Helen Perkins Band 5
Estrella - zum Sterben schön von Helen Perkins Sie war die Tochter eines Zuckerrohrpflanzers.
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Helen Perkins Band 5
Estrella - zum Sterben schön von Helen Perkins Sie war die Tochter eines Zuckerrohrpflanzers.
Ein tiefblauer Himmel spannte sich in unendlicher Weite über die Insel, die wie ein bunter Edelstein in Tausenden von Farben unter der eben aufgehenden Sonne schillerte. Die Luft war frisch und leidlich kühl, erfüllt vom humos duftenden Dunst, der noch in den schattigen Absei ten des kommenden Tages hing. Geheimnisvoll wie luft-leichte Phan tasiegebilde, Nebelschlieren gleich schlängelte sich dieser Dunst her aus aus den dämmrigen Tiefen des Urwalds, der schon um die Mit tagsstunde zu einem dampfenden Schlund aus Hitze, Feuchtigkeit und dem Geschrei tropischer Vögel wurde. Nun war es still, nur ab und an kreischte in den Baumwipfeln ein großer Segler oder die kleinen Pa viane, die Waldaffen, die von den Eingeborenen Baumteufel genannt wurden, hangelten sich geschickt von Ast zu Ast. Die Welt schien noch nicht wirklich erwacht zu sein an diesem sonnigen Maimorgen im Jahre 1887 auf Jamaika, inmitten des azurblauen Karibischen Ozeans. Doch dieser Eindruck täuschte; nur an der Küste mit ihrem staubfeinen wei ßen Sand und im undurchdringlichen Dickicht der tropischen Wälder war es noch still. Nahe Kingston, der Hauptstadt der britischen Kronkolonie, wo die Besitzer großer Plantagen und prächtiger Herrenhäuser zu finden wa ren, regten sich längst emsige Hände. Überall auf den Plantagen, wo Zuckerrohr, Tabak und exotische Gewürze angebaut wurden, waren die Arbeiter bereits seit dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen. Der Besitzer des größten Anwesens in dieser Gegend hätte nur den Kopf auf dem Fenster seiner Kutsche stecken müssen, um überall am Weg die gebeugten Rücken seiner Arbeiter zu sehen. Doch Sir Humphrey Hemmings hatte für derlei Nebensächliches keinen Blick. Als Kolonial herr der ersten Stunde hatte er auf der schönen Insel sein Glück ge macht. Nun, da er auf die sechzig zuging und verwitwet war, genoss er nur noch die schönen Seiten des Lebens. Wein, Weib und Gesang waren seine Welt, alles andere überließ er seinem Sohn, der, längst erwachsen, den ganzen Besitz leitete. Sir Humphrey hatte das Inter esse an den Plantagen und allem, was damit zusammenhing, längst verloren. Das war nicht immer so gewesen. Früher hatte er sich einen Namen als gewiefter Geschäftsmann und strenger Brotherr gemacht. Nur so war es möglich gewesen, all das aufzubauen, was sich nun 4
seinem müden Blick offenbarte: Das schneeweiße Herrenhaus im Ko lonialstil, verschwenderisch von einem Garten voller exotischer Ge wächse umsäumt, eingerichtet mit dem Teuersten, was das Empire zu bieten hatte, Dutzende von Nebengebäuden, zwei Dutzend Kutschen, an die fünfzig Reitpferde edlen Geblüts. Nicht zu sprechen von den ungezählten Hütten der Arbeiter, deren Zahl in die Hunderte ging. Als Sir Humphrey sich vor fast vierzig Jahren entschlossen hatte, dem dürren Dasein als Advokat zu entsagen und nicht in die Fußstap fen seines Vaters zu treten, sondern statt dessen das Abenteuer in der weiten Welt zu suchen, hatte der alte Lord Hemmings ihm Titel und Ehr aberkannt und verkündet, fortan keinen Sohn mehr sein eigen zu nennen. Wohl hatte er Humphrey bereits in einem Straßengraben von Kalkutta oder Kairo gesehen, mit einer hölzernen Schale um ein paar Körner Reis bettelnd. Den jungen, ehrgeizigen Mann, den das Leben auf Manning-House in Winchester nur unendlich gelangweilt hatte, spornte die vernichtende Skepsis seines Vaters allerdings an. Er setzte nach einer Odyssee von mehr als einem Jahr mit einem alters schwachen Dampfer von Amerika nach Jamaika über und machte sich umgehend ans Werk. Seine neue Existenz sollte alles übertrumpfen, was ein Hemmings je geschafft hatte. Am Anfang war ihm keine Arbeit zu schwer oder zu primitiv. Eisern sparte er jeden Penny und konnte bereits nach wenigen Monaten ins Zuckerrohrgeschäft einsteigen. Zu nächst noch mit einem Partner, bald aber allein. Durch Geschick, einen guten Riecher fürs Geschäftliche und unermüdlichen Fleiß, sowie die Heirat mit einer finanziell interessanten Partie schaffte er es innerhalb weniger Jahre, sich ein Imperium aufzubauen, an dem niemand mehr zu rütteln wagte. Sir Humphrey wurde zum Mittelpunkt der Kingstoner Gesellschaft. Seine Frau, Lady Sarah, ein wenig blass und schon von Jugend an kränkelnd, schenkte ihm zwei gesunde Kinder, George, den Erstgeborenen und Violet. Danach erholte sie sich nicht mehr und ver schied bereits wenige Monate nach der Geburt des Mädchens. Sir Humphrey trug trotz allem schwer an dem Verlust, war Sarah ihm doch nicht nur Weggefährtin und treu ergebene Gattin gewesen, sondern hatte ihn in vielem verstanden und auch unterstützt. Aus ei 5
ner Geldheirat war für den Plantagenbesitzer schließlich doch noch Zuneigung und Liebe erwachsen. Die Kinder, die Lady Sarah ihrem Gatten hinterließ, versorgten qualifizierte Angestellte. Selten nur mischte der Vater sich in deren Gedeihen und Erziehung ein, hatte er doch bereits in jungen Jahren neben dem Geschäft einen ausgeprägten Sinn für die angenehmen Seiten des Lebens und war nie wirklich ein Familienmensch gewesen. Wichtig erschien ihm nur, seinen Nachfolger heranzuziehen, weshalb er Master George bereits in jungen Jahren in alle Geheimnisse seiner zukünftigen Aufgabe einwies. Miss Violet hingegen durfte tun und las sen, was sie wollte. Äußerlich ihrer Mutter ähnlich im zarten, beinahe engelsgleichen Auftreten, hatte sie den starken Willen und die Ego zentrik des Vaters geerbt und wusste sich bereits als Fünfjährige ge gen Erzieher und Personal zu behaupten. Der Vater konnte ihr nichts abschlagen und ließ ihr alles durchgehen, solange, bis aus dem trotzi gen Lockenköpfchen eine junge Lady mit dem Verhalten eines verzo genen Kindes geworden war. Sir Humphrey schien das nicht zu stören, sah er in der blonden Schönheit doch ein Abbild der so früh verlorenen Gattin. Lady Violet nutzte diese Schwäche ihres Vaters hemmungslos aus und tat, was ihr gefiel. Sie lachte über ihren großen Bruder und dessen Pflichtgefühl und gefiel sich in der Rolle der Femme fatale, deren Schönheit die Männerwelt ebenso in Verzückung zu versetzen ver mochte, wie ihr trotziger Eigensinn sie abschreckte. Während Sir Humphrey sich nun, müde von einer durchzechten Nacht, von einem Diener nach oben in sein Schlafzimmer bringen ließ, dachte er flüchtig an die Szene des vergangenen Abends. Wieder einmal hatte Violet irgendeinen Schabernack getrieben und George hatte sie dafür so scharf gerügt, dass ein hitziger Streit entbrannt war, der schließlich in der Forderung des jungen Mannes nach sofortiger Verheiratung seiner ›verrückten Schwester‹ gipfelte. Natürlich hatte der Hausherr wieder einmal für seine Tochter Partei ergriffen, obwohl er im Grunde seines Herzens wusste, wie falsch dies war. Violet war verzogen und selbstsüchtig und nicht einmal in der Lage, sich allein anzukleiden. Sie benötigte für alles Bedienstete und 6
der Luxus, der sie umgab, schien ihr nie zu genügen. Trotzdem war sie seine Tochter, er liebte sie aufrichtig. Und er mochte sie um keinen Preis bereits hergeben an irgendeinen dahergelaufenen Bräutigam. Sir George hatte sehr heftig reagiert und schließlich zornig den Raum verlassen. Sonst stets die Ruhe in Person, waren die Kapriolen seiner Schwester für den jungen Plantagenbesitzer in den ver gangenen Jahren mehr und mehr zu einem roten Tuch geworden. Doch in diesen Punkt konnte der Vater dem Sohn einfach nicht zu stimmen. Er liebte Violet wie sie war und verdrängte den Gedanken, dass sie das Haus eines Tages verlassen würde, lieber. Und das erwar tete er auch von seinem Sohn, der in dieser Beziehung aber leider we nig sensibel schien. Der indische Diener des Hausherren hatte diesem ein Bad ein gelassen, doch Sir Humphrey zeigte wenig Neigung, sich in das war me, nach Lotusblüten duftende Wasser zu legen. Er war zu müde, wollte nun nur noch schlafen. »Ich bade später«, entschied er und zog sich leicht schwankend in sein Schlafzimmer zurück, wo er bereits eingeschlafen war, als der Diener kam, um ihm beim Auskleiden behilflich zu sein. Es war eine Schande, wie der Herr über den größten Besitz der Insel sich verkommen ließ, was für ein Lotterleben er führte, fand Ma hata, der Diener. Nur gut, dass die Plantage und alles, was dazu gehörte, bereits seit einer Weile von seinem Sohn geleitet wurde. Sir George war so ganz anders als der Alte. Und das in beinahe jeder Be ziehung... * Nicht nur die Zuckerrohrpflanzer, Tabakschneider und Gewürzpflücker waren bereits seit dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen. Auch ihr Brotherr, Sir George Hemmings, stand mit dem ersten Licht des Tages auf. Der junge Aristokrat liebte seine Aufgabe, in die er von klein auf hineingewachsen war. Er leitete die Plantagen mit großem Geschick, mit Umsicht und Klugheit. Nicht nur der Profit stand für den hoch ge wachsenen, dunkelhaarigen Gentleman mit den tiefblauen Augen an 7
erster Stelle. Seine Maxime war es, zu verdienen und im gleichen Ma ße wieder zurückzugeben. Er bezahlte seine Arbeitskräfte gut und er achtete auch darauf, dass der Raubbau an der Natur eingedämmt wurde. Die Mehrzahl der britischen Kolonialherren dachten da anders und schmunzelte hinter dem Rücken von Sir George. Für sie war das Land etwas, das man ausbeutete, ebenso wie die Menschen, die es zu bestellen hatten. Doch eine solche Einstellung war dem jungen Mann fremd. Er war tief verwurzelt mit der Erde, auf der er das Licht der Welt erblickt hatte. Zudem war ihm jeglicher Egoismus fremd, er trug stets Sorge für das Land ebenso wie für die Menschen, die ihm anver traut waren. Das erste, was der Plantagenbesitzer an jedem Morgen tat, war ein Rundritt über die Anbauflächen. So konnte er direkt vor Ort die Lage begutachten und auch nötige Verbesserungen oder Fehlplanun gen rasch erkennen, korrigieren und in die Tat umsetzen. An diesem Morgen begleitete ihn dabei sein Vorarbeiter, Pico Smith. Der eher kleinwüchsige Mulatte war Anfang fünfzig, recht schmächtig und mit einem stets wie träumend wirkenden Blick. Allerdings verbarg sich hinter diesem unscheinbaren Aussehen eine erstklassige Kraft, die ih ren Brotherren noch nie enttäuscht hatte. Pico war ein zurückhaltender Mensch. Vor langen Jahren war er als Zuckerrohrpflanzer auf die Plan tagen der Hemmings gekommen, hatte sich mit Fleiß und Be harrlichkeit nach oben gearbeitet und kannte sich nun auf dem Besitz besser aus als jeder andere. Was sein Privatleben anging, so schien es Sir George manchmal, als existiere dies überhaupt nicht. Ob Pico Fami lie hatte oder allein stand, das wusste er nicht einmal. Und der Mulatte hatte bisher keine Anstalten gemacht, davon zu berichten. Sein Brot herr war nie in der Hütte des Vorarbeiters gewesen, Pico kam stets zu ihm. Nur der alte Hemmings hatte mal eine Andeutung fallen lassen, die sich auf die Schönheit einer Mulattin bezog, mit der Pico wohl en ger bekannt gewesen war. Ob sie seine Frau war? Sir George wusste es nicht. Und etwas hielt ihn ab, danach zu fragen. Picos selbstver ständliche Freundlichkeit, sein bescheidenes Wesen und sein Fleiß hat ten ihm den Respekt des jungen Gentleman eingebracht. 8
»Das Zuckerrohr wächst in diesem Jahr langsamer«, konstatierte Sir George, der vom Pferd aus ein Rohr gebrochen und begutachtet hatte. »Liegt es am Wetter? Oder war das Saatgut minderwertig?« Der Vorarbeiter wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Wür de sagen, beides«, erklärte er in etwas holprigem Englisch mit seiner angenehm melodiösen Stimme. »Nächste Ernte wird bescheidener als Jahr vorher.« »Hm, das scheint mir auch so.« Sir George schaute sich um. »Wir sollten noch ein Feld aufpflanzen. Aber ob das Wetter mitspielt?« »Versuch wert«, entgegnete Pico schmunzelnd. »Ich schicke Ar beiter auf Brache im Südwesten.« Der Plantagenbesitzer war einverstanden, mahnte aber: »Sie sol len darauf achten, dass sie nicht zu nah an den Urwald herankommen. Das könnte gefährlich werden.« Sir George dachte an einen kleinen Jungen, das Kind einer Gewürzpflückerin. Der Knirps war vor wenigen Wochen in der Nähe des Dschungels plötzlich wie vom Erdboden ver schwunden gewesen. Während man allgemein annahm, dass das Kind von einem wilden Tier angefallen und verschleppt worden war, glaub ten die Einheimischen doch an eine andere Version der Geschichte. Und da machte Pico keine Ausnahme. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und erwiderte mehrdeutig: »Urwald ist nicht ge fährlich, wenn wissen, wo Wege. Nur Trommel sprechen von Ge fahr...« Das markante Gesicht des jungen Engländers wurde abweisend. Er gab nichts auf den Aberglauben seiner Leute, die an die Macht des Voodoo glaubten und die Priester, die diesem heidnischen Ritus hul digten, wie Heilige verehrten. »Pico, ich bitte dich, du weißt doch ganz genau, dass diese Leute euch nichts antun können. Ein bisschen Hokuspokus, weiter steckt nichts hinter ihren so genannten Zeremonien. Nur wenn ihr an sie glaubt, gebt ihr ihnen Macht über euer Leben.« Der Vorarbeiter wich dem Blick seines Gegenübers aus. Er hatte ganz offensichtlich eine andere Meinung, hielt es aber für klüger, diese zu verschweigen. Fremden war es sowieso nicht gestattet, etwas über diese geheimen Riten zu erfahren, die auf der Insel seit sehr langer 9
Zeit ausgeübt wurden. Und wer offen und unvorsichtig darüber sprach, dessen Leben war schnell in Gefahr... Wenig später kehrte Sir George zum Haupthaus zurück, während Pico einen Trupp Arbeiter zusammenstellte, die ein neues Feld mit Zuckerrohr aufpflanzen sollten. Der Vorarbeiter ging wie immer sorg fältig und gewissenhaft vor, doch er war an diesem Morgen nicht ganz bei der Sache, immer wieder schweiften seine Gedanken ab. In der Nacht hatte Pico sie gehört, die Trommeln. Dumpf und un heilvoll waren sie aus dem undurchdringlichen Dickicht des Urwalds geklungen, der direkt hinter den Hütten der Arbeiter begann. Pico hat te geahnt, was dies bedeutete, doch er wollte es nicht wissen, sich nicht darum kümmern. Die Trommeln sprachen eine deutliche Sprache von Schuld und Rache. Und der Vorarbeiter der Hemmings wusste zu gut, was dies bedeutete. Unruhig war er die ganze Nacht in seiner Hütte auf und ab marschiert, hatte immer wieder seinen Schritt verhal ten und seine schlafende Tochter betrachtet, die von all dem nichts wusste, nichts wissen durfte. Estrella war für ihn der wichtigste Mensch auf Erden, nachdem Maria, seine Frau, gestorben war. Kein Leid durfte Estrella geschehen, niemand durfte ihr Böses antun. Schon gar nicht wegen einer Sache, die lange, lange zurücklag. Nein, Pico würde nicht dulden, dass dies geschah. Lieber gab er sein eigenes Leben, bevor die dunklen Priester mit ihren blutigen Trommeln kamen, um ihm das Liebste zu nehmen, was er auf Erden hatte... * Als Sir George wenig später das Frühstückszimmer betrat, fand er sich dort allein wieder. Weder sein Vater noch seine Schwester waren zu dieser frühen Stunde des Tages bereits auf den Beinen. Der junge Mann ließ sich Frühstück servieren und trat hinter die großen blei verglasten Fenster, die einen herrlichen Ausblick auf den tropischen Garten boten. Palmen und Akazien standen dort, unterpflanzt mit bunten Blüten, deren Namen ebenso exotisch waren wie ihr Aussehen. Der typisch englische Rasen durfte nicht fehlen, er gab dem Garten Struktur und 10
setzte Ruhepunkte zwischen dem Farbenrausch der Beete. Hinter der gezähmten Natur begann der Dschungel, überragt in der Ferne vom Blue Mountain, der höchsten Erhebung der Insel. Über zweitausend Meter hoch war dieser Berg, schneebedeckt sein Gipfel, fast wie aus einer ganz anderen Welt inmitten der feucht heißen, tropischen Natur. Als der indische Butler das Frühstück serviert hatte, kehrte der junge Mann an den Tisch zurück. Sir Humphrey hatte viele indischen Bedienstete, er vertraute auf ihren diskreten Fleiß und schmückte sich gerne mit diesem zusätzlichen exotischen Farbtupfer, wie er es nann te. Es dauerte eine ganze Weile, Sir George hatte sich in die Morgen zeitung vertieft, bis seine Schwester erschien. Lady Violet gähnte ver halten und wünschte ihrem Bruder nur nachlässig einen guten Morgen. Nachdem sie sich gesetzt hatte, verlangte sie nur schwarzen Kaffee. Sir George bedachte sie mit einem strengen Blick und wollte wissen: »Wo warst du wieder so lange, letzte Nacht? Du weißt sehr gut, dass Vater es nicht schätzt, wenn du ohne männlichen Schutz ausgehst.« Lady Violet verdrehte entnervt die Augen. Sie war eine Schönheit mit goldblonden Locken und großen, blauen Augen. Die Stupsnase und die Grübchen in den Wangen ließen sie manches Mal noch wie ein kleines Mädchen wirken. Nun aber gab sie sich missmutig. »Oh, George, du tust gerade so, als wäre ich die ganze Nacht in einer billigen Spelunke gewesen. Ich habe Silvie deMoin besucht, mit ihr und ihrem Bruder ein wenig geschwatzt und dabei die Zeit ver gessen. Was ist daran nun so schlimm?« Sie gab sich harmlos, obwohl ihr Bruder genau wusste, dass dies nur die geschönte Version ihrer Ausflüge in die Stadt war. Bevor Sir George aber etwas erwidern konn te, erschien auch der Hausherr. Noch etwas unsicher auf den Beinen, ganz offensichtlich von den Nachwirkungen des genossenen Alkohols gequält. Sir Humphrey verbat sich allerdings jeglichen Kommentar, wenn er sich in einem solchen Zustand befand. Wer trotzdem eine Bemerkung fallen ließ, bekam rasch den Zorn des Kolonialherren zu spüren. Violet lächelte dem Vater lieb zu und fragte: »Bist du böse, weil ich gestern eine Freundin besucht habe, Dad?« 11
»Gewiss nicht. Wenn du wirklich nur bei einer Freundin warst«, kam es mit gedämpfter Stimme von Sir Humphrey. »Wovon ich nicht immer so ganz überzeugt bin.« Die junge Lady zog einen Flunsch. »Ach, daran ist nur Georgie schuld, er macht mich immer schlecht«, beschwerte sie sich. »Dabei fragt keiner, wie er seine Abende verbringt!« »Das ist kein Geheimnis«, erklärte der junge Mann langmütig. »Solltest du den Weg in mein Arbeitszimmer finden, liebes Schwester lein, so kannst du dies sehr leicht feststellen. Ich arbeite. Denn der Besitz erfordert dies. Tag für Tag.« »So ist es recht«, lobte Sir Humphrey halbherzig. Der Anblick des typisch englischen Frühstücks mit Fisch, Speck und Würstchen er schien ihm an diesem Morgen quälend. »Bitte, entschuldigt mich, Kin der, ich werde mich doch lieber noch eine Weile niederlegen. Mein Kreislauf, ihr versteht?« »Ja, Dad, ruh dich nur aus, du hast es dir verdient«, schmeichelte Lady Violet, während ihr Bruder sie fragend musterte und, nachdem der Hausherr den Raum verlassen hatte, wissen wollte: »Was führst du denn wieder im Schilde, dass du Vater aus dem Weg haben willst?« Die junge Lady bedachte ihr Gegenüber mit einem beleidigten Blick und stellte klar: »Ich finde es sehr ungerecht von dir, mir ständig etwas Übles zu unterstellen. In Wahrheit plane ich nur die Feier zu Dads Geburtstag am Wochenende. Oder hast du daran vielleicht auch etwas auszusetzen?« »Wie soll das Fest denn in diesem Jahr aussehen?«, fragte Sir George, wenig beeindruckt. Er war noch immer überzeugt, dass seine Schwester ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. »Ich dachte an einen Maskenball, die sind jetzt große Mode. Silvie hat mir erzählt, dass man sogar am Hof in London Maskenfeste feiert. Und ich bin überzeugt, Vater würde so etwas gefallen.« Sie lächelte verschmitzt. »Und selbst du wirst Gefallen daran finden, mal in eine fremde Rolle zu schlüpfen und den Alltag zu vergessen.« »Du solltest wissen, dass ich für derlei Albernheiten nichts übrig habe«, kam es abweisend von dem jungen Mann. »Von mir aus plane dieses Fest nach deinen Vorstellungen. Aber rechne dabei bitte nicht 12
mit mir.« Er erhob sich. »Ich muss wieder an meine Arbeit gehen.« Sir George wandte sich ab, deshalb sah er nicht mehr die Grimasse, die seine Schwester hinter seinem Rücken schnitt. Violet ärgerte sich, weil ihr Bruder ein solcher Spielverderber war. Sie grübelte eine Weile nach, wie sie dies ändern konnte und kam schließlich zu dem Schluss, dass George nun einmal unverbesserlich langweilig war. Nun, daran sollte die Party nicht scheitern. Im Gegenteil; die junge Lady war ent schlossen, ein rauschendes Fest auszurichten, über das man in Kings ton noch lange sprechen würde... * In den nun folgenden Tagen liefen die Vorbereitungen für Sir Humph reys Geburtstagsparty auf vollen Touren. Lady Violet, sonst schnell gelangweilt von einer so umfangreichen Aufgabe, lief zu großer Form auf. Zusammen mit ihrer Freundin Silvie suchte sie exotische Kostüme aus und sorgte dafür, dass auf dem Fest nicht gleich jeder jeden er kennen konnte. So war für verwirrende und prickelnde Begegnungen vorgesorgt. Sir George kümmerte sich wenig um das muntere Treiben im Herrenhaus, er hatte andere Sorgen. Seit Tagen benahm sich sein Vorarbeiter seltsam. Pico war von jeher ein eher verschlossener Mensch gewesen. Doch nun grenzte seine Wortkargheit bereits ans Unfreundliche. Da der junge Plantagenbesitzer sich bislang stets gut mit dem Mulatten verstanden hatte, konnte er sich diese Änderung in dessen Verhalten nicht erklären. Schließlich sprach er Pico direkt darauf an. Doch was er zu hören bekam, erschien ihm wenig schlüssig: »Fragen Vater. Er wis sen Bescheid. Pico schweigt, sonst werden die Trommeln ihn holen.« »Was soll das bedeuten?«, fragte Sir George ungehalten. »Ich kann es nicht leiden, wenn du in Rätseln zu mir sprichst. Außerdem weißt du sehr genau, dass ich nichts auf die Buschtrommeln und all diesen Firlefanz gebe.« Er musterte den Mulatten streng, doch dieser schien nicht gewillt, ihm noch weitere Auskünfte zu erteilen. Also war tete der junge Mann bis zum Abend, um mit seinem Vater zu spre chen. Er hatte Glück, Sir Humphrey noch zu erreichen, denn dieser 13
stand gerade im Begriff, seine Kutsche zu besteigen, um in die Stadt zu fahren. Auf die Bitte seinen Sohnes, ihn kurz anzuhören, reagierte er nicht begeistert. »Wenn es sich um die Plantagen dreht, so lasse ich dir völlig freie Hand, George, das weißt du. Ich möchte mich nicht mehr mit dem Geschäftlichen auseinandersetzen. Das liegt hinter mir.« »Ich weiß, Dad und ich würde dich auch jetzt nicht behelligen, ginge es nicht um eine Angelegenheit, in der allein du mir weiterhelfen kannst«, beharrte der junge Mann. »Also schön, worum geht es?«, wollte der Vater daraufhin bär beißig wissen. »Bitte fasse dich kurz, mein Junge, ich habe in der Stadt eine Verabredung.« »Es geht um den Vorarbeiter, Pico. Du kennst ihn seit vielen Jah ren und, so würde ich behaupten, auch besser als ich. Das entspricht doch der Wahrheit, nicht wahr?« Sir Humphrey nickte bedächtig. »Der Mulatte ist eine gute Kraft. Ich habe ihm immer vertrauen können. Als die Arbeiter vor Jahren für mehr Lohn streikten, war er es, der dafür gesorgt hat, dass der Streit schnell und ohne viel Aufhebens beigelegt werden konnte. Ich schätze Pico hoch.« »Eben das tue ich auch. Doch in den vergangenen Tagen hat er sich zunehmend seltsam benommen. Er reagiert abweisend, beinahe feindselig, wenn ich ihm eine private Frage stelle. Und als ich heute wissen wollte, was mit ihm los sei, hat er mich an dich verwiesen. Du weißt angeblich, was ihn bewegt.« Sir George verstummte und schau te seinen Vater abwartend an. Dieser starrte eine Weile stumm vor sich hin, wich dem Blick des Sohnes aber aus. Als er schließlich sprach, wurde George den Eindruck nicht los, dass sein Vater ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. »Pico ist ein guter Arbeiter, loyal und stets ehrlich. Doch wir soll ten nicht vergessen, dass er kein Weißer ist. In der Seele der Einhei mischen gehen Dinge vor, die wir nicht verstehen und die sie uns auch nicht erklären können. Damit müssen wir uns abfinden, mein Junge. Das ist nun mal so.« 14
»Findest du diese Erklärung nicht etwas zu allgemein?«, wollte George skeptisch wissen. »Immerhin hat Pico sich eigentlich stets kor rekt und ganz normal verhalten. Und plötzlich ist er völlig verändert. Das muss doch einen Grund haben. Und wenn er behauptet, dass du diesen Grund kennst, dann...« »Du siehst mehr in seinen Worten, als sie beinhalten«, behauptete der Engländer wenig überzeugend. »Da ist nichts, was ich dir sagen kann. Kein dunkles Geheimnis, keine frühere Verstrickung, keine Un tat, die auf meiner Seele lastet. Pico redet eben manchmal dummes Zeug. Ich kann dir nur raten, es nicht ernst zu nehmen und darauf zu warten, dass diese Stimmung verschwindet.« Er stieg in seine Kutsche, beugte sich aus dem Fenster und fügte noch hinzu: »Die Einheimi schen leben aus dem Gefühl heraus, es bestimmt ihr Handeln mehr, als der Verstand das jemals könnte.« Sir George wollte noch etwas einwenden, aber sein Vater gab dem Kutscher Zeichen zur Abfahrt. Nicht eben zufrieden blickte der junge Gentleman der Kutsche nach, die sich nun im flotten Tempo vom Her renhaus entfernte. Und dabei wurde er den Verdacht nicht los, dass sein Vater ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte... Pico kehrte unterdessen in seine Hütte zurück, um zu Abend zu essen. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken, trotzdem blieb die Luft noch eine ganze Weile feucht und heiß, erfüllt vom Gril len, Zirpen und Rasseln von Millionen Insekten im nahen Urwald. Als der Vorarbeiter gerade seine Hütte betreten wollte, wo es bereits aro matisch duftete, schob sich eine schmale, schwarze Wolke vor den fast vollen Mond und schien für kurze Zeit eine dunkle Höllenfratze auf den bleichen Erdtrabanten zu zeichnen. Der Mulatte erschrak bei diesem Anblick zutiefst und huschte rasch in die Hütte, denn die Wolke er schien ihm wie ein Zeichen, ein böses Omen. Estrella saß neben der primitiven Kochstelle und rührte in einem Topf. Die schöne Tochter des Zuckerrohrpflanzers lächelte dem Vater zu, als dieser neben sie trat. Estrella war Anfang zwanzig, sie hatte sich von einem dürren, stets hungrigen Kind zu einer wahren Schön heit entwickelt. Ihre Figur war ebenso makellos wie ihre olivefarbene Haut. Das lange tiefschwarze Haar fiel ihr bis weit in den Rücken. Es 15
