ERNTEN, DANKEN, ERZÄHLEN von Rudolf Wolter
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Rudolf Wolter
ERNTEN, DANKEN, ERZÄHLEN (2005)
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littera scripta manet
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. Ausgabe, Oktober 2005 © Rudolf Wolter 2005 für den Text © eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe Titelseitenphotographie: © Rudolf Wolter Titelbild: Jonathan Ruchti
Inhalt Vorwort Bekenntnis bei der Ablieferung der Erntegaben
Erzählungen Das Tischgebet Der Apfel Die Milch ist alle Das Zauberwort Mit den Füßen im Essen Gott sei Dank! Feiern, einfach so Wem wir Dank sagen müssen Gott wartet Der Schokoriegel Ererbt Oma ist sonderlich Danken ist beschwerlich Selbst ist der Mann Und morgen ein neues Auto Ein Dorf dankt Dem Himmel sei Dank Das Erntefrüchtchen Hauptsache, man ist gesund
Lieder und Gedichte zu Dank und Ernte Nun laßt uns Gott dem Herren Wir pflügen, und wir streuen Freuet euch der schönen Erde Herr, die Erde ist gesegnet Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland Herbstbild Herbsttag Herbstgefühl Spaziergang am Herbstabend Herbst Herbst Reinertrag Sommerbild Septembermorgen Oktoberlied Im Herbste Herbst Verklärter Herbst
Vorwort Rudolf Wolter, geb. 940, war in seiner aktiven Dienstzeit in sozialen Brennpunkten als Pastor tätig. Besonders am Herzen lag ihm das Erntedankfest, gerade auch in der Großstadt. Als Mittel wählte er in seinen festlichen Gottesdiensten die narrative Predigt. So wird in vielen seiner Geschichten die Bibel erzählend ausgelegt. Das mag den Menschen, die in der Kirche tätig sind, eine Anregung für Formen ihres Dankens sein. Anderen mögen seine Geschichten zeigen, wie sehr das Danken das eigene Leben verändert und bereichert. Liedtexte und Gedichte aus der Tradition sind als Bausteine beigefügt.
Bekenntnis bei der Ablieferung der Erntegaben Wenn du in das Land kommst, das der Herr, euer Gott, euch geben will, wenn du es in Besitz genommen und dich darin eingerichtet hast, dann sollst du die ersten Früchte deiner Ernte in einen Korb legen. Du sollst damit zu der Stätte gehen, die der Herr, euer Gott, auswählen und dafür bestimmen wird, daß sein Name dort wohnt. Du sollst vor den Priester treten, der zu jener Zeit dort den Dienst versieht, und sagen: „Heute bestätige ich vor dem Herrn, deinem Gott, daß ich in das Land gekommen bin, das er unseren Vorfahren durch eine eidliche Zusage für uns versprochen hat.“ Wenn dann der Priester den Korb entgegengenommen und vor den Altar des Herrn gestellt hat, sollst du vor dem Herrn, deinem Gott, bekennen: „Mein Vorfahr war ein heimatloser Aramäer. Als er am Verhungern war, zog er mit seiner Familie nach Ägypten und lebte dort als Fremder. Mit einer Handvoll Leuten kam er hin, aber seine Nachkommen wurden dort zu einem großen und starken Volk. Die Ägypter unterdrückten uns und zwangen uns zu harter Arbeit. Da schrien wir zum Herrn, dem Gott unserer Väter, um Hilfe. Er hörte uns und half uns aus Not, Elend und Sklaverei. Er versetzte die Ägypter durch seine staunenswerten Wundertaten in Angst und Schrecken. Er führte
uns mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus Ägypten heraus. Er brachte uns an diese heilige Stätte und gab uns dieses Land, das von Milch und Honig überfließt. Und hier bringe ich nun die ersten Früchte der Ernte, die ich in dem Land eingebracht habe, das der Herr mir gegeben hat.“ Dann sollst du deinen Korb vor den Altar des Herrn stellen und dich vor dem Herrn, deinem Gott, niederwerfen. „Genieße voll Freude all das Gute, das er dir und deiner Familie gegeben hat, und laß auch die Leviten und die Fremden, die bei dir wohnen, daran teilhaben.“ (Deuteronomium 26)
Erzählungen
Das Tischgebet Jetzt habe ich ein Geheimnis, dachte Martina, ein richtiges Geheimnis. Nicht eines wie sonst, das sie dann doch Mama erzählen konnte oder Nadine oder Katharina. Dies war ein richtiges Geheimnis, das sie niemandem sagen durfte. Sie preßte ihre Faust fest um den Kellerschlüssel. Früher hätte sie es noch Mama sagen können. Papa nicht. Papa hörte nie zu. Papa hatte nie Zeit, Papa mußte immer arbeiten, auch wenn er mal zu Hause war. Papa sagte immer: Ich muß doch Geld verdienen, was meinst du wohl, warum wir nun ein neues Auto und diese teure Wohnung und unseren Campingbus haben, und du willst nun noch ein Mountainbike, das kostet doch alles Geld, und das will verdient werden, laß mich arbeiten und stör’ mich nicht immer, geh’ doch fernsehen in dein Zimmer. Darum ging Martina immer zu Mama, wenn sie etwas erzählen mußte. Aber diesmal konnte sie es nicht einmal Mama sagen. Diesmal war ihr Geheimnis zu groß, und außerdem war alles anders als früher. Mama hatte jetzt Sorgen und Papa war immer zu Hause. Papa saß auf dem Sofa und hatte keine Arbeit mehr, zuerst dachte Martina, das wäre Urlaub, aber sie fuhren gar nicht weg mit dem Campingbus.
Papa saß auf dem Sofa, las Zeitung und hatte keine Arbeit. Da dachte Martina, das wäre nur heute so. Papa hatte es selbst immer gesagt. Wer Arbeit will, der findet welche, und Papa wollte Arbeit, oder etwa nicht? Willst du keine Arbeit, hatte Martina gefragt, und Papa war rot geworden, hatte gebrüllt: Schaff ’ das Kind hier ’raus! Mama hatte geweint und Papa sich einen Schnaps eingeschenkt. Ja, Mama hatte Sorgen und den Kopf voll, und Martina den Kellerschlüssel in der Faust und durfte nichts sagen, seit drei Tagen schon. Da hatte es angefangen. Sie kam vom Turnen und es wurde dämmerig. Sie sah den Mann schon von weitem. Unheimlich war ihr, als sie ihn auf der Parkbank liegen sah. Sie wollte ganz schnell vorbeigehen, ganz schnell, und sie wollte so tun, als sähe sie ihn nicht. Männer, die auf Parkbänken liegen, sind tot oder betrunken, auf jeden Fall aber machen sie Angst. Martina spürte ihr Herz klopfen bis zum Hals. Sie ging ganz schnell vorbei, aber dann geschah es. Der Mann auf der Bank lächelte sie an. Sein dunkles, unrasiertes Gesicht lachte, lachte mit fröhlichen Augen, die ihr zublinzelten. Da blieb Martina stehen. Sie könnte ja immer noch weglaufen. Sie war sehr schnell. Der würde sie bestimmt nicht einholen und dahinten war ja schon ihr Haus. Der Mann lag auf der Bank und lächelte. Hast du kein Bett, fragte Martina. Nein, sagte der Mann lächelnd. Willst du hier schlafen, fragte Martina. Ja, sagte der Mann. Er lächelte immer noch. Hast du denn was zu essen, fragte Martina.
Nein, sagte der Mann und lächelte. Hast du auch keine Zahnbürste, fragte Martina. Nein, sagte der Mann und lächelte. An diesem Abend kam Martina zu spät vom Turnen nach Hause. Mama schimpfte über ihr Bummeln. Ich mach mir doch Sorgen, sagte sie. Es ist schon fast dunkel, sagte sie. Ich hab doch Angst, sagte sie. Aber seit diesem Abend schlief der Mann in ihrem Keller, und niemand wußte davon. Martina brachte ihm Brot in den Heizungskeller und Butter und Milch, sie brachte ihm Decken und Kissen und Papas alten Ledermantel auch. Als sie nichts mehr aus dem Küchenschrank und dem Kühlschrank nehmen konnte, ohne daß es auffiel, nahm sie ihr Taschengeld. Sie schloß den Keller abends auf und morgens zu. Abends kam der Mann und morgens ging er. Er lächelte immer und sagte Danke für das Brot, Danke für die Butter, Danke für die Milch, Danke für die Decken, Danke für das Kissen, Danke für den Mantel. Martina nannte ihn Danke, und Danke war nun ihr Geheimnis. Danke im Keller. Danke kam abends und ging morgens, und sie durfte niemandem von Danke erzählen. Aber nun war auch ihr Taschengeld alle, und sie konnte Danke kein Essen mehr kaufen, und sie durfte niemandem davon erzählen. Mit langsamen, zögernden Schritten ging Martina nach oben. Papa saß auf dem Sofa und hatte keine Arbeit. Hast du Geld, Papa, fragte Martina. Ich brauche Geld, sagte Martina. Papa sah vom Fernseher auf und sagte: Ich auch. Martina gab nicht auf. Ich brauch’ aber was, sagte sie. Ich brauche Geld
für Danke! Weil alles viel zu schwer zu erklären war, sagte sie: Komm mal mit! Papa blieb den ganzen Abend bei Danke im Heizungskeller. Sie müssen da Bier getrunken haben. Martina sah am nächsten Morgen die leeren Flaschen. Papa selbst schmierte nun abends einen Teller voll Brot für Danke und Martina brachte es hinunter. Papa hatte ein lustiges Wort dafür. Wenn er einen neuen Teller nahm und Brot schmierte, sagte er: Jetzt kommt unser Tischgebet, Martina. Und er sagte: Bring’ unser Tischgebet hinunter, Martina, und er zwinkerte ihr zu. Wenn Danke noch nicht da war, stellte sie es ihm neben die Decken. Wenn er aber da war, lächelte er und sagte Danke. Danke für das Brot. Danke für die Milch. Danke für das Bier. Sie führten auch ein Tischgebet für morgens ein, für das Frühstück. Aber manchmal war Danke dann schon weg.
Der Apfel Den Jungen auf der Schaukel kannte Tommie nicht. Der mußte neu hier sein, saß auf der Schaukel, schwang hin und her, her und hin, grinste und biß in einen grünen Apfel. Tommie hörte das Knacken, als der Junge zubiß, und er sah den Saft spritzen. „Auch mal?“ fragte der Junge auf der Schaukel. Tommie schüttelte den Kopf. Man kann doch wirklich nicht so einfach in einen Apfel beißen. Wenn man einen Apfel will, dann muß man einen Teller holen und ein Messer, und dann nimmt man den Apfel und geht zum Spülbecken und wäscht ihn ab und dann zum Handtuch und trocknet ihn ab, und dann muß Tommie seine Mama rufen, die schält dann den Apfel, so eine ganz lange Schale kann sie machen, seine Mama, und dann wird der Apfel in vier Teile geschnitten, und dann schneidet Mama aus jedem Teil das Innere heraus und dann kann Tommie einen Apfel essen. So gehört sich das. Tommie sah den Jungen auf der Schaukel neugierig an. Wieder und wieder biß der Junge zu, und Tommie wartete. Wann fiel der Junge denn nun von der Schaukel? Es konnte nicht mehr lange dauern. Der Apfelrest war schon ganz klein geworden, und Tommie sah kaum noch Schale. Jetzt mußte er doch wirklich bald von der Schaukel fallen, krank oder sogar
tot. Denn das wußte Tommie ganz genau: In der Schale des Apfels steckt das ganze Gift. Seine Mama sagte es immer wieder. Das Gift von den Autos und den Schornsteinen, das steckt in der Schale des Apfels. Jetzt warf der Junge auf der Schaukel das Kerngehäuse des Apfels in hohem Bogen in die Büsche. Und er fiel nicht von der Schaukel und wurde nicht krank und ging nicht tot. Tommie mochte den Jungen, der vom Gift in der Apfelschale nicht krank wurde und nicht starb. Der Junge mußte wirklich stark sein. Später spielten sie Kriegen und fuhren mit ihren Rädern um den Block Sie wurden echte Freunde. Und immer wieder sah Tommie seinen neuen Freund von der Seite an. Der aß Nüsse, die doch ganz dick voll Gift waren, und Weißbrot und Fischstäbchen, der trank Wasser einfach aus der Leitung und wurde nicht krank. Tommie wurde ganz neidisch auf Christian, der so stark war. Wie machte der Christian das bloß? Ob der einen Zauber wußte, den man sagte, und dann kann man alles essen, alles voll von Gift und wurde nicht krank? Eines Nachmittags hielt Tommie es nicht aus. Als sie nach dem Spielen noch zu Christian raufgingen und Christians Mama in der Küche stand am Herd und Pilze briet, die in der Pfanne dampften und brutzelten, da sagte Tommie: „Christian hat Pflaumen gegessen!“ Christians Mutter sah Tommie an. „Vom Baum am Spielplatz“, sagte Tommie. „Ja“, sagte Christians Mutter „und?“ „Ungewaschen!“ rief Tommie. „Und Brombeeren hat er gegessen, die von der Mauer an der Straße!“
„Ja und?“ fragte Christians Mama. „Wird er denn nicht krank?“ Tommies Stimme klang ganz entsetzt. „Ach so“, sagte Christians Mutter, stellte den Herd ab und beugte sich zu Tommie. „Das meinst du. Weißt du, Tommie, ich hoffe, daß Christian nicht krank wird. Die Sache ist doch so: Der liebe Gott hat den ganzen Sommer lang geholfen, damit die Beeren und Äpfel und Pflaumen wachsen. Er ließ die Sonne scheinen, er ließ es regnen. Er ließ die Bienen fliegen und den Wind wehen. Und wenn nun niemand die schönen Früchte ißt und sie am Baum faulen oder runterfallen und vermodern, dann war doch alles ganz umsonst. Das ist doch wie ein Geschenk, das wir nicht annehmen. Da wird der liebe Gott ganz schön traurig sein.“ „Und das Gift?“ unterbrach Tommie. „Da hast du recht“, antwortete Christians Mutter. „Wir hoffen, daß es noch nicht so schlimm ist, und damit es nicht schlimmer wird mit dem Gift in allen schönen Früchten, fahren wir auch nur ganz wenig Auto und passen auf, daß es durch uns nicht mehr Gift in der Welt gibt, und wir sagen der Regierung, sie soll das Gift verbieten.“ Darüber hat Tommie noch oft nachgedacht, eigentlich fast immer, wenn er einen Apfel sah. Und einen Apfel mit Schale, den hat er auch schon gegessen.
Die Milch ist alle Die Milch ist alle. Sarah hat die letzte Packung aus dem Kühlschrank leergemacht. Nun ist die Milch alle. Jonathan hat aber Durst. Und die Milch ist alle. Wo kommt neue Milch her? Kein Problem – Mama muß einkaufen fahren, und bei SPAR aus der Kühltruhe holt sie die Milch. Der Honig ist alle. Sarah hat das Glas ausgekratzt. Nun ist es leer. Jonathan muß sein Brötchen nur mit Butter essen. Mama wird neuen Honig holen. Der steht in Gläsern im Regal beim Supermarkt. Die Butter ist alle. Sarah hat sich ihr Brötchen dick bestrichen, und nun ist das Butterfaß leer. Mama muß auch Butter mitbringen, wenn sie einkaufen fährt. Die Butter liegt im Supermarkt gleich neben der Milch. Mama kann alles kaufen. Mama hat Geld. Und wenn Mama kein Geld mehr hat? Kein Problem, dann fährt sie zur Bank und holt sich neues Geld. Das hat sie oft genug gesagt: Ich muß noch zur Bank und Geld holen, ich hab nichts mehr. Das ist alles ganz einfach, denkt Jonathan. Zuerst holt Mama Geld, dann fährt sie einkaufen, und alles ist wieder da. Vielleicht bringt sie für Jonathan auch etwas zum Naschen mit. Schokolade vielleicht, oder Lakritz.
