Königs Erläuterungen und Materialien Band 425
Erläuterungen zu
Heinrich von Kleist
Das Erdbeben in Chili von Hans-Ge...
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Königs Erläuterungen und Materialien Band 425
Erläuterungen zu
Heinrich von Kleist
Das Erdbeben in Chili von Hans-Georg Schede
Über den Autor dieser Erläuterung: Hans-Georg Schede, geboren 1968, studierte in Freiburg Neuere Deutsche Literatur, Anglistik und Mediävistik und hat seither als Buchredakteur, Gymnasiallehrer und freier Autor gearbeitet. Promotion über den Gegenwartsautor Gert Hofmann (1999). Weitere Veröffentlichungen: Zahlreiche Bücher für Schule und Studium (unter anderem zu Werken von Goethe, Schiller, Kleist, Büchner, Fontane, Thomas Mann, William Faulkner, Harper Lee, Uwe Timm, Alfred Uhry und Roddy Doyle), mehrere Unterrichtsmodelle, eine Biographie über Die Brüder Grimm (2004, erweiterte Neuausgabe 2009) sowie der Band Heinrich von Kleist (2008) in der Reihe „rowohlts monographien“ (rm 50696). Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt oder gespeichert und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. 4. Auflage 2010 ISBN 978-3-8044-1811-0 © 2004 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten! Titelabbildung: Heinrich von Kleist Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk
2
Inhalt Vorwort .................................................................. 4 1. 1.1 1.2 1.3
Heinrich von Kleist: Leben und Werk ................. Biografie ................................................................... Zeitgeschichtlicher Hintergrund ............................... Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken ...............................................
6 6 17 23
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Textanalyse und -interpretation .......................... Entstehung und Quellen ........................................... Inhaltsangabe ........................................................... Aufbau ..................................................................... Personenkonstellationen und Charakteristiken ......... Sachliche und sprachliche Erläuterungen ................. Stil und Sprache ....................................................... Interpretationsansätze ...............................................
27 27 31 38 47 69 75 87
3.
Themen und Aufgaben .......................................... 91
4.
Rezeptionsgeschichte ............................................. 93
5.
Materialien ............................................................. 97 Literatur ................................................................. 99
3
Vorwort
Vorwort Heinrich von Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili ist ein literarisches Werk von außergewöhnlicher Dichte. Das gilt für die Geschichte nicht weniger als für ihre Darstellung. Auf wenigen Seiten rollt unerbittlich eine Handlung ab, die voll ist von dramatischen Höhepunkten, rührenden Momenten und unvorhersehbaren Wendungen des Schicksals: Eine von einer bigotten und heuchlerischen Gesellschaft zum Tode verurteilte junge Frau entgeht der Hinrichtung; ihr verzweifelter Geliebter sieht in dem Moment, in dem er seinem Leben ein Ende setzen will, die ihn umgebenden Gefängnismauern brechen; eine Stadt geht unter; die junge Frau rettet ihr Kind aus den Flammen; die Liebenden finden sich wieder; unter dem Eindruck der Katastrophe scheint eine ganze Gesellschaft innerlich geläutert; ein Gottesdienst wird abgehalten, der im Tumult endet; die Liebenden und weitere Personen, die sich in ihrer Begleitung befinden, werden von einer aufgehetzten Menge brutal ermordet. Dass eine solche Folge von unerhörten Ereignissen nicht unglaubhaft, effekthascherisch und trivial wirkt, sondern den Leser bzw. die Leserin am Ende erschüttert über die Bestialität der Menschen und den Zustand der Welt zurücklässt, spricht für die innere Wahrhaftigkeit des Erzählten. Alle, auch die nur durch eine Bemerkung, durch wenige sprechende Details charakterisierten Figuren haben eine unverwechselbare Kontur. Keine Passage ist überflüssig. Der eigentümliche Sprachstil bringt die geschilderten Ereignisse eindrucksvoll zur Geltung. Die Erzählung vom Erdbeben in Chili wirft eine Vielzahl drängender Fragen auf, auf die es keine eindeutige Antwort gibt.
4
Vorwort
Vorwort Wer den Text einmal genau studiert hat, vergisst ihn nicht wieder. Zu solch einem genauen Studium des Textes, seiner Voraussetzungen und seiner Nachwirkungen bietet der vorliegende Band Gelegenheit und Unterstützung.
Vorwort
5
1.1 Biografie
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk 1.1 Biografie Jahr 1777
Ort Frankfurt a. d. Oder
1788
Frankfurt a. d. Oder Berlin
1792
Potsdam Frankfurt a. d. Oder
1793
6
Frankfurt a. d. Oder Mainz
Ereignis 18. Oktober: Geburt von Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist als ältestem Sohn des Stabskapitäns Joachim Friedrich von Kleist und dessen zweiter Frau Juliane Ulrike, geb. von Pannwitz. Kleist hat sechs Geschwister, darunter die beiden Halbschwestern Wilhelmine und Ulrike aus der ersten Ehe des Vaters, von denen Ulrike ihm später besonders eng verbunden ist. Juni: Tod des Vaters. Kleist wird nach Berlin in eine Privatschule gegeben. Konfirmation. Eintritt als Gefreiterkorporal ins Garderegiment. Den Winter über ist Kleist auf Urlaub bei der Familie. Februar: Tod der Mutter.
Alter
10–11
14–15
15–16
Kleist nimmt an der Belagerung der Stadt Mainz teil (ers-
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.1 Biografie Jahr
Ort
1794– 1797
Potsdam (ab 1795)
1798
Potsdam
1799
Potsdam Frankfurt a. d. Oder
1800
Frankfurt a. d. Oder
Berlin Würzburg
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
Ereignis ter Koalitionskrieg gegen Frankreich). Er liest Werke Christoph Martin Wielands und schreibt sein erstes Gedicht Der höhere Frieden. Kleists Regiment ist in weitere Kämpfe verwickelt und kehrt dann in die Potsdamer Garnison zurück. Kleist wird schrittweise militärisch befördert. Kleist widmet sich verstärkt seinen geistigen und musischen (Klarinette) Interessen. Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden (1798 entstanden, 1799 erschienen). Abschied vom Militär. Beginn eines juristischen Studiums an der Universität seiner Heimatstadt. Daneben naturwissenschaftliche Studien. Verlobung mit Wilhelmine von Zenge, einer Tochter des Frankfurter Garnisonschefs. Im Sommer Abbruch des Studiums. Aufenthalt in Berlin. September und Oktober: Reise nach Würzburg, deren Zweck bis heute nicht aufgeklärt ist (Industriespionage?
Alter
16–20
20–21
21–22
22–23
7
1.1 Biografie Jahr
Ort
Berlin
1801
Berlin
Dresden Paris
Bern
8
Ereignis Beseitigung einer Vorhautverengung?). Zurück in Berlin nimmt Kleist als Vorbereitung auf den Zivildienst an den Sitzungen der Technischen Deputation teil. Gleichzeitig bereitet er sich auf eine Existenz als Schriftsteller vor. Er legt ein „Ideenmagazin“ an. Anfang des Jahres: existenzielle Krise, ausgelöst durch philosophische Studien („KantKrise“). Sein Anspruch, zur Wahrheit durchzudringen, erscheint ihm nun als illusionär. Entschluss, mit der Halbschwester Ulrike für ein Jahr nach Frankreich zu gehen. Unterwegs Aufenthalt in Dresden. Dort und in Paris (Juli bis November) wendet sich Kleist endgültig von der Wissenschaft ab und der Kunst zu. Ohne Ulrike reist Kleist weiter in die Schweiz und trifft Ende des Jahres in Bern ein.
Alter
23–24
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.1 Biografie Jahr 1802
1803
Ort Thuner See
Ereignis Kleist unternimmt einen Versuch, am Thuner See als Landwirt zu leben. Er schreibt sein erstes Drama (Die Familie Schroffenstein), arbeitet an dem Drama Robert Guiskard (Fragment) und entwickelt den Plan zum Lustspiel Der zerbrochne Krug. Im Mai Auflösung der Verlobung mit Wilhelmine von Zenge. Bern Aufgrund von Krankheit, politischen Unruhen und persönlicher Isolation will Kleist die Schweiz verlassen. Ulrike holt ihn ab. Gemeinsame Reise mit Ludwig Wieland, dem Sohn des berühmten Schriftstellers, nach Weimar. Kleist Oßmannstedt verbringt den Rest des Jahres bei Weimar bei Wieland. Oßmannstedt Wieland bestärkt Kleist in seinen schriftstellerischen Ambitionen. Bern Die Familie Schroffenstein erscheint anonym in der Schweiz. Dresden Von April bis Mitte Juli ist Kleist wieder in Dresden.
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
Alter 24–25
25–26
9
1.1 Biografie Jahr
Ort Dresden
Schweiz, Italien, Frankreich Paris
Mainz
10
1804
Mainz Berlin
1805
Berlin Königsberg
Ereignis Dort beginnt er mit der Arbeit am Drama Amphitryon und schreibt weiter am Zerbrochnen Krug und an Robert Guiskard. Anschließend bricht er zu einer weiteren längeren Auslandsreise auf (Schweiz, Italien und Frankreich). In Paris verbrennt er das Manuskript des Robert Guiskard. Er hält sich als Dichter für gescheitert und fasst den Plan, an einer militärischen Operation Napoleons gegen England teilzunehmen und dabei den Tod zu suchen. Die preußischen Behörden beordern ihn zurück in die Heimat. Auf der Rückreise bricht Kleist in Mainz gesundheitlich zusammen. Mehrmonatiger Aufenthalt im Haus des Arztes und Schriftstellers Georg Wedekind. Anfang Juni: Rückkehr nach Berlin. Dort eröffnet sich die Möglichkeit einer Anstellung als preußischer Finanzbeamter. Arbeit im Berliner Finanzdepartement und ab Mai Auf-
Alter
26
27–28
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.1 Biografie Jahr
Ort
1806
Königsberg
1807
Berlin Joux bei Pontarlier Châlons sur Marne Dresden
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
Ereignis enthalt in Königsberg zur weiteren Ausbildung. Dort Wiedersehen mit Wilhelmine von Zenge, die seit 1803 mit dem Philosophieprofessor Wilhelm Traugott Krug verheiratet ist. Ulrike von Kleist zieht zu ihrem Bruder und bleibt bis Frühjahr 1806. Im August erhält Kleist auf eigenen Antrag einen sechsmonatigen Urlaub (wegen Nervenschwäche und Verstopfung). Er beendet den Zerbrochnen Krug und arbeitet am Drama Penthesilea. Im Oktober wird Preußen in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt von Napoleon vernichtend geschlagen. Der Hof flieht nach Königsberg. Januar: Reise in Begleitung verabschiedeter Offiziere nach Berlin. Die Reisenden werden dort als vermeintliche Spione verhaftet und in Frankreich inhaftiert. Adam Müller veröffentlicht in Dresden den Amphitryon. Ein Lustspiel nach Molière.
Alter
28–29
29–30
11
1.1 Biografie Jahr
Ort
Dresden
1808
12
Dresden
Ereignis Mitte Juli, nach dem Frieden von Tilsit, kommt Kleist frei. In der Folgezeit lebt er als freier Schriftsteller in Dresden. Mit Adam Müller versucht Kleist, eine Buchhandlung und einen Verlag aufzumachen. Das Unternehmen scheitert jedoch am Einspruch der ortsansässigen Konkurrenz. Im September erscheint die Erzählung Jeronimo und Josephe (späterer Titel: Das Erdbeben in Chili) in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände. Die Penthesilea wird fertig. Gegen Ende des Jahres bereiten Kleist und Müller die Herausgabe einer Monatsschrift Phöbus. Ein Journal für die Kunst vor. Ab Januar erscheinen im Phöbus eine Reihe von Werken Kleists: ein Fragment aus Penthesilea, die Erzählung Die Marquise von O..., Fragmente aus dem Zerbrochnen Krug, aus Robert Guiskard, dem neu entstandenen Käthchen von Heil-
Alter
30–31
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.1 Biografie Jahr
Ort
Weimar
1809
Dresden
Österreich 1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
Ereignis bronn und der langen Erzählung Michael Kohlhaas. Die Uraufführung des Zerbrochnen Krugs in Weimar unter der Leitung Goethes wird zu einem Misserfolg. Kleist lernt den berühmten romantischen Dichter Ludwig Tieck kennen, der nach Kleists Tod als Erster dessen Werke herausgeben wird. Auf die Nachricht antinapoleonischer Aufstände hin beginnt Kleist, das Drama Die Hermannsschlacht auszuarbeiten. Penthesilea erscheint als Buch. Januar: Kleist stellt das Drama Hermannsschlacht fertig. Februar: Der Phöbus wird aufgrund finanzieller Schwierigkeiten eingestellt. In der ersten Hälfte des Jahres entstehen patriotische Gedichte und Prosa. Österreich erklärt Frankreich den Krieg und marschiert in Bayern ein. Die Franzosen ziehen sich aus Dresden zurück. Kleist bricht mit dem Historiker Dahlmann nach Österreich auf
Alter
31–32
13
1.1 Biografie Jahr
Ort
Prag
Berlin
1810
Wien
Berlin
14
Ereignis und liefert Geheimberichte vom Kriegsgeschehen. Ab Ende Mai halten sich Kleist und Dahlmann für längere Zeit in Prag auf, wo Kleist ein patriotisches Wochenblatt Germania herausgeben will. Da die Franzosen im Sommer militärisch wieder die Oberhand gewinnen, scheitert der Plan. Ende November Rückkehr über Frankfurt a. d. Oder nach Berlin. März: Uraufführung des Käthchens von Heilbronn im Theater an der Wien. Ende September erscheinen im Verlag von Georg Reimer Das Käthchen von Heilbronn und der erste Band Erzählungen, der Das Erdbeben in Chili enthält. Ab Oktober: Herausgabe der täglich außer sonntags erscheinenden Berliner Abendblätter, in denen Kleist auch eine Reihe eigener kleinerer Arbeiten veröffentlicht (Anekdoten, kürzere Erzählungen und Aufsätze, z. B. Über das Marionettentheater).
Alter
32–33
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.1 Biografie Jahr 1811
Ort Berlin
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
Ereignis Februar: Buchausgabe des Zerbrochnen Krugs. Ende März: Letzte Ausgabe der Berliner Abendblätter nach zahlreichen Auseinandersetzungen mit der preußischen Regierung. Kleist wendet sich an den Staatskanzler Hardenberg und später an den Prinzen Wilhelm von Preußen mit der Bitte, ihm die Redaktion des Kurmärkischen Amtsblattes oder eine Anstellung im königlichen Zivildienst zu verschaffen oder ihm, als Entschädigung für den „durch das Aufhören der Abendblätter“ erlittenen Verlust, ein Wartegeld zu zahlen (an den Prinzen Wilhelm, 20. 5.). Mitte Juni teilt er auch dem König sein Anliegen schriftlich mit. Freunde und Verwandte verlassen Berlin. Kleist klagt über Einsamkeit. Im Juli schreibt er dem Verleger Reimer, dass er an einem zweibändigen Roman arbeite.
Alter 33–34
15
1.1 Biografie Jahr
Ort
Wannsee
16
Ereignis Im August erscheint bei Reimer der zweite Band Erzählungen. Am 11. September bittet Kleist den König in einer längeren Audienz, ihn wieder beim Militär einzustellen, was ihm für den Kriegsfall unverbindlich in Aussicht gestellt wird. Im Herbst macht Kleist die Bekanntschaft der gleichaltrigen, verheirateten und krebskranken Henriette Vogel. Sie möchte gemeinsam mit ihm sterben. Am Nachmittag des 21. November erschießt Kleist am Kleinen Wannsee bei Berlin zuerst Henriette Vogel und dann sich selbst.
Alter
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Kleists Idee, ein Erdbeben zum Gegenstand einer Erzählung zu machen, hängt vermutlich mit einem zeitgeschichtlichen Ereignis zusammen, das die Menschen in ganz Europa Mitte des 18. Jahrhunderts nachhaltig erschütterte: dem Erdbeben von Lissabon, das die Stadt am 1. November 1755 zu großen Teilen zerstörte und das in seinen Das Erdbeben in Lissabon Ausläufern bis Nordeuropa spürbar war. Die Naturkatastrophe löste eine brisante philosophische Debatte über Gottes Wirken in der Welt aus, in der sich neben Immanuel Kant vor allem die beiden großen französischen Philosophen Voltaire und Jean Jacques Rousseau zu Wort meldeten. Die Fragestellungen dieser für die Geschichte des europäischen Denkens und der europäischen Religiosität bedeutsamen Debatte spielen auch in Kleists Selbstzeugnissen eine wesentliche Rolle und bilden den Problemhorizont seiner Erzählung. Kurz gefasst ging es um die Frage der Theodizee, das heißt um das Problem, wie man das Übel in der Welt, das nicht nur Schuldige straft, sondern auch Unschuldige trifft, mit der Vorsehung Gottes in Einklang bringen kann, ohne an Gott zu verzweifeln. Den Begriff der Theodizee hatte zu Anfang des Jahrhunderts der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) geprägt. Er entwickelte ein philosophisches System, dessen Kern die Beweisführung ausmachte, dass die bestehende Welt die beste aller möglichen Welten sei. Modern an dieser Auffassung war, dass Gott von Leibniz nicht mehr als Person gedacht wurde, die behütend oder strafend in das Leben der einzelnen Menschen eingreift. Gott steht vielmehr mit seiner Existenz für die im 1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
17
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Ganzen harmonische Ordnung des Universums, innerhalb derer sich das Leid des Einzelnen relativiert. Nach dem Erdbeben in Lissabon beschränkten sich deutsche Philosophen im Wesentlichen darauf, in recht akademischer Weise die Folgen der Katastrophe für das System von Leibniz zu erörtern. Auch Kant betonte in Kants Stellungnahme seiner noch 1755 erschienenen Schrift über das Erdbeben, er wolle nur „die Arbeit der Natur“ beschreiben, wandte sich aber immerhin doch gegen die Neigung der Menschen, „dergleichen Schicksale jederzeit als verhängte Strafgerichte“ Gottes anzusehen. Er nannte dies einen „sträfliche[n] Vorwitz“ und zog die allgemeine Lehre, solche Katastrophen machten deutlich, dass „die Güter der Erden“, die die Erde von einem Moment auf den anderen verschlingen kann, „unserm Triebe zur Glückseligkeit keine Genugthuung verschaffen können!“1 Ganz anders, emotional aufgewühlt, fiel die Reaktion Voltaires aus. Das Erdbeben erschien ihm als Widerlegung des philosophischen Optimismus Leibniz’scher Prägung. Sein pathetisches Gedicht über die Katastrophe von Lissabon mit dem Untertitel „Untersuchung des Axioms ‚Alles ist gut’“ wandte sich direkt an die Vertreter des Optimismus und warf ihnen vor, blind für die Schrecknisse des wirklichen Lebens eine realitätsferne Lehre mit Spitzfindigkeiten verteidigen zu wollen. Das Gedicht, das die Leiden der vom Erdbeben betroffenen Menschen drastisch vor Augen führt, erschien Anfang 1756 und fand sogleich in ganz Europa stürmische Verbreitung. 1
18
Kant, Immanuel: Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat. In: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Abt. 1. Bd. 1. Berlin: Reimer, 1910, S. 434 und S. 460.
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Voltaire fordert: „Man muss es bekenVoltaire contra Leibniz nen: Das Übel ist in der Welt“; stellt fest: „Seinen verborgenen Ursprung können wir nicht erforschen“; und fragt: „Sollte das Übel vom Schöpfer alles Guten gekommen sein?“2 Die Konsequenz, Gottes Existenz, die hier wieder sehr traditionell personal gedacht ist, zu bestreiten, zieht Voltaire jedoch nicht. Dieser letzte radikale Schritt hinaus in einen metaphysisch leeren Raum bleibt hundert Jahre später Friedrich Nietzsche vorbehalten. Voltaire hält noch am Glauben an Gott fest und kann daher lediglich die harmonistische Erklärung der Katastrophe attackieren, ohne ihr eine eigene Deutung entgegensetzen zu können. Dieser Schwachpunkt von Voltaires Gedicht veranlasste Jean Jacques Rousseau, Voltaire im August Rousseau contra Voltaire 1756 einen langen Brief zu schreiben, der 1764 auch in einer Ausgabe seiner Werke gedruckt und 1779 ins Deutsche übersetzt wurde. Alle Argumente Voltaires, schreibt Rousseau, bezögen sich letztlich „auf die Frage von dem Daseyn Gottes“3. Wenn Gott existiere, so sei er vollkommen und alle weiteren Fragen erübrigten sich, auch wenn es dem Einzelnen nicht begreiflich ist, wie Gottes Existenz mit der Verfassung der Welt vereinbar ist. Dieses Dilemma, das sich aus dem Festhalten des Glaubens an Gott ergibt, drückt Kleist 50 Jahre später in einem Brief folgendermaßen aus: „Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: Es ist bloß ein unbegriffener!“4 2 3 4
Voltaire: « Poème sur le desastre de Lisbonne en 1755 ». In: Oeuvres complètes de Voltaire. Bd. 12. Gotha: Ettinger, 1785, S. 118124 (zitiert nach: Appelt und Grathoff: Erläuterungen und Dokumente. S. 56. Übersetzung von Hedwig Appelt). Rousseau, Jean Jacques: Kleine Schriften. Aus dem Französischen. Teil 1. Heidelberg: Gebrüder Pfähler, 1779, S. 329332 (zitiert nach: Appelt und Grathoff: Erläuterungen und Dokumente, S. 58). Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 766, auch S. 768.