umrahmte ein Gesicht von perfekter Grazie: eine hohe Stirn, ausge prägte Wangenknochen, ein wohlgeformtes Kinn, eine gerade Nase, große, leicht schräg stehende Mandelaugen und einen verheißungsvol len Mund, der Männer zum Träumen brachte. Estrella hatte bislang allerdings jedem Bewerber um ihre Gunst einen Korb gegeben. Und es waren nicht wenige, die ihr nachliefen und bereit waren, ihren letzten Penny für eine kleine Aufmerksamkeit zu opfern, die das schöne Mäd chen milde stimmen sollte. Doch Estrella war ebenso schön wie stolz. Sie wollte nicht ihr ganzes Leben in Armut und Bescheidenheit verbrin gen. Sie war nicht gewillt, einen dahergelaufenen Burschen zum Mann zu nehmen, viele Kinder zu bekommen und früh zu sterben. Das war ein Schicksal, dem sie entfliehen wollte. Auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie dies bewerkstelligen sollte. Doch eine gewisse Ahnung hatte sie schon. Sie sparte ihren gesamten Lohn, den sie auf den Fel dern als Gewürzpflückerin verdiente, um eines Tages eine Schule zu besuchen und sich ausbilden zu lassen. Es war Estrellas heimlicher Traum, einmal als Sekretärin in einem Handelskontor angestellt zu werden. Sie wusste natürlich, wie gering die Chancen für sie als Mu lattin waren, sich so auf eigene Füße zu stellen. Doch der Traum, den sie ganz festhielt, gab ihr Kraft und Mut. Pico erwiderte das Lächeln seiner Tochter nicht, als er sich nun zu ihr setzte. Seine Miene blieb ernst. Und die Worte, die er in ihrem ei genen Dialekt zu ihr sprach, klangen für das junge Mädchen rätselhaft: »Sei besonders umsichtig in den nächsten Tagen, Estrella. Achte auf die Menschen in deiner Umgebung und vertraue niemandem. Erst wenn diese dunklen Tage wieder vorbei sind, können wir beide aufat men.« Sie hatte ihm aufmerksam zugehört, nun fragte sie leise: »Was meinst du damit, Vater? Ich verstehe nicht...« »Vertrau mir einfach und tu, was ich dir rate.« Er wandte den Blick auf den Topf mit der Suppe. »Was hast du heute gekocht? Es duftet sehr gut. Komm, lass uns essen!« Estrella ahnte, dass ihr Vater absichtlich das Thema gewechselt hatte und auch nicht gewillt war, ihr noch mehr zu sagen. Doch sie wollte endlich wissen, was er mit diesen unerklärlichen Andeutungen 16
meinte. Zu lange schon hatte er sie vor Dingen gewarnt, ohne diese beim Namen zu nennen. Damit musste endlich Schluss sein. »Ich bitte dich, Vater, sag mir, was du meinst, wovor du mich warnen willst. Ich bin erwachsen, du kannst mir vertrauen und mir durchaus auch Dinge sagen, die du früher lieber für dich behalten hast. Oder vertraust du mir so wenig?« »Das ist keine Frage des Vertrauens«, stellte Pico richtig. »Natür lich vertraue ich dir. Du bist meine Tochter, mein eigen Fleisch und Blut. Ich würde auf der Stelle mein Leben für deines geben, denn du bist für mich der wichtigste Mensch auf der Welt. Aber genau aus die sem Grund will ich dich auch vor diesen Dingen schützen, die du bes ser nicht weißt und kennst.« »Du denkst an die Priester mit dem Tierblut, an die Trommeln.« »Schweig! Davon spricht man nicht«, herrschte der Mulatte seine Tochter ungewohnt barsch an. »Du dürftest das gar nicht wissen. Und ich verbiete dir, es in meiner Gegenwart noch einmal auszusprechen. Hast du mich verstanden?« »Ja, Vater.« Estrella senkte den Blick. Sie schmeckte den Eintopf ab, würzte noch ein wenig nach und verteilte die Mahlzeit dann in zwei Holzschalen. Pico hatte sich mittlerweile erhoben und war vor die Hüt te getreten. Noch einmal betrachtete er den fast vollen Mond. Und wieder beschlich ihn ein Gefühl von leiser Angst und Unbehagen, wie jedes Jahr zu dieser Zeit. Nur gut, wenn ein paar Tage und Wochen vergangen waren, wenn es wieder vorbei war für ein Jahr... * Am frühen Samstagabend trafen auf dem Besitz der Familie Hemmings bereits die ersten Gäste ein. Der Geburtstag von Sir Humphrey wurde in jedem Jahr mit großem Aufwand und verschwenderischer Fülle be gangen. Dieses Mal hatte Lady Violet sich allerdings selbst übertroffen. Das Maskenfest erschien den Gästen als das reizvollste, was sie seit langem erlebt hatten. Und die feine Gesellschaft der britischen Kolo nialherren war in jenen Jahren wirklich verwöhnt, was besondere Reize und Genüsse anging. 17
Von allen Seiten schlugen der zauberhaften Tochter des Hauses Komplimente und Bewunderung für die Ausrichtung dieses außer gewöhnlichen Festes entgegen. Es dauerte nicht lange, bis sich Pira ten, Mönche, mittelalterliche Ladys und seltsame Tiergestalten von exotischer Prägung überall in Haus und Garten tummelten. Das weit läufige Grundstück war in den Schein ungezählter bunter Papier lampions getaucht, Musiker spielten zum Tanz auf und die tropische Nacht mit ihren Millionen von Sternen am klaren Firmament gab dem Ganzen einen selten reizvollen Rahmen. Sir George, der sich bis zuletzt geweigert hatte, ein Kostüm zu tra gen, saß in seinem Arbeitszimmer und war fest entschlossen, sich von dem bunten Treiben fernzuhalten. Nicht, dass er etwas gegen ein kul tiviertes Fest gehabt hätte. Doch die Ideen seiner Schwester waren ihm einfach zu enervierend. Im letzten Jahr hatte Violet es sich einfal len lassen, eine Schatzsuche im Garten und auf den Plantagen zu ver anstalten, mit dem Ergebnis, dass die Arbeiter mehrere Sonder schichten einlegen mussten, bis alles wieder hergerichtet war. Und im Jahr davor... Aber darüber wollte der junge Mann lieber nicht mehr nachdenken. Da sein Vater jede noch so abstruse Idee Violets tolerier te, blieb George meist nichts weiter übrig, als sich vom Festgeschehen fern zu halten. Sir Humphrey hatte dafür allerdings kein Verständnis. Auch an diesem Abend schaute er bei seinem Sohn vorbei und stellte mit vorwurfsvoller Stimme fest: »Du sitzt hier und arbeitest. Ist das vielleicht eine Art, meinen Ehrentag zu begehen? Ich habe fast das Gefühl, das bedeutet dir gar nichts.« »Das stimmt nicht und du weißt es. Ich habe dir bereits heute morgen gratuliert. Und ich gönne dir den Spaß auf diesem Fest aus vollem Herzen. Aber, bitte, Vater, mute mir nicht zu, mich unter diese grölende Masse mischen zu müssen. Ich habe wenig übrig für solche Zusammenkünfte.« »Das ist vielleicht dein großer Fehler, Junge«, sinnierte der Vater. »Das Leben besteht nun einmal nicht nur aus Ernst und Arbeit. Ich weiß, ich habe dich früh dazu erzogen, deine Pflicht zu tun und einmal in meine Fußstapfen als Herr über all das hier zu treten. Aber das be 18
deutet nicht, dass du deinem Dasein nicht auch von Zeit zu Zeit etwas Freude abgewinnen kannst.« »Das tue ich, Dad, keine Angst. Unsere Geschmäcker sind in die ser Beziehung nur etwas verschieden.« Sir Humphrey lachte. »Ja, mag sein...« Als er sich wenig später wieder ins Festgetümmel stürzte, suchte er vergeblich nach Lady Vio let. Sie war in ein verschwenderisches Rokokokostüm in einem pudri gen Rose gehüllt und wirkte mit der weißen Perücke und dem gepu derten Gesicht ganz fremd. Gerne hätte er sie gebeten, noch einmal auf George einzuwirken. Vielleicht wäre es ihr ja gelungen, den Bruder wenigstens dazu zu bewegen, ein Glas Champagner auf das Wohl sei nes Vaters zu trinken. Doch sie schien vom Erdboden verschluckt zu sein... Tatsächlich hielt Lady Violet sich im Garten auf. Im hinteren Teil des weitläufigen Grundstücks befand sich ein kleiner See, in dem exo tische Wasserpflanzen blühten. Ein süßer Duft erfüllte die feuchte und noch warme Luft der tropischen Nacht. Die junge Frau hatte den gan zen Abend in ihrem Kostüm geschwitzt und wollte sich nun durch ein Bad im kühlen See erfrischen. Dass sich ganz in der Nähe ein Schatten bewegte, ein dunkles Augenpaar sie genau beobachtete, während sie aus ihren Gewändern stieg und sich dann ins erfrischende Nass gleiten ließ, bemerkte sie nicht. Unbekümmert wie ein Kind planschte sie in dem kristallklaren Wasser, atmete den Duft der Blüten ein, die sie so gar sanft streiften und fühlte sich einfach nur wohl. Als sich ihr Schritte näherten, erschrak Lady Violet allerdings sehr. Sie wollte rasch an Land zurückkehren, um sich anzukleiden. Doch die Person hatte sie bereits erreicht. Im diffusen Schein einiger etwas weiter entfernter Lampions erkannte die junge Lady einen grünen Frosch, der sie neu gierig beobachtete. Bei diesem Anblick atmete sie sofort auf, rügte aber: »Silvie, wie konntest du mich nur so erschrecken? Ich habe schon befürchtet, ein fremder Gentleman würde plötzlich vor mir ste hen.« »Befürchtet oder gehofft?«, neckte die Freundin sie und ließ sich im Gras nieder. »Was tust du hier so ganz allein? Du verpasst ja den ganzen Spaß.« 19
»Ich wollte mich abkühlen. Mein Kostüm ist schrecklich warm«, erwiderte sie und verließ das feuchte Element. »Hilf mir beim Anklei den, dann können wir zusammen zu den Gästen zurückkehren.« »Ach, du hast zwar viele interessante Leute eingeladen, aber kaum ein Mann interessiert sich für mich«, beschwerte die Freundin sich unleidlich. Ihre Eltern besaßen die zweitgrößte Plantage auf der Insel, lebten aber in der Stadt und hatten die Leitung ihres Besitzes in die Hände eines Verwalters gelegt. Weder Silvie noch ihr Bruder Andre hatten je im Leben etwas gearbeitet. Und keiner der beiden hatte dies vor. Sie genossen, genau wie Violet, den Luxus, der sie umgab, ohne nach dessen Beschaffung oder Herkunft zu fragen. »Du hast selbst Schuld«, erwiderte Lady Violet und schmunzelte. »Wenn du ein so wenig attraktives Kostüm wählst... Wer will schon mit einem Frosch flirten?« Sie hatte sich fertig angekleidet, lachend und scherzend kehrten die Freundinnen zu den anderen Gästen zurück. Eine Weile hielt Violet sich noch in Silvies Nähe auf, dann stand plötz lich ein Fremder vor ihr und bat sie um einen Tanz. Lady Violet war vom ersten Moment an fasziniert von dem Mann. Er war offensichtlich ein Mulatte, sehr groß und von sportlicher Figur. Seine Züge waren markant männlich, das schwarze Haar sehr kurz geschnitten. Er trug goldenen Schmuck und ein buntes Gewand, das ihm die Würde und das Aussehen eines Königs verlieh. »Mein Name ist Jabo, My Lady«, ließ er sie in beinahe akzentfreiem Englisch wissen. Und dabei betrach teten seine tiefbraunen Augen sie so intensiv, dass sie glaubte, feine, goldene Sprenkel darin zu erkennen. Ein seltsames Kribbeln lief über Lady Violets Rücken, als sie ihre schmale Rechte in die große und seh nige Hand von Jabo legte. Dieser Mann war etwas Besonderes, das spürte sie sofort. Und sie war in dieser besonderen Nacht durchaus geneigt, herauszufinden, welches Geheimnis er mit sich trug... Jabo führte Lady Violet unter den neugierigen und teils auch pi kierten Blicken der Anwesenden zur Tanzfläche auf der großen Ter rasse. Sie tanzten einen Walzer, den der Mulatte erstaunlich gut be herrschte. Als die junge Lady ihn darauf ansprach, erzählte er freimü tig: »Ich wurde in England geboren und erzogen. Viele Dinge, die man in der Jugend erlernt, vergisst man später nicht wieder.« 20
»Ja, das mag schon sein. Trotzdem wundert es mich, dass Sie hier sind. Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben. Oder tra gen Sie vielleicht einen bekannten Familiennamen?« Jabo lächelte nur unergründlich, blieb Lady Violet allerdings eine Antwort schuldig. Als die Musik verklungen war, reichte er ihr ein Glas Champagner und führte sie tiefer in den Garten. Obwohl Violet ahnte, dass ihr Zusammensein mit diesem faszinierenden Fremden für viel sicher nicht sehr positiven - Gesprächsstoff sorgen würde, konnte sie sich doch seinem Charme nicht entziehen. Er war etwas Besonderes, da gab es für Violet keinen Zweifel. Sie empfand eine Aura von Macht und Stärke, die ihn umgab wie ein unsichtbarer Mantel und sie zugleich wie magisch anzog. So fasziniert war sie noch nie von einem Mann gewesen... »Ich wollte Sie kennen lernen«, sagte Jabo nach einer Weile in die Stille, die nicht wirklich ruhig war. Die Geräusche der Party klangen ebenso zu ihnen herüber wie das vielstimmige Konzert der Nachtvögel und Insekten aus dem Urwald. »Ich sah Sie in Kingston und konnte Sie seither nicht mehr vergessen. Das ist Monate her.« Lady Violet musterte ihn von der Seite. Eine gewisse Skepsis saß noch in einem versteckten Winkel ihres Herzens. Sie wollte eigentlich nichts mit einem Menschen zu tun haben, den sie nicht kannte und der auch keine Anstalten machte, sich ihr vorzustellen. Doch andererseits spürte sie, dass sie nur sehr schwer auf Jabos Gesellschaft verzichten konnte. Ganz besonders in dieser schwülen Sommernacht, in der alles so unendlich unwichtig und langweilig sein konnte. Oder auch so traumhaft aufregend... »Sie erwarten, dass ich Ihnen das glaube?« Sie lachte perlend. »Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen. Und ich verstehe mich selbst nicht, weshalb ich überhaupt hier mit Ihnen sitze.« »Sie wissen es«, behauptete er und nahm kühn ihre Hand. Der Druck seiner großen Rechten war beinahe schmerzhaft, doch die junge Lady lächelte. »Sie sprechen in Rätseln, Jabo. Ich denke, es ist besser, wenn ich wieder zu den anderen gehe.« Sie wandte sich zum Gehen, da hörte sie ihn sagen: »Ich sah Sie auch eben, am See...« 21
Eine flammende Röte stieg in Violets Wangen, zugleich wirbelte sie herum und starrte den Mulatten böse an. »Was fällt Ihnen ein... Wie können Sie es wagen. Ich bin eine Lady!« »Sie sind eine Frau, die Schönste, die mir je begegnet ist. Und ich werde nicht eher aufgeben, bis Ihr Herz mir gehört!« Lady Violet hatte sich gefangen. Der Zauber, der noch eben von diesem Mann ausgegangen war, schien verflogen wie Rauch. Nun er schien er ihr nur noch überheblich und aufdringlich. »Sie sind sehr anmaßend. Haben Sie Grund, sich einzubilden, dass ich mich auf einen wie Sie einlassen könnte?« Sie konnte sehr verletzend sein und sie genoss das helle Aufblitzen in seinen Augen, das ihr sagte, sie hatte ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen. »Sie werden zu mir kommen«, erwiderte er kühl. »Und ich werde darauf warten.« Lady Violet schüttelte abschätzig den Kopf und lachte. »Darauf können Sie lange warten. Und nun verschwinden Sie und lassen Sie sich hier nie wieder blicken.« Sie kehrte zum Haus zurück, ohne sich noch einmal umzusehen. Als sie die Terrasse betrat, wandte sie nur kurz und wie beiläufig den Kopf. Doch Jabo war verschwunden. Die Dunkelheit hatte ihn aufgesaugt und für einen verwirrenden Augen blick glaubte Lady Violet fast, er sei Teil dieser geheimnisvollen Düs ternis. Eine Gänsehaut rieselte über ihren Rücken, doch sie ver scheuchte diesen lächerlichen Gedanken ebenso schnell wieder aus ihrem Kopf wie er gekommen war. * Einige Tage später erschien Pico nicht pünktlich zum Dienst. Sir George wunderte sich sehr darüber, denn dies war in all den Jahren, die der Vorarbeiter bereits für ihn und seinen Vater tätig war, noch nie vorgekommen. Da der junge Gentleman annahm, dass Pico erkrankt war, verband er seinen morgendlichen Rundritt mit einem Abstecher zu der Hütte des Vorarbeiters. Tatsächlich lag Pico danieder, ein leich tes Fieber hatte ihn aufs Lager gestreckt. Doch er lehnte den Vor schlag seines Brotherren, einen Arzt kommen zu lassen, kategorisch 22
ab. »In ein, zwei Tag Pico wieder gesund«, erklärte er beflissen. »Ma chen keine Sorgen, Unkraut verwelken nicht.« »Unkraut vergeht nicht«, korrigierte Sir George den Vorarbeiter schmunzelnd. »Also schön, wenn du es nicht anders willst. Hast du denn jemanden, der dich versorgt?« »Meine Tochter kommt am Mittag und schaut nach mir«, versi cherte er rasch. »Keine Sorgen!« Pico hatte also eine Tochter; Sir George war nicht einmal sonder lich erstaunt darüber. Wie es schien, hatte der Mulatte mehr als nur ein Geheimnis aus seinem Privatleben gemacht. Der Plantagenbesitzer wollte sich dem verschlossenen Mann nicht aufdrängen. Er bot nur noch einmal seine Hilfe an und stellte Pico frei, solange daheim zu bleiben, bis er sich wieder völlig gesund fühle. Dann setzte er seinen Ritt fort. Nahe den Hütten bemerkte Sir George bald einige Gestalten, die dort nichts zu suchen hatten. Er konnte sich nicht erinnern, diese verlumpt wirkenden Männer schon einmal hier gesehen zu haben. Leider kam es immer wieder vor, dass Herumtreiber und Tage diebe sich auf die Plantage schlichen und versuchten, hier heimlich einen Schlafplatz und kostenloses Essen zu ergattern. Sir George rea gierte darauf nicht so rigoros wie sein Vater, der die Schnorrer seiner zeit noch mit der Peitsche vertrieben hatte. Doch er achtete genau darauf, dass sich keine der ungebetenen Gäste auf längere Zeit einnis ten konnten. Deshalb saß er nun ab und näherte sich den Gestalten, die sich im Dickicht des beginnenden Dschungels halb verborgen hiel ten. Sie hatten den jungen Engländer noch nicht bemerkt. Und als er nah genug war, um ihre Unterhaltung zu verstehen, verhielt er seinen Schritt und lauschte ein paar Sekunden überrascht. Die Männer - es waren vier - unterhielten sich nicht etwa über die Möglichkeit, hier etwas Essen und ein Nachtlager zu ergattern. Sie sprachen von dem Besitz, auf dem sie Sich befanden, schienen eine Art Schlachtplan zu entwickeln, um - was auch immer - zu erreichen. Sir George be herrschte die Sprache der Einheimischen nicht so perfekt, dass er je des Wort verstanden hätte. Doch der Grundtenor des Gesprächs blieb ihm nicht verborgen. Und auch die Tatsache, dass der Name seiner Schwester fiel, entging ihm nicht. 23
Allerdings hatten die Männer ihn da bereits entdeckt. Und noch ehe der junge Engländer sich versah, waren sie alle im Urwald ver schwunden. Nachdenklich kehrte Sir George zu seinem Pferd zurück. Hatte er nicht einen der Männer - einen großen auffälligen Mulatten - auf der Geburtstagsfeier zu Ehren seines Vaters gesehen? Er hatte eine ganze Weile vom Fenster seines Arbeitszimmers aus das alberne Amüsement beobachtet und sich dabei nicht nur über die Anwesenheit des ihm Fremden gewundert. Auch die Tatsache, dass er in Begleitung von Lady Violet gewesen war, irritierte ihn nun. Sollte er vielleicht ein Be kannter von Sir Georges Schwester sein? Er beschloss, sich einmal eingehend mit Violet darüber zu unterhalten. Denn einen Reim konnte er sich auf seine Beobachtungen noch immer nicht machen... Lady Violet war beim Frühstück nicht sehr gesprächig. Sie wirkte blass und übernächtigt und ihr Bruder fragte sich, wo und mit wem sie ihre letzten Nächte wohl verbracht hatte. Dabei kam ihm wieder dieser Mulatte in den Sinn. Er fragte Violet direkt, ob sie ihn kenne. Plötzlich kam wieder etwas Leben in die junge Lady. »Oh ja, ich kenne ihn. Er war auf Dads Geburtstagsparty. Ein überaus charmanter Mann, faszinierend und sehr geheimnisvoll.« »Hast du ihn nach der Party wieder gesehen?«, fragte George sie direkt. Ihr Erröten war ihm eigentlich schon Antwort genug, noch ehe sie vehement abstritt: »Natürlich nicht! Ich bitte dich, Georgi, was denkst du eigentlich immer von mir? Deine Unterstellungen sind wirk lich schon fast beleidigend.« »Nun reg dich nicht auf, Schwesterherz«, meinte er lapidar. »Wenn du nichts mit dem Mann zu schaffen hast, gibt es auch keinen Grund, dich zu echauffieren.« »Denkst du. Aber ich kenne dich gut genug. Du wirst wieder eine Verbindung sehen, wo keine ist, um meinen Ruf bei Dad noch weiter zu verschlechtern.« Sie seufzte bekümmert auf. »Falls dies überhaupt noch möglich ist...« »Dad liebt dich und sieht dir alles nach, das war schon immer so«, stellte der junge Gentleman geduldig richtig. »Du hast keinen Grund, dich zu beklagen. Ich habe nur nach dem Mulatten gefragt, weil ich 24
ihn heute wieder gesehen habe. Er trieb sich mit ein paar anderen Kerlen, die nicht sehr vertrauenserweckend wirkten, bei den Hütten der Arbeiter herum.« »Jabo?«, entschlüpfte es Lady Violet. »Das kann ich mir nicht vor stellen. Er ist ein vornehmer Mann. Niemals würde er sich mit Gesindel abgeben.« »Du kennst also nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Her kunft. Das ist interessant.« Sir George blickte auf, als sein Vater das Frühstückszimmer betrat. »Guten Morgen, Dad, ich denke, was Violet zu erzählen hat, wird auch dich interessieren.« Sir Humphrey gähnte verhalten, dann wollte er wenig erfreut wis sen: »Geht es wieder einmal um ein Malheur, an dem unsere Kleine die Schuld trägt? Dann möchte ich es nicht hören. Dazu bin ich heute morgen nicht in der richtigen Stimmung.« »Da hörst du es, Georgi, verschone Daddy mit deinen Ge schichten«, schlug Violet gleich in dieselbe Kerbe. Aber ihr Bruder ließ ich nicht so schnell bremsen. Er beharrte: »Es geht um einen Mulatten, sein Name ist Jabo, er war am Samstag auf dem Fest und hat Violets Nähe gesucht. Und heute sehe ich ihn in Begleitung einiger zwielichti ger Gestalten, wie er um die Hütten unserer Arbeiter herumschleicht. Ich möchte wissen, ob es da einen Zusammenhang gibt.« Sir Humphrey trank einen Schluck Tee und machte dabei ein nachdenkliches Gesicht. »Ein Mulatte? Wer hat ihn eingeladen?« Er warf seiner Tochter einen fragenden Blick zu, doch diese hob nur die Schultern. »Nun sei ehrlich zu mir, Violet. Hast du diesen Mann zu un serer Party eingeladen?« »Natürlich nicht, das habe ich bereits gesagt!«, fuhr die junge La dy empört auf. »Warum glaubt mir hier eigentlich niemand? Ich habe Jabo am Samstag das erste Mal in meinem Leben gesehen.« »Aber du hast mit ihm gesprochen. Das kannst du nicht abstrei ten«, hielt der Bruder ihr entgegen. »Ich habe euch beide zusammen gesehen.« Lady Violet erhob sich von ihrem Stuhl und ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. Sie fühlte sich plötzlich ins Verhör genommen und das wollte ihr ganz und gar nicht gefallen. Zumal sie nicht 25
zugeben mochte, dass Jabo sie sehr fasziniert hatte und überaus an ziehend auf sie wirkte, auch jetzt noch. »Nun, Violet, was hast du dazu zu sagen?«, mahnte der alte Hem mings ungeduldig. »Dein Bruder hat dich etwas gefragt.« »Er... hat versucht, mit mir zu flirten. Er behauptete, mich vor Monaten in der Stadt gesehen zu haben. Und seither könne er mich nicht mehr vergessen. Ich habe ihn natürlich zurückgewiesen. Das war alles.« »Tatsächlich?« George wirkte skeptisch, während sein Vater wis sen wollte: »Hat er sich dir wenigstens vorgestellt, wie es der Anstand verlangt? Kennst du seinen Namen, seine Familie? Das würde uns schon ein klareres Bild verschaffen.« Die junge Lady senkte den Blick. »Ich habe ihn nach seinem Na men gefragt, aber er... hat mir keine Antwort gegeben.« Sir Humphrey schüttelte verärgert den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Violet! Wie konntest du bloß mit einem Wildfremden sprechen, der noch dazu ein Mindestmaß an Manieren vermissen ließ? Das ge hört sich nicht für eine Lady.« »Wie dem auch sei, feststeht, dass dieser Mann sich bei uns ein geschlichen hat. Er scheint etwas im Schilde zu führen. Und ich werde herausfinden, was dies ist«, entschied George mit Nachdruck. »Wie kommst du nur darauf, ihm etwas Schlechtes zu unterstel len?«, wollte Violet aufgebracht wissen. »Bloß weil er kein Weißer ist? Er hat mir erzählt, dass er in England geboren und erzogen wurde.« »Er hat also doch von sich gesprochen.« Sir George musterte sei ne Schwester misstrauisch. »Was hast du uns verschwiegen, Violet? Nun sprich endlich!« »Nichts! Das war das einzige, was er mir verraten hat.« »Umso schlimmer, wenn er Erziehung genossen hat und es trotz dem nicht für nötig hält, die Form zu wahren.« Der alte Hemmings warf seiner Tochter einen strengen Blick zu. »Ich wünsche nicht, dass du dich noch einmal mit Männern zweifelhafter Herkunft abgibst. Hast du mich verstanden, Missi?« »Ja, Dad.« Lady Violet senkte den Blick. Sie ärgerte sich maßlos über das Verhalten ihres Bruders, der sie wieder einmal in einem 26