Aber erst einmal geht Jonathan zu Oma Kreuz. Oma Kreuz heißt Kreuz, weil sie immer ein Kreuz schlägt, so etwa: oben, unten, links und rechts. Und wieder oben, unten, links und rechts. Oma Kreuz steht am Gartenzaun und fegt das Laub. Der Herbstwind hat es von den Bäumen gerissen. Jonathan fragt Oma Kreuz: „Hast du schon gefrühstückt?“ Oma Kreuz fragt gleich zurück: „Was ist, hast du Hunger?“ Jonathan nickt. „Na, dann komm!“ Oma Kreuz geht mit Jonathan in ihr kleines Häuschen, und sie hat alles. Sie hat Milch, sie hat Honig, sie hat Butter. Oma Kreuz holt einen frischen Brotlaib aus dem Kasten, macht ein Kreuz darüber und schneidet eine dicke Scheibe ab. Sie schmiert auch dick frische Butter auf das Brot. Dann schneidet sie einen rotbäckigen Apfel. Mit kleinen Apfelscheiben belegt sie das Brot. Und Jonathan ißt. Er fragt mit vollem Mund: „Warum machst du das?“ „Was meinst du?“ fragt Oma Kreuz. „Na, das mit dem Kreuz?“ „Das weißt du nicht? Ich dachte mir, das wüßte jedes Kind. Aber, macht auch nichts, dann werde ich es dir eben erzählen. Ich habe nicht immer hier gelebt, in diesem kleinen Haus. Als ich noch jünger war, lebte ich in Bangladesh, das ist sehr weit weg von hier. Ich arbeitete als Ärztin in diesem Land. Und dort, in diesem fernen Land, gibt es auch Kinder, viele Kinder gibt es da. Sie leben aber nicht in richtigen Häusern, sondern in Hütten. Und wenn sie morgens von ihrer Matte aufstehen, denn Betten haben sie dort nicht, dann haben diese
Kinder auch Hunger wie du. Sie wollen ihre Milch haben, ihr Brot, ihre Butter, ihren Honig. Aber es gibt nichts zu essen in den Hütten der Armen. Da gibt es nicht ein Korn Reis in der ganzen Hütte. Und dann gehen diese Kinder arbeiten, sie arbeiten in den Steinbrüchen, auf den Feldern, in den Fabriken. Sie betteln auf den Straßen. Und wenn sie Glück haben, sehr viel Glück, dann bekommen sie am Abend etwas zu essen. Oft kamen diese Kinder zu mir, und sie waren krank vor Hunger. Ich konnte ihnen so oft nicht mehr helfen. Dann starben sie in meinen Armen, weil sie so lange nichts zu essen hatten. Seit damals mache ich ein Kreuz über dem Brot. Damit danke ich Gott dafür, daß er mir etwas zu essen gibt.“ Jonathan kaut beim Zuhören, der Apfel schmeckt süß, die Butter ist dick, das Brot ist lecker. Als Oma Kreuz schweigt, fragt er mit vollen Backen: „Und du meinst, er sieht das?“ „Ich glaube schon. Vor allem aber: wenn ich das Kreuz mache, dann weiß ich, daß ich teilen muß mit allen Menschen, im Norden, im Süden, im Osten, im Westen.“ Als Jonathan gegessen hat und spielen geht, murmelt er vor sich hin: „Im Norden, im Süden, im Osten, im Westen. Im Norden, im Süden, im Osten, im Westen.“ Und er denkt an die Kinder, die dort in den Steinbrüchen arbeiten, und die Hunger haben. Und er denkt an das leckere Brot mit Apfel. Und da schlägt er auch das Kreuz, und er kommt sich gar nicht komisch dabei vor.
Das Zauberwort Träge tickt die Uhr die Zeit. Der Regen trommelt am Fenster. Tine liegt auf dem Teppich und langweilt sich. Nichts passiert. Gar nichts. Tine wippt mit einem Bein. Tine wippt mit dem anderen Bein. Träge tickt die Uhr die Zeit. Nichts passiert. Gar nichts. Tine langweilt sich. Ein grauer Tag, grau wie der Teppich, grau wie der Himmel, grau, grau, grau. Zum Frühstück war der Kakao alle. Tine mag keine Milch ohne etwas drin. Zum Frühstück war der Toast alle. Tine mag kein Graubrot. Mama sortiert Wäsche und hat keine Zeit zum Vorlesen. Das blaue Kleid hat Flecken von Tomatensoße und die Latzhose sieht doof aus. Das Kämmen ziepte fürchterlich und die Spange ist weg. Das Fahrrad hat einen Platten und ihre Freundin ist verreist. Tine auf dem Teppich gähnt. Wenn ich eine neue Puppe hätte, denkt Tine. Einen Puppenwagen. Eine Puppenstube. Ein Bügelbrett wie die Mama.
Wenn ich ein neues Fahrrad hätte und einen Papa mit Zeit. Ein Puppenherd wäre auch nicht schlecht. Tine träumt … Sie steht mitten in einem Spielzeugladen. Tausend Puppen schauen sie an. Blonde Haare, schwarze Haare, lange Kleider, kurze Kleider, Babypuppen und Barbiepuppen. Puppenwagen und Puppenkarren, Puppenherde groß und klein, die Mama würde neidisch sein. Bügeleisen, Bügelbretter, sogar eine Waschmaschine. Tine staunt und staunt. Tine läuft auf ein Regal zu, auf die Puppe mit dem Samtkleid in Rot und dem goldenen Fließhaar. Da dreht sich der Schlüssel im Schloß. Papa ist da. Das Licht flammt auf und sticht in Tines Augen. „Schade Papa,“ ruft Tine, „so ein schöner Traum! Du hast meinen Traum kaputtgemacht!“ Tine erzählt Papa ihren Traum. Und sie erzählt von ihrem grauen Tag. Sie erzählt, was alles nicht da war, und was alles schief ging, und von ihrer Langeweile, und daß sie kein Spielzeug hat und … und … und … Papa hört sich alles an. „Tine“, sagt er dann, „Tine, ich hab’ etwas für dich. Ich glaube, ich hab’ das Zaubermittel gegen so graue Tage. Warte einmal, ich hol’s dir.“ Papa hebt Tine auf den Teppich, sie war nämlich auf seinen Schoß geklettert. Er geht nach nebenan und Tine ist ganz gespannt. Ein Zaubermittel? Einen Zauberstab? Einen Zauberhut? Kann Papa zaubern? Papa kommt wieder. In der Hand hat er einen Briefumschlag. „Hier ist es drin,“ sagt Papa, „das Zaubermittel. Paß auf, Tine: Immer, wenn du traurig bist, dann nimmst du diesen Umschlag und holst das Zaubermittel heraus. Willst du?“
„Ja,“ ruft Tine, „ja!“ Und sie springt hoch und reißt Papa den Umschlag aus der Hand. Ratsch, hat sie ihn aufgerissen. Eine Karte ist darin. Ein Wort steht darauf. Ein Wort nur. Das Zauberwort? Was steht da? Nur dies, fünf Buchstaben: Danke, steht da. Tine ist enttäuscht. „Wollen wir es mal probieren?“ fragt Papa. Tine nickt. Da fängt Papa an: „Du liegst morgens im Bett, wachst auf, und der Regen klopft an die Scheiben. Du nimmst das Zauberwort und sagst: Danke, daß ich sehen kann. Danke, daß ich aufstehen kann. Danke dafür, daß ich mit Gummistiefeln durch die tiefen Pfützen patschen kann. Das magst du doch, oder?“ Tine nickt. Papa macht weiter: „Du kommst zum Frühstück, und Kakao und Toast sind nicht da. Du nimmst das Zauberwort und sagst: Danke für Haferflocken, Milch und Honig – die magst du doch, nicht wahr?“ Tine nickt. Und Tine nimmt den Umschlag mit der Karte und läuft in ihr Zimmer und legt ihn neben ihr Bett. Sie will es mal probieren mit diesem Zauberwort. Bei nächster Gelegenheit.
Mit den Füßen im Essen Eigentlich ist Papa gar nicht so. Papa bringt Eis mit, wenn er von der Arbeit kommt. Papa geht mit seinen beiden Kleinen in den Zirkus. Wenn Mama abends unterwegs ist, dürfen sie ganz lange fernsehen. Papa schimpft selten, und wenn er schimpft, kann Maren ihn ganz leicht wieder zum Lachen bringen. Aber diesmal ging das nicht. Diesmal war Papa ernsthaft böse. Richtig lange geschimpft hat er. Und alles das nur, weil er Maltes Ränzel aufgemacht hat. Malte hat einen schönen Ränzel. Außen. Krokodile sind darauf zu sehen, ein Tiger, der durch das Gebüsch schleicht. Es ist ein richtiger Dschungelränzel, ein Abenteuerränzel. Innen im Ränzel ist auch ein Dschungel, ein Dschungel von zerknülltem Papier, zerknicktem Rechenbuch und zerrissenen Unterrichtsblättern, verklebten Malbögen. Aber die haben Papa nicht böse gemacht. Es waren die zerquetschten, faltigen, fettigen Butterbrotpakete. Hasenbrot, sagt Mama dazu, weil nur die Hasen mit ihren langen Zähnen das steinharte Brot noch beißen können. Aber Papa redete nicht vom Hasenbrot. Er wickelte das erste Paket aus, klappte das alte Brot auseinander, sah den ledernen Käse, legte es auf den Tisch. Auch das nächste Brot packte er aus, roch an der säuerlichen Leberwurst, legte es auf den
Tisch. Auch das nächste und das übernächste Brot war nicht frischer. Malte hat in der Pause keine Zeit zum Essen. In der Pause muß er spielen. Sonst kommt wieder Frau Grage und holt sie rein, und dann müssen sie malen oder rechnen oder lesen. Spielen ist aber schöner, meint Malte. Als Malte Papa beim Ränzelaufräumen helfen wollte, die Frühstücksbrote auf dem Tisch mit beiden Armen zusammenrakte und in den Mülleimer warf, ging es richtig los. Papa schimpfte und schimpfte, Brot wirft man nicht weg, und sie sollten an die Kinder in Afrika denken, aber Malte wußte gar nicht, wo Afrika ist, er konnte das Brot also gar nicht nach Afrika bringen. Maren nahm sich fest vor, ihrem kleinen Bruder zu helfen. Sie wußte, daß die Post überall hinkommt. Wenn sie Malte nun sagte, daß neben der Schule ein gelber Briefkasten hinge? Aber sie sagte lieber nichts. Papa redete ohne Pause. Da in Afrika hätten sie nichts zu essen, weil es so trocken sei, die Kinder hätten vor Hunger ganz dicke Bäuche (wie geht denn das, dachte Maren, wenn man nichts mehr ißt, wird man dünn) und, und … Papa schimpfte weiter. Er hörte gar nicht wieder auf. Erst am Abend, als Maren im Bett lag, erklärte er ihr, daß man nur zuerst dünn wird, wenn man nichts zu essen bekommt, aber dann schwelle der Bauch an und dann würden die Kinder krank und stürben. Am nächsten Tag bekam Malte kein Schulbrot mit. Aber das war keine Strafe für Malte. Auf dem schönen Ausflug war Papa wieder so böse. Sie hatten ihre Fahrräder zusammengestellt, die Decke auf dem dichten Gras am Wegrand ausgebreitet, Papa und Mama zogen sich fast ganz aus, weil ja Leute kommen könnten, behielten
sie nur etwas an, Papa las seine Zeitung mit der Sonnenbrille, Mama streckte sich aus und wollte noch brauner werden, und Maren und Malte durften spielen. Das taten sie dann auch, sie spielten Verstecken und Räuberüberfall. In dem hohen Korn waren sie nicht mehr zu sehen, auch wenn sie nur wenige Schritte voneinander entfernt waren. Es war richtig spannend, den anderen zu suchen oder zu warten, ob er einen finde. Malte raschelte ein paarmal ganz dicht an Maren vorbei. Sie hätte ihn anfassen können, so dicht war er bei ihr, aber er sah sie nicht. Doch dann machte Papa ihr schönes Spiel kaputt. „Wie könnt ihr euer Brot zertrampeln“, schimpfte er. „Wie kann man nur so dumm sein und durch das Getreidefeld laufen. Das ist unser Brot.“ Mama sagte: „Sch, sch“ und „Kommt doch einmal her, hier auf die Decke.“ Und dann erzählte Mama eine Geschichte. Sie erzählte von der Roggenmuhme, die, wie ganz alte Bauern wissen, in jedem Kornfeld wohnt. Und wenn Kinder nicht an die Roggenmuhme denken und durch ein Feld laufen, weil der Weg kürzer ist oder weil sie Verstecken spielen wollen, dann kommt es schon vor, daß so ein Kind plötzlich verschwunden ist, nicht nur für einen Augenblick, sondern für immer, und die Eltern müßten sich dann die Augen ausweinen. Und aus Angst vor der Roggenmuhme würde kein Bauernkind jemals durch das Getreide trampeln. Maren glaubte nicht an die Roggenmuhme. Aber sie dachte an die Geschichte von Frau Holle und der Pechmarie. Sie glaubte auch nicht an Frau Holle, aber das stimmte doch an diesem Märchen: Wenn das Brot im Ofen schreit, dann muß man es herausholen, damit es nicht verbrennt. Wenn nicht
jetzt, wann dann, sagt Mama. So war es vielleicht ja auch mit der Roggenmuhme, die Kinder fängt, die durch das Korn laufen. Papa hatte auch ganz still zugehört, und dann stand er auf, raufte einen Halm aus und zeigte ihnen, wie die Getreidekörner in den Ähren wachsen, und er puhlte sie heraus und sie durften die Körner kauen. Nach einer Zeit wurden sie ganz süß im Mund. Maren und Malte wollten nicht mehr mit ihren Füßen durch ihr Essen laufen, und sie spielten von jetzt an im Wald Verstecken und Räuberüberfall.
Gott sei Dank! Kati hat einen komischen Papa. Papa schickt Kati vor die Tür und sagt: Stell doch mal den Regen ab, ich will mit dem Rad ins Büro fahren. Kati hat einen komischen Papa. Papa sagt zu Kati: Schalt doch mal die Sonne an, mir ist so kalt. Kati hat einen komischen Papa. Wenn die Milch sauer geworden ist, sagt Papa: Ich schreibe an die Milchfabrik und beschwere mich! Als das Ei vom Küchentisch rollte und, platsch!, zu Matsch wurde, sagte Papa: Morgen kaufe ich viereckige Eier, die rollen nicht. Die kann ich sogar stapeln. Kati mag den Apfel nur geschält. Papa fragt im Supermarkt: Haben Sie nicht auch Äpfel mit Reißverschluß, so wie die Bananen? Kati hat einen komischen Papa. Papa schenkt Kati ein Stück von der Straße. Papa nimmt eine Schaufel mit und gräbt den Platz neben der Fahrbahn um, wo sonst immer die Autos parken. Kati darf Blumen pflanzen. Papa zieht einen kleinen Zaun. Jeden Abend geht Papa mit Kati zum Straßengarten. Sie nehmen Wasser mit und Dünger. Auch Blumen müssen essen und trinken. Papa fragt: „Habt
ihr Durst?“ Die Blumen nicken. Papa hat’s genau gesehen. Kati gießt Wasser auf die Blumen. Die Blumen blühen gelb und blau. Kati hat einen komischen Papa. Bevor sie zum Campingplatz fahren, gehen sie noch einmal zum Straßengarten. Papa sagt den Blumen: „Auf Wiedersehen!“ und bittet die Sonne um Sonnenschein und die Wolken um Regen. Nach den Ferien auf dem Campingplatz sind alle Blumen dürr und braun. „Sie sind verdurstet“, sagt Papa. „Da können wir nichts machen. Der Sommer war zu trocken.“ Kati ist traurig. Sie weiß, wie schlimm es ist, wenn man Durst hat. Kati sagt jetzt immer: „Papa, bring mir einen Becher Kakao, sonst verwelke ich.“ Kati hat einen komischen Papa. „Du mußt immer ‚Danke!‘ sagen“, mahnt Papa. „Wenn Mama dir die Cornflakes mit Milch hinstellt, mußt du ‚Danke!‘ sagen. Wenn Oma dir ein Eis kauft, mußt du ‚Danke!‘ sagen.“ „Ich kann doch nicht immer ‚Danke!‘ sagen“, meint Kati. „Doch das kannst du“, sagt Papa. Und Papa bleibt stehen, schaut zum Himmel und sagt: „Danke, liebe Sonne, weil du so schön scheinst.“ Papa bleibt auch vor dem Apfelbaum stehen und sagt: „Danke, lieber Apfelbaum, für deine Äpfel.“ Papa sagt auch „Danke!“ zum Fernseher für die Sesamstraße. Kati hat einen komischen Papa. Papa nimmt Kati mit zu einem Dankefest. Da treffen sich ganz viele Menschen in der Kirche, die wollen „Danke!“ sagen. Danke für Sonne und Regen, Danke für Wolken und
Wind, Danke für Cornflakes mit Milch, Danke für Fernsehen und Bilderbücher. Kati kann keinen sehen, dem sie „Danke!“ sagen kann. Mama ist zu Hause geblieben und kocht das Essen. Oma ist auch nicht da. Sie ist verreist. Die Sonne scheint auch nicht in die Kirche und nirgends steht ein Apfelbaum. Kati hat einen komischen Papa. Papa sagt: „Gott sei Dank.“ Papa sagt: „Gott, das ist alles. Gott ist Sonne und Regen, Gott ist Wolken und Wind, Gott ist Mama und Oma. Gott ist Baum und Tier. Cornflakes und Milch hat er auch gemacht. Fernsehen und Bilderbücher auch. Alles eigentlich. Sogar dich und mich.“ Darum sagt Papa: „Gott sei Dank!“ Nach dem Mittagessen sagt Kati nun auch: „Gott sei Dank!“ Mama fragt: „Warum?“ Kati sagt: „Weil ich nicht verwelke.“ Seit diesem Dankefest in der Kirche sagen sie jetzt oft „Gott sei Dank!“ Papa kauft Kati ein Calippo-Eis. Kati sagt: „Gott sei Dank!“ Mama bringt Kati neue Jeans mit aus der Stadt. Kati sagt: „Gott sei Dank!“ Mama gibt Kati einen Gutenachtkuß und sagt auch „Gott sei Dank!“ Kati fragt: „Warum?“ „Weil es dich gibt!“ sagt Mama.