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
19
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Diese Äußerung stammt aus dem August 1806, als Kleist wahrscheinlich an der Erdbeben-Erzählung arbeitete, die mit ihren aberwitzigen Umschwüngen des Glücks eindringlich die Frage nach dem Sinn, nach der göttlichen Ordnung hinter den bestürzenden Ereignissen aufwirft. Auf Rousseaus Kritik reagierte Voltaire mit seinem 1758 veröffentlichten Roman Candide oder der OpCandide timismus, einer beißenden Satire auf die harmonistische Philosophie, in der der Held Candide mit seinem philosophischen Lehrer Pangloss, einer Karikatur von Leibniz, auch in das Erdbeben von Lissabon gerät. Dieses überstehen sie glücklich, werden dann aber verhaftet, weil die Gelehrten des Landes befinden, „dass das Schauspiel einiger feierlichst auf langsamem Feuer verbrannter Menschen ein unfehlbares Mittel sei, die Erde am Beben zu verhindern.“5 Ähnlich wie in Kleists Erzählung wird demnach in der Erdbeben-Episode in Candide ein natürliches Übel von den gesellschaftlichen Autoritäten als Symptom eines moralischen Übels gedeutet, das durch die Bestrafung von Sündenböcken beseitigt werden soll. Aufsätze von Kleist (der Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden von 1799 und die Abhandlung Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden von 1805/06) belegen, dass ihn die Unterscheidung zwischen natürlichem und moralischem Übel („mal physique“ und „mal moral“), die im 18. Jahrhundert philosophisch lebhaft diskutiert wurde, beschäftigte. Das Erdbeben in Chili handelt wesentlich auch von der Verquickung beider Formen des Übels: Wie das moralische Übel aus dem natürlichen Übel erwächst bzw. das natürliche Übel in ein moralisches umgedeutet wird. 5
20
Voltaire: Candide oder Die Beste der Welten. Übersetzt von Ernst Sander. Stuttgart: Reclam, 1971, S. 17 (zitiert nach: Appelt und Grathoff: Erläuterungen und Dokumente, S. 69).
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Als Kleist seine Erzählung verfasste, lag das Erdbeben von Lissabon genau fünfzig Jahre, zwei Generationen, zurück. Zahlreiche Darstellungen, die in der Zwischenzeit erschienen waren, hielten jedoch die Erinnerung an das große Beben wach. Aktuell und ungelöst waren zudem die Fragen geblieben, die sich mit diesem Ereignis verbanden. Weniger weit zurück lag ein weiteres Epoche machendes Ereignis, das in den Folgejahren ganz Die Französische Revolution unmittelbar in das Leben der meisten Menschen in Europa eingriff: die Französische Revolution von 1789 mit den sich anschließenden europäischen Kriegen. Sie entfaltete die Macht einer Naturkatastrophe und ist von den Zeitgenossen auch immer wieder metaphorisch als eine solche beschrieben worden. Der anfängliche Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde jedoch bald durch die Grausamkeiten der Revolutionsjahre, die Eroberungsfeldzüge des Kaiserreichs unter Napoleon und schließlich nach 1815 (nach Kleists Tod) durch die Restauration korrumpiert. Diese geschichtlichen Abläufe lassen sich in Parallele zu Kleists Erzählung setzen. Entsprechend hat etwa Helmut J. Schneider „Revolution [...], utopische Illusion und politische Enttäuschung“ als „die drei Stufen einer zeitgeschichtlich-allegorischen Lektüre des Erdbeben“ ausgemacht.6 Eine solche Deutung geht allerdings nur in groben Zügen auf und darf daher nicht zu sehr strapaziert werden. Kleist sympathisierte nicht mit der Französischen Revolution und ihren Folgen. Als Jugendlicher hatte er bei der Belagerung von Mainz am Kampf gegen das revolutionäre Frankreich teilgenommen. Als er später Paris besuchte, urteilte er negativ über die Stadt und die Franzosen. In seinen letzten 6
Vgl. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Band 3, S. 805 f.
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
21
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Lebensjahren beteiligte er sich aktiv an publizistischen und geheimen Vorbereitungen der Befreiungskämpfe gegen Frankreich. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Kleist sich im Erdbeben in Chili mit zentralen Fragen der religionsphilosophischen Diskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts auseinander setzt; und dass die Novelle ferner in Ansätzen als Kommentar Kleists zur napoleonischen Epoche, die zu seinen Lebzeiten noch andauerte, verstanden werden kann.
22
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken Kleists dichterisches Werk besteht aus acht Dramen (darunter ein Fragment gebliebenes Stück) sowie Kleists Singularität acht sehr unterschiedlich langen Erzählungen. Einen „der größten, kühnsten, höchstgreifenden Dichter deutscher Sprache“ hat Thomas Mann ihn genannt, einen „Dramatiker sondergleichen, – überhaupt sondergleichen, auch als Prosaist, als Erzähler, – völlig einmalig, aus aller Hergebrachtheit und Ordnung fallend, radikal in der Hingabe an seine exzentrischen Stoffe bis zur Tollheit, bis zur Hysterie“7. Diese für die Zeitgenossen oft befremdliche Exzentrizität und Radikalität waren es, die beispielweise Goethe veranlassten, Kleist gegenüber Distanz zu halten. Kleist, der mehrmals Anläufe genommen hat, eine literarische Gruppierung zu organisieren (vor allem mit der Herausgabe der Zeitschrift Phöbus, später dann mit den Berliner Abendblättern), steht mit seiner dichterischen Produktion innerhalb der literarischen Landschaft des angehenden 19. Jahrhunderts allein. In seinen Werken spiegelt sich das Außenseitertum, das auch sein Leben Kleists Außenseitertum bestimmte. Ein preußischer Adliger, der kein ererbtes Landgut bewirtschaftete, konnte zu Kleists Zeit zwischen drei Laufbahnen wählen: dem Militärdienst, dem Zivildienst als Beamter oder der Gelehrtenexistenz. Auf all diese Karrieren hat Kleist sich zeitweise vorbereitet, um nacheinander jede von ihnen als für sich unpassend wieder aufzugeben. Kleists ruheloses Leben lässt sich als eine Folge 7
Mann, Thomas: Heinrich von Kleist und seine Erzählungen. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band IX. Reden und Aufsätze 1. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1990, S. 823.
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
23
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken von scheiternden Lebensentwürfen beschreiben. Das daraus resultierende Gefühl, dass einem jederzeit der Boden unter den Füßen weggezogen werden kann (bzw. die Erfahrung, sich diesen Boden selbst immer wieder zu entziehen), ist auch für Kleists Figuren kennzeichnend. Diese Figuren werden nach einhelliger Auffassung der Kleist-Forschung „immer erst in der Re-Aktion auf ein ungewöhnliches Geschehen ‚sie selbst’“, wie Klaus Müller-Salget es formuliert hat.8 Diese These verdeutlicht Müller-Salget an den beiden Erzählungen, die Kleist gemeinsam mit dem Erdbeben in Chili als ersten Band seiner Erzählungen herausbrachte: Michael Kohlhaas, den sein Rechtsgefühl zum Räuber und Mörder werden lässt, durchläuft diese Entwicklung „erst infolge des Unrechts, das ihm widerfährt; die Marquise von O... wird erst durch das unbegreifliche Faktum der Schwangerschaft und die grausame Reaktion des Vaters ‚mit sich selbst bekannt gemacht‘“, wie es in der Erzählung heißt. Der Grund für ein solches Erzählen liege „in Kleists aus der so genannten ‚Kant-Krise’ resultierender Auffassung, dem Menschen sei aufgegeben, sich in einer undurchschaubaren, von unvorhergesehenen Zufällen beherrschten Welt zu behaupten, in der Konfrontation mit dem Unbegreiflichen seine Substanz zu erweisen.“9 Diese Konfrontation mit dem UnbeKonfrontation mit dem Unbegreiflichen, die buchstäbliche Erfahgreiflichen rung, dass einem der Boden unter den Füßen schwindet, beherrscht in besonderer Weise auch Kleists Erdbeben in Chili. Das dort geschilderte Erdbeben stellt eine der für Kleists Schaffen typischen Extremsituationen dar, in denen der Einzelne seine Substanz erweisen muss. 8 9
24
Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam, 2002, S. 136. Ebd.
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken Kleists Dichtung bringt ferner zum Ausdruck, dass der Mensch sich in einer von unvorhersehbaren Wendungen des Schicksals bestimmten Welt nur dann behaupten kann, wenn er anderen Menschen vertrauen kann. Die Ereignisse und Menschen sprechen eine so vieldeutige Sprache, dass Orientierung und damit richtiges Handeln nur auf der Basis eines solchen Vertrauens möglich erscheinen. Wo Vertrauen fehlt – beispielsweise, und zwar auf ganzer Linie, in Kleists dramatischem Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein, einer Variation des Romeo und Julia-Stoffs; aber etwa auch in der Erzählung Die Verlobung in St. Domingo – führt das unweigerlich in die Katastrophe. Dagegen wird Don Fernando im Erdbeben in Chili dem Vertrauen, das ihm die Liebenden Josephe und Jeronimo entgegenbringen, gerecht. Zwar kann er die fürchterlichen Morde an ihnen wie auch an seiner Schwägerin und seinem Sohn nicht verhindern; indem er aber den verwaisten Philipp als seinen Sohn annimmt, setzt er ein hoffnungsvolles Zeichen für eine menschlichere Zukunft. Dass in einer Welt, in der alle Handlungen vieldeutig erscheinen, Gerichtsurteile, die zwangsläufig Eindeutigkeit herstellen, fragwürdig sein müssen, ist ein weiteres Thema, das mehrfach von Kleist behandelt wird. Es verbindet das Erdbeben in Chili mit Michael Kohlhaas und der Erzählung über ein mittelalterliches Gottesurteil Der Zweikampf, spielt aber beispielsweise auch im Drama Prinz Friedrich von Homburg und, in heiterer Form, im Lustspiel Der zerbrochne Krug eine Rolle. Auch Träume, Bewusstlosigkeiten, somnambule Zustände sind wiederkehrende Elemente von Kleists Dichtungen. Sie haben mit Kleists tiefem Interesse für Das Unterbewusste die menschliche Psyche, für die Arbeit des Unterbewusstseins zu tun, das wiederum mit der 1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
25
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken Erfahrung zusammenhängt, dass menschliches Verhalten kompliziert motiviert und schwer zu ergründen ist. Das Käthchen von Heilbronn und der Prinz Friedrich von Homburg (in den Dramen gleichen Titels) stehen unter besonderem Einfluss ihres Unterbewusstseins. Aber auch Jeronimo sinkt im Erdbeben nach seiner Flucht aus der Stadt für eine Viertelstunde ohnmächtig nieder. In die Nähe eines Traums wird ferner die idyllische Nacht gerückt, die die Liebenden nach ihrer Rettung gemeinsam verbringen, sowie der erste Teil des folgenden Tages, in dem die schlechte gesellschaftliche Wirklichkeit auf kurze Dauer durch eine ideale Menschengemeinschaft ersetzt zu sein scheint. Diese Hoffnung erweist sich jedoch als trügerisch. Träume geraten bei Kleist immer wieder in Konflikt mit der Realität. Ein in der Literatur weit verbreitetes Motiv, das bei Kleist jedoch eine besondere Bedeutung beNormwidrige Liebe kommt, ist schließlich das der verbotenen oder normwidrigen Liebe. Solche Liebesbeziehungen stehen im Zentrum der Familie Schroffenstein, der Penthesilea, des Käthchens von Heilbronn, der Marquise von O..., der Verlobung in St. Domingo wie auch des Zweikampfs. Eine verbotene Liebe steht ebenfalls am Anfang des Erdbebens in Chili. Der Anspruch der Menschen auf persönliches Glück stößt in solchen Konstellationen mit den Forderungen der Gesellschaft zusammen, die Kleist als dem Einzelnen gegenüber feindlich erlebte und entsprechend in seinen Werken darstellte.
26
1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk
2.1 Entstehung und Quellen
2. Textanalyse und -interpretation 2.1 Entstehung und Quellen Heinrich von Kleists Leben bleibt in vielen Phasen für die Nachwelt im Dunkeln. Kleist war, so der Germanist Hermann Kurzke in seiner Besprechung einer Neuausgabe der Kleist-Briefe aus dem Jahre 1998, „zu Lebzeiten mehr berüchtigt als berühmt“10. Seine Briefe, die „häufig etwas Peinliches, Maßloses, etwas Unangenehmes und Ungestümes gehabt haben“ müssen, seien „heiße Kleist als Briefeschreiber Ware“ gewesen, die man gleich vernichtet oder zumindest streng sortiert und zensiert habe.11 Rund 230 Kleist-Briefe sind überliefert. Man schätzt, dass Kleist zwanzig Mal so viele Briefe geschrieben hat. Aus dem Jahr 1806, in dem vermutlich Das Erdbeben in Chili entstanden ist, haben sich ganze neun Briefe erhalten. Die Erzählung ist in keinem dieser Briefe erwähnt. Auch die anderen Dokumente zu Kleists Leben während dieser Zeit bieten keinen unmittelbaren Aufschluss. Gesichertes lässt sich demzufolge über die Entstehung der Erzählung nicht mitteilen. Gewiss ist nur, dass ein langjähriger Freund Kleists, der spätere preußische Generalstabschef Otto August Rühle von Lilienstern, die Erzählung in der ersten Hälfte des Jahres 1807 dem Tübinger Verleger Johann Friedrich Cotta anbot. Kleist war zu der Zeit als vermeintlicher Spion in Frankreich inhaftiert und befand sich, da er dort während der ersten Zeit für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommen musste, in materieller Not. Kleist 10 Kurzke, Hermann: Botschaft eines zuckenden Irrlichts. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 05. 1998. 11 Ebd.
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2.1 Entstehung und Quellen und Rühle hatten zuletzt im Oktober 1806 Kontakt gehabt. Daraus lässt sich folgern, dass die Erzählung vor dem Oktober 1806 entstanden sein muss. Cotta nahm die Erzählung an und druckte sie unter dem Titel Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647 in seinem MorgenErstdruck im Morgenblatt blatt für gebildete Stände (Nr. 217–221, 10. bis 15. September 1807). Dieser Titel stammte vom Autor selbst, wie Kleists Brief an Cotta vom 17. September 1807 zeigt, in dem er den Verleger bittet, ihm das Manuskript seiner Erzählung Jeronimo und Josephe, sofern diese noch nicht erschienen sei, zurückzuschicken, da er „auf andere Art“ darüber verfügen wolle. Kleist bereitete damals in Dresden mit Adam Müller die Herausgabe einer eigenen Monatsschrift (Phöbus. Ein Journal für die Kunst) vor, in der er ab 1808 eine Reihe eigener Werke veröffentlichte. Im September 1810 erfolgte noch zu Kleists Lebzeiten im Verlag von Georg Reimer in Berlin Die Buchausgabe von 1810 die erste Buchausgabe der Erzählung, die nun den endgültigen Titel erhielt. Zusammen mit den Erzählungen Michael Kohlhaas (Aus einer alten Chronik) und Die Marquise von O... bildete Das Erdbeben in Chili den Band Erzählungen. Von Heinrich von Kleist. Kleist hatte als Titel Moralische Erzählungen von Heinrich von Kleist vorgeschlagen. Für die Buchfassung revidierte er den Text, änderte aber wenig. Offenbar hatte es Schwierigkeiten bereitet, die entsprechenden Nummern von Cottas Morgenblatt aufzutreiben. Kleist benutzte schließlich das Exemplar eines von der Forschung nicht weiter identifizierten Herrn Seydel, das er bereits nach wenigen Tagen zurückgeben konnte. Abgesehen von dem neuen Titel besteht die entscheidende Abweichung der Buchfassung vom Erstdruck darin, dass
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2.1 Entstehung und Quellen jene nur noch drei Absätze enthält, während die Zeitschriftenfassung in 31 Absätze unterteilt geDie Textgestalt wesen war. Ob diese oder jene Textgestalt den Absichten des Autors mehr entsprochen hat, ist nachträglich nicht mehr zu entscheiden. Helmut Sembdner, einer der einflussreichsten Kleist-Forscher, hat die Meinung vertreten, dass die Textgestalt der Buchfassung auf den Verleger zurückgehe, der Platz habe sparen wollen, um nicht am Ende des Buches noch einen neuen halben Druckbogen anbrechen zu müssen. Klaus Müller-Salget hat dagegen darauf hingewiesen, „dass die Redaktion des zweispaltig gedruckten Morgenblatts nachweislich dazu neigte, der besseren Übersicht halber die Texte in kleinere Abschnitte aufzuteilen.“12 Außerdem sei keine andere Erzählung Kleists derart stark untergliedert. Tatsächlich ist das weitgehende Fehlen von Absätzen für Kleists Erzählstil charakteristisch. Zudem ist die Dreiteiligkeit auch im inhaltlichen Aufbau des Textes deutlich angelegt. Konkrete Hinweise auf Quellen, die Kleist für seine Erzählung herangezogen hat, gibt es nicht. Das Erdbeben in Auch hier ist man auf Vermutungen Santiago de Chile angewiesen. Fest steht immerhin, dass die Berichte über das Erdbeben in Santiago de Chile, die Kleist studiert haben könnte, sämtlich auf den Augenzeugenbericht des Bischofs von Santiago, Gaspar de Villarroel, zurückgehen. Die Schilderungen zeigen, dass Kleist sich nur teilweise an den überlieferten Fakten orientiert hat. Das wirkliche Erdbeben ereignete sich am 13. Mai 1647. Es brach am späteren Abend aus. Die Einwohner flüchteten 12 Vgl. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Band 3, S. 801 f.
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2.1 Entstehung und Quellen nicht aus der Stadt, sondern auf den größten Platz der Stadt, wo der Bischof im Morgengrauen eine lang andauernde Messe zu zelebrieren begann. In der darauf folgenden Nacht predigte der Bischof auf dem Friedhof der Kathedrale. Dabei wandte er sich gegen die Deutung des Erdbebens als Strafe Gottes. Viele Zuhörer fassten seine Worte jedoch im entgegengesetzten Sinn auf. Über Santiago und die Umgebung der Stadt könnte sich Kleist aus zeitgenössischen Reiseberichten informiert haben. Aber auch hier sind keine auffälligen Übereinstimmungen festzustellen. Die allgemeine Gültigkeit der geschilderten Situation scheint für Kleist Vorrang vor der historischen Treue und einem charakteristischen Lokalkolorit gehabt zu haben. Von größerer Bedeutung für die Gestaltung der Erzählung wird für Kleist die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgetragene philosophische Diskussion um das Erdbeben von Lissabon (1755) gewesen sein. Diese Diskussion ist in Abschnitt 1.2 über den zeitgeschichtlichen Hintergrund in Grundzügen dargestellt worden.