schlechten Licht hatte erscheinen lassen. Zugleich wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte, falls Jabo noch einmal in ihrer Nähe auf tauchte. Ihm zu widerstehen war nicht leicht... * Als Lady Violet am frühen Abend noch einen Spaziergang durch den Garten machte, war sie in Gedanken immer noch bei Jabo. Der Mulatte mit der mysteriösen Ausstrahlung ging ihr einfach nicht aus dem Sinn. Sie fragte sich, woher er wohl kam und ob das Wenige, was er von sich erzählt hatte, auch tatsächlich der Wahrheit entsprach. So in träumerische Gedanken versponnen bemerkte sie nicht das Rascheln im nahen Urwald, das sich ihr immer mehr näherte. Und sie sah auch nicht den Schatten, der geschickt und katzengleich umher huschte. Erst als Lady Violet ans Ufer des kleinen Sees trat, in dem sie am A bend der Party gebadet hatte, überfiel sie unvermittelt das Gefühl, nicht allein zu sein. Noch ehe sie sich aber umdrehen konnte, stand Jabo plötzlich vor ihr, er schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein und sein un durchdringlicher Blick nahm sie sofort gefangen und zog sie in seinen Bann. Er nahm ihre Hand und sagte: »Ich kann nicht ohne Sie leben, Violet. Weisen Sie mich nicht zurück, stoßen Sie mich nicht wieder in diese Hölle des unerfüllten Leidens!« Sie entzog ihm langsam aber bestimmt ihre Hand und stellte fest: »Sie können gut mit Worten umgehen. Aber ich weiß nicht, ob ich Ih nen vertrauen und glauben kann.« »Sehen Sie in meine Augen, dort steht meine Liebe zu Ihnen deutlich geschrieben«, behauptete er und fixierte ihren Blick, als wolle er sie zwingen, ihm endlich zu glauben. Die junge Lady verspürte ei nen leichten Schwindel ebenso wie eine Schwäche, die sie beinahe taumeln ließ. Doch ehe sie ins Wasser fallen konnte, hielt Jabo sie um fangen und flüsterte: »Sie können mir nicht entkommen, wir sind für einander geschaffen!« »Lassen Sie mich los!« Sie machte sich von ihm frei, legte etwas Distanz zwischen sich und diesen Mann, der ihr zunehmend gefährlich 27
erschien. Er hatte ein herrisches Wesen, das sie zugleich abstieß und anzog. »Sie erlauben sich viel, Sir. Dabei kenne ich nicht einmal Ihren Namen, weiß nichts über Sie. Ginge es nach meinem Vater, dürfte ich nicht einmal mehr ein Wort mit Ihnen wechseln.« »Aber Sie tun es«, triumphierte er. »Sie sind nicht weggelaufen, wie Ihr Vater es verlangt.« »Woher wissen Sie das?« Kurz kam ihr der Gedanke, er könne sie beim Frühstück belauscht haben. Aber dann verwarf sie diese Vor stellung gleich wieder, denn sie erschien ihr doch zu absurd. »Ich weiß viele Dinge, die anderen Menschen verborgen bleiben«, behauptete er mit einem Hauch von Überheblichkeit. »Und ich sehe in die Seelen der Menschen. Ich kenne ihre lichte, aber auch ihre dunkle Seite.« Er nahm ihre Hände in seine und suchte wieder ihren Blick. »Und ich spüre, dass Sie meine Gefühle erwidern. Warum sträuben Sie sich, Violet? Haben Sie vielleicht Angst vor mir? Angst vor der Liebe?« Sie lachte ihm ins Gesicht, doch es klang längst nicht so selbstsi cher wie sonst. »Ich habe vor nichts und niemandem auf der Welt Angst!« Er lächelte schmal, dabei bohrte sich sein Blick wieder in ihre Au gen und für ein paar Momente empfand Violet nichts außer einer sü ßen, fremden Leere, die sie alles andere vergessen ließ. Als Jabo sie leidenschaftlich küsste, gab sie sich ihm hin. Nichts anderes schien ihr mehr wichtig oder erstrebenswert, nur die Sehnsucht nach diesem be sonderen Mann, die sie einzig in seinen Armen stillen konnte. Als Jabo Lady Violet mit einem Ruck aufnahm und tiefer ins Dickicht des abend lichen Dschungels trug, war sie halb besinnungslos vor rauschhafter Sehnsucht. Sie wusste kaum, was sie tat, noch was um sie herum ge schah. Es war, als habe Jabo einen Zauber über die gelegt, der sie vom Rest der Welt trennte und verhinderte, dass sie noch klar denken konnte. Die Gefahr, die in dieser ungewöhnlichen Situation lag, ver stärkte dabei nur den Reiz, dem die junge Lady in dieser Nacht vol lends erliegen sollte. Mit ungeahnten Folgen... * 28
Sir George warf einen langen, nachdenklichen Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. Nach dem gemeinsamen Abendessen hatte Violet sich hastig verabschiedet und war über die Terrasse im Garten verschwunden. Angeblich wollte sie vor dem Zubettgehen noch etwas frische Luft schnappen. Während Sir Humphrey sich über das Verhal ten seiner Tochter scheinbar keine größeren Gedanken machte und sich bereits auf dem Weg nach Kingston befand, erschien dem jungen Gentleman Violets Benehmen schon seit Tagen seltsam verändert. Sie schien ein Geheimnis zu haben, das sie sorgfältig hütete. George ver mutete eine unstandesgemäße Liaison. Dafür war seine Schwester seiner Meinung nach prädestiniert. Violet liebte es, zu schockieren und zu provozieren. Allerdings fand George es seltsam, dass sie dieses Mal ihr Tun so verheimlichte und verschleierte. Der junge Gentleman wandte sich vom Fenster ab, ging ein wenig auf und ab und beschloss nach einer Weile, seiner Schwester zu folgen. Vielleicht kam er ja hin ter ihr Geheimnis. Falls es das war, was er vermutete, würde er dem allerdings schnellstens Einhalt gebieten müssen, noch ehe sein Vater von der Sache erfuhr. Sir Humphrey war zwar Violet gegenüber stets sehr großzügig und konnte ihr nicht wirklich böse sein. Doch wenn es um ihre Ehre und ihren Ruf als Lady ging, zeigte er sich unerbittlich. Erfuhr er von einer Liebschaft mit einem dahergelaufenen Kerl, würde die junge Frau eini ges zu leiden haben. Und das wollte George lieber verhindern. Schließ lich liebte er seine Schwester, auch wenn es nicht immer leicht war, mit ihr auszukommen... Als der dunkelhaarige junge Mann wenig später das Herrenhaus verließ, war es draußen bereits finstere Nacht. Der Garten erschien ihm wie ein tiefschwarzer Schlund, die Terrasse wurde nur leidlich von den Öllampen aus dem Salon erhellt. Grillenzirpen und die stets atem beraubende Geräuschkulisse des nahen Dschungels empfingen ihn. Die Luft war noch heiß vom Tag, ein leichter Wind nahm aber die Feuchtigkeit fort, weshalb Sir George diese Nacht als angenehm emp fand. Der junge Plantagenbesitzer setzte seine Schritte mit Bedacht. Er kannte alle Wege, die durch den Garten führten und er war zudem in 29
der Lage, auch in absoluter Dunkelheit ohne Straucheln das Grund stück zu durchmessen. Nach einer Weile hatten seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt, die keineswegs absolut war. Der Himmel zeigte ein Millionenheer von Sternen, die Sichel des abnehmenden Mondes erhellte buttergelb das Firmament. Sir George blickte sich aufmerksam um. Neben ihm wuchsen Bananenstauden, darunter blühten bunte Blumen, die selbst in der Nacht zu erkennen waren. Exotische Nacht vögel stießen schrille, pfeifende oder meckernde Rufe aus. Und über allem lag das flirrende Vibrieren der Grillen. Es schien, als sei er allein in diesem nächtlichen Garten voller exotischer Geheimnisse. Doch das war ein Irrtum, wie er gleich feststellen konnte, als er sich dem See näherte. Die glatte Wasseroberfläche schimmerte im Mondlicht wie ein dunkles Auge, unterbrochen von den Blättern und Blüten des Lotus. Sir George wollte an das Ufer treten, als er unvermittelt etwas hörte, das sich von der natürlichen Geräuschkulisse abhob. Es waren menschliche Stimmen, leise und gedämpft, doch deutlich wahrzunehmen. Zwar konnte der junge Mann sie nicht unterscheiden und auch nicht einord nen, eines, aber war ihm klar: Eine dieser Stimmen gehörte seiner Schwester. Nun war nur noch die Frage, zu wem die zweite passte. George wollte es herausfinden. Er bereute es, keine Fackel mitge bracht zu haben. Vielleicht hätte sie ihn verraten und das heimliche Paar in den Dschungel vertrieben. Aber vielleicht wäre er damit auch in der Lage gewesen, den Liebhaber seiner Schwester zu stellen. So wür de sich dies ein wenig schwierig gestalten. Während der junge Mann auf Zehenspitzen in die Richtung schlich, aus der die Stimmen an sein Ohr gedrungen waren, ging die Unterhaltung weiter. Sehr zu seinem Erstaunen drehte sie sich jedoch nicht um Liebesdinge, sondern um ein ganz anderes Thema; die Plan tagen. »Seit wann besitzt deine Familie dieses Land, Violet?«, fragte der Mann. »Weißt du das?« Sie kicherte. »Schon seit vielen Jahren. Aber das ist doch ganz unwichtig. Was zählt ist nur, dass es da ist. Ich werde mein ganzes 30
Leben lang keine Geldsorgen haben. Und wenn du sehr lieb zu mir bist, du auch nicht...« Sir George schluckte; hatte Violet den Verstand verloren? Sie bot sich diesem Mann wie eine billige Dirne an... Am liebsten wäre er auf der Stelle eingeschritten, aber er wollte noch mehr hören. Er wurde nämlich den Eindruck nicht los, dass dieser Kerl es nicht hauptsächlich auf seine Schwester abgesehen hatte, sondern eigentlich auf etwas ganz anderes... »Du sollst nicht so sprechen«, bat er jetzt mit Nachdruck. »Ich würde niemals auch nur einen Penny von dir nehmen, Geliebte. Du bist für mich alles, die Sonne, der Mond...« Violet lachte. »Nicht so übertreiben, Liebster. Ich rede ja auch nicht von Geschenken. Ich denke mehr an unsere Zukunft. Unsere gemeinsame Zukunft, du verstehst?« Sie verstummte eine ganze Wei le, in der Sir George versuchte, mit dem eben Gehörten fertig zu wer den. Dass Violet sich nicht nur heimlich mit einem Mann traf, der ganz offensichtlich nicht standesgemäß war, sondern diesen auch noch zu heiraten gedachte, erschien ihm schlichtweg unglaublich. Und doch war es eine Tatsache, er hatte es ja selbst gehört. Endlich meldete der Mann sich wieder zu Wort. George war sicher, seine Stimme nicht zu kennen, noch nie gehört zu haben. Wer mochte er nur sein? Was er sagte, alarmierte den jungen Gentleman aller dings. »Ich muss dich jetzt verlassen, Geliebte. Wir sehen uns morgen wieder, an der gleichen Stelle...« Die junge Lady war mit diesem raschen Abschied offensichtlich ganz und gar nicht einverstanden. Sie wollte widersprechen, aber der Mann ließ sich nicht aufhalten. George hörte, wie es im nahen Dschungel rauschte, wie der Unbekannte sich rasch und geschickt ent fernte. Da gab es für ihn kein Zögern mehr. Mit wenigen Schritten war er bei Violet, packte sie an den Schultern und herrschte sie an: »Wer war das? Los, raus mit der Sprache; mit wem triffst du dich heimlich und unter dermaßen unwürdigen Umständen?« Die junge Lady war so verschreckt, dass sie ihm zunächst keine Antwort geben konnte. Ihr Körper versteifte sich, sie starrte George an, als erkenne sie ihn gar nicht. Währenddessen war der Fremde ver 31
schwunden. Der junge Plantagenbesitzer fluchte verhalten, dann zog er seine Schwester hinter sich her zurück zum Haus. Lady Violet hatte sich in der Zwischenzeit gefangen. Sie schimpfte und beschwerte sich in einem fort, erreichte damit bei ihrem Bruder allerdings nicht das Mindeste. Im Salon drückte er sie auf einen verspielten Sessel und baute sich wütend vor ihr auf. »Nun wirst du mir Rede und Antwort stehen! Oder wäre es dir lieber, wir warten, bis Dad heimkommt?« Violet erbleichte, Tränen sammelten sich in ihren großen, him melblauen Augen und sie stammelte: »Bitte, Georgi, tu mir das nicht an. Du kennst Dad und weißt, wie er auf... so etwas reagieren würde. Ich... will auch alles gestehen. Aber du musst mir deinen Schutz und deine Verschwiegenheit garantieren.« »Ich hätte gute Lust, dir den Hintern zu versohlen«, erwiderte er deftig. »Hast du vielleicht alles vergessen, was Erziehung und Anstand gebieten? Wie kannst du dich nur mit einem dahergelaufenen Kerl im Gras wälzen wie ein billiges Dienstmädchen?« Lady Violet stieß bei dieser Anklage einen Wehlaut aus und be schwerte sich bitter: »Du bist grausam und hartherzig zu mir, Georgi. Ich bin immerhin deine Schwester. So darfst du mich nicht behandeln, hörst du?« »Und was du getan hast, darüber schweigen wir wohl, was? Nein, kommt nicht in Frage! Ich will auf der Stelle die ganze Wahrheit hören oder aber...« Er sprach nicht aus, woran er dachte, doch Violet wusste auch so Bescheid. Und da sie sich vor dem Zorn und der Bestrafung durch ihren Vater am allermeisten fürchtete, bekannte sie leise: »Ich habe mich verliebt, in Jabo, diesen Mulatten. Ich weiß, es ist verboten und verpönt und ich wusste, dass ihr, du und Dad, es nie verstehen würdet. Deshalb haben wir uns heimlich getroffen. Weil unsere Liebe keine Chance vor der Welt hat. Wir müssen uns verstecken und...« »Ich bitte dich, Violet, spiele hier nicht die Märtyrerin. Du weißt sehr genau, wie Vater und ich darüber denken. Zumal dieser Mann mehr als zwielichtig ist. Seine Herkunft ist ebenso unklar wie seine Absichten. Es war fahrlässig und überaus dumm von dir, dich auf ihn einzulassen. Und du wirst ihn nie wieder sehen!« 32
»Nein, Georgi, das kannst du mir nicht antun«, jammerte Violet verzweifelt. »Ich liebe Jabo! Er ist für mich alles, ohne ihn verliert mein Leben jeglichen Sinn, ich... weiß nicht, was ich tue, wenn du ihn mir wegnimmst...« »Nimm dich zusammen!«, herrschte der junge Plantagenbesitzer seine Schwester da verärgert an. »Was soll denn dieses Theater? Du kannst mir nicht im Ernst erklären, dass dieser Mann dir etwas bedeu tet.« »Aber es ist so«, beharrte sie weinend. »Ich liebe ihn. Und wenn es sein müsste, würde ich mit ihm von hier fort gehen, sein Leben tei len, selbst wenn es noch so elend wäre...« »Mein Gott, Violet, mach dich nicht lächerlich. Du lebst seit deiner Geburt im Luxus. Keinen Tag lang würdest du es ohne all das hier aushalten! Dieser Mann mag eine reizvolle Abwechslung für dich ge wesen sein, mehr aber nicht.« Er musterte sie streng. »Nun, bist du endlich zur Vernunft gekommen? Oder wollen wir mit Vater über die Sache sprechen?« »Ich... beuge mich der Gewalt«, behauptete sie weinerlich. »Aber du -wirst es noch bereuen, mir mein Lebensglück gestohlen zu haben. Du wirst dich dafür schämen!« Sir George lächelte schmal. »Wohl kaum. Und jetzt sollten wir nicht mehr über diese unselige Sache sprechen. Jeder Mensch macht mal einen Fehler.« »Wie du meinst«, erwiderte seine Schwester hintergründig. »Ent schuldige mich bitte, ich möchte jetzt zu Bett gehen.« Sie verließ mit raschem Schritt den Salon und atmete erst auf, als sie allein war. Dann aber nahm ihr hübsches Gesicht einen sehr entschlossenen Ausdruck an. Nie und nimmer würde sie Jabo aufgeben, ganz egal, was ihr Bru der oder auch ihr Vater dazu sagten. Sie liebte ihn und würde seine Frau werden! Für Lady Violet gab es keinen anderen Weg, keine ande re Möglichkeit. Schließlich hatte sie im Leben immer alles bekommen, was sie wollte. Und wieso sollte es dieses Mal anders sein? * 33
Der große Mulatte war nicht umsonst einer Begegnung mit dem jun gen Engländer ausgewichen. Er wusste zu gut, was er von Sir George zu erwarten hatte. Nichts als Geringschätzung und Ablehnung. Der Bruder würde die Ehre seiner Schwester verteidigen. Jabo lachte abfällig. Dieser Hemmings würde sich in absehbarer Zeit noch sehr wundern. Wenn alles so vonstatten ging, wie der Mann es sich vorstellte, dann änderten sich die Verhältnisse auf dem Besitz der Kolonialherren grundlegend. Jabo grinste, seine weißen Zähne glänzten matt in der Dunkelheit, während er auf flinken nackten Füßen eine niedrige Hütte am Stadtrand von Kingston ansteuerte. Nicht mehr lange, dann würde er dieses erbärmliche Quartier für immer verlassen; um den Platz einzunehmen, der ihm allein von Rechts wegen schon sehr lange zustand. Und den im Augenblick noch der junge Hemmings innehatte... Jabo öffnete die Hüttentür und trat ein. Ein halb erloschenes Feu er sandte einen dünnen Rauchfaden durch das Loch in der Decke aus Bambusrohr. Drei Gestalten kauerten mehr liegend als sitzend darum. Als der große Mulatte eintrat, richteten alle ihre Augen auf ihn und sofort kam Bewegung in die kleine Gruppe. »Du warst bei ihr? Was hat sie gesagt?«, fragte einer aus der Runde, ein schmächtiger alter Mann mit grauem Haar und stoppligem Kinn. Jabo ließ sich bei den anderen Männern auf dem Boden nieder, kreuzte die langen Beine und faltete die Hände wie zum Gebet. Seine ausdrucksstarken Augen musterten die Gestalten lange, bevor er nach hinten griff und noch etwas Schilfgras ins Feuer warf, das zunächst bloß müde puffte, bevor sich wieder eine kleine Flamme bildete. Süßli cher Rauch stieg auf. Die drei Männer hingen mit unverhohlener Neu gierde an Jabo, doch keiner wagte es, noch eine Frage zu stellen oder ihn zu drängen. Die natürliche Autorität, die er ausstrahlte, verband sich mit einer Aura der Unnahbarkeit. »Die kleine Lady ist in meiner Hand«, sprach er schließlich gegen die Flamme, die goldene Funken in seinen Augen aufflackern ließ. »Sie tut alles, was ich will. Und bald schon, sehr bald wird sie mir ganz ge hören.« Er grinste kalt. »Mit Haut und mit Haaren...« 34
Einer der Männer lachte beifällig, Jabos Blick richtete sich sogleich auf ihn und er wollte streng wissen: »Was ist mit Picos Tochter? Habt ihr sie gefunden?« »Sie arbeitet auf dem Gewürzfeld, nahe dem Wald. Es wird nicht schwer sein, sie zu fangen«, versicherte der Helfer rasch. »Du musst uns nur ein Zeichen geben, dann bringen wir sie dir.« Jabo nickte langsam. »Noch ist die Zeit nicht reif. Aber es dauert nicht mehr lange, bis ich Estrella brauche. Durch ihr Opfer wird der Weg für mich frei...« Die Umsitzenden schwiegen, doch alle spürten, wie eine leise An spannung von ihnen Besitz ergriff. Wenn Jabo von einem Opfer sprach, dann hieß dies, sie würden bald wieder eine Messe feiern. Und das war für sie alle etwas ganz Besonderes... »Was denkst du, wann wird es soweit sein?«, fragte der Alte. Jabo hatte Verständnis für seine Ungeduld, ihm blieb am wenigsten Zeit von ihnen allen. Doch er wollte sich trotzdem noch nicht festlegen. Der rechte Moment war niemals im voraus zu bestimmen. Zu viele Unbe kannte steckten in dieser Rechnung. Und es konnte tödlich sein, die Götter mit einer verpfuschten Messe zu erzürnen. Deshalb hob er nur leicht die Hand an, zum Zeichen, dass er nun allein sein und meditie ren wollte. Die Männer verstanden, sie entfernten sich sofort. Nur der Alte blieb noch kurz. Er war Jabos Onkel und er kannte den Mulatten sehr genau. »Ich würde es nie wagen, an dir zu zweifeln«, erklärte er zunächst beschwichtigend. »Aber hast du dir nicht ein bisschen viel vorgenom men? Die Hemmings sind eine wichtige, eine einflussreiche Familie auf dieser Insel. Sie könnten sich wehren, könnten dich ins Gefängnis wer fen oder umbringen lassen...« Jabo betrachtete den Alten sinnend. Schließlich stimmte er ihm zu: »Ja, das könnten sie. Doch sie werden es nicht tun, weil ich ihnen da zu keine Gelegenheit lasse. Du weißt, welche Schuld diese Familie auf sich geladen hat. Lange wurde darüber geschwiegen, so getan, als sei nichts geschehen. Aber jetzt...« Er starrte fanatisch ins Feuer. »... ist die Zeit der Rache nah. Sie werden für alles bezahlen, was sie uns angetan haben. Das schwöre ich dir!« 35
Der Alte seufzte leise, was Jabo zu der Frage veranlasste: »Glaubst du mir vielleicht nicht?« »Ich habe nie an dir gezweifelt. Schon als Junge warst du etwas Besonderes. Dein Vater ließ dich in England erziehen, er wollte, dass du dort Karriere machst. Vielleicht wäre es besser gewesen, du wärst geblieben, wo du warst...« »Als ich von dem üblen Verbrechen hörte, das die Hemmings be gangen haben, konnte ich das nicht, verstehst du denn nicht? Ich musste zurückkommen, zurück in meine Heimat, zu meinen Wurzeln. Und den rächen, dessen Blut nach mir schrie!« »Ja, ich verstehe dich durchaus, Jabo. Ich möchte nur nicht auch dich verlieren. Mir bleiben nicht viele Jahre und die will ich nicht als Fremder unter Fremden verbringen, allein und verlassen von allen, die zu mir gehörten. Ich hoffe, dass auch du mich verstehen kannst.« »Keine Angst.« Der große Mulatte lächelte schmal. »Du verlierst mich nicht. Du wirst deine letzten Jahre angemessen verbringen. Dafür sorge ich schon.« * Estrella kehrte an diesem Abend früher als sonst zurück nach Hause. Pico war mittlerweile wieder auf den Beinen, er hatte das Fieber abge schüttelt, fühlte sich aber noch schwach und wacklig. Deshalb hatte seine schöne Tochter beschlossen, ihm nichts von der seltsamen Be gegnung zu sagen, die sie an diesem Tag gehabt hatte. Drei Männer waren auf dem Gewürzfeld aufgetaucht, zwei jüngere und ein alter. Sie kannte sie nicht, hatte sie vorher nie gesehen. Und obwohl sie nur ein harmloses Gespräch über eventuelle Arbeitschancen auf der Plan tage mit ihr geführt hatten und danach wieder verschwunden waren, hatte sich doch ein ungutes Gefühl in das Herz des Mädchens geschli chen. Estrella dachte an die Warnungen ihres Vaters, an all die düsteren Anspielungen, die sie in letzter Zeit von ihm gehört hatte, ohne dass er aber konkret geworden war. 36
Hätte sie gewusst, was sie fürchten sollte, wäre es viel leichter gewesen. So aber begleitete sie ein diffuses, ungutes Gefühl durch jeden Tag und immer war sie im Herzen erleichtert, wenn sie sich am Abend auf ihrer Schlafstatt zur Ruhe legen konnte. Obwohl Estrella dem Vater nichts hatte erzählen wollen, erkannte Pico doch auf den ersten Blick, dass etwas nicht stimmte. »Was ist geschehen?«, fragte er seine Tochter auf den Kopf zu, als diese sich daran machte, das Abendessen zu bereiten. Ihr Blick wich ihm aus, ihre schlanken Händen waren fahrig in den Bewegun gen, sie wirkte unsicher und verängstigt. Etwas war ihr widerfahren, das spürte der Vater sofort. Und er wollte wissen, was es war. »Ich weiß nicht, was du meinst«, behauptet sie zunächst schein bar gelassen. »Es war ein anstrengender Tag. Ich bin müde. Komm, lass uns essen.« »Zuerst verrätst du mir, was los ist«, beharrte Pico stur. »Du bist ganz verändert. Ich kenne dich genau, Estrella. Und ich weiß auch, wann du etwas vor mir verbirgst. So wie jetzt.« »Also schön.« Sie seufzte leise. »Ich habe heute tatsächlich etwas Komisches erlebt. Drei Männer kamen zu mir und fragten mich nach Arbeit auf den Plantagen. Ich habe kurz mit ihnen geredet, dann gin gen sie wieder fort.« »Hast du sie vorher schon mal gesehen?«, fragte Pico alarmiert. Und als seine Tochter den Kopf schüttelte, wurde er blass. »Weißt du, was das zu bedeuten hat, Vater? Bitte, sag es mir doch. Wenn ich wüsste...« »Nein, du darfst nichts wissen, das ist viel zu gefährlich. Halte dich an das, was ich dir sage. Mehr brauchst du nicht zu erfahren.« Estrella hatte sich bislang damit zufrieden gegeben, doch nun ge nügte ihr die ausweichende Antwort ihres Vaters nicht mehr. Sie mus terte ihn genau und bat: »Sag mir, wer diese Männer sind und was sie von mir wollen. Wenn ich in Gefahr bin, ist es doch nur recht und bil lig, dass ich mich wehren kann.« »Ich kann dir nicht antworten«, kam es stur von Pico. Er wirkte plötzlich wie um Jahre gealtert. »Ich bitte dich nur, sehr vorsichtig zu sein. Sprich mit keinem mehr, den du nicht kennst. Und falls diese 37
Männer noch einmal auftauchen sollten, lauf weg.« Er senkte den Blick und fügte mit dumpfer Stimme hinzu: »Was geschehen ist, vor langer Zeit, das geht nur die Alten an. Es ist nicht recht, dass du jetzt darun ter leiden musst. Ich will alles tun, um dich davor zu bewahren.« »Aber vor was denn, Vater? Bitte, sag es mir doch!« »Estrella, schweig!« Pico musterte seine Tochter so streng, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Es schien, als sei es ihm sehr ernst, als dulde er nicht den geringsten Widerspruch. »Jetzt lass uns essen. Es ist spät.« Das junge Mädchen fügte sich, wenn auch nur widerwillig. Dass der Vater ihr etwas sehr Wichtiges verschwieg, etwas, das vielleicht sogar ihr Leben bedrohte, fand sie falsch. Aber sie konnte es auch nicht ändern. Wenn der Alte ihr den Mund verbot, sich weigerte, ihr die Wahrheit zu sagen, dann musste sie das eben hinnehmen. Estrella hoffte dabei sehr, dass Pico die Gefahr richtig einschätzte und sie auch schützen würde. Mehr blieb ihr im Moment leider nicht übrig... Pico fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Unruhig wanderte er zwi schen den Hütten der Arbeiter umher, überlegte krampfhaft, was er tun konnte, um das scheinbar Unabwendbare doch noch zu ändern. Aber ihm kam einfach kein gescheiter Gedanke. Beim ersten Sonnen strahl machte er sich bereits auf den Weg zu den Feldern. Er wusste selbst nicht genau, was er dort finden wollte. Aber er musste etwas tun, musste sich selbst das Gefühl geben, Estrella zu beschützen. Auch wenn er vielleicht nicht verhindern konnte, dass die Schuld von einst ihn einholte und die Rache auch vor seiner Tochter nicht halt machte... Gut eine Stunde später brach Sir George zu seinem allmorgend lichen Rundritt über die Plantagen auf. Er hatte bereits eine Ausein andersetzung mit Violet hinter sich, denn diese mochte einfach nicht hinnehmen, dass er ihr den Umgang mit Jabo verboten hatte. Sie hat te ihn mit einer Flut von Schimpfwörtern belegt, die ihn fast sprachlos machte und schließlich angedroht, einfach fortzulaufen, um ihrem Her zen zu folgen. Sir George wusste, dass dies nur leere Worte waren. Er kannte seine Schwester in- und auswendig und ihm war klar, dass Violet kei nen Tag außerhalb des Herrenhauses mit all seinem ausgesuchten 38