Feiern, einfach so Wer feiert nicht gern Feste? Wenn alle fein angezogen um den Tisch sitzen, wenn Kerzen auf der Tafel brennen, wenn leckere Torten angeschnitten werden, der Kaffee duftet, die Schokolade dampft, wenn die Großen laut lachen wie kleine Kinder, und ihr Atem so scharf riecht nach Schnaps, wer feiert nicht gern Feste? Aber bis dahin ist es ein weiter, beschwerlicher Weg. „Wieviel mal noch in den Kindergarten?“ fragt die kleine Lille, und der große Til sagt müde: „Noch fünfmal Schule.“ Also, was man da laufen muß, bis man alles zusammenhat! Manchmal hat Frau Bürger gar keine Lust mehr. Schließlich kann sie doch ihren Gästen nicht Aldikost vorsetzen, und Kuchen backt man selbst. Oma hat das auch immer gemacht, und die konnte backen! Für das Fleisch hat sie ja einen besonderen Schlachter. Da weiß sie wenigstens, was sie kriegt. Und den Aufschnitt, den holt sie wohl am besten aus der Stadt. Mal was Besonderes. Und da kann sie auch gleich noch mal gukken, ob sie nicht etwas findet, das zu ihrer neuen Hose paßt. Wenn bloß die kleine Lille nicht immer so jammerte, weil alles so lange dauert. „Auf’n Arm“ möchte sie. Wie soll man das machen mit zwei Taschen in der Hand? Und überhaupt: diese Schlepperei für das Fest! Frau Bürger kommt sich vor wie ein Lastwagen. Sie hat schon mal nachgesehen, ob ihre Arme
nicht länger geworden seien vom schweren Tragen. Was man nicht alles braucht für so ein Fest! Herr Bürger wundert sich über die Preise. Also, ein Hunderter ist ja nichts. Aber es ist ja nicht nur das Einkaufen. Erst wird die Wohnung saubergemacht, daß man gar nicht mehr weiß, wo man sich hinlegen soll zum Zeitunglesen, und dann die Kinder … Und die Gardinen hat sie auch noch gewaschen, die Frau Bürger. Und dann das Backen und Kochen. Vieles kann man ja vorher machen, aber es ist ganz schön viel Arbeit. Kaum daß sie Zeit hat, den Kindern die Schüssel zu geben zum Ausschlekken. „Aber klecker’ nicht!“ Dann wird der Tisch gedeckt, und Haare waschen muß sie auch noch! Bis so ein Fest anfängt, dauert es ganz schön lange. Aber auch der längste Weg geht einmal zu Ende. Der Tisch ist gedeckt. Das Wasser aufgewischt von der umgekippten Blumenvase. „Macht nichts, da stellen wir die Torte drüber. Die Kerzen zünden wir an, wenn die Gäste da sind.“ Der Kaffee läuft langsam durch den Filter. Die Kinder streiten an der Tür und warten auf die Gäste. Nichts. Eigentlich müßten sie schon da sein. Nichts. Frau Bürger sieht auf die Uhr. Herr Bürger läuft herum und weiß nicht, wo er sich setzen soll und ob … Wo bleiben die nur? Im Treppenhaus ist Lärm. Unten zieht gerade jemand ein. Ausgerechnet heute. Die großen Möbelwagen versperren den Parkplatz.
Immer noch keine Gäste. Die Kinder laufen die Treppe ’runter. Mal nachsehen, wo die bleiben. Außerdem ist so ein Umzug gut gegen das Warten. Nun sind die Kinder auch noch weg. Und keine Gäste. Christiane kommt doch sonst immer zu früh! Heute nicht. Frau Bürger geht, nach den Kindern sehen. Sie traut ihren Augen nicht. Das kann doch nicht wahr sein! Zuerst sieht sie Beethoven und Christiane. Christiane ist rot im Gesicht und hat Beethoven im Arm. Beethoven ist aus Marmor. Und Christiane trägt ihn die Treppe hoch in die leere Wohnung. Tante Birgit trägt einen Teppich. Onkel Wolfgang faßt hinten an. Da sind sie ja, alle ihre Gäste, und tragen Möbel. „Wir fassen nur mal mit an“, rufen sie und „Hallo!“ und „Tag!“ und „Kannst du auch mal mit anfassen? Die Wagen müssen wieder weg!“ Til trägt einen Globus, Lille eine Lampe. Und in der Wohnung, zwischen den Kisten und zerlegten Möbeln gibt es Cola und Bier. Cola für die Kinder. Und Chips. Und Negerküsse. Alles von Aldi. Wer sich verpusten muß, trinkt einen Schluck. Und dann sitzen sie da, die neue Mieterin, alle die Gäste, Frau Bürger, Til und Lille, sitzen auf Kartons und Kisten, sitzen im Chaos und sind ganz rot vor Lachen. So haben sie noch nie miteinander geredet, miteinander gelacht. Frau Bürger hat ihre Kaffeetafel vergessen. Aber ihren Mann nicht. Lille geht ihn holen. Und später holen sie die Kerzen. Und jeder fühlt es: Dies ist ein Fest. Ein wunderschönes Fest. Ein Fest, einfach so. Frau Bürger wird es nie vergessen. Manchmal, ganz unvermutet, ist es jetzt laut bei ihr. Man hört Reden und Lachen.
Dann feiern die Bürgers wieder. Einfach so. Neulich haben sie gefeiert mit Schwarzbrot, Äpfeln und Milch. Es war gerade nichts anderes im Haus, und trotzdem kam Besuch. Ich habe Herrn Bürger selbst lachen gehört, obwohl er doch keine Milch mag. Das muß wieder ein schönes Fest gewesen sein.
Wem wir Dank sagen müssen Morgens ißt Jana ein Brötchen. Am liebsten die untere Hälfte mit Butter und Honig oder Schokolade oder Erdbeermarmelade. Wenn Papa das Brötchen schmiert, dann gibt es ein Fahnenbrötchen: ein bißchen Schokolade, ein bißchen Marmelade, ein bißchen Honig. Das ist dann Schwarz – Rot – Gold, wie die deutsche Fahne. Dazu möchte sie Milch, aber sie trinkt nicht immer den Becher leer und dann schimpft Mama. Als Mama ihr diesen Morgen wieder ein Brötchen geschmiert hat und es auf ihren Teller legt, greift Jana nach dem Brötchen und beißt hinein. Mama sagt: „Du kannst auch gerne Danke sagen, wenn ich dir ein Brötchen schmiere!“ „Danke!“ sagt Jana, und dann fängt sie an zu träumen: Wenn ich Mama Danke sage, dann müßten Mama und ich auch zum Bäcker gehen und Danke sagen. Und dann müßte der Bäcker mitkommen und wir müßten zum Müller gehen und Danke sagen. Und wenn wir drei dann bei dem Müller sind, ich, Mama und der Bäcker, dann müßten wir vier zum Bauern gehen und Danke sagen. Und dann müßten wir fünf, ich, Mama, der Bäcker, der Müller und der Bauer zum Korn gehen und Danke sagen: „Danke, liebes Korn, daß du so schön gewachsen bist!“ Und das Korn wird uns dann mit zu dem Acker nehmen, und dann werden wir sechs, das sind ich
und Mama, der Bäcker, der Müller, der Bauer und das Korn, sagen: „Danke, lieber Acker, daß du hast das Korn wachsen lassen.“ Dann aber werden wir sieben zur Sonne und zum Regen gehen und werden dort unser Danke sagen. Das muß ich Mama erzählen, denkt Jana, und Jana vergißt das Abbeißen und Kauen, als sie Mama erzählt: „Du, Mama, wenn ich dir Danke sage, dann mußt du mit mir zum Bäcker gehen und Danke sagen. Und dann muß der Bäcker mitkommen und wir müssen zum Müller gehen und Danke sagen. Und wenn wir drei dann beim Müller sind, ich und du und der Bäcker, dann müssen wir …“ Als Jana zu Ende erzählt hat, fragt Mama: „Und dann?“ Dann? Was kommt dann? Jana weiß es nicht. Mama muß helfen. „Denk doch mal an die Sonne und den Regen!“ sagt sie. „Der Himmel!“ ruft Jana. „Richtig,“ sagt Mama, „das alles hat Gott gemacht: Den Himmel, den Acker, das Korn und auch uns Menschen. Ich kenne auch einen Vers, mit dem wir Gott danken können: Von deiner Gnade leben wir, und was wir haben, kommt von dir. Drum sagen wir dir Dank und Preis. Tritt segnend ein in unsern Kreis. Wenn du willst, können wir das immer sprechen, bevor wir etwas essen.“ Aber das findet Jana nicht gut. Der Vers ist ihr zu lang. Außerdem kann sie sich Gott nicht vorstellen. Der ist ihr viel zu groß. Sie sagt lieber Danke zu Mama. Und beim Bäcker kann
sie ja auch Danke sagen, wenn sie nächstes Mal mitkommt, um Brötchen zu holen. Als sie letztes Mal mit ihrer Mama beim Bäcker war, bekam sie einen Keks geschenkt. Und auch der Bauer ist sehr nett, bei dem sie im Urlaub die Milch und die Eier holen. Dem würde sie auch gerne einmal Danke sagen. Der verschenkt nämlich Erdbeeren, wenn man nett ist zu ihm.
Gott wartet Maren hat eine Idee. Maren hat viele Ideen. Sie hatte auch die Idee, Friseurin zu spielen. Alle Puppen ihrer kleinen Schwester mußten sich in eine Reihe setzen, und Maren holte sich Bürsten, Kamm und den Fön aus dem Bad und die Schere von Papas Schreibtisch, und dann bekamen sie alle eine Kurzhaarfrisur, ihre kleine Schwester auch. Zuerst hatte Johanna großen Spaß dabei, aber da hatte sie auch noch nicht in den Spiegel gesehen. Mama war gar nicht begeistert, als sie an diesem Sonntagmorgen endlich aufstand, weil Johanna ziemlich laut weinen kann. Vielleicht war das mit der Friseurin keine so gute Idee gewesen. Aber diese Idee war wirklich gut. Johanna wollte auch gleich mitmachen. Sie schlichen sich über den Flur in die Küche, denn an diesem Sonntagmorgen sollten Mama und Papa noch lange schlafen. Maren füllte sechs Löffel Kaffee in die Maschine und zwei Tassen Wasser, Maren ließ auch Wasser in den Topf laufen, um vier Eier zu kochen, aber es wurden nur drei, weil Johanna so kleine Hände hatte, und ein Ei auf die Fliesen sprang. Johanna durfte dann die Marmelade und die Butter auf das Tablett stellen und den Toaster bedienen. Der Toast wurde sehr dunkel, aber Mama mag sowieso viel lieber Schwarzbrot als den wabbeligen Toast. Maren trug das Tablett
dann über den Flur, Johanna durfte bei Papa und Mama klopfen, und es dauerte lang, bevor Mama antwortete, denn die beiden waren sehr überrascht, sie hätten eigentlich noch kuscheln wollen und für das Frühstück war es noch viel zu früh, und so stellte Maren das Tablett auf Papas Bett, und dann standen Maren und Johanna eine ganze Weile in der Tür des Schlafzimmers und warteten. Mama freute sich über ihre beiden Mädchen, auch Papa machte ein fröhliches Gesicht. Aber Maren und Johanna standen immer noch bei der Tür und warteten. Irgend etwas fehlte. Maren hätte nicht sagen können, worauf sie noch wartete, auch Johanna wußte es nicht, sie blieb nur stehen, weil Maren nicht weiter ging. Etwas fehlte. Maren sah Mama an, sie sah Papa an, die beiden setzten sich auf, nahmen das Tablett in die Mitte, aber immer noch fehlte etwas. Maren hatte so ein Gefühl, wie sie es schon einmal gehabt hatte, als sie heimlich den Fernseher angeschaltet hatte, und dann war Mama schon so schnell vom Einkaufen zurückgekommen, und sie drückte böse den Ausknopf, und der Film war noch gar nicht zu Ende, die Frau war im Keller eingesperrt und der gute Mann suchte sie noch oben im Haus. So ein Gefühl hatte Maren auch jetzt, und darum blieb sie in der Schlafzimmertür stehen. Mama schenkte Kaffee ein, sah ihre beiden Mädchen an, und dann kam es: Danke, sagte Mama, danke, sagte Papa. Nun war alles gut. Maren und Johanna liefen lachend in die Küche, um sich dort ein Müsli zu machen, diesmal mit ganz viel Zucker darin, denn Mama und Papa mußten ja erst einmal frühstücken.
Jetzt, als Papa sagte, am Sonntag wäre Erntedank und erklären wollte, warum jeder Gott danken müßte für die Bäume, die Blumen, das Brot und die Äpfel, da wußte Maren gleich, worum es ging. Der Gott stand sicherlich da in der Kirche und wartete. Aber … wie konnte sie Gott Danke sagen? Sie stellte sich vor, wie sie am Sonntag mit Papa und Mama in die Kirche ginge, und wenn sie da reinkämen, sagten sie alle ganz laut: Gott sei Dank! Irgendwie klang das nicht richtig. Aber Papa wußte, wie man es richtig macht. Für das Brot trügen Kinder einen Kranz aus lauter Ähren in die Kirche, auf dem Tisch vorn in der Kirche lägen Äpfel und Birnen, davor auf den Stufen Gurken und Kürbisse, eben alles, für das Menschen Gott danken müßten. Da hatte Maren wieder ein Idee. Sie ging in ihr Zimmer, stellte ihren Stuhl vor den Kleiderschrank und holte den großen Koffer herunter. Und dann packte Maren ein, wofür sie Gott Danke sagen wollte. Zuerst die neue Hose aus dem Kleiderschrank, aber nicht den Pullover, denn den fand sie doof, weil er kratzte, dann die Kassette vom Wanja, der sieben Jahre faul auf dem Ofen schlief, bevor er Zar von Rußland werden konnte. Maren mochte ohne diese Kassette gar nicht einschlafen, jeden Abend hörte sie die Geschichte von Wanja, fast konnte sie schon alles mitsprechen. Maren packte auch das Buch vom Pferdehof ein und ihre Legosteine, sie ging in die Küche und holte das große Glas Nutella aus dem Regal, sie lief zurück in ihr Zimmer und sah sich um. Wofür konnte sie noch danken? Sie packte auch den Kassettenrecorder ein und ihre Lackschuhe. Der Paddingtonbär mußte auch in den
Koffer. Mit dem kuschelt es sich so schön. Und wie war das mit der Medaille über ihrem Bett? Maren war sehr stolz auf diese goldene Medaille. Sie hatte sie auf dem Sportfest bekommen für den 50-Meter-Lauf. Sie war sich nicht sicher, schließlich war sie gelaufen und erste geworden und nicht der Gott, aber dann warf sie die Medaille doch noch in den Koffer. Maren legte sich auf ihr Bett und dachte nach. War das richtig mit der Medaille? Und wie war das eigentlich mit dem Schwimmbad? Und mit ihrer Freundin Carola? Und wie packte man die Sonne in den Koffer und ihr Fahrrad? Ganz schön schwer war das mit dem Danken. Maren sprang wieder auf und ging auf dem Spielplatz. Der Gott konnte noch etwas länger warten. Mama wunderte sich abends sehr über den Koffer im Kinderzimmer und Johanna suchte das Nutellaglas. Aber Mama hatte auch einen guten Vorschlag. Wir malen einfach ein großes Bild, meinte sie, das kann man dann zusammenrollen und es ist nicht so schwer wie ein ganzer Koffer. Zwei Tage lang haben die drei gemalt, Mama, Maren und Johanna. Und endlich war fast die ganze Welt auf dem Bild. Sogar der Tierpark Hagenbeck und ein Foto vom Urlaub. Mama bestand darauf, auch Fotos von ihren Mädchen aufzukleben. Am Sonntag werden sie es in der Kirche an die Wand hängen und Danke sagen. Dann muß der Gott auch nicht mehr warten.