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2.2 Inhaltsangabe
2.2 Inhaltsangabe Die Geschichte spielt in St. Jago (heute: Santiago), der Hauptstadt der spanischen Kolonie Chile, im Jahre 1647. Die Handlung setzt in dem Moment ein, in dem das große, geschichtlich bezeugte Erdbeben, das weite Teile St. Jagos verwüstete, ausbricht. Zur gleichen Zeit versucht sich Jeronimo Rugera, ein junger Spanier, in seiner Gefängniszelle zu erhängen. Zu diesem verzweifelten Entschluss ist er gekommen, nachdem er als Hauslehrer bei einer der reichsten Familien der Stadt ein Verhältnis mit Donna Josephe, der einzigen Tochter des Hauses, eingegangen war. Die Affäre fliegt auf und Josephe wird ins Karmelitinnenkloster verbracht. Doch im dortigen Klostergarten gelingt es den Liebenden, einander bei Nacht nochmals zu sehen. Frucht dieser Begegnung ist ein Kind, dessen Geburt sich als öffentlicher Skandal vollzieht, denn die Wehen der jungen Mutter setzen ausgerechnet während der Fronleichnamsprozession auf den Stufen zur Kathedrale ein. Die wohlanständige Gesellschaft der Stadt fühlt sich durch dieses Ereignis so provoziert, dass Josephe unverzüglich in ein Gefängnis gebracht und ihr, sobald sie das Wochenbett verlassen hat, unerbittlich der Prozess gemacht wird. Sie wird vom geistlichen Gericht zum Feuertod verurteilt. Der Vizekönig jedoch interveniert und verfügt die weniger qualvolle Hinrichtung durch Enthauptung. Auch Jeronimo ist inzwischen gefangen gesetzt worden. Seine Versuche, die Geliebte und sich zu retten, scheitern. Verzweifelt fleht er die Jungfrau Maria um ihre Hilfe an. Als dennoch der Tag der öffentlichen Hinrichtung Josephes kommt, will auch er nicht länger leben. Da aber bricht das Erdbeben aus. Die Wände des Gefäng2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe nisses stürzen ein. Wie durch ein Wunder kann Jeronimo aus dem zusammenstürzenden Gebäude fliehen. Draußen wird er, obwohl selbst halb besinnungslos, des entsetzlichen Ausmaßes der Zerstörung gewahr. Er findet einen Weg durch die brennende und von Nachbeben erschütterte Stadt, erreicht ein Tor und kann sich auf einem Hügel vor der Stadt in Sicherheit bringen, wo er vor Erschöpfung das Bewusstsein verliert. Als er nach einer Viertelstunde aus der Bewusstlosigkeit erwacht, wird er von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl durchströmt, der großen Gefahr entronnen zu sein. Dann aber erinnert er sich an Josephe und ihr Schicksal und sein Hochgefühl weicht tiefer Niedergeschlagenheit. Vergebens versucht er sie zu finden, erhält die falsche Auskunft, dass sie noch vor Ausbruch des Erdbebens enthauptet worden sei, und begreift daraufhin seine eigene instinktive Flucht vor dem doch erwünschten Tod nicht mehr. Erneut macht er sich auf die Suche und findet Josephe, als er die Hoffnung schon fast ganz aufgegeben hat, zusammen mit ihrem gemeinsamen Kind in einem lieblichen Tal, das nur wenige Überlebende aufgesucht haben. Kurz vor Josephes Ankunft auf dem Richtplatz hatte das Erdbeben den Hinrichtungszug auseinander gesprengt, und die plötzlich unbewachte Josephe ist zunächst in Richtung des nächstgelegenen Stadttors geflohen. Schnell aber besinnt sie sich und eilt zu ihrem im Kloster in der Obhut der Äbtissin zurückgelassenen Kind, das sie aus dem brennenden Gebäude rettet, während die Äbtissin mit fast allen ihren Klosterfrauen von einem Giebel erschlagen wird. Auf ihrer anschließenden Flucht kommt Josephe an den zerstörten Gebäuden derjenigen Institutionen und Menschen vorbei, die ihr Todesurteil zu verantworten haben (die Kathedrale,
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2.2 Inhaltsangabe der Palast des Vizekönigs, der Gerichtshof, das Haus des Vaters), aber auch an dem ehemaligen Gefängnis, unter dessen Trümmern sie den Geliebten begraben vermuten muss. Doch sie bleibt hoffnungsvoll und behält Recht, indem sie in dem etwas abseits gelegenen Tal auf Jeronimo trifft. Sie berichten einander von ihren Rettungen und Jeronimo liebkost seinen ihm bis dahin unbekannten Sohn. Während der Nacht ziehen sich Jeronimo und Josephe mit ihrem Kind in ein dichteres Gebüsch des idyllischen Platzes zurück, um mit ihrem Glücksgefühl die in der Nähe lagernden Menschen, denen die Naturkatastrophe nur Unglück gebracht hat, nicht zu kränken. Sie beschließen, nach Spanien zu Jeronimos Familie mütterlicherseits zu gehen, um dort gemeinsam ungefährdet zu leben. Am andern Tag erwachen sie spät. In der Nähe lagernde Familien bereiten sich ein improvisiertes Frühstück. Da nähert sich ein junger Mann mit einem Kind auf dem Arm und bittet Josephe, dem Kleinen die Brust zu reichen, da dessen Mutter sich verletzt habe. Verwirrt nimmt Josephe wahr, dass es sich bei dem jungen Mann um einen Bekannten, Don Fernando Ormez, den Sohn des Stadtkommandanten, handelt. Natürlich entspricht sie seiner Bitte und wird anschließend von dem dankbaren, liebenswürdigen Don Fernando mit ihrem Kind und Jeronimo eingeladen, sich zu dessen Familie zu gesellen. Außer Don Fernandos Frau und Kind schließt die kleine Gesellschaft noch seinen Schwiegervater und zwei Schwägerinnen mit ein. Die Freundlichkeit, mit der Josephe und Jeronimo von den Verwandten Don Fernandos in deren Mitte aufgenommen werden, der Anblick der auf den Feldern lagernden Menschen, die alle gesellschaftlichen Schranken abgestreift zu haben und in gegenseitiger Unterstützung eine Familie zu bilden scheinen, 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe sowie die zahlreichen bewegenden Erzählungen von selbstlosen und heldenhaften Handlungen inmitten der allgemeinen Not des Vortags wecken sowohl in Jeronimo wie in Josephe die Hoffnung, dass man ihnen ihr Vergehen verzeihen und auch sie innerhalb der Notgemeinschaft der Überlebenden wieder willkommen heißen werde. Sie fassen den Plan, sich von der Hafenstadt La Conception aus schriftlich mit der Bitte um Vergebung an den Vizekönig zu wenden. Am Nachmittag verbreitet sich die Nachricht, dass in der Dominikanerkirche, der einzigen noch erhaltenen Kirche der Stadt, eine feierliche Messe gelesen werden solle, um weiteres Unheil von der Stadt abzuwenden. In Scharen strömen die Menschen zurück in die Stadt. Josephe will unbedingt an der Messe teilnehmen, um Gott für ihre wunderbare Errettung zu danken. Donna Elisabeth, Don Fernandos eine Schwägerin, die Josephe schon früher am Tag nachdenklich betrachtet hat, gibt zu verstehen, dass sie bei der Idee kein gutes Gefühl hat, schweigt aber, wohl aus Taktgefühl gegenüber Josephe und Jeronimo, über die Gründe ihrer Bedenken. Don Fernandos Frau, Donna Elvire, fordert ihre Schwester daraufhin auf, bei ihr und dem kranken Vater zurückzubleiben, während sich die anderen auf den Weg zur Kirche machen. Don Fernando bietet Donna Josephe den Arm, welche den kleinen Juan Ormez trägt, den sie am Morgen gestillt hat und der sich seither an sie drängt. Jeronimo führt die andere Schwägerin Don Fernandos, Donna Constanze, und trägt seinen Sohn Philipp. Als die vier Erwachsenen mit den beiden Babys aufbrechen, unternimmt Donna Elisabeth noch einen weiteren Versuch, die Gruppe vom Kirchgang abzuhalten, indem sie Don Fernando ihre Befürchtungen ins Ohr flüstert. Dieser weist sie unwillig zurück.
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2.2 Inhaltsangabe Sie erreichen die dicht mit Menschen gefüllte Kirche, als das Orgelvorspiel schon im Gange ist. Im Anschluss hält einer der ältesten Chorherren der Kirche eine Predigt, die das überstandene Erdbeben als bloßen Vorboten des Weltgerichts deutet, welches die sittliche Verderbnis, die in der Stadt herrsche, notwendig zur Folge haben müsse. Dann geht er umständlich auf das Vergehen Jeronimos und Josephes ein, nennt ihre Namen, verflucht sie und bezeichnet die Schonung, die der weltliche Richtspruch Josephe zugestanden habe, als gottlos. Die öffentlich Angeprangerten stehen starr vor Entsetzen. Don Fernando flüstert seiner Schwägerin geistesgegenwärtig zu, sie solle zum Schein in Ohnmacht fallen, woraufhin sie zu viert mit den Kindern rasch die Kirche verlassen würden. Doch schon ist Josephe entdeckt, die Leute um sie herum weichen zurück und jemand aus der Menge zieht sie an den Haaren, sodass sie beinahe mit Don Fernandos Sohn zu Boden stürzt. Doch Don Fernando stützt sie und ruft, dass er der Sohn des Stadtkommandanten sei; aber niemand erkennt ihn. Ein Schuhflicker, dem Donna Josephe früher Aufträge gegeben hat, fordert daraufhin frech von ihr, ihm den Vater ihres Kindes zu zeigen. Don Fernando, Josephe und der noch unbehelligte Jeronimo befinden sich in Verlegenheit. Josephe teilt dem Schuster in ihrer Angst mit, das Kind, das sie in den Armen halte, sei gar nicht ihres, was ja der Wahrheit entspricht. Während die Umstehenden nach jemandem rufen, der in der Lage ist, Jeronimo zu identifizieren, versucht sich der kleine Juan, durch den Tumult verstört, aus den Armen Josephes in die des Vaters, Don Fernandos, zu retten. Die Menge sieht das als Beweis an, dass dieser Jeronimo ist. Bevor sich die Meute an Don Fernando vergreifen kann, gibt sich jedoch Jeronimo als der Gesuchte zu erkennen. 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe Ein in diesem Moment herbeieilender Marine-Offizier, der Don Fernando sofort mit seinem Namen anspricht, muss jeden Zweifel an dessen Identität beseitigen. Die Gefahr scheint überstanden und Don Fernando fordert den Offizier auf, die beiden von der Menge Bedrohten zu deren eigenem Schutz zu verhaften und den Anstifter des Aufruhrs, den Schuster Pedrillo, ebenfalls in Gewahrsam zu nehmen. Meister Pedrillo jedoch bedrängt, geschützt durch die noch aufgebrachte Menge, den Offizier Don Alonzo Onoreja, zu sagen, ob es sich bei dem angegriffenen Mädchen um Donna Josephe Asteron handele oder nicht. Der Offizier, der Josephe gut kennt, zögert mit der Antwort, woraufhin die Menge Josephe als überführt betrachtet und erneut zu rasen beginnt. Josephe setzt nun ihren Sohn, den Jeronimo getragen hat, und Don Fernandos Sohn Juan auf dessen Arme, indem sie ihn auffordert, die Kinder zu retten und sie und Jeronimo ihrem Schicksal zu überlassen. Don Fernando nimmt beide Kinder entgegen, erwidert jedoch, eher sterben zu wollen, als seine Gesellschaft im Stich zu lassen. Er bittet Don Alonzo Onoreja, den Marine-Offizier, um seinen Degen, und schickt sich an, mit Donna Constanze, Josephe, Jeronimo und den Kindern die Kirche zu verlassen. Tatsächlich gelangen sie unbehelligt hinaus. Dort jedoch löst sich aus der erregten Menge, die über die Vorgänge im Innern der Kirche bereits im Bilde ist, ein Mann, der sich als der Vater Jeronimo Rugeras zu erkennen gibt und der seinen Sohn mit einem Keulenschlag tötet. Donna Constanze, an Jeronimos Seite, schreit erschrocken auf, wird mit Josephe verwechselt und als Klostermetze beschimpft und ebenfalls mit einer Keule erschlagen. Beim Anblick der ermordeten Schwägerin dringt Don Fernando mit seinem Degen auf die Menge ein. Donna Josephe, um dem Morden
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2.2 Inhaltsangabe ein Ende zu machen, wirft sich dazwischen und stirbt unter der Keule des Schusters Pedrillo. Dieser, mit ihrem Blut bespritzt, stachelt jedoch die Menge an, auch ihr Kind, ihren Bastard, zur Hölle zu schicken. Den Rücken durch die Kirchenmauer gedeckt, verteidigt Don Fernando die beiden Kinder, die er mit dem linken Arm hält. Sieben Angreifer hat er bereits tödlich verwundet, als es Pedrillo gelingt, ihm eines der Kinder zu entreißen. Er schwingt es hoch im Kreis und zerschmettert den kleinen Körper an der Ecke eines Kirchpfeilers. Auf diese monströse Tat hin verstummt die Menge und zerstreut sich rasch. Don Fernando betrachtet in namenlosem Schmerz den Leichnam seines eigenen Kindes. Don Alonzo, der Marine-Offizier, tritt hinzu und gesteht seine Reue über sein unzureichendes Verhalten bei diesem Unglück. Don Fernando verzichtet auf jeden Vorwurf und bittet ihn lediglich, beim Transport der Leichname behilflich zu sein. Sie bringen die Toten in Don Alonzos Wohnung, wo Don Fernando übernachtet und auch anschließend noch bleibt, weil er sich sorgt, wie seine Frau die Nachricht vom Tod ihres Sohns und ihrer Schwester und von seinem eigenen Handeln aufnehmen wird. Donna Elvire erfährt jedoch zufällig von den Ereignissen, und ihrer Liebe zu ihm kann die Tragödie nichts anhaben. Sie nehmen Philipp als Pflegesohn bei sich auf und Don Fernando liebt das Kind, das er sich unter so großem Verlust erkämpft hat, fast mehr als zuvor sein eigenes.
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2.3 Aufbau
2.3 Aufbau Fragt man nach der Form und damit der Textgattung des Erdbebens in Chili, so ist einerseits zu berücksichtigen, dass Kleist diesen Text zusammen mit Michael Kohlhaas und der Marquise von O... in einem Band herausgebracht hat, dessen schlichter Titel Erzählungen die Gattungszugehörigkeit hinlänglich und eindeutig zu klären scheint. Auf der anderen Seite war die Textsorte Erzählung zu Lebzeiten Kleists in ihrem spezifischen Charakter nicht sehr scharf umrissen (und ist es im Grunde, trotz teilweise umfangreicher literaturwissenschaftlicher KlärungsversuErzählung oder Novelle? che, bis heute nicht); dies im Gegensatz zur Novelle, von deren Merkmalen bereits die Zeitgenossen Kleists eine klare Vorstellung entwickelt hatten. Da zudem im Sprachgebrauch des frühen 19. Jahrhunderts die Begriffe Novelle und Erzählung vielfach austauschbar verwendet wurden, ist es sinnvoll, Kleists Das Erdbeben in Chili daraufhin zu prüfen, ob es sich nicht in Wirklichkeit (oder zumindest auch) um eine Novelle handelt. Die in der einschlägigen Forschung etablierten Kennzeichen der Novelle sind: ihr mäßiger UmMerkmale der Novelle fang, ihre „straffe Handlungsführung, formale Geschlossenheit und thematische Konzentration“13. Sie erzählt, der berühmten Definition Goethes zufolge, „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ (gegenüber Eckermann am 19. Januar 1827). Zu ergänzen ist ferner, dass die Novelle „einen gewissen Anspruch auf Wahrheit erhebt“ (Volker Meid) und in der Regel einen „nahezu objektive[n] Berichtstil ohne Einmischung des 13 Meid, Volker: Sachwörterbuch der deutschen Literatur. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 374.
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2.3 Aufbau Erzählers“ aufweist.14 Sie ist in ihrem Aufbau dem Drama verwandt. Diese Verwandtschaft äußert sich in der beiden Formen gemeinsamen „geraffte[n] Exposition, konzentriert herausgebildete[n] Peripetie“ und einem Schluss, der „die Zukunft der Figuren mehr ahnungsvoll andeuten als gestalten kann“ (Gero von Wilpert). Schon August Wilhelm Schlegel hat August Wilhelm Schlegels in seiner Geschichte der romantischen Bestimmung der Novelle Litteratur (1803–1804) die Novelle in einer Weise charakterisiert, die verblüffend mit Kleists Erzählweise übereinstimmt: „Um eine Novelle gut zu erzählen“, so Schlegel, müsse man, im Gegensatz zum Roman, „das alltägliche, was in der Geschichte mit eintritt, so kurz als möglich abfertigen, [...] nur bey dem Außerordentlichen und Einzigen verweilen, aber auch dieses nicht motivirend zergliedern, sondern es eben positiv hinstellen, und Glauben dafür fodern. Das Unwahrscheinlichste darf dabei nicht vermieden werden, vielmehr ist es oft gerade das Wahrste, und also ganz an seiner Stelle.“15 Eine 1811 von Kleist verfasste Anekdote, die den Titel Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten trägt, zeigt, dass Kleist diese Vorstellung einer Verbindung zwischen dem Unwahrscheinlichsten und dem Wahrsten teilte. Auch die sittliche Gewagtheit und die oft krass geschilderten Gewaltexzesse in Kleists Erzählungen finden bei August Wilhelm Schlegel sozusagen eine gattungstheoretische Begründung: „Aber warum, könnte man wieder einwenden, 14 von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur. 7. Auflage. Stuttgart: Kröner, 1989, S. 628. 15 Zitiert nach: Zeller, Hans: Kleists Novellen vor dem Hintergrund der Erzählnormen. Nichterfüllte Voraussetzungen ihrer Interpretation. In: Kleist-Jahrbuch 1994, S. 83103, dort S. 84.
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2.3 Aufbau muss denn die Sittsamkeit so häufig verletzt, warum die ganze scandalöse Chronik ausgekramt werden? [...] Die Sache verhält sich so. Die Novelle [erzähle] Begebenheiten, die gleichsam hinter dem Rücken der bürgerlichen Verfassungen und Anordnungen vorgefallen sind.“16 Wie die bürgerlichen Institutionen auf solche Verletzungen ihrer Normen reagieren, welche Schwächen und Leidenschaften sich dabei nicht nur bei denen, die die Normen verletzt haben, sondern gerade auch bei denjenigen, die sie wieder in Kraft setzen, offenbaren, davon bietet Das Erdbeben in Chili eindrucksvolle Beispiele. Besonders interessant ist schließlich Schlegels Notiz, dass die Novelle „ein analytischer Roman ohne Psychologie“17 sei, weil sie einer oft bemerkten Eigenart des Kleist’schen Erzählens entspricht: der Tiefe seiner psychologischen Durchdringung der geschilderten Verhältnisse, bei gleichzeitigem Verzicht darauf, die Handlungen seiner Figuren deutlich zu motivieren. Dass Das Erdbeben in Chili eine unerhörte Begebenheit schildert, steht außer Frage. Es gibt sogar, Das Erdbeben als Novelle genau genommen, zwei Ebenen unerhörter Begebenheiten: die Naturkatastrophe und die menschliche Katastrophe, die mit dem (in den Augen der Gesellschaft noch in anderer Bedeutung „unerhörten“) Verhältnis zwischen Jeronimo und Josephe mit all seinen aus dem Rahmen fallenden Begleitumständen beginnt (dem Beischlaf im Klostergarten, den während der Fronleichnamsprozession vor der Kathedrale einsetzenden Wehen) und mit ihrer Ermordung durch eine aufgehetzte blutrünstige Menge endet. Dem Anspruch auf Wahrheit ist durch die historische Ein16 Ebd. 17 Ebd., S. 85.
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2.3 Aufbau bettung der Handlung, ihre Verknüpfung mit einem geschichtlich bezeugten Ereignis entsprochen. Kürze und Straffheit der Handlungsführung sind ebenfalls gegeben. Die thematische Konzentration und Verwandtschaft mit dem Drama wird sich weiter unten bei der Untersuchung der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse erweisen. Mit der Objektivität des Erzählers hat es hingegen bei Kleist eine eigene Bewandtnis, auf die im Abschnitt über Stil und Sprache eingegangen wird. Zusammenfassend lässt sich bereits jetzt sagen, dass Das Erdbeben in Chili (wie auch die anderen ... und als Erzählung Erzählungen Kleists) zutreffend sowohl als Erzählung (aufgrund der Kennzeichnung durch den Autor) wie auch als Novelle (aufgrund der formalen Merkmale) bezeichnet werden kann. Was den Aufbau des Textes angeht, so ist eine deutliche Dreiteilung auszumachen, die durch Dreiteilung des Textes die Gliederung der Erzählung in nur drei Absätze in der ersten Buchausgabe vorgezeichnet ist (entsprechend der hier zugrunde gelegten Ausgabe: S. 49, Z. 2 bis S. 56, Z. 6; S. 56, Z. 7 bis S. 59, Z. 23 und schließlich S. 59, Z. 24 bis S. 66, Z. 5). Der Aufeinanderfolge dieser drei Abschnitte (von denen der erste und der dritte etwa gleich umfangreich sind, während der Mittelteil kürzer ist) korrespondiert ein klarer räumlicher Wechsel: Der erste Teil spielt überwiegend in der Stadt, der zweite schildert das allgemeine Atemholen in der Natur vor der Stadt, während die Handlung im dritten Teil in die Stadt, und dort hauptsächlich in die Dominikanerkirche, zurückverlagert ist. Das vermittelt den Eindruck eines Triptychons, eines dreiteiligen Altarbildes aus Mittelbild und zwei Seitenflügeln. Der Gegensatz von Stadt und Land, Kultur und Natur, ge2. Textanalyse und -interpretation
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2.3 Aufbau sellschaftlichen Institutionen und spontaner Gemeinschaft ist zudem mit einer deutlichen Wertung verbunden: Die Stadt steht für die schlechte Wirklichkeit, das Land bzw. die Natur für die Utopie idealer Verhältnisse. Die Dreiteilung der Erzählung ist von den Interpreten oft in Analogie zu einem geschichtsphilosophischen Modell gesetzt worden, das zu Lebzeiten Kleists unNaturzustand und Entfremdung ter den Intellektuellen große Verbreitung fand: das dreistufige Schema von ursprünglichem paradiesischem Naturzustand, gegenwärtiger Entfremdung und Aussicht auf Wiedergewinnung des Paradieses in der Zukunft. Jedoch soll diese Wiedergewinnung des Paradieses auf keiner Regression ins Stadium verlorener Naivität beruhen, sondern soll vielmehr Resultat einer Entwicklung sein, in der „die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist“, wie es etwas unbestimmt am Ende von Kleists berühmtem Aufsatz Über das Marionettentheater heißt, der lange als Schlüssel zum Gesamtwerk interpretiert worden ist. Dieses Modell betont, bei aller Kritik an der Gegenwart und aller berechtigten Skepsis, ob dieses Wunder der wiedergewonnenen Unbefangenheit tatsächlich herbeizuführen ist, doch den Fortschritt auf ein Ideal zu. Im Erbeben in Chili jedoch steht das Ideal als Ausnahmezustand von kurzer Dauer, der zudem mit vielen einschränkenden „als ob“-Formulierungen versehen ist, zwischen zwei drastischen Bildern der verderbten und brutalen gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Modell wird hier gleichsam unter umgekehrten Vorzeichen präsentiert, wodurch der Hoffnung auf eine bessere Zukunft weitgehend der Boden entzogen ist. Bei weiterer Untergliederung der Erzählung kann man überzeugend auch eine Einteilung in fünf Nähe zum Drama Erzählphasen vornehmen, die sich
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2.3 Aufbau wiederum auf „das klassische Fünferschema der dramatischen Handlung“ beziehen lassen, „und zwar so, dass sich der zweite ‚Akt’ im ersten Hauptteil und der vierte ‚Akt’ im dritten Hauptteil entschieden abheben.“18 So bestätigt sich, bei dem Dramatiker Kleist nicht eben überraschend, hier auch die oben konstatierte Nähe der Novelle zum Drama. Schon die Bezeichnung „Szene“ im Untertitel des Erstdrucks lege, so Schmidt, die dramatische Perspektive nahe. Wie sich die Handlung nach einer solchen Einteilung in fünf Teile auf das klassische Dramenschema verteilt, zeigt das folgende Schema. Schaubild 1: Der Aufbau des Erdbebens in Chili in Analogie zum Tragödienschema
18 Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise. Tübingen: Niemeyer, 1974, S. 121 f.
