihnen scheint hell der weiße Mond. Plötzlich bleibt Angela regungslos stehen und hält den Zeigefinger an die Lippen. Sie lauschen mit angehaltenem Atem. Schritte. Sie scheinen näherzukommen. Lisa fragt sich ängstlich, ob es vielleicht die Polizei ist, die ihnen nachspioniert hat und sie nun verhaftet. Hoffentlich sperren sie sie nicht ein! Sie muß doch zu Heleen! Ein leises Pfeifen. »Der Zauberer!« sagt Angela. »Ich habe zwei dicke Hintern über die Mauer hängen sehen und dachte bei mir, was wollen diese Strolche da? Was macht ihr denn hier?« 266
»Wir suchen den Sarkophag Cardarellis.« »Na, dann kommt mal mit«, sagt Antero, der wie üblich sofort die Rolle des Anführers übernimmt. »Hast du gewußt, daß hier mein zweites Zuhause ist?« fragt Antero Lisa. »Ja, natürlich, es ist unser aller zweites Zuhause, aber ich habe hier elf Monate lang als Lebender zugebracht, als ich von der Polizei gesucht wurde. Ich zeige euch gleich mal, wo ich geschlafen habe.« Ohne Umweg führt er die beiden Frauen zur Grabstätte des Dichters. Zwischen zwei Mauern mit Fächern, von denen jedes von einem Lämpchen in Form einer Flamme erhellt wird, steht ein bemooster Sarkophag. »Zuerst haben sie ihn unter einen ganz normalen Stein gelegt, aber dieses Genie hatte etwas Besseres verdient«, sagt Antero und deklamiert feierlich: »Hier steht alles still, wie verzaubert, in meiner Erinnerung, selbst der Wind.« Antero zündet sich eine Zigarette an, hält Lisa und Angela auch die Packung hin, und dann setzen sie ihren Spaziergang fort. Die Suchaktion sei nicht besonders erfolgreich gewesen, berichtet Antero ungefragt, sie hätten einen ganzen Berg Sand durchgesiebt und nur zwei kleine Fragmente gefunden. Aber die Vase sei trotzdem ein Juwel und Gold wert, auch wenn sie nicht völlig intakt sei. Vor einer weiteren Sargmauer zeichnet sich ein länglicher Schatten ab, der sich als ausgeklappte Metalleiter auf Rollen entpuppt. Antero zieht sie achtlos und unter lautem Geklapper hinter sich her und stellt sie ein Stück weiter wieder auf. Er fordert Lisa auf hinaufzuklettern, und sie tut es, vorbei an den Fächern mit den brennenden Lämpchen davor. »Und jetzt lies, was auf dem obersten Stein steht!« 267
Ein Frauenname und ein Gedicht. Über das Verständnis, die Liebe und den Trost, den nur eine Mutter spenden kann, und den tiefen Schmerz, den sie dir zufügt, wenn sie eines Tages für immer ihre Augen schließt. Lisa liest das Gedicht ein zweites Mal. Dann sieht sie, daß es von Antero stammt. »Ja, rauch ruhig eine Zigarette bei ihr, das gefällt ihr«, klingt seine Stimme von unten. Lisa studiert ihre Lebensdaten. Sie ist vierundachtzig geworden. Als sie ihre Zigarette fertig geraucht hat, klettert sie wieder hinunter. Antero wirft eine Kußhand zu seiner Mutter hinauf, dann gehen sie weiter, um die Stelle zu besichtigen, wo er elf Monate lang gehaust hat. Manchmal weist er sie en passant auf das Grab eines Bekannten hin. Zahlreiche seiner tombarolo-Kollegen liegen schon hier. »Schau mal«, sagt er, als sie zwischen den Grabsteinen an einem kahlen Hügel vorbeikommen. »Das hier ist das berühmte Grabmal der Unterwelt, mit dem Bildnis des Mädchens Velcha.« Ein etruskisches Grab zwischen den Toten der heutigen Zeit. Lisa kennt das Bild: das schöne Mädchen mit der rätselhaften schwarzen Wolke hinter dem Kopf. Das Grab, auf dem Antero schlief, als er hier untergetaucht war, liegt ein paar Meter weiter in einer Ecke des Friedhofs. Es ist die strategisch günstigste Stelle, von der aus man beide Zugangswege überblicken kann. Wenn es regnete oder kalt war, ging es ihm schlecht, und er versuchte, seinen unterkühlten Körper in einem der kleinen Tempel zu schützen. Seine Frau und seine Kinder brach268
ten ihm nachts etwas zu essen, und durch den geheimen Eingang ins Kinderzimmer konnte er seine Familie hin und wieder zu Hause besuchen. »Ciao, papà!« ruft er und winkt einem anderen Grab zu. Lisa liest das Sterbedatum: Es liegt mehr als vierzig Jahre zurück. »Wir müssen uns beeilen«, sagt Antero dann. Er will die Amphore heute abend noch zusammenkleben und versuchen, sie an einen Käufer loszuwerden. Vor einer lebensgroßen Madonnenstatue bleiben sie stehen. Sie hat die Hände gefaltet, und ein zärtliches Lächeln umspielt ihre Lippen. Antero schlägt ein Kreuz, setzt dann seinen linken Fuß auf die gefalteten Hände Marias, schlägt einen Arm um ihren Hals, stellt den rechten Fuß auf die Mauer und springt auf der anderen Seite hinunter. Angela folgt ihm. Lisa blickt in das gütige Gesicht der Muttergottes, zögert einen Augenblick und schlägt dann ebenfalls beide Arme um ihre Schultern. Bei Antero zu Hause treffen sie zwei schlammverschmierte Männer an, die am Küchentisch sitzen. Verlegene Augen in unrasierten Gesichtern. Der ältere von ihnen, Leo, ist etwa fünfzig, während Marco, der von kleiner Statur ist, kaum älter aussieht als zwanzig. Antero arbeitet öfter mit den beiden zusammen. Sie haben sich schon an die Puzzlearbeit gemacht, die schwieligen Hände auf der karierten Tischdecke, die mit Brotkrümeln und Scherben übersät ist. Antero, Angela und Lisa setzen sich zu ihnen und helfen mit. Scherben mit Schenkeln, Brüsten, Phalli, geflochtenen Zöpfen, Satyrköpfen und Mädchengesichtern müssen an 269