Luxus leben konnte. Daher machte er sich keine übertriebenen Sor gen, allein die Frage, wie der Mulatte sich verhalten würde, stimmte ihn nachdenklich. Dass er Violet einfach aufgab, sie in Ruhe ließ, konn te George sich kaum vorstellen. Es galt hier, wachsam zu sein, um seine Schwester nicht in unvorhersehbare Schwierigkeiten geraten zu lassen. Denn dass Violet an die große Liebe glaubte, hieß für ihren Bruder noch lange nicht, dass Jabo ihre Gefühle teilte. Seine Absichten erschienen dem jungen Engländer ebenso zweifelhaft wie seine im Dunkeln liegende Herkunft... Sir George hatte die Gewürzfelder erreicht, wo die Pflückerinnen bereits ihr Tagewerk begonnen hatten. Alles ging seinen gewohnten Gang, nichts schien ungewöhnlich an diesem sonnigen Frühlingsmor gen. Der Plantagenbesitzer hatte die Felder beinahe passiert, als er unvermittelt einen Schrei vernahm. Er war ganz in seiner Nähe ausge stoßen worden und er stammte eindeutig von einer Frau. George blick te sich um; da sah er es: Am Rand der Felder, nahe dem Urwald, zerr ten zwei junge, starke Kerle ein zierliches Mädchen mit sich. Ihre Ab sicht schien eindeutig: Sie wollten die Kleine ins Unterholz ziehen, um ihr dort vermutlich Gewalt anzutun. Das konnte der Gentleman nicht zulassen. Er gab seinem Pferd die Sporen, das auf die kleine Gruppe zu sprengte wie der Wind. Schon wenige Augenblicke später war George am Ziel, sprang ab und hob die Reitpeitsche, um sie einem der Angreifer quer übers Gesicht zu ziehen. Der Kerl jaulte auf wie ein geprügelter Hund und taumelte nach hinten. Der Zweite wollte es gar nicht erst auf einen Kampf ankommen lassen, er nahm die Beine in die Hand und verschwand, so rasch er konnte, im Dschungel. Sir George wandte sich dem Mädchen zu, das verstört und weinend auf dem Bo den kauerte. Als er neben ihr in die Knie ging, schaute sie aus tränenfeuchten Augen zu ihm auf. Und in diesem Moment traf es George wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Niemals zuvor hatte er ein Gesicht von größe rem Liebreiz gesehen, dessen tiefer Kummer sein Herz berührte. Die ses Mädchen war das Schönste, das ihm je begegnet war. Und er spürte, wie sein Herz sich ihr ohne Zögern zuwandte. 39
»Ich danke Ihnen, Sir«, murmelte sie mit einer leisen, melodiösen Stimme, die dem jungen Mann zu Herzen ging. »Wie ist dein Name?«, fragte er automatisch. »Estrella. Ich bin Picos Tochter, die Tochter des Vorarbeiters«, ließ sie ihn zögernd wissen. »Dass Sie mir geholfen haben, war sehr rit terlich von Ihnen. Schließlich bin ich nur eine Arbeiterin hier und Sie...« »Ich heiße George«, erwiderte er schlicht und reichte ihr seine Hand, um ihr so wieder auf die Beine zu helfen. »Komm, ich bringe dich heim. Nach dem Schrecken, den du erlebt hast, kannst du nicht einfach weiterarbeiten. Kennst du die Männer, die dich überfallen ha ben?« Sie senkte beschämt den Blick. »Nein, aber sie waren gestern schon hier und haben mit mir gesprochen. Ich weiß nicht, wer sie sind oder was sie von mir wollen. Sie sagten, dass sie mich mitnehmen werden. Warum, das weiß ich auch nicht.« »Nun, ich kann es mir lebhaft vorstellen. Du bist ganz allein hier, schutzlos. Diese Arbeit ist nichts für dich«, entschied Sir George spon tan. »Komm morgen früh zum Haupthaus und melde dich bei mir. Si cher finden wir dort auch eine passende Beschäftigung für dich.« »Im Haupthaus?«, wiederholte sie verwirrt. »Aber ich kann doch gar nicht...« »Komm, steig auf.« Er hatte sich wieder in den Sattel geschwun gen, hielt ihr die Hand hin und zog sie nun zu sich hinauf. Ihre süße Nähe ließ sein Herz unruhig schlagen und zugleich fragte George sich, wieso ihm Estrella bis auf den heutigen Tag nie begegnet war. Warum hatte Pico seine Tochter vor ihm versteckt? Befangen schaute sie sich um, es schien ihr peinlich zu sein, dass die anderen Arbeiterinnen sie mit dem jungen Hemmings sahen. George bemerkte es und fragte: »Willst du lieber zu Fuß gehen? Ist es dir nicht recht, wenn ich dich heimbringe?« Estrella zögerte mit einer Antwort. Auf der einen Seite konnte sie nicht leugnen, dass der junge Plantagenbesitzer ihr sympathisch war. Und sein ritterliches Verhalten hatte großen Eindruck auf sie gemacht. Zugleich saß ihr aber noch immer der Schreck des eben Erlebten in 40
den Gliedern. Und Pico würde nicht begeistert sein, wenn sie zusam men mit Sir George auftauchte. »Ich denke, den Rest des Wegs kann ich zu Fuß gehen«, sagte sie schließlich. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Sir George!« »Keine Ursache.« Er ließ sie vorsichtig absteigen. »Und vergiss nicht, dich morgen im Haupthaus zu melden.« Sie schaute ihn so un gläubig an, dass er versicherte: »Ich habe das eben wirklich ernst ge meint. Du wirst im Haus arbeiten können, wenn du es nur willst. Melde dich bei Mala, sie steht dem Haushalt vor.« »Ich... danke Ihnen sehr, Sir«, murmelte sie befangen und lief rasch davon. Der junge Mann blickte ihr noch eine Weile nach. Selten war ihm ein Geschöpf von größerem Liebreiz begegnet. Und dabei hatte nicht nur ihr zauberhaftes Äußeres großen Eindruck auf George gemacht, sondern auch ihre Bescheidenheit und ihre natürliche Grazie. Ein Mädchen wie Estrella war einmalig, dessen war er ganz sicher. Er wollte sie in seiner Nähe haben. Und er freute sich darauf, sie am nächsten Morgen wieder zu sehen. * Jabo starrte seine Handlanger ungläubig an. »Ihr habt es nicht ge schafft, sie herzubringen? Wie soll ich das verstehen? Seid ihr vielleicht zu schwach, ein Mädchen einzufangen?« »Das nicht, aber...« »Na los, raus mit der Sprache!«, forderte der große Mulatte unge halten. »Und ich hoffe für euch beide, dass euch eine gute Ausrede einfällt!« »Es ist keine Ausrede. Da kam plötzlich ein Mann, der half ihr. Er... hatte eine Peitsche und ging auf uns los. Was hätten wir denn tun sollen? Wir konnten uns nicht wehren mit bloßen Händen. Sieh doch, wie er mich zugerichtet hat!« Er wies auf eine schmale verkrustete Wunde, die quer über sein Gesicht lief. »Er war brutal und rücksichts los. Und wir hatten keine Chance gegen ihn!« »Hemmings? Ich hätte nicht gedacht, dass er sich für seine Arbei ter einsetzt. Er ist ein alter Ausbeuter und Feudalherr«, spie Jabo vol 41
ler Verachtung seine Meinung über Sir Humphrey aus. Doch seine Hel fer schüttelten den Kopf. »Es war ein junger Mann. Vielleicht sein Sohn? Er hat doch Kinder, nicht wahr?« Jabo ging nicht auf die Worte des Mannes ein. Auch als dieser fragte, ob sie es denn noch einmal versuchen sollten, antwortete er nicht gleich, sondern starrte eine ganze Weile sinnend vor sich hin. Schließlich erhob er sich zu seiner ganzen Größe und stellte fest: »Ich werde Violet treffen. Vielleicht wä re es nicht schlecht, sie an Estrellas Stelle zu opfern.« »Aber Pico...« »An den Händen des alten Hemmings klebt ebenso viel Blut. Er hat schon einen Vorgeschmack auf meine Rache verdient«, befand der Mulatte selbstgefällig. »Aber ich werde es mir noch überlegen. Und bis dahin behaltet Estrella im Auge. Sie ist und bleibt meine erste Wahl... als Opfer.« Lady Violet ahnte nichts von den wahren Absichten und Ma chenschaften des Mannes, den sie für ihre große Liebe hielt. Seit ihr Bruder ihr jeden Umgang mit dem faszinierenden Mulatten verboten hatte, sann sie Tag und Nacht nach einer List, um Jabo doch wieder sehen zu können. Sie sehnte sich so sehr nach ihm! Ohne ihn war für sie alles sinnlos. Das redete sie sich jedenfalls ein. Und je länger sie dies tat, desto glaubwürdiger erschien es ihr. Als sie an diesem Abend noch durch den blühenden Garten spazierte, waren ihre Gedanken wieder einmal bei Jabo. Unwillkürlich kehrte sie zum See zurück, dem Platz, mit dem sich für sie so viele wunderbare Erinnerungen verban den. Eine ganze Weile blieb Lady Violet reglos und sinnend am Ufer stehen, betrachtete die bleiche Sichel des Mondes, die sich im Wasser spiegelte und fühlte sich ganz einfach schrecklich allein. Urplötzlich aber, als habe ihre sehnsuchtsvolle Phantasie ihn dort hin gezaubert, erkannte sie einen Umriss im Wasser, direkt neben ih rem eigenen Spiegelbild. Sie starrte für ein paar Sekunden ungläubig darauf, ein Worte nur kam flüsternd über ihre Lippen: »Jabo...« Und dann drehte sie sich zu ihm um. Bereits in der nächsten Sekunde hielt der Mulatte sie umfangen und küsste sie leidenschaftlich, bis Violet alles andere auf der Welt vergessen hatte. Mit einem leisen Seufzen 42
schmiegte sie sich an ihn und murmelte: »Ich bin ja so glücklich, so glücklich, dass du endlich wieder bei mir bist...« Doch statt sie enger an sich zu ziehen, ließ Jabo die junge Lady los und blickte mit finsterer Miene auf sie nieder. Irritiert wollte sie wissen: »Was hast du, Liebster? Du bist doch nicht böse auf mich, oder?« »Nicht auf dich, auf deinen Bruder. Er hat dich gezwungen, mich nicht wieder zu sehen. Das kann ich nicht akzeptieren.« Violet stutzte. »Woher weißt du das?« »Es kann keinen anderen Grund geben, dass du mir ausweichst und nicht mehr zu unserem Versteck kommst.« »Ja, du hast recht.« Sie senkte bekümmert den Blick. »George hat alles herausgefunden. Und er hat mir gedroht, dass ich mein Erbe ver liere, wenn ich nicht von dir lasse. Trotzdem wollte ich es nicht, nie! Ich habe nur auf einen günstigen Moment gewartet, um dich wieder zu sehen. Und dass du jetzt hier bist, ist einfach wunderschön. Fast zu schön, um wahr zu sein.« »Trotzdem nützt es uns nichts. Wir haben keine gemeinsame Zu kunft, Geliebte. Nichts, was wir uns ausgemalt haben, wird je wahr werden«, behauptete er düster. »Sprich nicht so, das macht mir Angst.« Sie schmiegte sich wieder an ihn, doch er wich ihr aus, bat: »Dieser letzte Kuss soll unser Ab schiedskuss sein. Bitte, Violet, lass uns dieses quälerische Spiel been den. Ich ertrage es nicht länger!« »Jabo, du darfst mich nicht verlassen. Ich liebe dich doch«, versi cherte sie daraufhin jammervoll. »Und wenn alle gegen uns sind, was macht uns das aus?« »Im Moment macht es dir vielleicht nicht viel aus, aber das würde sich bald ändern«, erklärte er ihr ernst. »Ich kann dir bei weitem nicht den gleichen Lebensstandard bieten, den du hier jeden Tag als ganz selbstverständlich hinnimmst. Es könnte nicht gut gehen mit uns, nicht unter diesen Umständen.« »Und was soll nun werden?«, fragte sie nach einer Weile ganz hoffnungslos. Eben noch hatte Lady Violet sich in einem wahren Tau mel der Glückseligkeit befunden, als Jabo so plötzlich da gewesen war. 43
Und nun sagte er ihr einfach so, dass es aus sei zwischen ihnen. Das konnte, das wollte sie nicht hinnehmen! »Ich bin hier, um dir Lebewohl zu sagen, Violet«, behauptete er zögernd. Und als sie widersprechen wollte, fügte er hinterlistig hinzu: »Wir könnten uns weiterhin sehen, wenn... die Umstände anders wä ren. Aber die werden sich sowieso nie ändern. Deshalb gibt es keine Chance für uns.« »Und was müsste anders sein, damit du bei mir bleibst?«, fragte sie daraufhin naiv. »Sag es mir nur, ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um unsere Liebe zu retten. Bitte, Jabo, verlass mich nicht! Ohne dich kann ich nicht leben.« Die Dunkelheit verbarg sie nicht vollständig voreinander, doch sie genügte, damit Lady Violet nicht den listigen Ausdruck in den Augen ihres Gegenübers bemerkte. Jabo fühlte, dass er seinem Ziel in dieser Nacht bereits ein gutes Stück näher gekommen war. Doch er musste nun vorsichtig und mit Bedacht vorgehen, um seine Fortschritte nicht gleich wieder zunichte zu machen. Deshalb wehrte er unwillig ab: »Es ist ganz unmöglich. Die Menschen ändern sich nicht so schnell. Sie werden uns ablehnen, unsere Liebe nicht verstehen und in den Dreck ziehen. Nein, das kann ich dir nicht antun. Geliebte.. Ich will, dass du glücklich wirst. Aber du sollst nicht so leiden müssen.« »Und wenn das der einzige Weg für uns beide ist?«, gab sie mutig zu bedenken. »Wenn wahre Liebe nur aus Schmerzen geboren werden kann? Dann bin ich bereit, dieses Opfer zu bringen!« Jabo musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut aufzula chen. Dieses dumme Huhn glaubte ihm jedes Wort, glaubte an die Aufrichtigkeit seiner Gefühle. Dabei hatte sie nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wie die Dinge wirklich lagen. Und Jabo war nicht gewillt, sie darüber aufzuklären. Noch nicht... »Ich weiß nicht...« Er senkte den Blick. »Ich sehe, deine Gefühle sind ebenso stark wie meine, du hältst zu mir. Und das rechne ich dir hoch an. Aber ich weiß nicht, ob es im Moment einen Weg für uns beide geben kann. Wir müssen Geduld haben und abwarten.« »Aber wie lange? Ich will nicht ewig auf dich warten, Jabo. Ich möchte dein Leben teilen. Als deine Frau!« 44
Er grinste kalt. »Allein das zu wissen, wird mir über vieles hinweg helfen. Ich glaube jetzt fast, wir können es schaffen.« »Ja, das können wir!« Lady Violet warf sich an seine Brust. »Ich werde immer zu dir stehen, ganz egal, was kommt.« »Sicher«, murmelte er, dachte dabei aber: Wenn du wüsstest,
was dich erwartet, würdest du keinen solchen Unsinn reden... *
Sir George wollte eben das Frühstückszimmer betreten, als einer der Bediensteten ihn wissen ließ, dass sein Vorarbeiter im Arbeitszimmer auf ihn warte. Der junge Gentleman wunderte sich ein wenig über diesen Besuch zu so früher Stunde. Doch er ahnte auch, dass Picos Auftauchen etwas mit dem Zwischenfall vom Vortag zu tun hatte. Und er sollte sich nicht geirrt haben. Freundlich begrüßte Sir George Pico und bot ihm sogar Platz an. Doch der einfache Mann lehnte verlegen ab, behauptete: »Es gehören sich nicht, dass Pico in so ein kostbaren Stuhl sitzen. Und was ich will sagen, dauert auch nur kurz.« »Also schön, dann raus mit der Sprache«, forderte der junge Plan tangenbesitzer salopp. »Was hast du auf dem Herzen?« »Nun, ich... komme wegen mein Tochter, Estrella.« Er senkte den Blick. »Sie wollen einstellen für Haus, aber sie das nicht kann. Sie nur... Gewürzpflückerin!« »Schickt deine Tochter dich? Ist das auch ihre Meinung oder nur deine?«, wollte Sir George ein wenig verdrossen wissen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Pico etwas gegen die Beförderung seiner Toch ter einzuwenden hätte. Der Vorarbeiter hob ein wenig die Schultern an. »Mein Meinung«, gab er zu. »Aber sehen Sie, Sir, Estrella ist... Wie soll sagen? Sie ist kein billig Mädchen, Sie verstehen?« Allmählich dämmerte es dem jungen Gentleman, was Pico ihm damit sagen wollte. Er machte ein ernstes Gesicht und erklärte: »Du brauchst keine Sorge um deine Tochter zu haben.. Ich habe sie nicht gegen diese zudringlichen Kerle beschützt, um ihr dann das Gleiche 45
anzutun. Ich möchte, dass Estrella hier im Haus arbeitet, damit sie vor solchen Überfällen sicher ist. Verstehst du?« Seine Worte schienen wenig Eindruck auf Pico gemacht zu haben, denn der blickte noch immer eher skeptisch vor sich hin. Schließlich murmelte er: »Sie meinen gut. Aber trotzdem ist nicht richtig. Estrella gehört zu ihrem Vater!« »Du willst sie nicht hergeben? Pico, ich bitte dich, abends kommt sie heim und versorgt dich wie zuvor. Na, bist du nun zufrieden?« Ein wenig hellte sich die angespannte Miene des schmächtigen Mulatten da auf, doch er fragte trotzdem noch einmal nach: »Dann Sie... nicht denken an anderes, nur an Arbeit für meine Tochter? Und sie kommen heim am Abend?« »Versprochen. Also, bist du nun einverstanden, Pico? Ist alles zwi schen uns geklärt?« »Ist geklärt. Vielen Dank!« Erleichtert zog er ab, Sir George muss te schmunzeln. Er fand es rührend, wie der Vorarbeiter um seine Toch ter besorgt war. Da glich er wohl sogar in gewisser Weise Sir Humph rey, der für Lady Violet nur das Beste wollte... Als der junge Hemmings gleich darauf das Frühstückszimmer be trat, traf er dort auf seinen Vater. Sir Humphrey hatte sich in den ver gangenen Tagen nicht sehr oft in Kingston blicken lassen und seine Ausschweifungen ein wenig eingestellt. Der Sohn wunderte sich über diesen Wandel im Benehmen des Vaters. Doch er sah davon ab, Sir Humphrey darauf anzusprechen. Schließlich wusste er, dass dieser sich jegliche Einmischung in sein Privatleben verbat. Auch von seinem ei genen Sohn. An diesem Morgen wirkte der alte Hemmings allerdings so nach denklich und grüblerisch, dass George nicht umhin konnte, ihn nach dem Grund für sein Verhalten zu fragen. »Ich mache mir Sorgen um Violet«, gab dieser nach kurzem Zö gern zu. »Sie ist mir in letzter Zeit ganz fremd geworden. Was denkst du, ob sie vielleicht unter schlechtem Einfluss steht?« Sir George, der überzeugt war, den Kontakt der Schwester zu Ja bo unterbunden zu haben, schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Alle Freunde, die sie in Kingston hat, stammen 46
aus guten Familien. Sie sind vielleicht teilweise etwas exzentrisch, aber harmlos.« »Ich denke nicht an ihre Freunde. Jedenfalls nicht an die offiziel len«, entgegnete der Alte mürrisch. Sein Blick richtete sich mit unduld samer Strenge auf George, während er wissen wollte: »Kann es sein, dass sie etwas mit diesem Mulatten hat? Dieser Kerl, der un aufgefordert mein Fest besucht hat?« Der junge Mann war nun doch überrascht. Es schien gar nicht so einfach zu sein, etwas vor seinem Vater zu verheimlichen. Vage be hauptete er: »Das kann ich mir nicht vorstellen. Violet ist zwar manchmal ein wenig leichtsinnig, aber sie besitzt Anstand und Takt. Sie weiß, was sich gehört und was nicht. Zudem hast du ihr ver boten, diesen Mann wieder zu sehen.« »Aber hat sie sich auch daran gehalten? Das erscheint mir doch eher zweifelhaft.« »Worauf willst du hinaus, Dad?«, fragte George direkt. Der alte Hemmings schwieg eine Weile, bevor er entgegnete: »Ich mache mir so meine Gedanken. Ist in letzter Zeit etwas Unge wöhnliches vorgefallen? Gab es vielleicht Überfälle, ist jemand ver schwunden?« »Ich verstehe nicht ganz... Fragst du aus einem bestimmten Grund? Hast du einen Verdacht?« »Beantworte bitte meine Frage und stelle keine neuen«, kam es unwirsch von dem Alten. »Gestern morgen ist eine unserer Arbeiterinnen, Picos Tochter, von ein paar Kerlen belästigt worden. Ich habe ihr geholfen und ihr angeboten, im Haus zu arbeiten, wo sie vor solchen Zudringlichkeiten sicher ist. Das ist alles, was aus der Reihe tanzt.« »Picos Tochter«, dehnte Sir Humphrey. »So, so...« »Willst du mir nicht verraten, was das alles zu bedeuten hat? Bit te, Vater, hinter deinen Fragen steckt doch ein bestimmter Verdacht. Glaubst du, dieser Jabo hat etwas mit dem Überfall auf das Mädchen zu tun? Hast du deshalb danach gefragt?« »Ich mache mir meine Gedanken, das ist alles. Aber eines steht wohl fest: Wir müssen ein etwas strengeres Auge auf deine Schwester 47
haben. Ich war immer sehr nachsichtig mit Violet. Und ich denke, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, manchen Fehler aus der Vergangenheit wieder gutzumachen. Bevor es zu spät ist...« * Am frühen Abend ließ Sir George Mala, die Haushälterin, zu sich kom men. Die rundliche Mulattin in mittleren Jahren war eine bewährte und zuverlässige Kraft. Sie knickste artig und erklärte auf die Frage nach Estrella: »Das Mädchen hat geschickte Hände und einen hellen Kopf. Ich habe sie fürs erste ins Bügelzimmer gesteckt. Wir werden sehen, ob sie sich dort bewährt.« »Denkst du, sie ist mit dieser Aufgabe zufrieden?«, wollte Sir George sehr zum Erstaunen der Haushälterin wissen. Es war das erste Mal, dass eine einheimische Arbeiterin nach ihren Wünschen gefragt wurde. Wie es schien, war doch etwas dran an den gerade aufge flammten Gerüchten, dass die schöne Estrella dem jungen Kolonialher ren den Kopf verdreht hatte. Nun, Mala konnte es verstehen. Schließ lich hatte das Leben des jungen Gentleman bislang nur aus Pflicht und Arbeit bestanden. Da wurde es wohl Zeit für einen kleinen Ausgleich, eine Abwechslung... »Ist Estrella noch im Haus?«, wollte George nun auch noch wis sen. Mala meinte, eine gewisse Sehnsucht aus seiner Stimme heraus gehört zu haben. »Sie wartet draußen. Ich habe ihr gesagt, dass sie erst heim darf, wenn Sie es erlauben, Sir.« »Das war sehr umsichtig von dir, Mala«, lobte er. »Du kannst ge hen. Und schicke bitte Estrella zu mir.« Die Haushälterin lächelte wissend. »Sicher...« Sir George entging der anzügliche Ton in ihrer Stimme nicht, zu gleich ahnte er, dass er vorsichtig sein musste. Gerüchte verbreiteten sich schnell. Und auch wenn Estrella für ihn etwas ganz Besonderes war, durfte er ihr doch seine Zuneigung nicht zu schnell offen zeigen. Sie konnte ihn missverstehen. Und er wollte nicht, dass sie seinetwe gen zu leiden hatte. 48
Das schöne Mädchen betrat nur zögernd den Raum. Wieder ein mal konnte George feststellen, welch hinreißende Schönheit die Toch ter seines Vorarbeiters war. Selbst in weißer Schürze und Kopftuch hatte sie die Anmut und Ausstrahlung einer großen Dame der Gesell schaft. Doch ohne gekünstelt oder eingebildet zu wirken. Eine hin reißende Mischung, der nur schwer zu widerstehen war. »Komm herein, Estrella«, bat der junge Hemmings und trat hinter seinem Schreibtisch hervor. »Keine Scheu, ich beiße nicht.« Sie musterte ihn abwägend. George meinte, durchaus Zutrauen und auch Sympathie in ihren großen, ehrlichen Augen ausmachen zu können. Doch zugleich blieb sie vorsichtig, befangen. Vermutlich hatte Pico ihr eingeschärft, zu ihm auf Distanz zu bleiben... »Nun, wie gefällt dir die Beschäftigung im Haushalt?«, fragte der junge Mann freundlich, als sie mit niedergeschlagenem Blick gut zwei Meter vor ihm stehen geblieben war. »Bist du zufrieden? Oder möch test du lieber etwas anderes tun?« »Ich... nein, ich möchte nichts anderes tun. Die Arbeit im Haushalt ist schön«, versicherte Estrella rasch, als habe sie Angst, George kön ne ihr ein unmoralisches Angebot machen. Der Plantagenbesitzer verschränkte die Arme vor der Brust, blickte ernst auf das schöne Mädchen und erklärte: »Ich weiß, man kann Ver trauen nicht befehlen, es muss wachsen, sich entwickeln. Aber ich möchte dir versichern, dass ich es gut mit dir meine, dass ich keine schlechten Absichten hege. Vielleicht hat dein Vater dich in dieser Hin sicht gewarnt. Nun, das ist sicher sinnvoll. Aber in meinem Fall über flüssig.« Estrella hielt noch immer den Blick gesenkt. Sie wagte es einfach nicht, zu ihrem Brotherren aufzuschauen, denn er sollte nicht sehen, wie ihr ums Herz war. Seit er sie vor den zudringlichen Kerlen gerettet und ihr eine Arbeit im Haupthaus gegeben hatte, erschien er ihr wie ein Ritter in schimmernder Rüstung, der nur auf der Welt war, um sie zu beschützen und ihr Gutes zu tun. Nie zuvor war ein Mann so be sorgt um sie gewesen, ausgenommen ihr Vater, doch das war etwas anderes. Sir George hatte vom ersten Moment an Estrellas Herz be rührt. Aber sie hätte dies nie und nimmer zugegeben, nicht einmal vor 49
sich selbst. Schließlich war er ein englischer Gentleman von Stand, reich und gebildet, während sie nie mehr als eine Gewürzpflückerin sein würde. Und doch... das Herz klopfte ihr im Hals, während sie sei nen Blick auf sich ruhen spürte. »Ich hätte nie schlecht über Sie gedacht, Sir«, versicherte sie nun befangen. »Und mein Vater auch nicht. Er hat mich nicht gewarnt, sondern mir nur eingeschärft, ordentlich und fleißig zu arbeiten, damit Sie nicht enttäuscht von mir sind.« Sie wagte es nun doch, ihn anzu schauen und fügte leise hinzu: »Und das will ich natürlich. Ich bin Ih nen sehr dankbar.« »Dazu besteht kein Grund«, behauptete George beinahe ärgerlich. Er wollte nicht, dass Estrella in ihm den edlen Gönner sah. Sie sollte ihn mögen, so wie er sie vom ersten Moment an geliebt hatte. Und das war nur möglich, wenn sie nicht zuviel Respekt vor ihm hatte... »Oh, doch«, wagte sie leise zu widersprechen. »Sie haben mich vor diesen Kerlen gerettet und mir eine bessere Arbeit gegeben. Wenn das kein Grund ist, dankbar zu sein, dann kenne ich keinen.« Ihr Brot herr lächelte milde. Wie es schien, war Estrella nicht nur schön und klug, sondern auch ebenso stolz wie ihr Vater; eine Wesensart, die der junge Mann durchaus zu schätzen wusste. »Damit hast du wohl recht. Ich freue mich, dass du zufrieden bist. Du kannst jetzt heimgehen. Auf morgen.« Sie nickte und entfernte sich rasch. Und dabei erfüllten durchaus widerstreitende Gefühle das Herz des jungen Mädchens; es war glück lich, Sir George kennen gelernt zu haben und vor allem über die neue Anstellung. Zugleich aber fürchtete Estrella sich auch ein wenig vor dem Wiedersehen mit dem jungen Gentleman, den sie von nun an jeden Tag treffen würde. Ob es ihr wohl gelang, ihr Herz in seiner Nä he stets im Zaum zu halten, nichts von dem preiszugeben, was sie empfand? * »Wohin willst du? Sie allein holen? Das kann nicht gelingen.« 50