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2.3 Aufbau Die durch den Wechsel der Schauplätze gegebene Gliederung der Novelle wird durch die zeitliche Organisation des Textes noch unterstützt. Der zweite Teil setzt am Morgen des zweiten Tages ein (S. 56, Z. 7). Der dritte beginnt am selben Nachmittag (S. 59, Z. 24) und reicht bis in die Nacht. (Die Schlusssätze, die einen Ausblick in die Zukunft geben, reichen noch darüber hinaus.) Der erste Teil spielt am Tag davor und beginnt mit dem Ausbruch des Erdbebens. Wann genau sich das ereignet, wird nicht gesagt. Der zeitliche Zusammenhang, der durch die Schilderungen von Jeronimos wie Josephes Flucht unmittelbar nach Einsetzen der Naturkatastrophe, durch ihre gegenseitige Suche und ihre schließliche Wiedervereinigung bei Anbruch der Nacht gegeben ist, legt jedoch nahe, dass die Stunde der beabsichtigten Hinrichtung Josephes, der Beginn des Erdbebens und somit der Anfang der Erzählung nicht Erzählte Zeit: drei halbe Tage vor der Mittagsstunde des ersten Tages anzusetzen sind. Jeder der drei Hauptteile würde demnach die erzählte Zeit eines halben Tages ausfüllen; wobei die zwischen den beiden erzählten Tagen liegende Nacht (vgl. S. 55, Z. 14 bis S. 56, Z. 6), die aufgrund der Absätze in der ersten Buchausgabe gewöhnlich dem ersten Teil zugeschlagen wird, obwohl sie doch räumlich und damit auch inhaltlich viel mehr das Vorspiel oder auch die intime Vorwegnahme des zweiten Teiles darstellt, wohl am besten als Übergang einzuordnen ist, in der, wie die Menschen, auch die Handlung ruht. Auch ist diese Episode durch ihren Sprachstil und durch die für den Autor Kleist ganz ungewöhnliche Kennzeichnung, „wie nur ein Dichter davon träumen mag“ (S. 55, Z. 15 f.), vom Rest der Erzählung deutlich abgehoben. Blickt man zuletzt auf die zeitliche Ordnung der Erzählung, bei der es um die Frage geht, inwiefern der Erzähler in sei-
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2.3 Aufbau ner Schilderung von der ursprüngliDie zeitliche Ordnung der chen Chronologie der von ihm mitgeErzählung teilten Ereignisse abweicht und welche künstlerischen Zwecke er dabei verfolgt, so ergibt sich folgendes Bild: Die Novelle setzt mit einem der für Kleists Erzählstil so typischen Anfangssätze ein, in denen der Leser in konzentrierter Form über die Situation (Ort, Zeit, äußere Umstände, Lage der/einer Hauptfigur) orientiert und gleichzeitig gewissermaßen in die Handlung hineingestellt wird (S. 49, Z. 2–8). Unmittelbar an diesen Erzählanfang schließt sich ein längerer Rückblick an, der über die Vorgeschichte des dramatischen Momentes berichtet (S. 49, Z. 8 bis S. 50, Z. 31). Dann greift der Erzähler den liegen gelassenen Faden seiner Erzählung („Eben stand er, wie schon gesagt [...]“) wieder auf und schildert Jeronimos weitere Erlebnisse bis zu dem Moment, in dem er Josephe wiederfindet (S. 50, Z. 31 bis S. 53, Z. 27). Es folgt ein neuerlicher Rückblick, der Josephes Flucht vor dem Erdbeben enthält und wiederum bei der Vereinigung der Liebenden endet (S. 53, Z. 28 bis S. 55, Z. 8). Der künstlerische Zweck dieser zweifachen Schilderung der Flucht aus der bebenden Stadt ist, Jeronimos Gemütszustand mit dem Josephes zu kontrastieren. Beide Fluchten ereignen sich gleichzeitig, können aber nicht simultan erzählt werden. Deshalb wird Josephes Flucht als Rückblick präsentiert, den der Erzähler im Übrigen nachträglich in das fortlaufende Geschehen einzubinden versucht, indem er ihn als Schilderung Josephes gegenüber Jeronimo ausgibt, was er jedoch seiner sprachlichen Form und seiner Perspektive auf das Geschehen nach keineswegs ist (S. 55, Z. 9–11). Von nun an ist die Novelle weitgehend chronologisch durcherzählt. Im Mittelteil, dem Moment des Atemschöpfens, gibt es noch kleinere Rückblicke auf die Ereig2. Textanalyse und -interpretation
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2.3 Aufbau nisse des Vortags (vor allem S. 57, Z. 19–31), die jedoch als Teil der geschilderten Gespräche in der chronologisch fortschreitenden Erzählung aufgehen. Diese Rückblicke hören ganz auf, als sich die Handlung mit dem fatalen Kirchgang auf das tragische Ende hin zuspitzt. Hier fehlt alle Zeit, sich mit bereits Abgelebtem zu befassen, die Aufmerksamkeit ist ganz auf den jeweiligen kritischen Moment gerichtet. Dadurch erhält die Erzählung gewissermaßen einen Sog, der den Leser bannt und bis zum Ende fortreißt. So zeigt sich, dass die drei Hauptteile der Erzählung auch in ihrer Erzählweise, was die zeitliche Ordnung angeht, deutlich voneinander abgegrenzt werden können. Der erste Teil erfüllt die Funktion einer Exposition und analysiert, bei aller Dramatik, die Charaktere der Protagonisten Jeronimo und Josephe. Der zweite schildert in seiner Verbindung von Rückblick und gegenwärtigem ruhigem Geschehen die innerliche Verarbeitung des bis dahin Erlebten, während der dritte Teil unaufhaltsam der Katastrophe zustrebt.
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken
2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Im Zentrum der Erzählung steht das Schicksal der beiden Liebenden Jeronimo und Josephe. Hauptfiguren Ihre Sonderstellung innerhalb der Geschichte betont der Titel des Erstdrucks der Erzählung: Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647. Im zweiten Teil der Erzählung, am zweiten Tag ihrer Handlung, tritt aber mit Don Fernando Ormez eine weitere Hauptfigur in die Geschichte ein, die mehr und mehr ins Zentrum des Geschehens rückt. Neben diesen drei Hauptfiguren sind einige Nebenfiguren näher zu betrachten, weil sie maßNebenfiguren geblich für die katastrophale Zuspitzung der Ereignisse, die die Hauptfiguren mehr erleiden als beeinflussen, verantwortlich sind: der Chorherr der Dominikanerkirche, der Schuhflicker Meister Pedrillo, der MarineOffizier Don Alonzo Onoreja und der Vater Jeronimo Rugeras. Daneben spielt Don Fernandos Schwägerin Donna Elisabeth eine wichtige Rolle, auch wenn sie keinen entscheidenden Einfluss auf das Geschehen auszuüben vermag. Weniger wichtige Nebenfiguren sind: Donna Elvire (Don Fernandos Frau), ihr Vater Don Pedro und ihre andere Schwester Donna Constanze. Jeronimo Rugera Über Jeronimos Herkunft wird wenig mitgeteilt. Immerhin erfährt der Leser bereits im ersten Satz, dass er Spanier ist (S. 49, Z. 6). Seine Verwandtschaft mütterlicherseits lebt dort (S. 56, Z. 4 f.). Diese Angabe ist insofern wichtig, als sie zeigt, dass der bürgerliche Jeronimo Rugera nicht zu den alteingesessenen adligen Familien der Hauptstadt der spani2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken schen Kolonie Chile gehört. Bei einer dieser tonangebenden Familien ist er als Lehrer angestellt (S. 49, Z. 8 ff.). Diese Tätigkeit deutet darauf hin, dass Jeronimo ein studierter, aber unvermögender junger Mann ist. Gesellschaftlich steht er damit unter Donna Josephe, die vermutlich seine Schülerin und zudem die einzige Tochter der Familie Asteron ist. Wie es zu dem „zärtlichen Einverständnis“ (S. 49, Z. 12) zwischen den beiden gekommen, ob einem der beiden Liebenden dabei eine aktivere Rolle als dem anderen zugefallen ist, bleibt offen. Zur Charakteristik der beiden Hauptfiguren würde eine solche Information natürlich erheblich beitragen. Für Jeronimos Entschlossenheit spricht, dass er sich durch Josephes Verbringung in die Sicherheitsverwahrung eines Frauenklosters nicht entmutigen lässt, erneut zu seiner Geliebten vorzudringen. Im nächtlichen Klostergarten schlafen die beiden erstmals miteinander (vgl. S. 49, Z. 21 f.). Hier wird das Kind gezeugt, dessen Geburt Josephe dem unbarmherzigen Richtspruch der Kirche ausliefert. Als Josephe der Prozess gemacht wird, ist auch Jeronimo bereits inhaftiert. Wie es dazu gekommen ist, welcher Anklage er sich gegenübersieht, bleibt wiederum ungesagt (S. 50, Z. 15 f.). An solchen Stellen kommt zum Ausdruck, dass dem Erzähler Jeronimos Existenz Hauptfigur als Randfigur im Vergleich mit derjenigen Josephes nur minderer Aufmerksamkeit wert ist. Innerhalb der Gesellschaft St. Jagos und ihrer Institutionen, deren Grausamkeit das Hauptthema der Erzählung bildet, ist Jeronimo ein Außenseiter, eine Randfigur. Vergeblich versucht er aus dem Gefängnis zu fliehen, vergeblich wendet er sich an die Heilige Mutter Gottes. Ohnmächtig, Josephe zu helfen, schickt er sich am für ihre Hin-
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken richtung festgesetzten Tag an, sich selbst das Leben zu nehmen (S. 50, Z. 17 bis S. 34, Z. 1). Das Erdbeben kommt dazwischen und öffnet ihm unverhofft das Tor zur Freiheit. Als die Mauern über ihm zusammenbrechen, klammert sich Jeronimo, „starr vor Entsetzen; und gleich als ob sein ganzes Bewusstsein zerschmettert worden wäre“ (S. 51, Z. 1 f.), instinktiv an das Leben, das er im Augenblick zuvor noch hatte beenden wollen. Anschließend wird ausführlich beschrieben, wie Jeronimo unversehrt aus der Stadt gelangt, vor Erschöpfung das Bewusstsein verliert und nach dem Erwachen mehrfach zwischen der Euphorie über seine wunderbare Rettung und der Verzweiflung über den wahrscheinlichen Tod Josephes hin- und hergeworfen wird. „Besinnungslos“ stürzt er durch die von Erdstößen erschütterte Stadt (S. 51, Z. 16), nach seiner Ohnmacht ergreift ihn „ein unsägliches Wonnegefühl“ (S. 52, Z. 2), danach „tiefe Schwermut“ (S. 52, Z. 21). Die „heißesten Tränen“, die er weint, erleichtern sein Gemüt und er schöpft neue „Hoffnung“ (S. 53, Z. 7 f.), die jedoch bald wieder erlahmt (S. 53, Z. 14 f.), woraufhin er, „unschlüssig, was er tun sollte“ (S. 53, Z. 18), sich gerade dorthin wendet, wo er auf Josephe trifft. Im Ganzen bietet Jeronimo in dieser längsten Sequenz, in der die Erzählung seinen Schritten und Gemütsbewegungen folgt, das Bild eines Menschen, der dem Schicksal, in das er geworfen wurde, nur mit Mühe standhält; was angesichts dessen, was er durchmacht, nicht sehr verwunderlich ist, aber doch in einem bemerkenswerten Kontrast zum Verhalten und zur Geistesgegenwart Josephes steht. Das Wiedersehen mit Josephe, bei dem er gleichzeitig seinen kleinen Sohn zum ersten Mal sieht, zeigt Jeronimo als zärtlichen Liebhaber und Vater. Das Baby hält er „in unsäglicher Vaterfreude“ (S. 55, Z. 11 f.) und bedeckt es „mit 2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Liebkosungen ohne Ende“ (S. 55, Z. 13). Taktvoll ziehen sich die Liebenden anschließend angesichts der unglücklichen Menschen rings umher zur Nacht in ein dichteres Gebüsch zurück, wo sie, nachdem sie sich über ihre nächsten Schritte beraten haben, „unter vielen Küssen“ einschlafen (S. 56, Z. 6). Am Morgen erwachen sie spät. Die in der Nähe lagernden Menschengruppen sind schon mit dem Frühstück beschäftigt und Jeronimo denkt eben darüber nach, wie er „Nahrung für die Seinigen herbeischaffen“ kann (S. 56, Z. 10 f.), als Don Fernando auf Josephe zukommt und sie darum bittet, seinen Sohn zu stillen. Von da an tritt Jeronimo in den Hintergrund. Er wird auf seine Eigenschaft als Geliebter der Donna Josephe reduziert. Nur als er sich unter vier Augen mit Josephe darüber berät, wie sie die versöhnliche Stimmung, die die Katastrophe hervorgebracht zu haben scheint, für ihre gemeinsame Zukunft nutzen können, übernimmt er noch einmal die Initiative (S. 58, Z. 37, S. 59, Z. 1 ff.). Anschließend folgt der unselige Besuch der heiligen Messe. Als Jeronimo und Josephe von der Kanzel aus verdammt werden, fährt es ihnen „wie dem Dolche gleich [...] durch die von dieser Predigt schon ganz zerrissenen Herzen“ (S. 62, Z. 9 f.). Don Fernando wird für Jeronimo gehalten und dieser, an der Seite Donna Constanzes noch unentdeckt, schweigt und hofft, dass Don Fernando ohne sein Zutun der Situation Herr werden wird, auch als Don Fernando ihn „schüchtern“, das heißt befangen und ratlos, ansieht (S. 63, Z. 3 f.). Jeronimo weiß, dass sein Leben unmittelbar in Gefahr ist, wenn er sich zu erkennen gibt. Daher ist es verständlich, dass er abwartet, ob sich die gefährliche Lage auch ohne dieses letzte verzweifelte Mittel beruhigt. Als dies nicht der Fall ist, als die aufgebrachte Menge sich anschickt,
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Don Fernando zu lynchen, zögert er nicht, dazwischenzutreten (S. 63, Z. 13 ff.). Diese mutige Handlung verblasst jedoch angesichts der aktiven Rolle, die Don Fernando als unausgesprochenes Oberhaupt der kleinen Gruppe in der Kirche spielt. In der Selbstverständlichkeit, mit der Don Fernando die Führung der Gesellschaft übernimmt und mit der sie ihm von Jeronimo zugestanden wird, drückt sich der gesellschaftliche Abstand zwischen beiden sowie Jeronimos Außenseiterstellung aus. Wie die beiden Damen verlässt er unter dem Schutz des Degens, den sich Don Fernando geborgt hat, die Kirche. Draußen wird er als Erster, und zwar von seinem eigenen Vater, erschlagen (S. 64, Z. 17 ff.). Dass sein Vater ihn ermordet, betont in krasser Weise seine gesellschaftliche Isolierung durch die verbotene Beziehung mit Josephe. Jeronimos Tod, der ihn wehrlos ereilt, gibt das Signal zur Ermordung der beiden Frauen und des kleinen Juan. Insgesamt erscheint Jeronimo Rugera als ein junger Mann, der sich die Liebe Josephes erworben hat und sie, wie auch sein Kind, seinerseits aufrichtig und zärtlich liebt; der Josephe aber auch, indem er mit ihr schläft, einem Risiko aussetzt, dessen absehbaren Folgen er anschließend nichts mehr entgegenzusetzen vermag. Auch nach der zwischenzeitlichen Rettung durch die Naturkatastrophe erweist er sich als nicht nervenstark und weltklug genug, um seine kleine Familie vor ihrer Gefährdung durch eine unversöhnliche Gesellschaft zu schützen. Er ist unbestreitbar eine der Hauptfiguren der Erzählung. Ihr Held aber ist er nicht. Donna Josephe Asteron Josephe ist die einzige Tochter Don Henrico Asterons, eines „der reichsten Edelleute der Stadt“ (S. 49, Z. 8 f.). Sie verliebt sich in Jeronimo Rugera, der bei ihrer Familie als Leh2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken rer angestellt ist. Als ihr Bruder hinter das unstandesgemäße Verhältnis gekommen ist und den Vater darüber unterrichtet hat, wird Josephe ins Karmelitinnenkloster verbannt. Jeronimo gelingt es jedoch, sich Zugang zum Klostergarten zu verschaffen, wo die Liebenden miteinander schlafen. Die Geburt ihres Kindes am Tag des Fronleichnamsfestes gibt sie der Vergeltung durch eine auf starren Moralvorstellungen beharrende Gesellschaft preis, von der sie zum Tod verurteilt wird. Wie durch ein Wunder entkommt sie fast unmittelbar vor der Hinrichtung diesem grausamen Urteil, als das Erdbeben losbricht. Wie sie, inmitten allgemeinen Verderbens, diesen erlösenden Schock verarbeitet, ist, gerade angesichts der zuvor geschilderten Reaktion Jeronimos, bemerkenswert. Nachdem sie im ersten Moment in Richtung des nächstgelegenen Stadttors geflohen ist, kehrt ihr „die Besinnung [...] bald wieder“ (S. 53, Z. 32 f.) und sie eilt zu dem Kloster, in dem sich ihr Baby befindet. Ihre eigene Lebensgefahr nicht achtend rettet sie den Säugling aus dem „von allen Seiten schon zusammenfallende[n] Gebäude“ (S. 54, Z. 3 f.). Dass die Äbtissin, „die ihr in jenen Augenblicken, die ihre letzten sein sollten, Sorge für den Säugling angelobt hatte“ (S. 53, Z. 36 f.), nur um Hilfe für das Kind gerufen, sich selbst jedoch nicht mehr in das brennende Kloster gewagt hat, ist für Josephe kein Anlass, sich von der Ordensfrau abzuwenden. Sie will dieser nach ihrer Rettungstat „eben in die Arme sinken“, als die Äbtissin, samt ihren ebenfalls untätig gebliebenen Klosterfrauen, „von einem herabfallenden Giebel des Hauses, auf eine schmähliche Art erschlagen“ wird (S. 54, Z. 6 ff.). Josephe drückt der entsetzlich zugerichteten Toten in aller Eile noch die Augen zu, bevor sie mit ihrem Kind weiterflieht (S. 54, Z. 10 ff.). „Ganz von Schrecken er-
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken füllt“ (S. 54, Z. 12 f.), rafft sie dennoch „alle ihre Kräfte zusammen, sich zu halten“ (S. 54, Z. 22 f.) und schreitet, „den Jammer von ihrer Brust entfernend, mutig [...] von Straße zu Straße“ (S. 54, Z. 23 ff.). Schon nahe dem Tore erblickt sie die Trümmer des Gefängnisses, in dem Jeronimo festgehalten worden war. Der Anblick raubt ihr fast das Bewusstsein. Doch neue Gefahr durch ein hinter ihr einstürzendes Gebäude jagt sie wieder hoch. „Durch das Entsetzen gestärkt“ drückt sie sich „die Tränen aus den Augen“ und erreicht, „nicht mehr auf die Gräuel, die sie umringten, achtend, das Tor“ (S. 54, Z. 30 ff.). Im Freien, in vorläufiger Sicherheit, fasst sie bald Zuversicht, dass auch Jeronimo sich gerettet haben könnte. Als sie ihn nicht findet, zieht sie sich zurück, um zu weinen und für seine Seele zu beten (S. 54, Z. 37, S. 55, Z. 1 ff.). Die sorgende Pflege ihres Säuglings vernachlässigt sie dabei nicht (S. 53, Z. 21 f.). Dort, im stillen Tal, wird sie von Jeronimo gefunden. Was Josephe auf ihrer Flucht vor dem Erdbeben erlebt, erfüllt sie mit Entsetzen. Gleichwohl verliert sie nicht, wie ihr Geliebter, die Nerven. Sie handelt mutig und besonnen, fällt nicht von einem Extrem ins andere und wird ihrer Verantwortung als Mutter gerecht, ohne dabei ihre Trauer um den vermeintlich toten Jeronimo zu unterdrücken. Ihr Realitätssinn bewährt sich auch, als Jeronimo ihr am nächsten Tag entgegen dem ursprünglichen Plan vorschlägt, nicht außer Landes zu fliehen, sondern den Versuch zu unternehmen, beim Vizekönig eine Begnadigung zu erwirken. Die größere Klugheit ihres Rates, die Versöhnung schriftlich und für alle Fälle von einem Hafenort aus in die Wege zu leiten, muss auch Jeronimo einräumen (S. 50, Z. 10–23). Gleichwohl teilt sie die Illusion ihres Geliebten, dass man ihnen verzeihen werde (S. 57, Z. 3 ff. und S. 59, Z. 10 ff.). 2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Dieses Wunschdenken gründet in der freundlichen und vorbehaltlosen Aufnahme, die die aus der guten Gesellschaft Von der Gesellschaft verstoßen Verstoßene, samt ihrem Geliebten und Kind, bei der in der Nähe lagernden, ihr von früher gut bekannten Familie Ormez findet (S. 56, Z. 26 ff.). Dass ihre Verfemung nicht nur taktvoll übergangen, sondern schließlich von Donna Elvire sogar schonend angesprochen und, auf Josephes Mitteilungen hin, in einem begütigenden Händedruck gewissermaßen aufgehoben wird, hat eine überwältigende Wirkung auf Josephe: „Josephe dünkte sich unter den Seligen. Ein Gefühl, das sie nicht unterdrücken konnte, nannte den verflossnen Tag, so viel Elend er auch über die Welt gebracht hatte, eine Wohltat, wie der Himmel noch keine über sie verhängt hatte“ (S. 58, Z. 3 ff.). Diese Seligkeit, nicht länger ausgestoßen zu sein, versetzt Josephe in eine Euphorie, die sich in dem überschwänglichen Wunsch entlädt, ungeachtet der allgemein vorgetragenen Bedenken Donna Elisabeths an dem Dankgottesdienst in der Dominikanerkirche teilzunehmen. Don Fernando, der sich Josephe durch die freundliche Selbstverständlichkeit, mit der sie in Vertretung der verletzten Mutter seinen Sohn gestillt hat, besonders verbunden fühlen mag, betrachtet es als seine Kavalierspflicht, ihrem unklugen Wunsch zu entsprechen. So kommt es in der Kirche zur Konfrontation mit der vom Prediger aufgehetzten Menge, insbesondere zur Konfrontation Josephes mit dem Schuhflicker Pedrillo, der sie kennt. Frech verlangt er von ihr, ihm Rede und Antwort zu stehen, und sie gibt ihm, „von entsetzlichen Verhältnissen gedrängt“ und „in unendlicher Angst der Seele“ (S. 63, Z. 5 ff.), Auskunft, um die Verhältnisse aufzuklären, was aber angesichts der mordgierigen Menge aussichtslos ist. Als
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken kurz darauf dem hinzugeeilten Marine-Offizier die Nerven versagen und er die Gelegenheit versäumt, Josephe in seinen Schutz zu nehmen, erkennt Josephe, dass sie verloren ist, und gewinnt, gleichsam noch einmal „durch das Entsetzen gestärkt“, ihre Fassung und Geistesgegenwart zurück. Was sie hätte retten können, dass nämlich der mit ihr von früher genau bekannte Marine-Offizier sie für eine andere ausgibt, wendet sie nun zur Rettung der Kinder auf diese an. Sie setzt Don Fernando beide Säuglinge auf den Arm und sagt, damit die Leute es hören: „Gehn Sie, Don Fernando, retten Sie Ihre beiden Kinder, und überlassen Sie uns unserm Schicksale“ (S. 64, Z. 7 ff.). Auch dieser Versuch, zumindest die Kinder zu retten, scheitert an der zügellosen Mordgier der aufgehetzten Leute. Als vor der Kirche das Morden beginnt, wirft sich Josephe den Mördern freiwillig entgegen, „um dem Kampf ein Ende zu machen“ (S. 65, Z. 2). Selbst diese Tat aber rettet den kleinen Juan Ormez nicht. Donna Josephe Asteron beweist im Verlauf der tragischen Handlung sowohl menschliche Schwäche wie auch menschliche Größe. Dem durch ihre Liebe zu Jeronimo über sie verhängten Schicksal zeigt sie sich in vielen Momenten in bewunderungswürdiger Weise gewachsen. Dass dieses Schicksal sie in seiner Brutalität dennoch überfordern muss, wird an ihrer verhängnisvollen gerührten Ergriffenheit erkennbar, als sie sich wieder in die Gemeinschaft der Gesellschaft und der Menschen aufgenommen glaubt. Ihr Wunsch, dieser Rührung Ausdruck zu verleihen, indem sie an der gemeinschaftlichen Messe teilnimmt, wird ihr und ihren Begleitern zum Verhängnis.