den rechten Platz gebracht werden. Ein paar größere Fragmente sind rasch zusammengesetzt. Sie benutzen ganz normalen Kleber aus einer Plastikflasche, den sie sich auf den Zeigefinger träufeln und auf die Ränder beider Scherbenteile schmieren. »Schau mal, wie schön die hier zusammenpassen. Aber was machen die denn da, neunundsechzig oder was?« fragt Leo. »Nein, er hockt auf allen vieren, mit dem Kopf zwischen den Beinen seiner Liebsten, und auf seinem Rücken liegt ein anderes Mädchen, das seinerseits von einem Satyr genommen wird, schau mal«, sagt Antero und drückt noch eine Scherbe daran. »O ja, jetzt sehe ich es auch.« »Und mit dem Mund befriedigt sie einen anderen. Wo ist denn das niedliche Mäulchen, gerade hab ich’s doch noch gesehen.« »Es ist wirklich ein einmaliges Stück. Was glaubst du, was wir dafür kriegen?« »Also, sechs Millionen Lire bestimmt.« »Hier fehlt noch eine Titte.« »Habt ihr sie beim Graben kaputtgemacht oder war sie schon kaputt?« fragt Lisa. »Darauf gebe ich keine Antwort«, sagt Antero beleidigt, meint aber kurz darauf: »Es waren entweder die Franzosen oder die Römer. Der Bruder von Napoleon, der Prinz von Canino, hat sehr viele Gegenstände aus der Antike absichtlich zerstört. Er tat es, um den Wert dessen, was übrigblieb, zu erhöhen. Und auch die Römer haben schon eifrig geplündert, wobei es ihnen allerdings um Bronze und Gold ging, während sie die Keramiken zurückließen oder zerschlugen. Diese Art von Vasen fan270
den sie zu versaut. Ein scheinheiliges, unterentwickeltes Volk. Die Kirche hat es später noch bunter getrieben. Weißt du eigentlich, warum die Statue Marc Aurels noch existiert?« Lisa hat keine Ahnung. »Dummköpfchen! Weil man glaubte, es sei eine Statue Konstantins, des ersten christlichen Kaisers! Sonst hätten sie sie natürlich zu einem Heiligenbild umgeschmolzen.« Als die Klebearbeit fertig ist, darf jeder das Kunstwerk einmal in den Händen halten. »Paßt auf, daß ihr euch nicht die Flossen verbrennt!« ruft Antero. Und tatsächlich geht es auf der Amphore heiß her. Der Fuß fehlt zwar, aber die Orgie ist in allen Details vollständig: vier rotbraune Satyre und vier weiße Frauen, kunstvoll ineinander verstrickt. Auf dem Hals des Kruges sind dagegen keine sich paarenden Figuren, sondern zwei Sphinxe abgebildet, die sich anschauen. Sollte dadurch ausgedrückt werden, daß die Menschen einander selbst in den allerintimsten Momenten ein Rätsel bleiben? Antero ruft den Zwischenhändler an und berichtet ihm, er sei auf den Fund seines Lebens gestoßen. Der Mann erwartet ihn sofort, aber Angela hat keine Lust mitzugehen. Sie könne diese Art von Schauspiel nicht mehr ertragen. Der Zwischenhändler habe eine zu große Macht, erklärt sie Lisa, er bezahle nur sehr wenig, oft nur ein Zehntel des eigentliches Wertes eines Objekts, und verkaufe es dann selbst für eine astronomische Summe weiter. »Aber ich möchte, daß du mitfährst, und Lisa auch. Dann bleibt ihr eben solange im Auto sitzen«, sagt Antero. 271
»Aber was hat das denn für einen Sinn?« fragt Angela. »Das wirst du schon noch sehen«, antwortet Antero und schaut sie gebieterisch an, bis Angela schließlich ergeben nickt. Leo und Marco fahren mit ihrem eigenen Auto. Der Zwischenhändler wohnt in einem Neubauviertel von Tarquinia. »Ich weiß genau, wie das abläuft«, sagt Angela, als sie vor seinem Haus warten. »Erst wird er sagen: ›Die ist nichts, sie ist zu stark beschädigt.‹ Dann jammert er, die Motive seien nicht schön gearbeitet oder daß es von solchen Objekten jede Menge gäbe. Dabei hängt für Leo so viel davon ab. Er braucht Geld für eine Operation, er hat eine Lungenkrankheit und kann nicht mehr arbeiten.« Anscheinend ist es diesmal doch anders abgelaufen. Auf den Gesichtern der Männer liegt ein triumphierendes Lächeln. Ein Bündel Geldscheine wird aufgeteilt. Alle umarmen sich, und Leo und Marco verschwinden in der Nacht. Antero stopft das Geldscheinbündel in seine Hosentasche und setzt sich ans Steuer. »Im Fernsehen haben sie behauptet, wir seien eine dreckige Schmugglerbande. ›Wer sind denn hier die wahren Schmuggler?‹ habe ich daraufhin gefragt. ›Wir, die wir keine Lira besitzen, oder die Museumsdirektoren und Archäologen, die in milliardenteuren Villen leben?‹ Vielleicht kann das hier Leos Leben retten.« Lisa weiß von Lorenzo, daß die tombaroli immer gern lauthals über die Korruptheit der anderen klagen, wenn sie sich von ihrer eigenen Schuld freisprechen wollen. »Wohin fahren wir?« fragt Lisa, als sie merkt, daß sie 272
nicht ins Zentrum zurückkehren und schon eine Weile durch die Dunkelheit fahren. »Wir werden uns bei der Göttin bedanken«, sagt Antero. Lisa schaut Angela fragend an. »Bei Artemis«, sagt diese leise. Lisa hat das Gefühl, als würde ihr ein harter Stoß versetzt. Sie will nicht dorthin, nicht jetzt, nicht zu der Stelle, wo sie Lorenzo gefunden haben! Sie starrt auf die schwarze Fläche der Seitenscheibe und sagt nichts. Nach einer Weile hält Antero an und zeigt auf die dunkle Landschaft. »Siehst du den Hügel dort? Er wurde künstlich angelegt. Er ist voller einfacher Soldatengräber. Meiner Meinung nach birgt er ein Geheimnis. Der Legende nach ist Tarquinius Superbus, nachdem er aus Rom verjagt worden war, in einem goldenen Wagen geflüchtet … Natürlich ist es eine Legende, aber wer weiß – sein Grab wurde jedenfalls nie gefunden.« Er startet den Motor wieder und fährt weiter, bis sie von weitem die Steine des Tempels im Mondlicht glänzen sehen. Was wollte er hier? Warum tat er das, dieser Verrückte? Das war doch nicht der richtige Ort zum Feiern? Sie steigen aus, ganz in der Nähe des Tempels. In der Ferne das moderne Tarquinia, hier die kahlen, stillen Hügel. Ein nicht erleuchteter Bauernhof. Sterne am schwarzen Firmament. Verlassenheit. Lisa merkt, daß die Hände in ihren Taschen zu Fäusten geballt sind. Dies sind die letzten Bilder, die er gesehen hat. Dunkle Hügel. Über allem der Mond. In der Ferne das Meer. 273