Jabo bedachte seinen Onkel mit einem unwirschen Blick. Bereits seit Tagen ging der Alte ihm auf die Nerven. Er schien vergessen zu haben, worum es bei Jabos Rache ging. Und dieser war nicht gewillt, sich beständig zu wiederholen. »Geh mir aus dem Weg«, murmelte er knapp. »Ich muss fort.« »Aber nicht, ohne mir eine Antwort zu geben«, beharrte der On kel. »Jabo, du bist auf dem falschen Weg. Was du tust, kann dir kein Glück bringen. Ich bitte dich...« »Und ich bitte dich: Lass mich in Ruhe. Wenn du glaubst, ich ver gesse einfach, was die Hemmings meinem Vater angetan haben, dann irrst du dich. Ich werde mich rächen. Und meine Rache wird vollkom men sein, denn ich führe sie ganz allein aus!« »Allein? Wie willst du das schaffen?« Der große Mulatte gab sich überheblich. »Das überlass nur mir. Du hast selbst gesehen, wozu Helfer gut sind; zu gar nichts! Sie waren nicht einmal in der Lage, das Mädchen zu fangen. Nun werde ich das selbst in die Hand nehmen. Estrella wird bei einer großen Messe geop fert. Damit werde ich die Geister der Ahnen milde stimmen und auf meine Seite ziehen. So und nur so kann ich die Rache vollenden, die schon vor langer Zeit hätte genommen werden müssen!« Er musterte seinen Onkel abfällig. »Wärst du nicht zu feige gewesen, dann...« »Mach mir bitte keine Vorwürfe! Du weißt nicht, wie es damals war. Wir hatten viel weniger Rechte, die Weißen konnte machen, was sie wollten. Und wozu wäre es gut gewesen, wenn ich mich auch noch geopfert hätte...« »Wohl nicht zuviel«, stimmte Jabo ihm geringschätzig zu. »Aber du müsstest dir zumindest jetzt nicht vorwerfen lassen, ein Feigling zu sein.« Er wollte die Hütte verlassen, doch dein Onkel hielt ihn am Arm fest. »Sprich nicht so, das verbitte ich mir! Ich weiß, dass du keinen Respekt vor mir hast. Und vielleicht bin ich es auch nicht wert... Aber ich muss dir eines ganz deutlich sagen: Wenn du auf diesem Weg wei tergehst, wirst du nicht gewinnen, sondern alles verlieren. Du magst große Kenntnisse bei Master Gumpee erlangt haben. Doch um eine solche Messe zu zelebrieren, da bedarf es viel mehr als theoretisches Wissen. Hast du denn keinen Respekt vor dem Totenreich? Weißt du 51
nicht, wie gefährlich es werden kann, die Geister der Ahnen zu erzür nen? Du könntest dabei mehr verlieren als dein Leben.« Der Alte starr te sein Gegenüber eindringlich an. »Deine unsterbliche Seele steht auf dem Spiel!« Jabo lachte nur über die wohl bedachten Worte seines Onkels. Er schob den Alten beiseite, trat aus der Hütte und blickte sich um. Der Abend war nicht mehr fern, bald wurde es dunkel. Eine gute Vor aussetzung für das, was der Mulatte plante. Bevor er sich endgültig zum Gehen wandte, erklärte er gönnerhaft: »Du magst dir das nicht vorstellen können, doch ich habe viel mehr bei Gumpee gelernt, als du auch nur ahnst. Ich bin durchaus in der Lage, alles zu erreichen, was ich nur will. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis ich das auch beweisen werde.« Der Alte sagte nichts, denn er hörte aus den Worten seines Neffen nichts weiter als Überheblichkeit und Selbstüberschätzung heraus. Ja bo hatte ein übersteigertes Ego, das ihn leicht in den Größenwahn führen konnte. Sein Onkel hatte versucht, dies zu verhindern, doch es war ihm nicht gelungen. Nun blieb ihm nur, zuzusehen, wohin der Weg Jabo führte. Und er wurde den Verdacht nicht los, dass dies nur ein tiefer Abgrund sein konnte... Jabo dachte auf dem Weg zum Besitz der Hemmings weder an seinen Onkel, noch an dessen Warnungen. Seine ganze Konzentration galt dem Ziel, das er erreichen wollte. Estrella sollte an diesem Abend in seine Gewalt kommen. Er wollte sie in einem aufwendigen Ritual opfern, um die Gunst der Ahnengeister zu erlangen. Wenn sie ihn un terstützten, dann verfügte er schon sehr bald über eine gewaltige Macht im Hintergrund, mit deren Unterstützung er ganz einfach alles erreichen konnte, was er wollte. Doch zunächst einmal musste Jabo Estrella entführen. Es würde nicht ganz leicht werden, das war ihm klar. Der junge Hemmings hatte sie ins Haus geholt, vermutlich als seine Mätresse. Diese Plan tagenbesitzer schreckten doch vor nichts zurück! Und was bedeutete es ihnen schon, ein junges Mädchen unglücklich zu machen, wenn ihnen selbst ein Mord als plausibles Mittel erschien, um sich etwas an zueignen? 52
Solche Gedanken stachelten den Hass des Mulatten noch weiter an und halfen ihm, fest an die Richtigkeit seines Handelns zu glauben. Schließlich ging es um eine heilige Rache, die er nicht für sich, sondern für einen anderen übte. Er wähnte sich in diesem Wissen edel und gerecht. Zweifel oder Skrupel kannte er längst nicht mehr. Lange ge nug hatte er sich schließlich eingeredet, nur der ausführende Arm ei ner gerechten Strafe für Menschen zu sein, die es nicht anders ver dienten. Nach einer ganzen Weile erreichte der Mulatte den Besitz der Hemmings. Es war mittlerweile dunkel geworden, so dass der Ein dringling nur ein geringes Risiko einging, gesehen zu werden. Die Ar beiter hielten sich in ihren Hütten auf, kochten oder legten sich schla fen. Jabo hatte durch tagelanges Beobachten herausgefunden, dass die Hausangestellten etwas später heimgehen durften. Und das sah er als seine Chance: In der Dunkelheit würde es ein Leichtes sein, Estrella zu packen und fortzuschaffen. Er musste nur geduldig sein, warten und bei der passenden Gelegenheit blitzschnell zuschlagen... Das schöne Mädchen ahnte nichts von der Gefahr, die draußen lauerte. Estrella arbeitete nun seit ein paar Wochen im Haushalt der Hemmings und hatte Freude an ihrer Tätigkeit entwickelt. Ihre an fängliche Scheu Sir George gegenüber hatte sich allmählich gelegt. Durch sein zurückhaltendes und freundliches Verhalten hatte er ihr Vertrauen erworben, sie wusste, dass er ihr nie ein Leid zufügen könn te. Im Gegenteil. Schon oft hatte sie gespürt, dass er ihr Sympathie, vielleicht sogar noch mehr entgegenbrachte. Allerdings wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, darauf zu reagieren. Und ihre eigenen Gefüh le, die hatte Estrella tief im Herzen verschlossen. Sie hatte einfach Angst, sich lächerlich zu machen. Denn trotz allem blieb der Standes unterschied bestehen, da konnte es einfach keine gemeinsame Basis geben. Das hatte auch Pico seiner Tochter immer wieder eingeschärft, wenn sie andeutete, dass Sir George nicht nur ein vollendeter Gentle man, sondern auch ein sehr sympathischer Mensch sei. »Du musst ihn respektieren, Achtung vor ihm haben«, hatte er ihr noch am Vorabend in ihrer eigenen Sprache ans Herz gelegt. »Niemals 53
denke weiter, als dass er dein Brotherr ist. Denn alles andere wäre unmoralisch und falsch!« Wäre es das wirklich? Diese Frage ging Estrella durch den Sinn, während sie die gemangelten Laken aus weißer Baumwolle in die Wä schekommode setzte. Sie hatte Sir George mittlerweile recht gut ken nen gelernt, gut genug, um nicht zu glauben, dass er sie zu etwas Verbotenem überreden würde. Wenn er ihr seine Zuneigung zeigen würde, dann gewiss nicht mit unlauteren Absichten. Ein Räuspern an der Tür ließ Estrella aufschrecken. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie Mala gar nicht bemerkt hatte, die nun neben sie trat und sie streng musterte. »Träumst du von Sir George?«, fragte die Haushälterin in ihrer di rekten Art. Und als das junge Mädchen heftig errötete, winkte sie nur ab. »Ist doch nicht schlimm. Wäre ich zwanzig Jahre jünger und eben so viele Pfunde leichter, ginge es mir nicht anders. Aber so...« Lachend klopfte sie sich auf die breiten Hüften. Estrella mochte Mala, die einen unverwüstlichen Humor besaß. Doch sie wusste auch, dass die Haushälterin gerne tratschte. Sie woll te ihr keinen Anlass liefern. »Sir George ist unser Brotherr, nichts weiter«, erwiderte sie betont gleichmütig, doch Mala nahm ihr das nicht ab. »Mädchen, bist du blind? Er hat dich vor diesen miesen Kerlen ge rettet und zu sich ins Haus geholt. Weißt du nicht, was das bedeutet?« Estrella wollte widersprechen, aber die Haushälterin ließ sie gar nicht zu Wort kommen. Eifrig erzählte sie: »Eine Tante von mir hatte einst eine Liebschaft mit einem reichen Weißen. Er hat sie gut behandelt. Sie musste nichts mehr arbeiten, hatte sogar eine kleine Wohnung in der Stadt. Von Zeit zu Zeit besuchte er sie. Und da sie ihn gern hatte, empfand sie die Liaison nicht als unangenehm.« Mala beugte sich ein wenig vor und meinte in vertraulichem Tonfall: »Wenn Sir George dir so ein Arrangement anbietet, sei nicht dumm, greif zu! Man ist nur einmal im Leben jung. Und was vorbei ist, das kann man nicht nachho len. Glaub mir!« Estrellas hübsches Gesicht verschloss sich, als sie erwiderte: »Von solchen Geschichten halte ich rein gar nichts. Es ist unmoralisch und 54
verwerflich, sich einem Mann für Geld hinzugeben. Auch wenn es nur ein Einziger ist!« Mala lachte. »Du bist naiv. Was glaubst du, geschieht, wenn du verheiratet bist?« Sie lachte wieder, weil das Mädchen errötete. »Na siehst du, wir verstehen uns schon. Was für einen können wir schon zum Manne nehmen, häh? Einen armen Schlucker. Der hat nichts zu bieten, kein Geld, kein Haus. Und du kriegst neben einem Haufen Ar beit noch die Kinder aufs Auge gedrückt. Glaubst du vielleicht, das ist moralischer? Nein, Kindchen, ich sage dir, was das ist: Dumm!« »Ich habe nicht vor, so zu leben«, entgegnete Estrella mutig. »Ich spare meinen Lohn und mache irgendwann eine richtige Ausbildung. Dann kann ich auf eigenen Füßen stehen. Und kein Mann darf mir be fehlen!« Die Haushälterin konnte darüber nur den Kopf schütteln. »Du hast Träume«, meinte sie abwertend. »Na, eines Tages wirst du auch noch aufwachen.« Sie grinste breit. »Sir George möchte dich übrigens noch sprechen, bevor du heimgehst. Viel Vergnügen...« Mala schwänzelte provozierend mit ihrem dicken Hinterteil und verließ dann lachend das Bügelzimmer. Estrella presste die Lippen fest zusammen, damit ihr kein Fluch entschlüpfte. Sie ärgerte sich maßlos über das dumme Ge rede der Haushälterin. Dabei war Mala doch sonst eigentlich ganz nett und patent. Aber ihre frechen Anspielungen auf Sir George konnte Estrella einfach nicht ausstehen. Sie beendete zügig ihre Arbeit und klopfte wenig später an die Tür des Arbeitszimmers. Der junge Gentleman schien sie bereits erwartet zu haben. Er freute sich ganz offensichtlich, sie zu sehen und kurz fragte Estrella sich, ob das nicht falsch war. Wäre es nicht besser für sie gewesen, wieder zu ihrer alten Stelle zurückzukehren? Ihre gegenseitige Zuneigung, die doch immer offensichtlicher wurde, brauchte nur Kummer und Verdruss für sie beide... »Estrella, ich wollte dich etwas fragen«, sagte Sir George da in ih re Gedanken hinein. »Aber du wirkst so abwesend. Hast du vielleicht einen Kummer?« »Ich... nein.« Sie senkte verlegen den Blick. »Es ist nichts.« 55
Er betrachtete sie noch einen Moment abwartend, meinte schließ lich: »Also schön, dann höre bitte meinen Vorschlag. Mala sagte mir erst heute, dass du dich im Haushalt sehr bewährt hast. Und ich den ke, es wäre an der Zeit, dir eine bessere Ausbildung zukommen zu lassen. Ich dachte daran, dich auf die Haushaltungsschule in Kingston zu schicken und...« »Auf eine Schule?«, unterbrach sie ihn erschrocken. »Aber Sir George, das kann ich nicht bezahlen!« »Nein, nein, keine Angst, die Kosten übernehme natürlich ich. Und nach deiner Ausbildung...« Seine Worte rauschten nur so an ihr vorbei. Er wollte sie in die Stadt schicken! War das nicht eindeutig? Vermutlich würde er ihr auch eine hübsche kleine Wohnung einrichten. Und dann erging es ihr ebenso wie Malas Tante, die... »Nein!«, rief Estrella un vermittelt und ohne Bezug zu dem, was Sir George gerade gesagt hat te. Und als er sie fragend musterte, fiel ihm auf, dass sie weinte. Be stürzt wollte er wissen: »Mein Gott, Estrella, was hast du denn? Ich dachte, es freut dich, wenn du eine Ausbildung machen und hier im Dienst weiterkommen kannst. Aber wenn du es nicht willst... Das ist doch kein Grund, zu weinen.« »Ich habe es nicht glauben wollen«, schluchzte sie da verzweifelt. »Ich habe Sie für aufrichtig gehalten, für einen Gentleman. Und nun wollen Sie mir zumuten, so ein Leben zu führen? In der Stadt; fort von meinem Vater... Und Sie besuchen mich alle paar Wochen? Nein, das tue ich nicht! Nie und nimmer!« Sie wollte auf und davon, aber Sir George hielt sie fest und zwang sie auf einen Stuhl. Er schaute ihr in die Augen und fragte: »Was denkst du von mir, Estrella? Glaubst du denn wirklich, dass ich so schlecht bin?« Als er ihr so nah war, sie direkt anblickte, da konnte sie ihre Ge fühle nicht länger verstecken. Sie schlang die Arme um seinen Hals und murmelte tonlos: »Ich habe Sie doch lieb! Ja, es ist wahr. Und wenn Sie es wollen, ziehe ich auch in die Stadt. Ich tue alles, alles... Es ist mir egal, was die Leute sagen. Ja, es ist mir sogar egal, was mein Vater denkt. Wenn Sie mir nur gut sind!« George war von diesem Geständnis so überrascht, dass er ein paar Sekunden brauchte, um zu begreifen, was Estrella ihm damit ü 56
berhaupt sagen wollte. Dann aber nahm er sie in die Arme, küsste sie zart und stellte lächelnd fest: »Aber mein wunderbares, einfältiges Mädchen, dann ist doch alles gut. Ich liebe dich, schon vom ersten Moment an! Jetzt, wo ich weiß, dass du ebenso empfindest, kann für uns beide alles nur noch wunderbar werden.« Sie löste sich langsam von ihm, ein Anflug von Stolz blitzte in ih ren Mandelaugen auf, als sie entgegnete: »Trotzdem möchte ich, dass Sie mich respektieren, Sir George. Ich will nicht ein Leben im Verbor genen führen müssen als Ihre Mätresse. Lieber verzichte ich auf alles und entsage unserer Liebe...« »Das wird gewiss nicht nötig sein, meine süße Estrella, denn ich habe nicht vor, meine Frau wie eine Mätresse zu halten«, ließ er sie da mit schönster Selbstverständlichkeit wissen. »Und ich bitte dich, mich nun beim Vornamen zu nennen. Das tun Verlobte üblicherweise.« »Verlobte?« Sie starrte ihn einen Moment lang ungläubig an. »A ber S... George, das geht doch nicht. Wir können uns nicht verloben, das ist ganz unmöglich.« »Und warum? Wir lieben uns und sind uns einig. Oder willst du vielleicht nicht meine Frau werden?« Er stahl ihr noch einen Kuss, der wohl viel überzeugender wirkte als alle Worte. »Ich wünsche mir nichts mehr als das«, verriet sie ihm leise. »A ber was wird Sir Humphrey sagen? Sie... du kannst doch keine Mulat tin heiraten.« »Warum denn nicht? Ich weiß, mein Vater denkt in diesen Dingen noch konservativ. Doch wen ich heirate, das bestimme ganz allein ich selbst. Da hat mir niemand hinein zu reden.« »Und mein Vater? Er wird es nicht erlauben...« »Ich rede mit ihm. Schau, Liebes, all diese Hindernisse lassen sich aus dem Weg räumen. Wenn wir beide nur fest zueinander stehen und an unsere Liebe glauben, dann wird alles gut werden. Glaubst du mir das?« Sie hatte noch tausend Einwände. Und im Grunde hielt Estrella dies alles nur für einen schönen, sehnsuchtsvollen Traum, der gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben konnte. Doch als George ihr tief in die Augen blickte, da konnte sie nicht anders, als ihm zuzu 57
stimmen. Denn wenn er bei ihr war, dann glaubte sie tatsächlich an eine gemeinsame Zukunft mit dem Mann, den sie von Herzen liebte. Und dann erschien es ihr auch so, als könne sie alles erreichen, wovon sie bis vor kurzem nicht einmal zu träumen gewagt hatte... * Als Estrella eine Weile später das Haupthaus verließ, um zu ihrer Hütte zurückzukehren, schien es ihr beinahe so, als wandle sie auf Wolken. Ein seliges Lächeln lag um ihren schönen Mund und all ihre Gedanken und Gefühle waren bei George. Dass der junge Engländer ihr nicht nur eine Liebeserklärung ge macht hatte, sondern ganz offensichtlich fest entschlossen war, zu ihr zu stehen, dass er sogar daran dachte, sie zu heiraten, erschien ihr einfach schöner als jeder Traum. Selbst wenn er sich nicht gegen sei nen Vater durchsetzen konnte, wenn eine Verheiratung an den Vorur teilen der Gesellschaft scheitern sollte; allein die Tatsache, dass Estrel la eine solche Liebe erleben durfte, machte sie wunschlos glücklich. Dass es in der Tat nicht leicht werden würde, für ihre Gefühle ein zu stehen, bekam das junge Mädchen allerdings schon wenig später deutlich zu spüren. Pico wartete bereits ungeduldig auf die Heimkehr seiner Tochter. Und er musste ihr nur in die Augen sehen, um zu wis sen, was mit ihr los war. »Du hast dich mit ihm eingelassen«, warf er ihr erbost vor. »Wie konntest du nur, Estrella?« Die schöne Mulattin errötete, ihre Augen schienen wütende Fun ken zu schlagen, als sie temperamentvoll erwiderte: »Du scheinst kei ne hohe Meinung von mir zu haben, Vater. Glaubst du wirklich, dass ich mich wie ein Straßenmädchen benehmen würde?« »Etwas ist geschehen, das sehe ich dir deutlich an. Also versuch gar nicht erst, es abzustreiten!«, forderte er. »Sei ehrlich zu deinem Vater. Was ist vorgefallen zwischen dir und Sir George? Ich verlange ein offene Antwort.« »Die wollte ich dir sowieso geben. Hättest du mich nicht so an gegriffen, dann wüsstest du längst, dass alles ganz anders ist. 58
George... liebt mich. Er hat es mir heute gesagt.« Pico wurde blass, weshalb seine Tochter rasch fortfuhr: »Und er hat mir auch einen Hei ratsantrag gemacht.« »Unsinn!«, rief der Vorarbeiter mit bebender Stimme. »Er lügt dir was vor, um dich zu seiner Mätresse machen zu können. Nie und nimmer darfst du ihm glauben, seine Worte...« »Wie kannst du nur so schlecht von ihm reden?«, unterbrach Est rella ihren Vater bestürzt. »Hast du vielleicht vergessen, wer Sir George ist? Er ist nicht nur unser Brotherr, er gibt uns ein Auskom men, einen Lebensunterhalt. Zudem hat er mich vor diesen gemeinen Kerlen gerettet und tut alles, damit es mir gut geht. Einen gütigeren Menschen habe ich nie gekannt. Und ich lasse es nicht zu, dass du so über ihn sprichst!« »Ich glaube, du hast vergessen, mit wem du jetzt sprichst«, erwi derte der Mulatte böse. »Dieser Ton gehört sich nicht deinem Vater gegenüber. Mir scheint, die Arbeit im Haus hat dich verdorben.« Er wollte die Hütte verlassen, Estrella fragte alarmiert: »Wohin willst du, Vater? Es ist schon spät...« »Ich werde mit Sir George reden. Falls er nicht von seinen schändlichen Absichten ablässt, verlassen wir noch in dieser Nacht seinen Besitz.« Er musterte seine Tochter mit kalter Entschlossenheit. »Ich habe mein Leben lang den Hemmings gedient. Nie war ich faul oder habe sie auch nur in einer unwichtigen Kleinigkeit betrogen. Ich habe es nicht verdient, dass sie mich nun so gering schätzen, mir die Tochter wegnehmen und sie behandeln wie ein billiges Ding. Das lasse ich mir nicht gefallen!« »Vater, ich bitte dich!« Estrella hielt ihn am Arm fest, ihr Blick war flehentlich auf ihn gerichtet. »Du hast das alles ganz falsch verstan den. Bitte, geh jetzt nicht fort. Lass mich dir erklären...« »Es gibt nichts zu erklären.« Er schüttelte ihre Hand ab wie eine lästige Fliege. »Ich habe verstanden. Niemals hätte ich zustimmen dürfen, dass du im Haupthaus arbeitest. Aber auch wenn ich einen Fehler begangen habe, werde ich es nicht zulassen, dass du jetzt noch tiefer sinkst. Das kommt nicht in Frage!« Damit verließ er die Hütte und achtete nicht weiter auf das Bitten und Flehen seiner Tochter. 59
Estrella blieb verzweifelt zurück. Was sollte sie tun? Wenn ihr Vater George nun zur Rede stellte, würde sie vielleicht sogar gezwungen sein, sich gegen Pico zu entscheiden. Denn sie wusste, dass sie nie mals von George fortgehen konnte, ohne dass ihr das Herz zerbrach. Unruhig wanderte sie in dem begrenzten Raum der Hütte auf und ab. Schließlich fasste sie einen Entschluss: Es ging hier um ihr Leben, ihre Zukunft. Und sie war nicht gewillt, darüber von anderen entschei den zu lassen. Schließlich hatte sie dabei auch noch ein Wörtchen mit zureden. Mit einer knappen Bewegung schnappte sie ihr Schultertuch. Draußen war es mittlerweile kühl geworden, der Weg zum Haupthaus dauerte eine Weile. Trotzdem wollte Estrella es sich nicht nehmen las sen, ihrem Vater zu folgen. Vielleicht schaffte sie es sogar, ihn noch zur Vernunft zu bringen, bevor er den jungen Plantagenbesitzer be schuldigte, Dinge getan zu haben, die nicht im entferntesten der Wahrheit entsprachen... Estrella eilte den schmalen Weg entlang, der von den Hütten der Arbeiter zum Herrenhaus führte. Es war stockdunkel, doch sie kannte die Richtung und es bestand wenig Gefahr, dass sie sich verlief und ihr Ziel nicht erreichte. In der Eile bemerkte sie erst nach einer ganzen Weile, dass sie verfolgt wurde. Die Schritte, die sich ihr unaufhaltsam näherten, waren schleichend, doch ebenso sicher wie die einer Katze in der Dunkelheit. Das junge Mädchen drehte den Kopf, konnte aller dings in der Finsternis nichts ausmachen. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf und verdichtete sich rasch zu Angst. Sie hörte bald nicht nur die Schritte, sondern spürte beinahe den Atem des Verfolgers im Nacken. Ein beängstigendes Gefühl war das. Estrella dachte daran, einfach stehen zu bleiben und den Un heimlichen so zu verwirren. Doch noch ehe sie dazu in der Lage war, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen, fühlte sie sich von hinten gepackt. Zwei kräftige Hände legten sich wie die Pranken eines Tieres auf ihre schmalen Schultern. Estrella schrie auf und versuchte, sich dem Griff zu entwinden. Doch sie erreichte nichts. Der Unheimliche riss sie nach hinten, seine großen Hände wanderten von der Schultern zum Hals. Das schöne Mädchen schrie noch einmal, diesmal in höchs 60
ter Todesangst, denn es glaubte zu wissen, was der unbekannte An greifer wollte. Sein Ziel war es, sie zu töten! Estrella wehrte sich mit Armen und Beinen, sie strampelte, schlug mit dem Kopf hin und her und schaffte es doch nicht, dem Griff zu entgehen, der sich unbarmherzig wie ein Schraubstock um ihren schmalen Hals gelegt hatte. Immer fester drückte der Unheimliche zu. Das schöne Mädchen spürte, wie ihm die Sinne schwanden. Doch Est rella wollte nicht aufgeben. Sie durfte es nicht! Hörte sie auf, sich zu wehren, dann war ihr Schicksal besiegelt... Noch einmal mobilisierte sie alle Kräfte, bäumte sich in namenloser Panik auf und öffnete den Mund so weit sie konnte. Doch weder ein Schrei war zu hören, noch gelang es ihr, wieder Luft in die Lungen zu saugen. Die Finsternis um sie herum verschwamm allmählich in einem matten Grau. Blutrote Kreise begannen, sich vor ihren Augen zu drehen. Die Vorboten der Bewusstlosigkeit ließen sich nicht aufhalten. Es war vorbei, sie war besiegt. Estrellas letztes Gedanke galt George und eine große Traurig keit erfüllte ihr Herz. Ihre Liebe, gerade erst erblüht, würde nun nie mals Erfüllung finden können... Erst als das schöne Mädchen schlaff in seinem Griff hing, löste der Unheimliche die Hände von ihrem Hals und ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten. Estrella war nicht tot, wie sie selbst geglaubt hatte, sondern befand sich nur in einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit, aus dem sie nicht so schnell wieder erwachen konnte. Für den Angreifer ideal. So wollte er sie haben. Denn nur so konnte er sie zu einem Ort bringen, den sie nur ein einziges Mal sehen durfte: Kurz vor ihrem Opfertod auf dem Altar der Ahnengeister... * Sir George befand sich zusammen mit seinem Vater und seiner Schwester im Esszimmer des Herrenhauses. Das Diner war bereits aufgetragen, doch keiner hatte die köstlichen Speisen angerührt. Eine überaus gereizte Atmosphäre nahm den Anwesenden den Appetit. Sir Humphrey musterte seinen Sohn nun streng und ließ verlauten: »Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass du einmal so sehr aus der Rolle 61
fallen könntest, Junge. Eine Mulattin heiraten! Das ist doch wohl nur ein schlechter Scherz.« Lady Violet lachte bitter auf. »Ganz sicher ist es das, Dad. Oder hast du vielleicht vergessen, wie feindlich Georgie diesen Leuten ge genüber gesinnt ist? Er hat mein Glück mit Jabo zerstört. Und nun will er selbst ein solches Mädchen zur Frau nehmen. Wenn das keine Dop pelmoral ist, dann weiß ich nicht, was dieses Wort bedeutet.« »Obwohl du vielleicht nicht ganz unrecht hast«, gestand Sir Humphrey seiner Tochter daraufhin zu, »verbiete ich dir doch, in ei nem solchen Ton daherzureden. Zumal man das wohl kaum mit einander vergleichen kann.« »Aber warum denn nicht?«, begehrte Violet trotzig auf. »Es ist ge nau das gleiche und...« »Ich bitte dich, Violet!« George warf seiner Schwester einen ver ärgerten Blick zu. »Dieser Jabo ist ein zwielichtiger Typ, dessen Ab sichten mehr als zweifelhaft sind. Du kannst deine Liebelei nicht mit dem vergleichen, was Estrella und mich verbindet. Wir lieben einander, unabhängig von Standesschranken oder abgedroschenen Vorurteilen.« »Wenn das Mädchen dir wirklich etwas bedeutet, richte ihm eine Wohnung in Kingston ein und arrangiere dich mit der Kleinen. Du wärst nicht der erste verheiratete Mann mit einer Mätresse. Denn hei raten wirst du ein Mädchen aus unserem Stand. Alles andere ist voll kommen undenkbar. Du wirst eines Tages diesen Besitz übernehmen, das bedeutet Verantwortung und gesellschaftliche Stellung. Wie willst du zu Bällen und Empfängen gegen mit... einem Dienstmädchen an deiner Seite? Schlag dir das aus dem Kopf!« »Vater, bei allem Respekt, aber das geht zu weit«, stellte Sir George daraufhin erzürnt fest. »Wen ich heirate, das lass doch bitte meine Sorge sein. Ich bin durchaus in der Lage, diese wichtige Ent scheidung selbst zu treffen. Und was Estrella betrifft, sie besitzt die natürliche Anmut und Grazie einer Königin. Es wird ihr gewiss nicht schwer fallen, den Platz an meiner Seite voll und ganz auszufüllen. Ich habe euch nur informieren wollen, doch nicht, um mir Verbote und Anfeindungen anzuhören.« 62