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Don Fernando Ormez Don Fernando tritt erst am zweiten Tag der Handlung in Erscheinung. Von da an aber rückt er mehr und mehr in den Mittelpunkt der Ereignisse. Am Ende der Erzählung wird er gar zur tragenden Figur der Handlung. Der Erzähler schildert Don Fernando, als er ihn in die Geschichte einführt, als „junge[n], wohlgekleidete[n] Mann“ (S. 56, Z. 11 f.), „einen Bekannten“ Donna Josephes (S. 56, Z. 16), der sie „mit Bescheidenheit“ bittet, seinem kleinen Sohn anstelle der verletzten Mutter die Brust zu reichen (S. 56, Z. 13 ff.). Als Josephe diese Bitte erfüllt, ist er „sehr dankbar für diese Güte“ und lädt sie ein, sich mit Jeronimo und ihrem Kind seiner Familie anzuschließen (S. 56, Z. 25 ff.). Hatte er mit seiner Bitte deutlich gemacht, dass Josephe in seinen Augen keine moralisch Verkommene, aus der Gesellschaft Ausgestoßene ist, so zeigt er darüber hinaus durch seine Einladung, dass er auch Jeronimo als dem Vater von Josephes Kind ohne gesellschaftliche Herablassung zu begegnen fähig ist; auch wenn er sich in der Folge vor allem Josephe zuwendet. Gutes Benehmen und wirkliche Vorurteilslosigkeit tragen wohl gleichermaßen zu diesem Verhalten bei. Als vier Mitglieder der kleinen Gesellschaft am Nachmittag auf den dringlichen Wunsch Josephes hin die heilige Messe in der Stadt aufsuchen, übernimmt Don Fernando die Führung der Gruppe. Dies ist der Wunsch seiner Frau, die das Vorhaben nachdrücklich begrüßt hat. Don Fernando bietet Josephe als deren Kavalier den Arm, weil, so der Erzählerkommentar, ihm „die ganze Würdigkeit und Anmut ihres Betragens sehr gefiel“ (S. 60, Z. 26 f.). Als seine Schwägerin Donna Elisabeth der Gruppe nacheilt und ihm ihre Bedenken gegen den Kirchgang, die sie schon zuvor in allgemeinen Worten geäußert hat, nun offenbar unverstellt ins Ohr
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken flüstert, steigt Don Fernando „eine Röte des Unwillens ins Gesicht“ (S. 61, Z. 8) und er schickt Donna Elisabeth mit der Mahnung, sie solle sich beruhigen, zu den verletzten Familienmitgliedern zurück. Diese Reaktion lässt sich so erklären, dass er die Berechtigung der von seiner Schwägerin gehegten Sorgen insgeheim anerkennt, dass diese Einsicht jedoch in Konflikt mit seinen Kavalierspflichten gegenüber Josephe gerät und er sich darüber hinaus gegenüber Josephe auch nicht dem Verdacht aussetzen will, er teile die heuchlerische und gehässige Einstellung seiner Mitbürger. In diesem Zwiespalt siegt seine Ritterlichkeit über seinen Realitätssinn und seine Weltklugheit. So nimmt das entsetzliche Schicksal seinen Lauf und die Gruppe, besonders auch Don Fernando selbst, der zunächst für Jeronimo gehalten wird, sieht Kavalier und Held sich in der Kirche plötzlich einer mordwütigen Menge gegenüber. Geistesgegenwärtig versucht Don Fernando im ersten Moment, die ihm anvertrauten Menschen mithilfe seiner Schwägerin (sie soll eine Ohnmacht fingieren) außer Gefahr zu bringen, was aber scheitert. Einen ersten Versuch aus der Menge, Josephe Gewalt anzutun, kann er vereiteln. Er gibt sich daraufhin als Sohn des Stadtkommandanten zu erkennen (S. 62, Z. 32 ff.). Vorläufig aber fehlt ein für die Leute glaubwürdiger Zeuge für diese Behauptung. (Dieser Umstand sagt übrigens auch viel über die soziale Zusammensetzung der Menge aus, ohne dass der Erzähler darüber viele Worte verliert.) Die nun laut werdende Forderung, den wahren Jeronimo zu identifizieren, setzt Don Fernando in eine Verlegenheit, aus der er sich nicht zu helfen weiß; denn den anderen der Meute preiszugeben, ist offenkundig mit seinem Begriff persönlicher Ehre nicht zu vereinbaren. 2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Mit dem Hinzukommen des Marine-Offiziers Don Alonzo scheint Don Fernando wieder in die Lage versetzt, die Situation zu meistern. Hier bietet sich die Möglichkeit, mithilfe exekutiver Autorität Ordnung herzustellen. Mit „wahrer heldenmütiger Besonnenheit“, so der Erzähler, fordert Don Fernando den Offizier auf, Jeronimo und Josephe zu ihrem eigenen Schutz zu verhaften und auch den Hauptaufrührer Pedrillo gefangen zu nehmen (S. 63, Z. 29 ff.). Doch Don Alonzos Versagen im entscheidenden Moment lässt auch diesen Versuch scheitern. Don Fernando nimmt daraufhin von Josephe die beiden Kinder entgegen und leiht sich den Degen Don Alonzos zum Schutz der Säuglinge, aber auch zum Schutz der anderen Erwachsenen, für deren Sicherheit er, gegen den verzweifelten Rat Josephes, mit seinem Leben eintreten will (S. 64, Z. 10 ff.). Vor der Kirche werden dann zuerst Jeronimo und Donna Constanze erschlagen. Beim Anblick seiner ermordeten Schwägerin „glüht[ ]“ Don Fernando „vor Zorn“ (S. 64, Z. 31) und beginnt mit seiner Waffe gegen die Mörder vorzugehen. Nach dem Tod Donna Josephes verteidigt er, als einziger noch lebender Erwachsener der Gruppe, mit dem Rücken zur Kirche das Leben der beiden Kinder. „Dieser göttliche Held“ nennt ihn der Erzähler und fügt hinzu: „Ein Löwe wehrt sich nicht besser“ (S. 65, Z. 7 ff.). Als ihm dennoch eines der Babys entrissen wird und er einen Augenblick darauf, während sich die Menge lautlos zerstreut, den entsetzlich zugerichteten Leichnam seines eigenen Sohns erkennt, steht er „voll namenlosen Schmerzes, seine Augen gen Himmel“ (S. 65, Z. 18 f.). Die Reue des hinzutretenden Don Alonzo darüber, dass er die Morde nicht verhindern half, erreicht Don Fernando kaum. Von seinem Schmerz erfüllt, versichert er dem anderen, dass ihm nichts vorzuwerfen sei. Die Größe seines Un-
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken glücks lässt solchen Erwägungen keinen Raum. Don Fernando bittet den Offizier vielmehr, die Toten in dessen Wohnung bringen zu lassen, und folgt ihm, „viel über das Antlitz des kleinen Philipp weinend“, dorthin (S. 65, Z. 27 f.). Hier deutet sich bereits seine künftige Vaterschaft für das Kind, dem beide Eltern erschlagen worden sind, an. Lange zögert Don Fernando, seine Frau zu benachrichtigen, aus Schonung „und dann, weil er auch nicht wusste, wie sie sein Verhalten bei dieser Begebenheit beurteilen würde“ (S. 65, Z. 31 ff.). Obwohl er das ihm Mögliche getan hat und keinem Vorwurf ausgesetzt ist, empfindet er sein Versagen tief. Seine Frau hatte ihm die Verantwortung für die Gruppe übertragen. Nur mit dem einen lebenden Kind kommt er zurück. Don Fernando scheint unter dem Bewusstsein zu leiden, dass sein Zugehen auf Donna Josephe den Stein ins Rollen brachte, der schließlich zum Tod des Sohnes und der Schwägerin führte; und dass insbesondere sein Gefallen an der „Würdigkeit und Anmut“ Josephes und seine daraus hervorgehenden ritterlichen Empfindungen Josephe gegenüber ihn daran hinderten, das Unheil zu vermeiden. Doch seine Sorgen erweisen sich als unbegründet. Mit seiner Frau nimmt Don Fernando den kleinen Philipp als Pflegesohn an; und, so der letzte Satz der Erzählung, „wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müsst er sich freuen“ (S. 66, Z. 3 ff.). Dieser Schlusssatz scheint in Hinsicht auf Don Fernando zum Ausdruck zu bringen, dass der „Erwerb“ des nicht leiblichen Sohnes im Kampf mit der von einer heuchlerischen Moral geleiteten Menge als Akt der Selbstbehauptung einer reineren Sittlichkeit über die bloße Zeugung des leiblichen Sohnes zu stellen ist. Don Fernando wäre in diesem Sinne der 2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Exponent einer höheren Moral, die als Ideal notwendig im Konflikt zu der sehr gemischten gesellschaftlichen Realität und deren unaufrichtiger und interessegeleiteter Moral steht. Der Chorherr Der Chorherr hat nur einen kurzen Auftritt, mit dem er jedoch der an jähen Umschwüngen reichen Handlung die entscheidende Wende gibt und das Blutvergießen vor dem Portal der Kirche heraufbeschwört. Er gehört dem Dominikanerorden an, ist „der ältesten Chorherren einer“, und hält, „mit dem Festschmuck angetan“, von der Kanzel aus die Predigt, wobei er zu Beginn die „zitternden“ Hände in dramatischer Pose „gen Himmel“ erhebt (S. 61, Z. 29 ff.). Seine körperliche Hinfälligkeit akzentuiert nur noch stärker seine geistige Macht über die Gemeinde und die Unerbittlichkeit, mit der er, „im Flusse priesterlicher Beredsamkeit“ (S. 62, Z. 3 f.), die sittliche Verderbnis der Bürger anprangert und Jeronimo und Josephe als Hauptschuldige namentlich nennt und öfSaat des Hasses fentlich verdammt. Auf diese Weise im Namen der Kirche bietet er den Leuten zwei Sündenböcke, durch deren Opferung sie sich vermeintlich von ihrem eigenen Anteil an der allgemeinen moralischen Verwahrlosung loskaufen können. Entsprechend kommt es dann auch: Josephe wird in der Menge entdeckt. Es entsteht Tumult, der Gottesdienst bricht ab. So steht der Chorherr für eine Kirche, die sich als Institution weit von den christlichen Idealen, besonders dem der Nächstenliebe, entfernt hat. Der Dienst am Nächsten ist dem Willen gewichen, eine in geistiger Beschränktheit gehaltene Masse von Gläubigen beliebig manipulieren zu können. Mit seinem ausdrücklichen Seitenhieb gegen den Vize-
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken könig (der den kirchlichen Urteilsspruch über Josephe „gemildert“, etwas weniger grausam gestaltet hat) steht der Chorherr zudem für den eifersüchtigen und sehr weltlichen Machtkampf zwischen Kirche und Staat. Meister Pedrillo Meister Pedrillo ist der blutrünstige, ressentimentgeladene Einzelne, der „Fürst der satanischen Rotte“ (S. 65, Z. 11 f.), der die Menge anführt und ihr exemplarisch Kontur verleiht; dieser Menge kleingeistiger und rachedurstiger Menschen, die die Gelegenheit nutzen, Mitglieder der privilegierten Klasse in die Enge zu treiben und an ihnen ihr Mütchen zu kühlen. In abwertender Weise informiert der Erzähler den Leser über Pedrillos Beruf und mithin seinen sozialen Rang. Meister Pedrillo ist „Schuhflicker, der für Josephen gearbeitet hatte, und diese wenigstens so genau kannte, als ihre kleinen Füße“ (S. 62, Z. 36 f., S. 63, Z. 1). Die freche Vertraulichkeit, mit der er sie bedrängt, beruht auf dieser halben Intimität (S. 63, Z. 1 ff.). Die Betonung der Zierlichkeit ihrer Füße steht dabei im Kontrast zu der Derbheit, die sich in seinem Auftreten deutlich abzeichnet. Auch läuft hier wohl ein Unterstrom sexuellen Begehrens mit. Sie verkörpert für ihn die liebreizende hoch gestellte junge Frau, von der er eine gewisse intime Kenntnis hat und die für ihn dennoch unerreichbar ist. Ihre öffentliche Schande hat diese Unerreichbarkeit schon stark vermindert. Dadurch fühlt er sich berechtigt, die junge Frau vor der Menge zu demütigen und, wenn möglich, körperlich zu zerstören. Der fanatische und höhnische Eifer, mit dem er dies betreibt, zeigt, dass es ihm wahre Lust bereitet.
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Nachdem er sich als Wortführer der Menge auch gegenüber Don Fernando Ormez und Don Alonzo Onoreja behauptet hat und seiner Verhaftung durch selbstbewusstes Auftreten entgangen ist (S. 63, Z. 10 f. und 36 ff.), erschlägt er vor der Kirche Donna Josephe mit seiner Ressentiment und Brutalität Keule. „Darauf ganz mit ihrem Blute besprützt: schickt ihr den Bastard zur Hölle nach! rief er, und drang, mit noch ungesättigter Mordlust, von neuem vor“ (S. 65, Z. 3 ff.). Tatsächlich ruht er „nicht eher“, als bis er Don Fernando einen der Säuglinge, und zwar den falschen, entrissen und auf unerhört brutale Weise „an eines Kirchpfeilers Ecke zerschmettert“ hat (S. 65, Z. 12 ff.). Anschließend ist von ihm nicht mehr die Rede. Der Erzähler lässt auf schockierende Weise offen, ob Meister Pedrillo für seine ungeheuerlichen Taten zur Verantwortung gezogen worden oder ob er unbehelligt geblieben ist. So zittert, nachdem sich der Sturm der falschen Entrüstung fürchterlich entladen hat, auch in der danach eintretenden Stille, in der Andeutung einer versöhnten Zukunft, noch das ungesühnte Verbrechen verstörend nach. Don Alonzo Onoreja Don Alonzo, „ein Marine-Offizier von bedeutendem Rang“ (S. 63, Z. 25 f.), steht für die Kapitulation der Exekutive, der bewaffneten weltlichen Ordnungsmacht, vor dem vom kirchlichen Würdenträger aufgehetzten Volk. Er erscheint auf dem Plan, als sich die Lage für Don Fernando und die Seinen in der Kirche bedrohlich zugespitzt hat. Nicht aus Neugierde verschafft er sich Zugang zum Mittelpunkt des Aufruhrs, sondern offenkundig, weil er sich verpflichtet fühlt, hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Das zeigt, wenn es überhaupt eines Beweises bedarf, seine un-
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken verzüglich an Don Fernando gerichtete Frage nach der Ursache des Aufruhrs (S. 63, Z. 27 f.). Don Fernando erläutert ihm die Situation und ersucht ihn, die gefährdeten Jeronimo und Josephe „zu ihrer beiderseitigen Sicherheit“ zu verhaften sowie zudem den „Nichtswürdigen [...], der den ganzen Aufruhr angezettelt“ habe (S. 63, Z. 32 ff.). Gemeint ist Meister Pedrillo, den Don Fernando bereits gepackt hat, der jedoch die Situation meistert, indem er von Don Alonzo „auf Euer Gewissen“ Auskunft darüber begehrt, ob es sich bei dem Mädchen, das er attackiert hat, nicht tatsächlich um Josephe Asteron handele (S. 63, Z. 36 f., S. 64, Z. 1 ff.). Don Alonzo, der kam, um selbst Fragen zu stellen und Aufklärung zu fordern, ist verblüfft genug, um sich das Heft des Handelns, noch ehe er es recht ergriffen hat, aus den Händen nehmen zu lassen. Auch scheint es ihm, auf sein Gewissen hin befragt, schwer zu fallen, dem Schuster kaltblütig die Unwahrheit zu sagen, denn er kennt Josephe genau. Soldatisches Ehrgefühl steht hier offenbar einer rettenden Antwort hemmend entgegen. Dass er Meister Pedrillo nicht einfach die Antwort verweigert, zeigt zudem, dass er sich von den Umständen hat einschüchtern lassen. So zaudert er mit der Antwort und verspielt damit die Chance, die aufgebrachte Menge, die nun achtlos über ihn hinweggeht, unter Kontrolle zu bringen. Sein Versagen wird noch dadurch unterstrichen, dass er Don Fernando, auf dessen Bitte hin, sei- Die Kapitulation der Exekutive nen Degen überlässt (S. 64, Z. 13). Diese Handlung offenbart seine Parteilichkeit und wirft daneben ein ungünstiges Licht auf seine persönliche Tapferkeit. Der Repräsentant der weltlichen Ordnung drückt dem ihm nahe stehenden, bedrohten Einzelnen seine Waffe in die Hand, damit er sich selber schütze. Mit diesem Degen tötet Don Fernando kurz darauf sieben Angreifer. 2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Nach dem Gemetzel findet sich Don Alonzo wieder an der Seite Don Fernandos ein, versucht ihn zu trösten und gesteht seine Reue über seine „Untätigkeit“ ein, obschon diese „durch mehrere Umstände gerechtfertigt“ gewesen sei (S. 65, Z. 20 ff.). Auf diese Rechtfertigungsgründe geht die Erzählung nicht näher ein, was man als Urteil darüber auffassen kann, dass diese Gründe nicht der Rede wert sind. Dass Don Fernando Don Alonzo versichert, ihm sei nichts vorzuwerfen, dass dieser auf Don Fernandos Bitte hin die Leichen in seine Wohnung schaffen lässt und Don Fernando und Philipp Gastfreundschaft erweist, lässt sich als versöhnliche Tendenz deuten, ebenso gut aber auch als Zeichen für ein prekäres Zurückkehren in die gewohnten Zustände, die durch das Erdbeben mit all seinen Folgen jedoch innerlich brüchig geworden sind. Der Vater Jeronimo Rugeras Der alte Rugera, dessen Vorname ungenannt bleibt, schlägt auf dem Höhepunkt der Dramatik wie ein Blitz in die Erzählung ein und taucht dann sofort wieder unter. Als Don Fernando mit seiner Gruppe unversehrt auf dem Vorplatz der Kirche angelangt ist und sich gerettet glaubt, ruft „eine Stimme aus dem rasenden Haufen, der sie verfolgt hatte [...]: Dies ist Jeronimo Rugera, ihr Bürger, denn ich bin sein eigener Vater!“ Dann streckt der Vater den Sohn „an Donna Constanzens Seite mit einem ungeheuren Keulenschlage zu Boden“ (S. 64, Z. 19–23). Die geschichtlich anachronistische Der Mörder seines Sohnes Anrede „ihr Bürger“ rückt den grausigen Mord am eigenen Sohn in die Nähe der gewalttätigen ,Tugend’-Exzesse während der Französischen Revolution. Dass er diesen Sohn gezeugt hat, versucht der alte Rugera
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2. Textanalyse und -interpretation
2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken gegenüber der Gesellschaft wieder gutzumachen, indem er ihn selbst aus der Welt schafft. Die Tat zeigt, wie sehr die von der Kirche geschürte Verblendung der Leute nicht nur den Staat, sondern auch die Familie als Menschen in gegenseitiger Unterstützung und Solidarität verbindende Institution unterminiert. Donna Elvire Donna Elvire, die Frau Don Fernandos und die Mutter des kleinen Juan, ist während des Erdbebens schwer an den Füßen verwundet worden, weshalb Josephe ihr Kind für sie stillt (S. 56, Z. 34 f. und Z. 23 ff.). Sie begegnet Josephe von Anbeginn „mit vieler Freundlichkeit“ (S. 56, Z. 37), während Josephe sich ihrerseits intensiv um die Verletzungen Donna Elvires bemüht (S. 57, Z. 32 f.). Bei solcher Gelegenheit und als sie aufgrund des lebhaften Gesprächs unter den anderen sicher sein kann, dass nur Josephe sie hört, erkundigt sie sich zartfühlend, wie es denn Josephe „an diesem fürchterlichen Tag ergangen sei?“ Josephe antwortet „mit beklemmtem Herzen“, worauf Donna Elvire Tränen des Mitgefühls in die Augen treten. Auch ergreift Donna Elvire Josephes Hand, „und drückte sie, und winkte ihr, zu schweigen“ (S. 57, Z. 33 ff.). Die Art, wie sie das heikle Thema nicht ängstlich Feingefühl und vermeidet, vielmehr taktvoll und Mitmenschlichkeit schonend anspricht und dann echte Anteilnahme zeigt, offenbart Donna Elvires Mitmenschlichkeit und ihr Feingefühl (während sich Don Fernando, als er auf Donna Josephe zugeht, eine kleine Gedankenlosigkeit leistet; vgl. S. 56, Z. 19 f.). Josephe dünkt sich auf dieses Gespräch hin „unter den Seligen“.