Ihr Herz klopft unruhig. War er aus eigenem Antrieb hierhergekommen, oder hatte man ihn hierhergebracht? Wie waren seine letzten Momente gewesen? Voller Angst? Hatte er es kommen sehen, oder war er überfallen worden? Es heißt, an seinem Körper wären keine Spuren von Gewaltanwendung gefunden wurden. Aber wer sagt, daß das wahr war? Die Polizei hatte keine Untersuchung eingeleitet. Warum eigentlich nicht? Und warum war er so schnell begraben worden? Die Art, wie jemand starb, konnte sein ganzes Leben in ein anderes Licht rücken. Einen Moment lang erschien Lisa die Möglichkeit, daß es kein Selbstmord gewesen war, beruhigend. Dann hätte er sie nicht bewußt im Stich gelassen. Aber sofort danach war der Gedanke an tödliche Gewalt wieder so schrecklich für sie, daß sie hoffte, es sei doch Lorenzos eigene Entscheidung gewesen. Antero hat sich auf eine Mauer gesetzt, nicht weit von der betreffenden Stelle entfernt, dieser stillen Stelle. »Lisa!« ruft er und bedeutet ihr, sie solle sich auf den Platz neben ihm setzen. Sie tut es. Angela steht dicht neben ihr. »Ich muß dir etwas sagen«, stößt Antero hervor. »Ja«, sagt Lisa, erschrocken über den unerwartet ernsten Tonfall in seiner Stimme. »Ich bin zusammen mit Lorenzo hier gewesen, vor einem Jahr …« Mit einem Ruck dreht sich Lisa zu ihm um und starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Du warst bei ihm?!« Er wendet den Blick ab. »Ja, ich wollte ihm einen Ge274
fallen tun. Ich hatte Lorenzo eines Tages davon erzählt, daß ich diese Straße gefunden habe, du weißt schon, diese etruskische Straße mit den sieben Stationen, von der ich dir erzählt habe, die von hier aus zur Nekropole führt.« Lisa atmet schwer. »Immer wenn er hierherkam, fing er wieder davon an. Er war wie besessen davon und wollte sie mit den Belle Arti ausgraben. Ich sagte ihm, das käme überhaupt nicht in Frage, sie würden sie sich nur unter den Nagel reißen und die ganze Ehre selbst einkassieren. Aber er ließ nicht locker. Schließlich sagte ich, ich sei damit einverstanden, bei der Straße Grabungen durchzuführen, aber ohne die Belle Arti. Und er stimmte zu.« Lisa fängt an zu zittern. »Es war eine wunderbare Nacht. Der Mond war fast voll, und das Getreide wogte wie ein goldenes Meer. Wir haben gegraben wie die Verrückten, bis wir zu der Straße kamen. Ich hatte ihn noch nie so begeistert erlebt. Wir kamen zu der Sperre, die ich kaputtgeschlagen hatte, und wir gruben weiter. Bis wir ein Stück weiter auf das zweite Hindernis stießen …« Er stockt. »Irgend etwas ging schief. Ich weiß bis heute nicht, wie das geschehen konnte … es ist mir noch nie passiert … die Wand stürzte ein … Ich habe gegraben wie ein Tier, um ihn zu befreien …« Lisa zittert am ganzen Körper. Sie kann kein Wort herausbringen. Alles dreht sich um sie, sie muß sich an der Mauer festklammern. Also doch kein Selbstmord! Na also, sie hatte es doch die ganze Zeit gewußt! Er hatte sich nicht in die Tiefe 275
gestürzt. Er hatte sie nicht im Stich gelassen! Und es war auch kein Mord gewesen! Er war nicht in Angst gestorben. Sie fängt an zu weinen. »Er muß auf der Stelle tot gewesen sein.« »Warum … warum hast du das denn nicht gleich gesagt?« »Weil ich dachte, er würde dann nach seinem Tod als Krimineller betrachtet, als tombarolo, und das, wo er doch so prinzipientreu war und mich immer davon zu überzeugen versuchte, daß das, was ich tue, falsch ist. Ich wollte, daß er eine weiße Weste behält. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie sie mit einem umgehen und daß sie einen wie den letzten Dreck behandeln.« Er schweigt einen Moment und sagt dann: »Außerdem wollte ich nicht, daß die Bullen hier scharenweise herumschnüffeln und auf diese Weise das mit der Straße herauskäme. Ich habe die Erde von ihm abgeklopft und ihn in meinen eigenen Armen zum Tempel getragen. Weinend.« Lisa sitzt auf der Tempelmauer, die Finger um den kalten Stein geklammert. Die Ungewißheit hatte sie schier zum Wahnsinn getrieben. Endlos waren ihr die Fragen im Kopf herumgegangen und hatten dabei alle anderen Gedanken zermahlen und überlagert. Antero legt seinen Arm um sie. »Artemis hat ihn in ihr Totenreich gebracht, wie ich dir schon sagte. Ich habe dich nicht angelogen. Artemis ist auch die Göttin des unerwarteten Todes, und unerwartet hat ihr Pfeil ihn getroffen. Vielleicht ganz unabsichtlich. Auch ihren Geliebten, Orion, hat sie aus Versehen getötet.« Lisa schaut die Stelle unterhalb der Mauer an, die plötzlich ganz anders für sie aussieht. In ihrem Kopf muß 276
alles neu geordnet werden. Und seine Eltern, seine Eltern müssen es erfahren! »Angela hat mich dazu gedrängt, es dir zu erzählen«, sagt Antero, steht auf und geht weg, hinein in die Dunkelheit. Geschockt schaut Lisa Angela an. »Du hast es gewußt?« »Nein, habe ich nicht. Aber als ich aus Sovana zurückkam, habe ich mit Antero gesprochen und ihm erzählt, wie sehr du darunter leidest und wie schwer es ist, so etwas zu verarbeiten, wenn man nicht weiß, was wirklich geschehen ist. Und daß jetzt auch noch deine Freundin so schwer krank ist. Ich habe ihn mit Fragen über Lorenzo gelöchert, ihn ausgehorcht, ob er wirklich nichts wisse oder vielleicht eine Idee habe, wie man mehr erfahren könne. Und schließlich hat er es mir dann gestanden.« »Wann war das?« »Gestern. Ich habe darauf bestanden, daß er es dir heute noch erzählt, aber er war ja den ganzen Tag mit dieser Amphore beschäftigt. Unter anderem deshalb war ich auch so sauer auf ihn.« Antero kommt wieder zurück, in der einen Hand eine Flasche Rotwein, in der anderen einen zweitausendfünfhundert Jahre alten Kelch. »Hier, der ist für dich. Es war Angelas Idee.« Er schenkt den Becher voll und hält ihn in die Höhe. »Auf Lorenzo. Auf deine kranke Freundin. Auf uns. Und natürlich auf Artemis.« Als Lisa sich den bemalten Kelch anschaut, sieht sie, daß ein geflügeltes Pferd darauf abgebildet ist.