Der Schokoriegel Der Mann stieg am Jungfernstieg in die U-Bahn. Ein bleiches Gesicht, ein schwammiges Kinn, ein grauer Anzug, nichts war auffällig an ihm. Müde schien er von der Arbeit, jetzt am frühen Abend. Er ließ sich erleichtert auf den Sitz fallen. In seiner kindlich wirkenden Faust hielt er den Riegel, das braue Papier mit der goldenen Schrift war heruntergerissen, verdeckte seine weichen Finger, und dann biß er hinein in die milchig braune Schokolade, die Candycreme zog kleine Fäden. Er kaute mit gewölbten Wangen. Es war nicht das Gesicht eines Genießers, wie man es täglich in der Werbung sieht. Seine Miene war eher mißmutig. Wieder und wieder biß er zu, Happen für Happen verschwand der Schokoriegel in seinem blassen Mund. Dann wurde das Papier knisternd zusammengeknüllt. Der Aschenbecher klappte. Der Mann erhob sich, als die Bahn hielt. Er stieg aus. Bahnhof Emilienstraße. Im Hinausgehen stieß er, ohne sich umzusehen, gegen die kleine Frau, die zwischen den Türen den Kinderwagen festhielt. Dieser graue Mann hatte ihn erschüttert. Die Flut der Bilder, die in ihm hochstieg, konnte er kaum bändigen. An der Ecke Holstenstraße hatte der Einbeinige seine kleine Zeitungsbude, er lächelte immer und war der Herr über die kleinen braunen Stangen aus Persipan, die zwei Groschen
kosteten, und er schmeckte sie schon viele Haltestellen, bevor er dort ankam, auf dem Weg von der Schule. Er sah auch den Teller weiß geflockter Buttermilchsuppe, die nach Anis schmeckte, und die rötliche Brotsuppe, in der aufgeschwemmte Rosinen an die widerlichen dicken Brummer erinnerten – zwei widerliche Geschmäcker, die er zu erdulden hatte, denn aufgegessen mußte werden. Alles andere hätte seine Mutter nicht verstanden. Er sah seinen Großvater vor sich, einen kleinen Westerländer, der jeden Tag in den Hafen ging, um Schiffe zu bewachen, und aus seiner alten Tasche holte er oftmals Sandwichs, in Zeitungspapier gewickelt, weißes, weiches Brot mit gelbem Käse oder Cornedbeef belegt, und die salzige Butter war ranzig, aber das machte nichts. Sie kamen aus einer anderen Welt, in der man nicht in überfüllten Zügen sich quetschte, um Hamstern zu fahren, nach Priesdorf oder Elmshorn. Überbordende Früchtekörbe auf dem Altar und ein riesiges Schwarzbrot, wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, die Orgel füllt mächtig das Gewölbe, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand, Ostern und Pfingsten mußte er nicht zur Kirche, aber an diesem Tag schon, Erntedank durfte er nicht versäumen, kein Jahr. Er konnte nicht sagen, warum das so war, doch dieser Tag war ihm wichtig. Er dachte aber bei dem Erntedank nicht an Ährengarben – die es heute gar nicht mehr gibt, heute sieht man nur weiße Plastikrollen auf den Feldern, er dachte nicht an schwellende gelbe Kürbisse und rotwangige Äpfel. Erntedank, das waren für ihn die kleinen, süßen bunten Ostereier, aus ihrem Inneren floß ein wenig Zuckerwasser,
wenn man sie zerbiß. Auch das hatte mit seinem Großvater zu tun, der dünn und schmächtig morgens durch den Zoll in den Hafen ging und abends mit einem kleinen Spitzbauch zurückkam, Kaffeesäcke platzen nun einmal, wenn sie verladen werden, in der engen Wohnküche lüftete Großvater dann sein Unterhemd, und der grünliche Rohkaffee rieselte auf die Dielen, in einem kleinen gußeisernen Topf wurden die Bohnen auf dem Herdfeuer geröstet, umgerührt mit einem glänzenden, schwarzgebrannten Holzlöffel, und der Duft zog über den langen Flur. Im Nachbarhaus, ganz oben lebte der Herr Hansen, der ein Wohnzimmer hatte und Spitzendecken überall, er kam aus der Bonbonfabrik und hatte für Mutter den Zucker und für die Kinder diese kleinen Ostereier, und der Zucker wurde zum Bäcker getragen, das Brot dann in den Keller der Zeisestraße zur Familie Duttler, in der es acht Kinder gab, und Frau Duttler arbeitete in der Seifenfabrik bei Dralle, und Seife brauchte man auch. So war das damals, ja, so war es. Wachstum und Gedeihen steht in Gottes Hand, und dieser Gott gleicht manchmal einem kleinen, hageren Westerländer, der dünn in den Hafen geht und dick zurückkommt, und der Zoll hat nichts gemerkt, und in der schäbigen alten Ledertasche hat Gott Sandwichs, deren Butter ranzig ist, aber der Käse ist so dick und das Cornedbeef so lecker. Auf Erntedank mochte er nicht verzichten, all die Jahre nicht. Und der graue Mann biß in seinen Schokoladenriegel, als wäre das nichts. Unnasch hätte seine Mutter gesagt, unnasch war das, wie er die Süßigkeit in sich hineinstopfte und zerkaute.
Aber ohne diesen müden und hungrigen Fahrgast wären alle diese Erinnerungen nicht in ihm aufgestanden. Eigentlich war er ihm dafür dankbar. Jetzt wußte er, was er zu tun hatte. Gleich morgen wollte er anfangen. Diesmal ging er nicht an den Geldautomaten, sondern zur Kasse. Blaue Zwanziger und Zehner in Altrosa wollte er, einige bräunliche Fünfziger durften es auch sein, aber nur wenige Scheine. Er hatte es sich genau überlegt, wie immer bei dieser neuen Währung, aber zwanzig Mark, vierzig Mark oder fast Hundert, das war schon etwas. Zwei Tage ließ er sich Zeit und fünf Sozialämter. Die Flure sahen sich alle ähnlich, ob alt, ob neu, der Staat hat immer das gleiche graue Gesicht. Auch die Menschen glichen einander. Sie waren sehr schweigsam, nur drei junge Leute hatten das Lachen noch nicht verloren. Er nahm unter den Wartenden Platz, zweimal mußte er eine Nummer ziehen, sonst schien es sich um eine Schlange zu handeln. Er setzte sich hin, las die Sportberichte in der Zeitung, dann auch die Politik und die Verbrechen in der Stadt. Immer wenn er aufstand und den Flur verließ, blieb auf der Bank ein zusammengefalteter Schein zurück. Einmal wartete er eine halbe Stunde vor der Pförtnerloge, aber als keiner dort etwas abgeben wollte, war er’s zufrieden. Es störte ihn nicht, daß niemand, der das Amt verließ, besonders froh aussah. Sein Großvater hätte auch nicht glückstrahlen dürfen, als er durch den Zoll ging, und er lächelte auch daheim in der Küche selten, denn er war müde und manchmal sehr verfroren von den langen Wachen. Zwischen den Ämtern dachte er mitunter: Für dich, Großvater, oder Gott sei Dank, und er meinte das wörtlich, denn
Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand wollte er singen am nächsten Sonntag. Ja, er kannte die Bilder der Hungerödeme, die mageren Mädchen mit dem Krug auf dem Kopf bei ihrem Weg zum fernen Brunnen, er wußte das alles, und er würde auch dafür etwas geben. Aber er fühlte sich jetzt bei seiner Art des Erntedankes seinem Gott und seinem Großvater etwas näher, und darauf kam es ihm an, seit dieser Fahrgast in seinen Schokoladenriegel biß.
Ererbt Ich weiß nicht, wer sich das ins Zimmer stellt. Das Geschäft für Polstermöbel in dem schönen Altbau am Ende der Hauptstraße in der Kreisstadt zeigt jede Woche neue schiere Scheußlichkeiten in seinen vier Schaufenstern. Aber Geschmack kann man nicht kaufen. Trotzdem: das kupferne Relief über dem geblümten Sofa hat meine Gedanken länger beschäftigt. Es fiel wie ein Samenkorn in meine Seele. Ein wackerer Landmann stapft hinter seinen starken Pferden her, die den Pflug durch die Ackerfurchen ziehen. Und darunter stehen in erhabener Schrift die weihevollen Worte: Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen. Mit großen Plakaten an der Bundesstraße wurde schon seit vier Wochen geworben: Großes Erntedankfest, Umzug und Jahrmarkt, Ernteball und Diskothek. Die Gemeinde verteilte Handzettel. Ein Gottesdienst gehört natürlich auch dazu, am Sonntag um halb zehn Uhr morgens. Ich überlegte, wer von meinen Nachbarn wohl schon wieder nüchtern ist, so früh am Morgen. Kleingedruckt stand unten drunter: Erntegaben für den Altar werden erbeten. Mit diesem Satz begann das Samenkorn zu keimen, und deswegen gehe ich nun hier, den Trauerkranz mit seiner Schleife über meinen Arm gehängt, und ich gehe genau in die
entgegengesetzte Richtung. Da drüben auf der anderen Seite schlendern die jungen Mädchen zur Kirche, ich nehme an, es sind Konfirmandinnen, sie tragen Ährenbündel, einen Korb mit Äpfeln, ein langes Brot, eingeschlagen in ein rotweißes Geschirrtuch. Der älteren Frau hinter ihnen lugt eine in Alufolie gewickelte Mettwurst aus dem leinernen Beutel. Das sind sie, die erbetenen Erntegaben. Und ich trage den Totenkranz und ich gehe in die andere Richtung. Mich zieht’s zum Bahnhof. Und in meiner Brusttasche knistern die Seiten meiner Diplomarbeit, die schon so viele Umzüge überstanden hatten. Und alles das nur, weil ich es genauer wissen wollte, denn einem Menschen, der in der Stadt gelebt hat wie ich, sind die ländlichen Bräuche nicht so geläufig. Also habe ich nachgelesen, Bibelausgabe für den PC, Volltextsuche, Stichwort: Ernte. Und dabei habe ich dann entdeckt, was mich auf diesen Weg gebracht hat. Unter der Überschrift: Bekenntnis bei der Ablieferung der Erntegaben las ich, was damals ein Bauer zum Erntedank sprechen sollte. „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land,
in dem Milch und Honig fließen. Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, Herr.“ Ich las, ich stutzte, und ich schaltete den Computer aus. Die aus mir drängenden Fragen konnte der elektronische Knecht nicht beantworten, auch nicht mit Volltextsuche. Wie bin ich geworden, was ich bin? Was habe ich ererbt von meinen Vätern? Es folgte eine sehr unruhige Zeit. Ich wühlte in den alten Briefen, fand die bräunlichen, brüchigen Seiten Feldpost, die mein Vater nach Hause schrieb, an seine verlassene Frau und die vaterlosen Kinder. Ich las von ausgeraubten Bauernhöfen in Rußland und Polen, ich las von zusammengetriebenen Menschen, Flecktyphuslagern, in die Familien eingewiesen wurden, Vieh, das aus Ställen geraubt wurde, ich las von Fremdarbeitertransporten. Wochenlang litt mein Vater unter Heiserkeit, weil er und seine Kameraden so schreien mußten, um die Männer und Frauen in die Züge zu treiben. In Polen an der Rollbahn ist er dann eingegraben worden, mein Vater. Ist ihm recht geschehen, dachte ich, und die Worte schnitten wie Messer in mein Herz. Wer wäre ich, wäre es anders gekommen, wäre ein lachender Sieger in der Heimat bekränzt worden? Ich bin dann extra auf den Boden gestiegen und habe in der alten Kiste nach meiner Diplomarbeit gesucht. Selbst der silbern und seidig glänzende Staub schreckte mich nicht. Als ich die auseinanderfallenden Seiten in der Hand hatte, hörte ich die stolperigen Anschläge auf der Schreibmaschine, sah mich im Clubraum des Studentenheimes mit den Kommilitonen
diskutieren bei Holstenbier und Rockmusik. Filmdokumente drängten sich in meinen Kopf: der Lichterdom über dem Reichsparteitag in Nürnberg, flatternde Fahnen, rot wie Blut, all diese Männer in Uniform, als gäbe es keine Anzüge mehr und keine Pullover. Sonnengebräunte blonde Maiden banden Ähren zu Garben. Uniformierte Jungen in kurzen Hosen hüpfen über lodernde Flammen. Wachtürme und Stacheldraht, das schmiedeeiserne Tor mit dem höhnischen Satz „Arbeit macht frei“, der ängstliche kleine Carl von Ossietzky in der Reihe der Unglücklichen vor dem glattgebügelten Herrenmenschen mit seiner sturmriemengehaltenen Kappe. Gott sei Dank, dachte ich, und ich machte mich auf zu der Gärtnerei. Ein Kranz sollte es sein, mit roten Rosen und eine weiße Schleife mit nur einem Wort. Wer denn gestorben wäre, wollte sie wissen. Ich sagte: viele. Ein Unglück, fragte sie hoffnungsvoll. Wie man’s nimmt, sagte ich, man kann es auch Glück nennen. Wo denn die Beerdigung wäre. Keine Beerdigung sagte ich, Erntedank. Da verstand sie die Welt nicht mehr, auch nicht, als ich ihr das Wort für die Schleife verriet: „Danke“ sollte auf der Schleife stehen, sonst nichts. Aber dafür nimmt man doch einen Strauß, meinte sie hilfreich. Doch ich schüttelte den Kopf. Kommt drauf an, wo man hinwill, sagte ich, und wann ich den Kranz abholen könnte. Na ja, Samstag mittag, vorher hätten sie ja noch die Erntewagen. Monoton bimmelte die einsame Glocke der Dorfkirche, als ich den Bahnhofsvorplatz erreichte. Der Gottesdienst zum Erntedank begann. Mein Erntedank auch. Ich stieg über die leicht angerostete Kette am Eingang des kleinen Heldenfriedhofs. Die rote Armee hatte sich damals immer solche
herausgehobenen Standorte gesucht, um ihre gefallenen Kameraden im Gedächtnis der Überlebenden zu halten. Ich ging über den grasbewachsenen Weg, legte den Kranz vor dem zentralen Stein nieder und zerknüllte die Titelseite meiner Diplomarbeit. Die Flamme loderte hoch auf, als sie das Papier rasend schnell verschlang. Mein Ernteopfer. Der Wind trug die schwarzen Fetzen über die wie ausgestorben daliegende Hauptstraße. Nur hin und wieder ein Auto der frühen Sonntagsausflügler. Keines hielt.
Oma ist sonderlich Oma ist schon etwas sonderlich. Manchmal kann sie einem richtig den Spaß verderben. Wie im März, als sie für drei Tage angereist kam, um ihre kleine Enkelin zu sehen. Extra für sie hatte ich Erdbeeren und Schlagsahne gemacht, ich wußte doch, daß sie so gern Erdbeeren aß, aus ihrem Garten, als sie noch ihr Haus hatte, das ist die Königin der Früchte, sagte sie immer, nun schmeck doch einmal dieses Aroma, diese Süße, und so saftig, kein Abfall, wirklich eine Königin der Früchte und wächst tief unten auf der Erde, man muß sich bücken, wenn man sie pflückt. Also hab’ ich zugegriffen und Erdbeeren geholt, waren nicht billig, aber wenn man an die große Reise dachte, die sie hinter sich hatten, aber Oma hat nicht eine gegessen. Nicht eine. Ich kann doch Anfang März keine Erdbeeren essen, sagte sie, ich habe gerade den Weihnachtsbaum weggeräumt, so kommt es mir vor, und dann soll ich mit den ersten Sonnenstrahlen gleich Erdbeeren essen, wie soll das bloß angehen. Da kann ich noch so viel von Globalisierung reden und davon, daß unsere Welt zusammenwächst, sie hat nicht eine Erdbeere gegessen, nicht mal gerochen hat sie an den leckeren Früchten. Spargel mit Schinken wollte sie damals auch nicht schon im März essen. Also mußte ich für sie was anderes machen, ich hab’ ihr dann Steckrüben gekocht,
Steckrüben mit Schweinebauch, aber das mußte sie dann allein essen, drei Tage lang. Oma ist schon etwas sonderlich. Ihr Leben lang hat sie gearbeitet, ihren Julius hat sie Jahre lang gepflegt, eine gute Rente hat sie, ich sag immer, sie lebt jetzt von ihrem Ersparten, sie hat wirklich hart gearbeitet, nichts ist ihr in den Schoß gefallen, ich weiß noch genau, wie müde sie immer von der Arbeit kam, und dann hat sie noch den Haushalt gemacht, denn, wie Kinder so sind, viel geholfen haben wir ihr nicht. Sonntag will sie nun unbedingt in die Kirche. Davon kann mich nichts abhalten, sagt sie. Erntedank geh’ ich in die Kirche. Ich hab ja nichts gegen das Erntedankfest, Thomas ebenso nicht. Wenn Oma heute abend die Kinder nimmt, dann wollen wir auch zum Ernteball. Wir haben lange nicht getanzt, es wird da zwar nicht unbedingt unsere Musik sein, aber lustig ist so ein Ernteball schon. Vor drei Jahren, da haben wir gebrüllt vor Lachen, als der DJ die Treppe zur Bühne herauffiel, weil er so besoffen war, und er hatte nur noch die Henkel der Bierkrüge in der Hand. Geh man allein, hab’ ich gesagt, wir kommen nicht mit, ich kann damit nichts anfangen, hab’ ich gesagt, Erntedank. Und dann hab’ ich gedacht, ich spinne. Oma gibt sich nämlich jedesmal viel Mühe, uns so richtig zu verwöhnen, wenn wir bei ihr sind. Sie tischt fürstlich auf, das Mittagessen mit Suppe, Salat und Nachtisch, wir freuen uns schon immer, denn sie kocht wunderbar, selbst den Kindern schmeckt es, die sonst so krüsch sind. Aber sie hat immer etwas besonders Leckeres für sie, keineswegs altmodisch, sondern besonders dick Nutella auf den Pfannkuchen, und selbstgemachte Pizza, und für
uns Großen den zauberhaften Hirtensalat, und gebackenen Schafskäse, den macht sie wie keine andere. Deswegen hab ich gedacht, es kann doch nicht wahr sein. Jetzt ist sie völlig durchgedreht. Das ging schon beim Aufstehen los. Ich bin aufgewacht und wollte das Radio anmachen – und nichts da. Stille. Ich dachte, das Radio wäre kaputt, kann ja vorkommen, war nicht das neuste. Und dann die Dusche – saukalt. Ich hab mir nichts dabei gedacht. Erst als ich in der Küche die Kaffeemaschine anschalten wollte, habe ich es gemerkt. Es tat sich nichts. Ich hab dann das Licht eingeschaltet. Oma zuckte mit den Achseln. Stromausfall, meinte sie, passiert häufiger auf dem Dorf. Dann wollte ich die Brötchen reinholen, hier draußen werden immer noch Brötchen ausgetragen, anders als in der Stadt, Brötchen und Zeitung frei Haus. Aber heute war nichts da. Ich hab’ immer noch nichts geschnallt. Erst als ich Butter und Marmelade aus den Kühlschrank holen wollte, hab’ ich’s gemerkt. Der Kühlschrank war leer. Nichts. Keine Marmelade, kein Käse, keine Milch, keine Butter, keine Wurst. Und der Brotkorb auch leer. Mama, hab’ ich gesagt, mach’ keinen Mist, du willst uns doch hereinlegen, aber heute ist doch gar nicht der erste April! Aber morgen ist Erntedank, sagt sie ganz ruhig und grinst mich an. Erst wollte ich hochgehen, machte schon den Mund auf, aber dann hab’ ich’s kapiert und wir haben gelacht, wie schon lange nicht mehr. Oma ist sonderlich und ganz schön raffiniert. Die Sicherung durfte ich wieder reindrehen, damit die Kinder warmes Wasser haben zum Zähneputzen, aber ich sah gar nicht ein, daß nur ich etwas lernen sollte.