»Du spuckst große Töne«, konstatierte der Alte unwillig. »Ich fra ge mich nur, wie es in der Praxis aussieht. Bist du willens und bereit, all das hier aufzugeben, auf dein Erbe zu verzichten, bloß um mit die sem Mädchen deinen Spaß zu haben? Denn, sind wir doch ehrlich, zu nichts anderem taugen die Einheimischen. Sie sind dumm und primitiv und können froh sein, wenn wir ihnen Arbeit und das tägliche Brot verschaffen!« Sir George wandte sich ab und wollte wortlos das Speisezimmer verlassen, als einer der Diener erschien und ihn wissen ließ, dass der Vorarbeiter ihn zu sprechen wünsche. Der junge Gentleman zeigte sich überrascht. »Zu dieser späten Stunde? Ist etwas geschehen?« Der Bedienstete wusste es nicht, Sir George wies ihn an, Pico in sein Arbeitszimmer zu führen und ihm zu sagen, dass er bald komme. Damit war sein Vater allerdings alles andere als einverstanden. »Was bildet der sich denn neuerdings ein? Kommt zur Dinerzeit her und stört uns mit irgendwelchen Nichtigkeiten! Das hast du davon, dass du dich zu eng mit dem Personal verbunden hast, George«, stän kerte er erbost, während Lady Violet hinter vorgehaltener Hand kokett lachte. »Bitte, entschuldigt mich«, erwiderte der junge Plantagenbesitzer höflich und verließ rasch den Raum. Er war es leid, in das scha denfrohe Gesicht seiner Schwester zu blicken, oder die anzüglichen Kommentare seines Vaters zu hören. Zudem ahnte er, dass auch Picos Auftauchen kein Freundschaftsbesuch war. Vermutlich hatte Estrella ihm alles erzählt und nun sah er sich in seinen finstersten Ahnungen bestätigt. Sir George nahm sich vor, den Mulatten mit Aufrichtigkeit und Geduld vom Gegenteil zu überzeugen. Dass dies nicht einfach sein würde, war ihm von vorneherein klar. Doch er hatte nicht damit ge rechnet, dass Pico ihm gleich mit Kündigung drohen würde. Denn ge nau das tat er. »Ich haben mein Tochter nur hier zur Arbeiten gelassen, weil Ih nen vertrauen«, erklärte er vorwurfsvoll. »Aber Sie Vertrauen miss braucht! Sehr schlimm!« 63
»Das ist nicht wahr, Pico«, widersprach der junge Engländer sei nem Angestellten mit Nachdruck. »Zwischen Estrella und mir ist nichts Unredliches vorgefallen. Wir haben uns ehrlich lieb. Und ich denke nicht daran, diese Liebe durch dumme Vorurteile zerstören zu lassen. Weder von der einen noch von der anderen Seite. Ich respektiere dei ne Liebe zu deiner Tochter. Und ich bin dir nicht böse, dass du miss trauisch reagierst. Aber wenn ich dir in die Hand verspreche, dass meine Absichten redlich sind, dann sollte dir das wirklich genügen, finde ich.« Er hielt dem schmächtigen Mulatten die Hand hin, doch dieser machte keine Anstalten, einzuschlagen. Statt dessen wandte er sich ab, ging zur Tür, kam zurück und stellte dann fest: »Das alles nur Worte. Ich kann nicht glauben, nicht vertrauen. Sache zu wichtig. Deshalb mein Entschluss: Wenn Sie nicht lassen in Ruh meine Tochter, wir gehen fort von hier.« »Wird Estrella dich denn begleiten?«, fragte Sir George zweifelnd. »Hast du sie danach gefragt?« »Sie mein Tochter. Tun, was ich sage!« »Aber sie ist auch erwachsen. Sie muss sich deinen Anweisungen nicht mehr beugen. Und ich bin sicher, sie wird es auch nicht.« Er schlug einen etwas versöhnlicheren Ton an. »Nun lass uns doch ver nünftig miteinander reden, Pico. Für dich ändert sich nichts, wenn du es nicht willst. Deine Stellung hier bleibt unangetastet. Ich wäre stolz, dich zum Schwiegervater zu bekommen. Willst du nicht deine Vorbe halte vergessen und für das Glück deiner Tochter nur einmal über dei nen Schatten springen? Ich bin sicher, sie wird dir dafür sehr dankbar sein. Und du wirst erkennen, dass du richtig gehandelt hast. Be stimmt.« Pico machte eine wenig begeisterte Miene. Er sah sich in Zug zwang und das mochte er nicht. Doch es war auch klar, dass er hier und jetzt Stellung beziehen musste. Und er durfte dabei nicht in erster Linie an sich selbst denken. Estrellas Glück hatte für ihn stets Vorrang gehabt. Der Mulatte wollte eben etwas anmerken, als ein Diener erschien und Sir George flüsternd etwas mitteilte. Dieser verlor augenblicklich 64
an Farbe, sein Blick flackerte, als er wissen wollte: »Wo und wann ist das passiert? Hat man sie gefunden?« »Noch nicht. Der Mann hat sie mitgenommen. Einer der Tabak schneider hat Schreie gehört. Doch er kam zu spät...« Der junge Engländer überlegte kurz, dann entschied er: »Wir müssen sofort nach ihr suchen. Alle verfügbaren Männer sollen mit Fackeln die nähere Umgebung absuchen. Rasch! Vielleicht können wir den Täter noch stellen und das Schlimmste verhindern!« Der Diener zog sich mit einer Verbeugung zurück, Sir George wandte sich an Pico, der ein unbehagliches Gesicht machte. Eine schlechte Vorahnung hielt sein Herz in schmerzhaft fester Um klammerung und sollte sich sogleich als richtig erweisen. »Es tut mir leid, aber es sieht so aus, als sei Estrella etwas zuge stoßen«, erklärte er zögernd. Der Alte starrte ihn ungläubig an, wollte etwas erwidern, als Sir George bereits fortfuhr: »Sie ist überfallen und verschleppt worden. Ich vermute, es handelt sich um die gleichen Täter wie beim letzten Mal. Weißt du etwas darüber, Pico?« In den dunklen Augen des Mulatten schien ein ungutes Feuer zu brennen, tonlos murmelte er: »Pico nichts wissen.« »Das glaube ich dir nicht. Los, sprich, was weißt du? Es geht um deine Tochter, Wenn wir nichts unternehmen, wird sie vielleicht getö tet. Willst du das?« »Natürlich nicht! Ich... trotzdem nix wissen, wer diese Männer. Ich sie nicht kennen.« »Also gut.« Sir George trat hinter seinen wuchtigen Schreibtisch aus poliertem Mahagoniholz und nahm einen Revolver aus einer der Schubladen. »Ich werde Estrella finden, mit oder ohne deine Hilfe. Vielleicht überzeugt dich das dann endlich, dass ich deine Tochter liebe und nicht nur mit ihren Gefühlen spiele.« »Sie nicht können allein... Viel zu gefährlich!«, ließ der Vorarbeiter sich hinreißen, zu warnen. Als Sir George sofort nachhakte, konnte er deine Behauptung, nichts über die Entführer zu wissen, natürlich nicht mehr aufrecht erhalten. 65
Zögernd gab er zu: »Nur ein Mann kommen in Frage für so böse Tat... Jabo!« Der junge Plantagenbesitzer meinte, sich verhört zu haben. »Du denkst doch nicht etwa an diesen großen Mulatten, der mit Vorliebe Goldschmuck trägt?« »Er immer breiten Armreif an.« Pico deutete auf seinen rechten Oberarm. Sir George lief es eiskalt über den Rücken; es stimmte, jedes Mal, wenn er Jabo gesehen hatte, war ihm dieser Oberarmreif aufge fallen. Er schien kunstvoll aus echtem Gold gearbeitet. Doch wozu soll te Jabo Estrella entführen? Das ergab für George Hemmings keinen Sinn. Als er Pico danach fragte, hob dieser nur die Schultern. Doch man sah ihm deutlich an, dass er mehr wusste, als er sagen wollte. »Ich werde den Suchtrupp anführen«, entschied er ernst. »Weißt du, wo dieser Jabo zu finden ist?« Er steckte die Pistole in die Jacke seines seidenen Wams und strebte zur Tür. Pico folgte ihm zögernd. Und als sein Brotherr ihn verwundert fragte, ob er denn gar nicht be sorgt um Estrella sei, gab er ihm eine mehr als vieldeutige Antwort: »Natürlich sein besorgt. Um Estrella. Und, wenn Sie gehen zu Jabo, auch um Sie, Sir!« * Estrella war sicher gewesen, dass ihr Leben geendet hatte. Genau in dem Augenblick, als sie das Bewusstsein verlor, war es ihr so er schienen, als müsse sie nun mit dem irdischen Dasein abschließen. Sie spürte noch eine ganze Weile die Traurigkeit, ja, sie meinte sogar, bittere Tränen zu vergießen über das viel zu frühe Ende ihrer Liebe zu George Hemmings. Ein Leben lang hatte sie bei ihm sein wollen. Und nun blieb ihr nichts, als die Erinnerung an einen Kuss und ein Verspre chen. Doch beides wollte sie mitnehmen in die Ewigkeit... Irgendwann aber merkte das junge Mädchen, dass etwas nicht stimmte. Wenn sie tot war, warum hatte sie dann noch Schmerzen? Hieß es nicht, dass der Tod von allen Leiden befreite? Doch Estrella litt sehr wohl: In ihrem Hals schien ein höllisches Feuer zu brennen, jedes 66
Mal, wenn sie schluckte. Schluckte? Bedeutete das denn nicht, dass sie doch noch lebte? Die vage Hoffnung, dass doch noch nicht alles vorbei war, dass es vielleicht noch eine Chance für sie gab, weiter zu leben, beflügelte Estrella. Und zugleich mobilisierte diese Hoffnung auch ihr Innerstes. Es begann, sich gegen die Bewusstlosigkeit zu wehren, aufzubegeh ren. Unruhe durchlief ihren schlanken Körper. Sie fing an, sich zu be wegen. Und es dauerte gar nicht lange, bis es ihr gelang, die Augen aufzuschlagen. Zumindest glaubte sie das. Doch sehen konnte sie trotzdem nichts. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten ins schwarze Nichts. Bin ich vielleicht doch tot? Diese Möglichkeit schien auf einen Schlag alle Hoffnung verlöschen zu lassen. Estrella schloss die Augen wieder und seufzte leise. Es war sinnlos, sich Gedanken über ihren Zustand zu machen. Sie schien gefangen in Dunkelheit und Stille, dazu verdammt, auf ewig nur ihre eigenen Gedanken zu hören. Verzweif lung in nie gekanntem Ausmaß durchflutete sie und machte es ihr un möglich, auch nur noch eine logische Überlegung anzustellen... Lange Zeit verging, in der gar nichts geschah. Doch irgendwann durchbrach etwas diesen seltsamen, unnatürlichen Zustand. Etwas oder jemand. Es kam. Näherte sich ihr. Schleichende Schritte, ein klei ner Ast knackte, Laub raschelte. Estrella schüttelte den Kopf. Nein sie wollte die Augen nicht öffnen, bloß um festzustellen, dass es doch nur eine Illusion war, dass sie weiterhin gefangen blieb in ihrem eigenen Körper, der nicht tot zu sein schien aber auch nicht mehr wirklich leb te. Urplötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke und ein Wort durch zuckte ihr Hirn, das schlimmer war, als alles andere: Zombie. Sie dach te an die alten Geschichten, die sie schon so oft gehört hatte. Sie er zählten von Menschen, die geraubt wurden, entführt von mächtigen Priestern des Voodoo. Diese nahmen ihnen nicht nur das Leben, son dern auch die Seele. Sie wurden zu seelenlosen Wesen, Marionetten, die nur dazu dienten, dem Priester unangenehme Arbeiten abzuneh men. So vegetierten sie dahin, ohne Sinn und Verstand, bis es dem Priester der Ahnengeister irgendwann wieder einfiel, ihn ins Grab zu 67
schicken. Wenn ihr nun so etwas zugestoßen war? Nein! So schrie es tief in ihrem Innern. Das konnte, das durfte nicht wahr sein. Und doch... Dieser seltsame Zustand, in dem sie sich befand, sprach durchaus dafür, dass jemand sie entführt hatte, um so einen seelenlo sen Wiedergänger aus ihr zu machen. Estrella erschauerte bis ins In nerste bei dieser Vorstellung. Noch ehe sie sich aber Gedanken dar über machen konnte, wie sie aus dieser grauenhaften Lage entfliehen würde, hörte sie eine Stimme. Sie schien von weither zu kommen, war noch undeutlich. Aber die junge Frau erkannte, dass es sich um einen Mann handelte, der da zu ihr sprach. Sie konnte die Worte nicht ver stehen, noch nicht. Ganz allmählich jedoch wurde die Stimme lauter, die Worte klarer. Und dann begriff das Mädchen, dass es nicht tot war. Jemand sprach ihren Namen aus und forderte sie auf, wach zu wer den. Und das wollte sie! Nichts wünschte Estrella sich mehr, als end lich aus diesem schrecklichen Zustand befreit zu werden. Sie versuchte nun mit aller Macht, zu sich zu kommen. Noch einmal öffnete sie die Augen. Und nun sah sie auch etwas. Doch was war es? Estrella konnte sich auf das, was sie erkannte, keinen Reim machen. Sie glaubte, sich mitten im Dschungel zu befinden, denn die Nacht war plötzlich voller Geräusche. Hatte sie eben noch an eine absolute Stille und Dunkelheit geglaubt, so wurde sie nun eines Besseren be lehrt. Das ohrenbetäubende Konzert der Insekten erfüllte die tropische Nacht. Die Luft, die Estrella umgab, war feucht und kühl. Sie spürte etwas Glattes, Kaltes in ihrem Rücken. Die Unterlage, auf der ihr Kör per ruhte, schien keines natürlichen Ursprungs zu sein. Dafür war sie zu glatt, fühlte sich zu eisig an. Ein Schauer durchlief die junge Frau. Sie schluckte und spürte wieder die Schmerzen in ihrem Hals. Als sie den Mund öffnete, um etwas zu fragen, kam nur ein leises Krächzen heraus. Im nächsten Moment flammte ein Licht auf und blendete sie. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Estrella begriff, dass es eine Fackel war. Und dann, im nächsten grausamen Augenblick begriff sie, begriff alles - und hatte den Eindruck, auf der Stelle den Verstand verlieren zu müssen. Jabo beugte sich über sie. Der große Mulatte trug ein wallendes, weißes Gewand, das am Hals hoch geschlossen war. Um seinen Hals hing eine Kette mit einem goldenen Amulett. Darauf erkannte 68
Estrella im zuckenden Schein der Fackel geheimnisvolle Zeichen. Der Voodoo-Priester lächelte kalt, als sich ihre Blicke kreuzten. Wieder wollte die junge Frau etwas sagen, eine Frage stellen. Obwohl sie im tiefsten Herzen längst wusste, was ihr blühte, mochte sie sich doch nicht freiwillig diesem grausamen Schicksal beugen. Doch sie war nicht einmal in der Lage, einen Ton hervorzubringen. Jabo betrachtete sie abschätzig, dann stellte er fest: »Du hättest dich nicht so wehren sollen. Dann müsstest du nun keine Schmerzen leiden. Aber, keine Angst, schon sehr bald ist alles vorbei...« Er lachte leise und dieses Geräusch ging Estrella durch Mark und Bein. »Was willst du von mir?«, keuchte sie tonlos und versuchte zugleich, aus ihrer liegenden Position aufzustehen, um zu entfliehen. Aber es ging nicht. Und es dauerte nicht lange, bis sie begriff, warum: Man hatte Estrella gefesselt. Sie konnte sich kaum bewegen, so fest saßen die Stricke. Hoffnungslosigkeit durchflutete sie und verstärkte sich noch, als Jabo erklärte: »Das ist doch nicht schwer zu begreifen. Selbst für ein einfaches Mädchen wie dich sollte klar sein, was hier geschieht, beziehungsweise sehr bald geschehen wird...« Estrella bäumte sich auf, zerrte an ihren Fesseln, erreichte aber nichts. Jabo winkte gelangweilt ab. »Schone lieber deine Kräfte, so wirst du nichts erreichen. Und du wirst all deine innere Stärke brau chen... um in Würde zu sterben!« * Pico hatte sich geweigert, Sir George zu dem Platz zu führen, der für Rituale des Voodoo benutzt wurde. Der Mulatte hatte viel zu große Angst, sich diesem verrufenen Ort zu nähern. Alles gute Zureden hatte nichts genützt, ja nicht einmal auf Drohungen war der Vorarbeiter ein gegangen. Statt dessen hatte er den Suchtrupp zu der schäbigen Hüt te gebracht, in der Jabo hauste. Ohne anzuklopfen stürmte der junge Engländer hinein, fand aber nur einen alten Mann am Feuer, der ihn verschreckt musterte und be hauptete, nicht zu wissen, wo sein Neffe sich aufhalte. 69
»Rede keinen Unsinn, du weißt es genau!«, sagte Pico ihm in ihrer Sprache auf den Kopf zu. »Wenn du nicht schnell den Mund auf machst, wird mein Herr böse. Und das könnte für dich mehr als un angenehm ausgehen. Also los, sag uns, wo Jabo ist!« »Ich weiß es wirklich nicht«, beharrte der Alte stur. »Ihr könnt mich totschlagen, aber ich werde euch keine andere Antwort geben können!« »Das werden wir noch sehen.« Pico winkte zwei kräftige, junge Arbeiter heran, die dem Suchtrupp angehörten, aber Sir George hielt nichts von solchen Methoden. »Sag ihm, was geschieht, wenn wir seinen Neffen nicht schnell finden. Vielleicht kommt er dann doch noch zur Vernunft.« Pico hielt das offensichtlich nicht für ausreichend, tat aber, was sein Brotherr ihm befohlen hatte. Der Alte hob abwehrend die Hände und versicherte: »Jabo ist auf dem falschen Weg, ich habe ihn ge warnt, aber jetzt ist es zu spät. Wenn das Mädchen schon bei ihm ist, dann beginnt das Ritual sehr bald. Dann kann keiner mehr etwas dar an ändern...« Sir George bedachte seinen Vorarbeiter mit einem sprechenden Blick, dieser verstand. So wie es jetzt aussah, mussten sie unter allen Umständen zum Ritualplatz. Er durfte sich nicht länger weigern, seinen Brotherren dorthin zu führen. Zumal es ja auch um das Leben seiner einzigen Tochter ging. Fast unmerklich nickte Pico und wandte sich zum Gehen. Da rief der Alte noch hinter ihnen her: »Versucht besser nicht, Jabo aufzuhalten. Es wird euch doch nicht gelingen. Und die Rache der Ahnengeister kann fürchterlich sein!« Keiner achtete auf diese Worte, auch wenn sie den Meisten zu Herzen gingen. Pico wunderte sich nicht, als ein Teil des Suchtrupps Anstalten machte, sich abzusetzen. Als er Sir George darauf auf merksam machte, erklärte diesen »Wer nicht freiwillig mitkommen möchte, dem steht es frei, heimzugehen. Dies hier hat nichts mit der regulären Arbeit der Männer zu tun. Ich nehme es keinem übel, wenn er jetzt geht.« »Aber wir vielleicht jeden brauchen«, gab Pico zu bedenken. »Falls Jabo eine große Messe feiern, dort viele Menschen, die gegen 70
uns. Wenn wir Zusammenkunft stören, sie nicht werden lange still halten.« »Wir brauchen auch nicht lange«, erklärte der junge Engländer entschlossen. »Wir befreien Estrella und verschwinden wieder. Die Überraschung wird auf unserer Seite sein und es verhindern, dass Ja bo so schnell wie sonst reagieren kann.« »Hoffentlich Sie richtig«, murmelte der schmächtige Mulatte un behaglich. »Sonst für uns alle keine Zukunft mehr.« »Ja, ich weiß. Deshalb zwinge ich auch niemanden, mir in dieser Sache zu helfen. Sag ihnen, wer heimgehen will, der kann das selbst verständlich. Niemand hat Nachteile zu erwarten.« »Wie Sie meinen...« Pico klärte die Angehörigen des Suchtrupps auf, woraufhin gut ein Drittel sich trollte. Die Verbliebenen würden allerdings ausreichen, um zumindest Verwirrung zu stiften und so die Gunst der Stunde zu nutzen... Pico übernahm nun wieder die Führung. Der Weg von Jabos Hütte zu dem Ritualplatz mitten im Dschungel dauerte eine Weile. Sir George ging das alles viel zu langsam. Ihm brannte die Zeit unter den Nägeln. Wenn sie nur nicht zu spät kamen, wenn er Estrella noch rechtzeitig befreien konnte! Alles andere erschien ihm einfach undenkbar. Endlich bemerkte der junge Engländer den nahen Lichtschein, der vor ihnen den Nachthimmel leicht erhellte. Zugleich verhielt Pico sei nen Schritt. Er deutete nach vorne und murmelte mit angstschwerer Stimme: »Dort es sein. Aber Sie überlegen noch einmal gut... Vielleicht Tod für uns alle!« »Ich muss Estrella retten«, murmelte Sir George mit finsterer Ent schlossenheit. Er bemerkte, dass die anderen Männer zögerten, ihm zu folgen. Da schritt er einfach allein auf sein Ziel zu. Es war ihm egal, was er tun musste, gegen wen er kämpfen musste, um das geliebte Mädchen aus den Händen seines schändlichen Entführers zu befreien. Er hätte alles auf sich genommen, um Estrella in Sicherheit zu bringen! Sir George hatte sich dem Ritualplatz genähert. Nur noch ein paar Meter trennten ihn von dem Schauspiel, das noch nicht begonnen hat te. Doch die Vorbereitungen waren fast abgeschlossen. Er sah Jabo, groß und imponierend, wie er in einem hellen, bodenlangen Gewand 71
umher schritt und aus einer kleinen, bronzenen Schale mit zwei Fin gern etwas versprühte, das dunkle Spuren auf dem Boden hinterließ. Der Ritualplatz war eine natürliche Lichtung inmitten des Urwalds. Man hatte den Boden frei von jeglichem Bewuchs gehalten und gestampft. In der Mitte fand sich eine Art Opferstein, der noch im Dunkel der Nacht lag. Doch nicht mehr lange. Denn während Jabo nun Be schwörungsformeln in einer alten, fremden Sprache benutzte, ent zündete er zwei große Fackeln zu beiden Seiten des Steins. In ihrem zuckenden Licht erkannte Sir George, dass der Opferstein nicht leer war. Im Gegenteil. Dem jungen Plantagenbesitzer stockte das Blut in den Adern, als er Estrella erkannte, die dort lag, an Händen und Füßen gefesselt, ausgeliefert, hilflos. Hatte es noch eines Impulses bedurft, Sir George handeln zu las sen, so war es dieser Anblick. Doch er stürmte nicht blindlings auf den Platz, denn er wusste, dass er so gar nichts erreichen konnte. Nun war er froh, seinen Revolver mitgenommen zu haben. Er überlegte kurz, ließ seinen Blick noch einmal schweifen und bemerkte, dass Pico ne ben ihn trat. Der Vorarbeiter starrte auf die sich ihm bietende Szene. George Hemmings erkannte Angst in den Augen des anderen, Respekt vor der finsteren Magie, die hier einen Hort gefunden hatte. Und auch Respekt vor dem Mann, der als Mittler zwischen dieser und der jensei tigen Welt fungierte. Das beherrschende Gefühl war für Pico aber die Sorge um seine Tochter. Sie musste er retten, selbst wenn es sein eigenes Leben kostete! Jabo war nun vor den Altarstein getreten und hatte seine Stimme erhoben. Fremde, gutturale Laute drangen über seine Lippen, die Au gen hielt er dabei geschlossen, als befinde er sich in Trance. Pico flüs terte seinem Brotherren zu: »Schnell, bevor das Ritual Wirkung zeigt!« Sir George nickte. Er spannte den Hahn an seinem Revolver und machte ein paar Schritte nach vorne. Von diesem Standort aus konnte er nun die gesamte Lichtung überblicken. Er sah, dass nur wenige Zu schauer anwesend waren. Vermutlich alles Jabos Leute, die nur da waren, um ihm Kraft und Rückhalt zu geben. Sie nahmen zunächst keine Notiz von dem Eindringling, denn sie waren vollkommen auf das konzentriert, was direkt vor ihrer Nase passierte. Der junge Engländer 72
machte sich diesen Umstand zunutze. Er stürmte auf Jabo zu, versetz te ihm einen Stoß, so dass dieser zur Seite taumelte und den Weg zum Opferstein freigab. Der große Mulatte verstummte, unvermittelt senkte Sich Stille über den Platz. Sir George hatte den Stein erreicht und be merkte, dass Estrella wie leblos darauf lag. Ihre Augen waren weit geöffnet und schienen doch nichts zu sehen. Sie hatte durch die schrecklichen Erlebnisse der vergangenen Stunden einen Schock erlit ten und wohl schon mit ihrem Leben abgeschlossen. »Keine Angst, jetzt wird alles gut«, versicherte ihr Retter, schnitt ihre Fesseln rasch durch und stellte sie auf die Beine. Estrella schwankte leicht und wäre gefallen, hätte George sie nicht um die schmale Taille gepackt. In diesem Moment hatten die Anwesenden sich von ihrer Überraschung erholt. Jabo an der Spitze wollten sie auf den Eindringling zu stürmen, doch dieser hielt sie mit seiner Waffe auf Distanz. Zumal aus dem Dschungel eine Folge von Gewehrschüssen erklang, die deutlich machte, dass der junge Engländer nicht allein gekommen war. Jabo hielt seine Helfer zurück. In seiner Miene spiegelten sich deutlich Verachtung und Hass. Er starrte Sir George feindselig an und verlangte zu erfahren: »Was soll das? Wieso retten Sie das Mädchen schon wieder? Es ist für einen bestimmten Zweck vorgesehen. Und daran kann niemand - auch Sie nicht - etwas ändern! Also geben Sie Estrella frei und verschwinden Sie, solange Sie es noch können!« »Ich werde nichts dergleichen tun«, erwiderte der Kolonialherr mit ruhiger Stimme. »Sie haben sich hier gleich mehrerer Verbrechen schuldig gemacht. Glauben Sie ja nicht, dass ich dabei tatenlos zuse hen werde. Sie wandern dorthin, wo Verbrecher hingehören. Dafür werde ich sorgen!« Jabo lachte. Doch es war kein gutes Lachen. Er wusste, dass er im Moment unterlegen war. Doch er fühlte sich trotzdem sicher und war überzeugt, am Ende zu siegen. Er würde die Hemmings vernichten. Diese Absicht drückte sich deutlich in den nun folgenden Worten aus: »Sie hätten nicht herkommen sollen, Hemmings. Vielleicht wissen Sie noch nicht, was es bedeutet, sich einen Priester des Voodoo zum Feind zu machen. Nun werden Sie es allerdings sehr bald erfahren!« 73
Ein Raunen ging durch die Gruppe der Anwesenden, doch Sir George zeigte sich unbeeindruckt. »Sie können mir ruhig drohen, Jabo. Ich jedoch verspreche Ihnen etwas: Ich werde dafür sorgen, dass Ih nen das Handwerk gelegt wird. Ein für alle Mal!« Damit nahm er Est rella auf beide Arme und verließ, von Pico gefolgt, der ihm mit seiner Flinte Schutz bot, den Ritualplatz. Jabo starrte dem verhassten Eng länder fanatisch hinterher. Dabei schien in seinen dunklen Augen ein höllisches Feuer zu brennen und er murmelte tonlos: »Das wirst du bereuen, sehr bald schon!« * Als der kleine Trupp den Besitz der Hemmings erreichte, bat Pico: »Sie mir lassen mein Tochter, Sir. Ich mich kümmern.« »Ich bringe Estrella ins Haupthaus«, beschloss George allerdings in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Vielleicht ist sie ver letzt, braucht einen Arzt.« Er warf seinem Vorarbeiter einen be gütigenden Blick zu. »Du kannst später nach ihr sehen, wenn du willst. Glaub mir, es ist besser so.« Pico zögerte nur kurz, dann zeigte er sich einverstanden. Im merhin hatte sein Brotherr mit seiner mutigen Aktion bewiesen, wie viel Estrella ihm bedeutete. Es schien tatsächlich keinen Grund mehr zu geben, Sir George zu misstrauen. Pico wusste seine Tochter bei ihm in guten Händen. Allerdings trennte er sich nicht von dem jungen Eng länder, ohne diesem vorher noch eine Warnung zukommen zu lassen. »Was Jabo gesagt, kein leer Wort. Er wird kommen und sich wol len rächen. Das bitte nicht vergessen!« »Ich weiß, er ist ein ernstzunehmender Gegner«, versicherte Sir George. »Und ich werde gut auf deine Tochter aufpassen.« »Und auf Sie!« Pico deutete auf sein Gegenüber, dann drehte er sich zum Gehen. Als Sir George gleich darauf die Halle betrat, schaute Estrella sich wie erwachend um. Sie richtete sich ein wenig in den Armen ihres Ret ters auf, zugleich erkannte er die schrecklichen Würgemale an ihrem schlanken Hals. Wut überkam ihn. Am liebsten hätte er sich sofort an 74