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Die Hitze hält die Stadt im Würgegriff. Der Asphalt der ausgestorbenen Straßen schwitzt, Dampf schlägt sich darauf nieder. Selbst die Nächte bringen keine Abkühlung. Das Gurgeln des Wassers klingt erfrischend. Es rauscht um die Insel herum, die mit ihren gravitätischen Palmen wie ein vielmastiges Lazarettschiff im Tiber liegt. Das Schiff des Äskulap hat sich noch nicht von seinen Ankern losgerissen. Rund um die Insel stelzen die ƒiumaroli wie Strandvögel umher, auf der Suche nach einem Hauch vergangener Glorie, einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit einem Kaiser oder einem Helden. Herkules zum Beispiel, der den Höllenhund aus der Unterwelt hervorzerrt, oder Prometheus, der das Feuer aus dem Olymp stiehlt. Eine Begegnung, die durch ihren Ruhm jene ärmlichen Existenzen für einen kurzen Augenblick in strahlenden Glanz tauchen würde. Angela steht bis zu den Knien im Fluß wie eine Wassernymphe. Sie trägt eine kurze Hose und ein dünnes Hemdchen. Lisa ist froh, sie zu sehen. Sie ertappt sich immer wieder dabei, wie sie sich vorstellt, alle Menschen, 278
die sie liebt, seien tot, um dann um so glücklicher darüber zu sein, daß es nicht so ist. Da steht sie, geschmeidig und leicht gebräunt. Lisa ruft nach ihr, doch es gelingt ihr nicht, das Rauschen des Flusses zu übertönen. Als sie die Treppe hinuntergeht, spürt sie die Hitze der Steine durch die Sohlen ihrer Schuhe hindurch. Angela blickt auf, sieht sie, watet zum Ufer und kommt ihr entgegen. Sie umarmen sich und bleiben einen Moment so stehen, die Arme umeinander geschlungen. Lisa fällt es schwer, nicht die Beherrschung zu verlieren. Noch immer Arm in Arm gehen sie zum Ufer und setzen sich dort auf zwei große Steine. Lisa zieht ihre Schuhe aus und hält wie Angela die Füße ins Wasser. »Du wirkst sehr gefaßt«, sagt Angela. »Ja, wirklich? Es ist schon verrückt. Natürlich bin ich wahnsinnig traurig, aber ich spüre auch eine Art Ruhe in mir. Es war trotz allem eine schöne Zeit. Es war, als gingen wir einen dieser heiligen Wege entlang, durch eine Art Zwischenland, in dem alles in einem besonderen Licht erscheint.« Angela nickt. »Heleen war sehr glücklich über den schönen Abend, den du ihr bereitet hast.« Ja, es war wirklich wunderschön gewesen. Alle Freunde von Heleen hatten um den großen Tisch auf ihrer weitläufigen, von Kerzen erhellten Terrasse gesessen, auf der man ohnehin ein wenig das Gefühl hatte, zwischen Himmel und Erde zu schweben. Es war das Flachdach des fürstlichen Palazzos, auf dem ihr Penthouse errichtet worden war. Angela hatte ein etruskisches Mahl zubereitet: Acquacotta, Lammfleisch mit Gerste, 279
kleine Stücke Ziegenkäse mit Honig. Zwar spielte niemand auf einer Doppelflöte, aber sie hörten Platten von Charlie Parker und Chet Baker. In Lisas Kopf hatten sich die Bilder dieses Abends vermischt mit denen eines anderes Festes auf derselben Terrasse, als sie Lorenzo zum erstenmal begegnet war, als ihre Blicke sich gesucht hatten, sich fanden, sie einander bestrickten und umfingen mit Worten, mit ihren Armen beim Tanzen und im immer wieder hoch- und hinunterfahrenden Fahrstuhl. Lisa schämte sich dafür, daß sie nach dem Tod Lorenzos das Gefühl gehabt hatte, auch ihr Leben sei vorbei. Sie schämte sich, wenn sie Heleen anschaute, für die das Leben wirklich zu Ende ging. Jeden Morgen kontrollierten sie, ob Heleens Gesichtsfeld wieder kleiner geworden war. Ihre Kräfte nahmen von Tag zu Tag ab, während Lisa schändlich gesund blieb und immer brauner wurde. »Sie war toll«, sagt Angela. »Ich bin so froh, daß ich etwas für sie tun konnte. Sie war so stark und hatte so viel Humor.« »Ja«, sagt Lisa, »eigentlich hat sie mir mehr Kraft gegeben als ich ihr. Jeden Abend haben wir das Öllämpchen angezündet. Es stand bei ihr am Bett.« Vor dem Einschlafen massierte Lisa Heleen den Rücken, um ihr ein bißchen zu helfen, sich zu entspannen, und dabei redeten sie über das Leben. »Am schlimmsten finde ich, keine Geschichten mehr von euch hören zu können«, hatte Heleen gesagt. »Ich würde so gern bei euch bleiben.« Sie weinte ein bißchen, als sie das sagte, und Lisa weinte mit ihr. Ihr gemeinsames Leben in Rom war eine zehn Jahre lange Fortsetzungsgeschichte gewesen, mit einer Stamm280
besetzung und Neuankömmlingen, Hauptrollen, Nebenrollen und Statisten. Je öfter man miteinander sprach, desto mehr hatte man einander zu sagen. Heleen konnte so wunderbar von ihren Erlebnissen erzählen und so herrlich Leute imitieren, ihren Tonfall, ihre Mimik. Das tat sie ganz unbewußt. Es war vorbei. Lisa würde Heleen nie mehr fragen, welches Kleid sie anziehen sollte und ob es ihr gut stand. Nie mehr würde sie sich mit ihren Zweifeln an der Liebe und an ihrer Arbeit an Heleen wenden können. Glücklicherweise hatten sie wenigstens noch die Geschichte von ihrer Reise und von Lorenzos Ende miteinander teilen können. Lisa hatte Heleen ausführlich von den Begegnungen mit seinen Eltern und mit Dionigi berichtet. Sie spürte, daß sie ihn gerne wiedersehen würde, und Heleen hatte ihr geraten, ihn anzurufen. Über den Besuch an Lorenzos Grab hatte sie zunächst geschwiegen, aber Heleen hatte von sich aus danach gefragt. Zum Schluß erzählte Lisa ihr von Anteros Enthüllung. »Es hat doch etwas Tröstliches«, hatte Heleen gesagt, »daß Lorenzo nicht gestorben ist, weil er nichts mehr vom Leben erwartete, sondern gerade zu dem Zeitpunkt, als er auf der Suche war.« Trotzdem nagten weiterhin Zweifel an Lisa: War er vielleicht besonders große Risiken eingegangen, womöglich aus einer Art Selbstverachtung heraus? Weil er im Grunde gegen das war, was er tat? Oder hatte Antero sich diesen Unfall nur ausgedacht, um sie zu beruhigen? »Ich an deiner Stelle würde davon ausgehen, daß Anteros Geschichte wahr ist«, meinte Heleen. »Sie paßt zu Lorenzo. Er war manchmal so leichtsinnig!« 281