2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Mit ihrer starken Anteilnahme an Josephe ist wohl auch die „Lebhaftigkeit“ zu erklären, mit der sich Donna Elvire später für Josephes dringenden Wunsch ausspricht, an der heiligen Messe teilzunehmen (S. 60, Z. 9 ff.). Auch dass sie ihren eigenen Mann sogleich zum Führer einer solchen Unternehmung bestimmt, kann als Ausdruck von Fürsorge und Zuneigung gelten. Sie besteht darauf, wie es ausdrücklich heißt, dass man die Messe hört (S. 60, Z. 10), und trägt somit ihren Teil der Verantwortung an der Tragödie, die sich daraufhin abspielt. Dies Bewusstsein mag dazu beitragen, dass „diese treffliche Dame“, nachdem sie „im Stillen ihren mütterlichen Schmerz“ ausgeweint hat (S. 65, Z. 36), am Ende Don Fernando, entgegen dessen Befürchtungen, liebevoll umarmt und wieder bei sich aufnimmt. Donna Elvires Charakter ist letztlich aber so gezeichnet, dass es ihr auch ohne das Empfinden einer Mitschuld wohl fern liegt, sich ihr Unglück durch Vorwürfe gegenüber ihrem Mann erleichtern zu wollen. Donna Elisabeth Donna Elisabeth ist eine der beiden Schwägerinnen Don Fernandos. Ihr Verhalten gegenüber Donna Josephe weicht insofern von dem der übrigen Mitglieder ihrer Familie ab, als sie Josephe „zuweilen mit träumerischem Blicke“ betrachtet (S. 57, Z. 14 f.). Dass dieser träumerische Blick nicht als verträumter Blick missverstanden werden darf, zeigt der Zusammenhang: Unmittelbar zuvor nämlich teilt der Erzähler mit, dass Donna Elisabeth von „einer Freundin, auf das Schauspiel des gestrigen Morgens, eingeladen worden war, die Einladung aber nicht Anstand und Realitätssinn angenommen hatte“ (S. 57, Z. 12 ff.). Donna Elisabeths sinnender Blick gilt demnach dem Um-
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2. Textanalyse und -interpretation
2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken stand, dass Josephe, mit der sie gut bekannt ist (S. 56, Z. 32 f.), ihr als eine nur knapp der öffentlich vollzogenen Hinrichtung Entronnene, noch immer dem Schwert des Richters Verfallene, hier unversehrt gegenübersitzt. Dass ihr dies in gewisser Weise wie ein Traum erscheint, spricht nur für ihren Realitätssinn. Über ihre Integrität besteht aufgrund der Information, dass sie sich geweigert hat, der Hinrichtung beizuwohnen, kein Zweifel. In diesem Licht sind ihre Warnungen vor dem Kirchgang zu betrachten. Nachdem sie beim ersten Versuch mit ihren allgemein vorgetragenen, die Gefühle Josephes und Jeronimos taktvoll schonenden Bedenken nicht durchgedrungen ist (S. 59, Z. 36, S. 60, Z. 1 ff.), überwindet sie sich, als die Gruppe schon aufgebrochen ist, Don Fernando nachzueilen und ihm ihre Sorgen, nun wohl unverblümt, ins Ohr zu flüstern. Dabei holt sie sich eine Abfuhr (S. 60, Z. 32 ff.). Donna Elisabeth hat die Rolle der weltklugen Warnerin inne, deren Rat nicht befolgt wird, woraufhin die Tragödie ihren Lauf nimmt. So verkörpert sie die Vermeidbarkeit des Unglücks und akzentuiert damit noch seine Tragik. Donna Constanze und Don Pedro Donna Constanze Xares (vgl. S. 64, Z. 27 f.) ist die andere Schwägerin Don Fernandos und wie ihre Schwester Donna Elisabeth eine „sehr würdige junge Dame[ ]“ (S. 56, Z. 33). Sie begleitet Don Fernando, Donna Josephe, Jeronimo und die Kinder in die Kirche und wird dort auf dem Vorplatz ermordet, weil sie für Josephe gehalten wird. Eine Chance, in den Lauf der Ereignisse einzugreifen, bietet sich ihr nicht (vgl. S. 62, Z. 18 ff.). In der Gefahr beweist sie die Neigung, sich von Jeronimo, der ihr den Arm geboten hat, an die Seite ihres Schwagers zu flüchten, welcher sie letztlich aber 2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken auch nicht schützen kann (S. 62, Z. 17 f. und S. 64, Z. 23 f.). Sie verkörpert, wie der kleine Juan, das gänzlich unschuldige und daher vollkommen sinnlose Opfer blinder Gewalt Opfer der blinden Gewalt, das mit dem den Gewalttaten zugrunde liegenden Konflikt nichts zu tun hat und auch nichts zu tun haben möchte, aber dennoch mit hineingezogen und davon verschlungen wird. Don Pedro ist der Vater der drei Schwestern Donna Elvire, Donna Elisabeth und Donna Constanze. Er ist an der Schulter verwundet und nickt Josephe, als sie sich auf Einladung seines Schwiegersohns hin mit ihrem Geliebten und ihrem unehelichen Kind zu seiner Verwandtschaft gesellt, „liebreich mit dem Haupte zu“ (S. 57, Z. 2). Das ist eine würdige und schöne Geste, die auch seine Menschlichkeit und Vorurteilslosigkeit offenbart. Damit ist das Bild der Familie abgerundet. Auf den weiteren Gang der Ereignisse nimmt Don Pedro keinen Einfluss und kommt entsprechend nicht wieder vor. Schaubild 2: Figurenkonstellation
68
2. Textanalyse und -interpretation
2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen
2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen S. 49, Z. 2: S. 49, Z. 2:
S. 49, Z. 4:
S. 49, Z. 8:
S. 49, Z. 13: S. 49, Z. 16 f.:
S. 49 , Z. 22 f.:
St. Jago: ältere Bezeichnung für die Stadt Santiago (de Chile) des Königreichs Chili: Chile war zur Zeit des großen Erdbebens im Jahre 1647 spanische Kolonie. Es hatte den Status eines Generalkapitanats innerhalb des Vizekönigreichs Peru, wurde aber im Schrifttum des 18. Jahrhunderts zumeist als Königreich bezeichnet. viele tausend: Vermutlich kam bei dem Erdbeben ein Drittel der 12.000 Einwohner Santiagos ums Leben. Zu Kleists Zeit lagen nur sehr ungenaue Berechnungen über die Zahl der Opfer vor. Don: spanischer Adelstitel vor männlichen Vornamen (entsprechend: Donna bei weiblichen Vornamen) geheime Bestellung: heimliche Mitteilung Karmeliterkloster unser lieben Frauen vom Berge: Die Karmeliter, einer der größten Bettelorden, tragen ihren Namen nach ihrem Entstehungsort, dem Berg Karmel in Israel. Der weibliche Orden, die Karmelitinnen, entstand im 15. Jahrhundert. In Santiago gab es ein Karmeliterkloster. Fronleichnamsfeste: Die auf das Mittelhochdeutsche zurückgehende Bezeichnung bedeutet „Leib des Herrn“. Gemeint ist die in den Leib Jesu verwandelte Hostie. Das Fronleichnamsfest wird am zweiten Donnerstag nach Pfingsten begangen.
2. Textanalyse und -interpretation
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen S. 49, Z. 24: S. 49, Z. 30 f.:
S. 50, Z. 1: S. 50, Z. 5:
S. 50, Z. 6: S. 50, Z. 18: S. 50, Z. 34:
S. 50, Z. 34:
S. 50, Z. 36: S. 51, Z. 24: S. 52, Z. 27 f.:
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Novizen: künftige Ordensmitglieder, noch in der Probezeit Erzbischofs: Santiago hatte eigentlich nur einen Bischof. Kleist wollte möglicherweise die Machtfülle des kirchlichen Oberhaupts betonen. Dass der Erzbischof den Prozess anordnet, liegt daran, dass das Vergehen innerhalb seines Verantwortungsbereichs, des Klosters, begangen wurde. Josephe hat gegen das Keuschheitsgebot verstoßen. Äbtissin: Vorsteherin des Klosters Feuertod: schwere Strafe, nicht nur aufgrund der körperlichen Grausamkeit, sondern weil der Leichnam zu Asche verbrennt und jede Erinnerung an die Person des/r Verurteilten ausgelöscht werden soll. Die Enthauptung (Z. 8) ist aus dieser Perspektive eine große Vergünstigung. Matronen: gesellschaftlich respektierte ältere Damen, verheiratet oder verwitwet Fittig: Flügel eines Vogels, hier in metaphorischer Bedeutung Gesimse: oberer Rand von Säulen oder Pfeilern, waagrechtes Bauelement mit stützender Funktion derselben: offenbar ein Flüchtigkeitsfehler; es müsste wohl „desselben“ heißen (Bezugswort ist der Wandpfeiler) Firmament: Himmelsgewölbe Gestade: gehobener Ausdruck für: Ufer umständliche: ausführliche, detaillierte
2. Textanalyse und -interpretation
2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen S. 53, Z. 21:
S. 53, Z. 23: S. S. S. S.
53, 54, 54, 55,
Z. Z. Z. Z.
37: 10: 37: 27:
S. 56, Z. 1:
S. 56, Z. 14: S. 56, Z. 23: S. 58, Z. 24: S. 58, Z. 25: S. 58, Z. 27: S. 58, Z. 27 f.: S. 58, Z. 37, S. 59, Z. 1: S. 59, Z. 3: S. 59, Z. 8: S. 59, Z. 22:
seinen: grammatische Unstimmigkeit; das Pronomen bezieht sich unverkennbar auf „Quelle“ und müsste daher „ihren“ lauten. Ahndung: ältere Schreibung für „Ahnung“ (vgl. auch S. 60, Z. 16) angelobt: feierlich versprochen schmähliche: entehrende Scheidewege: Kreuzung wollüstiges Lied: Wollust drückt im heutigen Sprachgebrauch sexuelles Begehren aus. Die frühere Bedeutung ist allgemeiner: tiefe Freude (vgl. auch S. 58, Z. 1) La Conception: Hauptstadt der Provinz gleichen Namens in Mittelchile. Die deutsche Bedeutung ist „Empfängnis“ und bezieht sich auf die unbefleckte Empfängnis Mariens. beschädigt: verwundet mitzuteilen: abzugeben, mit anderen zu teilen Römergröße: Die alten Römer galten als besonders abgehärtet und tapfer. Verachtung: Nichtbeachtung ungesäumter: ohne zu zögern dem nichtswürdigsten Gute gleich: einer wertlosen Sache gleich sich […] erschöpft: alles zur Sache Gehörende ausgesprochen Granatwaldes: ungewöhnliches Wort; geläufig ist nur der „Granatapfelbaum“ Fußfall: Kniefall Gängen: die Laubengänge des Granatapfelwaldes
2. Textanalyse und -interpretation
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen S. 59, Z. 29: S. 59, Z. 31: S. 59, Z. 37:
S. 60, Z. 6 f.:
S. 60, Z. 26 f.:
S. 61, Z. 25:
S. 61, Z. 25: S. 61, Z. 30: S. 61, Z. 36:
S. 62, Z. 5:
Prälaten: dem kirchlich Oberen ferneren: weiteren Unheil gestern in der Kirche: Diese Stelle passt schlecht zu dem bis dahin Mitgeteilten. Klaus Müller-Salget kommentiert, die Angabe ziele „offenbar auf die geplante Hinrichtung Josephes, die natürlich nicht in einer Kirche vorgenommen werden sollte, wohl aber von ‚der’ Kirche veranlasst war. Im ‚Versprecher’ Donna Elisabeths wird das kommende Unheil vorweggespiegelt.“19 ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zu legen: Dieser fromme Wunsch erhält auf dem Hintergrund des späteren Geschehens den von der Sprecherin unbeabsichtigten Nebensinn einer grausigen Prophezeiung. Würdigkeit und Anmut: Anspielung auf Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde (1793). Josephe wird damit als ‚schöne Seele’ gekennzeichnet. Flamme der Inbrunst: tiefe und heiße religiöse Empfindung; „Flamme der Inbrunst“ ist ein wenig tautologisch (inhaltlich gedoppelt). gen: Kurzform von „gegen, zum“ (vgl. auch: S. 61, Z. 33) angetan: bekleidet Weltgericht: geläufiger als „Jüngstes Gericht“; vgl. Neues Testament, Offenbarung des Johannes Sodom und Gomorrha: Städte am Toten Meer, von denen in der Bibel berichtet
19 Vgl. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Band 3, S. 821.
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2. Textanalyse und -interpretation
2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen
S. 62, Z. 26:
S. 62, Z. 29:
S. 63, Z. 1: S. 63, Z. 2: S. 63, Z. 3 f.: S. 63, Z. 7: S. 63, Z. 18:
wird, dass Gott sie wegen der dort grassierenden Ausschweifungen durch einen Regen aus Feuer und Schwefel zerstörte (vgl. Altes Testament, 1. Buch Mose, 18, 16–19, 29). Sie stehen sprichwörtlich für sittliche Verkommenheit. Bürger: terminologischer Anachronismus; der Begriff passt auf die feudale Gesellschaft Chiles im 17. Jahrhundert kaum. Es liegt nahe, die Verwendung dieser Bezeichnung als Anspielung auf die gewalttätigen Exzesse während der Französischen Revolution aufzufassen. heiliger Ruchlosigkeit: Ruchlos ist eine Tat, bei der bewusst allgemein ethische und insbesondere göttliche Normen (Gesetze) verletzt werden. „Heilige Ruchlosigkeit“ ist insofern eine paradoxe Fügung (als rhetorisches Mittel: ein Oxymoron), die das nur angemaßte Recht der Täter ins Bewusstsein rückt. zu: von Trotz: hier in der Bedeutung von: Herausforderung, Drohung schüchtern: unsicher Er: Anrede in der dritten Person steinigt sie!: Das Steinigen taucht bereits im Alten Testament als Strafe des Volkes vor allem für sexuelle Vergehen auf (vgl. 3. Buch Mose, 20). Christus rettete hingegen eine Ehebrecherin mit dem Hinweis vor der Steinigung, dass, wer selbst ohne Sünde sei,
2. Textanalyse und -interpretation
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen
S. 64, Z. 22:
S. 64, Z. 24 f.: S. 64, Z. 29: S. 64, Z. 31: S. 65, Z. 4: S. 65, Z. 9 f.:
S. 65, Z. 12:
S. 65, Z. 35:
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den ersten Stein werfen möge (vgl. Neues Testament, Johannes-Evangelium, 8, 7). Keulenschlage: Verschiedentlich ist von der Forschung moniert worden, dass die Kirchgänger auf einmal mit Keulen ausgestattet seien. Die Keulen als Tatwaffen sollen offenkundig den stets möglichen Rückfall in die Barbarei auch innerhalb so genannter zivilisierter Gesellschaften symbolisieren. Klostermetze: Metze ist ein anderes Wort für Hure, Prostituierte. sucht die rechte auf: findet die richtige Schwert: Kleist benutzt das Wort hier als Synonym für „Degen“ (Z. 13). Bastard: uneheliches Kind wetterstrahlte: Kleist benutzt oft das ungebräuchlichere Wort „Wetterstrahl“ für „Blitz“. Rotte: ursprünglich Bezeichnung für eine militärische Einheit, hier allgemeiner und abwertend: üble Bande treffliche: vortreffliche
2. Textanalyse und -interpretation
2.6 Stil und Sprache
2.6 Stil und Sprache Die nicht immer leicht zu lesende, gleichwohl faszinierende Sprache, die Heinrich von Kleist in seinen Erzählungen verwendet, ist wiederholt gründlich unKleists Erzählsprache ter die Lupe genommen worden. Einige wesentliche der dabei gewonnenen Erkenntnisse werden in diesem Abschnitt vorgestellt. Ich beziehe mich dabei in erster Linie auf Wolfgang Kaysers Aufsatz Kleist als Erzähler.20 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Sprache in Kleists Erzählungen die Stimme des jeweiligen Erzählers charakterisiert, die nicht automatisch identisch ist mit derjenigen des Autors Kleist. Kleist konnte, wie seine Dramen oder seine Briefe zeigen, auch anders schreiben. Die sprachliche Untersuchung ist daher notwendig eng verknüpft mit der Betrachtung der Erzählinstanz, der diese Sprache zugeschrieben wird. Kennzeichnend für diesen Kleist’schen Erzähler ist zunächst, dass er sich zwar durch seine Stimme, seine unverwechselbare Sprache, im Bewusstsein der Leser präsent hält, sich aber nur ganz selten – vor allem gemessen an der üblichen Erzählpraxis im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert – direkt an den Leser wendet. Im Allgemeinen spricht er nicht „zum Publikum, erklärt ihm nichts, reflektiert nicht mit ihm, kümmert sich nicht darum [...]: Er steht mit dem Rücken zum Publikum und beachtet es nicht.“21 Auch vermittelt er den Eindruck, nichts Literarisches im 20 Kayser, Wolfgang: Kleist als Erzähler (1954/55). In: Müller-Seidel, Walter (Hg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967 (Wege der Forschung 147), S. 230243. 21 Ebd., S. 231 f.