Jabo gerächt. Doch er wusste, dass Estrella ihn nun nötiger brauchte. Sie schien etwas sagen zu wollen, brachte aber keinen Ton heraus. »Es ist alles vorbei«, erklärte er beruhigend. »Du musst dich nicht mehr fürchten. Ich sorge dafür, dass dir kein Leid mehr zustößt.« Ein Diener erschien, Sir George fragte nach seinem Vater und sei ner Schwester und erfuhr, dass beide sich in einem der Salons auf hielten. Er brachte Estrella in ein anderes Zimmer und wies den Diener an, den Arzt zu verständigen. Als er den Raum verlassen wollte, hielt Estrella ihn am Arm fest und schüttelte vehement den Kopf. Er verstand; sie wollte nicht, dass er sie allein ließ. Behutsam strich er über ihr Haar und küsste sie zärt lich. Dann versicherte er: »Ich bin gleich wieder bei dir. Ich muss nur mit meinem Vater sprechen.« »Bitte nicht«, krächzte Estrella. Wie es schien, wollte sie nicht, dass Sir Humphrey von ihrer Anwesenheit erfuhr. George schüttelte nachsichtig den Kopf. »Du musst dich nicht fürchten, mein Vater will dir nichts Böses. Warte nur einen Moment, ich bin gleich wieder bei dir.« Sie wollte ihn nicht gehen lassen, doch sie wusste auch, dass es keinen Sinn hatte; er musste mit seinem Vater sprechen, dieser hatte ein Recht, zu erfahren, was geschehen war. Die junge Frau ließ sich kraftlos nach hinten sinken. Was sie durchgemacht hatte, war kaum zu beschreiben. Nie und nimmer hätte sie damit gerechnet, aus dieser schrecklichen Lage lebend zu entkommen. Und doch war es gesche hen. Das verdankte sie nur George. Sie schloss die Augen und ein warmes Gefühl durchströmte ihr Innerstes. Schon zum zweiten Mal hatte George sie gerettet, dieses Mal sogar aus höchster Lebensge fahr. Er meinte es wirklich ernst mit ihr, seine Gefühle waren echt und aufrichtig! Estrella hatte das große Glück gefunden, das es nur einmal im Leben gab. Doch sie ahnte auch, dass es noch ein langer und stei niger Weg bis zu seiner Erfüllung sein würde... Während, das junge Mädchen total erschöpft auf einem Sofa im Nebenraum lag, berichtete Sir George seinem Vater von den Ma chenschaften Jabos und war dabei so offen, dass seine Schwester ihm nach einer Weile erbost vorwarf: »Du übertreibst, um Jabo schlecht zu 75
machen. Du konntest ihn von Anfang an nicht leiden, hast mir mein Glück mit ihm missgönnt. Und jetzt nutzt du jede Gelegenheit, um ihn noch tiefer hinunter zu stoßen. Das ist gemein und niederträchtig!« »Violet, zügle deine Zunge«, mahnte ihr Vater sie streng. »Schlimm genug, dass du dich dermaßen vergessen hast und dich auf ein solches Subjekt einlassen musstest. Du hast nun wirklich keinen Grund, deinem Bruder Vorhaltungen zu machen.« Sie wollte etwas erwidern, doch Sir Humphrey bedeutete ihr, zu schweigen. Dann sagte er zu seinem Sohn: »Es war richtig, was du getan hast. Doch es wäre nicht nötig gewesen, das Mädchen hierher zu bringen und gleich Dr. Livingston zu rufen. Ich muss sagen, das finde ich reichlich übertrie ben.« »Du vergisst, dass Estrella nur knapp einem Mordanschlag ent gangen ist«, hielt sein Sohn ihm engagiert entgegen. »Es ist durchaus nötig, sie ärztlich untersuchen zu lassen. Und wenn es um meine Braut geht, ist unser Hausarzt doch wohl die richtige Adresse.« Lady Violet lachte schrill auf, während ihr Vater nachhakte: »Soll das vielleicht ein Scherz sein? Ich dachte, darüber haben wir ausführ lich gesprochen. Es kommt nicht infrage, dass du ein solches Mädchen zur Frau nimmst.« »Bitte, Dad, diese fruchtlose Diskussion müssen wir doch jetzt nicht schon wieder führen.« Sir George wandte sich zum Gehen. »Ich sehe nach Estrella. Und ich wüsste gerne, was hinter all dem steckt. Was will dieser Jabo von uns? Erst macht er sich an Violet heran, dann versucht er, Estrella zu töten. Hast du darauf vielleicht eine Antwort?« »Wie sollte ich?« Sir Humphrey musterte seinen Sohn abfällig. »Ich verkehre nicht mit dem Personal.« Der junge Mann verließ daraufhin den Raum und kehrte zu Estrel la zurück, die in einen unruhigen Schlaf der Erschöpfung gefallen war. Es dauerte nicht mehr lange, bis der Arzt erschien. Er untersuchte die Patientin gründlich, verschrieb dann Ruhe und gute Pflege und ver sprach, am nächsten Tag wieder vorbei zu schauen. Sir George be schloss, Estrella in einem der Gästezimmer unterzubringen, was ihm erneut einen erbosten Streit mit seinem Vater und die kalte Ablehnung seiner Schwester einbrachte. Er nahm es gelassen. Wichtig war jetzt 76
nur, dass die Frau, die er von Herzen liebte, fürs Erste in Sicherheit war. Wie lange dieser Zustand allerdings andauern würde, wusste auch George Hemmings, nicht zu sagen. Er dachte dabei nicht nur an die Ablehnung aus der eigenen Familie, sondern und vor allem an die Racheschwüre des Voodoo-Priesters. * Jabo raste. Tagelang befand er sich in einem Zustand, der längst die Grenze zum Wahnsinn überschritten hatte. Sein alter Onkel sorgte dafür, dass er sich in seiner unmenschlichen Wut nicht selbst Schaden zufügte. Beruhigen aber konnte er seinen Neffen nicht. Er musste ein fach abwarten, bis dieser von selbst wieder zur Vernunft kam. Und es dauerte beinahe eine Woche, bis dies endlich geschah. Erschöpft und wie ausgebrannt wirkte der große Mulatte, als er auf der schmalen Bettstatt aus geflochtenen Palmblättern lag. Sein Blick ging ins Leere, er schien alle Lebensenergie verloren zu haben. Doch der Alte wusste, dass dies nicht stimmte. Jabo würde wieder auf die Füße kommen, das war noch immer so gewesen. Und er hatte sich nicht getäuscht... Sir George begann langsam, sich in Sicherheit zu wähnen. Nach dem er von Jabo nichts mehr gehört hatte, hoffte er, dass dieser uner freuliche Zwischenfall vergessen war. Doch seine sorglose Einstellung wurde nicht von allen geteilt. Und es war Pico, der dem jungen Eng länder schließlich klar machte, wie heikel die Lage noch immer war. Der Vorarbeiter kam jeden Morgen zum Herrenhaus, um nach Est rella zu fragen. Allmählich erholte sie sich von dem schrecklichen Er lebnis, die schwarzen Verfärbungen an ihrem Hals verschwanden, sie konnte wieder schmerzfrei schlucken und sprechen. Doch die Erinne rung an jene Nacht voller Schrecken, die sie um ein Haar ihr Leben gekostet hätte, holte sie stets aufs Neue in ihren Träumen ein. Das schöne Mädchen war blass geworden, Schatten hatten sich unter den Mandelaugen eingegraben und manches Mal schien es George, als habe Estrella sich ganz verändert. 77
Als sie schließlich wieder arbeiten durfte, sprach der junge Mann sie auf ihren Kummer an. Doch sie wiegelte sofort ab. »Es geht mir gut, kein Grund zur Besorgnis.« Das wollte Sir George zwar nicht glauben, aber wenn Estrella sich weigerte, mit ihm über ihren Kummer zu sprechen, konnte er sie schließlich auch nicht dazu zwingen. Es war dann Pico, der offen mit dem Plantagenbesitzer sprach. »Estrella Angst. Und ich auch. Es besser für Sie beide, wenn Land verlassen. Schnell«, behauptete er eines Morgens mit Nachdruck. »Ja bo stellen Trupp zusammen, werden kommen hierher.« »Mit Helfern? Aber warum denn?« Der junge Engländer konnte sich unter den Behauptungen des Mulatten nichts vorstellen. »Was hätte das für einen Sinn?« »Er nehmen Rache. Sie schon vergessen?« Picos Miene verfin sterte sich. »Kommen hierher, töten jeden, der gegen ihn. Und neh men sich schließlich alles!« »Wie kommst du auf einen solchen Gedanken?«, forschte Sir George nach, dem dieses Horrorszenario doch reichlich übertrieben schien. »Du weißt mehr, kennst die Hintergründe. Sonst könntest du so etwas nicht behaupten.« »Ich kennen Jabo. Er wie all Priester der Ahnengeister. Will Macht, Besitz. Und hat andere, die ihm helfen.« »Und das ist auch wirklich alles? Steckt nicht mehr dahinter? Wa rum hat Jabo ausgerechnet Estrella entführt? Es muss doch einen Grund haben, dass er unter allen Mädchen sie auswählte. Wollte er dich damit treffen? Oder mich? Hat er auch aus diesem Grund mit meiner Schwester geflirtet? Ich bitte dich, Pico, wenn du etwas weißt, dann sage es jetzt.« Der schmächtige Mulatte hob abwehrend die Hände. »Ich nix wis sen. Und Sie auch nicht fragen, ist nicht gut. Bitte, Sie fort. Und neh men meine Tochter mit.« »So kommen wir nicht weiter«, monierte Sir George. »Du sprichst von Dingen, die für mich keinen Sinn ergeben. Ich habe deine Tochter vor Jabo gerettet. Er hat nicht den geringsten Grund, mich nun an 78
zugreifen. Umgekehrt wäre es logisch. Also, da stimmt doch etwas nicht!« »Junge, ich denke, du solltest dich nicht weiter in diese Dinge mi schen!« Unbemerkt von den beiden hatte Sir Humphrey das Arbeits zimmer seines Sohnes betreten. Seine markante Miene wirkte blass, übernächtigt. Doch es waren nicht die Spuren der Ausschweifung, die es prägten. Dieses Mal schien den Kolonialherren ein schwerer Kum mer zu plagen. »Was ist geschehen, Dad?« fragte George, dem dies ebenfalls nicht entgangen war. »Geht es dir nicht gut?« »Ich fürchte, ich habe vor langer Zeit einen schweren Fehler be gangen«, bekannte der alte Hemmings da mit dumpfer Stimme und trat hinter das Fenster, um wie blicklos in den sonnigen Morgen zu starren. Er schien seine Gedanken zu sammeln, wirkte abwesend. Und als er dann sprach, war es mehr wie zu sich selbst: »Violet ist fort. Sie hat sich entschieden, mit dem Kerl zu leben. Was für ein Wahnsinn! Vor vielen Jahren nahm ich ihm den Vater. Heute nimmt er mir die Tochter...« Seine Stimme brach, er wischte sich mit einer nachlässigen Geste über die Augen, wandte sich dann an George, der ihn fassungs los betrachtete. »Was Pico nicht gewagt hat, auszusprechen, ist ein Mord. Blut klebt an meinen Händen. Ich tat damals alles, um dieses Land zu bekommen, räumte rücksichtslos jedes Hindernis beiseite, ganz egal, auf welche Art und Weise. Ich habe mich schuldig gemacht. Und nun kommt diese Schuld wieder über mich.« »Sie nicht schuldig, ich habe es getan«, meldete sich Pico zu Wort, der dem Alten von jeher treu ergeben gewesen war. Doch Sir Humphrey winkte nur ab. »Lass gut sein, Pico, es hat keinen Sinn mehr, noch etwas verschleiern oder beschönigen zu wol len. Die ruhigen Zeiten sind vorbei. Nun heißt es, den Besitz zu vertei digen gegen den, der ihn uns wieder entreißen will. Und ich bin ge willt, dies zu tun....« Der junge Hemmings hatte sich mittlerweile wieder gefangen. Noch immer ungläubig wollte er wissen: »Du hast damals Jabos Vater ermorden lassen? Aber warum?« 79
»Als ich anfing, das Land hier aufzukaufen, Stück für Stück, ge hörte es kleinen Landbesitzern. Es waren Menschen, die ihre Dörfer verlassen hatten, um sich in der Nähe der Stadt niederzulassen. Die meisten gaben den Grund bereitwillig wieder her, denn in so kleinem Rahmen ließ sich nichts damit verdienen. Nur als Plantage konnte er Gewinn abwerfen. Wie gesagt, die Meisten sahen das ein und verkau fen an mich. Nur einer wollte sein Land nicht hergeben. Aber es bilde te das Kernstück meines zukünftigen Besitzes. Es umfasste den Platz, auf dem dieses Haus steht. Ohne das Land hätte ich hier nicht leben, nicht wirtschaften können.« »Und da hast du es dir einfach genommen«, schloss George kühl. »Ich hätte niemals geglaubt, dass du soweit gehen würdest, Dad.« »Hör dir die Geschichte bitte erst zu Ende an, bevor du urteilst«, riet Sir Humphrey seinem Sohn. »Es war kein vorsätzlicher Mord, wie du jetzt vielleicht denkst. Ich habe dem Mann immer und immer wie der Angebote gemacht, zuletzt sogar völlig überhöhte, bloß um endlich mit ihm einig zu werden. Doch er wollte nicht, lehnte alles ab, stellte sich vollkommen stur. Dabei hatte er sogar die Möglichkeit, direkt am Stadtrand ein viel besseres Grundstück als seines zu einem sehr mo deraten Preis zu erwerben. Es wäre eine einmalige Gelegenheit gewe sen. Doch er wollte nicht, er beharrte auf seinem Standpunkt. Eines Abends, ich saß noch mit ihm zusammen und verhandelte, Pico war auch dabei, gerieten wir in Streit. Er wurde handgreiflich. Und noch ehe ich mich wehren konnte, hielt er ein Messer in der Hand. Ich sehe es noch ganz genau vor mir: Er stand dort, wo du jetzt stehst, George. Und er nannte mich einen Aasgeier, einen Ausbeuter, der gestoppt werden müsse. Er griff mich an, verletzte mich am Arm und wollte mir das Messer ins Herz rammen. Pico kam ihm zuvor. Er schlug ihn mit einer Brandyflasche nieder. Dass er tot war, bemerkten wir erst später. Es war im Grunde genommen ein Unfall. Sich dafür rächen zu wollen, das ist absurd.« »Und wie ging es weiter? Von wem hast du das Land gekauft?«, wollte George nun wissen. 80
Sein Vater zögerte, was ihn Schlimmes vermuten ließ. »Hatte die ser Mann denn keine Familie? Du musst doch mit jemandem einen Kaufvertrag abgeschlossen haben...« »Ich habe mir das Land genommen. Seine Frau lief weg. Sonst war niemand da.« Sir Humphrey senkte den Blick. »Ich weiß, es war falsch, das Land einfach zu nehmen. Aber ich glaubte mich damals im Recht.« Kurz herrschte Schweigen, dann sagte Sir George: »Wenn es so ist, steht für mich fest, dass Pico nicht übertrieben hat. Dieser Jabo will sich an uns rächen. Nicht nur für den Tod seines Vaters, sondern auch für den Landdiebstahl. Ich fürchte, er wird nicht mehr mit sich reden lassen, nachdem ich seine Zeremonie zerstört habe.« Er wandte sich an Pico. »Du sagst, ich soll mit Estrella das Land verlassen. Aber wel chen Sinn hätte das? Wäre es nicht viel besser, zu bleiben und zu kämpfen?« Sir Humphrey kam dem Mulatten zuvor. »Selbstverständlich ver teidigen wir unser Eigentum! Es wäre ja noch schöner, wenn jeder dahergelaufene...« »Dad, bitte, ich habe Pico gefragt«, unterbrach George seinen Va ter kühl. Nun, da er die Wahrheit kannte, konnte und wollte er dessen früheres Verhalten nicht gutheißen. Es mochte stimmen, dass der Tod von Jabos Vater ein Unfall gewesen war. Doch die illegale Landaneig nung war für den jungen Engländer unglaublich. Er mochte sich kaum noch in dem Haus aufhalten, in dem er geboren und aufgewachsen war. Es erschien ihm wie ein geraubtes Gut, an dem er eigentlich gar kein Recht hatte. »Sie fahren fort, bringen Estrella in Sicherheit«, bat der Vorarbei ter nun eindringlich. »Mein Tochter für Jabo Opfer. Sie Tochter von Mörder sein Vater. Er wird all versuchen, sie auch zu töten. Verste hen?« »Ja, sicher. Aber ich werde Estrella beschützen«, hielt George dem besorgten Vater entgegen. »Und ich muss Violet suchen. Wir können es nicht zulassen, dass sie diesem Jabo auch noch zum Opfer fällt. Es ist bereits genug Schreckliches geschehen.« 81
»Violet ist freiwillig gegangen«, erinnerte der Alte seinen Sohn be kümmert. »Sie wird bei dem Kerl bleiben wollen. Die Liebe, oder das was sie dafür hält, hat sie blind gemacht. Sie will die Wirklichkeit nicht sehen!« »Dann werde ich sie eben dazu zwingen«, entschied Sir George und wollte sich zum Gehen wenden. In diesem Moment erschien ein Diener und rief aufgeregt: »Sir, kommen Sie schnell! Eine große Grup pe Männer mit Waffen marschiert auf das Haus zu. Es sieht aus, als wollten sie uns angreifen.« Wie zur Unterstützung seiner Worte split terte in diesem Augenblick eine Fensterscheibe, ein dicker Stein polter te zu Boden und rollte direkt vor Sir Humphreys Füße. Der alte Hemmings legte seinem Sohn schwer eine Hand auf die Schulter. Seine Miene war ernst, aber auch entschlossen, als er bat: »Bringe das Mädchen in Sicherheit. Im Hafen liegt ein Segler, der noch heute nach Hispaniola in See sticht. Wenn es euch gelingt, das Schiff zu erreichen, holt Hilfe. Truppen ihrer Majestät der Königin von Eng land liegen im Hafen von Santo Domingo. Sie müssen uns unterstüt zen. Denn falls es so kommt, wie ich fürchte, werden wir hier bald einen Volksaufstand haben...« * Lady Violet betrachtete Jabo mit bewunderndem Blick. Der große Mu latte hatte sie bisher kaum beachtet, doch das war ihr einerlei. Zu lan ge hatte sie auf seine Nähe verzichten müssen. Nun wollte sie für im mer bei ihm sein. Es war ihr egal, was die anderen darüber sagten. Vor allem die Lügen, die George sich ausgedacht hatte, um sie ausein ander zu bringen, konnten sie nicht beeindrucken. Sie meinte, Jabo besser zu kennen. Und sie war zudem fest überzeugt, ihrem Herzen zu folgen. Jabo war die große Liebe ihres Lebens. Nichts und niemand durfte sie mehr trennen! Dass der Mulatte gerade im Begriff stand, den Besitz ihres Vaters anzugreifen, mit dem Ziel, alle Weißen zu töten und sich alles dort anzueignen, schien sie gar nicht begriffen zu haben. Lady Violets Geist hatte sich verwirrt. Von jeher war sie etwas versponnen und extrava 82
gant gewesen. Immer hatte sie alles erreicht, alles bekommen, was sie sich wünschte. Dass es mit Jabo anders sein sollte, erschien ihr voll kommen unmöglich. Und so glaubte sie einfach, was sie glauben woll te, ignorierte die Wirklichkeit und träumte sich mehr in mehr in eine gefährliche Scheinwelt hinein, die schon sehr bald auf grausamste Weise zerstört werden sollte... Jabo konnte Violet nun nicht mehr gebrauchen. Er musste sich auf das konzentrieren, was vor ihm lag. Die Frau war sowieso stets nur Mittel zum Zweck für ihn gewesen. Nun aber störte sie ihn. Und er war nicht gewillt, Rücksicht zu nehmen. Sein großes Ziel lag direkt vor ihm. Der junge Engländer hatte es verhindert, dass Jabo sich mit den Ah nengeistern gut stellte, dass er ihnen ein Opfer brachte, das sie ihm für immer verpflichtete. Dafür würde er bezahlen. Jabo war fest ent schlossen, Sir George zu töten. Dann erst würde er seine Rache voll enden können. Der alte Hemmings sollte einen langsamen, qualvollen Tod sterben. Und danach war der Weg frei, dann würde Jabo alles in Besitz nehmen, was ihm seiner Meinung nach schon lange zustand... »Jabo, wohin willst du?«, fragte Lady Violet ihn nun und legte ihre Arme um seinen Hals. »Du kannst mich doch nicht allein lassen. Wir waren so lange getrennt. Nun möchte ich die Zeit mit dir und unsere Liebe genießen...« Sie bot ihm die Lippen zum Kuss, aber er stieß sie von sich und murrte: »Ich habe jetzt keine Zeit, also verschone mich mit diesem Gerede.« Die junge Lady war einen Moment lang so verblüfft, dass sie gar nicht reagieren konnte. Dann aber beschwerte sie sich: »Du bist nicht sehr nett zu mir. Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich wegen dir al les durchmachen musste? Wie kannst du mich nun von dir stoßen? Ich habe alles aufgegeben, mein Elternhaus verlassen - für dich!« »Das hättest du dir schenken können«, entgegnete der große Mu latte abfällig. »Ich kann dich nicht gebrauchen. Am besten ver schwindest du von hier. Bei dem, was nun vor mir liegt, bist du mir nicht mehr von Nutzen. Und das war sowieso alles, was mich an dir interessiert hat. Also geh mir aus dem Weg und lass mich in Ruhe, verstanden?« 83
»Jabo! Ich verbiete dir, so mit mir zu reden«, begehrte sie belei digt auf. »Du scheinst es darauf anzulegen, mich zu verletzen. Wa rum? Liebst du mich denn nicht mehr?« »Ich habe dich nie geliebt. Du warst für mich nur Mittel zum Zweck«, erwiderte er hart. »Wie könnte ich eine Hemmings lieben? Dein Vater trägt die Schuld am Tod meines Vaters. Alles, was ich will, ist Rache. Und die werde ich nun endlich nehmen!« Violet starrte den Mann, der da vor ihr stand, wie erwachend an. Sie hatte das Gefühl, als greife eine eisige Hand nach ihrem Herzen und nehme es in einem unbarmherzigen Griff, bis es abgestorben war. Konnte es denn tatsächlich möglich sein, dass sie sich so sehr geirrt hatte? War Jabo wirklich, wie George behauptet hatte, nur darauf aus gewesen, sie zu benutzen, sich über sie an ihrem Vater zu rächen? Sie wollte es nicht glauben. Aber seine herzlos offenen Worte ließen nur diesen einen Schluss zu. Das war kaum zu fassen und noch viel weni ger zu ertragen! »Du gemeiner Kerl!«, schrie sie ihn unvermittelt an. Tränen sam melten sich in ihren Augen und sie ging wie eine Furie auf ihn los. »Du bist ein mieses Schwein, du bist nichts weiter als Abschaum! Und ich werde dafür sorgen, dass du dorthin kommst, wo du hingehörst; in die Gosse!« Er lachte nur, parierte ihre Angriffe lässig und wehrte ihre kleinen Fäuste, die ein erbittertes Stakkato gegen seinen Brustkorb klopfen, wie harmlose Fliegen ab. »Die Zeiten, in denen ein Hemmings mich beleidigen konnte, sind vorbei. Ich sitze am längeren Hebel. In sehr kurzer Zeit werde ich alles besitzen, was deine Familie sich unrecht mäßig angeeignet hat. Und daran kann niemand mich hindern, du schon gar nicht!« Er packte ihre Handgelenke mit einem Ruck und starrte sie drohend an. »Nimm dich jetzt zusammen, Violet und ver schwinde, solange du es noch kannst. Ich werde nicht zögern, mein Ziel zu erreichen. Ganz egal mit welchen Mitteln!« Sie erwiderte seinen Blick erbost, ein heimtückisches Glitzern trat in ihre Augen, als sie ihn warnte: »Das hast du nicht umsonst getan. Ich werde meinen Vater von deinen Plänen in Kenntnis setzen. Dann landest du schneller hinter Gittern, als du dir vorstellen kannst!« Sie 84
wandte sich zum Gehen, doch das wollte Jabo nicht zulassen. Gedan kenschnell war er bei ihr, packte sie und schleuderte sie nach hinten, von der Tür fort. Violet stieß einen überraschten Schrei aus. Sie knallte mit dem Kopf gegen die Wand, sah kurz Sterne und spürte den Schmerz in ihrem Nacken aufflammen. Das machte sie noch wütender. »Dafür wirst du hängen!«, drohte sie Jabo, der nun langsam auf sie zukam. Lady Violet empfand keine Angst, sie war nur zornig. Bis lang hatte sie sich niemals in wirklicher Gefahr befunden. Und sie konnte sich auch jetzt nicht vorstellen, dass Jabo ihr ernsthaft Böses wollte. Sie ärgerte sich darüber, dass er nicht tat, was sie wollte, dass er anders reagierte, als sie sich das vorstellte. Dafür sollte er büßen! »Mein Vater wird dafür sorgen, dass du deine gerechte Strafe er hältst«, prophezeite sie ihm. »Und ich...« Sie konnte nicht weiter spre chen, denn der große Mulatte hatte sie nun erreicht. Er starrte sie stumm an, in seinen dunklen Augen sah Violet deutlich die Mordlust. Und in diesem Moment wurde ihr zum ersten Mal im Leben bewusst, dass sie einen folgenschweren Fehler begangen hatte. Sie hatte sich selbst und ihre Position heillos überschätzt, hatte sich diesem Mann ausgeliefert, der nichts für sie empfand außer Hass und Verachtung und der nun sogar vor dem letzten Schritt nicht zurückzuschrecken schien. Als Jabos große Hände sich um ihren Hals legten, schrie Lady Violet in höchster Panik und Todesangst auf. Sie versuchte, ihm zu entkommen, ihre Finger krallten sich in seine Hände, wollten den un barmherzigen Griff lösen, der sich mehr und mehr verstärkte, mit dem einzigen Ziel, ihr das Leben zu nehmen. Doch sie hatte keine Chance; der Mulatte war fest entschlossen, sie ein für alle Mal los zu werden. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske aus Bösartigkeit und Wahnsinn. In seinen dunklen Augen glomm das Böse. Es war das Letzte, was Lady Violet Hemmings in ihrem Leben sehen sollte. Nur wenige Minu ten dauerte ihr Todeskampf. Und als Jabo schließlich von ihr abließ, sackte ihr schlaffer Körper leblos zu Boden. Die Tochter des alten Hemmings war zum ersten Opfer seiner Rachlust geworden. Es war, als sei für Jabo eine Tür geöffnet worden, als habe er nun auch noch die letzten Hemmungen abgelegt. Als er aus der Hütte trat, hatten sich seine Helfer bereits versammelt. 85
»Tötet alle Weißen!«, schrie er ihnen ungezügelt zu. »Nehmt das Land, das euch gehört, endlich wieder in Besitz!« Ein vielstimmiger Chor der Zustimmung antwortete ihm. Und als Jabo das Zeichen zum Abmarsch gab, zögerte keiner der Männer, ihm zum Besitz der Familie Hemmings zu folgen. * Sir George und Estrella verließen das Herrenhaus durch einen der Dienstboteneingänge auf der Rückseite des Gebäudes. Vor dem Haus tobte die Menge der Aufgewiegelten. Wilde Drohungen wurden ausge stoßen, Schüsse knallten, lautes Splittern und Bersten deutete darauf hin, dass die Aufständischen versuchten, ins Haus einzudringen Kurz zögerte der junge Engländer. Es war ihm nicht recht, seinen Vater in dieser Situation allein zu lassen. Doch Pico, der die beiden führte, erin nerte ihn: »Je schneller auf Hispaniola, je schneller hier wieder Ruhe und Frieden!« »Ja, du hast recht, Pico«, murmelte er und folgte dem Vorarbeiter zu einem leichten Zweispänner, der für ihre Flucht bereitstand. Pico drückte seiner Tochter zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf die Wange und murmelte etwas in seiner Sprache, das Sir George nicht verstehen konnte. Estrella weinte, sie wollte sich nicht von ihrem Vater trennen, wusste aber, dass es keinen anderen Weg gab. Wenn sie hier blieben, hatten sie keine Chance. Jabo hatte eine große Meute hinter sich geschart, sie waren ihnen nicht nur zahlenmäßig überlegen, son dern würden auch ohne Zögern und Skrupel alles tun, um ihr verbote nes Ziel zu erreichen. George half Estrella beim Einsteigen in die Kut sche, dann drückte er Pico kurz stumm die Hand. Die Peitsche knallte, die beiden Schimmel setzten sich sofort in Bewegung. Es gelang dem jungen Paar, das Grundstück ungesehen zu verlassen. Doch damit hatten sie noch nichts gewonnen. Sie mussten rechtzeitig den Hafen erreichen. War der Segler nach Hispaniola be reits fort, würde es für die Plantage keine Rettung geben. George fuhr auf volles Risiko. Estrella musste sich festhalten, um nicht in einer Bie gung aus der Kutsche geschleudert zu werden. Als sie Kingston fast 86