»Ach, ich glaube ihm seine Geschichte ja auch. Und ich fange an, mich damit abzufinden, daß ich über die genauen Umstände niemals mit Sicherheit Bescheid wissen werde.« Vielleicht würde ja eines Tages eine Scherbe ausgegraben, die alles passend machte. Vielleicht aber auch nicht. Heleen war neugierig geblieben bis zuletzt. Sie wollte alles über die Tempel und die Labyrinthe wissen, über die Gräber mit den Wandmalereien und über die Hohlwege, diese Verbindungswege zwischen den Lebenden und dem Totenreich. Diese Geschichten beruhigten sie. Es war ihnen vorgekommen, als befänden auch sie sich in einem solchen Hohlweg, und Lisa hatte Heleen so weit wie möglich begleiten wollen. Im Angesicht des Todes bekamen alle Dinge einen ganz besonderen Glanz und ein besonderes Gewicht. Zusammen in der Sonne sitzen und Kaffee trinken, auf dem farbenfrohen Markt um die Ecke Gemüse kaufen – nichts war mehr alltäglich. Ab und zu rief Pietro aus Amsterdam an. Er war der Meinung, er habe später ein Recht auf Heleens Wohnung. An seiner Stimme konnte man hören, daß er bis obenhin vollgepumpt war mit Kokain. Das erstemal hatte Lisa ihn mit Heleen verbunden, aber später weigerte diese sich, mit ihm zu sprechen. Drei Monate lang hatten sie auf Heleens Terrasse gelebt, aber Lisa erschien diese Zeit viel länger. Freunde aus früheren Abschnitten ihres Lebens, die Lisa durch Heleens Geschichten so vertraut waren wie Romanfiguren, kamen mit dem Flugzeug aus den Niederlanden, Spanien und 282
Deutschland angereist und lösten sich ab, um Heleen beizustehen, aber auch, um von Heleen getröstet zu werden. »Niemand hat ernsthaft geglaubt, daß es wirklich so schlimm um sie steht. Heleen hat schon so oft schwere Zeiten erlebt, aber immer ist sie irgendwie wieder auf die Beine gekommen, manchmal auf so wunderbare Weise, daß wir alle Witze über ihren ›Schutzengel‹ machten. Wir dachten, dieser Engel käme auch jetzt bestimmt wieder vorbeigeflattert«, sagten sie. Heleen selbst wußte jedoch, daß der Engel diesmal nicht kommen würde, und richtete ihr Leben danach aus. Sie übernahm eigenhändig die Regie und verwirklichte dabei wieder einmal einen ihrer Träume: den Rest ihres Lebens in Rom zu verbringen, in ihrer Stadt, in ihrer Wohnung, inmitten ihrer Freunde. Sie stand spät auf, nachdem Lisa ihr das Frühstück ans Bett gebracht hatte. Dann saß sie in der Sonne auf der Terrasse, telefonierte, las das Manuskript eines debütierenden Freundes und sorgte hingebungsvoll für ihre Pflanzen. Als sie die Kraft dazu nicht mehr hatte, erteilte sie Lisa die nötigen Instruktionen. Zweimal am Tag goß Lisa Heleens Schützlinge, und so kam es, daß sie sie alle überlebten. Es war ein alle Jahre wiederkehrendes Ritual gewesen, in den ersten Frühjahrstagen zusammen die Pflanzen umzutopfen und in der Gärtnerei neue zu kaufen. Erst für ihre gemeinsame Terrasse, später für jeweils Lisas und Heleens eigene. Lisa graute jetzt schon vor dem nächsten Frühjahr. Sie gingen jeden Abend zusammen zum Essen aus, immer in ein anderes Restaurant und in stets wechselnder Gesellschaft. 283
Sie zogen sich hübsch an und legten an Heleens großem Schreibtisch, der auch als Eßtisch diente, Make-up auf. Es war noch der Tisch aus ihren ersten Jahren. Er stammte von ihrem früheren Vermieter, der Heleen mit Gebäck zu besuchen pflegte, während Lisa im Atelier an der Arbeit war. Und er ist jetzt schon über achtzig, während Heleen noch nicht einmal die Hälfte schaffen wird, dachte Lisa, während sie zusah, wie sich Heleen einen schwarzen Lidstrich nach Art der Etruskerinnen zog. Heleen betrachtete den Tod ebenso, wie sie dem Leben gegenüberstand: neugierig, gelassen und nüchtern. Sie schockierte die Leute damit, besonders Italiener, wenn sie beim Essen ganz ruhig sagte: »Es läßt sich nun mal nicht ändern. Ich werde sterben.« Dann schauten die Menschen hilfesuchend zu Lisa hinüber: Widersprich ihr doch, so geht das doch nicht! »Und wenn mein Zustand zu unerträglich wird, werde ich ein Medikament einnehmen«, verkündete Heleen. Das Fläschchen mit den Tropfen stand im Kühlschrank, und daneben lag ein Strohhalm. Es beruhigte Heleen, daß sie ihrem Leben ein Ende setzen konnte, wenn sie es nicht mehr aushalten würde. »Nein, es gibt wirklich keine Hoffnung mehr, ich habe noch ungefähr drei Wochen«, pflegte sie ganz nüchtern zu sagen. Es ärgerte Heleen, wenn die Leute anfingen, von Wundertherapien zu reden, oder wenn sie einfach nur gesellig beisammen sein wollten. Sie wollte über das sprechen, was ihr Leben gewesen war, und darüber, wie es war, zu sterben. 284
Anfangs hatte auch Lisa versucht, Heleen dazu zu überreden, noch andere Ärzte zu Rate zu ziehen und Therapien auszuprobieren. Sie hatte sich darüber aufgeregt, daß Heleen nicht darauf eingehen wollte. Du stirbst aus Bequemlichkeit, dachte sie insgeheim. Sie fühlte sich im Stich gelassen. »Nein, Lisa«, hatte Heleen in ihrem typischen entschlossenen Ton zu ihr gesagt. »Ich habe einfach keine Lust dazu, den letzten Rest meines Lebens mit oberflächlichen Floskeln und falschen Hoffnungen zu vergeuden. Von einem Kurpfuscher zum nächsten. Ich habe nur noch wenig Zeit, und die will ich so sinnvoll wie möglich verbringen. Leute, die andauernd lauthals behaupten, es würde schon wieder gut, sind nur zu feige, der Wahrheit ins Auge zu sehen.« Schließlich hatte sich Lisa damit abgefunden. »Das Liebste, was ich hatte, habe ich sowieso schon verloren«, sagte Heleen. »Meinen Vater. Dadurch ist es leichter für mich.« Heleen hatte Lisa gebeten, bei ihr zu sein, wenn sie das Fläschchen austrinken würde. Sie hatte es ohne besondere Probleme von ihrem Arzt in den Niederlanden bekommen. Da er ihr Leben nicht retten konnte, wollte er ihr wenigstens einen leichten Tod ermöglichen. Jedesmal, wenn Lisa den Kühlschrank aufmachte, sah sie das Fläschchen dort zwischen dem Käse und der Salami stehen. Unter keinen Umständen wollte Heleen ins Krankenhaus gebracht werden, wo ihr Leben gegen ihren Willen verlängert worden wäre. Wenn sie zum Essen ausgingen, nahm sie das Fläschchen immer in der Handtasche mit, 285