2. Textanalyse und -interpretation
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2.6 Stil und Sprache Sinn zu haben, keine erfundene Geschichte zu erzählen, sondern vielmehr als Berichterstatter, als Chronist tatsächlicher Ereignisse zu fungieren. Die Stelle im Erdbeben in Chili, in der der Erzähler die Schilderung der nächtlichen, zauberischen Ruhe, welche Jeronimo und Josephe nach den überstandenen Gefahren des Tages genießen, mit den Worten „wie nur ein Dichter davon träumen mag“ einleitet (S. 55, Z. 15 f.), bildet entsprechend eine große Ausnahme und markiert einen so deutlichen Stilbruch, dass man sie als ironischen Kommentar des Erzählers zur seligen Selbstvergessenheit der Liebenden verstehen kann. Der Erzähler bietet, die Stimmung der Liebenden verdeutlichend und möglicherweise mit ihr sympathisierend, eine schwärmerische Schilderung und betont zugleich, dass hiermit der Boden der Tatsachen verlassen wird. Zu einer solchen Deutung der Stelle passt auch, dass der nächtliche Ort mit allen literarischen Topoi (Beschreibungsmustern) des „locus amoenus“ (des lieblichen Orts) versehen ist: dem Pinienhain, der Quelle, dem Duft, dem Moos und Laub, dem Singvogel. Zudem ist die Haltung der ruhenden jungen Familie nicht der Natur, sondern der Kunst abgeschaut. Sie ist dem in der Malerei der Renaissance besonders verbreiteten Motiv der „Anna Selbdritt“ nachgebildet, das Maria, mit dem Jesuskind im Schoß, ihrerseits im Schoß der heiligen Anna, ihrer Mutter, darstellt (vgl. S. 55, Z. 27 ff.). Eine solche Stelle fällt, wie gesagt, aus dem Rahmen. Typisch hingegen für den sachlich gedrängten Chronistenstil, der im Allgemeinen vorherrscht, sind bereits die Einleitungssätze, die vermittels genauer Angaben zu Zeit, Ort, Personen und deren Verhältnissen direkt Parteinahme des Erzählers zur Sache kommen. Diese kühle Präzision geht jedoch, überraschend genug, mit entschiedenen
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2. Textanalyse und -interpretation
2.6 Stil und Sprache und gefühlsmäßig stark aufgeladenen Wertungen einher. So spricht der Erzähler von der „hämische[n] Aufmerksamkeit“ des „stolzen“ Bruders von Josephe, der ihr Verhältnis dem Vater verrät (S. 49, Z. 14 ff.). Er kommentiert die moralische Heuchelei der „frommen Töchter der Stadt“ mit unverhohlenem Sarkasmus (S. 50, Z. 4–14), bestimmt die Gemütslage des ersten Angreifers, der in der Kirche Hand an Josephe legt, als „heilige[ ] Ruchlosigkeit“ (S. 62, Z. 29) und bezeichnet Don Fernando als „göttliche[n] Held[en]“ (S. 65, Z. 7), Meister Pedrillo hingegen als „Fürst[en] der satanischen Rotte“ (S. 65, Z. 12), um nur einige Beispiele zu nennen. Der Erzähler nimmt deutlich Partei. Dabei spricht er nicht aus der Position des souveränen Überblicks über das Ganze der Handlung, sondern gleichsam als Augenzeuge unter dem unmittelbaren Eindruck der jeweiligen Situation stehend. Nicht selten macht sich die Wertung auch die Perspektive einer der handelnden Figuren zu Eigen. Als am Anfang der Erzählung die Vorgeschichte nachgetragen wird, heißt es, mit Blick auf Josephes bevorstehende Hinrichtung, Jeronimo „wollte die Besinnung verlieren, als er diese ungeheure Wendung der Dinge erfuhr“ (S. 50, Z. 16 f.). Das Wort von der ungeheuren Wendung beschreibt, da der Leser vom Erzähler bereits ins Bild gesetzt worden ist, offenkundig Jeronimos Gefühlslage. So kommt diese Stelle der erlebten Rede sehr nahe. Ferner ist zu beobachten, dass die Wertungen, wenn nicht in sich, so doch im Vergleich untereiParadoxe Wertungen nander, oft paradox sind. Die eben angeführte Charakterisierung „heiliger Ruchlosigkeit voll“ (S. 62, Z. 29 f.) ist eine solche in sich paradoxe Wertung, während der Umstand, dass das Erdbeben von den meisten Einwohnern St. Jagos als Strafe Gottes (vgl. S. 61, Z. 35 ff.), 2. Textanalyse und -interpretation
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2.6 Stil und Sprache von Jeronimo und Josephe hingegen als himmlische Wohltat gedeutet wird (S. 53, Z. 26 f.; S. 55, Z. 35 f. und S. 58, Z. 5 ff.), zwar aus den je unterschiedlichen Ausgangslagen heraus verständlich, aber für die Gesamtbewertung des Ereignisses gleichwohl ein Paradoxon ist. Situationsabhängige Bewertungen ersetzen in diesem Erzählen eindeutige Wahrheiten. Die Wirkung einer solchen Erzählweise ist, dass der Leser mit einem Erzähler konfrontiert ist, der sich, einerseits kaltblütig und distanziert berichtend, von der Ungeheuerlichkeit der mitgeteilten Geschehnisse doch immer wieder mitreißen lässt und entschieden Partei ergreift. Dabei zeigt sich, dass der Erzähler über keine eindeutige Wahrheit verfügt. So kann man schlussfolgern, dass es Das Fehlen eindeutiger Kleist beim Erzählen wesentlich daWahrheiten rum geht, den im Letzten undurchschaubaren Charakter der Realität vor Augen zu führen. Dass wenige Autoren ihre Interpreten zu so unterschiedlichen, widersprüchlichen Deutungen provoziert haben wie Kleist, ist ein Effekt dieser Erzählweise. Eine eindeutige Auslegung ist hier nur zu erreichen, Unausdeutbarkeit wenn man jeweils all die Passagen ausblendet, die einer solchen Auslegung im Wege stehen. Wer sich auf eine Deutung des Textes festlegt, der unterdrückt zwangsläufig andere, dem Wortlaut des Textes nach ebenso plausible Deutungen. Einen „der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ nennt der Erzähler von Kleists längster Novelle Michael Kohlhaas gleich im ersten Satz seine Hauptfigur. Diese scheinbar widersprüchliche Charakterisierung wird jedoch anschließend durch den Verlauf der Geschichte voll gerechtfertigt. Im
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2. Textanalyse und -interpretation
2.6 Stil und Sprache letzten Satz des Erdbebens in Chili heißt es: „und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müsst er sich freuen.“ (S. 66, Z. 3 ff.) Wie dieser Schlusssatz zu verstehen ist, ob er ein versöhnliches oder ein bitteres Licht auf das Vorangegangene wirft, was er über Don Fernandos Gemütslage aussagt, ist durchaus fraglich und von unterschiedlichen Interpreten auch unterschiedlich genug gedeutet worden; zumal der Erzähler am Ende sprachlich einen dreifachen Vorbehalt einbaut: es war ihm (1) fast (2), als müsst (3) er sich freuen. Auch dieser Schlusssatz wirkt in seiner Uneindeutigkeit verstörend, wie zuvor schon die vom immer neuen Wechsel eines unvorhersehbaren und unausdeutbaren Schicksals bestimmten Ereignisse der Geschichte. Zwei weitere Beobachtungen, die für den Erzählstil Kleists kennzeichnend sind, passen zu diesem Befund. Zum einen der Umstand, dass der Erzähler die Gemütslage der Figuren genau registriert, jedoch in aller Regel nicht aus der souveränen Kenntnis des allwissenden Erzählers, sondern „als von außen blickender Zuschauer: Er nimmt sie in den Gebärden wahr, und die ständigen Angaben über Mienenspiel, Tonfall, begleitende Gebärden sind ein Stilkennzeichen seines Erzählens. Am bekanntesten ist solche Darstellungsweise aus der ‚Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege’, sie findet sich aber auch bei fast jedem Dialog der Erzählungen. Fast immer begleitet sie direkte oder indirekte Rede.“ 22 Charakteristische Stellen aus dem Erdbeben in Chili sind: „Josephe äußerte, indem sie mit einiger Begeisterung sogleich 22 Ebd., S. 236.
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2.6 Stil und Sprache aufstand, [...]“ (S. 60, Z. 4 f.) „Donna Elisabeth näherte sich ihm hierauf, obschon, wie es schien, mit Widerwillen, und raunte ihm, doch so, dass Josephe es nicht hören konnte, einige Worte ins Ohr. [...] Donna Elisabeth fuhr fort, ihm mit verstörtem Gesicht ins Ohr zu zischeln. Don Fernando stieg eine Röte des Unwillens ins Gesicht; er antwortete: [...]“ (S. 61, Z. 2–9). Eine solche Erzählweise, die vom französischen Regisseur Eric Rohmer Drehbuchartige Erzählweise nicht zu Unrecht als drehbuchartig bezeichnet worden ist, signalisiert zweierlei: In einer undurchsichtigen, unberechenbaren Welt ist es doppelt entscheidend, sich von der inneren Verfassung der Menschen, mit denen man zu tun hat, ein möglichst genaues Bild zu machen; und: Um Aufschluss über die Stimmungen und inneren Antriebe der Figuren zu erhalten, ist der Erzähler ebenso auf den Augenschein angewiesen wie der Leser. Diese Notwendigkeit, alles genau zu registrieren, kann auch als Motiv für die bevorzugte Verwendung der indirekten Rede in Kleists Erzählungen angeseIndirekte Rede hen werden. Die indirekte Rede gibt das, was die Figuren sagen, getreu wieder, und bietet dadurch auch die aufschlussreiche Möglichkeit, die Sprecher bei der „allmähliche[n] Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (so der Titel eines Aufsatzes von Kleist) zu beobachten (vgl. etwa S. 59, Z. 10 ff.); vor allem aber bleibt bei der indirekten Rede (im Gegensatz zur direkten Rede) der Erzähler als Vermittlungsinstanz immer spürbar im Spiel: Ein Erzähler, der, wie erwähnt, nicht über alles Bescheid weiß und aus diesem Grund nicht nur genau hinschauen, sondern auch genau hinhören muss, damit ihm und den Lesern nichts Wesentliches entgeht. Die zweite Beobachtung bezieht sich auf das Vorandrängen-
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2.6 Stil und Sprache de der Erzählung. Selten gibt es RuRastlosigkeit hepunkte, Momente des Verweilens. Für Beschreibungen, ohne die kaum ein Erzähler auskommt, ist bei Kleist fast nie Zeit. Bei Beschreibungen steht die erzählte Zeit still. Das lässt die Gefährdung, der die Figuren Kleists in ihrer Erzählwelt ausgesetzt sind, kaum zu. Pausenlos treibt sie ihr Schicksal voran. Jederzeit kann ihnen etwas zustoßen. Daher kann es sich der Erzähler, der, wie oben gezeigt, solche Wechselfälle des Schicksals nicht vorhersehen kann, nicht leisten, sie für einen Moment aus den Augen zu verlieren. Aus demselben Grund spielt neben der Beschreibung auch der ein Geschehen knapp zusammenfassende Erzählerbericht bei Kleist kaum eine Rolle. Stilistisch kommt diese unablässige Folge von Ereignissen, mit denen der Erzähler Schritt zu halten hat, durch sprachliche Zusammendrängung, insbesondere durch Nominalbildungen, zum Ausdruck: Beim Einsturz des Gefängnisses ist davon die Rede, dass „die gänzliche Zubodenstreckung desselben“ nur durch eine zufällige Wölbung des gleichzeitig einstürzenden gegenüberstehenden Gebäudes verhindert worden sei (S. 51, Z. 4 ff.). Vom „Zusammenschlag“ beider Häuser wird wenige Zeilen später mit Bezug auf dieselbe Situation gesprochen (S. 51, Z. 12). Nominalbildungen Das Volk hingegen ist überall „mit Rettung des Eigentums beschäftigt“ (S. 52, Z. 24 f.). Am nächsten Tag machen unter den Überlebenden heldenmütige Beispiele „von ungesäumter Wegwerfung des Lebens“ die Runde (S. 58, Z. 27). Bald darauf macht man sich zur heiligen Messe auf, „den Himmel um Verhütung ferneren Unglücks anzuflehen“ (S. 59, Z. 30 f.). Scheinbar im Widerspruch zu diesem vorandrängenden Grundzug des Kleist’schen Erzählstils, zur Tendenz zu 2. Textanalyse und -interpretation
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2.6 Stil und Sprache sprachlicher Zusammendrängung, steht die Beobachtung, dass der Satzbau bei Kleist typischerweise mit Einschüben durchsetzt ist, die als Stauung des Satzflusses beschrieben werden können, bevor sich dieser am Ende mit vermehrter Kraft wieder Bahn bricht. Diese eiSatzbau gentümliche Syntax ist sehr überzeugend als direkter künstlerischer Ausdruck der Persönlichkeit Kleists interpretiert worden. Klaus Müller-Salget schreibt in seiner Kleist-Monografie: „Geduld freilich war nicht seine Stärke. Sein Streben war auf die große, die entscheidende Leistung gestellt, auf den Durchbruch, der alle Zweifel (auch und gerade die eigenen) auf einen Schlag und für immer beseitigen sollte. Die Entwicklung dieser Vorstellung lässt sich sehr gut an den Abwandlungen der FlussBeschreibungen ablesen, die in seinen Briefen auffallend häufig begegnen [...].“23 „Mit Recht“, fährt Müller-Salget fort, habe Hans Joachim Kreutzer „darauf hingewiesen, dass in den Strom-Bildern der Briefe der Rhythmus von Kleists Dichtungen präformiert wird, das Modell von Stauung und kataraktischem [wasserfallartigem] Erguss, das die Handlungsführung der Dramen und Erzählungen ebenso prägt wie den Satzbau, eine ‚rhythmische Grundfigur des Erlebens’, wie Kreutzer sagt [...], die offenbar in Kleists psychischer Konstitution angelegt war und manche Ungeduld, manche Schroffheit, manche Forciertheit erklären mag.“24 23 Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam, 2002, S. 115 f. 24 Ebd, S. 116.
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2.6 Stil und Sprache Ein Beispiel aus dem Erbeben in Chili soll diesen mehrfach gestauten Satzbau illustrieren: „Der wütende Haufen, durch die Äußerung Jeronimos verwirrt, stutzte; mehrere Hände ließen Don Fernando los; und da in demselben Augenblick ein Marine-Offizier von bedeutendem Rang herbeieilte, und, indem er sich durch den Tumult drängte, fragte: Don Fernando Ormez! Was ist Euch widerfahren? so antwortete dieser, nun völlig befreit, mit wahrer heldenmütiger Besonnenheit: [...]“ (S. 63, Z. 23 ff.). Dieses Beispiel macht deutlich, dass Agieren als Reagieren in der Erzählwelt Kleists Handeln in aller Regel nur noch als Reagieren möglich ist. Auch einer im Ganzen so nervenstarken und geistesgegenwärtigen Figur wie Don Fernando gelingt es nicht, entscheidenden Einfluss auf ihr Geschick zu nehmen. Ständig geraten die Figuren unter den Einfluss äußerer Umstände, stellen sich ihnen Schwierigkeiten in den Weg, die ihnen eine Reaktion abverlangen. Der Satzbau mit seinen vielen Einschüben bildet diese Abhängigkeit der Figuren von unvorhersehbaren äußeren Einflüssen nach. Zu dieser Erzähltechnik passt auch der bemerkenswerte Umstand, auf den Walter Silz hingewiesen hat, „dass Kleist nirgends ein besonderes, stehendes Bild des Erdbebens gibt, wie es der Titel erwarten lässt; wir erfahren davon nur durch seine Wirkungen, aus der Sicht und aus dem Tun der handelnden [oder genauer: der reagierenden] Personen.“25 25 Silz, Walter: Das Erdbeben in Chili. In: Monatshefte 53 (1961), S. 229238 (zitiert nach: Müller-Seidel, Walter (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967 (Wege der Forschung 147), S. 351366, dort S. 356.
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2.6 Stil und Sprache Kleists Figuren sind, zumindest in entscheidenden Handlungsphasen, Getriebene. Diese GeGetriebenheit der Figuren triebenheit durch äußere Umstände findet in der doppelten Flucht Jeronimos wie Josephes vor dem Erdbeben einen starken Ausdruck, ist aber auch sonst beherrschendes Handlungsprinzip. Diese Getriebenheit ist zugleich der Schlüssel zu dem nur scheinbaren Widerspruch zwischen dem vorandrängenden Gestus des Erzählens und den Stauungen auf der Satzebene. Stehen die Stauungen für die Übermacht der äußeren Umstände über die freie Entscheidung der Figuren, so bedarf es seitens der unter Druck stehenden und tendenziell überforderten Figuren immer neuer Anstrengungen, die Widerstände zu überwinden. Hier müssen sie letzte Energien bündeln und Reaktionsschnelligkeit unter Beweis stellen. Aus diesem Kraftaufwand und der ihnen abverlangten Geistesgegenwärtigkeit geht die Wirkung des Vorwärtsdrängens und der Atemlosigkeit aus. Zudem machen die Einschübe die Dichte der zeitlichen Abfolge, die tendenzielle GleichzeitigFunktion der Einschübe keit entscheidender Vorgänge, anschaulich. Ferner kann es gewissermaßen lebenswichtig sein, alles, was vorgeht, zu registrieren, da sich in einer undurchschaubaren Welt letztlich alles als bedeutsam herausstellen kann; hier liegt die Ursache für die für Kleist typischen blinden Motive, gewissenhaft vermerkte Nebenlinien eines Geschehens, die sich aber eben nicht immer im Rückblick als erheblich für den Fortgang der Handlung erweisen. Die Verdichtung des Augenblicks, die überwache Registrierung des äußeren Geschehens, die Getriebenheit der Figur kommen auch in der langen „hier“-Periode, die Jeronimos Flucht schildert, gut zum Ausdruck (S. 51, Z. 20–31). In nur
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2.6 Stil und Sprache zwei Sätzen bieten sich neun Schreckensszenen, die jeweils mit dem Wort „hier“ eingeleitet werden. Dieselbe Passage enthält darüber hinaus eindrucksvolPersonifikationen le Personifikationen, die wiederum die allgemeine Tendenz zum Ausdruck bringen, die ‚handelnde’ Figur als Spielball übermächtiger äußerer Kräfte vorzuführen: „[...] indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte [...]. Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon [...] und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich [...] der Mapochofluss auf ihn heran, und riss ihn brüllend in eine dritte.“ (S. 51, Z. 18 ff.) In ähnlicher Weise wie in der angesprochenen „hier“-Periode fasst der Erzähler später die Fülle der aus dem Inferno mitgebrachten Eindrücke in einer „wie“-Periode zusammen: „Man erzählte, wie [...]; wie [...]! wie [...]! wie [...]; und wie [...].“ (S. 57, Z. 19–31). Die „wie“-Periode bietet ein dichtes Panorama. Dasselbe leistet die „hier“-Periode, die aber darüber hinaus noch die zeitliche hier-/wie-/dass-Periode Folge betont. Die inhaltliche Verknüpfung einer Überlegung oder Handlung hebt hingegen die „dass“-Periode hervor. Auch für sie gibt es im Erdbeben in Chili ein markantes Beispiel (S. 59, Z. 4–19). Auch auf der Wortebene macht sich Kleists stilistischer Ausdruckswille bemerkbar. Das gilt nicht nur für den sogar für Kleists zeitgenössische Leserschaft nach 1800 oft eigentümlichen Sprachgebrauch. Das Spiel mit gleich lautenden Konsonanten und Vokalen in der BeschreiAlliteration bung der idyllischen Nachtszene ist 2. Textanalyse und -interpretation
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2.6 Stil und Sprache hier zu nennen; wie die auch sonst häufige Verwendung der Alliteration in der Erdbeben-Novelle, vor allem der Alliteration auf den Buchstaben „w“ in den Passagen nach Jeronimos geglückter Flucht aus der Stadt: „und ein unsägliches Wonnegefühl ergriff ihn, als ein Westwind, vom Meere her, sein wiederkehrendes Leben anwehte“ (S. 52, Z. 1 ff.); „das Wesen, das über den Wolken waltet“ (S. 52, Z. 22 f.); „nicht zu wanken, wenn auch jetzt die Eichen entwurzelt werden, und ihre Wipfel“ (S. 53, Z. 3 ff.); „wo nur irgend ein weibliches Gewand im Winde“ (S. 53, Z. 11 f.); „wollte sich schon wieder wenden“ (S. 53, Z. 19 f.). Später wird durch die Alliteration eine Geste des Chorherrn betont („Hände hoch gen Himmel erhebend“; S. 61, Z. 33), die in der Erzählung als mehrdeutiges Motiv der Verzweiflung, der Beschwörung, der Ohnmacht mehrfach wiederkehrt (vgl. S. 51, Z. 31 und, ähnlich, S. 65, Z. 19, wo die Theatralik der erhobenen Hände nach dem vergeblichen Kampf zurückgenommen wird, was die Wirkung der Geste nicht vermindert, sondern zusätzlich steigert).
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2. Textanalyse und -interpretation
2.7 Interpretationsansätze
2.7 Interpretationsansätze Kleists Erdbeben in Chili ist ein Lieblingstext der Germanistik, der überaus oft interpretiert worden ist. Schon früh ist die Erzählung als Stellungnahme zu einer der zentralen geistigen Debatten während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gedeutet worden. Damals stand ganz Europa unter dem Eindruck des verheerenden Erdbebens in Lissabon am 1. November 1755. In der Folge geriet der Optimismus der Aufklärungsphilosophie Frage nach dem Wesen Gottes unter Druck. Die Frage nach dem Wesen Gottes wurde mit der Frage verknüpft, woher das Übel in der Welt komme (vgl. dazu Abschnitt 1.2 dieses Buches). Die Frage nach der Gottesvorstellung Kleists bestimmte noch die Interpretationen der 50er- und frühen 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts, etwa von Karl Otto Conrady26 und Johannes Klein.27 Der Schluss der Erzählung wurde zumeist als entscheidend dafür angesehen, ob Kleist das schreckliche Geschehen letztlich als Ausdruck einer höheren Fügung verstanden wissen wollte oder ob insgesamt der heillose Zustand der Welt bekräftigt werden solle. Benno von Wiese fasst das Ende positiv auf (wenn auch auf dem Fundament eines äußerst gefährdeten Gleichgewichts): „Das gerettete und in einer neuen Familie beheimatete Kind will uns noch wie eine Antwort Gottes auf das Erdbeben erscheinen. Denn das Überleben und Erhalten auch nur eines schuldlo26 Conrady, Karl Otto: Kleists Erdbeben in Chili. Ein Interpretationsversuch. In: GermanischRomanische Monatsschrift 35 (1954), S. 185195. 27 Klein, Johannes: Kleists Erdbeben in Chili. In: Der Deutschunterricht 8 (1956), S. 511.
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2.7 Interpretationsansätze sen, aus der Liebe hervorgegangenen Menschenwesens rechtfertigt den Bestand der von ungeheurer Anarchie bedrohten Welt für eine, sei es kurze, sei es lange, Zeitspanne weiter.“28 Dagegen argumentiert Walter Silz, das überlebende Kind sei nicht Sinnbild des Triumphes der Liebe über Tod und Sünde, sondern vielmehr „ein Beispiel für die Zufälligkeit des Daseins in einer unbegreiflichen Welt.“29 In den späten 60er- und in den 70er-Jahren verschob sich die Perspektive der Forschung, entsprechend der Entwicklung der Germanistik insgesamt, von der Frage nach der göttlichen Vorsehung hin zur Frage nach dem Zustand einer Gesellschaft, in der sich die in der ErFrage nach dem Zustand der zählung geschilderte Lynchjustiz Gesellschaft vollziehen kann. Mit Blick auf Kleists eigene Biografie, auf seine Empfindung, in keiner der gesellschaftlichen Institutionen und ihm offen stehenden Laufbahnen am Platze zu sein, wurde das Erdbeben als Stellungnahme des Autors nicht nur gegen depravierte (entartete) gesellschaftliche Institutionen, sondern gegen eine in Institutionen verfasste Gesellschaft überhaupt gedeutet. Demgegenüber stehe als Ideal die Menschengemeinschaft im Naturzustande, wie sie im Mittelteil der Erzählung beschrieben werde. Der Fortgang der Erzählung zeuge allerdings von Kleists nüchternem Bewusstsein, dass eine solche von allen Institutionen befreite Menschenfamilie nur als Utopie, allenfalls als ein vorübergehender Ausnahmezustand existieren könne. 28 Wiese, Benno von: Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 2771. 29 Silz, Walter: Das Erdbeben in Chili. In: Monatshefte 53 (1961), S. 229238 (zitiert nach: Müller-Seidel, Walter (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967 (Wege der Forschung 147), S. 351366.