erreicht hatten, stellte sich ihnen unvermittelt ein Trupp von fünf Mann entgegen. Sie trugen Macheten und Stöcke und blickten finster drein. Die junge Frau stieß einen erschrockenen Ruf aus, ihr Begleiter mur melte: »Halt dich ganz fest. Liebes.« Dann ließ er die Peitsche noch einmal durch die Luft sausen. Die Pferde hetzten weiter, mitten in die Gruppe hinein. Als die Männer die Absicht des jungen Engländers er kannten, sprangen sie gedankenschnell beiseite; im letzten Moment, denn die Kutsche Streifte noch einen der Aufständischen und schleu derte ihn zu Boden. »Das war knapp«, seufzte Estrella. Sie war blass geworden, doch sie hielt sich tapfer an Georges Seite. Er lächelte ihr ein wenig zu, dann ging es bereits in rasend schnel ler Fahrt in die Stadt hinein. Es dauerte nun nicht mehr lange, bis sie den Hafen erreicht hatten. Schon von weitem sah der Planta genbesitzer die lustigen bunten Fähnchen am Hauptmast des Seglers; die großen Segel waren noch nicht gesetzt worden. »Wir haben es geschafft«, stellte er erleichtert fest. »Nun haben wir vielleicht doch noch eine Chance.« »Ich begreife das alles nicht«, gab Estrella zu, als sie eine Weile später an Bord gegangen waren. Der Segler legte gerade ab. »Warum hasst Jabo deine Familie nur so sehr? Dafür muss es doch einen Grund geben. Und wieso wollte er mich opfern?« George zögerte mit einer Antwort, schließlich behauptete er vage: »Das weiß ich auch nicht. Vermutlich will er es unbedingt zu etwas bringen, sich dafür aber nicht anstrengen. Deshalb hat er den illegalen Weg gewählt.« Estrella betrachtete den geliebten Mann forschend. Sie hatte den Eindruck, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit sagte. Doch sie vertrau te George und nahm es deshalb hin. Die Fahrt nach Hispaniola dauerte gut eine Stunde. Als der Segler im Hafen von Santo Domingo anlegte, bat Sir George Estrella, an Bord auf ihn zu warten. »Ich habe mit dem Kapitän gesprochen. Es ist bes ser so, denn ich werde einige Gänge tun müssen, bis alles erledigt ist. Wenn ich es überhaupt schaffe, den Gouverneur zu überzeugen. Ich 87
kehre dann hierher zurück. Der Segler legt erst heute Abend wieder ab.« »Ich möchte bei dir bleiben«, wagte sie, zu widersprechen. »Ich fürchte mich ohne dich. Bitte, George, lass mich nicht allein hier zu rück!« »Es ist besser so, glaube mir.« Er küsste sie zum Abschied zärtlich und versprach, so schnell wie möglich zurückzukehren. Estrella blieb bekümmert an Bord. Sie fühlte sich in der fremden Umgebung ohne George ganz verloren. Aber sie wusste auch, dass sie nun nicht nur an sich denken durfte. Das Schicksal der Plantage und aller Menschen, die auf und von ihr lebten, hing davon ab, dass der junge Kolonialherr erfolgreich agierte. Sir George hatte keine Schwierigkeiten, beim Gouverneur vor gelassen zu werden. Der Name Hemmings hatte auch in diesem Teil der Welt einen guten Klang. Doch als er Colonel Mansfield sein Begeh ren vorgetragen hatte, gab dieser sich zunächst einmal zugeknöpft. Der junge Engländer, dem die Zeit zwischen den Fingern zu zerrinnen schien, reagierte unwirsch. »Sie können mir ruhig glauben, dass ich Ihre Zeit nicht mit einer Nichtigkeit verschwende!«, unterstrich er nachdrücklich. »Hätten wir drüben nur ein wenig Ärger mit ein paar Arbeitern, wäre die Sache längst geregelt. Doch es ist mehr. Dieser Jabo hat eine kleine Armee aufgebaut. Die Männer folgen ihm treu, ich bin sicher, sie würden auch ihr Leben im Kampf opfern. Der Kitt, der sie zusammenhält, heißt Voo doo. Ich denke, ich muss Ihnen dazu weiter nichts sagen. Nur soviel: Wenn Sie nun die Hände in den Schoß legen, werden Sie sehr bald einen Volksaufstand auf Jamaika zu bekämpfen haben, Sir!« »Ich habe durchaus Verständnis für Ihren Temperamentsaus bruch, Mr. Hemmings«, erwiderte der Gouverneur indigniert. »Aber Sie sollten sich auch in meine Lage versetzen. Sie überfallen mich un vorbereitet mit der Bitte nach Entsendung von Truppen. Wie kann ich wissen, ob Ihre Schilderung der Zustände tatsächlich den Tatsachen entspricht? Es liegt mir fern, Ihre Worte anzuzweifeln. Aber ich kann auch nicht auf einen vagen Verdacht hin Soldaten los schicken. Das ist unmöglich.« 88
»Ich habe keine Zeit für solche Diskussionen«, stellte Sir George gereizt fest. »Als ich die Insel verließ, waren die Kämpfe bereits in vollem Gange. Unsere Leute werden nicht lange durchhalten, denn sie sind in der Minderzahl. Falls sie es sich überhaupt einfallen lassen, den Besitz ihres Brotherren zu verteidigen und nicht die Seiten gewechselt haben.« Colonel Mansfield schwieg kurz nachdenklich, denn beschloss er: »Ich werde ein Telegramm nach Kingston schicken. Wenn man mir von dort grünes Licht gibt, werde ich die Soldaten entsenden. Sind Sie damit einverstanden, Sir George?« Obwohl es dem jungen Engländer lieber gewesen wäre, der Gou verneur hätte sich einfach auf sein Wort verlassen, stimmte er doch zu. Es schien ihm die einzige Möglichkeit, einigermaßen zügig zum Ziel zu kommen. Allerdings dauerte es eine ganze Weile, bis endlich Antwort ein traf. Mittlerweile war es später Nachmittag. Sir George saß wie auf heißen Kohlen. Schließlich dauerte es nicht mehr lange, bis der Segler nach Kingston zurückkehrte. Und er wollte Estrella unter gar keinen Umständen allein lassen. Als der Colonel schließlich mit dem Telegramm erschien, sprang sein Besucher nervös auf. »Nun? Können wir endlich los?« Der Gouverneur nickte. »Ja, es scheint alles seine Richtigkeit zu haben. Ich habe bereits veranlasst, dass die Soldaten in Marsch ge setzt werden. Möchten Sie mit dem gleichen Schiff fahren?« »Nein, ich habe eine Möglichkeit, nach Kingston zurückzukehren.« Er drückte dem Diplomaten knapp die Hand. »Danke.« Estrella hatte George sehnsüchtig erwartet. Als er endlich, nur wenigen Minuten bevor der Segler wieder in See stechen sollte, er schien, fiel ihr ein großer Stein vom Herzen. »Konntest du die Soldaten zur Unterstützung gewinnen?«, fragte sie als erstes. Und als er nickte, atmete sie auf. »Dann wird alles gut, nicht wahr?« Sir George war nicht so zuversichtlich. Er schaute das geliebte Mädchen sehr ernst an und bat sie: »Wenn wir wieder auf Jamaika sind, bleibe du in Kingston. Ich möchte dich nicht der Gefahr aus 89
setzen, die auf der Plantage wartet.« Er merkte, dass sie widerspre chen wollte und fuhr eindringlich fort: »Wir haben nun zwar Unter stützung, aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir auch gewinnen werden. Bitte vergiss nicht, dass Jabo dich töten wollte. Ich möchte, dass du in der Stadt bleibst, bis alles vorbei ist. Willst du mir das ver sprechen?« Er spürte, dass sie tausend Einwände hatte, sich einfach nicht von ihm trennen wollte. Doch er schaute sie so ernst und zugleich streng an, dass sie schließlich den Blick senkte und nickte. Da lächelte er ein wenig, schob eine Hand unter ihr Kinn und küsste sie zart auf den Mund. »Ach, George, ich habe so schreckliche Angst um dich«, murmelte sie mit tränenschwerer Stimme und schmiegte sich ganz fest in seine Arme. »Wenn dir etwas zustößt, kann ich auch nicht weiterleben.« »Ich passe schon auf mich auf«, versprach er da lächelnd. »Keine Angst, Unkraut vergeht nicht.« Er küsste sie noch einmal und hielt sie dann eine ganze Weile im Arm. Wie gut ihm ihre süße Nähe tat! George spürte, wie sie ihm Kraft und Zuversicht gab. Beides benötigte er dringend. Je näher sie Kingston Harbour kamen, desto schwerer wurde dem jungen Mann nämlich das Herz. Er hoffte inständig, nicht zu spät zu kommen. Wie sollte er sich selbst je wieder ins Gesicht schauen können, wenn er sich vorwerfen musste, seinen Vater, Pico und auch Violet in ihrer schwersten Stunde im Stich gelassen zu ha ben? * Auf der Plantage war derweil die Hölle losgebrochen. Ein unbeschreib liches Chaos machte es den Kämpfenden schwer, Freund und Feind überhaupt noch zu unterscheiden. Die Männer, an deren Spitze Jabo stand, hatten das Haus ge stürmt, einige Bedienstete einfach niedergemetzelt und alles verwü stet. Während ein Teil von Jabos Männern die Felder mit Tabak und Gewürzen in Brand steckte, hatte der große Mulatte ein ganz be stimmtes Ziel. Er wollte Sir Humphrey stellen. Der Alte sollte noch vor 90
seinem Sohn sterben. Und dieser sollte dabei zusehen. Leider war George Hemmings aber nirgendwo zu finden. Ebenso verhielt es sich mit Estrella. »Der feige Hund ist geflohen«, knirschte Jabo und zertrümmerte mit einem Stock eine kostbare Kristallvase. »Aber das wird ihm nichts nützen, ich finde ihn. Und wenn er sich im hintersten Winkel des Dschungels versteckt!« »Jabo!« Zwei seiner Helfer zerrten Sir Humphrey die große Frei treppe hinunter. »Wir haben ihn!« »Das ist gut.« Genüsslich schritt der Anführer der Aufständischen auf den Plantagenbesitzer zu. Sir Humphrey wollte sich von den Män nern, die ihn hielten, befreien, schaffte es aber nicht. Da gab Jabo ihnen den Befehl, ihn freizulassen. Sie zögerten kurz, gehorchten je doch. Der alte Hemmings musterte sein Gegenüber abfällig. Jabo er widerte seinen Blick mit kaltem Hass. Als der Engländer das Wort an ihn richtete, zuckte es kurz um seinen Mund, doch er schwieg noch, ließ Sir Humphrey reden. Dieser wollte herablassend wissen: »Was versprichst du dir davon? Glaubst du, es ändert etwas an den Dingen, wenn du hier alles zerstörst? Du wanderst ins Gefängnis. Und ich wer de mir meinen Besitz neu aufbauen. Ich habe es einmal geschafft, ich schaffe es auch ein zweites Mal.« »Große Worte für einen alten Mann«, spottete Jabo. »Selbstge fällig und arrogant. Wollen wir wetten, dass es nicht mehr lange so sein wird? Ich habe dir etwas zu sagen, Hemmings. Und ich glaube nicht, dass es dir sehr gefallen wird.« Er starrte sein Gegenüber heim tückisch an, während er mit leiser, fast sanfter Stimme fortfuhr: »Vor nicht mal einer Stunde haben diese Hände deiner Tochter den Hals umgedreht. Ihr toter Körper liegt in meiner Hütte. Und ich denke nicht daran, sie zu begraben. Sie wird ein Fressen für die wilden Tiere des Dschungels sein...« »Du Lügner!« Sir Humphrey versetzte dem Mulatten eine schal lende Ohrfeige. »Hättest du dich nicht wie ein Feigling hinter deinen Helfern versteckt, würde ich dich jetzt auf der Stelle umbringen!« 91
Jabo zögerte nur kurz, dann lächelte er schmal und versicherte: »Ich gebe dir gerne eine Chance, alter Mann. Ben, zwei Säbel! Wir tragen es aus wie zwei Gentlemen, nach guter alter britischer Manier!« Der Angesprochene rannte davon und brachte wenig später das Geforderte. Die Klingen glänzten matt im Licht des späten Tages. Jabo warf Sir Humphrey einen der Säbel zu, den dieser zwar geschickt auf fing, doch er stellte klar: »Ich kämpfe nicht gegen einen Unterlegenen. Du bist kein Gentleman und verdienst es nicht, im ehrenhaften Kampf besiegt zu werden.« Seine Worte trafen Jabo, man sah es deutlich. Sie berührten seine wunde Stelle, sein Selbstbewusstsein war von jeher nicht sehr groß gewesen. Er verstand es stets geschickt, diesen Um stand hinter großer Geste zu verbergen. Dass der alte Hemmings ihn so leicht durchschaute, schürte seinen Hass nur noch weiter. »Du sprichst von Ehre, alter Mann?« Er lachte höhnisch. »Um das alles hier anzuhäufen, bist du zum Mörder geworden. Du hast meinen Vater auf dem Gewissen. Sein Blut schreit nach Rache. Und ich werde diese Rache nun vollenden!« Mit diesen Worten stürzte der große Mu latte sich auf seinen Gegner. Sir Humphrey hatte mit einem Überra schungsangriff gerechnet und wich geschickt zur Seite aus. Der Kampf begann. Klirrend stießen die Klingen immer wieder aufeinander. Fun ken stoben. Der Plantagenbesitzer legte noch eine beachtliche Ge schicklichkeit an den Tag. Doch seine Kondition ließ zu wünschen üb rig; nun zeigten die vielen durchfeierten Nächte Wirkung. Es dauerte nicht lange, bis Jabo die Oberhand gewann. Er drängte seinen Gegner in eine Wandnische und hob den Säbel. »Stirb, du Hund!«, zischte er tonlos. In diesem Moment geschah etwas Seltsames. Sir Humphrey, der sich bereits auf einen gemeinen Hieb eingestellt hatte, sah, wie Jabos Augen sich unnatürlich weiteten. Er stieß den Atem keuchend aus, dieser ging in einen wütenden Schrei über, zugleich wirbelte er herum. Und da sah der Plantagenbesitzer, was geschehen war: Pico hatte dem Mulatten ein Messer in den Rücken gestoßen. Beinahe bis zum Schaft ragte es aus dem linken Schulterblatt des Angreifers, der nun selbst zum Opfer geworden war. Sir Humphrey hob den Säbel, um nachzu setzen. Doch sofort waren zwei von Jabos Männern bei ihm und ent 92
waffneten ihn. Jabo starrte Estrellas Vater einen Augenblick lang fas sungslos an. Dieser wich zurück, als er die Wut und den Hass in den Augen seines Gegenübers sah. Es war wie vor langen Jahren; er hatte das Leben seines Brotherren verteidigen wollen und wurde nun wie ein Verbrecher angesehen. Jabo brüllte: »Das wirst du mir büßen! Eigent lich solltest du Estrella sterben sehen. Aber dieses Vergnügen bleibt dir nun erspart...« Er holte weit aus und stach noch in der Bewegung zu. Trotz seiner Verletzung war der große Mulatte gefährlicher denn je, das zeigte sich jetzt. Pico brach mit einem erstickten Schrei zusammen und fiel zu Boden. Der Angreifer hatte ihm mitten ins Herz gestochen, es gab keine Rettung mehr für den treuen Weggefährten des alten Hemmings. Dieser hing blass und erschöpft im Griff der Schergen. Zu viel war in den vergangenen Minuten auf ihn eingestürmt. Er hatte erfahren, dass seine Tochter tot war, ermordet und er hatte zusehen müssen, wie Jabo auch seinen Vorarbeiter tötete, der doch nur seinen Herren hatte verteidigen wollen. Sir Humphrey fühlte sich plötzlich sehr schwach. Es schien ihm, als sei alle Lebensenergie aus ihm gewi chen. Er hatte keine Kraft mehr zu kämpfen, sich zu verteidigen. Wenn Jabo ihm nun auch das Leben nehmen wollte, würde er keinen Wider stand leisten. Der Mulatte schien das zu spüren. Mit einem eisigen Grinsen kam er näher, den blutigen Säbel noch in der Hand. Dabei murmelte er: »Das ist der Moment, auf den ich so lange warten musste. Jetzt end lich wird die Rache vollendet. Die ruhelose Seele meines Vaters kann Frieden finden. Stirb, du Hund, wie du es verdient hast. Der Tod, den du meinem Vater gebracht hast, kehrt nun zu dir zurück.« Er hob den Säbel leicht an, in diesem Augenblick flog das Portal auf und Sir George stürmte in die Halle, im Gefolge eine Menge Soldaten, die so fort daran gingen, die Aufständischen niederzuschlagen. Jabo brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was das bedeutete. Dann aber wirbelte er herum. Ein irres Lachen drang über seine Lippen und er schrie: »Hemmings, ihr werdet alle sterben! Ich töte jeden von euch! Die Rache wird vollendet.« Er schwankte leicht, als er sich George näherte, der Blutverlust hatte ihn bereits geschwächt. Doch sein Wille war ungebrochen und 93
gab ihm erstaunliche Kräfte und ein Durchhaltevermögen, das kaum zu begreifen war. Sofort griff er den jungen Engländer an. Sir George trug eine Flinte, die er aber gegen den Säbel ein tauschte, den sein Vater im Kampf verloren hatte. Ein zähes Duell ent spann sich. Die beiden unterschiedlichen Männer schenkten sich nichts. Während um sie herum wilde Kämpfe tobten, bekriegten sie sich mit unbezwingbarer Zähigkeit und hasserfüllter Ausdauer. Jabo sah in dem jungen Engländer seinen Erzfeind. Er hatte verhindert, dass Estrella den Ahnengeistern geopfert werden konnte. Und er war der Erbe jenes Mannes, den er für den Mörder seines Vaters hielt. All der Hass, der sich im Kopf und im Herzen des Mulatten über so lange Jahre angestaut hatte, brach sich nun Bahn. Doch auch George war überaus motiviert. Er wusste, wie gefährlich und verderbt sein Gegner war. Nur wenn es ihm gelang, Jabo zu besiegen, würde er verhindern können, dass die ganze Insel im Chaos versank. Jabo verstand es, die Menschen aufzuwiegeln und für seine üblen Zwecke zu missbrauchen. Dem musste nun ein Ende gesetzt werden. Ein für alle Mal. Endlich gewann George die Oberhand. Er konnte den Mulatten entwaffnen und wollte ihn gefangen nehmen. Doch Jabo dachte gar nicht daran, sich zu ergeben. Er zog einen kleinen Dolch unter seinem Gewand hervor und stach blitzschnell damit zu. Sir George spürte ei nen heißen Schmerz in der Seite. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Doch bevor Jabo noch einmal zustechen konnte, versetzte der junge Engländer ihm einen Schlag, der ihn nach hinten taumeln ließ. Sie hat ten mittlerweile die Halle verlassen, waren beim Säbelkampf bis zum ersten Treppenabsatz emporgestiegen. Nun stolperte Jabo nach hin ten, schlug mit den Füßen gegen die Balustrade - und verlor den Halt. Er ruderte wild mit den Armen, schrie markerschütternd auf und fiel im nächsten Moment nach unten. Als er auf dem Rücken landete, drang Picos Messer ganz in seinen Rücken - und durchbohrte dabei das Herz des Mulatten. Jabo war auf der Stelle tot... Sir George rannte hinunter in die Halle, denn er sah, dass es sei nem Vater schlecht ging. Mit wenigen Schritten war er bei Sir Humph rey, der bleich, ja wächsern an der Wand auf dem Boden saß und krampfhaft nach Luft rang. 94
Mittlerweile hatten die Soldaten die Aufständischen aus der Halle vertrieben. Die beiden Männer waren fast allein. George bat einen Kommandierenden, rasch nach einem Arzt zu schicken. Doch Sir Humphrey murmelte: »Es ist zu spät, mein Herz... Was geschehen ist, war einfach zuviel für mich.« George wollte etwas einwenden, doch sein Vater bat: »Hör mir gut zu, Junge. Jabo hat deine Schwester getötet. Bitte, sorge dafür, dass sie ein ordentliches Begräbnis erhält. Und auch Pico soll nicht ver scharrt werden wie ein Hund... Ich habe ihm viel zu verdanken, er war mir immer treu ergeben. Wenn du... dieses Mädchen wirklich liebst, dann heirate sie. Du hast meinen Segen. Ich spüre, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich lege alles weitere in deine Hände. Du kannst bleiben oder fortgehen. Ich... weiß nicht, was noch übrig ist von allem, was ich aufgebaut habe. Entscheide du. Ich weiß... ich...« Er ver stummte. In diesem Moment erschien ein Arzt, Sir George trat beisei te. Er musste nicht warten, denn er wusste, dass es vorbei war. Dieser schreckliche Kampf hatte viele Leben gefordert. Was Sir Humphrey sich vor langer Zeit unrechtmäßig genommen hatte, war ihnen allen nicht zum Segen geworden. Doch der junge Mann war fest entschlos sen, seinen Vater nicht zu enttäuschen. Er wollte dessen letzte Worte respektieren und beherzigen. Die Zukunft sollte mehr Gerechtigkeit bringen, die alten Sünden sollten endlich gesühnt werden. Wenn George dies erreichte, das ahnte er, dann waren die vielen Opfer die ses schrecklichen Tages nicht ganz umsonst gewesen... * Knapp ein halbes Jahr war vergangen. Die Ereignisse auf dem Besitz der Familie Hemmings nahe Kingston hatten weite Kreise gezogen, Ermittlungen der Polizei und der konsularischen Regierung waren nicht ausgeblieben. Sir George hatte allen Rede und Antwort gestanden und sich darum bemüht, den Skandal in Grenzen zu halten. Über die Be ziehung Lady Violets zu Jabo war ebenso Stillschweigen gewahrt wor den wie über die Beweggründe des Mulatten, einen Volksaufstand ge gen die Kolonialherren anzuzetteln. Schließlich waren die Behörden zu 95
dem Schluss gekommen, das Geschehene einzig der Unzufriedenheit einiger Arbeiter zuzuschreiben, die auf diese Weise mit Gewalt mehr Lohn hatten erzwingen wollen. Sir George widersprach nicht und so wurden die Akten schließlich ohne weitere Folgen für die Überlebenden geschlossen. Nachdem der Pulverdampf der Kämpfe verzogen und die Feuer auf den Feldern gelöscht worden waren, zeigte sich bald das ganze Ausmaß der Zerstörung, die Jabos wahnsinnige Rachepläne hinter lassen hatten. Sir George kümmerte sich darum, dass die Arbeit auf seinem Besitz rasch wieder aufgenommen wurde. Die Ernte für dieses Jahr war zum größten Teil zerstört, was einen herben Verlust be deutete. Hinzu kamen die Verwüstungen im Herrenhaus und den Ne bengebäuden. Nach Picos Tod hatte der junge Kolonialherr für eine Weile selbst die Arbeit des Verwalters und Vorarbeiters übernommen. Dabei wurde ihm allerdings bald klar, dass Jabo gesiegt hatte; die Zer störungen waren zu groß, um innerhalb annehmbarer Zeit wieder schwarze Zahlen schreiben zu können. Die Plantage war ruiniert. George Hemmings erschien dies allerdings nicht wie das Ende der Welt; im Gegenteil. Nachdem feststand, dass nichts mehr zu retten war, setzte er sich umgehend mit seiner Hausbank in Kingston in Verbindung und be auftragte diese, alles zu verkaufen. Er ahnte, dass es ihm nur auf diese Weise gelingen würde, einen Schlussstrich unter das Gewesene zu ziehen und mit Estrella neu anzufangen. Das junge Mädchen hatte in den vergangenen Monaten viel zu lei den, zeigte sich aber überaus tapfer. Nicht nur der Tod des geliebten Vaters war für sie schwer zu verwinden. Auch die Erinnerung an all das Schreckliche, das hinter ihnen lag, machte Estrella noch lange zu schaffen. Und sie war sehr erleichtert, als George ihr mitteilte, dass sie woanders neu anfangen würden. Estrella dachte an Kingston und spür te verhaltene Freude auf ein Leben in der Stadt, das ihr bislang unge kannten Luxus bieten würde. Sie ahnte nicht, dass George ganz ande re Pläne hatte. Der Besitz der Hemmings war eine begehrte Immobilie. Es dauerte nicht lange, bis sich Interessenten meldeten, die auch im jetzigen Zu 96
stand kaufen wollten. Nach nur wenigen Wochen war der Handel per fekt; ein Geschäftsmann aus Kingston erhielt den Zuschlag. Er wollte nicht selbst auf dem Land wohnen, doch die Plantage sollte in ihrer jetzigen Form erhalten bleiben. Eine Gedenktafel neben dem Portal des Herrenhauses, die Sir George hatte anbringen lassen, erinnerte an den Erbauer und Gründer der Plantage, Sir Humphrey, der nun unweit des Hauses, auf dem Privatfriedhof neben seiner Tochter die letzte Ruhe gefunden hatte. Nachdem der Kauf perfekt war, offenbarte George seiner Verlob ten seine Pläne. »Ich werde einen Teil des Verkaufserlöses an die Hin terbliebenen von Jabo weitergeben. Ich denke, damit ist die alte Schuld endlich gesühnt. Und wir beide können reinen Gewissens Ja maika verlassen.« Estrella schaute ihn erstaunt an. »Jamaika verlassen?«, wiederhol te sie. »Aber wohin wollen wir denn gehen?« »Ich habe mit einem Onkel Kontakt aufgenommen, der in Win chester lebt. Er verwaltet unseren Besitz dort, Manning-House. Mein Vater hat das Land einst verlassen, um hier sein Glück zu machen. Nun lebt Onkel Henry fast allein dort. Er hat keine Nachkommen und war von meinem Vorschlag, nach England zurückzukehren, sehr ange tan. Wie es scheint, sind viele Reparaturen an dem Gebäude nötig geworden, die er selbst nicht bezahlen kann. Da kommt ihm ein be tuchter Neffe aus Übersee gerade recht... Nun, was sagst du, Estrella? Würdest du mich nach Manning-House begleiten? Könntest du dir vor stellen, dort den Haushalt zu übernehmen und dein Leben mit mir zu verbringen? Es wird anders sein als hier, das ist gewiss. Wir könnten unbelastet von der Vergangenheit ein neues, gemeinsames Leben be ginnen. Wäre das den Versuch nicht wert?« Das junge Mädchen hätte am liebsten spontan ja gesagt. Doch es gab noch einiges, was sie zögern ließ. Ihr Vater lag hier begraben, sie war auf Jamaika geboren, hatte die Insel nie verlassen. Würden die Menschen in England sie als Frau von Sir George überhaupt akzep tieren? Vieles schien gegen diese Entscheidung zu sprechen. Der junge Mann spürte, was in ihr vorging und versicherte: »Es gibt kein Prob lem, das wir zusammen nicht lösen können. Du musst mir einfach ver 97
trauen, Estrella. Unsere Liebe ist stark genug, alle Stürme des Lebens zu bestehen. Ich denke, das haben wir uns beiden bereits mehr als einmal bewiesen. Oder bist du anderer Meinung?« »Nein, eigentlich nicht. Aber ich fürchte mich auch ein wenig vor dem Neuen, dem Unbekannten.« Sie lächelte zaghaft. »Trotzdem sage ich ja. Wo du hingehst, dahin will ich dir folgen, George. Ohne doch hätte mein Leben gar keinen Sinn mehr.« »Das hast du schön gesagt.« Er küsste sie zärtlich und atmete tief durch. »Dann werde ich die Schiffspassagen für uns kaufen!« Gesagt, getan. Bereits drei Tage später stachen Sir George und seine frisch angetraute Frau Estrella mit dem Segelschiff ›Hope‹ in See, Richtung England. Es wurde eine lange und teils auch be schwerliche Reise. Doch schließlich kam das junge Ehepaar im Früh jahr des Jahres 1888 sicher im Hafen von Plymouth an. Vor ihnen lag ein neues Leben, das spürten sie beide, als sie an Land gingen. Der Himmel war klar, die Luft war rein und über der bunten Hafenstadt lag der fröhliche Hauch des Frühlings. Und als Sir George die Hand nach Estrella ausstreckte, legte sie ihre Rechte vertrauensvoll in seine und folgte ihm - wie sie es versprochen hatte - dorthin, wohin er sie führte: In eine glückliche Zukunft, die nichts mehr wusste von den dunklen Schatten der Vergangenheit. Ende
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