Ich hab’ dann mitgemacht, immer mit einem Augenzwinkern zu Oma. Heute gibt es erst später Essen, hab’ ich den Kindern gesagt und weiter im Garten geholfen. Als dann alle so richtig Hunger hatten, und alle fünf Minuten kam einer und fragte, wann es denn Mittag gäbe, haben Oma und ich Mittag gemacht. Ein großartiges Essen. Für jeden eine Schale Reis. Einfach so: Reis, in Wasser gekocht, nur Reis. Die Gesichter hätte man malen müssen. Den Kindern bot ich Ketchup an, nicht ohne zu sagen, daß es nicht überall auf der Welt Ketchup gibt. Und dann haben wir über Erntedank gesprochen, allesamt. Komisch, daß man so lange über nichts anderes als Essen reden kann! Irgendwie lief das Gespräch dahin, und jeder schwärmte von seinen Lieblingsspeisen. Rundstücke mit nur Butter und Zucker, Schwarzbrot mit Apfelscheiben, aber auch frisch geräucherter Schinken, Kalbsnierenbraten, Kaßler mit Sauerkraut, Gyros mit ganz viel Salat, jeder hatte so seine Träume … Aber verstanden haben sie alle, und wir werden morgen auch alle mit unserer Oma in die Kirche gehen. Nur das steht fest: etwas sonderlich ist Oma schon …
Danken ist beschwerlich Erinnern Sie mich nicht an Erntedank. Dieses Wort weckt seit dem letzten Jahr Assoziationen in mir an Acetylsalicylsäure. Denn die verbrauchte ich in wahren Mengen an diesem Erntedankfest. Es begann mit einer Wette. Fünf Euro wollte mein kleiner Enkel mir geben, wenn Kühe Hörner hätten. Hirsche haben Hörner, Stiere haben Hörner, aber doch Kühe nicht. Ich konnte es ihm nicht beweisen, nicht an diesem Sonntag. Auf dem Weg durch die Straßen vom Freibad nach Hause gab es keine Wiesen und Weiden. Wir sahen 5er BMWs und Mercedes E-Klasse, wir sahen Hunde und junge Mädchen, wir sahen Schnellrestaurants und Modeläden – aber in der Stadt grasen nun mal keine Kühe. Vorsichtig tastete ich mich an das Naturwissen meines Enkels heran. Ich hörte von Milchfabriken und Brotfabriken, und er kannte aus der Werbung sogar das schwierige Wort Cerealien, auch wenn er nicht sagen konnte, was das eigentlich wären. Aber er wußte, daß Pferde Hafer fressen, seine Schwester hatte ihm das erzählt, als sie vom Reiten kam. Mein Entschluß stand fest. In vierzehn Tagen war Erntedankfest, das sollte mein Enkel einmal erleben, nicht in der Stadt, sondern so richtig auf dem Dorf. Ein Jahr zuvor war ich
allein in die Stadtkirche gegangen zum Erntedankfest. Aber schon in der Tür wäre ich am liebsten umgekehrt. Die Gemeinde hatte sich Mühe gegeben und den Altar geschmückt mit allem, wofür wir danken können. Ich traute meinen Augen nicht. H-Milch in Brickpackungen, Kohlrouladen in Dosen, Spaghetti mit Tomatensoße in schmalen Kartons, Schlesische Gurken in Gläsern, Heringsfilets in Meerrettichsoße, alles war hübsch sauber aufgetürmt. Jugendliche hatten CDs in bunten Hüllen aufgestellt, ein Handy lag auch auf dem Altar, und Brot, natürlich auch Brot: in Scheiben geschnitten, in Plastiktüten verpackt. Und dazu sang dann der Chor: „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land …“ So nicht. Wie ein Pfadfinder machte ich mich beizeiten auf, um das richtige Dorf zu finden. So schwer war’s gar nicht. Schon bald nach den ersten Kühen mit Hörnern auf der Weide kam das Dorf, und da hingen dann auch schon die einladenden Plakate: Erntedankfest am Sonntag, den 4. Oktober. Gegenüber der Kirche ging ich in den Gasthof. Die Sonnenstrahlen der Spätsommersonne spielten im Gold des Bierglases und ließen es leuchten. Ich kam auch schnell mit den Leuten am Stammtisch ins Gespräch. Aber von den acht Männern trug nur einer Gummistiefel und Cordhosen. Die anderen waren in der Autowerkstatt, in der Softwarefirma am Dorfausgang beschäftigt, einer war Lehrer, ein anderer Busfahrer. Der Rest bekam schon Rente. Hopfen und Malz, Gott erhalt’s, das kannten sie alle, aber ohne Klaren lief ihnen das Bier nicht hinunter. Der Wirt hatte noch ein Zimmer frei. Ich brauchte es so dringend wie die Kopfschmerztablette. Aber dieses Dorf war richtig, und so nahm denn alles seinen Lauf.
Mein Enkel war begeistert. Ich bekam die fünf Euro, nachdem wir den Stall besichtigen durften. Der Junge war fasziniert von den durchsichtigen Plastikleitungen unter dem Dach, durch die weiße Milch beim Melken pumpte. Er hatte sogar den Mut, das kleine Kalb an seiner Hand saugen zu lassen und war über die rauhe feuchte Zunge sehr überrascht. Eklig fand er das. Hätten die Schweine nicht so streng gerochen, hätte er gern ein Ferkel mit nach Hause genommen. In der Kirche konnte ich ihm am geschmückten Altar zeigen, was Weizen, was Roggen und was Hafer ist. Sogar den Unterschied von Zucker- und Steckrüben konnte ich erklären. Vor der Kirche gab es an einem Stand Steinofenbrot mit Butter aus einem richtigen Faß. Er aß drei Scheiben. Meine Sache war mehr das flüssige Brot, denn vor der Kirche gab es in einem Festzelt von der Bundeswehr den Frühschoppen. Mit dem Handy meines Enkels mußte ich meine Tochter bitten, den Jungen nach dem Ernteumzug abzuholen. Die geschmückten Wagen fand er nicht gerade überwältigend, aber die Vorführung der dörflichen Feuerwehr mit dem Löschangriff und das Treckerfahren für Kinder riß alles wieder heraus. Warum bin ich denn nur nicht beim Bier geblieben? Die Kräuter zur Feier des Tages warfen mich um. Zum Glück war wieder ein Zimmer frei. Ich hätte sonst auf dem Feld neben dem Parkplatz übernachten müssen. Das Bett mit der weichen, gekuhlten Matratze war angenehmer. Ich ließ mich nach dem Mittagsschlaf rechtzeitig wecken, schließlich war ich mit dem halben Stammtisch verabredet zum Ernteball. Landarbeit mag schwer sein, ich achte den Bauern. Aber beschwerlicher ist noch das Danken. Und wieder war es
sicherlich nicht das Bier. Diesmal waren es die Strecken der kleinen Glasflaschen. Sie wurden zu zehn oder zwanzig vom Tresen geholt, jeder hämmerte sie wie wild auf den Tisch, sie nannten sich kleine Feiglinge, und sie liefen widerlich und verführerisch süß die Kehle herunter. An einigen Nachbartischen schafften sie mehr als zwei Meter. Unser Tisch schaffte einen Meter achtzig, und nach fünfzig Zentimetern tanzte ich mit Frauen, nach denen ich mich nie umgedreht hätte, wäre ich nicht schon durch und durch ein kleiner Feigling geworden. Erinnern Sie mich nicht an Erntedank. Ich bin diesem Fest nicht mehr gewachsen, nicht ohne Acetylsalicylsäure vor dem Einschlafen.
Selbst ist der Mann Kennen Sie Theo? Theo macht alles selbst. Theo hat noch nie einen Handwerker im Haus gehabt. Auch nicht schwarz. Sein Bad hat Theo selbst gefliest. Sauber. Die Heizung hat er auch selbst eingebaut. Sie funktioniert. Ebenso die Elektrik hat er ganz allein gemacht. Neulich hat er sein Haus rundum ausgegraben und gegen Wasser isoliert, Stück um Stück, das ganze Fundament. Drei Monate hat er gebraucht und drei Wochen lang tat ihm sein Rücken weh. Aber Hauptsache, er hat noch nie diese horrenden Stundenlöhne bezahlt und An- und Abfahrt noch extra. Theo sagt nicht gern Danke. Er hat sich nicht helfen lassen, als sein Computer abgestürzt war. Lieber hat er das ganze Ding abgebaut, in sein Auto verstaut und nächtelang zu Hause repariert. Der Auszubildende hätte für die gleiche Arbeit zehn Minuten gebraucht. Aber dann hätte Theo Danke sagen müssen. Und außerdem hab’ ich eine Menge dabei gelernt, sagt Theo. Wenn Theo etwas von seiner Frau möchte, bringt er ihr Blumen mit. Er läßt sich nicht gern etwas schenken. Wenn Theo mit einem Blumenstrauß von der Arbeit kommt, geht seine Frau nachmittags Duschen und zieht sich frische Wäsche an, die mit Spitzen. Sie kennt ihren Theo. Von nichts
kommt nichts, sagt er. Und was sollte sie auch gegen Blumengeschenke haben. Theo macht alles selbst, er ist autark. Am liebsten hätte Theo hinten im alten Stall ein Schwein durchgefüttert. Da weiß man doch, was man reintut und muß keine Angst haben vor der Chemie. Aber seine Frau ist dagegen. Sie will nicht auch noch die Schweine füttern. Kindererziehung reicht ihr. Darum gibt Theo gutes Geld beim Schlachter aus und will dafür auch gute Ware. In seinem Garten wachsen Kartoffeln, Erdbeeren, Kohl, Radieschen, Wurzeln und Petersilie. Die Kinder müssen helfen. Wer essen will, muß auch arbeiten, sagt Theo, und drückt ihnen die Hacke in die Hand, wenn sie gerade mit dem Ball zum Sportplatz verschwinden wollen. Seine Frau muß auch ran, obwohl sie immer über ihre rauhen Hände klagt. Soll sie doch Gummihandschuhe anziehen, sagt Theo. Wir haben früher immer Gemüse im Garten gehabt, und seine Mutter hat auch immer alles gemacht. Und er hilft ja auch, wenn es schwer wird, und außerdem schlägt er das Holz für den Kamin, den er selbst gebaut hat, und hackt und sägt und macht und tut. Geschenken mißtraut Theo. Er hat mal etwas von den Danaern gehört, irgend etwas mit einem Pferd war es, Pferdehändler sind ja bekannt für ihre Tricks. Seine Geburtstagsgeschenke kauft er deshalb lieber selbst. Dann kriege ich wenigstens das Richtige und muß nichts umtauschen. Vorletztes Jahr war es eine Kettensäge, in diesem Jahr soll es ein Rasenmäher sein, die Prospekte hat er sich schon besorgt. Nicht, daß er geizig wäre. Theo schenkt gern, aber er verlangt auch etwas dafür. In der Weihnachtszeit müssen seine
beiden Jungen beim Heimwerken helfen. Arbeit schändet nicht, sagt Theo, und sie müssen dann mitmachen beim Täfeln des Wohnzimmers. Wer von Tellern ißt, muß auch Teller waschen, sein Mädchen kann diesen Spruch auswendig und nimmt nach dem Tischabdecken freiwillig das Geschirrtuch, wenn Theo daheim ist. Jetzt ist Theos Chef pleite. Gut, daß wir den Garten haben, denkt Theo. Das Arbeitslosengeld ist kein Geschenk. Das hab ich einbezahlt, Mark für Mark, jeden Monat, erzählt Theo jedem, der es hören will, und den anderen auch. Aber trotzdem schläft Theo nun schlecht. Er hat schlimme Träume, die so oder so immer wieder kommen. Er fährt auf der Allee, er will zur Arbeit, es ist noch dunkel und Winter, die Straße ist glatt, und plötzlich reagiert die Lenkung nicht mehr – auch an seinem Auto macht Theo alles selbst – der Wagen bricht aus, der Baum ist im Weg, und er liegt da, blutüberströmt in der aufgesprungenen Fahrertür und niemand kommt. Niemand kommt. Er liegt da und blutet. Oder: Er will im Anbau, der früher einmal Stall war, den Boden ausbauen für die Kinder, die ja größer werden und Platz brauchen. Er nimmt die Bodenbretter hoch, er will eine neue Decke einziehen, das ist alles kein Problem für ihn. So etwas hat er schon einmal gemacht, aber diesmal fällt er auf den von ihm selbst betonierten Fußboden darunter. Eine Sekunde nicht aufgepaßt, und schon ist es passiert. Er kann seine Beine nicht mehr fühlen. Alles tot da unten. Er sitzt im Rollstuhl und muß mal. Er ruft, aber niemand ist da, niemand kommt. Im Wohnzimmer hört er Stimmen. Sie lachen. Sie lachen, und
er kann es kaum noch halten. Rufen hilft nicht, sie sind zu laut im Wohnzimmer. Manchmal auch dies: Er ist mit seinem Chef in den Baumarkt nach Berlin gefahren. Der Chef braucht eine Pumpe für die Werkstatt. Über hundert Kilometer, in Theos Wagen, weil er sich bei dieser Gelegenheit einen Häcksler kaufen will. Sie finden auch alles. An der Kasse sucht Theo seine Karte. Sie liegt zu Hause auf dem Vertiko. Geld hat Theo nicht dabei, wenigstens nicht genug, es reicht gerade für einen Kaffee und eine Currywurst. Theo muß den tollen Häcksler, wirklich ein Sonderangebot, ein Schnäppchen, wieder zurückstellen. Der Chef wollte ihm aus seiner dicken Brieftasche helfen, aber Theo nimmt nicht gern etwas, auch wenn es morgen schon zurückgeben kann. Oder auch so: Theo taumelt durch die Wüste, Düne hoch und Düne runter. Seine Zunge klebt pelzig und trocken an seinem Gaumen. Die Sonne brennt auf seinen Kopf. Plötzlich hört er Motorenlärm. In der Ferne quellen Staubwolken auf. Eine ganze Karawane von Off-Roads quält sich durch den Sand. Rufen hat gar keinen Sinn. Zu weit weg sind sie. Theo müßte winken. Mit beiden Armen rudert er durch die Luft. Aber die Wagen ziehen ihre Bahn. Sie sehen ihn nicht. Er müßte etwas haben, womit er sichtbarer winken kann, ein Hemd, eine Hose. Aber er hat nichts an. Theo ist nackt. Dann bekommt Theo Besuch von seinem neuen Nachbarn. Ein Städter, der seinen Ruhestand auf dem Lande verleben möchte. Stolz führt Theo seinen Besucher durch Haus und Garten. Das alles hab ich mir selbst erarbeitet, sagt Theo, mit diesen meinen zwei Händen. Er hebt sie hoch und dreht
sie um und um. Der Nachbar schaut die Hände an. Sie sehen wirklich nach Arbeit aus. Auch diese Hände, fragt der Nachbar. Theo schweigt. Seine schlimmen Träume steigen in ihm auf. Beim Kaffee fragt Theo seine Frau, die so etwas immer weiß: sag mal, wann ist eigentlich dieses Jahr Erntedankfest?