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2.7 Interpretationsansätze Solche gesellschaftskritischen Interpretationen wurden überlagert von Aufsätzen, die das Problem der Deutung selbst zum zentralen Aspekt der Erzählung Das Problem der Deutung erhoben. Den Anstoß für ein solches Textverständnis gab John M. Ellis in einem 1963 veröffentlichten Aufsatz, in dem es heißt: „[...] the point of the story lies less in the meaning of the events than in the attempts of the characters involved, the narrator himself and even the reader to make sense of them. Thus in this case [...] interpretations become of peculiar relevance to a story when interpretation is its very theme.“30 Diesen Ansatz hat unter anderem Klaus Müller-Salget in einem Aufsatz über Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen weiterverfolgt.31 Die Interpretierbarkeit von Welt zum Hauptthema eines literarischen Textes zu machen, ist für Interpreten natürlich verführerisch. So verwundert es nicht, dass sich dieser Deutungsansatz in der Forschung rasch etabliert hat. Er hat aber, was wichtiger ist, auch viel für sich. Letztlich ist zwar jeder Text unausdeutbar oder, anders gesagt, für verschiedene Deutungen offen. Selten jedoch ist diese Offenheit so ausdrücklich in der Struktur und im Wortlaut eines Textes angelegt wie im Erdbeben in Chili. Der Gedanke liegt von daher nahe, dass Kleist ganz bewusst die künstlerische Absicht verfolgte, gerade einen solchen mehrdeutigen Text zu schaffen. Es ist reizvoll, an einem solchen Text, der immer wieder zu 30 Ellis, John M.: Kleists Das Erdbeben in Chili. In: Publications of the English Goethe Society. N. S., Vol. XXXIII, Leeds: 1963, S. 1055, dort S. 14 f. 31 Müller-Salget, Klaus: Die Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), Heft 2, S. 185211.
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2.7 Interpretationsansätze neuen Interpretationen herausgefordert hat, weil keine Interpretation dem Ganzen der Erzählung gerecht zu werden schien (und wohl auch nicht gerecht werden kann), die Tragfähigkeit und Ergiebigkeit verschiedener literaturwissenschaftlicher Methoden zu demonstrieren. Dies ist 1985 in dem von David E. Wellbery herausgegebenen Band Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili’ geschehen. Darin wird die Erzählung mit den Mitteln der Diskursanalyse, der Hermeneutik, der Kommunikationstheorie/Pragmatik, der Literatursemiotik (-zeichentheorie), der Institutionssoziologie, der sozialgeschichtlichen Werkinterpretation, der Theorie der Mythologie/Anthropologie untersucht sowie abschließend einer Lektüre im Zeichen der Grammatologie Jacques Derridas unterzogen.
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2. Textanalyse und -interpretation
3. Themen und Aufgaben
3. Themen und Aufgaben Die Lösungstipps beziehen sich auf die Seiten der vorliegenden Erläuterung. Lösungshilfe S. 17
Erläutern Sie den Begriff „Theodizee“. Skizzieren Sie den geistesgeschichtlichen Problemhorizont von Kleists Erzählung.
S. 17–22
Erläutern Sie, warum Kleists Figuren in aller Regel erst als Reagierende handeln und Selbsterkenntnis erlangen.
S. 24 f.
Handelt es sich beim Erdbeben in Chili um eine Erzählung oder um eine Novelle oder womöglich gleichermaßen um eine Erzählung wie eine Novelle? Begründen Sie Ihre Auffassung.
S. 38–41
In wie viele und in welche Abschnitte lässt sich die Erzählung überzeugend untergliedern? Argumentieren Sie mit der formalen Anlage des Textes.
S. 41–44
Analysieren Sie die zeitliche Ordnung Erzählung und ziehen Sie aus Ihrem fund Schlussfolgerungen hinsichtlich künstlerischen Absichten, die Kleist Erdbeben in Chili verfolgte.
S. 44–46
3. Themen und Aufgaben
der Beder im
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3. Themen und Aufgaben
Vergleichen Sie die Charaktere der beiden Liebenden Jeronimo und Donna Josephe.
Lösungshilfe S. 47–55
Vergleichen Sie das Verhalten von Don S. 56–60 und Fernando Ormez mit dem von Don AlonS. 62–64 zo Onoreja.
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Der Chorherr und Meister Pedrillo verfolgen das gleiche Ziel, Josephe und Jeronimo zu vernichten. Inwiefern unterscheiden sich ihre Motive?
S. 60–62
Welche Rollen fallen den Schwägerinnen Don Fernandos, Donna Elisabeth und Donna Constanze, innerhalb der Dramaturgie der Erzählung zu?
S. 66–68
Beschreiben Sie die Besonderheiten des Kleist’schen Erzählstils.
S. 75–86
3. Themen und Aufgaben
4. Rezeptionsgeschichte
4. Rezeptionsgeschichte Die Rezeption der Werke Kleists hat Helmut Sembdner so umfassend wie möglich dokumentiert.32 Der Erstdruck der Erzählung Jeronimo und Josephe in Cottas Morgenblatt scheint kein Echo der Kritik auf den Plan gerufen zu haben. Hingegen ist die erste Besprechungen der ersten Buchausgabe der Erdbeben-Novelle Buchausgabe im Band Erzählungen mehrfach rezensiert worden. Der Rezensent der Vossischen Zeitung charakterisierte den Text als „kurze aber tragische Erzählung, [...] nicht ohne romanhafte Unwahrscheinlichkeiten.“ (20. 10. 1810) Im Morgenblatt äußerte sich Friedrich Weisser insgesamt lobend über die Erzählungen, merkte aber beim Erdbeben an, die Novelle habe „etwas Empörendes, und ist auch zu skizzenhaft behandelt.“ (28. 12. 1810) Gleich mehrere Male hat Wilhelm Grimm, der jüngere der Brüder Grimm, das Buch ausführlich und lobend besprochen; weil diese Rezensionen anonym erschienen sind, ist sich die Forschung nicht in allen Fällen über Grimms Autorschaft einig. (Zeitung für die elegante Welt, 24. 11. 1810; Leipziger Literaturzeitung, 28. 09. 1812, Allgemeine Literatur-Zeitung, 14. 10. 1812) Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass die Wiener Zensurhofstelle 1810 und 1812 sowohl den ersten wie den zweiten Band der Kleist’schen Erzählungen Verbot durch die Wiener verbot. Besonders am Erdbeben in ChiZensur li wurde Anstoß genommen, dessen Schluss als im höchsten Grade gefährlich eingestuft wurde. 32 Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Neuausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997.
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4. Rezeptionsgeschichte Dieses Urteil belegt die Brisanz des Textes. Zudem wurden die unmoralischen Stellen in den Erzählungen und insbesondere in der Erdbeben-Novelle moniert. 1825 wurde die Erzählung in der Zeitschrift Der Phönix noch einmal nachgedruckt. Dieser Nachdruck folgte dem Wortlaut des Erstdrucks in Cottas Morgenblatt mit dem ursprünglichen Titel Jeronimo und Josephe. 1837 brachten die Wöchentlichen Mittheilungen aus den interessantesten Erscheinungen der Literatur zur Belehrung und Unterhaltung aller Stände eine Nacherzählung von Kleists Novelle, die bis 1843 mindestens fünf Mal fast unverändert nachgedruckt worden ist; übrigens ohne einen Hinweis auf die eigentliche Autorschaft Heinrich von Umdichtungen Kleists. Diese etwas geraffte, sprachlich und inhaltlich banalere Nacherzählung, die in den von Hedwig Appelt und Dirk Grathoff zusammengestellten Erläuterungen und Dokumenten zum Erdbeben in Chili abgedruckt ist33 , unterscheidet sich vom Original vor allem durch einen neuen Schluss. „Auch Josephine“, heißt es am Ende, „unterlag den Streichen der Wüthenden und Don Fernando fand man am andern Tag leblos, während das Kind Josephinens wunderbar gerettet wurde. [/] Der Vater Jeronimos übergab dasselbe den Dominicanern, um es für die Kirche zu erziehen.“ Eine noch stärker vom Original abweichende Umdichtung hat Helmut Sembdner ermittelt. Darin ist der Text Kleists, in der Buchfassung, bis zum Beginn der Predigt in der Dominikanerkirche wörtlich übernommen. Dann folgt ein Schluss, in dem sich alles zum Guten wendet: Jeronimo und Josephe verwirklichen ihren ursprünglichen Plan und gehen nach Spanien, wo Jeronimo sogleich, nach dem „kurz vorher 33 Appelt und Grathoff: Erläuterungen und Dokumente. S. 103109.
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4. Rezeptionsgeschichte erfolgten Tod seiner noch einzigen Verwandten“, „als der einzige Erbe eines sehr beträchtlichen Vermögens an Geld und liegenden Gütern eingesetzt“ wird. Einige Jahre später erhalten sie Besuch von Don Fernando Ormez, der auf einer „Geschäftsreise“ befindlich ist. Er bleibt auf einige Zeit ihr Gast und ist „Zeuge ihres Glückes“. „Ihre Kinder und Enkel“, heißt es abschließend, „waren gute, fromme und edle Menschen, und ihr Geschlecht blüht noch in Segen bis auf den heutigen Tag.“34 Über die Verbreitung der Kleist’schen Erzählungen und ihre Aufnahme durch die Leser gibt es recht widersprüchliche Äußerungen, die jeweils deutlich die persönlichen Einstellungen der Verfasser zu Kleist spiegeln. So schreibt Clemens Brentano in der für ihn typischen eiAutoren des 19. Jahrhunderts fersüchtigen Weise bereits am über Kleist 10. Dezember 1811 an Achim von Arnim über ihren gemeinsamen, seit wenigen Wochen toten Bekannten Kleist: „Überhaupt werden seine Werke oft über die Maßen geehrt, seine Erzählungen verschlungen.“ Ludwig Tieck hingegen, der Herausgeber der Werke Kleists, fragt 1826 in den Dramaturgischen Blättern: „Wie viele Erzählungen besitzen wir Deutsche, deren Verfasser beliebt und belohnt wurden; aber wo sind diejenigen, die man höher als die Kleist’schen stellen dürfte, welche kein Mensch kennt und würdigt?“35 Für das zwanzigste Jahrhundert sind zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze über die Novelle zu verzeichnen. Auch fand der Text aufgrund seiner Dramatik, Prägnanz und Kürze Eingang in den schulischen Lektürekanon. 34 In: Monats-Rosen. Zeitschrift für Belehrung und Unterhaltung. 4. Jahrgang, Bd. 2. München: 1843, S. 283 f. (zitiert nach: Appelt und Grathoff: Erläuterungen und Dokumente, S. 110 f.). 35 Zitiert nach: Semdner: Nachruhm, Nr. 661b.
4. Rezeptionsgeschichte
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4. Rezeptionsgeschichte 1918 wurde ein Stummfilm in großer Ausstattung geplant, aber letztlich nicht realisiert. 1974/1975 verfilmte Helma Sanders die Erzählung in Spanien für das Zweite Deutsche Fernsehen.36 1998 ließ sich der Schriftsteller Hans Christoph Buch von Kleists Novelle zu seiner kurzen Erzählung Das Erdbeben in Chili: Eine wahre Geschichte anregen. Das Erdbeben in Chili von Sie berichtet von der Inhaftierung eiHans Christoph Buch nes Liedermachers, Geronimo Rugera, während des Umsturzes in Chile im November 1973 sowie von seiner Rettung und Ausreise in die DDR aufgrund diplomatischen Drucks, denn Rugera ist mit Josepha H., der Tochter des Staatsratsvorsitzenden der DDR, verlobt. Nach dem Ende der Diktatur in Chile kehren Geronimo und Josephe nach Santiago zurück, wo Geronimo seine Frau und seine beiden Kinder um seiner chilenischen Freundin willen verlässt. Die Erzählung, die an drei Stellen Passagen aus Kleists Novelle wörtlich aufgreift, bleibt gegenüber dem Original blass.37 Das Erdbeben als Fernsehfilm
36 Vgl. dazu die beiden Analysen von Knut Hickethier und Stefan Braun: Hickethier, Knut: Literatur als Film Verfilmte Literatur. Helma Sanders: Das Erdbeben in Chili. Nach der Novelle von Heinrich von Kleist. In: Knut Hickethier und Joachim Paech (Hg.): Methoden der Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart: Metzler, 1979, S. 6390; Braun, Stefan: Heinrich von Kleist/Helma Sanders: Das Erdbeben in Chili. Eine vergleichende Analyse der Erzähleingänge von Film und Novelle. In: Klaus Kanzog (Hg.): Erzählstrukturen Filmstrukturen. Erzählungen Heinrich von Kleists und ihre filmische Realisation. Berlin: E. Schmidt, 1981, S. 5989. 37 Abgedruckt in: Lützeler, Paul Michael und Pan, David (Hg.): Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 1114.
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4. Rezeptionsgeschichte
5. Materialien
5. Materialien Aus Anlass des 150. Geburtstags von Heinrich von Kleist verfasste die Schriftstellerin Marieluise Fleißer (1901–1974) 1927 einen Aufsatz Der Heinrich von Kleist der Novellen38 , in dem sie den Erzählstil Kleists folgendermaßen charakterisiert: „Er [Kleist] liefert einen sachlichen und auffallend umfassenden Bericht dessen, was seine Personen unter den und den Umständen taten und wohin sie damit gerieten; er unterlässt jede Beobachtung, die nicht den Gang der Handlung vorwärtsschreiten lässt. Augenblicke des bloßen atmosphärischen Lebens, wie sie sonst der epischen Darstellungsart eigentümlich sind, gibt es bei ihm nicht, damit kann er sich nicht aufhalten. Er bleibt nirgends im Beschreibenden stehen. Seine Personen sind mit ihrer einzigen Sache beschäftigt und sonst mit nichts. Seine Art, auf seine Personen zu blicken, ist die eines guten Regisseurs. Er behält eine genaue Übersicht über jede ihrer Bewegungen und Ortsveränderungen, jedes Erblassen und Erröten. Aber seine Teilnahme an seinen Personen ist weit eher als eine von außen betrachtende eine sehr mitbeteiligte, von innen nachspürende [...]. Sein Stil ist gedrängt und kann nur langsam gelesen werden. Mit seiner Neigung zum Extremen häuft er die Akzente. Auffallend sind seine langen und vielverschränkten, aus genauem lateinischem Sprachgefühl herkommenden Sätze.“
38 Erschienen in der Essener Theater-Zeitschrift Der Scheinwerfer, Ausgabe vom Oktober 1927.
5. Materialien
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5. Materialien Klaus Müller-Salget geht in seinem Kommentar zum Erdbeben in Chili 39 auf die „unauflösbare Mehrdeutigkeit“ von Kleists Erzählungen ein und zeigt am „zentrale[n] Dingsymbol“ des Textes, dass diese Mehrdeutigkeit bis in die Mikrostruktur des Textes hinein durchgestaltet ist. Sein Fazit lautet, dass sich in einer undeutbaren Welt als Richtschnur des Handelns nur eine ideologiefreie Moralität, ein „schlichte[s] Rechttun“ (von dem im Michael Kohlhaas die Rede ist) bewähren kann. „Die Welt erscheint, wie stets bei Kleist, von unauflösbarer Mehrdeutigkeit geprägt. [...] Paradoxien prägen die gesamte Erzählung [...] und auch das zentrale Dingsymbol kann aufs gegensätzlichste gedeutet werden: jener Granatapfelbaum, unter dem Jeronimo und Josephe ‚die schönste Nacht’ verbringen. Seiner zahlreichen Kerne wegen galt der Granatapfel seit der Antike als Symbol der Fruchtbarkeit; im Mittelalter wurde der Baum auf Maria, die Frucht auf Christus hin ausgedeutet; im griechischen Mythos ist der Granatapfel die Frucht, die Persephone kurz vor dem Ausgang des Hades pflückt, weshalb ihr die endgültige Rückkehr in die Oberwelt versagt bleibt: Als Gattin des Unterweltgottes muss sie die Hälfte des Jahres im Schattenreich verbringen. Fruchtbarkeit, Marienlegende, Todesverfallenheit spielen zusammen in diesem Symbol. Die optimistische Deutung der Liebenden wird ‚überschattet’ ([S. 55, Z. 30 f.:] ‚Der Baumschatten zog [...] über sie hinweg’) von der Todesdrohung.“
39 Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Band 3. Erzählungen. Anekdoten. Gedichte. Schriften. Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1990, S. 812 f.
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5. Materialien
Literatur
Literatur 1) Ausgaben Heinrich von Kleist: Die Marquise von O... Das Erdbeben in Chili. Erzählungen. Anmerkungen von Sabine Doering. Nachwort von Christian Wagenknecht. Stuttgart: Reclam, 2004 (RUB 8002). (Nach dieser Ausgabe wird zitiert.) Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba. 4 Bände. Frankfurt a. Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1987–1997. Heinrich von Kleist: Briefe. Briefe von und an Kleist. 13. März 1793 bis 21. November 1811. Hg. von Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer und Wolfgang Barthel, Anita Golz, Rudolf Lorch. Frankfurt: Insel, 1986. 2) Lernhilfen und Kommentare für Schülerinnen und Schüler Bacher, Suzan: Lektürehilfen Heinrich von Kleist ‚Die Marquise von O...’, ‚Das Erdbeben in Chili’. Stuttgart: Klett, 8. Aufl. 2001. Kircher, Hartmut: Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. Die Marquise von O…. München: Oldenbourg, 2. überarb. Aufl. 1999 (Oldenbourg Interpretationen Bd. 50). 3) Sekundärliteratur Appelt, Hedwig/Grathoff, Dirk: Heinrich von Kleist. Das Erbeben in Chili. Stuttgart: Reclam, 1986 (Erläuterungen und Dokumente. RUB 8175). Breuer, Ingo: „‚Schauplätze jämmerlicher Mordgeschichte’. Tradition der Novelle und Theatralität der Historia bei Literatur
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Literatur Heinrich von Kleist“. In: Blamberger, Günter/Doering, Sabine/Müller-Salget, Klaus (Hg.): Kleist-Jahrbuch (2001), S. 196–225. Doering, Sabine: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam, 1996 (Literaturwissen. RUB 15209). Kayser, Wolfgang: „Kleist als Erzähler“. In: Müller-Seidel, Walter (Hg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967 (Wege der Forschung. 147), S. 230–243. Ledanff, Susanne: „Kleist und die ‚beste aller Welten’. Das Erdbeben in Chili – gesehen im Spiegel der philosophischen und literarischen Stellungnahmen zur Theodizee im 18. Jahrhundert.“ In: Kreutzer, Hans Joachim (Hg.): KleistJahrbuch (1986), S. 125–155. Marx, Stefanie: Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von Kleists Erzählungen ohne Moral. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft. 129), insbesondere S. 115–167. Müller-Salget, Klaus: „Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen“. In: Müller-Seidel, Walter (Hg.): Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981 (Wege der Forschung. 586), S. 166–199. Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam, 2002 (RUB 17635). Oellers, Norbert: „Das Erdbeben in Chili“. In: Hinderer, Walter (Hg.): Kleists Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 1998 (Literaturstudium. Interpretationen), S. 85–110. Schede, Hans-Georg: Kleist. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008 (rowohlts monographien, Band 50696). Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003.
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Literatur
Literatur Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischen Verfahrensweise. Tübingen: Max Niemeyer, 1974. Schrader, Hans-Jürgen: „Spuren Gottes in den Trümmern der Welt. Zur Bedeutung biblischer Bilder in Kleists Erdbeben.“ In: Kreutzer, Hans Joachim (Hg.): Kleist-Jahrbuch (1991), S. 34–52. Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie. München: Verlag C. H. Beck, 2007. Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neuausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996. Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Neuausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997. Silz, Walter: „Das Erdbeben in Chili“. In: Müller-Seidel, Walter (Hg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967 (Wege der Forschung. 147), S. 351–366. Wellbery, David E. (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erbeben in Chili“. München: C. H. Beck, 1987. Zeller, Hans: „Kleists Novellen vor dem Hintergrund der Erzählnormen. Nichterfüllte Voraussetzungen ihrer Interpretation“. In: Kreutzer, Hans Joachim (Hg.): Kleist-Jahrbuch (1994), S. 83–103. 4) Sonstige Literatur Buch, Hans Christoph: „Das Erdbeben in Chili. Eine wahre Geschichte“. In: Lützeler, Paul Michael/Pan, David (Hg.): Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 11–14.
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Literatur 5) Materialien aus dem Internet Wie für fast alle Stichwörter liefert das Internet auch für das Stichwort Das Erdbeben in Chili eine lange und ständig sich erneuernde Liste von Treffern. Hinzuweisen ist besonders auf das „Kleist-Archiv Sembdner“, das der 1997 verstorbene Kleistforscher Helmut Sembdner Anfang der Neunzigerjahre in die Hände der Stadt Heilbronn übergeben hat, wo man das Archiv fortführt und den Internetauftritt betreut: www.kleist/org/ Hier, wie überall im Internet, gilt: Das Netz ist kein Selbstbedienungsladen. Auch im Netz haben Autoren Urheberrechte. Und: Das Internet bietet viel, vielfach jedoch auch unverlässliche Auskünfte.
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