für den Fall, daß ihr unterwegs etwas zustieß und die Umstehenden einen Krankenwagen riefen. Sie wollte auf ihre Art gehen können. Ein Freund von Heleen, ein praktischer Arzt, der gelegentlich auch für die Polizei arbeitete, erzählte, daß er eines Tages den Tod eines Mannes mittleren Alters habe feststellen müssen, der kerngesund gewesen sei. Die todkranke Ehefrau habe ganz außer sich neben dem Verstorbenen gesessen. Der Mann habe es als so unerträglich empfunden, daß seine Frau sich in Kürze mit Gift selbst töten wollte, daß er es selbst genommen hatte. »Das wirst du aber schön bleiben lassen«, hatte Heleen lachend zu Lisa gesagt. Gerade ihre Gelassenheit war es, die Lisa betroffen machte. Eines Morgens sagte Heleen zu einer Freundin, die ständig Geldsorgen hatte, sie könne ihren Computer bekommen. Sie sagte es ganz nebenbei, während sie und Lisa auf der Terrasse Kaffee tranken. Der Computer war ihre Arbeit, ihr Leben, und über ihr neues Notebook hatte sie sich so sehr gefreut. Sie versprach der Freundin sogar, ihr zu erklären, wie es funktionierte. Heleen war sehr zufrieden darüber gewesen, daß sie ihr Geld nicht an eine Rentenversicherung verschwendet hatte. Sie bekam bei ihrer neuen Stelle ein fürstliches Monatsgehalt, das sie nun für Restaurantbesuche, Parfüm und Kleider ausgab. Lisa und sie waren zusammen in die Stadt gegangen, zuerst zur Post, um die Rechnungen für Gas und Elektrizität sowie die Miete zu bezahlen. 286
»Das ist wahrscheinlich mein letzter Monat. Jetzt brauche ich mir über diese Dinge wenigstens keine Sorgen mehr zu machen«, war Heleens Kommentar dazu gewesen. Danach hatten sie eine Sonnenbrille gekauft, eine teure von Armani. »Setz du sie doch mal auf. Ja, dir steht sie auch gut. Die erbst du.« Nach dem Kauf der Sonnenbrille war Heleen todmüde gewesen, und sie hatten im Caffè Greco etwas getrunken, wo sie nicht so oft gewesen waren, wie sie es eigentlich vorgehabt hatten. Auch die Reisen durch Italien und nach New York, die sie geplant hatten, waren nie zustande gekommen, weil sie geglaubt hatten, noch alle Zeit der Welt zu haben. Für die übrigen Cafébesucher wirkten sie einfach wie zwei Freundinnen, die gemütlich zusammen etwas tranken. Heleen bat Lisa, noch ein Parfüm für sie zu kaufen, »Dolce Vita« von Dior. »Bitte mach so schnell wie möglich, denn ich bin sehr müde. Tut mir leid.« Lisa rannte die Via Condotti entlang, zwischen den einkaufenden Leuten, den untergehakten Pärchen und den japanischen Touristen mit den Einkaufstaschen voller alta moda hindurch. Am Gebäude des internationalen Nachrichtendienstes vorbei, wo Heleen jeden Tag gearbeitet, und wo Lisa sie oft besucht hatte, wenn sie in der Nähe war. Die Männer im Foyer hatten ihr immer sofort, wenn sie sie sahen, zugerufen: »Sie ist oben«, oder: »Sie ist mal kurz weg, Zigaretten holen.« Außer dem Parfüm für Heleen kaufte Lisa auch einen Lippenstift für sich selbst. 287
Sobald sie wieder draußen gestanden hatte, hatte sie ihn weggeworfen. Lisa ist so in Gedanken versunken, daß sie erschrickt, als auf einmal jemand hinter ihr steht. »Buon giorno, signorine.« Es ist Virgilio, dunkelbraun gebrannt von der Sonne, ein Taschentuch um den Kopf geknüpft. Er küßt Lisa auf beide Wangen und schenkt ihr eine Handvoll wilder Feigen. Dann holt er eine Flasche Mineralwasser aus dem Fluß und setzt sie an den Mund. Sie sind letzte Nacht am Tiber gewesen, Angela und er. Virgilio hat eine sehr schöne Öllampe aus der Kaiserzeit gefunden, mit einer goldumrandeten Abbildung Jupiters darauf. Er hat sie bereits verkauft, an einen Bekannten. Heute nacht will er wieder losziehen. Er setzt sich auf einen Stein neben Lisa und sagt: »Ich habe etwas für dich.« Er wühlt in seiner Hosentasche herum, holt eine Münze heraus und legt sie in Lisas Hand. Als sie sie anschaut, erkennt sie ein Schiff. »Das ist der Tiber«, erklärt er und zeigt auf ein paar Striche unter dem Schiff. Auf der anderen Seite der Münze sind die beiden Gesichter des Gottes Janus abgebildet. »Janus ist der Schutzgott der Türen. Er schaut zurück und zugleich nach vorn. Er schließt die eine Tür, öffnet dafür aber auch eine andere. Janus ist der Gott allen Anfangs. Angela hat mir von den schlimmen Dingen erzählt, die geschehen sind. Ich möchte dir diese Münze schenken, um dir Mut zu machen. Du darfst das alles nicht nur als Ende betrachten, sondern solltest es auch als Neubeginn sehen.« 288
Lisa starrt die Münze an. Nicht nur eine, sondern zwei Türen wurden zugeschlagen. Virgilio fragt, ob sie ihn auf die andere Seite begleiten wollten, hinüber zur Insel. Dort seien noch ein paar andere Freunde von ihm. »Wir kommen später nach«, sagt Angela. »Das ist seine Art, sein Mitgefühl auszudrücken«, erklärt sie Lisa, als Virgilio gegangen ist. »Er ist sehr sensibel und freigiebig, obwohl er selbst keinen roten Heller besitzt.« Lisa schaut hinüber zur anderen Seite. Am Ufer der Insel kann sie drei Männer bei der Suche erkennen. »Dort drüben findet man am meisten«, sagt Angela, »weil an dieser Stelle der Tempel gestanden hat. Auch Heleens Öllämpchen habe ich dort gefunden, ganz in der Nähe der Äskulapschlange. Sollen wir gleich mal hingehen? Dann können wir auch mal schauen, ob die anderen noch etwas aufgestöbert haben.« Sie essen von den Feigen, die saftig und süß sind. »Der letzte Ort, zu dem wir mit Heleen zum Essen gegangen sind, war ausgerechnet ein colombario«, erzählt Lisa. Lisa hatte sich überall nach ausgefallenen Restaurants erkundigt, und ein Freund hatte ihr ein Lokal in der Via Appia mit römischem Ambiente empfohlen. Das hatte sich gut angehört, doch Lisa erschrak, als sie die Fächer in den Wänden sah. Das Restaurant befand sich in einem sehr großen römischen Taubenschlaggrab, das von Fackeln erleuchtet wurde. Lisa hoffte, es würde Heleen nicht auffallen, wo sie sich befanden, doch sie fragte schon nach kurzer Zeit, was es denn mit diesen Fächern in den Wänden auf sich 289