Und morgen ein neues Auto Diese Werbung war ein Hingucker. Schon die elegante Form hatte es ihm angetan. Die Motorhaube, ihm schien, dieses Auto hätte ein Gesicht, und es war ein Aussehen, das von Energie und Kraft zeugte, eine aggressive Miene, gewiß, aber ohne eine gesunde Portion Angriffsgeist erreicht man heute gar nichts. Hätte er sich vor Jahren nicht, als er neu war in der Abteilung, gegen den alten Hagemann gestellt, er säße heute noch als einer der vielen vor seinem Bildschirm und den Papierstapeln und müßte in den Sitzungen mehr schreiben als reden. Nun saß er an der Stirnseite des Tisches. Immer wenn die Werbung im Fernsehen kam, ging ihm schon die Musik ins Mark, so ein mächtiger Beat war es, und er lief ins Wohnzimmer. Nein, eigentlich war es gar kein Wohnzimmer, Wohnbereich nannte es der Architekt, und in dieser weiten Halle gab es dann den Eßbereich, den Medienbereich und den Kinderbereich, nur daß seine beiden sich nicht darum scherten, sondern ihre Spielsachen über das ganze Stirnholzparkett verteilten. Eigentlich könnte er sich diesen Wagen leisten, oder nicht? Immerhin hatte er seine Frau im letzten Winter nach Obergurgel zum Skilaufen schicken können, und sie hatte erst im Sommer ihren neuen Wagen bekommen, diesmal mit Sonnendach und etwas mehr PS.
Er sollte morgen doch einmal bei dem Händler vorbeifahren. Warum eigentlich nicht? Für den nächsten Winter hatte er den Flug nach Australien schon gebucht. Als er jetzt am Spiegel vorbeikam, konnte er es nicht lassen, seinem Ebenbild die Zunge rauszustrecken. Ja, er hatte es weit gebracht. Seit damals, als er diese häßliche, weißliche Narbe am Kinn bekam, war er einen weiten, guten Weg gegangen. Fast hätte dieser Motorradunfall sein Abitur gekostet, aber dann ging doch alles viel besser, als er es sich je geträumt hätte. Er hatte die Bilderbuchkarriere hinter sich, Studium, eine gute Ausbildung, vom Betrieb übernommen, unentbehrlich in seiner Abteilung, eine Frau, nach der sich andere Männer umdrehten, Haus, Garten, Autos und Boot, Kinder, zu denen die Kinderärzte gratulierten, er fand sich schwer in Ordnung. Wenn nur dieser Schmerz im rechten Arm nicht wäre, seit einigen Wochen machte dieser Arm ihm Sorgen. Heute abend mußten sie zustimmen in der Sitzung, dann wird das Einkaufszentrum gebaut, dann konnte er sich auch getrost das Auto bestellen. Heute abend. Als er seine Unterlagen zusammenpackte, pfiff er einen Schlager wie früher, als er noch zur Schule ging. Er pfiff auch vor sich hin, als er wieder nach Hause fuhr. Mal wieder war alles nach Wunsch verlaufen. Er sagte es seinen Mitarbeitern ja immer wieder: eine Sitzung muß gut vorbereitet werden, dann läuft alles wie geschmiert. Wer in einer Sitzung erst anfangen muß zu kämpfen, hat schon verloren, im Vorfeld verloren. Als er am nächsten Morgen aufstand, war diese verrückte kleine Melodie noch immer in seinem Kopf, die er gestern gepfiffen hatte. Was für ein schöner Tag, er würde das
Sitzungsprotokoll unterzeichnen, danach zum Autohändler – nein vorher wollte er noch schnell einmal beim Arzt vorbeischauen, er konnte den Arm kaum noch heben. Dieses Auto als Cabrio, das wäre der Hammer. Noch nie konnte er mit offenem Verdeck fahren. Gewiß, jetzt wurde es bald Winter, aber an schönen Herbsttagen und im nächsten Frühling, ja, er wollte ein Cabrio. Er hatte sich entschlossen. Dieses Auto als Cabrio. Sein Arzt war wie er. Keine unnötigen Schlenker, immer gerade heraus, offen und ehrlich. Schließlich war er erwachsen und konnte einiges vertragen. Natürlich mußte eine Gewebeprobe eingeschickt werden, dann erst wäre man sicher. Aber es spräche eben alles dafür. Als er die Treppe aus der Praxis hinunterging, er ging, er lief nicht, zählte er die Stufen wie ein kleines Kind. Zweimal zehn Stufen. Zwanzig Stufen. Er hielt sich an dieser Erkenntnis fest, zwanzig Stufen. Nichts anderes kam ihm in den Sinn als zwanzig Stufen. Im Park gegenüber ließ er sich auf eine Bank fallen. Zwanzig Stufen. Die grauen Tauben pickten die Krumen der Frühstückspause des Gymnasiums drüben. Braune Spatzen flatterten furchtlos zwischen sie. Der Tisch war gedeckt. Seine Augen verfolgten blicklos das Gewimmel der Vögel. Die Kastanienblätter verfärbten sich schon. Stachelige Früchte lagen auf dem Weg und dem Rasen. Hier und da war eine grüne Hülle aufgesprungen. Er bückte sich nach einer der glänzenden Kugeln. Wie schön war diese braune Maserung. Das rötliche Braun schien von innen heraus zu glühen. Seine Mutter hatte auch stets eine Kastanie in der Tasche. Das bringt Glück behauptete sie.
Glück, was ist das schon. Glück ist machbar, pflegte er manchmal zu sagen, wenn er sich sehr stark fühlte. Glück ist machbar. Machbar. Was von allem war machbar gewesen? Die Tauben pickten, was andere hatten fallen lassen. Die Spatzen stahlen sich ihren Anteil. Wieso war diese Kastanie so wunderschön? Wer hatte diese Flammen in das dunkle Braun gezeichnet, wer hatte diesen Glanz herbeigezaubert? Zauber. War es nicht wie ein Zauber, ohne alles Dazutun einfach geworden? Wie wuchtig hatte sich dieser Kastanienbaum entfaltet! Er hatte den letzten Krieg überdauert, war nicht zu Feuerholz geworden. Warum dieser eine Baum und nicht auch seine Geschwister? Seine Mutter meinte, in diesem Park wären es einmal fast fünfzig dieser riesigen Kastanien gewesen, aber damals hätten die Menschen gefroren, sogar erfroren wären manche, und in den Nächten hätten hier die Sägen gekreischt, und Kinder wie sie selbst hätten Schmiere gestanden, um vor der Polizei zu warnen. Dieser Augenblick hier auf der Bank im Park war wie eine Auszeit. Zur Besinnung kommen, Kräfte sammeln. Es hätte alles ganz anders kommen können. Plötzlich war er sich dessen bewußt. Schon der Motorradunfall. Alle gratulierten ihm. Zwischen seinem Kopf und dem Baum waren es nur wenige Zentimeter. Eigentlich albern, warum gratulierten sie ihm wie zu einem bestandenen Examen? Ja, auch das – warum wurde er nicht die Dinge geprüft, die er nicht so gut konnte? Niemand kann alles. Einen blinden Fleck hat jeder, pflegte er zu sagen, fragt sich nur, wie groß er ist. Seine Firma – hätte er nicht mit Theo diesen Abend ein Bier getrunken, er hätte nie erfahren, daß hier jemand einen Teilhaber suchte.
Wer hatte seine Finger im Spiel, als sein Kompagnon so plötzlich starb und seine Familie ihm sagte: nun mach man, wir reden dir nicht rein. Die Entscheidung gestern abend – wenn er ehrlich war, dann verdankte er sie der wirklich gelungenen Präsentation der Architekten und der guten Laune seines Bankiers, und die wiederum hatte etwas mit der neuen Spitzenwäsche seiner Freundin zu tun, die sie vorgestern zu ihrem verführerischen Lächeln trug … Oder mit der gerade rechtzeitig erstellten Bilanz des anderen Geldgebers. Sonderbar, wie die Dinge ineinandergriffen, voneinander abhingen. Woher hatte die Wolke da oben ihre Form? Warum sah er gerade jetzt diese Wolke? Bei dem stechenden Schmerz in seinem Arm geriet er jetzt nicht in Angst oder Panik. Das Ergebnis aus dem Labor könnte übermorgen schon da sein. Er horchte in sich hinein, sah in den Ecken und Winkeln seiner Seele nach, aber nirgendwo hatten sich Furcht oder Schrecken versteckt. Nur eine große Wärme schien aus seinem Innersten auszustrahlen, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Während sein Zeigefinger sacht über die glänzend glatte Oberfläche der Kastanie in seiner Hand glitt, formte sich in ihm eine überwältigende Woge der Dankbarkeit. Ja, genauso war es: es ging ihm so gut wie nur den wenigsten Menschen auf dieser Erde. Er war satt, er hatte ein Heim, er liebte eine Familie und wurde geliebt, das Haus, die Autos, das Boot, ja, er war ein erfolgreicher Unternehmer, ein sehr erfolgreicher, und jetzt, ja, wie ein alter Bauer zum Erntedankfest faltete er nun seine Hände um die warme Kastanie und dankte. Gott, seinem Schöpfer oder wem auch immer. So sehr wollte er sich gar nicht festlegen.
Aber er dankte. Er zweifelte nicht daran: Und wenn dies alles gewesen wäre, sollte es wirklich alles gewesen sein, es wäre gut gewesen, ein großes, ein schönes Geschenk Leben.
Ein Dorf dankt Die Reichs hießen nur so. Reich waren andere. Die Schallers, die Clausens, die Neumüllers. Deren Haustüren waren geschnitzt und von Säulen gerahmt. Die Reichs wohnten neben dem baufälligen Stall an der einzigen Straße, die noch mit Kopfsteinen gepflastert ist, und sie hausten in einer grauen Baracke, die ehemals die polnischen Landarbeiter in der Ernte beherbergte, aber lange sollten sie dort auch nicht mehr daheim sein, denn ihr neuer Nachbar, dessen Haus so aussah, als hätte Reichs Jüngster es aus seinen Holzbauklötzen zusammengesetzt, ist Immobilienmakler und Bürgermeister dazu, und das Grundstück mit dem Stall gehört ihn schon. Die Reichs hatten nicht viel. Nur Kinder. Davon hatten sie zuviel. Und Korn auch. Aber das lagerte nicht in einer Scheune. Der Korn der Reichs stand unten im Küchenschrank. Vater Reich war nicht faul. Wenn er rechtzeitig geweckt wurde, arbeitete er für zwei. Jeder im Dorf erkannte das an, aber nicht jeder weckte ihn, wenn er Leute brauchte. Die Reichs waren kein Thema im Dorf. Es gab sie, sie wohnten am Ende der Straße bei dem alten Stall, sie hatten viele Kinder, deren Nasen ständig liefen und die fast immer Gummistiefel trugen, der Alte konnte arbeiten für zwei, wenn er von seinem Sofa in der Küche hoch kam, denn dort mußte
er schlafen, hatte er zu viel Korn eingefahren, dann ließ die Reich ihn nämlich nicht ins Schlafzimmer, aber oft genug mußte der Alte ja auch nüchtern gewesen sein. Nur nach dem Erntedankfest im letzten Jahr waren die Reichs in aller Munde. Und man wird von ihnen noch Jahre lang zum Erntedankfest reden. Eigentlich hatten die Reichs mit dem Erntedankfest nichts zu tun. Die Feste im Dorf planten andere, die Schallers, die Clausens, die Neumüllers und die Frau des Bürgermeisters. Das Erntedankfest sollte in der Kirche beginnen. Die Kirche gehört dazu. Nicht, daß man fromm wäre im Dorf. Eigentlich glaubte man nur zweimal im Jahr, zu Weihnachten und eben zum Erntedankfest. Manchmal kam noch eine Hochzeit dazu. Also das konnte man sich schön vorstellen: Die Orgel spielt, „Nun danket alle Gott“ oder irgend etwas Passendes, und dann tragen die jungen Mädchen aus dem Dorf, die Schallers, die Clausens oder die Neumüllers den Erntekranz in die Kirche, und dann kommen andere Kinder mit Körben voll Äpfeln und Birnen, Kartoffeln und Mais, der goldene Mais macht sich sehr schön, Schusters wollen wieder Eier spenden, Neumüllers sogar einen Schinken, der konnte ja auch am Abend beim Ernteball im Festzelt verlost werden, da käme noch zusätzlich Geld rein. Einen Umzug sollte es auch geben, geschmückte Erntewagen, die Feuerwehr, auch die Nachbardörfer würden wieder Wagen schicken. Die Gäste aus dem Hotel bekämen etwas geboten. Selbstverständlich gab es auch einen Frühschoppen, gleich nach der Kirche, aber den nur für den Schaller, den Clausen und den Neumüller, den Bürgermeister und die Feuerwehr. Am Abend dann der
Erntetanz, der Neumüller macht den Ausschank, er kennt auch einen Discjockey, denn ohne Wolfgang Petry kommt keine Stimmung auf. Und so wurde es dann auch. Feierlich läutet die Glocke der Dorfkirche. Vor den Spiegeln drehen sich die jungen Mädchen, legen Rouge auf und bürsten sich die Wimpern hoch. Der Pastor begrüßt am Kirchenportal die Schallers, die Clausens und die Neumüllers und den Bürgermeister. Die Orgel spielt, das Portal schwingt wieder knarschend auf, Mädchen in weißen Jeans tragen die Erntekrone an einer langen Stange durch den Mittelgang zum Altar. Kinder bringen in einer langen Prozession Körbe in die Kirche: rotwangige Äpfel, grüne Birnen, sauber gewaschene Kartoffeln, geschälter goldener Mais, ein prächtiger Räucherschinken, dessen kerniger Rauch allen in die Nase steigt, auf Holzbrettern wird duftendes Brot in die Kirche getragen, nur eines fällt herunter. Jeder ist von den Erntegaben des Dorfes begeistert. Aber das ist noch gar nicht alles. Nach den Kindern mit dem Brot kommt Ina Reich. Niemand hat sie eingeplant. Sie hat sich einfach den Kindern vor der Kirche angeschlossen. Als sich die wuselnde, lachende Kinderschar mit den Körben zum Einzug formiert, stellt Ina Reich sich hinten an. Sie trägt keinen Korb. Das wäre auch komisch gewesen, mit ihren siebzehn Jahren zwischen all den Grundschülern und ihren Körben. Ina Reich schiebt einen Kinderwagen, nicht das neueste Modell, aber praktisch. Sie schiebt den Kinderwagen durch den Mittelgang bis vor den Altar. Und dort läßt sie ihn stehen, setzt sich in die erste Reihe. Der junge Neumüller muß näher an seine Mutter heranrücken. Er tut es mit rotem Kopf.
Ein Raunen geht durch die Kirche. Lauter fast als die Orgel. Schließlich weiß jeder im Dorf bescheid. Im März fingen sie an zu reden, und im Juli war’s dann soweit, ein Mädchen. Man sagt, es wäre beim Ernteball gewesen, vor einem Jahr. Mit wem, will niemand sagen und sagt es doch. Nur die Ina hat es niemandem gesagt. Sie sagt auch jetzt nichts. Aber sie ist stolz.
Dem Himmel sei Dank Zwei Quadratmeter Himmel sind es, nicht mehr, zwei enge, eckig umgrenzte Quadratmeter Himmel kann ich sehen, wenn ich aus meinen Fenstern blicke. Ich sollte sie übrigens mal wieder putzen, denn der Regen hat den Schmutz der Stadt aus der Luft gewaschen. Die Fenster zeigen mir durch die Flecken und Streifen hindurch eine wilhelminische Fassade, ein langweiliges Backsteingegenüber, eine zu Lofts gewandelte alte Fabrik. Zwei Quadratmeter Himmel – wen wundert es, daß ich raus will, raus aus der Stadt. Eigentlich hatte ich an diesem Wochenende etwas anderes vor, wollte lange schlafen, gut frühstücken, dann durch die Passagen der City schlendern und shoppen. Danach vielleicht beim Inder oder Italiener essen und abends dann in den Club auf dem Kiez, gute Musik unter frohen Leuten hören. Aber ich hätte die Butter nicht aus dem Kühlschrank nehmen dürfen. Sie hat alles umgeworfen. Ich hatte die goldene Packung in der Hand – und da sah ich die Vignette: eine grellbunte Landschaft, grünes, welliges Land unter strahlend blauem Himmel, hinter den runden Kuppen der Berge leuchteten die roten Dächer des trauten Dorfes, auf den saftigen Wiesen weideten gut genährte Kühe. Ich mag solche briefmarkenkleinen Bilder. Der Eierkarton bot mir auch eines an, auf
dem meine Augen hängenblieben. Weiße und braune Hühner pickten ihr Futter auf dem Hof eines reetgedeckten Bauernhauses, rechts leuchtete ein bunter Bauerngarten, vor seiner Hütte schlief ein Hund, ein Storch stand auf seinem Nest und der Himmel war azurnblau. Ich saß also am Küchentisch, sah mir diese Bilder an, auch die fröhlich grunzenden Schweine auf der Sardellenwurst und das munter lodernde Feuer aus Buchenscheiten auf der Packung Räucherschinken. Meine Gedanken liefen zurück auf den Fußboden der Wohnküche, wo ein kleiner Junge zwischen den Tischbeinen und den Füßen der Erwachsenen seinen Bauernhof aus Holz aufbaute, zentimeterdick gesägte Kühe und Schafe, Hühner, die fast so groß waren wie die braunen Pferde, einen Stall, der oft auch Garage sein mußte, ein Bauernhaus mit genau so rotem Dach, wie es auf dem Butterpapier gezeigt wurde. Raus, raus aus der Stadt, mein Entschluß stand fest. Ich kannte da ein Dorf, das mir sympathisch war. Zweihundert Einwohner und sieben Kneipen, das war das richtige für ein Wochenende auf dem Lande. Wer mitten in der Stadt wohnt, muß lange fahren, bis er zum erstenmal wieder sehen kann, wo der Himmel auf die Erde stößt. Die Hölle ist kilometerlang, lauter Vorgärten mit kurz geschorenem Rasen, weiße Plastiktüren mit goldenen Griffen, weiße Laternen und automatische Garagentore, über den geputzten Fenstern die Kästen einbruchssicherer Jalousien. Den italienischen Laster vor mir konnte ich lange Zeit nicht überholen. Es war ein Viehtransporter. Ich war ihm nicht böse. Vielleicht rollte da mein Parmaschinken, der dünn
geschnitten auf frischen Schwarzbrot so lecker ist. Ich hatte Zeit, mir die Landschaft zu beiden Seiten der Chaussee anzuschauen. Erntezeit, Stoppelfelder. Überall leuchteten riesige weiße Plastikbälle auf der braunen Erde. Ich hätte glatt einen Hunderter gegeben für eine einzige Hocke aus Garben. Aber die gab es längst nicht mehr. Am Dorfeingang lockte ein bemaltes Bettuch: Erntedankfest am 5. Oktober, Umzug, Tanz, und Bauernmarkt. Das gibt’s also noch, dachte ich, aber woher nehmen sie eigentlich die Ähren für die Krone? Beim Frühstück auf der Terrasse des Bauerncafés genoß ich den weiten blauen Himmel, die lachende Sonne über den Kiefern am Hang und meinen Kaffee. Dieser Spätsommer war ein Geschenk. Auf der Dorfstraße klingelte der Bäckerwagen. Das war die Gelegenheit, mir das frische Schwarzbrot für den Parmaschinken zu holen. Erst später las ich, daß dieses Brot in Berlin gebacken wurde. Die zwei Frauen vor mir deckten sich mit Kuchen ein, Bienenstich und Schwarzwälder Kirschtorte. Neben ihrer Bestellung schimpften sie. Gerade die Straßen gefegt und dann kommen sie und fahren das Stroh ein, und alles liegt wieder voller Halme, sie könnten wirklich besser aufpassen oder hinterher noch einmal rumfahren und ihren Dreck wieder wegmachen. Wieder zurück vor meinem Frühstück, Ei, Käse und Wurst, bat ich die Wirtin um ein weiteres Kännchen Kaffee. Am Nebentisch saßen zwei Männer in Cordhosen und Gummistiefeln bei ihrem Frühschoppen. Das könnte ich nicht, morgens schon Goldbrand und Bier, auch wenn die sonnendurchstrahlten Gläser sehr verlockend aussahen. Die beiden konnten. Regen war nötig. Seit Wochen war es viel zu trocken.
Alles verkümmert im Garten. Prost. Die Milchquoten sind viel zu niedrig. Er hat sich zu viel Kühe reingestellt. Wenn er nicht aufpaßt, muß er Strafe zahlen. Aber vielleicht kann er seinem Nachbarn auch Quoten abkaufen. Prost. Nach dem Frühstück wollte ich mit dem Himmel allein sein. An der alten Dorfkirche vorbei, Erntedankgottesdienst am 5. Oktober um 9 Uhr 30, Start des Umzugs mit Erntewagen um Uhr, hier bei der Kirche, über die Feldwege zum See. Hier war das Gras noch grün, ich legte mich auf den Rücken, um den weißen Wolkenschiffen nachzuträumen. Sie schwammen in einem Blau, in dem ich mich verlieren konnte. Als Kind glaubte ich, hinter den Wolken schaute meine gute Oma Albersdorf auf mich herunter. Sie war, solange sie lachte und sang, die Quelle wunderbar süßer Rumkugeln gewesen, die auf der Zunge zerschmolzen. Das Brummen eines fernen Mähdreschers hob die träge dörfliche Stille in mein Bewußtsein. Die Sonne durchwärmte meinen stadtmüden Leib. Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, sang es in meinem Kopf. Was für ein schöner Tag war dies unter dem blauen Himmel. Alles Gute kommt von oben sagen wir zum Erntedank, Sonne und Regen, Sommer und Winter. Ein Bussard ließ sich hoch oben vor dem Blau vom sanftem Wind tragen. Lautlos zog hoch darüber ein Flugzeug seine Bahn. Ich strengte meine Augen an. Ob ich einen Satelliten von hier unten erkennen könnte, wenn er seine Bahn um die Erde zog, noch höher, noch weiter weg? Die Männer am Nebentisch hatten von Fotos erzählt, mit denen die Rechtmäßigkeit der Stillegungsprämien überprüft würden. Es hätten viele mit Rückzahlungen und Strafen zu rechnen.
Erntedank. Milchquote. Stillegungsprämie. Ich war wieder bereit einen Hunderter zu setzen, diesmal für denjenigen, der meinem Enkel die heutigen Regeln von Saat und Ernte erklären kann. Ich schloß meine Augen, ließ mich von der Sonne durchglühen, und es machte mir nichts aus, dafür zu dumm zu sein. Zum Erntedankfest werde ich wieder hierher fahren, und ich werde auch etwas haben, für das es mich zu danken treibt. Ich werde danken für einen Himmel, der vor mir und hinter mir die Erde zärtlich berührt.
Das Erntefrüchtchen Wir haben ein Problem. Es ist neun Uhr, der erste Sonntagmorgen im Oktober, Erntedankfest, die Kirchenglocke bimmelt so eilig, als wäre sie die Kleinbahn vergangener Zeiten, und wir haben ein Problem. Dabei begann es mit heller Freude, zumindest bei unserer Wiebke. Sie kam am Mittwoch abend von der Jugendgruppe nach Hause, natürlich wieder eine geschlagene Stunde zu spät, aber die Jungen sind in diesem Alter einfach zu interessant, um sie einfach stehen zu lassen, und in ihrem Gesicht lasen wir nichts von einem schlechten Gewissen, von Angst wollen wir gar nicht reden, sie ist Vater und Mutter vorbehalten, weil die aus Erfahrung wissen, wie schrecklich pubertierende Mädchen ausrasten können, wenn sie das Gefühl haben, gefangen zu sein. Nein, aus dem Gesicht der Tochter schien die Sonne, auch wenn es draußen nun schon lange dunkel war. „Ob ihr es glaubt oder nicht, ich bin zur Erntekönigin gewählt worden“, verkündete sie mit stolzgeschwellter Brust, die sie ja nun schon hat. Warum sollten wir es nicht glauben? Wir sehen doch, was da bei uns heranwächst, auch wenn wir es ihr nicht sagen, aber eine kleine Schönheit ist sie schon. Sie kommt ganz nach mir, sagt die Mutter und niemand wagt zu widersprechen, obwohl – nun, meine alten Fotos muß ich
auch nicht verstecken. Jedenfalls sollte sie allein ihres Aussehens wegen schon eine Stunde früher zu Hause in Sicherheit sein, aber das können wir ihr auch nicht beibringen. Sie hatte ihren Stolz wie eine Fackel hereingetragen und ich sah, wie die Mutter sofort Feuer fing. „Miss Ernte also“, sagte ich, aber das war wohl die falsche Bemerkung. Böse Blicke von Mutter und Tochter erdolchten mich. Zwei Tage später erst kam ich wieder ins Spiel. Schön wäre ja nun eine kleine Krone aus Ähren, Kornblumen und Mohn. Aber wo blühen in unseren Breiten Kornblumen und Mohn im Oktober? Vater mußte aufs Rad steigen und die Wege abfahren, tat ihm auch gut, so ein bißchen Fitneßtraining. Es gab am Feldrand alles, nur kein Kornblumenblau und keinen klatschroten Mohn. So kam ich zurück mit einigen überreifen Ähren, aus denen die Körner fast schon alle herausgefallen waren. Meine Ausbeute landete im Müll. Die Tochter sollte ja den großen Erntekranz in die Kirche tragen, der Küster würde schon wissen, woraus er den Kranz anfertigte, und da wäre sicherlich auch noch etwas übrig. Ich durfte aber nach der Arbeit in dem Laden, an dem ich sonst wegen seiner Geschmacklosigkeit immer schnell vorübergehe, ein paar Seidenblumen kaufen. Dem Preis nach hätten sie aus Gold sein können. Aber sie sahen wirklich verblüffend echt aus. So manche Fälschung ist eben wertvoller als das Original. Und nun haben wir ein Problem. Die Kirchenglocke ist verstummt, in fünfundzwanzig Minuten beginnt der Gottesdienst, in den unsere kleine Erntekönigin mit dem Erntekranz in den Händen und ihrer Erntekrone im blonden Haar einziehen soll. Seit einer Stunde ist das Badezimmer gesperrt.
Meine Frau war erfahren genug, sich schon vor dem Frühstück fertig zu machen, meinen Rasierer hatte ich mir auch schon vorher in die Küche geholt. Und dann ist das große Werk vollendet. Unsere Brut räumt das Badezimmer und tritt ein. Kein Tusch begleitet ihren Einzug ins Wohnzimmer. Er wäre auch unpassend gewesen. Wir haben ein Problem. Das Oberteil ist so kurz, wie sie so ein Kleidungsstück heute auch nennen, Top sagen sie nämlich dazu, ganz kurz und einfach Top, und es endet zehn Zentimeter über dem entzükkenden Bauchnabel. Der Rock ist aus nicht mehr Stoff als ein Geschirrtuch gemacht. Von meiner Frau wußte ich, was die Erntekönigin darunter trägt. Weckgummis sagt meine Frau zu den Stringtangas, die meine Tochter liebt. Größer sind sie auch nicht. Dazu dann eine netzartige Strumpfhose und die hohen Stiefel. Die geschlagene Stunde hatte Miss Ernte für ihr Gesicht gebraucht. Allein schon gegen diese Augen ist der Mann mit dem Goldhelm eine flüchtige Skizze. Lidschatten, Eyeliner, Mascara und Kajal. Ganze Schichten Make-up und Glitter und Rouge liegen auf den Wangen. Die frischen Lippen sind zugedeckt mit Lipgloss, Lipliner und Lippenstift. Da also blieb das Taschengeld – oder bediente sie sich einfach der Malutensilien ihrer Mutter? Uns bleibt die Luft weg. „Mädchen, so kannst du doch nicht gehen“, stammelt meine Frau fassungslos. „Du siehst ja aus wie eine … , wie eine … Bordsteinschwalbe!“ Ich wundere mich ein wenig über die ornithologischen Kenntnisse meiner Frau, die ich bei ihr nicht vermutet habe, und bin auch irritiert.
Es beginnt ein Streitgespräch so schnell und vor allem so laut wie ein Maschinengewehrfeuer. Einen Sieger aber gibt es nicht. Nur eine Korrektur des übertriebenen Make-ups. Für alles andere ist es wirklich zu spät. Nicht, daß die Zeit zum Umziehen nicht reichte. Aber für die Überzeugungsarbeit würde es Stunden oder Tage brauchen. Demokratie ist aufwendig und umständlich. Während die beiden lärmend miteinander rauften, stritt ich mit mir. Ein nackter Bauch und kurzer Rock in der Kirche, in die man vorzeiten nur mit Kopftuch ging? Droht da nicht Gottvaters Donner? Wird der Sohn da nicht von seinem Kreuz heruntersteigen? Aber schließlich war er auch ziemlich nackt, oder? Warum, warum in aller Welt sollte die christliche Gemeinde nicht sehen, was Gott hat wachsen lassen? Sie sehen die Kürbisse, die Gurken, die Äpfel und Birnen, das Getreide, den Kohl – warum nicht auch schöne schlanke Beine? Wir haben gesät, wir haben gedüngt, wir haben geerntet – keinen Bauer kosten seine Früchte mehr Arbeit, als wir für unsere Ernte aufwenden mußten, nicht ein Jahr lang sondern sogar fünfzehn Jahre, Gott weiß es. Und woran merke ich denn, wann der Frühling da ist? Das sagen mir doch nicht die Narzissen und Primeln, die schönste Jahreszeit nach dem Winterdunkel beginnt mit den bunten Kleidern im Straßenbild, wenn sich die hellen Farben aus den Keimhüllen dicker Jacken und Mäntel geschält haben. Warum dann kein kurzer Rock über ellenlangen Beinen? Warum kein Stückchen samtener Bauchhaut? Und so sollte es dann sein. Zu den Früchten der Ernte am Altar kam unser Früchtchen mit dem Erntekranz. Ein
Raunen spülte durch das Kirchenschiff. Es galt nicht dem Erntekranz und nicht der Erntekrone. Eigentlich bin ich noch nie so dankbar gewesen an einem Erntedanksonntag.
Hauptsache, man ist gesund (zu Römer 5, -5) Das muß man ihm lassen: er hat es geschafft. Er hat sich ein Haus gekauft, einen Golf GTI, eine Rolex für’s Handgelenk und zwei Kinder. Die hat er von seiner Frau, die nett und adrett jeden Freitag um zwei ihren Termin beim Coiffeur hat für ein neues Styling. Am Mittwochabend geht sie zur JazzGymnastik, das ist besser als Aerobic, nicht wahr? Sie macht schließlich nicht jede Mode mit. Das Töchterchen geht zum Ballett, klassisch natürlich, im weißen Tutu. Der Herr Sohn spielt derweil Tennis, gar nicht so übel, nicht wie der Boris, nicht so auf Leistung, aber immerhin. Im Sommer wird drei-, viermal auf der Terrasse gegrillt. Mageres Fleisch und rustikale Rippchen, die Damen in lang und im Vorgarten Fackeln. Er arbeitet viel und muß auch viel reisen. Seine Sekretärin ist vornehm und fünfzig. Manchmal nimmt er Unterlagen und Akten mit nach Hause, in sein Reihenhaus mit Kabelanschluß. Er kann lange reden über die Vorteile freier Marktwirtschaft und belebender Konkurrenz; er meint, daß wer Arbeit will, sie auch findet; Ordnung muß sein, sagt er, und er wünscht sich mehr Polizei, damit unsere Straßen sicherer werden. Das wichtigste ist doch die Gesundheit, ist sein ständiges Reden und dafür macht er auch Jogging seit ein paar Jahren. Davor
nannte er es Waldlauf, es ist aber immer noch seine Lieblingsstrecke. Die Sauna hat er jetzt im Keller. Ganz schön praktisch so was, und gesund auch. Wenn nicht alles täuscht, wird auch sein Sohn einmal ein Haus kaufen und für Ordnung und Leistung schwärmen. Allerdings wird es dann ein Reihenendhaus sein. Das ist doch besser, da hat man mehr Platz. Aber, Hauptsache man ist gesund, die Familie verträgt sich, und das Geschäft läuft. Er ist glücklich, ja, das ist er. Und zu Weihnachten geht er sogar zur Kirche, für die Kinder und auch so. Verstohlen hat er schon einmal gedacht, zu Weihnachten in der Kirche, danke, lieber Gott, danke, und er hat für Brot für die Welt gegeben. Ja, das hat er. Trotzdem ist seit einiger Zeit irgend etwas anders geworden mit ihm. Er ist unruhig geworden. Irgend etwas stimmt nicht mehr. Er ist glücklich, ja, das ist er. Aber irgendwas ist da in ihm. Vielleicht hat das angefangen bei seinem Erlebnis morgens beim Jogging im Gehege. Irgendwie war das komisch. Er joggt da so seinen Trott und sieht es plötzlich zwischen den dunklen Stämmen in der Morgensonne blitzen. Er denkt noch an Fahrräder und sieht dann – es sind Rollstühle. Eine ganze Karawane Rollstühle. Da macht wohl ein Behindertenheim seinen Ausflug, denkt er. Und er überlegt noch, man will ja schließlich keinem weh tun, wie er an ihnen vorbeikommt, die da geschoben werden. Er kann da doch nicht so munter dran vorbeilaufen … Was sollen die denken! Ob er nicht lieber an ihnen vorbeigeht, vorbeigehen und nicht hinsehen? Und dann hört er es, lauter als sein Atmen, die rufen sich was zu, die im Rollstuhl. Die lachen. Wirklich, die lachen! Daß
man da lachen kann, im Rollstuhl! Als er sie überholt, fangen sie auch noch an zu singen. Die singen im Rollstuhl, denkt er noch, und wann hat er zuletzt gesungen? In der Schule? Bei feuchtfröhlichen Festen? Da ist er schon an ihnen vorbei. Als er sie das zweite Mal überholt, spielen die im Rollstuhl Ball. Auf der großen Waldwiese. Sitzen im Rollstuhl und spielen Ball. Das hat ihn irgendwie erschüttert. Und dann war da die Sache mit dem Freund seines Sohnes. Ein armer Kerl das. Sein Sohn kennt ihn schon lange. Als er acht war, haben sich seine Eltern scheiden lassen. Ganz schön schwer für so ein Kind. Seit einigen Jahren trinkt seine Mutter. Manchmal muß er sie betrunken aus der Kneipe holen, weil der Wirt anruft. Manchmal muß er sie ins Bett bringen wie ein kleines Kind. Sein Sohn hat ihm das erzählt. Ein armer Kerl das. Bei der Fete neulich hat er mit dem Jungen geredet, in der Küche, das gab sich so. Und da hat der Junge ihm erzählt, daß er den Wehrdienst verweigern will. Daß er gerne in einem Altersheim arbeiten möchte. Daß er bei den Grünen mitmacht. Wie das auf der Friedensdemo war. Daß er keine Cola in Dosen kauft und keinen Führerschein machen will, von wegen Umwelt und so. Daß er eine Fußballmannschaft trainiert und mit den Jungen eine Fahrt in Faltbooten plant, einmal den Fluß rauf und runter. Die brauchen das, die Kinder aus den Hochhäusern. Als er mit ihm anstoßen wollte, stellt sich raus, daß er Antialkoholiker ist. Rauchen wollte er auch nicht. Das steht fest: so lange, so gut hat er noch nie mit seinem Sohn geredet, wie mit dessen Freund in der Küche bei der Fete. Komisch, nicht wahr?