habe. Sie reagierte allerdings äußerst gelassen auf die Tatsache, daß sie in einem antiken Grab saßen. Vielleicht tröstete sie der Gedanke, daß sie nicht die einzige war, daß ihr schon so viele Menschen ins Jenseits vorausgegangen waren und daß alle, mit denen sie nun am Tisch saß, ihr dorthin folgen würden. Ein Freund von Heleen aus früheren Zeiten, in den Heleen einmal heftig verliebt gewesen war, war ebenfalls da, und er bekannte nun, daß er selbst auch in Heleen verliebt gewesen sei. »Ach, wenn wir das gewußt hätten«, seufzte er, »dann würden wir jetzt vielleicht zusammen in einem hübschen Einfamilienhaus wohnen.« »Vielleicht treffen wir uns ja später auf einer hübschen Wolke wieder«, antwortete Heleen. Es war der letzte Abend gewesen, an dem sie essen gegangen waren. Am Abend darauf sagte Heleen, sie schaffe es nicht, sie habe einfach keine Kraft mehr. Sie sei zu erschöpft. Sie hatte versucht, sich die Schuhe anzuziehen, aber es war ihr nicht gelungen, weil ihre Füße zu stark angeschwollen waren. Also waren sie zu Hause geblieben, Lisa hatte Heleens Lieblingspasta zubereitet, mit Zwiebeln, Knoblauch und viel rotem Pfeffer, und sie hatten das Gericht unter der Pergola sitzend verspeist. Von da an war die Terrasse ihre ganze Welt gewesen. Jeden Abend veranstalteten sie ein Festmahl, zu dem sie immer andere Gäste einluden, und das schönste ihrer Diners war das von Angela gewesen. Niemand hatte gedacht, daß es Heleens letztes Abendessen sein würde. 290
Als es vorbei war, hatten Lisa und Heleen wie immer das Öllämpchen angezündet und sich, während Lisa Heleen den Rücken massierte, noch ein wenig unterhalten. Heleen war an diesem Abend sehr glücklich gewesen, mit all den vielen Freunden um sie herum. Sie sagte: »Ich habe keine Angst, und ich fühle mich nicht einsam. Ich habe so gelebt, wie ich leben wollte, und im Prinzip habe ich alles Wichtige erlebt.« »Ich glaube, sie hat sich irgendwann mit ihrem nahen Tod abgefunden«, sagt Lisa zu Angela. »Natürlich wollte sie noch nicht sterben, aber sie sagte zu mir, sie sei davon überzeugt, daß ihr Ende einen Sinn habe, daß es kein blinder Zufall sei und es vielleicht ein Geheimnis gäbe, das ihr verborgen sei. Das hat mich allerdings erstaunt, denn früher habe ich bei Heleen nie irgendwelche Anzeichen von Religiosität entdeckt.« »Vielleicht ist ja doch ihr Schutzengel vorbeigeflogen«, meint Angela. In der letzten Nacht hatte Heleen zu Lisa gesagt: »Ich werde immer bei euch sein, versprochen! Und wenn ihr mich braucht, werde ich euch helfen.« Das hatte sie schon allein dadurch getan, daß sie ihnen allen ein Vorbild war, indem sie so gefaßt und stilvoll Abschied vom Leben nahm. Heleen hatte sogar noch einen Brief an Pietro geschrieben. »Irgendwann wird er einsehen, daß er etwas falsch gemacht hat, und dann wird es ihm leid tun«, sagte sie. Sie schrieb, sie würde ihm vergeben, sie sei sehr glücklich mit ihm gewesen und er solle versuchen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Sie hatte Lisa gebeten, ihm den Brief zu geben. 291
»Vielleicht kommt er ja zu meiner Einäscherung«, meinte sie. »Er taucht bestimmt wieder auf, das hat er bisher immer getan.« »Am nächsten Morgen wollte ich ihr wie immer das Frühstück ans Bett bringen«, erzählt Lisa Angela, »und öffnete vorsichtig die Tür. Ich habe es sofort gespürt. Jeden Morgen hatte ich Angst davor.« Genauso, wie sie es bei ihrer Großmutter erlebt hatte, war der Tod wesentlich stiller als der Schlaf. »Das Fläschchen stand noch im Kühlschrank, ungeöffnet«, fährt Lisa fort. Schweigend blicken sie aufs Wasser. Dann schaut Lisa hinauf zu den Mauern der Stadt. »Vorhin bin ich an Lorenzos Haus vorbeigegangen. Für mich ist Rom jetzt sehr leer geworden, aber Heleen hat mir geraten, trotzdem hierzubleiben.« »Natürlich mußt du hierbleiben. Außerdem läßt du den Tod nicht hinter dir, indem du Rom verläßt. Im Gegenteil: Erst wenn du an einem Ort Menschen verloren hast, bist du dort wirklich zu Hause, weil deine Erinnerungen dort begraben liegen. Mir geht es mit Tarquinia so.« Vielleicht hat Angela recht, denkt Lisa. Vielleicht würde sie Lorenzo und Heleen noch mehr vermissen, wenn sie zurück in die Niederlande ginge. »Der Tod von Lorenzo und Heleen stellt zwei Stationen auf deinem Lebensweg dar. Du hast lange stillgestanden, aber jetzt mußt du wieder weitergehen. Sollen wir mal kurz zur anderen Seite rüberlaufen? Dann zeige ich dir die Äskulapschlange, und vielleicht haben meine Freunde ja auch etwas Schönes entdeckt.« »Stört es sie denn nicht, wenn man ihnen über die Schulter guckt?« 292
»Nein, überhaupt nicht. Meine Freundinnen sind immer willkommen. Den fiumaroli gefällt es, Frauen ihre Funde zeigen zu können. Frauen geht es mehr um die Erfahrung, sie wollen etwas über die Geschichte lernen, während Männer materialistischer sind und oft sofort wissen wollen, was die einzelnen Objekte wert sind. Deswegen sind Männer hier weniger gern gesehen.« Die beiden Frauen stehen auf und schlendern langsam in Richtung Brücke. »Schau mal«, sagt Angela, »siehst du den Kopf in der Mauer?« Lisa erkennt einen steinernen Kopf in einer Nische, die speziell dafür in die Mauer eingelassen wurde. »Das ist der erste Pontifex von Rom«, erklärt Angela, »und zwar in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, ›Brückenbauer‹. Erst später hat das Wort Pontifex die Bedeutung von ›Priester‹ angenommen. Aber auch sie waren ja in gewisser Weise Brückenbauer, nämlich von der Erde aus hinauf zum Himmel.« Lisa denkt wieder an Heleen und wie sie in heiterem Ton gesagt hat, ihr letzter Schluck sei zugleich der letzte Schritt. Auf der anderen Seite der Insel sieht Lisa den ponte rotto, die Brücke, die mitten im Tiber endet. Mit Heleen hatte sie wenigstens vor ihrem Tod noch sprechen und in Ruhe Abschied von ihr nehmen können. Dabei hatte ihr Heleen seltsamerweise geholfen, auch Abschied von Lorenzo zu nehmen. Vor kurzem hatte Lisa geträumt, sie säße in einem Zug auf dem Weg nach Hause. Sie wohnte in einem Haus, das hoch oben auf einem roten Tuffsteinfelsen lag. Plötzlich merkte sie, daß der Zug zu weit gefahren war und sie nie 293
mehr nach Hause zurückkommen würde. Niedergeschlagen blickte sie um sich. Sie befand sich auf einer weiten, menschenleeren Ebene. Da kam auf einmal Lorenzo auf sie zu. Er lachte, streckte die Arme nach ihr aus und hob sie hoch. Lachend küßten sie sich. »Ich werde dich nach Hause bringen«, sagte er. Und das tat er auch. Als sie den Schlüssel hervorholte, um die Tür aufzuschließen, war sie wach geworden. Nach diesem Traum hatte sie Lorenzo stärker vermißt als je zuvor, so unglaublich nah war er ihr wieder gewesen. Doch nach einer Weile fühlte sie sich von dem Traum getröstet. Schließlich hatte er sie selbst gelehrt, daß ein Haus immer das Symbol für einen selbst war. Er hatte sie wieder zu sich selbst geführt. Sie gehen am Eingang des Krankenhauses vorbei zu der Stelle, wo sich Angelas Freunde aufhalten, und bleiben einen Moment lang vor der Wand stehen, an der sich die Schlange des Äskulap hinaufschlängelt. Lisa wird bewußt, daß schon vor zweitausend Jahren Menschen vor dieser Schlange gestanden und um Genesung gebetet haben. »Angela!« ruft jemand. Sie drehen sich um. Ganz in der Nähe, am Ufer, sind einige Männer mit nacktem Oberkörper und hochgekrempelten Hosenbeinen dabei, den Flußschlamm zu filtern und zu sieben. Auch Virgilio ist unter ihnen. Sie gehen zu ihnen hinüber, und Lisa lernt einen weiteren Tibermaestro kennen, Venanzo, der ebenso wie Virgilio schon weit über sechzig ist. Er hat einen etwa zwanzigjährigen Jungen, Sergio, bei sich. Die Männer geben Lisa 294
die Hand, nachdem sie sie vorher an ihrer Hose saubergewischt haben. Sie haben nicht viel gefunden, nur ein Stück von einer Öllampe und einen Fuß aus Terrakotta. Lisa zieht den Fuß, der wahrscheinlich von einem Votivbild aus einem Tempel stammt, unter einem Strauch hervor. Sie denkt an die geschwollenen Füße Heleens. Ein struppiger Hund ist von seiner Siesta erwacht und springt an ihr hoch. »Pfui, Hannibal!« ruft Venanzo. »Hierher, Hannibal!« »Hannibal?« fragt Lisa. Die anderen grinsen. »Ich dachte, die fiumaroli wären so begeistert von den Römern, wieso nennt dann jemand seinen Hund nach ihrem ärgsten Feind?« fragt Lisa. »Ich habe ihn so genannt, weil ich ihn an einem 15. April bekommen habe, dem Namenstag des heiligen Hannibal«, antwortet Venanzo. »Ach was, er hat ihn so genannt, weil er hofft, daß der Hund die Polizei genauso austrickst wie Hannibal die Römer!« ruft ein anderer. Der Hund trägt eine Münze von Kaiser Claudius um den Hals, dem großen Etruskerkenner. Die Männer hier finden das völlig normal. »Venanzo wollte seinen Sohn ursprünglich Nero nennen«, erzählt Angela. »Aber das Standesamt hat den Namen nicht anerkannt. Also hat er ihn statt dessen Eros genannt.« »Ich wollte meinen Sohn Nero nennen, weil er genauso schön ist wie er«, erklärt Venanzo. »Na ja, aber schließlich war Nero auch verrückt«, gibt Lisa zu bedenken. 295
»Ach, Caligula war viel verrückter, der hat sogar sein Pferd zum Senator ernannt«, erwidert Venanzo. Angela kann es nicht lassen. Sie fängt an zu suchen. Lisa setzt sich in ihrer Nähe hin und gräbt ebenfalls mit den Händen im Schlamm. Heleen hatte ihr eines Abends beim Schein der Öllämpchenflamme ans Herz gelegt: »Mach weiter, bleib in Rom, das ist deine Stadt. Du mußt wieder anfangen zu arbeiten, versprich es mir. Du mußt wieder Material bestellen und jeden Tag ins Atelier gehen.« Lisa will noch einmal zurück in Heleens Wohnung, bevor es dunkel wird. Sie spült den Schlamm von ihren Händen. Virgilio fragt Lisa, ob sie Lust habe, heute nacht mit ihm und Angela zusammen im Tiber suchen zu gehen. Lisa lehnt ab. Ein anderes Mal gerne, aber heute ist sie zu müde. Venanzo bietet ihr an, sie einmal auf dem »Drachen« mitzunehmen, dem Schiff mit dem Greifer, mit dem der Tiber gereinigt wird. Darauf fahre immer ein Archäologe mit, aber auch ein fiumarolo. Die fiumaroli hätten den schärferen Blick, sie würden schon an der Form oder der Farbe erkennen, ob sich etwas Interessantes im Müll befinde. Lisa gibt jedem ihre saubergewaschene Hand. Angela begleitet sie zum Bus, der sie zu Heleens Wohnung bringt. Beim Abschied rät sie Lisa, Venanzos Angebot anzunehmen, denn es sei etwas ganz Besonderes, auf dem »Drachen« mitzufahren.
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Lisa räumt die Reste ihrer letzten Mahlzeit mit Heleen weg. Sie wäscht die Teller ab, die sie einmal zusammen auf dem Markt gekauft und von denen sie jahrelang gegessen haben. Ein paar Küchengeräte von Angela liegen auch noch herum. Lisa schaut einen Moment lang die Hustensäfte und die Halstabletten im kleinen Regal über der Anrichte an. Dann schließt sie Fenster und Türen und schaltet den Strom ab. Langsam betritt sie Heleens Schlafzimmer. Durch eine Ritze zwischen den Fensterläden fällt ein Streifen Licht in den dämmrigen Raum. Es herrscht Totenstille, nichts ist zu hören bis auf das leise Ticken des Weckers. Heleens Turnschuhe stehen auf dem Stuhl vor ihrem Bett und erinnern Lisa an die Sandalen in dem etruskischen Grab. Über der Lehne hängt das hellgrüne Sommerkleid. Auf dem kleinen Tisch ihr Lippenstift und der Flakon »Dolce Vita«. Die Öllampe steht auf dem Nachtschränkchen. Lisa nimmt sie in die Hand und betrachtet die schwarz verrußte Öffnung. Sie wird das Lämpchen mitnehmen und es oft anzünden. Lisa wirft noch einen letzten Blick in das Zimmer, das bald nur noch als Bild in ihrem Kopf existieren wird, und zieht dann die Tür hinter sich zu. Im Arbeitszimmer, wo sie in den letzten Monaten auf dem Klappsofa geschlafen hat, packt sie ihren Koffer. 297
Auf der Schwelle zur Terrasse dreht sie sich um und blickt auf Heleens Schreibtisch, ohne Computer, über dem das Bild von dem etruskischen Felsenspringer hängt. Hier hatte Lorenzo sie an sich gezogen, und hier hatte sie zum erstenmal mit ihm getanzt. Dann schließt sie auch diese Tür hinter sich. Auf der Terrasse stehen die Blumen in voller Blüte, und unter der Pergola suchen zwei Möwen nach übriggebliebenen Krümeln. Sie schrecken auf, und Lisa schaut ihnen nach, wie sie über der in rotes Abendlicht getauchten Stadt davonfliegen. Das Licht im Hausflur funktioniert wieder. Sie fährt nicht mit dem Fahrstuhl, sondern geht zu Fuß die Treppe hinunter.
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