Neulich ist er sogar bei Männern und Frauen in der Geschäftsstraße stehen geblieben und bat ihnen zugehört – und mit ihnen diskutiert. Eine Arbeitsloseninitiative war das. Ein Mann hat ihm geschildert, wie es ist, wenn man mit 52 arbeitslos wird. Verkäufer war er mal. Das Kaufhaus hat zugemacht. Sein Anzug war ziemlich blank, der Hemdkragen nicht mehr ganz weiß, der Schlips, na ja. Der hat lange erzählt von den Bewerbungen und von den Absagen. Von den Problemen mit Frau und Kindern, von diesem Schuldgefühl, das man hat, wenn die Absagen kommen. Nun hat er sich mit anderen zusammengetan. Sie wollen wenigstens etwas tun. Aufmerksam machen. Zum Nachdenken anregen. Das kann doch nicht so weitergehen, mit 50 schon Schrott. Wenigstens für die jungen Menschen etwas tun, damit zumindest sie etwas lernen. Der Mann trug ein Schild an einer langen Stange in der Hand. ,,Mehr Lehrstellen“, stand darauf. So war es. Seitdem hat er dieses komische Gefühl. Seine Rolex am Handgelenk macht ihm schon gar nicht mehr so viel Freude. Auch sein Golf GTI nicht. Sein Haus, seine Sauna, seine Terrasse, seine Frau, frisch vom Friseur, seine Kinder mit Ballett und Tennis, sein morgendliches Jogging – er fragt sich schon mal jetzt, ob das alles ist. Alles ist für ein Leben. Er hat es jetzt schon lange nicht mehr gesagt, dieses: Hauptsache, man ist gesund, die Familie verträgt sich und das Geschäft läuft. Neulich, aber das bleibt unter uns, hat er sogar überlegt, als er die Kirchenglocken hörte, ob er nicht hingehen sollte. Aber dann hat er doch sein Jogging gemacht am Sonntagmorgen. Diesmal noch.
Lieder und Gedichte zu Dank und Ernte
Nun laßt uns Gott dem Herren 1.
Nun laßt uns Gott dem Herren Dank sagen und ihn ehren für alle seine Gaben, die wir empfangen haben.
2.
Den Leib, die Seel, das Leben hat er allein uns geben; dieselben zu bewahren, tut er nie etwas sparen.
3.
Nahrung gibt er dem Leibe; die Seele muß auch bleiben, wiewohl tödliche Wunden sind kommen von der Sünden.
4.
Ein Arzt ist uns gegeben, der selber ist das Leben; Christus, für uns gestorben, der hat das Heil erworben.
5.
Sein Wort, sein Tauf, sein Nachtmahl dient wider alles Unheil; der Heilig Geist im Glauben lehrt uns darauf vertrauen.
6.
Durch ihn ist uns vergeben die Sünd, geschenkt das Leben. Im Himmel solln wir haben, o Gott, wie große Gaben!
7.
Wir bitten deine Güte, wollst uns hinfort behüten, uns Große mit den Kleinen; du kannst’s nicht böse meinen.
8.
Erhalt uns in der Wahrheit, gib ewigliche Freiheit, zu preisen deinen Namen durch Jesus Christus. Amen. Ludwig Helmbold, 575
Wir pflügen, und wir streuen 1.
Wir pflügen, und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand: der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf und träuft, wenn heim wir gehen, Wuchs und Gedeihen drauf.
Refrain:
Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt und hofft auf ihn!
2.
Er sendet Tau und Regen und Sonn- und Mondenschein, er wickelt seinen Segen gar zart und künstlich ein und bringt ihn dann behende in unser Feld und Brot: es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott.
3.
Was nah ist und was ferne, von Gott kommt alles her, der Strohhalm und die Sterne, der Sperling und das Meer. Von ihm sind Büsch und Blätter und Korn und Obst von ihm, das schöne Frühlingswetter und Schnee und Ungestüm.
4.
Er läßt die Sonn aufgehen, er stellt des Mondes Lauf; er läßt die Winde wehen und tut den Himmel auf. Er schenkt uns so viel Freude, er macht uns frisch und rot; er gibt den Kühen Weide und unsern Kindern Brot. nach Matthias Claudius, 783
Freuet euch der schönen Erde 1.
Freuet euch der schönen Erde, denn sie ist wohl wert der Freud. O was hat für Herrlichkeiten unser Gott da ausgestreut, unser Gott da ausgestreut!
2.
Und doch ist sie seiner Füße reich geschmückter Schemel nur, ist nur eine schön begabte, wunderreiche Kreatur, wunderreiche Kreatur.
3.
Freuet euch an Mond und Sonne und den Sternen allzumal, wie sie wandeln, wie sie leuchten über unserm Erdental, über unserm Erdental.
4.
Und doch sind sie nur Geschöpfe von des höchsten Gottes Hand, hingesät auf seines Thrones weites, glänzendes Gewand, weites, glänzendes Gewand.
5.
Wenn am Schemel seiner Füße und am Thron schon solcher Schein, o was muß an seinem Herzen erst für Glanz und Wonne sein, erst für Glanz und Wonne sein. Carl Johann Philipp, 827
Herr, die Erde ist gesegnet 1.
Herr, die Erde ist gesegnet von dem Wohltun deiner Hand. Güt und Milde hat geregnet, dein Geschenk bedeckt das Land: auf den Hügeln, in den Gründen ist dein Segen ausgestreut; unser Warten ist gekrönet, unser Herz hast du erfreut.
2.
Aller Augen sind erhoben, Herr, auf dich zu jeder Stund, daß du Speise gibst von oben und versorgest jeden Mund. Und du öffnest deine Hände, dein Vermögen wird nicht matt, deine Hilfe, Gab und Spende machet alle froh und satt.
3.
Du gedenkst in deiner Treue an dein Wort zu Noahs Zeit, daß dich nimmermehr gereue deine Huld und Freundlichkeit; und solang die Erde stehet, über der dein Auge wacht, soll nicht enden Saat und Ernte, Frost und Hitze, Tag und Nacht.
4.
Gnädig hast du ausgegossen deines Überflusses Horn, ließest Gras und Kräuter sprossen, ließest wachsen Frucht und Korn. Mächtig hast du abgewehret Schaden, Unfall und Gefahr; und das Gut steht unversehret, und gesegnet ist das Jahr.
5.
Herr, wir haben solche Güte nicht verdient, die du getan; unser Wissen und Gemüte klagt uns vieler Sünden an. Herr, verleih, daß deine Gnade jetzt an unsre Seelen rührt, daß der Reichtum deiner Milde unser Herz zur Buße führt.
6.
Hilf, daß wir dies Gut der Erden treu verwalten immerfort. Alles soll geheiligt werden durch Gebet und Gottes Wort. Alles, was wir Gutes wirken, ist gesät in deinen Schoß, und du wirst die Ernte senden unaussprechlich reich und groß. Heinrich Puchta, 843
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, Ein Birnbaum in seinem Garten stand, Und kam die goldene Herbsteszeit Und die Birnen leuchteten weit und breit, Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl, Der von Ribbeck sich beide Taschen voll, Und kam in Pantinen ein Junge daher, So rief er: »Junge, wiste ’ne Beer?« Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.« So ging es viel Jahre, bis lobesam Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam. Er fühlte sein Ende. ’s war Herbsteszeit, Wieder lachten die Birnen weit und breit, Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab. Legt mir eine Birne mit ins Grab.« Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus, Trugen von Ribbeck sie hinaus, Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht Sangen »Jesus meine Zuversicht«, Und die Kinder klagten, das Herze schwer: »He is dod nu. Wer giwt uns nu ’ne Beer?«
So klagten die Kinder. Das war nicht recht, Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht, Der neue freilich, der knausert und spart, Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt. Aber der alte, vorahnend schon Und voll Mißtrauen gegen den eigenen Sohn, Der wußte genau, was damals er tat, Als um eine Birn’ ins Grab er bat, Und im dritten Jahr, aus dem stillen Haus Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus. Und die Jahre gehen wohl auf und ab, Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab, Und in der goldenen Herbsteszeit Leuchtet’s wieder weit und breit. Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her, So flüstert’s im Baume: »Wist ’ne Beer?« Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: »Lütt Dirn, Kumm man röwer, ich gew di ’ne Birn. « So spendet Segen noch immer die Hand Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. Theodor Fontane, 889
Herbstbild Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als atmete man kaum, Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah’, Die schönsten Früchte ab von jedem Baum. O stört sie nicht, die Feier der Natur! Dies ist die Lese, die sie selber hält, Denn heute löst sich von den Zweigen nur, Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt. Friedrich Hebbel, 852
Herbsttag Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. Rainer Maria Rilke, 902
Herbstgefühl Grünen, Blühen, Duften, Glänzen, Reichstes Leben ohne Grenzen, Alles steigernd, nirgends stockend, Selbst die kühnsten Wünsche lockend: Ja, da kann ich wohl zerfließen, Aber nimmermehr genießen; Solche Flügel tragen weiter, Als zur nächsten Kirschbaum-Leiter. Doch, wenn rot die Blätter fallen, Kühl die Nebelhauche wallen, Leis durchschauernd, nicht erfrischend, In den warmen Wind sich mischend: Dann vom Endlos-Ungeheuren Flücht’ ich gern zum Menschlich-Teuren, Und in einer ersten Traube Sieht die Frucht der Welt mein Glaube. Friedrich Hebbel, 836
Spaziergang am Herbstabend Wenn ich Abends einsam gehe Und die Blätter fallen sehe, Finsternisse nieder wallen, Ferne, fromme Glocken hallen: Ach, wie viele sanfte Bilder, Immer inniger und milder, Schatten längst vergangner Zeiten, Seh’ ich dann vorüber gleiten. Was ich in den fernsten Stunden, Oft nur halb bewußt, empfunden, Dämmert auf in Seel’ und Sinnen, Mich noch einmal zu umspinnen. Und im inneren Zerfließen Mein’ ich’s wieder zu genießen, Was mich vormals glücklich machte, Oder mir Vergessen brachte. Doch, dann frag’ ich mich mit Beben: Ist so ganz verarmt dein Leben? Was du jetzt ersehnst mit Schmerzen, Sprich, was war es einst dem Herzen?
Völlig dunkel ist’s geworden, Schärfer bläst der Wind aus Norden, Und dies Blatt, dies kalt benetzte, Ist vielleicht vom Baum das letzte. Friedrich Hebbel, 836
Herbst Nun ist es Herbst, die Blätter fallen, Den Wald durchbraust des Scheidens Weh; Den Lenz und seine Nachtigallen Versäumt ich auf der wüsten See. Der Himmel schien so mild, so helle, Verloren ging sein warmes Licht; Es blühte nicht die Meereswelle, Die rohen Winde sangen nicht. Und mir verging die Jugend traurig, Des Frühlings Wonne blieb versäumt; Der Herbst durchweht mich trennungschaurig, Mein Herz dem Tod entgegenträumt. Nikolaus Lenau, 833
Herbst Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. Rainer Maria Rilke, 902
Reinertrag Was wir sammeln, was wir speichern, mag’s die Erben noch bereichern, einst vergeht’s. Nur der Schatz der Seelenspenden Wächst, je mehr wir ihn verschwenden, jetzt und stets. Richard Dehmel, 93
Sommerbild Ich sah des Sommers letzte Rose steh’n, Sie war, als ob sie bluten könne, rot; Da sprach ich schauernd im Vorübergeh’n: So weit im Leben, ist zu nah’ am Tod! Es regte sich kein Hauch am heißen Tag, Nur leise strich ein weißer Schmetterling; Doch, ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag Bewegte, sie empfand es und verging. Friedrich Hebbel, 844
Septembermorgen Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt In warmem Golde fließen. Eduard Mörike, 828
Oktoberlied Der Nebel steigt, es fällt das Laub; Schenk ein den Wein, den holden! Wir wollen uns den grauen Tag Vergolden, ja vergolden! Und geht es draußen noch so toll, Unchristlich oder christlich, Ist doch die Welt, die schöne Welt, So gänzlich unverwüstlich! Und wimmert auch einmal das Herz — Stoß an und laß es klingen! Wir wissen’s doch, ein rechtes Herz Ist gar nicht umzubringen. Der Nebel steigt, es fällt das Laub; Schenk ein den Wein, den holden! Wir wollen uns den grauen Tag Vergolden, ja vergolden! Wohl ist es Herbst; doch warte nur, Doch warte nur ein Weilchen! Der Frühling kommt, der Himmel lacht, Es steht die Welt in Veilchen.
Die blauen Tage brechen an, Und ehe sie verfließen, Wir wollen sie, mein wackrer Freund, Genießen, ja genießen! Theodor Storm, 848
Im Herbste Es rauscht, die gelben Blätter fliegen, Am Himmel steht ein falber Schein; Du schauerst leis und drückst dich fester In deines Mannes Arm hinein. Was nun von Halm zu Halme wandelt, Was nach den letzten Blumen greift, Hat heimlich im Vorübergehen Auch dein geliebtes Haupt gestreift. Doch reißen auch die zarten Fäden, Die warme Nacht auf Wiesen spann — Es ist der Sommer nur, der scheidet; Was geht denn uns der Sommer an! Du legst die Hand an meine Stirne Und schaust mir prüfend ins Gesicht; Aus deinen milden Frauenaugen Bricht gar zu melancholisch Licht. Erlosch auch hier ein Duft, ein Schimmer, Ein Rätsel, das dich einst bewegt, Daß du in meine Hand gefangen Die freie Mädchenhand gelegt?
O schaudre nicht! Ob auch unmerklich Der schönste Sonnenschein verrann — Es ist der Sommer nur, der scheidet; Was geht denn uns der Sommer an! Theodor Storm, 852
Herbst 1 Schon ins Land der Pyramiden Flohn die Störche übers Meer; Schwalbenflug ist längst geschieden, Auch die Lerche singt nicht mehr. Seufzend in geheimer Klage Streift der Wind das letzte Grün; Und die süßen Sommertage, Ach, sie sind dahin, dahin! Nebel hat den Wald verschlungen, Der dein stillstes Glück gesehn; Ganz in Duft und Dämmerungen Will die schöne Welt vergehn. Nur noch einmal bricht die Sonne Unaufhaltsam durch den Duft, Und ein Strahl der alten Wonne Rieselt über Tal und Kluft. Und es leuchten Wald und Heide, Daß man sicher glauben mag, Hinter allem Winterleide Lieg’ ein ferner Frühlingstag.
2 Die Sense rauscht, die Ähre fällt, Die Tiere räumen scheu das Feld, Der Mensch begehrt die ganze Welt. 3 Und sind die Blumen abgeblüht, So brecht der Äpfel goldne Bälle; Hin ist die Zeit der Schwärmerei, So schätzt nun endlich das Reelle! Theodor Storm, 848
Verklärter Herbst Gewaltig endet so das Jahr Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten. Rund schweigen Wälder wunderbar Und sind des Einsamen Gefährten. Da sagt der Landmann: Es ist gut. Ihr Abendglocken lang und leise Gebt noch zum Ende frohen Mut. Ein Vogelzug grüßt auf der Reise. Es ist der Liebe milde Zeit. Im Kahn den blauen Fluß hinunter Wie schön sich Bild an Bildchen reiht — Das geht in Ruh und Schweigen unter. Georg Trakl, 93